»Wenn man zu schnell geht, bekommt man Falten«, sagte eine Nachbarin zu mir. Um mir das mitzuteilen, hatte sie mich auf...
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»Wenn man zu schnell geht, bekommt man Falten«, sagte eine Nachbarin zu mir. Um mir das mitzuteilen, hatte sie mich auf dem West Broadway angehalten. »Tatsächlich«, sagte ich. »Davon bin ich fel senfest überzeugt«, antwortete sie. Ich sah ihr Gesicht an. Sie ist um die Sechzig. Ihr Gesicht war verhältnismäßig faltenlos. »Ich kenne Sie«, sagte sie. »Sie gehen immer sehr schnell.« Damit hatte sie recht. Ich gehe gern schnell. Es ist gar nicht so einfach, auf den überfüllten Straßen Manhattans schnell zu gehen. Ein Jahr lang hat Lily Brett in der Wochenzeitung Die Zeit über ihr Leben in New York berichtet. Die Texte zeichnen ein Bild der Stadt und ihres Lebensgefühls; sie fügen sich aber gleichzeitig auch zu einem Selbstporträt der Autorin, die mit ihrer Offenheit und ihrem Mut die Herzen ihrer Leserinnen und Leser für sich gewonnen hat. Lily Brett, geboren 1946 in Deutschland, wo ihre Eltern, nachdem sie Auschwitz überlebt hatten, sich in einem Durchgangslager wiedertrafen. 1948 wanderte die Familie nach Australien aus. Mit neunzehn begann Lily Brett als Journalistin für Rockmagazine zu arbeiten. Heute lebt sie in New York. Im Suhrkamp Verlag erschien 1999 ihr Roman Einfach so (st 3033) und 2000 Zu sehen (st 3148). Ihr letzter Roman, Zu viele Männer, er schien 2001 im Deuticke Verlag.
Lily Brett
New York
Aus dem Englischen von Melanie Walz
Umschlagfoto:
© Die Zeit/Ashkan Sahihi
»Toiletten« wurde von Anne Lösch übersetzt
Für David,
den Gefährten meiner New Yorker
Tage und Nächte.
suhrkamp taschenbuch 32.91
Erste Auflage 2001
© 2000 Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m. b. H., Wien-München
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung
der Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien-München
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des öffentlichen Vertrags, der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen
sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Satz: MZ-Verlagsdruckerei, Memmingen
Druck: Ebner Ulm
Printed in Germany
1 2 3 4 5 6 - 06 05 04 03 01 01
Inhalt Auf dem Land 7
Ausschuß 10
Das Auto 13
Bazillen 16
Botschaften 19
Chers Mutter 22
Chinatown 25
Ehestiften 28
Erinnerung 31
Falten 34
Familie 37
Fettarm 40
Frauen 43
Genossenschaftswohnungen 46
Gerüche 49
Geschenke 52
Großartig 55
Die Hamptons 58
Hypochondrie 61
Instantregeneration 64
Kinder 67
Kleidergrößen 70
Lärm 73
Lebensmittel 76
Leopardenhosen 79
Lügen 82
Ein Mann 85
Ein Mobiltelefon 88
Monica 91
Muße 94
New York 97
Obdachlosenpaar 100
Orientierungssinn 103
Probleme 106
Psychohygiene 109
Radieschen 112
Religiosität 115
Schilder 118
Sex 121
Shorts 124
Silvester 127
Sport 130
Streß 133
Stricken 136
Tierhaltung 139
Toiletten 142
Ungesund 145
Untersuchungen 148
Vater 151
Yankees 154
Zwischenmahlzeit 157
Auf dem Land Ich erwachte mit dem dringenden Wunsch, aus der Stadt herauszukommen. Mehr Himmel zu sehen. Dieser Wunsch war untypisch für mich. Ich bin ein Stadtmensch. Wenn ich nicht in der Stadt bin, fühle ich mich schnell einsam. Trotzdem war ich unruhig und kam mir eingesperrt vor. »Laß uns übers Wochenende wegfahren«, sagte ich zu mei nem Mann. Wir entschieden uns für Bethlehem in Pennsyl vanien. Die Vorstellung, nach Bethlehem zu fahren, gefiel mir. Besagtes Bethlehem liegt zwei Fahrstunden von New York entfernt. Wir mieteten einen Wagen. Einen Ford Explorer. Wie die meisten New Yorker fahren wir selten. Einen Wagen zu mieten hat etwas Aufregendes. Ich steige in den Ford Ex plorer. Ich empfinde ein Glücksgefühl. Bisher läßt das Wo chenende sich gut an. Zehn Minuten nachdem wir Manhattan verlassen ha ben, verspüre ich Hunger. Reisen macht mich hungrig. Ich habe etwas zum Essen eingepackt. Ich öffne die Tasche mit dem Essen. Mein Mann sieht herüber und hebt die Augen brauen. Ich habe Flaschen mit Wasser, Bananen, Karotten, Äpfel, Brot und Käse eingepackt. »Wir fahren nicht bis zum Mars«, sagt er. Er sieht, daß in einer Seitentasche Popcorn steckt. »Warum hast du Popcorn mitgenommen?« fragt er. »Popcorn gibt es überall, wo es irgendwas zu kaufen gibt.« »Nicht diese Marke«, sage ich. Wir fahren eine Zeitlang schweigend weiter. Ich esse ei nen Apfel und ein paar Karotten. Die Gegend sieht bereits ländlich aus. Weniger Häuser, viele Bäume. New York fehlt mir. New York fehlt mir jedesmal, wenn ich wegfahre. Oft fehlt mir New York schon, bevor ich fahre. Bereits beim Packen fehlt mir die Stadt. Ich vergesse den Gestank in
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manchen Stadtteilen, wenn es warm wird. Ich vergesse das Gedränge und die Angespanntheit. Wir kommen an noch mehr Bäumen vorbei. »In Pennsyl vanien gibt es ziemlich viele Bäume«, sage ich zu meinem Mann. »Ich habe Birnbäume, Tannenbäume, Magnolienbäume, Fichten und Hartriegel gesehen«, sagt er. »Sind diese ganzen Bäume notwendig?« sage ich zu ihm. Wir sind von Grün umzingelt. So viel Grün. Überall Grün. Ich mag Grün nicht. Mir wird vom Fahren übel. Vom Grün. Ich mag Bäume nicht sonderlich. Letztes Jahr haben wir Freunde in San Francisco besucht. Sie haben uns den Redwood Forest gezeigt. Die Bäume waren alt und groß. Sehr groß, und mir war ängstlich und bedrückt zu mute. Ich konnte nicht hochsehen, ohne Reizbarkeit zu empfinden. Als wir den Wald verließen und ein Cafe auf suchten, kehrten meine Lebensgeister wieder. Ich fühle mich auf dem Land nicht wohl. Und das Land fühlt sich in meiner Gegenwart nicht wohl. Alles, was Flü gel hat, sticht mich. Jede Mücke, jede Wespe, jeder Mos kito, jede Fliege und jeder Floh sticht mich. Wenn Schmet terlinge und Motten stechen könnten, würden auch sie mich stechen. Und ich reagiere auf die Stiche. Ich schwelle zusehends an. Ich entwickle Beulen und Höcker. Sie brennen und juk ken tagelang. Ich kann nicht schlafen. Ich liege im Bett, und meine Haut juckt. Ich habe es mit Eispackungen auf den Stichen versucht und dabei Frostbeulen bekommen. Letz ten Sommer habe ich auf Shelter Island, einer kleinen Insel zwei Fahrstunden östlich von New York, ein insektenab weisendes Armband getragen. Das Armband sollte für dreißig Stunden alle Insekten der näheren Umgebung fern halten. Nach zwei Minuten wurde ich gestochen. Ich legte mehr Armbänder an. Eines um jedes Handge lenk, zwei um jeden Knöchel und eines im Haar. Die Arm
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bänder sahen aus wie Namensschilder im Krankenhaus. Ich sah aus wie einer Irrenanstalt entflohen. Ich trug die Namensschilder den ganzen Sommer lang. In Bethlehem steigen wir in einem reizenden Gasthaus ab. Wir machen einen Spaziergang. Bethlehem ist sehr hübsch. Es hat einen Fluß und anheimelnde alte Häuser. Ich genieße den Spaziergang. Dennoch ist mir nicht behag lich zumute. Wir gehen früh zu Bett. Am Morgen fühle ich mich isoliert, entwurzelt. Ich frage den Gastwirt, ob die Rettungswagen in der Gegend mit ei nem Defibrillator ausgestattet sind. »Haben Sie ein Herzleiden?« fragt er. »Nein«, sage ich. »Ich wollte es nur wissen.« Wir verlassen Bethlehem früher als beabsichtigt. Als wir uns New York nähern, fahren wir an vier Polizeiwagen vorbei, die mit eingeschaltetem Blaulicht im Pulk am Stra ßenrand stehen. Es geht mir viel besser.
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Ausschuß Manche Leute freuen sich auf neue Dinge. Ich gehöre nicht zu ihnen. Ganz egal, um was es sich handelt - ein neues Jahr, einen neuen Mantel, ein neues Haus. Es stimmt mich traurig, das Alte aufzugeben. Ich trauere um das alte Jahr, den alten Mantel, das alte Haus. Dem Neuen mißtraue ich. Veränderungen sagen mir nicht zu. Überraschungen sagen mir nicht zu. Und das Un gewisse sagt mir überhaupt nicht zu. Ich weiß, daß es zur menschlichen Erfahrung gehört. Zur condition humaine. Aber es sagt mir nicht zu. Ich will Gewißheit. Je besser ich meine Freunde kenne, um so wohler fühle ich mich. Manchmal habe ich den Eindruck, daß das Ausmaß meiner Neugier meinen Freunden Unwohlsein bereitet. In New York ist es nicht schwer, über Leute, die man seit Jahren kennt, so gut wie nichts zu wissen. Ich weiß gern über die Rituale und Routine anderer Be scheid. Ich weiß gern darüber Bescheid, was sie mittags es sen. Ich mag Familiarität. Ich finde sie beruhigend. Ich mag den Umstand, daß das Käsegeschäft Joe's Dairy in der Sullivan Street mittags geschlossen ist. Den Laden gibt es seit Jahren in SoHo. Jeden Tag werden dort mehrere hundert Pfund frischer und geräucherter Mozzarella herge stellt. Und jeden Tag ist der Laden zwischen zwölf Uhr und ein Uhr mittags geschlossen. Joe's Dairy ist eines der letzten Relikte der ehemaligen Nachbarschaft. Von den einstigen Nachbarn sind auch nicht mehr viele übrig. In SoHo wimmelte es früher von Künstlern und Schriftstellern. Heute scheint es, als wären die einzigen übriggebliebenen Exemplare dieser Spezies mit männlichen und weiblichen Bankern oder Anwälten ver heiratet.
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Silvester 1999 sah es in SoHo so aus wie immer. Bis auf ein paar Einheimische waren die Straßen so gut wie men schenleer. Es war so ruhig und friedvoll. Ich war glücklich trotz des Umstands, daß das ganze neue Jahr, neue Jahr hundert, neue Millennium ein bißchen zu viel Neues für meinen Geschmack war. Ich war das alte Millennium, das alte Jahrhundert ge wohnt. So viele Neuanfänge schüchterten mich ein. Was galt es zu entrümpeln, um das Neue zu begrüßen ? Das Alte ? Die Vergangenheit ? Die Frage machte mir zu schaffen. Es fällt mir schwer, Dinge wegzuwerfen. Ich hänge nicht allzusehr an Gegenständen. Ich habe keinen Hamstertrieb. Wenn Gläser oder Teller oder Vasen zerbrochen werden, rege ich mich nicht auf. An diesen Dingen hänge ich nicht. Meine Eltern wußten um den begrenzten Wert materiel len Besitzes. In Auschwitz war das einzige, was beide besa ßen, ihre Seele. Sie war das einzige, was ihnen geblieben war. Und das wichtigste. Bei uns zu Hause legte niemand großen Wert darauf, Ge genstände anzusammeln. Tische, Stühle oder Spielsachen waren nicht das Wesentliche. Im großen und ganzen habe ich diese Haltung beibehalten. Ich hänge nicht an Gegen ständen. Schwerer fällt es mir, von persönlicheren Besitztümern Abschied zu nehmen. In meinem Kleiderschrank habe ich zwei Paar Schuhe meiner verstorbenen Mutter. Ich be wahre sie auf, als weilten die Füße meiner Mutter noch in ihnen. Blumen, die mir geschenkt wurden, habe ich aufbe wahrt, bis sie nicht nur welk waren, sondern sich zersetz ten. Beim Anblick verwelkter Rosensträuße dachte ich an verlassene Ballerinen, an schäbig gewordene Brautjungfern. Ich mußte andere darum bitten, die Blumen wegzu werfen. Die Mailbox meines Handys ist fast verstopft, weil ich es
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nicht über mich bringe, bestimmte Nachrichten zu löschen. Nachrichten von meinem Mann und meinen Kindern. Ich kann es einfach nicht. Ich bewahre sie auf. Es ist ein biß chen lächerlich. Es ist abzusehen, daß man mir bald keine Nachrichten mehr wird hinterlassen können. Ich werde ler nen müssen, alle Nachrichten zu löschen. Manchmal sind wir selbst der Ausschuß, der entsorgt wird. Das kann ich nicht ertragen. Ich kann es nicht ertra gen, wenn Leute plötzlich auf die Idee kommen, daß sie mich nicht mögen. Wenn jemand, mit dem ich auf freund schaftlichem Fuß verkehrt habe, plötzlich unfreundlich wird. Ohne Vorwarnung, ohne Erklärung. Das macht mich hilflos. Ich glaube, Eltern kommen sich oft hilflos und ausgeson dert vor. Bis zu einem bestimmten Alter brauchen die Kin der einen, und danach beginnen sie einen zu entsorgen. Sich damit abzufinden ist nicht leicht. Ich weinte, als meine jüngste Tochter nach Philadelphia zog, wo sie das College besuchte. Ich konnte nicht wissen, daß ich überglücklich sein würde, keine Kinder mehr zu haben. Es gibt neue Erfahrungen, die rundum erfreulich sind.
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Das Auto Im Sommer, als ich nach Monaten zum erstenmal wieder in Shelter Island war, gab mein Auto auf dem SupermarktParkplatz den Geist auf. Shelter Island ist ein ruhiger Flecken, zwei Stunden Fahr zeit von Manhattan entfernt. Jedes Jahr verbringe ich einen Teil des Sommers dort. Der Puls der Insel spiegelt sich im Polizeibericht, der einmal wöchentlich im Shelter Island Reporter veröffentlicht wird. Letzte Woche meldete der Polizeibericht drei verschie dene Unfälle, bei denen ein Wildtier von einem Automobil angefahren worden war. Und es wurde berichtet, daß je mand sich über Hundegebell beschwert hatte und daß ein Arbeiter der Telefongesellschaft von einem Truthahn ange fallen worden war. »Der Besitzer des Aggressors konnte den Vogel einfangen. Schadenersatz wurde nicht geltend gemacht«, schloß der Bericht. Daß mein Auto den Geist aufgab, ärgerte mich maßlos. Ich hatte mich auf Ruhe und Einsamkeit gefreut. Immer wieder drehte ich den Zündschlüssel in der Hoffnung, den Wagen doch noch zu starten. Der Motor gab keinen Mucks von sich. Meine Bemühungen waren aussichtslos. Ich mag mein Auto nur, wenn es funktioniert. Jedes wär mere Gefühl, das ich einmal für diesen Wagen empfunden haben mag, hat sich rapide abgekühlt, seit er begonnen hat auseinanderzufallen. Es ist ein Lincoln Continental, Baujahr 1986. Er soll viele Dinge können. Er soll einem die Außentemperatur und die Fahrtrichtung mitteilen können. Aber die Temperatur, die die Elektronik des Wagens mel det, paßt nie zum Wetter. Und der Orientierungssinn dieses Autos ist mehr als fragwürdig.
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Ich bin schon im Kreis gefahren, bis mir schwindlig wurde, um zu sehen, ob der Wagen angeben konnte, daß wir nach Süden oder Südwesten fuhren. Er konnte es nicht. Als er auf dem Supermarkt-Parkplatz den Geist aufgab, war ich erbost. Das war der letzte Tropfen. Ich starrte das Auto zornig an. Nichts geschah. Ein Auto einzuschüchtern ist ähnlich schwer, wie die eigenen er wachsenen Kinder einzuschüchtern. Ich stieg aus und trat gegen einen der Reifen. Es brachte mir keine Erleichterung. Ich versuchte mich zu beruhigen. Mich daran zu erin nern, daß ich hergekommen war, um Ruhe zu finden. Um gewöhnliche Dinge zu tun. Zum Beispiel einen Autome chaniker anzurufen und auf ihn zu warten. »Wagen defekt?« fragte ein Mann, der an mir vorbei kam. Ich nickte finster. »Ich glaube, die Batterie ist leer«, sagte ich. Er ging zu seinem Wagen, um ein Starthilfekabel zu holen. Als er fünf Minuten später wiederkam, hatten mittler weile drei Leute angeboten, einen Automechaniker für mich zu holen. Aber das Starthilfekabel genügte. Der Wa gen sprang an. Ich fuhr rückwärts aus meiner Parklücke. Ich hatte ge rade genug Zeit, ein Gefühl des Triumphs zu empfinden, bevor der Wagen stehenblieb. Ich befand mich noch immer auf dem Parkplatz. Ich stieg aus. Die allgemeine Meinung auf dem Parkplatz war die, daß ich eine neue Batterie benötigte. Die Stimmung rings um mein streikendes Auto war munter und ausgelassen. Ich merkte, daß es mir Spaß machte. Alle waren so fröh lich und so hilfsbereit. Auf diesem Supermarkt-Parkplatz herrschte eine bessere Stimmung als bei den meisten Es senseinladungen. Eine Stunde nachdem mein Auto zum erstenmal den Geist aufgegeben hatte, besaß ich einige neue Freunde. Schließlich bekamen wir den Wagen wieder in Gang. Ich
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fuhr in die Werkstatt. Unterwegs blieb er drei weitere Male stehen. Jedesmal hielten Leute neben mir an und boten ihre Hilfe an. Alle waren hilfsbereit. Männer und Frauen beugten sich über den Motor. Als die neue Batterie eingebaut war, war es später Nach mittag. Ich war nicht am Strand gewesen, wo ich zu sitzen pflege und wachsamen Auges nach Kriebelmücken und Stechmücken Ausschau halte, weil ich Insektenstiche nicht vertrage. Ich hatte nicht im Teich geschwommen und dabei ver sucht, nicht an die bissige Schildkröte zu denken, die dort lebt. Ich hatte den schönsten Tag seit Jahren auf dem Land verbracht.
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Bazillen Statt Geld abzuheben, war der Mann vor mir am Geld automaten damit beschäftigt, die Maschine zu reinigen. Er rieb den Bildschirm mit mehreren feuchten Hygienetü chern ab. Er war keine Reinigungskraft. Er sah eher wie ein An walt oder ein Buchhalter aus. Ich hatte es eilig. Ich räus perte mich mehrmals ungeduldig. Er ließ sich nicht stören. Als er mit dem Bildschirm fertig war, begann er die Ta statur abzuwischen. Er packte noch mehr feuchte Tücher aus. Ich sah auf die Packung. Es waren antibakterielle Ein wegtücher. Die Bedürfnisse des Mannes waren mir nicht gänzlich fremd. Ich habe oft genug Knöpfe im Aufzug mit dem Ell bogen betätigt, wenn eine besonders ungepflegte Erschei nung sie vor mir gedrückt hat. Ich habe ungewöhnlich ge lenkige Ellbogen entwickelt. Ich bin kein Zwangsneurotiker, was meine Ellbogen be trifft. Wenn andere dabei sind, benutze ich sie meistens nicht. Ich lege Wert darauf, in Gegenwart anderer ent spannt und lässig aufzutreten. Eine Freundin von mir ist alles andere als lässig, was die möglichen Folgen betrifft, wenn man den falschen Knopf berührt. Im vergangenen Winter erschien sie auf dem Hö hepunkt der Grippewelle mit einem Geschenk an meiner Wohnungstür. Es war ein Fläschchen Instantdesinfektions spray. Ich versuchte, erfreut auszusehen. »Alles, was du außer halb deiner Wohnung anfaßt«, sagte sie, »haben Hunderte vor dir angefaßt. Jedes Rolltreppengeländer, jeder Einkaufs wagen im Supermarkt, jede Türklinke ist von jemand ande rem angefaßt worden. Überall kleben Krankheitskeime.« 16
Der Instantdesinfektionsspray garantierte, daß er in we niger als fünfzehn Sekunden 99,99% der verbreitetsten krankheitsverursachenden Keime vernichtete. »Vielleicht sollten wir ein bißchen davon trinken«, sagte ich. »Dann werden wir nie mehr krank.« Sie wirkte etwas verstimmt. Um sie zu besänftigen, steckte ich den Desinfektionsspray sofort in meine Handtasche. Ein paar Wochen darauf war ich im Cort Theatre. Ich wollte David Hares Stück »The Blue Room« mit Nicole Kidman sehen. Karten waren fast nicht zu bekommen. Die Aufführungen waren schon vor der Premiere so gut wie ausverkauft. Diese Situation gründete weitgehend in dem Umstand, daß Miß Kidman während der meisten Zeit auf der Bühne spärlich bekleidet und für einen kurzen Augenblick völlig nackt war. Im Theater fiel mir auf, daß viele Besucher Ferngläser und Operngläser mitgebracht hatten. Miß Kidman auf der Bühne war ein atemberaubender An blick. Mit und ohne Kleider. Sie war groß, schlank, blond und makellos. Wie konnte ein Körper so frei von Malen und Unebenheiten sein ? Ihre Haut war straff und glatt. Nicht die kleinste Spur von Zellulitis ließ sich ausmachen. Ich beugte mich vor und fragte die Frau, die vor mir saß, ob ich mir kurz ihr Fernglas ausleihen könne. Sie sah verär gert aus, als hätte ich sie um ihre Unterhosen oder ihren Lippenstift gebeten. »Ich nehm' es nicht in den Mund«, sagte ich im Versuch, einen humoristischen Ton anzuschla gen. Widerstrebend händigte sie mir das Fernglas aus. In Nahaufnahme sah Nicole Kidman noch besser aus. Es war fast ein wenig deprimierend. Ich gab das Fernglas um gehend zurück. Die Frau nahm es entgegen und begann es zu putzen. Sie benutzte feuchte Hygienetücher, die sie ei nem silbernen Täschchen entnahm. Genau wie der Mann am Geldautomaten. 17
Ich sah ihr im Dunkeln zu, wie sie jeden Quadratmilli meter Fernglas putzte und sich danach die Hände reinigte. Ich verpaßte zehn Minuten der Aufführung, weil ich ihr zusah. Als Ian Glen, der zweite Star neben Miß Kidman, plötz lich ein Rad schlug, holte das meine Aufmerksamkeit zum Bühnengeschehen zurück. Er war ebenfalls nackt. Ein nackter Mann, der ein Rad schlägt, ist kein uninteressanter Anblick. Das Rad und Miß Kidmans Körper waren das Beste am Stück. Es war ein liebloses, gleichgültiges, misogynes Büh nenmachwerk. Und ich bin es leid, mir Männerphantasien darüber anzusehen, was Frauen wollen und was Männer mit Frauen anstellen wollen. »Vielen Dank für Ihr Fernglas«, sagte ich nach Vorstel lungsende zu der Frau in der Reihe vor mir. »Wenn man die Sachen anderer Leute anfaßt, kann man sich Erkältungen, Grippe, Hepatitis und Tuberkulose ho len« sagte sie zu mir; ihr Ton klang ziemlich streng. »Wirklich?« sagte ich. Plötzlich war mir ängstlich zumute. Und angespannt. Ich langte in meine Handtasche. Der Instantdesinfektions spray war noch da. Vielleicht sollte ich ihn hin und wieder verwenden, dachte ich mir. Der Gedanke löste meine Span nung.
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Botschaften Was mein Wohlbefinden verstört, sind nicht Cyberspace, das Internet oder irgendwelche intergalaktischen oder in terplanetarischen Kommunikationsmethoden. Die Implikationen moderner Kommunikationssysteme, ihre Auswirkungen auf uns beschäftigen mich nicht im ge ringsten. Ich kann mich nicht über Raumstationen und Satelliten ereifern. Mit diesen Kommunikationsformen bin ich nicht vertraut. Aber ihre fernen und weitreichenden Mitteilun gen und Sendungen beunruhigen mich nicht. Weit beunruhigender finde ich die gewohnteren Wege, auf denen wir uns Dinge sagen. Weit verstörter bin ich durch die unauffälligeren Formen der Interaktion, deren wir uns bedienen. New York ist das Epizentrum codierter Begriffe, mehr deutiger Mitteilungen und hochkomplizierter und raffi nierter Kommunikationsmethoden. Alles hängt von Status und Bedeutung des einzelnen ab. Jeder New Yorker ist bedeutender als derjenige, mit dem er zu tun hat, und jeder New Yorker kann sekundenschnell die Bedeutung des anderen einschätzen. Bei einem Anruf kann man in der Warteschleife abge stellt werden oder mit der Mailbox des Angerufenen ver bunden werden oder mit der Auskunft abgespeist werden, er werde zurückrufen, oder man wird durchgestellt. Wenn man keine Antwort auf seinen Anruf erhält, weiß man, wie man eingestuft wird. Und so ist es auch gemeint. Es ist ein lauter und deutlicher Hinweis auf die eigene Be deutungslosigkeit. Man muß diese Demütigung ertragen lernen. Zumindest bis das eigene Ansehen steigt. 19
Neulich rief ich jemanden an, der versprochen hatte, mir einen Gefallen zu tun. Er ist ein Public-Relations-Mann mit guten Beziehungen. Ich rief fünf- oder sechsmal an. Jedes mal sagte seine Sekretärin, er werde zurückrufen. Er tat es nicht. Am Ende haßte ich ihn aus ganzem Herzen. Und wußte, wie unbedeutend ich war. Zwei Tage verbrachte ich damit, mir auszumalen, wie ich ihm das heimzahlen konnte, bevor ich es bleibenließ und einsah, daß es ein sinnloses Unterfangen war. Die wirksamste Art, andere zu treffen, ergibt sich aus Aspekten unserer Persönlichkeit, die weit einflußreicher sind als irgendwelche High-Tech-Spielereien. Allerdings muß ich gestehen, daß die Sprache meines Computers mich hin und wieder bis ins Mark trifft. »Diese Adressen waren wiederholt definitiv falsch«, sagte mein Computer kürzlich zu mir. Es ging um E-Mails, die ich versandt hatte. Die Begriffe »wiederholt« und »defi nitiv« nebeneinander gefielen mir nicht und verdarben mir für den Rest des Tages die Laune. Ein andermal erklärte der Computer: »Wirt nicht gefun den.« Die Vorstellung eines verlorengegangenen Wirts be unruhigte mich. Mir wäre lieber, der Computer würde sich weniger unverblümt ausdrücken. Ich habe meinen E-Mail-Server ausgetauscht, weil der Computer mir jedesmal, wenn ich nachdachte, mitteilte, ich sei müßig. Ich arbeite viel. Die Beschuldigung des Mü ßiggangs konnte ich nicht ertragen. Selbstverständlich fasziniert mich, was sich auf meinem Bildschirm abspielt. Ich bin nicht technologiefeindlich, selbst wenn ich erst nach und nach die Vorteile der neuen Kommunikation schätzengelernt habe. Man hat mir jahre lang gut zureden müssen, bis ich mir E-Mail anschaffte. Heute bin ich davon begeistert. Anfangs zeichnete ich als Lilycyberchick und kam mir sehr hip vor. Wenn man es schnell sagt, klingt es wie 20
Russisch oder Polnisch. Aber nichts im Cyberspace reicht an das heran, was wir einander auf dem Erdboden antun können. Weniges ist so machtvoll wie eine Kränkung oder ein Stirnrunzeln oder ein liebevolles Lächeln. Diese kleinen Gesten sind wirkungsvoller als jeder Aus tausch durch den Weltraum. Auch Geschenke können eine machtvolle Form der Kommunikation darstellen. Sie können eine sehr deutliche Sprache sprechen. Ein Geschenk kann so viel mehr bedeu ten, als es den Anschein hat. Geschenke können feindselige Botschaften übermitteln. Beispielsweise wenn man jemandem, der vor Häuslichkeit schier erstickt, einen weiteren Satz Geschirrtücher schenkt. Oder wenn man jemandem ein Kleidungsstück kauft, das zwei Nummern zu groß ist. Oder zwei Nummern zu klein. Eine Freundin, die während ihrer Schwangerschaft sehr dick geworden war, bekam von ihrer gertenschlanken Mutter die allerkleinsten Spitzenunterhöschen geschenkt. Was dachte ihre Mutter sich dabei ? Eine meiner Töchter, deren Beziehung zu mir eine stür mische Phase durchmachte, schenkte mir eine Brosche mit der Aufschrift Halbherzig. Ich wußte genau, was diese Tochter mir gegenüber empfand.
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Chers Mutter In letzter Zeit habe ich mich häufig im Spiegel betrachtet. Eigentlich mag ich keine Spiegel. Mein Mann sagt, daß ich jedesmal, wenn ich in einen Spiegel sehe, eine Grimasse ziehe. Er sagt, die Grimasse sei vermutlich Ergebnis meiner Erinnerung an die letzte Fratze im Spiegel. Er sagt, ich könne kaum wissen, wie ich aussehe, weil ich meine Züge immer nur verzerrt wahrnehme. Ich glaube, so verhalten sich viele Frauen. Sie sehen sich schmollend oder streng oder stirnrunzelnd an, so, als würde das, was wir zu sehen bekommen, unseren Erwar tungen nicht gerecht. Eine Zeitlang habe ich versucht, neutral dreinzusehen, wenn ich mich einem Spiegel näherte, aber es hat nichts ge nützt. Meine Miene war so steif, als hätte die Totenstarre soeben eingesetzt. Lieber ging ich Spiegeln aus dem Weg. Bis vor kurzem. Anlaß meines neuen Verhaltens war ein Erlebnis in Düs seldorf. Dort hielt ich mich im Rahmen einer Lesereise auf. Ich wollte zum Friseur gehen, um die kostspieligen, natür lich aussehenden, kunstvoll verteilten Lichter und Schattie rungen meiner Haarfarbe auffrischen zu lassen. Eine Freundin hatte mir den Friseur empfohlen. Der junge Mann, den man mir zuteilte, wirkte erfahren. Er be gann die Kolorierung aufzutragen. Ich begann ein Buch zu lesen, das ich mitgebracht hatte. Fünf Minuten später be gegnete ich seinem prüfenden Blick im Spiegel. »Sie sehen aus wie Chers Mutter«, sagte er ganz aufge regt. Ich zuckte zusammen. Ich hatte mich zweifellos ver hört. Was hatte er gesagt? Ich sähe aus wie Chers Mutter? »Sie sehen aus wie Chers Mutter«, wiederholte er strah lend. Ich sah ihn an. Lag es vielleicht an seinem Englisch?
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Wollte er vielleicht sagen: Chers Schwester? »Das haben Ihnen sicher schon viele Leute gesagt«, sagte er zu mir. Nichts zu machen. Er meinte tatsächlich Chers Mutter. Ich sah mich im Spiegel an. Ich war ein wenig blaß. Aber Chers Mutter? Ich konnte doch nicht im Ernst aussehen wie Chers Mutter. Meine Laune sank in den Keller. Cher und ich sind gleich alt. Ich sah mich wieder an. Jetzt sah ich noch blasser aus - und älter. »Hat Ihnen etwa noch nie jemand gesagt, daß Sie wie Chers Mutter aussehen ?« fragte der junge Mann verblüfft. »Nein«, antwortete ich kurz angebunden und senkte den Kopf über mein Buch. Das beeindruckte ihn nicht. »Findet ihr nicht auch, daß sie aussieht wie Chers Mutter ?« fragte er in den Salon, aber zu meinem Glück schien niemand sonst Englisch zu verste hen. Jedenfalls antwortete niemand. Ähnlichkeit mit Cher war mir früher schon attestiert worden. Aber nur mit Cher. Cher habe ich vor Jahrzehnten interviewt, als ich eine junge Popjournalistin war. Sie lieh sich meine straßbestäub ten falschen Wimpern aus. Sie sah damit umwerfend aus. Ich versuchte mein Buch zu lesen, aber ich war depri miert. Und ich schämte mich, weil ich deprimiert war. Ich weiß, daß es Wichtigeres im Leben gibt als die Frage, ob man aussieht wie Cher oder wie Chers Mütter. Trotzdem verfolgte mich der Gedanke den ganzen Tag. Ich dachte mitten in einem Radiointerview, das ich gab, darüber nach. Ich dachte im Taxi darüber nach. Ich dachte darüber nach, während ich am Rhein entlanglief, um mich zu ertüchtigen. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich diesen Gedan ken nicht aus meinem Kopf verbannen konnte. Am liebsten wäre ich in den Friseursalon zurückgegangen, um den jun gen Mann zu verprügeln. Warum mußte er unbedingt sa gen, ich sähe aus wie Chers Mutter ?
