Robin Moore
Heroin Cif New York
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Ein Buick wird von Bord der »United States« g...
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Robin Moore
Heroin Cif New York
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Ein Buick wird von Bord der »United States« gehievt. Sein Besitzer ist der französische Fernsehstar Jacques Angelvin. Er hat das Gewicht des Wagens mit 4573 Pfund angegeben. Bei der Verschiffung zur Rückreise nach Europa hat der Wagen nur noch ein Gewicht von 4461 Pfund. Ein kleinlicher Franzose will für 112 Pfund die Frachtkosten sparen und verspielt damit für sich und seine Komplizen ein 25-Millionen-DollarGeschäft. In den Hohlräumen der Kotflügel und Scheinwerfer des auf geheimnisvolle Weise leichtergewordenen Buick finden die Polizei Beamten Spuren eines weißen Pulvers: Heroin. Damit wird die größte Fahndungsaktion des New Yorker Rauschgiftdezernats ausgelöst. ISBN 3-453-01421-9 Originalausgabe: The French Connection Deutsche Obersetzung von Hans E. Hausner 3. Auflage 1983 Wilhelm Heyne Verlag Umschlagfoto: Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Vorwort Der folgende Bericht ist die Geschichte einer Polizeiaktion, die als eine der bravourösesten in die Annalen der amerikanischen Justiz eingegangen ist. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß sie den bisher erfolgreichsten Schlag in dem nie endenden, erbitterten Krieg gegen die Einfuhr von Rauschgiften in unser Land darstellt. Und tatsächlich haben dieses Unternehmen und die in seinem Verlauf zusammengetragenen Informationen in der Folge zu einer fortschreitenden Abnahme der Investitionen und Anteile der Mafia am Rauschgiftmarkt der USA geführt. Dies ist weder eine klinische Studie noch eine gefühlsbetonte Darlegung der durch die Gier nach Rauschgiften angerichteten Verheerungen, über die schon so viel, aber noch immer nicht genug geschrieben wurde. Auch ist hier nicht von jenen jämmerlichen „Junkies“ die Rede, die bekümmerte Eltern in Furcht und Schrecken versetzen. Der Bericht gestattet einen seltenen Einblick in die Machenschaften gewissenloser Verbrecher, die aus der tödlichen Verderbnis der Rauschgiftsüchtigen, junger wie alter, ihren Nutzen ziehen. Wenn diese Geschichte nur einen Vater, eine Mutter aus ihrer Bequemlichkeit aufzuscheuchen, nur einen jungen Menschen vor seinem Unglück zu bewahren vermag, dann haben sich die langen, einsamen, schlaflosen, oft auch gefährlichen Nächte vieler Polizeibeamter zumindest zum Teil bezahlt gemacht. Die detaillierten Berichte, auf Grund deren dieses Buch erst geschrieben werden konnte, verdanke ich dem Entgegenkommen mehrerer offizieller Stellen, denen ich hiermit Dank und Anerkennung ausdrücke. Das unermüdlich tätige Rauschgiftdezernat der New-Yorker Polizei unter seinem früheren Leiter, Chefinspektor Ira Bluth, insbesondere seine Sonderabteilung (SIU), versahen mich laufend und unermüdlich -2-
mit all den Einzelheiten, die die Genauigkeit der Schilderung verbürgen. Auch das Bundesrauschgiftdezernat mit seinen mehr als fünfzehnhundert Meter Bandaufnahmen von Berichten und Funkmeldungen gewährte wertvolle Unterstützung. Die Tatsache, daß einer der Angeklagten gewissenhaft Tagebuch führte, ermöglichte es dem Autor, Einzelheiten zu beschreiben, die den Polizeiberichten und Interviews nicht zu entnehmen waren. Die Staatsanwaltschaft in Kings County (Brooklyn) im Staat New York, in erster Linie der dortige Stellvertretende Staatsanwalt Frank Baumann, steuerten das Ihre bei, indem sie mir Einsicht in zwölfhundert Seiten Prozeßakten gewährten. Die wichtigsten Gewährsmänner aber waren während der ganzen Zeit die beiden tüchtigen New-Yorker Kriminalbeamten, die über diesen außergewöhnlichen Fall stolperten und ihn in der Folge zu einem brillanten Abschluß brachten: die Kriminalinspektoren Edward Egan und Salvatore Grosso. Der Polizei sind Informationen zugegangen, wonach der internationale Rauschgiftschmuggelring, der eine so schwere Niederlage einstecken mußte, auch heute noch davon überzeugt ist, daß es ein Zuträger aus ihren eigenen Reihen war, der den Behörden die Aufdeckung einer so breit angelegten Transaktion möglich machte. Die Wahrheit aber ist, daß die New-Yorker Polizei, unterstützt von Bundesagenten, den Fall ohne jede fremde Hilfe zu Ende führte. Wenn nun schon von Anerkennung die Rede ist, muß ich noch ganz besonders auf die Mitarbeit meines Kollegen und Freundes Edward Keyes hinweisen. Ed beschäftigte sich persönlich und sehr eingehend mit der Vorbereitung dieses Buches: Er stellte wichtige Nachforschungen an, stand mit den Polizeibeamten im Einsatz, redigierte und korrigierte die Texte. Wir sind beide stolz darauf, diese Geschichte erzählen zu dürfen. Robin Moore New York, N. Y. Juli 1969 -3-
1 Sonnabend, den 7. Oktober 1961, spätabends, nachdem sie siebenundzwanzig Stunden ununterbrochen Dienst gemacht hatten, kamen der New-Yorker Kriminalinspektor Edward Egan, einunddreißig, und sein Partner, Kriminalobersekretär Salvatore Grosso, dreißig, zu der Überzeugung, es wäre an der Zeit, sich ein wenig amüsieren zu gehen. Über ihr Ziel waren sie sich einig. Der Komiker Joe E. Lewis war Star der neuen Show im „Copacabana“ und Egans augenblickliche Flamme, Carol Calvin, war Garderobiere im Nightclub. Eddie Egan war ein stämmiger, rothaariger, gutaussehender Mann irischer Abstammung, von seinen Kameraden einstmals mit dem Spitznamen „Kugel“ ausgezeichnet, weil er als Polizist in Uniform stets noch einen zweiten Patronengurt trug. Jetzt aber, im Rauschgiftdezernat, lautete sein Kodename „Glotzauge“ - entsprechend seiner Lieblingsbeschäftigung, „herumzuglotzen“, das heißt, hübsche Mädchen sorgfältig zu mustern, wobei er sofort seinen gälischen Charme spielen ließ, wenn sie sich auch nur im geringsten interessiert zeigten. Egan, der Frauenheld (wenn er nicht Dienst machte), unterschied sich somit sehr wesentlich von seinem bedächtigen Partner und besten Freund, Sonny Grosso, einem blaßgesichtigen Italoamerikaner mit großen braunen Augen. Im Gegensatz zu dem überschäumenden Egan war Sonny ein Schwarzseher, der stets nach den Schattenseiten der jeweiligen Situation Ausschau hielt und sie auch häufig fand. Sie waren beide einen Meter achtzig groß, doch der drahtige Grosso schien auf den ersten Blick schmächtig und für einen Polizisten sogar etwas schwächlich.
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Aber Sonny hatte sich im Karate einen schwarzen Gürtel erworben und eine ganze Anzahl von Strolchen davon überzeugt, daß er ein durchaus ernst zu nehmender Gegner war. Sein Kodename im Rauschgiftdezernat war „Wolke“. Am Abend vorher hatten sie einen Rauschgiftfall in Harlem, ihrem Revier seit 1959, abgeschlossen. Sie hatten drei Händler verhaftet, die seit Monaten unter Beobachtung gestanden waren, und die ganze Nacht damit verbracht, sie zu verhören, ihre Fingerabdrücke abzunehmen, die drei ordnungsgemäß einzuliefern und schließlich, der Vorschrift entsprechend, die endlosen offiziellen Berichte abzufassen. Anschließend brachten sie die Gefangenen in das alte Stadtgefängnis „The Tombs“, im Geschäftsviertel von Manhattan, und begaben sich sodann ins Gericht, um die formelle Anklageschrift zu überreichen. Es war schon später Vormittag, als sie endlich alles erledigt hatten, Aber sie waren beide zu müde, um schlafen zu gehen - eine Berufskrankheit unter Kriminalbeamten, die ihre langen Arbeitsstunden mit angespannten Nerven und wachen Sinnen durchstehen müssen. Die beiden waren begeisterte Baseballfans, und da die Yankees an jenem Tag das dritte Spiel der Meisterschaft gegen die Cincinnati Reds spielten, dachten sie keinen Augenblick an Schlaf. Sie fuhren kreuz und quer durch die Stadt und verfolgten das Spiel über das Autoradio. Später, nach dem knappen Sieg der Yanks, die lange Zeit im Rückstand, schließlich durch einen Homerun von Roger Maris im neunten Inning gewonnen hatten, fühlten die beiden sich eher geneigt, das Hochgefühl des Sieges auszukosten, als es zu unterdrücken. Sie gingen essen, besuchten ein paar Lokale auf der Ostseite, wo, laut Egan, etwas los sein würde, und durchquerten schließlich hundemüde, aber immer noch unternehmungslustig die Stadt in Richtung zum Copa. Es war Sonnabend nacht, elf Uhr vierzig, als Egan seinen kastanienbraunen Corvair, Baujahr 1961, auf der 60th Street East parkte und mit Sonny den Nightclub betrat - ohne die leiseste -6-
Ahnung, daß sie sich damit auf eine Odyssee von Intrigen und Machenschaften begaben, die sie während der nächsten viereinhalb Monate nicht zu Atem kommen lassen würde und die erst eineinhalb Jahre später ein Ende haben sollte. Es fehlten noch zwanzig Minuten bis zur Mitternachtsshow, und das Copa füllte sich. Egan hatte kaum Gelegenheit, Carol ein lächelndes Grußwort zuzurufen; sie verschwand zwischen Mänteln und Hüten. Carol war ein schönes, anmutiges Mädchen, noch nicht zwanzig; in Egans Augen war sie ein Double Kim Novaks. Hastig rief er ihr zu, daß er später mit ihr sprechen würde. Dann gingen die beiden Männer die Treppe hinunter in den großen Saal, wo der Oberkellner Egan erkannte und sie an einen kleinen Tisch führte, der sich auf einer der Terrassen ziemlich im Hintergrund befand. Sie bestellten Whisky und Gingerbier für Eddie, italienischen Vermouth mit Eis für Sonny und lehnten sich gemächlich zurück, um das heitere Nachtleben zu beobachten und sich, vielleicht, zu entspannen. Gerade als die Drinks gebracht wurden, berührte Sonny seinen Partner am Arm und deutete mit dem Kopf auf einen vollbesetzten Tisch unterhalb des ihren, an dem ausgelassene Stimmung herrschte. Die zwölf Gäste schienen wahrhaftig aus einem Gangsterfilm der dreißiger Jahre hierher verpflanzt worden zu sein: ölige, dunkelhäutige Männer in dunklen Anzügen, begleitet von auffälligen, grell aufgemachten Frauen. Der Mann im Mittelpunkt, finster dreinblickend, jedoch gut aussehend, wäre mit seinem schwarzen, buschigen, kurzgeschnittenen Haar und seinem Narbengesicht als Hollywoodgangsterboß eine besonders gute Rollenbesetzung gewesen. Er zählte etwa dreißig Jahre und war übertrieben elegant gekleidet. Er trug einen gutgeschnittenen schwarzen Anzug mit breiten Schultern und ein weißes Hemd mit Doppelmanschetten; auf seiner weißen Seidenkrawatte funkelte eine diamantene Krawattennadel. Eine knallige Blondine mit toupierter Frisur saß neben ihm. Der Mann war der Gastgeber -7-
und schien im Club auch eine Art Zelebrität zu sein. Denn Egan und Grosso, die die Vorgänge aufmerksam beobachteten, sahen eine Reihe wohlhabender Typen mit harten Gesichtern an ihm vorbeidefilieren, um ihm ihre Aufwartung zu machen. Zwischendurch schickte er laufend Kellner mit Drinks an andere Tische im Saal. Bei einer besonders lautstarken Begrüßung hörte Sonny, wie jemand den Mann mit Patsy ansprach. „Der gibt ganz schön an“, meinte Sonny. „Interessant“, kommentierte Eddie. „Ich erkenne mindestens zwei Rauschgifthändler am Tisch. Und ich weiß, daß einige von denen, die vorbeigekommen sind, im Lottogeschäft arbeiten.“ „Ich habe diesen Patsy noch nie gesehen. Und du?“ „Nein. Ich frage mich, wie er unserer Aufmerksamkeit entgehen konnte“, bemerkte Egan in trockenem Ton. Während der Show, die eineinhalb Stunden dauerte, teilten Eddie und Sonny ihre Aufmerksamkeit zwischen Joe E. Lewis und dem Tisch des großen Spenders. Als die Lichter wieder angingen und das Orchester Tanzmusik zu spielen begann, erhoben sich Patsy und seine Begleiter und gingen hinauf. Die Kriminalbeamten sahen sich an, zahlten und folgten nach. Die Gruppe scharte sich um die Bar im Foyer, wo eine Rock-andRoll-Combo jede Unterhaltung unmöglich machte. Patsy bestellte für alle einen Nachttrunk. Eddie und Sonny standen nun an der Garderobe und überlegten, was sie tun sollten. Sie sahen, wie Patsy eine fette Rolle Banknoten aus der Tasche zog, um die Rechnung zu bezahlen. Sonny pfiff durch die Zähne. „Sieh dir mal den Kies an!“ Egan nickte. „Was meinst du, sollen wir ihm auf den Fersen bleiben, nur so zum Spaß?“ Nicht übermäßig begeistert, zuckte Grosso zustimmend die Achseln. Als sie das Lokal verließen, winkte Eddie Carol Galvin entschuldigend zu und spitzte die Lippen zu einem Kuß. -8-
Fünfundzwanzig Minuten saßen sie in Egans Wagen an der Ecke der Madison Avenue, bis Patsy und die tolle Blondine um zwei Uhr früh allein die Treppe des Copa herunterkamen. Der uniformierte Portier winkte einen blauen Oldsmobile, letztes Modell, heran, und das Paar fuhr in Richtung Fifth Avenue davon. „Ich wette“, meinte Egan, während sie ihnen langsam folgten, „es geht in die Mott Street.“ Patsy fuhr die Fifth Avenue hinunter bis zur BroadwayKreuzung und steuerte dann in eine Wohngegend Manhattans, die in ganz Amerika als verrufen gilt, die Lower East Side. Die schmale Mott Street, die tatsächlich Patsys Ziel war, ist nur elf Blocks lang; von der Bleeker Street am Rand von Greenwich Village führt sie in südlicher Richtung, an der Bowery vorbei, bis zum Chatham Square. Die Polizei betrachtet sie seit langem als die Aorta aller ungesetzlichen Tätigkeit in New York. Sie grenzt an das Chinesenviertel, doch ist es vor allem das als Klein-Italien bekannte Viertel, das für die Familien der Mafia seit Generationen ein privates Gewächshaus des Verbrechens darstellt. Patsys Tour war in der Mott Street nicht zu Ende. Im Verlauf der nächsten zwei Stunden machte er in der Hester Street, in Broome, Delancey und Canal halt. Von Sonny und Egan aus angemessener Entfernung beschattet, fuhr der Olds von Zeit zu Zeit an den Gehsteig heran, und Patsy stieg aus. Ein Mann oder auch mehrere kamen aus Torwegen oder traten aus dem Schatten stiller Häuser und redeten ein paar Minuten mit ihm. Dann kehrte Patsy zu seinem Wagen zurück und fuhr langsam weiter. Die Blondine blieb immer im Olds sitzen. Es war schon gegen fünf Uhr früh, Sonntag, als der blaue Oldsmobile endlich nach Osten abdrehte und auf die Williamsburg-Brücke in Richtung Brooklyn zusteuerte. Die beiden Kriminalbeamten, in ihrem kastanienbraunen Corvair stets dicht dahinter, waren nun seit zweiunddreißig Stunden ununterbrochen unterwegs. -9-
Von der Brücke ging es mit Patsy in die Meeker Avenue unterhalb der Brooklyn-Queens-Hochbahn. Er parkte und verschloß den Wagen. Dann ging das Paar ein paar Schritte, stieg in einen klapprigen weißen neunzehnsiebenundvierziger Dodge und fuhr davon. Verblüfft folgten die Kriminalbeamten. Diesmal ging es nur ein paar Häuserblocks weiter. Patsy fuhr zur Grand Street, bog nach Westen zur Bushwick Avenue ab, schwenkte nach rechts ab und wieder rechts in die Maujer Street, wo er knapp hinter der Ecke stehenblieb. Egan fuhr an der Maujer Street vorbei, ohne einzubiegen, machte eine Schleife, kam zurück und parkte in der Bushwick Avenue. Er und Sonny beobachteten, wie das elegant gekleidete Paar an der Ecke ein unbeleuchtetes Geschäft aufschloß, eine Art Imbißstube, die sich „Barbara's“ nannte. Während das Mädchen draußen wartete, drehte Patsy das Licht an und ging in einen rückwärts gelegenen kleinen Raum, wo er eine Kaffeekanne füllte und auf eine Kochplatte stellte. Erst dann kam er wieder auf die Straße und winkte die Blondine herein. Die Kriminalbeamten sahen, wie sie eine graue Kleiderschürze von einem Haken nahm und hineinschlüpfte, während er sich seiner Anzugsjacke entledigte und einen grauen Rock anzog. Dann kam Patsy wieder heraus, ging um die Ecke zum Dodge, lud sich einen Packen Zeitungen auf und schleppte ihn in den Laden. Dann machten sich die beiden an die Arbeit, in die Sonntagsblätter die einzelnen Beilagen einzulegen. Auf der Kreuzung gegenüber sahen sich die zwei erfahrenen Polizeioffiziere kopfschüttelnd an. Gegen sieben Uhr zog Patsy die Rolljalousie an der Glastür hoch, um kundzutun, daß das Geschäft offen sei. Ein paar Kunden, zumeist weißgekleidetes Ärztepersonal, kreuzten allmählich auf. Erst jetzt stellten Egan und Grosso fest, daß sie vor dem St.-Catherine-Hospital geparkt hatten, das sich diagonal gegenüber der Imbißstube an der Ecke Bushwick Avenue und Maujer Street erhob. Es war eine farblose Gegend, lauter von -10-
den Jahren mitgenommene, dreistöckige Mietshäuser, aber genau gegenüber stand eine moderne Wohnbauanlage mit einigen Läden, darunter eine weitere Imbißstube. Da es aufgefallen wäre, am hellichten Tag im Wagen zu lange sitzen zu bleiben, ging Sonny ins Spital und überredete einen Aufseher, ihm ein unbenutztes Röntgenzimmer im Erdgeschoß zu öffnen, von dem aus sich Patsys Laden gut beobachten ließ. Gegen acht Uhr hatten sich Eddie und Sonny mehr oder weniger bequem niedergelassen, beobachteten die Vorgänge in der Imbißstube und machten nur kurze Pausen, um sich mit Kaffee und einem Stück Kuchen zu laben. Patsy und der Blonden hatte sich ein kleiner, robuster, dunkelhaariger Mann zugesellt; er trug einen Lumberjack und schien ein Gehilfe zu sein. Sonst hatte sich nichts Besonderes ereignet, keiner der drei verließ das Lokal. Mit wachsender Unlust hielten die Kriminalbeamten bis zwei Uhr weiter durch, es war für sie nun schon die zweiundvierzigste Stunde dienstlicher Tätigkeit. Da sahen sie die Verdächtigen in Straßenkleidern aus der Imbißstube kommen. Patsy schloß ab, und er und das Mädchen verabschiedeten sich von dem stämmigen Burschen, der nun die Bushwick Avenue hinaufging, während das Paar um die Ecke bog und in den Wagen stieg. Egan und Grosso eilten zu ihrem Corvair. Sie folgten dem alten Dodge über die Maujer Street in westlicher Richtung, hinüber zur Grant Street und auf die Brooklyn-Queens-Schnellstraße. Patsy raste nach Süden, über die Gowanus-Expreßstraße, dem südlichen Teil Brooklyns zu. Nach etwa zwölf Kilometer, in der Höhe der 65th Street, verließ er die Schnellstraße. Wenige Minuten später bog der Dodge in eine Auffahrt in der 67th Street. Egan parkte seinen Wagen an der Ecke der 67th Street und der Twelfth Avenue. Die Siebenundsechzigste war eine saubere, ruhige, von -11-
Bäumen beschattete und von zwei- und dreigeschossigen Privathäusern gesäumte Straße. Nach etwa zehn Minuten glaubten die Kriminalbeamten sicher sein zu können, daß Patsy und die Blondine sich bereits im Haus befanden. Sie bogen in die Straße ein und fuhren langsam an dem geparkten Dodge vorbei. Das Haus war das rechte zweier zusammenhängender, völlig gleich aussehender Backsteinbauten. Jeder Bau hatte zwei Geschosse und verfügte über eine Doppelgarage im Souterrain. Eine gemeinsame Treppe, die durch ein weißes, schmiedeeisernes Gitter geteilt war, führte vom Gehsteig aus zu einer betonierten Veranda und getrennten Eingängen. Während der Corvair vorbeifuhr, kritzelte Sonny die Adresse auf die Innenseite einer Streichholzschachtel: 1224 67th Street. Obzwar sie im Moment mehr als erschöpft waren, kamen sie doch zu der Überzeugung, daß die sonderbare Situation - nach entsprechender Nachtruhe - verdiente, ernsthaft unter die Lupe genommen zu werden. Seit wann wird dem Eigentümer einer Imbißstube und eines Zeitungsstandes in einem der teuersten und elegantesten New-Yorker Nightclubs ein großer Bahnhof bereitet?
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2 Sonny Grosso war ein harter und kompromißloser Beamter, doch das wenige Privatleben, das er sich gönnte, verlief maßvoll und ohne aufregende Höhepunkte. Im Grunde genommen war er mit seinen dreißig Jahren ebenso allein, wie er es als Kind gewesen war. Ganz zum Unterschied von seinem Partner Eddie Egan verabredete sich der ernste, grüblerische, unter seiner bläßlichen Gesichtsfarbe leidende Sonny nur selten mit Mädchen und hatte noch nie eine wirklich ernste Liebesaffäre gehabt. Egan fand Gefallen an Parties und jungen Damen, und wenn er auch nicht immer erfolgreich war, so bereitete ihm schon die Jagd allein großes Vergnügen. Grosso hingegen achtete die Frauen, nahm den Umgang mit ihnen äußerst ernst und begegnete ihnen mit der Ehrerbietung eines Gentlemans der alten Schule. Sonny war der einzige Sohn der Familie. Als sein Vater, ein Lastkraftwagenfahrer, plötzlich im Alter von siebenunddreißig Jahren starb, wurde Sonny Familienoberhaupt und sorgte für seine drei Schwestern wie ein Vater. Er war im Osten von Harlem aufgewachsen. In seiner Erinnerung sieht er es als ein schäbiges, aber freundliches Zuhause, wo jeder jeden kannte und die Menschen auf engstem Raum, einer auf dem anderen, zusammenleben mußten, dabei aber nicht unglücklich waren. Er erinnert sich daran, wie seine Mutter, eine sanfte, rastlos tätige Frau, ihre Mietskaserne verließ, „um einen Liter Milch im Lebensmittelgeschäft zu holen“, und zwei Stunden ausblieb, weil sie unterwegs mit den Nachbarinnen plaudern mußte. Für Sonny war Ost-Harlem immer eine nette Gemeinde gewesen, in der lauter große Familien nebeneinander lebten. Die Schulen waren überfüllt, die Straßen wimmelten nur so von Kindern, die zu jeder Tageszeit Baseball oder „Association“ (amerikanischer Fußball ohne -13-
genau festgelegte Regeln) spielten. Sonny war noch kaum dem Knabenalter entwachsen, als die Familie Grosso auf die andere Seite Manhattans, in eine westlich von Harlem gelegene irische Enklave übersiedelte, die man „Essighügel“ nannte und wo sie plötzlich zu Immigranten unter Immigranten wurden. Trotz seiner romanischen Gesichtszüge und seiner grüblerischen Wesensart brauchte Sonny nicht lange, um sich den stets gut aufgelegten, geschwätzigen und argwöhnischen Iren anzupassen. Er war ruhig, ernst, robust und ein guter Straßenkämpfer. Nach einer Weile vergaß er die frühere Nachbarschaft. Als er nach fast zehn Jahren nach Ost-Harlem zurückkehrte, hatte sich die Gegend radikal verändert. Und auch Sonny. Er war Polizist. Nach der High-School, zu Beginn des Koreakrieges, wurde er eingezogen und diente zwei Jahre lang als Funker in der Armee. Auf Grund einer Knieverletzung wurde er 1952 als Sergeant entlassen. Dann war er zwei Jahre lang Postautofahrer in New York, zumeist in der Gegend des Times Square. Immer noch mußte er den Großteil der Lebenshaltungskosten seiner verwitweten Mutter und seiner Geschwister bestreiten. Zusammen mit einigen Freunden machte er 1954 die staatliche Aufnahmeprüfung für die Polizeiakademie und kam bei fünfzigtausend Bewerbern unter die ersten dreihundert. Von der Akademie weg holte man Sonny ins 25. Polizeirevier in Ost-Harlem. Es war alles ganz anders: die einstige Nachbarschaft war aus einer verhältnismäßig festgefügten Immigrantengemeinde zu einem lasterhaften, von einer neuen Generation sich gegenseitig befeindender Elemente bevölkerten Getto geworden. Es waren Elemente, die mehr von roher Gewalt und Einschüchterung lebten als von ehrlichem Streben. Binnen weniger Jahre hatte sich jenes Ost-Harlem aus Sonny Grossos Kindheit den zweifelhaften Ruf erworben, mehr Laster und Entartung hervorzubringen als irgendeine andere Senkgrube Amerikas. -14-
Am bedrohlichsten war das Anwachsen des gesetzwidrigen Verkaufs - und Gebrauchs - von Rauschgift. Bis dahin war Sonny noch nie mit den Verheerungen des Heroins konfrontiert worden, es widerte ihn an. Mit Abscheu sah er, was es unter den Poertorikanern und Negern angerichtet hatte und anrichtete, die sich jetzt unter den Italienern breitmachten, die in der einstigen Nachbarschaft zurückgeblieben waren. Es gab noch einige, die sich seiner erinnerten, doch mußte er bald erkennen, daß viele ihm jetzt mit unverhohlenem Mißtrauen und sogar Verachtung begegneten. (Auch das war anders als in vergangenen Tagen, als sein Vater Richtlinien für das Verhalten gegenüber der Polizei gegeben hatte: „Ihnen nichts verraten? O. k. Aber sie hassen“Nein“) Sonny konnte die Verachtung dieser bedauernswerten Wesen nicht erwidern; er verachtete ihre Lage. Er sah, daß die Drogen die Wurzel ihrer Leiden waren, nicht aber die Ursache ihres Kummers. „Der Stoff“ war nur Symptom des viel tiefer greifenden Siechtums der städtischen Sozialordnung. Aber in vier Jahren als Polizist im 25. Revier hatte er genug erlebt und gesehen, um seinen Haß auf diese augenfälligsten Zerstörer, die Rauschgifte, zu richten und auf jene, die damit handelten und unerhörte Profite einsteckten. Im Jahre 1958 bewarb sich Sonny um einen Posten als Kriminalbeamter im Rauschgiftdezernat und bekam ihn. Nachdem er eingeschult worden war, fragten sie ihn, ob er daran interessiert wäre, in Zivil zu arbeiten: er sagte ja. Wo er denn glaube die wertvollste Arbeit leisten zu können? In Ost-Harlem, antwortete er. Und so wurde Sonny dem Sechsten Kriminalamt zugeteilt, das auch das 25. Polizeirevier mit einschloß, und so landete er wieder in Ost-Harlem. Bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr hatte Eddie Egan nie daran gedacht, Polizist zu werden. Sein Ziel war es, Baseballprofi zu werden. Und er hätte es tatsächlich um ein Haar geschafft, bei den New York Yankees zu landen. -15-
Wie die meisten Stadtkinder mußte auch Egan unter größten Schwierigkeiten das Baseballspiel erlernen. Er spielte auf den Straßen (Faustball auf den Gehsteigen; Schlagball zwischen Schachtdeckel und Hydrant im Rinnstein) und auf Brooklyns Schutthalden, mit einem weichen Ball oder mit einer mit Bändern umwickelten „bleiernen Rakete“. Eddies Spielkameraden machten oft unliebsame Bekanntschaft mit seinem Temperament, das ebenso ungestüm war wie sein rotblonder Haarschopf. Als er mit siebzehn von der High-School abging, waren ihm berufsmäßige Talentjäger auf der Spur. Und nach zweijähriger Dienstzeit im Marinekorps, während der er Baseball spielte und dabei größer, stärker und wendiger wurde, erhielt er ein bescheidenes Angebot von den Washington Senators. 1950 kam er zu den New York Yankees, bekam den Stammposten des Center-Fielders im Norfolker B-Team und machte imponierende .317. für seine Mannschaft. Der Hauptkader begann sich ernstlich für ihn zu interessieren. Zu dieser Zeit begannen die Yankees nach einem aussichtsreichen Kandidaten zu suchen, der die Nachfolge ihres Superstars Joe Di Maggio antreten könnte, der nun bald die Altersgrenze erreicht haben würde. Egan war einer der hoffnungsvollen jungen Männer, die man ins Auge faßte. Unter den Aspiranten befand sich auch ein harter Knochen, ein neunzehnjähriger Mittelfeldspieler aus Oklahoma, der mit seinen Homeruns schon einige Entfernungsrekorde in Jugendteams aufgestellt hatte - Mickey Mantle. Nach dem Ende der Spielzeit des Jahres 1950 sah Eddie Egan erwartungsvoll dem kommenden Frühjahr entgegen: er hoffte, ins Binghamtoner A-Team der Yankees versetzt zu werden. Und von dort - was konnte man wissen? Aber in jenem Oktober wurde er jäh aus seinen Träumen gerissen, als er neuerlich zu den Marines einberufen wurde. Als die Ärzte erfuhren, daß er sich in seiner früheren Dienstzeit beim Training den Arm gebrochen hatte, konnten sie sich nicht entschließen, ihn zu -16-
nehmen. Sie deuteten aber an, daß er damit rechnen müsse, innerhalb von drei Monaten abermals einberufen zu werden. Da er nicht wußte, was er mit sich anfangen sollte, und nicht tatenlos herumsitzen wollte, bis man ihn vielleicht wieder aktiv machte, legte Egan eine Ausleseprüfung ab und wurde Wachebeamter bei der New-Yorker Hafenbehörde. Als der Januar 1951 vorbeiging, ohne daß das Marinekorps etwas von sich hören ließ, mußte Eddie sich entscheiden: den Posten bei der Hafenbehörde aufzugeben und im Trainingslager der Yankees in Florida sein Glück zu versuchen, oder in seiner guten Stellung zu verbleiben und daheim auf eine Nachricht des Marinekorps zu warten. Er zog es vor, Polizist zu bleiben, und war sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben, als die Yankees in jenem Frühjahr den jungen Mickey Mantle ins ATeam nahmen und ihn zum Außenfeldspieler machten. Die Marines ließen ihn weiter im Ungewissen - sie riefen ihn überhaupt nie wieder -, und Egan blieb schließlich volle vier Jahre bei der Hafenbehörde. In Korea kam es zum Waffenstillstand, aber da war es natürlich schon zu spät für ihn, noch von einer Baseballkarriere zu träumen. Doch es machte ihm nichts mehr aus. Er war gern Polizist; nur gab es wenig Aussicht auf Beförderung. Die Organisation war noch so neu, daß keiner der höheren Offiziere genügend Dienstjahre hatte, um sich pensionieren zu lassen, und so gab es für einen ehrgeizigen patrouillierenden Polizisten nicht viel Gelegenheit, die Kommandoleiter hinaufzuklettern. Nach zwei vergeblichen Versuchen, sich zum Sergeanten befördern zu lassen, meldete er sich daher 1955 zur staatlichen Aufnahmeprüfung für die Polizeiakademie und wurde der Dreihunderteinundsechzigste unter fast sechzigtausend Bewerbern, zehntausend mehr, als im Vorjahr mit Grosso angetreten waren. Er setzte sich ein ehrgeiziges Ziel: innerhalb eines Jahres wollte er es zum Kriminalbeamten bringen. Seit seinem zwölften Lebensjahr hielt sich Egan für sehr -17-
unabhängig. Er hatte seinen wirklichen Vater nie gekannt und sich mit seinem Stiefvater, einem New-Yorker Feuerwehrmann, nie so recht verstanden. Seine Mutter starb kurz vor seinem Abgang von der Klosterschule; von da an lebte er bei den Großeltern. So lernte er schon früh, seine eigenen Entscheidungen zu treffen - was er schon am ersten Morgen seiner Tätigkeit als Rekrut der Polizeiakademie unter Beweis stellte. Unterwegs zu einer Sportschule im Flushing Meadow Park, verhaftete er drei Mädchen, die sich im Gesträuch versteckt hielten; wie sich herausstellte, waren sie aus dem Gefängnis entflohen und hatten nicht weniger als dreizehn schwere Vergehen auf ihrem Strafkonto. Als Ansporn für die anderen Polizeirekruten belohnte Polizeipräsident Michael Murphy den tatkräftigen Egan, indem er ihm das Wochenende freigab. Auf solche Weise belohnt, trachtete Egan danach, jedes Wochenende freizubekommen. Um vier Uhr nachmittags sauste er täglich von der Akademie nach Hause, zog sich um und war um sechs wieder in Manhattan entweder in der von Perversen heimgesuchten Gegend des Times Square oder rund um die Busstation der Hafenbehörde, mit der er noch von seiner früheren Tätigkeit her vertraut war. Er kam mit nur vier Stunden Schlaf aus - nach den Vorschriften der Polizeiakademie müssen Polizeibeamte während ihrer Probezeit längstens um zehn Uhr abends zu Hause sein -, aber er wußte, wo und wie er die Perversen, die Prostituierten, die Taschendiebe und die kleinen Rauschgifthändler zu suchen hatte. Sein Rekord an Festnahmen, achtundneunzig, war so außergewöhnlich, daß er nach einem Monat, obgleich offiziell immer noch Polizeischüler, aus der Klasse genommen und einer Sondereinheit altgedienter Kriminalbeamter zugeteilt wurde, die rund um den Times Square Dienst machten. Als er aber das Angebot ablehnte, ein „Shoofly“ zu werden (Angehöriger eines Trupps, der dem Polizeipräsidenten unmittelbar unterstellt ist und die Aufgabe hat, andere Polizeibeamte zu bespitzeln), -18-
obwohl er damit seine Beförderung zum Kriminalbeamten praktisch in der Tasche gehabt hätte, wurde er an die Akademie zurückversetzt. Schließlich graduierte er und kam in ein Revier in Harlem, wo er innerhalb von zwei Wochen siebenunddreißig Verhaftungen vornahm, darunter auch eine, die zu der sensationellen Anklageerhebung und anschließenden Verurteilung des Sängers Billy Daniels wegen Beteiligung an einer Schießerei führte. Er wurde für die Stellung eines Kriminalbeamten empfohlen, und fast auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Eintritt in den Polizeidienst tauschte Eddie Egan sein Silberschild gegen ein goldenes aus. Kriminalbeamte werden auf die verschiedenen Reviere aufgeteilt; sie können aber auch beantragen, einzelnen Abteilungen, wie denen für Diebstahl, Mord oder Betrug, zugeteilt zu werden. Egan wußte bereits, was er wollte, als er noch patrouillierender Polizeirekrut gewesen war: Rauschgift. Ein einziges persönliches Erlebnis mit dem verfluchten Stoff hatte ihm seinen Lebensweg gezeigt: den Rauschgifthandel mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Eines Tages, während Egan in Harlem seinen Dienst versah, geschah es in Brooklyn, daß seine sechsjährige Nichte aus der Volksschule heimkam und ihre Freundinnen Rollschuh fahren sah. Ihre Mutter, Egans Schwester, saß auf der Treppe vor dem Haus und wartete auf das Kind. Sie schickte die Kleine hinauf, damit sie ihre Rollschuhe hole. Das Mädchen kletterte aufgeregt die sechs Stockwerke hoch, warf seinen buntkarierten Schulranzen auf den Küchentisch und lief in sein Zimmer, um die Rollschuhe zu nehmen. Dort hockten vier dunkelhäutige junge Männer, dem Aussehen nach Spanier, und starrten sie an; einer hielt ihr Sparschweinchen umklammert. Das Kind schrie auf. Zwei der Burschen packten sie, ein dritter griff nach den Rollschuhen, die auf einem Regal lagen, und begann sie damit ins Gesicht und auf den Kopf zu schlagen. Blutend und halb -19-
bewußtlos sank sie zu Boden. Die Männer rannten mit dem Sparschwein davon. Kurz darauf fand die Mutter das Kind; vor Angst fast hysterisch, rief sie Eddie an, der nach Brooklyn raste. Wütend durchkämmte er die Nachbarschaft mit Hilfe des dortigen Reviers, durchsuchte Lokale und Tummelplätze nach polizeibekannten Abnormalen und Verdächtigen. Innerhalb von zwei Stunden waren die vier Männer in Haft. Es waren Süchtige, die verzweifelt nach dem Stoff gelechzt hatten. Egan war nur mit Mühe davon abzuhalten gewesen, sie zusammenzuschlagen. Er vergaß den Vorfall nie. Eddie war schon drei Jahre im Rauschgiftdezernat tätig, als er mit Sonny Grosso zusammengespannt wurde. Sie waren ihrem Wesen nach verschieden, aber sie ergänzten sich: Ungestüm verband sich mit Zurückhaltung, Findigkeit mit Skepsis; beide aber empfanden sie den gleichen Abscheu vor den vom Rauschgift angerichteten Verwüstungen der menschlichen Natur. Zusammen versetzten sie die Unterwelt Ost-Harlems in Schrecken. Gleichzeitig aber entdeckten sie, daß ihr Enthusiasmus innerhalb der Polizei, ja selbst innerhalb ihrer eigenen Abteilung Unmut hervorrief. Sie nahmen zu viele Verhaftungen vor; sie ließen einige ihrer Kameraden nachlässig erscheinen. Sie zuckten die Achseln und dachten nicht daran, sich durch Schüsse aus dem Hinterhalt von ihrem Weg abbringen zu lassen. Sie hatten eine Aufgabe vor sich. Nach einer erquickenden Nachtruhe fuhr Egan Montag, den 9. Oktober 1961 spät vormittags in den Brooklyner Bezirk Williamsburg zurück und parkte hinter dem St.-CatherineHospital, gegenüber der Imbißstube an der Ecke Bushwick Avenue und Maujer Street. Er ging in das Krankenhaus und wies sich vor dem Sicherheitsbeamten aus, der ihm abermals gestattete, das leere Röntgenzimmer als Beobachtungsposten zu benützen. Egan gab keine Erklärung ab, wer oder was beobachtet werden sollte; sicher waren viele Spitalsangestellte -20-
Patsys Kunden, und wäre es ruchbar geworden, daß der Laden von der Polizei beobachtet wurde, konnte die ganze Sache vermasselt werden, bevor sie noch richtig angefangen hatte. Es war schon etwas spät am Nachmittag, als Sonny aufkreuzte. Er hatte den Tag vornehmlich dazu verwendet, Erkundigungen über Patsy anzustellen. Eigentlich war es ihr freier Tag. „Ich glaube, wir haben da was“, sagte Sonny mit für ihn ungewöhnlicher Begeisterung. „Was hast du herausbekommen?“ „Unser Freund Patsy heißt Pasquale Fuca. Die Blonde ist seine Frau. Sie heißt Barbara. Barbara Desina hieß sie mit dem Mädchennamen. Sie ist praktisch noch ein Kind, neunzehn oder so, laut standesamtlicher Ehegenehmigung.“ „Schön, schön. Was noch?“ „Barbara ist keine Anfängerin. Vor einem Jahr wurde sie wegen Ladendiebstahls bedingt verurteilt. Und Patsy“ - Sonnys dunkle Augen leuchteten in seinem blassen Gesicht -, „das ist ein süßer Junge. Er wurde unter dem Verdacht festgenommen, einen Raubüberfall verübt zu haben. Tiffany's auf der Fifth Avenue hatte er sich ausgesucht! Hätte ihm zweieinhalb bis fünf Jahre einbringen können. Aber man konnte es ihm nicht nachweisen. Im Präsidium sind sie überdies ganz sicher, daß Patsy im Auftrag der Mafia einen Vogel namens De Marco umgelegt hat. War eine saubere Arbeit. Sie konnten ihm nichts anhaben.“ „Nett“, brummte Egan. „Warte. Sitzt du gut? Das habe ich vom FBI. Patsy hat auch einen Onkel. Rate mal, wer das ist?... ,Klein Angie'!“ Das war eine Überraschung! Egan pfiff durch die Zähne. Angelo Tuminaro wurde allgemein als einer der bedeutenderen „Dons“ (Oberführer) der Mafia angesehen. Man wußte, mit welch beispielloser Zielstrebigkeit er sich in die höheren Ränge des New-Yorker Verbrechertums hinaufgearbeitet hatte. Mehr -21-
als einen Rivalen hatte er auf dem Weg nach oben eliminiert, aber die Polizei konnte ihm nie etwas nachweisen. Tuminaros Frau war Jüdin und ihr Vater einflußreich in gewissen von Juden beherrschten Sparten erpresserischer Geschäfte. Somit wurde Angelo Verbindungsmann Nummer eins zwischen den damals gleichstarken italienischen und jüdischen Flügeln des organisierten Verbrechertums. Seit 1937 hatte die Polizei die Gewißheit, daß Klein Angie die Auszeichnung genoß, Alleinverantwortlicher für die Organisation des gesamten Heroinimports aus Europa und dem Nahen Osten zu sein. Aber im Jahre 1960 hatte Angie Tuminaro das Pech, zusammen mit zwei Obergangstern in ein Verfahren wegen Zuhälterei und verbrecherischer Verabredung verwickelt zu werden. Die beiden waren John Ormento, einer der mächtigsten Dons, und Vito Genovese höchstpersönlich, der vermutliche Vizeboß des Verbrechertums in den Vereinigten Staaten, der einzig dem deportierten, aber immer noch herrschenden „Capo“ Lucky Luciano unterstand. Es war den Behörden gelungen, alle drei zu verhaften, aber Klein Angie ließ die Kaution verfallen und verschwand von der Bildfläche. Seit zwei Jahren lenkte er von seinem Versteck aus persönlich weiterhin den Handel mit Heroin. Sowohl der Polizei des Staates New York als auch der Bundespolizei lag sehr viel daran, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Egan wandte sich um. „Unterhalten wir uns mal mit dem Chef“, meinte er. Eine Stunde später saßen Egan und Grosso im Büro von Leutnant Vincent Hawkes, des Stellvertreters von Chefinspektor Edward F. Carey, der das New-Yorker Hauptquartier des Rauschgiftdezernats im Zentrum von Manhattan leitete. Sie erzählten, wie sie im Copa zufällig auf Patsy aufmerksam geworden waren, beschrieben seine sonderbare Rundfahrt durch Klein-Italien in den frühen Morgenstunden des Sonntags und wiesen auf seine Verwandtschaft mit dem gesuchten Angelo -22-
Tuminaro hin. Nun wollten sie die Sache weiterverfolgen. Hawkes, ein großgewachsener, hagerer Mann mit schütterem Haar und ernstem Gesicht, stand im Ruf eines strengen, aber gerechten Vorgesetzten und tüchtigen Polizisten. „Das ist alles sehr schön“, meinte er, „aber ihr zwei Brüder arbeitet in Harlem. Ihr solltet euch in Brooklyn nicht einmal aufhalten.“ „Kommandieren Sie uns doch ab!“ schlug Egan rasch vor. „Lassen Sie uns mal 'ran, wenigstens so lange, bis wir sehen, ob hier was los ist oder nicht. Alle Welt sucht Klein Angie, stimmt's? - Also schön“, fuhr er fort, da er auf diese Frage keine Antwort erwartete, „vielleicht haben wir hier eine Spur. Wir hätten es uns verdient. Wir spüren den Kerl auf, diesen Ladeninhaber, wie er in einem supereleganten Nightclub, von bekannten Verbindungen umgeben, groß angibt. Dann beschatten wir ihn, in unserer Freizeit, nachdem wir vierundzwanzig Stunden Dienst gemacht haben, bis ins Stadtzentrum und nach Brooklyn und halten ihn praktisch den ganzen Sonntag unter Beobachtung. Und wen haben wir jetzt in Reichweite? Niemand anders als Angelo Tuminaro!“ Er beugte sich vor und sah Hawkes beschwörend an. „Sie müssen uns die Chance geben!“ Hawkes hob eine Hand und schnitt ihm das Wort ab. „Mann, wenn Sie mit Reden Geld verdienen könnten...!“ Er war geschlagen und wußte, daß er geschlagen war. „Warten Sie hier“, sagte er und erhob sich. Der Leutnant verließ sein Büro und klopfte draußen an die Tür neben der seinen. Eine barsche Stimme hieß ihn eintreten. Selbst wenn er hinter seinem Schreibtisch saß, war der amtsführende Chefinspektor eine massige Erscheinung. Er hatte riesige Pranken und ein rundes irisches Gesicht. Seit nahezu fünfunddreißig Jahren war er Polizeibeamter in New York. Er hatte als Staatspolizist begonnen, war Untersuchungsbeamter für die staatliche Alkoholbehörde geworden, war dann im -23-
Patrouillendienst gewesen, anschließend Kriminalbeamter in dem in Verruf geratenden Bezirk Bedford-Stuyvesant in Brooklyn und schließlich Kriminalinspektor der Abteilung Brooklyn Nord. 1958 vom Polizeipräsidenten Stephen Kennedy mit der Leitung des Rauschgiftdezernats betraut, hatte er diesem Amt neuen Enthusiasmus und Lebensgeist eingeimpft. Carey stand bei seinen Leuten in hohem Ansehen; solange sie Informationen brachten und Verbrecher verhafteten und überführten, unterstützte er sie rückhaltlos in jedem Disput über „Verfahrensfragen“. Vornüber gebeugt, die Hände gefaltet, hörte er mit ausdruckslosem Gesicht zu, als Hawkes ihm in knappen Worten berichtete, was die beiden Kriminalbeamten erlebt hatten, und ihm ihren Wunsch vortrug, die Sache weiterverfolgen zu dürfen. Carey nickte. „Das ist seit sechs Monaten die erste Spur, die wir von Tuminaro haben.“ Er sah seinen Stellvertreter an. „Egan und Grosso - das sind so ziemlich die zwei besten Leute, die wir haben, stimmt's?“ Hawkes gestattete sich ein feines Lächeln. „Das stimmt.“ „Lassen Sie sie machen. Geben Sie ihnen, was sie brauchen.“ Hawkes kehrte in sein Büro zurück und setzte sich. Er sah die beiden Männer an, die ihm gegenübersaßen. „Okay“, sagte er schließlich, „was braucht ihr?“ „Zunächst mal einen Draht“, antwortete Sonny. „Zwei Drähte“, korrigierte Egan. „Einen für den Laden und einen für sein Haus.“ Hawkes kratzte sich am Hals. „Ihr wißt doch, daß ich einen Gerichtsbeschluß brauche, um Telephonleitungen anzuzapfen. Ich weiß nicht recht - zwei Polypen aus Harlem, die in Brooklyn Gespräche abhören wollen -, das wird nicht leicht sein.“ „Versuchen Sie's, okay?“ „Wir wissen, daß Sie das schaffen können, Vinnie“, grinste Eddie. -24-
3 Das Rauschgiftdezernat der New-Yorker Polizei ist der Welt größte Organisation zur Bekämpfung des Rauschgifthandels und wird allgemein auch als die beste angesehen. Es leidet chronischen Mangel an nahezu allem, was es braucht, um effektvollst funktionieren zu können: Geld, Ausrüstung, ausreichende Kompetenzen und, soweit es die führenden Köpfe betrifft, natürlich an Personal. In einem wesentlichen Belang jedoch ist es dem verhältnismäßig reichlich mit Mitteln versehenen Bundesrauschgiftdezernat (mit dem es eng zusammenarbeitet) voraus: in dem gesetzlich verankerten Recht, Telephonleitungen anzuzapfen. Beide Behörden verfügen über mutige, erfahrene und findige Beamte. Beide wissen sich der Dienste von Spitzeln, sogenannter „Stools“, zu versichern, die für Geld oder andere außergerichtliche Vergütungen ihre Agententätigkeit betreiben; doch eines der wichtigsten Instrumente zur Beschaffung von Informationen im Kampf um die Erhaltung von Recht und Ordnung und zur Vorbeugung von Verbrechen, vor allem in der Schattenwelt des ungesetzlichen Rauschgifthandels, ist das angezapfte Telephon. Ein Bundesgesetz untersagt es Regierungsämtern, sich dieses Instruments zu bedienen; im Staat New York jedoch ist dies nicht der Fall. Dennoch ist es nicht leicht, einen Gerichtsbeschluß zu erwirken, der das Anzapfen eines Telephons möglich macht. Es müssen genügend Gründe angegeben und mit Präzedenzfällen und entsprechendem Beweismaterial untermauert werden, daß die Leitungen bei einem eines Verbrechens Verdächtigten oder zur Ausführung eines solchen Verabredeten in Verwendung stehen und deren Anzapfung der Polizei die Ergreifung dieser Personen oder die Verhinderung weiterer Verbrechen möglich machen könnte. Es muß ferner nachgewiesen werden, daß die -25-
Telephone nicht dazu mißbraucht werden, um ungesetzliche Unternehmungen zu fördern. Die Erbringung dieses Nachweises gestaltet sich zuweilen schwierig, doch je nach den Umständen und der Persönlichkeit des Antragstellers werden die meisten Richter den Beschluß unterzeichnen. Vince Hawkes wandte sich an die Rechtsabteilung des Dezernats, die eine eidesstattliche Erklärung abfaßte und offiziell einem Richter des Obersten Gerichtshofes des Staates überreichte. Innerhalb von sechsunddreißig Stunden lag ein Gerichtsbeschluß vor, der das Anzapfen von Patsy Fucas Telephonen genehmigte. Mit der Beschaffung dieser gesetzlichen Ermächtigung war nur die erste, wenn auch eine der schwierigsten Hürden genommen. Anschließend setzte sich das Dezernat mit der NewYorker Telephongesellschaft in Verbindung, um die verschlüsselten „Paare“ von Fucas Telephonen zu ermitteln, jene zwei schlichten Schrauben im Hauptschaltkasten, durch die jede Telephonleitung geführt wird und in die man sich einschalten muß, um abhören zu können. Hat man dies in Erfahrung gebracht und weiß man überdies, wo sich die Zuleitungskästen befinden, haben nun die Techniker des GIB des Kriminalnachrichtendienstes des Dezernats - die Aufgabe, die Mithöreinrichtung zu installieren. Sie sehen sich zwei Problemen gegenüber: sie müssen sich Zutritt zum Hauptschaltkasten eines Telephons verschaffen, der üblicherweise am Aufstellungsort des überwachten Apparats oder in der Nähe desselben angebracht ist; und sie müssen den geeignetsten, nach Möglichkeit nicht zu weit entfernten und schwer zu entdeckenden Platz ausfindig machen, an dem sie das Abhörgerät zusammen mit dem automatischen Bandaufnahmeapparat installieren können. Dazu ist es zuweilen erforderlich, Telephondrähte heimlich viele hundert Meter lang über Dächer und Höfe zu spannen. Zwei Tage später, Mittwoch, den 11. Oktober, trafen sich -26-
Eddie Egan und Sonny Grosso mit einem Arbeitstrupp des GIB auf der Bushwick Avenue in Brooklyn, nur wenige Blocks von Patsys Imbißstube an der Ecke der Maujer Street entfernt. Der für die „Anlage“ gewählte Ort war der Keller der modernen Wohnbauanlage gegenüber dem Laden. Einer der CIB-Leute plauderte mit dem Hauswart eines der Häuser und erzählte ihm, die Polizei führe eine geheime Untersuchung durch und benötige ein ruhiges Eckchen als Treffpunkt. Der Hauswart war nervös, aber hilfsbereit und zeigte ihm einen unbenutzten Lagerraum am entfernten Ende des Kellers. Jetzt mußten sie sich an den Hauptschaltkasten der zwei Telephone in der Imbißstube heranmachen, der an der Außenwand des Ladens im Hof angebracht war. Dieser Teil der Arbeit war, wie üblich, weniger kitzlig, als man gemeinhin annimmt. Zwei CIB-Männer spazierten einfach in die Imbißstube und wiesen sich dem älteren Mann hinter der Theke als Kontrollorgane der Telephongesellschaft aus. (Der Mann wurde später als Barbara Fucas Stiefvater, Joe Desina, identifiziert. Er half den Fucas häufig aus, wenn keiner der beiden im Laden sein konnte.) Einer der „Mechaniker“ überprüfte die zwei öffentlichen Fernsprecher im Hintergrund des Ladens, während sein Kollege im Hof rasch den schmalen, ein Meter hohen Schaltkasten öffnete. Auf Grund der von der Telephongesellschaft erhaltenen Hinweise fand er die zwei „Paar“-Schlüsselschrauben ohne Schwierigkeiten und schloß die blankgeschabten Enden zweier Drähte an. Dann kehrte er zu seinem Kollegen im Laden zurück; gemeinsam verließen sie die Imbißstube durch den Vordereingang. Wenige Augenblicke später standen sie wieder im Hof und tarnten die Drähte, die jetzt an Patsy Fucas Telephonzellen angeschlossen waren. Die CIB-Techniker spannten die Doppelleitung von einem Mast zum ändern, quer über die Maujer Street, und weiter in den Keller des Wohnhauses, wo die Kriminalbeamten des Dezernats schon warteten. Die Drähte wurden an zwei mit den -27-
Merkzeichen Imbißstube l und Imbißstube 2 versehene Tonbandgeräte angeschlossen. Dann warteten die Beamten, um einen Test durchzuführen. Diese automatischen Geräte setzen sich erst dann in Betrieb, wenn über das angezapfte Telephon ein Gespräch geführt wird; die Anwesenheit eines menschlichen Abhörers ist nicht erforderlich. Ob jemand die Kopfhörer in Gebrauch hat oder nicht, die Gespräche werden auf Papierstreifen aufgezeichnet. Ein weiterer Vorteil dieses Geräts ist, daß man die gewählten Telephonnummern feststellen kann. Endlich begann eine der Maschinen zu summen. Man hörte es klicken, wie die winzigen Löcher in das laufende Band geknipst wurden. Die Beamten spielten das Gespräch ab. Es war ein Kunde der Imbißstube, der seine Frau anrief. Die Anlage war in Betrieb. Am nächsten Morgen trafen Egan und Sonny neuerlich mit einem CIB-Trupp zusammen, diesmal im südlichen Teil Brooklyns, wo sich ungefähr das gleiche Spiel wiederholte, um das Telephon Patsy und Barbara Fucas in der 67th Street 1224 anzuzapfen. Diese „Anlage“ wurde im Keller eines Hauses um die Ecke installiert. Egan oder Grosso würden sie mehrmals am Tag überprüfen. So begann offiziell, was für die Kriminalbeamten Egan und Grosso, für das New-Yorker Rauschgiftdezernat und im weiteren Verlauf für die Polizeibehörden zweier Kontinente eine Kette von langwierigen Nachforschungen nach sich ziehen sollte, die am Ende das internationale Verbrechertum in seinen Grundfesten erzittern ließ. Doch in den ersten vierundzwanzig Stunden wäre die Untersuchung beinahe auf Grund gelaufen, bevor sie noch richtig eingesetzt hatte. Die Polizeioffiziere hatten gehofft, nicht weiter aufzufallen, als sie die Leitung in den Keller des Wohnhauses gegenüber von Patsys Laden verlegten und die Geräte hineinschafften. Die Hoffnung hatte getrogen. Ein Arbeiter mochte sie beobachtet oder vielleicht die „Imbißstube“-Aufschrift gelesen haben. -28-
Möglicherweise war der Hauswart ein Klatschmaul. Jedenfalls bekam Patsy Wind von den seltsamen Vorgängen in seiner nächsten Nähe, denn Freitag früh war Sonny sehr erstaunt, als er einen Anruf mithörte, den Patsy in der Imbißstube von einem Mann namens Louie bekam. Sie schienen sich recht gut zu kennen. Patsy hatte ihn anscheinend von einem ändern Telephon aus zu erreichen versucht und Nachricht hinterlassen, er möge ihn zurückrufen. „Patsy? Was gibt's?“ „Mir geht's gut... Hör mal, Louie, du mußt mir einen Gefallen tun.“ „Was soll's sein?“ „Meine Telephone hier im Laden. Ich möchte, daß du sie dir anschauen kommst.“ Einen Augenblick lang blieb der Mann stumm. „Du weißt schon, was ich meine. Wann kannst du vorbeikommen?“ „Hmmm... wie war's mit Montag?“ „Nicht doch“, protestierte Patsy. „Du kannst doch sicher früher!“ „Na ja, morgen geht's nicht. Sonntag?“ „Okay, Sonntag. Danke. Wie geht's der Familie?“ „Ach, denen geht's allen gut. Sie...“ „Gut. Okay, dann seh' ich dich also Sonntag“, sagte Patsy und legte auf. Wenige Augenblicke später drehte er an der Wahlscheibe. Er rief seine Wohnung an. In knappen Worten erzählte er Barbara von seinem Verdacht, daß etwas Sonderbares in Gang war, und trug ihr auf, ihn nicht im Geschäft anzurufen, bevor Louie nicht nachgesehen hätte. Grosso sauste ins Spital, wo Egan am Fenster des leeren -29-
Röntgenzimmers stationiert war. „Scheiße!“ bellte Egan wütend, als er von Patsys Gesprächen hörte, und schlug mit der offenen Hand auf die Fensterbank. „Wie zum Teufel ist er uns so schnell draufgekommen? Und wer zum Teufel ist dieser Louie?“ „Wahrscheinlich nur irgendein Vogel, der mit dem Telephon Bescheid weiß.“ Sonny überlegte. „Weißt du, so wie er geredet hat, möchte ich nicht sagen, daß Patsy uns tatsächlich draufgekommen ist. Er hat etwas gehört und denkt sich, wer kann das schon sein, wenn nicht ich. Aber ich glaube nicht, daß er wirklich weiß, was los ist.“ „Na ja“, knurrte Egan, „aber das hilft nichts. Wir müssen die Anlage platzen lassen, das GIB herbeordern und die Anschlüsse abmontieren.“ Wieder klatschte er zornig auf die Fensterbank. „Nicht genug, daß er uns jetzt von der Pfanne hüpft, wird er von nun an doppelt vorsichtig sein, selbst wenn sein Freund die Telephone in Ordnung findet.“ „Nimm einmal an, wir könnten Patsy einreden, daß... Ja! Daß wir einen ändern auf dem Kieker haben, und nicht ihn?“ Während er sprach, lehnte er sich über die Fensterbank und hielt das Gesicht nah an die Scheibe. Egan folgte seinem Blick und sah, daß Sonny nicht zu Patsys Imbißstube hinüberschaute, sondern zu den Läden unmittelbar gegenüber dem Spital. „Die andere Imbißstube!“ rief Egan. Er hatte verstanden. „Na klar! Man weiß nur, daß eine Imbißstube angezapft ist. Das könnte gehen. Machen wir uns an die Arbeit!“ Sonny ging ans Telephon und rief einen Kommissar von der Sittenpolizei in Brooklyn Nord an, den er kannte und der auf Buchmacher und Wettbüros spezialisiert war. Er bat ihn um Auskünfte über die Imbißstube auf der Bushwick Avenue gegenüber dem St.-Catherine-Hospital. In Brooklyn und in den meisten großen Städten überhaupt sind solche Vorstadtläden oft geschäftige Annahmestellen für das ungesetzliche Zahlenlotto und für alle Arten von Wetten. Die Einsätze bewegen sich -30-
zumeist in kleinem Rahmen, denn die Polizei ist ständig hinter den Missetätern her, um die Organisatoren der Verbrechersyndikate davon abzuhalten, ihre Operationsbasis auszudehnen. In wenigen Minuten war der Kommissar wieder am Apparat und bestätigte, daß das Geschäft einen zweifelhaften Ruf besaß; allerdings habe man bisher von einer gezielten Aktion Abstand genommen. Daraufhin gab Sonny ihm einen Überblick über sein Problem und erklärte ihm in groben Zügen seinen Plan. Der Kommissar erklärte sich bereit, sofort einige seiner Leute hinüberzuschicken, die sich mit der Örtlichkeit vertraut machen und mit den Kriminalbeamten zusammenarbeiten sollten. Anschließend rief Sonny sein Büro in Manhattan an und informierte Vinnie Hawkes und Sergeant Jack Fleming, den interimistischen Chef der Nachforschungssonderabteilung, die sich ganz automatisch für den Fall interessiert hatte, als Angelo Tuminaros Name zur Sprache gekommen war. Schließlich telephonierte er mit dem GIB und setzte es von Patsys Argwohn und der Notwendigkeit, die Anlage an einen ändern Ort zu verlegen, in Kenntnis. Nachdem die in diesem Ablenkungsmanöver als Köder ausgelegte Imbißstube einige Stunden lang unter Beobachtung gestanden hatte, in deren Verlauf das mehr oder minder verstohlene Kommen und Gehen einer Reihe verdächtiger Gestalten von Eddie und Sonny und Beamten der Sittenpolizei vermerkt worden war, sahen sie Sonnabend mittag endlich einen bekannten Buchmacher mit langem Strafregister, der mit dem Eigentümer in einer Ecke hockte und vermutlich Wetteinsätze annahm. „Das sollte reichen“, meinte einer der Beamten der Sittenpolizei, stürmte mit zwei Kollegen auf die Straße und rannte mit absichtlich übertriebenem Gehaben auf die Imbißstube zu. Wie vorher abgesprochen, kamen zwei Funkstreifenwagen mit heulenden Sirenen die Bushwick Avenue heruntergerast und blieben mit kreischenden Bremsen -31-
vor dem Laden stehen. Auf dem Gehsteig sammelte sich bald ein Haufen glotzender Zuschauer an, die sich aufgeregt unterhielten und versuchten, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Dann, während sich die uniformierten Polizisten noch mit viel Aufhebens bemühten, die Neugierigen zurückzuhalten, kamen die Kriminalbeamten mit ihren zwei unglücklichen Opfern, dem Buchmacher und dem Eigentümer, aus dem Lokal. Während sie sie zu einem der wartenden Wagen führten, grinste ein Beamter seinen Kollegen an und rief ihm so laut zu, daß es die ganze Nachbarschaft hören konnte: „Ob diese Kerle mal draufkommen werden, daß sie am Telephon nicht das Maul so voll nehmen sollen?“ „Ja, ja“, antwortete der andere, „wo wir die jetzt hinbringen, gibt's kein Telephon!“ Eine Stunde später summte das Tonbandgerät im Keller. Es war Patsy, der seine Wohnung anrief. „Alles in Butter, Baby“, teilte er fröhlich seiner Frau mit. „Weißt du noch, die Telephone, über die ich mir gestern solche Sorgen gemacht habe? Alles bestens. Es war der Kerl weiter unten, der andere Laden. Die Polente hat ihn beim Wetten erwischt. Geht uns nichts an. Ich rufe gleich Louie an.“ Was im Denken der zwei Kriminalbeamten den breitesten Raum einnahm, war die Hoffnung auf einen Hinweis auf den Aufenthaltsort Klein Angies, und in den folgenden Tagen und Wochen verstärkten Egan und Grosso ihre Bemühungen, näher an Patsy heranzukommen. Sie begannen die Imbißstube persönlich zu besuchen. Egan lieh sich von einem Krankenpfleger zwei weiße Jacken aus, und er und Egan wurden zu täglichen Gästen, die so wie andere Angestellte des Spitals dort ihren Bedarf an Zigaretten und Zeitschriften deckten oder ihre Kaffeepause verplauderten. Als Eddie und Sonny das erstemal ins Lokal kamen, stand -32-
Patsy hinter der Theke. Die Beamten waren nervös, und es fiel ihnen schwer, einem Mann gegenüberzusitzen, den sie seit zwei Wochen beschatteten. Aber Patsy hatte alle Hände voll zu tun und nahm von ihnen nicht mehr Notiz als von anderen Gästen. Am nächsten Tag war Patsy nicht im Laden; es bedienten der alte Mann, den die CIB-Agenten gesehen hatten, Barbara Fucas Stiefvater und der kleine, untersetzte Dunkelhaarige, der an jenem ersten Sonntag Patsy und seiner Frau ausgeholfen hatte, als Eddie und Sonny ihre Beobachtung aufnahmen. Schon am folgenden Tag, einem Sonntag, begann ihre Wachsamkeit Früchte zu tragen. In ihren weißen Jacken saßen die Kriminalbeamten gegen Mittag an der Theke, knabberten Kuchen und nippten an ihren Kaffeetassen. Der etwas jüngere, untersetzte Kerl - wie sich inzwischen herausgestellt hatte, Patsys Bruder Tony - arbeitete hinter der Theke. Teilweise von einem zerknitterten grünen Vorhang verborgen, der den kleinen Nebenraum vom Laden abteilte, saß Patsy mit dem Gesicht zur Tür an einem weißen Küchentisch mit Emailplatte. Im Laden befand sich nur noch eine Kundin, ein junges Mädchen, das am Büchergestell in Paperbacks schmökerte. Plötzlich merkte Egan, daß Sonny, der näher an der Tür saß, sich plötzlich aufrichtete und halb zur Seite drehte. Zwei Männer betraten die Imbißstube. „Harlem!“ murmelte Sonny und ließ den Kopf noch tiefer sinken. Egan warf einen Blick auf die Neuankömmlinge und verstand. Es waren brutale Typen, dunkelhaarig, von blasser Gesichtsfarbe, genau von der Art, wie sie von Polizisten automatisch als Gangster eingestuft werden. Das Wort Harlem war die deutliche Warnung, daß es sich um Leute handelte, die Sonny aus seiner früheren Umgebung kannte und die aller Voraussicht nach auch ihn kannten. Aber sie hatten nur Augen für Patsy im Hinterzimmer. Ohne zu zögern gingen sie an der Theke vorbei und setzten sich an den Tisch hinter dem halb zugezogenen Vorhang. Egan sah, wie der eine, der neben Patsy -33-
saß, einen prallgefüllten braunen Papiersack auf den Tisch stellte. Die drei unterhielten sich ein paar Minuten. Dann stand der Mann, der mit dem Rücken zum Verkaufsraum Patsy gegenüber saß, auf und lehnte sich weit über den Tisch. Egan sah, wie Patsy sich vorbeugte und aufmerksam betrachtete, was ihm gezeigt wurde. Hier wird kassiert, ging es Egan durch den Sinn, und seine Vermutung wurde sogleich bestätigt, als der Stehende sich wieder setzte und der Kriminalbeamte gerade noch sah, wie Patsy ein letztes Bündel Banknoten in den Sack stopfte. Dann erhob sich Patsy. Er hielt den Papiersack fest, nickte steif und sagte etwas zu den beiden Männern, bevor diese sich umdrehten, den Verkaufsraum durchquerten und auf die Straße traten. Eine Minute später zog Patsy einen dicken grauen Überrock an und kam aus dem Nebenraum. „Tony“, sagte er zu seinem Bruder hinter der Theke, „paß auf den Laden auf. Ich bin bald wieder da.“ Damit ging er. Egan und Grosso sahen ihn um die Ecke der Maujer Street biegen. Egan ließ sich von seinem Hocker gleiten. „Wir treffen uns auf der Station.“ „Du schuldest mir einen Kaffee und Brötchen“, rief Sonny ihm nach. Während Egan zu seinem Corvair trottete, der vor dem Spital geparkt war, fuhr Patsy schon mit seinem Oldsmobile los, die Maujer Street hinauf, und Egan, immer noch in seiner weißen Jacke, folgte ihm bis zu seinem Haus in der 67th Street. Er sah Patsy den braunen Sack mit Geld hineintragen. Jetzt sind wir schon einen ganzen Schritt weiter, dachte der Kriminalinspektor. Patsy ist der Vogel, dem sie die Kohlen bringen. Nachdem sie es nun geschafft hatten, daß Patsys Laden unter Beobachtung gehalten wurde, überlegten Eddie und Sonny, wie sie es anstellen sollten, auch einen Blick in sein Haus werfen zu -34-
können. Zwei Tage später gab ihnen Barbara Fuca selbst die Chance. Das Tonband in der Anlage in der 66th Street verriet ihnen, daß sie Macys angerufen und um hundertachtundsiebzig Dollar Vorhangstoffe bestellt hatte, die spätestens am Nachmittag des folgenden Tages geliefert werden sollten. Egan rief den Chef der Hausdetektive des Warenhauses an und erhielt die Auskunft, daß die Ware am nächsten Morgen durch den United Parcel Service ausgeliefert werden würde. Er setzte sich mit dem UPS in Verbindung und erfuhr den ungefähren Zeitpunkt, wann der betreffende Lieferwagen die Gegend zwischen der 67th Street und der Twelfth Avenue erreichen und welche Strecke er vermutlich fahren würde. Am folgenden Nachmittag fingen Egan und Grosso den UPSWagen etwa drei Blocks vor der 67th Street Nummer 1224 ab. Egan zeigte einen Ausweis, tat recht geheimnisvoll und erklärte, daß sie dienstlich unterwegs wären und den Wagen für etwa eine halbe Stunde ausleihen wollten. Er wies den verwirrten Fahrer an, seinen Personalchef anzurufen, um sich die Richtigkeit ihrer Angaben bestätigen zu lassen. Danach lieh er sich die braune Jacke und die Schirmmütze des Fahrers aus. Hierauf kletterte er in den Wagen und fuhr davon, während Sonny den verdutzten Mann zuvorkommend zu seinem eigenen Kabriolett geleitete, das auf der 65th Street, nahe der Tenth Avenue, geparkt war. Gegen drei Uhr nachmittags traf Egan mit den Vorhangstoffen vor dem Haus der Fucas ein. Barbara öffnete ihm die Tür. Sie sah nicht schlecht aus, aber ihr Haar war jetzt weder hellblond noch toupiert; es war kurz und ungekämmt und, wie Egan überrascht feststellte, ein fades Mausbraun. Also trägt sie Perücken! Das mußte man sich merken. Egan schleppte das schwere Paket ins Wohnzimmer. Das Haus war wunderschön, offenbar von einem Innenarchitekten eingerichtet. Es gab einen dicken weißen Teppich, antike, in sattem Blau gepolsterte Möbel; ein Kronleuchter hing an Ketten herab, und die Bronze -35-
oder das Gold, oder was es eben war, schimmerte, als ob es sorgsam gepflegt würde. Bei einer solchen Einrichtung, dachte Egan, müßte eine Frau ihre Kinder wohl in die Dachkammer sperren. Aber auf dem Sofa saß eine andere Frau, und auf dem Boden kauerten zwei kleine Kinder und zeichneten in Malbüchern. Es fiel ihm ein, daß die Fucas nur ein Baby hatten, keine zwei Jahre alt; demnach mußten diese beiden der anderen Frau gehören. Seine geübten Augen merkten auch noch etwas anderes. Unter dem Mittelfenster, hinter weißen Vorhängen kaum zu sehen, führten Drähte zu einer Alarmglocke. Patsy war ein vorsichtiger Mann. Es war eine Lieferung gegen Nachnahme, und Barbara ging an den Schreibtisch im provenzalischen Stil, der am ändern Ende des Wohnzimmers stand. Sie zog eine Lade heraus, langte hinein und schien - von Egan unauffällig beobachtet - tastend nach etwas Verstecktem zu suchen; sie fand es, und eine zweite, verborgene Lade glitt unterhalb der ersten heraus. Egan hatte Mühe, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, denn er sah diese kunstvoll erdachte Vorrichtung nicht zum erstenmal: das Geheimfach war die Spezialität eines polizeibekannten italienischen Tischlers, der nur für hohe Mitglieder der Mafia arbeitete. Barbara nahm eine Handvoll Geldscheine aus dem Versteck, zählte hundertachtundsiebzig Dollar ab und gab sie Egan. Er bat sie, den Durchschlag des Lieferscheines zu unterschreiben, und dankte ihr. Sie lächelte, und er zog die Mütze vor der anderen Frau. Die Kinder hatten nicht ein einziges Mal aufgesehen. Der Vorfall zeigte, daß Barbara Fuca das Geheimfach kannte, wobei die Frage ungelöst blieb, ob Patsy das wußte. Die beiden Kriminalbeamten mutmaßten weiter, daß Patsy nicht nur große Beträge in seiner Wohnung aufzubewahren pflegte, sondern möglicherweise auch keine genauen Aufzeichnungen machte, wieviel er jeweils im Haus hatte. Daraus ergaben sich andere logische Folgerungen: Hatte Patsy -36-
etwas mit dem Vertrieb von Heroin zu schaffen, dann verhandelte er höchstwahrscheinlich mit den großen Einkäufern als Klein Angies Vertreter; seine gehobene Stellung mochte ihm zu Kopf gestiegen sein und ihn zur Sorglosigkeit verleitet haben. Jeder einzelne „Kunde“, der Kohlen auf den Tisch legte, wußte bestimmt bis auf die Unze genau, wieviel „Stoff“ er dafür zu erwarten hatte; dennoch führte Patsy offensichtlich nicht Buch und stopfte das Geld nur einfach in sein Versteck - womit er unter Umständen, da seine Frau davon wußte, in Schwierigkeiten geraten konnte. Patsy mochte nicht besonders helle sein; anderseits war er vorsichtig und durfte auch nicht unterschätzt werden. „Armer Patsy“, kicherte Egan, „wenn er nicht genug Kies hat, um die nächste Ladung zu übernehmen, werden einige seiner Kunden nicht auf ihre Rechnung kommen.“ „Und wenn ihm seine Freunde draufkommen?“ So oder so, ihre Zuversicht wuchs, daß Patsy Fuca das Werkzeug war, mit dessen Hilfe sie Klein Angie Tuminaro würden auffliegen lassen. Mitte November 1961. Patsy und Barbara Fuca standen nun schon seit sechs Wochen unter ständiger Beobachtung. Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten lieferten Kunden Patsy Geld ab; dies geschah vor den Augen der Polizei oder auch bei geheimen Treffs. Nach Ansicht der Kriminalbeamten mochten bei dieser Gelegenheit auch häufig kleine Mengen Heroin den Besitzer gewechselt haben. Sie hätten Patsy in jedem einzelnen Fall schnappen können. Aber sie verloren das große Ziel nicht aus den Augen - Klein Angies Aufenthaltsort auszukundschaften - und ließen Patsy daher an einer langen Leine weitermachen. Chefinspektor Carey hatte inzwischen mehrere Beamte des Dezernats für die Zusammenarbeit mit Eddie Egan und Sonny -37-
Grosso abgestellt. Auch George Gaffney, der Leiter des NewYorker Büros des Bundesrauschgiftdezernats, hatte sich genügend interessiert gezeigt, um den Spezialagenten Frank Waters anzuweisen, mit der städtischen Polizei zusammenzuarbeiten. So verging im November kaum eine Tagoder Nachtstunde, da nicht jede Bewegung der Fucas registriert worden wäre. Immer noch leiteten Egan und Grosso die gesamte Operation und erstatteten regelmäßig ihrem Chef, Leutnant Vinnie Hawkes, und Sergeant Jack Fleming von der NSA Bericht. Die beiden Beamten verwendeten auch weiterhin ihre Freizeit, um mehr über den Aufbau der Organisation Tuminaro-Fuca zu erfahren. Hin und wieder gönnte sich Sonny einen Abend, um kegeln zu gehen, oder einen Sonntag im Yankee-Stadion, wo er zusammen mit seinem Freund den Giants beim Rugby zusah. Egan gelang es, in unregelmäßigen Abständen mit Carol Galvin zusammenzukommen. Aber im wesentlichen nahm der Fall Fuca ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und sie verbrachten einen großen Teil ihrer Freizeit damit, den bekannten Lieferanten und Händlern in Harlem und Brooklyn auf den Fersen zu bleiben und ihre verläßlichsten Spitzel nach weiteren Informationen über Patsy auszuquetschen. Egans Beziehungen zu Carol Galvin wurden für ihn zu einer Quelle der Unruhe. Er sehnte sich nach ihrer Gesellschaft und glaubte sicher zu sein, daß auch sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Sie war ein wirklich hübsches Mädchen. Nie zuvor war er mit einem so reizenden Wesen ausgegangen. Er hatte sie bei einem gelegentlichen Besuch im Copa kennengelernt, und als sie sich gegenüber seinen unausbleiblichen Annäherungsversuchen auf bezaubernde Weise empfänglich zeigte, kam er bald jede Nacht vorbei, um sie nach Hause zu begleiten, wenn der Nightclub um drei Uhr früh schloß. Die späte Stunde störte ihn nicht; er kam sowieso nur selten früher aus dem Dienst. Was ihn wurmte, war ihr Wunsch, er möge -38-
nicht im Club auf sie warten, denn zu den Kunden des Copa zählten bekannte Gangster, und Carol fürchtete, die Direktion könnte an der Anwesenheit eines Bullen Anstoß nehmen, obgleich er sich einzig und allein für die Garderobiere des Lokals interessierte. Sie trafen sich also beim Central Park, an der Ecke der 60th Street, und gingen anschließend irgendwohin essen - eine Pizza oder irgendwelche chinesische Spezialitäten. Carol brachte alle körperlichen Voraussetzungen für ein Photomodell oder die Schauspielerei mit, doch vielleicht mangelte es der Neunzehnjährigen am nötigen Ehrgeiz und an der erforderlichen Ausbildung. Sie hatte an den üblichen Schönheitskonkurrenzen teilgenommen und hatte die Stellung im Copa nur angetreten, um den „richtigen“ Leuten ins Auge zu fallen. Doch wenn man von den unmißverständlichen Anträgen liebebedürftiger Gäste absah, hatte sich nichts Aufregendes ergeben. Nichts, außer daß sie sich in einen rothaarigen Polypen verknallt hatte. Egan war sehr besorgt um sie. Es gefiel ihm nicht, daß sie im Copa arbeitete - gerade wegen der bezasterten Gangster, die dort verkehrten. Sie wohnten beide in Brooklyn, und er gab ihr einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Carol hatte keine Familie, und wenn das Copa in den frühen Morgenstunden schloß und Eddie sie nicht abholen konnte, fuhr sie in ihrem eigenen Wagen zu seiner Wohnung und wartete dort, bis er nach langen Stunden harten Dienstes im Kampf gegen die Heroinhändler endlich heimkam. Dieser Zustand war für beide Teile unbefriedigend, und Egan fand eine neue Lösung, die seine polizeilichen Instinkte auf ideale Weise mit dem Wunsch verband, Carol mehr um sich zu haben. Er erfuhr von einer offenen Stelle für eine Kellnerin in einem, wie er sagte, „respektableren“ Restaurant im Zentrum, im Bankenviertel, in der Nassau Street, nicht weit vom Hauptquartier des Rauschgiftdezernats. Die Klientel der Nassau Tavern, die sich zu Mittag aus Maklern, Bankiers und Anwälten zusammensetzte, verwandelte sich -39-
abends auf dramatische Weise in ein Publikum, das sein Geld vornehmlich in der Hafengegend verdiente. Selbst Patsy Fuca kam gelegentlich vorbei, und sein Bruder Tony war ein häufiger Gast. Carol entwickelte sich zu einer wertvollen Nachrichtenquelle. In der neuen Stellung hatte Carol schon um elf Dienstschluß, und gar nicht so selten richtete Egan es ein, sich mit ihr zu treffen und sie zur Beaufsichtigung Patsy Fucas mitzunehmen. Dies begann seinen Partner Sonny Grosso zu ärgern, aber Eddie wies darauf hin, daß er ebensogut mit Carol wie mit Sonny vor Patsys Laden oder Haus Wache halten könne, und ganz gewiß auf vergnüglichere Weise. Doch Carol wurde dieses Trotts bald müde. Sie begann Bemerkungen fallenzulassen, daß das kein Leben für ihn sei, für beide nicht, daß er aus dem Polizeidienst ausscheiden solle und daß sie ein schönes Leben zusammen führen könnten, wenn er nicht so mit Arbeit überlastet wäre. Aber Egan fühlte sich gar nicht „überlastet“: er liebte seine Arbeit, und sie war sein Lebenszweck, auch wenn er es mit den Dienstvorschriften nicht immer so genau nahm. Er begehrte Carol, aber zuerst kam sein Beruf. Sie machte ihre Gegenzüge, indem sie ihm erzählte, einige wohlhabende Gäste des Restaurants hätten ihr interessante Vorschläge unterbreitet, die es wohl wert wären, ernsthaft erwogen zu werden. Sie stritten sich häufiger. Egan und Sonny ließen sich von persönlichen Problemen nicht irritieren; sie waren unermüdlich. Sie hatten beträchtliches Material über Lebensweise und Herkunft der Fucas gesammelt. Barbaras Stiefvater hatte während der Prohibition Schmugglerfahrzeuge überfallen und ausgeraubt, war aber seit vielen Jahren „im Ruhestand“ und half im Laden aus. (Der alte Dodge, den Patsy gelegentlich benützte, gehörte ihm.) Patsys Bruder Tony war jener schmierige, grobschlächtige Kerl im verschossenen Lumberjack, den sie schon mehrmals gesehen hatten. Er war einunddreißig, ein Jahr älter als Patsy. Tony war -40-
Hafenarbeiter und wohnte in einer verfallenen Gegend in der Bronx mit seiner Frau und zwei kleinen Töchtern. Auf der 7th Street, nahe jenem Teil Brooklyns,, den man Gowanus nennt, besaßen Patsys Eltern, beide in den Sechzigern, ihr eigenes dreigeschossiges Haus; die beiden oberen Stockwerke vermieteten sie. Der alte Fuca, Giuseppe oder Joseph, war vor Jahren wegen tätlicher Bedrohung und Raub gesessen. Die einzigen Freunde, mit denen Patsy und Barbara zusammenzukommen schienen, waren Nicky Travato, ein Hafenarbeiter, und dessen Frau, die auch Barbara hieß. Sie wohnten etwa vier Häuserblocks von den Fucas entfernt, in der 66th Street, nahe der 15th Avenue. Obwohl Nicky im Hafen arbeitete und die Familie in einer schäbigen, rußigen Wohnung hauste, die praktisch unter den Schienen der dort als Hochbahn geführten New Utrecht Avenue BMT Subway lag, vermerkten die Beamten mit Interesse, daß die Travatos einen fünf Jahre alten Cadillac besaßen. Sie hatten in einigen Nächten beobachtet, wie Nicky Patsy abholte und mit ihm zu verschiedenen Plätzen in Brooklyn fuhr, wo einer von ihnen ausstieg, kurz einen Laden oder ein Gebäude betrat, worauf sie ihre nächtliche Rundreise fortsetzten. Die Beamten schlössen daraus, daß die beiden Rauschgift auslieferten und vielleicht auch Bestechungsgelder verteilten; offenbar wußte Nicky von allem, und so wurde auch sein Name in die ständig wachsende Akte Patsy Fuca aufgenommen. Patsy verbrachte seine Abende nur selten daheim. Für gewöhnlich war er bis gegen Mitternacht in seinem Laden, und drei- bis viermal die Woche fuhr er fünfzehn Autominuten weit nach Manhattan hinüber, um eine Bar zu besuchen, die sich Pike Slip Inn nannte. Es war eine schwach erleuchtete Kneipe von düsterem Aussehen, um die Ecke von den Piers und nicht weit vom Fultoner Fischmarkt. Sie gehörte einem Strolch namens Mickey Blair und galt als Zufluchtsort von Ganoven. Egan und Sonny waren in erwartungsvoller Erregung, als sie -41-
Patsy das erstemal dorthin folgten. In dieser schmutzigen Kneipe wurde Patsy wie ein Angehöriger einer königlichen Familie empfangen. Sonny folgte ihm ins Lokal, und vom Ende der Theke, nahe der Tür, konnte er deutlich erkennen, daß das Dutzend anwesender Gäste von Patsys verwandtschaftlicher Beziehung zu Klein Angie wußte und ihm entsprechend huldigte. Doch nach einigen solchen Besuchen begann Sonny sich zu fragen, ob es mit Blairs Bar wohl etwas Besonderes auf sich hatte, denn Patsys Interesse schien sich dort nur auf die Bardame, eine nette kleine Südländerin namens Inez, zu konzentrieren. Er machte ihr auf derbsinnliche Art gewaltig den Hof, indem er mit ihr flirtete, sie küßte oder abtätschelte, wenn sie vorbeikam, ihr ins Ohr flüsterte oder schallend über einen Witz lachte. Danach überquerte er wieder die Manhattan-Brücke und fuhr heim nach Brooklyn. Weil er so spät nach Hause kam, war Barbara Fuca an den meisten Abenden genötigt, selbst für ihre Unterhaltung zu sorgen. Ihr Lieblingszeitvertreib war Bingo, und sie mußte diese Lebensweise schon seit langem führen, denn sie wußte über die Termine aller Bingo-Abende in Brooklyn und auch einiger in Queens genau Bescheid. Drei oder viermal die Woche begab sich Barbara mit Barbara Travato oder einem anderen Mädchen mit knallrotem Haar, sie hieß Marilyn, in eine Kirchenhalle oder einen Theatersaal. Anfangs hielten es Egan und Sonny für ratsam, den Damen in diese Volksheime und Gemeinschaftshäuser zu folgen, denn anders ließ sich nicht feststellen, ob diese Ausflüge nicht nur bloße Scheinmanöver waren und Barbara vielleicht als Mittelsperson fungierte, durch die Angelo Tuminaro mit seinem Neffen in Verbindung stand. Sie beobachteten jeden, mit dem Barbara sich bei diesen Veranstaltungen unterhielt, aber alles deutete darauf hin, daß sie nichts anderes tat, als einem unschuldigen Vergnügen nachzugehen. Nach einiger Zeit gaben es die gelangweilten Kriminalbeamten auf, sie noch länger beim Bingo zu beschatten. -42-
Von Zeit zu Zeit ging Patsy mit seiner Frau abends aus, und zumindest einmal, zu Anfang der Überwachung, war ihrem Geschmack, was Unterhaltung betraf, eine bizarre Note nicht abzusprechen- An einem Freitagabend Ende Oktober folgten Eddie und Sonny Patsy und den zwei Barbaras über den Belt Parkway in den Bezirk Nassau zu einem heiteren Kostümball in einem Country Club in Lynnbrook an der Südküste von Long Island. Der Ball war in mehr als einer Beziehung heiter. Der lärmerfüllte Saal war gesteckt voll und gab den glitzernden Rahmen ab für eine Vielfalt von Kostümen, Frisuren und Aufmachungen. Es stellte sich bald heraus, daß viele der Mädchen Knaben waren und umgekehrt. Die zwei verdutzten Kriminalbeamten erfuhren bald, daß es sich hier um eine Veranstaltung handelte, die von einem homosexuellen Verein von Zeit zu Zeit in schöner Regelmäßigkeit aufgezogen wurde. Patsy und Barbara waren offenbar ständige Gäste und hatten ihren Spaß an den quiekenden, zeternden Schwulen und dem Wettstreit zweier lesbischer „Männchen“ um eine „Königin“. Eddie und Sonny versuchten es den umherkarriolenden warmen Brüdern gleichzutun und kicherten sich verlegen an; nach einer Stunde verschwanden sie von der Bildfläche. Sie wollten die Beobachtung am nächsten Tag fortsetzen. Anfang November begannen bei der Polizei Spitzelinformationen einzulaufen, wonach eine „Panik“ im Entstehen sei: die vorhandenen Bestände an Stoff wären bedrohlich zusammengeschrumpft. Jeden Augenblick müsse eine große Ladung in der Stadt eintreffen, hieß es. Die Beamten verdoppelten ihre Wachsamkeit; sie zweifelten nicht daran, daß Patsy Fuca im entscheidenden Moment kräftig mitmischen würde. Sonnabend, den 18. November, saßen Eddie und Sonny spätabends in Sonnys Kabriolett gegenüber von Patsys -43-
Imbißstube. Sie beobachteten ihn seit nachmittag, die Nacht wurde kühl, und sie waren müde. Patsy werkte im Laden herum und traf Vorbereitungen, zu schließen; die zwei Polizeioffiziere wollten fast ein Stoßgebet zum Himmel schicken, er möge endlich heimgehen und auch ihnen die Möglichkeit geben, der wohlverdienten Ruhe zu pflegen. Um sich einen Spaß zu machen, hatte Eddie sich einen schlaff herabhängenden, breitkrempigen, federgeschmückten schwarzen Damenhut über eine rote Perücke gestülpt, die Hosen unter dem Trenchcoat aufgerollt und sich eng an den hutlosen, schwarzhaarigen Sonny auf dem Fahrersitz angekuschelt. Einem vorbeikommenden Spaziergänger hätte sich der rührende, wenn auch vielleicht etwas eigenartige Anblick eines mageren, blassen jungen Mannes in trauter Umarmung mit einem eindeutig kräftig gebauten, rotbackigen Mädchen geboten. Kurz nach halb zwölf blieb ein blauer Buick, in dem zwei Mädchen saßen, vor der Imbißstube stehen und hupte. Die Beamten waren sich sicher, daß es einer von Fucas Wagen war, aber die Fahrerin sah nicht wie Barbara aus, und sie konnten auch das andere Mädchen nicht identifizieren. Kurz darauf erloschen die Lichter im Laden. Patsy erschien, versperrte die Tür, kletterte zu den Mädchen auf die vordere Sitzbank, und der Wagen fuhr los. Es sah aus, als ob Patsy eine Party besuchen wollte. Die Beamten seufzten, denn sie mußten ihm auf den Fersen bleiben; man wußte nicht, wann und wie er versuchen würde, mit Klein Angie Verbindung aufzunehmen. Sie folgten dem Buick über die Brooklyn-Queens-Schnellstraße in südlicher Richtung; wenigstens ging es nicht nach New York. Der Buick umrundete die Brooklyner Marinewerft, bog in die Uferstraße ein, die sich gegenüber den Häusertürmen des unteren Manhattan an der Mündung des Fast River hinzieht und dann den Gowanus-Kanal kreuzt, und verließ sie an der Fourth Avenue, wo er in die 7th Street einschwenkte. Hier wohnten Patsys Eltern. Der Wagen -44-
fand eine Parklücke in der Mitte des Blocks. Egan und Sonny fuhren langsam vorbei. Es war eine in östlicher Richtung verlaufende Einbahnstraße. Patsy und die Mädchen gingen in das Haus seiner Eltern, Nummer 245, das in der Mitte einer Reihe von sieben gleichartigen dreigeschossigen Baulichkeiten stand. Und jetzt erkannte Sonny auch eines der Mädchen: „Das ist Barbara mit einer ihrer Perücken!“ Egan stimmte ihm bei. „Und ich weiß auch, wer die andere ist: ihre rothaarige Freundin Marilyn.“ Das Büro hatte Nachforschungen über Marilyn angestellt, aber es war dabei lediglich herausgekommen, daß sie eine gute Freundin Barbaras war. „Merkwürdig“, meinte Sonny, während sie in einer Halteverbotszone nahe der Ecke der Fourth Avenue parkten. „Scheint mir doch ein bißchen spät für einen Besuch bei den alten Herrschaften, noch dazu mit einer Freundin.“ Nach etwa zwanzig Minuten kamen die drei wieder aus dem Haus und bestiegen den Buick. Marilyn chauffierte. Der Polizeiwagen folgte ihnen in westlicher Richtung über die 9th Street, von wo sie in die Auffahrt zur Gowanus-Schnellstraße einschwenkten. Sie ließen die Abzweigungen zum BrooklynBattery-Tunnel und zur Brooklyn-Brücke links liegen, doch an der Fiatbush Avenue bog der Wagen in die Anfahrt zur Manhattan-Brücke ein. Bauarbeiten, die dort durchgeführt wurden, erschwerten die Auffahrt zur Brücke, und nach einigem Zögern fuhren sie neuerlich in die Schnellstraße ein und weiter in nördlicher Richtung bis zur Ausfahrt an der WilliamsburgBrücke. Seitdem sie das Haus von Patsys Eltern verlassen hatten, gab Egan über Funk laufend Berichte über ihre Route an einen ändern Wagen weiter, der mit seinem Kollegen Dick Auletta und dem Agenten Frank Waters vom Bundesrauschgiftdezernat besetzt war; welche Richtung auch immer die unter Beobachtung stehenden Personen einschlagen mochten, ob zurück zur Imbißstube oder nach Manhattan, Auletta und Waters -45-
