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Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
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Heiße Krimis für schlaflose Nächte Meistermorde von Elizabeth Ferrars, Antonia Fraser, Ellis Peters, Ruth Rendell, Winston Graham, Anthony Lejeune, James McClure, George Sims, Julian Symons, John Wainwright und vielen anderen Herausgegeben von George Hardinge
Bechtermünz Verlag Aus dem Englischen von Friedrich A. Hofschuster und Mechthild Sandberg-Ciletti Genehmigte Lizenzausgabe für Bechtermünz Verlag im Weltbild Verlag GmbH, Augsburg 1996 Das mißdeutete Lächeln © der deutschsprachigen Ausgabe 1990 by Blanvalet Verlag GmbH, München © 1986 by Macmillan London Ltd. Originaltitel: The Best of Winter’s Crimes Originalverlag: Macmillan London Ltd. Ein Werkzeug der Gerechtigkeit © der deutschsprachigen Ausgabe 1989 by Blanvalet Verlag GmbH, München © 1986 by Macmillan London Ltd. Originaltitel: The Best of Winter’s Crimes Originalverlag: Macmillan London Ltd. Umschlagmotiv: Agentur Luserke – Stuttgart/Hallman Umschlaggestaltung: Adolf Bachmann, Reischach Gesamtherstellung: Ebner Uhu Printed in Germany ISBN 3-86.047-358-1
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Anthony Lejeune Jedem das Seine Normalerweise war John Deakins Stimme ein zuverlässiges und sicheres Sprachorgan. Nun aber bebte sie so stark, daß fast nur ein Stammeln herauskam. »Wie ich schon am Telefon angedeutet habe«, erklärte er gerade, »sitze ich offen gestanden ziemlich in der Tinte.« »Na gut«, seufzte Lord Franc. »Schießen Sie los.« Ein Glück, dachte er insgeheim, daß die »breite britische Öffentlichkeit«… das heißt die Wählerschaft… Deakin in diesem Augenblick nicht sehen konnte. Der Mann schien zutiefst erschüttert und völlig verängstigt zu sein; in ähnlicher Verfassung hatte Franc während seiner langen, erfahrungsreichen politischen Laufbahn einige Personen erlebt; sie war bezeichnend für Menschen, deren bis dahin ungebrochene Erfolgsserie plötzlich einen Sprung bekommen hatte, für Politiker, vor deren Füßen sich auf einmal ein gähnender Schlund aufzutun schien, der alles zu verschlingen drohte. Deakins wie auch immer geartete Ängste mochten übertrieben sein. Im allgemeinen schafften es diese Leute immer, sich irgendwie ihrer Probleme zu entledigen, besonders wenn sie intelligente und einflußreiche Freunde hatten. Aber das mußte ja nicht so sein. Franc erinnerte sich an einige bedauerliche Fälle… Eigentlich mochte er John Deakin nicht besonders; aber die Partei setzte große Hoffnung auf ihn. Er wirkte bieder vor den Fernsehkameras… und darauf kam es heutzutage an. Wenn er scheiterte, dann war das nicht nur eine private Tragödie, sondern auch der Partei äußerst abträglich, und Francs Aufgabe bestand nun einmal darin, Schaden von der Partei abzuwenden. Die beiden anderen Herren in Francs Wohnzimmer waren alte Freunde: George Liddle und Sir Peter Farmiloe; beide zuverlässige Parteimitglieder, erfahrene Kenner der internationalen und nationalen politischen Szene. Franc hatte Deakin gefragt, ob er gegen die Anwesenheit der beiden etwas einzuwenden habe und ihn mit dem Argument überzeugt, ihr Rat könne durchaus von Nutzen sein. Deakin trank noch einen kleinen Schluck Whisky. »Vor circa einem Monat habe ich diesen Brief bekommen«, begann er. »Und zwar
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von einem Mann, den ich von früher her kenne. Einem gewissen Derek Shee. Der Name sagt Ihnen vielleicht was. Er hatte sich für Politik interessiert und sogar eine Weile einen Listenplatz inne. Jedenfalls wies er in dem Schreiben auf eine Geschichte hin, die mir mal passiert ist, und schlug vor, wenn ich darüber sprechen wolle, solle ich eine Annonce in der ›Times‹ aufgeben. Die Anzeige sollte nur aus der Jahreszahl ›1968‹ bestehen… und das ist das Jahr, in dem die Sache geschehen ist. Das habe ich getan. Ich habe die Annonce aufgegeben. Am späten Nachmittag nach dem Erscheinen der Zeitung hat Shee mich in meinem Büro in der City angerufen. Ich sollte ihn in einer Kneipe noch am selben Abend treffen. Und ich bin hingegangen. Er wollte Geld… und zwar dafür, daß er schwieg und die Geschichte nicht an eine Zeitung verkaufte. Er verlangte nicht viel… nur die Summe, die er auch von der Presse bekommen hätte. Also 500 Pfund. Ich war einverstanden. Am darauffolgenden Vormittag habe ich das Geld sofort abgehoben und es ihm in einer anderen Kneipe übergeben. Es ist verrückt. Ich wußte natürlich wie jeder andere, daß man einen Erpresser nie mehr los wird, wenn man ihm einmal nachgibt. Er wird wiederkommen und mehr verlangen. Das habe ich hundertmal gehört und gelesen. Und trotzdem habe ich mir eingeredet, ihn mit dieser einmaligen Zahlung abwimmeln zu können.« Deakin verstummte und wartete gespannt auf die Reaktion der anderen. »Haben Sie daran gedacht, zur Polizei zu gehen?« erkundigte sich Franc. »Selbstverständlich. Aber das kann ich nicht tun.« »Weil Sie nicht erzählen wollen… was Shee weiß?« »Teilweise… und teilweise, weil’s ein Risiko wäre, oder? Aber das ist genau einer der Punkte, die ich mit Ihnen klären möchte. Ich meine, falls es zu einem Gerichtsverfahren kommen sollte, könnte ich immer noch als ›Mr. X‹ auftreten, doch damit ist nicht gesagt, daß nichts durchsickern würde. Es würde unter den Anwälten und in der Fleet Street Gerüchte geben, und danach weiß man in der City und in Westminster auch bald Bescheid. Und damit wäre ich erledigt. Meinen Sie nicht auch?«
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Franc nickte. »Ja, das ist kaum zu leugnen. Zumindest besteht die Gefahr. Und das wollen Sie sicher nicht riskieren?« Deakin trank einen weiteren Schluck Whisky. Im Zimmer war nur das leise Ticken einer hübschen Uhr auf dem Kaminsims und das durch Doppelfenster und schwere Vorhänge gedämpfte Rauschen des Verkehrs draußen auf der Straße zu hören. Schließlich sagte Deakin: »Es ist wohl das beste, ich spreche offen zu Ihnen.« Er sah flüchtig zu Farmiloe und Liddle. »Ich weiß, daß ich mich auf Ihre Diskretion hundertprozentig verlassen kann.« Damit zog er aus der Innentasche seines Jacketts ein Briefkuvert. »Das hier ist der erste Brief«, erklärte er. Adresse und Inhalt des Umschlags waren, reichlich stümperhaft, mit Schreibmaschine geschrieben. Franc las den Text schweigend und reichte ihn dann an die anderen weiter. Er lautete: »Lieber Mr. Deakin, es ist lange her, daß wir voneinander gehört haben, doch ich habe Ihren Werdegang stets mit Interesse verfolgt. Als einer Ihrer Anhänger hat mich allerdings eine letzte Neuigkeit sehr betroffen gemacht. Es geht um das bedauernswerte junge Mädchen und die Art und Weise, wie die Sache vertuscht worden ist. Vorerst bin ich noch der einzige, der Bescheid weiß. Abgesehen natürlich von den unmittelbar Betroffenen. Sollten jedoch je die Fakten an die Öffentlichkeit dringen, wäre das der Sache, an die wir glauben, sehr abträglich und… es wäre Ihr Ruin. Ich brauche Gewißheit. Wenn Sie an einem Gespräch interessiert sind, geben Sie eine Anzeige in der ›Times‹ auf. Als Wortlaut genügt lediglich die Jahreszahl ›1968‹. Einstweilen sollten Sie, was diesen Brief betrifft, Stillschweigen bewahren. Mit freundlichen Grüßen, Derek Shee.« Adresse oder Datum fehlten. Nachdem auch Farmiloe den Brief gelesen hatte, gab er ihn Deakin zurück. »Geschickt gemacht«, kommentierte Franc. »Denn als Erpresserbrief kann man das wohl kaum bezeichnen.« »Wobei die Absicht trotzdem klar erkennbar wird«, fügte Farmiloe hinzu. Deakin holte tief Luft. »Der Adressat spielt auf eine Affäre an, die in meinem letzten Studienjahr an der London University passiert ist. Es gab da ein Mädchen. Keine Studienkollegin, lediglich ein Mäd-
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chen, das ich auf einer Party kennengelernt hatte. Sie wurde schwanger. Und erst zu diesem Zeitpunkt habe ich erfahren, daß sie gerade fünfzehn war. Fünfzehn! Mein Gott, dabei hatte sie in mancher Beziehung mehr Ahnung als ich. Jedenfalls hat mein Vater mit ihrem Vater eine Vereinbarung getroffen. Und mein Vater hat bezahlt… und zwar nicht schlecht. Etliche Monate lang war mein Leben ein Alptraum, weil ich ständig Angst hatte, es könne etwas schiefgehen. Aber das war nicht der Fall, und das Mädchen hielt dicht. Ich habe sie nie wiedergesehen. Allerdings habe ich ein paar Jahre später von ihrem Selbstmord in der Zeitung gelesen. Schlaftabletten und Alkohol. Das war’s wohl. Auf die Sache bin ich weiß Gott nicht stolz, aber im nachhinein betrachtet, kann ich mich auch nicht als Schuft sehen. Wäre ich’s nicht gewesen, wär’s ein anderer gewesen. Der Vater war ein Trinker. Ihre Mutter lebte nicht mehr, und sie hatte keine Geschwister. Deshalb konnten wir auch alles vertuschen. Schließlich hatte ich die ganze Geschichte fast schon vergessen.« »Wie hat Shee davon erfahren?« wollte Liddle wissen. »Der Vater des Mädchens hat ihm eines Abends in weinseliger Stimmung das ›Familiengeheimnis‹ verraten. Wie denken Sie über diese Angelegenheit?« Franc goß Whisky nach. »Eine üble Sache. Ich habe keine Ahnung, ob die Polizei nach so langer Zeit überhaupt noch ein Verfahren anstrengen würde. Ich halte es jedoch für unwahrscheinlich. Aber das könnte ich diskret herausbekommen. Falls die Wellen in der Presse allerdings hochschlagen, sähen sich die Behörden vermutlich gezwungen, etwas zu unternehmen. Nur ist das nicht der springende Punkt. Die Frage ist, wie Ihr Wahlkreis reagieren würde?« »Sicher könnte ich mit Sympathien rechnen. Trotzdem würden sie mich fallen lassen. Und damit wäre auch mein Job verloren, denn schließlich ist er nur eine andere Form von Parteispende durch die Bank.« »Die Sache darf demnach also um keinen Preis bekanntwerden«, entschied Franc. »Und es wäre wohl tatsächlich zu riskant, zur Polizei zu gehen. John, die Angelegenheit muß reiflich bedacht werden. Haben Sie was dagegen, wenn wir Sie jetzt nach Hause schicken und erst mal unter uns alles ausdiskutieren?«
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Zwei Stunden später waren die drei von einer Lösung des Problems noch immer weit entfernt. Farmiloe hatte als erstes die Frage aufgeworfen, ob die Sache wirklich so ernst sei, wie Deakin dachte. »Es ist lange her, und für den Tod des Mädchens war er schließlich nicht verantwortlich.« »Wenn es sich wirklich nur darum handelt, kann ich dir zustimmen«, entgegnete Liddle. »Aber ist das tatsächlich die ganze Geschichte?« Franc schüttelte den Kopf. »Das möchte ich bezweifeln. Ihr kennt Deakins Ruf. Ihr lest schließlich auch die Klatschspalten. Er ist ein Frauenheld… mit einer Vorliebe für sehr junge Mädchen. Wer weiß, was noch alles ans Licht kommt, wenn man da erst mal zu graben anfängt.« »Und du glaubst, daß es eigentlich das ist, was ihn so beunruhigt? Hm, ein netter Zeitgenosse, unser vielversprechender junger Kollege, was?« »Wir wissen doch gar nicht, ob wirklich mehr dahintersteckt«, warf Farmiloe ein. »Es steckt immer mehr dahinter«, entgegnete Franc. »Mein Mann ist er sowieso nicht. Trotzdem habe ich nicht die Absicht, den ersten Stein zu werfen. Das Erstaunliche ist nicht, wann solche Sachen ausgegraben werden, sondern daß die Leichen im Keller der meisten Leute doch unentdeckt bleiben. Wenn wir ewig leben und Karriere machen würden, würden wir alle früher oder später auf diese Weise auf die Nase fallen.« »Du mußt es ja wissen.« »Ja, ja. Tatsache ist, daß wir politische Skandale schon alle miterlebt haben… und in den letzten Jahren waren es nicht wenige. Und sobald die Enthüllungslawine mal zu rollen begonnen hat, ist sie nicht mehr aufzuhalten… vor allem wenn die Presse Wind davon bekommen hat.« »In den meisten Fällen wäre es das beste gewesen, sofort ehrlich die Karten auf den Tisch zu legen. Der Versuch, alles zu vertuschen, hat meistens den größten Schaden angerichtet.«
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»Die Karten ehrlich auf den Tisch zu legen, wäre sicher eine elegante Geste gewesen«, warf Liddle ein. »Aber die Karriere hat damit noch keiner gerettet.« »Die Kunst des Vertuschens ist für mich von jeher ein wesentlicher Bestandteil der Politik gewesen«, erklärte Franc. »Das Problem ist lediglich, es mit dauerhaftem Erfolg zu tun. In Deakins Fall geht es doch darum, wie wir Mr. Derek Shee davon überzeugen, für immer den Mund zu halten?« »Wir könnten ihm mit der Polizei drohen? Ich sehe durchaus ein, daß ein polizeiliches Ermittlungsverfahren seine Risiken haben könnte, aber vielleicht gelingt es uns, ihn auf diese Weise einzuschüchtern.« »Möglicherweise schüchtern wir ihn damit so weit ein, daß er kein Geld mehr verlangt, aber wir könnten ihn nicht daran hindern, irgendeiner Zeitung einen anonymen Brief zu schicken. Im Gegenteil. Vermutlich fordern wir nur seine Rache heraus.« »Denkt doch nur, was ›Fearless Fred‹ daraus in der ›Daily News‹ machen würde«, seufzte Farmiloe. »Ich muß gestehen, daß ich dieses schändliche Blatt allein wegen Fred Mandevilles Kolumne beziehe«, sagte Liddle. »Er kann schon verdammt komisch sein.« »›Skuril‹ ist der altmodische Ausdruck dafür«, entgegnete Farmiloe. »Jedenfalls ist er damit zu einem gewissen Machtfaktor geworden«, ergänzte Franc. »Wir müssen also dafür sorgen, daß er nicht auf die Idee kommt, seine Nase in Mr. Deakins Vergangenheit zu stecken. Irgendwelche Vorschläge?« »Wie wär’s, wenn wir einen Privatdetektiv engagieren und Shee von ihm unter die Lupe nehmen lassen?« fragte Liddle. »Das ist kein schlechter Gedanke. Allerdings habe ich ungern noch einen Mitwisser. Wir haben alle schon erlebt, wohin das führen kann, nicht?« Franc klopfte die Asche von seiner Zigarre und fuhr dann gedehnt fort: »Ich könnte vielleicht mal persönlich mit Mr. Shee sprechen.« »Hältst du das für klug?« fragte Farmiloe. »Stellst du damit nicht die Partei bloß? Wäre es nicht ein Eingeständnis der Schwäche?«
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»Oh, ich werde selbstverständlich inkognito bleiben«, versprach Franc lächelnd. Und daran hielt er sich auch. Er vereinbarte mit Deakin, ihn zu seiner Verabredung in der Kneipe zu begleiten. »Stellen Sie mich als einen Freund vor. Sagen wir als… Mr. Robinson.« »Vor einem Zeugen sagt der kein Wort«, gab Deakin zu bedenken. »Vermutlich wird er Sie für einen Polizisten halten.« »Wenn er das glaubt, glaubt er alles. Meine grauen Haare dürften ihn allerdings vom Gegenteil überzeugen. Aber warten wir einfach mal ab, was passiert. Ich möchte mir selbst ein Bild von diesem Burschen machen.« Francs Absicht, inkognito zu bleiben, ließ ihn die für ihn noch vertretbare Verkleidung mit einer Brille wählen, die er normalerweise nur zum Lesen trug; außerdem band er sich einen dicken Schal um und setzte einen tief in die Stirn gezogenen Hut auf. Er war danach mit seinem Spiegelbild durchaus zufrieden. Die Kneipe war eine reichlich düstere Kaschemme in einer Seitenstraße des »Strand«. Shee hatte sie vermutlich gewählt, weil dort niemand den Eingang beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden, und zu dieser Abendzeit war die Bar lediglich von ein paar Stammkunden besucht… der Portier eines nahen Theaters und der Zeitungsverkäufer, der gerade Feierabend gemacht hatte. Später würden ein paar Theaterbesucher hinzukommen, die sich vor Beginn der Vorstellung und während der Pause ein wenig stärken wollten, aber soweit war es noch nicht. Franc und Deakin trafen pünktlich um halb sieben Uhr ein, bestellten Drinks an der Theke und trugen sie zu einem Tisch in der Ecke. Fünf Minuten später stieß Shee die Tür auf. Er blieb einen Augenblick starr stehen, als sein Blick auf Franc fiel, kam dann jedoch grinsend auf sie zu. Er war ordentlich gekleidet, untersetzt und wirkte etwas zu selbstsicher. Franc fragte sich, ob es nur das Wissen war, daß er es mit einem aalglatten Verbrecher zu tun hatte, daß Shee für ihn auch so aussah. »Das ist ein Freund«, begann Deakin. »George Robinson.« »Angenehm«, sagte Shee. »Kenne ich Sie nicht aus der Zeit, als ich noch politisch tätig war? Allerdings sind wir uns nie persönlich be-
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gegnet. Aber natürlich habe ich Ihr Bild in den Zeitungen gesehen. George Robinson… wirklich ein guter Witz.« »Auch Sie sind mir durchaus kein Unbekannter, Mr. Shee«, entgegnete Franc. »Ich hole Ihnen jetzt erst mal was zu trinken.« Während er dies tat, saßen sich Deakin und Shee schweigend gegenüber. Als Franc zurückkam, sagte Shee zu Deakin: »Sie sind also doch gekommen.« »Sie hatten mich schließlich darum gebeten.« »Richtig. Ich wollte mich nur mal wieder nett mit Ihnen unterhalten… schließlich haben wir so viele gemeinsame Interessen.« »Darf ich fragen, welcher Art diese Interessen sind?« erkundigte sich Franc. »Oh, vor allem das Wohl der Partei. Und alte Zeiten. Ich interessiere mich noch immer für Politik. Ich lese Zeitung und habe viele Freunde in der Fleet Street. Gerade heute habe ich daran gedacht, mit meinen Freunden von der Presse mal wieder Kontakt aufzunehmen. Vielleicht tue ich das auch. Und zwar bald.« Deakin hatte sein Bier bereits getrunken und starrte grimmig in sein leeres Glas. »Mein Gott, Mann… sagen Sie endlich, wie Sie das meinen.« »Wie ich das meine? Oh, ich meine damit nichts Besonderes. Allerdings hatte ich mir eine friedliche Unterredung unter vier Augen erhofft. Falls Sie daran noch interessiert sind, melden Sie sich wieder. Auf dieselbe Weise wie sonst. Sagen wir im Lauf der kommenden Woche? Wenn die Herren mich jetzt entschuldigen wollen? Leider kann ich es mir nicht leisten, Sie zu einem Drink einzuladen. Ich bin ein wenig knapp bei Kasse… vorübergehend. Aber das ändert sich hoffentlich bald. Auf die eine oder andere Weise. Guten Abend, Mr. Deakin. Schönen Abend noch, Lord Franc.« Er sah grinsend von einem zum anderen und ging. »Er hält sich wohl für sehr schlau«, murmelte Lord Franc. »Dieser schmierige Schurke!« zischte Deakin. »Schmierig und gefährlich«, ergänzte Franc. »Ich schätze, wir brauchen noch etwas Zeit.« »Sie meinen also, daß ich noch etwas länger gute Miene zum bösen Spiel machen muß, nicht wahr?«
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»Geben Sie noch einmal diese Anzeige auf. Sagen wir heute in zwei Tagen. Dann arrangiert er vermutlich telefonisch ein weiteres Treffen. Geben Sie mir sofort Bescheid. Ich lasse mir die Sache weiter durch den Kopf gehen. Schließlich weiß ich jetzt, mit wem wir es zu tun haben. Geben Sie mir Ihr Glas. Ich hole uns noch was zu trinken.« »Nein, das übernehme ich!« entgegnete Deakin bitter. »Diese Runde geht auf meine Rechnung.« Drei Tage später saß Lord Franc noch am Frühstückstisch mit stapelweise Zeitungen, geöffneter Post, Kaffeegeschirr und Brotkrümeln, als Liddle hereinmarschierte. »Richard, ich habe heute morgen einen Brief bekommen«, begann er. »Man scheint dich zu lieben.« »Im Gegenteil. Hier lies!« Franc griff nach dem Brief, betrachtete prüfend den Umschlag und das einzelne stümperhaft mit Schreibmaschine beschriebene Blatt Papier, das dieser enthielt. Eine Adresse fehlte. »Lieber Mr. Liddle«, lautete der Text. »Sie kennen mich nicht, doch ich habe jahrelang Ihren politischen Werdegang mit Bewunderung verfolgt. Es wäre für Sie persönlich und für die Partei durchaus tragisch, wenn jetzt plötzlich Ihr untadeliger Ruf Schaden nehmen würde. Mir sind bereits gewisse Fakten bekannt, die ich nur als besorgniserregend bezeichnen kann, und falls sie von der Presse aufgegriffen werden sollten, ginge es sicher vielen anderen Bürgern ebenso. Ich beziehe mich dabei auf ein Haus in St. John’s Wood. Falls Sie mit mir über diese Angelegenheit reden möchten, setzen Sie eine Annonce in die Times. Der Inhalt ›Dank St. John‹ genügt. Vorerst sollten Sie über diesen Brief Stillschweigen bewahren. Mit freundlichen Grüßen… ein guter Freund.« »Der Stil kommt mir bekannt vor«, bemerkte Franc. »Wirklich? Du weißt, wovon der Mann redet… von dem Haus in St. John’s Wood?« »Ich erinnere mich an gewisse Gerüchte…« »Tatsache ist, daß sie jeder Grundlage entbehrten. Der Geheimdienst hat das Haus observiert… aus uns bekannten Gründen… und
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sie haben entdeckt, daß mein Wagen davor geparkt war. Aber ich habe eine Dame im Nachbarhaus besucht. Das habe ich dem Premierminister damals ausführlich erklärt. Den Gerüchten konnte ich offiziell nicht entgegentreten, ohne die Dame mit hineinzuziehen, so daß wir übereinkamen, daß ich gar nichts unternehmen und warten sollte, bis die Gerüchte von selbst verstummten. Das geschah dann auch. Falls jetzt allerdings irgendeine Zeitung die alte Geschichte wieder aufwärmen sollte, haben die eine einstweilige Verfügung am Hals, bevor sie wissen, wie ihnen geschieht. Die betreffende Dame ist mittlerweile geschieden. Mr. Shee scheint sich auf uralten politischen Klatsch zu verlassen. Bei Deakin konnte er damit landen. Aber diesmal hat er sich den Falschen ausgesucht.« »Zwei Falsche«, verbesserte Franc ihn, griff nach einem der geöffneten Briefe neben seinem Gedeck und warf ihn Liddle in den Schoß. »Hier, lies!« Liddle starrte auf den Brief. »Was, du auch?« fragte er verblüfft. Franc nickte. »Unser Mr. Shee ist wohl auf einem neuen Karrieretrip. Aber vielleicht… nein, wahrscheinlich war Deakin nicht der erste, sondern nur der erste, von dem wir wissen. Jetzt scheint er seine Netze weiter auszuwerfen, um zu testen, wieviel er absahnen kann. Zum Glück allerdings ist er, was meine kleine dunkle Affäre betrifft, offenbar ebenfalls nicht genau genug informiert. Ein paar von diesen gerissenen Schlauköpfen aus der City hatten mich mal übel benutzt. Damals war das Eis ziemlich dünn. Mein Fehler. Schuster bleib bei deinem Leisten, heißt seitdem meine Devise. Jedenfalls könnten mir seine Behauptungen heutzutage nichts mehr anhaben. Das Eis hat gehalten, alles andere zählt nicht.« »Heißt das, daß er nichts Konkretes gegen dich in der Hand hat?« »Richtig. Ich verstehe natürlich, weshalb er anderer Meinung ist, und es wäre mir offen gestanden nicht angenehm, die Story im Wirtschaftsteil… oder in ›Fearless Freds‹ Kolumne lesen zu müssen. Allerdings würde ich, genau wie du, nicht zögern, mit gerichtlichen Schritten zu drohen.« Er kicherte. »Wenn ich’s mir recht überlege, bin ich gar nicht abgeneigt, ein paar steuerfreie Schadensersatzsümmchen einzustreichen. Solange der Preis stimmt, ist üble Nachrede in meinem Alter nichts Negatives mehr.«
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»Dazu kommt es bestimmt erst gar nicht«, entgegnete Liddle. »Wir sind längst nicht so verwundbar wie Deakin. Shee müßten wir doch eigentlich das Handwerk legen können. Sollen wir zur Polizei gehen?« »Noch nicht. Wie sollen wir denen die Sache verständlich machen, ohne Deakin ins Spiel zu bringen? Und die Gründe, genau das nicht zu tun, gelten nach wie vor. Weißt du was? Gib mir eine Fotokopie von deinem Brief, und ich spreche mal mit meinem Freund, dem stellvertretenden Polizeichef. Dann sehen wir weiter.« Später am gleichen Tag rief Deakin Franc an, um ihm zu sagen, daß Shee sich gemeldet hatte. Das Treffen sollte am darauffolgenden Abend in einer neuen Kneipe stattfinden. »Er hat mich dringend davor gewarnt, in Begleitung zu kommen… und mir durch die Blume nahegelegt, das Geld mitzubringen.« »Ich fürchte, Sie müssen noch einmal tief in die Tasche greifen«, riet Franc. »Aber nur Mut. Die Feuerwehr ist möglicherweise schon unterwegs.« »Ich finde das alles gar nicht komisch«, erklärte Deakin. »Und bisher sind Sie auch keine allzu große Hilfe gewesen.« Damit legte er auf. Franc zog eine Grimasse. Nein, er fand Deakin wirklich nicht sympathisch. Zeit und Ort des neuerlichen Treffens zwischen Deakin und Shee hatte er sich notiert. Einen Augenblick lang erwog er, sich diesmal richtig zu verkleiden… vielleicht mit einem falschen Bart… und die beiden aus sicherer Entfernung zu beobachten. Widerwillig gab er jedoch den Plan auf und klingelte nach seiner Sekretärin. Sie hieß Carole. Auf den ersten Blick war sie eine eher unauffällige Erscheinung, doch für Franc besaß sie bei näherer Betrachtung durchaus ihre Vorzüge. Anderenfalls hätte er sie nicht eingestellt. Die Kneipe lag diesmal am Earls Court. Wiederum erschien Shee fünf Minuten nach Deakin. Er sah sich mißtrauisch um und vergewisserte sich, daß Deakin allein war, bevor er Platz nahm. »Haben Sie Ihren Freund zu Hause gelassen?« begann er. »Ich bin allein. So wollten Sie’s doch. Außerdem habe ich Geld bei mir.«
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Sie sprachen beide leise, und um sie herum war es laut. Niemand hätte sie belauschen können. Trotzdem war Shee äußerst vorsichtig. Seine Blicke schweiften ständig durch den Raum. »Wieviel?« »Fünfhundert Pfund.« »In bar?« »In Zehnpfundnoten.« »Gut. Also, wir machen das so: In ein paar Minuten gehe ich an die Theke und hole was zu trinken. Die Ausgabe vom ›Evening Standard‹ lasse ich hier auf dem Stuhl neben Ihnen zurück. Stecken Sie das Geld rein und falten Sie die Zeitung fest zusammen. Wenn ich zurückkomme, warten Sie noch ein paar Minuten, dann verabschieden Sie sich und gehen. Sie nehmen die Zeitung mit. Draußen an der Straßenlaterne vor der Kneipentür ist ein Papierkorb angebracht. Dort stecken Sie die Zeitung rein. Danach verschwinden Sie.« »Die Polizei weiß nichts«, entgegnete Deakin. »Niemand beobachtet uns.« »Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage.« Er ist nervös, dachte Deakin, während Shee an der Theke stand. Ich wünschte nur, er hätte tatsächlich einen Grund dafür. Natürlich will er vermeiden, daß jemand sieht, wie wir das Päckchen austauschen. Unter dem Tisch faltete Deakin die Zeitung so, daß die Banknoten nicht herausfallen konnten. Dann kehrte Shee zurück. Einige Minuten lang unterhielten sie sich noch krampfhaft über das Wetter. »Gut«, erklärte Shee schließlich. »Das reicht.« Deakin stand gehorsam auf, nickte Shee zum Abschied zu und ging mit der Zeitung in der Hand hinaus. Shee beobachtete durch das Fenster, wie Deakin die zusammengefaltete Zeitung im Abfallkorb deponierte. Shee zwang sich eine weitere volle Minute zu warten, und das trotz der quälenden Angst, irgendein Obdachloser könne vorbeikommen und sich die Zeitung aus dem Abfallkorb fischen. Dabei war er sich jedoch ziemlich sicher, daß Deakin die Wahrheit gesagt hatte, und in der Kneipe schien niemand zu sein, der auch nur entfernt nach einem Kriminalbeamten aussah. Schließlich stellte er sein Bierglas auf die Theke, verließ das Lokal, tat dann allerdings so, als habe eine Schlagzeile der Zeitung im Ab-
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fallkorb seine Aufmerksamkeit erregt, holte sie heraus und ging lesend davon. Dabei bemerkte er die junge Frau und den jungen Mann gar nicht, die dicht hinter ihm die Kneipe verlassen hatten. In einem Punkt sollte er recht behalten: Sie waren keine Kriminalbeamten. Trotzdem folgten sie ihm. Exakt vierundzwanzig Stunden später kam Peter Farmiloe erregt zu Franc nach Hause. »Ich bin im Club gewesen«, begann er. »Bill Broughton und dieser großspurige Bursche aus der City… dieser Wysard… waren da. Sie haben sich an der Bar unterhalten. Soviel ich verstehen konnte, müssen beide in den letzten Tagen einen Erpresserbrief gekriegt haben. Und zwar fast identische Briefe, die offenbar verdammt dem Brief ähnelten, den Shee an Deakin geschickt hatte.« »Ach wirklich? Na, wenn die beiden so ungeniert darüber gesprochen haben, kann ihnen das kaum so viel Angst eingejagt haben wie dem guten Deakin.« »Das bezweifle ich. Wysard ist immerhin schon bei der Polizei gewesen. Außerdem haben sich die beiden über den jeweiligen Inhalt der Briefe nur andeutungsweise ausgelassen… wobei ich mir in Wysards Fall schon denken kann worum es sich handelt… Aber beide haben übereinstimmend gesagt, der Adressat scheine etwas über sie zu wissen, bringe die Tatsachen jedoch völlig durcheinander. Dich scheint das ja gar nicht zu überraschen. Hast du denn schon davon erfahren?« »Ich weiß, daß George Liddle vor ein paar Tagen einen solchen Brief bekommen hat. Und ich übrigens auch.« »Mein Gott! Der Bursche scheint ja völlig durchzudrehen. Hat er uns denn alle in der Hand?« »Fast alle. Und was ist mit dir? Weiß er von dir was?« »Selbstverständlich nicht.« In diesem Augenblick betrat Francs philippinischer Butler den Raum. »Mr. Mandeville ist da, Sir.« Farmiloe schoß wie von der Tarantel gestochen aus seinem Sessel. »Fred Mandeville? Fearless Fred? Er hat also von der Sache Wind bekommen. Was willst du ihm sagen?«
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»Beruhige dich. Ich habe Fred Mandeville hergebeten.« »Du hast ihn eingeladen? Aber warum denn?« »Ich hielt es für besser, ihm in ein oder zwei Punkten reinen Wein einzuschenken. Als Präventivschlag, sozusagen.« »Wie ich den kenne, nimmt er die ganze Hand, wenn du ihm nur den kleinen Finger reichst.« »Nein, das wird er nicht tun. Journalisten gehen mit der Hand, die sie füttert, schonend um. Außerdem ist er ein ganz netter Zeitgenosse. Er ist ein Schulfreund meines Sohnes. Möchtest du ihn nicht kennenlernen?« Farmiloe verzichtete dankend, musterte jedoch neugierig den gutgekleideten jungen Mann mit Brille, der in der Eingangshalle wartete. Franc und Fred Mandeville sprachen eine gute Stunde unter vier Augen miteinander. Nachdem Mandeville schließlich gegangen war, sah Franc auf die Uhr. Mit etwas Glück mußte sein Freund, der stellvertretende Chef der Kriminalpolizei, mittlerweile zu Hause sein. Er rief ihn an, und sie führten ein sehr privates Gespräch. Danach tätigte Franc einen weiteren, nicht minder heiklen Anruf. »Carole«, sagte Lord Franc am darauf folgenden Tag zur Teezeit, »ich werde jetzt Mr. Shee aufsuchen. Und zwar in der Wohnung, zu der Sie ihm freundlicherweise gefolgt sind. Ich nehme meinen Stockdegen mit.« Zwar hielt er Shee nicht für den Typ des gewalttätigen Verbrechers, doch mit dem Stockdegen kam sich Lord Franc sehr draufgängerisch vor; es entsprach seinen romantischen oder melodramatischen Vorlieben. Ein Taxi setzte ihn vor dem heruntergekommenen viktorianischen Wohnhaus ab, das in einzelne Apartments aufgeteilt war. Er drückte auf den Knopf neben der Sprechanlage. »Wer ist da?« fragte Shees Stimme. »Lord Franc. Ich will mit Ihnen sprechen.« »Worüber? Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« Franc registrierte zufrieden den ängstlichen Unterton in Shees Stimme. »Aber ich habe Ihnen etwas zu sagen. Lassen Sie mich rein. Oder soll die Polizei noch einmal kommen?« Am anderen Ende war es still. Schließlich sprang die Tür auf.
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Franc stieg die drei Stockwerke hinauf. Oben stand Shee in Hemdsärmeln mit gelockerter Krawatte und zerwühltem Haar im Türrahmen. Er sah völlig erledigt aus. Franc zwängte sich an ihm vorbei ins Wohnzimmer, drehte sich um und blieb breitbeinig vor dem Kamin stehen, als sei er der Hausherr. Shee wollte etwas sagen, doch Franc schnitt ihm das Wort ab. »Die Polizei hat bei der Hausdurchsuchung heute morgen eine Schreibmaschine mitgenommen. Gewisse Briefe sind darauf geschrieben worden.« »Die Schreibmaschine gehört mir überhaupt nicht. Und ich habe diese Briefe, von denen die geredet haben, nicht geschrieben.« »Natürlich nicht«, bestätigte Franc gut gelaunt. »Die stammen ja auch von mir. Und Sie könnten, wie gesagt könnten, die Polizei vielleicht letztendlich doch davon überzeugen, daß Sie damit nichts zu tun haben. Mit diesen Briefen meine ich. Aber dabei wird natürlich Ihr kleines Geschäft mit John Deakin herauskommen, meinen Sie nicht? Und wie wollen Sie das bitte schön erklären? Können Sie mir folgen?« Shee versuchte etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Für einen Augenblick umfaßte Franc seinen Stockdegen fester. Das wäre jedoch gar nicht nötig gewesen. Moralisch und physisch war er der Überlegene. Shee saß zusammengesunken auf dem Sofa. Franc fühlte sich ausgesprochen wohl in seiner Rolle. Er fuhr fort: »Die Polizei ist auf meine Veranlassung heute morgen hier gewesen. Vermutlich überprüfen sie bereits die Schreibmaschine und die Briefe im Labor. Das Schriftbild stimmt überein. Außerdem werden sie nach Fingerabdrücken suchen. Ihre werden sie nicht finden, aber ich versichere Ihnen, meine auch nicht. Ihren Brief an Mr. Deakin kennt die Polizei noch nicht… und der ist natürlich auf einer anderen Maschine geschrieben worden. Aber das können Sie den Beamten wohl kaum sagen, oder? Es bleibt also ein gewisser Zweifel bestehen. Und somit sind weitere Nachforschungen notwendig. Ich nehme daher an, daß morgen erneut ein Beamter hier auftauchen wird, um Sie zu vernehmen. So was kann sehr unangenehm werden. Ich wäre – verstehen Sie mich richtig –, ich wäre eventuell bereit, meine Freunde bei Scotland Yard davon zu überzeugen, die Angelegenheit nicht weiter
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zu verfolgen, wenn morgen die Beamten bei ihrem Besuch feststellen sollten, daß Sie verschwunden sind. Und zwar wirklich verschwunden sind. Das heißt, daß Sie außer Landes gegangen sind und uns hier nicht weiter zur Last fallen. Sie sind ja nicht mittellos… Mr. Deakin hat Ihnen immerhin tausend Pfund bezahlt. Die will ich auch gar nicht zurückhaben. Einen Paß haben Sie doch hoffentlich? Anderenfalls müßten Sie sich wohl erst mal nach Irland absetzen. Was meinen Sie?« »Ich finde, das haben wir uns redlich verdient«, erklärte Lord Franc und entkorkte vorsichtig die Champagnerflasche. Er schenkte drei Gläser ein. »Wie hast du ihm nur die Schreibmaschine untergeschoben?« fragte Liddle. »Ich habe nützliche Freunde in gewissen Kreisen. Den Betreffenden kenne ich noch aus meiner Zeit beim Militär. Er braucht Schlösser nur anzuschauen… oder Schlösser ihn… und sie gehen auf. Da ist er in seinem Element.« »Soll das heißen, daß er bei Shee eingebrochen hat?« fragte Farmiloe. »Ich fürchte schon. Seid ihr jetzt schockiert? Ich habe mich schon gefragt; rein akademisch versteht sich, ob ich mich möglicherweise irgendwie strafbar gemacht haben könnte. Sicher, ich habe den Einbruch in diese Wohnung veranlaßt, aber gestohlen wurde nichts, im Gegenteil, wir haben etwas hinzugefügt: diese Schreibmaschine. Und ich habe etliche Briefe mit häßlichen versteckten Andeutungen verschickt… aber kein Geld gefordert. Daher fühle ich mich alles in allem doch unschuldig. Rein wie der weiße Schnee.« »Während du diese Gemeinheiten über mich ausgegraben hast, hättest du eigentlich genausogut etwas in Umlauf setzen können, das mir bei der Wählerschaft mehr Sympathien eingebracht hätte«, warf Liddle ein. »Warum hast du zum Beispiel nicht beiläufig behauptet, ich sei der Vater von sechzehn unehelichen Kindern? Damit hätte ich bei der nächsten Wahl Tausende von Stimmen mehr einheimsen können.«
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»Ich hoffe nur, daß deine übrigen Opfer nicht herausfinden, wem sie diese Briefe zu verdanken haben.« bemerkte Farmiloe. »Sonst wär’s um deine Beliebtheit geschehen.« Franc schmunzelte. »Die Sache hat großen Spaß gemacht, mein Lieber. Ich bin sogar versucht, weiterzumachen und noch an etlichen Schwachpunkten unserer Freunde und Kollegen zu rühren, nur um sie mal ein bißchen aufzuscheuchen. Verwundbar ist da wohl jeder, du natürlich ausgenommen, lieber Peter. Du bist ein Mann, der einfach nicht erpreßbar ist.« »Aus deinem Mund klingt das leider nicht wie ein Kompliment. Aber was hast du eigentlich mit Fred Mandeville vorgehabt?« »Oh, ich habe ihm nur einen freundschaftlichen Tip gegeben und ihm von einer Person erzählt, die aus Groll gegen unsere Partei versuche, mehrere altgediente Mitglieder zu erpressen. Weiterhin habe ich ihm gesagt, es könne durchaus sein, daß ihm Gerüchte zu Ohren kommen und ihm sogar möglicherweise ein Brief zugespielt werden würde. In diesem Fall könne ich ihm nur zur Vorsicht raten, da er schnell ins Kreuzfeuer von Dutzenden von Verleumdungsklagen geraten würde, denn der seltsame Erpresser bringe die entscheidenden Dinge völlig durcheinander. Und falls er eine Story brauche, solle er doch eine über diesen ›laienhaften Erpresser‹ schreiben.« »Du hast mit deiner Aktion glatt ins Schwarze getroffen«, erklärte Liddle. »Hoffentlich weiß Deakin, was er dir zu verdanken hat.« »Ich habe mit ihm telefoniert und ihm gesagt, daß er Shee los ist. Seine Dankbarkeit hielt sich in Grenzen. Wißt ihr«, fuhr Franc fort, leerte die erste Flasche und griff nach der nächsten, »er wird’s nicht mehr lange machen. Er ist nicht das richtige Zugpferd für uns. Ich sollte gelegentlich mal ein paar Takte mit den geeigneten Leuten sprechen…« Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Michael Z. Lewin Privatdetektiv wider Willen Es begann als Steuerschwindel. Oder, wenn man es ein bißchen semantisch verschönern will: als Steuerumgehungsmanöver. Ja, ich glaube, Onkel Edward, hätte diesen Begriff bevorzugt. Zunächst einmal war Onkel Edward dafür verantwortlich, daß ich überhaupt nach England gekommen bin. Ich bin in Amerika geboren und aufgewachsen. Übrigens genau wie er, aber er ist irgendwann in seinen vergleichsweise jungen Jahren hierhergezogen – ich habe keine Ahnung, was ihn dazu getrieben hat –, und er ist geblieben. Das liegt lange zurück – ich meine, sein Umzug hierher. Damals war ich noch gar nicht geboren. Jetzt bin ich sechsundzwanzig. Und ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, obwohl wir uns oft geschrieben haben. Keine Briefe, um genau zu sein. Wir haben so etwas wie Schach per Post gespielt. Das betrieben wir über zehn Jahre lang, und wenn ich ihm auch nie begegnet bin, hatte ich doch das Gefühl, als ob ich ihn gut kennen würde. Man bekommt einen Sinn für einen Menschen, wenn man mit ihm Schach spielt. Betrachten Sie Anatoli Karpows Stil auf dem Brett, und Sie sehen eine Landkarte seines Gesichts. Das eine ist so ausdruckslos wie das andere. Aber das nur nebenbei. Ich war Onkel Edwards einziger Verwandter, das heißt, der einzige, der so alt war, daß er sein Nachkomme hätte sein können – er selbst hatte keine Kinder –, und er hielt seit meiner Geburt Kontakt mit mir. Er stand seiner Schwester, meiner Mutter, sehr nahe, und zum Geburtstag und zu Weihnachten bekam ich immer Geschenke von ihm. Das verlieh diesen Anlässen eine gewisse kosmopolitische Note. Als er dann von Mutter hörte, daß ich mit dem Schachbrett und den Figuren, die er mir geschenkt hatte, auch spielte, begann er direkt an mich zu schreiben. Von da an spielten wir per Post miteinander bis zu seinem Tod. Selbst in den Jahren meiner Collegezeit behielten wir es bei. Und auch danach, als mir allmählich klar wurde, daß ich kein Rechtsanwalt werden wollte, egal, was mein Vater dazu sagte: zum Beispiel, wie nützlich es sei, wenn man auf ein Jurastudium zurückgreifen könne, auch wenn ich noch nicht wirklich wisse, was ich später einmal tun wolle.
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Als Onkel Edward starb, war ich traurig darüber. Er war einer meiner wenigen Fixpunkte gewesen, ein Zentrum der Konzentration, und sei es nur für ein paar Minuten des Nachdenkens, egal wo ich war und wie sehr ich entschlossen war, den Rest meines Lebens zum Scherbenhaufen zu machen. Als ich dann erfuhr, daß Onkel Edwards mich in seinem Testament bedacht hatte, war ich mehr als überrascht. Was ich geerbt hatte, war ein Haus hier in England, und außerdem ein kleines Einkommen, das mir monatlich aus den Staaten geschickt wurde. Gerade genug, um davon leben zu können. Zuerst war ich mir nicht im klaren darüber, was ich tun sollte. Sollte ich das Haus verkaufen oder nicht? Aber als ich dann darüber nachdachte, dämmerte es mir, daß Onkel Edward mich wahrscheinlich ebenso aus unseren Schachspielen kennengelernt hatte, wie ich ihn dadurch zu kennen glaubte. Vielleicht war das seine Art, mir nahezulegen, daß es nicht unklug wäre, wenn ich eine Weile in England lebte. Sicher war er von meiner Mama darüber unterrichtet, daß ich nicht recht wußte, was ich mit mir anfangen sollte, denn sie schrieben sich regelmäßig. Ich meine, wirkliche Briefe. Sie hat mir nur einmal aus einem dieser Briefe zitiert. Als ich sie fragte, warum Onkel Edward in England lebte, zitierte sie, was er ihr dazu geschrieben hatte: Britannien kommt dem, was man sich unter einem zivilisierten, englischsprachigen Land vorstellt, noch am nächsten. »In Fremdsprachen war er immer etwas unbegabt«, hatte sie hinzugefügt. Und je länger ich darüber nachdachte, desto vernünftiger kam mir der Gedanke vor. Also entschied ich mich, es einmal auszuprobieren, und kam hierher. Der Steuerschwindel – ich meine, das Steuerumgehungsmanöver wurde erst aktuell, als ich mich schon ein Jahr hier aufgehalten hatte. Genau gesagt, es war Dawns Idee, daher geht im Grunde alles, was geschehen ist, auf ihre Kappe. Dawn ist die Lady, mit der ich befreundet bin. Sie ist sehr kultiviert, und wenn es das ist, was Onkel Edward meinte, verstehe ich nun auch besser, warum er sich entschieden hatte, sein Leben hier zu verbringen. Es könnte auch mir so gehen, obwohl ich daran zur Zeit keine großen Gedanken verschwende.
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Als ich etwa sechs Monate hier war, entschloß sich Dawn, zu mir zu ziehen. Wir leben in meinem Haus und von meinem Einkommen. Dadurch haben wir viel Zeit und Muße, um unser Leben zu genießen, ganz zu schweigen von anderen Dingen. Wir sind nicht das, was man zu Hause als »Ausgeflippte« bezeichnen würde, weil wir beide die Absicht haben, Karriere zu machen, wenn wir uns erst darüber klargeworden sind, was wir tun wollen. Aber es besteht nicht die Notwendigkeit, sich schnell zu entschließen, und… nun ja, wir haben die Regeln nicht gemacht. Mittlerweile stellte sich heraus, daß wir sogar schon die Grundlagen zu unserer Karriere gelegt haben, wenn auch nur durch reinen Zufall. Das ist der Inhalt der folgenden Geschichte. Also noch mal, damit Sie im Bilde sind: Ich kam hierher, um mein Haus und mein Einkommen in Empfang zu nehmen. Nach sechs Monaten sind Dawn und ich gut genug befreundet, um miteinander leben zu können. Nach weiteren sechs Monaten wird uns klar, daß mein Einkommen zwar durchaus für die Lebensbedürfnisse ausreicht, daß es aber noch eine Menge hübscher Dinge zu tun gibt, wenn man mehr Geld zur Verfügung hat. Zum Beispiel ein Auto. Nichts Aufwendiges, einfach einen fahrbaren Untersatz, mit dem man sich die weitere Umgebung ansehen könnte. Habe ich Ihnen schon gesagt, wo ich wohne? In einem kleinen Ort in Somerset, einem Dorf namens Frome. – Man spricht diesen Namen so aus, daß er sich auf »Ruhm« reimt. – Ein angenehmer Ort in einer der hübschesten Gegenden des Landes. Aber man möchte sich ja auch anderswo umsehen. Und es war just der Wunsch nach einem Wagen, der uns zu weiteren Überlegungen brachte. Genau gesagt, der Dawn dazu brachte. Sie hat sich ja alles ausgedacht. Bei ihrer Idee ging es um folgendes: Wenn ich ein Geschäft eröffnete, könnte ich Steuergelder einsparen und eine Menge abschreiben von dem, was wir als »Spesen« und »Werbungskosten« ausgeben müßten. Ein Teil des Hauses könnte als »Büroräume« abgeschrieben werden, ebenso ein Anteil bei den Unkosten, der Heizung, den Reparaturen und den Versicherungen, und Dawn könnte ein Gehalt bezie-
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hen als meine Sekretärin. Außerdem könnten wir die Kosten für den »Firmenwagen« absetzen. Wie gesagt, Dawn hat sich das alles ausgerechnet, und dabei kam heraus, daß diese Konstruktion uns mindestens den Wagen bezahlen würde. Vielleicht auch noch etwas mehr, wenn wir die Sache weiterverfolgten. Dann stellte sich die Frage, welches Geschäft wir nun gründen sollten. Auch dafür hatte Dawn eine Idee. Na ja, nicht jede Idee muß eine gute Idee sein. Ich ließ mich als Privatdetektiv nieder. Verstehen Sie, in Großbritannien braucht man dazu keinerlei Lizenz oder Konzession. Und ich muß Dawn zubilligen, daß wir beide damit rechneten, hier an unserem Wohnort als charmanter Unsinn dazustehen. Ich bitte Sie, ein Privatdetektiv, ausgerechnet in Frome! Die Chancen, daß uns hier jemand aus beruflichen Gründen aufsuchen würde, waren jedenfalls gleich Null. Und genau das war der Kern unserer Idee. Wir wollten nicht, daß unser Geschäft gut lief oder daß damit irgendwelche Arbeit verbunden war. Was uns einzig interessierte, waren die Abschreibungsmöglichkeiten. Also besorgte ich mir ein Notizbuch und ein kleines Schild, das man vorne am Haus anbringen konnte. Darauf stand mein Name und darunter Private Ermittlungen. Und das war auch schon alles. Keine Anzeigen in der Lokalpresse, keine Eintragung im Branchenregister. Und kein Geschäft. Wir kauften einen kleinen, gelben Mini und lebten wie geplant. Es funktionierte wie durch Zauber. Zumindest für eine Weile. Es war ein Dienstag; ich erinnere mich daran, weil ich gerade die Basketballspalte im The Guardian las – eine alte Gewohnheit aus meiner Zeit in den Staaten. Plötzlich klingelte es an der Haustür. Es muß etwa zehn Uhr vormittags gewesen sein. Ich nahm an, es sei der
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Gasmann. Dawn war zu einem Besuch bei ihrer Mutter – sie hat so viele Verwandte hier, im Gegensatz zu mir. Vor der Tür stand ein kleiner blasser Mann. Wahrscheinlich war er mittelgroß, aber da ich selbst ungewöhnlich groß bin, um die einsfünfundneunzig, kann ich Menschen, die kleiner sind, nur schwer schätzen. Er hatte ein Jackett an, er trug eine Krawatte – und er wirkte irgendwie unglücklich. Ich dachte: also ist es nicht der Gasmann, sondern vielleicht jemand von der hiesigen Behörde. »Sind Sie Mr. Herring?« fragte er. »Ja.« »Kann ich Sie kurz sprechen?« »In welcher Angelegenheit?« fragte ich. Er warf einen kurzen Blick auf das Schild neben der Haustür. Es ist so klein, daß man es kaum bemerkt, wenn man nicht besonders darauf achtet. »Sind Sie der Mr. Herring, der als privater Ermittler tätig ist?« Und plötzlich wurde mir klar, daß er aus geschäftlichen Gründen hier war. Ich war verblüfft. Ja, ich begann zu zittern, wußte aber nicht, ob er es bemerkt hatte. »Ja, ja, natürlich«, sagte ich. »Ich bin Frederick Herring. Kommen Sie doch herein.« Ich führte ihn in den Wohnraum. Dort gab es nicht viel zu sehen, schon gar nicht, wenn man nach Hinweisen auf das Büro eines Detektivs suchte. Es war ein Wohnzimmer, und man merkte, daß es bewohnt wurde. Ich bat ihn Platz zu nehmen und wußte nicht, was ich sagen sollte. Aber er ergriff die Initiative. »Mein Name ist Goodrich«, sagte er. »Guten Tag, Mr. Goodrich.« »Ich weiß nicht, ob es richtig war hierherzukommen.« »Ich verstehe – es ist ein Schritt, den man nicht leichtfertig tut.« »Ich tue nie im Leben irgend etwas leichtfertig«, meinte er. »Gewiß nicht.« »Oh.«
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»Ich bin Anwalt in der Anwaltskanzlei von Malley, Holmes und Asquith, und ich brauche jemanden, der für mich in einer Privatangelegenheit Nachforschungen anstellt.« »Ich verstehe.« »Und Sie – betreiben solche Dinge, nicht wahr?« Dazu schaute er mich an. In seinen Augen lag etwas Verschlagenes. Ich wurde geradezu schockartig von Argwohn gepackt. Sie müssen wissen, Dawn und ich haben auch besprochen, was zu tun war, wenn jemand tatsächlich zu uns käme und mir einen Auftrag erteilte. Wir hatten abgemacht, zu erklären, daß wir momentan zu sehr beschäftigt seien, um einen weiteren Fall übernehmen zu können. Aber dieser Mann hatte irgend etwas an sich… Das brachte mich gleich zu Anfang auf den Gedanken, er könnte von einer hiesigen Behörde sein. Jetzt verstärkte sich dieser Eindruck, und ich hielt ihn für einen Spion vom Finanzamt, der unsere Firma überprüfen wollte. Denn die Steuerangaben, die wir regelmäßig einschickten, enthielten zwar alle möglichen Ausgaben, aber keinerlei Einnahmen. Sicher mußte das auf die Dauer merkwürdig aussehen. Aber die Zeiten waren hart, die Wirtschaft stagnierte, und wir nahmen an, unsere Summen seien, relativ betrachtet, so niedrig, daß sich niemand darum kümmern würde. Aber wenn man glaubt, daß man überprüft wird, fühlt man sich plötzlich dem kalten Zugwind des Vorwurfs, ja, der Anklage und Verfolgung ausgesetzt. »Selbstverständlich«, sagte ich. Dawn war nicht begeistert davon, als sie nach Hause kam und feststellte, daß ich einen Fall übernommen hatte. Aber ich machte ihr meine Bedenken klar, und sie akzeptierte das Ganze als vollendete Tatsache. »Es geht um seinen Schwager, einen gewissen Chipperworth, der ein Gauner sein soll«, sagte ich. »Chipperworth…« Dawn dachte über den Namen nach. Sie war zeitlebens in Frome gewesen und kannte daher viele Leute. »Er hat eine Firma, die Betten herstellt. Die Marke heißt ›Schlafwohl.‹«
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»Ach.« »Kennst du sie?« »›Schlafwohl‹? Ja.« »Nun, dieser Goodrich sagt, daß Chipperworth in einem Lagerhaus neben seinem Betrieb Feuer gelegt und die Versicherungssumme dafür kassiert hat.« »Von dem Feuer hab’ ich gelesen«, bestätigte Dawn. »Aber nicht, daß es Brandstiftung gewesen ist. Woher will Goodrich das wissen?« »Er sagte, Chipperworth habe gestern damit geprahlt, einen Scheck von mehr als dreihunderttausend Pfund erhalten zu haben, für Betten, die er niemals hätte verkaufen können.« »Du meine Güte«, sagte Dawn. »Und warum geht Goodrich nicht zur Polizei?« »Weil es ihm gar nicht in erster Linie um den Versicherungsbetrug geht.« »Ach, nein?« »Er macht sich Sorgen um seine Schwester. Dieser Chipperworth ist ein Gauner, und außerdem hält ihn Goodrich für gefährlich. Er möchte, daß sich seine Schwester von ihm scheiden läßt.« Dawn neigte den Kopf. »Aber seine Schwester glaubt nicht an das Gerede vom Versicherungsbetrug.« »Und was sollen wir dabei unternehmen?« »Goodrich meint, wir sollten nachweisen, daß Chipperworth eine andere Frau hat. Wenn uns das gelänge, würde sich seine Schwester scheiden lassen und vor ihm sicher sein. Goodrich ist davon überzeugt, daß seine Schwester sich ohnehin früher oder später von ihm trennen würde; wenn es ihm gelänge, die Sache zu beschleunigen, käme sie wenigstens finanziell einigermaßen gut davon. Wenn er aber erst warte, bis Chipperworth von seinen eigenen Schwindelmanövern eingeholt würde, könnte zuletzt auch die Schwester ruiniert dastehen.« »Oh«, sagte Dawn. »Ich habe ihm zugesagt, daß ich es versuchen werde.« Sie nickte, dann schaute sie mich an. Und ich schaute sie an.
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Wir beide dachten das gleiche. Ich fragte: »Und was, zum Teufel, sollen wir jetzt tun?« Nun, wir mußten die Sache wenigstens andeutungsweise durchexerzieren. Und der erste Schritt bestand darin, daß wir Chipperworth suchten und identifizierten. Das war nicht schwer. Mr. Goodrich hatte mir ein Foto gegeben, und wir entschlossen uns, am Feierabend vor der Firma »Schlafwohl«-Betten zu warten. Es war kein besonders großer Betrieb. Wir zählten etwa zwanzig Angestellte, die das Gebäude nach halb sechs verließen. Chipperworth war der letzte, und er stieg in einen neuen Ford Sierra ein. »Okay«, sagte Dawn. »Das ist er also. Und was machen wir jetzt?« »Ein Detektiv würde ihm jetzt hinterherfahren«, schlug ich vor. Und genau das taten wir. Er fuhr direkt zu einem Haus in Prowtings. Dort stellte er den Wagen in der Einfahrt ab, stieg aus und ging zur Haustür, die ihm eine Frau um 17.48 Uhr öffnete. Danach betrat Chipperworth das Haus und schloß die Tür. Damit wäre der Fall bereits erledigt gewesen, wenn es sich nicht bei dieser Frau um seine Ehefrau gehandelt hätte. Dawn und ich saßen im Wagen. »Wenigstens kennen wir jetzt seine Autonummer«, sagte ich nach zehn Minuten. Aber die Sache wurde uns schnell fade. Nach einer halben Stunde erklärte Dawn: »Das bringt doch nichts. Was sollen wir tun? Die ganze Nacht hier im Auto sitzen, ohne einen Bissen zu essen und so weiter?« Und nach kurzer Erörterung der Situation entschlossen wir uns, Fisch und Chips von Pangs zu besorgen. Auch Detektive müssen essen. Als wir zurückkamen, war Chipperworths Wagen verschwunden. Der Anwalt Goodrich rief am nächsten Morgen um neun Uhr an. Er schien verärgert zu sein, daß ich nichts zu berichten hatte. Ich erklärte ihm, daß man nicht so schnell mit Ergebnissen rechnen könne, und wies ihn darauf hin, daß wir noch nicht einmal einen einzigen, ganzen Tag zur Verfügung gehabt hätten.
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Aber Goodrich wußte, daß Chipperworth am vergangenen Abend ausgewesen war. Er hatte seine Schwester angerufen, und diese hatte es ihm berichtet. »Wenn Sie die Überwachung selbst vornehmen wollen«, sagte ich, »so kann ich Sie nicht daran hindern. Anderenfalls müssen Sie es uns überlassen, wie wir observieren.« Er atmete tief ein und entschuldigte sich – nicht allzu überzeugend, wie ich fand –; anschließend legten wir beide auf. Danach berichtete ich Dawn von dem Anruf. »Wenn wir diese Geschichte nicht rasch über die Bühne bringen«, meinte sie, »wird sie unser Leben wochenlang beeinflussen.« »Ich weiß.« »Ich werde zwei meiner Neffen besuchen.« Ich schaute sie verblüfft an. »Nigel ist Ingenieur bei der Telefongesellschaft«, sagte sie. »Er ist ein Tüftler und sicher bereit, das Telefon bei den Chipperworths irgendwie anzuzapfen. Und Paul arbeitet in der Fotoabteilung von Valets.« Das war eine der Druckereien am Ort. »Er ist ein Fotonarr. Und er borgt uns sicher eine von seinen Kameras mit einer Telelinse.« »Richtig«, sagte ich. »Vielleicht brauchen wir auch einen zweiten Wagen, damit wir Chipperworth den ganzen Tag über beschatten können. Wenn es zu lange dauert, müssen wir uns abwechseln. Vielleicht kann ich mir Adeles Reliant ausborgen. Erinnerst du dich an Adele?« »Nein.« »Sie ist die kleine mit den großen…« »Jetzt erinnere ich mich«, sagte ich. Mit den größten Füßen, die ich jemals bei einer Frau gesehen hatte. »Ich wollte, ich hätte jemanden in der Bekanntschaft, der uns zwei Funkgeräte borgen könnte.« »Vielleicht dein Onkel Mike«, sagte ich. »Ja, sicher.« Doch dann schnitt sie eine Grimasse. »Er kneift und tätschelt mich, wenn ich ihm zu nahe komme, und er würde eine etwas größere Gefälligkeit verlangen…«
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»Ich glaube, wir kommen ohne Funkgeräte aus«, sagte ich entschieden. Schließlich dauerte es doch nur einen Tag. Es begann am Nachmittag meiner ersten Schicht. Ich war ausgerüstet mit einer Thermoskanne, Sandwiches und einem Radio. Und obendrein mit einem Urinbehälter – von Dawns Freundin Elaine, der Krankenschwester –, für den Fall, daß die Zeit kurz und der Drang stark sein sollte. Wenn Dawn und ich etwas in die Hand nehmen, sind wir beeindruckend. Ich übernahm die Nachmittagsschicht, weil Dawn ihre Tante Wendy besuchen mußte, die Schwierigkeiten hatte mit einem Nachbarsjungen, der in ständigem Streit mit ihrem Sohn Edgar lag. Die Kamera war eine von diesen neuen Sofortbildapparaten. Wir hatten mit Paul darüber diskutiert, und er fand sie am besten geeignet, denn man brauchte wenigstens nicht zu warten, bis der Film von der Entwicklung zurück war. »Und«, hatte er hinzugefügt, »angesichts der Fotos, die ihr vielleicht bekommt, sollte man sie ohnehin nicht zu seiner normalen Entwicklungsanstalt geben.« Ein anzüglicher Kerl, dieser Paul. Außerdem hat er uns noch ein Objektiv gegeben, das dreißig Zentimeter lang war. »Damit habt ihr sie in der Tasche«, sagte er. »Vorausgesetzt, ihr tragt Taschen.« Vetter Nigel war begeistert von der Aufgabe, einen Tonbandrekorder auf einen Telefonmast zu pflanzen, um die Gespräche des Hauses Chipperworth abzuhören. Er war auch bereit, das gleiche mit dem Telefon in der Firma zu tun. Nun, ein solches Angebot lehnt man schließlich nicht ab. Ich hatte seit jeher den Eindruck, daß sämtliche Familienmitglieder von Dawn etwas zwielichtig waren. Das ist eine Beobachtung, keine Beschwerde. Jedenfalls, nach einer Stunde beim Lunch zu Hause mit seiner Frau fuhr Chipperworth nicht zurück in sein Büro. Statt dessen fuhr er in die Marston Road und in die Einfahrt zu einem einzeln stehenden Backsteinhaus am Ortsrand, genau gesagt, an der Stelle, von wo an die Geschwindigkeitsbeschränkung aufgehoben ist. Ich fuhr daran
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vorbei, parkte aber unmittelbar dahinter, stieg aus und zielte mit der Kamera gerade rechtzeitig, um Chipperworth zu erwischen, wie er die Haustür mit einem Schlüssel öffnete. Das Foto war klar und deutlich. Ich stand auf der Straße und schaute es an. Dabei fragte ich mich, was ich als nächstes tun würde. Aber Dawn und ich hatten es bereits ausführlich besprochen. Erst Zeit, Datum und Standort auf der Rückseite des Fotos notieren. Danach versuchte ich, herauszufinden, wer in dem Haus wohnte. Ich ging zum Nachbarn, klingelte und hatte ein bißchen Glück. Eine winzige alte Frau mit großen braunen Augen kam an die Tür. Ich sagte: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe einen Einschreibebrief für die Leute nebenan, aber ich habe geklingelt, und es kommt niemand an die Tür.« »Das ist deshalb, weil Mrs. Elmitt ihren Liebhaber bei sich hat«, erwiderte die alte Frau. »Dabei will sie nicht gestört werden, das versteht man ja. Ich sage Ihnen, was ich da schon alles gesehen habe! Die machen sich nicht einmal die Mühe, die Vorhänge zuzuziehen!« Auch alte Weiber werden manchmal ganz schön anzüglich, wenn ihnen danach zumute ist. Dawn war hochzufrieden mit mir. Ich war sogar selbst mit mir zufrieden. Das bedeutete, daß dieser blöde Fall in Kürze vorüber sein würde und wir zu unserem Leben im Müßiggang zurückkehren konnten. Ich hatte mich entschlossen, es so einzurichten, daß mein Einkommen aus Amerika als eine Art Vorschußhonorar in den Büchern auftauchte, so daß es als ein Ergebnis meines Geschäfts ausgewiesen werden konnte. Dann brauchten wir uns keine Sorgen mehr zu machen, von den Steuerleuten geprüft zu werden. Aber gerade als wir dabei waren, miteinander sehr zufrieden zu sein, tauchte Vetter Nigel an unserer Haustür auf. Er gab mir einen heftigen Puff gegen die Schulter, als er hereinkam, und Dawn erhielt einen großen, dicken Kuß. Ein herzhafter Typ, dieser Nigel. »Ich habe euer erstes Band«, rief er jovial. »Ich bin mal rauf, um zu sehen, ob ich es auswechseln sollte, und, Mann, die haben vielleicht telefoniert. Dachte, ihr wolltet es ja doch früher oder später hören,
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also bring’ ich es gleich her. Habt ihr einen Schluck Bier, während wir uns alles anhören?« Er ließ sich in unseren bequemsten Sessel fallen. »Hey, Dawnie, und wie wär’s mit einem Bissen zu essen? Eier und Bratkartoffel? Macht hungrig, das Anzapfen von Telefonen.« Das Tonband war eine einzige Enthüllung. Schon beim ersten Anruf sagte der Mann Dinge wie »Darling, ich kann es kaum noch erwarten, dich zu sehen.« Und die Frau: »Ich weiß nicht, ob ich es noch lange ertragen kann, ohne dich zu sein.« »Es wird nicht mehr lange dauern, dann sind wir beisammen für alle Zeit. Und du bist deinen schrecklichen Mann los.« »Ich weiß nicht, was aus uns werden soll, wenn unser Plan nicht hinhaut.« »Er wird klappen. Wir schaffen das schon.« »Oh, Darling, ich hoffe es, ich hoffe es ja so sehr.« Und so weiter und so fort, lauter solches Geschwiemel. Dazu auch Schlabbern, Küsse am Telefon und so weiter. Ich wäre empört gewesen, wenn ich nicht so aufgeregt gewesen wäre. »Wau!« sagte Nigel. »Was für ein Geknutsche, und das schon vor dem Lunch. Die muß es ganz schön erwischt haben.« Und Dawn meinte: »Ist das nicht fabelhaft? Jetzt haben wir alles, was wir brauchen. Freddie, findest du nicht auch?« Aber ich war irgendwie nicht glücklich, nicht einmal annähernd. Denn im Gegensatz zu den beiden anderen, hatte ich eine der Stimmen erkannt. Die des Mannes. Das waren nicht Mr. Chipperworth und Mrs. Elmitt. Der Mann am Telefon war unser Klient, Mr. Goodrich, und das Objekt seiner Zuneigung war vermutlich Mrs. Chipperworth, seine »Schwester«. Wir wurden Nigel los, bevor wir die Sache besprachen. »Das heißt vermutlich, daß unser Klient nicht offen und ehrlich war zu uns«, sagte Dawn. Nun, es gab kein Gesetz, daß ein Klient uns die Wahrheit sagen mußte. Aber es paßte uns beiden gar nicht. »Was tun wir jetzt?«
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Wir unterhielten uns längere Zeit darüber. Am nächsten Vormittag besuchten wir Dawns Onkel Steve, der als Sergeant bei der Polizei tätig ist. Wir erkundigten uns bei ihm nach dem Feuer im Lagerhaus der Bettenfabrik. »Ich hab’ immer gewußt, daß es Brandstiftung war«, sagte Onkel Steve. »Aber wir konnten nicht beweisen, wer es war. Der Besitzer war der einzige Nutznießer, und er hatte ein wasserdichtes Alibi. Vielleicht nicht so gut, als wenn er mit dem Chief Superintendent beim Abendessen gewesen wäre, aber er war immerhin mit dem Bürgermeister auf einer Veranstaltung, und er hat den ganzen Abend an einem Tisch gesessen, an dem ihn jeder sehen konnte.« »Ich verstehe«, sagte Dawn. »Ich selbst habe Chipperworth vernommen«, sagte Onkel Steve, »und er erklärte uns ganz offen, daß er sich über den Brand freue. Die Geschäfte gingen nicht gut, und er hätte Mühe gehabt, das Zeug zu verkaufen, das in Flammen aufgegangen ist. Ich persönlich war nicht der Meinung, daß er tatsächlich etwas damit zu tun hatte. Ich bin lange genug in diesem Beruf, um ein Gefühl für die Menschen zu bekommen, und er hat mir einfach nicht den Eindruck gemacht.« »Ich verstehe«, sagte Dawn wieder. »Aber wir haben auch nie den leisesten Hinweis auf einen anderen Verdächtigen erhalten. Wir haben alle derzeitigen und früheren Angestellten überprüft, vor allem solche, die ihrem Chef etwas übelnahmen. Und wir haben unsere Informanten am Ort herumgeschickt nach Auskunft über jemanden, der es für Geld getan hätte, oder nach irgendwelchen Gerüchten in dieser Hinsicht. Nichts, kein Ton, kein Flüstern – gar nichts. Es ist wirklich sehr ungewöhnlich, daß wir bei einer faulen Sache nicht auf den leisesten Hinweis stoßen, vor allem, wenn wir uns so bemühen wie in diesem Fall. Zuletzt haben wir die Sache als einen Streich von Kindern abgeschrieben. Es gibt viele junge Leute heutzutage, die nichts zu tun haben und dann alle möglichen Akte des Vandalismus begehen, einfach so zum Spaß.« »Danke, Onkel Steve«, sagte Dawn. »Hat euch das ein bißchen geholfen?« fragte er. »Ich glaube, ja.«
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»Wenn ihr etwas über den Fall hört, müßt ihr es uns sagen. Das ist euch doch klar, oder?« »Ja, Onkel Steve.« Er schaute sie an und schüttelte den Kopf. Dann sagte er zu mir: »Junger Mann, meine Nichte hat einen Blick in den Augen, der gefällt mir nicht. Alle ihre Verwandten und Bekannten haben etwas an sich, als wollten sie andere hereinlegen. Passen Sie auf sich auf.« Er hatte natürlich recht. Bei Dawn war etwas am Brutzeln, und dabei ging es nicht um Röstkartoffeln. Als wir wieder zu Hause waren, tranken wir eine Tasse Tee. Dawn hatte während der ganzen Fahrt kein Wort gesprochen. Ich hielt es nicht länger aus. »Also gut«, sagte ich. »Was bedeutet dein komischer Blick nun wirklich?« »Ich habe mich entschieden, Mrs. Chipperworth die Scheidung zu besorgen, die unser Klient sich wünscht.« »Ach, und das können wir?« »Dazu sind wir engagiert, oder nicht?« Ich rief den Anwalt Goodrich an, um ihm von unserem Erfolg bei der Untersuchung Mitteilung zu machen und fragte ihn, ob er einen ausführlichen Bericht haben wollte. Er wollte. In zwanzig Minuten war er bei uns. Ich erklärte ihm, was ich am vergangenen Nachmittag gesehen hatte. Ich gab ihm die Fotos, die ich von Chipperworth geknipst hatte, das eine, als er das Haus von Mrs. Elmitt mit einem Schlüssel betrat, das andere, als er wieder herauskam und sich gerade noch die Hose zuknöpfte. Ich berichtete ihm auch, was mir die Nachbarin gesagt hatte. »Sie ist bereit, vor Gericht auszusagen, was sie gesehen hat, oder eine Erklärung zu protokollieren und auch unter Eid zu unterzeichnen«, sagte ich. »Aber sie möchte etwas Geld dafür haben.« »Ich glaube, das kann arrangiert werden«, sagte Goodrich. Ein bißchen zusätzliches Geld würde der Alten vielleicht helfen, ein paar Vorhänge für ihre eigenen Fenster zu kaufen. Goodrich schrieb sofort einen Scheck aus für unsere Ausgaben und unser Honorar.
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»Natürlich, wenn wir aussagen müssen«, sagte ich, »dann schicken wir Ihnen auch eine zusätzliche Rechnung.« »Ich glaube kaum, daß es dazu kommen wird«, erwiderte Goodrich. Nachdem er gegangen war, rief ich bei »Schlafwohl«-Betten an. Ich erklärte Mr. Chipperworth, daß wir ihn besuchen und mit ihm sprechen wollten. »Was gibt es denn so Dringendes, Mr. Herring?« fragte er. »Wir wollten Ihnen von der Absicht Ihrer Frau berichten, sich von Ihnen scheiden zu lassen«, sagte ich. Sobald wir eingetroffen waren, wurden wir in Mr. Chipperworths Büro gebeten. »Aber sie weiß seit Jahren über mich und Madeleine Bescheid«, sagte er, als ich ihm erklärte, wozu wir engagiert worden waren. »Es ist ein – Arrangement unter Partnern, möchte ich sagen. Es gefällt ihr nicht besonders, verstehen Sie? Und Madeleine hält mich davor zurück, bei meiner Frau – äh – Forderungen zu stellen.« »Aber die Forderungen ihres Liebhabers scheinen ihr willkommen zu sein«, erklärte Dawn. »Ihres – was?« »Fragen Sie sie doch einmal nach ihren Telefongesprächen aus der letzten Zeit«, schlug Dawn vor. »Wir müssen weiter. Schönen Tag noch.« Wir legten einen Zwischenhalt bei Nigel ein, dann fuhren wir heim. Und wir brauchten nicht lange zu warten. Ein paar Minuten nach zwölf Uhr mittags klingelte es an der Tür. Bevor ich öffnen konnte, schlug jemand von draußen mit der Faust dagegen. Als ich öffnete, stand ich Goodrich gegenüber, der vor Wut kochte. Er schüttelte die Fäuste nach mir. Meistens ist es unangenehm, so groß zu sein wie ich. Aber ich habe lange Arme und konnte ihn auf diese Weise außer Reichweite halten. Als er endlich aufhörte damit, begann er zu fluchen. Diese ungehobelte Sprache kam mir recht unpassend vor für ein Mitglied der juristischen Fakultät. Es wäre mir vor allem wegen Dawn ziemlich peinlich gewesen, wenn ich nicht schon Gleiches oder noch Schlimmeres aus dem Schoß ihrer Familie vernommen hätte. Doch ihre Leute
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sprechen in freundlicher Weise etwas grob; Goodrich dagegen war gemein und ordinär. Und obendrein beleidigend. Er behauptete, wir hätten Informationen an Mr. Chipperworth verkauft. Ich war schon dabei, alles zu leugnen, als Dawn sagte: »Und wenn?« »Dafür müssen Sie mir büßen«, schrie Goodrich. »Es ist illegal. Ich kann Sie ins Gefängnis bringen.« »Genau die richtigen Drohungen für einen, der ein Lagerhaus in Brand gesetzt hat.« Goodrich war auf einen Schlag ruhig und aufmerksam. »Was?« »Sie sind der Brandstifter, der das Feuer im Lager von ›Schlafwohl‹-Betten gelegt hat.« »Das ist dummes Geschwätz«, sagte Goodrich, aber er lachte nicht darüber. »Die Idee war folgende: Sobald Mr. Chipperworth das Geld von der Versicherung kassiert hatte, würde Mrs. Chipperworth die Scheidung einleiten, bei der sie Anspruch auf die Hälfte der Summe erheben könnte. Mit Ihrer Hilfe könnte sie das bei Gericht durchsetzen, und mit dem Geld aus der Versicherung und ihrem Anteil am gemeinschaftlichen Besitz hätten Sie und Mrs. Chipperworth ein nettes kleines Vermögen gehabt, mit dem Sie sich notfalls von hier absetzen könnten.« »Das müssen Sie mir erst beweisen«, sagte Goodrich. »Oh, ich halte das, was Sie getan haben, für eine sehr schlau eingefädelte Sache«, erklärte Dawn liebenswürdig. »Ich nehme an, Sie haben ein Alibi für die Nacht des Feuers?« »Wozu sollte ich ein Alibi nötig haben?« »Nun, wenn wir zur Polizei gehen…« »Warum, zum Teufel, wollen Sie das tun?« schrie Goodrich. »Aha«, sagte Dawn. »Jetzt kommen wir zu den interessanteren Fragen.« Sie klimperte mit ihren Wimpern. »Wir haben unsere Beweise keineswegs an Mr. Chipperworth weitergegeben, und solange Mrs. Chipperworth alles leugnet…« »Sie wollen Geld, nehme ich an«, sagte Goodrich. »Ja nun, der arme Freddie ist ein sehr großer Mensch, und wenn er sich einen größeren Wagen leisten könnte, bei dem man leichter ein-
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und aussteigen kann als bei einem Mini, wäre das sicher eine große Erleichterung für ihn.« »Also schön«, sagte Goodrich. »Ein Auto.« »Und es gibt sicher das eine oder andere an diesem Haus, was reparaturbedürftig ist.« »Wie wär’s, wenn Sie mir eine Verhandlungsbasis nennen würden?« »Ich finde, dreißigtausend wären durchaus willkommen, was meinst du, Freddie?« »Oh, sehr willkommen sogar.« »Dreißigtausend!« rief Goodrich. »Ja«, sagte Dawn. »Sie sehen, wie vernünftig wir sind.« Als der Prozeß begann, waren die Lokalzeitungen voll damit. Frome ist keine so große Stadt, die häufig interessante Gerichtsfälle mit Einheimischen aufzuweisen hätte. Vor allem keine mit Juristen und Brandstiftung, bei denen auch noch das prickelnde Element von Ehebruch und Untreue hinzukam. Goodrich plädierte auf schuldig, und die Lokalreporterin, Scoop Wall, stieß auf Mrs. Elmitts Nachbarin, die dabei fotografiert wurde, wie sie auf die Fenster ohne Vorhänge zeigte, durch die sie unbeschreibliche Akte zu sehen gezwungen gewesen sei. Die Beschreibungen dieser Akte konnten freilich nicht gedruckt werden. Onkel Steve war zunächst nicht begeistert, als er hörte, was wir getan hatten. Hörte ist das richtige Wort, denn wir hatten das ganze Gespräch mit Goodrich auf einem Tonband aufgezeichnet, das uns Vetter Nigel geborgt hatte. Aber Dawn gelang es dann, ihm alles zu erklären. Nach so langer Zeit konnte Goodrichs Brandstiftung nur dann noch bewiesen werden, wenn er ein Geständnis ablegte. Doch die Polizei hätte ihm nicht damit drohen können, seine Beziehung zu Mrs. Chipperworth allgemein bekanntzugeben, wie wir das getan hatten, weil das mehrere gesetzliche Bestimmungen verletzt hätte. »Also lag es an Freddie und an mir«, sagte Dawn. Endlich begann Onkel Steve zu lachen. »Ich hab’ Sie vor ihr gewarnt«, sagte er zu mir. Schließlich hat alles gut geklappt.
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Außer… Nun, Scoop Wall hat auch Dawn und mich ausfindig gemacht. Wir flehten sie an, nichts über uns in die Zeitung zu bringen. Doch sie war nicht zu erweichen. Wir waren schließlich Schlüsselfiguren in einem Prozeß, bei dem ein gemeingefährlicher Anwalt der Gerechtigkeit zugeführt wurde. Das war immerhin eine Nachricht. Und außerdem hatte Dawn hübsche Beine und fotografierte sich gut. Nicht, daß wir stolz auf uns gewesen wären oder auf das, was wir – genau gesagt, was Dawn getan hatte. Aber es bedeutete, daß die Agentur »Frederick Herring – Private Ermittlungen« von dem gewollten stillen Schattendasein ins Scheinwerferlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt wurde. Wir bekamen Anrufe. Wir bekamen Besuche. Wir bekamen Zuschriften. Finden Sie dies, suchen Sie das, enthüllen Sie jenes. Und das Problem war noch nicht einmal die Aufmerksamkeit, die wir erregten. Das Problem war, daß es uns eigentlich ganz gut gefiel. Denn, wissen Sie, einige von den Fällen waren wirklich recht interessant. So ähnlich wie Schachaufgaben… Also entschieden wir uns, vielleicht noch einen weiteren Fall zu übernehmen. Oder auch zwei. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Audrey Erskine Lindop Das mißdeutete Lächeln Als Laura zum ersten Mal den Verdacht erwähnte, Robert versuche sie umzubringen, habe ich nur gelacht; beim zweiten Mal habe ich Robert eingeweiht; beim dritten Mal allerdings schalteten wir einen Arzt ein. Dieser legte ihr nahe, Urlaub zu machen; ein weiser, wenn auch naheliegender Ratschluß. Keine Frau hört es gern, wenn ihr Mann sagt: »Meine Liebe, ich freue mich, daß du mich verläßt. Auf diese Weise muß ich wenigstens nicht mehr so tun, als wolle ich mit dir schlafen.« Und sosehr Laura Robert mittlerweile verabscheute, war es doch wenig schmeichelhaft für sie, zu wissen, daß sie sogar für einen Landpfarrer keine Anziehungskraft mehr besaß. Ich war seit vielen Jahren als Anwalt für die Vinces tätig, und da ich zusätzlich noch ihr nächster Nachbar war, sahen wir uns häufig. Dabei muß ich gestehen, daß es mir unangenehm war, von Laura beruflich konsultiert zu werden. Ihre absurden Befürchtungen ärgerten mich fast ebensosehr wie sie sie selbst gereizt machten; Robert hatte auf mich stets die gegenteilige Wirkung: er strahlte etwas Beruhigendes, Aufmunterndes aus. Deshalb hielt ich offen gestanden ihre Klagen über ihn für nichts weiter als die Phantastereien einer zur Hysterie neigenden Frau. Diese mangelnde Einsicht mache ich mir heute noch zum Vorwurf. Man sagt, daß es kein quälenderes Gefühl gibt als Reue, und ich habe meinen Teil zu tragen. Laura Vince war in Lehre und Forschung tätig. Sie besaß eine gute Beobachtungsgabe und war trotz ihrer augenfälligen Emanzipiertheit eine Frau, die dringend menschlicher Gesellschaft und Zuneigung bedurfte. Robert war anglikanischer Geistlicher. Die beiden hatten sich in Oxford kennengelernt und in der Überschwenglichkeit der Jugend im anderen die verwandte Seele entdeckt. Daß dies ein Irrtum war, sollte sich erst in der Ehe zeigen. Laura war überzeugt, daß Robert in seinem tiefsten Inneren wußte, daß an ihm nichts echt, sondern alles Schauspielerei war… was er
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zeitweise zwar vor sich, jedoch nicht vor Laura verbergen konnte; er wußte das, obwohl Laura versuchte, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Für Laura war es eine Art Ironie des Schicksals, daß Robert bei der jungen wie auch bei der alten Generation seiner Gemeindemitglieder die gleiche Beliebtheit genoß. Seine Kirche gehörte zu den wenigen Gotteshäusern, die stets gut besucht waren. Er ließ die Konservativen im Glauben, ein Konservativer zu sein, und vermittelte den Fortschrittlichen das Gefühl, ein Moderner zu sein. Lauras Ansicht nach hätte er schlicht Schauspieler werden sollen. Die Vorstellung, die er täglich gab, war wirklich faszinierend, und nur sie wußte, daß alles nur kleinkarierte Heuchelei war. Manchmal kostete es sie große Überwindung, seinen herzerwärmenden, mitreißenden Predigten zuzuhören, während sie genau wußte, wie viele Stunden er diese einstudiert, die möglichen Pausen für Lacher bedacht, geistreiche Passagen so geschickt gesetzt hatte, um dann nahtlos zu aufrichtigen, demütigen und frommen Bekenntnissen überzugehen. Selbst sein Lächeln, die Stimmlage und seine Gesten waren bewußt einstudiert und zum richtigen Zeitpunkt an die richtige Stelle gesetzt. Nichts, so versicherte sie immer wieder, käme bei ihm von Herzen. Selbst sein spontaner Charme sei vor dem Spiegel mühsam erprobt. Laura war unglücklich, weil sie ihn einst geliebt hatte. Zudem war Laura sicher, daß er das Bischofsamt anstrebte, und darüber hinaus davon überzeugt, daß sie Ursache seines Schuldkomplexes war. Ihrer Ansicht nach gab sie ihm das Gefühl, durchschaut zu werden, und allein der Anblick, wie sie pflichtschuldig in der Kirchenbank saß, untergrub sein Selbstvertrauen. Was sie allerdings am tiefsten verletzte, war die Tatsache, daß er selbst in ihren schlimmsten Konflikten seinen Charme nicht ablegen konnte. Es war beinahe, als wolle er ihr damit deutlich machen, daß er nicht schroff und abweisend zu ihr sein konnte, so ungeliebt sie auch sein mochte. Sie hätte es vorgezogen, er hätte ihr seine Beleidigungen laut ins Gesicht geschrien, doch statt dessen sagte er diese schmollend mit dem täglich erprobten Lächeln, als sei sie eines seiner Schäfchen. Vor Beginn ihrer gediegenen kleinen Nachmittagseinladungen pflegte er zu erklären: »Bitte denk daran, mir nicht ins Wort zu fal-
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len… Unter diesem Dach ist nur Platz für einen geistreichen Unterhalter. Und versuche um Gottes willen nicht, die Leute mit deiner akademischen Bildung zu amüsieren. Es gibt nämlich nichts Langweiligeres.« Und er sagte das, als seien es liebevolle Komplimente. Die Einladungen folgten immer demselben Zeremoniell: Obwohl er alle Hände voll zu tun hatte, die Herzen seiner glühenden Verehrerinnen zu erfreuen, fand er doch Zeit, den ritterlich und liebevoll um seine Frau bemühten Ehemann zu spielen, indem er ihr zärtlich bewundernde Blicke zuwarf, als merke er überhaupt nicht, daß sie diese mit steinerner Miene an sich abgleiten ließ. Laura hatte wenig Freunde in Elstead. Alle waren wegen Robert gekommen, und denjenigen, auf die das nicht zutraf, erteilte sie eine Abfuhr. Sie glaubte nämlich, man wolle ihr lediglich gönnerhaft auch etwas Aufmerksamkeit zukommen lassen. Es gab kaum ein weibliches Gemeindemitglied, das die glückliche Mrs. Vince nicht beneidete. Und ihre Scheu hielt man für Arroganz. Ich fand sie lediglich dumm und ungeschickt, aber das war natürlich, bevor ich mich in sie verliebte. Heute noch schäme ich mich für mein Verhalten bei diesen nichtssagenden kleinen Einladungen im Pfarrhaus, wenn Laura linkisch kleine Cocktailhäppchen anbot und die Gäste kaum von ihr Notiz nahmen, während aus der Ecke, in der ihr Mann seine Bewunderer um sich versammelt hatte, nur herzliches Lachen und angeregte Unterhaltung herübertönten. Und Laura, die die Aufmerksamkeit ihrer Gäste nur gerade so lange an sich zu fesseln verstand, wie es die pure Höflichkeit erforderte, hing wie eine Klette an mir. Ich gab mir redlich Mühe, sie abzuwimmeln, um mich zu der Gruppe gesellen zu können, die Roberts geistreiche Anekdoten bewundernd in sich aufsog. Damals hielt ich Laura für eine nervtötende Neurotikerin, die mit Robert nur deshalb Probleme hatte, weil sie auf seine Beliebtheit eifersüchtig war. Laura erzählte mir unaufhörlich, daß Robert ihr ständig jedes Selbstvertrauen raube, während er mir gegenüber bewundernd von ihrer Schönheit schwärmte. »Findest du nicht, daß Laura eine ungewöhnlich schöne Frau ist, Peter?« bemerkte er zum Beispiel. »Sie erinnert mich immer an ein Gemälde von Botticelli.«
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»Warum sagst du ihr das nicht mal?« entgegnete ich ziemlich schroff. »Vielleicht hört sie dann endlich auf, einen mit ihrem Selbstmitleid zu langweilen.« »Aber das tue ich doch«, seufzte er. »Leider macht das alles nur noch schlimmer. Sie glaubt, ich mache mich nur über sie lustig.« »Hast du ihr eigentlich wirklich gesagt, du wärst froh, nicht mehr mit ihr schlafen zu müssen?« erkundigte ich mich unverblümt. Er seufzte erneut. »Ja, und es stimmt auch. Du hast keine Ahnung, was wir in dieser Beziehung durchmachen. Sie ist schon aus dem Schlafzimmer ausgezogen. Sie hat die fixe Idee, ich wolle sie im Schlaf umbringen.« Jetzt ist mir natürlich klar, daß ich Laura gegenüber doch etwas mehr Mitgefühl und Verständnis hätte aufbringen müssen, so lächerlich mir das bisher auch vorgekommen war. Diese Ängste waren für sie durchaus realistisch. Ich erklärte Robert, daß es mir lieber wäre, wenn Laura sich einen anderen Anwalt suche, doch er bat mich inständig, sie als Klientin zu behalten. »Um Gottes willen, Peter, gib ihr weiter die Möglichkeit, sich bei dir auszusprechen. Hör dir den Unsinn noch ein bißchen länger an. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie den Schrott einem Fremden erzählen würde.« Aus purer Freundschaft zu Robert war ich bereit, seiner Bitte zu entsprechen, aber ich muß gestehen, daß ich jedesmal, wenn ich ihr hysterisches Gekreische in meinem Vorzimmer hörte, am liebsten aus dem Fenster gesprungen wäre. »Ich muß dringend Mr. Cowles sprechen!« zeterte sie. Meine arme Sekretärin tat alles, um mir Laura vom Leib zu halten, denn sie spürte meine Aversionen gegen sie und ihre absurden Verdächtigungen, doch gegen Laura kam sie nicht an. Laura stürmte in mein Büro. »Peter, du mußt mir helfen. Es ist was Schreckliches passiert.« Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich atemlos. Seltsamerweise wurde mir gerade in diesem Augenblick klar, wie aufregend schön sie war. Ihre dunklen Augen hatten einen warmen Glanz, und ihre Figur versprach alles, was ein Mann sich nur wünschen konnte. Währenddessen jedoch schrie sie auf mich ein, als müsse sie einen
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völlig verblödeten Greis endlich zur Vernunft und Einsicht bringen. Ich hätte sie dafür umbringen können. Was unter den gegebenen Umständen kein sehr glücklicher Gedanke war. Schließlich gelang es mir, sie zu beruhigen, mit einem Brandy aus meinem Aktenschrank, und dann sagte ich so geduldig wie möglich: »Also, was ist passiert, Laura?« Laura leerte das Glas Brandy und erwiderte: »Robert hat mich angelächelt.« Ich lachte laut auf. Sie muß gute fünf Minuten geweint haben, während ich nur dasaß und sie anstarrte. Dann schluchzte sie: »Du mußt mir einfach glauben. Ich werde sonst noch verrückt! Ich muß weg von ihm. Er hat mich tatsächlich angelächelt.« »Robert lächelt doch jeden an.« »Natürlich… aber bisher war ich eine Ausnahme. Es muß ihm irgendeine Idee gekommen sein. Vermutlich hat er eine Möglichkeit entdeckt, wie er mich loswerden kann. Das war nicht sein übliches Lächeln.« »Und das ist geradezu penetrant charmant.« »Richtig. Aber diesmal war’s anders. Es wirkte ernst… und gefährlich… so als sei er zu einer Einsicht gelangt und wolle vermeiden, daß ihn jemand durchschaut.« Völlig entnervt sagte ich später zu Robert: »Herrgott, unternimm endlich etwas. Wir haben eine Verschnaufpause bitter nötig. Schick Laura irgendwohin, wo sie sich entspannen kann.« Robert mietete daraufhin ein Haus in der Provence mit dem schönen Namen ›Le Bois des Papillons‹ im Dorf Vallon. Wie der Name schon sagte, lag der Besitz in einem Wäldchen voller Schmetterlinge. Die Miete war ganz außergewöhnlich niedrig, und der Makler machte keinen Hehl aus den Gründen dafür. Die Villa war im Zweiten Weltkrieg Hauptquartier einer französischen Widerstandsgruppe gewesen, deren Anführer man in diesen Mauern zu Tode gefoltert hatte. Das Haus entsprach damit nicht gerade den landläufigen Vorstellungen von einem idyllischen, unbeschwerten Ferienparadies. Gemäß der französischen Denkungsart kam niemand auf die Idee, daß es dort spuken könne. Geister, so hieß es, würden um einen Ort, in einem so sonnigen Wäldchen, mit so herrlichen Schmetterlingen
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und jener schrecklichen Vergangenheit einen großen Bogen machen. Allerdings hielt sich hartnäckig das Gerücht, daß die Widerstandsgruppe ausgerechnet in diesem Haus ihre Geldmittel versteckt habe. Hin und wieder bekamen irgendwelche Dummköpfe, vornehmlich Ausländer, Wind von der Geschichte und brachen ins Haus ein, um nach dem vermeintlichen Schatz zu suchen. Keiner der Ortsansässigen glaubte an die Existenz dieses Geldes, doch der Makler hielt es für ratsam, daß Madame Vince in Begleitung und nicht allein dort residieren solle für den Fall, daß erneut einer dieser naiven Schatzjäger dort eindringen würde. Laura wurde daher überredet, eine Freundin namens Helen Cook als Reisebegleiterin mitzunehmen. Miss Cooks intellektuelle Fähigkeiten waren eher beschränkt, doch dafür verfügte sie über erstaunliche physische Kräfte. Man durfte annehmen, daß allein ihre äußere Erscheinung genügte, um jeden Schatzsucher in die Flucht zu jagen. Trotzdem war Laura mit dieser Regelung unzufrieden. Sie mißtraute allem, was Robert für sie arrangierte. Außerdem wollte sie mehr als einen Urlaub von der Ehe… sie verlangte die Scheidung. Und sie erklärte mir, Roberts Verhaltensweise treibe sie mittlerweile an den Rand des Wahnsinns. Doch natürlich stehe stets sein Wort gegen ihre Aussage, und nicht einmal ihr Arzt glaube ihr, sondern sehe in Robert nur den charmanten, liebevollen Ehemann. Robert zuliebe übte ich mich in Geduld und Nachsicht und entsprach seiner Bitte, ihr weiterhin Gelegenheit zu geben, sich bei mir auszusprechen. Auf diese Weise erfuhr ich, daß Robert im Verlauf eines Streits immer ruhig und vernünftig bleiben konnte, während sie meist wie ein Fischweib keifte und angesichts seines disziplinierten, salbungsvollen Tons jede Beherrschung verlor. Alles gipfelte dann meist in dem qualvollen Argument: »Meine Liebe, vergiß nicht, daß du Akademikerin und daher einem einfachen Landpfarrer weit überlegen bist. Also bitte, mach dich nicht lächerlich.« Scheidung, so behauptete Robert, käme für ihn nicht in Frage. So etwas schade seiner Karriere. Skandale könne er sich nicht leisten. Und im freundlichsten Ton erklärte er ihr: »Wenn es dich tröstet, kannst du ruhig wissen, daß ich dich liebend gern loswerden würde. Deine hohle, nichtssagende Larve reizt mich bis zur Weißglut. Du
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bist nämlich nicht die erste Frau, die einen akademischen Grad erworben, an der Universität gelehrt oder in der Forschung gearbeitet und Veröffentlichungen gemacht hat. Die meisten Frauen haben noch viel mehr geleistet, ohne ihre Weiblichkeit zu verlieren.« Laura mußte nach eigenen Worten alle Beherrschung aufbringen, um ihm danach nicht das Gesicht zu zerkratzen. »Wie kann man neben einem Ungeheuer wie du weiblich bleiben? Du bist ein Sadist… ein perfekter heuchlerischer Sadist. Trotzdem lasse ich mich scheiden… wegen Grausamkeit…« Sein Lachen war noch variantenreicher als seine Sprache. »Aber meine Liebe! Wie willst du das begründen?« »Ich berufe mich auf seelische Grausamkeit.« »Bitte, versuch’s doch! Nur, wer soll dir glauben? Die Mitglieder meiner Gemeinde, die mich vergöttern? Sie würden mich jederzeit vor der Intelligenzbestie in Schutz nehmen, die meine Frau ist und so tut, als sei sie die einzige weibliche Person, die je einen kleinen Doktortitel erworben hat!« Sie war außer sich vor Erregung, daß sie ihm schließlich drohte. »Du magst nicht viel von meinem akademischen Titel halten und mich deswegen auch hassen… aber noch bin ich eine Frau mit Gefühlen. Und für dich habe ich nur Haß übrig. Deine heuchlerischen christlichen Moralbegriffe sind mir egal. Ich werde alles tun, um dir zu schaden. Ich werde deiner vor Bewunderung für dich triefenden Gemeinde die Augen über dich öffnen. Jede liebeskranke alte Jungfer, jede dir ergebene Matrone soll es wissen. Ich sage ihnen, daß du die Worte von Jesus Christus für deine ehrgeizigen und egoistischen Ziele mißbrauchst.« Und in diesem Augenblick zeigte er das Lächeln, das sie zu mir getrieben hatte. »Ist ja gut, Laura«, beruhigte ich sie. »Nimm erst mal die Tabletten, die der Arzt dir verschrieben hat. Und dann packst du deine Koffer für Frankreich. Übrigens liegt ›Le Bois des Papillons‹ in den Bergen. Vallon ist zwar in Südfrankreich, aber es liegt verhältnismäßig hoch. Gelegentlich kann es dort so nebelig sein wie in Dartmoor. Also nimm warme Sachen mit.«
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»Danke«, erwiderte sie und erinnerte mich dabei an einen jener einsamen Schmetterlinge mit verblichenen Flügeln, die sich vor Wintereinbruch ins Haus verirrt und keine Hoffnung mehr haben, je wieder die Freiheit zu erlangen. Laura hatte mir gegenüber keinen Grund zur Dankbarkeit, und das wußte sie. Ich versuchte lediglich, sie um Roberts willen loszuwerden. Es kam mir so ungerecht vor, daß ein Mensch, der für die Kirche soviel Gutes tat, von einer hysterischen Frau mit Wahnvorstellungen zermürbt werden sollte. ›Le Bois des Papillons‹ war in Anbetracht seiner geringen Beliebtheit bei Urlaubern nicht sofort beziehbar. Es mußte erst gründlich renoviert werden, und während dies geschah, hatte ich weiterhin Laura mit ihrer idiotischen Angst vor Roberts Lächeln am Hals. Wie gemein man doch sein kann, wenn man nicht einsieht, daß ein Mensch in Wahrheit halb wahnsinnig vor Angst ist! Resigniert gab ich also meiner treuen Sekretärin die Anweisung, Laura sofort vorzulassen, wann immer sie käme. Mit ein bißchen Glück konnten wir allerdings hoffen, sie und die wenig einnehmende Miss Cook loszuwerden, sobald man ›Le Bois des Papillons‹ von Spinnweben und Ziegenkot gesäubert hatte. In der Zwischenzeit allerdings mußte ich mir ihre abwegigen Theorien über Roberts Mordpläne anhören. Direkte tätliche Angriffe durch Robert fürchtete sie zwar nicht, doch es gab zahlreiche, viel subtilere Tötungsmethoden, wie zum Beispiel Gift, vorgetäuschte Auto- oder Haushaltsunfälle, nächtliche Überfälle, das unvorsichtige Hantieren mit elektrischem Strom im Badezimmer, defekte elektrische Decken, rutschige Gartentreppen, angesägte Pfosten und mindestens noch tausend andere Möglichkeiten, eine unliebsame Person zu beseitigen. In Lauras Träumen erschien Robert ihr als Kardinal in mittelalterlicher Robe mit einem ganzen Kommando von gedungenen Mördern. Sie stellte ihrer Ansicht nach eine Bedrohung für seine geliebte Karriere dar, und alles, was er tat oder sagte, bestätigte nur ihre Verdächtigungen. Laura fand kaum noch Schlaf, weil sie fürchtete, Robert könne sie mit einem Kissen ersticken. Sie wurde immer schmaler und war dem
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Zusammenbruch nahe. Während sie dann eines Tages lustlos im Frühstück herumstocherte, brach es hysterisch aus ihr heraus: »Robert, ich verlasse dich.« Bei dieser Gelegenheit schließlich fiel seinerseits die Bemerkung, er wäre froh, nicht mehr ständig vorgeben zu müssen, mit einer Intelligenzbestie zu schlafen. Dafür sei er sogar bereit, ihr eine großzügige finanzielle Unterstützung zu gewähren. Robert hatte privates Vermögen und war auf sein Gehalt von der Kirche nicht angewiesen. Allerdings stellte er eine Bedingung. Seine Gemeinde sollte glauben, Laura habe wegen ihrer angegriffenen Gesundheit einen längeren Erholungsurlaub angetreten. Von Trennung durfte nicht die Rede sein. Dazu bemerkte Laura bitter: »Seine treuen Schäfchen sollen natürlich nicht erfahren, daß seine Frau die Stirn besaß, ihn einfach zu verlassen.« Endlich brachte ich Laura und die unattraktive Miss Cook zum Bahnhof. Ich vermag nicht zu sagen, welche der beiden ich lieber losgeworden bin: die untröstliche Laura, die immerfort schluchzend bekannte, dies sei nun der schlagende Beweis dafür, daß sie als Mensch versagt habe, oder ihre hünenhafte, mürrische Freundin. Miss Cook hatte die äußerst unangenehme Angewohnheit, einen beim Sprechen anzuspucken und sich einer äußerst gewöhnlichen Ausdrucksweise zu bedienen. Fast jedes zweite Wort war ein Kraftausdruck oder ein Fluch. Als ich sie sicher im Zug nach Frankreich wußte, führten meine Sekretärin und ich in der Kanzlei einen kleinen Freudentanz auf. Leider war die Freude nicht von Dauer. Eine Flut von Briefen von Laura und Miss Cook brach bald über uns herein. Offensichtlich hatten Unbekannte mehrmals versucht, in ›Le Bois des Papillons‹ einzubrechen. Man hatte die Polizei benachrichtigt, und diese schien überrascht zu sein, daß jemand es wagte, nach dem legendären Geldschatz der »Resistance« zu suchen, während das Haus bewohnt war. Solange es leer stand, hätte man dies noch verstehen können. Ich vermutete jedoch insgeheim, daß die Polizei es vielmehr überraschend fand, daß jemand es riskierte, von Miss Cook, von der Amazone mit dem losen Mundwerk, entdeckt zu werden.
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Laura dagegen war natürlich überzeugt, daß die Eindringlinge von Robert gedungene Mörder waren, die sie, als Schatzsucher getarnt, umbringen sollten. Auf Robert, so meinte sie, würde kein Verdacht fallen, da er ja in England währenddessen Gottes Wort verkündigte. Sie hielt es für sehr verdächtig, daß die Einbrüche zugenommen hatten, seit sie das Haus bezogen hatte. Meine Sekretärin und ich stöhnten gemeinsam, erwiderten jedoch, ich hielte diese Entwicklung durchaus für verständlich. Die Tatsache nämlich, daß jemand verrückt genug war, das heruntergekommene Haus ›Le Bois des Papillons‹ zu mieten, mußte gewisse Elemente davon überzeugt haben, daß der sagenhafte Schatz tatsächlich existierte. Vermutlich nahm man in diesen Kreisen an, daß Laura das Haus nur gemietet hatte, um in Ruhe danach suchen zu können, und man versuchte nun, ihr zuvorzukommen. Meine Sekretärin äußerte schließlich als erste den Verdacht, daß ich mich in Laura verliebt hatte. Ich leugnete das natürlich energisch ab, doch sie erklärte ihre Vermutung damit, eine gewisse Veränderung in meiner Haltung zu Laura entdeckt zu haben. Statt von »dieser Nervensäge mit ihren Zwangsvorstellungen« hätte ich begonnen, von der »armen Frau, die Schreckliches durchgemacht haben mußte« zu sprechen. Selbstverständlich habe ich eine tiefere Bedeutung dieses Sinneswandels weit von mir gewiesen. Trotzdem merkte ich, daß ich mit anderen Gefühlen an Laura dachte. Begonnen hatte es damit, daß aus Ärger und Gereiztheit aufrichtiges Mitleid geworden war. Schließlich erschien sie mir wie eine schöne Frau, die man auf quälende Art und Weise so weit gebracht hatte, sich häßlich und wertlos zu fühlen. Damit war der nächste Schritt vollzogen, und ich begann, mir ihre Schönheit in allen Einzelheiten auszumalen. Die Erinnerung an unsere erste Begegnung, als sie noch strahlend schön, geistreich und fröhlich in ihrer Liebe zu Robert gewesen war, wurde wieder wach. Und dabei wurde mir bewußt, daß ich Zeuge der langsamen Zerstörung der Persönlichkeit eines Menschen geworden war, dem ich trotz allen Flehens meine Hilfe verweigert hatte. Als jedoch auch mich jenes gewisse Lächeln Roberts traf, mußte ich mir eingestehen, daß ich Laura liebte. Ich war zu ihm gegangen, um ihm vorzuschlagen, Laura doch an eine ihm unbekannte Adresse
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ziehen zu lassen. Nur Lauras Bank und meine Kanzlei sollten ihr neues Domizil kennen, denn ich hielt es für besser, daß Robert und seine sogenannten »Mörder« vorerst nicht wissen sollten, wo Laura sich aufhielt. Robert allerdings quittierte meinen Vorschlag nur kopfschüttelnd mit jenem Lächeln, das ich prompt ebenso interpretierte wie Laura vor mir. In diesem Moment erst begriff ich, was sie mit ihrer Beschreibung gemeint hatte. Dieses Lächeln wirkte tatsächlich gefährlich. Es paßte überhaupt nicht zu Robert. Ihm fehlte der gewohnte Charme völlig. Ganz offenbar war es nicht einstudiert. Robert war plötzlich wie ein anderer Mensch, den ich spontan und für immer haßte. Meine Sekretärin wies mich für diese, wie sie es nannte »Überreaktion« zurecht und riet mir, meine Phantasie zu zügeln. Sie bemerkte in diesem Zusammenhang reichlich bitter: »Diese ›arme und verfolgte Frau‹, wie Sie sie inzwischen bezeichnen, hat Sie mit ihrer Neurose angesteckt. Robert ist kein Verbrecher. Sie sind nur Laura auf den Leim gegangen.« Daraufhin beschuldigte ich sie prompt, wie so viele andere Roberts Charme erlegen zu sein, und zum ersten Mal nach langjähriger Zusammenarbeit stritten wir uns. Unsere gemeinsame Antipathie gegen Miss Cook versöhnte uns schließlich wieder. Wir lasen in der Zeitung, daß von einer gewissen Miss Ellen Cook ein falscher Goldschatz der französischen »Resistance« in dem Haus ›Le Bois des Papillons‹ im Dorf Vallon entdeckt worden war. Miss Cook war darauf gestoßen, als sie einen alten Brunnen von Mückenlarven hatte reinigen wollen. Dabei hatte sich herausgestellt, daß die Geschichte mit dem Goldschatz ein übler Scherz gewesen war, den sich die Widerstandskämpfer für die Nazis ausgedacht hatten, die das Haus besetzt und ihren Anführer zu Tode gefoltert hatten. Sie hatten das Gerücht in Umlauf gesetzt, ihr Schatz befände sich auf diesem Grünstück, damit die Nazis ihre Zeit damit verbringen sollten, danach zu suchen. Hätten sie ihn gefunden, hätten sie gesehen, was Ellen Cook entdeckt hatte: eine Ansammlung wertloser, münzförmiger Blechstücke, in die sorgfältig das Wort »MERDE« eingeritzt war. Meine Sekretärin und ich fanden die Vorstel-
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lung, daß ausgerechnet unsere Amazone mit dem primitiven Wortschatz auf diese Sammlung unappetitlicher Worte gestoßen war, sehr belustigend. Das allerdings muß das letzte Mal gewesen sein, daß ich gelacht habe. Zuerst war ich erleichtert, denn ich glaubte, daß dieser »Fund« selbst Laura davon überzeugen mußte, daß ihre Einbrecher nichts mit Robert zu tun gehabt hatten. Zwei Wochen nach dieser Entdeckung jedoch, wurde die brutal verstümmelte Leiche von Ellen Cook auf dem schlammigen Grund des Brunnens gefunden, in den sie erneut Öl hatte geben wollen, um die Mückenlarven abzutöten. Ihr Körper wies 36 Messerstiche auf, und ihr Schädel war in zwei Teile gespalten. Es war ein Verbrechen, das tiefsten Haß verriet. Und sowenig Sympathien ich auch für Miss Cook gehegt hatte, konnte ich mir doch nicht vorstellen, wer einen Groll solchen Ausmaßes gegen sie gehabt haben sollte. In Vallon hatte sie kaum jemanden gekannt. Meine Sekretärin äußerte verächtlich die Vermutung, ich mache vermutlich insgeheim Robert für die Tat verantwortlich, weil ich annahm, Robert habe aus Rache Lauras weiblichen Leibwächter ausschalten wollen. Ich muß zugeben, daß sie mich damit auf eine Idee brachte, die ich nicht mehr verdrängen konnte. Die Polizei von Vallon allerdings packte die Sache wesentlich nüchterner und effizienter an. Sie glaubte vielmehr, daß jemand Ellens Geschichte für einen Trick gehalten hatte, um den Fund des echten Schatzes zu vertuschen, und versucht hatte, mit dem Messer die Wahrheit aus ihr herauszupressen. Laura allerdings ließ sich nicht von der fixen Idee abbringen, Roberts »Mörder« hätten Ellen mit ihr verwechselt. Entgegen allen Warnungen meiner Sekretärin, die mich immer wieder daran zu erinnern versuchte, daß ich Laura früher für eine »aufdringliche Person mit absurden Zwangsvorstellungen« gehalten hatte, bereitete ich meine Abreise nach Vallon vor. Ohne daß ich mir dessen bewußt geworden war, beherrschten Laura und ihr Fall all mein Denken und Fühlen. »Diese Frau hat es fertiggebracht, auch aus Ihnen einen Neurotiker zu machen«, wiederholte meine Sekretärin.
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Ich kann meinen plötzlichen Sinneswandel gegenüber Laura nicht erklären. Vielleicht war es die Erkenntnis, daß sie der einzige Mensch war, der mich wirklich brauchte, oder vielleicht ihre Schönheit, der ich mir erst damals richtig bewußt geworden war. Möglicherweise machte mich auch nur die Tatsache wütend, mit ansehen zu müssen, wie ein ihr ganz offensichtlich geistig unterlegener Mann aus einer so intelligenten Frau wie Laura ein Nervenbündel gemacht hatte. Überdies hatte auch mich Roberts unglaubliches Lächeln tief getroffen und mir vor Augen geführt, was Laura mit ihren Ängsten gemeint haben könnte. Lange bevor wir den Flughafen erreicht hatten, hatte ich beschlossen, Laura zu bitten, bei mir zu leben, bis wir Robert davon überzeugt hatten, daß eine Scheidung auch für ihn die würdevollste Lösung war. Eine solche Entscheidung konnte ihm schließlich nur noch mehr Sympathien und Bewunderung bei seiner Gemeinde einbringen. Eine Schlagzeile wie »Bester Freund brennt mit Pfarrersfrau durch« würde ihm all jene positive Publicity einbringen, um die er sich so aufreibend bemühte. Und dann stand meiner Ehe mit Laura nichts mehr im Weg. Ich fand Laura in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses außerhalb von Vallon. Der behandelnde Arzt erklärte mir, daß der Schock angesichts von Ellens Tod und die Angst ums eigene Leben bewirkt hatten, daß Laura selbst unter Polizeischutz nicht mehr in der Lage sei, allein in ›Le Bois des Papillons‹ zu leben. Seiner Einschätzung nach war sie keineswegs geisteskrank. Allerdings sei ihr physischer als auch psychischer Zustand derart besorgniserregend, daß man sie als gefährlich labil und pflegebedürftig ansehen müsse. Allein der Name ihres Mannes könne eine solche Verschlechterung ihres Zustandes bewirken, daß eine Behandlung mit starken Medikamenten, Beruhigungsbädern und die Unterbringung in einer Gummizelle gerechtfertigt erschienen. Diese Nachrichten allein machten mich so krank, daß ich mir vornahm, falls Robert mir gegenüber noch einmal jenes böse, selbstgefällige Lächeln zeigen sollte, ihm dieses, im wahrsten Sinn des Wortes, aus dem Gesicht zu schlagen.
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Zuerst weigerte sich Laura, mich zu sehen. Sie sah in mir lediglich Roberts Spion. Schließlich schickte ich ihr einen kleinen Brief, der nur aus dem Satz bestand: »Laura, ich liebe dich. Peter.« Danach ließ sie mich zu sich. Laura war so weiß wie das Kissen, auf dem sie lag. Trotzdem brachte sie ein Lächeln zustande. »Ich konnte deine Nachricht zuerst gar nicht fassen«, begann sie. »Ich dachte, du mußt genauso verrückt geworden sein wie ich. Robert hat immer behauptet, mich könne man gar nicht lieben. Er hat gesagt, es koste jeden Mann große Mühe, nicht zu zeigen, wie langweilig ich bin. Und du fändest mich geradezu tödlich langweilig.« »Laura, Robert ist ein egoistischer Dreckskerl. Ich hasse ihn wie die Pest. Irgendwie werden wir ihn schon los, und dann heiraten wir.« Bevor sie noch etwas antworten konnte, fiel mein Blick plötzlich auf die Frau im Nachbarbett. Sie machte ganz merkwürdige Bewegungen mit dem linken Arm, den sie wie einen Elefantenrüssel um die Nase kreisen ließ. Laura folgte meinem Blick und flüsterte eindringlich. »Laß sie bitte in Ruhe! Die Ärmste hält sich für eine Teekanne.« »Eine Teekanne!« »Psst!« warnte Laura. Trotz ihres Ernstes unterdrückte sie ein Kichern. »Es ist gemein, sich über sie lustig zu machen. Sie muß irgend etwas Schreckliches erlebt haben und denkt seitdem, ihr Arm sei der Ausgießer. Sie bittet mich ständig, sie auszugießen.« Danach ging ich schnurstracks hinaus, um ein ernstes Wort mit dem Arzt zu reden. »Wie können Sie es wagen, Madame Vince neben einer Teekanne unterzubringen?« Der Arzt lächelte. »Madame de Saille ist völlig harmlos und wird geheilt werden. Sie spricht bereits auf unsere Behandlungsmethode an. Außerdem kann es Madame Vince nur guttun, sich um jemanden kümmern zu müssen. Das lenkt sie immerhin ein wenig von ihren Problemen ab.« Ich ließ mich dadurch jedoch nicht beirren und beharrte darauf, daß die ständige Konfrontation mit einer Geisteskranken in Lauras labilem Zustand fatale Folgen haben könne. Ich bestand daher darauf, daß man Laura in ein Einzelzimmer verlegte. Der Arzt war strikt
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dagegen. Er argumentierte, Laura brauche ständige Betreuung und Überwachung, und ihre Genesung würde in einem Krankensaal wesentlich schneller Fortschritte machen. In einem Saal sei ständig Pflegepersonal verfügbar, während die Patienten in Einzelzimmern oft länger allein gelassen werden müßten. Und er vertrat die Ansicht, Laura solle noch unter ständiger Beobachtung bleiben. Erst sobald sich eine merkliche Besserung bei ihr eingestellt habe und er gewiß sein könne, daß ihr nichts mehr zustoßen werde, würde er ihr selbstverständlich ein Einzelzimmer zuweisen. Ich wußte es natürlich besser. Ich war entschlossen, Laura den Anblick von Leuten zu ersparen, die sich für Teekannen oder die Königin von Preußen hielten. Schließlich gab der Arzt nach, machte jedoch deutlich, daß er und sein Personal in diesem Fall jede Verantwortung für eine mögliche Verschlechterung von Lauras Zustand ablehne. Daraufhin wurde Laura in ein Einzelzimmer verlegt. Zwei Tage später war sie verschwunden. Für die Hintergründe ihrer Handlungsweise gab es nur einen Hinweis: ihr Mann war in Vallon eingetroffen und hatte ihr einen Blumenstrauß mit der Nachricht überbringen lassen, er habe gehört, sie sei krank, und er wolle sie besuchen. Das mußte eine solche Panikreaktion bei ihr ausgelöst haben, daß die Krankenschwester aus dem Zimmer eilte, um eine Spritze vorzubereiten. Diese Gelegenheit nutzte Laura, um durch das Fenster zu entkommen. An den Strauß ihres Mannes geheftet, fand man folgende Nachricht: »Lieber Robert, diese Blumen sind für mein Grab. Du hast die arme Ellen umbringen lassen, weil man sie für mich gehalten hat. Aber ich werde dir weitere Irrtümer dieser Art ersparen. Deine dich einst sehr, sehr liebende Frau Laura.« Sofort wurde eine großangelegte polizeiliche Suchaktion eingeleitet. Der Arzt und das Pflegepersonal gaben ohne Umschweife mir die Schuld an dieser Entwicklung. Hätte ich nicht darauf bestanden, daß
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Laura in einem Einzelzimmer untergebracht wurde, wäre das nie passiert, sagten sie. Robert wurde stundenlang verhört. Und mir erging es genauso. Bevor Robert geahnt hatte, daß Laura vermißt wurde, hatte er ihr einen Brief geschrieben. Die Polizei beschlagnahmte ihn, und ich erfuhr den Inhalt erst während des Prozesses. Laura hat nie von der Existenz dieses Briefs erfahren. Man fand ihre Leiche auf dem Grund des Brunnens von ›Le Bois des Papillons‹, in den der geldgierige Mörder Ellen Cook geworfen hatte. Lauras Blut färbte den grünen Schlammgrund rot, als habe jemand eine Flasche Burgunder hineingekippt. Sie hatte sich die Kehle durchgeschnitten und in den Brunnen gestürzt. Robert und ich durften die Stadt nicht verlassen. Wir konnten uns zwar frei bewegen, standen jedoch unter Beobachtung. Robert kam in mein Hotel, um mich um Hilfe zu bitten. »Hör zu, Peter«, begann er. »Die Polizei verdächtigt mich. Ich habe meiner armen Laura einen Brief geschickt. Er kam von ganzem Herzen, aber die Polizei glaubt, daß ich damit meine wahren Absichten nur geschickt vertuschen wollte. Das ist absurd. Ich habe einfach versucht, Laura alles zu erklären und sie dazu zu bewegen, mit mir zu sprechen. Du kennst die Wahrheit, Peter. Du und ich… wir wissen, wie Laura gewesen ist… dieser ganze Wahnsinn bezüglich der Mordversuche… Um Gottes willen, gib mir bei diesen Leuten Schützenhilfe.« Was dann passiert ist, kann ich nicht mehr sagen. Ich weiß nur noch, daß ich mich auf ihn gestürzt habe. Danach ist alles wie ausgelöscht. Ich erinnere mich nur noch an sein Lächeln, das ich ihm im wahrsten Sinn des Wortes aus dem Gesicht geschlagen habe. Im Verlauf meines Prozesses wurde dann Roberts Brief an Laura verlesen. Er hatte folgenden Wortlaut: »Meine Liebste… denn, was immer du auch denken magst, du bist auch jetzt noch meine Liebste. Bitte, bitte laß dir von den Ärzten und unserem guten Freund Peter helfen, deine Angst zu überwinden, ich würde versuchen, dich umzubringen. Eher würde ich selbst
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Hand an mich legen. In deiner Abwesenheit ist mir klargeworden, welch erbärmlicher Christenmensch ich gewesen bin. Du wirst es sicher nicht glauben, aber ich habe mich nur um deinetwillen so verhalten. Ich war dem Irrtum verfallen, wenn ich meine Gemeinde beeindruckte und ihre Sympathien weckte, würde das mir auch deine Liebe sichern. Ich bin mir stets deiner so unwürdig vorgekommen, daß das mein ganzes Dasein vergiftet hat. Hättest du mich beschuldigt, deine Persönlichkeit, deinen Intellekt oder deine Seele zu zerstören, so wäre das durchaus gerechtfertigt gewesen. Du hast mir Angst gemacht. Ich habe immer gefürchtet, angesichts deiner geistigen Überlegenheit müßte allen bewußt werden, welch kleines Licht ich eigentlich bin. Doch meine Liebe zu Gott ist echt. Aber ich hätte niemals die Cocktailparties in Seinem Namen zu anderen Zwecken mißbrauchen dürfen, damit auch endlich meine Frau mir dieselbe Bewunderung entgegenbrächte wie meine Gemeinde. Ich glaubte, mir dadurch deine Liebe und deinen Respekt endlich sichern zu können. Bitte laß mich zu dir! Meine Blumen strömen kein Gift aus. Du kannst ja jemand anderen daran riechen lassen. Aber wenn du nicht mit mir reden möchtest, dann sprich wenigstens mit Peter Cowles. Er ist bestimmt der einzige, der dich davon überzeugen kann, daß ich trotz meines unverzeihlichen Benehmens aufrichtige Liebe für dich empfinde. Peter Cowles kannst du rückhaltlos vertrauen. Er ist unser bester Freund. Ich verspreche dir, ein ›ehrlicher Hirte‹ zu werden, wenn du zu mir zurückkommst. Falls du mir jedoch weder verzeihen kannst noch mir eine neue Chance geben willst, bist du frei. Wählst du letztere Möglichkeit, rate ich dir dringend, dich in Peter Cowles Obhut zu begeben. Ich glaube, du könntest mit ihm glücklich werden. Dein dich liebender und untröstlicher Ehemann Robert.« Während ich in dem Prozeß dem Wortlaut des Briefes lauschte, dachte ich an Roberts gewisses Lächeln… jenes, dem sowohl Laura als auch ich so tief mißtraut hatten.
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Und dieses war sein echtes Lächeln gewesen. Es hatte Robert gezeigt, wie er wirklich war, den Robert, der nicht einmal versucht hatte, seine Unsicherheit und Schuld zu verbergen. Jenes war das einzige Lächeln gewesen, das er nicht vor dem Spiegel einstudiert hatte. Und dabei waren sein wahres Ich, seine ehrlichen Gefühle sichtbar geworden. In diesen Momenten hatte er uns um Hilfe gebeten, doch da sein üblicher, widerwärtiger Charme plötzlich fehlte, hatten wir dieses erbärmliche Lächeln mißdeutet. Robert hatte nie mehr die Chance, zu beweisen, ob er ein »ehrlicher Hirte« sein konnte. Er starb an den Verletzungen, die ich ihm beigebracht hatte. Und deshalb verurteilte man mich zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Desmond Lowden Die alte Gang Satchel Anderson stand an jenem Morgen um vier Uhr auf. Er fuhr seinen Benz aus der Garage und kurvte durch die Vorstädte. Gegen halb vier Uhr hatte er die Autobahn erreicht und um fünf näherte er sich der Baustelle, an der er Geordie treffen sollte. Satchel parkte am Straßenrand und starrte zu den Flutlichtern hinüber, unter denen rund um die Uhr gearbeitet wurde. Sein Blick schweifte zur Holzverschalung der Pfeiler, die sie bauten, und beobachtete, wie der dickflüssige, nasse Zement hineingeschüttet wurde. Dann betrachtete er den Kiesweg, den er rückwärts hinunterfahren konnte, um die Leiche aus dem Kofferraum zu bugsieren, ohne einen Schlammspritzer an seinem Benz zu riskieren. Schließlich fuhr er zur Baubaracke und stieg aus. Danach passierte die erste Panne. Geordie war nicht da. Nur sein Kumpel, der Ire, war zu sehen. Sie gingen in die Baracke. Der Ire schritt gebeugt, mit steifen Knochen, obwohl er nicht mal fünfundvierzig Jahre alt war. Er trug einen Maßanzug voller Zementspritzer. Er hatte die zusammengekniffenen dicken Lider und die langgezogene Oberlippe eines Mannes, der jede Kippe zu Ende rauchte. »Noah Geordie is weg«, erklärte er Satchel. »Hat sich schon vor zwei Tagen dünnegemacht.« »Das soll wohl ’n Witz sein!« fluchte Satchel. »Noah is’ beim Wintersport.« »Schon wieder?« »Gestern abend hat er angerufen. Cortina d’Ampezzo. Scheiß Pisten, hat er jesacht.« Der Mann nahm eine Packung der teuersten türkischen Zigaretten aus der Tasche. »Ich scheiß aufs Schifahren… ich mag’s weder ›aprä‹ noch ›avang‹ oder ›pendang‹. Aber Noah… Noah is’ immer auf Achse.« »Einfach abgehauen!« schnaubte Satchel. »Also, was is’ mit dem Job?« Der Ire streckte die Hand aus. Aber Satchel schüttelte den Kopf. Er kannte diese Iren in Maßanzügen und mit teuren türkischen Zigaretten im Mundwinkel nur zu gut. Iren, die die Hand ausstreckten. Er ging weg und zum Telefon.
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London gab die Devise aus, nach Osten… immer stur nach Osten zu fahren und jede Stunde anzurufen. »Jede Stunde?« wiederholte Satchel. »Mann, in drei Stunden habe ich die Nordsee unterm Kühler.« Richtig, hieß es. Genau dort wollten sie ihn auch haben. Sie bereiteten jetzt eine Seebestattung vor. Die Küste bereitete Satchel Magendrücken, sobald er dort ankam. Sie war flach, grau und schnurgerade. Überall in der Marsch standen Typen in Khaki-Anoraks und mit Kameras herum. Sie beobachteten wohl nur Vögel, aber ärgerlich war’s trotzdem. Satchel fuhr weiter und stieß auf eine ganze Ansammlung dieser Vogelspinner, die auf einem Parkplatz an der Straße herumstanden. Und hinter den Windschutzscheiben ihrer Autos klebten Presseabzeichen. Maria und Josef, die Presse! Die hatte ihm mit seiner Leiche im Kofferraum gerade noch gefehlt. Satchel trat das Gaspedal durch, um so schnell wie möglich fortzukommen. Dann kriegte er den Schock, der ihn das Steuerrad herumreißen ließ. Was heißt hier Schock? Satchel war dem Infarkt nahe. Große, fette Militärflugzeuge tauchten vor ihm auf, brausten in zehn Meter Höhe über dem Autodach hinweg. Jedes von ihnen walzte mit ohrenbetäubendem Donnergrollen das Riedgras nieder. Satchel schaltete mit zitternder Hand das Radio ein, darauf gefaßt, zu erfahren, wann und wem der Krieg erklärt worden war. Dann fiel ihm East Anglia und die ganze Tieffliegerei ein. Sie waren auf seiner Seite. Er ließ den Motor wieder an und fuhr schließlich auf eine Hügelkette mit sanften, abgeflachten Konturen zu. Ein Blick auf die Karte sagte ihm, daß er das Ziel seiner Reise fast erreicht haben mußte: das Ende eines breiten gewundenen Meeresarmes. Zehn Minuten später war er dort. Es war ein kleines Dorf. Ein Dorf aus Schlamm und kleinen runden Steinen, aus denen man Häuser, ein Hotel, einen Gemischtwarenladen und ein Geschäft für Bootszubehör gebaut hatte. Eine Mauer aus diesen Steinen führte über eine flache Anhöhe hinauf und verschwand am Horizont. Satchels Blick ruhte nachdenklich auf dieser Mauer. Er schätzte, daß es vor hundert Jahren hundert Männer bedurft hatte, um sie zu bauen.
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Satchel parkte den Wagen. Im Hotel wurden sechs verschiedene Sorten Malzwhisky ausgeschenkt, und im Gemischtwarenladen gab es Taschenbücher ohne Titten-Fotos auf dem Cover und das spezielle Zahnpulver für Raucher und Alkoholiker. Als er wieder ins Freie trat, sah er noch etwas, das sich nahtlos in die Landschaft einfügte. Unten am Kai war eine Abordnung von Grünröcken in Gummistiefeln aus einem Volvo gestiegen; sie starrten, in Reih und Glied stehend, mit blassen Gesichtern in den Schlamm. Dann blafften sie einen Rotschopf an, der Steine warf, und verpißten sich. Satchel hätte gewarnt sein müssen, aber er war’s nicht. Er befolgte stur seine Instruktionen und fuhr in die Marsch hinaus. Der Weg war unbefestigt und voller Schlaglöcher. Schließlich tauchte vor ihm ein Mast auf, exakt wie man es ihm beschrieben hatte, ein dicker Mast mit massivem Großbaum und soliden Decksplanken darunter. Das Schiff war ein alter Themse-Ewer mit hölzernen Seitenschwertern. Und neben dem Laufsteg saß wartend der Mann, den Satchel treffen sollte: Darcy. Kaum hatte Darcy zum ersten Mal den Mund aufgemacht, ertönte in Satchel erneut das Warnsignal. Jenes Warnsignal, das zu zehn Prozent von den Grünröcken, zu zehn Prozent vom beißenden Zahnpulver und zu achtzig Prozent von der Mauer an der Anhöhe ausgelöst worden war. Denn Darcy, das war Satchel schlagartig klar, vermittelte einen Eindruck, der nur eine Bezeichnung zuließ, und die lautete: Katastrophe. Er war ebenso massig wie sein Schiff. Sein Pullover, zerschlissen und formlos, reichte his unter ein zerschlissenes und aufgedunsenes Gesicht. Und unter der gespannten und gereizten Haut gärten mindestens seit grauer Vorzeit Gift und Galle. Und warum, fragte sich Satchel, warum in Gottes Namen hatte es drei Telefongespräche mit London bedurft, um bei der Katastrophe Darcy zu landen? Die alte Gang? Die echte Mafia? Die wirklich wilden Jungs? Die Antwort kam von selbst, als Darcy den Finger krümmte und ihn unter Deck winkte. Es war alles ganz einfach. In London hatte man den Rotstift angesetzt. Es wurde gespart. Darcy war arm wie eine Kirchenmaus. Er saß wie eine geschnitzte Galionsfigur vor den breiten Schiffsplanken, und er sowie seine Umgebung dünsteten
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Armut aus. Der Gestank von Paraffin stieg von den verbeulten Schiffsöfen auf, die zerrupften Strohmatratzen rochen feucht und muffig, die Möbel waren Müllreif, und auf einem betagten tragbaren Plattenspieler prangten die kreisrunden Spuren von Gläsern. Darcy goß sich ein Wasserglas Scotch ein, ohne Satchel etwas anzubieten. »Schiffskapitäne«, begann er mit rostiger Stimme, »konnten in internationalen Gewässern Trauungen vornehmen. Und natürlich auch Bestattungen. Waren von Rechts wegen befugt, sich um die Beseitigung lästiger Leichen zu kümmern. Ich hab’ mal große Hoffnungen mit der Gründung des East Anglia Bestattungsinstituts verbunden. Die Konkurrenz is’ allerdings beträchtlich.« Satchel nickte und versuchte dabei den langen, schwarzen Hund wegzustoßen, der ihm an die Wäsche wollte. »Natürlich is’ heutzutage alles anders. Heiraten?« Er brach in schallendes Gelächter aus. »Ich sage den Leuten immer, daß sie auf meinem Schiff ihrem Drang freien Lauf lassen können. Aber was die Bestattungen angeht…« Er zog scharf die Luft ein. »Da muß schon was dabei rausschau’n.« Damit bringt man mich nicht zum Lachen, dachte Satchel. Er tastete nach der dicken Rolle von Zwanzigpfundnoten in seiner Tasche. Die Zweitausend waren Geordies Honorar, das er nie rausgerückt hatte. Soviel würde er hier nicht ausgeben. Wie beiläufig flocht er die Summe von fünfhundert Pfund ins Gespräch ein. Sie begannen zu feilschen. Darcy zog ständig geräuschvoll die Luft durch die Zähne und schüttelte immer nur mit dem Kopf. Satchel erhöhte stets um fünfzig Pfund. Als sie bei einer Summe von siebenhundertfünfzig angelangt waren, fing Darcy an, Satchel Scotch einzuschenken. Das Feilschen ging weiter. Der schwarze Hund trollte sich, dafür kam eine Frau herein. Sie war groß und hager, hatte rotes Haar, das beinahe weiß schimmerte. Sie bewegte sich geradezu gespenstisch unauffällig und blieb wie ein Schatten stets hinter Darcy. Plötzlich drehte Darcy sich um. Kaum daß er sie sah, begann er sie anzuschreien. Und das blieb auch so. Satchel beobachtete die Frau aufmerksam. Ihre Augen beunruhigten ihn. Sie hatten den rastlosen, servilen Ausdruck der Dienstboten aus alten Häusern, in denen nur
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auf Klingelknöpfe gedrückt wurde. Beunruhigend, weil sie eine Dienstbotin war, oder weil Darcy sie als solche behandelte. Sie brachte Becher mit Tee, als die beiden Männer zu Tee und Scotch übergingen. Und sie brachte ein Glas Pickles, als sie bei Sandwiches und Scotch angelangt waren. Sie brachte alles und sprach kein Wort. Satchel hatte das Feilschen allmählich satt. Er dachte kurz nach und erhöhte dann auf achthundertfünfzig. Das sei sein letztes Angebot verkündete er. »Sagen wir tausend«, konterte Darcy prompt. »Extras inbegriffen. Ich könnte schließlich ein paar hübsche Worte sprechen und den Union Jack hissen.« »Nicht nötig. Nicht für den.« Satchel deutete mit einer Kopfbewegung zum Kai, wo der Benz parkte. »Der ist kein Brite.« »Ach ja?« Darcy musterte ihn scharf. »Doch wohl kein Araber? Ein Araber wäre ein Problem.« »Nein. Ein Schwarzer?« »’n Blackie, was?« »Eigentlich war’s gar nicht unser Job. Wir leisten da nur jemand Hilfestellung«, erklärte Satchel beinahe entschuldigend. »’n Blackie«, wiederholte Darcy. »Die Jungs haben den Rhythmus im Blut. Wie wär’s mit ’nem Begräbniskonzert? Soll ich ein bißchen auf meiner Klarinette jazzen?« Damit stand er auf, ging am Plattenspieler vorbei und deutete auf eine Klarinette im Regal. »Nein.« Satchel spreizte die Finger. »Musik is’ nich’. Achthundertfünfzig oder ich suche mir was anderes.« »Achthundertfünfzig.« Darcys Blick schweifte durch die Kajüte und blieb an der Frau hängen. »Also gut. Abgemacht.« Und in diesem Moment machte die Frau zum ersten Mal den Mund auf. »Abgemacht? Der Tanz geht los, was?« Sie zuckte resigniert mit den Schultern. »Die Verrückten gegen den Rest der Welt, 0:0.« Satchel begriff gar nichts. Er ging zum Bullauge und starrte zum Kai hinüber. Plötzlich erstarrte er. Der schwarze Hund stand schnuppernd am Kofferraum des Benz. »Hört mal«, begann er atemlos. »Wir könnten da Probleme kriegen. Die Witterung ist mild, oder? Die Zeitungen haben doch schon dauernd prophezeit, daß wir einen milden Winter kriegen… Und die
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Leiche, Mann… die hätte schon vor Stunden einbetoniert werden sollen.« »Das is ’n Argument.« Darcy wandte sich an die Frau. »Bring sie in die Kühltruhe.« Die Rothaarige verschwand. Satchel bot ihr seine Hilfe an, doch Darcy wehrte ab. Sie sei vom Land und harte Arbeit gewohnt, meinte er, und er hatte recht. Durch das Bullauge beobachtete Satchel, wie sie das lange, in Plastikfolie verpackte und mit Isolierband verklebte Paket aus dem Kofferraum des Mercedes hob. Sie hievte es auf die Schulter und kam schwankend über den Laufsteg an Deck zurück. Sie folgten ihr und dem großen dunklen Schatten durch den Schiffsrumpf nach vorn. An einer Ecke blieb sie plötzlich hängen, das Isolierband wurde aufgerissen, und eine Hand rutschte aus der Plastikfolie. Darcy starrte darauf. »Ich dachte, es sei ein Schwarzer.« »Er is’ eher kaffeebraun«, verbesserte sich Satchel. »Die goldene Mischung.« Die Rothaarige legte die Leiche lautlos und ohne sichtbare Anstrengung neben einer großen, länglichen Gefriertruhe ab. »Da hat ja jede Oma drin Platz«, bemerkte Darcy mit düsterer Miene und klappte den Deckel hoch. Um Platz zu machen, schob er das vordere Viertel eines Rinds und eine Schafskeule zur Seite. Dann hievte die Frau die Leiche hinein. Aus der Lage des Toten ergab es sich, daß sich die freie Hand in eine Portion Gefriererbsen grub. »Ein Kotelett könnte ich jetzt gut vertragen«, murmelte Darcy und begann erneut zu wühlen. »Zwei schöne magere Koteletts mit Broccoli wären genau das Richtige. Was ist mit Ihnen? Halten Sie mit?« Satchel schob die Hand unter die Plastikfolie zurück und befestigte erneut das Isolierband darüber. »Kein Appetit, danke.« Eine halbe Stunde später schob Darcy seinen leeren Teller zur Seite. Lammfett glänzte an seinem Kinn. »Also meine Mutter, Gott hab’ sie selig, hat da im Französischen immer was durcheinandergebracht. Das halbe Leben hat sie in Frankreich verbracht, aber beim Metzger hat sie immer ›culottes d’agneau‹ verlangt. Übersetzt sind das ›Lamm-Hosen.‹«
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»Ach ja?« Satchel starrte Darcy an. »Tatsache. Aber vielleicht war’s auch Absicht. Diese Art von Humor liegt bei uns in der Familie.« Darcy fuchtelte dabei mit der Gabel in der Luft herum. »Da ist zum Beispiel die Sache mit Mutters altem Silber. Im Alter hatte sie keinen Platz mehr dafür. Sie wußte, daß wir’s wollten. Und sie wußte, daß sie nicht wollte, daß wir’s kriegen. Also hat sie das Problem mit einem ihrer genialen Einfälle gelöst. Sie hat das Zeug per Bahn von Frankreich nach England verfrachtet und auf die beiden Kisten ganz groß ›ALTES SILBER‹ draufgeschrieben.« Satchel runzelte die Stirn. Geschichten dieser Art waren nicht sein Geschmack. Sie gingen ihm gegen den Strich. Dann verdüsterte sich seine Miene noch mehr. Sein Blick war plötzlich auf die Uhr gefallen. Vier Uhr. Herrgott, wieviel Scotch hatte er schon zuviel? Er beugte sich vor. »Hören Sie«, begann er. »Vor zwei Stunden habe ich Ihnen vierhundertfünfundzwanzig Piepen gegeben. Die andere Halte kriegen Sie, wenn Sie den Job erledigt haben. Und ich dachte, bis heute abend sollte das geschafft sein.« Darcy schüttelte den Kopf. »Keine Chance.« »Nein?« »Wir müssen uns nach Ebbe und Flut richten.« »Aha? Und wann ist Flut?« »Um halb zehn.« Die Antwort kam zu schnell. Er log. Satchels Blick schweifte zur Whiskyflasche, deren Inhalt sichtlich zur Neige ging. »Soll das heißen, Sie erledigen das erst morgen?« »Morgen oder nie.« Satchel stand auf. Er brauchte frische Luft. »Wo kann ich hier mal pinkeln?« fragte er. »Draußen. Erste Tür rechts.« Satchel wandte sich zum Ausgang, als er plötzlich ein Klirren hinter sich hörte. Er drehte sich um. Darcys Teller lag zerbrochen auf dem Fußboden. Der Mann war zu hastig aufgestanden und kam jetzt, die Hände nach Satchels Taschen ausgestreckt, auf ihn zu. »Sie haben doch kein Kleenex dabei, oder?« »Kein was?«
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»Kleenex. Das weiche Papierzeug. Das verstopft jedes Schiffsklo.« Darcy klopfte Satchels Taschen ab. »Sie glauben nich’, wieviel Leute schon versucht haben, Kleenex hier reinzuschmuggeln.« Satchel verdrückte sich. Ich hätte gewarnt sein müssen, sagte er sich. Ich hätte verdammt noch mal gewarnt sein müssen. Als er zurückkam, war die Rothaarige dabei, die Scherben vom Fußboden aufzuheben. Darcy hatte eine klassische Jazzplatte aufgelegt. Dazu spielte er auf seiner Klarinette. Und er war nicht mal aus dem Takt. Es klang auch ganz gut. Nur bewegte er mit roten Ohren und rotem Nacken rhythmisch den Oberkörper, und jedesmal, wenn er eine heftigere Bewegung machte, sprang die Nadel eine Rille weiter. Schließlich blieb er stehen und wirbelte zu der Frau herum. »Halt dich gefälligst ruhig!« brüllte er sie an. Die Frau erstarrte, so wie sie war, die Hand nach einer Scherbe ausgestreckt. Darcy nahm sein Spiel wieder auf, begann sich im Takt zu bewegen, und die Nadel sprang erneut eine Rille weiter. Darcy ging zu der Rothaarigen und schlug zu. Sie sah nicht einmal zu ihm auf. »Die Verrückten gegen den Rest der Welt, 1:0«, murmelte sie. Er schlug noch einmal zu. »Die Verrückten gegen den Rest der Welt, 2:0«, bemerkte sie lediglich lakonisch. Darcy holte wieder aus. Satchel sah ihn an. Dann schweifte sein Blick zur leeren Whiskyflasche. Mann, der Kerl ist unverwüstlich, dachte er. Dann ging er. Draußen wurde es bereits dunkel. Er bemerkte es überrascht. Und noch mehr überraschte es ihn, als ihm bei seiner Rückkehr ins Hotel im Dorf die Geräuschkulisse fröhlicher Zecher aus der Bar empfing. Satchel überlegte. Es gab nur eine Sorte von Leuten, die zu solcher Stunde noch etwas zu trinken bekamen, – nur eine Sorte, die selbst in einem Abstinenzler-Hotel am Ende der Welt einen großen Scotch organisieren konnten. Und dann sah er sie… die Autos von der Presse, die vor dem Hotel parkten. Es waren exakt dieselben, die er früher am Tag draußen in der Marsch gesehen hatte, kurz bevor die Bomber aufgetaucht waren.
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Und als Satchel die Bar betrat, fügte sich plötzlich alles zu einem einheitlichen Bild. Das Wort »Nato-Manöver« machte die Runde, und es herrschte die allgemeine Meinung vor, der Westen würde im nächsten Krieg nur zwei Tage überleben. Am dritten Tag, so hieß es, könne man nur noch für die Prawda arbeiten. Und das Manöver würde auch am darauffolgenden Tag fortgesetzt, erzählte man sich. Und zwar zu Lande und zu Wasser. Das Deck des Ewers vibrierte im Rhythmus des heiseren, alten Außenborders. Darcy drehte das Ruder herum und starrte düster in den Morgen hinaus. Er hatte seine Kapitänsmütze aufgesetzt, und der schwarze Hund kauerte neben ihm. Er spielte seinen Part, zwar mit Kater, aber immerhin. »Verstehe Ihre Sorgen, mein Freund… wirklich«, versicherte er und breitete eine Karte aus. »Aber sehen Sie… hier. Wir fahren auf direktem Weg aus der Siebenmeilenzone raus. Ihre Kriegshelden pfurzen da rum… tun sie immer. Hier ganz rechts auf dem Plan.« Satchel kam flüchtig der Gedanke, daß es eigentlich »Steuerbord« und »Karte« hätte heißen müssen, aber er schwieg. Jedenfalls schafften sie den Meeresarm ohne Kollision mit kleineren oder größeren Gegenständen. Die Riedgraszone hatten sie hinter sich, und vor ihnen lag nur noch die weite, silbrig glitzernde See. Darcy ließ von der Frau eine Flasche an Deck bringen. Mit dem Inhalt half Darcy seinem Kater so lange nach, bis er ihn überwunden hatte. Dann mimte er abwechselnd Charles Laughton und Robert Newton. Diese Anfälle hielten an, bis er auf die Uhr sah und die Karte konsultierte. Danach stellte er den Motor ab. Die Fahrt des Ewers verlangsamte sich, und das schwerfällige Schiff begann zu schlingern und zu vibrieren. Darcy baute sich ungefähr in Deckmitte auf. Von dort sah er von der Rothaarigen zu Satchel. »Hier!« erklärte er mit großartiger Geste, die den ganzen Horizont mit einbezog. »Hier habt ihr meilenweit nichts und wieder nichts.« In diesem Augenblick tauchte plötzlich zu ihrer Rechten ein schwarzer Turm von der Höhe von vier Doppeldeckerbussen gefolgt von einem schwarzen Rumpf von der Länge von zwei IntercityZügen aus dem Wasser auf. »Verpiß dich!« brüllte Darcy das Atom-U-Boot an.
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Aus dem schwarzen Koloß tönte eine blecherne Stimme zu ihnen herüber: »Sie befinden sich unbefugterweise im militärischen Sperrgebiet 6-4-3 – Strich…« An Deck erschienen Männer mit Maschinengewehren. »Die Verrückten gegen den Rest der Welt, 3:5«, sagte die Frau zu Darcy. Darcy wirbelte herum und holte eine große Pistole mit dickem Lauf aus einem Spind. Satchel stürzte sich auf ihn, doch er war nicht in bester Form… schon gar nicht mit einem Pistolenlauf an der Backe. Er duckte sich, als das Ding losging. Ein Feuerball stieg auf, schlug in die Takelage und ließ Funken auf sie herabregnen. Der Hund jaulte. Dann gab es ein neues Geräusch. Aus dem U-Boot hatte sich ein schnelles Motorboot gelöst. Es ging am Ewer längsseits. Ein Offizier und zwei Marinesoldaten saßen drin. Schließlich kletterte einer der Marinesoldaten an Bord. Er nahm Darcy mit freundlichem Grinsen die Leuchtpistole ab und schlug ihm dann, ohne die Miene zu verziehen, zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht. Darcy setzte sich. Dann wandte sich der Marinesoldat an die Frau. »Was is’n das für ’ne Marke?« erkundigte er sich im freundlichen Plauderton. »Marke Isländer?« Die Frau lachte. Es war ein merkwürdiger, ungewohnter Ton. »Kein Isländer?« fragte der Soldat jetzt Satchel. »Nein. Der nicht.« »Dann vielleicht Marke ›Öko-Freak‹? Marke ›Greenpeace‹?« »Sie haben’s erraten«, erwiderte Satchel. »Marke ›Greenpeace.‹« Der Soldat bot ihm eine Selbstgedrehte an. »Marke ›Rettet-dieWale‹? Marke ›Besserwisser‹? Marke ›Jane Fonda‹? Die steckt doch mit euch unter einer Decke, oder?« Er gab Satchel Feuer und schlenderte dann zum Bug des Ewers, wo er die Leine des Marinebeiboots festmachte, das sie sofort in den Schlepp nahm. Das U-Boot blieb als Aufpasser hinter ihnen. So fuhren sie eine ganze Weile dahin, bis plötzlich eine Sirene ertönte. Die Schleppleine begann durchzuhängen und klatschte ins Wasser. Der Marinesoldat machte seine Zigarette aus. »Jammerscha-
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de um Jane Fonda«, bemerkte er. »Was ihre Figur angeht, is’ sie total in Ordnung.« Damit lief er zum Bug, machte die Schleppleine los, winkte Satchel kurz zu und sprang über die Bordwand. Das Beiboot drehte ab. Plötzlich war die See wieder glatt und grau, als sei nichts geschehen. Darcy, zwei häßliche Schrammen im Gesicht, kroch über das Deck in Richtung Whiskyflasche. Satchel stieß sie mit dem Fuß weg. »Nein«, sagte er entschieden. »Davon gibt’s keinen verdammten Tropfen mehr. Wir warten jetzt noch zehn Minuten, dann holen wir die Leiche aus dem Eiskasten und werfen sie über Bord…« In diesem Augenblick düste eine Staffel Kampfbomber auf Masthöhe über sie hinweg. Satchel warf sich flach auf die Planken. Die Flugzeuge drehten in Richtung Küste ab. Hinter ihnen zerflossen weiße Kondensstreifen am Himmel. Zweihundert Quadratmeter Sand kriegten ihre gesamte Ladung ab, dann schwenkten sie ab und verschwanden. Satchel stand auf. Doch plötzlich war ein neues Geräusch da. Von der See her ertönte ein drohendes Summen. Er drehte sich um. Am Horizont waren zahllose schwarze Schachteln aufgetaucht, die riesige Bugwellen vor sich herschoben. »Motor an!« schrie Satchel Darcy zu. »Mach den verdammten Motor an, Mann!« Aber Darcy hatte schon wieder die Flasche am Hals und trank hastig und prustend. »Nein!« entschied er schließlich atemlos. »Nein?« »Aber wenn Sie das Ding ankriegen… dann bitte.« Darcy trank in riesigen Schlucken. Satchel starrte in die Luke, in der sich die rostigen, mit einem Draht zusammengehaltenen Teile dessen befanden, was Darcy als Motor bezeichnete. »Na also«, murmelte Darcy. Er schraubte die Whiskyflasche zu und drückte sie liebevoll an sich. Dann drehte er sich um. »Ich hab’ da noch was zu erledigen.«
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Darcy starrte zu der Frau hinüber, die angstvoll auf den Decksplanken kauerte. Das Summen von See her war zum ohrenbetäubenden Dröhnen angewachsen. Die schwarzen Schachteln, vielleicht fünfzig an der Zahl, rauschten in einer Reihe an ihnen vorbei. Es waren Landefahrzeuge, in denen ordentlich aufgereiht Stahlhelme glänzten. Darcy hatte sich groß und drohend in Deckmitte aufgebaut. »Sie hat gelacht, als mich dieser Witzbold in Uniform einen Isländer genannt hat.« »Oh, Mann!« stöhnte Satchel. »Laß Luft ab…« Doch Darcy machte ein paar Schritte auf die Rothaarige zu und blieb breitbeinig über ihr stehen. »Gut, ich hab’ dich aus irgendeinem dreckigen Londoner Loch geholt. Aber ich dulde nicht… ich wiederhole… dulde nicht, daß du dich bei mir wie aus der Gosse benimmst.« Er holte aus und trat zu. »Die Verrückten gegen den Rest der Welt, 4:9«, brüllte er. »Die Verrückten gegen den Rest der Welt, 5:5…« Satchel wandte sich ab. Er beobachtete, wie die Landefahrzeuge im Flachwasser auf Grund liefen, sah, wie die Landungstruppen in die Brandung sprangen und geschickt mit Haken und Nylontauen hantierten. Dann schwärmten sie über die Düne aus und eroberten die überdachte Bushaltestelle auf dem Kamm. Dort ließen sie sich nieder. »…Verrückte gegen den Rest der Welt, 14:5. Die Verrückten gegen den Rest der Welt, 15…« Satchel ging zu Darcy und machte der Sache ein Ende. Die Rothaarige hielt sich den linken Arm, der übel zugerichtet war. Satchel drehte sich um, griff nach einem Stück Segeltuch, das auf einem Lukendeckel lag, und machte ihr eine Armschlinge. Danach schien es ihr besserzugehen. Doch es war nicht der Arm, sondern ihre Augen, die Satchel Sorgen bereiteten. Der nervöse, rastlose Ausdruck vom Vortag war verschwunden und hatte gezieltem, brennendem Haß gegen Darcy Platz gemacht. Satchel ging zu ihm. »Zufrieden?« fragte er. Darcy zuckte mit den Schultern. »Und was machen wir jetzt?«
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»Jetzt«, antwortete Darcy. »Jetzt essen wir erst mal Mittag.« »Sie machen wohl Witze.« »Es ist punkt zwölf.« Darcy warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich nehme Rumpsteak, Champignons und…« Und lauter fügte er an die Frau gerichtet hinzu: »…Pommes.« »Pommes?« schrie sie zurück. »Mit einer Hand kann ich keine Kartoffeln schälen.« »Klar kannst du!« brüllte er. »Klar kannst du mit einer Hand Kartoffeln schälen, verdammt noch mal.« Sie ging unter Deck. Immer mehr Motorboote tauchten auf… doch mittlerweile war Satchel darauf vorbereitet… auf die Boote der Presse mit ihren Kameras. Darcy stellte sich in Pose. Und Satchel, der sich tunlichst aus dem Schußfeld hielt, ließ ihn gewähren. Er wartete nur noch darauf, daß Darcy sich über die Bordwand lehnen und rufen würde: »Ein Witzbold in Uniform hat mich einen Isländer genannt. Sehe ich vielleicht wie ein verdammter Isländer aus? Wollt ihr vielleicht den Blackie in der Kühlbox sehen?« Die Motorboote der Presse verschwanden. Darcy trank Scotch und wurde milder gestimmt. »Der Zwischenfall mit der Lady tut mir leid«, bemerkte er. »Landratten verstehen so was nicht. An Bord herrschen andere Gesetze… Da gibt’s immer zwei Lager. Das machen Streß und Einsamkeit.« Er deutete an den Strand, wo mittlerweile circa zweitausend Menschen herumtrampelten. Dann kam das Rumpsteak mit Champignons und Pommes frites. Darcy aß die Mahlzeit mit verschränkten Beinen an Deck sitzend. Dazu trank er etwas Scotch. Dann spielte er auf seiner Klarinette und trank noch mehr Scotch. Schließlich seufzte er zufrieden, ging zur Maschinenluke und warf den Motor an. »Ein neuer Tag bringt neues Geld«, erklärte er. Und er verdiente sein Geld redlich. Zwei Stunden später sank das Plastikfolienbündel mit vierzig Pfund Ballast mit einem sanften »Flop« unter Wasser. Satchel händigte Darcy die zweite Rate über 425 Pfund aus. Darcy nahm Kurs auf den Heimathafen. Es herrschte leichter Nebel im abendlichen Zwielicht über der Marsch, als Darcy mit dem Ewer am Kai, auf dem Satchels Benz parkte, längsseits ging. Er ließ die Frau mit der Leine an Land sprin-
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gen. Sie sprang zwar, ließ dann jedoch die Leine fallen, rannte in Richtung Riedgras davon und verschwand. Die Strömung des auflaufenden Wassers erfaßte den langen Rumpf des Ewers. Das Schiff driftete quer zur Strömung ab. Die Maschine spukte und gab den Geist auf. Satchel erwartete ein erneutes Brüllkonzert von Darcy, doch es blieb aus. Er hatte endgültig genug. »Mein Freund«, begann Darcy und nahm Satchel beim Arm. »Holen Sie nie eine Frau aus einem Londoner Slum.« Es war stockfinster geworden, bis sie endlich das Beiboot zu Wasser gelassen hatten, mit dem Darcy mit der Leine zum Kai ruderte, die Leine festmachte, zurückkehrte und dann die Winde bediente. Langsam zogen sie sich auf diese Weise an die Kaimauer heran. Schließlich hob Satchel den Kopf. Sein Blick fiel prompt auf zwei Filzhüte, die einem Streifenwagen am Kai entstiegen. »Kein Grund zur Aufregung«, bemerkte Darcy. »Die kontrollieren vermutlich nur, ob ich Hundesteuer bezahle oder ähnlichen Unsinn. Die Geldeintreiber sind wie die Kletten. Normalerweise wechsle ich immer den Standort. Dann finden sie bei der Bank meist nur schwarze Löcher…« Aber Satchel hörte ihm gar nicht zu. O Mann, dachte er. Hoffentlich haben wir das den Witzbolden in Uniform und niemand anderem zu verdanken. Doch das sollte ein frommer Wunsch bleiben. Die Filzhüte gingen unter Deck und voraus zur Kühltruhe. »Wir haben da eine interessante Information gekriegt«, erklärte ein Filzhut. »War ’ne Frauenstimme am Telefon.« Satchel ging rückwärts in Richtung Tür. Der Filzhut schlug den Deckel der Kühltruhe zurück und schob ein paar Plastiktüten beiseite. Und darunter, wo eigentlich das vordere Viertel eines Rindes hätte liegen müssen, ragte eine kaffeebraune Hand mit einer Packung Gefriererbsen hervor. Satchel bewegte sich lautlos weiter rückwärts dem Aufgang zu. »Ein Araber, Sir«, bemerkte ein Filzhut. »Verdammte Scheiße!« entfuhr es Darcy.
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»Die Leiche scheint verstümmelt worden zu sein«, erklärte der eine Filzhut. »Da hat jemand ein gutes Stück aus dem Hinterteil rausgeschnitten.« Satchels Kinnlade fiel nach unten. »Außerdem liegt da ein Zettel, Sir. Moment, was steht drauf? ›Die Verrückten gegen den Rest der Welt, 15:39.‹« Satchel nahm die Beine in die Hand und rannte. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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James McClure Der letzte Ort auf Erden Das Gebäude sog dich geradezu ein. Du wurdest von der Ambulanz eine Rampe hinuntergerollt, vorbei an Steingärten und Lilienteichen, und dann quer über einen Patio mit ungleichen Naturplatten in der Farbe von Cornflakes. Du schautest über deine Zehen hinaus, welche sich in der Ebene der grauen Decke, die dich bedeckte, wie Hügel erhoben, und sahst die riesigen Glastüren, auf denen klar und deutlich EINGANG stand. Die Schrift AUSGANG war auf keiner der Türen zu erkennen. Sie fuhren dich auf den EINGANG zu. Die Türen blieben geschlossen. Dann, mit einem lauten und überraschenden Geräusch, wie ein Taucher, der nach Luft schnappt, öffneten sie sich nach innen und ließen keine Zeit zum Denken, bis der Himmel über dir verschwand. Du sahst eine Holzdecke, Kiefernholz vermutlich, erhaschtest einen Blick auf ein Aquarium mit tropischen Fischen, und die Türen schlossen sich langsam und zischend, als bissen sie die mechanischen Kiefer zusammen. Der Besucher traf im falschen Augenblick ein. Man hatte gerade seiner Tante ein Zäpfchen eingeführt. Also ging er weiter bis zum Aufenthaltsraum der Sterbeklinik und ließ sich vor dem Fernseher nieder. Gerade lief die erste Nachrichtensendung des Abends. »Dreiundvierzig Menschen fanden bisher den Tod«, sagte der Nachrichtensprecher, »als ein Leck in einer Gasleitung eine Explosion in einem Wohnblock von South London verursachte.« Die Sterbenden, die zu beiden Seiten des Besuchers saßen, schüttelten die Köpfe und schnalzten mißbilligend mit den Zungen, und einer sagte: »Ist das nicht schrecklich? Wohin treibt diese Welt heutzutage?« Sie hatten es vergessen. Jedoch saß da auch ein alter Mann, hatte dem Fernseher den Rükken zugekehrt und spielte mit seinem Feuerzeug, dem Zigarettenpäckchen und einem dicken, gläsernen Aschenbecher, während sein Urin stetig durch ein Röhrchen in den durchsichtigen Plastikbeutel
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an seiner Seite tropfte. Dieser alte Mann sah zorniger und interessanter aus als die anderen. Also stand der Besucher auf, ging in die angrenzende Kapelle, wo Zeitschriften und Taschenbücher neben den Gesangbüchern aufbewahrt wurden, und suchte sich eine Lektüre, die als Entschuldigung dafür gelten konnte, daß er den Platz gewechselt hatte. Es war eine Ausgabe von Country Life vom Mai 1976. »’n Abend«, sagte der Besucher, als er sich dem Alten im Rollstuhl gegenüber niederließ. »Was dagegen?« Der Alte schien ihn zu ignorieren. Immer, wenn er umblätterte, senkte der Besucher die Zeitschrift und warf einen kurzen Blick über den Couchtisch. Dabei registrierte er mittelbraune, weiß gesprenkelte Brauen, dichtes, braunes Haar, das wie Matratzenfüllung aus den Ohren drang, volle Lippen, die blaß und aufgesprungen waren, mit rötlichem Schimmer in den Rissen. Er betrachtete die verwitterten Hände und die abgebrochenen und eingerissenen Fingernägel, die gezackte Narbe am rechten Handgelenk, die von Stacheldraht stammen konnte. Und er fragte sich, wo sich ausgerechnet in diesem grobknochigen Körper eine bösartige Geschwulst ausbreiten mochte. Wenn man sich Krebszellen vergegenwärtigen wollte, hatte der Arzt seiner Tante gesagt, braucht man sich nur vorzustellen, daß man eine Handvoll Distelsamen in ein Mohnbeet wirft, und daß diese Disteln wie wild zu wuchern beginnen. »Ich hab’ nur was dagegen«, sagte der Alte plötzlich, »daß ich nicht Schluß gemacht habe.« Der Besucher hob den Blick. »Schluß gemacht? Meinen Sie, mit dem Rauchen?« »Ich meine, schon eher ganz Schluß gemacht, als ich noch zu Hause war.« »Gefällt es Ihnen hier nicht?« »Bah!« »Ach, ich weiß nicht. Wenn man es vergleicht mit…« »Ich hätte draußen stehenbleiben und alles noch einmal anschauen sollen.«
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Der Besucher senkte seine Zeitschrift und beugte sich vor. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »da komme ich nicht ganz mit.« »Das Universum«, fuhr ihn der Alte an und zeigte auf die Platte des Couchtischs. »Klar? Und hier ist das, was sie das Sonnensystem nennen. Der große Aschenbecher die Sonne, die Zigaretten dieser Scheiß-Planet, und das bin ich, ein lächerlicher, armer Hund von Feuerzeug, der sich dazwischenstellt. So waren wir, Millionen und Milliarden von uns, und mein Schatten fiel auf den Boden, um es zu beweisen.« Der Besucher nickte. »Und jetzt ist der Schatten im Arsch, ja«, sagte der alte Mann. Im Aquarium mit den tropischen Fischen links von den beiden stiegen sachte die Blasen hoch. Der Besucher richtete den Blick darauf, dann schaute er sich im Raum um. Er war groß und warm und gar nicht wie in einem Krankenhaus. Die Wände und die Decke waren in skandinavischem Stil mit Kiefernholz getäfelt, die Möbel ließen an den Aufenthaltsraum in einem bequemen, wenn auch nicht allzu komfortablen Hotel denken. In einer Ecke gab es eine kleine Nische, wo stets heiße und kalte Getränke zur Verfügung standen, und rechts davon war ein Zeitungsständer mit Broschüren, die einem einen Überblick der landschaftlichen Schönheiten der Gegend, der Konzertveranstaltungen, Theateraufführungen und Ausstellungen vermittelten. Ein paar ausgestopfte Spielzeugtiere, hergestellt unter der Leitung des Beschäftigungstherapeuten der Sterbeklinik, hockten mit Glasaugen auf einem breiten Regal, und daneben lagen zwei Schachteln mit Monopoly-Spielen. Häkelkissen überall, dazwischen großblätterige Topfpflanzen. Die Beleuchtung war schwach, schattenlos und indirekt, so daß man die Lichtquellen nicht sehen konnte. »Sicher ganz bequem«, sagte der Alte, während er selbst sich ebenfalls umsah, und zuckte mit den Schultern. »Aber auch ein bißchen enttäuschend – ich meine, wenn einem klar wird, daß das der letzte Ort ist auf Erden.« Dann trat eine grauhaarige Frau, die einen karierten Kittel über eintöniger Straßenkleidung trug, an den Besucher heran und sagte: »Tut mir leid, daß Sie warten mußten, aber Ihre Tante ist jetzt bereit, Sie zu empfangen.«
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Die Tante des Besuchers winkte grüßend seinem Spiegelbild im Fenster zu, als er das Zimmer hinter ihrem Rücken betrat. Sie mußte die meiste Zeit auf der rechten Seite liegen wegen der Drainage an ihrer linken Seite. »Mein Lieber«, sagte sie, »du meine Güte, sind die für mich?« Er streckte ihr das Bouquet in der durchsichtigen Verpackung des Blumenladens entgegen und fragte sich, warum ihr Blick kurz zur Seite schweifte, bevor sie sie dann ein zweites Mal anschaute. »Oh, Nelken«, sagte sie. »Wie schön. Und so wunderbar rot…« »Sie sind von uns beiden, Tante Judith, und ich soll dir auch die besten Grüße von Chloe bestellen.« »Grüß sie und gib ihr einen Kuß von mir, Richard, und sag ihr, wie sehr mich die Blumen freuen. Sei so lieb und sieh nach, ob du die freiwillige Helferin findest, damit man sie gleich in eine Vase stekken kann.« »Die Ausländerin mit dem karierten Kittel?« Seine Tante nickte. »So ausländisch ist sie auch wieder nicht«, schalt sie, weil sie die überkommenen Vorurteile ihres Neffen kannte. »Mrs. Daventry ist schon kurz nach dem Krieg nach England gekommen. Hat sie nicht ganz wunderbare, tiefbraune Augen?« »Sie sieht aus wie…« begann er und brach dann schnell ab. Da liegst du und willst schreien, aber der Krebs hat dich an der Gurgel. Ein schlimmeres Entsetzen erschien dir undenkbar, nachdem du die erste, fast geflüsterte Diagnose hinter dir hattest. Dieser Augenblick, als dir eine sehr junge Ärztin mit hübsch zitternder Unterlippe ein Röntgenbild in die Hand drückte und dich als Mann der Wissenschaft darum bat, einen Blick darauf zu werfen. Ein Blick hatte genügt, und dir war vor der Zeit die Stimme weggeblieben. Du hattest nicht einmal mehr ein Krächzen hervorgebracht. Und doch gab es dieses neue Entsetzen, weit schlimmer als alles zuvor, und, das Schlimmste: Du kanntest nicht einmal den Grund dafür. Genausowenig wie du bezeichnen konntest, was du gesehen hattest und was dieses Entsetzen verursachte.
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»Das ist mein Neffe Richard«, sagte die Tante des Besuchers, als Schwester Braithwaite hereinkam, still wie eine Nonne. »Er hat mir die Nelken gebracht.« »Wunderbar«, sagte Schwester Braithwaite und schnüffelte daran. Der Besucher mußte ein Lachen unterdrücken. Es gab nur einen einzigen Geruch in dem Raum, – nichts konnte ihn überdecken, und niemand konnte ihn mit dem Duft von Nelken verwechseln. »Und wie geht es Mr. Joliffe heute?« fragte seine Tante. »Mir fehlen unsere netten kleinen Gespräche sehr.« Schwester Braithwaite schaute ihr sehr direkt in die Augen. »O mein Gott, ist er?« fragte seine Tante. »Dann liegt jetzt jemand anders in seinem Zimmer?« »Ja, ein Professor.« »Ach, tatsächlich? Doch nicht etwa aus Oxford? Mein seliger Gatte…« »Von der Universität Leicester, glaube ich«, sagte Schwester Braithwaite und zog sich zur Tür zurück. »Ach, du meine Güte, fast schon Zeit für die Medikamentenrunde.« Der Besucher hielt das für sein Stichwort, um auf die Armbanduhr zu schauen. »Halb sieben schon! Chloe wird sich…« »Geh nur, mein Lieber«, sagte seine Tante. »Es war ein hübsches kleines Gespräch, aber ich bin jetzt, ehrlich gesagt, ein bißchen müde.« Und sie schaute ihn dabei sehr vorwurfsvoll an. »Mrs. Daventry hat der Leitung der Freiwilligenhilfe mitgeteilt, daß sie kündigen möchte«, berichtete Lernschwester Pam Clement Schwester Braithwaite im Tagesflügel, wohin sie sich zu einer kleinen Zigarettenpause zurückgezogen hatten. »Ich habe vor nicht einmal fünf Minuten zufällig das Gespräch mitgehört, das sie mit der Leiterin führte, die schon zu Hause ist.« »Das ist aber ein Blitz aus heiterem Himmel!« sagte Schwester Braithwaite und öffnete ihre silberne Gürtelschnalle. »Zur Teezeit war sie noch fröhlich und munter – von allen Freiwilligen ist sie die einzige, die mir hier fehlen würde.« Lernschwester Clement nickte. »Sie zeigt nicht die Spur einer verdammten Wohltäterin.«
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»Sie hat Einfühlungsvermögen. Ich weiß nicht besonders viel über Mrs. Daventry, aber eines ist klar und deutlich zu erkennen: Diese Frau hat schon sehr viel mitgemacht.« »Um so seltsamer, daß sie plötzlich alles hinschmeißen will.« »Tun wir das nicht alle? Ich schreibe fast täglich in Gedanken meinen Kündigungsbrief.« Die zwei Frauen lachten und zündeten sich die Zigarette mit einem Streichholz an. »Ich werde mal mit ihr reden«, sagte Schwester Braithwaite. »Vielleicht könnte sie eine Weile unsere Streß-Gruppe besuchen. Ich verstehe nicht, warum das auf gelernte Schwestern beschränkt sein soll.« »Gott«, seufzte Lernschwester Clement und fuhr sich mit der Hand über das sommersprossige Gesicht. »Was weiß man denn inzwischen über den Neuen?« »Gelähmt, Kehlkopfkrebs, spinale Metastasen, keine Angehörigen, Augen, die Löcher in einen bohren, fast wahnsinnig vor Angst und Entsetzen…?« »Mhm. Ein Professor Dingsda.« »Aber der macht es nicht mehr lang. Hast du die gewaltige Dosis Morphium gesehen, die er bekommt?« Du schluckst dein Morphium und träumst wirbelnde, chaotische Träume mit Augenblicken schriller Klarheit dazwischen. Gesichter. Tausende von Gesichtern, ein jedes mit offenem Mund. Wenn sie schreien, kannst du es nicht hören. Ein Gesicht kehrt immer wieder, dreht sich vorbei, lächelt. Dann ein großer, leerer Strand und eine große Stille, nur draußen am Meeresufer bohrt ein Krebs seine Scheren in den Hals eines mit den Flügeln schlagenden Adlers. Dieses eine Gesicht. Du erwachst, und es schaut dich an. Am nächsten Abend kam der Besucher wieder um acht, um seine Tante zu besuchen, doch zuvor machte er einen Abstecher in den
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Aufenthaltsraum. »Und wie war es heute?« fragte er den alten Mann im Rollstuhl. »Langweilig«, sagte der Alte. »Keine Blumen?« »Pralinés. Wieso ›langweilig‹?« »Todlangweilig«, sagte der Alte und kicherte über die Miene des Besuchers. »Sie erinnern mich«, fügte er hinzu, »an den schleimigen Doktor, der ans Bett kommt, sich die Hände reibt, als würde er sie einseifen, und mich fragt: ›Na, William, wie geht es uns heute?‹ Und ich sage: ›Ich könnte sterben, um hier rauszukommen, Doktor.‹ Sie hätten sein blödes Gesicht sehen sollen.« Der Besucher lachte. »Sie sind vielleicht ein Typ.« »Nein, bin ich nicht. Ich bin ein Sterbender, mein Sohn. Und im Gegensatz zu Ihnen weiß ich auch schon, woran ich sterben werde. Da ist kein Spielraum mehr für die Phantasie.« »Und das langweilt Sie?« »Ja, ein bißchen.« Der Alte nickte der Gruppe zu, die sich um den Fernseher versammelt hatte. »Für die meisten ist es eine Erleichterung, das zu wissen. Sicher, es macht dir angst, es bringt dich auf die Palme, es versaut dir sogar die Religion, wenn du auf so was stehst, aber trotzdem fällt dir ein Stein vom Herzen – Sie verstehen, zu wissen, daß es kein Verkehrsunfall sein wird, kein schmerzhaftes Festgeklemmtsein im Autowrack oder ein Ferienflug ins sonnige Spanien, der an einem Berg endet. Ich persönlich hatte da ganz andere Hoffnungen.« Der Besucher merkte, daß ein Funke des gestrigen Zorns in den Alten zurückkehrte, daß er die aufgesprungenen Lippen leicht schürzte. »Und was waren das für Hoffnungen?« fragte er. »Die gleichen wie die Ihren, mein Sohn! Mit Krach und Bravour, bis dir das Herz springt, und das Mädchen unter dir heizt dir einfach weiter ein!« Der Besucher errötete und zeigte ein schiefes Lächeln. »Einen Augenblick lang habe ich gedacht, daß Sie Gedanken lesen können«, sagte er. »Sie haben nicht nur Pralinés.« »Wie bitte?«
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»Sie haben auch ein Stück Papier dabei«, sagte der Alte mit einem Funkeln in seinen wäßrigen Augen. »Ein Papier, das die alte Lady unterschreiben soll…« Der Besucher starrte ihn an, drehte sich um und ging mit hochroten Wangen davon. »Ich habe heute morgen mit Mrs. Daventry gesprochen«, sagte die Leiterin der freiwilligen Hilfsorganisation, die von zu Hause telefonierte, »und ich nehme an, daß sie neulich besonders übermüdet gewesen sein muß. Sie sagte mir, daß sie wie üblich weiter als freiwillige Helferin tätig sein wird.« »Sind Sie sicher, daß es nur das war?« fragte Schwester Braithwaite, während draußen auf dem Korridor Mrs. Daventry vorbeiging. »Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, Schwester.« »Fein. Und übrigens, eine unserer freiwilligen Fahrerinnen hat einen Tagespatienten heute nachmittag einfach hier vergessen.« »Doch nicht wieder diese verflixte Frau des Vikars! War der Patient vielleicht Mr. Gibb?« Du wußtest, was das neue Entsetzen war. Wochenlang hattest du dich darauf vorbereitet, eines natürlichen Todes zu sterben, und so unnatürlich das klingen mag, es war etwas, worauf man sich einrichten konnte. Niemand hatte das Recht auf eine bestimmte Anzahl von Lebensjahren, nur auf die Spanne, die ihm zugestanden war, und das war es, was man von ihm – unter Mitwirkung der Sterbeklinik – erwartete. Aber dann wurde dir klar, daß du dich nicht einmal darauf verlassen konntest. Deine Träume sagten es dir. »Professor«, sagte eine Schwester und beugte sich über das Bett, so daß du sie sehen konntest. »Sehen Sie, ich bringe Ihr Morphium.« Du schließt den Mund, preßt die Lippen zusammen. »Sie sind aber sehr töricht! Wir müssen doch die Schmerzen in Schranken halten. Sie wollen nicht noch mehr Schmerzen, oder?« Du nickst. »Sie wollen kein Morphium?« Du nickst wieder.