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Als es Abend wurde, war ich übellaunig und erschöpft. Ich ging in mein Hotel. Es war eines jener Hotels, wo die graue, harte Neonzimmerbeleuchtung einem den letzten Frohsinn raubt und die Spiegel im Aufzug einen aussehen lassen wie Graf Dracula, bevor er sich mit Blut auffrischt. Ich fragte meine Verlegerin, ob ich in ein anderes Hotel ziehen könne. Sie sagte, ich sei in diesem Hotel unterge bracht worden, weil alle anderen Hotels wegen irgendwel cher Konferenzen ausgebucht waren. Als ich ins Bett ging, kam ich mir vor wie Chers Groß mutter.
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Chinatown Chinatown liebe ich. Chinatown ist gewissermaßen ein Prüfstein, eine Verbindung zur Realität, etwas, was in einer Stadt wie New York unverzichtbar ist. In einer Stadt, in der Leute, ohne mit der Wimper zu zuk ken, ein Kleid für ihre halbwüchsige Tochter kaufen, das 2000 Dollar kostet, und in der Dutzende pubertierender Mädchen bei Prada, Todd Oldham und Dolce & Gabbana einkaufen. Einer Stadt, in der es nichts Ungewöhnliches ist, daß Re staurantrechnungen Hunderte von Dollar betragen, wenn nicht mehr. Bewohner einer solchen Stadt benötigen den Kontakt zur Realität. Es ist nur zu leicht, sich von der Stadt erdrücken zu lassen. Von dem hektischen Tempo, dem tausendfältigen Zusammenwirken, die Tag und Nacht ohne Unterlaß an halten. Von dem Gefühl, der eigene Wert, die eigene Bedeu tung definierten sich einzig durch Leistung und Beziehun gen. Kennen Sie die richtigen Leute ? Wenn nicht, dann kann man Sie getrost vergessen. Man kann Sie übergehen, über sehen, ausmustern. In New York fällt es einem nicht schwer zu merken, daß jedermann so denkt. In New York kann man leicht glauben, die eigene Le bensweise entspreche dem, wie andere Leute leben. In Chinatown wird man von solchen Vorstellungen ku riert. Es ist voller Leben. Gewöhnlichem Leben. Es weist al les auf, was das gewöhnliche Leben ausmacht. Und auf mich wirkt es immer beruhigend. Mich beruhigen die Großmütter mit ihren Enkelkindern. Die älteren Paare. Die Halbwüchsigen und kleinen Kinder, die offenbar alle Chinesisch sprechen. 25
Mich beruhigen die Märkte und Läden und Lebensmit telstände und Restaurants. All das Essen und Reden. Ich kaufe in Chinatown ein. Ich kaufe dort Obst und Ge müse. Die Preise betragen ein Viertel der Preise im benach barten SoHo. Manchmal kaufe ich Fisch, obwohl der Umstand, daß die meisten Fische noch zucken, nichts Einladendes für mich hat. Manche von ihnen versuchen sogar, aus ihren Ei mern zu springen. Einmal sah ich, wie ein großer Taschen krebs an der Ecke Grand Street und The Bowery in die Frei heit zu entkommen versuchte. Auch nachts gefällt mir Chinatown. Es ist immer etwas los. Immer sind Leute unterwegs. Arbeiter strömen aus Fa briken und Kleinbetrieben. Ihr Anblick erinnert mich daran, was für ein privilegier tes Leben ich führe. Ich weiß einiges über Fabriken und Kleinbetriebe. Meine Eltern haben beide in Fabriken gear beitet. Wir kamen als Flüchtlinge nach Australien. Meine El tern verbrachten endlos lange Arbeitstage an Nähmaschi nen und wurden selbstverständlich ausgebeutet. Die Nähmaschinen und die schlechte Bezahlung mach ten dem Traum meiner Mutter, Kinderärztin zu werden, ein Ende. Ich sehe den chinesischen Arbeitern beim Einkauf ihres Essens zu. Ich weiß, daß sie noch nach Hause gehen und das Essen zubereiten müssen. Andere bleiben bei einem Straßenhändler stehen, der warme Speisen verkauft, und essen dort. In Chinatown sind die Leute ständig mit Essen beschäf tigt. Sie essen in Restaurants, in Cafes, auf der Straße. Essen wird in atemberaubendem Tempo zubereitet und serviert. Auf den Straßen braten und dämpfen und rühren und schneiden die Köche auf unvorstellbar engem Raum. In ih ren improvisierten Küchen bringen sie die wundervollsten 26
Speisen zustande. Sie schmecken köstlich. Und sind billig. Einer meiner Lieblingsorte in Chinatown ist Maria's Ba kery an der Lafayette Street. Vom Namen darf man sich nicht irreführen lassen. Nichts an Maria's ist italienisch. Es ist ein durch und durch chinesisches Lokal, weder schick noch etwas Besseres. Es ist ein Cafe und Restaurant für Arbeiter. Die Kunden sind fast ausschließlich Chinesen. Europäische Gesichter sieht man kaum im Maria's. Außer den Mahlzeiten, die gut und unglaublich billig sind, gibt es bunte Eistorten und ein Sortiment befremdlich angelsächsischer Weißbrotsandwiches zu kaufen. Ich könnte stundenlang im Maria's sitzen und den Fami lien beim Essen zusehen, den Müttern, Vätern, Großeltern und Kindern. Alle essen und reden. Die Generationen scheinen sich miteinander wohl zu fühlen. An dieser Familienharmonie teilzunehmen gibt mir ein Gefühl des Friedens, der Ausgeglichenheit. Wenn ich gehe, bin ich glücklich und zufrieden. Und wenn es mir gelungen ist, nicht mehr als einen Krapfen aus schwarzer Bohnenpaste zu essen, bin ich mehr als das.
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Ehestiften Beziehungen sind in unserer Zeit überaus kompliziert. Un zählige Faktoren beeinflussen die Partnerschaft. Unzähli ges gibt es zu bedenken, das mit Liebe nichts zu tun hat. Art und Lage des Arbeitsplatzes spielen eine Rolle. Wenn man in New York arbeitet, kann man nicht jemanden hei raten, der in Texas wohnt. Und die eventuellen Lebensbe dingungen bedeuten zusätzliche Probleme. In vielen Städten ist eine passende Wohnung schwerer zu finden als ein passender Partner. Man muß schon sehr ver liebt sein, um eine Wohnung des Partners wegen aufzuge ben. Sogar die Sexualität ist unüberschaubar geworden mit ihrer breiten Palette sexueller Vorlieben und Geschlechter. Unzählige Spielarten und Abwandlungen sind denkbar und zulässig. Die Zeiten, als Sex nur etwas Verbotenes war, kommen einem unkompliziert vor. Und unschuldig. Heute ist Sex etwas Kompliziertes - sowohl hinsichtlich der Sache selbst als auch der Zeit, die man sich dafür neh men muß. Neulich gab es einen Cartoon im New Yorker, der ein Paar mittleren Alters in seinem Wohnzimmer zeigte. »Jetzt, wo die Kinder erwachsen und aus dem Haus sind, wäre es vielleicht die richtige Zeit für Sex«, sagt der Mann. Viele von uns mußten über diesen Cartoon lachen. Auch mit Kindern muß man sich im Frühstadium einer Beziehung auseinandersetzen. Viele Leute, die sich verlie ben und verabreden, sind Eltern. Und die Existenz ihrer Kinder muß bei der Erwägung und Planung einer dauer haften Beziehung berücksichtigt werden. Eine Freundin wurde von ihrem Liebhaber nach Ibiza in die Sommerferien eingeladen. »Wo soll ich schlafen ?« sagte 28
sie zu mir. »Ich habe einen Sohn. Er hat eine Tochter. Wir können uns vor den Kindern doch nicht als Pärchen prä sentieren.« - »Ich werde im Gästezimmer schlafen«, beant wortete sie ihre eigene Frage. »Ich muß nicht jede Nacht wie wahnsinnig Sex haben.« Ich war beeindruckt, daß so viel Sex ihr überhaupt in den Sinn kam, wenn auch nur theoretisch. Und ich freute mich. Meine Freundin hatte eine ganze Weile als Single gelebt. In New York wimmelt es von Singles. Mehr als drei Millionen der siebeneinhalb Millionen New Yorker sind Singles. Achtundvierzig Prozent der Haushalte New Yorks sind Single-Haushalte. Es ist die höchste Rate in den ganzen Vereinigten Staaten, sieht man von einer Leprakolonie auf Hawaii ab. Ich habe mich nach Kräften bemüht, diese statistischen Gegebenheiten zu verändern. Zeit meines Lebens war ich eine unverdrossene Ehestifterin. Warum, weiß ich nicht. Ich habe versucht, meinen verwitweten Vater zu verhei raten. Ich habe versucht, eine Frau für ihn zu finden. Er will keine. Aber das konnte mich nicht entmutigen. Ich weiß, daß er einsam ist. Und er tut gerne etwas für andere. Er hat viel Humor. Und er ist ein ausgezeichneter Tänzer. Wenn er einen Lebenspartner hätte, wäre er nicht mehr einsam. Ich habe versucht, ihn mit einer Frau zu verkuppeln, die ich gar nicht kannte. Das war keine gute Idee. Sie war ihm einfach nicht sympathisch. Er hat sich nur mit ihr getroffen, um mir einen Gefallen zu tun. Warum kann ich ihm nicht den Gefallen tun, ihn le dig bleiben und in Ruhe zu lassen ? Unzählige Leute habe ich zu verkuppeln versucht. Viel leicht war ich in einem früheren Leben Heiratsvermittlerin. Eine wenig erfolgreiche Vermittlerin. Meine Erfolge im Ehestiften sind äußerst mickrig. 29
Ich habe Leute zusammengebracht, die einander so un ausstehlich fanden, daß beide Parteien seither kein Wort mehr mit mir gewechselt haben. Mein größter Erfolg war eine einzige Eheschließung, aber leider gibt es ein P.S. Das Paar ließ sich vier Jahre spä ter scheiden. Ich sollte das Ehestiften denen überlassen, die etwas da von verstehen. Ehevermittlungsagenturen machen hierzulande gute Ge schäfte. Und die Frauen suchen sie in Scharen auf. Frauen, die eine Ehe hinter sich haben, sind gesellschaft lich besser angesehen als Ledige. Männer, die nie geheiratet haben, gelten andererseits bis ins Grab als attraktive und begehrenswerte Partie. Es ist kaum zu fassen. Aber die Vorteile werden augenfällig, sobald man einen unverheirateten Mann zur Hand hat. Zufällig habe ich ei nen zur Hand. Meinen Vater.
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Erinnerung Die Erinnerung ist eine merkwürdige Sache. Sie aktiviert, erinnert, färbt, vergrößert und verkleinert Geschehnisse und Erlebnisse. Sie bringt Sachverhalte und Phantasien, Irrtümer und Mißverständnisse zurück. Sie bewahrt Träume und Hoff nung und Peinlichkeiten und Demütigungen. Sie ist wie eine große Kammer, ein Aufbewahrungsort für benutzte und noch zu benutzende Gedanken und eben solches Wissen. Sie ist eine Ansammlung von allem, was wir sind, und von ein wenig dessen, was wir zu sein hoffen. Man kann sich alles holen, was man will. Kann man das? Warum sind manche Dinge so leicht zu erinnern, so leicht wiederzufinden ? Und warum sind andere so schwer herbeizubeschwören? Warum suchen einen manche Erin nerungen länger heim, als man gerne hätte ? Demütigungen und Trauer sind, wie mir scheint, nie schwer wiederzufinden. Und nur sehr schwer zu vergessen. Warum läßt sich die Erinnerung an etwas Lustiges nicht ähnlich leicht wiederbeleben? Warum erinnern wir uns so bereitwillig an Dinge, die uns quälen? Die meisten von uns können sich binnen Sekunden an Einsamkeit und Leid ih rer Teenagerzeit erinnern. Schmähungen, Zurückweisung und verletzten Stolz ver gessen wir nicht. Warum ? Welchem Zweck dient das ? Und warum sind Angst und Furcht so leicht zu erinnern ? Und ist Glück so schwer zu erinnern ? Ich wollte, ich wüßte es. Ich weiß, daß das Begreifen die Erinnerung verändert. Es verleiht ihr neue Schattierungen und Bedeutungen. Ich habe diese Erfahrung am eigenen Leib gemacht. Die 31
Eitelkeit meiner Mutter wurde mir um vieles verständli cher, als ich groß genug war, um zu begreifen, daß eine schreckliche Vergangenheit ihr fast alles außer ihrer Schön heit geraubt hatte. Dieses Verständnis hat viele meiner Erinnerungen an meine Mutter verändert. Erinnerungen sind oft selektiver Art. Wir fördern zutage, was uns zusagt. Es muß mir zusagen, Trübsal zu blasen. Je des betrübliche Erlebnis kann ich mir auf der Stelle ins Ge dächtnis rufen. Ich muß es nicht mühsam zusammenklau ben. Es ist da und wartet nur darauf, gerufen zu werden. Ich wünschte, ich hätte diese betrüblichen Erinnerungen nicht nötig. Ich wünschte, mir läge nicht soviel an diesen Mementos und Souvenirs und Erinnerungsstücken an Qualen und Leiden. Ich wünschte, ich könnte mich aller Gedanken und Bil der von vergangener Mißmut und Melancholie entledigen. Aber die Frage, was wir vergessen und was wir behalten, ist äußerst kompliziert. Ich könnte noch hundert Jahre lang analysiert werden, ohne deshalb wirklich zu wissen, warum ich einen Hang zu Traurigkeit und zu Schwierigkeiten habe. Meine Erinnerungen sind ein Spiegel meiner Disposition und meiner Sicht der Dinge. Furcht und Argwohn sind mir vertrauter als Fröhlichkeit und Vorfreude. Ich wünschte, ich könnte es ändern. Traurig zu sein fällt mir nicht schwer. Wenn ich Pavarotti ein paar Töne einer Arie aus »Tosca« oder »LaTraviata« sin gen höre, breche ich in Tränen aus. Die Arien erinnern mich an meine Mutter. Sie starb vor dreizehn Jahren. Wenn ich Pavarotti höre, sehe ich meine Mutter vor mir, die in der Küche beim Geschirrspülen diese Arien summt. Die Gegend im East Village, wo wir unser erstes Jahr in New York verbracht haben, ist für mich voller Erinnerun gen. 32
Wir kannten niemanden, als wir herzogen. Und ich fürchtete mich vor der Stadt. Ich hatte von Schießereien und Überfällen und der Herzlosigkeit der New Yorker gele sen. In den ersten zwei Wochen aßen wir jeden Abend in ei nem neonbeleuchteten Imbißladen. Wir hatten eine win zige Küche und kein einziges Küchengerät. Ich war zu furchtsam, um mich über die unmittelbare Nachbarschaft hinauszuwagen. Was ein Fehler war. Fast jede andere Gegend wäre erhebender als die, in der wir wohnten. An jeder Straßenecke traf man auf Dealer und Drogensüchtige. Und auf Leute, die Selbstgespräche führ ten. East Village ist heute kaum wiederzuerkennen. Es ist vol ler junger Leute und Cafés und Parks und Gärten. Ich gehe oft hin. Es gefällt mir dort. Ich war letzte Woche dort. Ich wartete an einer Ampel an der Second Avenue, als plötzlich Roy Orbison zu hören war, der »Only the Lonely« sang. Die Musik ertönte aus einem Laden mit Kleidern der 50er Jahre. Ich merkte, daß ich leise mitsang. Ich war wie verwan delt. Ich war wieder fünfzehn. Ich ging die ganze Second Avenue mit einem Lächeln auf den Lippen entlang.
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Falten »Wenn man zu schnell geht, bekommt man Falten«, sagte eine Nachbarin zu mir. Um mir das mitzuteilen, hatte sie mich mitten auf dem West Broadway angehalten. »Tatsächlich?« sagte ich. »Davon bin ich felsenfest überzeugt«, antwortete sie. Ich sah ihr Gesicht an. Sie ist um die Sechzig. Ihr Gesicht war verhältnismäßig faltenlos. »Ich kenne Sie«, sagte sie. »Sie gehen immer sehr schnell.« Damit hat sie recht. Ich gehe gern schnell. Es ist gar nicht so einfach, auf den überfüllten Straßen Manhattans schnell zu gehen. »Ich gehe gern schnell«, sagte ich zu meiner Nachbarin. Ihre Miene war mißbilligend. Diese Nachbarin hatte mich einmal eingeladen, sie zu einer ihrer regelmäßigen Medita tionsübungen zu begleiten. Ich hatte abgelehnt. Ich hatte erklärt, daß Meditieren mich nervös macht, unsicher macht. Danach war sie weni ger freundlich gewesen. »Ich gehe nie schnell«, sagte sie. »Wenn man schnell geht, runzelt man die Stirn. Und davon bekommt man Fal ten.« Ich witterte ein Schlupfloch in ihrer Argumentation. »Aber ich tue es so gern«, sagte ich. »Ich wette, daß ich glücklich aussehe, wenn ich gehe. Ich runzle garantiert nicht die Stirn.« Das sagte ich mit voller Überzeugung. Aber als sie gegan gen war, verspürte ich Zweifel. Und begann zu grübeln. Dieses Grübeln über mögliche Runzeln und Falten beein trächtigte meine Freude am Gehen auf Tage hinaus. Ich versuchte meinen Gesichtsausdruck beim Gehen überall zu erspähen, in Schaufenstern und auf Windschutz 34
Scheiben. Und immer, wenn es mir gelang, meine Miene zu sehen, hatte ich die Stirn gerunzelt. »Als letzter Ausweg bleibt einem immer noch die Schön heitschirurgie«, sagte Geoffrey, mein Friseur. Ich hatte ihn gefragt, ob er eine auffällige Zunahme der Falten in mei nem Gesicht über die letzten zwei, drei Jahre bemerkt habe. Ich beschloß, seine Worte nicht gehört zu haben. Ich kann mir nicht leisten, ihn zu vergraulen. Er ist für mich le benswichtig. Mein Haar ist lockig. Es ist nicht leicht, Lok ken dazu zu bringen, in den gewünschten Winkeln und Richtungen zu liegen und zu fallen. Es erfordert einen ge wandten Friseur, Locken gefällig wirken zu lassen. Geoffrey ist Experte für plastische Chirurgie. Er arbeitet in der Upper East Side. Er kennt die Namen der besten Schönheitschirurgen für jeden einzelnen Körperteil. Er redet über Fettabsaugen an Schenkeln und Kinn, über Lidkorrekturen und Bauchstraffungen, als handele es sich um ein Gespräch über das Wetter. »Sie sehen gut aus«, sagte ich zu ihm, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen. Er sah gut aus. Er ist ein gutaussehender junger Mann. Immer in Gucci und Prada gekleidet. Er trägt Designerkleidung und teure Uhren. Seit Jahren bewundere ich seine wachsende Rolex- und Cartier-Samm lung. Friseure sind nicht mehr, was sie einmal waren. Dieser Vierunddreißigjährige verdient mehr als die meisten Ärzte. »Sie sehen gut aus«, wiederholte ich. Ich sah ihm an, daß er noch immer überlegte, welche Möglichkeiten der plasti schen Chirurgie mir von Nutzen sein könnten. »Ja, ich sehe gut aus«, sagte er, »weil ich gerade wieder Botulismusinjektionen hatte.« »Botulismusinjektionen?« sagte ich. In der New York Times hatte ich gelesen, daß Botulismusinjektionen sich mittlerweile großer Beliebtheit erfreuten. Der Botulismus 35
wird an verschiedenen Stellen in die Gesichtshaut ge spritzt. Das Gift paralysiert die Muskulatur. Es verhindert, daß man die Stirn runzelt oder die Augen zusammenkneift oder grimassiert. Dadurch wirkt die Haut glatter. Botulismus war früher einmal eine schwere, oft genug tödlich verlaufende Form der Lebensmittelvergiftung. Und heute ist es etwas, worum sich die Leute reißen. Viele Leute. Geschäftsleute stehen Schlange, um sich Botulismus inji zieren zu lassen. Sie finden, daß die Injektionen ihnen für schwierige Verhandlungen nützlich sind. Streß und An spannung werden hinter einer ausdruckslosen Maske ver steckt. Nach sechs Monaten klingen die Symptome ab. Nach sechs Monaten benötigt man neue Injektionen. Geoffrey hatte sich an der Stirn und um die Augen herum behandeln lassen. »Es tut gar nicht so weh«, sagte er. »Aber in den ersten Tagen ist es ein eigenartiges Gefühl. Man will die Stirn runzeln und kann es nicht.« Ich ging vom Friseursalon zu Fuß nach Hause. Es ist ein langer Weg. Mehr als achtzig Häuserblocks. Ich ging schnell und spielte mit dem Gedanken, mir Botulismusin jektionen verabreichen zu lassen.
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Familie Mein zweiundachtzigjähriger Vater erwägt eine Prostata operation. Für Männer seines Alters keine ungewöhnliche Operation. Er hat mich angerufen, um Vor- und Nachteile mit mir zu besprechen. Ich mache mir Sorgen. Ich will nicht, daß an ihm herum operiert wird, wenn es nicht wirklich notwendig ist. »Es ist keine große Sache«, sagt er. »Außer«, fügt er nach ein paar Sekunden hinzu, »daß ich hinterher impotent sein könnte.« Mir ist unbehaglich zumute. Es wäre mir wohler, wenn ich mit ihm die Gefahren einer Anästhesie diskutieren könnte und nicht seine potentielle Impotenz. »Oh«, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Ich versuche, dieses »Oh« mitfühlend klingen zu lassen. »Es macht nichts«, sagt mein Vater ein bißchen kummer voll. »Ich habe sowieso niemanden, mit dem ich Sex haben könnte.« Ich hole tief Luft. Das ist nicht die Art Gespräch, auf die ich Wert lege. »Dann bin ich eben impotent. Was soll's ?« sagt mein Va ter plötzlich in lebhafterem Ton. Ich merke, daß er das Be ste aus der Situation machen will. »Es ist nicht wichtig«, sagt er nicht allzu überzeugend. Ich erzähle einer Freundin vom Dilemma meines Vaters. »Wenn er sich operieren läßt, kann er impotent werden«, sage ich. »Na ja, sein Teil Sex hat er ja wohl gehabt«, sagt sie. Ich bin überrascht. Sie kennt meinen Vater gar nicht. Ich begreife, daß sie meinen Vater mit dem Vater in meinen Romanen verwechselt. Ich sage nichts dazu. Ich will meinem Vater nicht das Image des sexuellen Schwerenöters nehmen. Für einen Au 37
genblick frage ich mich, wieviel Sex »sein Teil Sex« darstel len mag. Mein Sohn ruft mich an, um das Befinden meines Vaters mit mir zu besprechen. Er erzählt mir andere Neuigkeiten. Sein Freund Roger V. litt unter Depressionen und wird jetzt mit Prozac behandelt. »Es geht ihm schon viel besser«, sagt mein Sohn, »aber Orgasmen kann er keine mehr haben.« »Oh«, sage ich. »Es ist eine verbreitete Nebenwirkung«, sagt mein Sohn. »Ein hoher Preis dafür, daß es einem bessergeht. Orgasmen sind eine der wahren Freuden des Lebens.« Ich spüre, wie ich erröte. Wie kam das Gespräch auf die ses Gleis ? Ich merke, daß ich keine Antwort gegeben habe. »Ja, natürlich«, sage ich schnell. Später am Tag gehe ich mit meiner jüngsten Tochter über die Fifth Avenue. Es ist früher Abend. Dort, wo wir gehen, ist die Fifth Avenue voller Studenten der New York Univer sity. Ich bin gerne dort, wo Studenten sich aufhalten. Die Atmosphäre wirkt intellektueller, lebendiger, hoffnungs froher. »Die meisten Kerle, die ich kenne, wollen keinen oralen Sex«, sagt eine junge Frau, an der wir vorbeigehen, zu ih rem Freund. Ich bin sprachlos. Ich schaue mich nach dem Mädchen um, das diese Information zum besten gibt. Sie ist jung. Vielleicht neunzehn. Der Bursche, an den sie sich wendet, wirkt keineswegs peinlich berührt. Er nickt bloß. Als würden sie sich über den Zugfahrplan unterhalten. Ich bin stehengeblieben. Und kann meinen Blick nicht abwenden. Meine Tochter sieht zu dem Mädchen zurück. »Mit was für Leuten verkehrt die denn«, sagt sie mit einer Stimme, die vor Sarkasmus trieft. Ich schaue meine Tochter an. Was sagt sie da? »Alle Kerle wollen oralen Sex«, sagt meine Tochter. Ich bin sprachlos. Sie ist dreiundzwanzig. Sie ist unser Baby. Was weiß sie von diesen Dingen? Was hat sie alles getan? 38
Mir ist schwindlig. Ich fange an weiterzugehen. »Alle Kerle wollen oralen Sex«, wiederholt sie und lacht. Ich gehe schneller. Meine Tochter muß laufen, um mich einzuholen. »Es ist nicht schlimm, über so was zu sprechen«, sagt sie. Ich versuche mich zu beruhigen. Seit dem ImpeachmentVerfahren gegen Clinton wurde oraler Sex in der Schule diskutiert, in der Kirche und im Fernsehen. Das Thema sollte mich nicht zu nervös machen. »Auf jeden Fall hat das Impeachment-Verfahren die Qualität der Gespräche auf den Straßen von New York gehoben«, sage ich zu meiner Tochter. Und das stimmt. Straßengespräche sind nicht mehr, was sie früher waren. Sie drehen sich fast nur ums Einkaufen. Früher konnte man faszinierende Gesprächsfetzen mit an hören. Fesselnde Brocken und Fetzen aus anderer Leute Le ben. Man konnte Männer und Frauen über ihre Vermieter sprechen hören, ihre Mütter, ihre Geliebten, ihre Bankkon ten, ihre Therapeuten und Analytiker. Zahme Themen, verglichen mit Impotenz, Orgasmen und oralem Sex.
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Fettarm Am ersten Tag meiner ersten Lesereise in Deutschland wollte ich fettfreien Joghurt kaufen. Das war vor andert halb Jahren. Auf Lesereisen wird man ständig zum Essen eingeladen, mittags wie abends. Da heißt es aufpassen. Ich brauche Es sen nur anzusehen, um zuzunehmen. Vor meiner Abreise hatte ich ein Paket mit fettfreien Frühstücksflocken aufgegeben. Den Mitarbeitern meines deutschen Verlags sagte ich, sie sollten nicht lachen, wenn das Paket eintreffe. Es war dann ein großer Lacherfolg. Ich konnte es nicht so komisch finden. Ich suchte in Deutschland nach fettfreiem Joghurt. Uner müdlich. Er war nicht leicht zu finden. Ich vermutete, daß ein teures Feinkostgeschäft die richtige Adresse sei. Ich be fand mich gerade in München und begab mich in ein Ge schäft, das überaus luxuriös wirkte, wie ein Gourmettem pel. Alles war kunstvoll angeordnet. Artischocken lagen in exquisiten Körben. Die Radieschen sahen aus wie Rubine. Trauben waren wie Brautsträuße arrangiert. Äpfel und Bir nen wirkten wie ein Renoir-Gemälde. Das war kein Lebensmittelgeschäft, sondern eher eine Art Lebensmittelmuseum. Ich wußte, daß ich am richtigen Ort war. Hier mußte es einfach alles geben. Ich verlangte fettfreien Joghurt. Die Frau hinter der Theke sah ratlos drein. »Ohne Fett«, sagte ich in meinem besten Deutsch. Die Frau nickte. Sie verschwand und kehrte mit einem Joghurtglas wieder. Ich war glücklich. Gratulierte mir. Bis ich den Aufdruck »3,8% Fettanteil« auf dem Deckel des Joghurtglases sah. »Ohne Fett«, wiederholte ich. 40
Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. »Mit Fett schmeckt es viel besser«, sagte sie. Ein anderer Verkäufer erklärte mir, daß das Geschäft keinen fettfreien Joghurt führe. Die gleiche Erfahrung machte ich in mehreren anderen Städten, in Hamburg, Frankfurt, Düsseldorf, Leipzig. Ich erinnerte mich, daß eine Amerikanerin mir erzählt hatte, wie schwierig es sei, in Frankreich und Italien fettfreien Jo ghurt zu bekommen. Ich sah mich nach fettarmem Joghurt um, der schwer zu finden, aber immerhin erhältlich war. Der niedrigste Fett anteil - 0,3 % - kam mir in einem Berliner Supermarkt un ter. Die Deutschen um mich herum aßen alle ihren Joghurt mit 3,8% Fettanteil. Und Butter. Mit Neid und Bewunde rung betrachtete ich einen deutschen Geschäftsmann, der eine dick mit Butter bestochene Brotscheibe mit Käse krönte. Er war nicht dick, genau wie die meisten anderen Deutschen, vor allem im Vergleich zu Amerikanern. Warum? Amerikaner werden täglich dicker. Dicker und fetter. In der Washington Post stand, daß Amerikaner früher eine Sitzbreite von 45 cm als bequem empfanden. Heute benöti gen sie zunehmend mehr Platz. Ein Theater in Seattle hat 60 cm breite Sitze installiert, und die Platzanweiser sind ge halten, voluminösere Gäste unauffällig zu diesen Sitzen zu bugsieren. Ein Autohersteller hat den Umfang der Sitzpolsterung reduziert, damit mehr Platz für Hüften und Hintern bleibt. Und manche Fluggesellschaften haben die ausklappbaren Tabletts vor den Sitzen inzwischen höher angebracht, da mit sie den Bäuchen nicht im Weg sind. Amerika ist laut seiner Nationalhymne das Land der Freien und der Tapferen. Aber es ist auch das Land alles Fettfreien. In Amerika kann man jegliche Nahrungsmittel fettfrei erhalten - fettfreie Würste und fettfreien Schinken, 41
fettfreie Kekse und fettfreien Käsekuchen. Es gibt fettfreies Katzen- und Hundefutter, und wahrscheinlich könnte man auch fettfreies Fischfutter bekommen. Meine fettfreien Frühstücksflocken hatte ich portions weise in Plastikbeutel gepackt. »Sie sind Amerikanerin«, sagte eine Kellnerin in Frankfurt, die mich dabei beobach tete, wie ich mich mit meinen Frühstücksflocken abmühte. Ich versuchte eine würdevolle Miene aufzusetzen. Das ist nicht einfach, wenn man gerade Frühstücksflocken aus ei nem Plastikbeutel in eine Schale schüttet. Während der letzten Tage meiner Reise drückte ich mich vor fettarmem Joghurt und fettfreien Frühstücksflocken. Ich genoß jedes Gramm Fett in meinem Frühstück. Es war mir egal, ob ich dadurch zunahm. Die Hälfte aller Amerikaner ist übergewichtig, und ein Drittel ist fettleibig. Wie kann es dazu kommen, bei all den fettarmen und fettfreien Produkten? Warum sind Franzosen, Italiener und Deutsche, die in ei ner Welt überschüssiger Kalorien leben, nicht dicker als die Amerikaner? Das ist mir ein Rätsel.
