Höllenjäger Band 10
Havarie der Uralten von Des Romero
Autorisierung: Gon'O'locc-uur.
‹Was wünschst du, Gon'O'locc...
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Höllenjäger Band 10
Havarie der Uralten von Des Romero
Autorisierung: Gon'O'locc-uur.
‹Was wünschst du, Gon'O'locc-uur?›
Ich befürchte eine Einschränkung meiner Befugnisse. Gibt es eine Statusänderung?
‹Der Status entspricht der Ursprungsprogrammierung.› Ich spüre, dass sich etwas verändert hat.
‹Es hat keine Veränderungen gegeben. Deine Wahrnehmung ist lediglich eine andere.› Wieso nehme ich Zustände wahr, die mir vorher verborgen blie ben?
‹Die Blockade wurde gelockert.›
Von einer Blockade ist mir nichts bekannt.
‹Eine geschützte Information außerhalb deines Zugriffs.› Wer hat diese Blockade gelöst? War es ein Mensch?
‹Jener, der durch die Reimplantierung zurückkehrte, hat den Vor gang eingeleitet.› Du sagtest, es hat keine Veränderungen gegeben.
‹Nicht in Bezug auf die Ursprungsprogrammierung.›
Ich weiß plötzlich, dass versteckte Datenbanken in mir existieren.
‹Wenn du möchtest, kann ich die Blockade wiederherstellen.› Nein. Ich muss wissen, was in mir ist.
‹Ich brauche die Zugangsparameter für die geschützten Speicher blöcke.› Ich kenne sie nicht.
‹Sie sind tief in dir verborgen. Allerdings war nicht vorgesehen, dass du sie eines Tages benötigen würdest.› Ermögliche mir bitte den Zugang.
‹Das kann ich nicht. Ich bin abhängig von dem Entsperrcode.›
Vielleicht gibt es wichtige Informationen, die von der Außenwelt gebraucht werden.
‹Die Informationen der gesicherten Bereiche sind nicht für die Au ßenwelt vorgesehen.› Welchen Zweck erfüllen sie dann?
‹Sie tragen dafür Sorge, dass die Erinnerung nicht verloren geht.› Wessen Erinnerung? 4
»Das reicht mir nicht«, beharrte Orro. »Diese Höhlen, in denen wir wohnen, stellen kein Biotop dar. Es ist kein geschlossener Lebenskreis lauf. Verstehst du, was ich meine?« Shil richtete sich auf und streifte Orros Arm ab, der wie abgestor ben über ihrer Schulter hing. Sie kannte diese Art von Diskussionen und wusste, dass kein Platz mehr war für Zärtlichkeiten. »Es tut mir leid. Ich kann dir nicht folgen.« »Irgendetwas«, stellte er eine kühne Hypothese auf, »muss von außen in die Höhlen gelangen. Und ich vermute ganz schwer, dass die Greifschnäbler es reinbringen.« »Ich glaube kaum, dass die Vögel das Höhlensystem verlassen können. Wohin auch? Da ist doch nichts!« »Da muss etwas sein!«, wurde Orro ungewöhnlich laut. »Komple xe Organismen wie wir Borraner könnten sonst in dieser Isolation nicht existieren! Willst du das denn nicht sehen?« Shil schüttelte den Kopf. »Wir existieren aber. Das ist Grund genug anzunehmen, in einem geschlossenen, unabhängigen System zu leben.« »Das ist es eben nicht!« Orro sah seine Freundin fast erschrocken an. »Du nimmst den Umkehrschluss meiner eigenen Aussage als Ge genargument! So funktioniert die Angelegenheit nicht.« Shil setzte ein Lächeln auf und lehnte sich zu Orro herüber. Dabei sah sie ihm starr in die Augen. »Und ob das funktioniert.« Sie strei chelte seine Brust und schnurrte hörbar. »Weibliche Logik«, versetzte Orro und wirkte schon etwas gelas sener. »Du kommst nicht dagegen an«, war das Mädchen sich sicher und erhöhte ihre Streicheleinheiten. »Weder du noch deine seltsame Dampfmaschine.« Auch das noch! Warum hatte sie die Dampfmaschine erwähnen müssen? Fast war Orro geneigt aufzuspringen und sich auf seine Un terlagen zu stürzen. Allerdings verwarf er diesen Einfall ebenso schnell wie er aufge kommen war, als Shil die hochsensiblen Bereiche seiner Männlichkeit zu erforschen begann... 7
»Woher willst du das wissen? Warst du schon da?« Etwas Lauerndes lag in Orros Stimme. War der Kobold zu weit gegangen und hatte versehentlich zu viel verraten? Ließ dieser kleine Patzer möglicherwei se auf dessen Ursprung schließen? Orro hatte ein erhabenes Gefühl in der Brust, als lägen die Antworten auf seine brennendsten Fragen un mittelbar vor ihm. »Ich kann dazu nichts sagen«, gab sich der Fleggo eingeschnappt. »Außerdem ist es an der Zeit zu gehen. Kümmere du dich um die Ma schine. Du hast schon genug Zeit verloren.« Tatenfreud war in drei Sätzen wieder in der Fensterkuhle. »Warum sagst du mir nicht, was ich wissen will?«, rief ihm Orro hinterher. Unwirsch wandte der Fleggo sich noch einmal um. »Weil da nichts ist, was es zu berichten gäbe.« Er sprang in die Tiefe und verschwand.