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Die Stationsschwester kam herein und gab dir dein Morphium, nicht oral, sondern durch eine Injektion. Dann warf sie die Spritze weg. Die Schmerzen ließen nach, und die Träume begannen. Es gab keine Möglichkeit, sie anzuhalten oder ihnen zu entrinnen. »Was hat mein Haus damit zu tun, daß ich hier drinnen bin?« fragte Tante Judith nachdrücklich. Der Besucher wechselte rasch das Thema. »Ach übrigens, wie geht es deinem neuen Nachbarn?« »Dem Professor?« fragte sie, und ihre Miene hellte sich auf. »Genau. War er schon hier, um dich zu besuchen, wie Mr. Joliffe?« »Du liebe Güte, nein. Er ist bewegungsunfähig, sagte mir Madge, und kann auch nicht sprechen. Das Erstaunliche ist, daß er sein ganzes Leben der medizinischen Forschung gewidmet hat, und zwar der Behandlungsmöglichkeit für diese, eben diese, du weißt schon… Krankheit zu finden.« Der Besucher fand, daß seine Tante dem Wort nicht ausweichen sollte. »Du meinst, ein Mittel gegen Krebs?« Sie nahm sich wieder ein Praliné. »Ja, Ironie des Schicksals«, sagte der Besucher. »Das macht es wahrscheinlich noch schlimmer, ich meine, wenn man selbst Mediziner ist und alle Möglichkeiten, die Symptome et cetera kennt und weiß, was man dagegen tun kann und was nicht. Ich bin sicher, mir wäre es lieber, darüber im unklaren gelassen zu werden.« »Ich will nicht im unklaren gelassen werden«, sagte seine Tante, die plötzlich Gefühlsstärke zeigte. »Ich war sehr ärgerlich, als gestern abend diese Schwester versuchte, das Licht auszuschalten, bevor ich…« »Hallo, mein Entchen!« sagte eine breite, gemütliche Frau, die den Wagen mit Getränken hereinschob. »Kakao, zwei Stück Zucker, in einer Schnabeltasse? Oder ist es der Abend, an dem Sie einen Tropfen von etwas Stärkerem bekommen?« Dazu blinzelte sie kokett wie eine Barfrau. »Madge, Sie sind wirklich unglaublich!« rief Tante Judith entzückt. »Was soll mein Neffe von mir denken, was glaubt er, daß ich hier bekomme?«
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Etwas war nicht in Ordnung. Schwester Braithwaite hatte dieses Gefühl schon einmal erlebt, als junge Hilfsschwester in einem Missionskrankenhaus in Afrika, und am nächsten Morgen fehlten ein einäugiger Krankenpfleger und zwei Waisenkinder – er hatte die Babys gestohlen, um sie für Buschdoktor-Medizin zu verkaufen, hatten die afrikanischen Hilfskräfte gemurmelt. »Ein Penny für deine Gedanken, Sue«, flüsterte Lernschwester Clement, als sie am Fenster vor ihrem Schreibtisch vorbeikam. »Wie bitte?« fragte Schwester Braithwaite ziemlich brüsk. »Ach, laß nur…« sagte Lernschwester Clement, zuckte mit den Schultern und ging weiter. Ärgerlich über ihr eigenes, unhöfliches Benehmen und darüber, daß sie sich einer Laune hingegeben hatte, die sie selbst nicht erklären konnte, stand Schwester Braithwaite auf und hoffte, es damit wiedergutzumachen, daß sie sich um ein paar der externen Tumore selbst kümmerte. Pam Clement hatte in der Streß-Gruppe bekannt, daß sie sie besonders abstoßend fand. Ein ungewohnter Geruch aus dem Umkleidezimmer des Personals ließ sie stehenbleiben und hineinschauen. Lernschwester Wong tupfte sich einen Fleck an ihrem Mantel ab – mit einem Wattebausch, den sie in einen Fleckenentferner getaucht hatte. »Ach, das ist es!« sagte Schwester Braithwaite. »Schwester? Meine Fahrradkette ist herausgesprungen, und ich war zuletzt von oben bis unten voll mit Schmiere. Da ist mir diese Flasche Fleckenwasser eingefallen, und…« »Haben Sie das Fahrrad reparieren können? Wenn nicht, rufen Sie die Wach- und Reparaturabteilung…« »Es geht schon wieder, danke, Schwester.« Schwester Braithwaite blieb in der Tür stehen und wünschte sich, das Klischee vermeiden zu können, aber sie fand Theresa Wong irgendwie rätselhaft und undurchdringlich. Das hübsche, herzförmige Gesicht und der rote Kirschenmund deuteten niemals an, was dahinter im Kopf vor sich ging. Außerdem lehnte sie jede Einladung zur Streß-Gruppe höflich, aber bestimmt ab. »Es ist mir aufgefallen, als ich heute abend herkam«, sagte Schwester Braithwaite, »daß Ihre Kardex-Aufzeichnungen über den Profes-
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sor ein bißchen – nun ja, ein bißchen knapp sind. Diese Notizen dienen dazu, uns alle auf dem laufenden zu halten.« »Es tut mir sehr leid, Schwester.« »Warum waren sie so spärlich? Hatten Sie Probleme mit dem Patienten?« »Er ist…« »Ja, sprechen Sie, meine Liebe…« »Er ist unheimlich, Schwester«, sagte Lernschwester Wong, sehr gelassen und völlig undurchsichtig. Und wieder überkam Schwester Braithwaite dieses Gefühl eines unbestimmten Unbehagens. Du träumtest von Krankenstationen und Operationssälen, von großen Schmerzen und unerträglichem Leiden. Aber du fühltest nichts. Der Krebs, in seinem Kopfschmuck mit den Adlerfedern, saß auf dem Felsblock. Der Besucher machte sich auf den Weg zum Ausgang und mußte daran denken, daß einem das Innere der Sterbeklinik manchmal wie ein Raumschiff vorkam. Auf den einzelnen Stationen gab es ähnliche Gänge, es gab das Summen unsichtbarer Maschinen, die Küche, fast so klein wie in einem Flugzeug, winzige Vorratsschränke, in denen alles untergebracht war, von den Bettlaken bis zum Ginger Ale, alles ordentlich verstaut, und vor den Fenstern – die Ewigkeit. Er warf einen Blick in ein Krankenzimmer und sah den alten Mann, der die Hand hin und her bewegte vor der Glühbirne in seiner Leselampe. Der Alte blickte sich um. »Ich hab’ vorbeigeschaut, um Ihnen gute Nacht zu wünschen«, erklärte der Besucher. »Dachte, es sei Mrs. Daventry.« »Ach ja, die freiwillige Helferin.« »Tolles Ding, die Daventry«, sagte der Alte. »Nur, sie hat komische Gewohnheiten.« Der Besucher betrat sein Zimmer. »Was denn, zum Beispiel?« »Sie schreibt Telefonnummern auf ihre Haut.«
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Enttäuscht erwiderte der Besucher mit vorwurfsvollem Lachen: »Aber das mach’ ich selbst auch gelegentlich.« Und er tat so, als kritzelte er sich etwas auf seinen linken Handrücken. »Aber sie schreibt sie nicht auf ihre Hand«, sagte der Alte. »Gute Nacht.« »Das Erstaunliche an der Sache, Schwester«, sagte Dr. MurphyJones, der Facharzt, »ist die Tatsache, daß sich der Professor scheinbar entschlossen hat, am Leben zu bleiben.« Sie seufzte. »Er überrascht mich häufig, dieser Wille zum Leben.« »Aber als ich ihn bei der Einlieferung sah, schien er völlig resigniert zu haben. Hat er Besuch gehabt, jemanden, der ihn vielleicht…« »Keinen einzigen. Der Professor hat keine Angehörigen und Freunde, wie Sie wissen.« »Und er hat auch nie versucht, etwas auf seinen Block zu schreiben?« »Er hat das Schreibzeug nicht berührt. Wir haben buchstäblich seit seiner Einlieferung kein Wort von ihm.« »Seltsam, sehr seltsam. Und, unter uns gesagt, auch ein bißchen peinlich. Ich hatte angenommen, daß wir das Bett zum Wochenende frei hätten.« »Seine Lebensqualität ist nicht…« »Sie haben ganz recht. Vielleicht sollten wir die Dosis ein wenig erhöhen.« Dir war so kalt, du lagst da, schweißgebadet und zitternd vor Kälte. Kalt wie ein nackter Mann auf einer Bahre, draußen im Schnee. Du hast dich an den Brief erinnert. »Ich interessiere mich sehr für die Experimente mit animalischer Wärme. Persönlich bin ich der Meinung, daß diese Experimente vielleicht die besten und überraschendsten Ergebnisse bringen könnten.« Du hast dich an den Brief erinnert, weil du die Wärme gefühlt hast. Die Wärme, wie sie in dich einsickerte. Der Besucher brachte seine Frau Chloe, seine andere Tante und eine entfernte Kusine mit. Die Sterbeklinik hatte ihnen mitgeteilt, daß die Patientin einen unerwarteten Rückfall erlitten habe. 83
Schwester Braithwaite, die sich wie eine Nonne bewegte und den Duft von Pfefferminze ausströmte, erwartete sie vor dem Aufenthaltsraum. »Es kann schon in dieser Nacht so weit sein«, sagte sie. »Wenn jemand hierbleiben möchte, wir haben ein Gästezimmer – außerdem können in der Kapelle Betten aufgestellt werden.« Sie nickten dankend. »Wenn Sie jetzt mitkommen wollen«, sagte Schwester Braithwaite. Der alte Mann beobachtete sie vom Aquarium aus. Er hob grüßend seine narbige Hand, und der Besucher lächelte. Gott allein wußte, warum, aber es tat gut, den Alten zu sehen. Als der Besucher das Krankenzimmer seiner Tante erreicht hatte, warf er einen Blick in das Zimmer, das genau gegenüberlag. Ein magerer Mann, kalkweiß, zitterte im Schlaf und machte unanständige Bewegungen. »Es wird in einer dieser Nächte soweit sein, Pam«, sagte Schwester Braithwaite; das Kantinenessen hatte bei ihr wieder angesetzt, und ihre silberne Gürtelschnalle schnitt in die Taille ein. Lernschwester Clement knurrte: »Meine Güte, sagen Sie das nicht! Mrs. Grosvenor, der Neuzugang, hat mit dem Delirium begonnen.« »Ich glaube, ich hole Dr. Murphy-Jones herunter.« »Er muß sowieso früher oder später kommen, also holen Sie ihn ruhig.« »Ich hatte noch keinen freien Augenblick, um mir das Kardex genauer anzusehen – gibt es irgendwelche besonderen Probleme?« »Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Lernschwester Clement. »Die Morphin-Therapie hat den alten William anscheinend aufgeregt. Mir scheint, daß die Notizen von Tess Wong über den Professor ein bißchen seltsam sind.« »Ja, ich habe erst gestern abend mit ihr darüber gesprochen.« »Ach?« »Sie waren zu flüchtig.« »Nein, nicht flüchtig, sondern seltsam. Seltsam, Sue.« »In welcher Hinsicht?« »Ich habe nie – ach, ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
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Tante Judith, obwohl sehr geschwächt, hatte sich eine gebieterische Haltung zugelegt. Mit einer schwachen Handbewegung wischt sie die Aufmerksamkeiten ihrer Familie beiseite und verlangte von Madge, daß sie Mrs. Daventry holen sollte. »Ich glaube, daß sie inzwischen nach Hause gefahren ist, mein Entchen«, sagte Madge. »Aber ich schaue im Umkleideraum nach; vielleicht können wir sie noch erwischen.« Mrs. Daventry kam herein, zum Gehen gekleidet, eine Handtasche bei sich. Sie nickte freundlich in die Runde, dann trat sie ans Bett und nahm Tante Judiths Hand. Kein Wort wurde gesprochen, aber das Gesicht der Sterbenden war auf einmal ruhig, und sie lächelte sogar. Der Besucher stellte Mrs. Daventry einen Stuhl neben das Bett. Dann betrachtete er sie verstohlen. Die Frau war schätzungsweise Mitte Fünfzig, schlank, mit etwas rachitischen Beinen wie jemand, der früher einmal über längere Zeit schlecht ernährt worden ist, und mit rabenschwarzem Haar, das sich deutlich von ihrem blassen Gesicht mit den hohen Backenknochen absetzte. Ihre braunen Augen waren wirklich bemerkenswert: groß und strahlend, dazu tief wie zwei Brunnen. Brunnen, die mit Tränen gefüllt waren, fügte er in Gedanken hinzu, bevor er sich schalt wegen dieser rührseligen Sentimentalität. Aber er konnte nicht sehen, wo sie sich Telefonnummern auf die Haut schrieb, sosehr er sich auch bemühte. Schwester Braithwaite saß an ihrem Schreibtisch am Korridor und betrachtete die Notizen über den Professor, die Lernschwester Wong angefertigt hatte. Diesmal waren sie wirklich wesentlich umfangreicher als tags zuvor. Sie vermittelten eine gute Vorstellung davon, wie der Professor die letzten acht Stunden verbracht hatte, als Person und als Organismus im Kampf gegen die Krankheit. Sie besagten, kurz ausgedrückt, daß er Zeichen großer Aufregung von sich gegeben hatte, körperlich aber keine Verschlechterung festzustellen war. Was Pam Clement als den »unheimlichen« Teil bezeichnet hatte, stand in Klammern am Ende des Berichts.
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(Beobachtung: Als ich um 16.20 Uhr nach dem Patienten schaute, schlief er auf der rechten Seite mit dem Gesicht zur Tür, und dabei zitterte er. Ich fühlte an seinem Arm, aber er war nicht kalt. Dennoch maß ich seine Temperatur, und sie war normal. Ich bemerkte einen Eindruck auf seinem Bett, auf der anderen Seite. Die Decke war eingedrückt und faltig von den Schultern bis zu den Füßen. Ich glättete die Decke und ging wieder hinaus.) Dir war kalt. Man hatte dich aus dem Wasser gezogen mit einer rektalen Temperatur von dreißig Grad. Du lagst auf einem breiten Bett. Zwischen zwei nackten Frauen. Und der Krebs schrieb in den Sand. Er schrieb: »Sobald die Testpersonen ihr Bewußtsein wiedererlangten, verloren sie es nie mehr, wobei sie rasch ihre Situation begriffen und sich an die nackten Körper der Frauen drückten. Die Körpertemperatur erhöhte sich dann ungefähr in der gleichen Geschwindigkeit wie bei Testpersonen, die man in Decken gehüllt hatte.« Du hast es gelesen und das Geschriebene bestätigt, aber auf bestimmte Ausnahmen von der Regel hingewiesen. »Eine Ausnahme«, schrieb der Krebs mit seiner Schere, »bildeten vier Testpersonen, die zwischen dreißig und zweiunddreißig Grad Celsius Geschlechtsverkehr betrieben. Bei diesen Personen wurde nach dem Koitus ein sehr schneller Temperaturanstieg festgestellt, vergleichbar etwa mit dem eines Bades in heißem Wasser.« Ja, ja, stimmtest du zu, und doch gab es eine noch bemerkenswertere Ausnahme als diese, Dr. Rascher – woraufhin tausend Kampfpiloten, die sich im eisigen Wasser der Nordsee aufgehalten hatten, in den von dir entwickelten Spezialanzügen, applaudierten. »Chloe, das ist der alte Herr, von dem ich dir erzählt habe«, sagte der Besucher. »Mr. William – äh – tut mir leid, aber Ihren Familiennamen kenne ich nicht.« »Atkins, mein Sohn, wie der berühmte Tommy Atkins, und nicht viel besser dran heute als er damals, an der Somme!«
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»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Atkins«, sagte die Frau des Besuchers, die blaß war hinter der Schminke auf dem glatten, harten Gesicht. »Darf ich mich setzen?« »Vielleicht auf meinen Schoß, Liebste?« Aber sie lehnte ab, mit einem häßlichen Lachen, und ließ sich gegenüber dem Rollstuhl nieder. »Ich mußte einfach eine Weile rausgehen«, sagte sie und fächelte sich Luft zu mit einer Nummer von Woman’s Own. »Es ist so – ja, so deprimierend.« »Wie ich sehe, haben die anderen, die mit Ihnen gekommen sind, schon die Flucht ergriffen«, sagte der Alte. »Haben Sie nicht das Taxi kommen lassen?« Der Besucher nickte. »Für die ist es noch schlimmer, weil sie aus der gleichen Generation stammen«, erläuterte er. »Kann ich euch beiden etwas zu trinken besorgen? Kaffee vielleicht, oder Tee?« »Nein, ich kümmere mich darum, Richard«, sagte Chloe. »Du gehst besser zurück zu deiner armen Tante Judith.« »Mrs. Daventry ist bei ihr, also sehe ich nicht ein…« »Na, geh schon, Richard«, sagte sie leise in ihrem besonderen Ton. Er ging. Seine Tante war allein. »Mrs. Daventry ist kurz weggegangen, um der Schwester zu sagen, daß sie die Nacht über hierbleibt«, sagte Tante Judith. »Sie ist eine Witwe, weißt du, deshalb macht es ihr nicht viel aus.« Kurz vor dem Erwachen änderten sich die Träume. Du warst in einem mit Schnee gefüllten Loch zusammen mit einem toten Pferd, und hinter dem Stacheldraht stieg fettiger, schwarzer Rauch in den Himmel. Noch nie hattest du solche Kälte gefühlt. Du warst am Erfrieren. Dann die Flucht. Das Töten. Du hattest die Kleider eines anderen an, trugst den Namen eines anderen. Wenn du immer auf der Hut warst, würdest bald nur du allein von den Unterschieden zwischen dir und dem anderen wissen. Und wenn du auf der Hut warst, würde man dich willkommen heißen, würde man dir das Leben eines anderen geben, ein Leben, das
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du auf der Stelle beginnen konntest. Leicester University. Unglaublich. Und doch ständig auf der Hut. Ständig auf der Flucht. Nie weit genug. Im nachhinein entschloß sich Schwester Braithwaite, Mrs. Daventry zu fragen, ob sie wirklich noch die Kraft hatte, auch noch die Nacht dranzuhängen, nachdem sie schon den ganzen Tag in der Klinik verbracht hatte. Also verließ sie ihren Schreibtisch und rannte ihr nach, sah, wie Mrs. Daventry vor dem Zimmer des Professors stehenblieb, zögerte und dann hineinging. Als sie selbst das Zimmer erreicht hatte, stand Mrs. Daventry am Fußende des Betts, massierte sich die Arme, und der Professor starrte sie an, die Augen riesig in dem eingefallenen Gesicht. »Wir sind also wieder wach?« fragte Schwester Braithwaite, während sie das Krankenzimmer betrat. »Ich nehme an, Sie kennen Mrs. Daventry bereits.« Zu ihrer Überraschung schüttelte er heftig den Kopf. »Ja, hellwach«, sagte Mrs. Daventry. »Das ist mir auch aufgefallen.« »Sie haben heute mehr getan als das Menschenmögliche«, sagte Schwester Braithwaite. »Finden Sie nicht, daß diese Familie zuviel verlangt von Ihnen?« »Nein, nein, ich habe die Kraft, Schwester. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen…« Schwester Braithwaite sagte, als sie allein waren, zu dem Patienten: »Sie ist eine Heilige, diese Frau – ich hätte nie gedacht, daß ich das einmal im Leben über jemanden sagen würde.« Der Professor wandte den Kopf ab und starrte aus dem Fenster hinaus in die dunkle, leere Nacht. »Ich ziehe die Vorhänge zu«, sagte Schwester Braithwaite. Der Besucher blickte hoch und war erschüttert über den Ausdruck auf dem Gesicht seiner Frau. »Großer Gott, Chloe«, flüsterte er, »was ist denn geschehen…?«
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»Richard, bring mich augenblicklich nach Hause.« »Aber Tante Ju…« »Der Teufel soll diese verdammte Tante Judith holen!« zischte sie, und ihr Gesicht war kalkweiß. »Bring mich augenblicklich hier raus.« Also sprang er auf, wurde aber beruhigt, als Mrs. Daventry eine Hand auf seinen Arm legte. »Sie können ja später zurückkommen«, sagte Mrs. Daventry, »oder auch nicht, ganz, wie es Ihnen gelegen erscheint. Ihre Tante wird unter meiner sicheren Obhut stehen.« »Danke«, sagte er. »Vielen Dank.« Und er hätte sie am liebsten umarmt, seine Gefühle waren in völligem Aufruhr. Chloe grub ihre langen Fingernägel in seine Hand, als er sie den kurzen Gang nach rechts und dann nach links führte, in Richtung auf den Aufenthaltsraum und den Ausgang. »Nein!« sagte Chloe plötzlich und blieb stehen. »Ich komme ihm nicht mehr in die Nähe, diesem gräßlichen alten Mann.« »Aber es gibt keinen anderen Weg nach draußen, also sei vernünftig! Und was meinst du mit…« »Richard.« Er drehte sich um und ging mit ihr in die andere Richtung, noch immer sehr verwirrt. Dann, als er an zwei Rollstühlen vorbeikam, die neben anderen Geräten auf dem Korridor standen, begriff er plötzlich, und er begann zu lachen. Ein grausames Lachen, aber zum Teufel damit, Chloes Kaltblütigkeit war eine bittere Enttäuschung für ihn. Du warst wach, der Krebs hatte dich an der Kehle gepackt, und der Traum ging dennoch weiter. Aber es war kein Träumen, sondern ein Erinnern. Diese letzte, faszinierende Ausnahme, Dr. Rascher, war, wie du selbst es geschrieben und ich selbst es bestätigt hatte, die Tatsache, daß eine Frau einen erfrorenen Mann leichter erwärmen konnte als zwei Frauen. In deinem Bericht hieß es: »Ich schreibe dies der Tatsache zu, daß beim Aufwärmen durch eine Frau persönliche Hemmungen umgangen werden und die Frau sich enger an die unterkühlte
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Person schmiegt. Auch hier kam die Rückkehr des vollen Bewußtseins bemerkenswert schnell.« »So«, sagte die Stationsschwester, »jetzt ist alles wieder ordentlich und sauber, und es ist Zeit für die Medizin.« Du hast den Kopf geschüttelt. Und spürtest den Stich einer Nadel. Bzzzzzzzt – bzzzzzzzt – bzzzzzzzt… Sobald ein Patient den Knopf gedrückt hatte, war das dröhnende Summen überall zu hören, bis jemand den Alarm abschaltete und nachsah, was die Ursache war. Manchmal war die Ursache nur allzu klar. Schwester Braithwaite lief in die eine Richtung, hörte, wie der Summer aufhörte und neu einsetzte. Das bedeutete, daß ein zweiter Patient Hilfe brauchte, also drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte in die andere Richtung, um nachzuschauen, was das sein konnte. Sie kam an einer Tür vorbei und sah, wie Mrs. Daventry still neben dem Bett saß und die Hand der alten Frau hielt. Es war nicht mehr als ein flüchtiger Blick, aber er hinterließ einen sonderbaren Eindruck: Mrs. Daventrys Gesicht wirkte verhärtet, und die Augen glänzten kalt wie Eis. Es mußte ein Streich sein, den ihr das Licht spielte. Der Krebs hatte sich aus einer der Adlerfedern eine Schreibfeder gemacht. Damit begann er Zahlen aufzumalen. Blaue Zahlen. Reihen von Zahlen. Dann lief er den Strand entlang und grub und warf den Kies zur Seite, um experimentelle Knochentransplantate und GasbrandWunden ans Licht zu befördern, die alle faszinierend waren. In den Senken wuchsen büschelweise – und einsatzbereit – die Giftpatronen, und direkt vor ihm verschluckte eine Seeanemone eine tödliche Dosis Typhusbakterien. Unten, am Rand des funkelnden Wassers, zwang man Zigeunerinnen, zu demonstrieren, wie lange sie von Salzwasser leben konnten. »Krebs!« hast du geschrien. »Krebs, ich hab’ dich nie in Ravensbrück gesehen!« Bzzzzzzzt – bzzzzzzzt – Bzzzzzzzt… 90
Da war es wieder, schon wieder ging es los! »Ich gäbe was drum für einen einzigen Zug«, murmelte Lernschwester Clement. »Not tonight, Josephine«, murmelte Schwester Braithwaite und schob den Wagen mit dem Verbandsmaterial vor sich her. »Wie schafft es Mrs. Daventry drüben auf der anderen Seite?« »Ich hatte noch keinen Moment Zeit, um nachzusehen.« »Sie wird klingeln, wenn sie uns braucht.« »Wo, zum Teufel, ist dieser verdammte Doktor Murphy-Jones?« »Psst, Lernschwester. Das ist nicht der Ton, in dem man vom lieben Gott persönlich spricht.« »O doch, nämlich dann, wenn er einem die ganze Dreckarbeit überläßt!« Jetzt kreisten die Raben, und der Krebs war in Deckung gegangen. Eine Winterlandschaft, der Schnee draußen warf weißes Licht durch die vergitterten Fenster und erhellte den ganzen Raum, daß er strahlte wie eine Hochzeitssuite. Auf dem Bett, frisch aus dem Schnee, mit einer Rektaltemperatur von dreißig Grad Celsius, ein kräftiger, junger Pole. An ihn gedrückt eine magere Frau mit schwarzem, glänzendem Haar, auch sie nackt und zitternd. Der Mann erwärmte sich langsam. Man konnte sehen, daß die Frau aus einem armen Milieu stammte, an Rachitis gelitten hatte. Man konnte ihr Gesicht studieren und fand darin Spuren des Untermenschlichen. Man hätte notfalls Zeit gehabt, sich jede Falte und jedes Grübchen einzuprägen. Es war nicht nötig, aber es mußte wohl geschehen sein. »Mein Gott!« platzte Dr. Rascher vor Lachen. »Dieses Vieh glaubt, daß es im Himmel aufwacht. Da, sehen Sie…« Alle sahen zu und grinsten. Der Pole hatte leise murmelnd die Frau an sich gezogen und weinte jetzt, als er an ihren flachen Brüsten sog, während sich seine Hüften bereits in Bewegung setzten. »Temperatur?« fragte Dr. Rascher. Du schautest auf die Anzeige und sagtest laut: »Zweiunddreißigeinhalb, steigend!« »Steigend, kann man wohl sagen«, echote Dr. Rascher und kicherte.
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Der Kerl rollte sich auf die Frau. Sie flüsterte leise, küßte sein Ohr und öffnete die Beine, ließ ihn willig eindringen. Dr. Rascher riß Augen und Mund auf. »Was ist das? Selbst hier macht es ihr noch Spaß?« »Ich glaube«, sagte der Kameramann, »er tut ihr einfach leid, das ist alles. Sie weiß ja, daß er die Benzinspritze bekommt, wenn es vorbei ist.« »Perverses Schwein!« zischte Dr. Rascher, dann kicherte er wieder. »Diese Polen…! Sehen Sie zu, daß man das Weib für mich aufhebt; da ergeben sich bestimmte Möglichkeiten…« »Dreiunddreißig!« hast du gerufen. »Ja, sie muß gut gehalten und gefüttert werden«, befahl Rascher. »Ich habe vor, ab neunzehnhundertsechsundvierzig mit einer Serie von Experimenten zu beginnen, die…« Er sprach weiter, doch du hörtest gar nicht mehr zu. Du sahst zu. Als der Pole härter und härter zustieß und sich dem Orgasmus näherte, gab sich die Frau ihm völlig hin, riß die Arme nach hinten und griff nach den Bettpfosten. Ihre Glieder waren mager, aber schön proportioniert, und sie wurden nur durch ihre KonzentrationslagerNummer entstellt, die man ihr in Blau auf den linken Innenarm tätowiert hatte. Dann stießen sie beide einen gemeinsamen Schrei aus. »Was war das?« fragte Schwester Braithwaite und hielt inne, als das brennende Feuerzeug noch drei Zentimeter von der Spitze ihrer Zigarette entfernt war. »Ich hab’ nichts gehört«, sagte Lernschwester Clement. Schwester Braithwaite zitterte wie in jener Nacht in Afrika. »Es war…« begann sie und schluckte dann. »Hören Sie, ich kann es nicht erklären, aber ich glaube, wir sollten hinübergehen.« Sie verließen den Tagesflügel und gingen zuerst in die SechsbettenStation, wo aber alles schlief, und begannen dann mit den EinbettStationen. »Riecht komisch hier«, bemerkte Lernschwester Clement. »Ach, das war Lernschwester Wong mit ihrem Fleckenwasser.« »Wie bitte?« »Du hast recht, das ist schon zwei Tage her…«
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»Hoppla!« sagte Lernschwester Clement und blieb plötzlich an einer Tür, die sie eben geöffnet hatte, stehen. »Was glauben Sie, wer…« Dann ging sie auf Zehenspitzen hinein. »Ja, er ist – der Professor ist tot«, sagte sie und streckte die Hand aus, um ihm ein Augenlid zu schließen. »Ein bißchen schnell.« »Und sehen Sie, wie er sich nach hinten beugt, Pam! Das ist alles andere als natürlich.« »Was ist nicht natürlich?« fragte Dr. Murphy-Jones freundlich, der dazugekommen war. »Ich würde sagen, ein bemerkenswerter Todeskampf. Sie vermuten doch nicht etwa Manipulation, Schwester? Das hier ist bestimmt der letzte Ort auf…« »Nein, nein, es ist nur, weil ich…« »Großartig! Haben Sie jemanden, den ich Ihrer Meinung nach anschauen sollte?« »Ja. Ja, bitte«, sagte Schwester Braithwaite und versuchte, sich wieder zu fassen. »Wenn Sie bitte mitkommen wollen, Doktor.« Als sie in den Korridor einbog und die erste Tür öffnete, sah sie wieder ganz kurz Mrs. Daventry, die die Hand der alten Frau hielt und jetzt fest mit den Fingern umspannte. Das Licht spielte ihr wieder einen Streich, denn als sich Mrs. Daventry umschaute, um ihr ein kurzes, sanftes Lächeln zuzuwerfen, sah sie ausgesprochen schön aus, wie ein zauberhaftes junges Mädchen. Sowohl die Geschicke von Dr. Sigmund Rascher als auch seine Berichte an Heinrich Himmler, den Briefschreiber, werden ausführlich beschrieben in Aufstieg und Fall des Dritten Reichs von William L Shirer. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Ellis Peters Ein Licht auf der Straße nach Woodstock Der Hofstaat des Königs hatte es nicht eilig, im Spätherbst des Jahres 1120 nach England zurückzukehren, obwohl man die Kämpfe, die in dieser Endphase etwas ziellos gewesen waren, inzwischen längst beendet hatte und der erzwungene Frieden durch eine königliche Heirat besiegelt worden war. König Heinrich I. hatte sein sechzehn Jahre fortgesetztes, geduldiges, schlaues und schonungsloses Intrigieren, Kämpfen und Manipulieren zu einem erfolgreichen Ende gebracht. Er konnte sich nun hochzufrieden auf seinem Thron zurücklehnen, da er nicht nur der Herr Englands, sondern auch der Normandie geworden war. Was William, der Eroberer, irrtümlicherweise in zwei einzelnen Teilen an seine beiden älteren Söhne vererbt hatte, war durch seinen jüngsten Sohn wieder zusammengeführt und zu einem Ganzen gemacht worden. Allerdings hatte er, wie manch einer behauptete, seine Hand im Spiel gehabt, als es darum ging, seine beiden Brüder aus dem Weg zu schaffen, wobei dem einen hastig ein Grab unter dem Tower von Winchester gegraben worden war, während der andere jetzt gefangen in Devizes saß und wohl kaum jemals wieder das Licht der Welt erblicken würde. Der Hof konnte es sich durchaus leisten zu bleiben und den Sieg zu genießen, während Heinrich die letzten Bastionen, die sich ihm entgegenstellten, noch nehmen mußte. Seine Flotte bereitete sich bereits in Barfleur für die Rückfahrt nach England vor, und auch er würde vor dem Ende des Monats wieder zu Hause sein. Mittlerweile hatten sich viele der Barons und Knights, die seine Schlachten geschlagen hatten, von den Truppen zurückgezogen und befanden sich auf dem Weg nach Hause. Unter ihnen war ein gewisser Roger Mauduit. Auf ihn warteten jenseits des Kanals eine junge und schöne Frau, dazu eine juristische Angelegenheit, die zu klären er sich vorgenommen hatte, – außerdem wollten auch seine fünfundzwanzig Mann zurückgebracht werden, wobei vereinbart war, daß die meisten erst bei der Landung in England ausbezahlt würden. Es gab ein paar Männer in diesem bunt zusammengewürfelten Haufen, die der Lord erst hier in der Normandie im Namen des Königs
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angeheuert hatte und die es wert waren, daß er sie zu seinen eigenen Diensten bei sich behielt, zusammen mit den wenigen Männern, die zu seinem Haushalt zählten – zumindest so lange, bis er sich wieder sicher zu Hause eingerichtet hatte. Zum Beispiel der vagabundierende Schreiber, der zum Soldaten geworden war – mochte er ein entsprungener Pfaffe sein oder was auch immer, er war ein hervorragender Kopist und ein Mann, der über gesunde Kenntnisse der lateinischen Sprache verfügte: Er konnte ihm für den Gerichtshof des Königs in Woodstock juristische Dokumente in der besten und vorzeigbarsten Form ausfertigen, außerdem war er ein flinker Arbeiter. Und der Krieger aus Wales, so grob und aufmuckend er sein mochte, hatte Übung in seinem Handwerk, kannte sich mit Waffen aus und war dazu in jeder Situation zu Wasser und zu Lande überaus zuverlässig, denn er hatte eine lange Erfahrung in beiden Elementen hinter sich. Roger war sich wohl bewußt, daß der Mann nicht sonderlich beliebt war bei den anderen; er galt als Schinder, der nicht viel hielt vom Mut und der Treue seiner eigenen Leute. Aber dieser Waliser aus Gwynedd hatte in Antiochien und Jerusalem, und weiß Gott wo noch, die Regeln des Kriegshandwerks gelernt und zu seiner zweiten Natur gemacht. Geliebt oder ungeliebt, welche Dienste man ihm auch befahl, er führte sie getreulich aus. Roger machte den beiden ein Angebot, als seine Männer in Barfleur das Schiff bestiegen, in der Mitte eines trügerisch stillen Novembers mit einer völlig ruhigen See. »Ich möchte, daß ihr beiden mich auf meinen Landsitz Sutton Mauduit bei Northampton begleitet, wenn wir das Schiff verlassen, und in meinen Diensten bleibt, bis eine gewisse Klage, die ich gegen die Abtei von Shrewsbury führe, geklärt ist. Der König hat die Absicht, nach Woodstock zu kommen, sobald er in England eingetroffen ist, und wird dort am dreiundzwanzigsten dieses Monats über meinen Fall zu Gericht sitzen. Wollt ihr bis zu diesem Tag in meinen Diensten bleiben?« Der Krieger aus Wales stimmte zu, – er würde bis zu diesem Tag bleiben, oder bis der Fall erledigt sei. Er sagte es so gleichgültig wie einer, der nirgends auf der Welt etwas Wichtigeres vorhat, dem er folgen könnte. Warum also nicht Woodstock? Und nach Woodstock?
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Warum irgendwohin? Es gab kein Licht, das ihn irgendwohin lenkte, auf eine ganz bestimmte Straße trieb. Die Welt war groß und schön und voller Genüsse, aber ohne Wegweiser. Alard, der zerlumpte Schreiber, zögerte, kratzte sich den dichten, graudurchsetzten Rotschopf und sagte schließlich auch zu, aber so, als ob ihn ein vages Bedauern, ein leiser Schmerz eigentlich in eine andere Richtung ziehe. Doch es bedeutete, daß er einige weitere Tage bezahlt bekommen würde, und er konnte es sich nicht leisten, nein zu sagen. »Ich ginge froheren Herzens mit euch«, sagte er später, als die beiden erneut Angeheuerten nebeneinander an der Reling lehnten und zusahen, wie die schmale, blaue Linie der englischen Küste aus der ruhigen See aufstieg, »wenn er eine etwas westlichere Straße nähme.« »Wieso das?« fragte Cadfael ap Meilyr ap Davydd. »Hast du Sippe im Westen?« »Ich hatte sie früher. Jetzt nicht mehr.« »Tot?« »Ich bin der Tote.« Alard hob die schmalen Schultern in einer hilflosen Geste und grinste dazu. »Siebenundfünfzig Brüder hatte ich, und jetzt bin ich bruderlos. Jetzt, wo ich die Vierzig hinter mir habe, beginne ich, sie zu vermissen. Als ich jung war, habe ich es nicht genug geschätzt.« Er warf einen bedauernden Blick auf den anderen und schüttelte den Kopf. »Ich war ein Mönch von Evesham, ein oblatus, und mein Vater gab mich in Gottes Hand, als ich fünf Jahre alt war. Mit fünfzehn konnte ich das Leben an einem einzigen Ort nicht mehr ertragen, und ich bin davongelaufen. Aber die Stabilität ist eines der Gelübde, die wir ablegen – zufrieden zu sein mit einem einzigen Aufenthaltsort und sich nur dann zu entfernen, wenn einen der Befehl dazu ereilt. Das war nichts für mich, damals. Man nennt Leute meiner Art vagus – leichtsinnige Geister, die es nirgends lange hält. Jetzt bin ich, weiß Gott, weit genug gewandert in meinem Leben. Ich fürchte allmählich, daß ich nicht mehr stillstehen kann.« Der Waliser zog sich den Umhang fester an den Leib, um sich vor der kühlen Brise zu schützen. »Hast du Verlangen danach, zurückzugehen?«
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»Selbst die Seeleute müssen schließlich irgendwo vor Anker gehen«, sagte Alard. »Sie würden mich durchbleuen, wenn ich zurückkäme, das weiß ich. Aber es gibt die Buße, die alle Schuld begleicht und zuletzt ein reines Sündenregister hinterläßt. Sie würden einen Platz für mich finden, wenn ich meine Buße bezahlt habe. Aber ich weiß nicht… Ich weiß einfach nicht… Der vagus ist immer noch in mir. Ich bin hin- und hergerissen.« »Nach fünfundzwanzig Jahren«, erklärte Cadfael, »können ein paar Monate ruhigen Nachdenkens nicht schaden. Kopiere ihm die Papiere, wie er gesagt hat, und ruh dich aus, bis seine Geschäfte erledigt sind.« Sie waren beide ziemlich gleich alt, obwohl der entsprungene Mönch zehn Jahre älter aussah und viel mehr von der Welt, die er dem Kloster vorgezogen hatte, umhergestoßen worden war. Eine Zeit als Soldat, eine Zeit als Schreiber, ein bißchen Pferdeknecht, jede Arbeit, die sich ihm bot, bis er fast alles getan hatte, was ein gesunder Mann zu tun imstande ist. Er hatte, wie er berichtete, Italien bis Rom gesehen, hatte eine Zeit unter dem Grafen von Flandern gedient, die Berge überquert bis nach Spanien, und nirgends hatte er es lange ausgehalten. Seine Füße taten ihm noch den Dienst, aber sein Geist wurde des Umherziehens müde. »Und du?« fragte er und schaute seinen Begleiter an, den er nun seit einem Jahr von diesem letzten Feldzug kannte. »Du bist selbst eine Art von vagus, wenn man dich reden hört. All diese Jahre auf den Kreuzzügen, und die Schlachten gegen die Korsaren im Mittelmeer, und du hattest auch noch nicht genug davon, mußtest noch einmal das Meer überqueren und dich in der Normandie umherstoßen lassen. Hast du nichts Besseres zu tun, wenn du zurück bist in England, als dich schon wieder in dieses schmutzige Handgemenge zu stürzen, in diese kleinen und größeren Fehden? Hast du keine Frau, die dich vom Kämpfen ablenken kann?« »Und du? Du bist frei vom Kloster, also bist du auch frei von deinen Gelübden.« »Irgendwie habe ich es doch nicht ganz so gesehen«, sagte Alard und schien über sich selbst verwundert zu sein. »Eine Frau hier und da, ja, wenn mich die Hitze überkam, und immer gab es Frauen, die
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willig bei der Sache waren, aber heiraten und eine Familie gründen – ich weiß nicht, ich glaubte und fühlte, daß ich dazu trotz allem kein Recht hatte.« Der Waliser stemmte die Beine gegen das sanft schwankende Deck und sah, wie die ferne Küste näher rückte. Ein breit gebauter, stämmiger, muskulöser Mann bei bester Gesundheit, braunhaarig und braunhäutig von der Sonne des fernen Ostens und vom Leben im Freien, dazu gut ausgerüstet mit einer Lederjacke und ordentlicher, fester Kleidung und bewaffnet mit Schwert und Dolch. Ein angenehmes Gesicht, kräftige, ausdrucksvolle Züge, mit dem kühnen Knochenbau seiner Rasse – es mußte manche Frau gegeben haben, die ihn attraktiv gefunden hatte. »Ich hatte ein Mädchen«, sagte er nachdenklich, »vor einigen Jahren schon, bevor ich auf den Kreuzzug ging. Aber als ich zum erstenmal das Kreuz nahm, verließ ich sie für drei Jahre und blieb siebzehn Jahre fort. In Wahrheit hab’ ich sie im fernen Osten vergessen, und sie hat mich, Gott sei Dank, zu Hause im Westen vergessen. Als ich zurück war, habe ich nach ihr gefragt. Sie hat ein besseres Los gewählt und sich einen Mann der Gilde genommen, einen Ratsherren der Stadt Shrewsbury sogar. Also könnt’ ich die Last von meinem Gewissen nehmen und zurückgehen zu dem, was ich gelernt habe: zu meinem Soldatenberuf. Und ohne Bedauern«, fügte er hinzu. »Es war alles aus und vorbei, schon seit Jahren. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie wiedererkannt hätte, oder sie mich.« Es hatte andere Frauen gegeben in den dazwischenliegenden Jahren, die ihm noch lebhaft im Gedächtnis waren, während ihr Bild im Lauf der Zeit zur Unkenntlichkeit verblaßte. »Und was wirst du jetzt tun«, fragte Alard, »nachdem der König alles bekommen hat, was er wollte, seinen Sohn mit Anjou und Maine verheiratet und allem Kämpfen ein Ende gemacht hat? Willst du zurückgehen in den Osten? Dort gibt es nie Mangel an Fehden und Handgemengen, die einen Mann wie dich mit Arbeit versorgen.« »Nein, sicher nicht«, sagte Cadfael, den Blick auf die Küste gerichtet, die jetzt schon die Formationen des Landes zeigte, die Wellenbewegungen der Klippen und der Senken. Denn auch das war aus und vorbei für ihn, und nicht so erfreulich erledigt, wie er es einmal
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gehofft hatte. Diese ziellosen und sprunghaften Scharmützel in der Normandie waren eher ein Postskriptum gewesen, ein nachträglicher Gedanke, etwas, um die Zeit zwischen Vergangenheit und einer Zukunft auszufüllen, die sich noch nicht zeigte. Er wußte nur, daß es etwas Neues und Bedeutsames sein mußte, eine Tür, die sich zu einem anderen, neuen Raum öffnete. »Scheint so, als ob uns beiden ein paar Tage geschenkt wären, um herauszufinden, wohin wir gehen werden. Und wir sollten diese Zeit gut nutzen.« Es gab genügend Unruhe vor dem Abend, die sie davon abhielt, sich weiterreichende Gedanken zu machen. Ihr Schiff wurde von einem stetigen und günstigen Wind durch die Wasserwege des Kanals getrieben und nahm Kurs auf Southampton, ehe die Nacht einfiel, so daß Alard zu tun hatte, um die Ausrüstung beim Entladen zu überprüfen, während Cadfael für das Ausladen der Pferde verantwortlich war. Eine Übernachtung in Ställen und einfachen Unterkünften, und schon waren sie bei Tagesanbruch wieder auf dem Weg zu ihrem Ziel. »Der König wird also in Woodstock erwartet«, sagte Alard und raschelte schläfrig im Stroh des warmen Speichers über den Pferden, »jedenfalls rechtzeitig, um am dreiundzwanzigsten des Monats zu Gericht sitzen zu können. Er macht seine Unterkünfte im Wald zum Mittelpunkt seines Königreichs; man sagt, daß bei ihm mehr Staatskunst in Woodstock ausgeübt wird als sogar in Westminster. Dort hält er auch seine wilden Tiere – Löwen, Leoparden und sogar Kamele. Hast du schon einmal Kamele gesehen, Cadfael? Gibt es die auch im Osten?« »Ich hab’ sie gesehen und geritten. Die sind dort so gewöhnlich wie bei uns die Pferde, gute Arbeiter und nützliche Tiere, aber unbequem zu reiten und launisch. Ein Glück, daß wir morgen früh Pferde zum Reiten haben.« Und nach längerer Stille, an der Schwelle des Schlafes, fragte er neugierig in die nach Stroh riechende Dunkelheit: »Wenn du nun doch einmal zurückkommst – was willst du von Evesham, was erwartest du dir?« »Woher soll ich das wissen?« antwortete Alard schlaftrunken, ließ aber einen sich plötzlich schärfenden Seufzer folgen und war mit einem Schlag wieder hellwach. »Das Schweigen vielleicht… Oder
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die Stille. Nicht mehr laufen zu müssen… Angekommen zu sein und nicht mehr laufen zu müssen. Der Geschmack ändert sich eben. Jetzt stelle ich es mir wundervoll vor, stillzustehen.« Das Herrenhaus, welches Kopf und Hauptsitz des ausgedehnten und beträchtlichen Ritterguts bildete, das Roger Mauduit verliehen worden war, lag etwas südöstlich von Northampton auf der windabgekehrten Seite eines langen, bewaldeten Höhenzugs, wo der König eine Jagd hatte, und breitete seine Felder über die fruchtbare Senke dahinter aus. Das Haus selbst war aus Stein, ein stattlicher, ausgedehnter Bau über einem tief in die Erde gehenden Fundament mit wuchtigen Gewölben und einem Turm, der auf der Ostseite zwei kleine Kammern aufwies. Mit der Reihe von Viehställen, Scheunen und Pferdeställen, deren Mauern den Innenhof umgaben, war es ein beeindruckender Besitz. Jemand hatte sich als guter Verwalter erwiesen in der Zeit, während der Herr des Hauses fern von Haus und Hof war, um König Heinrich beizustehen. Die Möbel der Halle sprachen ebenfalls von einem gut geführten Haushalt, und die Diener, Knechte und Mägde des Hauses verrichteten ihre Arbeit mit einer frischen Aufmerksamkeit, welche zeigte, daß sie Ehrfurcht empfanden vor demjenigen, der ihre Arbeiten überwachte. Man brauchte nur einen einzigen Tag lang Lady Edwina zuzusehen, um zu wissen, wer hier das Regiment führte. Roger Mauduit hatte eine schöne Frau geheiratet; sie war tüchtig und wußte ihre Herrschaft wohl auszuüben. Sie hatte in den vergangenen drei Jahren allein das Haus versehen und allem Anschein nach diese Herrschaft auch genossen. Vielleicht gab sie diese Pflichten jetzt nur ungern auf, so glücklich sie darüber sein mochte, daß ihr Lord nach Hause zurückgekehrt war. Sie war eine große, anmutige Frau, zehn Jahre jünger als Roger, mit einer Fülle von blondem Haar und großen blauen Augen, die meistens diskret halb verborgen lagen hinter unwahrscheinlich langen Wimpern, aber leuchtend und herausfordernd blitzten, wenn sie sie ganz geöffnet hatte. Sie lächelte zurückhaltend und unablässig, wodurch sie mehr verbarg als enthüllte, was in ihrem Kopf vor sich ging, und obwohl der Willkomm, den sie ihrem zurückkehrenden Gatten bereitete, keine Wünsche offen ließ, sondern ihm jeglichen
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Tribut an Feier und Zuneigung zollte, von dem Augenblick an, als sein Pferd durch das Tor gekommen war, konnte Cadfael nicht umhin, sich zu fragen, ob sie nicht zugleich jeden Mann, den er mitbrachte, mit Neugier betrachtete, ebenso wie jedes Stück Gerät, jede Rüstung und jede Waffe, die er mit sich führte – so wie jemand, der eifersüchtig eine Inventur seines Besitztums durchführte und nachsah, ob auch wirklich nichts fehlte. Sie hielt ihren kleinen Sohn an der Hand, einen etwa siebenjährigen Jungen, und das Kind hatte das gleiche blonde Haar, das gleiche zurückhaltende und fast überhebliche Lächeln und war so adrett und fein herausgeputzt wie seine Mutter. Die Lady bedachte Alard mit einem kurzen Blick, der seine abgerissene Erscheinung tadelte und seine moralische Zuverlässigkeit in Frage stellte, doch zugleich ausdrückte, daß sie bereit war, sich seiner Fähigkeiten zu bedienen. Der Schreiber, der die Chronik des Hauses und das Rechnungsbuch führte, war zwar durchaus tüchtig, doch er verfügte nicht über die lateinische Sprache und schrieb nicht schön genug, um es bei Hofe vorzuzeigen. Alard wurde zu einem kleinen Tisch auf der Seite des riesigen, offenen Kamins geführt und beschäftigte sich anschließend damit, einige Urkunden und Briefe zu kopieren, um sie später herzuzeigen. »Seine Klage geht gegen die Abtei von Shrewsbury«, sagte Alard zu seinem Waffengenossen, als er nach dem Essen von der Arbeit in der Halle befreit worden war. »Ich erinnere mich, daß du mir erzählt hast, dein Mädchen hätte damals einen Gildemeister in dieser Stadt geheiratet. Shrewsbury ist ein Benediktinerkloster, genau wie das meine in Evesham.« Er nannte es immer noch das »seine«, obwohl er es schon vor so vielen Jahren verlassen hatte; vielleicht bezeichnete er es auch wieder als das »seine«, nachdem die Zeit die Trennung davon hinweggespült und bedeutungslos gemacht hatte. »Wenn du von dort kommst, mußt du es eigentlich kennen.« »Ich bin zwar in Trefriw im Gwynedd geboren«, sagte Cadfael, »aber ich bin schon früh in die Dienste eines englischen Wollhändlers getreten und mit seinem gesamten Haushalt nach Shrewsbury gezogen. Damals war ich vierzehn. In Wales ist man mit vierzehn ein erwachsener Mann, und ich konnte gut mit dem Kurzbogen umgehen
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und war auch nicht ungeschickt mit dem Schwert – ich glaube, ich war meine Unterhaltskosten wert. Den größten Teil der folgenden Jahre verbrachten wir in Shrewsbury, und ich kenne es wie meine eigene Hosentasche, auch die Abtei und alles andere. Mein Herr hat mich sogar etwa ein Jahr lang dort hingeschickt, um mich im Schreiben ausbilden zu lassen. Aber als er starb, mußte ich den Dienst quittieren. Ich fühlte mich nicht verpflichtet gegenüber seinem Sohn, und dieser war nur ein schwacher Schatten seines Vaters. Damals habe ich mich unter das Kreuz begeben. Das taten viele seinerzeit, und alle waren Feuer und Flamme. Ich will nicht sagen, daß danach nicht mehr viel übrig blieb als Asche, doch das Feuer brannte manchmal nur noch ganz klein, war nur noch ein schwaches Glimmen.« »Mauduit hält das Land, um das gestritten wird, in seinem Besitz«, erklärte Alard, »und die Abtei hat ihn zur Rückgabe verklagt; das geht jetzt schon vier Jahre hin und her, ohne zu einer Lösung zu kommen, seit der alte Lord hier gestorben ist. Wie ich die Benediktiner kenne, stelle ich ihre Wahrhaftigkeit über die von Roger Mauduit, das sage ich dir offen und ehrlich. Und dennoch schienen seine Urkunden echt zu sein, soweit ich das beurteilen kann.« »Wo liegt denn dieses Land, um das sie streiten?« fragte Cadfael. »Es ist ein Rittergut mit dem Namen Rotesley, in der Nähe von Stretton, Domäne, Dorf und Pfründe der Kirche. Es scheint, daß Rogers Vater, als der alte Earl gerade gestorben war und seine Abtei sich noch im Bau befunden hatte, Rotesley an die Abtei gegeben hat. Darüber gibt es keinen Streit, das läßt sich anhand der Urkunden nachweisen. Aber die Abtei hat es Rogers Vater als Lehen zurückgegeben, damit er seine letzten Jahre dort ungestört verbringen konnte. Damals heiratete Roger und richtete sich hier in Sutton ein. Und dann begann der Streit. Die Abtei behauptete, es gehe klar aus den Akten hervor, daß das Lehen mit dem Tod des alten Mannes ende, daß der Alte selbst es immer so begriffen habe und daß der Besitz an die Abtei zurückgehen müsse, sobald Rogers Vater ihn nicht mehr selbst nützen könne. Während Roger behauptet, es gebe keinerlei Abmachung, daß es unbedingt zurückgegeben werden sollte, daß vielmehr der Besitz der Familie der Mauduits zugesprochen sei und daher auch erblich sein müsse. Bis jetzt jedenfalls hat er das Stück
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Land mit Zähnen und Klauen verteidigt. Nach mehreren Anhörungen wurde der Fall dem König selbst vorgetragen. Und deshalb fahren wir, du und ich, übermorgen mit seiner Lordschaft nach Woodstock.« »Und wie hoch schätzt du seine Aussicht auf Erfolg ein? Er selbst scheint nicht allzu sicher zu sein«, bemerkte Cadfael, »wenn man seine Laune in den letzten Tagen betrachtet, und wie er an den Nägeln kaut.« »Ja nun, die Urkunde hätte vielleicht besser formuliert werden müssen. Sie besagt lediglich, daß das Dorf zu Lebzeiten dem alten Mann als Lehen gegeben wird, ohne irgend etwas auszusagen über das, was nach seinem Tod geschehen sollte, was auch immer beabsichtigt gewesen sein mag. Nach dem, was ich hörte, standen sie auf sehr gutem Fuß miteinander, Abt Fulchered und der alte Lord, und die Abkommen, die sie in anderen Angelegenheiten im Rechnungsbuch des Besitzes getroffen hatten, sind so formuliert wie zwischen zwei Männern, die einander trauen. Die Zeugen sind alle tot, ebenso wie der Abt selbst. Jetzt steht dem Kloster ein Abt Godefrid vor. Nach allem, was ich weiß, ist es gut möglich, daß die Abtei über Briefe verfügt, die zwischen den beiden geschrieben wurden, und ein Brief wäre ein Zeugnis der gegenseitigen Absichten, von gleichem Wert wie ein formelles Dokument. Doch das alles werden wir in Kürze erleben.« Die Herrschaft saß noch bei Tisch und hatte es nicht eilig, sich zurückzuziehen; Roger brütete über seinem Wein, von dem er schon mehr als genug getrunken hatte. Cadfael betrachtete alle mit Interesse, sah er sie doch zum erstenmal in familiärer Gemeinschaft. Der Junge zwar war bereits zu Bett geschickt worden, weggebracht von einer ältlichen Kinderschwester, aber Lady Edwina saß in liebender Aufmerksamkeit zur Linken ihres Gatten, achtete darauf, daß sein Becher stets gut gefüllt war, und lächelte ohne Unterlaß ihr angedeutetes, sprödes Lächeln. Links von ihr saß ein sehr feiner junger Herr von etwa fünfundzwanzig Jahren, respektvoll und diskret, mit einem Lächeln, das vielleicht die männliche Version des ihren sein mochte. Die Quelle des einen wie des anderen blieb geheim, der Ursprung ihres Vergnügens oder Amüsements, oder was immer dieses Lächeln
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verursachte, war persönlich und ein wenig enervierend wie das in Stein gehauene Lächeln mancher sehr alter Statuen, die Cadfael vor langen Jahren in Griechenland gesehen hatte. »Goscelin«, sagte Alard als eine Art Erläuterung; seine Blicke waren denen seines Freundes gefolgt. »Ihre rechte Hand, während Roger fort war.« Und jetzt wohl ihre linke, wie es aussieht, dachte Cadfael. Denn ihre linke Hand und die rechte von Goscelin waren unter dem Tisch versteckt, während sie ihrem Gatten gewinnend ins Ohr sprach; und wenn diese beiden Hände einander nicht unter dem Tisch liebkosten, so hätte das Cadfael sehr gewundert. Über und unter dem Tischtuch waren zwei ganz verschiedene Welten. »Ich hätte gern gewußt«, sagte er nachdenklich, »was sie jetzt gerade Roger ins Ohr flüstert.« Was die Lady ins Ohr ihres Mannes flüsterte, war in der Tat folgendes: »Ihr macht Euch unnütze Gedanken über nichts, Mylord. Wie stark seine Beweise auch sein mögen, was bedeutet das schon, wenn er Woodstock nicht rechtzeitig erreicht, um sie dort präsentieren zu können? Ihr kennt das Gesetz: Wenn es einer Partei nicht gelingt, vor Gericht zu erscheinen, wird zugunsten der anderen entschieden. Die Richter des Schwurgerichts mögen vielleicht bei einem ersten Fernbleiben Gnade vor Recht ergehen lassen, aber glaubt Ihr, daß das auch König Heinrich tun wird? Wem es nicht gelingt, den Termin mit ihm einzuhalten, der wird auf der Stelle verurteilt. Und Ihr kennt die Straße, auf der Prior Heribert nach Woodstock kommen muß.« Ihre Stimme war ein seidenweiches Schnurren in seinem Ohr. »Habt Ihr nicht ein Jagdhaus im Wald nördlich von Woodstock, den der Weg nach Woodstock durchquert?« Rogers Hand hatte sich um den Stiel seines Weinbechers versteift. Er war keineswegs so betrunken, daß er ihr nicht mit großer Aufmerksamkeit zugehört hätte. »Für einen wie ihn wird die Reise von Shrewsbury nach Woodstock zwei oder drei Tage dauern. Ihr brauchtet nur einen Wächter in nördlicher Position aufzustellen, der Euch rechtzeitig warnt. Die Wälder sind dicht genug, und viele sind dort schon überfallen und gejagt worden. Selbst wenn er bei Tag kommt, braucht niemand zu erfahren, welche Rolle Ihr dabei spielt. Versteckt ihn für ein paar
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Tage, das wird genügen. Dann laßt ihn nachts dort frei, und wer wird schon wissen, welche Wegelagerer ihn festgehalten und ausgeraubt haben? Ihr brauchtet nicht einmal seine Dokumente zu berühren, denn für echte Räuber wären sie ohnehin wertlos. Nehmt nur das, was gewöhnliche Diebe nehmen würden, und man wird ihnen die Tat zuschreiben.« Roger öffnete die zusammengepreßten Lippen und knurrte in skeptischem Ton: »Er wird nicht allein reisen.« »Ha! Zwei oder drei Diener aus der Abtei – die werden davonrennen wie die Hasen. Drei kräftige, schweigsame Männer von dir reichen bestimmt dazu aus.« Er brütete, begann dann die Gedanken weiterzuspinnen und ging die Männer seines Haushalts durch, um die richtigen für einen solchen Auftrag auszuwählen. Nicht der Waliser und der Schreiber – die waren Fremde hier; sie sollten die unschuldigen Augenzeugen spielen, für den Fall, daß man Fragen stellte… Sie verließen Sutton Mauduit am zwanzigsten Tag des Monats November, was unnötig früh erschien, wobei Roger allerdings befohlen hatte, sie sollten sich in seinem Jagdhaus im Wald in der Nähe von Woodstock niederlassen, was bedeutete, daß sie Güter und Verpflegung mitnehmen mußten, um das Haus bewohnbar zu machen und Vorräte für mindestens drei Übernachtungen anzulegen, so daß der zeitige Termin des Aufbruchs eine kluge Entscheidung darstellte. Roger wollte sich bei dem Gerichtstag auf keine Zufälligkeiten einlassen; er wollte frühzeitig in der Gegend sein und alle seine Beweise für das Urteil des Königs bereithalten. »Und das hat er«, bestätigte Alard, dessen beruflicher Ehrgeiz aufgestachelt war, »denn ich habe alles mit ihm besprochen, und der Fall mag vielleicht noch offen sein, was besondere, uns unbekannte Beweise angeht, aber er ist klar genug, und er wird sich vor Gericht vertreten lassen. Was die Abtei dagegen vorweisen kann – wer weiß? Es heißt, der Abt fühle sich nicht wohl, deshalb schickt er den Prior an seiner Stelle. Meine Arbeit ist jedenfalls getan.« Als die Gesellschaft ausritt und sich nach Westen wandte, blickte er entrückt, sei es, daß er sich eingeengt fühlte und sich danach sehnte, dort zu sein, wohin er bisher nur schauen konnte, oder daß er sich
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müde und heimatlos fühlte und daß es ihn hinzog in sein Kloster. Entweder ein vagus, der noch einmal entkommen wollte in die Freiheit, oder ein reuiger Sünder, den es danach trieb, schnell nach Hause zu kommen, ehe man ihm für immer die Tür zuschlug. Jedenfalls mußte es etwas Wünschenswertes und Schönes sein, was einen Mann dazu brachte, ihm mit einem solchen Ausdruck entgegenzusehen. Drei Krieger und zwei Diener begleiteten Roger, daneben Alard und Cadfael, deren Dienst mit der Sitzung des Gerichts enden würde. Danach waren sie frei und konnten tun und lassen, was sie wollten. Cadfael zu Pferde, da er sein eigenes Reittier besaß, Alard zu Fuß, da das Pony, das er ritt, Roger gehörte. Es war ein wenig überraschend für Cadfael, daß auch der Herr Goscelin aufsattelte und mit der Gesellschaft ritt, sehr charmant und lässig, zugleich aber gut bewaffnet mit Dolch und Schwert. »Ich wundere mich«, sagte Cadfael, »daß die Lady ihn nicht zu Hause zu ihrem eigenen Schutz braucht, während ihr Gatte abwesend ist.« Lady Edwina jedenfalls verabschiedete sich in größter Gelassenheit und Heiterkeit von der Gesellschaft, wobei sie ihrem Gatten gegenüber besondere und demonstrative Zuneigung zeigte und ihm ihren kleinen Sohn hinhielt, damit er ihn umarmen und dem Vater einen Kuß geben konnte. Vielleicht, dachte Cadfael zögernd, tue ich ihr doch unrecht, einfach weil mir ihr Lächeln so eiskalt durch die Knochen fährt. Ja, vielleicht ist sie das getreueste Weib unter den Treuen. Sie machten sich früh auf und hielten inne kurz vor Buckingham, bei dem kleinen und kargen Kloster von Bradwell, wo Roger die Nacht zu verbringen wünschte und seine drei Krieger bei sich behielt, während Goscelin mit dem Rest der Gesellschaft weiterritt zum Jagdhaus, um alles für das Eintreffen ihres Herrn am folgenden Tag bereitzumachen. Es dunkelte schon, als sie dort ankamen, und das Anzünden eines freundlichen Feuers und der Fackeln sowie das Ausladen des Bettzeugs und der Lebensmittel vom Rücken der vollbepackten Pferde dauerte bis in die Nacht hinein. Das Jagdhaus war nicht groß, eine Holzhütte, umgeben von einem Zaun aus Holzpfählen, aber gut ausgerüstet mit Ställen und einem Marstall, mitten im
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dichtesten Wald – ein durchaus angenehmer Ort, sobald ein Feuer im Kamin brannte und das Essen auf dem Tisch stand. »Der Weg, über den der Prior von Shrewsbury ziehen wird«, sagte Alard und wärmte sich nach dem Essen am Kamin, »führt durch Evesham. Wahrscheinlich wird er mit seinen Leuten dort übernachten.« Cadfael hatte wohl bemerkt, wie er mit jeder Meile, die es westwärts ging, lebhafter und aufgeregter wurde. »Der Weg kann nicht weit von uns entfernt sein; er geht durch diesen Wald.« »Aber bis Evesham sind es, schätze ich, an die dreißig Meilen Wegs«, entgegnete Cadfael. »Ein langer Reisetag für eine Reisegesellschaft von Klerikern. Es wird sicher Nacht, bis sie in Woodstock einreiten. Wenn du entschlossen bist, zu ihnen zurückzukehren, bleib wenigstens noch so lange, bis du ausbezahlt bist, denn du wirst das Geld brauchen, wenn diese dreißig Meilen erst hinter dir liegen.« Sie legten sich schlafen in der Wärme des großen Raums, ohne daß noch ein Wort darüber verloren wurde. Aber er würde zurückkehren, Alard, ob er sich dessen schon bewußt war oder nicht. Cadfael wußte es. Sein Freund war ein müdes Pferd, das den Stallgeruch in die Nüstern bekommen hatte, und nun konnte ihn nichts und niemand mehr aufhalten, bis er seinen Stall erreicht hatte. Am Mittag des folgenden Tages, trafen Roger und seine Eskorte ein, und sie näherten sich dem Haus nicht direkt wie die Vorhut, sondern aus den Wäldern im Norden, als ob sie ein bißchen gejagt hätten, obwohl sie weder Falken noch Hunde bei sich hatten. Ein schöner, klarer, kühler Tag zum Reiten, es gab also keinen Grund, weshalb sie sich nicht zum reinen Vergnügen ein bißchen in der Umgebung herumgetrieben haben sollten – und sie trafen auch in hochzufriedener Stimmung ein –, andererseits waren Rogers Gedanken so sehr mit dem Prozeß und seinem möglichen Verlauf beschäftigt, daß jede Ablenkung davon unnatürlich erschienen wäre. Cadfael gab sich seinen Gedanken über unwahrscheinliche Entwicklungen hin, die sich, wie er aus früheren Kampagnen wußte, in den meisten Fällen als äußerst wichtig und bedeutsam erwiesen. Goscelin, der am Tor stand, um sie zu begrüßen, fiel offenbar nicht auf, daß sie aus einer unerwarteten Richtung kamen. In dieser Richtung lag die Straße, die Alard das Ziel, oder den Weg zum Ziel, die Beruhigung sei-
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ner angespannten Nerven verhieß. Aber welche Bedeutung mochte diese Straße für Roger Mauduit haben? An diesem Abend war die Tafel üppig, und der Lord und der Herr tranken gut und aßen gut und zeigten nicht die Spur von Besorgnis, obwohl sie vielleicht, wie Cadfael meinte, der sie vom unteren Ende der Tafel scharf beobachtete, ein bißchen angespannt und nervös wirkten. Nun, der Gerichtshof des Königs lieferte die ausreichende Erklärung dafür. Der Prior von Shrewsbury kam immer näher, ganz gleich, welche Waffen er bei der unblutigen Schlacht vorzuweisen hatte. Dennoch hatte Cadfael das Gefühl, als sei es eher eine freudige als eine besorgte Erregung. War Roger schon dabei, seinen Gewinn zu zählen? Der Morgen des einundzwanzigsten Novembers dämmerte, der Mittag verstrich, und mit jedem Augenblick wuchs Alards Ruhelosigkeit und Geistesabwesenheit, bis sie zum Abend hin völlig Besitz ergriffen hatten von ihm und er nicht mehr widerstehen konnte. Er trat nach dem Abendessen an Roger heran, wenn seine Stimmung vom guten Essen und vom Wein gemildert war, wie er hoffte. »Mylord, mit dem kommenden Tag ist mein Dienst für Euch zu Ende. Ihr braucht mich nicht mehr, und mit Eurer Genehmigung mache ich mich auf den Weg. Ich gehe zu Fuß und benötige ein wenig Proviant für die Reise. Wenn Ihr mit meiner Arbeit zufrieden wart, zahlt mir den Lohn, der Euch gerecht erscheint, und laßt mich ziehen.« Es schien, als hätte er Roger damit aus einer mindestens ebenso großen Geistesabwesenheit gerissen, und der Lord hatte es offenbar eilig, ihn zu bezahlen, denn er machte keine Umschweife und gab ihm augenblicklich, was ihm zustand. Um Roger Mauduit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: er war nie ein murrender Zahlmeister gewesen. Er konnte so hart handeln wie kaum ein anderer, wenn es um die Vereinbarung ging, aber sobald sie getroffen war, hielt er sich daran. »Du kannst gehen, wann es dir gefällt«, sagte er. »Füll dir den Beutel aus der Küche für die Reise, bevor du aufbrichst. Du hast wirklich gute Arbeit geleistet, das muß ich zugeben.«
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Dann kehrte er zu dem zurück, was seine Gedanken so völlig einnahm, und Alard ging, um die angebotenen Gaben einzustreichen und seine bescheidenen Siebensachen zu packen. »Ich gehe«, sagte er, als er Cadfael an der Tür zur Halle begegnete. »Ich muß gehen.« Weder seine Stimme noch sein Gesicht zeigten noch irgendwelche Zweifel. »Sie werden mich zurücknehmen, auch wenn ich den niedrigsten Dienst versehen muß. Aber von dort kann man nicht mehr weiter absteigen. Der heilige Benedikt schrieb in den Ordensregeln, daß ein Entwichener selbst beim dritten Male wieder aufgenommen werden kann, sobald er Besserung gelobt.« Es war eine dunkle Nacht ohne Mond und ohne Sterne; nur wenn der Wind die Wolken zerriß, konnte man kurz das Mondlicht flüchtig sehen. Das Wetter war stürmisch und wild geworden in den beiden letzten Tagen, – die Flotte des Königs mußte eine rauhe Überfahrt von Barfleur gehabt haben. »Du solltest besser bis zum Morgen warten«, schlug Cadfael vor, »und bei Tageslicht aufbrechen. Hier hast du ein sicheres Bett, und der Frieden des Königs, so sehr er verstärkt wird, kann nicht jede Meile seiner Straßen beschützen.« Aber Alard wollte nicht länger warten. Das Verlangen in ihm war zu mächtig, und als Vagabund ohne einen Penny, der schon alle Straßen der Christenheit bei Tag und Nacht bereist hatte, würde er kaum vor den letzten dreißig Meilen seiner Wanderschaft zurückschrecken. »Dann gehe ich mit dir, wenigstens bis zur Straße, und sehe zu, daß du gut auf den Weg kommst«, sagte Cadfael. Zwischen ihnen und der Straße, die in west-nordwestliche Richtung und nach Evesham verlief, war eine Meile dichten Gestrüpps, in dem es kaum Pfade gab. Das Band der offenen und von Bäumen gesäumten Straße war kaum weniger dunkel als der Wald selbst. König Heinrich hatte seinen Privatpark in Woodstock eingezäunt, um dort seine wilden Tiere halten zu können, hielt hier aber auch seine Jagden ab, auf einem Gelände, das sich viele Meilen weit dehnte. An der Straße angekommen, trennten sie sich, und Cadfael stand da und schaute seinem Freund nach, der in Richtung Westen davonmarschierte, die Augen voraus gerichtet auf seine Buße, die Strafe und
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die Absolution, ein müder Mann, dem die Rast nach einem wilden Leben sicher war. Sobald die dunkle Gestalt mit der Nacht verschmolzen war, wandte sich Cadfael dem Jagdhaus zu. Er hatte es nicht eilig, zurückzugehen, denn die Nacht war zwar stürmisch, aber nicht kalt, und ihn drängte es nicht zurück zur Gesellschaft der anderen, jetzt, wo er wußte, daß derjenige, den er am besten gekannt hatte, auf geheimnisvolle, verzückte Art gegangen war. Er ging noch ein Stück zwischen den Bäumen hindurch und drehte so seinem Bett noch für eine Weile den Rücken zu. Das ständige Rascheln der Äste im Wind übertönte beinahe das Handgemenge und dann die Schreie, die plötzlich in einiger Entfernung hinter ihm zwischen den Bäumen zu hören waren, bis das schrille Wiehern eines Pferdes ihn herumriß. Jetzt begann er durch das Unterholz auf die Stelle zuzurennen, wo verwirrte Stimmen Alarm riefen und niedergetrampelte Büsche knackten. Die Schreie schienen noch ein Stück entfernt zu sein, und Cadfael erschrak sehr, als er sich durch ein Dickicht drängte und auf zwei miteinander kämpfende Gestalten traf, sie voneinander trennte, dabei stolperte und auf einen der beiden Kämpfenden fiel, der auf dem plattgedrückten Gras lag. Der Mann unter ihm stieß einen erschreckten und wütenden Laut aus, es war die Stimme von Roger. Der andere hatte gar keinen Laut von sich gegeben, aber er verschwand sehr schnell und behende zwischen den Bäumen, ein großer Schatten, der rasch von den anderen Schatten verschluckt wurde. Cadfael warf sich zur Seite und streckte einen Arm aus, um dem Atemlosen aufzuhelfen. »Mylord, seid Ihr verwundet? Was, in Gottes Namen, geht hier vor?« Der Ärmel, den er berührte, war warm und feucht. »Ihr seid verletzt! Bleibt, erst muß ich sehen, wie groß der Schaden ist, bevor Ihr Euch bewegt…« Dann hörte man, laut und vehement in seinem Erschrecken, die Stimme von Goscelin; er brüllte nach seinem Lord und stürzte krachend durch den Busch, um neben Roger auf die Knie zu fallen, lamentierend und zornige Schreie ausstoßend. »Mylord, Mylord, was ist geschehen? Was waren das für Schurken, die sich in den Wäldern herumtreiben? Wagen es, den Reisenden
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nahe der Straße des Königs aufzulauern! Ihr seid verletzt – da ist Blut…« Roger kam allmählich wieder zu Atem und setzte sich auf, tastete dann nach seinem linken Arm dicht unter der Schulter und zuckte zusammen. »Das ist nur ein Kratzer am Arm… Gott verfluche ihn, diesen Kerl, wer es auch war – er hat nach meinem Herzen gezielt. Mann, wenn ihr nicht wie ein wilder Stier durch das Gebüsch gekommen wärt, dann wäre ich jetzt tot. Ihr habt mich vor der Spitze seines Dolches bewahrt. Gott sei Dank, der Schaden ist wohl nicht allzu schwer, aber ich blute… Helft mir zurück zum Haus!« »Daß ein Mann nachts nicht einmal in seinen eigenen Wäldern sicher ist«, tobte Goscelin und half seinem Lord behutsam auf die Beine, »ohne von Gesetzlosen überfallen zu werden! Hilf mir, Cadfael, nimm seinen anderen Arm… Wegelagerer, so nahe bei Woodstock! Gleich morgen müssen wir hier alles durchkämmen und diese Verbrecher aus ihren Verstecken jagen, bevor sie noch weitere Reisende überfallen…« »Bringt mich ins Haus«, fuhr ihn Roger an, »und zieht mir die Jakke und das Hemd aus, damit wir die Blutung stillen können. Ich lebe noch, das ist die Hauptsache!« Sie nahmen ihn zwischen sich und näherten sich auf einem etwas breiteren Pfade dem Jagdhaus. Dabei fiel Cadfael unterwegs auf, daß das Geschrei eines vergeblichen Kampfes völlig verstummt war, ja, selbst der Wind hatte nachgelassen, und irgendwo in der Gegend der Straße, schon etwas entfernt, hörte er den Rhythmus galoppierender Hufe, sehr schnell und leicht, wie ein reiterloses Pferd in panischer Flucht. Die Wunde an Roger Mauduits linkem Arm dicht unter der Schulter war lang, aber nicht sehr tief, und sie wurde nach unten zu immer flacher. Der Stich, der ihn verwundet hatte, konnte sehr wohl seinem Herzen gegolten haben. Cadfaels Zusammenstoß mit den Kämpfenden genau im Augenblick des Stichs hatte einen Mord verhindert. Der Schatten, der in die Nacht verschwunden war, hatte keine Form gehabt, nichts daran war menschlich oder erkennbar gewesen. Cadfael hatte einen Schrei gehört, war darauf zugeeilt, hatte den Angrei-
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fer mit gezückter Waffe zur Seite gestoßen, und der Angreifer war verschwunden – das war alles, was er auf Befragen sagen konnte. Und dafür, versicherte ihm Roger, der inzwischen verbunden worden war und jetzt ruhte und sich mit süßem, heißem Würzwein wärmte, war er ihm von Herzen dankbar. In der Tat verhielt sich Roger erstaunlich gelassen und voller Seelenstärke für einen, der eben dem Tod entronnen war. Nachdem er seinen bedrückten Dienern und Soldaten gezeigt hatte, daß er am Leben und nicht allzu schwer verletzt war, dazu die Stunde festgelegt hatte, wann am nächsten Morgen nach Woodstock aufgebrochen werden sollte, und von Goscelin zu seinem Lager gebracht worden war, strömte er sogar so etwas wie Zufriedenheit aus, als sei eine Wunde am Arm ein geringer Preis für die erfolgreiche Einbehaltung eines wertvollen Besitzes und die Niederlage seiner klerikalen Prozeßgegner. Im Gerichtssaal des Königspalasts von Woodstock flatterten die Kammerherren, die Schreiber und die Richter in seltsam geistesabwesender Weise umher – so jedenfalls kam es Cadfael vor, der abseits unter dem gemeinen Volk stand, um die grotesken Possen zu beobachten. Sie versammelten sich in kleinen Gruppen, sprachen mit gedämpfter Stimme und besorgter Miene, trennten sich, um sich mit anderen ihrer Art zu neuen Gruppen zusammenzusetzen, eilten zwischen den prozeßführenden Parteien hin und her, wichen allen Fragen aus oder hörten nicht auf sie, tauschten Dokumente und eilten zur Tür, um hinauszuspähen, als schauten sie sich nach Zuspätkommenden um. Und tatsächlich fehlte noch eine der Parteien, denn nirgends war ein Benediktinerprior unter den Anwesenden zu erkennen, und bisher hatte auch niemand seine Abwesenheit erklärt oder entschuldigt. Roger Mauduit gelang es trotz seines verletzten Arms, sich in strahlender Laune und bester Zufriedenheit zurückzulehnen und zu entspannen. Die festgesetzte Stunde des Gerichts war bereits einige Minuten verstrichen, als vier aufgeregte Männer, zwei davon Benediktinerbrüder, hastig in den großen Saal stürzten und sich an den amtsführenden Gerichtsschreiber wandten. »Sir«, schrie der eine laut und in nervöser Verzweiflung, »wir sind Abgesandte der Abtei von Shrewsbury, Begleiter unseres Priors, der
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unterwegs war, um hier in einem Gerichtssaal aufzutreten und für sich zu sprechen. Sir, Ihr müßt ihn entschuldigen, denn es ist weder seine noch unsere Schuld, daß er nicht erscheinen kann. In den Wäldern, ungefähr zwei Meilen nördlich von hier, wurden wir, als wir in der vergangenen Nacht im Dunkeln hierher ritten, von einer Bande gesetzloser Räuber überfallen, und sie haben unseren Prior ergriffen und irgendwohin verschleppt…« Die Stimme des Sprechers hatte sich in seiner Aufregung schrill gesteigert; inzwischen hatte er die Aufmerksamkeit sämtlicher im Saal Anwesender auf sich gelenkt – zweifellos auch die von Cadfael. Herrenlose Räuber zwei Meilen von Woodstock, die in der letzten Nacht ihrem schmutzigen Handwerk nachgingen – das mußten dieselben sein, die sich auch auf Roger Mauduit gestürzt und ihm nach dem Leben getrachtet hatten. Schon eine solche Bande, so nahe beim Hof des Königs, war erstaunlich genug – es konnte keine zwei davon geben. Der Protokollführer war wütend angesichts einer derartigen Vorstellung. »Ergriffen und fortgeschleppt? Und ihr vier wart bei ihm? Kann das die Wahrheit sein? Wie viele waren es denn, die euch überfallen haben?« »Wir können es nicht genau sagen. Mindestens drei – aber sie haben in einem Hinterhalt auf uns gelauert, und für uns gab es keine Chance, ihnen Widerstand zu leisten. Sie zogen den Prior von seinem Pferd und verschwanden mit ihm in die Büsche. Sie kannten sich aus in den Wäldern, und wir nicht. Sir, wir haben versucht, ihnen zu folgen, aber sie sind uns entwischt.« Kein Zweifel, sie hatten ihr Bestes getan, denn zwei von ihnen konnten blaue Flecken und Kratzer aufweisen; außerdem waren sie alle drei mit zerrissener und verschmutzter Kleidung eingetroffen. »Wir haben die ganze Nacht nach unserem Prior gesucht, aber keine Spur von ihm entdeckt – nur sein Pferd haben wir gefunden, eine Meile weiter auf der Straße, als wir hierherkamen. Daher plädieren wir hier dafür, daß die Abwesenheit unseres Priors kein Verschulden seinerseits darstellt, denn er wäre mit uns noch in der vergangenen Nacht hier angekommen, wenn alles wie geplant verlaufen wäre.« »Ruhe, wartet!« sagte der Protokollführer gebieterisch.
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Aller Augen richteten sich inzwischen auf die große Tür des Gerichtssaals, wo eine Schar von Hofbeamten in Sicht gekommen war und sich mit zielbewußter und drohender Hast einen Weg durch die Anwesenden bahnte, um die Mitte des Saals unterhalb des Podests mit dem Thron des Königs einzunehmen. Ein Kammerherr, schon älter und mit großer Autorität, schlug mit seinem Stab laut auf den Boden und forderte auf diese Weise Aufmerksamkeit. Angesichts seiner ernsten Miene fiel die Stille wie ein Stein auf den Saal. »Mylords, Gentlemen, Sie alle, die Ihr hier und heute Eure Gesuche einzubringen beabsichtigt, werdet gebeten, Euch zu zerstreuen, da heute keine Gerichtssitzung stattfinden kann. Die Behandlung der Klagen, die hier vorgebracht werden sollten, muß um drei Tage verschoben werden; sie werden dann von den Richtern Seiner Gnaden verhandelt werden. Seine Gnaden der König kann nicht zur Rechtssprechung erscheinen.« Diesmal fiel das Schweigen wie ein schwerer Vorhang, der jeden Gedanken und jeden Widerspruch erstickte. »Der Hof ist von dieser Stunde an in Trauer. Wir haben Nachrichten von erschütternder Bedeutung erhalten. Seine Gnaden der König haben mit dem größten Teil seiner Flotte die Überfahrt nach England sicher hinter sich gebracht, wie bekannt, aber die Blanche Nef, auf der sich der Sohn und Thronerbe Seiner Gnaden, Prinz William, mit seiner jungen Frau, allen seinen Begleitern und vielen anderen Edelleuten befand, stach ein wenig später in See und wurde von heftigen Stürmen erfaßt, noch ehe das Schiff Barfleur verlassen hatte. Es wurde gegen die Felsenküste geschleudert, wo es zertrümmert wurde und mit allen Mann an Bord untergegangen ist. Keiner konnte sich sicher an Land retten. Geht also still von hier und betet für die Seelen der Blüte unseres Reiches, welche mit dem Schiff zugrunde gegangen ist.« Das also war das Ende eines triumphalen Jahres für den König, ein nutzloser Gewinn, ein ruinöser Sieg. Die Normandie gewonnen, die Feinde besiegt und in die Flucht geschlagen, und nun alles sinnlos, zerbrochen und zersplittert an einem widerborstigen Felsen, davongeschwemmt mit einer boshaften See. Sein einziger rechtmäßiger Sohn, der eben erst in Glanz und Ruhm geheiratet hatte – jetzt wurde
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ihm nicht einmal ein Sarg und ein Grab zuteil, denn wenn diese königlichen Leichname jemals gefunden würden, dann nur durch die Gnade Gottes; nur selten warf die See das, was sie den Menschen bei Barfleur entrissen hatte, wieder an Land zurück. Selbst einige illegitime Söhne Heinrichs, von denen es eine ganze Zahl gab, waren mit ihrem königlichen Bruder zugrunde gegangen, und niemand außer der einen, rechtmäßigen Tochter war verblieben, um ein derart verarmtes Reich zu erben. Cadfael wanderte allein durch einen Teil des königlichen Parks und dachte an die Torheit sterblichen Ruhms, für den ein so bitterer Preis bezahlt werden mußte. Aber er dachte auch an die Angelegenheiten der unbedeutenden Menschen, denen selbst ein glückloser König Gerechtigkeit schuldete. Denn irgendwo hier in der Umgebung mußte sich noch der verschleppte Prior von Shrewsbury aufhalten, nach dem es zu suchen galt, jener Mann, der von Vogelfreien im Wald ergriffen worden war, ein Kläger, von dem vielleicht auch noch in drei Tagen keine Spur zu entdecken war, wenn seine Klage zu Gehör gebracht werden sollte – es sei denn, daß jemand in der Zwischenzeit darauf kam, wo man ihn finden konnte. Für Cadfael gab es jetzt kaum noch Zweifel. Eine gesetzlose Bande, die sich so nahe am Sitz des Königs herumtrieb, war unwahrscheinlich genug, und Cadfael war ein Mensch, der sich mit solchen Unwahrscheinlichkeiten nicht zufriedengab. Daß es zwei Banden dieser Art geben sollte, war ausgeschlossen. Und wenn es nur eine gab, dann war es diejenige, deren Hinterhalt er aus einiger Entfernung gehört hatte, entfernt zwar, aber doch auch nahe, ja, geradezu günstig nahe bei Roger Mauduits Jagdhaus. Vermutlich durchsuchten die unglücklichen Fratres aus Shrewsbury weiter die Wildnis des Waldes in der Nähe von Woodstock. Cadfael wußte besser, wo man nach dem Entführten suchen mußte. Kein Zweifel, daß sich Roger wieder die Nägel biß, aus Nervosität über die Verzögerung, aber er hatte keinen Grund zu der Befürchtung, der Gefangene könnte innerhalb der drei Tage freikommen, um gegen ihn aufzutreten, und vermutlich kümmerte er sich auch nicht viel darum, was sein walisischer Soldat in dieser Zeit trieb.
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Cadfael nahm sein Pferd und ritt ohne Hast zurück zu Mauduits Jagdhaus. Er erreichte es zur frühen Dämmerung, als gerade das Nachtmahl vorüber war. Niemand achtete um diese Tageszeit auf ihn – weder hier noch dort. Roger nahm an, er brauchte nur den Mund zu halten und das, was er wußte, die nächsten drei Tage für sich zu behalten, dann würde das strittige Gut ihm zugesprochen werden. Alles war bestens im Griff. Zwei von den Soldaten und ein Diener waren im Jagdhaus zurückgelassen worden. Cadfael bezweifelte, daß der Mann, den sie bewachten, im Haus selbst anzutreffen war, denn wenn man ihm nicht die Augen verbunden hatte, würde er zuviel von der Umgebung erkennen können, und die Fabel von den Vogelfreien war dann reif für den Abfallhaufen. Nein, man würde ihn irgendwo in der Dunkelheit gefangenhalten, bestenfalls tagsüber bei schwachem Licht, im Stroh oder auf dem Lehmboden einer einfachen Hütte, wo man ihn mit geeigneten, aber einfachen und schlichten Mahlzeiten füttern würde, so, wie wilde, gesetzlose Männer ihre Gefangenen halten, die sie nicht umbringen wollen, sei es aus Angst oder aus Aberglauben, bis sie sie an irgendeinem fernen Ort freilassen, nachdem sie ihnen alle Schätze abgenommen haben. Andererseits mußte er irgendwo sicher innerhalb der Umfriedung sein, sonst wäre das Risiko zu groß gewesen, daß man ihn fand. Zwischen dem Tor und dem Haus gab es genug Bäume, um das Versteck einer einflußreichen Persönlichkeit zu verbergen. Irgendwo in der Nähe, zwischen den Stallungen und den Scheunen, vielleicht in einem der jetzt leeren Hundezwinger, mußten sie ihn gefangenhalten. Cadfael führte sein Pferd heimlich ein Stück weg von der Umfriedung und fand für sich selbst einen Hochsitz auf einer großen Eiche, von dem aus er über den Zaun in den Hof des Jagdhauses hineinschauen konnte. Er hatte Glück. Die drei im Haus ließen sich Zeit, bevor sie ihren Gefangenen fütterten; sie schienen auf die Dunkelheit zu warten. Als der Diener aus dem Haus kam, einen Krug und eine Schüssel in der Hand, hatten sich Cadfaels Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Die drei Bewacher machten es sich leicht, da sie mit keinem Dazwischentreten von Außenstehenden rechneten. Der Diener ver-
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schwand für kurze Zeit zwischen den Bäumen innerhalb der Umfriedung, dann tauchte er wieder auf vor einem der niedrigen Bauten, die sich an den Zaun duckten, stellte seinen Krug einen Moment ab, während er den großen Holzriegel beiseite schob, der die Tür eines Schuppens von außen verschloß, und verschwand dann in dem niedrigen Bau. Die Tür donnerte von innen zu, als hätte er sich mit dem Rücken dagegen geworfen, um kein Risiko einzugehen, auch nicht bei einem ältlichen Mönch. Wenige Minuten danach kam er mit leeren Händen wieder heraus, schob den Holzriegel wieder an seine Stelle und kehrte pfeifend in das Jagdhaus und zum Genuß von Mauduits Ale zurück. Es war kein Stall und auch kein Hundekoben, sondern ein kleiner Heuschober auf kurzen, hölzernen Stützen, die das Heu trocken halten sollten. Wenigstens hatte der Prior dadurch ein einigermaßen bequemes Lager. Cadfael wartete, bis das letzte Licht des Tages verschwunden war, ehe er in Aktion trat. Die hölzerne Umfriedung war wehrhaft und hoch, aber von den Bäumen neigten sich mehrere Äste darüber, und es war nicht schwer, hinaufzuklettern und sich innerhalb des Zauns ins Gras fallen zu lassen. Erst ging er zum Tor und entriegelte leise die kleine Pforte, die sich darin befand. Schwache Strahlen des Fakkellichts stahlen sich durch die Ritzen in den Läden, aber nichts rührte sich im Jagdhaus. Cadfael packte den schweren Balkenriegel vor der Tür des Heulagers, hob ihn hoch und nahm ihn sachte aus der Halterung, dann öffnete er behutsam die Tür einen Spalt und flüsterte hinein: »Pater…?« Drinnen hörte man das Rascheln von Heu, aber die Antwort erfolgte nicht gleich. »Pater Prior, seid Ihr es? Leise… Seid Ihr gefesselt?« Eine zögernde und etwas zitternde Stimme sagte: »Nein.« Und gleich danach, etwas zuversichtlicher: »Mein Sohn, gehörst du nicht zu diesen sündigen Männern?« »Ich bin ein Sünder wie sie, aber ich gehöre nicht zu ihnen. Still jetzt! Ich habe ein Pferd zu Eurer Rettung in der Nähe. Ich bin von Woodstock gekommen, um Euch zu suchen. Reicht mir Eure Hand, Pater, und kommt mit mir.«
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Eine Hand streckte sich zitternd aus der nach Heu duftenden Dunkelheit und griff nach Cadfaels Hand. Der helle Fleck der Tonsur auf dem Schädel des Priors leuchtete schwach, und eine kleine, rundliche Gestalt kroch durch die Tür und heraus ins Gras. Er war schlau genug, zunächst keine Atemluft mit Fragen zu verschwenden; statt dessen stand er gottergeben und stumm da, während Cadfael die Tür wieder verriegelte, ihn dann an der Hand nahm und ihn sachte den Zaun entlang zur geöffneten Pforte im großen Tor führte. Erst als die Pforte hinter ihnen geschlossen war, stieß er einen großen, dankbaren Seufzer aus. Sie waren draußen, es war geschafft, und niemand würde vor dem kommenden Morgen etwas von der Entführung erfahren. Cadfael führte den Prior zu der Stelle, wo er sein Pferd an einen Baum gebunden hatte. Der Wald war still und ruhig ringsumher. »Ihr reitet, Pater, und ich gehe nebenher. Es sind höchstens zwei Meilen bis Woodstock. Wir sind jetzt in Sicherheit.« Verwirrt und verstört durch eine so plötzliche und unerwartete Wende, gehorchte der Prior wie ein Kind. Erst als sie auf der stillen Straße waren, sagte er betrübt: »Ich habe meine Mission dennoch verfehlt. Mein Sohn, Gott segne dich für diese Güte, die jenseits meines Verstehens liegt. Denn woher wußtest du von mir, und wie konntest du ahnen, wo du mich finden solltest? Ich begreife selbst nicht einmal, was mit mir geschehen ist. Und ich bin kein besonders mutiger Mann… Aber mein Fehlen ist nicht deine Schuld, und meine Rettung verdanke ich ganz allein dir.« »Ihr habt Eure Mission noch nicht verfehlt, Pater«, sagte Cadfael schlicht. »Eure Klage ist noch nicht gehört worden; bis dahin sind noch drei Tage Zeit. Alle Eure Begleiter sind sicher in Woodstock angekommen, aber sie machen sich große Sorgen und suchen nach Euch. Und falls Ihr wißt, wo sie zu logieren beabsichtigen, empfehle ich Euch jetzt, daß Ihr Euch zu ihnen begebt und Euch möglichst nicht blicken laßt, bis der Fall gehört wird. Denn wenn dieser Hinterhalt dazu bestimmt war, Euch am Erscheinen vor dem Gerichtshof des Königs zu hindern, könnte es sein, daß noch weitere Versuche dazu unternommen werden. Sind Eure Beweise in Sicherheit? Hat man sie Euch nicht abgenommen?«
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»Bruder Orderic, mein Schreiber, hatte die Dokumente bei sich, aber er ist nicht berechtigt, den Fall bei Gericht vorzutragen. Ich bin als einziger akkreditiert, meinen Abt zu vertreten. Doch wie kommt es, mein Sohn, daß der Fall noch immer ungehört ist? Der König ist bekannt dafür, daß er streng den Tag und die Stunde einhält. Wie kommt es, daß Gott und du mich von der Schande und dem Verlust bewahrt haben?« »Pater, der König konnte aus einem allzu bitteren Anlaß nicht beim Gerichtstermin erscheinen.« Cadfael berichtete ihm, daß die Hälfte der jungen Adeligen Englands auf einen Schlag ausgelöscht worden und der König ohne einen Erben geblieben war. Prior Heribert begann entsetzt und erschüttert, in trübseligem Flüstern für die Toten und die Lebenden zu beten, und Cadfael ging schweigend neben dem Pferd her, denn was hätte er noch dazu sagen sollen? Nur daß König Heinrich selbst in dieser erschütternden Stunde darauf achten würde, der Gerechtigkeit Genüge zu tun, und daß jeder Monarch seine Tugenden habe. Erst als sie in den schlafenden Ort kamen, unterbrach Cadfael die Gebete des Priors mit einer seltsamen Frage. »Pater, trug einer von Euren Bewachern Stahl? Ich meine, einen Dolch oder eine ähnliche Waffe?« »Nein, nein, da sei Gott vor«, sagte der Prior schockiert. »Wir sind Männer des Friedens und benützen keine Waffen. Wir vertrauen auf Gott und auf den König.« »Das habe ich mir gedacht«, sagte Cadfael und nickte. »Ihr habt einen anderen Beruf, und er führt zu einem anderen Ziel.« An der Veränderung in Mauduits Haltung erkannte Cadfael die Stunde des folgenden Tages, zu der ihn die Nachricht erreicht hatte, daß sein Gefangener entkommen war. Den Rest des Tages verbrachte der Lord mit angespannten Nerven und gespitzten Ohren nach irgendwelchen sensationellen Gerüchten, die am Ort umhergehen mochten, und er strengte besorgt die Augen an, um Prior Heribert bei Hofe oder auf der Straße zu erblicken, vielleicht nachdem er seine Klage bei den Offizieren des Königs vorgebracht hatte. Doch mit den Stunden, die verstrichen, ohne daß man seiner ansichtig geworden wäre, lösten sich seine größten Sorgen, und er hoffte immer noch auf
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eine günstige Lösung seiner Angelegenheiten. Die Benediktinerpatres waren hier und da zu sehen, schweigsam und mit verschlossenen Gesichtern, – sicher hatten sie noch nichts von ihrem Vorgesetzten gehört. Es gab nichts zu tun, als die Zähne zusammenzubeißen, Haltung zu bewahren, zu warten und zu hoffen. Der zweite Tag verstrich, der dritte kam heran, und Mauduits Hoffnungen hatten sich wieder erholt, denn noch immer hatte man nichts vom Prior gehört. Er trat vertrauensvoll vor das Gericht des Königs, seine Dokumente in der Hand. Der Abt war Kläger in dem Prozeß. Wenn alles gutging, würde Roger seinen Fall nicht einmal vortragen müssen, denn die Klage verfiel, sobald der Kläger sich nicht im entsprechenden Augenblick vor dem Gericht sehen ließ. Es war für alle ein erschütternder Schock, als eine Bewegung an der Tür entstand, genau zur vorbestimmten Zeit, und ein kleiner, rundlicher, wenig beeindruckender Mann im Habit der Benediktiner auftrat, mit einem Arm voll Pergamentrollen, gefolgt von seinen schwarzgekleideten Begleitern. Auch Cadfael betrachtete den Prior mit Interesse, denn es war das erste Mal, daß er ihn im hellen Licht des Tages deutlich sehen konnte. Ein bescheidener, feister Mann mit freundlichem Gebaren, rosig und milde. Nicht so alt wie er ihn in der Nacht geschätzt hatte, vielleicht fünfundvierzig, ein Mensch, der deutlich Arglosigkeit verströmte. Doch für Roger Mauduit hätte ebensogut ein wütender, feuerspeiender Drache den Saal betreten haben können. Und wer hätte von dieser sanften, fast demütigen Erscheinung die Klarheit und Beschlagenheit erwartet, mit der der kleine Mann seine Urkunde darlegte, die Punkt für Punkt identisch war mit der von Roger, wie sie Alard dargestellt hatte, das heißt, ohne irgendeine spezielle Anordnung über das, was nach Arnulf Mauduits Tod mit dem Besitz geschehen sollte – wie genau er gerade auf diese Auslassung hinwies und auf die Argumente, denen dieser Umstand Nahrung geben würde. Er ließ die Lesung zweier Briefe folgen, welche derselbe Arnulf Mauduit an Abt Fulchered geschrieben hatte und in denen er mit klaren Worten beschrieb, daß das Gut, das Herrenhaus und das Dorf nach seinem Tod an das Kloster zurückfallen sollten, und daß er seinen Sohn auf diese Verpflichtungen hinweisen würde.
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Vielleicht war es der Mangel an Gegenbeweisen, der Rogers Stellung vor Gericht so schwach erscheinen ließ, vielleicht war es auch die Zurschaustellung seines schlechten Gewissens. Was auch immer, der Fall wurde zugunsten der Abtei entschieden. Eine Stunde, nachdem das Urteil gefällt worden war und ehe der Lord Woodstock verließ, trat Cadfael vor ihn hin. »Mylord, Euer Prozeß ist abgeschlossen, und damit endet auch mein Dienst bei Euch. Ich habe alles getan, wie es vereinbart war, – hier trenne ich mich von Euch.« Roger saß da, versunken in Trübsal und Zorn, und seine Augen funkelten ihn an, daß er hätte tot umfallen können, doch der Blick verfehlte seine Wirkung. »Ich habe mich geirrt«, sagte Roger drohend, »als ich glaubte, du hättest mir deine Treue bewiesen. Wer sonst hätte wissen können…« Er biß sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge, denn solange es ungesagt blieb, war keine Anklage erhoben, und keine Erwiderung war nötig. Er hätte ihn gern gefragt, wie er in der Tat dahintergekommen war, doch er hatte es sich überlegt und anders entschieden. »Zieh denn hin, ich habe dir nichts mehr zu sagen.« »Was das betrifft«, antwortete Cadfael beziehungsvoll, »braucht auch nichts mehr gesagt zu werden. Es ist vorbei.« Und das war als ein Versprechen zu erkennen, freilich mit einem etwas schiefen Klang, denn in einer anderen Angelegenheit hatte er noch einiges zu sagen. »Mylord, ich bitte Euch, folgendes zu bedenken, denn ich war bis jetzt in Eurem Dienst und wünsche auch fortan nicht, daß Euch Übles zustößt. Von den vier Benediktinern, die Prior Heribert hierher begleitet haben, hat keiner Waffen getragen. Diese fünf Männer waren weder mit Schwertern noch mit Dolchen oder sonstigen Waffen irgendwelcher Art ausgerüstet.« Er sah, wie der Lord die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, zu begreifen begann, langsam, aber mit unerbittlicher Macht. Die Bande von Vogelfreien war nichts als ein Märchen gewesen, aber bis dahin hatte Roger angenommen, wie es ja auch ganz natürlich war, daß der Dolchstoß im Wald ein mutiger Abwehrversuch eines Klosterbruders gewesen war, der damit versucht hatte, seinen Prior zu schützen. Er
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blinzelte, schluckte und starrte Cadfael an, dann begann er zu schwitzen und erkannte den Abgrund, in den er beinahe gestürzt wäre. »Niemand hat Waffen getragen«, bekräftigte Cadfael, »außer Euren eigenen Leuten.« Es war ein zweifacher Hinterhalt gewesen, der den Lord nachts hinausgetrieben hatte in den Wald; wobei ihm einer gänzlich verborgen geblieben war. Zwischen Woodstock und Sutton Mauduit waren es hin wie zurück gleich viele Meilen, und es würde andere dunkle Nächte geben… »Wer?« fragte Roger in rauhem Flüstern. »Welcher von ihnen! Nenne einen Namen!« »Nein«, erwiderte Cadfael einfach. »Diese Taufe müßt Ihr selbst vornehmen. Ich bin nicht mehr in Euren Diensten und habe gesagt, was ich sagen wollte.« Rogers Gesicht war grau geworden. Er hörte wieder den Plan, der ihm von seiner Frau so verführerisch ins Ohr geflüstert worden war… »Du kannst mich jetzt nicht einfach verlassen! Wenn du so viel weißt, kehre in Gottes Namen zurück zu mir, oder bring mich wenigstens sicher nach Hause! Dir allein kann ich noch trauen.« »Nein«, sagte Cadfael noch einmal. »Ihr seid gewarnt – nun achtet selbst auf Euch.« Es war fair, fand er, und es war genug. Er wandte sich um und ging ohne ein weiteres Wort. Er ging so, wie er war, zur Vesperandacht in die Pfarrkirche, einfach deshalb – das jedenfalls glaubte er in diesem Augenblick –, weil ihn das Dämmerlicht hinter der offenen Tür in die Stille der Gedanken lockte, und weil gerade die Glocke ertönte. Der kleine Prior war da und dankte seinem Herrn im Gebet – auch er ein Geschöpf, das ihn dazu gedrängt hatte, eine Aufgabe zu erfüllen, der eine Seite im Buch seines Lebens geschrieben hatte. Cadfael wartete die Messe ab und stand still und stumm noch eine Weile da, als der Priester und die Gläubigen die Kirche verlassen hatten. Die Stille danach war tiefer als der Ozean und sicherer als die Erde. Cadfael atmete die Luft ein und genoß sie wie frisches Brot. Es war die leichte Berührung einer Hand am Knauf seines Schwerts, die ihn aus der völligen Entrücktheit riß. Er schaute hinunter und sah
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einen kleinen Ministranten, der ihm nicht weiter als bis zum Ellbogen reichte und ihn ernst aus großen, runden Augen von strahlendem Blau anschaute – so ernst wie ein Bote der Engel. »Sir«, sagte das Kind in schüchternem Tadel und tippte auf den Knauf des Schwerts mit kindlichem Finger, »ist es nicht Sitte, daß alle Kriegswaffen in der Kirche abgelegt werden?« »Sir«, antwortete Cadfael kaum weniger ernst, obwohl er dazu lächelte, »da habt Ihr vollkommen recht.« Und langsam nahm er das Schwert von seinem Gürtel und ging und legte es auf die unterste Treppe des Altars. Es sah irgendwie passend und sehr friedlich aus. Das Heft war immerhin ein Kreuz. Prior Heribert saß mit seinen glücklichen Brüdern bei einem üppigen Mahl im Haus des Pfarrers, als sich Cadfael eine Audienz bei ihm erbat. Der kleine, rundliche Mann kam freundlich heraus, um einen Fremden zu begrüßen, und als dieser nahe genug herangekommen war, erkannte er den Freund. »Du, mein Sohn! Und sicher warst du es auch bei der Vesper? Ich fühlte, daß mir deine Gestalt vertraut war. Du bist der willkommenste Gast hier bei mir, und wenn ich etwas tun kann, um dir das zu vergelten, was du für mich getan hast, brauchst du es nur beim Namen zu nennen.« »Pater«, sagte Cadfael, und in seiner Stimme war immer deutlicher der heimatlich-walisische Akzent zu erkennen, »reitet Ihr morgen nach Hause?« »Sicher, mein Sohn, wir verlassen Woodstock nach Tagesanbruch. Abt Godefrid wird schon warten, um zu erfahren, wie es uns ergangen ist.« »Dann, Pater, bin ich hier an der Wende meines Lebens, frei aus den Diensten meines Herrn und am Ende mit dem Dienst an den Waffen. Nehmt mich mit Euch!« Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Maurice Richardson Der Turm des Schweigens Ich liebe meinen Club. Etwas köstlich Beruhigendes geht von seiner ledergepolsterten, Eunuchenhaften Gemütlichkeit und den Mahlzeiten unter Männern aus. Sicher, ich weiß… weibliche Bedienungen haben mittlerweile auch hier das Regiment übernommen; doch unsere Damen sind genau richtig: respektable, ältere Kindermädchen und nicht jene männermordenden Medusen, deren Parfümdunst sich störend über deine Wildpastete legt. Selbstverständlich hat so ein Club auch seine Nachteile. Einer davon ist jene traditionelle höfliche Kameradschaft unter den Mitgliedern, die es einem schwermacht, Langweilern aus dem Weg zu gehen; trotzdem ist der Club außerordentlich gemütlich und verfügt über eine gute Bibliothek. Ich wünschte nur, ich könnte mehr Zeit dort verbringen, aber als angehender Psychiater, Assistenzarzt in einer der großen psychiatrischen Kliniken am Stadtrand kann ich mich glücklich schätzen, wenigstens alle vierzehn Tage einen halben Tag freizuhaben. An diesem Tag wollte ich mich etwas verwöhnen. Ich hatte gerade einen Anfall von Grippe überwunden und das Gefühl, mir eine Belohnung schuldig zu sein. Ich speiste allein zu Mittag… mit Leberpastete, Hühnerfrikassee und einer Flasche Rotwein, also leichter Krankenkost. Anschließend zog ich mich mit einem großen Glas weißem Portwein und einer Tasse Kaffee auf das rote Ledersofa im Erker des Raucherzimmers zurück; es ist im übrigen die großartigste Sitzgelegenheit, die ich kenne. Wir haben mehrere Mediziner unter den Mitgliedern. Unser Club kann auf eine beachtliche Tradition in diesem Punkt zurückblicken. Angeblich ist unser Club die einzige Institution in London, in der zwei Fachärzte für Geschlechtskrankheiten dem zweiten Portier eine kostenlose Sprechstunde auf dem Billardtisch gewährt haben sollen. Unter den Medizinern befinden sich vereinzelt Psychiater, darunter auch zwei Psychoanalytiker, die sich anfänglich als Freudianer, beziehungsweise Jungianer angefeindet hatten, mittlerweile jedoch, im Rahmen eines Ärztehauses mit einer etwas nebulösen Doktrin, Bu-
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senfreunde geworden sind und, wie man sich erzählt, jedes Schaltjahr Patienten tauschen sollen. Wir alle enthalten uns jeder Fachsimpelei im Club… alle, mit einer Ausnahme. Und gerade, als ich nach meinem Verdauungsschlaf die Augen wieder aufschlug, fiel mein Blick ausgerechnet auf ihn: den einzigartigen Dr. Gilhooley, das Fossil. Mit Sicherheit ist er das älteste Clubmitglied und wird völlig zu Unrecht der »Stimmungstöter« genannt, denn er kann außerordentlich spannend erzählen. Allerdings braucht er dazu viel Zeit, und solange ich nicht gerade den ganzen Nachmittag freihabe, bin ich ungern derjenige von den drei oder vieren, die er gerade aufs Korn nimmt. Dr. Gilhooley ist ein wohlproportionierter Mann von einem besonderen Menschenschlag, dessen Herz sich nie überanstrengt. Zwar war sein Gesicht im Alter zu einer reptilähnlichen Maske zusammengeschrumpft, doch seine haselnußbraunen Augen hatten noch immer jugendlichen Glanz, und er bewegte sich mit eidechsenartiger Geschmeidigkeit. Er trug stets sehr bequem aussehende, gutgeschnittene Flanellanzüge und weiche Seidenhemden mit lapprigen Kragen. »Ich hatte sehr gehofft, daß Sie aufwachen würden«, begann er. »Schließlich wollte ich Ihnen zu Ihrem Psychologie-Diplom gratulieren.« Das Psychologie-Diplom gehörte zu den obligatorischen Examina während der Ausbildung zum Psychiater. Es war daher schon schlau von ihm, anzunehmen, daß ich es bestanden hatte. »Ich hoffe«, fuhr er mit jenem krächzenden Kichern fort, mit dem alte Herren häufig einen Scherz einzuleiten pflegen, »daß Sie damit Ihre Großhirnrinde nicht überstrapaziert haben. Kennen Sie die Hypothesen von Batty Tuke?« »Leider nein«, erwiderte ich. »Er muß vor meiner Zeit gewesen sein.« »Weit vor Ihrer Zeit«, bestätigte er. »Sir J. Batty Tuke war sein richtiger Name. Hat ’ne Menge Aufsehen in der Psychiatrie der Jahrhundertwende erregt. Seiner Ansicht nach ist geistige Überanstrengung häufig Ursache für Geisteskrankheiten. Eine seiner Theorien war… aber sagen Sie das bloß nie laut… daß die meisten jungen Mediziner sich nie von ihren Examina erholt haben.«
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Ich bestellte noch zwei Gläser hellen Portwein. Dr. Gilhooley bevorzugte ebenfalls hellen Port. Er glaubte, der helle Port sei für Arterien und den Magen- und Darmtrakt bekömmlicher als der Jahrgangsport. Ich lehnte mich also entspannt in die Polster zurück und erwartete, noch mehr Kuriositäten aus der Psychiatrie der Jahrhundertwende zu hören. Dr. Gilhooley jedoch hatte offenbar plötzlich den Faden verloren, wie bei Menschen seines Alters durchaus üblich, und begann mit einer detaillierten, nahezu fehlerlosen Nacherzählung des Films »Mord im Orient-Expreß«. »Also jetzt sagen Sie doch mal«, schloß er, »finden Sie die Geschichte realistisch? Ich meine, glauben Sie, es könnten sich tatsächlich ein Dutzend Leute zusammentun, um eine Person auf eine Art und Weise zu ermorden, ohne daß der Verdacht auf einen von ihnen fallen könnte?« Ich antwortete, daß ich das für unwahrscheinlich hielte, obwohl es in einer geschlossenen Gemeinschaft wie im Gefängnis, an Bord eines Schiffes oder in einer Kaserne durchaus vorkommen könnte. »Aber nicht in einer psychiatrischen Anstalt, möchte man meinen, oder?« »Du meine Güte, nein! Das heißt, ich hoffe es wenigstens nicht.« »Und doch ist ein solcher Mord in Wendover passiert, wo Sie, wenn ich mich nicht irre, gerade Assistenzarzt sind.« »Stimmt das wirklich? Das muß aber schon lange her sein.« »Richtig. Jahre bevor Sie geboren wurden. Möchten Sie die Geschichte hören? Wenn ich sie einem Laien erzählen würde, müßte ich natürlich zuerst den Ort des Geschehens beschreiben. Bei Ihnen ist das ja nicht nötig…« Wendover gehört wie Hanwell und Friern zu jenen großen Psychiatrischen Anstalten, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstanden. Es ist ein viktorianischer Alptraum in grauen und gelben Klinkersteinen. Erst in den vergangenen fünfzehn Jahren wurden die Belegzahlen reduziert, und das Gebäude wenigstens teilweise modernisiert. Trotzdem läßt die Institution noch einiges zu wünschen übrig; doch verglichen mit früheren Verhältnissen ist es schon fast das Paradies.
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Dr. Gilhooley trank einen großen Schluck Portwein und leckte sich dann die Lippen, die, wie ich automatisch registrierte, bläulich gefärbt und fleckig waren wie eine seltene Orchidee. »Also lassen Sie mich diese schreckliche Geschichte weitererzählen«, sagte er. »Sie spielt um die Jahrhundertwende. Und die Anstalt hat sich rein äußerlich seit damals kaum verändert. Nur ein Gebäudeteil fehlt. Er wurde abgerissen, es war ein Turm, von dem aus man den gesamten Anstaltskomplex überblicken konnte… also praktisch ein Wachturm. Um die Jahrhundertwende gab es fast nur Zwangseinweisungen, und die Behörden hatten panische Angst vor Ausbrüchen. Das müssen Sie bedenken… Aber wie soll ich Ihnen nur den Unterschied einer Psychiatrischen Anstalt von heute und damals erklären? Warten Sie… Wann haben Sie Examen gemacht?« »Vor sieben Jahren.« »Das bedeutet, daß Sie nicht mehr erlebt haben, wie eine geschlossene Abteilung für Männer in jenen Tagen vor der revolutionären Einführung der Chlorpromazine, und damit der Psychopharmaka in der Psychiatrie, ausgesehen hat. Damals ging es den ganzen Tag hoch her. Patienten mit akuten Erregungszuständen wurden in die Gummizellen gesteckt. Insassen mit leichteren Symptomen haben die anderen so lange gereizt und aufgestachelt, bis es zu Handgreiflichkeiten kam…« »Ist doch klar«, warf ich ein. »Die Patienten bekamen natürlich nicht alle gleichzeitig ihre Anfälle.« »Ganz richtig. Und das Personal… und zwar sowohl die Ärzte als auch die Pfleger… übten hauptsächlich die Funktion von Bewachern aus. Mein Gott, als ich noch ein junger Mann war, trugen die Pfleger dunkelblaue Uniformen und Mützen wie Gefängniswärter. Die meisten von ihnen kannten Zeitungen nur als Unterlage für ihre Mahlzeiten. Aber einige dieser Analphabeten waren wirklich gute Pfleger. Sie besaßen ein ganz natürliches Einfühlungsvermögen.« Ich erzählte ihm daraufhin, daß es mich interessieren würde, was diese Leute wohl zur modernen Psychiatrie mit der Behandlung durch Gruppentherapien und mit täglichen Gemeinschaftsveranstaltungen von Ärzten, Patienten und Pflegepersonal sagen würden.
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»Die würde glatt der Schlag treffen«, entgegnete Dr. Gilhooley prompt. »Oh, auf Widerstand in dieser Richtung stoßen wir auch noch in unserer aufgeklärten Zeit«, gab ich zu bedenken. »Als die Gruppentherapie eingeführt wurde, hat dies unter dem Pflegepersonal oft Bitterkeit und Unverständnis ausgelöst. Die Leute waren völlig verunsichert… Sie hatten zwar keine physische Angst, aber sie fürchteten doch, daß sie ihre Autorität verlieren könnten.« Dr. Gilhooley preßte die Lippen fest zusammen. »Wissen Sie, was man unter einer ›Bärengrube‹ verstand? In einer altmodischen Psychiatrischen Anstalt von damals war eine Bärengrube eine ungefähr 100 Quadratmeter große, mit einem hohen Lattenzaun umgebene Wiese mit ein paar Bäumen und wenigen Sitzgelegenheiten. An schönen, trockenen Nachmittagen wurden dort ungefähr zweihundert der schweren männlichen Fälle auf einmal losgelassen, damit sie sich an der frischen Luft bewegen konnten. Dann konnte man dort einen jungen Mann beobachten, der auf einem Baum saß und mit einem Stock zu schreiben versuchte, wie der Orlando in ›Was ihr wollt‹. Die leichteren Fälle von Schizophrenie standen in merkwürdig stereotypen Haltungen herum, andere liefen mit wütenden Schritten auf und ab. Gesprochen wurde nicht. Die Pfleger in Uniform saßen auf den Stühlen oder Bänken. Diese sogenannten Bärengruben gab es übrigens noch bis zum letzten Krieg. Sie können sich also vorstellen, welche Bedingungen früher geherrscht haben. Selbstverständlich war das von Anstalt zu Anstalt verschieden. Eines hatten diese Institutionen allerdings gemeinsam: sie litten hoffnungslos unter Personalmangel. Über das Problem wird auch heutzutage noch viel geredet, aber zu einer Zeit, da in Wendover 2600 Patienten untergebracht waren, wurde die Anstalt von einem Chefarzt und vier Stationsärzten geführt. Der Chefarzt war sozusagen das Gesetz. War sein Regiment lasch und war die Situation verhältnismäßig spannungsfrei, ließen auch die Stationsärzte die Zügel schleifen. Ich habe Anstalten gekannt, da wurde nur gesoffen und Billard gespielt.« »Alkohol und Billard«, seufzte ich. »Die Beschäftigungstherapie der vorsintflutlichen Psychiatrie. Tragen Sie da nicht ein bißchen zu dick auf, Dr. Gilhooley?«
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»Nein, mein Junge. Bestimmt nicht. Natürlich gab es gelegentlich Lichtblicke. Aber das hing wie gesagt von den jeweiligen Anstaltsleitern ab. Und die hatten durchaus auch ihre Macken. Einer der Chefärzte, unter denen ich gearbeitet habe, war ein fanatischer Krikket-Fan und glaubte an die besonderen therapeutischen Vorzüge dieses Spiels. Wenn er eine Stelle für einen Stationsarzt ausschreiben ließ, hatte die Annonce meist den Zusatz: ›Bewerbung nur von Krikketspielern erbeten. Werfer bevorzugt.‹ Tja, und dann gab es da natürlich noch den lieben alten Chesney, den ehemaligen Direktor von Coverdale. Er war ein Befürworter der Hydrotherapie… also der heilenden Wirkung von Bädern. Das war damals ein beliebtes Mittel, das man besonders bei manisch Depressiven anwandte. Wenn Sie im Handbuch der Psychiatrie aus dem letzten Jahrhundert unter dem Stichwort ›Bäder‹ nachschlagen, finden Sie dort 16 Varianten… so wahr ich hier sitze. Natürlich waren die entsprechenden Einrichtungen hierfür Mangelware. Chesney hat deshalb einen riesigen, flachen Tank installieren lassen…« Ich sah auf die Uhr. Es war schon beinahe Zeit für eine Tasse starken Tee mit Anchovis-Toast. Dr. Gilhooley war überglücklich, für so lange Zeit einen aufmerksamen Zuhörer zu haben. Er schnippte zufrieden mit den Fingern und war so in Fahrt, daß er gleich noch eine ganze Serie von seltsamen Anekdoten vom Stapel ließ. Zum Beispiel hatte es in einer Psychiatrischen Anstalt auf den Kanal-Inseln einen schizophrenen Insassen ohne jede Schulbildung gegeben, der, sobald man ihm ein Fossil in die Hand drückte, mit einer lebhaften Beschreibung der Landschaft jener Periode begann, aus der diese stammte. Der Chefarzt hat diesen Mann mit Vorliebe Besuchern vorgeführt. In einer anderen Anstalt hatte ein skandinavischer Matrose bei einer Darmentleerung fast ein Kilo Kieselsteine produziert. Im Jahr 1931 wiederum war einem gewissen Dr. Alexander Cannon, Stationsarzt in Colney Hatch, gekündigt worden, weil er in seinem Buch »Der unsichtbare Einfluß« behauptet hatte, mit 18 Gepäckstükken über eine Schlucht in Tibet geschwebt zu sein… »Aber ich schweife ab«, bemerkte Dr. Gilhooley plötzlich. »Verkalkung, natürlich. Eigentlich wollte ich Ihnen doch eine Horrorstory erzählen, oder? Was war das doch gleich?«
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»Eine Geschichte, die früher mal in Wendover passiert sein soll. Hatte was mit einem Turm zu tun.« »Natürlich, natürlich. Also angefangen hat alles mit der Ära eines neuen Chefarztes. Wantage, der alte Direktor, ging in Pension. Er war eher der Typ des passiven Aufpassers. ›Wir wollen eine ruhige friedliche Anstalt‹, war sein Leitspruch. Auf seinen Stationen herrschte der penetrante Geruch von Paraldehyd vor. Wantage war rundheraus gesagt stinkfaul. Außerdem war er Mitglied des ›Garrick‹ und spielte leidenschaftlich Bridge. Das ging sogar so weit, daß, sobald er wegen irgendwelcher Formalitäten in der Anstalt gebraucht wurde, man im Club anrief und behauptete: ›Dringende Nachricht für Dr. Wantage. Patient ist ausgebrochen.‹ Kaum war er dann zurück, wurde er so begrüßt: ›Alles in Ordnung, Doktor. Patient ist wieder da. Aber da Sie nun schon mal hier sind, könnten Sie bitte diese Papiere unterzeichnen?‹ Tja, und der Nachfolger, Dr. Makins, war das exakte Gegenteil. Er platzte fast vor reformerischem Eifer. Und selbstverständlich bedeuteten sämtliche Reformen mehr Arbeit fürs Pflegepersonal. Dr. Makins bestand zum Beispiel darauf, daß die Patienten, die unheilbar an Schizophrenie litten, täglich in Begleitung von zwei Pflegern zum Spazierengehen ausgeführt werden sollten. Dr. Makins selbst war ständig in der Anstalt unterwegs, beobachtete Patienten und öffnete bis dahin geschlossene Abteilungen. Es dauerte nicht lange, und das gesamte Pflegepersonal haßte den Mann wie die Pest.« »Und die Stationsärzte?« fragte ich. »Die mußten natürlich mitmachen. Sie taten es ungern, aber es blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Jedenfalls war ihr Berufsethos noch so weit intakt, daß sie sich von Makins’ neuem Schwung anstecken ließen. Alles wäre bestens gewesen, wäre es nicht zu der Tragödie gekommen, von der ich gleich berichten will.« Dr. Gilhooley machte eine Pause, um mir aus einem zwar abgeschabten aber noch immer teuer aussehenden Lederetui eine dicke, türkische Zigarette anzubieten. Er verband dies gleich mit einer Darstellung der Geschichte des Rauchens in England seit den Krimkriegen unter besonderer Berücksichtigung der Vorzüge des orientalischen gegenüber dem virginischen Tabak. Ich lenkte den alten Herrn
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sanft auf sein ursprüngliches Thema, indem ich mit dem Finger auf die Uhr pochte. »Sie wollen natürlich den Ausgang des Dramas erfahren, den man heutzutage als ›Clou‹ bezeichnen würde. Na gut. Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Unter jenen Patienten, deren Bedingungen sich unter Dr. Makins deutlich verbessert haben, war ein gewisser Beavis. Bei der ersten Untersuchung durch Dr. Makins war Beavis noch Insasse einer geschlossenen Abteilung. Man hatte ihn als manisch Depressiven mit deutlich paranoiden Tendenzen eingestuft. Wie Sie wissen, ist das keine seltene Kombination bei Geisteskranken, die zu unberechenbarem und aggressivem Verhalten führen kann. Beavis jedenfalls war ein Mann mittleren Alters von überdurchschnittlicher Intelligenz und Bildung. Auf Makins machte er einen durchaus positiven Eindruck. Er wirkte ruhig, vernünftig und geistig völlig klar. Beavis beklagte sich bei Makins darüber, daß er die Abteilung nicht verlassen und sich in keiner Art und Weise beschäftigen dürfe. Makins fragte ihn daraufhin, welche Beschäftigung ihm denn vorschwebe, und Beavis antwortete, er würde gern in der Tischlerei arbeiten. Makins besprach den Fall mit dem zuständigen Stationsarzt und dem Oberpfleger. Er sagte dabei offen, daß Beavis seiner Ansicht nach die Phase der Anfälle überwunden habe und im Hinblick auf eine mögliche Entlassung in einigen Wochen in eine andere Abteilung verlegt werden solle. Der Oberpfleger sprach sich sofort gegen solche Pläne aus. Er beschrieb Beavis als hinterhältigen Patienten, der zu unberechenbaren Gewaltausbrüchen neige. ›Ich kann Sie nur warnen, Dr. Makins‹, entgegnete der Oberpfleger respektvoll. ›Beavis ist verschlagen. Er kann tagelang lammfromm sein und dann plötzlich, ohne jede Vorwarnung, wird er böse. Bei Vollmond ist er natürlich völlig außer Rand und Band.‹« »Makins allerdings wollte davon nichts hören. ›Kommen Sie mir nicht mit diesen alten Ammenmärchen, Mann!‹ fuhr er den Pfleger an. ›Es ist schließlich kein Wunder, daß ein Patient mit seinem Intelligenzquotient wütend wird, wenn man ihn wie ein Tier im Käfig hält. Ich ordne hiermit an, daß er bis auf weiteres von heute an in Abteilung III verlegt wird. Sorgen Sie dafür, daß die Umquartierung noch vor dem Abendessen stattfindet.‹
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Beavis wurde also in die Abteilung III verlegt, was für einigen Aufruhr unter den Pflegern sorgte. Ich bin von jeher der Meinung gewesen, daß bei jedem Pflegepersonal ein geringer Prozentsatz von Heiligen, eine gehörige Portion ganz normaler Sterblicher und ein wiederum geringer Prozentsatz an üblen Zeitgenossen zu finden sind. Unter den normalen Sterblichen sind sicher etliche, die eher zur positiven oder zur negativen Seite tendieren, wobei sie sich an der allgemeinen Stimmungslage orientieren. Und die wiederum wird von oben gelenkt.« Dr. Gilhooley warf mir einen seiner schlauen Seitenblicke zu, um sich zu vergewissern, daß ich noch zuhörte, und schenkte zwei Tassen dunkelbraunen Tee ein, der stark genug war, um Tote aufzuwekken »Zugegeben, Makins war alles andere als diplomatisch«, fuhr er fort. »Aber Reformer sind das selten. Er war ein notorischer Wichtigtuer und hatte eine seltene Begabung, jeden gegen sich aufzubringen. Für das allerdings, was dann geschah, kann man ihn wirklich nicht verantwortlich machen… und doch ist er in gewissem Sinne daran schuld. Eine kurze Zeit lang ging alles gut. Beavis’ seelisches Gleichgewicht blieb intakt. Er arbeitete fleißig in der Tischlerwerkstatt, wo er das Modell einer römischen Galeere herstellte, und machte auch auf der Station keine Probleme. Dann geschah jedoch etwas, das die tickende Bombe zum Platzen brachte. Natürlich kann man sagen, daß jede Geisteskrankheit so eine Art Zeitzünder in sich birgt. Jedenfalls war das Ganze einfach verdammtes Pech. Im Zuge seiner Reformen hatte Dr. Makins nicht nur Patienten verlegt, sondern auch einigen Pflegern andere Aufgabenbereiche zugewiesen, denn er war, in etlichen Fällen völlig zu Recht, der Ansicht, daß einige Pfleger schon zu lange auf derselben Station gearbeitet hatten. Diese Veränderungen wurden nach einem Gespräch zwischen Dr. Makins und dem Oberpfleger, einem Mann namens Tunstall beschlossen. Tunstall, der denselben Rang bekleidete wie die Oberin bei den Krankenschwestern, hatte in der Anstaltshierarchie von damals eine Art Machtposition inne. Dem Oberpfleger stand es zum Beispiel zu, im Dienst einen Cut zu tragen. Tunstall hütete seine Machtposition eifersüchtig und aus Prinzip gegen jede Liberalisierung. Da er ein ge-
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schickter Heuchler und auch ein Mann mit einigem Organisationstalent war, war es ihm gelungen, gegenüber dem neuen Anstaltsleiter die Fassade williger Kooperation aufzubauen. Einer der Pfleger, den man von der geschlossenen Abteilung auf eine andere Station versetzt hatte, war ein junger Mann aus dem Norden, ein gewisser Birbeck. Birbeck war so etwas wie ein noch ungeschliffener Diamant… und wie viele andere Pfleger Soldat gewesen. An der Oberfläche wirkte er im Umgang mit den Patienten äußerst geschickt und einfühlsam, neigte jedoch insgeheim zur Brutalität. Zwischen ihm und Beavis bestand eine alte Feindschaft. Beavis hatte ihm gegenüber stets Verachtung gezeigt und ihm mit dem Instinkt des Paranoikers für die Schwächen der anderen zutiefst beleidigt. Jedenfalls war es zwischen den beiden zu einer handfesten Schlägerei gekommen, und der Oberpfleger hatte Birbecks Version der Auseinandersetzung akzeptiert. Und dann wurde Birbeck in Abteilung III versetzt, und der erste Patient, dem er dort begegnete, war Beavis. Man sollte annehmen, daß Beavis beim Anblick seines Todfeindes ähnlich einem entflohenen Sträfling bei seiner erneuten Festnahme in Panik geraten mußte, und diesen Eindruck vermittelte der Patient auch zuerst; aber das gab sich wieder. Sie können sich allerdings sicher vorstellen, welch gefährliche Spannung sich allmählich zwischen dem intelligenten, gebildeten Patienten und dem ungehobelten, einfachen Pfleger aufbaute. Es war gleich einem Unwetter, das sich Schritt für Schritt zum Orkan auswuchs. Und die Tatsache, daß Birbeck Oates, den Stationspfleger von Abteilung III überredete, Beavis regelmäßig bei seiner Rückkehr aus der Werkstatt durchsuchen zu lassen, trug einen erheblichen Teil dazu bei, daß es schließlich zur Katastrophe kam.« »Doch eigentlich keine unvernünftige Maßnahme, oder?« warf ich ein. »Vermutlich nicht. Aber diese Leibesvisitation wurde stets von Birbeck mit geradezu übertriebener Sorgfalt vorgenommen«, fuhr Dr. Gilhooley fort. »Beavis revanchierte sich, indem er ein Notizbuch zu führen begann, dem er den Titel gab ›Die Verbrechen des Pflegers Henry Birbeck‹. Es wurde später in seinem Spind gefunden. Den Kessel zum Überlaufen brachte schließlich ein böswilliger Pati-
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ent, der Beavis erzählte, Birbeck, der Stationspfleger, der Oberpfleger und der Stationsarzt hätten beschlossen, den Anstaltsleiter zu bitten, Beavis in die geschlossene Abteilung zurückzuverlegen. An jenem Nachmittag überschlugen sich dann die Ereignisse. Beavis kam aus der Tischlerwerkstatt und blieb schüchtern vor Birbeck stehen, um sich durchsuchen zu lassen. Birbeck beugte sich leicht vor, um den Patienten mit den Händen abzutasten. In diesem Augenblick zückte Beavis einen kleinen Meißel, den er im Ärmel verborgen hatte, stach zu und traf Birbecks Halsschlagader. Blut spritzte. Birbeck brach zusammen und war Sekunden später tot. Alles lief zusammen. Beavis wurde sofort in die geschlossene Abteilung gebracht und allein in eine Gummizelle gesperrt, die dem Eingang zur Station am nächsten lag. Damit haben Sie also Ihren ersten Mord.« »Woran ich ja wirklich nichts Geheimnisvolles finden kann«, bemerkte ich. »Natürlich nicht«, stimmte Dr. Gilhooley zu. »Und vom nächsten kann man das auch nicht sagen. Wie Sie sich sicher vorstellen können, war die ganze Sache für die gesamte Anstalt ein Schock. Als zwangseingewiesener Patient war Beavis nicht im Sinne des Strafrechts schuldfähig. Trotzdem mußte von mehreren Seiten eine gründliche Untersuchung des Falls stattfinden: durch die staatlichen Aufsichtsbehörden, die Polizei und den Untersuchungsrichter, den Berufsverband der Pfleger und nicht zuletzt durch den Anstaltsleiter selbst. Und Dr. Makins machte die Sache nicht gerade besser, indem er das Pflegepersonal in einzelnen Abordnungen zu sich rief und erklärte, daß dieser Mord nicht den geringsten Einfluß auf seine Reformvorhaben haben werde. Es war sehr spät, als sich alle schlafen legten, und dem Schlafmittel Chloralhydrat wurde allseits reichlich zugesprochen. Tja, und was meinen Sie, hat man wohl am nächsten Morgen entdeckt? Sie haben es sicher schon erraten.« »Aber ich bitte Sie!« wehrte ich ab. »Selbst wenn ich es erraten hätte… was nicht zutrifft… würde ich Ihnen niemals den Spaß verderben und Ihnen die Pointe vorwegnehmen.« Dr. Gilhooley rieb sich die alten, faltigen Hände. »Am nächsten Morgen«, krächzte er mit dramatischem Unterton in der Stimme,
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»…am nächsten Morgen fand man auf dem Betonboden unterhalb des Turms die Leiche von Beavis. Sein Schädel war zertrümmert. Ansonsten wies sein Körper keinerlei Spuren einer Gewaltanwendung auf. Na, was halten Sie davon?« »Ich nehme an… nun, es könnte Selbstmord gewesen sein«, erwiderte ich fairerweise, um dem alten Herrn die Pointe wirklich nicht vorwegzunehmen. »Selbstmord? Heiliges Stethoskop! Es war Mord… ein Mord, der geradezu generalstabsmäßig geplant worden war. Das Motiv? Rache natürlich… aber hauptsächlich war dieser Mord eine Warnung an die Adresse des Anstaltsleiters, ein Einschüchterungsversuch, der diesen veranlassen sollte, mit seinen Reformen Schluß zu machen. Tunstall, der Oberpfleger, war der geistige Vater des Plans. Der Mord an Birbeck hatte das, was unterschwellig zwischen den beiden schon lange gärte, auf den Höhepunkt getrieben. Tunstall hat zwölf Pfleger ausgewählt, die am aufgebrachtesten waren, und sie zusammengerufen. Dabei hielt er eine Rede so nach dem Motto: ›Unser Kollege ist heimtückisch und mit Vorbedacht getötet worden… und zwar von einer Person, die wohl als geistig nicht zurechnungsfähig eingestuft worden ist, jedoch genau wußte, was sie tat, als sie den Mord begangen hat. Und das haben wir dem neumodischen und gefährlichen System der Laschheit und Mißwirtschaft zu verdanken, das man uns aufgezwungen hat.‹ Und so weiter. Danach wurde abgestimmt und Beavis feierlich des Mordes für schuldig befunden… Anschließend schlichen sie sich in die geschlossene Abteilung, wo Beavis schlief. Sie haben ihn in eine Zwangsjacke gesteckt und ihm eröffnet, er sei in Abwesenheit des Mordes an Birbeck für schuldig befunden worden. Sie wollten das Gesetz selbst in die Hand nehmen und das Urteil an ihm vollstrecken. Dann knebelten sie ihn, zerrten ihn aus der Station und die Treppe zum Turm hinauf. Dort zogen sie ihm die Zwangsjacke wieder aus, entfernten den Knebel und warfen ihn in die Tiefe.« »Und der wachhabende Arzt? Hat der nichts gemerkt?« wollte ich wissen.
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»Den hatten sie natürlich nicht vergessen und ein Schlafmittel in seinen Kakao getan. Die Herrschaften hatten einfach alles bedacht… und sogar die Spuren des Knebels beseitigt.« »Aber muß Beavis’ Tod nicht ein Kampf vorausgegangen sein? Sie wollen doch nicht behaupten, daß die Burschen ungeschoren davongekommen sind, oder?« »Natürlich war in der Anstalt der Teufel los. Aber es gab keinen einzigen Beweis dafür, daß Beavis sich nicht selbst vom Turm gestürzt hat. Sie waren im Umgang mit ihrem Opfer sehr vorsichtig gewesen und hatten ihm noch einen Schlüssel in die Tasche geschoben, mit dem man sämtliche Schlösser der Anstalt öffnen konnte. Auf diesem Schlüssel hat man allein Beavis’ Fingerabdrücke gefunden. Damit wurde der Eindruck erweckt, daß es Beavis irgendwie gelungen sein mußte, einen Schlüssel aus dem Büro des Oberpflegers zu entwenden. Niemand konnte das Gegenteil beweisen. Damit endete die Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache ohne greifbares Ergebnis. Der Anstaltsleiter bezeichnete die Pfleger zwar als Mörderbande, doch diese wiederum drohten ihm mit einer Verleumdungsklage. Die Atmosphäre in der Anstalt wurde damit so unerträglich, daß die Behörden den Anstaltsleiter versetzten und einen neuen Chef ernannten.« »Sagen Sie, sind Sie damals schon als Arzt in Wendover tätig gewesen?« fragte ich. »Nein, natürlich nicht«, antwortete Gilhooley. »Machen Sie mich nicht älter, als ich bin. Man hat mir die Geschichte erzählt, als ich als junger Stationsarzt in die Anstalt kam. Ein älterer Pfleger hat mich bei Kakao und Kuchen während des Nachtdienstes eines Tages in die Geheimnisse des Krankenhauses eingeweiht. Er hatte damals als ganz junger Pfleger dort angefangen, aber mit der Sache an sich nichts zu tun gehabt… wußte jedoch genau Bescheid. Tja, das war’s also. Keine nette Geschichte… aber wir sind auch keine besonders nette Spezies…« Ich seufzte tief. »Tja… in der großen, globalen Gruppentherapie der Zukunft, die unsere einzige Rettung ist…« »Du meine Güte!« unterbrach Dr. Gilhooley mich scharf. »Stellen Sie sich so das nächste Jahrtausend vor? Ich nicht!«
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»Wie hätten Sie’s denn gern?« »Als netten Club mit aufmerksamen Zuhörern.« Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Geoffrey Rose Der Tod im hohen Gras Denken Sie an mich, wenn Sie je nach Redemption City hinunterfahren. Vor allem, falls Sie gleich mir nachts dort hinfahren, wenn man kaum die Leuchtkäfer von den Sternen unterscheiden kann und nur mit Mühe die Hand vor den Augen sieht. Man hatte mich am Nachmittag an Land gesetzt. Es war ein außerplanmäßiger Aufenthalt. Als ich dem Kapitän mein kleines Papierchen zeigte, mußte er sich fügen, aber besonders gemocht hat er weder mich noch mein kleines Papierchen dafür. Wir warteten untätig, bis man irgendwo einen Beamten von der Paßkontrolle aufgestöbert hatte – er sah aus, als wäre er soeben dem Grab entstiegen –, dann wurden in der Kabine des Kapitäns, wo ein Lüftchen die grünen Vorhänge zauste, in aller Eile die Formalitäten erledigt. Es war Teestunde, als ich von Bord ging. Das Streichquartett fiedelte Schnulzen aus dem Jahr 1910, während sich die alten Weiber, die sich unmittelbar nach dem Mittagessen der bequemsten Sessel bemächtigt hatten, die Törtchen schmecken ließen. Sie wußten vielleicht nicht, in welchem Jahrhundert sie lebten, aber die Essenszeiten hatten sie ganz genau im Kopf. Nachdem sie gehört hatten, daß ich an Land gesetzt werden sollte, musterten mich die einen mit verstohlener Verachtung, die anderen mit Teilnahme, als hätte ich meine Passage nicht bezahlt. Die Teilnahmsvollen gaben mir Botschaften an Neffen und Enkel mit, die sich irgendwo im geheimnisvollen Landesinneren »eine anständige Existenz geschaffen hatten«, oder erzählten mir von Onkeln, die dort von Pygmäen getötet worden waren. Es sei besser, meinten sie, diesen Kontinent aus der Ferne zu betrachten, als in sein Inneres einzudringen. Ich glaubte ihnen gern, aber mein kleines Papierchen war für mich so bindend wie für die, denen ich es zeigte. Man setzte mich also auf dem Quai einer kleinen Ortschaft ab – ihren Namen habe ich nie erfahren –, und das Schiff machte gleich wieder volle Fahrt voraus, als wäre es froh, mich zurücklassen zu können. Die alten Frauen beschäftigte ich vielleicht noch eine Weile, als Rätsel, das sie kurz aufstörte, ehe sie wieder zu Roman oder Strickzeug griffen, mit denen sie sich die langen Stunden bis zum Abendessen vertrieben.
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Man ließ mich allein auf dem Quai stehen. Der Mann von der Paßkontrolle sah keinen Grund, mir Gesellschaft zu leisten; während ich auf das Auto wartete, das mich abholen sollte. Die Luft war von rosig goldenem Licht durchglüht, das die Berge und das Meer färbte. Ein gutgläubiger Mensch hätte dann vielleicht die Ankündigung gesehen, daß sich etwas Gutes ereignen würde, aber ich wußte, daß nichts weiter geschehen würde als der baldige Einbruch der Dunkelheit. Erst die Festbeleuchtung, dann die Dunkelheit. Und wenn man fragt, was die Festbeleuchtung soll, was durch sie gefeiert wird, so erfährt man, daß sie nur sich selber feiert. Bis man das begriffen hat, ist sie schon wieder vorbei. Ich erwartete also nichts besonders Gutes. Die baldige Ankunft des erwarteten Wagens und bis dahin keine Scherereien – das war mir gut genug. Vor den Cafés saßen Männer, die angeregt, aber gedämpft miteinander sprachen, viel gestikulierend, grüßten, wenn sie unter denen, die am Quai flanierten, Freunde sahen. Einige trugen ihre Jacken lose um die Schultern wie Capes. Einige gingen Arm in Arm oder hielten einander umschlungen. Wenn Freunde sich trafen, umarmten und küßten sie sich. Frauen waren nirgends zu sehen. Sie waren vermutlich hinter den geschlossenen Läden der Häuser eingesperrt, zur Arbeit und zur Lust gehalten, während Herzlichkeit Männersache war. Mich störte das nicht. Aber mich störte, daß sie alle meiner gewahr waren, auch wenn die Höflichkeit ihnen verbot, einen Fremden anzustarren. Ich fühlte mich von ihrer Wahrnehmung meiner Person so fixiert, als hätte jeder einzelne von ihnen sich umgedreht und ein Messer nach mir geworfen. Ich habe oft genug offene Gewalt erlebt. Damit kann ich umgehen. Ich meine, da hat man die Wahl: man kann sich in den Kampf stürzen oder abhauen. Aber in diesen schläfrigen Orten des Südens lauert eine versteckte Gewalt, die einem ganz schön unter die Haut geht. Ich war deshalb froh, als ich das Auto sah. Inzwischen war es dunkel geworden. Ich machte den Fahrer nicht darauf aufmerksam, daß er sich verspätet hatte. Es hätte ihm nichts gesagt. »Früh« und »Spät« haben da unten so wenig Bedeutung wie Recht und Unrecht. Was geschieht, geschieht. Er fuhr schnell und leichtsinnig. Ich schloß die Augen, um nicht sehen zu müssen, wie schmal die Straße sich zwischen Felswand und Abgrund dahinzog.
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»Wichtige Geschäfte, Chef?« fragte der Fahrer. Einer, für den ein Passagierschiff extra an diesem Ort anlegte, konnte offenbar seiner Meinung nach nur wichtig sein. »Wichtig für mich jedenfalls«, antwortete ich. »Sind Sie gekommen, um jemanden zu töten?« »Haben Sie hier viel mit dem Tod zu tun?« »Nicht mehr als anderswo. Aber früher manchmal.« Er grinste und hob wie zur Demonstration beide Hände vom Steuerrad, um sich eine Zigarette anzuzünden. Ich schloß wieder die Augen. Mehr sprachen wir nicht. Es gab anscheinend nicht mehr zu sagen. Ab und zu öffnete ich die Augen, sah die Leuchtkäfer und die Sterne, deren leuchtende Worte ich nicht verstand. Endlich erblickte ich eine neue Helligkeit – die Lichter einer Stadt zu unseren Füßen. Das ist eine Sprache, die ich nur allzugut verstehe. Wir hielten vor dem Hotel, und der Fahrer trug meinen Koffer durch die Drehtür. Das Foyer war zugleich die Bar. Hier saßen Männer und tranken. Sie waren besser gekleidet als die Männer unten am Quai, aber sie hatten die gleiche Ausstrahlung latenter Feindseligkeit. Im übrigen war es ein Foyer wie hundert andere – Marmorboden, wahrscheinlich Imitation, an der Decke ein großer, sich drehender Ventilator, Topfpalmen, diese sterilen Dinger, die von Bournemouth bis Paraguay gleich öde sind. Einige der Zecher schienen meinen Fahrer zu kennen. Sie riefen ihn auf spanisch an, und er antwortete ihnen. Einer, ein großer Mann mit einem Adlergesicht, näherte sich uns. Auch er trug sein Jackett wie ein Cape um die Schultern. Er hatte das Auftreten eines Operettenpiraten – peinlich großspurig und sinnlos herausfordernd. Etwa einen Meter vor mir blieb er stehen, Hände in die Hüften gestemmt, Kopf in den Nacken geworfen, und machte in provozierendem Ton eine Bemerkung. Ich bat den Fahrer zu übersetzen. »Ich habe ihnen erzählt, daß der Tod Sie interessiert. Er sagt, der Tod ist im hohen Gras.« »Was bedeutet das? Ist das ein hiesiges Sprichwort?« Der Fremde sprach wieder, sehr schnell. »Was jetzt?« »Er sagt, er will nicht im hohen Gras sterben.«
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»Sagen Sie ihm, soweit es mich angeht, muß er das auch nicht.« Er schien es immer wieder zu sagen, wiederholte mit wachsender Erregung immer dieselben Worte, bis zwei seiner Kumpane ihn zu seinem Sessel zurückzogen. »Er war ein großer Patriot«, erklärte der Fahrer. »Aber während der Revolution ist es ihm schlecht ergangen, und jetzt ist er nicht mehr ganz richtig.« Ich warf noch einen Blick auf den flügellahmen Adler. Ein schlechtes Omen für sein Land und meine Mission in seinem Land, dachte ich und ging weiter zum Empfang. Der nächste Morgen ließ keinen Raum für düstere Gedanken. Die Stadt, eine Architektur aus Luft und Licht, funkelte. Auf der Straße, tief unter meinem Balkon, waren Wasserwagen an der Arbeit. Wassertropfen fielen auf die Blumen, die in Beeten die Straßen säumten und teilten, so daß sie wie bunte Edelsteine leuchteten. Mein erster Gang führte mich zum Leiter der örtlichen Polizei. Ich war nicht erfreut, in ihm den Operettenpiraten aus dem Hotelfoyer zu erkennen, den Mann, dem so daran gelegen war, nicht im hohen Gras zu sterben. Ich hatte angenommen, er habe während der Revolution auf der falschen Seite gestanden, aber bei näherer Überlegung mußte ich mir sagen, daß solche Leute wohl kaum noch in der Öffentlichkeit gesehen würden. Offensichtlich hatte man ihm seinen Posten als Belohnung verliehen. Ich mag keine Polizeibeamten, die nicht ganz richtig im Kopf sind. Ich mag keine Polizeibeamten, die mit den städtischen Gammlern in der Kneipe sitzen und saufen. Ich mag keine Ausländer, die ein gepflegteres Englisch sprechen als ich. Und am wenigsten mag ich Leute, deren Augen mit oder ohne dunkle Brille, unverändert leer und nichtssagend sind. »Warum haben Sie gestern abend nicht englisch gesprochen?« fragte ich ihn, nachdem ich mich gesetzt hatte. »Man soll nie gleich all seine Talente zur Schau stellen.« Er las mein kleines Papierchen mit einer Miene äußerster Höflichkeit. Die Höflichkeit, vermutete ich, stand in umgekehrtem Verhältnis zur Hilfsbereitschaft. Der Kapitän auf dem Schiff war unwirsch
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gewesen, weil er hatte tun müssen, was ich verlangte. Dieser Mensch lächelte höflich, weil er gar nichts tun würde. »Ich stehe zu Ihren Diensten«, sagte er. »Aber Sie müssen Verständnis für unsere Probleme haben. In Ihrem Land wurden die Gesetze vor langer Zeit gemacht. Hier liegen sie noch auf dem Amboß, und die stärkste Partei schwingt den Schmiedehammer.« Er hörte sich so gern reden, daß es mir aufdringlich vorgekommen wäre, wenn ich ihm auch noch zugehört hätte. Ich sah mich im Zimmer um und überlegte, ob man mir etwas zu trinken anbieten würde, vorzugsweise etwas mit Eis. Weiter spann er seine Schmiedemetaphern. Vielleicht hatte er in einer Schmiede sein Leben begonnen. Man stößt in diesen Revolutionsländern auf die seltsamsten Karrieren. Ich merkte, daß er zu sprechen aufgehört hatte. »Kurz und gut«, sagte ich, um ihm Gelegenheit zu geben, das wirklich Wichtige zu wiederholen. »Kurz und gut«, erwiderte er und reichte mir meine Papiere über den Schreibtisch, »Sie sind ins falsche Land gekommen. Sie ersuchen um Auslieferung eines Mannes, der einen Menschen getötet und eine Million gestohlen hat. Der Tod ist hier an der Tagesordnung, und Geld ist so rar, daß keines der beiden Verbrechen der dritten Partei real erscheint.« »Wer ist die dritte Partei?« Sein Lächeln erlosch. Die dritte Partei war anscheinend ins Spiel gekommen, während ich weggehört hatte. »Das Volk. Weder die Gesetzeshüter noch die Gesetzesbrecher, sondern jene dritte Partei, die die tatsächliche Wirksamkeit der Gesetze bestimmt. In England achtet die Öffentlichkeit das Gesetz, daher ist Ihre Arbeit leicht. Bei uns gibt es nicht mehr Verbrecher als bei Ihnen, aber bei uns verachten die Leute das Gesetz. Sie sympathisieren eher mit dem Gejagten als mit dem Jäger.« »Das hatte ich schon gespürt«, sagte ich, mich der Männer am Quai erinnernd. »Aber es überrascht mich, daß Sie von einem armen Land sprechen. Die Stadt macht doch einen wohlhabenden Eindruck.« »Wir haben kein eigenes Geld. Ausländische Regierungen finanzieren uns, bezahlen uns dafür, daß wir einander hassen und manchmal
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sogar töten. Sie sehen also, daß wir die gegen diesen Mann vorgebrachten Beschuldigungen nicht ernst nehmen können.« Er tippte auf den Auslieferungsantrag, den ich noch nicht wieder an mich genommen hatte. »Sie können mit unserer Höflichkeit rechnen, aber nicht mit unserem Interesse. Was möchten Sie trinken?« Während er einschenkte, fragte ich mich, wann seine geistige Gestörtheit sich zeigen würde. Bisher kein Anzeichen davon. Vielleicht brauchte sie den Alkohol; ähnlich wie ein Haus am Meer, das vom Land her gesehen sicher wirkt, beim ersten Ansturm der Wellen aber einstürzt. »Haben Sie viele Engländer hier?« »Zu uns kommen Leute aller Nationalitäten, auch Engländer. Ich weiß nicht, warum.« Er schien auch meinen Besuch in das Rätsel einzubeziehen. »Meine Vorgesetzten sind der Meinung, daß dieser Mann in eine Stadt gehen wird – erstens, weil er sich in der Menge sicherer glaubt, und zweitens, weil die Stadt das ihm angemessene Milieu ist.« »Ja.« Ich konnte dem Wort nicht entnehmen, ob er meinte, ja, das ist eine vernünftige Überlegung; oder ja, das ist die typische Meinung von Vorgesetzten. »Ausländische Besucher müssen ihre Reisepässe abgeben, und die Leute, bei denen sie wohnen, müssen uns genaue Angaben machen. Das ist zumindest die Vorschrift. Anständige Hoteliers halten sich daran. Uns wurde kein ausländischer Gast gemeldet, zu dem die Beschreibung und das Foto, das Sie uns geschickt haben, paßt. Aber es kann sein, daß Ihr Mann mit einem falschen Paß reist. Es gibt auch noch andere Hotels, wo man Zimmer stundenweise mieten kann, verstehen Sie?« »Stundenhotels.« »Richtig. Wenn man viel Geld hat, kann man in einem solchen Hotel unterkommen, ohne je nach dem Paß gefragt zu werden. Wir wollen eine kleine Tour machen. Das wird Sie amüsieren. Und Sie werden Ihren Mann vielleicht finden.« »Aber Sie bezweifeln es?« »Sie kennen mich lange genug, um zu wissen, daß ich die meisten Dinge bezweifle.« »Wo würden Sie sich verstecken, wenn Sie auf der Flucht wären?«
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Er war aufgestanden und wollte gerade sein Jackett von der Stuhllehne nehmen. Bei meiner Frage hielt er inne. »Ich? Mich suchen Sie doch nicht.« »Aber wo würden Sie sich verstecken?« »Ich würde nicht in die Stadt gehen. Ich würde draußen bleiben, im hohen Gras.« »Wo der Tod ist.« »Was?« »Sie sagten gestern abend, der Tod sei im hohen Gras.« »Ja, da ist er.« Er schwieg einen Moment, ehe er fortfuhr. »Aber wenn ich auf der Flucht wäre, würde ich dorthin gehen. Der Tod ist ein Spiel für zwei, und da draußen gewinnt nicht immer der Bessere. Kommen Sie, fahren wir.« Wir fuhren in einem großen weißen Auto durch die Stadt. Mit heulender Sirene. »Muß das sein?« fragte ich. »Nein, aber wir müssen zeigen, daß wir da sind.« Es schien an der Einstellung der Leute nichts zu ändern. Niemand drehte auch nur den Kopf nach uns. Ihn schien diese allgemeine Verachtung zu belustigen. »Wenn der Mann, den ich suche, tatsächlich in einer dieser Absteigen untergeschlüpft ist, haut er ab, sobald er das Gewimmere hört.« »Keine Sorge. Wenn die Kunden bei jeder Polizeisirene gleich aufspringen würden, kämen sie nie dazu, das zu tun, weswegen sie gekommen sind.« Wir gelangten in einen älteren Teil der Stadt – engere Straßen, schmiedeeiserne Balkons, Wappenschilder über Haustüren, diese Details ehemaliger Pracht teilweise verdeckt durch aufgehängte Wäsche. Vor einem dieser Häuser hielten wir an. »Das Geschäft geht gut«, bemerkte mein Begleiter und deutete auf die Blumenkästen voller Geranien. Er brach ein Sträußchen ab und steckte es mir ins Knopfloch. »Wir müssen ein bißchen festlich aussehen, sonst machen wir ihnen Angst.« Am Empfang drinnen saß ein Mann, der aussah wie der Empfangschef in einem prätentiösen Frisiersalon. Seine Ringe, die Armbanduhr, die Krawattennadel, die Kette um sein Handgelenk – alles glitzerte im Sonnenlicht. Fragen Sie mich nicht, welche Art Kette das
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war. Vielleicht war er aus einem goldenen Käfig ausgebrochen. Ich glaube, sogar sein Haar funkelte. Er und der Polizeichef lächelten sich an, als freuten sie sich gemeinsam an einem guten Witz. »Der Mann spricht nur Spanisch«, sagte der Polizeichef zu mir. »Sie verzeihen, wenn ich es jetzt einen Moment spreche.« »Aber sicher. Gestern abend haben Sie es ja mit mir auch gesprochen.« Je verbindlicher er wurde, desto brüsker wurde ich. Ich fragte mich, wie das enden würde, wenn wir noch lange miteinander zu tun haben sollten. Während die beiden miteinander sprachen, stellte ich mich an ein offenes Fenster. Es blickte in einen Innenhof mit einem Springbrunnen. Die weichen Lispellaute der Stimmen hinter mir vermengten sich mit dem sanften Plätschern des Wassers im weißen Marmorbecken. Wahrscheinlich spielte der Brunnen schon seit dreioder vierhundert Jahren dort draußen im Sonnenschein. Es hatte zugleich etwas Trauriges und Tröstliches, mir vorzustellen, daß er alle Tage meines Lebens sein plätscherndes Spiel treiben würde, während ich, fern von ihm, in lärmerfüllten Straßen schwitzte und ihn niemals wiedersehen würde. »Er glaubt nicht, daß Ihr Mann hier ist, aber wir sehen trotzdem nach.« Ich wandte mich widerstrebend vom Fenster weg und folgte ihm nach oben. Wir schauten in alle Zimmer. Manche waren schattig hinter verschlossenen Läden, manche blendend hell im Zusammenspiel von Sonnenlicht und kalkweißen Wänden. In manchen ging es laut zu, in anderen war es so still, daß ich das Plätschern meines Springbrunnens hören konnte. Manchmal bemerkten uns die Menschen in den Zimmern nicht. Allen gab der Polizeichef mit verzeihender Geste seinen Segen. »So viel Fleischeslust so früh am Morgen«, murmelte er, während er wieder eine Tür schloß. Manchmal rief oder winkte uns eine Frau, und dann lachte er, sonst aber brach nichts die Monotonie, und ich verlor bald das Interesse. Ich wußte, daß der Mann, den ich suchte, nicht hier war. Ich hatte es ihnen in London vorausgesagt. Man mußte ihn in den grünen Gebieten der Landkarte suchen, in den Wäldern, wo eine ganze Armee sich verbergen konnte.
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»Sie wirken teilnahmslos«, sagte der Polizeichef. »Es ist leider nicht sehr aufregend.« Er hörte sich an wie der Direktor eines drittklassigen Zirkus, der sich bei seinen Zuschauern entschuldigt. Wir suchten die anderen Häuser auf. Sie waren alle gleich, aber keines hatte einen Springbrunnen. Als wir das letzte verließen, fragte ich: »Wünschen Sie sich manchmal, Sie wären wieder im hohen Gras?« »Señor«, sagte er, und ich drehte den Kopf, um zu sehen, wer der Señor war. Offenbar galt die Anrede mir und war die Einleitung zu einer ungewöhnlich feierlichen Erklärung. Er blieb nämlich stehen und sah mir voll ins Gesicht. »Señor, es gibt eine Zeit für das hohe Gras, und es gibt eine Zeit, es zurückzulassen. Einige meiner Freunde haben alles Gefühl für die Zeit verloren. Sie liegen auf ewig dort draußen.« Da wußte ich, daß er die Seiten gewechselt hatte. Da wußte ich, daß er eigentlich mit seinen Freunden hätte sterben müssen und daß das bis zu einem gewissen Grad auch geschehen war. Aber das war sein Problem. Ich hatte meine eigenen Probleme. Wir trennten uns. Er stellte mir den Wagen und den Fahrer zur Verfügung, damit ich mir die Umgebung ansehen konnte, und ging zu Fuß zu seiner Dienststelle zurück. Der Fahrer hatte die Sirene abgestellt. Vielleicht wurde sie nur eingeschaltet, wenn der Chef im Wagen saß. Vielleicht zog er, wie ich, die Stille vor. Die Stadt war engräumig, und wir befanden uns bald außerhalb auf der Bergstraße. In diesem Land gibt es alles, Wälder und Berge, Flüsse und weite Ebenen – die Pampas nennt man sie hier –, wo das hohe Gras wächst. Nur Städte gibt es wenige, und selbst die, hat man das Gefühl, könnten ganz verschwinden, wenn sie das Land ein wenig mehr bedrängte. Ich sah die ganze Landschaft wie auf einer Karte unter mir ausgebreitet, während wir aufwärts fuhren. Bei diesem Fahrer konnte ich gut die Augen offenhalten. Er war ein vorsichtiger Bursche, fuhr langsam und immer dicht am Berg entlang. Irgendwo dort unten hielt sich der Mann versteckt, den ich suchte. Vielleicht würde er, wenn ich nur laut genug rief, seinen Kopf in die Höhe recken. Mir fiel ein Satz aus einem Theaterstück ein, das ich einmal gesehen hatte. Er ging ungefähr so: »Schrei dei-
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nen Namen in den Widerhall der Berge«. (Glauben Sie nicht, daß ich zum Vergnügen ins Theater ginge. Ich war dienstlich in dem Stück.) Aufwärts führte die Straße, direkt in den Himmel hinein. Ganz oben hielt der Fahrer an und wies mit weiter Geste auf das Panorama, als wolle er mich auffordern, auszusteigen und es zu bewundern. Ich tat es, und es lohnte sich. Schimmernd lag das Land im Hitzedunst, der von ihm aufstieg, und die Stille war so dicht, daß man sie greifen konnte. Weit weg markierte eine weiße Linie die Küste, wo das Wasser des Ozeans sich am Strand brach. Aus dieser Entfernung war keine Bewegung wahrzunehmen. Und dem Mann, den ich suchte, gehörte all dies. Wir fuhren weiter, abwärts jetzt zu den Baumwipfeln, von denen der Dampf des unter der Sonne verdunstenden Nachttaus aufstieg, und die Hitze umfaßte uns mit heißen Händen. Jetzt konnten wir die Schreie der Vögel hören und die vielfältigen Laute anderer Tiere. Das, was als absolute Stille erschienen war, setzte sich in Wirklichkeit aus tausend verschiedenen Geräuschen zusammen, gerade so wie die scheinbar starre weiße Linie am Meeresstrand in Wirklichkeit das Produkt endlos wiederholter Bewegung war. Nichts war das, was es zu sein schien, daraus entstand eine unbehagliche Arbeitsatmosphäre. Ich tastete nach dem Revolver in meinem Schulterhalfter. Wir rechneten damit, daß unser Mann bewaffnet war und einer Festnahme Widerstand leisten würde. Ich würde das auch tun, wenn ich wegen Mordes gesucht werden würde, ein ganzes Land zu meiner Verfügung und eine Million im Sack hätte. »Inka«, sagte der Fahrer und wies in die Bäume. Das ist der Name der Indianer, die hier herrschten, bis die Spanier sie irgendwann im sechzehnten Jahrhundert unterwarfen. Ich sah mich um, in der Erwartung, einen dieser Indianer zu sehen, aber es war niemand da. »Inka«, sagte der Fahrer wieder, und da sah ich die Ruinen zwischen den Bäumen. Ich bedeutete ihm, weiterzufahren. Ich war nicht als Tourist hier. Wir kamen an einem Ausflugsomnibus voller Leute vorüber, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr. »Inka«‹, sagte der Fahrer nochmals.
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Später kamen wir in ein Dorf. Hier sah ich die Behauptung des Polizeichefs, daß dies ein armes Land sei, bestätigt. Die Leute, die vor den Häusern herumstanden, wirkten dem Aussehen nach halb indianisch, halb spanisch. Aber die Rassenmischung hatte nicht harmonische Verschmelzung hervorgebracht, sondern eher Gespaltenheit. Sie hatten das indianische Erbe vergessen und das europäische nicht angenommen. Mit apathischem Blick standen sie im Sonnenlicht. Einige Frauen flochten Körbe, andere webten. Ich hatte solche Gegenstände zu hohen Preisen in Londoner Geschäften gesehen und konnte nur vermuten, welchen winzigen Bruchteil dieser Preise die Frauen hier für ihre Arbeit bekamen. Von unserem Mann wußte man nichts im Dorf. Der Fahrer erkundigte sich, auf Anweisung seines Chefs wahrscheinlich, und gab mir das negative Ergebnis mit entsprechenden Gesten und Kopfschütteln zu verstehen. Wir fuhren aus dem Dorf heraus, und ein Stück außerhalb sah ich zum ersten Mal das oft erwähnte hohe Gras. Unendliche Weiten jener silberweißen Rispen, die man als Ziergras in Vorstadtgärten sieht. Aber da draußen, wo sie dicht und schulterhoch wachsen, wogend wie das Meer, wirken sie ganz anders. Ich begann die Besessenheit des Polizeichefs zu begreifen. Die äußeren Grenzen der wogenden Weite konnte ich nicht erkennen. In mittlerer Entfernung bewegten sich drei Reiter. Nur die Köpfe der Pferde waren sichtbar. Ich wäre gern weitergefahren, meiner Ahnung gefolgt, aber meine Aktivitäten werden schärfer beobachtet als die eines Verbrechers. Ich gab dem Fahrer Zeichen zur Umkehr. In der Stadt waren die blauen und grünen Jalousien der Siesta heruntergelassen. Ich fand den Polizeichef auf der erhöhten Terrasse eines Cafés. An den anderen Tischen schliefen Männer mit strengen Gesichtern, als hätten sie die Argumente für und gegen den Schlaf abgewogen, ehe sie sich entschieden hatten, doch er starrte mit leerem Blick vor sich hin. Vielleicht hatte er Angst, der Tod könnte ihn überraschen, wenn er die Augen schloß. »Während Sie den Hinweisen nachgelaufen sind«, sagte er, »habe ich sie zu mir kommen lassen.« »Spannen Sie mich nicht auf die Folter. Dazu bin ich zu alt.«
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Ich winkte einem Kellner. Erst dachte ich, er hätte etwas gegen mich persönlich, aber als ich eine Weile zugesehen hatte, wie er mit den anderen Gästen umsprang, erkannte ich, daß er einfach ein Menschenfeind war. »Im Wald steht eine Tempelruine«, fuhr der Polizeichef fort. »Ich glaube, die hab’ ich gesehen.« »Es gibt mehrere, aber vielleicht haben Sie diese eine wirklich gesehen. Jahrelang hatte sie einen inoffiziellen Wächter, einen alten Mischling, der ein paar Brocken Englisch sprach und ganz gut mit den Touristen umgehen konnte. Heute hörte ich, daß er tot ist.« Na und? Wollte er von mir eine Spende für den Kranz? »Ich hörte ferner, daß sich bereits ein Nachfolger gefunden hat. Ein Weißer.« »Das wäre ein idiotisches Versteck.« »Wenn es so idiotisch erschiene, daß niemand dort sucht, wäre es ein schlaues.« »Dann nehmen Sie ihn fest.« »Ich kann mich irren, und man muß vermeiden, seine Irrtümer an die große Glocke zu hängen. Im Sommer fährt jeden Nachmittag ein Bus zu den Ruinen hinaus. Heute haben wir ihn verpaßt. Ich hatte gehofft, Sie würden früher zurücksein. Aber morgen mischen wir uns unter die Ausflügler und sehen uns den neuen Wächter an.« Nachdem er mir das eröffnet hatte, begann er ernsthaft zu trinken, und ich bekam an diesem Nachmittag kein vernünftiges Wort mehr aus ihm heraus. Wahrscheinlich war es höflich genug von ihm, daß er gewartet hatte. Den ganzen Abend überlegte ich, wieso er so hilfsbereit war. Ich stellte meine Überlegungen allein an, nachdem ich seine Einladung zum abendlichen Umtrunk abgelehnt hatte. Sollte er sich in der gewohnten Gesellschaft vollaufen lassen. Alleinsein ist mein Luxus, und im Ausland kann ich ihm ungestört frönen. Zu Hause kommt einem immer jemand dazwischen. Nach dem Abendessen beschloß ich, den Tempel auszukundschaften. Ein Tourist, der im Mondschein in alten Ruinen herumstolpert, ist nichts Besonderes. Ich hängte mir meinen Fotoapparat um den Hals und sagte »Inka« zum Taxifahrer. Wir waren bald dort, und ich war, wie ich gehofft hatte, nicht der einzige Besucher. Es war ein
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unbehaglicher Ort: hohe Terrassenanlagen. Und Pyramiden. Nicht glattwandig wie die ägyptischen, sondern mit eingehauenen Stufen, denn das, was ihnen einst ihre Bedeutung gab, befand sich auf ihrem Gipfel. Er lief nicht spitz zu, sondern hatte die Form einer kleinen Bühne; das war der Altar gewesen, wo man Menschen das Herz aus dem Leib gerissen hatte, um es den Göttern als Opfer darzubieten. Wer hier das Amt des Wächters übernahm, war mit Vorsicht zu genießen. Argwöhnisch wanderte ich umher. Der Ort bedrückte mich. Der Mond stand groß und rund am Himmel. Wie schwarze Balken lagen die Schatten auf den Wegen. Ich hielt Abstand von den Pyramiden. Ein Steinbrocken, von oben in Bewegung gesetzt, würde im Fall respektablen Schwung erreichen. Mich verlangte nicht danach, das am eigenen Leibe zu erfahren. Keine Spur von dem neuen Wächter. Vielleicht wachte er nur darüber, nicht gesehen zu werden. Vielleicht wohnte er nicht hier. Ich hatte gar nicht gehofft, ihn an diesem Abend zu finden. Ich wollte mich nur mit dem Terrain vertraut machen, um am nächsten Tag die Anlage zu kennen einschließlich aller möglichen Fluchtwege. Als das geschehen war, ließ ich mich ins Hotel zurückfahren und ging schlafen. Das nächtliche Zechgelage schien beim Polizeichef keine Nachwirkungen hinterlassen zu haben. Er war jedenfalls bei klarem Verstand, als ich ihn am Morgen traf. »Heute ist der große Tag«, erklärte er, als er mich sah. »Sie sind sicher, daß der Wächter im Tempel mein Mann ist?« »Nein, aber es wird auf jeden Fall amüsant.« Ich erinnerte mich, daß er das gleiche über unsere Inspektion der Stundenhotels gesagt hatte, und spannte meine Hoffnungen nicht zu hoch. »Es ist freundlich von Ihnen, daß Sie selbst mir helfen wollen«, bemerkte ich, »besonders, wo Sie zunächst gesagt hatten, Sie würden nichts tun.« »Zu dieser Jahreszeit finde ich die Stadt bedrückend. Da ist mir jede Fluchtmöglichkeit recht.« »Und es stört Sie nicht, daß wir dem hohen Gras recht nahe sein werden?«
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Er lächelte, wie ein Erwachsener über eine kindliche Ansicht lächelt. Vielleicht war das hohe Gras für ihn kein geographischer Ort mehr, sondern ein Zustand. »Ich habe es gestern von weitem gesehen«, fuhr ich hartnäckig fort, um ihn zu einer Erklärung zu zwingen. »Es ist wie das Meer. Es waren drei Reiter da. Man hatte das Gefühl, sie würden tiefer und tiefer sinken, bis sie ertrinken.« »Sie sollten vorsichtig sein«, sagte er. Bis zur Abfahrt des Busses spielten wir Karten. Die Geschäfte waren offenbar flau. Oder man belästigte ihn nicht mit Routinesachen. Wir sprachen nicht mehr, sondern knallten die Karten auf die Schreibtischplatte. Kurz vor zwei rechneten wir ab und gingen zu Fuß zur Bushaltestelle. Mehrere seiner Leute folgten uns auf Abstand. Die anderen Fahrgäste waren Urlauber, die uns nicht beachteten, aber ich bemerkte, wie der Fahrer Haltung annahm. Auf der Fahrt hielt er sich mustergültig an die Geschwindigkeitsvorschriften. Der Polizeichef saß neben mir und starrte wie immer irgendwo ins Leere. Die Bemerkungen des Führers über die Sehenswürdigkeiten, an denen wir vorüberfuhren und die uns erwarteten, rauschten an meinen Ohren vorbei. Am Tempel angekommen, war es uns überlassen, uns der Führung anzuschließen oder auf eigene Faust loszuziehen. Die anderen Polizeibeamten hängten sich an die Gruppe, mich hielt der Polizeichef einen Moment zurück. »Ich möchte Ihnen meinen Revolver geben«, sagte er. »Ich habe selbst einen.« »Tun Sie mir den Gefallen.« Ich willigte ein. Ich hatte nicht die Absicht, eine Waffe zu gebrauchen, wenn es nicht unbedingt sein mußte. »Und kann ich den Ihren haben?« fragte er. Eine alte südamerikanische Sitte? Ich sah mir den Revolver an, den er mir gegeben hatte. Ich war bei dem Tausch nicht zu kurz gekommen. Wir eilten der Gruppe nach, da wir nicht auffallen wollten. Wie ein Zimmer, in dem man schlecht geträumt hat, sah der Tempel bei Tageslicht ganz anders aus. Aber man weiß, daß die Träume sich nur verkrochen haben. Vielleicht lauerten sie im Kopf meines Begleiters. Ich meine, eine Erinnerung an blutgierige Götter muß
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doch bleiben, eine Erinnerung an Vorfahren, die bereit waren, für diese Götter Blut zu vergießen. »Glauben Sie, daß er gewarnt worden ist?« fragte ich. »Bestimmt nicht. Da bin ich sicher.« Die Sicherheit anderer bereitete mir stets Unbehagen. In London war man sicher, daß er in einer Stadt untergetaucht war, weil man sich geschworen hatte, ihn zu fassen, und hier ein lumpiges halbes Dutzend städtischer Siedlungen gegen Weiten undurchdringlicher Wildnis stand, in denen man ein Leben lang suchen konnte. Ich war der einzige, der nicht sicher war, und ich wußte, daß man mir die Schuld geben würde, wenn sich herausstellte, daß die Sicherheit der anderen Täuschung gewesen war. Wir marschierten also mit den Touristen durch das Gelände. Noch immer keine Spur von unserem Verdächtigen. Die ersten Leute begannen zu ermüden und blieben zurück. Der Polizeichef benutzte die Gelegenheit, um Späher auszusenden. Als sie ihm berichtet hatten, sagte er: »Der Mann ist hier, hält sich aber versteckt. Wir müssen warten, bis der Bus abgefahren ist.« Als der Bus weg war, war es sehr still in den Ruinen. Die Schatten des späten Nachmittags verdunkelten sie, bald würden die bösen Träume hervorkriechen. Ich wurde mir bewußt, daß ich mich unter Einheimischen befand, die auf die Atmosphäre des Ortes vielleicht unangenehm reagieren würden. Ich wollte meinen Mann lebend haben. »Fangen wir an, ehe es dunkel wird«, sagte ich. »Wo ist er?« »Wir treiben ihn hierher, dann können Sie ihn festnehmen.« »Ist allen klar, daß nicht geschossen wird, wenn es nicht unbedingt nötig ist?« »Selbstverständlich.« Sie ließen mich allein. Ich kam mir vor wie in einer Arena. Ich wartete, während ich zusah, wie die untergehende Sonne den Stein färbte. Wenn sie sich nicht beeilten, würden wir ihn in der Dunkelheit verlieren. Selbst jetzt schon würde ich ihn nur aus der Nähe erkennen können. Und die sinkende Sonne würde hinter ihm stehen. Da konnte er mich leicht niederschießen.