sollten Egan und Sonny bei der Verfolgung unterstützen. Als sich der Buick nun anschickte, die Williamsburg-Brücke zu überqueren, wies Egan die anderen Kriminalbeamten an, loszufahren und ebenfalls auf die Brücke zuzuhalten. Um diese späte Stunde war der Verkehr zwar flüssig, bewegte sich aber nur langsam über den East River und kam an der Ausfahrt nach Manhattan fast zum Erliegen. Zwischen den Wagen Fucas und Sonnys befanden sich mehrere andere, und Egan, an seinem Damenhut und der Perücke herummanipulierend und Verwünschungen aller Art ausstoßend, beugte sich zum rechten Fenster hinaus und reckte den Hals, um den blauen Buick nicht aus den Augen zu verlieren. Ein großer grüner Abschleppwagen mit rot blinkenden Warnlichtern blockierte teilweise die Abfahrt von der Brücke in die Delancey Street. „Polizeiauto, muß ein Unfall sein!“ schrie Egan seinem Partner über die Schulter zu. „Polypen!“ stieß er hervor. Er konnte einen Polizisten ausmachen, der ein Fahrzeug nach dem ändern von der verstopften Brücke weg in die einzige noch offene Fahrbahn einwies. In diesem Augenblick wurde dem Buick die Abfahrt in die Delancey Street freigegeben. Drei Wagen dahinter saßen Egan und Grosso hilflos eingekeilt in der Schlange. Egan stieß die Tür auf. „Ich laufe vor, damit ich sehe, welche Richtung sie einschlagen. Fahr nicht an mir vorbei...“ Und er sprang hinaus und lief die Brücke hinunter, Patsys Wagen nach. Er dachte nicht daran - und würde er daran gedacht haben, es hätte ihm nichts ausgemacht -, was für einen seltsamen Anblick er bot, wie er da, dreißig Minuten nach Mitternacht, die Delancey Street hinuntergaloppierte. Dies war eine alte, traditionell jüdische Immigrantengegend, und trotz der späten Stunde brannte noch Licht in vielen Häusern, denn es war die Nacht nach dem Sabbat. Die meisten koscheren Delikatessengeschäfte und chinesischen Restaurants waren noch offen. Eine beträchtliche Anzahl von Fußgängern spazierte auf -46-
den Gehsteigen und beobachtete erstaunt den großen, rotbäckigen Mann, der mit verschobener Perücke, einen breitkrempigen Damenhut schwingend, mit fliegenden Mantelschößen über nackten Waden an ihnen vorbeistürmte eigentlich mit nur einer nackten Wade, denn das andere Hosenbein hatte inzwischen begonnen, sich unter dem Trenchcoat aufzurollen. Zum Glück war Patsys Wagen von zwei Verkehrsampeln aufgehalten worden, und Egan sah, daß er nach links in die Allen Street einbog, in Richtung Pike Street und Fluß. Schweißgebadet trotz der Novemberkälte, nach Atem ringend, wartete er aufgeregt auf der Verkehrsinsel auf der Kreuzung von Delancey und Allen und versuchte, Sonnys Olds zu erspähen. Als Sonny ihn endlich sichtete, tanzte Egan mitten auf dem Fußgängerübergang herum, gleichzeitig bemüht, dem Verkehr auszuweichen, seinen Kollegen abzufangen und Patsys Wagen nicht aus den Augen zu verlieren, der jetzt in schnellem Tempo die Allen Street hinuntersauste. Egan forderte ihn durch einen Wink auf, links abzubiegen, und während Sonny die Fahrt verlangsamte, sprang er in den Wagen. „Allen... Pike Slip...“, keuchte Eddie, als Sonny aufs Gas stieg. „Wo sind die andern?“ keuchte er dann. „Stecken noch auf der Brücke.“ Sonny warf einen Blick auf seinen schwer atmenden Partner, und ein Lächeln erhellte sein sonst so melancholisches Gesicht. „Was ist so komisch?“ wollte Egan wissen. „Ich dachte mir gerade, wenn Patsy in das Pike Slip Inn geht, solltest du ihm nachgehen. Du siehst aus wie eine alte Schlampe. Sie werden dich mit allen Ehren empfangen.“ Egan sah an sich hinunter. „Ja, ja, und das nächste Mal kannst du, kostümiert kommen, du Klugscheißer“, schnaubte er, nahm die Perücke ab und rollte das Hosenbein hinunter. Dick Aulettas Stimme knackte im Lautsprecher. „Wo seid ihr -47-
Leute denn?“ „Habt ihr die Brücke geschafft?“ fragte Sonny. „So 'ne Sauerei! Wir sind auf der Delancey.“ „Biegt links in die Allen ein. Wir sind jetzt auf der Höhe von Hast Broadway. Wir melden uns wieder, Ende.“ „Verstan...“ „Augenblick, sie biegen links in den East Broadway ein...“, unterbrach Sonny. Der blaue Buick hatte angehalten und parkte in zweiter Spur in der Mitte des ersten Blocks. Gerade als Sonny mit seinem Olds die Ecke Allen und East Broadway erreichte, stieg Patsy aus seinem Wagen und überquerte allein die Straße. Ohne ein Wort zu sprechen, sprang Egan hinaus, hastete quer über die Allen und begann dann lässig den East Broadway hinaufzuwandeln, auf den Punkt zu, der auch Patsys Ziel zu sein schien. Inzwischen machte Sonny eine Schleife und fuhr den East Broadway hinunter, vorbei an dem mit laufendem Motor abgestellten Buick, in dem Barbara und Marilyn saßen. An der nächsten Ecke, bei der Rutgers Street, wendete er den Olds, um auf der anderen Straßenseite zurückzufahren. Plötzlich aber scherte vor ihm eine große, hellfarbene Limousine mit quietschenden Reifen aus der Reihe der am Randstein geparkten Wagen aus, beschrieb eine scharfe U-Kurve, verlangsamte vor dem Buick kurz die Fahrt und brauste dann den East Broadway stadteinwärts davon. Die Mädchen im Buick folgten. Egan hastete zum Wagen seines Partners. Während Sonny neuerlich wendete, um den zwei anderen Fahrzeugen zu folgen, meldete sich Frank Waters: „Wir sind jetzt hinter euch. Was war los?“ Sonny griff nach dem Mikrophon. „Habt ihr Leute eben eine große helle Limousine wenden und in dieser Richtung abschwirren gesehen? Anscheinend fuhr Patsys Wagen ihm nach.“ „Nein.“ -48-
„Ich hab' sie gesehen“, rief Egan, noch ein wenig atemlos, „konnte aber nicht erkennen, wer am Steuer saß. War es Patsy?“ „Ich glaube, ja. Es ging sehr schnell. Die Farbe war so eine Art Beige.“ „Was für Nummerntafeln?“ „Schienen mir weiß zu sein.“ „Kein New-Yorker also.“ „Schau!“ rief Sonny. Zwei Blocks weiter vorn bog der Buick rechts ab. Die Limousine war nicht zu sehen. Als der Wagen der beiden Beamten beinahe bei der Ecke war - es war die Montgomery Street -, bremste Sonny fast auf Stillstand, und Egan sprang hinaus. Rechts stand ein Lagerhaus. Er lief vor, hob den linken Arm und spähte um die Ecke. Am Ende der dunklen Straße, nahe am Fluß, sah er zwei Paar roter Hecklichter in Bewegung. Etwa drei Blocks weiter setzte der erste Wagen neuerlich zu einer Richtungsänderung an; der zweite folgte ihm. Egan ließ den Arm sinken und lief zu Sonnys Olds zurück. Sie bogen in die Montgomery ein; Auletta und Waters hielten sich knapp hinter ihnen. Die dritte Querstraße war Cherry Street. Wieder bremste Sonny den Wagen ab, und abermals ging Egan an die Ecke vor. Jetzt waren die roten Augen etwa zwei Blocks entfernt... und schwenkten neuerlich ein, diesmal nach links. Egan sauste zum Olds zurück und machte den Kollegen im zweiten Wagen ein Zeichen. Die zwei Wagen bogen in die Cherry Street ein und glitten langsam an der ausgedehnten LaGuardia-Wohnbauanlage vorbei. Die Straße war schwach beleuchtet und lag mit den an beiden Bordsteinen geparkten Automobilen verlassen da. Vor ihnen ragte die Manhattan-Brücke auf. Sie kreuzten Clinton Street und verlangsamten die Fahrt vor der nächsten Straße, Jefferson Street. Zum drittenmal war Egan aus dem Wagen, bevor dieser noch stand, und lief leichtfüßig, wie ein etwas -49-
stämmiger Spitzentänzer, den Gehsteig entlang. Wieder stand ein Warenhaus an der Ecke. Den rechten Arm erhoben, kauerte er sich nieder. Leere Autos waren am Bordstein geparkt und nahmen ihm die Sicht, aber er glaubte das leise Brummen eines leerlaufenden Motors zu hören und konnte schließlich das blaßrote Leuchten eines Hecklichts ausmachen. Seine Haltung mußte den Anschein erweckt haben, als wollte er unvermittelt in das Geschehen eingreifen, denn von rückwärts näherten sich jetzt leise Schritte. Mit dem Finger an den Lippen blickte Egan sich um. Es war Frank Waters. Egan drehte den Kopf wieder zurück. Gerade als Waters nach seinem Ellbogen faßte, sah er ein blasses Licht aufblitzen und hörte eine Wagentür zufallen. „Was ist das? Was war das?“ flüsterte der Agent ungeduldig. „Deckenleuchte. Ich glaube, jemand ist eben aus einem Wagen ausgestiegen. Aber ich kann nichts sehen.“ Dann war wieder ein Klicken zu vernehmen, möglicherweise die Tür eines anderen Wagens, die sanft geschlossen wurde, und das Geräusch eines anfahrenden Autos. Das rote Licht entfernte sich. Egan packte Waters am Arm und rannte zu den Wagen zurück. „Sie fahren weiter!“ rief er. „Sonny und ich werden uns um sie kümmern. Du und Dick, ihr wartet hier, bis wir euch rufen. Ich weiß nicht, ob Patsy wieder den Wagen gewechselt hat oder nicht.“ Er warf sich in den Olds neben Sonny. „Los!“ bellte er. „Sie sind die Jefferson hinunter!“ Sonny kurvte um die Ecke. Die Hecklichter näherten sich der South Street und dem Viadukt, das zwei Blocks weiter die Straße querte. Kein anderes Fahrzeug war zu sehen. Sonny stieg aufs Gas. Der Wagen vor ihnen bog nach rechts in die South Street ein. Es war Patsys kleiner Buick. Die Beamten konnten die Köpfe auf den Vordersitzen nur verschwommen ausmachen - es mochten drei sein, oder vielleicht nur zwei. Auch Sonny schwenkte um die Ecke. Egan forderte ihn durch -50-
eine Handbewegung auf, in eine verdunkelte Tankstelle einzufahren und zu halten. Dann langte er nach dem Mikrophon: „Frank, Dick: es ist zweifellos sein Wagen. Vielleicht sitzt er drin, vielleicht auch nicht. Übernehmt ihr ihn jetzt.“ „Verstanden.“ „... fahren die South weiter, werden langsamer. Sieht so aus, als ob sie die Pike hinauffahren wollten...“ Sekunden später sahen Egan und Grosso Frank Waters weißen Hardtop aus der Jefferson hervorschießen und die South Street hinunter dem blauen Buick nachjagen. „Wir wollen uns mal in der Jefferson umschauen, wo sie stehengeblieben sind“, fuhr Egan fort, immer noch ins Mikrophon sprechend. „Er muß die Limousine dort stehengelassen haben. Kommt zurück, wenn nichts los ist, okay?“ „Verstanden.“ Sonny steuerte den Olds aus der Tankstelle in die Water Street und ließ ihn bis zur Ecke Jefferson Street rollen. Nachdem er Motor und Scheinwerfer abgestellt hatte, stiegen er und Egan aus und gingen, der eine auf der rechten, der andere auf der linken Straßenseite, die Jefferson Street langsam zur Cherry Street hinunter, wobei sie die geparkten Fahrzeuge sorgfältig musterten. Etwa in der Mitte des Blocks zischte Egan über die stille Straße: „Beige, sagtest du?“ „Mir schien es so“, krächzte sein Kollege zurück. „Weiße Nummerntafeln?“ „Komm her. Ich glaube, ich hab' ihn.“ Egan stand hinter einem viertürigen Buick, beige oder hellbraun, mit Weißwandreifen. Der Wagen war noch nicht alt, Baujahr 1960 vermutlich. Auf den rechten vorderen Kotflügel war das Markenzeichen Invicta eingraviert. Was aber die Kriminalbeamten aufmerken ließ, waren die Nummerntafeln: es waren kanadische, aus der Provinz Quebec. Während Sonny die Nummern und andere Einzelheiten rasch auf einem Notizblatt notierte, streifte Egan weiter durch die -51-
dunkle Straße und spähte in jeden geparkten Wagen. Kein Mensch war zu sehen, kein Fahrzeug störte die nächtliche Ruhe. Er warf einen Blick auf die Uhr: es war erst kurz nach eins. Es schien ihm, als wären viele Stunden vergangen. Was sollte das alles bedeuten? Was veranlaßte Patsy, so spät mit seiner Frau und deren Freundin nach Manhattan zu fahren, sich in einen kanadischen Buick zu setzen, damit herumzukutschieren und ihn dann in dieser engen, dunklen Straße abzustellen? Hatte er Angst bekommen? Hatte er die Limousine hier stehenlassen, damit ein anderer... Und wer sollte das sein? Sein ,Onkel vielleicht? Aber wozu ein kanadischer Wagen? Egan kehrte zu Grosso zurück. „Wußtest du, daß er offen war?“ begrüßte ihn sein Kollege. „Ich hab' gar nicht versucht, ihn zu öffnen. Hast du was gefunden?“ „Nichts. Alles leer.“ „Nun, das will nichts heißen“, sagte Egan. „Wenn etwas Wertvolles da ist, lassen sie's nicht auf dem Sitz liegen. Wie schaut's mit dem Kofferraum aus?“ „Versperrt. Gehen wir zum Wagen zurück und sagen wir's den ändern.“ Kaum waren sie in den Olds geklettert, als auch schon das Funkgerät quäkte: „... könnt ihr mich verstehen? Bitte melden!“ „Glotzauge und Wolke hier“, antwortete Sonny. „Wir versuchen schon die ganze Zeit, euch Burschen zu wecken“, ließ Frank Waters sich vernehmen. „Was gibt's?“ „Wir haben den Wagen gefunden, den er abgestellt hat. Beigefarbener Buick Invicta, wahrscheinlich ein Sechziger. Kanadische Nummerntafeln...“ „Kanadische? He, großartig!“ Der lebhafte kleine Agent war ganz aufgeregt. „Das wird ja immer besser! Kanada!“ „Und was habt ihr geschafft?“ -52-
„Wir sind jetzt mitten auf der Brooklyn-Brücke, genau über euren Köpfen. Sie fahren ins gute alte Brooklyn zurück - heim, wie ich hoffen will.“ „Dann ist unser Liebling also doch dabei!“ „Stimmt. Er war tatsächlich im Wagen. Sie ließen das Mädchen bei der Canal Street aussteigen, dann kam er nach vorne, nahm das Steuer und fuhr auf die Brücke. Die Kleine nahm sich ein Taxi. Fuhr anscheinend ins Zentrum. Wir haben die Nummer vom Taxi; wir können später herausfinden, wo sie hin ist. Ich möchte nur wissen, was der Rotschopf bei der ganzen Geschichte für eine Rolle spielt.“ „Das möchte ich auch gern wissen. Vielleicht soll sie nur ablenken. Na, also wir bleiben noch ein bißchen in der Gegend. Könnte ja sein, es kommt sich einer den Kanadier holen.“ „Darauf könnt ihr euch verlassen!“ rief Waters. „Ihr sitzt da möglicherweise auf einer Bombe! Sobald wir unseren Jungen ins Bett gesteckt haben, kommen wir zurück. Wir melden uns, wenn wir wieder im Funkbereich sind, okay?“ „Verstanden.“ Egan beugte sich näher und deutete auf die hinter ihnen liegende Cherry Street. „Da oben in der Wohnbauanlage gibt es einen Parkplatz. Von dort können wir die Jefferson Street gut übersehen.“ Sie fuhren die Jefferson Street hinauf, und Sonny stellte den Olds innerhalb des Parkplatzes nahe zur Ausfahrt. Sie schalteten Motor und Lichter ab, machten es sich im Dunkeln bequem und überdachten die Lage. Je länger sie sich unterhielten, desto lebhafter regte sich in ihnen das Gefühl, daß Waters wahrscheinlich recht hatte und daß sie nahe daran waren, Patsy bei einer großen Transaktion zu ertappen. Seit geraumer Zeit war Kanada, und da ganz besonders Montreal, einer der wichtigsten Ausgangspunkte für den Rauschgiftschmuggel in die Vereinigten Staaten, und so schien die Annahme gar nicht so abwegig, daß dieser Buick ein Transportmittel darstellte; er hatte -53-
Ware über die Grenze gebracht oder sollte den Erlös hinaufbringen, oder auch beides. Wenn das so war, würde gewiß jemand kommen, um ihn abzuholen. In ihrer Vorfreude fiel ihnen dabei eines gar nicht auf: Zum erstenmal, seitdem sie sich für Patsy Fuca interessierten, war das Aufstöbern seines Onkels nicht ihr einziges Sinnen und Trachten. „Waters hier“, unterbrach die blecherne Stimme des Funkgeräts. „Wolke? Glotzauge? Versteht ihr?...“ „Hier Glotzauge, Ende“, antwortete Egan ins Mikrophon. Er sah auf die Uhr und stellte überrascht fest, daß es zehn vor zwei war. Sie saßen schon vierzig Minuten da. „Unsere Kinder sind schon zu Hause. Wir sind gleich umgekehrt. In ein paar Minuten sind wir bei euch.“ „Verstanden.“ Kaum hatten sie sich, so schien es ihnen wenigstens, wieder zurückgelehnt, als Scheinwerfer, von links kommend, in die Cherry Street einbogen und das Dunkel, das sie umgab, erhellten. Eddie und Sonny ließen sich in ihren Sitzen zurücksinken. Es war erst das zweite Fahrzeug, das in diese Straße einfuhr, seitdem sie warteten; das erste war ein Pritschen wagen gewesen, der die Kreuzung Cherry und Jefferson Street passiert hatte, ohne anzuhalten. Langsam kamen die Scheinwerfer an der Wohnbauanlage entlang, blieben auf der Höhe des Parkplatzes stehen und verloschen. Es war ein weißer Wagen. Sonny spähte über die Fensterleiste und sah jemanden aussteigen, einen Mann, stämmig, barhäuptig. Vorsichtig bewegte er sich auf die Einfahrt zu Auletta. Sonny setzte sich auf. „Sie sind's“, sagte er aufatmend. „Dick und Frank Waters.“ Sie stiegen aus, wiesen die anderen stumm in den Parkplatz neben ihren eigenen Wagen ein und setzten sich dann zu Waters in den Fond. „Mann, habt ihr uns erschreckt!“ klagte Egan. „Eben hatten -54-
wir noch mit euch gesprochen, kommt da ein Wagen um die Ecke. Warum habt ihr denn nicht gesagt, daß ihr so nah seid?“ „Wir wollten nur mal sehen, ob ihr auch schön aufpaßt“, schmunzelte Waters. „Und was gibt's sonst Neues?“ Sonny und Eddie faßten kurz zusammen, was ihnen durch den Kopf ging; Waters nickte zustimmend. Die Offiziere und Kriminalbeamten der Staatspolizei, die über die Tüchtigkeit vieler Kollegen der Bundespolizei geteilter Meinung waren und sie zugegebenermaßen um die bessere Ausrüstung beneideten -, hielten große Stücke auf Frank Waters. Zwar nur von kleiner Statur (sie hatten ihm den Spitznamen „Mickey Rooney“ gegeben), war er klug und zäh, ein Mann von untrüglichen Instinkten und unbezähmbarem Mut. Sie schätzten und verehrten ihn - er war „ein guter Polyp“, das höchste Kompliment, das sie einem der Ihren machen konnten. „Wißt ihr auch, was uns da in den Schoß gefallen ist?“ rief Waters erregt aus. „Ihr Burschen habt eure Beförderungen praktisch schon in der Tasche! Sonny zum Kriminalinspektor, Dick zum Kriminalobersekretär.“ Egan war bereits Kriminalinspektor, um höher zu steigen, mußte er erst die für den Verwaltungsdienst erforderliche Prüfung ablegen. „So ein Dusel! Wir sind in eine größere Sache hineingeraten! Patsy Fuca, kanadischer Wagen, dunkle Straßen, Hafengegend, zwei Uhr früh - da ist doch einfach eine Schiffsladung fällig, oder etwa nicht? Paßt nur auf, es wird nicht lange dauern, und eine ganze Fuhre Dons wird hier aufkreuzen, um diesen Buick auszuladen. Dann gibt's 'ne hübsche kleine Schlacht. Mann, was werden wir für Heldentaten vollbringen!“ begeisterte er sich. Die andern sahen sich an, während „Mickey Rooney“ von den Szenenbildern förmlich überging, die ihm seine lebhafte Phantasie suggerierte. Und während sie ihm zuhörten, begannen sie unruhig zu werden. -55-
Es war nun fast schon halb drei Uhr früh. Die Straßen lagen still da; seit Aulettas und Waters' Eintreffen hatte sich kein Fahrzeug mehr gezeigt. In dem hohen Wohnhaus hinter ihnen waren nur noch einige wenige Fenster erleuchtet. Von sporadischen Ausbrüchen des aufgekratzten Waters abgesehen, bei denen er sich in immer neuen Mutmaßungen erging, schwiegen die vier Männer und hingen ihren Gedanken nach. Die einzigen gleichbleibenden Geräusche waren die trauervollen Schreie der Schleppdampfer auf dem Fluß, der zwei kurze Häuserblocks weiter östlich jenseits der düsteren Mole lag; von Zeit zu Zeit hörten sie einen Lastwagen über die Pflastersteine der South Street klappern und in der Ferne das Summen von Autoreifen auf dem Straßenbelag der Manhattan-Brücke hoch über ihren Köpfen. Die Nacht war dunkel und kalt. Lässig zurückgelehnt saßen sie da und wagten nicht, eine Zigarette anzuzünden oder Radio zu hören, denn sie fürchteten, irgendwelchen Unbekannten, die es auf den Buick abgesehen hatten, dadurch ihre Anwesenheit zu verraten. Die Stille wurde immer unerträglicher. Kurz vor drei Uhr flammten wieder Scheinwerfer auf, die ihnen durch die Cherry Street entgegenkamen. Sofort duckten sich die vier Kriminalbeamten; Egan und Sonny im Fond ließen sich zu Boden fallen. Der rechts vorn hockende Auletta hob vorsichtig den Kopf, um den Wagen zu beobachten, der jetzt langsam an den Parkplatz herankam. „Was ist los? Wer ist es?“ zischte Waters, der vornüber gebeugt auf dem Fahrersitz kauerte. „Es ist eine alte Limousine“, berichtete Auletta, „vielleicht ein neunundvierziger oder ein fünfziger Chevy. Ein richtiger Klapperkasten. Sieht aus, als ob 'ne Menge Kerle drinsäßen, vier oder fünf vielleicht.“ „Das sind sie! Hab' ich's euch nicht gesagt?“ frohlockte Waters. „Das sind die Dons. Junge, Junge!“ Auletta flüsterte: „Sie wenden in der Jefferson... werden -56-
langsamer, jetzt sind sie beim Buick... Nein, sie fahren weiter, zum Fluß zu... Ich seh' sie nicht mehr.“ Minutenlang herrschte gespanntes Schweigen im Wagen. Dann krächzte Waters: „Was siehst du, verd...“ „Ruhig!“ zischte Auletta, die Augen knapp über dem oberen Rand des Armaturenbretts. „Eben ist ein Wagen einen Block weiter vor uns in die Cherry Street eingebogen - es könnte derselbe sein... Jetzt kommt er zur Ecke... schwenkt in die Jefferson ein, ganz langsam... Ja, das ist derselbe Kübel. Scheint ja gepfropft voll mit Leuten... Sie fahren am Buick vorbei... langsam... schieben sich in eine Parklücke drei Wagen vor dem Buick...“ Alle vier Beamten hatten die Hand auf dem Kolben ihrer Dienstpistole. Sie warteten. Aulettas Stimme wurde lebhafter. „Vier sind's. Sie stehen um den Buick herum... probieren die Türen. Sie versuchen den Wagen aufzubrechen!“ „Schnappen wir sie!“ bellte Waters. Er ließ den Motor an. Hinter das Steuer geduckt, die anderen immer noch zusammengekauert, schwenkte er ohne Licht aus dem Parkplatz in die Cherry Street ein, bog scharf in die Jefferson und stoppte abrupt neben dem beigefarbenen Buick. Bevor er noch die Handbremse gezogen hatte, waren die zwei rechten Türen schon offen und Auletta, Grosso und Egan, ihre 38er in den Fäusten, sprangen aus dem Wagen. „Polizei!“ schrie Egan. Es ging alles so schnell, daß die verdutzten Männer kaum mehr als einen oder zwei Schritte auf ihren eigenen Wagen zu machen konnten. Sie waren klein und dunkelhäutig. Innerhalb von Sekunden standen sie mit erhobenen Händen über den Buick Invicta gebeugt, je zwei auf jeder Seite. Eine Leibesvisitation förderte drei Messer, darunter ein Springmesser, ein Stück von einer Schneekette und einen selbstverfertigten, ausgezackten Schlagring zutage. Die Männer schienen Poertorikaner zu sein. Nur einer von ihnen sprach -57-
Englisch. Die Beamten verhörten sie einige Minuten lang streng. Mürrisch und verängstigt, wußten sie nicht viel zu sagen. Wie eine kalte Dusche dämmerte es den vier Polizeibeamten, daß das keine Dons waren. „Nichts!“ rief Egan schließlich verbittert aus. „Ein paar miese Ganoven, die einen neuen Wagen ausräumen wollten“, klagte Sonny. „Scheiße!“ zischte Egan. „Liefern wir sie ein.“ „Kleine Fische“, murmelte Waters. „Aber das weiß man vorher nie.“ Während Auletta die Missetäter bewachte, rief Sonny über Funk die zuständige Polizeiwache an. Niedergeschlagen spazierten Egan und Waters um den Buick herum. Egan deutete auf die Wohntürme hinauf. „Also, wenn da oben jemand über dem Baby Wache gehalten hat, können wir uns begraben lassen.“ Er runzelte die Stirn. „Warum schauen wir uns das Ding nicht einmal näher an?“ „Willst du den Karren auseinandernehmen?“ „Sollen sie uns verklagen. Vielleicht finden wir was, vielleicht auch nicht. Kann sein, daß ihn schon jemand ausgeräumt hat. Oder daß das Ganze nur eine Spazierfahrt war. Wir können noch eine ganze Woche so dasitzen. Also schauen wir hinein.“ Waters stimmte ihm bei. „Ja, du hast recht. Aber warten wir, bis wir die Strolche da versorgt haben.“ In zehn Minuten trafen zwei Funkstreifenwagen ein, und die vier wurden abgeführt. Auletta fuhr mit, um die Festnahme zu begründen. Vier Uhr zehn. Die zurückgebliebenen drei Beamten mußten sich eingestehen, daß sie wieder eine Niete gezogen hatten. Sie hatten das Wageninnere mit aller Sorgfalt untersucht Handschuhfach, Armaturenbrett, Fußmatten, Aschenbecher, -58-
Sitze, Polsterung - und das Ergebnis von Sonnys oberflächlicher Inspektion bestätigt gefunden: der Wagen war gut gepflegt und sauber. Dann nahm Waters die hintere Sitzbank und die Lehne heraus. Bewaffnet mit einer Taschenlampe und was er seinen „Dietrich“ nannte, einem verbogenen Messer, mit dem er so gut wie jedes normale Schloß und jeden Riegel öffnen konnte, kroch er in den Kofferraum und öffnete das Schloß von innen; aber auch hier entdeckten sie nur die üblichen Werkzeuge. Egan stierte unter die Haube, Sonny rutschte sogar auf dem Rücken unter das Chassis. Nichts. Der Buick war in jedem Sinne des Wortes sauber. Mit hängendem Kopf, zum Umfallen müde, wanderten die drei zu Waters Wagen auf dem Parkplatz zurück. Sie blieben im Dunkeln sitzen, und selbst Waters wußte nichts mehr zu sagen. Nach etwa zwanzig Minuten sahen sie Auletta aus der Richtung Pike Street die Cherry Street heraufkommen. Sich bedachtsam der Ecke Jefferson nähernd, warf Dick einen kurzen Blick zum Buick hinüber und kam, als er niemanden sah, auf den Parkplatz zu. Waters blinkte das Stadtlicht ein und aus. Auletta setzte sich in den Wagen und machte ein grimmiges Gesicht. „Ich hab' mich von der Funkstreife unten bei der Pike absetzen lassen. Für alle Fälle. Was war mit dem Buick?“ „Nichts“, brummte Waters. „Wir haben ihn durchgeschüttelt, aber ohne Erfolg.“ Auletta seufzte. „Für die Galgenvögel, die wir geschnappt haben, gilt das gleiche. Und ich habe mir eine nette kleine Morgenarbeit eingewirtschaftet.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirne. „In etwa vier Stunden, wenn ihr's genau wissen wollt, muß ich vor dem Richter erscheinen, um offiziell Klage zu erheben. Recht schönen Dank, Freunde“, sagte er leicht verbittert. Sie schwiegen wieder eine Weile. „Also, was machen wir?“ fragte Waters dann, ohne von jemandem eine Antwort zu -59-
erwarten. Zum erstenmal seit vielen Stunden dachte Egan an Carol und hoffte, sie würde in seiner Wohnung auf ihn warten. „Es war ein reizender Abend“, knurrte Auletta, „aber einer von uns muß zeitig früh wieder im Amt sein.“ „Aber wir können doch nicht einfach heimfahren!“ protestierte Sonny. „Was soll mit dem Buick geschehen?“ „Es wird bald hell sein“, sagte Egan leise vor sich hin. Waters hatte überlegt. „Hört mal“, ließ er sich dann vernehmen, „ich denke, ich werde mich einmal im Büro ein bißchen hinlegen. Sonny, warum fährst du die Burschen nicht zu ihren eigenen Wagen zurück? Inzwischen sehe ich mal nach, was sich im Büro tut, und schicke jemanden her, der ein Auge auf den Buick haben wird.“ „Na gut“, stimmte Sonny zu. „Ich mache dir einen Vorschlag: Sobald ich sie abgesetzt habe, rufe ich an, ob du jemanden gefunden hast. Wenn nicht, mein Gott, dann komme ich eben zurück und mache hier allein weiter.“ Sie einigten sich darauf. Bevor sie sich trennten, ersuchte Egan Waters noch, sobald wie möglich den Eigentümer des Buick feststellen zu lassen. Egan und Auletta stiegen in Sonnys Olds. Sie fuhren nach Brooklyn, zu Patsys Imbißstube, wo sie sich vor zwölf Stunden getroffen hatten. Dort kletterten Egan und Auletta in ihre eigenen Wagen und machten sich auf den Heimweg. Sonny durchstreifte die Gegend zwischen Bushwick und Grand Avenue und fand schließlich eine offene Cafeteria in der Nähe einer BMT-U-Bahn-Station. Seine Augen brannten, er fühlte sich elend; er gönnte sich ein paar Minuten für eine Tasse heißen Tee. Der Tee war schwach und verbrannte ihm die Zunge, aber er schmeckte köstlich; er hatte seit zehn Uhr abends nichts gegessen. Dann betrat er eine Telephonzelle und rief -60-
Frank Waters in der Church Street 90 in Manhattan an. „Wir haben's verbockt“, brummte Waters mit Grabesstimme. „Was?“ „Jack Ripa war hier, als ich herkam, und ich schickte ihn sofort in die Cherry Street. Er hat eben angerufen. Der Buick ist weg.“ „Verflucht noch mal! Bist du sicher, daß er...?“ „Ja, ja. Er hat die ganze Gegend abgerast. Pffft. Weg.“ Sonny biß die Zähne zusammen, seine Muskeln spannten sich, um sogleich wieder zu erschlaffen, als Müdigkeit und Verzweiflung ihn überwältigten. „Okay“, seufzte er. Einen Augenblick schwiegen sie beide. „Ach ja, diese Marilyn“, erinnerte sich Waters. „Das Taxi brachte sie ins Hotel Chelsea in der Dreiundzwanzigsten. Sagt dir das etwas?“ „Nein.“ „Mir auch nicht. Na ja. Warum gehst du jetzt nicht heim und schläfst dich aus?“ legte Waters ihm nahe. „Ja, ja. Du auch. Und vergiß nicht, über den Wagen Erkundigungen einziehen zu lassen.“ Egan schlief schon halb, als er seine Wohnung im Brooklyner Stadtteil Fiatbush erreichte. Es war eine Zweizimmerwohnung im dritten Stock eines Mietshauses ohne Aufzug. Er nannte sie Glotzauges Höhle. Beinahe war er froh, daß Carol nicht auf ihn wartete, obwohl ihr Wesen immer spürbar blieb. Sie hatte das Ganze im tropischen Inselstil dekoriert, mit Grasteppichen von Wand zu Wand und Vorhängen, die den Ausblick auf die schmutzige Straße verdeckten und eine ruhige See mit Sonnenuntergang vorgaukelten. Um dieser Stimmung zu entsprechen, hatte Eddie sich ein altes Ruderboot aus dem Central Park zugelegt, Sitze und Kiel herausgesägt und ein Bett daraus gemacht. Aus Treibholz geschnitzte Ziergegenstände -61-
rundeten das Bild ab. Im Zeitlupentempo entledigte er sich seines Mantels, seines Sportjacketts und seiner Krawatte und leerte den Inhalt seiner Taschen auf den Toilettentisch. Er schnallte die Revolvertasche mit dem 38er aus dem Gürtel und legte sie zu Brieftasche, Schlüsseln, Krawattenhalter und Kleingeld. Dann weiteten sich plötzlich seine Augen. Auf einer Seite des Toilettentisches lagen sechs Patronen. Er zog den Revolver aus dem Etui und ließ die Trommel aufspringen. Alle Kammern waren leer. Du lieber Gott! Wenn die Dons wirklich erschienen wären! Er rief sich den frühen Nachmittag des Sonnabends ins Gedächtnis zurück. Seine Nichte war auf ein paar Stunden zu Besuch gekommen. Sie hatte die Hand nach dem Revolver auf dem Toilettentisch ausgestreckt. Um sicherzugehen, hatte er ihn entladen. Er warf sich aufs Bett und versank in unruhigen Schlummer. Kurz nach halb zehn Uhr vormittags weckte Egan das Geklingel des Telephons. Es war Sonny. „Bist du wach?“ fragte er. „Nein“, ächzte Egan. „Also dann wach auf. Der kanadische Buick ist weg.“ Egan setzte sich auf. „Was?“ schrie er. Und während sein Kollege ihm traurig berichtete, was sich zugetragen hatte, sank Egan gegen das Kopfbrett des Bettes zurück. „Aber wir haben auch gute Nachrichten“, fügte Sonny hinzu, „und was zu lachen. Frank erkundigte sich bei den kanadischen Mounties, und die sagen, der Wagen gehört einem gewissen Louis Martin Maurice in Montreal, und der Kerl macht da oben ganz groß in Rauschgift!“ Egan setzte sich wieder auf. „Also war etwas an der Geschichte dran!“ „Warte, warte auf den Knüller. Die Mounties erwähnten auch noch, sie hielten diesen Maurice in Montreal unter ständiger -62-
Polizeiaufsicht, und es wäre ausgeschlossen, daß er oder sonst jemand seinen beigefarbenen Buick Invicta, Baujahr 1960, nach New York gebracht hätte. Was sagst du dazu?“ „Hat Frank“, brauste Egan zornig auf, „der königlich kanadischen Polizei mitgeteilt, daß er und drei New-Yorker Polypen die ganze Nacht praktisch auf dem Wagen gesessen sind, und wenn sie's nicht glauben wollen, sollen sie sich auf ihren Arsch setzen und herunterkommen und sich selbst überzeugen?“ Sonny lachte in sich hinein. „Du kennst doch Frank. Er ist so wie du. Er hat's ihnen gesagt. Jetzt, wo der Wagen weg ist, spielt das ja auch keine Rolle mehr.“ „Na“, knurrte Egan, „dann hoffe ich nur, daß sie die Reise umsonst machen.“ „Du klingst noch etwas angenockt, Glotzauge. Schlaf weiter. Wir sprechen uns später.“ Natürlich konnten weder Eddie Egan noch die ändern wissen, daß ihnen in dem „sauberen“ Buick, raffiniert verborgen, über eine Viertelmillion amerikanischer Dollar durch die Finger geschlüpft waren - Barzahlung für etwa zwanzig Kilo hochgradigsten Heroins, die erst Sonnabend nachmittag aus demselben Versteck im selben Wagen herausgeholt worden waren.
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5 Am Nachmittag des 29. November 1961 betrat ein achtundvierzigjähriger, adrett gekleideter Franzose die Pariser Niederlassung der General Motors in der Rue Gersant, um ein von ihm bestelltes Automobil zu übernehmen. Er wurde von den im Verkaufssalon Anwesenden sogleich als Jacques Angelvin, einer der Conferenciers der beliebtesten Fernsehshow Frankreichs, „Paris Club“, erkannt. Um zwölf Uhr mittags, zu einer sehr guten Zeit, da die meisten Franzosen ihr Mittagsmahl daheim einnehmen, wurde die Sendung fünfmal wöchentlich ausgestrahlt. Das Automobil, das Angelvin jetzt in Besitz nahm, war ein Buick Invicta, Baujahr 1960, aus zweiter Hand. Die GeneralMotors-Agentur hatte einen Monat gebraucht, um dieses Modell zu beschaffen. Für einen Gebrauchtwagen war es bemerkenswert neu; der Kilometerzähler zeigte nur 1669 Kilometer. Bis jetzt war Angelvin immer nur einen der kleinsten und billigsten Wagen gefahren, eine Renault Dauphine. Die Raten für den Buick würden insgesamt drei Millionen Franc ausmachen, nur um fünfhunderttausend weniger, als sein Gesamteinkommen im vergangenen Jahr betragen hatte. Mit großem Stolz und dem reizvollen, von ihm so geliebten Gefühl des Luxus nahm Angelvin die Schlüssel in Empfang und fuhr mit dem praktisch neuen Buick davon. Mit dem Pariser Nachtleben bestens vertraut, hatte Jacques Angelvin als Programmberater bei der Show angefangen. Jetzt war er abwechselnd in drei Nachtlokalen als Conferencier und bei der Sendung „Club Paris“ als einer der drei Interviewer und Moderatoren tätig. Roger Feral, dessen Bruder Pierre Lazaroff die einflußreiche Zeitung France Soir herausgab, interviewte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Jacques Chabanner, ein Schriftsteller, -64-
sprach mit literarischen Größen. Jacques Angelvin stellte Leute aus der Welt des Theaters und der Nachtlokale vor. Da er Nightclubs und Restaurants nach Belieben „sausen“ lassen konnte, brauchte er für seine Abende mit schönen Frauen - mit denen er sich bei jeder Gelegenheit beschäftigte - nichts zu bezahlen. Angelvin war schon seit einigen Jahren mit einem vierunddreißigjährigen Korsen von jugendlichem Aussehen namens Francois Scaglia befreundet, der sich gelegentlich auch „Francois Barbier“ und „Yves Systermans“ nannte. In Pariser Verbrecherkreisen war er auch als „der Henker“ bekannt; er galt als erfolgreichster Spezialist für die Durchführung von Liquidierungen innerhalb der französischen Unterwelt. Scaglia war Angelvin nützlich, indem er ihm Stellungen als Conferencier verschaffte; er war selbst Besitzer eines Nachtlokals und an mehreren anderen beteiligt. Aus den Akten der französischen Sürete geht hervor, daß Scaglia Hauptverdächtiger in drei Fällen von Kidnapping war, die sich zwischen 1959 und 1962 ereigneten. In jedem dieser Fälle wurde ein reicher Mann entführt, in ein abgelegenes Versteck in der Nähe von Paris gebracht und dort so lange gefoltert, bis er den Banditen seine ganzen Wertsachen überschrieb - Juwelen, Geld, selbst seine Automobile. Der Korse konnte jedoch keiner dieser Verbrechen überführt werden. Die Polizei verdächtigte Scaglia aber auch einer womöglich noch verwerflicheren Tätigkeit, nämlich des Mädchenhandels. Dabei half ihm Angelvin, wenn auch vielleicht unwissentlich. Hübsche junge Mädchen aus den französischen Provinzen, aus Deutschland und anderen europäischen Ländern strömten nach Paris, in der Hoffnung, beim Film oder im Showgeschäft weiterzukommen. Es ergab sich von selbst, daß Angelvin viele von ihnen in den von ihm frequentierten Nachtlokalen traf. Sobald ein Mädchen - Blondinen zog er vor - dem Wunsch nach einer Karriere als Künstlerin oder Schauspielerin Ausdruck -65-
verlieh, gab Angelvin ihr den Rat, ihre Nummer doch erst im Ausland auszuprobieren; hätte sie auf diese Weise Erfahrung gesammelt, würde sie in der Lage sein, Paris im Sturm zu erobern. Beirut im Libanon wäre ein ausgezeichneter Startplatz. Und zufällig kenne er einen Mann, der dort ein Nachtlokal besitze. Das Weitere übernahm Scaglia. Die hübsche Blondine war tatsächlich sehr talentiert, entschied er nach einer Privatvorführung in seiner Wohnung. Er gab ihr eine einfache Flugkarte der Air Lebanon nach Beirut, wo einer seiner Leute sie abholte, sie ins Hotel und später zur Arbeit brachte. Eine Woche später, nachdem sie Rechnungen hatte auflaufen lassen, wurde ihr plötzlich gekündigt. Sie besaß keine Rückfahrkarte und konnte die Hotelrechnung nicht bezahlen. Nun erschien ein anderer Spießgeselle, ein bestochener Polizeibeamter, der sie wegen der unbezahlten Rechnungen ins Gefängnis steckte. Das Mädchen war dankbar, als ein dritter Gauner sie aus ihrer mißlichen Lage befreite. Aber sie befand sich jetzt unter seiner Aufsicht. Bereit, alles zu tun, um diesem arabischen Alptraum zu entfliehen, willigte sie ein, ein paar Wochen lang für einen reichen arabischen Händler zu arbeiten, und ehe sie sich's versah, war sie an irgendeinen Ölscheich - der, wenn sie blond war, bis zu 50.000 Dollar für sie zahlte - für dessen Wüstenharem verkauft worden, aus dessen von Sand umschlossener Einsamkeit es kein Entrinnen gab... Jacques Angelvin hatte es vor allem Scaglia zu verdanken, daß er mit einem Großteil der Pariser Halbwelt auf vertrautem Fuß stand - mit den bekannten Homosexuellen und Lesbierinnen und mit allen jenen, die exotische sexuelle Genüsse zu beschaffen imstande waren. Sein Notizbuch enthielt auch neben den Namen bekannter Theaterleute einen Katalog hilfsbereiter Polizei- und Regierungsbeamter. Von hypochondrischer Veranlagung, stand er bei sechs Spezialisten wegen der verschiedensten Leiden in Behandlung. -66-
Angelvin hatte sich in kurzer Zeit einen Namen gemacht, war aber verbittert, weil es ihm nicht gelingen wollte, finanziell auf seine Rechnung zu kommen. Als Kind einer wohlhabenden Intellektuellenfamilie in Marseille war er unter maßlosen Verwöhnungen aufgewachsen. Mit zwanzig Jahren hatte er fünfzehn verschiedene Schulen besucht, ohne ein Diplom zu erlangen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er als Fünfundzwanzigjähriger auf Grund seiner „angegriffenen Gesundheit“ vom Militärdienst befreit. Um ihn vor den Deutschen zu schützen, brachte ihn seine Familie später auf einem entlegenen Bauernhof unter. Nach dem Krieg übersiedelte Jacques nach Paris, lernte dort ein Mädchen namens Madov kennen und heiratete sie. Bald darauf wurde ihnen ein Sohn, Daniel, geboren, was seine Familie zum Anlaß nahm, dem jungen Paar ein todschickes Appartement an der Esplanade des Invalides zu schenken. Jacques einzige Verpflichtung bestand darin, Arbeit zu suchen. Er entschloß sich, sein Glück als Journalist zu versuchen, obwohl er vom Zeitungswesen keine Ahnung hatte. Er arbeitete eine Weile bei der Zeitschrift Voici Paris, für die er Nachrichten aus dem Nachtleben zusammentrug, die in der Klatschspalte erschienen. Anschließend nahm er eine unbedeutende Stellung im Rundfunk als Assistent des Produzenten einer französischamerikanischen Sendefolge an, bei der er als Conferencier mehr oder minder vielversprechende Talente vorstellte. Von dort kam er zu einer größeren Show, „Paris bei Nacht“, die aus dem Club Le Vernet übertragen wurde. Angelvin besaß einen gewissen Charme und begann Aufmerksamkeit zu erregen. Es war im Le Vernet, wo er den Produzenten einer sehr beliebten Fernsehshow, des „Pariser Cocktails“, auffiel. Ihrem Empfinden nach hatte er sowohl die nötige Wärme als auch den natürlichen Sex-Appeal, um eine Sendung tragen zu können, die ganz Frankreich gleichsam als Journal von Paris betrachtete. -67-
Die Gage war nicht hoch bei „Club Paris“, wie die neue Sendung benannt wurde. Angelvin verdiente knapp hundertfünfzigtausend Franc im Monat, aber er lernte es, seine soeben gewonnene Beliebtheit auch auf anderen Gebieten zu nützen. Er wurde, wie er sich zu rühmen pflegte, „der einzige Mann, der jeden Bewohner von Paris mit du anreden kann“. Und doch entzog sich das große Glück immer noch seinem Zugriff. Zwei Filme waren Nieten. Seine Frau verließ ihn und nahm die zwei Kinder mit, einen Knaben und das um zwei Jahre jüngere Mädchen Veronique. Mit vierzig Jahren besaß er nichts als seinen oberflächlichen Ruhm, Souvenirs, Post von Verehrerinnen und bittere Einsamkeit. Eine einst in Paris zur „Königin des Striptease“ gewählte Tänzerin namens Jacqueline, mit der er befreundet war, riet Angelvin, doch selber ins Nightclub-Geschäft einzusteigen. Jacqueline sagte, sie verfüge über gute Verbindungen, Leute, die ein solches Unternehmen finanzieren würden. Mit Hilfe eines von Jacqueline aus mysteriösen Quellen geschöpften Startkapitals übernahm Angelvin eine Gaststätte mit dem Namen „Liebesinsel“ und machte daraus ein Kabarett, das seinen Besuchern außer Dinner und Tanz auch noch ein Schwimmbecken, einen Tennisplatz und Minigolf zu bieten hatte. Innerhalb eines Jahres hatte sich jedoch die Atmosphäre des Lokals gewandelt. Es wurde allmählich zum Treffpunkt von teuren Prostituierten und vermögenden Unterwelttypen, wie sie in der Rue Pigalle beheimatet waren, und die guten Kunden begannen auszubleiben. Das war vermutlich die Zeit, da Angelvin Scaglia kennenlernte. Als Angelvin Jacqueline gegenüber seinen Unmut über diese Entwicklung äußerte, ließ sie ihn stehen. Und wie bei fast allem, was er anfaßte, mußte Angelvin auch hier zusehen, wie die „Liebesinsel“ zum Teufel ging. Als seine Exfrau Madov Anfang 1961 starb, brachte er seinen sechzehnjährigen Sohn Daniel und die vierzehnjährige -68-
Veronique bei seinen Eltern unter; er selbst ging auf Urlaub. Er ließ sich wochenlang nicht sehen. Es hieß, er wäre nach Rom gefahren, oder nach Beirut; von anderer Seite verlautete, er lebe auf dem Landsitz seiner Eltern in der Nähe von Saint Tropez. Wohin er auch gegangen sein mochte, um die Batterien seines verpfuschten Lebens neu aufzuladen - als er nach Paris und zu seiner TV-Show zurückkehrte, unterhielt er ständige Beziehungen zu Francois Scaglia. Scaglia bewirtete ihn in Nachtlokalen und stellte ihm Frauen vor, darunter seine eigene Schwester, mit der Angelvin ein Verhältnis einging. Scaglia verhalf dem erfolgsuchenden Unterhalter zu Engagements als Conferencier in den besseren Pariser Lokalen. Jacques geschrumpftes Selbstbewußtsein begann wieder zu wachsen. Und nachdem er in seinem TVProgramm einen Vertreter des U. S. Travel Service interviewt hatte, der ihm den schmeichelhaften Rat gab, Amerika zu besuchen und dort für „Club Paris“ einen Film zu drehen, so wie dies der berühmte Ed Sullivan in Frankreich und anderen europäischen Ländern gemacht hätte, begann er sich mit dem verlockenden Gedanken zu tragen, nun seinerseits Amerika zu entdecken. Er dachte auch daran, nach Kanada zu fahren, wo er vielleicht französische Sendungen in Montreal oder Quebec City würde machen können. Das Tor zu einem völlig neuen Leben schien sich ihm zu öffnen. Anfang November sah Francois Scaglia eine Sendung von „Club Paris“, in der Angelvin den Zusehern von seinen vielversprechenden Plänen erzählte und ihnen Berichte über nähere Einzelheiten der geplanten Amerikareise in Aussicht stellte. Scaglia kam plötzlich auf einen blendenden Einfall. Instinktiv hatte er schon immer gewußt, daß Angelvin ihm von weit größerem Nutzen sein würde, daß er für ihn weit mehr sein konnte als ein Handlanger zum Fang von weißem Mädchenfleisch für den Nahen Osten. Scaglia beteiligte sich -69-
intensiv am Rauschgifthandel - sowohl im Libanon als auch in Marseille. Er war ständiger Gast der Pariser Bar Trois Canards in der Rue de la Rochefoucauld, die der Sürete als Umschlagplatz für Rauschgifte bekannt war. Er wußte, welch großes Risiko man einging, in Marseille hergestelltes Heroin nach dem ertragreichsten Markt, New York, zu befördern. Konnte es einen unschuldigeren Kurier geben als den französischen Fernsehstar, der zum erstenmal die Vereinigten Staaten besuchte? Überdies hatte Angelvin mit Drogen seine Erfahrungen. 1958 war eine seiner Geliebten, eine nicht mehr ganz junge, verheiratete Frau, an einer zu starken Dosis Heroin gestorben. Der Korse traf sofort alle Vorbereitungen zum Abschluß eines Transportvertrages mit dem internationalen Heroinsyndikat, mit dessen führenden Männern er bestens befreundet war. Zunächst brauchte Angelvin den richtigen Wagen, in dem man eine große Menge Heroin schmuggeln konnte. Die New-Yorker Außenstelle des Ringes hatte eine Eigenheit in der Konstruktion der Karosserie des Buick Invicta, Baujahr 1960, entdeckt, die den Einbau von Verstecken besonders begünstigte. Der Empfänger in Montreal sollte ein gewisser Louis Martin Maurice sein, de facto der bedeutendste Importeur am nordamerikanischen Kontinent. Diesem Umstand entsprechend, wurden derartig große Transporte auch vom französischen Leiter dieses größten Heroinverteilernetzes der Welt nach Montreal begleitet. Das war Jean Jehan, der englischsprechenden Unterwelt als „Giant“ (Riese) bekannt. (Zu einer besseren Aussprache des französischen Namens konnten es die Verbrecher nicht bringen.) Für die, die ihn sahen und kannten, war er eine Gestalt aus einem romantischen Sensationsstück. Giant war ein großgewachsener Franzose Mitte Sechzig, der perlgraue Gamaschen, gestreifte Diplomatenhosen, einen schwarzen Kaschmirblazer mit passendem Samtbesatz, eine (manchmal zitronengelbe) Weste und einen grauen -70-
Homburg zur Schau trug. Dieses elegante Bild wurde durch einen schwarzen Malakkaspazierstock, den er stets bei sich hatte, auf das reizvollste ergänzt. Jehan war ein umsichtiger Chaperon auf der Reise von Frankreich nach Kanada gewesen, im Dezember umsichtiger noch als im vergangenen November, als er den dann in New York von Grosso, Egan und Waters entdeckten Buick begleitet hatte. Auch die Operation im Dezember war anfänglich erfolgreich verlaufen, doch bevor sie zum Abschluß kam, hatte Jean Jehan bedrohliche Hinweise auf verstärktes polizeiliches Interesse erhalten. Vielleicht war die Polente nur durch Zufall auf etwas gestoßen. Was ihn jedoch weit mehr beunruhigte, war der Verdacht, die Kette der Organisation könnte eine undichte Stelle, ein schwaches Glied aufweisen. Der New-Yorker Apparat machte ihm sowieso schon seit einiger Zeit Sorgen. Solange Tuminaro ihn geleitet hatte, waren Ordnung und Sicherheit gewährleistet gewesen. Aber zu seinem Neffen, diesem Fuca, empfand Jehan kein Vertrauen. Daß er weder Lebensart noch Stil besaß, war, überlegte der Franzose, schlimm genug; weit schlimmer jedoch der Umstand, daß seine Zuverlässigkeit möglicherweise zu wünschen übrig ließ. Seine Befürchtungen schienen gerechtfertigt, als bei ihrer Ankunft in Montreal die kanadische Polizei ein unerwartetes Embargo über das Schiff verhängte und daranging, es sorgfältig zu durchsuchen. Die Durchsuchung war zu gründlich, um sich als Routinemaßnahme abtun zu lassen. Die Polizei ging zwei volle Tage nicht von Bord. Jehan und Maurice, der ihn abholen kam, vermuteten, daß die Behörden einen Hinweis auf das bevorstehende Eintreffen einer größeren Ladung Rauschgift erhalten hatten. Dennoch entschlossen sie sich, ihr Vorhaben wie geplant auszuführen. Dann aber erreichte sie die Nachricht von einem anderen alarmierenden Vorkommnis. In Rochester im Staate New York war ein Gangster, ein wertvolles Mitglied ihres -71-
Schmuggelrings, erschossen worden. Jehan und Maurice konnten damals nicht wissen, daß ihr Kontaktmann im Verlauf einer der üblichen Unterweltfehden niedergeknallt worden war, die mit der Beschlagnahme des französischen Schiffes durch die kanadische Polizei in keinerlei Zusammenhang stand. Für sie war das zeitliche Zusammentreffen dieser beiden Vorfälle ein nicht zu übersehender Hinweis auf die Gefährlichkeit weiterer Schritte. Ein Versuch, die heiße Ware jetzt im Buick über die kanadischamerikanische Grenze zu befördern, schien ihnen beiden zu gewagt. Die einzig mögliche Alternative bestand darin, sie so, wie sie gekommen war, nach Frankreich zurückgehen zu lassen und einen Weg zu finden, wie sie ohne Zwischenstationen direkt nach New York gelangen konnte. So flog Jean Jehan am 18. Dezember nach Paris zurück. Nach beendeter Durchsuchung hatten Polizei- und Zollbehörden den beigefarbenen Buick freigegeben. Der Wagen wurde auf dasselbe Schiff verladen und trat die Heimreise nach Frankreich an, ohne daß sein wertvoller Inhalt berührt worden wäre. Jacques Angelvin ließ sich seinen Paß verlängern und beschaffte sich ein Visum für die Vereinigten Staaten, noch bevor er den Wagen bekam und genau einen Tag nachdem Scaglia ähnliche Reisevorbereitungen getroffen hatte.
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6 Am Tag nach dem Verschwinden des kanadischen Buick setzte sich Sonny Grosso mit einem guten Freund im Federal Bureau of Investigation in Verbindung, der über ein ausgedehntes Netz verläßlicher Spitzel verfügte. An sich beschäftigt sich das FBI nicht mit dem illegalen Rauschgifthandel, aber es versteht sich darauf, seine Finger am Puls der meisten kriminellen Operationen in den Vereinigten Staaten zu halten. Sonny bat den Agenten, herauszufinden, ob sich in den letzten vierundzwanzig Stunden das Eintreffen einer größeren Ladung Heroin auf den Straßen bemerkbar gemacht habe. Wenige Stunden später rief der Agent zurück: es gäbe nichts Konkretes. Am nächsten Tag rief er abermals an. Diesmal - sagte er, er habe gehört, die „Panik“ sei vorüber. Der Stoff befinde sich bereits in Umlauf. Der kanadische Wagen hatte seine Aufgabe erfüllt. Anfang Dezember jedoch liefen im Rauschgiftdezernat Hinweise ein, wonach die Novemberlieferung die Heroinknappheit nur vorübergehend gemildert habe. Anscheinend war die Quelle nicht sehr ergiebig gewesen, denn die Polizeispitzel berichteten, die armen Teufel von Süchtigen begännen schon zu winseln, daß sie bald wieder auf dem trockenen sitzen würden. Daraus war zu folgern, daß bald eine weitere große Ladung hereingeschmuggelt werden würde. Zusammen mit Dick Auletta und Bundesagent Frank Waters setzten Egan und Grosso die strenge Beobachtung Patsy Fucas fort. Ihr ursprüngliches Ziel, Angelo Tuminaro, rückte in den Hintergrund; sie richteten jetzt alle ihre Bemühungen darauf, eine große Lieferung von Drogen abzufangen, von der sie nun mit einiger Sicherheit wußten, daß sie durch Patsys Hände -73-
gehen würde. Für diese zweite Chance waren sie besser vorbereitet. Mit viel Glück und wenn sie wendig genug waren, konnte es ihnen gelingen, die ganze Bande ins Netz zu bekommen, vielleicht sogar einschließlich Klein Angies. Sie verloren Patsy nur selten aus den Augen. Aber er machte es ihnen in dieser Zeit auch nicht schwer; er schien entspannt und lebte das gemächliche, unkomplizierte Alltagsleben eines kleinen Geschäftsmannes. Er verbrachte weiterhin den größten Teil des Tages in seiner Imbißstube, ließ sich von seinem Schwiegervater vertreten, wenn er ausgehen mußte, und an den Wochenenden von seinem Bruder Tony. Immer noch machte er an manchen Abenden nach Geschäftsschluß einen Abstecher nach Manhattan, um seine kleine Freundin Inez im Pike Slip Inn zu besuchen, doch in der Straße, in der er den kanadischen Buick abgestellt hatte, ließ er sich nicht mehr blicken. Zu anderen Zeiten wiederholte er, begleitet von Nicky Travato, seine Rundfahrten durch verschiedene Stadtteile, in deren Verlauf er vermutlich Gelder kassierte oder Ware auslieferte. Es war ihm nichts Außergewöhnliches anzumerken. Egan hatte zumindest ein merkwürdiges Erlebnis, als er Patsy und Barbara an einem Nachmittag in der zweiten Dezemberwoche bei ihren Weihnachtseinkäufen im Zentrum von Brooklyn beschattete. Er folgte dem Paar von einem geschäftigen Laden zum ändern, wobei es ihm die hin und her wogenden Massen und der heftige vorfeiertägliche Verkehr nicht immer leicht machten, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Nach ein paar Stunden fuhren sie über den Eastern Parkway zum Kings Highway, wo Barbara ihren Mann bei einer Bank absetzte und den Einkaufsbummel allein fortsetzte. Patsy ging in die Bank, die Lafayette National, erledigte dort irgendwelche Geschäfte und ließ sich anschließend von einem Taxi zu seinem Laden in Williamsburg zurückbringen. An der ganzen Sache war nichts Besonderes gewesen, außer daß es Egan dünken wollte, Patsy habe vielleicht etwas länger als -74-
üblich gebraucht, um den Einzahlungsbeleg auszufüllen, während welcher Tätigkeit er interessiert die Räumlichkeiten der Bank studierte. Jetzt wird er auch noch Bankräuber, hätte Egan gedacht und geschmunzelt. Zwei Tage später, am 15. Dezember, überfielen zwei mit einer Maschinenpistole ausgerüstete Banditen die Lafayette National Bank am Kings Highway, töteten einen Wachtposten, verletzten einen Polizeibeamten schwer und entkamen mit 35.000 Dollar. Egan war es nicht gelungen, eine vernünftige Verbindung zwischen Patsy Fuca und dem Raubüberfall herzustellen; es sollte ihm auch in den kommenden Wochen nicht gelingen. Am folgenden Tag, dem 16. Dezember, standen er und Sonny wieder einmal in ihren weißen Jacken in Patsys Imbißstube und blätterten in den Zeitschriften und Taschenbüchern im Hintergrund des Ladens. Ein dunkelhäutiges Individuum in einem gutgeschnittenen Anzug mit Nadelstreifmuster betrat das Geschäft und forderte Patsy durch eine Handbewegung auf, ins Hinterzimmer zu kommen. „Ein richtiger Fatzke“, murmelte Sonny, während das Paar hinter dem halb zugezogenen Vorhang verschwand. Sie hatten den Neuankömmling nie zuvor gesehen. Dem Anschein nach blind für ihre Umgebung, ganz in die Bücher versunken, die sie in Händen hielten, schoben sich die Kriminalbeamten unmerklich näher an den Vorhang heran, krampfhaft bemüht, einen Gesprächsfetzen zu erhaschen. „Onkel Harry möchte, daß du wieder eine Sendung Zigarren übernimmst, wie das letzte Mal“, sagte eine heisere Stimme. Patsy grunzte. „Wann soll sie kommen?“ „... nächste Woche fällig.“ „Okay. Sag ihm, daß es mir recht ist“, murmelte Patsy. Einen Augenblick später kam der Fremde wieder heraus. Er stieß mit dem Ellbogen an Egan an. An der Theke suchte er sich -75-
eine Zigarre aus, nickte Patsy kurz zu und verließ gemächlich den Laden. Egan und Sonny sahen einander an. Vielleicht war nicht viel dahinter, aber es konnte bedeuten, daß bald etwas passieren würde. An eben diesem Tag, dem 16. Dezember, trafen in Montreal, aus Frankreich kommend, 51,1 Kilogramm fast reinen Heroins ein. Das starke weiße Pulver, das Menschen in lebende Tote verwandelt, war, in kleinen Päckchen aufgeteilt, in praktisch unmöglich zu entdeckenden Verstecken innerhalb der Kotflügel und des Fahrgestells eines beigefarbenen Buick Invicta, Baujahr 1960, untergebracht. Das Heroin sollte nun seinen verderblichen Lebensweg vollenden, der in diesem Fall in der Türkei begonnen hatte, wo der Mohn gezogen und das Opium geerntet wird. Dann war es in den Libanon gekommen, wo die öligbreiige, nach Moschus riechende, braune Paste verkauft und chemisch zu einer pulverförmigen, weißen Morphinbase reduziert wird. Zehn Pfund Opium sind erforderlich, um ein Pfund Morphium zu produzieren, das dann heimlich zu den darauf spezialisierten Raffinerien im Süden Frankreichs, rund um Marseille, geschafft wird. Eine Reihe weiterer chemischer Prozesse verwandelt es in die Heroin genannte Droge, die nun ihren gesetzwidrigen Weg durch die Welt und zu ihrem wichtigsten Markt, den Vereinigten Staaten, nimmt. Hat das Heroin das Bestimmungsland erreicht, geht es zuerst zum „Empfänger“, dann zu den Großhändlern, den „Verbindungen“, und weiter hinunter bis zu den kleinsten Händlern an den Straßenecken, die die in Glassin gewickelten „Pops“, das Säckchen zu drei oder fünf Dollar, verkaufen. (Die Habgier der Mittelsmänner mag ein Gutes für sich haben. Nachdem das reine Heroin ein um das andere mal mit harmlosem Mannit oder Milchzucker verschnitten worden ist, enthalten die zum Verkauf kommenden Säckchen kaum mehr -76-
als ein paar Gram des eigentlichen Narkotikums, führen dem Organismus des Verbrauchers nur eine minimale Dosis zu und machen ihm die Entwöhnung leichter, als wenn er den „guten Stoff“ bekäme, wie er in den zwanziger und dreißiger Jahren verkauft wurde.) Es war anzunehmen, daß die in Montreal eingetroffene Menge im Straßenverkauf an die 32 Millionen Dollar einbringen würde. Das war theoretisch genug, um jeden einzelnen Süchtigen in den Vereinigten Staaten für acht Monate zu versorgen. Damit war es die größte Einzellieferung, die bis dahin je in den Handel gebracht worden war. Die „nächste Woche“, für die Patsy Fucas Besucher die Ankunft der „Zigarren“ in New York angekündigt hatte, kam und ging, und die Heroin-“Panik“ breitete sich immer weiter aus. Die Polizei war außerstande, festzustellen, ob die Krise von der Mafia selbst heraufbeschworen worden war - ein grausames, häufig in Gang gesetztes Manöver, um die „Stoff-Preise in die Höhe zu treiben - oder ob die großen Importeure Schwierigkeiten hatten, das Zeug ins Land zu bekommen. Die Kriminalbeamten des Rauschgiftdezernats setzten die rigorose Beaufsichtigung Patsy Fucas, seiner Familie und Freunde fort und ließen sie oft tagelang nicht aus den Augen. Im Hinblick auf die nahen Feiertage trug das nicht dazu bei, ihre Stimmung zu heben, aber trotz der bevorstehenden Weihnachten durften sie es sich nicht leisten, auch nur eine Minute zu erlahmen, wenn sie die Chance, auf die sie schon so lange warteten, nicht verpassen wollten. Zu alledem hatte Eddie Egan auch noch private Probleme mit Carol Galvin. Das hübsche Mädchen versuchte andauernd, ihn zu bewegen, ihr mehr Zeit zu widmen, und bestürmte ihn immer energischer, seinen „undankbaren“ Posten aufzugeben und zusammen mit ihr ein Geschäft aufzumachen. Die stets häufigeren Diskussionen über diesen Punkt machten ihn rasend; noch mehr aber beunruhigte ihn das bei ihr täglich deutlicher zutage tretende Verlangen nach materiellem Wohlergehen, das sie allem anderen voranstellte. -77-
Ihr letzter Vorschlag hatte ihn besonders zornig gemacht. Es begann eines Abends, als sie ihm aufgeregt erzählte, wie ein älterer Gast der Nassau Tavern, ein anscheinend begüterter Gentleman, sich erbötig gemacht hatte, ihr einen Nightclub in New Jersey zu kaufen! Egan machte ihr Vorwürfe, daß sie das Anerbieten überhaupt ernstlich erwogen hatte, und wollte nichts weiter davon hören. Doch einige Tage später platzte Carol mit der Neuigkeit heraus, der Alte habe ihr seinen neununddreißigjährigen Sohn und dazu als Geschenk einen neuen Thunderbird geschickt! Welche Möglichkeiten ergäben sich da! Eddie könnte seinen Dienst aufgeben und hauptberuflich das Lokal mit ihr führen! Und was ihren ältlichen Verehrer betraf, hätte sie, wie sie meinte, nicht mehr zu tun, als hin und wieder einen Kaffee mit ihm zu trinken und sich gelegentlich mal von ihm küssen zu lassen. Egan war verduzt; dann wurde er wütend. Wieder stritten sie, und schließlich ging er. Aber er mußte immer daran denken, wie herrlich die Zeit gewesen war, die er mit seiner neunzehnjährigen blonden Schönheit verlebt hatte. Nach Paris zurückgekehrt, verlor Jean Jehan keine Zeit und setzte sich unverzüglich mit dem Mann in Verbindung, der gegen hohe Bezahlung bereit war, die schwierigsten und widerlichsten Aufträge des Syndikats auszuführen. Hocherfreut darüber, daß seine Vorsorge sich so bald bezahlt machen würde, lauschte Francois Scaglia selbstzufrieden, als Jehan ihm von seinem Problem erzählte - wie er es anstellen sollte, das kostbare und dringend benötigte Heroin nach New York, dem schwierigsten Einlaufhafen der Vereinigten Staaten, zu schaffen. Die Nachfrage nach Heroin wurde stärker, aber die Polizei fuhr dagegen mit immer schwereren Geschützen auf. Überdies waren Jehan Berichte zugegangen, wonach einige der wichtigsten amerikanischen Empfänger sich beklagt hatten, daß die letzte Lieferung Heroin nicht die versprochene erstklassige Qualität -78-
aufgewiesen habe. Sie wollten frische, gute Ware haben, und sie wollten sie bald haben! Jehan war sogar bereit, den Chefchemiker des Ringes persönlich nach New York zu entsenden, um dort die Qualität nachzuprüfen. Aber wie das Zeug hinüberschaffen? Das war jetzt das vordringlichste Problem. Wußte Scaglia da vielleicht eine Lösung? Der Korse beruhigte den „Riesen“: er möge guter Dinge sein und die Feiertage genießen. Die einundfünfzig Kilogramm Heroin wären praktisch schon in New York. Donnerstag, den 21. Dezember teilte Jacques Angelvin in seiner Show den Zusehern mit, seine Vorbereitungen zum Besuch der Vereinigten Staaten, wo er, wie er sich ausdrückte, „Amerika und dem amerikanischen Fernsehen den Puls fühlen würde“, seien abgeschlossen. Er gab seinem zahlreichen und hingebungsvoll lauschenden Publikum bekannt, er würde seinen neuen Luxuswagen mitnehmen, um „wie ein richtiger Tourist Amerika zu erleben“. Daß es Scaglias beharrliches Drängen gewesen war, was seine Amerikapläne so schnell hatte reifen lassen, blieb natürlich unerwähnt. Die Spesen für die Verschiffung des Wagens nach Amerika beliefen sich auf 475 Dollar, mehr als seine eigene Fahrkarte in der Touristenklasse kostete. Er wußte von der Gefährlichkeit des „Botenganges“, den er für Scaglia verrichtete, aber man hatte ihm 10.000 Dollar versprochen, mehr als ein Jahresgehalt, die er in New York erhalten würde, sobald der Auftrag ausgeführt war. Vor der Abreise, so schärfte Scaglia ihm ein, hätte er nichts anderes zu tun, als den Buick auf zwei Tage zur Verfügung zu stellen. Der Wagen sei unverschlossen an einer gewissen Stelle auf den Champs-Elysees zu parken und achtundvierzig Stunden später ebendort oder in der Nähe wieder abzuholen. In New York selbst sollte er den Wagen in der Garage seines Hotels, des Waldorf Astoria, abstellen und erst in Betrieb nehmen, nachdem man ihn dazu aufgefordert hatte. So einfach. Er selbst, Scaglia, -79-
würde etwa zur selben Zeit ebenfalls in New York sein, ihm an die Hand gehen und moralische Unterstützung gewähren. Und für diese so wenig beschwerliche Arbeit: 10.000 Dollar, das waren 5 Millionen Franc. Am 2. Januar 1962 parkte Angelvin den Buick auf den Champs-Elysees und flog nach Süden, wo er in nervöser Unruhe zwei Tage bei seiner Familie verbrachte. Am 4. Januar kehrte er nach Paris zurück, holte den Wagen ab, packte seine Koffer und fuhr an die Nordküste; die United States sollte am folgenden Tag aus Le Havre auslaufen. Er stieg über Nacht im Hotel de la Poste in Rouen ab, wo Scaglia ihn erwartete. Beim Abendessen besprachen sie noch einmal die Einzelheiten des „Botenganges“. Am nächsten Morgen brachte es der naive Angelvin fertig, dem Korsen noch einen gehörigen Schrecken einzujagen. Da er am Tag zuvor Mängel an der Lichtmaschine seines Buick festgestellt zu haben glaubte, erhob er sich früh und fuhr in eine General-Motors-Werkstätte am ändern Ende von Rouen, an die ihn der Hotelportier verwiesen hatte. Als Scaglia aufstand und seinen Gefährten nicht fand, erkundigte er sich beim Portier, der ihn über den Grund von Jacques' Abwesenheit aufklärte. Scaglia sauste wie besessen zu der drei Kilometer entfernten Werkstätte, um peinliche Entdeckungen durch einen übereifrigen Mechaniker zu verhindern. An Bord der United States, sein kostbarer Invicta im Laderaum verstaut, verließ Jacques Angelvin am Abend des 5. Januar Le Havre. Francois Scaglia fuhr mit dem Zug nach Paris zurück. Sechsunddreißig Stunden später, am 7. Januar, ging Scaglia selbst in Orly an Bord einer Düsenmaschine der Air France und flog nach Montreal in Kanada. Er verbrachte die Nacht im Queen Elizabeth Hotel und traf am nächsten Morgen in einer Wohnung im Rosemontviertel mit Louis Martin Maurice und Jean Jehan zusammen, der mit einer anderen Maschine schon früher aus Paris gekommen war. Abends nahm Scaglia den -80-
Nachtzug nach New York. Nach seiner Ankunft am Dienstag, dem 9. Januar, begab er sich ins Victoria Hotel an der Ecke 51st Street West und Seventh Avenue, wo er unter dem Namen Francois Barbier abstieg. Jehan folgte ihm einige Stunden später. In New York ließ er sich ins Hotel Edison in der 46th Street West zwischen Broadway und Eighth Avenue fahren. Das Hotel war knapp sechs Blocks vom Pier 86 am Hudson-Fluß entfernt, wo das Flaggschiff der United States Lines am folgenden Abend festmachen sollte. An Bord der United States fühlte sich Jacques Angelvin von Anfang an unbehaglich. Die Abfahrt des Schiffes aus Le Havre hatte sich um sechs Stunden verzögert, und die Passagiere konnten erst geraume Zeit nach Mitternacht an Bord gehen. Er mußte seine Kabine in der Touristenklasse mit zwei anderen Männern teilen. Einer davon war ein Deutscher, gegen den er sofort heftige Abneigung faßte. Es gab nur wenig Franzosen unter den 1800 Passagieren; es schienen in der Mehrzahl Amerikaner zu sein, und Jacques war entsetzt über ihren Mangel an Eleganz. Das Essen fand er mittelmäßig, vom herzhaften angelsächsischen Frühstück abgesehen. Stets seines persönlichen Wohlergehens eingedenk, gelangte er jedoch zu der Überzeugung, die amerikanische Gewohnheit des Wassertrinkens zu den Mahlzeiten könnte seiner Leber guttun. In der kleinen, vollgepfropften Kabine begann Angelvin an Klaustrophobie zu leiden und konnte nur schwer einschlafen. Seine zunehmende Verdrießlichkeit wurde von dem hochtrabenden preußischen Kabinennachbarn noch weiter angeheizt, dessen Gewohnheit es war, sich um sechs Uhr früh zu erheben, wobei er Jacques unweigerlich gerade dann aufweckte, wenn dieser endlich eingeschlafen war. Die, wie ihm schien, übertrieben jüdische Atmosphäre an Bord war ihm - neben dem Deutschen und dem mangelhaften Service - das größte Ärgernis. -81-
Er hatte den Eindruck, als ob ununterbrochen jüdische Gottesdienste abgehalten würden. Er lernte eine junge Französin namens Arlette kennen, die wenn auch nicht besonders hübsch, so doch reizvoll genug war, um seiner Aufmerksamkeit würdig zu sein. Aber die überfüllte Touristenklasse machte es unmöglich, die Bekanntschaft über das Anfangsstadium hinaus gedeihen zu lassen. Angelvin sah sich somit genötigt, im Schreibsalon zu sitzen und seine Kommentare über die enttäuschende Reise und seine New-York-Pläne zu Papier zu bringen. Die Rückkehr würde er in der ersten Klasse unternehmen; das schwor er sich. Dann würde er es sich auch leisten können. In jener Woche erhielt die New-Yorker Polizei von ihren Spitzeln erstmals Hinweise, wonach es nur noch eine Frage von Tagen war, bis nicht weniger als fünfzig Kilo Heroin - guter Stoff! - zum Verkauf gelangen würden. Und etwa zur selben Zeit stellten die Kriminalbeamten rund um - und häufig in Patsy Fucas Laden fest, daß sich die Besuche etlicher harter Burschen, von denen man wußte, daß sie mit dem Rauschgifthandel zu tun hatten, auffallend mehrten. Einige wurden dabei beobachtet, wie sie Patsy Geldbeträge übergaben. Offenbar bereitete sich eine große Sache vor. Am Spätnachmittag des 9. Januar betrat Kriminalobersekretär Sonny Grosso in seiner weißen Spitalsjacke Patsys Imbißstube. Auf der anderen Seite der Bushwick Avenue befand sich Egan auf seinem Posten im St. Catherine Hospital. Sonny blieb an der Theke stehen und wandte sich an den alten Mann, Patsys Schwiegervater: „Kaffee, Pfannkuchen und nachher ein Pepsi.“ Patsy selbst saß mit aufgestützten Ellbogen an seinem Tisch im Hinterzimmer und schlürfte eine Suppe. In ihrer Rolle als Ärzte waren Sonny und Egan in den letzten drei Monaten so oft im Laden gewesen, daß sie mit Patsy sogar Grüße austauschten, -82-
und während Sonny jetzt auf die an der Rückwand angebrachten Telephone zuging, hob er lässig die Hand, und Patsy nickte zurück. Gerade als Sonny nach einem der Hörer langte, läutete der Apparat. Automatisch hob er ab. „Hallo?“ „Bongiorno. Pasquale?“ Es war eine volltönende, italienische Stimme. „Mit wem wollen Sie sprechen?“ .“Pasq - Patsy, bitte schön.“ Er sprach mit starkem Akzent. „Ach so. Augenblick.“ Sonny steckte den Kopf in den kleinen Nebenraum, wo Patsy mit seiner Suppe beschäftigt war. „Telephon!“ Patsy kam heraus und nahm den Hörer. Sonny wanderte zum Zeitschriftenständer hinüber. Patsys Gespräch dauerte nur kurze Zeit. Er hörte zumeist zu und antwortete nur mit Grunztönen. „Okay, wir sehen uns dann“, hörte Sonny ihn in holprigem Italienisch sagen. Während Sonny wieder zu den Telephonen schlenderte, um sein Gespräch zu führen, sagte Patsy zu seinem Schwiegervater: „Sieh zu, daß du morgen pünktlich da bist, Vater. Ich werde fast den ganzen Tag unterwegs sein.“
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7 Das Rauschgiftdezernat der New-Yorker Polizei befindet sich im dritten und vierten Geschoß eines alten Gebäudes, in dem ursprünglich nur das Erste Revier untergebracht war, im Old Slip, in einer kurzen, engen Straße an der südöstlichen Spitze Manhattans, nur wenige Häuserblocks vom Bankenviertel entfernt. Old Slip besteht eigentlich aus zwei Parallelstraßen in Ost-West-Richtung, die die am Hast River entlangführende Water Street und South Street miteinander verbinden und durch die noch schmälere Front Street getrennt werden. Das Revier steht als kleiner quadratischer Block, wo die Straße an das Flußufer stößt. Es ist ein trostloser Grausteinbau, der um die Jahrhundertwende, wenn nicht früher errichtet wurde. Die Räume sind hoch, die Wände durchwegs mit dunklem Holz verkleidet, der Deckenputz ist ein verblichenes Grün. Man erhält unfehlbar den Eindruck einer Polizeiwache, wie man sie aus den Filmen der dreißiger Jahre kennt; dazu trägt insbesondere der große Kanzleiraum mit dem verschrammten Holzfußboden bei. Der Eintretende sieht sich einer hüfthohen Holzschranke vor einem massiven Stehpult gegenüber, hinter dem die Schultern und der Kopf eines blauuniformierten Wachtmeisters sichtbar werden, der jeden Besucher mit traurigen Augen mustert, als habe er alles schon zweimal gesehen und trüge kein Verlangen danach, es noch ein drittes Mal zu erleben. Der Rest des Erdgeschosses, der Sicht Unbefugter entzogen, besteht aus den Spinden der Polizisten, Vorratskammern, Büros, Vernehmungsräumen und Arrestzellen. Eine knarrende Holztreppe mit schwerem Mahagonigeländer führt zu den Aufenthaltsräumen der Kriminalbeamten und zu den Schießständen im zweiten Geschoß. Auf dem Treppenabsatz zeigt ein plumper schwarzer Finger nach oben: Rauschgiftdezernat. -84-
Der Treppenabsatz des dritten Geschosses ähnelt dem des zweiten auf ein Haar. Gegenüber dem Stiegenhaus befinden sich die Waschräume, flankiert von einem verhältnismäßig modernen Trinkbecken und einem Anschlagbrett mit Vermißtenanzeigen, Fahndungsblättern, Photos, mehr oder minder kunstvollen Skizzen verdrießlich drein sehender flüchtiger Verbrecher, Vervielfältigungen verfahrensrechtlicher Verlautbarungen und, in einer Ecke, handgeschriebenen Mitteilungen über Veranstaltungen der Polizei-Wohltätigkeitsvereinigung oder des nächsten Gemeinschaftsessens. Der Mittelgang führt rechts in einen großen Raum - strenggenommen einen Saal -, in dem Reihen von bis in Augenhöhe geteilten kleinen Kojen untergebracht sind, die einem oder vielleicht gerade noch zwei Schreibtischen Platz gewähren; die Hälfte von ihnen ist zu jeder Tagesstunde mit tipptopp aussehenden, zumeist zwanzig- bis dreißigjährigen Männern besetzt. Sie führen ernsthafte Telephongespräche, oder sie brüten über Stößen von maschinegeschriebenen Blättern oder machen aus handgekritzelten Notizen leserliche Berichte. Allen gemeinsam ist der stumpfförmige 38ger-Revolver in der Pistolentasche am Gürtel und das ausdruckslose Gesicht. Davon abgesehen, hat man das Gefühl, sie würden sich, wenn sie sich alle zugleich erhöben und das Haus verließen, ohne irgendwie aufzufallen in das übliche Straßenbild einer Großstadt einfügen. Einige tragen grobe Kattunhosen und Lederjacken, andere saloppe, aber saubere Sportkleidung, wieder andere Straßenanzüge mit Jackett und Krawatte; mehrere haben sich die übertrieben modische Garderobe von Frauenhelden zugelegt. Die einen sind blond und von angelsächsischem Aussehen, die anderen dunkelhäutige, südländische Typen; auch ein paar Neger sind darunter. Von kurz geschnitten bis wallend und struppig sind alle Frisuren vertreten; die Männer sind groß, klein, hager, stämmig und wohlbeleibt. Die wenigsten sehen nach Polizisten aus. Viele von ihnen sind Geheimagenten des -85-
Rauschgiftdezernats, die sich im Netz des Handels sicher und gewandt bewegen, indem sie sich selbst als Spinnen betätigen. Andere sind schlichte Beamte, die den Händlern und Verbrauchern erbarmungslos nachstellen. Manche versehen den Innendienst. Das Büro des amtsführenden Chefinspektors Carey lag in einer Ecke am ändern Ende des Ganges. Es war völlig separiert. Es enthielt einen großen, abgewetzten Schreibtisch und einen Bücherkasten, zwei Fenster - eines hoch an der Wand, das andere mit der Aussicht auf den Viadukt der South-StreetHochbahn und die Piers, die über den East River hinweg auf das Herz Brooklyns wiesen. An einer Wand, gleich neben der Tür, wo der Chef sie vom Schreibtisch aus sehen konnte, hing eine große Tafel, die den jeweiligen Dienstplan des Dezernats anzeigte. Und an der linken Wand, in einem Rahmen, der einen Meter im Quadrat maß, befand sich ein handgezeichneter Stammbaum eines Seitenastes der westlichen Kultur, von dem kein Polizist öffentlich eingesteht, daß es ihn gibt: die Mafia. An prominenter Stelle war der Name Angelo Tuminaro zu lesen. Als der neue Polizeipräsident, Stephen Kennedy, 1958 Ed Carey als Leiter des Rauschgiftdezernats bestellte, schien das Amt unter wachsender Interesselosigkeit seitens der hohen Tiere im Präsidium zu leiden. Rauschgift wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem bedeutenden Faktor in der Sicht des Verbrechens; vor dem Krieg war dafür - sowie für Hasardspiele, Prostitution, Pornographie und ähnliche „gesellschaftliche“ Vergehen - die sogenannte Sittenpolizei zuständig gewesen. Ende der vierziger Jahre wurde eine eigene Rauschgiftpolizei ins Leben gerufen, als allen Beteiligten klar wurde, daß die internationale Mafia dem Drogenhandel ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zuwandte, erblickte sie doch darin ein enorm einträgliches Mittel, die Unzahl ihrer ungesetzlichen Unternehmungen zu finanzieren und daneben aber auch in „legitime“ Geschäfte einzusteigen. Diese Rauschgiftpolizei, die -86-
später in Rauschgiftdezernat umbenannt wurde, bestand aus ein paar Dutzend ausgesuchter Polizeibeamter, die von den Listen und Tücken der Schmuggler wenig Ahnung hatten und erst durch Erfahrung lernen mußten. Das Dezernat machte verzweifelte Anstrengungen, um mit dem gewaltigen Erstarken des Drogenhandels in New York Schritt zu halten. Die Stadt war zum Rauschgiftzentrum der westlichen Hemisphäre geworden; die Hälfte aller Süchtigen in den Vereinigten Staaten, oder noch mehr, war im Stadtgebiet ansässig, und zwischen fünfundsiebzig und achtzig Prozent aller illegalen Einfuhren wurden über den New-Yorker Hafen und die Flughäfen der Stadt ins Land geschleust. Mitte der fünfziger Jahre hatte das Rauschgiftdezernat über zweihundert Mann im Einsatz, etwa ein Prozent des gesamten Polizeiapparats. Der Kampf dieser Leute gestaltete sich von Tag zu Tag aussichtsloser. Der Hunger der Süchtigen nach dem Gift, der Appetit der Unterwelt auf die riesigen Gewinne hatten den Handel in einem Maß anschwellen lassen, das es den Polizeibehörden unmöglich machte, eine wirksame Kontrolle auszuüben. Präventive Kampfmaßnahmen blieben im Sumpf zeitraubender und oft fruchtloser Verfolgungen kleiner und kleinster Händler stecken, und nur selten ließ ein unerwarteter Glücksfall den Lauf der Kanäle ahnen, die zu den eigentlichen Quellen der Rauschgiftversorgung führten. In der gleichen Periode schien es innerhalb der maßgeblichen Polizeikreise auch an einer einheitlichen Auffassung zu mangeln, inwieweit die bedrohlich ansteigende Zahl von Verbrechen aller Art mit der Ausdehnung des Rauschgifthandels in kausale Verbindung zu bringen war. Die leitenden Beamten hingen verschiedenen Theorien an, wobei einige der traditionsbewußteren Geister einer Spezialisierung der Rauschgiftbekämpfung eher ablehnend gegenüberstanden und für die seit langem erprobte Taktik eintraten, gegen das Verbrechertum einen Angriff auf breiter Front vorzutragen. Als -87-
Carey 1958 sein Amt übernahm, war der Personalstand des Dezernats auf 164 Mann gesunken. Die Arbeitsmoral war nicht hoch; er fand viele Beamte vor, die durch das Gefühl der offensichtlichen Nutzlosigkeit ihrer Bestrebungen entmutigt waren. Sie waren so weit gekommen, daß sie sich mit einem von ihnen selbst festgelegten Quoten-System von Verhaftungen zufriedengaben; nur wenige bezeugten außergewöhnliche Findigkeit oder unternahmen besondere Anstrengungen über das erforderliche Mindestmaß hinaus. Doch bei der Umgestaltung seines neuen Kommandos genoß Carey die Gunst einer Reihe von Umständen. Vor allem, er war ein Liebling des Polizeipräsidenten Kennedy, eines hochgeistigen, aber auch beinharten Verwaltungsmannes, der ebenfalls durchaus die Ansicht vertrat, daß die neue Welle von Verbrechen, organisierter und anderer, in beträchtlichem Ausmaß dem Rauschgift zuzuschreiben war. Carey erhielt von Kennedy völlig freie Hand, um sein Personal zu reorganisieren und die Bevölkerung auf drastische Weise vor der Gefahr zu warnen, der sie gegenüberstand. Der neue Chef benötigte fast ein Jahr, um sich über seine Aufgaben und Probleme klarzuwerden. Es gelang ihm, ein gutes Verhältnis zu seinen Männern herzustellen; er versetzte einige und holte sich neue aus anderen Dienststellen. Aus den entschlossensten und energischsten Kriminalbeamten bildete er einen kleinen Kader, aus dem er die Elitetruppe des Hauses bildete: die Nachforschungssonderabteilung. Diese wandte ihre Aufmerksamkeit von da an nicht mehr der Routine des Drogenhandels auf den Straßen, sondern den großen „Brocken“ zu, sie sollte die hohen Tiere jagen und vernichten - je höhere, desto besser. Schließlich verstärkte Carey die Beziehungen seines Dezernats zu dem des FBI, das über Hilfsquellen, Arbeitskräfte und Ausrüstung verfügte, die die örtlichen Stellen gut gebrauchen konnten. Die New-Yorker Polizei besaß -88-
Informationen, Kontakte und gewisse Bewegungsmöglichkeiten im Rahmen der Gesetze - wie die des Abhörens von Telephongesprächen auf Grund eines Gerichtsbeschlusses -, die den Bundesagenten wertvoll waren. Mindestens einmal in der Woche traf Chef Carey mit dem Gebietsleiter der Bundesbehörde, George Gaffney, zusammen, um Berichte auszutauschen und strategische Entscheidungen zu treffen. In diesem neuen Geist begann die Offensive gegen das Rauschgift, gewann an Stärke, was sowohl in den Verhaftungen prominenter Händler zum Ausdruck kam als auch in der verstärkt betriebenen Aufklärung der Bevölkerung über die erschreckenden Folgen der Rauschgiftsucht. Die Polizei erhielt sogar Hinweise, daß die ältere Generation der Mafia, über das stetige Vordringen der Gesetzeshüter gegen die innere Führung beunruhigt, an der Zukunft des Rauschgifthandels zu zweifeln begann. Gerüchte gingen um, wonach die alten Dons, von denen viele die aus ihrer verbrecherischen Tätigkeit herrührenden beträchtlichen Gewinne schon vor geraumer Zeit zur Etablierung ebenso ertragreicher, legitimer Deckgeschäfte herangezogen hatten, zu der Überzeugung gelangt waren, daß sie ihre auf unehrenhafte Weise erworbene Achtbarkeit zunehmender und unnötiger Gefahr aussetzten. Viele „übergaben“ entweder ihre Rauschgiftvertriebskonzessionen an jüngere, verwegenere Angehörige der „Familie“ oder liquidierten ihre Geschäfte zur Gänze und gaben so einer neuen Gaunerrasse von Poertorikanern und ausgebürgerten Kubanern den Weg zur Spitze frei. Gerade wegen dieser ständigen Umstellungen kam der Operation, auf die der Zufall die Kriminalbeamten Egan und Grosso und den Bundesagenten Waters hatte stoßen lassen, erhöhte Bedeutung zu. Patsy Fuca, die Schlüsselfigur, war mit Klein Angie, dem alten Boß, verwandt. Wenn die Sache sich als so groß erweisen sollte, wie die Polizei annahm, konnten umfangreichere Verhaftungen und Verurteilungen es unter -89-
Umständen ermöglichen, das fadenscheinige, morsche Gewebe des internationalen Syndikats zu zerreißen. Aus diesem Grund hatte der Chef Egan und Grosso und dem NSA-Team in den letzten vier Monaten jede Freiheit gewährt; George Gaffney vom FBI war seinem Beispiel gefolgt. Aus Angst, ein allzu großes Aufgebot an Beamten könnte die Geschichte vorzeitig zum Platzen bringen, hatten Egan und Grosso in dieser Zeit sehr zurückhaltend operiert. Jetzt aber, nach dem Anruf, den Patsy in seinem Laden entgegengenommen hatte und der deutlich darauf hinzuweisen schien, daß etwas Wichtiges bevorstand, entschlossen sie sich, Leutnant Hawkins zu ersuchen, ihnen jede verfügbare Hilfe angedeihen zu lassen. Mittwoch, den 10. Januar trafen sie sich um halb neun Uhr früh im Hauptquartier des Dezernats mit Chef Carey, Hawkes, Sergeant Fleming von der NSA sowie George Gaffney, Frank Waters und Sonderagent Ben Fitzgerald vom Bundesdezernat, um die Marschroute und die Personaleinsätze festzulegen. Carey gab einen Befehl heraus, wonach jeder einzelne von seinen zweihundert Leuten, sofern er nicht eine unaufschiebbare Untersuchung durchführte, bereit sein mußte, beim Fall Fuca mitzuhelfen. Auch Gaffney kommandierte alle verfügbaren Agenten im Gebiet von New York dazu ab. Alles in allem wurde auf diese Weise eine Streitmacht von etwa dreihundert Kriminalbeamten auf die Beine gebracht. Einzelne Funkwagen wurden mit Tonbandaufnahmegeräten ausgestattet, um sämtliche Gespräche zwischen den verschiedenen Einsatzgruppen aufzuzeichnen. Das Büro des Bundesrauschgiftdezernats in der Church Street 90 wurde zur zentralen Kommando- und Verbindungsstelle bestimmt, weil es sich hierfür am besten eignete. Eine Funkanlage wurde eingerichtet, über die sowohl die Kriminalbeamten wie auch die Agenten Berichte und Hinweise unmittelbar an Egan, Grosso und Waters durchgeben konnten.