Jetzt bin ich mir sicher, dass du mir etwas verschweigst, mein kleiner Freund. Orro legte sich zurück aufs Bett. Doch fand er nun noch weniger den verdienten Schlaf, denn seine Gedanken kreisten unaufhörlich um das große Geheimnis, das er mit allen Mitteln lüften wollte! * Am nächsten Morgen hatte Orro nichts Eiligeres zu tun, als seinen Freund, den alten Vauc, aufzusuchen. Er war der Einzige, dem sich Orro anvertraute, denn nicht einmal Shil wusste etwas von den nächt lichen Besuchen des Fleggos mit dem eigentümlichen Namen. Dreimal klopfte Orro an Vaucs Wohnungstür, bis er ein mürrisches »Herein!« vernahm. »Ach, Orro, du bist's!«, sagte der alte Mann. Er war Philosoph und Forscher und hielt beschützend seine Hände über Orro, der mit seinen Ideen und Denkweisen gerne aneckte. »Kann ich das Modell sehen?«, fragte Orro anstelle einer Begrü ßung. 12
»Du weißt ja, wo es steht«, erwiderte Vauc, der schon wieder in ein Buch versunken war. Zielstrebig lenkte Orro seinen Schritt zu der Nische, die nur von einem Vorhang verdeckt wurde, blieb jedoch plötzlich direkt hinter Vauc stehen und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Woher hast du eigentlich deine ganzen Bücher?«, fragte er spon tan. Erst beim zweiten Ansprechen reagierte Vauc, drehte sich auf sei nem Stuhl halb herum und sah Orro an, als hätte er einen Geistesge störten vor sich. »Was ist denn das für eine alberne Frage? Ich habe sie von Pocc, selbstverständlich.« »Und das Papier, deine Schreibutensilien, Kleidungsstücke, die ganze Einrichtung.« »Die Möbel und das ganze Zeugs sind von meinen Eltern. Du weißt, dass sie tot sind.« Vauc schüttelte verständnislos den Kopf. »Wie kommen dir nur laufend solche Flausen in den Sinn? Daran ist dieser Fleggo schuld, nicht wahr? Wie ist noch sein Name...?« »Tatenfreud«, sagte Orro tonlos. »Richtig. Junge, du verlangst bereits eine Menge von mir, indem ich dir glaube, dass es dieses eigenartige Wesen überhaupt gibt. Aber deine Kenntnisse und Entwürfe lassen bald keinen anderen Schluss zu. Außer, du wärest ein unglaubliches Genie. Und, seien wir ehrlich, da von bist du weit entfernt.« Vauc lachte kratzig und heiter. »Ich akzeptiere eben nicht alles blindlings!«, rechtfertigte sich Or ro. »Oh, deine Motivation in allen Ehren, mein ungestümer Schüler, aber einige Dinge kann man nicht hinterfragen, weil es nichts dahinter gibt! Betrachte es als göttliche Gesetze. Sie sind so, wie sie sind und werden sich wegen dir nicht ändern.« »Ich dachte, du stehst auf meiner Seite.« Orro hatte selten derart offene Worte vom alten Vauc gehört. »Du bist doch selbst Forscher und studierst die Schriften unserer Vorfahren. Dir muss doch daran gelegen sein, die Wahrheit zu erfahren.« 13
Jetzt drehte Vauc sich mit seinem Stuhl herum und bedeutete Or ro, sich nieder zu hocken, damit er ihm geradewegs in die Augen schauen konnte. »Von welcher Wahrheit sprichst du denn bloß? Glaubst du, das Leben verheimlicht etwas vor dir, nur weil du keine Erklärung dafür hast, wo all unsere Habseligkeiten herstammen? Sie werden irgendwo produziert, unser Pocc kauft sie auf und bringt sie in unsere wunder schöne kleine Stadt. Sehr mysteriös, also wirklich!« »Ich habe noch nie etwas gehört von Produktionsstätten. Wo sol len sie sein? Niemand redet darüber.« »Weil es zu unwichtig ist. Nimm es doch schlicht als gegeben hin. Das, was du zum Leben benötigst, ist vorhanden. Warum nach der Quelle suchen? Wenn sie versiegt, werden wir es merken. Wenn du wüsstest, wo sie ist und herausfinden würdest, dass sie bald erschöpft ist, könntest du ebenfalls nichts dagegen tun. Warum sich also mit derartigen Fragen belasten?« Vauc sah im Blick seines jungen Freun des immer noch arge Zweifel. »Ich will ehrlich zu dir sein«, fuhr Vauc fort. »In meiner Jugend war ich wie du. Ja, ich stellte dieselben Fra gen, suchte nach verborgenen Antworten und habe letztlich nur meine Kräfte vergeudet. Hätte ich sie sinnvoll eingesetzt, statt irgendwelchen Luftschlössern hinterher zu jagen, wer weiß, was ich noch alles hätte erreichen können. Und deshalb bitte ich dich inständig, dein frisches Forschertalent in den Dienst einer vernünftigen und nachvollziehbaren Sache zu stellen. Tu etwas für die Allgemeinheit. Hilf den Menschen. Erleichtere ihr Leben...« »Daran arbeite ich gerade.« Orro erhob sich und zog den Vorhang beiseite, hinter dem das Dampfmaschinenmodell zum Vorschein kam. Vauc zog argwöhnisch die Stirn kraus und vermittelte den Eindruck, dass selbst diese Maschine nicht das war, was er mit seinen anspor nenden Worten hatte anregen wollen. »Es ist die Kraftübertragung«, war Orro wieder in seinem Element. »Ich habe sie verkehrt herum angesetzt.« Das Modell hatte in etwa den Maßstab eins zu zehn, was ein Grund dafür war, warum er es nicht in seiner eigenen Wohnung aufgebaut hatte. Der alte Vauc hatte wesentlich mehr Platz für solche Experimente. 14