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Ich wartete. Sie ließen sich Zeit. Die Luft war kühl geworden, und die Farben waren fast ganz verblichen, als zwei Schüsse die Stille zerrissen. »Er kommt zu Ihnen«, rief der Polizeichef. »Und er schießt.« Eine Gestalt erschien auf der obersten Terrasse, schwarz umrissen im Schein des letzten Lichts. Ich sah die Waffe in seiner Hand und sah, wie er sie hob. »Sie machen es nur noch schlimmer für sich«, rief ich und ließ mich fallen. Er blieb einen Moment reglos stehen. Das Licht war so schlecht, daß ich keinen Schuß riskieren konnte. Dann zog er sich zurück. Ich rannte die Terrassen hinauf. Als ich oben ankam, war der letzte Sonnenschimmer am Horizont versunken, und mein Mann war verschwunden. Nach einer Weile stieß ich auf den Polizeichef. »Er ist doch in Ihre Richtung gelaufen«, sagte ich. »Wie ist er an Ihnen vorbeigekommen?« »Wir haben ihn Ihnen zugetrieben. Warum haben Sie nicht geschossen?« »Das Licht war zu schlecht. Ich war nicht sicher, ob es mir gelingen würde, ihn nur lahm zu schießen.« »Ich habe geschossen, aber er rannte im Zickzack die Terrassen hinauf.« »Wir haben jedenfalls eine armselige Vorstellung gegeben«, brummte ich ärgerlich. Auch er war ärgerlich. Ärgerlicher als ich vielleicht. Er rief seine Leute zusammen. Ich hoffte, einen Gefangenen in ihrer Mitte zu sehen, aber sie kamen allein, mürrisch wie zuvor, und gafften uns an, als fragten sie sich, was der ganze Wirbel sollte. Eine Durchsuchung der Ruinen brachte nichts. »Wenigstens sind wir auf der richtigen Spur«, sagte der Polizeichef. »Ein Mann mit einer Waffe, der schießt, wenn er angerufen wird, dürfte wohl der Mann sein, den Sie suchen.« »Hat er eigentlich etwas geantwortet?« »Nein. Aber ich habe Englisch gesprochen, und er verstand offensichtlich.« »Haben Sie ihn nach der Fotografie erkannt?«
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»Das Licht war schlecht. Die Fotografie auch.« »Er kann nicht weit sein. Suchen wir ihn.« »Das hat keinen Sinn ohne Transportmittel und ohne Lampen. Ich werde mehr Leute zusammentrommeln, und bei Tagesanbruch nehmen wir die Suche wieder auf. In der Nacht kann er nicht weit kommen, und er wird uns kein zweites Mal entwischen. Aber das nächste Mal dürfen Sie nicht davor zurückschrecken, zu schießen.« Wir verbrachten die Nacht im Dorf, das ich am Tag zuvor kennengelernt hatte. Seine apathischen Bewohner nahmen uns ohne Überraschung und ohne Wärme auf. Der Polizeichef und ich teilten uns eine Hütte, die die Bewohner für uns freimachten, nachdem sie uns zu essen gegeben hatten. Gleich nach dem Essen wickelte ich mich in meine Decke. Es gab sonst nichts zu tun. Ich schlief schlecht. Etwas an der mißlich verlaufenen Aktion des Abends machte mir zu schaffen. Ich konnte nicht klar sehen, was es war. Mir war schleierhaft, wie der Gesuchte hatte entkommen können, wenn nicht der Polizeichef selbst ihn hatte entkommen lassen. Und ich verstand nicht, warum der Polizeichef so wütend auf mich war. Vielleicht war er ein Feigling. Vielleicht hatte er die Aktion verpfuscht. Vielleicht war er wütend auf sich selbst und ließ es nur an mir aus. Bald wach, bald im Halbschlaf schlug ich mich mit diesen Fragen herum. Jedesmal, wenn ich erwachte, sah ich ihn rauchend am Fenster stehen. Bei Morgengrauen schüttelte er mich wach. Sie hatten uns Becher voll eines widerlichen Gebräus gebracht, das sie Kaffee nannten, und draußen standen Pferde bereit. Ich hatte noch nie in meinem Leben auf einem Pferd gesessen, und diese Tiere waren nicht einmal gesattelt. Sie können sich vorstellen, was für eine Figur ich machte. Aber nicht einmal darüber konnten sich die Dorfbewohner zu einem Lächeln aufraffen. Wir brachen auf. Der Polizeichef ritt neben mir, eine Hand an meinem Zügel. Er hatte viele Männer mehr für die bevorstehende Jagd herbeigeholt, und wir bildeten einen beeindruckenden Zug. Noch immer hätte ich gern gewußt, warum er sich, nach seiner anfänglich gezeigten Gleichgültigkeit, nun so aktiv einsetzte, und wie es ihm gelungen war, sein Grauen vor dem hohen Gras zu überwinden –
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denn dort lag unzweifelhaft unser Ziel. Vielleicht hatte er Befehl erhalten. Wir schlugen dieselbe Straße ein, auf der ich zwei Tage zuvor mit dem Auto gefahren war. Vor uns kräuselte sich die Pampa. Die Sonne stand noch tief, und ihr Licht traf uns direkt in die Augen. Wir tauchten ins hohe Gras hinein, und die Pferde versanken augenblicklich bis zu ihren Hälsen, genau wie die, die ich gesehen hatte. Die Männer nahmen die Gewehre von den Schultern. Ich warf einen Blick auf das Gesicht meines Begleiters. Es zeigte keine Emotion, aber die dunkle Brille und der Sombrero ließen auch nicht viel Raum dafür. Es war gut, daß wir uns die Hüte ausgeliehen hatten. Schon jetzt war die Sonne heiß. Wenn sie erst über uns stand, würde sie jedem mit unbedecktem Kopf das Hirn ausbrennen. Bis zum Anfang der Pampa waren wir in geschlossener Gruppe geritten, doch als wir hineintauchten, verteilten sich die Männer, instinktiv oder auf Befehl, und bildeten eine weitgespannte Kette, deren Mittelstück der Polizeichef und ich waren. Und so ritten wir vorwärts, die Abstände zwischen den Männern vergrößerten sich, bis die Kette so weit auseinandergezogen war, wie es ging, ohne daß die Männer ihre jeweiligen Nachbarn aus den Augen verloren. Hinter der Kette folgten zu Fuß mehrere Dorfbewohner mit angeleinten Hunden, die im Gegensatz zu ihren Herren keine Spur von Apathie zeigten. Nur der Polizeichef und ich ritten nebeneinander. Ich konnte die beiden Enden unserer Kette nicht sehen. Und ich konnte auch die Grenzen der Ebene nicht erkennen; ich konnte nur vermuten, daß sie noch weiter außerhalb lagen als die Endglieder unserer Reiterkette. Sehen konnte ich nur den Mann zu meiner Linken, den Polizeichef, den Mann auf seiner Rechten und das Gras, das in die Unendlichkeit reichte. Und hören konnte ich nur das Rascheln des Grases, das sich unter dem Schritt der stetig vorwärts trottenden Pferde neigte und teilte, und das Keuchen der Hunde. Der Polizeichef saß schlecht zu Pferd, mit gekrümmtem Rücken, und doch brauchte er kaum die Zügel, um das Tier zu beherrschen, ließ sie häufig sogar los und gebrauchte nur seine Beine. Die Männer neben uns ließen den Blick in ständigem Hin und Her, dem Schwung
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einer Sichel gleich, über das Gelände schweifen. Das ganze Unternehmen erinnerte mich an eine Treibjagd. Ich stellte mir den Flüchtigen vor, wie er besinnungslos vor Angst vor uns her rannte, um Dekkung zu suchen, während der Schutzbereich sich ständig verkleinerte. Immer vorausgesetzt, er war in der Pampa, wie der Polizeichef glaubte. Warum er es glaubte, hatte ich bis jetzt noch nicht herausgebracht. Das ist das Üble, wenn ein Ausländer Englisch spricht, man weiß nie mit Sicherheit, ob er das meint, was er sagt. Die Sonne stieg rasch, und ihre Hitze lag einem wie ein erstickendes Tuch auf dem Gesicht. »Was ist auf der anderen Seite der Ebene?« fragte ich. »Der Fluß.« »Kann er ihn überqueren? Wenn wir so langsam vorwärts kommen, erwischen wir ihn vielleicht gar nicht mehr auf dieser Seite.« »Er wird den Fluß nie erreichen. Ein Pferd kann bequem durch das Gras gehen. Ein Mensch nicht. Er muß nicht nur seine Beine durch das Gras stoßen, sondern seinen ganzen Körper. Er wird erschöpft sein, lange ehe der Fluß nahe ist.« Er tat mir beinahe leid. War das, was er getan hatte, dies alles wert? Mir war nichts Genaueres über sein Verbrechen bekannt. Ich wußte, daß es um Mord ging und um den Raub einer Million, aber ob er gemordet hatte, um an das Geld zu kommen, oder um es behalten zu können, oder um es zu verbergen, wußte ich nicht. Ich bemühte mich sogar, nicht mit Namen an ihn zu denken. Das macht es nur schlimmer, wie es einem schwerer fällt, einem Huhn den Kragen umzudrehen, dem man einen Namen gegeben hat. Mittags machten wir Rast. Die Pferde legten sich nieder, um der Sonne zu entgehen, und wir folgten ihrem Beispiel. Die Dorfbewohner hatten Proviant für uns mitgenommen. Ich aß eine Art Obstbrei, der besser schmeckte als er aussah, und trank Wasser. Wie ich da im Gras lag, fühlte ich mich wieder wie ein kleiner Junge; wie damals, als ich bäuchlings in einer Wiese gelegen und mir vorgestellt hatte, die Grashalme wären der Urwald. Außer dem Polizeichef konnte ich keinen der Männer sehen. Er sprach nichts. Er trank auch nicht, obwohl er einen Flachmann mit Wein dabeihatte. Ich zog mir den Hut über die Augen und atmete
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den Geruch der Pferde und des Grases, während ich an den Mann vor uns dachte. Unser Verschwinden mußte ihm wie ein Wunder erschienen sein. Aber nein, er wußte sicher, was es zu bedeuten hatte. Für ihn, den armen Teufel, gab es keine Mittagspause. Mit diesem Gedanken schlief ich ein. Erst als der Polizeichef mich schüttelte und anrief, erwachte ich wieder und wußte im ersten Moment nicht, wo ich war und warum ich aufstehen mußte. Die Folge meines Nickerchens war, daß wir später wieder aufsaßen als die anderen und ein Stück hinter ihnen waren, als wir losritten. Der Polizeichef unternahm nichts, um die Lücke zu schließen. Wir waren allein, isoliert von den anderen, und nach einer Weile fühlte ich mich getrieben, das Schweigen zu brechen. »Erinnert Sie das an alte Zeiten?« fragte ich. Ganz langsam drehte er den Kopf und sah mich so lange an, als hätte er mich nie zuvor gesehen. Dann sagte er: »Wo ist gestern?« Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich wollte nur Konversation machen, nicht eine metaphysische Diskussion eröffnen. »Es ist hier«, fuhr er fort und tippte sich an die Stirn. »Nicht dort.« Mit wegwerfender Geste wies er auf die Landschaft um uns herum. »Und wo ist morgen?« Ich hielt eisern den Mund. »Auch hier.« Wieder tippte er sich an die Stirn. »Und wo sind gestern und morgen, wenn das Gehirn aufhört zu arbeiten?« Es tat mir leid, daß ich überhaupt etwas gesagt hatte. Die gleichmäßig rhythmische Bewegung der Pferde und die Monotonie der Landschaft wirkten hypnotisch. Viel Zeit verging, ohne daß ich mir dessen bewußt wurde, bis ich am Himmel die nun schon altvertraute Röte sah. Mein vierter Sonnenuntergang in diesem Land, und ich hatte kein Verlangen nach mehr. »Er hat mehr Ausdauer als Sie erwartet haben«, bemerkte ich. »Bald wird es dunkel.« »Wir fassen ihn noch vor dem Fluß«, erklärte er. »Ich habe für so was einen Riecher.« »Wie weit ist der Fluß?« »Wir fassen ihn noch vor Einbruch der Dunkelheit. Das ist der Moment, wo ein Flüchtiger die Hoffnung verliert.«
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»Ich hätte gemeint, das ist der Moment, wo er sie gewinnt.« »Es ist nicht die Jagd, die einem Menschen die Kraft raubt. Es ist die Angst. Die Jagd hört auf und fängt wieder an, aber die Angst hört niemals auf. Früher oder später kommt eine Nacht, wo man den Gedanken nicht mehr ertragen kann, daß die Sonne wieder über der Ungewißheit aufgehen wird. Da bleibt man stehen und erwartet sie.« War es so bei ihm gewesen? Während ich vor mich hingedöst hatte, waren wir noch weiter hinter die Reiterkette zurückgefallen, und sogar die Dorfbewohner mit ihren Hunden hatten uns überholt. Eine ungeschickte Position für einen Befehlshaber, wie mir schien – die Truppe weit voraus, den Rücken ungedeckt. Immer wieder blickte ich über die Schulter nach rückwärts. Wenn es dem Flüchtigen irgendwie gelungen war, hinter die Linie zu gelangen, boten wir zwei Nachzügler ein unwiderstehliches Ziel. Besonders wenn er eine Waffe mit Schalldämpfer hatte. Diese Blicke nach rückwärts verstärkten noch die Illusion von der Pampa als wogendem Meer. Weit draußen waren wir jetzt. Nirgends konnte ich eine Begrenzung sehen, nirgends festen Boden. In weiter Ferne konnte ich gerade noch ein Gebilde erkennen, das ebensogut eine Bergkette wie eine Wolkenbank sein konnte. Mein Begleiter hatte gesagt, nicht weit vor uns befände sich ein Fluß, aber so, wie es aussah, konnte das Gras auch bis an den Rand der Welt reichen. Er hielt an und legte eine Hand auf meinen Arm. Die Luft fing an zu dunkeln, und ich fröstelte in der plötzlichen Kühle. »Er ist nahe«, flüsterte er. »Ich fühle es.« »Wie ist er ihnen durch die Finger geschlüpft?« fragte ich und wies mit dem Kopf zu den fernen Sombreros. »Sie sind Städter«, antwortete er verächtlich. »Geben wir einen Schuß ab, damit sie umkehren.« »Nein. Dieser Mann ist schlau. Wir dürfen ihn nicht aufmerksam machen. Steigen Sie ab – aber ganz leise.« Ich glitt vom Pferd und stellte mich neben ihn. »Bleiben Sie hier bei den Pferden«, sagte er. »Ich werde ihn finden.« »Er ist mein Mann.« »Aber dies ist nicht Ihr Land. Haben Sie noch meinen Revolver? Dann fürchten Sie sich nicht, ihn zu gebrauchen.«
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»Seien Sie nur mit meinem nicht voreilig«, sagte ich, ihn zurückhaltend. »Ich werde nur tun, was notwendig ist.« Er sah mich einen Moment lang an, dann verschmolz er mit dem hohen Gras. Nur so kann ich sein blitzschnelles und völlig lautloses Verschwinden beschreiben. Ich stellte mich in Deckung zwischen die Pferde und hielt ständig wachsame Umschau. Die Sicht war jetzt stark verkürzt. Kein Geräusch war zu hören, außer dem leisen Schnauben der Pferde. Wenn der Polizeichef da draußen durch das Gras pirschte, so tat er es mit der gleichen tödlichen Lautlosigkeit, die ich soeben bei seinem Verschwinden bewundert hatte. Der andere Mann mußte ähnlich geschickt sein, obwohl ich mir nach der Lektüre seines Dossiers nicht vorstellen konnte, wo er das gelernt haben sollte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo die beiden Männer sich in diesem Augenblick befanden. Vielleicht jeder auf einer Seite von mir. Ich konnte nur hoffen, sie würden nicht den Schiedsrichter treffen. »Er kommt auf Sie zu«, rief der Polizeichef. »Seien Sie vorsichtig.« Der gute Rat schien mir überflüssig. Ich zog den Revolver, entsicherte ihn und drehte mich langsam um. Ein Pferdebauch gab mir Deckung, aber einzelne Teile meines Körpers waren dennoch exponiert. Mein Kopf zum Beispiel. Dann nahm ich eine Bewegung wahr – eine leichte Bewegung des Grases, genau in dem Moment, als ich mich in langsamer Drehung abwandte. Sie erstarb sofort. Da rief ich ihn beim Namen. »Geben Sie auf«, sagte ich. »Da vorn wartet eine ganze Truppe Revolverhelden auf Sie. Wir sind hier beide auf fremdem Boden. Heben Sie die Hände und kommen Sie heraus, dann können wir noch heute abend nach England fliegen.« Er feuerte. Es ärgerte mich, daß er so bösartig war zu schießen und so dumm, mich zu verfehlen. »Noch einmal, und ich schieße«, rief ich. Er feuerte noch einmal und traf mich in die Schulter. Da schoß ich auch. Er fiel vornüber aus dem hohen Gras. Es war der Polizeichef, und er war tot. Ich wußte die Lösung des Rätsels. Ich öffnete seinen Revolver – meinen Revolver –, um mir die Bestätigung zu holen. Nur noch zwei Kugeln übrig. Zwei hatte er in der Nacht beim Tempel abgefeuert
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und zwei jetzt. Der Mann, den ich suchte, hatte überhaupt nicht geschossen, weil er nie dagewesen war. Nur der Polizeichef war dagewesen, der ewigen Flucht vor dem Tode müde. Die Kameraden, die er verraten hatte, waren tot oder im Gefängnis, aber sie hatten sicher Angehörige. Rache und Vergeltung überall. Müde der dauernden Angst, hatte er mich zu seinem Scharfrichter erkoren. Die Schießerei hatte seine Männer aufmerksam gemacht. Wie ein langer Trauerzug ritten sie durch den Abend zurück. Warum hatte er es nicht selber getan? Später hörte ich von einer Ehefrau, die irgendwo hinter geschlossenen Läden saß. Die Pension vielleicht? Bei Selbstmord nicht zahlbar vielleicht. Das Nächstbeste war vielleicht gewesen, mir seinen Revolver in die Hand zu drücken. Der Mann, den ich suchte, wurde in Birmingham gefaßt. Aus dem Englischen übertragen von Mechthild Sandberg-Ciletti
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Jean Stubbs Das Belvedere Die Erinnerung an Cousine Fanny ängstigt mich so heftig, daß ich nachts weinend aus dem Schlaf erwache. Immer brennt eine Kerze, damit es nicht ganz dunkel ist, und Nanny schläft im Nebenzimmer bei offener Tür, damit sie sofort zu mir kommen kann. Mama braucht unbedingt ihren Schlaf, sagen sie, aber tagsüber sitzt sie bei mir und näht Spitzenborten an die Kleidchen des Babys und erzählt mir Märchen. Als das Fieber anfing, haben sie mir den Kopf kahlgeschoren, und jetzt trage ich ein Leinenhäubchen mit einer Rüschenborte am Rand. Mama sagt, daß meine Haare wieder wachsen werden, und wenn es mir bessergeht, schickt sie mich zu Tante Dith, die am Meer wohnt. Aber vorläufig bin ich noch nicht kräftig genug, um zu reisen, und kaum stark genug, um einem Grauen standzuhalten, das ich ihnen einfach nicht begreiflich machen kann. Sie haben mir ein anderes Zimmer gegeben, damit ich das Belvedere hinten im Garten nicht mehr sehe, aber immer erscheint es mir bleich schimmernd und schrecklich in meinen Träumen. Cousine Fanny steht am Fußende meines Betts und lächelt unentwegt, und manchmal schwebt sie mit vorgestreckten Armen auf mich zu wie ein mondsüchtiges Gespenst. Dann schreie ich mich in eine Wirklichkeit zurück, die kaum weniger angsterregend ist als die Schrecknisse, die mich unablässig quälen. Unser Haus in Blackheath, mit eigenem Garten, war groß genug für ein Dutzend Kinder, und wir betrachteten uns als eine vom Glück begünstigte Familie. Papa arbeitete in der City und pflegte einen schwarzseidenen Zylinder und einen schwarzen Gehrock zu tragen. Abends schlüpfte er in eine pflaumenfarbene Samtjacke und setzte eine bestickte Kappe mit einer Seidenquaste auf. Mama war immer zu Hause, richtete unser aller Leben und sorgte dafür, daß vom Keller bis zum Speicher alles seine Ordnung hatte. Sie besprach mit der Köchin den täglichen Speisezettel und mit der Gouvernante unsere Unterrichtsstunden und beriet mit dem Gärtner über den Anbau von Blumen und Gemüse. Nachmittags pflegte sie, wenn sie nicht auf dem Sofa ruhte, Besuche zu machen oder zu empfangen.
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Eigentlich wären wir neun Kinder gewesen, aber vier von uns waren im Säuglingsalter gestorben und lagen auf dem Friedhof unter zwei weinenden Engeln und einer steinernen Urne. Wir besuchten ihr Grab jeden Sonntag nach dem Morgengottesdienst, um über ihre ewige Seligkeit nachzusinnen, die unser Schmerz war, und um das Grab mit Blumen zu schmücken. Und den Jahrestag eines jeden Todes verbrachten wir in Stille zu Hause und schlossen die kleinen Toten in unsere Abendgebete ein. Mama erklärte uns, sie wären jetzt in einer besseren Welt, und es sei unrecht zu trauern. Doch sie selbst trug nach dem Tod unserer Geschwister ein ganzes Jahr lang Schwarz, den Jungen wurde schwarzer Trauerflor an die Ärmel genäht, und alle Freuden des Himmels konnten sie nicht daran abhalten, zu trauern. Nach dem Tod unserer kleinen Rachel an Diphtherie reiste Papa mit Mama ihrer Gesundheit wegen nach Italien, und sie kehrte voll hübscher und unpraktischer Einfälle von dort zurück. Zumindest sagte Papa, sie wären unpraktisch, und als die Orangenbäumchen nicht wachsen wollten – ihm also recht gaben –, meinte er, sie solle der italienischen Reise ein solideres und dauerhafteres Denkmal setzen. Ihr hatten vor allem die auf Hügeln errichteten Kirchen gefallen, durch deren offene Campaniles man den blauen Himmel und die gefiederten Wolken sehen konnte, und sie erwähnte das auf ihre reizende, bittende Art beim Frühstück. »Ich kann dir keine Kirche bauen, mein Liebes«, sagte Papa lächelnd. »Das ist ein zu großartiges Unterfangen. Aber wir werden hinten im Garten ein Belvedere bauen, wenn du das möchtest, und uns am italienischen Stil orientieren.« Mama schlug die Hände zusammen und rief, das wäre das Schönste, was sie sich vorstellen könne. »Und was ist ein Belvedere, James?« fragte Papa, der bemerkte, daß James kein Interesse daran zeigte, dem Gespräch zu folgen und sein Wissen zu vergrößern. »Definiere es mir bitte.« James versteckte seine weiße Maus in der Tasche seiner Matrosenjacke und sagte, er glaube, ein Belvedere wäre eine sehr kleine Kirche.
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»Du irrst dich, James«, entgegnete Papa und zog dabei seine goldene Taschenuhr aus der Westentasche. »Wenn du etwas nicht weißt, solltest du das immer sagen und um die Erlaubnis bitten, das Wort im Wörterbuch nachzuschlagen. Ich habe noch fünf Minuten Zeit. Hol das Wörterbuch.« »Das ist wirklich lieb von Papa«, sagte Mama automatisch. »Denn ihr wißt doch, er ist ein sehr wichtiger Mann und hat viel zu tun. Für ihn ist jede Minute kostbar.« James brummelte seinen Dank, sprang von seinem Stuhl, versteckte auf dem Weg ins Arbeitszimmer die Maus in einer Schublade (aus der sie später einem kreischenden Hausmädchen entgegenspringen würde) und kehrte mit einem dicken, engbedruckten Buch zurück. Kerzengerade stand er da, aber man sah gleich, daß er mit dem Umgang des Wörterbuchs nicht vertraut war, und ich konnte sehen, daß Mama im stillen darum betete, er möge das Buch nicht fallen lassen oder gar Eselsohren in seine Seiten knicken. Unter dem strengen Blick Papas, der in seiner rechten Hand die mahnend tickende Taschenuhr hielt, zu der er ab und zu hinuntersah, blätterte James ungeschickt, bis er die richtige Stelle fand. »Ein Belvedere ist ein Aussichtstürmchen«, sagte er endlich, und Mama atmete auf. »Das Wort ist gebildet aus dem italienischen bel, das heißt schön, und dem Verb vedere, was sehen heißt.« »Sehr gut, James. Merk dir diese Definition. Jedes neu gelernte Wort ist ein Gewinn, und ein umfassender Wortschatz ist das Zeichen einer gebildeten Persönlichkeit.« Dann steckte er seine Uhr ein, faltete die Times und begab sich zu jenem mysteriösen Heiligtum in der City, das ihm die Mittel bescherte, eine Frau und fünf Kinder zu unterhalten, dazu acht Hausangestellte und eine Villa, deren Wintergarten allein schon allen, die ihn sahen, Gegenstand des Neides war. Richard und Edward wurden zu dieser Zeit gerade auf ihr zukünftiges Leben im Internat vorbereitet, so daß nur James und ich bei unserer Gouvernante Unterricht hatten, während unser kleiner Frederick eben erst die erste lange Hose bekommen hatte. Mama legte sich nach dem Frühstück aufs Sofa, und wenn ich auch nicht gewagt hätte, darüber zu sprechen, so ahnte ich doch, was es damit auf sich
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hatte. Es brachte viel Nicken und freundliches Augenzwinkern unter den weiblichen Hausangestellten mit sich, häufige Ermahnungen, keinen Lärm zu machen und die arme Mama nicht zu stören, und zu gegebener Zeit ein Neugeborenes im Kinderzimmer. Ich habe nie verstanden, warum Mama jedesmal monatelang unwohl war, wo doch die kleinen Kinder vom Storch gebracht oder eines Tages ganz plötzlich unter den Johannisbeerbüschen gefunden werden. Das war ein Geheimnis der Erwachsenen, das bestimmt schien, niemals ergründet zu werden. Ich glaube, ich darf, ohne mich des Hochmuts schuldig zu machen, sagen, daß ich vor Cousine Fannys Ankunft ein braves Kind war. Ich hatte im Lauf meines zehnjährigen Lebens längst gelernt, daß ich, um Mama zu gefallen, hübsch und zärtlich sein mußte, und um Papa zufriedenzustellen, bescheiden und fügsam. Meinen drei älteren Brüdern konnte ich nur dadurch gefallen, daß ich sie in Ruhe ließ, aber unseren kleinen Frederick, der noch nicht alt genug war, um Mädchen dämlich zu finden und mich sogar lieber hatte als alle anderen, herzte und küßte ich nach Herzenslust. Ich war allerdings nie ein kluges Kind, und wenn auch Nanny zu sagen pflegte: »Lieber brav als klug«, fiel mir auf, daß Bravsein als etwas Langweiliges betrachtet wurde, ganz gleich, wie hoch man es lobte. Die Köchin liebte James (trotz seiner Mäuse), Nanny liebte ihren Erstgeborenen, Richard (inzwischen ein strammer fünfzehnjähriger und ungezogener Schulbengel), Nora, das Hausmädchen, liebte Edward (der ihr in den Ferien Makronen abluchste), und alle liebten Frederick, obwohl der wirklich nicht brav war. Ich aber war niemands Liebling; höchstens vielleicht wurde ich von Papa ein wenig bevorzugt, den ich gern genauso bezaubert hätte wie Mama das konnte. Sie pflegte ihm leise lachend einen Seitenblick zuzuwerfen und dabei anmutig die Hände zum hochgesteckten schwarzen Haar zu heben, um es zu Vollkommenheit zu modellieren. Mein Haar hatte man längst aufgegeben; es hing, wenn ich nicht gerade vor Festen mit Papierwickeln malträtiert wurde, braun, ordentlich und völlig unscheinbar meinen Rücken herab. Weder beim Klavierspiel noch bei der Handarbeit, beides Fertigkeiten, wo Mama glänzte, tat ich mich hervor. Unter Tränen und schrecklichem Leiden an zerstochenen Fingern produzierte ich
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Sticktücher, die erst gewaschen und geplättet werden mußten, ehe sie im Salon vorgezeigt werden konnten. Mamas Petit-Point-Stickereien hingegen zierten Sessel und Hocker und Sofas. Ich hatte noch kein halbes Dutzend Töne auf dem Klavier angeschlagen, da fielen schon die beiden Pennys auf meinen Handrücken herunter, Beweis dafür, daß ich die Hände nicht richtig hielt, geschweige denn richtig spielte. Mama dagegen konnte spielen und singen wie ein himmlischer Engel. Wenn sie einen Musikabend gab, pflegte ich mich herunterzuschleichen und auf die Treppe zu setzen, weil ich hoffte, sie würde das Lied mit dem Titel ›Von Ferne klingt ein Ruf‹ singen. Jetzt macht mir dieses Lied angst; es scheint mir ein Ruf in jenes Reich zu sein, wo Cousine Fanny ruht, und ich bete darum, daß wenigstens ich ewig leben möge, damit ich dort nicht mit ihr zusammenkommen muß. Aber dann fällt mir ein, daß gerade ich am wenigsten würdig bin, zu Gott zu beten – der alles sieht und alles weiß. Und dann lasse ich mich in das Schattenland des Schlafs treiben, sehe wieder das Belvedere in zauberischer Schönheit stehen und Cousine Fanny in gespenstischem Entsetzen wandeln. Das Belvedere kam zuerst. Papa, der, wie Miss Wilder, unsere Gouvernante, sagt, ein »hochgebildeter Herr« ist, entwarf das Türmchen nach zahlreichen italienischen Vorbildern, so daß es, obwohl es sich weder einer bestimmten Schule noch einem bestimmten Stil zuordnen ließ, der Inbegriff aller Belvedere zu sein schien, die je geschaffen worden waren. Mama saß lächelnd über ihrer Näharbeit, eine Aura um sich, die ich ihr neidete und die ich nicht verstand. Heute, aus den Tiefen meiner Einsamkeit, weiß ich, daß es die Aura der Vielgeliebten war. In meinem Neid versuchte ich, Papas Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, und war schuld daran, daß er eine Flasche chinesische Tusche auf dem Salonteppich ausgoß. Es war wahrscheinlich die gerechte Strafe für mich – aber ich wäre ja nicht neidisch gewesen, wenn ich mich auch vielgeliebt gefühlt hätte. Er war furchtbar zornig. Unser Papa hatte einen untadeligen Geschmack, wie Mama stets zu sagen pflegte, aber ich war dennoch höchst enttäuscht darüber, wie klein das Belvedere war. Ich hatte mir einen Turm von mindestens zehn Metern Höhe vorgestellt, aber er war nicht höher als drei;
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schlank und wohlproportioniert, aus hellem Stein, mit schmalen Stufen, die zu einem Ausblick hinaufführten, den die Italiener vielleicht nicht gerade als überwältigend bezeichnet hätten, der aber dennoch sehr hübsch war. Zur Gartenseite hin war das Belvedere harmlos, aber unser Grundstück lag am Hang, so daß sich auf der anderen Seite eine jähe Tiefe auftat, die einem schaurig schönes Gruseln einjagen konnte. Mama und Papa konnten den Blick genießen, wann immer und wie immer sie wollten, die beiden älteren Jungen wurden zur Vorsicht ermahnt, doch James und ich konnten nur in Begleitung einer erwachsenen Person hinaufsteigen. Der kleine Frederick durfte überhaupt nicht hinauf und versuchte daher Tag für Tag, irgendwie in das verbotene Terrain zu entwischen und den Turm zu erklimmen, der für ihn vermutlich wahrhaft babylonische Ausmaße hatte. Besucher äußerten sich begeistert über seine Schönheit und Originalität, Papas Geschäftsfreunde jedoch neckten ihn ob solcher Zurschaustellung nutzloser Pracht. »Sie müssen ja ganz schön im Fett sitzen, daß Sie hier solchen weiblichen Firlefanz aufstellen«, sagte Mr. Bullock, und Papa lachte und erwiderte, es wäre ein Geschenk für Mama. Ich fragte ihn, was das heißt, ›im Fett sitzen‹, und er erklärte mir, es wäre eine Wendung aus der Umgangssprache, die wir Kinder auf keinen Fall gebrauchen sollten und die besagte, daß er eine Menge Geld hätte. Der Gedanke, daß mein Papa ein so bedeutender Mann war, daß er nicht aufs Geld achten mußte, machte mich stolz. Das Belvedere kam zuerst, und danach kam Cousine Fanny. Vor dem Tag, an dem der Brief im schwarzumrandeten Kuvert kam, hatten wir nie von Mamas Schwester Eleanor gehört. Und Mamas Erklärung war so formuliert, daß sie mich noch mehr verwirrte. »Wir haben seit vielen Jahren nicht von Eleanor, eurer Tante Eleanor, gesprochen. Was sie getan hat, ist jetzt nicht mehr von Bedeutung, ist nur noch Sache zwischen ihr und ihrem Schöpfer. Sie hat gesündigt, gelitten und ist nun, dank der Gnade Gottes, im Himmel. Sie ließ ihr einziges Kind zurück, eine Tochter von dreizehn Jahren, die sie Fanny nannte – ich nehme an, sie wurde nach meiner guten Mutter Frances getauft…« »Wenn sie überhaupt getauft wurde«, warf Papa ein.
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»Warum sollte sie denn nicht getauft sein?« fragte ich. »Wird nicht jedes Kind getauft? Ich dachte, so wäre das Gesetz, Papa.« »Dein Papa hat nur einen Scherz gemacht. Er spielt auf die Tatsache an, daß Tante Eleanor und Fanny viele Jahre im Ausland gelebt haben, wo vieles ganz anders ist als bei uns. Selbstverständlich ist das Kind getauft, Mr. Brook.« Nur wenn sie ganz förmlich sein wollte, pflegte sie Papa mit »Mr. Brook« anzusprechen, und ich entnahm daraus, daß er eine Verfehlung begangen hatte. »Meine Schwester bittet mich, für das Kind zu sorgen«, fuhr Mama eilig fort, doch seine momentane Unbesonnenheit hatte ihr Stärke gegeben. Sie trat näher zu ihm, damit ich nicht hören konnte, was sie sagte, und machte eine Bemerkung über festgelegtes Geld. »Geld aus was für Quellen?« fragte Papa streng. Ich kroch unter den Tisch und blieb dort sitzen, von der Chenilledecke mit den gelbbraunen Seidenquasten verborgen. »Der Brief ist von einer Nonne geschrieben, mein lieber Charles. Sie wird meine Schwester wohl kaum getäuscht haben. Vielleicht hat der – vielleicht hat ihr – Mr. Marechal dem Kind ganz legitim etwas überschrieben. Wir können nicht die Tochter für die Sünden der Mutter büßen lassen. Niemand will sie haben. Gegenwärtig ist sie in dem Kloster untergekommen, wo meine Schwester gestorben ist.« »Pfäffisches Zeug. Mir kommt solches Gesindel nicht ins Haus.« Es war das erstemal, solange ich Mama kannte, daß sie sich gegen Papa auflehnte. Es ging um ein Kind. Um ein bereits heranwachsendes Kind, von obskurer Herkunft und Entwicklung, aber eben doch um eines jener gesegneten Geschöpfe, denen das Tor des Himmels offensteht, weil sie unschuldigen Herzens und Geistes sind. »Meine Schwester hat eine solide protestantische Erziehung genossen, Mr. Brook. In Frankreich ist, wie du besser weißt als ich« – diplomatischer Beschwichtigungsversuch –, »der Katholizismus Staatsreligion. Die Nonnen haben sie wahrscheinlich aus reiner Herzensgüte aufgenommen, weil sie weder Freunde noch Angehörige hat. Vor Gott sind wir alle gleich. Man kann dem Kind keine Schuld geben.«
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Am Ende erklärte sich Papa damit einverstanden, daß Fanny für einige Monate zu uns käme, unter der Bedingung jedoch, daß sie auf ein geeignetes Internat geschickt werden solle, falls sich Anzeichen dafür zeigen sollten, daß sie auf uns einen schlechten Einfluß hätte. Sie war noch keine vierzehn Tage im Haus, da hatte sie sich schon als ein weiterer Liebling etabliert. »Eleanor war immer die Schönheit der Familie«, sagte Mama liebevoll, »und Fanny ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.« Ihre Schönheit war unverkennbar, selbst in diesem Übergangsstadium vom Kind zur Frau, wo alles noch Unbeholfenheit ist. Das schwarze Haar fiel ihr in glänzenden Locken über den Rücken, sie hielt sich wie eine Königin, ihre Manieren waren tadellos, ihre Dankbarkeit überschwenglich, aber niemals peinlich. Mama hatte einen ganzen Monat lang Miss Briggs, die Schneiderin, im Haus, um Fanny neue Kleider nähen zu lassen. »Denn diese hier sind – wenn auch sehr elegant, meine liebe Fanny – für dein Alter nicht ganz passend.« Fanny fügte sich demütig, ängstlich darauf bedacht, keinen Anstoß zu erregen, fragte aber, ob sie ihre französische Garderobe zum Andenken an ihre eigene Mama behalten dürfe. Da meiner Mama keine andere Lösung einfiel (man konnte ja solchen Staat schlecht an die Armen weitergeben), erlaubte sie es. Ja, während ich von Eifersucht und Ungewißheit gequält an der Peripherie dieser neuen Beziehung lauerte, entdeckte ich, daß Fanny sehr viel erlaubt wurde, und daß sie das erreichte, indem sie sich scheinbar der Autorität unterordnete. Ich selbst war aus mangelnder Schlauheit und Gewissenlosigkeit nie auf den Gedanken gekommen, mir eine solche Haltung zu eigen zu machen, und ich haßte sie für ihre Strategien. Irgendwann in jener Vergangenheit, die, denke ich, niemals ans Licht kommen wird, hatte Fanny Unehrlichkeit gelernt. Sie war Meisterin in der Kunst der Täuschung; ihre Manöver waren unterschwellig, glaubhaft und beruhten auf ihren Eingebungen. Sie hatte herausbekommen, daß man andere durch ihre eigenen Schwächen manipulieren konnte, und sie nahm diese Schwächen mit erschreckendem Scharfblick aufs Korn. Meine Familie wurde mir als das offenbart,
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was sie war, und der alte Schein wird nie wiederhergestellt werden können. Nicht nur Fannys Geist und das Bild des bleich schimmernden Belvedere verfolgen mich heute, – ich leide an der Qual einer Ernüchterung, die viel grausamer ist: Es ist die Erkenntnis, daß die Menschen, die mich trösten und pflegen, Fremde sind, Opfer, noch schwächer als ich selbst. Ich stehe nicht mehr sicher und heil auf der Blumenwiese der Unschuld, sondern ich schwanke schreiend am Rand eines Abgrunds. Und unter denen, die mich zu retten suchen, gähnt der gleiche Abgrund, ohne daß sie es erkennen. Wo Fanny jetzt ist, weiß ich nicht, aber niemals werden wir vor ihr sicher sein, da wir nicht besser sind als sie. Sie täuschte andere, wir aber täuschen uns selber. Nehmen wir Nanny, die bei Richards Geburt als Kindermädchen in unser glückliches Heim kam, ein rotwangiges, gesundes junges Mädchen aus Clapham. Ihre fünfzehn Jahre mit uns lehrten sie nichts, was über die einfältigen Drohungen und Überzeugungen hinausging, mit denen sie zu uns kam. Man hat sie um ihre Frische gebracht, vielleicht um die Ehe mit einem aufrechten Mann, der ihr Zufriedenheit hätte geben können. Wenn sie uns zu drohen pflegte, daß ungezogene Kinder vom schwarzen Mann geholt werden, oder uns versprach, daß wir lockiges Haar bekommen würden, wenn wir nur aufäßen, glaubten wir ihr. Daß niemals ein schwarzer Mann erschien, auch wenn wir noch so ungezogen waren, daß mein elendes Haar immer unverändert glatt und strähnig blieb, schien einzig auf unverdientes Glück beziehungsweise persönliche Sündhaftigkeit zurückzuführen zu sein. ch weiß jetzt, daß sie machtlos und unehrlich war; Fanny nämlich entlarvte sie, und entlarvte sie zu einem ganz bestimmten Zweck. Unser neues Brüderchen schrie anfangs sehr viel, dann wurde es ruhig und dann matt und teilnahmslos. Der Arzt verschrieb einen Aufenthalt am Meer. »Ach, wie gern würde ich ans Meer fahren«, sagte Fanny sehnsüchtig. »Wenn Wünsche Pferde wären, dann würden Bettler reiten«, sagte Nanny scharf. Gerüchte über Fannys Herkunft hatten beim Personal
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zu viel Klatsch Anlaß gegeben, und in Nannys Augen war Fanny nichts Besseres als sie, sondern hatte nur mehr Glück gehabt. »Ich glaube sicher, die Seeluft würde mir guttun«, sagte Fanny sanft und freundlich. »Liebe Nanny, darf ich das Baby einmal halten?« »Nein, Miss. Es wird ihm gleich wieder bessergehen. Er will zu seiner Nanny, nicht wahr, mein Lämmchen. Gehen Sie nach unten, Miss, und nehmen Sie Miss Helen mit. Kinder sollte man sehen, aber nicht hören.« Fanny warf ihr einen merkwürdigen Blick zu, aber sie nahm mich bei der Hand und führte mich in den Salon hinunter, wo sie sogleich ganz sachte wegen der Fahrt an die See auf den Busch klopfte. Aber es zeigte sich, daß Papas Ausgaben bereits hoch genug waren und er nicht bereit war, mehr auf sich zu nehmen, als die Kosten für Mama, das Brüderchen und Nanny. Nicht daß Fanny direkt gefragt hätte, sie sondierte nur das Terrain. Kurz danach unternahm sie ihren ersten nächtlichen Ausflug. Ich erwachte und sah sie aus unserem Zimmer ins Kinderzimmer nebenan schleichen, wo der kleine William unaufhörlich weinte. Die Neugier trieb mich aus dem Bett, und ich folgte ihr, gerade so wie wohl Adam Eva folgte, als er den ersten Biß in die verbotene Frucht tat. Die Erkenntnis, die ich gewann, schmeckte nicht weniger bitter. Williams Weinen hörte auf, und in diesem Augenblick stieß Fanny die Tür auf. Ich schlich mich hinter ihr ins Zimmer und gewahrte eine zum »lebenden Bild« erstarrte Szene, der Entwurf einer Momentaufnahme. Das Haar zu Zöpfen geflochten, ihr sonst so strenges Aussehen durch eine Nachtjacke gemildert, stand Nanny offenen Mundes da und hielt den Säugling in den Armen. Neben ihr auf dem Tisch stand ein kleines Fläschchen. »Ich dachte mir doch, daß du ihm Laudanum gibst«, sagte Fanny leise und triumphierend und ergriff das Fläschchen. »Stellen Sie das sofort wieder hin, Miss!« zischte Nanny wütend. »Da draußen im Ausland haben Sie anscheinend nur Böses gelernt. Das sind gute, gesunde Tropfen. Der Doktor hat sie für den kleinen Master William dagelassen.«
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Eiskalt zog Fanny den Stöpsel aus der Flasche und roch daran. »Laudanum«, sagte sie und lächelte. Nanny legte das Baby in sein Körbchen und grapschte nach dem Beweisstück. Ich hatte sie bisher immer nur als eine unerschütterliche Säule der Autorität erlebt, und als ich ihre panische Angst sah, wurde mir ganz übel. Fanny hielt das Fläschchen weit in die Höhe. »Wenn du näher kommst«, sagte sie leise, »zerschlage ich die Flasche und hole Mrs. Brook, damit sie es riechen kann.« Darauf folgte ein langes, schreckliches Schweigen. Dann begann Nanny in einem Ton, den ich nie zuvor von ihr gehört hatte, auf Fanny einzureden. »Kommen Sie, Miss«, sagte sie schmeichelnd. »Sie sind eine gescheite junge Dame. Sie wissen so wie ich, daß es für den kleinen Master William nicht gut ist, wenn er so viel schreit. Seien Sie ein braves kleines Ding und geben Sie mir die Flasche.« Fanny entgegnete leise: »Ich brauche einen Monat Erholung an der See, Nanny. Seit dem Tod meiner Mama bin ich ganz aus dem Gleichgewicht. Ich habe angefangen Schlafzuwandern.« Ich sah, wie sich auf Nannys rundem, rotem Gesicht und in den kleinen schwarzen Augen ein Ausdruck listiger Verschlagenheit zeigte. »Ist das wahr, Miss?« fragte sie. »Vielleicht bin ich auch heute nacht im Schlaf herumgeirrt«, sagte Fanny freundlich. »Und du weißt ja, daß Schlafwandler nichts sehen. Man darf sie nur nicht aufwecken und erschrecken. Sie brauchen Ruhe. Das weißt du doch, Nanny.« »Ja, Miss«, antwortete Nanny, und sie zitterte so heftig, daß sie sich setzen mußte. Aber sie wandte keine Sekunde den Blick von Fannys Gesicht. In der Stille sandten sie einander Signale. »Ich hatte einen Bruder, der Schlafwandler war«, sagte Nanny nach einer Pause. »Er hätte auch Ruhe und Ortsveränderung gebraucht, aber wir waren arme Leute. Ich kann mir vorstellen, daß der Tod Ihrer Mama Sie verstört hat, Miss. Armes Kind«, fügte sie automatisch hinzu. Fanny streckte ihr lächelnd das Fläschchen hin.
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»Du mußt Mrs. Brook sagen, daß du gesehen hast, wie ich nachts hier herumgeirrt bin.« »Ja, Miss, das werde ich tun. Vielleicht sollten Sie mit uns kommen, damit Sie von Ihrem Kummer abgelenkt werden. Das wird Mrs. Brook sicher einsehen.« Sie nahm das dargebotene Fläschchen, und ihr Verhalten änderte sich augenblicklich. »Und jetzt marsch ins Bett mit Ihnen«, zischte sie. »Gemeine Lügnerinnen haben in meinem Kinderzimmer nichts zu suchen. Seit fünfzehn Jahren bin ich in diesem Haus, und nie habe ich von irgend jemand ein Wort der Klage gehört. Wenn ich Mrs. Brook etwas sage, dann, daß Sie einen schlechten Einfluß haben. Glauben Sie nur ja nicht, daß wir unten nicht über Sie Bescheid wüßten, Miss. Ihnen werd’ ich einheizen. Ich rede mit Mr. Brook. Er hatte von Anfang an seine Zweifel. Bilden Sie sich nur nicht ein, daß Sie hier die einzige Schlaumeierin sind. Mit Ihnen kann ich’s immer noch aufnehmen. Marsch, ab mit Ihnen!« Fannys Lächeln blieb ungetrübt. Sehr gleichmütig sagte sie: »Ich weiß, daß du trinkst, auch wenn du es schlau anstellst, damit es keiner merkt. Ich habe eine Flasche Gin, die ich meiner Tante jederzeit zeigen kann.« Nanny drückte sprachlos vor Entsetzen die Hand auf den Mund. »Hast du gedacht, ich wäre so dumm, dir aufs Wort zu glauben?« fragte Fanny erstaunt. »Du tust genau das, was ich dir gesagt habe. Gute Nacht.« Gelassen wandte sie sich ab und ertappte mich hinter der Tür. »Hier endet die erste Lektion«, sagte sie unerschüttert. »Miss Helen«, flüsterte Nanny. »Du glaubst ihr kein Wort, das weiß ich. Du warst immer ein braves Mädchen. Du läßt doch nicht zu, daß sie zwischen mir und deiner lieben Mama Unfrieden stiftet, nicht wahr?« Es machte mir angst, als Zeugin angerufen zu werden, und noch mehr angst machte es mir, als Fanny den Arm um mich legte. »Helen, meine Kleine«, sagte sie überredend, »wir haben alle unsere Fehler. Nannys und meine hast du heute nacht gesehen. Möchtest du auch deine eigenen sehen?« Dabei schüttelte sie mich sachte,
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scherzhaft. »Also«, fügte sie hinzu, »was wirst du deiner Mama morgen erzählen?« Als hätte man es mir eingepaukt, antwortete ich: »Daß du nachts schlafwandelst und Ruhe und Ortsveränderung brauchst, Fanny.« »Jetzt sind wir richtige Schwestern. Wir sind uns sogar noch näher als Schwestern, denn wir kennen einander.« »Aber du läßt Nanny William ruhig weiter Laudanum geben?« fragte ich. »Das ist Nannys Sache. Nanny weiß, was am besten ist.« Ich zeigte den ersten und letzten Funken Courage. »Ich könnte es Mama sagen.« Fanny lachte. »Deine Mama würde nichts finden, wenn du es tätest. Und ich weiß von nichts. Ich bin ja im Schlaf herumgewandert.« Diese beiden also verstanden einander und hatten die Episode für sich einfach ausgelöscht. Ich war Zaungast bei einem Drama gewesen, das sich immer wieder vor meinen Augen entfalten sollte: ein beängstigendes kleines Spiel, in dem das Opfer klein beigab und Fanny ihre Anklage fallenließ. Ich hatte unsere Familie für ein Muster an häuslicher Vollkommenheit und mich für einen Ausbund an Bescheidenheit und Edelmut gehalten. Fanny zeigte mir, wie wir wirklich waren, und die Offenbarung war schrecklich. Unsere Gouvernante, Miss Wilder, wurde ihr nächstes Opfer. Niemand wußte, wie alt Miss Wilder war, außer Mama vielleicht, aber sie war zweifellos über das heiratsfähige Alter hinaus. Sie war die sechste, unbedeutende Tochter eines armen Pastors, die so viel Wissen angesammelt hatte, um die Erziehung eines kleinen Mädchens zu übernehmen. Sie war es, die liebevollerweise meine Sticktücher wusch und plättete, ehe sie vorgezeigt werden konnten. Sie legte mir die Pennys auf die Handrücken, damit ich sie beim Klavierspiel richtig über den Tasten wölbte. Sie war es, die mir ein Lineal in den Rücken zu binden pflegte und mich eine Stunde lang aufrecht sitzen ließ um mir eine gute Haltung anzugewöhnen. Und sie war es, die sich bemühte, mir Namen und Lebensdaten von Königen, französische unregelmäßige Verben, die Grundbegriffe der Mathematik und des Zeichnens beizubringen.
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James hatte einen etwas anderen Lehrplan, aber er war so wenig brillant wie ich, daher freute sich Miss Wilder, als Fanny kam, die über rasche Auffassungsgabe verfügte, sich gehorsam und anpassungsfähig zeigte. Unser häusliches Leben unterlag strengen Regeln, Ausflüge gab es selten und immer nur zu Bildungszwecken, und die Auswahl dieser Exkursionen in die große Welt oblag einzig Miss Wilder, die dann jeweils auch die Führung zu übernehmen pflegte. Fanny, die einen großzügigeren Rahmen gewöhnt war, beabsichtigte, die Gouvernante als Sprungbrett in größere Freiheit zu benutzen, indem sie sich ihre Gunst gewann, ihr Selbstvertrauen untergrub und ihr schließlich zeigte, wer in Wirklichkeit Herrin der Lage war. Sie begann damit, daß sie ihre überlegenen Kenntnisse der französischen Sprache ausspielte. Miss Wilder hatte die Sprache mit gewissenhaftem Fleiß erlernt und wagte sich niemals über die Grenzen des schriftsprachlichen Regelwerks hinaus. Fannys fließende Beherrschung der Sprache, ihr lockerer Umgang mit dem Idiom brachten sie aus dem Konzept. Ihr frühes Urteil, daß hier endlich eine Schülerin sei, auf die sie stolz sein könne und die sich als Zierde ihres Unterrichts erweisen würde, hatte eine Anzahl verdeckter Unverschämtheiten zu verkraften. Aber an dem Tag, an dem Fanny uns zuerst die ihr geläufigen Kraftausdrücke beibrachte und sie dann auf die immer mehr in Verwirrung geratende Gouvernante anwandte, gab es bei uns erst heimliches Grinsen und dann offenes Gelächter. Miss Wilder, die Rebellion witterte, wies Fanny scharf zurecht. »Ich verdanke meine Kenntnisse deiner Muttersprache einzig und allein dem Fleiß, meine liebe Fanny. Im Argot kann ich mit dir nicht konkurrieren.« Fanny bat sie höflich um Entschuldigung, aber ich fand es unklug von Miss Wilder, daß sie sich diesen kleinen Seitenhieb gestattet hatte. Es war Fanny eindeutig gelungen, sie in unseren Augen herabzusetzen und sie in ihrem Selbstwertgefühl zu verletzen, doch die Gouvernante war nicht Nanny und nicht so leicht in die Defensive zu drängen. Fanny entdeckte, daß Miss Wilder sehr an ihrer Familie
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hing und ermunterte sie, von ihr zu erzählen, lockte sie mit immer neuen Fragen aus der Reserve, bis die schlichte Frau sich verriet. »Mein Vater war, und ist auch heute noch, ein hervorragender humanistisch gebildeter Gelehrter. Er hat mir Latein beigebracht; für das Griechische allerdings hat es bei mir leider nicht gereicht. Ach, wie oft habe ich meinen Vater in der wenigen freien Zeit, die ihm seine Arbeit ließ, an seinem Schreibtisch sitzen sehen, wo er ganze Passagen aus Shakespeares Werken in diese beiden Sprachen übersetzte. Er hat mir auch den Zugang in die griechische und römische Geschichte verschafft. Wie Richard und Edward da von Langeweile sprechen können, ist mir unverständlich. Die Griechen und Römer waren Menschen wie wir, wenn sie auch zu anderen Zeiten und unter ganz anderen Umständen gelebt haben. Ich kann mich jetzt noch an den Nachmittag im Winter erinnern, als er mir die Geschichte vom Trojanischen Krieg erzählte. So lebendig! Ich sah die Federbüsche auf den strengen Helmen wippen, den Staub unter den Rädern der Kampfwagen aufwirbeln; ich sah vor mir den tapferen Menelaos, wie er seiner fehlgeleiteten Helena verzieh – wie beneidenswert bist du, kleine Helen, daß du diesen schönen Namen trägst! –, und ich sah die Festung Troja in Flammen.« Sie war plötzlich voller Leben. Reizlos, arm, ein wenig lächerlich und von Leben durchströmt. Ich betrachtete sie erstaunt, und Fanny musterte sie mit Berechnung. »Aber Miss Wilder«, sagte sie sanft drängend, »Sie haben die Begabung Ihres Vaters ja geerbt – ich meine, die Geschichte lebendig zu machen. Ich bitte Sie, erzählen Sie uns noch etwas.« »Helen muß endlich die unregelmäßigen Verben lernen«, versetzte Miss Wilder, sich nüchterner Pflicht erinnernd. »Ich weiß, daß du dich damit unterhalten kannst, die Stücke Racines zu lesen, aber Helen muß noch viel lernen.« »Das soll sie ja auch. Liebe Miss Wilder, ich verspreche, daß ich ihr beim Lernen helfen werde, dann sind Sie diese langweilige Aufgabe los. Laß dich nicht davon abschrecken, Helen, meine Kleine, daß ich es langweilig nenne. Miss Wilder liegt dein Wohl am Herzen, aber wenn man eine Sprache beherrscht, fällt es einem schwer, zu den Anfängen zurückzukehren. Wenn ich Helen helfe – und Sie
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sollen die Ergebnisse selbst beurteilen, Miss Wilder, Sie sollen sehen, daß ich keine müßige Aufschneiderin bin –, wollen Sie uns dann nicht, eine halbe Stunde wenigstens, auf einem umfassenderen Gebiet unterrichten?« »Es besteht keine Notwendigkeit – ja, ich bin nicht einmal sicher, ob es überhaupt schicklich ist«, erwiderte die arme Miss Wilder, »euch in klassischer Geschichte zu unterrichten. Wenn ihr Knaben wärt, wäre das etwas anderes, obwohl selbst Knaben erst später in die Geschichte des Altertums eingeführt werden sollten, wenn sie auf der Schule sind. Für euch ist es ausreichend, die Geschichte eures Heimatlandes zu kennen. Mehr zu lehren, ist mir nicht aufgetragen.« »Nicht schicklich?« rief Fanny höchst erstaunt. »Nicht schicklich, wo doch Ihr eigener Papa – der am besten wissen muß, welche Erziehung einer junge Dame gebührt – es für richtig hielt, Sie in diesem Fach zu unterrichten, Miss Wilder?« Das war ein stichhaltiges Argument, und die Gouvernante zögerte. »Liebste Helen, hättest du nicht lieber zwei Unterrichtsstunden als eine?« drängte Fanny weiter. »Möchtest du nicht lieber in deiner freien Zeit mit mir an deinem Französisch arbeiten und dafür im Schulzimmer an Miss Wilders profunden Kenntnissen der altertümlichen Geschichte teilhaben?« Längst rettungslos verloren im Dickicht ihrer Absichten, versprach ich, fleißig zu arbeiten, wenn ich nur dafür die spannende Geschichte des Trojanischen Krieges vernähme. Fanny sorgte dafür, daß ich Wort hielt, und dachte sich gleich noch eine kleine Privatfolter für mich aus, indem sie mich mitten in der Nacht weckte und zwang, ihr die unregelmäßigen Verben herzusagen, bis ich flehte, weiterschlafen zu dürfen. Sie war unglaublich umsichtig: sie hielt ihr Versprechen, verbarg ihre Absichten, sorgte dafür, daß ihre feingesponnenen Netze keine lockeren Maschen hatten, wo ein anklagender Finger hätte einhaken können. Und Miss Wilder, von ihrem Interesse und ihrer Aufmerksamkeit geschmeichelt, ließ die alte Geschichte lebendig werden. Selbst ich, der Hektor und Achill, Paris, Helena und Menelaos, der das ganze Troja nichts bedeutete, war gefesselt. Ich empfinde doppeltes Mitleid mit der Gouvernante, wenn ich heute zurückblicke: Ich bedauere,
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was aus ihr geworden ist und was aus ihr nicht geworden ist. Obwohl sie in diesen reizlosen Körper und das Korsett einer harten Erziehung eingeschnürt war, hatte sie eine romantische Seele. Ihr Wortschatz gewann an Farbe unter dem Eindruck alter Kämpfe und Leidenschaften, die sie mit Liebe gestaltete. Flammen züngelten lodernd zum Himmel, das gewaltige hölzerne Pferd wartete dunkel drohend am Gestade, Hektors Leiche nahm ihren bitteren Weg durch den Staub, stolze Federbüsche wippten auf bronzenen Helmen, Helena erstrahlte in neuer Schönheit. Fanny wartete, bis all diese Gestalten Teil unseres täglichen Lebens geworden waren, ehe sie gegen sie und Miss Wilder zum Schlag ausholte. »Wie wohl unsere gute Königin über solches Treiben denkt?« meinte sie. Miss Wilder hielt inne, hin und her gerissen zwischen Troja und dem ehrbaren Windsor. »Ist es nicht seltsam«, fuhr Fanny in sinnendem Ton fort, »daß ein guter Christenmensch wie Ihr Papa, Miss Wilder, all dieser heidnischen Gewalt so hohen Wert beimißt?« Miss Wilder entgegnete beherzt, man müsse das in einem größeren Zusammenhang sehen, aber es war Fanny gelungen, sie unsicher zu machen. »Es tut mir sehr leid, Fanny, wenn du es jetzt bedauerst, mich gebeten zu haben. Ich habe dir ja gesagt – als du so heftig insistiert hast –, daß ich mir nicht sicher bin, ob Unterweisung in solcher Geschichte für eine junge Dame schicklich ist.« »Aber Sie sind doch für uns verantwortlich, nicht wir für Sie, liebe Miss Wilder.« Fanny schien äußerst verwirrt von einer riesigen Diskrepanz. »Wenn Sie es wirklich für unschicklich gehalten hätten, hätten Sie uns doch gewiß nichts davon erzählt.« Sie seufzte, offenbar in tiefes Nachdenken versunken. »Sie haben meine Bildung in so vieler Hinsicht erweitert, Miss Wilder«, fuhr sie dann fort. »Sie haben mich ermutigt, die Stücke Racines zu lesen, und mein Wissen auf so vielen Gebieten vergrößert. Und ich habe fleißig gearbeitet. Sie haben selbst gesagt, daß ich Ihnen große Ehre mache. Es wäre jammerschade, wenn meine Tante und mein Onkel es erforderlich
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hielten, mich auf ein Pensionat für junge Damen zu schicken. Und Helen, die ja alt genug ist, mich zu begleiten, müßte sicher auch dorthin. Obwohl ich so gehofft hatte, daß wir drei noch einige Jahre zusammenbleiben würden – und nach uns der kleine Frederick und vielleicht William und andere Kinder bei Ihnen lernen würden.« Ich saß niedergeschmettert und angeekelt auf meinem Stuhl. Miss Wilder saß niedergeschmettert und kerzengerade auf dem ihren, inmitten der rauchenden Ruinen Trojas. Und ich wünschte von Herzen, denn ich wußte, daß sie eine gute Frau war, daß sie Fanny besiegen möge. In meiner Unschuld, die ich jetzt als Ignoranz sehe, hatte ich den Zwang zum Geldverdienen nicht in meine Rechnung einbezogen. Von ihrem Gehalt schickte Miss Wilder jeden Monat einen Teil nach Hause, um eine kranke Mutter und einen alten Vater zu unterstützen. Wenn es ihr gelang, ihre Stellung wenigstens noch fünf Jahre zu behalten, würde sie vielleicht eine kleine Rente bekommen. Aber damit war es vorbei, wenn auch nur der Hauch eines Makels auf sie fiel, und es war ungewiß, ob sie in ihrem Alter eine andere Stellung finden, nahezu ausgeschlossen, daß sie eine auch nur halb so angenehme finden würde. Damit war sie geschlagen. Dennoch führte sie einen Gegenstoß, wenn auch einen sehr kurzen. »Verstehe ich dich richtig, daß du vorhast, dich bei deinem Onkel und deiner Tante zu beschweren?« fragte sie Fanny sehr würdevoll. »Aber nein, liebe Miss Wilder. Ich wollte nur ein Bild zweier sehr unterschiedlicher Gesellschaften zeichnen. Könnten Sie nicht mit uns, mit mir, James und Helen Ausflüge zu Museen und ähnlichen Orten unternehmen, wo wir weiter an Wissen gewinnen würden? Finden Sie nicht die Erziehung, die junge Damen gegenwärtig erhalten, ein bißchen eng? Unter Ihrer Führung könnten wir mehr entdekken, als jedes Pensionat zu bieten hätte.« Sie hob den Blick zu Miss Wilder. »Alte Gemälde, Skulpturen, Manuskripte. Der gesamte geistige Reichtum Londons wäre unser.« Ich vermute, Miss Wilder besaß genau wie wir anderen die Fähigkeit, ihr Wissen um die Wahrheit hinter einem Schleier zu verbergen, um weiterhin das zu glauben, was sie gern glauben wollte. Unter dem Druck ihrer beengten Verhältnisse entschied sie sich dafür, die
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Drohung zu vergessen (die Fanny dann selbstverständlich auch vergaß) und das Anliegen als Ausdruck echten Wissensdursts zu sehen. Fanny hatte andere Pläne und besaß einen Verbündeten in James, der die Gouvernante immer langweilig und mich noch langweiliger gefunden hatte. Mit vereinten Kräften nutzten sie ihren Vorteil weidlich aus, überzogen die für die Museumsbesuche angesetzte Zeit, indem sie sich davonschlichen, während Miss Wilder irgend etwas erläuterte, und dann nicht aufzufinden waren, oder indem sie Fragen stellten, die sie nicht beantworten konnte oder wollte. Das alles war so raffiniert inszeniert – unter Fannys Regie natürlich, denn James war nur ein vorwitziger zwölfjähriger Bengel, der bald nach Marlborough gehen würde und das Ganze als Riesenspaß sah –, daß Miss Wilder nie genau definieren konnte, was eigentlich nicht in Ordnung war. hre Zurechtweisungen wurden mit augenblicklichen Entschuldigungen quittiert, ihre Vorschläge wurden ignoriert, ihre Anweisungen mißachtet. Und damit sie nicht auf den Gedanken kommen sollte, unsere Ausflüge zu beschneiden, hatte Fanny James genau instruiert, was für Gespräche er mit Papa zu führen hatte. So daß Papa die Gouvernante dafür pries, daß sie es geschafft hatte, James’ Interesse zu wecken, und gern bereit war, dieses Interesse weiter fördern zu lassen. An einem düsteren Novembernachmittag bat Fanny Miss Wilder, uns einen kleinen Vortrag über Renaissance-Malerei zu halten, und während die gute Gouvernante sich in eine lange Lobeshymne über Raphaels Madonna stürzte, nahm sie uns beiseite. »Ich hab’ ein bißchen Geld aus Miss Wilders Portemonnaie«, sagte sie triumphierend, »und James und ich setzen uns jetzt oben in einen Bus und sehen uns London an. Kommst du mit? Wir können verschwinden, wenn sie in den nächsten Saal geht.« »Das ist Diebstahl! James, das ist Diebstahl«, flüsterte ich. Er wurde unsicher, aber nur einen Moment lang. Fanny verstand es meisterhaft zu argumentieren. »Unsinn, das ist kein Diebstahl. Es ist ja nicht Miss Wilders Geld. Es ist das Geld von eurem Papa, und es ist für uns gedacht. Stell dir nur vor, was wir alles sehen werden. Den Buckingham-Palast und die St.-Pauls-Kathedrale. Den Tower und den Lambeth-Palast. Und es
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reicht auch noch für eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen an einem der Stände.« Ich konnte es alles vor mir sehen. Die Doppeldeckerbusse waren prachtvolle Fahrzeuge mit Sitzen auf dem Oberdeck und Massen von Reklameanschlägen hinten und auf beiden Seiten: Horlicks Malzextrakt, Zebra Ofenpolitur, Pears Seife, Colemans Senf, Heinz Gemischtwaren, Sanitas Desinfektionsmittel, ungiftig und fein duftend. Die Wendeltreppe zum Oberdeck war allein schon ein Abenteuer. Dann einen Sitzplatz einzunehmen, der einem Blick über ganz London gewährte; zum Fahrer hinunterzuschauen, der gegen die Kälte dick vermummt seine beiden Pferde zu mühsamem Trab antrieb; das alles war die reine Herrlichkeit. »Aber was erzählen wir Papa?« fragte ich, von heftiger Versuchung geplagt. »Wir sagen, daß wir uns verlaufen haben. Wenn wir unsere Rundfahrt gemacht haben, werde ich einen Polizisten bitten, uns den Weg nach Hause zu zeigen. Und ich werde mich natürlich bei Miss Wilder entschuldigen und dafür sorgen, daß man ihr keinen Vorwurf macht.« »Hört ihr Kinder mir eigentlich zu?« rief Miss Wilder, auf das Getuschel aufmerksam geworden und zweifellos befürchtend, daß es gegen sie gerichtet sei. »Aber gewiß doch, Miss Wilder«, antwortete Fanny prompt. »Helen hat mich gefragt, ob Raphael für all seine Madonnen dasselbe Modell hatte. Denn die Gesichter sind sich ja wirklich ähnlich, nicht wahr?« Während die Gouvernante im Augenblick überfragt in ihrem Katalog nachschlug, flüsterte Fanny: »Kommst du nun mit, Helen?« Ich schüttelte den Kopf, und sie kniff mich in den Arm. »Dann bleib eben hier, du Gans. Und halt ja den Mund!« Und sie nickte mir eine so deutliche Warnung zu, daß ich nicht gewagt hätte, etwas anderes zu tun. Als wir den nächsten Saal betraten, waren sie verschwunden. Aber selbst Fanny hatte keine Macht über das Wetter, und dichter Londoner Nebel machte ihre Pläne zunichte.
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Es war elf Uhr abends, als ein Polizist James und Fanny nach Hause brachte. James schien wirklich verängstigt, Fanny jedoch hatte nur Angst, daß es ihr vielleicht nicht glücken würde, sich aus aller Schuld herauszureden. Sie hatte nicht nur das Wetter falsch eingeschätzt, sondern auch Miss Wilders gutchristliches Gewissen. Die Gouvernante nämlich, mehr um das Heil ihrer Seele besorgt als um die Sicherheit ihrer Stellung, hatte alles gestanden. Ich mußte ansehen, wie schlichtes Bemühen, gut und wahrhaftig zu sein, zu einer Waffe der Vernichtung wurde, denn in ihrer großen Angst hatte die Gouvernante ein Bild von sich selbst gezeichnet, das sie als ein wahres Monstrum an Verworfenheit zeigte, völlig ungeeignet, zarte Kinderseelen zu betreuen. Sie war oben und packte unter einem Tränenstrom, der sämtliche Feuer Trojas gelöscht hätte, ihre Koffer, als der Polizist an unser königliches Portal klopfte. Hatte ich, die weit mehr als Miss Wilder wußte, einen Versuch gemacht, die Dinge richtigzustellen? Hatte ich Cousine Fanny als Lügnerin, Intrigantin und Diebin entlarvt? Namenlose Ängste zermürbten meinen Mut, und ich fürchtete meine Cousine mehr als das Auge Gottes. Ich fürchtete, meinen auf schwachen Füßen stehenden Wahrheitsbeteuerungen würde verächtlich der Boden entzogen, meine Beschuldigungen würden als ungerechtfertigt verworfen, ich selbst als mißgünstige Unruhestifterin hingestellt werden, wenn ich Fanny bloßstellen sollte. Also schwieg ich und wurde gelobt, weil ich brav gewesen und bei der Gouvernante geblieben war. Auch sie selbst lobte mich und bat mich unter Tränen, in meinen Bemühungen zur Verbesserung meines Klavierspiels und meiner Handarbeitskünste nicht nachzulassen. Fanny, die, nachdem die Situation geklärt war, für zwei Tage ohne Nachtisch auf ihr Zimmer verbannt wurde, wußte von meiner Unterlassungssünde und nutzte sie weidlich aus. Es erschütterte von neuem meinen Glauben an die Menschen, daß James die Eskapade mit Leichtigkeit abschüttelte und nach Verbüßung seiner Strafe keinerlei Bekümmerung zeigte, sondern nur ohne eine Spur von Achtung, »Die arme alte Wilder« sagte und sie vergaß. Ich war es, der trotz aller Schwachheit Miss Wilders Schicksal nahe-
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ging; ich war es, die ihre Entlassung belastete. Die beiden anderen, die gleichgültig waren, quälte keine Reue. Um ja nicht für böse und hartherzig gehalten zu werden, fing Fanny an, nachts herumzugeistern, um sich dann leise weinend irgendwo in einem Eckchen finden und trösten zu lassen. Natürlich verziehen ihr meine Eltern und bemühten sich liebevoll um sie. »Weckt Fanny auf keinen Fall plötzlich auf, wenn ihr sie wieder schlafwandeln sehen solltet«, ermahnte uns Mama. »Das wäre für ihre geistige Gesundheit äußerst gefährlich. Ihr werdet euch erinnern, daß wir mit ihr, kurz nachdem sie zu uns gekommen war, deswegen an die See fahren mußten.« Ich erinnerte mich an mehr, als Mama je erfahren würde, denn was damals mit dem kleinen William geschehen war, lastete mir noch immer auf der Seele, obwohl der Kleine inzwischen ein kräftiger kleiner Junge geworden war, der schon zu laufen anfing. Immer waren es die verbotenen Früchte, die Fanny reizten, und lange schon lockte sie das Belvedere, doch niemals fanden wir Kinder eine Gelegenheit, ohne einen erwachsenen Begleiter dort hinaufzusteigen. Sie pflegte dann oben zu stehen, gehorsam von der Balustrade entfernt, und die Aussicht mit einem seltsamen Blitzen im Blick zu bewundern. Bisher jedoch hatte sein Standort sie daran gehindert, es heimlich zu besteigen. Papa hatte ihn nämlich mit Bedacht so gewählt, daß das Belvedere zu jeder Tageszeit vom rückwärtigen Teil des Hauses aus unter Beobachtung war. Mama konnte es sehen, wenn sie an ihrem Sekretär vor dem Fenster saß; die Angestellten konnten es von der Küche aus sehen, der Gärtner und sein Gehilfe hatten strenge Anweisung, darauf zu achten, daß niemand unbefugt dort hinaufstieg. Darum konnte es nur nachts locken, wenn es bleich und schön vom Ende des Gartens herüberschimmerte, und in der Nacht wagte Fanny schließlich ihren Versuch. Sie hatte nicht die Absicht, ihr heimliches Unterfangen allein zu genießen, und sie wählte ihre Begleitung mit Sorgfalt. James würde es wieder nur als einen Heidenspaß sehen, und das interessierte sie nicht. Sie wollte jemand an ihrer Seite haben, der nicht mitwollte, der Angst hatte vor Höhen und Ungehorsam, der als Komplize und Opfer zugleich leiden konnte. Sie wählte mich.
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Als ich erwachte, stand sie in einem ihrer französischen Gewänder an meinem Bett; ein hinreißendes Kleid aus grünem Taft mit Falten und Schleifchen, das, hinten gerafft, vier Rüschenreihen zeigte. Ihre hochhackigen Stiefeletten aus Glaceleder waren zugeknöpft. Auf dem Kopf trug sie die vielbebänderte und blumengeschmückte Kreation einer französischen Putzmacherin. Von ihren kleinen Ohren hingen Turmalintropfen herab. Sie sah weit älter aus als vierzehn. »Bald«‹, sagte Fanny leise, »mußt du einmal meine Kleider anprobieren. Aber wir müssen vorsichtig sein, damit deine Mama dich nicht sieht.« Die drohende Aussicht auf die Zukunft machte mir noch mehr angst. Als ob die gegenwärtige Bedrohung nicht schon genügte. »Zieh deinen Morgenrock an«, befahl Fanny. »Wir steigen jetzt auf das Belvedere. Und wenn du nicht mucksmäuschenstill bist, meine Kleine, laß ich es dich ausbaden.« Zitternd gehorchte ich, eine verirrte Seele, die sich nun noch weiter verirrte. Schon lange hatte ich aufgehört, zu Gott zu beten, da er mich offenbar nicht hörte. Die Nacht war kalt und mondhell, und in ihrer kristallenen Klarheit stand still und rein das Türmchen am Ende des Gartens. Fanny stolzierte mir voraus, sich ihres eleganten Anzugs ganz bewußt, obwohl nur eine Sklavin ihr folgte, die ihn zur Kenntnis nehmen konnte. Wir stiegen die Steinstufen hinauf, und die Kälte drang durch meine Hausschuhe, doch Fanny trippelte in ihren Stiefelchen mit leise klappernden Absätzen leichtfüßig aufwärts und stieß einen tiefen Seufzer der Befriedigung aus, als wir oben ankamen. Sie war entschlossen, sich aufs höchste zu amüsieren und mich zu vernichten. »Glaubst du an Gott, Helen?« erkundigte sie sich zuckersüß, während sie mit den Fingern über die Balustrade strich. Ich sagte, ja, das täte ich, obwohl ich längst nicht mehr sicher war. Ich wußte, daß es den Teufel gab und daß er gegenwärtig war, doch sein himmlischer Widersacher schien sich zurückgezogen zu haben. »Und glaubst du auch, daß das Gute siegen wird?« fragte sie. Ich bejahte, und sie lachte. »Dann hast du nichts gelernt«, behauptete sie. »Glaubst du, daß du ein guter Mensch bist, Helen?«
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Den Tränen nahe antwortete ich, ich hätte Angst, das nicht zu sein. Sie sah mich lächelnd an, erheitert, selbstgewiß und sehr schön. »Du bist noch böser als du selbst weißt«, fuhr sie fort. »Du bist nämlich so wie alle diese guten Menschen. Du siehst, was du sehen willst, und handelst nur, wenn es dir nützt. Du hättest mit Nannys Laudanum zu deiner Mama gehen sollen. Nanny hätte ihre Stellung verloren, aber sie wäre nicht gegangen, ohne mich anzuschwärzen – und du selbst hättest deiner Mama sagen können, was ich getan habe. Du hast Miss Wilder nicht verteidigt und du hast deinem Papa nicht gesagt, daß das Geld, das ihr fehlte, nicht verloren, sondern gestohlen worden war – und zwar von mir. Du hast hundertmal untätig zugesehen, meine liebste Helen, wie ich Dinge getan habe, die du unrecht nennen müßtest. Und du wirst mir noch tausendmal dabei zusehen, ohne etwas zu tun. Denn du bist nicht gut, sondern du bist schwach. Du bist nicht gehorsam, sondern du bist feige. Du liebst die Wahrheit gar nicht. Du bist eine Heuchlerin. Und du kannst beten, so viel du willst, es wird nichts ändern, denn du bist nicht ehrlich.« Schluchzend rief ich: »Gott vergibt den Sündigen. Ja, das tut er. Ich werde Mama und Papa alles sagen.« »Dann sei aber lieber vorsichtig«, sagte sie leise, »denn du bist nicht besonders geschickt, und am Ende glauben sie, du hättest den Verstand verloren. Du läßt dich leicht beeinflussen, kleine Helen, und du grübelst zuviel. Ich werde Tag und Nacht bei dir sein. Ich werde deiner Mama sagen, daß immer jemand um dich sein sollte. Jemand, der dich wie eine Schwester liebt und dich behütet. Tag und Nacht, bis du verrückt wirst. Mach jetzt ja keinen Lärm, sonst wecke ich das ganze Haus und sage, ich hätte dich im Garten gefunden, wo du im Schlaf herumgewandert bist.« Ich drückte beide Hände auf den Mund, und die Tränen strömten mir aus den Augen. »Und jetzt«, sagte Fanny ganz munter, »gehe ich auf der Balustrade entlang. Und dann gehst du auf der Balustrade. Sag nicht nein. Ich kann dich dazu zwingen. Das weißt du.« »Aber wenn ich abstürze?« flüsterte ich. »Was geschieht, wenn ich abstürze?«
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Sie sah mich an, dunkel und schön, und sagte: »Dann kommst du in die Hölle.« Sie hatte mich im Lauf des vergangenen Jahres Täuschung und Betrug gelehrt. Ich war nicht klug genug, um ihr vorzugreifen und zu verhindern, was sie plante, aber die Vergangenheit war reich an Beispielen dessen, wozu sie fähig war. Während ich ihr zusah, wie sie mit gespreizten Armen, um die Balance zu halten, auf dem Gesicht den Widerschein wohlig prickelnder Angst vor der eigenen Kühnheit, zierlich einen gestiefelten Fuß vor den anderen setzte, formte ich selbst einen Plan der Täuschung und des Betrugs und überlegte, wie ich ihn ausführen würde. »Ich hörte Fanny im Schlaf herumgehen, Mama. Die arme, arme Fanny. Sie muß wohl im Traum in die glücklichen Zeiten zurückgekehrt sein, als sie noch mit ihrer eigenen Mama lebte. Denn als ich meine Zimmertür öffnete – ganz leise, um sie nicht zu erschrecken, da du mir ja gesagt hast, daß plötzliches Erwachen zu geistigen Schäden führen kann –, sah ich die liebe Fanny in ihren schönen französischen Kleidern. Ich bin ihr nachgegangen – so leise wie ein Mäuschen, wirklich, Mama –, weil ich aufpassen wollte, daß ihr nichts geschieht. Ach Mama, Mama, sie ging durch das Haus in den Garten hinaus. Ich hätte nicht gedacht, daß sie das wagen würde, denn sie war doch immer so folgsam und hatte große Furcht vor Höhen. Mama, sie stieg zum Belvedere hinauf! Ich wußte nicht, ob ich sie in ihrer Bewußtlosigkeit lassen und euch wecken sollte, oder ob ich ihr lieber so schnell und so leise wie möglich folgen und sie wieder herunterholen sollte. Ich wußte einfach nicht, was ich tun sollte. Und während ich noch unschlüssig war, kletterte sie auf die Balustrade, Mama. Und da, da konnte ich nicht anders, da habe ich laut ›Fanny!‹ gerufen, Mama.« Ihr Geist war in mir, und um das ganze Maß meiner Verderbtheit auszukosten, sagte ich sehr leise: »Fanny?« Sie sollte wissen, was ich vorhatte. Und in diesem Augenblick, als ich sie wurde, erfuhr ich das berauschende Gefühl höchster Macht. Sie drehte den Kopf und sah, was in meinem Gesicht geschrieben stand. In ihrem eigenen spiegelte sich Todesangst. Sie war also doch menschlich und konnte besiegt werden. Ihre Angst war mir Wohltat. Ich schrie »Fanny!«, als wollte
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ich sie warnen – und stieß zu. Ihr gellender Schrei, als sie stürzte, war so laut wie mein eigener. Ich habe ihnen sogar immer wieder gesagt, was wirklich geschah, aber sie nehmen mich in die Arme und reden beschwichtigend auf mich ein, und Dr. Fogg schüttelt den Kopf und behauptet, der Schock hätte vorübergehend meinen Geist verwirrt. Denn sie wissen doch, daß wir immer die besten Freundinnen waren, stets Arm in Arm gingen und einander zulächelten. Und sie wissen auch, daß Fanny jetzt sicher und wohlgeborgen im Himmel bei ihrer lieben Mama ist und ich, wenn genug Zeit vergangen ist, froh sein werde, daß sie die ewige Seligkeit gefunden hat. Sie liegt nun zusammen mit den anderen Kindern unter den weinenden Engeln und ihrer steinernen Urne, und wenn es mir wieder bessergeht, werde ich jeden Sonntag nach dem Morgengottesdienst das Grab besuchen. Und einmal im Jahr werden wir uns ihres frühzeitigen und unglücklichen Todes erinnern und sie in unsere Abendgebete einschließen. Und das Gedenken an sie wird uns begleiten, bis wir wieder mit ihr vereint sein werden. Jetzt und für lange Zeit werde ich in meinen Träumen das Belvedere sehen, und Fanny wird, am Fußende meines Bettes stehend, lächelnd zu mir hinunterblicken. Nichts wird je wieder so sein wie es einmal war. Sie hat mich gelehrt, daß alles nur Schein ist, daß die Unschuldigen für schuldig befunden werden können, daß Gott sein Antlitz von den Armen und Hilflosen abwendet, daß der Verratene mehr leiden kann als der Verräter. Ich frage mich, ob ihre Andeutungen wahr sind oder gelogen. Schwindelt Mama wirklich bei ihren Haushaltsabrechnungen, um mehr Geld für Kleider ausgeben zu können? Besucht mein Papa wirklich eine andere Dame in der Nähe der Stadt? Wäre Richard wirklich wegen Glücksspiels beinahe aus dem Internat geflogen? Hockte Edward wirklich vor der Zimmertür des Hausmädchens, um sie, als sie sich entkleidete, durch das Schlüsselloch zu beobachten, und hat Nora ihn dabei wirklich ertappt und lediglich einen frechen Bengel genannt? Kann es sein, daß James die Weintrauben aus dem Gewächshaus stahl und zuließ, daß der Gärtnerjunge dafür geschlagen wurde? All diese Fragen und viele andere Gedanken beunruhigen mich. Und wenn ich mich in
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meiner Not an Ihn wende, der ohne Fehl ist, und seine Gnade erflehe, so finde ich dort auch keine Hilfe. Ich sehe, wie er mit anklagendem Finger auf mich zeigt und jenes Gebot verkündet, das mich mein Lebtag begleiten wird: »Du sollst nicht töten.« Aus dem Englischen übertragen von Mechthild Sandberg-Ciletti
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Miles Tripp Fixierung Freddie, mein ältester Freund, zog mich nach dem Tod meiner Mutter aus dem schwarzen Loch einer Depression. Meine Weigerung, mit ihm auf ein Glas Bier zu gehen, akzeptierte er einfach nicht, und als wir in einer Gastwirtschaft saßen, fragte er, was mich bedrücke. Ich sagte, mich bedrücke gar nichts. Er erwiderte nichts. Er legte nur seine Hand ein paar Sekunden lang auf meinen Arm und zog sie dann wieder weg. Er sagte immer noch nichts. Es war offenkundig, daß er auch nicht die Absicht hatte, etwas zu sagen. »Ich fange langsam an, mich zu fragen, ob ich ganz normal bin«, platzte ich heraus. Er lachte nicht. Er sah auch nicht überrascht aus. Er sagte nur: »Fragen wir uns nicht alle manchmal, ob wir ganz normal sind?« und trank einen tiefen Zug aus seinem Glas. Es fiel mir schwer, die Aussage zu glauben, die in seiner Bemerkung steckte. Was für Sorgen konnte Freddie schon haben? Er war glücklich verheiratet, hatte drei Töchter, ein schönes Haus und war Seniorpartner einer angesehenen Anwaltskanzlei. »Du bist bestimmt normal«, erklärte ich. »Meinst du? Was ist denn überhaupt normal?« »Das läßt sich so leicht nicht beantworten. Nicht in wenigen Worten.« »Dann sag mir, was anormal ist«, meinte er. »Ist es nicht einigermaßen anormal«, fragte ich, »wenn ein zweiundvierzigjähriger Mann sein ganzes Leben mit seiner Mutter verbracht hat und nach ihrem Tod plötzlich erkennt, daß sein Leben einzig darauf ausgerichtet war, für sie Leistung zu erbringen, um damit ihr Lob und ihren Beifall zu erringen? Ist das normal oder anormal?« »Ich will dir das beantworten«, sagte er, »indem ich dir von der Zeit erzähle, als ich mich fragte, ob ich überhaupt normal bin.« Er berichtete mir von einer Periode seines Lebens, in der er sich tagtäglich aufs heftigste mit einer seiner Töchter stritt, bis es so weit kam, daß er es vermied, mit ihr allein zu sein, weil er Angst hatte, er
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könnte sie umbringen. Zum Glück war einer seiner Mandanten Psychiater, und der erklärte ihm, daß die Grenze von der Normalität zur Anormalität erst dann überschritten sein würde, wenn Freddie die Fehde auch noch weiterführen sollte, nachdem seine Tochter angefangen hatte, mit jungen Männern auszugehen. Ganz sicher würde das Mädchen das Kriegsbeil begraben, sobald sie einen Freund hätte. Freddie warf mir einen flüchtigen Blick zu. »Es scheint, daß zwischen Vätern und Töchtern unterschwellig sehr komplizierte Beziehungen bestehen können, die aber ganz normal sind. Ich war normal.« Es war sehr sensibel von ihm, diese Betrachtung über Väter und Töchter anzustellen, – es hatte nämlich Zeiten gegeben, wo ich mir – wenn auch immer nur sehr verschwommen und unter eiliger Verdrängung aufsteigender Erkenntnisse – meine Gedanken über Mütter und Söhne gemacht hatte. Hinweise in Büchern oder Zeitungsartikeln auf den Ödipuskomplex haben mir immer schon starkes Unbehagen eingeflößt, zumal ich, wenn auch unwissentlich, den Tod meines Vaters verschuldet hatte, als ich noch ein kleiner Junge war. Ich fiel von einem Pier ins Meer. Mein Vater, der gar nicht richtig schwimmen konnte, sprang mir nach und ertrank. Ich wurde von einem Mann der Wasserwacht gerettet. »Du siehst also«, meinte Freddie, »wir machen alle diese Zweifel durch. Du bist so normal wie jeder andere, aber ich möchte dir einen Rat geben. Er kostet nichts. Keine Anwaltsgebühr.« »Ich weiß schon. Ich sollte Urlaub nehmen. Nein, danke, Freddie.« »Heirate.« Ich mußte lachen. Ich weiß, es war unhöflich, aber ich konnte nicht anders. Welche Frau hätte an einem Mann meines Alters, der nie mit Schönheit gesegnet gewesen war und als nüchterner Rechnungsprüfer nicht einmal einen aufregenden Beruf vorzuweisen hatte, einen zweiten Blick verschwendet? »Ich kenne eine Heiratsvermittlung«, sagte er, »wo sie sehr genaue und detaillierte Angaben verlangen und dann über Computer versuchen, den richtigen Partner zu finden. Ich habe mir erzählen lassen, daß es sehr gut klappt.«
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Ich hatte mir schon manchesmal in der Stille meiner Wohnung überlegt, ob ich nicht eine Heiratsvermittlung aufsuchen sollte, hatte mich aber nie überwinden können, den Sprung zu wagen. »Vergiß nicht«, sagte er, »daß du dir damit nicht nur selbst einen Gefallen tust, sondern vermutlich auch einer zweiten Person. Einer Frau, die vielleicht in diesem Moment einsam in ihren vier Wänden sitzt und sich fragt, ob sie je ihrer Einsamkeit entrinnen wird.« Obwohl es in der Gastwirtschaft laut zuging und ständiges Kommen und Gehen herrschte, hatte ich das Gefühl, in einer versiegelten Kapsel zu sitzen. Ich war ein Astronaut auf der Abschußrampe, und ich, ich ganz allein, hatte darüber zu entscheiden, ob der unendliche Himmel erforscht werden sollte. »Alles klar zum Start«, sagte ich. Freddie grinste. »Wunderbar. Ich mache einen Termin für dich aus. Mehr kann ich leider nicht tun.« Schon bekam ich es mit der Angst. »Aber nicht gleich diese Woche.« »Doch. Ich mache für morgen einen Termin für dich aus, und sag jetzt bloß nicht, du hättest zuviel zu tun. Ein, zwei Stunden kann man sich immer mal freinehmen. – Trinkst du noch ein Bier?« »Du meinst, ich soll mir Mut antrinken?« »Das ist bestimmt nicht nötig. Herrgott noch mal, was hast du denn schon zu verlieren?« Darauf wußte ich keine Antwort. »Du kannst nur gewinnen«, behauptete er. Man fragte mich nach allen Regeln der Kunst aus, legte einen Bogen, codierte meine Angaben und speiste einen Computer damit. Zwei Wochen später hielt ich eine Fotografie von Kay in der Hand. Ein weißes herzförmiges Gesichtchen, große Augen, dunkles Haar, das Stirn und Schläfen freiließ. Ich weiß noch, daß ich dachte, sie ist eigentlich sehr hübsch. Wieso hat sie Probleme, einen Ehemann zu finden. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, Audiotypistin in der Personalabteilung eines Londoner Kaufhauses, und ihre Hobbys waren Lesen, Häkeln und Wandern. Sie machte gern Tagesausflüge aufs Land, wo sie dann versuchte, alle Blumen und Gräser zu bestimmen, die sie auf ihren Wanderungen sah. Sie liebte klassische Musik und
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kochte mit Vorliebe französische Gerichte. Ihren Urlaub verbrachte sie im allgemeinen in Frankreich. Der Computer hatte gute Arbeit geleistet. Wir hätten uns im Büro der Heiratsvermittlung treffen können, aber man schlug mir vor, die Dame anzurufen und mich mit ihr zum Abendessen zu verabreden. Man empfahl mir sogar ein bestimmtes Restaurant, wo Bedienung und Küche angeblich ausgezeichnet waren, und wo wir mit besonderer Aufmerksamkeit rechnen konnten, wenn ich mich bei der Tischbestellung auf die Heiratsvermittlung bezöge. Es käme sehr darauf an, daß der Abend nicht durch schlechte Bedienung und langes Warten auf die Mahlzeit verdorben würde. Eine zaghafte Stimme meldete sich am Telefon, und als ich meinen Namen nannte und den Vorschlag zu einem gemeinsamen Abendessen im Restaurant machte, wurde die Stimme ein bißchen atemlos, aber die Verabredung kam zustande, und zwei Tage später trafen wir uns. Sie war klein und zart und sah aus wie ein Spatz, der augenblicklich davonfliegen würde, sobald man ihm zu nahe kam. Wir reichten uns zur Begrüßung die Hände, und ich fragte, ob sie lieber erst etwas trinken oder gleich essen wolle. »Ich hätte gern einen Gin Tonic«, sagte sie. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch. Ein Kellner eilte herbei und erkundigte sich beflissen nach meinen Wünschen. Ich begann mich etwas sicherer zu fühlen. »Es sieht nach Regen aus«, sagte ich. »Ich habe den Wetterbericht gehört, ehe ich wegging.« Sie hielt inne und holte Atem. »Es wird eine Kaltfront mit Regen erwartet, die London irgendwann im Lauf der Nacht erreichen soll.« »Die Bauern können Regen gebrauchen.« »Ja.« »Obwohl die Bauern in London natürlich dünn gesät sind«, bemerkte ich. Es sollte ein kleiner Scherz sein, doch sie zollte der müßig hingeworfenen Bemerkung eine Art angestrengter und durchaus ernster Aufmerksamkeit. »Das ist richtig«, sagte sie nach einer Pause.
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»Ich wollte damit sagen, daß der Londoner Regen heute nacht natürlich für die landwirtschaftlichen Gebiete wenig Bedeutung haben wird.« Obwohl mein Scherz nie angekommen war, trat ich ihn noch breit. Und noch während ich sprach, fiel mir auf, daß ich den Ausdruck »landwirtschaftliche Gebiete« nie zuvor gebraucht hatte. Ich hörte meine Stimme und meinte, einen pedantischen Fremden über ein tödlich langweiliges Thema dozieren zu hören. Von da an herrschte schlagartig absolute Leere in meinem Kopf. Alle möglichen Gesprächsthemen, die ich mir vorher zurechtgelegt hatte, waren wie weggeblasen. Wenn sie jetzt nicht den Mund aufmachte, würden wir in peinlichem Schweigen festgenagelt auf ewig hier sitzen. »Waren Sie dieses Jahr schon im Urlaub?« fragte sie. Sie hatte eines der Gesprächsthemen aus dem Hut gezogen, die mir entfallen waren. »Noch nicht. Ich sollte vielleicht anfangen zu planen, aber seit dem Tod meiner Mutter… wir haben sonst jeden August eine Schiffsreise gemacht… Und Sie?« »Ich bin sonst immer mit einer Freundin in Urlaub gefahren. Aber meine letzte alleinstehende Freundin hat im März geheiratet, und – allein zu fahren, habe ich keine Lust.« Der Kellner kam mit unseren Getränken. Ich hob mein Glas. »Prost!« »Prost!« antwortete sie, und ihre Hand zitterte so stark, als sie das Glas hob, daß sie mit der anderen Hand zufassen mußte, um es ruhig zu halten. Als sie trank, sah es aus, als tränke sie aus einem Kelch. Dann stellte sie ihr Glas abrupt nieder und sagte: »Wenn Sie sich nach den Drinks gern verabschieden möchten, können wir das tun. Das Essen ist ja noch nicht bestellt.« Ich zitterte innerlich so sehr wie ihre Stimme. Hatte sie sich, nachdem sie mich nun gesehen und begutachtet hatte, gegen mich entschieden? Eine Stimme, die ich kaum als meine eigene erkannte, sagte: »Ich habe es nicht eilig, hier wegzukommen. Aber wie steht es mit Ihnen?« Da lächelte sie zum erstenmal, und wenn der Funke, der dabei übersprang, elektrisch geladen gewesen wäre, wäre von mir nichts übriggeblieben als ein Häufchen hingerissener Asche. Als das er-
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staunliche und absolut bezaubernde Lächeln erlosch, erwiderte sie: »Ich möchte nicht gehen. Mir gefällt der Blick, den ich von meinem Platz aus habe.« Und sie lächelte mich wieder an. In diesem Augenblick verliebten wir uns. Die folgenden Wochen waren ein Traum, doch als das Hochzeitsdatum näher rückte, bekam ich Bedenken, nicht in bezug auf die Heirat, sondern auf meine männliche Kompetenz. Ich war unerfahren. Da dieses Thema für das, was folgt, von einiger Bedeutung ist, kann ich es nicht übergehen. Darum ganz kurz: Ich sprach mit Freddie über meine Befürchtungen, und er gab mir folgenden Rat: »Warte um Gottes willen nicht bis zur Hochzeitsnacht. Fangt jetzt an und fangt langsam an. Lernt einander ganz behutsam kennen. Mach dir keine Gedanken, wenn in der ersten oder zweiten Nacht nichts geschieht. Das kommt schon. Überlaß es nur der guten alten Mutter Natur. Sie macht das schon, man darf sie nur nicht drängen.« Freddies Rat war absolut richtig. Was ist der Mann doch für ein glänzender Anwalt! Als wir später auf Hochzeitsreise gingen – in ein kleines französisches Pyrenäendorf, wo der Duft der Blumen so stark ist, daß er alle Speisen und Getränke zu würzen scheint und selbst in die Poren des menschlichen Körpers eindringt –, hatten wir längst das erste Mal miteinander geschlafen und ergänzten uns vollkommen. Das war vor sieben Jahren. Die Ehe veränderte nicht viel an unserem Alltagsleben. Ich ging weiter jeden Tag in die Wirtschaftsprüferkanzlei, wo ich arbeitete, und Kay, die sich sechs Monate lang als Nur-Hausfrau versucht hatte, kehrte in ihre alte Stellung zurück. Körperlich jedoch veränderten wir uns. Mein schon schütteres Haar ging weiterhin aus, womöglich noch schneller, und innerhalb eines Jahres war ich völlig kahl. Nach einem weiteren Jahr hatte ich neben dem kahlen Kopf auch einen schändlichen Schmerbauch. Bei Kay waren die äußeren Veränderungen noch drastischer. »Ich war mal ein mickriges kleines Ding«, pflegte sie lachend zu sagen. »Und schau mich jetzt an.«
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Ihrer eigenen Formulierung zufolge glich sie einem »Faß auf Streichhölzern«. Das war zwar übertrieben und entschieden eine Verleumdung ihrer schönen Beine, aber es war nicht zu bestreiten, daß sie ganz hübsch rundlich geworden war. Auch ihr Gesicht war voller geworden, – aber ich liebe ihr Gesicht und jedes Gramm Übergewicht an ihr. Der objektive Betrachter würde sie als eine ganz gewöhnliche, füllige Frau mittleren Alters sehen, aber ich kann sie nicht objektiv sehen, auch wenn ich rückblickend sagen muß, daß ich, als das Theater anfing, mit bewundernswerter Objektivität handelte. Kay kam immer eine Stunde vor mir nach Hause und machte dann das Abendessen. An einem schönen Juniabend, als wir abdeckten, sagte sie plötzlich: »Habe ich dir eigentlich mal von Wilson erzählt?« »Nein. Wer ist Wilson?« »Er ist noch relativ neu bei uns. Im Einkauf. Er ist höchstens Anfang Zwanzig.« Sie zögerte. »Er ist anscheinend völlig vernarrt in mich. Es ist richtig lächerlich.« Erheitert fragte ich, was sie meine. »Dauernd kommt er unter irgendeinem Vorwand zu uns ins Zimmer und starrt mich an wie hypnotisiert. Josie und Pat amüsieren sich königlich darüber.« »Aber verabreden wollte er sich noch nicht mit dir?« fragte ich scherzhaft. »Nein. Dazu ist er offenbar zu schüchtern. Er steht nur rum und starrt mich an. Es wird allmählich ziemlich enervierend.« »Das kommt davon, wenn man so faszinierend ist wie du«, sagte ich. Kay fand es nicht erheiternd. »Es ist absurd«, meinte sie. »Ich könnte seine Mutter sein. Hübsche junge Mädchen gibt es bei uns in der Firma wie Sand am Meer. Warum muß er sich ausgerechnet in mich verknallen?« »Wenn es dich stört, kannst du ihm doch sagen, er soll Leine ziehen«, erwiderte ich, wußte aber sofort, daß hier die Schwierigkeit lag. Kay ist unfähig, jemand knallhart die Meinung zu sagen.
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»Ach«, meinte sie, »er wird es schon leid werden, wenn er merkt, daß er nicht weiterkommt.« Und damit war für mich das Thema Wilson erledigt. Aber eines Abends in der folgenden Woche, nachdem wir den Fernseher ausgeschaltet hatten und ins Bett wollten, sagte Kay: »Ich muß dir etwas sagen.« Ein Unterton der Bedrücktheit in ihrer Stimme veranlaßte mich, sie scharf anzusehen. »Es hat mich den ganzen Abend verfolgt«, erklärte sie. »Was denn?« »Ich habe dir doch von Denis Wilson erzählt.« Ich mußte überlegen. Der Name »Denis« war mir nicht bekannt. »Ach, du weißt schon«, sagte Kay. »Der Junge in der Firma.« »Ach so, ja. Was ist mit ihm?« »Am Montag hat er nach Büroschluß am Haupteingang auf mich gewartet. Ich weiß, daß er extra auf mich gewartet hat. Er sagte: ›Gute Nacht‹. Und gestern war es das gleiche. Heute abend kam er her und sagte: ›Kann ich Sie einmal sprechen?‹« »Und was hast du gesagt?« »Ich fragte ihn, was er wollte. Und weißt du, was er antwortete?« »Keine Ahnung«, erwiderte ich ziemlich brüsk. »Er fragte, ob ich morgen in der Mittagspause ein Glas mit ihm trinken würde.« Das rüttelte mich auf. »Und was hast du gesagt?« »Ich sagte: ›Nein, danke‹ und ging. Er versuchte nicht, mir zu folgen, aber ich war ziemlich durcheinander. Ich weiß, es klingt blöd, aber als ich mir an der U-Bahn ein Billett kaufte, zitterten mir richtig die Knie.« Ich legte den Arm um sie. »Denk nicht mehr daran, mein Schatz. Er mußte es wahrscheinlich loswerden, und jetzt, nachdem du ihm eine Abfuhr verpaßt hast, wird er dich nicht mehr belästigen.« »Hoffentlich«, sagte sie. »Er ist eigentlich ganz in Ordnung. Dem Aussehen nach, meine ich. Aber irgendwas an ihm macht mir angst. Josie meint, ich wäre dumm, mir überhaupt Gedanken zu machen. Sie sagt, er wird es bestimmt bald leid sein.«
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»Da hat sie sicher recht.« »Aber ich habe den Eindruck, daß sogar Josie und Pat ein bißchen verwundert sind. Wir haben so viele hübsche junge Mädchen bei uns, aber keine scheint ihn zu interessieren. Ich bin doppelt so alt wie er, und um mich schön zu finden, müßte man seine Phantasie schon arg strapazieren.« Ich sagte ihr, ich müßte meine Phantasie überhaupt nicht strapazieren, um sie schön zu finden. Sie schmiegte sich an mich. »Du bist eben anders«, sagte sie und fügte leise hinzu: »Gott sei Dank.« Am folgenden Abend fragte ich sie, ob der junge Kerl sie wieder belästigt hätte. Sie antwortete, sie hätte ihn gar nicht gesehen. Aber am nächsten Tag, dem Freitag, erzählte sie mir, sie hätte auf dem Schreibtisch des Personalchefs ein ärztliches Attest für Wilson liegen sehen. Er war an Gastritis erkrankt, würde jedoch Anfang der folgenden Woche wieder arbeitsfähig sein. »Bauchweh aus verschmähter Liebe«, meinte ich, bemüht, einen Scherz daraus zu machen. »Das hoffe ich nicht.« Kay hatte meine Bemerkung zu meiner Überraschung ernst genommen. »Es wäre mir unerträglich, jemand Schmerzen zuzufügen.« »Wahrscheinlich hat er zu viele grüne Äpfel gegessen«, sagte ich, um sie zu beschwichtigen. Aber zum erstenmal hatte ich das Gefühl – vielleicht war es auch eine Vorahnung –, daß ich die Geschichte mit diesem Wilson ernster nehmen sollte. Ich glaube, es war ungefähr zwei Wochen später, als ich Kay auf dem Heimweg vom Kino fragte: »Und was macht Freund Wilson dieser Tage?« Wir waren bisher langsam gegangen, um den milden Abend zu genießen, doch bei meinen Worten beschleunigte Kay plötzlich den Schritt. »Nichts Besonderes.« »Er belästigt dich nicht mehr?« »Warte, bis wir zu Hause sind«, sagte sie. Zehn Minuten später, während sie uns Kaffee machte, sagte sie: »Es scheint schlimmer zu werden.«
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»Wie meinst du das?« »Er wartet jeden Morgen vor der Firma, bis ich komme, taucht ständig unter den lächerlichsten Vorwänden bei uns im Zimmer auf und wartet abends, um mir gute Nacht zu sagen.« »Aber er hat dich nicht noch einmal auf einen Drink eingeladen?« »Nein. Ich hatte allerdings den Eindruck, daß er es heute abend vorhatte. Ich kam mit Pat zusammen heraus und merkte, daß er enttäuscht war. Er warf mir einen solchen Blick zu.« »Was für einen Blick?« »Ich kann ihn nicht beschreiben. Aber ihr fiel es auch auf. Sie sagte, sie hätte eine Gänsehaut bekommen.« Sie reichte mir meine Kaffeetasse. »Er macht mich nervös«, fuhr sie fort. »Jedesmal, wenn ich ihn sehe, kriege ich Panik. Dann sage ich mir, daß er nichts dafür kann, wie er ist. – Daß er mir eigentlich leid tun müßte.« Ich schnaubte verächtlich in meinen Kaffee. »Verschwende nicht deine Gefühle an ihn. Er ist es nicht wert.« »Aber wenn er – ich meine – es kommt doch vor, daß Leute an einer Fixierung leiden, nicht wahr?« Ich weiß nicht, warum die Frage und der Gebrauch des Wortes »Fixierung« mich plötzlich ausgesprochen wütend machten. »Hältst du es für eine Fixierung?« fragte ich. Sie senkte den Blick. »Josie erzählte mir, sie hätte vor einiger Zeit in einer Frauenzeitschrift einen Leserbrief gelesen, in dem es um eine ähnliche Situation ging. Die Antwort lautete, daß junge Männer manchmal auf ältere Frauen fixiert sind. Man dürfe so einen Jungen als Frau in keiner Weise ermutigen, dann würde die Fixierung allmählich vergehen oder sich anderswo ansiedeln.« »Du hast ihn doch nicht ermutigt?« Sie hob die Lider, und zu meinem Schrecken sah ich, daß sie Tränen in den Augen hatte. »Natürlich nicht«, antwortete sie. »Wofür hältst du mich denn?« Recht unglücklich gingen wir zu Bett. In dieser Nacht fehlte unserer Umarmung etwas, wir waren irgendwie nicht auf einer Wellenlänge. Hinterher lagen wir schweigend nebeneinander. Bis plötzlich
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Kay in die Dunkelheit hinein sagte: »Ob er wohl dauernd an mich denkt oder nur in der Arbeit?« Ich antwortete nicht, aber ihre Worte beunruhigten mich heftig. Kay schlief bald ein, aber ich lag bis zum Morgengrauen wach und glitt erst in einen seichten Schlaf, als das erste graue Licht durch die Vorhänge schimmerte. Am folgenden Abend begannen die Anrufe. Kay ging hin, als das Telefon läutete, und ich stellte den Fernseher leiser. »Ja, ich bin selbst am Apparat«, sagte sie. »Ja«, sagte sie wieder. Dann: »Was wollen Sie?« »Das werde ich ganz sicher nicht tun.« Sie legte auf, ohne auf Wiedersehen zu sagen. »Doch nicht er«, sagte ich ungläubig. »Er muß verrückt sein. Mich hier anzurufen. Er mußte doch wissen, daß du zu Hause sein würdest.« »Was wollte er?« »Das habe ich ihn auch gefragt.« »Ja, ich hab’s gehört. Was sagte er?« Kay wurde rot. »Er sagte: ›Sie wissen, was ich will. Ich möchte, daß Sie einmal mit mir ausgehen.‹« »Na, nach deiner Antwort müßte er jetzt endlich kapiert haben.« »Ich brauche einen Drink«, sagte Kay. Ich brachte ihr etwas, ohne eine Bemerkung zu machen, aber es beunruhigte mich, daß der Anruf sie so aufgeregt hatte, daß sie als erstes nach Alkohol verlangte. Am nächsten Abend läutete das Telefon wieder. Diesmal ging ich hin. Der Anrufer legte auf, ohne sich zu melden. Eine Stunde später rief er wieder an. Wieder meldete ich mich. Wieder legte er auf. Beim dritten Anruf ging Kay hin, und ich stellte mich neben sie. »Ja?« sagte sie. »Ich bin’s«, sagte eine Männerstimme. »Was wollen Sie?« fragte sie, und ich nahm ihr den Hörer aus der Hand.
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»Bitte gehen Sie einmal mit mir aus. Nur auf einen Drink. Ich muß unbedingt mit Ihnen reden.« »Jetzt hören Sie mal gut zu«, sagte ich. »Wenn Sie nicht sofort aufhören, meine Frau zu belästigen, wende ich mich an die Polizei.« Er legte auf, als ich bei dem Wort »Frau« angelangt war. Kay warf mir einen gequälten Blick zu. »So kann das nicht weitergehen« sagte sie. »Jedesmal, wenn das Telefon läutet, bekomme ich fast einen Herzschlag.« Ich überlegte einen Augenblick. »Morgen gehe ich mit dir zur Arbeit«, entschied ich, »und wenn er da ist, werde ich ihm klipp und klar sagen, was ich tun werde, wenn dieses Theater nicht aufhört.« Ich weiß nicht, was für eine Reaktion ich von Kay erwartet hatte. Einen Blick der Dankbarkeit vielleicht. Ich erwartete jedenfalls nicht, daß sie entsetzt »O nein!« rufen würde. »Warum nicht?« »Ich bin sicher, er kann einfach nicht anders. Es ist etwas, das er nicht kontrollieren kann.« »Aber ich kann’s kontrollieren, verdammt noch mal«, entgegnete ich. In dieser Nacht schliefen wir nicht miteinander. Kays Firma liegt in der Oxford Street. Morgens um neun ist dort immer ein Riesengedränge, wenn die Arbeiter und Angestellten aus Bussen und U-Bahnen strömen. Die meisten machen ein Gesicht, als wären sie auf dem Weg zu einem dringenden, aber nicht unbedingt angenehmen Termin. Zumindest die älteren Leute sehen so aus; die jüngeren wirken lockerer. Sie lassen sich Zeit und werden von den Pünktlichkeitsfanatikern mürrisch zur Seite gestoßen. »Das ist er«, flüsterte Kay. Er war groß und mager, mit einem blassen Gesicht. Das dunkle Haar fiel ihm lockig bis auf die Schultern. Einen Mann seines Aussehens hätte man früher als »romantischen Jüngling« bezeichnet. Mich zwickte die Eifersucht. »Bitte sei nicht unfreundlich zu ihm«, sagte Kay. Sie hatte versucht, mir mein Vorhaben, sie zu begleiten, auszureden, und diese letzte Bitte reizte mich. Warum sollte ich nicht un-
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freundlich zu ihm sein? Er hatte ja auf uns keine Rücksicht genommen. »Geh du schon rein«, sagte ich. »Wir sehen uns heute abend.« Später wurde mir bewußt, daß ich ihr zum erstenmal keinen Abschiedskuß gegeben hatte. Ich steuerte schnurstracks auf den romantischen Jüngling zu und sagte: »Ihr Name ist Denis Wilson?« Er sah mich verdattert an. »Ja, das stimmt.« »Und Sie belästigen ständig meine Frau.« »Ich möchte nur mit ihr reden.« »Aber sie will nicht mit Ihnen reden.« Er zuckte zusammen. »Entschuldigen Sie.« »Dieses Theater wird langsam äußerst lästig. Nicht nur für meine Frau, sondern auch für mich.« »Entschuldigen Sie«, sagte er wieder. »Das haben Sie schon einmal gesagt. Wenn Sie meine Frau noch einmal belästigen, auf sie warten, sie ansprechen oder bei uns anrufen, melde ich das Ihrem Vorgesetzten und der Polizei. Ist das klar?« Er nickte, und ich war erleichtert. Man hatte ihm nur einmal gründlich die Leviten lesen müssen. »Ich habe also Ihr Wort darauf, daß Sie keinen weiteren Ärger machen werden?« fragte ich. »Wie meinen Sie das? Ärger?« Er sah mich mit schmelzenden braunen Augen an. »Sie wissen genau, was ich meine.« Er seufzte tief. »Ich liebe Kay«, sagte er. Was ich tat, war unverzeihlich, aber ich bereue es nicht. Ich packte ihn beim Hemdkragen, wollte ihn schütteln wie einen ungezogenen jungen Hund, aber als ich zugriff, hielt ich plötzlich nur seine scharlachrote Fliege in der Hand. Ich starrte sie ziemlich fassungslos an. »Sie können sie behalten, wenn Sie wollen«, sagte er, und ehe ich ihm seinen Binder wiedergeben konnte, drehte er sich um und rannte ins Gebäude. Kay stand auf der Treppe. Unsere Blicke trafen sich kurz, dann folgte sie ihm ins Haus.
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Am Abend erklärte sie, sie hätte es entwürdigend gefunden, wie ich nach seinem Kragen gegrapscht hätte. Ich fragte, ob er auf sie gewartet hätte, als sie ging, und sie verneinte. »Na also«, sagte ich. »Dann hat mein entwürdigendes Verhalten sich gelohnt. Er hat offenbar eingesehen, daß er im Unrecht ist.« Wenige Minuten später läutete das Telefon. Ich hob ab. »Ja?« »Hier spricht Denis.« »Ich habe Sie heute morgen aufgefordert, diesen Unsinn zu lassen.« »Kann ich Kay sprechen? Nur einen Augenblick.« »Kommt nicht in Frage«, sagte ich und knallte den Hörer auf die Gabel. Mich Kay zuwendend, bemerkte ich: »Er will es nicht anders.« »Was willst du tun?« fragte sie erschrocken. »Drohungen sind sinnlos, wenn man nicht bereit ist, sie auch auszuführen.« »Nein. Bitte, nein!« »Tut mir leid, Kay. Ich habe genug. Es geht hier auch um mich.« »Bitte, bitte!« Sie redete so lange auf mich ein, bis ich schwach wurde, und in dieser Nacht liebten wir uns wie noch nie. Ich unternahm nichts gegen Wilson, aber ich ließ mir einen Termin bei Freddie geben. Kay sagte ich nichts davon. Freddie war wie immer der herzliche, um mein Wohl besorgter Freund. »Was kann ich für dich tun, alter Junge?« fragte er. »Um eine Beratung wegen eines Vermögens, das du gerade geerbt hast, scheint’s deinem Gesicht nach ja nicht zu gehen.« Er hörte sich meinen Bericht über die absurde Verliebtheit Denis Wilsons in Kay geduldig an. Aber durchaus mit Teilnahme. Ein- oder zweimal – vielleicht bildete ich es mir auch ein – glaubte ich, er sei einem Lächeln nahe. Als ich geendet hatte, sagte er: »Das ist doch ein großes Kompliment für Kay und indirekt auch für dich, denn du hast sie ja gewählt.« Es schien ihm völlig ernst zu sein mit seinen Worten. »Ich kann verstehen, daß es dich ein bißchen nervt«, fügte er hinzu und meinte dann einschränkend: »In gewisser Weise kann ich es verstehen.« »Würde dich denn so was nicht verrückt machen, Freddie?«
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Er nahm seinen Füller und hieb kleine Löcher in die Löschunterlage auf seinem Schreibtisch. »Doch, vielleicht schon«, meinte er. »Aber du kennst ja Cynthia.« Ich kannte zwar seine Frau, aber was er mit der Bemerkung sagen wollte, war mir schleierhaft. »Wie meinst du das?« »Kay und Cynthia sind natürlich völlig unterschiedliche Menschen. Jeder ist anders. Aber Cynthia hätte den Burschen innerhalb von zehn Sekunden eiskalt absausen lassen.« »Kay schafft es nicht – kalt zu sein.« »Ich weiß, und ich will auch nicht sagen, daß sie ihn aktiv ermutigt…« »Das will ich hoffen.« »Aber eine Frau in Kays Alter – Wie alt ist sie eigentlich?« »Zweiundvierzig.« »Frauen in diesem Alter wissen im allgemeinen, wie man mit so einer Situation fertig wird.« »Kay wird aber nicht damit fertig«, entgegnete ich störrisch. »Und ich möchte, daß das Theater aufhört. Wie stelle ich das am besten an?« Freddie runzelte die Stirn. »Ich kann dir nur eines raten – tu überhaupt nichts. Du hast bereits genug getan. Strenggenommen hast du ihn tätlich angegriffen. Sag Kay, sie soll ihn ignorieren, wenn er sie anspricht. Wenn sie immer in Gesellschaft anderer Frauen ist, wird er früher oder später aufgeben.« »Dieser Kerl ist hartnäckig. Wie wär’s, wenn ich die Polizei einschalte?« Freddie schüttelte den Kopf. »Was kann die Polizei denn tun? Man kann ihm keine Nötigung vorwerfen. Keinerlei Vergehen. Die Polizei wird die Sache als rein private Angelegenheit ad acta legen.« »Tut mir leid, Freddie, ich möchte, daß da was unternommen wird. Kann man ihn nicht wegen Hausfriedensbruch oder so was anzeigen?« Freddie schüttelte wieder den Kopf. »Das greift hier nicht.« »Und du kannst gar nichts tun?« fragte ich.
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Er legte den Füller aus der Hand und sah mir direkt in die Augen. »Der Bursche ist natürlich eine Nervensäge, aber ich glaube nicht, daß es gelingen würde, eine einstweilige Verfügung zu erwirken, die ihm verbietet, Kay in irgendeiner Weise zu belästigen. Das wäre dein einziges Rechtsmittel. Aber sieh dir die Fakten an. Er paßt sie an ihrem Arbeitsplatz ab – aber es ist auch sein Arbeitsplatz. Er hat mehrmals bei euch angerufen, das ist zugegebenermaßen eine Belästigung. Aber ob ein Gericht allein daraufhin eine einstweilige Verfügung erlassen würde, wage ich zu bezweifeln. Es geht hier ja nicht um obszöne Anrufe. Er hat sich höflich und wohlerzogen verhalten, wenn ich dich richtig verstanden habe. Abgesehen davon ist ein Verfahren wegen Belästigung – die meiner Meinung nach hier nicht vorliegt – eine langwierige und teure Angelegenheit.« »Mit anderen Worten, du bist nicht bereit, etwas für mich zu tun«, sagte ich pikiert. Zu Freddies Ehre muß gesagt sein, daß er die Bemerkung nicht mit der Kälte quittierte, die sie verdient hätte. »Du kannst immer auf mich zählen, alter Junge, aber du hast vorher selbst gesagt, daß Drohungen sinnlos sind, wenn man nicht bereit ist, sie auszuführen. Der Meinung bin ich auch. Ich könnte mit Leichtigkeit diesem Mann einen Brief schreiben und ihm drohen, Anzeige zu erstatten, falls er nicht aufhört, deine Frau zu belästigen. Papier ist geduldig. Aber ich würde nicht versuchen wollen, diese Drohung wahr zu machen. Ich glaube nämlich nicht, daß wir damit sehr weit kämen. Aber wenn dir meine Meinung nicht reicht, könnte ich noch die Meinung meiner Partner einholen.« Ich hatte ein Gefühl, als schlüge ich mit dem Kopf gegen eine Betonmauer. Ich kannte Freddie gut genug, um zu wissen, daß sein Rat Hand und Fuß hatte. »Versuch, die ganze Sache von der komischen Seite zu nehmen«, sagte er. Ich stand auf. »Ich glaube kaum, daß ich das schaffe. Ich bin ein bißchen altmodisch. Aber trotzdem vielen Dank, Freddie.« »Versprich mir, daß du keine Dummheiten machst. Und pack ihn um Gottes willen nicht wieder am Kragen. Wenn du es von der komischen Seite nimmst, wirst du merken, daß du tatsächlich darüber
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lachen kannst. Und ich wette, in sechs Monaten hast du seinen Namen vergessen.« Rückblickend sehe ich ein, daß es das Vernünftigste gewesen wäre, wenn Kay gekündigt und sich eine andere Stellung gesucht hätte. Aber sie liebte ihre Arbeit im Kaufhaus, und ich fand, eine Kündigung wäre einer Niederlage gleichgekommen. Allzu häufig im Leben leiden Unschuldige durch die Taten irrationaler und selbstsüchtiger Menschen. Weshalb sollte Kay sich zum Opfer machen lassen? Ich beschloß, auf dem Sommerfest von Kays Firma mit Kays Chef über Wilson zu sprechen. Diese Feste, ganz unterhaltsam, ohne sonderlich aufregend zu sein, fanden im allgemeinen im Kaufhausrestaurant statt. Jeder, der zum Personal gehörte, durfte einen Gast mitbringen. Ich war Kays Gast. Ihr Chef war ein geselliger und umgänglicher Mensch namens Forbes. Er war Anfang Fünfzig und wirkte dank seiner aufrechten Haltung und dem gepflegten Oberlippenbärtchen wie ein alter Offizier. Als Kay sich gerade mit ein paar Leuten unterhielt, ging ich zu ihm. »Ah, hallo!« sagte er. »Tanzpreise gibt’s heute leider keine.« Das war eine Anspielung auf die letzte Weihnachtsfeier, wo Kay und ich beim Walzer den ersten Preis gewonnen hatten. »Ich hätte Sie gern einmal einen Moment gesprochen, Mr. Forbes. Unter vier Augen.« Sein Lächeln verschwand, und er setzte die Miene eines Mannes auf, der es gewöhnt ist, daß man ihm wichtige Geheimnisse anvertraut. »Geht es um Kay?« fragte er. »Ja.« »Sie fühlt sich doch wohl bei uns, nicht wahr? Wir haben sie alle sehr gern.« Damit kam er gleich einer eventuellen Beschwerde zuvor, daß Kay sich nicht genug gewürdigt fühlte. »O ja. Die Arbeit macht ihr Freude, und sie kommt gut mit ihren Kollegen in der Personalabteilung aus. Aber es gibt leider doch ein Haar in der Suppe.« Er hörte sich meine Geschichte über Wilson schweigend an. Zuerst runzelte er leicht beunruhigt die Stirn, aber allmählich machte die Beunruhigung einem Anflug von Feindseligkeit Platz.
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»Das scheint mir ein Sturm im Wasserglas zu sein«, meinte er, als ich geendet hatte. »Wilson ist ein ausgezeichneter Mann. Seine Berichte sind immer hervorragend.« »Ich hatte eigentlich gehofft, Sie würden ein Wörtchen mit ihm reden.« Er schüttelte den Kopf. »Seien wir doch nicht weltfremd«, sagte er und hielt inne. Ich empfand mich nicht als weltfremd. Vielmehr fühlte ich mich in dieser Welt sehr zu Hause. Ich sagte, ich verstünde nicht, worauf er hinauswolle. »Ein junger Bursche findet Ihre Frau attraktiv. Das ist doch kein Verbrechen. Es ist eher schmeichelhaft. Er fragt sie, ob er sie zu einem Drink einladen darf. Auch das ist kein Verbrechen.« Er senkte die Stimme. »In jeder Firma und jedem Büro werden Freundschaften geschlossen. Das wissen Sie. Und das weiß ich. Da ist nichts dabei. Zwei Menschen, die sich gut verstehen, setzen sich in der Mittagspause mal auf ein Glas zusammen. Sie sind vielleicht mit anderen Partnern verheiratet, aber was ist daran schon schlimm?« »Darum geht es doch gar nicht.« Forbes straffte die Schultern und war wieder ganz der alte Militär. »Diese Angelegenheit ist nicht Sache unserer Abteilung«, sagte er. »Ich bin überzeugt, Kay oder eine ihrer Freundinnen ist in der Lage, Wilson kräftig auf die Füße zu treten, wenn er zu weit gehen sollte. Und wie ich schon sagte, er hat hier einen ausgezeichneten Ruf. Solche Mitarbeiter möchten wir nicht gern verlieren.« Er meinte, es sei ihm schnurzegal, wie viele verheiratete Frauen Wilson verführt, Hauptsache er leistet erstklassige Arbeit. »Sie wollen also nichts unternehmen«, sagte ich. Er machte eine leicht gereizte Handbewegung. »Ich habe nichts damit zu tun. Wir leben nicht mehr unter der Königin Victoria.« Das war das Ende unseres Gesprächs. Später fragte mich Kay: »Worüber hast du dich mit Mr. Forbes unterhalten?« Da ich wußte, daß die Wahrheit sie aufregen würde, erwiderte ich, wir hätten uns über die Londoner Transportprobleme unterhalten. »Wie langweilig«, meinte sie, und damit war das Thema zum Glück erledigt.
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Ich bezweifle, daß Forbes mit Wilson oder mit Kay sprach, aber von diesem Abend an wurde es besser. Fragte ich Kay, ob Wilson sie belästigt hätte, so pflegte sie jetzt zu sagen: »Ich habe ihn den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen.« Oder: »Er stand vor der Firma, als ich ging, aber ich weiß nicht, ob er mich überhaupt gesehen hat.« Mit Kay selbst ging eine Veränderung vor, die wahrscheinlich dem Ende einer spannungsreichen Zeit zuzuschreiben war. Sie hatte stark abgenommen und sah dadurch jünger aus. Ihre Augen bekamen wieder den alten Glanz, und ihre Haut wirkte weicher. Aber obwohl sie glücklich zu sein schien, ließ mich die Erinnerung an die absurde Affäre nicht los, und praktisch alles, was ich sah oder las, intensivierte sie noch. Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, deren Lektüre ich vermutlich unbewußt vermieden hatte, nachdem mein Auge die Überschriften aufgenommen hatte, schienen sich fast ausschließlich mit der »modernen freizügigen Gesellschaft« zu befassen. Man konnte nicht eine Seite umblättern, ohne auf eine Bemerkung, schwangere Schulmädchen oder »die Pille« zu stoßen. Ich begann, die Artikel zu lesen, die ich bis dahin ignoriert hatte, und wenn ich unterwegs war, ertappte ich mich dabei, daß ich die Plakate auf den Untergrundbahnsteigen und an den Rolltreppen studierte. Wieso war mir früher nicht aufgefallen, daß hier überall die Aufmerksamkeit des zufällig Vorüberkommenden auf Sex gelenkt wurde? War ich denn die letzten zehn Jahre mit Scheuklappen durch die Gegend gelaufen? Und der Name »Wilson« fing an, mir aufzustoßen. Er stand über Geschäften, er begegnete mir in der Zeitung und begegnete mir vor allem in unserer Leihbibliothek. Immer wenn ich die Regale auf der Suche nach einem lesenswerten Buch durchsah, fiel mein Blick unweigerlich auf ein Werk eines der drei Wilson – Angus, Colin oder Edmund. Sex und Wilson waren unausweichlich. Zum ersten Mal seit dem Tod meiner Mutter begann ich wieder, an meiner Normalität zu zweifeln. Was ich sah, stieß mich ab, und doch fühlte ich mich zugleich auf merkwürdige Weise getrieben, mich damit zu beschäftigen. Ich war nicht zeitgemäß, aber war ich deshalb auch anormal? Nach allem, was ich las, schienen die meisten Männer nichts dabei
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zu finden, wenn ihre Frauen Seitensprünge machten. Man veranstaltete sogar Partys, wo die Frauen getauscht wurden, wie mehr oder weniger wertvolle Briefmarken. Es war gang und gäbe, daß Frauen mit Wissen und Zustimmung ihrer Ehemänner Liebhaber hatten. »Zivilisiertes Verhalten« nannte man das. Und dann las ich in einem Buch eine Passage, die mich beruhigte. Das Buch ist Aldous Huxleys »Brave New World Revisited«. »Die wahrhaftig hoffnungslosen Opfer geistiger Krankheit findet man unter jenen, die am normalsten zu sein scheinen… Sie sind normal nicht in dem absoluten Sinn des Wortes; sie sind normal lediglich in bezug zu einer zutiefst anormalen Gesellschaft. Ihre vollkommene Anpassung an diese Gesellschaft ist ein Maß ihrer geistigen Krankheit.« Ich fügte mich nicht in die moderne Gesellschaft, aber das war kein Beweis dafür, daß ich anormal war. Die Anormalen waren es, die ihre Ehefrauen tauschten, weil es der letzte Schrei war, Ehefrauen zu tauschen; die die Pille als das Heil der Menschheit betrachteten; die Promiskuität zur Norm erhoben und es erforderlich fanden, aggressive sexuelle Anreize einzusetzen, um Autos, Schokolade und sogar Küchengeräte zu verkaufen. Die Anormalen waren Männer wie Forbes, die fragten: »Was ist denn daran so schlimm?« und wie Wilson, der es fertigbrachte, mir, Kays Ehemann, mit unglaublicher Dreistigkeit zu erklären: »Ich liebe Kay«. Das waren die neuen Kranken, Geschöpfe der freizügigen Gesellschaft. Gott sei Dank, daß ich normal war. Und dann passierte die Sache mit den Nelken. Viele Monate zuvor hatten wir für den August eine Schiffsreise gebucht. Das erste Mal, seit dem Tod meiner Mutter, wollte ich wieder Urlaub auf hoher See machen. Das Schiff, ein Luxusdampfer, sollte in Lissabon, Madeira, an den Kanarischen Inseln und in Casablanca anlegen. Eine Woche vor unserer Abreise beschlossen wir, am Samstagmorgen in aller Frühe einen Zug in ein Städtchen in Sussex zu nehmen und von dort aus eine lange Wanderung durch das Hügelland zu machen. Leider goß es in Strömen, als wir erwachten. Beinahe wären wir dennoch gefahren, aber Kay traf schließlich die Ent-
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scheidung, als sie sagte: »Und wenn wir uns nun erkälten? Dann wären wir zu Urlaubsanfang überhaupt nicht in Form.« Wir blieben also zu Hause. Wären wir nicht geblieben, so hätten wir das Läuten an der Wohnungstür nicht gehört, und der Botenjunge, der mit einem Dutzend tiefroter Nelken vor uns stand, als wir öffneten, hätte unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen. »Wer kann mir die denn geschickt haben?« fragte Kay verwundert, nachdem der Junge gegangen war. Ich meinte, es müsse sich um einen Irrtum handeln. »Ausgeschlossen«, erwiderte sie. »Da steht doch mein Name und meine Adresse. Und hier ist eine Karte.« Ihre Augen strahlten, und ich wünschte, ich hätte ihr die Blumen geschickt. Sie las die Karte und sagte nur »Oh!« Ich nahm sie ihr aus der Hand. »Für Kay, in tiefster Bewunderung – Denis.« »Der Mistkerl«, sagte ich. »Sind sie nicht wunderschön?« Flüchtig kam mir der Verdacht, sie müsse verrückt geworden sein, dann nahm ich ihr den Strauß Nelken ab und rannte zum Mülleimer hinaus. Sie lief mir nach. »Bist du verrückt geworden?« »Ich dachte, du wärst verrückt geworden«, gab ich zurück. »Was soll das denn?« rief sie und holte die Nelken aus dem Mülleimer. »Das sind doch Blumen.« Die gute Kay. Sie hat ein Herz für Blumen. Für sie sind sie ebenso lebende Wesen wie Tiere. Was ich getan hatte, war beinahe so schlimm, als hätte ich ein Kind in den Müll gesteckt. »Ich stelle sie ins Wasser«, sagte sie, und ich folgte ihr in die Wohnung zurück. »Es wäre mir lieber, wenn ich nicht an ihre Herkunft erinnert werde«, versetzte ich. »Wenn du sie unbedingt behalten mußt, würdest du sie dann bitte ins Gästezimmer stellen?« »Aber warum denn? Sie sind doch ein so schöner Anblick.« »Sie wurden dir von einem Idioten geschickt, der, wenn er das könnte, unsere Ehe zerstören würde. Ich finde, es ist selbstverständlich, daß ich sie nicht ständig vor Augen haben möchte.«
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Sie sah mich mit einem Blick an, den ich nie vergessen werde. Es heißt immer, man erinnert sich nur an die schönen Dinge des Lebens und vergißt alles andere. Ich kann dazu nur sagen, daß das vielleicht für die meisten anderen Menschen zutrifft, aber nicht für mich. Kays verächtlich kalter Blick war meinem Gedächtnis für immer eingeprägt. »Wie du meinst«, sagte sie. »Wir stellen sie ins Gästezimmer.« »Du verstehst mich doch?« fragte ich. »Ich verstehe dich«, antwortete sie. »Vollkommen.« Und sie stellte sie in einer Kristallvase ins Gästezimmer. Ich wußte nicht, ob ich über ihre Mißachtung meiner Gefühle zornig sein, oder ihre Liebe zu Blumen so rührend finden sollte, daß mein Ärger dadurch ausgelöscht wurde. Die Nelken blieben im Gästezimmer bis zum Tag unserer Abreise. Nachdem wir in Southampton an Bord gegangen waren, zeigte man uns unsere Kabine, einen kleinen Raum mit zwei getrennten Betten unter grün-blau karierten Tagesdecken und einem breiten Toilettentisch zwischen den beiden Kopfenden der Betten. Popmusik erklang aus dem Radio, als wir in die Kabine kamen, aber wir konnten unter mehreren Sendern wählen, so daß wir auch den ganzen Tag klassische Musik hören konnten, wenn uns der Sinn danach stand. Die Kabine hatte ein eigenes kleines Bad. Kay sah durchs Bullauge neben ihrem Bett hinaus und sagte: »Ach, das wird schön!« Nachdem wir ausgepackt hatten, gingen wir in den Speisesaal hinauf, um uns eine Tischnummer geben zu lassen. Danach machten wir einen kleinen Spaziergang an Deck und genossen die Sonne. Unsere erste Mahlzeit an Bord, der Nachmittagstee, wurde in einem der Salons serviert. Während wir gemütlich beieinander saßen, glitt draußen langsam die Küste der Isle of Wight vorbei. Ich bin ziemlich seetüchtig, doch Kay hatte sich auf meinen Rat gegen Seekrankheit impfen lassen, und so marschierten wir am Abend, obwohl im Ärmelkanal mäßig schwerer Seegang war, vergnügt und hungrig in den Speisesaal. Es heißt, daß man sich niemals bewußt ist, glücklich zu sein, sondern immer nur zu wissen, wann man glücklich war. Als wir den Speisesaal betraten, war ich mir nicht bewußt, glücklich zu sein –
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obwohl ich in diesem Moment glücklich war –, aber kaum hatten wir uns gesetzt, merkte ich schlagartig, daß ich höchst unglücklich war. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Ganges, saß Wilson und studierte die Speisekarte. Ich sagte: »Guter Gott!«, und die zwei Worte kamen laut aus meinem Mund, obwohl ich sie ganz leise hatte sagen wollen. »Was ist denn?« fragte Kay. »Schau da rüber.« Sie wurde kreidebleich. »Das darf doch nicht wahr sein«, sagte sie. In diesem Moment blickte er von der Speisekarte auf, sah, daß wir ihn entsetzt anstarrten, und lächelte zaghaft. »Wußtest du, daß wir ihn hier treffen würden?« fragte ich mit gesenkter Stimme. »Aber nein! Woher hätte ich das wissen sollen.« »Er muß aber gewußt haben, daß du an Bord sein würdest.« »Viele im Büro wissen von der Reise. Er kann leicht davon gehört haben.« Ich sagte, ich wolle einen anderen Tisch verlangen. »Bitte mach keinen Wirbel«, sagte Kay. Sie haßt Aufsehen und Szenen. »Bitte!« sagte sie flehentlich. Ich sah mich um. Alle Tische waren besetzt. Es war unwahrscheinlich, daß wir jetzt noch einen anderen Platz bekommen würden. »Komm, schauen wir uns mal an, was für Leckerbissen sie für uns haben«, sagte sie mit gezwungener Heiterkeit. »Ich komme fast um vor Hunger.« Mir war der Appetit vergangen. Zwölf Tage, dachte ich immer wieder. Zwölf Tage auf dem Schiff mit ihm. Und dies war nur der Anfang. Wir würden ihn in den Bars sehen, bei unseren Spaziergängen an Deck, beim Sonnenbad, beim Essen, beim Tanzen, bei sämtlichen Landausflügen. Die einzige Möglichkeit des Entkommens bot unsere winzige Kabine. Ich war froh, daß Kay früh zu Bett gehen wollte. Ich konnte ihr regelmäßiges Atmen im anderen Bett hören, während mir die wüstesten Gedanken durch den Kopf gingen. Ich bin überzeugt, wenn Wilson in diesen Momenten in die Kabine getreten wäre, hätte ich ihn mit bloßen Händen erwürgt.
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Wenn er uns ansprechen, auch nur »Guten Morgen« sagen sollte, würde ich mich mit Anstrengung zurückhalten müssen. Und vor mir lagen zwölf Tage unaufhörlicher Spannung. Allmählich glätteten sich die Wogen ohnmächtiger Wut, und ich beschloß, eiserne Selbstbeherrschung zu üben und den Burschen einfach zu ignorieren, wenn er uns ansprechen sollte. Wenn man sich dazu zwingt, eine unerfreuliche Tatsache des Lebens beharrlich zu ignorieren, geschieht es manchmal, daß man sie, es sei denn, man wird mit der Nase darauf gestoßen, tatsächlich nicht mehr wahrnimmt. Anfangs war es nicht ganz so schlimm, wie ich erwartet hatte. Wir schafften es, zu anderen Zeiten zu essen als er, und wenn wir ihn auch immer wieder irgendwo sahen, so machte er doch keinen Versuch, mit uns Kontakt aufzunehmen. »Warum, zum Teufel, sucht er sich nicht ein Mädchen«, sagte ich. »Es sind doch genug hübsche junge Dinger für eine Schiffsromanze hier.« »Er tut mir eigentlich leid«, meinte Kay. »Er sieht so einsam aus.« Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und legte sich im Liegestuhl zurück. »Ist das nicht herrlich?« meinte sie. »Ich werde bestimmt knackebraun.« In der Feme konnte ich Wilson sehen, der einsam an der Reling stand und in blaue Weiten starrte. In Lissabon nahmen wir nicht am organisierten Ausflug teil, sondern fuhren mit einem Taxi zum Parque Eduarde VII. hinauf und wanderten dann an dem kleinen Vogelschutzgebiet mit seinen prächtigen Pfauen vorbei zur Stadtmitte. Es war ein angenehm warmer Tag, und wir schlenderten über die schwarz-weiß gepflasterten Bürgersteige mitten hinein in das bunte Treiben der Stadt. Losverkäufer, Polizisten in Massen, Bauersfrauen mit ausladenden Körben auf den Köpfen, blinde Bettler, Schuhputzer bevölkerten die Straßen. Nachdem wir in einem kleinen Restaurant zu Mittag gegessen hatten, sahen wir uns die Viertel um das Schloß an, mit seinem Wirrwarr enger Straßen und seinen vielen alten Bauten. Es war ein herrlicher Tag, und ich verlor kaum einen Gedanken an Wilson, den wir am Morgen düsteren Gesichts in den Bus nach Estoril hatten einsteigen sehen.
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Kay und ich sind lange Wanderungen gewöhnt und werden nicht so leicht müde. Obwohl wir sicher fünfzehn Kilometer marschiert waren, gingen wir den ganzen Weg vom Schloßviertel zum Pier, wo unser Schiff lag, zu Fuß. »Und weit und breit keine Touristen«, sagte Kay vergnügt und drückte meinen Arm, während wir über den Fischmarkt spazierten. Das Schiff legte ab, während wir beim Abendessen saßen. Wir sahen die Salazar-Brücke und die angestrahlte Christusstatue vorübergleiten, während wir espalada probierten, einen Fisch, der vor der portugiesischen Küste gefangen wird. Wilson hatten wir noch nicht zu Gesicht bekommen. Vielleicht war er unterwegs nach Estoril verlorengegangen. Ich hoffte es von Herzen. »Heute abend ist Tanz«, sagte Kay. »Hast du Lust hinzugehen oder bist du zu müde?« Ein spanisches Sprichwort sagt, daß ein Gentleman niemals müde ist. Ich zitierte es ihr. »Gut«, meinte sie. »Ich ziehe mein langes rotes Kleid an.« Aber kaum betraten wir zwei Stunden später den Saal, da fiel mein Blick auf Wilson. Er stand allein an der Bar. Sein Gesicht war so rot wie Kays Kleid, und er trug zum smaragdgrünen Anzug ein gallegelbes Hemd mit einer orangefarbenen Schleife. »Schau mal, wer da ist«, bemerkte Kay, während wir einen Quickstep tanzten. »Den hat die Sonne ganz schön erwischt, nicht?« »Ich habe ihn schon gesehen. Der reinste Papagei.« Wir tanzten, machten eine Pause, tanzten wieder, drehten uns im Walzer unter dem Spiel der Lichtorgel. Wilson war verschwunden. Vielleicht war er zu Bett gegangen. »Gestatten Sie«, sagte jemand und tippte mir auf die Schulter. Es war ein Tanz zum Abklatschen. Ich drehte mich um, und ehe ich protestieren oder eine Szene machen konnte, wie Kay es formuliert hätte, tanzte Wilson mit Kay davon. Mein erster Impuls war, ihn wieder abzuklatschen, aber dann beschloß ich, seine Aufdringlichkeit einfach zu ignorieren. So hatte ich es mir vorgenommen, und daran würde ich mich halten.
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Der Tanz schien mir sehr lange zu dauern. Als Kay sich wieder zu mir setzte, sah sie angespannt aus, und ich fragte mich, was sie aus der Ruhe gebracht hatte. »Meine Füße sind nur noch Matsch«, sagte sie. »Ich glaube, er hat in seinem ganzen Leben noch nie einen Walzer getanzt.« Bald danach gingen wir in unsere Kabine, und während wir uns auskleideten, fragte ich, was Wilson mit ihr gesprochen hätte. »Ach, er hat sich dauernd entschuldigt, weil er mir auf die Füße getreten ist.« Sie lächelte flüchtig. »Er sagte: ›Alle nennen mich den Tausendfüßler aus der Einkaufsabteilung. Ich habe mindestens neunhundertachtundneunzig Füße zuviel.‹« Sie sah zu ihren eigenen hübschen kleinen Füßen hinunter. »Sie sehen doch nicht allzu mitgenommen aus, oder?« Ich wollte sie in den Arm nehmen, aber sie wich mir aus. »Ich bin todmüde, Darling. Und wir sind den ganzen Tag gelaufen.« Ich zuckte die Achseln. »Natürlich… Worüber habt ihr euch noch unterhalten?« Sie kroch in ihr Bett. »Ach, nichts eigentlich.« »Er sagte nur, daß er ein Tausendfüßler sei?« »Ich bin so müde. Ich kann mich jetzt nicht erinnern.« Sie knipste das Lämpchen über ihrem Bett aus. Ich nehme an, ein nach den Maßstäben der freizügigen Gesellschaft normaler Mann hätte daraufhin Ruhe gegeben oder vielleicht sogar gesagt: »Du warst langsam, mein Schatz. Warum bist du nicht mit ihm in seine Kabine gegangen?« Aber an den Maßstäben einer kranken Gesellschaft gemessen bin ich eben nicht normal. Ich kletterte in mein Bett und verhörte sie weiter. »Er kann sich doch nicht nur für sein schlechtes Tanzen entschuldigt haben. Ihr wart geschlagene drei Minuten zusammen.« »Drei Minuten!« »Was soll das heißen?« fragte ich. »Wenn du ›drei Minuten‹ in diesem Ton sagst.« Sie antwortete nicht. »Kay, was hat er zu dir gesagt?« »Bitte! Ich bin wirklich todmüde.« Ich knipste mein Licht aus. Es war dunkel in der Kabine.
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»Kay?« »Was?« »Antworte mir.« Sie seufzte laut. »Wie kannst du erwarten, daß ich mich an irgend etwas erinnere, wenn du uns die ganze Zeit mit Leichenbittermiene beobachtet hast.« »Das stimmt überhaupt nicht. Ich habe euch ignoriert.« Sie lachte. »Was ist daran so komisch?« fragte ich. Sie antwortete nicht. »Ich habe euch zugesehen«, sagte ich. »Aber nicht mit einer Leichenbittermiene. Und er hat eine Menge geredet. Was sagte er?« »Ist das denn so wichtig?« »Ja, mir ist es wichtig.« »Du möchtest nur einen Vorwand, um ihm eine Szene zu machen.« »Kay, ich schwöre dir, daß ich keine Szene mache. Ich werde die ganze Sache ignorieren, aber ich möchte wissen, was er gesagt hat.« Sie seufzte wieder. »Wir haben uns über Madeira unterhalten. Er fragte, welche Pläne wir für den Landausflug hätten.« »Und was hast du geantwortet?« »Ich sagte, die Planungen überließe ich dir.« »Was sagte er darauf?« »Bitte, können wir nicht endlich damit aufhören? Ich bin total erschossen.« »Was sagte er, Kay?« »Ich weiß nicht mehr.« »Natürlich weißt du es. Was sagte er?« »Er machte einen Scherz.« »Erzähl mir den Scherz, Kay.« »Es war nur ein Scherz. Er sagte, ich soll dich abhängen.« »Er sagte, du sollst mich abhängen?« »Kann ich jetzt bitte schlafen?« »Was hast du darauf gesagt? Hast du gesagt: ›Ach, wissen Sie, ich hasse Szenen, Sie können auch so mit mir ausgehen, wenn Sie Lust dazu haben?‹«
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Plötzlich war sie wütend. Wie ein Peitschenhieb zischte ihre Stimme durch die Kabine. »Ja, genau das habe ich gesagt. Und ich hab’ ihm außerdem gesagt, daß ich mir alle Mühe geben würde, dich abzuhängen. So, bist du jetzt zufrieden? Kann ich jetzt endlich schlafen?« Diesmal war ich es, der nicht antwortete. Sekunden später war sie eingeschlafen. Während ich hellwach und gequält in der dunklen Kabine lag, wurde mir klar, daß Kay so etwas niemals gesagt hätte; daß sie nur behauptet hatte, es gesagt zu haben, um dem hartnäckigen Verhör ein Ende zu machen. Ich trug ihr die ärgerliche Erwiderung nicht nach, aber ich trug es Wilson nach, daß er an einem Streit zwischen uns die Schuld hatte, und ich konnte ihm seinen Scherz nicht verzeihen. Kein Wunder, daß sie so angespannt ausgesehen hatte, als sie von dem Tanz mit ihm zurückgekommen war. Was würde in den kommenden Tagen noch alles geschehen? Es lag auf der Hand, daß Wilson sein besessenes Werben um Kay niemals aufgeben würde, und ich begann mich zu fragen, ob seine Besessenheit nicht am Ende siegen würde. Wie bekämpft man einen Mann, der absolut darauf fixiert ist, die Zuneigung der Frau zu gewinnen, mit der man selbst verheiratet ist? Wie begegnet man einem Mann, der in seiner Fixierung weder Vernunft, noch gutem Zureden, noch Drohungen zugänglich ist, gegen den selbst die Polizei nichts ausrichten kann, es sei denn, er ginge zu weit? Wilson würde sein Ziel skrupellos verfolgen, würde nichts tun, was ihn mit dem Gesetz in Konflikt brächte, würde jedoch langsam aber sicher mit Blumengeschenken, unerschütterlicher Ergebenheit und taktlosen Vorschlägen meine Ehe ruinieren. Kay würde sich ganz allmählich gegen ihren Willen zu ihm hingezogen fühlen und würde anfangen, mich, nicht ihn, als den Feind zu sehen. Kay ist sanftmütig; Kay ist herzensgut. Sie kann nicht einmal einen Hausierer weiterschicken. Sie hat ein behütetes Leben geführt und ist unfähig, sich mit den harten Realitäten auseinanderzusetzen. Wie lange würde sie Wilsons verderblichem Drängen standhalten? Eines Tages würde sich eine Situation ergeben, in der ihre Treue auf eine Probe gestellt würde und die sie nicht bestehen könnte. Es würde vielleicht in ih-
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rem Büro geschehen. Wenn Pat und Josie beim Mittagessen waren. Wilson würde hereinkommen. Er würde die Tür absperren. Nur eine Schreibmaschine auf dem Schreibtisch würde die beiden trennen. Schweigend würde er die Schreibmaschine auf die Seite schieben, über den Schreibtisch springen, und dann würde sie seinem überwältigenden Begehren erliegen. Es gibt Philosophen, die sagen, wenn man ein Problem verstanden hat, weiß man auch seine Lösung. Ich verstand das Problem, und die Lösung war sonnenklar. Am folgenden Tag wirkte Kay sehr gedämpft, und all meine Bemühungen, sie aufzuheitern, versagten. Es wäre sinnlos, die gewundenen Wege nachzuzeichnen, die meine Gedanken an jenem Unglückstag gingen; kurz und gut, ich mühte mich um eine Fälschung von Kays Handschrift, schrieb ihm ein kleines Briefchen und schob es unter Wilsons Kabinentür, nachdem ich mir vorher von der Telefonzentrale seine Kabinennummer besorgt hatte. In dem Briefchen stand: »Kommen Sie morgen früh um ein Uhr dreißig ans Bootsdeck bei Boot fünf. Dringend. Kay.« Sie schlief fest, als ich noch völlig angekleidet aus meinem Bett glitt und mich aus der Kabine schlich. Der lange, schmale Gang war leer. Ich eilte zum Aufzug und fuhr zum Bootsdeck hinauf. Oben sah ich mich aufmerksam um. Es war niemand zu sehen. Ich ging zu der Tür, die zum Deck hinausführte. Sie öffnete sich lautlos. Ein kalter, salziger Wind schlug mir ins Gesicht, und der Himmel wirkte milchig vom Glanz von Millionen Sternen. Ich ging zu Boot fünf. Ich konnte Wilson schattenhaft erkennen. Er lehnte an der Reling und sah auf das mondbeschienene Meer hinaus. Niemals würde sich mir eine bessere Gelegenheit bieten. Ich schlich mich von hinten an ihn heran. Er rührte sich nicht. Ich bückte mich, stieß beide Arme zwischen seine Oberschenkel und hievte ihn über die Reling. Im Sturz stieß er einen markerschütternden Schrei aus. Ich hörte, wie er im Wasser aufschlug, und wollte gerade weglaufen, als ich auf Deck eine Sandale liegen sah. Irgendwie mußte sie ihm vom Fuß gefallen sein. Es ist seltsam, aber diese einsame Sanda-
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le wirkte menschlicher auf mich als Wilson selbst. Ich hob sie auf und schleuderte sie weit hinaus, aber ich wußte, daß ich ihre Form und ihre Beschaffenheit niemals vergessen würde. Dann jagte ich zum Aufzug zurück, fuhr zu unserem Deck hinunter, rannte den leeren Korridor entlang, schlich mich auf Zehenspitzen in unsere Kabine, zog mich aus und kroch in mein Bett. Die Laken waren noch warm. Einen Augenblick später begann die Schiffssirene zu heulen. Kay erwachte und rief meinen Namen. Ich brummte verschlafen. »Die Sirene«, sagte sie. »Sie hat mich geweckt. Was kann da los sein?« »Ich hab’ nichts gehört«, brummte ich. Ein paar Minuten später kniete sie sich in ihrem Bett vor das Bullauge, zog den Vorhang zur Seite und spähte hinaus. »Wir haben angehalten«, sagte sie. »Angehalten?« »Komm, schau.« Sie hatte recht. Das Wasser unter uns war still. Eine halbe Stunde lang stellten wir die verschiedensten Mutmaßungen darüber an, warum das Schiff mitten auf dem Meer angehalten hatte; dann setzten die Maschinen ein, und wir fuhren weiter. Als der Steward uns am nächsten Morgen mit dem Tee weckte, fragte ich: »Warum haben wir in der Nacht angehalten?« Er machte ein ernstes Gesicht. »Mann über Bord, Sir.« »Um Gottes willen. Konnte er gerettet werden?« »Sie haben ein Boot zu ihm hinuntergelassen mit dem Schiffsarzt drin, aber er hat auf künstliche Atmung nicht angesprochen.« »Wie ist er denn über Bord gestürzt?« fragte ich. »Keine Ahnung, Sir.« »Wer hat ihn gesehen?« »Einer von der Nachtwache hörte, glaube ich, einen Schrei, Sir. Er schaute runter und sah etwas schwimmen, das wie ein Mensch aussah.« Der Steward schob sich zur Tür. »Sehr interessantes Manöver hat der Erste Offizier da gemacht. Er drosselte die Maschinen und machte eine sogenannte Williamson-Wende. Das bringt das Schiff auf Gegenkurs.« Er ging, ehe ich weitere Fragen stellten konnte.
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Der Tag in Madeira stand in traurigem Kontrast zu unserem unbeschwerten Aufenthalt in Lissabon. Kay war bedrückt, und Funchal gefiel ihr nicht. Sie bat mich, die Stadtrundfahrt ohne sie zu machen; aber ich mußte so tun, als glaubte ich Wilson noch am Leben, und sagte scherzend: »Ich kann dich doch nicht allein lassen, wenn dieser junge Narr in der Nähe ist.« Sie nahm zwei Aspirin und legte sich auf ihr Bett. Nach einer Weile schlief sie ein, und ich ging einen Kaffee trinken. Ich wollte allein sein. Niemand konnte gesehen haben, wie ich Wilson über Bord gestoßen hatte, aber es war möglich, daß man das Briefchen mit der Unterschrift »Kay« fand. Doch selbst wenn diese Spur zu uns führen sollte, würde ein Graphologe nachweisen, daß nicht Kay den Brief geschrieben hatte. Es gab nichts zu befürchten. Ich verspürte keine Reue, hatte keine Schuldgefühle. Ich war von einem jungen Mann, der hartnäckig versucht hatte, mir meine Frau abspenstig zu machen, über das Maß des Erträglichen hinaus provoziert worden. Ich hatte mich so verhalten, wie jeder normale Mann sich verhalten hätte. Nur eine völlig freizügige Gesellschaft konnte unterstellen, daß meine Handlung anormal gewesen sei. Sonderbarerweise beunruhigte mich die einzelne Sandale eine Zeitlang. Ich wußte, daß der Name Ödipus »Schwellfuß« bedeutete, und ich hatte das düstere Gefühl, daß dieser verdammte Mythos mich nicht loslassen wollte. Hatte das Orakel gesagt, daß Ödipus Theben mit nur einer Sandale am Fuß betreten würde? Zum Glück gab es in der Schiffsbibliothek ein Buch mit griechischen Sagen, und ich entdeckte bald, daß ich Ödipus mit Jason verwechselt hatte. Jason war der gewesen, der in einem schlammigen Fluß eine Sandale verloren hatte, was dazu führte, daß der Spruch des Orakels Erfüllung fand. Zum Teufel mit Wilson. Ich hatte meinen Seelenfrieden wieder. Hätte Kay sich nicht so elend gefühlt, hätte ich an Deck Räder geschlagen vor Freude. Als sie hörte, daß Wilson der Mann war, der über Bord gegangen war, weinte sie. Ich konnte ihre Reaktion verstehen. Sie ist schließlich eine sehr sensible Frau, und er war immerhin ein Arbeitskollege. Auch als wir nach England zurückkamen, verbesserte sich ihr Gesundheitszustand nicht. Sie suchte einen Arzt auf, der ihr erklärte, sie
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litte an einer depressiven Verstimmung, und ihr irgendwelche Mittel gab. Aber die Depression blieb. Sie wurde immer schmäler und wurde wieder zum »schmalen kleinen Ding«. Ich war am Ende meiner Weisheit und machte mir große Sorgen um sie, als sie eines Abends, nachdem sie lange geweint hatte, den Grund ihrer Depression gestand. Sie war überzeugt, daß Wilson Selbstmord begangen hatte. »Ja, aber selbst wenn er das getan hat«, sagte ich, »so ist das doch nicht deine Schuld.« »Doch! Doch!« rief sie und fing wieder zu weinen an. »An dem Abend beim Tanzen, als er sagte, ich solle dich abhängen, da machte ich mich hart und erklärte ihm, ich würde ihn nicht einmal ansehen, und wenn er der letzte Mann auf der ganzen Welt wäre.« Ich war perplex. »Mir hast du es aber anders erzählt.« »Ja, weil ich deine Fragen einfach satt hatte. Ich wollte meine Ruhe haben. Ich wußte, wenn ich dir die Wahrheit sagte, würdest du mit mir schlafen wollen, und ich konnte die Vorstellung, angefaßt zu werden, nicht ertragen. Kannst du das nicht verstehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht. Und du bist nicht schuld an seinem Selbstmord.« Sie starrte mich mit tränenfeuchten Augen an. »Doch. Am Ende habe ich zu ihm gesagt, meinetwegen könne er über Bord springen. Er wäre mir völlig gleichgültig.« Kay geht es langsam wieder besser. Ich konnte sie nicht für meine Handlungen leiden lassen, deshalb sagte ich ihr die Wahrheit. Als sie den ersten Schock verwunden hatte, meinte sie, wir könnten nicht den Rest unseres Lebens mit diesem Geheimnis leben. Aber wenn ich mich stellte und meine Strafe auf mich nähme, würde sie auf mich warten, und wir würden eines Tages einen neuen Anfang machen. Freddie hat meine Verteidigung übernommen. Er meint, wenn wir überzeugend darlegen könnten, daß ich unter vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit litt, also im Moment der Tat nicht normal war, würde die Strafe milder ausfallen und die Wiedervereinigung mit Kay früher stattfinden.
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Mir ist klar, daß seine Argumentation Vorteile hat, aber es geht mir gegen den Strich, daß ich, ein Mann, der den äußersten Beweis seiner Normalität erbracht hat, mich vor der Welt als Muster anormalen Verhaltens hinstellen soll. Wilson hatte doch die anormale Fixierung, nicht ich. Aus dem Englischen übertragen von Mechthild Sandberg-Ciletti
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Julian Symons Der Fehler »Trink deinen Kaffee.« Celia saß auf dem Sofa, hatte die Beine hochgelegt und las in einem Modejournal. Die Kaffeetasse stand neben ihr auf dem Couchtisch. »Was?« »Ich sagte, trink deinen Kaffee. Du magst ihn doch nur kochend heiß.« Sie warf einen Blick auf die Tasse, rührte den Kaffee um, legte den Löffel dann wieder auf die Untertasse. »Er ist bestimmt nicht heiß genug.« »Ich habe ihn erst vor ein paar Minuten eingegossen.« »Trotzdem. Außerdem ist mir heute nicht nach Kaffee. Aber ich möchte einen Kognak.« Sie schwang die Beine vom Sofa und ging zum Servierwagen, auf dem die Flaschen standen. »Einen Kognak zur Feier. Soll ich dir auch einen einschenken?« »Was feiern wir denn?« »Ich, Giles, nicht du. Ich feiere. Aber du willst, daß ich meinen Kaffee trinke, wie? Na schön.« Sie ging rasch zurück, hob die Tasse, trank den Kaffee in zwei großen Schlucken und schnitt eine Grimasse. »Nicht sehr heiß. Kann ich jetzt meinen Kognak haben?« »Natürlich. Darf ich dir einschenken?« »O nein, das mache ich schon selbst. Schließlich hast du mir den Kaffee eingeschenkt.« Sie lächelte süß. »Was meinst du damit?« »Nur, daß wir Kaffee getrunken haben, und du hast ihn eingeschenkt. Aber ich habe ihn dir auf dem Tablett gereicht, erinnerst du dich?« Sir Giles stand auf und legte eine Hand an seine Kehle. »Was willst du damit sagen?« »Nur soviel: Wenn ich das Tablett herumgedreht hätte, dann hättest du meine Tasse bekommen und ich die deine. Aber das hätte nichts ausgemacht. Oder doch?« Er ging zur Tür, drückte auf die Klinke, aber die Tür ging nicht auf. »Es ist abgesperrt. Was hast du mit dem Schlüssel gemacht?«
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»Ich kann es mir nicht denken.« Als er ein wenig schwankend auf sie zukam, wich sie ihm mühelos aus. »Du glaubst, ich bin dumm, Giles, nicht wahr? Aber ich bin nicht dumm, und das ist dein Fehler. Also habe ich Grund zum Feiern.« »Celia.« Seine Hand war wieder an der Kehle. Er hustete erstickt, brach auf dem Teppich zusammen und lag dann still da. Celia betrachtete ihn nachdenklich, trank ihren Kognak aus, stieß mit ihrer Schuhspitze nach dem Mann auf dem Boden und sagte: »Was tun wir jetzt mit der Leiche?« Der Vorhang fiel. Der erste Akt des Kriminalstücks »Verbrecher« war zu Ende. »Mir hat es großen Spaß gemacht«, sagte Duncan George. »Darf ich rauchen?« »Natürlich.« Oliver Glass saß am Garderobentisch und wischte sich die Schminke ab, die ihn in Sir Giles verwandelt hatte. Im Spiegel sah er Dune, der seine Pfeife hervorholte und anzündete. Guter alter Dune, dachte er, zuverlässiger alter Dune – seine Reaktionen waren stets vorhersehbar. »Schenk dir was zu trinken ein.« »Aber keinen Kaffee, wenn ich bitten darf.« Olivers Lachen war oberflächlich mechanisch. »Ich fand das Stück wirklich raffiniert. All die Wendungen und Überraschungen im Handlungsverlauf. Und dir macht es Spaß, nicht nur der Autor zu sein, sondern auch der Hauptdarsteller, nicht wahr? Es gibt dir besonderen Schwung?« »Mein lieber Freund, du bist Psychologe und Kriminalautor zugleich – du solltest es eigentlich besser wissen. Aber wer könnte sein eigenes Werk besser interpretieren als der Autor? Das Stück – nun ja, unter uns gesagt, ist es eine Sammlung von Tricks. Der größte Trick dabei ist es, das Publikum dazu zu bringen, daß es die Tricks akzeptiert. In meinem Stück werden sie nicht nur ein- oder zweimal getäuscht, sondern gleich ein halbes dutzendmal, so daß sie, wenn sie das Theater verlassen, den Eindruck haben, etwas besonders Raffiniertes gesehen zu haben. Und um das zu erreichen, muß die Rolle des Sir Giles genau im richtigen Ton gespielt werden. Man darf nie wissen, ob er die anderen zum Narren hält oder selbst zum Narren gehalten wird, nie wissen, ob er der Schurke oder der Held ist. Und
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wer könnte das besser als der Autor? Wenn er also zufällig selbst Schauspieler ist, dann ist er für die Rolle perfekt geeignet.« »Ein hervorragendes Plädoyer. Eines muß ich dir trotzdem gestehen: Wenn der Vorhang fällt, am Ende des ersten Akts, glaubt niemand, daß du wirklich tot bist. Oliver Glass ist der Star, und wenn er tot wäre, würden sich die Zuschauer betrogen fühlen. Also warten sie darauf, daß du wieder auferstehst.« »Aber denk an die Spannung, mit der sie darauf warten! Wirklich, Dune.« Er schlug dem anderen auf die Schulter, und sie gingen hinaus in die Nacht von London. Oliver Glass war ein schlanker, eleganter Mann Mitte Fünfzig, erfolgreich sowohl als Schauspieler wie als Bühnenautor – so erfolgreich, daß er es sich leisten konnte, über den Kritiker zu lachen, der erklärte, er habe die Kunst des Übertreibens zur Perfektion gebracht, und über jenen anderen Kritiker, der sagte, nach einem Stück von Oliver Glass falle ihm immer der Satz ein, daß das Leben nichts als Schall und Rauch sei. Ob Oliver tatsächlich darüber lachte, war eine andere Sache, denn er mißbilligte es, wenn man sein Können nicht genügend würdigte. Er hatte eine Wohnung im West End, ein kleines Haus in Sussex und eine wunderschöne Frau namens Elizabeth, die fünfzehn Jahre jünger war als er. Duncan George an seiner Seite sah eher unbedeutend aus. Er war klein und gedrungen, ein Psychiater mit einer Privatpraxis, der nebenbei Kriminalromane schrieb, und er kannte Oliver schon einige Jahre. Oliver kennzeichnete ihn dadurch, daß er seinen Vornamen abkürzte in Dune. Dune war genau der Mensch, von dem sich Oliver vorstellen konnte, daß er den Kuchen in den Kaffee eintunkte oder etwas ähnlich Vulgäres tat. Bei alledem war Dune ein netter Kerl, und Oliver tolerierte ihn als Freund und Begleiter. Sie gingen durch das West End zu einer Seitenstraße des Leicester Square, wo sich der Klub der Kriminologen einmal vierteljährlich traf, zu einem späten Abendessen, dem eine Diskussion über Themen kriminalistischen Inhalts folgen sollte. Die Mitglieder des Klubs waren Schriftsteller, die sich mit Kriminalgeschichten oder Kriminalberichten befaßten, und an diesem Abend sollte Oliver Glass zu ihnen über das Thema »Die Romantik des Verbrechens« sprechen,
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wobei Duncan George den Vorsitz und die Diskussionsleitung übernehmen würde. Als sich Oliver erhob und in der Runde umschaute, mit jenem würdevollen Blick, der nur einen Hauch von Herablassung zeigte, verstummten die Anwesenden. »Meine Herren«, begann er, »Kriminologen, Autorenkollegen, vielleicht auch Verbrecherkollegen, ich bin heute abend hier, um über die Romantik in der Welt des Verbrechens zu sprechen, ein Plädoyer zu halten für den Mord, der in einem geschlossenen Raum mit feststehenden Personen geschieht, für den unvorstellbaren Diebstahl, für das Verbrechen, das von einem scheinbar unsichtbaren Täter begangen wurde. Ich bin hier, um dafür zu plädieren, daß Sie Witz, Stil und Raffinesse in Ihre schriftstellerischen Arbeiten über das Verbrechen bringen, daß Sie sich an Stevenson erinnern, der behauptete, das Leben sei ein Bazar mit gefährlichen und vielversprechenden Chancen, und an Thomas Griffith Wainewright, der anläßlich seines Geständnisses, seine hübsche Schwägerin vergiftet zu haben, erklärte: ›Es war eine schreckliche Tat, aber sie hatte nun mal dicke Knöchel.‹ Ich beschwöre Sie, nicht die dicken Knöchel als Motiv zu vergessen und statt dessen die langweiligen Bücher, welche manche von Ihnen geschrieben haben, Bücher, in denen es um die Psychologie zweier langweiliger Leute geht, mit Hilfe derer herausgefunden werden soll, wer wen umgebracht hat – zu vergessen auch jene Bücher, in denen Innereien unter einem Mikroskop betrachtet werden, damit man weiß, ob irgendein langweiliger Gatte seine langweilige Gattin umgebracht hat. Ihr Blick sollte auf das perfekte Verbrechen gerichtet sein…« Oliver Glass sprach wie immer ohne Text, flüssig und stilvoll, und es schien, als bewundere er selbst die Flüssigkeit und den Stil, mit denen diese Worte aus seinem Munde kamen. Danach wurden von einigen Mitgliedern, darunter Duncan George, Einwände gegen das angeblich perfekte Verbrechen vorgebracht. Ob es nicht völlig aus der Mode gekommen sei? Ganz und gar nicht, meinte Oliver; schließlich habe es eben erst Sir Giles in seinem Stück »Verbrecher« wieder einmal auszuführen versucht. »Sicher, aber wie du selbst bemerkt hast, ist ›Verbrecher‹ eine Sammlung von raffinierten Tricks«, begann Dune. »Sir Giles will
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Celia töten, um zu beweisen, daß es ihm gelingt, heil davonzukommen. Das heißt, wir glauben, daß er das will. Dann bringst du eine Menge Variationen ins Spiel: ob das Gift wirklich nur ein Schlafmittel war, ob sie es wußte – Themen dieser Art. Glänzend zu beobachten, aber kein Mensch käme auf den Gedanken, so etwas in Wirklichkeit auszuprobieren. In jedem perfekten Mord, wenn man ihn so bezeichnen darf, steckt in Wirklichkeit ein Fehler.« Die anderen stimmten Dune zu, was Oliver ein wenig verstimmte. »Woher willst du das wissen? Das perfekte Verbrechen ist eines, bei dem sich der Täter niemals auch nur in Reichweite der Gefahr begibt. Vielleicht sieht es sogar so aus, als sei überhaupt kein Verbrechen geschehen, obwohl die Perfektion dabei dann auch ein wenig zu kurz kommt. Aber woher wollen wir eigentlich wissen, meine Herren, welche Variationen des perfekten Verbrechens jeder von uns plant, vielleicht sogar bereits ausgeführt hat? ›Die Wünsche des Herzens sind gewunden wie Korkenzieher‹, sagt der Dichter, und ich bin sicher, Dune kann das nach seinen Erfahrungen als Psychiater nur bestätigen.« »Jeder von uns ist unter bestimmten Voraussetzungen einer Gewalttat fähig, wenn es das ist, was du sagen wolltest. Aber wenn man ein Verbrechen ohne Motiv begeht, ist das für mich das Zeichen eines schweren psychischen Schadens.« »Ich habe nicht behauptet, daß es kein Motiv geben müsse. Ein Motiv, das für den einen stark ist, kann dem anderen trivial erscheinen.« »Dann sagen Sie uns, wann Sie Ihr perfektes Verbrechen begehen werden, und wir sehen zu, ob es uns gelingt, es aufzuklären«, sagte jemand. Daraufhin vernahm man gedämpftes Lachen. Kurz danach verließ Oliver Glass die Versammlung Gleichgesinnter und schlenderte nach Hause zum Everly Court, kam dabei an Betrunkenen vorüber, die auf dem Gehsteig schliefen, an Schwarzen, Chinesen und Fremden aller Gattungen, die sich gegenseitig anrempelten oder mit weit aufgerissenen Augen und Mündern vor den Sexkinos standen. Er machte einen kleinen Umweg, um noch einmal am Theater vorbeizukommen, und betrachtete mit dem üblichen Vergnügen das Plakat im Schaukasten: »Oliver Glass in ›Verbrecher‹
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– ein Kriminalstück von Oliver Glass.« Plante er wirklich das perfekte Verbrechen? Es besteht kein Zweifel, sagte er sich, daß du zumindest mit dem Gedanken spielst. Und die Elemente dazu sind ebenfalls vorhanden: Elizabeth und die köstlich unberechenbare Evelyn, dazu noch der unentbehrliche Eustace. Aber ist es mehr als nur Gedankenspiel? Verabscheue ich Elizabeth wirklich so sehr? Die Antwort lautete natürlich, daß es gar nicht um seine Haßgefühle ging, sondern um die Lust des Spielens an sich, um das Spiel Oliver Glass gegen die Gesellschaft, ja sogar Oliver Glass gegen den Rest der Welt. Also nach Hause. Zu Elizabeth. Ein Kopfnicken zu Tyler, dem Nachtportier im Apartmenthaus. Mit dem Lift nach oben in den dritten Stock. Schlüssel ins Türschloß. Von der Diele aus ging es nach links und nach rechts. Links war Elizabeths Schlafzimmer und ihr Bad. Fast direkt vor ihm das Wohnzimmer, weiter rechts das Speisezimmer und die Küche, ganz rechts Olivers Schlafzimmer und Bad. Er ging ins Wohnzimmer, schaltete das Licht an. Auf dem Kaminsims lag ein Zettel mit Elizabeths Handschrift. »O. Bitte schau noch rein, wenn du vor 2 Uhr heimkommst. E.« Seit zwei Jahren bestanden ihre Kontakte überwiegend aus solchen Notizen. Es hatte damit begonnen – wie hatte es wirklich begonnen? –, daß Elizabeth unerträglich mitteilsam war, gerade wenn er sich einmal konzentrieren wollte, was ihn in beträchtliche Wut versetzte. »Ich bin ein Künstler«, hatte er gesagt. »Der Künstler braucht die Isolation, wenn die Früchte seines Genies am Ast der Inspiration reifen sollen.« Es gab Zeiten, in denen Elizabeth mit großen Augen solchen Worten gelauscht hatte, aber diese Tage lagen lang zurück. Inzwischen war sie längst sarkastisch genug, um zu bemerken, daß seine Fähigkeiten als Schauspieler und Autor weit von denen des Genies entfernt seien, oder sie entgegnete ihm, daß er immerhin am vergangenen Abend mit offensichtlichem Vergnügen bis in die Puppen auf einer Party geblieben sei. Elizabeth hatte eben keine Ahnung vom Temperament eines Künstlers. Er war ihrer bohrenden Kritik ganz einfach überdrüssig geworden.