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Frauen Frauen sind untereinander nicht großherzig. Ich sage es nicht gern. Es ist eine erschreckende Feststellung. Etwas, was man nicht gern laut sagt. Und doch ist es wahr. Und ich bin mir sicher, daß ich mit dieser Erkenntnis nicht allein bin. Ich bin mir sicher, daß andere sie auch gemacht haben. Insbesondere Frauen. Legenden wurden um die Herzlichkeit von Frauen gewo ben, um ihre Nähe zueinander, ihre Freundschaften, und diese Legenden haben dazu verholfen, die Feindseligkeit der Frauen untereinander, unsere Gemeinheit zu übertünchen. Frauen stehen einander in bestimmten Situationen bei. Liebesleid weckt unser Mitgefühl. Krankheiten und Schicksalsschläge lassen uns mitleiden. Wir tauschen Tips zur Kindererziehung und Diätemp fehlungen. Aber wir würden nie etwas mit einer anderen teilen, was ihr ermöglichen könnte, uns anderen gegenüber im Vorteil zu sein. Warum können wir untereinander nicht großzügig sein? Ist der Kuchen so klein, daß jede von uns ihr Stückchen mit Zähnen und Klauen verteidigen muß ? Wir tauschen uns nicht über Arbeitsbeziehungen und Kontakte aus. Wir tun so wenig wie möglich, um die Kar riere einer Geschlechtsgenossin zu fördern. Wir sind klein lich in allem, was einer anderen Frau zugute kommen könnte. Warum ist das so? Wir gelten als das weichere, sanftere, fürsorglichere Geschlecht. Warum kümmern uns die ande ren so wenig? Ich finde das sehr verstörend. Männer verhalten sich nicht so. Männer wissen, daß es in ihrem eigenen Interesse ist, anderen Männern zu helfen. Auch wenn sie sie nicht ausstehen können. 43
Wir Frauen sind uns selbst am meisten feind. Wir ver stricken uns in Streitigkeiten, Gehässigkeit, Rivalität, Kon kurrenz. Und die Folgen erkennen wir nicht. Die Folgen sind nicht schwer zu begreifen. Die Männer bleiben an der Macht. In fast allen Bereichen sind noch im mer die Männer an der Macht. Was stimmt nicht mit uns? Es fängt früh an. Mütter und Töchter haben allem Anschein nach eine weniger gefestigte Beziehung zueinander als ihre männlichen Entsprechun gen. Und so geht es weiter. Schulmädchen sind vom zartesten Alter an bereit, sich gegenseitig die Augen auszukratzen. Sind Jungen auch so? Ich glaube es nicht. Frauen gelten als sensibel, warmherzig und empfänglich. Wir gelten als rücksichtsvoll und mitfühlend. Wir gelten als Bewahrerinnen und Beschützerinnen. Wir gelten als Hegerinnen und Pflegerinnen. Männer und kleine Kinder hegen wir. Warum hegen wir nicht unse resgleichen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß wir es nicht tun. Statt dessen konkurrieren wir miteinander. Wir leben in einem Zustand der Dauerkonkurrenz mit anderen Frauen. Wir wollen die besseren Mütter sein. Wir wollen die voll kommeneren Ehefrauen sein. Wir wollen die besseren Kö chinnen, die besseren Hausfrauen und die Besseren im Bett sein. Wir wollen die bessere Figur haben und besser geklei det sein. Wir wollen einander übertreffen. Wir wollen einander übertrumpfen. Wir wollen einander umbringen. Vor allem, wenn die andere besser aussieht. Gutaussehende Frauen werden von anderen Frauen gern mit Häme überschüttet. Weniger attraktive Frauen bewir ken bei ihren Geschlechtsgenossinnen weniger Feindselig keit. Führen Männer sich auch so auf? Ich glaube es nicht. 44
Ich habe mir die gleichen Schuhe gekauft, die ich bei ei ner Bekannten gesehen hatte. Ich habe ihr versprochen, sie nicht zu tragen, wenn wir miteinander eingeladen sind. Würde so etwas bei einem Mann Sie nicht zum Lachen rei zen? Sie würden Tränen lachen, wenn ein Mann einen Ner venzusammenbruch bekäme, weil jemand anderes die glei che Krawatte oder das gleiche Sakko trägt. Männer sehen einander gern ähnlich. Warum ist das bei Frauen nicht so? Frauen wollen Distanz. Es fällt ihnen schwer, etwas zu teilen. Ich kann das verstehen. Ich muß den Friseur mit der Herzogin von York teilen. Das ist nicht leicht. Wenn Fergie in New York weilt, habe ich nichts zu melden. Sie belegt ihn jedesmal tagelang. Er schwärmt für sie. Manchmal verspüre ich Eifersucht. Vor ein paar Jahren wurde aus Fergies Gepäck auf dem JFK-Flughafen Schmuck gestohlen. Als ich beim Haare schneiden zu meinem Friseur meinte, es sei vielleicht nicht besonders klug von Fergie gewesen, den Schmuck in ihren Koffer zu packen, geriet er außer sich. Er hielt im Schneiden inne und trat einen Schritt zurück. »Sie hat was Besseres zu tun, als Schmuck einzupacken!« giftete er mich an. Ich habe Fergies Namen monatelang nicht erwähnt.
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Genossenschaftswohnungen Ich wohne in einer Genossenschaftswohnung. In New York sind die meisten Wohnhäuser im Besitz von Wohn baugenossenschaften, und so verhält es sich mit dem Haus, in dem ich wohne. Die Bewohner sind Anteilseigner an der Genossenschaft. Ihre Anteile variieren im Verhältnis zu Größe und Wert ihrer Wohnung. Als ich einzog, gefiel mir die Vorstellung, in einer Genos senschaftsanlage zu wohnen. Es klingt nach Gemütlichkeit und Gemeinschaftlichkeit. Oberflächlich betrachtet, trifft es zu. Alles macht einen unkomplizierten und genossenschaftlichen Eindruck. Im Alltagsumgang wird eine gewisse Höflichkeit beachtet. Die Leute sagen guten Morgen und guten Abend, und manch mal tauschen sie noch andere Begrüßungen. Niemand stiehlt dem anderen die Zeitung, und die meisten sind be reit, Pakete für abwesende Nachbarn entgegenzunehmen. Bei Mitgliederversammlungen werden manchmal an dere Dinge sichtbar. Es kann weniger höflich zugehen. Die lächerlichsten Beschwerden können publik gemacht wer den. Es kommt zu unerfreulichen Auseinandersetzungen und ungerechten Anschuldigungen. Anflüge von Rassis mus und Philistertum sind ein häufig auftauchendes Phä nomen. Die Leute in meinem Haus gehören zur Mittelschicht. Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Bankangestellte, Geschäftsmänner und -frauen. Die Beliebtheit einzelner im Haus unterliegt Ebbe und Flut. Im einen Moment ist man angesagt, im nächsten nicht mehr. Die Gründe für das Schwanken des Status sind meistens nicht klar auszuma chen. Die wechselnden Allianzen und unerklärlichen Ver stimmungen erinnern mich an die Schulzeit. 46
Mein Mann und ich haben den Liebesentzug der anderen Hausbewohner erlebt. Bis dahin waren wir - wie mir scheint - einigermaßen wohlgelitten gewesen. »Liebesent zug« ist eine leise Untertreibung. Vor zweieinhalb Jahren haben wir unsere Wohnung für zwei Monate untervermietet. So etwas ist in New York, ei ner Stadt mit exorbitanten Wohnungsmieten, gang und gäbe. Eine Freundin, die ihr Haus in der Stadt jeden Sommer vermietet, hatte mich dazu überredet, es zu tun. In sech zehn Jahren, sagte sie, sei bei ihr kein einziges Glas zerbro chen worden. Die Mieter, die wir fanden, hatten untadelige Referen zen. Wir gaben dem Genossenschaftsvorstand ihren Anteil an der Miete und verreisten nach Mexiko. Wir hatten uns vorgestellt, zwei Monate des New Yorker Winters in der Sonne damit zu verbringen, zu malen - mein Mann ist Ma ler - und zu schreiben. Während unserer Abwesenheit brannte unsere Woh nung aus. Die Räume wurden vom Feuer zu mehr als fünf zig Prozent zerstört. Der Feuerwehrhauptmann von New York City rief uns in Mexiko an. Er war sehr nett. Die Brandursache vermutete man in einem defekten Mehrfachstecker, den die Untermieter mitgebracht hatten. Mehrfachstecker sollen sich von selbst ausschalten, wenn sie überhitzt werden. Der hier tat es nicht. Am Tag, nachdem ich die Nachricht erfahren hatte, wachte ich in Mexiko auf und fragte mich, ob ich noch ein Foto von meiner verstorbenen Mutter besaß. Es stellte sich schnell heraus, wie hoch der Tribut war. Mehr als tausend Bilder meines Mannes waren zerstört. Dreißig Jahre meiner Tagebücher waren fort. Ebenso die Kinderfotos von meinen Kindern. Und die Fotografien von meiner Mutter. Wir kehrten zu einem Berg verbeulten und geschwärzten 47
Schutts zurück, der unser Zuhause gewesen war. Relikte von Jahren des Fotografierens lugten aus dem Schutt. Ich war eine eifrige Fotografin gewesen und hatte das Leben meiner Kinder Schritt auf Tritt dokumentiert. Meine Eltern haben beide, jeder allein, Auschwitz überlebt. Wir hatten keine Fotografien oder Dokumente aus ihrem früheren Le ben. Keine Vergangenheit, deren wir uns versichern konn ten. Ich fand in meiner Küche ein geschmolzenes Küchenge rät meiner Mutter, und ich weinte. Als erstes verlangte die Genossenschaft von meinem Mann, daß er vom Vorstand zurücktrat. Das Feuer, sagten sie, habe das Gebäude stark in Mitleidenschaft gezogen. Das stimmte zweifellos. Rauch war in andere Wohnungen eingedrungen. In einer Wohnung waren die Fensterschei ben geborsten. Der stechende Brandgeruch war lange nicht aus dem Haus zu vertreiben. Der Aufzug war tagelang außer Betrieb. Nachbarn funkelten uns erbost an. Nachbarschaftliche Gefühle machten sich nicht gerade bemerkbar. Niemand bot uns einen Mantel oder eine Tasse Tee an. Es dauerte ein Jahr, bis wir unsere Wohnung wieder aufgebaut hatten und sie wieder beziehen konnten. Es kam mir endlos vor. Jetzt sind wir zurückgekehrt. Und die Höflichkeit hat wieder Einzug gehalten. Im Haus nicken die Leute einem zu und sagen guten Morgen und guten Abend.
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Gerüche Die neueste Bäckerei, die in SoHo aufgemacht hat, ist Le Pain Quotidien an der Grand Street. Die älteste ist die Ve suvio Bakery an der Prince Street. Ihr Äußeres kommt in Dutzenden von Filmen über New York vor, figuriert auf Postkarten und als Hintergrund von Modeaufnahmen. Das Vesuvio war früher die einzige Bäckerei in der Um gebung. Aber mit einem Mal wimmelt es geradezu von Bäckereien. Manche New Yorker Spitzenlokale - das Bal thazar, das Blue Ribbon und Bouley - haben eigene Bäcke reien eröffnet. Ich weiß nicht, warum Brot auf einmal so schick gewor den ist. Aber der Geruch dieser zahllosen Bäckereien treibt mich in den Wahnsinn. Ich kann mich keine zwei Häuser blocks von meiner Wohnung entfernen, ohne vom Brot aroma überwältigt zu werden. Manchmal denke ich, daß sie die Backaromen und -düfte direkt vom Ofen auf die Straße blasen. Um unsereins in den Laden zu locken. Gerüche können so verführerisch sein. Sie können einen in andere Zeiten und an andere Orte versetzen. Der Geruch neuen Pappkartons versetzt mich unweiger lich in meine Kindheit zurück. Ein paar Häuser von unse rem Zuhause in Melbourne entfernt, wo wir uns als Flücht linge niedergelassen hatten, gab es eine Kartonagenfabrik. Ich liebte den Geruch der Pappe. Endlose Stunden ver brachte ich damit zuzusehen, wie die Pappe geschnitten und gestapelt wurde. Es war eine Zuflucht vor anderen, schwierigeren Aspekten meiner Kindheit. Ich war begierig auf Pappstücke. Noch heute bin ich auf Pappe fixiert. Das heißt, Papier und Kartonagen jeder Art erscheinen mir als ausgesprochen begehrenswert. In altmo 49
dischen Schreibwarengeschäften macht mich der Geruch von Papier und Tinte lächerlich glücklich. Gerüche sind ein äußerst idiosynkratischer und subjekti ver Sinneseindruck. Warum ist die eine Person für unsere Begriffe wohlriechend, eine andere mehr als übelriechend? Ein schwer erklärbares Phänomen. Gewiß ist jedenfalls, daß Gerüche ebensogut verführen wie abstoßen können. Der Geruch mancher New Yorker Straßen bei großer Hitze ist etwas, wovor ich mich jeden Sommer fürchte. So gar frühmorgens geht von den Bürgersteigen vor einigen New Yorker Restaurants ein übelkeiterregender Gestank aus. Er entstammt den Relikten der Abfallkübel, die nachts für die Müllabfuhr nach draußen gestellt wurden. Die Bür gersteige werden mit dem Wasserstrahl gereinigt, bevor die Lokale am nächsten Tag wieder öffnen. Bis dahin kann der Gestank einen zum Würgen bringen, wenn man mit leerem Magen vorbeigeht. Gerüche sind ein machtvoller Faktor in unserem Alltag und in unserer Erinnerung. Es gibt Essensgerüche, die meine Essensneurosen wieder zum Leben erwecken. Viele Krisenmomente meines Verhältnisses zum Essen kann ich nacherleben - Momente, in denen ich mehr haben wollte oder weniger oder das, was ein anderer hatte. Andere Gerüche sind mit angenehmeren Erinnerungen verbunden. Der Geruch guten Kaffees beispielsweise. Für mich schwingt im Aroma frischgemahlenen Kaffees so viel anderes mit, andere Kaffees, andere Cafés, andere Gesprä che. Manche Gerüche sind einfach unwiderstehlich. Der Ge ruch von Schokolade beispielsweise. An Schokoladenthe ken muß ich schnell vorbeigehen, bevor der Geruch mir in die Nase steigt. Gerüche können aber auch unangenehme Assoziationen und Erlebnisse herbeibeschwören. So der Geruch der War 50
tezimmer von Arztpraxen oder der zahnärztlicher Instru mente. Gerüche sind durchdringend. Sie drängen sich nicht we niger auf als Lärm. Ich verabscheue Lärm. Manhattan ist voller Lärm. Ich finde Lärm so umweltbelastend wie Smog oder Qualm. Heute morgen kam ich an einem Mann vorbei, der oft auf meiner Straße steht und singt. Er hat einen Walkman auf. Er singt mit, was er sich anhört. Er kann sich nicht singen hören. Das ist nicht weiter schlimm. Er ist ein schauderhafter Sänger. Sein Gesang ver ursacht mir Kopfschmerzen. Heute morgen sang er Chers Hit »Believe« mit. Ich erkannte die Melodie trotz der un musikalischen Wiedergabe. Ich fing an, über Cher nachzudenken, und war glücklich. Der Gedanke, daß eine Frau in den Wechseljahren so er folgreich und einflußreich und schön sein kann, war so be geisternd, daß ich am liebsten gehüpft wäre. Ich schritt erhobenen Hauptes an der neuen Bäckerei in der Grand Street vorbei und verschwendete keinen Gedan ken mehr an frisches pain au chocolat.
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Geschenke Neulich hat mir eine Freundin pinkfarbene Bettlaken ge schenkt. Sie leuchteten so grell, daß sie fast neonfarben wirkten. Wenn sie noch eine Spur greller wären, müßte man mit Sonnenbrille ins Bett gehen. Meine Freundin wollte sich damit für einen Gefallen be danken. Als ich die Laken aus dem Geschenkpapier wik kelte, bekam ich bei ihrem Anblick Kopfschmerzen. Auf solchen Laken zu schlafen würde mir eine Migräne besche ren. Für einen Augenblick fragte ich mich, ob ich aussehe wie jemand, der gern auf pinkfarbenen Laken schläft. Ich glaube es eigentlich nicht. »Wenn sie dir nicht gefallen, kannst du es ruhig sagen, weil ich sie selber ganz toll finde. Am liebsten hätte ich sie für mich behalten«, sagte meine Freundin. »Sie sind wunderbar; sie werden auf meinem Bett sicher toll aussehen«, sagte ich. »Das dachte ich mir auch«, sagte sie in zufriedenem Ton. Wie kam sie auf so eine Idee? fragte ich mich. Seit Jahren ist meine Bettwäsche ausschließlich weiß. Letzten Monat, als ich eine graue Decke kaufte, war ich ganz aufgeregt. Warum habe ich meine Freundin angelogen? Warum konnte ich nicht zugeben, daß ich keine pinkfarbenen Bett laken mag ? Schließlich hatte sie mir den Weg geebnet - sie hatte gesagt, sie würde sie gern behalten. Mir scheint, daß ich fürchtete, mangelnde Begeisterung über das Geschenk könne unsere Freundschaft beeinträch tigen. Ich habe die Laken der Heilsarmee geschenkt. Und mich für die Farbe entschuldigt. »Die Farbe ist schwer im Kom men«, sagte die Frau, die sie entgegennahm. 52
Auf dem Heimweg schämte ich mich für meinen Snobis mus. Es war doch wohl nicht zuviel verlangt, auf Laken in egal welcher Farbe zu schlafen. Und es war nicht zuviel ver langt, die Wahrheit zu sagen, wenn man etwas geschenkt bekam. Ich ging die Fifth Avenue entlang und schämte mich. Ich war ein Snob und eine Lügnerin. Warum fiel es mir so schwer, die Wahrheit zu sagen? Eine Freundin schenkte mir einmal einen Schal mit Blu menmuster. Das Geschenk machte mich ratlos. Ich hätte gedacht, es wäre ein leichtes, aus meiner vorwiegend schwarzen Garderobe zu schließen, daß Blumenmuster meine Sache nicht sein können. Außerdem trage ich nie Schals. Sobald ich einen Schal zu tragen versuche, geschieht etwas mit mir. Mein Aussehen verändert sich. Ich verwandle mich in eine Stewardeß. Aber statt die Wahrheit zu sagen, bedankte ich mich überschwenglich für den Schal. Er liegt noch heute in ir gendeiner Schublade. Ich weiß nicht, warum es uns so schwerfällt, anderen einzugestehen, was wir empfinden. Ich weiß nicht, warum wir nicht ehrlicher miteinander umgehen können. Aber wir können es nicht. Es fällt uns schwer, Dinge zu sagen, die anderen eine Freude machen könnten, ganz zu schweigen von Dingen, die sie verletzen oder verunsichern konnten. Ich habe dich so gern, ist schwer zu sagen. Ich wäre gern mit dir befreun det, bleibt uns im Halse stecken, wenn wir älter als zehn Jahre sind. Ich bin zu Abendessen gegangen, zu denen ich nicht ge hen wollte. Ich habe Cocktailpartys besucht, die mir ein Graus waren. Weil ich nicht imstande war, die Wahrheit zu sagen. Ich habe »Das Rheingold« abgesessen, den ersten Teil der Wagnerschen Operntetralogie »Der Ring des Nibelun 53
gen«. Ich saß in einer Loge bei der Aufführung der Metro politan-Opera-Inszenierung im Lincoln Center und tat so, als freute ich mich darüber. Ich war von Opernliebhabern eingeladen worden und hatte mich nicht getraut, die Einladung abzulehnen. Ein anderer als ich hätte »Das Rheingold« faszinierend gefun den, aber mich macht Wagner nervös und unfroh. Als die Nibelungen in ihrer Wohnstatt unter der Erde gruben und arbeiteten, krallte ich die Hände in meinen Sitz. Am Ende des zweiten Akts wäre ich am liebsten gegangen, aber ich traute mich nicht, meine Gefühle zu erkennen zu geben. Ich war sehr erleichtert, als die Aufführung zu Ende war. Als wir das Theater verließen, bedankte ich mich über schwenglich bei meinen Gastgebern, einem Ehepaar. »Hät ten Sie Lust, Teil zwei zu sehen, >Die Walküre« fragte mich der Mann. Das Herz sank mir in die Hosen. Ich sah ihn an. »O ja«, antwortete ich. Im Taxi auf dem Weg nach Hause konnte ich nicht fas sen, was ich soeben gesagt hatte.
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Großartig Fröhliche Menschen stimmen mich bedrückt. Manche Leute sind von unermüdlicher Fröhlichkeit. Sie machen mir angst. Es ist unnormal, so fröhlich zu sein. Ich habe nichts gegen zeitweilige Fröhlichkeit. Sie gefällt mir sogar. Aber ununterbrochene Fröhlichkeit bereitet mir Probleme. Und ermüdet mich. Ich merke, daß ich in Anwesenheit übertrieben fröhli cher Leute immer unfroher werde. Ich beginne mich zu fra gen, was sich hinter all dieser Fröhlichkeit verbergen mag. Was es zu verbergen geben mag. Menschen mit Ängsten, Komplexen und Schwierigkei ten wecken meine Anteilnahme viel eher als Menschen, die einen allzu glücklichen Eindruck machen. Die einzige Art übertriebener Fröhlichkeit, die ich er trage, ist die, der man bei Krankenhauspersonal und Flug zeugbesatzungen begegnet. Für Fröhlichkeit in Kliniken und Krankenhäusern bin ich dankbar. Nach Röntgenaufnahmen und anderen Un tersuchungen habe ich stets die Miene der Ärzte und Mitar beiter beobachtet. Wenn sie fröhlich und zuversichtlich aussahen, ging es mir auf der Stelle besser. In Flugzeugen verhält es sich nicht anders. Bei Turbulen zen, bei unerwarteten Hopsern oder Geräuschen sehe ich sofort nach dem Gesichtsausdruck des Bordpersonals. Wenn es fröhlich wirkt, bin ich beruhigt. Fröhlichkeit kann sehr praktisch sein. In New York be gegnet man so vielen Leuten, daß es oft ein Segen ist, sich auf freundliche Weise kurz fassen zu können, hallo zu sa gen und dabei zu strahlen, ohne sich mit einem längeren Gespräch aufzuhalten. Das war mir nicht klar, als ich nach New York zog. Ich 55
hatte geglaubt, Freundschaften und Beziehungen entwik kelten sich dort wie anderswo auch. Ich beging den Fehler, freundlich, freundschaftlich mit anderen verkehren zu wol len. Eine Nachbarin holte ihre Post aus dem Briefkasten im Treppenhaus. Ich blieb stehen und erkundigte mich nach ihrem Befinden. »Es war eine schwierige Woche für mich, mein Vater ist schwer krank«, sagte sie. Sie erzählte über zehn Minuten lang von ihren alten Eltern. Beide waren 98. Beide. Ich hörte mir alle Details der Krankheit ihres Vaters an. Ich weiß, welche Sorgen man sich macht, wenn ein Eltern teil krank ist. Laut bewunderte ich die Langlebigkeit ihrer Eltern. Sie erzählte, daß sie sich vor dem Tod ihrer Eltern fürchtete. Ich sagte, ich wisse, wie schwer es sei, Vater oder Mutter zu verlieren. Ich hatte eine Verabredung, zu der ich zu spät kommen würde, aber ich hörte weiter zu. Sie sprach davon, daß der Tod von Vater oder Mutter sie mit der eigenen Sterblichkeit konfrontieren würde. Ich versuchte, mitfühlend dreinzu blicken. Ich hatte den Eindruck, daß sie alt genug war, um sich schon mehr als einmal Gedanken über das Sterben ge macht zu haben. Schließlich fand das Gespräch über ihre Eltern ein Ende. »Und wie geht es Ihnen ?« fragte sie. »Ich war in letzter Zeit etwas schwach auf den Beinen«, sagte ich. Das stimmte. Es war ein langer, kalter Winter gewesen. Zu lang. Ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sie mir ihre Hand entgegenstreckte. Wie ein Polizist, der den Verkehr anhält. Ihre gespreizten Finger befanden sich wenige Zenti meter vor meinem Gesicht. »Demnächst mehr«, sagte sie. »Ich muß mich beeilen!« rief sie über die Schulter, wäh rend sie das Gebäude verließ. Ich stand einen Augenblick ganz benommen im Trep penhaus, bevor ich zu lachen anfing. Danach ging ich ihr 56
aus dem Weg. Wenn sie ihre Post holte, ließ ich meine im Briefkasten. Auch in einem anderen Gebäude gab es jemanden, dem ich gern aus dem Weg gegangen wäre, in dem ersten Ge bäude, in dem wir in New York wohnten. Es war der Por tier. Ich konnte ihm nicht ausweichen. Jedesmal wenn ein Bewohner sich blicken ließ, begrüßte er ihn. Wenn man ihn fragte, wie es ihm gehe, antwortete er: »Großartig.« Jedesmal. »Großartig«, bellte er als Ant wort auf jede Nachfrage und jeden Gruß. Er bellte es her aus wie ein Feldwebel. Ich war jedesmal verblüfft. Großartig kam mir so über trieben vor. Insbesondere in New York, wo sich einem allzu viele Dinge aufdrängen, die verhindern, daß es einem allzu lange großartig geht. Er sah nicht großartig aus. Er sah müde und alkoholkrank aus. Zu guter Letzt nötigte mir sein Beharren auf diesem Wort Bewunderung ab. Ich habe nie zu sagen vermocht, mir gehe es großartig. Einmal habe ich es versucht. Das Wort blieb mir im Hals stecken. Auf die Frage »Wie geht es Ihnen?« kann ich nicht einmal »Sehr gut« antworten. Aus Furcht, die Worte konnten einen bösen Geist herbei rufen. Das ist Unsinn. Ich glaube nicht an Geister. »Nicht schlecht«, pflegte ich zu antworten. Bis ich es nach Jahren der Analyse fertigbrachte, »Gut« zu sagen. Und gut ist nicht schlecht. Überhaupt nicht schlecht.
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Die Hamptons Die Hamptons, die Sommerfrische der wohlhabenden New Yorker und der Berühmtheiten aus Los Angeles, ma chen eine topographische Veränderung durch. Die Reichen bringen tonnenweise Erde und Gerätschaf ten für Erdarbeiten mit. Das diesjährige Statussymbol sind Hügel - einer oder mehrere. In furchterregender Geschwin digkeit bauen die Reichen auf ihren Grundstücken Hügel, Erdwälle, Dünen. In einer Landschaft, die ein flaches Kartoffelackerland war, modellieren und formen sie Erhebungen und Wölbun gen. Die Superreichen legen noch zusätzlich ein paar Bö schungen im Garten sowie Teiche und Seen an. In der New York Times wurde ein Immobilienmakler aus den Hamptons zitiert, dessen Worten zufolge in den 60ern das Statussymbol schlechthin der Freiluftgrill war, in den 70ern der Swimmingpool, in den 80ern der eigene Tennis platz und in den 90ern ein ausgewachsener Basketball platz. Und jetzt ist es das Vermögen, Hügel anzulegen. Und das, den Tennisplatz tiefer zu legen. Mindestens zwei Meter unter der Erdoberfläche. Warum ? Der Makler erklärte, daß auf diese Weise das Geräusch des Aufschlags unhörbar werde. Ich kann verstehen, daß das Geräusch von Tennisbällen Leute nervös macht. Aber es muß ermüdend sein, wenn man sein Leben so akkurat formen und gestalten kann. Wenn man Landschaft und Horizont nach Belieben heben und senken kann. Wenn man die Lautstärke aller Geräu sche manipulieren kann. Und unterirdisch Tennis spielen kann. Mir wäre es zu anstrengend. Wie sollte man bei dem ständigen Wandel der Moden 58
wissen, wo man ist, wenn man sich im eigenen Garten be findet? Im einen Augenblick könnte man meinen, man be fände sich auf einer Ranch in Wyoming, wo man ein Lamm oder zwei auf den Grillspieß steckt und Cowboystiefel trägt. Aber bevor man mit der Wimper zucken könnte, spa zierte man durch eine Landschaft, die einem Gut im engli schen Lake District ähnelt, so daß man sich eine Pfeife und ein Dinnerjackett besorgen müßte. Alles wäre schrecklich verwirrend. Doch vielen Leuten gefällt es, so zu leben. Vielen Be rühmtheiten. Steven Spielberg, Tom Hanks und Barbra Streisand verbringen ihre Sommerferien in den Hamptons. Ich fahre in die Nicht-Hamptons. Nach Shelter Island. Shelter Island liegt am Ende der Nordzunge von Long Is land. Die Hamptons befinden sich in der Südzunge. Von ei nem der Orte zum anderen dauert es mit der Fähre fünf Mi nuten. Aber mehr als fünf Minuten trennt sie voneinander. Beide Orte könnten sich auf verschiedenen Planeten befinden. Shelter Island hat kein Kino, keinen Fitneßclub, keine Bäder, keine Boutiquen und keine Restaurants, die so aus gebucht sind, daß man keinen Tisch reservieren lassen kann. Bei ihren Picknicks am Strand sind die Leute nicht in Arbeitsprozesse eingespannt. Während sie einen atembe raubenden Sonnenuntergang betrachten, schreien sie nicht in ein Handy. Auf Shelter Island muß man nicht schon vor dem Früh stück passend gekleidet und frisiert sein. Man darf fürch terlich aussehen. Shelter Island zieht einen stilleren Men schentypus und nicht so viele Berühmtheiten an. Im vorletzten Sommer fuhr ich einen kleinen Strandab schnitt auf Shelter Island entlang, und plötzlich kam es mir vor, als wäre ich an meinem Freund Richard Pepler vorbei gekommen, der auf einem Fahrrad fuhr. 59
Ich wendete und fuhr zu Richard zurück, der mit nack tem, gebräuntem Oberkörper auf seinem Rad saß. Ich fuhr neben ihm her und winkte, aber Richard schaute weg. Ich war ratlos. Ich konnte mich nicht entsinnen, ihn be leidigt zu haben. Vielleicht, dachte ich, hatte er einen schlechten Tag? Er sah tatsächlich etwas sonderbar aus. War es vielleicht gar nicht Richard ? Ich fuhr eine weitere Schleife und ein zweitesmal an ihm vorbei. Er winkte auch jetzt nicht. Statt dessen trat er erbit terter in die Pedale. Ich fuhr noch einmal zurück. Und starrte Richard an. Sein Fahrrad schwankte besorgniserre gend. Ich setzte ein Grinsen auf, das ich für freundschaftlich hielt. Richard Pepler starrte entsetzt zurück. Er wendete sein Rad in eine andere Richtung und trat mit aller Macht in die Pedale. Ich war verletzt. Und dann ging mir ein Licht auf. Es war nicht Richard Pepler. Dieser vertraut wirkende junge Mann war John F. Kennedy jr. Ich schämte mich schrecklich. JFK jr. muß mich für eine aufdringliche Verehrerin gehalten ha ben. Mir war klar, daß er nie glauben würde, daß ich ihn für Richard Pepler gehalten hatte. Später am selben Tag fragte mich jemand, ob ich wisse, daß JFK jr. sich auf Shelter Island befand. Ich zuckte zu sammen. Ich sagte, das hätte ich gerne früher gewußt.
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Hypochondrie Eine meiner Freundinnen wurde wegen einer akuten Blind darmentzündung mit Blaulicht ins New York Hospital ein geliefert. Sobald ich das erfuhr, bekam ich rechts im Unter leib Bauchschmerzen. Ich geriet in Panik. Bis mir einfiel, daß mein Blinddarm vor Jahren entfernt worden war. Ich übernehme die Schmerzen und Wehwehchen anderer Leute. Ich bekomme ihre Entzündungen und Krämpfe und Leiden. Ich bin so leicht zu beeinflussen, daß ich zu stottern an fange, wenn andere stottern, und noch eine halbe Stunde nach der Unterhaltung mit einem Stotterer stottere. Wahrscheinlich könnte ich auch stellvertretend Höhen angst oder epileptische Anfälle bekommen. Ich habe jedes Symptom gehabt, das mein Mann je hatte. Als ihm ein Überbein am Fuß operativ entfernt wurde, machte ich während der Operation einen so kranken Ein druck, daß man mir ein Krankenhausbett anbot. Nach der Operation humpelte ich wochenlang. Ich kann von keiner Krankheit hören, ohne sie mir vor zustellen. Ich gehöre zu den Leuten, die alle eventuellen Nebenwirkungen auf Beipackzetteln studieren. Drei Vier tel davon mache ich durch. Wenn jemand stirbt, erkundige ich mich immer nach der Todesursache. Dann versuche ich herauszufinden, wie die Krankheit sich eingestellt hat. Ich bin Abonnentin mehrerer medizinischer Zeitschrif ten. Sie enthalten immer verstörende Statistiken oder Be richte von neuen Krankheiten, auf die wir uns alle untersu chen lassen sollten. Abends kann ich diese Zeitschriften nicht lesen, denn danach könnte ich kein Auge zutun. 61
Ich bin nicht allein mit meiner Beeinflußbarkeit. Ich habe gelesen, daß Wissenschaftler regelmäßig feststellen, daß Patienten, denen man ein Placebo verabreicht, in 30 bis 40 Prozent aller Fälle bei einem breiten Spektrum von Erkran kungen sichtbare Besserung zeigen, von der Seekrankheit bis zu Migräne, Angina und Operationsschmerzen. Und 10 Prozent der Leute, die ein Placebo einnehmen, spüren Nebenwirkungen, die normalerweise nur durch eine chemisch wirksame Arznei erzielt werden können. Ich habe ein Regal voller Gesundheitsbücher. Ich besitze medizinische Nachschlagewerke. Der Besitz dieser Bücher hat etwas Beruhigendes. Ein Freund rief mich eines Abends an. Er war aufgeregt. Seine Frau hatte hohes Fieber. Sie hatte eine Grippe gehabt. Wann, so fragte er sich, war es ratsam, sie ins Krankenhaus zu bringen ? Es ist unangenehm, in New York krank zu sein. Die mei sten von uns haben keinen Hausarzt - ganz gewiß keinen, den man nachts anrufen könnte. Ich zog meine Bibliothek zu Rate. Ich sah unter Fieber nach. Ich wurde von Glaukom, Hörsturz und Schlaganfall risiken abgelenkt, bevor ich erfuhr, daß eine Temperatur von über 39 oder 40 Grad Anlaß zu ernsthafter Besorgnis bietet. Danach lag ich die ganze Nacht wach und versuchte, nicht daran zu denken, einen Hörsturz oder Schlaganfall zu erleiden. Ich wünschte, ich wäre weniger ängstlich. Zu Anfang dieses Jahres habe ich von einem Psychiater in Kalifornien gelesen, der ängstliche Mäuse gezüchtet hat, weil er hofft, so mehr über die menschliche Ängstlichkeit in Erfahrung zu bringen. Dieser Wissenschaftler hat besonders nervöse Mäuse gezüchtet, indem er die Anzahl ihrer Serotonin-Re zeptoren auf genetischem Weg verringerte. Das Ergebnis: Seine Mäuse waren scheu, nervös und 62
ängstlich. Beim geringsten Anlaß schraken sie zusammen. In ungewohnten Situationen erstarrten sie zur Salzsäule und verkrochen sich an der nächsten Wand. Ich konnte mich gut mit diesen ängstlichen, unsicheren, hypernervösen Mäusen identifizieren. Ich verliere schnell die Nerven. Ein Plakat, das eine Zeit lang in allen New Yorker Restaurants aushing, raubte mir jedesmal die Fassung. Das Plakat demonstrierte den Heimlich-Hilfsgriff. Er dient dazu, Menschen vor dem Ersticken zu retten. Mir nahm das Plakat jeden Appetit. Ich überlegte beim Essen die Hälfte der Zeit, was ich tun sollte, falls ich es mit einem Erstickenden zu tun bekam. Über irgend etwas kann man sich immer Sorgen machen. Das letzte Frühjahr war besonders schlimm für Men schen, die unter Heuschnupfen leiden. Der Pollenflug in New York hatte dramatische Werte. Ich las, daß Leute mit Heuschnupfen gut daran täten, sich abends, wenn sie nicht mehr aus dem Haus gingen, die Haare zu waschen. Auf diese Weise konnten keine Pollen aus ihrem Haar auf das Kopfkissen geraten und nächtliche Niesanfälle auslösen. Ich begann, mir abends die Haare zu waschen. Mein Mann lachte sich halb tot. »Du hast doch gar keinen Heu schnupfen«, sagte er. »Das ist reine Vorbeugung«, antwor tete ich.