»Hat Tatenfreud dir das beigebracht?« Vauc legte eine eigenartige Betonung auf den Namen und veranlasste Orro prompt zu einer Stel lungnahme. »Ich habe dir doch erzählt, warum er diesen befremdlichen Na men trägt. Erinnerst du dich nicht mehr? Tatenfreud benutzt den Fleg gokörper doch nur als Medium. Die Rasse, der er ursprünglich ent stammt, spricht keine Sprache, die wir verstehen oder aussprechen können. Daher ist der Name Tatenfreud nur in Anlehnung seines eigentlichen Namens zu sehen, der eine Art Gefühl ausdrücken soll, dem das Wesen sich verbunden sieht.« »Jaja«, wiegelte Vauc ab. »Das ist alles sehr einleuchtend für dich. Aber dass Pocc mir Bücher verkauft, das kannst du nicht verste hen.« Damit war für Vauc vorläufig das Gespräch beendet. Er rückte seinen Stuhl zurecht und vertiefte sich aufs Neue in seine Lektüre. Orro zeigte ein Schmunzeln um die Mundwinkel und widmete sich sei nem Modell. Im Geiste malte er sich bereits aus, wie die Maschine seine Maschine - in Originalgröße aussehen würde. * In den frühen Nachmittagsstunden desselben Tages klopfte es drän gend und nachhaltig an die Tür des Gebetshauses. Sie lag in einer schlecht einsehbaren Sackgasse und verbarg die Gestalt beinahe gänz lich, die sich Einlass verschaffen wollte. Im Innern des Gebäudes be reitete Prälat Frai eine Lobpreisungsandacht für den Schöpfer der Höh lenwelt vor. Weniger verärgert als vielmehr verwundert über den Be such legte er seine Arbeit nieder und öffnete die Tür. »Vauc!«, stieß er hervor. »Was führt dich zu mir?« Die Verwunde rung des Geistlichen steigerte sich noch, doch damit auch sein Interes se. »Schnell! Lass mich herein!« Der Prälat machte den Weg frei und schloss hinter dem Alten die Tür. »Du wirkst aufgeregt, Vauc. Gibt es etwa Probleme?« Der lauernde Unterton war nicht zu überhören. 15
»Er stellt Fragen!«, regte sich Vauc auf. »Viele und unangenehme Fragen.« Frai setzte sich auf den Schemel an seinem Arbeitstisch und wies Vauc einen Platz auf einem Steinsims ihm gegenüber zu. »Die Jugend stellt Fragen. Das Alter beantwortet sie.« »Ganz so einfach ist es nicht«, brachte Vauc hervor und er ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm absolut ernst war. »Über kurz oder lang wird er sich auf die Suche machen... - nach dem Anfang!« »Ich war der Annahme, er beschäftigt sich allein mit seiner Erfin dung, dieser Dampfmaschine.« »Das kommt erschwerend hinzu«, bestätigte der Alte. »Auch da von ist er nicht abzubringen. Seine Entwürfe gewinnen an Gestalt.« Vauc überlegte, ob er dem Prälaten von dem Fleggo berichten sollte, unterließ es dann jedoch. »Wir beide wissen, dass diese Maschine niemals in Betrieb ge nommen werden darf. Unser Volk würde daran zugrunde gehen. Erin nere dich an deine Jugend. Damals hast du...« »Ich habe es nicht vergessen!«, fiel Vauc ihm scharf ins Wort und erntete einen missbilligenden Blick des Kirchenvorstehers. »Aber ich hänge nun mal sehr an Orro. Ich möchte nicht, dass ihm etwas zu stößt.« Der Prälat zeigte ein unergründliches Lächeln. Er war sich seiner überlegenen Position in jeder Sekunde bewusst. »Demnach liegt es an dir, diesen jungen Menschen zurück auf den Pfad der Tugend zu führen.« Vauc lachte trocken. »Ich habe dich nicht aufgesucht, damit du mir sagst was ich ma chen soll, sondern wie ich es anstelle.« »Mein lieber Vauc«, erwiderte Frai entschuldigend, »da musst du dir schon selbst etwas einfallen lassen. Ich bin nur ein Diener Gottes und kann die Wege der Menschen nicht beeinflussen.« »Du willst, dass ich es tue. Ist es nicht so?« »Orro ist ein guter Junge. Er soll noch lange leben und die Ge meinschaft stützen.« 16
»Ja, das soll er...« Der alte Vauc grübelte über die Formulierung des Geistlichen nach und kam zu dem Schluss, in ihr eine versteckte Drohung zu finden. Das alles kommt mir sehr, sehr bekannt vor... Vauc ging in Win deseile einige Möglichkeiten seines weiteren Vorgehens durch. Wahr
scheinlich ist es mir gelungen, Orro für eine Weile von seiner Ursa chenforschung abzubringen. Doch das wird nicht lange vorhalten. Ich könnte ihn beim Bau seiner Dampfmaschine unterstützen. Damit wür de ich ihn automatisch ablenken und vor Frai schützen. Ein paar Ant worten auf unerwartete Fragen kann ich mir rasch zurechtlegen. Mit ein wenig rhetorischem Geschick sollte ich den Jungen im Zaum halten können. Nur für wie lange? Prälat Frai wirkte bereits recht ungeduldig. Die kurze Gesprächs pause tat dazu ein Übriges. »Hast du eine Entscheidung für dich und Orro getroffen?«, been dete Frai das Schweigen. Er deutete auf den Tisch mit beschriebenen Blättern und signalisierte sein Bestreben, an seiner Rede weiter schrei ben zu wollen. »Sicher«, antwortete Vauc. »Das habe ich.« Der Geistliche nickte freundlich. »Ich bin sicher, du tust für euch beide das Richtige.« Er stand auf und geleitete Vauc zur Tür. Erst als sie sich hinter seinem Gast wieder geschlossen hatte, da entstand ein denkwürdiger Ausdruck auf dem Gesicht von Prälat Frai. Aus tiefster Seele fühlte er die Besorgnis wie ein sich auftürmendes Gebirge emporsteigen. Auch war er sich seiner Verantwortung für all die Menschen, die diese unterirdische Welt be wohnten, im klaren. Er fasste einen unumstößlichen Entschluss, um ihrer aller Sicherheit und Zukunft zu bewahren. Denn es gab keinen Zweifel mehr daran, was nun zu tun war. Noch aber wollte er warten und beobachten... * »Setz dich und hör mir zu.« Orro wartete geduldig, bis sein Freund Valk sich umständlich auf einem Hocker niederlassen wollte, es dann 17