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Es gab da allerdings noch etwas anderes, wie er zugeben mußte, während er den Zettel in den Händen hielt und betrachtete. Da waren die Mädchen, die ein Künstler als Teil seiner Inspiration brauchte, jenes menschliche Töpfermaterial, das von ihm zu Kunstwerken gestaltet wurde. Elizabeth hatte das nie so recht verstehen können, und ihr mangelte jegliches Verständnis, als sie ihn mit einem dieser Mädchen auf dem Teppich im Wohnzimmer überraschte. Damals sprach sie von Scheidung, aber er wußte genau, daß das nur leere Worte waren. Elizabeth hatte ziemlich extravagante Vorlieben, und eine Scheidung hätte ihr kaum die Möglichkeit geboten, ihnen weiter nachzugehen. So kam es zu den Notizzetteln. Jeder lebte sein eigenes Leben, mit gelegentlichen Gesellschaften, bei denen Elizabeth als Gastgeberin fungierte und in freundschaftlicher Weise mit den Freunden des Hauses plauderte. Dieses Arrangement war Oliver durchaus willkommen; allerdings wurde seine Zeit sehr von Evelyn in Anspruch genommen… Er ging hinein, um noch nach Elizabeth zu sehen. Sie saß auf einem kleinen Sofa und las. Obwohl er den Zauber der Jugend vor allem anderen schätzte, mußte er zugeben, als er Elizabeth betrachtete, daß sie noch immer sehr attraktiv war. Ihre Figur war schlank – keine Kinder, er hätte diese lärmenden Ungeheuer nicht ertragen können! –, ihre Beine waren elegant, die Füße zierlich und klein. Sie hatte ihre Figur bewahrt, genau wie er – ein prüfender Blick in den Spiegel – die seine. Wie merkwürdig, daß er sie nicht mehr begehrenswert fand. »Oliver.« Er drehte sich herum. »Du sollst dich doch nicht immer selbst bestaunen.« »Habe ich das getan?« »Das weißt du ganz genau. Hör auf, ständig Rollen zu spielen.« »Aber ich bin nun einmal Schauspieler.« »Ich meine, wenn du nicht auf der Bühne stehst. Du merkst kaum, daß es außer dir noch andere Menschen gibt.« »Es gibt eine anerkannte philosophische Theorie, die von dieser Behauptung ausgeht. Ich habe dich erfunden, du hast mich erfunden. Ein reizender Gedanke.«
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»Ein sehr alberner Gedanke, finde ich. Oliver, warum läßt du dich nicht von mir scheiden?« »Hast du mir einen Grund dafür gegeben?« »Du weißt genau, wie leicht das arrangiert werden kann.« Er antwortete mit einem müden Seufzer, einem Seufzer der Weltüberdrüssigkeit. Sie stieß einen wütenden Laut aus, und er sah sie so angewidert an, daß sie den Laut wiederholte. »Du haßt mich doch, oder? Das ist immerhin ein echtes Gefühl. Warum lassen wir uns nicht scheiden?« Sie ging zu ihrer Frisierkommode, setzte sich und nahm einen Cremetiegel. Er legte eine Hand aufs Herz. »Ich bin…« »Ich weiß. Du bist als Katholik geboren. Aber wann bist du zuletzt in der Kirche gewesen?« »Also schön. Sag doch einfach, daß es mir egal sein könnte, ob wir uns scheiden lassen oder nicht – es wäre wirklich herrlich vulgär.« »Du hast ein neues Mädchen. So etwas merke ich immer.« »Gibt es etwas Langweiligeres als die weibliche Intuition?« »Ich werde dir etwas sagen: Diesmal lasse ich dich beobachten. Und dann lasse ich mich von dir scheiden. Was hältst du davon?« »Sehr wenig.« Und in der Tat, wer würde ihre Rechnungen bei Harrods bezahlen, wer würde ihr den Schmuck kaufen, den sie liebte – und vor allem, woher bekam sie das Geld, das sie in den Casinos und bei Pferderennen verspielte? Sie hatte schon öfters ähnliche Drohungen ausgestoßen, aber er wußte, daß es leere Drohungen waren. »Du willst mich als Schmetterling haben, der an einer Stecknadel aufgespießt ist, das ist alles.« Sie beschäftigte sich damit, die Creme aufzutragen. Elizabeth benützte eine Creme für ihr Gesicht, eine andere für den Hals und eine dritte für die Beine. Danach bedeckte sie ihr Gesicht mit einer schwarzen Maske, die die Wirkung der Creme verstärken sollte. Nicht selten ließ sie die Creme die ganze Nacht auf dem Gesicht. Es hatte ihn auf einmal sehr erregt, eine Frau zu lieben, deren Gesicht unter einer schwarzen Maske verborgen war, aber zumindest in ihrem Fall lag diese Zeit lang zurück. Was sagte sie jetzt?
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»Nichts, was ich sage, dringt zu dir durch. Du hast dir eine Rüstung angelegt, eine Rüstung aus Eitelkeit und Einbildung. Aber du trägst dennoch den richtigen Namen, weißt du das? Glass – wenn man durch dich sehen könnte, würde man nichts finden, überhaupt gar nichts. Oliver Glass, in Wirklichkeit gibt es dich gar nicht.« Sehr schön, dachte er, sehr schön. Ich bin der Unsichtbare. Diese Herausforderung nehme ich an. Elizabeth, du hast dein Todesurteil unterzeichnet. Von da an stand der Entschluß fest: Pläne mußten geschmiedet werden. Doch sie waren noch gestaltlos, bewegten sich in seinem, wie er wußte, raffinierten Geist, als er tags darauf Evelyn nach dem Lunch besuchte. Evelyn war Anfang Zwanzig, jung genug – o ja, er war sich dessen bewußt –, um seine Tochter sein zu können, jung genug auch, um über die Zuneigung eines berühmten Schauspielers höchst erfreut zu sein. Aber darüber hinaus faszinierte ihn Evelyn mit ihrer Unberechenbarkeit. Sie war ein vielgefragtes Fotomodell, und er zweifelte nicht daran, daß sie noch mehr Liebhaber hatte. Es gab Zeiten, wo sie behauptete, zuviel zu tun zu haben, als daß sie sich mit ihm treffen könne, und mitunter erklärte sie auch, einfach einmal allein sein zu wollen. Er nahm diese Zurückweisung hin, ja für ihn gehörte sie zum Aufregendsten bei der Jagd nach dieser Schönheit. Es lag etwas Perverses in Evelyns Wesen, eine Neigung, den Launen des Augenblicks nachzugeben, die etwas in seinem eigenen Charakter anklingen ließ. Manchmal hatte er das Gefühl, kein Vorschlag sei so ungeheuerlich, daß sie ihn nicht wenigstens in Betracht zog. Einmal hatte sie ihm nackt die Tür ihres Apartments geöffnet und ihn gebeten, sich ebenfalls auszuziehen, damit sie nackt hinuntergehen konnten auf die Straße… Ihr Apartment war in einer Seitenstraße der Baker Street, und als er klingelte, rührte sich nichts. Beim dritten Klingeln wurde er ärgerlich. Er hatte zuvor angerufen wie immer, und sie hatte versprochen, zu Hause zu sein. Jetzt stieß er gegen die Tür – und sie ging auf. In der Diele rief er Evelyns Namen. Keine Antwort. Das Apartment war nicht sehr groß. Er betrat das Wohnzimmer, das so unaufgeräumt war wie immer, warf einen Blick in die kleine Küche, ging dann ins Schlafzimmer mit dem ungemachten Bett. Was
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war mit ihr geschehen, wo war sie? Er betrat das Bad – und fuhr zurück. Evelyn lag mit dem Gesicht nach unten in der Wanne. Ein Arm hing nach draußen, der andere trieb im Wasser. Ihr Kopf lag auf dem Badewannenrand, als ob sie sich das Genick gebrochen hätte. Er ging zu ihr hin, berührte den Arm, der aus dem Wasser hing. Er war warm. Jetzt bückte er sich, um den Puls zu fühlen. Dabei bewegte sich der Arm, der Körper drehte sich herum – und Evelyn lachte ihn aus. »Du hast mir einen schönen Schreck eingejagt – du Luder!« Aber er war erregt, nicht wütend. »Der Autor von ›Verbrecher‹ sollte an solche Tricks gewöhnt sein.« Sie stieg aus der Wanne und reichte ihm ein Badetuch. »Trockne mich ab.« Als sie sich danach liebten, geschah das mit einer Heftigkeit und Wildheit, wie er es nur bei sehr wenigen Frauen erlebt hatte. Es war, als ob er sie damit von den Toten zurückholte. Dabei kam ihm ein Gedanke. »Hast du das schon mal mit jemand anderem gemacht?« »Warum? Ist das wichtig?« »Vielleicht nicht. Ich möchte es trotzdem wissen.« »Mit niemandem.« »Es war; als ob du jemand anderer wärst.« »Gut. Es macht mir Spaß, jedesmal jemand anderer zu sein.« Er folgte ihren Gedanken. »Meine Frau zieht sich eine schwarze Maske über, nachdem sie sich abends das Gesicht eingecremt hat. Das müßte eigentlich aufregend sein – ist es aber nicht.« Evelyn war von unersättlicher Neugier, was die Details in Sachen Sex betraf, und er hatte ihr viel über Elizabeth erzählt. »Ich bin anscheinend genau richtig für dich«, sagte sie. »Jedesmal eine neue Überraschung, nicht wahr?« »Ja. Und wie steht’s bei dir?« Sie überlegte. Evelyn hatte eine ähnliche Figur wie Elizabeth, aber ihre Züge waren völlig anders, die Nase kurz statt adlerartig, die Augen blau und weit auseinander liegend. »Irgendwie finde ich dich ganz gut«, sagte sie. »Vielleicht kommt es daher, weil du so bekannt bist.«
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»Ist das alles?« »Was meinst du?« »Magst du mich nicht?« »Ich finde es schrill, so etwas zu fragen. Ich hätte nie gedacht, daß du schrill bist.« Sie schaute ihn direkt an mit ihren großen, etwas leeren blauen Augen. »Wenn du es genau wissen willst: Ich bin scharf auf dich, weil du immer eine Rolle spielst. Dir macht die Rolle Spaß, nicht der Akt. Und außerdem finde ich es geil, weil du ein alter Mann bist.« Er war so wütend, daß er ihr eine Ohrfeige gab. Sie sagte ganz ruhig: »Ja, das mag ich auch.« Als die Abendvorstellung vorüber war, stand sein Plan fest. In den folgenden zwei Wochen trat dreimal ein großer, untersetzter Mann mit Hornbrille an Tyler, den Nachtportier des Apartmenthauses am Everly Court, heran, fragte nach Mrs. Glass und war sichtlich verärgert, als er jedesmal die Auskunft erhielt, daß sie ausgegangen sei. Einmal gab er Tyler einen Zettel, nahm ihn dann aber sofort wieder zurück, weil er meinte, es sei nicht gut, wenn irgend etwas Schriftliches herumliege. Zweimal jedoch hinterließ er die Nachricht, daß Charles dagewesen sei und mit Mrs. Glass habe sprechen wollen. Bei seinem dritten Besuch roch der Mann nach Alkohol, und sein Verhalten war streitsüchtig. »Sagen Sie ihr, ich muß sie sprechen«, erklärte er Tyler in einem Akzent, den dieser nicht genau erkannte, außer daß der Mann von irgendwo aus dem Norden kommen mußte. »Jawohl, Sir. Und der Name ist…« »Charles. Sie weiß schon, wer ich bin.« Tyler hüstelte. »Entschuldigen Sie, Sir, aber wäre es nicht vielleicht besser, Mrs. Glass anzurufen?« Der Mann funkelte ihn böse an. »Glauben Sie, ich hätte es nicht versucht? Sagen Sie ihr, ich muß mit ihr Kontakt aufnehmen. Wenn nicht, kann ich keine Verantwortung für die Folgen übernehmen.« »Charles?« fragte Elizabeth, als Tyler ihr sehr zögernd von dem Besucher berichtete. »Ich kenne zwei oder drei Leute, die Charles heißen, aber Ihre Beschreibung scheint auf keinen von ihnen zuzutreffen. Wie alt ist er denn?«
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»Sagen wir, um die Vierzig, Mrs. Glass. Gut angezogen. Ein Gentleman. Kommt aus dem Norden, vielleicht aus Schottland, wenn Ihnen das hilft.« »Eigentlich müßte ich es jetzt wissen, aber leider…« »Er schien…« Tyler zögerte wieder. »Er war sehr besorgt.« Am nächsten Tag hinterließ ihr Oliver eine Notiz. »E. Mann rief an, als du weg warst. Wollte keine Nachricht hinterlassen. O.« Sie fragte ihn nach dem Anruf. »Er sagte mir nicht, was er wollte. Hängte einfach ein, als ich ihm versicherte, du seist nicht hier.« »Das muß derselbe Mann sein.« Sie erklärte es ihm. »Tyler meint, er spricht mit einem nördlichen Akzent und kommt vielleicht aus Schottland.« »Welche Schotten kennst du, die Charles heißen?« »Charlie Rothsey, aber den habe ich seit Jahren nicht gesehen. Ich wollte, er würde einmal anrufen, wenn ich hier bin.« Ein paar Abende danach ging dieser Wunsch in Erfüllung, obwohl sie wieder nicht dazu kam, mit dem Mann zu sprechen. Oliver hatte Elizabeth gebeten, nach der Vorstellung für drei Schauspielerkollegen eine, kleine Party zu geben, und weil zwei von ihnen Frauen waren, wurde auch Duncan eingeladen, damit sich die Paare ausglichen. Elizabeth servierte gerade geräucherten Lachs, als das Telefon im Wohnzimmer klingelte. Oliver ging an den Apparat. Er kam gleich danach zurück und schaute nachdenklich drein. Als Elizabeth bemerkte, das sei aber ein kurzer Anruf gewesen, sah er sie scharf an. »Es war dein Freund Charles. Er hat sich nur gemeldet und aufgelegt, sobald er meine Stimme hörte.« »Wer ist denn Charles?« fragte eine von den Frauen. »Das klingt interessant.« »Fragen Sie lieber Elizabeth.« Sie erzählte die Geschichte von dem Mann, der schon öfters angerufen und auch vorbeigekommen sei, und rief damit allgemeines Amüsement hervor. Nur Oliver blieb ernst. Als die Gäste gegangen waren, bat er Duncan, noch einen Augenblick zu bleiben.
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»Ich wollte nur deine Meinung hören, Dune. Dieser Mann war schon dreimal hier, und nun ruft er ständig an. Was für ein Mann würde das tun, und was können wir dagegen unternehmen?« »Was er für ein Mann sein kann? Schwer zu sagen.« Duncan nahm seine Pfeife heraus, stopfte sie und zündete sie mit einer Sorgfalt an, die jeden Betrachter nervös machen konnte. »Vielleicht ist er ein Scherzbold, also harmlos. Aber vielleicht ist er auch – nun ja, nicht so harmlos. Trotzdem solltest du dir keine großen Gedanken machen. Obszöne Telefonate und Drohanrufe gehen dreizehn auf das Dutzend, wie dir die Polizei bestätigen kann. Sicher, wenn er sich das nächste Mal blicken läßt, kann Elizabeth ihn empfangen, aber ich würde doch empfehlen, daß jemand in der Nähe ist.« Das war, wie Oliver annahm, eine gute Vorbereitung und Ausgangsbasis. Dadurch war bekannt, daß Elizabeth von einem Mann namens Charles verfolgt wurde. An der Existenz dieses Charles zweifelte niemand. Und er existierte offensichtlich unabhängig von Oliver Glass, da Tyler ihn gesehen und Oliver selbst mit ihm am Telefon gesprochen hatte. Wenn Elizabeth umgebracht wurde, war dieser mysteriöse Charles der Hauptverdächtige. Charles war geschaffen worden als ein von Oliver unabhängiges Wesen, mit jener Einfachheit, die die große Kunst auszeichnet. Oliver, wie Sir Giles in den »Verbrechern«, war ein Meister der Verkleidung und Verstellung. Er besaß tatsächlich die legendären Fähigkeiten des großen Vidocq und konnte sogar seine Körpergröße um zwanzig Zentimeter nach oben und unten verändern. Charles war mit einer Vielzahl von Requisiten wie Wangenpolster, Körperkissen und falschen Augenbrauen ausgestattet worden, dazu mit den unentbehrlichen Plattformsohlen. Er würde noch einmal auftauchen und dann von der Bildfläche verschwinden. Und er brauchte niemanden zu treffen, der Oliver sehr gut kannte, was dieser allerdings fast ein wenig bedauerte. »Charles« am Telefon war ein Schauspieler gewesen, den Oliver gebeten hatte, im Lauf des Abends bei ihm anzurufen. Oliver hatte nur geantwortet, er könne jetzt nicht sprechen, würde ihn aber morgen anrufen, und dann den Hörer aufgelegt. In den nächsten Tagen bemerkte er mit Belustigung, in die sich leichte Verärgerung mischte, daß Elizabeth ihre Drohung wahr ge-
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macht und ihm einen Privatdetektiv auf die Spur gesetzt hatte. Er erkannte den Mann, als dieser direkt hinter ihm ein Taxi anhielt, dann ein paar Meter hinter ihm vor Evelyns Wohnung ausstieg. Später zeigte er ihn Evelyn, wie er gegenüber unter einem Hauseingang stand. Sie kicherte und schlug vor, sie sollten ihn heraufbitten. »Kann mir denken, daß dir das Spaß machen würde«, sagte er bewundernd. »Gibt es eigentlich irgend etwas, was du nicht tun würdest?« »Wenn mir danach ist, nein.« Sie hatte irgendeine Droge genommen und war ziemlich high. »Und du?« »Ich bin auch zu vielen Schandtaten bereit.« »Der vorsichtige, alte Oliver.« Was würde sie sagen, wenn sie wüßte, was er plante? Er war versucht, ihr ein wenig davon mitzuteilen, hielt sich dann aber doch zurück, obwohl vermutlich nichts, was er ihr sagte, Evelyn schockieren würde. Plötzlich schob sie das Fenster hoch, lehnte sich hinaus und pfiff durch die Finger. Als der Mann herauf schaute, machte sie eine Verbeugung. Der Mann wandte sich um und ging rasch weg. Oliver war wütend, aber was hätte es genützt, ihr Vorhaltungen zu machen? Es war ihre Skrupellosigkeit, die ihn so faszinierte. Seine Verärgerung spiegelte sich in einer Notiz wider, die er an Elizabeth schrieb. »E. Diese Art, hinter mir herzuspionieren, ist würdelos. O.« Als er abends nach der Vorstellung heimkam, fand er die Antwort. »O. Dein Verhalten ist würdelos. Deine derzeitige Flamme ist ein Flittchen. E.« Daß Oliver Glass über Charme verfügte, wurde sogar von denjenigen zugestanden, die nicht bereit waren, diesem Charme zu erliegen. In den Tagen nach dem Anruf von Charles richtete er diesen Charme ganz auf Elizabeth. Sie ging nachmittags oft aus, wohin und mit wem, war ihm egal, aber das gab ihm die Chance, seine kleinen Notizzettel zu hinterlassen. Einer davon lautete: »E. Du mußt unbedingt nach dem Theater hier auf mich warten. Ich habe eine kleine Überraschung für dich. O.« Und ein anderer: »E. Hättest du Lust, heute abend bei Wheeler’s mit mir zu essen? Erinnerungen an Vergangenes… O.« Bei der »kleinen Überraschung« schenkte er ihr einen hübschen Rubinring mit Perlen, und in der zweiten Notiz ging es
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darum, daß sie in den ersten Monaten ihrer Ehe oft bei Wheeler’s gegessen hatten. An diesen Abenden bemühte er sich, Elizabeth zu unterhalten und zu glänzen wie früher, und sie sprach auch darauf an. Vielleicht unwillkürlich, doch das kam sicher daher, daß sie über Evelyn Bescheid wußte. Immerhin stellte er zu seiner Beruhigung fest, daß er nicht mehr von dem Privatdetektiv verfolgt wurde, und während ihres Abendessens bei Wheeler’s ging er darauf ein. »Ich weiß jetzt, wer sie ist. Ich weiß, daß du immer so warst. Vielleicht muß ich es einfach akzeptieren.« Ihre Augen funkelten. »Aber wenn ich die Scheidung herbeiführen will, ist es nicht schwer, Beweise gegen dich vorzubringen.« »Ein Künstler braucht mehr als eine Frau«, sagte Oliver. »Du darfst nicht denken, daß ich ohne dich leben kann. Ich brauche dich. Du bist für mich ein fester Punkt in einer sich wandelnden Welt.« Was rede ich da für einen Unsinn, tadelte er sich milde. In Wirklichkeit empfand er jeglichen Kontakt mit Elizabeth gerade jetzt als besonders unangenehm. Im Vergleich zu Evelyn war das Beisammensein mit ihr abgeschmackt und fade. Aber ein großer Schauspieler kann jede Rolle spielen, und dieses Stück würde ja nicht allzu lange auf dem Spielplan bleiben. Nur einmal ereignete sich etwas, in diesen »zweiten Flitterwochen«, wie er sie bezeichnete, was ihn aus der Fassung brachte. Eines Tages kam er unerwartet am frühen Abend in die Wohnung und hörte Elizabeths Stimme beim Telefonieren. Sobald er den Raum betreten hatte, legte sie den Hörer auf. Ihr Gesicht war gerötet. Als er fragte, mit wem sie gesprochen habe, antwortete sie: »Mit Charles.« »Mit Charles?« Einen Augenblick lang konnte er sich nicht vorstellen, was sie damit meinte. Dann starrte er sie an. Niemand wußte besser als er, daß sie nicht mit Charles gesprochen haben konnte, aber das konnte er ihr natürlich nicht sagen. »Und was hat er gesagt?« »Schreckliche Dinge. Ich habe aufgelegt.« Warum log sie? Wie absurd, wie köstlich und absurd zugleich, wenn sie einen Liebhaber hatte! Oder war es möglich, daß sich einer der Teilnehmer der kleinen Abendgesellschaft von neulich einen Scherz erlaubte? Er wischte jedoch alle Vermutungen in dieser Rich-
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tung rasch beiseite, weil sie jetzt ohnehin bedeutungslos waren. Nichts mehr konnte die Inszenierung des größten Schauspiels in seinem Leben verhindern. In dem Kriminalstück »Verbrecher« hatte Celia vor, die Abwesenheit von Sir Giles damit zu erklären, daß er verreist sei, was einleuchtend war, weil er ohnehin von Zeit zu Zeit auf Reisen ging. Daher die Bemerkung darüber, was mit der Leiche zu geschehen habe, am Ende des ersten Aktes. Gleich zu Beginn des zweiten Akts zeigte Celia den Leichnam ihrem Liebhaber, das heißt, sie ließ ihn eine Gestalt in einem Sack sehen, den sie in einem Schrank versteckt hatte. Ein paar Minuten später wurde der Schrank noch einmal geöffnet, und das Publikum konnte sehen, wie sich die Gestalt in dem Sack ein wenig bewegte. Celia freilich blieb das verborgen. Dann, nach etwa fünfundzwanzig Minuten, gab es eine kurze Verdunkelung auf der Bühne. Als die Lichter wieder angingen, kam Sir Giles aus dem Schrank, nicht tot, nur betäubt. Wenn man so lange Zeit in einem Sack stecken muß, ist das alles andere als ein Vergnügen, und bei jeder normalen Theatergruppe wäre der Leichnam im Sack von einem Statisten dargestellt und erst ein paar Minuten vor dem Auftritt von Sir Giles mit dem richtigen Schauspieler ausgetauscht worden. Aber Oliver glaubte an das, was er das aktuelle Theater nannte. In einer anderen Inszenierung hatte er darauf bestanden, daß die Stimme einer Schauspielerin, die aus einem Schiffskoffer kam, ihre echte Stimme sein mußte und keine Aufzeichnung auf dem Tonband. Und in »Verbrecher« behauptete er, daß das Erlebnis, tatsächlich in einem Sack zu stecken, von großer emotioneller Bedeutung sei, so daß er immer die ganze Zeit in seinem Sack im Schrank sitzen blieb. Der »Leichnam« im Sack sollte Oliver nun ein wasserdichtes Alibi liefern. Die Pause nach dem ersten Akt dauerte fünfzehn Minuten, so daß er insgesamt fast vierzig Minuten Zeit zur Verfügung hatte. Der Everly Court war sieben Minuten zu Fuß vom Theater entfernt, und Oliver rechnete damit, daß er insgesamt höchstens zwanzig Minuten brauchte. Hunderte von Zuschauern würden sehen, wie sich etwas in dem Sack bewegte, und wer konnte das sein, wenn nicht Oliver Glass?
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In Wirklichkeit würde der unentbehrliche Eustace im Sack sitzen. Eustace war eine Puppe, wie sie von Bühnenzauberern benützt wird, um das Publikum davon zu überzeugen, daß sich ein menschliches Wesen innerhalb eines Behälters befindet. Er war aus Plastik und konnte zur Größe eines kleinen Mannes aufgeblasen werden. Dann schaltete man einen Mechanismus ein, der Eustace dazu brachte, Arme und Beine in zuckende Bewegungen zu versetzen. Ein batteriebetriebener Timer am Rücken konnte so eingestellt werden, daß sich die Puppe in Intervallen von dreißig Sekunden bis fünf Minuten bewegte. Wenn man die Luft herausließ, konnte man Eustace mühelos zusammenfalten bis zur Größe eines zusammengelegten Regenmantels aus Plastik. Eustace war der perfekte Komplice, der unentbehrliche Eustace. Oliver hatte ihn ein halbes dutzendmal in einem Sack von ähnlicher Größe ausprobiert und festgestellt, daß er höchst überzeugend wirkte. Am Nachmittag des bewußten Tages ruhte er sich aus. Elizabeth war unterwegs, sagte aber, daß sie gegen sieben Uhr zurück sein würde. Seine sehr sorgfältig formulierte Notiz lag auf dem Kaminsims. »E. Du solltest heute den ganzen Abend zu Hause in der Wohnung sein. Es gibt eine wirklich sensationelle Überraschung für Dich. Den ganzen Abend, nicht erst nach der Vorstellung. O.« Er war sicher, daß ihre Neugier nicht widerstehen konnte. Während des ersten Aktes bewunderte er mit der Objektivität des Schauspielers seine eigene Darstellung. Er war zynisch, ironisch, dramatisch – mit einem Wort superb! Als der Akt zu Ende war, ging er in seine Garderobe. Dabei brauchte er keine Besucher zu fürchten, denn jeder wußte, daß Oliver Glass nichts so sehr haßte wie Störungen während der Pausen. Und jetzt kam das, was er schon im vorhinein für den schwierigsten Teil des Unternehmens hielt. Der Schrank mit dem Sack darin war von der Bühnenrückseite her zu öffnen. Das Risiko, den bereits aufgeblasenen Eustace von der Garderobe hinaus auf die Bühne zu tragen, war zu groß – er konnte erst an Ort und Stelle aufgeblasen werden, und es bestand immerhin die Möglichkeit, daß ein Bühnenarbeiter Oliver dabei beobachtete. Aber das perfekte Verbrechen durfte nicht von günstigen Gelegenheiten abhängig sein und mußte risiko-
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frei geplant werden. Immerhin – wenn es zum Schlimmsten kam, sah man nur, wie er Eustace aufblies, und das Projekt mußte vorläufig abgeblasen werden. Doch das Glück ist auf der Seite der kreativen Künstler, oder war es zumindest bei dieser Gelegenheit. Das Aufblasen von Eustace mit einer Pumpe dauerte nur wenige Sekunden, in denen er neben dem Schrank kniete, und niemand kam in seine Nähe. Der Timer war auf dreißig Sekunden eingestellt; die Puppe würde sich also alle dreißig Sekunden bewegen. Jetzt steckte er Eustace in den Sack, wartete, bis er das erste Mal zuckte, dann schloß er die falsche Hintertür des Schranks und machte sich davon. Er verließ das Theater durch einen geheimen Seitenausgang, der von Schauspielern benützt wurde, wenn sie den Autogrammjägern entgehen wollten, und ging mit gesenktem Kopf bis zur nächsten UBahn-Station, eine der wenigen in London, die mit Schließfächern und Toiletten ausgestattet war. Ohne sonderliche Eile nahm er die Kleidung und die Schuhe von Charles aus einem Schließfach, ging in die Toilette, zog sich dort um und packte sein Bühnenkostüm ins Schließfach. Brille und Revolver waren in seiner Jackettasche. Den Revolver hatte er schon vor Jahren gekauft, als er eine Rolle spielte, in der er einen Meisterschützen darstellte. Durch Üben auf einem Schießstand war er damals tatsächlich ein recht guter Schütze geworden. Als er die U-Bahn-Station verließ, schaute er auf die Uhr. Sechs Minuten. Sehr gut. Jetzt nahm Charles graue Handschuhe aus einer anderen Jakkettasche. In drei Minuten war er am Everly Court. Er ging direkt zum Lift, wobei er natürlich von Tyler beobachtet wurde. Der Portier kam hinter seiner Theke hervor, und Oliver sagte mit der Stimme von Charles, mit seinem deutlich hörbaren Akzent: »Zu Mrs. Glass. Sie erwartet mich.« »Ich werde oben anrufen, Sir. Mr. Charles, nicht wahr?« »Nicht nötig. Ich sagte es schon, sie erwartet mich.« Perfekt, bewundernswert ruhig. Aber im Lift fürchtete er ganz plötzlich, daß er nicht in der Lage sein würde, die Tat zu begehen. Warum gestattete er Elizabeth nicht, daß sie sich von ihm scheiden ließ, und lebte dann mit Evelyn zusammen, heiratete sie vielleicht
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sogar, bis sie einander überdrüssig waren – wäre das nicht die vernünftigste, naheliegende Lösung gewesen? Aber »vernünftig« und »naheliegend« – waren solche Begriffe eines Oliver Glass würdig? Ging es nicht eigentlich darum, daß er sich durch diesen Mord, der im praktischen Sinn völlig nutzlos war, als großer Künstler und großer Schauspieler erwies, als ein Mann, der allen anderen überlegen war? Der Lift hielt an. Er stieg aus. Stand vor der Tür. Schlüssel ins Schloß, drehen. Eintreten. Die Wohnung lag im Dunkeln; in der Diele brannte kein Licht. Und kein Laut war zu hören. »Elizabeth«, rief er mit einer Stimme, die nicht die seine zu sein schien. Er mußte sich sehr beherrschen, um sich nicht auf dem Absatz umzudrehen und die Wohnung zu verlassen. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Auch hier war es dunkel. War Elizabeth vielleicht nicht hier, hatte sie seine Notiz einfach ignoriert, oder war sie noch gar nicht zurück? Bei dem Gedanken überlief ihn eine Welle der Erleichterung, aber es gab ja noch das Schlafzimmer. Er mußte auch im Schlafzimmer nachsehen. Die Tür stand offen, und ein schwaches Licht schimmerte von drinnen. Er erinnerte sich nicht, den Revolver aus der Tasche genommen zu haben, aber er war plötzlich in seiner Hand. Jetzt trat er zwei Schritte hinein in den Raum. Die Nachttischlampe brannte, war aber ziemlich stark abgedimmt. Elizabeth lag nackt auf dem Bett, die schwarze Maske über dem Gesicht. Er rief ihr etwas zu, und sie setzte sich auf und streckte die Arme nach ihm aus. Er reagierte mit Abscheu und Entsetzen. Und er war sich nicht einmal bewußt, daß er auf den Abzug des Revolvers drückte, aber die Waffe in seiner Hand krachte dreimal. Elizabeth stieß keinen Schrei aus, nur ein leises Keuchen. Zwischen ihren Brüsten war ein dunkler Fleck zu sehen. Dann sank sie auf das Bett zurück. Jetzt, wo es geschehen war, kehrte seine Sicherheit zurück. Alles, was er nun tat, war zielbewußt und präzise. Er ging in den Lift, fuhr damit nach unten bis ins Tiefgeschoß und verließ das Haus durch die Garage, wobei er niemandem begegnete. Tyler konnte angeben,
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wann Mr. Charles das Haus betreten, aber nicht, wann er es wieder verlassen hatte. Zurück zur Toilette in der U-Bahn-Station, die Kleidung gewechselt, die Sachen von Charles und den Revolver wieder ins Schließfach gepackt, damit er sie nachher vernichten konnte, den Schlüssel des Schließfachs in die Jackentasche gesteckt. Zurück zum Theater, mit gesenktem Kopf, um nicht erkannt zu werden. Ein rascher Blick auf die Armbanduhr, als er die Tür des Seitenausgangs öffnete und sich leise die Treppe hinauf schlich. Fast dreißig Minuten waren vergangen. Er kniete hinter dem Schrank und hörte dem Dialog auf der Bühne zu. Der Augenblick, in der der »Leichnam« im Sack für das Publikum zuckte, war bereits vorüber, und Eustace zeigte seine Fähigkeiten durch eine weitere Bewegung, die das Publikum nicht sehen konnte, weil die Schranktür geschlossen war. Eustace hatte ausgedient. Oliver nahm ihn aus dem Schrank und schaltete den Mechanismus ab. Durch vorsichtiges Drücken ließ er die Luft entweichen und legte die Puppe zu einem kleinen Paket zusammen. Dann steckte er sie sich in die Hose und befestigte sie mit einer Sicherheitsnadel. Man konnte die leichte Ausbuchtung nur sehen, wenn man ihn ganz genau betrachtete, und wer würde das auf der Bühne tun? Wunderbar, dachte er, als er sich den Sack überzog für die paar Minuten bis zu seinem Auftritt. Oliver Glass, ich gratuliere dir im Namen von Thomas de Quincy und Thomas Griffith Wainewright. Du hast das perfekte Verbrechen begangen. Die Euphorie dauerte an bis zum Schlußapplaus und bis zu seinen üblichen Worten an das Publikum, mit denen er den Zuschauern gratulierte, daß sie ein so intelligentes Kriminalstück zu schätzen wußten. Sie dauerte an – oh, wie er diese größte Leistung in seinem Leben bewunderte! –, während er sich in Ruhe abschminkte, den anderen gute Nacht sagte und das Theater verließ, wobei Eustace noch immer in seiner Hose steckte. Er ging noch einmal in die UBahn-Station und sperrte Eustace zu der Kleidung von Charles in das Schließfach. Der Schlüssel wanderte wieder in die Tasche seines Jacketts.
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Als er zurückging zum Everly Court, fiel ihm allerdings mit großem Schrecken ein, daß er etwas vergessen hatte. Die Notiz! Der Zettel, aus dem zu entnehmen war, daß er während der Pause in der Wohnung erscheinen würde, eine Notiz, welche die Polizei zumindest zu einer höchst unerfreulichen Befragung veranlassen würde und die vielleicht sogar zu einer Durchsuchung seiner Person und zur Entdeckung des Schließfachschlüssels führen konnte. Die Notiz mußte sich irgendwo in der Wohnung befinden, vielleicht in Elizabeths Handtasche. Sie mußte vernichtet werden, bevor er die Polizei verständigte. Er nickte Tyler zu und fuhr mit dem Lift nach oben. Wieder den Schlüssel ins Schloß gesteckt. Wieder die Tür geöffnet. Dann blieb er wie angewurzelt stehen. Licht fiel durch einen Spalt unter der Tür des Wohnzimmers auf die Diele. Unmöglich, dachte er, unmöglich. Ich weiß, daß ich kein Licht gemacht habe, als ich hineingegangen bin. Aber wer konnte dort drinnen sein? Er machte zwei Schritte auf die Tür zu, drückte auf die Klinke und fuhr, als die Tür sich öffnete, mit einem Schrei zurück. »Nanu – Oliver, was ist denn los?« fragte Elizabeth. Sie saß auf dem Sofa, und Duncan stand neben ihr. Er lockerte sich den Kragen, als würde er ersticken, versuchte dann eine Frage zu stellen, brachte aber kein Wort heraus. »Komm und schau«, sagte Duncan. Er ging auf ihn zu und faßte Oliver am Arm. Oliver schüttelte den Kopf, versuchte Widerstand zu leisten, ließ sich dann aber ins Schlafzimmer führen. Der Leichnam lag immer noch dort; ein dunkelroter Fleck war zwischen den nackten Brüsten zu sehen. »Du hast ihr offenbar sogar von Elizabeths Schlafgewohnheiten erzählt«, sagte Dune. »Sie hat sich wahrscheinlich gedacht, das wird ein Riesenspaß.« Er nahm die schwarze Maske weg. Evelyn schaute ihn mit weit offenen Augen an. Als er wieder im Wohnzimmer war, schenkte sich Oliver einen Schluck Kognak ein und sagte zu Elizabeth: »Du hast es also gewußt?«
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»Natürlich. ›Hättest du Lust, heute abend bei Wheeler’s mit mir zu essen?‹ Glaubst du, ich hätte nicht gemerkt, daß du wieder mal eine Rolle gespielt hast wie immer und daß du dir irgendeinen verrückten Plan ausgedacht hattest? Aber ich wollte es zunächst nicht glauben – es war Dune, der ahnte, wie wahnsinnig du bist.« Er schaute von einem zum anderen. »Habt ihr ein Verhältnis miteinander?« Duncan nickte. »Meine langweilige Frau und mein langweiliger alter Freund – ein ideales Paar.« Duncan nahm seine Pfeife heraus, betrachtete sie und steckte sie dann wieder in die Tasche. »Liz hat mich über alles informiert, was vor sich ging. Es sah so aus, als hättest du etwas vor, und zwar heute abend. Also blieb Liz den Abend bei mir.« »Und warum war Evelyn hier?« Seine Gedanken hüpften von Punkt zu Punkt, um festzustellen, wo sich der Fehler befinden konnte, den er gemacht hatte. »Wir wußten Bescheid über sie, weil wir dich beobachten ließen, und all der Unsinn mit diesem Charles brachte mich auf den Gedanken, daß Elizabeth irgendwie in Gefahr sein mußte. Also hielten wir es für eine glänzende Idee, Evelyn deine Notiz zu schicken, damit sie hier sein konnte, um dich zu begrüßen. Wir haben den Schlüssel zu dieser Wohnung mit in das Kuvert gesteckt.« »Die Initialen waren dieselben.« »Eben«, sagte Dune gelassen. »Ihr habt also geplant, daß ich sie töten sollte.« »Das würde ich nicht so sagen. Sicher – wenn du sie versehentlich für Liz halten würdest… Aber wir konnten ja nicht ahnen, daß sie sich die Maske von Liz aufs Gesicht legen würde. Wir wollten dir nur einen Denkzettel verpassen und dir auf diese Weise sagen, daß es gefährlich ist, mit solchen Dingen zu spielen.« »Du kannst mir nichts beweisen.« »Oh, das glaube ich doch«, sagte Dune überlegen und weise. »Ich weiß zwar nicht, wie es dir gelungen ist, aus dem Theater zu kommen, aber ich nehme an, du hast irgendeine Puppe in den Sack gesteckt. Die Polizei wird es jedenfalls leicht herausfinden. Wichtiger ist die Notiz. Sie steckt in Evelyns Handtasche. Daraus geht hervor,
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daß du dich hier mit ihr verabredet hast. Wahrscheinlich warst du auf einen ihrer jüngeren Liebhaber eifersüchtig.« »Aber ich war nicht eifersüchtig, und ich habe mich nicht hier mit ihr…« Er hielt inne. »Du kannst wohl nicht behaupten, daß es eigentlich Liz gegolten hätte, oder? Nicht, nachdem Evelyn hier aufgetaucht ist.« Es klingelte an der Tür. »Oh, ich vergaß zu sagen, daß wir die Polizei verständigt hatten, als wir die Tote fanden. Unsere Pflicht, du weißt.« Er schaute Oliver an und erklärte nachdenklich: »Du erinnerst dich: Ich sagte, es gibt immer eine schwache Stelle, einen Fehler – bei jedem sogenannten perfekten Verbrechen. Vielleicht habe ich mich geirrt. Man sollte vielleicht besser sagen, das perfekte Verbrechen ist eines, von dem man den Nutzen hat, ohne es selbst begehen zu müssen, so daß einem niemand vorwerfen kann, man sei dafür verantwortlich. Verstehst du, was ich meine?« Und Oliver verstand es sehr gut. »Aber jetzt ist es an der Zeit, die Polizei hereinzulassen.« Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Michael Underwood OK für Mord »Du versuchst, heute abend ein bißchen früher nach Hause zu kommen, nicht wahr, Schatz?« sagte Oscar, während Oliver sich fertigmachte, um aus dem Haus zu gehen. »Es ist schließlich unser Jahrestag«, fügte er hinzu, als brauche Oliver diese zusätzliche Ermahnung. Oliver lächelte. »Natürlich. Und vergiß du nicht, einen Tisch zu bestellen. Am besten für halb neun.« Oscar nickte. »Dann können wir vorher hier noch ein bißchen feiern. Ich stelle zwei Flaschen Champagner kalt.« Er öffnete die Haustür und warf Oliver einen beinahe wehmütigen Blick zu, als dieser hinausging. »Heute vor sechs Jahren«, murmelte er. Oliver blieb stehen und blickte zurück. »Was wohl heute in sechs Jahren sein wird«, bemerkte er mit einem leicht spöttischen Lächeln. »Eines steht fest, ich werde keinen Tag älter sein als ich jetzt bin«, erklärte Oscar. »Von heute an werde ich nämlich nicht mehr älter.« Er hielt den linken Arm hoch, an dem die schwere Goldkette herabhing, die Oliver ihm zum Jahrestag geschenkt hatte. »Sie ist eine Wucht. Ich liebe sie«, sagte er. »Gut. Sie hat auch genug gekostet.« Als Oliver sah, wie sich Oscars Gesicht plötzlich umwölkte, fügte er hinzu: »Werd nur nicht sentimental, dazu ist es noch zu früh am Tag. Spar’s dir für heute abend.« Er winkte noch ein letztes Mal, dann stieg er in seinen Wagen und ließ den Motor an. Oscar sah ihm nach, bis er verschwunden war, erst dann ging er wieder ins Haus. Wenn alles nach Plan lief, hatte er Oliver soeben zum letzten Mal lebend gesehen. Sie waren sich vor sechs Jahren auf dem Oberdeck eines Busses der Linie vierzehn begegnet, als dieser gerade bei Harrod’s vorbeigefahren war. Das an sich, so hatten sie später übereinstimmend festgestellt, war ein Omen gewesen. Oscar hatte Oliver zwei, drei Minuten lang interessierte Blicke zugeworfen, ehe dieser aufmerksam wurde. Sein Antwortblick war
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nicht ganz so eindeutig; er ermutigte Oscar jedoch so weit, daß er aufstand und sich neben Oliver setzte. Als der Bus an der Haltestelle Hyde Park Corner anhielt, hatten sie bereits Telefonnummern ausgetauscht und zu Oscars Verzückung entdeckt, daß sie die gleichen Initialen hatten. Oliver Knight und Oscar Knudsen. Oscar, der immer und überall Omen sehen wollte, betrachtete dies als klaren Beweis dafür, daß sie füreinander bestimmt waren. Jedoch war es Oliver, der noch am selben Abend anrief und vorschlug, am nächsten Tag gemeinsam essen zu gehen. Sie trafen sich in einem kleinen italienischen Restaurant in South Kensington, nicht weit von Olivers Wohnung. Oscar hatte zu jener Zeit ein Ein-Zimmer-Apartment im weniger eleganten West Kensington. Beim Abendessen erfuhr Oscar, daß Oliver zweiunddreißig Jahre alt war, somit also sechs Jahre älter als er selbst, daß er noch immer an den Wunden einer gescheiterten Ehe litt und Direktor einer Kette von Reisebüros war. Oliver seinerseits erfuhr, daß Oscar dänischer Abstammung war, allerdings in England geboren und aufgewachsen, und daß er in der Werbeabteilung einer Zeitschrift arbeitete, wo er einen Hungerlohn verdiente und sich einfach unwohl fühlte. Eine Woche später zog Oscar zu Oliver. Seitdem lebten sie zusammen und waren einige Jahre später in das Haus namens Maple Cottage in der Nähe von Dorking umgezogen. Oscar hatte sehr bald seine Stellung aufgegeben und Oliver das Geldverdienen überlassen. Sie konnten gut leben von Olivers Einkommen; das Reisegeschäft florierte, und außerdem hatte Oliver von seiner Großmutter 100.000 Pfund geerbt. Eine Zeitlang waren sie das perfekte Paar gewesen, der temperamentvolle, unbeständige und leidenschaftliche Oscar und der gutaussehende Oliver, hinter dessen locker lässigem Auftreten sich eine tiefe Unsicherheit verbarg. Aber während Oliver bereit schien, die Seitensprünge des Freundes zu verzeihen, steigerte sich Oscar jedesmal in blinde Eifersucht hinein, wenn er den Verdacht hatte, daß Oliver ihm untreu war. Und das Mißtrauen gehörte zu Oscars Charakter wie der Regen zum schottischen Hochland. Für Oliver hatte
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stets festgestanden, daß Oscars Affären nicht mehr waren als flüchtige Abenteuer, die sich nachmittags abspielten, wenn er das Haus für sich hatte. Wenn »Geschäftliches« Oliver in der Stadt aufhielt, pflegte er es vor Oscar sorgfältig zu verbergen. Jedes Mittel war ihm recht, um zu vermeiden, daß Oscar in eine seiner unsäglichen Launen verfiel. Keith, den neuen jungen Burschen, der zweimal in der Woche zur Gartenarbeit kam, hatte Oliver bisher nicht kennengelernt. Oscar äußerte sich abfällig über ihn und behauptete, er rieche nach Kompost. »Ein Glück, daß er nicht im Haus arbeitet«, pflegte er geringschätzig zu sagen. Und später erledigte er das Thema stets mit einer wegwerfenden Bemerkung, wenn Oliver sich nach dem jungen Mann erkundigte. Dennoch kreisten Oscars Gedanken einzig um Keith, als er an diesem Morgen nach Olivers Abfahrt ins Haus zurückkehrte. Keith war der Mann, in den er sich Hals über Kopf verliebt hatte. Keith war Dreh- und Angelpunkt des sorgsam erdachten Plans, nach dessen Ausführung Oliver tot sein würde. Oscar sah auf seine Armbanduhr. Der Morgen, kaum angebrochen, zog sich schon schleppend dahin. Mit einem Gefühl von Angst und Unruhe schloß er die Haustür und ging nach oben ins Schlafzimmer. Die blaßlila Steppdecke und das dazu passende Kopfkissen brauchten nur einmal aufgeschüttelt zu werden, und das Bett war gemacht. Olivers Kopfkissen roch nach dem Mandelshampoo, das er immer benutzt, und einen sentimentalen Augenblick lang drückte Oscar sein Gesicht in das Kissen. Er hatte Oliver immer noch sehr gern und wollte ihm nicht weh tun; gerade darum war eine schnelle, drastische Lösung die beste. Er konnte sich beinahe einreden, daß es Oliver nichts ausmachen würde, auf so elegante Art aus dem Leben befördert zu werden. Und nächstes Jahr um diese Zeit würde es einen neuen Jahrestag geben: den von Olivers Tod. Oscar hatte sich ausgerechnet, daß Keith frühestens um elf zurück sein konnte, daß es aber realistischer war, ihn erst zur Mittagszeit zu erwarten. Die Abwicklung des Plans war immerhin mit einigem Aufwand verbunden: zuerst mußte Oliver beseitigt, dann sein Wagen
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irgendwo abgestellt werden, danach mußte Keith seinen eigenen Wagen wieder holen und zum Maple Cottage zurückfahren. Im wesentlichen war der Plan ganz einfach. Das kurze blonde Haar unter einer dunklen Perücke verborgen, einen passenden Schnurrbart unter der Nase, um die Maske zu vollenden, sollte Keith an der Straße stehen und Oliver anhalten, wenn dieser auf der Fahrt in die Stadt vorüberkam. Der Rucksack und die Wanderstiefel würden den Eindruck von einem echten Tramper untermauern und Oliver, der eine Schwäche dafür hatte, einsame junge Männer auf der Straße aufzulesen, würde zweifellos darauf hereinfallen. Auf einem kaum befahrenen Straßenstück in einem dunklen Wald würde Keith ein natürliches Bedürfnis verspüren. Sobald Oliver angehalten hatte, würde der ihm körperlich weit überlegene Keith ihn überwältigen und erwürgen. Er würde die Leiche auf den Rücksitz des Wagens legen und unter einer Decke verbergen, um dann auf kleinen Nebensträßchen die zwölf Kilometer bis zu der ehemaligen Kiesgrube fahren, wo er den Toten ins tiefe Wasser werfen würde. Den Wagen würde er an einer anderen Stelle zurücklassen. Anschließend würde Keith auf seinem Fahrrad, das er zuvor im Gebüsch versteckt hatte, zu seinem eigenen Wagen zurückfahren. Danach konnte er dann zum Maple Cottage zurückkehren und dem nervös wartenden Oscar »Plan ausgeführt« melden. Das war der Plan, den Oscar in Gedanken wieder und wieder durchging, während er rastlos in der Küche hantierte. Einmal hatte er gedacht, die Zugehfrau zu bitten, in dieser Woche statt an ihrem üblichen Tag am Donnerstag zu kommen, um sich damit ein Alibi zu sichern, aber bei späterer Überlegung war er zu dem Schluß gekommen, daß das bei den Leuten, die über Olivers mysteriöses Verschwinden ermitteln würden, nur Verdacht erregen würde. Im übrigen war die Tatsache, daß er keinen Führerschein hatte, unter den gegebenen Umständen Alibi genug. Mit einer Tasse Kaffee setzte er sich an den Tisch in der Frühstücksnische und griff nach seinen Zigaretten. Desinteressiert überflog er die erste Seite des Mirror (Oliver nahm den Daily Telegraph immer mit), konnte sich aber nicht konzentrieren. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Gedanken an ein gemeinsames
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Leben mit Keith. Keith, diesem kräftigen, muskulösen zweiundzwanzigjährigen Jungen, der bereits einmal wegen Raubüberfalls im Gefängnis gesessen hatte und für den Mord der nächste logische Schritt war – vorausgesetzt, es lohnte sich. Oscar hatte nicht gezögert, ihm anzuvertrauen, daß er und Oliver sich gegenseitig zu Alleinerben eingesetzt hatten, was bedeutete, daß er – Oscar – bei Olivers Ableben ein beträchtliches Vermögen erben würde. »Wenn ich zuerst sterbe, bekommt Oliver nur ein paar alte TShirts«, pflegte er zu ihren Freunden mit leichtem Spott zu sagen. Selbstverständlich mußten er und Keith anfangs vorsichtig sein, aber wenn die Aufregung sich gelegt hatte und Olivers Vermögen nach Recht und Gesetz auf ihn übertragen worden war, konnten sie sich ein gemeinsames Leben aufbauen. In der Zwischenzeit konnte er wenigstens schon einmal von den schönen Tagen, die vor ihm lagen, träumen… Zumal sich in Keiths Initialen ein gutes Omen finden ließ. KO für Keith Offingham, und beim Anblick dieses toll aussehenden Burschen konnte man weiß Gott k. o. gehen. Keith allerdings hatte wenig Verständnis gezeigt, als Oscar ihn auf die tiefere Bedeutung ihrer Initialen aufmerksam gemacht hatte. »Heiliger Strohsack«, hatte er das letzte Mal gesagt, als Oscar eine Anspielung darauf gemacht hatte, »ist doch piepegal, was man für Initialen hat, Hauptsache, sie ergeben nicht gerade Arsch oder Affe.« Oscar zündete sich eine weitere Zigarette an und gab sich weiter seinen Träumen von Keith hin. Gegen halb elf beschloß er, bei Oliver im Büro anzurufen. Oliver würde natürlich nicht dasein, aber er konnte auf diese Weise bereits Besorgnis und Beunruhigung äußern. Vielleicht hatte er eine Panne mit dem Wagen. Vielleicht steckt er auf der Umleitung bei Kingston im Stau. Er rief Oliver nicht oft im Büro an, und Oliver hatte ihn mit Nachdruck gebeten, es nur zu tun, wenn es dringend erforderlich war. Aber er und Ruth, Olivers Sekretärin, kannten sich inzwischen vom Telefon und fanden immer ein paar freundliche Worte, wenn sie miteinander sprachen. Da Oliver nicht dasein würde, brauchte er sich keinen Vorwand für den Anruf auszudenken, aber wenn nötig, würde er Ruth sagen, es
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handle sich um die Vorbereitungen für den kommenden Abend. Er wählte die Nummer und wartete. »Suntravel«, meldete sich eine Stimme, mit einer Munterkeit, die zweifellos manchem Anrufer den Atem raubte. »Ich hätte gern Mr. Knight gesprochen.« »Hier ist das Büro von Mr. Knight, kann ich Ihnen behilflich sein«, sagte Ruth einen Augenblick später. »Hallo, Ruth, hier spricht Oscar Knudsen.« »Guten Morgen, Mr. Knudsen.« »Kann ich mal einen Moment mit Oliver sprechen?« »Mr. Knight ist leider nicht im Haus.« Oscar lächelte vor sich hin. »Ach, da steckt er wohl irgendwo im Verkehrsgewühl. Das wird ja von Tag zu Tag schlimmer.« »Er wird heute gar nicht erwartet«, erklärte Ruth. »Er wird gar nicht erwartet?« fragte Oscar mit zitternder Stimme. »Nein, er war seit Dienstag nicht mehr im Büro und kommt erst nächsten Montag zurück.« Oscar war völlig verwirrt, aber nach einem Moment absoluter Sprachlosigkeit, der ihm wie eine kleine Ewigkeit erschien, gelang es ihm, stammelnd hervorzubringen, daß er Oliver offenbar mißverstanden hätte, und legte hastig auf. Völlig geschafft ließ er sich in einen Sessel fallen. Wenn Oliver auch am vergangenen Tag nicht im Büro gewesen war, wo war er dann gewesen? Er hatte das Haus zur üblichen Zeit verlassen und war abends zurückgekehrt, als hätte er einen ganz normalen Arbeitstag hinter sich gebracht. Oscar versuchte sich zu erinnern, ob er über den Tag eine besondere Bemerkung gemacht hatte, aber es fiel ihm nichts ein. Er war zu neugierig gewesen herauszufinden, welches Geschenk ihm Oliver für den Jahrestag gekauft hatte, um ihn zu fragen, wie sein Tag verlaufen war. Und an diesem Morgen war er wieder abgefahren wie gewohnt, aber wohin war er gefahren? Oscar hatte plötzlich Schwierigkeiten zu schlucken. Angenommen, Oliver hatte nicht den üblichen Weg eingeschlagen. Angenommen, er war überhaupt nicht nach London gefahren. Aber wohin dann? Wohin? Stand Keith vielleicht in diesem Moment immer noch vergeblich wartend am Straßenrand? Nein, das wenigstens
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konnte ausgeschlossen werden. Wenn ihr Plan so früh schiefgegangen wäre, dann würde er das jetzt bereits wissen; dann hätte Keith ihn angerufen. Zweieinhalb Stunden waren seit Olivers Abfahrt vergangen, und Oscar war plötzlich wütend und empört. Wie verschlagen und hinterhältig Oliver geworden war! Er hatte immer geglaubt, in ihm lesen zu können, wie in einem offenen Buch, aber nach dem Schock dieses Morgens… Je länger er über die Ereignisse nachdachte, desto wilder wurden seine Spekulationen und desto stärker wurde seine Unruhe. Er überlegte, ob er Ruth noch einmal anrufen sollte, um herauszubekommen, ob sie eine Ahnung hatte, wo Oliver war, doch noch während er nach dem Hörer griff, überlegte er es sich anders. Er durfte nichts überstürzen. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu warten. Warten, bis Keith kam. Gebe Gott, daß er kommen würde – und bald! Mittlerweile war es recht unwahrscheinlich, daß ihr wohlüberlegter Plan geglückt war. Er befand sich in einem so heftigen inneren Aufruhr, daß es ihn nicht einmal gewundert hätte, wenn Oliver plötzlich durch die Haustür hereingekommen wäre. Doch während die Minuten in gähnender Langsamkeit verstrichen und weder Oliver noch Keith erschienen, kamen ihm beängstigende Ideen. Wenn es nun Oliver irgendwie gelungen war, Keith umzubringen, anstatt umgekehrt? Oder wenn nun, was eine noch grauenvollere Vorstellung war, die beiden zusammen auf und davon gegangen waren und Oscar mutterseelenallein sitzengelassen hatten? Oscar wußte, daß er irgend etwas tun mußte, um die kaum noch erträgliche Spannung zu mildern, aber was? Er war nur noch ein schlotterndes Nervenbündel und hatte in den wenigen Stunden dieses Morgens bereits so viele Zigaretten geraucht, wie sonst den ganzen Tag über. Und dann, gerade als er am Rand eines massiven hysterischen Anfalls schwankte, hielt draußen ein Auto an, und Keith stieg aus. Oscar stürzte zur Haustür und riß sie auf. Er wußte nicht, ob er den näherkommenden Mann mit einer Schimpftirade empfangen oder ihm die Arme um den Hals werfen sollte. »Alles o. k.?« fragte er gespannt. Keith nickte. »Ich bin fast umgekommen vor Sorge«, fuhr er fort und fügte dann mit erstickter Stim-
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me hinzu: »Bin ich froh, dich zu sehen, Schatz! Ich habe dich viel früher erwartet.« »Ich versteh’ nicht, wieso. Ich komm doch sonst auch immer um diese Zeit.« »Ja, aber…« »Hätte doch komisch ausgesehen, wenn ich früher gekommen wäre.« »Ja, ja. Natürlich. Daran habe ich nicht gedacht«, babbelte Oscar in seiner Erleichterung. »Aber ich.« »Komm herein. Ich mache dir eine Tasse Kaffee, dann kannst du mir alles erzählen.« Nachdem er die Tür geschlossen hatte, schlang er die Arme um Keith und drückte ihn fest an sich. Keith ließ die Umarmung ohne ein Anzeichen von Gefühl über sich ergehen, aber er gehörte nun mal nicht zu den Menschen, die ihre Gefühle offen zur Schau trugen. Seine Stärke war im Bett, da war er kraftvoll und aufregend. »Ist alles nach Plan gegangen?« fragte Oscar, als sie in der Küche waren. »Wie am Schnürchen.« »Und wo ist Oliver?« fragte Oscar mit leichtem Stocken. »Zehn Meter unter Wasser.« »Und sein Wagen?« »Da, wo wir ausgemacht hatten.« »Er hat gleich angehalten und dich mitgenommen?« »Ohne Problem.« »Worüber habt ihr geredet, ehe – während ihr im Auto saßt?« erkundigte sich Oscar ängstlich. »Er fragte mich nur, woher ich käme und wohin ich wollte.« »Er hat keinen Annäherungsversuch gemacht?« fragte Oscar mit einem nervösen Kichern. »Morgens um acht? Er ist nicht so geil wie du.« »Es lief also alles wie geplant?« »Hab’ ich doch schon gesagt.« »Und den Rucksack und das andere Zeug bist du ohne Schwierigkeiten losgeworden?«
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Keith nickte mit Nachdruck. »Ich sag’ dir doch, es lief alles wie am Schnürchen.« »Und ich sag’ dir, mein Schatz, daß ich einmal fast durchgedreht hätte. Ich hab’ bei Oliver im Büro angerufen.« Nachdem er Keith berichtet hatte, fragte er: »Hat Oliver gesagt, wohin er fuhr?« »Er sagte, London.« »Sagte er, daß er in sein Büro führe oder so was?« Keith schüttelte den Kopf. »Er sagte, er hätte ein Reisebüro, aber das war alles.« »Es würde mich wirklich interessieren, was er getrieben hat.« »Ist doch schnuppe. Jetzt kann er’s sowieso nicht mehr treiben.« Keith leerte seine Kaffeetasse und stellte sie nieder. »Wollen wir nicht ein Weilchen nach oben gehen?« erkundigte sich Oscar hoffnungsvoll. »Ich bin für die Gartenarbeit hier, das weißt du doch. Deine neugierige Nachbarin wird sich schon wundern, was ich dauernd im Haus zu tun hab’.« »Keine Sorge. Sie ist nicht da.« »Trotzdem.« »Dann später?« »Vielleicht«, antwortete Keith mit einem Zwinkern, bei dem Oscars Herz einen Schlag aussetzte. Angesichts von Oscars Reaktion grinste Keith plötzlich und zeigte zwei Reihen blitzend weißer ebenmäßiger Zähne. Oscar fühlte sich einer Ohnmacht nahe vor Verzükkung. Der Tag war erst halb um, aber schon jetzt wußte er, daß es ein Tag war, den er nie vergessen würde. Gleich am nächsten Morgen hängte sich Oscar ans Telefon und rief bei Suntravel an. »Ich mache mir entsetzliche Sorgen um Oliver«, sagte er in besorgtem Ton zu Ruth, der Sekretärin. »Er ist gestern abend nicht nach Hause gekommen, und ich habe nichts von ihm gehört. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein kann?« »Leider nicht, Mr. Knudsen. Wie ich Ihnen schon gestern sagte, wird er erst am Montag im Büro zurückerwartet.« »Er hat nichts darüber gesagt, was er zu tun hatte?«
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»Nein. Er sagte nur, er hätte private Angelegenheiten zu regeln und nähme sich drei Tage frei.« »Wo, um alles in der Welt, kann er nur sein?« sagte Oscar in dem angstvollen Ton, den er sorgsam einstudiert hatte. »Wir wollten gestern abend zum Essen ausgehen. Es war ein besonderer Anlaß, und er ist überhaupt nicht nach Hause gekommen. Es wird ihm doch nichts passiert sein!« »Es ist wirklich merkwürdig«, meinte Ruth vorsichtig. »Ich werde mal in der Firma herumfragen, ob jemand weiß, was er für Pläne hatte. Vielleicht hat er zu einem der anderen Direktoren etwas gesagt. Ich rufe Sie dann gleich zurück.« »Das wäre sehr nett von Ihnen. Vielen Dank. Ich bin wirklich ganz außer mir vor Sorge.« »Ich bin sicher, es gibt eine ganz einfache Erklärung, Mr. Knudsen.« »Ach, wenn ich das doch glauben könnte«, erwiderte Oscar. Zehn Minuten später läutete das Telefon. Oscar meldete sich sofort. Ruth sollte wissen, wie ungeduldig er auf ihren Anruf gewartet hatte. »Ich kann Ihnen leider nichts Neues berichten, Mr. Knudsen. Ich habe mit Mr. Parker und mit Miss Satchel gesprochen, aber Mr. Knight scheint keinem von beiden mitgeteilt zu haben, was er vorhatte. Mr. Parker meinte, wenn Sie bis morgen nichts von ihm gehört haben, sollten Sie die Polizei benachrichtigen. Und er sagte, Sie könnten ihn übers Wochenende jederzeit zu Hause erreichen, wenn Sie ihn brauchen.« »Bitte richten Sie ihm aus, daß ich mich sofort mit der Polizei in Verbindung setzen werde. Ich halte es nicht aus, noch einmal vierundzwanzig Stunden untätig zu warten. Ich bin sicher, daß etwas passiert ist…« »Bitte beruhigen Sie sich, Mr. Knudsen. Es wird sich bestimmt alles in Wohlgefallen auflösen«, versetzte Ruth, und Oscar hätte beinahe gelacht. Doch er dankte ihr mit ersterbender, trostloser Stimme für ihre Hilfe. Später rief er auf der Polizei an und sagte, er wolle eine Vermißtenmeldung aufgeben. Der Beamte am anderen Ende der Leitung notierte sich die üblichen Angaben, ließ sich das Kennzeichen von
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Olivers Wagen geben und versicherte Oscar, man würde sich bei ihm melden, sobald man etwas wüßte. Oscar dankte ihm überschwenglich und wiederholte noch einmal, wie besorgt er um das Wohlergehen seines Freundes sei. An diesem Abend holte Keith ihn nach Einbruch der Dunkelheit mit dem Auto ab, und sie fuhren zu einer einsamen Stelle, um zu parken. »Es macht mich verrückt, daß ich dich immer nur heimlich sehen kann«, beschwerte sich Oscar schmollend. »Wär’ doch blöd’, ein unnötiges Risiko einzugehen. Wir dürfen auf keinen Fall zusammen gesehen werden, bis ein bißchen Gras über die Sache gewachsen ist«, entgegnete Keith vernünftig. »Am Montag geh’ ich zum Anwalt und sag’ ihm, er soll die Sache ins Rollen bringen.« »Der kann nicht viel tun, solange die Leiche nicht gefunden ist.« »Bis dahin hat die Polizei bestimmt angefangen, sämtliche Weiher und Stauseen hier in der Gegend abzusuchen. Und wenn dabei nichts herauskommt, wird man eben einfach davon ausgehen müssen, daß Oliver tot ist.« Er lehnte den Kopf an Keiths Schulter. »Sag mir, daß du mich liebst.« »Red nicht solchen Quatsch.« »Wie meinst du das?« fragte Oscar gekränkt. »Na, ich hätt’ das ganze Theater gestern doch wohl kaum abgezogen, wenn ich dich nicht mögen würde, oder? Ich begehe einen Mord, und du fragst mich, ob ich dich liebe.« »Aber du liebst mich doch? Du magst mich nicht nur, sondern du liebst mich?« »Ach, Herrgott noch mal, hör auf damit.« Oscar zog sich schmollend zurück. Gerade jetzt, wo er sich nach einem Zeichen von Zuneigung sehnte, mußte Keith in dieser miesen Stimmung sein. Er wurde jedoch bald wieder heiter, als Keith vorschlug, am kommenden Samstag einen zusätzlichen Gartentag einzuschieben. Am nächsten Nachmittag legte Keith ein Blumenbeet an, während Oscar in seiner Nähe Unkraut jätete. Seine Aufmerksamkeit galt
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jedoch mehr dem faszinierenden Spiel von Keiths Muskeln als den Unkräutern. Keith hielt plötzlich inne und sah zu Oscar hinüber. »Das Telefon läutet«, sagte er. »Oh, das habe ich gar nicht gehört.« Oscar fuhr aus seinen Träumen empor. »Es läutet immer noch.« Oscar lief ins Haus und hob ab. »Ist dort Mr. Knudsen?« fragte eine Männerstimme. »Ja, ich bin selbst am Apparat.« »Hier spricht Sergeant Claymore. Sie haben vorgestern wegen einer Vermißtenanzeige angerufen. Es handelt sich um einen Mr. Knight. Soviel ich weiß, wohnte er bei Ihnen.« »Das ist richtig. Wir wohnen seit zwei Jahren im Maple Cottage.« »Wir haben seinen Wagen sichergestellt, aber von ihm selbst ist keine Spur zu finden.« »Wo war der Wagen?« fragte Oscar mit dem richtigen Maß von Erschrecken. »Er stand auf einem Waldweg im Effingham Forst. Er war abgeschlossen und ist meiner Ansicht nach nicht angerührt worden, seit er dort abgestellt wurde.« »War seine Aktentasche noch im Wagen?« Es folgte eine kurze Pause, während Sergeant Claymore offenbar in seinen Unterlagen nachsah. »Es war keine Aktentasche im Wagen.« »Oh.« »Vermutlich hat er sie mitgenommen, und das läßt darauf schließen, daß er am Leben ist und es ihm gutgeht. Wenn er die Absicht gehabt hätte, sich das Leben zu nehmen, hätte er sich wohl kaum die Mühe gemacht, die Aktentasche mitzunehmen.« »Vielleicht doch«, meinte Oscar vorsichtig. »Höchst unwahrscheinlich. Aber wie dem auch sei, im Augenblick gibt es keinerlei Hinweise darauf, daß er plötzlich zu Tode gekommen ist.« »Aber was kann ihm denn passiert sein?« rief Oscar in erregtem Ton.
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»Sie können diese Frage eher beantworten als ich, Mr. Knudsen. Sie kannten ihn.« »Ich bin ganz sicher, daß etwas Schreckliches geschehen ist. Ich meine, er bricht hier morgens auf, um in sein Büro zu fahren, kommt aber niemals dort an, und dann entdeckt man seinen Wagen leer und verlassen an einem Ort, der völlig abseits von seiner normalen Fahrtroute liegt.« »Solche Dinge sind schon vorgekommen.« »Aber es ist völlig untypisch für Oliver. Er ist der ordentlichste und systematischste Mensch, den ich kenne.« »Nun, die Polizei kann im Moment jedenfalls nicht mehr tun, als ihn in die Vermißtenliste aufzunehmen.« »Aber Sie werden doch eine Suchaktion veranlassen?« »Erst wenn es Hinweise dafür gibt, daß ein Verbrechen vorliegen könnte. Und zum Glück gibt es solche Hinweise nicht.« Sergeant Claymore mochte finden, daß das ein Glück war, – Oscar war entschieden anderer Meinung. Er ging wieder in den Garten und berichtete Keith von seinem Gespräch. »Was hast du mit seiner Aktentasche gemacht?« fragte er. »Ich hab’ sie beschwert und auch ins Wasser geschmissen.« »Es wäre vielleicht besser gewesen, sie im Wagen zu lassen. Und auch Spuren eines Kampfes zu hinterlassen.« »Das fällt dir ein bißchen spät ein«, versetzte Keith in einem Ton, der nicht eben freundlich war. »Ich will dich ja nicht kritisieren«, versicherte Oscar hastig. »Aber irgendwie müssen wir die Polizei dazu bewegen, daß sie in der Kiesgrube sucht. Im Augenblick glaubt man dort offensichtlich, Oliver hätte mich einfach verlassen. Das hörte ich ganz deutlich am Ton des Beamten. Obwohl man sich fragen müßte, warum er seinen Wagen hätte stehenlassen sollen, wenn das der Fall wäre. Das mag die Polizei logisch finden, aber jeder andere wird es unlogisch finden.« »Geh rein und setz Wasser auf«, sagte Keith nach einem kurzen Schweigen. »Ich hab’ Lust auf eine Tasse Tee.« »Vielleicht hast du auch noch auf was anderes Lust«, bemerkte Oscar mit einem verheißungsvollen Lächeln. »Vielleicht.«
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Doch kaum war Keith gegen Abend wieder gefahren, da kehrten Oscars Ängste zurück. Warum klappte nicht alles so reibungslos, wie er sich das vorgestellt hatte? Der Sonntag war genau so zermürbend und unerträglich wie Oscar erwartet hatte. Er hatte das Gefühl, der Tag würde niemals enden, während er rastlos im Haus umherging, eine Zigarette nach der anderen rauchte, schwarzen Kaffee in Mengen in sich hineinschüttete, während er von Minute zu Minute nervöser wurde. Keith war an die Küste hinuntergefahren, um seine Großmutter zu besuchen, seine nächste Angehörige, bei der er aufgewachsen war. Seinen Vater hatte er nie gekannt, und seine Mutter war mit einem amerikanischen Soldaten auf und davon gegangen, als er gerade erst wenige Monate alt gewesen war. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis war er in die Gegend von Dorking gezogen, lebte jetzt in einem Heim und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Gelegenheitsarbeiter und Aushilfsgärtner. Oscar hatte ihn begleiten wollen, hatte gesagt, er würde am Strand Spazierengehen, während Keith bei seiner Großmutter war, aber Keith hatte davon nichts wissen wollen. Oscar hatte sich also mit seinem Versprechen zufriedengeben müssen, ihn gleich nach seiner Rückkehr anzurufen. Der Anruf kam gegen acht Uhr, als Oscar so weit war, daß er meinte, die Wände hochgehen zu müssen. »Gott sei Dank, daß du’s bist, mein Schatz«, rief er beinahe schluchzend. »Ich bin fast wahnsinnig geworden. Das war der schlimmste Tag meines Lebens.« »Wieso denn? Was ist los?« »Ich war den ganzen Tag allein. Ich habe keinen Ton geredet, und du hast mir entsetzlich gefehlt.« »Ach so, das ist alles?« »Ist es nicht genug?« »Ich dachte, du würdest eure Freunde anrufen und ihnen von Olivers Verschwinden erzählen.« »Das hab’ ich versucht. Ich hab’ bei Desmond und Tony angerufen und bei Patrick und Ian, aber alle sind übers Wochenende weggefahren.«
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»Und von der Polizei hast du nichts Neues gehört?« »Nicht ein Wort.« Er wußte, daß Keith gleich auflegen würde, wenn er das Gespräch nicht in Gang hielt, und sagte deshalb verzweifelt: »Wie geht es deiner Großmutter?« »Gut.« »Sie hat sich wohl gefreut, dich zu sehen?« »Ja.« »Wie war der Verkehr?« »Nicht schlimm.« »Wann sehe ich dich wieder?« fragte Oscar flehentlich. »Ich ruf’ dich morgen abend an.« »Warum kommst du nicht zum Essen vorbei? Du kannst doch irgendwo abseits parken, dann merkt kein Mensch, daß du hier bist.« »Wär ’ne Möglichkeit.« »Ich koche dir dein Lieblingsessen. Eine schöne Fleischpastete und hinterher Mousse au Chocolat.« »O. k. aber brat mir lieber ein Steak. Fleischpastete hatte ich heute bei meiner Großmutter.« »Alles, was du willst, mein Schatz.« »Ein dickes Filetsteak mit allen Schikanen.« Oscar schnurrte förmlich vor Wonne. »Dein Wunsch ist mir Befehl. Wenn wir erst zusammenleben, kannst du dreimal am Tag Steak essen.« Keith lachte leise. »Hoffen wir, daß Olivers Geld reicht.« Am nächsten Morgen rief Oscar einen Freund an, der Rechtsanwalt war. Er hielt das für klüger als direkt bei dem Anwalt in London anzurufen, der sich um seine und Olivers Angelegenheiten kümmerte. »Oscar hier, Peter. Ich hätte gern einen Rat von dir als Freund und Anwalt. Ich bin in höchster Unruhe wegen Oliver. Er ist verschwunden. Er ist am letzten Donnerstag morgen hier weg, um ins Büro zu fahren und ist nie dort angekommen. Und niemand hat etwas von ihm gehört. Die Polizei hat seinen Wagen gefunden, er stand verlassen in einem Wald, aber von Oliver gibt es keine Spur. Ich bin überzeugt, daß ihm etwas zugestoßen ist.« »Du meinst, du fürchtest, daß er tot ist.«
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»Ja«, bekannte Oscar leise. »Hat die Polizei eine Fahndung eingeleitet?« »Nein. Sie sagen, es gibt keine Hinweise darauf, daß ein Verbrechen vorliegt«, erklärte Oscar entrüstet. »Und was für einen Rat möchtest du nun von mir?« »Wie lange dauert es, bis Oscar für tot erklärt wird?« »Sieben Jahre. Aber es ist damit zu rechnen, daß man seine Leiche früher findet, wenn er tatsächlich tot sein sollte.« »Und wenn man sie nicht findet?« »Dann muß man sieben Jahre warten, ehe man ihn für tot erklären lassen kann.« Oscar war wie vor den Kopf geschlagen, als er auflegte. Mit zitternder Hand zündete er sich eine Zigarette an. Es gab nur eine Möglichkeit: Olivers Leiche mußte gefunden werden. Bald. Vier Zigaretten und zwei Tassen Kaffee später beschloß Oscar, die Polizei anzurufen. Von Sergeant Claymore hatte er sich das Bild eines noch recht jungen, gut gebauten, dunkelhaarigen Mannes zurechtgebastelt. Als Grundlage dafür nahm er die kurz angebundene Art, die der Sergeant am Telefon an den Tag legte. Als Sergeant Claymore sich tatsächlich meldete, wurde Oscar abrupt aus seinen Träumen gerissen. »Ich hätte gern gewußt, ob sich über das Wochenende irgend etwas Neues ergeben hat.« »Leider gar nichts.« »Ich weiß nicht mehr, ob ich Ihnen gesagt habe, daß Oliver am Tag seines Verschwindens offenbar gar nicht in seinem Büro erwartet wurde. Tatsache ist, daß er auch am vorhergehenden Tag nicht im Büro war.« »Nein, das haben Sie mir nicht gesagt, Mr. Knudsen«, antwortete Sergeant Claymore noch zackiger als sonst. »Aber ich hörte es, als ich mit einem der anderen Direktoren der Firma sprach.« »Oh! Ich wußte nicht, daß Sie mit dem Büro Verbindung aufgenommen haben.« »Aber das ist doch selbstverständlich. Das war reine Routinesache.«
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»Aber wenn ich mich recht erinnere, sagte ich Ihnen doch, daß er in letzter Zeit ziemlich niedergeschlagen wirkte«, fuhr Oscar fort. »Nein, das haben Sie mir auch nicht gesagt.« Oscar lachte nervös. »Ich bin so in Sorge um ihn, daß ich gar nicht mehr weiß, was ich gesagt und was ich nicht gesagt habe. Aber das ist einer der Gründe, weshalb ich fürchte, daß er – daß er vielleicht etwas Unüberlegtes getan hat.« »Daß er sich das Leben genommen hat, meinen Sie?« »Ja, davor habe ich Angst.« »Dazu hätte er wohl kaum einen Reisepaß gebraucht.« »Seinen Reisepaß?« wiederholte Oscar töricht. »Ja, habe ich Ihnen das nicht gesagt? Der Direktor, mit dem ich gesprochen habe, sagte mir, daß er seinen Reisepaß aus der Schublade genommen haben muß, in der er ihn immer verwahrte, als er am letzten Dienstag die Firma verließ. Der Paß ist nämlich nicht mehr da.« »Wie seltsam«, sagte Oscar mit einem Gefühl, als wäre er ins Leere getreten. »Ob es nun seltsam ist oder nicht, es sieht nicht danach aus, daß er die Absicht hatte, sich das Leben zu nehmen. Wahrscheinlicher ist, daß er eine Reise plante. Aber davon hat er Ihnen wohl nichts gesagt?« »Nein, niemals.« Oscar schluckte und wünschte, das Gespräch würde ein rasches Ende finden, aber Sergeant Claymore war noch nicht fertig. »Ich habe außerdem mit seinem Anwalt gesprochen«, fuhr er jetzt fort. »Mr. Knight hat offenbar vor kurzem seine Angelegenheiten neu geregelt. Er setzte beispielsweise ein neues Testament auf. Sind Sie noch da, Mr. Knudsen?« »Ja, ja, ich höre«, versicherte Oscar heiser. »Ich nehme an, das wußten Sie nicht.« »Nein.« »Das alles bringt einen zu der Überzeugung, daß Mr. Knight durchaus am Leben und kerngesund ist, wenn wir auch im Moment nicht wissen, wo. Ich würde mir also an Ihrer Stelle keine allzu gro-
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ßen Sorgen machen. Ich denke, ich werde mich in absehbarer Zeit noch einmal bei Ihnen melden.« Damit legte Sergeant Claymore auf und ließ einen völlig niedergeschmetterten Oscar zurück. »Was ist denn jetzt wieder los?« fragte Keith, als er an diesem Abend kam. Die Frage war überflüssig. Nichts hätte Oscar davon abhalten können, ihm in allen schmerzlichen Einzelheiten zu berichten, was er an diesem Tag durchgemacht hatte. Während Oscar erzählte, goß Keith sich einen Scotch ein. »Das ist ja ein schöner Mist«, sagte er, als Oscar zum Ende gekommen war. »Und was ist das für eine Geschichte mit dem geänderten Testament?« Oscar zuckte hilflos die Achseln. »Ich wollte, ich wüßte es. Aber ich kann wohl kaum den Anwalt anrufen und ihn danach fragen.« »Warum nicht?« »Weil er es mir nicht sagen würde. Damit würde er seine Pflicht gegenüber seinem Mandanten verletzen.« »Obwohl du und Oliver wie Mann und Frau zusammengelebt habt?« »Trotzdem.« »Schade, daß du daran nicht früher gedacht hast. Überhaupt habe ich das Gefühl, daß du eine ganze Menge nicht bedacht hast. Die Sache mit der Todeserklärung zum Beispiel. Eines ist sicher, es wäre das beste, wenn die Polizei die Leiche nicht findet.« »Aber sie muß doch gefunden werden.« »Damit man sieht, daß er ermordet worden ist? Du hast wohl total den Verstand verloren?« »Aber es gibt doch keinerlei Hinweise, die uns damit in Verbindung bringen würden. Und vielleicht sieht es ja wie Selbstmord aus.« »Wo er Würgemale am Hals hat und sämtliche Taschen voller Steine?« »Ich könnte ja sagen, er hätte mir einmal erzählt, wenn er je Selbstmord verüben sollte, würde er ins Wasser gehen.«
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»Mensch, da würden die Bullen doch sofort was wittern. Die würden dich ausdrücken wie ’ne Tube Zahnpasta.« »Aber sie würden nichts aus mir herausbekommen.« »Würden sie schon, wenn sie nur genug Druck machen. Die haben da Übung. Und du kämst vielleicht noch auf die glorreiche Idee, alles mir in die Schuhe zu schieben.« Oscar stieß einen Schrei des Jammers und der Empörung aus. »Wie kannst du so etwas sagen, wo ich nichts anderes möchte, als den Rest meines Lebens mit dir verbringen! Habe ich das alles nicht einzig und allein für dich getan?« »Und wie steht’s mit mir? Ich bin doch der Dumme bei dem Spiel. Ich trag’ das ganze Risiko.« »Wir dürfen uns nicht streiten, Liebster«, sagte Oscar im Ton mühsam unterdrückter Hysterie. »Es wird alles gut, das verspreche ich dir. Das ist doch nichts weiter als ein kleiner Knoten in unseren Plänen.« »Mir kommt’s eher vor wie ein verdammt dicker Kloß«, bemerkte Keith und goß sich noch einen Whisky ein. Die Mahlzeit, die folgte, war nicht gerade ein Erfolg. In seinem Zustand der Benommenheit briet Oscar die Steaks viel zu lange, und die Mousse au Chocolat hatte Klümpchen. Nach dem Essen blieb Keith allen Verführungskünsten Oscars gegenüber kalt, und der Abend endete äußerst unbefriedigend. Nach einer ruhelosen Nacht fiel Oscar schließlich gegen fünf Uhr in einen schweren, traumlosen Schlaf. Das beharrliche Läuten der Türglocke weckte ihn, und als er mit verklebten Augen zum Schlafzimmerfenster hinausspähte, sah er vor dem Tor eine große blaue Limousine stehen. Hastig kämmte er sich das Haar, fuhr in seinen Kimonohausmantel, lief hinunter und öffnete. »Mr. Knudsen? Ich bin Sergeant Claymore, wir haben einige Male miteinander telefoniert. Ich scheine Sie aus dem Bett geholt zu haben.« »Ich weiß nicht einmal, wie spät es ist«, murmelte Oscar dumpf. »Gerade zehn vorbei. Darf ich hereinkommen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, trat er ins Haus, und Oscar schloß die Tür hinter
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ihm. »Gehen Sie ruhig hinauf und ziehen Sie sich an. Wenn Sie mir zeigen, wo alles ist, mache ich uns inzwischen eine Tasse Kaffee.« Oscar nickte nur. Sergeant Claymore sah fast genauso aus, wie er ihn sich vorgestellt hatte, groß, schlank und sportlich. Er war freundlich auf eine unverbindliche Art. Vielleicht konnte man dazu übergehen, sich gegenseitig beim Vornamen zu nennen. Das wäre zwangloser und brächte Vorteile. Zehn Minuten später kehrte Oscar in einem weißen Rolli und roter Cordhose in die Küche zurück. »Ich habe mich sogar rasch noch rasiert«, sagte er und schenkte Sergeant Claymore ein hoffnungsvolles Lächeln. »Wenn ich das mal sagen darf, Sie sehen genauso aus, wie ich Sie mir vorgestellt habe.« »Oh!« Sergeant Claymore schien einen Moment lang perplex, faßte sich aber schnell und sagte: »Ich dachte, es wäre Ihnen sicher lieber, wenn ich zu Ihnen komme, Mr. Knudsen, als wenn ich Sie aufs Revier kommen lasse.« In seinem Ton war ein Anflug von Härte, der vorher nicht darin zu hören gewesen war. Oscar nahm das Tablett, auf das er zu Kaffee und Geschirr noch eine Schale mit teuren französischen Keksen gestellt hatte, und ging ins Wohnzimmer voraus. »Ich will gleich zur Sache kommen, Mr. Knudsen«, sagte Sergeant Claymore, während Oscar eine Miene höflichen Interesses aufsetzte. »Es würde mich interessieren, wieso Sie so sicher sind, daß Mr. Knight tot ist.« Oscar zwinkerte. »Wenn jemand, mit dem man sechs Jahre lang zusammengelebt hat, plötzlich verschwindet, fürchtet man einfach automatisch das Schlimmste. Ich bin immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Ich kann es nicht fassen, daß er einfach so fortgegangen sein soll.« »Der Grund könnte nicht vielleicht sein, daß Sie an seinem Verschwinden beteiligt sind?« »Beteiligt? Ich – ich kann Ihnen nicht folgen«, antwortete Oscar und schluckte krampfhaft. »Daß Sie vielleicht seinen Tod geplant haben?« »Das kann nicht Ihr Ernst sein«, rief Oscar und stellte hastig seine Tasse ab, aus der beinahe der Kaffee geschwappt wäre.
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»Ich habe Oliver geliebt. Sie verstehen das vielleicht nicht, aber Sie können mir glauben, daß Homosexuelle der gleichen Liebe fähig sind wie gewöhnliche Ehepaare.« »Aber mit den gleichen Zwistigkeiten und Hinterhältigkeiten«, bemerkte Sergeant Claymore gelassen. »Oliver und ich haben nie gestritten.« »Aber auf meine Frage zurückzukommen – warum sind Sie so versessen darauf, mich davon zu überzeugen, daß Ihr Freund nur tot sein kann?« »Ich habe so eine schreckliche Vorahnung.« »Von Ihnen beiden hatte doch er das Geld?« »Ja.« »Um es ganz unverblümt zu sagen, Mr. Knudsen, er hat Sie also ausgehalten?« »Nur in dem Sinn wie ein Mann seine Ehefrau aushält. In jeder anderen Hinsicht haben wir alles, was unser Zusammenleben betraf, miteinander geteilt.« »Was glauben Sie denn, was ihm zugestoßen ist? Es ist klar, daß Sie glauben, er sei tot, aber wie, vermuten Sie, fand er den Tod?« »Wie ich gestern schon am Telefon sagte, war er in letzter Zeit niedergeschlagen…« »Und da beschloß er, sich das Leben zu nehmen?« Oscar nickte. »Und was würden Sie meinen, wie er es getan hat?« »Er hat einmal zu mir gesagt, er würde ins Wasser gehen, wenn er sich je das Leben nehmen wolle. Das wäre das Einfachste und mit den geringsten Schmerzen verbunden.« »Er fährt also am letzten Donnerstag morgen los, wie immer, läßt seinen Wagen im Effingham Forst stehen und sucht sich ein Wasser, wo er sich ertränken kann. Sehen Sie es so?« »Wir wissen natürlich inzwischen, daß er gar nicht vorhatte, an dem Tag in sein Büro zu fahren.« »Natürlich nicht, wenn er an Selbstmord dachte.« »Und er war auch am vorhergehenden Tag nicht im Büro.« »Vielleicht nutzte er den Tag, um das Terrain zu sondieren.«
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»Ich habe nicht den Eindruck, daß die Polizei die Angelegenheit sehr ernst nimmt«, sagte Oscar förmlich. »Oh, da irren Sie sich, Mr. Knudsen. Es ist mir bitterernst. Aber vergessen wir den Selbstmord mal einen Moment. Was sonst könnte ihm Ihrer Meinung nach zugestoßen sein?« »Er könnte vielleicht ermordet worden sein«, sagte Oscar schaudernd. »Und wie soll es dazu gekommen sein?« »Er hat immer Tramper im Auto mitgenommen. Junge Männer vor allem. Ich habe ihm oft gesagt, wie gefährlich so etwas ist, wie leicht man von so einem Burschen überfallen und ausgeraubt werden kann, aber er hat alle meine Warnungen in den Wind geschlagen. Er behauptete, die jungen Leute wären häufig sehr interessant und auf jeden Fall unterhaltsamer als das Radio.« »Sie glauben also, er könnte von einem Tramper ermordet worden sein?« »Es wäre eine Möglichkeit.« »Sie meinen, wir sollten ihr nachgehen?« fragte Sergeant Claymore nachdenklich. »Unbedingt.« »Halten Sie diese Möglichkeit für wahrscheinlicher als die Selbstmordtheorie?« »Ich weiß nicht. Ja, ich denke, sie ist wahrscheinlicher«, antwortete Oscar mit nachdenklich gekrauster Stirn. »Würden Sie es etwa so sehen: Der Tramper bringt ihn dazu, aus irgendeinem Grund anzuhalten, sie steigen beide aus dem Wagen und gehen zusammen weg, der Tramper überfällt und tötet Mr. Knight, schafft die Leiche beiseite, nachdem er alles Geld an sich genommen hatte, das Mr. Knight bei sich hatte…« »Oliver hatte nie weniger als zweihundert Pfund in seiner Brieftasche«, warf Oscar ein. »Na bitte, da haben wir’s schon.« »Ich denke, es könnte sich leicht so abgespielt haben«, sagte Oscar, bemüht, seine Befriedigung nicht zu zeigen. »Es gibt allerdings eine Alternative«, versetzte Sergeant Claymore, während er Oscar mit stählernem Blick fixierte.
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»Was für eine Alternative?« »Die, die ich schon vorhin erwähnte. Daß Sie an seinem Verschwinden Anteil hatten. An seiner Ermordung, um genau zu sein.« Das Zimmer schien plötzlich zu kippen, und Oscar umklammerte die Armlehnen seines Sessels. Ungläubig starrte er den Sergeant an, aber kein Wort wollte ihm über die Lippen. »Die Polizei ist nicht ganz so einfältig, wie manche Leute glauben«, fuhr Sergeant Claymore fort. »Wir akzeptieren nicht alles, was man uns erzählt hat, ohne Frage. Wir sehen uns um, machen unsere Ohren auf und forschen dann hier und dort etwas näher nach.« »Das ist eine unglaubliche – ungeheuerliche Unterstellung«, brachte Oscar nun endlich hervor. »Welches Motiv könnte ich denn haben, um Oliver zu ermorden?« »Das haben Sie mir bereits selbst gesagt.« Er sah sich im Zimmer um. »Sie erben dies alles hier und noch mehr.« »Im übrigen habe ich für den ganzen vergangenen Donnerstag ein Alibi. Ich war hier, zu Hause.« »Ich habe nie gesagt, daß Sie Mr. Knight ermordet haben. Ich bin überzeugt, daß Sie die Tat selbst nicht begangen haben, aber Sie waren zweifellos an ihr beteiligt. Sie hatten den größeren Anteil daran.« Oscar bemühte sich, geringschätzige Verachtung zur Schau zu tragen, aber sein Gesicht war zu einer Maske panischer Angst erstarrt. »Um es amtlich auszudrücken, Mr. Knudsen«, fuhr Sergeant Claymore fort, »Sie verschworen sich, Mr. Knight zu ermorden.« »Ich verschwor mich? Mit wem soll ich mich verschworen haben, wenn ich fragen darf?« Sergeant Claymore maß ihn mitleidig. »Muß ich Ihnen das wirklich beantworten? Sehen Sie, wir haben Keith Offingham aufgegriffen, als er gestern abend hier wegging. Wir haben uns lange mit ihm unterhalten, und er hat uns alles gesagt.« »Das glaube ich Ihnen nicht. Außerdem hat er Ihnen wahrscheinlich sowieso lauter Lügen aufgetischt.« »Lügen? Wie Sie Ihren Plan ausarbeiteten, der voraussetzte, daß er sich verkleidete und Mr. Knight unterwegs anhielt. Wie Sie und er
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zusammenleben wollten, sobald Sie an den Nachlaß Mr. Knights herankämen. Lügen?« »Er ist ein geldgieriges Schwein«, schrie Oscar hysterisch. »Alles, was er getan hat, war seine Idee.« »Darüber müssen die Geschworenen entscheiden, Mr. Knudsen.« Oscar schlug die Hände vor sein Gesicht und überließ sich unkontrolliertem und geräuschvollem Schluchzen, während Sergeant Claymore ihn unbewegt betrachtete. In den Tagen danach schwankte Oscar zwischen abgrundtiefem Selbstmitleid und bitterbösem Haß, die in ohnmächtige Wut umschlugen, als er erfuhr, daß Keith die Kronzeugenregelung für sich in Anspruch genommen hatte und nun beim Prozeß nicht neben ihm auf der Anklagebank sitzen, sondern als Zeuge der Anklage gegen ihn aussagen würde. In dieser Zeit erhielt er einen Brief, der in Florenz abgestempelt war und folgenden Inhalt hatte: »Lieber Oscar, in einer Hinsicht hattest Du absolut recht: Keith stinkt wirklich nach Kompost. Es fiel mir auf, sobald er in den Wagen stieg. Welcher Art auch seine Fähigkeiten als Liebhaber sein mögen, als potentieller Mörder hat er kaum welche. Zugegeben, ich hielt sämtliche Trümpfe in der Hand, sobald ich ihn überwältigt hatte, und er war klug genug einzusehen, daß er sich in einer äußerst prekären Lage befand. Dennoch akzeptierte er meinen Gegenplan mit einer Bereitwilligkeit, die kaum schmeichelhaft für Dich war. Ich würde für einige Zeit ›verschwinden‹, und er würde vorgeben, die Tat vollbracht zu haben. Tatsächlich hatte ich schon einige Wochen vorher gemerkt, daß er für Dich mehr war als ein bloßer Helfer im Garten. Du warst immer verschlagen, Oscar, aber in diesem Fall warst Du auch unglaublich naiv. Dein ausgeklügelter Plan ließ viele Einzelheiten außer acht, Deine Hast und Deine Gier, Dein Ziel zu erreichen, haben Dich blind gemacht. Ich will mir weitere Ausführungen sparen und möchte Dir nur noch sagen, daß mein Tod Dir nicht die erwarteten Reichtümer gebracht
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hätte, da ich vor kurzem mein Testament geändert und Dich vom Erbe ausgeschlossen habe. Ich werde vor Deinem Prozeß wieder in England sein. Dein noch immer lebender OK.« Aus dem Englischen übertragen von Mechthild Sandberg-Ciletti
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John Wainwright Ein kluges Kind Vor fast einem Jahr entschloß ich mich, meinen Vater zu töten. Ja, ihn zu ermorden, als Vergeltung dafür, daß er sich nach dem Tod meiner Mutter wieder verheiratet hat. Ich habe genau gewußt, was ich tat. Das möchte ich betonen. Ein Fünfzehnjähriger von heute mit einer guten Erziehung kann sich, was die Grundlage der Moral betrifft, nicht auf Unwissenheit berufen. Ich habe genau gewußt, daß ich einen Mord plante. Einen Vatermord, um es deutlich beim Namen zu nennen. Und da ich imstande war, moralische Dinge einzuschätzen, war ich ebenso in der Lage, zu einer moralischen Entscheidung zu kommen. Er hatte es nicht verdient, zu leben. Bis zum Tod meiner Mutter waren wir eine überaus glückliche Familie gewesen – nur wir drei. Mutter war ein bißchen in mich vernarrt und hat mir gelegentlich das eine oder andere durchgehen lassen, während er dazu in mildem Tadel die Stirn runzelte, ohne ihr offenen Widerstand zu bieten. Schon lange bevor ich ins Teenageralter kam, hatte ich herausgefunden, daß er ein schwacher Mensch war. Mutter war der dominierende Partner in dieser Ehe, und wenn Stellung bezogen wurde, stand sie stets auf meiner Seite. Andererseits kann ich mich nicht daran erinnern, daß ich mich jemals ernsthaft danebenbenommen hätte. Hin und wieder gab es einen Schuljungenstreich, der etwas über die Stränge schlug oder so weit ging, daß er nicht mit ein paar Worten wieder beigelegt werden konnte. Hier und da spielte ich Mutter gegen den Vater aus, um selbst mit einer Sache durchzukommen. Aber das waren schon die Grenzen. Im großen und ganzen war ich glücklich und stets bereit, meinen Eltern zu gehorchen, denn ich liebte und respektierte sie. Und auch sie liebten mich… Ich kann mich nicht auf die Freudsche Entschuldigung berufen, ein ›mißverstandenes‹ Kind gewesen zu sein. Vielleicht standen wir einander zu nahe. Vielleicht waren wir zu sehr voneinander abhängig. Er und sie waren jahraus, jahrein beisammen, außer wenn er tagsüber in der Kanzlei arbeitete. Ich selbst
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lebte mein eigenes Leben und wollte es auch so haben. Ich lese viel. Bücher über alle möglichen Themen, die man sich denken kann. Reiseberichte und Geschichtsbücher, Biographien und Autobiographien. Ich lese auch Romane – sogar Kriminalromane –, aber immer hängt dabei im Hintergrund meiner Gedanken das Bewußtsein, daß Romane und fiktive Literatur nichts als die Äußerungen einer überaktiven Phantasie sind. All diese erdachten Morde kommen mir allzu kompliziert und verschachtelt vor, die Alibis sind zu leicht zu brechen. Der Täter ist meist schon von Anfang an zu erkennen – oder wenn nicht, ist die Lösung nicht selten lächerlich und unglaubhaft. Am meisten liebte ich seit eh und je die Literatur über Gerichtsverfahren. Echte Prozesse. Echte Mörder, törichte Menschen, weil sie sich hatten erwischen lassen. Ich glaube, am meisten faszinierte mich der Seddon-Prozeß. Frederick Seddon… Man bezeichnete ihn als den »gemeinsten und schlimmsten aller Mörder«, doch das habe ich nie so recht begreifen können. Um einen solchen Begriff einzuführen, müßte man ja den Preis eines Menschenlebens festlegen. Ich meine, eine Geldsumme. Ich habe verschiedene Berichte über den Seddon-Prozeß immer wieder gelesen und kann bis heute nicht die Vorstellung teilen, daß er Miss Barlow wegen ihres Geldes umgebracht hat. Sie hatte ja so wenig Geld, und außerdem war sie ihm lebendig ebenso wertvoll wie tot. Im Grunde gab es gar keinen Fall zu verfolgen oder zu verteidigen. Edward Marshall Hall hat das gewußt. Und Rufus Isaacs, der Ankläger, ebenso, davon bin ich überzeugt. O nein: Der Mann, der die Schlinge um Seddons Hals legte, war Seddon selbst. Er war überschlau. Zu sehr verliebt ins Rampenlicht. Hätte er keine Aussagen gemacht, hätte er sich geweigert, in den Zeugenstand zu treten, er hätte als ein freier Mann den Gerichtssaal verlassen. Aber so… Wir waren also, wie gesagt, eine sehr glückliche Familie. Ich meine wir, nicht die Seddons. Mutter war keine hinreißende Schönheit, aber auf ihre Weise recht hübsch. Eine Mittelklasse-Schönheit, vielleicht, aber das waren wir alle: sehr, sehr typische Vertreter der Mittelklasse. Vater arbeitete in einer Anwaltskanzlei. Er war natürlich nicht selbst Anwalt, aber er arbeitete in den abgeschiedenen Bereichen von
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Pergamenten, Urkunden und Gesetzesbüchern. Er befaßte sich meines Wissens vor allem mit dem notariellen Bereich der Kanzlei. Eine ziemlich fade Angelegenheit und nicht allzu technisch-juristisch. Es muß ein höchst langweiliger Job gewesen sein, doch das machte ihm nichts aus. Er war eben ein höchst langweiliger Mann. Keineswegs absichtlich unfreundlich, einfach monoton – und eben sehr, sehr langweilig. Er hatte seine Scherze und Witze, besser gesagt, ein bemerkenswert beschränktes Repertoire an Scherzen und Witzen. Und er stellte es mit einer Regelmäßigkeit zur Schau, daß sich mir oft der Magen umdrehte. Kaum war ein Stichwort gefallen, und ich wußte bereits, was dieser fade, langweilige Kerl von einem Vater als nächstes sagen würde. Mutter lachte dann immer pflichtschuldigst. Ein rasches, nachgiebiges Lachen, das nicht bis zu ihren Augen reichte. Manchmal schaute sie auch mich dabei an, als wollte sie sagen: »Können wir nicht etwas unternehmen, um diesen schrecklichen Mann davon abzuhalten, daß er immer dieselben törichten Dinge sagt?« Wir konnten es nicht. Wir konnten ihn nur tolerieren. Ich glaube, daß wir beide schweigend die Last der Toleranz auf uns nahmen bis zu dem Augenblick, an dem uns die Natur von ihm befreite. Seltsam: Es war eine unausgesprochene Vermutung, daß er als erster sterben würde. Ich glaube, das kommt in allen Familien vor, in großen und in kleinen. Ein Mitglied ist dafür vorgesehen, als erstes zu sterben. Das hat nichts zu tun mit dem Alter und nichts mit Krankheiten. Eine Art Herdeninstinkt, der die übrigen auf den Schock eines Verlusts im engen Kreis vorbereitet. Ich vermute, es ist eng verbunden mit dem Lebensgefühl. Vater zum Beispiel war eigentlich nie so richtig lebendig. Wenn man ihn in einer Haltung völliger Entspanntheit antraf, fiel einem als erstes auf, daß seine Mundwinkel nach unten gezogen waren. Sein natürlicher Ausdruck war der eines traurigen Menschen. Ein beständig betrübter Mann. Ja, vielleicht sogar ein trübsinniger Mensch. Und das war lächerlich. Ein kleiner Büroangestellter in der Kanzlei eines bedeutungslosen Anwalts verhielt sich so, als ob er eine unendliche Last auf seinen Schultern tragen müsse.
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So jung ich bin, habe ich doch schon viele Männer von Vaters Sorte erlebt. Graue, ein wenig unglückliche Personen ohne einen Tupfen Farbe. Und die meisten von leichten Verdauungsbeschwerden geplagt, genau wie Vater. Die ersten Anzeichen völlig unnötiger Magengeschwüre. Mutter dagegen war sehr charmant und bezaubernd – das heißt, sie wäre es noch viel mehr gewesen, wenn sie nicht diesen Mühlstein von Ehemann am Hals gehabt hätte. Sie besaß eine spontane Fröhlichkeit, die stets unter der Oberfläche sprudelte. Zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie und ich allein miteinander ausgingen – in ein Theater, ein Kino, ein Konzert –, versprühte sie Funken wie ein Brillant. Sie war eine völlig veränderte Frau, wenn sie ihn nicht bei sich hatte. Sie wurde unterhaltsam und amüsant, und manchmal vermutete ich sogar, daß sie mit einem der Männer, die in unserer Nähe saßen, ein wenig flirtete. Nichts Ernsthaftes natürlich, nichts Anrüchiges. Ein fröhlicher Austausch von Nettigkeiten, begleitet von einem Lächeln, für das sie zu Hause nur allzu selten Verwendung hatte. Und dann starb sie. Erst konnte ich es einfach nicht glauben. Der Rektor hatte mich kommen lassen, aus der Chemiestunde. Er bot mir einen Platz in seinem Arbeitszimmer an, dann sagte er es mir. Er tat sein Bestes, aber ich glaube, es gibt keine Möglichkeit, einem Sohn einen solchen Schicksalsschlag schonend beizubringen. »Ich habe schlechte Nachrichten für dich, mein Junge.« »Ja, Sir.« »Deine Mutter ist heute vormittag im Supermarkt zusammengebrochen. Ich fürchte, es ist eine ernste Sache.« »Wie ernst, Sir? Ist sie in einem Krankenhaus?« »Es tut mir leid, aber sie ist tot. Man nimmt an, es war ein Herzkollaps.« Es gab eine gerichtliche Voruntersuchung, dann kam die Beerdigung, und ich weinte kein einziges Mal. Übrigens Vater auch nicht. Bei mir war es eine Wunde, zu tief zum Weinen. Bei ihm war es – nichts. Ich hatte Mühe zu glauben, daß sie wirklich tot war. Ich nehme an, er
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hatte ähnliche Mühe, sich daran zu erinnern, daß sie überhaupt je gelebt hatte. Nachts, im Bett, starrte ich ins Dunkel und fragte mich, was für ein Mensch er wohl sein mochte. Was für ein merkwürdiges menschliches Wesen. Sicher, er war nicht böse… Weiß Gott, er war nicht übel. Er war nicht einmal ein harter Mensch. Ich hätte es verstanden, wenn er einer von den »männlichen« Typen gewesen wäre, bei denen Tränen ein Zeichen von Schwäche sind. Oder wenn er wie ich einen Kummer empfunden hätte, der zu tief war, um zu weinen. Aber davon konnte nicht die Rede sein. Er war weder das eine noch das andere. Er hatte sie ganz einfach aus seinem Leben gestrichen. Gelöscht aus seiner Erinnerung. Wie ein falsch geschriebenes Wort, das man ausstreicht. Sie war nicht mehr da, Ende. Einmal habe ich ihn mir vorgenommen. »Fehlt sie dir nicht?« fragte ich ihn. »Natürlich fehlt sie mir.« Aber er sagte es nur so, ohne es wirklich zu meinen. »Man merkt es dir aber nicht an«, warf ich ihm vor. »Ich bin ein Mensch, der nicht alles zeigt«, sagte er sanft. Dann, mit einem schnellen, halbherzigen Lächeln: »Eines Tages wirst du es wissen. Es gibt nichts Einsameres als ein Doppelbett.« »Es kann doch nicht das sein!« Mein Abscheu ließ mich ihm die Worte laut ins Gesicht spucken. »Nicht nur das«, korrigierte er mich. »Du bist noch jung. Du…« Peinlich berührt hielt er mitten im Satz inne. »Ich ›verstehe‹ das noch nicht«, beendete ich den Satz an seiner Stelle. Dann fügte ich hinzu: »Aber eines weiß ich, und ich bin ganz sicher: Mir fehlt sie. Mir fehlt sie ganz furchtbar. Weit mehr als sie dir fehlt – und in einer anderen Weise.« Er widersprach mir nicht, und das war auch schon das Ende des Gesprächs. Wir kamen nie mehr auf das Thema zu sprechen. Es gab diese Distanz zwischen uns – ein Spalt, der nicht überbrückt werden konnte. Dabei war er sehr gut zu mir. Er versagte mir nichts, soweit es innerhalb vernünftiger Grenzen lag, und er gab mir Freiheiten, die ich meinerseits nicht mißbrauchte. Es gab so etwas wie gegenseitige
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Achtung – aber keine Liebe. Nicht einmal wirklichen Respekt, zumindest nicht von meiner Seite. Ich hatte keine Tanten, keine Onkel, keine Großeltern. Meine Eltern waren Einzelkinder gewesen, genau wie ich. Doch das machte mir nicht viel aus. Ich hatte den Hausschlüssel, konnte kommen und gehen, wann ich wollte, und machte oft für uns beide das Abendessen, wenn Vater von der Kanzlei nach Hause kam. Ich war imstande, ein halbwegs zufriedenstellendes Leben zu führen, ohne die Hilfe von Erwachsenen. Auch ohne die Gesellschaft von Leuten in meinem Alter. Dabei hielt ich mich keineswegs für einen Sonderling. Ich interessierte mich nicht besonders für Sport, und ich hielt nichts von der Popmusik. Der größte Teil des Fernsehprogramms war mir zu seicht, aber wenn ich jeden Abend mit meinen Hausarbeiten fertig war, hatte ich ja meine Bücher. Die Frau hieß Angelica. Angelica! Aus dem Botanikunterricht wußte ich, daß Angelica eine Gartenpflanze war, deren Stiele und Blattrippen kandiert und für die Früchtekuchen zu Weihnachten benützt wurden. Eine Süßigkeit. Ein Nichts. Ich glaube, der Name paßte zu ihr. Ich weiß nicht, wie oder wann sie sich kennengelernt hatten. Keiner von ihnen schien es mir sagen zu wollen. Sie waren so ineinander vernarrt, daß sie sich nicht um die einfachsten Gebote der Höflichkeit kümmerten. Ich erinnere mich – es war kaum ein Jahr nach Mutters Tod vergangen –, daß Vater eines Abends aus der Kanzlei nach Hause kam und mir erklärte, er würde in ein Konzert gehen, noch an diesem Abend. Ein Streichquartett im hiesigen Konzertsaal. Ein Programm der Musikgesellschaft, nehme ich an. Und nach dem Konzert würde er mit Freunden zu Abend essen. Daran erinnere ich mich sehr genau. Mit Freunden, hatte er gesagt, Plural. Nicht mit einem Freund oder einer Freundin. Ich war überrascht. Es war so völlig untypisch für ihn. Ich gebe zu, es war mir keineswegs unangenehm. Ich selbst war am liebsten allein; dann konnte ich das tun, was ich tun wollte, ohne der leichten Spannung ausgesetzt zu sein, die sich allmählich zwischen uns aufgebaut hatte.
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Bevor er wegging, sagte er: »Du brauchst nicht zu warten, es kann ein bißchen später werden.« Wieder fühlte ich eine gewisse Überraschung, aber ich hatte keinen Grund zur Klage, solange ich mein eigenes Leben führen konnte und ich von ihm und seinem Zuhause abhängig war. Dennoch hörte ich ihn zurückkommen, als ich schon im Bett lag. Es war nach Mittemacht, und er summte leise vor sich hin. Von da an entwickelte es sich zu einer Gewohnheit, zweimal wöchentlich, manchmal noch öfter. Mal ein Konzert, mal das Kino oder eine Gilbert-und-Sullivan-Operette, aufgeführt von einem Laientheater. Es gab immer eine Ausrede, immer einen Grund – und danach immer ein »Abendessen mit Freunden«. Sein Charakter veränderte sich nach und nach, wenn auch nicht gegen mich. Er war auf einmal nicht mehr so ernst. Nicht mehr der getretene Hund. Seine Krawatten waren zwar noch lange nicht bunt, aber nicht mehr ganz so fade, und er trug nicht immer ein weißes Hemd. Auf unerklärliche Weise wurde er »anders«. Nicht auffallend – ein Mann wie er war einfach nicht in der Lage, aufzufallen. Aber eben anders. Dann, etwa sechs Monate nach diesem ersten Konzert, brachte er sie mit nach Hause, wieder einmal nach einem Konzert. Diesmal gab es kein »Abendessen mit Freunden«. Sie trafen um halb zehn ein – kurz, nachdem ich es mir mit der Lektüre einer der Sammlungen berühmter Prozesse gemütlich gemacht hatte. Ich hörte den Schlüssel im Schloß, das Öffnen und Schließen der Tür, ohne daß ich sehr darauf achtete. Danach war ich doch etwas überrascht, vielleicht auch ein wenig angewidert, als er sie in den Salon brachte und uns miteinander bekanntmachte. Aber ich behielt meine Abneigung für mich, weil er, wie ich mir sagte, ein schwacher Mensch war. Ein im Grunde törichter Mensch. Ein armseliger kleiner Mann, der sein eigenes, unwürdiges kleines Leben lebte und den ich noch ein paar Jahre lang ertragen mußte. Aber nach diesen paar Jahren…
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Dann erklärte er sehr steif: »Ich habe Angelica gebeten, meine Frau zu werden, und sie hat mir die Ehre gegeben, meinen Antrag anzunehmen.« Das traf mich nun völlig unvermittelt. Ich war zutiefst erschrocken über diese Bemerkung, sie traf mich völlig unvorbereitet. Ich glaube, ich konnte meinen Schock nicht verbergen, denn sie zeigte mir ein süßliches Lächeln und sagte: »Es macht dir doch nichts aus, mein Lieber?« »Ausmachen?« Ich hatte Mühe, mich wieder unter Kontrolle zu bringen. »Siehst du, mein Lieber, wir wollen ja nicht…« »Warum sollte es mir etwas ausmachen?« Ich klappte mein Buch zu, dann wiederholte ich die Frage, mit einer etwas anderen Betonung. »Warum sollte es mir etwas ausmachen?« »Natürlich macht es dir nichts aus.« Das glaubte dieser aufgeblasene kleine Narr, weil es mir gelungen war, mein Entsetzen und meine Wut zu verbergen. »Du bekommst wieder eine Mutter, nicht wahr?« Er heiratete sie zwei Monate später. Es wurde eine äußerst stille Hochzeit. Der Standesbeamte war ein fetter, schusseliger kleiner Mann mit lockerem Gebiß. Die beiden Trauzeugen waren mir vollkommen fremd. Ich glaube, der Mann kam aus der Kanzlei, bei der Vater arbeitete, und die Frau war die »Freundin der Braut«. Sie küßten sich alle pflichtgemäß nach der Zeremonie – aber niemand küßte mich, denn das hätte ich nicht zugelassen. »Er ist in dem schwierigen Alter.« Das ließ diese Angelica verlauten, als ich mich angewidert vor der Trauzeugin zurückbeugte. »Er hält es für Schwäche, irgendwelche äußeren Zeichen von Emotionen zu zeigen. Ist es nicht so, mein Lieber?« Das war auch so eine Sache. Sie bestand darauf, mich »Lieber« zu nennen. Ich wollte nicht ihr »Lieber« sein. Mir wäre es am liebsten gewesen, ich hätte sie nie kennengelernt. Sie fuhren zwei Wochen auf Hochzeitsreise. Irgendwohin, ich glaube, in die Nähe von Southport. Sie gaben mir die Adresse, bevor sie abreisten, aber ich schrieb ihnen nicht. Sie dagegen schickten mir die üblichen »Schade-daß-Du-nicht-hier-sein-kannst«-Postkarten.
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Vielleicht war das auch wirklich so – ich meine, vielleicht bedauerten sie es, daß ich nicht dabeisein konnte. Denn zu zweit mußten sie eine entsetzlich langweilige Gesellschaft abgeben. Dieses dümmlichschwärmerische, affektierte Weibsstück und der armselige kleine Mann mit seinem beschränkten Vorrat an witzigen Bemerkungen! Zwei Wochen im trauten Zusammensein mußten sie zum Wahnsinn getrieben haben. Aber vielleicht verbrachten sie die ganze Zeit damit, in Konzerte zu gehen oder »mit Freunden zu Abend zu essen«. Ich habe sie nie danach gefragt, und sie erzählten nie davon. In ihrer Abwesenheit plante ich den Mord. Ich entschied mich für Arsen. Was gut war für die Borgias, war gut genug für mich. Außerdem fand ich, daß das Gift eine gewisse »romantische« Bedeutung hatte. Man schreibt ihm eine aphrodisierende Wirkung zu. Ich glaube, die Formeln einiger kosmetischer Mittel enthalten sogar Arsen in geringen Mengen. Und um es mit einer typisch zynischen europäischen Bezeichnung auszudrücken: es ist das »Erbschaftspulver«, der poudre de succession. Deshalb das Arsen. Es war nicht allzu schwierig, an das Gift heranzukommen. Es stand im Chemielabor der Schule zur Verfügung, vorausgesetzt, daß man vorsichtig war beim Klauen. Ich besuchte die hiesige Bibliothek und schlug in Glaisters Gerichtsmedizin und Toxikologie nach. Dreihundert Gran, also nicht einmal eine Unze, waren mehr als genug. Ich entwendete es nicht auf einmal, sondern in vier Beutezügen. Es fiel niemandem auf. Ich verstaute das Gift in einem leeren Pillenfläschchen und versteckte dieses hinter meinen Büchern, auf einem Regal in meinem Schlafzimmer. Dann wartete ich. Ich wußte, daß er ein Mann war, der sich über alles mögliche Sorgen machte, so lange, bis er Verdauungsstörungen und Magenschmerzen bekam. Seltsamerweise schienen ihm die Eingeweide derzeit weniger Schwierigkeiten zu bereiten als sonst. Er war und blieb die armselige Karikatur eines richtigen Mannes, aber er nahm vermutlich seine kleinen Sorgen nicht mehr so schwer wie zuvor. Oder, genauer, sie lasteten nicht mehr so offensichtlich auf ihm.
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Vielleicht tat ihm diese neue Frau gut. Zumindest für eine begrenzte Zeit, und vielleicht haßte ich die beiden aus diesem Grunde noch mehr. Er hatte keinen Grund für Zufriedenheit. Mutter war seine Frau gewesen, war es moralisch gesehen auch jetzt noch, im Gegensatz zu diesem schwachköpfigen, kichernden Weibsstück mit dem lächerlichen Namen. Wenn ich zurückschaue, hat sich diese Wartezeit zu meinen Gunsten ausgewirkt. Ich hatte das Arsen aus dem Schullabor gestohlen, und der Chemielehrer war mehr als nachlässig, was die Überprüfung seiner Geräte und Grundsubstanzen betraf. Aber immerhin fehlten dreihundert Gran. Als Nachschub eintraf und zu dem gegeben wurde, was noch in dem Behälter vorhanden war, atmete ich auf. Jetzt besaß ich das Gift erst richtig, und niemand würde wissen, daß ich es hatte. Jetzt würde auch niemand mehr bemerken, daß es an anderer Stelle fehlte. Ich war absolut in Sicherheit. Danach stellte sich auch noch das Glück auf meine Seite. Er kam am Freitagabend nach Hause und hielt sich den Bauch. »Was ist, mein Lieber?« Sie hörte sich sehr besorgt an. »Bist du krank?« »Eine Magenverstimmung, nichts weiter. Ich habe einen scheußlichen Tag hinter mir.« »Soll ich den Arzt kommen lassen?« »Nein, nein.« Er spielte die Rolle des tapferen kleinen Dulders. »Das kommt und geht bei mir, periodisch. Ich habe noch die Kapseln, die mir der Doktor beim letztenmal gegeben hat. Ich nehme sie ein, zwei Tage lang, und sie wirken immer.« Ich kannte diese Kapseln. Sie gehörten zu meinem Plan, genau wie das Arsen. Der praktische Arzt in unserer Gegend war ein vielbeschäftigter Mann; zu beschäftigt, um einen Patienten mit wiederkehrenden Bauchschmerzen jedesmal neu zu untersuchen. Deshalb hatte er ihm ein Rezept mit der Anweisung »mehrfach zu wiederholen« ausgeschrieben. Außerdem war mein Vater ein Mensch, der Arzneimittel hortete. Im Medizinschränkchen im Bad standen Hunderte von Fläschchen und Schächtelchen, und dabei befand sich auch eine aus-
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reichende Menge von Kapseln, die bei früheren Magenverstimmungen verschrieben worden waren. Er sagte: »Vier davon täglich, dann bin ich bald wieder auf dem Damm.« Er ging früh zu Bett, und ich war entschlossen, dafür zu sorgen, daß er nie wieder aufstand. Am nächsten Morgen sagte das Weib, das Angelica genannt wurde, zu mir: »Ich muß die Einkäufe fürs Wochenende machen. Ich habe deinem Vater eine Kapsel gegeben. Du bist doch im Haus, oder?« »Gegen Mittag muß ich weg.« »Bis dahin bin ich zurück. Momentan schläft er. Ich gebe ihm eine zweite Kapsel, sobald ich wieder da bin vom Einkaufen.« Also hatte ich zwei Stunden Zeit, doch so viel brauchte ich gar nicht. Ich ließ ihr Zeit, um sicherzugehen, daß sie nicht mehr zurückkam, weil sie etwas vergessen hatte, dann schlich ich mich ins Schlafzimmer. Er schlief immer noch. Ich nahm das Fläschchen mit den Kapseln und ging nach unten. Dann breitete ich eine Zeitung auf der Arbeitsfläche in der Küche aus und begann mit dem Austauschen. Dabei präparierte ich eine Kapsel nach der anderen. Ich leerte ihren Inhalt in die Spüle, bei laufendem Wasser, dann füllte ich eine nach der anderen vorsichtig mit Arsen. Die Kapseln waren grün, und wenn ich die beiden Hälften wieder zusammengesteckt hatte, sahen sie genauso aus wie mit dem Zeug, das sie ursprünglich enthielten. Sobald ich eine gefüllt hatte, gab ich sie zurück in das Fläschchen. Es müssen mindestens vierzig Kapseln gewesen sein, und ich habe jede in der gleichen Weise behandelt. Dann ging ich wieder hinauf. Vater schlief noch immer, und ich stellte ihm das Fläschchen auf den Nachttisch. Einer plötzlichen, sehr phantasievollen Eingebung folgend, suchte und fand ich das Handarbeitskörbchen dieser Frau. Es enthielt mehrere Röllchen verschiedenfarbiger Garne, Nadeln, Fingerhüte, eine Schere und den üblichen Krimskrams; ich schob alles zur Seite und gab eine Spur von Arsen in die Ecke des mit Seidenstoff gefütterten Inneren, dann stellte ich das Körbchen zurück an seinen Platz. Schließlich wickelte ich den Rest Arsen, der noch übriggeblieben
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war, in eine Zeitung ein, brachte sie hinaus in den Garten, stopfte sie in den Verbrennungsofen und zündete sie an. Das Weib Angelica kam gegen Mittag zurück und fragte: »Wie geht es ihm?« »Als ich zuletzt nachsah, hat er geschlafen.« »Gut.« Sie stellte den Einkaufskorb ab. »Ich gehe jetzt hinauf zu ihm – Zeit, daß er die nächste Kapsel nimmt.« Er brauchte das ganze Wochenende zum Sterben. Es war ein schmerzvoller, entsetzlicher Tod. Alle klassischen Symptome einer Arsenvergiftung waren zu studieren. Ein brennender Schmerz im Magen. Schweres Erbrechen und Durchfall. Die beiden Idioten dachten, es sei eben eine schlimmere Form von Magenbeschwerden, und weil es Wochenende war, zögerten sie, den Arzt kommen zu lassen. Nachdem sie samstags die ganze Nacht über wach geblieben war, sagte sie am Sonntagmorgen zu mir: »Es nimmt ihn diesmal sehr her.« »Wirklich?« Sie beschrieb, was nachts geschehen war, und sagte dann: »Geh hinauf zu ihm, Lieber.« »Ich fürchte, das hilft ihm nicht viel.« »Nein, vermutlich nicht. Man sollte ihn nicht stören.« Sie zog die Stirn in Falten, dann fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich werde die Dosis seiner Kapseln verdoppeln.« »Das könnte helfen«, stimmte ich ihr zu. Ich borgte mir fünf Pfund von ihr, fuhr mit dem Bus hinaus aufs Land und machte einen Spaziergang. Es war ein schöner Tag. Ich genoß einen stillen Lunch in einem abgelegenen, kleinen Waldcafé, ging danach noch ein wenig spazieren und fuhr zuletzt mit dem Bus wieder zurück. Als ich das Haus betrat, schien sie in einer Art Panik zu sein. »Es geht ihm schlechter. Ich bin sicher, es geht ihm schlechter.« »Von der Magenverstimmung?« Ich lächelte. »Er hat Schmerzen. Furchtbare Schmerzen.« »Aber die Kapseln haben ihm doch früher immer geholfen«, murmelte ich.
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»Ich weiß«, jammerte sie. »Er bittet mich dauernd, daß ich ihm welche gebe, und ich kann es nicht mit ansehen und gebe sie ihm.« »Könntest du nicht einen Arzt rufen?« Der Vorschlag mußte gemacht werden, und sei es nur, um das Gesicht zu wahren. »Das sage ich doch dauernd.« Sie seufzte schwer. »Er will nichts davon wissen. Er will niemandem zur Last fallen. Aber wenn es morgen nicht besser geworden ist.« Doch ein »Morgen« sollte er nicht mehr erleben. Weil er ihn nicht behandelt hatte, konnte der Doktor keinen Totenschein ausstellen. Weil es keinen Totenschein gab, mußte eine gerichtliche Voruntersuchung anberaumt werden. Und weil es eine gerichtliche Voruntersuchung gab, mußte der Leichnam obduziert werden. Der Pathologe fand Spuren von Arsen. Die Polizei bemächtigte sich der restlichen Kapseln. Später kam die Polizei zurück und durchsuchte das Haus. Unter den Dingen, die sie mitnahm, befand sich auch das Handarbeitskörbchen. Am nächsten Morgen nahm die Polizei das Weib Angelica fest. Obwohl man mich verhörte, wobei ich die richtigen Antworten gab, wurde mir klar, daß ich das alles mit völliger Gleichgültigkeit und ohne irgendeine persönliche Beziehung betrachten konnte. Es war genauso, wie ich es geplant hatte, und alles lief glatt ab. Dabei fiel mir auf, wie ähnlich die Sache dem Fall Seddon war. Das gleiche Gift. Das gleiche Fehlen eines wirklichen oder naheliegenden Motivs. Die gleichen ärgerlichen Ergüsse, als der mutmaßliche Mörder verhaftet wurde – in diesem Fall eine Mörderin –, die gleiche, beleidigte Verärgerung auch bei der Gerichtsverhandlung. Es war in vielen Einzelheiten eine perfekte Parallele zum Fall Seddon. Und wie Seddon wurde auch sie verurteilt. Ich selbst versuchte, Mrs. Seddon noch zu übertreffen, was mir vorzüglich gelang. Diese feine Lady war, wenn Sie sich erinnern, gemeinsam mit ihrem Mann angeklagt worden, doch sie hatte sich im Gegensatz zu ihm so unauffällig wie nur möglich betragen. Sie gestattete es ihrem
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Mann, im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen, und brachte aus ihrer Position im Hintergrund die Anklage dazu, ihr die Rechtsvermutung der Unschuld zuzubilligen. Jeder einzelne Beweis, der ihren Mann belastete, hätte ebensogut auch sie belasten können. Aber davon war nicht die Rede. Im übertragenen Sinn kroch sie von der Bühne, während sich Frederick Henry Seddon zum Narren machte und dafür gehängt wurde. Sie dagegen wurde freigesprochen! Ich folgte der Weisheit von Mrs. Seddon. Ich hielt mich so still, daß sie mir nicht die geringsten Vorwürfe machten. Sie stellten mir ein paar Fragen, und ich bekämpfte, wie es unter den Umständen durchaus angebracht war, ein paar Krokodilstränen und beantwortete sie still und etwas vage. Damit gaben sie sich voll und ganz zufrieden. Nicht einmal die Frau namens Angelica verdächtigte mich in irgendeiner Weise. Sie redete dauernd von »Fehlern«. Sie tobte über die Unfähigkeit des Apothekers, sie beschimpfte die Polizei mit schlimmen Worten und beschuldigte sie, ihr die Beweise in die Schuhe zu schieben. Wie Seddon verurteilte sie sich praktisch selbst. Sie wurde natürlich schuldig gesprochen, und es gelang ihr, noch innerhalb des ersten Monats ihrer Haft Selbstmord zu begehen. Ich selbst kam bestens zurecht. Ich konnte – und kann noch immer – gut und ohne irgendwelche Schwierigkeiten alleine leben. Ich habe mir beigebracht, einfache Mahlzeiten zu kochen, und organisierte die Hausarbeit, so daß ich die Räume ohne weiteres einigermaßen sauberhalten konnte. Ich hatte Geld – kein Vermögen, aber durchaus genug – und konnte mir auch gelegentlich, wenn ich Lust dazu verspürte, ein Essen in einem Restaurant leisten. Ich gratulierte mir dafür, daß es mir gelungen war, in bemerkenswert wirkungsvoller Weise mehrere Dinge, die mich geärgert hatten, aus dem Weg zu räumen. Und ich garantiere Ihnen, ich litt weder unter Alpträumen noch Gewissensbissen. Dann, vor ein paar Wochen, kam der Mann aus der Kanzlei, der Arbeitsstelle meines Vaters, zu Besuch. Es war ihm sichtlich peinlich, als er mir einen versiegelten Umschlag übergab. »Wir – äh – wir alle haben Ihren Herrn Vater sehr geschätzt«, murmelte er.
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»Danke.« »Er hat das bei uns zurückgelegt. Ich meine, diesen Umschlag. Er sollte Ihnen gegeben werden nach seinem Ableben und dem Tod seiner Frau.« »Was ist es?« »Tut mir leid, ich weiß es nicht. Er bat uns nur, den Umschlag aufzubewahren, und wenn Sie einmal allein sein würden…« Seine Stimme wurde immer leiser und verstummte in Mitleid. »Das ist sehr nett von Ihnen.« Ich lächelte. »Es war wegen – Sie verstehen – wegen der Gerichtsverhandlung und dem ganzen Durcheinander… Wir hielten es für besser, noch ein wenig damit zu warten, bis sich alles beruhigt hatte…« »Das war sehr rücksichtsvoll von Ihnen.« Dann ging er, und ich öffnete den Umschlag. Ich habe den Brief jetzt vor mir. Er stammt von dem Mann, den ich zeitlebens »Vater« genannt habe. Er war nicht mein Vater, und um ehrlich zu sein, es hat mich nicht allzusehr überrascht. Vielleicht war ich ein bißchen betroffen, weil ich den Falschen vergiftet hatte, aber nicht wirklich schockiert. Meine Mutter war schwanger gewesen, als er sie geheiratet hatte. Er hatte sie auf diese Weise »anständig gemacht« – dies waren seine Worte, nicht die meinen. Eine Tat nach seinem Geschmack. Die gute Tat eines prüden Spießers. Mutter hatte ihm den Namen des wirklichen Vaters genannt. Mein wirklicher Vater. Aber der Mann hatte nicht gewußt, daß er sie geschwängert hatte. Das Wort – »geschwängert« – war wiederum sehr typisch für ihn. Er wußte es nicht besser. Der Name meines wirklichen Vaters stand auch in dem Brief. Und seine Adresse. Ich zog ein paar Erkundigungen ein. Es war nicht schwer. Er ist umgezogen und ist jetzt glücklich verheiratet. Er weiß es natürlich nicht. Er weiß nicht, wie sehr ich ihn hasse und wieviel ich über ihn weiß. Er weiß sicher nicht, was mit ihm geschehen wird. Ich fuhr einen Tag nach London, sprach mit den Leuten in den Büros des Macmillan-Verlages und überzeugte sie davon, daß ich den Keim einer Idee für eine Kriminalkurzgeschichte in mir habe. Sie
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waren bereit, sie zu lesen, sie »in Betracht zu ziehen«. Sie zu verlegen, falls sie ihnen gut genug erschien. Das ist es also. Sie haben die Geschichte eben gelesen. Mein Vater – mein wirklicher Vater liebt Anthologien von Kriminalgeschichten. Das ist auch etwas, was ich von ihm weiß. Hoffentlich liest er diese Anthologie und diese Geschichte. Dann wird er alles wissen… Oder nicht? Aus dem Englischen übertragen von Friedlich A. Hofschuster
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Ted Willis Der Mann aus den weißen Bergen Einen Mord kann man nach Augenblicken messen. Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe eine Kugel nach dem Abdrücken in das Gehirn oder das Herz eindringt, und es dauert nur ein wenig länger, ehe ein Messer das weiche Fleisch des Halses durchschneidet oder eine Brust durchbohrt. Aber damit ist wenig oder nichts gesagt; so wenig wie mit der Behauptung, daß die Liebe nicht mehr sei, als der flüchtige Augenblick des sexuellen Höhepunkts. Ein Mörder – und das gilt auch für sein Opfer – ist nicht das Produkt eines Augenblicks. Er ist das Ergebnis eines langen Prozesses, einer Verknüpfung von Erbanlagen, sowie Einflüssen aus Milieu, Erziehung und sonstigen Umständen; kurz, seines gesamten Lebens. Auch das Glück kann eine entscheidende Rolle spielen. Viele Menschen, die ein schuldfreies und achtbares Leben führen, könnten oder würden unter gewissen Bedingungen einen Mord verüben, werden es aber wahrscheinlich nie tun. Dem Glück haben sie es zu verdanken, daß sie nicht in den Sog von Ereignissen hineingezogen werden, der sie dazu treiben könnte, einen anderen Menschen zu töten. Manche haben dieses Glück nicht. Wenn wir beispielsweise verstehen wollen, warum ein Mann namens Marcos Kolomenos am 17. März 1972 in Adelaide in Südaustralien einen Mord beging, müssen wir vierzig Jahre zurückgehen. Die Tat selbst war in wenigen Sekunden ausgeführt, ihre Vorbereitung nahm Monate sorgfältiger Planung in Anspruch. Doch der Keim zu diesem Mord war Marcos Kolomenos viele Jahre zuvor eingepflanzt worden, an einem weit entfernten Ort in den hohen weißen Bergen von Sphakia auf der Westseite der Insel Kreta. Dort geschah es am 5. Oktober 1931, daß in dem kleinen Dorf Nigrita eine verheiratete Frau namens Lilika Kollias mit ihrem Liebhaber beim Ehebruch ertappt wurde. Gemäß der uralten Tradition der Bergbewohner wurde die Frau mit Steinwürfen aus dem Dorf vertrieben und für immer ausgestoßen. In den darauffolgenden Wochen erblickte man sie von Zeit zu Zeit am Rand des Dorfes, eine erbar-
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mungswürdige, vom Hunger ausgezehrte, halb wahnsinnige Kreatur, die verzweifelt versuchte, wenigstens einen Blick auf ihre Kinder zu erhaschen. Niemand sprach mit ihr, niemand gab ihr zu essen, niemand rührte auch nur einen Finger, um ihr zu helfen. Dann sah man sie nicht mehr, und unter den Dorfbewohnern kursierte das Gerücht, sie sei irgendwie nach Athen gelangt und arbeite dort als Prostituierte. Angelos, der Mann, mit dem sie gesündigt hatte, wurde der Sitte gemäß dem Ehemann und dessen Brüdern ausgeliefert. Normalerweise galt Kastration als die angemessene Strafe für einen solchen Mann, aber in diesem Fall kam ein erschwerender Faktor hinzu. Angelos war ein Verwandter des Ehemanns, sein Vetter mütterlicherseits nämlich, und das machte seinen Verstoß gegen das ungeschriebene Gesetz um so gravierender. Der Ehemann und seine Brüder suchten den Rat Stavros Kontas’, des ältesten und weisesten Mannes von Nigrita. Es ging schließlich um die Ehre der Familie. Stavros mußte lang überlegen und nachdenken, ehe er ihnen eine Antwort geben konnte, denn hier lag ein ungewöhnliches Problem vor. Während seiner langen Lebenszeit hatte es in Nigrita nur zwei Fälle von Ehebruch gegeben, und da beide Male keine Familienangehörigen daran beteiligt waren, hatte man die gewohnten Strafen verhängt: Verstoßung der Frau und Kastration des Mannes. Aber dann entsann sich Stavros, daß sein Großvater ihm einmal von einem Fall erzählt hatte, bei dem eine Ehefrau ihren Mann mit seinem eigenen Bruder betrogen hatte. Unter solch schwerwiegenden Umständen verlangte das Gesetz die Tötung des Mannes. Es war eine grausame und primitive Strafe, aber ein tief sitzender, jahrhundertealter Instinkt sagte den Menschen, daß ohne strenge moralische Gebote ihre isolierten Gemeinden sittlich verkommen und untergehen würden. Am nächsten Morgen wurde Angelos bei Sonnenaufgang aus dem Dorf in die Berge geführt. Er wurde entkleidet, und während die drei Brüder ihn festhielten, kastrierte ihn der betrogene Ehemann. Er brüllte immer noch vor Schmerz, als sie ihn zu einem Abgrund schleppten und auf die mehr als zweihundert Meter tiefer liegenden
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Felsen hinunterstießen. Dann zertrümmerte der betrogene Ehemann Angelos’ Messer an einem Felsen und warf ihm die Bruchstücke hinterher. Sie ließen den Leichnam vierundzwanzig Stunden liegen, dann bedeckten sie ihn mit Steinen. Marcos Kolomenos war zu dieser Zeit fünf Jahre alt. Er wurde Zeuge der Entrüstung im Dorf, als man das ehebrecherische Paar entdeckte, und entnahm dem Verhalten der Erwachsenen, daß sich etwas sehr Schwerwiegendes ereignet hatte. Obwohl man ihm befohlen hatte, im Haus zu bleiben, schlich er sich hinaus und beobachtete von einem geheimen Versteck aus, wie die Frauen, unter ihnen auch seine Mutter, mit erbarmungslosen Gesichtern Lilika Kollias steinigten und aus dem Dorf verjagten. Er war entsetzt, aber doch auch erregt, von diesem seltsamen Spiel. Am nächsten Morgen sah er, wie vier Männer aus dem Dorf gingen, in ihrer Mitte einen fünften, dem die Arme auf den Rücken gebunden waren. Er erkannte Angelos, einen Mann, den er stets bewundert hatte. Angelos war groß und schön, mit einem starken, männlichen Gesicht und weiß blitzenden Zähnen. Anfangs hatte Marcos vor ihm Angst gehabt, aber nachdem Angelos ihn einmal auf seinen Schultern weit, weit in die Berge hinaufgetragen und ihm den Eingang zu einer wunderbaren, geheimen Höhle gezeigt hatte, verging die Angst. Ein andermal hatte Angelos ihm aus Holz ein Messer geschnitzt, das genauso geformt war wie das scharfe Stahlmesser, das er selbst im Gürtel zu tragen pflegte. Marcos hätte gern gewußt, was sein Freund getan hatte, daß man ihm so die Hände gebunden hatte, und warum man ihn fortbrachte. Er wollte ihn rufen, empfand aber zu große Furcht. Es verwunderte ihn, daß Angelos seine guten Kleider anhatte, geradeso, als wäre es ein Sonntag oder Feiertag, und daß er das Messer mit dem verzierten Griff in seinem Gürtel trug. Angelos ging in stolzer Haltung, den Kopf erhoben, weder nach links noch nach rechts blickend, und Marcos sah ihm nach, bis er verschwunden war. Marcos sah Angelos nie wieder, aber die beiden Episoden hinterließen ihm einen tiefen Eindruck. Sein Leben veränderte sich, er lernte und erlebte viel neues, aber die Erinnerung an Lilika und seinen Freund Angelos verließ ihn niemals völlig. Immer wenn er einen
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Mann mit einem kleinen Jungen auf den Schultern sah, mußte er an seinen Freund denken. In solchen Augenblicken bildete er sich ein, Angelos’ starken männlichen Duft zu riechen – eine Mischung aus Wein und altem Leder –, den er so geliebt hatte. Erst als er zwölf Jahre alt war, begriff er das, was damals geschehen war, in seiner ganzen Tragweite. Er stellte das Urteil nicht in Frage. Es war gerecht, es ergab sich ganz natürlich aus dem ungeschriebenen Gesetz der kretischen Bergbewohner. Es war eigentlich ganz einfach. Jeder Mann hatte das Recht und die Pflicht, seine Ehre zu schützen und zu verteidigen. Wenn er das nicht tat, verriet er nicht nur ein Gesetz, das seit tausend Jahren Geltung hatte, sondern auch sich selbst. Ein solcher Mann war nicht wert zu leben. Im Mai 1941, als Marcos Kolomenos fast fünfzehn Jahre alt war, gelang den Deutschen mit starken Verbänden von Luftlandetruppen die Invasion der Insel. Sie besetzten alle größeren Städte sowie die Küstenebenen. Die Kreter zogen sich, von Überresten der britischen Armee unterstützt, in die Berge zurück und führten von dort aus ihren Widerstandskrieg weiter. Die Deutschen verwüsteten in wildem Zorn Dorf um Dorf, aber es gelang ihnen nie, den Kampfgeist eines Volkes zu brechen, dem die Ehre mehr bedeutete als das Leben. Dies war in Marcos’ Leben eine entscheidende Zeit. Innerhalb weniger Wochen, ja, Tage, wurde er zum Mann; zusammen mit seinem Vater und seinen Onkeln schloß er sich den Partisanengruppen an. Er sah viele seiner Kameraden sterben und entging mehrmals selbst nur mit knapper Not dem Tod. Er lernte die Kunst des Überlebens in einer harten Schule. Die älteren Männer fingen allmählich an, ihn zu achten und zu bewundern, nicht ob seines Muts, Mut war bei einem Kreter Selbstverständlichkeit, sondern ob seiner Schlauheit, seiner Erfindungsgabe und seiner Anpassungsfähigkeit. In dieser Zeit erfuhr er, daß es jenseits der weißen Berge und seines Dorfes noch eine andere Welt gab. Er befreundete sich mit einem australischen Sergeant, einem ehemaligen Lehrer, und in den langen Kampfpausen brachte jener Marcos die englische Sprache und Grundkenntnisse der Mathematik bei. Er erzählte ihm stundenlang von anderen Ländern und Völkern, vor allem aber sprach er von
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seiner Heimat Australien und faszinierte den Jungen mit seinen Geschichten von diesem fernen Erdteil. Ein seltsamer Zufall wollte es, daß sie diese Stunden meist in der großen geheimen Höhle zubrachten, die Angelos Marcos vor Jahren gezeigt hatte. »Wenn der Krieg vorbei ist, mußt du von hier fortgehen«, sagte der Sergeant zu Marcos. »Hier hast du nichts zu erwarten. Australien ist das letzte Pionierland der Erde, es ist ein Land für junge Menschen. Dort könntest du es weit bringen.« Er sagte das Marcos immer wieder. Die Vorstellung, Kreta zu verlassen, rief bei Marcos zunächst nur Angst und Abwehr hervor. Er konnte sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben. Die Deutschen waren es schließlich, die für ihn die Entscheidung fällten. Seine Mutter wurde von einer feindlichen Patrouille beim Munitionsschmuggel für die Widerstandskämpfer ertappt. Man zog sie nackt aus und hängte sie auf dem Dorfplatz, all jenen zur Abschrekkung, die die Neigung verspürten, ihrem Beispiel zu folgen. Der Tod seiner Frau veränderte Marcos’ Vater. Normalerweise ein vorsichtiger, langsam denkender Mann, ließ er nun Schmerz und Zorn freien Lauf. Eines Tages verbarg er eine britische Maschinenpistole unter seinem Umhang und ging in den nächstgrößeren Ort. Auf dem kleinen Platz setzte er sich auf eine Bank und wartete in der heißen Mittagssonne, bis eine Truppe deutscher Soldaten auf dem Weg zur Kaserne vorübermarschierte. Völlig ruhig eröffnete er dann das Feuer. Vierzehn Deutsche wurden getötet und sieben verwundet, ehe Marcos’ Vater selbst erschossen wurde. Von diesem Tag an fiel seinen Kameraden eine beängstigende Skrupellosigkeit an Marcos auf. Es war, als wäre alles menschliche Erbarmen aus seiner Seele verschwunden. Er nahm selten Gefangene, und die wenigen feindlichen Soldaten, die ihm lebend in die Hände fielen, sehnten den Tod herbei. Als der Krieg vorüber war, hielt ihn nichts mehr in Kreta. Er hatte einen Bruder, Alexander, der siebzehn Jahre jünger war als er, sonst aber gab es niemanden, für den er sich verantwortlich gefühlt hätte. Im März 1946, im Alter von zwanzig Jahren, emigrierte er nach Australien. Alex ließ er bei einer Tante zurück, nachdem er versprochen
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hatte, ihn nachzuholen, sobald er sich in dem neuen Land eingelebt hätte. Er war erst zwanzig Jahre alt, doch besaß er das Aussehen und das Auftreten eines fünfzehn Jahre älteren Mannes. Marcos ließ sich in Südaustralien nieder, in der Nähe der Stadt Adelaide, an einem Ort namens Paradise. Der Name gefiel ihm. Doch in den ersten Jahren war sein Leben alles andere als paradiesisch. Er wurde als Landarbeiter von einem Bauern namens George Smith angeheuert, einem harten, humorlosen Mann, der den »NeuAustraliern« nur Verachtung entgegenbrachte und sie einzig als billige Arbeitskräfte betrachtete. Er ließ Marcos schuften bis zum Umfallen, verpflegte und beherbergte ihn kaum besser als ein Tier. Der junge Kreter ließ sich diese Behandlung scheinbar geduldig, ja willig gefallen; doch unter der Resignation schwelten Stolz und Eigenwillen wie ein Feuer, das vorübergehend gedämpft wurde, ohne jedoch zu verlöschen. Im Lauf dieser zwölf Monate lernte Marcos eine weitere wertvolle Lektion – daß die Geduld auch eine Waffe sein kann, daß es Zeiten gibt, wo der Mensch einfach warten, die Augen offenhalten und lernen muß. Er vervollkommnete seine Englischkenntnisse (obwohl er seinen Akzent und die kretische Intonation niemals ganz ablegte) und machte sich ein Bild von dem Land, in dem er sich ansiedeln wollte. Er sah, daß es in der Tat ein Land der großen Möglichkeiten war, und wußte nach nur drei Monaten, daß er hier viel erreichen würde. Dieses innere Wissen gab ihm die Kraft, die Tage sklavischer Arbeit durchzustehen; er hatte keine Zweifel und absolutes Selbstvertrauen. Eines Morgens, ganz plötzlich, wußte er, daß er zum nächsten Schritt bereit war. Er war am Tag zuvor in Adelaide gewesen, und ihm hatte sich dort genau die Möglichkeit aufgetan, auf die er gewartet hatte. Er packte seine wenigen Habseligkeiten, teilte Smith mit, daß er unverzüglich gehen würde, und wartete auf die Reaktion. Er wollte nicht in Frieden gehen, er hatte noch eine Schuld zu begleichen und hoffte, der Bauer würde ihm eine ehrenhafte Gelegenheit zur Abrechnung geben. Seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht.
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Smith fing an zu schimpfen und zu wüten, überhäufte Marcos mit altvertrauten Beleidigungen. Er war ein massiger Mann mit großen Kräften, aber Marcos war zuversichtlich. Er ließ sein Bündel zu Boden fallen, zog sein Hemd aus und packte den verdutzten Smith. Sein erster Faustschlag traf den biersatten Bauch des Bauern, und während der wuchtige Mann sich stöhnend krümmte, verschränkte Marcos die Hände und ließ sie mit aller Kraft auf das Genick des Bauern heruntersausen. Smith stürzte zu Boden, versuchte krampfhaft, sich wieder hochzurappeln und brach rücklings zusammen. Marcos war zornig, daß der Sieg so rasch und so leicht gewesen war. Er fühlte sich um die Vergeltung betrogen. Er blickte auf den Bauern herab, und einen Moment lang fühlte er sich in die weißen Berge zurückversetzt, meinte, vor dem gefallenen Feind zu stehen, dem er gleich das Messer in die Brust stoßen würde. Smith schien zu spüren, was in Marcos vorging, denn er riß angstvoll die Augen auf und schrie flehend: »Nein, Marcos! Nein! Nein!« Marcos faßte sich. Er war nicht in Sphakia, er hatte kein Messer im Gürtel, der schreiende Mann zu seinen Füßen war kein Nazi. Er hob den Fuß in dem schweren Stiefel. Smith wimmerte vor Angst und brüllte auf vor Schmerz, als der Stiefel ihn traf. Marcos knurrte verächtlich und spie Smith ins Gesicht. Der Speichel rann dem Bauern langsam die Wange herab, aber er machte keinen Versuch, ihn wegzuwischen. Mrs. Smith, eine magere, knochige Frau in einem formlosen Gewand, stand da und verfolgte die Szene. Ihr Gesicht leuchtete wie ein blasser Mond im tiefen Schatten der Veranda. Sie rührte sich nicht von der Stelle, machte keine Anstalten, ihrem Mann zu helfen. Ihre Augen, auf Marcos gerichtet, waren ohne Ausdruck. Marcos nahm seine Sachen und verließ Paradise ohne Bedauern und ohne einen Blick zurück. Danach kaufte sich Marcos als erstes ein Stück Land, genauer gesagt, einen riesigen Krater. Das Grundstück war etwa drei Kilometer vom Zentrum Adelaides entfernt, etwa einen Morgen groß und bestand, wie gesagt, fast ganz aus einem riesigen, tiefen Krater. Er bezahlte neunzig Pfund dafür, die Hälfte seiner Ersparnisse, und der Mann, der ihm das Grundstück verkaufte, hielt ihn für geistesgestört.
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Aber Marcos hatte mit dem unbefangenen Auge des Fremden gesehen, daß Adelaide in raschem Wachstum begriffen war und daß jeden Tag zahllose Lastwagen mit Bauschutt vom Abriß alter Gebäude weit an den äußersten Stadtrand hinausfuhren. Er machte einen Anschlag, mit dem er den Abbruchsgesellschaften anbot, ihren Schutt auf seinem Grundstück abzuladen. Da die Unternehmen dadurch Zeit und Fahrkosten sparten, zahlten sie Marcos gern die Gebühr von einem Pfund, die er pro Wagenladung erhob. Innerhalb von sechs Monaten war der Krater gefüllt, das Grundstück mehr oder weniger eingeebnet. Marcos verkaufte es für 2500 Pfund an eine Baugesellschaft und erwarb sich mit dem größten Teil seines Kapitals einen Anteil an einem kleinen Bauunternehmen. Sein Partner war Andy Byers, ein lebenslustiger kleiner Australier, der sehr viel vom Bau verstand und sehr wenig vom Geschäft. Marcos wartete, lernte alles, was es von Byers zu lernen gab, und nach Ablauf von zwei Jahren zahlte er ihn aus. Byers war betrunken, als er den Vertrag unterschrieb, und am folgenden Morgen versuchte seine Frau, Marcos dazu zu bewegen, das Dokument zu zerreißen. Er hörte sich unbewegt ihre verzweifelten Bitten an. »Ihr Mann ist ein guter Maurer, Mrs. Byers«, sagte er. »Wenn er in der Firma bleiben und als Maurer für mich arbeiten möchte, gebe ich ihm eine Anstellung. Aber die Firma gehört mir. Von jetzt an gehört sie mir, bitte begreifen Sie das.« »Sie haben ihn betrogen«, schrie sie. »Er wußte nicht, was er tat. Er war betrunken. Sie haben ihn betrunken gemacht.« »Ihr Mann verträgt keinen Alkohol und versteht nichts vom Geschäft«, versetzte Marcos kühl. »Ich würde Ihnen raten, ihn von beidem fernzuhalten.« Als er sein Geld nach ein paar Monaten durchgebracht hatte, vergaß Andy Byers seinen Stolz und bat Marcos um Arbeit. Marcos gab ihm eine Stellung als Polier bei einem großen Bauvorhaben im Vorort Springfield, die er mit unterwürfiger Dankbarkeit annahm und wo er gute Arbeit leistete. Es verschaffte Marcos keine Genugtuung, seinen früheren Geschäftspartner zu solchen Bedingungen wiederaufzunehmen. Vor allem anderen schätzte er den Stolz eines Mannes, und Byers’ Servi-
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lität stieß ihn ab. Wenn sie einander begegneten – was Marcos tunlichst zu vermeiden trachtete –, fiel es ihm schwer, seine Verachtung zu verbergen. Kurz nachdem er das Bauunternehmen übernommen hatte, änderte Marcos Kolomenos seinen Namen und nannte sich fortan Mark Coleman. Es fiel ihm schwer, diesen Schritt zu tun, und er bedauerte ihn später, doch er hielt ihn für einen notwendigen Schritt zum geschäftlichen Erfolg. Im übrigen war Australien jetzt sein Heimatland, er wußte, daß er niemals zum alten Leben in Kreta zurückkehren konnte. Als er die vorgeschriebenen fünf Jahre ständigen Aufenthalts in Australien nachweisen konnte, bewarb er sich um Einbürgerung, und sein Antrag wurde genehmigt. Er fühlte Stolz in sich aufsteigen, als er der englischen Königin und seinem neuen Heimatland den Treueeid schwor. Er hatte sein altes Leben für immer hinter sich gelassen; er war jetzt Australier und ein vermögender Mann. 1955 baute er sich ein neues modernes Haus in Springfield und wollte nun seine Tante und seinen jüngeren Bruder Alex zu sich holen. Er sehnte ihre Ankunft herbei, er wollte seine eigene Familie um sich haben, um zu zeigen, was er sich geschaffen hatte. Außerhalb seines Geschäfts hatte er keine Interessen, einzige Konzession an seine natürlichen Bedürfnisse war ein wöchentlicher Besuch in einem Freudenhaus im Hafenviertel der Stadt: doch diese flüchtigen Begegnungen ohne jedes Gefühl machten ihm seine Einsamkeit nur um so schmerzlicher bewußt. Die Tante wollte Kreta nicht verlassen, und so reiste Alex, inzwischen ein strammer Zwölfjähriger; allein nach Adelaide. Er war nie über die Grenzen des kleinen Dorfes in den weißen Bergen hinausgekommen und war voll staunender Bewunderung für das technische Raffinement und den Luxus, den er nun um sich sah. Am meisten bewunderte er seinen Bruder, der in dieser Umgebung völlig zu Hause zu sein schien, der so selbstsicher, so reich und erfolgreich war. Das Haus, das große Auto, sein Zimmer mit einem eigenen Bad – die Weite, die Großzügigkeit seiner Umgebung, das alles erschien ihm wie ein Traum.
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Aber es war kein Traum; es war, so unglaublich es schien, schlichte Realität. An jenem ersten Abend sagte Marcos: »Das alles gehört uns, Alex. Dir und mir. Und es ist erst der Anfang, glaub mir.« Erst der Anfang? Alex staunte. Was konnte es noch Besseres geben als dieses hier, – was konnte ein Mensch sich noch wünschen? Aber er sagte nichts, sah seinen Bruder nur mit großen dunklen Augen voller Bewunderung an. »Du wirst Australier werden wie ich«, fuhr Marcos fort. »Erst lernst du die Sprache. Dann gehst du zur Schule. In eine richtige Schule. Und danach auf die Universität.« Er sprach mit großem Stolz. »Auf die Universität?« Dieses Wort war neu für Alex, er hatte es noch nie gehört. »Du bist müde. Wir reden morgen weiter – wir haben ja viel Zeit.« An der Tür blieb Marcos stehen und sah sich noch einmal nach seinem Bruder um. »Alex, weißt du, was ein Millionär ist?« »Ein reicher Mann?« »Ein sehr reicher Mann. Wie Onassis. Ich werde Millionär werden, das habe ich fest vor. Und in zehn Jahren werde ich mein Ziel erreicht haben.« »Warum willst du das?« »Weil es wichtig ist. Geld ist wichtig.« »Aber in diesem Land hat doch jeder Geld.« »Nein, nicht jeder. Das wirst du noch merken. Und hier ist es nicht anders als zu Hause. Die Reichen befehlen, und die Armen gehorchen. Je reicher einer ist, desto mehr Macht hat er.« Er ging noch einmal zu dem Jungen zurück und legte ihm die Hand auf die Schulter. »So sehe ich es, Alex. Unsere Eltern sind nicht dafür gestorben, daß wir ein Leben lang die Befehle anderer ausführen. Dafür habe ich nicht in den Bergen gekämpft. Verstehst du das?« Alex nickte, obwohl er Marcos’ Worten nicht richtig folgen konnte. »Die Hauptsache ist, daß du jetzt bei mir bist. Gemeinsam werden wir es weit bringen.« Marcos umarmte und küßte seinen Bruder nach kretischer Sitte. Der Junge war den Tränen sehr nahe, aber er hielt sie zurück, da er
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wußte, daß ein Mann nicht weinte und daß Marcos solche Schwäche nicht billigen würde. Marcos hielt Wort. Dies waren die üppigen, flotten Jahre, die der einen Hälfte der Welt scheinbar unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstum brachten, – in denen ganze Nationen von den Früchten rücksichtsloser Ausbeutung lebten. Geld zog Geld und noch mehr Geld an; die Schlauen und die Korrupten wurden fett an leichter Beute. Diese Zeit war wie geschaffen für Marcos, denn sein Werdegang und seine Erfahrungen hatten ihn gründlich darauf vorbereitet. Er stieg ins Immobiliengeschäft und den Erzabbau ein, er hatte große Güter im Weinbaugebiet des Barossa-Tales; er war Eigentümer eines Fernsehsenders und zweier Rundfunkstationen, war an mehreren großen Zeitungsverlagen und führenden Industrieunternehmen beteiligt. Innerhalb von zehn Jahren hatte er es zum dreifachen Millionär gebracht, war er zu einem mächtigen und einflußreichen Mann geworden, auf dessen Ansichten Politiker und Wirtschaftsbosse mit Respekt, ja, mit Furcht hörten. Was er tat und sagte, machte Schlagzeilen und lieferte den Zeitungskarikaturisten immer neuen Stoff. Es gab eine kabarettistische Fernsehsendung (nicht auf seinem eigenen Sender), wo man ihn regelmäßig mit Wonne durch den Kakao zog. Diese Sendung sollte bei späteren Ereignissen eine wichtige Rolle spielen. Doch Marcos’ Kritiker schienen nicht zu verstehen, daß sein Erfolg ihm keine Freude, seine Siege ihm keine Befriedigung brachten. Obwohl ihm praktisch alle Türen offenstanden, lockte ihn das gesellschaftliche Leben nicht; er blieb ein Rätsel, ein verschlossener, einsamer Mensch, für den es außerhalb seiner Geschäfte kein Leben zu geben schien. Wenn er sich überhaupt einmal Entspannung gönnte, flog er mit seinem Privatflugzeug auf seinen kleinen Bauernhof in der Nähe von Townsville in Nord-Queensland; aber selbst bei diesen Ausflügen nahm er stets Arbeit mit und war fortwährend allein. Auch diese Wochenendzuflucht sollte in dem sich später anbahnenden Drama eine wichtige Rolle spielen. Die Kraft, die Marcos weiterhin vorwärtstrieb, war die Enttäuschung. Je älter Alex wurde, desto klarer zeigte sich, daß er weder
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die Willensstärke noch den Ehrgeiz seines Bruders teilte. Die schlichte Wahrheit war, daß er verwöhnt war. Marcos hatte den Jungen verhätschelt, ihm, ohne zu fragen, jeden Wunsch erfüllt, und Alex heimste ein, ohne selbst etwas zu geben. Er wurde als reicher Nichtstuer bekannt, den nur die Macht und der Einfluß seines älteren Bruders vor den Konsequenzen seines verantwortungslosen Verhaltens schützten. Er entwickelte literarische und künstlerische Prätentionen und machte sich offen über Marcos lustig, den er als unkultivierten Banausen hinstellte, für den die Welt nur aus Bilanzen bestand. Zuneigung vergalt er mit Zynismus, Wärme mit Kälte. Es kam so weit, daß die beiden Männer kaum noch ein freundliches Wort wechseln konnten, und schließlich ging Alex aus dem Haus. Marcos gab ihm weiterhin einen monatlichen Wechsel; das nicht zu tun, wäre wie eine Verleugnung seiner eigenen Herkunft erschienen. Er war der älteste Bruder, er trug immer noch die Verantwortung. Darüber hinaus jedoch gab es nichts, nur seine Geschäfte, in die er sich nun mit noch größerer Energie stürzte, um das bittere Gefühl des Verlusts zu ersticken. Und dann führte ihn das Schicksal zum letzten Schritt auf dem langen, erbarmungslosen Weg, zum unausweichlichen tragischen Höhepunkt. Es war, als hätte Kristina Ames hinter den Kulissen gewartet, bis die Bühne bereitet war und die anderen Protagonisten auf ihren Plätzen standen. Marcos lernte sie auf einer der wenigen gesellschaftlichen Veranstaltungen kennen, die er zu besuchen pflegte, einem Festbankett, das der Premierminister von Südaustralien zu Ehren einer Gruppe prominenter Geschäftsleute gab, die das Land besuchten. Die Gastgeberin hatte sie ihm als Tischdame zugedacht, und schon nach Minuten war er völlig gefesselt von dieser dunkelhaarigen, lebhaften und schönen jungen Frau. »Kristina?« sagte er. »Das ist ein griechischer Name. Sind Sie Griechin?« »Ich bin Australierin«, antwortete sie lächelnd. »Mein Vater ist Engländer und meine Mutter Griechin. Ich bin nach ihr benannt.«
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Er nickte beifällig. Den ganzen Abend ließ er sie kaum aus den Augen, bewunderte ihre Gewandtheit und Eleganz, ihren Humor und ihre wache Intelligenz; die strahlende Unschuld ihrer großen dunklen Augen rührte ihn in seinem Innersten. Er wurde sich des eigenen Mangels an gesellschaftlichen Umgangsformen, der eigenen Schroffheit zum ersten Mal bewußt. Neben ihr kam er sich vor wie ein tolpatschiger Bauerntölpel. In gewissem Sinne waren diese Gefühle ein Ausgleich zur bitteren Enttäuschung, die er mit Alex erlebt hatte. Er brauchte einen Menschen im Mittelpunkt seines Lebens, jemanden, dem er seinen ganzen glitzernden Reichtum zu Füßen legen konnte, um ihm so eine tiefere Bedeutung zu geben. Aber es spielte auch noch etwas anderes mit. Diese Frau konnte ihm einen Ersatz für Alex geben, sie konnte ihm Kinder gebären, die Söhne, nach denen er sich sehnte. Alex war ihm in gewisser Hinsicht sein Sohn gewesen, aber das war jetzt vorbei. Marcos konnte auf seinen Bruder nicht stolz sein. Doch mit Kristina an seiner Seite konnte er wieder stolz sein. Um den Besitz dieser Frau würden ihn alle anderen Männer beneiden, sie würde eine glänzende Bestätigung seiner Macht und seines Erfolgs sein. Was er für sie empfand, konnte man kaum Liebe nennen, auch wenn er ihren Körper anziehend fand und sie begehrte. Es war eher so, als hätte er in einem Schaufenster einen Gegenstand von ungewöhnlicher Schönheit und außergewöhnlichem Wert gesehen und müsse ihn nun unbedingt besitzen. So war er geworden, und er konnte nicht mehr in anderen Kategorien denken. Zur Liebe war er nicht fähig. Wochenlang belagerte er sie, bombardierte er sie mit Einladungen und Geschenken. Sie mochte ihn, fand ihn amüsant, fühlte sich von den Aufmerksamkeiten eines so reichen und berühmten Mannes geschmeichelt. Und es wunderte sie, daß er im Gegensatz zu anderen Männern keinen Versuch machte, sie in sein Bett zu bekommen. Es gab Momente, wo sie sich wünschte, er würde es tun, denn sie fand ihn körperlich anziehend und sie glaubte, daß sie nur so, im Zustand der Nacktheit und beim Akt der Liebe, den wahren Marcos entdekken würde, den Mann hinter der Maske. Aber sie machte ihm keine
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Avancen, da sie spürte, daß sie das in seinen Augen herabgesetzt hätte; daß sie gewissermaßen eine Probezeit zu bestehen hatte. Von Tag zu Tag geriet sie tiefer in den Bann seiner starken Persönlichkeit. Er wollte sie haben, er war entschlossen, sie zu erobern, und alle Hindernisse, die sie errichtete, wurden einfach weggefegt. Er umzingelte sie, überwältigte sie, und sie konnte ihm nicht widerstehen. Sie heirateten am 2. August 1970 mit großem Pomp. Alle Zeitungen berichteten über die Hochzeit, und im Fernsehen brachte man Bilder von der Trauung. Alex kam zum Empfang, legte zur Feier des Tages sogar einen Anzug an und begegnete dort Kristina zum ersten Mal. »Sie sind also sein neuester Besitz«, bemerkte er spöttisch. »Nicht übel. Er hat schon schlechtere Geschäfte gemacht.« Sie wandte sich zornig von ihm ab, später jedoch sollte sie sich seiner Worte erinnern; später als ihr die bittere Wahrheit zu Bewußtsein kam. Vielleicht hatte sie in ihrem tiefsten Inneren die Wahrheit sogar von Anfang an erkannt. Denn es war die Wahrheit. Sie empfand eine tiefe Zuneigung zu Marcos, sie bewunderte, ja achtete ihn und sagte sich, daß sie auf diesem Fundament aufbauen und in ihm jene Gefühle wecken könne, die es ihr ermöglichen würden, ihn wahrhaft zu lieben. Doch er war dieser Gefühle nicht fähig. Er war großzügig und liebevoll, stolz auf sie, aber das war alles. Sie war in der Tat ein Besitzstück, wurde so behandelt und so behütet. Und wenn sie von Zeit zu Zeit versuchte, ihre eigene Persönlichkeit zu behaupten, aus der Rolle zu schlüpfen, die er ihr zugeteilt hatte, so machte er sie mit einer Unbarmherzigkeit nieder, die beängstigend war. Es war Wärme zwischen ihnen, wenigstens während des ersten Jahres, aber keine Zärtlichkeit. Im Schlafzimmer entledigte er sich des Scheins der Einfühlsamkeit, den er sich im Lauf der Jahre angeeignet hatte, zusammen mit seinen Kleidern. Er nahm sie, wie er die Mädchen im Bordell genommen hatte, als hätte er ein Recht darauf und hole sich nur das, wofür er bezahlt hatte. In diesen Augenblicken war das Gefühl, daß sie für ihn nur ein Schmuckstück, ein Gegenstand, ein Besitzstück war, am stärksten.
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Viele Frauen haben das gleiche oder Schlimmeres erlitten, haben sich irgendwie in ihrem Leben eingerichtet und das Beste daraus gemacht. Es ist möglich, daß Kristina sich ähnlich entschieden hätte, denn sie war von Natur aus aufrichtig und ehrlich; sie empfand eine tiefe Abneigung gegen Intrigen und alles, was nach Heimlichkeit roch. Hätte sie sich in irgendeinen anderen Mann verliebt, so wäre ihr erster Impuls gewesen, Marcos damit zu konfrontieren und seinem unvermeidlichen Zorn zu trotzen. Doch es war nicht irgendein Mann, der in ihr Leben trat, es war, beinahe unvermeidlich, Alex. Er ließ sich wieder im großen Haus in Springfield sehen und war allem Anschein nach bereit, sich mit Marcos auszusöhnen. Kristina mußte ihren ersten Eindruck von ihm revidieren, – mit der Zeit fand sie seine Gesellschaft amüsant und erholsam. Marcos war darüber erfreut und ermutigte beide, sich häufiger zu sehen; das brachte ihm eine Entbindung von gewissen gesellschaftlichen Verpflichtungen, die er als lästig empfand. Er freute sich, wenn die beiden vergnügt wie die Kinder miteinander lachten. In gewisser Weise waren sie für ihn ja auch Kinder. Über die Veränderung, die sich bei Alex zeigte, war er glücklich; zum ersten Mal wieder regten sich in ihm die alten warmen Gefühle für den jüngeren Bruder. Für Marcos brach eine Zeit glücklicher Zufriedenheit an. Seine geschäftlichen Erfolge hatten ihn zu einem hochangesehenen Mann gemacht, es war sogar die Rede davon, daß er zur Erhebung in den Adelsstand vorgeschlagen werden sollte; seine Ehe, wenn auch nicht ideal, schien sicher und gefestigt; und Alex gehörte wieder zum Familienkreis. Die einzige Enttäuschung war, daß Kristina ihm bisher nicht den Sohn geschenkt hatte, den er sich wünschte. Aber es war ja noch Zeit, tröstete er sich. Dieser glückliche Zustand hielt nicht lange an. Eines Abends, als er in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock am Schreibtisch saß, stand er einen Moment auf und sah zum Fenster hinaus zum großen, von Scheinwerfern erleuchteten Schwimmbecken. Er lächelte, als er Alex und Kristina im blauen Wasser spielen sah, und er verspürte auch einen Anflug von Neid. Mit ihm zusammen war Kristina selten so spielerisch und unbeschwert. Vielleicht war es seine Schuld.