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An jenem Mittwoch, kurz nach Mittag, es war der 10. Januar, hatten Grosso und Waters in der Nähe eines Bauplatzes in der 45th Street East, östlich der Vanderbilt Avenue, ihren Wagen geparkt. Sie waren Patsy Fuca von seinem Haus in Brooklyn hierher gefolgt. Hier, hinter der Grand Central Station, herrschte ein reger Verkehr. Lastwagen schlängelten sich durch die Absperrungen, während Bauarbeiter hämmernd und schreiend an das neue PANAM-Gebäude letzte Hand anlegten. Grosso und Waters wurden unruhig. Sie ließen den Haupteingang des Hotels Roosevelt zwischen Vanderbilt Avenue und Madison Avenue nicht aus den Augen. Vor zehn Minuten hatte Patsy seinen Buick in einer Halteverbotszone gegenüber dem Roosevelt geparkt und war ins Hotel gegangen. Seitdem war er nicht mehr erschienen. Sonny öffnete die Wagentür. „Ich will mich mal umsehen“, sagte er gereizt. Er ging an der Südseite der 45th Street entlang, bis er sich genau gegenüber dem Hoteleingang befand. Patsy war nicht zu sehen, aber es war Essenszeit, und die Gehsteige füllten sich mit Büroangestellten. Sonny entschloß sich, einen Blick in die Halle zu wagen. Er kreuzte die Straße, schob sich durch die Drehtür, schickte sich an, die breite, teppichbedeckte Treppe hochzugehen, die in die Halle hinaufführte - und blieb plötzlich auf den ersten Stufen stehen. Was ihn so abrupt zum Halten brachte, war die imposante Gestalt, die die Treppe herabkam - ein großgewachsener, achtunggebietender Mann von distinguiertem Aussehen, mit üppigem grauem Haar unter einem schwarzen Homburg, einem schwarzen Kaschmirmantel mit Pelzkragen, gestreiften grauen Hosen, perlgrauen Gamaschen und einem schwarzen Spazierstock, den er munter in der Hand schwang. Jetzt lächelte er jemandem zu, der ihn unten erwartete; es war eines jener höflichen Salonlächeln, bei dem ein leichtes Verziehen der Mundwinkel genügt, um es statt warm frostig erscheinen zu lassen. -91-
Sonny folgte seinem Blick. Unten an der Treppe stand Patsy. Auch er lächelte, seine Züge verzerrten sich dabei zu einer Fratze. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand und schickten sich an, auf die Straße zu treten. Sonny zog sich durch eine Seitentür zurück und erreichte den Gehsteig im selben Augenblick, da Patsy hinter dem großen Mann aus der Drehtür kam. Der Kriminalbeamte eilte auf Waters' Wagen zu, wobei er einigemal über die Schulter sah, um die Männer nicht aus den Augen zu verlieren. Sie schlenderten zur Madison Avenue hinüber. Sonny ließ sich neben Waters auf den Vordersitz fallen. „Hast du das gesehen?“ „Ja. Was ist denn?“ Der Agent lachte. Patsy und sein Begleiter waren inzwischen wieder zum Roosevelt zurückgekehrt und standen trotz der eisigen Kälte tief in ein Gespräch vertieft seitlich vom Hoteleingang. Der Fremde schien einer Gesellschaftsklasse anzugehören, zu der Patsy üblicherweise keine Verbindung unterhielt. „Ich möchte wetten, daß das der Kerl ist, der gestern angerufen hat“, meinte Sonny. Er wünschte, jemand hätte eine Methode erfunden, die es gestattete, die winterlichen Atemwölkchen zu lesen, so wie man die Zeichensprache oder die Rauchsignale der Indianer deuten kann. „Es hat den Anschein, als ob nun die erste Mannschaft ins Spiel käme“, kommentierte Waters. Wenige Minuten nach halb eins drehten sich Patsy und der Mann in Schwarz um und schritten rasch über die Straße auf Patsys blauen Wagen zu. Kurz darauf hatten sie sich in den Verkehrsstrom eingeordnet, der mit zermürbender Langsamkeit in westlicher Richtung floß. Einige Wagenlängen zurück folgten Waters und Sonny. Es dauerte über zwanzig Minuten, bevor der Buick in der 46th Street West, zwischen der Eighth Avenue und dem Broadway, -92-
neben dem Hintereingang des Hotels Edison anhielt. Der so auffallend elegant gekleidete Fremde stieg aus, ging um den Wagen herum, beugte sich zu einem letzten Grußwort in Patsys Fenster und betrat würdevoll das Hotel. Patsy fuhr in westlicher Richtung davon. Sonny sprang aus Waters' Wagen und lief zum Edison vor. Waters folgte Patsy. Sonny erreichte die Hotelhalle gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der große Mann durch den Haupteingang auf die 47th Street hinaustrat. Bis der Kriminalbeamte sich einen Weg durch die Halle gebahnt und auf die 47th Street durchgekämpft hatte, war der Fremde schon fast am Broadway. Nun trollte der alte Boulevardier gemächlich dahin und genoß das bunte Schauspiel des grell aufgeputzten Times Square, der Sonny immer an eine billige Hure erinnerte, die schon zuviel hinter sich und dazu noch einen Kater hat. Er kümmerte sich nicht um die Passanten, von denen ihn viele mit einer Mischung aus Bewunderung und Neugier betrachteten. Es war jedenfalls nicht schwer, ihm auf der Spur zu bleiben, dachte Sonny. Er überquerte den Times Square, wo der Broadway sich mit der Seventh Avenue überschneidet, und blieb vor Auslagen und Aushängekästen der Kinos stehen. Der Kerl schlägt die Zeit tot, vermutete Sonny, der etwa hundert Meter zurückblieb. Der Mann schlenderte zur Westseite des Broadway zurück und setzte seinen Spaziergang in nördlicher Richtung fort. An der Ecke der 48th Street blieb er einen Augenblick stehen, warf einen Blick in McGinnis's, ein Restaurant, und ging weiter. Bei der 51th Street überquerte er neuerlich den Broadway und wandte sich, immer noch gemächlichen Schritts, gegen Osten. Nachdem fast eine Stunde vergangen war, sah Sonny ihn endlich um ein Uhr fünfundfünfzig das Hotel Victoria an der Ecke 51th Street und Seventh Avenue betreten. Der Beamte wartete eine kurze Weile und folgte ihm dann. Der Mann hatte oben in der großen Halle auf einer Lederbank gegenüber den Aufzügen Platz genommen. Sonny wanderte zum -93-
Zeitungsstand hinüber. Wenige Minuten später erhob sich der Fremde, um einen Menschen zu begrüßen, der quer durch die Halle auf ihn zukam. Dieser Mann war wesentlich kleiner, nach Sonnys Schätzung etwa einen Meter fünfundsechzig groß, und viel jünger, vielleicht Anfang Dreißig. Er schien von gewinnendem Äußeren, nur daß er sein dunkelbraunes Haar, auf dem kein Hut saß, etwas voller trug als die meisten Amerikaner seines Alters; seine Kleidung war schwarz und gut geschnitten. Die Freude, mit der der Große ihn begrüßte, schien aufrichtiger zu sein als die, die er Patsy gegenüber bezeugt hatte. Sie umarmten sich flüchtig, plauderten einige Sekunden und verließen anschließend gemeinsam das Hotel. Sonny folgte ihnen nun zurück zum Broadway und zur 48th Street hinunter, wo sie, wie er leicht erstaunt feststellte, ins McGinnis's gingen. Es ist dies ein großes Lokal mit zwangloser Atmosphäre, das rein amerikanische Küche bietet, wie etwa Hamburger oder gegrillte Sandwiches. Da die beiden Ausländer zu sein schienen, möglicherweise Franzosen oder Italiener, hätte Sonny angenommen, sie würden eher eine Gaststätte aufsuchen, die mehr dem kontinentalen Geschmack entsprach. Sie gingen in den kleinen, ruhigeren Speisesaal hinunter, wo man ihnen einen Tisch an der Wand anwies. Nachdem sie sich gesetzt hatten, rief Sonny die Zentrale an und ersuchte, man möge jemanden schicken, der ihm helfen sollte, das Restaurant zu überwachen. Dann ging er ebenfalls hinunter und suchte sich einen kleinen Tisch links von den beiden und nur zwei Tischreihen von ihnen entfernt. Die beiden Männer unterhielten sich angeregt in einer Sprache, die Sonny auf Grund der wenigen Worte, die an sein Ohr drangen, als Französisch identifizierte, obwohl ihm die Aussprache gutturaler und weniger nasal vorkam, als es bei früheren Gelegenheiten geklungen hatte. Als der Kellner kam, bestellte der Große in stark akzentuiertem Englisch einen Sherry für sich und eine Flasche -94-
Importbier für seinen Begleiter. Sonny vertiefte sich in die Speisekarte und wartete, ob die Männer Speisen bestellen würden. Das taten sie kurze Zeit später. Zwei Menüs. Sonny entschied sich für Beefburger und eine Tasse Tee. Er aß langsam und paßte seine Mahlzeit dem gemächlichen Tempo der Fremden an. Er unterließ es, sich zu sehr mit ihnen zu beschäftigen, doch wenn er seine Augen hinüberschweifen ließ, sah er, daß sie einen großen Bogen Papier, etwa dreißig mal vierzig Zentimeter, vor sich liegen hatten und mit den Fingern darauf hin und her fuhren, als wäre es eine Landkarte, ein Plan oder eine Skizze irgendwelcher Art. Es war schon fast halb fünf, als der Ältere die Rechnung verlangte. Sonny stand sofort auf, ließ ein paar Banknoten auf den Tisch flattern, ging hinauf und auf die Straße. Eine offene Zeitung in Händen, lehnte eine vertraute, stämmige Gestalt gegen einen Laternenpfahl vor der Tür des Restaurants - Eddie Egan. Sonny ging hinüber und blieb mit dem Rücken zum Restaurant neben ihm stehen, als warte er auf das Grünlicht der Verkehrsampel. Ohne eine Geste des Wiedererkennens murmelte Sonny ihm zu: „Zwei Vögel in Schwarz werden jeden Moment herauskommen, ein alter, groß und Klasse, und ein anderer, kleiner und jünger. Du nimmst den kleinen. Ich bin sicher, sie sind Ausländer. Meiner hat sich vorher mit Patsy getroffen.“ „Mhm - sie kommen schon“, warnte Egan, scheinbar ohne den Blick von der Zeitung zu wenden. Die beiden Fremden blieben an der Ecke stehen, plauderten noch eine kleine Weile, schüttelten sich dann die Hand und trennten sich. Der Große schlenderte den Broadway hinunter, und Sonny nahm von neuem seine Verfolgung auf. Der andere, von Egan beschattet, überquerte den Broadway in östlicher Richtung. Sonnys Mann kehrte ins Hotel Edison zurück. Er ließ sich -95-
seinen Zimmerschlüssel geben und ging auf einen offenen Aufzug zu. Der Kriminalbeamte betrat die Kabine vor ihm. Im neunten Stock stieg der Mann aus. Sonny fuhr bis zum elften weiter und nahm einen ändern Fahrstuhl ins Erdgeschoß zurück. Er ging ans Haustelephon und verlangte den Hausdetektiv, einen früheren Polizisten, den er kannte. Wenige Minuten später saß er ihm in einer ruhigen Ecke gegenüber und ersuchte ihn, im Fremdenbuch nachzusehen. Er brauchte die Namen und Herkunftsorte vor kurzem eingetroffener Ausländer, die im neunten Stock Zimmer bezogen hatten. Während er wartete, wanderte Sonny in der Halle auf und ab, hielt sich beim Zeitungsstand auf und betrachtete Auslagen, ohne dabei die Aufzüge aus dem Auge zu verlieren. Knapp fünfundzwanzig Minuten später fing er einen Blick des Hoteldetektivs auf. Nahe dem Haupteingang, hinter einer Anschlagtafel, die den Grünen Saal des Hotels anpries, erfuhr Sonny, daß der Mann, für den er sich interessierte, ein einzelner Herr aus Kanada war. Er war gestern angekommen und bewohnte Zimmer 909: ein Mr. Jean Jehan aus Montreal. Sonny war der Name nicht geläufig, doch sollte er Mr. Jehan noch sehr gründlich kennenlernen. Er rief die Zentrale an, um seinen Aufenthaltsort bekanntzugeben und weitere Unterstützung ins Edison anzufordern. Dann borgte er sich mit Hilfe des Hausdetektivs die Jacke eines dienstfreien Portiers aus, postierte sich neben der Portierloge und wartete. Inzwischen war Egan dem jüngeren Mann zum Hotel Victoria an der Ecke 518t Street und Seventh Avenue gefolgt. Wie es in solchen Fällen Standardpraxis war, betrat er zusammen mit dem Verdächtigen die Aufzugskabine und stellte fest, daß er im elften Stock ausstieg. Zwanzig Minuten später wußte Egan, daß der Hotelgast am Tag zuvor aus Montreal gekommen war; er bewohnte Zimmer 1128 und hatte sich mit dem Namen Francois Barbier ins Fremdenbuch eingetragen. -96-
Egan rief in der Zentrale an und erfuhr, daß sein Kollege im Hotel Edison ein Individuum namens Jean Jehan unter Aufsicht hatte. Er kaufte sich eine Zeitschrift, sah sich nach einem bequemen Lehnstuhl um und richtete sich häuslich ein. Etwa drei Stunden später, um sechs Uhr fünfundvierzig, kam Francois Barbier aus einem der Aufzüge. Er trug einen dickgefütterten, schwarzen Mantel mit Pelzkragen. Er durchquerte die Halle, stieg die Treppe hinab und trat in die eisige Luft der Seventh Avenue hinaus. Ein paar Blocks weiter, auf dem Times Square, zeigte eine elektrische Leuchttafel eine Temperatur von zwölf Grad unter Null an. Mit Egan auf den Fersen, eilte Barbier zum Broadway hinüber und die 47th Street hinunter, wo er einbog und das Hotel Edison betrat. Eingemummt in Mantel und Schal, den unvermeidlichen Spazierstock in der Hand, erwartete ihn Jean Jehan in der Halle. Sonny Grosso stand in der Portierloge, und seine traurigen braunen Augen registrierten aufmerksam, was um ihn vorging. Am anderen Ende der Halle, lässig in einen bequemen Sessel gelehnt, las Bundesagent Frank Waters eine Zeitung. Ohne auch nur einen Blick aus den Augenwinkeln zu riskieren, kam Eddie Egan hereingeschlendert, blieb am Zeitungsstand stehen und ließ seine Blicke über die Zeitschriften und die letzten Ausgaben der Abendblätter schweifen. Nach einer kurzen Besprechung gingen Jehan und Barbier zusammen auf die 46th Street hinaus und schritten in westlicher Richtung auf den Hudson zu. Schon hatte Sonny die Portierjacke abgelegt und seinen Mantel angezogen, und einer nach dem ändern folgten die drei Kriminalbeamten den beiden Ausländern. Es war kurz nach sieben. Ohne sich zu beeilen, durchquerten die zwei Franzosen das graue, häßliche, einst als „Höllenküche“ verrufene Viertel des westlichen Mittelteils von Manhattan - abstoßend aussehende Gruppen verfallener Mietshäuser, Lagerhallen, Parkplätze, Tankstellen und Garagen. Sie benötigten fünfzehn Minuten, um -97-
die fünf langen Blocks vom Edison bis zur Twelfth Avenue zurückzulegen, einer breiten, öden Durchgangsstraße, die unter dem Henry Hudson Parkway den Fluß entlangführt. In sie münden die Piers fast aller größeren Schiffahrtslinien ein. An der Ecke zur 46th Street blieben Jehan und Barbier stehen und starrten zum mächtigen Bug der United States hinauf, die kurz vorher an der Mole festgemacht hatte. Im schneidenden Wind, der vom Fluß herüberkam, die Hände in den Taschen vergraben, mit kleinen Tanzschritten gegen die Kälte ankämpfend, standen die zwei Kanadier oder Franzosen, oder was sie sonst waren, über eineinhalb Stunden lang an dieser Ecke. Anfangs war der Pier ein wirres, lärmendes Durcheinander gewesen. Passagiere waren vom Dampfer heruntergeströmt, Träger hatten sich mit umfangreichem Gepäck herumgeschlagen und hupende Taxis und Privatautos versucht, schneller an die Ausgangstore heranzukommen. Aber als es acht und dann halb neun wurde, die Menschen sich verliefen und der Strom der Fahrzeuge sich lichtete, standen die beiden Männer immer noch an der gegenüberliegenden Ecke. Den halb erfrorenen Kriminalbeamten - Sonny in einem Torbogen auf der Twelfth Avenue zwischen der 46th und der 47th Street, Egan und Waters auf je einer Seite der 46th, einen halben Block hinter den Fremden - erschien dieses Warten unbegreiflich. Wenn die zwei gekommen waren, um jemanden abzuholen, mußten sie ihn verpaßt haben; bis auf einige Nachzügler und die Schiffsbesatzung schien alle Welt den Pier verlassen zu haben. Die Finger und Zehen der Beamten waren vor Kälte erstarrt und begannen schon zu schmerzen. Die Ohren brannten, und jeder verfluchte auf seine Art die „verdammten Franzmänner“, wie Egan das Paar nannte. Gegen acht Uhr fünfzig unternahm einer der Franzosen endlich etwas. Barbier ließ seinen Begleiter stehen und überquerte die Twelfth Avenue in Richtung auf den Pier. Er blieb einige Minuten stehen und beobachtete auf Zehenspitzen -98-
die Vorgänge auf dem Verladeplatz. Dann drehte er sich um und kam zurück. Er schritt schnell aus und, so wollte es den Kriminalbeamten scheinen, mit einer Spur flotter Munterkeit im Gang. Was immer er berichten mochte, Jehan klopfte ihm auf die Schulter, und beide traten den Rückweg durch die 46th Street an. Diesmal gingen sie am Edison vorbei und überquerten den glitzernden Broadway, der eben begann, seine verschwommene Trägheit abzulegen und die nächtlichen Ströme der Theaterbesucher und Unterhaltungslustigen aufzunehmen. Auf der Fifth Avenue bogen sie links ein und wandten sich nach Norden; sie schienen ziellos dahinzuwandern wie zwei alte Freunde auf einem Verdauungsspaziergang. Unterwegs tauschten die Kriminalbeamten ihre Meinungen aus. Sie waren überzeugt, daß es sich bei den Ausländern um die großen Heroinlieferanten handelte, auf die Patsy Fuca gewartet hatte. Oder sie vertraten unmittelbar die Unternehmer. Ebenso erwiesen schien es, daß die große Ladung, von der man unter den kleinen Händlern unter den Süchtigen tuschelte, entweder schon eingetroffen war und nur noch verteilt werden mußte oder jeden Moment eintreffen würde. Zum erstenmal waren Eddie und Sonny von der Hoffnung beseelt, zwar nicht Angelo Tuminaro, auf den sie es ursprünglich abgesehen hatten, vor das Visier zu bekommen, dafür aber eine Transaktion aufzudecken, größer, als sie sich je hätten träumen lassen. Darum waren sie trotz der Kälte sprudelnder Laune, als sie nun die geheimnisvollen Franzosen verfolgten, die der trockenhumorige Egan inzwischen „Franzmann eins“ - Jehan - und „Franzmann zwei“ - Barbier - titulierte. Die drei Kriminalbeamten entwickelten die klassische Uberwachungsformation, die Agenten auf der ganzen Welt als „A-B-C-Verfolgung“ oder „Parallelverfolgung“ bekannt ist. Zwei von ihnen, einer hinter dem andern - in diesem Fall Egan (A) vor Grosso (B) -, folgten den Verdächtigen in angemessener -99-
Entfernung auf derselben Straßenseite; der dritte, Waters (C), ging auf der ändern Straßenseite in etwa der gleichen Höhe wie die Franzosen. Waters behielt die Franzosen im Auge; Egan beobachtete die beiden und auch Waters am Gehsteig gegenüber; und Grosso folgte den Bewegungen seiner Kollegen. Alle drei- bis vierhundert Meter tauschten die drei ihre Position. Es ist dies eine nahezu todsichere Methode, die Verfolgten im Blickfeld zu behalten, denn um wieviel Ecken sie auch biegen, wieviel Fluchtversuche sie auch unternehmen mögen, sie können der Aufmerksamkeit von C nicht entgehen. Und bald sollte die Nützlichkeit dieser Formation unter Beweis gestellt werden. Nahe der St.-Patrickkathedrale an der 50th Street kreuzten die Franzosen auf die Ostseite der Fifth Avenue hinüber und setzten ihren gemächlichen Trott in nördlicher Richtung fort. Dann aber, als sie um die Ecke der 55th Street East bogen, verschwanden sie rasch durch die Drehtür des eleganten St.Regis-Hotels, das nur wenige Meter von der Fifth Avenue entfernt liegt. Hätte Agent Waters ihr unerwartetes Manöver nicht von der anderen Straßenseite aus beobachtet, sie wären von ihren Opfern abgehängt worden. Sie verweilten einige Augenblicke in der Halle des St. Regis, vermutlich, um zu beobachten, ob ihnen jemand folgte, der wie ein Polyp aussah, und gerade lange genug, um den Kriminalbeamten die Möglichkeit zu geben, sich auf der Straße neu zu formieren. Nachdem sie offenbar zu der Überzeugung gelangt waren, daß sie nicht beobachtet wurden, durchquerten Jehan und Barbier die Halle und stiegen die teppichbedeckte Treppe zu dem im Tiefgeschoß gelegenen luxuriösen Maisonette Supper Club hinab. Da die entfernte Möglichkeit bestand, die Franzosen könnten sie wiedererkennen, beschlossen Egan und Sonny, ihnen nicht ins Maisonette zu folgen, und überließen Waters diese Aufgabe. Sonny sagte, er würde sich in der Halle aufhalten, und Egan -100-
erklärte sich freiwillig bereit, auf der 55th Street Aufstellung zu nehmen, um den mit einem herabhängenden Schutzdach versehenen Separateingang des Maisonette im Auge zu behalten. Als Egan sich wieder in seinen Mantel gewickelt hatte und auf die Straße trat, war es fast halb zehn und die Temperatur auf minus vierzehn gesunken. Jehan und Barbier blieben eine Stunde im gedämpften Licht des Maisonette sitzen. Von Agent Waters beobachtet, nippten sie an ihren Cocktails, stocherten in leichten Salaten und plauderten, ohne auf die rhythmische Musik des Hotelorchesters oder die paar Dutzend eleganter Tanzpaare zu achten. Gegen halb elf erhob sich Jehan und ging nach oben; sein Begleiter blieb sitzen. Sonny, nachlässig in einem bequemen Sessel beim Eingang zur King-Cole-Bar des St. Regis lümmelnd, fuhr auf, als Jehan an ihm vorbeikam und bei einer der teilweise mit einer Wand umgebenen öffentlichen Sprechzellen unmittelbar neben der Halle stehenblieb. Mit abgewendetem Gesicht stellte sich Sonny in die benachbarte Koje und versuchte zu horchen. Jehan führte das Gespräch, das etwa zehn Minuten dauerte, zur Gänze in französisch; Sonny konnte nur feststellen, daß seine Stimme dringlich klang. Anschließend ging Jehan wieder ins Maisonette hinunter. Nach einigen Minuten, die die Franzosen im Gespräch verbrachten, verlangten sie die Rechnung. Waters verließ seinen Tisch erst, nachdem sie die Treppe hinaufgestiegen waren. Oben in der Halle beobachtete Sonny, wie sie auf die 55th Street hinaustraten. Ein erfrorener Egan, den Hut tief über seinen roten Schöpf gezogen, sah sie zur Fifth Avenue zurückgehen. Die drei Beamten folgten ihnen bis zur 50th Street hinunter und dann zwei Blocks östlich zum Waldorf Astoria auf der Park Avenue. Es war elf Uhr nachts. Die Fremden begaben sich zu der in der 50th Street gelegenen Einfahrt zur Hotelgarage und gingen die Rampe hinunter. Um nicht in allzu nahe Berührung mit ihnen zu kommen, hielten -101-
Egan und Sonny es für klüger, auf der Straße zu warten und die Einfahrt im Auge zu behalten. Waters eilte zu den Aufzügen im Hintergrund der Hotelhalle. Etwa zehn Minuten später kamen Jehan und Barbier die Rampe herauf und betraten das Hotel durch den Haupteingang. Barbier fand sich ein Haustelephon und führte ein längeres Gespräch mit jemandem - auf französisch, wie sein heftiges Gestikulieren vermuten ließ. Jehan stand daneben. Die Beamten konnten nur annehmen, daß er mit derselben Person sprach, die Jehan vom St. Regis aus angerufen hatte. Die eigentliche Bedeutung des Garagenbesuches blieb ihnen verborgen. Die beiden Männer schritten nun, ohne sich weiter aufzuhalten, auf die Aufzüge zu, betraten eine Kabine und verschwanden hinter den Schiebetüren. Es geschah zu schnell, als daß die überraschten Beamten ihnen hätten folgen können. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. Unmöglich festzustellen, wohin sich die zwei Franzmänner in diesem gewaltigen Hotelkomplex begeben hatten. Fast eine Stunde verging, doch von den Verdächtigen war nichts zu sehen. Es war Mitternacht vorüber. Seit über zwölf Stunden waren die Kriminalbeamten diesen Leuten auf den Fersen und hatten kaum die Möglichkeit gehabt, zu essen oder auch nur ihre Notdurft zu verrichten. Die Begeisterung, die sie noch vor wenigen Stunden empfunden hatten, war weitgehend gedämpft. Sie ärgerten sich, vor allem über sich selbst, schien es doch, als hätten sie die Fährte verloren. Sie kannten die Hotels, in denen die Männer abgestiegen waren, wußten jedoch aus Erfahrung, daß man nie etwas als erwiesen betrachten durfte. Die Aufzüge nicht aus den Augen lassend, strichen die Beamten lustlos in der großen Halle des Waldorf umher. Sonny und Waters begannen sich damit abzufinden, die Franzosen für diese Nacht verloren zu haben, aber Egan mit seinem halsstarrigen irischen Temperament war nur verärgert. Eine undefinierbare Eingebung sagte ihm, daß die Franzmänner das -102-
Hotel nicht verlassen hatten und daß es in dieser Nacht noch allerlei zu tun geben würde. Er trennte sich von den ändern, wanderte in den an der Lexington Avenue gelegenen Teil des Waldorf hinunter und warf einen Blick in die Bulland-Bear-Bar. Geisttötenden Banketten und langweiligen Tagungen entronnene Gäste, ausschließlich Männer, einige im Abendanzug, hatten sich hier zu einem Schlummertrunk zusammengefunden und belebten etwas die fade Stimmung dieser neoenglischen Kneipe. Und friedlich an einem Ecktisch, zwei frische Drinks vor sich, saßen Jehan und Barbier. Egan wirbelte herum und stürmte die Treppe hinauf, um Sonny und Waters zu benachrichtigen. Entweder hatten die Franzmänner jemanden auf seinem Zimmer besucht und sich anschließend von einem der hinteren Aufzüge in die untere Halle bringen lassen oder aber bewußt diesen umständlichen Weg gewählt. So oder so, man hatte sie wieder. Die Beamten konnten nur hoffen, daß sich in der Zwischenzeit nichts Bedeutsames ereignet hatte. Die United States hatte gegen sieben Uhr am Pier festgemacht. Jacques Angelvin hatte die umständlichen Landemanöver des großen Schiffes fast nicht ertragen können. Die Fahrt war entsetzlich langweilig gewesen, wenngleich er sich mit jenem Mädchen Arlette, das am nächsten Tag nach Chicago Weiterreisen würde, für später am Abend in ihrem Hotel, dem Summit, verabredet hatte. Er konnte es kaum erwarten, von Bord zu gehen und, Scaglias Anordnungen folgend, seinen Wagen ins Waldorf Astoria zu fahren. Er war auch begierig, die junge Dame kennenzulernen, die ihn, wie man ihm gesagt hatte, am Pier abholen würde. Er machte sich ein geistiges Bild von einer liebreizenden, jugendlichen und gefälligen Schönheit. Lilli DeBecque war hübsch und charmant. Bevor Angelvin sich in die auf die Zollabfertigung wartende Menschenschlange einreihte, beobachtete er, wie sein kostbarer Buick ausgeladen -103-
wurde. Es war fast neun, und er stand immer noch vor den Zollschranken, als das Mädchen auf ihn zukam. Sie war groß und gut gewachsen, elegant gekleidet und hatte langes, glänzendes schwarzes Haar. Und sie war eine Frau, kein Mädchen - fünfundzwanzig, schätzte er, vielleicht auch mehr. Mit seinen dürftigen Englischkenntnissen fiel es ihm schwer, den Zollbeamten zu erklären, wer er war und wozu er dieses in Amerika hergestellte Auto aus Frankreich nach Amerika mitgebracht hatte. Lilli kam ihm zu Hilfe. Sie stellte sich auf französisch vor und betonte, wie sehr sie sich freue, eine Persönlichkeit des Fernsehens kennenzulernen, die für ganz Frankreich ein Begriff sei. Dann wandte sie sich an die Zollbeamten und bezeichnete Jacques in, wie ihm schien, bezauberndem Englisch als den „Jack Paar Frankreichs“... Ungezwungen plaudernd warteten sie, bis der Buick durch die Sperre geschoben war. Lilli war Französin, lebte aber seit vielen Jahren in den Staaten und arbeitete als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei. Jacques, für Frauen stets empfänglich, glaubte zwischen ihnen einen Funken überspringen zu fühlen. Ihren Anweisungen folgend, steuerte er den Wagen durch den dichten Verkehr Manhattans zum Waldorf Astoria auf der Park Avenue. Der breite Boulevard mit seinen prächtigen Glastürmen im abendlichen Lichterglanz entzückte ihn. Er stellte den Wagen in der Hotelgarage ab und lud Lilli ein, ihn auf sein Zimmer zu begleiten. Sie lehnte ab und schlug vor, in der Halle auf ihn zu warten. Er war enttäuscht, überlegte aber, daß er mindestens eine Woche Zeit hatte, Lilli zu verführen, und daß eine vermutlich willfährige Arlette ihn im Hotel Summit erwartete. Daher schützte er nun seinerseits Müdigkeit vor und versprach, am nächsten Tag anzurufen. Dazu fiel ihm ein, daß er in Kürze von Francois Scaglia hören würde. -104-
Jacques brauchte nicht lange zu warten. Gegen halb elf rief ein Monsieur Jehan an, um sich zu vergewissern, daß er sich wohl fühlte und daß sein Wagen in der Garage stand. Der Herr sagte, er wäre mit Scaglia zusammen, und sie würden ihn gerne auf seinem Zimmer besuchen. Angelvin fragte, ob das nicht Zeit bis morgen habe, denn er sei sehr müde. In Wirklichkeit wünschte er, seine Affäre mit Arlette so bald wie möglich weiter zu betreiben. Jehan bestand auf einem Zusammentreffen noch an diesem Abend, und schließlich, nachdem die Fünf-MillionenFranc-Gage kurz erwähnt worden war, erklärte sich Angelvin widerstrebend einverstanden. Die Besprechung in seinem Zimmer dauerte etwa zwanzig Minuten. Jehan und Scaglia waren zufriedengestellt - sie hatten den Buick mit eigenen Augen in der Garage gesehen. Einigermaßen verdrießlich erkundigte sich Angelvin, ob er den Wagen morgen benützen könne, was Scaglia mit einem harten Nein beantwortete. Sie verabredeten ein Zusammentreffen für den Mittag des folgenden Tages; Scaglia würde ihm den Ort morgen früh bekanntgeben. Dann verabschiedeten sie sich. Angelvin fühlte sich erleichtert; er hatte versucht, nicht an die Rolle zu denken, die er in dieser widerlichen Transaktion spielte. Er war jetzt entschlossen, Ablenkung zu suchen. Er schloß das Zimmer ab, verließ das Hotel durch den Eingang in der Lexington Avenue, überquerte die Straße und ging einen Block hinunter zum Hotel Summit. Er rief Arlette von der Halle aus an. Sie kam bald herunter; zusammen gingen sie zurück ins Waldorf auf einen Drink. Nach dem Drink lud er sie auf sein Zimmer ein, und Arlette erklärte sich bereitwillig einverstanden. Doch nun war es schon nach Mitternacht, und die Hausdetektive waren auf ihren Posten. Angelvin warf ihnen und den Hotelbediensteten finstere Blicke zu, und Arlette wurde nervös, als einer der Detektive ihnen in Angelvins Stockwerk bis zu seinem Zimmer nachging. Sie entschlossen sich, ins Summit zurückzukehren, fanden jedoch dort die gleiche -105-
Situation vor. Sie sahen sich genötigt, jeder in seinem Zimmer in seinem Hotel die Nacht zu verbringen. Gegen halb ein Uhr früh des 11. Januar stand Sonny Grosso an der Theke der Bulland-Bear-Bar im Waldorf und starrte, wie es den Anschein hatte, melancholisch in einen süßen Vermouth. Egan und Waters standen draußen auf der 49th Street East, klatschten in die Hände und hopsten herum, um der grimmigen Kälte Herr zu werden. Egan zwickten und brannten die Füße. Anfangs war ihn eine plötzliche Angst überkommen, daß das die ersten Erfrierungserscheinungen sein könnten; dann aber entsann er sich der neuen braunen Schuhe, die er heute morgen in zu großer Hast erstanden hatte. Er verfluchte die schlecht sitzenden Schuhe, die Kälte, seine Füße, sich selbst, seine Arbeit, die ganze lausige Welt, als Jehan und Barbier um ein Uhr in der Seitentür der Bulland-Bear-Bar auftauchten und die 49th Street in östlicher Richtung hinuntergingen. Ein gutes Stück hinter ihnen und auf der gegenüberliegenden Straßenseite nahmen Egan und Waters die Verfolgung auf. Grosso kam aus der Bar und blieb den Franzosen in sicherer Entfernung auf derselben Straßenseite auf den Fersen. Jehan und Barbier bogen links in die Third Avenue ein. Sie passierten 42th Street und schließlich 34th Street. Die Kriminalbeamten tauschten Plätze miteinander, wechselten die Straßenseiten und gelegentlich sogar die Hüte, um die Möglichkeit, den Franzosen könnten die Gestalten ihrer Verfolger vertraut werden, auf ein Minimum zu reduzieren. Ihre angespannte Aufmerksamkeit erhöhte sich noch. Jetzt mußte doch einfach jeden Augenblick etwas geschehen! Die Franzmänner würden etwas Entscheidendes tun. In einer solchen Nacht, da der Wind einen beinahe umwarf und die Quecksilbersäule auf minus achtzehn gesunken war, ging man doch nicht nur spazieren! Aber Jehan und Barbier gingen die Third Avenue weiter, sahen sich kaum um, passierten die 23th Street und kamen zur 14th Street. Hier -106-
schwenkten sie endlich, ohne zu zögern, nach rechts ab. Es war ein Uhr fünfundvierzig, und sie waren fünfunddreißig Blocks, zwei eisige Kilometer weit, einfach dahingeschlendert. Die müden, durchfrorenen Polizeioffiziere gaben sich einen letzten Ruck. Jetzt mußte es losgehen. Die Franzosen marschierten zwei Blocks westwärts zum Union Square. Der eisige Wind fegte erbarmungslos über den weiten, einsamen Platz. Die zwei Männer bogen bei Kleins Warenhaus um die Ecke der Fourth Avenue und setzten ihren Weg in der Richtung fort, aus der sie gekommen waren. Von Kälte, Müdigkeit und zunehmender Hoffnungslosigkeit geplagt, hielten die drei Kriminalbeamten die Verfolgung aufrecht. Auf schmerzhaft angeschwollenen Füßen humpelte Egan dahin. Sie schleppten sich mühsam den ganzen Weg zurück, die Park Avenue hinauf bis zur 46th Street, dann wieder nach Westen, an der Madison, Fifth und Sixth Avenue vorbei, bis sich die zwei Franzosen endlich an der Ecke 46th Street und Seventh Avenue, um zwanzig Minuten vor drei, nach fast acht Stunden, mit nicht mehr als einem kurzen Kopfnicken und einem eher flüchtigen Händeschütteln voneinander verabschiedeten. Mit Sonny und Frank Waters als Bewacher setzte Jehan seinen Weg in westlicher Richtung fort, offenbar um zu seinem Hotel zu gelangen. Egan keuchte hinter Barbier her, der nach weiteren fünf Blocks das Hotel Victoria erreichte. Dort ließ er sich seinen Zimmerschlüssel geben, marschierte geradewegs zum Aufzug und war verschwunden. Egan sah das Kontrollicht bei der Zahl elf aufflammen. Dann ging er zum Telephon und rief die Zentrale an, wo er um baldmöglichste Ablösung ersuchte. Es war Donnerstag, drei Uhr früh, als er sich mit einem matten Ächzen in der Halle auf eine Couch fallen ließ, wo er alle Sinne zusammennahm, um wach zu bleiben. Es war ein harter Kampf. Die vor Müdigkeit brennenden Augen fielen -107-
immer wieder zu, und sooft er die warme Decke der Entspannung über sich kommen fühlte, mußte er sich einen Ruck geben, um wieder munter zu werden. Trotz der nun schon wunden Füße entschloß er sich gegen halb vier, in der Halle auf und ab zu gehen. Das tat er dann volle fünfzehn Minuten, kam sich dabei wie ein Hausdetektiv vor, hoffte genügend Adrenalin produziert zu haben und setzte sich wieder, um seinen Füßen Ruhe zu gönnen. Doch schon wenige Minuten später ertappte er sich aufs neue beim Einschlafen und sprang auf. Das Foyer war jetzt leer - abgesehen von einem Angestellten in der Rezeption, einem Hausdiener, der mit Hilfe eines stangenförmigen Geräts Zigarettenstummel vom Teppich in ein Abfallgefäß beförderte, und dem Nachtportier, der an einem hüfthohen Pult neben den Aufzügen lehnte. Der Portier beobachtete ihn, mitfühlend, wie es Egan schien. Ob der Mann wohl ahnte, daß er Kriminalbeamter war? Ob er ihm wohl helfen würde? Er entschloß sich zu einem Versuch. „Hören Sie, Freund“, lächelte Egan, indem er auf das Pult zuging, „Sie könnten mir vielleicht einen großen Gefallen tun.“ Der schmächtige, bläßliche Portier betrachtete ihn unentschlossen. „Und der wäre?“ „Ich bin Ihnen ja sicher schon aufgefallen“, sagte der Kriminalbeamte. „Ich warte auf eine Freundin, die herunterkommen soll“, er zwinkerte ihm zu, „Sie verstehen... und ich kann kaum die Augen offenhalten. Wenn Sie so freundlich wären und die Aufzüge im Auge behalten und im Fall, daß ich einschlafe, mich aufmerksam machen könnten, sobald jemand vom elften Stock herunterkommt?“ Er klopfte sich auf die hintere Hosentasche, um anzudeuten, daß er dort eine Brieftasche trug. Der Portier zuckte die Achseln. „Klar, warum nicht? Vom elften Stock?“ -108-
„Genau“, lächelte Egan. Er drehte sich um und wollte schon zu einem der bequemen Sessel zurückkehren, als der Portier ihm nachzischte: „Jetzt kommt jemand vom elften herunter, Mister!“ Inmitten der leeren Halle, plötzlich wie festgenagelt, versuchte Egan, sich noch schnell hinter die Aufzüge zu retten, bevor die Schiebetüren sich öffneten. Es gelang ihm nicht ganz. Ein etwas verstört dreinblickender junger Mann in einem zerknitterten Anzug trat aus dem Fahrstuhl und sah sich um. Als er Egan erspähte, der sich schlecht und recht hinter einer Säule verbarg, blieb er einfach stehen und starrte ihn an. Der Kriminalbeamte errötete und hoffte, man würde es nicht bemerken. Wer war diese sonderbare Type? Was zum Teufel starrte er ihn so an? Sah er ihm die Schmiere an? Er war aus dem elften Stock gekommen; stand er in irgendeiner Verbindung zu Barbier? Diese Gedanken schössen Egan im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf; doch schon in der nächsten ging er, zum Bluffen entschlossen, auf den Jüngling zu. „Kann ich Ihnen helfen, Sir? Ich bin der Hausdetektiv“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Nein - nein, ich denke nicht“, stammelte der Angesprochene mit sichtlichem Unbehagen. „Sie kamen mir bekannt vor... aber wahrscheinlich...“ „Ist etwas nicht in Ordnung?“ beharrte Egan. „Es ist schon ein wenig spät, um noch so in der Gegend herumzuspazieren.“ Die Augen des jungen Mannes weiteten sich: „Sind Sie nicht Egan vom Rauschgiftdezernat?“ Jetzt war es an Egan, sein Gegenüber anzustarren. „Wer sind Sie?“ fragte er. „Johnson. FBI.“ Erleichtert, aber auch erschöpft, ließ er die Schultern sinken. „Ich war nicht sicher, daß ich Sie hier unten finden würde.“ -109-
„Und ich wußte nicht, daß Sie oben waren!“ entgegnete Egan und führte ihn in eine Ecke. „Was haben Sie denn da oben gemacht? Wir wollen nicht, daß die Kerle Lunte riechen.“ Agent Johnson seufzte. „Ich bin im Zimmer neben Barbier und versuche ihn zu belauschen. Da ist so ein Ventilator zwischen den Badezimmern... Den ganzen Tag sitze ich schon in der Badewanne, ohne daß es mir etwas eingetragen hätte. Und, na ja, ich hab's bis daher, wissen Sie, ich mußte mal raus, frische Luft schnappen, was essen.“ Egan begann zu lachen. „Okay, machen Sie nur, holen Sie sich was zum Essen. Ich warte hier. Aber bleiben Sie nicht die ganze Nacht aus.“ „Ich danke Ihnen sehr“, erwiderte der junge Agent strahlend. „Ich bin gleich wieder da.“ Als er sich zum Gehen wandte, rief Egan ihm nach: „He, Johnson, wie lange sind Sie schon im FBI?“ Johnson errötete, und bei ihm merkte man es. „Erst ein paar Tage. Sie brauchten einen, der Französisch versteht.“ „Okay. Bis später.“ Der wird's nicht durchhalten, dachte Egan, während er ihm nachsah. Es war vier Uhr vorbei. Egan wanderte im Foyer umher, setzte sich, stand auf, setzte sich in einen ändern Sessel, stand wieder auf und ließ sich endlich auf einen Diwan fallen. Seine Unfähigkeit, den Schlaf zu vertreiben, ärgerte ihn. Sein Kopf fiel wieder einmal nach vorn, als eine Hand auf der Schulter ihn weckte. Es war der Portier. „Das war wohl nicht Ihre Freundin, was?“ Egan kämpfte sich hoch. „Nein“, gähnte er, „das war ein Freund.“ „Sehen Sie einmal“, der Mann sah sich vorsichtig um, „ich hab' hier was, das Sie aufmöbeln wird. Kostet Sie zwei Dollar, aber das ist es wert.“ -110-
Das machte den Kriminalbeamten richtig munter. Der Dummkopf wollte ihm eine Pille andrehen! Es gelang ihm, sein Interesse hinter einem neuerlichen Gähnen zu verbergen. „Zwei Piepen, eh? Was ist denn das für ein Zeug?“ Der Portier grinste. „Kommen Sie mit.“ Egan stemmte sich mühsam hoch und begleitete ihn zu seinem Pult. Der Portier langte in eine Hosentasche, zog eine kleine grüne Dose hervor und öffnete sie behutsam unter dem Pultdeckel. Egan erspähte ein Sortiment von Tabletten verschiedener Größe, Form und Farbe. Der andere entnahm der Dose eine bekannte, rosige, herzförmige Pille und ließ sie in Egans Hand gleiten. Es war ein „Benny“ - Benzedrin. „Schlucken Sie das“, sagte der Mann, „und in ein paar Minuten können Sie einen Tanz aufs Parkett legen.“ „Tausend Dank“, sagte Egan und verstand es, echtes Gefühl in seine Stimme zu legen. Er legte zwei Dollarnoten auf das Pult und entfernte sich. So leicht habe ich noch nie ein Goal geschossen, dachte er für sich. Wenn diese Fuca-Geschichte erst einmal vorbei ist, am nächsten Tag bin ich da und schnappe mir diesen Affen.
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8 Erst um acht Uhr früh traf ein junger Bundesagent namens Luis Gonzales ein, um zusammen mit dem verschlafenen Egan die Wache zu übernehmen. Mit steifen Gliedern und schmerzenden Muskeln, unrasiert und mit knurrendem Magen, kämpfte sich der Kriminalinspektor von der Lederbank im Hotelfoyer hoch und stolperte ins Kaffeehaus hinunter. Seit er einmal als Marineinfanterist eine Woche lang im Freien übernachtet hatte, war ihm nicht mehr so elend gewesen. Verdrießlich überlegte er, daß er immer noch nicht heimgehen durfte, denn Gonzales kannte Barbier nicht und konnte ihn ohne seine Hilfe nicht identifizieren. Zusammen mit seinem Kollegen wartete er noch weitere vier erbärmliche Stunden im Foyer des Victoria. Gegen Mittag hatte Egans Verbitterung den Punkt erreicht, wo er drauf und dran war, mit Agent Gonzales im Schlepptau in den elften Stock hinaufzustürmen, die Tür zu Barbiers Zimmer einzudrücken, „Da, das ist er!“ zu schreien und ins nächste Bett zu fallen. Endlich, kurz nach zwölf, öffneten sich die Aufzugstüren - zum tausendstenmal, wie ihm schien - und Barbier kam heraus. Er sah frisch und ausgeruht aus. Lausiger Hund, verdammter, dachte Egan und stieß Gonzales an. In seinen schweren Mantel gehüllt, stieg der Franzose die Hoteltreppe hinunter und trat auf die Straße. Leicht benommen wanderte Egan zur Rezeption hinüber und verlangte ein Zimmer. Von einem dreistündigen Schläfchen und nachfolgender Brause und Rasur erfrischt, kehrte Egan um halb fünf Uhr nachmittags in die Halle zurück. Luis Gonzales war von Jack Ripa abgelöst worden. Der Agent machte ein saures Gesicht. „Ich hoffe, du hast dich gut ausgeruht“, begrüßte er den Kriminalbeamten. „Kann sein, du mußt die ganze Nacht aufbleiben. Wir haben Barbier verloren.“ -112-
Ripa berichtete, daß Gonzales dem Franzosen zu Fuß bis zum Edison gefolgt war. Barbier war durch den Haupteingang in der 47th Street eingetreten und hatte sich nur wenige Sekunden im Foyer aufgehalten. Dort war er von anderen Kriminalbeamten gesehen worden, die auf Jehan lauerten. Dann hatte er sich durch den Ausgang auf die 46th Street abgesetzt, war in ein Taxi gesprungen und verschwunden, bevor noch einer von ihnen reagieren konnte. Egan rollte zornig die Augen. „Das ist ja großartig!“ krächzte er. „Na, jetzt müssen wir auf jeden Fall dableiben. Was ist mit dem ändern Franzmann und mit Patsy?“ „Alles ruhig. Patsy steht unter Beobachtung in seinem Laden. Mit Jehan im Edison gibt's auch nichts Neues. Sonny sitzt dort mit einigen von unseren Leuten. Im Zimmer nebenan haben wir einen Mann zum Abhorchen, der Französisch spricht. So wie hier.“ „Okay. Hör zu, ich muß auf ein paar Minuten weg. Bin gleich wieder da.“ Egan ging auf die Seventh Avenue hinaus. Die kalte Luft erfrischte ihn. Vor allem mußte er seine Schuhe wechseln; es konnte wieder eine lange Nacht werden. Er überquerte den Broadway und lenkte seine Schritte zu der Garage, wo er am Tag zuvor seinen Corvair abgestellt hatte. Dort legte er ein paar abgetragene Schuhe mit weichen Sohlen an, die er im Kofferraum zusammen mit anderer Kleidung zum Wechseln aufzubewahren pflegte. Dann, nachdem er an einem Imbißstand zwei heiße Würstchen und ein Pepsi konsumiert hatte, ging er ins Victoria zurück. Es war fünf Uhr fünf, als er die Hotelhalle betrat. Ripa hatte sich in einer entfernten Ecke postiert und schüttelte den Kopf, als er Egan erblickte. Egan nickte und setzte sich in einen Lehnstuhl, von dem aus er die Treppe übersehen konnte, die zur Straße hinunterführte. Kurz nach sieben sah er, wie Ripa zum Telephon auf dem Schreibtisch des Geschäftsführers gerufen wurde. Den Blick auf Egan geheftet, führte der Agent ein kurzes Gespräch. Dann kam -113-
er herübergeschlendert. „Sie haben Barbier soeben wieder im Edison drüben gesichtet. Er kam durch dieselbe Tür wieder in die Halle, durch die er entwischt war, sah sich kurz um und ging auf die 47th hinaus. Jim Gildea beschattet ihn.“ „Wahrscheinlich kommt er hierher zurück.“ „Wir werden es bald erfahren.“ Um sieben Uhr fünfundzwanzig kam der Kriminalbeamte Gildea die Treppe herauf und auf Egan zu. „Barbier ist unten in der Bar und nimmt einen Drink.“ „Gut. Du bleibst hier bei Jack Ripa; er steht dort drüben neben dem Pult. Paß auf die Aufzüge auf. Ich gehe hinunter und leiste dem Franzosen Gesellschaft.“ Egan ging durch den Mittelgang hinaus und an der Tür vorbei, die von der unteren Halle in die Bar führte; er betrat die schwach erleuchtete Parasol Lounge von der 51th Street her. Das Lokal besaß eine lange, geschweifte Theke, eine Reihe von Nischen entlang der Außenmauer und im Hintergrund Tische, die zum größten Teil von Paaren oder Gruppen von Männern besetzt waren. Barbier saß allein an einem kleinen Tisch am Straßeneingang. Egan begab sich kurzerhand ans andere Ende der Theke, von wo er jede Bewegung des Franzosen beobachten konnte, ohne sich auffällig benehmen zu müssen. Er bestellte sich ein Gläschen Seagram und Ingwerbier und nippte an diesem, nachdem er ein paar Tropfen Whisky hineingetan hatte. Nach etwa fünfzehn Minuten bemerkte er einen Kellner an Barbiers Tisch. Dann erhob sich Franzmann zwei und kam, den Mantel über den Arm gehängt, nach vorne. Im unteren Vestibül wandte er sich zur Treppe und stieg zur Halle hinauf. Egan zahlte seine Rechnung und folgte ihm. Als er oben ankam, stand Gildea allein vor den Aufzügen. „Ripa ist mit ihm hinaufgefahren“, sagte Gildea, den Blick auf die Leuchttafel oberhalb der geschlossenen Fahrstuhltür -114-
gerichtet. „Elf - okay. Scheint, als ob er eine Weile auf seinem Zimmer bleiben wollte.“ Egan und bald darauf Agent Ripa machten es sich in der Halle des Victoria gemütlich. Nachdem er Jehan abgesetzt hatte, war Patsy Fuca den ganzen Mittwoch über nicht mehr in Erscheinung getreten. An diesem Donnerstagmorgen jedoch hatte er sein Haus in der 67th Street in Brooklyn am Steuer seines Buick verlassen. Agent Frank Waters war ihm durch die 65th Street bis zur Coney Island Avenue nachgefahren und hatte dann seine Spur verloren. Zweieinhalb Stunden später wurde Patsy vom Kriminalbeamten Jimmy O'Brien beobachtet, als er Blairs Pike Slip Inn im südlichen Manhattan betrat. Um drei Uhr nachmittags verließ Patsy wieder die Bar, und der Beamte folgte ihm bis zu seinem Laden in Brooklyn. Als er ankam, saß Dick Auletta an der Theke und hörte Patsys Schwiegervater auf italienisch zu ihm sagen, „Duweißtschonwer“ habe angerufen und das „Zusammentreffen“ bestätigt. Doch der Nachmittag wurde zur Nacht, ohne daß Patsy Anstalten getroffen hätte, die Imbißstube zu verlassen. Gegen elf Uhr wurde sein Bruder Tony gesehen, als er in seinem alten, staubigen Chevrolet-Kombiwagen eintraf. Die beiden blieben dreißig Minuten im Laden. Um elf Uhr dreißig löschte Patsy die Lichter, kam mit Tony heraus und machte die Bude dicht. Tony setzte sich in seinen Chevy und fuhr davon. Agent Artie Fluhr folgte ihm und gab später die Meldung durch, der Verdächtige sei vor seinem Haus in der Bronx gelandet. Inzwischen war Patsy mit seinem blauen Buick nach New York unterwegs, gefolgt von Dick Auletta, der den an verschiedenen Plätzen in Manhattan und Brooklyn postierten, nicht gekennzeichneten Polizeiautos über Funk laufend berichtete, welche Richtung Fuca einschlug. Er fuhr über die Williamsburg-Brücke („Er will auf die Ostseite im südlichen -115-
Manhattan“, spekulierte Auletta); doch bei der Ausfahrt in Manhattan bog Patsy von der Delancey Street nach Norden ab, schwenkte in der Houston Street abermals nach rechts und ordnete sich schließlich in den Verkehrsstrom am East River Drive ein. („Alles aufgepaßt! Er fährt in die obere Stadt. Vielleicht treffen sie sich wieder im Roosevelt?“) Diesmal erwies sich die Annahme als richtig. Patsy verließ die Schnellstraße auf der Höhe der 42th Street, behielt bis zur 45th die gleiche Richtung bei, schwenkte links ab und setzte die Fahrt in westlicher Richtung bis zum Roosevelt fort, hielt aber nicht vor dem Eingang; er fuhr um die Ecke und parkte auf der Madison Avenue. Auletta bog nach der anderen Seite ab und parkte gegenüber. Er beobachtete Patsy, der sich nervös umsah und dann um die Ecke zum Haupteingang des Roosevelt zurückging, wo er auf zwei Männer zuschritt, die unter dem Schirmdach standen. Der eine, mittelgroß, mit grauem Hut und dunklem Mantel, war Auletta unbekannt. Der andere, von etwa gleichen Maßen, mit einem buschigen Schöpf braunen Haares, trug keinen Hut und war dem Kriminalbeamten keineswegs fremd: es war Francois Barbier, „Franzmann zwei“. Ihm fiel ein, daß Eddie Egan hinter Barbier her war; er gab seine Beobachtung an alle Polizeiwagen weiter. Einen Block weiter nördlich, hinter Auletta, schwenkten in diesem Augenblick Sonny Grosso und Frank Waters ebenfalls in die Madison Avenue ein. Als Sonny hörte, daß Patsy mit zwei Männern, einer davon Barbier, vor dem Roosevelt stand, begann er zu frohlocken. Denn er und Waters hatten Franzmann eins, Jean Jehan, soeben bis zum selben Ort verfolgt. Vor kaum zehn Minuten, um etwa drei Viertel zwölf, war Jehan nach einem untätig verbrachten Tag mit einem kleinen blauen Handkoffer bewaffnet aus dem Edison gestürzt und in ein Taxi gesprungen. Sonny hatte seine Portiersjacke abgelegt, Rock und Mantel übergeworfen, war hinausgelaufen und zu Waters in den Wagen geklettert. Das Taxi war die 46th Street langgefahren, in die -116-
Madison eingebogen und an der Ecke der 45th, gegenüber dem Roosevelt, stehengeblieben. Eben jetzt überquerte der großgewachsene Franzose die Straße zum Hotel. „Das könnte es sein“, sagte Sonny zu Waters. „Ich weiß nicht“, meinte der Agent zweifelnd. „Was er da in der Hand hat, sieht mir nicht nach fünfzig Kilo aus.“ „Es wäre denn, daß unsere Information nicht stimmt. Vielleicht ist es auch nur ein Muster.“ Sonny stieß die Wagentür auf. „Ich geh' an die Ecke vor und schau' mir die Sache an.“ „Behalte Auletta im Auge“, rief Waters ihm nach. Als er den Hoteleingang im Blickfeld hatte, konnte er die vier Männer sehen; Jehan hielt immer noch das Köfferchen in der Hand. Sonny versuchte den vierten Mann zu erkennen, doch die Entfernung und die durch das helle Licht unter dem Schirmdach des Hotels noch vertieften Schatten machten eine Identifizierung unmöglich. Er glaubte nicht, den Mann schon je zuvor gesehen zu haben. Die vier, die da mitten im Strom der ein und aus gehenden Hotelgäste dicht beieinander standen und sich auch von den Pendlern nicht stören ließen, die zum Grand Central Terminal hasteten, um ihre letzten Züge noch zu erreichen, mochten Geschäftsleute sein, die sich nach einer Zechtour voneinander verabschiedeten. Sie unterhielten sich angeregt, und Patsy schien das große Wort zu führen. Dann löste sich die Gehsteigkonklave auf. Nebeneinander her gehend, lenkten sie ihre Schritte zur Ecke. Auf Sonnys Armbanduhr war es fünf Minuten nach Mitternacht. Er machte kehrt und schlenderte zu Waters Wagen zurück. Das Quartett hatte sich in Patsys kleinen Buick verfrachtet, der nun ausscherte und die Madison Avenue hinauffuhr. Sonny griff nach dem Mikrophon und alarmierte alle Wagen. An der Ecke der 45th Street begann Waters kreischend zu wenden, mußte aber in der Mitte der Fahrbahn jäh anhalten, um nicht mit einem Taxi zusammenzustoßen. (Dick Auletta, der das gleiche Manöver -117-
zwischen der 44th und 45th durchführte, wurde durch Rotlicht in der 45th aufgehalten.) In diesen wenigen Sekunden verloren sie Patsys blauen Buick aus den Augen. Sonny und Waters durchstreiften die östliche Stadtmitte. Dasselbe taten Auletta und noch ein halbes Dutzend anderer Wagen. Alle hofften, den flüchtigen Buick aufzuspüren. Mit heiserem Krachen kamen die aufgeregten Stimmen der Polizeioffiziere aus den Lautsprechern der Funkgeräte: „Er ist die Madison hinaufgefahren.“ „Hat ihn einer von euch abbiegen gesehen?“ „Wer ist auf der Fifth Avenue?“ „Wer auf der Park?“ „Hat sie denn keiner gesehen?“ Und dann, Punkt Viertel eins, meldete die Zentrale: Francois Barbier war vor wenigen Minuten ins Victoria zurückgekehrt und auf sein Zimmer gegangen. „Komisch“, meinte Waters, als er von der Madison Avenue in die 53th Street einbog. „Was ist komisch?“ „Wir haben die ganze Zeit nichts von Egan gehört. Sollte er nicht an Franzmann zwei klebenbleiben?“ „Ja, ja...“, stimmte Sonny ihm nachdenklich zu. Auch in der Gegend der 51th Street und der Seventh Avenue war keine Spur von dem blauen Buick zu entdecken. Sie fuhren die 51th Street entlang nach Osten und lauschten niedergeschlagen den entmutigenden Meldungen aus den verschiedenen Funkwagen, als eine energische Stimme das trübselige Gemurmel unterbrach: „Hier Gaffney. Ich habe Patsys Buick vor mir. 57th, Ecke Fifth. Kommt mir einer nach!“ Der bündigen Anordnung des Gebietsleiters folgend, raste Waters die Fifth Avenue hinauf, sauste die Madison hinunter, bis er Gaffneys Wagen überholt hatte, und reihte sich hinter Patsy ein. Nun saßen nur noch zwei Männer mit Patsy in dem blauen -118-
Wagen, Jehan und der Unbekannte. Eine halbe Stunde lang fuhren sie kreuz und quer durch das elegante Rechteck der östlichen Innenstadt, schwenkten aufs Geratewohl um die Ecken, flitzten nach Ost und West, auf und ab. Inzwischen waren jedoch weitere Polizeiwagen herangezogen worden, die jetzt ihre schon viele Male geübte Überwachungsmethode zur Anwendung brachten. Die Methode machte es möglich, am Ende eines jeden Blocks, bei dem das gesuchte Auto einzubiegen belieben mochte, einen Beobachter zu stationieren, der die Jagd unmittelbar fortsetzen konnte. Patsy war daher in dieser Nacht nicht imstande, seine Verfolger abzuschütteln, so er das im Sinne hatte. Grosso und Waters, die ihm am dichtesten auf den Fersen waren, wollte es scheinen, als ob die drei Männer lebhaft, ja sogar hitzig debattierten. Sie sprachen wohl über die Transaktion. Vielleicht hatte Patsy noch nicht alle Zechinen beisammen und versuchte Zeit zu gewinnen; oder vielleicht diskutierten sie über das Muster, das Jehan „vorgelegt“ hatte, falls das der Inhalt seines Handkoffers war. Vielleicht verfügte Jehan nicht über die ganze Menge, die Patsy unbedingt benötigte. Oder vielleicht stimmte es - wie einige Polizeispitzel angedeutet hatten -, daß die Qualität der Ware Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten gab. Endlich, es war ein Uhr geworden, bog Patsy von der 49th Street in den immer noch grell beleuchteten, belebten Broadway ein und hielt an der Ecke der 47th Street. Jean Jehan stieg ohne den blauen Koffer aus dem Buick, bahnte sich einen Weg durch den dichten Strom der Fußgänger und lenkte seine Schritte zum Edison. Im Wagen waren nur noch Patsy und der Unbekannte. In der Nähe der 48th Street hüpfte Sonny aus Waters Auto und eilte Franzmann eins nach. Dick Auletta teilte mit, daß er irgendwo parken und sich dann mit Sonny in der Hotelhalle treffen würde. Patsy schob sich unterdessen geschickt durch das Gewühl des Zusammenflusses von Broadway und Seventh Avenue und fuhr, -119-
von Waters gefolgt, die 46th Street hinunter. Bis der Agent die Avenue of the Americas erreicht hatte (für die New-Yorker immer noch Sixth Avenue), waren schon zwei andere Wagen zu seiner Verstärkung eingetroffen: Jimmy O'Brien in dem einen und Sergeant Dan Leonard und Jim Hurley im ändern. Patsy fuhr die Sixth hinauf und bog in der 51th wieder nach Westen ein. Waters und seine Kollegen vermuteten, daß er auf das Hotel Victoria an der nächsten Ecke zusteuerte. Doch ein paar Meter vor der Seventh Avenue verlangsamte der kleine Buick die Fahrt und blieb vor dem Hotel Abbey stehen, das unmittelbar an das Victoria anschließt. Der Unbekannte stieg aus, und Patsy fuhr sofort weiter. Waters wies Leonard und Hurley an, das Abbey zu beobachten, während er und O'Brien Patsy auf der Spur blieben. Der blaue Koffer befand sich immer noch im Wagen. Hatte Patsy Ware übernommen? Jim Hurley sprang auf den Gehsteig und eilte ins Hotel. Der Mann mit dem grauen Hut wartete auf einen Aufzug. Hurley betrat mit ihm die Kabine. Der Mann trug einen gutgeschnittenen Straßenanzug und eine gestreifte Krawatte. Er war kleiner, als er von weitem gewirkt hatte, drahtig, dunkel, leicht sonnenverbrannt. Der Kriminalbeamte schätzte ihn auf Ende Dreißig oder Anfang Vierzig. Schweigend fuhren sie bis zum vierzehnten Stockwerk, wo der Unbekannte ausstieg. Hurley verließ die Kabine im fünfzehnten, fand eine Notstiege und eilte in das vierzehnte zurück. Am Ende des Korridors steckte der Mann gerade den Schlüssel in eine Tür. Sobald sich die Tür hinter ihm schloß, schlenderte Hurley den Gang entlang, um die Zimmernummer festzustellen. 1437. Dann fuhr er ins Erdgeschoß zurück, sprach mit dem Nachtportier und erfuhr, daß der Bewohner des Zimmers mit J. Mouren aus Paris im Fremdenbuch registriert war. Franzmann Nummer drei. Er hatte sein reserviertes Zimmer am vergangenen Nachmittag bezogen. Hurley ging zu Sergeant Leonards Wagen hinaus und informierte die Zentrale über Funk, daß sie jetzt im Hotel Abbey -120-
einen dritten Franzosen auf dem Kieker hatten. Was war mit Egan geschehen? Wenn er Barbier beschattete, warum hatte er dann in diesen zermürbenden zehn Minuten, da der blaue Buick verschwunden und, wie sich dann herausstellte, Barbier ins Hotel Victoria zurückgebracht worden war, nicht durchgegeben, in welche Richtung Patsy sich abgesetzt hatte? Diese Frage hatte Waters und ganz besonders Sonny geplagt, während sie sich auf der fieberhaften Jagd nach Patsy und den Franzosen befanden. Erst später, als sie endlich Zeit fanden, die Geschehnisse der Nacht aneinanderzureihen, übersahen sie, wie sich alles abgespielt hatte. Egan hatte den ganzen Abend im Vestibül des Victoria verbracht. Nachdem Barbier gegen acht auf sein Zimmer gegangen war, war er etwa eine Stunde lang einigermaßen ruhig und gelassen geblieben. Doch als es neun wurde und halb zehn und zehn und die Zeit verrann, ohne daß sich etwas ereignete, ergriff ihn steigende Nervosität. Er strich in der Halle umher und sah wiederholt nach, ob Barbiers Schlüssel noch am Schlüsselbrett fehlte, denn ihm war bekannt, daß Europäer, im Gegensatz zu Amerikanern, ihre Schlüssel abzugeben pflegen, wenn sie das Hotel verlassen. Barbier hatte seinen Schlüssel noch. Egan konnte es nicht verstehen; kein Mensch rührte sich. Seine stündlichen Anrufe in der Zentrale zeitigten stets das gleiche Resultat - alle Verdächtigen standen unter Aufsicht und verhielten sich ruhig. Die Sache gefiel ihm nicht. Um halb zwölf hatte er das letztemal angerufen. Und kurz nach Mitternacht, es war jetzt Freitag, der 12. Januar, während seine Kameraden, ohne daß er es wissen konnte, fieberhaft nach dem blauen Buick mit Patsy und den Franzosen fahndeten, lümmelte Egan verdrießlich auf einem mit Plastikstoff bezogenen Sofa im Foyer des Victoria und versuchte sich mit aller Gewalt zu entspannen. Dann traten ihm plötzlich die Augen heraus. Das Haar vom Wind zerzaust, kam Francois -121-
Barbier die Treppe von der Straße herauf - der rechtens die ganze Zeit auf seinem Zimmer gewesen sein sollte. Wie hypnotisiert beobachtete Egan, wie Franzmann zwei, ohne sich umzusehen, die Halle durchquerte und den Aufzug nahm. O Gott! fragte sich Egan anklagend, wie lange war der Kerl ausgewesen? Hab' ich Mist gemacht? Er sprang auf und stürzte zu den Fahrstühlen, die Augen auf das Leuchtschild geheftet, das den jeweiligen Standort des Aufzuges anzeigte. Elfter Stock. Na, wenigstens war er jetzt oben. Als er sich umblickte, sah er, wie die zwei jungen Bundesagenten, die Jack Ripa abgelöst hatten, ihn bekümmert anstarrten.