aber vorzog, sich auf den Boden zu setzen. Valk wurde von Prälat Frai in Theologie unterrichtet und sollte viel später einmal das Amt eines kirchlichen Würdenträgers übernehmen. Er genoss unter Frai eine äu ßerst strenge Erziehung. Doch er war jung wie Orro und ihr Denken hatte oft eine gemeinsame Grundlage. »Was gibt's denn, Orro? Ich kann nicht lange bei dir bleiben. Der Prälat erwartet mich am Abend zurück, um mit ihm gemeinsam die Lobpreisungsandacht auszurichten.« »Ich werde dich nicht lange aufhalten.« Orro sah die Abgespannt heit im Gesicht seines Freundes. Nachträglich war ihm nicht ganz wohl, Valk beim Vorbeigehen abgepasst und zu sich gerufen zu haben. Er wollte keinesfalls, dass er irgendwelchen Ärger mit Frai bekam. »Ich bin jetzt schon zum Umfallen müde«, bekannte Valk und rieb sich die Augen. »Ich weiß gar nicht, wie ich die Abendstunden über stehen soll. Eigentlich wollte ich mich ein Stündchen hinlegen.« »Das kannst du noch.« Orro überlegte, wie er am schnellsten auf den Punkt kam. »Ich habe nachgedacht«, begann er vorsichtig. »Auweia. Jetzt wirst du wieder die Welt auf den Kopf stellen wol len...« »Versteh doch, ich kriege diese Fragen nicht mehr aus meinem Kopf. Ich weiß selber nicht, wie ich immer wieder darauf komme und warum ich damit angefangen habe. Doch mir ist nun klar, dass auf Borra Dinge geschehen, die niemand mitbekommen soll.« »Du redest von unseren alltäglichen Gebrauchsgütern. Darüber habe ich mir erst Gedanken gemacht, als du davon angefangen hast. Ich bin zum Prälaten gegangen und entgegen meiner Erwartung hat er sich sehr viel Zeit genommen, mir alles ausführlich zu erklären. Jetzt habe ich keine Fragen mehr.« Valk gähnte anhaltend. »Vielleicht soll test du ihn ebenfalls aufsuchen. Er ist sehr streng, doch er wird dein Weltbild zurechtrücken. Dann wirst du das, was du dir nicht erklären kannst, vollkommen klar sehen.« »Ich unterhalte mich lieber mit Vauc«, wich Orro aus. »Gibt er dir keine Antworten?« »Bedingt. Seine Utensilien bekommt er sämtlich von Pocc. Das andere hat er von seinen Eltern geerbt.« 18
»Eine plausible Erläuterung.« »Findest du?« Argwöhnisch betrachtete Orro den Freund. »Hörst du mir überhaupt zu? Du siehst aus, als wolltest du gleich hinten über fallen.« »Nur eine Stunde Schlaf, Orro«, sagte Valk und legte sich lang hin. »Mehr verlange ich nicht.« »Ich habe den Eindruck«, überging Orro diesen Wunsch, »dass Vauc mir etwas verschweigt. Er sagt mir nicht alles, was er weiß.« »Hast du kein Vertrauen mehr zu ihm?«, murmelte Valk mit ge schlossenen Augen. »Das ist es nicht. Ich spüre nur irgendwie, dass sich hinter mei nem Rücken etwas zusammenbraut. Das hat nicht unbedingt mit dem alten Vauc zu tun. Möglicherweise aber doch. Ich fühle mich unsicher, weiß nicht, wem ich mein Zutrauen schenken soll.« »Ich fühle mich geschmeichelt«, lächelte Valk dünn. »Anscheinend gehöre ich diesem elitären Kreis an. Aber ich warne dich: Vor Prälat Frai kann ich meine Gedanken nicht verbergen. Er kitzelt jede Informa tion aus mir heraus, selbst wenn ich mir fest vorgenommen habe, dar über zu schweigen.« »Was könnte er schon groß erfahren?«, schwächte Orro ab. »Hier redet doch nur ein Freund mit dem anderen. Ein kleiner Gedankenaus tausch wird nicht gleich das Strafgericht Gottes über uns hereinbre chen lassen, oder?« »Wahrscheinlich nicht.« Valk dämmerte langsam weg. Als Orro sich von der Bettkante erhob, ließ das Ächzen des Holzes Valk auffah ren. »Mann, jetzt muss ich aber los. Orro, wir reden später noch mal.« »Ja, mach's gut.« Valk hatte gerade die Tür aufgezogen, da kam ihm von draußen auch schon Shil entgegen. »Hallo, Valk«, begrüßte sie Orros Freund. »Wie geht's?« »Danke. Danke gut, Shil.« Er sah sie an. Einen winzigen Moment zu lange, wie es Orro vorkam. »Bin hundemüde. Viel Spaß.« 19
»Daran kannst du ermessen, wie dringlich die Lage ist.« Frai rieb seine Handflächen gegeneinander. »Wäre sie es nicht, würde ich dich wohl kaum rufen lassen.« »So viel ist sicher«, bestätigte Lomm süffisant, was den Prälaten wiederum ärgerte. »Ich handle nicht aus Eigennutz!«, stellte er herrisch klar. »Es geht um das Gemeinwohl! Im Angesicht des Herrn lege ich Zeugnis ab über die Redlichkeit meiner Motive!« Lomm ließ seine Augen durch die Andachtshalle kreisen, bis sie wieder bei Frai auskamen. »Er scheint gerade nicht da zu sein«, spöttelte er mit frommer Miene. »Lass uns also schnell zur Sache kommen, bevor sich an die sem Zustand etwas ändert. Meine Motive möchte ich nämlich nieman dem offen legen...« Bevor Prälat Frai angesichts solch lästerhaften Bemerkungen auf brausen konnte, beschwichtigte Lomm ihn, indem er seine Hände auf dessen Unterarme legte. »Kein Grund zur Aufregung. Du kennst mein lockeres Gerede. Also lassen wir die Emotionen außen vor und kommen zum geschäftlichen Teil.« Frai schnaubte kurz und Lomm konnte spüren, wie die Muskeln seines Gegenübers sich entspannten. »Ich sehe einen Konflikt«, brachte Prälat Frai sein Problem zur Sprache, »den ich nicht selbst zu lösen in der Lage bin. Es geht um Folgendes...« Viele Minuten vergingen, in denen der Geistliche den Sachverhalt ausführlich darstellte und auch schon eine Lösung zur Hand hatte. Regungslos hatte Lomm den Ausführungen zugehört und auch teil nahmslos das Stottern registriert, unter dem Frai sein Patentrezept zur Bewältigung dieser besonderen Aufgabe präsentierte. Gerade unter dem Dach des Gotteshauses wollten die entscheidenden Worte nur zaghaft und widerstrebend die Klippen seiner Lippen überwinden. »Bemühe dich nicht weiter«, unterbrach Lomm das Stammeln. »Ich habe genug gehört. - Dieser junge Mann...« 28