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Instantregeneration Instantregeneration ist in New York der letzte Schrei. Un zählige Institute haben sich in den letzten zwei Jahren eta bliert. In unmittelbarer Nähe meiner Wohnung in SoHo befin den sich drei oder vier von ihnen. Das allernächste, die He lena Rubinstein Beauty Gallery, ist dort, wo früher zwei Kunstgalerien angesiedelt waren. In SoHo kann es sich nie mand mehr erlauben, Kunst zu verkaufen. Die Mieten sind zu hoch. Was ist ein Institut für Instantregeneration? Erstens ist es ein Ort, wo man Geld ausgibt. Viel Geld. Man geht dort hin, um sich zu regenerieren und um sich vom übrigen Le ben zu erholen. Das Helena-Rubinstein-Institut bietet festigende und for mende Behandlungen für das Gesicht an, auch für den Rük ken. »Schulterfreie und rückenfreie Dekolletes sind kein Problem mehr«, verrät die Reklame des Kosmetikinstituts. Man kann sich ein Peeling aus einer Zuckerpackung ma chen lassen und die »revitalisierenden Eigenschaften des Zuckers entdecken«. Ich weiß, wie revitalisierend Zucker sein kann. Zwei Riegel Zartbitterschokolade von Lindt, und ich bin euphorisch. Weil wir uns in New York befinden, bietet das HelenaRubinstein-Institut eine Instantgesichtsmaske an. Sie dau ert nur dreißig Minuten. Kosmetiksalons erfüllen einen Zweck. Man geht hin, um sich verwöhnen zu lassen. Um Poren und Psyche reinigen zu lassen. Um Haut und Nervensystem streicheln und massieren und einpudern zu lassen. Um sich den Geist schälen und stärken zu lassen. 64
Man geht um des Vergnügens willen hin. Vorausgesetzt, man mag so etwas. Ich mag es nicht. Kosmetiksalons ma chen mich nervös. Ich mißtraue dem, was sie verkaufen. Ich argwöhne, daß man dort wenig mehr erhält als eine Menge Aufmerksam keit. Ich ziehe eine andere Art von Aufmerksamkeit vor. Im Verlauf von zwanzig Jahren habe ich drei Analysen absol viert. Schlammasken und Zellulitispackungen verursachen mir klaustrophobische Anwandlungen. Um eine entspan nende Massage zu genießen, benötige ich vorher die intra venöse Verabreichung von Valium. Leise Minderwertigkeitsgefühle beschleichen mich ange sichts meiner Unfähigkeit, im Kosmetiksalon die Glücksge fühle zu empfinden, die andere dort zu erleben scheinen. Manchmal habe ich den Eindruck, auf diesem Gebiet völlig zu versagen. Ich habe meine jüngere Tochter einmal in ein Kosmetik institut mitgenommen. Ich dachte, in Gesellschaft würde ich mich vielleicht wohler fühlen. Ich ließ uns beide für eine Massage eintragen. Meine Tochter schlief schon halb, bevor sie sie anrührten. Ich war so angespannt, daß ich zu überlegen begann, ob ich einen Betablocker in der Handtasche hatte, mit dem ich meinen Blutdruck senken könnte. Die Masseuse sagte immer wieder, ich solle mich ent spannen. Ich sagte immer wieder, daß ich es versuchte. Sie massierte und streichelte und knetete. Ich war so ver spannt, daß ich unregelmäßig zu atmen begann. »Schließen Sie die Augen«, sagte die Masseuse, als sie zu meinem Gesicht kam. »Das kann ich nicht«, sagte ich. »Ich muß sie offenbehalten.« Ich hörte förmlich, wie sie die Zähne zusammenbiß. Ich war sehr glücklich, als die Massage vorbei war. 65
Sobald ich zu Hause war, wollte ich duschen. Ich konnte es kaum erwarten, die fremden Gerüche und Aromen abzu waschen, die man in mich hineinmassiert hatte. Auf dem Weg nach draußen fiel mir auf, daß andere Kundinnen einen seligen, träumerischen Gesichtsausdruck hatten. Meine jüngere Tochter wirkte benommen. Es dauerte fast zwei Stunden, bis ich wieder normal at men konnte. Und meine Gesichtshaut spannte und juckte. Abends sah ich in den Spiegel. Mein für gewöhnlich kla rer Teint war voll roter Flecken. Ich sah verheerend aus. Meine Tochter rief mich an, um sich zu vergewissern, ob ich mich beruhigt hatte. »Das mache ich nie wieder«, sagte ich. Ich werde es nie wieder tun. Der einzige Kosmetiksalon, in dem ich mich wohl fühle, ist der von Olga am La Guardia Place. Dorthin gehe ich zur Pediküre. Alle Pediküren und Maniküren sind Russen. Sie sind herzlich und liebevoll und leicht erregbar. Sie verlieren schnell die Nerven beim geringsten Anlaß - wenn ein Stift fehlt oder ein Polierschwämmchen nicht auffind bar ist. Ich liebe sie. Ich höre gern ihren auf russisch geführten Gesprächen zu. Es klingt alles so bestimmt und dringlich. Der verbale Schlagabtausch, der zwischen ihnen stattfin det, befreit mich von meiner Anspannung. In ihrer Gegen wart finde ich Gelassenheit. Zehn Minuten bei Olga, und ich bin ein neuer Mensch.
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Kinder Letztes Jahr haben vier intelligente junge Frauen aus mei ner Bekanntschaft ihre Arbeit aufgegeben, um Kinder zu bekommen. Ich fand das beunruhigend. Besorgniserregend. Depri mierend. Ich fühlte mich beraubt. Diese Frauen hatten sich zu einem Ungewissen Ziel aufgemacht. Mutterschaft. Ich war mir nicht sicher, ob eine einzige von ihnen wiederkeh ren würde. Jede einzelne hatte ich angefleht, nicht aufzubrechen. Be komme das Kind, hatte ich gesagt, aber bleib nicht zu lange weg. Komm bald wieder. Mir war zumute, als würden sie auf den Mars ziehen. Und in gewisser Weise ähnelt die Mutterschaft dem Leben auf einem anderen Planeten - einem Planeten, wo Milchre zepte und Gel für zahnende Kiefer wichtiger sind als alles, was sich im Kosovo oder sonstwo ereignet. Auf eine der jungen Frauen, eine Lektorin, hatte ich stundenlang eingeredet. Ich beschwor sie, sich selbst nicht zu vernachlässigen, die Leistungen eines Kindes nicht an die Stelle der eigenen zu setzen. Dann ging sie. Und ich spürte, daß ich sie verloren hatte. Sie war fort. Ich spürte, daß sie in einem anderen Univer sum angekommen war, im Universum der Mutterschaft. Dieses Universum erfaßt all seine Bewohner und ver schlingt sie. Und anders als Dorothy, die in »The Wizard of Oz« weg gezaubert wird, sind die Mütter nicht wieder zu Hause in Kansas, wenn sie erwachen. Sie sind noch immer im Land der Mutterschaft. Und dort kann man sich so leicht verirren. Ich weiß Be scheid. Ich hatte mich jahrelang verirrt. 67
Ich bekam meine Kinder in jungen Jahren. In meiner Er innerung sind es einsame und deprimierende Jahre, obwohl ich nicht glaube, daß ich damals den Eindruck hatte, depri miert zu sein. Ich war dafür zu beschäftigt. Zu beschäftigt damit, mich zu beschäftigen. Ich putzte das Haus. Ich vollendete einen vollendeten Käsekuchen. Und buk sie zu Hunderten. Ich besuchte mit kleinen Kindern Spielplätze und suchte mit ihnen regelmäßig die Feuerwehr auf, um die Löschfahr zeuge zu bewundern. Ich setzte Puzzles und Legobausteine zusammen und nahm sie auseinander. Schon bald war mein Gehirn Stück werk. Meine Intelligenz ertrank in Windeln, Schnullern und püriertem Kürbis, Schnipsel von getrocknetem Kürbis klebten an den Ärmeln all meiner Kleidungsstücke. Mein Gehirn war zu Kürbisbrei geworden. Ich habe zu viele Frauen ihr Gehirn abgeben gesehen. Ich habe zu viele Frauen sich in Mann und Kindern verlieren gesehen. Sie büßen alle Fähigkeiten ein bis auf die, hinter anderen herzuputzen. Männer tun das nicht. Männer verzichten nicht auf ihr Hirn, wenn sie Vater werden. Männer haben es leichter. Niemand erwartet von ihnen, daß sie zu Hause bei den Kindern bleiben. Das gilt noch immer als Frauenrolle. Noch immer betrachtet die Gesellschaft in unserem auf geklärten Zeitalter Frauen, die dem Kinderkriegen ihre Karriere vorziehen, mit scheeläugigem oder mitleidigem Blick. Und bewundert Frauen, die ihre Arbeit für ihre Kin der aufgeben. Die Mutterschaft ist ein undankbares Geschäft. Kinder danken einem nie, was man für sie getan hat. Was sie nie vergessen, ist das, was zu tun man versäumt hat. Meine ältere Tochter sagte mir, ich hätte sie nie zu ihren Partys gefahren. Alle anderen Mütter fuhren ihre Tochter 68
hin, sagte sie. Meine ausgeprägteste Erinnerung an jene Jahre ist die daran, Kinder herumzufahren. Zu Partys, zum Ballett- und Schauspielunterricht. Zum Taekwondo und zum Klavierunterricht. Zu ihren diversen Freunden und Freundinnen. Zur Schule und nach Hause. Ich saß immer im Wagen. Ich fuhr mich um den Verstand. Meine Kinder, die inzwischen erwachsen sind, haben sich auch über den Mangel an religiöser Unterweisung be klagt. Die Religion hat in ihrer Erziehung so gut wie keine Rolle gespielt. Ich dachte, ich ermögliche ihnen die Frei heit, zu wählen. Sie sahen es als Unterlassung. »Ich habe euch ein paar Mal in Synagogen und Kirchen mitgenommen«, sagte ich zu meiner jüngeren Tochter. »Weil dir die Gebäude gefallen haben«, sagte sie. Sie hatte recht. Religiöse Bauwerke haben mich schon immer angezo gen. Kirchen, Synagogen und Moscheen. Sie wirken auf mich als Orte, wo die oberflächlichen Aspekte des Lebens sich verflüchtigen. Sie scheinen einen gewissen Frieden aus zustrahlen, einen Frieden, den an anderen Orten zu finden schwerfällt. Einen Frieden, der sich einem beinahe gänzlich entzieht, wenn man Kinder hat.
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Kleidergrößen »Sie dürften Größe 4 haben«, sagt die Verkäuferin in SoHo zu mir, als ich den dunkelblauen Sommermantel aus dem Schaufenster anprobieren möchte. »Nie im Leben«, sage ich. »Ich bin ziemlich kräftig.« Das bin ich. Schließlich bin ich 1,75 Meter groß. Ich habe 100 cm Hüftumfang. Niemand hat mir je einzureden versucht, ich hätte Kleidergröße 4. Größe 4 ist in Austra lien Größe 6 und in Deutschland Größe 34. Größe 4 ist ein zierliches Format. »Ich bin ziemlich kräftig«, sage ich abermals. »Nein, das stimmt nicht«, sagt sie. »Doch, das stimmt«, sage ich. »Sie sind schlank«, sagt sie. »Größe 4 paßt mir nicht«, sage ich. Zur Verdeutlichung klopfe ich auf meine Hüften. Sie sieht meine Hüften an. Sie sind nicht zu übersehen. Ich klopfe erneut auf sie. »Ich hol' Ihnen den Mantel in Größe 6«, sagt sie. Ich sehe ihr zu, als sie zur Stange mit den Mänteln geht. Ich merke, daß ich zwischen dem Unglauben, jemand könne mir Größe 34 zutrauen, und einer hartnäckigen Hoffnung, ich könnte vielleicht wirklich so zierlich sein, hin- und hergerissen bin. Ich richte mich kerzengerade auf und ziehe meinen Bauch ein, bis er ganz flach ist. Ich spüre, wie ich bei dem Gedanken, wie dünn ich aussehen muß, vor Freude erröte. Als ich mit den Armen nicht in die Mantelärmel hinein komme, schüttelt die Verkäuferin den Kopf. »Er fällt klein aus«, sagt sie. Ich bin richtig erschöpft. In einem anderen Laden war der Verkäufer zuvor nicht davon abzubringen, meine Größe sei XS. Selbst ohne Kopf und Gliedmaßen würde ich nicht in XS hineinpassen. 70
Einkaufen ist mir sowieso verhaßt. In Kleidergeschäften komme ich mir immer häßlich vor. Meistens versuche ich, nicht in den Spiegel zu sehen, wenn ich Kleider anprobiere. Ein Tun, das meinem eigentlichen Vorhaben zu widerspre chen scheint. Zu guter Letzt kaufe ich einen Mantel in Größe 10. Er paßt. Auf dem Weg nach Hause kommt mir der Gedanke, daß ich einen neuen Trend entdeckt haben könnte. New Yorker Verkäufer, so will es mir scheinen, werden dazu an gehalten, den Kunden den Eindruck zu vermitteln, sie seien dünn. Das ist nicht in Ordnung. Frauen haben an ihrem Umfang und ihrem Aussehen ge nug zu leiden. In Amerika halten schon achtjährige Mäd chen Diät. Und keine Frau, die ich kenne, ist mit ihrem Aussehen wirklich glücklich, ganz egal, wie alt sie ist. Ich zum Beispiel kann mich viermal umziehen, bevor ich weiß, was ich abends tragen will. Wenn mein Mann Hemd und Hosen immer wieder wechselte, bis er das Haus verlas sen kann, wäre ich völlig fassungslos. Oder hysterischen Lachanfällen ausgeliefert. Mein Mann hat mich noch nie gefragt, ob eine Farbe ihm steht oder ob ein Hemdenschnitt ihn dick macht. Beide Fragen habe ich über diverse Kleider aus meinem Besitz öf ter als einmal gestellt. Meinem zweiundachtzigjährigen Vater, der mich aus Australien anruft, wo er lebt, erzähle ich von diesem Mar tyrium. »Es ist albern, mich als dünn zu bezeichnen«, sage ich zu ihm. »Auch wenn ich ganz schön abgenommen habe. Ich wiege jetzt weniger, als ich mit zwölf gewogen habe«, sage ich. »Das kommt, weil du schon immer ein großes Kaliber warst«, sagt er. »Du warst ein stämmiges, untersetztes Mädchen.« Seine Wortwahl gefällt mir nicht. Ich finde sie verlet zend. Ich schreibe sie seinem Englisch zu. Mein Vater, ein 71
polnischer Jude, der als Flüchtling nach Australien kam, hat einige der Feinheiten dieser Sprache nie gemeistert. »Ich war nicht stämmig«, sage ich. »Ich hatte nie breite Schultern.« »Man muß nicht unbedingt breite Schultern haben, um stämmig zu sein«, sagt er. Er seufzt. »Warum sprechen wir über so etwas?« sagt er. »Ich hab' dich angerufen, weil ich dir sagen wollte, daß du mir fehlst und daß ich dich liebe. Wann kommst du nach Australien ?« »Ich war nicht stämmig«, sage ich. »Und ich war nicht untersetzt. Man kann nicht gleichzeitig untersetzt und groß sein.« »Du warst untersetzt und korpulent«, sagt er. Ich hatte fast vergessen, daß Taktgefühl noch nie seine Stärke war. »Warum streitest du mit mir?« sagt mein Vater. »Du warst dick.« »Okay, ich war dick«, sage ich. »Aber jetzt bin ich nicht mehr dick.« »Das stimmt«, sagt er. Nun gut, ich bin nicht dick. Aber ich bin auch nicht dünn. Und ich habe nicht Kleidergröße 4.
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Lärm Heutzutage, da die New Yorker Straßenkriminalität von Prada-Läden und freundlichen Polizisten abgelöst worden ist, scheinen Besucher sich hauptsächlich am Volumen der Dezibel zu stören, die ihre Ohren überfallen. In den letzten Wochen haben mir ein halbes Dutzend Leute - darunter kein einziger New Yorker - bestätigt, wie ermüdend, erschöpfend und nervenaufreibend der Lärm in New York ist. Sie haben recht. New York ist eine auffallend laute Stadt. Und der Lärm kann einen um den Verstand bringen. Er hört nie auf. Ich habe versucht, das Klappern und Dröhnen der Müll abfuhrlaster vor Morgengrauen beruhigend zu finden. Es als etwas zu betrachten, was einen neuen, sauberen Tag einläutet. Doch viele andere der omnipräsenten Lärmquellen er schrecken und stören mich noch immer. Die Preßluftbohrer beispielsweise. Ständig werden Straßen oder Bürgersteige aufgegraben. Ganz egal, in welchem Teil der Stadt man wohnt, dauernd arbeitet eine Straßenbaumannschaft in der Nähe. Die Männer bohren und graben und schaufeln und mi schen und kippen in der Nachbarstraße. Sie reißen Pflaster steine und Randsteine und Asphaltdecken heraus und erset zen sie durch neue. Jede Straße scheint permanent Bauarbeiten zu erleiden. Die Straßen müßten eigentlich so glatt und makellos sein wie Carrara-Marmor, aber sie sind es nicht. Ein paar Wochen lang sehen die reparierten Straßen wie neu aus. Und dann stellen sich die Schlaglöcher und Risse wieder ein. Und die Straße sieht wieder genauso aus wie vor 73
her. Und die Bautrupps rücken wieder an. Die kurze Lebenszeit der Straßenreparaturen muß mit dem Verkehrsaufkommen in New York zu tun haben. In ei nem Artikel der New York Times über den Parkplatzman gel in der Stadt wurde darauf hingewiesen, daß jeden Mor gen 934000 Autos nach Manhattan hineinfahren. Die Beanspruchung durch die vielen Autos und die vielen Menschen muß enorm sein. Und die genannten 934000 Autos müssen sich 127000 Tiefgaragenstellplätze teilen. Das könnte zumindest teilweise die schlechten Nerven und die noch schlechtere Laune einiger Fahrer erklären. Ihr Hupen und Tuten bewirkt den unmißverständlichen Soundtrack New Yorks, eine Tonspur aus Autohupen. Es gibt keine Straße in Manhattan, die nicht vom Ge lärme der Autohupen erfüllt wäre. Pausenlos. Man sollte meinen, es wäre Voraussetzung für die Teilnahme am Ver kehr in dieser Stadt, daß man sich in einen ungeduldigen, feindseligen und oft genug unflätigen Irren verwandelt, so bald man sich ans Steuer begibt. Ich verabscheue das ganze Gehupe und Getute. Außer wenn ich ein New Yorker Taxi besteige. Dann verwandle ich mich in eine Irre. Wenn der Verkehr stockt, erwarte ich, daß der Fahrer alles und jeden anhupt. Tut er nichts dergleichen, verliere ich die Nerven. Macht es ihm etwa nichts aus, daß der Taxameter tickt und die Zeit vergeht ? Wenn er hupt wie verrückt, weiß ich, daß es ihm etwas ausmacht. Gern fuhr ich mit einem russischen Taxiunternehmen. Die Wagen waren ungepflegt und stanken nach kaltem Zigarettenrauch, aber auf die Fahrer konnte man sich ver lassen. Wenn sie aufgehalten wurden, hupten sie ununter brochen und grimassierten und fluchten auf Russisch. Das beruhigte mich unfehlbar. Aber es gibt noch anderen Lärm. Große Lastwagen don nern durch die Straßen. Und immer versucht ein Kranken 74
wagen oder Einsatzfahrzeug oder Feuerwehrwagen sich ei lig seinen Weg zu bahnen. An diesem Übermaß an Lärmattacken sind die Amerika ner selbst nicht unbeteiligt. Sie machen gern Krach. Sie sprechen laut, sie sind lärmend und rücksichtslos. Ein Freund aus Düsseldorf erzählte mir von einer Begeg nung mit einer Frau, die ihn in einer schicken Bar an der Upper East Side abschleppen wollte. Was in meinen Augen nur New Yorker Forschheit war, schien ihn richtiggehend schockiert zu haben. »Wie kann man bloß in Düsseldorf leben?« hatte sie ihn gefragt. »Düsseldorf ist eine elegante und kultivierte Stadt«, sagte er pikiert zu mir. Ich nickte. Ich mag Düsseldorf. »Düsseldorf ist eine lebendige, aufregende Stadt«, sagte er verärgert. Ich sah ihn an. »In Düsseldorf«, sagte ich, »kann man die eigenen Schritte hören.« Er war sprachlos.
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Lebensmittel Ich habe eine Freundin in Upstate New York besucht. Sie wohnt neben einem Bauernhof. Ich kam nachts bei ihr an. Am nächsten Morgen trat ich aus dem Haus und sah, daß Kühe gemolken wurden. Ich war außer mir vor Aufre gung. Und vor Erstaunen. Ich konnte es nicht fassen, daß Kühe noch immer gemolken werden. Ich hatte gedacht, daß Kühe längst zur Vergangenheit ge hörten, daß die Milch in Milchfabriken erzeugt wird. Es war äußerst verblüffend, Kühe auf einer Wiese zu se hen, wie man es von Kühen erwartet. Die Kühe waren nicht in Käfige gesperrt oder an irgendwelche High-Tech-Geräte angeschlossen. Sie sahen aus wie Kühe in Bilderbüchern. Ich stand da und starrte sie an. Mein erster Gedanke war, daß sie vielleicht für Filmaufnahmen hergebracht worden waren. In SoHo, wo ich wohne, wimmelt es von Filmteams. Ich dachte mir, daß die Kühe vielleicht als länd licher Hintergrund für irgendeinen Film dienen sollten. Und dann begriff ich, daß die Kühe zum Bauernhof ge hörten. Es war eine schockierende Erkenntnis. Die Vorstel lung, daß Kühe gemolken wurden, um Milch zu geben, war schwer zu verdauen. Ich vermutete, daß ich geglaubt hatte, in unseren moder nen Zeiten entstünde die Milch in Pappkartons. Als näch stes kam mir der Gedanke, daß Eier wohl noch immer von Hühnern gelegt werden. Alle Hühner, mit denen ich je zu tun hatte, waren in Folie eingeschweißt. Es ist Jahre her, daß ich eine lebende Henne gesehen habe, von einer Henne in der Nähe eines Eis ganz zu schweigen. Offenkundig ist mein Kontakt zur Natur und zum Na türlichen etwas eingeschränkt. Eigentlich stört mich das 76
nicht. Zuviel Harmonie mit der Erde kann unerwünschte Nebenwirkungen haben. An einem großen Steinsplitter in einem selbsterzeugten Selleriestengel hätte ich mir fast einen Zahn ausgebissen. Noch Stunden nach dem Genuß des Selleriesalats konnte ich Sandkörner im Mund spüren. Gemüse in Gemüseläden beeindrucken mich. Lebens mittel an Verkaufsständen wecken meine Bewunderung. Hübsch angeordnete Erdbeeren im Fruchtgeschäft entzük ken mich, während Erdbeeren, die noch im Boden wurzeln, mir weniger verlockend erscheinen. Ich weiß nicht einmal, wie die meisten Früchte und Ge müse angebaut werden. Ich habe noch nie einen Kirsch baum gesehen. Oder Rosenkohl, dessen Röschen sich noch am Stengel befinden. Den meisten Zeitgenossen dürfte es ähnlich gehen. Künftig werden wir ins Museum gehen müssen, um uns über Lebensmittel und ihre Herkunft zu informieren, so wie wir heute einzelne Vogel- und Tierarten im Zoo be trachten. Statt wie im Zoo die Lebensumstände von Löwen und Giraffen und Tigern zu rekonstruieren, werden die künfti gen Museen Lebensmittel ausstellen. Felder und Haine werden dort angelegt, damit wir sehen können, wie Bana nen und Kartoffeln entstehen. In New York erreichen uns wie in den meisten Groß städten Obst und Gemüse auf dem Luftweg. Wir essen To maten aus Kalifornien und Trauben aus Israel und Mangos aus Mexiko. Unsere Lebensmittel sind etikettiert und beschriftet. Al les hat einen eigenen Aufkleber. Jede einzelne Birne, Pflaume und Kürbiskugel trägt ihre Biographie auf dem Leib. Wie einen Ausweis. Manchmal sprechen sie einen an. »Hallo, ich bin ein Eikürbis und stamme aus Oklahoma«, sagte ein Kürbis, den 77
ich letzte Woche kaufte. Mir war, als müsse ich antworten: »Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Ich bin eine Strauchtomate aus New Jersey«, lautete die Botschaft auf meiner Tomate. Fast erwartete ich, auf dem Etikett auch Namen und Geburtsort der Eltern der Tomate zu finden. Wie bei Adoptionsunterlagen. Die letzte Mango, die ich erwarb, trug auf einem großen Etikett die Aufschrift »Mango«. Den Sinn dieser Maß nahme konnte ich nicht erkennen. War es für den Fall ge dacht, daß ich mir einbildete, einen Oktopus oder ein Stück Rindfleisch zu erstehen ? Die meisten von uns können die Lebensmittel, die wir es sen, noch identifizieren, auch ohne sie selbst angebaut zu haben. Eine Frau, die im selben Haus wohnt wie wir, brachte Salat mit, den sie bei ihrem Ferienhaus auf dem Land ange baut hatte. Alle im Haus bestaunten ihre Leistung. »Ist sie nicht klug?« sagten wir einer nach dem anderen. Man hätte meinen können, sie hätte soeben den Nobelpreis für Literatur oder Kernphysik errungen.
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Leopardenhosen Letzten Winter habe ich meinem Mann ein Paar hautenge Samthosen mit aufgedrucktem Leopardenfellmuster ge kauft. Es war ein Sonderangebot, zum halben Preis. Die fünfzig Prozent Rabatt machten die Hosen unwidersteh lich. Ich weiß nicht, warum das Muster mir auf Anhieb gefiel, aber es gefiel mir. Als ich die Hosen betrachtete, war ich glücklich. Sie wirkten so fröhlich und sorglos. Jedenfalls so sorglos, wie ein unbelebter Gegenstand überhaupt wirken kann. Ich vermute, daß der extravagantere, extrovertiertere Teil meiner Persönlichkeit sich von den knalligen gelben, orangegelben, schwarzen und braunen Flecken angespro chen fühlte. Ein Teil meiner Persönlichkeit, den ich zu ver bergen trachte. Vor mir selbst. Zu meinen enthemmteren Eigenarten habe ich kein unbeschwertes Verhältnis. Ich brachte die Hosen als Geschenk verpackt mit nach Hause. Mein Mann konnte sie nicht ausstehen. Das stimmt nicht ganz. Anfangs mußte er darüber lachen. Bevor er be griff, daß sie für ihn gedacht waren. »Sie werden toll an dir aussehen«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf und blickte ratlos drein. »Sie waren auf die Hälfte reduziert«, sagte ich. »Ohne Umtauschrecht.« Er sagte nichts und ging schweigend in sein Atelier. Ich merkte, daß ich einen Fehler gemacht hatte. An Ort und Stelle schwor ich mir, künftig nie wieder Sonderange bote wahrzunehmen. In New York gibt es die unvorstellbarsten Sonderange bote. Zweimal jährlich. Im Sommer und im Winter. Alles, was man kaufen und verkaufen kann, wird ausverkauft. Alle Kaufhäuser und Kramläden setzen ihre Waren 79
herab. Artikel, die das übrige Jahr hindurch unerreichbar teuer sind, kann man plötzlich für einen relativ bescheide nen Betrag erwerben. Man kann sich bis über die Ohren mit Dolce & Gab bana eindecken. Man kann Hüte von Yves Saint Laurent und Socken von Christian Lacroix kaufen, wenn man sie findet. Am Morgen nach meinem Hosenkauf arbeitete ich in meinem Zimmer, als mein Mann erschien. Er hatte die Ho sen angezogen. Der Anblick dieser Hosen verdrängte jeden anderen Gedanken aus meinem Kopf. Sie sahen entsetzlich aus. Sie hatten meinen Mann in ein Relikt der sechziger Jahre verwandelt, Opfer einer Zeitkrümmung, oder in eine Fi gur, die sich aus dem dritten Akt einer Oper ins Leben ver irrt hatte. Ich achtete nicht mehr auf meine Arbeit, sondern starrte meinen Mann an. Die Hosen waren so grell, so penetrant, so geschmacklos. Wie hatte ich so etwas nur tun können? Mein Mann sagte, er gehe jetzt. »Du gehst doch nicht etwa in diesen Hosen aus dem Haus?« sagte ich. »Du hast sie mir doch nicht als Hauskleidung gekauft, oder?« fragte er mich. Ich schwieg. Ich hatte mich noch nicht von meiner Ver blüffung erholt. »Ich werde so tun, als wäre ich Elton John oder Rod Ste wart«, sagte er und ging. Ich war deprimiert. Und machte mir Sorgen über die Kommentare unserer Nachbarn. Ich wußte, daß es allein meine Schuld war. Warum hatte ich das getan? Warum um Himmels willen hatte ich diese Hosen erstanden? Wenn ich ein Sonderangebot sehe, ergreift eine fremde Macht von meinem Gehirn Besitz. Ich bin nicht mehr zu rechnungsfähig. Größe, Farbe oder Schnitt sind mir gleich 80
gültig. Dinge, die ein Viertel des ursprünglichen Preises ko sten, muß ich einfach kaufen. Kleider, die nicht paßten, habe ich gekauft und mir ein geredet, sie würden sich dehnen, Kleidungsstücke mit schiefen Nähten, die durch kein Mirakel gerade wurden. Ich habe Hemden mit unmöglichen Kragen gekauft, weil sie billig waren, und einmal habe ich einen hellgrünen Mantel gekauft, in dem ich aussah, als wäre ich seekrank. Man sollte meinen, ich hätte aus diesen Fehlkäufen und diesen Versuchen, am falschen Platz zu sparen, gelernt. Man sollte meinen, Hosen mit Leopardenfellmuster hätten nie und nimmer mein Urteilsvermögen zu trüben ver mocht. Ach, wäre es nur so gewesen! Mein Mann ist in ärm lichen Verhältnissen aufgewachsen und kann es nicht ertra gen, Kleidungsstücke wegzuwerfen. Ich wußte, daß diese Hosen uns eine ganze Weile begleiten würden, und ich täuschte mich nicht. Sie haben sich als erstaunlich robust und widerstandsfä hig erwiesen. Es kam mir vor, als hätte mein Mann sie stän dig an. Ich glaube, er hat sie richtiggehend ins Herz ge schlossen. Was man von mir nicht sagen kann. Sie machten mich immer reizbar. Letzten Monat zeigten sich Löcher an den Knien. Ich frohlockte. Ich hatte schließlich nie vorgehabt, mit Elton John oder Rod Stewart verheiratet zu sein.