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Er stieg nur zum körperlichen Training ins Becken und schwamm eisern jeden Morgen seine zehn Längen; für ihn war es ein Werkzeug, das er zum Erhalt seiner Muskelkraft benutzte, aber kein Spielplatz. Sein Unglück lag darin, daß er ohne Übergang vom Kind zum Mann geworden war. Er war um seine Jugend gebracht worden, die schönste Zeit im Leben überhaupt. Er war fünfundvierzig Jahre alt, beinahe alt genug, um der Vater der beiden jungen Menschen dort unten zu sein – und in diesem Augenblick fühlte er die Last der Jahre, die ihn von ihnen trennten. Er würde versuchen, weniger zu arbeiten. Im Hafen lag eine Jacht, die fast das ganze Jahr nicht benutzt wurde. Er würde sich freinehmen, würde mit Kristina und Alex zusammen eine lange Vergnügungsreise mit der Jacht machen und ihnen zeigen, daß auch er das Leben genießen konnte. Und da kam es zum Zwischenfall. Alex half Kristina aus dem Becken, zog sie lachend aus dem Wasser. Er konnte die beiden im gelblichen Licht klar erkennen. Ihre Gestalten warfen lange Schatten auf das Gras hinter ihnen. Als Kristina sich aufrichtete, nahe bei Alex stehend, hob dieser die Hand und legte sie auf ihre Wange. Es war mehr als eine flüchtige Geste, es war eine Zärtlichkeit, so voller Vertrautheit und derselben Bedeutung, als ob er ihre Brust berührt hätte. Einen Moment lang standen sie sich schweigend und ohne zu lächeln dicht gegenüber. Dann trat Kristina plötzlich von ihm weg und schickte einen warnenden Blick zum Haus. Mehr war es nicht. Eine Kleinigkeit, eine Alltäglichkeit. Doch während Marcos die beiden beobachtete, überfiel ihn unversehens eine unerklärliche Furcht. Es war wie in den Tagen der Partisanenkämpfe, wenn er Gefahr gewittert hatte. Er versuchte, die düstere Vorahnung loszuwerden, indem er sich sagte, die Geste wäre nicht mehr gewesen als ein Zeichen der Freundschaft, die keine besondere Bedeutung hatte, aber es half nichts. Furcht und Mißtrauen packten ihn wie eine Krankheit. Er wagte es nicht, Kristina zu aufmerksam zu beobachten, weil er fürchtete, daß dann sie ihrerseits mißtrauisch werden würde, doch seine Qual wurde von Tag zu Tag schlimmer. Er hatte Angst vor der
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Wahrheit, aber er wußte auch, daß er keinen Frieden finden würde, so lange er sie nicht kannte. Am Ende der Woche beauftragte er eine Detektei, seine Frau und Alex zu beobachten. Nach fünf Tagen erhielt er den Bericht. Sie hatte in dieser Zeit drei Besuche bei Alex gemacht, und jeder Besuch hatte zwei Stunden gedauert, oder länger. Marcos hatte sie das eine Mal erzählt, sie wäre bei ihrer Schneiderin gewesen, und das andere Mal, sie hätte eine Freundin in Elizabeth besucht. Er machte eine weitere Stichprobe. Am Wochenende flog er auf seinen Hof in Queensland. Bei seiner Rückkehr erwartete ihn der nächste Bericht der Detektei. Kristina hatte Alex am Samstagabend in seiner Wohnung besucht. Sie waren zum Essen ausgegangen und dann in seine Wohnung zurückgekehrt. Sie war erst am folgenden Morgen um fünf wieder gegangen. Marcos ließ die Beobachtung einstellen und bezahlte seine Rechnung. Seine Ahnung hatte sich als richtig erwiesen – Kristina hatte ihn belogen, sie betrog ihn mit Alex, seinem eigenen Bruder. Er gab seiner Sekretärin Anweisung, alle seine Termine abzusagen. Er war überrascht über seine zur Schau getragene Ruhe; in dieser Hinsicht wenigstens hatte ihm die Wahrheit einen gewissen Frieden gebracht. Erst später, als er an seinem wuchtigen Schreibtisch saß und das Licht hinter ihm langsam verblich, überfielen ihn Zorn und Bitterkeit. Man kann davon ausgehen, daß von diesem Moment an sein seelisches Gleichgewicht gestört und er nicht mehr fähig war, rational zu denken. Oder vielleicht sollte man richtiger sagen, daß Mark Coleman seiner wahren Identität wieder nähergekommen war. Aus dem jungen Australier wurde wieder der alte Kreter, Marcos Kolomenos. Das geschichtliche Erbe, uralte Instinkte und Vorstellungen von Ehre erwachten in ihm. Er erinnerte sich an Angelos und Lilika, er sah wie in einem Film wieder seine eigene Mutter, als sie einen Stein nach der sündigen Frau warf, er sah Angelos, als er aus dem Dorf geführt wurde. Er glaubte den scharfen Geruch von Wein und Leder einzuatmen. Aber er war hier nicht in Sphakia. Dort wäre die Vergeltung einfach und direkt gewesen, jeder hätte von ihm erwartet, daß er seine
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Ehre wiederherstelle, jeder hätte es als natürlich und selbstverständlich angesehen wie das Atmen. In diesem neuen Land war das anders. Hier würde man seine Beweggründe nicht verstehen. Man würde es schlicht und einfach Mord nennen, und anstatt ihn für seine Tat zu ehren, würde man ihn bestrafen, als wäre er der Schuldige. Die Tat mußte geschehen, daran gab es keinen Zweifel, aber sie mußte auf andere Weise geschehen. Denn weshalb sollte er leiden, weshalb sollte er alles, was er sich geschaffen hatte, wegwerfen? Er hatte nichts Unrechtes getan, er war ein treuer Ehemann und Bruder gewesen. Die anderen beiden, Kristina und Alex, hatten Schande über die Familie gebracht, nicht er. Jetzt konnte Marcos den Scharfblick und das Organisationstalent einsetzen, die er sich im Lauf der Jahre erworben hatte. Als er sein Büro verließ, war es fast dunkel, doch der Entwurf seines Plans stand ihm nun klar vor Augen. Erst drei Monate später, als alle Details geklärt waren, schickte er sich an einem Wochenende an, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Es war nichts Besonderes, daß Marcos nach Queensland flog, um ein Wochenende allein zu verbringen, dennoch war Kristina beunruhigt und nervös. In den vergangenen Wochen hatte sie an ihrem Mann eine ungewohnte Spannung bemerkt, die ihr angst machte. Es war nichts Konkretes, nichts, was sie hätte definieren können, aber sie hatte den Eindruck, daß in ihm ein heimlicher Zorn schwelte. Nino und Faustina Silone, das italienische Hausmeisterehepaar, waren nach Melbourne gefahren und würden erst am Montag zurückkommen. Auch das war nichts Besonderes, – sie hatten Verwandte dort, die sie regelmäßig besuchten. Dennoch verstärkte die Tatsache ihrer Abwesenheit Kristinas Unbehagen. Selbst die Luft schien ihr schwül und drückend, so still wie vor einem schweren Gewitter. Alex lachte sie aus. Er sah in der Abwesenheit Marcos’ und der Angestellten nur eine prächtige Gelegenheit, ungestört mit Kristina zusammenzusein. Er wollte die Nacht mit Kristina im Haus verbringen, unter dem Dach seines Bruders. Diese Vorstellung verschaffte ihm tiefe Genugtuung. »Ach, komm schon, Kris«, sagte er vorwurfsvoll. »Was ist denn los?«
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»Ich weiß es nicht. Ich wollte, ich wüßte es. Es ist nur ein Gefühl. Ich kann es nicht erklären.« Sie ging rastlos umher. »Es ist – es ist einfach alles ein bißchen zu bequem. Ich meine – Marcos hat eine Erkältung, eine ganz fürchterliche Erkältung, aber er wollte unbedingt fliegen. Und Nino und Faustina – sie boten an, ihre Reise zu verschieben, aber er wollte partout nichts davon wissen. Er ist sonderbar in letzter Zeit, Alex, wirklich. Das bilde ich mir nicht ein.« »Doch. Ganz bestimmt bildest du dir das ein.« Ihr Verhalten machte ihn ungeduldig. »Schau mal, die Hauptsache ist doch die: Ist er geflogen, oder ist er nicht geflogen?« »Er ist geflogen«, antwortete sie müde. »Er ist heute morgen um neun aus dem Haus gegangen.« »Na also«, sagte er, als wäre damit alles geklärt. Er wollte sie in die Arme nehmen, aber sie wich ihm aus. »Gestern«, sagte sie nachdenklich, als hätte Alex nicht gesprochen, »gestern saß ich oben im Schlafzimmer an meinem Toilettentisch, als Marcos hereinkam. Ich sah ihn flüchtig im Spiegel, nur einen Moment lang. Aber der Ausdruck seiner Augen war – er war schrecklich, Alex. Ich kann ihn nicht beschreiben – Haß, Wahnsinn, Verzweiflung –, das alles vermischte sich, aber am stärksten fühlte ich den Haß.« »Weshalb sollte er dich plötzlich hassen?« »Dafür könnte es nur einen Grund geben.« »Nein«, entgegnete er mit Entschiedenheit. »Das bildest du dir alles nur ein. Er vertraut uns. Er sieht es gern, wenn wir zusammen sind. Er legt es direkt darauf an. Dieses Wochenende ist das beste Beispiel dafür. Er würde doch nicht wegfliegen, wenn er einen Verdacht hätte. Er hat mich doch sogar gebeten, mich um dich zu kümmern. Was ich natürlich, wie ich ihm versicherte, mit Freuden tue.« Er küßte sie, doch sie blieb kühl. »Na schön«, sagte er ärgerlich. »Na schön, wenn das so ist, brauche ich nicht zu bleiben.« Er ging zur Tür. Sie machte keinen Versuch, ihn aufzuhalten. »Hör mal«, sagte er an der Tür, »gibt’s auf dem Hof in Queensland Telefon?« »Natürlich.«
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»Dann ruf Marcos doch an. Sprich mit ihm. Du wirst sehen, daß er dort ist, und kannst beruhigt sein.« »Was soll ich denn sagen?« »Guter Gott, du bist doch seine Frau! Frag ihn nach seiner Erkältung, sag, du machst dir Sorgen.« Er ging zum Telefon und hob ab. »Welche Nummer?« »Greenvale, North Queensland, 274, Vorwahl 032.« Er wählte die Vermittlung, nannte Vorwahl und Nummer und reichte Kristina den Hörer. »Keine Angst«, sagte er und küßte sie leicht auf die Wange. Ihre Augen verrieten Erleichterung, als Marcos sich meldete. Sie nickte Alex zu, der die Hände hob, als wolle er sagen, ich hab’s doch gewußt. »Marcos, hier ist Kristina. Ich – ich wollte nur wissen, wie es dir geht. Was macht die Erkältung?« »Unverändert«, antwortete er brüsk. Sie hörte die leichte Heiserkeit. »Ist bei dir alles in Ordnung?« fuhr er fort. »O ja. Ich habe mir nur deinetwegen Sorgen gemacht.« »Das ist überflüssig. Ich werde nicht gleich sterben. Ich komme morgen wie vereinbart zurück. Auf Wiedersehen.« In seiner Stimme war ein gereizter Ton. Sie legte langsam auf. »Ja«, sagte sie, »er ist dort. Liebenswürdig wie immer.« Sie trat zu Alex. »Komm, wir gehen ins Bett.« Sie sprach mit Bitterkeit. Sie hatte in diesem Moment kein anderes Bedürfnis, als Marcos eins auszuwischen. Sie gingen ins Schlafzimmer hinauf. Sie konnte das Zusammensein mit Alex nicht genießen. Sie fühlte sich unbehaglich in dem Bett, das sie sonst mit Marcos teilte, und bedauerte den Impuls der Bitterkeit, der sie verleitet hatte, Alex in dieses Zimmer mitzunehmen. Hinzu kam, daß sein Verhalten eine Veränderung zeigte, die sie stutzig machte. Er hatte sie schnell und hitzig genommen, und als es vorüber war, streckte er sich neben ihr aus und lächelte, triumphierend wie ihr schien. »Das war toll«, sagte er mit einem tiefen Seufzer. »Das Tollste überhaupt. In diesem Bett, in diesem Zimmer. Toll.« »In seinem Bett, in seinem Zimmer. Das meinst du doch wohl?«
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»Du mußt zugeben, daß das der Sache eine besondere Pikanterie verleiht. Eine gewisse Würze.« In seiner Stimme schwang ein Ton satter Selbstgefälligkeit, der sie zornig machte. Ekel, so sehr gegen sich selbst wie gegen ihn, lag ihr gallebitter im Mund. Sie sprang aus dem Bett und schlüpfte in einen Morgenrock. »Ach, bleib doch hier, Kris«, bettelte er wie ein verwöhntes Kind. »Komm wieder ins Bett.« »Alex«, sagte sie ruhig, »wenn Marcos zurückkommt, sag’ ich es ihm.« »Aber klar«, versetzte er lächelnd. »Ich kann es mir richtig vorstellen.« »Es ist mein Ernst. Ich werde ihm alles sagen und ihn dann verlassen.« »Du bist ja verrückt geworden!« Er setzte sich im Bett auf. »Du kennst Marcos nicht. Der wird nicht einfach ruhig dasitzen und alles akzeptieren. Komm wieder ins Bett, Kristina, und sei nicht albern.« »Alex«, sagte sie ruhig, »was ist dir wichtiger? Deine Liebe zu mir oder dein Haß auf deinen Bruder?« »Was, zum Teufel, redest du da? Kris, Herrgott nochmal, was ist denn plötzlich los?« »Nichts. Aber ich mag’s nicht, wenn man mich benutzt.« »Benutzt?« »Marcos benutzt mich. Und du benutzt mich gegen Marcos. So ist es doch, nicht wahr? Sicher, du magst mich auf deine egoistische Klein-Jungen-Art ganz gern, aber mit Liebe hat das nichts zu tun. Du benutzt mich, um dich an Marcos zu rächen. Ich bin nur ein…« Sie brach plötzlich ab und hielt den Atem an. »Was war das?« hauchte sie. »Was denn?« »Ich habe etwas gehört. Eine Tür. Es ist jemand im Haus, Alex.« »Ach, Blödsinn«, versetzte er. Aber in seinen Augen blitzte Furcht auf, und er sprang hastig aus dem Bett und griff nach seinen Kleidern. »Hör doch! Hör doch!«, flüsterte sie drängend.
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Er war gerade dabei, sein Hemd zuzuknöpfen, und hielt inne. Zuerst nichts, kein Laut, aber dann hörten sie es beide: den ruhigen, gemessenen Schritt eines Menschen, der die Treppe heraufkam. Alex griff in heller Panik nach seinen Jeans. »Hilf mir! Hilf mir doch, verdammt noch mal!« stieß er heiser hervor. Doch Kristina stand ruhig und gelassen da, als hätte sie diesen Moment vorausgesehen und wäre beinahe erleichtert darüber, daß er endlich gekommen war. Vor der Tür hörten die Geräusche auf. Eine Ewigkeit verging, dann drehte sich langsam der Türknauf. Alex, mit flatterndem Hemd, die Jeans mit einer Hand festhaltend, packte seine restlichen Sachen und stürzte zum Badezimmer, als die Tür sich öffnete. »Marcos«, sagte Kristina, bemüht, nichts von ihrer Furcht in ihrer Stimme anklingen zu lassen. »Was ist denn los? Ich dachte, du wärst in Greenvale – ich habe noch vor einer halben Stunde mit dir telefoniert. Was hast du vor?« Mit abgrundtiefer Verachtung sah er erst sie an, dann das zerwühlte Bett. Seine dunklen Augen glühten, er atmete keuchend. Ein säuerlicher Geruch stieg ihr in die Nase, wie von einem Tier, und dann schlug er sie. Sie schrie auf und fiel auf das Bett. Er sah einen Moment zu ihr hinunter. »Hure!« knirschte er. »Marcos, bitte«, flüsterte sie. »Laß mich doch erklären.« »Erklären? Wie willst du denn das hier erklären? Und das hier?« Er riß ihr den Morgenrock von den Schultern, daß er bis zum Gürtel zerriß; er zog das Leintuch vom Bett und zerfetzte es mit seinen großen Händen, als wäre es Papier. Und dabei sagte er immer wieder: »Hure! Hure! Hure!« Er zog sie hoch, schlug noch einmal zu und fing sie, als sie ohnmächtig wurde, in seinen Armen auf. In der Finsternis, die sie umgab, hörte Kristina den Schuß. Er schien aus weiter Ferne zu kommen, und sie brauchte lange, um zu erkennen, was für ein Geräusch das gewesen war. Sie schlug die Augen auf und sah, daß sie in einem der Gästezimmer lag. Die volle Erkenntnis dessen, was geschehen war, kam ihr erst, als ihr Blick auf
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ihren zerfetzten Morgenrock fiel. Mühsam richtete sie sich auf und wankte zur Tür. Sie war von außen abgeschlossen. Sie riß am Knauf, hämmerte schwach gegen die Füllung. Ganz plötzlich wurde die Tür geöffnet, und sie sah Marcos vor sich stehen. Er schien jetzt sehr ruhig zu sein, und als er eine Hand auf ihren Arm legte, war seine Berührung sanft. Zerstreut nahm sie wahr, daß er Handschuhe trug. »So Kristina«, sagte er. »Sprechen wir miteinander.« »Alex«, stieß sie heiser hervor. »Wo ist Alex?« »Alex und ich sind zu einer Vereinbarung gekommen«, erklärte er lächelnd. »Es war ganz einfach. Ich bot ihm fünfzigtausend Dollar, wenn er dafür verschwinden würde. Er verlangte das Doppelte, und ich willigte ein. Er ist schließlich mein Bruder. Er hat dir einen Abschiedsbrief hinterlassen.« Immer noch benommen, nahm sie das Blatt Papier, das er ihr hinhielt. »Liebe Kris«, las sie, »so kann es nicht weitergehen. Darum tue ich um Deinetwillen das einzig Mögliche. Bitte versteh mich und versuche, mich zu vergessen. Leb wohl, meine Liebste.« Der Brief war mit »Alex« unterschrieben, und sie wußte, daß es seine Handschrift war. »Nein, nein«, stöhnte sie, »das ist ja nicht wahr.« Sie sah plötzlich ganz klar und erinnerte sich des Schusses. An Marcos vorbei stürzte sie zur Tür hinaus und rannte zum Schlafzimmer. Die Tür stand offen, der beißende Geruch eines Schusses hing in der Luft. Alex lag auf dem Teppich. Ein ganzes Stück seines Kopfes und seines Gesichts fehlte. In grausigem Entsetzen fuhr sie herum, stürzte sich auf Marcos und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Doch er hielt sie mit Leichtigkeit fest. »Ich habe nicht gelogen, Kristina«, sagte er. »Ich habe die Wahrheit gesprochen. Er war bereit, hunderttausend Dollar zu nehmen und nach Südamerika zu gehen. Das war dein Preis. Daran kannst du messen, wie sehr er dich geliebt hat. Er war ein Feigling und ein Betrüger. Er hatte keine echten Gefühle für dich.« Sie riß sich von ihm los und hetzte keuchend durch das Zimmer, um zum Telefon zu gelangen, das auf dem Nachttisch stand. Aber er war schneller als sie. Sie starrte über seine Schulter hinweg auf den
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Leichnam. Er umfaßte ihr Kinn mit einer Hand und zog ihr Gesicht nah zu seinem. Auf seiner Wange glänzte Schweiß. »Es ging nicht anders, Kristina!« schrie er. »Hör mir zu! Hör zu! Er hätte dich als Schwester achten und lieben sollen, als wärst du von seinem Blut. Statt dessen schlief er mit dir. In meinem Bett legte er sich zu dir. Gemein und niederträchtig war das. Er mußte sterben, es gab keine andere Möglichkeit.« »Sie werden dich hängen!« rief sie. »Oder dich für den Rest deines Lebens in eine Zelle sperren.« »O nein«, entgegnete er gelassen. »So habe ich das nicht geplant. Du weißt doch, daß ich eigentlich gar nicht hier bin. Oder hast du das so rasch vergessen? Du hast mit mir telefoniert. Ich bin in Queensland.« »Wer war das? Mit wem habe ich gesprochen?« »Das war ein Schauspieler. Ein arbeitsloser Säufer. Ein hervorragender Nachahmungskünstler. Er hat mich oft im Fernsehen karikiert – du kennst doch die Sendung. Er ist mir verpflichtet, und wir vereinbarten, daß er auf diese Weise seine Schuld begleichen würde. Kristina, du mußt mich doch inzwischen kennen. Du mußt doch wissen, daß ich immer alles gründlich organisierte. Du glaubst, ich stehe hier vor dir – aber das ist nicht der Fall. Es ist eine Illusion.« Er sah auf seine Uhr. »Tatsächlich bin ich in diesem Moment auf der Fahrt nach Greenvale, um einige Vorräte einzukaufen. Ich werde von verschiedenen Leuten gesehen werden – so was nennt man, sich ein Alibi verschaffen, wenn ich nicht irre.« »Aber die Leute da oben kennen dich. Die merken bestimmt, daß du es gar nicht bist.« »Du unterschätzt die schauspielerischen Fähigkeiten meines Freundes. Er ist wirklich ganz hervorragend. Ich habe die Erkältung extra geheuchelt, um ihm die Nachahmung der Stimme zu erleichtern. Und was die Leute dort oben angeht – die wissen, daß ich am liebsten allein bin. Bei meinen letzten Besuchen habe ich mir alle Mühe gegeben, mir einen Ruf als abweisender Eigenbrötler zu schaffen. O nein, Kristina, da habe ich nichts zu befürchten.« Sie erinnerte sich jetzt an den Schauspieler, obwohl ihr sein Name nicht einfiel. Er hatte Marcos in den Fernsehsendungen stets un-
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glaublich überzeugend nachgeahmt. Jede Geste und jeder Gesichtausdruck stimmte. Selbst seine Stimme hatte geklungen wie Marcos’. »Der Pilot!« rief sie plötzlich. »Er kennt dich zu gut. Er hat sich bestimmt nicht täuschen lassen.« »Lockstey? Oh, der hat gerade Urlaub. Ich habe einen Ersatzpiloten engagiert. Ich bin heute morgen zum Flughafen gefahren. Dort traf ich mich in der Herrentoilette mit meinem Freund, dem Schauspieler. Ich gab ihm mein Jackett und meine Reisetasche, und dann ist er in meiner Maschine gestartet, während ich zurückblieb. Er brauchte nur meinen Wagen zu nehmen, der immer am Flugplatz von Townsville steht, und zum Haus hinauszufahren. Er versorgt sich selbst, wie ich das immer tue. Und morgen fährt er nach Townsville zurück, steigt wieder in die Maschine und kommt hierher. Wir treffen uns wie heute morgen in der Herrentoilette, er gibt mir meine Sachen zurück und verschwindet.« »Und wenn er dich verrät?« »Das wird er nicht tun«, entgegnete Marcos unerschüttert. »Ich habe, sagen wir, gute Gründe, darin sicher zu ein.« »Du hast ihn erpreßt.« »So kann man es nennen. Tja, Kristina, das war’s. Ich habe einige Wochen gebraucht, um alles genau abzustimmen, aber es hat sich gelohnt. Ein guter Plan – ich bin stolz darauf.« »Du hast mir noch nicht gesagt, was für eine Rolle ich in deinem Plan spiele«, sagte sie. »Dieses Detail hast du doch gewiß nicht übersehen.« »Nein, selbstverständlich nicht. Das – wie sagt man gleich? – ach ja, das Szenario. Also, das Szenario sieht folgendermaßen aus: Du hast mit Alex ein Verhältnis. Ihr seid in leidenschaftlicher Liebe zueinander entbrannt. Aber Alex, meinen treuen Bruder, plagt das schlechte Gewissen. Er bringt es nicht über sich, mich weiterhin zu betrügen. Dieser Anfall von Reue überkommt ihn, nachdem er hier, in diesem Zimmer, im Bett seines Bruders, mit dir geschlafen hat. Er sagt dir, daß er Schluß machen will. Ihr geratet in Streit, werdet sogar handgreiflich – das wird die Blutergüsse in deinem Gesicht erklären. Aber am Ende versöhnt ihr euch wieder, und dann gehst du nach unten. Er nimmt einen Bogen Papier aus der Schublade – da –, einen
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Bogen meines Briefpapiers und schreibt dir einen Abschiedsbrief.« Er hielt den Brief hoch. »Es ist keine Fälschung. Er hat ihn wirklich geschrieben – nach meinem Diktat. Er glaubte, es wäre sein Freibrief. Mit Speck fängt man Mäuse, meine Liebe. Aber, um fortzufahren – er schreibt dir also den Abschiedsbrief, dann nimmt er deine Pistole aus der Schublade und jagt sich eine Kugel durch den Kopf. Ja, es ist deine Pistole, Kristina – die Pistole, die ich dir vor zwei Jahren gekauft habe.« Er nahm sie aus seiner Tasche und wog sie auf der behandschuhten Hand. »Wie es dann weitergeht, dürfte wohl offensichtlich sein«, fuhr er fort. »Du hörst den Schuß und läufst nach oben. Du erblickst deinen toten Liebhaber und liest den Brief. Du bist von Schmerz überwältigt, du kannst den Gedanken an ein Leben ohne ihn nicht ertragen und erschießt dich. Sehr romantisch, findest du nicht? Und während all dieser Vorfälle sitze ich ahnungslos in Queensland und arbeite. Morgen nachmittag werde ich nach Hause kommen und voller Entsetzen sehen, was geschehen ist. Ich werde um meine tote Frau weinen und um meinen toten Bruder trauern. Ende des Szenarios.« Lange war es still. Dann sagte Kristina leise: »Hast du eigentlich nie vor dir selber Angst? Fürchtest du nie, daß das Schicksal sich eines Tages gegen dich wenden wird?« »Ich glaube nicht an das Schicksal«, erwiderte er kurz. »Jeder ist seines Glückes Schmied. Alex hat seinen Weg selbst gewählt, er wußte, wohin er führen mußte.« »Das ungeschriebene Gesetz der Kreter«, sagte sie. »Ja. Ein Mann ist nichts ohne seine Ehre.« »Du nennst das ehrenhaft? Diesen grausamen Mord? O nein, Marcos. Das nehme ich dir nicht ab. Du hast aus niedrigen Motiven getötet, um deine eigene Eitelkeit zu befriedigen. Daran ist nichts Ehrenhaftes.« »Wenn das hier in Sphakia geschehen wäre«, sagte er kalt, »hätten dich die Frauen gesteinigt, und du wärst für immer aus dem Dorf verstoßen worden. Man hätte dich einem einsamen Tod überlassen. So hält man es dort mit Ehebrecherinnen. Schön ist das nicht. Ich werde nicht so gnadenlos sein.«
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»Ich glaube, deine Gnade will ich gar nicht«, sagte sie. »Und es ist sowieso zu spät. Denk darüber nach, Marcos. Wenn du am Anfang ein bißchen Nachgiebigkeit gezeigt hättest, ein bißchen Zärtlichkeit, dann hätten wir es vielleicht geschafft. Ich wollte dich lieben und dir eine gute Frau sein. Aber du konntest nichts geben. Was ist aus deinen menschlichen Gefühlen geworden? Hast du die in den weißen Bergen zurückgelassen?« »Ich habe Alex geliebt. Ich habe für ihn gesorgt. Und ich habe dich geliebt und für dich gesorgt.« »So, wie du dieses Haus liebst, wie du deinen Erfolg und deine Geschäfte liebst. Aber das ist nicht genug, Marcos. Das ist einfach nicht genug.« Sie war es plötzlich leid. »Gib mir die Pistole. Ich will es hinter mich bringen. Das möchtest du doch, nicht wahr?« Sie streckte die Hand aus, und in diesem Moment begann das Telefon zu läuten und erschreckte sie beide. Es läutete lange, schrill und beharrlich. »Willst du nicht hingehen?« spottete sie. »Ach so, ich vergaß, du kannst ja nicht. Du bist ja nicht hier.« Er packte sie beim Arm und zerrte sie zum Nachttisch. Er drückte ihr die Pistole auf die nackte Brust. »Geh hin!« schrie er sie an. »Geh hin – und sei vorsichtig, was du sagst.« Sie hob ab. »Kristina Coleman. – Wer spricht bitte? – Polizei?« Sie merkte, wie er neben ihr erstarrte. Die Mündung der Pistole drückte hart in ihr Fleisch. Lange hörte sie schweigend zu, in ihren dunklen Augen, die auf Marcos gerichtet waren, spiegelte sich Bestürzung. »Ja. Sie sind ganz sicher? Ja, ja – ich verstehe. – Ja, den ganzen Abend. – Ich danke Ihnen. – Ja, ich komme schon zurecht. – Auf Wiedersehen.« Sie legte den Hörer auf und setzte sich stumm aufs Bett. Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, danach kam Gelächter, leise zuerst, dann immer lauter, das schrille Gelächter der Hysterie. Und während sie lachte, strömten ihr die Tränen über die Wangen. Er schüttelte sie wie ein Wahnsinniger. »Was wollten sie? Was ist los?« Sie zitterte am ganzen Körper und hatte Schwierigkeiten, die Worte hervorzubringen.
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»Das war die Polizei von Queensland. Sie haben aus Townsville angerufen. Du bist tot, Marcos.« Sie fing wieder an zu lachen. »Wußtest du das nicht? Ich dachte, du wüßtest alles. Du bist heute abend mit dem Wagen losgefahren. Du hattest ziemlich viel getrunken. Du kamst von der Straße ab und bist gegen eine Betonmauer geprallt. Der Wagen verbrannte, und du mit ihm.« »Du lügst!« Sie nahm das Telefon und hielt es ihm hin. »Willst du es nachprüfen? Ruf sie doch einfach an und sag ihnen, daß ein Irrtum vorliegt – daß in dem Auto nur ein betrunkener Schauspieler saß, der dich vertreten hat, damit du inzwischen einen kleinen Mord verüben konntest. Noch ein Toter auf deinem Konto, Marcos.« Sie bekreuzigte sich. »Der arme Teufel. Ich sollte nicht lachen. Gott sei seiner Seele gnädig.« Marcos schlug ihr das Telefon aus der Hand. Es fiel auf das zerwühlte Bett. Er hob die Pistole und schoß Kristina genau zwischen die Augen. Einmal zuvor in seinem Leben, als er vom Tod seiner Mutter gehört hatte, hatte Marcos aufgeheult wie ein schmerzgequältes Tier. Dieses selbe Heulen drang jetzt aus seinem weit geöffneten Mund. Er richtete die Pistole auf sich selbst und drückte ab. Aus dem Englischen übertragen von Mechthild Sandberg-Ciletti
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P.B. YUILL Hazell und der Patriot Als ich an jenem Augustmorgen mit der U-Bahn zu Dot Wilmingtons Büro fuhr, hatte ich über die Schulter eines Mitfahrers hinweg im Mirror gelesen, wohin gerade wieder eine unserer Popgrößen gezogen war, um sich die Steuern zu ersparen, schweren Herzens natürlich. »Nein, ich bin nicht verzweifelt auf Arbeitssuche«, sagte ich zu der kleinen, untersetzten Frau mit dem gefärbten blonden Haar. »Ich hab’ mindestens achtzig auf die Hand bekommen nach dem Knast, und die Garage verlangt nur neunzig für die Reparatur der Kupplung. Außerdem schuldet mir jemand hundertfünfzig für einen Job, den ich…« »Mit anderen Worten, du brauchst dringend eine Arbeit.« Wir schauten uns über ihren Schreibtisch hinweg an. Das Fenster hinter ihr war offen, um ein kühles Lüftchen hereinzulassen, aber was sich da draußen an Luft bewegte, war heißer als drei in einem Bett. »Die Geschäfte gehen überall miserabel«, sagte sie. »Es war dein Fehler, daß du nicht Brauer geworden bist oder ’n Bürohengst.« »Oder ein Star der Rockmusik.« »Ich kenne einen Elektro-Großvertrieb in Acton – so einer, der jede Woche sein Lager räumt. Wie steht es mit deiner doppelten Buchführung?« »Neun mal neun ist… neunundneunzig?« »Hast du nicht wenigstens zwei Riesen bekommen von dem Betrüger, den du vor den schweren Jungs gerettet hast?« »Damit hab’ ich den Motor angezahlt, kapiert? Und eine Woche auf Jersey – die war schnell vorbei. Vergiß nicht, du hast mich angerufen.« Draußen auf der Fensterbrüstung gurrten sich zwei Tauben etwas zu; vermutlich ging es um die Trockenheit. Ich kam auf die Idee, daß Dot das alles genießen mußte. Ich war einmal bei ihrem Stab von Sicherheitsberatern gewesen, pro Woche fünfundsiebzig auf die Hand, auf Heuern und Feuern.
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Endlich zog sie einen Umschlag von ganz unten raus. »Schulden, die faul geworden sind«, sagte sie und schob sie mir über den Schreibtisch zu. »Meistens geb’ ich so was einer schlauen Süßen namens Vinnie Rae, auf Kommission. Das meiste kleine Fische, keine Gerichtsverhandlung wert. Vielleicht gibt sie dir ein paar davon ab – aus Gefälligkeit mir gegenüber: zwanzig Prozent von allem, was du kassierst. Ich ruf sie an und sag’ ihr, daß du bei ihr aufkreuzt.« »Eine Sie?« »Klar – und gleich ein Wort zur Warnung, mein Süßer: Karate war ihr bestes Fach in Roedean.« »Bei euch Weibern ist heutzutage nichts mehr unmöglich, oder?« Die Sicilian Avenue ist nicht viel mehr als ein Durchgang, der von der Southampton Row abzweigt, im Niemandsland westlich der Tottenham Court Road. Kleine Geschäfte, ein Briefmarkenladen, ein Lokal mit Tischen auf der Straße, ein bißchen wie auf ’m Kontinent, wenn man sich nicht zu genau umschaute. Natürlich wollten die Stadtplaner es seit Jahren abreißen. Ein Gutes hat der Ausverkauf des Landes: Wenn man losgeht, sieht man zwei Wochen lang nur dieselben Häuser. Vinnie Rae hatte Dot gesagt, daß sie draußen Kaffee trinken würde. Mir fiel als erstes ihr Partner auf. Jason, und überwiegend schwarz, mit ein paar braunen Flecken, das Fell sehr glatt und glänzend. Irgendwie ein lustiger Hund, nach der Art, wie seine großen Augen »Hallo« sagten. Ihre Haut war fast cremefarben, und sie war, was man ein kräftiges Mädchen nennen würde, kerngesund, in einem hellblauen DenimKostüm und weißen Schuhen. »Vinnie Rae?« Ich stellte mich möglichst weit weg von dem Hund. »Ich bin James Hazell…« »Ach ja.« Sie kniff die Augen zusammen und beäugte mich. Der Hund prüfte, was für ein Kaliber ich sei und fand schließlich, ich sei nicht einmal ein Begräbnis wert. »Setzen Sie sich doch… Keine Angst, Jason geht Ihnen nur an die Kehle, wenn ich einen Finger hebe.« »Und wenn Sie zwei Finger heben?«
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»Eine Lady hebt niemals zwei Finger.« Ich setzte mich und legte die Akte auf den Tisch. »Haben Sie Erfahrung im Schuldeneintreiben?« »Insoweit, als ich selbst jeden Tag neue mache.« Sie lächelte. Und dann kam dieser zweite Partner an den Tisch, fast schwarz, sehr schlank und sehr glänzend. Nur, daß dieser eine trockene Nase hatte und eine große Sonnenbrille. »Seid gegrüßt!« sagte er in dramatischem Ton, schlug die Hacken zusammen und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sein schwarzes Hemd war bis zum Nabel aufgeknöpft, und auf seiner behaarten Brust prangte eine schwere Kette aus Gold mit einem Anhänger. Er holte aus seiner weiten Jeans ein Bündel Banknoten und knallte sie Vinnie neben die Kaffeetasse. »Vierhundertfünfundzwanzig, die ganze Summe.« »Gut gemacht, Roger«, sagte sie. »Nie gedacht, daß du es schaffst.« »Ich hab’ gewußt, daß das was für einen wie mich ist«, sagte er bescheiden, mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich brause in sein Vorzimmer…« Er hatte beide Hände hinter dem Rücken. »Ich dampfe vorbei an seiner aufgeblasenen Sekretärin, und da sitzt er auch schon hinterm Schreibtisch. ›Was, Sie schon wieder?‹ sagte er spöttisch. ›Ja, ich schon wieder, Sie aalglatte Person‹… und dann wusch!« Er schmetterte seine Rechte auf den Tisch. »Ich schlag die erste Axt ins polierte Zedernholz. ›Rücken Sie bloß raus damit, oder die zweite‹« – er zeigte seine Linke – »›kracht Ihnen auf den Schädel!‹ Er hat bezahlt wie ein Lämmchen.« »Das ist ’ne handfeste Poesie«, murmelte Vinnie und blätterte einzelne Scheine von dem Bündel. Sie steckte ihm siebzig oder achtzig Dollar in Fünfern und Einern zu. Sie verschwanden in den Taschen, als hätten seine Jeans sie verschluckt. »Und ich mußte zwei Äxte kaufen«, sagte er, ganz vernünftig, wie ich fand. Vinnie war nicht beeindruckt. »Setz sie ab.« »Von der Steuer?« Er stand auf und zeigte ihr zum Gruß die geballte Faust. »Die am Sozialismus Sterbenden grüßen dich!«
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Seine schlanken Hinterbacken entfernten sich wedelnd durch die Tischreihen. Sie sah ihm nach. »Roger ist ein arbeitsloser Schauspieler. Er kann überfällige Schulden wie ein Todesurteil darstellen.« Dann wandte sie sich wieder an mich. »Ach ja.« Sie schlug die Akte auf. »Wunderbar, hier ist ein alter Freund, bei dem Sie sich Anfangslorbeeren verdienen können.« Sie reichte mir das Blatt Papier. »Nur zweihundertdreißig Pfund – allerdings müssen Sie bis zur Oxford Street…« »Und was ist – äh – die übliche Form?« »Es ist alles eine Frage der Psychologie. Und – keine Gewalt.« »Ach? Als was bezeichnen Sie es, wenn einer Äxte in Schreibtische hackt?« Sie lächelte und berührte das Kinn des Hundes. »Das nennen wir angewandte Psychologie, nicht wahr, Jason?« Ich kam davon, ohne von dem Hund angefallen zu werden. Es gibt viele solche Häuser im Westend, versteckt in den komischsten Ecken. Auf dem Etagenverzeichnis stand alles von BegleiterAgenturen bis zu Billigstteppichen, von preiswerten Flugreisen nach Australien und Handlesekunst – auf Wunsch auch aus der Kristallkugel –, bis zu einer Yoga-Gesundheitsklinik, mehreren Schreibkräfte-Vermittlungen und eben Mr. Dornfords, kleinem Mischkonzern. Ich ging hinauf in den vierten Stock. Unterwegs kam ich an vier schweigsamen Indern vorbei. Wohl Geschäftsleute. Die meisten Türen sahen ziemlich ramponiert aus – man kann davon ausgehen, daß jedes dieser Gebäude im betriebsamen Westend bei Nacht die Echos der traditionellen Geräusche splitternder Türfüllungen und aufgesprengter Beschläge durch die Korridore schickt. Mr. Dornford war in Nummer neununddreißig. Nach der Zahl der Firmen an der Tür mußte das Büro größer sein als das VickersGebäude. Überwiegend Reisen und Versicherungen. Ich klopfte an. Er war etwa fünfundsechzig, dunkler Anzug, weißes Haar, zurückgekämmt; mit scharf gezogenem Scheitel, ein Schnurrbart in der Farbe alter Klaviertasten, eine Regimentskrawatte mit einem Knoten, bei dessen Auflösung die Fingernägel um Hilfe schreien. Ein Gentleman der alten Schule, zweifellos.
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»Mr. Dornford?« »Der ist nicht mehr hier. Worum geht es denn?« Zwei schweigsame Inder kamen den Korridor entlang. Er funkelte sie an. Sie drückten sich geschmeidig an mir vorbei. »Nicht mehr hier?« »Wird schon gewußt haben, warum«, sagte er ziemlich bissig und schaute den verschwindenden Indern nach. »Ich habe sein Geschäft gekauft…« »Die Firma Gresham-Büroausstattungen behauptet, er schulde ihr…« »Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen.« Er wollte die Tür schließen. Für zwanzig Prozent von zweihundertdreißig Pfund war ich bereit, einen Hausfriedensbruch zu begehen. Ich stellte meinen Fuß in den Spalt. »Wo ist er denn?« »Er schaut gelegentlich hier vorbei, um seine Post abzuholen – schreiben Sie ihm doch. Und ich für meinen Teil habe zu tun, so unmodern Ihnen das auch vorkommen mag.« »Die Firma hat ihm mehrmals geschrieben. Er antwortet nie.« »Das kann ich ihm nicht verdenken, bei den Postgebühren heutzutage. Wenn Sie jetzt…« »Wenn Sie das Geschäft übernommen haben, sind Sie gesetzlich verpflichtet…« »Ich habe nur den ideellen Firmenwert gekauft, wenngleich von ideell nicht die Rede sein kann.« Hinter ihm klingelte ein Telefon. Er drehte sich um und schaute es lediglich an. An der Wand hing das gerahmte Foto eines jungen Kerls in Uniform. »Wenn er herkommt, frage ich ihn nach seiner Adresse – das ist das einzige, was ich für Sie tun kann«, sagte er. Eine halbe Stunde später betrat ich Vinnie Raes Büro im dritten Stock über der Sicilian Avenue. Sie telefonierte gerade. Der Dobermann lag auf dem Boden. Das Bündel mit Banknoten lag noch auf dem Schreibtisch. Ich war in großer Versuchung. Aber der Hund schenkte mir die Gunst des Zweifels.
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»Komisch, daß sich die Leute nie über unsere vierzig Prozent beklagen, bis sie das Geld zurückbezahlen müssen«, sagte sie. Sie winkte mir zu und deutete auf ein kleines rotes Sofa mit holzgeschnitzten Armlehnen. Man sagt, die Tiere können die Angst riechen. Vielleicht hatte Jason gerade einen Schnupfen. »Also, ich habe zweihundertfünfundfünfzig Pfund hier für Sie«, sagte sie und zählte die Scheine. Ich erreichte das Sofa, ohne Jason herauszufordern!. Vinnie lachte. »Oh, nein, nein, nein, nein – wir ziehen den Gewinn gleich an der Quelle ab. Bargeld, keine Schecks. Und keine Nachlässigkeiten beim Zurückzahlen… Sehr gut.« Sie legte den Hörer auf. »Nun?« »Heiße Sache.« Sie streckte die Arme aus. Ihr Denim-Kostüm schien ein bißchen eng zu sein. Ich weiß nicht warum, aber ich warf rasch einen Blick auf Jason. O ja, er wußte, was ich dachte. Er knurrte. Aber nein. Es war nur ein gottverdammter Hund im Raum, und das Knurren kam nicht von ihm. »Dornford hat das Geschäft einem alten Knacker namens Telford verkauft«, sagte ich. »Telford will mir die Adresse von Dornford vermitteln.« Sie brachte es tatsächlich fertig, gleichzeitig die Stirn zu runzeln und zu lächeln. »Und was werden Sie tun, während Sie auf die Adresse warten?« »Weiß nicht… Vielleicht versuche ich es bei einem anderen…« Sie seufzte. »Dot hat gesagt, daß Sie ein bißchen Hilfe brauchen.« »Wahrscheinlich bin ich für Sie ein Wohltätigkeitsfall.« »Ich hasse es, mich mit männlichem Stolz und so weiter herumzuschlagen, aber… Telford, ist das so einer von der alten Schule? Bißchen schäbig, aber einer, der bessere Tage gesehen hat? An die Siebzig? Schnurrbart, weißes Haar?« Ich kam mir vor wie ein Trottel, mit großem T. Sie lächelte nur süß.
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»In diesem Geschäft haben wir keine Zeit für das Anlernen«, erklärte sie. Also ging ich wieder in die Oxford Street. Diesmal kam Plan B zum Einsatz… Hineinstürmen wie eine geballte Faust, mit grimmigem Lächeln auf dem Gesicht. Klopf, klopf. »Wer ist da?« »Hazell.« »Sie werden allmählich lästig.« Ich duckte mich und schaute durch den Briefschlitz hinein. Er war auf der anderen Seite und betrachtete mich über einen Schreibtisch hinweg. »Wollen Sie mich jetzt einlassen, Mr. Dornford?« »Ich sagte es Ihnen schon – mein Name ist Telford.« »Und ich bin Lawrence von Arabien.« »Oh… Ich verstehe.« Als er die Tür öffnete, kam eine Person im Teenageralter den Korridor entlang. Schwer zu sagen, welches Geschlecht, blasses Gesicht, grünes Haar. »Haben Sie das gesehen?« Dornford ließ den Kopf sinken. Ich schloß die Tür. »Wohin treibt dieses Land?« »Dem absoluten Stillstand entgegen. Ihre Schulden sind im übrigen…« Er schnob, als hätte ich einen schlechten Witz gemacht. Dann ging er zum Fenster. »Wenn ich an all die großartigen Menschen denke, die rings um mich in der Wüste gestorben sind – das Blut einer ganzen Nation, das da in den Sand sickerte… und jetzt? Haben Sie jemals darüber nachgedacht? Irgendwer mußte ja die Spitfires fliegen, oder nicht?« »Hören Sie…« »Langhaarige Herumtreiber, ja. Schwule. Hermaphroditen mit grünem Haar. Diebe – hier in diesem Rattenloch würden sie sogar die Farbe vom Holz klauen. Die einzigen, die arbeiten, sind diese verstaubten, armen Teufel. Das Haus hier ist voll von ihnen. Ist dies das Britannien, für das wir gekämpft und unser Leben gelassen haben?«
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»Sie schulden Gresham zweihundertdreißig Pfund.« Er winkte meine Bemerkung ab mit der Handbewegung eines Gentlemans. »Ist das die einzige Motivation, die uns geblieben ist? Geld, Geld, Geld?« »Sagen wir es so: Sie zahlen Ihre Schulden, und ich kaufe britisch.« »Ich hab’ das Geld nicht, mein Junge. Das Geschäft geht schlecht.« »Sie hatten eine elektrische Schreibmaschine…« »Gestohlen. Einbrecher. Die Tür eingetreten.« »Die Versicherung…« »Ich bin bei meiner eigenen Firma versichert.« Er bebte vor unterdrücktem Lachen. »Meine Versicherungsfirma ist pleite.« Ich entschied mich, die gesellschaftlichen Formen zu streichen. »Ich halte Sie für einen verdammten, alten Betrüger«, sagte ich laut und deutlich. »Kommen Sie mir bloß nicht mit dem ganzen Scheißdreck von Männern, die in der Wüste verblutet sind…« Er nickte und ging zu seinem Schreibtisch. Setzte sich, verschränkte die Arme und schloß die Augen. »Na schön, machen Sie weiter«, sagte er. »Womit denn?« »Mit der harten Tour. Dafür werden Sie schließlich bezahlt, nicht wahr? Machen Sie ruhig weiter – auch Sie repräsentieren diese neue Moral. Treten Sie einen alten Mann, dessen einziges Verbrechen es ist, mit seinen Zahlungen im Rückstand zu sein.« »Im Rückstand? Sie haben überhaupt keine Ratenzahlungen vereinbart.« »Man hätte einen Mann meines Alters darauf aufmerksam machen müssen. Aber so machen die ihr Geld, wissen Sie: Sie verführen die Leute mit verdammtem Blendwerk, bis sie sich solche Verpflichtungen aufhalsen, und dann…« Er öffnete die Augen. »Sind Sie vielleicht stolz auf das, was Sie tun?« Ich ging hinüber zu seinem Schreibtisch und schlug mit der Faust darauf. Es hätte ihn eigentlich weichmachen sollen – vielleicht nicht unbedingt weich, aber so, daß er wußte, mit wem er es zu tun hatte. Mir taten danach die Knöchel weh. »Können Sie denn gar nichts bezahlen?« fragte ich.
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Er zog die Brieftasche aus der Hose und klappte sie auf. »Mein tägliches Taschengeld«, sagte er und nahm eine einzelne Pfundnote heraus. »Ich bin natürlich selbst schuld, hätte den Laden hier vor Jahren zumachen sollen, aber wenn man eine kranke Frau hat…« Ich hatte ihm die Pfundnote aus der Hand gerissen. »Reden wir über den Rest.« »Ich könnte unseren Anteil an einer kleinen Baufirma angreifen, der uns eigentlich… Sehr schlimm, wenn man im Alter… Ihr Jungen denkt immer, daß es bei euch nie so kommen wird…« »Hören Sie, Mann«, sagte ich und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Ich will das Geld sehen.« Er hatte eine großartige Idee. »Ein Mann in Ihrem Beruf – wie sind Sie eigentlich versichert?« Ich schwöre bei Gott, er versuchte, mir eine Versicherung aufzuschwatzen! »Ich bin der Vermittler, Sie zahlen mir die erste Prämie, und ich gebe Ihnen meine Kommission zurück. Damit sind zwar nicht die ganzen Schulden bezahlt, aber es wäre doch wenigstens ein Anfang, oder?« Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab und schaute mich dabei immer noch mit seinen kleinen, blauen Augen an. Seine Hand hatte bläuliche Adern und sah ein wenig verkrümmt aus. Sie zitterte. Seine Augen waren wäßrig. »Oh, hallo«, sagte er in den Hörer. »Wie geht es meiner Frau?« Er hörte zu. »Oh… Bestätigt, ja?… Nun, man muß sich auf das Schlimmste vorbereiten… Ja, vielen Dank, daß Sie mich angerufen haben.« Er legte den Hörer auf die Gabel. Jemand klopfte an der Tür. Er gab mir das Zeichen, still zu sein. »Mr. Dornford? Hier Captain McInnes.« »Der Hausmeister«, sagte Dornford und ging zur Tür. Die beiden hätten ein schönes Paar abgegeben fürs letzte Kapitel, nur, daß der Captain fetter war. »Dachte, ich sag’ es Ihnen gleich, alter Junge – in der letzten Nacht sind wieder zwei Büros aufgebrochen und ausgeraubt worden. Ich
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schmeiß noch diese verdammte Wach- und Schließgesellschaft raus – ach, Sie sind beschäftigt?« »Es macht nichts…« Der Captain warf mir einen Blick zu. »Nein, ich will Sie nicht stören, Dornford. Sie sind wahrscheinlich der letzte Weiße hier in diesem Bazar. Vielleicht schau’ ich später vorbei.« Dornford schloß die Tür. Er schüttelte den Kopf. »Irgendwie bin ich froh, daß meine Zeit schon fast vorbei ist«, sagte er beinahe fröhlich. »Ich bin andere Zeiten gewohnt. Na schön…« Er trat ans Fenster. Jetzt, in der Silhouette gegen den Sonnenschein, wirkte er viel älter. Sollte man mich einen naiven, sentimentalen Narren schelten, aber ich brachte es einfach nicht fertig, den Stiefel einzusetzen. Ich schaute schnell seine Brieftasche durch. Der Kerl hatte nicht einmal eine Kreditkarte, nur lauter Mist. »Nein, ich beneide euch Jungs nicht«, sagte er. »Meine besten Tage waren in einer viel besseren Welt. Ein Unterschied wie Tag und Nacht.« »Ach, Quatsch.« Ich stand auf und ging zur Tür. Nein, ich war nicht auf dieser Welt, um alte Trottel mit zittrigen Händen zu terrorisieren, oder? »Gehen Sie?« »Ja.« Wir schauten uns an. Ich weiß nicht, warum, aber auf einmal mußte ich lachen. Ich ging zurück zu seinem Schreibtisch und legte ihm die Pfundnote hin. Er nickte weise. »Danke.« Ich verließ ihn mit dem Gefühl, eine gute Tat begangen zu haben. Fühlte mich irgendwie sauber, wenn Sie verstehen, was ich meine. »Sie haben was?« fragte Vinnie. Sie trank Kaffee und aß Kuchen, draußen auf der Terrasse. »Ein Pfund.«
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»Ein Pfund?« »Genau.« »Sehr gut. Dann haben Sie zwanzig Pence verdient.« »Hab’ ich nicht. Ich hab’ ihm das Geld zurückgegeben.« »Was?« »Ich glaube, ich habe nicht den Magen für diesen Schuldeneintreiber-Job. Sie sollten lieber den anderen schicken mit seinem AxtTrick.« »Dot hat mir gesagt, daß Sie ein bißchen romantisch sind, aber… Ein Schuldeneintreiber, der das Geld zurückgibt? Damit können Sie ins Guinness-Buch der Rekorde kommen.« Ich hob eine Hand. Der Kellner kam her. Ich bestellte eine Tasse Tee. Jason lag auf der Terrasse, und die Zunge hing ihm aus dem Maul. Ein Mädchen kam vorbei, in einem weißen Sommerkleid. Ein Gutes hatte die Hitze: Man konnte eine Menge Bein sehen. »Ich sehe mich gern als ein Profi«, sagte ich. »Ermittler, Privatagent oder so. Sie wissen schon: entlaufene Pudel, entlaufene Ehemänner, und wer hat die unendlich wertvollen Eierbecher geklaut? Aber ein armer, alter Mann, der in einer Traumwelt lebt…? Ich meine, er hat wirklich gedacht, daß ich ihn verprügle.« »Trinken Sie Ihren Tee aus«, sagte sie. »Wir machen einen kleinen Spaziergang. Dabei können Sie mir von diesen windigen Idealen erzählen, die Sie anscheinend noch besitzen.« Die Oxford Street an einem heißen Augustnachmittag. All die Fremden und der Rest, die ins sonnige England gekommen waren, um irgend etwas billiger als zu Hause zu bekommen. Sie hatte Jason an der Kette. Es gibt Leute, die Angst haben vor einem Dobermann und zu rennen beginnen. Vinnie schien sich über etwas zu amüsieren. Ich schwitzte ein bißchen, als wir Dornfords Haus betraten. Auf den Treppen begegneten wir zwei von den ausgeflippten Typen, Inder, aber noch was anderem. Weiße Chirurgenmasken, weiße Kleider und kleine weiße Putzwedel über den Schultern. »Jane«, sagte Vinnie. »Und wer ist Jane?« »Nein, es ist eine religiöse Sekte. Sie glauben an die Heiligkeit des Lebens. Die Masken sollen verhindern, daß ihnen Fliegen in den
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Mund kommen. Und mit den Mops wischen sie vor jedem Schritt den Boden, damit sie nicht auf eine Ameise treten.« »Ich nehme an, so was lernt man in Roedean.« »Mein Vater war bei der Indien-Armee.« »Er könnte ja herkommen, zu einem Familientreffen.« »Das hält er bereits im Himmel ab.« »Oh, tut mir leid.« »Mir nicht.« Als Dornford den Hund sah, versuchte er, die Tür zu schließen. Jason stieß ihn nicht gerade um und trampelte auf ihm herum, aber er wußte sich Geltung zu verschaffen. »Was soll das eigentlich?« fragte Dornford und brachte den Schreibtisch zwischen sich und unseren vierbeinigen Freund. »Ich glaube, Sie haben unseren Mr. Hazell ein bißchen hinters Licht geführt«, sagte Vinnie. »Ich habe Mr. Hazell erklärt…« »Ich glaube, Mr. Hazell lernt allmählich unser Geschäft. Nehmen Sie das als ein Kompliment?« »Ein Kompliment?« »Ich bin die letzte Instanz. Vinnie und der Dobermann.« Dabei krümmte sie einen Finger auf Jason. »Guter Hund.« Jason präsentierte seine Imitation des MGM-Löwen. Dornford war bereit, auf den Schreibtisch zu steigen. »Ich flehe Sie an – als Mann von Vernunft…« stammelte er. »Mir macht das keinen Eindruck«, erwiderte Vinnie. »Können wir die Sache jetzt ein für allemal erledigen?« »Ich habe es schon Mr. Hazell gesagt: Ich bin leider nicht imstande…« »Mit einem wunderbaren Blick auf schmutzige Mauern«, sagte sie und schaute in den engen Hof auf der Hinterseite des Gebäudes. »Glauben Sie, wir bleiben so lange hier, bis er uns gefällt?« »Ich glaube, ich könnte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten…« Vinnie atmete tief ein und schüttelte den Kopf. »Für Vorschläge ist es zu spät, Mr. Dornford. Ich habe den Auftrag, die ganze Summe zu kassieren. Es geht nicht um Prinzipien, sondern um Geld. Mögen Sie Dobermänner? Sie haben einen schlechten Ruf,
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aber im Grunde sind sie ganz gelehrige Tiere. Jason kann bis zehn zählen. Rede, Jason, rede.« Der Hund bellte. »Das ist der Versuch, mich einzuschüchtern«, erklärte Dornford. In seiner Stimme lag ein vorwurfsvoller Ton. Ich begann zu glauben, daß Vinnie ein bißchen stark aufgetragen hatte. »Wenn es als Einschüchterung gelten sollte, müßte es wesentlich schlimmer sein, Mr. Dornford«, entgegnete ihm Vinnie. »Sie bringen eine derartige Bestie hierher! Für mich ist das schlimm genug. Sind Sie bereit, sich in so etwas hineinziehen zu lassen, Mr. Hazell?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich an Ihrer Stelle würde dem Hund einen Knochen geben.« »Lassen Sie mich zwei Dinge klarstellen, junge Frau: Erstens zahle ich Ihnen keinen Penny, und zweitens werde ich dafür sorgen, daß die Firma Gresham für dieses ungeheuerliche Verhalten zur Verantwortung gezogen wird… Geld unter Drohungen einzutreiben, lautet die Bezeichnung im Gesetzbuch.« »Und wenn man unter einem falschen Namen auftritt, ist das Vorspiegelung falscher Tatsachen und Betrug«, entgegnete Vinnie. Der Alte war geschlagen. Vinnie wartete nicht, bis er zu Boden ging. »Außerdem gibt es hier eine elektrische Schreibmaschine, die zu Leihkaufbedingungen…« »Die Maschine haben Einbrecher gestohlen.« »Warum haben Sie das nicht Gresham mitgeteilt?« »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht.« Er schien wirklich zu leiden. »Hören Sie, Vinnie«, begann ich, »er kann doch nicht…« Hoffnung kehrte zurück in sein Gesicht. »Vielleicht sind Sie wirklich zu weich für unser Geschäft, Mr. Hazell«, fuhr sie mich an, dann wandte sie sich wieder an Dornford. »Zweihundertdreißig Pfund.« Ich kann es nicht leugnen, ich nahm an, daß ich sie in Kürze davor zurückhalten mußte, den Hund auf den Alten zu hetzen. Er hatte nun einmal nicht das Geld…
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Und dann… Wenn mein Gesicht noch weiter nach unten gefallen wäre, hätte ich mir selbst auf die Nase getreten! Der alte Gauner setzte sich, zog eine Brieftasche heraus, nahm ein Scheckbuch und begann zu schreiben. Es war eine andere Brieftasche! »Einen Barscheck«, sagte sie liebenswürdig. Er murmelte etwas, dann riß er den Scheck aus dem Buch. Sie schaute kaum darauf, gab ihn gleich wieder zurück. »Sie haben das Datum vergessen.« »Ach, wirklich? Schrecklich, wenn man alt wird«, sagte er. Jemand schien ihn frisch geölt zu haben. Er zeigte ihr diesmal ein altmodisches Lächeln. Sie prüfte den Scheck, dann reichte sie ihn mir. »Jason und ich warten hier, bis Mr. Hazell das Bargeld bringt«, sagte sie. »Sie können in der Bank anrufen.« Es war zwanzig nach drei. Als ich hinausging, erzählte er ihr gerade von einer Gruppenreise zu den griechischen Inseln, die man bei ihm buchen könne… Sie fuhr mich zurück an diesem Abend, nach ein paar Drinks. Ein Aston Martin – was sonst? Als Fahrerin fuhr sie so vorsichtig wie Dirty Harry. »Bitten Sie mich nicht noch auf einen Drink hinauf?« fragte sie, als wir meine Bude erreicht hatten. Ich wohnte in dem Monat in Paddington, ein vorübergehendes Heim, bis ich genug beisammen hatte für eine ordentliche Wohnung. »Und Jason – wie stellt sich der an?« »Geben Sie ihm eine Schüssel Milch, dann ist er glücklich.« »Könnten wir ihn nicht draußen lassen? Geben Sie ihm einen Fußgänger, an dem er kauen kann…« »Ich glaube fast, Sie haben Angst vor Jason.« »Bei Ihnen bin ich mir auch nicht so sicher.« Sie klopfte mir auf den Rücken. »Es muß schon bedeutend schlimmer kommen, bevor man von Einschüchterung reden kann.« Heutzutage, wo die Frauen kapiert haben, worum es geht, sind sie viel schlimmer als die Männer. Meine Rede. Sie hat nicht nur gesagt,
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ich könnte höchstens mit fünf Prozent rechnen angesichts dessen, daß sie es war, die Dornford den entscheidenden Schubs gegeben hatte, nein, sie nahm sich auch kein Blatt vor den Mund, als wir in die Federn stiegen. »Magst du keine aggressiven Frauen?« fragte sie mit süßer Stimme. Ihre Fingernägel krallten sich in meinen Rücken. »Das Hemd ist erst gestern aus der Wäscherei zurückgekommen. Darf ich?« »Entschuldigung.« »So ist es schon besser«, sagte ich und zog es aus. »Können wir Jason irgendwie die Augen zubinden?« »Wenn du erst ein paarmal mit ihm gearbeitet hast, wirst du ihn lieben.« »Da steht mir noch einiges bevor«, sagte ich. »Und wo ist das Schlafzimmer?« »Meine Güte – soll das ein bestimmter Hinweis sein?« Jason schaute uns nach, wie wir ins Schlafzimmer gingen. Ich wartete bis nachher, bevor ich es ihr sagte. »Du hast mir übrigens zufällig einen guten Tip gegeben«, sagte ich. »In Dornfords Geschäftshaus wird immer wieder eingebrochen. Der Hausmeister meint, es ist immer derselbe. Wir haben uns auf dreißig Pfund geeinigt. Nicht schlecht, was?« »Um einen Einbrecher zu fangen? Und Nacht für Nacht in dieser Flohburg Wache zu schieben? Da weiß ich was Besseres für dich…« »Alles, was ich tu’, tust du viel besser…! Ich meine, es geht mich ja nichts an, aber warum hat mich Dot nun wirklich zu dir geschickt?« »Sie hat mir ein paar Sachen über dich erzählt.« »Zum Beispiel?« »Das geht dich nichts an. Warum suchst du dir andere Arbeit? Ich habe eine ganze Liste von Leuten wie diesen Dornford.« »Eine Frau als Boss? Ein Hund als Partner? Alte Männer terrorisieren? Es gibt genug Scheiße auf dieser Welt, man muß nicht gleich eine Karriere draus machen – sage ich immer.« »Wenn du es allerdings so siehst…«
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Sie machte Anstalten, aus dem Bett aufzustehen. Sie war ein großes, kräftiges Mädchen, aber… Irgendwer muß ja die Spitfires fliegen, oder nicht? Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Simon Brett Ich versteh’ nicht viel von Kunst Die meisten halten mich für ein wenig behämmert. Das kommt wahrscheinlich auch davon, daß ich ziemlich groß bin. Leute, die so aussehen wie ich, haben in zu vielen Filmen und Fernsehserien den blöden Ganoven gespielt. Und wenn man früher mal Profiringer gewesen ist, erwartet niemand besonders viel von einem, was den Intellekt angeht. Außerdem hat es – das ist mir klar – ein paar unangenehme Ereignisse in der Vergangenheit gegeben. Jobs, die nicht so gelaufen sind wie geplant. Als ich zum Beispiel im Fluchtauto vor der Bank gesessen habe und mit den falschen Leuten losgefahren bin, oder als ich nach dem Goldbarrenraub durchgedreht und alles wieder bei der Sicherheits-Transportfirma abgeliefert habe, oder als ich bei meiner Lösegeldforderung meine Privatadresse als Ablieferungsort angegeben habe. Okay, blöde Fehler, aber das kann jedem Mal passieren im Eifer des Gefechts. Nur daß sich die Leute so was einfach merken, und deshalb habe ich den Ruf, ein Vollidiot zu sein. Und das Ergebnis ist, daß ich immer nur Jobs bekomme, die, milde ausgedrückt, alles andere als anspruchsvoll sind. Ja, die meisten der Spinner, die mich noch anheuern, denken sich: ›Wir haben keinen stumpfen Gegenstand gefunden, also muß der Trottel ran.‹ Natürlich sehe ich selber meine geistigen Fähigkeiten in einem ganz anderen Licht, aber man muß schließlich leben, und in einer Zeit der Arbeitslosigkeit kann man nicht wählerisch sein. Ich meine, man liest ja alles mögliche über das Ansteigen der Verbrechensrate, aber glauben Sie bloß nicht, daß es allen Verbrechern gutgeht. Nein, wir spüren die Krise der Wirtschaft wie jeder andere. Zum Beispiel gibt es viel zu viele, die sich hereindrängen. Natürlich ist das eine Nebenwirkung der Arbeitslosigkeit, und die meisten Neuen sind wirkliche Amateure, aber sie vermasseln uns Profis ganz schön die Tour. Sie unterbieten unsere Tarife und bringen eine Unehrlichkeit ins Geschäft, die es früher nicht gegeben hat. Der Kuchen ist längst nicht mehr so groß, wie er einmal war, und es gibt verdammt viele Neulinge, die versuchen, sich ein Stück davon abzusäbeln.
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Das heißt, daß ich praktisch jeden Job annehme, den man mir bietet… Fahrer, Rausschmeißer, Einschüchterer, Aufpasser – oft schon bin ich als Aufpasser beim Schmierestehen eingebuchtet worden, natürlich nur wegen meiner Größe. Aber trotzdem, ich mache alles – außer Killen auf Bestellung. Das ist gegen meine Prinzipien, genau wie Raubüberfälle auf alte Ladys. Aber wie gesagt, jetzt ist nicht die Zeit, wählerisch zu sein. Wenn dieses Land mehr als drei Millionen Arbeitslose hat, kann man vorläufig seine Pläne und allen Ehrgeiz vergessen, ebenso wie den Gedanken an eine Karriere, und man muß froh sein, wenn man überhaupt noch einen Job bekommt. Deshalb hab’ ich nicht lang überlegt, als man mir die Sache mit der Harbinger Hall angeboten hat. Abgesehen von allem anderen hat es sich ziemlich einfach angehört, und die Bezahlung war verdammt gut. Fünf Riesen für ein bißchen einfachen Diebstahl… Na, das konnte doch gar nicht so schlecht sein, oder? Klar, es gab natürlich das Risiko, daß man geschnappt wurde, aber eigentlich hat die Sache nicht nach Schwierigkeiten gerochen. Obwohl man natürlich bei feinen Landsitzen und Villen nie ganz sicher sein kann. Oft hängen Speere und Schußwaffen und solches Zeug an den Wänden, und es besteht immer die Gefahr, daß jemand einen Temperamentsausbruch kriegt und mit so einem Ding auf einen losgeht. Trotzdem – fünf Riesen für einen Wochenendjob in einem schlechten Herbst waren gutes Geld. Der erste Kontakt kam über Wally Clinton, was mich, ehrlich gesagt, überrascht hat. Denn als ich damals Wally nach der Sache bei dem Juwelier nach Heathrow fahren sollte, ist mir das Benzin ausgegangen. Also ich hätt’ eigentlich gedacht, daß ich für ihn nicht gerade der Held des Monats gewesen bin. Da sieht man, wie falsch man die Leute oft beurteilt. Er hat das Vergangene vergangen sein lassen und mir außerdem noch einen netten Job in den Schoß fallen lassen. Ich nehme alles zurück, was ich letztes Silvester im Black Dog über ihn gesagt habe. Jedenfalls, Wally nimmt mit mir Kontakt auf, fragt, ob ich bereit bin, mitzumachen, und als ich ja sage, meint er, ich soll den Kerl treffen, und zwar in einem Saunaklub in der St. Martin’s Lane.
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Komischer Saunaklub, das. Kein Mädchen weit und breit. Ich denk’ fast, das Ding ist wirklich für so Spinner, die nur Sauna haben wollen. Alles pieksauber und ordentlich, keine kleinen Massagekabinen mit Plastikvorhängen, kein komischer Geruch, keine zerknüllten Papiertaschentücher auf dem Boden. Sehr komisch. Der Kerl an der Tür hat mich schon erwartet. Gibt mir ein großes, weißes Handtuch und führt mich in einen Umkleideraum, ganz fein mit Holzwänden und sauberen Bodenfliesen. Ich soll mich ausziehen, mir das Handtuch umwickeln und in die Sauna gehen. Mr. Loxton würde dann bald nachkommen. Ich brauch’ Ihnen nicht zu sagen, daß ich mir ziemlich komisch vorgekommen bin, wie ich da auf dem Holzregal gehockt und nichts als mein Handtuch angehabt hab’. Zuerst hab’ ich mich auf die oberste Bank gesetzt, aber verdammt, war das heiß! Bald hab’ ich gemerkt, daß es um so kühler wird, je weiter man nach unten geht, also hab’ ich mich auf die unterste Stufe gesetzt. War immer noch verdammt heiß, das kann ich Ihnen sagen. Ein Kerl von meiner Größe, wenn der schwitzt, dann schwitzt er wirklich. Ich hab’ mir überlegt, warum Mr. Loxton ausgerechnet diesen Ort für ein Gespräch ausgesucht hat. Ich meine, eine Sauna ist ja ganz gut, wenn man Angst hat, daß die Gegenpartei mit Kanonen ausgerüstet ist. Denn die kann man nirgends verstecken, wenn man sich erst mal ausgezogen hat. Jedenfalls nicht besonders bequem. Aber darum ist es ja bei meiner Verabredung gar nicht gegangen. Andererseits ist es vielleicht gar nicht so schlecht, wenn man nicht erkannt werden will. Das Licht in der Sauna war ziemlich schwach, und zwischendurch war immer mal wieder ein bißchen Dampf in der Luft. Außerdem sehen die Leute immer ganz anders aus, wenn sie nackt sind. Oh, ich weiß, man kann eine Leiche gut an geheimen Muttermalen und Leberflecken erkennen und so, aber im Durchschnitt sieht ein Kerl ohne Plünnen ganz anders aus als in Wirklichkeit. Sagen wir, das nächste Mal kommt er ganz angezogen, und du wunderst dich, wie viele Hinweise du über einen Kerl bekommst nach der Art, wie er angezogen ist. Also, ich dachte mir, Mr. Loxton will mich in der Sauna treffen, um unerkannt zu bleiben.
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Als er hereinkam, war ich erst recht davon überzeugt. Er hatte sich ein großes Handtuch umgewickelt, bis unter die Achseln, genau wie ich, aber er hat sich auch noch ein kleines auf den Kopf gelegt wie ein Boxer. Er hat mir das Gesicht nie zugewendet, hat mich gar nicht angeschaut, sondern ist gleich zu einem Holzeimer in der Ecke gegangen, hat einen Holzlöffel voll Wasser genommen und das Wasser auf den Haufen Steine geschüttet, die auf dem Ofen lagen. Mann, da hat es erst richtig gedampft! Und als er sich dann an mich gewendet hat, hab’ ich ihn nur ganz verschwommen sehen können. »Sie sind Billy Gorse.« Ich gab es zu. Es war sowieso keine Frage, sondern eine Behauptung. »Nett, daß Sie gekommen sind. Wally Clinton hat Sie mir für einen Job empfohlen.« Er hat vielleicht sein Gesicht hinter Handtüchern und Dampf versteckt, aber er hatte eine Stimme, die sehr klar und deutlich zu erkennen war. Sie wissen schon, Privatschule und so, und vielleicht auch ein bißchen zickig. Ich bin gut in Stimmen, weiß, daß ich sie wiedererkenne, wenn ich sie einmal gehört habe. Ich hab’ erst mal die Klappe gehalten und auf Details gewartet, also hat er weitergeredet. »Was Sie für mich tun sollen, Gorse, ist folgendes: Sie sollen ein Gemälde stehlen.« »Scheiße«, sagte ich. »Ich versteh’ nicht viel von Kunst.« »Das ist auch gar nicht nötig.« »Aber klar… Gemälde… Ich meine, das ist doch eine Arbeit für’n Spezialisten, oder? Nicht einfach reingehen und jemand das Videogerät klauen. Wenn es ein gutes Gemälde ist, gibt es überall Sicherheitseinrichtungen. Und wer soll das Ding dann verhökern?« »Das soll nicht Ihre Sorge sein. Ich sagte, ich will nur, daß Sie ein Gemälde stehlen.« »Meinen Sie, daß ich, sagen wir, nur einer aus einem ganzen Team bin?« »Sie brauchen nichts über andere möglicherweise Beteiligte zu wissen. Sie sollen meine Instruktionen befolgen, ohne viele Fragen zu stellen.« »Das kann ich.«
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»Gut. Wally hat gesagt, daß Sie das können. Sie führen die Arbeit am letzten Oktoberwochenende aus.« »Und wo?« »Haben Sie schon mal von der Harbinger Hall gehört?« Ich schüttelte den Kopf. »Dann wissen Sie wahrscheinlich auch nichts von der Harbinger Madonna.« »Wer ist denn die?« »›Die‹ ist das Gemälde, das Sie stehlen sollen.« »Oh. Aha. Na klar, wie gesagt, ich versteh’ nicht viel von Kunst.« »Nein.« Seine Stimme hörte sich an, als ob ihm das recht wäre. Blasierter Kerl. Er fragte mich, wohin er seine Anweisungen schicken sollte. Beinahe hätte ich ihm meine Privatadresse gegeben, aber dann hat mir ein Vögelchen gesagt, daß ich die Pferde besser zurückhalten sollte, und ich hab’ ihm die Adresse von Red Ritas Haus gegeben. Sie hebt mir öfter die Post auf, als Ausgleich für gewisse Dienste, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Dann langte Mr. Loxton in sein Handtuch und zog einen Plastikbeutel heraus. Der denkt auch an alles, sagte ich mir – nicht, daß die Notizen feucht werden. »Da drinnen sind fünfhundert. Zweitausend bekommen Sie mit den Instruktionen. Die zweite Hälfte, wenn der Auftrag ausgeführt ist.« Er stand auf. »Bleiben Sie noch zehn Minuten hier. Wenn Sie im Umkleideraum auftauchen, bevor ich das Haus verlassen habe, ist unser Vertrag automatisch annulliert.« Er griff nach der Türklinke. »Ach, noch etwas, Mr. Loxton…« Seine Reaktion war eine halbe Sekunde verzögert, was mir bestätigte, daß das nicht sein richtiger Name war. Kein Wunder, die wenigsten, mit denen ich zu tun habe, reisen unter ihrem wirklichen Namen. Das ist nix für mich. Ich bleib’ lieber bei ›Billy Gorse‹. Nur einmal hab’ ich mir ’nen anderen Namen ausgedacht, und den hab’ ich dann mitten bei der Arbeit vergessen. »Was wollen Sie noch, Mr. Gorse?« Ich hatte, was ich wollte, aber ich sagte noch: »Ja, also ich möchte mich noch bedanken für den Job, Mr. Loxton.«
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Er gab einen komischen Ton von sich, wie ein Knurren, und ging hinaus. Lange zehn Minuten in der Hitze! Als ich rausgekommen bin, hab’ ich geschwitzt wie griechischer Käse. Die Anweisungen kamen – vermutlich durch einen Boten – in der nächsten Woche. Ich bin zu Red Rita aus Gründen, die keinen was angehen, und nach einem bißchen Hin und Her hat sie mir diesen dicken braunen Umschlag gegeben. Nur mein Name drauf, sonst nichts. Keine Briefmarke, kein gar nichts. Einfach in den Briefkasten gesteckt. Sie hat nicht gesehen, wer ihn gebracht hat. Erst hab’ ich die Scheinchen gezählt. Fünfziger, vierzig davon, alles wie abgemacht und ganz korrekt. Dann eine Postkarte mit einer Puppe im blauen Fummel, die was Kleines auf dem Knie hat. Das ist wahrscheinlich das Bild, das ich klauen soll. Ich hab’s mir gar nicht lange angeschaut, sondern erst mal das getippte Blatt mit den Anweisungen aufgemacht. Auch drinnen war nicht von mir die Rede, und das Blatt hatte auch keine Unterschrift. Einfaches Papier, und auch sonst konnte man nicht sehen, woher es kam. Es war alles in Großbuchstaben getippt, was mir ein bißchen gestunken hat. Vielleicht hat Wally Clinton ein paar Worte über meine Lesekunst fallengelassen, der gemeine Hund. Aber immerhin, ich hab’ mir deutlich genug ausklamüsern können, was ich tun sollte. ERSTENS: FÜLLEN SIE DEN BEILIEGENDEN ANTRAG AUS, UND BUCHEN SIE EINEN AUFENTHALT BEIM ›WOCHENENDE AUF EINEM HERRSCHAFTLICHEN LANDSITZ‹ IN DER HARBINGER HALL FÜR DEN 29. UND 30. OKTOBER. SCHICKEN SIE DIE GESAMTE SUMME DURCH GELDANWEISUNG. ALLE IHRE SPESEN WERDEN BEZAHLT. ZWEITENS: FAHREN SIE AM KOMMENDEN FREITAG ZUR HARBINGER HALL, UND NEHMEN SIE AN DER FÜHRUNG DURCH DAS GEBÄUDE TEIL. FÜHRUNGEN FINDEN ZUR VOLLEN STUNDE ZWISCHEN ZEHN UHR VORMITTAGS UND VIER UHR NACHMITTAGS STATT.
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WENN SIE IN DER GROSSEN HALLE SIND, BETRACHTEN SIE SICH SORGFÄLTIG DAS GEMÄLDE MIT DER MADONNA UND DIE SICHERHEITSVORKEHRUNGEN, DIE DEUTLICH SICHTBAR SIND. SOBALD DIE FÜHRUNG DAS ENDE DER LANGEN OBEREN GALERIE ERREICHT HAT, HALTEN SIE SICH ETWAS ZURÜCK, WENN DIE GRUPPE DAS BLAUE SCHLAFZIMMER BETRITT. ÖFFNEN SIE DIE TÜR MIT DER AUFSCHRIFT ›PRIVAT‹ AM ENDE DER GALERIE. SIE KOMMEN ZUM OBERSTEN PUNKT EINES KLEINEN TREPPENHAUSES. GEHEN SIE SO SCHNELL WIE MÖGLICH NACH UNTEN, WO SIE IN EINE KLEINE VORHALLE KOMMEN. AN DER WAND GEGENÜBER DER TREPPE SEHEN SIE DIE KÄSTEN, VON DENEN AUS DIE SICHERHEITSEINRICHTUNGEN DES HAUSES UND DAS ALARMSYSTEM GESTEUERT WERDEN. DIE KÄSTEN MÜSSEN MIT EINEM SCHLÜSSEL GEÖFFNET WERDEN, ABER SIE WERDEN DIE DRÄHTE SEHEN, DIE AUS DEM OBEREN RAND DER KÄSTEN HERAUSKOMMEN. WENN SIE DIE MADONNA WIRKLICH STEHLEN, MÜSSEN SIE DIESE DRÄHTE DURCHSCHNEIDEN. NACHDEM SIE SICH IHRE POSITION EINGEPRÄGT HABEN, GEHEN SIE SO SCHNELL WIE MÖGLICH DIE TREPPE HINAUF UND MISCHEN SICH WIEDER UNTER DIE GRUPPE DER FÜHRUNG. MACHEN SIE DIE FÜHRUNG BIS ZUM ENDE MIT, UND FAHREN SIE DANN HEIM, OHNE WEITERE NACHFORSCHUNGEN ANZUSTELLEN. ZUSÄTZLICHE INSTRUKTIONEN FOLGEN IN DER NÄCHSTEN WOCHE. PRÄGEN SIE SICH DIE HIER BESCHRIEBENEN DETAILS EIN, UND VERBRENNEN SIE DIE BLÄTTER DANN. Ich hab’ getan, was er geschrieben hat, und noch vor dem Freitag hab’ ich eine Bestätigung meiner Buchung für das ›Wochenende auf einem herrschaftlichen Landsitz‹ zurückbekommen. Ich hab’ die Broschüre darüber gelesen und muß sagen, daß sich das nicht unbe-
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dingt so anhört, als ob es was für mich wäre. Spaziergänge im Park, Vorlesungen über die Geschichte des Hauses, ein mittelalterliches Bankett am Samstagabend, ein Abschiedstee mit Lord Harbinger am Sonntag. Ich meine, ich stell’ mir ein Wochenende ein bißchen anders vor. Ich fahre lieber mit ein paar Kumpels am Samstag nach Southend und kipp’ ein paar Bierchen. Aber für fünf Riesen krieg’ ich eine Menge Bier. Ja, und am Freitag mach’ ich es so, wie er es mir geschrieben hat. Ich fahr’ mit dem Zug raus nach Limmerton, und von da nehm’ ich den Bus, der einen umsonst zur Harbinger Hall fährt. Keine schlechte Hütte, die der alte Lord Harbinger da hat, das muß man ihm lassen. Von Architektur versteh’ ich ja nicht viel mehr als von Kunst, aber daß es eine alte Burg ist, das steht fest. Heutzutage baut man die Häuser nicht mehr so, nicht mit riesengroßen Säulen vor der Tür und diesen komischen Fenstern und dem ganzen verrückten Zeug auf dem Dach. Tolle Lage und so weiter. Es steht ziemlich erhöht, auf einem kleinen Hügel, und von dort aus kann man das ganze Land sehen. Das heißt, man sieht das Haus vom Bus aus. Wenn man näher kommt, ist da erst mal ’ne Weile gar nichts, weil die Burg auf einem richtig steilen Hügel mit Bäumen steht. Also geht es im Zickzack die Auffahrt nach oben, was bestimmt ein bißchen haarig zu fahren ist, und man ist froh, daß der alte Bus gute Bremsen hat. Und dann plötzlich kommt man oben raus und steht direkt vor dem Haus, und es ist verdammt groß. Und links und rechts sind Parkplätze, aber der Bus läßt einen direkt vor der Haustür aussteigen. Als ich ausgestiegen bin, hab’ ich mich ein bißchen umgeschaut. Sie wissen ja, manche von diesen vornehmen Herrensitzen haben einen Zoo oder einen Vergnügungspark oder sonst was zur Unterhaltung. Und wenn ich mir schon ein ganzes Wochenende dort um die Ohren schlagen mußte, wollte ich wenigstens wissen, ob es da was Interessantes zu tun gibt. Aber nein, da hatte ich kein Glück. Das Ganze ist nicht dafür eingerichtet; vielleicht ist ja auch das Grundstück nicht groß genug dafür. Ehrlich gesagt, das Gebäude hat auch ein bißchen alt und heruntergekommen ausgeschaut. Ich meine, eine solche Burg ist nun mal
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nicht mein Geschmack. Ehrlich, wenn sie mir gehörte, würde ich sie abreißen und ein hübsches Stadthaus im Regencystil mit Doppelgarage und einem Badezimmer mit italienischem Marmor bauen lassen. Aber das hier – sogar ich hab’ sehen können, daß da ein paar Scheinehen reingesteckt werden müßten. Und wenn meine Busladung alles war, was hier so vorbeikommt, dann mußten sie ganz schön lang warten, bis die Scheinchen von den Touristen zusammenkommen. Okay, Ende der Saison und so weiter, aber wir waren nicht besonders viele. Wir haben sogar warten müssen, bis noch ein paar von den Parkplätzen heraufgekommen sind, bevor sie mit der Führung anfangen konnten, und selbst dann waren wir höchstens ein Dutzend. Wenn man pro Nase zwei Pfund bekommt für alles, dauert es ziemlich lang, bis die Kröten zusammenkommen. Der Führer, der uns alles gezeigt und erklärt hat, leierte sein Sprüchlein herunter; klar, er hat es sicher schon tausendmal gesagt, und es hat ihm schon beim erstenmal keinen Spaß gemacht. Das Ganze ist mir vorgekommen wie eine Tonbandaufnahme, auch die Witze und alles. Ich glaube, der Kerl war nicht recht glücklich dabei. Und was er erklärt hat, war todlangweilig. Ich bin schon auf der Schule nicht mit Geschichte klargekommen, hab’ einfach nicht einsehen können, wozu das gut sein sollte, und deshalb hat mir das ganze Gequassel darüber, was für ein Herzog welchen Flügel gebaut hat und wann, gar nichts gebracht. Und zu denken, daß mir ein ganzes Wochenende mit Vorlesungen bevorstand – furchtbar! Allmählich ist mir der Gedanke gekommen, daß ich meine fünf Riesen ganz schön sauer verdienen muß. Jedenfalls, irgendwann kommen wir in die Große Halle, und ich sehe das Bild, um das ein solches Theater gemacht wird. Nicht viel anders als auf der Ansichtskarte – in Wirklichkeit sieht es ganz genauso aus, nur größer. Eigentlich nicht richtig groß im Vergleich zu den anderen, die hier an den Wänden hängen. Ich schätze, es war ungefähr sechzig mal vierzig Zentimeter. Warum ich ausgerechnet dieses Bild klauen soll, konnte ich nicht begreifen. Es hat einige gegeben, die zehnmal so groß waren und bestimmt viel wertvoller. Aber mich geht das ja nichts an. Und es ist vielleicht sogar ein
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Glück, daß sie mir nicht zumuten, mit einem von den Riesenschinken unterm Arm davonzuspazieren. Das Bild stellt also eine Alte mit ihrem Sprößling dar. Der Rahmen war noch das beste. Nur Gold und so geschlängelt wie die Einfassung an der Cocktailbar meines Schwagers, die er in seinem Wohnzimmer stehen hat. Und unten in der Mitte ist ein kleines Messingschild angeschraubt. Darauf heißt es: MADONNA UND KIND Giacomo Palladino Florentinische Schule (1473-1539) Nie gehört von dem Kerl. Aber ich hab’ meine Anweisungen auswendig gelernt wie ein guter Junge und schau mir das Bild ziemlich genau an. Ich kann nicht viel sehen von einer Sicherheitseinrichtung, ich meine, auf dem Parkett ist zwar ein dickes rotes Seil gespannt, damit die Zuschauer nicht näher als eineinhalb Meter hingehen können, aber das hält niemanden auf. Natürlich könnte es sein, daß irgendwo ein photoelektrischer Strahl oder ein Erschütterungsmesser angebracht ist, der einen Alarm auslöst, wenn man das Ding anfaßt. Also steige ich über das Seil, um mich genauer umzuschauen. »Kunstfreund, wie?« fragt eine spöttische Stimme hinter mir. Ich dreh’ mich um und seh’ einen Kerl in Uniform. Nicht der Führer, – der ist schon am anderen Ende der Halle und brabbelt über den einen oder anderen König. Nee, dieser ist wahrscheinlich eine Art Wachmann, der mir schon unangenehm aufgefallen ist; als wir angekommen sind. »Von wegen«, sage ich und zeige das, was die Leute für mein gewinnendes Lächeln halten. »Ich versteh’ nicht viel von Kunst.« »Warum wollen Sie dann die Madonna aus der Nähe betrachten?« Ich will schon sagen, daß ich mich nur für die Sicherheitseinrichtungen interessiere, aber dann fällt mir ein, daß das vielleicht doch nicht so clever ist, also zucke ich einfach mit den Schultern, steige zurück über das Seil und gehe zu den anderen hinüber. Als wir die
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Halle verlassen, schaue ich mich noch mal um und sehe, wie mir dieser Wachmann richtig gemein nachschaut. Oben folge ich ohne Mühe den Anweisungen. Bücke mich und mach’ das alte Spielchen mit den Schnürsenkeln, während die anderen hinübergehen, um sich die Geschichte des Blauen Schlafzimmers zu Gemüte zu führen, schaue mich kurz um, sehe, daß ich der einzige auf der Galerie bin, und schon geht’s durch die Tür mit ›Privat‹ und die Treppe hinunter. Es ist genauso, wie er geschrieben hat. Da hängen sie an der Wand, die großen Metallkästen mit den bunten Lämpchen und den Schlüssellöchern aus Chrom. Und oben die Drähte. Nicht besonders dick. Ein kurzes Schnapp mit der Eisenzange – kein Problem. Ich denke eine Minute lang nach. Manche von diesen Systemen haben eine Ausfallsicherung, das heißt, der Alarm wird ausgelöst, wenn jemand mit den Drähten herumfummelt. Einen Moment lang frage ich mich, ob mich da vielleicht jemand reinlegen will. Sicher gibt es ein paar Kerle, die ich im Lauf meiner Karriere beleidigt habe, natürlich ohne daß ich es wollte, aber das alles wäre schon ziemlich kompliziert gewesen, nur um mir irgend etwas heimzuzahlen. Und dann hab’ ich ja schon zweieinhalb Riesen in der Tasche. Niemand gibt so viel Geld aus, um mir eins auszuwischen. Jetzt renne ich wieder die Treppe hinauf. Ich hab’ grade die Tür zugemacht, als ich sehe, wie der Wachmann über die lange Galerie auf mich zukommt. Jetzt weiß ich nicht, ob er mich gesehen hat, aber er schaut noch immer ziemlich gemein drein. »Suchen Sie was. Sir?« ruft er, und es hört sich wieder spöttisch an. »Für kleine Jungs«, sage ich und schlendere dann weiter zum Blauen Schlafzimmer. Das nächste Päckchen kommt am Mittwoch, also drei Tage bevor ich mein ›Wochenende auf einem herrschaftlichen Landsitz‹ antreten soll. Ich bin zufällig grade bei Red Rita, als wir hören, wie es durch den Briefschlitz plumpst; klar, daß ich die Tür aufreiße, um zu sehen, wer es gebracht hat, aber es ist niemand zu sehen. Da es schon ein bißchen knapp ist und Red Rita grade mit jemand anders zu tun hat, öffne ich das Päckchen gleich dort. Es ist Geld drin, was ich diesmal gar nicht erwartet habe. Aber nur Fünfer und
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Einer und ein bißchen Kleingeld für meine Spesen bisher: was ich für die Buchung des Wochenendes bezahlt habe, der Fahrpreis London-Limmerton und zurück, sogar die zwei Pfund für die Führung. Da scheint sich jemand genau erkundigt zu haben. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Gut, zu merken, daß man es mit Kerlen zu tun hat, die wissen, was läuft. In unserem Geschäft gibt es viele Trottel. Außer dem Geld ist noch ein Autoschlüssel drin. Nur einer an einem kleinen Ring, und daran hängt ein gelbes Plastikschild ohne Aufschrift. Und dann natürlich die Anweisungen. Wieder in Blockschrift, was mir immer noch ein bißchen stinkt. Und wieder so klar, daß jeder Idiot sie verstehen kann. Ich hätte gern gewußt, ob mir da jemand was unter die Nase reiben will. AM SAMSTAG, DEM 29. OKTOBER, UM NEUN UHR MORGENS GEHEN SIE ZUM UNTERIRDISCHEN PARKPLATZ AM CAVENDISH SQUARE. DORT, IN PARKBUCHT NUMMER 86, FINDEN SIE EINEN ROTEN PEUGEOT, DEN SIE MIT DEM BEILIEGENDEN SCHLÜSSEL AUFSPERREN UND ANLASSEN KÖNNEN. AUF DEM RÜCKSITZ LIEGT EIN GROSSER KOFFER, IN DEM SIE IHRE KLEIDUNG ETC. FÜR DAS WOCHENENDE VERSTAUEN SOLLEN. NEHMEN SIE NICHTS AUS DEM KOFFER!! IM HANDSCHUHFACH DES WAGENS FINDEN SIE GELD FÜR DIE PARKGEBÜHR. FAHREN SIE DIREKT ZUR HARBINGER HALL. UNTER NORMALEN VERKEHRSBEDINGUNGEN DÜRFTEN SIE GEGEN HALB EINS DORT ANKOMMEN, GERADE RECHTZEITIG FÜR DAS LUNCH-BÜFETT, MIT DEM DAS WOCHENENDE AUF EINEM HERRSCHAFTLICHEN LANDSITZ ERÖFFNET WIRD. NEHMEN SIE WÄHREND DES WOCHENENDES AN ALLEN GEBOTENEN VERANSTALTUNGEN TEIL, UND BENEHMEN SIE SICH SO NATÜRLICH WIE MÖGLICH. LENKEN SIE AUF KEINEN FALL DIE AUFMERKSAMKEIT AUF SICH.
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DER GEEIGNETE AUGENBLICK FÜR DEN DIEBSTAHL DER MADONNA KOMMT AM SPÄTEN SONNTAGNACHMITTAG, WENN SICH DIE GÄSTE VERABSCHIEDEN. AM ENDE DES BESUCHS IST ES TRADITION, DASS SICH LORD HARBINGER, SEINE FAMILIE UND DIE ANGESTELLTEN IN DER VORDEREN HALLE EINFINDEN, UM SICH VON IHREN GÄSTEN ZU VERABSCHIEDEN. DAS GEBÄUDE WIRD AN DIESEM, DEM LETZTEN TAG DER SAISON, BIS GEGEN VIER VON TAGESBESUCHERN GERÄUMT SEIN. ES GIBT DANN AUCH KEINE WACHLEUTE MEHR, DIE AUF DIE MADONNA ACHTEN. FOLGEN SIE DIESEN ANWEISUNGEN SEHR GENAU! NACH DEM TEE MIT LORD HARBINGER HABEN DIE GÄSTE DES WOCHENENDES EINE HALBE STUNDE ZEIT ZUM PACKEN UND WERDEN GEBETEN, BIS GEGEN SECHS IN DER VORDEREN HALLE ZU ERSCHEINEN, UM SICH ZU VERABSCHIEDEN UND IN DEN BUS ZUM BAHNHOF ODER IN IHRE EIGENEN WAGEN ZU STEIGEN. PACKEN SIE IHRE SACHEN, UND GEHEN SIE UM ZEHN VOR SECHS HINUNTER IN DIE VORDERE HALLE! LASSEN SIE IHREN KOFFER IN IHREM ZIMMER! WENN DIE MEISTEN GÄSTE UNTEN SIND, MACHEN SIE EINE GROSSE SCHAU DARAUS, DASS SIE IHREN KOFFER VERGESSEN HABEN, UND BEGEBEN SIE SICH ZURÜCK IN IHR ZIMMER, UM IHN ZU HOLEN. DAS NÄCHSTE MUSS SEHR RASCH GESCHEHEN! GEHEN SIE VON DEN PRIVATZIMMERN ZUR LANGEN GALERIE UND DIE TREPPE HINUNTER ZU DEN SICHERUNGSKÄSTEN. SCHNEIDEN SIE DIE DRÄHTE AM OBEREN ENDE DER KÄSTEN DURCH. RECHTS DAVON IST EINE TÜR, DIE IN DIE GROSSE HALLE FÜHRT. GEHEN SIE HINÜBER UND DIREKT ZU DER MADONNA, VERTAUSCHEN SIE DANN DAS ORIGINALGEMÄLDE MIT DER KOPIE IN IHREM KOFFER. SIE BRAUCHEN DAS BILD NUR VON DEM HAKEN AN
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DER RÜCKSEITE ZU NEHMEN. WENN DIE ALARMANLAGE AUSGESCHALTET IST, GIBT ES KEINE WEITEREN SICHERHEITSVORKEHRUNGEN. HÄNGEN SIE DIE KOPIE AN DEN HAKEN, LEGEN SIE DAS ORIGINALGEMÄLDE IN IHREN KOFFER, UND KEHREN SIE AUF DEM WEG, DEN SIE GEKOMMEN SIND, ZURÜCK IN IHR ZIMMER. DANN GEHEN SIE ÜBER DIE HAUPTTREPPE HINUNTER IN DIE VORDERE HALLE. DIE GANZE OPERATION DÜRFTE NICHT LÄNGER ALS HÖCHSTENS FÜNF MINUTEN DAUERN UND WIRD BEIM DURCHEINANDER, DAS DIE VERABSCHIEDUNG DER GÄSTE VERURSACHT, NICHT BEMERKT WERDEN. GESELLEN SIE SICH ZU DEN ANDEREN, UND BENEHMEN SIE SICH VÖLLIG NATÜRLICH. LASSEN SIE EINEN DER ANGESTELLTEN IHREN KOFFER HINAUSTRAGEN ZUM WAGEN, UND BITTEN SIE IHN, DASS ER IHN AUF DEN RÜCKSITZ LEGT. FAHREN SIE DIREKT ZURÜCK NACH LONDON. STELLEN SIE DEN WAGEN WIEDER IN DIE GARAGE AM CAVENDISH SQUARE. PARKEN SIE IN BUCHT 86 ODER IN DER UNMITTELBAREN NÄHE. NEHMEN SIE IHRE EIGENEN SACHEN AUS DEM KOFFER, ABER LASSEN SIE DEN KOFFER MIT DEM GEMÄLDE, DEN AUTOSCHLÜSSEL UND DEN PARKSCHEIN IM WAGEN. DANN VERSCHLIESSEN SIE DEN WAGEN UND DRÜCKEN DEN KNOPF INNEN HINUNTER, BEVOR SIE DIE TÜR VON AUSSEN SCHLIESSEN. DABEI MÜSSEN SIE DEN GRIFF FESTHALTEN, DAMIT DER KNOPF NICHT MEHR HERAUSSPRINGT. WENN SIE ZU DER ADRESSE ZURÜCKKEHREN, DIE WIR BISHER BENÜTZTEN, LIEGEN DIE ZWEITEN ZWEIEINHALBTAUSEND PFUND DORT FÜR SIE BEREIT.
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PRÄGEN SIE SICH WIE ZUVOR DIESE ANWEISUNGEN GUT EIN, UND VERBRENNEN SIE DIE BLÄTTER ANSCHLIESSEND. Ich habe zwar meine Prinzipien, aber mein Geschäft ist nun mal das Verbrechen, und daher ist es eine natürliche Reaktion, wenn ich mir jeden Plan, der an mich herankommt, erst einmal genau anschaue und mir überlege, was für mich drin ist. Sie verstehen, vielleicht ein Zuschlag, eine Extrazahlung über dem ursprünglich vereinbarten Honorar. Und nachdem ich meine Instruktionen gelesen hatte, ist mir sofort klargewesen, daß ich, vorausgesetzt, es klappte alles, von dem Moment an, an dem ich die Harbinger Hall am Sonntagabend verlasse, im vorübergehenden Besitz eines außerordentlich wertvollen Gemäldes bin. Nun bin ich lange genug im Geschäft, um zu wissen, daß den Gaunern, die mit der Ware zu entkommen versuchen, oft ziemlich schlimme Sachen passieren. Man hört, daß sie von anderen Banden überfallen und entführt, ausgeraubt und niedergeschlagen werden oder daß sie auf irgendeine andere Weise nicht dazu kommen, die Ware abzuliefern. Und obwohl ich nicht glaubte, daß mir so etwas passieren würde, habe ich mir überlegt, wie die Sache aussehen würde, wenn ich so täte, als ob mir so etwas passiert wäre. Ich meine, wenn ich zum Beispiel am Straßenrand gefunden werde, mein Wagen auf der einen Seite eingedrückt ist und ich selbst eine Beule auf dem Schädel habe, während der Koffer verschwunden ist – in einem solchen Fall würden die Bosse nie beweisen können, daß ich den Kerl kenne, der das getan hat. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe nichts Bestimmtes geplant, sondern nur die Möglichkeiten in Gedanken durchgespielt. Wie gesagt, ich versteh’ nicht viel von Kunst, aber ich weiß auch, daß man ganz spezialisierte Helfer braucht, wenn man ein bekanntes, gestohlenes Gemälde loswerden will. Einer der Vorteile von Red Ritas Gewerbe besteht darin, daß sie eine Menge Leute kennt, und als ich ihr gegenüber erwähne, ganz beiläufig, daß ich etwas Hintergrund über die Kunstszene brauche, stellt sich doch heraus, daß sie zufällig einen Kerl kennt, der bei den weniger öffentlichen Transaktionen internationaler Kunstsammler als
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Zwischenhändler auftritt! Und er ist einer von den vielen, die ihr eine Gefälligkeit schulden, und, ja, sie wäre gern bereit, mich mit ihm zusammenzubringen. Für dich, Darling, tu’ ich alles und so weiter. Wenn ich darüber nachgedacht hätte, dann hätte ich mich nicht zu wundern brauchen. Ich meine, krumme Buchmacher sind immer noch Buchmacher, krumme Anwälte arbeiten in ganz normalen Anwaltsbüros, aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß ein krummer Kunsthändler in einer schicken kleinen Galerie in der Bond Street arbeiten würde. Doch das war die Adresse, die mir Red Rita gegeben hat, und als ich dort ankam, schien mich Mr. Depaldo schon erwartet zu haben. Die hochnäsige Puppe am Schreibtisch sagte, sie würde nur eben nachsehen, ob er frei ist, und ich hab’ solange Zeit gehabt, mir eine Serie von Bildern anzuschauen, die mir vorkamen wie eine Explosion in der Küche eines chinesischen Restaurants. Ich weiß wirklich nicht, wieso es Leute gibt, die solches Zeug kaufen. Ich meine, wenn man nicht einmal mehr weiß, was es sein soll, wie soll man dann wissen, daß einen der Maler nicht einfach verarscht? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht gegen jede Art von Kunst. Mein Schwager hat eine Sammlung von Sonnenuntergängen, auf schwarzem Samt gemalt, und bei denen kann ich richtig sehen, daß sie gut sind. Aber dieses moderne Zeug – vergessen wir’s! Ich werde also in Mr. Depaldos tuntiges kleines Büro geführt, und der Kerl ist ein ganz Aalglatter, das sieht man auf den ersten Blick. Gestreiftes Hemd, Fliege, Sie kennen diese Typen. Wenn ich nicht von seiner Verbindung mit Red Rita wüßte, würde ich sagen, er ist eine ganz schöne Schwuchtel. Aber sie scheint ihn gewaltig in der Hand zu haben. Erst hat er mich gar nicht sehen wollen, aber Rita hat ihm gedroht, daß sie was verlauten läßt über irgend so ’ne Sache, wenn er sich weigert. Also benimmt er sich sehr höflich. Ich frage ihn, ob es möglich ist, ein gestohlenes Bild zu verkaufen, und er sagt mit einer Menge unnötig vornehmem Palaver, daß es möglich ist. Dann erwähnte ich die Harbinger Madonna, und er wird plötzlich munter wie ein Knastbruder, der Morgenluft wittert. Und ich frage ihn, wieviel das Ding seiner Schätzung nach wert ist.
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»Das ist schwer zu sagen. Die Preise bei den Auktionen sind so unvorhersehbar. Ich meine, es sind ja nicht viele Palladinos im Umlauf und sicher keiner von dieser Qualität. Das letzte Werk von ihm, das auf den Markt gekommen ist, war ein heiliger Sebastian, ich glaube, im Jahr achtundsechzig. Er ist für achthundert verkauft worden.« Das kam mir nicht besonders viel vor. Ich meine, da zahlt mir doch jemand fünf Riesen und bekommt nur achthundert für die Ware – so kann man sich keine goldene Nase verdienen. Der alte Depaldo muß geahnt haben, was ich dachte, weil er ziemlich säuerlich sagt: »Achthunderttausend, natürlich. Aber das war vor fünfzehn Jahren. Und es war ein kleineres Werk. Wenn die Madonna heute auf den Markt käme, brächte sie mindestens zwei.« »Zwei?« Ich fragte lieber noch, um nicht noch einmal reinzufallen. »Millionen.« »Bei einer Versteigerung?« »Ja. Ein – ein privater Verkauf würde natürlich nicht annähernd so viel einbringen.« »Sondern wieviel?« Man weiß ja, alle Hehler legen erst einmal eine Pause ein, bevor sie den Preis nennen. Dabei ist es gleich, ob es um einen Farbfernseher geht, um eine Lastwagenladung voll Schnaps oder um das Letzte Abendmahl – sie zögern immer, bevor sie einen bescheißen. »Vielleicht eine. Bestimmt siebenhundertfünfzig.« Selbst wenn er die Wahrheit sagte – es war eine Menge Zaster. Daneben sahen meine fünf Riesen für den Job und das Risiko ziemlich mickerig aus. »Und wenn das Bild – zur Verfügung stehen würde, könnten Sie es verkaufen?« Er nickte und wirkte plötzlich fast übereifrig. Sicher wußte er, daß da viel mehr für ihn drin war, als er zugab. »Es gibt nur zwei Leute in London, die so etwas vorbereiten können, und der eine bin ich.« »Aber ich bin der erste, der mit Ihnen darüber redet?« Er nickt wieder. »Ja.« Also hatten meine Bosse vielleicht ein Geschäft mit dem anderen eingefädelt. »Und wie hoch ist Ihre Kommissionsrate?«
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»Sechzig Prozent«, sagte er so glatt und kalt wie Eiscreme, die einem den Rücken hinunterläuft. »Sehen Sie, in solchen Angelegenheiten muß das Risiko in Rechnung gestellt werden, im Verhältnis zu dem, was man zu verlieren hat.« Damit wollte er wohl sagen, daß er seine schnieke Galerie hatte und die hochnäsige Puppe unten im Büro und seinen internationalen Ruf und daß ich nichts als ein billiger Gauner war. Ich bin gar nicht darauf eingegangen. Dachte, ich könnte später vielleicht noch ein bißchen an den Zahlen fummeln, wenn es notwendig wurde. »Haben Sie eine Ahnung«, sagt er jetzt richtig keß, »wann dieser ungewöhnliche Besitz auf den Markt kommen könnte?« »Nein«, antwortete ich ihm. »Ich wollte ja nur ein paar Informationen, nicht wahr?« Er schaut mich ein bißchen sauer an. »Aber wenn es irgendwann auf den Markt kommt«, fahre ich fort, »sind Sie dann interessiert am Verkauf?« »O ja«, sagt er. Ich habe noch keine Pläne gemacht. Aber es ist gut, erst einmal alles ausklamüsert zu haben, für den Fall, daß es notwendig wird. Am Samstagmorgen folge ich den Anweisungen wie ein braver Junge. Komme Punkt neun zum Parkplatz am Cavendish Square, finde den Wagen in der Parkbucht Nummer 86. Ein roter Peugeot, wie sie sagten. Normaler PKW, nicht einer von denen mit Hecktür. Der Schlüssel paßt ins Türschloß und in die Zündung. Ich versuche, damit den Kofferraum aufzusperren, aber dafür paßt der Schlüssel nicht. Dazu braucht man einen anderen. Macht nichts. Auf dem Rücksitz der Koffer, wie vereinbart. Einer von denen, die wie eine Brieftasche aufzuklappen sind, mit einem Reißverschluß, der über drei Seiten geht. Drinnen elastische Gurte, mit denen man die Kleidung festmachen kann. Auf der einen Seite, ebenfalls mit einem Gurt befestigt, ist ein hartes, rechteckiges Paket – in Stoff eingewickelt. Das muß die Kopie des Gemäldes sein, aber ich finde, es ist nicht der richtige Augenblick, mir die Sache genauer anzusehen. Ich nehme mein Zeug aus der Plastiktasche, die ich dabeihabe, und schnalle meine Sachen auf die andere Seite des Koffers. Nur die Kleidung und das Rasierzeug. Und einen Metallschneider. Ach ja,
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und noch etwas, das der Priester genannt wird. Ein kleiner Stock mit einem schweren Ende. Die Fischer haben damit die Fische totgeschlagen. Mit meinem Priester wurden ein paar schräge Vögel niedergeschlagen, und so. Nie würde ich eine Kanone bei mir haben wollen, aber der Priester ist praktisch. Der Wagen springt bei der ersten Drehung des Zündschlüssels an, daraus schließe ich, daß er erst an diesem Morgen hier geparkt wurde. Im Handschuhfach liegt der Parkschein. Eingecheckt um 08.12 Uhr. Schade, daß ich nicht dran gedacht habe und ein bißchen früher gekommen bin. Es ist immer gut, zu wissen, mit wem man es zu tun hat, und ›Mr. Loxton‹ ist mir bisher etwas zu sehr als Dampfwolke aufgetreten. Im Handschuhfach das Geld für die Parkgebühr, abgezählt. Ein bißchen teuer für die kurze Zeit, wie ich finde, und ich sage es dem Kerl an der Ausfahrt. »Alles wird teurer, Kumpel. Da, der neue Tarif.« Und er gibt mir einen gedruckten Zettel, zusammen mit meiner Quittung. Ich schieb’ beides in die Tasche – was rege ich mich auf? Ist ja nicht mein Geld. Nicht, daß ich gedacht hätte, es paßt zu mir, aber das ›Wochenende auf einem herrschaftlichen Landsitz‹ war wirklich meilenweit von meiner Szene entfernt. Ich meine, wir wurden ja recht ordentlich behandelt, die Angestellten – respektvoll und so – geben einem das Gefühl, als ob man was ganz Besonderes wäre, aber man merkt auch, daß sie es nicht wirklich meinen; es ist so, als ob sie ständig hinter deinem Rücken über dich kichern. Okay, wir durften ein paar Dinge tun, die den gewöhnlichen Tagesbesuchern nicht gestattet waren. Wir konnten die Wagen direkt vor dem Haus stehenlassen, wir konnten durch die meisten Türen gehen, auf denen ›Privat‹ stand, und wir durften uns sogar auf die Stühle setzen. Aber obwohl sie uns die ganze Zeit angeblich wie richtige Hausgäste behandelten, bin ich sicher, daß die Angestellten nur beobachtet haben, wie wir uns blamieren. Ich meine, daß der eine oder andere nicht richtig angezogen ist oder daß er das falsche Messer und die falsche Gabel nimmt bei einer Mahlzeit – sie haben richtig darauf gewartet, daß so etwas passiert. Und ich fürchte, für mich
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war es besonders schwierig. Gute Manieren gehören leider nicht zum Lehrplan einer Erziehungsanstalt. Übrigens, die anderen haben so getan, als ob sie es nicht merken würden. Ich hab’ genau gesehen, daß sie von den Angestellten genauso ausgelacht wurden wie ich, aber sie schienen es gar nicht zu bemerken. Sie glaubten wirklich, daß sie wie echte Hausgäste behandelt würden – als ob sie persönlich von Lord Harbinger eingeladen worden wären und nicht eine Menge Geld bezahlen würden dafür, daß sie in seiner Hütte herumlungern konnten und ihn für genau festgelegte eineinhalb Stunden zum Tee und zum Abschied am Sonntagnachmittag sehen durften. Außerdem muß ich ehrlich sagen, daß das nicht Leute waren, wie ich sie mag. Ich hab’ vielleicht viele Fehler, aber niemand hat das Recht, mich als einen Snob zu bezeichnen. Und das waren die übrigen Gäste – einer wie der andere. Viele waren Amerikaner, und die waren bei weitem nicht so unangenehm wie die Engländer. Ich meine, die kapierten ja auch so wenig von Kultur, daß sie sich immer nur darüber wunderten, wie alt dies und das war. Scheinbar war die Harbinger Hall einmal der Schauplatz in einer Fernsehserie gewesen, und die hatten den Film drüben in Amerika gesehen und gingen deshalb lange herum und schauten sich die einzelnen Sachen an, die sie schon kannten, und photographierten sich vor verschiedenen Hintergründen. Komisches Volk, diese Yanks, das war seit jeher meine Meinung. Aber sie waren wenigstens freundlich. Die englischen Gäste taten so, als würden sie mir ansehen, daß ich nicht zu ›ihrer Art‹ gehöre. Und damit hatten sie verdammt recht! Ich wollte um nichts in der Welt ein ekelhafter kleiner Fabrikbesitzer sein, der nur, weil er ein bißchen Geld hat, glaubt, daß er sich eine vornehme Herkunft kaufen kann. Ich hab’ zwar nicht das, was man gesellschaftlichen Glanz nennt, aber das, was ich habe, gehört dafür wirklich mir. Jedenfalls, den Engländern war ich vermutlich nicht recht. Sie konnten mich nicht ausstehen. Ich hab’ gemerkt, wie sie hinter vorgehaltener Hand über mich geredet haben, wenn ich in ein Zimmer gekommen bin. »Der fällt hier total aus dem Rahmen«, hörte ich einen schmierigen kleinen Senffabrikanten sagen. »Ich hätte gedacht,
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die Anträge der Leute, die übers Wochenende hierherkommen, würden wenigstens etwas gesiebt.« Unter anderen Umständen hätte ich ihm die falschen Zähne so in den Rachen gerammt, daß sie am anderen Ende herauskommen, aber ich durfte ja keine Aufmerksamkeit auf mich lenken, und deshalb hab’ ich ihn gelassen. Inzwischen wird Ihnen schon klargeworden sein, daß es mit der Gesellschaft nicht weit her war, und glauben Sie mir, die Unterhaltung war noch schlechter. Du meine Güte! Ich hab’ Ihnen schon meine Meinung über die Geschichte gesagt, und ich dachte eigentlich, daß der alte Trottel von Führer schon alles herausgeplappert hätte, was es zur Harbinger Hall zu sagen gibt, aber weit gefehlt! Für das ›Wochenende auf einem herrschaftlichen Landsitz‹ haben sie einen Scheißgeschichtsprofessor angeheuert, der uns wieder durch alle Räume führte, von einem Herzog zum anderen. Dann kommt noch so ein Idiot und zeigt uns die ganzen Familienporträts und, als ob das nicht genug wäre, gibt uns auch noch eine hochnäsige alte Jungfer mit blaugefärbtem Haar eine Lektion über die Haushaltsführung im achtzehnten Jahrhundert. Ich sage Ihnen, ich hab’ zu meiner Zeit schon langweilige Jobs übernommen, aber lieber beobachte ich eine ganze Woche lang einen Kerl und warte, bis er aus seiner Haustür herauskommt, als daß ich noch ein Wochenende mit diesem Volk verbringe. Das altertümliche Bankett war nicht besser. Also, ich stelle mir unter einem netten Samstagabend eine Lokalrunde vor mit ein paar Bierchen, und wenn einem ein bißchen exotisch zumute ist, endet man im ›Chinkie‹ oder im ›Indianer‹ – aber ich weiß nicht, wie jemand auf die Idee kommt, vor siebzehn verschiedenen Messern und Gabeln zu sitzen, während die Diener auf und ab marschieren und Tabletts mit gefüllten Schweinen und Pfauen herumtragen. Normalerweise hab’ ich nichts gegen Musik, gute Lieder zum Mitsingen mit Joanna oder ein nettes Band mit James Last oder Abba und solches Zeug, aber ich flehe zu Gott, daß er mich nie mehr in eine Lage bringt, in der ich mich natürlich verhalten soll, während ein paar so Vögel Madrigale zur Laute singen!
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Aber ich blieb dabei und hielt mich an meine Anweisungen wie ein richtiger kleiner Streber und konzentrierte mich im Geist auf die fünf Riesen. Oder vielleicht auf ein bißchen mehr als das. Weil ich so groß bin, hab’ ich immer einen stark entwickelten Appetit, und all die Vorträge und das Gerede hatten ihn noch verstärkt, so daß ich mich, auch wenn nichts serviert wurde, was mir besonders geschmeckt hätte, doch ordentlich bedient habe mit dem gefüllten Schwein und dem Pfau und den Obsttorten und was weiß ich. Ich hab’ mich sogar gezwungen, ein paar Schlucke von dem Met zu trinken, eine Übung, die ich keinem empfehlen möchte, der noch seine Geschmacksknospen im Mund hat. Der Erfolg von dem Ganzen war, daß ich um ein Uhr morgens im Bett aufwache mit furchtbarem Sodbrennen. Es war mehr als nur Sodbrennen, glaube ich, es hat gebrannt bis hinauf in die Brust, und auf dem Weg nach unten hat es sich in etwas verwandelt, was noch unangenehmer gewesen sein muß als zu Beginn. Um es rundheraus zu sagen, ich mußte aufs Klo, und zwar schleunigst. Also, ich finde es unmöglich, wie die Strom sparten auf den Treppenabsätzen, und der Orientierungssinn ist noch nie meine besondere Spezialität gewesen, daher bin ich durch eine ganze Reihe von Korridoren und über mehrere Treppenabsätze gesaust, bis ich gefunden habe, was ich suchte. Und, du meine Güte, was war das für ein Anblick, als ich endlich drinnen gewesen bin! Ein riesiger Sitz aus dunklem Holz, wie etwas aus einem alten Ruderboot, und die Kloschüssel selbst mit rosa und blauen Rosen drauf! Und dahinter ein Wasserkasten, der losgeht, als ob eine Bombe explodiert. Ehrlich, man könnte denken, in einem Haus wie dieser Harbinger Hall hätten sie wenigstens anständige Klos, ich meine in der Art wie das von meinem Schwager, avocadogrün und flach mit passendem Waschbecken und vergoldeten Delphinen als Wasserhähne. Aber ich hatte keine Zeit, mir über den Mangel an gutem Geschmack bei Lord Harbinger Sorgen zu machen. Nichts wie rein, die Tür zugesperrt, die Pyjamahose runter, und dann auf eine lange Sitzung.
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So peinlich es ist, ich muß zugeben, daß ich ein bißchen eingenickt bin. Vermutlich war es der Met, der mir da zu schaffen gemacht hat. Denn als nächstes weiß ich nur, daß ich auf einmal Stimmen hörte. Ich meine nicht so wie die Spinner, die auf einmal irgendwelche ›Stimmen‹ hören – nein, da waren zwei Männer vor der Scheißhaustür, und die haben laut miteinander geredet. Also halte ich den Atem an – unter anderem – und höre zu. Also, erstens hab’ ich eine von den Stimmen erkannt. Sagte doch, daß ich mir Stimmen gut merken kann, oder? Ja, richtig geraten, es war Mr. Loxton von der Sauna. »Ich habe Ihren Kontaktmann heute nachmittag getroffen«, sagte er. »Es ist alles für morgen abend bereit. Es wird eine schnelle Übergabe werden.« »Darum mache ich mir keine Sorgen. Es ist das, was vorher geschehen soll.« »Das wird sicher bestens laufen. Ich habe mit den Angestellten gesprochen, und es hört sich so an, als ob sich die anderen Gäste alle an ihn erinnern könnten.« »Aber wenn er so blöde ist, wie er aussieht, glauben Sie dann, daß er wirklich das tut, was er tun soll?« »Es ist nicht schwierig. Und wenn er es verpatzt, rufen wir einfach die Polizei und lassen ihn festnehmen.« »Darauf bin ich nicht gerade scharf«, sagte der andere in bissigem Ton. Seine Stimme klang älter und wirklich ganz vornehm wie die von einem Kabinettsminister, der interviewt wird, wenn Sie verstehen, was ich meine. »Die Polizei könnte etwas zu sehr in der Sache recherchieren. Nein, wir müssen hoffen, daß die Sache so läuft, wie wir es geplant haben.« »Ich bin sicher.« Mr. Loxtons Tonfall wirkte sehr beruhigend und… Wie sollte man die Stimme bezeichnen? Wie die von einem Oberkellner, der glaubt, daß er ein großes Trinkgeld bekommt. »Ja. Und Sie sind sicher, daß er nicht argwöhnisch wird?« »Ausgeschlossen. Der Kerl ist mit großer Sorgfalt ausgesucht worden. Er ist ein ganz ungewöhnlich blöder Ochse.« »Schön. Dann also – gute Nacht.«
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Die ältere Stimme entfernte sich. Ich öffnete leise die Tür einen Spalt und schaute hinaus. Der eine, der gerade noch gesprochen hat, ist nicht mehr zu sehen, aber ich sehe den anderen, wie er gerade »Gute Nacht« sagte. Mr. Loxtons Stimme. Ein gemein aussehender Schweinehund, wenn man sich den Dampf wegdenkt. Das Wichtigste: Er trägt eine gestreifte Hose, also ist er einer von Harbingers Angestellten. Wie ich es schon fast dachte: Ich bin Teil eines ganz dicken Dings hier im Haus. Und das ist noch nicht alles, was ich aus dem Gespräch erfahren habe. Vielleicht war es die Bezeichnung ›ungewöhnlich blöder Ochse‹, die ich schon öfter im Lauf meines Lebens gehört habe, aber seitdem werde ich das Gefühl nicht los, daß Loxton und der andere über mich geredet haben. Bis ich zurück bin im Bett, hab’ ich mein Sodbrennen ganz vergessen. Ich kann mich jetzt nicht von so was ablenken lassen – ich brauche meinen ganzen Kopf fürs Denken. Mir ist zwar noch nicht klar, was da passiert, aber ich weiß jetzt schon, daß es mir hinten und vorne nicht paßt. Ich bin ein paarmal in meiner Laufbahn reingelegt worden, und man bekommt allmählich ein Gefühl dafür. Man kennt zwar noch keine Einzelheiten, merkt aber, daß irgendwas nicht koscher sein kann. So, wie wenn dein Mädchen es mit ’nem anderen treibt. Ich geh’ die ganze Geschichte noch mal für mich durch und horche auf die Dinge, die nicht echt klingen. Versuche, mich zu erinnern, ob es nicht das eine oder andere gegeben hat, was mir gleich sauer aufgestoßen ist. Und dabei bin ich auf ein paar solcher kleiner Dinge gekommen. Erstens die Tatsache, daß ausgerechnet Wally Clinton mich empfohlen haben soll. Wie gesagt, er hatte keinen Grund, bei mir den großen Wohltäter zu spielen. Ich hätte ihn einmal beinahe in den Knast gebracht, und er hat den Jungs in Blau ein besonders großes Geburtstagsgeschenk machen müssen, um da wieder rauszukommen. Es war nicht meine Schuld, aber von solchen Details war Wally noch nie begeistert. Mein erster Gedanke ist also, daß Wally drauf aus ist, sich irgendwie zu revanchieren, und daß er mich hochgehen läßt, wenn ich die
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Alarmdrähte durchzwicke, aber das paßt irgendwie nicht zur Tapete. Die Sache ist einfach zu kompliziert. Er brauchte nicht einen Loxton und dieses ganze Theater dazu. Und zweieinhalb Riesen ist für einen wie Clinton ein Monatseinkommen. Das würde er nicht für mich einfach wegwerfen. ›Mit großer Sorgfalt ausgesucht‹, hat Loxton gesagt. Was soll das heißen? frage ich mich und denke an meinen Ruf im Geschäft, wo man mich, wie ich schon erwähnt habe, für ziemlich behämmert hält. Ein Trottel, der alles tut, was man ihm sagt, ohne lange zu fragen. Das ist es natürlich. Loxton wollte einen, der garantiert total behämmert ist, und Wally Clinton hat mich empfohlen. Dieser Gedanke ist schmerzlich, und ich will gar nicht länger darüber nachdenken. Wenn das der Fall ist, folgt eines auf das andere. Ja, man hat mir eine Falle gestellt – aber für etwas Größeres als nur für Wallys Rache. Ich versuche, mir zu überlegen, was da noch in der Sache dringend ein Deodorant nötig hat. Mir fällt wieder ein, daß ich von Anfang an beeindruckt war von der Tüchtigkeit der Gauner, mit denen ich es zu tun hatte. Die volle Aufmerksamkeit für das kleinste Detail. Sie haben mir Anweisungen gegeben, die man nicht falsch auffassen kann. Sie haben mir sogar meine Spesen zurückbezahlt. Und sie haben auch noch das abgezählte Geld für das Parkhaus am Cavendish Square ins Handschuhfach gelegt. Bei diesem Gedanken legte ich ’nen Stopp ein. Der Wagen sollte in die Cavendish-Square-Garage zurückgebracht werden. Ich sollte von der Harbinger Hall direkt dort hinfahren, ganz allein und gemütlich. Alles war ganz toll geplant – bis zu dem Punkt, an dem ich die Harbinger Hall verlasse – und von da an kann ich tun, was ich will. Ich weiß, sie halten mich für blöde, aber selbst ein noch so blöder Idiot muß doch eigentlich draufkommen, was man alles mit einer Leinwand tun kann, die ein paar Millionen wert ist – statt sie einfach in einem Wagen in einer Garage liegenzulassen. Wenn man sich überlegte, mit welcher Sorgfalt sie alles andere geplant hatten, dann war das Ende alles andere als durchdacht. Aber warum?
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Und dann kam mir noch etwas in den Kopf. Ich ging zu meiner Bomberjacke, die über dem Stuhl hing, und kramte in einer Außentasche. Die neue Preisliste, die mir der Kerl in der Garage gegeben hat. Da war es. Hat mir einen verdammten Stich gegeben, als ich es gelesen habe. Die Garage ist sonntags ganztägig geschlossen. Sie hatten sich gar nicht die Mühe gemacht, die Einzelheiten der Übergabe zu durchdenken, weil sie genau wußten, daß ich gar nicht so weit kommen würde. Und dann fiel mir das andere ein, was mir sauer aufgestoßen ist. Der abgesperrte Kofferraum des Peugeots. Das Aufbrechen von Schlössern ist nicht mein größtes Talent, aber ich hab’ immer einen passenden Satz von Nachschlüsseln dabei, und ich schaff es damit auch meistens. Natürlich hätte ich den Kofferraum des Peugeots leichter mit einer Brechstange aufkriegen können, aber ich wollte nicht, daß man es auf den ersten Blick merkt. Also zeigte ich Geduld, und nach zehn Minuten hatte ich die Kiste offen. Und auf welch eine Schatztruhe fiel da das Licht meiner Bleistiftlampe? Ein komplettes Do-it-yourself-Einbrecherwerkzeug. Ein Satz Meißel, Stemmeisen, Drahtscheren, Brechstangen – alles, was man sich denken kann. Auch ein Stethoskop. Vermutlich für die alte Lauschmethode beim Öffnen von Safes. Das wird heute kaum noch von den Schränkern praktiziert. Auch Dynamit wird heute kaum noch verwendet. Plastiksprengstoff ist viel handlicher. Aber derjenige, der den Kofferraum so ausstaffiert hat, dachte wohl, daß ich für die Safenummer noch Dynamit verwende. Sie dachten wohl auch, daß ich noch etwas brauche. Die rechteckige Form des Koffers war mir vertraut, und die des in Stoff eingewikkelten Gegenstands im Koffer erst recht. Ich fühlte die Knubbel des goldenen Rahmens, als ich das Tuch wegzog. Es war natürlich ein Gemälde. Die gleiche Größe wie die Madonna. Alt, genau wie die Madonna. Aber es war nicht die Madonna. Schwer zu erkennen, was es wirklich war. Oder was es einmal gewesen ist. Die Farbe bröckelte ab und war fleckig. Kein Mensch hätte
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für das Bild auch nur zwei Pfund gegeben – geschweige zwei Millionen. Aber das Sonderbare daran war, daß es am unteren Teil des Rahmens ein Messingschild hatte, auf dem stand: MADONNA UND KIND Giacomo Palladino Florentinische Schule (1473-1539) Jemand wollte mich da ganz bestimmt reinlegen, aber ich konnte mir immer noch nicht denken, warum. Der Sonntag war so langweilig und fade wie der Samstag. Irgendein Wildhüter hat uns einen langen Vortrag über die Jagd auf das Schottische Waldhuhn gehalten, und dann war da noch so ein Trottel, der lang und breit über Wappen geredet hat, und der ›traditionelle Sonntagslunch‹ war nicht viel mehr als ein Haufen Knorpel. Der Koch, der die Soße gemacht hat, sollte vom Gewerbeamt verklagt werden. Ich meine, wenn die oberen Klassen seit dem Einfall der Normannen mit so ’ner Soße abgefüttert werden, braucht man sich nicht zu wundern, daß sie solche Schleimscheißer sind. Der Nachmittag war, wie es in der Broschüre hieß, ›lockerer gegliedert‹. Das bedeutete, Gott sei Dank, daß ihnen nichts Blödes mehr eingefallen ist, mit dem sie uns anöden können. Die Gäste wurden ermutigt, im Park spazierenzugehen bis zum großen Ereignis, dem Tee bei Lord Harbinger. Ich machte mir nicht die Mühe, draußen herumzulatschen. Legte mich einfach auf mein Bett und dachte nach. Und ich hab’ versucht, die einzelnen Steinchen zusammenzusetzen. Auch wenn schon viel Gemeines darüber gesagt wurde, mit meinem Verstand ist alles okay. Er arbeitet nur ein bißchen langsam, das ist alles. Mit der Zeit komme ich schon voran. Das Dumme ist nur, wenn ich viel nachdenke, braucht das auch viele Energien, und ich muß darüber eingeschlafen sein. Als ich zu mir komme, ist es Viertel vor fünf, und der königliche Kommandotee hat schon um halb fünf angefangen. Mann, hab’ ich mich beeilt beim Aufstehen! Die eine Hälfte von mir hat immer noch überlegt, was da 355
wohl läuft, und die andere hat sich an die Anweisungen gehalten. Ich soll mich natürlich betragen, ohne die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Als ich über den Treppenabsatz renne, schaue ich durch das große Fenster. Der rote Peugeot parkt direkt vor dem Haus. Und ich sehe auch, wie Mr. Loxton gerade den Kofferraum zuklappt und davongeht. Hast wohl gedacht, ich bin da drinnen beim Tee, was, Loxton? Der Tee hat mir dann die letzte, entscheidende Tatsache geliefert. Sobald man mich Lord Harbinger vorgestellt hat, ist eines zum anderen gekommen. »Guten Tag«, sagte er mit einem netten, begeisterten Ton. »Es freut mich, Sie in Harbinger Hall begrüßen zu dürfen.« Das war die Stimme, nicht wahr? Der Kerl, mit dem Loxton in der Nacht zuvor geredet hat. Jetzt war mir klar, was für ein Insider-Job das war. Und was ich sonst noch alles kapierte, hat ein unangenehmes Prikkeln in meiner Magengrube ausgelöst. Um halb sechs war die Teestunde zu Ende. Lord Harbinger schaltete seine Freundlichkeiten ab wie eine Glühbirne, trotz der Amerikaner, die gern noch lange mit der Aristokratie beisammengewesen wären. Wir alle wurden aus dem großen Wohnzimmer gescheucht, damit wir unsere Sachen packen. Ich ging in mein Schlafzimmer. Es gab ja nicht viel zu packen. Aber jetzt hab’ ich zum erstenmal in das Paket geschaut, das in meinem Koffer gelegen hat. Nach dem, was ich in der Nacht zuvor im Kofferraum des Wagens gesehen hatte, konnte es alles mögliche sein. Nein, es war eine Kopie der Madonna. Eine verdammt gute obendrein. Ich hätte sie nicht vom Original unterscheiden können. Aber wie gesagt, ich versteh’ nicht viel von Kunst. Um zehn vor sechs gehe ich genau nach Anweisung hinunter in die Halle und lasse meinen Koffer im Schlafzimmer. Unten treiben sich schon ein paar von den Gästen herum, und in einer Ecke stehen Stapel von Gepäck. Auf einen flüchtigen Blick sehe ich einen Koffer, der haargenau so aussieht wie der oben in meinem Schlafzimmer. Brauchen eine Menge teurer Koffer für den Job, die Leute, aber
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wenn alles klappt, hat es sich gelohnt, dann können sie sich noch ein paar Koffer mehr leisten. Plötzlich höre ich Loxtons Stimme, der Lord Harbinger zuflüstert: »Ich fahre danach weg, so schnell ich kann.« »Fein«, sagt der edle Lord. Kurz vor sechs sind die meisten Gäste unten, und das Personal der Harbinger Hall stellt sich in einer Reihe zum Verabschieden auf wie in den Fernsehserien. Die Amerikaner finden es wunderbar und fangen zu gurren an wie glückliche Tauben. »Ach, Scheiße«, sage ich laut. »Demnächst vergess’ ich noch meinen Kopf.« Dann fügte ich noch für die Leute, die sich nach mir umgedreht haben, hinzu: »Nee, is’ nur der blöde Koffer, den ich vergessen habe, sonst nichts.« Sie wenden sich mit einem Ausdruck des Abscheus von mir ab, und ich renne hinauf. Mache alles genau nach Anweisung. Ins Schlafzimmer, den Koffer geholt, auf die lange Galerie, die ›Privat‹Treppe hinunter. Heraus mit der Metallzange, die Kabel an der Oberkante der Kästen durchgetrennt, schnipp, schnapp. Ich bin ziemlich aufgeregt, aber es ist nichts zu hören. Hinaus in die Große Halle, den Koffer auf einen Tisch. Den Reißverschluß aufgemacht. Die Kopie der Madonna aus dem Tuch gepackt. Alles genauso, wie ich es tun muß. Den Koffer zugemacht, wieder die Treppe hinauf. Lange Galerie, Schlafzimmer, zurück über die Haupttreppe in die Halle, wo ich bei der Treppe kurz stehenbleibe, um auszuschnaufen. Dauer der ganzen Operation: dreieinhalb Minuten. Sie haben inzwischen sicher kapiert, daß ich diesen unglücklichen Ruf habe, alles zu verpatzen. Und wirklich, immer wenn mein Job fast erledigt ist, scheint irgend etwas schiefzulaufen. Nennen wir es Pech, aber es ist schon so oft passiert, daß manche Leute dafür einen nicht ganz so gnädigen Ausdruck haben. Jedenfalls, ich stehe also oben auf der Treppe vor all den Leuten, und ich lange hinauf, um mir die Stirn abzuwischen, und – Sie werden’s nicht glauben! – ich habe vergessen, den Reißverschluß meines Koffers zuzumachen, ich halte ihn am Griff, und er fällt auseinander! Mein Rasierwasser und weiß Gott was noch alles purzelt klappernd
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die Treppe hinunter, und im offenen Koffer, nur mit den Gurten festgeschnallt, ist die Harbinger-Madonna, und alle können sie sehen. »Mein Gott!« sagt Lord Harbinger. Ich sage ein unanständiges Wort. Mehrere Angestellte kommen auf mich zu und halten mich fest. Andere werden in die Große Halle geschickt, um nach dem Schaden zu sehen. Loxton kommt als erster zurück. Er schaut ziemlich verärgert drein. »Mylord, die Drähte der Alarmanlage sind durchgeschnitten. Er hat die Madonna durch eine Kopie ersetzt!« »Was?!« plustert sich Lord Harbinger auf. »Soll ich die Polizei benachrichtigen, Mylord?« fragt ein anderer Angestellter. »Äh… Mhm…« »Na schön.« Ich zucke mit den Schultern. »Da haben wir’s wieder mal. Die Tragik meines Lebens. Ich verpatze jeden Job. Dabei habe ich gedacht, ich hätte gerade diesen bis ins Detail ausgearbeitet.« »Soll ich die Polizei verständigen, Mylord?« fragt der Angestellte wieder. »Äh…« »Ja, keine schlechte Idee«, sage ich zu ihm. »Diesmal bin ich wirklich mit der Ware in der Hand erwischt worden. Ich bin sicher, die Polizei wird diesen Fall sehr genau untersuchen wollen.« »J-ja.« Seine Lordschaft ist noch nicht sicher. »Unter normalen Umständen würde ich natürlich augenblicklich die Polizei verständigen. Aber die Situation ist – äh – ziemlich peinlich.« »Warum denn?« fragte ich. »Ich werde nicht leugnen, daß ich es getan habe.« »Nein, aber, äh – äh…« Dann endlich findet er das richtige Gleis. »Aber Sie sind ein Gast in meinem Haus. Es ist nicht üblich, daß die Harbingers ihre Gäste der Polizei überantworten, selbst wenn sie die Regeln der Gastfreundschaft über Gebühr verletzt haben.« »Ach«, sage ich. »Meine Güte«, ruft eine von den Amerikanerinnen. »Ist das nicht fabelhaft?!«
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Harbinger kommt jetzt mehr und mehr in Fahrt. Er zeigt nachdrücklich auf die Tür und sagt: »Verlassen Sie augenblicklich mein Haus!« Ich gehe die restlichen Stufen hinunter. »Und das soll ich wohl besser hierlassen, wie?« Ich hebe die Madonna hoch. »Ja.« Ich reiche ihm etwas zögernd das Bild. »Die Kopie können Sie auch behalten. Ich habe keine Verwendung dafür. Außerdem wird sich die Polizei dafür interessieren. Vielleicht können die bei der Polizei sogar feststellen, von wem sie angefertigt worden ist.« »Ja«, sagt seine Lordschaft abrupt. »Das heißt, nein. Die Kopie können Sie meinetwegen mitnehmen.« »Aber…« »Nehmen Sie sie. Wenn die Polizei durch die Kopie auf Ihre Spur käme, würde das die Regeln der Gastfreundschaft ebenso verletzen, wie wenn ich Sie gleich festnehmen lassen würde. Nehmen Sie die Kopie mit.« »Aber ich will sie nicht mehr.« »Sie werden sie mitnehmen, Sir!« bellt er mich an. »Na schön, wie Sie meinen«, sage ich knurrend. »Mein Gott, das ist so ungeheuer britisch!« sagt eine von den Amerikanerinnen. Damit ist ihr Wochenende erst komplett. Sie geben mir das Bild aus der Großen Halle, ich stecke es in meinen Koffer und werde von Loxton hinausgeführt. Die Gäste und die Angestellten machen mir den Weg frei, als wollte ich ihnen eine Versicherung aufschwatzen. Draußen sagt Loxton: »Gott, ich hab’ ja gewußt, daß Sie blöd und unfähig sind, aber ich hätte nie gedacht, daß ein Mensch so blöd und so unfähig sein kann.« Ich lasse beschämt den Kopf hängen. »Und jetzt ab mit Ihnen in den Wagen und los!« »Nein – das ist nicht mein Wagen«, sage ich. »Er ist gestohlen. Bei meinem Glück werde ich vermutlich auf der Heimfahrt von der Polizei angehalten. Ich fahre mit dem Bus zur Bahnstation.« Loxton wirkt daraufhin gar nicht glücklich.
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Es dauert, bis alle Gäste im Bus verstaut sind. Loxton steht dort, während sich alle verabschieden. Ich setze mich mit meinem Koffer hinten rein. Alle anderen setzen sich nach vorn. Ich bin in Ungnade gefallen. Der Bus fährt im Zickzack nach Limmerton hinunter. Ich drehe mich um und sehe, wie Loxton auf den Peugeot zurennt, der direkt vor der Harbinger Hall parkt. Ich schaue auf meine Uhr. Viertel vor sieben. Wir sind etwas spät dran. Ich sehe, wie Loxton in den Wagen springt. Ohne die Tür zuzumachen, läßt er ihn an und legt den Rückwärtsgang ein, fährt zurück, daß der Kies spritzt. Aber es ist zu spät. Die Hall ist gerettet, er nicht. Der hintere Teil des Peugeots verwandelt sich in einen orangeroten Feuerball. Im Innern des Busses hört man es nur gedämpft. Ein paar Gäste schauen sich neugierig um, doch in diesem Moment biegt der Bus um eine von den Haarnadelkurven, und dann ist nichts mehr zu sehen. Im Zug klamüsere ich mir alles zusammen. Sie haben mich allein in einem Abteil sitzen lassen. Ich bin immer noch wie ein Aussätziger. Die anderen sind froh, daß sich ihre Vermutungen über meine Person bestätigt haben. Lord Harbinger steckt in Geldschwierigkeiten. Der Unterhalt der Hall kostet eine Menge, und die Besucher strömen nicht gerade hinein. Die ›Wochenenden auf einem herrschaftlichen Landsitz‹ bringen zwar ein paar Eier, aber sie erfordern auch zusätzliches Personal, so daß unterm Strich nicht viel bleibt. Aber er hatte die Madonna. Verkaufen konnte er sie nicht, das hätte nicht gut ausgesehen, ein Eingeständnis seines Versagens. Außerdem hatten er oder Loxton einen Plan ausgearbeitet, mit dem sie mehr bekamen als durch einen Verkauf. Die Madonna sollte gestohlen werden, sie würden die Versicherungssumme kassieren und danach das Bild unter der Hand selbst verhökern. Aber für den Diebstahl brauchten sie einen wirklichen Dieb. Auftritt meiner Wenigkeit. Ich mußte Verdacht erwecken, als ich für meinen Eintagesbesuch hingekommen bin, und beim ›Wochenende‹ bin ich ja auch aufgefallen wie ein bunter Hund. Wenn ich den Diebstahl begangen und die
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echte Madonna gegen die Kopie ausgetauscht hätte, wäre mir mein Koffer von Loxton zum Wagen gebracht worden. Er hätte ihn mit dem leeren Koffer vertauscht, der beim Gepäck neben der Tür stand, und die Madonna in einen anderen Wagen gebracht, um später damit nach London zu fahren und den Handel mit Mr. Depaldos Rivalen abzuschließen. Ich wäre mit dem Peugeot davongefahren, vielleicht voller Pläne, wie ich meine Auftraggeber bescheißen und selbst einen kleinen Handel machen könnte. Doch darüber machten sie sich keine Gedanken, weil sie wußten, daß spätestens auf halbem Weg nach London das Dynamit im Kofferraum des Peugeots explodieren würde. Wenn die Polizei dann das Wrack untersucht hätte, würde man mich als den Blödmann identifizieren, der sich das ganze Wochenende so komisch benommen, die Drähte der Alarmvorrichtung durchgeschnitten und die Gemälde ausgetauscht hat. Mein Beruf ist amtsbekannt. Schließlich habe ich ein ganz schönes Strafregister beisammen. Und außerdem hatte ich das ganze Werkzeug im Kofferraum, zusammen mit dem Dynamit, dessen schlampige Verpackung mein bedauerliches Ende zur Folge hatte und ein paar angesengte Holzsplitter und Leinwandfetzen, die einmal ein Gemälde gewesen waren. Ein sehr altes Gemälde, wie die Tests ergeben würden. Und das Messingschild, das das Feuer bestimmt überstehen würde, konnte diese Reste als Giacomo Palladinos Meisterwerk Madonna und Kind identifizieren. Wieder ein großes Kunstwerk, das der Nation auf tragische Weise verlorengegangen ist! Alle Achtung. Ein guter Plan. Nur einen Fehler haben sie dabei gemacht. Wie schon ein paar andere vor ihnen haben sie Billy Gorse für noch blöder gehalten, als er aussieht. Ich fühlte mich wohl und entspannt. Schade, daß es im Zug keinen Büfettwagen gab. Ein paar Bierchen hätten mir jetzt gutgetan. Später wollte ich zu Red Rita gehen. Ja, das wäre fein. Vielleicht verschwindet sie zusammen mit mir. Sie hat auch mal eine Abwechslung verdient. Schaut in letzter Zeit ein bißchen spitz und blaß aus. Vielleicht zur Abwechslung mal Südamerika? Ich hole meinen Koffer herunter und mache ihn auf.
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Ist mir richtig ans Herz gewachsen, die Madonna. Und ich war sehr froh, daß ich die zwei Bilder in der Großen Halle nicht ausgetauscht habe. Ich versteh’ ja nicht viel von Kunst, aber allmählich fange ich an zu kapieren, was sie wert ist. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Francis Clifford Hin und her Als er sie zum erstenmal sah, trat sie als ›L’Oiseau d’Or‹ auf und schwebte drei Meter über ihm in einer Zirkuskuppel bei Madrid. Mittlerweile nannte er sie ›Tony‹ was der Kurzname für Antonia war, und sie kannte ihn schlicht als ›Clay‹, mehr wußte sie nicht. Aber Namen waren für sie nicht weiter von Bedeutung. Sie war zierlich, schön und wagemutig wie ein Vogel, und bereits nach den ersten Sekunden war ihm klar gewesen, daß sie die Richtige für ihn war. »Was willst du mit deinem Leben anfangen?« Fragen dieser Art wurden normalerweise in alten Filmen gestellt, aber exakt dies waren die Worte, die er erst fünf Wochen zuvor zu ihr gesagt hatte. Seit diesem Zeitpunkt erprobten sie für sich die Abgeschiedenheit der gemieteten, kalkweißen Villa über der pittoresken Küste Sardiniens. »Liebst du mich, mein Vogelmädchen?« fragte er sie regelmäßig, und sie rümpfte dann ein wenig die Nase, runzelte die Stirn und tat so, als würde sie nachdenken. Er schätzte sie auf Anfang Zwanzig. Sie hatte ungewöhnlich ausdrucksvolle Hände, was gelegentliche Grammatikfehler ihres mit leichtem Akzent gesprochenen Englisch wettmachte. Ihre Mutter, so erfuhr er, war Spanierin gewesen, und ihr Vater stammte aus Polen. Beide traten noch immer als Zirkusartisten mit einer Jongliernummer irgendwo in den Vereinigten Staaten auf. Sie hatte ModiglianiAugen… braun und von faszinierender Lebendigkeit. Das glatte, rabenschwarze Haar trug sie schulterlang. Sie hatte ihm nie gesagt, wie ihr Nachname lautete, aber das war auch ohne Bedeutung. Tony genügte ihm vollkommen. »Tony«, sagte Clay in diesem Moment. »Du bist bezaubernd.« »Danke.« »Und du wirst täglich bezaubernder.« »Du schmeichelst mich.« »Mir«, verbesserte er sie. »Du bist so klug… und ich bin so ein Dumpfkopf.« »Dummkopf.«
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»Also gut, aber ein Dummkopf in vier Sprachen.« Ihr Lächeln wirkte angestrengter, als ihr bewußt war. »Wenigstens lasse ich mich nicht von einer Sprache gängeln, wie ihr Engländer das tut.« Er zog eine Grimasse. »Touché.« Dann küßte er sie. »Gib mir eine Zigarette, bitte.« Clay zündete eine Zigarette an und steckte sie ihr zwischen die Lippen. Sie lagen auf Liegestühlen am Pool. Olivfarbene Haut und ein rosaroter Bikini… Jedesmal, wenn sein Blick über sie glitt, war er von neuem fasziniert. Er war dreißig, untersetzt und muskulös. Das wellige Haar trug er kurz, und er hatte blaue Augen. Man mußte ihm schon sehr übel wollen, wenn man nicht eingestand, daß er ausgesprochen gut aussah. Er hatte ihr gesagt, daß er aus London stamme, was sehr plausibel klang, und daß er in der Metallindustrie tätig sei. Das alles interessierte sie allerdings zu wenig, um irgend etwas in Frage zu stellen. »Wie wär’s mit einem Drink?« »Ja, bitte«, erwiderte sie. »Ein Cloudy Sky.« »Du meinst Gin mit Ingwerbier?« Er stand auf und ging um den Pool herum. »Weißt du was?« sagte er unvermittelt und wandte den Kopf. »Du bist ein Geschenk des Himmels, Vogelmädchen.« Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, rutschte er aus. Für den Bruchteil einer Sekunde ruderte er wild mit Armen und Beinen und versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, bis er sich wie ein betrunkener Tänzer auf den feuchten Fliesen um die eigene Achse drehte und unsanft zu Boden fiel. »Clay! Ist mit dir alles in Ordnung?« »O Mann!« Seine Augen weiteten sich vor Schmerzen. »O Mann!« »Was hast du?« Sie kauerte erschrocken neben ihm nieder. »Ist was gebrochen?« »Nein, das glaube ich nicht.« »Ich hole einen Arzt.« »Hilf mir erst mal auf.« Er schleppte sich zum nächsten Liegestuhl und untersuchte vorsichtig seine Fußgelenke. »Was ist?«
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»Das war ganze Arbeit, was?« murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Das linke ist nicht so schlimm… aber das rechte… ohaaaaah!« Ihre Hände zitterten. »Der Knochen?« »Nein. Eher der Muskel… die Sehnen.« »Äh… die Muskeln.« Sie stand sofort auf und ging ins Haus. Kurz darauf kam sie mit einem Kübel Eiswürfel und einem Stapel Servietten zurück. Sie wikkelte eine Handvoll Eiswürfel in ein Tuch und legte die Kompresse vorsichtig auf Clays rechtes Fußgelenk. »Du kennst dich offenbar mit solchen Dingen aus«, bemerkte er. »Beim Zirkus passiert so was öfter.« »Aber bestimmt hat es noch keiner mit soviel Eleganz und Grazie geschafft wie ich.« »Talente wie du sind rar.« »Du Biest.« »Entspann dich jetzt lieber und genieß die Aussicht.« »Die Aussicht kenne ich mittlerweile in- und auswendig.« »Nur Diebe und Zigeuner leben nach der Maxime, nie irgendwohin zurückzukommen. Wozu gehörst du?« »Daß mir ausgerechnet das passieren mußte! Tonymädchen, du hast einen kompletten Idioten vor dir.« »Das weiß ich.« Sie entzog sich ihm, stopfte ein Kissen unter das verletzte Bein und sagte: »Du mußt den Fuß hochlegen.« »Wirklich?« »Wer ist sonst noch hier?« fragte der Mann dicht hinter ihr. »Niemand.« »Kein Dienstmädchen?« »Nein.« »Kein Gärtner… oder ein Hund?« »Nein.« Er hatte so laut gesprochen, daß Clay sich bewegte. Er schlug die Augen auf und starrte die beiden schläfrig an. »Hallo«, murmelte er schließlich. »Ihr habt mich bei einem Nickerchen überrascht.« Dann fiel sein Blick auf die Pistole, und seine Mie-
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ne änderte sich schlagartig. Er fuhr wie von der Tarantel gestochen auf. »Was zum Teufel…« »Bleiben Sie, wo Sie sind!« »Wer sind Sie?« Clay kniff die Augen gegen das Licht zusammen. Er wirkte völlig verwirrt. »Was, um Himmels willen, ist eigentlich los?« »Er hat mich draußen abgefangen«, erklärte Tony stockend. »Gehen Sie zu ihm«, befahl der Fremde, der die Angewohnheit hatte, wie ein Boxer den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen. »Stellen Sie sich neben ihn, und von jetzt an reden Sie nur noch, wenn Sie gefragt werden, kapiert?« Er war wirklich ein imposanter Muskelprotz und hatte eine harte kehlige Aussprache. Seine Nationalität war nicht auszumachen, aber er war bestimmt weder Amerikaner noch Engländer. »Weshalb hat dieser Hampelmann einen bandagierten Fuß?« »Er hat sich den Fuß verstaucht.« »So, wirklich?« Die Pistole gab ihm alle Macht der Welt. Er kam näher. »Das ist ja ein günstiger Zufall.« »Hören Sie…«, begann Clay. »Zuhören tue ich schon lange nicht mehr. Merken Sie sich das, Freundchen!« »Was, zum Teufel, wollen Sie eigentlich?« »Dazu kommen wir noch«, entgegnete der Fremde. Er setzte sich auf die Kante einer Liege und wirkte sehr selbstsicher, als er sie eingehend musterte. Er stellte seine Reisetasche zwischen die Beine auf den Boden und zog das Jackett aus, während er die Pistole von einer Hand in die andere nahm. Seine sehnigen Unterarme waren braungebrannt. Auf dem einen war die Tätowierung ›MORGEN‹ auf der anderen ›GESTERN‹ zu lesen. »Wir werden uns gegenseitig einen netten Gefallen tun«, erklärte er. »Das haben wir nicht nötig.« »Was ihr nötig habt, spielt keine Rolle. Es wird gemacht, was ich sage.« Er stand auf. »Und jetzt möchte ich zum Beispiel das Haus sehen.« Tony runzelte die Stirn.
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»Ich möchte mal einen Blick ins Haus werfen«, wiederholte er. »Und ich rate Ihnen, keine Dummheiten zu machen, solange wir drin sind«, wandte er sich drohend an Clay. »Sonst geht es der Kleinen schlecht. Aber, daß wir uns nicht mißverstehen… Wenn Sie parieren, wird niemandem etwas geschehen.« Tony führte ihn ins Haus. Der Fremde folgte ihr lautlos wie eine Katze. Im Wohnzimmer blieb sie stehen, damit sich ihre Augen an das veränderte Licht gewöhnen konnten. Sofort fühlte sie die Pistolenmündung im Rücken. »Wo ist das Telefon?« Sie führte ihn zum größten Schlafzimmer, stieß die Tür auf und trat beiseite, doch er bedeutete ihr, vorauszugehen. »Was soll das?« fragte sie, und das Weiße in ihren Augen blitzte auf, doch der Moment des Zorns verstrich. Er war mit wenigen Schritten neben dem Bett und riß das Telefonkabel mit so brutalem Ruck aus der Wand, als wollte er ihr damit bewußt die Realität und Ausweglosigkeit ihrer Situation vor Augen führen. Wortlos und stets nur wenige Schritte hinter oder neben ihr ließ er sich auch die übrigen Räumlichkeiten zeigen. In der Küche nahm er eine Büchse Bier aus dem Kühlschrank und trank sie aus. In der Garage zeigte er ein flüchtiges Interesse an der Tauchausrüstung. Ansonsten hielt er sich nirgends auf. Minuten später schob er sie wieder auf die Terrasse hinaus, wo Clay sie mißmutig und hilflos erwartete. »Braver Junge«, lobte der Fremde. »Gratuliere.« Das Wasser im Pool glitzerte in der Sonne. »Waren Sie schon mal im Marionettentheater?« Er verzog das Gesicht zu einer Art Grinsen. »Je kräftiger man am Faden zieht, desto besser die Wirkung, finden Sie nicht auch?« »Bastard!« Der Fremde ignorierte die Bemerkung. Er ging zu seiner Reisetasche und öffnete den Reißverschluß. Dann griff er hinein und zog ein Handfunksprechgerät mit Schulterhalfter heraus. »Na, was halten Sie davon?« wandte er sich an Tony. »Gar nichts.«
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»Das hübsche Ding ist speziell für solche Zeitgenossen konstruiert, die wir zwar aus den Augen verloren haben, aber nicht aus dem Sinn.« »Das verstehe ich nicht.« »Keine Angst, das kommt gleich.« Er holte ein zweites Funkgerät aus der Tasche und drückte auf einen roten Knopf. Mit leisem Klikken wurde dadurch eine über einen Meter lange Antenne ausgefahren. »Wissen Sie, wie diese Dinger funktionieren?« Tony schüttelte den Kopf. »Dann sollten Sie das jetzt lernen.« Ihre Blicke trafen sich. »Und wenn ich keine Lust habe?« »So dumm sehen Sie gar nicht aus.« »Ich bin auch nicht primitiv genug, mir die Unterarme tätowieren zu lassen!« Tony ließ ihrer Wut freien lauf. »MORGEN und GESTERN… Was soll das heißen? Das ist doch deutsch oder? Nur Leute, die nie erwachsen geworden sind, lassen sich Worte oder Bilder in die Haut brennen.« Der Fremde machte eine blitzschnelle Bewegung. Seine Fußspitze traf genau Clays verletztes Gelenk. Clay schrie vor Schmerz auf und sank in sich zusammen. Sein Mund formte ein tonloses O. »Sehen Sie, was Sie angerichtet haben?« sagte der Fremde vorwurfsvoll. »Ihr Freund hätte gern auf die Erfahrung verzichtet.« Dann änderte sich sein Ton schlagartig. »Nehmen Sie das zweite Funkgerät, und hören Sie mir genau zu.« Widerwillig griff sie nach dem Apparat. Der Fremde begann ihr zu erklären, wie er funktionierte. Es war kinderleicht, und sie hatte keine Fragen. Die Pistole in seiner Hand wirkte sehr überzeugend. Einoder zweimal sah sie Clay an, und Angst und Resignation lagen in diesen Blicken. Der Fremde forderte sie schließlich auf, zum anderen Ende der Terrasse zu gehen und von dort aus mit leiser Stimme Funkkontakt zu ihm aufzunehmen. Nach mehreren Fehlversuchen und lauten Kommandos des Fremden, die richtigen Tasten zu betätigen, kam schließlich reibungslos eine Verbindung zustande. Tonys Stimme war deutlich zu hören: »Was Sie auch wollen, Sie haben einen Fehler gemacht. Wir gehören nicht zu ihresgleichen. Es war
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dumm von Ihnen, sich ausgerechnet dieses Haus auszusuchen… Over.« »Ich habe Ihnen schon einmal geraten, Ihr Schicksal nicht herauszufordern… Over.« »Sie sind ein Alptraum«, kam es störrisch zurück. »Over.« »Von Traum kann hier keine Rede sein, und das wissen Sie ganz genau… Over und Out.« »Um Himmels willen«, versuchte Clay es erneut. »Wer sind Sie überhaupt? Noch vor einer halben Stunde…« »Noch vor einer halben Stunde, Freundchen, sind Sie ein reichlich nutzloses Mitglied der Gesellschaft gewesen. Die herrlichen Tage in der Sonne mit Ihrer Märchenprinzessin sind vorbei. Das Leben besteht nicht nur aus Zuckerlecken. Sie werden sich bald sehr nützlich machen dürfen.« Tony schlenderte auf die beiden zu. »Viel Wind um nichts.« Sie konnte den Mund nicht halten. »Alles hohles Gequatsche.« »Ist das wirklich Ihr Eindruck?« »Sie sind doch nur eine taube Nuß!« Der Fremde feuerte einen Schuß ab. Die Kugel pfiff zwischen Tony und Clay hindurch und zerfetzte hinter den beiden einen Wasserball mit lautem Knall. Das alles war so schnell gegangen, daß sie nicht einmal mehr Zeit gehabt hatten, zusammenzuzucken. Erst als alles vorbei war, schnappten sie starr vor Schreck nach Luft. Dann fiel die schlappe Haut des Wasserballs klatschend in den Pool. »Allmächtiger«, flüsterte Clay. Die Entfernung zwischen ihm und Tony hatte kaum einen halben Meter betragen. Seine Nackenhaare sträubten sich. »Verlassen Sie sich nicht allzusehr auf die Blufftheorie«, riet der Fremde. »Sie würden es nur bitter bereuen… Damit das ein für allemal klar ist. Wir drei sind auf einander angewiesen, und es gibt kein Entrinnen.« Der Fremde ging zu der von einer Bougainvillea überwachsenen Balustrade am hinteren Ende des Swimmingpools. Er wirkte verschlossen und aufreizend gelassen. Von der Balustrade aus betrachtete er die wildromantische Aussicht. Irgendwann war dort ein Teil der Steilküste ins Meer abgerutscht. Bizarre Felsen säumten die Küsten-
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linie, und das Meer schillerte in zahllosen Buchten in sämtlichen Grün- und Blautönen. In der Ferne leuchtete karamelfarben das Dorf, und auf den Hängen über dem Meer lagen vereinzelt wie Tupfer mittelgroße Villen, deren strahlendes Weiß von Tamarisken, Myrten und wilder Blumenpracht etwas gebrochen wurde. »Kommen Sie her!« befahl der Fremde. »Sie auch, Freundchen. Und bringen Sie gleich meine Tasche mit.« Clay humpelte schwerfällig. Gegen die gelassene Selbstsicherheit des Fremden mit der Waffe, von der dieser so rücksichtslos Gebrauch zu machen verstand, hatte er nicht nur rein physisch, sondern auch geistig in diesem Moment keine Chance, da er die Situation einfach noch nicht recht begriffen zu haben schien. »In der Tasche ist ein Fernglas«, erklärte der Fremde. »Und ein Stativ. Bringen Sie beides mit rüber.« Clay hatte keine Wahl. Trotz seiner Größe war das Fernglas erstaunlich leicht. »Schauen Sie doch mal durch.« Er richtete das Fernglas auf die Villa, die in der Gegend als ›Castello di Roccia‹ bekannt war. Sie lag – größer und isolierter als alle übrigen Häuser – auf einer schroffen Felsnase, die eine Bucht von einer anderen trennte. Die Fassaden zierte pastellblauer Stuck, und die ausladenden Ziegeldächer schimmerten rotbraun. Auf der dem Land zugewandten Seite erstreckten sich terrassierte Gärten, und eine aufgeschüttete Auffahrt führte zwischen weißen Mauern durch ein schmiedeeisernes Tor. Clay stellte das Fernglas schärfer ein, und plötzlich sprang ihm das Haus über eine Entfernung von gut zweihundertfünfzig Metern in allen Einzelheiten messerscharf ins Auge. »Nicht übel, was?« Clay nickte unwillkürlich. »Wenn Sie das Ding jetzt noch auf dem Stativ justieren, ist es fast zu gut, um wahr zu sein.« Die Sonne glühte wie geschmolzenes Metall auf der Wasseroberfläche, und das Meer selbst leuchtete türkisblau wie auf einem Reiseprospekt. Das Motorboot, das Clay zum Wasserskilaufen benutzte, lag in der kleinen hufeisenförmigen Bucht unter ihnen am Steg.
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»Also passen Sie auf«, begann der Fremde in spielerischem Plauderton. »Wer von Ihnen hat schon mal was vom Rivers-Brillanten gehört?« Clay und Tony sahen sich an, sagten jedoch nichts. »Lesen Sie denn keine Illustrierten?« Er stand nur auf Armeslänge von den beiden entfernt etwas weiter hinten, doch die Pistole verlieh ihm Sicherheit. »Keiner?… Das ist eine Bildungslücke. Also, zu Ihrer Information: der Rivers-Brillant ist einer der ganz großen.« »Na und?« Clay runzelte die Stirn. »Der Rivers-Brillant befindet sich im Besitz einer gewissen Barbara Ashley«, fuhr der Fremde gelassen fort. »Und diese Barbara Ashley…« »Großer Gott!« entfuhr es Clay unwillkürlich, der ahnte, was jetzt kommen würde. »…lebt im Castello di Roccia. Und das Castello di Roccia liegt, wie Sie wissen, hier direkt vor Ihrer Nase.« In Tonys Kopf begann es zu arbeiten. Ihr Blick schweifte nachdenklich zwischen Clay und dem Fremden hin und her. »Weshalb erzählen Sie uns das alles?« »Weil ich den Rivers-Brillanten haben möchte… und Sie werden ihn mir besorgen.« Tonys Herzschlag schien auszusetzen. »Ich?« »Ja, ganz richtig.« »Sie sind ja verrückt.« Tony warf den Kopf zurück. Ihre Stimme klang ungläubig. »Das ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe.« »Sie besorgen ihn, meine Schöne. Und dabei bleibt’s!« »Aber wie denn, um Gottes willen?« Sie gestikulierte erregt. »Wie denn nur? Das ist doch ganz unmöglich. Außerdem…« »Es ist möglich, glauben Sie mir.« »Aber nicht mit mir.« »Gerade mit Ihnen. Es gibt keine bessere Lösung.« »Sie sind ja verrückt«, mischte Clay sich ein. »Tony ist keine Diebin.«
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»Es gibt immer ein erstes Mal. Geben Sie ihr das Fernglas«, befahl der Fremde schroff. »Sie soll sich ansehen, wohin sie muß.« »Sie können sie nicht zwingen.« »Sie wissen verdammt gut, daß ich das kann. Also halten Sie die Klappe… Bitte«, fuhr er fort und nickte Tony zu, »sehen Sie sich das Haus dort drüben gut an, und hören Sie mir aufmerksam zu, ja?« Tony hob das Fernglas an die Augen. Der Fremde ließ ihr eine gute halbe Minute Zeit, bevor er weitersprach. »Das Haus hat nur einen normalen Zugang, und der führt durch das große Tor. Aber diesen Weg können Sie kaum benutzen. Barbara Ashley führt kein sehr gastliches Haus. Und wenn Sie über die Mauer klettern würden, müßten Sie sehr schnell feststellen, daß es dahinter von Sicherheitsleuten wimmelt. Außerdem wären Sie dann noch immer nicht im Haus. Also scheidet das schon mal aus.« Tony warf Clay einen entsetzten Seitenblick zu, sagte jedoch nichts. »Konzentrieren Sie sich gefälligst auf unser Objekt«, wies der Fremde sie zurecht. »Schwenken Sie mit dem Fernglas nach links… bis zum oberen Klippenrand. Sehen Sie die Mauer dort? Sie wirkt praktisch wie eine Fortsetzung der Klippen.« Er wartete ungeduldig. »Genau gegenüber dem oberen Klippenrand befinden sich hinter den Balkonen zwei Glastüren… und zwar im zweiten Stock des Hauses… Sehen Sie sie?… Zwischen den Casuarinabäumen.« Er nahm ihr Schweigen als Zustimmung. »Hinter den beiden Türen liegt das Ankleide- und das Badezimmer der Ashley. Mehr braucht Sie nicht zu interessieren.« Durch das Fernglas besehen, wirkten die beiden Glastüren zum Greifen nahe. Doch in Wirklichkeit waren sie beinahe unerreichbar. Mit einer ihr selbst fremden Stimme hörte Tony sich sagen: »Das soll wohl ein Witz sein… ein übler Scherz.« »Zehn Sekunden Aufenthalt im Ankleidezimmer – mehr brauchen Sie nicht.« »Da komme ich doch nie hin!« »Mit ein bißchen Hilfe von mir und unserem Freund hier übertreffen Sie sich selbst.«
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»Niemals«, wehrte sie ab. »Das geht niemals.« »Heute abend findet irgendwo in Calagonone ein Fest statt«, fuhr der Fremde fort. »Und auch die fragliche Dame ist eingeladen. Es ist kein gewöhnliches Fest, das dürfen Sie mir glauben. Dem Tresor der Bank wurde bereits ein Besuch abgestattet, um den besagten Gegenstand abzuholen. Und das bedeutet, daß sich bis zu dem Zeitpunkt, da sich das schmiedeeiserne Tor öffnet und der weiße Mercedes mit ihr davonfährt, der Gegenstand meiner Träume in der Villa befindet. Man muß ihn sich nur holen.« »Heute abend?« Das war Clay. »Ja, heute abend.« »Woher, zum Teufel…?« »Ich habe Freunde.« »Hier bestimmt nicht.« »Hier habe ich Komplizen«, verbesserte der Fremde ihn. Tony wirbelte zu ihm herum. »Warum ausgerechnet ich?« Sie machte eine hilflose Handbewegung. »Warum ausgerechnet wir?« »Also hören Sie mir gut zu«, erwiderte er. »Wenn es soweit ist, fahren wir mit dem Motorboot zum Fuß der Klippen rüber. Ja, wir beide… Wir klettern gemeinsam die Felswand rauf und auch wieder runter und kehren hierher zurück. Nur die Strecke vom oberen Mauersims bis zum Ankleidezimmer und zurück müssen Sie allein bewältigen… aber selbst dann wird die Stimme unseres Freundes hier Sie begleiten.« Clay runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.« »Sie dirigieren Sie über das Funksprechgerät. Und die Anweisungen, die Sie ihr geben, hängen von dem ab, was Sie durch das Fernglas sehen. Voraussetzung sind lediglich ein leeres Ankleidezimmer und hellerleuchtete Fenster. Sie sind mit dem Fernglas immer auf dem laufenden.« »Und wenn die Vorhänge zugezogen sind?« »Das ist noch nie vorgekommen. Sie läßt auch die Fenster immer offen.« »Woher wissen Sie das?« »Von Freunden«, antwortete der Fremde erneut. Er zuckte mit den Schultern. »Wozu sind Freunde sonst gut?« Er lächelte grimmig.
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»Barbara Ashley geht normalerweise vom Ankleidezimmer ins Badezimmer und wieder zurück. Nach unseren Beobachtungen ist das Ankleidezimmer gewohnheitsgemäß fünfzehn bis zwanzig Minuten leer. In dieser Zeit habt ihr beide eure große Nummer. Der Rest ist ein Kinderspiel.« Tony senkte das Fernglas. Sie war bleich und wirkte nervös. »Die Wachen, von denen Sie gesprochen haben…« »Die haben wir praktisch schon hinters Licht geführt.« »Zwischen der Mauer und dem Haus ist ein Gartenteil… wie überall.« »Schauen Sie noch mal durchs Fernglas«, befahl der Fremde. »Was sehen Sie?« »Wo?« »Was führt von der hohen Mauer zu den Glastüren?« »Meinen Sie die Telefondrähte?« »Volltreffer… Die sind geradezu wie geschaffen für Ihre Drahtseilnummer.« Ihre Augen waren groß vor Staunen, als sie sich langsam zu ihm umdrehte. Es schien ihr plötzlich die Stimme verschlagen zu haben. »Soll das heißen…« Sie verstummte und mußte von neuem beginnen: »Wollen Sie ernsthaft…?« »Warum glauben Sie, daß ich hier bin?« fragte der Fremde, als sie wieder verstummte. »Drunten im Dorf weiß man es vielleicht nicht, aber Sie sind ein kluges Mädchen.« »Diese Drähte halten mich nie aus.« »Sollen wir wetten?« »Sie Schwein«, knurrte Clay in seiner maßlosen Wut. Die Waffe in seiner Hand machte jede Verweigerung unmöglich. Der Mann mochte zwar unberechenbar sein, aber von seinem Plan wich er bestimmt kein Jota ab, soviel wenigstens war sicher. »Ich habe Sie mit Bedacht ausgewählt und auf den richtigen Zeitpunkt gewartet«, fuhr der Fremde fort. »Machen Sie sich keine Illusionen. Ich kriege keine kalten Füße und haue nicht ab. Die Sache findet genauso statt, wie ich es Ihnen gesagt habe.« Tony machte sich tatsächlich nichts mehr vor: Das Unglaubliche geschah, und sie war daran beteiligt. Sie sahen zu, wie die Sonne
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hinter den purpurroten Bergen unterging. Fledermäuse schwirrten durch die Luft, und die Dunkelheit legte sich wie eine schwere Dekke über das Meer. Die Lichter des fernen Dorfes blinkten hell unter den ersten fahlen Sternen. Das Castello di Roccia schien zwischen Himmel und Meer einfach in der Luft zu hängen. Etwa ein Dutzend erleuchtete Fenster gaben der finsteren Masse des Hauses Kontur. Clay hatte das Fernglas auf die beiden Fenster gerichtet, die für sie allein wichtig waren. Mit Hilfe des starken Objektivs konnte man in den darunterliegenden Räumen erstaunlich viele Details erkennen. »Wie ich gesagt habe«, erklärte der Fremde. »Es ist, als ob man durchs Schlüsselloch schaut. Also passen Sie auf, daß Sie sich nicht ablenken lassen.« Er ließ sie erneut mit dem Funksprechgerät üben. »Wenn Sie sich auch nur dreißig Sekunden nicht melden, wird unser Freund hier wünschen, Ihnen nie begegnet zu sein.« Tony hielt sich sklavisch an seine Anweisungen. »Lammfromm«, lobte der Fremde mit arrogantem Selbstbewußtsein. Während er keine Nerven zu haben schien, litt Tony unendlich. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und konnte keine Sekunde still sitzen. Um Viertel nach acht Uhr zwang der Tätowierte sie, Clay an den Stuhl hinter dem auf das Stativ montierte Fernglas zu fesseln, und um halb neun folgte er Tony den Felshang hinunter zum Steg, an dem das Motorboot lag. Sie hatten die Tauchanzüge aus der Garage angezogen und waren bald nicht mehr zu sehen. Von Clay hatte der Fremde sich mit den Worten verabschiedet: »Lassen Sie uns ja nicht im Stich, Freundchen. Passen Sie bloß auf, daß ich nicht das Gefühl kriege, daß Sie mich austricksen wollen.« Der Außenbordmotor sprang sofort an. Der Tätowierte lenkte das Boot sicher in die Bucht hinaus. Sobald sie das offene Meer erreicht hatten, schaltete er den Motor ab, hängte die Ruder ein und zwang Tony, zu rudern. Kurz darauf befahl er ihr: »Fragen Sie unseren Freund, ob er uns sehen kann.« Tony rief Clay mit leiser, fester Stimme. Das Funkgerät trug sie um Schulter und Taille geschlungen. »Ja und nein«, antwortete Clay. »Eigentlich sehe ich euch nur, weil ich weiß, daß ihr dort draußen sein müßt.«
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»Kannst du etwas hören?« »Nein.« Das Meer war glatt und ruhig. Tony ruderte das Boot mit regelmäßigen Schlägen um einen Felsen herum. Dann begann die letzte Teilstrecke über die nächste Bucht. Das Wasser phosphoreszierte stellenweise, und vor ihnen waren bereits die Klippen steil und dunkel aufgetaucht, auf denen die große Villa ihnen den Blick auf die Sterne versperrte. Sie brauchten höchstens eine Viertelstunde, bis sie den Fuß der Klippen erreicht hatten. In dieser Zeit hatte sich Clay mehrmals über Funk gemeldet. »Ankleidezimmer und Badezimmer sind leer… Es ist noch niemand zu sehen… Alles leer… Noch immer keiner da…« Nur einmal war die Verbindung gestört, und seine Stimme war nur verzerrt und leise zu hören. Ansonsten hatte man den Eindruck, er säße direkt neben ihnen. Der Fremde steuerte das Boot mit nachtwandlerischer Sicherheit durch die Dunkelheit. Tony allerdings versuchte sich währenddessen ausschließlich auf das zu konzentrieren, was ihr bevorstand, sobald sie die Klippen erklommen hatten. »Beide Zimmer sind noch immer leer…« Im nächsten Augenblick ertönte ein leises Rascheln am Bootsrumpf, die Dunkelheit nahm plötzlich Konturen an, und der Duft von Schilf lag in der Luft. Der Fremde befahl Tony, die Ruder einzuholen. Als dies geschehen war, paddelte er mit den Händen weiter. Nach ein paar Metern glitt das Boot durch eine torartige Öffnung in einem riesigen, überhängenden Fels, und das Wasser dahinter war glatt und still wie in einer Badewanne. Dort machte der Fremde das Boot an Bug und Heck fest, kletterte auf einen Felsvorsprung und zog Tony zu sich herauf. Tony, die in der Finsternis kaum die Hand vor Augen zu sehen vermochte, nahm die Hilfe dankbar an, ohne sich der Absurdität der Lage bewußt zu sein. Auf allen vieren schließlich krochen sie durch die Felsöffnung, bis sie den Fuß der Klippen erreicht hatten. »Und jetzt dort hinauf.« Sie zögerte.