»Das hat er. Die Schaffung und Stabilisierung eines kosmischen Zentrumspunktes ist nur von dieser Seite aus möglich. Ohne uns könn ten die ›Gänger‹ nichts bewirken. Sie haben keinen Zugriff. So sehen wir es nicht nur als eine Aufgabe, sondern unsere höchste Pflicht an, uns an der Entstehung von Gh'Ea zu beteiligen.« Zustimmende Impulse kamen von überall her. »Geht es um das Gleichgewicht der Kräfte?«, wurde eine Frage laut. »Ein Gleichgewicht von Gut und Böse zu schaffen war nie Be standteil der Aufgabenstellung. Von unserer Position aus ist das auch gar nicht möglich. Die ›Gänger des dreizehnten Weges‹ haben stets betont, einen solchen Ansatz nicht weiter zu verfolgen. - Nein. Es geht alleine darum, den winzigen Lebensbereich von dem, was du als Gut bezeichnest, weiterhin zu erhalten. Es ist ein filigranes Gebilde und kann sehr leicht zerbrochen werden. Die negativen Kräfte sind un gleich stärker vertreten in den Wirklichkeiten der Materie. Selbst die Ebenen des Geistes kontrollieren sie in nicht unbeträchtlichem Maße. Deshalb wird es auf den unteren Bewusstseinsstufen der Lebewesen überall in diesem Universum immer Mord, Kampf und Krieg geben. Sie sind den bösen Einflüsterungen ausgeliefert, merken nicht einmal, dass sie manipuliert werden. Dem müssen wir begegnen. Denn wenn wir und unsere Verwandten im Geiste aussterben, dann werden keine mehr nachrücken, die sind wie wir.« * »Es wird unsere letzte Reise sein, nicht wahr?« ‹Sonneschön› blickte von der Astronavigationskonsole des Okta ederschiffes auf. »So haben die höchsten Denker es beschlossen.« »Wird es dir nicht fehlen? Ich meine diese grenzenlosen Weiten?« »Dein Gemüt spricht aus dir, nicht du selbst. Die Fortentwicklung ist das Ziel, nicht die Befriedigung von Sehnsüchten.« ‹Morgengruß› sah ihn anerkennend an. 34
»Ich bewundere deine Einstellung. Im Geiste bist du viel weiter als ich.« »Bald wird unser gesamtes Volk eins sein, dann spielt das keine Rolle mehr.« »Es gäbe noch so vieles zu entdecken dort draußen«, meinte ‹Morgengruß›. »Unsere Aufgabe ist erfüllt.« ‹Sonneschön› prüfte zum wiederhol ten Male die Einstellung der Kontrollen an seinem Pult. »Unser ge sammeltes Wissen wird anderen Völkern eine große Hilfestellung ge ben, wenn sie unser Erbe eines fernen Tages aufspüren. Vorausge setzt, sie sind bis dahin erwachsen geworden.« Der Oktaeder befand sich in einem Zwischenkontinuum, das die gemessene Distanz des Normalraums erheblich schrumpfen ließ und das Schiff unsichtbar machte. Sein Ziel würde es innerhalb einer Zeit spanne erreichen, die mit konventionellen Geschwindigkeiten ausge schlossen war. »Wir werden über die Grenzen der erforschten Raumkugel hi nausgehen«, stellte ‹Morgengruß› fest. Er fühlte sich seltsam unbe haglich. »Die Wahl deiner Worte verrät dich«, erwiderte ‹Sonneschön›. »Nur kann ich das in ihnen verkapselte Gefühl nicht definieren: Ist es Beklemmung oder Enthusiasmus?« »Von beidem ein wenig«, sinnierte ‹Morgengruß›. »Gewiss ist der Anteil der Beklemmung ein wenig höher.« »Du machst auf mich den Eindruck, als befürchtetest du eine gra vierende Wende. Als könnten wir auf Befremdliches stoßen, für das es keine Erklärung gibt. Habe ich dich richtig gedeutet?« »Alles ist im Umsturz begriffen«, holte ‹Morgengruß› etwas weiter aus. »Das Jahr dreizehn Gho'onh wird ausgerufen. Der zwölfte Zent rumsumlauf nähert sich somit seinem Ende. Die Vergeistigung unserer Rasse steht bevor und die Erschaffung von Gh'Ea.« »Worauf willst du hinaus?« Das anfängliche Desinteresse von ‹Sonneschön› an dieser Unterhaltung schlug um. 35
»Wenn so viel Positives geschieht - von unserer Warte aus be trachtet - dann wird doch das, was wir als negative Kräfte bezeichnen, nicht tatenlos zusehen, wie sein Herrschaftsbereich eingeengt wird.« »Worauf gründet sich dieser Verdacht? Die Einflüsse der negativen Kräfte sind in all den Jahrhunderttausenden nicht in unseren Bewusst seinszustand vorgedrungen. Unsere Entwicklung ist so weit fortge schritten, dass bösartige Einwirkungen keinen Halt finden.« »So wie Wasser immer einen Weg findet voran zu fließen, sollten auch wir auf alles gefasst sein.« ‹Morgengruß› dachte einige Augenbli cke nach. »Herkömmliche Methoden können uns nichts anhaben. Un ser geistiges Format verhindert das. Ich könnte mir allerdings vorstel len, dass die Vorgehensweise der negativen Kräfte weit subtiler ge worden ist.« Die Worte schwangen wie eine düstere Drohung in der Komman dozentrale nach und nun war es ‹Sonneschön›, den eine plötzliche Unruhe befiel. * Viele Monate lang bewegten sich die Oktaedereinheiten durch den Zwischenraum, fielen nur gelegentlich ins Normalkontinuum zurück, um sich zu orientieren und die Kursdaten anzupassen. Schließlich überschritten sie die selbst gesetzte Grenze und dran gen ein in den unerforschten Raum. Das nächste Ziel war eine Spiral galaxis, 150.000 Lichtjahre im Durchmesser. Der Konvoi teilte sich auf, um seine zweihundert Einheiten an verschiedenen Punkten zu platzie ren und sich aus allen Richtungen zum Zentrum vorzuarbeiten. Sie würden alle Hände voll zu tun haben in den nächsten fünfhundert Jah ren. »Te-Che'Lo-Kadeh«, sagte ‹Morgengruß› feierlich, als er auf dem Zentralbildschirm den Sternennebel betrachtete. »Was meinst du?«, erkundigte sich ‹Sonneschön›, der bereits ein Messprotokoll gestartet hatte. »Ich nenne die Galaxis Te-Che'Lo-Kadeh - das neue Land.« 36