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Lügen In der New York Times habe ich gelesen, daß es inzwischen Telefone gibt, die als Lügendetektor funktionieren. Es gibt ein Telefon, das die Stimmschwankungen regi striert, wenn der Anrufer lügt. Der Apparat kostet 3900, Dollar. Es gibt auch einen billigeren Apparat, der verdächtige Höhen und Tiefen in der Stimme des Anrufers registriert. Er kostet nur 129,- Dollar. Mich beunruhigen diese Apparate. Ich finde, es ist keine gute Idee, Unwahrheiten aufzudecken. Manche Unwahr heiten sind lebensnotwendig. Beispielsweise Komplimente, die nicht hundertprozentig der Wahrheit entsprechen. Und andere Freundlichkeiten oder Schmeicheleien. Ich mag keine Hunde. Hin und wieder denke ich über ei nen Hund nach. Aber im großen und ganzen mag ich keine. Das hänge ich nicht an die große Glocke. Ich brüste mich nicht damit. Ich habe Angst aufzufallen, weil ich keine Hunde mag. Mehr als einmal habe ich mich Hundeliebhabern ge genüber als jemand ausgegeben, der Hunde mag. Leute, die keine Hunde mögen, machen sich bei anderen ver dächtig. Manchmal ist es mir zu anstrengend, mich dem strengen Urteil von Hundeliebhabern auszusetzen. Dann erkläre ich meine Abneigung mit einer Allergie. Für Allergiker haben die Leute Verständnis. Hunde wissen nicht, daß ich sie nicht mag. Sie kommen immer zutraulich angelaufen. Sie lecken mich ab. Sie be schnüffeln mich. Sie himmeln mich an. Sie können nicht er kennen, daß ich sie nicht mag. Als meine Kinder noch klein waren, hatten wir oft einen 82
Hund. Einen Hund, mit dem ich mich widerstrebend ab fand. Die Kinder waren immer glücklich mit ihrem Hund. Ich war es nicht. Ich arbeite zu Hause. Ich saß zu Hause mit dem Hund. Einer dieser Hunde brachte mich schier um den Ver stand. Er hieß Solly. Mein Mann und die Kinder liebten Solly heiß und innig. Solly lief jeden Tag weg. Jeden Tag rief irgend jemand an, der Solly gefunden hatte. Und ich mußte meine Arbeit un terbrechen und Solly abholen. Eines Nachmittags rief eine Frau an. »Ich habe Dolly ge funden«, sagte sie. Der Mann, der Sollys Name in das sil berne Namensschildchen eingraviert hatte, hatte kein Mei sterwerk abgeliefert. Viele Leute nannten Solly Dolly. »Er heißt Solly«, sagte ich übellaunig. »Lassen Sie ihn am besten, wo er ist.« »Ich werde den Tierschutzverein benachrichtigen«, sagte sie. Schicksalsergeben ging ich Solly holen. Ich träumte davon, Solly wegzugeben und zu behaupten, er wäre mir weggelaufen. Schriftsteller verbringen viel Zeit mit Träumen und Tagträumen. Die Hälfte meiner Kindheit verbrachte ich in Tagträume versunken. Ich hatte wenig Verwandte. Ich erfand mir Tanten, On kel, Cousinen und Großmütter und Großväter. Stunden lang dachte ich mir Verwandte aus. Als ich zehn war, schenkte ich mir Buddy Holly als verlo rengegangenen Bruder. In meiner Vorstellung nahm Buddy Holly seine Brille ab, als er mir begegnete, und sah, wie ähnlich wir einander waren. In der Schule lieh ich mir die schwarzgerahmte Brille ei nes Jungen aus und setzte sie vor dem Spiegel im Badezim mer auf. Ich wollte sehen, ob ich damit wie Buddy aussah. Die Gläser waren zu dick, und ich konnte überhaupt nichts 83
sehen. Die Wahrheit sah so aus, daß ich keinen Bruder hatte. Mein Vater ist ein Freund der Wahrheit. Vor ein paar Jahren war er dabei, als ich ein Interview gab. Wir wollten nach dem Interview essen gehen. Das Interview fand in einem Café statt. Ich hatte meinem Vater gesagt, es würde nicht lange dauern. Höchstens eine halbe Stunde. Mein Vater bestellte sich einen Cappuccino und starrte wie gebannt in seine Kaffeetasse. Ich beantwortete die Fragen des Journalisten. Ich be mühte mich, charmant zu sein, interessant zu sein. Ich be antwortete eine schwierige Frage und war erleichtert, daß ich die Antwort bewältigt hatte, als mein Vater uns unter brach. Er widersprach mir. Ich traute meinen Ohren nicht. »Es war nicht so, wie du sagst«, sagte mein Vater. Ich wollte keinen Familienstreit vor dem Journalisten anfangen. Ich funkelte meinen Vater an. »Wahrheit bleibt Wahrheit«, erklärte er.
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Ein Mann In unseren postfeministischen Zeiten gilt es noch immer als Stigma, Single zu sein. Wenn man eine Frau ist. Sogar in ei ner so aufgeklärten Stadt wie New York gelten alleinste hende Frauen als benachteiligt. Einen Mann zu haben ist ein Statussymbol. Selbst ein kahler, übergewichtiger, ungepflegter und nicht mehr junger Mann gilt noch als gute Partie. Selbst wenn er fleckige Zähne hat und ihm Haare aus Nase und Ohren wachsen, kann er noch immer als begehrenswert gelten. Einer Frau in vergleichbarem Zustand ginge man aus dem Weg. Ein Mann darf ungesellig sein. Er darf jähzornig sein. Er darf schlecht riechen. Und wäre noch immer eine gute Par tie. Seine schlechten Manieren, seine Schüchternheit, sein Körpergeruch oder Jähzorn würden zu reizenden Idiosyn krasien umgedeutet. Eine ungehobelte und übelriechende Frau wäre eine Last und eine Plage. Warum sind Männer so wertvoll? Und Frauen so wert los? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß Männer eine seltene Art sind. In Flo rida, wo viele Rentner leben, stellt ein Mann, der noch nicht scheintot ist, eine heißumkämpfte Beute dar, einen potentiellen Märchenprinzen. Und in New York bejammern die Frauen ständig den Männermangel. Die Straßen New Yorks scheinen voller Männer zu sein, doch in der Stadt gibt es alleinstehende Frauen, wohin man sieht. Frauen über Dreißig kommen sich hoffnungslos zu alt vor. Jeder in New York weiß, wie schwer es ist, einen guten Mann zu finden. »Halten Sie sich den Mann warm«, rief mir eine obdachlose Frau nach, als mein Mann ihr fünf 85
Dollar gegeben hatte. Kirchen und andere religiöse Orte sind Treffpunkte für die Leute, und bei jungen New Yorkern erfreuen sie sich zu nehmender Beliebtheit. Ich schlug meiner jüngeren Tochter vor, es damit zu probieren, eher aus sozialen Motiven als um frömmerer Zwecke willen. Ich hatte gelesen, daß in ei ner Synagoge in Uptown eine Vortragsreihe stattfand. Nach den Vorträgen, so hatte ich gelesen, unterhielten die Gäste sich zwanglos. Meine Tochter hatte sich gerade von ihrem Freund ge trennt. Ich schlug ihr die Vortragsreihe als Ablenkung vor. Eine Ablenkung, so hoffte ich, würde ihr helfen, von den ei genen Problemen abzusehen. Und mehr junge Männer zur Auswahl bieten als den einen, dem sie zu Hause nach weinte. Sie hatte keine rechte Lust. Ich sagte, es könnte ein intel lektuell anregender Abend sein. »Vortragsreihe?« sagte sie am nächsten Morgen zu mir. »Es hat sich niemand die Mühe gemacht, auch nur so zu tun, als wäre er wegen des Vertrags gekommen.« Die Ab lenkung hatte funktioniert. Sie schäumte vor Empörung. »Es war die reine Fleischbeschau«, sagte sie. »Die Kerle beäugten einen von Kopf bis Fuß, und wenn sie fanden, daß man gut genug aussah, drückten sie einem ihre Visiten karte in die Hand.« »Das tut mir leid«, sagte ich. Aber es kam noch mehr. »Die Frauen hatten sich alle bis zum Gehtnichtmehr zu rechtgemacht«, schäumte sie. »Lauter Leute, mit denen ich nie freiwillig zu tun hätte. Die Männer waren ausnahmslos Banker und Anwälte.« »Banker und Anwälte sind auch Menschen«, sagte ich. »Laß uns dieses Thema jetzt nicht diskutieren«, antwor tete sie. Ich erzählte einer Freundin, was meine Tochter erlebt 86
hatte. »Solche Sachen sind der reine Alptraum«, sagte meine Freundin. »Sei froh, daß du einen Ehemann hast.« Das hat man mir in New York schon öfter gesagt. Endlos oft. Es raubt einem die Fassung, wenn man sich dauernd sa gen lassen muß, wie froh man sein kann, daß man einen Ehemann hat. Seit ich hier wohne, hat man mir immer wie der gesagt, wie froh ich sein kann, ihn zu haben. Ich weiß es. Mein Ehemann ist ein Mann, den ich seit langem liebe. Ich habe einen anderen Mann verlassen, eine andere Ehe aufgegeben, um mit ihm zusammenzusein. Trotzdem gibt es eine Toleranzgrenze dafür, wie oft ich daran erinnert werden muß, wie froh ich sein kann, ihn zu haben. Niemand ist je auf die Idee gekommen zu sagen, wie froh er sein kann, mich zu haben. Nicht einmal mein Vater. Auf Nachfrage hat mein Vater eingeräumt, daß mein Mann mit einer anderen Frau möglicherweise weniger glücklich sein könnte. Unter einem kompromißlosen Bekenntnis zur eige nen Tochter stelle ich mir etwas anderes vor. »Er kann froh sein, daß er mich hat«, sagte ich einmal versuchsweise zu meinem Vater. Schweigen trat ein. Als sei mein Vater damit beschäftigt, meine Bemerkung zu verdauen. »Natürlich«., sagte er schließlich. »Danke«, sagte ich sarkastisch. Der Sarkasmus fiel ihm nicht auf. »Dein Mann ist ein sehr guter Mann«, sagte er. »Du kannst sehr froh sein, daß du ihn hast.«
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Ein Mobiltelefon Bei meiner letzten Lesereise ging ich in Frankfurt spazieren, als mein Mobiltelefon läutete. Obwohl ich darauf vorbereitet war und aufmerksam ge lauscht hatte, ob es vielleicht läutete, fuhr ich zusammen. Die Verlagsmitarbeiterin, die mich auf der Reise beglei tete, hatte mir das Handy gegeben und mir erklärt, wie man es benutzt. Ich hatte mir nur gemerkt, wie man ein- und ausschaltet. Da sie wußte, daß ich noch nie ein Handy benutzt hatte, sagte sie mir, daß man aufpassen muß, wenn man das Läu ten hören will. Bei starkem Verkehr konnte man es ohne weiteres überhören, und sie mußte sich darauf verlassen können, mich zu erreichen. Ich machte mich auf meinen Spaziergang. Mit meinem Mobiltelefon. Ich kam mir vor wie ein elektronisch über wachter Gefangener. Oder wie ein angebundenes Kind, dem man etwas Leine gibt. Ich war so froh, nicht im Hotel zu sein. Lesereisen kön nen sehr anstrengend sein. Ich war glucklich, über ein paar freie Stunden zu verfügen. In der Eile, das Telefon aus dem Rucksack zu holen, als es läutete, stolperte ich und wäre fast gestürzt. »Hallo!« rief ich. Niemand antwortete. Ich rief lauter: »Hallo, hallo!« Niemand antwortete. Ich rief noch ein paar Mal. Und dann kam es mir albern vor, daß ich mitten in Frankfurt mich selbst anschrie. Ich schaltete das Handy aus und steckte es wieder in mei nen Rucksack. Eine Minute später läutete es erneut. Ich kugelte mir fast die rechte Schulter aus, als ich den Rucksack herunterriß. 88
Mit fester Stimme sagte ich meinen Namen in das Telefon. Dieses Telefonverhalten hatte ich Geschäftsleuten abge schaut. Niemand antwortete. Das gleiche passierte kurze Zeit später abermals. Und es passierte wieder und wieder. Zehn Minuten nachdem ich das Hotel für eine Erho lungspause und etwas frische Luft verlassen hatte, schmerzte mein Kopf bis zum Bersten. Ich fragte mich, ob der unbekannte Anrufer möglicher weise eine Botschaft hinterlassen hatte. Ich wußte, daß das Handy eine Mailbox besaß. Natürlich wußte ich nicht, wie man sie aktiviert. Ich drückte ein paar Tasten. Eine Stimme vom Band sprach zu mir. Sie schien Anweisungen zu erteilen - viel leicht Anweisungen, wie man Botschaften anhören konnte. Vielleicht auch nicht. Die Stimme sprach deutsch. Ich beschloß, den Spaziergang abzubrechen. Er war nicht sehr erholsam gewesen. Und derjenige, der mich zu errei chen versuchte, hatte offenbar ein dringendes Anliegen. Ich machte kehrt und ging zum Hotel zurück. Das Handy läutete weiter. Auf halbem Weg merkte ich plötz lich, daß das Läuten über meinem Kopf zu ertönen schien. Das Telefon läutete wieder. Besser gesagt: Das, was ich für das Telefonläuten hielt, ertönte wieder. Das schrille Läuten, das jetzt gerade ertönte und den ganzen Vormittag ertönt war, entstammte nicht meinem Telefon. Es war das Pfeifen eines Vogels. Und Trillern und Zwitschern. Das Tirilieren und Piepen und Zwitschern, das mich verfolgt hatte, kam gar nicht aus meinem Mobiltelefon. Es kam aus den Kehlen der Frank furter Vögel. Ich war verblüfft. Wie konnten Vögel einem Handy so ähnlich klingen ? Warum hatten die Hersteller von Mobil telefonen dieses Problem nicht bedacht? Und warum gab es in Frankfurt so viele Vögel ? 89
Nach diesem Erlebnis habe ich mich an das Handy ge wöhnt. Oder wenigstens weitgehend. In der Paris-Bar in Berlin hätte ich mich fast selbst k.o. geschlagen, als ich mir die Handtasche an den Kopf rammte, weil ich glaubte, mein Handy läute gerade. Seitdem habe ich viel dazugelernt. Ich bin fast eine Art Experte für Handys, fast ein Liebhaber geworden. Heute sehe ich nicht mehr verächtlich auf Leute herab, die einen Tisch im Restaurant bestellen, während sie auf der Straße gehen. Ich schwinge mich nicht mehr zum Rich ter über Ladenkunden auf, die einander aus verschiedenen Abteilungen desselben Kaufhauses anrufen. Oder über Leute, die ihr Liebesleben diskutieren, wenn sie an der Am pel warten. Ich bin selbst Anrufer geworden. Ich mache alle mögli chen Anrufe. Anrufe, die zu Hause langweilig sind, bei spielsweise einen Termin beim Zahnarzt auszumachen, können richtig spannend werden, wenn man sie im Freien macht. Letzte Woche habe ich meine jüngere Tochter angerufen, um ihr mitzuteilen, in welcher Straße ich mich gerade be fand. Sie wirkte verblüfft, aber nachsichtig.
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Monica Nach reiflicher Überlegung will mir scheinen, als hätte die Geschichte mit Monica Lewinsky und dem oralen Sex mit dem Präsidenten einen unbeabsichtigten Nebeneffekt ge zeitigt. Mir scheint, daß immer mehr junge Frauen sich erlau ben, etwas üppiger zu sein. Zaundürr scheint nicht mehr angesagt zu sein. Selbst Fotomodelle sind nicht länger flachbrüstig und spitzhüftig. Junge Frauen kleiden sich figurbetont. Im vergangenen Sommer konnte man auf den Straßen New Yorks plötzlich mehr ausgeschnittene Kleider sehen als all die Jahre zuvor. Und damit nicht genug. Man sah Schlüsselbeine, die nichts Schwindsüchtiges hatten. Ein bißchen Polster an den Hüften und am Bauch kam plötz lich nicht mehr einem Todesurteil oder einem Offenba rungseid gleich. Kurven wurden mit einem Mal präsentiert und nicht ka schiert. Es war fast erschreckend. Und kaum zu glauben. Schließlich hat man uns jahrzehntelang eingehämmert, daß man gar nicht dünn genug sein könne. Das neue Phänomen fiel mir zum ersten Mal Anfang des Sommers auf. Ich saß im Des Moines Café im East Village. Drei junge Frauen mit spärlich bedecktem Oberkörper be traten nacheinander das Café. Sie trugen bunte Wickelröcke und niedrig geschnittene Hosen und eine Menge braune Haut. Zwei von ihnen hat ten den Nabel gepierct. Keine von ihnen sah aus wie Kate Moss. Sie waren wohlgeformt, mit üppigen Kurven. Der Anblick von Frauen, die es wagten, einen Körper zu zeigen, der nichts mit einer Bohnenstange gemein hatte, raubte mir fast die 91
Fassung. Solche Frauen hatten sich bisher mit dicken Py jamas vermummt und mit einem Diätratgeber ins Bett verzogen. Sie hatten sich eingemummelt, wenn sie das Haus verlie ßen. Sie hatten Büstenhalter getragen, die die Brust ka schierten, und Dinge, die man beschönigend als figurfor mend bezeichnete - Hüftgürtel, um die Sache beim Namen zu nennen. Bis zu diesem Sommer hatte Fleisch, das man entblößen wollte, kaum vorhanden sein dürfen. Das Sprichwort »Zu reich oder zu dünn kann man nie sein«, steht vielleicht im Begriff, aus unserem Wortschatz zu verschwinden. Und möglicherweise verdanken wir das Monica. Mir scheint, die Partnerwahl des amerikanischen Präsi denten bei dieser bedauerlichen Liaison hat ein paar uner wartete Folgen für uns Frauen mit sich gebracht. Monicas füllige Figur wurde bis zum Gehtnichtmehr fo tografiert und gefilmt. Obwohl Clintons Seitensprünge ein peinliches Thema waren, freute es mich, daß Monica eine eher üppige und nicht verhärmte Erscheinung war. Unab hängig von den Einzelheiten der Affäre schien es außer Frage zu stehen, daß Clinton Monicas Körper anziehend fand. Die Behauptung, ultradünne Frauen seien am begehrens wertesten, hat uns seit Jahren verfolgt. Vielleicht hat Mo nica daran einiges geändert. Vielleicht hat sie uns die Au gen dafür geöffnet, daß es an einem Körper, der sich bewegt und lebt, an und für sich nichts auszusetzen gibt. Die Körper, die uns in Zeitschriften und Filmen präsen tiert wurden, sind so schrecklich mager. Wir haben uns an den Anblick von Fotomodellen und Schauspielerinnen ge wöhnt, die über die Niagara-Fälle springen könnten, ohne daß irgendein Teil ihres Körpers zittern würde. An diesem Punkt sollte ich besser einräumen, daß ich 92
nicht gänzlich unvoreingenommen spreche. Ich war nie dünn. Vielleicht hat Monicas Einfluß bis nach Los Angeles ge reicht. Los Angeles war schon immer eine oberflächlichere Stadt als New York. In L. A. ist der Schein alles. Als ich das letztemal in Los Angeles weilte, war ich zu ei ner Party eingeladen. Dort lernte ich eine hochschwangere Schauspielerin kennen. Schwangere Bäuche sind ein An blick, der mir gut gefällt. Ich sagte ihr, wie gut sie aussah. Sie zog das Oberteil, das sie trug, hoch. »Sehen Sie«, sagte sie, »nur Baby, kein Fett.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich überlegte, ob ich mein eigenes Oberteil hochziehen und ihr meinen Bauch zeigen sollte. »Sehen Sie, nur Fett, kein Baby«, hätte ich sagen können. Aber ich habe es nicht getan.
Muße Meinen ersten amerikanischen Supermarkt bekam ich nach einem Interview mit Janis Joplin zu sehen. Es war in Kalifornien. Ich war eine neunzehnjährige australische Rockjournalistin. Die Größe der Cornflakes-Packungen und die Ausmaße der Eiscremebehälter waren so umwerfend, daß sie jeden Gedanken an Janis aus meinem Kopf verbannten. Es fiel mir schwer, meinen Artikel zu schreiben. Ich konnte nur noch an den Supermarkt denken. Noch heute faszinieren mich Supermärkte. Ich liebe sie noch immer. Aber nur an bestimmten Orten. Nicht in Großstädten. Meinen Bedarf an Supermarktbesuchen muß ich decken, wenn ich im Sommer aufs Land am Meer fahre. In New York ist es einfacher und schneller, von Schuh creme bis zu Sandwiches und Kondomen alles im Einzel handel zu kaufen. In solchen Läden muß man keine Kämpfe mit wider spenstigen New Yorker Einkaufswagen führen, und man muß nicht eine halbe Stunde lang an der Kasse anstehen. Natürlich ist die Auswahl in kleinen Läden begrenzt, und die Preise sind höher. Aber man wird sofort bedient. Und Zeit ist in dieser Stadt alles. Der Vorrang von Schnelligkeit und Effizienz kann einen um mehr bringen als das Zeitverschwenden. Er bringt ei nen um einfache, alltägliche Dinge - die eigene Kleidung zu waschen, in Supermärkten einzukaufen. Tätigkeiten, deren man sich anfangs vielleicht gerne ent ledigt, die einem auf lange Sicht jedoch fehlen können. Kürzlich freute ich mich ganz kindisch, als ich ein Klei dungsstück mit der Hand wusch, statt es in die Wäscherei zu bringen oder von der Wäscherei abholen zu lassen. 94
Wäschewaschen ist nichts, was ich unbedingt jeden Tag tun wollte. Dennoch fand ich das Erlebnis eigenartig befrie digend und erfüllend. Es war ein befremdliches Gefühl, eine mühselige Tätigkeit in ein Vergnügen verwandelt zu sehen. In New York ist es eine Last und eine Plage, im Super markt einzukaufen. Dort ist es immer voll und hektisch. Allein schon das Neonlicht versetzt mich in eine Verfas sung, die dem Nervenzusammenbruch nahe ist. Ein ländlicher Supermarkt ist etwas ganz anderes. Für mich ist es ein auf stille Weise aufregendes Abenteuer. Ich wandere durch die Gänge und stöbere in den Regalen. Ich kaufe alles mögliche, was ich nicht brauche und nie benut zen werde. Letztes Jahr kaufte ich die kleinen Silberkugeln, mit denen man Kuchen schmückt. Ich bin eine fürchterliche Kuchenbäckerin. Aber ich kaufte außerdem noch rosa Paste zum Kuchenverzieren. Für den Fall, daß meine Backkünste sich verbessern sollten. Ich habe schon grellorangegelbe Küchenschwämme und passendes Geschirrspülmittel gekauft und so getan, als wohnte ich in einem Dorf, wo ich Teller abspülen und tag träumen kann. In Manhattan Geschirr zu spülen ist nur deprimierend. Und zeitraubend. Noch eine Arbeit, die man erledigen muß. Beim Versuch, noch effizienter zu sein, beschloß ich eines Jahres, künftig Einweggeschirr und -besteck zu benutzen. Es war kein guter Entschluß. Das Essen rutschte von den Plastikgabeln. Und mit den Plastikmessern konnte man außer Bananen und zu Matsch gegartem Kürbis nichts schneiden. Es war kein sonderlich erhebendes Speiseerlebnis. Wenn meine Kinder mit uns aßen, lachten sie sich halb tot. Und dann machten sie uns Vorwürfe über die Umweltver schmutzung und die Schäden, die wir mit all diesem Pla stikmüll anrichteten. 95
Danach stieg ich auf Pappbecher und Pappteller um. Sie waren nicht wasserdicht. Saucen und Suppen mußte ich von unserem Speisezettel streichen. Zuletzt kehrte ich zu normalem Geschirr zurück. Und zum Geschirrspülen. Geschirrspülen muß keine freudlose Angelegenheit sein. Ich habe fröhliche Erinnerungen an meine Mutter und ihre Freundinnen, die nach Abendeinladungen gemeinsam ab spülten. Die besten Gespräche des Abends wurden beim Abspü len und Abtrocknen geführt. Da bekam man zu hören, was sie wirklich voneinander und von den übrigen Gästen hiel ten. Ich war stets bestrebt, kein Wort zu verpassen. Das eingehende Erörtern des gräßlichen Ehemanns oder der aus dem Leim gegangenen Figur einer anderen hat et was Befriedigendes. Klatsch und Bosheiten auszutauschen ist ein ganz eigener Seelenbalsam. In New York hat niemand Muße für Klatsch oder Bos heiten oder Geschirrspülen.
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New York Heute fürchtet sich niemand mehr vor New York. Die Stadt, die ihren eigenen Einwohnern früher angst mach te, ist heute von Teenagern, Müttern, Tanten, Onkeln, Schaufensterguckern und Spaziergängern bewohnt. Kein Mensch wirkt verängstigt. Vor zehn Jahren wagten sich manche New Yorker nicht über die 14. Straße hinaus. Heute gibt es in SoHo YvesSaint-Laurent- und Prada-Läden. Und Leute, die Eis essen. Das Gewimmel der Einkaufstaschen und fröhlichen Mie nen ist einfach deprimierend. Drogendealer und andere Kriminelle sind durch Touri sten abgelöst worden, Touristen von überall her. New York scheint sich auf jedermanns Route zu befinden. Fast habe ich Sehnsucht nach den alten Zeiten. Nach den Kokain- und Crackdealern, die mir Angst einjagten. Ich weiß noch, daß ich versuchte, freundlich auszusehen, wenn ich auf der 11. Straße an ihnen vorbeiging. Ich wollte nicht, daß sie mich irrtümlich für eine Kundin oder eine Polizistin hielten. Auch die Leute, die auf der Straße Selbstgespräche füh ren, fehlen mir. An jedem Block schien es mindestens einen zu geben, der in ein Gespräch mit einem unsichtbaren Ge genüber vertieft war. Im Washington Square Park kam ich oft an einem Mann mittleren Alters vorbei. Sein Nadelstreifenanzug war unta delig gebügelt, und er hatte eine Aktentasche aus Leder da bei. »Sie müssen mich jetzt gehen lassen, ich komme zu spät zur Arbeit«, schrie er, während er durch den Park schritt. Es war immer wieder ein ernüchterndes Erlebnis für mich. Stundenlang überlegte ich, welche Dämonen ihn da von abhielten, dorthin zu gehen, wohin er gehen wollte. In 97
jedem von uns ist etwas, was uns daran hindert, dort zu sein, wo zu sein wir uns erträumen. Daran erinnert zu werden ist nicht von Nachteil. Heute hat die Stadt so gut wie nichts Verstörendes mehr. Es gibt das Sperrfeuer aus Begrüßungen, wenn man einen Laden betritt. Um zur Ware zu gelangen, muß man sich um mehrere Begrüßer herummanövrieren. »Hallo!«, »Willkommen!«, »Wie geht es Ihnen?« sagten drei verschiedene Leute zu mir heute vormittag in einem Laden am West Broadway. Ihr Tonfall war höchst vertraulich. Ich war ratlos. Ich hatte den Eindruck, daß ich sie kennen müßte. »Verreist gewesen?« sagte ein anderer Verkäufer. Zwei Minuten lang fragte ich mich ernsthaft, wie er auf den Ge danken kam, ich sei verreist gewesen. Nie zuvor war ich in diesem Laden gewesen. Die Lawinen aus Wärme und Neugier sind verwirrend und erschöpfend. In anderen Städten ist das Einkaufen so viel friedvoller. »In Deutschland lassen sie einen in Ruhe«, sagte ich neulich zu einer deutschen Freundin. Ihre Miene verdüsterte sich. »Das gefällt dir?« fragte sie. »Mich macht es wahnsinnig, wenn die Verkäufer einen wie Luft behandeln.«-»Ich finde es entspannend und beruhigend«, sagte ich. Die neue Freundlichkeit in New York hat auch zur Folge, daß die Leute in den Läden wollen, daß man mit ihnen ißt und trinkt. In Miederwarengeschäften wurde mir Eistee angeboten. Wie trinkt man Eistee, während man Unterwäsche anprobiert ? Letzte Woche bot eine Verkäuferin in einem Schuhgeschäft mir Schokolade an. Sie hatte den Umfang einer Sardine. Ihre Hüften waren schmaler als eine Zigarette. Ich lehnte ab. Es ist schwer, sich für einen hartgesottenen New Yorker zu halten, wenn das einzige, wovor man sich hüten muß, Eistee und Schokolade ist. In den alten Zeiten waren die 98
Leute beeindruckt, wenn man sagte, daß man in New York lebte. Leute in Toronto, London und Los Angeles sahen einen ehrfürchtig an. Man kam sich abgebrüht vor. Ein Kämpfer. Nicht kleinzukriegen. Inzwischen haben sogar die Bettler einen Sinn für Diplo matie entwickelt. »Sie sehen gut aus, Miß«, sagte vor einiger Zeit ein Mann zu mir, der seit Jahren in der Straße bettelt, in der ich wohne. Ich war sprachlos. »Danke«, sagte ich. »Nichts zu danken«, erwiderte er. »Mit New York ist nichts mehr los«, sagt mein Sohn, der in Australien lebt. Ist mit der Stadt nichts mehr los ? Laut ist sie immer noch. Und schrill. Und grell. Man kann immer noch niedergeschlagen werden, weil ein anderer einem das Taxi wegnimmt. Aber die Stadt hat sich verändert. »Ich bin bewaffnet«, sagte kürzlich ein Mann auf einer menschenleeren Straße in Chelsea zu mir. Ich sah ihn an. Er war betrunken. Sehr betrunken. Viel zu betrunken, um ge fährlich zu sein. Aber für einen Augenblick hatte ich mich gefürchtet. Es war fast aufregend.