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9 Bis zum Mittag des 12. Januar, Freitag, gab keiner der Verdächtigen ein Lebenszeichen von sich. Egan war schließlich auf ein paar Stunden heimgegangen, um sich in seinem eigenen Bett auszuruhen und seine Kleider zu wechseln. Doch bevor er das Victoria verließ, fand er noch heraus, wie Barbier es angestellt hatte, ihm zu entwischen. Er entdeckte, daß einer der vier Aufzüge bis zur Parasol Lounge auf Straßenniveau hinunterfuhr. Offenbar hatte Barbier diesen genommen und war durch die Bar ins Freie gelangt. Um halb ein Uhr mittags sahen der Agent Jack Ripa und der Kriminalbeamte Jim Gildea Franzmann zwei das Victoria durch den Haupteingang verlassen und Sekunden später mit einem Mann zusammentreffen, der vom daneben gelegenen Hotel Abbey herübergeschlendert kam - Franzmann drei, J. Mouren. Von Ripa und Gildea beschattet, bummelten die beiden ostwärts, kreuzten die Sixth Avenue und gelangten so zum Rockefeller Center. Es war ein heller, klarer Wintertag, die Luft frisch, aber nicht beißend wie am Tag zuvor. Das Paar blieb bei einem der Marmorpfeiler stehen, die die vertieft angelegte Eisbahn umgeben, und betrachtete die bunt gekleideten Läufer, die sich zum Klang der fröhlichen Musik munter auf der weißen Fläche tummelten. Nach etwa zehn Minuten lösten sich Barbier und Mouren aus der Gruppe mittäglicher Zuschauer und überquerten die schmale Straße zum RCA-Gebäude. Ripa und Gildea beeilten sich, um die Franzosen innerhalb des Bürohauses nicht aus den Augen zu verlieren. Die Franzosen schienen es nicht eilig zu haben, waren zwei harmlose Touristen wie andere auch - bis sie urplötzlich in einen Gang abschwenkten, der zu den Fahrstühlen führte. Die Kriminalbeamten sprinteten um die Ecke, aber sie kamen zu spät. Barbier und Mouren waren bereits unterwegs in das -123-
unentwirrbare Labyrinth aus Stockwerken, Gängen, Büros, Stiegen, Aufzügen und natürlich Ausgängen. Zu etwa der gleichen Zeit saß Eddie Egan, der nun wieder munter war und auch so aussah, mit Agent Artie Fluhr nahe der 67th Street in Brooklyn in seinem roten Corvair und wartete darauf, daß Patsy Fuca etwas unternehmen würde. Seitdem er um zwei Uhr früh von seiner Rundfahrt mit den Franzosen heimgekehrt war, hatte Patsy sich den ganzen Tag nicht aus dem Haus gerührt. Kurz vor ein Uhr erschienen Patsy und Barbara auf dem von einem weißen Geländer umgebenen Treppenabsatz ihres Hauses. Er trug einen altmodischen Mantel, sie eine kurze Pelzjacke. Sie stiegen in ihren blauweißen Oldsmobile, der vor dem Haus geparkt war. „Patsy muß eine Schwäche für Blau haben“, meinte Egan. „Dieser Wagen ist blau, der andere ist blau, und im Haus hat er blaue Tapeten. Ob ihm das was gibt?“ Sie folgten dem Oldsmobile über die Gowanus-Schnellstraße ins Williamsburg-Viertel hinauf, wo Patsy und Barbara ihre Imbißstube aufsuchten, die von Barbaras Vater betreut wurde. Egan setzte sich mit der Zentrale in Verbindung und erfuhr, daß es seinem Freund Barbier neuerlich gelungen war, sich dünne zu machen - diesmal zusammen mit dem Neuankömmling Mouren. Sonst tat sich nichts. „Dieser Barbier kennt sich aus“, sagte Egan zu Fluhr. „Da haben wir nun zwei-, dreihundert Bullen über die Gegend verstreut, und dennoch schafft er es, uns dreimal in vierundzwanzig Stunden abzuschütteln. Der Bursche ist mit allen Wassern gewaschen!“ „Glaubst du, daß er etwas wittert?“ fragte der Agent. „Mag sein. Mag sein, daß sie alle etwas riechen. Vielleicht auch nicht. Solche Gauner sind so gewohnt, einen Blick über die -124-
Schulter zu werfen, daß sie oft Dinge sehen, die's gar nicht gibt. Und wenn sie allein auf einer einsamen Insel wären, sie würden sich trotzdem hinter einem Baum verstecken. Aber solange wir ihnen nicht zu nah auf die Pelle rücken, werden sie ihre Pläne vermutlich so weiterverfolgen, als ob ihnen keiner dabei zusähe.“ „Also dürfen wir sie nicht aus den Augen verlieren und müssen warten, bis wir sehen, wie der Hase läuft.“ Nach etwa einer halben Stunde kamen Patsy und Barbara wieder aus dem Laden und bestiegen ihren Olds. Sie fuhren die belebte Grand Avenue hinunter und über die WilliamsburgBrücke nach Manhattan hinüber. Wie schon am Abend zuvor, bog Patsy von Delancey in die Houston Street ab und schwenkte in die East-River-Schnellstraße ein. Diesmal aber passierte er die Ausfahrt zur 42th Street, bog erst in der Höhe der 61th Street ab und setzte seine Fahrt in nördlicher Richtung über die York Avenue fort. Nahe der 79th Street hielt er den Oldsmobile an und schob sich in eine Parklücke. Egan fuhr an ihm vorbei und fand sich unmittelbar nach der Ecke ebenfalls einen freien Platz. Im Rückspiegel beobachtete er Patsy, der aus dem Wagen stieg, die 79th überquerte und die York Avenue herauf auf sie zukam. Barbara blieb im Wagen sitzen. Fluhr entfaltete eine Zeitung und hielt sie vor sich hin, um sein Gesicht zu verbergen, während Egan, den flachen, weichen Filzhut tief in die Stirne geschoben, aufmerksam die Schaufenster musterte. Es war ein altes Stadtviertel mit Mietshäusern und vielen kleinen Läden. Patsy schlenderte gemächlich an ihnen vorbei. Als er die 80th Street erreicht hatte, schlüpfte Egan aus seinem Corvair. „Bis später“, verabschiedete er sich. Dann steckte er den Kopf nochmals durchs Fenster: „Sag unseren Leuten, wo wir sind.“ Patsy ging noch einen Block weiter, bis zur 81th Street, bog rechts ab und spazierte an die Ecke 81th und East End vor. Es fiel Egan schwer, sich einen Schurken wie Patsy zu diesem -125-
eleganten Viertel gehörig vorzustellen - einem Viertel von eleganten Luxuswohnungen, wo die Hochhäuser ihre eigenen Untergrundgaragen hatten, die Chauffeure schwarze Uniformen trugen und Stubenmädchen mit weißen Häubchen tatsächlich Zwergpudel spazierenführten. Nur wenige Blocks nördlich liegt der Carl-Schurz-Park, ein Streifen Waldland, der Aussicht auf den East River gewährt und den Hintergrund für Gracie Mansion, die Residenz der New-Yorker Bürgermeister, abgibt. Patsy betrat das Eckhaus Nummer 45, East End Avenue. Egan wartete eine kleine Weile, dann überschritt auch er die Schwelle und stand in einem prächtigen Vestibül. Es war niemand da, doch der Fahrstuhl war in Betrieb. Der Zeiger über der Aufzugstür blieb auf Fünfzehn stehen. Er konsultierte die Auskunftstafel, die neben der Tür angebracht war. Die Namen der im fünfzehnten Stockwerk wohnhaften Personen sagten ihm nichts, aber schließlich konnte Patsy ebensogut dort ausgestiegen und ein oder mehrere Geschosse hinuntergegangen sein. Was hatte Patsys Besuch in einem solchen Haus zu bedeuten, dem er in all den Monaten, die er nun schon unter Polizeiaufsicht stand, nicht in die Nähe gekommen war? Der Kriminalbeamte ging latschend auf die andere Seite der Avenue zurück und nahm an der Ecke der 81th Street Aufstellung. Nach etwa fünfzehn Minuten kam Patsy wieder aus dem Haus und wanderte zu seinem drei Blocks entfernten Wagen zurück. Er plauderte ein paar Minuten mit seiner Frau, bevor er den Motor anließ, und fuhr nach Brooklyn zurück. Zur gleichen Zeit etwa, da Egan und Fluhr hinter Patsy Fuca die East-River-Schnellstraße hinunterfuhren, gab Franzmann eins, Jean Jehan, an diesem Tag die ersten Lebenszeichen von sich. Viertel vor drei Uhr nachmittags erschien er, zum Ausgehen gekleidet, im Foyer des Edison. In oder in nächster Nähe der Halle befanden sich die Kriminalbeamten Sonny Grosso und Dick Auletta sowie der Agent Frank Waters. -126-
Jehan verließ das Hotel durch den Ausgang zur 47th Street, ging den Broadway zur 51th hinauf und wandte sich dann nach Osten. Wie er mit geschmeidigen Bewegungen dahinschritt, aus vollen Zügen die frische Januarluft genießend, schien er jeder Zoll der vollendete Mann von Welt. Er überquerte die Seventh Avenue, doch statt seine Schritte, wie die Kriminalbeamten erwarteten, zum Victoria oder Abbey zu lenken, betrat er das Hotel Taft an der Ecke der 51th Street, genau gegenüber jenen, die seine Landsleute beherbergten. Jehan ging in den Friseurladen in der Halle und ließ sich die Schuhe putzen. Dann kaufte er sich am Zeitungsstand des Hotels ein Morgenblatt und ließ sich mitten im Foyer auf einer mit rotem Leder bespannten Rundbank nieder. Die drei Beamten, die ihm aus dem Edison gefolgt waren, streiften umher; einer von ihnen ging ans Telephon, um der Zentrale den gegenwärtigen Aufenthaltsort von Franzmann eins zu melden. Die Polizei richtete ihr Hauptaugenmerk auf Jehan, der nach Ausstrahlung und Gehaben die Schlüsselfigur des Komplotts zu sein schien - als welche Art von Komplott es sich auch erweisen mochte. Sie war überzeugt, daß die entscheidende Entwicklung durch eine Handlung Jehans ausgelöst werden würde. Franzmann eins saß ruhig da und las das New-Yorker Journal American. Er war in einen Artikel auf der Titelseite vertieft, eine Reportage aus einer Serie des bekannten Kriminalreporters Jim Horan, die die zunehmende Verbreitung der Rauschgiftsucht in New York zum Inhalt hatte. In der Annahme, eine entscheidende Wendung sei unmittelbar bevorstehend, fanden sich im Verlauf der nächsten halben Stunde allmählich noch ein Dutzend Kriminalbeamte und Bundesagenten in der Halle des Taft ein. Einige waren etwas seltsam gekleidet. An jenem Nachmittag und Abend sollte eine Leichtathletikveranstaltung im Madison Square Garden stattfinden, und in den umliegenden Hotels drängten sich Amateursportler, die in Vertretung von Hochschulen und -127-
Sportvereinigungen aus dem ganzen Land zusammengeströmt waren. Oberflächliche Beobachter mochten daher nichts dabei finden, daß sich eine Anzahl gelenkiger junger Männer in leichten Segeltuchschuhen und ausgebeulten grauen Trainingsanzügen, auf deren Hemden die Namen verschiedener Amateursportorganisationen aufschienen, in der Halle gerade dieses Hotels versammelt hatten, das schon seit langem von Touristen besonders geschätzt wird. Gleich den Beamten in normalen Straßenanzügen standen auch die „Athleten“ in zwanglosen Gruppen herum, allesamt bemüht, Jehan unauffällig im Auge zu behalten. Dann, um halb vier, hatte man plötzlich das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Es war fast nicht zu glauben, aber Franzmann eins war aus ihrer Mitte verschwunden! Keiner hatte etwas bemerkt. In der Halle erhob sich ein Stimmengewirr. „Wo zum Teufel ist er nur hin?“ hieß es, und „Er war doch eben noch da!“ Noch peinlicher vielleicht als die Tatsache, daß der aalglatte Jehan sich vor ihrer Nase in Luft aufgelöst hatte, war, daß er höchstwahrscheinlich ihre Maskeraden - die ihnen nun selbst ein wenig albern vorkamen - durchschaut hatte und sich der massiven Polizeiaufsicht bewußt geworden war. In Wahrheit jedoch war die Lage nicht so schlimm, wie es in den ersten Momenten den Anschein hatte. Es war Jehan zwar gelungen, das Hotel unbemerkt durch den Haupteingang zu verlassen, doch wurde er auf der Straße sogleich von Jimmy O'Brien und Jack Ripa entdeckt. Sie folgten ihm auf seinem gemächlichen Schaufensterbummel über den Broadway; dann, gegen vier Uhr, erstand er eine Eintrittskarte ins Trans-LuxWochenschaukino an der Ecke Broadway und 49th Street. Sobald er im Inneren verschwunden war, eilte O'Brien ins Taft zurück, um Sonny und die andern zu benachrichtigen, während Ripa vor dem Theater wartete, indem er seine Aufmerksamkeit sowohl dem Eingang als auch dem Notausgang zuwandte. Bald versammelte sich ein kleiner Haufen von Beamten der -128-
beiden Dezernate vor dem Trans-Lux. Sonny, O'Brien und Ripa gingen hinein. Bemüht, in dem nur halbvollen Theater nicht aufzufallen, suchten sie Jehan - konnten ihn aber nicht finden. Auf die Straße zurückgekehrt, überlegten sie, was zu tun wäre, als George Gaffney, der Chef der Bundesagenten, eintraf. Gaffney war ein stämmiger, beherzter Polizeimann, ein alter Hase, der sich von momentanen Rückschlägen nur selten aus der Fassung bringen ließ. Nachdem Ripa und Sonny ihm ihre mißliche Lage geschildert hatten, sagte Gaffney einfach: „Gehen wir hinein,“ Er postierte seine Leute im Hintergrund, legte Hut und Mantel ab und trottete unbekümmert, wie jeder Eigentümer eines Lichtspieltheaters tun würde, den Mittelgang bis zur ersten Reihe hinunter. Dann drehte er sich um und ging, nach links und rechts blickend, denselben Weg wieder zurück, als wollte er die Zahl der Besucher feststellen. Als er wieder bei den wartenden Beamten angelangt war, flüsterte er ihnen zu: „Er sitzt in der sechsten Reihe, siebenter Sitz rechts.“ Setzte sich seinen Hut auf, schlüpfte in seinen Mantel und ging. Bald darauf saßen ein halbes Dutzend Agenten um Jehan herum und sahen sich die Wochenschauen an. Als Franzmann eins gegen halb sieben aus dem Trans-Lux kam, hatte sich auch Eddie Egan zu dem Dutzend Kriminalbeamten und Agenten gesellt, die das Kino umstellt hielten. Egan war Patsy und Barbara Fuca in ihre heimatlichen Gefilde in Brooklyn gefolgt, wo Patsy ein Herrenmodengeschäft aufsuchte, um sich einen Sportanzug zu kaufen, während Barbara sich in einen Schönheitssalon begab. Als Agent Jim Bailey erschien, um ihm zu assistieren, überließ Egan die Fucas ihm und Artie Fluhr und fuhr in die Stadt zurück. Er streifte um das Victoria und das Abbey herum, doch die dort postierten Agenten berichteten übereinstimmend, von Barbier oder Mouren -129-
nichts gesehen zu haben. Andere Kriminalbeamte sicherten die Hotels Edison, Taft und Roosevelt. Neben Patsys Haus, seiner Imbißstube und dem Haus seiner Eltern in der 7th Street standen zusätzlich unter ständiger Polizeiaufsicht das vier Blocks von Patsy und Barbara entfernte Gebäude, in dem die Travatos wohnten, dann Tony Fucas Appartement in der Bronx und die Gegend rund um das Pike Slip Inn. Es war kaum vorstellbar, daß einer der Hauptakteure einen Schritt tun könnte, ohne daß die Polizei davon gewußt und unverzüglich darauf reagiert hätte. Und als Hauptakteure galten für alle mit dem Fall Befaßten Patsy und Jehan. Aus dem Trans-Lux kommend, schien Jehan wie geschaffen für die von grellem Neonlicht umspülte Scheinwelt des Broadways. Er war eine fast überdimensionale Bühnenfigur, ein im höchsten Grad selbstsicherer Nebendarsteller, der nach einer Probe ein wenig Luft schnappte. Er gab sich so kaltblütig und beherrscht, daß Egan und Sonny ihn beinahe bewunderten. Sie fragten sich, was wohl in seinem Kopf vorging, wie er da an der Ecke der 49th Street anhielt, unbekümmert zurückblickte und sich dann, den Spazierstock schwingend, einen Weg durch die Menge bahnte. War er sich seiner Überwachung tatsächlich bewußt geworden, oder traf er nur die normalen Vorsichtsmaßregeln, um etwaige Verfolger von sich abzulenken, indem er sich auf zweieinhalbe Stunden in ein Wochenschaukino zurückzog? Oder hatte er sich absichtlich freigespielt, und die zwei verschwundenen Franzosen brachten inzwischen das Geschäft zum Abschluß? Die Tatsache, daß Patsy den ganzen Tag unterAufsicht gestanden hatte, schien die letztere Möglichkeit auszuschließen, doch schließlich war auch er mindestens fünfzehn Minuten lang unbewacht in jenem Wohnhaus in der East End Avenue gewesen. Barbier und Mouren mochten ihn dort getroffen haben. Und was war nun mit dem blauen Koffer von gestern nacht? Welchen Inhalts war er gewesen und was war damit geschehen? Diese Fragen und -130-
Zweifel beschäftigten Eddie und Sonny, während sie, zusammen mit den anderen Agenten, Franzmann eins zurück ins Hotel Edison folgten. In der Rezeption fragte Jehan nach Post, aber es war nichts für ihn da. Er sah auf die Uhr; es war drei Viertel sieben. Er verließ die Halle durch den Ausgang zur 46th Street und winkte ein Taxi heran. Sonny blieb im Edison zurück. Eddie und Waters, der schon im Vestibül gewartet hatte, als die ändern mit Jehan ankamen, liefen zu Water's Wagen hinaus und nahmen die Verfolgung des Franzosen auf. Das Taxi durchquerte die Innenstadt bis zur Third Avenue; dort schwenkte es nach Norden und bog schließlich in die 52th Street ein, wo es zwischen Third und Second Avenue vor dem Restaurant La Cloche d'Or hielt. Nachdem Egan und Waters von der Ecke der Third Avenue beobachtet hatten, wie Jehan das Lokal betrat, gingen sie auf der gegenüberliegenden Seite der 52th Street so weit vor, bis sie sich auf gleicher Höhe des Restaurants befanden. Man konnte recht gut in das kleine, gemütliche, in französischrustikalem Stil eingerichtete Lokal hineinsehen. Jehan saß allein an einem Tisch für zwei Personen; mit einer kleinen Verbeugung überreichte ihm der Wirt die Speisekarte. „Ob er sich hier mit jemandem trifft?“ sagte Waters. „Kann sein. Jedenfalls sieht es so aus, als ob er jetzt eine Weile hierbliebe. Hast du schon etwas gegessen, Frank?“ „Seit mittag nichts.“ „Warum nützt du nicht die Gelegenheit?“ meinte Egan. „Ich habe ein Sandwich gehabt. Ich passe inzwischen auf.“ „Mach“ ich. Bis gleich“, entgegnete der Agent und ging zu seinem Wagen zurück. Egan schlenderte zur Second Avenue, kehrte, dabei das Cloche d'Or passierend, zur Third zurück und tauchte schließlich in den Schatten eines gegenüber dem Restaurant gelegenen Hauses. -131-
Auch Sonny Grosso im Edison nützte die Gelegenheit, im Kaffeehaus etwas zu sich zu nehmen. Sein Magen hatte ihm zu schaffen gemacht, wie er das oft tat, wenn die nervliche Spannung zu groß wurde. Durch knurrende Geräusche in seinen Eingeweiden und leichte Übelkeit vor einem drohenden Durchfall gewarnt, wie ihn ein solcher schon des öfteren in eine peinliche Lage versetzt und nahezu arbeitsunfähig gemacht hatte, gönnte er sich ein Käsebrot, grünen Salat und zwei große Gläser Milch. Milch reckt den Magen ein, hatte seine Mutter oft gesagt. Um halb acht war Sonny wieder in der Halle. Seit Frank Waters Meldung, wonach Eddie Egan den Franzosen im Restaurant in der 52th Street beschattete, hätten sie über Jehan nichts mehr gehört, berichteten die im Hotel postierten Agenten. Sonny entschloß sich, hinüberzufahren und seinem Partner Gesellschaft zu leisten. Er verließ das Hotel und steuerte auf sein weißes Oldsmobile-Kabriolett zu, das er in der 47th Street nahe der Eighth Avenue geparkt hatte. Während er den Motor warmlaufen ließ, schaltete er das Funkgerät ein. Jemand gab einen Bericht über Patsy Fuca durch. „... in seinem blauen Buick auf der Grand Avenue. Dichter Verkehr, viele Menschen auf der Straße. Sieht so aus, als wollte er auf die Williamsburg-Brücke.“ Atmosphärische Störungen erzwangen eine Pause. „... Jawohl, auf die Brücke. Er fährt wieder nach Manhattan. Haben wir Leute beim Pike Slip Inn?“ Ein Gewirr von Stimmen versicherte dem Frager, daß Patsys Stammlokal nicht aus dem Auge gelassen werde. Sonny griff nach dem Mikrophon. „Hier Wolke. Wer ist hinter Patsy, Ende?“ „Fluhr und Bailey.“ „Artie, ist er allein?“ „Allein.“ -132-
Sonny hörte, wie die Agenten hinter Fuca den East River überquerten. „Jetzt kommt er von der Brücke herunter auf die Delancey Street. Halt, halt - er biegt rechts ab... Houston Street... ja, er fährt in die Schnellstraße ein.“ Zurück ins Roosevelt? fragte sich Sonny. Warum auch nicht? Dort war er auch in den letzten zwei Tagen mit den Franzosen zusammengekommen. „Hier ist nochmals Wolke. Ich bin auf der Westseite beim Edison. Ich setze mich jetzt langsam nach Osten ab. Vielleicht will er wieder ins Roosevelt. Avisiert sofort, wenn er die Schnellstraße verläßt.“ Sonny schwenkte in die Eighth Avenue ein, um sodann in die 48th Street abzubiegen. Während er sich durch den Verkehrsstrom kämpfte, lauschte er der metallenen Stimme Artie Fluhrs, der weiter über Patsys Fahrtroute berichtete. „Kreuzt 14th Street... 23th Street...“ Sonny hätte gern Egan und Waters bei sich gehabt. „... 34th Street. Er kommt gut voran, der Verkehr hier ist schwach. Er schwenkt auf die linke Fahrbahnhälfte hinüber, scheint auf die 42th-Street-Auffahrt zuzuhalten.“ Sonny war inzwischen an der Ecke Fifth Avenue und 48th Street angelangt. Er wartete auf Bestätigung. „Jawohl, 42th Street!“ rief Fluhr. Sonny wies alle in dieser Gegend kreuzenden Wagen an, sich rund um das Roosevelt zu postieren. Er raste zur Madison Avenue hinüber und fuhr bis zur 45th Street, wo er gegenüber dem Roosevelt, kurz vor der Ecke, parkte und die Lichter löschte. Fußgänger drängten sich auf den Straßen, aber vor dem Hotel konnte er kein bekanntes Gesicht ausmachen. „... 45th in westlicher Richtung“, meldete Fluhr. Sonny spähte in die im Dunkel liegende 45th Street hinein, als könnte er es kaum mehr erwarten, Patsy in Sichtweite zu bekommen. Es war acht Uhr. Ein Bus blieb an der Ecke stehen und verdeckte den Hoteleingang. An der andern, südlichen Ecke der 45th Street ging ein Mann -133-
in Hut und Mantel vor einer Fernsprechzelle auf und ab, in der ein Mann telephonierte. Sonny hielt den nervösen Fußgänger für einen verspäteten Pendler, der darauf wartete, seine Frau verständigen zu können. Dann rollte Sonny die linke Scheibe hinunter und riß die Augen auf. Donnerwetter! Franzmann drei! Und der Mann in der Zelle war Barbier! Er schnappte das Mikrophon. „Hier Wolke, Ecke 45th und Madison. Ratet mal, wen ich gefunden habe! Die zwei verschwundenen Franzmänner! Wahrscheinlich warten sie hier auf unseren Freund!“ „... nähern sich dem Roosevelt“, meldete Artie Fluhr. Sonny wendete den Blick von der Telephonzelle ab. Ein Wagen kam herangefahren, und als er in den grellen Lichtkreis des Schirmdaches über dem Hoteleingang geriet, erkannte der Kriminalbeamte Patsys blauen Buick. Etwa fünfzig Meter weiter hinten tauchten zwei Scheinwerferpaare auf; eines davon mußte dem Wagen von Fluhr und Bailey zugehören. Patsy bremste scharf ab und kam vor einem Hydranten neben der Telephonzelle an der Ecke zu stehen. Mouren klopfte an die Glasscheibe der Telephonzelle, um Barbier aufmerksam zu machen, ging dann um den Wagen herum und stieg hinten ein. Patsys Kopf drehte sich nach allen Seiten. Der möchte hier nicht länger sitzen als unbedingt nötig, ging es Sonny durch den Sinn. Sekunden später verlosch das Licht in der Zelle, Barbier kam heraus und setzte sich neben Patsy in den Wagen. In diesem Augenblick schaltete die Ampel auf Grün, und der Buick spurtete über die Madison Avenue hinüber und weiter durch die 45th Street in westlicher Richtung. Sonny hielt nach dem Wagen mit den Agenten Ausschau, die Patsy von Brooklyn hierher gefolgt waren. Er entdeckte ihn an der Ecke Madison. „Artie“, rief er ins Mikrophon und blinkte gleichzeitig seine Scheinwerfer. „Ihr beide bleibt da und stellt euch in die Parklücke, die Patsy eben freigemacht hat. Jetzt fahre ich ihnen nach. Ich werde euch durchgeben, welchen Weg -134-
sie einschlagen. Alle andern auf Empfang bleiben!“ Sonny bog in die 45th Street ein. An der Fifth Avenue wartete Patsy auf Grünlicht. Die Ampel schaltete, und der Buick bog nach links ab. Sonny kam gerade noch durch und erreichte Patsy, als dieser, den linken Winker betätigend, den Gegenverkehr abwartete, um in die 44th Street einzuschwenken. „Sie nehmen die 44th zur Madison zurück“, meldete Sonny den anderen Polizeiwagen, die im Umkreis stationiert waren. Er wies Fluhr und Bailey an, ihren Standort zu wechseln und sich an der Ecke 44th und Madison zu postieren. Der Buick jedoch schob sich in eine Parklücke zwischen Fifth und Madison. Die drei Männer stiegen aus, und Patsy versperrte die Türen. Sie überquerten die Straße und begaben sich ins Game Cock, ein Restaurant mit Balkendecke im Stil einer englischen Kneipe. Sonny wußte, daß das Lokal mit Vorliebe von Leuten aus der Verlags- und Werbebranche rund um die Grand Central Station aufgesucht wurde. Wie an einem Freitag um Viertel neun Uhr abends nicht anders zu erwarten, war das Restaurant mit jüngeren leitenden Angestellten besetzt, oder jedenfalls sahen diese so aus. Einige flirteten mit hübschen jungen Stenotypistinnen oder Sekretärinnen. Patsy und die Franzosen fanden sich eine Nische, und Sonny gelang es, sich am Ende der Theke einen Platz zu ergattern. Die drei Männer bestellten Drinks, Sonny ließ sich einen süßen Vermouth mit Eis servieren. Über ihre Cocktails gebeugt, die Köpfe zusammengesteckt, saßen die drei Verdächtigen an einem halbrunden Tisch und unterhielten sich ernsthaft. Sonny nippte mäßig an seinem Süßwein und warf gelegentlich einen Blick in ihre Richtung. Er dachte dabei vor allem an die Stationierung der Polizeifahrzeuge, die, wie er hoffte, jetzt draußen vor sich ging. Nach etwa fünfzehn Minuten stand Patsy auf, sah sich nach allen Seiten um und ging nach hinten, wo er eine Telephonzelle betrat. Er sprach ungefähr zehn Minuten. Sonny sah, daß er -135-
mindestens zwei Münzen einwarf. Dann kehrte er an den Tisch zurück und nahm die lebhafte Diskussion mit den Franzosen wieder auf. Es mußte heiß hergehen, denn Patsy gestikulierte aufgeregt, und Barbier und Mouren reagierten auf gleiche Weise. Sie bestellten eine zweite Runde, Patsy einen Highball und die Franzosen Kognak in Schwenkern. Wieder zehn Minuten später begab sich Patsy neuerlich ans Telephon. Sie scheinen Probleme zu haben, dachte Sonny. Also hatte das Geschäft noch nicht geklappt. Eddie Egan war nun nicht mehr so überzeugt, daß Jehan im Cloche d'Or auf jemanden wartete. Der Beamte, der zuerst im Torbogen eines gegenüberliegenden Hauses gestanden und dann auf und ab spaziert war, hätte schwören mögen, daß Franzmann eins sich in dem kleinen französischen Restaurant eingefunden hatte, um eine getroffene Verabredung einzuhalten. Doch Jehan, eine kleine Flasche Wein zur Hand, war nur dagesessen und hatte sich die verschiedenen Gerichte, die man ihm vorsetzte, allem Anschein nach sehr gut schmecken lassen. Außer dem Wirt und einer Kellnerin war ihm niemand nahe gekommen. Gegen acht war er einmal aufgestanden und aus Eddies Gesichtskreis verschwunden, nach wenigen Minuten jedoch, immer noch ohne Begleiter, an seinen Tisch zurückgekehrt. Er mochte die Toilette aufgesucht oder ein Telephongespräch geführt haben. Seither hatte er sich nicht gerührt und mit genüßlicher Ruhe Speise und Trank genommen. Kurz nach acht war Frank Waters angerückt gekommen, der ihm über Patsy und die anderen Franzmänner berichtete. In eine Mauernische gedrückt, warteten sie zusammen gegenüber dem Cloche d'Or. Es war acht Uhr fünfunddreißig, und Egan hatte fast ein ganzes Päckchen Camel konsumiert, als Jehan Anstalten zu treffen schien, das Lokal zu verlassen. Lächelnd und freundlich nickend bezahlte er seine Rechnung, rappelte sich auf und trat auf die Straße. Er holte tief und wohl auch befriedigt Atem und -136-
schlenderte zur Third Avenue hinüber. Egan und Waters folgten ihm getrennt, sie waren schon froh, daß der Franzmann überhaupt irgendwohin unterwegs war. Auf die Frage wohin erhielten sie jedoch keine Antwort, denn Jehan wanderte langsam und anscheinend ziellos zur West Side hinüber. Er blieb da und dort stehen und bewunderte die luxuriösen Schauräume der Automobilfirmen auf der Fifth Avenue und die eleganten Läden der 57th Street. Er spazierte auf den Central Park zu und diagonal über die Grand Army Plaza, am großen Springbrunnen und den zart erleuchteten Statuen vor dem majestätischen Plaza-Hotel vorbei. Jetzt kommt's, dachte Egan, der ihn von Bergdorf Goodmann an der Ecke der 58th Street aus beobachtete, er trifft sich hier irgendwo im Freien. Er machte Waters ein Zeichen, der auf der ändern Seite der Fifth Avenue heraufkam. Aber Jehan setzte seinen Weg fort. Aha, spekulierte Egan, er geht ins Plaza! Doch Franzmann eins ging am Hoteleingang, auf dessen breiten Stufen elegant gekleidete Leute auf ihre Autos warteten, vorbei und bog in die Central Park South ein. Egan wurde ärgerlich. Daß diesen miesen Vögeln das Latschen so gut gefällt! Und wie weit muß ich ihnen noch nachlatschen? Wann zum Teufel geht's schon endlich einmal los? Jehan schlenderte bis zur nächsten Kreuzung, wo er einen Augenblick vor dem Hotel St. Moritz stehenblieb, bevor er sich anschickte, die Avenue of the Americas hinunterzuwandern. Als Egan um die Ecke kam und Waters ein Zeichen machte, ihm zu folgen, hatte Jehan fast schon die 58th Street überquert. Dann zögerte er, machte einen kleinen Bogen und steuerte auf eine hellerleuchtete Bar in der 58th Street zu, nur wenige Schritte von der Avenue entfernt. Er blickte kurz durchs Fenster und ging hinein. Das Lokal hieß Thunderbird. Von der gegenüberliegenden Straßenseite konnten Egan und Waters feststellen, daß die Bar trotz der verhältnismäßig vorgeschrittenen Stunde praktisch leer -137-
war. Franzmann eins setzte sich an die Theke und bestellte einen Drink. Egan konnte sonst nur noch einen einzigen Gast ausmachen, eine auffällig gekleidete Blondine mit einer geschmacklosen, toupierten Frisur, die einige Hocker weiter ebenfalls an der Bar saß. Auch Jehan hatte sie bemerkt, beäugte sie, lächelte und hob sein Glas. „Na, wer ist denn dieses Weibsstück?“ sagte Egan. „Sieht nach Nutte aus“, meinte Waters. Sie warteten, bis noch mehr Leute hineingegangen waren und das Lokal nicht mehr ganz so öde aussah. Dann drückten sie selbst die Tür auf. Jehan hockte nun schon neben der Blondine. Sie schienen in ein witziges Wortgeplänkel vertieft. Egan und Waters setzten sich an einen kleinen Tisch im Hintergrund, wo es dunkler war, und bestellten Whisky, Ingwerbier und Brezel. Egan ging ans Telephon und informierte die Zentrale vom gegenwärtigen Aufenthaltsort von Franzmann eins. Er erfuhr, daß Patsy und die zwei Franzosen etwa zwanzig mit Kriminalbeamten und Bundesagenten besetzten Wagen bereits eine ganze Stunde, seit neun Uhr, eine erbitterte Jagd durch die Innenstadt lieferten. Egan kehrte an seinen Tisch zurück und hatte kaum Zeit, Waters von dieser neuen Entwicklung in Kenntnis zu setzen, als ein vertrautes Gesicht in der Tür auftauchte - Dick Auletta. Er entdeckte sie sofort, drängte sich hinter dem Franzosen und der Frau durch und kam auf sie zu. Er beugte sich über den Tisch zu ihnen hinunter. „Setz dich“, lud Egan ihn ein. „Kann nicht. Ich wollte nur sehen, ob sonst jemand da war, Patsy oder die ändern zwei Franzmänner.“ Waters erstarrte. „Willst du damit sagen, daß sie euch abgehängt haben?“ „Nein, nein. Mein Partner und ich, wir haben sie hier in der Gegend aus den Augen verloren, und ich hörte, ihr sitzt da in der -138-
Bar. Wir sind ja mit achtzehn oder zwanzig Wagen hinter ihnen her. Jemand wird sie schon finden.“ „Was zum Teufel haben die vor?“ fragte Egan. „Keine Ahnung.“ Auletta schüttelte den Kopf. „Also, ich muß mich wieder der Meute anschließen.“ Er warf einen verstohlenen Blick zur Theke. „Der alte Fuchs scheint ja in voller Fahrt zu sein. Braucht ihr Hilfe?“ „Nein. Ich weiß zwar auch nicht, was er im Schilde führt“, erwiderte Egan, „aber bis jetzt hat er's uns nicht schwer gemacht. Ich und Frank, wir werden mit ihm schon fertig werden.“ Aber Waters erhob sich. „Wenn du nichts dagegen hast, Eddie, dann zottele ich mal eine Weile mit Dick herum. Ich komme später wieder.“ Auletta und Waters gingen, und Egan blieb allein zurück, um Jean Jehan im Auge zu behalten. Sonny Grosso war bestürzt und völlig durcheinander. Seitdem sie das Game Cock in der 44th Street gegen neun Uhr verlassen hatten, brachten Patsy und seine Freunde ihre Verfolger zur Verzweiflung. Kaum hatte Patsy sein zweites Telephongespräch beendet, zahlten sie und gingen zu ihrem Buick hinaus. Sonny folgte ihnen eine Minute später. Agent Ben Fitzgerald wartete auf ihn im Türeingang eines Schuhladens im Nebenhaus, und zusammen eilten sie zu Sonnys Wagen an der Ecke. Fitz berichtete - mit erfrischend heiterer Miene und munteren Augen hinter Brillengläsern. Die ganze Gegend wimmle von Kriminalbeamten; einige waren zu Fuß, die meisten im Auto unterwegs. Wie schon am Abend zuvor, als es ihm vorübergehend gelungen war, seine Verfolger abzuschütteln, drehte Patsy auf der Madison Avenue um und brauste in nördlicher Richtung davon. Doch diesmal waren zu viele Spürhunde auf den Straßen, -139-
so daß selbst ein so geschickter Fuchs wie Patsy sie von der Fährte nicht abbringen konnte. Wie Schnellfeuerstöße kam es aus den Funkgeräten: „Das ist er!“... „Ich hab' ihn... Übernimm ihn auf der Fifth!“... „Er biegt in die 54th Street ab“... „Wir erwarten ihn schon!“... „Wer steht an der Ecke Park und 49th?“ Die von der Polizei bei Überwachungsaktionen verwendete Frequenz im Funkverkehr ist ein wohlgehütetes Geheimnis. Ein Don der Mafia entwendete einmal ein tragbares Funkgerät der Kripo, aber es mangelte der Organisation an der nötigen Sachkenntnis, um das Gerät umzubauen und damit die neue Wellenlänge empfangen zu können, auf die die Polizei sofort umstellte, als man den Diebstahl merkte. Daher konnten die Beamten des Rauschgiftdezernats im Klartext senden. „Er ist auf der 47th und fährt in westlicher Richtung...“, kam es aus den Lautsprechern, und die aus Polizei- und Regierungsbeamten zusammengestellte Einsatzgruppe brachte ihre komplexe Überwachungsmethode zur Anwendung. Ein Wagen folgte dem Buick einen Block weit und bog ab, während ein anderer Wagen, im rechten Winkel auf den Fluchtweg einschwenkend, seine Stelle einnahm. Bog der Buick ab, fuhr das nachkommende Polizeiauto geradeaus weiter, doch ein anderes wartete schon bei dem betreffenden Block und heftete sich nun seinerseits an Patsys Fersen. Es war ein kompliziertes System, aber es funktionierte - dank Instinkt, Wagemut und langjähriger Erfahrung. Patsy jedoch machte es zu einem erregenden, ja sogar gefährlichen Spiel. Wie ein Hollywooder Stuntman sauste er hin und her, Straße auf, Straße ab, zweimal um denselben Block... Auf den Kreuzungen stießen die Polizeiautos beinahe miteinander zusammen, während sie krampfhaft bemüht waren, Patsy oder aber auch anderen Funkwagen auszuweichen. In diesem mörderischen Tempo war die Jagd nun schon seit fast zwei Stunden im Gang. In dieser ganzen Zeit verließ Patsy nie das Zentrum Manhattans, das von der 42th Street im Süden, -140-
dem Broadway im Westen, der 57th Street im Norden und der Third Avenue im Osten begrenzt wird - insgesamt etwa hundert Blocks. Um drei Viertel elf bekam Sonny langsam das Gefühl, er würde verrückt werden, wenn das noch lange so weiterginge. Er und Fitz hatten sicherlich schon jeden einzelnen dieser hundert Blocks umfahren. Neben Waters, der sich mit Dick Auletta an der Jagd beteiligte, war es noch Sonny, der die Überwachung leitete. Sie hatten den Buick nicht verloren, doch was Sonny in steigendem Maß beunruhigte, als es immer später wurde, war die Frage, was in Patsys Kopf vorging. Ging es ihm nur darum, seine Verfolger abzuschütteln? Oder veranstalteten er und seine Kumpane eine unglaublich sorgfältig vorbereitete Generalprobe, ein „Übungsschießen“? Und immer wieder der nagende Zweifel: Betätigen sie sich vielleicht nur als Lockvögel, während das Geschäft irgendwo anders und möglicherweise von Personen abgewickelt wurde, die die Polizei nicht einmal verdächtigte? Sonnys Befürchtungen begannen zu schwinden, als der blaue Buick kurz vor elf zum erstenmal seit einer Stunde eine längere Strecke durchfuhr, ohne abzubiegen. Von der Sixth Avenue kommend, war Patsy in die 46th Street eingeschwenkt, hatte Fifth, Madison, Park und Lexington Avenue gekreuzt und behielt nun seine Östliche Richtung bei. Seltsamerweise stellte die Gerade die einzige Schwäche der polizeilichen Verfolgungslogistik dar. Eine Anzahl quer und in Gegenrichtung abgestellter Wagen konnte nicht eingreifen und nur ein spärlicher Rest in Patsys Kielwasser verbleiben. Bei der Second Avenue drehte der blaue Wagen scharf nach rechts ab und brauste nach Süden davon. Patsy rutschte durch einige Grünlichter und einige andere, die schon auf Gelb schalteten, und als er die 34th Street passierte, waren es nur noch Sonny und Fitz in einem und Jimmy O'Brien und Jack Ripa in einem zweiten Wagen, denen es gelang, den Ausreißern auf den Fersen zu bleiben. Doch wie sich aus den teilweise -141-
verstümmelten und einander widersprechenden Funksprüchen ergab, kamen jetzt auch die anderen Polizeiautos nach. Sonny sah, wie Patsy in die 24th Street zum East River hin abschwenkte. Das war ein Viertel mit alten, rußiggrauen Ziegelhäusern - die Straße, in der Sonny das Licht der Welt erblickt hatte. Doch jetzt war nicht die Zeit, sentimentalen Erinnerungen nachzuhängen. Patsy hielt den Buick an der Ecke 24th und First Avenue an, gegenüber dem Veteranenhospital und dem massigen Komplex des Bellevue. Die Franzosen stiegen aus, und der Schlag war noch nicht zu, als der Buick schon um die Ecke fegte und die First Avenue hinaufsauste. „Wer übernimmt Patsy?“ schrie Fitz ins Mikrophon. Sonny hatte den Olds in der schwach beleuchteten Straße, etwa dreißig Meter vor der First Avenue, abgestellt, um die Franzosen im Auge zu behalten. „Er ist von der 24th runter und fährt auf der First stadtwärts!“ „Wir übernehmen ihn“, antwortete Jimmy O'Brien, während er und Jack Ripa in ihrem Wagen vorbeischössen. Sonny stieg aus. Barbier und Mouren waren ein paar Dutzend Meter die 24th Street hinaufgegangen und verschwanden in einer schäbigen Bar auf der Nordseite der Straße. Der Kriminalbeamte schlenderte am gegenüberliegenden Gehsteig vorbei. Er blieb vor einem verschmutzten Gemischtwarenladen stehen, der noch offen hatte. Die Fenster der Bar waren aus Milchglas, so daß er nicht feststellen konnte, was die Franzmänner trieben - ob sie sich mit einem Drink von der langen Rundfahrt in Patsys Wagen erfrischten, die Toilette aufsuchten oder mit jemandem telephonierten. Was hatte sein Partner Egan wohl bei dem ändern Franzmann, Jehan, erreicht? fragte sich Sonny und ging in die Kolonialwarenhandlung. Es roch italienisch, wie daheim. Er nahm sich ein Stück Vanillenapfkuchen und verlangte ein Coke. Dann trat er ans Fenster, und während er die Zellophanhülle des Kuchens abstreifte, blickte er zur Tür unter dem roten Neonschild „Bar“. -142-
Er hatte erst einen Biß und einen Schluck gemacht, als die Franzosen herauskamen. Sie gingen an die Ecke der First Avenue vor. Sonny trat vom Fenster zurück. Die Männer schienen die First Avenue hinunterzuspähen. Barbier hob den Arm, und Sekunden später hielt ein Taxi neben ihnen. Sonny stellte Kuchen und Coke nieder und stürzte hinaus. Fitz zuwinkend, lief er zur Ecke vor und sah dem Wagen nach, der die First Avenue hinauffuhr. Mit Fitz am Steuer, gab Sonny über Funk den Fahrtweg des Taxis bekannt: quer durch zur Westseite Manhattans und die Eighth Avenue hinauf bis zu dem dem innerstaatlichen Verkehr dienenden Autobusbahnhof der Hafenbehörde zwischen der 40th und der 41th Street. Unterwegs berichtete Fitz, daß O'Brien Patsy in der entgegengesetzten Richtung, zu seinen Schlupfwinkeln auf der Lower East Side, verfolgte. Barbier und Mouren hasteten vom Taxi in den Autobusbahnhof. Sonny und Fitz parkten auf einem Taxistandplatz und stürmten den Franzosen nach. Sie wußten nur zu gut, daß der gewaltige, von eilig umherlaufenden Menschen erfüllte Bau mit seinen zahllosen Ausgängen verfolgten Personen schon des öfteren als rettendes Fluchtventil gedient hatte. Sie konnten nur hoffen, daß unterdessen auch andere Wagen in die Gegend gekommen waren. In der Haupthalle des Bahnhofs drängte sich in geordneten Haufen die Masse der Freitagnachtvögel, die sich hierhin und dahin schoben, um die späten Busse nach New Jersey nicht zu verpassen. Sonny erspähte Barbier und Mouren, die rudernd und stoßend einem Ausgang auf die 40th Street zustrebten. Er schwenkte zu Fitz herum, deutete auf die Franzosen, rief ihm „Hol den Wagen!“ zu und bahnte sich, ohne langsamer zu werden, einen Weg durch den Strom der Pendler, den Franzmännern nach. Doch bevor Sonny noch auf den Gehsteig der 40th Street hinausgestürzt war, hatten Barbier und Mouren schon ein anderes Taxi ergattert, das in östlicher Richtung davon -143-
schoß. Atemlos, fluchend rannte Sonny an die Ecke der Eighth Avenue vor, wo Fitz es schwer hatte, den Wagen im Rückwärtsgang aus der Einbahnstraße herauszumanövrieren. Zitternd vor Zorn und Erregung sprang Sonny die Arme schwenkend auf die Fahrbahn, um ankommende Fahrzeuge zum Halten zu bringen und es Fitz zu ermöglichen, in die 40th Street einzubiegen. Sonny wußte es in diesem Augenblick noch nicht, aber die Franzosen irrten, wenn sie glaubten, ihre Verfolger abgeschüttelt zu haben. Auf Sonnys Hilferufe über Funk war Leutnant Vinnie Hawkes fast zur gleichen Zeit wie Sonny und Fitz auf dem Schauplatz erschienen und hatte das Bahnhofsgebäude umkreist und die Ausgänge im Auge behalten. Er war gerade die 40th Street entlanggekommen und hatte Barbier und Mouren herausstürzen und im Taxi davonfahren gesehen. Hawkes rief diese Neuigkeit ins Mikrophon und heftete sich an ihre Fersen. Sonny erfuhr davon, als er endlich wieder neben Fitz saß und den Oldsmobile die 40th Street hinunterjagte. Sie konnten jetzt nichts anderes tun, als Hawkes' laufenden Meldungen zu folgen. Das Taxi brachte die Franzosen zur Grand Central Station. Hawkes war ihnen die ganze Zeit dicht auf den Hacken geblieben. Während die Verdächtigen jetzt die 42th Street überquerten und den riesigen Bahnhof an der Ecke der Vanderbilt Avenue betraten, parkte der Leutnant vor dem New York Convention & Visitors Bureau unter dem Viadukt der Park Avenue, der dort die 42th Street überspannt, und hastete mitten durch den dichten Verkehr auf den Haupteingang zu. Barbier und Mouren benahmen sich jetzt, als ob sie sich völlig unbeobachtet fühlten. Am Fuß der Rampe, die zur großen Halle führt, blieben sie bei einem Zigarrenladen stehen und erstanden die Morgenausgaben der Daily News und der Herald Tribüne. Dann schlenderten sie gemütlich eine andere Rampe zum Tiefgeschoß hinunter. Sie hätten ein paar alte Freunde sein können, die sich zu ihren Vorortzügen begaben. Sie fühlen sich -144-
sicher, dachte Hawkes, der ihnen in angemessener Entfernung folgte - vielleicht haben wir auch mal Glück. Inzwischen, spekulierte er, würden Polizeiautos aus allen Richtungen herangefahren sein und den Bahnhof umstellt haben. Die ganze Ladung Stoff mochte sich wohl, ging ihm durch den Kopf, in einem Gepäckschließfach befinden. Das ganze Herumrasen in der Stadt mochte nur dem Zweck gedient haben, den Schlüssel zu übergeben. Doch die Ausländer begaben sich weder zu einem Zug noch zu den Schließfächern. Sie betraten die Oyster Bar, ein großes, teilweise auf Selbstbedienung eingerichtetes Restaurant, das vornehmlich von Pendlern und Nachtschwärmern bevölkert wird. Hawkes lungerte ein paar Minuten draußen herum und studierte die Auslagen einer geschlossenen Buchhandlung. Die Franzosen setzten sich an eine der Theken und machten ihre Bestellung. Beim Eingang zur unteren Halle war unterdessen ein junger Mann erschienen, der, eine Zeitung in der Hand, neben einem Blumenladen lehnte - ein FBI-Agent. Okay. Hawkes schlenderte in die Oyster Bar. Die Franzmänner waren nicht mehr da. Hawkes verlor nur einen Augenblick lang die Fassung. Im Hintergrund der Oyster Bar führte eine Glastür in einen Gesellschaftsraum; von dort, erinnerte er sich, gab es einen Ausgang in den Bahnhof. So waren sie entwischt - die Schweinehunde. Er ging in den fast leeren Gesellschaftsraum und in die daran anschließende Herrentoilette. Sie waren auch dort nicht. Nach kurzer Zeit wußten alle Polizeioffiziere im und rund um den Bahnhof, daß es den Franzmännern gelungen war, durchs Netz zu schlüpfen; allgemeine Niedergeschlagenheit war die Folge. Der Leutnant versuchte Sonny zu trösten. „Haben wir sie eben für kurze Zeit verloren. Sie sind uns schon einmal entwischt. Ihre Hotels stehen unter Aufsicht. Wahrscheinlich werden sie bald dort auftauchen.“ -145-
„Hoffentlich“, murmelte Sonny. „Na, wir haben ja noch den anderen Franzosen und Patsy, und das sind doch die großen Fische, nicht wahr?“ „Hoffentlich.“ Anscheinend schwitzte Egan immer noch in jener Bar in der 58th Street und bewachte Jehan. Das war wenigstens ein Trost. Wenn Glotzauge jemandem auf der Kappe saß, war er ärger als eine klebrige Schlange. Mit Patsy lief wohl auch alles glatt. Ripa und O'Brien hatten gemeldet, daß er in sein altes Viertel in der unteren Stadt gefahren war. Dort hatte er den Buick in der Nähe des Hauses seiner Großmutter in der verkommenen Henry Street geparkt und einen dem Anschein nach leeren Laden betreten, in dem, wie der Polizei bekannt war, des öfteren ganze Nächte lang hinter mit Sackleinen verhangenen Fenstern um hohe Beträge Poker gespielt wurde. Sechs weitere Polizeifahrzeuge, in einem davon auch Frank Waters, waren zu Ripas und O'Briens Verstärkung eingetroffen. Patsy war immer noch drin; zumindest nahmen sie es an. „Ich fahr' mal 'runter und seh' nach, was mit Patsy los ist“, sagte Sonny schließlich zu seinem Chef. „Okay. Aber benachrichtige uns“, erwiderte Hawkes und drückte ihm freundlich den Arm. Während er den Wagen über die East-River-Schnellstraße nach Süden lenkte, sah Sonny einen einzigen Hoffnungsschimmer: daß sein Partner immer noch an Jehan klebte. Eddie Egan hörte vom Verschwinden der Franzmänner zwei und drei, als er gegen ein Uhr früh - Samstag, den 13. Januar - in der Zentrale anrief, wie er dies alle Stunden tat. Die Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte, erfüllte den Kriminalbeamten mit wachsender Ungeduld. Es hatte immer mehr den Anschein, als ob Jean Jehan in dieser Nacht nichts Wichtigeres im Sinn hätte, als sich eine Bettgefährtin anzulachen, zu trinken und Geld auszugeben. Nach Egans Berechnungen mußte Franzmann eins -146-
in etwa drei Stunden fünfundsiebzig Dollar auf die Theke der Thunderbird-Bar geblättert haben, um den europäischen Charme, mit dem er die abgebrühte Blondine überschüttete, gebührend herauszustreichen. Er war eifrig bemüht, sie zu überreden, ihn in sein Hotel zu begleiten oder aber auf ihre Bude mitzunehmen. Sie reiste auf die zurückhaltende Tour vermutlich meinte sie in dem alten Franzosen einen Weihnachtsmann gefunden zu haben. Das hatte Egan bald erkannt. Sollten die beiden sich diese Nacht einig werden, würde Jehan dafür schwer blechen müssen. Egans Langeweile und Mattigkeit waren mit einem Schlag verflogen, als er die niederschmetternde Nachricht vom Entwischen der anderen Franzosen erhielt. Er folgerte sofort, Barbier und Mouren könnten ins Thunderbird unterwegs sein, um Jehan hier zu treffen, und sein schon fast erlahmtes Interesse an dem Schwerenöter an der Theke belebte sich um ein beträchtliches. Im Laufe des Abends hatte der Kriminalbeamte wiederholt seinen Platz gewechselt, er war vom Tisch an einen Zipfel der Theke übersiedelt, in die Nähe einer kleinen Gruppe von Männern, dann an einen ändern Tisch weiter vorne und schließlich wieder an die Theke. Dies geschah alles, um den Franzmann daran zu hindern, einen rothaarigen, muskulösen Menschen zu bemerken, der sich während seines Aufenthalts im Thunderbird nicht von der Stelle rührte. Nicht daß Jehan seiner Umgebung viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte. In den nächsten eineinhalb Stunden schien er sich allmählich in einem Nebel von Alkohol und Verlangen zu verlieren, während die Blondine ihm schöntat, daß es eine Art hatte. Egan selbst schäkerte mit einer drallen Brünetten von etwa fünfunddreißig Jahren, die sich, offenbar in der Erwartung, angesprochen zu werden, neben ihn an die Theke gesetzt hatte. Sie erklärte, Sonja zu heißen, und versuchte ihn zu überreden, mit auf ihre Bude zu kommen, in einem drittklassigen Hotel in -147-
der 58th Street. Er wich aus, indem er betonte, er könne jetzt nicht mitkommen, er müsse auf einen Freund warten. Ein bißchen später vielleicht? Inzwischen war es fast drei Uhr geworden. Sonja sagte, sie hätte um drei selbst eine „Verabredung“, aber in einer halben Stunde wäre sie frei. Dann könnten sie sich treffen und gemeinsam etwas unternehmen. Mund und Augen drückten gut einstudierte Begierde aus, während sie ihm ihre Adresse diktierte, die er auf eine Papierserviette kritzelte. Und dann, um ihm klarzumachen, um was es ging, stand sie auf und lehnte sich gegen ihn; ihr weicher Bauch drückte gegen seinen Arm, die Finger liebkosten die Innenseite seines Schenkels, und ihre Zunge zuckte rasch in seinen Mund. Egan fühlte sich erleichtert, als sie fort war. So uninteressiert er sich auch glaubte, sie hatte ihn doch erregt. Er ging wieder ans Telephon. Es gab nichts Neues. Die beiden Franzosen waren immer noch unauffindbar, Patsy hatte das Lokal in der Henry Street nicht verlassen. Die Zentrale teilte ihm mit, daß Dick Auletta jetzt in seinem Wagen vor dem Thunderbird saß. Egan war froh; sollten Jehan und die Blondine das Lokal getrennt verlassen, konnte Auletta die Frau unter die Lupe nehmen. Die Zeit verrann, es war bald halb vier. Egans Hoffnungen in bezug auf Barbier und Mouren verflüchtigten sich. Jehan war schon viel zu fertig, um noch ans Geschäft denken zu können. Außer Egan, Jehan und seiner Gefährtin befand sich nur mehr ein einziges Paar im Thunderbird, und der Kriminalbeamte hielt es für ratsam, zu gehen. Franzmann eins fielen beinahe die Augen zu, während er abwechselnd mit seinem Kognak und dem Wechselgeld auf der Theke täppisch herumspielte. In diesen fünfeinhalb Stunden, schätzte Egan, hatte der „Giant“ gute hundertvierzig Dollar ausgegeben und machte sich nun daran, die Schlampe neben ihm gründlich zu betatschen. Abrupt raffte die Blondine ihre Sachen zusammen, verstaute sie in ihrer großen schwarzen Tasche und ließ diese mit -148-
Entschiedenheit zuschnappen. In praktisch einer einzigen Bewegung warf sie sich ihren falschen Leopardenmantel über die Schulter, klopfte dem alten Sünder auf die Knie, fegte zur Tür und auf die Straße hinaus. Jehan hatte weder die Zeit noch die Geistesgegenwart, um zu protestieren. Er blieb verdutzt sitzen. Egan konnte ein boshaftes Lächeln nicht unterdrücken und verlangte die Rechnung. Jetzt war es wirklich höchste Zeit, zu verschwinden, noch bevor der Franzose seine fünf Sinne wieder beisammen hatte und ihn genauer betrachten konnte. Sich geschäftig den Mantel überziehend, während er an Jehan vorbeiging, trat Egan auf die Straße. Die kalte Luft tat ihm gut. Er sah sich um, doch die Blondine war fort, und auch von Auletta war nichts zu sehen; vermutlich war Dick ihr gefolgt. Er überquerte die Straße und versteckte sich im Torbogen eines alten Mietshauses. Bald darauf kam Jehan aus dem Thunderbird herausgeschwankt. Er brauchte einige Zeit, um sich zurechtzufinden, und ging dann langsam an die Ecke 58th Street und Sixt Avenue. An der Kreuzung winkte er ein Taxi heran, und Egan mußte sich sputen, um ein anderes zu ergattern, bevor er Franzmann eins aus den Augen verlor. Jehans Taxi setzte ihn um drei Uhr fünfzig an der Ecke 47th Street und Broadway ab, von wo er auf das Hotel Edison zuwatschelte. Er verlangte seinen Zimmerschlüssel, betrat den Aufzug und verschwand. Die Halle war nicht ganz einsam, denn jetzt, da alle Nachtlokale der Stadt ihre Türen schlössen, kamen die letzten Nachtschwärmer angewandert. In der Rezeption stand ein Bundesagent, der dem regulären Nachtportier „assistierte“. Egan winkte ihn zur Seite und fragte nach Neuigkeiten. Keine Franzosen, lautete die Antwort, und Patsy steckte immer noch im Laden in der Henry Street. Nun, da Jehan zu Bett gebracht war und die lange, verwirrende Nacht dem Ende zuging, fühlte Egan sich plötzlich wie betäubt, die Augen sandig und hohl. Aber verdammt noch -149-
mal, er mußte etwas tun!' Die Hand in der Tasche, schlössen sich seine Finger um die zerknüllte Papierserviette aus dem Thunderbird. Sonja? Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, bevor er das Papier zusammenballte und in einen mit Sand gefüllten Aschenständer warf. Nein, es war wohl besser, in den Wagen zu steigen und den ändern unten in der Henry Street zu helfen. Mit einem schweren Seufzer machte er sich auf den Weg. Dann kehrte er um und holte die zerknitterte Papierserviette wieder aus dem Abfallkübel. Man konnte nie wissen, ihre Talente mochten ihm noch einmal gut zustatten kommen.
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10 Unter dem Dutzend trübäugiger Polizeibeamter, die rund um die Henry Street 137 postiert waren, befanden sich auch Sonny Grosso und Frank Waters. Es war eine armselige, beiderseits von drei-, vier- und fünfgeschossigen Mietshäusern mit verwitterten Läden und Autoreparaturwerkstätten verbaute Straße. An beiden Enden des Blocks, in dem sich Patsys private Spielhölle befand, rekelten sich Kriminalbeamte in ihren nicht gekennzeichneten Wagen; andere Polizeifahrzeuge hatten in der Nachbarschaft Posten bezogen, die, wie Egan sich jetzt besann, nicht weit von Blairs Pike Slip Inn und jenem Viertel entfernt war, wo er und seine Kollegen Patsy in dem kanadischen Buick vergeblich gejagt hatten. Sonny und Waters hatten in der Pike Street geparkt, um die Ecke von der Henry Street, mit Aussicht auf Blairs Lokal, das sechs Straßen weiter dem Fluß zu lag. Egan kletterte in den Wagen und ließ sich mit einem Ächzen auf den Rücksitz fallen. „Und was gibt's sonst Neues?“ fragte er heiser. Sein Partner musterte ihn. „Du schaust scheußlich aus.“ „Himmel, Schimmel, ich sitz' die ganze Nacht in einer üblen Spelunke, während ihr spazierenfahrt und euch die frische Luft um die Nasen wehen laßt.“ „Die frische Luft, an die man uns gesetzt hat“, scherzte Waters. „Franzmann eins erfreut sich also bester Gesundheit, was?“ fragte Sonny. „Mit dem Quantum Fusel, das der heute verdrückt hat, braucht er eine Woche Schlaf. Außerdem sind ihm vermutlich die Eier blau angelaufen.“ „Ach ja, was war denn mit der Blonden?“ „Nichts. Eine einzige Pleite. Der arme Jehan. Ich war näher -151-
dran, verführt zu werden, als er.“ „Von der Blonden?“ „Nein. Da saß so ein Flittchen an der Theke und versuchte mit mir anzubandeln. Wir quatschten eine Weile herum, und dann mußte sie gehen, weil ein Kunde auf sie wartete. Ich hätte sie dann um vier treffen sollen.“ Waters warf einen Blick auf seine Armbanduhr und zwinkerte. „Na, jetzt ist es gleich fünf. Wo warst du denn in der letzten Stunde?“ „Mensch, jetzt könnt' ich ihn nicht mal mit einem Wagenheber hochkriegen. Ich bin völlig fertig. Also spielt Patsy immer noch mit seinen paisans?“ „Das hoffen wir“, erwiderte Sonny. „Er ist 'reingegangen, und bis jetzt hat ihn noch keiner 'rauskommen gesehen.“ „Hätte er hinten 'raus können?“ „Wer weiß? Wir können nur abwarten. Aber solange uns Jehan sicher ist...“ Egan gähnte laut. „Warum haust du dich nicht aufs Ohr?“ schlug Sonny vor. „Du warst jetzt drei Nächte hintereinander unterwegs.“ „Ich sollte lieber bei euch bleiben.“ „Die Gegend ist abgesichert, Glotzauge“, meinte Waters. „Sonny und ich, wir konnten uns ein bißchen ausruhen. Los, leg dich auf ein paar Stunden hin. Könnte sein, daß du dann uns ablösen mußt.“ Egan überlegte mühsam. „Okay“, murmelte er dann und hievte sich aus dem Wagen. Selbst das sanfte Zuschnappen der Tür hallte in der verlassenen Straße laut wider. „Ich seh' euch dann später“, verabschiedete er sich. In seiner Umnebelung steuerte Egan den Wagen weder über die Manhattan- noch über die Williamsburg-Brücke heim nach Brooklyn, sondern, einem Impuls folgend, über die East-River-152-
Schnellstraße zurück ins Zentrum. Im Osten graute schon der schwarze Reif des Himmels, als ihm bewußt wurde, daß er die Stadtmitte erreicht hatte. Er verließ die Schnellstraße über die Ausfahrt zur 42th Street und wollte ein halbes Dutzend Blocks zurückfahren, um durch den MidtownTunnel nach Queens und in der Folge nach Brooklyn zu gelangen. Dann aber dachte er daran, wie mühsam es doch sein würde, in wenigen Stunden wieder aus seinem eigenen Bett zu kriechen und abermals nach Manhattan fahren zu müssen. Warum nicht ein Hotel aufsuchen? Am imposanten Gebäude der Vereinten Nationen vorbei, steuerte er die First Avenue hinauf, die Sonnabend morgen um fünf Uhr dreißig nahezu verlassen dalag. Er bog nach links in die 49th Street ein und stoppte, durch Rotlicht an der Weiterfahrt gehindert, dreihundert Meter weiter an der Ecke Lexington Avenue vor dem Waldorf Astoria. Und warum nicht das Waldorf? Würde ihm die Stadtverwaltung diese einmalige kleine Vergünstigung mißgönnen? So oder so, zum Teufel mit der Stadt. Er kannte im Waldorf einige Hausdetektive. Ob der Kriminalbeamte Eddie Egan, als er gegen drei Viertel sechs Uhr morgens, Sonnabend, den 13. Januar, im Waldorf Astoria in ein weiches, duftigfrisches Bett fiel, sofort hellwach gewesen wäre, hätte er über die Identität des eleganten Hotelgastes Bescheid gewußt, der einige Geschosse über ihm in unruhigem Schlaf lag - darüber läßt sich streiten. Egan hatte noch nie etwas von dem französischen Fernsehstar Jacques Angelvin gehört. Doch vier Tage später sollten sie zusammentreffen, und diese Begegnung würde die Verzweiflung des New-Yorker Rauschgiftdezernats in eitel Sonnenschein verwandeln. Egan erwachte nach knapp vier Stunden und konnte keinen Schlaf mehr finden. Nach seiner Armbanduhr auf dem Nachtkästchen war es neun Uhr vierzig. Langsam stemmte er -153-
sich hoch. Verdrießlich auf den grünen Teppich starrend, blieb er in seiner Unterwäsche am Bettrand sitzen. Er langte nach dem Telephon und rief die Zentrale an. Er erfuhr, daß sich an der Überwachung Jehans im Edison nichts geändert hatte. Die Franzmänner zwei und drei waren immer noch nicht in ihre Hotels zurückgekehrt, und was Patsy betraf, hatte er die Henry Street Nummer 137 endlich gegen sieben Uhr früh verlassen, um in sein Haus in Brooklyn zurückzukehren. Sonny Grosso und Frank Waters waren ebenfalls heimgegangen und wollten sich später melden. Was nun? Egan ging ins Badezimmer, trank ein Glas Wasser und beschloß, sich unter die Brause zu stellen. Wir können nichts anderes tun, als uns an Franzmann eins zu heften. Über kurz oder lang müssen sie mit ihm Verbindung aufnehmen. Er nahm den Rasierapparat aus dem Necessaire, das er aus dem Wagen mitgebracht hatte, rasierte sich, schlüpfte in sein schon etwas schmuddeliges Hemd und in den leicht zerknitterten Anzug und verließ das Waldorf, ohne sich zu verabschieden. Er steuerte den Wagen durch die 49th Street zu einem Parkplatz an der Seventh Avenue und trank in einem Drugstore Orangensaft und Kaffee. Dann lenkte er seine Schritte zum Hotel Edison. Wie immer an Sonnabenden um halb zwei Uhr mittags, lag das Theaterviertel ruhig und verlassen da, als Egan sich dem Haupteingang des Edison in der 47th Street näherte. Auf keiner der beiden Straßenseiten war ein vertrautes Gesicht zu erblicken. Egan stand gerade vor der Drehtür, als ein Mann von innen her zu stoßen begann. Egan trat in den gleitenden gläsernen Kreisel, schob sich bereits in die Halle, als er erstarrte. Der Mann, der sich eben an ihm vorbeigedreht hatte, ein älterer, schwarz gekleideter Herr von elegantem Aussehen, war Jehan. Jehan? Die Nerven mit einem Schlag zum Zerreißen gespannt, sah Egan sich schnell in der Halle um: ein paar alte Leute, die Zeitung lasen oder in die Luft schauten, zwei Frauen stiegen in den Aufzug, und zwei Hoteldiener plauderten vor der leeren -154-
Rezeption. Heilige Mutter Gottes! Der Schweinehund spazierte einfach bei der Tür hinaus, und zwanzig Greifer trieben sich da irgendwo herum, und keiner kümmerte sich um den Ausreißer! Egan wirbelte herum und durch die Drehtür: Jehan hatte schon beinahe den Broadway erreicht. Verzweifelt suchte Egan die 47th Street nach irgendeinem Polizeibeamten ab, der bemerkt haben könnte, wie Franzmann eins sich geruhsam von der Bildfläche zurückzog, aber vergeblich. Er holte tief Atem und heftete sich an Jehans Fersen. Der Franzose schien durch die lange Nacht kaum Schaden genommen zu haben. Er ging gemächlich den Broadway hinunter, auf den Times Square zu. Egan ärgerte sich. Es war unverständlich. Wie konnten so viele angebliche Berufspolizisten diesen alten Hund übersehen, der wie eine Giraffe unter einer Schar Kühen hervorstach? Jehan schlenderte anscheinend ziellos über den „Großen weißen Weg“, der tagsüber nur blaß und schmutzig wirkt. Der Fußgängerverkehr war schwach, so daß Egan die großgewachsene grauhaarige Gestalt ohne Schwierigkeiten im Auge behalten konnte. Als Jehan vor einem Schaufenster nahe der 46th Street stehenblieb, benützte Egan, der eben die 47th überquerte, die Gelegenheit, um nochmals nach Unterstützung Ausschau zu halten. Vor dem Edison stiegen ein Herr und eine Dame in ein Taxi, aber er sah immer noch keinen von seinen Leuten - bis er an der gegenüberliegenden Ecke der 47th Street zwei hutlose Männer in offenen Mänteln bemerkte, die an einem Getränkeverkaufsstand lungerten: die Kriminalbeamten Frank Meehan und Roy Cahill. Egan stieß einen scharfen Pfiff aus, und als die zwei Polizeioffiziere aufblickten, deutete er wütend mit dem Daumen in Jehans Richtung. Die Kriminalbeamten kippten überrascht ihre Getränke hinunter und kamen zu Egan herüber. -155-
Auf dem Times Square, bei der 43th Street, steuerte Franzmann eins auf den Eingang der Untergrundbahn zu und stieg die Treppe hinab. Soweit Egan feststellen konnte, hatte sich der Franzose während des ganzen Weges nicht ein einziges Mal umgeschaut und auch sonst keinerlei Anzeichen erkennen lassen, daß er sich beobachtet fühlte. Er ging die Stufen hinunter, als wüßte er genau, was er vorhabe. Freudige Erregung bemächtigte sich Egans: Der Franzmann war zu einem Treff unterwegs. Vielleicht haben wir jetzt einmal Glück! Anderseits, überlegte er, mußte dieser Kerl, der seiner Sache so sicher zu sein schien, doch wissen, daß das Geschäft nicht glatt lief und daß die anderen Franzmänner sich abgesetzt hatten! Und mußte er nicht ahnen, daß er selbst unter Beobachtung stand? Wozu also dieser plötzliche Ausflug in die Untergrundbahn? Jehan lenkte seine Schritte nicht zu den BMT-Zügen, sondern zum Crosstown-Shuttle, jener kurzen U-Bahn-Linie, die zwischen Times Square und Grand Central Terminal pendelt. Vorsichtig folgte ihm Egan durch den hellerleuchteten Gang, der von der Hauptstation zum Bahnsteig der Pendellinie führt. Im Gegensatz zu den leeren Straßen war das unterirdische Verkehrsbauwerk dicht bevölkert. Glotzäugige Touristen bewunderten das langweilige, lärmende, unpersönliche Funktionieren des vielgepriesenen New-Yorker Beförderungsmittels. New Yorker aus den Vororten, viele von Kindern begleitet, absolvierten verdrießlich ihre Wochenendausflüge nach Manhattan. Egan mußte sich durch die Menge zwängen, um Jehan im Auge zu behalten. Die Gleise der Pendellinie waren frei und die beiden Bahnsteige voller Menschen, die auf den nächsten Zug warteten. Egan rechnete für sich ein paar Minuten, die ihm noch blieben, um die Zentrale zu informieren. Mit einer Kopfbewegung mahnte er seine Kollegen, auf Jehan aufzupassen, der gelassen und unbeteiligt dastand - ein Oberkellner auf dem Weg zur Arbeit. Meehan und Cahill begaben sich getrennt an die beiden -156-
Enden des Bahnsteiges, wobei sie keinen Blick von dem langen Franzosen ließen. Egan fand eine Fernsprechzelle, von der aus auch er Jehan beobachten konnte, und wählte die Nummer der Zentrale. „Ich bin hinter Franzmann eins her“, begann er. „Ja, ja“, brummte es ihm entgegen, „das wissen wir. Das Edison ist nach allen Seiten abgeriegelt.“ Der Sprecher war Agent Ben Fitzgerald. „Das Edison? 'nen Dreck habt ihr! Ich habe ihn in der UBahn-Station Times Square. Er will die Pendellinie zum Grand Central nehmen. Hast du Leute dort? Schick sie 'rüber. Was zum Donnerwetter ist denn eigentlich los? Ich komme zufällig dazu, wie er aus dem Hotel herausspaziert. Keine Menschenseele zu sehen. Wenn ich unterwegs nicht zwei Polypen aufgelesen hätte, sähe ich schön aus.“ Der aus zwei Wagen bestehende Zug fuhr klappernd in die Station ein und begann seine menschliche Fracht auszuspucken. „Der Zug ist da, ich muß laufen. Die Leute sollen sich im Grand Central postieren!“ Als Egan zu den Passagieren stieß, die sich durch die Türen quetschten, befand sich Jehan bereits im zweiten Wagen. Meehan und Cahill hatten sich an den beiden Enden placiert. Jehan saß ziemlich in der Mitte, nahe der Tür. Egan wartete, bis alle Fahrgäste drinnen waren, und drängte sich dann als letzter in den nun schon überfüllten Wagen. Sorgsam darauf bedacht, den Franzosen nicht anzusehen, bahnte er sich mit den Schultern einen Weg nach vorne, hakte dann seine mit roten Härchen bewachsenen Finger in einen Haltegriff und studierte die an der Wand angeschlagenen Kleinplakate. Mit seinem geistigen Auge jedoch überschlug er, was geschehen konnte, sobald sie das nur knapp einen Kilometer entfernte Reiseziel, die Grand Central Station, erreicht haben würden. Er wußte, daß sich bereits einige Kriminalbeamte im Bahnhofsgebäude befanden, wo sie ihr besonderes Interesse den Schließfächern zuwandten. Die Franzmänner zwei und drei hatten sich dort gestern vor ihrem Verschwinden -157-
herumgetrieben. Die Möglichkeit, daß die Ware im Grand Central lagerte, war also durchaus nicht auszuschließen. Und nun waren vermutlich schon andere Beamte in ihren Fahrzeugen zum Bahnhof unterwegs, um Egan zu assistieren. Egans Plan bestand darin, als erster den Zug zu verlassen und sich vom Franzmann ein- und überholen zu lassen. Und dann hieß es geschickt sein: Meehan und Cahill mußten die Verbindung mit den anderen Beamten herstellen. Als der Zug schwankend zum Stehen kam, bewegte sich Egan zur vordersten Tür und drängte sich über den vollbesetzten Bahnsteig langsam auf den Gang zu, der von der Pendellinie zur Hauptstation führt. Es vergingen einige Minuten; aus dem Strom der Fahrgäste, die an Egan vorüberhasteten, wurde ein Tröpfeln, doch Jehan erschien nicht. Der Beamte wagte einen Blick zurück. Es kam niemand mehr - weder Jehan noch Meehan oder Cahill! Alle Vorsicht in den Wind schlagend, stürmte Egan zu dem nun wieder besetzten Zug zurück, mit dem er gekommen war. Verbissen durcheilte er beide Wagen und musterte die Fahrgäste. Nichts. Du lieber Himmel! Er trottete durch den Gang zur Hauptstation. Auf keinem der Bahnsteige waren Jehan oder die Kriminalbeamten zu sehen. Wie konnte er sie nur übersehen haben? Er raste die Stufen zur Kassenhalle hinauf. An der Treppe stand Dick Auletta und spähte über eine Zeitung hinweg. Als er Egan erblickte, senkte er nur den Blick und reagierte nicht weiter; offenbar erwartete er ein Zeichen. Doch Egan schritt keuchend geradewegs auf ihn zu. „Hast du Franzmann eins gesehen?“ Auletta warf einen Blick auf Egans gerötetes Gesicht und schüttelte den Kopf. „Was ist passiert?“ „Ich hab' ihn verloren“, ächzte Egan und ließ seine Augen über die Rampen schweifen, die zur 42nd Street hinaufführen. „Ich weiß selbst nicht wie, aber ich hab' ihn verloren... Wollen mal sehen, ob die andern was wissen.“ -158-
Sie eilten durch den Bahnhof und befragten die anderen Polizeioffiziere, die jetzt die verschiedenen Ausgänge bewachten, aber keiner hatte etwas von Jehan oder den beiden Kriminalbeamten Mehan und Cahill gesehen. Egan kam sich wie ein unfähiger Tölpel vor. Zusammen mit Auletta lehnte er sich in der gewaltigen Bahnhofshalle müde gegen den Marmorsims eines geschlossenen Fahrkartenschalters der New York Central. „Was willst du tun?“ fragte Auletta. „Mann, ich weiß es nicht. Wenn er uns entwischt ist, haben wir ausgespielt. Ich ruf mal an. Vielleicht hat jemand eine Spur.“ „Warum schauen wir nicht zuerst ins Roosevelt?“ schlug Auletta vor. „Das war doch bis jetzt ihr Lieblingstreffpunkt.“ „Ja, das ist eine Idee“, stimmte Egan nicht übermäßig begeistert zu. Sie kletterten die Treppe zur Vanderbilt Avenue hinauf und gingen die zwei Blocks zum Hotel hinüber. Es war kaum eine Stunde vergangen, seitdem Egan den Franzosen aus dem Edison kommen gesehen hatte, doch der Nachmittag schien endlos. Nachdem sie um das Roosevelt herumgegangen waren, trennten sich die beiden Beamten; der eine durchsuchte die Halle, der andere die im Erdgeschoß gelegenen Arkaden. Es war alles umsonst. Sie trafen sich vor dem Rough Rider Room des Hotels in der 45th Street, und Egan entschloß sich, in der Zentrale anzurufen. Wenige Minuten später kam er zu Auletta, der an der Theke auf ihn wartete. Sie bestellten zwei Pepsi. Egan schien nachdenklich. „Na und?“ drängte Auletta. Egan nahm einen Schluck, stellte das Glas bedächtig nieder, stützte einen Ellbogen auf die polierte Holztheke und wandte sich seinem Begleiter zu. „Na und?“ wiederholte er leise. „Mr. -159-
Franzmann eins ist wieder auf seinem Zimmer im Hotel Edison.“ In Aulettas Wagen, unterwegs zum Edison, berichtete Egan, was man ihm erzählt hatte. Als er am Times Square in den Untergrundbahnzug gestiegen und, Jehan ganz bewußt keine Beachtung schenkend, nach vorne gegangen war, hatte der Franzose seinen Platz verlassen und sich Sekunden vor der Abfahrt geschickt durch die schon fast geschlossenen Türen gezwängt. Glücklicherweise hatten Meehan und Cahill das plötzliche Manöver bemerkt und ebenfalls noch im letzten Moment aus dem Wagen schlüpfen können. Natürlich hatten sie keine Gelegenheit mehr gehabt, Egan zu avisieren, der nun zum Grand Central fuhr und Pläne wälzte, wie dort die Überwachung am besten durchzuführen sein würde. Unterdessen waren die verdutzten Beamten Jehan auf die Straße und ins Hotel zurück gefolgt, wo er in einen Aufzug stieg, um sich auf sein Zimmer im neunten Stock zu begeben. Nach Jehans Wiederkehr gab es große Aufregung unter dem Dutzend Beamten des Rauschgiftdezernats, die im und rund um das Edison postiert gewesen waren. Wie hatte es dem Franzmann gelingen können, sich so unbemerkt davonzumachen? Die nächste Stunde war ein einziges Durcheinander von weit hergeholten Vermutungen und gegenseitigen Beschuldigungen der New-Yorker Polizei und der Bundesagenten. Kurze Zeit später wurden die im Hotelfoyer stationierten Männer von dem Französisch sprechenden Agenten im Zimmer neben Jehan benachrichtigt, daß Franzmann eins soeben einen Telephonanruf von Franzmann zwei erhalten hatte. Das Abhörgerät, das nicht unmittelbar an das Telephon angeschlossen war, konnte nur Jehans Stimme einfangen. Doch er hatte den Anrufer mit „mon petit Francois“ begrüßt zweifellos der verschwundene Barbier - und dann gesagt: „Ich -160-
glaube, Sie hatten recht. Wir lassen es am besten, wo es ist...“ Diese Mitteilung löste eine neue Runde hitziger Spekulationen aus. Was meinte er mit „Sie hatten recht“? „Das heißt, das wir alles versaut haben, du Blödian!“ „Wer hat was versaut? Ich war nicht hier in der Halle!“ Und während sie sich gegenseitig zornig und verbittert mit Vorwürfen überschütteten, legte Jean Jehan seinen schwarzen Mantel an, setzte sich den Hut auf, griff nach seinem Stöckchen und begab sich auf einen zweiten Spaziergang... Auletta setzte Egan an der Ecke 47th Street und Broadway ab und fuhr weiter. Ohne jeden Schwung war Eddie nun, er versuchte sich selbst neuen Mut einzuflößen, als er sich wieder dem Haupteingang des Edison näherte. Plötzlich kam Jean Jehan aus der Drehtür und ging an ihm vorbei. Egan tat noch zwei volle Schritte, bevor er jäh stehenblieb. Er wirbelte herum, sah und konnte nicht begreifen, daß, so wie schon vor einer Stunde, die gleiche hochgewachsene dunkelätherische Gestalt die Straße hinauf dem Broadway zuschlenderte. Heilige Mutter Gottes - war das ein Traum? Verlor er den Verstand? Kopfschüttelnd warf er einen Blick auf den Hoteleingang, wo nun die Kriminalbeamten Meehan und Cahill vorsichtig die Köpfe heraussteckten. Einer machte eine Geste in Jehans Richtung. Egan nickte und heftete sich, seine beiden Kollegen im Gefolge, an die Fersen von Franzmann eins. Wieder stieg der Franzose bei der 43th Street in die Untergrundbahnstation hinunter. Egan, etwa einen halben Block hinter ihm, konnte das unheimliche Gefühl nicht abschütteln, einen Teil seines Lebens zum zweitenmal zu durchleben. Jetzt aber war nicht die Pendellinie Jehans Ziel, sondern die Hauptlinie der BMT nach der unteren Stadt, deren im zweiten Tiefgeschoß befindlichen Bahnsteig er zustrebte. Egan und die ändern folgten ihm jeder für sich. Jehan nahm auf der Seite Aufstellung, wo die Lokalzüge hielten. Neben ihm warteten nur -161-
eine Handvoll Fahrgäste. Egan folgerte daraus, daß ein Zug eben ausgefahren sein mußte und daß er, in Hinblick auf den eingeschränkten Sonnabendverkehr, einige Minuten Zeit hatte, um die Zentrale zu informieren. Während er sich nach einem Telephon umsah, postierten sich die anderen Kriminalbeamten an den beiden Enden des Bahnsteigs. Die einzige Fernsprechzelle, die zur Verfügung stand und von der aus er Jehan im Auge behalten konnte, befand sich nur knapp vier Meter von diesem entfernt. Egan schluckte, ging anscheinend gelassen an Franzmann eins vorbei und betrat die Zelle. „Schickt alle verfügbaren Wagen auf die Westseite“, wies er die Zentrale an. „Stellt fest, wo die Lokalzüge der BMT halten, und postiert je einen Mann an allen Stationsausgängen bis zur unteren Stadt. Wenn wir mit dem Franzmann bei einer Station nicht aufkreuzen, sollen die Burschen gleich weiterfahren, immer ein paar Stationen voraus. Wir bleiben ihm auf den Fersen. Kapiert? Moment. Ein Zug fährt ein. Mal sehen, was er jetzt tut. Vielleicht muß ich gleich Schluß machen...“ Der graugrüne Untergrundbahnzug kam klappernd und kreischend zum Stehen. Rasselnd öffneten sich die Türen, Fahrgäste stiegen aus und die auf dem Bahnsteig Wartenden ein; alle außer Jehan, der, die Hände lässig um den Knauf seines Spazierstocks gelegt, ruhig stehen blieb. Als sich die Türen wieder schlössen und der Zug aus der Halle rollte, blieben nur Jehan und je ein Mann an den beiden Enden des Bahnsteigs übrig. ,,Er ist nicht eingestiegen“, sagte Egan ins Telephon. „Bleib am Apparat. Ich will nicht draußen herumstehen.“ Ein zweiter Zug fuhr ein und ohne Jehan wieder ab. Egan in seiner Zelle begann nervös zu werden. „Mir gefällt das nicht“, sagte er. „Er wartet auf etwas oder auf jemanden... Mensch, vielleicht will er hier telephonieren.“ Er schob die gläserne Falttür auf und rief mit erhobener Stimme in die Muschel: „Ich habe schon in vielen Lokalen gearbeitet, als Barmann, als -162-
Kellner, sogar als Rausschmeißer. Sie sollen mir ja nur eine Chance geben, Ihnen zu zeigen, was ich kann. Soll ich heute hinkommen? Ich hab's Ihnen ja schon gesagt, ich brauche die Arbeit!“ Er hoffte, daß seine Stimme das ständige Poltern der UBahn übertönte und daß sein Gesichtsausdruck die Sorge eines Menschen widerspiegelte, der um seinen Lebensunterhalt kämpfte. Unterdessen waren wieder zahlreiche Fahrgäste auf den Bahnsteig gekommen, darunter auch eine Frau in einem grünen Mantel und einem gelben Kopftuch, die sich just vor der Telephonzelle aufpflanzte. Jehan kam auf sie zu, lüftete höflich seinen Homburg und sprach sie an. Vermutlich ersuchte er sie um eine Auskunft, überlegte Egan, denn die Frau nickte, Jehan machte eine leichte Verbeugung, schickte sich an, auf den nächsten Zug zu warten. Egan warf der Frau im grünen Mantel einen prüfenden Blick zu, kam aber dann zu der Überzeugung, daß es sich um eine harmlose Passantin handelte. Wieder fuhr klappernd ein Lokalzug ein, und Franzmann eins schien sich heranschieben zu wollen. „Jetzt funkt's, glaube ich“, murmelte Egan ins Telephon. Der Franzose stieg ein. „Bis später“, verabschiedete sich Egan und knallte den Hörer auf die Gabel. Er verließ die Zelle und hastete in denselben Wagen wie Jehan. Meehan und Cahill stiegen an den beiden Zugsenden ein. Jehan saß in der vorderen Ecke und betrachtete ernsthaft die Reklamen. Außer Egan befanden sich nur fünf oder sechs Fahrgäste im Wagen. Der Zug fuhr in die nächste Station, 33th Street, ein. Jehan erhob sich lässig und blieb vor der Übersichtskarte des Untergrundbahnnetzes neben der Tür stehen. Egan lächelte grimmig in sich hinein. Das stellt er ja fein an, die Türen werden sich öffnen, er wird bis zur letzten Sekunde warten und, hast du's nicht gesehen, aus dem Zug springen - und ich soll wohl wie ein blöder Heini hier sitzen bleiben. Er hoffte nur, daß die anderen Beamten merkten, was sich vorbereitete. Die Türen gingen auf. Ein Mann stieg ein, an Jehan vorbei, -163-
der sich nicht rührte. Eine unendliche Sekunde lang geschah nichts. Dann begannen die Türen sich zischend zu schließen. Jehan schob seinen Spazierstock zwischen die Gummieinfassung; die Türen öffneten sich von neuem. Jehan schlüpfte schnell hinaus. Egan sprang quer über den Mittelgang und zu einer ändern Tür hinaus, gerade als diese sich wieder schlossen. Egan mußte lachen. Aber nicht lange. Wo war Jehan? Er war nirgends zu sehen. Auch Meehan und Cahill war der Absprung gelungen, und nun kamen sie auf Egan zu. Der Zug fuhr an. Die drei waren allein. Und dann erschien eine vertraute Gestalt an einem der Fenster des Wagens, den „Giant“, wie man glauben sollte, eben verlassen hatte. Franzmann eins beugte sich leicht vor, lächelte die Polizeibeamten an und winkte ihnen mit einer behandschuhten Hand freundlich zu. Sekunden später war der Zug im dunklen Schlauch des Tunnels verschwunden, und Jean Jehan mit ihm.