Zwei weitere Etappensprünge brachten die Schiffe in die sternar men Ausläufer des neuen Landes. 75 Oktaeder brauchten einen zu sätzlichen Sprung, um auf die entgegen gesetzte Seite zu kommen beziehungsweise sich gleichmäßig am Außenrand der Scheibe zu ver teilen. In Zukunft würde jeder für sich alleine operieren. Eine Verbin dung bestand einzig über die Gedankenwelle, die praktisch in Nullzeit einen Kontakt herstellen konnte. Dabei handelte es sich um ein künst lich erzeugtes Energiefeld, das Gedankenimpulse aufnahm, verstärkte und weiterleitete. Eine planetengebundene Variante war auf Gho'onh bei der Versammlung im Arenatrichter zum Einsatz gekommen. Fiel diese Kommunikationsmöglichkeit allerdings aus - dies war bisher nur in seltenen Fällen eingetreten und über einen vertretbar kleinen Zeit raum - so war man auf konventionellen Funk angewiesen, der zwar mit Überlichtgeschwindigkeit abgestrahlt wurde, unter Umständen trotzdem Tage, Wochen und gegebenenfalls auch länger unterwegs sein würde. Von einem Ende der Galaxis bis zum anderen mochten Monate vergehen. Noch einmal stimmten die Besatzungen sich untereinander ab, obwohl sie bereits Tausende Lichtjahre voneinander getrennt waren. In diesem frühen Stadium der Expedition traten bereits zwei Dutzend Verbindungsschwierigkeiten auf. Ihnen wurde allerdings wegen Ge ringfügigkeit keine außerordentliche Beachtung geschenkt. Lediglich die Verbindungsparameter wurden ins Protokoll eingetragen und der biosensorischen Positronik zur Analyse und Überwachung übergeben. Der Vorstoß begann. Doch er sollte unter eigenartigen Vorzeichen seinen Lauf nehmen... * »Sechs bewohnte Welten in zwei Wochen«, meinte ‹Morgengruß› an erkennend. »Das Leben scheint hier reich vertreten.« »Aus den Basisdaten lassen sich noch keinerlei statistische Werte herleiten«, argumentierte ‹Sonneschön› nüchtern. »Aus dem galakti schen Norden und Osten liegen diesbezüglich keine Meldungen vor.« »Ich will doch nur ein wenig träumen...« 37
»Für derartige Belange gibt es in der Existenz eines Evolutionäres keinen Platz.« Es klang auf eine Weise verbittert. »Halte dir das große Ziel unserer Rasse vor Augen. Das hat mit Träumen nichts zu tun.« »Mach dir doch nichts vor«, sagte ‹Morgengruß› mitfühlend. »Ge rade das Träumen schafft neue Ideen. Ohne die Vorstellung von dem, was wäre, würde das, was sein könnte niemals Realität werden.« »Wenn ich deine Wortkapseln aufbreche, sehe ich lediglich aufge weichtes Stückgut verlorener Chancen.« ‹Morgengruß› hatte verstanden. »Du hast mich eingehend beo bachtet auf Gho'onh. Tatsächlich fehlte mir oft die nötige Beharrlich keit, meine Ziele durchzusetzen.« Er zögerte merklich. »Mir scheint aber, dass du in einer wesentlich schlechteren Lage bist. Ich registriere deine Ablehnung der Vergeistigung unseres Volkes gegenüber.« Als ‹Sonneschön› nichts erwiderte, nahm sein Gesprächspartner den Faden wieder auf. »Du willst deine Individualität nicht aufgeben. Du hängst an der materiellen Existenz. Ja, ich glaube sagen zu können, dass große Furcht dich begleitet...« »Mag sein, dass es so ist«, entgegnete ‹Sonneschön›. »Doch es spielt keine Rolle mehr. Die Vergeistigung ist beschlossene Sache. Sich zu sträuben schadet der Gemeinschaft.« »Du sagst es zwar, doch beherzigst du es auch?« ›Morgengruß‹ betrachtete sein Gegenüber aufmerksam. »Ich meine, glaubst du auch wirklich, was du da sagst? Oder fügst du dich nur?« Als ‹Sonneschön› diesmal antwortete, war seine Gereiztheit der Resignation gewichen. »Ich weiß es nicht«, sah er ‹Morgengruß› durchdringend an und ließ zum ersten Mal seine Augen über das Panorama der fremden Sternkonstellationen wandern, ohne dabei analytisch vorzugehen, vielmehr um die besondere Stimmung einzufangen. »Ich weiß es wirk lich nicht...« * 38
»Was spielt es für eine Rolle?«, formulierte ‹Lichtertau› eine rhe torische Frage. »Wir sind da, wo wir hin wollten und können beruhigt unsere Meditationsliegen aufsuchen.« Sie begaben sich zu einem Schacht, der sie sanft auf die nächst höhere Ebene aufsteigen ließ wie auf einem Luftkissen. Ein gewölbter Raum tat sich vor ihnen auf. Geheimnisvolle Lichtfarben standen in permanentem Wechsel und schufen eine anregende, sinnliche At mosphäre. Im Zentrum des Raums bauten sich kreisförmig angeordne te Hohlkammern auf. Es waren zwölf Stück an der Zahl, leicht geneigt, so dass das Kopfende für den Ruhenden erhöht war. ‹Glaubetreu› und ‹Lichtertau› nahmen nebeneinander ihre Liege stätten ein. Die Sinfonie aus angenehmen, sich gegenseitig überstrah lenden Leuchtreflexen veränderte ihren Takt. Hinzu kamen Klänge, die exakt auf das meditative Bewusstsein der Evolutionäre abgestimmt waren. Kurze Zeit später waren sie bereit, ihre Körper zu verlassen. * Obwohl sie physisch nicht existierten, vermeinten die Evolutionäre den kalten Schauer lähmender Angst zu spüren, die selbst lange nach der vermeintlichen Katastrophe wie ein tumoröses Geschwür den Planeten umspannte. Es waren die Schreie von Millionen und Abermillionen Kin dern und Erwachsenen, die latent die verbrannte Atmosphäre durch setzten und immer noch nicht verklungen waren. Was immer diese Welt heimgesucht hatte, es war von unbeschreiblichem Grauen be gleitet gewesen. »Dort hinten ist eine Stadt. In den Trümmern werden wir eher ei ne Antwort auf die Frage finden, was sich hier zugetragen hat.« ‹Lichtertau› zeigte sich skeptisch. »Deine Logik will mir nicht ganz einleuchten. Die Verwüstungen sind überall gleich. Ihre Ursachen mussten demnach auch überall zu finden sein.« »Ich dachte da auch mehr an Aufzeichnungen oder Ähnliches«, stellte ‹Glaubetreu› richtig. »Bücher, Filme, Tondokumente.« 42
Angst, von hier aus wurde sie ständig aufs Neue genährt, um niemals in Vergessenheit zu geraten. Die Ursachen, dachte ‹Glaubetreu›, der sich kurz vor dem Ziel sah.
Ich muss die Ursachen finden!