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Obdachlosenpaar Ein Paar, Mann und Frau, wohnt in meiner Straße. Wort wörtlich. Sie wohnen nicht in einem der schicken Lofts oder eleganten Apartments. Sie wohnen auf der Straße. Ihre Wohnung ist der eiserne Treppenabsatz vor der Hin tertür einer absolut angesagten Boutique, einer Boutique, die so viel Geld abwirft, daß ihre Inhaber auf den Hinter eingang verzichten können. Das, was sie nicht nutzen, würde jeder andere als erst klassige Innenstadtlage bezeichnen. Solche Geschäfts räume werden in dieser Gegend für 10000,- bis 30000, Dollar im Monat vermietet. Und an diesem Ort hat sich das Obdachlosenpaar sein Zuhause eingerichtet. Der überdachte Eingang bietet ihnen Schutz vor den Wetterunbilden. Vielleicht gelangt im Winter ein bißchen Wärme von der Heizungsanlage im Keller bis zu ihnen. Seit über einem Jahr leben sie mit Unterbrechungen auf besag tem Treppenabsatz. Sie ist Weiße, er Afroamerikaner. Ich habe keine Ah nung, wie alt sie sind. Obdachlosigkeit ist das unfehlbare Gegenteil einer Verjüngungskur. Die Frau könnte ebenso gut dreißig sein wie fünfzig. Oft schlafen sie noch, wenn ich morgens das Haus ver lasse. Sie liegen nebeneinander. In Lumpen und Decken ein gehüllt und eingemummelt. Nachmittags sehe ich den Mann manchmal ihr Bettzeug zusammenpacken. Ich habe ihn dabei beobachtet, wie er abgetragene Kleidung und verfleckte Stoffetzen sorgfältig in einen Einkaufswagen schichtet. Der Wagen ist immer in ihrer Nähe geparkt. Oft sitzen sie auf dem Treppenabsatz und unterhalten sich leise miteinander. Manchmal strecken sie die Beine 100
aus, Zehe an Zehe, und lesen Zeitung. Wenn sie nur nicht so abgekämpft und erledigt aussähen. Wenn sie nur nicht auf der Straße wohnten. Wenn nur nicht ihr Gesicht und ihre Beine mit entzündeten Wunden und Verkrustungen bedeckt wären, und wenn ihm nicht fast alle Zähne fehlten, dann könnte man sie fast für ein durch schnittliches Paar aus einem der Vororte New Yorks hal ten. Vor ein paar Wochen hatte er einen Liegestuhl auf dem Bürgersteig aufgestellt und las eine Zeitschrift. In einem an deren Leben hätte er sich im Patio ausgeruht, während sie das Abendessen vorbereitete. Sie sind immer zusammen. Und sie wirken so harmo nisch. So gelassen miteinander. Ihr Zusammensein unter diesen schwierigsten Bedingungen hat etwas beinahe Über wältigendes. Und etwas Verstörendes. Es erinnert uns an dere überdeutlich an ihr Menschsein. In New York fällt es den meisten von uns leicht, die Un behaustheit zu übersehen, die wir tagtäglich miterleben. Es fällt uns leicht, so zu tun, als hätte derjenige, der auf der Straße schläft, mit unseresgleichen nicht das geringste ge mein. Das Obdachlosenpaar beunruhigte mich vom ersten Au genblick an. Ich konnte es kaum ertragen, mit meinen kost spieligen Einkäufen, Früchten und Gemüsen, an ihnen vor beizugehen. Ich wollte etwas tun. Ihnen etwas Geld geben. Aber ich traute mich nicht. Ich war zu nervös, um stehenzubleiben. Zu besorgt, auf dringlich zu wirken. In Wahrheit war ich wahrscheinlich zu verängstigt, mich in ihre Welt hineinzuwagen, auch nur für kurze Zeit. Wochenlang wollte ich etwas tun. Und traute mich noch immer nicht. Ich suchte nach Entschuldigungen für mein Verhalten. Ich sagte mir, ich wolle meine Anonymität nicht preisge ben, denn schließlich mußte ich jeden Tag an den beiden 101
vorbeigehen. Ich hätte mir besser Gedanken über meine Herzlosigkeit gemacht. Mit meiner Fähigkeit wegzuschauen bin ich nicht allein. Niemand, der an den beiden vorbeikommt, bleibt stehen. Niemand spricht sie an. Und das verstehe ich. Für die mei sten ist diese Stadt anstrengend genug, ohne daß man sich zusätzliche Probleme auflädt. Kürzlich begegnete ich der Frau frühmorgens. Sie ging gerade zu ihrer Wohnung auf dem Treppenabsatz zurück. Ihr Haar war feucht, frisch gewaschen. Ich wunderte mich. Ich fragte mich, wo sie wohl ihr Haar gewaschen haben mochte. Ich hätte gern in meine Handtasche gelangt und ihr et was Geld gegeben. Und wieder tat ich es nicht. Ich fürch tete, es könnte ihr peinlich sein. Als ich nach Hause kam, wurde mir das ganze Ausmaß meines spießigen Denkens bewußt. Für den, der auf der Straße lebt, gehört jemand, der ihm Geld in die Hand drückt, zu den geringsten Imageproblemen. Ich schämte mich fürchterlich über mein Verhalten.
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Orientierungssinn In New York werde ich dauernd nach dem Weg gefragt. Die Stadt ist voller Touristen. Voller Touristen, die sich ver irrt haben. Touristen, die eine Straße, einen Laden oder ein Restaurant nicht finden. Jeden Tag fragen sie mich zweioder dreimal nach dem Weg. Sie tun mir leid. Sie haben sich an die Falsche gewandt. Ich habe keinen Orientierungssinn. Ich habe Leute schon weiß Gott wohin geschickt. Ich habe sie in die entgegenge setzte Richtung zu der geschickt, in die sie hätten gehen müssen. Ich habe sie an das Manhattan entgegengesetzte Ende der Stadt geschickt. Unbeabsichtigt. Zumindest bin ich in meinen Fehlangaben zuverlässig. Ich schicke Leute zuverlässig genau dorthin, wohin sie nicht wollen. »Warum schickst du sie nicht in irgendeine Richtung, die du für falsch hältst?« sagte meine jüngere Tochter zu mir. Sie hatte gerade ein chinesisches Paar vor meinen Hilfs bestrebungen gerettet. »Wenn sie auf dich gehört hätten, wären sie in China gelandet«, sagte sie, nachdem sie das Paar in die richtige Richtung geschickt hatte. . Ich seufzte nur. Ich war nicht beleidigt. Ich habe mich mit meinem fehlerhaften Radarsystem abgefunden. Ich habe mich damit abgefunden, daß mein Orientierungssinn gleich null ist. Einige Jahre lang hatte ich einen Kompaß in der Handta sche. Aber ich habe ihm nie getraut. Ich hatte ihn im Ver dacht, ein zu zierliches Spielzeug zu sein, um wirklich ver trauenswürdig zu sein. Jemand wie ich braucht ein ganzes Armaturenbrett. Oder gleich einen Spürhund. Ich verirre mich überall. Ich verirre mich in Hotels. Ich finde mein Zimmer nie auf Anhieb. Pfeile und Zimmer 103
nummern an Hotelwänden zu deuten bereitet mir Schwie rigkeiten. Ich habe mich schon zwischen meinem Zimmer und der Rezeption verirrt. Einmal habe ich das Bad meines Hotelzimmers nicht ge funden. Im Hotel Savoy in Berlin. Die Badezimmertür war mit einem großen Spiegel verkleidet. Als der Zimmerdiener es mir zeigte, kam ich mir sehr töricht vor. Jeder, der mich gut kennt, erklärt mir den Weg. Langsam und genau. Ich versuche, das nicht als Indiz mangelnder In telligenz meinerseits zu interpretieren. Einer meiner demütigendsten Navigationsirrtümer un terlief mir vergangenes Jahr in Wien. Ein Fernsehteam filmte mich. Ich sollte auf das Hauptportal des Stephans doms zugehen. Der Stephansdom ist eine Kathedrale, die man eigentlich nicht übersehen kann. Er hat einen hundertsiebenunddrei ßig Meter hohen gotischen Südturm sowie zwei vierund sechzig Meter hohe Türme, die das Riesentor flankieren, und er befindet sich auf dem Stephansplatz im Herzen der Stadt. Die Produzentin erklarte mir, daß der Kameramann mit laufender Kamera hinter mir hergehen würde. Gemeinsam gingen sie und ich probehalber den Weg. Es dauerte ganze zwei Minuten. »Okay, gehen Sie los«, sagte der Tonmann zu mir. Ich ging los. Ich ging nicht zu schnell, damit das Team die herr liche Umgebung aufnehmen konnte. Ich versuchte, gedan kenvoll dreinzublicken, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ein gedankenvolles Auftreten auch in der Rückansicht erkennbar ist. Ich ging noch ein Stück und fand, daß der Stephansdom langsam erscheinen könnte. Doch das tat er nicht. Panik er griff mich. Wo war die Kathedrale geblieben ? Ich konnte es nicht fassen, daß ich ein so großes Bauwerk aus dem Blick verloren haben sollte. 104
Aber genau das war passiert. Nirgends konnte ich den Stephansdom ausmachen. Zu guter Letzt mußte ich kehrt machen. Kameramann, Tonmann und Produzentin, die mir folgten, wirkten verwirrt. »Was ist los?« fragte mich die Produzentin. »Ich habe die Kathedrale nicht finden können«, antwor tete ich. Die drei starrten mich fassungslos an. »Ich habe sie nicht gefunden«, wiederholte ich. Die Produzentin begann zu lachen. Sie ging mit mir zur Kathedrale, die sich zu meiner Lin ken befand. Ich hatte starr geradeaus geblickt und war nicht auf die Idee gekommen, den Kopf zu drehen. »Diese Kathedrale kann man von Budapest aus sehen«, sagte mein Mann zu mir, als ich ihm die Geschichte er zählte. Am Tag darauf traf ich die Produzentin bei einem Brunch, der mir zu Ehren gegeben wurde. In einer Zimmer ecke krümmte sie sich vor Lachen. »Sie hat sie nicht gefun den«, hörte ich sie sagen. Und da mußte ich selbst lachen.
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Probleme Es macht mir Probleme, so weit von meinem Vater entfernt zu leben. Der Flug von New York nach Australien dauert fast dreißig Stunden. Man kann nicht von heute auf mor gen beschließen hinzufahren oder ihn mit einem Besuch überraschen. Er fehlt mir. Und ihn zu sehen fehlt mir. Jedesmal wenn ich ihn wiedersehe, suche ich sein Gesicht und seinen Gang und seine Haltung nach Alterserscheinungen ab. Ich mache mir Sorgen, daß er in Australien einsam sein könnte. Er ist zweiundachtzig. Die meisten seiner Freunde sind schon tot. Ich bemühe mich, ihn nicht dann anzurufen, wenn es bei ihm früher Morgen ist. Manchmal nimmt er ein Schlafmit tel, und wenn ich ihn in halbbewußtem, halbwachem Zu stand erwische, macht mir das angst. Er war immer so munter. Und ich habe mich immer da vor gefürchtet, daß er diese Munterkeit verlieren könnte. Er hat sich selbst davor gefürchtet. Würde ich ihn regelmä ßig sehen, würde sein halbwacher Zustand mich nicht so erschrecken. Hin und wieder gebe ich mich Hirngespinsten hin, ihn nach New York zu holen. Es wäre ein kostspieliger Umzug. Und mit zusätzlichen Komplikationen verbunden. Viele haben die gleichen Probleme wie ich. Wir leben in einer viel mobileren Welt als früher. Viele von uns wohnen von Eltern und Kindern weit entfernt. In New York betrachtet man alte Eltern oft genug unter dem Aspekt der Lagerhaltung. Wohin mit den alten Leu ten, das ist ein Thema, das alle beschäftigt. Eine vieldisku tierte Frage, die von Anwälten und Bankern mittleren Alters und von anderen Söhnen und Töchtern eingehend 106
erörtert wird. Was tun mit den alten Leuten, das ist eine Frage, vor der sich eine ganze Generation fürchtet. Wahrscheinlich ist es für New Yorker besonders schwer, mit ihren alten Eltern zurechtzukommen. In New York sind die Leute meistens nicht mehr jung, wenn sie Kinder bekom men. Es kann ihnen passieren, daß sie sich gleichzeitig um ihre Kinder und um ihre Eltern kümmern müssen. Und die Eltern sind zu alt, um als Babysitter in Frage zu kommen. In der Immobilienbranche hat man dieses Problem vor ausgesehen. An der Upper East Side gibt es Apartments, wo man seine Eltern abgeben kann und sich keine Sorgen ma chen muß. Diese Apartments sind rund um die Uhr beauf sichtigt, medizinisch betreut und bieten ausgewählte so ziale Aktivitäten. Die Eltern werden beschäftigt wie im Kindergarten. Und wie in den besten Kindergärten sind die Aufnahmegebüh ren hoch. Die meisten Leute können sich diese Unterbringung nicht leisten. Was für viele Eltern vielleicht ein Glück ist. Oder auch nicht. Vielleicht kann man in diesen kostenin tensiven Einrichtungen der Altersbetreuung ganz hervorra gend leben. In gewisser Hinsicht kann die Ferne wohltuend sein. Mein Vater und ich müssen die Übellaunigkeit und Gereizt heit und Unstimmigkeiten, die nun einmal zum Alltag ge hören, beim anderen nicht miterleben. Unsere Telefonate und Besuche sind immer etwas Besonderes. Die Entfernung spornt uns an, unser Bestes zu geben. Dieser Vorteil wiegt die Nachteile nicht auf. Den Ver zicht auf die Nähe zum anderen, auf die kleinen Alltags dinge. Es ist nicht leicht. Hin und wieder leide ich fürchterlich darunter, daß mein Vater nicht mit uns zusammenlebt. Wenn er bei uns wohnte, wäre der Umzug nach New York letzten Endes weniger kostspielig. 107
Wenn er bei uns wohnte, bei uns einzöge, wäre das auch nicht leicht. Wir wären zu eng beieinander.- Für meinen Ge schmack jedenfalls. Unsere weniger schönen Seiten würden prominenter zutage treten, wenn wir unter dem gleichen Dach lebten. Manchmal denke ich, daß die Kosten, die Versorgungs probleme und die Einreiseschwierigkeiten mir als Hinder nisse ganz gelegen kommen. Ich liebe meinen Vater. Ich liebe ihn sehr. Aber wenn er mit mir zusammenwohnte, würde er mich wahnsinnig ma chen. Und ich ihn. Ich arbeite zu Hause. Mit meinem Vater in der Wohnung könnte ich mich nicht mehr konzentrieren. »Würde Grandpa dich wirklich stören?« fragte mich meine jüngere Tochter, die es herrlich fände, wenn ihr Großvater in New York lebte. »Er würde mich umgehend klapsmühlenreif machen«, sagte ich. Ich schwieg einen Moment. »Ich will dich auf keinen Fall jemals so über mich spre chen hören«, sagte ich zu ihr. »Das wirst du nicht«, sagte sie, »ich werde es nur außer halb deiner Hörweite tun.«
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Psychohygiene Das Leben in einer Großstadt macht die sonderbarsten Ba lanceakte erforderlich. Viele Leute bedienen sich eines ge nau austarierten Systems von Maßen und Gewichten, um an einem solchen Ort zu überleben. Sie fahren regelmäßig in Urlaub, verreisen an den Wo chenenden, gehen abends mit Freunden aus. Sie turnen, meditieren oder machen Yoga. Sie suchen psychologischen Rat oder lassen ihre Physis oder ihre Aura massieren. Es erfordert schier die Fähigkeiten eines Equilibristen, im Dschungel der Großstadt zu bestehen. Menschlich zu bleiben. Nicht wahnsinnig zu werden. Ein Mensch zu blei ben. In New York ist die Liste dessen, was man benötigt, um in der Stadt zu überleben, abermals länger geworden. Ein neues Komplement soll das Großstadtleben erträglicher machen helfen. Ein Hund. Jawohl, ein Hund. In der New York Times stand, daß einige Firmen ihre Mitarbeiter aufforderten, ihre Hunde zur Arbeit mitzubringen. Offenbar mit Erfolg. Die Angestellten brachten Pudel und Dackel und Terrier und Schäferhunde ins Büro mit. In zwischen hat eine Organisation namens »Pet Sitters Inter national« den »Take Your Dog To Work Day« ausgerufen. In dem Zeitungsartikel hieß es, die Leute opferten ihre Kaffeepause bereitwillig, um den Hund Gassi zu führen. Hunde im Büro, hieß es allgemein, verringerten den Streß. Ein auf Haustierverluste spezialisierter Psychologe sagte, ein Hund sei das perfekte Haustier fürs Büro. Katzen reagierten zu sensibel auf ungewohnte Umgebungen, Hunde hingegen brächten »eine angenehme Abwechslung in den Alltag«. 109
Ein New Yorker wurde mit der Aussage zitiert, seine vierjährige Hündin sei auch in dem Monat, in dem er krankgeschrieben war, jeden Tag ohne ihn ins Büro ge gangen. Ein Arbeitskollege brachte sie ihm jeden Tag nach Hause zurück. Er erklärte sich ihr Verhalten damit, daß sie es zu langweilig fand, den ganzen Tag zu Hause zu sein. Eine New Yorker Marketingfirma hat Wettbewerbe für Bürohunde veranstaltet, mit Preisen für den bestgekleide ten und den bravsten Hund. Der Firmenleiter erklärte, Hunde förderten das Gemeinschaftsgefühl im Büro. Was bedeutet dieser neue Trend? Was sagt er über uns? Sind wir unserer Arbeitsumwelt und unserem Leben so ent fremdet, daß wir Hunde brauchen, um uns als Menschen zu fühlen ? Fällt es uns so schwer, mit anderen Menschen zu kom munizieren ? Ist New York so anonym, daß erst Hunde uns das Gefühl geben, zu Hause zu sein ? Leben wir unter sol chem Streß und solcher Anspannung, daß unsere Hunde uns helfen müssen zu entspannen ? Es scheint sich so zu verhalten. Und es scheint ein New Yorker Phänomen zu sein. Kameradschaft und Gemeinschaftsgefühl können in New York die merkwürdigsten Formen haben. In einer hy perblasierten und schicken Stadt kann eine unauffällige und gewöhnliche Handlung ein aufregendes Abenteuer sein. Kürzlich saß ich im Wartezimmer meines Zahnarztes im 18. Stock des Rockefeller Centers. Ich war nicht gern dort. Zahnärzte mochte ich noch nie. Aber hier in Amerika habe ich ein zusätzliches Problem kennengelernt. Zahnseide. Amerikaner sind ganz wild auf Zahnseide. Bevor ich nach New York zog, hat mir nie jemand vorgeschlagen Zahnseide zu benutzen. Amerikaner scheinen Tag und Nacht ihre Zähne damit zu reinigen. Ich fühle mich 110
einfach außerstande dazu. Es übersteigt schon meine Kräfte, mit meinen Kindern zu verkehren, mit meinem Mann glücklich zu sein, eine gute Beziehung zu meinem Vater zu haben und meine Verleger ruhigzuhalten. Für Zahnseide reicht es nicht mehr. Deshalb sitze ich im Wartezimmer und denke mir Ausre den für mein Versagen aus. »Ist das Wetter nicht scheußlich?« sagte eine Frau, die darauf wartete, daß ihr Kiefer geröntgt wurde, beim letzten Besuch zu mir. Es war ein sehr kalter und grauer Tag. Wir unterhielten uns zehn Minuten lang darüber, daß das Wetter in New York nie gut ist. Daß es entweder zu kalt, zu windig, zu naß, zu heiß oder zu feucht ist. Das Gespräch war so angeregt, daß man hätte meinen können, wir unterhielten uns über unsere Liebhaber oder unsere Mütter. Wir waren ein Herz und eine Seele. In voll kommenem Einklang. Es war so befriedigend. Ein solches Vergnügen. Vielleicht sollten wir uns alle in zahnärztlichen Warte zimmern versammeln, statt unsere Hunde an die Arbeit mitzunehmen ?
Radieschen Meine deutsche Verlegerin ist zu Besuch. Sie will ihrer Mut ter Kürbiskerne mitbringen. Ihre Mutter will in Österreich, wo sie wohnt, Kürbisse ziehen. Offenbar wird in Amerika der beste Kürbissamen erzeugt. Ich biete ihr an, die Kürbiskerne zu besorgen. Nicht weit von meiner Wohnung gibt es zwei Gartengeschäfte. Ich su che Grass Roots in der Spring Street auf. Grünzeug, wohin man sieht: Palmen, Farnwedel, alle möglichen Pflanzen. Die Luft im Geschäft ist feucht; wahrscheinlich ist das gut für die Pflanzen. Für meine Haare ist feuchte Luft nicht gut. Meine Locken werden zu einer krausen Dauerwelle. Ich muß das Geschäft verlassen. Ich versuche es mit Smith & Hawken am West Broad way. Die Luft ist angenehm trocken. Ich sehe mich um. Un ter anderem kann man Gartenscheren, Rasensprenger, Schaufeln, Handrechen, Handjäter und einen Mango kescher kaufen. Es gefällt mir alles. Aber Geräte und Zube hör gefallen mir immer - Küchengeräte, medizinische und zahnmedizinische Geräte, das Arbeitsgerät von Architek ten und Ingenieuren. Mir fällt auf, daß jeder im Geschäft friedlich und ausge glichen wirkt, Kunden wie Angestellte. So möchte ich auch sein. Ich möchte zu ihnen gehören. Ich beschließe, Gärtne rin zu werden. Ich werde Radieschen pflanzen. Ich liebe Radieschen. Radieschen und Rettich kann ich in verschie denen Sprachen sagen. Ich kaufe ein Päckchen Cherry-Bomb-Radieschensa men. Auf der Packung steht, daß die Radieschen lippen stiftrot sind und sich auf kalten Platten oder in Blütenform in einer Schale mit zerstoßenem Eis besonders attraktiv ausnehmen. 112
Ich kaufe einen großen Blumentopf und etwas Blumen erde, der gemahlene Austernschalen, Torf, Bimsstein, Fle dermausguano und Regenwurmausscheidungen zugege ben sind. Ich kaufe Pflanzendünger, der Magnesium, Bor, Kupfer, Eisen und Zink enthält. Und ein wenig Algenex trakt, der von der 12.500 Meilen langen Küste Norwegens gesammelt wurde, und zwar genau an der Stelle, wo mine ralstoffreiche Gebirgsflüsse, der Golfstrom und arktische Strömungen aufeinandertreffen und die besten Bedingun gen für das Algenwachstum schaffen. Ich gehe nach Hause und mache mir Gedanken über die richtige Stelle für den Blumentopf. Ich suche einen Platz am Ende meiner Feuerleiter aus. Ich achte darauf, daß die Ra dieschen niemanden bei seiner eventuellen Flucht behin dern. Ich pflanze sie, wie auf der Packung angegeben. Ich dünge sie. Es ist ein angenehmes Gefühl. Es erinnert einen daran, wie es ist, schwanger zu sein und Vitamin C und Folsaure zu schlucken. Auf der Packung steht, daß die Ra dieschen fünfundzwanzig Tage nach der Aussaat geerntet werden können. Die Sämlinge sollen sich nach sieben bis zehn Tagen zeigen. Ich bin mit mir zufrieden. Ich habe alles richtig gemacht. Es ist die richtige Jahreszeit. Spätes Frühjahr. Die Nächte sind noch kühl genug, um ideale Bedingungen für das Sprießen der Radieschen zu gewährleisten. Ich freue mich auf meine Sämlinge. Jeden Tag sehe ich nach meinen Radieschen. Ich fühle mich richtig erdverbunden, eins mit der Natur. So müssen sich Bauern fühlen. Ich denke mir eine Reihe Mahlzeiten mit Radieschen aus. Am Tag Nr. 10 sind noch immer keine Sämlinge zu sehen. Immer wieder zieht es mich zur Feuerleiter. Dann gehe ich zum Markt am Union Square und frage eine Ge müseverkäuferin über Radieschensämlinge aus. »Die kön 113
nen jetzt jeden Tag kommen«, sagt sie. Aber sie kommen nicht. Ich beklage mich bei meiner jüngeren Tochter. »Außer dem ist es sowieso untypisch für Juden, Gemüse anzupflan zen«, sage ich, nachdem ich mich beklagt habe. »Ich habe schon Tomaten und Basilikum und Karotten gepflanzt«, sagt sie. »Ja, aber dein Vater ist ja auch kein Jude«, erkläre ich ihr. Habe ich die Radieschen vielleicht überdüngt ? Ich neige dazu, Menschen zu überfüttern. Nach vierundzwanzig Ta gen zeigen sich ein paar Blättchen. Ihr Erscheinen löst keine überschwengliche Begeisterung aus. Ich bin ein bißchen entmutigt. Eine Woche später beschließe ich, die Radieschen zu ern ten. Ich ziehe eine Pflanze aus der Erde. Ein zwergiger, schwindsüchtiger Kümmerling kommt zum Vorschein. Ich gehe in die Gourmet Garage in der Bromme und kaufe zwei Bund Radieschen. Ach ja, die Kürbiskerne habe ich besorgt. Ich habe acht Varietäten gekauft. Sie sind wahrscheinlich mittlerweile auf dem besten Weg, zu Hunderten von Kürbissen heran zuwachsen.
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Religiosität Ich wünschte, es gäbe einen Gott in meinem Leben. Ich wünschte, ich wäre religiös. Das sind verhältnismäßig neue Wünsche. Ich bin nie religiös gewesen, nie gläubig gewesen. Ich bin Jüdin. Jüdin durch Geburt. Durch Tradition, Kultur und Geschichte in meinem Judentum verwurzelt. Nicht durch religiöse Unterweisung. Religiosität war mir als Teenager so verboten wie Sex. Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, wo Gottes Abwesenheit gepredigt wurde. Wieder und wieder bekräf tigten meine Eltern, daß es keinen Gott gebe. Für sie lag die Abwesenheit Gottes auf der Hand. Als sie sechs Jahre lang in der Hölle von Auschwitz und im Ghetto von Lodz litten und alle verloren, die sie liebten, war von einem Gott nichts zu spüren. Beide kamen aus religiösen Familien, als sie gejagt und eingesperrt wurden. Nach der Katastrophe war es beiden nicht mehr möglich zu glauben. Ich durfte keine Synagoge besuchen. Meine Alten be trachteten Leute, die an Gott glauben, mit Geringschät zung. Ich kam mir illoyal vor, wenn ich eine Synagoge nur ansah. In unserer Straße gab es eine, und ich ging immer schnell an ihr vorbei. Wenn ich heute die Sehnsucht, die Neigung oder das Be dürfnis verspüre, Religiosität in mein Leben einzubeziehen, komme ich mir dabei immer noch illoyal vor. Es ist sehr verwirrend. Religiosität scheint die Ungewißheit zu lindern. Ich weiß, daß das Leben als solches notgedrungen ungewiß ist. Aber ich kann Ungewißheiten nicht leiden. Ich will alles genau festlegen. Ich will Gewißheit. Die Re 115
ligiosität macht Ungewisses weniger ungewiß. Ich kann verstehen, was Leute daran anzieht. Und was sie an Struktur und Ordnung anzieht, die zur Religion gehören. Struktur und Routine und Ordnung habe ich schon immer geschätzt. Ob in der Arbeit oder bei der Gymnastik oder in den Beschränkungen einer Diät. Viele Leute finden Struktur und Ordnung beunruhigend. Man denke nur an die Schwierigkeiten und Probleme, die der Ruhestand mit sich bringt. Ordnung und Routine des Schriftstellerlebens gefallen mir. Ich bin eine sehr ordentliche Schriftstellerin. Ich mache saubere Notizen. Ich ordne sie nach Farben und nach Nummern. Ich lege meine Stifte und mein Arbeitsgerät in säuberlichen, geraden Reihen aus. Religiöse Routinehandlungen haben mich seit Jahren fasziniert. Ich habe Katholiken beim Rosenkranzbeten be obachtet, bis ich schier hypnotisiert war. Die gleiche magi sche Anziehung haben Juden, die ihre Gebetsriemen anle gen, und Moslems, die sich im Gebet vor Allah neigen, auf mich ausgeübt. Es gibt mir die tröstliche Gewißheit, daß das Leben aus mehr besteht als dem gegenwärtigen Augenblick. Ein weiterer beruhigender Aspekt der Religion ist ihre Verbindung zur Vergangenheit, einer Vergangenheit, die mehr Bestand hat als die Erinnerung an den letztwöchigen Urlaub oder das letztjährige Klassentreffen. Und die Religion verschafft einem ein Zugehörigkeitsge fühl. Etwas, was in unserer immer mobileren und weniger vertrauten Welt von wachsender Bedeutung ist. Und ein Gemeinschaftsgefühl. Viele unserer Gemeinschaften beschränken sich auf Ar beitskollegen und Besucher, vor allem bei jenen, die in Großstädten leben. Wir leben unter Fremden und Bekanntschaften. In New York, wo ich seit zehn Jahren wohne, gibt es nie 116
manden, der meine Mutter gekannt hat, und nur wenige, die meinen Vater kennen. Zwei meiner drei Kinder wohnen hier. Viele Leute, die ich kenne, haben sie nie kennenge lernt. Ich habe keine alten Freunde in dieser Stadt, niemanden, dem gegenüber ich nicht ständig meine Sonntagsmanieren präsentieren müßte. Es gibt für mich keine Beständigkeit, keine Verbindung zur Vergangenheit. Alles kann unbestän dig wirken. Befristet. Kein Wunder, daß Religiosität etwas Verlockendes hat. Früher betrachtete ich religiöse Erscheinungen wie Rab bis und Priester mit Ehrfurcht. Ich glaubte, sie besäßen Antworten auf unlösbare Dilemmas und Fragen. Aber ich habe Rabbis und Priester kennengelernt, die ge jammert und gestritten und sich über Kleinigkeiten geär gert haben wie jedermann. Ich habe Rabbis und Priester kennengelernt, die mir nicht weniger hilflos und selbstgerecht und voreingenom men vorkamen als die meisten von uns. Wenige Rabbis und Priester habe ich erlebt, die klüger und entschlossener er schienen als der Durchschnittsmensch. Der Durchschnittsrabbi oder -priester ist so durch schnittlich wie jeder andere auch.
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Schilder Jeden Tag komme ich am La Guardia Place an einem Schild vorbei; auf dem Schild steht: Unnötiger Lärm verboten. Jeden Tag frage ich mich, wie unnötig Lärm sein muß, damit er unnötig ist. Ich vermute, daß nur ein semantisches Genie oder ein Talmudgelehrter dieses Schild zu interpretieren vermag. Mir kommt der meiste Lärm unnötig vor. Ich liebe die Stille. Das Schild scheint ohnedies nichts zu bewirken. Dort, wo es steht, ist es nicht leiser als anderswo am La Guardia Place. Lastwagen und Pkws hupen kein bißchen weniger laut. Preßluftbohrer dröhnen, und Leute schreien sich über die Straße hinweg an. Trotzdem stimmt mich das Schild fröhlich. Es ist so schwachsinnig. Und so machtlos. Es gibt das Temperament der Stadt nicht wieder, anders als die Parkverbotsschilder. Parken verboten Halten verboten Stehenbleiben verboten, sonst kracht es steht auf einem Schild und Denken Sie BLOSS nicht, Sie könnten hier parken auf einem anderen. Da weiß man, daß man in New York ist. In einer Stadt, wo viele von uns zu viele Bekannte und zu wenig Freunde haben, können kleine Schilder und An schläge Verbindungen schaffen. Die Stadt ist mit solchen Anschlägen übersät und gesprenkelt. Sie sind an Wänden angebracht, an Pinnwände gesteckt, in Schaufenster geklebt, an Bäume und Masten geheftet. Sie weisen auf Veranstaltungen hin, halten Dinge zum Ver kauf feil, suchen Arbeit, bieten Stellen an. Auf den üblichen New Yorker Anschlägen kann man je 118
manden finden, der die Haustiere füttert, die Wohnung hü tet, aus der Hand liest, den Wagen wäscht oder einem ange wandte Physik oder tantrisches Yoga beibringt. An der Oberfläche dieser verschiedenartig großen Zettel kann man Einblick in das Leben der Leute nehmen. Und sich manchmal wundern. »Vegetarische lesbische Nicht raucherin möchte die Wohnung mit heterosexueller Nicht raucherin teilen«, las ich auf einem Anschlag. Warum, so fragte ich mich, suchte diese Frau eine heterosexuelle Mit bewohnerin ? Warum wollte sie keine Lesbierin ? Oder Ve getarierin? Der Wall-Street-Bankangestellte, der einen reinlichen Frühaufsteher als Mitbewohner suchte, kam mir viel weniger unverständlich vor. Anschläge können bisweilen Intimeres mitteilen als ein Großteil unserer verbalen Kommunikation. »Ich bin ein sam«, besagte ein kleiner Zettel in der Ecke des Fensters ei nes Ladens für Büromaterial. Unter dieser kummervollen Aussage war eine Telefonnummer angegeben. Mit Unbehagen überlegte ich mir, was für Leute dieser einsamen Person wohl antworten würden. Und ich dachte mir, daß es ein beunruhigender Anschlag war. In dieser weitgehend unpersönlichen Stadt erfährt man an den unerwartetsten Stellen vertrauliche und persönliche Enthüllungen. Ein Anschlag an einem Birnbaum in der Achten Straße besagte: Weißer Glatthaarterrier entlaufen 500 Dollar Belohnung Besitzer sehr betrübt. Als zwei Tage später ein neuer Anschlag da war, wußte ich, daß die Dinge schlechtstanden. Weißer Glatthaarterrier entlaufen 500 Dollar Belohnung Besitzer verzweifelt, stand darauf. Ich habe Wohnungen an Bäumen angezeigt gesehen. Wenn man eine Wohnung sucht, kann es erfolgverspre 119
chender sein, eine Telefonnummer von einem Baumstamm abzuschreiben, als sich zu einem Wohnungsmakler zu be geben. Wohnungen, die selten und teuer sind, wechseln auf merkwürdig persönliche Weise den Besitzer. Manchmal sind die Anschläge und Schilder alles andere als klein. Ein großes Schild neben einem der Tunnels von New York verkündet: Lastwagen mit Übergewicht zuge lassen. Wenn ich dieses Schild ansah, dachte ich immer, wie nützlich es wäre, könnte man auch Menschen eine Erlaub nis für Übergewicht ausstellen. Nicht wenige von uns würde eine solche Genehmigung beträchtlich aufheitern. Ein Anschlag in einem Café in unserer Gegend hat mich lange verfolgt. Dreibeiniger schwarz-weiß-gefleckter Mischling entlaufen, stand da zu lesen. Auf einem Auge blind, Schwanz versehrt, ein Ohr fehlt. Letzte Woche ka striert. Hört auf »Lucky«. Ein Foto von Lucky, der nicht aussah, als würde man sich um ihn reißen, hing daneben. Wochenlang hielt ich Ausschau nach Lucky. Ich sah mich auf meinen frühmorgendlichen Spaziergängen am Hudson nach ihm um. Ich sah mich nach ihm um, wenn ich in die Reinigung oder in den Kramladen an der Ecke ging. Ich sah mich in Chinatown und in Little Italy nach ihm um. Der Anschlag, mit dem nach ihm gesucht wurde, hing monatelang im Café. Ich weiß nicht, ob er je gefunden wor den ist.