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11 Bei Einbruch der Nacht an jenem Sonnabend, dem 13. Januar, nahm man allgemein an, daß Jean Jehan nicht ins Hotel Edison zurückkehren würde. Francois Barbier und J. Mouren blieben verschollen. Die in den von den Franzosen nun verlassenen Hotels stationierten Beamten des Rauschgiftdezernats vermuteten, daß die drei sich irgendwo zusammengefunden hatten und vielleicht schon dabei waren, sich ins Ausland abzusetzen. Andere Beamte überwachten immer noch Patsy Fuca, der jedoch den ganzen Sonnabend in seinem Haus in Brooklyn verbracht hatte. Man hatte seine Frau beim Einkaufen überwacht; ihr Vater und Patsys Bruder Tony halfen in der Imbißstube in der Bushwick Avenue aus. Erst gegen sechs Uhr abends, nachdem er sich von seiner beschwerlichen Nachtarbeit ausgeruht hatte, kam Patsy endlich wieder zum Vorschein. Er verließ sein Haus in der 67th Street und bestieg einen grauen Cadillac, Baujahr 1956, Eigentum seines Freundes Nicky Travato. Schon Freitag abend, während Patsy die Polizei nach Art der „Keystone Cops“ mit einer wilden Jagd durch das Stadtzentrum ergötzt hatte, war Travato von Kriminalbeamten dabei beobachtet worden, wie er seinen Cadillac die vier Blocks von seinem Haus in die 67th Street fuhr und ihn dort geparkt zurückließ. Das Geheimnis verdichtete sich noch weiter, als Patsy, der seinen eigenen Oldsmobile und den Buick vor dem Hause stehen hatte, Nickys Cadillac bis zu einer Stelle in der Graham Street fuhr, die nur drei Blocks von seiner Imbißstube entfernt lag. Den Rest des Abends verbrachte er in seinem Laden. Gegen elf Uhr nachts kam Nicky Travato in Patsys blauweißem Olds angefahren. Patsy kam heraus, setzte sich ans Steuer und ließ Tony allein im Geschäft zurück. -165-
Der Kriminalbeamte Jimmy O'Brien und Agent Jack Ripa, die den Laden vom Krankenhaus gegenüber im Fadenkreuz hatten, kletterten in ihren eigenen Wagen und hängten sich an. Patsy bog in die Maujer Street ein und fuhr zur Graham Street hinüber, wo er Nicky bei seinem Cadillac aussteigen ließ. O'Brien und Ripa brauchten nicht lang, um dahinterzukommen, was Patsy und Nick vorhatten. Nachdem er seinen Freund abgesetzt hatte, fuhr Patsy die Graham Street in südlicher Richtung hinunter. Die Kriminalbeamten ließen sich Zeit, denn sie erwarteten, daß Nicky dem Olds nachfahren würde. Doch Nicky schaltete nicht einmal die Scheinwerfer ein. O'Brien entschloß sich dabei Patsy zu folgen, der nun schon einige Blocks weiter um die Ecke bog. Kaum aber waren sie an Nicky vorbei, als hinter ihnen Scheinwerfer aufflammten und ein Wagen aus der geparkten Reihe ausscherte. Die Polizeioffiziere schwenkten um dieselbe Ecke wie Patsy, und Sekunden später tat auch Nickys Caddy das gleiche. „Diese Hundesöhne!“ fluchte O'Brien. „Patsy läßt sich von seinem Freund einen Türken bauen!“ „Das wollen wir ihnen versalzen“, kommentierte Ripa trocken. Sie folgten dem Oldsmobile, bis er in eine Einbahnstraße abbog, fuhren aber dann geradeaus weiter und beobachteten im Rückspiegel, wie Nickys Wagen, nach einigem Zögern, hinter Patsy dieselbe Ecke nahm. O'Brien bremste ab und wendete und blieb nun beiden Wagen auf den Hacken. So folgten sie nun eine Weile dem Cadillac. Die Kolonne bewegte sich nur langsam voran. Immer zwei oder drei Blocks zurückbleibend, hielt Nicky mit dem Olds Schritt. Es gab keinen Zweifel: mit Nickys Hilfe versuchte Patsy festzustellen, ob er tatsächlich unter Beobachtung stand. Daraus ließ sich der Schluß ziehen, daß Patsy entweder Grund zur Annahme hatte, die -166-
Polizei habe Lunte gerochen, oder aber ganz einfach nicht wußte, ob die Polypen ihn beschatteten, und daher seine Fühler ausstrecken wollte, bevor er etwas Entscheidendes unternahm. Vielleicht war der Fall doch noch nicht ganz so im Eimer, wie die immer trübseliger klingenden Stimmen, die über Funk kamen, anzudeuten schienen. Darum fanden die Kriminalbeamten Geschmack daran, sich an dem Spiel zu beteiligen. Von Nicky gefolgt, fuhr Patsy straßauf, straßab durch das Williamsburger Viertel, nach Greenpoint hinüber, nach Osten bis zur Queens Line und schließlich über die Grand zur Bushwick Avenue zurück. Zeitweise blieben O'Brien und Ripa hinter dem Caddy, dann wieder überholten sie ihn und folgten dem Olds. Und immer dann, wenn Nicky bereits Zweifel über den Wagen aufsteigen mochten, der sich zwischen Patsy und ihn geschoben hatte, bogen sie ab und ließen den Caddy vorbei - umkreisten den Block und jagten abermals hinter Patsys „Türken“ her. Mitternacht war schon vorbei, als Patsy und Nick zur Imbißstube zurückkehrten, wo Tony noch auf sie wartete. Die drei unterhielten sich einige Minuten, bestiegen dann ihre Fahrzeuge und fuhren heim: Patsy und Nicky in ihren eigenen Wagen, Tony in seinem alten Chevy Kombi. Auch der 14. Januar, ein Sonntag, brachte keine Wendung für die völlig entmutigten Polizeibeamten. Im Laufe des Vormittags begab sich Patsy in seinen Laden und verblieb dort; kurz nach Mittag gesellte sich seine Frau Barbara zu ihm. Um drei Uhr nachmittags liefen weitere beunruhigende Nachrichten ein, die die zunehmende Hoffnungslosigkeit der Beamten noch vertieften. Das Hotel Edison erhielt einen Anruf von Mister Jean Jehan. Er wünsche, Zimmer 909 aufzugeben, sagte er, und würde den Rechnungsbetrag in ein oder zwei Tagen durch die Post anweisen lassen. Das Hotel möge seinen -167-
Koffer und die Kleider aufbewahren; er würde in Kürze bekanntgeben, wohin das Gepäck nachzusenden sei. Die Telephonistin konnte nicht angeben, woher der Anruf gekommen war, doch der zweite Geschäftsführer, der mit dem Franzosen gesprochen hatte, glaubte gehört zu haben, daß die Vermittlung das Gespräch nach einer Zeit unterbrach. Dies wäre ein Hinweis darauf gewesen, daß Jehan von außerhalb der Stadt angerufen hatte. Kriminalbeamte durchsuchten nun Zimmer 909 - wovon sie bisher abgesehen hatten, weil Franzmann eins ja doch hätte zurückkommen können -, fanden aber nichts außer einem Koffer und einer Aktenmappe mit Toilettegegenständen und solchen des persönlichen Bedarfs. Enttäuscht zogen sie sich zurück. Kaum hatten sie die Zentrale davon in Kenntnis gesetzt, als, wie auf ein Stichwort, das Victoria und das Abbey hintereinander berichteten, sie hätten telegraphische Geldüberweisungen erhalten - das Victoria von Frangois Barbier, das Abbey von J. Mouren -, die genau den Beträgen entsprachen, die die beiden Franzosen für ihre Zimmer schuldeten. Beide hatten ersucht, ihr Gepäck bis auf weiteres aufzubewahren. Die beiden Überweisungen kamen aus Yonkers, einer kleinen, unmittelbar nördlich von New York gelegenen Stadt. Die dortige Polizei wurde in Trab gesetzt, konnte jedoch nur feststellen, daß ein möglicherweise mit ausländischem Akzent sprechender Herr beide Überweisungen bezahlt hatte. Wohin er nach dem Verlassen des Telegraphenbüros verschwunden war, ließ sich nicht eruieren. Unterdessen untersuchten die Kriminalbeamten das Gepäck, das die Franzmänner zwei und drei zurückgelassen hatten - mit demselben negativen Resultat. Die Abhörgeräte für Patsys Telephonanschlüsse waren die ganze Zeit über in Tätigkeit geblieben, hatten jedoch kaum nutzbringende Hinweise geliefert. Die Bänder wurden zwar täglich mehrmals abgespielt, enthielten aber zumeist Gespräche, -168-
die nichts mit dem Fall zu tun hatten, oder bestanden aus einsilbigen, unverständlichen Dialogen. An jenem Sonntagabend jedoch, da die Franzosen von der Szene abgetreten waren, ergab sich ein interessanter Meinungsaustausch. Der Anruf erfolgte über eines der Telephone in Patsys Laden, und der Anrufer war ohne Frage der „Giant“. Dieser Gentleman zeigte sich über das übermäßige Interesse der Polizei an Patsys Unternehmungen höchst besorgt. Nervös bemühte sich Patsy, die Befürchtungen des Franzosen zu zerstreuen. Wenn die Polizei wirklich Lunte gerochen hätte, würde sein Onkel, Angelo Tuminaro, das stand für Patsy fest, keinen Augenblick zögern, ihn aus dieser Transaktion und dem ganzen „Familiengeschäft“ auszuschalten und ihm nahezulegen, sich einen anderen Job zu suchen - zum Beispiel Untergrundbahnhöfe ausfegen. Franzmann eins hielt es dennoch für klüger, die weiteren Verhandlungen zurückzustellen. Patsys Habgier, dazu noch die Angst, seine nun noch aussichtsreichere und verheißungsvollere Position im Rauschgifthandel zu gefährden, ließen ihn nun den Entschluß fassen, der letzten Endes maßgeblich dazu beitrug, Tuminaros Geschäft und das internationale Syndikat, das ihn belieferte, aufzudecken. Aufgeregt erklärte er Jehan, die Kripo interessiere sich nur für gewisse Paperbacks, die er verkaufe und die man für pornographisch hielt. Zunächst wollte der Franzose nicht glauben, daß die Polizei nichts Besseres zu tun habe, als Verkäufern von Schundliteratur nachzuspüren. Dieses Buch aber, beeilte sich Patsy zu erwidern, sei sogar ihm widerwärtig. Es hieße Candy. Irgendwie gelang es ihm, den französischen Rauschgiftkönig zu überzeugen, und Jean Jehan erklärte sich bereit, die Verhandlungen mit dem jugendlichen Manager von Tuminaros Rauschgiftring wiederaufzunehmen. Am Morgen des 15. Januar, einem Montag, fand im Hauptquartier des Rauschgiftdezernats im Haus des Ersten -169-
Reviers eine Beratung statt. Die Kriminalbeamten und Bundesagenten, die sich in Leutnant Vinnie Hawkes' Büro versammelten, waren im wesentlichen dieselben, die sich vor fünf Tagen dort zusammengesetzt hatten, um einen Schlachtplan auszuarbeiten, der Patsy Fuca und Genossen vernichten sollte. Verbissen, doch in besonnener Ruhe debattierten sie über die Mittel und Wege, die ihnen offenstanden, um die langwierige Untersuchung doch noch zu einem gedeihlichen Ende zu bringen. Daß Patsy jetzt eine Schlüsselfigur im Rauschgifthandel darstellte, stand außer Frage. Daß Patsy knapp daran gewesen war, mit seinen französischen Besuchern ein größeres Geschäft abzuschließen, ließ ebenso keine Zweifel zu. Die Kernfrage war, ob die abrupte Abreise der Franzmänner bedeutete, daß die Transaktion tatsächlich durchgeführt, der Stoff geliefert und zum Teil bezahlt worden war. Vielleicht hatten sie kalte Füße bekommen, bevor der Austausch Ware gegen Geld noch vollzogen worden war. Die einzig mögliche Alternative dazu war, daß die polizeiliche Überwachung sie wohl beunruhigt, aber noch nicht veranlaßt hatte, ihre Pläne aufzugeben, und daß sie nun neuerlich Anstalten treffen würden, das geschmuggelte Heroin in Mafiagelder umzusetzen. Zog man die erste Möglichkeit in Erwägung, daß nämlich Patsy die Ware bereits übernommen hatte, würde dies bedeuten, daß den Lieferanten, den Franzosen, bereits ein Teilbetrag ausbezahlt worden war. Die Polizei wußte, daß der Modus operandi im Rauschgifthandel einer Pyramide ähnelte. Den „Verbindungen“, denen Patsy den Stoff verkaufte, wurde ein der augenblicklichen Marktlage entsprechender Kilopreis berechnet. Noch vor der Lieferung entrichteten sie „Erstgeld“ an Patsy, eine Anzahlung auf den Gesamtbetrag, der nach sicherer Übergabe und Überprüfung von Quantität und Qualität fällig wurde. Nach den ein oder zwei Tagen, die diese Großhändler benötigten, um die Ware zu aufgeschlagenen Preisen an ihre -170-
eigenen Kunden auszuliefern, brachten sie Patsy den restlichen „Draht“. Und so ging es weiter bis zum letzten Straßenhausierer, der seine „Groschensäckchen“, das Stück zu fünf Dollar, hochgradig verdünnten Heroins an den Mann brachte. An der Spitze der Pyramide, wo die großen Beträge ihre Besitzer wechselten, verfuhr Patsy unterdessen mit seinen Lieferanten in gleicher Manier. Sobald sie die Ware bereit hatten, mußte Patsy eine Anzahlung leisten; war das Zeug in die Hände seiner Vorzugskunden gelangt - nie mehr als fünf oder sechs Großunternehmer -, berappte er den Rest. Beim gegenwärtigen Kurs würde der von Patsy zu zahlende Großhandelspreis für eine so gewaltige Menge - fünfzig Kilo, wie gerüchtweise verlautete - etwa eine halbe Million Dollar betragen haben. Patsy hätte damit rechnen müssen, an die 250.000, ja vielleicht sogar 300.000 Dollar auf den Tisch zu legen. Hatten sie ihre illegale Fracht einmal abgeladen, pflegten die Lieferanten üblicherweise erleichtert aufzuatmen und in Ruhe auf den Rest des Geldes zu warten. War der Empfänger ein besonders guter und vertrauenswürdiger Kunde, mochten sie sich wohl auch entschließen heimzufahren, überzeugt, daß die ausstehenden Beträge fristgerecht eingehen würden. Gab es aber Unstimmigkeiten - und in diesem Fall hatte es sie gegeben, mutmaßte die Polizei -, würden sich die Franzosen kaum entschließen, die Heimreise anzutreten, ohne den vollen Betrag von Patsy erhalten zu haben. Die Polizei bezog auch die vor kurzem aufgekommenen Gerüchte in ihre Erwägungen mit ein, wonach Patsy Geldsorgen hatte und gewisse „Verbindungen“ mit der Qualität seiner letzten Lieferung unzufrieden gewesen waren. Frank Waters hatte eine Idee, wo man nach dem Stoff suchen könnte. Der Gedanke klang immer noch recht weit hergeholt, stützte sich aber wenigstens auf handfestere Unterlagen, als man dies von anderen Theorien behaupten konnte. „Seit November“, meinte der Agent, „geht mir der kanadische Wagen im Kopf -171-
herum, den Patsy in die Cherry Street fuhr und den wir dann untersuchten. Ihr werdet euch noch erinnern: es stellte sich dann heraus, daß er diesem Maurice in Montreal gehörte - seines Zeichens auch ein großer Händler. Und dann verschwand der Wagen. Ich war damals sicher - wir alle waren es, glaube ich -, daß dieser Buick irgend etwas mit dem Transport aus Kanada zu tun hatte. Ich weiß, wir haben ihn durchsucht und nichts gefunden. Aber wir hatten ja in jener Nacht keine Gelegenheit, ihn richtig auseinanderzunehmen. Und was geschah dann? Wenige Tage später war die Panik vorbei, und es gab Stoff in Hülle und Fülle. Inzwischen sind zwei Monate vergangen, und es ist ein offenes Geheimnis, daß eine neue Ladung erwartet wird. Die Leute bringen unserem Freund Patsy ihre Mäuse; und genau zur selben Zeit trifft eine Blase von Franzosen in der Stadt ein. Und woher kommen sie, oder zumindest zwei von ihnen? Aus Montreal in Kanada.“ „Du meinst also, daß auch diesmal ein kanadischer Wagen der Schlüssel zu dem Geschäft sein könnte?“ fragte Ben Fitzgerald. „Es ist ein Gedanke.“ Waters zuckte die Achseln. „Vielleicht ist es sogar derselbe Wagen. Was war's doch gleich, so ein heller Buick?“ „Ein beigefarbener Buick, neunzehnhundertsechziger, ein Invicta“, antwortete Eddie Egan. „Aber ich sehe die Dinge anders. Meinem Gefühl nach wird der Stoff im Haus von Patsys Altem Herrn in Brooklyn auftauchen.“ „Und wo sollen wir diesen geheimnisvollen Wagen aufspüren?“ erkundigte sich Vinnie Hawkes und unterbrach damit das Schweigen, das auf Egans Überlegung gefolgt war. „Ich weiß es nicht“, erwiderte Waters. „In Garagen, auf den Straßen. Ich würde mich zunächst in der Gegend Cherry Street South Street umsehen.“ „Mann, da brauchen wir ja bis 1970“, entgegnete Egan. -172-
„Schon möglich“, sagte Waters und sah ihn böse an, „aber was zum Teufel sollen wir denn sonst tun? Wir sitzen herum und drehen die Daumen - seitdem uns der letzte Franzmann ausgekommen ist.“ Egans rötliches Gesicht wurde um eine Spur blässer, ein sicheres Anzeichen dafür, daß er in Zorn geriet. „Mir ist nur einer entwischt“, versetzte er übertrieben höflich. „Schon gut, schon gut, hört auf mit dem Quatsch“, mischte Leutnant Hawkes sich ein. „Wir haben uns alle nicht mit Ruhm bekleckert.“ „Was meinst du, Vinnie?“ warf Ben Fitzgerald ein. „Ob es wohl dafürsteht, eine Fahndung nach diesem Wagentyp zu starten? Ich weiß, die Chancen sind minimal, aber...“ „Nun, damit gehen wir bestimmt kein Risiko ein. Wer weiß, was dabei herauskommt?“ All Points Bulletin - Buick kritzelte Hawkes auf seinen Block. „Was noch?“ „Ich möchte einen Vorschlag machen.“ Sonny Grosso beugte sich vor. „Da wir im Moment nichts anderes tun können, als warten, bis sich etwas rührt - und“, er warf Egan einen Blick zu, „während wir uns auf die Suche nach dem kanadischen Buick machen, nun, ich meine, wir sollten Patsys Überwachung ein wenig lockern. Wenn wir seine Freunde tatsächlich damit verscheucht haben, daß zweihundert Bullen durch die Gegend jagten, wird Patsy jetzt doppelt vorsichtig sein. Mit einer leichten Beschattung Patsys kommen wir vielleicht besser voran. Wir können ihn ja unter Kontrolle halten. In ein paar Tagen fühlt er sich vielleicht sorgloser und kommt in Bewegung.“ „Sind alle einverstanden?“ fragte Hawkes und blickte in die Runde. „Okay. Sonny, du und Glotzauge und Frank, ihr arbeitet die Einteilung aus.“ „Und ich sage euch, wir finden das Zeug bei Joe Fuca“, brummte Egan. -173-
Chefinspektor Carey und Direktor Gaffney vom Bundesrauschgiftdezernat, die zuvor in Careys Büro ihre eigene kleine Konferenz abgehalten hatten, kamen herüber, um sich von Hawkes über die Ergebnisse der Besprechungen berichten zu lassen. Carey hörte aufmerksam zu und tauschte häufig Blicke mit Gaffney, der mit Kopfnicken sein Einverständnis bekundete. Als Hawkes zu Ende war, schritt Carey nachdenklich auf und ab. Er erklärte sich bereit, die Untersuchung noch ein paar Tage in beschränktem Ausmaß weiterlaufen zu lassen. Mit ernstem Gesicht wies er dann darauf hin, daß es Montag, der fünfzehnte war. Freitag, den neunzehnten, null Uhr, würden die Haussuchungsbefehle für alle unter Polizeiaufsicht stehenden Örtlichkeiten ablaufen. Er erinnerte die Männer daran, daß sie bereits zweimal auf je zehn Tage verlängert worden waren. Sollte sich bis Donnerstag nacht keine entscheidende Entwicklung angebahnt haben - Carey sprach mit Nachdruck -, würden er und Gaffney die Operation abbrechen müssen. Es blieben ihnen also noch vier Tage, um die Nuß zu knacken. Betroffen sahen die Kriminalbeamten und Bundesagenten Carey und Gaffney wieder ins Büro des Chefinspektors verschwinden. Als Sonny, Eddie und Frank Waters später über die Aufteilung der Arbeit zwischen den örtlichen und den Bundesbeamten sprachen und darüber, wie sie in diesen vier Tagen, die ihnen noch blieben, um Patsys Transaktion zu zerschlagen, einzusetzen wären, verspürte Sonny mit Unbehagen einen feindseligen Unterton zwischen seinem Partner und Agent Waters, mit dem er fast ebensooft und ebensogut zusammenarbeitete wie Eddie. An jenem Nachmittag teilte Sonny sich selbst die Aufgabe zu, Patsy in Brooklyn „leicht“ zu überwachen. Egan besuchte und koordinierte die immer noch in den von den Franzosen -174-
inzwischen verlassenen Hotels stationierten Polizeioffiziere. Waters und der Kriminalbeamte Dick Auletta suchten unterdessen die Straßen im unteren Teil Manhattans ab, wo sie vor zwei Monaten mit Patsy und dem kanadischen Buick Verstecken gespielt hatten. Und gegen vier Uhr machten sie dort eine interessante Entdeckung. In einer kleinen, aus Holz errichteten Garage einer Reparaturwerkstätte in der South Street, nur wenige Meter von der Jefferson Street entfernt, stand Tony Fucas alter Chevrolet-Kombiwagen. Das ganze Dezernat hatte sich damals den Kopf darüber zerbrochen, was mit dem kanadischen Wagen in der kurzen Zeit geschehen war, da man ihn unbewacht gelassen hatte. Auf der anderen Seite der South Street, genau gegenüber der Stelle, von wo der Wagen verschwunden war, lagen die Ladeplätze der Mexican Line, wo Tony häufig arbeitete. Tony konnte es gewesen sein, der den Buick weggebracht hatte! In jener Nacht war es zweifelsohne Patsys Aufgabe gewesen, die Limousine abzuholen und zu überprüfen, ob man sie ordnungsgemäß be- und entladen hatte. Ganz gewiß aber wollte er nicht riskieren, wegen unbefugter Inbetriebnahme verhaftet zu werden; dazu war das Faktotum Tony der rechte Mann. Tony mußte in dieser nur eineinhalb Blocks entfernten Garage gewartet haben, als die Kriminalbeamten Patsy verfolgt und den Buick gefunden hatten. Waters und Auletta nahmen nun auch an, daß Grosso und Egan nur wenige Meter von Tony entfernt durch eben diese Tankstelle durchgefahren waren, nachdem Patsy und die zwei Frauen sich in seinem anderen Wagen dünnegemacht hatten. Der kleine Gauner mußte stundenlang in der Garage ausgeharrt haben, bis er die zwei Polizeiwagen kurz vor Morgengrauen abfahren gesehen hatte. Waghalsig darauf bauend, daß kein Aufpasser zurückgeblieben war, hatte Tony sein Versteck verlassen und sich mit dem Buick davongemacht. Das war in den wenigen Minuten geschehen, die Waters benötigt hatte, um einen anderen Agenten zu schicken. -175-
Die Polizeioffiziere kamen zu der Überzeugung, daß Patsys Bruder größere Aufmerksamkeit verdiente, als ihm bisher zuteil geworden war, und blieben bei der alten Garage mit Tonys Chevy sitzen. Patsy verbrachte den größten Teil des Montags in seinem Laden in Brooklyn. Der Kriminalbeamte Jimmy O'Brien besorgte allein die Überwachung; Sonny Grosso und der Agent Jack Ripa trafen erst am Nachmittag zu seiner Unterstützung ein. Über Patsys Absichten völlig im dunkeln tappend, warteten sie. Hin und wieder ging einer auf einen Happen oder um in den Zeitschriften zu blättern in die Imbißstube hinüber, doch keiner von ihnen erhielt irgendwelche Hinweise darauf, was der Verdächtigte vorhatte oder was in seinem Kopf vorging. Patsy schien die Ruhe selbst zu sein. Kurz nach halb zehn Uhr abends fuhr Nicky Travato in seinem alten Cadillac vor und parkte vor dem Geschäft. Minuten später kam Patsy heraus, stieg in den Caddy und fuhr in Richtung zur Williamsburg-Brücke davon. Während O'Brien zurückblieb, nahmen Ripa und Sonny, von neuer Hoffnung beflügelt, die Verfolgung auf: dies war das erstemal seit drei Tagen, daß Patsy Anstalten traf, Brooklyn zu verlassen. In angemessener Entfernung folgten sie ihm nach Manhattan, von der Brücke herunter und über die East-River-Schnellstraße in die obere Stadt. Sie sahen ihn die Ausfahrt bei der 61th Street nehmen und die York Avenue hinauffahren. Sie verloren ihn für kurze Zeit aus den Augen, entdeckten aber dann den grauen Cadillac wieder, als er nördlich der 77th Street in der York Avenue in eine Parklücke hineingeschoben wurde. In der Zeit, die sie benötigten, um sich unauffällig näher heranzupirschen, verschwand Patsy selbst von der Bildfläche. Sonny und Ripa fuhren die York Avenue ein paar Blocks weiter, durchsuchten auch einige Querstraßen, konnten Patsy aber nicht finden. Sie kehrten zurück, um den Caddy im Auge zu behalten. -176-
Gegen halb elf kam Patsy wieder die York Avenue herunter, setzte sich in den Caddy, wendete und fuhr über die 62nli Street abermals in die Schnellstraße ein. Wo hatte er diese halbe Stunde gesteckt? Während Sonny und Ripa Patsy in südlicher Richtung über den East River Drive folgten, überquerten Frank Waters und Dick Auletta hinter dem von Tony Fuca gesteuerten neunzehnhundertneunundvierziger Chevy-Kombiwagen die Manhattan-Brücke. Mit einer Geduld, die ihnen selbst beachtlich schien, hatten sie an die sechseinhalb Stunden gewartet. Dann war Tony aus dem nächtlichen Dunkel bei der kleinen Garage an der Ecke der jetzt verlassen daliegenden Tankstelle aufgetaucht und mit seinem Wagen schwungvoll und geradewegs auf die Brücke zugefahren. Für Tony, der mit seiner Frau und zwei Kindern in der Bronx wohnte, war dies eine ungewöhnliche Stunde für einen Ausflug nach Brooklyn, meinte Waters; doch schienen ungewöhnliche Dinge in diesem Fall an der Tagesordnung zu sein. Von der Brücke ab schwenkte Tony in nördlicher Richtung auf die Brooklyn-Queens-Schnellstraße ein und traf kurz vor elf in Williamsburg bei der Imbißstube seines Bruders ein. Nicky befand sich allein im Laden. Waters und Auletta stellten ihren Wagen auf dem Parkplatz des St.-Catherine-Hospitals ab, wo, wie sie über Funk erfahren hatten, Jimmy O'Brien und seit einer Weile auch Eddie Egan postiert waren. Knapp zehn Minuten später kam Patsy in Nickys Cadillac vorgefahren, dem alsbald Sonny Grosso und Jack Ripa in Sonnys weißem Olds folgten. Während die drei Männer im Laden plauderten, machten sich die sechs Polizeioffiziere gegenseitig mit den jüngsten Entwicklungen vertraut. Gegen zwölf schloß Patsy den Laden ab. Er und Nicky setzten sich in den Cadillac, Egan und O'Brien beschlossen, sich ihnen an die Schürze zu hängen. Waters beteiligte sich diesmal nicht; -177-
er interessierte sich mehr für Tony Fuca. Es war ihm aufgefallen, daß Patsys Bruder beim Verlassen der Imbißstube ein kleines Päckchen in die Schlitztasche seines Lumberjacks geschoben hatte. Als Tony den Chevy wendete und auf die Williamsburg-Brücke zuhielt, folgten ihm Waters und Sonny. Tony ließ die Brücke links liegen, schwenkte in die Schnellstraße ein, auf der er bis zur Triborough-Brücke verblieb, um dann über diese Abkürzung in die Bronx zu gelangen. Die Beamten folgten ihm über den Bruckner Boulevard, bis er in die Westchester Avenue einbog. Auf der Höhe des Southern Boulevard stellte er den Wagen auf einem kleinen, unverbauten Grundstück ab, stieg aus und ging, die Jackentasche immer noch prall gefüllt, auf ein hellerleuchtetes Bumslokal zu. Als Grosso und Waters an der Kneipe, die sich Dave's nannte, vorbeifuhren, sahen sie durch das Spiegelglasfenster, wie Tony durch eine Tür in ein Hinterzimmer verschwand. Also lieferte Tony selbst jetzt Stoff aus! Und während Grosso und Waters Tony später zu seiner nicht weit entfernten Wohnung in der Bryant Avenue folgten, wurde um ein Uhr zwanzig früh ein gepflegter schwarzer neunzehnhundertsechziger Buick Invicta in die Garage des Waldorf Astoria in die 50tb Street an der Park Avenue zurückgebracht. Ein todmüder Jacques Angelvin begab sich zum Aufzug. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, weil er, gegen Francois Scaglias ausdrückliche Anweisungen verstoßend, einen halben Tag in New York herumgefahren war - in dem neuen Wagen, den er heißer liebte als jede Angebetete, die er je in seinen Armen gehalten hatte.
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12 Das ihm von Scaglia und Jehan auferlegte Verbot, seinen Buick aus der Hotelgarage zu entfernen, verdroß Jacques Angelvin schon seit seiner Ankunft in New York. Wie sollte er „wie ein richtiger Amerikaner“ einen Überblick über die große Stadt gewinnen, wie er es seinem großen Fernsehpublikum vor seiner Abreise aus Paris versprochen hatte, wenn er sich nicht frei bewegen konnte? Die Taxis waren hierzulande recht teuer. Die Stadt zu Fuß zu durchwandern - das war kaum comme il faut. Er wußte, was sich im Auto befand, war aber sicher, daß der Inhalt unmöglich entdeckt werden konnte. Würde der große Ed Sullivan wie ein Tourist durch Paris trampen? Warum hatten Francois und seine Freunde die Transaktion nicht planmäßig durchgeführt? An jenem Abend hatte Jacques die ersten fünf Tage seines Besuches vor seinem geistigen Auge Revue passieren lassen. Er war in seinen Erwartungen arg enttäuscht worden. Nur wenige Stunden nachdem die Bordromanze zu beider Befriedigung am Morgen ihre letzte Erfüllung gefunden hatte, war Arlette, das kleine Mädchen vom Schiff, Donnerstag nachmittag nach Chicago weitergereist. Um Scaglia zu treffen, hatte er sich mittags von ihr verabschieden müssen. Dies hatte nicht gerade zur Hebung seiner Stimmung beigetragen, während er auf dem Weg zur Bar des Taft-Hotels mißmutig quer durch die Stadt stapfte. Scaglia erwartete ihn dort, und gemeinsam begaben sie sich in ein kleines französisches Restaurant, das in einer Seitenstraße des berühmten Broadways lag, von dem er schon so viele leckere Histörchen gehört hatte. Die schamlose Aufdringlichkeit, die den Großen weißen Weg bei Tageslicht kennzeichnete, war nur die erste seiner Enttäuschungen in New York. Die Worte seines Tischgenossen klangen etwas ermutigender -179-
das war wenigstens ein kleiner Trost. Scaglia und seine Geschäftsfreunde hofften, spätestens Sonnabend ihre Geschäfte abgeschlossen zu haben. Jacques wurde ersucht, sich im Waldorf stets zur Verfügung zu halten und bereit, seinen einfachen Auftrag auszuführen: den Buick an einen Ort zu fahren, der ihm noch bekanntgegeben werden würde. Bis dahin aber, wiederholte der Korse nachdrücklich und mit harten Augen, dürfe der Wagen nicht von der Stelle. Ob er nach Abschluß der Transaktion frei über den Buick werde verfügen können, erkundigte sich Jacques in geradezu weinerlichem Ton. Mais certainement, wurde ihm versichert. Während er wartete, war es seine schicke Führerin, die liebliche Lilli DeBecque, die seinen Aufenthalt halbwegs erträglich gestaltete. Donnerstag abend tranken sie Cocktails und dinierten im Cafe de La Paix im Hotel St. Moritz. Trotz der Kälte unternahmen sie einen Spaziergang im Central Park. Dann schlug er einen Abschiedstrunk im Waldorf vor. Sie nippte Brandy mit ihm, doch als er sie abermals auf sein Zimmer einlud, lehnte sie mit Entschiedenheit ab. Freitag besuchte Angelvin Peter Selliers, einen französischen Journalisten, und Paul Crenesse, Chef des New-Yorker Büros der Radio Television Franchise. Sie brachten ihn zur NBC, um ihm die Studios zu zeigen und ihn mit einigen amerikanischen Produzenten bekannt zu machen. Abends ging er wieder mit Lilli aus: Dinner im Plaza und dann ins Maisonette im Hotel St. Regis. Und wieder kehrte Mademoiselle DeBecque allein in ihre Wohnung in der 20th Street zurück, während Angelvin unbegleitet sein Zimmer im Waldorf aufsuchte. Am Sonnabend zeigte Lilli ihm einige Sehenswürdigkeiten New Yorks. Jacques war ernstlich in Versuchung gekommen, die Stadtrundfahrt mit dem herrlichen Buick zu machen, doch hatte Scaglia ihn an jenem Morgen angerufen. Francois -180-
schnarrende Stimme verriet angespannte Dringlichkeit: eine bedauerliche Verzögerung erfordere einen Aufschub ihrer Pläne. Aber der Wagen? Nicht anrühren! Und Scaglia hängte auf. Also benutzten Jacques und Lilli den Bus, die Untergrundbahn und Taxis, um Greenwich Village, das Empire State Building und die Rockefeller Plaza zu besichtigen. Sie fuhren sogar mit dem Bus bis in die obere Stadt, um die GeorgeWashington-Brücke zu sehen. Vom New-Yorker U-Bahn-Netz war Angelvin beeindruckt, und überrascht von der gewaltigen Ausdehnung der Stadt, der es diente. Trotz der bemerkenswert guten Stimmung, in der sie zusammen den Tag verbrachten und abends bei Trader Vic's dinierten, lehnte Lilli es immer noch ab, den Schmeicheleien des französischen TV-Stars Gehör zu schenken. Er schlief schlecht in jener Nacht. Der Buick schien den Kern seiner wachsenden Unzufriedenheit auszumachen. Sonntag schließlich trieb ihn seine Erbitterung dazu, Scaglias Befehle zu mißachten. Er nahm den Aufzug in die Garage, setzte sich in den Wagen, holte Lilli ab und fuhr mit ihr stundenlang durch die Stadt. Schließlich parkten sie auf dem Battery Place und bestiegen ein Fährboot zur Freiheitsstatue. Das erregende Gefühl der Fahrt wirkte sich wohltuend auf seine Laune aus. Jacques hoffte, „le Jazz Hot“ würde vielleicht dazu beitragen, Lilli seinen Wünschen gefügiger zu machen, und führte sie abends in die Basin Street. Doch Lilli fuhr abermals heim, und Jacques schlief abermals schlecht. Während Angelvin sich Montag morgen ankleidete, empfand er den dringenden Wunsch, die ganze scheußliche Angelegenheit möge doch endlich erledigt sein. Er freute sich schon auf den für Dienstag geplanten ganztägigen Ausflug zu den Niagarafällen. Donnerstag abend würde er in Montreal eintreffen, wo französische Lebensart vorherrschte und die Mädchen, wie man ihm erzählt hatte, viel entgegenkommender -181-
waren. Für heute hatte er weitere Besprechungen mit Paul Crenesse und anderen Leuten vorgesehen, die ihm bei seiner Untersuchung des amerikanischen Fernsehens an die Hand gehen würden. Und um sich seine gute Laune zu erhalten, entschloß er sich zu einer zweiten Spazierfahrt durch die Stadt. Er ärgerte sich über die anmaßende Behandlung, die ihm von Scaglia zuteil wurde, und faßte den Entschluß, nach seiner Rückkehr nach Paris den Verkehr mit dem Korsen unbedingt einzustellen. Montag, nach dem Mittagessen, traf er sich mit Lilli im Waldorf. Nervös, doch von freudiger Erregung durchdrungen, führte er sie in die Garage zu seinem kostbaren Buick; zusammen rollten sie durch die Straßen der Stadt. Hin und wieder dachte er an die in der Karosserie des Fahrzeugs versteckte illegale Fracht, doch das Hochgefühl, seinen Wagen in New York spazierenfahren zu können, an seiner Seite die schöne Lilli, die ihm nun aufrichtig zugetan zu sein schien, half ihm, das gefährliche Verbrechen zu vergessen, an dem er beteiligt war, und den ungeschliffenen Scaglia, der darauf ausging, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Sie waren bis neun Uhr unterwegs; dann schlug Lilli vor, in der Tavernonthe-Green zu Abend zu essen. Sie ließen sich das Dinner und den Wein schmecken. Lilli war fröhlich gestimmt und ging aus sich heraus. Angelvin erzählte ihr von seiner für Donnerstag geplanten Reise nach Montreal und sagte, als er einen Schatten der Enttäuschung über ihre Züge huschen sah, er würde Sonntag, den Einundzwanzigsten, wieder in New York sein, um hier noch einige Tage zu verbringen. Es sei ein reizender Nachmittag und ein himmlischer Abend gewesen, versicherte sie ihm. Vor ihrer Wohnung angelangt, küßten sie sich im Wagen. Das erstemal in seinem Leben, dachte er stolz, daß er ein Auto besaß, das geräumig genug war, eine Frau bequem liebkosen zu können. Lilli versprach, ihn im Hotel anzurufen, um ihm gute Nacht zu wünschen, und Jacques -182-
fuhr ins Waldorf zurück. Morgen abend klappt's bestimmt, ging es ihm durch den Kopf. So befand sich Jacques am Dienstag um halb zwei Uhr früh wieder in seinem Appartement im Waldorf. Von seinem kurzen Getändel mit Arlette am vergangenen Donnerstag abgesehen, hatte er in den letzten zwei Wochen ein peinsam dürftiges Geschlechtsleben geführt. Er kam gerade im Pyjama aus dem Badezimmer, als das Telephon klingelte. Lilli, dachte er. Doch während er noch die Hand nach dem Hörer ausstreckte, ahnte er bereits: Francois. Seit Mittag hatte er kaum mehr an Scaglia gedacht. Wußten sie, daß er den Wagen benützt hatte? Die Stimme des Korsen klang schroff. Er rufe schon den ganzen Abend an; wo war Jacques gewesen? Oui, oui, ami, kein Grund zur Sorge, der Wagen steht in der Garage. Er hoffte, seine Worte wirkten überzeugend. Scaglia zögerte, als ob er Zweifel hegte, teilte ihm aber dann mit, die Sache würde morgen beziehungsweise jetzt, heute, über die Bühne gehen. Nein, bitte nicht zu unterbrechen, sondern aufmerksamst zuzuhören. Um halb neun Uhr vormittags... Und er gab genaue Anweisungen. Als Scaglia abhängte, zitterte Jacques am ganzen Körper, seine Haut war schweißnaß. Nach unruhigem Schlaf erhob er sich um sieben Uhr. Er ließ sich ein leichtes Frühstück aufs Zimmer kommen, badete und kleidete sich an. Um ein Viertel nach acht lief er unruhig in der großen Hotelhalle auf und ab und sah immerzu nach der Uhr. Um halb neun ging er in die Garage hinunter, um den Buick zu holen. Bevor er sich hinter das Steuer setzte, warf er einen schnellen Blick in das Innere des Wagens. Alles schien in Ordnung zu sein; niemand konnte wissen, daß er an den letzten Tagen Befehle mißachtet hatte. Dann schnaubte er verächtlich über seine Besorgnis. Sie konnten ihn ebensowenig verdächtigen, im Wagen mit dem Mädchen einen Ausflug gemacht zu haben, wie ein Fremder, der den Wagen sah, ahnen konnte, welch entsetzliches Geheimnis er barg. -183-
Scaglias Anweisungen folgend, fuhr er auf die 49th Street hinaus, bog rechts in die Park Avenue ab und steuerte den Wagen durch den dichten Frühverkehr in nördlicher Richtung. Er beachtete sorgfältig die Straßenschilder, für deren einfache numerische Progression er dankbar war. Er schwenkte ostwärts in die 79th Street ein und folgte ihr bis fast zum Fluß. Es war die letzte Straße zu seiner Linken vor der Einfahrt zur Schnellstraße, die er suchte: East End Avenue. Vorsichtig, mit feuchten Handflächen, bog er ein und fuhr zwei Blocks weiter. Das große Mietshaus stand an der Ecke der 81th Street. Jacques hielt vor der gähnenden Einfahrt zur Tiefgarage des Gebäudes und überprüfte die Anschrift - 45, East End Avenue. Er ließ den Wagen die Rampe hinunterrollen und stoppte vor einem kleinen, mit Neonröhren erleuchteten Büro. Der Aufseher, ein schlanker Mann in mittleren Jahren mit rotblondem Haar, kam heraus, warf einen kurzen Blick auf den Buick und sah Jacques fest an. „Wie lange bleiben Sie?“ fragte er mit einer Spur keltischen Akzents. Jacques zuckte unsicher die Achsel. „Okay“, sagte der Mann, „das machen wir schon.“ Er ging in seinen Verschlag zurück, riß den Kontrollabschnitt einer Karte von einem Block, der an einem Nagelbrett neben dem Schreibtisch befestigt war, und händigte ihn Jacques aus. Passen Sie nur ja gut auf den Abschnitt auf, hatte Francois ihm ans Herz gelegt. Jacques brachte das kleine Stück gelben Kartonpapiers in seiner Brieftasche unter, drehte sich um und trottete über die Rampe wieder zur Straße hinauf. Er fühlte, daß der Mann ihm aus zusammengekniffenen Augen nachsah. Voll Unbehagen wartete Jacques oben einige Minuten, bis ein Taxi in Sicht kam. Er ließ sich ins Waldorf Astoria fahren. Während Jacques Angelvin seinen Buick in die Garage auf der East End Avenue brachte, verließ Patsy Fuca sein Haus in Brooklyn und setzte sich abermals ans Steuer des neunzehnhundertsechsundfünfziger Cadillac seines Freundes -184-
Nicky Travato. Die Bundesagenten Artie Fluhr und Bill Carrazo folgten ihm in respektvollem Abstand, verloren ihn jedoch wenige Minuten später aus den Augen, nachdem der Caddy in westlicher Richtung in die 65th Street abgebogen war. Anfangs bekümmerte sie das nicht allzusehr, weil sie glaubten, sie oder ein anderes Team würden den Kontakt bald wieder herstellen. Doch weder sie noch sonst jemand bekamen Patsy wieder zu Gesicht - weder in der Nähe seiner Imbißstube noch bei seinen Schlupfwinkeln in Manhattan. Im Laufe des Vormittags wurde die Polizei von wachsender Unruhe erfaßt: das letzte Glied in dieser Kette ungesetzlicher Tätigkeiten war verschwunden. An jenem Dienstag, den 16. Januar hatte der Kriminalbeamte Eddie Egan in Manhattan in einer Verhandlung vor dem Großen Geschworenengericht als Zeuge in einem Rauschgiftprozeß aussagen müssen, da er seinerzeit die Verhaftungen vorgenommen hatte. Als er kurz vor Mittag den Gerichtssaal verließ, erfuhr er von Patsys plötzlichem Verschwinden. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte, berichtete man ihm, und die Kriminalbeamten überprüften alle Örtlichkeiten, mit denen Patsy irgendwie in Verbindung stand. Egan wanderte zur städtischen Garage auf dem Foley Square hinüber und holte sich seinen Corvair. Bei der Ausfahrt langte er automatisch hinunter, um das Funkgerät einzuschalten, als ihm einfiel, daß er es zur Reparatur gegeben hatte. Das Gerät fehlte ihm. Für einen Polizisten war es wahrscheinlich nützlicher als eine Waffe. Selbst wenn er nicht gerade aktiv im Einsatz war, die wenigen Gelegenheiten, da es nichts anderes zu denken gab, stellte er gern die Polizeiwelle ein und lauschte den Beamten in anderen Wagen und ihren Stakkatomeldungen „heiße Spur“ oder „Verdächtiger unter Beobachtung“. Was war es nur, was da im Zusammenhang mit Patsys Geschäften in einem Winkel seines Hirns nistete? Nein, nicht seine Mieze im Pike Slip Inn, und auch keiner der Plätze, die sie alle seit dem Untertauchen der Franzmänner überwachten. Es -185-
war, als versuchte er sich an den Namen eines Menschen zu erinnern, der ihm auf der Zunge lag. Wenn er nur darauf käme... Es war auch nicht die Tatsache, daß Patsy Nicky Travatos Cadillac benutzte... Und dann hatte er's! Gestern waren Sonny und Ripa Patsy - der in Nickys Wagen fuhr! - bis zur Ecke 77th Street und York Avenue gefolgt. Egan selbst war Patsy und seiner Frau erst Freitag in dieselbe Gegend nachgefahren! Er erinnerte sich jetzt deutlich an Patsys mysteriösen Besuch in dem eleganten Wohnhaus auf Nummer 45 der East End Avenue, nur vier oder fünf Blocks von der Ecke 77th und York entfernt. Konnte es sein, daß er jetzt wieder da oben steckte? Warum nicht? Er lenkte den Corvair zum East River Drive hinüber und schlug dieselbe Route in die obere Stadt ein, wie er dies hinter Patsys Oldsmobile zu etwa der gleichen Stunde am Freitag getan hatte vor nur vier Tagen? Es schienen Monate zu sein. Als er gerade in die East End Avenue einbog, sah er zwei Blocks weiter vorne einen grauen Cadillac in der Garageneinfahrt des Hauses Nummer 45 verschwinden. Er konnte es kaum glauben, daß er Nickys Cadillac entdeckt hatte. Patsy! Hatte er ihn richtig erwischt! Mann! Konnte ein kleiner irischer Polyp solchen Dusel haben? Egan fuhr an den Randstein heran, sprang aus dem Wagen und lief auf die Garage zu. Der Cadillac hielt unten vor dem kleinen Büro. Ein Mann stieg aus und übergab einem Wagenpfleger die Schlüssel. Egan schob sich vorsichtig die schwach erleuchtete Rampe hinunter und sah, daß der Fahrer weder Patsy noch sonst jemand war, den er kannte. Er ging näher an den Cadillac heran und zog sein Notizbuch heraus. Er sah wie Travatos Wagen aus, war es aber nicht. Er wollte wieder zur Straße zurück, als eine Stimme ihn zusammenfahren ließ: „Kann ich Ihnen helfen, Mister?“ Egan wirbelte herum und sah einen jungen Neger in der grauen -186-
Dienstkleidung eines Wagenpflegers. Der Kriminalbeamte lachte und schnellte sich mit übertriebener Gebärde den Schweiß von der Schläfe. „Mann, Sie haben mich aber erschreckt!“ Er klappte sein Notizbuch auf und zeigte dem Burschen seinen Ausweis. „Polizei. Hören Sie mal, zwei Kerle haben da in der Nähe einen Branntweinladen überfallen und in einem roten Dodge Leine gezogen. Haben Sie irgendwelche verdächtige Gestalten in einem roten Dodge gesehen?“ Der junge Mann kratzte sich am Kopf. „Nein, ich komme gerade vom Essen. Fragen Sie im Büro.“ Egan hatte sich hier gar nicht sehen lassen wollen, geschweige denn eine Stippvisite zu einem Kaffeekränzchen auszudehnen geplant. Doch nun hatte er sich schon festgelegt; warum also das Spielchen nicht zu Ende spielen? Vielleicht erfuhr er etwas, was ihm zustatten kommen würde, wenn er jemals wieder in dieser Garage oder dem Haus zu tun haben sollte. Hinter dem Neger her trottend, das Notizbuch mit seinem Ausweis noch aufgeklappt in der Hand, betrat er das kleine Büro. Ein rotblonder, fünfzigjähriger Mann stand über einen hohen, schmalen Schreibtisch gebeugt, der mit Papieren und Zetteln bedeckt war. Hinten, in der rechten Ecke, machte sich, den Rücken zur Tür, ein jüngerer, dunkelhaariger Mann im Overall eines Autoschlossers an einem Gestell mit Straßenkarten zu schaffen. „Ja, Sir?“ begann der Tankwart. „Polente“, warf der Neger ein. Egan zeigte seinen Ausweis. „Es hat einen Raubüberfall gegeben. Ich suche einen roten Dodge.“ Der dunkelhäutige Mann in der Ecke riß den Kopf herum und drehte ihn gleich wieder weg. Egan starrte wie gebannt auf Patsy Fucas Rücken.
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13 „Jemand verletzt?“ fragte der Mann hinter dem Schreibtisch. Egan spielte die Komödie weiter. „Na ja, zwei Kerle haben einen Branntweinladen überfallen. Es ist niemand verletzt worden.“ Er mußte Atem schöpfen. „Sie sind in einem roten Dodge geflitzt, viertürige Limousine, Baujahr 1960. Wir überprüfen alle Garagen hier in der Gegend. Haben Sie so einen Wagen gesehen?“ Der Mann betrachtete angelegentlich die Papiere vor sich, als könnte sich darunter eine mögliche Antwort finden lassen, und schüttelte dann den Kopf. „Seitdem ich hier bin, nein. Hast du was gesehen, Jimmy?“ wandte er sich an den jungen Neger. „Ich hab's ihm schon gesagt, ich war essen. Ich hab' nichts gesehen.“ Egan steckte sein Notizbuch ein und merkte, daß seine Hände zitterten. Es fiel ihm schwer, nicht zu Patsy hinüberzusehen, der sich ganz klein zu machen versuchte. „Okay“, begann Egan und fühlte sich erröten, als seine Stimme blechern klang. Bemüht, einen lässigen, aber auch amtlichen Ton anzuschlagen, räusperte er sich. „Na, halten Sie eben die Augen offen! Und seien Sie vorsichtig. Wenn einer von Ihnen den Wagen sieht, verständigen Sie sofort das Revier! Empfehle mich“, sagte er, als er aus dem Büro und die Rampe hinaufging. Um sie trocken zu bekommen, preßte er die Handflächen gegen das weiche Futter seiner Manteltaschen. Egans erste Gefühlsregung war Angst gewesen, Patsy könnte ihn erkannt haben. Doch bevor er noch die Straße erreichte, sagte ihm die Vernunft, daß die Chancen hundert zu eins, ja sogar tausend zu eins lagen, daß Patsy ihn jemals zuvor gesehen hatte - zumindest nicht als Bullen. In all den vergangenen vier Monaten hatte er sich Patsy gegenüber nur als Assistenzarzt im -188-
St.-Catherine-Hospital und Besucher der Imbißstube gezeigt. Als Kenner der menschlichen Natur hielt Egan es für höchst unwahrscheinlich, daß Patsy von dem ganzen Krankenhauspersonal gerade ihm besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben könnte. Und selbst wenn er Patsy je aufgefallen war, würde dieser in dem vermummten Polypen, der in einer Tiefgarage nach einem Fluchtwagen suchte, kaum den „Doktor“ in Weiß aus der Imbißstube erkennen. Egan eilte auf seinen Wagen zu, der einen halben Block weiter auf der East End Avenue geparkt war. Was immer dabei auch herauskommen mochte, er mußte ein Telephon finden und der Zentrale melden, daß er Patsy Fuca aufgespürt hatte. Doch als er sich anschickte, die 81“ Street zu überqueren, und einen Blick über die Schulter warf, bekam er flüchtig die Gestalt in einem grauen Overall zu Gesicht, die sich in der Garageneinfahrt von Nummer 45 zu verstecken trachtete. Egan blieb stehen und spielte, so gut er konnte, den Bullen, der an einer Straßenecke steht und überlegt, wie er am besten mit seiner Untersuchung weiterkommt. Die Gestalt in der Einfahrt zog sich ein Stückchen weiter zurück. Kein Zweifel: er beobachtete Egan. Es war der Rotblonde. Wenn er jetzt wegfuhr, überlegte der Kriminalbeamte rasch, könnte das Patsy zu der Annahme verleiten, die Polizei sei ihm auf den Fersen, und ihn bewegen, schleunigst die Flucht zu ergreifen. Es blieb Egan nichts anderes übrig, als seine Rolle weiterzuspielen und nach dem „Fluchtwagen“ zu suchen. Flott überquerte er die 81st Street und ging in die Garage des Gebäudes an der gegenüberliegenden Ecke hinunter. Sehr sachlich wiederholte er dem Wagenpfleger unten die Geschichte von dem Raubüberfall und dem roten Dodge, kehrte auf die Straße zurück, kreuzte, des Verkehrs kaum achtend, die East End Avenue und begab sich, ohne zu zögern, in eine, dritte Tiefgarage. Der Mann von Nummer 45 war inzwischen aus der Einfahrt gekommen und stand jetzt an der Ecke der 81th Street. -189-
Egan fühlte seine Blicke im Rücken brennen, während er die Rampe hinabeilte. Als der Kriminalbeamte wieder nach oben kam, lungerte der rotblonde Tankwart immer noch auf der Straße herum. Inzwischen, überlegte Egan, mochte der Kerl schon in der zweiten Garage gewesen sein, um festzustellen, ob die Geschichte mit dem Raubüberfall stimmte. Hoffentlich. Und wenn Patsy an den roten Dodge glaubte, hatte Egan Glück gehabt. Was zum Teufel trieb er hier? Egan nahm sich vor, Unterlagen über East End Avenue 45 anzufordern, um so einiges über Bewohner, Eigentümer, Verwaltung, Inhaber der Garagenkonzession und Personal zu erfahren. Der Kriminalbeamte betrat eine Papierwarenhandlung und fand dort eine Fernsprechzelle, von der aus er das Gebäude im Auge behalten konnte. Er erwartete jeden Augenblick, Nickys grauen Cadillac über die Rampe schießen zu sehen, und war darauf vorbereitet, unmittelbar die Verfolgung aufzunehmen. Er wählte die Nummer der Zentrale. Ben Fitzgerald war am Apparat. „Ich habe Patsy!“ rief Egan. „Wo?“ brüllte Fitzgerald. In eineinhalb Minuten umriß Egan, was sich als Folge einer seiner berühmten Eingebungen ereignet hatte. Plötzlich brach er mitten im Satz ab. „Moment, Fitz. Ein Wagen kommt heraus. Vielleicht ist es Patsy.“ Es herrschte Stille, während Egan die Straße hinaufspähte, Aber es war nicht der vertraute graue Cadillac, der über den Gehsteig rollte. Es war ein schwarzer Buick Invicta, der in nördlicher Richtung davonfuhr. „Nein, Travatos Wagen befindet sich noch in der Garage“, meldete er ins Telephon. „Bist du auch ganz sicher, daß du Fuca gesehen hast?“ -190-
drängte der Agent, der in der Zentrale die Oberaufsicht führte. „Ob ich sicher bin? Kenn' ich Patsy nicht? Hör mal, fang Sonny und Waters und die andern zusammen und laß sie herkommen.“ Während Egan mithörte, wies Fitzgerald alle verfügbaren Beamten über Funk an, sich vor dem Haus East End Avenue 45 einzufinden. „Fitz“, sagte Egan, als ihm einfiel, welches Vergnügen es manchen Kollegen bereitete, sich einem Einsatzgebiet mit Sturmgebraus und Sirenenheulen zu nähern, „sag ihnen, sie sollen keinen großen Wirbel machen und das Gebäude fächerartig umstellen. Ich bleibe hier in der Nähe.“ Fitzgerald tat, wie ihm geheißen, und kam wieder an den Apparat. „Ich hoffe nur, du hast dich nicht geirrt, Glotzauge“, sagte er mit einem leisen Zweifel in der Stimme. „Was zum Teufel hat Patsy in dieser Gegend zu suchen?“ „Das weiß ich nicht. Aber ich bin ihm schon am vergangenen Freitag hierher gefolgt.“ „Ach so? Das war mir nicht bekannt.“ „Hör mal, ich muß jetzt gehen“, unterbrach ihn Egan. „Ich rufe später zurück. Ja, noch eins. Sieh zu, ob du mir Unterlagen über die Hausverwaltung und die Mieter von Nummer fünfundvierzig East End Avenue beschaffen kannst. Okay?“ Egan verließ den Laden, stieg in seinen Corvair und schob sich in eine Parklücke nahe der Ecke 82th Street und East End Avenue, von wo aus er das Kommen und Gehen von Nummer 45 beobachten konnte. Er stellte den Motor ab und lehnte sich in der angenehmen Gewißheit zurück, daß Patsy früher oder später herauskommen mußte. Er brauchte nicht lang auf Unterstützung zu warten. Es war halb zwei vorbei, als er Sonny Grosso zu Fuß die East End Avenue heraufkommen sah. Egan ließ das Fenster herunter und pfiff, -191-
und Sonny kam zum Wagen und stieg ein. Schon um zwei waren Beamte des Rauschgiftdezernats in allen umliegenden Straßen postiert; die einen, verschiedenartig gekleidet, zu Fuß, die ändern in nicht gekennzeichneten Wagen. Leutnant Hawkes kommandierte den Überwachungseinsatz. Gegen drei kam Sonny, der Eddies Wagen inzwischen verlassen hatte, zu ihm zurück; Sorgenfalten prägten sein schon von Natur aus trauriges Gesicht. Ohne Funkgerät hing Egan von Sonny ab, der ihn auf dem laufenden halten mußte. Sonny berichtete, daß das gesamte rund um East End Avenue 45 versammelte Überwachungsteam ernstlich bezweifelte, daß Egan Patsy tatsächlich gesehen hatte. Agent Waters kam ganz beiläufig herangeschlendert, Öffnete die Tür und ließ sich auf den Hintersitz fallen. Eddie spürte die Skepsis in den Augen und im Ton des kleinen Agenten, der aus seiner Überzeugung kein Hehl machte, daß Patsy sich nicht einmal in der Nähe, geschweige denn in der Tiefgarage aufhielt. Egan mußte sich sehr beherrschen, um auf die Nadelstiche des Bundesagenten nicht in aller Heftigkeit zu reagieren. Um vier Uhr kam Dick Auletta zum Wagen. Leutnant Hawkes wünschte Glotzauge zu sehen. Eddie ließ sich verdrießlich vom Sitz gleiten und folgte Auletta zu einem Feinkostladen um die Ecke. Groß und hager, jeder Zoll ein Gary Cooper vor dem Entscheidungskampf, stand Hawkes in der Tür. Er war völlig davon überzeugt, daß er die Zeit eines Großteils seiner Leute vergeudete, die hier tatenlos herumstanden und saßen, nur weil Egan angeblich Patsy gesehen hatte. Und dieser Überzeugung gab er laut und deutlich Ausdruck. Glotzauge ließ sich nicht davon abbringen, daß er Patsy gesehen hatte, und schlug vor, jemanden in die Garage einzuschleusen, der feststellen sollte, ob Nicky Travatos Cadillac, in dem Patsy zuletzt gesehen worden war, unten stand oder nicht. Hawkes überlegte laut, wen man zur „Inspektion“ in die Garage schicken könnte, der nicht weiter auffallen würde. -192-
„Gesundheitsamt? Gaswerk? Fürsorge?“ regte Egan an. Hawkes kicherte. „Fürsorge? Hier?“ „Sie haben recht“, gab Egan zu. Er war dankbar für das Lächeln des griesgrämigen Leutnants. „Wie wäre es mit der Feuerwehr?“ Hawkes nahm den Vorschlag sogleich begeistert auf; er erinnerte sich, daß Egans Stiefvater jetzt Kommandant bei der Feuerwache war. Sie begaben sich zum nächsten Telephon. Zehn Minuten später wurde Dick Auletta zur Feuerwache in der 75th Street entsandt. Auletta sollte einer der „inspizierenden“ Feuerwehrleute sein. Es war bald fünf, und die Straßenbeleuchtung hatte sich eben eingeschaltet, als ein rotes Löschfahrzeug polternd um die Ecke der 79th Street bog, drei Blocks von der Garage entfernt. Unter den Augen der pessimistischen Überwachungsmannschaft sprangen mit Gummistiefel ausgerüstete Feuerwehrmänner vom Wagen und begannen die Garagen auf der East End Avenue, eine nach der ändern, zu inspizieren. Um fünf Uhr fünfundzwanzig betraten drei von ihnen die Nummer 45 und erschienen zehn Minuten später wieder auf der Straße. Verkrampft und sorgenvoll beobachtete Egan von seinem Wagen aus, wie nur zwei der Feuerwehrleute auf ihren Löschwagen sprangen; ein dritter kam zu Fuß die Straße herunter und bog um die Ecke, wo Hawkes wartete. Nach fünf weiteren, langen, angstvollen Minuten tauchte Hawkes neben Egans Wagen auf und stieg zu ihm. „Nun?“ platzte Egan heraus. „Hab“ ich Quatsch gemacht?“ Ein Lächeln spielte um Hawkes' Mund. „Nein, Eddie, Sie hatten recht. Nickys Caddy steht tatsächlich unten.“ Der Kriminalbeamte ließ sich erleichtert zurückfallen und sah den Leutnant an. „Mann, ihr hattet mich schon so weit, daß ich selber glaubte, bei mir wäre die Sicherung durchgebrannt.“ „Na sagen Sie schon: ,Ich hab's euch ja gleich gesagt!' „ -193-
Egan ging auf das billige Anerbieten nicht weiter ein. „Was hab' ich schon davon?“ Dann lachte er. „Außerdem - ich hab's euch ja wirklich gesagt - schon vor ein paar Stunden.“ „Der Wagen ist ganz hinten im zweiten Tiefgeschoß abgestellt“, sagte Auletta. „Sieht so aus, als ob er schon geraume Zeit da stünde.“ „Das kann schon stimmen. Und Patsy?“ „In der Garage selbst war von ihm nichts zu sehen. Er kann natürlich irgendwo im Haus selbst sein.“ „So wie das letzte Mal, als er da war. Er fuhr im Aufzug hinauf. Haben Sie was über das Gebäude oder die Mieter herausbekommen?“ „Ja. Das Gebäude scheint in Ordnung, die Mieter wohlhabende und, wie es heißt, angesehene Leute - wußten Sie, daß Don Ameche, der Schauspieler, hier wohnt? - aber die Garage... die läßt einiges erhoffen.“ „Es ist eine Konzession“, fuhr Hawkes fort, „und der Inhaber, Sol Feinberg, hat wegen seiner, na, sagen wir, undurchsichtigen Unternehmungen einschließlich seines Interesses an Stoff schon mehrmals mit den Behörden zu tun gehabt.“ „Ja - also dann...“ Der Kriminalbeamte lächelte. „Es ist uns nie gelungen, ihm etwas nachzuweisen, und im Augenblick liegt nichts gegen ihn vor. Aber er hat einen Geschäftspartner, der an dieser Garage beteiligt und Eigentümer einer anderen in der Bronx ist. Außerdem ist er einer Reihe schwerer Vergehen dringend verdächtig, nicht zuletzt im Zusammenhang mit Rauschgift... Fühlen Sie sich jetzt wohler?“ „Ich fühle mich herrlich!“ rief Egan aus. „Wissen Sie, ich glaube, ich werde es doch noch einmal sagen.“ „Was?“ „Ich hab's euch gleich gesagt!“ Egan lachte. Bevor Hawkes auf seinen Posten zurückkehrte, erzählte er -194-
Egan noch, daß Sonny Grosso, nachdem das Vorhandensein des Cadillac von Dick Auletta bestätigt worden war, die Einrichtung einer Beobachtungs- und Kommandostelle im Haus gegenüber von Nummer 45 angeregt hatte. Der Leutnant hatte Sonny beauftragt, mit einem der Mieter zu sprechen und die nötigen Vorkehrungen zu treffen. „Und Sonny hat mich gebeten, Ihnen eine Botschaft zu übermitteln“, fügte Hawkes hinzu: „Hoch die Iren!“ Plötzlich knurrte Egan der Magen. Es war knapp halb sieben, und er hatte seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen. Er begleitete Hawkes um die Ecke zum selben Feinkostladen, wo sein Chef ihn noch vor wenigen Stunden heruntergeputzt und entmutigt hatte. Seine Schritte waren jetzt leicht und von neu belebter Selbstsicherheit beflügelt, und er beschloß, sich etwas zu gönnen, indem er zwei Roastbeef-Sandwiche und zwei Pepsis bestellte; damit ausgerüstet, begab er sich in seinen Wagen zurück. Patsy gefunden zu haben bedeutete den größten Erfolg der letzten zwei Tage. Die drei Franzosen waren immer noch unbekannten Aufenthalts, und vor wenigen Stunden hatte das Hotel Edison ein handgeschriebenes Briefchen von Jean Jehan erhalten, in dem zweiundachtzig Dollar fünfzig kanadischer Währung zur Begleichung seiner Rechnung eingeschlossen waren. In dem Briefchen ersuchte er, ihm sein Gepäck an eine Adresse in Rosemont, Montreal, nachzusenden. Doch Egan und die anderen mußten selbst jetzt noch mit der Möglichkeit rechnen, daß Patsy heute in der langen Zeit seiner Abwesenheit mit den Franzosen das Geschäft zum Abschluß gebracht hatte. Um diese Frage zu klären, gab es nur einen Weg: auf Patsy warten - auf ihn und auf jeden seiner Kumpane, die sich hier blicken lassen würden. Entspannt, aber wachsam und auf alles vorbereitet, kaute Egan an seinen Broten. -195-
Zwei weitere Stunden vergingen; ein scharfer Wind blies vom East River her. Egan war dankbar für den Schutz, den ihm der Wagen gewährte, doch wurden seine Glieder in der spürbarer werdenden Kälte langsam steif. Er konnte sich nicht vorstellen, was Patsy die ganze Zeit trieb. Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten schwirrten ihm durch den Kopf, doch die einzigen Tatsachen waren, daß Nickys Cadillac sich immer noch in der Garage befand und daß Patsy das Gebäude noch nicht verlassen hatte. Früher oder später mußte er ja zum Vorschein kommen. Und etwa fünf Minuten später tat er dies auch. Aber nicht aus Nummer 45. Von der 79th Street her kam er auf der gegenüberliegenden Seite die Hast End Avenue herauf. Egan stutzte, beobachtete aber dann gespannt, wie der Mann, immer noch im Overall, gemächlich die 81th Street überquerte und, ohne sich weiter umzusehen, gelassen in die Garage einbog. Heilige Mutter Gottes! Der Kerl war den ganzen Nachmittag fort gewesen! Egan glaubte zu wissen, wann Patsy sich davongemacht hatte; es mußte geschehen sein, während er selbst in die anderen Garagen hinuntergestiegen war. Oder innerhalb der wenigen Minuten, die er benötigt hatte, um mit der Zentrale zu telephonieren. Oder während er um den Block gefahren war, um sich in der 82th Street zu postieren, von wo aus er das Haus im Auge behalten konnte. An diesem Tag hatte Patsy praktisch zwölf Stunden unbeobachteter Freiheit genossen. Verdammt, daß er gerade heute kein Funkgerät hatte, fluchte Egan, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte. Er stieß mit der Schulter die Wagentür auf und lief, Arme schwingend und auf Nummer 45 deutend, die Straße hinunter. In einem Torbogen tauchte die hagere Gestalt Vinnie Hawkes' auf und winkte ihn zurück. Okay, also wußten es schon alle. Er eilte zum -196-
Wagen zurück und ließ den Motor an. Fünf Minuten später kam der graue Cadillac über die Rampe herauf und blieb kurz quer über dem Gehsteig stehen. Egan schwor sich, Patsy nie wieder aus den Augen zu verlieren - und wenn es zum Mond ginge. In diesem Augenblick wurde die rechte Tür des Corvair aufgerissen, und Agent Luis Gonzales ließ sich neben ihm auf den Sitz fallen. In seiner Hand hielt er ein tragbares Funkgerät. „Pfundskerl, amigo“ rief Egan aus. Er griff nach dem Mikrophon: „Okay, Glotzauge hier. Den Vogel lass' ich nicht mehr aus, wo er auch hinfliegt!“ Patsy fuhr an Egan vorbei, bis zur 83th Street, wo er sein linkes Blinklicht aufflammen ließ. Egan steuerte den Corvair aus der 82th heraus und folgte; Gonzales gab die Route über Funk durch. Patsy kreuzte die York Avenue und bog in die First Avenue nach rechts ab. Egan und Gonzales blieben ihm auf den Fersen, als er bei der 96th Street in die stadtwärts führende Bahn des East River Drive einschwenkte. „Mann Gottes“, stöhnte Egan, „schon wieder das alte Spiel!“ „... einen Wagen zur 79th, der uns auf der Schnellstraße ablösen kann“, funkte der pfiffige Gonzales. Während sie vorbeibrausten, bekamen sie flüchtig einen Wagen zu sehen, der an der Einfahrt der 79th Street startete und sich nach ihnen in den Verkehrsstrom einordnete. Doch Patsy hielt nun auf die Ausfahrt zur 73th Street zu. Er fuhr einen Block bis zur York Avenue, bog rechts ab und steuerte den Wagen in nördlicher Richtung. Er schwenkte in die 82th Street ein und schob den großen Caddy in eine Parklücke nahe der Ecke keine hundert Meter von der Stelle entfernt, wo Egan volle acht Stunden gesessen hatte. „Er parkt in der 82th „, gab Gonzales durch. „Wir müssen weiterfahren. Jemand soll ihn übernehmen, Ende.“ „Wir sehen ihn“, gab Sonny Grosso zurück. -197-
Egan fuhr zur East End Avenue hinunter, drehte rechts ab und parkte in der Mitte des Blocks, genau gegenüber der Garage, aus der Patsy vor einer Viertelstunde aufgetaucht war. „Oho!“ Das war wieder Sonny, und seine Stimme klang heiter. „Ratet mal, wen wir da haben!“ „Was ist los?“ rief Egan ins Mikrophon. „Patsy steht mit einem Mann auf dem Gehsteig. Sie reden miteinander. Und wer ist der geheimnisvolle Unbekannte? Kein anderer als - Mr. Mouren, Franzmann drei!“ „Das Spiel ist also noch nicht zu Ende!“ frohlockte Egan. Minuten vergingen, im Lautsprecher knisterten die Stimmen der Beamten in anderen Wagen, die sich gegenseitig ihre Standorte bekanntgaben. Dann verschaffte sich Sonny wieder Gehör: „Sie steigen beide in den Caddy. Sie scheren aus.“ Der Cadillac kam um die Ecke, an Egan und Gonzales im Corvair vorbei. Egan wartete, bis sie einen Block weiter gefahren waren, und folgte ihnen dann durch die East End Avenue, 79th Street und York Avenue. Die Ampel schaltete auf Grün, Patsy machte einen weiten Bogen nach links und stoppte den Wagen an der südwestlichen Ecke der Kreuzung. Mouren stieg aus und ging durch die 79th Street in westlicher Richtung davon. Patsy fuhr weiter, auf die Stadtmitte zu. „... der Franzmann ist draußen!“ funkte Gonzales. Egan folgte Patsy bis zur 63rd Street hinunter, wo dieser wieder in die Schnellstraße einschwenkte. Sie kamen gut voran, als sie die Nachricht erhielten, daß es Mouren gelungen war, im Dunkel der Nacht unterzutauchen. „Wie vom Erdboden verschluckt“, ließ ein niedergeschlagener Leutnant Hawkes sich vernehmen. Über die Williamsburg-Brücke steuerte Patsy auf seine Imbißstube zu. Sein Schwiegervater hatte das Geschäft betreut, -198-
und Patsy schickte ihn heim. Zu Egan und Gonzales gesellten sich bald auch noch andere Wagen, darunter einer mit Sonny und Waters und ein zweiter mit Dick Auletta. Gonzales übersiedelte zu Auletta, der ihn nach Hause brachte. Um elf Uhr nachts sperrte Patsy endlich den Laden zu. Von den wartenden Beamten beschattet, lenkte er den Caddy auf die Brooklyn-Queens-Schnellstraße und dann in die 65th Street. Statt aber auf sein Haus zuzuhalten, setzte er die Fahrt bis zur New Utrecht Avenue fort. Er umkreiste den Block unter dem Viadukt der Hochbahn und parkte vor Nicky Travatos Haus in der 66tb Street. Er verschloß den Cadillac und ging ins Haus. Nach zehn Minuten kam er wieder heraus, schlenderte die 66th Street entlang und stieg fünfzig Meter weiter in einen anderen Wagen - seinen eigenen blauen Buick, wie Sonny feststellte. Patsy fuhr zur 67th Street hinüber und in seine offene Garage hinein. Das Licht auf der Veranda verlosch. Alles war ruhig in der 67th Street. An den zwei Enden des Blocks machten es sich drei erschöpfte Kriminalbeamte in zwei Autos bequem. „Wer will als erster schlafen?“ fragte Eddie Egan ins Mikrophon.
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14 Dienstag war ein langer, erschöpfender Tag für Patsy Fuca gewesen. Er sah zu seiner jungen Frau Barbara hinüber, die im Bett neben ihm schlief. Eigentlich sollte er ihr eine in die Schnauze geben. Sollte es je bekanntwerden, daß sie ihn beklaut hatte, dann konnte er von Glück sprechen, wenn er überhaupt Untergrundbahnhöfe ausfegen durfte! Er konnte nicht einschlafen. Er erhob sich, schlüpfte in einen wollenen Schlafrock und ging mit bloßen Füßen ans Fenster. Barbara bewegte sich im Schlaf. Er zuckte die Achseln. Sie war ja kein schlechter Kerl, dachte er. Mit all dem Kies im Haus... Er konnte es ihr nicht verdenken, daß sie sich etwas geangelt hatte. Wieviel sie wohl genommen hatte? Ein paar Tausender? Was ihm das Leben so sauer gemacht hatte, war die enorme Menge, mit der die Franzosen angerückt gekommen waren. Für fünfzig oder einundfünfzig Kilo mußte er zumindest die Hälfte, so an die 275.000 Dollar, vorausbezahlen. Und etwa fünfzigtausend hatten ihm gefehlt. So stark die Nachfrage nach dem Zeug auch sein mochte, wie die Leute sagten, so war es doch für seine Kunden verdammt schwer, so viel Geld zusammenzukratzen. Hatte er das Geschäft richtig angepackt? Er hätte gern gewußt, wie Onkel Angie darüber denken würde. Also hatte er die Franzosen hinhalten müssen. Im Geist ließ er die letzten sieben Tage an sich vorbeiziehen. Es war nun gerade eine Woche her, daß Giant ihn angerufen und für den nächsten Tag ins Roosevelt bestellt hatte. Patsy war nicht vorbereitet gewesen, hätte vielleicht noch eine Woche gebraucht, um den Kies zusammenzubekommen. Er sah den großgewachsenen, ältlichen Gecken vor sich. Einer von den ganz Schlauen, ein ausgekochter alter Knacker! Mamma mia, wie der sich nur anzog, das genügte schon, um ihm die Polente auf den Hals zu bringen. -200-
Aber er hatte kühlen Kopf behalten, dieser Giant. Die zwei anderen Franzosen, die hätten das Geschäft in die Brüche gehen lassen, als sie zu wissen glaubten, die Schmiere habe Lunte gerochen. Aber nicht Giant! Tauchen wir unter, hatte er gesagt, das Ding ist zu groß, um es platzen zu lassen; solange sie uns den Besitz nicht nachweisen, können sie uns nichts anhängen, und wer weiß denn überhaupt, wo das Zeug versteckt ist? Die Polente hatte Patsy keine Sorgen gemacht. Vielleicht saßen sie ihm auf der Pelle, vielleicht auch nicht. Er stellte sich im Prinzip immer darauf ein, daß Polypen um ihn herumschwirrten; auf diese Weise wurde man nie zu sorglos. Hatten sie ihn da unlängst beschattet, wann war es gewesen Freitag? Er wußte es nicht. Wie auch immer: er hatte sich beeilt, den Franzosen dringend zu empfehlen, aus ihren Hotels auszuziehen. Nicht nur hängte man damit die Polente ab, sofern sie überhaupt in Aktion getreten war; indem er die Transaktion ein paar Tage abkühlen ließ, gewann er auch wieder soundso viel Zeit, um das Geld für die Anzahlung zusammenzubekommen. Bei den ersten Besprechungen hatten die Franzosen gemeint, bis Sonnabend könnte die ganze Geschichte unter Dach und Fach sein. Nach außen hin Einverständnis mimend, wagte er es nicht, zuzugeben, daß er mehr Zeit benötigte, und war Freitag sogar in die East End Avenue hinaufgefahren, um die getroffenen Vorkehrungen zu überprüfen. Doch dann, Freitag nacht, kam es zu der langen Hetzjagd kreuz und quer durch die Stadt, und Patsy erkannte, daß er wieder einmal Glück gehabt und sich damit eine Gnadenfrist erkauft hatte. Die Franzosen übersiedelten in das Motel in Yonkers, und ihm blieb das ganze Wochenende, um seine Kunden zur Kasse zu bitten. Er grinste und beglückwünschte sich zu seiner Zungenfertigkeit, als Giant ihn angerufen und gemeint hatte, die Lage sei zu brenzlig und vielleicht sollten sie ihre Pläne doch besser fallenlassen. Diese Polypen, von der Sittenpolizei oder -201-
sonst wo, die ihm von der städtischen Zensurbehörde ins Haus geschickt worden waren, um die pornographischen Bücher in seinen Regalen zu beschlagnahmen, hatten ihm den größten Gefallen seines Lebens getan. Hätte er sich eine bessere Erklärung für das polizeiliche Interesse an seiner Person ausdenken können? Patsy verstand gar nicht, warum die Franzosen so nervös waren. Sonnabend nacht war er mit Nicky losgefahren, um eine allfällige Überwachung zu testen, und es schien weit und breit keine Bullen zu geben; und wenn, so waren sie weit vom Schuß. Den Buick dieser Fernsehkanone zu verschieben, wenn es an der Zeit war, stellte überhaupt kein Problem dar. Und überdies: wenn es wirklich hart auf hart ging, er wußte, wie man Bullen abhängte. Giant mußte die ändern zwei Franzosen zusammengestaucht haben, denn schon Montag meldeten sie sich wieder und wollten den Buick am nächsten Tag ausräumen lassen. Eigentlich hätte Patsy noch ein paar Tage gebraucht, aber er mußte ja und amen sagen. Sollte er, wenn der Wagen leer war, noch nicht den ganzen Kies beisammen haben, würde er eben nur die Menge übernehmen, die er bezahlen konnte, und bezüglich des Restes irgendeine Lösung finden... Montag gab er seinem Bruder Tony nochmals die nötigen Anweisungen, um mit der Garage in der Bronx ins reine zu kommen, wo sie die Ware übernehmen und bezahlen würden, und mit Tony Feola von Anthonys Autogeschäft unten in der Stadt, der den Buick nachher wieder so zusammenmontieren mußte, wie er es im November gemacht hatte. In Nickys Caddy - in diesem Wagen würde die Polente ihn nicht vermuten - fuhr er noch am selben Abend abermals in die East End Avenue, um die getroffenen Vorbereitungen neuerlich zu überprüfen. Dort traf er sich mit Mouren, um mit ihm gemeinsam den Fahrplan für Dienstag festzulegen. Mouren gab ihm sogar eine Probe von dem Zeug - Madonna, ganz erstklassige Qualität! -, die er später im Laden großmütig Tony -202-
überließ. Sein Bruder verdiente es, sich ein paar Piepen extra zu verdienen. Er starrte durch das Schlafzimmerfenster in die Schatten jenseits der Straßenlampen. Ob sich da draußen wohl Bullen herumtrieben und das Haus beobachteten? Noch zwei Tage, und er würde die größte Menge Heroin abgesetzt haben, die je in einer einzigen Ladung in die Stadt gelangt war. Der heutige war wohl der gefährlichste Tag gewesen, dachte er. Er hatte schon zeitlich früh derbe Arbeitskleidung angelegt, sich in Nickys Wagen gesetzt und war die Schnellstraße hinauf bis zum Grand Central Parkway und dann über die TriboroughBrücke in die Bronx gefahren. In Shulmans Garage am Crotona Park wurde er von Tony schon erwartet. Es war alles vorbereitet. Hinten würde ihnen ein stilles Eckchen zur Verfügung stehen, wo sie in Ruhe an dem Buick arbeiten konnten. Zwischen zwölf und eins würde sich Mouren dort mit ihnen treffen. Er fuhr zur Tiefgarage von Nummer 45 East End Avenue hinunter und stellte den Caddy ganz hinten ab. Dann war ein unerwartetes Hindernis aufgetaucht. Der französische Buick stand wohl da, aber Patsy hatte keine Karte, und der Wagenpfleger hielt hartnäckig daran fest, daß nur der Chef, Feinberg, den Wagen herausgeben könne. Feinberg war auf ein paar Minuten fortgegangen und hatte die Schlüssel zum Buick in der Tasche. Mit wachsender Ungeduld lief Patsy in dem Verschlag auf und ab. Als der rothaarige Polyp ins Büro kam und seinen Ausweis vorzeigte, fiel Patsy beinahe in Ohnmacht. Er konnte nicht feststellen, ob der Bulle ihn erkannte. Sekundenlang hatte es so geschienen. Aber der Kerl mochte ihn auch nur so angestarrt haben, weil Patsy selbst so verdutzt drein sah. Als der Wagenpfleger, der dem Bullen auf die Straße gefolgt war, zurückkam und berichtete, daß der Mann sich tatsächlich in allen Garagen nach einem roten Dodge erkundigte, fiel Patsy ein -203-
Stein vom Herzen. Doch das berechtigte noch keineswegs zur Sorglosigkeit. Als Feinberg wenige Minuten später auftauchte, stieg Patsy eiligst in den französischen Buick und steuerte den Wagen geradewegs in die Bronx. Von dem Bullen war nichts mehr zu sehen. Tony und Mouren warteten in Shulmans Garage. Tony hatte einen großen Schiffskoffer mitgebracht, der im Keller seines Hauses abgestellt gewesen war. Darin befanden sich zwei reichlich abgenützte Handkoffer. Mouren hatte eine blaue Reisetasche, Patsy selbst einen schwarzen Werkzeugkasten. Im Licht einer tiefhängenden Glühbirne, ganz hinten in der Garage, holte Mouren einen Satz Pläne hervor, die er auf der Motorhaube des Buick ausbreitete. Sie benötigten drei Stunden, um die hundertzehn in Plastikhaut gehüllten Ein-Pfund-Pakete und die zwei Dutzend kleineren Päckchen mit dem weißen Pulver aus den engen Höhlungen im Fahrgestell des Buick herauszuklauben - alles in allem über fünfzig Kilo reines Heroin. Tony stopfte die Beutel in seine Handkoffer, bis Patsy endlich mit schmutzigem Gesicht, Hände und Arme von roten Kratzern und Schrammen bedeckt, die Arbeit beendet hatte und sich den Staub von den Kleidern klopfte. Mouren entnahm einigen Paketen Stichproben. Die Ware schien, wie vereinbart, von bester Qualität zu sein. Dann sprach er mit dem Franzosen über Geld. Patsy nahm 225.000 Dollar in großen Noten aus seinem Werkzeugkasten. Donnerstag, meinte er, würde er den Rest bezahlen. Wieviel er jetzt mitnehmen könne? Nach seiner Berechnung etwa vierzig Kilo. Sie zählten achtundachtzig Halb-Kilo-Pakete und ein Dutzend kleine Päckchen ab; den Rest, dreiundzwanzig EinPfund-Pakete und ein Dutzend kleiner Päckchen zu je einer Unze, transferierte Mouren aus Tonys Handkoffern in seine blaue Tasche; dazu legte er noch die säuberlich gestapelten Banknoten. Wissen Sie, meinte Patsy nachdenklich, indem er auf die -204-
Reisetasche blickte, diese Bündel ließen sich gerade jetzt sehr gut als Betriebskapital verwenden. Das große Quantum könnte man für später auf Lager legen. Würden sie ihm nicht so viel Vertrauen schenken? Der Franzose erwiderte, er werde mit Giant reden. Ob sie sich abends, nachdem Patsy den Buick zurückgefahren hatte, treffen könnten - um neun Uhr, in der 82nd Street? Patsy versprach, Mouren dort abzuholen, sobald er sich Nickys Cadillac aus der Tiefgarage von Nummer 45 geholt haben würde. Und wo, erkundigte sich Mouren, gedachte Patsy die nun übernommene Ware unterzubringen? Das sei ihre Sache, meinte Patsy und blinzelte seinem Bruder zu. Tony verstaute den Überseekoffer mit den Handkoffern im Buick, und Patsy legte seinen Werkzeugkasten dazu. Es war bald halb fünf, als sie im Rückwärtsgang aus der Garage fuhren. Patsy setzte Mouren auf der belebten Westchester Avenue ab und beobachtete gemeinsam mit seinem Bruder, wie der Franzose mit seiner blauen Reisetasche ein Taxi heranwinkte, mit dem er bald im dichten Verkehr verschwand. Dann fuhren sie die sechs Blocks bis zu Tonys Haus in der Bryant Avenue. Es dämmerte bereits, als die zwei Männer den schweren Überseekoffer über eine Betontreppe in den Keller und dort in einen abgeteilten Lagerraum schleppten. Auf einem Regal an der Hinterwand machten sie einen Platz frei und schoben den Koffer hinauf. Tony fand ein Stück Kreide und schrieb mit Blockbuchstaben auf den schwarzen Koffer: A. FUCA - 5/C. Dann gingen sie in die Wohnung und nahmen einen Drink mit Margaret, Tonys Frau; Patsy spielte mit den zwei Kindern. Um sieben Uhr saß er wieder im Buick, unterwegs zu Anthonys Autogeschäft. Er parkte am East Broadway, in der Nähe der Werkstätte, und legte die Schlüssel unter die Fußmatte. Die Garage war schon zu. Morgen, Mittwoch, würde Feola die Schweißarbeiten durchführen, das Spritzblech und die anderen Platten, die auf der -205-
Unterseite abgenommen worden waren, wieder einsetzen und den Buick nachher zurück auf die Straße stellen, wo Patsy ihn dann abholen konnte. Es gab sogar ein Gefäß mit Schlamm aus Frankreich, um das neu montierte Fahrgestell damit zu verschmieren. Anschließend würde er den Buick wieder in die obere Stadt, auf Nummer 45 East End Avenue, fahren und in der Tiefgarage abstellen. Donnerstag konnte sich ihn der Fernsehstar Angelvin von dort abholen, und alles würde vorbei sein. Patsy hatte sich an der Ecke East Broadway und Pike Street ein Taxi herangepfiffen und sich zur Ecke 79tb Street und York Avenue bringen lassen. Von dort war er zur East End Avenue hinüber- und die zwei Blocks zu Nummer 45 hinaufgegangen. Als er in Nickys Caddy die Garage verließ, mußte er an den Polypen denken, der vormittag hier herumgeschnüffelt hatte. Bis zu seiner Verabredung mit Mouren hatte er noch fünf Minuten Zeit; darum rollte er zur 96th Street hinauf und über die Schnellstraße wieder zur 73th hinunter, gerade nur, um sich gegen eine mögliche Beschattung abzusichern. Aber die Luft war rein. Mouren wartete schon in der 82th Street. Sie fuhren ein wenig durch die Straßen, während der Franzose ihm mitteilte, daß Giant tatsächlich bereit sei, ihm auch das restliche Quantum zu überlassen, wenn Patsy bis Donnerstag zumindest den Rest der Anzahlung erlegen könne. Schließlich stellten er und seine Organisation doch eine wertvolle Geschäftsverbindung dar. Patsy setzte Mouren in der 79th Street ab und machte sich in bester Stimmung auf die Heimfahrt. Nun lag die Goldgrube wirklich in Reichweite. Nur einen Tag noch. Patsy wandte sich vom Fenster ab und kehrte auf leisen Sohlen ins Bett zurück. Einen Tag noch. Was konnte in einem Tag noch schiefgehen? Mittwoch, den 17. Januar, nach einer nicht enden wollenden, kalten, unbequemen Nacht in ihrem Wagen, sahen die -206-
Kriminalbeamten Eddie Egan und Sonny Grosso und der Agent Frank Waters mit bitteren Gefühlen am frostigen blauen Himmel die Sonne über Brooklyn aufgehen. Von vereinzelten Grunz- und Keuchlauten und Flüchen abgesehen, wußte keiner viel zu sagen. Sonnys dunkle Bartstoppeln unter dem Kinn fühlten sich rauh an; er roch seine eigene Ausdünstung, zog eine Grimasse und öffnete ein Fenster. Waters rief die Zentrale, doch es gab keine Neuigkeiten. Egans Lautsprecher klang leise. „Du solltest das Ding aufladen lassen“, meinte Sonny. „Vor allem sollte ich mich selbst aufladen“, brummte Egan und murmelte einige Kraftausdrücke vor sich hin. Mit Hilfe von Waters stets griffbereitem „Dietrich“ hatten sie in der Nacht Patsys Oldsmobile durchsucht, aber nichts gefunden. Es war jetzt acht Uhr vorbei, ein heller, sonniger Morgen, und plaudernde Schulkinder, Bücher in den behandschuhten Händen, kamen aus den gepflegten Häusern der 67th Street und gingen oder hüpften zur Twelfth Avenue hinunter. Die drei Polizeioffiziere duckten sich in ihren Wagen und kamen sich wie Wegelagerer vor. In einer hüftlangen Wolljacke kam Patsy gegen halb neun allein aus dem Haus Nummer 1224 und bestieg seinen Olds. „Übernehmt ihr beide ihn“, schlug Egan über Funk vor. „Ich fahre inzwischen zur Imbißstube vor und warte dort, falls er euch abhängt.“ Doch Patsy fuhr nicht in seinen Laden. Er steuerte seinen Wagen über die Manhattan-Brücke nach New York und begab sich in ein Großhandelskaufhaus an der Ecke Houston und Forsyth Street. Während Sonny und Waters draußen von kurz nach neun bis zwölf Uhr fünfunddreißig warteten, durchstöberte Patsy das Kaufhaus von oben bis unten und kaufte Stapelwaren für seinen Laden ein - Zigaretten, Trinkhalme, Papierbecher, Servietten, saure Drops, Schreibwaren. Er kam mehrmals mit Paketen zum Wagen, und als er wieder die Heimfahrt nach Brooklyn antrat, war der Hintersitz vollgeladen. Kurz vor eins -207-
trafen Sonny und Waters in der Nähe der Imbißstube ein, begaben sich zu Egan im St.-Catherine-Hospital und beobachteten in den nächsten fünfundvierzig Minuten, wie Patsy und sein Bruder Tony, der gegen elf aufgekreuzt war, die Einkäufe abluden. Um zwei Uhr kam Patsy heraus und fuhr zum zweitenmal nach New York hinein. Diesmal über die Williamsburg-Brücke; von der Delancey Street schwenkte er in die Allen Street ein und bog nach links zum East Broadway ab. Egan und Sonny, jetzt in einem Wagen, beobachteten, wie er in der Mitte des Blocks langsamer wurde, wendete und vor einer Autoreparaturwerkstatt anhielt. Wie aus dem Firmenschild über der breiten, hohen Einfahrt ersichtlich war, lautete der Name des Unternehmens „Anthony's“. Die Kriminalbeamten sahen sich an; es dämmerte ihnen etwas. Das war genau die gleiche Stelle, an der Patsy, seine Frau und ihre Freundin Marilyn in jener Novembernacht angehalten und Patsy in dem kanadischen Buick eine Rundfahrt angetreten hatte, die wenige Minuten später in der Cherry Street endete. Patsy blieb etwa zwanzig Minuten bei Anthony's. Als er um zwei Uhr fünfundvierzig zu seinem Wagen zurückkehrte, trug er etwas, was wie das Köfferchen eines Arztes, wie eine Art Werkzeugkasten aussah. Dann, von den neugierigen Kriminalbeamten in sicherer Entfernung gefolgt, fuhr Patsy zur Delancey Street und zur Auffahrt auf die Williamsburg-Brücke zurück. Dichter Nachmittagsverkehr hatte eingesetzt, und Patsys Olds wurde durch mehrere Fahrzeuge von Egans Corvair getrennt. Während sie dahinkrochen, hatte Sonny die rechte Tür teilweise geöffnet und versuchte, halb stehend, den blauen Wagen im Auge zu behalten. Als der Verkehrsstrom fast zum Erliegen kam, stieß er die Tür wutschnaubend auf und sprang hinaus. „Ich laufe vor und sehe nach, ob wir ihn noch haben“, rief er seinem Partner zu. Doch nach ein oder zwei Minuten kam die -208-
Kolonne wieder in Fahrt und bald holte Egan Sonny wieder ein, der mit leidendem Gesichtsausdruck dahintrapste. „Den kriegen wir nicht mehr“, schnaufte Sonny, indem er wieder in den Corvair kletterte. „Er ist fünf oder sechs Wagen vor uns, und so wie der fährt, ist er von der Brücke 'runter und über alle Berge, bis wir drüben sind.“ „Na, wollen wir hoffen, daß er in seinen Laden zurückfährt“, entgegnete Egan und mahnte die im Spital und bei Patsys Wohnung stationierten Beamten über Funk zur Wachsamkeit. Sie selbst hielten auf die Imbißstube zu. Sie waren noch acht Blocks von der Bushwick Avenue entfernt, als Frank Waters berichtete, daß Patsy sich mit seinem Bruder Tony und Barbaras Vater bereits im Laden befinde. Vom Krankenhaus aus nahmen die Kriminalbeamten wieder die Überwachung auf. Der Besuch bei Anthony gab ihnen zu denken, ebenso das schwarze Köfferchen, das Patsy mitgenommen hatte. Wenn sie Waters' Theorien Glauben schenken wollten, wonach ein Auto - vielleicht sogar wie im vergangenen November ein kanadischer Buick - bei der Durchführung von Patsys Geschäften eine wesentliche Rolle spielte, dann konnte die Reparaturwerkstätte sehr wohl ein wichtiges Bindeglied darstellen. Was den Inhalt des Kastens betraf, so wurden die verschiedensten Möglichkeiten ventiliert: Spezialwerkzeuge, um das geheimnisvolle Auto zu enthülsen, der Stoff selbst oder Pakete mit Bargeld für die Übernahme der Ware. Dem Rauschgiftdezernat blieben noch knappe zweiunddreißig Stunden, bevor die Durchsuchungsbefehle erloschen. Den fieberhaft aufgestellten Theorien der Polizeioffiziere lag mehr Wunschdenken zugrunde als logische Schlußfolgerungen. Hätten sie geahnt, wie nahe ihre Mutmaßungen an die Wahrheit herankamen, sie wären verblüfft gewesen. Gefühl und Urinstinkt drängten sie dazu, jetzt zuzuschlagen, Patsy zu schnappen, bevor es wirklich zu spät war - und doch hielten sie sich zurück. -209-
Vielleicht war es schon zu spät: dann machte es ohnehin nichts mehr aus. Um so stärker klammerten sie sich an die durch jahrelange Erfahrung gerechtfertigte Hoffnung, der Höhepunkt sei noch nicht erreicht; eine übereilte Maßnahme, und würde sie auch nur um eine Stunde zu früh getroffen, konnte die geringen Chancen, die noch verblieben, zunichte machen. Sie mußten Patsy beschatten und durften ihn keine Minute aus den Augen lassen. Um vier Uhr nachmittags kamen Patsy und Tony zusammen aus der Imbißstube und bestiegen Patsys Oldsmobile. Wieder fuhr Patsy durch die Grand Avenue zur Brücke nach New York zu. Diesmal aber schwenkte er in die Brooklyn-QueensSchnellstraße ein und brauste in südlicher Richtung davon. Da inzwischen zwei ausgeruhte Bundesagenten im Krankenhaus eingetroffen waren, nahmen sowohl Waters in seinem weißen Olds als auch Egan und Sonny im Corvair die Verfolgung der Brüder Fuca auf. Diese führte zunächst zu Patsys Haus, wo er den Wagen parkte. Dann gingen die beiden Brüder um die Ecke zur Twelfth Avenue - wo sie in Nicky Travatos grauen Cadillac stiegen, der leer am Randstein stand. Jetzt kommt was, sagten sich die Kriminalbeamten. Patsy und Tony fuhren den gleichen Weg über die Schnellstraße zurück. Bei der Abzweigung zur ManhattanBrücke jedoch lenkte Patsy den Wagen zur Auffahrt nach New York. Er verließ die Brücke bei der Canal Street, bog rechts in die Pike Street ab, deren Verlauf den Fluß entlang er bis zur South Street folgte, wo er einschwenkte und vor dem Pike Slip Inn anhielt. Tony stieg aus und ging in die Bar. Patsy steuerte den Caddy durch die Pike Street zum East Broadway hinauf. „Er fährt wieder zu Anthony's zurück“, tippte Egan. Doch einen Block vor dem East Broadway bog Patsy in die Henry Street ab. „Hier haben wir damals die ganze Nacht auf ihn gewartet, als -210-
er Karten spielen ging“, sagte Waters. „Es ist zwar noch ein bißchen früh...“ „Vergiß nicht, daß auch seine Großmutter in dieser Straße wohnt“, mahnte Sonny. Da sie Patsy nicht durch die verstopfte Straße folgen wollten, blieben Egan und Sonny in der Pike Street, während Waters über den East Broadway den Block umkreiste, um auf diese Weise die Henry Street von der anderen Seite abzusichern. Doch als die beiden Polizeiwagen an beiden Enden der Henry Street Stellung bezogen hatten, war der Cadillac nicht mehr da. Während Sonny und Waters an den Ecken warteten, schritt Egan zu Fuß den ganzen Block von der Pike bis zur Rutgers Street ab. Der Caddy war einfach verschwunden. Es gab nur eine Erklärung: Während sie so vorsichtig manövriert hatten, war Patsy einfach die Henry Street weitergefahren oder in eine andere Straße abgebogen. Die Spur war kalt. Sie eilten zu ihren Wagen zurück, schlugen über Funk Alarm, sausten zum East Broadway hinauf und trafen sich bei Anthonys Reparaturwerkstätte. Der graue Caddy war nicht zu sehen. Sonny ging hinein und sah sich um. Als ein Mechaniker, der wie ein Italiener aussah, auf ihn zutrat, erklärte Sonny, er habe eine schadhafte Dichtung, die in Ordnung gebracht werden müsse. Er würde jetzt zusperren, sagte der Mann, und Sonny möge morgen wiederkommen. Grosso trat auf die Straße und schüttelte den Kopf: Nickys Wagen war nicht in der Garage. Sie sausten zum Pike Slip Inn zurück, und Sonny ging hinein. Wenige Minuten später kam er wieder heraus und setzte sich mißmutig zu Egan in den Wagen. „Tony ist auch fort“, brummte er. Sie rollten nochmals durch die Henry Street... und über den East Broadway. Nichts. Patsy war ihnen wieder einmal durch die Finger geschlüpft. Und nach der Art zu schließen, wie er das fertiggebracht hatte, mochte das wohl ihre letzte Chance -211-
gewesen sein, ihn zu fassen zu kriegen. Old Slip und die anderen engen Gäßchen rings um das Erste Revier lagen schon um halb sechs Uhr im Dunkel und nahezu verlassen da. Die südliche Spitze Manhattans ist einer der wenigen Punkte dieser pulsierenden Stadt, wo das Großstadtgetriebe abends faktisch zum Stillstand kommt. Am Rande dieser Gegend, entlang der South Street, verließen immer noch einige Wagen die Parkplätze, auf denen sie tagsüber abgestellt gewesen waren, und über den Viadukt schob sich, Stoßstange an Stoßstange, eine Autokolonne zur Staten-IslandFähre und zu den Einfahrten in den Brooklyn-Battery-Tunnel; in wenigen Stunden jedoch würden sich Einsamkeit und Abgeschiedenheit über die Straßen senken. Vereinzelte Schritte würden zwischen den wettergeschwärzten Häusern widerhallen und hin und wieder Scheinwerfer flüchtig das Pflaster erhellen. Schon um halb sechs waren der gelbliche Schimmer, der durch die hohen Glastüren einer Feuerwache drang, und gegenüber in der Front Street die blaßgrünen Kugeln zu beiden Seiten des schwach erleuchteten Eingangs zum Revier nach außen hin die einzig erkennbaren Zeichen von Betriebsamkeit im Old Slip. Im Polizeigebäude war alles ruhig. Uhren tickten und Radiatoren zischten; manchmal klirrten sie auch. Der wachhabende Polizist saß allein hinter der hohen Theke und las. Zwei junge Wachtmeister, mit offenem Kragen, ohne Koppel und Dienstabzeichen, standen in ihrer blauen Uniform vor einem Anschlagbrett und unterhielten sich flüsternd. Sie schienen gar nicht hierher zu passen. Der Vierbiszwölf-Turnus hatte vor neunzig Minuten den Dienst angetreten, und bis zum Eintreffen der Ablösung würden noch Stunden vergehen. In einem der Aufenthaltsräume im zweiten Stockwerk rekelte sich ein mit einem Sweater bekleideter Kriminalbeamter, in eine Zeitschrift vertieft, in einem Drehstuhl, während ein anderer, mit weißem Hemd und brauner Krawatte, über einen Schreibtisch gebeugt -212-
mit kratzender Feder etwas auf liniertes Papier schrieb. Anders im Stockwerk darüber, wo zwar auch nicht viel mehr Bewegung, dafür aber eine seltsame, von Entschlossenheit geprägte Atmosphäre zu verspüren war. Nur wenige Beamten saßen in dem großen Stierpferch rechter Hand vom Treppenabsatz an ihren von Lampen erhellten Schreibtischen und arbeiteten schweigend; der Großteil des Raumes lag im Schatten. Chefinspektor Careys Büro in der hinteren Ecke war dunkel, doch aus dem Zimmer daneben strahlte helles Licht. Aber Hawkes saß nicht an seinem Schreibtisch. Er und fünf andere Männer mir. grimmigen Gesichtern hatten sich dort am ändern Ende des Ganges um einen Konferenztisch versammelt, der üblicherweise von der Nachforschungssonderabteilung verwendet wurde. Die Männer, die, mehr oder minder abgespannt, neben Hawkes Platz genommen hatten, waren Eddie Egan, Sonny Grosso, Agent Frank Waters und schließlich noch Sergeant Jack Fleming und außerdem der Kriminalbeamte Jack Gildea von der NSA. Die Männer schwiegen. Egans eingefallenes Gesicht war von roten Bartstoppeln bedeckt. Er trug ein blaugelb kariertes Flanellhemd; seine schwarze, hüftlange Lederjacke hing über der Stuhllehne. Sonny zupfte am Rollkragen seines Sweaters; auch er war unrasiert; seine Augen waren geschwollen und rot unterlaufen. Die ändern hatten gewöhnliche Hemden und Krawatten, aber ihre Hemdkragen waren offen, die Krawatten gelockert und die Hemdärmel aufgekrempelt. Die Jacken hingen an Türklinken oder lagen zerknittert auf einem Schreibtisch. Es war ein langer Tag gewesen. An sich wollten sie den Fall Fuca durchsprechen, aber es gab eigentlich wenig darüber zu sagen. Es war höchst ärgerlich, aber sie hatten Patsys Überwachung zu guter Letzt schlicht und einfach verbockt. Hawkes räusperte sich. „Also, meine Herren?“ -213-
Die Polizeioffiziere rückten nervös auf ihren Stühlen herum, aber keiner wollte sich als erster äußern. Schließlich ließ sich Frank Waters in seiner gedehnten Redeweise vernehmen: „Wenn ich für mein Büro sprechen soll, möchte ich sagen, die Sache sieht oberfaul aus. Was haben wir erreicht? Die Franzosen sind futsch und jetzt auch noch Patsy - und dabei sah es ganz so aus, als ob er heute etwas unternehmen wollte.“ Sein Blick zuckte zu Egan hinüber. Der Kriminalbeamte lehnte sich in seinen Stuhl zurück und runzelte nur ärgerlich die Stirn. Waters begann ihn langsam zu reizen. In letzter Zeit schienen alle seine Bemerkungen versteckte Spitzen gegen die Polizei oder gegen Sonny und ihn zu enthalten - oder nur gegen ihn? „Etwas hatte er wohl vor“, meinte Sonny müde. Egan richtete sich auf. „Er hat jeden Tag etwas vorgehabt. Ich sage, stecken wir die Haussuchungsbefehle zu uns und nehmen wir uns die ganzen Schlupfwinkel vor.“ „Um wen oder was zu finden?“ wandte Waters ein. „Wir haben doch nichts in der Hand!“ „Er hat recht, Eddie“, sagte Hawkes ruhig. „Wir wissen, Patsy ist weder zu Hause noch in seinem Laden. Tony ist nicht daheim - der ist im Laden. Travato ist zu Hause, aber sein Wagen ist nicht da, und davon haben wir so lange nichts, als wir nicht wissen, was Patsy treibt. Und die Franzosen - wer weiß, wo die sich aufhalten? Wo willst du zuschlagen?“ „Die Durchsuchungsbefehle laufen morgen nacht ab“, gab Egan zu bedenken. „Damit bleiben uns immer noch mehr als vierundzwanzig Stunden.“ Der sonst so pessimistische Sonny überraschte seinen Partner mit dieser geistreichen Bemerkung. „Wir dürfen die Hoffnung nicht sinken lassen“, meinte Waters. „Vielleicht haben wir auch einmal Glück.“ -214-
„Wir können die Durchsuchungsbefehle immer noch morgen verwenden, wie immer es auch läuft“, sagte Hawkes. „Wenn wir auch nur die geringste Chance sehen“, fügte Waters hinzu, „müssen wir mit den Durchsuchungsbefehlen bis zum letzten Moment warten. Davon hängt unser ganzer Fall...“ „Unser Fall - es ist Sonnys und mein Fall, ein Fall der NewYorker Polizei und keine Bundessache!“ fuhr Egan dazwischen und bedauerte sogleich seinen läppischen Ausfall. Jack Fleming ergriff das Wort: „Solches Gerede wird uns nicht weiterbringen.“ Sonny stand auf und streckte sich. „Also, wenn sonst keiner irgendwelche tolle Ideen hat, will ich euch sagen, was ich jetzt tun werde. Seit drei Wochen war ich nicht mehr bei meiner Mittwochabend-Kegelrunde. Statt immer wieder im Kreis herumzulaufen, werde ich mal wieder ein paar Kugeln rollen lassen. Zu erreichen bin ich...“ Jim Gildea schmunzelte. „Ich hätte auch nichts gegen einen freien Abend einzuwenden. Meine Kinder kennen mich schon fast nicht mehr.“ Egan stand hastig auf. „Nun, ich hoffe, ihr werdet euch alle recht gut amüsieren.“ Er schlüpfte in seine Jacke, marschierte zur Treppe und verließ die Polizeiwache. Es war sechs Uhr fünfunddreißig abends, als Egan durch das Dunkel des Old Slip zu seinem Wagen fand. Carol Calvin kam ihm in den Sinn. Um diese Zeit hatte sie Dienst. Er hatte sie seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Heute abend war's gerade richtig.