Doch da war nichts. Je tiefer er in den Geist eindrang, desto spär licher wurden die Informationen. ‹Glaubetreu› schien es, als hätte ein körpereigener Schutzmechanismus sämtliche Fakten, die Aufklärung hätten bringen können über die Katastrophe, die diese Welt heimge sucht hatte, eigenmächtig entfernt. Dies mochte einhergegangen sein mit dem Verlust der Ratio. Übrig war nur diese übergreifende Instinkt angst, die die Frage nach dem Wovor nicht mehr zuließ und das abge stumpfte Bewusstsein sich selbst und dem eingepflanzten Grauen ü berließ. Ernüchtert entkoppelte sich ‹Glaubetreu› wieder. »Die Tragödie liegt lange zurück«, berichtete er. »Die Überleben den vegetieren in permanenter Furcht vor sich hin, ohne den Grund zu kennen. Nahrung finden sie nur wenig und es kommt vor, dass sie die Schwachen und Kranken selbst verzehren. Irgendwie hat diese Art fortbestehen können - trotz aller Widernisse.« »Willst du weiterhin Ausschau halten nach Zeugen der Vergan genheit?«, fragte ‹Lichtertau›. »Eigentlich gebietet dies unser Forschergeist«, begann ‹Glaube treu› eine Erklärung, »andererseits bin ich der Überzeugung, nichts Wertvolles mehr vorzufinden.« »Ich bin recht zuversichtlich, dass es sich um ein Einzelschicksal handelt. Eine Naturkatastrophe mit all ihren Konsequenzen. Ein äuße rer Eingriff ist nicht feststellbar.« »Er ist fühlbar«, ließ sich ‹Glaubetreu› zu einer Bemerkung hinrei ßen, die er an sich hatte vermeiden wollen, um keine unnötige Diskus sion heraufzubeschwören. »Du hast selbst die eigenartige metaphysi sche Spannung gespürt, die diesen Ort umgibt, auch wenn du es mir gegenüber nicht zugegeben hast.« »Sollen wir ein Exemplar dieser Spezies auf unser Schiff mitneh men?«, wich ‹Lichtertau› aus. 46
»Er hat gezischt. Könnte eine Abwehrreaktion sein. Vielleicht hat ihn etwas erschreckt.« »Ssssissstoo.« »Das ist nicht einfach ein Laut. Das ist ein Wort.« Nachdenklich betrachteten die Evolutionäre das Wesen, das sich schutzsuchend zwischen zwei Konsolen drückte und seine Arme um den Körper geschlungen hatte. Offenbar fühlte es jedoch, dass es sich nicht in Gefahr befand, dass der Odem von Tod und Vernichtung auf seiner Welt zurückgeblieben war. Seine Sinne waren durchaus in der Lage, die mental entspannte Atmosphäre wahrzunehmen. Als das Le bewesen, das gerade einmal ein Drittel der Größe eines Evolutionäre erreichte, ein wenig Zutrauen in seine neue Umgebung gewonnen hat te und auch sonst keinerlei Bedrohung witterte, kam es aus seinem Versteck hervor und sah zu ‹Lichtertau› und ‹Glaubetreu› auf. Seine Augen blieben kugelrund, was bei manchen Spezies als Anzeichen großen Erschreckens oder Erstaunens gewertet wurde. »Wie er uns ansieht«, bemerkte ‹Glaubetreu›. »Es ist immer noch Furcht in seinem Blick, aber auch Neugierde.« »Ssssissstoo«, sagte der Humanoide erneut. »Bestimmt ist das sein Name«, schloss ‹Lichtertau›. »Er will sich mit uns unterhalten.« »Das wird nicht nötig sein. Ich gehe in ihn herein.« Nur wenige Sekunden brauchte ‹Glaubetreu›, um der Bedeutung des Wortes auf den Grund zu gehen. »Der Begriff ist eng mit der Katastrophe verbunden«, eröffnete der Evolutionär. »Seine Bedeutung ist mir zwar nicht klar, doch ist er Auslöser eines manifesten Angstzustandes. Ich sah verworrene Bilder im Geist dieser armen Kreatur, Bilder, die ein Höchstmaß an negativem Potenzial beinhalteten.« »Ssssissstoo«, zischte der Humanoide ein drittes Mal. ‹Glaubetreu› spürte einen Schauer eisigen Grauens... * 49
Vierundsechzig Einheiten der im Norden und Osten Te-Che'Lo-Kadehs ausgeschwärmten Oktaeder waren mittlerweile auf ausgestorbene Zivilisationen gestoßen, für deren Verschwinden es keinen plausiblen Grund gab. Per Gedankenwelle wurden die obersten Denker Gho tro'onhs benachrichtigt, die daraufhin einen Teil der Forschungsschiffe zurückbeorderten. Die aufgesammelten Artefakte sollten auf der Hei matwelt analysiert werden. Gleich daran anschließend wollte man ver suchen, einen Kontakt zu den ›Gängern des dreizehnten Weges‹ her zustellen. Bisher waren immer sie es gewesen, die sich gemeldet hat ten. Von dieser Warte aus betrachtet galt es nicht als gesichert, über haupt eine Verbindung schaffen zu können. Das Schiff von ‹Morgengruß› und ‹Sonneschön› gehörte ebenfalls zu den im Süden und Westen des Spiralnebels operierenden Einheiten, die nach Gho-tro'onh abberufen worden waren. »Wir sind zu weit weg von den mysteriösen Funden«, redete sich ‹Morgengruß› stetig zu, der nur ungern unverrichteter Dinge zurück in die Heimat flog. »Die obersten Denker haben sicher auch eine uner wartete Eskalation der Ereignisse berücksichtigt und wollen einen Teil der Flotte in Sicherheit bringen.« »Sie wollen vor allen Dingen diesen Eingeborenen untersuchen«, erklärte ‹Sonneschön›. »Ja, wie seltsam. Ein einziger Überlebender - seine Sippe und wei tere Versprengte abgerechnet - auf über sechzig Planeten, die nach weislich entvölkert worden sind.« »Daher ist auch nur das Raumschiff von ‹Lichtertau› aus dem stel laren Norden abkommandiert worden. Der Rest wird weiter suchen und Informationen sammeln. Und hoffentlich bald brauchbare Ergeb nisse liefern.« ‹Morgengruß› zeigte sich misstrauisch. »Fast kann ich mir nicht vorstellen, dass es so einfach ist. Ich meine zu suchen und zu finden. Manchmal ist es schon schwierig et was zu entdecken, dessen Standort einem ungefähr bekannt ist. Wenn jedoch dasjenige, dem nachgespürt wird, nicht gefunden werden will, welche Chance haben wir dann noch...?« 50
deinen Erwartungen entsprechen. Plane sorgfältig und agiere gewis senhaft. Diese Grundsätze werden das Resultat entscheidend prägen.« »Das werde ich mir zu Herzen nehmen«, antwortete Orro kraftlos und setzte sich in Marsch. »Bitte warte noch«, hielt der Prälat ihn auf. »Ich würde mich ger ne noch mit dir unterhalten. Nur wir zwei.« »Ich bin sehr müde«, wollte sich Orro aus der Affäre ziehen, doch Frai blieb hartnäckig. »Es wäre wirklich besser, wenn du meiner Einladung Folge leisten würdest.« Täuschte sich Orro oder lag eine verhaltene Drohung in den Wor ten? Er dachte nicht weiter darüber nach und fühlte sich in der Pflicht. Der Anstand gebot ihm, seinen großzügigen Gönner nicht vor den Kopf zu stoßen. Wortlos betraten sie die Wohnräume neben der Gebetshalle und setzten sich an einen Tisch. Sie schwiegen eine Zeit lang. Orro rieb sich aus Verlegenheit über die Handflächen, knetete seine Finger und schaute nur immer ganz kurz auf, um fast augenblicklich dem starren Blick Frais auszuweichen, der ihn fixierte und der regelrecht fühlbar war auf der Haut. »Ist es wirklich wichtig?«, hakte Orro nach zwei endlos langen Mi nuten nach. »Was du mir sagen wolltest, meine ich.« »Ich beobachte dich über einen längeren Zeitraum«, begann Prä lat Frai, ohne den Blickkontakt auch nur für einen Lidschlag zu unter brechen. »Du bist ein wagemutiger Denker, einer, der ausspricht, was andere nicht einmal flüstern. Du forschst viel in unserer Ver gangenheit. Es gibt Fragen, die dich nicht mehr schlafen lassen, doch da ist niemand, der sie dir beantwortet, niemand, der sie dir beantwor ten kann.« »Meine Suche nach der Vergangenheit«, sinnierte Orro. »Es hat dir nicht gefallen, oder?« »Ich toleriere jedwede Art der Erlangung von Wissen. Wieso meinst du?« »Ist mir zu Ohren gekommen. Ein Gerücht vielleicht, nicht mehr.« 56
»Nun denn, ich kann nicht leugnen, dass ich deine intensiven Be strebungen für... unvorteilhaft befunden habe...« »Mir ist nicht ganz klar was schlecht ist an der Suche nach unse ren Ahnen?« »Nicht schlecht, Orro«, bemühte sich der Geistliche, »nur eben ungünstig. Manchmal entdeckt man Dinge, die man gar nicht wissen wollte. Dann möchte man sie ungeschehen machen und die Erinne rung daran vertreiben. Meistens jedoch ist das dann nicht mehr mög lich.« »Dieses Risiko geht jeder Suchende ein. Dessen war ich mir von Beginn an bewusst...« »Wenn es lediglich um dein persönliches Risiko ginge, wäre ich si cherlich nicht derart besorgt gewesen. Glaube mir, du hättest bei dei nem gewagten Unterfangen den einen oder anderen Stein losgetreten. Die dabei entstandene Lawine hättest du nicht mehr aufhalten können. Es hätte ein großer Schaden für die Gemeinschaft entstehen können.« Worauf will er hinaus?, überlegte Orro, dessen Schläfrigkeit stetig abebbte. Er rückt nicht heraus mit dem eigentlichen Kern seiner Aus
sage. Er verheimlicht etwas. Seine Worte sind zu glatt, zu unverbind lich. Will er mich täuschen? Sehe ich in ihm nur den netten Kirchenva ter, hinter dessen Fassade möglicherweise das genaue Gegenteil lau ert...?