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Sex Für gewöhnlich pflege ich mich mit meinen Freunden nicht über Sex zu unterhalten. Hin und wieder sprechen wir über Sex, aber in abstrakter Hinsicht; wir unterhalten uns nicht über unser Sexualleben. In letzter Zeit hat sich das geändert. Drei Freundinnen, alle Mitte Dreißig und verheiratet, haben jede für sich und beinahe beiläufig das Thema ins Gespräch gebracht. Jedesmal war mir, was sie sagten, un angenehm; und mein Widerwille, das Thema weiter zu ver folgen, hat mich überrascht. »Ich habe keine Zeit für Sex«, sagte eine der Freundin nen zu mir. Ich hatte sie gefragt, ob ihre Tätigkeit anstren gender für sie geworden sei, seit sie ihr Baby hatte. »Job und Baby bringe ich unter einen Hut«, sagte sie. »Aber für Sex hab' ich keine Zeit.«Ich errötete wie ein Teenager. Und ich wußte nicht, was ich sagen sollte. »Hoffentlich wird es keine Fehlgeburt«, sagte eine seit kurzem schwangere Freundin, »denn dann müßte ich wie der Sex haben.« Ihr Ton und ihr Gesichtsausdruck verrie ten, daß es mehr als schwierig - möglicherweise sogar lä stig - gewesen war, die gegenwärtige Schwangerschaft her beizuführen. Ich habe nicht gefragt, warum. Ich schwieg. New Yorker führen ein anstrengendes Le ben. Das weiß jeder. New Yorker haben keine Zeit. Ich hatte nicht gewußt, daß dazu gehört, keine Zeit für Sex zu haben. Ich weiß, daß Sex in vielerlei Hinsicht kompliziert ist. Manchmal schreibe ich über Sex. In Romanen. Das hat mir als Mutter ein paar ungemütliche Situationen beschert. »Die besonders saftigen Stellen überblättere ich einfach«, sagte meine jüngere Tochter zu mir, als sie mit dreizehn ei nen meiner Romane las. Für einen anderen Roman mußte ich wissen, wieviel 121
Sperma ein Mann durchschnittlich ejakuliert. Ich fragte meinen Sohn. Er studierte damals Medizin. Er sah mich mißbilligend an. Ich glaube, eine Frage zu einem anderen Thema wäre ihm lieber gewesen. Sex macht Leute auf unerwartete Weise verrückt. Mir scheint, daß die hysterische Feindseligkeit, die Präsident Clinton während der Lewinsky-Affäre entgegenschlug, ih ren Antrieb großenteils darin hatte, daß man ihm seine Li bido neidete und verübelte. Ein männlicher Politiker nach dem anderen äußerte sich hitzig mit zusammengepreßten Lippen und zusammenge bissenen Zähnen über Clintons kriminelles Tun. Ich dachte mir, daß vielleicht Clintons Sexualität schuld daran war, daß sie mit Schaum vor dem Mund sprachen. Mir fiel auf, daß besonders freudlos und fade wirkende Politiker den größten Abscheu bekundeten. Sex kann einen aus der Fassung bringen. Ein Papagei in einem Hotel einer mexikanischen Kleinstadt, in dem ich einmal wohnte, erschreckte die Gäste jeden Morgen bein Frühstück mit seinem hektischen Keuchen, Stöhnen unc Seufzen. In seine tiefen Stöhnlaute mischten sich höhere nervösere Schreie. Und Atemlosigkeit. Ich wußte, daß der Papagei noch nicht lange im Hotel war. »Sein Vorbesitzer muß ganz schön viel Sex gehabt ha ben«, sagte ich zu meinem Mann. Bei den mexikanischen Gästen war der Papagei sehr beliebt. Sie mußten über ihn lachen. Die Amerikaner zeigten sich weniger begeistert. Manche wirkten etwas irritiert. Ich fand den Vogel beunruhigend. Er schrie und flüsterte und keuchte und stöhnte so schrecklich hingebungsvoll. Ich war peinlich und unangenehm berührt. Und - letzt lich - eingeschüchtert. Der Papagei bewirkte, daß ich mir wie ein Versager vorkam. »Ich stöhne nicht so«, sagte ich zu meinem Mann. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt Geräusche mache.« 122
»Wem hat der Papagei früher gehört ?« fragte ich einen Kellner. »Einem Ehepaar«, erwiderte er. »Einem jungen Paar?« fragte ich. »Nein«, sagte er. »Es war ein altes Paar.« »Wie alt?« fragte ich. »Mittleres Alter«, sagte er. Mir wurde klar, daß das Gespräch einen gefährlichen Verlauf zu nehmen drohte. Ich wollte nicht erörtern, wel ches Stadium mittleren Alters alt genug ist, um als alt zu gelten. Ich kam mir schon ziemlich alt vor.
Shorts Zu den Dingen, die das Ende des Sommers und das Nahen des Winters erträglicher machen, gehört die Vorstellung, keine Amerikaner in Shorts mehr zu sehen. Amerikaner sind von Shorts geradezu besessen. Sobald die Temperaturen nur leise steigen, holen die Amerikaner ihre Shorts hervor. Zahllose Shorts. Die unterschiedlichsten Shorts mit Menschen darin kommen zum Vorschein. Shorts mit Zebrastreifen, Shorts mit Karos und mit Schottenmuster, Khakishorts, Neon shorts. Shorts mit Blümchenmuster sind die schlimmste Sorte. Sie könnten einem fast für den Rest des Lebens das Gärt nern verleiden. Amerikaner lieben Shorts. Sie lieben es, ihre Beine zu zei gen. Was verständlich wäre, besäße man zufällig die Beine von Madonna, Michael Jordan oder Raquel Welch. Die meisten Amerikaner tun es nicht. Doch im nationalen Shortswahn übersehen sie diesen Umstand offensichtlich. Ein Tag heißes Wetter genügt, da mit das ganze Land sich in Shorts wirft. Kurze Shorts, lange Shorts, weite Shorts, enge Shorts. Jedermann schmückt sich mit Shorts. Manche täten besser daran, es bleibenzulassen. Der An blick blasser, behaarter Beine, die aus feuerroten Shorts hervorlugen, ist in meinen Augen keineswegs die Krönung eines heißen Sommertages. Manche Dinge gehören nicht enthüllt. Manchen Dingen sollte man die Mitwelt nicht aussetzen. Doch die Frage, ob man Shorts tragen oder nicht tragen soll, ist keine Frage, die sich ein Amerikaner stellen würde. Für Amerikaner stellt die Möglichkeit, Shorts zu tragen, 124
ein menschliches Grundrecht dar, vergleichbar der freien Meinungsäußerung. In einer so schicken und durchgestylten Stadt wie New York sollte man meinen, weniger Shorts zu Augen zu be kommen. Aber so verhält es sich nicht. Leute, die das üb rige Jahr hindurch elegant und selbstbewußt auftreten, er scheinen im Sommer plötzlich in einer Aufmachung, als wollten sie Verwandte zum Barbecue besuchen. Ein raffiniertes schwarzes Kleid oder ein Anzug von Hugo Boss können eine Menge Defekte kaschieren. Shorts können das nicht. Für das Gegenüber kann das von Vorteil sein. Shorts mindern die Aura, die einen nervös oder unsi cher macht. In einer Stadt, wo es ein leichtes ist, sich in Gegenwart wichtigerer Personen schüchtern und unbedeutend vorzu kommen, kann der Anblick dieser Leute in Shorts ein ge waltiger Gleichmacher sein. Es ist ziemlich schwer, jeman den m Shorts einschüchternd zu finden. Die meisten Leute sehen in Shorts nicht sehr vorteilhaft aus. Shorts enthüllen unsere Makel und Defekte augenfäl liger als die meisten anderen Kleidungsstücke. Ich habe noch nie Shorts getragen. Aus einem einleuch tenden Grund. Ich sehe abscheulich darin aus. In Shorts wurde ich jede Glaubwürdigkeit und meine ganze Würde einbüßen. Und meiner Meinung nach sollte man schöne oder zu mindest passable Beine haben, um Shorts zu tragen. Des halb trage ich keine, obwohl ich mich nach Kräften be mühe, mich anzupassen, amerikanischer zu sein. Ich habe mich bemüht, meine australischen Vokale zu dämpfen, und nach zehn Jahren ist es mir gelungen, schneller zu sprechen. Sich zu bemühen, amerikanisch zu sein, kann anstren gend sein. Ich habe mich um forsches Auftreten bemüht, bis ich vor Anstrengung blau im Gesicht war. Gelungen ist es mir bis heute nicht. Forschheit ist mir einfach nicht gegeben. 125
Oder Leutseligkeit. Ich bin von Natur aus nicht leutselig. Ich verhalte mich Fremden und Leuten gegenüber, die ich nicht gut kenne, zurückhaltend. An meinem zurückhalten den Auftreten erkennen Amerikaner auf den ersten Blick, daß ich keine von ihnen bin. Aber es gibt noch Hoffnung. Ich habe mir eine amerika nische Leidenschaft angeeignet. Ich bin Basketballfan ge worden. Ich spiele nicht, sondern bin Zuschauer. Ich bin eine treue Anhängerin der New York Knicks ge worden. Alle Spiele der Knicks verfolge ich im Fernsehen. Wenn die Mannschaft verliert, bringt mich das schier um den Verstand. Und mein Blutdruck steigt bei dramatischen Situationen des Spiels. Dieses Jahr sind die Knicks bis in die Endrunde der Na tional Basketball League gekommen. Den Cup haben sie nicht gewonnen. Ich war tagelang deprimiert. Und kam mir sehr amerikanisch vor. Es war ein angenehmes Gefühl. Ich machte einen weite ren Versuch und probierte Pfannkuchen mit Ahornsirup zum Frühstück. Es war gar nicht so übel. Aber egal wie sehr es mir helfen würde, mich anzupas sen, gibt es Dinge, die zu tun ich nicht über mich bringe. Niemals werde ich Shorts tragen.
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Silvester Schon seit Monaten zerbreche ich mir den Kopf darüber, was ich am Silvesterabend, dem letzten Abend dieses Jahr hunderts, tun soll. Ich hatte das Gefühl, ich müßte etwas Besonderes unter nehmen. Die Vorstellung, etwas Gewöhnliches zu tun, bei spielsweise früh ins Bett zu gehen, wie ich es an vielen Silve sterabenden getan habe, gab mir das Gefühl, ich würde vielleicht etwas verpassen, obwohl ich nicht hätte sagen können, was. Ich begann andere Leute zu fragen, was sie an Silvester unternehmen würden. Ich fragte Freunde und Bekannte. Manche hatten konkrete Pläne - eine Yacht vor den KeyInseln, ein Haus in Rio de Janeiro, eine Wanderung durch den Himalaya. Andere hatten sich noch nicht entschieden. Keiner lud mich ein. Ich fragte noch mehr Leute, was sie unternehmen wür den. Ich versuchte, nicht auszusehen, als würde ich jam mern. Ich versuchte, nicht auszusehen, als wollte ich mich selbst einladen. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als hätte ich keine Freunde oder als wäre ich sozial uner wünscht. Alle erzählten animiert von ihren Plänen oder Nichtplänen. Aber keiner von ihnen lud mich ein. Ich war deprimiert. »Daß man uns mit Einladungen für das Ende des Millenniums die Bude einrennt, läßt sich nicht gerade behaupten«, sagte ich zu meinem Mann. »Ja, und?« sagte er. »Du magst Silvester doch sowieso nicht.« Er hat recht. Ich mag Silvester nicht. Ich mag den Gedan ken an pompöse Enden nicht. Oder den an pompöse An fänge. So etwas macht mich nervös. Ich komme mir dann vor, als müßte ich große Gedanken und Worte und Vor 127
sätze bemühen statt der normalen Flotillen kleiner Über einkommen und Unternehmungen. Und die meisten Silvesterpartys, die ich in New York miterlebt habe, wirkten gezwungen. Mein eigenes Verhal ten kam mir gezwungen vor, als sei ich bemüht, so zu tun, als amüsierte ich mich. Aber dieses Silvester war etwas anderes. Es hatte mehr zu bedeuten als nur den Übergang von einem Jahr zum näch sten. Ich hatte das Gefühl, daß ich bei einem Jahrhundert wechsel Zeuge sein sollte. Mein Verstand sagte mir, daß es nichts zu sehen geben würde, aber ich wurde das Gefühl nicht los, daß ich dabei sein sollte. Ich beschloß, etwas zu unternehmen. Ich wollte nicht in New York bleiben. New York ist schon an normalen Tagen so chaotisch, daß es meine Toleranz strapaziert. Zum Ende des Millenniums stellte ich es mir als das reinste Tollhaus vor. Vielleicht sollten wir nach Mexiko fahren, dachte ich. Oder wie wäre es mit Las Vegas ? Ich wollte schon immer einmal nach Las Vegas. In Las Vegas könnten wir uns die Show von Siegfried und Roy ansehen. Siegfried Fischbacher und Roy Uwe Ludwig Horn sind die erfolgreichsten Entertainer in der Geschichte von Las Vegas. Bei ihren Auftritten, so hatte ich gelesen, ließen die zwei auffällig gewandeten und frisierten Zauberkünstler vier undzwanzig Tiger, acht Löwen, ein Araberpferd und einen Elefanten sowie sich selbst verschwinden und wieder er scheinen. Siegfrieds und Roys perfekt gemeißelte Wangenkno chen, ihre goldenen Klunker, ihre eindrucksvolle Bräune und ihre bis zum Bauchnabel offenen Hemden haben etwas Hypnotisches. Wahrscheinlich appellieren sie an meine grelleren, vulgä 128
reren Instinkte, Instinkte, die sonst fast immer unterdrückt sind. Vor vierzig Jahren kamen Siegfried und Roy als arme junge Einwanderer aus Deutschland. Heute kommen mehr als 700000 Menschen nach Las Vegas, um sie zu sehen. Ich fand, daß auch ich sie sehen wollte. Zwei Tage lang debattierte ich mit Reisebüros Flugreser vierungen und mögliche Y2K-Probleme. Zu guter Letzt konnte ich mich doch nicht dazu überwinden, einen Flug zu buchen. Die Vorstellung, wegen einer Y2K-Panne in Las Vegas festzuhängen, hatte meine Begeisterung merklich ge dämpft. Ich fand mich mit dem Gedanken ab, zu Hause zu blei ben. Dort konnte ich zumindest auf die Wasserflaschen und die Büchsen mit Sardinen, Lachs, Thunfisch und Baked Beans zurückgreifen, die ich gehortet hatte. Ganz zu schweigen von Dosenöffnern und Batterien und Taschen lampen. All das hatte ich eingelagert, obwohl Präsident Clinton behauptet hatte, Amerika sei für das neue Jahrtausend ge rüstet. Er hatte gesagt, Computerpannen werde es keine ge ben. Keine Y2K-Probleme. Wenn sich der Übergang ins nächste Jahrtausend ohne Pannen gestaltet, werde ich auf Jahre hinaus Sardinen-, Lachs- und Baked-Beans-Konserven essen.
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Sport Von einer australischen Zeitung wurde ich gebeten, einen Artikel über Sport zu schreiben. Er war für eine Sonderaus gabe anläßlich der Olympiade im Jahr 2000 vorgesehen, die in Sydney stattfinden wird. Als der Redakteur mich auf den Artikel ansprach, mußte ich lachen. Ich sagte zu ihm, daß Sport für mich von jeher ein rotes Tuch gewesen ist. Das stimmt wirklich. Einige meiner schrecklichsten Kindheitserinnerungen betreffen die Leibesertüchtigung. Noch heute zucke ich zusammen, wenn ich mich daran erinnere, wie ich als Zwölfjährige im Turnunterricht ver suchte, über das Seitpferd zu gelangen, während eine Gruppe von Jungen sich mit schallendem Gelächter aus dem Fenster ihres Klassenzimmers lehnte. Immer wenn wir Turnunterricht hatten, waren Jungen in der Nähe. Wenn ich auf dem Schwebebalken einen Purzel baum machen sollte, lachten sie sich halb tot. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich hätte nicht einmal auf ebener Erde einen Purzelbaum zuwege gebracht, geschweige denn auf einem schmalen Balken. Einer der Jungen verpetzte mich beim Turnlehrer, weil ich meine Geschwindigkeit beim Laufen so reguliert hatte, daß ich nach einer Runde zur gleichen Zeit im Ziel ankam wie die anderen, die sechs Runden absolviert hatten. Soweit ich mich erinnern kann, war noch nie jemand in meiner Familie sportlich. Wir hatten wenige lebende Ver wandte, aber wenn meine Eltern von der Vergangenheit sprachen, erwähnten sie nie irgendeine sportliche Groß tat. Das Athletentum scheint den Bretts einfach nicht in die Wiege gelegt zu sein. Mein Vater fährt ein paar Häuser 130
blocks weit mit dem Auto, um eine Tüte Milch einzukau fen. Er versteht was vom Parken. Nicht vom Laufen. Heute stimmt das nicht mehr ganz. Um mir einen Gefal len zu tun, hat er sich angewöhnt, vierzig Minuten täglich zu gehen. Ich will, daß er gesund bleibt und hundert Jahre alt wird. Er ist dreiundachtzig. Alle paar Tage ruft er mich von Australien aus an und be schwert sich über das Joggen. »Irgendwann wird es dir Spaß machen«, sagte ich kürzlich. »Das hast du vor zwei Jahren schon gesagt«, sagte er. »Es macht mir noch immer keinen Spaß.« »Ich bin sicher, daß es dir guttut«, sagte ich. »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte er. Ich habe das Joggen mit vierzig entdeckt. Bis dahin war ich die Tochter meines Vaters. Expertin im Parken. Meine Laufbahn im Joggen begann mit ganz normalem Gehen. Dann wurde ich immer schneller, bis ich mich in eine Joggerin verwandelte. Und in jemanden, der ohne Jog gen nicht leben kann. Ich jogge jeden Tag und trainiere an meinem Hometrai ner, einem Stepper. Man könnte mich fast für eine spätbe rufene Athletin halten. Ich liebe meinen Stepper. An man chen Tagen würde ich ihn am liebsten gar nicht verlassen. Im vergangenen Sommer habe ich jeden Morgen eine Stunde und vierzig Minuten damit verbracht, an meinem Stepper bergauf zu laufen. Ich glaube, damit wollte ich die verlorene Zeit aufholen und das Bild des Versagers im Tur nen auslöschen. Inzwischen beschränke ich mich auf eine Stunde und zehn Minuten. Was manchen Leuten noch immer exzessiv vor kommt. »Warum mußt du alles immer so extrem angehen ?« sagte meine jüngere Tochter zu mir. »Zuviel Mäßigung ist ungesund«, antwortete ich. Sie sah mich tadelnd an. »Du läufst zuviel«, sagte mein Vater letzte Woche zu mir, als ich ihm erzählte, ich sei erschöpft. 131
»Wenn man sich bewegt, hat man mehr Energie und ist nicht so müde«, sagte ich. »Du spinnst«, antwortete er. Genau das waren die Worte meiner Tochter, als ich zu ihr sagte, ich wolle weder Charleston noch den Lindy Hop, noch Jitterbug tanzen lernen. Meine jüngere Tochter tanzt leidenschaftlich gern. Swing tanzen ist ihre neueste Leiden schaft. In New York kann man an jedem beliebigen Abend in der Woche Swing tanzen. Das Swingtanzen hat ein gewalti ges Comeback erlebt. Tausende von New Yorkern tanzen Hop Rock und Boogie Woogie. Ich neide es ihnen nicht. Ich bewundere Leute, die sich rhythmisch zu bewegen beginnen, sobald sie Musik hören. Wenn ich Musik erklin gen höre, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Wie paraly siert. Ich kann den Rhythmus der Musik nicht erfassen. Wenn ich Musik höre, wackle ich nicht mit den Hüften und schnipse nicht mit den Fingern. Ich erstarre. Ich kann nicht einmal mitklatschen. Ich gerate beim Klatschen jedesmal sofort aus dem Takt. Ich habe Rhyth mus im Herzen, aber nicht in den Gliedern. Ich begnüge mich wohl besser mit meinem Stepper.
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Streß In New York würde es einen herben Prestigeverlust bedeu ten zuzugeben, daß man Zeit hat. Zuzugeben, daß man auch nur kurzfristig nichts zu tun hat, daß man müßig ist, würde einen auf der Stelle ins soziale Abseits befördern. Es käme gesellschaftlichem und beruflichem Harakiri gleich, andere merken zu lassen, daß man nichts tut. In New York stürzt das Ansehen von Leuten ins Boden lose, wenn sie sich zu einem Lebensstil bekennen, der sich nicht durch Dauerhektik auszeichnet. In New York muß man den Eindruck erwecken, permanent unter Streß zu ste hen. Streß ist mehr als ein Statussymbol. Er ist eine Not wendigkeit, eine Voraussetzung, wenn man New Yorker sein will. Entspannt zu wirken ist von Nachteil, schürt Mißtrauen. Sorgloses Auftreten ist in Manhattan ein Stigma und kein Vorteil. In einer Stadt, in der Erfolg daran gemessen wird, daß je der freie Augenblick mit irgendeiner Art von Streß gefüllt wird, bedeutet freie Zeit, daß man nicht erfolgreich ist. Keine Zeit für Muße, für die Familie, für Freunde zu ha ben ist ein Zustand, den die New Yorker anstreben. Es ist ein Zustand, um den einen andere beneiden, den zu errei chen sie wetteifern. Jedermann, vom Manager bis zum Arbeitslosen, erzählt am liebsten, wie gestreßt er ist. Sie alle sind permanent be schäftigt und ständig in Eile. Sie müssen in eine Sitzung oder zu einer Fortbildungs maßnahme oder haben tausend andere Dinge zu erledigen. Mein Tag ist der reine Wahnsinn - diese Bemerkung be kommt man oft zu hören. Gemeint ist nicht etwa, daß das, was der Betreffende tut, Wahnsinn ist, sondern daß er viel
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zu tun hat. Mein Tag, meine Woche, mein Monat, mein Jahr, mein Leben ist der reine Wahnsinn, hört man von früh bis spät. Es wäre absolut tödlich zu sagen, man langweile sich oder sei lustlos. Oder man wisse nicht, wie man die Zeit herumbringen soll. Nicht unablässig beschäftigt zu wirken macht einen selbst dann zu einem Paria, wenn man jung, reich und schön ist. Nur Streß zählt. Mehr als alles andere. New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani ist den New Yorkern ein gutes Vorbild. Er ist stolz darauf, daß er nie Ur laub macht. Er ist ein Workaholic. Er äußert Verlautbarungen und Ankündigungen, Erklärungen und Rechtfertigungen, gra tuliert und kondoliert. Jeden Abend ist er im Fernsehen und jeden Tag in der Zeitung. Er arbeitet immer. Und ist immer in Eile. Vielleicht zu sehr in Eile, um zu essen ? Seit er das Amt bekleidet, hat er gewaltig abgenommen. Giuliani ist nicht allein: Alle New Yorker sind immer in Eile. In dieser hyperaktiven Stadt brodelt es von Aktivitäten. Wenn New Yorker sich mit freier Zeit konfrontiert sehen, sind sie frenetisch bemüht, sie zu füllen. Eine Lücke im Ter minkalender ist dazu da, mit Stunden oder Kursen oder Übungen gestopft zu werden. Ferien müssen bis ins Detail geplant werden, und alles muß perfekt sein. Unterkunft, Umgebung, Klima und an dere Urlauber müssen genau richtig sein. Man hat keine Zeit zu verlieren. New Yorker halten nicht gern inne. Die Stadt lädt nicht zum Nachdenken ein. Dafür sind alle zu beschäftigt. Der New Yorker Monolog mit dem Titel »Ich hab' so viel zu tun« dauert zehn Minuten. Das weiß ich, weil ich ihn schon selbst gehalten habe. 134
Was ist mit der Zeit geschehen ? Was ist mit der freien Zeit geschehen ? Mit langen Tagen und Nächten ? Heute ist alles kurz und schnell. Alles hat sich beschleunigt. Wir haben keine Zeit. Keine Zeit für unsere Eltern. Keine Zeit für unsere Kinder. Keine Zeit für uns selbst. Was ist mit uns geschehen ? Warum sind wir so gestreßt ? Warum ha ben wir so viel zu tun ? Gibt es heute mehr zu tun als frü her? Ich kann mich nicht entsinnen, daß meine Eltern unab lässig beschäftigt gewesen wären. Sie hatten offenbar Zeit, Zeit, andere einzuladen, ins Kino zu gehen, tanzen zu ge hen. Ich bin abends so müde, daß ich keinen Fuß vor die Tür setzen würde, selbst wenn ich eine bessere Tänzerin wäre, ja selbst wenn ich Ginger Rogers persönlich wäre.
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Stricken Eine Frau, die ich vor ein paar Tagen kurz im Bus sah, hat mein Leben ins Chaos gestürzt. Ich fuhr mit dem Bus M 8 durch die Achte Straße. Die Frau saß zwei Sitze von mir entfernt und strickte. Ich konnte den Blick nicht von ihrem Strickzeug abwen den. Sie benutzte metallicgrüne Stricknadeln und dunkel braune Wolle. Ich hörte das leise, regelmäßige Klicken der Stricknadeln, die Masche um Masche fabrizierten. Ich verspürte ein unstillbares Verlangen zu stricken. Am liebsten hätte ich sie gefragt, ob ich ein bißchen weiterstrik ken dürfe. Aber es ist schwierig genug, mit einem New Yor ker im Bus über etwas Unverfängliches zu sprechen, ganz davon zu schweigen, von ihm zu verlangen, er solle einem sein Strickzeug überlassen. Ich schwieg also. Saß da und gierte nach ihrem Strick zeug. Als ich den Bus verließ, umhüllte mich das überwälti gende Bedürfnis zu stricken wie eine Wolke. Ich habe seit Jahren nicht mehr gestrickt. Seit Jahrzehn ten. Ich war nie gut im Stricken. Meine größte Leistung be steht darin, in das, was ich stricke, keine Beulen einzuarbei ten. Das beschränkt meine Strickkünste auf Schals und viereckige Pullover. Das Bedürfnis, das die Frau im Bus in mir geweckt hatte, machte mir Sorgen. Ich war beunruhigt. Wer will schon stricken? Ich doch nicht, sagte ich mir. Ich bemühte mich, jeden Gedanken an das Stricken aus meinem Kopf zu verscheuchen. Aber es nützte nichts. Mein Strickbedürfnis wuchs. Ich gab es auf. Ich gestand mir ein, daß ich dieser fixen Idee nachgeben mußte. Ich würde mir Wolle und Stricknadeln kaufen müssen. 136
Aber wo ? New York ist eine Stadt, die man nicht unmit telbar mit Handarbeit in Verbindung bringt. Ich konnte mir keinen einzigen Ort vorstellen, wo es Wolle oder Stricknadeln zu kaufen gab. Und ich konnte mir nieman den vorstellen, der so einen Ort kannte. Außerdem wäre es das letzte gewesen, was ich meine Freundinnen gern gefragt hätte. Ein Bedürfnis zu stricken ist nicht gerade etwas, womit man sich gern brüstet. Ich griff zum Telefonbuch. Dort fand ich Knit Knot, Knit Tech, Knitomania, Knitown. Ich rief sie alle an. »Was?« sagte einer nach dem anderen am anderen Ende der Leitung. »Strickwolle«, sagte ich. »Was?« wiederhol ten sie. Man hätte meinen können, ich spräche Latein oder Etruskisch. »Ich will Strickwolle kaufen«, rief ich in den Hörer. »Ich will Wolle kaufen, mit der man stricken kann.« Keiner der Läden führte Wolle. Ich war unverdrossen. Woolworth, dachte ich. Wool worth hatte sicher Wolle im Sortiment. Bis mir einfiel, daß es kein Woolworth mehr in Manhattan gab. Der letzte La den hatte vor mehr als zwei Jahren zugemacht. Aber es gab ein K-mart. Ein riesengroßes K-mart am Astor Place. Dort kann man Campingzubehör, Pharma zeutika, Wagenheber und Büstenhalter kaufen. Dort gab es garantiert Strickwolle. »Nein«, sagte die Telefonistin, als ich anrief. »Wissen Sie vielleicht, wo ich Wolle finden kann ?« fragte ich. »Vielleicht in der Vierzehnten Straße«, sagte sie. Ich beschloß, sofort hinzugehen. Ich konnte mich so wieso auf nichts anderes konzentrieren. Ich ging die Vierzehnte Straße von Avenue A bis zur Tenth Avenue langsam entlang. Es ist ein langer Weg. Woll geschäft gab es keines. Niedergeschlagenheit überkam mich. 137
Als ich mich auf dem Nachhauseweg auf der Sixth Ave nue befand, geschah das Unerwartete. Ich sah auf und er blickte ein Ladenschild. Strickwolle, besagte es. Ich trat in eine Welt des Strickens ein. Strickmuster, Wolle, Nadeln, Maschenraffer und Maßtabelle. Ich fragte nach metallicgrünen Nadeln. So etwas führten sie nicht. Statt dessen kaufte ich riesengroße Plastiknadeln. Und sehr dicke Wolle, die zu den dicken Nadeln paßte. Das würde mir helfen, Zeit zu sparen. Mit dicker Wolle strickt man schneller. Ich kaufte auch eine Maßtabelle, weil ich noch nie eine besessen hatte. Ich beschloß, einen rechteckigen Hut zu stricken. Ich be gann noch in derselben Nacht im Bett damit. Ich nahm die Anzahl Maschen auf, die mir richtig erschien, und dann strickte ich. Aber irgendwie kam es mir nicht ganz richtig vor. Die großen Nadeln ließen sich schlecht handhaben. Mit der linken Nadel stieß ich dauernd meinen Mann in den Ellbogen. Ich strickte vier Reihen. Es war kein bißchen be friedigend. Drei Reihen weiter gab ich auf. Falls irgend jemand ein Viertel von einem rechteckigen Hut brauchen kann: in mei nem Schrank liegt es.