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15 Das Restaurant, in dem Carol Calvin als Kellnerin arbeitete, lag an der Ecke Nassau Street und John Street, genau fünf Blocks nördlich der Börse und der Wall Street. Dem Gewirr der engen Einbahnstraßen des Bankenviertels ausweichend, steuerte Eddie Egan seinen Corvair die South Street hinauf, die bis auf einige wenige Lastwagen auf den Laderampen am Fluß verlassen dalag. Er hatte die Absicht, über die Fulton Street in die Nassau Street zu gelangen. Er war müde und enttäuscht und wollte nicht mehr an komplizierte Dinge denken. Den heutigen Abend würde er dazu benützen, seine Freundschaft mit Carol wieder ins Lot zu bringen. Was nicht leicht sein würde. Das letztemal hatte er kurz vor Neujahr mit ihr gesprochen. Sie war damals immer noch an dem reichen alten Knacker aus Jersey interessiert gewesen und hatte nicht verstehen können, warum Egan sich so heftig gegen etwas stemmte, was ihnen beiden doch nur von Nutzen sein konnte. Doch in jenen wenigen Momenten, die er in diesen letzten hektischen Wochen für sich allein gehabt hatte, war ihm zum Bewußtsein gekommen, daß sie ihm abging. Bei dem Gedanken an ihre goldene Schönheit in seinen Armen glitt ein erregendes Frösteln über seinen Rücken. Aber, dachte er dabei, war es nur körperliches Verlangen, das sie aneinanderkettete? Nun, wenn es so war, müßte er ja ein Narr sein, wollte er nicht den größten Nutzen daraus ziehen. Heute nacht würde er versuchen, sich in ihr zu verlieren. Erst als die Brooklyn-Brücke vor ihm auftauchte, wurde ihm bewußt, daß er schon etliche Blocks weiter gefahren war, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Noch eine halbe Meile weiter überspannte die vertraute Manhattan-Brücke die South Street und den Viadukt - die Manhattan-Brücke, Pike Slip Inn, Henry Street und East Broadway, Patsy Fucas Jagdgebiet. „Macht der -216-
Gewohnheit“, sagte er mit einem bitteren Lächeln laut vor sich hin. Nun, vielleicht hatte es das Schicksal so gewollt: warum sollte er sich nicht noch einmal umsehen? Er hatte noch reichlich Zeit für die Nassau Tavern. Es war erst Viertel vor sieben, und Carol hatte bis elf Uhr Dienst. Er bog nach links in die Pike Street ein, fuhr an Blairs Inn vorbei und durch die Henry Street. Alles war ruhig in der schmutzigen Straße. Er erreichte den East Broadway durch die Rutgers Street und schlug die Richtung zur unteren Stadt ein. Zu seiner Rechten tauchte Anthonys Autogeschäft auf - die einzige Lücke in einer Reihe hintereinander geparkter Wagen. Der Laden war dunkel und geschlossen. Und dann erblickte er Nicky Travatos grauen Cadillac - der dritte Wagen jenseits von Anthonys Einfahrt. Egan wäre beinahe auf die Bremse gesprungen, beherrschte sich aber noch rechtzeitig und fuhr bis zur Kreuzung Pike Street weiter. Patsy oder seine Freunde konnten sich in der Nähe aufhalten und beobachten, ob irgendein übereifriger Polyp für den Wagen Interesse zeigte. Er umkreiste den Block, kehrte zum East Broadway zurück und schob sich an den Randstein, wobei er mit dem halben Wagen in die Halteverbotszone geriet. Er stellte Motor und Scheinwerfer ab und griff nach dem Mikrophon. „Hier spricht Glotzauge. Zentrale, bitte melden. Glotzauge an Zentrale... hört ihr mich? Ende.“ „Verstanden. Wir hören dich.“ „Ich habe soeben den Wagen gefunden, den unser Freund benützt, den grauen Cadillac.“ „Bitte wiederholen. Dein Signal kommt verzerrt. Was ist da los mit einem Cadillac? Bitte wiederholen!“ Egan drehte den Lautstärkenregler auf, so weit es nur ging. „Ich sagte, ich habe den Cadillac gefunden, der uns heute nachmittag entwischt ist. Ich bin jetzt am East Broadway, auf der Westseite, fast an der Ecke Canal Street. Der Wagen, der -217-
Caddy, ist bei Anthonys Autogeschäft geparkt, auf halbem Weg zwischen mir und Pike Street, auf derselben Seite. Ich bleibe hier und warte, ob unser Mann ihn holen kommt. Wen habt ihr dort, den ihr mir zur Unterstützung schicken könnt? Habt ihr mich verstanden? Ende.“ Es folgte eine von zischenden atmosphärischen Störungen erfüllte Pause. Egan stieß eine Verwünschung aus und wollte die Meldung schon wiederholen, als die Zentrale sich wieder meldete. „Warte mal einen Augenblick. Ja, wir haben dich verstanden. Du kommst wirklich nur sehr schwach durch. Hör mal, wir haben niemanden hier. Es sind alle nach Hause gegangen oder im Einsatz...“ „Dann sucht eben jemanden!“ bellte Egan. „Wir können uns nicht noch eine Pleite leisten! Mit all den Agenten, die wir in New York haben...“ „Gut, gut. Wir werden schon jemanden finden. Wir verständigen dich noch.“ „Verstanden.“ Das war um sieben. Keine Sekunde ließ Egan Anthonys Laden aus den Augen. Von seinem Standort aus konnte er den Cadillac selbst nicht sehen, aber er wußte, daß der Wagen etwa acht oder neun Meter nach der Reparaturwerkstätte abgestellt war. Innerhalb dieses Gesichtskreises konnte er jede Bewegung wahrnehmen. Egan war nicht mehr müde und nicht mehr niedergeschlagen, und er dachte auch nicht an Carol. Er war wieder ganz Polizist. Um sieben Uhr vierzig schnatterte der Lautsprecher: „Glotzauge? Hier Ripa. Komme über die Park Row zu East Broadway. Sitzt du noch an derselben Ecke? Bitte bestätigen.“ „Verstanden“, antwortete er. „Bist du allein?“ „Eddie Gay ist bei mir. Wie steht's mit unserem Freund?“ „Noch nichts Neues. Hör mal, versuch einen Platz Ecke East -218-
Broadway und Pike zu finden; dann haben wir den Caddy zwischen uns. Einer muß ja mal kommen. Fein, daß ihr beide da seid.“ „Verstanden. Übrigens - wir hören dich sehr schlecht. Der Ruf kommt nicht immer durch.“ „Ja, ich weiß. Ich hoffe nur, es wird für heute reichen. Ende.“ Egan fühlte sich ein wenig leichter, weil er wußte, daß die zwei Bundesagenten jetzt das andere Ende des Blocks absichern würden. Er lehnte sich zurück und zündete sich eine Carnel an. Bevor er noch ausgeraucht hatte, meldete sich Ripa. „Okay, wir haben einen Platz gegenüber Pike Street gefunden. Was tut sich?“ „Hat sich nichts geändert“, erwiderte Egan. „Verstanden.“ Kaum hatte der Kriminalbeamte seinen Blick wieder dem East Broadway zugewendet, als eine blaßblauweiße, zweitürige Sportlimousine, die langsam vorbeifuhr, seine Aufmerksamkeit erregte. Egan zuckte zusammen wie von der Tarantel gestochen. Drei Männer saßen vorn, einer von ihnen war Patsy. Die zweifarbige Limousine, ein Chevrolet, der seine guten sechs oder sieben Jahre auf dem Buckel hatte, verlangsamte die Fahrt. Eines ihrer Schlußlichter funktionierte nicht. Egan preßte das Mikrophon an den Mund: „Seht ihr den weißblauen Chevy? Er ist drin!“ Egan beugte sich aus dem Fenster, um den Chevy zu beobachten. Die Limousine blieb dort stehen, wo seiner Schätzung nach der Cadillac geparkt sein mußte. „Er steigt aus“, warnte er die Agenten. „Wir sehen ihn - aber wir hören dich kaum.“ „Er spricht mit den Männern im Wagen“, fuhr Egan fort. „Er geht zum Caddy... Jetzt ist er wieder beim ändern Wagen...“ Egan zog den Kopf ein. „Er hat zurückgeschaut. Hoffentlich hat -219-
er mich nicht erkannt.“ Vorsichtig schob er den Kopf wieder durchs Fenster. „Hoppla! Jetzt geht er herum und klettert in den Fahrersitz vom Chevy! Der Hund hat was gemerkt.“ Der Chevrolet fuhr an. „Paßt auf, paßt auf sie auf!“ warnte Egan die Kollegen. „Sie kommen auf euch zu.“ Er fuhr rücklings in die Verbotszone ein, legte den ersten Gang ein und scherte mit Schwung aus. „... schwenken links in die Pike ab“, berichtete Jack Ripa. Egan stieg aufs Gas. „Wenn ihr mich hören könnt“, rief er ins Mikrophon, während er sich der Kreuzung näherte, „bleibt, wo ihr seid, und laßt den Caddy nicht aus den Augen. Ich übernehme...“ „Übernimmst du ihn?“ Ripas Stimme klang dringlich. „Sollen wir beim Caddy bleiben?“ „Das hat noch gefehlt!“ schnaubte Egan. „Jetzt hören sie mich überhaupt nicht mehr!“ Er kam zur Ecke Pike Street. Während er vorbeifuhr, deutete er aufgeregt zu den Agenten hinüber. „Okay, verstanden“, sagte Ripa. „Der Chevy ist in die Henry Street eingebogen.“ Egan steuerte den zu stark gefederten Corvair durch die breite Pike Street und bog mit quietschenden Rädern in die Henry Street ab. Der andere Wagen, durch das fehlende Schlußlicht leicht erkennbar, war einen Block voraus. Für Egan bestand kein Zweifel, daß Patsy, der Meisterfahrer, feststellen wollte, ob er beschattet wurde. Über drei weitere Blocks setzte der Chevy seine Fahrt durch die Henry Street fort, bog dann scharf rechts in die Clinton Street ein, die durch die LaGuardiaHochhausanlage führt. Egan nahm die Ecke gerade noch rechtzeitig, um das eine Schlußlicht in die Cherry Street verschwinden zu sehen, woraus sich zu ergeben schien, daß Patsy wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehren wollte. Egan folgte in etwa hundert Meter Abstand; für Finessen war es jetzt zu spät. Der Chevy bog links in die Jefferson Street ab und -220-
hielt auf den Fluß zu. Egan schwang um die Ecke und bremste. An der nächsten Kreuzung, Water Street, stand der Chevy mit laufendem Motor; einer der Männer stieg aus und kletterte in einen anderen, am Randstein geparkten Wagen. Es war nicht Patsy. Der Chevy setzte sich neuerlich in Bewegung und fuhr in schnellem Tempo weiter, zur South Street hinunter. Egan erhöhte die Geschwindigkeit. Doch bevor er noch die Water Street erreicht hatte, brach der an der Ecke geparkt gewesene Wagen aus der Reihe aus und stellte sich ihm quer in den Weg. „Saukerl!“ rief Egan aus und trat mit voller Kraft auf die Bremse. Es war ein hellgrüner Valiant, vermutlich ein einundsechziger. Egan erkannte Wagen und Fahrer wieder. Es war ein Freund Patsys aus dem Pike Slip Inn namens Solly DiBrasco, kurz „Brass“ genannt, ein Verbrecher und, wie die Polizei vermutete, einer von Patsys „Verbindungen“. Egan drückte heftig auf die Hupe. Der Valiant rührte sich nicht. Egan steuerte den Corvair ein paar Meter zurück und setzte von neuem an, wobei er auf die linke Straßenseite zuhielt. DiBrasco ließ den Valiant gerade so weit vorschnellen, um Egan das Vorbeikommen unmöglich zu machen. „Du dreckiger Hund!“ Egan erstickte beinahe vor Wut. Er packte das Mikrophon. „Glotzauge hier. Einer von seinen Freunden blockiert mich, während er selbst mit dem ändern Wagen geflitzt ist. Das ist eine bewußte Behinderung einer Amtshandlung! Der Wagen muß gestopft sein mit Stoff! Wenn mich einer von euch hört - schnappt den Hurensohn!“ beschwor er seine Kollegen, der Vorschrift nicht achtend, die den Gebrauch von Fluchworten im Funkverkehr untersagt. „Wo bist du?“ kam Jack Ripas Stimme über den Lautsprecher. „Wir kommen.“ Egan knurrte Anweisungen. Wieder hatte er den Wagen nach hinten rollen lassen. Während er nun den Corvair nach rechts -221-
lenkte, zog er mit der linken Hand seine Achtunddreißiger aus der Pistolentasche und hielt sie aus dem Fenster auf den Fahrer des Valiant gerichtet. „Laß mich vorbei, du verdammter Schweinehund!“ brüllte er Brass an. „Sonst knallt's!“ Mit dem Revolver herumfuchtelnd, steuerte Egan den Wagen mit der anderen Hand hinter dem Valiant vorbei. Jefferson Street war natürlich leer. Verwünschungen ausstoßend, peitschte Egan um die Ecke. Das einzige Fahrzeug vor ihm in der South Street hatte zwei rote Schlußlichter. Nach einigem Zögern jagte er die Pike Street zum East Broadway hinauf. Im selben Moment, da er um diese Ecke bog, wußte Egan, daß er geschlagen war. Vor Anthonys Autogeschäft war ein gähnendes Loch in der Reihe der geparkten Wagen - dort, wo der graue Cadillac gestanden hatte. Egan hielt sich nicht weiter auf. Er sauste über den East Broadway zur Clinton Street zurück und zum Fluß hinunter. Zumindest konnte er sich Patsys Komplicen schnappen. Doch als er die Ecke Jefferson Street und Water Street erreichte, stand der Valiant brav da, wo er ursprünglich geparkt gewesen war. Von DiBrasco war nichts zu sehen. „Setzen wir uns zusammen“, fauchte Egan ins Mikrophon. Die Büros des Bundesrauschgiftdezernats befinden sich in dem gewaltigen Federal Office Building in der Church Street 90, einem langen Block westlich vom Broadway. Weitere drei Blocks westlich fließt der Hudson, zwei Blocks östlich liegt der City Hall Park. Obgleich die Straßen hier breiter und die Gebäude höher, geschäftlich nüchterner und imposanter sind, ist die Gegend nachts doch fast ebenso verlassen wie rings um Old Slip an der Ostspitze Manhattans. Die wenigen Fahrstühle, die nachts im Federal Office Building in Betrieb stehen, werden von Nachtwächtern bedient. -222-
Im sechsten Stockwerk trägt eine Glastür in der Ecke die Nummer 605 und die Aufschrift „Federal Bureau of Narcotics“. Durch die Tür gelangt man in einen spärlich möblierten Empfangsraum mit zwei Klubsesseln und einem Tischchen; hinter einer Schranke steht der Schreibtisch eines Auskunftsbeamten. Daran schließt sich ein Saal an, der in sechs Teile aufgegliedert ist, die den sechs Gruppen des New-Yorker Büros entsprechen. Jede Gruppe besteht normalerweise aus zwanzig Agenten und verfügt über eine eigene Schreibkraft und eine eigene Funkanlage. Jede Abteilung ist mit acht oder mehr in bequemen Zwischenräumen angeordneten Schreibtischen ausgestattet, mehr als genug, um die Zahl der Agenten aufzunehmen, die sich zu gegebenem Zeitpunkt im Büro aufhalten. Die Atmosphäre von Geräumigkeit und Komfort steht in markantem Gegensatz zu der an Verwahrlosung grenzenden des Rauschgiftdezernats der New-Yorker Polizei. Zusätzlich verfügen die Bundesagenten über eine beachtliche Vielfalt von Ausrüstungen und Einrichtungen. Hat ein städtischer Kriminalbeamter Gelegenheit, seine im Dienst der Bundesregierung stehenden Kollegen zu besuchen, wird er beim Verlassen des Hauses Church Street 90, bewußt oder unbewußt, eine Regung von Unzufriedenheit kaum unterdrücken können. So pflegte auch Eddie Egan zu empfinden, und an jenem Abend reichte sein Groll noch tiefer, hatte sich doch die Situation im Fall Fuca in den letzten Tagen zusehends verschlechtert. Immer noch schäumte Egan über die Unverschämtheit, mit der Patsys Ableger Brass ihm den Weg verstellt hatte. Aber wenigstens wußte er, wo Solly zu finden war, sobald diese Geschichte erledigt sein würde - wenn sie nicht schon längst erledigt war. Waters war der ranghöchste Agent in Gruppe vier. Auf Grund des ihm von Jack Ripa übermittelten Alarms Egans war es ihm gelungen, bis halb zehn Uhr abends weitere siebzehn Agenten zusammenzutrommeln. Dick Auletta war bisher als einziger -223-
New-Yorker Kriminalbeamter dem Aufruf der Funkzentrale gefolgt. Die zwanzig Männer waren nun in Abteilung vier versammelt; die einen standen, die anderen saßen auf Schreibtischen oder rittlings auf Stühlen. Man hatte ihnen Kaffee und Sandwiches heraufgeschickt. Wieder hatten sie ihre Jacken abgelegt und die Krawatten gelockert. Sie sahen alle müde aus. Egan, Ripa und Eddie Guy berichteten, wie Patsy ihnen wieder entwischt war. „Ich bin fest davon überzeugt, daß der Wagen, den Patsy heute abend fuhr, voll beladen war“, erklärte Egan. „Daß der Holzlöffel mich blockierte, war eindeutig eine gesetzwidrige Handlung. Ich sage, nehmen wir uns Patsys Haus vor, die Wohnung von seinem Alten und alle ändern Lokalitäten, für die wir Haussuchungsbefehle haben, und machen wir's jetzt, sonst können wir die ganze Operation in den Kamin schreiben!“ „Ich kann dich gut verstehen, Eddie“, entgegnete Waters, „aber das haben wir doch schon alles in deinem Büro durchgekaut. Hättest du Patsy heute abend mit dem Zeug im Wagen geschnappt - wunderbar. Aber jetzt, da er wieder untergetaucht ist, sehe ich kaum mehr eine Chance für uns.“ Auf Waters' Schreibtisch klingelte das Telephon. „Viersiebennull.“ Er horchte eine kurze Weile in den Apparat und sagte dann: „Okay. Paßt dort jemand auf ihn auf? Okay. Danke.“ Er legte den Hörer auf und wandte sich den ändern zu. „Das war die Zentrale. Patsy ist eben wieder nach Hause gekommen - in seinem eigenen Wagen, dem Olds.“ „Er muß ihn irgendwo mit Travato ausgetauscht haben“, meinte Egan. „Schlagen wir zu, sage ich.“ „Schau“, entgegnete Waters, „selbst wenn wir annehmen, daß er das Zeug heute abend bei sich gehabt hat, war er doch ganz gewiß nicht so dumm, es mit sich nach Hause zu schleppen. Und wir wissen doch nicht, wo er sich herumgetrieben hat, seit du -224-
ihn verloren hast.“ „Richtig“, brachte Egan ihn mit einer Geste zum Schweigen, „und wir haben das Thema auch schon ausreichend behandelt. Ich will euch sagen, wo ich hinauswill: es ist meine ehrliche Überzeugung, daß wir die Sache vermurkst haben. Die Franzosen, die Schlüsselfiguren - ich glaube nicht, daß wir die noch je zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich haben sie ihr Geschäft abgeschlossen und sind geflitzt. Vielleicht haben sie's auch abgeblasen, weil ihnen zu heiß geworden ist, aber ich glaube nicht. Nach alledem, was wir erfahren haben, war es zu groß. Das Milieu braucht die Ware. Also schön, ich muß auf die Franzosen verzichten. Aber Patsy! Den muß ich kriegen! Und das Zeug muß ich kriegen! Und ich sage euch: wenn wir uns nicht beeilen und uns Patsy und alle ändern nicht jetzt gleich vorknöpfen, ist das Zeug morgen verteilt, und wir haben das Nachsehen. Wir können nicht mehr länger warten!“ Abermals klingelte das Telephon. Waters nahm den Hörer auf. „Egan? Wer spricht? Augenblick.“ Grinsend hielt er dem Kriminalbeamten den Hörer hin. „Eine ,Freundin' - eine Dame. Eine von deinen Spitzeln?“ Egan nahm den Hörer und setzte sich, mit dem Rücken zu Waters, auf die Schreibtischkante. „Glotzauge hier. Hallo, Carol!“ Er stand auf. „Warte einen Moment.“ Egan drehte sich zu Waters herum. „Es ist kein Spitzel. Gibt's hier noch einen zweiten Anschluß, von dem aus ich sprechen kann?“ Waters deutete auf einen Schreibtisch am anderen Ende des Zimmers, nahm Egan den Hörer ab und schaltete auf den anderen Apparat um. Egan ging an den anderen Apparat. „Also, da bin ich wieder. Wie geht's dir denn? Ich hätte dich so gerne heute abend gesehen. Ohne Spaß, ich war tatsächlich zu dir unterwegs, als mir etwas in die Quere kam.“ „Schätzchen“, unterbrach ihn Carol, „ich möchte dich auch -225-
sehen und mit dir reden und so - aber zuerst muß ich dir sagen, warum ich anrufe. Ich hab's in deinem Büro versucht, und dort gab man mir diese Nummer. Ich weiß nicht, aber ich dachte mir, es könnte vielleicht wichtig sein...“ „Nun, um was handelt es sich?“ „Also, vor einer Weile kommt ein Mann hier ins Restaurant, und ich erkenne ihn wieder. Er ist schon einige Male dagewesen, und ich weiß, daß er ein Freund von dem Kerl ist, der dir jetzt so viel Arbeit macht - du weißt schon, Patsy.“ „Von wo sprichst du?“ fragte Egan. „Das ist okay. Ich hab' jetzt Pause. Es kann mich keiner hören. Also dieser Mann, so ein italienischer Typ, sitzt mit einem ändern an der Theke, und sie trinken ein paar Gläser, und er erzählt lachend, wie er heute abend einen Polypen zum Narren gehalten hat. Und, Schätzchen, nach seiner Beschreibung warst du das!“ „Wieso ich?“ „Na ja, er hat sich nicht so genau ausgelassen. Er sagte nur, es wären da zwei Wagen gewesen, und er sei ausgestiegen und habe diesem Polypen den Weg abgeschnitten - es wäre ein Ire gewesen, sagte er -, und der Polyp wäre dabei beinahe geplatzt. Aber ich horchte erst richtig auf, als er Patsy erwähnte.“ „Was hat er gesagt?“ „Ja, also, zuerst, daß Patsy dir durch die Lappen gegangen sei, und dann etwas, was ich nicht verstehe, aber ich paßte genau auf, weil ich eben dachte, du würdest etwas damit anfangen können.“ „Und zwar?“ „Er sagte, und ich zitiere wörtlich: ,Sie jagen ihn in der ganzen Stadt herum und wissen gar nicht, daß er sauber ist.'„ „Daß er sauber ist?“ „Er hielt es für einen Mordsspaß. Aber warte. Er sagte noch -226-
was. Etwas wegen morgen früh, neun Uhr. Patsy und ein paar andere Leute werden alles unter Dach und Fach bringen. Ich hab' natürlich keine Ahnung, um was es geht.“ „Morgen um neun? Aber wo, Baby - hat er gesagt, wo?“ „Nein.“ „Scheiße!“ „Recht herzlichen Dank. Ich versuche dir zu helfen und...“ „Nein, nein, das geht nicht dich an. Es ist nur, daß, na ja, lassen wir's... Nein, nein, entschuldige. Ich muß dich unbedingt sehen. Später dann, ja?“ „Ich würde mich freuen...“ Egan setzte die andern von diesem Gespräch in Kenntnis und löste damit neue Mutmaßungen und Spekulationen aus. „Damit sieht die Sache schon wieder freundlicher aus, das muß ich sagen“, meinte Frank Waters. „Morgen um neun hat Patsy einen Treff, und offenbar mit seinen französischen Freunden. Also haben wir doch noch eine Chance!“ „Wunderbar“, entgegnete Egan, „aber wo?“ Waters an seinem Schreibtisch betrachtete den vor ihm stehenden Kriminalbeamten mit einem Ausdruck übertriebenen Mitleids. „Wo? Wo haben sie sich denn bis jetzt immer getroffen? Im Hotel Roosevelt!“ Egan legte die Stirn in Falten. „Nein... ich glaube, du irrst.“ Die anderen Polizeioffiziere drängten sich näher heran. „Wo dann?“ fragte Waters herausfordernd. Es war ganz still geworden. „Ich setze auf die East End Avenue“, erwiderte Egan mit Entschiedenheit. „East End Avenue? Wieso? Das einzige Mal, daß wir Patsy da oben ausgemacht haben, sind wir einen ganzen Tag lang am Hintern gesessen, und er ist einfach heimgefahren.“ -227-
„Ich hab' so ein Gefühl.“ „Hör mal, bei dieser ganzen vermurksten Untersuchung hat sich bis jetzt nur ein Faktor ergeben, an dem nicht zu rütteln ist: Sooft Patsy sich mit den Franzosen trifft, trifft er sich im Roosevelt. Das ist der einzige Ort, wo es für uns was zu holen gibt!“ „Nein.“ Es kostete Egan Mühe, sich zu beherrschen. „Das Roosevelt haben wir vermutlich verkorkst. Aber die East End Avenue Nummer fünfundvierzig - dort haben wir Patsy gesehen, dort hat er sich mit einem der Franzmänner getroffen, dort ist er mit seinem Wagen gewesen, und mein Gefühl sagt mir, die haben keine Ahnung, daß wir davon wissen.“ „Du und deine Gefühle!“ fuhr Waters ihn grob an. „Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber es waren deine ,Gefühle', denen wir es zu verdanken haben, daß wir jetzt im Dreck sitzen. Wenn du mehr Mannschaftsgeist gezeigt hättest, statt wie ein Privatdetektiv...“ „Mannschaftsgeist?“ brüllte Egan. „Meinst du vielleicht deine Mannschaft? Heiliger Bimbam! Sonny und ich, wir hatten die Sache schon in der hinteren Hosentasche, bis ihr Bundesbrüder alles versaut habt! Wer hat denn die Franzosen aufgescheucht? Deine wackeren Spürhunde! Was ihr Überwachung nennt, haben wir schon lange vergessen!“ Waters Fäuste waren geballt; aber er schluckte und räusperte sich. „Und ich sage: Hotel Roosevelt!“ Egan beugte sich über den Schreibtisch, die Hände flach auf die Unterlage gestützt. „Frank, du machst, was du Lust hast, gehst, wann du willst und wohin du willst, und nimmst dir mit, wen du willst. Was mich betrifft, für mich gibt es nur einen Ort, wo dieser Treff stattfinden kann, und das ist die East End Avenue. Dort gehe ich hin, und wenn ich allein hinlatschen müßte. Und so wie die Dinge gestern abend gelaufen sind, würde ich mich um vieles wohler in meiner Haut fühlen, wenn -228-
deine kleine Privatarmee überhaupt zu Hause bliebe.“ Waters schoß in die Höhe und landete einen Faustschlag auf Egans Kinn. Der Kriminalbeamte taumelte zurück. Waters, kleiner, aber für seine Statur fast ebenso kräftig wie der stämmige Egan, stürzte um seinen Schreibtisch herum und geradewegs in einen Boxhieb zum Mund, der ihn zum Stehen brachte. Mit seiner Rechten holte Egan zu einem harten Schlag in Waters' Rippen aus, doch der Agent holte wieder aus und traf mit seiner Linken die andere Seite von Egans Gesicht. Sie begannen wild aufeinander loszuschlagen. Die anderen Polizeioffiziere, die zuerst verdutzt zurückgewichen waren, umringten jetzt die Kämpfenden; die einen packten Waters an Schultern und Armen, die anderen zerrten an Egans Hüften. Die beiden Männer maßen sich mit zornsprühenden Blicken und versuchten, sich den Armen, die sie zurückhielten, zu entwinden. Ein Blutstropfen verschmierte eine Ecke von Waters' Mund. Egans rötliche Gesichtsfarbe war dort noch röter, wo der Agent ihn getroffen hatte. Jetzt schüttelte er die Arme ab, die ihn hielten, und glättete bedächtig seine Kleidung. „Okay, Frank, jetzt weißt du's“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Morgen früh gehen meine Polypen in die East End Avenue, und ihr könnt alle dorthin gehen, wo der Pfeffer wächst. Nur kommt uns nicht in die Quere.“ Egan zog sich die Jacke an und wandte sich zur Tür. Alle sahen ihm nach. Dann drehte er sich um. „Und sollte sich einer von unseren Leuten“ - er sah Dick Auletta an, der verwirrt neben dem Bundesagenten stand - „entschließen, mit dir mitzuhalten, bekommt er es mit Sonny und mir zu tun.“ Mit diesen Worten verließ er das Büro der Bundesbehörde. Als Patsy Fuca sein Haus erreicht hatte, war ihm der bei seiner wilden Flucht aus Manhattan ausgestandene Schrecken noch in den Gliedern gelegen. Dieses Schwein von einem -229-
Polypen! Was zum Teufel hatte er bei Anthony zu suchen gehabt? Wußten sie etwas von Anthony? Zum erstenmal packte ihn die Angst. Wußten sie auch von der East End Avenue Nummer 45? Wenn ja, könnte er morgen geradewegs in eine Falle laufen. Aber von Schmiere war weit und breit nichts zu sehen gewesen, als er den französischen Buick zurückgefahren hatte. Tagsüber war alles ganz glatt gegangen. Er war ganz sicher, daß ihm keiner folgte, als er mit Tony nach New York fuhr. Zuvor hatte er von Anthony erfahren, daß die Verstecke wieder geschlossen und der Buick wieder fahrbereit war. Zuerst stieg er in Nickys Caddy um. Vor dem Pike Slip Inn ließ er Tony aussteigen und fuhr durch die Henry Street weiter. Solly wartete schon an der Ecke Rutgers Street. Patsy verließ Nickys Wagen und ging zum East Broadway hinauf, während Solly in den Caddy hüpfte und ihn hinter Blairs Lokal abstellte. Dort übernahm Tony das Weitere. Er sollte eine Weile spazierenfahren und den Wagen dann, nach Geschäftsschluß, vor Anthonys Garage stehenlassen. Sollys auffallenden grünen Valiant wollten sie nicht verwenden - den kannte die Polente wahrscheinlich zu gut. Darum ließ Patsy einen anderen Freund aus dem Pike Slip Inn, Johnny Frasca, mit seinem alten Chevy aufkreuzen. Von Solly und Frasca gefolgt, fuhr Patsy schließlich den französischen Buick von Anthony zu Nummer 45 East End Avenue. Dann hatte er Frascas wartenden Wagen bestiegen, hatte die beiden zu einem Drink in die Inner-Circle-Bar, Ecke 63rd Street und York Avenue, eingeladen und war schließlich wieder in die untere Stadt zurückgekehrt, wo er den Cadillac abholen und heimfahren wollte. Doch dann hatte Solly den Kerl bemerkt, der an der Ecke unten allein in einem kleinen roten Wagen saß. Das konnte nur ein Polizeispitzel sein. Von plötzlicher Sorge erfaßt, beschloß -230-
Patsy, sich Sicherheit zu verschaffen. Tatsächlich kam der Schweinehund ihnen nach. Das war gar nicht gut. Hatte er sie schon die ganze Zeit verfolgt, in die obere Stadt und überall hin? Patsy mußte da 'raus, mußte Zeit gewinnen, um nachzudenken. Das war vielleicht ein Blödsinn gewesen, wie Solly da mit seinem Wagen die Straße blockiert hatte, aber wie sonst hätte Patsy zum Caddy zurück und abhauen sollen? Daß ihm niemand nach Hause gefolgt war, nahm er als sicher an. Und bei sich in der Gegend hatte er auch keinen gesehen. Wenn die Polente es auf ihn abgesehen hatte, müßte dort einer auf ihn gewartet haben. Aber bei Anthony? Barbara fragte ihn, ob etwas faul sei, als er ins Haus trat, aber er sagte nichts, alles wäre in Butter. Sie setzte sich wieder zum Fernsehen, und er goß sich einen starken Whisky ein und dachte an den Abend zurück. Daß er über den Bullen gestolpert war, mochte nichts weiter als ein verrückter Zufall sein. Vielleicht hatte der Blaue den Eindruck gewonnen, Patsy und seine Freunde hätten sich verdächtig benommen. Möglicherweise kannte er sie aus Blairs Lokal. Aber daß er etwas von Anthony wußte oder gar von der ganzen Transaktion, nein, das war wirklich unwahrscheinlich. Ein zweiter Drink half ihm, sich zu entspannen. Seine Überzeugung wuchs, daß er sich grundlos geängstigt hatte. Und während der Alkohol ihn in sanftes Wohlbefinden hüllte, flogen seine Gedanken dem morgigen Tag, dem großen Zahltag, entgegen. Mittwoch spätabends begab sich Jacques Angelvin auf sein neues Zimmer im Hotel Commodore. Er kam von einem vorzüglichen Dinner mit Jacques Sallibert, der als Nachfolger von Paul Crenesse die Leitung des New-Yorker Büros der Radio Television Francaise übernommen hatte. Das kleine, schäbige Zimmer im Commodore deprimierte ihn, aber das Dinner, der -231-
Wein und das gute Männergespräch waren warm und herzlich gewesen. Das war der zweite Abend, den er ohne Lilli verbracht hatte. Jacques war verstimmt. Seine ganzen Pläne, das amerikanische Fernsehen aus der Nähe zu studieren, sollten zunichte gemacht werden. Er wagte nicht, Lilli zu sagen, daß ihr für nächste Woche geplantes Rendezvous nicht zustande kommen würde. Mehr noch: es war ihm gelungen, für den 22. Januar, halb drei Uhr nachmittags, einen Termin mit den Vertretern David Rockefellers in der Chase Manhattan Bank zu bekommen, aber Mittwoch früh hatte Scaglia angeordnet, Jacques müsse Donnerstag, nach Abschluß der Transaktion, mit ihm zusammen nach Montreal fahren. Francois schien wirklich Sorgen zu haben. Jacques sollte ihn morgen um zehn in der Garage treffen, um gemeinem mir ihm die Reise nach Kanada anzutreten. Er hatte immer die Absicht gehabt, nach New York auch Französisch-Kanada zu besuchen, doch nicht auf solche Weise. Im Hotel Queen Elizabeth in Montreal sollten sie Scaglias Freunde treffen und schon am folgenden Morgen auf dem Luftweg nach Paris zurückkehren. Der Buick? In Montreal würde sich schon jemand darum kümmern, hatte Francois ihn beruhigt. Er sah sich in dem engen Raum um, in den er aus dem Waldorf übersiedelt war. Das ganze Hin und Her deprimierte ihn: es ließ Unheil ahnen. Offenbar hatten auch Scaglia und seine Geschäftspartner ihre Hotels verlassen. Seitens der Polizei mußte ihnen große Gefahr drohen. Jacques empfand geradezu körperliches Bedauern darüber, sich auf dieses wahnwitzige Abenteuer eingelassen zu haben. Er hatte sich mit Erfolg eingeredet, daß die Polizei ja von ihm nichts wissen konnte. Aber wie würde es morgen aussehen? Befand sich Scaglia tatsächlich in bedenklicher Lage, würde Jacques zum erstenmal einer echten Gefahr ausgesetzt sein. Er ging zum Toilettentisch, nahm ein Fläschchen Kognak aus -232-
der Lade und setzte es an den Mund. Süßlich brannte der Alkohol in seiner Kehle. Er warf einen Blick auf seine Habseligkeiten; seine Koffer waren noch zum größten Teil nicht ausgepackt. Scaglia hatte nachdrücklich darauf hingewiesen, daß sie nicht einmal ihre Kleider mitnehmen könnten; es sollte niemand argwöhnen, daß sie New York endgültig verließen. In Montreal würden sie Zeit haben, sich neue Sachen anzuschaffen, versprach Francois. Für Angelvin war es bis jetzt eindeutig keine erfreuliche Woche gewesen. Lilli war Dienstag abend besetzt gewesen; er hatte mit seinem Freund Pierre Olivier diniert. Tagsüber hatte er mit Mr. Deck Perreras Wechselstube besucht, um diskrete Erkundigungen betreffend den Umtausch einer großen Menge Dollar in französische Franc einzuziehen. In New York war der Wechselkurs günstiger als in Paris. Angelvin wurde das Geld knapp, und er hatte - vergeblich versucht, Scaglia zu einem Vorschuß auf den Betrag zu bewegen, der ihm zustehen würde, sobald das Geschäft mit den Amerikanern abgeschlossen war. Mittags lud er Lilli zum Essen ein. Traurig und verbittert, weil Lilli seinen flehentlichen Bitten, die Siesta in seiner Gesellschaft zu verbringen, kein Gehör geschenkt hatte, war er anschließend ins Waldorf zurückgekehrt. Er wußte, daß er nachmittag, nach dem Mittagsschläfchen, aus dem Waldorf ausziehen und in ein kleineres Zimmer im Commodore würde übersiedeln müssen. Müde, erfroren und ein wenig betrunken betrat er sein Zimmer. Das Stubenmädchen säuberte gerade das Bad. Wie gerne ich jetzt pinkeln möchte, dachte er grämlich. Er sehnte sich auch nach einer Frau, aber das Stubenmädchen sah aus, als ob sie hundert Jahre auf dem Buckel hätte. Es war alles so scheußlich. Mit einem finsteren Blick in das gekachelte Badezimmer ließ er sich die Hosen herunter und kletterte ins Bett. Einer boshaften Laune folgend, urinierte er zwischen die Bettlaken. Später, nach einer Zusammenkunft mit Crenesse, zahlte er im -233-
Waldorf seine Rechnung in der Höhe von 228,71 Dollar und übersiedelte ins Commodore. Damit behielt er nur mehr sehr wenig in der Tasche; allerdings erwartete er für morgen die versprochenen zehntausend. Jacques ließ den Rest des Kognaks durch die Kehle rinnen und warf sich angezogen auf das frisch gemachte Bett, um auf den Morgen zu warten. Donnerstag, den 18. Januar erwachte er mit einem Kater und dem allgemeinen Gefühl körperlichen Unbehagens. Um sich aufzuheitern, setzte er sich an den Tisch und schrieb optimistische Worte in sein Tagebuch: „Heute abend bin ich schon im Queen Elizabeth in Montreal... so Gott will!“ Jacques konnte nicht wissen, daß das die letzte Eintragung in diesem Tagebuch sein würde. Mittwoch abend, gegen zehn Uhr, war Sonny Grosso zum Telephon an der Kassa einer Kegelhalle in der Bronx gerufen worden. Der Anrufer war Frank Waters. „Was gibt's?“ fragte Sonny. „Dein Kumpel Egan“, begann der Agent bissig, „hat sich hier vor einer Weile verdammt lächerlich gemacht.“ „Und wie hat er das fertiggebracht?“ Sonny grinste. „Ich mein's im Ernst.“ Das Lachen verschwand aus Grossos Zügen, als Waters ihm in dürren, bitteren Worten beschrieb, was sich in seinem Büro zugetragen hatte. „Für mich ist er erledigt“, schloß der Agent. „Er hat eine widerliche Art, sich aufzuspielen, als ob er der liebe Gott wäre oder so was Ähnliches, und wenn er dann noch bei uns im Büro den wilden Mann markiert, das ist zuviel.“ Sonny überlegte eine Weile; das donnernde Krachen der Kegel erfüllte den Saal. „Ich will dir mal was sagen“, entgegnete er schließlich und legte die Hand um die Muschel. „Mag sein, du verträgst dich nicht mit meinem Partner, aber er ist ein -234-
verdammt guter Kriminalbeamter, und, offen gesprochen, ich finde, daß er recht hat. Unser morgiges Ziel ist die East End Avenue.“ „Du gehst also mit ihm?“ „Und nicht nur das“, fuhr Sonny grimmig fort. „Wer zum Teufel, glaubst du eigentlich, bist du, daß du meinem Partner mit einem Schwinger kommst? Was würdest du dazu sagen, wenn ich mal zu euch 'raufkäme und einem von deinen Leuten in die Fresse schlagen würde?“ „Schon recht, schon recht“, lenkte Waters ein. „Aber wie steht's mit dir?“ „Ich halte mich an Glotzauge, und das werden alle unsere Leute tun. Er hat in der Vergangenheit schon zu oft recht behalten, als daß wir ihn jetzt im Stich lassen würden. Also geh du nur mit deinen Agenten, wohin du willst.“ Eddie Egan verbrachte eine ruhelose Nacht. Verärgerung und Unsicherheit hatten eine solche Spannung in ihm hervorgerufen, daß er ganz vergessen hatte, zu Carol zurückzufahren. Die Keilerei war eine ungute Sache gewesen. Vielleicht hatte er die Dinge zu sehr auf die Spitze getrieben. Aber dieser Klugscheißer Waters! Daheim angekommen, wollte er Sonny in seiner Kegelbahn anrufen, änderte aber dann seine Ansicht: wozu sollte er auch ihm noch den Abend verderben? Er würde morgen früh mit ihm sprechen. Morgen - wenn sie alle mit den Bundesbrüdern mithielten, mochte es schon sein, daß er allein auf weiter Flur blieb. Privatdetektiv hatte Waters ihn genannt! Donnerstag, den 18. Januar klingelte ihn sein Wecker um halb sieben aus den Federn. Er machte Kaffee, brauste, rasierte sich und zog sich warm an. Einen braunen Filzhut auf dem Kopf, eine im Zopfmuster gestrickte blauweiße Wolljacke unter dem Ledermantel, saß er bereits um sieben Uhr fünf in seinem Corvair, unterwegs nach Manhattan. Er hatte die ganze Nacht -235-
mit der Versuchung gekämpft, in der Früh zu Patsys Haus zu fahren und ihn dort einfach festzunehmen. Damit würden sich alle Diskussionen über die Frage, wo man mit dem Verbrecher und seinen Freunden Verstecken spielen sollte, erübrigt haben. Doch schließlich war er von diesem Plan abgekommen. In Wirklichkeit gab es nichts anderes zu tun, als in die Stadt, ins Rauschgiftdezernat, zu fahren, so viele Leute wie möglich zusammenzutrommeln und noch lange vor der von Patsy angesetzten Zeit für den Treff rund um Nummer 45 East End Avenue Posten zu beziehen. Er folgte der Myrtle Avenue nach Westen, um an der Ecke Marcy und Kent Avenue in die Brooklyn-Queens-Expreßstraße einzufahren. Die ganzen letzten Tage schon hatte er dort den Agenten Luis Gonzales abgeholt und in die Stadt mitgenommen. Luis war ein netter kleiner Kerl, noch nicht lange dabei und besaß keinen eigenen Wagen. Gestern abend, vor dem Krach, hatte Luis erwähnt, er würde sich Egan verpflichtet fühlen, wenn er ihn heute früh mitnehmen könnte. Aber nach dem, was geschehen war, würde Luis sich wohl eines anderen besonnen haben. Doch als Egan den Corvair an die Schnellstraße heransteuerte, stand der schmächtige Puertoricaner an der Auffahrtsrampe. Man hätte ihn für einen Straßenräuber halten können: eine ins Gesicht geschobene Schirmmütze, ein schwarzer Marinesweater unter einer abgetragenen Militärjacke, ausgebeulte Hosen, schwarze Segeltuchschuhe. Egan fuhr an den Randstein, und der Agent sprang zu ihm in den Wagen. „Das ist aber eine Überraschung!“ begann der Kriminalbeamte. Gonzales verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. „Was ist denn gar so spaßig?“ verlangte Egan zu wissen. „Das Glück der Iren hat sich abermals bewährt!“ lachte der Agent. -236-
„Was soll das nun wieder heißen?“ „Es heißt, daß du gewonnen hast.“ „Gewonnen? Was gewonnen?“ „Gestern abend“, klärte Gonzales ihn auf, „sind sie schließlich doch zu der Überzeugung gelangt, daß du recht hattest. Wir konzentrieren uns alle rings um die East End Avenue.“
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16 Donnerstag morgen verblieben Eddie Egan und Sonny Grosso noch genau sechzehn Stunden, bevor der Fall, den sie so sorgfältig verfolgt hatten, vom Rauschgiftdezernat zu den Akten gelegt werden würde. Die für diesen Tag festgelegte Taktik war an sich einfach, mußte aber mit der Genauigkeit eines Uhrwerks gehandhabt werden. Sobald Patsy sein Haus in Brooklyn verließ, würde dies sogleich gemeldet werden; stand einmal fest, daß er, wie erwartet, in die Gowanus-Schnellstraße eingefahren war, würde die normale visuelle Überwachung auf ein Minimum reduziert werden. Statt dessen würde ein nicht gekennzeichnetes Polizeiauto mit offener Motorhaube an jenem wichtigen Knotenpunkt postiert sein, wo der der Stadt zufließende Verkehr entweder dem Brooklyn-Battery-Tunnel oder der dort beginnenden Brooklyn-Queens-Schnellstraße zuströmt. Sollte Patsy sich, was unwahrscheinlich schien, für den Tunnel entscheiden, würde er an der Südspitze Manhattans von Kriminalbeamten zur weiteren Beschattung erwartet werden. Blieb Patsy auf der Schnellstraße, hatte der Beamte im „steckengebliebenen“ Wagen den Auftrag, sich ihm sogleich an die Fersen zu heften und über Funk zu melden, welche Ausfahrt er wählte - die Brooklyn-Brücke, die Manhattan-Brücke oder gar die nördlich gelegene Williamsburg-Brücke. Um die Sicherheitsvorkehrungen noch zu verstärken, wurde je ein Wagen in der Nähe von Patsys Imbißstube und vor der Wohnung seiner Eltern in der 7th Street in Brooklyn stationiert. An den Endpunkten aller nach Manhattan führenden Brücken waren Funkwagen konzentriert. Einer patrouillierte in der Gegend um das Pike Slip Inn, wobei er Anthonys Autogeschäft besonderes Augenmerk schenkte. Im Hinblick auf die Möglichkeit, daß Frank Waters doch recht gehabt haben sollte, beobachtete ein anderer die Vorgänge rund -238-
um das Hotel Roosevelt. Die große Masse der Beamten sicherte die Gegend im Umkreis der 81st Street und East End Avenue. Auch der Beobachtungsposten in der Wohnung des Möbeltischlers im dritten Stock des Hauses gegenüber Nummer 45 war wieder eingerichtet und von Sonny Grosso, Leutnant Vinnie Hawkes, Sergeant Jack Fleming und Waters besetzt worden. Nicht auf die Pelle rücken! lautete die Parole. Patsy sollten die Zügel locker gelassen werden. Wo immer der Treff über die Bühne gehen mochte, es würde wahrscheinlich der letzte sein, und die Gesetzeshüter konnten es sich nicht erlauben, Patsy oder seine Mittäter durch Übereifer zu alarmieren, bevor ein objektiver Tatbestand festgestellt werden konnte. Dann, und nur dann würde die Zeit zum Eingreifen gekommen sein. Diesmal mußten sie auf Nummer Sicher gehen. Sie würden kaum je eine weitere Chance kriegen, diesen Fall aufzurollen. Andere Kriminalbeamte des New-Yorker Rauschgiftdezernates hatten das Erste Polizeirevier bereits verlassen oder wandten sich dem Ausgang zu. Im ganzen Haus regte sich geschäftiges Leben, da der Mitternachtbisacht-Turnus sich zurückmeldete und die Tagwache ihren Dienst antrat. Egan und Gonzales gingen vor halb neun, fuhren die South Street hinauf und parkten unter der Brooklyn-Brücke, um dort die erste Meldung über Patsys Anfahrt abzuwarten. Es war dies ein günstiger Standort, um jede der drei Brücken, über die Patsy in die untere Stadt gelangen mochte, rasch zu erreichen. Welche Brücke Patsy auch benutzen würde, Egan wollte es sein, der ihn aufgabelte. Patsy war sein Baby. Gegen drei Viertel neun knisterte es im Lautsprecher: Patsy hatte sein Haus verlassen und fuhr in seinem blauen Oldsmobile über die Gowanus-Schnellstraße in nördlicher Richtung. Egan und Gonzales hörten gespannt zu. Patsy ließ die Abzweigung zum Tunnel links liegen, setzte die Fahrt nach Norden fort, schwenkte aus und hielt auf die Brooklyn-Brücke zu. -239-
„Jetzt wissen wir's“, rief Egan seinem jugendlichen Kollegen zu. Er legte den Gang ein und raste die Pearl Street zur Chambers Street hinauf, wo er in den großen Parkplatz neben dem städtischen Amtshaus einfuhr. Es war dies ein ausgezeichneter Beobachtungsposten. Der ganze Verkehr von der Brooklyn-Brücke mußte hier vorüber, und alle Wagen, die in die East-River-Schnellstraße einfahren wollten, sahen sich veranlaßt, unmittelbar vor dem Parkplatz eine Linksschleife zu ziehen. Knapp zehn Minuten später sah Egan den kleinen blauen Oldsmobile über die Rampe kommen und, am Amtshaus vorbei, in die Auffahrt zur Schnellstraße einschwenken. Er und Gonzales setzten sich in Bewegung; der Agent meldete die Fahrtrichtung über Funk an die anderen Polizeifahrzeuge. Patsy fuhr der oberen Stadt zu. Egan hielt den größtmöglichen Abstand. Zu diesem Zeitpunkt wollten sie nur mehr erfahren, wo Patsy die Uferstraße verlassen würde. Sollte er bei der 42nd Street ausfahren, wäre dies ein Hinweis darauf, daß tatsächlich das Roosevelt sein Ziel war; in diesem Fall hätte die Masse der um die East End Avenue postierten Polizeikräfte schleunigst ins Zentrum zurückbeordert werden müssen. Die einzige nicht vorauszusehende Alternative bestand in der Möglichkeit, daß der Treff an einer ganz anderen Stelle vereinbart worden war. Darum durften Egan und Gonzales Patsy auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Der Verdächtige fuhr unbeschwert dahin; anscheinend fühlte er sich unbeobachtet. Zwar war der Himmel bedeckt und die Luft feuchtkalt, doch gab es wenig Morgennebel am Fluß. Der Verkehr war schwach, und es fiel den beiden Polizisten nicht schwer, den blauen Wagen im Auge zu behalten. Als sie die Höhe der 42nd Street erreichten, forderte Gonzales alle Wagen zur Wachsamkeit auf, aber Patsy traf keine Anstalten zur Abfahrt. „Er fährt vorbei“, berichtete der Agent. „Nächste Abfahrt: 618t Street.“ -240-
Er hängte das Mikrophon auf die Gabel, als der Lautsprecher kreischte: „Hast du gesagt, er fährt in die 61st Street ab? Ende.“ Gonzales warf Egan einen verärgerten Blick zu, als er abermals nach dem Mikrophon griff. „Mein Akzent ist doch nicht so stark“, meinte er traurig. Egan lachte in sich hinein. „Nein... es ist die verdammte Sendeanlage. Sie war schon gestern ganz durcheinander. Ich hab' drauf vergessen.“ „Ich wiederhole“, sagte der Agent mit fester Stimme ins Mikrophon, „der Verdächtige ist bei der 42nd Street nicht, wiederhole, nicht von der Schnellstraße herunter, sondern setzt Fahrt in nördlicher Richtung fort. Sollte er in die 618t einbiegen, werde ich dies durchgeben. Habt ihr verstanden? Ende.“ Die Antwort bestand aus einem Gewirr dünner Stimmen, aus denen sich schließlich eine hervorhob: „... eure Rufe sind sehr schwach. Wenn sie absterben, bevor wir den Verdächtigen in Sicht haben, sehen wir schön aus...“ Gonzales holte tief Atem. „Verstanden.“ „Verdammt!“ brummte Egan und schüttelte den Kopf. Seine Augen hafteten auf dem kleinen Oldsmobile etwa zweihundert Meter vor ihnen. „Er schwenkt in die linke Fahrbahn ein. Sieht wie 61st Street aus. Jawohl, er fährt aus! Sag's durch!“ „61st, 61st!“ rief der Agent, das Mikrophon an den Mund gepreßt. „Verdächtiger fährt in die 61st ab! Habt ihr verstanden?“ „61st. Verstanden.“ Gonzales und Egan lachten sich an. Aber noch durften sie Patsys Verfolgung nicht aufgeben. Es war ja nicht absolut sicher, daß der Treff genau an der Ecke 81st Street und East End Avenue stattfinden würde; es konnte auch irgendwo in der Nähe sein. Wenn sie Glück hatten, war ein Polizeiwagen in der Nähe der Abfahrt an der Kreuzung 61st Street und York Avenue -241-
stationiert, der feststellen konnte, welche Richtung Patsy einschlug. Aber Egan wollte bei der Schlußphase selbst dabeisein. Er schob den Corvair in die Abfahrtsspur zur 61st Street hinüber, als der Lautsprecher meldete: „Verdächtiger fährt York Avenue hinauf...“ „Wenigstens funktioniert der Lautsprecher“, meinte Gonzales heiter. „Ja, das ist schon was... Na, Louie, es scheint, wir haben richtig geraten.“ Die vier Polizeioffiziere in der im dritten Stock gelegenen Wohnung des Möbeltischlers auf der Westseite der East End Avenue stellten um halb zehn erstaunt fest, daß gegenüber, vor Nummer 45, zwei der verschollenen Franzmänner aufgetaucht waren - Francois Barbier und J. Mouren. Weder Sonny noch Hawkes, Waters oder Fleming hatten die Franzosen kommen gesehen; sie wußten nicht, von wo die beiden und ob sie zusammen oder getrennt gekommen waren. Die Kriminalbeamten hatten mit größter Aufmerksamkeit den Funkbericht über Patsys Fahrt verfolgt und immer wieder ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, Eddie Egans Funkgerät möge noch eine kleine Weile durchhalten. Einer nach dem anderen war ans Fenster getreten, um einen Blick auf die Straße zu werfen; doch erst nachdem sie die Bestätigung erhalten hatten, daß Patsy die York Avenue heraufraste, wandten sie dem Gebäude gegenüber ihre volle Aufmerksamkeit zu. Und jetzt, ganz plötzlich und irgendwie verwirrend für sie, sahen sie die zwei Franzmänner einfach dastehen. „Diese Vögel tauchen auf und unter, als ob sie eine Zauberlampe hätten“, wunderte sich Waters, während Sonny zum Funkgerät zurückkehrte, um alle Polizeioffiziere im Umkreis vom Erscheinen der zwei Franzosen in Kenntnis zu -242-
setzen. Die Gegend wimmelte von Beamten: auf der East End Avenue selbst, von der 79th bis zur 86th Street und bis zur Second Avenue hinüber. Nicht einmal die vier Offiziere in der Wohnung des Möbeltischlers hätten mit Sicherheit angeben können, wo alle postiert waren, ja nicht einmal, wer sie waren. Da man nicht wußte, was kommen würde, waren viele zu Fuß unterwegs - und in den verschiedensten „Aufzügen“: als Bauhilfsarbeiter, Verkäufer in Geschäften, Angestellte der Telephongesellschaft, Väter mit Kinderwagen, Handelsvertreter. In regelmäßigen Abständen waren Wagen stationiert, die über Funk erhaltene Anweisungen an die „Fußgänger“ weitergeben konnten. Zwei Kriminalbeamte fuhren sogar mit Taxis durch das Viertel. Sonny war mit einem Lumberjack, Slacks und Sportschuhen bekleidet; er hatte sich beim Inhaber eines nahe gelegenen Branntweinladens bereits die Erlaubnis geholt, sein Lieferrad ausleihen zu dürfen. Waters, im Straßenanzug, konnte jede gewünschte Persönlichkeit darstellen. Sie alle hatten, wie sie sich immer wieder in Erinnerung brachten, nur eine Aufgabe: zu beobachten. Sie würden nichts unternehmen, solange eine Festnahme nicht ausreichend begründet erschien - wie zum Beispiel durch erwiesenen Handel mit oder den Besitz von verdächtigen Waren. Plaudernd und die Straße gelegentlich hinauf oder hinunter blickend, standen Barbier und Mouren etwa fünfzehn Minuten vor dem Haus Nummer 45. Sonny beobachtete sie durch ein Feldglas. Sie waren beide konservativ gekleidet: schwarze Mäntel, dunkle Anzüge, weiße Hemden und neutrale Krawatten; Mouren trug einen grauen Homburg, während Barbier, ohne Hut, sein volles braunes Haar vom Wind zerzausen ließ. Ganz gewiß warteten sie auf jemand - auf wen, wenn nicht auf Patsy? Egan hatte nichts mehr von sich hören lassen; nach letzten Berichten kam er hinter Patsy die York Avenue herauf. Dann meldete der Lautsprecher: „Verdächtiger fährt langsam die East End Avenue hinauf.“ Die Polizeioffiziere stürzten zum Fenster. -243-
Jetzt konnten sie Patsys Wagen sehen. Er näherte sich der 81st Street, wurde langsamer und bog dann gemächlich nach links ein. Barbier stieß Mouren an, und beide starrten zur anderen Ecke hinüber; Barbier machte eine grüßende Geste. Der Olds entschwand dem Gesichtskreis der beobachtenden Polizeioffiziere. „Verdächtiger in westlicher Richtung in die 81st eingebogen“, meldete einer. „Wer übernimmt ihn dort?“ erkundigte sich eine andere Stimme. Atmosphärische Störungen machten es unmöglich, die Antwort zu hören. Waters langte nach dem Mikrophon. „Hat jemand Patsy auf dem Kieker?“ Nach wenigen Sekunden meldete sich eine Stimme: „Ich sehe ihn. Er biegt nach rechts in die York Avenue ein. Haben wir da einen Posten oben?“ „Au verflucht“, knurrte Sonny. „Schaut doch mal!“ rief Vinnie Hawkes vom Fenster her. Die beiden Franzosen gingen über die Straße, auf die Ecke zu, hinter der Patsys Wagen verschwunden war. In der Mitte der Fahrbahn aber blieben sie stehen, wechselten einige Worte, und Mouren kehrte um, eilte zu Nummer 45 zurück und verschwand in der Tiefgarage. Barbier setzte seinen Weg fort, zottelte um die Ecke und blickte die 81st Street hinunter. Dann ging er langsam zur 82st hinunter, wobei er sich so knapp an der Hausmauer hielt, daß er vom Fenster oben nicht mehr gesehen werden konnte. „Ein paar von uns müssen runter, bevor die auch noch in Rauch aufgehen“, meinte Jack Fleming. Sonny und Waters stürzten auf die Straße hinunter. Barbier stand vor dem Nachbarhaus, den Rücken zur Wand, und blickte zu Nummer 45 hinüber. Während Waters zur 81st hinüberspazierte, stürzte Sonny in den neben dem Hauseingang gelegenen Branntweinladen. Eine Minute später erschien er wieder mit einem großen braunen Papiersack, den er auf dem Gepäckträger des Lieferdreirads verstaute, das auf dem Gehsteig stand. Ohne dem Mann in Schwarz, der keine fünfzehn Meter von ihm entfernt stand, Beachtung zu schenken, rollte Sonny das -244-
Dreirad auf die Straße und begann damit die East End Avenue hinaufzufahren. Erst als er die 83st Street erreicht hatte, nahm er hinter einem geparkten Lastwagen Zuflucht und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Inzwischen war Waters in die 81st Street eingebogen. Er sah niemanden und nichts, was mit den Franzosen irgendwie in Zusammenhang stehen könnte. Der Agent kehrte vorsichtig zur Ecke zurück. Ein Blick überzeugte ihn, daß Franzmann zwei immer noch vor dem Nachbarhaus stand. Waters wartete an der Ecke. Wenige Minuten später kam Franzmann drei wieder aus der Garage. In der Hand hielt er ein blaues Köfferchen der gleichen Art - oder war es dasselbe? -, wie Jehan es vor einer Woche zu seinem Treff mit Patsy mitgebracht hatte. Waters fragte sich, ob Franzmann eins heute erscheinen würde. Mouren kam über die Straße und zu Barbier zurück. Die beiden plauderten eine Weile und begannen dann zur 82st Street hinaufzugehen. Waters folgte ihnen. Er sah Sonny auf seinem Dreirad die Avenue herunterkommen. Die Franzosen bogen in die 82st Street ein. Als Waters die Ecke erreichte, schwenkte Sonny in die Straße ein und trat gewaltig in die Pedale, um das schwere Gefährt den Hügel hinaufzufahren. In der Mitte des Blocks, zwischen East End Avenue und York Avenue, stand ein kleiner blauer Wagen in zweiter Spur geparkt. Als Barbier und Mouren an ihn herankamen, beugte sich der Fahrer nach rechts und öffnete die rechte Tür. Waters erkannte ihn, als er wieder aufrecht saß: Patsy. Sonny kam gerade mit dem Dreirad vorbei, als die Franzosen einstiegen; Mouren hielt immer noch den blauen Koffer in der Hand. Waters ging ihnen entgegen. Der Oldsmobile fuhr an ihm vorbei, zur East End Avenue hinunter. Im Wagen befanden sich nur die drei. Wo war Jehan? Von der Anhöhe her folgten Waters und Sonny dem blauen Wagen mit den Blicken; er bog nach links in die East End Avenue ein. Eddie Egan und Luis Gonzales hatten von der Ecke 82st Street -245-
und York Avenue beobachtet, wie Patsy in zweiter Spur stehengeblieben war. Sie hatten gesehen, wie zwei Männer, einer mit einem Koffer in der Hand, an den Oldsmobile herangekommen und eingestiegen waren. Aus dieser Entfernung ließen sich die Gesichter nicht erkennen, aber sie wußten aus den Funkmeldungen, daß es die Franzmänner zwei und drei sein mußten und daß Mouren den Koffer trug. Jetzt meldete eine Stimme im Lautsprecher, daß der Olds links in die 83st Street eingebogen war. Egan fuhr zur nächsten Ecke, 83st und York Avenue. Der kleine blaue Wagen näherte sich der Kreuzung von rechts. Einer Eingebung folgend, schwenkte Egan links in die 83st Street ein und fuhr weiter. Sie waren schon fast an der First Avenue, als Gonzales, der den Rückspiegel im Auge behielt, berichtete, daß der Olds auf ein Grünlicht gewartet, dann die York Avenue überquert hatte und ihnen jetzt über die 83st Street nachkam. Langsam bog Egan nach rechts in die First Avenue ab. Die Ampel an der 84th Street schaltete auf Grün, er kreuzte und hielt an der Ecke 85th Street. Der Oldsmobile mit Patsy und den zwei Franzosen war noch nicht im Rückspiegel aufgetaucht. Im Lautsprecher hörte man ein verwirrtes Durcheinander. „Wo sind sie jetzt?“ - „Zuletzt haben wir sie in der 83st gesehen...“ - „Hat sie jemand gesehen?“ - „Weiß denn keiner, wo sie stecken?“ „Versuch's noch einmal, Louie“, sagte Egan. „Sag ihnen, wo wir sind!“ Der Agent schrie ins Mikrophon und horchte. Es war ganz offenkundig, daß man sie nicht hörte. Gonzales sah Egan stirnrunzelnd an. Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf und betrachtete das ausgefallene Funkgerät mit mißbilligenden Blicken. „So ein Pech!“ murmelte er. Plötzlich ließ sich Gonzales vom Sitz gleiten. „Achtung - sieh dich nicht um!“ -246-
„Was ist los?“ Egan erstarrte und richtete den Blick geradeaus. „Sie sind's! Genau neben dir! Sie warten auf Grünlicht. Mann, das ist schon fast zuviel von deinem irischen Glück! Jetzt sind sie alle im Wagen - auch der große Franzmann!“ „Jehan?“ Es bedurfte für Egan geradezu einer körperlichen Anstrengung, um nicht den Kopf zur Seite zu wenden. „Sie müssen ihn irgendwo zwischen York und First aufgegabelt haben.“ „Sie fahren.“ Die Ampel schaltete, und Patsys Olds schob sich an die Spitze. Egan griff nach dem Mikrophon. „Hier Glotzauge. Ist jemand hinter ihnen her?“ Seine Stimme klang immer verzweifelter. „Sie fahren die First Avenue in nördlicher Richtung hinauf. Ist denn keiner da?“ Er schaltete um, und die Stimmen der anderen Beamten klirrten im Lautsprecher - und fragten sich gegenseitig, ob keiner den Olds gesehen hatte. „Hört mich keiner?“ rief Egan flehentlich ins Mikrophon. Weiter vorn bog der blaue Wagen rechts in die 86th Street ein. „Na, Louie, es sieht so aus, als müßten wir alleine sehen, wie wir weiterkommen.“ Er löste die Handbremse, und der Corvair sprang vor. Als er in die 86th Street einbog, sah er, wie der Olds wieder rechts in die York Avenue einschwenkte. „Wir wollen's nicht aufgeben“, sagte der Kriminalbeamte zu Gonzales. „Gib unsere Route durch; vielleicht hört uns doch jemand.“ Während der Agent ins Mikrophon sprach, behielt Egan den blauen Wagen im Auge, während er sich gleichzeitig in jeder Querstraße nach Hilfe umsah. Es schien unglaublich, eine so große Menge von Polizeioffizieren überwachte ein verhältnismäßig kleines Gebiet, und trotzdem war es den Verdächtigen gelungen, durch die Maschen zu schlüpfen. Wären Egan und. Gonzales nicht mit „irischem“ Glück gesegnet gewesen, Patsy und die Franzosen hätten unbehelligt das Weite -247-
suchen können. Aus dem Lautsprecher kam auch weiterhin nur ein Gewirr drängender Stimmen. Der Olds hielt an der nordwestlichen Ecke der 82st Street. Franzmann zwei, Barbier, stieg allein aus. Der wagen fuhr weiter, Barbier überquerte die York Avenue und ging zu Fuß auf den Fluß zu. Gonzales gab die Meldung darüber schreiend ins Mikrophon. Aber auch diesmal gab es keine Anzeichen, daß er gehört worden wäre. Wenige Minuten später blieb der Olds an der 79th Street stehen. Sekunden später trat Franzmann drei auf den Gehsteig. Mouren hatte das blaue Köfferchen nicht mehr bei sich. Er wartete an der Ecke, bis die Ampel auf Grün schaltete und Patsy weiterfahren konnte; dann ging er in westlicher Richtung davon. „Jetzt sind wir auch den los“, stöhnte Egan verbittert. „Wenn keiner von unseren Leuten in der Gegend ist, bekommen wir den Vogel nicht mehr zu Gesicht! Verdammt noch mal!“ Er klatschte mit der flachen Hand auf das Steuerrad. Gonzales sprach seinen Bericht ins Mikrophon, doch das Geplapper im Lautsprecher ließ keinen Zweifel daran, daß ihn keiner gehört und keiner Mouren gesehen hatte. „Franzmann zwei ist wieder da!“ kam Sonnys aufgeregte Stimme über den Lautsprecher. „Er ist allein, überquert East End Avenue und geht auf Nummer 45 zu... Ein Mann wartet dort auf ihn. Wo sind Patsy und die ändern Franzosen? Ist denn keiner hinter ihnen?“ Egan riß Gonzales das Mikrophon aus der Hand. „Wolke? Glotzauge. Ich bin hinter ihnen her! Hörst du mich nicht? Ich hab' unsern Freund aus Brooklyn und Franzmann eins! Wolke, hörst du mich?“ „... Franzmann zwei und der andere steigen in einen Wagen, der aus der Garage gebracht wurde!“ rief Sonny, der seinen Partner offensichtlich nicht gehört hatte. „Es ist ein schwarzer Buick, eine Limousine, ein sechziger, würde ich sagen... ha, der -248-
Wagen hat ausländische Kennzeichen! Achtzehn-L-Ufünfundsiebzig, ich wiederhole einsacht-L-U-siebenfünf...“ Dann wurde die Übertragung plötzlich unverständlich, und im Hintergrund waren andere Stimmen zu hören. Egan und Gonzales konnten nichts anderes tun, als Patsy und Jehan auf den Fersen zu bleiben. Das waren ja schließlich die Schlüsselfiguren, sagte sich Egan. Und, was vielleicht noch wichtiger war, der blaue Koffer befand sich immer noch im Wagen... Inzwischen hatte der blaue Olds die 70th Street gekreuzt. Vor der 63st Street fuhr Patsy an den Bordstein heran und stoppte, und während er sich einige Minuten lang mit Jehan unterhielt, versuchte Egan fieberhaft, das Funkgerät zum Leben zu erwecken. Dann öffnete sich die Tür des Olds, und Franzmann eins verließ den Wagen. In seiner Hand hielt er ein schwarzes Köfferchen; es sah aus wie der Werkzeugkasten, mit dem Patsy am Tag zuvor gesehen worden war. Jehan stieß den Schlag zu, verbeugte sich, lüftete seinen schwarzen Homburg vor Patsy, richtete sich wieder auf und marschierte gelassen durch die 63st Street davon. „O Gott!“ stöhnte Egan, der die Szene aus zweihundert Meter Entfernung beobachtete. „Da geht der wichtigste Mann, und ich könnte wetten, daß er den ganzen Kies im Koffer hat. Heilige Mutter Gottes!“ Er drohte dem Funkgerät mit der Faust. „Und Patsy fährt auch los“, warnte Gonzales. „Er biegt in die 63st ein und hält auf die Schnellstraße ins Stadtzentrum zu. Was sollen wir tun? Jehan hat das Geld, aber Patsy den blauen Koffer und vielleicht eine Menge Stoff drin!“ Egan schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Wahl. Wir müssen uns an Patsy halten.“ Er sauste zur 63st Street hinunter. „Tut mir genug leid, daß ich den Franzosen laufenlassen muß, aber Patsy hat den Stoff bei sich, und ihn muß ich vor allem schnappen.“ „Glotzauge! Wenn du mich hörst, komm in die East End -249-
Avenue zurück, schnell!“ Sonnys Stimme klang schrill. „Ich kann nicht, Sonny!“ rief Egan vergeblich in das defekte Mikrophon. „Louie und ich sind hinter Patsy her! Der blaue Koffer ist noch im Wagen!“ „Glotzauge, bitte! Wenn du mich hörst, komm her! Wir haben zwei Franzosen geschnappt!“ „Auch das noch!“ stöhnte der Kriminalbeamte, ,,'n Dreck haben sie geschnappt! Die Falschen haben sie erwischt!“ „Es klingt, als ob es Schwierigkeiten gäbe“, meinte Gonzales besorgt. „Zum Teufel mit ihnen!“ fauchte Egan. „Was sollen wir denn tun? Soll ich Patsy vielleicht laufenlassen? Nur weil die den Kopf verloren haben?“ Sie waren an der Kreuzung 63st Street. „Aber vielleicht brauchen sie wirklich Hilfe?“ drängte der Agent. Egan sah ihn an; Verbitterung verzerrte seine Züge. „Ja, ja“, murmelte er mit tiefem, schmerzhaftem Aufseufzen, wendete den Corvair in einer engen U-Schleife und fuhr in die obere Stadt zurück. Patsys Olds sauste in der entgegengesetzten Richtung davon. Die Offiziere in der Wohnung des Kunsttischlers gegenüber von Nummer 45 hatten es zuerst nicht glauben können. Dann hatte sie die Wut gepackt - die Demütigung war zu groß gewesen. Und als ihnen schließlich dämmerte, daß alles versaut war, hatten sie tatsächlich den Kopf verloren. Nachdem Sonny und Waters beobachtet hatten, wie Patsy mit den zwei Franzosen als Passagiere von der 82st Street kommend in die East End Avenue eingebogen waren, eilten sie zum Gefechtsstand zurück. Dort erfuhren sie von Hawkes und Fleming, daß der Olds in die 83st Street eingeschwenkt war. Und -250-
aus. Kriminalbeamte saßen in Polizeiautos, Kriminalbeamte lauerten praktisch an jeder Kreuzung bis zur Second Avenue hinüber, und dennoch war es dem unter Aufsicht stehenden Wagen, so unglaublich es auch scheinen mochte, gelungen, unbemerkt zu entkommen. Doch im Grunde ihres Herzens wußten sie, daß dieses verblüffende Geschehen gar nicht so schrecklich geheimnisvoll war. Jedem einzelnen von ihnen war schon einmal Ähnliches passiert. Die Wirksamkeit einer Überwachung hing von der Wachsamkeit der damit betrauten Beamten ab und von der Flinkheit, mit der sie die Bewegungen der zu überwachenden Person an den nächsten Beobachtungsposten weitergaben. Nur eines von vielen nicht vorherzusehenden Dingen mochte in diesem Fall geschehen sein: die Aufmerksamkeit eines einzigen Teams von Kriminalbeamten mochte für die wenigen Sekunden abgelenkt worden sein, die ein Auto, das viele der Polizeioffiziere noch nie zuvor gesehen hatten, benötigte, um an ihnen vorbeizufahren. Ein mißliches Versehen in der zeitlichen Planung konnte einen Agenten, der zu Fuß unterwegs war, veranlaßt haben, gerade in diesem Augenblick seinen Standort zu ändern oder einem vorbeikommenden Polizeiwagen Meldung zu machen, daß Patsy und die Franzosen eine gewisse Kreuzung überquert hatten. Wie auch immer: war das Relais einmal an einem Punkt unterbrochen, wuchs die Wahrscheinlichkeit, daß auch in größerer Entfernung entlang der Fluchtlinie postierte Beamte, gleichgültig in welcher Richtung, das gesuchte Fahrzeug übersehen würden. Sobald die Struktur der Überwachung gestört ist, wissen die Polizeioffiziere nicht mehr, wo sie hinschauen sollen, und verlieren völlig die Übersicht. Die demütigende Wirklichkeit kam ihnen immer mehr zum Bewußtsein: sie hatten drei oder vier Männer, vermutlich Schwerverbrecher, im Netz gehabt,- den vierten möglicherweise unterwegs einfangen können -, und plötzlich war der ganze Fang verloren. Und dann, kurz nach zehn, blubberte es aus dem -251-
Lautsprecher: „Einer der Franzmänner ist wieder da Franzmann zwei! Er ist allein, kommt die 82st zur East End Avenue herunter...“ Wieder drängten sich die Polizeioffiziere ans Fenster. Schon vor einigen Minuten war ihnen ein eher gut aussehender Herr in einem eleganten schwarzen Ledermantel aufgefallen, der erwartungsvoll vor Nummer 45 auf und ab ging. Von einer Bemerkung Flemings abgesehen, daß er etwas „Fremdländisches“ an sich habe, hatte man ihm weiter keine Beachtung geschenkt. In dieser Gegend wimmelte es von feinen Herren und modebewußten Damen. Nun aber bog Barbier um die Ecke, überquerte die Straße und kam geradewegs auf den Fremden zu. „Wieder ein Neuer!“ rief Waters aus, den Fernstecher auf die zwei Männer gerichtet. „Wer zum Donnerwetter ist denn dieser Vogel? Den habe ich noch nie gesehen. Ungefähr einssechzig groß, Mitte Vierzig.“ Waters gab die Personalbeschreibung an die Zentrale und die im Umkreis befindlichen Beamten weiter. „Stämmig, üppiges braunes Haar.“ Barbier zog ein Stück Papier aus der Manteltasche und gab es dem anderen Mann. Waters meinte, es sähe aus wie ein Kontrollabschnitt, wie ein Garagenticket etwa. Der Neuankömmling ging zum Garageneingang vor und winkte jemandem. Sekunden später erschien der farbige Wagenpfleger, nahm das Papier in Empfang und trottete die Rampe hinunter. „Mir gefällt das nicht“, bemängelte Waters. „Die lassen sich einen Wagen heraufkommen. Barbier fährt spazieren. Wir können ihn nicht noch einmal entwischen lassen!“ „Warten wir mal ab“, flüsterte Sonny, der neben ihm stand. Die Umrisse eines Automobils wurden im Schatten der Garage sichtbar. Sonny hielt das Mikrophon in der Hand und beschrieb die Vorgänge für die in der Gegend stationierten Kriminalbeamten. -252-
Barbier und der Fremde bestiegen die Limousine; der letztere nahm das Steuer. „Frank!“ rief Sonny. „Es ist ein ausländischer Buick! Erinnerst du dich an den kanadischen...?“ „Mensch, schnell auf die Straße!“ bellte Waters. „Das könnte jetzt die Übergabe sein!“ Sie sausten die Treppe hinunter. Als sie den Gehsteig erreichten, bog der schwarze Buick eben in die Straße ein und setzte sich nach Norden in Bewegung. Waters' weißer Oldsmobile war an der Ecke der 81st Street in entgegengesetzter Richtung geparkt. Sie stürzten sich in den Wagen, und noch bevor die Türen zugefallen waren, hatte der Agent den Motor angelassen und den Wagen mit kreischenden Reifen herumgerissen. Der Buick hatte bereits die 83st Street passiert und kam auf Touren. „Wir schnappen sie noch nicht...“ Sonnys Bemerkung war halb Feststellung, halb Frage. „Wir wollen sehen, wie's läuft“, erwiderte Waters unsicher. „Sie fahren schnell“, beobachtete Sonny. „Sie sind bei Rotlicht über die Kreuzung der 84th!“ „Barbier schaut in den Rückspiegel. Er fordert seinen Freund auf, Gas zu geben.“ Der Buick näherte sich einem weiteren Rotlicht an der 85st Street, doch statt zu bremsen, raste die Limousine weiter durch die East End Avenue. „Schau dir das an!“ rief Waters. „Sie wollen uns abhängen! In dem Wagen muß was drin sein!“ „Barbier schaut immer noch in den Rückspiegel.“ Waters drückte den Gashebel tief hinunter. „Schnappen wir sie?“ „Ich weiß nicht.“ „Wenn wir so weitermachen, wissen sie sowieso, daß wir -253-
hinter ihnen her sind...“ „Ich möchte nicht, daß wir zu früh... Ach was, nehmen wir sie hops!“ Der Oldsmobile sprang vor, raste durch die Rotlichter der 84th und 85th Street und kam immer näher an den Buick heran. Sie passierten die 86th und die 87st. Je mehr sich der Abstand zwischen den zwei Wagen verringerte, desto aufgeregter schien Barbier. Beim Überqueren der 88th Street berührte Waters' Olds beinahe schon den Kotflügel des Buick. Waters drückte auf die Hupe und drängte den ändern Wagen zur Seite. Sonny lehnte sich aus dem Fenster und machte dem Fahrer der Limousine Zeichen, anzuhalten. Der Buick verlangsamte jäh das Tempo, und kurz vor der 89th Street schnitt Waters ihm mit kreischenden Bremsen den Weg ab. Sonny hatte bereits das Mikrophon in der Hand: „Glotzauge! Wenn du mich hören kannst, komm zur East End Avenue zurück! Wir haben zwei Franzosen geschnappt!“ Erst nachdem die Beamten aus dem Wagen gesprungen waren und sich mit gezogenen Revolvern zu beiden Seiten des Buick postiert hatten, kam ihnen zum Bewußtsein, daß das Schauspiel genau vor Gracie Mansion, der Residenz des Bürgermeisters, abrollte. Der Fahrer des Buick machte ein verängstigtes Gesicht und schnatterte aufgeregt auf französisch. Sein Begleiter, Barbier, musterte die Kriminalbeamten mit mürrischer Miene. „Immer mit der Ruhe“, begann Sonny. „Darf ich um Ihre Papiere bitten? Ihre Papiere“ Der Kriminalbeamte zog seine eigene Brieftasche und zeigte ihnen seinen Ausweis. „Ihre Papiere - von Ihnen beiden.“ Der Fahrer griff in seine innere Jackentasche - Sonny richtete den Lauf seiner Smith & Wessen auf ihn - und holte langsam eine Brieftasche hervor, die er dem Polizeioffizier hinhielt. „Nein, leeren Sie sie dort aus“, wies Sonny ihn an und deutete auf den Bord des Armaturenbretts. Waters instruierte Barbier auf ähnliche Weise. Unterdessen -254-
waren weitere Polizeiwagen herangekommen, und ein halbes Dutzend Beamte umdrängte den Buick. „Jacques Angelvin“, las Sonny holprig aus einem der französischen Dokumente vor, die der Fahrer nervös seiner Brieftasche entnommen hatte. „Der scheint da drüben in Frankreich beim Fernsehen zu sein. Hat sogar Zeitungsausschnitte bei sich.“ „Und unser Freund Mr. Barbier“, kommentierte Waters, „heißt gar nicht Barbier. Scaglia steht hier im Paß, Francois Scaglia.“ Scaglia starrte den Agenten an. „Ich Ihnen bin bekannt?“ „Er spricht!“ rief Waters aus. „Mein Englisch ist wenig“, entgegnete der Franzose heiser. „Aber pardon, wie ist es, daß ich Ihnen bin bekannt?“ „Uns ist 'ne ganze Menge über Sie bekannt, Freundchen“, sagte Sonny und steckte den Kopf durch das Wagenfenster. „Und das wissen Sie ja auch.“ Scaglia richtete einige scharfe Worte auf französisch an Angelvin. Dann wandte er sich an Sonny: „Wir sind von Frankreich. Warum ist es, daß Sie uns aufhalten? Wir sind in Arrest?“ Sonny warf Waters einen schnellen Blick zu; der Agent hatte inzwischen das Innere des Wagens einer flüchtigen Überprüfung unterzogen. Sie besaßen keinen Durchsuchungsbefehl für das Fahrzeug; sie hatten noch nicht einmal das Recht, die Verdächtigen zu durchsuchen. Selbst ein die Angehaltenen belastendes Ergebnis wäre vom Gericht als Beweismaterial nicht zugelassen worden. Mit finsterem Gesicht schüttelte Waters den Kopf. „Sie sind zweimal bei Rotlicht über die Kreuzung“, antwortete Sonny. „Sie werden uns zur Einvernahme auf die Wache folgen müssen.“ „Wir wünschen Dolmetscher zu haben“, erklärte Scaglia. -255-
»Ja, ja, gewiß...“ Dies war der einigermaßen zweifelhafte Stand der Dinge, als nebst vielen anderen Bundesagenten und städtischen Polizeibeamten auch Eddie Egan und Louis Gonzales angefahren kamen. Egan sprang aus dem Wagen und drängte sich an Sonnys Seite durch. „Was ist los?“ rief er. „Ist dir was passiert?“ „Eddie!“ Sonny nahm ihn am Arm, ging mit ihm einige Schritte zur Seite und erzählte ihm, was geschehen war. „Und was habt ihr gefunden?“ fragte Egan gespannt. Sonny ließ die Schultern hängen. „Nichts.“ „Nichts? Für nichts mußte ich Patsy sausen lassen -“ „Was meinst du mit ,Patsy sausen lassen'? Warst du ihm denn auf den Hacken?“ Waters hatte sich zu ihnen gesellt. „Nicht nur Patsy, ich hatte alle auf dem Kieker!“ erwiderte Egan. „Sogar Franzmann eins!“ „Das ist doch Unsinn“, spottete Waters. „Es waren doch nur zwei Franzosen mit Patsy im Wagen.“ „Na ja, in der Zeit, wo ihr sie verloren habt und ich sie wieder fand, gabelten sie Jehan auf. Alle vier waren zusammen. Ich versuchte euch zu erreichen, aber mein Sender ist kaputt.“ „Aber wo warst du?“ wollte Sonny wissen. In knappen Worten beschrieb Egan Patsys Verfolgung und die Qual, zusehen zu müssen, wie ein Verdächtiger nach dem ändern unbehindert das Weite suchte. „Zuerst stieg dieser Vogel aus“, sagte er und deutete mit dem Kopf auf Scaglia, „dann Mouren und schließlich Jehan. Es machte mich fertig, aber wenigstens hatte ich immer noch Patsy mit dem Koffer der Franzosen im Wagen. Und dann rufst du nach mir, als ob dich jemand vergewaltigen würde, und ich lasse Patsy sausen. Ich bin wirklich der Idiot des Jahres!“ Er spuckte angewidert aus. -256-
„Aber wie hätten wir auch wissen sollen...?“ jammerte Sonny. „Das weiß ich nicht. Und ebensowenig weiß ich, wie es alle diese Bundesagenten und Polypen geschafft haben, Patsy und seine Freunde aus den Augen zu verlieren.“ Egan sah auf die Uhr - es war zwanzig Minuten nach zehn. „Nun, es hat ja keinen Zweck, hier weiter herumzustehen und zu klönen. Ich gehe Patsy suchen.“ „Wo?“ erkundigte sich Waters. „Das weiß ich nicht, aber ich werde ihn finden und beim Krips kriegen. Wahrscheinlich ist es schon zu spät, aber eines garantiere ich euch: Bevor noch der Tag zu Ende geht, werde ich die Haussuchungsbefehle genützt haben.“ „Was glaubst du, sollen wir inzwischen tun?“ fragte Sonny. Egan beäugte die Menge, die rund um den Buick stand, und heftete dann seinen Blick auf Agent Waters. „Ihr könnt damit anfangen, daß ihr ihnen erklärt, es ist bei uns so üblich, daß siebzehn Bullen einen Wagen anhalten, weil er bei Rotlicht über eine Kreuzung gefahren ist.“ Während Egan und Gonzales wieder in den Corvair kletterten, eskortierten Grosso und Waters die beiden Franzosen zu Waters' Wagen. Sie stellten den Buick unter Bewachung und fuhren mit Angelvin und Scaglia zu Nummer 45 zurück. Leutnant Hawkes hatte das Büro in der Tiefgarage vorübergehend als Hauptquartier requiriert. „Wünschen Sie einen Dolmetscher?“ fragte Fleming. Angelvin und Scaglia nickten feierlich. Fleming, Grosso und Waters zogen sich in den hinteren Teil des Büros zurück und konferierten mit Hawkes. Der Leutnant schüttelte verdrießlich den Kopf. „Ich weiß nicht recht. Es sind zwei französische Staatsbürger, und wir haben nichts in der Hand. Wir könnten in arge Verlegenheit geraten.“ -257-
„Wir haben den Wagen noch nicht durchsucht“, betonte Agent Waters. „Wenn wir das ohne Durchsuchungsbefehl tun, setzen wir uns noch mehr in die Tinte“, brummte Hawkes. „Aber wir wollen sie festhalten, so lange wir können.“ Waters nickte. „Ich werde unser Büro anrufen und einen französischen Dolmetscher anfordern.“ „Sag ihm, er soll sich Zeit lassen“, mahnte Hawkes. „Natürlich“, antwortete Waters und nahm den Hörer auf. Er ließ sich mit seiner Dienststelle verbinden und sprach mit dem Agenten Martin F. Pera, einem französischen Übersetzer. „Jetzt passen Sie mal genau auf, wie Sie hierherkommen, Pera.“ Waters entwarf eine Fahrtroute für den Übersetzer, die sich, vom unteren Teil Manhattans ausgehend, durch Brooklyn und Jamaica schlängelte und über Queens und den LaGuardiaFlughafen zur Stadt zurückführte. „Sollten Sie sich unterwegs verirren, rufen Sie uns an, und wir werden Ihnen neue Weisungen geben“, fügte Waters hinzu. Sonny, der neben ihm stand, lachte über den einigermaßen weitschweifigen Reiseweg. „Okay“, sagte Waters und legte auf. Er seufzte verdrießlich. „Ich wußte, wir hätten sie nicht schnappen sollen.“ „Was soll das heißen?“ kreischte Sonny. „Du hast gesagt, wir sollen sie hopsnehmen!“ „Keine Spur“, widersprach Waters. „Du wolltest sie einnähen!“ „Genug jetzt! Wollen mal sehen, ob die Sache noch zu retten ist“, funkte Hawkes barsch dazwischen. Unterdessen rasten Luis Gonzales und Egan über den East River Drive nach Süden. Egan war verärgert, darum aber nicht mutlos. Sie würden noch alle den Verstand verlieren, bevor die Geschichte zu Ende war. Patsy hatte etwa fünfzehn bis zwanzig -258-
Minuten Vorsprung - genügend Zeit, um das Zeug loszuwerden. Es gab nur eine echte Hoffnung: daß Patsy sich seiner Sache sicher fühlte und es daher nicht allzu eilig hatte, die Ware an den Mann zu bringen. Aber es war nur eine kleine Hoffnung, wenn man den vermutlichen Umfang dieser Transaktion in Betracht zog. Egan hatte sich entschlossen, zunächst einmal nach Blairs Pike Slip Inn zu sehen. Dort schien es Patsy immer hinzuziehen, wenn die Aussichten rosig waren und er sich entspannt fühlte. Außerdem lag das Lokal praktisch auf dem Weg zu jeder der Brücken nach Brooklyn. War Patsy nicht bei Blair oder sonstwo in seiner früheren Nachbarschaft, dann gab es für Egan nur mehr ein Ziel: Brooklyn - wo er an all jenen Orten zuschlagen konnte, für die er Haussuchungsbefehle besaß. Es war ein Viertel vor elf, als er von der Schnellstraße in die Grand Street einschwenkte und sich durch kleine Seitenstraßen zur South Street durchschlängelte. Tagsüber sah diese Verkehrsader anders aus. Kleine Lieferautos und riesige Lastwagen schwirrten um die Laderampen der Lagerhäuser, luden Fracht ab und wieder auf und verstellten die halbe Straße. Gegen Abend legte sich das geschäftige Treiben, und die Lagerhäuser und Laderampen versanken in den unheimlichen, furchterregenden Schatten des breiten Viadukts über den Köpfen der wenigen Fußgänger. Es war eine gefährliche und bedrohliche Hafengegend; tagsüber aber lebte sie - und stank nach Fisch. Als Egan sich der Pike Street näherte, drosselte er das Tempo; vorsichtig bog er um die Ecke. Gonzales schnappte nach Luft. „Jetzt glaub' ich auch schon an deine Eingebungen“, stieß der Agent hervor. Patsy stand vor dem Pike Slip Inn und plauderte mit Inez, der Bardame. Sein blauer Oldsmobile war einige Meter weiter geparkt. -259-
Egan konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als er die Pike Street hinauf an ihm vorbeifuhr. „Saukerl!“ zischte er hämisch. „Saukerl!“ Zwei Blocks weiter lenkte er den Wagen an den Randstein. „Schau dich nicht um“, warnte er Gonzales. „Ich seh' ihn im Rückspiegel.“ „Ob er das Zeug noch bei sich hat?“ meinte der Agent zweifelnd. „Er könnte es da in dem Bumslokal gelassen oder unterwegs irgendwo abgegeben haben. Wenn wir ihn jetzt einstecken und er hat's nicht bei sich, können wir uns gleich aufhängen. Wir können ihm nur auf den Fersen bleiben und hoffen, daß wir's zu sehen bekommen. Mit Patsy geht's auf und ab und auf und ab wie bei einer Berg-und-Tal-Bahn.“ Keine zwei Minuten später stieg Patsy wieder in seinen Wagen, winkte dem Mädchen freundlich zu und fuhr die Pike Street zum East Broadway hinauf. Wären sie zwei Minuten später gekommen, überlegte Egan, hätten sie ihn verpaßt. Sie folgten Patsy über die Manhattan-Brücke und nach Brooklyn hinein. In der vergeblichen Hoffnung, die elektronischen Götter könnten ein Einsehen haben, sprach Gonzales immer noch die Fahrtroute ins Mikrophon. In der Aufregung hatten sie vergessen, das Gerät umzutauschen, und nun war es zu spät. Sie durchquerten das südliche Brooklyn. Patsy hielt auf die 65th Street zu; er fuhr heim. Egan blieb an der Ecke der Twelfth Avenue stehen, während Patsy in die Auffahrt zu seinem Haus in der 67th Street einschwenkte. Und wieder versuchte der Kriminalbeamte das Funkgerät: „Hier Glotzauge. Wenn mich jemand hören sollte - ich bin Patsy bis zu seinem Haus in Brooklyn gefolgt. Kann mich jemand hören?“ Keine Antwort. „Das hat keinen Zweck, Louie. Hör mal, da ist eine Garage in der 68th Street. Lauf doch schnell hinüber und verständige die Zentrale, wo wir sind. Ich bleib' hier und pass' auf.“ -260-
„In Ordnung.“ Gonzales stieg aus und eilte um die Ecke. Erst jetzt erkannte Egan, daß Patsy seinen Wagen nicht verlassen hatte. Der Oldsmobile stand mit laufendem Motor quer über dem Gehsteig. Und jetzt sah Egan Barbara Fuca mit ihrem Pelzmantel die Stufen vom Haus herunterkommen und auf dem Vordersitz neben ihrem Mann Platz nehmen. Der Kriminalbeamte hielt vergeblich nach Gonzales Ausschau, doch der Agent war bereits in die 68st Street eingebogen. Patsy steuerte den Olds rücklings auf die Straße zurück und fuhr die 67th Street in westlicher Richtung hinunter. Egan blieb nichts anderes übrig, als ihm allein zu folgen. Patsy schwenkte in die Gowanus-Schnellstraße ein und drehte nach Norden ab. Egan blieb ihm auf den Fersen und ließ sich auf nichts ein. Der blaue Wagen nahm die Ausfahrt an der Third Avenue und 16th Street, immer noch in Brooklyn - Patsy fuhr zum Haus seiner Eltern! Die alten Fucas wohnten im Erdgeschoß eines dreistöckigen Ziegelhauses in der 7th Street, in der Mitte zwischen Third und Fourth Avenue. Es war eines in einer Reihe von sieben schäbigen Häusern, die einander so ähnlich sahen, daß, wären die sieben Eingänge nicht gewesen, man sie alle für ein einziges langes Gebäude hätte halten können. Sie hatten schmale Vorhöfe, die durch ein schwarzes, mit Spitzen versehenes Eisengitter vom Gehsteig getrennt waren. Die gegenüberliegende Seite der 7th Street war fast durchgehend von ebenso häßlichen, alten, drei- und viergeschossigen Häusern gesäumt. Sah man von der ziemlich gleichförmigen Rußschicht ab, die die gelben Ziegel verdunkelt hatte, machte das Äußere des Fucaschen Hauses, bis auf das einst reich verzierte, jetzt aber schon abgeblätterte Holzwerk an den Fenstern, einen recht netten und gepflegten Eindruck. Joseph und Natalie Fuca, beide an die Sechzig, waren die Eigentümer dieses Hauses, benützten aber nur das Erdgeschoß und den Keller und vermieteten die -261-
zwei oberen Stockwerke. Die Polizei hatte die Bewohner schon vor geraumer Zeit unter die Lupe genommen und dabei festgestellt, daß sie pünktlich ihre Miete zahlten, sonst aber keine Verbindung zu den Fucas unterhielten. Nur wenige Meter vom Eingang zu Nummer 245 entfernt fand Patsy eine Parklücke für seinen Olds. Als Egan, aus der Third Avenue kommend, in die 7th Street, eine Einbahnstraße in östlicher Richtung, einbog, stiegen Patsy und Barbara gerade aus dem Wagen. Während der Kriminalbeamte langsam vorbeifuhr, ging das Paar auf das Haustor zu. Den blauen Koffer, den Franzmann drei vor zwei Stunden in den Olds mitgenommen hatte, trug Patsy nicht bei sich. Entweder, überlegte Egan, hatte er ihn in den zwanzig Minuten, als er unbewacht gewesen war, irgendwo abgestellt, oder er befand sich noch im Wagen. Egan parkte neben einem Hydranten auf der anderen Straßenseite, knapp vor der Fourth Avenue. Fünfzehn Minuten vergingen und zwanzig, und der Kriminalbeamte rückte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Die Ungeduld drängte ihn dazu, sich Patsys Wagen vorzunehmen, für den er ebenfalls einen Durchsuchungsbefehl besaß. Er konnte das Heroin schnappen, wenn es da war, und mit dramatischer Gebärde im Alleingang in das Haus eindringen. Doch es gab Vorschriften für die Beamten des Rauschgiftdezernats, wonach immer zumindest zwei Polizeioffiziere Beschlagnahmen und Verhaftungen vornehmen mußten, um gegenseitig Zeugenschaft ablegen zu können. Gleichzeitig juckte es ihn, zur nächsten Fernsprechzelle zu eilen - er sah eine an der Ecke der Fourth Avenue, vor einer Garage. Schließlich aber folgte er dem Ruf der Vernunft, die ihm riet, Wagen und Haus so lange nicht aus den Augen zu lassen, bis Patsy irgend etwas unternahm. Und dann sah er Patsy aus dem Haus kommen - aber nicht aus der Eingangstür, sondern über die Kellerstiege herauf. Er war jetzt in Hemdsärmeln, ging zu seinem Wagen und sah die Straße -262-
hinauf und hinunter, bevor er aufschloß. Er beugte sich über den Hintersitz, und als er sich wieder aufrichtete, hielt er den blauen Koffer in der Hand. Patsy warf den Schlag zu, sah sich abermals nach allen Seiten um und verschwand über die unter dem Haustor gelegene Kellerstiege. Mit vor Erregung gerötetem Gesicht sprang Egan aus dem Corvair und hastete zur Telephonzelle hinauf. Mit flinken, nervösen Fingern wählte er die Nummer der Zentrale. „Hier spricht Egan. Gibt's was Neues?“ „Die rennen alle im Kreis herum und versuchen zu retten, was noch zu retten ist.“ „Die Franzosen...?“ „Alles für die Katz. Nichts zu finden.“ „Wo sind denn alle? Immer noch in der East End Avenue?“ „Ja. Bis auf weiteres ist in der Garage dort das Hauptquartier. Wo bist du? Luis Gonzales hat angerufen...“ „Patsy ist geflitzt. Ich konnte nicht auf Louie warten. Ich sitze vor dem Haus von den alten Fucas in der Seventh Street in Brooklyn. Ich brauche Unterstützung. Ich glaube, Patsy hat das Zeug eben ins Haus gebracht. Schick mir sofort ein paar Leute her. Und hör zu, hast du die Nummer bei der Hand? Ich möchte mit Vinnie Hawkes sprechen.“ Vor dem Fucaschen Haus rührte sich nichts. Egan wählte die Nummer der Garage von Nummer 45 East End Avenue. Er erstattete Leutnant Hawkes Bericht und ersuchte seinen Chef, schnellstens für Verstärkung zu sorgen. Er bat ihn auch, ihm ein Funkgerät zu schicken. Schließlich fragte er: „Wie geht's denn Sonny und Waters?“ „Ich fürchte, ich werde sie in Käfige sperren müssen“, erwiderte Hawkes trocken. „Sie kibbeln sich wie zwei Wildkatzen. Einer wirft dem ändern vor, die Franzosen angehalten zu haben.“ -263-
„Sagen Sie ihnen, sie sollen sich nicht gegenseitig die Augen auskratzen. Glotzauge, der rettende Engel, wird sich ihrer annehmen.“ „Passen Sie nur auf, daß Sie keinen rettenden Engel brauchen!“ Egan ging zum Wagen zurück. Auf seiner Armbanduhr war es ein Viertel nach zwölf. Zaghafte Sonnenstrahlen versuchten die Schichten schwermütigen Graus zu durchdringen. Nur wenige Fußgänger waren in der stillen 7th Street unterwegs. Egan setzte sich auf den rechten Vordersitz des Corvair, legte den linken Arm auf die Rückenlehne, stützte sein Kinn darauf und beobachtete Nummer 245 und den kleinen blauen Oldsmobile vor dem Haus. Die Finger seiner rechten Hand spielten mit der Schnalle der Pistolentasche an seiner Hüfte. In den folgenden fünfundzwanzig Minuten kamen verschiedene Fahrzeuge vorbei, doch erst um zwölf Uhr vierzig hatte Egan das Gefühl, einen bekannten Wagen zu sehen, der langsam durch die 7st Street gerollt kam. Es waren der Kriminalbeamte Dick Auletta und Agent Artie Fluhr. Egan grinste, lehnte sich zum Fahrersitz hinüber, preßte wie ein ausgelassener Junge die Nase gegen die Scheibe und verzog das Gesicht zu einer närrischen Grimasse. Auletta bemerkte ihn und grinste zurück. Fluhr blieb neben dem Corvair stehen, doch Egan wies ihn mit einer Handbewegung an, ein Stück weiter zu fahren. Dann stieg er aus und ging ihnen nach, wobei er alle paar Schritte einen Blick zurück auf Nummer 245 warf. Fluhr hatte sich nahe der Ecke in eine Lücke geschoben. Nachdem Egan sich ächzend auf den Rücksitz hatte fallen lassen, begrüßte ihn Auletta: „Na, hat der kleine Mann heute einen beschwerlichen Tag gehabt?“ „Frag mich nicht“, stöhnte Egan. „Das war vielleicht ein Kuddelmuddel. Ihr wißt ja, daß mir mein Funkgerät kaputt gegangen ist. Mensch!“ -264-
„Diese Sorge bist du los“, lächelte Fluhr. „Wir haben dir ein frisches gebracht.“ „Herrlich!“ Egan drehte sich herum und warf einen langen Blick durch das Heckfenster. Sich wieder den anderen zuwendend, meinte er: „Ich würde allerdings nicht behaupten wollen, daß wir schon aller Sorgen ledig sind.“ Und er berichtete ihnen im einzelnen über seine Beobachtungen und Mutmaßungen. „Na, und wie schmeißen wir jetzt den Laden?“ fragte Auletta. „Nehmen wir sie einfach hops?“ „Darüber hab' ich mir schon den Kopf zerbrochen“, antwortete Egan. „Und ich glaube, wir warten lieber, bis Patsy wieder 'rauskommt. Ich möchte sehen, ob er den Koffer noch bei sich hat. Wenn ja, teilen wir uns, und ihr beschattet ihn. Wenn er ohne 'rauskommt, schnappen wir ihn. Ich möchte auf jeden Fall noch ein paar Leute hier haben. Man kann nie wissen, was da alles schiefgehen kann.“ „Ruhe, meine Herren!“ warnte Fluhr, den Blick auf den Rückspiegel gerichtet. „Patsy und Barbara kommen aus dem Haus.“ Die drei Polizeioffiziere duckten sich und beobachteten aufmerksam, wie das Ehepaar von beiden Seiten in den Olds kletterte. Patsy hatte den blauen Koffer nicht bei sich. „Kinder, ihr seid gerade zur rechten Zeit gekommen!“ frohlockte Egan. „Hör zu, Artie, wir lassen sie vorbeifahren, dann holt ihr sie ein und schnappt sie. Ich gehe inzwischen ins Haus. Zuerst muß ich mir noch die Haussuchungsbefehle aus dem Wagen holen. Gib mir das Funkgerät, für den Fall, daß wir was miteinander zu reden haben.“ Fluhr reichte ihm das flache, graue, rechteckige Funksprechgerät. Dann duckten sie sich noch einmal, während Patsys blauer Wagen sich näherte und, an ihnen vorbei, um die Ecke bog. Egan wartete, bis der Olds in der Fourth Avenue -265-
verschwunden war. Dann sprang er aus dem Wagen und sprintete zu seinem eigenen Fahrzeug zurück. Fluhrs Reifen kreischten, als er mit Auletta um die Ecke schoß, den Fucas nach. Egan suchte sich hastig den richtigen Schlüssel heraus, öffnete das Handschuhfach und begann die darin befindlichen Dokumente zu durchsuchen. Er schnaufte ungeduldig und stopfte schließlich den ganzen Stoß in seine Jackentasche. Das Funkgerät unter den Arm geklemmt, den Revolver in der Hand, marschierte Egan über die Straße, auf Nummer 245 zu.