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»Nach Ihnen.« Selbst in diesem Moment konnte er sich einen höhnischen Tonfall nicht verkneifen. »Für wie blöd halten Sie mich eigentlich?« Tony begann mit dem Aufstieg. Zu ihrer Erleichterung merkte sie bald, daß der Felsen längst nicht so steil war, wie sie erwartet hatte, und daß sie verhältnismäßig schnell vorwärts kamen. Sie war schließlich schwindelfrei, und man fand überall mit Händen und Füßen gut Halt. Das Schlimmste an diesem Teil des Unternehmens war Clays fast ständige stimmliche Präsenz, die ihre Gedanken in eine unerwünschte Richtung lenkte. »Immer noch leere Zimmer…« Sie verlor allmählich jegliches Zeitgefühl. Ein- oder zweimal brach ein Stein los und fiel polternd in die Tiefe. Ihr Atem ging laut und keuchend, und der Fremde schien dieselben Probleme zu haben. Als sie zum Himmel aufsah, bewegten sich die Sterne über ihr im Rhythmus ihres Herzschlags. Endlich hatten sie den Klippenrand erreicht und sanken atemlos und erschöpft nieder. Etliche Meter vom Steilabhang entfernt erhob sich die Hauswand der Villa vor ihnen wie eine überdimensionale Kuchendekoration. Tony starrte darauf, suchte krampfhaft nach einem Ausweg aus ihrer mißlichen Lage und wußte doch, daß sie jeden Mut und jede Kraft zum Widerstand bereits verloren hatte. Es blieb ihr nicht anderes übrig, als sich mit ihrer Situation abzufinden. »Je kräftiger man an den Fäden zieht, desto besser…« zitierte sie den Fremden insgeheim. Madre de Dios! ›Tu was er sagt‹, hatte Clay ihr eingebleut. ›Der Kerl ist schießwütig. Um Himmels willen, du mußt es versuchen…‹ Na gut. Na gut. Wenige Minuten später stieg sie auf die Schultern des Mannes und schwang sich von dort auf die Mauer. Um sie herum herrschte eine geradezu unheimliche Stille, und sie bewegte sich mit äußerster Vorsicht. Zwischen ihr und dem Garten mit seinen vielen Büschen und Sträuchern lag nur ein schmaler Zwischenraum. Die Fenstertüren hinter den Balkonen, die sie zuletzt durch das Fernglas gesehen hatte, befanden sich zu ihrer Rechten. Sie waren hell erleuchtet, wurden jedoch teilweise von Bäumen verdeckt. Vorsichtig kroch sie ein
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Stück auf der Mauer näher in ihre Richtung und hielt nach den Telefonleitungen Ausschau. Wie aus heiterem Himmel hört sie plötzlich ein Räuspern und Spucken. Sie erstarrte, halb wahnsinnig vor Angst, und die quälenden Sekunden des Wartens wurden zu Stunden. Schließlich sah sie eine Bewegung… ein dunkler Schatten, der sich auf einem schmalen Weg neben dem Haus von ihr entfernte – offenbar ein Wachtposten. Flach auf die Mauer gepreßt wartete sie, bis die Gestalt außer Sichtweite war, und es kostete sie eine geradezu unmenschliche Überwindung, sich danach wieder aufzurichten. Wenige Minuten später entdeckte sie die beiden Telefonleitungen. Sie führten von einer Stelle über dem Balkon des Ankleidezimmers zu einem Holzpfahl dicht an der Mauer, auf der sie stand. Die schimmernden Oberflächen der Porzellanisolatoren wiesen ihr den Weg. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, als sie langsam näher schlich. Der Einblick in die Fenster war ihr noch immer durch die Bäume versperrt. Plötzlich jedoch bewegte sich ein Schatten im grellen Lichtschein des Zimmers. Und fast gleichzeitig ertönte Clays Stimme aus dem Funkgerät. »Jetzt ist sie im Zimmer.« Clay beobachtete, wie Barbara Ashley das Ankleidezimmer betrat und sich auszuziehen begann. Sie war eine gutgebaute Blondine Ende Dreißig, dreimal verwitwet und seit kurzem einmal geschieden. Ihr letzter Ehemann war ein bekannter Millionär gewesen. Unter anderen Umständen hätte Clay die Szene vermutlich genossen. Zweimal ging sie zwischen Bade- und Ankleidezimmer hin und her. Einmal stellte sie sich halbnackt vor einen Spiegel in kunstvollem Goldrahmen und hielt sich ein großes Schmuckstück an den Hals. »Sie ist noch da.« Clay war aufs höchste angespannt und konzentriert. Er konnte Tony nicht sehen, und seit sie vom Boot aus kurz mit ihm gesprochen hatte, hatte sie kein einziges Wort mehr von sich gegeben. Clay glaubte beinahe, Selbstgespräche zu führen. Zögernd schaltete er jedoch das Mikrophon wieder ein.
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»Sie ist immer noch da.« Genau in diesem Augenblick entledigte sich Barbara Ashley ihres Slips und verschwand im Badezimmer. Das hatte endgültig ausgesehen. Trotzdem wartete Clay noch einen Moment, für den Fall, daß sie es sich doch noch anders überlegte. Wenn Tony zu früh mit ihrem Balanceakt über die Telefonleitung begann, konnte das verheerende Folgen haben. Er zögerte noch weitere Minuten, bevor er endlich zu einer Entscheidung gelangte. »Die Luft ist rein… Du kannst jetzt gehen.« Wieder hatte er das unbefriedigende Gefühl, daß ihm überhaupt niemand zuhörte. Er starrte angestrengt durch den Feldstecher. Unerträglich lange schien überhaupt nichts zu passieren, und sein Magen begann sich zu verkrampfen. Dann plötzlich sah er hoch oben in der Luft Tonys Silhouette, wie sie sich klein und zierlich wie eine balinesische Tänzerin mit ausgestreckten Armen der Balkontür näherte. Unwillkürlich entfuhr ihm ein erschreckter Ausruf. Er saß wie versteinert, während er sie beobachtete. Tony bewegte sich mit geradezu aufreizender Bedächtigkeit. Der kalte Schweiß brach ihm aus, und seine Spannung steigerte sich ins Unerträgliche. Wäre es eine Zirkusvorstellung gewesen, das Publikum hätte in diesen Augenblicken an sich halten müssen, nicht zu applaudieren. Schließlich hatte sie den Balkon erreicht und kletterte über die Balustrade. Dann verschwand sie für Sekunden im dunklen Schatten der Hauswand, bevor sie vor der Balkontür wiederauftauchte. Clay mußte sich zwingen, in diesem Augenblick nicht das Funkgerät einzuschalten, um mit ihr zu sprechen. Wie ein Schatten huschte sie über den Balkon, blieb zögernd stehen und öffnete dann die Tür. Bruchteile von Sekunden später war sie im Zimmer, und er hielt den Atem an. Das waren die entscheidenden Augenblicke. »Und nicht nur den Rivers-Brillanten«, hatte der Mann gesagt. »Bringen Sie ruhig auch den Rest mit.« Clay war erstaunt, wie schnell sie wieder auf dem Balkon auftauchte. Vermutlich hatten der Schmuck und der Brillant auf dem Tischchen vor dem Spiegel gelegen. Das hatte Tony natürlich Zeit erspart. Sie trat ins Freie und stopfte etwas in ihren Tauchanzug. Abgesehen von dem Balanceakt über die Telefonleitung war die Sache ein Kin-
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derspiel. Der Rückweg über die Drähte trieb Clay erneut den Angstschweiß auf die Stirn. Auf halbem Weg blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen. Clay schloß sofort daraus, daß der Wachmann in der Nähe sein mußte. Seine Hände hielten das Fernglas verzweifelt umklammert, während seine Phantasie mit ihm durchzugehen drohte. Als Tony sich schließlich wieder bewegte, begann er vor Erleichterung zu zittern, und zu dem Zeitpunkt, da er annehmen konnte, daß sie die Mauer erreicht und auf dem Rückweg über die Klippen war, hatte sich bei ihm Hochstimmung eingestellt. Clay blieb auf seinem Beobachtungsposten. Barbara Ashley ließ sich im Badezimmer Zeit, und das Boot hatte seinen Anlegeplatz in der kleinen Bucht fast erreicht, bevor sie ins Ankleidezimmer zurückkehrte und in einer dramatischen Szene den Verlust entdeckte. Das dumpfe Tuckern des Außenborders unten in der Bucht war deutlich hörbar, als drüben im Castello di Roccia die Hölle losbrach. Clay wartete ungeduldig auf Tony und den Fremden. Fast war alles ausgestanden. Die Zukunft konnte wieder beginnen. Nach einer Weile bewegte sich etwas in der Dunkelheit über der Bucht, und er erkannte Tony auf dem Pfad, der zur Terrasse führte. Aber sie war allein. Niemand sonst war zu sehen. Nur Tony. »Wo ist er?« Selbst noch in diesem Augenblick erwartete er die Männerstimme zu hören. Er starrte suchend an ihr vorbei. »Er kommt nicht mehr.« Sie hatte die Terrasse erreicht. »Kommt nicht? Was soll das heißen?« Clay war fassungslos. »Warum kommt er nicht?« »Weil ich ihn drüben gelassen habe.« Er starrte sie mit offenem Mund an, als sie sich neben ihm auf den Liegestuhl fallen ließ. »Was heißt, du hast ihn drüben gelassen?« »Er ist drüben am Fuß der Klippen.« Ihm kam ein schrecklicher Gedanke. »Lebt er?« »Natürlich lebt er.« »Großer Gott!« entfuhr es ihm.
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Er war wie betäubt und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sein Blick schweifte übers Meer. Drüben über der Bucht war das Castello di Roccia in gleißendes Flutlicht getaucht. »Er bekommt, was er verdient hat«, erklärte Tony. »Gib mir jetzt bitte einen Kognak.« »Wie denn, bitte schön?« Sie schien vergessen zu haben, daß er an den Stuhl gefesselt war. »Tony… was ist passiert? Mein Gott, sprich doch endlich!« »Ich habe ’ne Menge Schmuck gestohlen, das ist alles.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, was mit ihm passiert ist, will ich wissen.« Er wiederholte: »Was ist mit ihm?« »Ich hab’ ihm einfach einen Schubs gegeben… Ganz zum Schluß natürlich, als wir beide im Boot waren und gerade abgelegt hatten. Er ist ins Wasser gefallen, und ich bin davongerudert.« »Mein Gott«, stöhnte Clay. »Er hat ziemlich geflucht.« Clay schluckte. »Mach mich erst mal los.« Sie begann seine Fesseln zu lösen. »Was ist mit dem Schmuck, den du geholt hast?« »Den hat er.« »Großer Gott!« »Nicht schon wieder!« »Wie?« »Fällt dir nichts anderes ein als ›Mein Gott oder großer Gott‹?« Sie löste den letzten Knoten und warf das Seil zu Boden. »Hol mir jetzt einen Kognak, Clay.« »Aber dieser Mann…« »Entschuldige, aber ich habe eine anstrengende Klettertour und einen Balanceakt auf einer Telefonleitung hinter mir, bin außerdem in ein fremdes Haus eingestiegen und…« »Und hast dich vor dem Gesetz schuldig gemacht… wie ich auch.« Er war aufgestanden. »Wie konntest du nur eine solche Dummheit…Verstehst du denn nicht? Wenn er davonkommt, stecken wir bis zum Hals in Schwierigkeiten.« »Man hat mich zu diesem Diebstahl gezwungen. Das heißt, er hat mich gezwungen. Und du warst gefesselt.« »Versuch das mal der Polizei klarzumachen.«
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»Es ist die Wahrheit.« »Die glaubt man uns bestimmt nicht.« Clay ging hastig zum Fernglas und richtete es auf den Fuß der Klippen, doch genausogut hätte er in einen dunklen Tunnel schauen können. Zitternd richtete er sich wieder auf. Er war nervös. »Ich muß ihn erwischen.« »Du mußt was?« »Wir sind dran, wenn man ihn findet.« »Dran? Wieso? Was soll das heißen?« »Das ist doch jetzt egal!« fuhr er sie an. »Ich mach’ mich auf die Socken. Halt gefälligst nach mir Ausschau.« Er griff nach dem Funksprechgerät, das er benutzt hatte, und lief zum Tor. Tony spielte noch einmal die Verwirrte und protestierte heftig. »Du bist verrückt! So wie der uns bedroht hat!« schrie sie. »Darum geht es jetzt doch nicht.« »Das ist lächerlich! Warum sollen wir das alles noch mal durchmachen? Er kommt nicht hierher zurück.« »Wenn er die Waffe noch hat, kommt er, wohin er will.« »Der ist froh, wenn er verduften kann.« »Ich setze ihn irgendwo an der Küste ab.« »Warum läßt du ihn nicht ein bißchen schwimmen?« Doch Clay hörte ihr gar nicht mehr zu. Tony stand auf, trat an die Balustrade und beobachtete, wie Clay schnell in der Dunkelheit verschwand. Ihre Augen hatten sich in der grünlich schimmernden Sternennacht zu schmalen Schlitzen verengt. »Was ist denn mit deinem Fußgelenk los?« Sie hatte damit eigentlich noch bis später warten wollen, konnte sich die Bemerkung jedoch plötzlich nicht mehr verkneifen. »Du hinkst ja gar nicht mehr.« Tony ging ins Haus, schenkte sich einen Kognak ein und zog den Taucheranzug aus. Sie wußte ganz genau, was sie jetzt tun mußte. Kaum fünf Minuten später war sie mit dem Fiat auf der Straße. Auf dem halben Weg zum Dorf kamen ihr zwei Wagen des Überfallkommandos mit quietschenden Reifen entgegen. Hinter der nächsten Kurve hielt sie am Straßenrand an und schaltete den Motor aus. »Clay?« sagte sie leise ins Funkgerät. »Clay?« »Ja?« kam es sofort zurück.
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»Die Polizei ist unterwegs… Over.« »Gut.« »…Hast du deinen Freund schon gefunden?« Er trug es mit Fassung. »Freund?« Im Hintergrund hörte sie das Tuckern des Außenbordmotors. »Dann eben deinen Partner.« »Worauf willst du hinaus?« »Das weißt du doch.« »Fehlt dir was?« »Nein, nicht mehr, Freundchen.« Sie spitzte die Lippen. »Hörst du noch zu? Dein Freund hat einen entscheidenden Fehler gemacht. Die Tätowierungen auf seinen Armen… MORGEN und GESTERN. Die hatte ich schon mal gesehen. Das Gesicht hatte ich vergessen, aber nicht die Tätowierungen… oder wenigstens nicht, wo sie mir schon mal aufgefallen waren. Das ist nämlich in Madrid gewesen. Er hat dort ein Plakat der ›L’Oiseau d’Or‹ betrachtet. Und das war an demselben Tag, an dem du mich später angesprochen hast. Zuerst konnte ich den Zusammenhang nicht recht begreifen. Ich wollte es einfach nicht glauben. Aber auf dem Rückweg über die Klippen hat er einmal von dir als Clay gesprochen, und deinen Namen konnte er wirklich nicht kennen. Und da ist es mir natürlich wie Schuppen von den Augen gefallen. Du hast mich übel ausgenutzt, Freundchen. Du und dein sauberer Komplize. Ihr beide habt mir ein schönes Theater vorgespielt.« Sie hielt einen Moment inne und gab ihm Gelegenheit, etwas zu erwidern. »Tony?« begann er. »Was ist nur in dich gefahren, Tony?« »Adieu«, entgegnete sie. »Trotz allem hoffe ich, daß die Polizei dich nicht erwischt. Und weißt du warum?… Es lag zwar nicht in deiner Absicht, aber du bist sehr gut zu mir gewesen.« Sie lachte. »Und sei deinem tolpatschigen Freund nicht böse… Over und out.« Sie war bereits weit weg, als der Morgen dämmerte… in einem anderen Land. Als sie die Augen in ihrem Hotelzimmer aufschlug, wußte sie zuerst lange nicht, wo sie eigentlich war. Dann kam ihr plötzlich alles wieder in den Sinn. Sie tastete unter das Kissen, zog einen Gegenstand hervor und betrachtete den schillernden Rivers-Brillanten
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und all den übrigen Schmuck, den sie unter ihrem Tauchanzug verborgen beinahe in einem anderen Leben entwendet hatte, mit kindlichem Staunen. Sie kam spät zum Frühstück hinunter und kaufte unterwegs am Stand eine Zeitung. Eine Nachricht aus Sardinien stach ihr bereits auf der ersten Seite ins Auge. ERFOLGREICHER VILLENEINBRUCH Heute abend wurde im Castello di Roccia, der sardischen Residenz von Mrs. Barbara Ashley eingebrochen. Dabei wurden zahlreiche Schmuckstücke aus dem Schlafzimmer entwendet, während Mrs. Ashley ein Bad nahm… »Kaffee?« riß der Ober sie aus ihren Gedanken. …Wie die Diebe in das Haus eindringen konnten, bleibt ein Rätsel, da das Grundstück streng bewacht wird. Trotz der Dreistigkeit des Unternehmens ist Mrs. Ashley jedoch nicht sonderlich betrübt… »Kaffee?« …›Sämtliche Stücke sind Imitationen‹, sagte sie uns. ›Kein vernünftiger Mensch würde den Rivers-Brillanten einfach so herumliegen lassen. Ich habe eine spezielle Vereinbarung mit der Bank… so daß ich zu jeder Tageszeit dort Bescheid sagen und im Bedarfsfall meine echten Stücke auf dem Weg zu einer Einladung aus der Stahlkammer holen kann.‹ »Kaffee?« versuchte es der Ober erneut. Tränen rollten Tony übers Gesicht. Er hatte das zuerst gar nicht gemerkt. »Entschuldigen Sie«, murmelte er jetzt ernst. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« Sie schüttelte den Kopf. Zu seiner Überraschung sah er plötzlich, daß sie schallend lachte. So hatte er noch nie jemanden lachen gesehen. Verdutzt starrte er auf die Zeitung.
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»Was ist da so lustig?« »Das Leben!« glaubte er sie sagen zu hören, aber sie prustete dabei so laut, daß er nicht sicher sein konnte. Aus dem Englischen übertragen von Christine Frauendorf-Mössel
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Edmund Crispin Ungebetene Gäste »Wir sind’s nur«, sagten sie. Ich muß mich vorstellen. Dies alles wird nicht gelesen, geschweige denn gedruckt werden. Niemals. Dennoch bleibt die Gewohnheit – die Gewohnheit, Worte in der wirksamsten Anordnung, die man sich vorstellen kann, zu gruppieren. Und es bleibt die Selbstachtung. Die Selbstachtung und die Gewohnheit veranlassen mich zu dem Versuch, dies so zu berichten, als würde es eines Tages doch gelesen werden – was Gott verhüten möge. Ich bin siebenundvierzig, unverheiratet, lebe allein, Kriminalschriftsteller minderer Bedeutung, der im Durchschnitt jährlich um einiges weniger als tausend Pfund verdient. Ich lebe in Devon. Ich lebe in einem Häuschen, das insofern abgelegen ist, als es im Umkreis von einer Viertelmeile kein weiteres Haus gibt. Es fehlt mir jedoch nicht an Gesellschaft. Außerdem habe ich ein Telefon. Ich bin Hypochonder bis in die tiefsten Herzkranzgefäße. Außerdem fürchte ich Unfälle mit Knochenbrüchen. Das Telefon ist also eine Notwendigkeit. Da ich mir nur eines leisten kann, will sein Standort wohlüberlegt sein. Nun ist es nach langem Bedenken im Flur, gleich am Fuß der steilen Treppe, installiert. Es steht auf einem niedrigen Bord, knapp sechzig Zentimeter über dem Boden, so daß ich es auch erreichen kann, wenn ich hinkriechen muß. Sollte mich meine Herzattacke im oberen Stock ereilen, so habe ich Pech gehabt. Für mich ist das Telefon nur für den Notfall da. Andere Leute sehen das jedoch anders. Zum Beispiel der Leiter meiner Bank. »Torhaven 1-5-3«, melde ich mich.
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»Hallo? Bradley, spricht dort Mr. Bradley?« »Bradley am Apparat.« »Hier ist Wimpole, Wimpole. Mr. Bradley, ich muß Sie dringend sprechen.« »Am Apparat.« »Also, folgendes, Mr. Bradley. Wann können wir mit weiteren Einzahlungen rechnen, Mr. Bradley? Abhebungen, ja, daran mangelt es nicht, aber die Einzahlungen…« »Ich tue, was ich kann, Mr. Wimpole.« »Ja, sicher, aber was ist mit den Einzahlungen? Was wird im kommenden Monat hereinkommen, Mr. Bradley?« »Einiges, hoffe ich.« »Ja, Sie hoffen, Mr. Bradley, Sie hoffen und hoffen. Aber was soll ich der Zentrale sagen, Mr. Bradley? Wie soll ich den Leuten dort die Sache darstellen? Sie haben den Überziehungskredit bei uns, diese fünfhundert Pfund…« »Schon seit Jahren, Mr. Wimpole.« »Ja, Mr. Bradley, und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Sie müssen den Betrag reduzieren, Mr. Bradley, reduzieren, sage ich«, brüllt dieser Irre mich an. Wenn ich den Betrag reduzieren könnte, dann könnte ich auch fliegen. Ich bin angemessen fleißig. Ich bemühe mich, zweitausend Worte pro Tag zu schreiben, wovon ich durchaus leben könnte, wenn es mir je gelänge, sie zu schaffen. Aber wenn man allein lebt, befindet man sich ganz im Gegensatz zu dem, was allgemein angenommen wird, keineswegs in einem Zustand ungestörter Ruhe und Beschaulichkeit. Ganz im Gegenteil. Ich hab’s mit Nachtarbeit versucht, ein tiefes Gähnen zu jedem Schlag auf die Maschine. Ich hab’ versucht, mit den Hühnern aufzustehen. Da kommt nun H. L. Mencken ins Spiel, der der Ansicht ist, daß schlechtes Schreiben auf schlechte Verdauung zurückzuführen ist. Meine eigene Verdauung ist zu jeder Zeit schlecht, besonders schlecht zu der Stunde, in der der Milchmann kommt, und ich habe
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immer festgestellt, daß ich am frühen Morgen nicht viel zusammenbringe. Das ist eine Schwäche, ich gebe es gern zu. Aber es muß wohl so sein. Ich muß mich darum bei der Arbeit an die Bürozeiten halten, von neun bis fünf. Ich habe das allen Leuten erklärt, habe darum gebeten, mich nur abends anzurufen oder zu besuchen, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall. Nicht zu den Bürozeiten, sage ich ihnen. Sie würden doch einen Rechtsanwalt auch nicht wegen nichts und wieder nichts während seiner Arbeitszeit anrufen, nicht wahr? Na also, warum rufen Sie dann mich an? Ich tippe gerade einen Satz, der folgendermaßen anfängt: ›Seine zerschmetterte Hand, die ihn jetzt weniger schmerzte, gab ihm dennoch ein Gefühl für…‹ Ich weiß, was nach dem ›für‹ kommt: ›…die erschreckende Gebrechlichkeit des menschlichen Körpers‹. Oder vielmehr, ich wußte es, und es kam nicht. Es wäre vielleicht gekommen – schwach wie es war –, hätte nicht in diesem Moment die Türglocke geläutet. Ich hoffte, es wäre etwas Besseres gekommen. Es läutete also. Mrs. Prance, die eigentlich an diesem Morgen hätte kommen sollen, war noch nicht da, deshalb öffnete ich selbst, polterte von meinem Arbeitszimmer im ersten Stock die Treppe hinunter zur Haustür. Es war der Gasmann. Da der Zähler außen am Haus war, verstand ich nicht, warum ich seine Begutachtung erst absegnen mußte. »Ein Gefühl für die grauenvollen Qualen«, sagte ich zum Gasmann, »denen der menschliche Körper unterworfen ist.« »Prächtiges Wetter für diese Jahreszeit.« »Ich lasse Sie jetzt allein, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich hab’ ein bißchen zu tun.« »Wie Sie wollen«, erwiderte er verschnupft. Dann kam Mrs. Prance. Mrs. Prance kommt dreimal die Woche morgens. Sie ist langsam und schwerhörig, aber solange ich nicht im Fußballtoto gewinne, kann ich mir was Besseres nicht leisten. 388
Sie geht an die Tür, wenn es läutet, aber ans Telefon geht sie nie, weil sie Angst davor hat, obwohl ich mir die äußerste Mühe gegeben habe, sie an den Apparat zu gewöhnen. Sie ist immer sehr erpicht darauf, daß ich genau weiß, was sie in meinem schäbigen kleinen Haus treibt, und es entsprechend anerkenne. »Mr. Bradley?« »Ja, Mrs. Prance?« »Wegen dem Superglanz.« »Was ist damit, Mrs. Prance?« »Bitte?« »Ich sagte, was ist damit?« »Wir sollten wirklich was anderes nehmen.« »Ja, gut, dann nehmen wir doch etwas anderes. Unbedingt.« »Bitte?« »Ich sagte: ›Ja.‹« »Es bringt das Holz gar nicht richtig zum Glänzen.« »Das können Sie am besten beurteilen, Mrs. Prance.« »Bitte?« »Seien Sie mir nicht böse, Mrs. Prance, aber ich muß jetzt arbeiten. Wir unterhalten uns ein anderes Mal darüber.« »Aufgeblasener Kerl«, fluchte Mrs. Prance. ›…gab ihm ein Gefühl von – ein Gefühl von – ein Gefühl von…‹ Das Telefon läutet. Mrs. Prance schreit herauf, daß das Telefon läutet. Ich stolpere runter und hebe ab. »Schätzchen!« »O hallo, Chris.« »Wie geht’s dir, Schätzchen?« »Ein Gefühl für die maßlose Grausamkeit, die sich durch die ganze Geschichte zog.« »Was sagst du da, Schätzchen?« »Entschuldige. Ich hab’ gerade versucht, ein Glas Wasser auf dem Kopf zu balancieren.« Perlendes Gelächter.
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»Du bist ein Schatz. Hör mal, ich hatte gerade eine glänzende Idee. Ein Fest. Hier in meiner Wohnung. Heute in einer Woche. Du kommst doch, Edward, nicht wahr?« »Ja, natürlich komme ich, Chris. Aber darf ich dich kurz an etwas erinnern?« »Was denn, Schätzchen?« »Du hast mir versprochen, mich während der Arbeitszeit nicht anzurufen.« Erst kurzes Schweigen, dann: »Ach, das eine Mal zählt doch nicht. Es wird bestimmt ein herrliches Fest, Schätzchen. Das eine Mal macht dir doch nichts aus!« »Chris, machst du gerade Kaffeepause?« »Ja, richtig, du kannst dir nicht vorstellen, wie dringend ich sie gebraucht habe.« »Aber ich mache keine Kaffeepause.« Darauf längeres Schweigen, dann: »Du liebst mich nicht mehr.« »Ich versuche lediglich, eine Geschichte fertig zu kriegen. Ich habe einen Termin.« »Wenn du zu meinem Fest nicht kommen willst, brauchst du es nur zu sagen.« »Natürlich will ich zu deinem Fest kommen, aber ab und zu muß ich auch mal was verdienen. Im Ernst, Chris, bis zu deinem Fest ist es noch eine Woche hin, hättest du mit deinem Anruf nicht bis heute abend warten können?« Schluchzen. »Ich finde dich gemein. Ich finde dich absolut scheußlich.« »Chris!« »Und ich will dich nie wiedersehen.« ›Ein Gefühl von Verrat‹, tippte ich eifrig. »Immer noch brannte der Schmerz in seinem Arm, aber er war jetzt…« Es läutete. »…er war jetzt geringer – eher…« »Die Wäscherei, Mr. Bradley!« schrie Mrs. Prance die Treppe herauf. »Ich komme, Mrs. Prance.«
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Ich trat auf den kleinen Vorplatz hinaus. Mrs. Prances großflächiges Mondgesicht sah von unten zu mir herauf. »Sie kommen nächste Woche schon am Donnerstag«, schrie sie mir zu, »wegen Karfreitag.« »Ja, Mrs. Prance, aber warum müssen Sie mir das sagen? Ich meine, Sie sind doch am Donnerstag wie üblich da, nicht wahr, um das Bett frisch zu beziehen?« »Bitte?« »Danke, daß Sie mir Bescheid gesagt haben, Mrs. Prance.« Es war ein bemerkenswerter Dienstagmorgen: sieben Anrufe, keiner davon im mindesten wichtig, elf Leute an der Tür und Mrs. Prance eifrigst darauf bedacht, daß auch kein Fünkchen ihrer Bemühungen meiner Anerkennung entging, die ich natürlich lautstark zu äußern hatte. Um halb zehn hatte ich mich an meine Schreibmaschine gesetzt. Um zwölf hatte ich folgendes zustande gebracht: ›Seine zerschmetterte Hand, die ihn jetzt weniger schmerzte, weckt in ihm dennoch ein Gefühl von Verrat, der erschreckenden Gebrechlichkeit des menschlichen Körpers, aber der Schmerz war jetzt geringer als vorher, war ihm eher gleichgültig geworden, nach allem, denn wenn auch der Schmerz abgeschüttelt werden konnte, so war doch der Verrat…‹ Ich habe nie behauptet, daß ich mir die Sätze aus dem Ärmel schütteln kann, aber das war wirklich ein ganz schlimmer Morgen. Der Nachmittag ließ sich besser an. Mit einem herzhaften Wurstbrot im Magen brachte ich es ohne Störung auf sieben Absätze. ›Während er sich mühsam herauskämpfte, überfiel ihn Haß‹, tippte ich, enthusiastisch den achten Abschnitt in Angriff nehmend. ›Nie zuvor hatte ein solches Gefühl…‹ Es läutete. ›…hatte ein solches Gefühl sein ruhiges Dasein in Aufruhr gebracht. Es war, als…‹ Es läutete wieder, ziemlich lange und nachdrücklich. ›…als hätte ein wildes Tier sich seiner bemächtigt, ein ungebärdiges, unersättliches Tier.‹ Jetzt läutete es mehrere Sekunden lang ohne Unterbrechung.
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›War dies ein Überlebensmechanismus, oder würde es seinen Geist verwirren? Er wußte es nicht. Eines jedoch war klar‹… nämlich daß ich die verdammte Tür würde aufmachen müssen. Ich tat es. Draußen auf der Straße parkte ein Auto, und auf der Schwelle stand ein spätjugendliches Paar, dem man auf den ersten Blick ansah, daß es gerade aus dem Duke kam. Das Duke of Devonshire ist meine Stammkneipe. Als ich in diesen ruhigen Teil Devons zog, hatte ich zunächst nichts gegen das Duke einzuwenden; es war ein bescheidenes Dorfwirtshaus, in dem es bescheidene dörfliche Getränke gab und hin und wieder eine Schweinepastete oder Rouladen. Aber dann wechselte es den Besitzer, und der machte ein Schlemmerlokal daraus. Lachs, Wildpasteten in Blätterteig, Wachteleier und ähnliche Extravaganzen wurden unter Trompetengeschmetter eingeführt; in Karossen aller Art rollten die zahlungskräftigen Verrückten heran, lechzend nach Bauernschmaus auf exotische Art und elegant servierter Hummercremesuppe, dürstend nach den essigsauren vierundsechziger Rotweinen oder dem immer schlecht eingeschenkten abscheulichen selbstgebrauten Bier; und niemand hatte mehr Frieden. Insbesondere hatte ich keinen Frieden mehr. »Gehen wir doch noch auf einen Sprung zu Ted«, sagten die Leute, wenn sie bei Lokalschluß aus der Bar verscheucht wurden. »Er wohnt ganz in der Nähe.« »Charles«, sagte der Mann vor der Tür und bot mir die Hand. Die Frau an seiner Seite kicherte. Ihr Haar war toupiert, und ihre Lippen schimmerten so bleich, daß sie sich erschreckend wie Narben vom fleckigen Teint abhoben. »Das ist Ted, Mausi«, sagte sie. »Ted! Natürlich, Ted! Kenne ihn doch seit Jahren. Wie geht’s Charley, alter Junge?« »Ted, mein Engel.« Ich kannte sie beide flüchtig von einer oder zwei Partys. Sie waren vermutlich verheiratet, aber noch nicht lange, wenn sie sich noch mit solchen Blödheiten wie ›mein Engel‹ titulierten. »Wir stören doch nicht«, sagte sie.
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Von dieser sachlichen Feststellung gereizt, hätte ich am liebsten gesagt: ›Doch, und wie Sie stören.‹ Aber das mußte ich hinunterschlucken; die gutbürgerliche Erziehung verbietet solche Antworten, es sei denn, sie sind scherzhaft gemeint. »Kommen Sie herein«, murmelte ich. Sie kamen herein. Ich führte sie ins Wohnzimmer, das mangels größerer Geldbeträge ein Schatten dessen geblieben ist, was mir einst vorschwebte. Es stehen zwei Sessel darin, ein Sofa, ein Couchtisch, ein Eckschrank für die Getränke, – alles wirkt trotz Superglanz stumpf und schäbig auf dem einfachen Teppich. Ich bugsierte sie auf das Sofa. »Kaffee?« meinte ich. Aber das entsprach nicht den Wünschen. »Sie haben nichts Alkoholisches im Haus, alter Junge?« fragte der Mann. »Stanislas«, empörte sich die Frau. »Doch, natürlich. Whisky? Gin? Sherry?« »Ach, Stanislas, Schätzchen, du bist schrecklich«, stellte dieses weibliche Wesen fest. »Einfach so zu fragen.« Ich konnte mich an ihre Namen nicht erinnern, aber Stanislas konnte nicht der richtige Name sein. »Stanislas?« fragte ich. »Das ist nur zwischen uns.« Sie nahm eine seiner Hände und knetete sie. »Es stört Sie doch nicht? Es ist so eine Art privater Scherz – nur zwischen uns.« »Ach so. Also, was möchten Sie gern trinken?« Er entschied sich für Whisky, sie nahm Gin und Wermut. »Entschuldigen Sie mich einen Moment, ich muß rasch noch mal nach oben«, sagte ich, nachdem ich sie bedient hatte. ›Eines war klar: Giorgios Karte stimmte nicht, und die Folge war…‹ »Huhu!« Ich ging auf den Vorplatz hinaus. »Ja?« »Wir fühlen uns einsam.« »Ich komme gleich runter.«
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»Sie sitzen schon wieder an Ihrer schrecklichen Maschine.« »Nein, ich hab’ nur was nachgeprüft.« »Wir haben aber die Maschine gehört. Jetzt kommen Sie doch runter, Charles – Edward, meine ich. Wir müssen Ihnen etwas unheimlich Wichtiges erzählen.« »Ich komme sofort«, rief ich hinunter, in Gedanken ganz bei Giorgios Karte. Ich füllte ihre Gläser frisch auf. »Sie sind Diana«, sagte ich zu ihr. »Daphne«, quiekte sie. »Ach ja, natürlich. Daphne. Ist der Drink in Ordnung?« Da sie gerade einen kräftigen Zug genommen hatte, konnte sie mir nicht antworten. Stanislas raffte sich auf, um die Gesprächslücke zu füllen. »Na, was macht die Schriftstellerei?« »Es läuft ganz gut.« »Wimmelt wohl von Marsmenschen, wie? Ich lese ja leider solches Zeug nicht, interessiere mich mehr für Biographien und Geschichte. Hat Daphne es Ihnen schon erzählt?« »Nein. Was denn?« »Na, das von Uns alter Junge, das von Uns.« Das war der erste Hinweis darauf, daß sie nicht verheiratet waren. Kosenamen können die Zeit der ersten Liebe um Jahre überleben und zu automatisierten Reflexen erstarren, bieten also keinen Aufschluß über die tatsächliche Beziehung. Aber wenn in dem Wörtchen ›Uns‹ der Großbuchstabe so hörbar wird, kündigt das etwas Neues an. »Aha!« machte ich. Mit einiger Anstrengung beugte sich Stanislas vor. »Daphnes Mann ist ein Schwein«, erklärte er klar und deutlich. »Giorgios Karte«, murmelte ich. »Fehlerhaft.« »Ein brutales Schwein. Darum tut sie sich jetzt mit mir zusammen.« Befriedigt sank er in die Polster zurück. »Liebling«, sagte er. »…die Folge davon war, daß wir uns zwei Meilen südwestlich von der erwarteten Position befanden.«
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»Und was ist die erwartete Position?« fragte ich. »Wir gehen zusammen weg«, antwortete Daphne. »Noch am heutigen Tag, Liebling.« »Mein Engel.« »Ja, noch heute«, bekräftigte Stanislas und schlürfte demonstrativ die letzten Tropfen Whisky aus seinem Glas. »Noch heute. Wir haben es genau geplant«, teilte er mir vertraulich mit. »Der Plan war gescheitert, hatte sich als Fiasko entpuppt. Giorgio hatte versagt.« »Hatte sich als Fiasko entpuppt«, sagte ich, in der Hoffnung, es würde mir gelingen, mich dieser Formulierung zu erinnern, wenn diese beiden Irren wieder aus dem Haus waren. »Fiasko, das ist das richtige Wort für Daphnes Ehe«, erklärte Stanislas. Plötzlich bekam er das heulende Elend. »Was Daphne gelitten hat, wird kein Mensch je erfahren«, schluchzte er. »Dieses Schwein hat sie sogar – geschlagen.« Daphne senkte in schweigender Bestätigung züchtig die Lider. »Und deshalb gehen wir jetzt zusammen weg«, fuhr Stanislas fort, der sich wieder ein wenig gefaßt hatte. »Wir fangen ein neues Leben an. Im Ausland. Eine neue menschliche Beziehung.« ›Doch war dieses Scheitern endgültig? Gab es nicht noch eine Chance?‹ »Entschuldigen Sie mich für einen Moment«, sagte ich, »ich muß noch einmal nach oben.« Aber dieser Versuch mißlang. Daphne packte mich so heftig beim Handgelenk, als ich schon im Aufstehen war, daß ich beinahe seitlich umgestürzt wäre. »Sie sind doch auf unserer Seite, nicht wahr?« hauchte sie. »Aber ja, natürlich.« »Mein Mann würde uns verfolgen, wenn er eine Ahnung hätte.« »Dann ist es ja gut, daß er nichts weiß.« »Aber er wird es erraten. Er wird sich denken, daß es Stanislas ist.« »Ja, wahrscheinlich.« »Es stört Sie doch nicht, daß wir zu Ihnen gekommen sind, Charles? Wir müssen warten, bis es dunkel wird.« »Also, eigentlich hätte ich noch was zu arbeiten.«
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»Entschuldigen Sie«, sagte sie und strich ihren Rock glatt. »Es war rücksichtslos von uns, hier so hereinzuplatzen. Wir müssen gehen.« Sie zupfte an ihrem Rocksaum, machte aber keine Anstalten aufzustehen, und ich füllte brav ihr Glas auf. »Nein, gehen Sie nicht.« Das war britische Mittelklasse in Hochform. »Erzählen Sie mir doch noch etwas darüber.« »Stanislas!« »Hm.« »Wach auf, mein Engel. Erzähl Charles, wie es war.« Stanislas schaffte es immerhin, sich halbwegs aufrecht hinzusetzen. »Was soll ich ihm denn erzählen?« »Das von uns, mein Engel.« ›Aber das Teuflische war, wenn Giorgios Karte nicht stimmte, waren unsere Chancen gleich Null.‹ »Gleich Null«, brummte ich. »Null.« »Von wegen Null, alter Junge«, zischte Stanislas mich an. »Nichts dergleichen. Ich muß sagen, ich hab’ was gegen dieses »Null«. Wir sind vielleicht nichts Besonderes wie Sie, der Herr Schriftsteller, aber Nullen sind wir nun wirklich nicht, Daphne und ich. Wir sind Menschen, mit allem, was dazugehört. Wir bluten, wenn man uns verletzt. Ich bin kein toller Hecht, das gebe ich gern zu, aber Daphne – Daphne…« »Eine wunderbare Frau«, nickte ich. »Ja, das sagen Sie jetzt, aber was hätten Sie vor fünf Minuten gesagt? Wie? Hm?« Er starrte in sein leeres Glas. »Das gleiche natürlich.« »Sie kommen sich wohl sehr toll vor, wie? Sie bilden sich ein, Sie hätten – Sie hätten den Stein des Weisen gefunden. Na, dann lassen Sie sich mal eines sagen, hochverehrter Mister Bradley: Sie bilden sich vielleicht ein, daß Sie mit Ihrer Krimischreiberei was Besseres sind, aber ich kann Ihnen sagen, es gibt Wichtigeres im Leben als Kriminalromane. Sie werden das wahrscheinlich nicht verstehen, aber ich spreche von der Liebe. Daphne und ich, wir lieben uns. Sie können ruhig spotten, und Sie tun’s ja auch. Ich kann Ihnen nur sagen, Sie sind völlig auf dem Holzweg. Daphne und ich, wir gehen zusammen weg, und zum Teufel mit den – den Spöttern.«
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»Trinken Sie doch noch ein Glas.« »Hm, ja, danke, hätt’ nichts dagegen.« Sie blieben vier geschlagene Stunden. So um die Halbzeit herum taten sie mal so, als tränken sie Tee. Etwas später äußerten sie sich bestürzt darüber, so lange geblieben zu sein – ohne jedoch an Aufbruch zu denken. Während Giorgio und seine Karte unwiderruflich meinem Gedächtnis entglitten, machten sie mir nochmals klar, daß sie für ihre Flucht den Schutz der Dunkelheit brauchten, – das war es, was sie hier hielt, nicht meine charmante Gesellschaft. Da ich nun jeglicher Möglichkeit beraubt war, mein Tagespensum doch noch zu schaffen, hörte ich mir wohl oder übel ihre Seelenergüsse an – er schuldig geschieden, obwohl die Unschuld in Person, sie an einen brutalen Klotz gebunden, der unglücklicherweise weitreichenden lokalen und nationalen Einfluß besaß und sie bis ans Ende der Welt verfolgen würde, wenn nicht geeignete Maßnahmen getroffen wurden, seine Bemühungen zu vereiteln. Ich erfuhr eine ganze Menge über diese Maßnahmen, registrierte alles, ohne in diesem Moment noch zu wissen, wie nützlich diese Informationen noch sein würden. »Charles, Edward.« »Ja?« »Wir sind wirklich rücksichtslos.« »Aber nein.« »Wir haben Sie nicht weiterarbeiten lassen.« »Jetzt ist es sowieso zu spät.« »Es ist nie zu spät«, weinerlich: »Gehen Sie ruhig rauf, und schreiben Sie. Wir bleiben hier sitzen und tun keiner Seele was zuleide.« »Ich hab’ so ziemlich alles vergessen, was ich schreiben wollte, außerdem habe ich die letzte Postabholung verpaßt.« »Ach, Charles, Charles, Sie beschämen uns. Wir haben uns schandbar benommen.« »Das ist doch lächerlich.« »Aber natürlich haben wir uns schandbar benommen. Wir haben Ihren Whisky und Ihren Gin getrunken, wir haben auf Ihrem Sofa
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gesessen, wir haben Sie von der Arbeit abgehalten. Ist doch wahr, nicht mein Engel? Wir haben ihn doch von der Arbeit abgehalten?« »Wenn du es sagst, mein Engel.« »Ganz entschieden sage ich das. Und es ist eine Schande.« »Dann haben wir eben Schande auf uns geladen, mein Schatz. Schlimm«, sagte er theatralisch. »Aber sind wir wirklich so schlimm? Ich meine, er ist sein eigener Herr, er kann über seine Zeit verfügen, wie er will, er kann arbeiten, wann es ihm Spaß macht. Anders als du und ich. Er ist fein raus.« »O Gott«, murmelte ich. »Na ja, ist doch wahr«, erklärte Stanislas mit schwerer Zunge. »So ein richtig schönes, ruhiges Leben.« »Ruhig, ja, das ist es.« »Sie brauchen doch nichts zu tun, was Sie nicht tun wollen. Ach, wann werd’ ich den Tag mal erleben?« »Er macht ein ganz böses Gesicht.« »Was? Der alte Charles mit einem bösen Gesicht? Du täuschst dich, mein Engel. Glaub das ja nicht. Sie sind doch nicht böse, Charles, oder?« »Wir sind wirklich ziemlich lange geblieben, Liebling. Liebling, bist du wach? Ich sage, wir sind wirklich ziemlich lange geblieben.« »Hm.« »Aber es ist auch eine besondere Situation. Edward, es ist eine besondere Situation. Das sehen Sie doch ein, nicht wahr? Was Besonderes. Wegen Stanislas und mir.« Ich sagte: »Ich weiß nur, daß ich…« »Es ist ja nur dies eine Mal«, fiel sie mir ins Wort. »Dies eine Mal werden Sie uns doch verzeihen? Schließlich sind Sie ja wirklich Ihr eigener Herr. Und außerdem – es sind ja nur wir.« Ich starrte sie an. Mein Blick fiel auf ihn: Er schnarchte leise. Ich sah sie an: Sie döste. Ich stellte mir vor, was für ein Leben auf sie wartete, wenn sie zusammen fortgingen. Aber dieses ›Es sind ja nur wir‹ hatte etwas in Bewegung gesetzt. Ich dachte daran, wer mich an diesem einen Tag, der durchaus kein besonderer war, alles gestört hatte: Mrs. Prance, der Gasmann, Chris
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(zweimal: sie hatte noch ein zweites Mal während meiner Arbeitszeit angerufen, um sich dafür zu entschuldigen, daß sie das erste Mal während meiner Arbeitszeit angerufen hatte), der Mann von der Wäscherei, der Lebensmittelhändler (daß es diese Woche keine ChiversErbsen gab), mein Steuerberater, eine Frau, die für die Kirche sammelte, ein Franzose, der wissen wollte, ob er auf dem richtigen Weg zum Duke sei. Ich dachte daran, daß ein Mann von der Versicherungsanstalt dagewesen war, um sich zu erkundigen, ob ich Mrs. Prance versichert hätte, und wenn nicht, warum. Ich dachte an einen langen, ergebnislosen Anruf von irgend jemands Sekretärin, der beim BBC arbeitete. Nach langem Hin und Her stellte sich nur heraus, daß der Betreffende trotz seines dringenden Verlangens, mit mir Kontakt aufzunehmen, in dem BBC-Club verschwunden war, ohne irgendeine Nachricht zu hinterlassen. Ich dachte daran, daß eine Gruppe von Studenten an der Universität von Essex einen Vortrag von mir hören wollte und gütigerweise bereit war, mir die Bahnreise zweiter Klasse zu bezahlen – für den Vortrag gäbe es kein Honorar. Ich dachte daran, daß die Arbeit eines ganzen Morgens aus einem einzigen verhunzten, unfertigen Absatz bestand und daß ich am Nachmittag vor dieser weiteren Störung kaum mehr als zweihundert Wörter zustande gebracht hatte. Ich dachte daran, daß ich die letzte Postabholung verpaßt hatte. Ich dachte daran, daß ich aus ähnlichen Gründen auch an den anderen Tagen die Postabholung verpaßt hatte und daß Verleger von Schriftstellern, die immer wieder ihre Termine versäumen, nicht viel halten. Ich dachte daran, daß ich knapp bei Kasse war und daß es absolut nichts zur Verbesserung der Situation beitrug, wenn ich vier Stunden hier herumsaß und praktisch fremde Leute bewirtete. An dies alles dachte ich. Und ich sah rot. ›Rote Nebel schwebten vor seinen Augen.‹ Ich nahm den Schürhaken aus dem Kamin und trat hinter das Sofa, auf dem sie saßen.
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Ob sie sich wohl gefragt haben – überlege ich manchmal –, was ich da tat, warum ich mit einer dicken Eisenstange in der Hand hinter dem Sofa herumschlich? Sie waren wahrscheinlich viel zu weit hinüber, um sich Gedanken zu machen. Wie dem auch sei, es blieb ihnen nicht viel Zeit, sich Gedanken zu machen. Achtzehn Monate sind vergangen. Am Ende der ersten Woche kam ein Constable von der Kriminalpolizei zu mir. Er hieß Ellis. Er war von einer schwindsüchtigen Magerkeit und schien sich trotz seiner Jugend in einer Dauerdepression zu befinden. Er war in Zivil. Er teilte mir mit, daß sie Daphne Fiddler und Clarence Oates hießen. »Wir sind dieser Angelegenheit nachgegangen, Sir, und es scheint, daß Sie diese Dame und diesen Herrn nicht näher kannten.« »Ich war ihnen nur ein- oder zweimal begegnet.« »Aber an jenem Dienstagnachmittag waren sie hier.« »Ja, aber nur weil sie drüben im Gasthaus nicht bleiben konnten. Wenn das Gasthaus schließt, kommen die Leute oft hierher zu mir.« Auf dem Sofa sitzend, ohne seine Flecken zu beachten, sagte Ellis: »Sie wollten was zu trinken, wie?« »Ja, den Anschein hatte es.« »Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei der Arbeit, Sir.« »Doch, Officer, Sie stören mich tatsächlich bei der Arbeit. Wie die beiden neulich auch.« »Ich wäre Ihnen dankbar, Sir, wenn Sie mich nicht ›Officer‹ nennen würden. Als Anrede ist das Wort ungeeignet.« »Verzeihen Sie.« »Leider muß ich Sie noch ein wenig länger bei der Arbeit stören, Sir. Also, wenn ich fragen darf, hat dieses – dieses Paar Ihnen irgend etwas über seine Pläne erzählt?« »Hat es denn anderen etwas darüber erzählt?« »Ja, Mr. Bradley, etwa der Hälfte der Einwohnerschaft von Süddevon.«
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»Nun, ich kann Ihnen berichten, was sie mir erzählten. Sie sagten, sie wollten per Schiff von Torquay nach Jersey, dann mit dem Flugzeug von Jersey nach Guernsey und dann weiter mit einem Hovercraft von Guernsey nach Frankreich. Sie wollten mit Tagesausweisen nach Frankreich hinüber, wollten aber ihre Pässe mitnehmen und Bargeld in ihre Kleider einnähen. Von Frankreich wollten sie weiter, in irgendein anderes Land, in dem es möglich ist, ohne Aufenthaltsgenehmigung Arbeit zu finden.« »Tja, in manchen Ländern gibt’s riesige Gesetzeslücken«, stellte Ellis philosophisch fest. »Ich glaube nicht, daß so was klappt«, meinte ich. »Sie Kellnerin, er Taxifahrer«, murmelte Ellis pessimistisch. »Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?« »Als sie wegfuhren.« »Ja, aber um welche Zeit?« »Ach so, nach Einbruch der Dunkelheit. Gegen sieben ungefähr. Ist ihnen denn was passiert?« »Ihr Wagen wurde bei den Wasserfällen gefunden. Leer.« »Oh.« »Kein Gepäck.« »Oh.« »Sie haben also vermutlich den Bus nach Torquay genommen.« »Läßt sich das nicht feststellen?« Ellis rutschte ungeduldig auf den Polstern hin und her. »Der Fahrer ist ein Idiot. Der sieht und hört überhaupt nichts.« »Ich war selbst draußen bei den Wasserfällen.« »Wie bitte?« »Ich sage, ich war selbst draußen bei den Wasserfällen. Ich folgte ihnen zu Fuß – wobei ich natürlich nicht wußte, daß ich ihnen folgte.« »Haben Sie ihren Wagen dort gesehen?« fragte Ellis. »Ich hab’ mehrere Wagen gesehen, aber die sehen ja alle gleich aus. Und alle hatten ihre Scheinwerfer abgeschaltet. Man spaziert nicht an den Wasserfällen herum und schaut in geparkte Autos, die die Scheinwerfer ausgeschaltet haben.« »Und dann, Sir?«
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»Dann bin ich wieder zurückgegangen. Ich mache den Spaziergang abends nach dem Essen ziemlich häufig.« (Ich hatte tapfer der Versuchung widerstanden, mich über die Felder zu schleichen, und war wie gewöhnlich auf der Straße zurückgegangen. Ein Glück für mich, daß ich den Wagen unbemerkt in der Nähe der Bushaltestelle hatte abstellen können, und ein Glück für mich, daß ich an das Gepäck gedacht hatte, ehe ich losgefahren war.) »Glück für mich«, sagte ich. »Wie bitte?« »Glück für mich, daß ich den Spaziergang noch machen kann.« Ellis stand vom Sofa auf. Glück für mich, daß er nicht die Ausrüstung dabei hatte, um die Flecken auf dem Sofa zu untersuchen. »Es ist eine reine Routineermittlung, Mr. Bradley«, erklärte er schwach, als hätte seine Lebensenergie einen Tiefpunkt erreicht. »Mrs. Fiddlers Mann und Mr. Dates’ Frau hielten es für ihre Pflicht nachzufragen – beim Vermißtendezernat. Aber unter uns gesagt«, fügte er hinzu, und seine Stimme belebte sich vorübergehend, »denen ist das schnurzegal. Es liegt ja auf der Hand, was passiert ist, und den beiden ist das schnurzegal. Am besten, man redet nicht viel darüber, Mr. Bradley, und läßt Gras über die Sache wachsen.« Damit ging er. Eigentlich müßte ich mich schuldig fühlen; tatsächlich fühle ich mich befreit. Katharsis. Bin ich von Mitleid befreit? Ich hoffe es nicht. Ich habe Mitleid mit Daphne und Stanislas, auch wenn ich mich immer noch über ihre unerhört dumme und dreiste Art ärgere. Befreit von Furcht? Hm, auf eine merkwürdige Weise, ja. Meine Lage hat sich verschlechtert. Im Zuge meiner krampfhaften Anstrengungen, den Überziehungsbetrag auf meinem Konto auf zweihundertfünfzig Pfund zu reduzieren, kann ich mir Mrs. Prance nur noch zweimal die Woche leisten und muß jetzt, was um einiges schwerwiegender ist, die Konserven abzählen und die Brötchen, die ich mir toasten will. Aber ich fühle mich besser.
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Die Störungen sind nicht weniger geworden. Wimpole, Chris, der Steuerberater – alle helfen sie auf die gewohnte Art zusammen, mir meine Arbeitszeit zu vertreiben. Aber ich sehe sie jetzt mit Milde. Alle, auch Mrs. Prance. Ich arbeite jetzt viel im Garten. Ich habe ziemlich viele Blumen, aber das ist mehr Glück als gärtnerisches Können. Gemüse ist mein Hauptanliegen. Und in diesem Herbst hat sich der Kohl besonders gut gemacht. Die leicht konischen Köpfe stehen kerzengerade, unter den dunkelgrünen, dichtgefalteten Außenblättern feste, knackige Herzen. Für Kohl gibt es nichts Besseres als gutzersetzte organische Düngung. Werde ich es je über mich bringen, meine Kohlköpfe zu schneiden und zu essen? Im Augenblick möchte ich meinen Kohl nicht essen. Aber ich denke, am Ende werde ich es doch tun. Es sind ja schließlich nur sie. Aus dem Englischen übertragen von Mechthild Sandberg-Ciletti
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Elizabeth Ferrars Ein Werkzeug der Gerechtigkeit Als Frances Liley in der Times die Todesanzeige von Oliver Darnell, dem ›geliebten Mann von Julia‹ las, der ›völlig unerwartet in seinem Heim‹ verstorben war, verschränkte sie die Arme auf dem Tisch, legte den Kopf darauf und brach in heftiges Schluchzen aus. Jeder, der sie in diesem Augenblick gesehen hätte, hätte annehmen müssen, sie traure um einen lieben Freund. In Wirklichkeit jedoch vergoß sie Tränen der Erleichterung, heilsam und unendlich wohltuend. Sie war frei. Die ständige Angst, in der sie gelebt hatte, hatte ein Ende. Das glaubte sie jedenfalls so lange, bis sie sich Zeit nahm, etwas genauer nachzudenken. Dann allerdings richtete sie sich abrupt auf, trocknete notdürftig die Tränen und starrte selbstvergessen vor sich hin; eine dunkelhaarige, hübsche Frau von vierzig Jahren, die von einem neuen Schreckgespenst beherrscht wurde. Denn nach dem Tod eines Menschen mußte ein Anwalt, der Testamentsvollstrecker oder ein Angehöriger dessen Papiere durchsehen, und dabei würde man irgendwo jene entsetzlichen Photos entdecken. Was dann passieren konnte, wußte der Himmel. Bei Oliver hatte Frances wenigstens gewußt, woran sie war. Zweitausend hatte er jährlich von ihr bekommen, eine Summe, die sie durchaus hatte aufbringen können, und damit war sie relativ sicher gewesen. Wenn allerdings eine andere Person diese Photos in die Hände bekam und auf die Idee verfiel, sie Mark, ihrem Mann, zu schicken, würde dieser umgehend die Scheidung einreichen, die er so dringend wünschte, und das Sorgerecht für ihre beiden Kinder erhalten. Das durfte sie nicht zulassen. Sie mußte einen Ausweg finden, und zwar schnell… Zum Glück war sie eine Frau mit schnellem Kombinationsvermögen. Schon nach wenigen Minuten war ihr klar, was sie zu tun hatte, oder zumindest, was es zu versuchen galt. Sie rief sofort Julia Darnell an und sagte: »Hier spricht Frances, Julia. Ich habe gerade Olivers Todesanzeige gelesen. Es tut mir schrecklich leid. Ich kann es noch gar nicht fassen. Es war sein Herz, oder? Damit hatte er doch immer Probleme, stimmt’s? Hör zu, Liebes… aber bitte sei ganz
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ehrlich, ja? Möchtest du, daß ich zu dir komme? Ich meine, vielleicht kann ich dir irgendwie helfen. Du bist ja jetzt ganz allein. Aber bitte sag die Wahrheit. Wenn du’s nicht wirklich willst, komme ich lieber nicht… Zur Beerdigung bin ich allerdings sicher bei dir. Ich könnte hier sofort weg und ein paar Tage bei dir bleiben; es sei denn, du hast eine andere Freundin, die dir beistehen möchte.« Julia bedankte sich tränenreich. Sie hatte keine eigenen Verwandten und war mit Olivers Familie nie gut ausgekommen. Und obwohl die Nachbarn, wie sie erzählte, alle sehr lieb gewesen seien, war sie im Grunde doch völlig allein. Sie und Frances seien doch so alte Freundinnen, daß sie froh wäre, wenn diese ihr helfen würde, die schreckliche Einsamkeit zu ertragen. Natürlich hatte Julia keine Ahnung von der kurzen Affäre ihres Mannes mit Frances, und sie wußte auch nicht, daß dieser sein bescheidenes Einkommen als Maler mit kleinen Erpressungen aufgebessert hatte, so daß ihre freundschaftlichen Gefühle für Frances aufrichtig und ungetrübt waren. Nachdem Frances versprochen hatte, noch am selben Nachmittag bei Julia zu sein, rief sie Mark im Büro an, erzählte ihm, was passiert war, und daß sie vermutlich ein paar Tage fort bleiben würde. Da die Kinder im Internat waren, ergaben sich dadurch keine weiteren Probleme. Schließlich packte sie einen Koffer und fuhr zum Haus der Darnells in Dorset. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich bereits einen Plan zurechtgelegt. Am Morgen der Beerdigung wollte sie vorgeben, sich schlecht zu fühlen und zu krank zu sein, um an den Feierlichkeiten teilnehmen zu können. Dann, während der einzigen Zeit, in der sie das Haus für sich allein hatte, würde sie dieses schnell nach den Photos durchsuchen. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Bilder sich in Olivers Atelier befanden, war groß, denn dieser Raum war sein privates Reich gewesen, in dem Julia nie etwas verändern oder gar berühren durfte. Falls die Photos allerdings dort nicht waren, falls Oliver sie zum Beispiel in einem Bankschließfach aufbewahrt hatte, blieb Frances nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge heimzukehren und sich auf das Schlimmste gefaßt zu machen. Mit etwas Glück jedoch, so dachte sie, mußte sie die Photos finden.
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Zu ihrem Leidwesen jedoch wurde ihr schöner Plan am Morgen der Beerdigung durchkreuzt, denn Julia wachte mit Grippe auf. Sie hatte hohes Fieber, klagte über Halsschmerzen und konnte kaum sprechen. Frances rief den Arzt, der Julia Antibiotika gab und ihr angesichts der eisigen Februarluft strenge Bettruhe verordnete. Bei der Aussicht, nicht einmal am Begräbnis ihres Mannes teilnehmen zu können, liefen Julia bittere Tränen über die fieberheißen, sonst bleichen, vollen Wangen. Unter Schluchzen sagte sie: »Aber was mache ich nur mit all den Leuten, die nachher zum Essen zu uns kommen, Frances? Jetzt kann ich sie doch nicht mehr ausladen.« Julia hatte nämlich darauf bestanden, Olivers ortsfremde Verwandte und jene Nachbarn, die freundlicherweise Oliver das letzte Geleit geben wollten, in ihrem Haus zu bewirten. Und sie und Frances hatten den Vortag damit verbracht, für kalten Braten, Salate, Käse und ziemlich billigen Weißwein zu sorgen. Frances sah dem etwas gespenstischen Beisammensein mit Grauen entgegen, doch Julia hatte der Gedanke daran offenbar getröstet. Auch diesmal reagierte Frances schnell: »Mach dir deshalb keine Sorgen. Ich kümmere mich um alles. Ich gehe in die Kirche, aber nicht mit auf den Friedhof, sondern komme sofort zurück und bereite alles für den kleinen Empfang vor. Wenn deine Gäste kommen, ist alles fertig. Bleib du ruhig liegen. Ich schaffe das schon.« Danach gab sie Julia die Tabletten, die der Arzt für sie dagelassen hatte und brachte ihr einen Krug mit heißer Milch, in die sie ein Schlafmittel getan hatte, das sie im Badezimmer gefunden hatte. Damit war sichergestellt, daß Julia tief schlief, wenn Frances von der Kirche zurückkehren würde, und obwohl sie für ihre Suche weniger Zeit als erhofft hatte, ging vielleicht dennoch alles glatt. Der Trauergottesdienst war spärlich besucht. Der Mann neben Frances, der leise mit ihr ein Gespräch angefangen hatte, bevor der Sarg hereingebracht wurde und der Pfarrer erschienen war, stellte sich als Major Sowerby vor. Er erzählte, daß seine Frau untröstlich sei, weil sie mit Grippe im Bett liege und daher nicht an der Beerdigung teilnehmen könne. »Diese Grippe grassiert hier gerade«, schloß er. »Stimmt es eigentlich, daß Mrs. Darnell ebenfalls erkrankt ist?«
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»Ja, leider«, antwortete Frances. »Wie tragisch. Sie und Oliver haben eine so gute Ehe geführt. Natürlich habe ich mit seinen Bildern nicht viel anfangen können, aber Isobel, meine Frau, die viel mehr von Kunst versteht als ich, behauptet, daß er mehr Anerkennung verdient hätte. Sie hat ihm stets viel Hingabe und Aufrichtigkeit in seiner Kunst bescheinigt.« »Dem kann ich nur zustimmen«, erwiderte Frances mit einem süßen, traurigen Lächeln und dachte insgeheim, daß das auf gewisse Art sogar stimmte. Oliver hatte tatsächlich viel Hingabe darauf verwandt, jede Frau weidlich auszunutzen, die dumm genug war, sich von seinem Charme und seinem guten Aussehen betören zu lassen und ihm zu vertrauen. Sobald der Trauergottesdienst zu Ende war, verließ Frances hastig die Kirche, schloß sich nicht dem Trauerzug zum Friedhof an, sondern eilte den Weg entlang zum Landhaus der Darnells. Dort trat sie ein, blieb stehen und horchte angestrengt. Es war alles ruhig. Offensichtlich hatte das Schlafmittel seinen Zweck erfüllt, und Julia schlief tief und fest. Um jedoch ganz sicher zu sein, ging Frances zum Fuß der Treppe und rief leise: »Julia?« Es kam keine Antwort. Frances wartete noch einen Augenblick, zog dann hastig ihren Mantel aus, warf ihn über einen Stuhl und lief den Gang entlang zu Olivers Atelier. Es blieb ihr nicht mehr viel Zeit, um alles für den Empfang von Julias Gästen vorzubereiten, doch die Suche nach den Photos hatte Vorrang. Sie öffnete die Tür zum Atelier, trat ein und begriff sofort, warum es im Haus so still gewesen war. In der Zimmermitte lag Julia in ihrem Morgenmantel auf dem Fußboden. Ihr Kopf war nur noch eine schreckliche, blutige Masse. Daneben lag ein schwerer Hammer. Frances war eigentlich nicht besonders abgebrüht und im Grunde ihres Herzens durchaus gesetzesfürchtig. Ihr erster Gedanke war daher, die Polizei anzurufen. Doch dann gewann ihre alte Gewohnheit die Oberhand, nichts ohne gründliche Überlegung zu tun. An der Tatsache, daß es für sie lebenswichtig war, die Photos zu finden, hatte sie nichts geändert, und sobald die Polizei im Haus war, hatte sie kaum eine Chance, selbst danach zu suchen. Damit wurde die Situation mehr als kompliziert. Woher sollte vor allem die Polizei
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wissen, daß es nicht Frances gewesen war, die Julia schläfrig und halbbetäubt im Atelier ihres Mannes gehört und überrascht hatte? Konnte die Polizei den Schluß ziehen, daß Frances die Freundin erschlagen hatte? Wenn sie also jetzt die Polizei verständigte, steckte sie vermutlich in größten Schwierigkeiten. Tat sie dies allerdings nicht, und suchte sie zuerst nach den Photos, blieb ihr die Leiche, bei der allmählich die Totenstarre einsetzte, und früher oder später würde sie erklären müssen, weshalb sie den Mord nicht früher gemeldet hatte. Dabei half es wenig, daß sie sich beinahe sicher war, wer die Mörderin war. Ein Grippevirus konnte sehr gelegen kommen, und Mrs. Sowerby, die dem Begräbnis ferngeblieben war, hatte natürlich nicht gewußt, daß Julia erkrankt war, sondern angenommen, das Haus verlassen vorzufinden. Während Frances’ Blick durch das Atelier schweifte, wo Schubladen herausgezogen und Papiere, Briefe, Skizzen und Notizbücher überall auf dem Fußboden verstreut lagen, fragte sie sich, ob die Frau wohl die Photos oder Briefe entdeckt haben mochte, mit denen Oliver sie vermutlich erpreßt hatte, oder ob sie noch immer in der panischen Angst lebte, daß jemand anderer sie finden würde. Doch selbst wenn letzteres der Fall war, schien es unwahrscheinlich zu sein, daß sie jetzt noch einmal zurückkehren würde, denn sie mußte wissen, daß bald ein Dutzend Trauergäste im Haus eintrafen. Frances zog den Schlüssel ab, verschloß die Tür von außen, steckte den Schlüssel in die Jakkettasche ihres Kostüms und ging in die Küche, um die Vorbereitungen für den Empfang der Gäste zu treffen. Sie nahm sämtliche Gerichte, die Julia und sie am Vortag zubereitet hatten, aus dem Kühlschrank, gab die Salate, die Garnelen mit Reis und Paprika, die Gurken in saurer Sahne, den Kraut-Karotten-Salat und alles übrige in Kristallschalen, legte die Scheiben kalten Puter, Rinderbraten und Schinken auf Platten und stellte alles auf den langen Tisch im Eßzimmer. Dann deckte sie Besteck und Weingläser auf und entkorkte mehrere Weinflaschen. Sie war gerade fertig, als die ersten Gäste eintrafen. Es waren der Pfarrer, Arthur Craddock, und seine Frau. Er war ein hagerer, ruhig wirkender Mann, dessen Stimme überraschend kräftig und energisch geklungen hatte, als er die von Julia ausgewählten
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Psalmen gesprochen und Olivers kaum faßbare Tugenden beschrieben hatte. In gesellschaftlichem Rahmen jedoch schien die Autorität, die der Pfarrer beruflich ausströmen mochte, neben seiner großgewachsenen, fülligen Frau erbärmlich unterzugehen, die zwar einen freundlichen Eindruck machte, allerdings einen deutlichen Hang dazu hatte, andere zu bevormunden, und Frances sofort einen furchtbaren Schreck einjagte, indem sie ankündigte, kurz hinaufgehen zu wollen, um mit der armen Julia zu sprechen und dieser zu sagen, wie schön das Begräbnis gewesen sei und wie sehr man sie vermißt habe. »Aber bedenken Sie die Ansteckungsgefahr«, stammelte Frances. »Der Grippevirus scheint hier umzugehen, und ich glaube nicht, daß sie auch Sie in Gefahr bringen will.« »Ich bin nie krank«, entgegnete Mrs. Craddock. »Fragen Sie meinen Mann! Als wir noch in Indien gewesen sind, habe ich Patienten gepflegt, die an Beulenpest erkrankt waren, ohne irgendwas aufzuschnappen. Ich bin sicher, daß ich Julia ein bißchen trösten kann.« »Vielleicht später«, wehrte Frances ab, die allmählich ihre Geistesgegenwart wiedergewann. »Ich bin vor ein paar Minuten bei ihr gewesen, und da hat sie geschlafen. Der Arzt hat ihr ein Sedativum gegeben. Ruhe ist die beste Medizin, sagt er, und ich muß ihm recht geben. Ich weiß, daß sie seit Tagen schlecht geschlafen hat. Deshalb sollten wir sie jetzt nicht stören.« »Natürlich nicht«, stimmte Mrs. Craddock zu. »Wird sie von Dr. Bowling behandelt? Ein ausgezeichneter Arzt. Er ist der Typ des alten Hausarztes, dem man noch völlig vertrauen kann.« Damit ließ sie sich und ihren Mann bereitwillig ins Eßzimmer komplimentieren, und die beiden hatten gerade jeder ein Glas Wein in der Hand, als die Türklingel erneut ertönte und Frances sie allein lassen mußte, um weitere Gäste zu begrüßen. Diese waren ein Bruder und ein Vetter von Oliver, die den Verstorbenen, wie Frances von ihm persönlich wußte, beide nicht gemocht hatten. Als nächster kam Major Sowerby, und allmählich begann sich das Eßzimmer zu füllen. Die gedämpfte Tonart, die anfänglich jeder angeschlagen hatte, steigerte sich nach und nach bis zu dem Geräuschpegel einer ganz normalen Cocktailparty. Essen und Wein wurde herzhaft zugesprochen, und die Gäste verbreiteten eine für
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Frances etwas schaurige Fröhlichkeit, die lediglich ab und zu durch Schuldgefühle gedämpft wurde, wenn einer von ihnen taktlos genug war, die anderen daran zu erinnern, daß sie sich eigentlich zu einem Leichenschmaus versammelt hatten. Mit geröteten Wangen bemerkte Olivers Bruder plötzlich: »Julia ist von jeher eine gute Köchin gewesen. Schade, daß sie jetzt nicht mithalten kann.« »Sie hat sich wirklich eine Menge Arbeit gemacht«, fiel Mrs. Craddock ein. »Aber das hat sie vermutlich wenigstens etwas abgelenkt. Ich bringe ihr ein bißchen was zu essen und sage ihr, wie sehr wir alle in Gedanken bei ihr sind, denn bei dem Krach, den wir gemacht haben, ist sie mittlerweile bestimmt wach geworden. Ich bringe ihr einfach einen Teller voll, was meinen Sie? Und vielleicht auch ein Glas Wein, oder?« »Das ist genau das Richtige«, stimmte Major Sowerby ihr zu. »Ein Glas Whisky würde ihr allerdings vermutlich mehr helfen. Ich habe meiner Frau noch ein Glas guten, doppelten Whisky und ein belegtes Brot gebracht, bevor ich zum Begräbnis gegangen bin. Mehr als ein Sandwich brachte sie nicht runter. Ich mußte sie offen gestanden überreden, im Bett zu bleiben. Sie wollte unbedingt zur Beerdigung gehen. Aber das hätte sie nicht durchgestanden. Sie hat von Oliver viel gehalten, ihm sogar für ein Porträt Modell gesessen und mich dann gedrängt, das Bild zu kaufen. Eigentlich hat mir das nichts ausgemacht, denn niemand hätte Isobel darauf erkannt. Es besteht praktisch nur aus Quadraten und Dreiecken, aber sie behauptet, es sei gut, und sie versteht von diesen Dingen mehr als ich.« Mrs. Craddock häufte Reissalat mit Garnelen auf einen Teller und murmelte dabei: »Ob sie Gurken mag? Manche vertragen sie nicht.« Dann legte sie noch je eine Scheibe kalten Putenbraten und Schinken dazu und griff nach einer Weinflasche, um ein Glas für Julia einzuschenken. In panischer Angst und völlig verzweifelt riß Frances der Matrone Teller und Glas aus der Hand und erklärte barsch: »Ich bringe ihr das schon!« Damit ging sie zur Tür, während Mrs. Craddock ihr fassungslos nachsah, lief die Treppe hinauf und verschwand in Julias Schlafzimmer.
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In der Stille des Raumes erst wurde ihr das Entsetzliche an der ganzen Situation bewußt. Da stand sie nun mit Essen und Wein in der Hand für eine Frau, die erschlagen worden war und deren Körper allmählich zu erkalten begann. Wie hypnotisiert starrte sie auf das leere Bett mit dem zerwühlten Kissen und der zurückgeschlagenen Decke, während sie das Glas Wein hastig leerte und wünschte, es wäre Whisky oder Schnaps. Dann kehrte sie ins Eßzimmer zurück und stellte den unberührten Teller auf den Eßtisch. »Den Wein hat sie getrunken, aber essen möchte sie nichts«, erklärte sie zu Mrs. Craddock gewandt. »Ich habe ihr noch eine der Tabletten gegeben, die der Arzt ihr verschrieben hat. Sie ist sehr schläfrig. Ich glaube, es ist das beste, wir lassen sie in Ruhe.« Da sich die Pfarrersfrau offenbar in ihrer Rolle als Wohltäterin behindert fühlte, verließ sie mit ihrem Mann im Schlepptau enttäuscht den kleinen Empfang, und danach verabschiedete sich ein Gast nach dem anderen, bis das Haus wieder ruhig und leer war. Zu leer, zu trostlos. Die vergangene Stunde war für Frances der schlimmste Alptraum gewesen, den sie je erlebt hatte, doch die lärmenden Menschen hatten sie wenigstens vom Grübeln abgehalten. Jetzt konnte sie ihren Gedanken nicht länger entfliehen. Da waren die Photos, die sie finden mußte, und die Leiche im Atelier. Während ihr Blick auf dem Eßtisch mit dem schmutzigen Geschirr, den Weingläsern und Speiseresten ruhte, hatte sie das absurde Bedürfnis abzuspülen, bevor sie sich mit der Toten befaßte, doch da sie sich bewußt war, wie dumm dies gewesen wäre und daß sie damit nur das Unvermeidliche vor sich hergeschoben hätte, schenkte sie sich ein Glas Whisky ein, setzte sich an das obere Tischende und versuchte sich zu konzentrieren. Die Photos hatten Vorrang. Sie mußte sich zwingen, ins Atelier zurückzukehren und danach zu suchen. Was sie später tun würde, hing mehr oder weniger vom Ausgang dieser Suche ab. An die Möglichkeit, die Photos nicht zu entdecken, wagte sie kaum zu denken. Mit diesen schrecklichen Beweisstücken würde Mark sicher das Sorgerecht für die Kinder erstreiten, und das wollte sie keinesfalls hinnehmen. Denn abgesehen davon, daß sie Freude an den lieben Mädchen hatte, gönnte sie Mark nicht den Triumph über sie.
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Sie sah die Photos wieder vor sich, die ihr Oliver nur ein einziges Mal kurz gezeigt hatte, und dachte daran, wie entsetzlich entlarvend sie gewesen waren. Zwangsläufig malte sie sich aus, wie bitter ironisch Mark bei ihrem Anblick reagieren würde. Auf ihre Weise waren die Photos sogar gut. Wenn Oliver auch als Maler nicht überdurchschnittlich begabt gewesen war, als Photograph hatte er durchaus Können und Inspiration bewiesen. Ihr war nie auch nur der geringste Verdacht gekommen, in jenem Zimmer photographiert worden zu sein, und als er ihr gestand, wie er das bewerkstelligt hatte, war sie fast in lautes Gelächter ausgebrochen, so geschickt hatte er es gemacht. Jetzt allerdings hatte sie nur noch den dringenden Wunsch, die Bilder zu finden. Erst danach konnte sie an alles Weitere denken. Frances kehrte ins Atelier zurück. Julias Leiche, das trocknende Blut und den Hammer zu ignorieren war einfacher, als sie es sich vorgestellt hatte. Für den Fall, daß zum Beispiel diese übereifrige Samariterin Mrs. Craddock auf die Idee verfiel, wiederzukommen, verschloß sie die Tür hinter sich und begann systematisch Schubladen und Schränke zu durchsuchen. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie nicht nur die Abzüge, sondern auch die Negative bereits nach kurzer Zeit in einem Karton in einer Kommode, die ihre Vorgängerin offenbar noch nicht geöffnet hatte. In diesem Karton fand sie allerdings noch drei Serien ähnlich gearteter Photos. Fast schwindelig vor Erleichterung und den Tränen nahe, genau wie damals, als sie von Olivers Tod erfahren hatte, betrachtete sie die drei anderen Frauen auf den Bildern und fragte sich, welche wohl Isobel Sowerby sein mochte. Frances wußte, abgesehen davon, daß ihr Mann keine Ähnlichkeit zwischen ihr und Quadraten und Dreiecken erkennen konnte, nichts über sie. Aber das traf auf jede der drei Frauen zu. Alle hatten mehr Kurven als Ecken. Zwei von ihnen erschienen Frances zu jung, um mit Major Sowerby verheiratet zu sein, obwohl man in dieser Beziehung nie sicher sein konnte. Schließlich hatten schon Sechzigjährige Teenager geheiratet. Trotzdem nahm Frances an, daß die dritte Frau, die ungefähr in ihrem Alter sein mußte, eher als Mörderin in Frage kam. Sie war groß und füllig, beinahe dick, mit einem leidenschaftlichen, cholerischen Zug um den Mund. Ein Mord war ihr durchaus zuzutrauen. Nachdem
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sie die Züge der Frau eine Weile eingehend betrachtet hatte, legte Frances die Abzüge und Negative von dieser fülligen Dame in die Kommode zurück, warf ihre eigenen Photos und die Negative mit denen der beiden anderen in den offenen Kamin und zündete alles an. Die Negative zischten kurz auf und schrumpften zu einem Nichts zusammen. Nur ein beißender Geruch blieb zurück. Die Abzüge rollten sich, fingen nur langsam Feuer, doch als Frances mit dem Schürhaken in der Glut stocherte, gingen auch sie in Flammen auf und verbrannten zu Asche. In Hockstellung sah sie dem Schauspiel zu, wartete, bis der letzte Funken verglüht war, stand dann auf und ging zum Telefon. Mittlerweile hatte sie sich eine Art Plan zurechtgelegt. Es war ein riskantes Spiel, das sie trieb, aber sie sah keinen anderen Ausweg. Frances griff nach dem Telefonbuch, suchte die Nummer der Sowerbys heraus und wählte. Zu ihrer Erleichterung meldete sich eine Frauenstimme. Frances nannte ihren Namen nicht. »Ich habe gefunden, wonach Sie gesucht haben«, sagte sie leise. Am anderen Ende blieb es still. Frances merkte plötzlich, wie heftig ihr Herz klopfte. Schließlich war der Augenblick gekommen, in dem sich zeigen würde, ob sich ihr riskantes Spiel auszahlte. Möglicherweise hatte sie völlig falsch getippt. Mrs. Sowerby konnte immerhin eine völlig harmlose, ahnungslose Frau sein, die den ganzen Vormittag mit Grippe im Bett gelegen und sich elend gefühlt hatte. Falls das so war, mußte Frances ganz von vorn anfangen. Und auf einmal kam es ihr geradezu wie heller Wahnsinn vor, nicht die Polizei verständigt zu haben. Wenn sie nur geahnt hätte, wie problemlos die Photos zu finden gewesen waren, hätte sie keine Sekunde gezögert, denn es wäre ihr noch immer genügend Zeit geblieben, diese vor Eintreffen der Polizei zu vernichten. Allerdings waren derartige Überlegungen mittlerweile überflüssig geworden. Die Reue kam zu spät. Frances wartete. Schließlich ertönte am anderen Ende ein heiseres Flüstern: »Wer sind Sie?«
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Frances holte erschaudernd Luft. Sie hatte also doch recht gehabt. Ihr Plan funktionierte. »Eine Freundin von Julia«, erwiderte sie. »Es ist das beste, Sie kommen so schnell wie möglich her.« »Was wollen Sie?« fragte die Stimme. »Ihre Hilfe«, antwortete Frances. »Ich kann nicht kommen. Ich bin krank.« »Ich halte es für ratsam, daß Sie umgehend gesund werden.« »Unmöglich. Mein Mann erlaubt mir bestimmt nicht, das Haus zu verlassen.« »Das ist Ihr Problem. Ich warte hier noch ein bißchen… aber nicht zu lange.« Am anderen Ende war es erneut still. Dann sagte die Stimme: »Also gut. Ich versuche es.« Nach diesen Worten wurde am anderen Ende aufgelegt. Frances hängte auf ihrer Seite ebenfalls den Hörer auf und merkte erst jetzt, daß ihre Handflächen und Finger kalt und feucht von Schweiß waren und nasse Abdrücke auf der schwarzen Oberfläche hinterlassen hatten. Sie überlegte kurz, ob das verräterisch sein konnte, ihre Bedenken zerstreuten sich aber schnell. Sie würde bald einen zweiten Anruf tätigen müssen, der die Fingerabdrücke plausibel machte. Frances wartete eine gute Stunde, bis es endlich an der Haustür klingelte. Draußen hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Einen Teil der Wartezeit hatte sie genutzt, um der toten Julia Morgenmantel und Nachthemd aus- und Unterwäsche, Jeans und Pullover anzuziehen. Das war ein schreckliches Unterfangen gewesen, das sie hatte unterbrechen müssen, um sich im Wohnzimmer von einem Schwächeanfall zu erholen. Nur die Angst, die einsetzende Leichenstarre könnte alles unmöglich machen, wenn sie bis zum Eintreffen der anderen Frau wartete, hatte sie getrieben. Ein weiteres Problem waren die blutbefleckten Kleidungsstücke und der Hammer. Das begriff sie erst, als sie Julia umgezogen hatte. Sie packte die Sachen schließlich zu einem Bündel zusammen, ging in die Garage und legte das Bündel in den Kofferraum des Wagens der Darnells. Dann kehrte sie ins Haus zurück, um weiter zu warten.
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Als es endlich klingelte, öffnete sie die Tür und sah sich der Frau gegenüber, die sie erwartet hatte. Isobel Sowerby war eine Frau in mittleren Jahren, groß und füllig, mit schulterlangem, schwarzem Haar, dunklen stechenden Augen und aufgeworfenen Lippen. »Also, was wollen Sie von mir?« begann Mrs. Sowerby mit feindseligem Blick. »Wir werden gemeinsam einen Selbstmord arrangieren«, erklärte Frances. »Das verstehe ich nicht. Wenn Sie so viel wissen, weshalb haben Sie mich nicht einfach angezeigt?« fragte die andere. »Weil ich selbst in die Sache verwickelt bin. Ich habe den Fehler gemacht, nicht gleich die Polizei zu verständigen, als ich die Leiche gefunden hatte. Aber ich wollte Photos von mir und Oliver finden und habe mir erst viel zu spät überlegt, wie schwierig es werden würde, zu erklären, weshalb ich Julia nicht sofort nach meiner Rückkehr aus der Kirche entdeckt haben sollte. Ich stecke also genauso in Schwierigkeiten wie Sie. Deshalb halte ich es für das beste, wenn wir Julia in ihren Wagen setzen und sie über die Klippen ins Meer stürzen. Selbstmord in einer psychisch problematischen Situation nach dem Tod ihres Mannes – das klingt doch plausibel. Allerdings brauche ich jemanden, der mir hilft. Für mich allein ist Julia zu schwer.« »Also gut. Wie Sie meinen«, entgegnete Isobel Sowerby. »Aber geben Sie mir zuerst die Photos.« »Nachher«, widersprach Frances. »Nein, sofort. Sonst mache ich nicht mit.« »Später«, beharrte Frances. Sie musterten sich wachsam und feindselig, dann zuckte Isobel Sowerby mit den Schultern. »Bringen wir’s hinter uns«, seufzte sie schließlich. »Ich habe meinen Mann überredet, in den Golfclub zu fahren, um sich vom Begräbnis heute morgen abzulenken. Wie ich ihn kenne, trinkt er dort ein paar Gläser und kommt dann bald wieder nach Hause. Wenn er anfängt Fragen zu stellen, wird es schwierig für uns.« »Wie sind Sie heute morgen überhaupt ins Haus gekommen?« erkundigte sich Frances. »Das frage ich mich schon die ganze Zeit.«
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»Die Hintertür ist immer unverschlossen. Das wußte ich. Hier schließt niemand richtig ab.« »Und als Sie mich gehört haben, sind Sie geflohen?« »Ja. Also fangen wir endlich an.« Inzwischen war es draußen schon fast dunkel, und die Garagentür war von der Straße her nicht einsehbar. Sie konnten Julias Leiche also unbemerkt vom Haus zum Wagen tragen, sie auf den Beifahrersitz setzen und mit einer Decke verhüllen. Mit der ortskundigen Isobel Sowerby am Steuer fuhren sie schließlich in Richtung Küste davon. Isobel Sowerby fuhr vorsichtig die kurvenreichen Straßen entlang, bis sie schließlich die Klippen erreicht hatten und unter sich das tiefe, dunkle und schäumende Meer sahen. Nachdem Isobel den Wagen nah am Klippenrand geparkt hatte, stiegen sie und Frances aus und setzten gemeinsam die tote Julia auf den Fahrersitz. Danach brauchten sie nur den Motor wieder anzulassen, den ersten Gang einzulegen, die Türen zuzuschlagen und zurückzuspringen. Das Auto rollte langsam auf den Klippenrand zu und schien, dort einen Augenblick in der Luft zu hängen, bevor es vornüberstürzte. Das Krachen, mit dem der Wagen auf den Felsen schlug, hallte so laut wider, daß Frances glaubte, man hätte es meilenweit hören müssen. Später jedoch sprachen keine Anzeichen dafür, daß sie bemerkt worden waren. Um sie herum war es dunkel und still. Schließlich machten sie sich zu Fuß auf den langen Heimweg. Sie sprachen kein Wort. Erst als sie das Landhaus der Darnells erreichten, bemerkte Isobel Sowerby: »Ich habe keine Ahnung, was ich meinem Mann sagen soll. Er muß längst aus dem Golfclub zurück sein.« »Irgendwas wird Ihnen schon einfallen«, entgegnete Frances. Major Sowerby war ihrer Ansicht nach leicht hinters Licht zu führen. »Sie können immer behaupten, Sie seien im Fieber einfach ziellos herumgelaufen.« »So kommt es mir auch fast vor«, seufzte Isobel Sowerby. »Und jetzt geben Sie mir die Photos!« Frances führt sie ins Wohnzimmer und deutete auf das Häufchen Asche im Kamin.
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»Ich habe sie verbrannt.« Isobel starrte ungläubig auf die Asche und brach dann in hysterisches Gelächter aus. »Ich bin wirklich eine Idiotin!« rief sie aus. »Ich lerne nie was dazu. Ich hätte also überhaupt nicht kommen müssen!« »Aber ich brauchte Ihre Hilfe. Deshalb habe ich Ihnen natürlich nichts davon gesagt.« »Sind das wirklich die Reste von meinen Photos? Haben Sie sie wirklich vernichtet?« »Ja, zusammen mit meinen eigenen. Ich an Ihrer Stelle würde jetzt so schnell wie möglich nach Hause gehen. Ich rufe nämlich gleich die Polizei an und melde, daß Julia verschwunden ist.« Noch immer lachend wandte sich Isobel Sowerby zum Gehen und verschwand in der Dunkelheit. Frances nahm den Telefonhörer ab, rief die Polizei an und behauptete, sehr besorgt zu sein, weil sie eben entdeckt hatte, daß Mrs. Darnell, die mit hohem Fieber im Bett gelegen habe, plötzlich verschwunden sei. Auch der Wagen fehle. Sie habe das alles erst jetzt bemerkt, weil sie sich nach dem Trauerschmaus erschöpft hingelegt und bis vor kurzem geschlafen habe. Erst dann sei sie ins Zimmer von Mrs. Darnell hinaufgegangen und habe dieses verlassen vorgefunden. Sie berichtete weiter, Mrs. Darnell habe noch im Bett gelegen, als sie ihr zur Mittagszeit ein Glas Wein und etwas zu essen hinaufgebracht habe. Die Kranke habe zwar den Wein getrunken, aber das Essen verschmäht. Allerdings habe sie keine Ahnung, wann Mrs. Darnell aufgestanden und das Haus verlassen haben könnte, denn sie selbst habe tief und fest geschlafen und nichts gehört. Sie könne also nicht sagen, was eigentlich passiert sei. Der Beamte, der die Meldung entgegennahm, versprach, daß ein Kollege sofort bei ihr vorbeikommen würde. Frances legte den Hörer auf, nahm Besen und Kehrschaufel zur Hand, kehrte die Asche aus dem Kamin und spülte sie die Toilette hinunter. Völlig erschöpft begann sie schließlich das Eßzimmer aufzuräumen und hatte gerade mit dem Abspülen begonnen, als die Polizei eintraf. Danach ging alles erstaunlich glatt. Die Polizei fand das Autowrack am Fuß der Klippen und den Hammer und die blutbefleckten Klei-
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dungsstücke im Kofferraum. Außerdem stellten sie die Fingerabdrücke am Steuerrad sicher, die später als die von Mrs. Sowerby identifiziert werden konnten, und entdeckten außerdem einige obszöne Photos von dieser Dame in der Kommode in Oliver Darnells Atelier. Dazu kam, daß Major Sowerby in seiner großen Sorge um seine Frau, die er bei seiner Rückkehr aus dem Golfclub nicht zu Hause angetroffen hatte, aufgeregt bei mehreren Freunden und Bekannten angerufen und gefragt hatte, ob sie vielleicht bei ihnen sei. Auf diese Weise hatte er ihr jegliche Chance genommen, sich ein Alibi zurechtzulegen. Statt dessen erzählte sie diese völlig absurde Geschichte, sie sei von Mrs. Frances Liley angerufen und gebeten worden, ihr bei der Beseitigung von Julia Darnells Leiche zu helfen, die diese und nicht Isobel Sowerby ermordet habe, doch niemand schenkte ihr Glauben. Es bestanden zwar etliche Zweifel daran, daß sie allein mit der Leiche hatte fertig werden können, aber da sie eine großgewachsene, kräftige Frau war, klagte man sie trotzdem des Mordes an Julia Darnell an. Frances blieb bis nach der Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache im Landhaus der Darnells. Als ihre Anwesenheit dort nicht mehr notwendig war, rief sie Mark an und machte sich auf den Heimweg. Während der Heimfahrt erlebte sie einige der seltenen Momente der Selbstbesinnung. Eine besonders nette Zeitgenossin bin ich wirklich nicht, überlegte sie. Man könnte sie sogar für ziemlich brutal und rücksichtslos halten. Eigentlich war es Mark nicht zu verübeln, daß er sie verlassen und das kleine Püppchen heiraten wollte, in die er seit fünf Jahren verschossen war. Und wenn er endlich seine Ansprüche auf das Sorgerecht für die Kinder aufgeben würde, würde Frances ihn sogar gern ziehen lassen. Aber die beiden Mädchen waren die einzigen menschlichen Wesen, die Frances je tief und aufrichtig geliebt hatte. Wenigstens empfand sie für die Kinder das, was sie für Liebe hielt, und diese Gefühle ließen nie die Frage zu, ob es für die Mädchen nicht besser wäre, bei Mark zu bleiben. Frances fragte sich auch nicht, welche Wahl sie treffen würden, wenn man ihnen die freie Entscheidung überließe. Selbst in den seltenen Momenten der Selbstkritik kamen ihr derartige Überlegungen nicht in
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den Sinn. Sie wußte nur, daß die Kinder ihr gehörten und daß sie sich diesen Besitz nie würde nehmen lassen. Und so unmoralisch und grausam sie auch sein mochte, war sie nicht ein Werkzeug der Gerechtigkeit gewesen? Hatte sie nicht die Verhaftung von Julias Mörderin veranlaßt, ohne daß sie oder die beiden anderen dummen Frauen, deren Photos sie verbrannt hatte, behelligt worden waren? Nichts von all dem Schmutz würde ihnen anhaften oder vielleicht sogar auf die Kinder übergreifen. Leiden würde nur die Schuldige. Weshalb sollte man sie also kritisieren? Mit dem Gefühl wohliger Selbstzufriedenheit fuhr sie nach Hause zu Mark. Aus dem Englischen übertragen von Christine Frauendorf-Mössel
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Dick Francis Das Geschenk Als der Frühstücks-Astrojet aus La Guardia gerade noch zwanzig Minuten von Louisville in Kentucky entfernt war, zog Fred Collyer die Formulare heraus und begann seine Spesen zu notieren. Taxifahrt zum Flugplatz: fünfzehn Dollar. Es machte nichts, daß ein Nachbar, der auf Long Island arbeitete, ihn umsonst von Tür zu Tür gefahren hatte, – ein bißchen Phantasie im Spesenbereich brachte ihm zusätzlich ein halbes Monatsgehalt ein – unversteuertes Geld, da der Manhattan Star ihn für die Fakten bezahlte, die er jede Woche in seinem Montagskommentar über die Pferderennen des Wochenendes lieferte. Erfrischungen unterwegs, schrieb er: fünf Dollar. Einladungen von Informanten: sechs Dollar fünfzig. Um den bereits genannten Spesen ein wenig Berechtigung zu verschaffen, bestellte er bei der Stewardeß einen zweiten doppelten Bourbon und hob das Glas in einer stummen Geste, welche einem Mann galt, der auf der anderen Seite des Durchgangs schlief – dem Besitzer einer drittklassigen Stute, die sich vor zwei Wochen die Beine abgelaufen hatte, um wenigstens ihre Unterhaltskosten einzubringen. Wieder mal ein Kentucky Derby. Seine Gedanken flackerten wie die Kopie eines alten, zerkratzten Films über die Zeiten von ehedem. Die gleiche alte Schinderei am frühen Morgen bei den Stallungen, das gleiche endlose Herumstöbern in Berichten über frühere Rennen und die letzte Tagesform, die einen Hinweis auf die Zukunft liefern konnte. Die gleichen unergiebigen Schätzungen und Berechnungen auf der Bahn, die gleichen verleumderischen Gerüchte, die gleichen blöden Jockeys, die gleichen verbohrten Trainer, die ihr verdammtes, vertrotteltes Maul wie immer viel zu weit aufrissen. Die Zeiten jener brennenden Begeisterung, wie sie früher seine in mehreren Zeitungen gleichzeitig abgedruckten Artikel gekennzeichnet hatte, waren lange vorbei. Der Geist, der sich angesichts des großen Ereignisses zu erheben schien, das Flair, gerade dort eine Story zu entdecken, wo kein anderer auf die Idee gekommen wäre, der
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scharfe Instinkt, der ihn die Wahrheit von der Verschleierungstaktik zu unterscheiden lehrte, das alles hatte er einmal besessen – und das alles hatte ihn verlassen. An ihre Stelle waren die öden ausgedehnten Ebenen der Langeweile und eine unendlich zynische Müdigkeit getreten. Anstelle von Exklusivberichten bot er seiner Zeitung heute Wiedergekäutes aus den Ideen anderer Turf-Schreiber, und ein paarmal war ihm selbst das nicht mehr gelungen. Er war sechsundvierzig. Er trank. In seinem funktionellen New Yorker Büro zog der Sportredakteur des Manhattan Star eine Schnute angesichts des Berichts von Fred Collyer über die Everglades-Rennen in Hialeah, und er fragte sich im Ernst, ob es klug gewesen war, ihn wie üblich zum Kentucky Derby zu schicken. Dieser Kerl, dachte er mit Bedauern, war wirklich völlig kaputt. Sehr schade. Wirklich schade, daß er die Pfoten nicht von der Flasche fernhalten konnte. Kein Mensch konnte trinken und schreiben, jedenfalls nicht zugleich, zur selben Zeit. Erst schreiben, dann trinken, klar. Meinetwegen trinken bis zur Besinnungslosigkeit, bis zur völligen Vernebelung, meinetwegen. Aber danach. Eigentlich hätte er Fred schon längst feuern müssen, dachte er; natürlich hätte er sich nach einem Ersatz umsehen müssen, schon damals vor Monaten, als Fred zum erstenmal zu besoffen in die Redaktion kam, um noch die richtigen Tasten auf der Schreibmaschine zu finden. Dabei hatte dieser Trottel alles gehabt, was man für den Job brauchte: den richtigen Riecher für eine Story und die Gabe, sie so lebhaft zu schildern, daß einem die Worte direkt von der Seite ins Gehirn sprangen. Heute war nichts mehr von seiner Begabung übrig als sein Ruf und ein Echo früherer Zeiten – eine Technik, mit der er ein wenig zitterig und unsicher gerade noch etwas leistete, doch die Persönlichkeit dahinter war am Ertrinken. Der Redakteur des Sportteils schüttelte den Kopf über den Artikel vom Rennen in Hialeah und legte ihn beiseite. In der letzten Woche war Fred zweimal nicht mehr in der Lage gewesen, irgendeine Geschichte zu schreiben. Und jedesmal wenn er versäumt hatte, anzuru-
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fen und seinen Artikel durchzugeben, hatten sie sich einfach irgendeinen Sums zusammengereimt und den Namen Collyer druntergeschrieben, aber zwei verpaßte Termine waren nicht mehr zu verzeihen. Beim dritten war es vorbei. Die Geschäftsleitung murrte bereits lauter darüber als über die nach oben gegangenen Spesenkosten, und wenn sie erst dahinterkamen, daß man bereits zweimal nichts als besoffenes Schweigen von ihm erhalten hatte, würde ihn keine Erinnerung an die alten Zeiten retten können. Ich habe ihn gewarnt, dachte der Sportredakteur mit einem unguten Gefühl. Ich habe ihm gesagt, daß er darauf achten und diesmal rechtzeitig seinen Bericht durchgeben soll. Eine heiße Reportage wie früher. Ich hab’ ihm gesagt, er soll aus dem Bericht über dieses Derby einen von seinen ganz großen Artikeln machen. Fred Collyer bezog das Motelzimmer, das ihm die Zeitung reserviert hatte, und kippte drei schnelle Vormittagsverbesserer aus der Flasche, die er sich in seiner Aktentasche mitgebracht hatte. Er schob die Warnung des Sportredakteurs in eine entlegene Gegend seines Hinterkopfes, weil er davon überzeugt war, daß er betrunken oder nüchtern immer noch besser war als alle anderen Sportkommentatoren, vorausgesetzt, er fand eine Story, die die Mühe lohnte. Das Dumme war, daß es heutzutage kaum noch gute Stories gab. Mit einem Taxi fuhr er zu den Churchill Downs. – Taxifahrt: vier Dollar fünfzig, schrieb er unterwegs und gab dem Fahrer samt Trinkgeld zweifünfundsiebzig. Drei Tage vor dem Derby sah der Rennplatz sauber, frisch und erwartungsvoll aus. Leuchtendrote Tulpen in ordentlichen Rabatten reckten ihre Blütenblätter gleichmäßig in den Himmel, und das Gras strahlte saftig grün wie ein frisch shampoonierter Teppich. Ohne das alles zu bemerken, fuhr Fred Collyer mit dem Lift ins Dachgeschoß und ging über die letzten paar offenen Stufen, wo der Wind wehte, in den riesigen, mit Glasfronten versehenen Presseraum, der sich oberhalb der Tribüne befand. Drinnen saßen ein paar Männer an den Reihen von Schreibmaschinen und trommelten die Texte für die Sportseiten des nächsten Tages, und ein paar standen auf dem Balkon und beobachteten den ersten Lauf, aber die meisten beschäftigten sich mit
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der Aufgabe des Tages, welche darin bestand, sich gemütlich miteinander zu unterhalten und den neuesten Klatsch auszutauschen. Fred Collyer kaufte sich eine Dose Bier an der eher schlichten Bar und ging damit zu dem Platz, der mit seinem Namensschild versehen war, wobei er unterwegs Hallos tauschte mit Gesichtern, die er von den Rennplätzen zwischen Saratoga und Hollywood Park kannte. Da er meistens in Hotels wohnte und sich völlig entwurzelt fühlte, seit Sylvie die Nase voll davon hatte, daß er nie nach Hause kam und immer trank, und mit den Kindern zurück zu Mama nach Nebraska gezogen war, sah er in den Presseräumen auf den Rennplätzen seine einzige wirkliche Heimat. Hier fühlte er sich entspannt, hier zollte man ihm den nötigen Respekt. Er ahnte freilich nicht, daß die Bewunderung, die er früher bei seinen Kollegen hervorgerufen hatte, allmählich dahinschwand und sich in verständnisvolles Mitleid verwandelte. Er saß bequem in seinem Sessel und las eine der vervielfältigten Pressemitteilungen des Tages. ›Trainer Harbourne Cressie berichtet, daß bei Pincer Movement keine Sorge besteht, nachdem er heute morgen vier Viertelmeilen auf der Rennbahn zurückgelegt hat.‹ »Das Gerücht, Salad Bowl hätte am vergangenen Abend unter erhöhter Temperatur gelitten, entbehrt den Tatsachen, wie Tierarzt John Brewer im Namen der Besitzerin Mrs. L. (Loretta) Hicks erklärt.« Wunderbar, dachte er sarkastisch. Negative Nachrichten sind gar keine Nachrichten, das galt auch für die Pferde bei einem Derby. Er blieb den ganzen Nachmittag im Presseraum, trank Bier, diskutierte über dies und das und gar nichts mit Turfautoren, Photographen, Publizisten und Radioreportern, und dabei schaute er immer wieder uninteressiert auf die Fernsehmonitore, die Bilder von der Rennbahn übertrugen. Gelegentlich ging er auf den Balkon, um auf den Ameisenhaufen von Menschen hinunterzuschauen, die vor der Tribüne umherwuselten. Vollkommen überflüssig, sich dort unten herumzutreiben, wie er das früher getan hatte, dachte er. Alles und jeder von Interesse kam irgendwann einmal in den Presseraum und
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teilte die Informationen löffelweise und wohldosiert an die anwesenden Reporter aus. Am Ende des Tages nahm ihn ein Kollege mit seinem Leihwagen – Taxifahrt: vier Dollar fünfzig – zurück in die Stadt, und am Abend fuhr er, nachdem er sich mit einer ausreichenden Unterlage von Bourbons versehen hatte, zum alljährlichen Dinner der TurfreporterVereinigung. Die Menschenmenge im großen Empfangssaal des Hotels freute sich offenbar über seine Anwesenheit, und er bewegte sich unter der Auswahl von Presseleuten, Trainern, Jockeys, Pferdezüchtern, Rennstallbesitzern und deren Gattinnen und Freundinnen wie ein Fisch in seinem eigenen vertrauten Teich. Automatisch kippte er vor dem Dinner vier Doppelte auf Eis, und während des Essens und der stets ausführlichen Ansprachen danach hielt er die Zufuhr ungebremst. Um halb zwölf, als er versuchte, von der Tafel aufzustehen, konnte er seine Beine nicht mehr beherrschen. Das überraschte ihn. Er setzte sich wieder – er hatte gar nicht bemerkt, daß er betrunken war. Seine Zunge arbeitete noch so gut wie die der meisten Leute in seiner Umgebung, und auch seine Gedanken wirkten, jedenfalls für seinen eigenen Geschmack, bestens organisiert. Aber seine Beine knickten immer wieder ein, wenn er sie belastete, und er ließ sich wieder auf seinen Sessel plumpsen. Erst wesentlich später, als der riesige Raum sich geleert hatte und die meisten Gäste nach Hause gegangen waren, gelang es ihm, seine ganze Kraft zusammenzunehmen und aufzustehen. »Ich glaub’, ich hab’ die Hucke voll«, murmelte er und lächelte nachsichtig in sich hinein. Er hielt sich an den Stuhllehnen fest und lehnte sich zwischendurch gegen die Wand; so näherte er sich allmählich der Tür. Von dort aus taumelte er auf den Gang und in die Halle, dann durch die Schwingtüren aus Glas in die Nacht. Die kühle Mailuft machte alles noch schlimmer. Der Boden schien sich buchstäblich unter seinen Füßen zu drehen. Er beschrieb, zur Seite geneigt, einen Halbkreis, und statt auf die geparkten Wagen und wartenden Taxis zuzugehen, stieß er mit dem Kopf voraus gegen die dunkle Ziegelwand neben dem Eingang des Hotels. Der Stoß schmerzte und verwirrte ihn noch mehr. Er drückte beide Hände auf
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die rauhe Oberfläche vor ihm, lehnte das Gesicht dagegen und hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er war. Marius Tollman und Piper Boles hatten nicht gesehen, daß Fred Collyer vor ihnen hinausgegangen war. Sie schlenderten gemeinsam denselben Weg entlang und bedienten sich der üblichen gesellschaftlichen Phrasen und Gesten, die Menschen benutzten, die sich zufällig am Ende eines Abends trafen, wobei sie durch nichts erkennen ließen, daß sie sich in Wirklichkeit schon seit Stunden immer wieder bedeutungsvolle Blicke zugeworfen und fast ausschließlich an das Gespräch gedacht hatten, das vor ihnen lag. In einem Land, in dem die Buchmacherei legal ist, wäre Marius Tollman vermutlich ein ehrbarer, die Gesetze achtender Bürger gewesen. Aber unter den herrschenden Umständen hatte ihn seine natürliche Neigung, die zugleich sein einziges Talent war, zu einem Leben der raschen Beinarbeit gezwungen, wie sie eines Muhammad Ali würdig gewesen wäre. Allein durch das altbewährte Hilfsmittel der guten Tips für die zukünftigen Größen der Rennwelt – solange sie noch jung genug waren, um keine Ahnung zu haben – gelang es ihm, von ihnen unbehelligt zu bleiben, wenn sie erst Stellung und Macht erlangt hatten. Die einzigen Sieger, die der alte, schlaue Marius noch besser ausfindig machen konnte als die Sieger unter den Pferden, waren die jungen, nach oben strebenden Dachse, die in sein Büro stürmten, in dem die Wettnotierungen angeschlagen waren. Die beiden Männer gingen durch die Glastüren und blieben draußen stehen, während das Licht aus der Halle voll auf die zwei Gestalten fiel. Marius zog seine Leute grundsätzlich nicht in dunkle Ecken, weil er fand, daß das zu verdächtig aussah. »Hast du die Jungs dazu gekriegt, daß sie mitmachen?« fragte er und stand dabei auf den Hacken, hatte die Hände in den Hosentaschen und ließ den Bauch über den Gürtel quellen. Piper Boles zündete sich bedächtig eine Zigarette an, schaute sich lässig um, warf einen Blick auf den mit Sternen besetzten Himmel und sog dann den tröstenden Rauch in seine Lungen. »Ja«, sagte er. »Und auf wen ist die Wahl gefallen?« »Auf Amberezzio.«
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»Nein«, protestierte Marius. »Der ist nicht gut genug.« Piper Boles sog den Rauch tief in seine Lunge. Er hatte Hunger. Morgen durfte er höchstens fünfzig Kilo auf die Waage bringen, und er hatte nur ein bescheidenes Hundertfünfziggrammsteak im Bauch. Dabei verachtete er fette Kerle – vor allem reiche, fette Kerle. Er selbst steckte seine kleinen Fettpolster weg in Form von Grundbesitz und Anlagepapieren, aber jetzt, mit achtunddreißig, gingen die körperlichen Anstrengungen beinahe an die Grenzen seiner Kraft. Er wußte nicht, ob er das ständige Hungern noch lange ertragen konnte, und er fand es um so schlimmer, je mehr sein Körper alterte. Ein unangenehmes Gefühl hatte ihn gerade in letzter Zeit dazu getrieben, daß er sich überlegte, wie man auf die schnelle Zehntausend und mehr machen konnte – notfalls mit Mitteln, die er früher zutiefst verachtet hätte. Jetzt sagte er: »Er ist anständig. Der einzige. Er muß derjenige sein.« Marius überlegte; die Sache gefiel ihm nicht, aber er nickte zuletzt. »Also dann meinetwegen. Amberezzio.« Piper Boles nickte ebenfalls und wollte schon weggehen. Es war nicht gut für einen Jockey, wenn er zu lang im Gespräch mit Marius Tollman gesehen wurde – es sei denn, er fand sich damit ab, in Zukunft die zweite Garnitur des angesehen Gestüts der Somerset Farms zu reiten, was in diesem Fall sicherlich passieren würde. Marius bemerkte den Impuls und sagte glatt: »Hast du schon über ein Ablenkungsmanöver, sagen wir, einen Fehltritt von Crinkle Cut nachgedacht?« Piper Boles zögerte. »Das kostet aber etwas.« »Sicher«, stimmte ihm Marius bereitwillig zu. »Wie wär’s mit noch einem Tausender obendrauf?« »In gebrauchten Scheinen. Die Hälfte im voraus.« »Klar.« Piper Boles verscheuchte mit einem Achselzucken sein schlechtes Gewissen und warf den Rest seiner Anständigkeit über Bord. »Okay«, sagte er und ging so langsam zu seinem Wagen, als wären seine sämtlichen Nervenstränge beim Gehen angespannt.
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Fred Collyer hatte jedes Wort gehört, und er wußte, ohne hinsehen zu müssen, daß eine der beiden Stimmen Marius Tollman gehörte. Unmöglich, wenn man lange genug mit der Welt der Zocker vertraut war, seinen etwas asthmatischen Bostoner Akzent zu verkennen. Er hatte dem Gespräch entnommen, daß Marius einen Schwindel eingefädelt hatte, und fand, daß so ein netter kleiner Schwindel prima in seinen Kommentar paßte. Er dachte etwas benebelt, daß es zuvor notwendig war, herauszufinden, mit wem Marius gesprochen hatte. Er entschloß sich, da die Unterhaltung hinter seinem Rücken stattgefunden hatte, sich umzudrehen und den Knaben zu betrachten. Aber sein Zeitgefühl war etwas verschoben, und als er sich von der Wand abstieß und den Versuch unternahm, in die richtige Richtung zu schauen, waren beide Männer schon verschwunden. »Schweinehunde«, schimpfte er laut in die leere Nacht, und ein anderer später Gast, der gerade das Hotel verließ, nahm ihn mitleidig am Ellbogen und brachte ihn zu einem Taxi. Fred kam sicher in sein eigenes Motelzimmer, bevor er das Bewußtsein verlor. Seit er am Vormittag von La Guardia abgeflogen war, hatte er sechs Bier, vier Brandys, einen doppelten Scotch – durch Irrtum – und fast eine ganze Flasche Bourbon getrunken. Er wachte am nächsten Tag um elf auf und konnte es nicht glauben. Benommen starrte er auf den Wecker neben dem Bett. Elf. Er hatte den Besuch bei den Stallungen verpaßt und das ganze morgendliche Karussell auf der Rennbahn. Als ihm das klar wurde, lief ihm erst einmal ein kalter Schauer über den Rücken, aber es wurde noch schlimmer. Beim Versuch, sich aufzusetzen, drehte sich das ganze Hotelzimmer, und in seinem Kopf pochte es, als wäre sein ganzer Körper ein einziger Dampfhammer. Nachdem er die Decke zurückgeschlagen hatte, stellte er fest, daß er voll angekleidet und mit den Schuhen an den Füßen geschlafen hatte. Und als er versuchte, sich zu erinnern, was er am Abend zuvor getan hatte, fiel es ihm nicht mehr ein. Er trottete mühsam ins Bad. Sein Gesicht im Spiegel blickte ihm wie ein Wesen aus einem Alptraum entgegen, faltig und mit roten Augen, über Nacht um zehn Jahre gealtert. Er hatte schon öfter mal
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einen Kater gehabt, aber diesmal fühlte es sich nicht an wie der übliche Morgen danach. Das Gefühl eines nicht wiedergutzumachenden Desasters schwebte irgendwie über und hinter dem akuten körperlichen Unwohlsein seines Kopfes und Magens, aber dessen Ursache entdeckte er erst, als er Jacke, Hemd und Hose ausgezogen und die Schuhe abgestreift und sich danach wieder matt aufs Bett gelegt hatte. In diesem Augenblick wurde ihm bewußt, daß er nicht nur keine Erinnerung daran hatte, wie er in sein Motel zurückgekommen war, sondern daß er auch überhaupt nicht mehr wußte, was sich an dem Abend ereignet hatte. Gesprächsfetzen von der ersten Stunde kehrten zurück, und er erinnerte sich daran, daß er an einem Tisch mit einem mürrischen alten Journalisten der Baltimore Sun und mit einer ernsten Frau, die in Lexington eine Zucht betrieb, gesessen hatte. Er erinnerte sich daran, daß er die beiden nicht ausstehen konnte, aber etwa vom gebratenen Hühnchen an erstreckte sich eine durch nichts unterbrochene Leere im Gehirn. Er hatte von alkoholischen Blackouts gehört, aber er hatte immer angenommen, daß die nur bei einem richtigen Alkoholiker vorkamen, und er, Fred Collyer, war das doch keineswegs! Sicher, er war bereit, zuzugeben, daß er hier und da ein bißchen trank. Also schön, manchmal ’ne ganze Menge. Aber er konnte jederzeit aufhören damit, wenn er wollte. Natürlich konnte er das – jederzeit. Er lag auf dem Bett und schwitzte und stellte sich vor, daß ein Blackout zum nächsten führen würde, bis aus den Blackouts rosa Panther wurden, die die Wände hochkletterten. Die Warnung des Sportredakteurs klang ihm in den Ohren und schlug voll ins Kontor, und zum erstenmal begann er, nachdem er immerhin schon zweimal seinen Text für die Spalte nicht abgeliefert hatte, sich Sorgen um seinen Job zu machen. Aber innerhalb von fünf Minuten hatte er sich wieder beruhigt und sich klargemacht, daß sie einen Fred Collyer niemals feuern würden. Dennoch nahm er sich um der Zeitung willen vor, das Trinken sein zu lassen, bis er den Artikel über das Derby geschrieben und abgeliefert hatte. Dieser Entschluß gab ihm ein warmes Gefühl von selbstloser Tugend, und das half ihm einigerma-
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ßen über die Zitteranfälle und die stetig pulsierenden Kopfschmerzen dieses außergewöhnlich scheußlichen Tages hinweg. Draußen bei den Churchill Downs gab es noch drei Männer, die sich Sorgen machten. Piper Boles trieb sein Pferd in die Startmaschine und machte sich Gedanken über das, was George Highbury, der Trainer des Rennstalls von Somerset Farms, gesagt hatte, als er zwei Pfund Übergewicht auf die Waage brachte. George Highbury hielt sich sämtlichen Jockeys für turmhoch überlegen und sprach stets sehr mürrisch und kurz angebunden mit ihnen, nach dem Motto: Vogel friß oder stirb. »Komm mir bloß nicht mit solchem Scheiß«, hatte er auf die Ausreden von Boles geantwortet. »Du warst natürlich gestern abend beim Dinner der Turfreporter – was erwartest du eigentlich?« Piper Boles erinnerte sich mit düsteren Gedanken an seinen hungrigen Abend mit einem einzigen Martini und sagte, er habe heute früh bereits in der Schwitzbox gesessen. Highbury zog die Stirn in Falten. »Komm heut abend bloß nicht mit deinem fetten Arsch einem gedeckten Tisch in die Nähe, wenn du Crinkle Cut beim Derby reiten willst.« Piper Boles mußte unbedingt Crinkle Cut beim Derby reiten. Er nickte Highbury mit niedergeschlagenem Blick zu und schwang sich dann unfroh in den Sattel. Statt ihn anzustacheln, hatte ihn die Drohung, daß ihm der Ritt auf Crinkle Cut verweigert werden könnte, dazu gebracht, daß seine Konzentration nachließ, so daß er zu langsam aus der Startmaschine kam, das erste Viertel zu rasch anging, um den dritten Platz zu erreichen, an der Kurve zu weit aus der Ideallinie kam und in der Geraden den Spurt verlor. Am Schluß war er Sechster. Dabei war er ein absolut erfahrener Jockey mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten. Es war eben nicht einer seiner besten Tage. Auf der Tribüne setzte Marius Tollman seinen Feldstecher ab, schüttelte den Kopf und schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. Wenn Piper Boles nicht besser ritt, so daß man annehmen konnte, daß er als erster ins Ziel kam, war das Vorhaben sinnlos. Crinkle Cut mußte als Favorit gelten und dann das Rennen verlieren.
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Marius dachte an die Zehntausend, die er selbst am Samstag setzen wollte. Er war noch nicht entschlossen, ob er gewissen schweren Jungs aus dem organisierten Verbrechen von dem Tip abraten sollte, so daß sie ihren Einsatz auf eigenes Risiko wagten, was für ihn selbst das Ungefährlichere war, oder ob er auf den größeren Profit hoffen und sich darauf verlassen sollte, daß alles klappte wie vorhergesehen. Er ließ seinen umfangreichen Leib ächzend nieder und dachte mit Sorgen daran, wie leicht ein sicheres Rennen zu einem sehr unsicheren werden konnte. Blisters Schultz dagegen machte sich Sorgen um sein Gewerbe, das in einer schweren Existenzkrise steckte. Blisters Schultz leerte Taschen zum Broterwerb, und er haßte die Kreditkarten. In den alten Tagen, als er die Tricks auf den Knien seines Großvaters gelernt hatte, hatten die Männer ihre Brieftaschen mit den Scheinchen in den hinteren Hosentaschen, wo sie sich so deutlich abdrückten, daß jeder es sehen konnte. Heutzutage hatten all diese billigen Ex-und-hopp-Diebe den Markt völlig ruiniert: Es gab nur noch wenige Opfer, die mehr als eine Handvoll Dollar bei sich trugen, und wenn, dann teilten sie sie auch noch in zwei Portionen auf, wobei sie das größere Geld mit Reißverschlüssen gesichert hatten. Dreiundfünfzig Jahre hatte Blisters auf dem Buckel; fünfundvierzig Jahre lebte er vom Stehlen. Die verschiedenen, kürzeren Sitzungen hinter Gittern hatte er als Pech angesehen, und sie waren für ihn kein Grund, nicht die erstbeste Brieftasche zu ziehen, die er nach seiner Entlassung für geeignet hielt. Einmal hatte er es mit einem normalen Beruf versucht, aber das hatte ihm nicht gefallen; er brachte es einfach nicht fertig, sich an regelmäßige Arbeitszeiten zu gewöhnen, und außerdem störte ihn das schreckliche Gefühl, richtig zu arbeiten. Nach sechs Wochen hatte er seinen gutbezahlten Job wieder aufgegeben und war glücklich und dankbar in die Unsicherheit zurückgekehrt. Es machte ihm mehr Freude, zwei Dollar zu stehlen als zehn zu verdienen. Für den besten Fischzug auf Rennplätzen mußte man entweder die dicken Brieftaschen entdecken, bevor das Geld verspielt war, oder man mußte einem großen Gewinner vom Schalter aus folgen. In
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beiden Fällen mußte man sich in der Nähe des Totalisators herumtreiben und die Augen offenhalten. Das Dumme war, daß zu viele Rennplatzwachen die Gewohnheiten der Diebe kannten und ihrerseits die Leute beobachteten, die herumstanden, um Leute zu beobachten. Blisters hatte eine schlechte Woche hinter sich. Die vielversprechendsten Brieftaschen hatten sich nach halbstündiger, mühsamer Jagd als enttäuschend erwiesen; sie enthielten wenig Geld und viel Pornographie. Blisters, der über einen eher mäßigen Sexualtrieb verfügte, war bitter enttäuscht von dem Ergebnis. In den ersten beiden Arbeitstagen dieser Woche hatte er nur dreiundzwanzig Dollar Gewinn gemacht, und fünf davon hatte er auf einer Treppe gefunden. Sein bescheidenes Zimmer in Louisville kostete acht Dollar die Nacht, und wenn er das Fahrgeld und den Proviant in Rechnung stellte, mußte er mindestens dreihundert Dollar einnehmen, damit sich die Reise überhaupt lohnte. Aber als alter Optimist erwärmte er sich bei dem Gedanken an den Tag des Derbys. Das Aussuchen und das Ziehen war sicherlich leichter, wenn erst die Zuschauermassen und die echten Zocker hier versammelt waren. Fred Collyer hielt seine persönliche Prohibition den ganzen Freitag über aufrecht. Er fühlte sich beim Aufwachen am Morgen wesentlich wohler, fuhr um halb acht mit dem Taxi zu den Churchill Downs und trug unterwegs die Spesen in das Formular ein, darunter auch viele mythische Punkte für den vergangenen Tag, weil er es für besser hielt, wenn die Redaktion nicht erfuhr, daß er am Mittwochabend bis zum Zusammenbruch abgesackt war. Die auf diese Weise beträchtlich gewachsene Endsumme erhöhte er noch ein bißchen mehr; schließlich war Bourbon nicht gerade billig, und ab Sonntag konnte er sich dann wieder gehenlassen. Der erste Schock über den Blackout hatte sich gemildert, denn während er im Bett lag, erinnerte er sich dann doch an das eine oder andere, was zeitlich später gewesen war als das gebratene Huhn. Wie er vom Dinner ins Bett gekommen war, entzog sich noch immer seinem Bewußtsein, aber die Leere beunruhigte ihn nicht mehr. Manchmal hatte er das Gefühl, daß sich etwas Entscheidendes ereig-
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net hatte, an das er sich erinnern mußte, aber er redete sich ein, daß er es sicher nicht vergessen hätte, wenn es wirklich wichtig gewesen wäre. Bei den Stallungen hatten sich bereits Gruppen von Presseleuten um die Trainer der aussichtsreichsten Derbyteilnehmer gebildet. Fred Collyer ließ sich zum äußeren Kreis von Harbourn Cressie treiben, und seine Kollegen machten ihm Platz, ohne auf seine Abwesenheit am Tag zuvor einzugehen. Das beruhigte ihn: Was immer er am Mittwochabend gemacht hatte, es war wenigstens nicht skandalös gewesen. Notizbücher lagen in den Händen der Journalisten. Harbourn Cressie, der auf eine lange Erfahrung zurückblicken konnte und die Publicity liebte, legte nach jedem Satz eine Pause ein, damit die Presseleute jedes Wort mitschreiben konnten. »Pincer Movement hat gestern abend gut gefressen und ist heute morgen kühl und ruhig. Nach der Papierform halten wir mit Salad Bowl spielend mit, es sei denn, die Bahn ist am Samstag langsamer als heute.« Lächeln in der Runde. Der Himmel blau, die Wettervorhersage heiter. Fred Collyer hörte ohne große Aufmerksamkeit zu. Das oder Ähnliches hatte er unzählige Male gehört. Sie alle hatten es unzählige Male gehört. Wen interessierte das eigentlich noch? In einer rivalisierenden Gruppe teilte der Trainer von Salad Bowl mit, daß sein Pferd die Kraft hatte, Pincer Movement zu besiegen, egal, ob die Bahn langsam sei oder nicht. George Highbury zog noch weniger Journalisten an, da er nicht allzuviel über Crinkle Cut zu sagen hatte. Der Dreijährige war bei verschiedenen Gelegenheiten sowohl von Pincer Movement als auch von Salad Bowl geschlagen worden, und man rechnete nicht damit, daß das plötzlich anders würde. Am Freitag nachmittag hielt sich Fred Collyer im Presseraum auf und verweigerte männlich-hart das Angebot mehrerer Freibiere. – Bewirtung von Rennstallbesitzern auf der Bahn, zweiundzwanzig Dollar.
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Piper Boles ritt ein hartes Finish im sechsten Rennen, verlor nur um eine Nasenlänge und wäre danach von der durch den Hunger verursachten Schwäche im Umkleideraum der Jockeys beinahe ohnmächtig geworden. George Highbury, der es nicht gemerkt hatte, stellte nur in säuerlichem Ton fest, daß Boles das vorgeschriebene Gewicht geschafft hatte und dementsprechend beim morgigen Rennen Crinkle Cut reiten würde. Mehrere Freunde von Piper Boles, die ihn stützten und zu einer Liege führten, flüsterten ihm besorgt ins Ohr, ob der für morgen festgelegte Plan noch gültig sei. Piper Boles nickte. »Klar«, sagte er schwach. »Alles wie vereinbart.« Marius Tollman war erleichtert zu sehen, daß Boles besser geritten war, aber er entschloß sich dennoch, auf Nummer Sicher zu gehen und das Syndikat über die Aktion in Kenntnis zu setzen. Blisters Schultz zog zwei Brieftaschen, die vierzehn beziehungsweise zweiundzwanzig Dollar enthielten. Und er verlor zehn davon, weil er im letzten Rennen einen sicheren Gewinner mit seiner Wette unterstützte. Pincer Movement, Salad Bowl und Crinkle Cut, behütet von uniformierten Wachleuten, die Pistolen an den Seiten trugen, schauten über die Halbtüren der Stallungen heraus und beobachteten mit leichtern Zittern ihrer austrainierten Muskeln, wie andere Pferde zur Bahn geführt wurden. Alle drei wären auch gern mit hinausgegangen. Sie wußten freilich auch genau, was die Stunde geschlagen hatte. Samstagmorgen, heiter und klar. Tausende näherten sich den Churchill Downs. Aufgeregt, erwartungsvoll, schnatternd, in bunte Farben gekleidet, Mint Juleps aus Souvenirgläsern trinkend, ergossen sie sich durch die Tore und über das Innenfeld, lasen die neuesten Sportkolumnen über Pincer Movement gegen Salad Bowl und träumten von einem Außenseiter, der mit fünfzig zu eins gewinnen würde. Blisters Schultz hatte gerade genug zusammengekratzt, um seine Motelrechnung bezahlen zu können, aber seine Selbstachtung hing jetzt davon ab, daß er mit seinen Fischzügen einen besseren Schnitt machte. Sein schmales, faltiges Gesicht mit den emsigen Augen zeigte einen beinahe verzweifelten Ausdruck, und die langen, räube-
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rischen Finger ballten und entspannten sich konvulsiv in seinen Hosentaschen. Piper Boles, der das vorgeschriebene Gewicht für Crinkle Cut erreicht hatte, gestattete sich ein Frühstücksei und entschied sich, Wertpapiere zu kaufen für die fünfhundert Dollar in gebrauchten Scheinen, die er am Abend zuvor bar übergeben bekommen hatte; zusammen mit den Gewinnen – den legalen und den illegalen – wollte er sie noch an diesem Tag einzahlen. Wenn er heute nachmittag gut abgeräumt hatte, gab es keinen Grund, warum er nicht den gleichen Plan noch einmal durchziehen sollte, vielleicht gelang ihm auch später etwas, wenn er sich aus seinem Jockeyberuf zurückgezogen hatte. Er bemerkte kaum die Veränderung in seinen Gedanken – von zögernder Unehrlichkeit zum gewohnheitsmäßigen Betrug. Marius Tollman verbrachte den Vormittag damit, daß er mit verschiedenen Bekannten telefonierte und ihnen einen Tip mit Profit anbot. Seine Angebote wurden akzeptiert. Marius Tollman fiel eine Last vom Herzen, und mit federndem Schritt brachte er seine zweihundertsechzig Pfund Lebendgewicht ins Zentrum, wo ein sorgfältiger Gentleman ihm zehntausend Dollar in unauffälligen, gebrauchten Scheinen auszahlte. Marius Tollman gab ihm eine Quittung, die er ordentlich unterzeichnet hatte. Geschäft war Geschäft. Fred Collyer sehnte sich nach einem Drink. Einer, dachte er, könnte nicht schaden. Er würde ihn ein bißchen aufmuntern, ihn geistig auf die Zehenspitzen bringen. Ein kleiner Drink am Morgen würde ihn ja wohl nicht davon abhalten, am Abend einen tollen Artikel zu schreiben. Der Star konnte ja wohl nichts gegen einen einzigen kleinen Drink einzuwenden haben, bevor er zum Rennen ging, vor allem, da er sich am Abend zuvor von allen Bars ferngehalten hatte und um neun ins Bett gegangen war. Seine Abstinenz hatte ihn viel Willenskraft gekostet; so viel Tugend mußte mit einem einzigen, kleinen Drink belohnt werden. Freilich – er hatte am Mittwochabend die Flasche Bourbon geleert, die er sich nach Louisville mitgebracht hatte. Jetzt nahm er seine Brieftasche heraus, um festzustellen, wieviel Bares er noch hatte: dreiundfünfzig Dollar, also genug für die allgemeinen Ausgaben und
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eine Flasche für später, dazu für einen kleinen Drink an der Bar, bevor er wegging. Er fuhr nach unten. In der Lobby bot ihm sein Kollege Clay Petrovitch wieder eine Freifahrt in seinem Leihwagen zu den Churchill Downs an, so daß er sich entschied, den Drink noch um eine halbe Stunde aufzuschieben. Auf dem ganzen Weg zum Rennplatz verpaßte er sich in Gedanken kleine, lobende Streicheleinheiten. Blisters Schultz, der sich in der Menschenmenge hinter der Tribüne herumtrieb, sah, wie Marius Tollman im Sonnenschein vorbeiging und sich nach hinten lehnte, um das Gewicht des hängenden Bauches auszugleichen, und hörte, wie er in der allmählich ansteigenden Hitze keuchte. Blisters Schultz leckte sich die Lippen. Er kannte den fetten Mann vom Sehen, wußte, daß dieser Kerl irgendwo an seinem Körper so viel Kies hängen hatte, daß er, Schultz, damit leicht durch den Winter kommen könnte. Marius Tollman kam nie mit leeren Taschen zum Derby. Zwei Gedanken ließen Schultz zögern, als er glatt wie ein Aal in das Kielwasser des Alten steuerte. Der erste war, daß Tollman zu alt und erfahren war, um sich berauben zu lassen. Und der zweite, daß er Freunde in gewissen Organisationen hatte, und wenn Tollman das Geld der Organisation bei sich hatte, würde sich Blisters nicht daran die Finger verbrennen wollen. Bedauernd ließ er dementsprechend von seinem Opfer ab und kehrte zu der Menge im angenehmen Schatten unter der Tribüne zurück. Um zwölf Uhr siebzehn mischte er sich unter die dicht beisammenstehende Gruppe von Leuten, die auf einen Lift warteten. Um zwölf Uhr achtzehn stahl er Fred Collyers Brieftasche. Marius Tollman hatte sein Geld in raffiniert gearbeiteten Achseltaschen verstaut, die er in einer Menschenmenge auch noch an seinen Körper drückte aus Angst vor Taschendieben. Wenn es an der Zeit war, wollte er so viele Schalter besuchen wie möglich und den Einsatz unauffällig verteilen. Er würde Piper Boles fast die Hälfte der Wettscheine geben – zusammen mit den zweiten fünfhundert Dollar in gebrauchten Scheinen – und die andere Hälfte für sich behalten.
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Eine hübsche, saubere kleine Sache, dachte er zufrieden. Und es gab keinen Grund, warum er dieselbe Szene nicht später noch einmal arrangieren sollte. Er kaufte sich einen Mint Julep und lächelte das Mädchen an, das über mehr Busen als Schüchternheit verfügte. Die Sonne heizte dem Tag ein. Die ersten Prüfungen liefen programmgemäß ab, und jedes Rennen wurde von aufmunternden Rufen begleitet; aber dennoch war auch ein noch so hart gerittenes Finish nicht mehr als eine Nebensache vor dem eigentlichen, großen Ereignis, dem Derby, dem Höhepunkt im neunten Rennen. Im Aufenthaltsraum der Jockeys hatte sich Piper Boles längst in seinen Seidenanzug geworfen, mit den Stallfarben von Crinkle Cut, und er begann zu schwitzen. Je näher das Rennen rückte, desto mehr wünschte er sich, es wäre ein ganz gewöhnlicher Derbytag wie jeder andere. Er beruhigte seine Nerven, indem er die Financial Times las. Fred Collyer bemerkte den Verlust seiner Brieftasche oben im Presseraum, als er versuchte, sich ein Bier zu kaufen. Er fluchte, suchte in allen Taschen, kehrte im Presseraum das Unterste zuoberst, ließ sich von Clay Petrovitch die Wagenschlüssel geben und ging zurück zum parkenden Auto. Nach einer ergebnislosen Suche stampfte er wütend zur Tribüne zurück und drehte in Gedanken dem lausigen, stinkenden Sohn einer Hündin, der ihm sein Geld geklaut hatte, den Hals um. Es war sicher ein alter Profi, wahrscheinlich sogar ein alter Mann. Die jungen Gauner verließen sich mehr auf ihre Muskeln als auf ihre Raffinesse. Die durch den Verlust entstandenen praktischen Probleme waren nicht allzugroß. Er brauchte nicht viel Bargeld. Clay Petrovitch würde ihn mit zurücknehmen in die Stadt, die Motelrechnung ging direkt an den Manhattan Star, und das Flugticket lag sicher auf der Kommode in seinem Zimmer. Für alles Weitere konnte er sich zwanzig Dollar oder so von Clay oder einem Kollegen im Presseraum borgen. Als er wieder mit dem Lift nach oben fuhr, dachte er, daß der Verlust seines Bargelds wie ein Zeichen des Himmels war: kein Geld, kein Drink. Blisters Schultz war es zuzuschreiben, daß Fred Collyer den ganzen Nachmittag nüchtern blieb.
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Pincer Movement, Salad Bowl und Crinkle Cut wurden aus ihren Boxen durch den Tunnel unter den Autos und der Menschenmenge auf die Rennbahn vor der Tribüne geführt. Sie tänzelten lässig und locker, waren das Publikum gewohnt und wußten zugleich aus Erfahrung, daß das nur ein Vorgeschmack war. Der erste Anblick der Größen des Tages trieb die Menge wie bunte Fischschwärme auf die Schalter des Totalisators zu. Piper Boles ging mit den anderen Jockeys auf die mit einem hohen Drahtzaun eingefaßte Fläche, wo Pferde, Trainer und Besitzer in Gruppen herumstanden. Er litt an einem Gefühl der Unwirklichkeit, des Losgelöstseins; er konnte es nicht glauben, daß er – ursprünglich ein ehrlicher Jockey – aus dem berühmten Kentucky Derby eine Farce machen würde. George Highbury wiederholte etwa zum vierzigstenmal die Taktik, die sie vereinbart hatten. Piper Boles nickte ernsthaft dazu, als ob er die Absicht hätte, ihr Folge zu leisten. Aber in Wirklichkeit hörte er kaum ein Wort, und er war auch taub für die Musikkapellen und den Gesang, als die Derbypferde auf die Bahn geführt wurden. My Old Kentucky Home ließ die Emotionen der Massen schwellen und rief ein Flattern von Taschentüchern hervor, mit denen hier und da auch die Augen ausgewischt worden waren, doch bei Piper Boles bewirkte das alles kein Zucken mit der Wimper. Während der Parade, dem kurzen Galopp zum Start, der Ehrenrunde und sogar während der Aufstellung in der Startmaschine dauerte bei ihm dieses Gefühl des Losgelöstseins an. Erst als sich auf den Gesichtern der anderen Reiter die große Spannung zeigte, klickten seine Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Sein Puls verdoppelte sich beinahe schlagartig, und die Energie flutete in sein Gehirn zurück. Jetzt, dachte er. In der nächsten halben Minute verdiene ich mir tausend Dollar und danach den Rest. Er zog sich die Rennbrille vor die Augen und hielt Zügel und Peitsche. Rechts von ihm war Pincer Movement und links Salad Bowl, und als sich die Startmaschine öffnete, war er mit einem Satz zwischen den beiden anderen draußen, legte sein Gewicht sofort über
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den Widerrist des Pferdes, stand in den Steigbügeln und hatte den Kopf beinahe ebensoweit vorn wie Crinkles Cut. Als er das erste Mal an den Tribünen vorbeikam, konzentrierte er sich darauf, in der Mitte der Hauptgruppe zu bleiben, so unauffällig wie möglich, und an der oberen Kurve war er noch immer dort, saß ruhig und tat nicht viel. Aber auf der hinteren Geraden, als er in einem Feld von sechsundzwanzig Pferden etwa an zehnter Stelle lag, verdiente er sich seinen Tausender. Niemand außer Piper Boles hatte eine Ahnung, was in Wirklichkeit geschah; er selbst wußte nur, daß er seinen linken Zügel mit einem scharfen Ruck seines Handgelenks verkürzt und zugleich Crinkle Cut mit dem rechten Fuß einen Stoß in die Rippen verpaßt hatte. Das schnell galoppierende Pferd gehorchte den Richtungsbefehlen, drängte abrupt nach links und krachte dabei gegen das Pferd, das neben ihm lief. Das Pferd neben ihm war immer noch Salad Bowl. Unter dem Anprall stieß Salad Bowl gegen das Pferd, das wiederum links von ihm lief, prallte ab, stolperte, verlor völlig das Gleichgewicht und stürzte. Die beiden Pferde hinter ihm fielen über Salad Bowl. Piper Boles schaute sich nicht um. Die Richtungsänderung und die Kollision hatte ihn mehrere Plätze gekostet, die Crinkle Cut selbst in besten Zeiten nicht hätte gutmachen können. Den Rest des Rennens ritt er genau nach seinen Anweisungen und kam im Finish auf den zwölften Platz. Von den hundertvierzigtausend Zuschauern in den Churchill Downs hatte bestenfalls eine Handvoll das Desaster auf der gegenüberliegenden Seite der Rennbahn beobachtet. Die Bauten auf dem Innenfeld und die Menge, die die freigegebenen Flächen ausfüllte, hatten den Zusammenprall zumindest für jeden, der auf ebener Erde stand, verdeckt, und für die meisten auf der Tribüne war der Vorfall zu weit entfernt. Nur die Presse, die von ganz oben das Rennen verfolgte, hatte es sehen können. Sie schickten ihre Ermittler hinunter und sausten umher wie in einem aufgescheuchten Bienenstock. Fred Collyer, der auf dem Balkon stand, sah zu, wie die Photographen hinüberrannten, um Pincer Movement zu verewigen, und bemerkte säuerlich, daß keiner von ihnen Nahaufnahmen des zweiten
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Favoriten Salad Bowl machte, der auf der Erde lag. Er sah zu, wie dem überraschten Sieger das Hufeisen aus dunkelroten Rosen um den Hals drapiert wurde, und beobachtete noch die triumphale Präsentation der Trophäen. Dann ging er hinein, um sich das Rennen noch einmal auf dem Bildschirm anzusehen. Dort zeigte man den Vorfall um Salad Bowl vorwärts, rückwärts und von der Seite, und dann folgte noch eine Serie von Einzelbildern. »Schau doch«, sagte Clay Petrovitch und deutete über Fred Collyers Schulter auf den Bildschirm. »Crinkle Cut hat es verursacht. Man sieht, wie er gegen Salad Bowl stößt… Da!… Crinkle Cut, das war der Joker im Spiel.« Fred Collyer schlenderte zu seinem Platz und starrte auf die Schreibmaschine. Crinkle Cut. Er wußte etwas über Crinkle Cut! Er dachte fünf Minuten lang intensiv nach, konnte sich aber nicht an das erinnern, was er wußte. Inzwischen tröpfelten Einzelheiten und Zitate in den Presseraum. Alle gestürzten Jockeys waren geschockt, aber unverletzt, ebenso die Pferde; Rennkommissare rannten umher, waren vor Aufregung ganz aus dem Häuschen und ließen den Film der Begleitkamera immer und immer wieder an der entsprechenden Stelle vor- und zurücklaufen. Eine Disqualifikation von Piper Boles erschien unwahrscheinlich, da man für rauhes Reiten beim Derby meistens auf beiden Augen blind war. Piper Boles sagte beim Interview: »Crinkle Cut hat plötzlich geschwankt. Damit hatte ich nicht gerechnet, und deshalb konnte ich auch nicht verhindern, daß er mit Salad Bowl zusammenstieß.« Viele Menschen glaubten ihm. Fred Collyer dachte, er sollte vielleicht ein paar Sätze zu Papier bringen; das rückte den ersten Drink näher, und, Junge, er hatte einen Schluck nötig! Während er ein Ohr offenhielt für neuere Informationen, tippte er einen Hauruck-ich-war-dabei-Bericht eines Vorfalls, den er selbst kaum gesehen hatte. Als er begann, das Geschriebene durchzulesen, merkte er, daß die ersten Worte, die er geschrieben hatte, folgendermaßen lauteten: ›Der Fehltritt von Crinkle Cut stahl der Siegerehrung nach dem Rennen…‹
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Der Fehltritt von Crinkle Cut? Das hatte er eigentlich gar nicht schreiben wollen – oder nicht genau mit diesen Worten. Er zog die Stirn in Falten. Und dann kamen ihm andere Worte in den Kopf, genauso unpassend und albern. Er legte seine Hände über die Tastatur und tippte sie. ›Das kostet aber etwas… einen Tausender in gebrauchten Scheinen… die Hälfte im voraus.‹ Er starrte auf das, was er geschrieben hatte. Unsinn, das hatte er sich nur so ausgedacht, ja, so mußte es sein. Oder er hatte es geträumt. Entweder das eine oder das andere. Ein Traum, ja, das war es. Er erinnerte sich. Er hatte einen Traum gehabt von zwei Männern, die ein Rennen mit vorausbestimmtem Ausgang planten, und einer von ihnen war Marius Tollman gewesen, der etwas über einen Fehltritt von Crinkle Cut gesagt hatte. Fred Collyer entspannte sich und lächelte über den Gedanken, aber in der nächsten Minute wurde ihm ganz plötzlich klar, daß es gar kein Traum gewesen war. Er hatte gehört, wie Marius Tollman und Piper Boles als Ablenkungsmanöver einen Fehltritt von Crinkle Cut planten, und er hatte es vergessen, weil er so betrunken gewesen war. Nun, sagte er sich, noch war ja kein Schaden entstanden. Immerhin hatte er sich ja zuletzt doch noch daran erinnert, oder? Aber nein. Wenn Crinkle Cuts Fehltritt ein Ablenkungsmanöver war – wovon sollte abgelenkt werden? Wenn er ein bißchen wartete, würde er vielleicht das noch herausfinden. Blisters Schultz verwendete Fred Collyers Geld für zwei Hot Dogs, einen Mint Julep und fünf verlorene Wetten. Auf der Gewinnseite hatte er drei weitere Brieftaschen und eine Damenhandtasche zu verbuchen; Gesamtertrag magere vierundneunzig Dollar. Düster entschied er sich, für heute aufzuhören und nächstes Jahr nicht mehr herzukommen. Marius Tollman schlenderte von Schalter zu Schalter des Totalisators, und die Rennkommission wollte die Jockeys sprechen, die in den Zusammenstoß mit Salad Bowl verwickelt waren. Die Menge, erhitzt, ermüdet und an den Rändern bereits ausgefranst, begann im gelb werdenden Sonnenschein den Platz zu verlassen. Auch die Musikkapellen marschierten davon. An den Souvenir-
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ständen packte man die Waren ein. Pincer Movement wurde zum tausendstenmal photographiert, und die Pferde für das zehnte, letzte und uninteressanteste Rennen des Tages kamen von den Stallungen herüber. Piper Boles wartete vor dem Raum der Rennkommission darauf, daß er hineingerufen wurde, denn Marius Tollman benützte nur die besten Boten, und das Päckchen, das er einem von ihnen anvertraute, wurde sicher ausgeliefert. Piper Boles nickte, steckte es ein und gab danach der Rennkommission eine hollywoodreife Vorstellung. Fred Collyer stützte den Kopf in die Hände und versuchte sich zu erinnern. Ein Drink würde ihm helfen, dachte er. Ablenkungsmanöver. Crinkle Cut. Amberezzio. Er setzte sich ruckartig auf. Amberezzio. Und was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten? Amberezzio – er ist anständig. Er muß derjenige sein. »Clay«, sagte er und lehnte sich über seinen Stuhl, »kennst du ein Pferd, das Amberezzio heißt?« Clay Petrovitch schüttelte den kahlen Kopf. »Nie gehört.« Fred Collyer fragte ein paar andere Kollegen. »Kennt ihr ein Pferd namens Amberezzio?« Und schließlich erhielt er eine Antwort. »Amberezzio ist kein Pferd, sondern ein Jungjockey.« ›Amberezzio muß derjenige sein. Er ist anständig.‹ Fred Collyer warf seinen Stuhl um, als er aufstand. Eben war die letzte Minute vor Beginn des zehnten Rennens ausgerufen worden. »Leih mir zwanzig Eier, sei so gut«, sagte er zu Clay. Clay, der von der verlorenen Brieftasche wußte, war gern dazu bereit und zog langsam und umständlich sein Portemonnaie heraus. »Mach schnell, um Himmels willen«, drängte Fred Collyer. »Okay, okay.« Er reichte ihm die zwanzig Dollar und wandte sich wieder seiner Schreibmaschine zu. Fred Collyer nahm seine Dauerkarte und schob sich durch das allgemeine Geschnatter zum Totalisatorschalter für die Journalisten am Ende des Presseraums. Er blätterte… Zehntes Rennen, acht Teilnehmer… Er schaute die Liste durch und fand, was er suchte. Phillip Amberezzio, auf einem Pferd, von dem Fred Collyer noch nie etwas gehört hatte.
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»Zwanzig auf die Nummer sechs – auf Sieg«, sagte er rasch und bekam sein Ticket Sekunden, bevor der Schalter schloß. Leicht zitternd bahnte er sich wieder einen Weg durch die Menge und ging auf den Balkon. Er war der einzige Mann von der Presse, der das Rennen beobachtete. Die Jockeys machten ihre Sache großartig, dachte er bewundernd. Geradezu künstlerisch. Man hätte es nicht gemerkt, wenn man es nicht gewußt hätte. Sie nahmen ihn in ihre Mitte, geleiteten ihn über die Bahn und gaben ihm genau im richtigen Augenblick den Weg frei. Amberezzio gewann mit einer halben Länge, während die anderen mit der Peitsche arbeiteten, als ob sie das letzte aus ihren Pferden herausholen wollten. Fred Collyer lachte. Der arme, kleine Sowieso hielt sich für weiß Gott was für einen Teufelskerl, der einen völligen Außenseiter ins Ziel brachte, während die anderen, die großen Jungs auf den bekannteren Pferden, hinter ihm zurückblieben. Fred betrat wieder den Presseraum und stellte fest, daß alle anderen ihre Aufmerksamkeit auf Harbourne Cressie gerichtet hatten, der den Besitzer und den Jockey von Pincer Movement mitgebracht hatte. Fred Collyer machte sich genügend Notizen, um etwas darüber schreiben zu können, aber seine Gedanken waren bei der anderen Story, der großen – dem Geschenk. Die Sache mußte sorgfältig und vorsichtig angepackt werden, dachte er. Sie würde sein Bestes fordern, da er behutsam vorgehen und keinen direkten Verdacht aussprechen durfte, zugleich aber den Lesern klarmachen mußte, daß eine Untersuchung der Angelegenheit dringend erforderlich war. Seine alten Instinkte erwachten zum Leben. Er war sogar endlich einmal wieder richtig aufgeregt. Er würde seinen Bericht in der Stille und der Intimität seines Motelzimmers schreiben. Hier auf dem Rennplatz brachte er es nicht fertig – vor allem, weil ihm jeder Turfreporter der Welt über die Schulter schauen konnte. Im Umkleideraum der Jockeys teilte Piper Boles diskret die Totalisatortickets aus, die ihm Marius Tollman gegeben hatte: ein Wert von fünfhundert Dollar für jeden der sieben ›erfolglosen‹ Reiter im zehnten Rennen und Tickets im Wert von tausend Dollar für sich selbst.
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Jeder der Jockeys bat danach seine Frau oder eine Freundin, den Gewinn zu kassieren. Manche von ihnen wären eine leichte Beute geworden für Blisters Schultz, wenn dieser nicht schon nach Hause aufgebrochen wäre. Marius Tollmans Einsatz hatte den Gewinn auf Amberezzio geschmälert, aber er zahlte immerhin noch zwölf zu eins. Marius Tollman schob sich keuchend und pfeifend von Schalter zu Schalter und sammelte nach und nach seine Gewinne ein. Er hatte in seinen Achseltaschen nicht genug Platz für das ganze Bargeld und steckte schließlich auch ein paar Bündel in leichter zugängliche Taschen. Wirklich schade, daß Blisters Schultz so früh die Flinte ins Korn geworfen hatte! Fred Collyer kassierte ebenfalls eine Handvoll Blaues und gab Clay Petrovitch die zwanzig Dollar zurück. »Wenn du schon ’nen heißen Tip hattest – du hättest ihn leicht weitergeben können«, knurrte Petrovitch und dachte dabei an all die Spesen, die der gute, alte Fred vermutlich für seine kostenlosen Fahrten zum Rennplatz kassieren würde. »Es war kein Tip, nur eine Ahnung.« Und leider konnte er Clay nicht sagen, was das für eine Ahnung war, weil Clay für eine Konkurrenzzeitung schrieb. »Ich lade dich auf der Heimfahrt zu einem Drink ein.« »Das will ich aber stark hoffen.« Fred Collyer bedauerte augenblicklich das Angebot, das er instinktiv gemacht hatte. Er erinnerte sich daran, daß er nicht trinken wollte, bevor er seinen Artikel zu Ende geschrieben hatte – na ja, ein einziger konnte vielleicht nicht schaden… Im Gegenteil, er brauchte sehr dringend einen Drink. Seit dem Mittwoch schien ein Jahrhundert vergangen zu sein. Sie gingen gemeinsam weg und verließen den Presseraum mit den meisten von der Meute. Der Rennplatz sah am Ende des Tages mitgenommen aus; die leuchtendroten Blütenblätter der Tulpen lagen auf dem Boden, nur noch leere Stengel ragten in die Höhe, und die hellen Grasteppiche waren staubig grau und von Abfall bedeckt. Fred Collyer dachte nur an das Geld in seiner Tasche und an die Ge-
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schichte in seinem Kopf, und der eine wie der andere Gedanke schenkte ihm ein angenehmes, warmes Gefühl. Ein Drink zur Feier, dachte er. Ich lade Clay zu einem Dankeschöndrink ein, und dann trinken wir vielleicht noch einen zum Feiern. Es kam nicht oft vor, daß er so viel Glück hatte wie an diesem Tag. Sie hielten unterwegs an einer Kneipe an. Der erste doppelte Bourbon lief Fred Collyer durch die Adern, wie das Feuer durch einen trockenen Wald läuft. Nach dem zweiten fühlte er sich großartig. »Zeit zum Gehen«, sagte er zu Clay. »Ich muß noch meinen Artikel schreiben.« »Nur noch einen«, widersprach Clay. »Der geht auf mich.« »Lieber nicht.« Fred fühlte sich tugendsam. »Ach, komm schon«, sagte Clay und bestellte. Mit einem Hauch von schlechtem Gewissen kippte Fred Collyer den dritten – aber konnte er nicht selbst dann noch jeden Rennfachmann im Geschäft übertreffen? Natürlich konnte er. Nach dem dritten gingen sie. Fred Collyer kaufte sich eine Flasche Bourbon für nachher, wenn er die Story zu Ende geschrieben hatte. Als er in seinem Zimmer war, nahm er nur einen winzigen Schluck, bevor er sich hinsetzte, um zu schreiben. Die Worte wollten nicht kommen. Er zerknüllte sechs Versuche und goß etwas Bourbon in ein Zahnputzglas. Marius Tollman, Crinkle Cut, Piper Boles, Amberezzio… Es war gar nicht so einfach. Er trank einen Schluck, er konnte wohl gar nicht anders. Der Sportredakteur würde ihm für diese Story eine Gehaltsaufbesserung bewilligen, oder zumindest würde er nicht über sein Spesenkonto meckern. Er trank einen Schluck. Piper Boles hatte sich tausend Eier verdient, weil er Salad Bowl gerempelt hatte… Wie, zum Teufel, konnte man so etwas schreiben, ohne wegen Verleumdung verklagt zu werden? Er trank einen Schluck.
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Die Jockeys im zehnten Rennen hatten sich gegenseitig abgesprochen, um den einzigen Anständigen unter ihnen gewinnen zu lassen. Wie, zum Teufel, drückte man das aus? Er trank einen Schluck. Die Rennkommission und die Presse hatten ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Zusammenstoß beim Derby gerichtet und das zehnte Rennen praktisch übersehen. Die Rennkommissare würden ihm nicht gerade besonders dankbar sein, wenn er ihnen das unter die Nase rieb. Er trank noch einen Schluck. Und noch einen. Und noch mehr. Sein äußerster Ablieferungstermin für die telefonische Durchgabe seines Berichts in die Redaktion war um zehn Uhr am folgenden Vormittag. Zu dieser Zeit lag er voll angekleidet auf seinem Bett und schnarchte. Die leere Bourbonflasche stand neben dem Bett auf dem Boden, und sein Gewinn, den er zu zählen versucht hatte, lag verstreut auf seiner Brust. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Antonia Fraser Der Tod eines alten Hundes Einen zuckersüßen Ausdruck im herzförmigen Gesicht kehrte Paulina Gavin vom Tierarzt zurück. Die kleine steile Falte, die gelegentlich – und auch dann nur oberflächlich – die weiche, weiße Haut zwischen den Brauen zeichnete, war wie weggewischt. Der Blick aus ihren grauen und doch sanften Augen glitt durchs Wohnzimmer und blieb dann liebevoll an Richard hängen. »Liebling! Verzeih, daß ich so spät dran bin. Trotzdem gibt’s pünktlich Abendessen. Es ist alles vorbereitet.« Das langjährige Witwerdasein hatte aus Richard Gavin einen guten und flinken Koch gemacht. Diesmal hatte ihn Paulina vor dem Besuch beim Tierarzt jedoch nicht mittels eines Zettels gebeten, seine Fähigkeiten zu demonstrieren. Jetzt küßte Paulina Richard mit zärtlichem Druck dort auf die Wange, wo seine eisgrauen Koteletten endeten. Es war ihre ganz spezielle Stelle. Spätestens dies machte Richard sofort klar, daß das Todesurteil über Ibo gefällt war. Während Richard mit jener kühlen Distanz die Situation analysierte, die ihm in seiner Eigenschaft als Strafanwalt zustand, wurde er sich bewußt, daß er nicht im geringsten überrascht war, daß das Urteil zu Ibos Ungunsten ergangen war. Schließlich hatte es sich um eine sehr ungleiche Verteilung der Kräfte gehandelt: auf der einen Seite der junge Tierarzt und die kaum ältere Paulina – und auf der anderen Seite Ibo. Und Ibo war nicht nur ein alter, sondern wirklich ein steinalter Hund. Ibo war noch ein Relikt aus den Jahren von Richards erster Ehe, und jene zauberhafte Zeit schien nicht nur unendlich lange her zu sein, sondern stammte tatsächlich schon beinahe aus einer anderen Welt. Selbst der Ursprung des Spitznamens Ibo – ein sehr persönlicher Scherz, den Richard mit Grace geteilt hatte – war im Lauf der Jahre in Vergessenheit geraten. Soviel er sich vage erinnerte, war der Hund zuerst ein Hippolytus gewesen. War Ibo eine Anspielung auf Richards damalige Sympathien für eine Partei im nigerianischen Bürgerkrieg? Oder war es, weil der Hund, wie die Ibo, die Bewohner
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Biafras, ständig an Hungergefühlen litt? Auch das schien eine kleine Ewigkeit her zu sein. Wollte man es sentimental ausdrücken, konnte man behaupten, Ibo und Richard seien zusammen alt geworden. Wobei das eigentlich nicht ganz stimmte, denn Richard hatte gerade vorsichtig die Grenze zu den älteren Jahrgängen überschritten, als er jäh von Paulinas rundlichen Armen und erstaunlich kräftigen, kleinen Händen zurückgerissen worden war. Nach dieser Art von Rettung war Richard in der Blüte seines Mannesdaseins verharrt wie auf einem Thron. Frühere sportliche Leistungen – einschließlich seiner erstklassigen Vorstellungen beim Tennis, einer Sportart, in der er es sicher weit gebracht hätte, hätte ihn sein Beruf nicht zu sehr in Anspruch genommen – waren angesichts seiner großen, muskulösen Statur allerseits in guter Erinnerung. Er hatte in letzter Zeit sogar an Gewicht verloren. Und nicht nur die zärtlich liebende Paulina, sondern vor allem Richards Freunde behaupteten stets, er sei attraktiver denn je. Es war beinahe, als habe der Altersunterschied von fünfundzwanzig Jahren, der zwischen Richard und seiner zweiten Frau bestand, wie eine Verjüngungskur auf ihn gewirkt. Ein ähnliches Wunder wie dem Herrn war allerdings dem Hund nicht beschieden gewesen. Richard konnte sich rückblickend dunkel an äußerst peinliche Parkspaziergänge mit Ibo erinnern – Prototyp eines Rüden auf der Höhe seiner Zeugungsfähigkeit. In letzter Zeit konnte selbst die begehrenswerteste Spanielhündin vergeblich um ihn herumstreichen. Wie Boxer aus Animal Farm war Ibo, was sexuelle Energie betraf, nur noch ein Schatten seiner selbst. Dabei besaß er nicht einmal Boxers tragische Würde. Ibo war ein ziemlich zerrupfter und, ehrlich gesagt, auch reichlich übelriechender Hund geworden. Richard rutschte in seinem Sessel hin und her. Die Sache mußte besprochen werden. Außerdem gab es noch ein wichtiges Thema, das er früher oder später mit Paulina diskutieren wollte. »Wie war’s beim Tierarzt, Liebes?« rief er. Sie hatte sich schließlich bisher über ihren Besuch beim Tierarzt ausgeschwiegen. Doch Paulina, die inzwischen in der Küche verschwunden war, schien nichts zu hören. Vorbereitete Köstlichkeiten schickten bereits
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angenehme Düfte voraus. Richard nahm an, daß sie bald ohne Schürze und mit einer schon geöffneten Flasche Rotwein und zwei Gläsern auf dem Tablett wieder erscheinen würde. Und er vermutete, daß sich das Abendessen bei Kerzenschein abspielen würde. Er sollte recht behalten. Seine Ahnung bestätigte sich endgültig, als Paulina völlig unverhofft ein paar von Weihnachten übriggebliebene Kerzen entdeckte und spontan beschloß, sie aufzubrauchen. »Warum eigentlich nicht? Nur für uns zwei«, sagte sie eigentlich mehr zu sich selbst, als sie sich an den eindeutig festlich gedeckten kleinen Tisch mit den roten Kerzen setzte. Dann änderte sich Paulinas Haltung schlagartig. »Armer Ibo«, seufzte Paulina. »Der Tierarzt hat mir nicht viel Hoffnung gelassen.« »Hoffnung?« wiederholte Richard in überraschtem Ton. Es war keine Frage der ›Hoffnung‹ – welche Hoffnung sollte es für einen sehr alten, übelriechenden Hund schon geben –, sondern von Leben und Tod. Sie diskutierten über die Verlängerung von Ibos Leben. Mehr konnte er nicht erwarten. Die Möglichkeit einer wundersamen Verjüngung stand überhaupt nicht zur Debatte. »Natürlich Hoffnung«, entgegnete Paulina ihrerseits und schien zum erstenmal unsicher geworden zu sein, so als habe die Unterhaltung eine unerwartete und daher unerwünschte Wendung genommen. »Hoffnung ist doch so wichtig, oder? Ohne Hoffnung sehe ich keinen Sinn…« Doch Richard war bereits abgelenkt. Es fehlte etwas. Hätte Paulina nicht diesen Zauber mit dem Abendessen veranstaltet, wäre es ihm sofort aufgefallen. Wo war Ibo? Wo war der fette, watschelnde, halb blinde, von Flöhen geplagte Hund mit der eisgrauen Schnauze? Normalerweise hätte das Tier beim Betreten des Wohnzimmers sofort Richards Hand geleckt… oder besser eingespeichelt. Dann hätte Ibo, der unverbesserliche Optimist, mit seinem Schwanzstummel gewedelt, als stünde trotz der späten Stunde und seiner Gebrechlichkeit ein Spaziergang bevor. Wenn ihm dann schließlich die Absurdität seiner Reaktion bewußt geworden wäre, hätte er sich zum Kamin geschleppt… allerdings nicht ohne noch ein letztes Mal mit der Zunge über Richards
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Hand gefahren zu sein. Das alles war nicht passiert. Also wo war Ibo? Paulina hatte immer hastiger zu reden begonnen, murmelte etwas von weiteren Untersuchungen, wie freundlich der Tierarzt gewesen sei, von der Notwendigkeit einer vernünftigen Entscheidung und so weiter, was alles in der Tatsache gipfelte, daß der Tierarzt den Hund über Nacht bei sich behalten hatte. An dieser Stelle fiel Richard ihr erneut ins Wort. »Ist dir eigentlich klar, daß Toddie morgen aus der Schule nach Hause kommt?« Diesmal veränderte blankes Entsetzen Paulinas Züge. Es war nicht zu übersehen, daß sie es tatsächlich vergessen hatte. »Wieso denn?« begann sie. »Er ist doch gerade erst wieder…« Sie hielt unvermittelt inne. Jetzt fiel es ihr ein. Toddie, der merkwürdig schweigsame zehnjährige Sohn aus Richards erster Ehe, sollte am kommenden Tag aus dem Internat zurückkehren, um eine neue Zahnspange zu bekommen. Der Zahnarzt hatte auf der Einhaltung der Behandlungstermine bestanden, und damit waren Richards Proteste, die Sache könne bis zu den nächsten Ferien warten, vergeblich gewesen. Zuerst hatte Toddie die Nachricht von seiner schnellen Rückkehr mit dem für ihn typischen Gleichmut hingenommen. Doch nach wenigen Minuten hatte er sich neben dem vor dem Kamin wie ein Bettvorleger aus Fell hingestreckten Ibo niedergekniet und die Arme um den Hund geschlungen. »Dann sehe ich dich also bald wieder, mein guter Alter, was? Du bist doch der beste Hund auf der Welt.« Für Toddie war das schon eine ziemlich lange Rede gewesen. Toddies zärtliche Regungen waren ausschließlich auf Ibo beschränkt. Sein Vater hatte sich Toddie nach Graces Tod versuchsweise mit zurückhaltender Zärtlichkeit genähert, der der Junge nur mit starrer Abwehr begegnet war. Später hatten sie sich auf rituelles Händeschütteln geeinigt. Als Richard Paulina geheiratet hatte, hatte er ihr von jeglichen zärtlichen Annäherungen an Toddie aufgrund seiner eigenen negativen Erfahrungen abgeraten. Für Paulina war der häufige flüchtige Wangenkuß eine ebenso natürliche Form der Kommunikation wie für Richard der feste Händedruck. Da ihr das
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verwehrt gewesen war, war sie bar jeden physischen Kontakts zu Toddie geblieben. Zuerst hatte ihr das Sorgen gemacht: ein Junge ohne Mutter… Später, als die Gefühle für einen mutterlosen Jungen allmählich der Skepsis gegenüber einem in seiner Schweigsamkeit völlig undurchschaubaren Wesen gewichen waren, war Paulina insgeheim froh, sich nicht zu Umarmungen und Küssen gegenüber diesem lebendigen Rätsel mit seinen niemals lächelnden Lippen und den beunruhigend ausdruckslosen Augen verpflichtet zu haben. Überhaupt gab es nur zwei Dinge, die Toddie zu irgendeiner Reaktion hinreißen konnten. Eines war das Verbrechen oder, besser gesagt, Mord. Zweifellos war dies eine natürliche Begleiterscheinung, die der Beruf des Vaters mit sich brachte. Trotzdem fühlte sich Paulina gelegentlich davon abgestoßen, wie Toddie die Zeitung auf der Suche nach irgendwelchen schrecklichen Mordprozessen durchforschte. Wobei man sagen mußte, daß sich seine Aufmerksamkeit allein auf Gerichtsberichte konzentrierte und er sich weniger für die Greuelgeschichten in den Lokalblättern, als für die technische Abwicklung von Berufungsverfahren interessierte, worin er bereits über ein erstaunliches Wissen verfügte. Vielleicht würde er später einmal Strafanwalt wie Richard werden… wobei er, was Mordprozesse anging, Richard schon einiges voraushatte. Ansonsten galt Toddies einzig weiteres spürbares Interesse natürlich Ibo. In ihrem ersten Schock über Toddies bevorstehenden Besuch aus dem Internat erging sich Paulina in einer Flut von Erklärungen über Ibos wahren Zustand. Ibo habe ein großes Geschwür, das konnte der Tierarzt feststellen, ob Richard das nicht längst bemerkt hätte? Richards Hände verkrampften sich. Wie lange war es her, daß er es über sich gebracht hatte, Ibo genauer zu untersuchen? Ibo existierte nur einfach. Oder hatte wenigstens bis jetzt existiert. Paulina fuhr fort, ihre Argumente dafür darzulegen – leicht durchschaubar wie Richard fand –, ›Ibo von seinen Leiden zu erlösen‹, wie sie es nannte. Oder vielmehr, ihm das Elend, das ihm bevorstand, zu ersparen. Niemand könne behaupten, daß Ibo jetzt litt… aber das würde unweigerlich kommen, und das sei eben der springende Punkt. Richard hörte ruhig zu. Ihn überraschte nichts mehr. Schließlich hatte er be-
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reits von dem Augenblick an, als seine Frau ihn geküßt hatte, gewußt, daß Ibo zum Tod verurteilt war. Was Richard Gavin nicht erkannt hatte… und erst bemerkte, als er mit juristischem Scharfsinn und voller Bedauern die Argumente für Ibos Ableben überdachte, war, daß der alte Hund eigentlich gar nicht nur zum Tod verurteilt war. Er war bereits tot, hatte schon während der leidlich langen Diskussion nicht mehr gelebt; er war bereits am Nachmittag vom Tierarzt eingeschläfert worden, und zwar auf alleinige Anordnung von Paulina Gavin, die danach dreist und mit verführerischem Charme zurückgekehrt war, um ihren älteren, erfahrenen Gatten wortreich zu ihrem Standpunkt zu bekehren… Für einen Augenblick glitt ein furchterregender Ausdruck über die Züge des renommierten Anwalts Richard Gavin. Doch Paula hielt mutig den Kopf hoch. Geduldig, denn sie hatte längst nicht mehr soviel Angst vor ihrem Mann wie zu Beginn ihrer Ehe, versuchte sie ihm klarzumachen, wie vernünftig, ja wie rücksichtsvoll ihre Strategie sei. Irgend jemand hätte schließlich eine Entscheidung treffen müssen, und sie, Paulina, hätte sich verantwortlich gefühlt. Aus diesem Grund wollte sie Richard die schreckliche, schmerzliche Pflicht abnehmen, einen alten, einen lieben alten Freund dem Tod zu überantworten. Immerhin sei es für sie leichter gewesen, denn Richard habe Ibo ja so viel länger gekannt. Aber da Richard ein so rationell denkender Mann wäre, der jede Entscheidung genau überdachte, habe sie das Gefühl gehabt, es ihm schuldig zu sein, die Angelegenheit mit ihm auszudiskutieren. »Wobei du allerdings sicher gewesen bist, mich von der Richtigkeit deines Tuns überzeugen zu können, oder?« Richards Stimme klang kühl und zurückhaltend wie gelegentlich während eines Kreuzverhörs vor Gericht. Seine Miene blieb ausdruckslos, und er erinnerte Paulina damit unangenehm an Toddie. Trotzdem blieb sie fest bei ihrer Haltung. »Ich weiß, daß ich recht hatte, Liebling«, entgegnete sie. »Es war so für alle das Beste. Du wirst schon sehen. Jemand mußte schließlich eine Entscheidung treffen.«
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Damit allerdings war das Problem von Toddies frühzeitiger Rückkehr aus dem Internat nicht aus der Welt geschafft, jener Faktor, den Paulina zugegebenermaßen als einzigen nicht bedacht hatte. Sie war davon ausgegangen, Toddie die traurige Nachricht zu Beginn der nächsten Ferien schonend beibringen zu können, wenn bereits Gras über die Sache gewachsen war. Doch am folgenden Morgen machte Paulina, die in ihrem Hauskleid besonders hübsch aussah, beim Frühstück klar, daß sie auch mit der neuen Situation fertig zu werden gedachte. Strahlend reichte sie Richard die Post. »Persönlich und vertraulich. Ist das von der Bank?« Ohne jedes Bedauern oder Mißmut gab Paulina zu verstehen, daß sie ihren Bürotag in dem Atelier für Innenausstattung, das sie betrieb, opfern würde, um Toddie von der Schule abzuholen und auch wieder dorthinzubringen. Und das, obwohl sie bereits einen Nachmittag beim Tierarzt vertrödelt hatte. Das einzige, was Paulina von Richard erwarte, fuhr sie fort, sei, am Nachmittag aus der Kanzlei nach Hause zu kommen, um seinem Sohn von dem Hund zu erzählen. Richards übliche Morgenmiene – ein Stirnrunzeln, das offenbar der Brief ausgelöst hatte – veränderte sich nicht. »Nein, es ist nicht von der Bank«, bemerkte er. »Dann vielleicht vom Finanzamt?« Paulina schien entschlossen, höflich Konversation zu machen. »Nein.« »Ein neuer Fall?« »So könnte man es auch nennen.« »Aber warum schickt man dir das nach Hause und nicht in die Kanzlei?« fuhr Paulina im Plauderton fort. »Paulina«, erklärte Richard, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Du wirst verstehen, daß ich mich nicht gerade darum reiße, Toddie zu sagen, daß Ibo tot ist.« »Mein Gott, Liebling!« rief Paulina aus, sprang ihrerseits auf, und Tränen glitzerten in ihren Augen. »Ich weiß, ich weiß, ich weiß!« Sie schlang die Arme um die imposante Gestalt ihres Mannes, so gut es ging. »Aber es war doch nur zu seinem Besten.« »Du meinst zu Ibos Bestem?«
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»Ja, natürlich. Dieser arme alte Bursche. Armer, armer alter Ibo. Ich versteh’s ja. Der Tod eines alten Hundes… das ist schrecklich traurig. Aber es war unvermeidlich, meinst du nicht auch, Liebster?« Paulina ließ von ihm ab und trocknete ihre Tränen. Richard ging in sein Arbeitszimmer, in jenen großen Raum mit den vielen Bücherregalen an den Wänden, den Paulina für ihn über der Garage eingerichtet hatte. Zuvor deutete er noch an, daß er seinen Büroleiter anrufen und sagen wollte, daß er sich den ganzen Tag freinehmen würde. Eines der Hauptmerkmale des Arbeitszimmers war ein großes Panoramafenster, von dem aus man einen weiten Blick über die Felder bis hin zum Waldrand hatte. Um zu gewährleisten, daß Richard dort völlig ungestört sein konnte, besaß der Raum auf der dem Haus zugewandten Seite kein Fenster. Von dort war nur eine glatte Backsteinwand zu sehen. An jenem Morgen allerdings hatte Paulina bei diesem Anblick plötzlich das Gefühl, als hätten ihr Richard und das Zimmer den Rücken zugewandt. Natürlich war das nichts als Einbildung. Die Geschichte mit Toddie… und mit Ibo hatten ihr doch zugesetzt. Paulina sagte sich, daß schließlich auch sie nicht ohne Gefühle und Zuneigung für das arme, schreckliche Tier war. Tapfer und tatkräftig hatte sie Richard etwas erspart… etwas, wozu sie noch ein paar Jahre zuvor nicht fähig gewesen wäre. Wie das eigene Atelier doch ihre Selbstsicherheit gestärkt hatte! Bei dem Gedanken an die neu gewonnene seelische Reife beruhigten sich Paulinas Nerven. Sie fuhr den Wagen aus der Garage, um Toddie aus dem Internat abzuholen. Natürlich wußte Toddie, kaum daß er nach dem Zahnarztbesuch das leere Haus betrat, daß etwas nicht stimmte. Er war bei ihrer Rückkehr sofort aus dem Wagen gesprungen und über den Hof gelaufen, obwohl Paulina, in der Hoffnung, ihn geradewegs in die Arme seines Vaters zu dirigieren, das Auto direkt in die Garage gefahren hatte. Als das nicht klappte, weigerte sie sich allerdings standhaft, Toddies aufgeregte Fragen nach Ibo zu beantworten, der den Jungen nicht wie üblich begrüßt hatte. Sie nahm den Jungen lediglich bei der Schulter und drängte ihn so schnell wie möglich in die Garage zurück, und von dort ging es die Treppe hinauf in Richards Arbeitszimmer. Paulina dachte nicht daran, länger bei den beiden zu
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verweilen. Sie legte keinen Wert darauf, Toddies Zusammenbruch mitzuerleben. Nur ein einziges Mal hatte sie Richard gefragt, wie Toddie denn den plötzlichen und schrecklichen Tod der Mutter bei einem Autounfall auf dem Weg zum Kindergarten, von dem sie den Jungen hatte abholen wollen, aufgenommen habe. »Er hat geheult«, antwortete Richard. »Du meinst, er hat geweint?« »Nein, geheult. Er hat einmal laut aufgeheult. Es klang schrecklich. Dann war abrupt Schluß, so als habe ihm jemand plötzlich die Hand über den Mund gehalten. Es klang wie das Heulen eines Hundes.« Paulina erschauerte. Die Erinnerung an diesen Vergleich war im Augenblick besonders makaber. Sie hatte inzwischen den oberen Absatz der schmalen Treppe erreicht und schob Toddie in den großen, von Bücherregalen gesäumten Raum mit dem riesigen Fenster. Doch bevor sie sich zum Gehen wenden konnte, sagte Richard mit seiner festen Stimme, die sie aus den Gerichtsverhandlungen so gut kannte: »Toddie, du kennst dich doch mit Gesetzen aus, oder?« Der Junge nickte nur und starrte seinen Vater wortlos an. »Du sollst wissen, daß hier ein Prozeß stattgefunden hat. Der Prozeß gegen Ibo.« Toddie starrte ihn nur weiter aus runden, fischgleichen Augen an. Paulina drehte sich um und floh die Treppe hinunter. Richard kannte die Materie und wohl seinen Sohn am besten. Trotzdem kam ihr die Art, wie er dem Jungen die Nachricht beizubringen versuchte, geradezu gespenstisch vor. Es verging viel Zeit. Paulina konnte mehrmals mit ihrem Atelier telefonieren – in dem man ohne sie nicht auszukommen schien, was ihr guttat; es blieb ihr sogar noch genug Muße, um darüber nachdenken, wie wenig sie sich doch an die erzwungene Untätigkeit einer Hausfrau hatte gewöhnen können, die sich ständig nach den männlichen Mitgliedern der Familie richten mußte. Sie versuchte die Leere damit auszufüllen, für Toddie einen schmackhaften Imbiß herzurichten. Möglicherweise konnte ihn das ein wenig trösten. Doch die Essenszeit war längst vorüber, als Paulina das erste Geräusch aus dem Arbeitszimmer über der Garage erreichte. Sie hatte gerade gedacht, daß sie Toddie zu spät nach Graybanks zurückbringen würde, wenn
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Richard mit dem Jungen nicht bald auftauchte, als das Haustelefon klingelte. »Er kommt jetzt runter«, ertönte die leicht entstellte Stimme von Richard über die Leitung. »Natürlich möchte er über die Geschichte nicht sprechen. Du bringst ihn also am besten direkt zur Schule zurück. Und zwar so schnell wie möglich. Nein, keinen Tee mehr. Danke. Er wartet im Wagen auf dich.« Das war alles. Am anderen Ende wurde aufgelegt. Richards barscher Ton hatte Paulina etwas aus der Fassung gebracht. Dagegen kam sie einfach nicht an. Sie deckte hastig den liebevoll gedeckten Teetisch wieder ab. Noch immer gegen ihre Gefühle ankämpfend, zog sie die Kostümjacke an und lief über den Hof. Ihre stumme Wut allerdings konnte sie nicht ganz unterdrücken. Es war nur gut, überlegte sie, daß Richard, wenn er älter wurde, eine taktvolle, geschickte junge Frau an seiner Seite hatte. Das würde ihn davor bewahren, mit diesen Schroffheiten, zu denen erfolgreiche Männer ab einem gewissen Alter zu neigen schienen, noch mehr Porzellan zu zerschlagen. Und zum zweitenmal an diesem Tag dachte sie mit Genugtuung an die Courage, die sie damit bewiesen hatte, Ibo auf ihre Initiative hin einschläfern zu lassen, um ihrem Mann die traurige Pflicht zu ersparen. Zweifellos war Richard in solchen Dingen bereits auf sie angewiesen. In dem Wissen um ihre diesbezüglichen Fähigkeiten gelang es ihr sogar, ihren Ärger darüber zu überwinden, daß Richard sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, ihr das Garagentor zu öffnen. Männer waren doch wirklich die undankbarsten Geschöpfe. Schließlich hatte nicht Richard, sondern sie eine unangenehme Nachtfahrt über Land vor sich. Ein Rest von Ärger blieb jedoch zurück. Zumindest hätte er die gewohnte Ritterlichkeit an den Tag legen können, um ihr die Abfahrt so bequem wie möglich zu machen. Immerhin fuhr sie seinen, nicht ihren Sohn ins Internat zurück. Daß er sich auf sie verließ, war in Ordnung, aber wenn es zur Gewohnheit wurde und man diese Dinge für selbstverständlich nahm… Ungewöhnlich aufgewühlt für jemanden, der normalerweise so ruhig und tatkräftig war wie Paulina, schlüpfte sie durch die schmale Tür, die in die Garage führte.