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Tierhaltung Meine jüngere Tochter, die im East Village wohnt, hat eine Katze aufgenommen. Schriftlich mußte sie unter an derem versichern, daß sie der Katze weder die Krallen be schneiden noch sie ins Freie lassen würde - wegen der Bakterien. Meine Tochter hat die Katze von einer Frau übernom men, die einmal in der Woche an der Ecke von Broadway und Prince Street steht und neue Besitzer für herrenlose Katzen sucht. Ich war nicht damit einverstanden, daß meine Tochter sich eine Katze zulegte. »New York ist kein Ort für Haus tiere«, sagte ich zu ihr. »New York«, sagte sie, »ist genau der Ort, wo man ein Haustier braucht. Wir arbeiten so viel, daß wir kein Privatleben haben. Wenigstens erwartet mich von nun an eine Katze zu Hause.« Die Katze hatte bereits einen Namen. Sie hieß Lancelot. Meine Tochter gab keine Ruhe, bis ich sie besuchte, um Lancelot kennenzulernen. »Er ist ein sehr schöner Kater«, sagte sie. Ich gab nach und besuchte sie, um der Katze in al ler Form vorgestellt zu werden. Lancelot war in der Tat ein sehr schöner Kater. Sein Fell hat eine ästhetisch ansprechende rötliche Färbung. Als meine Tochter ihn auf den Arm nahm, legte er ihr die Pfo ten um den Hals und schnurrte. Ich war beeindruckt. Zwei Tage nach meinem Besuch bei Lancelot ging ich die Sixth Avenue entlang. Meine Tochter hatte mir am Morgen telefonisch von Lancelots Fortschritten berichtet. Keine Probleme bisher, hatte sie gesagt. Die Frau, die Lancelot zur Adoption freigegeben hatte, hatte meiner Tochter geraten, im Falle irgendwelcher Schwierigkeiten solle sie sich an einen Haustiertherapeuten 139
wenden, an jemanden, der dazu ausgebildet ist, mit Katzen zu sprechen. Ich fragte mich lieber gar nicht erst, was für eine Ausbil dung einen dazu befähigen mochte, mit Katzen zu spre chen. An der Ecke von Waverley Place zog eine Frau ein wider spenstiges Kind am Arm hinter sich her. »Du machst mich noch wahnsinnig«, sagte sie zu dem Kind. Ich konnte es ihr nachfühlen. Ich kenne das Gefühl drohenden Wahnsinns, das die Mutterschaft bewirken kann. Zwei Häuserblocks weiter hielt eine Frau einem Sechsoder Siebenjährigen eine Strafpredigt. »Soll ich dich im Waisenhaus abgeben?« sagte sie mit lauter Stimme. Der Knabe schien es nicht als Drohung aufzufassen. Ich sah er schrockener aus als er. Ich ging weiter. An der Neunten Straße versuchte eine Frau ihren Hund vor Balduccis, einem der göttlichsten Lebensmittelläden der Welt, an einen Pfosten anzubinden. »Schatzilein«, sagte sie zu dem Hund, »ich geh' nur schnell ein bißchen Spargel und ein paar Erdbeeren holen. Es dau ert nur fünf Minuten, ich bin gleich wieder da.« Sie winkte dem Hund zu, während sie wiederholte, daß sie gleich wie der dasein werde. Ich wollte mich zu keinen übereilten Schlußfolgerungen über New Yorker und ihr Verhältnis zu Haustieren bezie hungsweise Kindern hinreißen lassen. Mir fiel eine Szene ein, die ich eine Woche vor Weihnach ten erlebt hatte. Der Weihnachtsmann saß im Schaufenster von Beasty Feasts, einer Tierhandlung an der Hudson Street im West Village. Auf dem Schoß hielt er einen großen schwarzen Hund. Der Hund hatte einen spitzen rot- und grüngemusterten Hut auf dem Kopf und einen roten Schal um den Hals. Um den Weihnachtsmann herum waren Stative, Kame ras und Lampen aufgebaut. Ein Fotograf und sein Assistent 140
waren ebenfalls da. Der Fotograf wirkte aufgelöst. Sein As sistent schwitzte. Sie versuchten, den schwarzen Hund dazu zu bringen, in die Kamera zu sehen und nicht auf die Straße. Irgendwann klappte es. Als nächste sollten die Golden Retriever Jasper und Jason fotografiert werden. Zusammen und zu den Füßen des Weihnachtsmanns. Jason setzte sich und sah in die Ka mera, aber Jasper nicht. »Sitz, Jasper, sitz«, schrie sein Herrchen ihn an. Aber Jasper wollte lieber stehen. »Sitz, Jasper, sitz«, sagte der Weihnachtsmann streng. Jasper we delte mit dem Schwanz und warf mehrere Töpfe mit Poin settien um und räumte liebevoll dekorierte silberne Sterne und Glöckchen ab. Der Ladeninhaber schaute bekümmert drein. Ich konnte nicht aufhören zu lachen. Ich lachte, bis mir der Bauch weh tat. Ich verließ den Schauplatz, bevor es dem Fotografen gelang, Jaspers und Jasons Besuch beim Weihnachtsmann im Bild festzuhalten. Auf dem Heimweg dachte ich, daß meine Tochter mögli cherweise recht hatte. Vielleicht ist New York genau der richtige Ort für Haustiere.
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Toiletten Ich stehe in der Warteschlange vor der Damentoilette eines Theaters am Broadway. Es ist 19.45 Uhr. Die Vorstellung beginnt um 20 Uhr. Es ist die übliche Schlange vor der Auf führung. Die Frauen sind zwischen dreißig und siebzig. Jede ist beherrscht und selbstsicher. Keine spricht. Wir sind in New York, in New York redet man immer noch nicht mit Fremden. Ich sehe auf die Uhr. Ich warte schon seit fünf Minuten. Die Schlange hat sich kaum bewegt. Die Herrentoilette ist nebenan. Männer gehen hinein, und Männer kommen her aus. »Man sollte meinen, daß irgendwer auf die Idee kom men könnte, die Herrentoilette zu verkleinern und die Damentoilette zu erweitern«, sage ich. Beifälliges Gemur mel in der Reihe. »Im Vivian Beaumont Theater im Lincoln Center haben sie die Damentoiletten erweitert«, sagt eine Frau am Ende der Schlange. In Gedanken notiere ich mir das. »Wir wer den den ersten Akt versäumen«, sagt eine Frau. - »Ich bin immer eine Viertelstunde früher da«, sagt eine andere spitz. »Ich auch«, sage ich. Wir stehen da und warten. »Entschul digen Sie«, sagt eine junge Frau zu mir, »wo lassen Sie sich die Haare schneiden?« Ich sage es ihr. »Ist es teuer?« sagt sie. Ich nicke ein wenig verschämt. Ich wollte, ich gehörte zu denen, die sich die Haare irgendwo billig schneiden las sen. »Ich zahle 150 Dollar für meinen Haarschnitt«, sagt die Frau, die neben mir steht. - »Ich zahle 175 Dollar fürs Färben«, sagt eine andere Frau. Plötzlich sind wir mitten im Gespräch über den Verdruß und die Kosten, die die Er haltung der gottgegebenen Schönheit mit sich bringt. Alle in der Schlange lächeln. Eine in New York seltene Behag lichkeit umgibt uns. 142
Als wir zu reden aufhören, stellen wir fest, daß die Schlange kaum kürzer geworden ist. Schweigen. Ständig kommen Männer aus der Herrentoilette. Sie sehen zufrie den aus. In unserer Schlange sieht niemand zufrieden aus. Manche von uns sehen verkniffen aus. »Warum gehen wir nicht auf die Herrentoilette!« sagt eine Engländerin. Es wird still. Einige treten verlegen von einem Fuß auf den an deren. »Wir haben alle schon einen Penis gesehen«, sagt sie. Die Stille hält an. - »Ich fürchte, der Anblick von so vielen fremden Penissen könnte zuviel sein«, sage ich. Ich korri giere mich. »Ich meine nicht: fremde Penisse«, sage ich, »ich meine: die Penisse von Fremden.« Jemand lacht. »Gehen wir doch einfach hinein«, sagt die Engländerin. Niemand rührt sich. Ein kalter Hauch hatte uns gestreift. Ein Schatten. Frauen starren auf ihre Schuhspitzen. »Wir sind doch angeblich robuste New Yorkerinnen«, sagt eine Frau an die Dreißig. - »Ich mache ganz schnell, wenn ich an die Reihe komme«, flüstere ich der Frau hinter mir zu. »Also ich gehe jetzt auf die Herrentoilette«, sagt die Eng länderin und schreitet hinein. Wir schauen ihr alle nach, als ob sie zum Mars oder Jupiter entschwinden würde. Wir se hen uns an. »Ich kann es nicht«, sage ich. - »Ich auch nicht«, sagt die Frau vor mir. - »Ich will es nicht«, sagt eine blonde Frau. Eine ältere Frau lacht. »Es ist doch jämmerlich, nicht?« sage ich. »All diese Frauen fürchten sich vor ein paar Penis sen.« Auch ich fange an zu lachen, bis mir die Tränen kom men. Schließlich lachen wir alle. Die Engländerin erscheint wieder. Offensichtlich ist ihr nichts passiert. Ein paar Minuten später bin ich an der Reihe. Ich will nicht gehen. Ich will die Gruppe nicht verlassen. Ich komme mir vor wie eine Vierjährige. Ich möchte sagen: »Wollt ihr meine Freunde sein ?« Aber wir sind in New York. Was soll man machen ? Visi 143
tenkarten austauschen? Ich gehe auf die Toilette. Ganz schnell. Ich komme heraus. »Wie heißt du?« möchte ich ei nige der Frauen fragen. Aber ich tue es nicht. Ich verab schiede mich winkend und gehe auf meinen Platz. Das Stück ? Es war sehr langweilig.
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Ungesund Ich kaufe oft in Bioläden ein. Ich lebe weitgehend vegeta risch. Ich kaufe organisch angebautes Obst, Gemüse und Getreide. Und glaube, daß sie gesünder sind als Erzeug nisse, die nicht als organisch angebaut ausgewiesen sind. Man kann Erzeugnisse kaufen, die keine tierischen Fette enthalten, keine künstlichen Konservierungsstoffe, keine chemischen Zusätze, keine genmanipulierten Bestandteile, keine künstlichen Farben oder Geschmacksstoffe. Man kann Lebensmittel kaufen, die ohne Pestizide und ohne Kunstdünger erzeugt wurden. Man kann Lebensmit tel kaufen, die kein Salz, keinen Zucker, kein Koffein, kein Saccharin enthalten. Man kann Leinsamen oder Haferflocken in allen nur denkbaren Zusammensetzungen kaufen und sogar weizenund glutenfreie Bagels. Die Auswahl ist verwirrend. Genau wie manche Pro dukte. Vor kurzem habe ich zehn Minuten lang gerätselt, was sich hinter dem Namen »Schmerzstillende Creme Neugeboren« verbergen mag. Auch die Ratschläge, die in den meisten Bioläden mit verschwenderischer Freigebigkeit verteilt werden, können äußerst verwirrend sein. Man kann mit Ratschlägen bedacht werden, wie man Dickdarm- oder Kehldeckelspülungen auszuführen hat. »Es ist sehr ungesund, morgens kaltes Wasser zu trinken. Das ist ein Schock für die Organe«, sagte der Kassierer in einem Bioläden neulich zu mir. Ich hatte nach einem früh morgendlichen Spaziergang eine Flasche Wasser gekauft. Seit Jahren habe ich morgens kaltes Wasser getrunken. Hatte ich meinen Organen jeden Morgen einen Schock ver setzt ? Waren sie ständig aus dem Häuschen ? In einem Zu 145
stand der Daueranspannung? Erklärte sich daraus mögli cherweise mein hypochondriegefährdetes Temperament ? Ich verließ den Laden eilig. Ich wollte nicht noch mehr über meine geschockten Organe in Erfahrung bringen. In Bioläden wimmelt es von Leuten, die sich mit ihrem täglichen Fettsäurenquotienten auseinandersetzen, und von Leuten, die sichergehen wollen, daß ihre Einkäufe den erforderlichen Anteil von Antioxydantien und Elektroly ten enthalten. Was mich daran stört, ist, daß sie nicht gesund wirken. Oft sehen sie blaß und kränklich aus, mit fahler Haut, glanzlosem Haar und einem unfrohen Auftreten. Sie wirken viel weniger gesund als die Kundschaft in Su permärkten. Leute, die sich bei McDonald's verpflegen, sind vielleicht ein bißchen füllig, aber verglichen mit Bioladenkunden se hen sie widerstandsfähig und lebensfroh aus. Außerdem neigt die Klientel von Bioläden bisweilen zur Selbstgerechtigkeit. Restlos überzeugt von den eigenen Entscheidungen, den eigenen Überzeugungen. Jünger von Aloe Vera, Ginseng und Schachtelhalmauf güssen haben mir gepredigt. Ich würde mich lieber mit ei nem Hamburgerfreak unterhalten. Kunden in Bioläden sind manchmal nicht ganz bei Trost. Häufiger, so scheint es mir, als der durchschnittliche HotDog-Habitué. Als ich in meinem Bioladen um die Ecke etwas Zuchtcat fish kaufte, näherte sich mir eine Kundin. »Wissen Sie nicht, daß Zuchtcatfish unter den gleichen Bedingungen lebt wie Batteriehühner?« sagte sie zu mir. Ich nickte höflich und wandte mich ab. »Kein Unterschied zu Legehennen in der Fabrik und Rin dern in Intensivhaltung«, sagte sie. »Ich habe es eilig«, sagte ich zu dem Verkäufer, der meine Fischfilets abwog. 146
»Die Eltern dieser Fische existieren nur als Zuchtmate rial«, sagte die Frau. »Ihr ganzer Lebenszweck besteht darin, kleine Catfishkinder zu erzeugen, damit Sie sie kon sumieren können.« Ich wünschte inständig, daß sie mich in Ruhe lassen würde. Ich liebe Fisch. Als Lebensmittel, nicht als Haustier oder Spielgefährten. Ich versuchte eine abweisende Miene aufzusetzen. Sie verlegte sich auf eine andere Taktik. »Sie denken viel leicht, dieser Fisch wäre nicht mit Rückständen belastet«, sagte sie. »Fischzüchter verwenden aber Desinfektionsmit tel und Herbizide und Impfstoffe und Medikamente. Zuchtfisch kann genausosehr chemisch verseucht sein wie Zuchtvieh.« Ich wußte mir keinen Rat mehr. Ich sah den Verkäufer an. Er war keine Hilfe. Er packte einfach weiter meine Fischfilets ein. »Und das ist noch nicht alles«, sagte die Frau. »Zucht fische können ins Freie gelangen und sich mit Wildfischen paaren. Das ist eine Gefahr für das Erbgut. Bedeutet ge schwächte Nachkommenschaft.« »Die Flüsse und Meere der Welt sind schon so gut wie leergefischt«, fügte sie hinzu. Der Verkäufer reichte mir meine Filets. Ich packte mei nen Catfish und rannte zum Ausgang. Ich verließ den Laden bleich und erschöpft.
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Untersuchungen Der umständlichen Beschaffenheit des amerikanischen Ge sundheitswesens verdanke ich es, daß ich in zehn Jahren sieben oder acht Hausärzte hatte, bedingt durch die hohe Austauschrate der Ärzte, die für die Krankenkasse arbei ten, bei der ich versichert war. Ich fand es anstrengend und ermüdend, mich dauernd einem neuen Arzt vorzustellen. Bei jedem Besuch meine körperlichen und seelischen Macken erklären und meine Krankengeschichte immer von neuem aufblättern zu müs sen. Das Herunterbeten meiner weitgehend unergiebigen Krankengeschichte verursacht mir jedesmal Unwohlsein. Beim Verlassen der Praxis weiß ich jedesmal mit Gewiß heit, daß ein schweres Leiden mich umgehend dahinraffen wird. Letztes Jahr gelang es mir, die Krankenkasse zu wech seln. Die neue Versicherung ermöglichte mir, meinen Hausarzt nach mehr oder weniger eigenem Gutdünken auszusuchen. Ich suchte mir einen Arzt in der Nachbarschaft aus. Der Apotheker in der Nachbarschaft hatte ihn empfohlen. Ich glaube, daß mein neuer Arzt ein guter Arzt ist. Aber sicher bin ich mir nicht. Ich habe ihn noch nicht wirklich zu sehen bekommen. Bei meinem ersten Besuch in seinen Praxisräumen unter suchte mich ein Medizinstudent. Ich war zur jährlichen Routineuntersuchung gekommen. Der Medizinstudent war entschlossen, nichts an mir nicht untersucht zu lassen. Er ging dabei sehr gründlich, bedächtig und langsam zu Werke. Als er fertig war, stand ich kurz vor dem Nervenzusammenbruch. 148
Ich hatte Übungen absolvieren, tief und flach atmen und komplizierte Bewegungen mit Bein, Knie und Arm ausfüh ren müssen. Man hatte mich beklopft und betastet und ge drückt. Nach jeder dieser Einzeluntersuchungen machte der junge Mann ausführliche Notizen. Mit jedem Wort, das er schrieb, stieg mein Angstpegel. Eine Stunde später erschien der Hausarzt und sah sich die umfangreichen Notizen des Studenten an. »Sie haben sehr gründliche Arbeit geleistet«, sagte er zu ihm. Der Stu dent wirkte geschmeichelt, während es mir vorkommen wollte, als hätte die Stimme des Arztes etwas sarkastisch geklungen. Der Student setzte zu einem zehnminütigen Bericht sei ner Ergebnisse an. Mir war vor Anspannung fast übel. Zweifellos würde ich etwas Unerfreuliches zu hören be kommen. »Die Patientin ist weiblichen Geschlechts«, begann der Student. Ich hörte mich vor Erleichterung aufseufzen. Bis jetzt konnte ich einigermaßen verdauen, was ich erfuhr. Es stellte sich heraus, daß mir nichts fehlte. Den Worten des Studenten zufolge war ich alles in allem kerngesund. Ich wollte mich gerade anziehen und gehen, als der Arzt mir vorschlug, neben der jährlichen Mammographie und dem Pap-Abstrich eine Rektoskopie machen zu lassen so wie eine Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke, weil in meiner Familie Eierstockkrebs aufgetreten war. Vor solchen Untersuchungen ist mir angst und bange. Ich lebe nach dem unlogischen Grundsatz, daß Probleme, von denen man nichts weiß, auch nicht existieren. Aber ich machte Termine für die Untersuchungen aus. Die Arzthelferin, die die Ultraschalluntersuchung durch führte, seufzte nach ein paar Minuten. »Ihr Darm ist im Weg«, sagte sie. »Tatsächlich?« sagte ich. Ich war beunru higt. Muß man über so etwas Bescheid wissen? Das konnte 149
ich nicht finden. »Ja«, sagte sie. »Er bewegt sich.« Ich hatte nicht gewußt, daß Eingeweide sich bewegen. Panik ergriff mich. Vielleicht taten sie es auch nicht. Vielleicht war es nur eine Eigenart meines Darms. »Es ist gut, daß er sich bewegt«, sagte sie. Ich atmete auf. Und beschloß, der Frage von Därmen und ihren Bewegun gen nicht weiter nachzugehen. Doch noch erwartete mich die Rektoskopie. Als ich den Termin ausgemacht hatte, war mir gesagt worden, am Vor abend der Untersuchung solle ich eine flüssige und nicht eine feste Mahlzeit zu mir nehmen. Tagelang dachte ich darüber nach. Woraus bestand eine flüssige Mahlzeit? Waren Karottensaft oder passierte Suppe eine flüssige Mahlzeit ? Konnte ich Fisch und Lauch und Knoblauch kochen und pürieren ? War Speiseeis eine Flüssigkeit? Zumindest wird es früher oder später dazu. War der richtige Moment gekommen, in Schokoladeneis zu schwelgen ? Ich rief in der Praxis an, um das Problem zu klären. Die Antwort war deprimierend: klare Brühe. »Ich finde, Sie sollten Ihre Anweisungen verständlicher formulieren«, sagte ich zu der Frau am Telefon. »Ich bin si cher nicht die erste, die Sie deshalb anruft.« »Sie sind die erste«, sagte sie unerbittlich.
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Vater Letzte Woche hatte ich ein scheußliches Erlebnis. Ich rief meinen zweiundachtzigjährigen Vater in Australien an. Für ihn war es halb neun Uhr morgens. Als er den Hörer abnahm, wußte ich, daß ich ihn ge weckt hatte. Seine Stimme klang benommen. Sein pol nisch-jüdischer Akzent war stärker als sonst, deutlicher. Trotzdem schien er sich zu freuen, von mir zu hören. »Ich hab' dich geweckt«, sagte ich. »Nein, nein«, wehrte er ab. »Ich bin noch im Bett, aber ich war schon wach.« »Du klingst noch ganz schlaftrunken«, sagte ich. »Ich bin aber wach«, sagte er so schläfrig, als sei er im Begriff einzunicken. Ich machte mir Sorgen. Irgend etwas stimmte nicht. »Deine Stimme klingt so komisch, Dad«, sagte ich. »Ich nehm' ein anderes Telefon«, sagte er. Eines seiner Telefone hatte seit Wochen nicht richtig funktioniert. »Nein, laß nur, ich rufe in fünf Minuten wie der an«, sagte ich. »Bis dahin bist du dann richtig wach.« »Mein Vater klingt so komisch«, sagte ich zu meinem Mann. »Er klingt morgens immer komisch«, sagte mein Mann. »Wie eine unaufdringlichere Ausgabe von Henry Kissin ger.« »Er ist nicht ganz bei sich«, sagte ich. »Und Henry Kis singer ist er auch nicht. Irgend etwas stimmt nicht.« Ich spürte Panik in mir aufsteigen. Ich drückte die Wahl wiederholungstaste. Diesmal klang mein Vater besser. Wa cher. »Hallo, hallo, es ist schön, von dir zu hören«, sagte er. Dann verstummte er. Seine Stimme hatte wehmütig und ein wenig atemlos geklungen. 151
Mir war elend zumute. »Was hast du heute gemacht ?« fragte mich mein Vater mit beinahe unhörbarer Stimme. Mir war, als werde er gleich verschwinden. Ich lief zu mei nem Mann. »Irgendwas stimmt nicht mit meinem Vater«, flüsterte ich ihm aufgeregt zu. »David will dich sprechen«, sagte ich zu meinem Vater. David ist mein Mann. »Okay«, sagte mein Vater. »Ich liebe dich, Dad«, sagte ich. »Ich liebe dich auch«, antwortete er. Ich reichte meinem Mann das Telefon. Mein Herz pochte. Ich war gereizt. Mein Mann sprach mehrere Minuten lang mit meinem Vater. Er erzahlte ihm von unseren zwei Töchtern und sprach über ein politisches Thema. Ich ging unterdessen auf und ab. Ich wollte mich gerade beruhigen, als ich meinen Mann sehr langsam zu meinem Vater sagen hörte: »Wie heißen Sie?« Eine Minute darauf sagte er ebenso langsam: »Wie heiße ich?« Ich begann zu zittern. Ich wußte jetzt, daß etwas Schreckliches mit meinem Vater passiert war. Kopflos ver suchte ich zu überlegen, was zu tun war. Ich kam mir so fern von ihm vor. Eine halbe Minute später legte mein Mann den Hörer auf. Er trat zu mir. »Das war nicht dein Vater«, sagte er. »Du hast eine falsche Nummer gewählt.« Ich konnte es nicht glauben. »Natürlich war das mein Vater«, sagte ich. »Ich habe zehn Minuten lang mit ihm ge sprochen.« »Es war jemand anders«, sagte mein Mann. »Er wollte mir nicht sagen, wie er heißt.« Ich betätigte noch einmal die Wahl Wiederholungstaste. Die Nummer im Display des Telefons war nicht die meines Vaters. - Ich hatte mich mit der letzten Ziffer verwählt. Mein Vater lebt in einer Gegend mit vielen jüdischen Fami 152
hen. Ich hatte den polnisch-jüdischen Vater von jemand an derem angerufen. Ich konnte es noch immer nicht ganz fassen. Ich wählte die Nummer meines Vaters. Er nahm ab. Er klang wie im mer. Lebhaft, energisch, aufbrausend. Ich war so glücklich, seine Stimme zu hören, daß ich in Tränen ausbrach. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Mittendrin be gann er zu lachen, so sehr, daß er aufstehen und sich ein Pa piertaschentuch holen mußte. Er lachte Tränen. »Mit wem kann ich nur gesprochen haben ?« sagte ich zu meinem Vater, als er schließlich zu lachen aufhörte. »Du hast doch seine Nummer«, sagte er. »Soll ich ihn an rufen?« »Nein«, sagte ich. »Er klang nicht sehr interessant.« »Hat er dich gefragt, wer du bist?« fragte mein Vater. »Nein«, sagte ich. »Aber er hat sich offenbar gefreut, von mir zu hören. Er hat gesagt, daß er mich liebt.« Mein Vater fing wieder zu lachen an. Vor lauter Lachen konnte er kaum sprechen. Ich mußte mitlachen. »Ich bin so froh, daß du mein Vater bist«, sagte ich zu ihm. »Ich mag dich viel lieber als ihn.«
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Yankees Es ist nicht schwer, einen echten New Yorker Yankee von einem Neuankömmling oder einem vorübergehenden Be wohner der Stadt zu unterscheiden. Echte New Yorker sind von der Vorstellung besessen, New York zu verlassen. Ein echter New Yorker sinnt Tag und Nacht darüber nach, wie er aus der Stadt herauskom men kann. Es ist eine fixe Idee. Wenn man Gespräche darüber mit anhört, daß die Stadt einen in den Wahnsinn treibt, weiß man, daß die Ge sprächsteilnehmer waschechte New Yorker sind. Solche Gespräche führen sie jeden Tag. New Yorker sind permanent damit beschäftigt, zu pla nen und vorzubereiten, wie sie sich aus dem Staub machen wollen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit bekunden sie, daß sie wild entschlossen sind, den Staub New Yorks von ihren Füßen zu schütteln. Die Stadt hinter sich zu lassen. Den Streß. Die Anspan nung. Den Job, den Vorgesetzten, die Menschenmengen, den Konkurrenzkampf. Es gibt so vieles, was man hinter sich lassen möchte. Es gibt die Nachbarn in dieser dichtbevölkerten Stadt, die man hinter sich lassen möchte. Und die eigene Woh nung. Keine Wohnung in New York ist je die richtige. Jede hat ihre Nachteile. Einer meiner Freunde hört jeden Laut aus dem nachbar lichen Schlafzimmer. Er hört die Liebesgeräusche der Nachbarn und, was schlimmer ist, ihre Streitigkeiten. An sonsten ist seine Wohnung vollkommen. Wohnt man in einem großen Gebäude, infiltrieren die Geräusche aus mehr als einer Wohnung die eigenen Räu me. Und die eigene Psyche. 154
Vor allem nachts. Manche müssen den Lärm der Nach barn durch selbstverursachten Lärm übertönen. Sie kaufen Kassetten. Sie schlafen zur Begleitung von Ozeanwellen, die an den Strand klatschen, oder von Dschungel-, Waldoder Berggeräuschen. Es ist ziemlich bizarr, mit dem Geräusch von Schimpan sen zu schlafen, die in einem Regenwald an den Bäumen herumturnen, wenn man mitten in Manhattan lebt. Nicht weniger bizarr als Geräusche der Wildnis als Schlafhilfe ist die Musik, die einem in den meisten New Yorker Cafés und Restaurants aufgenötigt wird. Im East Village muß man Tanzmusik mit synthetischen Bässen ertragen, die als Folterinstrument unverzichtbar sein dürfte, wenngleich sie nur um weniges unerträglicher ist als Vivaldis »Vier Jahreszeiten«, die in jedem zweiten Etablissement quäken. Ich weiß nicht, was der Sinn dieser Musik ist. In vielen Cafés versteht man die eigenen Worte nicht, und der Lärm in den Restaurants ist ohrenbetäubend. Unterhaltungen müssen grundsätzlich in Gebrüll ausarten, will man sich verständlich machen. Der Lärm in New York ist etwas, wovor echte New Yor ker zu Recht entfliehen wollen. Als ich merkte, daß ich dauernd Fluchtpläne erwog, wußte ich, daß ich mich in New York eingelebt hatte. Ich habe Orte besucht, auf die ich nie verfallen wäre, wenn ich nicht ein so verzweifeltes Bedürfnis gehabt hätte, New York zu verlassen. Ich war in Kanada, einem Land, das mich nie interessiert hat, bevor es mich davor rettete, in New York zu bleiben. Es war gar nicht uninteressant. Ich war in der Mojavewüste in Kalifornien. Ich bin kein Freund von Wüstenreisen. Ich gehöre zu denen, die einen Bogen um Wüsten machen. Wüsten sind mir zu trostlos und viel zu einsam. 155
Niemals wäre ich freiwillig in die Mojavewüste gefah ren, wenn ich nicht alles lieber getan hätte, als in New York zu bleiben. Mein Mann wollte hinfahren, und ich wollte nicht in New York bleiben. Die Zeit in der Mojavewüste verbrachte ich damit, mich zu beschweren, weil es kein öffentliches Telefon gab, keine Cafeteria, kein fließendes Wasser. »Man kann sich nicht so gut entspannen wie in Manhat tan«, sagte ich zu meinem Mann, der mir aufgeregt eine rie sengroße Bergziege zeigte, die neben uns graste. »In New York fühle ich mich sicherer«, sagte ich ein paar Minuten später. Und das ist das zweite unverwechselbare Charakteristi kum eines wahren New Yorker Yankees. Er ist nicht gerne woanders. Nirgends kann man es ihm recht machen. Nichts kann sich mit der Stadt messen, die er unbedingt verlassen mußte. Ich bin nicht anders. Sobald ich beschließe, irgendwohin zu fahren, fehlt mir New York. Es fehlt mir schon, sobald ich die Einbruchsi cherung einschalte und die Eingangstür zweimal absperre.
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Zwischenmahlzeit Man hat den Eindruck, daß Amerikaner pausenlos essen. Man sieht es auf der Straße und im Kino. Und sie essen und trinken in der Kirche, in der Schule, im Büro und im Auto. In einem Artikel in der New York Times wurde ein Mar ketingfachmann der Northwestern University mit den Worten zitiert, die Amerikaner betrachteten heutzutage das Essen als etwas, was man tue, während man etwas an deres tut. Die meisten amerikanischen Autos haben vorne und hin ten Halterungen für Pappbecher. Manche haben statt des Handschuhfachs ein Kühlfach. In der New York Times stand, die Firma Samsung vertreibe die ersten Mikrowel lengeräte für Limousinen und Kleinbusse. Der Stecker paßt in den Zigarettenanzünder. Zwischenmahlzeiten sind in Amerika leicht zu haben. Essen kann man fast überall kaufen und konsumieren. In Bibliotheken, Theatern, Möbelgeschäften, Buchhandlun gen. Boutiquen haben begriffen, wie umsatzfördernd der Verkauf von Kaffee und kleinen Snacks sein kann. Ich verstehe das Bedürfnis nach Zwischenmahlzeiten. Ich weiß, wie es ist, wenn man sich ohne Snacks unsicher vorkommt. Vor meiner ersten Lesereise in Österreich und Deutschland vor einigen Jahren schickte ich mir getrock nete Karotten voraus. Ich sah der Lesereise voller Nervosität entgegen. Ich wollte nicht Gefahr laufen, aus Streß und Anspannung Mohnkuchen oder Apfelstrudel zu verschlingen. Die getrockneten Karotten schienen mir die Ideallösung zu sein. Die Schäden, die man seiner Gesundheit mit einer Überdosis Trockenkarotten antun kann, sind begrenzt. Ich schickte mir vier Päckchen Karottenschnitze.
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Eine Woche später ergaben sich unvorhergesehene Kom plikationen. Ein Herr Nowak von der österreichischen Zoll behörde hatte meine Karotten beschlagnahmt. Er hatte meine Verlegerin in Wien angerufen und von ihr wissen wol len, was die gut lesbar beschrifteten Päckchen enthielten. »Getrocknete Karotten«, sagte sie. Er glaubte ihr nicht. »Meint er, es wäre Kokain, als Karottenschnitze verklei det?« fragte ich meine Verlegerin. »Keine Ahnung«, antwortete sie. »Meint Ihre Autorin, in Österreich gäbe es keine Karot ten ?« fragte Herr Nowak meine Verlegerin. »Ich kann schließlich nicht mit einem Riesenbeutel Ka rotten herumreisen«, sagte ich zu ihr. Herr Nowak ließ sich nicht erweichen. Ich bekam meine getrockneten Karotten nicht ausgehändigt. Auch die Vita mine, die ich vorausgeschickt hatte, wurden von ihm kon fisziert. Man darf Vitamine im Reisegepäck nach Öster reich mitbringen, aber man darf sie nicht mit der Post ins Land schicken. Ich überlebte die Lesereise ohne meine Karotten und ohne die Vitamine. Ohne es zu ahnen, hatte Herr Nowak mir einen Dienst erwiesen. Er hatte mich von meiner Sucht nach getrockneten Karotten geheilt. Sollte ich vielleicht eine engere Bekanntschaft mit Herrn Nowak eingehen? Er könnte mich möglicherweise von meinem Bedürfnis kurieren, auf jede Fahrt Lebensmittel mitzunehmen. Für die zweieinhalbstündige Busfahrt nach Shelter Island, die ich an den Sommerwochenenden unter nehme, mache ich Listen der Dinge, die ich mitnehmen will. Wenn ich den Bus um halb sieben Uhr abends nehme, kann die Liste sehr lang ausfallen. Auf diesem Bus nehme ich mein Abendessen zu mir. Ich bringe gegrillte rote Pa prika mit, Mais, gegrillte Auberginen und frischgebacke nes Brot. 158
Ich bin nicht die einzige, die im Bus ißt. Manche haben diverse Hamburger und Pommes frites dabei, Pizza und Tüten voller Doughnuts. Das sind meist Männer. Wie hyp notisiert sehe ich ihnen zu, wie sie sich durch einen Cheese burger oder einen schokoladenüberzogenen Doughnut mampfen. Ich bewundere ihre Fähigkeit, solche Dinge in der Öf fentlichkeit zu essen. Ich glaube, ich wäre versucht, die Cheeseburger und Pommes und Doughnuts zu verstecken. Und würde wahrscheinlich beim Versuch, nicht aufzufal len, an meinem Essen ersticken. Liegt es daran, daß ich eine Frau bin ? Frauen fällt es, wie mir scheint, schwerer, sich eine große Portion ungesundes Essen einzuverleiben. Oder überhaupt große Portionen. Liegt es daran, daß wir Frauen uns damenhaft benehmen wollen ? Ich will es. Ich sitze im Bus mit einer Serviette auf dem Schoß und nehme kleine Bissen zu mir. Das tue ich aus Furcht, etwas fallen zu lassen. Und weil ich nicht gierig wir ken will. Oder unmanierlich. Es ist absurd. Völlig absurd. »Iß hemmungsloser«, nehme ich mir vor als letzten Punkt meiner nächsten Liste zu notieren.