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17 Joseph Fuca öffnete auf Egans Läuten. Er war ein kleiner, finster blickender alter Mann mit struppigem grauweißem Haar. Er war unrasiert und trug ein schmieriges weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Argwöhnisch starrte er auf den stämmigen Rotschopf an der Tür. „Ja?“ Mit seiner freien Hand schob Egan ihm seinen Dienstausweis unter die Nase. „Polizei. Ich habe einen Haussuchungsbefehl. Sind Sie Joseph Fuca?“ „Polizei? Was Sie wolle? Ich nix -“ Er riß den Mund auf und erbleichte, als er den Revolver in Egans anderer Hand erblickte. „Machen Sie keine Geschichten, und wir werden uns gut miteinander vertragen“, sagte Egan gelassen, stieß mit der Schulter die Tür auf und gelangte in eine kleine Diele. „Sie sind also Joe Fuca, stimmt das?“ Der Mann starrte immer noch auf den Revolver. „Wer befindet sich noch in der Wohnung?“ Fuca schüttelte nur stumpf den Kopf. „Okay.“ Egan verstaute den Revolver wieder in der Pistolentasche unter seiner Lederjacke. „Geht's jetzt besser?“ Egan musterte den kleinen Mann. Seine verbeulten grauen Hosen waren mit alter Farbe bekleckert, schienen aber auch Spuren eines weißen Staubs aufzuweisen. Auch seine abgetragenen braunen Schuhe waren mit einer Art Pulver bedeckt. „Also, mein Alter“, gebot er ihm, „gehen wir mal hinein.“ „Ich haben nix Sie suchen“, protestierte Fuca. „Wozu Sie gekomme?“ „Fluhr hier“, erklang eine blecherne Stimme unter Egans Achselhöhle hervor. Fuca fuhr erschrocken zusammen. Schmunzelnd setzte der Kriminalbeamte das Mikrophon an den Mund. „Hast du sie?“ -267-
„Wir haben sie.“ „Schwierigkeiten gehabt?“ „Keinerlei.“ „Bring sie hierher zurück. Ende.“ „Verstanden.“ Fuca vor sich her schiebend, gelangte Egan ins Wohnzimmer. Die Möbel waren alt, zumeist gepolstert und zum Teil fadenscheinig; verblichene weiße Zierdeckchen schmückten Arm- und Kopflehnen, und grünes Linoleum diente als Bodenbelag. Das Zimmer sah einigermaßen ordentlich aus; dennoch herrschte die übelriechende Atmosphäre mangelnder Sauberkeit. Egan stieg das unverkennbare, schon etwas fade Aroma italienischer Gewürze in die Nase. „Wo ist Ihre Frau?“ fragte er. „Ausgegangen.“ „Schade. Wir bekommen nämlich Besuch - Ihr Sohn Patsy und seine Frau.“ „Was soll heißen? Sind sie gerade fort.“ Der alte Mann betrachtete Egan mit feindseligen Blicken. „Warum machen Sie diese Geschäft? Ich haben nix hier.“ „Doch, doch, Sie haben schon was hier“, fuhr Egan ihn an. „Und in ein paar Minuten werden wir's auch gefunden haben und, Mister, dann sitzen Sie ganz schön in der Tinte.“ Die Türglocke läutete. „Bleiben Sie hier!“ befahl Egan und ging öffnen. Der Kriminalbeamte Jim Hurley und Agent Jack Ripa standen vor der Tür. „Guten Tag, Freunde!“ hieß Egan sie willkommen. „Kommt nur weiter. Hier wird heute gefeiert.“ „Wir haben's über Funk gehört“, sagte Hurley. „Sind schon Leute da?“ „Noch nicht.“ „Na, es kommen noch welche. Du glaubst also, der Stoff -268-
befindet sich hier?“ „Ich nehme an“, erwiderte Egan, „aber wir werden es bald genau wissen. Ihr könnt schon anfangen, euch umzusehen.“ Während er zur Seite trat, um die zwei Polizeioffiziere einzulassen, fuhr draußen ein Wagen vor: Fluhr und Auletta mit ihren Gefangenen. „Na also“, rief Egan aus, „hier sind ja die Stars unserer Show!“ Gefolgt von Fluhr, überquerte ein überaus mürrischer Patsy mit Barbara und Auletta den Gehsteig. Der Mann, den Egan und seine Kollegen monatelang beschattet, dessen Tun und Treiben sie aufmerksam - und zuweilen mit Sorge - studiert und analysiert hatten, schien dem Kriminalbeamten jetzt kleiner und weniger gefährlich. Mit seinem gesenkten, aber darum nicht weniger wachsamen Blick glich Patsy einem Tier in der Falle; zwar fürchtet es, sein Ende könnte gekommen sein, doch mag es, so es eine Chance zu erkennen glaubt, einen letzten verzweifelten Versuch unternehmen, die Freiheit wiederzuerlangen. Egan schubste Patsy ins Wohnzimmer und nach ihm die Kaugummi kauende Barbara mit ihrer geschmacklosen blonden Perücke. Während Auletta und Fluhr eintraten, parkten zwei weitere Wagen in zweiter Spur in der 7th Street, und die Zahl der Partygäste erhöhte sich um vier Kriminalbeamte. Sie begannen die Wohnung zu durchsuchen. Egan beschloß, Patsy ohne viel Umschweife anzuschießen. „Sie können es uns allen leichter machen, wenn Sie uns gleich sagen, wo das Zeug ist.“ „Was für Zeug?“ fauchte Patsy. „Was zum Teufel ist denn hier los? Haben Sie überhaupt...?“ Egan hielt ihm eine Handvoll Dokumente unter die Nase. „Wir haben hier Haussuchungsbefehle für jeden einzelnen Ort, an dem Sie sich in den letzten drei Monaten aufgehalten haben für Ihr Haus, Ihre zwei Wagen, Ihren Laden, den Wagen der -269-
Travatos, die Wohnung ihres Bruders Tony, seinen Wagen, dieses Haus ,.. und Haftbefehle für Sie, die Travatos, Ihren Bruder Tony, Ihren Vater, Ihre Mutter...“, er machte eine Pause und stellte befriedigt fest, daß Patsy bleich geworden war, „... ja sogar für Ihre französischen Freunde!“ Patsy wußte einen Augenblick lang nichts zu erwidern. Er schüttelte den Kopf und erhob den Blick. „Was für französische Freunde? Ich kenne keine Franzosen - außer Maurice Chevalier...“ „A ja? Na, dann wird es Ihnen wohl nichts ausmachen, daß wir sie alle verhaftet haben - gleich nachdem sie sich von Ihnen verabschiedet haben.“ „Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.“ Offenbar hoffte er, mit Kaltschnäuzigkeit durchzukommen. „Was wollen Sie eigentlich von mir?“ „Sie haben eine Ladung Stoff hier im Haus versteckt“, warf Egan ihm vor, wobei er sich der Tatsache wohl bewußt war, daß er bluffte. Schließlich konnte Patsy das Heroin unterwegs abgestellt und den blauen Koffer leer ins Haus gebracht haben. „Was für Stoff?“ fragte Patsy mit dem Augenaufschlag eines Ministranten. Die Fäuste in die Seiten gestemmt, stand Egan mit gespreizten Beinen da und musterte den kleinen Mann mit unverhohlener Geringschätzung, zerpflückte ihn förmlich von Kopf bis Fuß. Wie die seines Vaters waren auch Patsys Schuhe von einem weißlichen Pulver bedeckt. Der Kriminalbeamte warf abermals einen flüchtigen Blick auf die Schuhe des alten Fuca, sah Patsy ins Gesicht und herrschte den Vater an: „Also, Pappi, wo geht's da zum Keller?“ War es Angst, was da sekundenlang in Patsys Augen aufzuckte? Joe Fuca gehorchte nur widerstrebend, aber er zeigte ihnen eine Tür in dem engen Korridor, der das Wohnzimmer mit dem hinteren Teil der Wohnung verband. „Machen Sie auf!“ befahl -270-
Egan. Unten war alles dunkel. „Licht!“ Fuca drehte an einem Schalter gleich hinter der Tür. Egan schaute hinunter. Auf dem Betonboden am Fuß der Treppe lag ein geöffneter blauer Koffer. Er drehte sich um und sah den alten Mann an und dann den Sohn; ein Lächeln begann um seine Lippen zu spielen. „Wenn es sein muß, nehmen wir das ganze Haus auseinander - bis wir gefunden haben, was wir suchen.“ Patsy verzog keine Miene. Der alte Mann stierte vor sich hin. „Nein? Auch gut. Paßt schön auf sie auf“, rief er Auletta und den anderen Beamten zu und stieg die Holztreppe hinunter. Der Keller war etwa ebenso ordentlich wie das Wohnzimmer. Es war ein schmales Rechteck, das sich von der Straßenfront des Hauses bis zur hinteren Hofmauer zog. Vorne gab es eine Tür und zwei mit Brettern verschlagene Fenster. Zwei kleine Fenster gingen auf den Hof hinaus. An diesem Ende war der Keller durch Holzplanken in drei Verschlage geteilt, die offenbar als Lagerräume dienten. In einer Ecke standen neben einem gelb gewordenen Waschzuber eine elektrische Waschmaschine und ein Wäschetrockner, in einer ändern ein schwarzer Kessel und der Heizkörper einer Warmwasseranlage. An der Decke waren die üblichen rußigen Rohre und die in Asbest gewickelten Heißwasserleitungen angebracht. Der Boden war an manchen Stellen arg verkratzt, aber sehr sauber gefegt - etwas zu sauber, selbst für einen so ordentlichen Keller, wollte es Egan scheinen. Er kniete sich neben dem offenen Koffer nieder. Er war leer, doch in den Ecken bemerkte er kaum sichtbare Spuren einer weißen, pulverartigen Substanz. Er wischte sie mit dem Zeigefinger zusammen und legte dann die Fingerspitze auf die Zunge. Der Geschmack war säuerlich bitter, typisch für Heroin. Grinsend sah Egan zu Patsy hinauf, der neben Dick Auletta auf der obersten Treppenstufe stand. „Hier habe ich schon genug von dem Dreckzeug, um dich ins Loch zu stecken. Mit deinen Vorstrafen solltest du auf zehn Jahre kommen. Aber ich sag' dir was: weil du's bist, werd' ich versuchen, dir das Dreifache zu -271-
besorgen. Leg ihm Handschellen an, Dick!“ Während er so, auf dem Boden kauernd, den Blick nach oben richtete, erregte eine Anzahl großer dunkler Flecken im ausgebleichten Deckenputz oberhalb der Treppe seine Aufmerksamkeit. Egan stand auf, stellte sich auf die unterste Stufe und berührte eine der verfärbten Stellen. Sie war feucht, als wäre sie erst vor kurzem frisch verputzt worden. Es waren insgesamt vier Flecke, alle verschieden groß, einer davon über dreißig Zentimeter im Durchmesser. Dann bemerkte er zum erstenmal, daß hinter der Treppe und fast genau unter den Flecken die vier Strahler eines alten Gasofens brannten - als sollten sie das Trocknen des frischen Putzes beschleunigen. „So, so!“ Egan schmunzelte abermals zu Patsy hinauf, dessen Miene sich jetzt verdüsterte. Der Kriminalbeamte ging zu einem der Verschlage hinüber, fand eine leere Holzkiste, brachte sie zum Ofen zurück und stieg darauf. Sorgfältig betastete er einen der nassen Flecken und stieß dann mit den Fingern in den breiigen Mörtel. Er schob seinen Ärmel über das Handgelenk zurück und drang mit der ganzen Hand in die Decke ein. Seine Finger umschlossen ein glattes, klumpiges Paket. Es war ein in Nylon gehüllter Beutel, der Form und dem Umfang nach eine Wurst, aber mit weißem Pulver gefüllt. Er wog etwa ein Pfund ein halbes Kilogramm Heroin! „Dick“, rief er zu Auletta hinauf, „hast du einen Schnelltester bei dir?“ „Artie hat 'ne ganze Menge.“ „Sag ihm, er soll 'runterkommen. Ich glaube, wir sind auf eine reiche Erzader gestoßen!“ Fluhr kam die Treppe heruntergepoltert. Er pfiff durch die Zähne, als er den Beutel in Egans Hand sah. „Junge, Junge!“ „Machen wir mal eine Probe.“ Fluhr holt eine kleine Dose, eine Art Pillenschachtel, aus der Tasche, in der sich eine winzige Ampulle mit einer klaren -272-
Flüssigkeit befand. Er brach die Spitze ab und reichte sie Egan. Die Ampulle enthielt eine Mischung aus Schwefelsäure und Formaldehyd, die nach dem Chemiker, der diesen Test für Opiumderivate entdeckt hatte, Marquis-Reagens genannt wird. Jede Berührung mit einem solchen Derivat hat eine purpurähnliche Verfärbung der Flüssigkeit zur Folge; je stärker oder „reiner“ das Narkotikum, desto kräftiger der Farbton. Egan tauchte zwei Finger in den Beutel, den er soeben aus der Decke geholt hatte, und ließ ein paar Stäubchen von dem weißen Pulver in die Ampulle fallen. Im selben Augenblick wurde die Flüssigkeit tief purpur. „Allmächtiger!“ Dem Bundesagenten blieb die Spucke weg. „Hast du schon jemals so eine Reaktion gesehen?“ „Noch nie“, murmelte Egan ehrfurchtsvoll. „Das ist wohl das reinste Zeug, das uns je in die Hände gefallen ist.“ Barbara Fuca verbarg ihre Nervosität, indem sie wütend in ihren Kaugummi biß und die Polizeioffiziere unflätig beschimpfte. Sie und ein verbittert dreinschauender Patsy wurden von Agent Bill Bailey und dem Kriminalbeamten Dick Auletta zu Baileys Wagen geführt und in die 67st Street gebracht, um der Durchsuchung ihres Hauses beizuwohnen. In sprudelnder Laune sprang Eddie Egan die klapprige Kellerstiege zur Küche hinauf, wo der alte Joe Fuca von den Kriminalbeamten Jim Hurley und Jimmy Gildea verhört wurde. Während die Polizeioffiziere versuchten, alles aus ihm herauszubekommen, was er über den Inhalt des blauen Koffers wußte, saß Fuca am Küchentisch und beschäftigte sich eingehend mit einer Flasche Whisky. Egan warf zwei Nylonbeutel mit je einem Pfund Heroin vor Fuca auf den Tisch. „Nichts im Haus, was, Joe?“ Fuca starrte auf die Beutel und rief: „Dassa Dynamit. Pasquale mir gesagt, dassa Dynamit!“ -273-
Mit einem verächtlichen Schnauben wandte Egan sich ab, ging ans Telephon, das an der Wand hing, und wählte die Nummer des provisorischen Hauptquartiers in der Tiefgarage in Manhattan. Sergeant Jack Fleming meldete sich. „Ich bin bei Fucas in der 7th Street in Brooklyn. Bis jetzt hab' ich ein Kilo, und der Dreck kommt immer noch aus der Decke. Sag Inspektor Carey, er soll mich hier anrufen.“ Egan gab ihm die Nummer und trug Fleming auf, Carey solle zweimal läuten lassen, aufhängen, und dann einmal läuten lassen und aufhängen. Egan kehrte in den Keller zurück. Er stocherte weiter in der Decke herum und holte einen Beutel Heroin nach dem anderen heraus. Zu seiner Überraschung stießen seine Finger plötzlich auf kaltes Metall. Er zog eine Maschinenpistole hervor. „He, Joe“, rief er die Treppe hinauf, „haben Sie vielleicht einen Lageplan für Ihren Affenkasten da? Wenn wir hier unten fertig sind, werden keine Decken und keine Wände mehr übrig sein.“ Das Telephon in der Küche klingelte zweimal, verstummte, klingelte einmal, verstummte und klingelte wieder. Sechs weitere Beutel im Arm, stapfte Egan die Treppe hinauf. Er warf die Beutel auf den Tisch und nahm den Hörer auf: „Glotzauge hier.“ „Was haben Sie gefunden, Eddie?“ „Sechs Kilo, eine Maschinenpistole, und ich bin mit dem Zählen noch nicht fertig.“ Inspektor Carey pfiff durch die Zähne. „Sechs? Könnte es noch mehr werden?“ „Es könnten sechs und vierzig werden. Wir brauchten ein paar Leute mit Äxten und Brecheisen.“ „Ich komme selbst hinüber“, antwortete Carey. „Jawohl, Sir.“ Egan hängte auf und wandte sich Fuca und -274-
seinen beiden Inquisitoren zu. „Der Chef kommt her. Wir sollten Joe ein wenig nüchtern machen.“ Egans fleischige Hand schoß über den Tisch und langte nach der Whiskyflasche. Fuca stieß einen Wutschrei aus: „Geben Sie meine Drink!“ Seine Augen blitzten, als er sich torkelnd auf die Beine kämpfte. „Du gemeine, dreckige Schweinekerl von Polyp! Reißt meine Haus zusamm!“ Der alte Mann machte einen unbeholfenen Versuch, sich auf Egan zu stürzen, um ihm ins Gesicht zu schlagen. Mit einem kurzen, harten Haken ans Kinn wehrte der Kriminalbeamte ihn ab. Fuca fiel über den Tisch, rutschte ab, sank zu Boden und blieb still liegen; er atmete schwer, und Speichel trat aus seinem Mund. Sonny Grosso und Frank Waters standen verdrießlich in der Halle des Hotels Commodore neben der Grand Central Station. Nach ihrem impulsiven Entschluß, die Franzosen anzuhalten einem unter Druck zustande gekommenen Entschluß, den sie bei reiflicherer Überlegung vielleicht nie gefaßt hätten -, befanden sich die beiden Polizeioffiziere in peinlicher Verlegenheit. Bei den Festgenommenen war kein belastendes Material sichergestellt worden. Grosso und Waters fürchteten mit Recht, mit ihrer Voreiligkeit das Rauschgiftdezernat ungerechtfertigten Angriffen höchster Stellen einschließlich des Außenministeriums - ausgesetzt zu haben. Francois Scaglia und Jacques Angelvin beteuerten feierlich, sich keines Vergehens schuldig gemacht zu haben, und warteten in der Tiefgarage immer noch auf den französischen Dolmetscher. Der Agent Martin F. Pera hatte entgegenkommenderweise bereits zweimal den Weg verfehlt und war immer noch nicht in der East End Avenue 45 eingetroffen. Die einzigen halbwegs interessanten Papiere, die bei BarbierScaglia beziehungsweise Angelvin gefunden wurden, waren -275-
zwei Hotelrechnungen in der Tasche des Fernsehunterhalters, der den Tränen nahe zu sein schien, als er immer wieder betonte, es könne sich nur um ein Mißverständnis handeln. Eine der Rechnungen betraf ein Zimmer im Waldorf Astoria; das Ankunftsdatum lautete auf den 10. Januar 1962. Die andere, weniger zerknittert und deutlicher lesbar, war vom Commodore; das Zimmer war am 17. Januar, also erst gestern, bezogen worden. Nach der Verhaftung waren Sonny und Waters ins Waldorf gefahren, wo man ihnen bestätigte, daß Angelvin dort einige Tage gewohnt hatte. Er hatte sein Auto in der Hotelgarage eingestellt gehabt und war Mittwoch früh abgereist. Er hatte seine Rechnung bar bezahlt. Dann begaben sich die Polizeioffiziere ins Commodore. Der zweite Geschäftsführer zeigte ihnen Angelvins Zimmer, einen billigen, schmucklosen Raum mit einem Doppelbett. Der Franzose hatte nur einige wenige Kleidungsstücke und seine Toiletteartikel ausgepackt. Sie fanden Briefe der Radio Television Franjaise und einer New-Yorker Fernsehproduktionsfirma; einen mehr oder minder herzlichen Gruß einer Frau namens Lilli DeBecque; einige Merkblätter für Touristen und einen Stadtplan; den Durchschlag eines kurzen Schreibens, das Angelvin an die U. S. Lines gerichtet hatte und das seine Rückfahrt nach Le Havre an Bord der America betraf, und die Schiffskarte. Sie fanden auch ein kleines, engbeschriebenes Tagebuch in französischer Sprache. Das war alles. Unten in der Halle erkundigten sich die Polizeioffiziere nach Angelvins Wagen; der Herr habe nicht erwähnt, daß er von der Hotelgarage Gebrauch zu machen gedenke, teilte man ihnen in der Rezeption mit. Sie riefen Hawkes in der East End Avenue an und berichteten ihm, daß das Commodore anscheinend eine Sackgasse war. Und nun standen sie müßig und planlos neben dem Schreibtisch des zweiten Geschäftsführers und überlegten verdrießlich, wie es weitergehen sollte. -276-
„Wir hätten sie nie festnehmen dürfen“, jammerte Sonny. „Damit haben wir wahrscheinlich alles versaut.“ „Na ja, du wolltest ja unbedingt“, bemerkte Waters. „Was, ich? Du blöder Hund, du wolltest sie hopsnehmen! Ich hatte von allem Anfang an Angst, daß...“ „Herr Kommissar?“ Es war der Geschäftsführer. „Der Kriminalbeamte Grosso wird verlangt...“ Hawkes rief an; er schrie etwas ins Telephon. Mit einem Jubelschrei sprang Sonny in die Luft: „Sechs Kilo, und das ist erst der Anfang!“ Er tanzte um den Schreibtisch herum und hätte beinahe den Apparat zu Boden geworfen. „Glotzauge! Phantastisch! Jawohl, wir kommen!“ Er knallte den Hörer auf die Gabel und drehte sich zu Waters herum; sein eben noch blasses, müdes Gesicht leuchtete vor Begeisterung. „Glotzauge hat's geschafft! Er hat Patsy und Patsys Alten erwischt!“ Der Agent strahlte. „Wo?“ „Im Keller vom Alten. Und in der Decke ist noch mehr drin!“ Jetzt war es an Waters, einen kleinen Freudentanz aufzuführen. Er trommelte Sonny auf die Schulter. „Junge, Junge!“ „Na, was sagst du jetzt?“ rief Sonny und umarmte den kleineren Kollegen. „Und wir glaubten schon, wir hätten die Sache versaut!“ Er legte seine Hände auf die Schultern des Bundesagenten und sprang über seinen Rücken. Waters wollte sich nicht lumpen lassen und vollführte einen gewaltigen Bocksprung über den sich duckenden Sonny. „Und jetzt haben wir Patsy und die Franzosen!“ Ohne sich um die Leute zu kümmern, die ihr groteskes Treiben mit weit aufgerissenen Augen beobachteten, drehte Waters mitten in der Halle eine Pirouette. „Nur gut, daß wir sie geschnappt haben“, erklärte Sonny -277-
begeistert. „Das versuche ich dir schon die ganze Zeit beizubringen“, lachte Waters. „Du? Du wolltest ja nichts davon wissen!“ „Ich? Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich wollte sie mir schon immer angeln!“ „Ich habe gesagt, nehmen wir sie hops!“ beteuerte Sonny mit gerötetem Gesicht. „Komm jetzt, Frank!“ Nach seinem Gespräch mit Egan ließ sich Inspektor Carey um zwei Uhr nachmittags mit dem Chef der Kriminalabteilung im New-Yorker Polizeipräsidium in der Center Street 240, James „Lefty“ Leggett, verbinden und meldete ihm, daß im Haus Nummer 245 der 7th Street in Brooklyn eine Beschlagnahme durchgeführt worden war. Diese den Vorschriften entsprechende Formalität hatte zur Folge, daß „Giant“ Jean Jehan unter Mitnahme eines Betrages, den die Polizei später auf eine halbe Million Dollar schätzte, aus der Stadt verschwand. Dieses von der Mafia aufgebrachte Geld war in dem schwarzen Köfferchen gewesen, das Egan vormittags in seiner Hand gesehen hatte. Hätte man ihn festgenommen, wäre die ganze Summe dem Witwen- und Waisenfonds der Polizei zugeflossen. Der Chef der Kriminalabteilung ist nämlich durch einen „heißen Draht“ mit dem Pressezimmer verbunden, und Minuten nach Inspektor Careys Anruf waren bereits Reporter sämtlicher Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehstationen zu Joe Fucas Haus unterwegs. Wenige Stunden später berichteten Rundfunk und Fernsehen darüber, und die Spätausgaben der Nachmittagsblätter veröffentlichten die Geschichte mit allen Einzelheiten. Vermutlich erfuhr Jehan davon und verließ sofort die Stadt, während die Polizei noch in ganz Manhattan nach dem an seiner adretten Kleidung kenntlichen Franzosen fahndete, der in der Hierarchie des Verbrechersyndikats einen hohen Rang -278-
einnahm. Dreißig Minuten nach seinem Gespräch mit Egan traf auch Chefinspektor Carey in der 7th Street ein, wo sich immer mehr Zeitungsleute und Kameramänner ansammelten. Die Kriminalbeamten hatten den Fucaschen Keller in ein Schlachtfeld verwandelt und der Decke nicht nur Beutel mit Heroin, sondern auch Gewehre, Pistolen, Bajonette und Handgranaten entnommen. Inspektor Carey betrat die Küche, warf einen angeekelten Blick auf den betrunkenen Joe Fuca, stieg in den Keller hinunter und bahnte sich bedachtsam einen Weg durch den Schutt zu Egan. „Elf Kilo Heroin - und genügend Waffen und Munition, um jede Konkurrenz auszuradieren“, meldete Egan mit großer Genugtuung. Carey schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist der reichste Fang, den wir je an einer Stelle gemacht haben!“
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18 Dick Auletta und Bill Bailey hatten Patsy und Barbara Fuca unterdessen zu ihrem Haus eskortiert. Ein überraschtes und eingeschüchtertes Mädchen, das als Babysitter fungiert hatte, beobachtete entgeistert, wie die beiden Beamten eine gründliche Durchsuchung des Hauses begannen; Patsy und Barbara verfolgten ihre Tätigkeit mit finsteren Blicken. Nach einer Stunde vergeblichen Suchens fiel Agent Baileys Auge auf das schreiende Kind im Kinderwagen. Mit einer Gebärde forderte er Barbara auf, das Kind aufzunehmen. Zuerst weigerte sie sich, und erst als Auletta an den Wagen herantrat und Anstalten traf, das Baby herauszuheben, nahm Barbara hastig ihr Kind aus dem Wagen. Vorsichtig entfernte Auletta Decken und Matratze. In einer Ecke des Sperrholzbodens war ein fingerdickes Loch zu sehen. Auletta griff hinein, hob den Boden heraus; vor ihm lagen zwei Smith & Wesson. Er grinste Bailey an; der Beamte warf einen Blick in den Wagen und verzog den Mund zu einem breiten Lachen. Patsy hüllte sich in mürrisches Schweigen. Auletta rief in Joe Fucas Haus an und ersuchte um Unterstützung bei der Durchsuchung von Nicky Travatos Wohnung. Egan wies ihn an, schon hinzufahren; er würde ihm alle Beamten schicken, die er entbehren konnte. Eine minuziöse Durchsuchung der nur vier Blocks entfernten schäbigen Wohnung Travatos in der 66st Street förderte nur zwei je eine Unze schwere Päckchen Heroin in der Tasche von Barbaras Mantel im Kleiderschrank zutage. Nicky gab zu, die Drogen dort versteckt zu haben, und die Kriminalbeamten glaubten ihm, daß Barbara keine Schuld daran hatte. „He, Nicky“, fragte Auletta höhnisch, während sie den dunkelhäutigen Hafenarbeiter zum Wagen hinunterbrachten, -280-
„was würde wohl Klein Angie sagen, wenn er wüßte, daß Sie und Patsy zu Lasten des Familiengeschäftes einen privaten Kleinhandel aufgezogen haben?“ Die Angst, die sich auf Travatos Zügen malte, war Antwort genug. Im Haus des alten Fuca in der 7th Street überreichte Eddie Egan Jim Hurley den nur mehr wenige Stunden gültigen Haussuchungsbefehl für Tony Fucas Wohnung in der Bronx. Hurley rief bei Tony an. Seine Frau meldete sich; Tony war nicht daheim. Aber sie brauchten ihn - womöglich wußte Peggy Fuca gar nicht, was los war, und der Haussuchungsbefehl galt nur für einmal. Der Polizeioffizier hängte auf, ohne seinen Namen zu nennen. Dann setzte sich Hurley über Funk mit dem Polizeiwagen in Verbindung, der vor Patsys Imbißstube stand. Und tatsächlich: dort versah Tony Fuca sein Amt und hatte offenbar keine Ahnung, was rings um ihn vorging. Hurley und zwei andere Kriminalbeamte fuhren in die Bronx und parkten gegenüber von Tonys Haus. Dort saßen sie dann zwei Stunden und fragten sich besorgt, ob Tony wohl noch vor Mitternacht, bevor die Gültigkeit des Haussuchungsbefehles erlosch, heimkehren würde. Endlich meldete der Wagen vor der Imbißstube, daß Tony von Joe Desina abgelöst worden sei und wegfahre. Zwanzig Minuten später konnte Hurley beobachten, wie Tony seinen Wagen vor dem armseligen Haus in der Bryant Avenue abstellte, durch das Tor trat und die Treppe hinaufstieg. Die Kriminalbeamten warteten weitere fünfzehn Minuten, bevor sie in das Haus eindrangen und im fünften Stockwerk an die Tür 5C klopften. Tony Fuca öffnete. Während Hurley einem finster blickenden Tony und einer völlig geknickten Peggy Fuca den Haussuchungsbefehl verlas, begannen die anderen Beamten eine methodische Durchsuchung. Nachdem sie jeden Schrank, jeden Spind, jede Wandvertiefung untersucht hatten, machten sie sich an das -281-
übrige Mobiliar. In einem der Sitzpolster des Sofas fanden sie einen geladenen Revolver, drei Päckchen mit je einer Unze Heroin und noch einen Glassingumschlag mit einer halben Unze. „Also hat Patsy einen Kleinhandel mit dir angefangen“, spöttelte Hurley. „Ist das nicht ein bißchen gefährlich, Tony?“ Peggy Fuca schien ehrlich überrascht. Tony sprach seine Frau von jeder Schuld frei, und die Kriminalbeamten kamen zu der Überzeugung, daß sie, so wie Barbara Travato, von der verbrecherischen Tätigkeit ihres Mannes nichts gewußt hatte. Unterdessen waren andere Kriminalbeamte beauftragt worden, Joe Desina, Barbara Fucas Vater, in Patsys Imbißladen festzunehmen. Und in Manhattan durchstreifte ein Aufgebot aus städtischer und Bundespolizei immer noch das Viertel um die East End Avenue, zwischen 60th und 80tb Street, nach Jean Jehan. In Joe Fucas Keller riß Egan triumphierend Decken und Wände nieder, als ein Kriminalbeamter zu ihm hinunterrief: „Eddie, Telephon für dich!“ Egan bahnte sich einen Weg durch und über den Schutt und in die Küche hinauf. Als er des rothaarigen Polizeioffiziers ansichtig wurde, erreichten Joe Fucas animalische Wutausbrüche einen neuen Höhepunkt. Egan hob drohend die Hand und nahm den Hörer auf. Vinnie Hawkes war am Apparat. „Wir sind immer noch bemüht, den großen Unbekannten bei dieser Transaktion herauszufinden. Und da stellt sich jetzt heraus, daß ein weiterer Franzose hier in der East End Avenue 45 im fünfzehnten Stockwerk wohnt.“ „Hallo -!“ Egan erinnerte sich, wie er Patsy das erstemal dorthin gefolgt war. Patsy war mit dem Aufzug hinaufgefahren und im fünfzehnten Stock ausgestiegen. „Haben Sie einen Auftrag für mich?“ fragte er. „Sausen Sie in die Stadt hinunter, holen Sie sich einen Haussuchungsbefehl für das Appartement 15-C und kommen -282-
Sie damit her.“ „Ich bin noch dabei, die Bude hier in ihre Bestandteile zu zerlegen“, protestierte Egan. „Warum gerade ich?“ „Sie sind Fachmann in Haussuchungsbefehlen. Und das könnte jetzt wichtig sein. Lassen Sie die andern das Haus weiter abbrechen.“ Der Ton des Leutnants ließ keine weiteren Diskussionen zu. „Na schön“, brummte Egan und versuchte, seinen Ärger nicht merken zu lassen. „Bis jetzt sind es übrigens elf Kilo...“ Als Egan das Haus verließ, füllte sich die 7st Street immer mehr mit Fahrzeugen, Rundfunk- und Fernsehwagen, Reportern, Zuschauern und Polizisten. Dieser Fischzug sollte ausreichen, um die Zeitungen mit knalligen Titelseiten und Balkenlettern zu versorgen, überlegte Egan, während er sich mit Mühe einen Weg zu seinem Wagen bahnte. Chefinspektor Carey würde sich in Ruhm und Ehre sonnen. Egan fuhr zum Old Slip hinunter, parkte und ging in sein kleines Büro hinauf. Er setzte sich und begann den erforderlichen Durchsuchungsantrag für das Appartement 15-C, East End Avenue Nummer 45, auszufertigen. Er verwandte große Sorgfalt darauf. Es lägen, schrieb er, schwerwiegende Gründe vor, die die Annahme rechtfertigten, es bestünde eine enge Verbindung zwischen dem Appartement 15-C des Hauses East End Avenue 45 und Pasquale Fuca, der soeben im Besitz von elf Kilo Heroin angetroffen worden sei. Wie von Polizeiorganen festgestellt, habe Fuca mit gewissen französischen Staatsbürgern Umgang gehabt, die sich dringend verdächtig gemacht hätten, Heroin aus Frankreich in die Vereinigten Staaten geschmuggelt zu haben. Fuca sei mindestens einmal dabei beobachtet worden, wie er das fünfzehnte Stockwerk des Hauses Nummer 45 East End Avenue besucht habe. Das Appartement 15-C werde von einem französischen Staatsbürger bewohnt. -283-
Nach einer dreiviertel Stunde hatte er die Gründe für die. Ausstellung des Befehles in allen Einzelheiten dargelegt. Dann rief er den Richter Mitchell Schweitzer vom Obersten Gerichtshof des Staates New York an und fragte, ob Seine Ehren noch ein paar Minuten im Richterzimmer verbleiben würde. Der Richter sagte zu. Es war halb sechs, als Egan das Erste Revier verließ, und als er das Gerichtsgebäude auf dem Foley Square erreichte, trat Richter Schweitzer eben aus dem Fahrstuhl, um den Heimweg anzutreten. Egan wies auf die Bedeutung des Falles hin, und der Richter begab sich etwas ungeduldig auf sein Zimmer zurück und unterzeichnete den Haussuchungsbefehl. Gegen sechs war Egan bereits zur East End Avenue unterwegs. Kurz vorher war der Dolmetscher, Agent Martin Pera, im provisorischen Hauptquartier in der Tiefgarage von Nummer 45 eingetroffen und verhörte Angelvin und Scaglia. Fleming und Hawkes schüttelten Egan die Hand und beglückwünschten ihn. Sonny und Waters klopften ihm so begeistert auf den Rücken, als ob er in einem Baseballspiel die entscheidenden Punkte gemacht hätte. Egan übergab Fleming den Haussuchungsbefehl. Sie gingen zum Hauswart, einer Frau, die ihnen das Appartement 15-C aufschloß. Der Mieter befand sich in Mexiko auf Urlaub; er war vor einer Woche abgereist. Die Polizeibeamten nahmen mit Interesse zur Kenntnis, daß der Herr das letztemal in jener Woche verreist gewesen war, da Egan und Grosso Patsy in die untere Stadt verfolgt und dabei den Buick des kanadischen Rauschgifthändlers Maurice Martin entdeckt hatten. Eine sorgfältige Untersuchung der Wohnung förderte nichts von Belang zutage, bis Egan eine Packung Streichhölzer auf einem Tischchen am Kopfende eines Sofas fand. Sie war vorn Cloche d'Or. Es fiel Egan auf, weil er Jehan am vergangenen Freitagabend bis zu eben diesem eleganten französischen Restaurant gefolgt war. Sein Puls schlug schneller: auf der Rückseite war ein kleines Erinnerungsphoto eingesetzt. Es -284-
zeigte zwei Männer, und einer von ihnen war Giant. Als die Portiersfrau das Bild sah, erkannte sie in dem anderen den Mieter des Appartements. Jehan war ihr unbekannt. Egan verbarg seine wachsende Erregung und steckte die Streichholzpackung ein. Dies bedurfte einiger Überlegung, und er wollte die Frau nicht beunruhigen. Er entschuldigte sich und zog sich in das luxuriös ausgestattete Badezimmer zurück. Während er so grübelnd dasaß, holte er ein Paket Camel und Streichhölzer aus der Tasche, zündete sich eine Zigarette an und rauchte ein paar Minuten. Könnten sie auf den wirklichen Kopf der ganzen Operation gestoßen sein? War dies die Wohnung, die Patsy an jenem Tag besucht hatte? Sie mußte es wohl sein; Jehans Bild war der Beweis dafür. Also schön. Sich nichts anmerken lassen. Er ging ins Wohnzimmer zurück. Die anderen hatten die Suche beendet. Von der Portiersfrau gefolgt, verließen die Kriminalbeamten das Appartement, fuhren im Aufzug hinunter und traten auf die Straße. „Also, etwas haben wir“, sagte Egan und tastete nach den Streichhölzern. „Was?“ fragte der entmutigte Leutnant Hawkes. „Es könnte wichtig sein. Es sollte zumindest ausreichen, um dem Kerl ein paar Fragen zu stellen.“ Egan griff in eine Tasche und dann in die andere. Die Streichhölzer waren nicht da. Er mußte sie im Badezimmer verloren haben. Und es gab keine Möglichkeit, die Wohnung noch einmal zu betreten. Die Haussuchung war bereits vollzogen, und er wußte, daß er so schnell keinen zweiten richterlichen Befehl erlangen konnte. Bis dahin würde gewiß jemand in der Wohnung nachgesehen haben, ob die Polizei etwas gefunden hatte und was es war - und die Streichhölzer neben der Toilette entdeckt haben. Zornige Verbitterung schnürte ihm das Herz zusammen, wie schon so oft in diesen letzten Monaten, aber es war nichts mehr zu machen. -285-
Hawkes setzte sich mit dem Rauschgiftdezernat in Verbindung und erfuhr, daß alle Verdächtigen dieses Falles zum Verhör nach dem Old Slip gebracht worden waren. Er ließ zusätzliche Beamte in der Gegend zurück, die nach Jehan Ausschau halten sollten, und fuhr dann mit Fleming, Egan, Grosso und Waters über die East-Side-Schnellstraße zum Old Slip hinunter. Das Rauschgiftdezernat war ein einziges Tollhaus. Zwei Stenographen versuchten verzweifelt, die verwirrenden Geschehnisse zu Protokoll zu nehmen. Patsy und Barbara Fuca waren als erste eingeliefert worden. Von ihrem Haus hatte man sie zunächst zur 61. Polizeiwache in Brooklyn und anschließend ins Erste Revier gebracht. Als Joe Fucas Frau, Natalie, in ihr Haus zurückkehrte, das zu diesem Zeitpunkt bereits von neugierigen Passanten und einer Schar von Reportern umgeben war, wurde sie zusammen mit Joe festgenommen. Hysterische Schreie ausstoßend, ließ sich das alte italienische Ehepaar nur mit einiger Schwierigkeit in Polizeiautos verfrachten und nach Manhattan zum Old Slip überstellen. Auch Nicky Travato und Tony Fuca wurden eingeliefert, nachdem man sie auf den Polizeiwachen ihres Wohnorts ins Haftbuch eingetragen hatte; ihre Ehefrauen wurden auf freiem Fuß belassen. Scaglia und Angelvin waren zur Feststellung ihrer Personalien auf die 24. Polizeiwache in der 68th Street und anschließend ebenfalls nach der unteren Stadt gebracht worden. In all der Zeit seines Bestehens war es im Rauschgiftdezernat nicht so lebhaft zugegangen. Die größte Menge Heroin, die je auf einen Schlag in den Vereinigten Staaten beschlagnahmt worden war, lieferte der Polizei die Handhabe, gegen die Verdächtigen vorzugehen. Es war fast neun Uhr abends, als Egan und seine Kollegen eintrafen und sich durch die Menge von Photographen, Fernsehkameramännern und Reportern, die schreiend und lärmend nach weiteren Neuigkeiten verlangten, mühsam einen -286-
Weg bahnten. Noch während sie sich in den dritten Stock des alten Gebäudes hinaufkämpften, hörten sie schon das zornige Brüllen Joe Fucas. Auf dem Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dritten Geschoß entwand sich der alte Mann dem Griff eines Kriminalbeamten und versetzte dem Kameramann, der ihn eben geknipst hatte, einen Tritt. Wodurch dem Photographen die Kamera aus der Hand geschlagen wurde; der Apparat fiel durch den Treppenschacht und krachte auf den Steinboden des Erdgeschosses. Egan wollte auf den alten Italiener zustürzen, doch als Joe den rothaarigen Iren in bedrohlicher Haltung vor sich sah, wich er zurück und beruhigte sich. Den Beamten des Rauschgiftdezernats war es gelungen, die Verdächtigen voneinander zu trennen und jeden gesondert in einem der Verschlage unterzubringen. Alle jene Polizeioffiziere, die mit dem Fall befaßt gewesen waren, gingen nun von einem Abteil zum anderen, fragten die Gefangenen aus und versuchten die verschiedenen Einzelheiten des Falles zusammenzufügen. Natalie Fucas hysterische Schreie gellten durch das ganze Haus und erreichten immer neue Höhepunkte, sooft sie Barbaras, der Frau ihres Sohnes, ansichtig wurde, die die „sture Giftnudel“ spielte, Kaugummi kaute, die Hüften schwenkte und wie ein Kutscher fluchte. „Sie ist Hurenstück, schäbige Hurenstück!“ kreischte Natalie. „Du hast uns eingebrockt diese zuppa! Pasquale, warum du hast geheiratet diese schäbige, miese Hurenstück?“ Schließlich gelang es Egan und Grosso, Barbara und Patsy Fuca zusammen in einen der Verschlage zu manövrieren, um sie zu verhören. Wie sie nicht anders erwartet hatten, gab Patsy ihnen harte Nüsse zu knacken. „Wovon redet ihr denn überhaupt?“ schrie er. „Ich kenne keine Franzosen. Warum fangt ihr euch nicht einen Mörder, statt mir auf den Sack zu fallen?“ -287-
„Erzähl uns nur nicht, du wärst nicht mit Nicky Travatos Cadillac in die East End Avenue 45 gefahren“, bellte Egan. „Kannst du dich nicht erinnern, mich unten im Büro der Garage gesehen zu haben?“ Patsy sah ihn groß an. „Sie sind mir doch gleich bekannt vorgekommen!“ „Und auf den ,Herrn Doktor' hast du wohl auch vergessen?“ höhnte Egan. „Saukerle!“ wütete Patsy. „Ihr seid aus dem Krankenhaus jeden Tag in meinen Laden gekommen!“ Und zu Barbara gewendet: „Die Schweinehunde sind mir doch immer komisch vorgekommen!“ Patsy war offensichtlich überrascht, wie gut die Polizeioffiziere über sein Tun und Treiben Bescheid wußten, gab aber trotzdem nichts zu. Die Kriminalbeamten lieferten ihm überzeugende Beweise, daß Nicky ihn schon jetzt schwer belaste, aber er ließ sich nicht einschüchtern. Auch die anderen Beamten, die einen Verdächtigen nach dem anderen befragten und nach Leibeskräften bemüht waren, sie weiter auszuquetschen, konnten nur geringe Erfolge verzeichnen. Und dann rief Chefinspektor Carey sämtliche mit dem Fall befaßte Polizeioffiziere zusammen - alles in allem etwa neunzig Kriminalbeamte und Bundesagenten. Eine gute Stunde lang ging er den Fall in allen Einzelheiten durch, wobei er versuchte, herauszufinden, welche Rolle Angelvin dabei gespielt habe. Einer nach dem ändern berichteten die Männer, was sie gesehen und gehört hatten, und wurden entlassen. Am Ende blieben nur fünf übrig: die Kriminalbeamten Egan und Grosso, Leutnant Hawkes, Sergeant Fleming und Agent Waters. „Also, meine Herren“, verkündete Carey schließlich, „ich bin im Bilde. Unten warten zwei Stellvertretende Bezirksstaatsanwälte, Bob Walsh von Brooklyn und Irving Lang von Manhattan. Wir werden ihnen jetzt den Fall vorlegen und -288-
wollen sehen, wer von den beiden die Anklage erheben will.“ Carey und die fünf Offiziere gingen hinunter, wo die Staatsanwälte in seinem Büro warteten. Es war nun bald Mitternacht. Über eine Stunde lang erläuterten sie den Fall in allen Einzelheiten. Nachdem er aufmerksam zugehört hatte, sagte Irving Lang, daß das Beweismaterial seiner Ansicht nach nicht ausreiche, um in Manhattan Anklage zu erheben. Die Polizeioffiziere machten lange Gesichter. Robert Walsh jedoch erklärte sich im Namen des Staatsanwalts von Kings County, Edward Silver, zur Anklageerhebung in Brooklyn bereit. In gehobener Stimmung begaben sich Egan, Grosso, Waters und ihre Vorgesetzten wieder in den dritten Stock hinauf, um über die Verdächtigen, die nach offizieller Lesart bisher nur „festgenommen“ gewesen waren, die ordentliche Untersuchungshaft zu verhängen. Da Sonny als Kriminalobersekretär auf die Beförderung zum Kriminalinspektor hoffte, wurde beschlossen, ihn die Verhaftung von Patsy und Barbara Fuca und Egan nur die von Scaglia vornehmen zu lassen. Anderen mit dem Fall befaßten Kriminalbeamten sollte offiziell das Verdienst für die Inhaftierung von Nicky Travato, Joe Fuca und Joe Desina angerechnet werden. Angelvin wurde als „unentbehrlicher Zeuge“ in Haft genommen. Die völlig ausgepumpten Kriminalbeamten benötigten die ganze Nacht des Achtzehnten und den Morgen des Neunzehnten, um mit dem Verhör und den endlosen Einlieferungsformalitäten zu Ende zu kommen. Überdies erschien es zweckmäßig, die Einlieferung jedes Gefangenen in jenem Stadtteil protokollieren zu lassen, wo der Betreffende festgenommen worden war. Freitag, den Neunzehnten um zehn Uhr vormittags brachten die für die Festnahmen verantwortlichen Polizeioffiziere sechs ihrer Gefangenen nach Brooklyn zurück, wo sie dem Richter -289-
Rüben Levy in öffentlicher Sitzung vorgeführt wurden. Bei der Vorverhandlung wurden die Interessen der Angeklagten durch einen Offizialverteidiger vertreten. Als erster trat der Kriminalbeamte Eddie Egan vor die Schranken des Gerichts, um formell gegen Francois Scaglia Klage zu führen: verbrecherische Verabredung zum Schmuggel und ungesetzlichen Verkauf von Rauschgift. Dann brachte Sonny Grosso seine Klage gegen Patsy Fuca vor: verbrecherische Verabredung und Besitz von Rauschgift; gegen Barbara Fuca: Mitschuld und Hehlerei. Anschließend erhoben die anderen Polizeioffiziere ihre Anklagen: gegen Joe Fuca als Helfershelfer bei der Ausführung eines Verbrechens; gegen Nicky Travato: Besitz von Rauschgift. In bezug auf Jacques Angelvin empfahl der Stellvertretende Bezirksstaatsanwalt von Brooklyn, D. A. Walsh, dem Gericht, seiner Inhaftierung als unentbehrlicher Zeuge in dem Verfahren gegen Scaglia und Fuca zuzustimmen. Tony Fuca wurde in die Bronx zurückgebracht, wo er festgenommen worden war. Das Untersuchungsverhör hatte kaum fünfzehn Minuten gedauert. Angelvin wurde in das als „Alimentenpenne“ bekannte staatliche Gefangenenhaus in Manhattan eingeliefert, Barbara Fuca in das Untersuchungsgefängnis für Frauen; als Kaution wurden fünfzigtausend Dollar festgesetzt. Patsy Fuca, Fucas Vater, Scaglia und Travato wurden ins Gefängnis in der Raymond Street in Brooklyn überstellt und, mit Ausnahme von Joe Fuca, mit einer Kaution von je hunderttausend Dollar belegt; die des Alten belief sich auf fünfzigtausend Dollar. Die lange Jagd war nun zu Ende. Eddie Egan und Sonny Grosso begaben sich am frühen Nachmittag des Freitags in ihre Wohnungen, um einen langen Schlaf zu tun.
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19 Sonnabend, den 20. Januar wurde Egan von Chefinspektor Carey beauftragt, einen Polizeiphotographen ins Haus der alten Fucas in der 7th Street zu begleiten und ihm behilflich zu sein, Aufnahmen von dem Keller zu machen, in dem das Heroin und die Waffen gefunden worden waren. Zu Egans Überraschung waren die Berge von Schutt so gründlich weggeräumt worden, daß nur mehr die aufgerissenen Wände und Decken an die Durchsuchung des Kellers vor zwei Tagen erinnerten. Der Boden war fleckenlos. Es waren wohl einige Dons vorbeigekommen, spekulierte Egan, um nachzusehen, ob der Polizei vielleicht doch etwas entgangen war. Er verwünschte ihre Nachlässigkeit, keinen Wachtposten zurückgelassen zu haben. Während der Photograph eifrig knipste, bemerkte Egan in einem dunklen Winkel ein großes quadratisches Stück Sperrholz auf dem Boden, das ihm bis jetzt nicht aufgefallen war. Er hob es auf und sah sich vor einer etwa sechzig Zentimeter tiefen Grube in der Form eines Grabes. Sie war leer. Aber, so ging es Egan durch den Kopf, diese Ausgrabung bot Platz für eine ganze Menge mehr Heroin als die vierundzwanzig Pfund, die sie in der Decke gefunden hatten. Der Kriminalbeamte begann sich zu fragen, ob nicht noch eine ganze Menge von dem Zeug irgendwo lagerte. Die Grube konnte die „Bank“ sein, die es hätte aufnehmen sollen. Hatten Patsy und die französischen Rauschgiftkönige wegen einer für sie läppischen Menge von elf Kilo so große Risiken auf sich genommen? Die Untersuchungsbeamten konnten sich gewisser Zweifel nicht erwehren. Viele Fragen waren noch offen: Wie hatten sie das Zeug ins Land gebracht? Wer war noch in die Sache verwickelt? Welche Rolle spielte dieser französische Fernsehunterhalter Angelvin? Er war nicht -291-
einschlägig vorbestraft - was hatte er mit der Geschichte zu tun? Und wie stand es um die zwei Franzmänner, die man noch nicht gefaßt hatte? Und wo war das Geld? Nach den Berechnungen der Polizei lag der Großhandelspreis für „H“ gegenwärtig bei zehn- bis Zwölftausend Dollar pro Kilo; die Annahme lag daher nahe, daß bis zu hundertzwanzigtausend Dollar in der Gegend herumschwammen oder in jemandes Tasche steckten - und das nur für die Menge, die den Behörden bis jetzt in die Hände gefallen war. Elf Kilo reinen Heroins, „verschnitten“ (verdünnt) und von einem Händler an den anderen weitergereicht, mochten bei den einzelnen Kunden des freien Markts einen Wert in der dreißigfachen Höhe des Großhandelspreises erreichen. Und es war ein verkaufsgünstiger Markt, der nach Ware schrie. War also die Überlegung abwegig, derart verlockende Möglichkeiten hätten das „Milieu“ zu weit ehrgeizigeren Unternehmungen angespornt als zu den bescheidenen vierundzwanzig Pfund in Joe Fucas Keller? Doch wenn noch mehr von dem Zeug vorhanden war, wo konnten sie es versteckt haben? War es bereits in Umlauf? Möglich. Die Verbrecher hatten genug Zeit gehabt, eine Woche fast, um Teillieferungen an die „Verbindungen“ durchzuführen. Doch auf Grund ihrer Beobachtungen, erhaltenen Informationen und gesammelten Erfahrungen hegten die Männer des Rauschgiftdezernats Zweifel, daß dies geschehen war. Polizeispitzel hatten keinerlei Hinweise finden können, wonach frischer Stoff auf den Markt gekommen wäre; die „Panik“ bestand weiter fort. Wenn sie nur herausbekommen könnten, wie die Franzmänner das Zeug ins Land gebracht hatten! Dies mochte einen wichtigen Fingerzeig für die Auffindung des Verstecks abgeben. Und um die Ausländer zusammen mit Patsy und den anderen verurteilen zu können, mußte erst noch bewiesen werden, daß sie am Rauschgiftschmuggel beteiligt gewesen -292-
waren. Wie die Dinge jetzt lagen, wurden die beiden Franzosen, der nun als Scaglia identifizierte Barbier und Angelvin, als der verbrecherischen Verabredung verdächtig in Haft gehalten - eine etwas dürftige Beschuldigung, mit der man möglicherweise nicht durchkommen würde, sofern man ihnen nicht den Besitz von Rauschgift und Verkaufsabsicht nachweisen konnte. Bei keinem von ihnen war Heroin gefunden worden, und beide beteuerten nach wie vor ihre Unschuld. Nachdem er zwei Nächte gut geschlafen hatte, sichtete Sonny Grosso am Montag, den 22. Januar die Papiere und Habseligkeiten, die er in Angelvins Zimmer im Commodore beschlagnahmt hatte. Darunter befanden sich Durchschläge eines Briefwechsels mit den U. S. Lines. Angelvin hatte das Gewicht seines Buick und seines Gepäcks mit 4685 Pfund angegeben. Kurz nach seiner Ankunft im Waldorf hatte er von dieser Schiffahrtsgesellschaft einen Formularbrief erhalten, in dem er um Bestätigung seiner Rückfahrt am 25. Januar auf der S.S.America und um Mitteilung ersucht wurde, ob irgendwelche neue Gegenstände in die Zollerklärung für die Heimreise aufzunehmen seien. Obwohl er in der Touristenklasse gekommen war, plante Angelvin, die Rückfahrt in großem Stil zu unternehmen: erster Klasse. Seine Antwort an die U. S. Lines, von der er vorsorglich einen Durchschlag angefertigt hatte, rief in Sonnys nun ausgeruhtem Kopf sogleich einen Verdacht wach. Indem er seine Vorbestellung bestätigte, fügte Angelvin hinzu, er habe das Gewicht seines Automobils falsch berechnet: der Buick wiege 4573 Pfund - um 112 weniger, als er ursprünglich angegeben hatte. Wenn jemand sein Automobil auf eine Überseereise mitnimmt, füllt er gewöhnlich eine einzige Deklaration für die Hin und Rückfahrt aus. In seinem Schreiben ersuchte Angelvin um Herabsetzung der Frachtrate für die Rückfahrt. Nach Grossos Schätzung hätte die Gewichtsdifferenz dem Franzosen eine Ersparnis von etwa dreiunddreißig Dollar -293-
eingebracht. Warum aber war der Wagen jetzt um hundertzwölf Pfund leichter? Einkäufe und Souvenirs. Kehrten die meisten Touristen nicht mit zusätzlichem Gewicht in ihre Heimat zurück? Alle anderen Angaben in seiner Deklaration deckten sich mit den auf der Herfahrt gemachten. Wie konnte er schon eine Woche vor seiner geplanten Abreise eine Verminderung des Gewichts vorausgesehen haben? Sonny war geradezu überwältigt, als er über diese Möglichkeit Betrachtungen anstellte. Wenn die hundertzwölf Pfund dem Gesamtgewicht des ins Land geschmuggelten Heroins entsprachen, wäre das die größte Transaktion, die je in New York versucht worden war. Und das bedeutete, daß noch weitere achtundachtzig Pfund - vierzig Kilo! - Heroin, im Kleinhandel vielleicht zusätzliche fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Millionen Dollar wert, aufgefunden werden mußten. Der Schaden, der dem internationalen Rauschgifthandel durch die Beschlagnahme einer solchen Menge und die Verurteilung der Hauptakteure zugefügt werden könnte, würde sehr beträchtlich sein. Die leere Grube in Joe Fucas Keller, dazu die Schlüsse, zu denen Angelvins zwei Gewichtsangaben verleiteten, ließen die Kriminalbeamten folgern, daß der Wagen des Schauspielers als Transportmittel gedient haben mußte. Donnerstag, den 25. Januar - ironischerweise jener Tag, da Angelvin an Bord der America die Heimreise hätte antreten wollen - beschaffte sich Sonny einen Durchsuchungsbefehl für den Buick. Dem Wagenschuppen der Polizei am Hudson nicht trauend, hatten die Kriminalbeamten das Gefährt in einer alten Garage des Gesundheitsamtes in der Meeker Avenue in Brooklyn abgestellt. Dort würde ihn die Mafia nicht finden. Irvin Abrahams, ein Wartungsmonteur der Kraftfahrzeugabteilung der Polizeidirektion, untersuchte den Buick Zoll für Zoll, Armaturenbrett und Polsterung, Stich für -294-
Stich. Er fand weder eine Spur von Rauschgift noch ein Versteck für eine große Menge. Fachingenieure von Buick wurden zu Hilfe gerufen, und sie waren es, die endlich fanden, was die Polizei suchte. Unter den vorderen Kotflügeln gab es eine Anzahl von mit Straßenschmutz bedeckten, anscheinend unberührten Schrauben. Als nun Flocken dieses Schmutzes abgekratzt und untersucht wurden, war er nicht krümelig und pulverförmig, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern wies eine gewisse Bindekraft auf, wie sie verhältnismäßig frischem Schmutz entsprochen hätte. Die Flocken wurden im Polizeilabor geprüft, wobei sich herausstellte, daß der Schmutz tatsächlich von einer bekannten Sorte französischer Erde herrührte, jedoch bezeichnenderweise erst kürzlich, innerhalb der letzten zehn, vierzehn Tage, auf die Unterseite des Wagens aufgetragen worden war. Die Fachingenieure machten sich nun an die Schrauben, die dem Anschein nach die Spritzbleche mit dem Boden der Kotflügel verbanden. Die Schrauben ließen sich nicht bewegen. Ein Techniker rief in der Fabrik in Detroit an und erfuhr dort, daß es Wagenmodelle von General Motors gab, bei denen sich manche Schrauben nur dann festdrehen oder lockern ließen, wenn die Elektroanlage eingeschaltet wurde. Die Zündung wurde betätigt, und die ungewöhnlichen Schrauben gaben ihren Widerstand auf. Zuerst wurde die Metallscheibe entfernt, die das Spritzblech unter dem linken vorderen Kotflügel bedeckte. Eine Höhlung wurde sichtbar, in die ein Kriminalbeamter ohne Schwierigkeiten seinen ganzen Arm hineinstecken konnte. Das Geheimfach schien sich durch die gesamte Wagenlänge hindurchzuziehen. Nun entdeckten sie weitere Verstecke auf der anderen Seite sowie auch hinter und unter den Scheinwerfern. Es war reichlich Platz vorhanden für hundertzwölf Pfund Heroin und noch etwas darüber. Mit Hilfe einer starken Vakuumpumpe säuberten die -295-
Polizeibeamten die Höhlungen und untersuchten den Rückstand. Eine winzige Menge weißen Pulvers, die kaum mehr als einem Zentimeter Zigarettenasche entsprach, wurde im Staubsauger gefunden und durch den Marquis-Test als Opiumderivat klassifiziert. Eddie Egan und Sonny Grosso glaubten zu wissen, wo sie den Hebel ansetzen mußten, um den noch fehlenden achtundachtzig Pfund Stoff auf die Spur zu kommen. Während der Untersuchung hatten sie Patsy zu wiederholten Malen in oder nahe von Anthonys Garage auf dem East Broadway beobachtet. Vielleicht war die Reparaturwerkstätte ein Umschlagplatz für Rauschgift oder Geld oder beides. Mit einer offiziösen Miene, die auf Strenge und Mißtrauen schließen ließ, kamen die beiden am 27. Januar in Anthonys Garage marschiert, obwohl sie natürlich nichts Belastenderes in der Hand hatten als die Tatsache, daß die Schlüsselfigur einer Schmuggelaffäre größten Ausmaßes nachweisbar Kunde der Reparaturwerkstätte gewesen war. Ihr dreistes Auftreten machte sich insofern bezahlt, als der eingeschüchterte Anthony Feola, Eigentümer und Chefmechaniker, ängstlich zugab, die Spritzbleche unter den Kotflügeln des Buick montiert, die Schrauben mit einer Art Schlamm aus einem Glas, das Patsy ihm gegeben hatte, überstrichen und dafür fünfzig Dollar erhalten zu haben. Dann hatte Feola den Wagen auf dem East Broadway geparkt. Allerdings reichte diese Information lediglich aus, um dem Gesamtbild einige wenige neue Lichter aufzusetzen. Eine gründliche Überprüfung der Tiefgarage von Nummer 45 East End Avenue förderte nichts weiter zutage, als daß Angelvins Buick dort ein paar Tage eingestellt gewesen war. Er war Dienstag, den 16. Januar von einem Ausländer (Angelvin) abgegeben und am 18. von derselben Person wieder abgeholt worden. In dieser Zeit hatte Patsy Fuca Travatos Cadillac -296-
gebracht, ihn dort stehengelassen und war mit dem Buick irgendwohin gefahren; der Wagen war eine ganze Nacht weg gewesen (Dienstag) und spät am nächsten Tag von Patsy zurückgebracht worden. Keiner wußte, wo er damit gewesen war. Daß Sol Friedman, Konzessionär der Garage, der im Ruf eines geriebenen und vorsichtigen Mannes stand und sorgsam darauf bedacht sein mußte, sein schon etwas angeschlagenes Renommee nicht unnötig zu gefährden, das Risiko eingegangen sein sollte, den Umschlag einer so großen Menge Stoff in seinem Betrieb zuzulassen, schien der Polizei unwahrscheinlich. Allerdings zweifelte sie nicht daran, daß Friedman gewußt hatte, was gespielt wurde, doch würde es schwierig sein, ihm das so zwingend nachzuweisen, um auch nur Anklage wegen verbrecherischer Verabredung gegen ihn erheben zu können. Die Kriminalbeamten gelangten jedenfalls zu der Überzeugung, daß die East End Avenue Nummer 45 nur ein „Umspannort“ der Auslieferung war. Zum Entladen hatte Patsy den Buick an eine andere Stelle gebracht. Eine neuerliche Durchsicht ihrer Notizen erinnerte sie daran, daß Friedman einen nahezu stillen Teilhaber besaß, einen Verbrecher namens Arnie Shulman, der schon einmal mit Rauschgift zu tun gehabt hatte. Shulman gehörte ein Stück der Konzession von der East End Avenue 45; außerdem besaß er eine Garage in der Tremont Avenue in der Bronx, an der Friedman nicht beteiligt war. Und diese Garage lag nur sechs Blocks von dem Haus entfernt, in dem Patsys Bruder Tony wohnte. Egan und Grosso fuhren in die Bronx. Mit einem Bild von Angelvins Wagen wanderten sie ganz gemächlich in Shulmans Garage und fanden hinten einen alten Mechaniker, der an einem Autowrack arbeitete. Sie zeigten ihm das Bild und fragten ihn, ob der Buick in der Garage gewesen sei. Der Mechaniker besah sich das Photo, und Egan glaubte ein Wiedererkennen in seinen -297-
Augen aufflammen zu sehen, doch der Mann verhielt sich vorerst zurückhaltend. Egan setzte ihm hart zu, und nach einigen energischen Worten erinnerte sich der Mechaniker, daß der Buick vorige Woche von drei Männern gebracht worden war; einer, so schien es ihm, war in der Nachbarschaft zu Hause. Die Männer hatten fast den ganzen Nachmittag daran gearbeitet und waren dann mit dem Wagen fortgefahren. Egan klopfte dem alten Mechaniker beruhigend auf die Schulter und beglückwünschte ihn zu seiner patriotischen Haltung. Dann zwinkerte er Grosso zu, und die beiden verabschiedeten sich. Die Kriminalbeamten fuhren zu Tony Fucas Haus. Sie hatten in Tony nie mehr als ein bescheidenes Rädchen in Angelo Tuminaros Organisation gesehen. So wie Patsys Freund Nicky Travato war auch der Hafenarbeiter Tony Fuca ein grobschlächtiger, wenig gebildeter und, soweit die Polizei dies hatte feststellen können, nicht besonders intelligenter Mann. Er war nicht vorbestraft. Er war viel mit seinem Bruder zusammen und ihm offenbar eine Stütze gewesen; so hatte er zum Beispiel an den Wochenenden in der Imbißstube ausgeholfen. Selbst nach der Durchsuchung seiner Wohnung, bei der dreieinhalb Unzen Heroin und eine geladene Pistole gefunden worden waren, hatte ihn die Polizei für nicht viel mehr als einen muskelbepackten Handlanger angesehen, für einen Mitschuldigen, gewiß, aber doch kaum einen, dem die Mafia eine solche Verantwortung aufbürden und ein so ungeheures Vermögen anvertrauen würde. Doch nun unterzogen Egan und Grosso die Lage einer Überprüfung. Sie erinnerten sich an ein auf Tonband aufgezeichnetes Gespräch, das Patsy am Abend vor der Festnahme mit „Onkel Harry“ geführt hatte. Es war von Herrenkleidern die Rede, die Patsy angeblich eben gekauft habe, und Onkel Harry gab der Meinung Ausdruck, Patsy könne doch „jeweils nur einige wenige Anzüge gebrauchen“ und solle doch „den Rest auf Lager legen“. Mit den „einigen wenigen -298-
Anzügen“ konnten die in Joe Fucas Keller beschlagnahmten elf Kilo gemeint gewesen sein, die der in Klein Angies Abwesenheit von Patsy geleiteten Lokalorganisation als laufendes Inventar dienen sollten. Von dem an einem sicheren Ort untergebrachten „Rest“ ließ sich der Bestand je nach Bedarf und Marktlage auffüllen. Leg den Rest auf Lager, hatte Onkel Harry geraten und von Patsy die Versicherung erhalten, daß dies bereits geschehen sei. Doch weder in Patsy Fucas Haus noch in seiner Imbißstube, noch in Nicky Travatos oder Tony Fucas Wohnung waren mehr als ein paar Unzen gefunden worden. Doch dann kehrte einer der Kriminalbeamten, die Tony verhaftet hatten, von einem kurzen Urlaub zurück und ließ wissen, daß in jener Nacht nur Tonys Wohnung, nicht aber Dachboden und Keller durchsucht worden waren. Für Egan und Grosso eröffnete diese Mitteilung neue Aussichten. Tonys Haus lag nicht weit von Shulmans Garage entfernt, und daß das Zeug dort umgeladen worden war, daran zweifelten sie keinen Augenblick. Tony Fuca lebte mit seiner Frau Peggy und zwei kleinen Töchtern in der Bryant Avenue 1171 in der unteren Bronx in einem Haus, dessen Bewohner im Falle eines Feuers unrettbar verloren gewesen wären. Es war ein fünfgeschossiger, schmutzigbrauner, schäbiger Ziegelbau, von den Nebenhäusern ebensowenig zu unterscheiden wie von Tausenden ändern in den ärmeren Vierteln New Yorks. Straßen und Gehsteige waren von Schutt und Abfällen bedeckt. Die trübseligen Mietshäuser lagen in einer Gegend, die von belebten Verkehrsadern, wie Westchester Avenue und Southern Boulevard, eingesäumt wurde. Früher einmal war sie vorwiegend von italienischen, osteuropäischen und jüdischen Immigranten bewohnt worden, doch dann hatte es einen Zustrom von Puertoricanern gegeben, und nur wenige Italiener und Juden blieben zurück. Tony war einer der wenigen. Er hauste mit seiner Familie in einer Dreieinhalbzimmerwohnung im obersten Stockwerk. -299-
Während Egan sich in der Nachbarschaft umsah, ging Grosso auf die Suche nach dem Hauswart. An der Seite des Hauses führten ein paar Stufen zu einem engen Durchgang hinunter, der Nummer 1171 vom Nachbargebäude trennte. Durch eine schlecht sitzende Holztür mit Glasfüllungen in ihrer oberen Hälfte gelangte man in den Keller. Am Ende eines schmalen Korridors lag der Kesselraum, wo der Hauswart gerade die Heißwasserheizung bediente. Der hagere, scharfsichtige Mann von fünfzig oder mehr Jahren hörte aufmerksam zu, als Sonny sich auswies und erklärte, es habe kürzlich eine Serie von Einbrüchen in der Nachbarschaft gegeben, und die Polizei stelle nun unauffällige Untersuchungen an, um mögliche Verstecke für das Diebsgut zu entdecken. „Wir behaupten nicht, daß es dieses Haus ist“, sagte der Kriminalbeamte, „aber wenn es so wäre, wo könnte man hier Dinge auf eine Weise verschwinden lassen, daß man sie nicht so leicht finden würde?“ Der Hauswart zeigte in den Korridor hinein. „Also, dort ist ein Wandschrank mit Farben und ein Lagerraum für alte Koffer und was die Leute so zurücklassen“ - er sprach mit deutschem oder slawischem Akzent - „und ein Raum für Wagen, Kinderwagen, meine ich. Aber ich glaube nicht...“ Sonny ließ ein mattes Lächeln sehen. „Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird kein Aufsehen geben. Wir machen das alles still und leise. Sie brauchen uns nur ein bißchen zu helfen, das ist alles. Es darf niemand erfahren, daß wir hier waren verstanden?“ Der hagere Mann nickte; seine blauen Augen standen jetzt ganz weit offen. Auf einem staubigen, verschmutzten Regal im sogenannten „Wagenraum“, einem vollgestopften, mit Spinnweben überzogenen Verschlag nahe dem Kellereingang, stießen Grosso und Egan auf einen großen, schweren Überseekoffer, auf den -300-
der Name Fuca gekritzelt war. Sie hoben ihn mit vereinten Kräften herab und brachen ihn auf. Darin befanden sich zwei arg mitgenommene Handkoffer. Egan und Grosso öffneten sie - und prallten, vom Umfang ihres Fundes überwältigt, zurück. Die Koffer waren bis zum Rand mit Plastikbeuteln gefüllt, die weißes Pulver enthielten. Sie zählten insgesamt achtundachtzig Päckchen, jedes etwa ein Pfund schwer, die, wenn das Heroin ebenso rein war wie das bei Joe Fuca beschlagnahmte, mehr als hundertmal ihr Gewicht in Gold wert waren. Während Egan alles wieder zusammenpackte, lief Grosso zu seinem Wagen hinaus und benachrichtigte das Rauschgiftdezernat. Eine Stunde später waren Leutnant Hawkes und Agent Waters zur Stelle. Nach einer kurzen Besprechung wurde beschlossen, den Stoff so zurückzulassen, wie er gefunden worden war, und den Keller so lange unter Polizeiaufsicht zu stellen, bis jemand kommen würde, um ihn zu holen. Irgend jemand mußte kommen, um diese enorme Menge fortzuschaffen. Der fünfundsechzigjährige Charles (Lucky) Luciano, der des Landes verwiesene italoamerikanische Gangsterboß, von dem man annahm, daß er selbst noch aus dem Exil in seinem Palazzo in Neapel als oberster Chef der Mafia in den Vereinigten Staaten fungierte, brach an eben diesem Tag zusammen und erlag einer plötzlichen Herzattacke. Man wird nie erfahren, ob Luciano zur Zeit seines Todes davon wußte, daß amerikanische und italienische Agenten, von der französischen Polizei unterstützt, auf dem Sprung waren, ihn unter der Beschuldigung zu verhaften, er habe in den letzten zehn Jahren zusammen mit seinen Komplicen Rauschgift im Wert von über einhundertfünfzig Millionen Dollar in die Vereinigten Staaten geschmuggelt. Es darf bezweifelt werden, ob Patsy und Tony Fuca, die jetzt -301-
mißmutig in getrennten New-Yorker Gefängniszellen saßen und auf den Anklagebeschluß warteten, erkannten, daß es das Platzen ihres Coups gewesen sein mochte, was der internationalen Aktion gegen Lucianos Schmuggelring feste Formen gab und den Capo vielleicht sogar in den Tod trieb.