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Paulina ging zum Wagen. Zu ihrer Überraschung lief der Motor bereits. Aber Toddie saß nicht wie erwartet auf dem Beifahrersitz. Sie versuchte das Tor zu öffnen, doch es war verschlossen. Dann hörte sie, wie hinter ihr die schmale Seitentür zufiel. Ungefähr zur selben Zeit dachte Richard Gavin daran, daß er Paulina wohl vermissen würde. Ihre gute Küche, ihre liebe Art, ihren Büroklatsch… das alles würde ihm ehrlich fehlen. Selbst mit letzterem hatte die Gewohnheit ihn versöhnt. In vieler Hinsicht war sie eine entzückende, ja geradezu die ideale Frau für einen erfolgreichen Mann gewesen. Das Problem war lediglich, daß sie eben keine gute Frau für einen älteren Mann abgegeben hätte, der langsam und vermutlich qualvoll an einer unheilbaren Krankheit sterben würde. An diesem Morgen hatten die Ärzte ihm endgültig mitgeteilt, daß sie keine allzu große Hoffnung mehr hatten. Richard hatte auf diese Nachricht gewartet und den Augenblick zugleich immer wieder hinausgeschoben, bevor er die schreckliche Last mit Paulina hatte teilen wollen. Ihr rücksichtsloses und anmaßendes Verhalten in bezug auf den armen Ibo war entlarvend und doch segensreich gewesen. Dadurch waren ihm gerade noch rechtzeitig die Augen geöffnet worden. Nein, Paulina wäre sicher nicht die Frau gewesen, die sein langes Leiden tröstend begleitet hätte. Sie würde sich wahrscheinlich sogar als einer jener schrecklichen Menschen erweisen, die der Euthanasie nicht abgeneigt waren, um ihm ›das Leiden zu ersparen‹. Er verbesserte sich. Paulina hatte sich möglicherweise als ein solcher Mensch erwiesen. Drunten in der Garage verpesteten immer mehr Auspuffgase die Luft, doch es kam niemand, um die Türen zu öffnen. Paulinas letzter bewußter Gedanke war, während sie verzweifelt am Tor rüttelte, daß sie so schnell wie möglich automatische Öffner einbauen lassen mußte… jetzt da Richard älter wurde und ihr längst nicht mehr so freudig zur Hand ging wie früher. Draußen, weit über den Feldern, im Gebüsch, zeigte Toddie seinem Vater die Stelle, wo er Ibo begraben haben wollte. Richard hatte verzweifelt versucht, wie er der Polizei später erzählen würde, den armen Jungen aufzuheitern. Es war ganz natürlich, daß ein Vater
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diesen sentimentalen Gang mit seinem Sohn gehen würde, – mit einem Sohn, den der Verlust eines alten Hundes so sehr mitgenommen hatte; mit einem Sohn, der noch immer unter dem frühen Verlust der Mutter litt – die ihm eine Stiefmutter schließlich nie hatte ersetzen können. Und wenn die Polizei darauf kommen würde, daß der Tod der zweiten Mrs. Gavin kein Unfall gewesen war, dann ergab alles einen Sinn, oder? Eben diese Argumente würden zum Tragen kommen und von der langen Reihe von Kinderpsychologen fachmännisch, ausführlich und endlos untersucht werden, denen Toddie dann zwangsweise Rede und Antwort stehen mußte. Toddie allerdings, überlegte Richard kühl und abwägend, war ihnen durchaus gewachsen. Was ihn an seinem Sohn besonders faszinierte, war, daß dieser geradezu darauf brannte, sein Verbrechen einzugestehen. Offenbar freute er sich diebisch auf die Polizeiverhöre und alles andere, das ihm bevorstand. Und zweifellos war er sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie er den Tod seiner Stiefmutter herbeigeführt hatte. Davon abgesehen überraschte es Richard, wie gut Toddie über sämtliche Artikel des Strafgesetzbuches Bescheid wußte, die Mord betrafen. Man konnte tatsächlich sagen, daß er sich auf dieses Gebiet spezialisiert zu haben schien, während er, Richard, kaum je mit Mordsachen zu tun gehabt hatte. Richard wurde sich plötzlich bewußt, daß er zum erstenmal Interesse an seinem Sohn zeigte. Toddie selbst zweifelte, daß er unter den gegebenen Umständen eine lange Haftstrafe würde absitzen müssen. Er hatte sich nämlich vorgenommen, sich als der ideale Strafgefangene zu beweisen. Dazu jedoch bedurfte es besonders mißlicher und bedauerlicher Umstände, von denen er erlöst werden konnte, denn sonst war sein Fall nicht interessant genug, und die interessanten Fälle wurden erfahrungsgemäß immer als erste begnadigt. Nein, Toddie hatte wirklich alles bedacht. »Außerdem«, schloß Toddie, der plötzlich alles andere als schweigsam und verschlossen war, »bin ich auf das stolz, was ich getan habe. Du hast mir zwar gesagt, wie ich es machen muß, aber irgendwie hätte ich es sowieso getan. Sie hat den Tod verdient. Schließlich hat
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sie Ibo, ohne uns zu fragen, zum Tod verurteilt. Hinter unserem Rükken. Ohne einen anständigen Prozeß. Und sie hat ihn getötet. Ibo, den besten aller Hunde.« Aus dem Englischen von Christine Frauendorf-Mössel
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Michael Gilbert Geprüft und für richtig befunden In der Kanzlei Maybury & Goodnight ging man abends in festgelegter Reihenfolge nach Hause. Abweichungen gab es nur, wenn Mr. Goodnight früher ging, wie er das manchmal tat: im Sommer auf eine Partie Golf oder im Winter zu einer Sitzung eines der vielen Vereine, bei denen er Mitglied war. Wenn er nicht da war, begannen Sal und Beth Punkt fünf ihre Schreibmaschinen zuzudecken und ihre Schreibtische aufzuräumen. Spätestens um Viertel nach fünf waren sie weg, dicht gefolgt vom jungen Mr. Manifold, dem Rechtspraktikanten. Um halb sechs gingen Mr. Prince, der Prozeßsachbearbeiter, und Mr. Dallow, der Sachbearbeiter für Grundstücksangelegenheiten, allerdings nicht zusammen, da sie seit zwei Jahren nicht mehr miteinander sprachen. Es blieben nur noch Sergeant Pike, ehemals Mitglied des Royal Marine Corps, dessen Aufgabe es war, die Büroräume abzusperren, und Mr. Prosper, der Kassierer. Wenn die Mädchen den Bürgersteig entlangeilten, konnten sie in den erleuchteten Souterrainraum hineinsehen, wo Prosper über seiner Arbeit saß. Sie machten gern ihre Witze über ihn. Er war Junggeselle und lebte, wie man hörte, allein in einer kleinen Wohnung im Norden Londons. »Den zieht nichts nach Hause«, lachte Sal. »Kein Wunder, daß er immer Überstunden macht.« »Wann geht er denn überhaupt nach Hause?« meinte Beth. »Ich mußte mal abends ins Büro zurück, weil ich was vergessen hatte. Das war schon nach sieben. Und er war immer noch da.« »Vielleicht übernachtet er in der Kanzlei«, mutmaßte Sal. Sie kicherten bei der Vorstellung. »Armer Kerl – eigentlich«, meinte Beth. Sie war die warmherzigere der beiden. »Stell dir mal so ein Leben vor. Den ganzen Tag nur rechnen.« »Er hat sich’s selbst ausgesucht«, versetzte Sal. »Wenn er unglücklich ist, hat er selbst die Schuld daran.« Sal war die Zynische. Sie täuschten sich beide.
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Prosper war nicht unglücklich. Er war glücklich. Er hatte eine Arbeit, die seinen Wünschen entsprach, und hätte keine andere gewollt. Zahlen faszinierten ihn schon seit seiner Kindheit. Noch ehe er die ersten Buchstaben schreiben konnte, konnte er addieren und subtrahieren. Er liebte das Spiel mit den Zahlen, liebte es, sie in ordentliche Reihen zu gliedern, zu berichtigen und zu ändern, die Endergebnisse, zu denen er gelangte, miteinander zu vergleichen. Er begeisterte sich für Primzahlen und Quadratwurzeln wie andere Jungen sich vielleicht für Vogeleier oder Briefmarken begeistert hätten. Hätte sein Verstand mehr dem Theoretischen zugeneigt, so wäre er vielleicht Wirtschaftsprüfer geworden. Mehr als einmal hatte er mit dieser Möglichkeit gespielt, sie aber jedesmal verworfen. Es waren die Zahlen selbst, die ihn interessierten, nicht die kniffligen Feinheiten des Steuer- und Wirtschaftsrechts, die er hätte meistern müssen, um Wirtschaftsprüfer zu werden. Er war zufrieden, Buchhalter und Kassierer zu sein. Das war sein Metier. Er war seit fünfunddreißig Jahren bei Maybury & Goodnight, Alfred Maybury hatte damals noch gelebt, und Richard Goodnight war ein junger Mann gewesen. Von ihren frühesten Tagen an, als man von einer Woche zur anderen nicht wußte, woher die Löhne nehmen, hatte er über die finanziellen Geschicke der Kanzlei gewacht, bis der glückliche Moment gekommen war, in dem man Sam Collard als Mandanten gewonnen hatte. Sam, heute Herrscher über das CollardImperium, hatte damals am Anfang seiner Karriere gestanden. Richard Goodnight hatte ein Mandat von ihm bekommen und gute Arbeit geleistet. Inzwischen arbeitete der Konzern natürlich mit einer großen Kanzlei in der City zusammen, aber Grundstückssachen, routinemäßige Vertrags- und Mahnangelegenheiten, die zum täglichen Brot des Collard-Konzerns gehörten, gingen an die Kanzlei Maybury & Goodnight. Prosper machte sich deswegen manchmal Sorgen. Er sagte zu Sergeant Pike, der in solchen Dingen sein einziger Vertrauter war: »Wir sind eine Kanzlei, die von einem einzigen Mandanten lebt.« »Wird schon reichen, bis wir in Rente gehen und der alte Goodnight sich zur Ruhe setzt«, meinte Pike.
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»Er wird den jungen Manifold als Partner in die Kanzlei setzen, sobald der zugelassen ist.« »Den mag ich gar nicht«, brummte Pike. »Ist mir zu geschniegelt.« Sie hatten beide nichts für Manifold übrig, der ein berühmtes Internat besucht hatte und diesen Stempel so deutlich sichtbar trug wie ein Abzeichen am Revers seines Maßanzugs. »Der gehört in eine größere Kanzlei«, erklärte Pike. »Hierher paßt er nicht.« Gerade daß die Kanzlei so klein war, gab ihr in Prospers Augen zusätzlichen Reiz. In einem größeren Unternehmen hätte er Hilfskräfte gehabt. Er wäre zu delegieren gezwungen gewesen. Hier hatte er alles im Blickfeld. Einmal im Jahr wurden seine Bücher von einem vereidigten Revisor geprüft, um die Wachhunde bei der Law Society zufriedenzustellen. Der Mann hatte nicht viel Arbeit. »Ich wollte, alle wären wie Sie«, pflegte er zu sagen. »Immer alle Unterlagen vorhanden, alles bis auf den Penny ausgeglichen.« Der frühe Abend war Prosper die liebste Zeit. Seine Papiere waren wie brave Kinder alle im Bett, in ihren Ordnern aufgeräumt. Auf einem Blatt Kanzleipapier, das, in regelmäßige Kolumnen eingeteilt, vor ihm auf dem Schreibtisch lag, stellte er vielleicht einige letzte Berechnungen an, oder er überprüfte die Mandantenkonten oder ging die Zahlungseingänge durch, lauter Arbeiten, die, da bereits erledigt, eigentlich völlig überflüssig waren. Darum war er auch nur mit halber Aufmerksamkeit bei der Sache. Seine Gedanken bewegten sich auf ganz anderen Bahnen. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, in solchen Augenblicken angenehmer Entspannung seine Mitarbeiter und Bekannten zu prüfen, die Bilanz ihrer Erfolge und Mißerfolge, ihrer Gewinne und Verluste zu ziehen, als wären sie geschäftliche Unternehmen und er damit beauftragt, ihre Bücher in Ordnung zu bringen. Wie wäre Richard Goodnight aus solch einer Prüfung hervorgegangen? Es gab unbestreitbar einige Posten auf der Sollseite. Er begnügte sich mit einem Minimum an Arbeit als Rechtfertigung dafür, die Gewinne der Kanzlei einzustreichen, die seit Mayburys Tod allein in seine Tasche flossen. Prosper hatte kaum Einblick in sein Privatleben, wußte aber, daß er eine Wohnung beim Sloane Square
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hatte, ein Haus auf dem Land, ein Jagdhaus in Kent und ein Fischwasser in Schottland. Sein Auto tauschte er jedes Jahr gegen ein neues aus. Er überarbeitete sich weiß Gott nicht. In den letzten Monaten hatten sich für sein Kommen und Gehen Durchschnittszeiten von zehn Uhr siebenundzwanzig beziehungsweise sechzehn Uhr neunundfünfzig ergeben. Zog man davon eine durchschnittliche Mittagspause von einer Stunde und zweiundfünfzig Minuten ab, so blieb ein Arbeitstag von vier Stunden und vierzig Minuten, in dessen Verlauf er ein paar alte Mandanten empfing und ein paar Briefe diktierte. Das, was in der Kanzlei wirklich an Arbeit anfiel, wurde von Mr. Prince und Mr. Dallow erledigt. Auf, der Habenseite, mußte Prosper zugestehen, gab es zwei ausgleichende Posten. Erstens, wenn tatsächlich einmal etwas schiefgehen sollte – und in einer so kleinen Kanzlei konnte vieles schiefgehen –, so würde das Desaster Goodnight allein treffen. Die Angestellten würden nur ihre Stellungen verlieren. Goodnight würde alles verlieren, was er besaß. Zweitens mußte man ihm seinen Beitrag zur Gründung der Kanzlei und zur Bewältigung der Anfangsschwierigkeiten ebenso anrechnen wie die Tatsache, daß Sam Collards Mandat, von dem die Kanzlei praktisch lebte, ihm zu verdanken war. Ja, sein Konto war ziemlich ausgeglichen. Am anderen Ende der Skala hatte man Sergeant Pike. Auf der Habenseite seiner Bilanz standen substantielle, wenn auch unwägbare Aktiva. Zwanzig Jahre aktiver Dienst bei den Marines. Das Vertrauen, das man ihm dank seines guten Leumunds entgegenbringen konnte – drei Firmen hatten ihn umworben, als er den Dienst quittiert hatte. Ausgezeichnete Gesundheit. Die finanzielle Sicherheit seiner Pension. Da gab es viele Pluspunkte und wenig Minuspunkte. Was hingegen ließ sich zugunsten des jungen Manifold vorbringen? Zu geschniegelt, hatte Pike gesagt. Und zuviel Vitamin B, dachte Prosper. Manifold hatte den Praktikantenvertrag mit der Kanzlei bekommen, obwohl sich eine Reihe fähigerer junger Männer beworben hatten, weil er Sam Collards Neffe war. Er machte nur die einfachsten Arbeiten und leistete sich Fehler, über die selbst die Mädchen lachten. Nur Sport schien ihn wirklich zu interessieren. Er
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war mehr beim Squash und beim Racket als im Gerichtssaal; und für seine mehr als bescheidenen Dienste wurde er besser bezahlt als Sergeant Pike und beinahe ebensogut wie Prosper selbst. Im übrigen ging aus seinem Gebaren und seiner Einstellung klar hervor, daß er sich bereits als zukünftiges Oberhaupt der Kanzlei sah. An dieser Stelle verhielt der scharfgespitzte Bleistift in Prospers Hand einen Moment, glitt weiter, verhielt erneut und wanderte zurück. Prosper hatte sich an diesem Abend die periodisch fällige Überprüfung der Spesenbücher vorgenommen. Jeder Mitarbeiter der Kanzlei führte ein solches Buch, in dem er alle für die Kanzlei vorgenommenen Auslagen verzeichnete: Fahrgelder, amtliche Gebühren und ähnliches. Das System war einfach: Man zahlte die betreffenden Beträge aus der eigenen Tasche, trug sie in sein Buch ein und ließ sich die Auslagen am Ende der Woche zurückerstatten. Das Spesenbuch vor ihm gehörte dem jungen Manifold, und der Posten, bei dem sein Bleistift gestolpert war, war mit dem Datum zwanzigster September versehen. ›Collard‹, stand da. ›Geschäftsankauf 220 Holloway Road. Taxi drei Pfund achtzig‹. Prosper stand steifgliedrig von seinem Stuhl auf, ging in den Flur hinaus und marschierte in Manifolds Zimmer. Papiere auf dem Tisch, Papiere auf dem Fensterbrett, Papiere auf dem Boden. »Kein Sinn für System und Ordnung«, stellte Prosper fest. Er brauchte mehrere Minuten, um die gesuchte Akte in der untersten Schublade eines der Schränke zu finden. Er setzte sich nieder und schlug sie auf. Die Eigentümer des Ladens in der Holloway Road wurden von der Kanzlei Blumfeldt vertreten, und in deren Räumen, in Holborn, mußte die Vertragsunterzeichnung stattgefunden haben. »Zehn Minuten zu Fuß, fünf Minuten mit dem Bus«, murmelte Prosper. Stutzig gemacht bei der Durchsicht des Spesenbuchs hatte ihn die plötzliche Erinnerung an eine Bemerkung Sals zu Beth, die er zufällig mit angehört hatte. »Stell dir vor, ich bin letzten Donnerstag mit Prinz Andrew im Bus zurückgefahren, und er hat für mich bezahlt.«
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Der letzte Donnerstag war der zwanzigste September gewesen, und Prinz Andrew war der Spitzname der Mädchen für den jungen Manifold. Es war natürlich möglich, daß die Busfahrt mit dem Vertragsabschluß nichts zu tun hatte, aber auch dann waren drei Pfund achtzig für Taxifahrten zur Kanzlei Blumfeldt und zurück ein mehr als stolzer Preis. Der Kauf und Verkauf kleiner Geschäfts- und Firmenanwesen gehörte zum regelmäßigen Geschäft des Collard-Konzerns. Es war normal, daß nach Abschluß der juristischen Arbeiten durch Dallow der Rechtspraktikant mit der Erledigung der routinemäßigen Formalitäten, wie Scheckübergabe und Abholung der amtlichen Urkunden, betraut wurde. Im Schrank war ein Dutzend Akten über solche Transaktionen. Prosper nahm sie an sich und tappte keuchend vor Anstrengung aus dem Zimmer. Im Flur traf er Sergeant Pike, der sagte: »Lassen Sie mich das doch tragen.« »Es geht schon«, entgegnete Prosper atemlos. »Ich schaff es schon.« Es ärgerte ihn, daß ihm bei der kleinsten Anstrengung der Atem kurz wurde. Zurück in seinem Zimmer, breitete er die Akten auf seinem Schreibtisch aus und begann sie durchzusehen. Von Zeit zu Zeit verglich er die Unterlagen aus einer Akte mit den Eintragungen im Spesenbuch. Jetzt, da sein Verdacht einmal geweckt war, entdeckte er rasch und mühelos die Indizien fortlaufender kleiner, aber systematischer Betrügereien. In einem Fall war der Vertragsabschluß im letzten Moment vom Freitag der einen Woche auf den Mittwoch der folgenden Woche verlegt worden. Manifold hatte für beide Termine Taxikosten verlangt. Ähnlich sah die Sache bei den Gebühren für das Katasteramt aus. Diese Gebühren mußten natürlich bezahlt werden, aber Prosper hatte den Eindruck, daß sie viel zu oft bezahlt worden waren. Eine Analyse der Transaktionen, mit denen Manifold in den letzten sechs Monaten betraut gewesen war, zeigte dreizehn Käufe, elf Verkäufe
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und nicht weniger als sechzig Gebühren. Prospers Bleistift flog über das Papier, während er analysierte, rechnete und verglich. Sergeant Pike schaute zur Tür herein und sagte: »Ich gehe jetzt. Ich hab’ das Sicherheitsschloß an der Haustür eingestellt, Sie brauchen sie dann nur zuzuschlagen.« Sein Blick fiel auf die Stapel von Akten. »Hat unser Sonnenschein mal wieder Mist gemacht?« »Ja«, antwortete Prosper. »Es sieht ganz danach aus.« Er war ein Mensch, der sich gerne Zeit ließ und mit Bedacht an die Dinge heranging. Er brauchte unwiderlegbare Beweise. Am nächsten Morgen sprach er mit Sal. Ihm war klar, daß ein Angestellter wohl kaum den anderen anschwärzen würde, deshalb mußte er mit Geschick vorgehen. Zum Glück hatte er im Spesenbuch des Mädchens unter dem Datum des zwanzigsten September einen Eintrag für eine Busfahrt zur Bank von England gefunden, aber keinen für die Rückfahrt. »Ich hab’ die Bücher durchgesehen«, sagte er zu ihr. »Mir scheint, Sie haben zu wenig berechnet. Warum nur eine Busfahrt? Sind Sie zu Fuß zurückgegangen?« Sal überlegte einen Moment, dann antwortete sie: »Nein, das ist schon in Ordnung so. Donnerstag nachmittag hat Mr. Manifold mir den Bus bezahlt. Er ist bei der Paulskirche eingestiegen. Wir sind zusammen zurückgefahren.« »Ach so, das ist die Erklärung«, meinte Prosper und reichte ihr das Buch zurück. Es war in der Tat die Erklärung. Der Vertragsabschluß hatte an jenem Nachmittag stattgefunden. Die Kanzlei Blumfeldt war nur einen Katzensprung von der Paulskirche entfernt. Als nächsten suchte er Dallow auf, einen pedantischen, humorlosen Mann, der etwas von einem Bestattungsunternehmer hatte. »Ich habe die Spesenbücher durchgesehen«, sagte er, »und bin etwas verwundert über die vielen Gebühren für die Überprüfung der Rechtstitel. Könnten Sie mir das vielleicht erklären?« »Im allgemeinen lasse ich das durch den Rechtspraktikanten nachprüfen. Ist denn etwas nicht in Ordnung?« »Das weiß ich eben nicht. Darum wollte ich es mir ja von Ihnen erklären lassen. Wie viele solcher Rechtstitelüberprüfungen muß man denn im allgemeinen vornehmen?«
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»Das kommt ganz darauf an. Normalerweise eine bei der Stadt und eine bei der Gemeinde.« »Ich verstehe«, sagte Prosper. Er hatte lange überlegt, ob er es wagen konnte, Dallow ins Vertrauen zu ziehen, und beschloß nun, es zu tun. Dallow war die Diskretion in Person. Er schob ihm das Spesenbuch hin. Dallow inspizierte die Eintragungen und ließ dabei eine Serie von Geräuschen hören, die an das Zischen und Blubbern eines siedenden Teekessels erinnerten. »Das ist Blödsinn«, sagte er, »absoluter Blödsinn. Kauf Malpas House. Drei Überprüfungsgebühren! Das Geschäft ist nie zustande gekommen! Das war von vornherein ein totgeborenes Kind. Und was ist denn das hier? Sechs verschiedene Prüfungen für Caxton House Nummer drei, fünf und sieben. Das sind lauter Wohnungen im selben Häuserblock. Das wäre mit einer einzigen Überprüfung abgetan gewesen. Was treibt denn der Junge da für ein Spiel?« »Als »Spiel« würde ich es nicht bezeichnen«, bemerkte Prosper kalt. »Und wieso kam das nicht in der Rechnung zum Vorschein?« »Es kam nicht zum Vorschein«, antwortete Prosper, »weil es lauter Collard-Transaktionen waren. Anstatt dem Konzern für jede eine getrennte Rechnung zu schicken, wie wir es eigentlich tun sollten, belasten wir sie vierteljährlich mit allen Kosten für die vergangenen drei Monate. Ich habe Mr. Goodnight oft darauf hingewiesen, daß das leichtsinnig und gefährlich ist und zu Irrtümern führen kann.« »Was ja bereits geschehen ist.« »Das sind keine Irrtümer, Dallow. Das ist systematischer Betrug.« »Wir müssen Mr. Goodnight Bescheid sagen.« »Das möchte ich nicht tun, solange ich nicht mit Manifold gesprochen habe. Vielleicht hat er eine Erklärung.« Aber Prospers Ton verriet, daß er daran nicht glaubte. In der Mittagspause legte er Manifold einen Zettel auf den Tisch. ›Ich würde Sie gern wegen Ihres Spesenbuchs sprechen. Bitte kommen Sie doch heute abend um halb sechs zu mir. J. P.‹ »Also«, sagte Manifold, »worum geht’s? Ich hoffe, es dauert nicht zu lang. Ich habe für sechs einen Platz reserviert.« Er deutete auf den
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Griff seines Squashschlägers, der aus seiner Aktentasche herausragte. Er wirkte nicht im geringsten ängstlich. »Wie lange es dauert, hängt ganz von Ihnen ab«, erwiderte Prosper. Er hatte das Spesenbuch vor sich auf dem Schreibtisch liegen und an einem Dutzend Stellen kleine Zettel als Einmerker zwischen die Seiten geklemmt. »Ich hätte gern eine Erklärung – wenn es eine gibt – für einige dieser Beträge, deren Rückerstattung Sie hier verlangen.« »Wie meinen Sie das, Erklärung? Das sind meine Auslagen. Fahrgelder und so weiter.« »Gelder, die Sie tatsächlich ausgegeben haben?« Manifold sah ihn einen Moment lang stumm an, dann lachte er laut heraus. Es klang keineswegs gekünstelt. »Aha, Sie haben wohl ein bißchen geschnüffelt«, sagte er, nahm das Buch und sah sich die Eintragungen an, die Prosper sich angemerkt hatte. »Die reinste Detektivarbeit«, lachte er, »aber ein oder zwei haben Sie übersehen. Die Registergebühren da, vier Pfund zwanzig. Das war so ein kleiner Test. Und da ein paar Taxikosten.« Prosper war wie vor den Kopf geschlagen. »Heißt das, Sie geben es zu?« stammelte er. »Aber natürlich gebe ich das zu. Das tut doch jeder.« »Ich muß schon sehr bitten«, empörte sich Prosper. »Das tut nicht jeder. Jedenfalls nicht in einer anständigen, alteingesessenen Kanzlei wie dieser.« »Altmodisch wäre die bessere Bezeichnung«, stellte Manifold fest, während er sich in Prospers Souterrainzimmer mit den alten Holzschränken und den schweren Möbeln umsah. »Wie aus einem Roman von Dickens. Ich finde, es ist an der Zeit, daß wir uns ins zwanzigste Jahrhundert katapultieren.« »Ob neunzehntes, zwanzigstes oder einundzwanzigstes Jahrhundert«, entgegnete Prosper betont, »ist völlig gleichgültig. Ehrlichkeit bleibt Ehrlichkeit, und Unehrlichkeit bleibt Unehrlichkeit.« »Und Realismus bleibt Realismus«, versetzte Manifold. Er hatte sich auf die Ecke des Schreibtischs niedergelassen und schien seine Verabredung zum Squash vergessen zu haben. »Haben Sie sich mal genau überlegt, was für eine Wirkung eine solche Transaktion hat?«
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Manifold tippte auf das Spesenbuch. »Ich meine für den Mandanten.« »Die Wirkung, wenn er davon wüßte, wäre, die Erkenntnis, daß er betrogen worden ist.« »Sie sehen das noch immer nicht realistisch. Schauen Sie. Angenommen, ich verschaffe mir auf diese Art und Weise hundert Pfund. Alles, was ich geltend mache, erscheint als Posten auf der Rechnung für den Collard-Konzern. Stimmt’s?« Prosper entgegnete nichts. »Es ist eine Ausgabe und für die Firma steuerlich abzugsfähig. Die Körperschaftssteuer beträgt zweiundfünfzig Prozent. Die Firmengewinne unterliegen der Einkommensteuer samt Zuschlag, wenn sie in Onkel Sams Hände übergehen. Er hat mir mal erzählt, daß er für hundert Pfund am Ende nur noch zehn Pfund bekommt.« Prosper sagte noch immer nichts. »Rechnen Sie sich’s doch selber mal aus. Wenn ich Onkel Sam um hundert Pfund bäte – die er mir bestimmt gern geben würde –, würde es ihn tausend Pfund kosten, sie aufzubringen. Richtig? Wenn ich’s aber auf diese Art und Weise mache, kostet es ihn zehn Pfund, und der Finanzminister zahlt die anderen neunzig und verliert dazu noch neunhundert.« Weiß im Gesicht, den Mund zu einer schmalen Linie zusammengepreßt, sagte Prosper: »Betrug ist Betrug, da gibt es nichts zu beschönigen.« Manifold rutschte vom Schreibtisch, und Prosper wurde plötzlich bewußt, daß er ein großer, athletischer junger Mann war, bestimmt doppelt so stark wie er selbst. Und ihm fiel ein, daß sie möglicherweise allein im Haus waren. Sergeant Pike ging manchmal früher und überließ es ihm, die Haupttür abzusperren. Doch er hatte nicht die Absicht, klein beizugeben. Er wartete auf Manifolds Antwort. »Und was wollen Sie nun tun?« fragte der in einem Ton, der mit der früheren lockeren Unbekümmertheit nichts mehr gemein hatte. »Ich werde es melden.« »Wem?« »Mr. Goodnight.« »Und was, meinen Sie, wird der tun?«
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»Er wird die Anwaltskammer benachrichtigen und Ihren Vertrag kündigen.« »Das wird er nicht tun.« »Es wird ihm gar nichts anderes übrigbleiben.« »Er wird es nicht tun. Erstens, wenn er es täte, würde er Collard als Mandanten verlieren. Dafür garantiere ich.« Prosper sah ihn nur angewidert an. »Zweitens, wenn der alte Goodnight Wirbel macht, kann’s ihm passieren, daß er sich ins eigene Fleisch schneidet. Haben Sie schon mal drüber nachgedacht, wieso Sie seine persönlichen Steuerangelegenheiten nicht betreuen? Warum er das alles selbst macht?« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Was glauben Sie wohl, womit er seinen Lebensstil finanziert? Zwei Häuser, zwei Autos, eine teure Ehefrau, eine Jagd, ein Fischwasser. Er behumpst das Finanzamt seit Jahren. Und meinen Segen hat er.« Prosper war tief erschüttert und praktisch sprachlos. Hätte Manifold das Gespräch an diesem Punkt abgebrochen, so wäre das Schlimmste vielleicht nicht passiert. Unglücklicherweise jedoch schwenkte er um und sagte in einem fatalen Ton falscher Jovialität: »Nun kommen Sie schon, alter Junge, seien Sie nicht dumm. Vergessen Sie die ganze Angelegenheit.« Prosper holte einmal tief Luft und sagte mit Entschiedenheit: »Nein.« »Sie wollen also unbedingt Wirbel machen?« Manifolds Mund wurde hart. »Sie sind bereit. Ihre eigene Stellung und die Stellung sämtlicher Leute hier wegen ein paar Pfund aufs Spiel zu setzen, die keinen Menschen interessieren, am wenigsten den Mann, der sie bezahlt?« »Ich lasse mich nicht dazu erpressen, Ihre Betrügereien zu decken.« »Ich denke«, sagte Manifold mit überlegter Grausamkeit, »daß andere hier relativ leicht wieder Arbeit finden werden. Die Stenotypistinnen und Sergeant Pike und so weiter. Aber eins ist sicher, Sie werden keine neue Stellung finden.« »Unverschämtheit hilft Ihnen jetzt auch nicht weiter.«
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»Sie sind nicht nur dumm, Sie sind altmodisch. Sie sind überholt. Leute wie Sie werden nicht mehr gebraucht.« Der Zorn ergriff jetzt von Prosper Besitz. Rotglühender, heißer Zorn, der alle Furcht verdrängte. »Das, was Sie hier machen, kann jeder Schulabgänger mit einem Taschenrechner. Sie sind nicht nur altmodisch, Sie gehören ausrangiert.« Prosper war aufgesprungen. Seine zuckenden Finger berührten das schwere Lineal auf seinem Schreibtisch und hielten es fest. Er sprang auf den verblüfften Manifold zu und holte zum Schlag auf seinen Kopf aus. Manifold hatte keine Mühe, dem Schlag auszuweichen. Sein Reaktionsvermögen war dem Prospers weit überlegen. Er sprang leichtfüßig zurück, und der Schlag ging in die Luft. Prosper verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber, wobei er mit dem Kopf an die Schreibtischecke schlug. Das Lineal flog ihm aus der Hand und traf Manifolds Schienbein. Manifold hob es lachend auf und sagte: »Vorsicht, alter Junge. Sonst verletzen Sie noch jemanden.« Als Prosper nicht reagierte, kniete er neben ihm nieder und sagte: »Kommen Sie, stehen Sie auf.« Der Arm, den er anfaßte, war merkwürdig schlaff. Ein Geräusch veranlaßte ihn, sich umzudrehen. Sergeant Pike stand an der Tür. »Rufen Sie einen Arzt, Sergeant«, sagte Manifold. »Mr. Prosper ist gestürzt.« Sergeant Pike eilte ins Zimmer, stieß Manifold grob aus dem Weg und kniete neben Prosper nieder. Es dauerte lange, ehe er wieder aufstand. Dann ging er zur Tür, sperrte ab und steckte den Schlüssel ein. Danach griff er zum Telefon und wählte. »Was tun Sie da?« fragte Manifold. »Ich rufe die Polizei«, antwortete Sergeant Pike. Cosmo Franks führte den Prozeß im Namen der Krone mit der leidenschaftslosen Gewissenhaftigkeit, die man von einem erfahrenen Anwalt erwartet. Auf seine Fragen berichtete Dallow dem Gericht, daß der Tote beabsichtigt hatte, eine Reihe systematischer Betrügereien des Ange-
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klagten aufzudecken. Sergeant Pike beschrieb, wie er einen Schlag gehört hatte, ins Zimmer gekommen war und den Angeklagten über den Toten gebeugt vorgefunden hatte. Der Angeklagte hatte ein schweres Holzlineal in der Hand gehalten, das er weggelegt hatte, als der Sergeant eingetreten war. Ein Vertreter der Polizei bestätigte, daß man auf dem Lineal die Fingerabdrücke des Angeklagten gesichert hatte. Die einzige Überraschung war der ärztliche Befund. Dr. Summerson, der Pathologe, der die Autopsie durchgeführt hatte, erklärte, seiner Meinung nach hätte ein Schlag mit einer solchen Waffe zwar zum Tod beitragen, ihn allein aber bei einem gesunden Menschen nicht herbeiführen können. Prosper hatte, wie sich herausstellte, an einer fortgeschrittenen Degeneration der Herzkranzgefäße gelitten, wahrscheinlich eine Folge mangelnder körperlicher Bewegung. »Wenn Summerson nicht gewesen wäre«, meinte der zweite Staatsanwalt, als er und Franks das Gericht verließen, »wäre er wegen Mordes verurteilt worden, das steht fest.« »Die ganze Geschichte ist sowieso unlogisch«, erwiderte Franks. »Wenn er den Vorsatz hatte, ihn zu töten, hätte die Tatsache, daß er nicht fest genug zuschlug, um einen Gesunden zu töten, und daß er ihn daher nur zufällig tötete, weil er nicht gesund war, an der Anklage nichts ändern dürfen.« »Er hat Glück gehabt«, sagte der zweite Staatsanwalt. »Auf solches Glück könnte ich persönlich verzichten«, gab Franks zurück. »Ein abgebrühter alter Knastbruder kann fünf Jahre vielleicht einfach abschütteln. Aber Manifold nicht. Er ist erledigt.« Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher. Dann sagte Franks: »Und er ist nicht der einzige, dem jetzt das Wasser bis zum Hals steht.« Das stimmte. Als Sam Collard sein Mandat einer anderen Anwaltskanzlei anvertraute, hatte Goodnight beschlossen, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen. Er hatte dabei die Tatsache übersehen, daß die Steuerbehörden diesen Schritt automatisch als Aufforderung zu einer Steuerprüfung sehen würden. Jetzt war er mit einer Anzeige wegen Steuerhinterziehung, der Gewißheit eines exorbitanten Bußgelds und der Möglichkeit einer Gefängnisstrafe konfrontiert.
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»Wenn man sich’s genau überlegt«, meinte der zweite Staatsanwalt, »ist im Grund nur der alte Prosper glimpflich davongekommen. Ein rascher Tod statt monatelanges Siechtum im Krankenhaus.« »Ja, das ist vermutlich richtig«, bestätigte Franks zerstreut. Er war mit Gedanken bereits bei seinem nächsten Fall: mehrfacher Vergewaltigung. Aus dem Englischen übertragen von Mechthild Sandberg-Ciletti
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Winston Graham Der Zirkus Es war Gareth Purdys erster Besuch seit über zwanzig Jahren, und er war froh, wenigstens für kurze Zeit wieder in der alten Heimat sein zu können, auch wenn er ihr weder irgendwelche Gefühle noch Achtung zu schulden glaubte. Alles, was er darstellte, was er geworden war, verdankte er Australien, das ihm und seiner Familie Heimat und Lebensraum bot. Trotzdem, und besonders zu dieser Jahreszeit, da überall die Bäume austrieben, war England ein bezauberndes Land. Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie sanft, heiter und einladend sich dort die Landschaft dem Fremden präsentierte, wie herzlich die Menschen dort waren, und wie kultiviert man lebte. Wenn man nämlich ein mittelloser Junge ist, der fröstelnd an Straßenecken herumlungert, sieht das alles ganz anders aus. Von Wärme und Herzlichkeit war da nichts zu spüren gewesen. Eigentlich hatte er sein erstes Wochenende in London verbringen wollen, um seine alten Lieblingsplätze aufzusuchen, doch sein Geschäftsfreund, Jock Munster, lud in statt dessen in sein Landhaus nach Sussex ein, was ihm schließlich ein so attraktives Angebot erschien, daß er annahm. So fuhren sie Freitag abend gemeinsam nach Fontain Manor. Fontain Manor entpuppte sich als ein bezauberndes kleines Herrenhaus inmitten eines großen Gartens und mit im Lauf von zweihundert Jahren verwitterten, sanft schimmernden Mauern. Die Birken trieben dort gerade die ersten feinen, noch nach Raupenart gerollten Blätter aus, und der weite grüne Rasen, Glockenblumen, blühende Kirschbäume, Seidelbast, Ginster und andere ihm unbekannte Pflanzen bildeten einen bunten Farbteppich, der ihm die subtropische Eintönigkeit der Landschaft, in der er eine erfolgreiche Existenz aufgebaut hatte, wie von einem anderen Stern erscheinen ließ. Sein Gastgeber hatte eine charmante Frau und zwei hübsche Töchter, von denen sich die ältere bereitwillig als vierte Spielerin beim Bridge zur Verfügung stellte, so daß sie bis Mitternacht spielten, wonach er sich in jener angenehmen Wohligkeit, die gutes Essen, Brandy und Zigarrenrauch hinterließen, ins Bett zurückzog und acht
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Stunden an einem Stück schlief, was seit vielen Jahren nicht mehr vorgekommen war. Schon bald nach dem Aufwachen brachte ein Hausmädchen ihm ein leichtes Frühstück. Er aß es, badete, rasierte sich, zog sich an und war bereits um halb zehn Uhr auf dem Weg durchs Haus in den Garten. Jock hatte für elf Uhr eine Golfpartie arrangiert, doch das einzige Familienmitglied, das sich schon zu dieser Stunde sehen ließ, war die jüngere Tochter, Phyllida, mit der er kurz über Pferde plauderte, bevor er den Garten betrat. Es war ein herrlicher Morgen. Die Erinnerung an die trüben, trostlosen Tage seiner Jugend ließ ihn einen mißtrauischen Blick zum blauen, wolkenlosen Himmel hinaufwerfen, und er fragte sich, wo da wohl der Haken an diesem vollkommenen Bild sein mochte. Sicher spielte ihm die Natur nur einen Streich, um ihn zu überzeugen, daß jene bitteren Erinnerungen nur ein Irrtum waren. Doch er würde sich nicht täuschen lassen. Vorerst allerdings… In einer hinteren Gartenecke setzte der Gärtner gerade Pflanzen in ein Beet. Neben ihm schimmerten durch die Fenster eines geheizten Gewächshauses dicke Tomatenpflanzen mit den ersten reifenden Früchten. Diese reichen Engländer, dachte er. Sie verstehen es noch immer, so gut zu leben, wie wir es zu Hause nie fertigbringen würden. Allein das Dienstpersonal, das sie traditionell beschäftigten, und vor allem das Personal, das im Haus lebte! Es war wirklich erstaunlich, daß diese Kaste überhaupt noch existierte. Knapp mußten solche Leute zwar auch in England sein, aber immerhin waren sie vorhanden und gewillt, diese Art von Arbeit zu verrichten. Alte Feudalstrukturen brachen natürlich nur langsam auf. Er zumindest hatte von diesem Leben nichts gewußt, als er noch in England gewesen war… und es hatte trotz allem überlebt. Die Hände in den Hosentaschen, selbstsicher, frei und wohlhabend schlenderte er über den Rasen, fragte sich, ob er einige gute Schläge an diesem Morgen würde landen können, fragte sich, ob die beiden Herren, die an der Golfpartie teilnehmen sollten, Geschäftsleute aus derselben Branche waren wie Jock und er. Als er am Gärtner vorbeikam, hielt er kurz an und sah dem Mann bei der Arbeit zu. Sein Schatten fiel über die nackte Erde. Der Gärtner sah auf und sagte: »Guten Morgen, Sir.«
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»Morgen. Ist das Goldlack, was Sie da pflanzen?« »Nein. Löwenmäulchen, schon für den Sommer…« Der Mann hatte sich halb aufgerichtet und immer stockender gesprochen. Er starrte ihn unverwandt an. Er war um die Fünfzig, groß und knochig und hatte dichtes, störrisches graues Haar und ein kantiges Kinn. Sie starrten sich an. Schließlich sagte Gareth Purdy: »Großer Gott! Das ist doch… bist du’s Tom?« »Gareth? Ist das möglich? Ja, natürlich bist du’s. Ich würde dich immer wiedererkennen…« »Woran?« »An der Narbe an deinem Kinn! Die hast du dir doch geholt, als du von Bill Carters Fahrrad gefallen bist…« »Großer Gott!… Tom!« Gareth streckte die Hand aus. Tom wischte sich seine Hand an seiner Arbeitshose ab, und sie begrüßten sich. »Daß es solche Zufälle überhaupt gibt!« wunderte sich Gareth. »Ich bin nur ein paar Wochen in England und wollte das Wochenende eigentlich in unserem alten Viertel verbringen und vielleicht ein paar alte Kameraden besuchen, aber dann hat Jock Munster mich eingeladen… und hier treffe ich meinen Bruder, der den Garten umgräbt!« Tom musterte angestrengt den Jüngeren aus zusammengekniffenen Augen, denn er hatte den Jungen, den er in ihm zu erkennen hoffte, seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen. »Ich kann’s einfach nicht glauben«, murmelte er. »Mr. Munster hat oft Wochenendbesuch, aber ich hätte nie gedacht… Wie geht’s dir, mein Junge? Du siehst prächtig aus. Bist dicker geworden, aber das steht dir. Du hast’s geschafft, was? Scheinst reich geworden zu sein.« »Ja… ja, ich habe keine Geldsorgen. Und ich danke Gott jeden Tag, daß ich ausgewandert bin. Ich bin im Wollhandel tätig. Und es geht mir gut. Ich habe eine Frau und zwei Kinder, ein schönes Haus bei Adelaide, fahre einen Cadillac, die Kinder besuchen gute Schulen…« Gareths rundes, energisches, leicht gerötetes Gesicht verdüsterte sich etwas. »Und du? Das hier ist ja nicht gerade der Traumjob. Schade, daß wir den Kontakt verloren haben…«
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»Oh, mir geht’s nicht schlecht«, unterbrach Tom ihn hastig. »Allzuviel Grips habe ich nie gehabt. Ich bin durchaus zufrieden…« »Grips? Also das würde ich nicht unterschreiben. Als Kind habe ich dich sehr bewundert. Für mich hast du einfach alles gewußt. Besonders nach Dads Tod. Ich weiß, daß es hart für dich war, aber so ging’s uns ja allen. Du mußtest dich um Mutter kümmern, dabei warst du doch erst elf, oder?« »Ja. Fast zwölf. Und du warst sechs. Mein Gott, das ist ewig lange her.« »Hör zu, wir müssen uns mal ausgiebig unterhalten. Heute morgen spiele ich Golf. Aber nach dem Essen – bist du dann hier?« »Nein, ich mache um zwölf Uhr Schluß. Aber ich wohne nur ein Stück die Straße runter. Das erste Häuschen dort. Da findest du mich den ganzen Nachmittag. Denk dir irgendeine Ausrede aus…« »Ich brauche doch wohl keine Ausrede, um meinen Bruder zu besuchen! Blödsinn. Ich schenke denen reinen Wein ein. Dich so aus heiterem Himmel wiederzusehen, wirft mich einfach um. Die Welt ist verdammt klein. Es ist nicht zu fassen!« Tom kratzte Erde von seinem Stiefel. »Erfinde eine Ausrede. Das ist einfacher. Und für alle Beteiligten angenehmer.« »Wie meinst du das? Warum sollte ich…?« »Du bist schließlich ihr Gast und Geschäftspartner, nehme ich an. Die Munsters machen in Wolle. Es wäre ihnen nur peinlich, wenn sie erfahren würden, daß sie deinen Bruder als Gärtner beschäftigen.« »Das ist mir doch egal! Es gibt schon viel zu viele Snobs in unserer Welt, mein Junge…« »Aber mir ist es nicht egal, Gareth.« »Wie bitte? Was soll das heißen?« »Der Job hier macht mir Spaß. Ich mache das seit vielen Jahren. Munster ist ein anständiger Arbeitgeber, wir kommen gut miteinander aus. Trotzdem leben wir in verschiedenen Welten. Ich stelle ihm keine persönlichen Fragen, und er stellt mir keine. Du… als Australier verstehst das vielleicht nicht, aber mir ist es lieber, es bleibt so. Vermutlich hältst du ein solches Arbeitsverhältnis für nicht mehr zeitgemäß… aber es funktioniert. Er ist zufrieden dabei, und ich bin es auch.«
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Gareth starrte ihn an. »Also gut, Tom. Wie du meinst. Trotzdem finde ich’s schade… Ich komme heute nachmittag. Dann können wir über alte Zeiten reden. Verdammt, das ist wirklich ein großartiger Zufall! Ich hätte vermutlich wochenlang nach dir suchen können…« »Hättest du das denn getan?« »Ob ich es getan hätte? Ich… das weiß ich nicht. Vermutlich hätte ich die Zeit gar nicht gehabt. Ich bin schließlich nur zwei Wochen hier. Aber jetzt, da wir uns getroffen haben, sollten wir wenigstens einen Nachmittag ganz für uns haben!« Auf dem Golfplatz herrschte eine gelöste Stimmung unter den vier Herren, wofür Gareth Purdy besonders dankbar war, denn seine Schläge kamen längst nicht so präzise wie sonst. Er schlug den Ball so kurz, daß er häufig in der Wildnis landete. Sein Partner, ein großgewachsener, legerer Mann, nahm das gar nicht krumm, und sie gewannen trotzdem. Doch sein Vorhaben, noch ein oder zwei Stunden im ersten Häuschen an der Straße zu verbringen, machte der Gastgeber unmöglich: Sie blieben zum Mittagessen im Golfclub und spielten anschließend eine weitere Partie, und als sie nach Hause kamen, erwarteten sie dort Gäste zum Cocktail und Abendessen, so daß es Sonntag wurde, bevor für Gareth die nächste Chance kam. Er machte sich gegen elf Uhr auf den Weg und fand Tom in dessen winzigem Garten, wo er eine Rankpflanze hochband. »Entschuldige, daß ich gestern nicht gekommen bin«, begann Gareth und erklärte alles. »Jetzt sind sie in der Kirche. Man stelle sich das vor! Ich hätte nie gedacht, daß man das hier immer noch tut. Ich habe mich damit entschuldigt, daß ich lieber einen Spaziergang mache, und nun bin ich da.« Tom nahm die Pfeife aus dem Mund und musterte den jüngeren Bruder ebenso prüfend, wie dieser ihn ansah. Tom war an diesem Morgen der elegantere von beiden: ein großer, gutaussehender Mann im grauen Fischgrätanzug mit weißem Hemd und blauer Krawatte, sonnengegerbter Haut und hellen, blauen Augen. Gareth dagegen, der einen halben Kopf kleiner war, trug ein kariertes Flanellhemd, einen braunen Pullover und eine ausgebeulte, abgetragene Hose, der man allerdings die gute Wollqualität ansah, die jedoch Gareths Bauchansatz kaum verbergen konnte. Während man in Gareths Ge-
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sicht lesen konnte wie in einem offenen Buch, wirkte der Bruder verschlossen und grüblerisch. Sie gingen ins Haus. Gareth fand für alles bewundernde Worte, sagte, wie hübsch Tom es sich gemacht hätte, und sah doch nur das winzige Haus und das armselige Leben, das der Bruder führte. Gareth zog Photos aus der Tasche: von seiner Frau und den Kindern, er selbst in Rapid Bay, Joyce beim Sonnenbaden, die Familie in Mount Loft. »Hast du je geheiratet, Tom?« fragte er schließlich. »Nein… die Richtige ist mir wohl nie begegnet. Außerdem habe ich vermutlich schon früh den Mut verloren. Deine Frau, sie ist doch hoffentlich keine Blondine, oder? Blondinen habe ich nie gemocht.« »Nein, sie hat braunes Haar und blaue Augen. Sie würde dir bestimmt gefallen. Hör mal, ich habe nachgedacht. Weshalb kommst du nicht mit und lebst bei uns? Fang ein neues Leben an. Chancen bietet Australien immer noch reichlich.« Sie diskutierten weiter darüber, während Tom Kaffee kochte. »Du bist erst siebenundvierzig, wirst im nächsten Monat achtundvierzig«, sagte Gareth. »Ich bin sicher, du kannst es schaffen. Ich könnte dir helfen.« Sie stritten… aber auf gutmütige Art und Weise. Tom sagte zu allem nein. Er sei hier zu Hause. Es würde nicht gutgehen. Er könnte ohne die englischen Gärten nicht leben, in denen er so viele Jahre seines Lebens gepflanzt und geerntet hatte… eben seit sie damals aus Lancashire gekommen seien. Ob er sich noch an diese Zeit erinnern könnte? Gareth verneinte das. »Du bist damals erst fünf gewesen. Ich war elf. Dad hatte seit drei Jahren keine Arbeit mehr gehabt. Damals gab’s zwei Millionen Arbeitslose. Dann hat er die Chance gekriegt, nach London zu gehen und dort auf dem Bau zu arbeiten. Natürlich hat er das sofort gemacht. Irgendwie hat er es dann auch geschafft, die Familie nachzuholen. Erinnerst du dich noch an die Wohnung in London?« »Na klar. Auf dem Dach der Welt. Wie lange sind wir da gewesen? Zwei Jahre? Oder drei?« »Drei. Ich schätze, daß es früher mal das Stadthaus eines reichen Kaufmanns gewesen ist. Aber zu unserer Zeit hat in jeder Etage eine
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andere Familie gewohnt, und es gab für das ganze Haus nur eine Toilette. Weißt du noch die O’Haras?« »Die, die aus dem Badezimmer ’ne Küche gemacht haben? Natürlich. Was ist bei dir damals schiefgegangen, Tom?« Tom starrte ihn verblüfft an. »Wie kommst du denn darauf? Hast du was gemerkt?« »Klar. Damals warst du doch mein großes Vorbild. Also habe ich was gemerkt. Du hast dauernd was angestellt. War Dads Tod daran schuld?« »Nein… nein, damit hatte es nichts zu tun. Sowieso war’s nie richtig schlimm.« »Soviel ich mich erinnere, war der Bewährungshelfer öfter bei uns. War’s nicht Einbruch oder so was Ähnliches?« Tom rührte in der Kaffeetasse. »Du erinnerst dich viel zu gut. Nein, mit Dad hatte das nichts zu tun. Hast du gewußt…« »Was?« »Ach egal. Zucker?« »Danke.« Sie redeten über häusliche Angelegenheiten, darüber wie es ihnen seit ihrem Abschied vor fünfundzwanzig Jahren ergangen war. Gareth erzählte von den harten ersten Jahren in Australien, seiner Heirat, von dem Glück, das diese ihm gebracht zu haben schien, und daß er sich nie zurückgesehnt habe. Tom sprach über die zwei Jahre bei der Armee… »Der Drill ist nie was für mich gewesen…« die Gelegenheitsarbeiten, den Job in der Fabrik… »Du langweilst dich so, daß du alles tun würdest, um mal was zu erleben…« die Probleme mit der Polizei, die ihm allerdings nie eine Haftstrafe eingebracht hatten, die Stellen als Gärtner in einem Londoner Park, als Automechaniker in Brighton, dann von seinem gegenwärtigen Job. »Hier macht’s mir Spaß. Es ist sehr abwechslungsreich. Vermutlich werde ich zwar nicht mein ganzes Leben hier verbringen, aber ein paar Jahr halt’ ich’s noch aus. Für Schottland habe ich ein Faible… vor allem für die Westküste. Da gibt’s schöne Gärten.«
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»Was wolltest du vorhin eigentlich sagen«, warf Gareth unvermittelt ein. »Wann?« »Ich hatte den Eindruck, daß du noch was über die Zeit erzählen wolltest, als wir in diesem Haus ganz oben gewohnt haben.« »Ja, stimmt. Stimmt.« Tom trank einen Schluck Kaffee. Draußen sang ein Vogel, als sei es früher Morgen. »Erinnerst du dich an die Dachwohnung? Weißt du noch, daß wir von unseren Fenstern aus auf den kleinen Park runtersehen konnten? Nach dem Hinterhof in Gorton ist das für mich einfach faszinierend gewesen… Mitten aus der Provinz direkt in eine der größten Städte der Welt. Und… und irgendwie war’s wie auf dem Land. Natürlich waren überall Häuser, und es toste der Verkehr… aber trotzdem gab’s Platanen, Birken und Ahornbäume und alle möglichen Vögel: Rotkehlchen, Spatzen, Finken und Drosseln, die gesungen haben wie die da draußen jetzt auch.« »An die schrägen Wände erinnere ich mich noch«, fiel Gareth ein. »Von meinem Bett aus konnte ich die Dachsparren berühren, ohne mich aufzusetzen.« »Hast du gewußt, daß ich einen Mord beobachtet hatte?« Gareth sah ihn verblüfft ihn. »Wie bitte? Wann? In diesem Haus?« Tom schwieg eine Weile. »Nein«, antwortete er schließlich bedächtig. »Nicht in diesem Haus. Draußen… Ich hab’s noch nie jemandem erzählt.« »Großer Gott! Warum denn nicht? Wann war das? War ich auch zu Hause?« »Ja, aber du hast geschlafen.« Tom verfiel erneut in brütendes Schweigen. »Hier nimm eine Zigarre von mir«, sagte Gareth schließlich, als er sah, daß sein Bruder nach der Pfeife tastete. Tom lehnte mit einer Handbewegung ab. »Nein danke.« Er hantierte an seinem Tabaksbeutel herum. »Ich habe dir doch erzählt, wie fasziniert ich davon war, daß wir von unserer Wohnung aus den Park sehen konnten und daß ich fast das Gefühl hatte, auf dem Land zu sein. Ich bin oft nach der Schule am Fenster gesessen und habe den
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Verkehr, die Kinder, die auf der schmutzigen Wiese Ball spielten, Liebespaare, junge Ehepaare mit Kinderwägen, Hunde, die das Bein hoben, Vögel, die miteinander stritten, und gelegentlich auch ein Flugzeug am Himmel beobachtet. Es war die beste Unterhaltung und kostete keinen Penny.« »Bist du damals nicht krank gewesen?« »Ah, daran erinnerst du dich auch noch? Ja, ich hatte Kinderlähmung. Niemand, der mich heute sieht, würde das glauben, aber damals erholte ich mich gerade davon, und meine Beine waren noch ziemlich schwach. Deshalb habe ich nicht oft gespielt. Ich habe lieber am Fenster gesessen und geträumt. Du weißt, wovon Jungen träumen: davon, daß man im Kricket oder im Fußball ein Topstar oder Kapitän oder Pilot wird. Damals konnte man mit Alleinflügen noch berühmt werden… Ich war ein Romantiker. Erinnerst du dich noch an den Zirkus?« Gareths Augen verengten sich. »Nein.« »Damit fing alles an. Mit dem Zirkus, der im Park sein Zelt aufschlug. Natürlich hatte ich die Plakate an den Telegrafenmasten gesehen, und in der Schule wurde schon eifrig darüber geredet, aber ich habe erst daran geglaubt, als ich den Zirkus leibhaftig vor mir gesehen habe. Die anderen Jungen behaupteten, er käme jedes Jahr, manchmal sogar öfter und es sei ein großer Zirkus. Bis dahin hatte ich einen Zirkus nur im Kino gesehen. Er kam zweimal, während wir dort gewohnt haben. Weißt du das denn überhaupt nicht mehr?« »Ich glaube, jetzt erinnere ich mich vage.« Gareth betrachtete die großen, von harter Arbeit geprägten Finger des Bruders, als er seine Pfeife stopfte. »Eines Tages kurz vor Weihnachten bin ich aus der Schule gekommen und habe festgestellt, daß der Zirkus gerade eingetroffen war. Ich bin die Treppen hinaufgerannt und konnte zusehen, wie die Wagen auf dem kleinen freien Platz zwischen den Bäumen über der Straße Aufstellung nahmen. An jenem Abend bot sich mir ein großartiges Schauspiel. Die eleganten Wohnwagen und die bemalten Zirkuswagen fuhren einer nach dem anderen auf den Platz und bewegten sich in Form einer immer enger werdenden Spirale allmählich auf die Mitte zu. Dann wurde im Zentrum dieses Kreises das
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riesige Zelt hochgezogen. Die ganze Nacht bin ich aufgeblieben, habe auf das dumpfe Hämmern, das Rattern von Motoren, das Rasseln von Ketten und auf die Rufe der Männer gehört. Immer wieder bin ich aus dem Bett geschlüpft und habe aus dem Fenster geschaut. Und jedesmal gab es etwas Neues zu sehen, waren zusätzliche Stangen aufgerichtet, flatterte ein weiteres Segment des Zeltdaches im Wind. Dad hatte damals ein ganz verhärmtes Gesicht… erinnerst du dich? Unsinn, ich glaube, du kannst dich wirklich kaum noch an ihn erinnern, was?« »O doch, ganz gut sogar.« »Daß er so abgemagert war, kam nicht nur daher, weil er nicht genügend aß… das machte seine Situation, die ständigen Bittgänge zum Arbeitsamt. Viele Männer haben damals ähnlich ausgesehen. Natürlich ist er zu jener Zeit bereits krank gewesen, und er hatte für mich und meine Träume und Wünsche keine Zeit. In den Zirkus gehen? Wir hatten keinen Penny übrig… geschweige denn die sechs Pence, die der billigste Platz gekostet hätte.« Tom zündete ein Zündholz an. »Es war mir ziemlich egal. Schließlich konnte ich alles kostenlos von meinem Fenster aus sehen. Einoder zweimal habe ich auch dich hochgehoben, aber normalerweise warst du viel zu hungrig, um es lange auszuhalten… du hattest damals einen Appetit wie ein Löwe. Mum hat immer behauptet, du wärst nie satt zu kriegen.« »Das ist heute noch so. Aber jetzt muß ich auf meine Linie achten.« »Von besagtem Fenster aus konnte ich alles sehen… sämtliche Tiere in ihren Käfigen, und vor allem die braun-weiß gescheckten Pferde, deren Musterung von oben wie eine Landkarte wirkte. Wenn ich Geographie auf diese Weise lernen könnte, habe ich damals gedacht…« Toms Gesicht tauchte hinter einer Rauchwolke wieder auf. »Und sie hatten vier Elefanten, die angekettet in einer Reihe standen; sie wurden natürlich täglich trainiert und zu den Vorstellungen weggeführt, aber die meiste Zeit standen sie nur dort und schaukelten hin und her. Dabei haben sie kaum die Füße bewegt, sondern haben sich nur im Gleichtakt wie vier Gummipuppen hin und her gewiegt. Neben ihnen waren die Löwen, Tiger und Schimpansen in ihren Käfigen. Auf der anderen Seite kamen die Kamele, Shetland-Ponys und
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natürlich die Seehunde. Selbst bei Nacht konnte man unter den hohen Lampen alles beobachten, was dort unten geschah. Am frühen Morgen allerdings gab es manchmal eine Art Stegreifvorstellung… wie für mich aufgeführt…« Tom zündete ein zweites Streichholz an und hielt es an den Pfeifenkopf. Der Blick seiner hellgrauen Augen wirkte beinahe entrückt. »Du hast vorhin was von einem Mord…« »Man konnte die Clowns sehen, wenn sie zwar schon geschminkt waren, aber noch Sandalen und ausgebeulte Trainingshosen trugen. Und dann war da die Seiltänzerin in ihrem Trikot, die Eimer mit Schmutzwasser auskippte. Und die Cowboys beim Kartenspielen. Wenn die Vorstellung begann, kamen die glattgestriegelten Pferde heraus, bildeten, ohne daß ein Kommando nötig gewesen wäre, eine Reihe und galoppierten ins Zelt wie Soldaten bei einer Exerzierübung. Aber das Amüsanteste, mein Junge, waren die Seehunde. Sie kamen alle auf einmal aus ihren Käfigen, watschelten die Treppen hinunter und robbten dann, mit ihren Flossen sich selbst applaudierend, ins Zelt. Ein Seehund mußte mit Orchesterbegleitung ein Lied singen, und ich habe meistens die ganze Nacht auf den Krach gewartet, den man bis weithin hören konnte, weil das das Zeichen dafür war, daß ihre Nummer zu Ende war. Tja, und schon in der ersten Nacht habe ich mich verliebt, mein Junge.« Gareth trank seinen Kaffee aus und lehnte mit einer Handbewegung eine zweite Tasse ab. »Du, Tom? Damals? Warum…?« »Ich weiß, es klingt idiotisch… und in meinem Alter damals ist es das wohl auch gewesen. Aber oben aus der luftigen Höhe unserer Dachwohnung hat sie selbst fast noch wie ein Kind ausgesehen. Sie hieß Tilly und ritt einen der Schecken ohne Sattel. Die Nummer nannte sich ›Rita und Tilly‹, aber Rita war viel älter. Ich dachte, die beiden seien Mutter und Tochter. Das Mädchen war blond und hatte langes, zu dicken Zöpfen geflochtenes Haar. Für die Nummer allerdings trug sie es offen, und es fiel beinahe bis zu ihren Hüften und breitete sich wie ein Fächer über ihrem Rücken aus, wenn sie sich aufs Pferd schwang. Außerdem hatte sie blaue Augen, eine kurze Nase und lange, schöne Beine, die einen irgendwie an ein Fohlen erinnerten. Jeden Tag habe ich ihr beim Training zugesehen, und für
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mich ist sie damals wie eine Fee aus einer Märchenwelt gewesen, unendlich schön und unendlich weit entfernt und unerreichbar. Aber schließlich habe ich es doch geschafft, sie mir aus der Nähe anzusehen.« »Du meinst in der Vorstellung?« »Ja. Ich habe Süßigkeiten in Brays Süßwarenladen gestohlen und sie in der Schule verkauft. Damit habe ich insgesamt neun Pence verdient. Weil Weihnachten war, blieb der Zirkus zwei Wochen, und am ersten Samstag habe ich mir eine Karte für die Vorstellung von diesem Geld gekauft. Als ich sie dann wirklich unter der Zirkuskuppel all die Dinge vorführen gesehen habe, die sie immer geübt hatte, und noch vieles mehr – wie sie im gleißenden Licht der Scheinwerfer sich drehte und wand, sprang und balancierte, war ich verloren. Sie hat jung, schrecklich jung für jemanden ausgesehen, der bereits soviel Geschick und Körperbeherrschung besaß, und sie war sehr, sehr hübsch. Für mich wurde sie zu einer Art Traumfee… zu einer Traumfrau. – Sitzt du gut hier oder sollen wir wieder in den Garten gehen?« »Nein, hier ist es okay.« »Rita dagegen war ein Nichts… sie beherrschte ein paar Tricks, aber meistens brachte sie nur die Pferde für Tilly in die richtige Position. Der Star war Tilly. Und nachdem ich die beiden einige Tage lang von meinem Fenster beobachtet hatte, verwarf ich die Vermutung, sie seien Mutter und Tochter. Tilly besaß einen eigenen Wohnwagen, während Rita einen anderen zusammen mit dem Zirkusdirektor und zwei kleinen Buben bewohnte. Ich schloß daraus, daß letztere eine Familie bildeten, während Tilly allein lebte. Und genau an diesem Punkt fingen die Probleme an. Zwei Männer bemühten sich um Tilly. Wenigstens zwei, vielleicht sogar mehr. Mir jedenfalls sind nur zwei aufgefallen. Aber Tilly war sehr beliebt, alle mochten sie. Ständig kam jemand zu ihrem Wagen und unterhielt sich vor der Tür mit ihr. Sie lief ständig herum, scherzte und lachte mit den anderen. Aber jetzt zu den beiden Männern. Der eine war ein Clown… groß, kräftig und schwergewichtig, der in der Manege eigentlich nichts weiter tat, als umherzufallen. Aber wenn er abgeschminkt war, sah er eigentlich recht gut aus mit seinen blonden
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Haaren. Für mich hätte er ein Deutscher sein können. Der andere war einer der Seiltänzer, schlank, dunkelhaarig, elegant und eingebildet. Und die beiden waren sich nicht grün. Tilly schien keinem von ihnen den Vorzug zu geben, sie lachte sie eher aus. Allerdings sah ich sie fast über alles lachen. Und dann kam diese denkwürdige Nacht… es war der zweite Montag, die Vorstellung war vorüber, und in den meisten Wagen brannte kein Licht mehr. Ich saß in Mantel und dikken Strümpfen am Fenster und hatte den Blick auf das einzig beleuchtete Fenster von Tillys Wohnwagen gerichtet und überlegte, ob ich sie wohl je aus der Nähe… also richtig von Angesicht zu Angesicht sehen würde, denn für die sechs Pence hatte ich nur einen Platz ganz hinten bekommen. – Und plötzlich ging der Tumult los.« »In ihrem Wohnwagen?« »Ja. Ich glaube, zuerst änderte sich nur das Licht, und es wurde lauter als sonst. Als nächstes flog die Tür auf und zwei Männer taumelten miteinander ringend die Treppe hinunter. Es waren die beiden Verehrer… und es war ein Kampf auf Leben und Tod. So was sieht man selten. Tilly erschien im Türrahmen, stand dort, die Hände vor den Mund geschlagen und beobachtete den Kampf. Das Ganze kann kaum länger als zwei oder drei Minuten gedauert haben. Es kam mir beinahe so vor, als sei eine Bombe geplatzt. Der kräftige Clown hatte meines Erachtens die Oberhand, denn er schlug erbarmungslos auf den anderen ein, bis dieser zu Boden ging. Dort rollten sie hin und her, und plötzlich blitzte eine Messerklinge auf. Im nächsten Augenblick war alles vorbei. Der Clown lag flach auf dem Rücken und wand sich wie in Zeitlupe im Staub, während der Seiltänzer, das Messer noch in der Hand, unversehrt aufstand. Zwanzig Sekunden lang blieb alles ruhig. Dann machte der Clown keine Bewegung mehr, der Seiltänzer ließ das Messer fallen, und Tilly rannte die Treppe hinunter in seine Arme…« Tom nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete den Stiel. Dann strich er damit über beide Handflächen und rauchte weiter. »Es dauerte kaum eine halbe Minute, da standen sechs oder sieben Leute um den Clown herum, die von dem Kampf aufgeweckt worden waren: der Zirkusdirektor, Rita, zwei Clowns, ein Liliputaner, die dickste Frau der Welt. Einige bückten sich und betrachteten den Dik-
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ken. Sie richteten sich bald wieder auf. Da war nichts mehr zu machen. Der Zirkusdirektor nahm alles Weitere in die Hand. Er wandte sich an Tilly und den Seiltänzer und verlangte eine Erklärung. Wenigstens sah es von oben so aus. Ich beobachtete, wie Tilly den Seiltänzer verteidigte und in Richtung Wagen deutete. Diese Gesten waren sehr beredt: Der Clown sei bei ihr eingedrungen, der Seiltänzer habe sie beschützt. Die Diskussion dauerte eine gute Stunde. Zwei weitere Zirkusleute kamen hinzu: der Löwendompteur, der aufgeschreckt war, weil seine Löwen unruhig geworden waren, und der Partner des Seiltänzers. Es gab eine Menge wütender Reden und Gesten, während der Zirkusdirektor ständig zur Ruhe mahnte. Er wollte offenbar verhindern, daß der ganze Zirkus in Aufruhr geriet. Und immer wieder sah er zu den Fenstern unseres Hauses hinüber und fragte sich wohl, ob von dort jemand etwas beobachtet hatte. Ich hatte keine Ahnung, was er tun würde. Zuerst konnte ich nicht glauben, daß der Clown tot sein sollte… jemanden auf diese Weise umzubringen, erschien mir zu einfach. Ich erwartete, daß er jeden Moment aufstehen und in den Streit eingreifen würde. Als das nicht passierte und ich endlich begriff, was geschehen war, nahm ich an, daß man die Polizei rufen würde. Als auch das nicht getan wurde, begann ich zu frösteln. Es war kalt im Schlafzimmer, aber das konnte nicht allein die Ursache sein. Ich spielte mehrmals mit dem Gedanken, dich zu wecken, aber ich wußte, daß du zu jung warst, um die Sache zu verstehen.« Tom hielt inne. »Tja, das ist lange her. Aber jetzt, da ich darüber rede, kommt es mir vor, als sei’s erst gestern gewesen. Wieviel Uhr ist es?« »Wieviel Uhr es ist? Hm… halb zwölf.« »Ah, dann ist noch genug Zeit, sie kommen erst nach zwölf aus der Kirche. Möchtest du wirklich keinen Kaffee mehr?« »Vielleicht doch. Danke. Was hast du unternommen? Vor allem, was haben die anderen gemacht?« »Die Zirkusleute? Mit dem Clown? Sie haben ihn begraben.« »Wo?« »Genau dort, wo er lag. Es muß noch mindestens eine weitere Stunde gedauert haben, bis sie die Entscheidung getroffen und ihr Vorhaben ausgeführt hatten, aber ich konnte mich von dem Anblick nicht
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lösen. Mitten im Park unter meinem Fenster haben sie eine Grube ausgehoben… direkt neben einem der Wohnwagen – der Zirkusdirektor, der Seiltänzer und die beiden Clowns. Dann haben sie den toten Clown hineingelegt und Erde über ihn geschaufelt. Gegen zwei Uhr morgens waren dann alle Spuren beseitigt. Der Zirkusdirektor hatte das Messer an sich genommen, der Seiltänzer war mit seinem Partner verschwunden, Rita hatte die weinende Tilly in deren Wohnwagen gedrängt, um offenbar bei ihr zu übernachten, und die dickste Frau der Welt hatte eimerweise Wasser aufs Gras geschüttet, damit das Blut weggeschwemmt wurde. Und soll ich dir sagen, was am nächsten Tag passiert ist? Am nächsten Tag haben sie die Elefanten ein paar Meter weiter rechts von ihrem eigentlichen Platz angepflockt… nämlich direkt über dem frischen Grab. Auf diese Weise wurde die Erde dort natürlich festgestampft wie Zement, bevor die Truppe weiterziehen mußte…« Gareth hob die zweite Tasse Kaffee an die Lippen. »Und du hast nie jemandem davon erzählt?« »Nein… nicht bis zu diesem Augenblick. Viele Jahre lang habe ich geschwiegen. Ich weiß auch nicht, weshalb ich es dir nun erzähle… vielleicht, weil du mein Bruder bist und wir so lange nicht mehr miteinander gesprochen haben… Und wer weiß, wann wir dazu wieder Gelegenheit haben?« »Unsinn! Nach diesem Wiedersehen werden wir doch den Kontakt nicht…« »Natürlich habe ich daran gedacht, zur Polizei zu gehen, habe daran gedacht, Mutter alles zu erzählen. Natürlich hätten sie sich herausreden und behaupten können, ich hätte das nur geträumt, aber der Beweis war schließlich da. Ich mußte der Polizei nur die Stelle zeigen. Aber Tilly… ich war eben verliebt in sie. Ich wußte, was sie erwartete, wenn die Polizei erst davon Wind bekam… Daß sie unschuldig war, spielte keine Rolle. Außerdem wollte ich damals mit der Polizei nichts zu tun haben… Also habe ich den Mund gehalten… Natürlich kann man den Standpunkt der Zirkusleute irgendwie verstehen. Die Angelegenheit war innerhalb der Truppe kaum lange zu verheimlichen, aber es durfte nichts nach draußen dringen. Die Artisten… das ist eine geschlossene Gemeinschaft. Einen Clown
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vermißt niemand, weißt du. Aber wenn die Polizei erst anfing, Fragen zu stellen, dann bedeutete das nicht nur einen Skandal, was schlecht für die Publicity gewesen wäre, sondern den Verlust eines Artisten und damit einer wichtigen Nummer. Also hielten alle den Mund und zogen einfach weiter. Und ich habe mit ihnen geschwiegen.« »Hm.« Gareth streckte die Beine aus. Sie waren etwas steif geworden. Die sechsunddreißig Löcher auf dem Golfkurs am Vortag hatten ihre Nachwirkungen. Seine Kondition ließ nach. »Eine merkwürdige Geschichte. Faszinierend… Und du hast die Truppe vermutlich nie wiedergesehen, oder? Du weißt…« »O doch… Ich habe sie wiedergesehen. Im darauffolgenden Oktober sind sie ja zurückgekommen.« »Was? Großer Gott! Und was…?« »Komisch«, begann Tom und starrte mit seinen blaßgrauen Augen abwesend durch das Fenster. »Das ganze Jahr über hatte ich mein Geheimnis gehegt und gepflegt. Nachdem der Zirkus abgezogen war, kehrte auf dem Park natürlich der Alltag wieder ein. Kinder spielten dort Ball, Liebespaare, junge Ehepaare mit Kinderwagen und Hunde hielten erneut Einzug. Ich habe mich immer gefragt, ob ein Hund nicht eines Tages beim Graben etwas finden würde. Aber die Zirkusleute waren verdammt clever gewesen. Sie hatten die Grube tief genug ausgehoben. An langen Sommertagen bin ich oft rübergegangen und habe die Stelle betrachtet. Ich wußte etwas, das außer mir niemand wußte, und das machte mich stolz. Und es war nicht schwierig, die besagte Stelle zu finden. Immer wuchs natürlich das Gras, und dort, wo der Clown begraben lag, war es viel dichter und saftiger.« »Großer Gott! Weil er dort lag?« »Ja, natürlich. Ich habe mich wirklich gefragt, warum das niemandem auffiel, aber ich glaube, kein Mensch hat je darüber nachgedacht.« »Also, ich wäre auch nie auf eine solche Idee gekommen.« »In jenem Jahr bin ich sehr erwachsen geworden, Gareth. Dad ist im Mai gestorben. Weißt du noch? Ich hatte immer das Gefühl, daß seine Krankheit gar nicht so sehr daran schuld war… Ich glaube, er hatte das Gefühl, es nicht mehr zu schaffen, und hat einfach das
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Handtuch geworfen. Für uns war das eine Katastrophe. Sozialhilfe und so weiter. Dann hat Mutter einen Job als Tellerwäscherin in einem Hotel gekriegt, so daß wir wenigstens in der Wohnung bleiben konnten. Während ihrer Abwesenheit mußte ich die Rolle des Familienoberhaupts übernehmen. Mit zwölf war ich schon Familienvorstand! Gott steh uns bei!« »Das hat er irgendwie auch getan.« »Davon habe ich nicht viel gemerkt, mein Junge. Du hast es noch am besten erwischt… In diesem Jahr habe ich oft von Tilly geträumt, mich gefragt, wo sie wohl war, was sie wohl dachte. Und ich wünschte, der Seiltänzer sein zu können, um sie vor einem bösen Clown zu retten, der ihre Hilflosigkeit schamlos ausnutzen wollte. Du weißt, wie das ist, wenn man nur von Träumen lebt…« Gareth musterte aufmerksam das hagere, glänzende Gesicht des Bruders. »Du hast sie wiedergesehen?« »Ja… und wie! Als ich in jenem Oktober eines Tages von der Schule nach Hause kam, klebte ein Mann Plakate an die Telegrafenmasten. Ich erkannte die blau-gelbe Schrift sofort und wäre auf der Straße beinahe überfahren worden, so durcheinander war ich. Allerdings muß ich gestehen«, fuhr Tom fort, »daß ich, obwohl ich weit vorausdachte, nicht genügend weit vorausgedacht habe… denn sieben Tage später, als der Zirkus eintraf und sein großes Zelt direkt unter unseren Fenstern aufstellte, erlebte ich eine böse Überraschung. Daran hätte ich wirklich nie im Leben gedacht. Die Bäume standen in vollem Saft, und ich konnte durch das dichte Blätterwerk kaum etwas sehen… Damals war das für mich geradezu eine Tragödie… wirklich… Das wäre mir im Traum nicht eingefallen. Obwohl Rita und Tilly als Nummer angesagt waren und ich gelegentlich für Sekunden zwischen den Ästen hindurch Blicke auf sie erhaschte, konnte ich Tilly überhaupt nie richtig sehen… Dazu mußte ich mich wie viele andere Kinder vor der Eingangspforte herumdrücken und hoffen, sie beim Verlassen oder Betreten des Zirkusgeländes zu erwischen. Ansonsten konnte ich sie weder beim Training noch auf den Treppen ihres Wagens sitzend beobachten, wo sie das letzte Mal öfter eine aufgeplatzte Naht in ihrem Trikot geflickt hatte. Nie durfte ich zusehen, wie sie ihr Haar wusch und bürstete oder wie sie zu
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ihrem Auftritt in die Manege ritt. Und auch der Blick auf das andere Treiben war mir verwehrt: auf die Clowns beim Fußballspielen oder auf ihre spontanen Späße, auf die Fütterung der Löwen, die dickste Frau der Welt beim Abendessen, die Elefanten, die zu ihrem täglichen Spaziergang geführt wurden.« »Ich glaube, jetzt erinnere ich mich dunkel an den Zirkus. Die Elefanten haben besonders Eindruck auf mich gemacht.« »Tja, und vor allem wollte ich natürlich wissen, wie sie sich an dem Grab des Clowns verhielten. Ich beobachtete sie, so gut ich konnte, und glaubte zu erkennen, daß sie die Elefanten wieder an derselben Stellen angepflockt hatten, aber sicher war ich meiner Sache nicht. Außerdem hatte ich natürlich keine Möglichkeit zu sehen, ob Tilly oder einer der anderen den Grasfleck häufiger betrachteten. Ich nahm allerdings an, daß man das Grab begutachtete… zumindest, um festzustellen, ob es noch unversehrt war. Jenes zweite Mal blieb der Zirkus nur eine Woche, was bedeutete, daß ich mir sofort etwas einfallen lassen mußte. Zusammen mit einem Schulkameraden besuchte ich dann die Vormittagsvorstellung am Donnerstag… gestohlene Süßigkeiten aus demselben Laden wie beim ersten Mal hatten mir das Geld für die Eintrittskarte eingebracht. Das zweite Verbrechen in meinem Leben. Tilly war so wunderbar wie eh und je und noch immer so unerreichbar. Der Seiltänzer, der den Clown getötet hatte, war auch noch dabei. Es war alles herrlich und unerträglich enttäuschend zugleich. Den ganzen Freitag über, während der Schule, wälzte ich Pläne. Irgendwie mußte ich an sie herankommen, vielleicht sogar mit ihr sprechen, ihr wenn nötig sagen, daß ich ihr Geheimnis zwar kannte, daß es bei mir jedoch bestens aufgehoben war. Mutter hatte schon davon gesprochen, daß sie mit uns in den Norden zu Großvater und Großmutter nach Gorton zurückgehen wollte, und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, Tilly nach jenem Samstag nie mehr wiederzusehen. Am Freitagabend also…« »Bist du zu ihr gegangen?« »Ja… ja, aber die Entscheidung ist mir nicht so leicht gefallen. Immerhin war ich knapp dreizehn und hatte ungeheuren Respekt vor diesen Zirkusleuten. Schließlich hatte meine Sehnsucht allerdings ein Stadium erreicht, in dem… Mutter kam jedenfalls nie vor halb zwölf
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aus dem Hotel zurück. Damit hatte ich reichlich Zeit. Ich hörte, wie die Kapelle am Ende der Vorstellung einen Tusch spielte, hörte, wie die Tiere gefüttert wurden, und als es auf dem Gelände ruhiger geworden war, konnte ich davon ausgehen, daß sich die meisten Zirkusleute in ihre Wohnwagen zurückgezogen hatten. Du hast bereits geschlafen. Ich ließ dich allein in der Wohnung zurück und hoffte nur inständig, daß du nicht aufwachen würdest. Der Eingang des Zirkus lag gegenüber der Titus Street, wie du dich sicher erinnerst, und an der Seite war ein großer Parkplatz eingerichtet worden, um jede Verkehrsbehinderung zu vermeiden. Viel war damals auf den Straßen allerdings sowieso nicht los. Um das Zirkusgelände hatte man einen Zaun gezogen, um unliebsame Gäste fernzuhalten, aber trotz der Arbeit, die sie sich damit gemacht hatten, waren einige Pflöcke doch sehr locker, und der Drahtzaun stellenweise so verrostet, daß ein Durchkommen nicht schwierig war. Einige Schulkameraden waren am Montag auf diese Weise reingekommen, erwischt und verprügelt worden… So was machte man also nicht gerade zum Vergnügen. Ich zwängte mich also durch ein Loch an der dunkelsten Stelle weit hinter dem Zelt und hielt mich in Richtung Elefanten. Mir war sofort klar, daß ich ziemlich spät dran war, denn die meisten Wohnwagen waren bereits dunkel. Alle hatten offenbar schnell zu Abend gegessen, und da die Nacht kühl war, hatten sie sich bereits zurückgezogen. Damit war für mich zwar die Gefahr geringer, aber auch die Wahrscheinlichkeit, Tilly noch zu sehen. Jedenfalls bin ich zuerst zu den Elefanten gelaufen. Man hatte sie tatsächlich über dem Grab des Clowns angepflockt. Das saftige grüne Gras war an dieser Stelle völlig niedergetrampelt und darunter waren Staub und Dreck zum Vorschein gekommen. Die großen Dickhäuter kauten lethargisch an Gemüseresten. Gelegentlich war noch das Rasseln der Ketten zu hören. In einem der Käfige machte ein Tier undefinierbare Geräusche. Ich schlich zu Tillys Wagen.« Tom hielt inne und stand auf. Seine Pfeife war ausgegangen, und er klopfte die Tabakasche im leeren Kamin aus. Dann steckte er die Pfeife in die Tasche und starrte stirnrunzelnd aus dem Fenster. »Ich erinnere mich noch gut, daß ich auf dem Weg dorthin mehrfach nur knapp der Entdeckung entgangen bin«, fuhr Tom schließlich
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fort. »Da waren zum Beispiel die beiden kleinen frei laufenden Hunde, die sich beinahe auf mich gestürzt hätten. Dann bin ich auf Händen und Füßen um eine Ecke gekrochen, die von zwei Wohnwagen gebildet wurde, und beinahe mit einem Liliputaner, einem Neger mit Tätowierungen im Gesicht und einer bärtigen Frau zusammengestoßen, die alle um einen Tisch saßen und so was wie Rühreier aßen. Im letzten Augenblick konnte ich mich noch ducken. Ich wußte bis zuletzt nicht, was genau ich tun wollte, wenn ich Tillys Wagen endlich erreicht hatte, aber als ich vor der Tür stand, war diese geschlossen und drinnen brannte Licht. Ich kauerte also nieder und wartete erst mal ab. Tilly kam nicht heraus. Ich setzte mich auf. Immer noch waren Leute auf dem Gelände unterwegs. Im Hintergrund kreischten die Affen. Ein Löwe hustete. Allmählich wurde mir kalt. Schließlich stieg ich die drei Treppen zum Wagen hinauf und sah durchs Fenster. Sie war da. Mit einem Mann. Beide waren nackt. Die Arme und Beine der beiden waren ineinander verschlungen. Vermutlich war es gerade der entscheidende Augenblick… der Augenblick höchster Befriedigung. Ich stand wie angewurzelt vor der Tür, unfähig mich zu bewegen. Natürlich wußte ich in etwa über diese Dinge Bescheid, aber gesehen hatte ich es noch nie. Der Mann war ein Fremder… das dämmerte mir allmählich… und er tat es mit meinem Engel, meiner Prinzessin, meiner Traumfrau. Ich glaube, mir wurde übel. Ich war wie gelähmt. Dann packte mich plötzlich jemand von hinten am Kragen und am Arm, zerrte mich die Treppe hinunter, schrie und schlug auf mich ein.« Tom hielt mit bitterer, grimmiger Miene inne. Zögernd schließlich fuhr er fort: »Wie du siehst, hat meine Zirkusgeschichte kein HappyEnd.« »Hast du dir eine Tracht Prügel eingehandelt?« »So ungefähr. Aber mein Peiniger wurde unterbrochen. Es war der kräftige Liliputaner, der mich erwischt hatte… in der Vorstellung spielte er den spaßigen Jungen, aber aus der Nähe konnte man sehen, daß er ein erwachsener Mann war. Offenbar waren wir zu laut geworden, denn kurz darauf ging die Tür des Wohnwagens auf, und Tilly und der Mann… inzwischen züchtig mit Morgenmänteln bekleidet… schauten heraus. Der Zwerg hatte mich mit dem Gesicht in
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den Schmutz getaucht, doch als ich aufstand und sie begriff, wie jung ich war, lachte sie und rief: »Vermutlich wollte er sich ein paar Anregungen holen, was…?« Plötzlich wurde es sehr still. Die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden und hatte das Zimmer des kleinen Häuschens so grau und trostlos zurückgelassen, wie Toms Stimme klang. »War das das Ende?« fragte Gareth, der insgeheim ahnte, daß dem nicht so war. »Ja. So ungefähr. Für einen herrlichen Sonntagmorgen ist das genug. Gehen wir raus an die frische Luft.« Sie traten ins Freie. Seit die Sonne verschwunden war, war die Luft merklich kühler geworden. »Ich bin damals ziemlich groß für mein Alter gewesen«, sagte Tom schließlich. »Erinnerst du dich?« »Für mich bist du immer groß gewesen.« »Vielleicht bin ich ihr erwachsener vorgekommen, als ich war. Ich nehme an, daß sie mich für sechzehn gehalten hat. Als ihr Freund jedenfalls mürrisch vor sich hin murmelnd gegangen war, blieb sie in der Tür stehen, sah mich an, hob die Hände, um ihr Haar aus dem Gesicht zu streifen, und als die Ärmel ihres Morgenmantels zurückfielen, kamen mir ihre Arme wie lange, weiße Schwanenhälse vor. Dann wandte sie sich an den Zwerg: ›Bring ihn mir. Wenn er was lernen will, kann er das… bei mir.‹« Die beiden Brüder schlenderten gemächlich durch den kleinen Garten. Zwei Reiter in schwarzen Röcken und Melonen kamen langsam den Hügel herab. »Großer Gott«, seufzte Gareth. »Eine unglaubliche Geschichte.« »Ich bin damals für so was eigentlich noch nicht reif gewesen«, fuhr Tom fort. »Ich war viel zu jung und verängstigt.« Unter dem bedeckten Himmel wirkte sein Gesicht sehr bleich. Sein Mund war ein schmaler Strich. »Sie… war viel älter, als ich angenommen hatte… Ende Zwanzig schätze ich… und wirklich sehr schön, das muß man ihr lassen… aber eine Hexe! Man sagt allgemein, daß es zum erstenmal mit einer älteren Frau passieren sollte. Aber dazu bedarf es einer verständnisvollen älteren Frau und nicht einer spöttischen, verdorbenen Hexe. Und genau das war sie. Was für ein Baby ich doch
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sei, wiederholte sie immer wieder. Was für ein Baby! Ich sollte es mal so, dann wieder anders probieren, und so fort. Als ich den Wagen verließ, als ich endlich fortkam, fühlte ich mich schmutzig, ekelerregend, von Grund auf verdorben. Ich mußte mich dreimal übergeben, bis ich unsere Wohnung erreicht hatte. Und Mutter… Ich habe keine Ahnung, was sie von mir gedacht hat, aber all ihre Wut war schnell verflogen, als sie mein Gesicht sah. Danach lag ich drei oder vier Tage krank im Bett. Erinnerst du dich?« »Nein.« »Wie der Zirkus abzog, habe ich nicht gesehen. Natürlich habe ich das Hämmern und Rufen und das Knacken und Quietschen der Wagen gehört, aber nicht ein einziges Mal aus dem Fenster geschaut. Tilly habe ich nie wiedergesehen. Vielleicht war das gut so. Ein Ideal, von dem nichts als Schmutz übrigbleibt, vergißt man lieber. Während wir noch in London wohnten, kam der Zirkus nicht wieder… allerdings hat Mutter mich neun Monate später mit in den Norden genommen, während du Glückspilz zu Onkel Ted in Pflege gekommen bist…« Die beiden Reiter hatten das Häuschen erreicht. Tom grüßte höflich. Als sie vorbei waren, fragte Gareth: »Hast du dieser Tilly eigentlich gesagt, daß du den Mord an dem Clown beobachtet hattest?« »Nein… für so was blieb bei unserem Zusammensein keine Zeit.« »Vielleicht war’s ganz gut so.« »Weshalb?« »Möglicherweise hätte sie versucht, mit Hilfe ihrer Komplizen dir den Mund ein für allemal zu stopfen.« »Ach, ich weiß nicht…« »Sei da nicht so sicher! Vielleicht wärst du nach dieser Nacht auch im Park unter der Erde gelandet. Es kommt immer wieder vor, daß Leute einfach spurlos verschwinden… selbst wenn sie einen festen Wohnsitz haben.« »Das weiß ich nur zu gut. Aber damals habe ich an so was nicht gedacht. Und vielleicht hat sie wirklich etwas in mir getötet – etwas, das ich selbst nicht definieren kann. Vielleicht die Fähigkeit, Ideale zu haben, die Fähigkeit zu lieben.«
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Sie schwiegen. »Ich weiß noch gut, wie schwierig du in jenem letzten Jahr in London gewesen bist. Daran erinnere ich mich klar und deutlich. Vermutlich war diese Geschichte daran schuld, was?« »Schuld woran?« »Na, an deinen Problemen mit der Polizei. Selbst ich konnte dir damals nichts mehr recht machen – und Mutter auch nicht. Du warst nicht zu bändigen. Als die Familie dann auseinanderbrach, war ich zwar todunglücklich, Mutter zu verlieren, aber eigentlich sogar froh, nichts mehr mit dir zu tun zu haben.« »Und das mußtest du auch nicht.« »Nein.« Gareth sah zum Bruder auf, dessen Miene nach dem letzten Geständnis düster und verschlossen wirkte. »Aber das ist kein Grund, warum wir jetzt nicht in Verbindung bleiben sollten. Überleg’s dir, alter Junge. Drüben erwartet dich ein neues Leben… du mußt nur zupacken.« Tom schüttelte den Kopf. »Ich kann selbst für mich sorgen. Zeit, daß du dich auf den Weg machst, Gareth. Sie müssen bald aus der Kirche kommen.« »Ach, zum Teufel mit ihnen. Das kümmert mich nicht.« »Aber mich, wie ich dir schon gesagt habe…« Sie unterhielten sich noch einige Minuten und schlenderten langsam zur Gartenpforte. Gareth öffnete sie und sagte: »Ich finde, du hättest es der Polizei melden müssen. Nachdem diese Hexe dich so behandelt hat! Was hat dich denn eigentlich davon abgehalten?« »Es war mir egal. Ich war viel zu elend dran, um überhaupt noch an so was zu denken. Nachdem der Zirkus abgezogen war und es mir wieder besserging, bin ich rüber in den Park und hab’ mir die Stelle wieder angesehen. Es… es war, als läge dort ein Stück von mir. Klingt das nicht komisch? Trotzdem war’s so. Im nächsten Sommer war das Gras an dieser Stelle wieder saftig grün. Und das hat mich eine Menge über organische Zusammenhänge in der Natur und zuviel über das Leben gelehrt… etwas, was ich leider eben nie vergessen kann.«
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Das sonntägliche Mittagessen war vorüber, und Jock Munster schlug vor, einen Spaziergang zu machen. Die ganze Familie, samt einem weißen Terrier, einem braunen Airedale und einem jungen Verehrer der ältesten Tochter, nahm daran teil. Für Gareth, der so etwas seit Jahren nicht mehr getan hatte, war es eine angenehme Abwechslung. Nach der Rückkehr tranken sie Tee, und er und Jock standen rauchend an der offenen Terrassentür, redeten über geschäftliche Dinge und besprachen die vertraglichen Abmachungen, die sie in London getroffen hatten. Aus heiterem Himmel sagte Gareth, dessen Gedanken sich unwillkürlich weit vom Gespräch entfernt hatten: »Sie haben wirklich einen erstklassigen Gärtner. Ich habe ihn gestern vormittag kennengelernt. Ein interessanter Mensch. Er scheint was von seinem Metier zu verstehen.« »Tom Preston? Ja… Er ist ausgezeichnet. Wir haben ihn schon seit Jahren. Sie sollten mal hören, wie Eve von ihm schwärmt. Aber nach den schlechten Erfahrungen, die wir mit seinen Vorgängern gemacht haben, ist das kein Wunder. Gute Gärtner sind kostbarer als Gold.« »Tom Preston, sagten Sie?« »Ja. Er gewinnt fast alle Preise beim Dorfwettbewerb für uns. Vor allem der Nutzgarten taugte gar nichts, bevor er zu uns kam. Alle haben behauptet, der Boden sei zu lehmhaltig. Dabei erzielte er dort die besten Erfolge. Es kostet mich allerdings ein Vermögen an Mist und Kunstdünger. Tom ist ein großer Verfechter der Komposttheorie. Was er dort hinten alles kompostiert, geht niemanden was an. Hören Sie, Gareth… was die Liefertermine bei dem gegenwärtigen Klima und den Wechselkursen betrifft…« Die Luft wurde bald kühler, und sie gingen hinein. Im Wohnzimmer bot sich ihnen eine glückliche Familienszene. Die ältere Tochter war mit ihrem Freund ausgegangen, aber Eve Munster saß vor einem Stickrahmen am Kamin, während Phyllida auf dem Bauch lag und Zeitung las. Der eine Hund hatte es sich neben ihr bequem gemacht, der andere schlief laut atmend auf dem Teppich vor dem offenen Feuer. Gareth befiel einen Augenblick lang eine nostalgische Sehnsucht nach einem England, das er nie gekannt hatte. Dann verdrängte er diese Gedanken.
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»Haben Sie ihn schon lange?« fragte er unvermittelt. »Wen? Oh, Sie meinen Preston? Eve, ich habe Gareth erzählt, welches Glück wir mit Preston haben. Ja, er ist seit über vier Jahren bei uns. Er tauchte eines Tages aus heiterem Himmel auf, hatte keine Referenzen… aber Gärtner brauchen die eigentlich nicht. Ehrlich gesagt, ist er ein bißchen wunderlich, aber heutzutage stört das niemanden mehr, schon gar nicht bei einem so guten Gärtner.« »Er hat hier wahre Wunder vollbracht«, fiel Eve ein, ohne den Blick von ihrer Stickerei zu wenden. »Vor allem im Gemüsegarten. Alle glauben, daß wir die beste Erde haben, aber das stimmt gar nicht. Ich wage es kaum zuzugeben, daß das alles Prestons Werk ist, sonst wird er noch abgeworben.« Gareth Purdy blätterte in einigen Illustrierten am Fenster, ohne die Photos richtig zu sehen. In die friedliche Stille hinein sagte plötzlich Phyllida: »Das Mädchen aus Hailsham hat man noch immer nicht gefunden.« »Welches Mädchen?« fragte ihre Mutter. »Diese leichtsinnige Blondine, du weißt schon. Sie ist am Wochenende ausgegangen und seither nicht mehr gesehen worden.« »Die jungen Leute sind viel zu unbekümmert. Sie gehen aus, ohne ihren Eltern Bescheid zu sagen.« »Die Polizei hält es für möglich, daß eine Verbindung zum Fall eines anderen Mädchens besteht, das im vergangenen Jahr in Eastbourne auf dieselbe Weise verschwunden ist«, entgegnete Phyllida. »Außerdem war da noch ein Jahr zuvor das Mädchen aus Bexhill… steht hier in der Zeitung. Alle waren zweiundzwanzig und auffällig blond. Ich weiß allerdings nicht, ob die Fälle wirklich etwas miteinander zu tun haben.« In dieser Nacht schlief Gareth keine acht Stunden, nicht mal eine. Am Morgen machten sie sich schon früh auf den Weg nach London, um nicht in den morgendlichen Berufsverkehr zu kommen. Trotzdem sah er die große Gestalt von Tom über eine Rabatte gebeugt arbeiten. Gareth ging nicht zu ihm, sprach nicht mehr mit ihm. In London erledigte Gareth hastig noch einige wichtige Dinge und rief dann Jock Munster an, um sich für das schöne Wochenende zu bedanken
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und ihm zu sagen, daß er ganz unverhofft schon früher nach Australien zurückkehren müsse. Aus dem Englischen übertragen von Christine Frauendorf-Mössel
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Roger Longrigg Der Sessel »Ich hatte heute Kotelett à la carte«, erwiderte Gregory Vardon auf die entsprechende Frage seines Freundes. »Und zwar Lammkotelett. Obwohl das durchaus riskant sein kann. Ich habe es schon erlebt, daß der ›Chef‹ es nicht durchgebraten hat. Wie gesagt, es ist vorgekommen. Aber heute war das Kotelett exzellent. Und du Charlie? Wozu hattest du dich entschieden?« »Meine Wahl fiel auf ein vergleichbares Gericht«, erwiderte Charles Corbishley mit dem der Sache angemessenen Ernst. »Sehr vergleichbar sogar. Ich habe mich mit einem Wort für Hammelkotelett entschieden. Und dazu habe ich mir ein Achtel Rotwein der Clubmarke gestattet.« »Ein guter Tropfen. Nicht gerade Spitzenklasse, aber durchaus trinkbar.« »Nicht ganz ausgereift. Aber was kann man für diesen Preis schon verlangen?« Die Herren, beide hochbetagt, seufzten beim Gedanken an die Rotweinpreise, ein häufiges Gesprächsthema der beiden Freunde, das auch andere Clubmitglieder sehr beschäftigte. Im. hinteren Salon des Blazon’s Clubs vermittelte die Nachmittagssonne die Illusion winterlicher Wärme. Sie spiegelte sich im Kaffeespender wider, der auf seinem Tischchen in der Ecke vor sich hin tropfte. Die Sonne trat in hehren Wettstreit mit dem Feuer im Kamin, das nichtsdestotrotz eine bullige Hitze verbreitete. Sie ruhte auf Gregorys rosarotem, blankpoliertem Schädel, fing sich in Charles Corbishleys goldumrandetem Zwicker und sandte von dort freche Lichtreflexe aus, sobald dieser mit dem ergrauten Kopf wackelte. »Hast du was dagegen, wenn ich dem Ober klingle und uns ein Gläschen Portwein bestelle?« begann Charles, der an der Reihe war. »Mir scheint, ein Gläschen Portwein wäre jetzt einfach wunderbar.« »Ausgezeichnet!« Charles saß in der äußersten Ecke des Ledersofas, der Wand neben dem Kamin am nächsten. Der Klingelknopf war kaum ein Meter von
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ihm entfernt. Er hob seinen Spazierstock mit der Gummispitze und stieß ihn in Richtung Klingel. Charles traf die Wand, die im weiteren Umkreis um den Klingelknopf bereits Abdruckspuren seines Stockes auf der Tapete aufwies. Schließlich traf er den Knopf und ließ es triumphierend lange klingeln. Der Ober, ein zu klein geratener Portugiese, erschien. »Ein Glas Jahrgangs-Port aus der Flasche, Gregory? Oder bescheiden wir uns mit einem einfacheren Tropfen aus dem Holzfaß?« Gregory gab sich den Anschein nachzudenken, sich intensiv mit der gestellten Frage auseinanderzusetzen, um dann mit leichtem Herzen die wohlüberlegte Entscheidung zu verkünden. »Ich finde ein Becher Port aus dem guten alten Holzfaß tut es durchaus«, erklärte er schließlich. Charles nickte wohlwollend. Hätte Gregory die Stirn besessen, den einzigartigen Präzedenzfall zu schaffen und damit Charles zu zwingen, soviel mehr Geld auszugeben und um einen Jahrgangs-Port zu bitten, Charles hätte schlicht seinen Ohren nicht getraut. Sie boten sich zwar gegenseitig stets den teuren Jahrgangs-Portwein an, doch dies war eher eine Art Ritual als eine aufrichtig gemeinte Einladung. »Haben Sie die Güte, und bringen Sie uns zwei Gläser Portwein vom Faß«, wandte Charles sich an den Ober. Weder Charles noch Gregory bedienten sich normalerweise des gewundenen Redestils, dessen sie sich in den Räumen des Blazon’s Clubs befleißigten. Gregory allerdings hielt sich selten irgendwo anders auf; aber nach einem Restaurantbesuch hätte er sicher nie erzählt, ›à la carte‹ gegessen zu haben, und Charles trank üblicherweise eher Wein, als daß er ihn sich ›gestattete‹. Im Club allerdings waren sie eben Clubmitglieder, und diese Rolle spielten sie gründlich. Dabei war es nicht unbedingt ein Spiel und schon gar keine Parodie: Diese Umgangsformen verliehen einem mehr als bescheidenen Leben, einer einsamen Pensionärsexistenz, eine gewisse Würde; es war ein harmloser Spaß und war nicht zuletzt ein vergnüglicher Zeitvertreib… in ihrem Alter ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
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Der Ober beugte sich pflichtschuldig, aber ohne jede Begeisterung, dem üblichen Ritual, brachte zwei kleine Gläser billigen Portwein auf einem Silbertablett und nahm das Geld in Empfang. Die ganze Aktion hatte auf diese Weise das erwünscht angenehme Ende gefunden. Charles lehnte sich mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer in seiner Sofaecke zurück. Gregory tat es ihm in seiner Ecke mit einem verhalten dankbaren Seufzer gleich, der bereits die Vorfreude auf den Genuß des Portweins ausdrückte. Am darauffolgenden Tag kam ihm der Platz in der Ecke nahe der Wand zu. Und dann würde die Gummispitze seines Spazierstocks die Klingel betätigen. In wohlgesetzten, weidlich erprobten Worten würde er Charles ein Glas Jahrgangs-Portwein offerieren, um ihm dann ein Glas von der preiswerten Sorte zu bestellen. Dieses Glas Portwein reichte ihnen dann stets bis drei Uhr. Danach mußten sie nur noch eine Stunde bis zur Teezeit totschlagen. Charles verbrachte diese Stunde regelmäßig auf seinem Stammplatz in der einen oder der anderen Sofaecke. Auf den Knien hatte er dann eine Ausgabe der Zeitschrift Country Life aufgeschlagen, doch sein Kinn war zurückgesunken, die Kinnlade war heruntergeklappt, die Augenlider waren geschlossen, der Atem ging langsam und regelmäßig, und seine Verdauung arbeitete stetig, um den Magen auf Earl Grey mit Teekuchen vorzubereiten. Gregory seinerseits stieg währenddessen die Treppe zur Bibliothek hinauf, er bezwang Stufe um Stufe mit großer Anstrengung und hielt dabei den Stock in der einen, das Treppengeländer in der anderen Hand. Oben angelangt, humpelte er dann einsam an den völlig überflüssigen Schildern mit der Aufschrift ›Bitte Ruhe‹ vorbei zum Regal mit den Werken Trollopes. Dort nahm er den zweiten Band von The Small House at Allington heraus und schaffte meist ein oder zwei Seiten der Lektüre in seinem Lieblingsstuhl am Kamin, bevor auch sein Kopf nach hinten sank, die Kinnlade herunterklappte und er sein Vierzigminutenschläfchen vor dem Tee hielt. Nichts war kultivierter, nichts genußreicher; und es war keine schlimmere Katastrophe vorstellbar als eine Störung dieses Zeremoniells. Gregory trank mit langsamen Kaubewegungen seinen Portwein, den nach ordentlicher Reihenfolge diesmal Charles Corbishley spen-
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diert hatte. Als er den Salon zum Tisch mit den Zeitschriften durchquerte, erlebte er allerdings eine unangenehme Überraschung, denn sein Blick fiel auf die untersetzte Gestalt eines Mannes im Tweedanzug namens Martyn, einem aufdringlichen, glotzäugigen Maulhelden Anfang Sechzig. Gregory hatte diesen Martyn schon nicht gemocht, als dieser noch kein Clubmitglied gewesen war, noch bevor er dessen Name gekannt, ja längst bevor er dessen penetrante, nervtötende Stimme zum erstenmal gehört hatte. Seine erste Begegnung mit Martyn vor kurzer Zeit – es konnte höchstens zwölf Jahre her sein – war ihm noch in deutlicher Erinnerung. Martyn war damals zu Gast im Club gewesen. Jemand hatte ihn dorthin zum Mittagessen eingeladen. Er wartete in der Halle auf seinen Gastgeber und hatte sich in dreister Manier breitbeinig vor dem Kamin der Eingangshalle aufgebaut. Er störte die friedliche Atmosphäre mit seiner dominanten Gegenwart, starrte glotzäugig Clubmitglieder an, die unaufdringlich ihre Mäntel an der Garderobe aufhängten oder bescheiden einen Drink einnahmen, und betrachtete nebenbei herablassend die Drucke von Bay Middleton und Stockwell; er trug eine Nelke im Knopfloch, seine Nase war rot geädert, sein ingwerbrauner Schnurrbart war eine einzige Beleidigung jeden ästhetischen Empfindens. Er sah aus wie ein gemeiner Charakter, wie das personifizierte Ärgernis, wie ein schwergewichtiger Stammtischheld, wie ein aufgeblasener Flegel. Danach war der Mann während einer Zeitspanne von vier Jahren ein- oder zweimal jährlich als Gast desselben Herrn im Club erschienen. Er hatte oder erwarb sich Freunde im Club. Er begrüßte diese laut und aufdringlich. Keinen ärgerte das sichtbar. Sie spendierten ihm Drinks. Seine Freunde, die er stimmlich stets übertönte, tranken ausgiebig an der Bar und kamen dann zu spät in den Speisesaal. Dort unterhielten sie sich weithin vernehmlich über die Lachsfischerei, die Fasanenjagd, Politik und Börsengeschäfte. Martyns Gastgeber spendierte diesem nach dem Essen ein Glas vom besten Portwein oder Kognak. Gregorys Aversionen wuchsen mit jedem weiteren Besuch des Mannes, und er erlebte alle seine Auftritte mit, da Gregory immer im Club war und nirgendwo sonst hingehen konnte. Martyn verkörperte alles, was Gregory von jeher gehaßt und verabscheut
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hatte. Er war der hämische Junge mit den roten Knien an Gregorys Internat, der herausgefunden hatte, daß Gregorys Mutter einen Gedichtband veröffentlicht hatte – auf eigene Kosten –, und führte das grausame Pack zukünftiger Karrieristen an, die ihn über alle Spielplätze verfolgten. Martyn war der polternde, selbstbewußte Fußballer, der Kraftprotz, der Streberhasser, Angeber und Besserwisser. In jeder Phase seines Lebens war Gregory auf solche Männer gestoßen und hatte sie stets verabscheut, und dieser Martyn war die Quintessenz all dieser Häßlichkeiten. Gregory ärgerte sich nicht nur über Martyn, der Mann bereitete ihm eine regelrechte Übelkeit. Der einzige Trost war, daß er nur zweimal jährlich im Club aufkreuzte und daß ihm, als Gast, der Zutritt zum hinteren Salon verwehrt war. Dann allerdings kam ein Schockerlebnis, das Gregory wochenlang den Schlaf raubte und bei ihm Verdauungsstörungen auslöste. Eines schrecklichen Apriltages an der Bar, als Gregory sich ein kleines Glas trockenen Sherry bestellt hatte, um sich aufs Mittagessen einzustimmen, wurde ihm ganz offiziell Martyn vorgestellt. Der Mann, der Martyn stets zum Essen einlud, sagte: »Ah, Gregory, das trifft sich gut.« »Guten Morgen«, erwiderte Gregory, der mittlerweile kaum noch Namen im Gedächtnis behielt. »Kommen Sie, trinken Sie ein Glas mit uns.« »Nein, danke.« »Schade. Darf ich Ihnen Barry Martyn vorstellen?« »So?« Gregory blickte mit mühsam aufgesetzter Höflichkeit in die Richtung, aus der sich ihm ein Arm entgegenstreckte. Dort stand grinsend wie eine Hyäne, ein Glas sprudelnden Champagner in der Hand, die obligate Nelke im ausgefransten Knopfloch, der Mann, dessen Anblick Gregory haßte. »Akzeptieren Sie’s, Gregory. Trinken Sie was mit uns.« »Nein, danke.« »Ihr solltet euch näher kennenlernen. Ihr habt einiges gemeinsam.« Gregory starrte den Urheber dieser Worte mit ungläubigem Entsetzen an.
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»Zum Beispiel das Angeln«, konkretisierte der Idiot. »Ihr seid beide begeisterte Sportfischer.« »Ahhh!« kam es dröhnend von Martyn. »Ein Sportsfreund! Wer hat es Ihnen mehr angetan – der königliche Salm oder die gerissene Forelle?« »Die Forelle«, brachte Gregory mühsam heraus und versuchte, Wut und Übelkeit zu unterdrücken. »Ah, ein Meister der künstlichen Fliege!« krakeelte Martyn durch den Raum. Und der Einfaltspinsel starrte Gregory glotzäugig wie der königliche Salm oder die gerissene Forelle mit seiner falschen Gutmütigkeit an. »Ich bin eigentlich…«, begann Gregory. »Wo fischen Sie?« »Ich habe schon seit Jahren keine Angel mehr in der Hand gehabt. Meine Gesundheit und die schlechten Augen…« »Wo haben Sie dann gefischt?« »Ich hatte das große Glück, etliche Jahre hindurch in den Genuß der Gastfreundschaft von…« »Ich habe ein Fischwasser an der Test. Das Beste vom Besten. Würde keinen Meter davon gegen Leckford oder Houghton tauschen. Vier- und Fünfpfünder. Derek kann das bestätigen. Und das sind keine Eintagsfliegen! Würde mich freuen, wenn Sie mal mitkämen. Ehrlich! Bin jederzeit bereit, einem Sportsfreund ein bißchen Spaß zu verschaffen.« »Das Angebot sollten Sie annehmen«, drängte der Gastgeber des Ungeheuers. Gregory allerdings gelang es nach zehn erschöpfenden Minuten, die Herren zu überzeugen, daß seine Absage endgültig war. Schlimmeres sollte folgen. Martyns Gastgeber, ein hagerer Unternehmer aus Staffordshire, nahm Gregory auf dem Weg in den Speisesaal beiseite. »Freut mich mächtig, daß Sie mit Barry Martyn harmonieren«, murmelte er. »Ich hatte ehrlich gesagt auch nichts anderes erwartet. Prima Kerl, sehr großzügig, bei allen beliebt. Sie verstehen doch?« »Nein«, entgegnete Gregory, den jedoch eine dunkle Vorahnung beschlichen hatte.
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»Ich habe ihn zur Aufnahme als Vollmitglied vorgeschlagen. Seine Chancen stehen gut. Wir brauchen jetzt natürlich eine Menge Unterschriften. Auf Sie können wir doch zählen, oder?« Gregory wurde aus dieser mißlichen Lage befreit… allerdings auf sehr unangenehme Weise. Er rutschte nämlich aus. Gregorys Spazierstock fand auf dem glatten Marmorfußboden der Eingangshalle keinen Halt, und er landete lautlos zu Füßen des Unternehmers aus Staffordshire. Martyn half ihm wieder auf die Beine. Gregory war zutiefst getroffen und gedemütigt, aber unverletzt. Man half ihm in einen Sessel im hinteren Salon. Und dort verharrte er, ließ das Mittagessen aus und genehmigte sich statt dessen den seltenen Genuß eines Kognaks. Wobei die Einsparung durch die verpaßte Mahlzeit die Kosten des Kognaks mehr als wettmachte. Martyn ein Vollmitglied! Das bedeutete ständige Anwesenheit des lautstarken, spendablen Ungeheuers, das in Zukunft Gregory sämtliche Örtlichkeiten des Clubs vermiesen würde, an denen er all seine wachen Stunden und auch einen guten Teil seiner Schlafenszeit verbrachte. Nach einem frühen, wenig genußreichen Abendessen kehrte Gregory in seine Einzimmerwohnung in Kensington zurück, in der er schlief und sich morgens Tee kochte: Doch heute schlief er nicht, und er fand am darauffolgenden Tag auch keinen Geschmack am Tee oder an dem obligaten Glas Portwein nach dem Frühstück. Die Warteliste war ellenlang. Martyn würde zwei Jahre auf die Aufnahme als Vollmitglied warten müssen. In der Zwischenzeit konnte man durchaus etwas unternehmen. Zum Beispiel mußte man dem Komitee die Augen öffnen. Mit etwas Takt und einem Wort am richtigen Ort und zum richtigen Zeitpunkt konnte man einige Leute durchaus aus ihrer Gleichgültigkeit reißen… Einige Wochen später hatte Gregory sein Selbstvertrauen und eine normale Verdauung wiedergewonnen. Er besprach die Angelegenheit mit Charles. Charles sagte: »Kenne den Burschen. Einer meiner Neffen hat im selben Regiment bei den ›Bushytails‹ gedient. Man hat mir glaubwürdig versichert, daß er die königliche Uniform mit hinreichender
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Würde getragen hat. Daher habe ich ihm bei seiner Bewerbung meine bescheidene Unterstützung zugesagt.« »Du hast unterschrieben?« »Mein Namenszug steht unter der dafür vorgesehenen Rubrik im Clubbuch und kann von jedem Neugierigen oder Zweifelnden dort betrachtet werden.« Charles, der durch Familienbande in die Irre geführt und mit Lügen vollgestopft worden war, war nicht davon zu überzeugen, daß Martyns Wahl zum Vollmitglied unbedingt verhindert werden mußte. Gregory versuchte es bei anderen. »Ein Spaßvogel«, sagte ein Mitglied. »Kein Intellektueller zwar, aber ein fröhlicher Zeitgenosse.« »Freundlich«, lautete der Kommentar eines anderen. »Ein guter Kamerad«, behauptete ein dritter. Die Monate verstrichen. Auf Martyns Seite im Buch der Aspiranten für die Mitgliedschaft wuchs die Unterschriftenliste ins unendliche. Gregory kannte einige der Männer, die Martyns Aufnahme befürworteten, und sie waren eigentlich ganz respektable Persönlichkeiten. Martyns Besuche wurden immer häufiger; inzwischen luden ihn auch andere Mitglieder ein. Gregory hatte den Eindruck, daß Martyns Lachen noch lauter, seine Augen hervorstehender, die Nase röter, die Nelke im Knopfloch aufdringlicher geworden waren. Außerdem schien es, als übe er einen geheimen Zauber auf die langjährigen Clubmitglieder aus. Männer, die Gregory stets für vernünftig und kultiviert gehalten hatte, verbrachten immer mehr Zeit vor dem Mittagessen an der Bar und lachten lauter bei den Mahlzeiten. Es kam jetzt häufiger zu Unterhaltungen von Tisch zu Tisch; im hinteren Salon fanden mehr angeregte Gespräche statt; und man erging sich weithin vernehmbar über Themen wie Lachs und Fasan, Nachwahlen und Pferderennen. Charles behauptete, keine Veränderungen bemerkt zu haben. »Diese Art der Konversation, die du so verachtest, mein Lieber, ist, fürchte ich, in Wänden wie diesen geradezu institutionalisiert. Viele unserer Vorgänger aus dem vorigen Jahrhundert haben wohl schon denselben Vergnügungen gefrönt, Gregory.«
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Knapp zwei Jahre später hing am Schwarzen Brett die Kandidatenliste für die Wahlen der neuen Mitglieder. Major Barrington Martyns Name war auch darunter. Eine Woche später trat der Wahlausschuß zusammen. Gregory saß im hinteren Salon, und die Gewißheit, daß im Raum über ihm schreckliche Fehler begangen wurden, drohte ihn zu ersticken. Am darauffolgenden Tag hing die Liste der ordnungsgemäß neuaufgenommenen Mitglieder am Schwarzen Brett, und vierundzwanzig Stunden später erschien Major Barrington Martyn freudestrahlend zu seinem ersten Mittagessen in seiner Eigenschaft als Vollmitglied, segelte in den hinteren Salon, als sei er sein Wohnzimmer, grüßte Charles und Gregory, die ihr Portweinritual auf dem Sofa zelebrierten, als gehörte er schon ewig dazu. Er glotzte, lachte dröhnend und polternd, bestellte Kognak, rauchte eine Zigarre, führte das große Wort und löste bei Gregory Verdauungsstörungen aus, die diesem den Rest des Tages gründlich vermiesten. Ein kleiner Trost allerdings blieb ihm in der insgesamt trostlosen Situation. Der Mann war noch berufstätig. Er kam aus dem Büro in den Club und kehrte auch in dasselbe wieder zurück. Und obwohl sein geliebter Club zur Mittagszeit jeglichen Reiz für Gregory verlor, gewann er kurz nach zwei Uhr fünfundvierzig seine gediegene Normalität wieder. Außerdem erschien Martyn nicht täglich. Im Durchschnitt kam er zweimal pro Woche. An jenen Tagen sah Gregory sich gezwungen, seine liebgewordenen Gewohnheiten zu ändern, was ihm in seinem Alter alles andere als leichtfiel, aber noch das geringere Übel war. Gregory aß dann früh zu Mittag und ging vom Speisesaal direkt in die Bibliothek hinauf. Das wiederum befremdete Charles Corbishley außerordentlich. So ging es sechs volle Jahre. Kein perfektes, aber ein erträgliches Dasein. Und dann, eines Tages, um zwei Uhr fünfundvierzig, beim Durchqueren des Salons – Martyn. Martyn, der zum Tisch mit den Zeitschriften ging. Martyn, der eine Illustrierte nahm. Martyn, der sich damit in einen Sessel setzte, eine Zigarre anzündete und sich offensichtlich auf einen gemütlichen Nachmittag einrichtete. Mußte er nicht ins Büro?
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»Nein, wirklich nicht«, erklärte Charles Corbishley leise. »Schluß mit der täglichen Tretmühle. Wie ich mir habe versichern lassen, genießt er seit vergangener Woche seine wohlverdiente Pensionierung. Wir werden in Zukunft den galanten und beliebten Major Martyn häufiger hier antreffen.« Und das taten sie auch; und noch mehr: Sie sahen und hörten ihn. Gregory, von jeher ein stiller Mensch, wurde noch einsilbiger. Er, der immer ein Eigenbrötler gewesen war, zog sich völlig in sich zurück. Er verbrachte immer weniger Zeit in den beiden Salons, der Eingangshalle, der Bar, dem Café, dem Besucherzimmer und anderen belebten Örtlichkeiten, wo Martyn stets wie eine nicht auszurottende Seuche auftauchte. Dafür hielt sich Gregory immer häufiger in der Bibliothek auf. Es war ein Segen, daß es die Bibliothek gab. Sie war sein Rückzugsgebiet, sein Himmelreich, der letzte Zufluchtsort für den zivilisierten Erdenbürger, die letzte Bastion der Stille, und fast immer war es wunderbar einsam und leer. Dort hatte er die Bücherregale und seinen Sessel. Dieser Sessel war in sich vollkommen. Er stand in einer geschützten Ecke am Kamin, wo es keine Zugluft gab. Er war weich und bequem, von der Konstruktion her jedoch so durchdacht, daß man daraus auch mühelos wieder aufstehen konnte. Er war herrlich bequem, um darin ein Schläfchen zu halten, und – das war eine neue Variante – um darin ausgiebig zu lesen. Bei Tag war es dort durch das große Fenster im Rücken schön hell, bei Dunkelheit spendete eine hübsche Tischlampe neben dem Sessel das nötige Licht und die nächste Klingel war in Reichweite von Gregorys Spazierstock. In der Bibliothek war er vor Martyn sicher. Der war kein Intellektueller, schon eher Analphabet; Martyn war der letzte, der auf die Idee kam, die Bibliothek zu frequentieren. Am Dienstag, dem sechsten November, neun Monate nach Martyns Pensionierung, aß Gregory später als üblich zu Mittag. Der Klang von Martyns Stimme auf dem Treppenabsatz vor dem Kartenzimmer hatte Gregory veranlaßt, mucksmäuschenstill in der Bibliothek auszuharren, bis der aufdringliche Kerl außer Reichweite war. Er wartete geschlagene fünfundzwanzig Minuten, so unerschöpflich war Martyns Anekdotenschatz. Das Lachen, das dessen Erzählungen beglei-
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tete, konnte nur von Geisteskranken oder miesen Heuchlern stammen. Endlich verstummte der verhaßte Krawall. Gregory kam heraus. Er aß Lammrücken, ein reichlich kostspieliges Mahl zwar, doch bei der Lektüre von Trollope am Vormittag war seine Lust darauf geweckt worden. Am entgegengesetzten Ende des Speisesaals saß, ebenfalls allein, Martyn und nahm das Mittagessen ein. Vor sich hatte dieser eine Illustrierte auf einem Ständer. Neben dem Teller stand eine Flasche Wein. Gregory veränderte seine Sitzposition so, daß er Martyn beim Essen nicht zusehen mußte. Schließlich erhob sich Martyn und verließ den Speisesaal. Bestimmt würde seine Stimme irgendwann einmal das Kristall der Lüster im Salon zum Klirren bringen. Gregory bezahlte seine Zeche. Danach ging er gemächlich durch den Speisesaal. Der Ober hielt ihm die Tür auf, als er in die Halle hinaustrat; die Gummispitze seines Spazierstocks berührte rhythmisch quietschend den Marmorboden. Er war etwas steif und wackelig auf den Beinen, aber sonst fühlte er sich durchaus fit. Sein Leben verlief zugegebenermaßen in engen Bahnen, doch das war nie anders gewesen. Ein übersichtliches Privatleben mit wenigen, aber sicheren Eckpunkten und überschaubaren Spielräumen zog er zweifelhaften Abenteuern, ungewissen Unternehmungen und Risiken vor. Gregory nahm die erste Treppenstufe, den Stock fest in der rechten, das Geländer in der linken Hand. Mit unbeholfenen Schritten hatte er mit beiden Beinen eine Stufe erklommen, dann machte er stets eine kleine Verschnaufpause. Die Treppe war kein Problem für ihn. Treppensteigen fiel ihm leichter als Charles, der immerhin zwei Jahre jünger war. Charles hatte das Bridgespiel schon fast aufgegeben, weil er, um ins Kartenzimmer zu gelangen, erst die Treppe überwinden mußte. Allerdings – schnell konnte Gregory auch nicht mehr gehen. Aber das empfand er nicht als Handikap. Er hatte es ja nicht eilig. Treppensteigen war eine Art Beschäftigung. Damit vergingen wieder ein paar Minuten, die den Tag auszufüllen halfen und die Teezeit näher rückten. Gregory ging den Flur entlang zur Bibliothek. Er öffnete die schwere Tür, trat ein und wandte sich unverzüglich dem Regal mit
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den Werken Trollopes zu. Er griff nach einer Ausgabe von Phineas Finn. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Sessel. In seinem Sessel saß Martyn. Gregory schrie weder laut auf, noch bekam er Schaum vor dem Mund oder brach in Tränen aus. Er behielt seine Wut und seinen Haß fest unter angelsächsischer Kontrolle, aber er blieb abrupt stehen und starrte den Mann unverwandt an. Das an sich war schon ein ungewöhnliches, ja unerhörtes Benehmen. Er gab damit Gefühle preis, die kein Mitglied eines angesehenen Herrenclubs zeigen sollte – zumindest nicht in den Räumlichkeiten des Clubs. Aber auch Gregory war eben nur ein Mensch. Zwar konnte er sich so weit beherrschen, sich nicht in südländischen oder levantinischen Exzessen zu ergehen, doch er mußte wenigstens stehenbleiben und den Kerl mißbilligend anstieren. Martyn hob den Blick. Er winkte freundlich mit der Zigarre in der Hand in Richtung Gregory, aber er sagte nichts. Offenbar war es ihm zumindest gelungen, die Aufschrift ›Bitte Ruhe‹ auf den Schildern zu entziffern. Möglicherweise konnte er sogar noch ein paar Worte mehr lesen, denn es lag ein aufgeschlagenes Buch auf der Armlehne seines Sessels – vielmehr auf der Armlehne von Gregorys Sessel. Gregory verharrte einige Minuten wie gelähmt. Martyn musterte ihn erneut. Seine Miene drückte nachsichtige Verwunderung aus. Er gestikulierte freundlich, aber abwehrend mit seiner Zigarre und wandte sich dann wieder seiner Lektüre zu. Seine Geste war eine deutliche Aufforderung an Gregory, doch in einem anderen Sessel Platz zu nehmen. Aber Gregory wollte sich in keinem anderen Sessel niederlassen. Er hatte nicht die Absicht, die Bibliothek mit Martyn zu teilen. Er wollte sich sein Leben nicht gänzlich ruinieren lassen. Sein Leben, sein neugeordnetes Leben, das er sich aus der Aversion heraus geschaffen, auf die Trümmer dessen gegründet hatte, was ihm zerstört worden war. Martyn hatte ihn aus der Welt der Männer in die Einsiedelei unter Büchern getrieben – damit hatte er sich abgefunden. Trotz seines Alters hatte er sich darauf eingestellt. Er war zum Bücherwurm geworden, zu einem Mann, der den ganzen Tag im Bibliothekssessel las, anstatt dort nur ein einstündiges Nickerchen zu
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halten. Er vertiefte sich jetzt zufrieden in die Schriften guter, längst toter Männer – ein neues Leben, nicht gerade besser als das alte – da hatte es immerhin Portwein und einen Anflug von Kameraderie gegeben –, aber auch nicht schlechter, nur anders. Und das hatte Gregory durch eigene Kraft und eigenen Mut erreicht. Jetzt war es auch damit zu Ende. Seine Zuflucht war ihm verwehrt. Wie der Fuchs Reynard hatte er seinen letzten Unterschlupf verschlossen vorgefunden. Er war verzweifelt. Was sollte er tun? Was hielt die Zukunft für ihn noch bereit? Er war ein alter Mann, – ein alter Mann, der von einer kleinen Pension zehrte, dessen Zuhause eine erbärmliche karge Einzimmerwohnung in Kensington war, dessen eigentliches Leben sich hier in seinem Herrenclub abspielte. Alte Freunde waren, mit Ausnahme der wenigen im Club, längst verstorben. Familie hatte er nicht. Ehemalige Kollegen hatten das Zeitliche gesegnet. Seine Ansprüche ans Leben waren wahrlich gering: ein Sessel. Und jetzt war auch dieser verloren. Was, wenn ein anderer seinen Stuhl besetzt hätte? Zum Beispiel einer, der ein wie immer geartetes Recht darauf hatte, ein gebildeter Mensch, einer, der in die Bibliothek gehörte, ein ehemaliger Universitätspräsident – solche gab es unter den Clubmitgliedern – oder ein Richter oder ein ehemaliger Minister? Dann, vielleicht, hätte er sich noch einmal damit abgefunden. Es war zwar hart in seinem Alter, aber auch noch möglich. Ein anderer Sessel in der Bibliothek hätte ihm unter solchen Umständen genügt, es wäre ihm zwar in seinem Alter schwergefallen, aber er hätte das Recht des anderen anerkannt und angemessen reagiert. Oder er hätte an die Vernunft des anderen appelliert: nicht als gebrochene tragische Figur, sondern als alter, skurriler Mann, als Original. Er hätte die Bitte so formulieren können, daß kein ehemaliger Universitätspräsident, Richter oder Minister ihm hätte widerstehen können – eine verabscheuungswürdige Lösung des Problems, aber eine mögliche. In diesem Fall allerdings! Angesichts dieser Dreistigkeit? Ein anderer Sessel? Untragbar! Eine Bitte? Martyn, den schnapsnasigen, glotzäugigen Angeber, den Mordskerl, Lebemann und Maulhelden um einen Gefallen bitten? Niemals! Niemals! Niemals!
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Was dann? Gregory wußte später selbst nicht mehr, wie er überhaupt aus der Bibliothek herausgekommen war. Seine alten Beine zitterten, den Stock hielt er unsicher in der Hand. Er trat auf den Flur hinaus und lehnte sich schwer gegen die Wand. Und zu seiner grenzenlosen Scham konnte er jetzt die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er tastete sich den Weg blind zur Toilette, die von den jovialen älteren Herren frequentiert wurde, die im Zimmer nebenan Karten spielten. Sie war besetzt. Er wandte sich ab und humpelte den Korridor entlang, der zu der Treppe zu den Schlafzimmern führte. Ein irisches Hausmädchen kam ihm entgegen, ein feistes junges Geschöpf vom Lande. Sie sah Gregory ängstlich besorgt an. Er schnüffelte und gestikulierte ärgerlich mit seinem Stock. »Alles in Ordnung, Sir?« »Natürlich!« Sie entfernte sich langsam, nicht ohne noch mehrere sorgenvolle Blicke über die mollige Schulter zu ihm zurückzuwerfen. Schließlich versiegten seine Tränen. Er wischte sich über die Wangen. Mit dem Bus fuhr er nach Kensington zurück. An diesem Tag gab es für ihn keinen Tee im Club und kein Abendessen. Er spürte, daß ihn beim Gedanken an seinen Sessel und sein Leben erneut die Tränen übermannen mußten. Zwei Tage schmollte er in hilfloser kindischer Wut zu Hause. Gelegentlich weinte er. Dann kam es ihm plötzlich in den Sinn – warum hatte er nicht schon früher daran gedacht? –, daß Martyns erster Besuch in der Bibliothek sicher auch der einzige bleiben würde. Warum auch sollte sich Martyn dort öfter aufhalten? Was konnte ihn daran schon reizen? Er war ein Mann, der Gesellschaft, Bars, Drinks und den Klang der eigenen Stimme brauchte. Die Bibliothek, jede Bibliothek mußte ihn langweilen und verwirren. Auf der Suche nach neuen Reizen hatte er es wohl nur einmal versucht; er würde nicht zurückkehren. Gregory machte sich mutig auf den Weg in den Club. Der Portier begrüßte ihn herzlich und erkundigte sich besorgt nach seinem Wohlbefinden. Ältere Herren, die allein lebten, konnten erkranken, ohne daß es jemand merkte, konnten sterben und tagelang nicht ge-
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funden werden. Doch Gregory sah aufgeräumt wie immer aus, sein Gang hatte sich nicht verschlechtert, und seine Augen blickten klar in die Runde. Er ging die Treppe in die Bibliothek hinauf. Ängstlich öffnete er die Tür. Der schöne alte Raum war leer. Sein Sessel war leer. Die Polster waren von einem Hausangestellten aufgeschüttelt worden, die Aschenbecher waren geleert und poliert, im Kamin prasselte ein Feuer, alles war bestens. Man konnte sich wieder sicher und behaglich fühlen. Gregory fand sein Buch und ließ sich nieder. Er war überglücklich und kam sich ein wenig albern vor. Soviel Aufregung um nichts! Er wurde allmählich senil, und das durfte er auf keinen Fall zulassen. Er aß zu Mittag. Er wählte gekochte Rindskeule mit Erbsenbrei und trank dazu ein Glas Apfelwein. Martyn war nirgends zu sehen. Er war entweder abwesend oder krank. Möglicherweise war er vielleicht betrunken unter den Bus gekommen! Gregory trank mit Charles Corbishley ein Glas Portwein. Keiner konnte sich erinnern, wer an der Reihe war, doch Charles bestand darauf, Gregory einzuladen. Sie gingen zusammen hinauf. Charles war ausnahmsweise einmal zum Bridge verabredet. Gregory öffnete die Tür zur Bibliothek. Martyn saß in seinem Sessel. In diesem Augenblick, in dem Moment, da Gregory dieses Ungeheuer wahrnahm, entschied er sich für Mord. Es war ein Geistesblitz: die instinktiv richtige und unausweichliche Lösung allen Übels. Nur er allein konnte das Problem aus der Welt schaffen. Gregory hatte nichts zu verlieren, selbst wenn er gefaßt wurde; aber er hatte seinen Sessel zu gewinnen. Gregory verließ die Bibliothek und ging ins Besuchszimmer. Es war leer, elegant, aber ungemütlich eingerichtet. Er setzte sich auf einen Stuhl mit hoher Rückenlehne und sann über die Ausführung seines Vorhabens nach. Dabei wurde ihm voller Bedauern klar, daß er sich auf ein ihm gänzlich unbekanntes Gebiet wagte. Seine berufliche Laufbahn… vierzig Jahre in der Stadtverwaltung… waren keine Grundlage für seine gegenwärtigen Pläne. Sein fast völlig ereig-
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nisloses Privatleben hatte ihn nie vor ein ähnliches Problem gestellt. Selbst die Lektüre, mit der er sich zeitlebens befaßt hatte, war hier keine Hilfe! Trollope? Mrs. Gaskell? Thackeray? In allen ihren Büchern gab es Ungeheuer wie Martyn, und dasselbe galt für Surtees, die Schwestern Brontë und George Eliot. Gewalt war in diesen Werken durchaus ein Thema. Menschen wurden an einsamen Orten erschlagen. Doch keiner der Autoren verbreitete sich über Methoden, wie man dreiste Eindringlinge in den Bibliotheken von Herrenclubs umbringen konnte. Im Besuchszimmer stand ein Schreibtisch. Darauf fand sich ein Füllfederhalter, sauberes Löschpapier und eine Auswahl an clubeigenem Schreibpapier unterschiedlichen Formats. Die Gewohnheiten eines Lebens in verwaltungstechnischer Stellung gewannen die Oberhand. Gregory nahm ein Blatt Papier und begann in Großbuchstaben zu schreiben: Mögliche Methoden Er hatte eine kleine, gut lesbare Handschrift. Die vertikalen Striche fielen etwas wackelig aus, denn er schrieb langsam, und seine Hand zitterte. Dann begann er die Mordarten aufzulisten, wie sie ihm in den Sinn kamen: Tod durch: Erschießen Erstechen Erwürgen Ersticken Gift – in Getränken, im Essen, durch giftige Reptilien oder Insekten Schlag mit stumpfem Gegenstand, Knüppel Sturz auf der Treppe – inszeniert Sturz aus dem Fenster Injektion mit Luft in ein Blutgefäß Verbrennen Ertränken Stromschlag herabstürzende Lawine, einstürzende Gebäude oder ähnliches Bombenexplosion oder Granate
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Gaseinwirkung Überfahren von Auto oder Zug Gregory hielt inne und kaute auf dem Füller herum. Er schmeckte nach Schuhcreme und Schnupftabak. Die Erinnerung an längst vergessen geglaubte uralte Filme veranlaßten ihn schließlich zu folgender Fortsetzung: Opfer vor ankommendem Zug an Schienen binden Kreissäge Opfer zusammen mit wilden Raubtieren in einen Käfig sperren Opfer an einen Baumstamm binden und über einem Wasserfall loslassen Opfer von einer wildgewordenen Rinderherde zertrampeln lassen Weitere Erinnerungen ergaben: Schleuder oder Armbrust – mit Steingeschoß auf die Schläfe zielen tödliche Strahlendosis Ansteckung mit tödlicher Krankheit Opfer lebendig begraben Nach der nächsten Denkpause fügte er hinzu: Verdursten Opfer in den Selbstmord treiben – zum Beispiel durch Erpressung Aufblasen des Opfers – mit Preßluft Sauerstoffentzug – mit Vakuumpumpe Opfer von wilden Elefanten zertrampeln lassen Gregory war mit seiner Liste zufrieden, und sie war länger geworden, als er erwartet hatte. Er prüfte jede Position dieser Aufstellung mit kritischer Distanz, bedachte die Schwierigkeiten, die Logik und andere spezifische Probleme. Zu seinem großen Kummer jedoch mußte er nach dieser Analyse fast alle der aufgelisteten Tötungsarten als nicht durchführbar ausschließen. Er verfügte weder über eine Schußwaffe noch hatte er Gift, Reptilien oder Skorpione, Injektionsspritzen, Bomben, Gaspatronen, eine Kreissäge, wilde Tiere, Steinschleudern, Laserkanonen, Pestbazillen, einen Keller, in dem man jemand in die Wand einmau-
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ern konnte, eine Luftpumpe oder Elefanten. Er sah auch absolut keine Möglichkeit, zu einem steilen Seeufer oder einem Wasserfall zu gelangen, und schon gar keine Chance, Martyn an einen solchen Ort zu locken. Außerdem war es vollkommen abwegig, ein gutbetuchtes Mitglied des Blazon’s Clubs verhungern oder verdursten zu lassen. Gregory besaß auch bei weitem nicht die physischen Kräfte, Martyn, von dem man erwarten durfte, daß er sich wehrte, aus einem der Fenster in den oberen Stockwerken zu stürzen, mit einem Knüppel den Schädel einzuschlagen oder vor einem herannahenden Zug an die Schienen zu fesseln. Einige Tötungsarten allerdings hielten seiner gründlichen Prüfung tatsächlich stand. Diese waren Erstechen, Stromschlag, Sturz auf der Treppe, Tod durch Verbrennen und Selbstmord aufgrund von Erpressung. Gregory dachte über jede dieser Tötungsarten eingehend im kühlen Besucherzimmer nach, während die Teezeit kam und verging. Die Macht der Gewohnheit eines Beamtenlebens, die Gregory selbst in den langen Jahren des Pensionistendaseins nicht hatte abschütteln können, veranlaßte ihn, seine endgültige Auswahl automatisch nach Schwierigkeiten zu ordnen: Erpressung Stromschlag Brandanschlag Erstechen Tödlicher Sturz auf der Treppe Nach Wochen intensiven, wenn auch nicht ununterbrochenen Nachdenkens beschloß er, seine Mordversuche in dieser Reihenfolge auszuführen. Falls ein Versuch fehlschlagen sollte, wollte er zum nächsten übergehen, – wenn einer allerdings gelang, erledigte sich alles Weitere ja von selbst. Erpressung: Gregory hatte diese Methode in Erwägung gezogen, weil dazu weder körperlicher Einsatz noch komplizierte Gerätschaften nötig waren, die er nicht besaß. Gregory konnte sich erinnern, daß jemand einmal gesagt hatte, daß man eine x-beliebige Person auswählte, sich von hinten anschlich und flüsterte: »Ich weiß alles! 516
Flucht ist Ihre einzige Chance!« Dann würde selbst der Erzbischof persönlich die Koffer packen und verschwinden oder, im günstigeren Fall, den Revolver unter der Soutane hervorziehen und sich erschießen. Gregory versuchte, sich selbst in die Rolle des Opfers hineinzuversetzen. Er überlegte, wie er reagieren würde, wenn ein Fremder oder gar ein Bekannter ihm drohend zuflüstern würde, alles sei entdeckt! Sofort stellte er sich die Frage: Was ist entdeckt? Was überhaupt konnte schon entdeckt werden? In Gregorys Leben jedenfalls nichts. Schlicht gar nichts. Natürlich hatte er seine kleinen Geheimnisse wie falsche Zähne, gelegentliche Probleme mit der Blase, die Tatsache, daß er beim Kreuzworträtsel nicht ohne Lexikon auskam, aber selbst nach reiflicher Überlegung gelangte Gregory zu dem Schluß, daß solche Heimlichkeiten kaum zu einem Erpressungsversuch verleiten konnten. Und was Martyn betraf… eigentlich war der Mann viel zu dumm und dreist, um kompromittierende Geheimnisse zu haben. Er war der Typ, der eher mit seinen sexuellen Eroberungen prahlte, seine Finanzmanipulationen – etwa Steuerhinterziehungen – stolz hinausposaunte, und selbst seine Autounfälle als heroisch-komische Anekdoten preisgab. Ein entsprechender Dialog mit Martyn war demnach leicht vorstellbar: »Alles ist entdeckt!« »Klar, alter Junge. Schon seit Anno Tobak.« Damit blieben noch vier weitere Methoden zur Wahl, die einer sorgfältigen Vorbereitung bedurften. Gregory ging ans Werk. Gregory informierte sich detailliert über Martyns Gewohnheiten, wo er sich wann aufhielt, und vor allem fand er heraus, wann sein Gegner allein in der Bibliothek weilte. Für Gregory war es eine Qual, ihn in jenem Sessel zu beobachten, wie er, die obligate Zigarre zwischen den wulstigen Lippen, mit Glotzaugen in ein Buch starrte, doch Gregory erfuhr dadurch, was er wissen wollte. Der Mann liebte die Regelmäßigkeit. Er war jederzeit berechenbar. Gute Voraussetzungen für Gregorys Mordversuche. Stromschlag: Dreh- und Angelpunkt war die Tischlampe neben dem Sessel. Der Lampenfuß war aus Messing: eine dorische Säule auf einem viereckigen Ständer, wobei der Schalter gut zehn Zentimeter
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unter der Glühbirne in den säulenartigen Fuß eingelassen war. Gregorys Kenntnisse über Elektrizität konnte man nur als rudimentär bezeichnen, aber er war immerhin überzeugt, seinen Feind töten zu können, indem er das Erdungskabel des Schalters entfernte und nur das Stromkabel im Lampenschaft beließ. Trotzdem beschloß er, sein unbefriedigendes Wissen in dieser Hinsicht etwas aufzubessern, und verbrachte geraume Zeit in Gesellschaft eines höflichen Mannes von den Westindischen Inseln, der in einem Elektrogeschäft in Kensington beschäftigt war, wobei Gregory sich – geschickt versteht sich – nach den möglichen Gefahren bei größeren Tischlampen aus Messing erkundigte. Heraus kamen dabei anschauliche Verdrahtungsdiagramme nach dem Motto: ›Falsch‹ und ›Richtig‹, ›Sicher‹ und ›Tödlich‹. Gregory besorgte sich einen kleinen Schraubenzieher mit gelbem Isoliergriff. Mit Schraubenzieher und Diagramm bewaffnet begab er sich in den Blazon’s Club. Jetzt mußte er nur noch auf seine Chance warten. Um diese nutzen zu können, brauchte er allerdings eine Stunde – das mußte genügen, in der sich Martyn nicht in der Bibliothek aufhielt, nach deren Ablauf jedoch Martyn und kein anderer den Raum betrat, sich in den bewußten Sessel setzte und das Licht anknipste. Ein sonniger Nachmittag allerdings war für seine Zwecke nicht günstig. Erst bei bedecktem Himmel oder in schummriger Abendstunde würde sich die arglose Hand nach dem Schalter im Messingschaft ausstrecken. Nach elf Wochen schließlich war Gregorys Stunde gekommen. Es war ein düsterer Tag, schwere, dunkle Wolken jagten über den bräunlichen Londoner Himmel. Martyn war im Club und nicht beim Fischen oder bei der Jagd auf zahme Fasane. Zum Mittagessen hatte er einen Gast, einen dicklichen Finanzmann, der sich vermutlich zu gegebener Zeit trollen würde, um wieder seinen halsabschneiderischen Geschäften nachzugehen. Zwischen ein Uhr dreißig und zwei Uhr dreißig durfte Gregory sicher sein, die Bibliothek für sich allein zu haben. Es war alles geplant. Er würde die Lampe entsprechend präparieren und anschließend – Schlaf vortäuschend – in einem nahen Sessel auf der Lauer liegen. Falls unglücklicherweise ein völlig Unbeteiligter Martyn
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zuvorkommen und sich in Richtung Sessel und Lampe begeben sollte, konnte Gregory rettend eingreifen. Diese Möglichkeit erschien ihm allerdings unwahrscheinlich. Martyn würde mit der brennenden Zigarre in der Hand und dumpf vor sich hin glotzend auf den Sessel zusteuern, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Gregory würde sich dann tiefer in den Sessel drücken; alt und hager wie er war, würde er kaum zu sehen sein. Dann ein Pfffft. Ein Verdrahtungsfehler. Und Gregory war wo ganz anders, wenn man Martyn fand… das konnte natürlich auch erst am darauffolgenden Morgen sein, wenn die Hausmädchen die Aschenbecher leerten. Gregory stahl sich in die halbdunkle Bibliothek und machte sich am Lampenschalter zu schaffen. Er wußte, wie er vorgehen mußte. Die Dringlichkeit dessen, was getan werden mußte, verlieh seinen alten Fingern Kraft. Die Schrauben waren schwergängig, doch er schaffte es, sie zu drehen. Die kauernde Haltung war anstrengend, und seine Knie schmerzten, aber er zwang sich, durchzuhalten. Schließlich war der Schalter präpariert, die Erdung – und damit der Sicherheitsfaktor – entfernt. Gregory schob den Schalter in die Halterung zurück und wandte sich dem nächsten, dem brenzligsten Teil seiner Arbeit zu. Der Schraubenzieher drehte sich. Das Kabel sprang heraus. Gregory studierte seine Diagramme. Falsch, richtig. Das Richtige war jetzt falsch, das Falsche richtig. Mit der Linken hielt er die goldglänzende Säule der Lampe umfaßt, mit der Rechten tastete er über das grellbunte Kabelband, das sich spiralförmig entwirrte… Bumm! Ein mächtiger Schlag riß ihm die Lampe aus der Hand, warf ihn rücklings in den Sessel – in seinen Sessel – und raubte ihm das Bewußtsein. Er hat einen elektrischen Schlag abbekommen, hieß es. Ein Glück, daß er noch lebte. Der ungeschickte alte Herr hat doch tatsächlich versucht, eine Lampe zu reparieren. Stellen Sie sich vor, er hatte sogar einen Schraubenzieher! Ein vornehmer älterer Arzt, auch ein Clubmitglied, fühlte Gregory den Puls, nachdem man den heftig protestierenden Mediziner von seinem Mittagessen mit Irish Stew weggeholt hatte. Alles war in Ordnung. Jemand flößte Gregory Kognak ein. Er trank ihn in kleinen Schlucken. Die braune Flüssigkeit brannte wie Feuer in seiner Kehle
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und war herrlich belebend. Gregory setzte sich auf. Er war schon fast wiederhergestellt. Martyn, so schien es, hatte den Kognak gebracht; jedenfalls war es seine Hand, die das Glas an Gregorys blutleere Lippen hielt. Es vergingen viele Wochen, bevor Gregory die Kraft und Initiative wiedergewonnen hatte, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Auch während seiner Rekonvaleszenz hatte er in seiner Entschlossenheit nie geschwankt. Elektrizität, so entschied er, hatte ihn überfordert. Das war ein zu technisches, zu modernes Gebiet. Er hatte geglaubt, alles verstanden zu haben, offenbar jedoch nichts begriffen. Elektrizität war etwas für die Jüngeren. Es war besser, wenn er sich an die elementaren Kräfte der Natur hielt, an die Waffe der Höhlenmenschen und antiken Götter, das Feuer. Brandanschlag: Der Plan war einfach, verlangte jedoch eine Menge sorgfältiger und mühseliger Vorbereitungen. Gregory beschaffte sich einen Fünfliterkanister. Er ließ diesen mit Benzin füllen. Dann erstand er ein zweites Exemplar. Auch dieser wurde gefüllt. Danach versuchte er beide in einem Koffer in den Blazon’s Club zu schleusen, doch der Koffer war zu schwer. Schließlich wickelte er einen Kanister in braunes Papier und schmuggelte ihn so hinter einer Maske falscher Fröhlichkeit an der Portiersloge des Clubs vorbei und hinauf in die Bibliothek. Er hoffte, man würde es für ein Paket Bücher halten. Er verbarg es im untersten Regalfach hinter Bänden deutscher Liebesdichtung. Den zweiten Kanister brachte er auf demselben Weg in die Bibliothek, benutzte jedoch ein anderes Einwikkelpapier, um Mißtrauische zu täuschen. Niemand beachtete ihn oder sein schäbiges Paket. Rundum über den Regalen standen in der Bibliothek griechische Graburnen, Geschenke eines Bischofs aus viktorianischer Zeit. Eines dieser Gefäße, unpassenderweise mit den Bildern von Athleten aus Sparta verziert, hatte seinen angestammten Platz direkt über dem Sessel. Die nächste Vorbereitungsphase erforderte alle Kraft und Entschlossenheit, deren Gregory fähig war. Er schob die Bibliothekslei-
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ter die ganze Länge des Raumes entlang, bis zu der entscheidenden Stelle, und kletterte mit einem der Kanister hinauf. Er hievte den Kanister von Regal zu Regal, räumte Bücher beiseite, bis das gute Stück schließlich neben der Urne stand. Es kostete ihn unvorstellbare Mühe, wenigstens einen Großteil des Benzins vom Kanister in die Urne umzufüllen. Etliches ging daneben, tropfte auf die Bücher darunter und auf Gregory. Die ganze Bibliothek stank nach Benzin. Die Zeit und Martyns Zigarre würden das bereinigen. Zehn Tage später – Gregory hatte dringend einer Verschnaufpause bedurft – fügte er den Inhalt des zweiten Kanisters hinzu. Es war weder einfacher noch schwieriger als das erste Mal. Er verschüttete weniger, doch der Kanister schien schwerer zu sein. Gregory war eben, soviel war sicher, um zehn Tage gealtert. An jenem Abend entnahm Gregory seiner Angelausrüstung eine Spule mit Nylonschnur, die einer Belastung von zwanzig Pfund standhalten konnte. Gregory besaß wahre Massen von Angelspulen. Die eine, die er ausgewählt hatte, steckte drei Wochen in seiner Jackettasche. Nach diesen drei Wochen bekam er erneut eine Chance. Er stellte die Leiter unter die Urne, legte eine Schlinge Nylonschnur um das Gefäß und ließ die restliche Schnur für das Auge unsichtbar über das Bücherregal hinunterhängen, leitete sie über den Fußboden bis zu einem gut sechs Meter entfernt im Halbdunkel stehenden Sessel. Dort ließ er sich nieder und hielt das Ende fest in der Hand. Martyn kam, setzte sich, zündete seine Zigarre an, schlug ein Buch auf, und Gregory registrierte er gar nicht. Gregory zog die Nylonschnur straffer. Sie hob sich vom Boden und dem Bücherregal ab und war jetzt als silberner Faden hinter Martyn, zwischen Gregorys Hand und der Urne, mit ihrer tödlichen Füllung sichtbar. Alles hatte bis jetzt perfekt geklappt – ein Ruck an der Schnur sollte die Urne vom Regal reißen, ein Schwall Benzin, entzündet durch Martyns Zigarre, sollte Martyn verbrennen und ihm einen ehrenvollen Tod bereiten, den er eigentlich nicht verdient hatte. Doch was passierte? Die Urne fiel, aber es kam kein Benzin. Martyn sprang mit einem Aufschrei aus dem Sessel. Er starrte auf die Urne, die unzerbrochen neben ihm auf dem Teppich lag. Dann wanderte sein Blick
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hinauf zum Regal. Er zuckte mit den Schultern und nahm seinen alten Platz wieder ein. Gregory verharrte bewegungslos in seinem Sessel. Eine Stunde später verließ Martyn die Bibliothek. Gregory humpelte zum Tatort, um seine verräterische Schnur einzurollen und das Gefäß zu inspizieren. Die Urne hatte im Boden ein Loch. Es war keines, das durch den Fall verursacht worden war, sondern eines, das offenbar von vornherein im Gefäß gewesen war. Das konnte nur bedeuten, daß es sich bei den sogenannten griechischen Urnen schlicht um Blumentöpfe handelte. Zu kompliziert, dachte Gregory betrübt. Die ganze Sache war von zu vielen Faktoren abhängig gewesen. Er mußte sich etwas Einfacheres, Fundamentaleres, Primitiveres einfallen lassen. Er mußte sich auf ein Werkzeug verlassen, dem er hundertprozentig vertrauen konnte. Erstechen: Er kaufte in einem Haushaltsgeschäft in Kensington ein Küchenmesser, spitz und mit einer rasiermesserscharfen langen Klinge. Gregory hatte beobachtet, daß der etwas korpulente Martyn seine Weste aufknöpfte, sobald er sich in den Sessel in der Bibliothek setzte und so tat, als würde er ein Buch lesen. Damit mußte das Messer also weder Tweed noch Kammgarn, sondern höchstens Seide oder Baumwolle durchstoßen. Viel Kraft würde Gregory nicht brauchen, um diese Waffe wirksam einzusetzen. Wesentlich wichtiger war es, zu entscheiden, wo das Opfer getroffen werden sollte. Gregory studierte anatomische Tafeln in den einschlägigen Werken in öffentlichen Bibliotheken. Er mußte zwischen die Rippen dringen und direkt ins Herz treffen. Gregory übte über mehrere Wochen hinweg allabendlich den Todesstoß an einer Puppe, die er aus einem Keilkissen angefertigt und mit einer Jacke und Weste bekleidet hatte. Gregory trainierte eifrig seine Angriffsstrategie, denn er wußte ja genau, wie er Martyn vorfinden würde. Nichts, aber auch gar nichts sollte diesmal dem Zufall überlassen bleiben.