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20 Scaglia und die Fucas waren angeklagt und im Gefängnis, und die im Buick gefundenen Heroinspuren belasteten jetzt eindeutig Angelvin, der nur so lange als „unentbehrlicher Zeuge“ festgehalten werden würde, bis man ihm die Teilnahme an der verbrecherischen Verabredung nachweisen konnte. In Vertretung des Staatsanwalts von Kings County, Ed Silver, wurde Hilfsstaatsanwalt Michael Gagliano mit der Aufgabe betraut, den Fall dem Großen Geschworenengericht vorzulegen. Bevor ein Strafrechtsfall vor Gericht gebracht werden kann, muß ein Großes Geschworenengericht unterer Instanz einen Anklagebeschluß fassen. Ein Großes Geschworenengericht ist aus dreiundzwanzig Bürgern zusammengesetzt zweiundzwanzig Geschworene und der Obmann. Die Anforderungen, die an diese Männer gestellt werden, sind höher als jene für Geschworene in einem Strafprozeß. Es handelt sich um Freiwillige, zumeist Angehörige freier Berufe oder Pensionisten von einigem Wohlstand und, ganz allgemein gesprochen, von höherer Intelligenzstufe als „zwangsweise“ verpflichtete Geschworene. Von den dreiundzwanzig Mitgliedern - von denen höchstens sechs Frauen sein dürfen - ist in jedem einzelnen Fall ein Quorum Von sechzehn obligatorisch; zur Fassung eines Anklagebeschlusses sind zumindest zwölf Stimmen nötig. Bei Stimmengleichheit, elf zu elf, entscheidet der Obmann. In Brooklyn ist es üblich, jedes gewählte Große Geschworenengericht alle zwei Jahre auf einen Monat einzuberufen. Ist es aber mit einem Fall befaßt, wird es auch über diese Frist hinaus tagen, bis entweder ein Anklagebeschluß gefaßt oder aber das von der Staatsanwaltschaft vorgelegte Beweismaterial als für eine Anklageerhebung unzureichend erachtet wird. Das Brooklyner Große Geschworenengericht tagt in einem -303-
hermetisch abgeschlossenen Raum im sechsten Stock des alten Gerichtsgebäudes von Kings County. Die Mitglieder sind zu allen Zeiten den forschenden Blicken der Öffentlichkeit entzogen und vor möglichen Belästigungen geschützt. Sie werden mit Spezialaufzügen in den Verhandlungssaal gebracht, der an einem dem Publikum nicht zugänglichen Korridor liegt. Der Staatsanwalt oder sein Vertreter und jeweils ein Zeuge sind die einzigen Außenstehenden, die zu den Verhandlungen zugelassen werden. Es gibt keinen Richter. Da das Verfahren ja nur abgewickelt wird, um dem Anklagevertreter Gelegenheit zu geben, die Klage zu begründen, müssen die Zeugen ohne Rechtsbeistand erscheinen; auch gibt es kein Kreuzverhör. Von den Angeklagten abgesehen, wird den Zeugen jedoch Straffreiheit für den Fall zugesichert, daß sie sich selbst belasten sollten, und es wäre theoretisch möglich, vor einem Großen Geschworenengericht auch einen Mord einzugestehen, ohne fürchten zu müssen, dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Nur selten wird ein Beschuldigter vor einem Großen Geschworenengericht aussagen, müßte er sich doch der Straffreiheit und aller bürgerlichen Rechte begeben; sein Rechtsbeistand hat zu der Verhandlung keinen Zutritt. Michael Gagliano, der Stellvertretende Staatsanwalt von Kings County, eifrig darauf bedacht, sich die so wichtigen Anklagebeschlüsse im Falle Fuca zu sichern, entdeckte zu seiner Freude, daß das Große Geschworenengericht Nummer eins zwar das Ende seiner Sitzungsperiode erreicht hatte, aber noch tagte. Jack Champagne, der Obmann des Großen Geschworenengerichts Nummer eins, war ein Mann, auf dessen Integrität und Rechtlichkeit Gagliano große Stücke hielt. Champagne selbst fungierte seit fünfzehn Jahren als Großgeschworener, und das Große Geschworenengericht, dem er jetzt vorstand, bestand wie Gagliano wußte, aus besonders erfahrenen Personen. Am 7. Februar war ihm der Fall übertragen worden, und noch am gleichen Tag, spätnachmittags, eilte -304-
Gagliano ins Gerichtsgebäude und stieß dort auf Champagne, der eben aus dem Aufzug trat. Gagliano erfuhr, daß Champagne das Große Geschworenengericht Nummer eins vor wenigen Augenblicken verabschiedet hatte. Champagne, ein untersetzter Mann Ende Fünfzig mit gewelltem, grauweißem Haar, der hinter extra starken, getönten Brillengläsern hervorguckte, hörte aufmerksam zu, als ihm der Hilfsstaatsanwalt hastig den Fall vortrug. Champagne kam aus dem Baugewerbe, war aber auch in städtischen und staatlichen Strafanstalten tätig gewesen und hatte seinerzeit als Agent der Staatsanwaltschaft in verschiedenen Fällen, wie zum Beispiel bei der Strafverfolgung der Gangsterbosse der Murder Inc., wertvolle Mitarbeit geleistet. Er zeigte sofort größtes Interesse an diesem Rauschgiftfall mit seinen internationalen Verzweigungen und begab sich mit Gagliano in den dem Großen Geschworenengericht vorbehaltenen Aufzug zurück. Im Korridor vor dem Verhandlungssaal im sechsten Stock trafen die meisten Geschworenen gerade Anstalten, das Gebäude zu verlassen. Mit dem ihm eigenen überzeugenden Wesen gelang es Champagne bald, seinen Kollegen vor Augen zu führen, daß es sich hier um den sensationellsten Rauschgiftfall handelte, der je vor ein Großes Geschworenengericht gekommen war. Der Haken war nur, erklärte er, daß die Verhandlung sofort eröffnet werden müßte, da sonst am nächsten Tag ein neues Großes Geschworenengericht eingesetzt werden würde. Und so begaben sich die Mitglieder des Großen Geschworenengerichts Nummer eins um sechs Uhr abends in den Verhandlungssaal zurück. Als erster Zeuge erklärte der Kriminalinspektor Edward Egan, er habe Francois Scaglia am 19. Januar festgenommen, und gab im folgenden einen Überblick über die erhobenen Beschuldigungen. Damit war nun das Große Geschworenengericht Nummer eins für den Fall zuständig und würde es auch bleiben, bis es seine Entscheidung getroffen hatte. -305-
Seit Patsy Fuca am 18. Januar festgenommen und am 19. offiziell in Haft genommen worden war, zeigte er sich in steigendem Maße über seine Frau und seinen Vater besorgt. Die Vorstellung, diese zwei Menschen im Gefängnis zu sehen, veranlaßte ihn, den Kriminalbeamten Egan und Grosso die Nachricht zukommen zu lassen, er sei zu einem Entgegenkommen, ja sogar zu einem Handel bereit, wenn sie es bewirken könnten, Barbara und den alten Joe aus der Sache herauszulassen. Die Kriminalbeamten ließen sich auf keine Versprechungen ein. Würde Patsy alles herausrücken? Ursprünglich, vertraute Patsy ihnen an, hätte er sich am Tag seiner Festnahme, am 18. Januar, abends in der Inner Circle Bar mit Jean Jehan treffen sollen. Er deutete auch an, daß Giant sich mit einem Sack voll Geld davongemacht haben mußte. Und dann, offenbar um seine entgegenkommende Haltung noch weiter zu untermauern, überraschte Patsy die Polizeioffiziere mit dem Anerbieten, vor dem Großen Geschworenengericht auszusagen. Das war fürwahr eine phantastische Sache. Daß ein führender Kopf der Mafia sich erbötig machte, sich seiner Rechte zu begeben und aus freien Stücken ein möglicherweise belastendes Verhör auf sich zu nehmen, war ein richtiger Knüller. Er wurde gefragt, ob er seinen Rechtsbeistand, Maurice Edelbaum, einen äußerst erfolgreichen Strafverteidiger, dessen Dienste des öfteren von hochgestellten Mitgliedern des „Syndikats“ und deren Geschäftsfreunden in Anspruch genommen wurden, zu Rate gezogen habe. Patsy antwortete, er wünsche nicht, daß Edelbaum oder sonst jemand von seinem Entschluß, auszusagen, erfahre. Doch schon die ersten Minuten von Patsys Zeugenaussage machten die Hoffnungen der Polizei wie auch der Geschworenen zunichte. Nachdem er die Fragen zur Person auf korrekte Weise beantwortet hatte, kam kein wahres Wort mehr -306-
über seine Lippen. Entweder vermied er, die ihm von Hilfsstaatsanwalt Gagliano gestellten Fragen zu beantworten, oder er log ihm ins Gesicht. Als der Obmann der Geschworenen, Champagne, sich ihn vornahm und sich angelegentlich nach der Rolle erkundigte, die Patsy im gesamten Rauschgifthandel der Mafia spielte, verlor dieser allen Mut. „Sie machen mir Spaß“, greinte er. „Wenn ich Ihnen solche Fragen beantworte, tut mir bald kein Zahn mehr weh. Die brauchen nur zu erfahren, daß ich hier aussage, und ich bin ein toter Mann!“ Als Champagne schließlich erkannte, daß Patsy sein Erscheinen von Anfang an nur als faulen Zauber geplant hatte, erhob er sich stirnrunzelnd von seinem erhöhten Sitz gegenüber den anderen Geschworenen, trat an ein Fenster und wandte sich dem Gefangenen zu. „Warum“, fragte er ihn, „springen Sie dann nicht gleich?“ Als das Große Geschworenengericht mit seinen Hearings begann, erhielt das Rauschgiftdezernat einen anonymen Brief aus Frankreich. Darin hieß es, die Mafia und das Syndikat seien über den Verlust dieser enormen Menge von Heroin so erbost und, was noch wichtiger war, befürchteten so sehr, Scaglia, Fuca oder Angelvin könnten auspacken, daß der „Auftrag“, diese Männer für immer zum Schweigen zu bringen, bereits erteilt worden sei. Bei dem gedungenen Mörder handle es sich um den Oberkellner eines der elegantesten und teuersten Restaurants von New York, das jedoch in dem Brief nicht namentlich genannt war. Auf Grund dieser geheimnisvollen Warnung wurde Scaglia sofort in das neue, ausbruchssichere Gefängnis in Kew Gardens, Queens, überstellt und Angelvin in ein anderes, ebenfalls höchst sicheres an der unteren Westseite Manhattans. Da Scaglia allem Anschein nach das bevorzugte Opfer darstellte, spekulierte die Polizei, daß jeder Mörder, der mit dem New-Yorker Gefängnissystem vertraut war, glauben würde, Scaglia säße in Manhattan, verwahrte man doch üblicherweise Gefangene in -307-
jenem Bezirk, in dem man sie verhaftet hatte. Dem gleichen Gedankengang folgend, überstellte man Patsy, obwohl er in Brooklyn festgenommen worden war, in die White Street 125 in Manhattan, eine in weiten Kreisen als „Gruft“ bekannte Strafanstalt. Während des ersten Monats der Verhöre vor dem Großen Schwurgericht pendelten die Kriminalbeamten Egan und Grosso zwischen dem Gerichtsgebäude in Brooklyn und dem Keller von Tony Fucas Haus in der Bronx hin und her. Rechnete man die im „Wagenraum“ des Kellers gefundenen vierzig Kilo Heroin zu den in Joe Fucas Haus beschlagnahmten elf dazu, ergab sich ein Gesamtgewicht von etwas mehr als einundfünfzig Kilo oder genau die hundertzwölf Pfund, die Jacques Angelvin in seiner Zollerklärung für die Rückreise nach Frankreich so vorsorglich vermerkt hatte. Es war dies ohne Zweifel der größte Fischzug, dessen sich eine Polizeibehörde in den Vereinigten Staaten rühmen konnte, man überbot den vor fünfzehn Monaten erzielten Rekord, als man den Vertreter eines südamerikanischen Landes bei den Vereinten Nationen mit etwa hundert Pfund in seinem Gepäck ertappte. Vom Standpunkt des Rauschgiftdezernats jedoch gesehen, harrte noch ein besonders unbefriedigender Aspekt des Falles Fuca einer Lösung. Wie sollten sie jemandem den Besitz dieser vierzig Kilo nachweisen? Es gab da gewisse Spielregeln, an die man sich halten mußte, und da sich jetzt die Fucas und zwei der Franzosen in sicherem Gewahrsam befanden, hatten sie niemanden, dem sie, wie Egan sich ausdrückte, „den Schwarzen Peter zuschieben“ konnten. Diese mißliche Lagebeurteilung schloß auch Tony Fuca mit ein. Wie plausibel auch die Annahme sein mochte, daß er es gewesen sei, der den Stoff im Keller seines Wohnhauses versteckt hatte, sie ließ sich leider nicht beweisen. Unterdessen trafen aus der ganzen Stadt Spitzelberichte ein, -308-
wonach sich wachsende Unruhe „in der Gegend“ ausbreitete. Die ausgepowerten Süchtigen, die unteren „Verbindungen“ und die kleinen Straßenhändler, sie alle verspürten den durch die Knappheit des Heroins hervorgerufenen Druck. Was aber vielleicht noch bedeutsamer war: auch die Großhändler und Verteiler begannen zu murren, und es gab Anzeichen, daß sie energische Maßnahmen zu ergreifen beabsichtigten, um ihre Investitionen abzusichern, wenn nicht gar zurückzubekommen. Das waren vor allem die „Geschäftsleute“ der Unterwelt, die Patsy beträchtliche Summen für Importware bezahlt hatten. Ihr Mißmut war verständlich, hatten sie sich doch verpflichtet, diese Ware zu den um die übliche enorme Gewinnspanne erhöhten Preisen an ihre Kunden zu liefern. Die Polizei kam zu dem Schluß, daß die eine oder andere Gruppe dieser verbitterten Mafiosi versuchen würde, die achtundachtzig Pfund in Tony Fucas Keller an sich zu bringen, und beschloß daher, den Überseekoffer samt Inhalt unberührt in der Bryant Avenue 1171 in der Bronx zu lassen. Der Keller, das Haus und die nähere Umgebung sollten Tag und Nacht unter Bewachung stehen. Die Beamten des Rauschgiftdezernats konnten warten.
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21 Die Dauerüberwachung von Tony Fucas Wohnhaus in der Bronx begann Sonntag, den 4. Februar 1962, siebzehn Tage nach den ersten Festnahmen, und wurde in drei Schichten durchgeführt, deren jede aus zwei New-Yorker Kriminalbeamten und drei Agenten der Bundespolizeibehörde zusammengesetzt war. Der Keller, wo das Zeug immer noch auf einem Regal im „Wagenraum“ lagerte, stellte den Mittelpunkt der Operation dar. Dieser versperrte Raum lag gegenüber dem Seiteneingang des Kellers. Ein Stück weiter den Gang entlang und vom Wagenraum aus gut sichtbar stand ein Wandschrank, in dem Farben aufbewahrt wurden. Rechts vom Eingang gelangte man durch eine Tür zu einer Treppe, die zum Erdgeschoß des Hauses hinaufführte. Links vom Wagenraum und von der Kellertür aus nicht sichtbar befand sich ein verstaubter, modriger Alkoven, vollgestopft mit allem möglichen Abfall aus den verschiedenen Wohnungen einschließlich ramponierter Möbel, zerschlissener Matratzen, Spielsachen, Teppiche und gebrauchter Reisekoffer. Ein enger, getünchter Korridor führte nach hinten zum Kesselraum mit seinen Leitungen und Rohren, dem einzigen warmen Platz im Keller, in dem daher auch jeder Zuflucht suchte, der während der langen Stunden winterlicher Nachtwache Sehnsucht nach einem Nickerchen verspürte. Hinter der rasselnden Warmwasserheizung wurde eine abgewetzte, verschossene Matratze auf den Betonfußboden gelegt. Die Beamten waren mit einem kleinen Arsenal ausgerüstet; sie verfügten über Maschinengewehre, Schrotflinten und Tränengasgranaten, sowie über ihre Dienstrevolver und Hunderte Schuß Munition. Es wußte ja keiner, wieviel Ganoven aufkreuzen würden, um nach dem versteckten Schatz zu suchen. Die Nachrichten flössen spärlich; man wußte nur, daß die Dinge in Bewegung geraten -310-
waren. Egan, Grosso und Agent Waters kamen und gingen, tauschten Berichte aus und überprüften die wenigen Hinweise, die sie von Leutnant Vinnie Hawkes und Sergeant Jack Fleming erhielten. Egan und Grosso waren die Kriminalbeamten Dick Auletta und Jimmy O'Brien zugeteilt worden; Waters kommandierte ein turnusmäßig wechselndes Team von zwölf Bundesagenten. Die Aussicht, ganze Tage, ja sogar Wochen in einem trostlosen, schmutzigen Keller sitzen zu müssen, reichte aus, um selbst kummergewohnte Gesetzeshüter in üble Laune zu versetzen, doch schien es den Bundesagenten, wie die Kriminalbeamten säuerlich vermerkten, in bedauerlichem Maße an praktischer Erfahrung zu mangeln. Von Waters, einem ausdauernden, zähen Mann, abgesehen, waren es größtenteils junge und ungeduldige Männer. Wie sich herausstellte, waren es andere Gesetzeshüter und keine bösen Feinde, die den vereinigten Überwachungskommandos das Leben schwer machten. Die Kriminalbeamten und Agenten beschlossen, die örtliche Polizeiwache nicht von ihrer Mission zu informieren. Ohne äußerste Geheimhaltung, fürchteten sie, würden sie den Erfolg ihres Auftrags aufs Spiel setzen. Schon nach ganz kurzer Zeit führte diese Entscheidung zu Komplikationen. Das Überwachungsteam war fröhlich und guter Dinge, als am zweiten Tag - einem Montag - ein langer, dürrer Mann von sauertöpfischem Aussehen in dem beklecksten weißen Overall und der Mütze eines Anstreichers im Keller auftauchte. Zwei Kriminalbeamte befanden sich in dem düsteren Alkoven jenseits des Wagenraums, wo sie beim Schein einer matten Glühbirne Romme spielten. Ein dritter lag ausgestreckt auf der Matratze im Kesselraum. Der Anstreicher bemerkte sie zunächst nicht. Nachdem er sich eine kleine Weile die Kälte aus den Händen gerieben hatte, stopfte er sich liebevoll eine Tabakspfeife mit geschwungenem Rohr, zündete sie an und begab sich zum -311-
Farbenkasten. Er öffnete die Tür und sprang zurück, als ob er einen unter Strom stehenden Draht berührt hätte; die Pfeife fiel klirrend zu Boden. Ein Buch in der Hand und eine riesige Schrotflinte auf dem Schoß, saß ein stämmiger, robuster, rothaariger Fremder in dem hell erleuchteten Wandschrank und glotzte. Eddie Egan sagte nichts; er starrte ihn nur an. Verstört wich der Anstreicher in den Gang zurück, der zum Kesselraum führte. Dann erblickte er die zwei Männer im Sweater, die im Alkoven über einen alten Überseekoffer gebeugt saßen. Sie hatten ihre Karten niedergelegt und sahen ihn an. Er wollte reden, aber seine Augen weiteten sich und sein Mund zuckte. Zwei Maschinengewehre lehnten neben den beiden an der Wand. Einer der Männer stand auf. Um seine Hüfte hing ein breiter Patronengurt. Im Kesselraum bewegte sich etwas, und eine vierte Gestalt stand schweigend da und sah den Anstreicher an. In Angst und Verwirrung glitten die Augen des Alten von einem dieser so bedrohlich aussehenden Männer zum ändern. Er wankte rücklings auf den Seiteneingang zu, riß die Tür auf und war verschwunden. Die Kartenspieler warfen sich beredte Blicke zu. Dann schlenderte der eine, der sich erhoben hatte, zum Wandschrank hinüber, vor dem Egan jetzt stand und sich streckte. „Das war wohl der Hausmaler“, lachte Egan, indem er das Gesicht halb zu einem Gähnen verzog. „Stand da wie Butter an der Sonne. Ich dachte, Grosso hätte ihm alles erklärt.“ „Hat er auch - aber dem Hauswart. Das war ein anderer. Der Hauswart hat ihm wohl nicht erzählt, was wir da machen. Ein guter Mann, dieser Hauswart.“ „Ich weiß nicht recht.“ Der Agent schüttelte den Kopf. „Das kann ins Auge gehen.“ Die Zweifel, ob es weise gewesen war, die Polizei des Bezirks -312-
nicht in ihre Tätigkeit einzuweihen, mehrten sich rasch. Als wollte er seine Befürchtungen bestätigt finden, kehrte der ungläubige alte Anstreicher am gleichen Tag noch zweimal in den Keller zurück. Er war offensichtlich bestürzt, beide Male vier bewaffnete und schweigsame Männer vorzufinden - beim letzten Mal sogar vier neue. Der arme alte Kerl begann den Polizeioffizieren leid zu tun, denn es war sonnenklar, daß er in seiner Verwirrung zur Flasche gegriffen und völlig die Fassung verloren hatte. Als er an jenem Abend aus dem Keller taumelte, ohne daß man das Wort an ihn gerichtet hatte, schien er wie vom Schlage getroffen. Doch schon wenige Stunden später bekam das dritte Team zu spüren, zu welch ungemütlicher Situation die fehlende Nachrichtenverbindung führen konnte. Bis auf einen Lichtspalt unter der geschlossenen Tür des Wandschranks, in dem ein Bundesagent saß und Kreuzworträtsel löste, war der Keller dunkel. Die anderen waren im Alkoven und im Kesselraum, wo sie versuchten, mit der dumpfigen, frühmorgendlichen Kälte fertig zu werden. Nach der letzten Visite des Anstreichers hatten sie sich eine primitive Warnanlage vor nächtlichen Besuchern zusammengebastelt. An der Tür zum Seitendurchgang wurde oben ein Draht eingehakt, an der Decke den Korridor entlang zum Kesselraum gespannt und über eine Rolle an einem mit Gipsmörtel gefüllten Eimer befestigt, öffnete man die Tür, würde der Eimer mit einem dumpfen Geräusch umkippen. Es würde dem Eintretenden vermutlich nicht auffallen, den Kriminalbeamten hingegen als Warnung dienen. Es war Dienstag, kurz nach zwei Uhr morgens, als der Agent im Wandschrank draußen leise Schritte hörte. Er löschte das Licht, packte seine Schrotflinte und öffnete die Tür auf einen Spalt. Mit leisem Quietschen ging die Kellertür auf, und er strengte seine Ohren an, um das Geräusch des fallenden Eimers zu hören, war aber nicht sicher, ob es auch funktioniert hatte. Kalte Nachtluft strich über sein Gesicht. Das schwache Kratzen -313-
auf dem Betonfußboden schien von zwei Männern herzurühren. Sie kamen langsam am Wandschrank vorbei und blieben vor dem Korridor stehen, der nach hinten führte. Plötzlich durchbohrten die Strahlen zweier Taschenlampen das Dunkel. Einer strich über die Vorhalle hin, und mit einer schnellen Bewegung langte einer der Besucher nach oben, um an der Kette zu ziehen, die von der Glühbirne herabhing. Im gleichen Augenblick wurde der Keller von Licht überflutet, und eine Stimme bellte: „Keiner rührt sich! Polizei! Wer ist hier unten?“ Revolver und Taschenlampen in den Händen, standen zwei Polizisten in ihren schweren blauen Mänteln im Keller. Einer wirbelte herum, als der Agent die Tür des Wandschranks aufstieß und, nachdem er die Schrotflinte zur Seite gestellt hatte, heraustrat. „Wer zum Teufel sind Sie, Mister?“ wollte der Bulle wissen. Es blieb keine Zeit für eine Antwort. „Halt! Paß auf!“ rief sein Begleiter. Ihre Revolver in der Hand, kamen zwei Agenten aus dem Schatten des Alkovens hervor. Auf alle Eventualitäten gefaßt, gingen die Polizisten in Deckung. Doch aus dem Dunkel des Kesselraums ertönte eine scharfe Stimme: „Immer mit der Ruhe! Wir sind alle von der Polizei!“ Im nächsten Augenblick flammte hinten ein Licht auf, und Jimmy O'Brien, sein goldenes Dienstabzeichen in Händen, kam nach vorn. Sie erklärten den Polizisten, die von der 41. Polizeiwache über Funk den Auftrag erhalten hatten, im Keller der Bryant Avenue 1171 nach „Verdächtigen“ Ausschau zu halten, daß sie Beamte des Rauschgiftdezernats waren. Den Grund ihrer Anwesenheit gaben sie nicht bekannt. Die Polizisten wußten zuerst nicht, was sie tun sollten, versprachen aber dann nach einigem Zögern, nichts verlauten zu lassen. Am folgenden Nachmittag wagte sich ein uniformierter Verkehrspolizist in den Keller, wurde aber sogleich wieder fortgejagt, nachdem man ihm eindringlich nahegelegt hatte, zu vergessen, daß er überhaupt im Haus gewesen war. Innerhalb -314-
der nächsten achtundvierzig Stunden erhielten sie noch zweimal Besuch. Zuerst erschienen zwei Kriminalbeamte aus einem benachbarten Revier, auf die der verzweifelte Anstreicher gestoßen war, als sie gerade ein paar Straßen weiter eine Verhaftung vorgenommen hatten. Er hatte ihnen eine haarsträubende Geschichte von einem seit Tagen andauernden Würfelspiel in seinem Keller erzählt. Und weil der verdatterte Alte jeden um Hilfe anging, der eine Uniform trug, bemühte er schließlich sogar einen grünuniformierten Inspektor des Gesundheitsamtes die Kellertreppe hinunter. Jedesmal mußten die Männer im Keller irgendwie erklären, was im Gange war. Die „Geheimhaltung“ löste sich in ihre Bestandteile auf. Und was vielleicht ebenso schlimm war - die Polizeioffiziere selbst begannen durchzudrehen. Es geschah noch in der ersten Woche, daß der Kriminalbeamte Jimmy O'Brien im stockfinsteren Kessel räum in der Nacht erwachte und einen kleinen roten Schimmer über sich erblickte. O'Brien erstarrte: da stand jemand im Dunkel und rauchte eine Zigarette! „Sonny?“ rief er leise. „Waters?“ Er hörte nur das Summen des Kessels. Mit einem Aufschrei wälzte er sich von der Matratze hinunter auf den kalten Boden, während er gleichzeitig seinen Revolver entsicherte. Er hörte schlurfende Schritte, und das Licht ging an. Mit gezogenen Revolvern standen Sonny Grosso, Frank Waters und Jack Ripa beim Eingang zum Kesselraum. „Was ist denn los?“ fragte Sonny. „Es war jemand da“, erwiderte O'Brien, der vornübergeneigt dasaß. Er sah sich verblüfft um. Niedergeduckt, angespannt durchstöberten die ändern alle dunklen Winkel. „Du mußt geträumt haben“, meinte Sonny schließlich und steckte seinen Revolver wieder ein. „Es ist niemand hier.“ Das Licht wurde abgedreht, und O'Brien kroch wieder auf die Matratze. Sekunden später schrie er von neuem: „Da ist er!“ Wieder die laufenden Füße, das elektrische Licht und kein -315-
Menschenwesen außer vier nervösen Kriminalbeamten. Sonny starrte auf den Kessel, trat an die eckige, rußige Anlage heran, sah auf O'Brien hinunter und verzog das Gesicht. „Hier ist dein Zigarettenraucher.“ Er deutete auf eine kleine rote Kontrollampe in Augenhöhe, die anzeigte, daß der Kessel ordnungsgemäß funktionierte. Mit jedem Tag nahm die Spannung in dem schmutzigen Keller zu. Es kostete die Polizeioffiziere einen harten Kampf, sich zu beherrschen, vor allem aber, ihre Neigung zu zügeln, sogleich den Revolver zu ziehen, wenn sie ein ungewohntes Geräusch vernahmen. Schließlich bewachten sie achtundachtzig Pfund einer Ware, die für die Dons der Mafia einen Wert von vielen Millionen Dollar darstellte, und sie konnten nicht wissen, ob nicht schon im nächsten Augenblick eine Bande von Italienern in den Keller stürzen und versuchen würde, das Heroin an sich zu reißen. Gelegentlich drang eine interessante Nachricht aus der Außenwelt an das Ohr der Kriminalbeamten und lieferte ihnen Gesprächsstoff. Den interessantesten Leckerbissen brachte Leutnant Vinnie Hawkes bei einem seiner regelmäßigen Besuche mit. Er fand Egan an seinem angestammten Platz bei den Farben. „He, Glotzauge, erinnern Sie sich an das Maschinengewehr, das Sie bei den Fucas aus der Decke geholt haben? Das ist dieselbe Knarre, mit der am fünfzehnten Dezember bei dem Bankraub in der Lafayette National am Kings Highway der Wachoffizier getötet und ein Bulle verletzt wurde.“ Eddie sprang auf. „Zwei Tage vorher war ich Patsy dorthin gefolgt! Ich dachte mir damals noch, ob der Kerl hier was ausbaldowert?“ „Ja, unser Patsy scheint sehr geschäftstüchtig gewesen zu sein. Wir glauben, daß er das Maschinengewehr und andere -316-
Waffen vermietet hat.“ Der Hauswart des Gebäudes kam hin und wieder in den Keller, kümmerte sich aber nicht um die Polizei, und die Männer des Rauschgiftdezernats wechselten kaum ein Wort mit ihm. In der immer schwüleren Stimmung hätte er einmal beinahe sein Leben verwirkt. Eines Morgens nahm er seelenruhig ein Brett und legte es auf zwei Holzblöcke. Schwer atmend stand er da, stieß plötzlich einen Schrei aus und führte einen harten Schlag mit der Kante seiner rechten Hand; das Brett zerbrach in zwei Teile. Überreizte Nerven reagierten sekundenschnell - fünf Waffen wurden in Anschlag gebracht. Der überraschte Karatelehrling stierte in die Läufe eines Maschinengewehrs, zweier Schrotflinten und zweier Pistolen. Langsam senkten sich die Waffen wieder, und in der Folge machte der Hauswart einen weiten Bogen um den Keller. In den langen Tagen und Nächten, in denen die Kriminalbeamten das Heroin bewachten, war es ihnen einfach unmöglich, nicht auch an den Wert des weißen Pulvers zu denken, das in Tony Fucas Schiffskoffer ruhte. Es wäre eine einfache Sache gewesen, der Mafia den Stoff um eine Million Dollar zurück zu verkaufen. Er war zehnmal soviel wert. Das „H“ war noch nicht analysiert worden, aber es schien völlig rein zu sein. Es war jene Versuchung, die früher oder später an jeden Beamten des Dezernats herantrat. Auch Egan spielte mit dem Gedanken. Er wußte, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sich ein luxuriöses Leben zu scharfen. Carol Galvin hatte Egan mittlerweile in Kenntnis gesetzt, daß sie mit ihm Schluß machen würde; weder wollte sie sich weiterhin seinem Dienststundenplan anpassen noch seinem bescheidenen Polizistengehalt. Er könne seine Sachen packen, meinte sie, und... Doch sein Wachträumen endete, wie es immer endete: er war nun einmal ein Teckel und würde es wahrscheinlich immer bleiben, Schluß, aus. -317-
Zwei Wochen vergingen, ohne daß es zu irgendwelchen Aktionen gekommen oder irgendwelche Fortschritte sichtbar geworden wären. Abgesehen von Besuchen anderer nichtsahnender Polizisten, tauchten nur vereinzelt Mieter im Keller auf, die irgendeinen Haushaltsartikel benötigten. (Bei solchen Gelegenheiten, als Unterbrechungen einer verkrampften Eintönigkeit stets willkommen geheißen, betätigten sich die Polizeioffiziere als Handwerker, Elektriker oder Mechaniker.) Doch es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß jemand sich für das Heroin interessierte. Niemand hatte den Kinderwagenraum auch nur betreten; in diesen kalten Wintertagen ließ man die Babys zu Hause. Peggy Fuca, Tonys Frau, absolvierte dann und wann einen Einkaufsbummel, rührte sich aber sonst nicht aus der Wohnung. Sie war dem Keller nicht einmal in die Nähe gekommen und wußte vermutlich nichts von den unten ausharrenden Gesetzeshütern. Die Polizei kam langsam zu der Überzeugung, daß nur die zwei Brüder Fuca das Versteck kannten und daher nicht damit zu rechnen war, daß jemand versuchen würde, sich des Schatzes zu bemächtigen, solange nicht einer der beiden seine Freiheit zurückgewonnen hatte. Spitzelberichten zufolge hatte sich die Aufregung der Gangsterbosse über den verschwundenen Stoff in den letzten Tagen merklich gelegt. Dies ließ darauf schließen, daß sie aus dem Gefängnis - wahrscheinlich durch die Mutter der Verhafteten - die Nachricht erhalten hatten, daß die Ware sicher untergebracht war und sofort nach Freilassung eines der Brüder in die rechten Hände gelangen würde. Die Aussichten, daß es Patsy sein würde, schienen gering, war doch seine Kaution wie die seines Vaters und der zwei Franzosen auf hunderttausend Dollar festgesetzt worden. Dies war nach Meinung der Polizei ein zu hoher und zu belastender Preis für Tuminaros Organisation, um damit Patsys vorübergehende Freilassung zu erkaufen. -318-
Tony Fucas Kaution betrug hunderttausend Dollar für verbrecherische Verabredung und weitere 22.500 Dollar für den Besitz von Rauschgift, und der Anwalt der Brüder hatte bisher vergeblich auf eine Senkung der Bürgschaften gedrängt. Nun kam also die Polizei zu der Überzeugung, daß es zweckmäßig sein könnte, Tony freizulassen, um auf diese Weise sein Tun beobachten zu können. Mit Einverständnis des Staatsanwaltes wurde daher auf die 100.000 Dollar verzichtet und Tonys Kaution auf 22.500 reduziert. Montag, den 19. Februar erfuhr das Rauschgiftdezernat, daß die Kaution für Tony Fuca erlegt worden war und man ihn in Kürze freilassen würde. Unverzüglich wurden weitere Beamte nach dem unter Polizeiaufsicht stehenden Keller in der Bronx in Marsch gesetzt. Am gleichen Vormittag gab ein Polizeispitzel telephonisch die Nachricht durch, eine mit den Fucas und Tuminaro nicht in Verbindung stehende Bande beabsichtige, Tony abzufangen und die gewaltige Menge „H“, deren Vorhandensein bereits Stadtgespräch zu sein schien, mit Gewalt an sich zu reißen. Gegen Mittag dieses 19. Februar versahen die Kriminalbeamten Eddie Egan, Jimmy O'Brien, Jim Gildea und Jim Hurley sowie Bundesagent Jack Ripa ihren Dienst im Keller der Bryant Avenue 1171. Ein halbes Dutzend Polizeioffiziere beobachtete das Haus von der Straße aus und patrouillierte unauffällig durch die Nachbarschaft. Nun wurden zwei weitere Beamte auf dem Dach des Hauses postiert. Sie hatten bereits ein improvisiertes Signalsystem für die Zeit erprobt, da Tony in seine Wohnung im obersten Stockwerk zurückgekehrt sein würde. Von jetzt ab würde einer auf dem Treppenabsatz zwischen dem fünften Stock und dem Dach verbleiben und sein Kollege, sooft Tony oder seine Frau die Wohnung verließen, eine Blechdose vom Dach in den Seitendurchgang fallen lassen, um die Männer im Keller auf einen möglichen Besuch vorzubereiten. Das trübsinnige Dahindämmern im Keller -319-
verwandelte sich schlagartig in ein spannendes, erregendes Erlebnis. Egan war in seiner Lieblingsecke stationiert - im Farbenkasten neben dem Eingang. Im Gegensatz zu seinen Kameraden machte ihm das Kartenspielen keinen Spaß, und er liebte es, sich dort aufzuhalten, wo es vermutlich Bewegung geben würde. Die vier anderen Beamten befanden sich an jenem Vormittag im Kesselraum, schlurften nervös auf und ab und unterhielten sich mit leisen Stimmen. Als die Seitentür sich quietschend öffnete, straffte sich Egan, legte das Buch nieder, das er zu lesen versucht hatte, und zog seine Dienstpistole. Er hoffte, die anderen würden den mit Gipsmörtel gefüllten Eimer neben dem Kessel umkippen gehört haben; sie hatten schon zu wiederholten Malen festgestellt, daß das Ding tagsüber nicht funktionierte, weil der Kessel so viel Lärm machte, daß er das Fallen des Eimers übertönte. Vorsichtig stieß Egan die Schranktür ein paar Zentimeter auf gerade so weit, um hinaussehen zu können. Sein Atem stockte, und ein eisiger Schauer rieselte über seine Haut, als er zwei dunkelhäutige, bewaffnete Banditen leise an seinem Versteck vorbei auf den Wagenraum zuschleichen sah. Sie schienen wild entschlossen zu sein. Er begann, die Schranktür ein wenig weiter aufzustoßen, als ein dritter Eindringling sie vor ihm aufriß und ihm einen Revolver vor den Mund hielt. „Komm 'raus da, du Saukerl“, schnarrte eine rauhe Stimme, „oder ich knall' dir eine vor den Latz!“ Wie hypnotisiert von dem nur fünfzehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernten Schießeisen, unfähig zu reagieren, blieb Egan hocken, ohne sich zu bewegen. Er zitterte vor Angst und dachte an den Tod. „Laß die Kanone fallen!“ befahl die rauhe Stimme. Die zwei anderen stellten sich jetzt dazu. -320-
Egan senkte den Blick auf die kraftlos in seiner Hand liegende Pistole. Und dann begann sein Hirn wieder zu arbeiten. Er richtete sich auf und schleuderte die Waffe in den Korridor, der zum Kesselraum führte, und während das Ding laut über den Betonboden klapperte, brauste er polternd auf: „Was soll das alles? Wer seid ihr Kerle?“ Er hörte Bewegung hinten im Keller, das Herannahen schneller Schritte. Auch die Eindringlinge hörten es. Jetzt würde es Krieg geben, und er saß mittendrin. Er warf einen Blick auf den düsteren Alkoven. Das war seine einzige Chance, wenn auch eine sehr schwache: wenn es ihm gelänge, unter dem Maschinengewehrfeuer durchzuschlüpfen. Während er sich im Geist schon darauf vorbereitete, den Mann neben ihm zur Seite zu stoßen und sich mit einem Sprung in den Alkoven zu retten, betrat hinter ihm noch jemand den Keller. „He, Leutnant, nicht schießen!“ schrie die Stimme hinter ihm. „Das ist ,Kugel' Egan. Er ist ein Polyp - vom Rauschgiftdezernat!“ „Ein Polyp? Halt - Polizei!“ brüllte der Mann neben Egan in den Korridor hinein. Nachdem sie sich gegenseitig legitimiert und Erklärungen ausgetauscht hatten, waren sie alle ganz schlapp. Die „Banditen“ waren Kriminalbeamte der 41. Gruppe von der Polizeiwache in der Simpson Street. Der alte Anstreicher war auf dem Revier erschienen und hatte eine schauerliche Geschichte von „Banden von Ganoven und Gangstern“ erzählt, die in seinem Keller säßen und „Raubüberfälle planten“. Es hatte alles so unwahrscheinlich geklungen, daß vielleicht doch etwas dran sein mochte. Obwohl einige der uniformierten Polizisten des Reviers ziemlich von Anfang an von der Überwachung des Kellers durch das Rauschgiftdezernat gewußt hatten, waren die Kriminalbeamten nicht informiert worden. Und so hatten sie sich ihrer fünf zum Keller aufgemacht und Fenster und Türen gesichert. Zwar waren sie an Feuerkraft unterlegen, doch hätte -321-
eine Schießerei vermutlich zu einem Massaker auf beiden Seiten geführt. Die mit knapper Not verhütete Katastrophe brachte Egan aus der Fassung und nahm ihm seinen normalen Optimismus. Als er seinen Vorgesetzten, Leutnant Hawkes, anrief und ihm mitteilte, was sich zugetragen hatte, betonte er, daß irgend jemand zu Schaden kommen würde, wenn sie die örtlichen Reviere nicht von ihrem Auftrag unterrichteten. „Entweder wir werden einen umlegen, oder einige von uns werden dabei draufzahlen“, sagte er. Hawkes zeigte volles Verständnis, aber er erwiderte: „Wir sind dem Zahltag schon zu nahe, als daß wir jetzt aufgeben oder auch nur unsere Karten aufdecken könnten. Warum nehmen Sie sich nicht einen Tag frei? Es wird Ihnen guttun.“ „Da müßte ich mir ja selbst eine Kugel durch den Kopf schießen, wenn das Ding hier zum Klappen käme, während ich gerade an der Matratze horche!“ lautete Egans Antwort. Die ersten Tage, die Tony Fuca wieder zu Hause zubrachte, spielte er ganz den Unbekümmerten. Immer wieder straffte sich das Team im Keller, wenn die leere Bierdose im Seitendurchgang rikoschettierte, doch Tony verließ das Haus nur zum Einkaufen in den Nachbarläden. Donnerstag präsentierte, er sich neuerlich bei der Arbeitsvermittlung bei den Docks an der East Side, wo er von seinen Kumpeln mit mäßiger Begeisterung empfangen wurde. Er arbeitete einen Teil des Tages, kehrte am späten Nachmittag heim, machte einige Einkäufe in einem Lebensmittelgeschäft und stieg mit einem kleinen Paket die Treppe hinauf. Aber dem Keller kam er nicht in die Nähe. Am Freitag war es nicht viel anders. Er kam früh heim und blieb oben bei seiner Familie. Seit einigen Tagen hatten die Polizeibeamten weder Tonys Frau noch seine Kinder zu Gesicht -322-
bekommen, Tony selbst hingegen mehrmals dabei beobachtet, wie er in eine Apotheke gegangen war. Die Vermutung lag also nahe, daß eines der kleinen Mädchen oder vielleicht Mrs. Fuca selbst erkrankt war. War es denkbar, daß man Tony, der als gewalttätiges, aber begriffsstutziges Mitglied von Klein Angies Organisation galt, die so entscheidende Tatsache vorenthalten hatte, daß die kostbare Ware in seinem eigenen Wohnhaus versteckt lag? Diese Frage begann die Polizei zu quälen. Waren Patsy und sein Onkel so verschlagen? Kaum anzunehmen. Jedenfalls ging nun schon die dritte Woche zu Ende, seitdem die unablässige Beobachtung des Kellers eingesetzt hatte. Vor mehr als fünf Wochen war ihnen der erste große Fischzug in Brooklyn geglückt, das Große Geschworenengericht von Kings County bereitete die Anklagebeschlüsse vor, aber in der Bryant Avenue 1171 gab es nichts Neues. Sonnabend, den 24. Februar schob Sonny Grosso eine Pause ein. Einer seiner besten Freunde, ein Spaßvogel und ausdauernder Junggeselle, hatte Sonny ersucht, sich ihm bei seiner Hochzeit in der St.-Patrickkathedrale als Brautführer zur Verfügung zu stellen. „Das würde ich nicht versäumen, selbst wenn Luciano auferstünde und sich erbötig machte mitzusingen“, hatte Sonny zu Egan gesagt. Nun war es bald Mittag, und Egan hockte im Wandkasten von Tony Fucas Keller und träumte mit offenen Augen. Er fühlte sich so schmuddelig, schmutzig und schwunglos, daß es ihm ein Vergnügen bereitete, sich die sauber gewaschenen, fröhlichen Menschen vorzustellen, die sich nun bald in St. Pat's auf der eleganten Fifth Avenue versammeln würden. Er vergegenwärtigte sich das lange marmorne Seitenschiff, die vor Verlegenheit errötende Braut in Weiß, Blumen im Arm, die Satinschleppe hinter sich her ziehend; die lächelnden Gesichter, die sich begierig vorbeugten; den Bräutigam, der in aufrechter Haltung am Altargitter wartete. Vor seinem geistigen Auge sah er auch Sonny neben seinem Freund -323-
stehen; nervös, vielleicht sogar aufgeregt, geschrubbt, rasiert, das Haar sauber gekämmt, die Schuhe geputzt, Jackett und Hose in der gleichen Farbe... Egan konnte sich kaum erinnern, wann er Sonny so frisch und so fein in Schale erlebt hatte - oder auch nur sich selbst... Eine Blechdose klapperte über die Hauswand in den Seitendurchgang hinunter. Tony verließ wieder einmal seine Wohnung. Die Agenten und Kriminalbeamten verkrochen sich eiligst in den dunklen Winkeln des Kesselraums und des Alkovens. Quietschend ging die Kellertür auf und schloß sich wieder. Egan hörte die Schritte eines Mannes im Gang innehalten. Dann kamen sie schlurfend näher und am Wandschrank vorbei. Durch den Türspalt sah Egan eine gedrungene Gestalt in einem grob gestrickten grauen Sweater und verbeulten Hosen: Tony! Das Herz schlug dem Kriminalbeamten bis zum Hals, als Tony vor der Holztür des Wagenraums stehenblieb und einige Augenblicke nach links, den düsteren Gang entlang in die Tiefe des Kellers äugte. Egan biß sich auf die Lippen. Jetzt fehlte nur noch, daß so ein Idiot da hinten zu husten oder niesen begann. Tony ließ sich Zeit. Sein Gesicht war Egan zugewendet, und es drang genügend Licht durch die Glasscheiben der Tür, um es dem Polizeioffizier zu ermöglichen, Tonys Gesichtszüge zu studieren. Tony hatte ein eckiges Kinn, dicke Lippen und eine breite Nase; seine Augen, wie die so vieler dem Aussehen nach unintelligenter Menschen, waren trüb und ausdruckslos. Nun wandte er sich wieder der Tür des Wagenraums zu, hakte den Riegel auf und verschwand im Dunkel. Egan starrte angestrengt hinüber, konnte aber nur vage Bewegungen erkennen. Tony schien auf etwas hinaufzuklettern und blieb ein oder zwei Minuten still; dann kam er wieder herunter und tastete in allen Ecken des vollgeräumten Verschlags herum, als suchte er etwas. Dann kam er rücklings -324-
wieder heraus und verriegelte die Tür von neuem. In einer Hand hielt er etwas, das wie eine kurze Brechstange aussah; vielleicht war es ein Reifenheber. Er zögerte und sah noch einmal zum Kesselraum hinüber. Schließlich ging er an Egan vorbei und zur Seitentür hinaus. Er begann ein munteres Liedchen zu pfeifen. „Der weiß verdammt gut, wo das Zeug ist“, äußerte sich Egan zu den ändern, als sie erfahren hatten, daß Tony in seine Wohnung zurückgekehrt war. „Er wollte sich nur mal umsehen, ob alles noch so ist, wie sie es verlassen haben. Ich glaube, jetzt ist er so weit, daß er was tun wird. Wir sollten noch ein paar Leute kommen lassen.“ Egan meldete über das tragbare Funkgerät, daß sie nun erwarteten, in Kürze würde jemand versuchen, das Heroin abzuholen. Es war kurz nach ein Uhr mittags. Gegen halb vier, als das winterlichgraue Tageslicht aus dem düsteren Keller zu schwinden begann, trafen vier Mann zu ihrer Unterstützung ein. Es waren Leutnant Hawkes und Dick Auletta sowie zwei Bundesagenten, die auf der Straße zurückblieben. Nun war Egan bereits in Sorge, weil Sonny nicht da war. Sein Partner sollte den letzten Akt nicht versäumen. Egan machte sich erbötig, Sandwichs zu holen. Er fuhr zur 169th Street hinüber und noch ein paar Blocks weiter nach Westen, bis er ein Ladenviertel fand, das ihm genügend weit vom „Operationsgebiet“ entfernt zu sein schien. Er ging in ein jüdisches Feinkostgeschäft und bestellte zehn CornedbeefSandwiche auf Roggenbrot und ebenso viele Pepsis. Während das Bestellte hergerichtet wurde, ging er ans Telephon im Hintergrund des Ladens. Es bedurfte zweier Anrufe und dramatischer Hinweise auf „dienstliche Erfordernisse“, bis zwölf Minuten später doch ein neugieriger Sonny den Hörer von einem Anschlußapparat abhob, den ihm ein nervöser Kirchendiener hinter dem -325-
Hauptaltar der St.-Patrickkathedrale reichte. „Spreche ich mit dem Kriminalbeamten Grosso vom Rauschgiftdezernat?“ fragte Egan gutgelaunt. „Glotzauge!“ „Ja. Wie geht's?“ Er konnte das hohle Dröhnen einer gewaltigen Orgel hören. „Marty läßt dich grüßen und sagt, ich soll aufhängen, er muß heiraten gehen...“ Dann senkte Sonny seine Stimme und sprach vorsichtig in die Muschel. „Was ist los? Ist was schiefgegangen?“ „Wann kannst du dort abschwirren?“ fragte Egan leise, und nun klang seine Stimme nicht mehr so unbekümmert. „Tut sich was?“ „Es braut sich was zusammen. Ich glaube, es wird bald losgehen. Heute abend vielleicht. Unser Junge kam eben 'runter nachsehen, ob alles stimmt. Der kommt wieder.“ „Jetzt kann ich nicht. Vielleicht so gegen fünf. Ich werd' mich eben vom Empfang drücken. Dabei hatte ich mir einen so schönen Trinkspruch ausgedacht.“ „Den kannst du hier ausbringen. Und komm wie du bist. Wenigstens werden wir einen Mann von Klasse hier haben.“ Zerknittertes Wachspapier, leere Pepsidosen und Reste von Sandwichen und Gurken waren mehr oder minder ordentlich in eine Ecke des Kesselraumes gefegt worden. Es war halb sechs, die Dunkelheit hatte sich über die Stadt gesenkt, und die schwache Deckenlampe breitete ein mattes, fast düsteres Licht über die sechs Männer, die um die Heißwasserheizung herumstanden oder an der Wand lehnten und sich leise unterhielten. Der Korridor nach vorne lag im Dunkel, aber das Licht bei der Tür brannte. Egan hatte seinen Platz im Wandschrank eingenommen. Zwei Bundesagenten saßen im -326-
unbeleuchteten Alkoven neben dem Wagenraum. Die Kriminalbeamten im Kesselraum fuhren zusammen, als der Eimer mit Mörtelgips umkippte. Das Licht wurde angedreht, und die Männer preßten sich flach gegen die Wand. Eine dunkle Gestalt mit aufgestelltem Mantelkragen tauchte am Eingang des Korridors auf; im Schimmer der dort hängenden Birne waren ihre Umrisse deutlich zu erkennen. „Glotzauge?“ Es war ein weithin hörbares Flüstern. Jemand lachte. Im Kesselraum ging das Licht an, und die Männer drängten sich durch den Gang, um Sonny Grosso zu sehen, der mit einfältigem Lächeln auf sie zukam. Er hatte immer noch seinen Gesellschaftsanzug an. „Treulich geführt...“, begann einer zu singen. „Hach, die könnte mir auch gefallen“, lispelte ein anderer. „Ich weiß nicht recht. Sieht gar nicht aus wie ein Bulle.“ „Ist auch bestimmt kein echter. Wahrscheinlich so ein Privatdetektiv.“ Sonny sah sich um und grinste. „Na ja, ich kann zwar nicht behaupten, daß es mir ein Vergnügen ist, mich wieder in diesem Verlies zu befinden, aber zumindest -“ er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und hielt sich die Nase zu - „bin ich sauber!“ Bald aber sank die Stimmung wieder, und drei Stunden später herrschte im Keller wieder die vertraute Atmosphäre unruhiger Langeweile. Es war gerade halb neun vorbei, als eine Signaldose an der Seitenwand des Hauses wie ein kleines Maschinengewehr herunterratterte und mit einem Krach, der die Polizeioffiziere aus ihrer Lethargie aufrüttelte, auf dem Boden des Seitenganges landete. Hastig begaben sie sich in ihre Verstecke. Nur das Licht beim Eingang blieb brennen. Fünf Minuten verstrichen. Der Kessel hatte sich zur Ruhe begeben, und selbst Atemgeräusche oder das kleinste Kratzen von Schuhsohlen schienen unnatürlich laut. Zehn Minuten. -327-
Dann hörten sie Schritte, die über die kleine Treppe vom Vestibül des Hauses kamen. Knarrend öffnete sich die Tür. Und dann Stille, als ob der eben Eingetretene mit angehaltenem Atem lauschte. Der Mann - es mußte ganz einfach Tony sein stand im Keller. Er bewegte sich ganz langsam, ganz geräuschlos. Ein Schatten glitt über den Eingang. Die Umrisse seiner gedrungenen Gestalt. Regungslos, gespannt wie eine Feder, blieb Tony nochmals beim Korridor stehen. Und dann ließ er seine Schultern sinken, als hätte er ein Ventil geöffnet und allen seinen Argwohn abgelassen; schnell und sorglos öffnete er die Tür zum Wagenraum und drehte drinnen sogar das Licht an. Er schien seiner Sache völlig sicher zu sein. Die Stunde der Wahrheit war gekommen, dachte Egan; endlich würde Tony sie zu den schweren Jungen führen, die für den Schnee bezahlt hatten. Tony öffnete seinen Lumberjack und zog den Radheber aus dem Gürtel. Er stieg auf einen umgestürzten Kinderwagen und hob aus der hinteren Ecke den Überseekoffer herunter, der die zwei Handkoffer mit Heroin enthielt. Er stellte ihn behutsam auf den Boden. Wie aus Gewohnheit sah er sich vorsichtig um und stemmte dann mit dem Radheber den Deckel auf. Egan, der ihn vom Wandschrank aus beobachtete, hoffte inbrünstig, Tony würde nicht bemerken, daß das Schloß bereits vorher erbrochen und wieder instandgesetzt worden war. Tony nahm einen der Handkoffer heraus, verschloß dann wieder den großen und hob ihn aufs Regal. Das Köfferchen in der Hand, drehte er das Licht ab, machte die Tür zu und ging unbeschwert auf die Treppe zu, die zum oberen Geschoß führte. Die Kriminalbeamten ließen ihn gehen und bereiteten sich vor, ihm einige Augenblicke später zu folgen. Sie hatten es nicht so sehr auf ihn, als auf seine „Verbindungen“ abgesehen. Der Kriminalbeamte Dick Auletta war auf dem Treppenabsatz -328-
oberhalb von Tonys Wohnung im obersten Stockwerk postiert gewesen. Wenige Minuten nachdem Tony die Wohnung verlassen hatte, war Auletta ihm vorsichtig nachgeschlichen. Im Erdgeschoß war von Tony nichts zu sehen. Auletta durchquerte das Vestibül und steckte den Kopf durch die Haustür. Ein auf dem gegenüberliegenden Gehsteig wartender Agent schüttelte den Kopf - Tony war nicht herausgekommen. Auletta schlich sich zur Treppe zurück, die in den Keller führte. Sehr vorsichtig öffnete er die Tür und lugte hinab. Im Halbdunkel unten war ein leises Schlurfen von Füßen zu hören. Was war los? Auf den Zehenspitzen stieg er die Treppe hinunter. Als er die Biegung vor dem letzten Treppenarm erreichte, spähte Auletta um die Ecke. Zu seinem Entsetzen sah er den finster blickenden Ganoven, der sich anscheinend auf dem Weg nach oben befand, nur wenige Stufen unter sich. Er hielt einen kleinen Koffer in der Hand. Tony erholte sich schnell von seiner Überraschung, riß den Reifenheber aus dem Gürtel und stürmte mit einem wütenden Knurren auf Auletta los. Auletta unterlief das Stemmeisen, doch die Attacke schleuderte ihn auf die Stufen, und jetzt krabbelte Tony über ihn und ließ den Radheber auf seinen Kopf niedersausen. Auletta wandte sich im letzten Augenblick zur Seite, und der schwere Schlag traf ihn auf die Schulter. Die Wucht des Angriffs warf ihn die Stiege hinunter und durch die Kellertür; ein Glasfenster zerbarst. Mit einem Fluch sprang Egan über Auletta hinweg und die Treppe hinauf, dem Ganoven nach. „Tony!“ brüllte Egan und feuerte einen Schuß aus seiner Achtunddreißiger an Fucas Ohr vorbei. Die Detonation hallte im ganzen Keller wider. Tony blieb oben an der Stiege stehen. Der mit Heroin gefüllte Koffer glitt ihm aus der Hand und kollerte die Stufen herunter, den nachstürzenden Polizeioffizieren vor die Füße. Glück den einen, Unglück den ändern: jetzt war alles vorbei.
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22 Es dauerte bis Montag, den 2. April 1962, zweieinhalb Monate nach den Verhaftungen in Brooklyn, daß das Große Schwurgericht Nummer eins von Kings County gegen Patsy und Joe Fuca, Francois Scaglia und schließlich auch Angelvin Anklagebeschlüsse faßte. Bereits eine Woche früher, am 26. März, hatte Robert Kasanof, Angelvins Anwalt, der ihm dank gemeinsamer Bemühungen des französischen Konsulats und Angelvins Freund Jacques Sallebert von der Radio Television Francaise zur Seite gestellt worden war, versucht, einen Vorführungsbefehl nebst Anordnung der Haftprüfung zu erwirken. Er forderte die Freilassung des Fernsehmoderators auf Grund der Tatsache, daß die Staatsanwaltschaft keine Anklage erhoben habe; somit stelle das weitere Verbleiben Angelvins im Gefängnis einen „groben Übergriff der Justiz“ dar. Der Stellvertretende Staatsanwalt von Brooklyn, Frank DiLalla, überzeugte das Gericht von der Zweckmäßigkeit, Angelvin als „unentbehrlichen Zeugen“ in Haft zu belassen, da das Große Geschworenengericht in Kürze Anklagebeschluß gegen ihn fassen würde. Der Franzose blieb, wo er war. Die kurze Zeit später erfolgende Entscheidung des Großen Geschworenengerichts beseitigte jeden Zweifel an Angelvins Status: er war nun kein Zeuge mehr, sondern der verbrecherischen Verabredung angeklagt. Am 4. April erschienen die vier Hauptangeklagten vor dem Strafgericht von Kings County, wo sie sich der ihnen zur Last gelegten Verbrechen des Besitzes und (oder) der Verabredung zum Vertrieb von elf Kilo illegalen Rauschgifts nicht schuldig bekannten. Der Anklagebeschluß nannte auch zwei mit „X“ und „Y“ bezeichnete Personen, die als nicht anwesende und offiziell als „nicht identifizierte“ Angeklagte Eingang in den Text -330-
fanden: Jean Jehan und J. Mouren. Tony Fuca wurde natürlich in der Bronx eingelocht und würde dort wegen des Besitzes der anderen vierzig Kilo vor Gericht gestellt werden. Nicky Travato hatte sich unterdessen des geringeren Verbrechens des Besitzes schuldig erklärt und würde, von den anderen getrennt, in Brooklyn abgeurteilt werden. Und der befürwortete Anklagebeschluß gegen die bereits sichtbar schwangere Barbara, die schon im Januar gegen Kaution entlassen worden war, wurde „zeitweilig außer Kraft gesetzt“ - ein Hinweis darauf, daß der Staatsanwalt unter Umständen auf die Anklageerhebung verzichten mochte. Eine Woche nach Veröffentlichung des Anklagebeschlusses erreichte ein berufsmäßiger Bürge Patsys Freilassung gegen eine Kaution von hunderttausend Dollar. Patsy machte kaum einen Monat von seiner Freiheit Gebrauch. Vermutlich führte er einige inhaltsschwere, möglicherweise zermürbende Unterredungen mit seinem Onkel Angelo Tuminaro und (oder) anderen Mitgliedern der „Familie“, denn Anfang Mai setzte er sich mit dem Bürgen in Verbindung und ersuchte ihn um Rücknahme der Kaution. Daraufhin wurde er abermals in die relative Sicherheit eines ausbruchsicheren städtischen Gefängnisses genommen, um dort auf seinen Prozeß zu warten. Zu etwa der gleichen Zeit tauchte endlich auch Klein Angie, der am Mißerfolg seines Neffen letztlich die Schuld trug, in Florida auf. Auf der Rennbahn von Hialeah stellte er sich einem Polizisten, einem Rekruten, der erst seit wenigen Wochen seinen Dienst versah, und gab an, er habe vor etwas mehr als zwei Jahren in New York die Kaution verfallen lassen und sich dünnegemacht. Die Auslieferung wurde in die Wege geleitet. Nach Berücksichtigung aller Umstände war Klein Angie offenbar zu der Überzeugung gelangt, daß ein paar Jahre in einem gut geführten Gefängnis die beste Anlage für eine bestenfalls unsichere Zukunft darstellten. -331-
Die juristischen Formalitäten zogen sich durch den ganzen Sommer und bis in den Herbst 1962 hin, ohne daß ein Verhandlungstermin angesetzt worden wäre. Inzwischen unternahmen die drei Anwälte der Verteidigung - Robert Kasanof für Angelvin, Maurice Edelbaum für die Fucas und Henry Lowenberg für Scaglia - eine Reihe von juristischen Manövern mit dem Ziel, die Anklagebeschlüsse auf Grund von Formfehlern zu diskreditieren. Zunächst brachte Kasanof einen Antrag ein: Der vom Großen Geschworenengericht übermittelte Anklagebeschluß sei fehlerhaft, da das vorgelegte Beweismaterial nicht ausreiche, um eine Verbindung zwischen Angelvins Automobil und dem in der Decke von Joe Fucas Keller gefundenen Heroin herzustellen. Sollte dieser Einspruch Unterstützung erhalten, müßte die Klage gegen Angelvin abgewiesen werden, was letztlich auch zur Freilassung Scaglias führen könne, da die gegen den Korsen erhobenen Beschuldigungen in engem Zusammenhang mit Angelvin und seinem Buick stünden. Am 1. November wurde die Staatsanwaltschaft davon in Kenntnis gesetzt, daß für den 14. eine Verhandlung über Kasanofs Antrag anberaumt worden war. Der Stellvertretende Staatsanwalt Michael Gagliano studierte den Anklagebeschluß noch einmal gründlich durch und stellte fest, daß die Verbindung zwischen Angelvins Wagen und den begangenen Verbrechen tatsächlich ungenau formuliert - daß also der Anklagebeschluß de facto fehlerhaft war. Wenn sie durchkommen wollten, mußte ein neuer Anklagebeschluß her, der an die Stelle des alten treten konnte. Angesichts der kurzen Frist von zwei Wochen setzte sich Gagliano unverzüglich mit Jack Champagne, dem Obmann des Großen Geschworenengerichts, in Verbindung, der sich in Arizona auf Urlaub befand. Champagne brach den Urlaub sofort ab, um das Große Geschworenengericht Nummer eins einzuberufen, das den Anklagebeschluß gefaßt hatte. -332-
Am 14. November um zehn Uhr vormittags erschienen Angelvin und sein Rechtsbeistand zuversichtlich vor dem Obersten Gerichtshof in Brooklyn. Von Kasanofs Begeisterung über das von ihm entdeckte Hintertürchen angesteckt, betrat Angelvin den Gerichtssaal mit einem kleinen Köfferchen, das seine Habseligkeiten enthielt; er rechnete damit, noch am selben Abend das Flugzeug nach Paris nehmen zu können. Wie erwartet, schloß sich der Richter am Obersten Gerichtshof von Brooklyn, Miles F. McDonald, der Ansicht des Verteidigers an, der Anklagebeschluß sei fehlerhaft, und fügte hinzu, es bliebe ihm nun nichts anderes übrig, als jenen Teil des Anklagebeschlusses, der Angelvin betraf, zurückzuweisen. Noch während ein überglücklicher Angelvin sich schon an Bord einer Air-France-Maschine sah, sprang der Hilfsstaatsanwalt Frank DiLalla auf und überreichte dem Richter den neuen Anklagebeschluß, der auf Grund zusätzlichen Beweismaterials den Buick des französischen Fernsehconferenciers mit der verbrecherischen Verabredung in Verbindung brachte. Richter McDonald verbrachte die folgenden drei Stunden in seinem Büro und studierte das neue Dokument. Zum Leidwesen nicht nur Kasanofs und Angelvins, sondern aller Angeklagten und deren Anwälte wies Richter McDonald den Antrag der Verteidigung um zwei Uhr nachmittags ab. Jacques trug sein Köfferchen wieder in die „Gruft“ zurück. Zwei Monate später, im Januar 1963 - seit den Verhaftungen in Brooklyn war nun fast ein Jahr vergangen -, unternahm Kasanof ein letztes, verzweifeltes Manöver, um Angelvin zu retten. Er beantragte die Einleitung eines sogenannten „Einstellungsverfahrens“, bei dem die Verteidigung dem Gerichtshof zu beweisen versuchen würde, daß ein Teil des gegen den Angeklagten vorliegenden Beweismaterials, so -333-
belastend es auch sein mochte, nicht zugelassen werden dürfe, da die Polizeibeamten, die die Festnahmen durchgeführt hatten, nicht ermächtigt gewesen wären, dieses zu beschaffen. In diesem besonderen Fall bemühte sich Kasanof nachzuweisen, daß Angelvins Automobil kein Beweiswert zuerkannt werden dürfe, denn: erstens sei die Polizei, die damals, am 18. Januar, noch nicht im Besitz eines Durchsuchungsbefehls für den Buick gewesen war, widerrechtlich vorgegangen, als sie Angelvin und Scaglia wegen angeblichen Nichtbeachtens eines Stopplichts auf der East End Avenue angehalten habe; zweitens sei die Vertrauenswürdigkeit jenes nicht genannten Informanten nicht begründet worden, der erst eine Woche nach den Festnahmen (wie von der Polizei zugegeben) die nötigen Angaben gemacht habe, die dem Durchsuchungsbefehl letztlich als Grundlage gedient hätten. Der „Informant“ war natürlich kein anderer als der Kriminalbeamte Sonny Grosso, und allein seine folgerichtigen Überlegungen hatten die Polizei veranlaßt, ein argwöhnisches Auge auf Angelvins Wagen zu werfen. Die eingehende Befragung ergab jedoch, daß der Informant Grosso einen Tip gegeben und dieser daraufhin den Kriminalbeamten Jim Hurley angewiesen hatte, den Durchsuchungsbefehl zu beschaffen. Die Verteidigung versuchte zu beweisen, daß Hurley sein Wissen aus zweiter Hand bezogen habe, während der Vertreter der Anklage betonte, daß alle einem Polizeioffizier übermittelten Informationen traditionsgemäß auch für alle seine Kollegen als aus erster Hand erhalten betrachtet wurden. Das Einstellungsverfahren wurde in der Zeit vom 14. bis 16. Januar 1963 vor dem Richter Albert Conway verhandelt, und am Ende wußte keine der beiden Seiten, welchen Eindruck der Gerichtshof davon erhalten hatte. Trotz des ihrer Meinung nach überwältigenden Beweismaterials, das sie gegen die Angeklagten zusammengetragen hatten, waren Polizei und Staatsanwaltschaft doch wieder in Sorge, irgendein Formfehler -334-
könnte den Richter veranlassen, gegen die Zulassung des Buick als Beweisstück zu entscheiden. Doch am 15. April wies Richter Conway den Antrag ab. Der Prozeßbeginn wurde für den 14. Mai festgesetzt - sechzehn Monate nach Verhaftung der Fucas und der Franzosen. Die Staatsanwaltschaft hatte den Fall mittlerweile gewissenhaft vorbereitet. Einem Wunsch des Staatsanwalts entsprechend, wurden die Kriminalbeamten aller ihrer anderen Pflichten enthoben und zur Unterstützung der Anklagevertretung im Fall Fuca eingesetzt. Diese Tätigkeit setzten sie bis zum Ende des Prozesses fort. Die Vertretung der Anklage wurde dem Hilfsstaatsanwalt Frank Baumann übertragen. Zusammen mit Egan und Grosso bezog er ein kleines Büro im Rathaus von Brooklyn in Borough Hall und begann, den ganzen Fall in allen Einzelheiten durchzuarbeiten von dem Moment an, da die zwei Kriminalbeamten an jenem schicksalsschweren Oktoberabend 1961 das Copacabana betreten hatten. Sie säumten die Wände mit von der Polizeidirektion zur Verfügung gestellten Stadtplänen. Jeder Ort, den Patsy und Genossen bis zum 18. Januar besucht hatten, war auf Karten beziehungsweise Kalendern vermerkt. Im Büro wurde ein Tonbandgerät aufgestellt; die Bänder mit den aufgezeichneten Gesprächen der Angeklagten wurden immer wieder abgehört. Unmittelbar nach Richter Conways Entscheidung begab sich Hilfsstaatsanwalt Frank Baumann nach Frankreich, um dort weitere den Fall betreffende Erhebungen zu pflegen. Kurz nach seiner Abreise brachte einer der verläßlichsten Polizeispitzel eine erstaunliche und - für Egan und Grosso lebenswichtige Nachricht: Die Mafia hatte einen „Auftrag“ vergeben, die beiden Kriminalbeamten noch vor Prozeßbeginn zu ermorden. Wie der Mann berichtete, sollte der Killer -335-
fünfzigtausend Dollar erhalten - die Hälfte bei Annahme, den Rest nach Ausführung seines Auftrages. Der Spitzel fügte hinzu, daß man sich einen „Spezialisten“ für die Beseitigung Egans und Grossos ausgesucht habe: „Tony mit der Bügelfalte“, einen gewissenlosen Ganoven aus Cincinnati, von dem man wußte, daß er in Kürze an Krebs sterben würde. Das entsprach, wie die Polizei wußte, der üblichen Praxis der Mafia, wenn es darum ging, berufsmäßige Polizistenmörder zu dingen. So ein Mann hatte nichts zu verlieren, und wenn er seine Aufgabe erfolgreich erfüllte, wußte er, daß, was er noch an Familie hatte, in Zukunft keine Not leiden würde. Eddie und Sonny standen vierundzwanzig Stunden am Tag unter Polizeischutz. Von jenem Zeitpunkt an war es ihnen untersagt, das Rathaus in Brooklyn gemeinsam zu verlassen, im selben Automobil zu fahren oder sich gegenseitig ohne Begleitung zu besuchen. Auf die Information bezüglich Tony mit der Bügelfalte war Verlaß gewesen, und das gleiche galt für die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Polizeibehörden zwischen Ohio und New York. Man erfuhr, daß Tony Cincinnati mit dem Wagen verlassen hatte, und sein Reiseweg wurde ziemlich genau verfolgt. Egan, Grosso und ihre Kameraden rüsteten sich zu seinem Empfang in New York. Doch eines Nachts Anfang Mai erlitt Tony mit der Bügelfalte westlich von Newark, New Jersey, einen tödlichen Unfall. Sein Wagen schoß über die U. S. Bundesstraße eins hinaus, einen Damm hinunter, überschlug sich und ging in Flammen auf. Der importierte Mörder verbrannte zu Asche. Egan und Grosso atmeten auf. Sie hatten das Gefühl, ihre Feinde würden es nicht ein zweites Mal versuchen. Der Prozeß wurde in der vierten Sitzungsperiode des Obersten Gerichtshofes in Brooklyn geführt. Richter Samuel Liebowitz -336-
hatte den Vorsitz inne. Das war der Verteidigung gar nicht recht. In den Gerichtssälen New Yorks nennt man Liebowitz den „Scharfrichter“. Er verfolgt Berufsverbrecher mit unversöhnlichem Haß. Und nur wenige Juristen kennen deren Art zu denken besser als Richter Liebowitz; es sind nun viele Jahre her, daß er einer der angesehensten Strafverteidiger des Landes war - der berüchtigte AI Capone zählte zu seinen Mandanten. Doch gleich einem geheilten Trinker oder einem Konvertiten verbrachte Liebowitz seine Jahre auf der Richterbank, indem er jene Art schändlicher Gesetzesbrecher, die er einst verteidigt hatte, mit aller Strenge des Gesetzes bestrafte. Der Prozeß begann Dienstag, den 14. Mai 1963 um zehn Uhr vormittags. Maurice Edelbaum, Patsy Fucas Verteidiger, stellte den ersten Antrag. Er brachte für Patsy ein Schuldbekenntnis mit Bezug auf drei Anklagepunkte ein: Besitz von Rauschgift, verbrecherische Verabredung, um in den Besitz von Rauschgift zu gelangen, und verbrecherische Verabredung, um Rauschgift zu verkaufen. Patsy blieb nicht einmal eine halbe Stunde im Gerichtssaal. Das Schuldbekenntnis wurde entgegengenommen und Patsy ins Gefängnis zurückgeschickt, um dort auf den Urteilsspruch zu warten. Patsys Vater brauchte sich nur eines Vergehens zu verantworten und wurde gegen Kaution und auf Bewährung auf freiem Fuß belassen. Das Verfahren gegen die Fucas wurde somit gesondert behandelt, und der Prozeß gegen die zwei Franzosen, Francois Scaglia und Jacques Angelvin, nahm seinen Anfang. Es war ein hartnäckiges Kräftemessen. Die Verteidigung Henry Lowenberg für Scaglia und Robert Kasanof für Angelvin - konnte keine Zeugen stellen. Der Vertreter der Anklage, Hilfsstaatsanwalt Frank Baumann, hingegen ließ Zeugen auf Zeugen aufmarschieren - Polizeitechniker, Hotelpersonal, Kriminalbeamte, die an der langen Überwachung teilgenommen -337-
hatten - und zog das Netz der Schuld um die zwei Angeklagten immer enger zusammen. Eines Tages simulierte Lowenberg einen Nervenzusammenbruch, in der Hoffnung, Richter Liebowitz könnte sich veranlaßt sehen, den Prozeß auszusetzen, da einer der Verteidiger nicht in der Lage wäre, seinem Mandanten Rechtsbeistand zu gewähren. Liebowitz aber, dem bekannt war, daß Lowenberg denselben Trick schon einmal vor einem Gerichtshof in der Bronx angewendet hatte, ging nicht darauf ein und warnte den Verteidiger unter vier Augen, daß er eine Anfrage an den Advokatenverband würde richten müssen, wenn Lowenberg sein Täuschungsmanöver fortsetzte. Der Prozeß ging weiter. Am Morgen des sechsten Tages, Mittwoch, den 22. Mai, trafen Angelvin und sein Verteidiger Kasanof mit Liebowitz und Ankläger Bauman im Ankleideraum des Richters zusammen. Angelvin wollte seine Lage durch ein Schuldbekenntnis erleichtern. Liebowitz verhörte Angelvin fast den ganzen Vormittag in seinem Zimmer und versuchte, ihm Hinweise zu entlocken, die es ermöglichen würden, die Spitzen des Rauschgiftsyndikats zu identifizieren und Scaglias Position im Heroinhandel zu klären. Angelvin stand offenbar Todesängste aus; er gab zu verstehen, daß man ihn töten würde, wenn er über Scaglia oder andere Leute, die mit dem Heroinschmuggel, dessen er sich schuldig bekannt hatte, in Verbindung standen, etwas verlauten ließe. Schließlich akzeptierte der Richter Angelvins neues Schuldbekenntnis mit dem Einverständnis einer leichteren Strafe und kündigte den Urteilsspruch für den 13. September an. Im Gerichtssaal ermahnte Liebowitz die Geschworenen nachdrücklich, sich durch die Abwesenheit des Angeklagten Angelvin in ihrer Beurteilung der Schuld oder Unschuld Scaglias in keiner Weise beeinflussen zu lassen. Er forderte -338-
jeden einzelnen Geschworenen auf, ihm nachzusprechen: „Die Abwesenheit des Angeklagten Angelvin steht in keiner Beziehung zu den gegen Mr. Scaglia erhobenen Beschuldigungen.“ Dennoch stellte Lowenburg neuerlich einen Antrag, den Prozeß auszusetzen, da die Ausscheidung des Verfahrens gegen Angelvin von dem gegen Scaglia sich nachteilig für den letzteren auswirken könnte. Der Antrag wurde abgewiesen. Am nächsten Nachmittag beschloß Bauman, seitens der Anklage keine weiteren Beweise mehr vorzulegen. Der Staatsanwalt hatte die verbrecherische Verbindung zwischen Scaglia und Patsy Fuca mit aller Deutlichkeit rekonstruiert und technische Beweise vorgelegt, daß das in Fucas Keller beschlagnahmte Heroin in Angelvins Automobil befördert worden war. Die Verteidigung hatte dem nichts entgegenzusetzen, und Lowenberg plädierte im wesentlichen für Milde. Die Verhandlung wurde auf Dienstag, den 28. Mai vertagt. An jenem Tag belehrte Richter Liebowitz die Geschworenen und ließ sie dann zur Beratung zusammentreten. Nach achtzig Minuten fällten die Geschworenen ihren Spruch: schuldig im Sinne der drei Anklagepunkte. Der Staatsanwalt forderte die neuerliche Inhaftierung Scaglias ohne Kaution. Richter Liebowitz stimmte zu. „Ein Lump dieser Art, der solches Elend ins Land bringt, verdient nicht die mindeste Schonung. Unser Land wird von solchen Scheusalen überflutet, die diese tückische Droge hereinschmuggeln, um den armen Unglücklichen Rauschgift zu verschaffen. Hier haben wir es nicht mit einem kleinen Dieb, einem unwichtigen Straßenhändler oder einem Süchtigen zu tun, der nebenher ein paar Gramm Stoff verkauft, um selbst zu einer Spritze zu kommen. Scaglia ist ein Verbrecher großen Stils. Und er soll das Gesetz in all seiner Strenge zu spüren bekommen.“ -339-
Die Urteilsverkündung wurde für den 13. September angesetzt. Eddie Egan und Sonny Grosso traten aus dem Gerichtssaal in den noch wärmenden Sonnenschein eines späten Frühlingsnachmittags. Sonny war soeben zum Kriminalinspektor befördert worden; die Baseballsaison hatte wieder begonnen - das Leben schien lebenswert. „Was machen wir jetzt?“ fragte Sonny. „Vielleicht sollten wir feiern gehen, uns ein wenig umschauen. Was meinst du - gehen wir heute abend ins Copa? Sie haben dort ein neues Garderobemädchen.“ Sonny blieb auf der Treppe des Gerichtsgebäudes stehen und starrte seinen Partner ungläubig an. „Ins Copa? Machst du Witze?“
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Epilog Am 13. September verkündete Richter Liebowitz das Urteil über Jacques Angelvin und Francois Scaglia. Kasanof und Lowenberg plädierten für milde Strafen. Kasanof erinnerte das Gericht an Angelvins zwei noch unmündige Kinder und seine alten Eltern, die dem Richter geschrieben hatten: „Wir haben nur diesen einen Sohn. Unser Leben neigt sich dem Ende zu, und wir hätten noch gerne Gelegenheit, ihm zu helfen, sein eigenes neu zu gestalten.“ Anschließend verlas er Briefe von Leuchten wie Maurice Chevalier, Yves Montand und Simone Signoret, die alle ein gutes Wort für Angelvin einlegten. Auch Lowenberg bat um Milde und wies darauf hin, daß Scaglia im Zweiten Weltkrieg in der französischen Resistance gekämpft habe. „Scaglia“, sagte er, „ist reuig und...“ „O nein“, unterbrach ihn der Richter. „Er ist alles andere als reumütig. Er hat es abgelehnt, mit dem Bewährungshelfer zu sprechen, und gemeint, er würde es auf die Berufung ankommen lassen.“ Richter Liebowitz verurteilte Angelvin zu drei bis sechs Jahren in Sing-Sing und wandte sich dann Scaglia zu: „Sie sind eine der nichtswürdigsten Kreaturen, die je vor den Schranken dieses Gerichtes gestanden sind. Sie verdienen kein Mitleid - im Gegenteil. Und lassen Sie sie wissen, Ihre Freunde in Frankreich, die da mit dem Tode schachern - denn das ist es, was Sie getan haben -, daß auch sie, wenn man ihrer in diesem Lande habhaft werden sollte, die volle Strenge des Gesetzes zu spüren bekommen würden.“ Und damit verurteilte Richter Liebowitz den Korsen Scaglia zu siebeneinhalb bis fünfzehn Jahren Sing-Sing und daran anschließend zu dreieinhalb bis sieben Jahren Zuchthaus in Attica - alles zusammen ein Maximum von zweiundzwanzig -341-
Jahren. Es war die härteste Strafe, die in diesem Prozeß verhängt wurde. Drei Monate später, im Januar 1964, wurde endlich das Urteil über Patsy Fuca verkündet. Wie sein Bruder Tony, der seinen Schuldspruch in der Bronx vernommen hatte, bekam auch Patsy siebeneinhalb bis fünfzehn Jahre. Die über Joe Fuca, Patsys Vater, verhängten drei Jahre wurden ausgesetzt, und man schickte ihn zu seiner Flasche und in sein verpfuschtes Leben zurück. Im Mai 1967 wurde der geheimnisvolle Jean Jehan endlich von der Pariser Surete gefaßt. Auf Grund seines vorgerückten Alters wies die französische Polizei ein Auslieferungsbegehren des Bundesrauschgiftdezernats der Vereinigten Staaten zurück, und während diese Zeilen geschrieben werden, befindet sich der abgefeimte alte Boulevardier in relativer Sicherheit in Frankreich - vermutlich unter den wachsamen Augen der Behörde. Sehr wahrscheinlich ist Jehan der einzige, der verraten könnte, was mit dem Geld - möglicherweise eine halbe Million Dollar geschehen ist, das nie gefunden wurde. Er mag auch der einzige sein, der über das Schicksal des geheimnisvollen J. Mouren, der, obgleich in den Fall Patsy Fuca verwickelt, niemals gefaßt wurde, Auskunft geben könnte. Was Jacques Angelvin angeht, wurde er im Frühjahr 1968 aus der Haft entlassen, kehrte sogleich nach Frankreich zurück und ließ sich in relativer Verborgenheit nieder - wenngleich er der Versuchung nicht widerstehen konnte, sich einiges Geld mit Zeitungsartikeln zu verdienen, in denen er seine Erlebnisse in amerikanischen Gefängnissen schilderte. Im allgemeinen, schrieb er, fände er sie komfortabler als so manches französische Hotel. Eine zwar etwas bizarr und makaber anmutende, aber doch -342-
interessante abschließende Notiz: Im August 1968 berichtete die New-Yorker Polizei über die Entdeckung der Leichen zweier Gangster im Norden des Staates, die anscheinend von Mitgliedern einer gegnerischen Bande liquidiert worden waren. Man wußte von beiden, daß sie einst prominente Mitglieder von Tuminaros Rauschgiftring in Brooklyn gewesen waren. Eine der Leichen wurde als Frank Tuminaro, vierzig Jahre alt, identifiziert - Angies jüngerer Bruder. Frank hatte nach Patsy Fucas Verhaftung im Jahre 1962 die geschäftliche Leitung der Untergrundorganisation seines Bruders übernommen. Angesichts des nach dem Auffliegen der Fuca-Affäre weit härteren Durchgreifens der Exekutive zeigte sich bald, daß Frank Tuminaros Organisation weit löchriger war als die von Patsy. Im Februar 1965 wanderten Frank und siebzehn andere auf die Anklagebank. Das war ein weiterer schwerer Schlag für den Rauschgiftring der Tuminaros. Klein Angie, der nach seiner im Jahre 1966 erfolgten Entlassung aus dem Gefängnis untergetaucht war, erschien bei der Beerdigung seines Bruders. Die Kriminalbeamten, die den Trauerzug unter Beobachtung hielten, berichteten später, daß der achtundfünfzigjährige Rauschgiftboß eine sehr bekümmerte Miene zur Schau getragen habe.
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