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Martyn betrat die Bibliothek. Er setzte sich, gestikulierte mit seiner Zigarre in Gregorys Richtung, winkte ihm mit der jovialen Vertraulichkeit des Gesinnungsgenossen zu. Gregory ging zum Regal mit den französischen Autoren. Dort zog er ein für diese Zwecke bereitgestelltes Buch heraus und begann zu blättern. Mit einem leisen Ausruf gespielter Überraschung tat er so, als würde er eben erst feststellen, daß die Seiten dieses Buches noch gar nicht durchgetrennt waren. Er ging zu der Schublade eines Schreibtisches, holte nicht den schweren Brieföffner, der dort seinen Platz hatte, sondern sein Küchenmesser heraus. Dann begann er die Seiten des besagten Bandes aufzuschneiden. Das Licht war an der Stelle, wo er stand, verhältnismäßig schlecht. Mürrisch vor sich hin murmelnd bewegte er sich langsam in Richtung Fenster. Schließlich stand er hinter dem Sessel. Martyn sah mitfühlend und zerstreut zu ihm auf. Die rasiermesserscharfe Klinge durchtrennte zischend die Seiten eines französischen Romans. Gregory trat näher an den Stuhl heran. Martyns Weste war aufgeknöpft. Sein Brustkorb, ja jede einzelne Rippe zeichnete sich deutlich unter dem rot-weißgestreiften Stoff seines Hemdes ab. Gregory betrachtete prüfend seinen Zielpunkt. Er nahm Maß. Die Stelle lag gut dreieinhalb Zentimeter links von Martyns Krawatte, die den ehemaligen Harrow-Schüler verriet, und zweieinhalb Zentimeter rechts von der Schnalle seiner Hosenträger: genau zwischen den Rippen, direkt über dem Herzen. Gregory schluckte. War er dazu fähig? Konnte er kalten Stahl in die Brust eines arglosen Mannes stoßen? Ja! Martyn roch nach Zigarrenqualm und Haarwasser, das nach Sandelholz duftete. Gregory hielt sich Martyns Taten noch einmal vor Augen. Er erinnerte sich an alle Martyns in seinem Leben. Er starrte auf seinen Sessel herab. O ja, er konnte es tun! Gregory hielt die Tarnung weiter aufrecht, durchtrennte mit der Klinge die Buchseiten, während er unverwandt auf das Zieldreieck auf der rot-weißen Hemdenbrust starrte. Plötzlich fühlte er einen heftigen Schmerz im Daumen. Er sah entsetzt an sich herunter. Blut tropfte. Er hatte sich geschnitten. Er
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schrie laut auf. Das rote nasse Blut, sein Blut, brachte ihn völlig aus der Fassung. Es floß bereits über das ganze Buch. Sein Daumen brannte vor Schmerz. Der Ohnmacht nahe, begann er zu schwanken. Eine kräftige Hand packte ihn. Er wurde sanft in einen Sessel gedrückt. Man verband seinen Daumen mit einem sauberen Baumwolltaschentuch. Kognak wurde bestellt, und man hielt ein Glas an seine Lippen. Martyn hatte ihn gestützt. Martyn hatte seinen Daumen bandagiert. Martyn hatte den Kognak bezahlt. Danach blieb Gregory nur noch eine Möglichkeit. Sturz auf der Treppe – und zwar von ganz oben. Die Nylonschnur mußte erneut herhalten. Sie hatte bereits einmal ausgezeichnet funktioniert. Bei dem Fehlversuch mit dem Benzin hatte jedenfalls nicht die Nylonschnur versagt. Die Stufen der Treppe waren breit, die Treppe gewunden und aus Stein. Auf dem oberen Treppenabsatz endete das Geländer an zwei Pfosten, zwischen denen man ohne Schwierigkeit ein Stolperseil spannen konnte. Nach reiflichem Nachdenken kam Gregory zu dem Entschluß, daß er sein Stolperseil, wenn es erst einmal gespannt war, keinesfalls in der Annahme unbeobachtet lassen durfte, daß Martyn – nur Martyn – aus der Bibliothek die Treppe hinuntergehen würde. Schließlich mußte er damit rechnen, daß jemand, der aus dem Kartenzimmer kam, die Treppe hinuntergehen wollte. Spannte er also das Seil und ging dann weg, lief er nicht nur Gefahr, daß Martyn erneut ungeschoren davonkam, sondern er mußte auch darauf gefaßt sein, daß seine Ranküne einem harmlosen Bridgespieler Kopf und Kragen kostete. Gregory blieb daher nichts anderes übrig, als auf dem oberen Treppenabsatz Posten zu beziehen… und zwar entweder vor den Blicken der anderen verborgen oder scheinbar in eine harmlose Beschäftigung vertieft, während er das Ende der Nylonschnur fest in der Hand hielt, um sie sofort zu straffen, sobald Martyn sich näherte. In dem Aufruhr, der Martyns Tod zwangsläufig auslösten mußte, würde es Gregory zweifelsohne gelingen, die Schnur unbemerkt zu entfernen. Diese Methode war so bestechend viel einfacher und sicherer als die
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vorausgegangenen Versuche, daß es Gregory aufrichtig bekümmerte, seine Prioritäten nicht anders gesetzt zu haben. Fraglich war lediglich noch, wo Gregory sich zur Tatzeit aufhalten sollte. Als der geeignetste Ort bot sich schließlich die Toilette neben dem Kartenzimmer an. Sie schien für Gregorys Zwecke wie geschaffen. Er mußte die Nylonschnur lediglich mit geschickten Knoten, die Gregory als Angler einmal gelernt hatte, am äußeren obersten Treppenpfosten befestigen, sie für das bloße Auge kaum sichtbar über die oberste Stufe zum gegenüberliegenden Pfosten leiten, sie dort einmal herumwickeln, über den Korridor durch das Schlüsselloch der Toilettentür führen und sie dahinter in der eigenen Hand enden lassen. Wenn die Tür einen Spaltbreit offenblieb, konnte er von seinem Posten aus einen schmalen Ausschnitt des obersten Treppenabsatzes im Auge behalten. Danach mußte Gregory nur noch ein Detail vorbereiten. Gregory besorgte Reißzwecken. Er begab sich in das Besucherzimmer. Auf das großformatigste Clubpapier schrieb er in großen Lettern mit Tinte ›AUSSER BETRIEB‹. Seine Schrift war etwas zittrig, doch deutlich lesbar. Er tupfte sein Werk vorsichtig mit Löschpapier ab. Dann verbrannte Gregory das Löschpapier im Kaminfeuer des Besucherzimmers. Einige Tage später genoß er zum Mittagessen ein ausgezeichnetes Schellfischfilet. Dabei beobachtete er Martyn, der allein an einem Tisch saß. Martyn aß ausgiebig, während Gregory mit Charles Corbishley ein Glas Portwein trank, das Charles bezahlte. Und Gregory schlug danach zum erstenmal seit zwölf Jahren vor, sich ein zweites Glas Portwein zu genehmigen. Das überraschte ihn selbst ebensosehr wie Charles Corbishley. Nachdem der Portwein schneller als üblich getrunken war, ging Gregory ebenfalls schneller als gewöhnlich die Treppe hinauf. Die innere Erregung hatte sowohl seinen Durst als auch seine Beweglichkeit vergrößert. Er vergewisserte sich, daß Martyn in der Bibliothek war, daß er dick und fett im Sessel saß. Aus dem Kartenzimmer drangen Stimmen nach draußen. Sonst war niemand zu sehen. Gregory fädelte das Ende seiner Nylonschnur durch das Schlüsselloch in der Toilettentür, leitete sie über den Korridor, um den ersten Trep-
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penpfosten herum, über die oberste Stufe zum zweiten Pfosten, an dem er sie sorgfältig mit seiner aufgefrischten Knotentechnik aus Anglerzeiten befestigte. Anschließend ging er zur Toilette zurück. Dort nahm er das Schild mit der Aufschrift ›AUSSER BETRIEB‹ aus der Tasche und heftete es mit Reißnägeln an die Toilettentür. Dann betrat er die Toilette. Er ließ die Tür einen Spalt offen, setzte sich auf den Brillenrand und wartete. Nach endlos langer Zeit kam ein Bridgespieler polternd aus dem Kartenzimmer und blieb vor der Toilettentür stehen. Beim Anblick des Schildes stöhnte er gequält und stapfte wieder davon, um anderswo sein Glück zu versuchen. Die Zeit verging. Es war still. Aus dem Kartenzimmer war nur gedämpftes Stimmengemurmel zu hören, ein äußerst entspannendes, beruhigendes Geräusch. Wochentags vor der Teezeit war der Club meistens halb leer. Das Rauschen des Verkehrs auf der Straße war inmitten des soliden alten Gemäuers nur zu erahnen. Gregory hielt die Plastikrolle der Nylonschnur zuversichtlich umfaßt. Plötzlich beschlich ihn das Gefühl, siebzig oder mehr Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt zu werden, im Bug eines Bootes vor der Westküste Schottlands zu sitzen und mit einer einfachen Angelschnur in der Hand Makrelen zu fischen, – seine Cousine Maud hatte eine lustige Baskenmütze aufgehabt, und der alte Dougal, der Bootsführer… »Großer Gott, was machen Sie denn da?« »Ich angle«, antwortete Gregory mit erstickter Stimme, der erst langsam in die Wirklichkeit zurückfand und dem das zweite Glas Port die Zunge schwergemacht hatte. Martyn starrte in die Toilette, in der Gregory, eine schmale, zusammengesunkene Gestalt, auf der Brille saß, und er sah die Rolle in Gregorys Hand und die Nylonschnur, die von dieser Spule durch das Schlüsselloch ins Freie führte. »Und was, wenn ich fragen darf, versuchen Sie da zu angeln?« erkundigte sich Martyn. Dann begann Martyn zu lachen. Sein Gesicht nahm eine lila Färbung an. Tränen rannen über seine Wangen. Er versuchte, etwas zu sagen, verschluckte sich und begann zu husten. Er hustete erbärm-
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lich. Sein Gesicht war nicht länger lila, sondern schwarz. Er taumelte. Er fiel krachend gegen die Toilettentür, keuchte und rang verzweifelt nach Luft, die Hand gegen das Herz gepreßt. Es hieß, er sei auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. An Herzversagen. Er hatte sich schlicht totgelacht. »Mein waches Auge«, erklärte Gregory mit feierlichem Ernst, »erspähte heute Ochsenschwanz auf der Karte. Dazu habe ich mir eine Portion Spinat geben lassen. Und nun, mein lieber Charles? Darf ich uns ein Glas Jahrgangs-Portwein bringen lassen?« »Der aus dem Faß tut’s auch, danke«, erwiderte Charles Corbishley. »So sei es.« Um halb drei Uhr ging Gregory in die Bibliothek hinauf. Er las eine Seite in The Eustace Diamonds in seinem Sessel neben dem Kamin, bevor er bis zur Teezeit in einen sanften Schlummer fiel. Aus dem Englischen übertragen von Christine Frauendorf-Mössel
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Peter Lovesey Der heimliche Geliebte »Pam.« »Ja?« »Triffst du ihn am Wochenende?« Pam Meredith atmete tief ein und unterdrückte das Bedürfnis, laut zu schreien. Sie wußte ganz genau, was jetzt kommen würde. »Wen soll ich treffen?« »Deinen heimlichen Geliebten.« Sie brachte ein affektiertes Lächeln zustande, sagte »Gebt es doch auf!«, und die anderen kicherten. Aus irgendeinem Grund verwandelten die letzten Stunden der Arbeitswoche drei tüchtige, medizinisch ausgebildete Empfangsdamen in zu groß geratene Schulmädchen. Sie waren alle drei schon über Dreißig, aber sobald sie am Samstagvormittag im Ärztezentrum eintrafen, fingen sie mit ihren Albernheiten an. Nachdem sie ihre Phantasie mit Geschichten über die Ärzte strapaziert und sich ausgemalt hatten, was sie alles mit den Patienten veranstalteten, kamen sie selbst dran. Und dann dauerte es meist nicht lange, bis Pams heimlicher Geliebter an der Reihe war. Er war ein zurückhaltender, etwas gehetzt dreinschauender Mann Ende Dreißig, der einmal zufällig eines Nachmittags ins Ärztehaus gekommen war, weil er Hilfe brauchte. Er hatte ein Staubkorn unter das linke Augenlid bekommen. Zu diesem Zeitpunkt war keiner der Ärzte oder Oberschwestern im Hause gewesen, so daß Pam nichts anderes übriggeblieben war, als dem Mann selbst zu helfen. Nach ihren eigenen Erfahrungen mit Kontaktlinsen hatte sie eine ungefähre Ahnung davon, wie man das Auge behandeln mußte, damit es einen Fremdkörper freigab, und es war ihr auch sehr rasch gelungen, ohne daß dem Patienten dabei größere Schmerzen oder Unannehmlichkeiten entstanden wären. Er hatte ihr gedankt und das Ärztezentrum in großer Eile wieder verlassen – als ob ihm die Episode überaus peinlich gewesen wäre. Pam hatte erst zwei Wochen danach wieder an ihn gedacht, als sie zum Dienst kam und man ihr mitteilte, ein Mann habe nach ihr persönlich gefragt und würde noch einmal zur Lunch-
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zeit vorbeikommen. Das erregte verständlicherweise das lebhafte Interesse der anderen Empfangsdamen, besonders als er fünf Minuten vor eins tatsächlich mit einem Strauß Narzissen in der Hand auftauchte. Mit dreiunddreißig war Pam die jüngste der Frauen am Empfang des Ärztezentrums. Sie trieb Gymnastik, hielt ihre Diäten ein, färbte sich das Haar blond und war beliebt bei vielen der Männern, die herkamen, um ihre Rezepte abzuholen, doch an Blumenspenden war sie nicht gewohnt. In ihrem weißen Overall kam sie sich sehr medizinisch und sehr tüchtig vor. Sie hatte ein blasses, ovales Gesicht mit braunen Augen und einem kleinen, hübschen Mund, der, wie man ihr gesagt hatte, eher Raffinesse als Sinnlichkeit ausstrahlte. In letzter Zeit hatte sie ein paar erste Fältchen am Hals entdeckt und bevorzugte seither Rollkragenpullover. Unter den amüsierten und unverhohlen neidischen Blicken ihrer Kolleginnen hatte Pam errötend die Blumen angenommen und erklärt, eine solche Belohnung sei zwar charmant, aber durchaus unnötig. Als der Blumenspender sie dann zu einem Drink in den Green Dragon einlud, konnte sie kaum nein sagen. Sie stotterte etwas in der Art, daß sie nach dem Lunch noch weiterarbeiten müsse, woraufhin er ihr vorschlug, Tomatensaft oder ein Bitter Lemon zu trinken. Inzwischen hatte ihr eines der anderen Mädchen einen Rippenstoß gegeben und ihr die Tasche in die Hand gedrückt. Und das war der Beginn eines beliebten Scherzes in Fortsetzungen, wobei Pams geheimer Verehrer im Mittelpunkt stand. Die beiden anderen Mädchen konnten nicht ahnen, daß sie in Wirklichkeit die Opfer dieses Scherzes waren. Sie hätten das nicht in den wildesten Phantasien geahnt, doch die Dinge hatten sich inzwischen dahingehend entwickelt, daß Pam mit ihrem Verehrer regelmäßig in einem Bett schlief. Dennoch darf man dieser Beziehung keine allzu große Bedeutung beimessen. Nach den allgemeinen Begriffen war er keineswegs ihr Geliebter. Miteinander schlafen und sich lieben, das ist nicht unbedingt ein und dasselbe. Die Möglichkeit, daß eine Liebe entsteht, kann nie ausgeschlossen werden, aber es ist keineswegs die automatische Konsequenz, wenn man mit jemandem in einem Bett über-
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nachtet, und das paßte sehr gut zu Pams angeborener, zurückhaltender Vornehmheit. Andererseits war es auch nicht ganz so, wie es sich die Mädchen im Ärztezentrum vorstellten. Pam hatte beim ersten Tomatensaft im Green Dragon erfahren, daß Cliff als Einkäufer in der Apfelmostindustrie tätig war, was bedeutete, daß er verschiedene Produzenten in den West Midlands und im Südwesten Englands besuchen mußte und daß er einmal in zwei Wochen eine Nacht in Hereford verbrachte. Er reiste gern, räumte aber ein, daß die vielen Nächte außer Haus für das Scheitern seiner Ehe verantwortlich gewesen seien. Nicht, daß er seiner Frau untreu gewesen wäre, aber er gab in selbstloser Weise zu, daß man es einer Frau angesichts der unzähligen Berichte in den Zeitungen über Vergewaltigungen und Überfälle nicht verübeln konnte, wenn sie sich Gesellschaft suchte, während ihr Mann Woche für Woche geschäftlich unterwegs sei. In Erwiderung seiner Offenheit hatte ihm Pam gestanden, daß auch sie geschieden war. Die Nächte seien für eine alleinstehende Frau das schlimmste, bestätigte sie ihm. Selbst in der alten Kathedralenstadt Hereford, die nicht gerade wegen ihrer Gewalttaten berüchtigt war, ging sie nur ungern nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Haus, lag oft wach und lauschte mit geschärften Sinnen, ob nicht jemand unten an der Haustür mit dem Schloß herumhantierte. Der erste Drink hatte einen zweiten zur Folge gehabt, als Cliff das nächste Mal wieder in der Stadt war. Und zwei Wochen später hatte ihn Pam zu sich eingeladen, zu einem ›kleinen Abendessen‹, wobei sie meinte, es mache ihr keine Mühe, da man für zwei viel besser kochen könne als für einen. Cliff hatte ihr Hühner-Cordon bleu in den höchsten Tönen gelobt, und von da an wurde das Abendessen im Zweiwochenabstand zu einer festen Einrichtung. Beim erstenmal war er am Ende des Abends brav in sein Hotel zurückgekehrt, aber beim nächsten Besuch hatte er Pam zu dem schon fast vergessenen Kartenspiel Cribbage vermuntert, und die beiden waren so in das Spiel vertieft gewesen, daß sie erst lange nach Mitternacht bemerkt hatten, wie spät es geworden war. Mittlerweile fühlte sich Pam in der Gesellschaft von Cliff so sicher, entspannt und wohl, daß es ihr als das Natürlichste auf der Welt erschien, ihm das Gästebett herzurichten
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und ihn zum Übernachten einzuladen. Übrigens hatte keiner der beiden irgendwelche Andeutungen auf ein intimeres Arrangement gemacht. Das war es, was Pam so an Cliff liebte. Er war keine dieser wilden Bestien von Mann. Nein, er war Gentleman genug, um seine natürlichen körperlichen Instinkte unterdrücken zu können. Und eines Nachts, sechs Wochen später, als ein Gewitter tobte und sie an seine Tür geklopft und gesagt hatte, daß sie sich ängstigte, hatte er ihr in derselben Gentlemanhaften Art angeboten, zu ihm ins Zimmer zu kommen, bis das Gewitter vorüber sei. Pam schlief in dem extrabreiten Doppelbett, an das sie sich während ihrer Ehe gewöhnt hatte und in dem eigentlich auch Platz genug für Cliff gewesen wäre, ohne daß es peinlich wurde, wenn er sie unabsichtlich berührte. Also kam er in ihr Bett, und sie waren beide eingeschlafen, während sie auf den Donner lauschten. Es war die Zeit der Sommergewitter, so daß sie, als er das nächste Mal zu ihr kam, vereinbarten, als vernünftige Vorsichtsmaßnahme auch dann zu zweit in einem Bett zu schlafen, wenn der Himmel klar war. Man wußte ja nicht, ob vielleicht im Laufe der Nacht noch ein Unwetter aufkam. Und als dann die ersten kühlen Herbsttage nahten, waren beide nicht sonderlich begeistert von der Aussicht, allein zwischen den kalten Laken schlafen zu müssen. Obendrein, wie Cliff vernünftigerweise bemerkte, sparte man Wäsche, wenn man nur ein Bett benützte. Apropos Wäsche: Pam hatte inzwischen die Aufgabe übernommen, seine Hemden, seine Unterwäsche und die Schlafanzüge zu waschen. Sie hatte ihm einen schönen, flaschengrünen französischen Pyjama gekauft, mit Knöpfen an der Jacke und einem elastischen Band in der Taille. Jedesmal, wenn er zu ihr kam, lag der Pyjama gewaschen und gebügelt auf seinem Kissen. Er war ebenfalls sehr aufmerksam und kam nie ohne eine Flasche Apfelmost, den sie zum Abendessen tranken. Ein paarmal hatte er erwähnt, daß er Pam eigentlich gern zum Essen ausführen wollte, doch ihre Küche sei so exzellent, daß sie damit jeden Koch in der Stadt ausstechen würde. Ganz besonders entzückt war er über das Frühstück, das sie ihm bereitete, bevor er morgens weiter mußte. Und so ertrug Pam standhaft die Neckereien im Ärztezentrum, ermutigt durch die Tatsache, daß es auf seiten der anderen nur Phanta-
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sie war; sie verschwieg ihnen beharrlich, daß sie Cliff zu sich nach Hause eingeladen hatte. Und als sie an diesem Tag mittags nach Hause ging, war sie in besserer Laune als am Morgen. Es war immer eine Erleichterung, wenn man den Samstagvormittag hinter sich hatte. Sobald sie in ihre Straße eingebogen war, sah sie einen kleinen Wagen, einen roten Mini, vor ihrem Haus parken, in dem jemand saß. Sie erwartete keinen Besuch, steuerte auf ihr Gartentor zu und stellte fest, daß eine Frau in dem Wagen saß, die keine Anstalten machte, auszusteigen, und daß sie diese Frau noch nie gesehen hatte. Also ging sie an dem Wagen vorbei und sperrte die Haustür auf. Auf dem Boden dahinter lag ein Kuvert mit einer Grußkarte, wie es aussah. Sie hatte ganz vergessen, daß sie am Sonntag Geburtstag hatte. Wenn man allein lebt und ohne Familie ist, neigt man dazu, solche Anlässe zu übersehen. Aber jemand war offensichtlich der Ansicht, daß man ihren Geburtstag nicht übersehen durfte. Sie konnte die Handschrift nicht lesen, und der Poststempel war zu verwischt, als daß man ihn hätte entziffern können. Also öffnete sie den Umschlag – und lächelte. Auf die Karte war eine einzelne Narzisse gedruckt, und innen, unter dem gedruckten Glückwunsch, stand der handschriftliche Buchstabe C. Sie hatte Cliffs Schrift nicht erkannt, weil sie sie zum erstenmal sah. Er war nicht der Typ, der Briefe schrieb. Und auch der Poststempel hätte Pam keinen Hinweis geliefert, selbst wenn er deutlich zu lesen gewesen wäre, weil sie ja nicht einmal wußte, wo er wohnte. Immer, wenn es zu allzu persönlichen Fragen kam, antwortete er vage oder ausweichend, so daß sie keine Lust verspürte, ihn länger auszuhorchen. Schließlich hatte er ein Recht auf seine Privatsphäre. Dennoch fragte sie sich manchmal, wie er wohl wohnte, und kam zu der Vermutung, daß er sein Heim seit dem Scheitern seiner Ehe vernachlässigte und sich ganz seinem Job widmete. Er lebte, um zu reisen, und, wie Pam sich schmeichelte, für seinen in vierzehntägigem Abstand stattfindenden Besuch in Hereford. In diesem Augenblick läutete es an der Tür. Pam öffnete und sah die Frau, die zuvor in dem Wagen gesessen hatte: dunkelhaarig, etwa in ihrem Alter oder ein wenig älter und gutaussehend, mit hohen
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Wangenknochen – ein vornehmes Gesicht, wie man es oft in ausländischen Filmen sieht. Sie trug ein dunkelblaues Schneiderkostüm und eine weiße Bluse, die bis zum Hals zugeknöpft war, und wirkte so, als würde sie sich um einen Job bewerben. Vor allem aber fielen Pam ihre graugrünen Augen auf, die sie in einer Weise musterten, die höchst unüblich für Leute war, die aus irgendeinem banalen Grund vor der Tür standen. »Hallo«, sagte Pam. »Mrs. Pamela Meredith?« »Ja.« Der Blick wurde noch durchdringender. »Wir kennen uns nicht, und Sie wissen vielleicht gar nicht, daß es mich gibt. Ich bin Tracey Gibbons.« Sie wartete und beobachtete Pams Reaktion. Pam lächelte leicht. »Sie haben recht, ich habe Ihren Namen noch nie gehört.« Tracey Gibbons seufzte und schüttelte den Kopf. »Das überrascht mich nicht. Ich weiß nicht, was Sie von mir halten, weil ich einfach so bei Ihnen hereinschneie, aber ich finde, die Sache hat einen Punkt erreicht, an dem etwas unternommen werden muß. Es geht um Ihren Mann.« Pam zog die Stirn in Falten. »Um meinen Mann?« Sie hatte seit sechs Jahren nichts von David gehört. »Darf ich reinkommen?« »Ich nehme an, das ist das Beste.« Als Pam die Besucherin in ihr Wohnzimmer führte, das nach vorn hinausging, überlegte sie sich, ob diese Person nicht einen Trick anwandte, um sich ihr Vertrauen zu erschleichen. Die Frau musterte ungeniert den Raum, die Möbel, die Dekorationen, alles. Pam sagte in scharfem Ton: »Ich finde, Sie sollten jetzt zur Sache kommen, Miss Gibbon.« »Mrs. Gibbons, um genau zu sein. Nicht, daß es darauf ankäme. Ich warte nur noch darauf, daß meine Scheidung rechtskräftig wird.« Plötzlich wirkte die Frau nervös und defensiv. »Ich bin kein Mensch, der wahllose Geschlechtsbeziehungen eingeht, Mrs. Meredith. Ich möchte, daß Sie das verstehen, was immer Sie sonst von mir denken mögen. Und ich bin auch nicht falsch und hinterlistig, sonst wäre ich
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nicht hier. Ich möchte die Dinge zwischen uns klarstellen. Ich bin heute vormittag von Worcester herübergefahren, um mit Ihnen zu reden.« Allmählich begann Pam zu ahnen, worum es ging. Mrs. Gibbons hatte eine Affäre mit David, und nun fühlte sie sich aus irgendwelchen sonderbaren Gründen veranlaßt, darüber mit seiner Exgattin zu sprechen. Offensichtlich war die Frau nervlich zerrüttet, also sollte sie erst einmal ihren Kummer loswerden, bevor Pam sie dann sanft hinauskomplimentierte. »Sie fragen sich vermutlich, woher ich Ihre Adresse habe«, fuhr Mrs. Gibbons fort. »Er weiß nicht, daß ich hier bin, das verspreche ich Ihnen. Ich habe erst seit zwei oder drei Wochen den Verdacht, er könnte eine Ehefrau haben. Es gibt bestimmte Dinge, die einem auffallen, zum Beispiel die frisch gebügelten Hemden. Als er das letzte Mal kam, hat er den Koffer offengelassen, und ich habe zufällig die Geburtstagskarte gesehen, die er an Sie adressiert hat. Daher kenne ich Ihre Adresse.« Pams Haut begann am ganzen Körper zu prickeln. »Was für eine Karte?« »Die Narzisse. Ich habe hineingeschaut, wie ich zu meiner Schande bekennen muß. Aber ich mußte mir einfach Gewißheit verschaffen.« Pam schloß die Augen. Die Frau redete ja gar nicht von David – es ging um Cliff, um ihren Cliff! Rings um sie begann sich alles zu drehen. Sie dachte kurz, sie würde ohnmächtig werden, dann sagte sie: »Ich glaube, jetzt brauche ich einen Weinbrand.« Mrs. Gibbons nickte. »Ich leiste Ihnen dabei Gesellschaft, wenn ich darf.« Als sie der Frau das Glas reichte, sagte Pam in niedergeschlagenem Ton: »Sie sprechen doch von einem Mann namens Cliff, oder?« »Natürlich.« »Cliff ist nicht mein Mann.« »Was?« Mrs. Gibbons starrte sie ungläubig an. »Er besucht mich nur manchmal.« »Und Sie waschen ihm die Hemden?« »Meistens.«
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»Dieser Bastard!« jammerte Mrs. Gibbons, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Dieser gemeine, betrügerische Schweinehund! Ich habe es doch gewußt, daß er noch jemand anderen hat, aber ich dachte, es sei seine Frau, weil er ein solches Geheimnis daraus gemacht hat. Ich redete mir ein, daß er unglücklich verheiratet ist, und hatte vor, Sie anzuflehen, daß Sie ihn freigeben. Ich könnte ihn auf der Stelle umbringen, diesen Schuft!« »Und wie, glauben Sie, daß ich mich fühle?« platzte Pam heraus. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß es noch eine Frau in seinem Leben gibt!« »Hat er eine Zahnbürste und einen Rasierapparat bei Ihnen im Bad?« »Und einen Waschlappen, ja.« »Vermutlich haben Sie ihm ein teures Aftershave geschenkt.« Pam bestätigte es in bitterem Ton. So erregt und wütend, wie sie war, mußte sie mit jemandem reden, – wenn sie den Kummer teilte, würde das vielleicht den Schmerz lindern. Sie berichtete, wie sie Cliff kennengelernt und wie sie ihn zu sich nach Hause eingeladen hatte. »Und eines führte zum anderen«, mutmaßte Mrs. Gibbons. »Wenn ich daran denke, was ich alles getan habe, weil ich glaubte, ich sei die große Liebe seines Lebens…« Sie kippte den Rest ihres Weinbrands in einem Schluck hinunter. Pam nickte. »Es war auch teuer.« »Teuer?« »Die Abendessen mit drei Gängen und jedesmal das ausgiebige Frühstück.« »Ich spreche nicht vom Kochen«, sagte Mrs. Gibbons und schaute Pam durchdringend an. »Aha«, machte Pam und neigte den Kopf ein wenig, um auszudrücken, daß sie genau verstand, wovon Mrs. Gibbons sprach. »Dinge, die ich selbst in zehnjähriger Ehe mit einem sehr athletischen Mann nicht fertiggebracht hätte«, gestand ihr Mrs. Gibbons und wandte sich dann beschämt ab. »Aber Sie wissen das ja auch. Im Vergleich zu Cliff ist Casanova ein Waisenknabe. Mein Gott, ich fühle mich so erniedrigt!«
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»Möchten Sie noch einen Schluck Weinbrand, Mrs. Gibbons?« »Nennen Sie mich doch Tracey«, schlug Mrs. Gibbons vor und hielt Pam das Glas hin. »Wir sind nichts als Spielbälle für ihn, alle beide. Wie viele andere mag es noch geben – was meinen Sie?« »Wer weiß?« murmelte Pam, begriff die weitreichenden Möglichkeiten und sprach dazu ihre Gedanken laut aus. »Es gibt viele geschiedene Frauen wie Sie und mich, die in verhältnismäßigem Wohlstand leben und die für jede Aufmerksamkeit dankbar sind, die man ihnen schenkt. Ich glaube, wir müssen es klarsehen: Wir sind nun einmal Waren aus zweiter Hand.« Nach einer Schluchzpause schob Tracey Gibbons ihr leeres Glas in Richtung auf die Flasche und fragte: »Was werden wir jetzt mit ihm tun?« »Rauswerfen, zusammen mit der Zahnbürste, dem Rasierapparat und dem Waschlappen, nehme ich an«, antwortete Pam, ohne sich der Situation gewachsen zu fühlen. »Damit er sich andere törichte Frauen sucht, um sie zu seiner Beute zu machen?« sagte Tracey. »Das ist nicht die Art und Weise, wie man eine solche Bestie behandeln muß. Ich persönlich bin so wütend und enttäuscht, daß ich ihn töten würde, wenn man es mir nicht nachweisen könnte. Sie nicht?« Pam starrte sie an. »Meinen Sie das im Ernst?« »Vollkommen. Er hat meine Hoffnungen zerstört und dazu jeden Funken meiner Selbstachtung, der mir noch geblieben war. Was war ich denn für ihn? Seine Nummer in Worcester, sein Montagabendvergnügen.« »Und ich war es dienstags in Hereford«, fügte Pam in düsterem Ton hinzu, nachdem sie plötzlich auf grausame, aber sehr lebendige Weise vor Augen geführt bekam, wie sehr sie ausgenützt worden war. Sex stand montags auf dem Programm, Essen dienstags. Auf ihre Weise fühlte sie sich ebenso erniedrigt wie Tracey. Ein Arrangement, das vernünftig und nett zu sein schien, hatte sich als zynisch und egoistisch erwiesen. Das also war der Grund, weshalb er sie nie berührt hatte: weil er immer voll und ganz befriedigt nach der Nacht der zügellosen Leidenschaften in Worcester war. »Tracey, wenn Ihnen einen Methode einfällt, wie man ihn umbringen könnte…«
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begann sie mit jener Ruhe, die sich einstellt, wenn man wichtige Entscheidungen getroffen hat, »ich wüßte, wie man davonkommt, ohne daß man es einem nachweisen kann.« Tracey riß die Augen sehr weit auf. Pam machte schwarzen Kaffee und Sandwiches und erläuterte ihren Plan. Das heißt, es ist irreführend, ihre vage Idee als einen Plan zu bezeichnen, weil die beiden Frauen erst nach und nach ihr Vorhaben präzisierten, während sie sich miteinander unterhielten. Zunächst hatte Pam nicht viel von einem Mord gehalten. Aber als sie darüber sprach, fühlte sie mit wachsender Aufregung, daß es klappen könnte. Die Methode war einfach und sauber und lag im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die beiden Frauen besprachen die Sache bis zum Nachmittag. Um den Plan in die Tat umzusetzen, mußten sie sich für eine Methode entscheiden, bei der es kein Blut und keine Schweinerei gab; damit schieden Schußwaffen aus. Die Leiche durfte keine Anzeichen einer Gewaltanwendung aufweisen. Die beiden Frauen debattierten über die verschiedenen Methoden, einen Menschen ins Jenseits zu befördern. Ob ihre Absicht ernsthaft war oder nicht, Pam fand, daß allein schon das Reden darüber Balsam für die Schmerzen war, die Cliff ihr zugefügt hatte. Sie und Tracey stimmten überein, daß sie sinnvollerweise nichts unternehmen würden, bis sie Zeit gehabt hatten, mit dem Schock fertig zu werden, aber sie nahmen sich felsenfest vor, daß sie sich wiedersehen wollten. Am folgenden Montagabend erhielt Pam einen Anruf von Tracey. »Haben Sie noch einmal über das nachgedacht, worüber wir vorgestern diskutiert haben?« »Gelegentlich, ja«, antwortete Pam vorsichtig. »Also, ich habe ein paar Erkundigungen eingezogen«, berichtete ihr Tracey mit offensichtlicher Aufregung in der Stimme. »Ich möchte am Telefon nicht zu sehr in die Details gehen, aber ich weiß, wie man an das Zeug kommt, das wir dazu brauchen. Haben Sie mich verstanden?« »Ich glaube, ja.« »Es ist einfach, schnell und wirksam, und das beste daran ist, daß ich es in meiner Firma bekommen kann.«
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Pam erinnerte sich, daß Tracey ihr gesagt hatte, sie arbeite in einer Fabrik für Düngemittel. Vermutlich sprach sie von irgendeiner chemischen Substanz. Von Gift. »Fragt sich nur«, fuhr Tracey fort, »ob Sie bereit sind, Ihre Rolle zu spielen. Sie meinten, es wäre kein Problem.« »Das stimmt, aber…« »Also dann, am Samstag? Mich besucht er am kommenden Montag.« Die Erinnerung an Cliffs Montagsbesuche in Worcester traf Pam wie ein Stich in die Brust. »Gut, am Wochenende«, bestätigte sie mit Entschiedenheit. »Kommen Sie ungefähr zur gleichen Zeit wie letztes Mal. Ich verspreche Ihnen, Tracey, ich werde meine Rolle spielen.« Die Rolle, die Pam beim Mord an Cliff spielen sollte, bestand darin, daß sie im Ärztezentrum einen unausgefüllten Totenschein besorgen sollte. Es war ihr schon oft aufgefallen, wie sorglos Dr. HoltWagstaff mit seinem Papierkram umging. Er war der älteste der fünf Ärzte des Zentrums, und sein Schreibtisch war immer unaufgeräumt. Sie wartete fast eine Woche auf ihre Gelegenheit. Am Freitag vormittag mußte sie zu ihm in den Operationssaal, um ihn zu bitten, einen unleserlichen Namen auf einem Rezept zu verdeutlichen. Der Block mit den Todesscheinvordrucken lag auf dem Schreibtisch. Um Viertel nach zwölf, als er zur Visite ging und Pam zusammen mit einer ihrer Kolleginnen Dienst hatte, schlich sie sich in die chirurgische Abteilung. Niemand sah sie. Der Samstagvormittag erwies sich als ein Prüfstein für Pams Nerven. Die Zeit schleppte sich dahin, die Scherze über ihren heimlichen Geliebten waren schwerer zu ertragen als jemals zuvor, und sie mußte sich sehr beherrschen, um die anderen nicht wütend anzuschnauzen. Die ganze Zeit über fragte sie sich, ob Dr. Holt-Wagstaff nicht vielleicht doch etwas gemerkt hatte. Diese Sorge hätte sie sich freilich sparen können, denn der Arzt verabschiedete sich gegen Mittag und wünschte allen noch ein schönes Wochenende. Um halb eins sperrten die Mädchen ab und verließen ebenfalls das Ärztehaus.
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Als Pam nach Hause kam, wartete Tracey schon an ihrer Schwelle. »Ich bin mit dem Zug gekommen«, erklärte sie. »Ich wollte meinen Wagen nicht draußen stehenlassen. Es ist erstaunlich, was sich die Leute alles merken.« »Sehr vernünftig«, sagte Pam beifällig. »Jetzt erzählen Sie mir gleich von dem Zeug, das Sie besorgt haben. Glauben Sie, daß es wirkt?« Tracey legte eine Hand auf Pams Arm. »Meine Liebe, es ist absolut narrensicher. Wollen Sie es sehen?« Sie öffnete ihre Handtasche und nahm ein kleines, braunes Glasfläschchen heraus. »Reines Nikotin. Wir benützen es bei der Arbeit.« Pam hielt das Fläschchen in ihrer Handfläche. »Nikotin? Ist das denn ein Gift?« »Ein tödliches.« »Aber es ist nicht viel drin.« »Die tödliche Dosis wird in Milligramm bemessen, Pam. Ein paar Tropfen reichen spielend aus.« »Und wie bringen wir ihn dazu, daß er es nimmt?« »Darüber habe ich schon nachgedacht.« Tracey lächelte. »Es wird Ihnen gefallen, meine Liebe. In einem Glas von seinem eigenen Apfelmost. Nikotin wird an Licht und Luft gelb, und es schmeckt etwas bitter, doch das wird der süße Apfelmost überdecken.« »Und wie wirkt es?« »Normalerweise ist es ein sehr wirksames Anregungsmittel. Die lebenswichtigen Organe halten das auf die Dauer nicht aus. Er wird nach sehr kurzer Zeit an Herzstillstand sterben. Haben Sie inzwischen den Totenschein besorgt?« Pam stellte das Giftfläschchen auf den Küchentisch und öffnete eines ihrer Kochbücher, in dem das Formular steckte. »Ich sehe, Sie sind auch sehr vorsichtig«, sagte Tracey mit verschwörerischem Lächeln. Dann tauchten ihre Hände wieder in ihre Handtasche. »Ich habe ein Rezept von meinem Doktor mitgebracht, von dem wir die Unterschrift kopieren können, wie Sie es mir vorgeschlagen haben. Was müssen wir alles eintragen? Hier: Name des Verstorbenen. Wie nennen wir ihn?«
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»Egal, nur nicht Cliff«, entgegnete Pam. »Wie wär’s mit Clive? Clive Jones.« »Gut, also Clive Jones. Datum des Todes. Das fülle ich besser danach aus. Und was schreiben wir als Todesursache? Herzversagen?« »Nein, denn das sähe nach einem plötzlichen Tod aus«, gab Pam zu bedenken, die an die mögliche Obduktion in einem solchen Fall dachte. »Bronchopneumonie wäre besser.« »Mir auch recht«, sagte Tracey und trug es ein. »Wenn er tot ist, bringe ich das hier zum Standesamt in Worcester und sage ihnen, daß Clive Jones mein Bruder war, ist das recht so?« »Ja, es ist das einfachste. Die Standesbeamten wollen nur sein Geburtsdatum und ein paar Details hören, die Sie leicht erfinden können. Dann bekommen Sie eine amtliche Beglaubigung, die Sie dem Beerdigungsunternehmer zeigen müssen, und der übernimmt dann alles Weitere.« »Ich lasse ihn natürlich feuerbestatten. Kostet das viel?« »Keine Sorge«, sagte Pam. »Er kann es sich leisten.« »Sehr wahr!« stimmte Tracey zu. »Seine Brieftasche ist immer voll mit großen Scheinen.« »Er braucht ja privat kaum Geld auszugeben«, bemerkte Pam. »So, wie er lebt, bekommt er fast alles, was er sich wünscht, umsonst.« »Der Dreckskerl«, schimpfte Tracey schaudernd. »Sie sind also wirklich entschlossen dazu, ja?« Tracey stand auf und schaute Pam mit den graugrünen Augen nachdrücklich an. »Am Montagabend, wenn er zu mir kommt. Ich rufe Sie an, sobald es geschehen ist.« Pam hakte sich bei Tracey unter. »Als erstes verbrenne ich seinen Pyjama.« Tracey bemerkte: »Bei mir hat er nie Pyjamas getragen.« »Wirklich?« Pam zögerte, und ihre Neugier war erwacht. »Was hat er denn nun wirklich mit Ihnen gemacht? Wären Sie bereit, darüber zu reden?« »Ich glaube nicht, daß ich das kann«, antwortete Tracey mit gesenktem Blick. »Und wenn ich Ihnen noch einen Weinbrand einschenke? Schließlich stecken wir ja nun beide in dieser Sache drin.«
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»Na schön«, seufzte Tracey. Der Sonntag kam Pam vor wie der längste Tag ihres Lebens, aber sie brachte ihn schließlich doch hinter sich. Am Montag ging sie nicht zur Arbeit. Abends saß sie ab halb sieben nervös neben dem Telefon. Der Anruf kam ein paar Minuten nach sieben. Pam riß den Hörer von der Gabel. »Hallo, Darling.« Es war die Stimme von Cliff. »Cliff?« »Ja. Ungewöhnlich, daß ich dich am Montag anrufe, nicht wahr? Aber ich bin zufällig in Worcester, und da habe ich gedacht, ich könnte in einer halben Stunde bei dir in Hereford sein, wenn du heute abend nichts vorhast.« »Ist etwas passiert?« fragte Pam. »Nein, mein Darling. Nur eine kleine Änderung meiner Tour. Ich erwarte auch kein besonderes Abendessen, wenn ich so unangemeldet hereinschneie.« »Das ist gut, denn ich habe nichts im Haus«, antwortete ihm Pam wahrheitsgemäß. Er zögerte einen Augenblick, ehe er fragte: »Fühlst du dich wohl, Liebes? Deine Stimme klingt so fremd.« »Wirklich?« murmelte Pam tonlos. »Ja, weißt du, ich habe etwas Schreckliches erlebt. Meine Schwester ist am Samstag gestorben. Es war allerdings nicht ganz unerwartet, eine Bronchopneumonie. Aber ich mußte alles selbst tun. Sie wird am Mittwoch eingeäschert.« »Deine Schwester? Pam, Darling, mein herzlichstes Beileid. Ich wußte nicht einmal, daß du eine Schwester hattest.« »Sie hieß Olive. Olive Jones«, sagte Pam und konnte nicht umhin, über ihren fabelhaften Einfall zu lächeln. Nachdem sie Tracey mit einem Tropfen Nikotin in ihrem Weinbrand vergiftet hatte, brauchte sie dem Totenschein nur einen winzigen Strich hinzuzufügen. »Wir standen uns nicht allzu nah, und ich bin auch nicht in tiefer Trauer. Ja, klar, komm doch herüber, ich freue mich.« »Bist du sicher, daß du mich heute sehen willst?« »O ja, ich will«, antwortete Pam. »Ich will dich heute unbedingt sehen.«
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Als sie den Hörer aufgelegt hatte, machte sie sich nicht einmal die Mühe, im Kühlschrank nachzusehen, was es dort noch für ein Abendessen gab. Statt dessen ging sie hinauf in ihr Schlafzimmer und zog sich ein schwarzes Spitzennegligé an. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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Anthony Price Der Spieler Ein dummer Junge wirft am Berghang einen Stein nach dem Bruder und löst damit eine Lawine aus… so fängt es an; zwar nicht per Zufall, jedoch auch ohne Vorsatz. Ein Syndikat von Bankiers in Rom beklagt sich bitter, man habe sie bezüglich gewisser militärischer und ziviler Vereinbarungen in Britannien hintergangen. Die Beschwerde ist ganz inoffiziell – immerhin wurde kein geltendes Recht verletzt –, doch die Klagen zielen darauf ab, dem Mann Fußangeln anzulegen, der sie auf ihrem ureigensten Feld geschlagen hat. Also behaupten die Heuchler, ebenso wie sie ihre inzwischen verlorenen Investitionen in Britannien ursprünglich eher aus patriotischen denn aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus getätigt hätten, gelte nun gleichermaßen ihre größte Sorge dem Wohle des Staates, ein Ansinnen, das die erste und oberste Pflicht eines jeden römischen Bürgers darstellt. Der Stein ist geworfen, und die Lawine gerät ins Rollen. Zuerst ist sie lediglich als verhaltenes Beben im lockeren Geröll des Abhanges zu spüren. Und wenn auch die betreffenden Bankiers mit ihren Investitionen in Britannien schwere Verluste erlitten, so haben doch viele andere ebenfalls ihr gutes Geld verloren… und zwar als direkte Folge des blutigen Aufstandes in dieser unglückseligen Provinz. Zwei Kolonien, zwei römische Militärsiedlungen von Veteranen waren vollständig zerstört worden; Unmengen von Kriegsmaterial und private Güter waren während der Plünderungen von Londinium (London) im wahrsten Sinne des Wortes in Rauch aufgegangen; Tausende von Menschen – Bürger wie Freigelassene, ganz zu schweigen von wertvollen Sklaven – waren getötet worden… und damit waren in der Tat sowohl Tributpflichtige als auch deren Hab und Gut verlorengegangen; und viele andere Tributpflichtige unter der Aristokratie der Insel sind mittlerweile geächtete Rebellen, deren Besitz – oder das, was davon übriggeblieben ist – die legitime Beute
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der Militärs darstellt; diese jedoch könnte inzwischen nicht einmal Cäsar persönlich eintreiben. Eine Lawine, die in Bewegung geraten ist, ist nicht mehr aufzuhalten… und Untersuchungen des Fiskus sind erbarmungslos. Und letzteres nicht nur, weil sich die Steuerinspektoren keinen Deut um den wie auch immer gearteten Patriotismus jener Bankiers scheren, auch sind sie normalerweise schon aufgrund des geltenden Gleichheitsprinzips an der Identität der betreffenden Personen nicht interessiert, vorausgesetzt natürlich die Herren bezahlen artig ihre Steuern. Von Natur aus sind die Steuerinspektoren allerdings mißtrauische Leute, und Gnaeus Alfrenius Cotta ist ein neuer Name in ihren Akten. Gn. Alfrenius Cotta, der in Britannien ein Vermögen verdient hat, während alle anderen Geld verloren haben. Gn. Alfrenius Cotta, so heißt es, wußte, wie die Würfel fallen, noch bevor sie überhaupt geworfen wurden. I. In der Hauptstadt Der Tribun von Arcani begibt sich in jenes Büro zwischen Kapitol und Palatin, wo die entsprechenden Unterredungen stattzufinden pflegen, und hat den Befehl erhalten, sich unversehens in die Provinz Britannien aufzumachen. Im Büro halten sich drei hohe Steuerbeamte auf, der Unterpräfekt des kaiserlichen Kurierdienstes und ein Freigelassener aus dem Palast, in dem der Tribun sofort einen der obersten Hofbeamten Cäsars erkennt. Einer der Steuerbeamten ergreift als erster das Wort. Er gibt einen knappen Bericht über den letzten Aufstand in Britannien; einer Angelegenheit, von der der Tribun mehr als jeder Steuereintreiber versteht, und das nicht nur, weil diese Dinge zu seinem Beruf gehören, sondern weil er in Britannien gedient hat, was – wie er vermutet – wohl auch der Grund dafür ist, daß er jetzt auf die Insel und nicht nach Hiersolyma (Jerusalem) abkommandiert wurde, wo es natürlich wie überall ebenfalls Schwierigkeiten gibt. Der Beamte schließt: »Tribun, es läuft auf folgendes hinaus: Nach den Depeschen des verstorbenen Decianus Catus, des Obersteuerein-
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nehmers der Provinz, haben wir den ersten wahren Situationsbericht von dem ehrenwerten Statthalter Suetonius Paulinus erhalten.« Das ist gut, denkt der Tribun. Cäsars Gerechtigkeit hatte aus Decianus den ›verstorbenen‹, aus Suetonius den ›ehrenwerten‹ gemacht, und so sollte es auch sein. »Zu diesem Zeitpunkt war die Militärsiedlung von Camulodunum (Colchester) zerstört worden…« »Und eine gesamte Schlachtlinie der Neunten Legion«, wirft der zweite Beamte, der mit den Kaninchenzähnen, ein. »Drei reguläre Kohorten der Linie… einfach ausgelöscht!« Er sagt das, als handle es sich um einen Eintrag auf der falschen Seite der Bilanz. Was es für ihn wohl auch bedeutet, denkt der Tribun bitter. Das beste Fußvolk der Welt ist für einen Beamten eben sehr teuer. »Sie sind auf dem Marsch durch bewaldetes Gebiet in einen Hinterhalt geraten«, ergänzt der mit den vorstehenden Schneidezähnen. »Das war schon immer, auch unter Varus, der schwache Punkt unserer Legionen. Heute ist es noch genauso.« Aha, denkt der Tribun. Unser Kaninchengebiß ist also ein Sandkastenstratege. Und der einzige ›Wald‹, den der Bursche je gesehen haben dürfte, ist der Garten des Lucullus. Der Unterpräfekt, der in Germanien gedient hatte, hat wenigstens soviel Anstand, betreten dreinzublicken. Der Tribun, der in Britannien gedient hatte und der weiß, daß diese Hölle kaltes, vor Nässe triefendes, unwegsames Unterholz ohne Anfang und Ende ist, lächelt lediglich nichtssagend und bittet, den Bericht des Statthalters einsehen zu dürfen. Er ist kurz und bündig. Obwohl der Lagebericht von jenem ehrenwerten Statthalter persönlich stammt, der eine Woche später den größten Sieg dieser Epoche über ein britannisches Heer erringt, das seiner Streitmacht um das Einundzwanzigfache überlegen war, vermittelt er unweigerlich den Eindruck von römischer Niederlage, Tod und Verderben. Decianus Catus, Obersteuereinnehmer von Britannien, war aus der Provinz geflohen. Die Zwanzigste Legion hatte die Befehle verweigert, war dem Statthalter nicht zu Hilfe geeilt, und die Zweite Legion
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lag zu weit entfernt. Die Neunte Legion, oder das, was von ihr übrig war, war in ihren Stellungen eingeschlossen. Diese Situation zwang den Statthalter, Londinium und Verulamium (Saint Albans) zu verlassen, womit diese Städte schutzlos geworden waren, und sich zu seiner Armee im Nordwesten zurückzuziehen – eine müde Legion mit ihren Hilfstruppen. Sollten Königin Boudicca und ihre wilden Horden ihn auf offener Straße gefangennehmen oder sein Heer in einen Hinterhalt locken, bevor sie das selbstgewählte Schlachtfeld erreichen konnten, oder falls sie zehn Tage warteten, bis seine Vorräte verbraucht waren, dann ist die Macht Roms in Britannien am Ende. Diesen Tatsachen muß man ins Auge sehen, und es ist ratsam, daß Cäsar entsprechende Vorbereitungen traf. Zeigten sich die Götter Roms allerdings gnädig, dann hatte der Statthalter Roms in Britannien die Ehre, Cäsar einen großen Sieg zu Füßen zu legen. Der Statthalter schrieb also von Sieg und rechnete mit einer Niederlage – wie ein Spieler, der gegen die Venus antrat. Es war die Botschaft eines Toten, wobei die Gewißheit die Hoffnung zu überschatten schien. »Ist alles klar, Tribun?« erkundigt sich der erste Beamte. Im Raum ist es plötzlich merklich kühler geworden. In seiner Jugend hatte der Tribun gesehen, was die Barbaren mit ihren Gefangenen machten – eine Erfahrung, die den Steuerbeamten und dem Freigelassenen bestimmt nicht beschert worden war, während der Unterpräfekt möglicherweise Bescheid wußte. Und prompt taucht in der Erinnerung jene Szene auf der Lichtung über den steilen Kalkfelsen vor ihm auf, als die britannischen Frauen mit unglaublichem Geschick einen jungen Offizier der Bataver mit Pfählen durchbohrt hatten, der sein enger Freund gewesen war und noch immer gelebt hatte, als… Nein! Es ist einem Tribun der Arcani unwürdig, solche Erinnerungen wachzurufen. Der Tribun nickt. »Ausgezeichnet.« Der erste Beamte scheint das Nicken als Antwort zu akzeptieren. »Als die Gruppe von Bankiers vom Inhalt der Bot-
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schaft erfuhr, und das war übrigens schon eine Stunde nach deren Erhalt geschehen…« Dem Tribun beginnt es allmählich zu dämmern: einer von Cäsars höchsten Staatsbeamten gehörte zu diesen Spekulanten. »…haben die betreffenden Herren ihre Anleihen auf dem offenen Finanzmarkt angeboten. Ebenso wie ihre Rechte auf Tribut aus der Provinz Britannien.« »Zu Schleuderpreisen?« wirft der Tribun mit absichtlichem Spott ein. »Nicht sofort. Vergiß nicht, Tribun, Decianus Catus hat den Aufruhr in Britannien in seinen Berichten immer als bedeutungslos abgetan, während er stets die Anzahl der während des Feldzuges des Statthalters im Nordwesten gemachten Sklaven und die Goldminen in den eroberten Gebieten besonders betont hat. Die Bankiers haben daher zuerst den Eindruck erweckt, sie kämen mit neuen Beteiligungsmöglichkeiten und Geldanlageobjekten auf den Markt.« Der Tribun nickt erneut pflichtschuldig. Das Spekulantentum auf höchster Ebene unterscheidet sich kaum von einfachen Pferdewetten: Die höchsten Gewinne erzielt man in beiden Fällen mit Außenseitern. Trotzdem scheint dieses Geschäft andere Vorzeichen zu haben… der Unterpräfekt macht nämlich wirklich einen sehr betretenen Eindruck. »Hat jemand den Mund nicht halten können?« Selbst der erste Beamte wirkt mittlerweile vergrämt. Kaiserliche Kuriere, die es mit der Schweigepflicht nicht so genau nehmen, reden nur ein- oder höchstens zweimal, wobei das zweite Mal dann stattfindet, wenn sie zugeben, aus der Schule geplaudert zu haben. »Und dann sind die Preise auf dem Anleihenmarkt gefallen… und Cotta hat zu kaufen begonnen?« Die Sache fängt dem Tribun an. Spaß zu machen, und seine Sympathie für Gn. Alfrenius Cotta wächst… hatte dieser doch ganz offenbar die offiziell Begünstigten geschlagen. »Nicht unmittelbar… Der Markt war nervös… Decianus Catus hatte einen schlechten Ruf…«
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»Es hat überhaupt niemand gekauft.« Es ist diesmal der dritte Beamte, der das Wort ergreift, ein Mann mit einem Schafsgesicht, der bislang geschwiegen hatte. »Investitionen in Britannien sind nie sonderlich attraktiv gewesen. Die Sklaven sind schlecht, und der Abbau der Rohstoffe ist kostspielig, sofern er nicht von den Einheimischen kontrolliert wird. Außerdem haben sich die britannischen Aristokraten bei der Rückzahlung von Krediten als äußerst unzuverlässig erwiesen. Wir hätten die Finger von der Insel lassen sollen.« Der Mann mit den vorstehenden Schneidezähnen kommentiert das mit einem Nicken. »Also haben die Bankiers die Preise gesenkt. Und dann sind Einzelheiten aus diesem Bericht durchgesickert…« »Die Preise auf dem Finanzmarkt sanken ins Bodenlose«, bemerkt das Schafsgesicht, »und zwar am Nachmittag des zweiten Tages.« »Und dann hat Cotta gekauft?« »Nein«, widersprach das Schafsgesicht. »Dann hat er angefangen, sich Geld zu leihen.« »Zu leihen?« »Ja, Tribun. Du mußt wissen und verstehen, daß dieser Cotta im Bankenwesen keine große Nummer ist… war. Er ist im ExportImport tätig… Massilia(Marseilles)-Ostia. Dazu kommen noch ein paar Geschäftsverbindungen, die die großen Unternehmen ausgelassen haben… davon nur vier nach Britannien.« »Cottas Agent in Britannien ist sein Neffe… der Sohn seiner Schwester«, ergänzt das Kaninchengebiß eilfertig. »Der junge Mann bekleidet… bekleidete einen kleinen Posten beim Procurator Decianus Catus…« »Beim verstorbenen Decianus Catus«, verbessert das Schafsgesicht. »Aber der springende Punkt ist, daß Cotta überhaupt nicht flüssig war. Er mußte Geld leihen, um die Anleihen kaufen zu können.« »Mit ›leihen‹ wär’s nicht mal getan«, wirft das Kaninchengesicht ein. »Er hat seine sämtlichen Außenstände eingetrieben, seinen gesamten Besitz verpfändet. Und darüber hinaus hat er noch zweitrangige Hypotheken bestellt. Er hat seine Villa in Pänestina verkauft…« »Mit Verlust«, bemerkt der erste Beamte.
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»Mit Verlust. Und dann hat er auf den Besitz seiner Schwester eine Hypothek aufgenommen«, fährt das Kaninchengebiß fort. »Erst danach hat er sich auf dem freien Markt Geld geliehen.« Das Schafsgesicht macht eine heftige Handbewegung. »Er hat jede Vernunft und Vorsicht außer acht gelassen… er hat sogar Risikoladungen im Transitverkehr beliehen. Dabei steht er in Ostia in dem Ruf, gesunden Menschenverstand zu besitzen. Er gilt als gerissener Geschäftsmann, der jedoch immer auf dem Boden der Tatsachen bleibt…« »Das hat ihn in Ostia natürlich durchaus kreditwürdig gemacht«, sagt das Kaninchengebiß mit einem Nicken. »Sogar bei der Gruppe von Spekulanten hat er sich Geld geliehen.« Das Schafsgesicht lächelt. »Mit geringer Laufzeit und zu einem hohen Zinssatz… Die Herren haben ihn für einen dämlichen Mann vom Lande gehalten… und jetzt sind sie die Dummen.« »Gekauft hat er allerdings nicht in seinem Namen, sondern durch Mittelsmänner, andere Männer vom Lande.« »Und er hat alles genommen, dessen er habhaft werden konnte, einschließlich des Palastes, den wir für diesen Marionettenkönig im Süden bauen«, erklärt das Schafsgesicht. »Am achten Tag waren sämtliche Kaufverträge unterzeichnet, mit dem Siegel versehen und übergeben. Zusammen übrigens mit gut einem Dutzend Verträgen von anderen Interessengruppen.« Die herrschende Klasse hat also einen wahren Ausverkauf veranstaltet. »Mittlerweile gehört Cotta die halbe Provinz«, wirft das Kaninchengebiß ein. »Hätte er einen Sohn, müßte er ihn ›Britannicus‹ nennen.« »Aber er hat keinen Sohn. Nur diesen Neffen; den er nach Britannien verbannt hat, weil sie einander zutiefst mißtrauen«, murmelt der erste Beamte. »Tiberius Alfrenius… Britannicus…« Das alles läßt nur eine… und nur eine einzige Schlußfolgerung zu. Die Herren haben sich redlich Mühe gegeben, daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen. »Er… wußte es also«, bemerkt der Tribun.
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»Er wußte es«, bekräftigt das Schafsgesicht mit einem Nicken. »Und er wußte es, bevor wir es wußten.« Der Tribun kommt zu dem Schluß, daß das Schafsgesicht der Ranghöchste unter den drei Beamten ist. Es ärgert ihn, daß er das nicht schon früher erkannt hat. Er will weitere Fehler vermeiden. Der Dienstbrief, den er gesehen hat, ist sicher nicht die letzte Nachricht aus Britannien gewesen… es muß noch eine geben. Königin Boudicca tot – ihr Heer vernichtend geschlagen – die Provinz gerettet! Der ehrenwerte Statthalter Gaius Suetonius Paulinus müßte eine solche Nachricht ebenso schnell abgesandt haben wie die vorausgegangene. Möglicherweise dürfte sie ein bis zwei Tage länger gebraucht haben, da sie ja vom Schlachtfeld aus geschickt worden wäre, aber sie wäre auf derselben Route und mit dem Siegel des Statthalters natürlich vorrangig befördert worden… also per Boten, mit einer schnellen Galeere und wieder per Boten; auf jeder Etappe mit den besten Männern auf den schnellsten Pferden und auf kaiserlichen Straßen. Seit der vernichtenden Niederlage von Varus in Germanien fünfzig Jahre zuvor waren schlechte Nachrichten stets zuerst zu Cäsar gebracht und erst danach an den Senat übermittelt worden. Selbst gute Nachrichten, die sich meist in Windeseile verbreiten, sollten zuerst zum Palatin gebracht werden. Falls man sich daran nicht gehalten hat, müßte der Unterpräfekt eigentlich etwas betretener dreinschauen… Aber das ist nicht der Fall. Und Cäsars Freigelassener hat auch kein Wort mehr gesagt; vermutlich hat er den Auftrag, lediglich zuzuhören und anschließend Bericht zu erstatten. Also hält der Tribun lieber den Mund. Und ein oder zwei Augenblicke lang hat offenbar niemand den Wunsch, etwas zu sagen. »Das also ist der Kern unseres Problems«, erklärt schließlich das Schafsgesicht. Natürlich das Schafsgesicht, denkt der Tribun. »Er wußte es… obwohl er es nicht gewußt haben konnte.« Das Kaninchengesicht macht heimlich eine Geste zur Abwehr des Bösen.
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Dann ergreift der erste Beamte das Wort. »Es ist der Zeitfaktor, Tribun… Kein Mann bei Verstand hätte riskiert, was Alfrenius Cotta riskiert hat, es sei denn, er konnte seiner Sache sehr sicher sein. Immerhin hat er sich, seine Freiheit, sein Leben, seine gesamte Familie verpfändet.« »Und zwar dreifach«, konkretisiert das Kaninchengebiß. »Aber der Mann ist bei Verstand«, erklärt das Schafsgesicht. »Und doch hat er sich Geld beschafft, bevor Boudicca besiegt war. Und er hat zu kaufen begonnen, bevor die Siegesnachricht über den Kanal Gallien erreicht hat…« »Das läßt also nur zwei Erklärungen zu«, wirft das Kaninchengebiß ein. »Erstens… Hexerei der schlimmsten Art.« »Hmmm, eigentlich handelt es sich um das Wissen um ein zukünftiges Ereignis«, verbessert der erste Beamte. »Also um übernatürliche Kräfte.« »Davon hat es Fälle gegeben, durchaus anerkannte Fälle.« Das Schafsgesicht bringt das Kaninchengebiß mit einem scharfen Blick zum Schweigen. »Anerkannt vielleicht, aber erst im nachhinein.« Das Schafsgesicht betrachtet den Tribun ausdruckslos. »Aber es ist noch nie vorgekommen, daß die unsterblichen Götter einem kleinen Geschäftsmann geholfen haben, ein ungeheures Vermögen zu verdienen, während Cäsar persönlich dem Gott des Sieges opfert, um ein göttliches Zeichen zu erhalten.« Das Kaninchengesicht ist eingeschüchtert. Cäsars Freigelassener zeigt erste Anzeichen von Interesse. Das Schafsgesicht läßt den Tribun nicht aus den Augen. »Die Nachricht des ehrenwerten Statthalters deutete zweifellos auf eine verheerende Niederlage hin. Aber irgend jemand muß es besser gewußt haben – und mehr noch, er muß es gut genug gewußt haben, um Gnaeus Alfrenius Cotta zu überzeugen, der bestimmt kein Mann ist, der sich zum Narren halten läßt, Tribun.« Niemand widerspricht ihm. »Und ich… ich glaube zu wissen, wer dieser ›Jemand‹ war, Tribun… denn es gibt nur eine Person, die es gewußt haben konnte.«
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Der Tribun beginnt zu begreifen, welche Aufgabe man ihm zugedacht hatte. »Ich muß nur wissen, wie…« Der dümmlich unschuldige Ausdruck des Unterpräfekten bestätigt die Vermutung, daß sein Postdienst nicht ein zweites Mal versagt hat. »…und ich will es schnell wissen.« Die Stimme des Schafsgesichts hat einen Klang wie Marmor. »Du verläßt Rom noch heute, Tribun. Du überbringst dem ehrenwerten Statthalter die offiziellen Glückwünsche Cäsars…« II. In der Provinz Britannien bietet im Frühherbst ein anderes Bild als Germanien. In wenigen Wochen schon werden die Bäume und Sträucher kahl und sämtliche Abflüsse von Laub verstopft sein. Doch jetzt ist die Landschaft ein bizarres Gemälde aus flammendem Rot, Gelb und Gold, wo in Germanien endloses Dunkelgrün vorherrscht. Das sind die Farben, an die sich der Tribun erinnert… damals als die Welt noch jung und er ein untergeordneter Offizier bei den Hilfstruppen gewesen war. Jetzt ist es auf eine neue Art anders – mit den frischen Wunden der hastig ausgehobenen Gräben und dem frischen Holz der neuen Palisaden, die jede Station auf der Straße nach Londinium umgeben; die Stadt selbst präsentiert sich wie ein ausgebranntes Schreckgespenst; es stinkt nach feuchter Asche und Verwesung; er verbringt nur eine Nacht dort im Zelt und ist dankbar, seine Befehle strikt befolgen und Weiterreisen zu können. Nur, was auf dem Weg in das Kriegslager des ehrenwerten Statthalters folgt, ist noch schlimmer, selbst wenn der Anblick der überfüllten Gefangenenlager eine gewisse Befriedigung vermittelt, in welchen die Frauen und Kinder eingesperrt sind. Männliche erwachsene Gefangene gibt es in diesen vorgeschobenen Linien nicht; die gallische Reiterei bildet die Speerspitze der Nachhut, die reinen Tisch macht, und diese Gallier sind Kopfjäger aus Neigung und religiöser Überzeugung und verdienen auf diese Weise ihr Handgeld; also ist es eine gewisse Befriedigung, obwohl Tod und Verwüstung stets deprimierend sind, auch wenn sie eine
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gerechte Strafe für den Schuldigen darstellen – und schuldig sind diese Eingeborenen allemal. Noch am selben Abend speist er mit dem Statthalter persönlich, wie es ihm in seinem Rang als Prätorianer und seinem Status als Cäsars persönlichem Boten zukommt, der die Grüße des römischen Senats und des römischen Volkes überbringt. Was der Statthalter allerdings nicht weiß, ist, daß der Tribun auch eine politische Mission hat: Cäsar hat keine Verwendung für Statthalter, die Siege erringen, die die Phantasie des römischen Senats und des römischen Volkes beflügeln; solche Männer müssen auf ein gesundes Normalmaß zurückgestutzt werden – das hat das Schafsgesicht in kleiner Runde unter dem zustimmenden Nicken des Freigelassenen nur allzu deutlich zu verstehen gegeben. Das wiederum macht die Aufgabe in den Augen des Tribuns verachtenswert und schwierig; verachtenswert insofern, als er eigentlich voller Bewunderung für den brillanten Sieg ist, den der ehrenwerte Statthalter errungen hat; und schwierig… Nun schwierig, weil es nicht die Spur eines Beweises dafür gibt, daß der ehrenwerte Statthalter in Britannien gemeinsam mit Tiberius Alfrenius Martinus und Gnaeus Alfrenius Cotta einen gigantischen Betrug gegen Cäsar und Rom inszeniert hatte… Schwierig auch, weil es an den Daten nichts zu rütteln gibt… der ehrenwerte Statthalter war eben noch in Kämpfe verwickelt, als Gn. Alfrenius begonnen hat, sich Geld zu leihen… Schwierig allemal, weil, als der ehrenwerte Statthalter Londinium verließ, niemand, aber auch gar niemand wissen konnte, in welcher Richtung Königin Boudicca aufbrechen würde, wenn es in diesem Punkt überhaupt Mutmaßungen gegeben hat, dann war man eher übereinstimmend der Meinung gewesen, daß Königin Boudicca zuerst versuchen würde, den Statthalter mit seiner Legion und danach die Stadt zu vernichten, weshalb es durchaus vernünftig schien, daß zehntausend römische Siedler und Angehörige befreundeter Stämme dort blieben und auf ein positives Echo hofften. Statt dessen mußten sie in der Folge auf wenig angenehme Weise ihr Leben lassen, als Boudicca mit ihrem Heer die altersschwachen Befestigungen der Stadt stürmte, bevor sie dem Statthalter nachsetzte.
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Die Aufgabe ist so schwierig, daß der Tribun fast geneigt ist, dem Kaninchengebiß mit seiner Vermutung bezüglich der ›Hexerei‹ recht zu geben. Aber eben nur ›fast‹ und nicht ganz. Denn Tiberius Alfrenius Martinus, Neffe von Gnaeus Alfrenius Cotta, und ehemaliger Steuereintreiber unter dem verstorbenen, kaum betrauerten Procurator Decianus Catus, ist mittlerweile zum Sekretär für militärische Angelegenheiten des ehrenwerten Statthalters avanciert und genießt sein volles Vertrauen. Angesichts der Verhaltensweise des ehemaligen Procurators ist das eine höchst merkwürdige Beförderung, die eigentlich gar keinen Sinn ergibt und daher der genauen Prüfung bedarf. Der Tribun sitzt also mit dem ehrenwerten Statthalter zu Tisch, und die letzten Speisen werden abgetragen; die zwanglosen Tischgespräche, obwohl sie noch fortgeführt werden, sind eigentlich beendet. »War das nicht der junge Alfrenius Martinus, den ich bei deiner Lagebesprechung heute nachmittag Notizen nehmen gesehen habe, Prätor?« erkundigt sich der Tribun im Plauderton. »Du meinst meinen Sekretär?« Der ehrenwerte Statthalter ist vom Wein und dem günstigen Ausgang der Zählungen des Tages milde gestimmt. »Kennst du ihn?« »Ich kenne seinen Onkel flüchtig… einer der kommenden Männer in der Hauptstadt… Aber ich dachte bisher, der junge Martinus habe zu Catus’ Leuten gehört.« Die Miene des Statthalters verdüstert sich vorübergehend, doch dann lächelt er schnell; zweifellos hat er zuerst an seinen ehemaligen Obersteuereinnehmer gedacht, dessen himmelschreiende Dummheit den Aufstand der britischen Stämme erst bewirkt hatte, und dann wohl an das Schicksal sowohl des Procurators als auch der Aufständischen. »Ja, das hat er. Aber…« Der Tribun hört zu, während der Statthalter weinselig erzählt: Es geschah, gleich nachdem die Nachricht abgesandt worden war, daß sich die Zwanzigste Legion nicht in Marsch gesetzt hatte. Was mittlerweile ein ernstzunehmender Aufruhr unter den einheimischen Stämmen geworden war, hatte sich zu etwas noch Schlimmerem
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ausgewachsen… eine Katastrophe von den Ausmaßen der VarusNiederlage lag in der Luft. Der Statthalter war verzweifelt und am Ende, – die schlechte Nachricht hatte eine niederschmetternde Wirkung gehabt; und – was noch bedenklicher war – er wußte, daß er allmählich den Mut verlor. Außerdem wartete die letzte der Galeeren darauf, ablegen zu können, und er mußte eine Nachricht abschicken, von der er glaubte, sie sei die letzte seiner Laufbahn, hatte jedoch niemanden, der diese für ihn niederschreiben konnte. »Wer will mich sprechen?« hatte er in diesem Augenblick den Feldwebel seiner Leibgarde mürrisch gefragt. »Alfrenius Martinus… Tiberius Alfrenius Martinus, Herr.« Der Statthalter wollte niemanden sehen, und der Name sagte ihm nichts. Doch er wußte um die ansteckende Wirkung der Angst, und daß er sich nicht gehenlassen durfte. »Also gut… laß ihn herein.« Er wandte sich ab und wartete, bis sich der Leibgardist wieder entfernt hatte. Dieser Tiberius Soundso war jung, klein und ziemlich dick. Er trug eine schlechtsitzende Rüstung, und von ihm ging bereits der Geruch jener ansteckenden Krankheit aus, die Angst hieß. »Ja?« Martinus grüßte verlegen und unbeholfen und begann zu erklären, was, aber nicht wer er eigentlich war. Das entpuppte sich als Fehler, denn kaum fiel der Name des Procurators, unterbrach der Statthalter ihn unwirsch. »Du kommst zu spät. Dein Dienstherr hat sich bereits aus dem Staub gemacht… und ich denke nicht im Traum daran, dir noch einen Platz in der Postgaleere zu verschaffen. Raus hier!« Die Tatsache, daß dem Statthalter dieses Todesurteil keine besondere Genugtuung verschaffte, war ein deutliches Anzeichen für seine Resignation. Doch Martinus ließ sich nicht beirren. »Ich komme nicht zu spät. Ich habe beschlossen, zu bleiben, Prätor.« »So?« Er hörte kaum hin. »Das ist ziemlich dumm von dir.«
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Martinus senkte den Blick, als sei er verlegen. »Mein Vater war Soldat, und auch sein Vater, mein Großvater, war Soldat.« Er blinzelte. »Es… es wäre unehrenhaft gewesen.« Der Statthalter registrierte, daß ihn tatsächlich noch etwas überraschen konnte. Der Bursche schwitzte vor Angst, und er wirkte in seiner Rüstung äußerst lächerlich. Trotzdem hatte er sich entschlossen, freiwillig mit seinen Befehlshabern zu sterben… ein verdammter Steuereintreiber, und das war überhaupt nicht lächerlich. »Ich weiß, ich bin kein Soldat.« Martinus blinzelte erneut. »Aber in der Offiziersmesse wurde erzählt, daß… daß dein Schreiber davongelaufen ist. Ich dachte deshalb…« Er hielt abrupt inne und schien plötzlich all seinen Mut zusammenzunehmen. »Sie haben gesagt, wenn das Heer überhaupt eine Chance haben soll, dann müsse Boudicca zuerst Londinium angreifen. Aber sie glauben nicht, daß sie das tun wird… Allerdings meine ich, daß es eine Möglichkeit gibt, Herr…« Der Statthalter nickte sprachlos. Wie auch immer, es wäre eine Dummheit, eine große Dummheit. Doch er durfte nicht lachen, denn die ›Ehre‹ dieses Mannes war gleich einer Blüte auf dem Misthaufen… und Angst hatten sie beide. Also durfte er nicht lachen. »Herr, wenn Boudicca glaubt, daß der Procurator noch hier in der Stadt ist – es heißt, er habe sie unter ihrem eigenen Dach auspeitschen lassen –, wenn sie glaubt, daß er noch hier ist…« Den Statthalter beschlich schmerzliche Enttäuschung. Trotz allem… entgegen jedem Instinkt und klugen Menschenverstand hatte er auf ein Wunder gehofft. »Martinus«, begann er betont scharf. »Martinus, diese Stadt, dieses Gemeinwesen ist voller Spione. Der Bastard ist verduftet, und die Männer haben gesehen, wie er geflohen ist.« »Ja, Herr.« Martinus nickte. »Aber nicht alle, und diejenigen, die ihn nicht gesehen haben, werden berichten, daß er noch da ist. Wenn wir ihnen eine Grundlage für einen solchen Bericht geben, wenn wir ihnen Stoff für Gerüchte liefern… Wir könnten behaupten, die Galeere sei in der Flußmündung gesunken, und du hättest ihn zurückbringen lassen. Wir könnten vor seinem Haus Wachen aufstellen…
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nur ein Gerücht, Herr, das könnte genügen, um ihr diesen Entschluß abzutrotzen. Allein die Chance, ihn lebend zu erwischen…« Schlicht lächerlich. Boudicca wußte nur zu gut, daß Catus geflohen war, – und selbst wenn sie es nicht wußte, dann lag es vom strategischen Standpunkt aus klar auf der Hand, daß sie das römische Heer zuerst angreifen mußte. Und doch… »Allein die Chance, Herr.« Martinus entblößte die Zähne. »Wenn sie ihn in die Finger bekäme…« Der kleine Kerl hatte etwas Überzeugendes an sich. Plötzlich hatte der Statthalter den Eindruck, daß sich in die Angst auch Wut mischte. Das also war es: wenn Tiberius Soundso Martinus den Procurator in diesem Augenblick in die Finger bekäme, dann würde er ebenso langsam sterben wie bei Boudicca, der Königin der Ikener. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, persönliche Rachegefühle in seine Überlegungen einzubeziehen; daß sie sogar eine bessere Strategie überwiegen könnten, war ihm unverständlich. Doch wenn die Vorstellung eines gepfählten Decianus Catus einen Feigling von einem Steuereintreiber schon in Ekstase versetzen konnte, wieviel mehr mochte ein lanciertes Gerücht Boudiccas Urteilsvermögen trüben? Er klammerte sich an einen Strohhalm, und das war alles, was ihnen geblieben war. Er brachte den armen Martinus mit seinen Blicken völlig aus dem Gleichgewicht, doch er fühlte sich bereits besser. »Ich muß einen Dienstbrief abschicken. Kannst du ein Diktat aufnehmen?« »Herr?« Martinus straffte die Schultern. »Selbstverständlich, Herr.« »Danach… danach sehen wir mal, was sich mit deinen Gerüchten machen läßt.« Absurderweise fühlte sich der Statthalter wirklich besser. Der Gedanke, Martinus sein rostiges Schwert gegen einen großen, haarigen Britannen schwingen zu sehen, mochte lächerlich sein, aber er hatte siebentausend Männer Fußvolk auf der Straße vor der dem Niedergang geweihten Stadt – römisches Fußvolk, die wahre Macht Roms, Soldaten, die wußten, wie man das Schwert einsetz-
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te. Mittlerweile konnte Martinus die Feder schwingen, um Decianus Catus den Todesstreich zu versetzen, wie auch immer die Sache ausgehen mochte. Der kleine Mann versuchte etwas zu sagen. »Ja?« »Ich überlege gerade, Herr… Dürfte ich zusammen mit deiner Nachricht einen, nein, zwei private Briefe abschicken?« Er fuhr mit der Hand in den Brustpanzer seiner Rüstung. »Ich habe sie hier, Herr.« »Was für Briefe?« Der Statthalter merkte, daß er der Bitte praktisch schon stattgegeben hatte. »An meine Mutter, Herr. Ich bin ihr einziger Sohn. Und an meinen Onkel, Herr. Meine Mutter ist Witwe.« Der Statthalter las die beiden Briefe, und währenddessen fiel der letzte Rest von Müdigkeit und Resignation von ihm ab. Das hier – auch das war das ›wahre Rom‹ – in diesem armseligen kleinen Schreiberling wurde es ebenso sichtbar wie in seinem unschlagbaren Fußvolk. Und er las Worte, die er nie vergessen würde. »Gut, schicke sie mit.« Er gab die Briefe zurück. »Aber jetzt…« Zuerst wollten sie darangehen, dieses verdammte Weib Boudicca zu schlagen. Und genau das, sagt der ehrenwerte Statthalter, hatten sie dann auch getan. III. Das Hauptquartier an vorderster Front Zwei Tage später folgt der Tribun noch immer dem ehrenwerten Statthalter in die neu befriedeten, völlig verwüsteten Stammesgebiete der Ikener. Das verdammte Weib war nur noch eine böse Erinnerung. Es regnet. Auch das war etwas, an das sich der Tribun aus dem Jahr 96 v. Chr. noch gut erinnert – der Regen. Jenseits der Knüppeldämme des Lagers ist der Boden tief und morastig. Das Zelt von Tiberius Alfrenius Martinus allerdings mit seinem Kohlebecken und dem Bretterfußboden ist gemütlich und warm, wie es der Behausung eines Obersekretärs des Statthalters zukommt, den der Prätor für die Dauer des Kriegszustandes zum stellvertretenden Befehlshaber ernannt hatte.
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Der Obersekretär und stellvertretende Befehlshaber sitzt über dem morgigen Tagesbefehl, als der Tribun das Zelt betritt. Der Obersekretär und stellvertretende Befehlshaber trägt noch Rüstung, was dem im Lager kursierenden Witz Nachdruck verleiht, Martinus sei so stolz auf seine Rüstung, daß er sogar darin schlafe. Sie sitzt mittlerweile auch besser, bemerkt der Tribun insgeheim. Martinus blickt zu seinem Besucher auf, und es ist ihm anzusehen, daß ihm die Störung nicht angenehm ist. Von dem verängstigten Steuerbeamten von einst trennt ihn eine Welt – ein großer Sieg – die Gunst des Statthalters und ein privates Vermögen. Die Schocktherapie scheint daher angebracht. Der Tribun wirft den kaiserlichen Haftbefehl mit dem Siegel auf den Tisch, das Leben und Tod bedeutet. Zu dem Sklaven an Martini’ Seite sagt er: »Geh raus!« Der Sklave und vielleicht auch Martinus haben das Siegel nie zuvor gesehen. Letzterer jedoch muß davon gehört haben. »Laß uns allein!« befiehlt er dem Sklaven. Dann: »Kann ich irgendwie helfen, Tribun?« »Du kannst. Und du wirst.« Der Tribun sieht sich nach einer Sitzgelegenheit um. Er entdeckt einen Hocker mit einem Stapel Schriftstücke: der Bericht des Quartiermeisters, Musterungsrollen, die Liste der Gefallenen, der Bericht über die letzte Zählung. Er stößt sie zu Boden und setzt sich Martinus gegenüber. »Ich weiß zwar nicht, wie du es angestellt hast, Tiberius Alfrenius Martinus, aber ich weiß, daß du es irgendwie fertiggebracht hast.« Martinus schwieg. »Und ich weiß, daß du ein Lügner bist.« Von Martinus kam noch immer nichts. »Und zwar ein dreister Lügner. Zum Beispiel bist du nicht der einzige Sohn. Und dein Vater war Buchhalter. Und dessen Vater war ebenfalls Buchhalter. Du hast ein langes Lügenkonto, Tiberius Alfrenius Martinus.« Martinus tut dies mit einem Lächeln ab. Es scheint ihm nicht mehr von Bedeutung zu sein. »Na gut.« Der Hocker ist unbequem. »Dann erzähle ich dir eine Geschichte, Tiberius Alfrenius Martinus…
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Es war einmal ein Steuerbeamter, ein kleiner Steuerbeamter, den man an die Südküste Britanniens schickte, um die Anteile des Procurators an den Bestechungsgeldern der Bauunternehmen abzukassieren. Doch als er nach Londinium zurückkehrte – nach beschwerlicher Reise übrigens –, stellte er fest, daß sich die einheimischen Stämme erhoben hatten…« Martinus rutscht plötzlich auf seinem Stuhl hin und her, als wolle er etwas sagen. »Nein! Verdirb mir meine Geschichte nicht!« wehrt der Tribun ab. »Dieser sehr junge Steuerbeamte stellt außerdem fest, daß sein Dienstherr, der Procurator, bereits die Flucht ergriffen hat. Und es liegt nur noch eine Galeere im Hafen, als er versucht, sich mit Bestechung einen Platz auf dem Schiff zu verschaffen, – mit dem Gold von der Südküste, wird er mit dem Schwert daran gehindert. Denn die letzte Galeere ist der letzten Nachricht des Statthalters vorbehalten. Und niemand, am wenigsten ein verdammter Steuereintreiber, wird an Bord gelassen. Also wendet sich der junge Mann, unser kleines Rädchen im zerbrochenen Räderwerk des Decianus Catus, also er wendet sich in seiner Verzweiflung an das Hauptquartier des Statthalters, um dort zu versuchen, sich mit Gold Sicherheit zu erkaufen. Doch er scheitert. Denn Gold hat seinen Wert in Londinium verloren. Damit kann man sich keine Koje in der letzten Galeere erkaufen. Und sämtliche Straßen sind mittlerweile gesperrt. Der Statthalter selbst bereitet sich darauf vor, die Stadt zu verlassen und in die fast sichere Niederlage zu marschieren. Vorausgesetzt, daß Boudicca einen klaren Kopf behält und das Richtige tut, wird die Stadt fallen. Als er sein Gold den Offizieren anbietet, lachen sie ihn nur aus und bieten einen Brustschild dagegen, der ihm zwei Nummern zu groß ist, und ein häßliches Schwert… Nein, leugne nicht, Tiberius Alfrenius Martinus. Ich habe mit ihnen gesprochen und weiß, was geschehen ist!« Der Stuhl ist eine Marter. »Aber dann wird die Sache interessant, denn jetzt kommen wir zu den Dingen, von denen ich nichts weiß… du bist zum Statthalter gegangen und hast ihm eine Möglichkeit unterbreitet, wie er Boudicca nach Londinium locken kann, während er das Schlachtfeld für den entscheidenden Kampf auswählte… Sehr gut! Und du hast mit sei-
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nem Boten zwei Briefe verschickt, zwei römische Briefe, die das Herz eines römischen Feldherrn am Vorabend der Schlacht tief berührten: Mutter – ich schreibe Dir am Vorabend der Schlacht, in der ich ehrenvoll zu kämpfen gedenke, an der Seite meines Feldherrn und Statthalters, dem ehrenwerten Gaius Suetonius Paulinus. Du sollst wissen, daß ich Vaters Andenken nicht beschmutzen werde und daß, sollte ich sterben, mein letzter Gedanke Dir und Rom gilt, der besten aller Mütter. Dein ergebener Dich liebender Sohn Tiberius. Onkel – ich schreibe Dir am Vorabend der Schlacht. Die Zeichen stehen gegen uns. Sollte ich fallen, bitte ich Dich im Andenken an meinen ruhmreichen Vater, Deinen Bruder, der sein Leben ebenfalls für Rom gegeben hat, meine Mutter zu trösten und zu unterstützen. Dein ergebener Neffe Tiberius. Das waren Briefe, die sich jenem Feldherrn unvergeßlich eingeprägt haben«, fährt der Tribun fort, der Martinus ohne ein Zeichen der Bewunderung mustert. »Aber was sich mir eingeprägt hat, ist die Tatsache… daß du ein gerissener und dreister Lügner bist, Tiberius Alfrenius Martinus. Und ich will wissen, was wirklich in jenen Briefen stand, und zwar nicht in denen, die du dem Statthalter gezeigt hast.« Der Tribun beugt sich vor und tippt mit dem Finger auf das kaiserliche Siegel, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Doch mittlerweile spricht Starrsinn aus Martini’ Miene: Mit Hilfe seines militärischen Rangs, der Gunst des Statthalters und seines neu erworbenen Vermögens ist er entschlossen, mit seinem Schicksal zu spielen. »Verzeih, Tribun… Ich weiß nichts von irgendwelchen Briefen. Ein paar kleine Ungenauigkeiten, ja – Versprecher, die mir in der Erregung des Augenblicks unterliefen, mehr nicht. Doch der Statthal-
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ter wird mir verzeihen, Tribun. Und ich bin mir keines Verbrechens bewußt.« Sein Blick flatterte für den Bruchteil einer Sekunde zum kaiserlichen Siegel. »Keines wie auch immer gearteten Verbrechens, Tribun.« Keines Verbrechens. Und er schätzt den Statthalter richtig ein: Der ehrenwerte Gaius Suetonius Paulinus würde nie zugeben, sich vor diesem Mann zum Narren gemacht zu haben. Das würde den großen von ihm errungen Sieg in aller Augen herabsetzen. Martinus weiß das. Er streicht über seinen Brustpanzer, als wolle er damit seine Gewißheit bekräftigen. Nichts kann bewiesen werden, und die Vergangenheit wird begraben werden. Er ist schuldig, aber in Sicherheit. »Also Tribun?« Die feiste kleine Hand streicht unaufhörlich weiter über den Bronzepanzer, den kein Mann von Bildung und vornehmer Herkunft, zumindest kein Offizier zu dieser Stunde tragen würde. Plötzlich weiß der Tribun, welchen Weg er einschlagen muß, in welche Richtung diese Hand gezeigt hat. Unter der Bronzerüstung muß ein ängstliches Herz schlagen, und jeden lehrt jenes Siegel das Fürchten – auch Martinus. Unter dem Bronzepanzer verbirgt sich ein Mann, der die Gesetze und seine Rechte als Bürger Roms kennt. Aber die militärischen Gesetze dürften ihm nicht so geläufig sein. Unter dem Bronzepanzer versteckt sich ein Snob, ein Parvenü, ein Emporkömmling… Also: Zuckerbrot und Peitsche. »Keines Verbrechens?« Der Tribun gibt sich selbstsicher. »Aufgrund gewisser Tatsachen glauben wir, daß du direkt Verbindung zu diesem Weib Boudicca aufgenommen hast, ohne Wissen und Erlaubnis deines Befehlshabers, und dabei hast du Einzelheiten ihrer Pläne in Erfahrung gebracht und dementsprechend gehandelt.« »Nein.« »Und nach dem Kriegsrecht kann ich dich aufgrund deines militärischen Ranges eigenmächtig auspeitschen und kreuzigen lassen, Tiberius Alfrenius Martinus. Und damit wären die Schwierigkeiten für den Statthalter auf elegante Weise aus dem Weg geräumt.« »Nein.«
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Die Peitsche war kräftig auf jenem weißen Hinterteil gelandet. Der Mann kennt sich im Kriegsrecht nicht aus, doch er weiß, was Geißel und Kreuz aus einem Mann machen können. »Aber Cäsar ist barmherzig.« Und jetzt zum Zuckerbrot: Der Tribun geht es besonders vorsichtig an. »Und er kann dankbar sein…« Martinus’ Abwehrhaltung beginnt zu bröckeln, – zur Angst hatte sich nach diesen Breitseiten Überraschung gesellt. »Ja, dankbar. Denn du bist es gewesen, der dem Statthalter den Rücken gestärkt hat, Tiberius Alfrenius Martinus. Du bist schließlich derjenige gewesen, der mit seinem Verrat Britannien für uns gerettet hat.« Jetzt ist nur noch ein Schlag nötig. Der Tribun führt ihn aus. »Dein Onkel ist ein gewöhnlicher Mensch… mittlerweile zwar reich, aber noch immer gewöhnlich. Der Einfluß deiner Familie ist so groß, daß sie in der Hauptstadt angemessen vertreten sein muß. Und zwar im Ritterstand… und zu gegebener Zeit auch im Senat.« Wie durch ein Wunder verschluckt sich der Tribun an diesen Worten nicht einmal. »Bevor deine Bürgen für die Erhebung in den Ritterstand benannt werden, müssen wir lediglich wissen, wie… wie du wissen konntest, was Boudicca wirklich vorhatte.« Die Abwehr ist erschüttert. Träume vom Adelsstand sind des Guten zuviel. »Aber… das heißt… Ich wußte es eigentlich gar nicht…« Das ist der Augenblick, den Atem anzuhalten und zu lächeln. »Du hast recht… Ich kam zurück, und er war verschwunden.« Die Wut, die schon der Statthalter bemerkt hatte, flackert in seinen Augen auf. »Er war verschwunden, und sie haben mich ausgelacht. Ich hätte ihn erwürgen können.« Auch in diesem Punkt hatte der Statthalter also recht gehabt. »Und ich hätte meinen Onkel mit ihm umbringen können, weil er mich in dieses dreckige Land geschickt hat.« Offenbar hatte sich der Statthalter jedoch auch getäuscht. »Dann… dann hat einer der Offiziere behauptet, ich müsse mir keine Sorgen machen, denn in ein paar Tagen seien wir alle entweder Helden oder Tote, wenn wir Glück hätten. Er sagte, der Statthalter bräuchte einen Sekretär, und wenn er mich nehmen würde, dann sicher sofort. Es
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ginge um Sieg oder Niederlage. ›Aut Caesar, aut nihil‹ – entweder oder. Also habe ich die Briefe geschrieben, und zwar die echten.« Mutter – tue genau, was ich Dir sage, nicht mehr und nicht weniger. Bringe den Brief in zwei Tagen zum Onkel, Alfrenius Cotta, und nimm all die Ersparnisse mit, die ich in Deiner Obhut zurückgelassen habe. Sag ihm, du habest Brief und Anweisung von einem Fremden erhalten. Verschweige ihm die Verzögerung. Laß mich nicht im Stich. Vernichte dieses Schreiben umgehend. Dein Dich liebender Sohn Tiberius. Onkel – in Eile ein paar Zeilen. Das Heer hat einen großen Sieg errungen. Londinium und die beiden Siedlungen der Veteranen sind zerstört, aber die übrige Provinz ist im großen und ganzen unversehrt geblieben. Ich bin der Sekretär des Statthalters und werde seine Siegesmeldung sechs Tage zurückhalten. Ich schicke diesen Brief mit einem vertrauenswürdigen Boten voraus. Meine Mutter überbringt ihn Dir zusammen mit meinen Ersparnissen, die Du nach Deinem Gutdünken in Britannien investieren sollst. Handle schnell, dann werden wir reich. Dein ergebener Neffe Tiberius. Der Tribun sieht Martinus ungläubig an. »Du hast es gar nicht gewußt?« Martinus spreizt die Finger. »Niemand konnte es wissen, Tribun. Aber alle, auch alle Offiziere, haben gesagt, daß diese Wilden nur zu einer großen Schlacht fähig sind. Wir konnten nicht entkommen, also mußten sie uns vollständig auslöschen, wie damals Varus und seine Leute. Anderenfalls würden wir sie vernichten.« »Aber du hast gar nicht gewußt…« »Ich wußte, daß es alles oder nichts sein würde. Und falls ich mich irrte, dann wäre ich nicht mehr auf dieser Welt gewesen, um es zugeben zu müssen. Doch wenn ich recht hatte, dann würde ich reich, Tribun.«
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»Deshalb also hast du ihm dein Geld anvertraut?« Martinus lächelt. »Ich mußte ihn überzeugen, und wenn meinen Onkel etwas überzeugen kann, dann ist das Geld. Ich habe seine Überzeugung mit meinen Ersparnissen gekauft, Tribun. Man könnte das auch als eine Investition bezeichnen.« »Aber du hättest ihn ebensogut ruinieren können?« »Ja. Und auch das war Teil meines Einsatzes.« Eine andere, unerfreulichere, Erinnerung läßt sein Lächeln gefrieren. »Er wäre ruiniert, und ich wäre tot gewesen.« Martinus hält einen Augenblick inne und horcht auf das unaufhörliche Prasseln des Regens auf dem Zeltdach. »Tot. Aber ich hätte mich an ihm dafür gerächt, daß er mich zum Tod auf dieser entsetzlichen Insel verurteilt hatte, Tribun.« Das Rauschen des Regens mischt sich mit dem entfernten Lärmen der gallischen Reiter, die betrunken die Eroberungen des Tages feiern. Martinus’ Miene hellt sich auf. »Aber ich habe recht behalten. Und jetzt sind wir beide reich… Und recht zu haben und reich zu sein ist in Rom doch noch kein Verbrechen… oder, Tribun?« Aus dem Englischen übertragen von Christine Frauendorf-Mössel
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Ruth Rendell Die Ironie des Hasses Ich habe Brenda Goring ermordet aus einem Motiv, das ich für höchst ungewöhnlich halte. Sie hat sich zwischen mich und meine Frau gedrängt. Dabei will ich nicht sagen, daß in ihrer Beziehung zueinander etwas Unnormales gewesen wäre. Sie waren nur gute Freundinnen, wiewohl ›nur‹ vielleicht nicht ganz zutrifft, denn immerhin wurde durch diese Beziehung ein ehedem geliebter Gatte mehr und mehr ausgeschlossen. Ich habe sie ermordet, um meine Frau wieder enger an mich zu binden, doch statt dessen habe ich uns erst recht und für immer voneinander getrennt und erwarte nun mit Furcht, mit ohnmächtiger Panik und mit einer Hilflosigkeit, die ich in dieser schrecklichen Weise noch nie kennengelernt habe, den bevorstehenden Prozeß. Wenn ich die Fakten aufschreibe – und die Ironie, die entsetzliche Ironie, welche sich wie ein bösartig glitzernder Faden durch dieses Gewirr von Fakten zieht –, komme ich vielleicht dazu, die Dinge klarer zu sehen. Vielleicht finde ich einen Weg, um jenen unerbittlichen Mächten genau darzulegen, wie es wirklich war; vielleicht kann ich auf diese Weise erreichen, daß mir wenigstens der Verteidiger glaubt und nicht die Augenbrauen nach oben zieht oder den Kopf schüttelt; zumindest aber könnte ich, wenn Laura und ich schon voneinander getrennt sein müssen, auf diese Weise dafür sorgen, daß sie in dem Augenblick, in dem ich vom Gerichtssaal zu meiner langen Haftstrafe abgeführt werde, begreift, wie die Wahrheit ans Tageslicht gekommen ist und der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. In meiner Einsamkeit, in der ich nichts zu tun habe, als auf den Prozeß zu warten, könnte ich ganze Bände schreiben über den Charakter, das Aussehen und die Neurosen von Brenda Goring. Ich könnte den größten Roman des Hasses aller Zeiten schreiben. Hier, in diesem Zusammenhang hingegen, wäre manches irrelevant, und daher werde ich mich so kurz fassen, wie es mir möglich ist. Eine Figur bei Shakespeare sagt über eine Frau: ›O hätte ich sie nie gesehen!‹ Und die Antwort lautet: ›Dann hättest du ein wundervolles Werk unbesehen gelassen‹. Ja, wirklich, hätte ich Brenda doch nie
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gesehen! Was das wundervolle Werk betrifft, nun, da würde ich wohl auch zustimmen. Einmal ist sie sogar verheiratet gewesen. Um sie für immer loszuwerden, hat ihr der Mann zweifellos eine sehr hohe Apanage bezahlt und zudem noch eine beträchtliche Abfindung, mit der sie das hübsche kleine Haus ein Stück weiter oben in unserer Straße gekauft hat. Der Eindruck, den sie in unserem Dorf machte, war so gewaltig, wie man es bei einem solchen Neuankömmling nur erwarten konnte. Sie war einfach fabelhaft, eine erstaunliche, erfrischende Abwechslung für all die Pensionistenehepaare und zurückhaltenden Wochenendbesucher – mit ihren extravaganten Kleidern, ihrem langen, blonden Haar, ihrem Sportwagen und ihrer Jet-SetVergangenheit. Zumindest war sie für eine Weile interessant – bis sie sich als etwas erwies, womit die Leute hier nicht fertig werden konnten. Schon von Anfang an hängte sie sich an Laura. Verständlich in gewisser Weise, da meine Frau das einzige weibliche Wesen in der Umgebung war, das etwa so alt war wie sie, das ständig dort lebte und das keinen Beruf hatte. Sie hätte sich – das jedenfalls dachte ich zunächst – nicht auf Laura versteift, wenn die Auswahl größer gewesen wäre. In meinen Augen ist meine Frau wunderbar, sie ist alles, was ich mir jemals wünschen konnte, die einzige Frau, die mir in meinem Leben wirklich etwas bedeutet hat, aber ich weiß, daß sie anderen eher scheu und farblos erscheint, eine einfache, stille kleine Hausfrau. Was hatte sie dann diesem extrovertierten, diesem juwelenbesetzten, glitzernden Schmetterling zu bieten? Einen Teil der Antwort gab sie mir selbst. »Ist dir nicht aufgefallen, wie ihr die Leute aus dem Weg gehen, Darling? Die Goldsmiths haben sie letzte Woche nicht zu ihrer Party eingeladen, und Mary Williamson weigert sich, sie in ihr Festkomitee aufzunehmen.« »Ich kann nicht behaupten, daß mich das überrascht«, antwortete ich. »So, wie sie redet – und die Dinge, über die sie spricht.« »Du meinst, ihre Liebesaffären und das alles? Aber, Darling, sie hat in einer Gesellschaft gelebt, wo das alles ganz normal ist. Sie hält es für völlig natürlich, so zu sprechen, und ich finde es offen und ehrlich.«
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»Sie lebt aber jetzt nicht mehr in dieser Art von Gesellschaft«, erwiderte ich, »und sie wird sich anpassen müssen, wenn sie will, daß man sie akzeptiert. Hast du die Miene von lsabel Goldsmith beobachtet, als Brenda die Geschichte erzählte, wie sie ein Wochenende weggefahren ist mit einem Kerl, den sie eben erst in einer Bar aufgerissen hatte? Ich wollte sie zurückhalten, wollte verhindern, daß sie über alle Männer berichtet, die ihr Mann bei der Scheidungsverhandlung angeführt hat, aber es ist mir nicht gelungen. Außerdem sagt sie immer: ›Als ich mit Soundso lebte‹ und ›Das war, als ich die Affäre mit diesem Dingsda hatte‹. Du weißt, ältere Leute finden das höchst unschicklich.« »Aber wir sind ja doch keine älteren Leute«, widersprach Laura, »und ich hoffe, wir bringen etwas mehr Toleranz auf. Du magst sie nicht, oder täusche ich mich?« Ich bin immer sehr gut mit meiner Frau umgegangen. Als Tochter kluger, dominierender Eltern, neben denen sie klein und unbedeutend erscheinen mußte, wuchs sie mit einem unauslöschlichen Minderwertigkeitsgefühl auf. Sie ist das geborene Opfer, jemand, der die Gegner zum Einschüchtern und Drangsalieren herausfordert, und deshalb habe ich versucht, sie niemals einzuschüchtern oder zu drangsalieren, ihr nach Möglichkeit nicht einmal zu widersprechen. Also sagte ich in dieser Situation nur, daß Brenda in Ordnung sei und daß ich mich darüber freue, wenn sie eine Freundin und Begleiterin in ihrem eigenen Alter gefunden habe, vor allem, da ich sie ja tagsüber allein lassen müsse. Und wenn Brenda nur tagsüber ihre Freundin und Begleiterin gewesen wäre, hätte ich gar nichts dagegen einzuwenden gehabt, glaube ich. Ich hätte mich daran gewöhnt, daß Laura tagaus, tagein Geschichten aus einer Welt hören mußte, die sie nie kennengelernt hat, Geschichten, bei denen verbotene Liebe und Untreue glorifiziert wurden, und ich hätte mich dennoch sicher gefühlt, in dem Bewußtsein, daß Laura dadurch nicht verdorben werden konnte. Aber es blieb mir nicht erspart, Brenda selbst ertragen zu müssen, wenn ich abends nach meiner langen Heimfahrt vom Arbeitsplatz nach Hause kam. Da streckte und räkelte sie sich dann auf unserem Sofa, in ihren Seidenanzügen oder den langen Röcken mit hohen Stiefeln, ketten-
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rauchend. Oder sie kam mit einer Flasche Wein, gerade in dem Augenblick, in dem wir uns zum Abendessen hingesetzt hatten, und verwickelte uns in eine ihrer Lieblingsdebatten wie ›Ist die Ehe eine zum Aussterben bestimmte Institution?‹ oder ›Braucht man eigentlich noch Eltern?‹ Und um einige ihrer trügerischen Behauptungen zu illustrieren, berichtete sie dann über entsprechende persönliche Erfahrungen von der Art, wie sie unsere älteren Freunde so entrüstet hatten. Natürlich mußte ich nicht bei ihnen bleiben; unser Haus ist groß, und ich hätte ins Speisezimmer gehen können oder in den Raum, den Laura mein Studio nennt. Aber ich wollte ja nichts weiter als das, was ich früher einmal gehabt hatte, nämlich abends mit meiner Frau allein zu sein. Und es war noch schlimmer, wenn wir von Brenda zum Kaffee oder zu Drinks eingeladen wurden, in ihr luxuriös eingerichtetes und überladenes Cottage, in dem sie uns ihre neuesten Werke zeigte – sie stickte und webte und töpferte und patzte mit Wasserfarben herum – oder die Geschenke, die sie zu bestimmten Gelegenheiten von einem Mark und einem Larry und einem Paul und all den Dutzenden anderer Männer in ihrem Leben bekommen hatte. Wenn ich mich weigerte, zu ihr zu gehen, wurde Laura nervös und deprimiert und war rührend erleichtert, wenn ich nach ein paar herrlichen Abenden ohne Brenda ihr zuliebe vorschlug, doch wieder einmal bei ihr vorbeizuschauen. Das einzige, was mich aufrechterhielt, war die Gewißheit, daß eine Frau, die beim anderen Geschlecht so beliebt war, früher oder später einen Freund finden würde und von da an weniger oder gar keine Zeit mehr für meine Frau aufbringen konnte. Ich wunderte mich, daß es noch nicht dazu gekommen war, und äußerte etwas in dieser Weise Laura gegenüber. »Sie sieht ihre Freunde, wenn sie nach London fährt«, behauptete meine Frau. »Aber bisher hat sie noch keiner hier besucht«, erwiderte ich, und als uns Brenda an diesem Abend einen sehr farbigen und ausführlichen Bericht über einen Maler aus ihrer Bekanntschaft gab, der Laszlo hieß, überaus attraktiv war und sie anbetete, erklärte ich, daß ich
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ihn gern kennenlernen möchte, und fragte, ob sie ihn nicht einmal übers Wochenende einladen könne. Brenda ließ ihre langen, grünlackierten Fingernägel aufblitzen und schaute Laura mit einem verschwörerischen Blick ›von Frau zu Frau‹ an. »Und was würden alle die verkalkten Spießerchen dazu sagen, frage ich euch?« »Ich bin sicher, daß Sie über das Gerede erhaben sind, Brenda«, antwortete ich ihr. »Natürlich. Sollen Sie doch Gesprächsstoff haben. Ich weiß ganz genau, daß es nichts als saure Trauben sind. Ich könnte Laszlo sofort einladen, aber er kann nicht. Er haßt das Landleben und würde sich zu Tode langweilen.« Offenbar haßten auch Richard und Jonathan und Stephen das Landleben; sie hätten sich vermutlich auch zu Tode gelangweilt oder fanden nicht die Zeit zu einem Besuch bei Brenda. Es war anscheinend viel besser, wenn sie sich mit ihnen in der Stadt traf, und ich bemerkte nach meinem Stochern in punkto Laszlo, daß Brenda öfter nach London zu fahren schien und daß die Berichte über diese Besuche immer sensationelleren Charakter annahmen. Ich halte mich für einen ziemlich scharfsinnigen Menschen, und bald begann in meinem Kopf eine Idee zu entstehen, die so phantastisch war, daß ich mich eine Weile sogar weigerte, sie vor mir selbst gelten zu lassen. Aber ich entschloß mich, Brenda auf die Probe zu stellen. Statt ihr nur zuzuhören und hier und da die üblichen, säuerlichen Erwiderungen einzuwerfen, begann ich damit, ihr Fragen zu stellen. Ich nagelte sie bei Namen und Daten fest. »Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten Mark in Amerika kennengelernt?« warf ich dann ein, oder: »Aber Sie sind doch nicht vor Ihrer Scheidung mit Richard in die Ferien gefahren?« Ohne daß sie es merkte, verwickelte ich sie in ein Netz von Widersprüchen, und nun erschien mir die Idee gar nicht mehr so phantastisch. Der endgültige Test erfolgte an Weihnachten. Ich hatte festgestellt, daß Brenda, wenn wir zwei allein beisammen saßen, eine ganz andere Frau war als in Gegenwart von Laura. War Laura zum Beispiel draußen in der Küche, um Kaffee zu machen, oder kam Brenda, wie es manchmal an den Wochenenden geschah, bei uns vorbei, während Laura zum Einkaufen außer Haus war, ver-
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hielt sie sich mir gegenüber sehr kühl und geradezu scheu. Verschwunden waren dann die extravaganten Gesten und die herausfordernden Bemerkungen, und Brenda klatschte so nüchtern und prosaisch über belanglose Dorfgeschichten wie lsabel Goldsmith. Das war nicht unbedingt das Verhalten, das man von einer selbsternannten Messalina erwarten konnte, die mit einem jungen und verhältnismäßig angenehmen Mann allein war. Damals fiel mir auch auf, daß Brenda zu den Zeiten, als sie noch auf Partys eingeladen wurde, und auch jetzt, wenn sie auf unseren Partys die Nachbarn traf, noch nie den Versuch unternommen hatte, mit einem der Männer zu flirten. Waren denn alle diese Männer zu alt für sie, als daß sie sie interessieren konnten? War ein schlanker, gutaussehender Mann, der auf die Fünfzig zuging, zu alt, um zumindest für das Spiel des Flirts zu taugen – für eine Frau, die ja immerhin auch die Dreißig hinter sich gelassen hatte? Sicher, sie waren alle verheiratet, doch das galt auch für ihren Paul und ihren Stephen, und wenn man ihr glauben durfte, hatte sie keine Gewissensbisse gehabt, als sie diese Männer ihren Frauen wegnahm. Wenn man ihr glauben durfte… Das war die Crux des Ganzen. Immerhin hatte keiner ihrer Freunde Lust, Weihnachten mit ihr zu feiern. Keiner ihrer Londoner Liebhaber lud sie zu einer Party ein oder bot ihr an, mit ihm zu verreisen. Nein, sie würde natürlich bei uns sein, beim Weihnachtsessen am ersten Feiertag, danach den ganzen Nachmittag und Abend und am zweiten Feiertag, an dem wir unsere Freunde und Verwandten eingeladen hatten. Ich hatte einen Strauß mit Mistelzweigen in der Diele aufgehängt, und am Vormittag des Weihnachtstages öffnete ich Brenda die Tür, weil Laura noch in der Küche zu tun hatte. »Fröhliche Weihnachten«, rief ich. »Geben Sie mir einen Kuß, Brenda«, und ich nahm sie unter dem Mistelstrauß in die Arme und küßte sie, wie es der Brauch ist, auf den Mund. Sie versteifte sich augenblicklich. Ich hätte schwören mögen, daß ihr ein Schauer über den Rücken lief. Sie empfand es als so peinlich und fühlte sich so ängstlich und angeekelt wie eine sehr behütete Zwölfjährige. Und dann wurde es mir klar. Sicher, sie mochte verheiratet gewesen sein – und nun war es nicht schwer, den Scheidungsgrund zu erraten –,
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aber sie hatte niemals einen Liebhaber gehabt, noch nie eine Umarmung genossen und war auch nie länger mit einem Mann allein gewesen als unbedingt nötig. Sie war frigid. Ein gutaussehendes, lebhaftes, gesundes Mädchen, und doch mit der Unfähigkeit zum Lieben, einer erotischen Gefühlskälte belastet. Ja, sie war kalt wie eine Nonne. Aber da sie die Demütigung eines Eingeständnisses nicht ertragen konnte, hatte sie sich ein Phantasieleben geschaffen, eine Phantasievergangenheit, in der sie als Phantasienymphomanin die große Dame von Welt spielte. Zuerst hielt ich es für einen unglaublichen Witz und konnte es kaum erwarten, Laura alles zu erzählen. Aber es wurde zwei Uhr morgens, bis ich endlich mit ihr allein war, und als ich dann ins Bett kam, schlief sie schon. Ich konnte kaum schlafen in dieser Nacht. Meine Hochstimmung schwand dahin, als mir klar wurde, daß ich keine wirklichen Beweise für meine Theorie hatte, und wenn ich Laura erzählte, was ich getan hatte, das Stochern und Fragen und Prüfen, wäre sie vermutlich verletzt und verstimmt gewesen. Wie hätte ich ihr sagen können, daß ich ihre beste Freundin geküßt und eine eisige Reaktion darauf erlebt hatte? Daß ich in ihrer Abwesenheit mit ihrer besten Freundin zu flirten versucht hatte, ohne auf einen Funken Gegenliebe zu stoßen? Und dann, während ich noch darüber nachdachte, verstand ich, was ich in Wirklichkeit entdeckt hatte: daß Brenda die Männer haßte und daß kein Mann jemals daherkommen und sie mitnehmen und heiraten würde, um danach mit ihr zu leben und ihre Zeit in Anspruch zu nehmen. Nein, sie würde für immer allein bleiben, einen Steinwurf von uns entfernt, würde bei uns täglich aus und ein gehen und zusammen mit Laura, ihrer besten Freundin, alt werden. Sicher, ich hätte fortziehen, ich hätte Laura von hier wegnehmen können. Von ihren Freunden? Von dem Haus und dem Garten, die sie liebte? Und welche Garantie hätte ich gehabt, daß Brenda uns nicht nachkommen würde, um in unserer Nähe zu sein? Denn inzwischen war mir auch klargeworden, was Brenda in meiner Frau sah: eine leichtgläubige, naive, stets vertrauensselige Zuhörerin, deren eigene Unerfahrenheit es verhinderte, daß sie die Löcher und die Unstimmigkeiten in diesem Kunterbunt unsinniger Geschichten er-
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kannte, und deren rührende Entschlossenheit, sich als verständnisvoll und tolerant zu geben, sie davon abhielt, das Ganze als geschmacklos und töricht zu empfinden. Als der Morgen dämmerte und ich voller Liebe und Sorge auf Laura schaute, die neben mir schlief, wurde mir klar, was ich tun mußte, ja, daß es nur eines gab, was ich tun konnte. In dieser hohen Zeit des Friedens auf Erden entschloß ich mich, Brenda Goring zu töten, um meines eigenen und Lauras Glücks und unserer Zufriedenheit willen. Leichter gedacht als getan. Eines hielt mich über Wasser und gab mir Mut bei meinen Überlegungen: daß ich in den Augen von jedermann kein Motiv für eine solche Tat hatte. Unsere Nachbarn hielten uns für überaus wohltätig und tolerant, weil wir uns überhaupt mit Brenda abgaben. Ich entschloß mich, besonders nett zu ihr zu sein statt nur negativ-gleichgültig wie bisher, und im neuen Jahr schaute ich sogar auf dem Rückweg von der Post oder vom Einkaufen bei Brenda vorbei, und wenn ich am Feierabend nach Hause kam und Laura allein antraf, fragte ich, wo denn Brenda sei, und schlug vor, sie gleich anzurufen und sie zum Abendessen oder zu einem Drink einzuladen. Laura gefiel das sehr. »Ich hatte immer das Gefühl, daß du Brenda nicht leiden kannst, Darling«, sagte sie, »und das hat bei mir fast eine Art Schuldkomplex ausgelöst. Es freut mich so, daß du nun anfängst, zu erkennen, wie nett sie in Wirklichkeit ist.« Was ich tatsächlich zu erkennen begann, war eine Möglichkeit, wie ich sie töten konnte, ohne daß man es mir zur Last legen würde, denn inzwischen hatte sich etwas ereignet, das sie mir geradezu auszuliefern schien. Am Rand des Dorfes, in einem einzeln stehenden kleinen Häuschen, lebte eine ältere, unverheiratete Frau namens Peggy Daley, – in der letzten Januarwoche wurde in das Häuschen eingebrochen, und der Einbrecher erstach Peggy mit ihrem eigenen Küchenmesser. Die Tat eines Psychopathen, wie die Polizei annahm, denn nichts war gestohlen oder beschädigt worden. Als sich dann zeigte, daß der Mörder wohl niemals ausfindig gemacht werden würde, überlegte ich, ob ich Brenda in derselben Weise töten konnte, damit es so aussah, als seien beide Morde von ein und demselben Täter begangen worden. Und in den Tagen, als ich diesen Gedanken
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ausarbeitete, mußte sich Laura mit einer Grippe ins Bett legen, sie hatte sich bei Mary Williamson angesteckt. Natürlich kam Brenda, um sie zu pflegen und zu versorgen, kochte mir das Essen und säuberte das Haus. Da jeder der Meinung war, daß sich Peggy Daleys Mörder noch in der Gegend aufhielt, begleitete ich Brenda abends nach Hause, obwohl ihr Cottage nur ein paar Schritte von unserem Haus entfernt war, wenn man den schmalen Fußweg benutzte, der an unserem Garten entlang führte. Dort war es stockfinster, da wir alle emsig gegen eine Installation von Straßenlampen opponiert hatten, und es verschaffte mir ein ironisches Amüsement, zu bemerken, wie Brenda zurückzuckte und sich versteifte, wenn ich sie bei diesen Gelegenheiten dazu aufforderte, sich bei mir unterzuhaken. Ich bestand immer darauf, sie ins Haus zu bringen und zu warten, bis sie die Lichter innen und außen eingeschaltet hatte. Als es Laura besser ging und sie abends allein sein und früh schlafen wollte, begleitete ich Brenda manchmal schon eher nach Hause, trank bei ihr einen letzten Schluck vor dem Schlafengehen und gab ihr einmal sogar beim Gehen vor der Tür einen kameradschaftlichen Kuß auf die Wange, damit neugierige Nachbarn sehen konnten, wie gut wir befreundet waren und wie sehr ich Brenda für ihre aufopfernde Güte bei der Pflege meiner Frau dankbar war. Dann bekam ich selbst die Grippe. Zunächst schien das meinen Plan zu stören, denn ich konnte nicht mehr allzulange warten. Die Leute wurden bereits nachlässiger, was den Mörder betraf, der sich angeblich noch in der Gegend herumtrieb, kehrten zu ihren früheren Gewohnheiten zurück und ließen die Hintertüren oder den Kücheneingang unversperrt. Doch dann erkannte ich, daß ich die Krankheit zu meinem Vorteil nutzen konnte. An dem Montag, als mir der Arzt mindestens drei Tage Bettruhe verordnet hatte und der Schutzengel Brenda fast ebensoviel Theater um mich machte wie meine eigene Frau, erklärte Laura, daß sie nicht zu den Goldsmiths gehen würde, wie sie eigentlich versprochen hatte, weil sie es nicht für richtig halte, mich in meinem Zustand allein zu lassen. Wenn es mir bis dahin besser ginge, wolle sie am Mittwoch den Besuch nachholen, dessen Grund darin bestand, lsabel beim Zuschneiden eines Kleids zu helfen. Natürlich hätte Brenda anbieten können, anstelle von Laura bei
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mir zu bleiben, und ich glaube, Laura war ein wenig überrascht, daß dieses Angebot ausblieb. Ich kannte den Grund dafür und mußte insgeheim lachen. Mit Geschichten über ihre unzähligen Männer, die sie in der Vergangenheit umsorgt hatte, zu protzen war eine Sache; sich mit einem nicht allzu kranken Mann in einem Schlafzimmer aufzuhalten, eine ganz andere. Also mußte ich krank genug sein, um mir ein Alibi zu verschaffen, aber nicht so krank, daß Laura zu Hause blieb. Am Mittwochmorgen fühlte ich mich wesentlich besser. Dr. Lawson kam auf dem Rückweg von seiner Runde vorbei und erklärte nach einer sorgfältigen Untersuchung, daß ich immer noch Schleim auf den Bronchien habe. Während er im Bad war und sich die Hände wusch, hielt ich das Thermometer, das er mir in den Mund gesteckt hatte, kurz an den Heizkörper am Kopfende des Betts. Es klappte besser, als ich angenommen hatte, ja, beinahe zu gut. Das Quecksilber stieg auf 39,4 Grad Celsius, und ich verhielt mich entsprechend und erklärte mit schwacher Stimme, daß ich ziemlich benommen sei, einmal vor Hitze verginge und gleich danach den Schüttelfrost bekomme. »Er soll im Bett bleiben«, sagte Dr. Lawson zu Laura, »und geben Sie ihm viel Heißes zu trinken. Ich bin nicht sicher, ob er aufstehen kann.« Ich gestand etwas beschämt, daß ich es versucht und nicht geschafft habe, – ja, daß meine Beine sich wie Pudding anfühlten. Sofort erklärte Laura, daß sie auch an diesem Abend nicht zu den Goldsmiths fahren wollte, und ich hätte Lawson umarmen können, als er ihr sagte, daß das albern wäre. Ich bräuchte nichts als Ruhe und Schlaf. Nach einer Menge Selbstbezichtigungen und Entschuldigungen und dem Versprechen, auf keinen Fall länger als zwei Stunden auszubleiben, verließ Laura schließlich um sieben das Haus. Sobald ich gehört hatte, wie der Wagen weggefahren war, stand ich auf. Ich konnte Brendas Haus von unserem Schlafzimmerfenster aus sehen, und ich stellte fest, daß sie drinnen das Licht brennen, aber die Außenbeleuchtung nicht eingeschaltet hatte. Es war eine dunkle Nacht ohne Mond und Sterne. Ich zog mir eine Hose und einen Pullover über den Schlafanzug und ging nach unten.
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Als ich auf der Hälfte der Treppe angekommen war, wußte ich, daß ich nicht ›krank‹ hätte spielen oder mit dem Thermometer schummeln müssen. Ich war wirklich krank. Mein ganzer Körper zitterte, und ich schwankte hin und her. Schwindelgefühle und Benommenheit überkamen mich in Wellen, und ich mußte mich am Geländer festhalten, um nicht zu stürzen. Das war nicht das einzige, was schieflief. Ich hatte vorgehabt, sobald die Tat getan und ich wieder zu Hause war, den Mantel und die Handschuhe mit Lauras elektrischer Schere zu zerschneiden und die Reste im offenen Kamin im Wohnzimmer zu verbrennen. Aber erstens konnte ich die Schere nicht finden und vermutete, daß Laura sie zu den Goldsmiths mitgenommen hatte, um den Stoff zuzuschneiden. Und zweitens, noch schlimmer, brannte im Kamin kein Feuer. Unsere Zentralheizung funktionierte hervorragend; das Kaminfeuer zündeten wir nur zum Vergnügen und wegen der gemütlichen Atmosphäre an, die es verbreitete. Also hatte Laura sich nicht die Mühe gemacht, es anzuzünden, während ich oben krank im Bett lag und sie nicht zu Hause war. An diesem Punkt hätte ich meinen Plan beinahe aufgegeben. Doch dann sagte ich mir: jetzt oder nie. Nie wieder bekam ich eine solche günstige Gelegenheit und ein solches Alibi. Entweder brachte ich Brenda jetzt um, oder ich mußte mich für den Rest meines Lebens mit dieser schrecklichen, verhaßten menage à trois abfinden. Wir bewahrten die Regenmäntel und Handschuhe, die wir zur Gartenarbeit benützten, in einem hohen Küchenschrank neben der hinteren Haustür auf. Laura hatte nur das Licht in der Diele brennen gelassen, und ich hielt es nicht für klug, weitere Lichter einzuschalten. Im Halbdunkel fummelte ich in dem Schrank nach meinem Mantel, fand ihn und zog ihn an. Er kam mir ziemlich eng vor, mein Körper war ganz steif und verschwitzt, aber schließlich gelang es mir, den Mantel zuzuknöpfen. Danach zog ich die Handschuhe an. Ich nahm eines von unseren Küchenmessern mit und verließ das Haus durch die Küchentür. Es war keine Frostnacht, aber die Luft war rauh, kühl und feucht. Ich ging ans Ende des Gartens und über den kleinen Pfad in den Garten von Brendas Cottage, mußte mich dabei regelrecht an der Seitenwand des Hauses entlang tasten, denn dort war es stockfinster.
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Aber in der Küche brannte Licht, und die Tür war unversperrt. Ich klopfte an und ging, ohne aufgefordert zu werden, hinein. Brenda, in eleganter Abendtoilette, einem glitzernden Pullover, einer langen Seidenhose und einem goldenen Halsband, stand am Herd und kochte sich ihr einsames Mahl. Damals, zum erstenmal und zu einem Zeitpunkt, an dem es nichts mehr ausmachte, empfand ich Mitleid mit ihr. Da war sie, eine schöne, reiche, begabte Frau mit dem Ruf der großen Verführerin, aber in Wirklichkeit allein, ohne Menschen, die sich wirklich um sie kümmerten; genauso einsam, wie die alte Peggy Daley es gewesen war; da war sie, elegant gekleidet wie für eine Party, und wärmte sich eine Dose Spaghetti auf, in ihrer Küche am Ende der Welt. Sie drehte sich um und schaute mich besorgt an, aber nur, wie ich glaube, weil sie immer, wenn wir allein waren, Angst davor hatte, ich könnte versuchen, ihr nahezukommen. »Warum sind Sie nicht im Bett?« fragte sie – und dann: »Warum tragen Sie solche Sachen?« Ich gab ihr keine Antwort. Stach ihr das Messer in die Brust, immer und immer wieder. Sie gab keinen Laut von sich, außer einem erstickten Stöhnen, und dann lag sie verkrümmt vor mir auf dem Boden. Obwohl ich gewußt hatte, wie es sein würde, ja, obwohl ich diesen Augenblick so sehr herbeigesehnt hatte, war der Schock für mich so groß, daß ich mich, ohnehin schon schwindlig und schwach, am liebsten ebenfalls auf den Boden gelegt und die Augen geschlossen hätte, um zu schlafen. Das war freilich unmöglich. Ich schaltete die Kochplatte ab. Dann überprüfte ich, ob ich Blut an der Hose oder an den Schuhen hatte, was nicht der Fall war, während der Regenmantel natürlich eine Menge abbekommen hatte. Ich taumelte hinaus und schaltete hinter mir das Licht aus. Ich weiß nicht, wie ich den Rückweg gefunden habe, – es war so dunkel, und inzwischen war ich völlig benommen, dazu trommelte mein Herz wie wild in der Brust. Ich hatte gerade noch die Geistesgegenwart, den Regenmantel und die Handschuhe auszuziehen und in den Verbrennungsofen für Gartenabfälle zu stopfen. Gleich am Morgen würde ich all meine Kräfte sammeln und hinausgehen müssen, um die Sachen zu verbrennen, bevor man Brendas Leichnam
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gefunden hatte. Das Messer wusch ich ab und legte es wieder in die Schublade. Laura kam fünf Minuten, nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte, zurück. Sie war weniger als eine halbe Stunde fortgewesen. Ich drehte mich zu ihr um und fragte sie, warum sie schon so früh wieder hier sei. Dabei kam es mir so vor, als schaute sie irgendwie seltsam und verwirrt drein. »Was ist denn los?« murmelte ich. »Machst du dir Sorgen um mich?« »Nein«, sagte sie. »Nein, nein.« Aber sie kam nicht näher zu mir her und legte mir auch nicht wie sonst die Hand auf die Stirn. »Es war – lsabel Goldsmith hat mir etwas gesagt… Es hat mich sehr aufgeregt, ich war ganz durcheinander… Aber es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu reden, du bist zu krank.« Dann fragte sie in schärferem Ton, als ich es je von ihr erlebt hatte: »Brauchst du noch etwas?« »Ich möchte nichts als schlafen«, sagte ich. »Ich schlafe im Gästezimmer. Gute Nacht.« Das war ein vernünftiger Entschluß, auch wenn wir noch nie in unserer Ehe getrennt geschlafen hatten und sie kaum befürchten mußte, die Grippe von mir zu bekommen, da sie sie gerade erst hinter sich hatte. Aber ich war nicht in der Verfassung, mir auch noch darüber Gedanken zu machen, und fiel in den alptraumerfüllten Schlaf des Fiebers. An einen dieser Träume kann ich mich erinnern. Laura fand darin Brendas Leichnam, was durchaus im Bereich des Möglichen lag. Aber nicht sie fand ihn, sondern Brendas Reinemachefrau. Ich wußte, daß es geschehen war, weil ich den Polizeiwagen unter meinem Fenster vorbeifahren sah. Etwa eine Stunde später kam Laura zu mir und teilte mir die Nachricht mit, die sie von Jack Williamson erfahren hatte. »Es muß derselbe Mann gewesen sein, der die alte Peggy umgebracht hat«, erzählte sie. Mir wurde schlagartig besser. Alles lief nach Plan. »Mein armer Liebling«, sagte ich, »das muß schrecklich für dich sein; ihr wart doch so gute Freundinnen.«
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Sie erwiderte nichts, straffte die Schultern und verließ den Raum. Ich wußte, ich hätte aufstehen und den Inhalt des Verbrennungsofens vernichten müssen, aber ich kam nicht aus dem Bett. Ich schwang meine Beine hinaus und setzte die Füße vor das Bett, aber es war, als ob mir der Boden entgegenkäme und mich wieder zurückstieße. Ich machte mir dennoch keine allzu großen Sorgen. Die Polizei würde das gleiche denken, was Laura dachte und was jeder denken mußte. Am Nachmittag kamen sie dann, ein Chief Inspector von der Kriminalpolizei und ein Sergeant. Laura führte sie in mein Schlafzimmer, und wir wurden gemeinsam verhört. Der Chief Inspector meinte, er hätte erfahren, daß wir mit der Toten sehr gut befreundet gewesen seien, wollte wissen, wann wir sie zuletzt gesehen und was wir am Abend zuvor getan hätten. Dann fragte er, ob wir eine Ahnung hätten, wer diese Tat begangen haben könnte. »Natürlich dieser Verrückte, der die andere Frau erstochen hat«, antwortete Laura. »Wie ich sehe, haben Sie die Zeitung nicht gelesen«, erwiderte er. Normalerweise lasen wir die Zeitungen. Es war meine Gewohnheit, die Morgenzeitung im Büro zu lesen und eine Abendausgabe mit nach Hause zu bringen. Aber ich war ja krank gewesen und hatte zu Hause gelegen. Es stellte sich heraus, daß am Morgen zuvor ein Mann wegen des Mordes an Peggy Daley festgenommen worden war. Dieser Schock ließ mich zusammenzucken, und ich erbleichte, doch die Kriminalbeamten schienen es nicht zu bemerken. Sie dankten uns für unsere Hilfsbereitschaft, entschuldigten sich, weil sie einen Kranken gestört hatten, und gingen. Als sie weg waren, fragte ich Laura, was lsabel am Abend zuvor zu ihr gesagt hätte, und warum sie darüber so erregt gewesen wäre. »Das ist jetzt egal«, sagte sie. »Die arme Brenda ist tot, und sie ist auf schreckliche Weise ums Leben gekommen, aber – nun, vielleicht bin ich sehr schlecht, aber es tut mir nicht leid. Schau mich nicht so an, Darling. Ich liebe dich und weiß, daß du mich auch liebst, und wir müssen ihr vergeben und wieder so sein, wie wir früher waren. Du weißt, was ich damit meine.« Ich wußte es nicht, war aber froh, daß das – was immer sie damit meinte – vorüber war. Ich hatte genug Sorgen und konnte in dieser
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Situation die Kälte und Entfremdung meiner Frau nicht brauchen. Obwohl Laura in der kommenden Nacht wieder neben mir schlief, gelang es mir kaum, die Augen zuzumachen, aus Angst um das, was in unserem Verbrennungsofen war. Am Morgen tat ich so, als ob es mir viel besser wäre. Ich zog mich gegen Lauras Proteste an und erklärte, daß ich in den Garten gehen wollte. Aber die Polizei war bereits da, durchsuchte unseren ganzen Garten, und bei Brenda grub sie sogar in den Beeten herum. An diesem Tag und auch am nächsten ließen sie mich in Ruhe, aber sie kamen noch einmal zu uns und sprachen allein mit Laura. Ich fragte sie danach, was die Polizei von ihr habe wissen wollen, aber sie tat es mit einer Handbewegung ab. Ich nahm an, sie hielt mich noch für zu krank, um mir zu gestehen, daß sie sie nach meinem Aufenthalt zur Tatzeit und nach meinem Verhältnis zu Brenda befragt hatten. »Nur ein paar Routinefragen, Darling«, beruhigte sie mich, aber ich war sicher, daß sie sich Sorgen um mich machte, und zwischen uns entstand eine Barriere der Angst. Es erscheint unglaublich, aber an diesem Sonntag redeten wir kaum miteinander, und wenn, dann wurde Brendas Name nicht erwähnt. Am Abend saßen wir schweigend da; ich hatte meinen Arm um Laura gelegt, ihr Kopf ruhte an meiner Schulter, und wir warteten und warteten… Am Morgen erschienen die Polizisten mit einem Durchsuchungsbefehl. Sie baten Laura, ins Wohnzimmer zu gehen, und ich sollte im Studio warten. Ich wußte, daß es jetzt nur noch eine Frage der Zeit war. Sie würden das Küchenmesser finden, und natürlich würden sie Brendas Blut darauf entdecken. Ich hatte mich, als ich es säuberte, so miserabel gefühlt, daß ich jetzt nicht einmal mehr wußte, ob ich es geschrubbt oder nur unter laufendem Wasser abgespült hatte. Nach langer Wartezeit kam der Chief Inspector herein – allein. »Sie haben uns gesagt, daß Sie mit Miss Goring eng befreundet waren.« »Wir verkehrten in freundschaftlicher Weise miteinander, ja«, entgegnete ich und versuchte, meine Stimme nicht allzusehr schwanken zu lassen. »Sie war eigentlich die Freundin meiner Frau.«
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Er achtete nicht darauf. »Sie haben uns nicht gesagt, daß Sie mit ihr eine intimere Beziehung unterhielten, oder, um es deutlich auszudrücken, daß Sie mit ihr ein sexuelles Verhältnis eingegangen waren.« Er hätte nichts sagen können, was mich mehr überrascht hätte. »Aber das ist doch absoluter Quatsch!« »Finden Sie? Wir haben es aus sicherer Quelle.« »Was ist das denn für eine Quelle?« fragte ich. »Eine von der Sorte, die Sie leider nicht preisgeben können?« »Ich sehe keinen Grund, es Ihnen zu verschweigen«, sagte er leichthin. »Miss Goring selbst hat zwei ihrer Freundinnen in London darüber informiert. Und sie hat es einer Ihrer Nachbarinnen gesagt, als sie sie kürzlich bei einer Party in Ihrem Haus traf. Man hat Sie gesehen, wie Sie die Abende allein bei Miss Goring verbrachten, während Ihre Frau krank im Bett lag, und wir haben einen Zeugen, der uns bestätigt hat, daß Sie Miss Goring zum Abschied an der Haustür geküßt haben.« Jetzt wußte ich, was lsabel Goldsmith Laura gesagt und was Laura so durcheinandergebracht hatte. Die Ironie, die darin lag, diese schreckliche Ironie… Warum hatte ich, da ich Brendas Ruf und ihre Phantasieliebschaften kannte, nicht geahnt, welche Bedeutung man meiner gespielten Freundschaft mit ihr beimessen würde! Da war das Motiv, und ich hatte mich so sehr darauf verlassen, daß man mir mangels eines plausiblen Motivs nichts anlasten würde! Ehemänner töten ihre Geliebten, sei es aus Eifersucht, aus Frustration, aus Angst vor der Entdeckung. Aber konnte ich nicht Brendas Phantasien zu meinen Gunsten nutzen? »Sie hatte Dutzende von Freunden, Liebhabern oder wie Sie sie nennen wollen. Jeder von ihnen hätte sie töten können.« »Im Gegenteil«, erwiderte der Chief Inspector, »abgesehen von ihrem Exgatten, der sich in Australien aufhält, haben wir außer Ihnen keinen Mann in ihrem Leben entdecken können.« »Ich habe sie nicht getötet!« rief ich in Verzweiflung. »Ich schwöre es, daß ich sie nicht getötet habe.«
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Er schaute mich überrascht an. »Oh, das ist uns klar.« Und zum erstenmal sprach er mich mit ›Sir‹ an. »Das wissen wir, Sir. Niemand denkt daran, Sie in irgendeiner Weise zu beschuldigen. Wir haben Doktor Lawsons Aussage, daß Sie am Abend der Tat körperlich außerstande waren, das Bett zu verlassen. Außerdem waren es ja nicht Ihr Regenmantel und Ihre Handschuhe, die wir in Ihrem Verbrennungsofen im Garten gefunden haben.« Ich hatte mich im Dunkeln zum Schrank getastet, darin herumgefummelt, und die Ärmel des Mantels waren zu kurz, die Schultern zu knapp… »Warum tragen Sie solche Sachen?« hatte Brenda gefragt, ehe ich sie erstach. »Bitte, versuchen Sie, ruhig zu bleiben, Sir«, sagte der Chief Inspector sehr höflich. Aber ich habe seitdem keine Ruhe mehr gefunden. Ich habe ein Geständnis nach dem anderen abgelegt. Ich habe Erklärungen geschrieben, habe den Polizeibeamten schwere Vorhaltungen gemacht, habe getobt und geschrien, bin mit ihnen die Ereignisse jener Nacht durchgegangen bis ins kleinste Detail… Und ich habe geweint. Damals, in meinem Studio, habe ich nichts gesagt, habe nichts sagen können und den Chief Inspector nur wortlos angestarrt. »Ich bin noch einmal zu Ihnen gekommen, Sir«, sagte er, »um die Bestätigung einer Tatsache zu erhalten, die uns bereits bekannt war, und um Sie zu fragen, ob Sie uns zur Polizeistation begleiten wollen, wo gegen Ihre Frau wegen Mordes an Miss Brenda Goring Anklage erhoben wird.« Aus dem Englischen übertragen von Friedrich A. Hofschuster
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George Sims Der Familienschlächter Man kann mit Recht behaupten, daß Pasterne das hübscheste Dorf im Hambleden-Tal ist. Skirmett, Frith, Fingest und Ibstone haben zwar alle auch ihren Reiz, genauso wie Hambleden selbst, und Turville kann oben auf dem Hügel sogar mit einer schönen Windmühle aufwarten – eine Seltenheit in den Chilterns –, aber Pasterne ist eben ein richtiges Bilderbuchdorf. Es hat eine große, tadellos gepflegte Gemeindewiese mit altem Eichenbestand, den Pasterne Pound, um den sich ein Dutzend kleiner Häuser aus Backstein und Flint gruppieren – geradeso, als hätte ein Aquarellist des vergangenen Jahrhunderts sie dorthin gesetzt, um sie abzumalen. Wunderschön ist auch der Dorfweiher, der von einer Quelle ständig mit frischem Wasser gespeist wird. Weiße Enten und Stockenten tummeln sich auf ihm, und gelegentlich nistet hier auch ein Schwanenpaar. Die Ansichtskarten, die im Kramladen, der zugleich Postamt ist, angeboten werden, verkaufen sich in den Sommermonaten gut, vor allem solche, die den Weiher und die normannische Kirche zeigen, die – einziges Relikt einer noch früheren Siedlung – außerhalb des Dorfkerns steht und Pasterne den Rücken zuzuwenden scheint. Aber die Bewohner von Bilderbuchdörfern leben nicht viel anders als wir übrigen Sterblichen. Eine ebenfalls beliebte Ansicht des Dorfes zeigt die Nordseite des Pound: in der Mitte Daniel Patchins Metzgerei, daneben sein hübsches Wohnhaus und das Wäldchen, das Lord Benningworths Herrenhaus verdeckt. Patchins Laden befindet sich in einem alten elisabethanischen Haus, das im Lauf der Jahrhunderte gewiß immer wieder modernisiert wurde. Dennoch wird wohl die Fassade mit den dicken schwarzen Eichenbalken und den weißverputzten Mauern, die jedes Jahr frisch gestrichen werden, ursprünglich nicht viel anders ausgesehen haben, abgesehen natürlich von dem kleinen Schaufenster. Der Name ›Daniel Patchin‹ steht in großen weißen, geschwungenen Lettern auf schwarzem Grund und darunter, in kleineren Buchstaben, die Gewerbebezeichung: Familienmetzgerei. Patchins Metzgerei und der Kramladen mit dem Postamt sind die einzigen Geschäfte im Dorf. Hübsch und ›putzig‹ anzusehen, erin-
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nern sie an die Kaufläden, mit denen die Kinder weniger technisierter Epochen so gern zu spielen pflegten. Die Metzgerei ist wie ihr Besitzer ein Muster an Reinlichkeit und Hygiene. Zweimal am Tag wechselt Daniel Patchin die Schürze, und das vielbenützte Waschbecken im hinteren Teil des Ladens ist ebenso blitzsauber wie die Glastheke und der große Holztisch, an dem Patchin arbeitet, »eher einem Chirurgen als einem Fleischermeister ähnlich«, wie Lord Benningworth einmal zu Freunden bemerkte. Die Auslage in Patchins Schaufenster ist stets sparsam: ein Fasanenpaar, meist von ihm selbst geschossen, ein Hase, ein, zwei Hühnchen und ein Musterstück des erstklassigen Fleisches, das er zu verkaufen hat. Drinnen im Laden sieht es nicht üppiger aus: Da hängt wahrscheinlich höchstens ein halbes schottisches Rind neben einer walisischen Lammschulter, und in der offenen Kühlanlage der Theke liegen die berühmten Patchin-Würste. Alles, was sonst verlangt wird, muß Daniel Patchin aus dem großen Kühlraum hinten im Laden holen. Die Metzgerei Patchin war schon in den dreißiger Jahren, als sie von Daniels Vater Gabriel geführt wurde, und vorher, unter Reuben Patchin, überall in den Chilterns bekannt. Heute, da Daniel Patchin das Geschäft übernommen hat, genießt sie einen gleichermaßen beneidenswerten Ruf. Zwar hat das Dorf eine zu geringe Einwohnerzahl, als daß ein so schönes Geschäft richtig blühen könnte, und Lord Benningworth, dem der größte Teil des Dorfes und die umliegenden Ländereien gehören, ist gegen die Errichtung neuer Häuser in diesem Gebiet, aber es kommen genug Stammkunden aus High Wycombe, Henley und Marlow. Die Patchin-Würste werden noch genauso gemacht, wie Reubens Rezept aus dem Jahr 1912 es vorschreibt; mit viel Schweinefleisch, Kräutern, Gewürzen und frisch gemahlenem schwarzen Pfeffer. Sie haben keinerlei Ähnlichkeit mit den Produkten, die in Massen von den Fabriken ausgestoßen werden, und die Kunden kommen ihretwegen von so weit her wie Slough und Oxford. Daniel Patchin, ein ruhiger, manchmal schweigsamer Mann, genießt allenthalben große Achtung. Er scheint für seine Arbeit zu leben und steht jede Woche fünfeinhalb Tage im Laden. Mittwochs schließt er das Geschäft schon mittags und verbringt den freien
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Nachmittag beim Angeln oder auf der Jagd – je nach Jahreszeit. Nach seiner Rückkehr aus dem Koreakrieg hat Patchin mit Lord Benningworth eine freundschaftliche Vereinbarung getroffen, die vorsieht, daß er sonntags die Pflichten eines Gutsförsters übernimmt und Benningworths Waldungen in Ordnung hält. Statt Bezahlung erhielt er das Recht, alles Holz, das er gebrauchen kann, zu behalten. Die Sonntage gehören also dieser Arbeit. Patchin hat hinter seinem Haus ein Holzlager, auf dem die Dorfbewohner Bau- und Feuerholz kaufen können. Die Familie Patchin lebt seit Jahrhunderten in Pasterne, die Verbindung der Benningworths mit dem Ort ist noch älter: Lord Benningworth kann den Stammbaum seiner Familie bis ins Jahr 1220 zu einem Baron Will de Benningworth zurückverfolgen, und in der Kirche findet man die steinernen Standbilder eines anderen Benningworth und seiner Gemahlin, die im Jahr 1290 dort aufgestellt worden waren. Auf dem Friedhof sind viele Gräber der Familie Patchin; das früheste trägt die Jahreszahl 1695 und folgende Inschrift: Kommst du vorüber hier, So sieh dich um Schau dir an, wie Tote ruhn. Denn wie ihr heut seid, warn einst wir, und wie wir heut, müßt werden ihr. Hin und wieder wandert Daniel Patchin vielleicht abends durch den Friedhof und sieht sich die Gräber an, vor allem die seiner eigenen Familie. Ihm gefallen diese Inschriften, die nichtchristliche Einstellungen andeuten, denn er hat einen zynischen, beißenden Humor. Er ist kein Kirchgänger. In Korea hat er gesehen, daß menschliches Leben im Krieg so billig ist wie das von Weihnachtsgänsen, und daraus hat er die Einstellung des Stoikers zu Leben und Tod gewonnen. Für seine Tapferkeit im Nahkampf wurde dem Infanteristen das Militärverdienstkreuz verliehen, und von seinen Kameraden erhielt er wegen seines geschickten Umgangs mit dem Bajonett den Spitznamen ›Abstecher‹. Daniel Patchin führt ein sehr ruhiges Leben, das der Arbeit und seinen Lieblingsbeschäftigungen in der Freizeit, Angeln, Jagen und 585
abends Gartenarbeit, gewidmet ist. Manchmal unternimmt Lord Benningworth mit einem Freund einen Spaziergang zum Rand seines Wäldchens, um Patchins Garten mit den schönen Rosenbeeten und den in schnurgeraden Reihen wachsenden Kartoffeln, Erbsen und Bohnen zu betrachten. Patchins Frau Angela ist zehn Jahre jünger als er und galt in Skirmett, wo sie in einer großen Bauernfamilie aufgewachsen ist, allgemein als hübsches, munteres und etwas flatterhaftes Mädchen. Die Patchins haben keine Kinder. Es stellte sich heraus, daß Angela unfruchtbar ist. In den zehn Jahren ihrer Ehe hat sie die Ernsthaftigkeit und die ruhige äußere Milde angenommen, die zu den charakteristischen Wesenszügen der Familie Patchin gehören. Sie hat blondes Haar und eine sehr helle, klare Haut, und sie errötet leicht. Bei jedem Kompliment, das ihr Benningworths Sohn und Erbe machte, ehe er wegging, um eine Stellung in Amerika anzutreten, pflegte sie rot zu werden. An den Tagen, an denen es im Laden am meisten zu tun gibt, also immer freitags und samstags und manchmal auch donnerstags, hilft sie an der Kasse aus. Patchin hat einen jungen Helfer, der sich im allgemeinen Freitag abends und Samstag morgens nützlich macht; alle übrige Arbeit erledigt er allein. Er ist ein stämmiger, muskulöser Mann von großer Körperkraft. Hinter dem Laden ist ein großer Schuppen, in dem bis vor zwanzig Jahren noch geschlachtet wurde; dort beförderte Patchin Hühner und zur Weihnachtszeit Dutzende von Puten und Gänsen ins Jenseits. An einem herrlichen Nachmittag Ende Mai schöpfte Patchin den ersten Verdacht gegen seine Frau. Es war ein Montag, und beim Mittagessen hatte sie gesagt, daß sie am Nachmittag einen Spaziergang machen wollte. Als sie um fünf zurückkam, schaute sie kurz in den Laden und fragte, ob er eine Tasse Tee wollte. Er nickte und erkundigte sich, ob der Spaziergang schön gewesen wäre. Sie zögerte, und als er vom Fleischwolf aufsah, bemerkte er, daß sie rot geworden war und nervös an den Knöpfen ihrer Bluse fingerte, als wollte sie sich vergewissern, daß sie alle geschlossen waren. Daniel Patchin war ein ausgezeichneter Beobachter, und seine Wahrnehmungsgabe war mit den Jahren immer ausgeprägter geworden. Praktisch sein ganzes Erwachsenenleben lang hatte er sich dem
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Studium seiner Kunden und der Natur gewidmet; es war sein einziges geistiges Hobby. Die feinste Veränderung in der Miene eines Rentners, vielleicht nur ein Wimpernschlag, reichte aus, um Patchin zu sagen, daß er ein Stück zu teures Fleisch anbot. Die zarteste Kräuselwelle am Rand einer fischreichen Stelle im Fluß entging ihm ebensowenig wie das Knacken eines zerbrechenden Ästchens. Als Angela über die naheliegenden Freuden eines ländlichen Spaziergangs an einem herrlichen Mainachmittag nichts zu sagen wußte, vertuschte er ihre Sprachlosigkeit mit einer hastigen Bemerkung über eine alte Frau, die montags immer vorbeikam, um Suppenknochen zu kaufen. Als Angela aus dem Laden ging, sandte Patchin ihr einen scharfen Blick nach und stellte fest, daß sie sich nach dem Mittagessen von Kopf bis Fuß frisch angezogen hatte. Bei ihrer Rückkehr mit dem Teetablett trug sie eine alte braune Strickjacke über der hübschen weißen Bluse. Sie war immer noch nervös, unruhig, ein wenig befangen. Patchin wußte, daß sie eine hoffnungslos schlechte Lügnerin war, doch er stellte ihr keine Fragen mehr. Er nahm den frischen Geruch von Zitronenseife wahr und wußte, daß sie sich das Gesicht gewaschen, es wahrscheinlich mehrmals ins kalte Wasser getaucht hatte, um die Röte der Verlegenheit abzukühlen. Wieder überbrückte er das Schweigen, indem er ihr erzählte, daß er vielleicht am Abend noch zum Fluß hinunter wollte. Die Angelzeit für alle Süßwasserfische außer Forellen begann zwar erst Mitte Juni, aber er ging schon ab und zu einmal früher an den Fluß, um die Stellen zu inspizieren, an denen er am liebsten fischte, und zu sehen, wie sich das Hochwasser der Themse im Winter auf sie ausgewirkt hatte. In den folgenden Wochen widmete er sich neben seinen wenigen anderen Freizeitbeschäftigungen der Beobachtung seiner Frau. Nichts, was sie tat, entging ihm, selbst den geringsten Anflug von Gereiztheit oder Ungeduld vermerkte er stillschweigend – aber nichts, mochte es noch so ungewöhnlich sein, verleitete ihn je zu einer Bemerkung. Man hätte kein besonders guter Beobachter zu sein brauchen, um Angela Patchins plötzlich wiedererwachtes Interesse an ihrem Aussehen wahrzunehmen. Selbst Montag morgens, wenn sie große Wä-
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sche hatte, und mittwochs, wenn sie gewöhnlich das Haus von oben bis unten putzte, trug sie jetzt nicht mehr ihren alten marineblauen Rock, sondern zeigte sich in einem flotten neuen grünen, über dem sie eine hübsche Schürze trug, oder in Jeans. Sie fuhr nach Reading zu Marks & Spencers, angeblich nur um sich ein neues Sommerkleid zu kaufen, und kam mit Paketen beladen zurück. Am Montag nachmittag, als Angela sich wieder zu einem Spaziergang aufgemacht hatte, schloß Patchin den Laden für eine Viertelstunde und durchsuchte mit aller Gründlichkeit ihre Kommode. Er nahm jedes Stück sehr vorsichtig heraus und achtete sorgfältig darauf, alles wieder so zurückzulegen, wie es gewesen war. Er fand mehrere neue Wäschestücke, darunter ein besonders sparsames Höschen und einen Büstenhalter, in dem die Brüste wie auf einem Präsentierteller liegen mußten, üppige Verlockung für einen tatendurstigen Burschen. Aber welcher tatendurstige Bursche? Das war die Frage, die Daniel Patchin ständig beschäftigte, seine Aufmerksamkeit von seiner Arbeit ablenkte, so daß er zum erstenmal in seinem Leben leicht zerstreut wirkte, nicht mehr der Ausbund an Tüchtigkeit war, den man bisher gekannt hatte. Den Dorfbewohnern fiel es sofort auf. »Er ist irgendwie menschlicher«, lautete das allgemeine Urteil, wenn die Leute es auch unterschiedlich ausdrückten. Eine Zeitlang überlegte Patchin, ob vielleicht Benningworths Sohn nach Pasterne zurückgekehrt war und Angela wieder Aufmerksamkeit zollte; wenn ja, dann schien diese Aufmerksamkeit jetzt weiter zu gehen als vorher, schien sich zumindest bis zu ihrer wohlgefüllten Bluse zu erstrecken. Doch eine beiläufig gestellte Frage an die Haushälterin der Benningworth ergab, daß der junge Mann noch in Amerika war und vor Weihnachten nicht heimkehren würde. Patchins Reaktion auf Angelas verdächtiges Verhalten war beträchtlichen Schwankungen unterworfen. Manchmal war er ganz fasziniert von der distanzierten Art, mit der er seine heimlichen Beobachtungen zur Kenntnis nahm. So hatte er einmal einen raffinierten alten Hecht in einem Weiher bei der Hambleden-Mühle studiert. Einen ganzen Herbst hatte er wochenlang mit verschiedenen Ködern versucht, das gerissene Biest zu schnappen, bis er erkannt hatte, daß sich der Hecht nur durch einen Fisch, der frisches Blut an sich hatte,
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aus der Reserve locken lassen würde. Patchin hatte ihm also einen bluttriefenden Häsling angeboten, und der Hecht war schwach geworden. Dann wieder gab es Zeiten, in denen Patchin von einer eiskalten Wut darüber gepackt wurde, daß ihm ein Fremder die Frau stehlen wollte – er war ganz sicher, daß genau das geschah. Einmal schreckte er mitten in der Nacht hoch, überzeugt, daß das Telefon geläutet hatte, nur ein einziges Mal, und lag dann von Eifersucht und Mordlust gequält wach, bis um sechs der Wecker klingelte. Angelas veränderte Einstellung zum Sex war vielleicht das Verräterischste. Vor den nachmittäglichen Spaziergängen und den neuen Kleidern hatte sie seinem Eindruck nach die eheliche Pflicht als eine ziemlich langweilige Angelegenheit empfunden, die man am besten möglichst schnell hinter sich brachte, um sich dann zum Schlaf umdrehen zu können. Jetzt wandte sie sich niemals ab, war immer bereit, sich ihm hinzugeben, schien ihm begehrlicher denn je. Ihre Küsse waren begehrlich und lang, ihre Umarmungen leidenschaftlich und drängend – während er darüber grübelte, erkannte er, daß ›drängend‹ das Schlüsselwort war. Ja, das war es, sie drängte ihn zu mehr Bemühen, damit sie sich, wenn sie die Augen schloß, vorstellen konnte, er wäre der andere, leidenschaftlichere Liebhaber. Selbst nach einem Orgasmus blieb sie unbefriedigt, sehnte sich nach etwas anderem. Unmöglich, die Gefühle zu beschreiben, die Patchin bewegten, während er erlebte, wie seine Frau in der Liebe immer wissender und erfahrener wurde, ihn mit aufreizendem Verhalten und eindeutigen Gesten dazu bringen wollte, ihr die Lust zu verschaffen, die sie anderswo genoß. Eines Abends wollte sie eine neue Stellung mit ihm ausprobieren, und während sie ihn entschlossen in die richtige Position brachte, sah er plötzlich die bittere Ironie des Ganzen so klar, daß er beinahe laut gelacht hätte. Es lag auf der Hand, daß Angela einen höchst potenten und enthusiastischen Liebhaber hatte, der in der Liebeskunst weit größere Meisterschaft besaß, als er je erringen würde – einen Liebhaber, der erst von Reizwäsche angeheizt werden wollte und dann die perfekte Leistung lieferte. Erst Mitte Juni, an einem Freitag, konnte Patchin endlich den Feind identifizieren, der ihm Hörner aufgesetzt hatte. Er störte Angela bei einem Telefongespräch, als er zur Mittagszeit ein paar Minuten frü-
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her als gewöhnlich ins Haus kam. Sobald er die Tür öffnete, wurde der Hörer hastig aufgelegt, und Angela lief nach oben, um ihre Verwirrung zu verbergen. Am selben Nachmittag kam Ray Johnson, der jüngste Postbote der Gegend, in den Laden, angeblich um Würste und Schinken zu kaufen. Johnson lachte Angela zu, die in ihrem Kassenhäuschen saß, und rief: »Guten Tag, Mrs. Patchin.« Angela antwortete nicht, sondern nickte nur leicht errötend. Patchin bemerkte nicht nur das verräterische Erröten, er fing auch die feine Schwingung in Johnsons Gruß auf, den Unterton in den Worten »Mrs. Patchin«, als wäre diese steife Form der Anrede ein geheimer Scherz zwischen den beiden. Er ließ sich Zeit im Kühlraum, um ihnen Gelegenheit zu geben, ein paar Worte zu wechseln. Kaum öffnete er die Tür, da hörte Ray Johnson zu reden auf und lächelte so verlegen, als hätte er vergessen, was er hatte sagen wollen. Idiot, dachte Patchin, du junger Idiot, überspielte jedoch Johnsons momentanes Unbehagen mit einer Bemerkung über die Würste. »Eine besondere Spezialität, die hier. Sie sind von einer Bestellung übrig, die ich fürs Gut vorbereitet habe. Der alte Herr hat gern eine extra Prise Pfeffer.« Nachdem er seine Frau und Johnson einmal zusammen erlebt hatte, gab es für ihn keinen Zweifel mehr. Ihm schien, als bestünde zwischen den beiden eine unsichtbare, aber doch spürbare Verbindung, eine subtile Vertraulichkeit, aus langen gemeinsamen Nachmittagen geboren, die sie wahrscheinlich im Calcot-Forst verbrachten, wo es einige idyllische kleine Lichtungen gab. Während Patchin Würste und Schinken verpackte, während sich das Paar in Schweigen hüllte, stellte er sich die beiden im flirrenden Sonnenlicht auf einer grünen Waldwiese vor. Das sparsame Höschen und der aufreizende Büstenhalter wurden abgestreift, Angela gab sich lustvoll stöhnend der Umarmung ihres Liebhabers hin. Patchin hatte das Gefühl, die Vorstellungen, die ihn so stark bewegten, müßten ihm auf dem gewöhnlich so ausdruckslosen Gesicht abzulesen sein, deshalb räusperte er sich laut und sagte kopfschüttelnd: »Entschuldigung. Ich hab’ ein bißchen Halsschmerzen. Hoffentlich wird es keine Sommergrippe.«
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Ray Johnson sah Patchin ungewöhnlich ernst und nicht unbedingt freundlich an, als er sagte: »Ja, hoffentlich nicht.« Der Blick strafte die banale Erwiderung Lügen, und Patchin dachte, du Schwindler. Dir wär’s doch nur recht, wenn ich eine Lungenentzündung bekäme. Zum erstenmal kam ihm der Gedanke, daß die Eifersucht vielleicht nicht nur einseitig war. Wahrscheinlich war auch Johnson eifersüchtig, wenn er an die Nächte dachte, die Angela mit ihrem Mann verbrachte. Vielleicht haßte Johnson ihn genauso, wie er den unbekannten Liebhaber gehaßt hatte. Am selben Nachmittag, als Angela ins Haus gegangen war, um den Tee zu machen, stand Daniel Patchin an der offenen Ladentür und blickte zum Weiher hinüber, wo zwei kanadische Gänse gelandet waren und nun von den aggressiven, wenn auch kleinen Bläßhühnern feindselig bedrängt wurden, die mit zornigem Schimpfen im Schilf hin und her schwirrten. Nichts, was auf dem Weiher geschah, entging Patchin. Er sah, daß die einheimischen Stockenten verschwanden und die weißen Enten sich aus dem lautstarken Streit heraushielten wie Zuschauer, die das alles nur am Rande interessierte. Doch mit seinen Gedanken war Patchin anderswo. Unaufhörlich grübelte er über sein Dilemma. Es war das erste Mal seit dem Koreakrieg; daß er sich vor ein Problem gestellt sah, von dem er nicht wußte, wie er es bewältigen sollte. Ray Johnson war ein großer, schlanker Bursche mit lockigem schwarzem Haar und einem großen Mund, der stets zu einem Grinsen verzogen schien, so breit, daß die weißen Zähne blitzten. Johnson war eindeutig der beliebteste unter den örtlichen Postboten; er war ein lustiger Bursche, der immer zu Scherzen aufgelegt war und stets ein paar alte Witze auf Lager hatte. Patchin hatte das immer schon leicht irritierend gefunden, jetzt aber war die harmlose Irritation dem starken Gefühl unversöhnlicher Feindseligkeit gewichen. Patchin hatte nicht die Absicht, Angela mit seinem Verdacht zu konfrontieren oder zu versuchen, das Pärchen in flagranti zu ertappen, obwohl er wußte, daß sich das an einem Montag nachmittag im Calcot-Forst ohne weiteres würde arrangieren lassen. Aber dann würde Angela womöglich beschließen, ihn zu verlassen – er wußte nicht, wieviel Gewicht der Wohlstand und die Annehmlichkeiten
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ihres gemeinsamen Lebens im Vergleich zu den Stunden der Leidenschaft in den Armen von Casanova Johnson hatten. Nein, die einzige Lösung war, sich Johnsons zu entledigen, so wie die Bläßhühner sich zweifellos der kanadischen Gänse, dieser Störenfriede, entledigen würden. Nach der Teepause machte sich Patchin wieder an die Arbeit. Freitag abends hatte er stets am meisten zu tun, wenn Dutzende von Braten für das Wochenende vorbereitet werden mußten. Er hatte einige besonders wählerische Kunden, die ihr Fleisch gern auf die pedantische französische Art zubereitet haben wollten, und er war durchaus bereit, ihren Marotten entgegenzukommen. Für dieses Wochenende war sehr viel Rind bestellt worden, und sein junger Helfer konnte das nicht zubereiten; er war nur für die einfachsten Arbeiten zu gebrauchen. Patchin stellte den Jungen an den Fleischwolf und machte sich selbst mit grimmiger Lust über einen Rinderkadaver her. Nach dem Essen konnte er es kaum erwarten, Angela ins Bett zu bekommen. Das Wissen, daß sie die Geliebte des jungen Johnson war, hatte die seltsame und völlig unerwartete Wirkung, seine Begierde nach ihr zu verdoppeln. Sie schien nicht weniger bereit als er, und während sie sich mit hochgezogenen Knien aufs Bett sinken ließ, lächelte sie ihn auf eine ganz neue Weise an. Es war ein Lächeln, das einen Anflug von Belustigung über seine ungeschickten Bemühungen, ihr zu gefallen, enthielt. Diesmal war er es, der sich hinterher unbefriedigt und leer fühlte, obwohl er sie zweimal genommen hatte. Es war, als könnte sein rastloses Verlangen auch nicht gestillt werden, wenn er sie ein dutzendmal besaß. Von Mitte Juni an verbrachte Daniel Patchin fast jeden Sonntag im Calcot-Forst, bei weitem das größte Waldgebiet, das Lord Benningworth gehörte. Einen Sonntag widmete er ganz der Suche nach Spuren des Liebespärchens und stieß tatsächlich auf einen Flecken niedergedrückten Farns, bei dessen Anblick ein seltsames Gefühl in ihm hochstieg – beinahe eine Art Übelkeit. Von dem Liebesnest aus ging er hinunter zu einer leerstehenden Hütte im abgelegensten Teil des Waldes, wo niemals die Sonne hinzukommen schien. Bis 1939 hatte ein Förster in dem Häuschen gewohnt, danach hatten die Benningworths keinen Förster mehr eingestellt, und das abgelegene, nicht
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besonders ansehnliche Häuschen war an einen merkwürdigen alten Mann namens Ted Ames vermietet worden. Lord Benningworth, ein echter Konservativer in dem Sinn, daß er jeder Veränderung abhold war, ließ die Hütte einfach leer stehen, als Ames 1948 in geistiger Verwirrung in eine Nervenheilanstalt eingeliefert worden war, in der er schließlich starb. Seitdem hatte man das Häuschen seiner Regenrinnen beraubt, einige der alten Dachbalken waren angefault und durch einige Stellen im Dach, wo die Schindeln fehlten, fand der Regen Einlaß. Selbst an den heißesten Sommertagen war die Hütte klamm und roch nach Moder und Fäulnis. Die Küchenwände waren voller Schwamm, und durch die Ritzen des Ziegelbodens stießen Unkräuter, um langsam die unteren Räume zu überwuchern. Daniel Patchin stand lange Zeit still da und betrachtete das baufällige kleine Haus, von dem einige Dorfbewohner behaupteten, daß der Geist Ted Ames’ dort umgehe. Patchin glaubte weder an Geister noch Gespenster, noch an Himmel und Hölle. Er glaubte, daß das Universum unbegreifbar und der Menschheit gegenüber völlig gleichgültig ist. Plötzlich sagte er laut: »So eine Verschwendung. Für das alte Ding müßte sich doch noch eine Verwendung finden.« Der zweite Satz, in besonders mildem Ton gesprochen, endete mit einem leicht fragenden Unterton, und zum erstenmal bewegte Patchin den Kopf, als spräche er mit einer anderen Person und wartete auf deren Kommentar zu seiner Bemerkung. Dann belächelte er flüchtig und ohne Erheiterung den Gedanken, der ihm bei der Erinnerung an eine gewisse Besonderheit des alten offenen Kamins in der Hütte gekommen war, und machte auf dem Absatz kehrt. Überall im Calcot-Forst standen Holzstapel, die Patchin zu errichten pflegte, um sie später mit einem Lastwagen abzuholen. In einer Hütte hatte er eine Kettensäge, Behälter mit Benzin, Äxte und Säcke voll Holzspäne und Sägemehl. Er blickte um sich, um sich zu vergewissern, daß niemand in der Nähe war, und machte sich daran, die Säcke mit Späne und Sägemehl zur Ames-Hütte hinüberzuschleppen. Es erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung, nun endlich mit den Arbeiten zur Durchführung seines Plans begonnen zu haben. An den folgenden Sonntagen brachte Daniel Patchin viel Zeit mit dem Transport dürrer Äste und ausgedörrten Gestrüpps zu. Auch
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Dosen mit Paraffin, Farbbüchsen, die nur noch Reste enthielten, Plastikbeutel, in denen einmal abgetropftes Bratenfett gewesen war, Säcke mit Fett, alte Lappen und anderes unbrauchbares Zeug beförderte er mit seinem Lieferwagen. All diese Dinge verteilte er wohlüberlegt überall in der Hütte, verwandelte sie allmählich in einen einzigen großen Scheiterhaufen. Während die Vorbereitungen im Calcot-Forst zufriedenstellend voranschritten, zog Patchin Erkundigungen über Ray Johnsons Tagesablauf ein. Mit ein paar wie beiläufig gestellten Fragen brachte er die Postbeamtin, die gern klatschte, dazu, ihm zu erzählen, nach welchem Plan Johnson und die anderen Postboten des Bezirks eingeteilt waren. Er entdeckte unter anderem, daß Johnson entweder montags oder mittwochs am Nachmittag frei hatte. Die Bestätigung dafür erhielt er, als Angela am ersten Mittwoch im Juli plötzlich ein überraschendes Interesse an seinen Plänen für den Nachmittag an den Tag legte. Da er ihr sonstiges Desinteresse an seiner Angelleidenschaft kannte, beantwortete er ihre Fragen mit einer bitteren Erheiterung, die er vor ihr verbarg. Dann ließ er sich aus einer Laune heraus mehr Zeit als gewöhnlich bei den Vorbereitungen zu seinem wöchentlichen Ausflug an die Themse. Seine Angelausrüstung war von einfachster Art – er verachtete die »Londoner Bande«, die am Wochenende mit Gerätschaften beladen über den Fluß herfiel. Während er umständlich seine Sachen richtete und ungewöhnlich lange brauchte, um die Mehlpaste für die Köder anzurühren, beobachtete er Angela. Sie war offensichtlich nervös und ungeduldig, zugleich aber auch freudig erregt. Sie hatte nichts davon gesagt, daß sie ausgehen wollte, daher vermutete er, daß sie vorhatte, Johnson zu Hause zu empfangen, während er – Daniel – weg war. Wenn die Katze aus dem Haus ist, machen sich die Mäuse ein lustiges Leben, ging es ihm unaufhörlich durch den Kopf, während er die Teigkugel in seinen kräftigen, trockenen Fingern rollte. Als er endlich im Lieferwagen saß und losfuhr, vermerkte er mit neuerlicher ironischer Belustigung, daß Angela herauskam, um ihm nachzuwinken, als wollte sie ganz sicher sein, daß er auch wirklich wegfuhr. Patchin saß eine Stunde am Flußufer, aber er war nicht in der Stimmung zu angeln. Im Schilf schossen die Libellen umher, und
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einmal stieß ein Eisvogel herab – Dinge, die ihn normalerweise erfreut hätten, aber an diesem Tag nahm er kaum wahr, was um ihn herum vor sich ging. Er kam sich eher vor wie ein Geist, der an den Ort vergangener Freuden zurückgekehrt ist. Er freute sich nicht auf das, was jetzt vor ihm lag, als er von der Themse zurückfuhr, doch er hielt es für unerläßlich, sich zu vergewissern. In Pasterne stellte er den Lieferwagen am Weiher ab und schien dann eine ganze Weile ins klare Wasser zu starren. Ein solches Verhalten würde nicht zu verwunderten Bemerkungen Anlaß geben, denn es war bekannt, daß er hier manchmal Stichlinge und Frösche fing, um sie als Köder zu benützen, wenn er Hechte fangen wollte. Nachdem er einige Minuten blind ins Wasser gestarrt hatte, ging Patchin zu seiner geschlossenen Metzgerei und durch die Ladenräume in den Garten, der sich ans Wohnhaus anschloß. Er eilte lautlos über den Rasen und trat ganz leise durch die Seitentür ins Haus. Keine Minute später bekam er die Bestätigung seines Verdachts. Durch die Balkendecke, die Wohnzimmer und Schlafzimmer trennte, hörte er das Quietschen des Bettes, so laut, daß man fast hätte meinen können, das gute alte Ehebett wolle gegen das Treiben des ehebrecherischen Paares protestieren. Dann setzte ein merkwürdiges, rhythmisches Grunzgeräusch ein, und seine Frau rief mit fremder Stimme laut etwas Unverständliches. Geräuschlos zog sich Patchin zurück, ging zu seinem Wagen und fuhr nach Hambleden Mill zurück. Er angelte drei geschlagene Stunden, einen verbissenen Ausdruck auf dem Gesicht – einen Ausdruck, der manchen nordkoreanischen Soldaten vielleicht erschreckt hatte, ehe Patchin ihn mit seinem Bajonett getötet hatte. Sonst warf er kleine Fische in den Fluß zurück; an diesem Nachmittag riß er sie einfach vom Haken und schleuderte sie auf die Uferböschung. Als Patchin zur gewohnten Zeit nach Hause kam, fand er seine Frau in bester Stimmung. Ehebruch schien ihrer Gesundheit gutzutun. Sie sah aus wie das blühende Leben. Ein köstliches Abendessen stand für ihn bereit, und dazu hatte Angela aus dem Kramladen extra eine Flasche von dem trockenen Apfelwein geholt, den er besonders gern trank. Sie sah ganz reizend aus, die Wangen leicht gerötet, das
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blonde Haar frisch gewaschen, die zwei obersten Knöpfe einer neuen rosafarbenen Bluse waren geöffnet. Aber Patchin war keiner Reaktion fähig. Einen Moment lang fiel es ihm schwer, weiter so zu tun, als wüßte er nichts von ihrer Affäre, und er hatte das Gefühl, als müßte sich ein Ausdruck eisiger Verachtung auf seinem Gesicht zeigen. Als er hinausging, um sich die Hände zu waschen, schaute er in den Spiegel und war überrascht, sich der gewohnten phlegmatischen Miene gegenüberzufinden. Nach dem Essen wollte Angela ein wenig im Garten herumwandern. Patchin tat das normalerweise gern, pflegte sich an den Früchten seiner harten Arbeit zu freuen, gerade im Juli, in dem der Garten am schönsten blühte und grünte und die Rosenbeete ›zum Malen‹ waren, wie Angela sagte. Diesmal aber erfüllte ihn nicht einmal die Inspektion der prächtig gedeihenden Gemüsebeete mit der gewohnten Befriedigung; er spürte nur Leere und Enttäuschung – alles schien ihm hohl und sinnlos. Während Angela sich bückte, um an einer Rose zu riechen, starrte Daniel Patchin zum klaren Abendhimmel hinauf. Alle Freude am Leben war ihm verlorengegangen, und er wußte, daß sie sich erst wieder einstellen würde, wenn er sich des Mannes entledigt hatte, der seine Ehe bedrohte. Angela richtete sich auf und trat zu ihm. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Brust, eine Geste, die wenige Monate zuvor noch undenkbar gewesen wäre. Aber ihre neue Sinnlichkeit weckte keine Empfindung in ihm, und als sie später miteinander schliefen, war es wie ein leeres Ritual. Die Erinnerung an das quietschende Bett verdarb ihm allen Genuß. Patchin beschloß zu versuchen, seinen Mordplan am zweiten Mittwoch im Juli auszuführen. Am Montag dieser Woche unternahm Angela wieder einen ihrer Spaziergänge. Es war daher den Informationen zufolge, die er von der Postbeamtin erhalten hatte, anzunehmen, daß Johnson am Mittwoch nachmittag arbeiten mußte. Wenn das zutraf, würde er gegen drei Uhr nachmittags das schmale Sträßchen am Rand vom Calcot-Forst hinunterfahren, um einen abgelegenen, wenig benutzten Briefkasten zu leeren. Am Mittwoch war Patchin ganz ruhig und sicher, daß alles nach Plan gehen würde. Nach einem vorzüglichen Mittagessen, das aus
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Schweinelendchen, den ersten neuen Kartoffeln aus dem Garten und einer großen Portion Saubohnen bestand, machte er sich Punkt zwei Uhr auf den Weg. Seine Angeltasche hatte er schon am Abend vorher gepackt. Sie enthielt jetzt neben dem Angelgerät noch einige andere Dinge – Gummihandschuhe, eine Rolle starken Strick, Heftpflaster und ein Stück Eisenrohr, etwa dreißig Zentimeter lang. Nachdem er den Lieferwagen an einer klug gewählten Stelle etwas abseits des Waldsträßchens geparkt hatte, nahm er seine Tasche und ging eilig durch den Wald zur Ames-Hütte. Schon unterwegs verspürte er eine angenehme Erregung, die sich noch steigerte, als er vor dem offenen Kamin in der Küche stand und den Scheiterhaufen betrachtete, den er dort errichtet hatte. Er bestand aus drei leicht entflammbaren Stellen, Fidibussen und Holzspänen, einigen dünnen Ästen und vielen Kohlestücken und war mit der Sorgfalt aufgeschichtet, die der Buchfink dem Bau seines Nests widmet. Patchin schätzte, daß er ein, zwei Stunden mit starker Hitze brennen würde. »Lange genug jedenfalls, um eine Haxe knusprig zu braten«, murmelte er mit ausdrucksloser Stimme vor sich hin und richtete sich langsam aus der Hocke wieder auf. Nachdem er die Bahnen paraffingetränkter Holzspäne inspiziert hatte, die er in der ganzen Hütte wie lange Zündschnüre ausgelegt hatte, nahm er das verwilderte Grundstück in Augenschein, das früher einmal ein Garten gewesen war. Üppig wucherndes, hochstehendes Gras kämpfte mit ausladenden Nesselstauden, langem Sauerampfer und Bärenklau. Er glaubte nicht, daß es möglich war, auf diesem Gelände Fußspuren zu erkennen, aber er erwartete auch nicht, daß sein Unternehmen völlig risikolos sein würde. In einem Leben, das einzig vom Zufall bestimmt wurde, gab es immer Risiken. Es war Viertel vor drei, als er durch den Wald zu dem gewundenen kleinen Sträßchen zurückging. Er hatte die Gummihandschuhe übergezogen und hielt seine Hände verborgen, die linke in der Tasche seiner alten Angeljacke, die rechte in dem Beutel, der von seiner Schulter herabhing. Er stellte sich so an die kleine Straße, daß er sich auf der Fahrerseite des Postwagens befinden würde, wenn dieser kam. Die gedrückte Stimmung, die er wochenlang mit sich herumgeschleppt hatte, hob sich, und er pfiff, während er wartete – eine bei-
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nahe tonlose Version des Schlagers As time goes by in endloser Wiederholung. Punkt drei Uhr hörte er Motorengeräusche und machte sich bereit, den Postwagen anzuhalten, sollte Johnson am Steuer sitzen. Zum erstenmal an diesem Nachmittag war er nervös. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und er verspürte zitternde Furcht, wie sie ihn in Korea jedesmal vor dem Nahkampf befallen hatte. Er hatte damals zu einem Kameraden gesagt: »Jeder hat manchmal Angst. Wer das Gegenteil behauptet, ist entweder ein Lügner oder ein Narr.« Als der Postwagen um die Kurve bog, begann Patchin zu winken, erst zaghaft, dann, als er Johnsons dunklen Lockenkopf erkannte, energischer, bevor er die Hand schnell wieder verbarg. Johnson hielt das Fahrzeug an, kurbelte das Fenster weiter herunter und rief: »Was gibt’s denn?« Leicht hinkend, den Körper gekrümmt, als hätte er Schmerzen, ging Patchin langsam zum Wagen. »Tut mir leid«, sagte er. »Entschuldigen Sie. Mir geht’s nicht gut.« Dicht vor der Wagentür blieb er stehen, schweigend, die Augen halb geschlossen, leise schwankend, als wäre er kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren. Mit einem Ausdruck der Verwunderung, in die sich ein leiser Anflug von Argwohn mischte, öffnete Johnson die Wagentür und machte sich daran auszusteigen, was dank seiner Körpergröße mit einigen Umständen verbunden war. Patchin zog sein Eisenrohr heraus und schlug Johnson damit auf den Kopf. Es war der gutgezielte und wohldosierte Schlag des Metzgers, der genau weiß, was nötig ist, um ein Tier bewußtlos zu schlagen. Johnson torkelte und krachte zu Boden wie ein gefällter Ochse. Patchin bugsierte ihn wieder in den Wagen, setzte sich hinter das Steuer und fuhr, wieder das gleiche Lied pfeifend, das Sträßchen hinunter. Nach etwa hundert Metern bog er auf einen Fahrweg ab, der zu der Hütte führte. Ehe er aus dem roten Postwagen kletterte, drückte er Johnsons Finger aufs Steuerrad, dann zog er den Bewußtlosen heraus und trug ihn so geschickt, wie er das mit den halben Rindern zu tun pflegte, die ihm geliefert wurden, auf der Schulter zur Ames-Hütte. An der halbverfallenen Tür blieb er einen Moment stehen, um Johnsons Finger auf zwei leere Paraffinkanister zu drücken, dann
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trug er ihn weiter in die Küche. Johnson war immer noch bewußtlos, doch als Patchin ihn auf den Betonboden niederfallen ließ, begannen seine Augenlider zu flattern. Patchin zog ihn hoch wie eine Lumpenpuppe und schlug ihn mit einem Kinnhaken k. o. der die meisten Boxer zu Boden geschickt hätte. Nachdem Patchin Johnson den großen Mund mit Heftpflaster verklebt hatte, begann er, ihn mit der Geschicklichkeit zu bearbeiten, die er stets an den Tag legte, wenn er die Sonntagsbraten für seine Kunden vorbereitete. Er drückte die Beine des Bewußtlosen dicht zusammen und verschnürte sie fest von den Oberschenkeln bis zu den Knöcheln, wobei er die gleiche Technik benützte wie bei der Reparatur seiner Angel. Er zurrte den Strick so fest, daß die Beine völlig unbeweglich wurden, und ließ unten an den Knöcheln eine Schlinge. Gleichermaßen verfuhr er mit den schlaffen Armen. Dann kam der Teil, der ihm die tiefste Genugtuung verschaffte: Er schob die Schlingen über die beiden Haken am offenen Kamin, in denen früher der Drehspieß gelegen hatte, so daß Johnson nun wie ein Spanferkel über dem mit Sorgfalt errichteten Scheiterhaufen hing. Patchin entzündete den Stapel und ging aus der Hütte. Ehe er die Gummihandschuhe auszog, hob er die leeren Paraffinbehälter auf und deponierte sie bei dem alten Gartentor, dann machte er sich davon und ging schnellen Schritts zu der Stelle, an der er seinen eigenen Wagen versteckt hatte. Es war halb vier Uhr, und alles hatte geklappt wie am Schnürchen. Pech konnte man natürlich immer haben – es bestand beispielsweise die, wenn auch entfernte Möglichkeit, daß ein anderes Liebespaar sich hier im Wald vergnügte und ihn so zielstrebig vorübereilen sah –, aber gegen Zufälle konnte man sich eben nicht absichern. Auf der Fahrt zur Themse ließ sich Patchin seinen Plan noch einmal durch den Kopf gehen und überlegte sich, daß ein, zwei Dinge noch getan werden mußten. Sobald er den Wagen in der Nähe der Hambleden-Mühle geparkt hatte, machte er seine Angel fertig, befestigte sogar den Köder, was er sonst immer erst tat, wenn er am Wasser war, um, falls er jemandem begegnen sollte, den Eindruck zu erwecken, er hätte bereits gefischt und wäre nun auf der Suche nach einer anderen Stelle. Dann schulterte er die Angel und schritt den
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Kiesweg entlang zur Schleuse. Als er näher kam, hielt er aufmerksam nach dem Schleusenwärter Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken und war froh, ungesehen passieren zu können. Zuerst warf er das Eisenrohr ins Wasser, dann angelte er eine Stunde lang in aller Ruhe. Er fischte nahe bei der Uferböschung, wo die Fische häufiger bissen, dafür aber auch immer sehr klein waren. Er fing ein winziges Rotauge und drei Gründlinge, war aber ganz zufrieden mit dem Fang. Den letzten Gründling ließ er am Haken, als er zur Schleuse zurückging. Das Glück war ihm immer noch hold; der Schleusenwärter war an der Arbeit, als er kam, öffnete eben die Schleusentore, um eine Motorjacht passieren zu lassen. Als er Patchin sah, rief er: »Was gefangen, Dan?« »Nicht viel. Nur Kleinvieh«, rief Patchin zurück und schüttelte seine Angel, daß der aufgehängte Gründling an der Schnur auf und nieder tanzte. »Die benutze ich als Köder, wenn ich im Mühlweiher Hechte fische. Wiedersehen.« »Wiedersehen. Heben Sie mir fürs Wochenende ein gutes Hühnchen auf?« »Mach’ ich.« Patchin ging ein klein wenig schneller davon, als es sonst seine Art war. Angesichts der bevorstehenden Rückkehr zur Ames-Hütte verspürte er eine Erregung, die es ihm schwermachte, unbefangen zu erscheinen. Ausnahmsweise einmal war er froh, daß er ein so nichtssagendes Gesicht hatte. Während seine Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt waren, nahm er so schnell wie möglich seine Angel auseinander. »Ja, es klappt alles wie geplant«, sagte er laut, obwohl nirgends ein Mensch war, der ihn hätte hören können. Doch auf der Rückfahrt zur Hütte überkam ihn plötzlich ein überraschendes Gefühl von Leere und Enttäuschung. Zwar war, soweit er feststellen konnte, alles ohne Panne abgelaufen, aber irgendwie war es zu einfach gegangen. Es wäre befriedigender gewesen, wenn er dem langen, aber ziemlich schwächlichen Johnson die Möglichkeit zur Gegenwehr hätte geben und ihn dann so locker und leicht hätte erledigen können wie ein schlauer alter Kater eine unterernährte Ratte.
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Gleich als er den Calcot-Forst erreichte, nahm er den feinen Geruch wahr, der zwischen den Bäumen hing. Er erinnerte ihn an den würzigen Schweinebratenduft, der ihn zur Mittagszeit zu Hause empfangen hatte. Mit jedem Schritt, den er weiterging, wurde der Geruch stärker, und bald sah er die grauen Qualmwolken, die aus dem alten Kamin der Ames-Hütte in die Höhe stiegen. Im Flur war der Geruch sehr stark, in der Küche, in der ein verkohlter Kadaver noch immer über dem schwelenden Feuer schmorte, war er ausgesprochen widerlich. Trotz des Gestanks blieb Patchin und betrachtete das schwarze Ding, das keine Ähnlichkeit mit dem zungenfertigen Postboten hatte. Patchins Abscheu auf den Mann war jetzt, da Haß keine Bedeutung mehr hatte, ganz verflogen. Er verspürte keine Schadenfreude beim Anblick seines Opfers, sann vielmehr über die Vergänglichkeit des Menschen nach. Wie leicht war der Mensch in den Staub getreten, wie schnell war er in einen Klumpen verwesenden Fleisches verwandelt! Genauso war es in Korea gewesen: Eben noch hatte sein Freund Dusty Seddon ihm einen zweideutigen Witz erzählt, und dann lag er auch schon stumm, mit zerfetztem Gesicht neben ihm. Im Flur machte Patchin noch einmal halt, um die mit Paraffin getränkten Holzspäne in Brand zu setzen. Dann ging er durch die Tür hinaus und warf die Streichholzschachtel hinter sich ins Haus. Noch ehe Patchin aus dem Garten hinaus war, hatten die Flammen um sich gegriffen. Er hörte sie toben, ohne sie zu sehen, bis schließlich hinter einem der bleigefaßten Rautenfenster rote Zungen aufleuchteten. Zum zweitenmal an diesem Tag überkam Patchin ein Anfall von Nervosität; seine rechte Hand zitterte heftig, und ein paar Minuten lang war ihm, als wären seine Beine aus Gummi. Es kostete ihn große Anstrengung, sich vorwärts zu bewegen. Als er wieder in seinem Wagen saß, zog er ein großes Taschentuch heraus und wischte sich die schweißnasse Stirn. Danach gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause, ehe er auf seine gewohnte umsichtige Art losfuhr. Hatte er irgendwo etwas übersehen – vielleicht einen winzigen Fehler gemacht, der schon in wenigen Tagen die Polizei zu seiner Tür führen würde? Während er den Wagen durch die kleinen Straßen steuerte, die ihn wieder auf die Hauptstraße von
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Hambleden nach Pasterne bringen würden, bedrängte ihn unablässig ein nagender Verdacht, daß er einen entscheidenden Fehler gemacht haben könnte. Allmählich jedoch, während er langsam durch den Spätnachmittag fuhr, gewann er seine Ruhe wieder und begann zu überlegen, ob ein Übergreifen des Feuers auf den Wald zu befürchten sei. Der große Garten mit den wildwuchernden Gräsern und Unkräutern müßte eigentlich wie eine Barriere wirken; aber selbst wenn sich das Feuer ausbreiten sollte… Lord Benningworth schuldete ihm mehr als eine kleine Gefälligkeit für die viele harte Arbeit, die er seit fünfundzwanzig Jahren als Amateurförster geleistet hatte. Ein Gedanke schoß Patchin plötzlich durch den Kopf, und er lächelte. Das Familienmotto der Benningworths, Esse quam videri, »Mehr sein als scheinen«, war hier in der Gegend wohlbekannt; zu schade, daß Ray Johnson nicht gewußt hatte, daß auch Daniel Patchin einen Wahlspruch hatte: »Was ich besitze, gebe ich nicht her.« Als Patchin Pasterne erreichte, fühlte er sich wieder völlig normal. Gewaltsamer Aufruhr hatte vorübergehend sein beschauliches Leben bedroht, aber das war nun vorbei. Das Dorf sah im Licht des späten Nachmittagssonnenscheins besonders hübsch aus. Die weißen Enten schwammen so geschäftig auf dem Weiher hin und her, als würden sie dafür bezahlt, und Schwalben schossen auf der Jagd nach Mükken in geschwindem Flug über die spiegelglatte Wasserfläche. Die schwarzweiße Katze der Postbeamtin schlich so vorsichtig über das frischgemähte Gras, als wollte sie einem Wassermolch auflauern, und setzte sich zierlich am Rand des Weihers nieder. »Idyllisch«, murmelte Patchin. Auf dem Weg zu seinem adretten kleinen Haus überlegte Daniel Patchin, was er sagen sollte, wenn er Angela sah. Er mußte unbedingt völlig normal erscheinen, damit sie nicht, wenn sie von dem rätselhaften Unglück im Calcot-Forst hörte, aufgrund seines veränderten Verhaltens Verdacht schöpfen konnte. Erst jetzt konnte er verstehen, wie schwer es Angela nach jenem Spaziergang im Mai gefallen sein mußte, halbwegs normal zu erscheinen oder eine unverfängliche Bemerkung über ihren Ausflug zu machen, jeder Satz, jede Bemerkung, die er sich überlegte, erschien ihm künstlich und ver-
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dachterregend. »Schöner Nachmittag, aber ich hab’ nichts gefangen« – falsch. »Hat Spaß gemacht, aber es war nicht das richtige Angelwetter« – unnatürlich. Aber Patchin hätte sich gar kein Kopfzerbrechen zu machen brauchen: sobald er nämlich die Seitentür des Hauses öffnete, hörte er das durchdringende Quietschen der protestierenden Sprungfedern des Ehebetts und dann Angelas Aufschrei mit einer Stimme, die fremd und unnatürlich klang. Aus dem Englischen übertragen von Mechthild Sandberg-Ciletti
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