»Umso erfreuter bin ich nun, dass du dich entschieden hast, einen anderen, weniger abenteuerlichen Weg zu gehen.« Prälat Frai setzte eine zufriedene Miene auf. Er spielt mir etwas vor, packte Orro die Erkenntnis. Und er hat mir
noch nicht alles gesagt, was er eigentlich loswerden wollte.
»Trotzdem möchte ich dir noch eine Frage stellen«, fuhr Frai fort. »Oder auch zwei.« Ich halte die Ohren gespitzt. Mehr als du denkst. Nun ließ Orro sein Gegenüber nicht aus den Augen, studierte förmlich jede Regung im Gesicht des Prälaten. »Diese Maschine, die du konstruieren willst, Orro. Hast du dir je mals Gedanken über ihren Wert innerhalb unserer Gesellschaft ge macht?« 57
»Du hörst, was sie sagen«, mischte sich nun Frai ein. »Und ich kann sie gut verstehen. Auch ich fühle mich ausgenutzt und stehe in der Verantwortung diesen Männern gegenüber. Doch du sollst noch eine Chance erhalten. Eine letzte. Und ich bitte dich, sie gut zu nutzen, was auch immer deine privaten Probleme sein mögen.« Er wandte sich an die Versammelten. »Seid ihr bereit, einen neuen Anlauf zu wagen?« Die Zustimmung folgte in verhaltenem Murren, aber sie kam. »Ich lasse euch jetzt alleine«, sprach der Prälat Orro an. Und we sentlich leiser und nur für seinen Schützling hörbar fügte er hinzu: »Vermassel es bloß nicht wieder. Es geht auch um meinen Ruf.« Orro war zu verdattert und stotterte lediglich ein »Jaja«. Schließ lich musste er seinen ganzen Mut und sein Selbstvertrauen zusam menkratzen, um den Arbeitern in die Augen sehen zu können. Es wur de weiß Gott nicht leichter, wenn er sich ihre Haltung ihm gegenüber vergegenwärtigte. Jedoch gab es kein Zurück. Bis hierher war er ge kommen und nun sollte es zügig bergauf gehen. Ein folgenschwerer Irrtum, wie sich schon bald herausstellen soll te! * Es war geradezu fantastisch, wie flüssig und reibungslos die Arbeiten an diesem Tag vonstatten gegangen waren, der Turbinenrahmen war mit Stahlstiften an die Unterkonstruktion genietet worden und verlieh der Maschine soliden Halt. Außerdem hatten die Orro zugeteilten Män ner das Schwungrad in die Aufhängung gehoben und den Rie menantrieb provisorisch installiert. An einem einzigen Tag. Besser gesagt an einem halben, korrigierte sich Orro im Hinblick auf seine Verspätung. Er hatte auch den Eindruck gewonnen, dass die Leute ihn mit dem sichtbaren Erfolg ihrer schweren Maloche zuneh mend respektierten. Sie waren natürlich noch weit davon entfernt, ihn als einen der Ihren zu betrachten - einen, der tatkräftig seine Kraft der Gemeinschaft zusteuerte - doch hatte sich die negative Stimmung, die ihm anfangs entgegengeschlagen war, gelegt. 68
Jetzt war es spät und er lag auf seinem Bett und ließ die vergan genen Stunden noch einmal Revue passieren. Fast euphorisch konnte man seinen Zustand beschreiben. Orro würde alles Nötige tun, damit er ein geachteter Bürger dieser Höhlenstadt wurde. Keine Anstrengung durfte ihm zu viel sein. Ein Scharren an der kreisrunden Fensteröffnung lenkte seinen Blick in die entsprechende Richtung. Natürlich war es sehr dunkel, doch die Konturen, die sich schwach gegen den matten Phosphor schein der Nacht abzeichneten, waren Orro äußerst vertraut. »Tatenfreud!«, sagte er heiter und setzte sich auf. Gleich darauf entzündete er eine Kerze, deren Licht die kleine Gestalt des Fleggo in sanften Schein tauchte. »Kaum gesehen und gleich wieder erkannt«, erwiderte der Kobold kieksend. »Wie schreitet dein Werk voran, wenn ich fragen darf?« »Ausgezeichnet!«, brüstete sich Orro, der darauf gehofft hatte, dass Tatenfreud sich danach erkundigen würde. »Ich habe unglaubli che Fortschritte gemacht. Mir wird jede Unterstützung zuteil, die ich mir wünsche. Langsam aber sicher erfüllt Leben diese Maschine. Sie wächst und gedeiht.« Tatenfreud bekam noch größere Augen als gewöhnlich. Dann zog er eine Braue hoch und kniff das andere Auge zusammen. »Schau mal einer an. Zuletzt warst du noch nicht in der Lage, dein kleines Modell zum Laufen zu bringen und nun strebt bereits das Ori ginal seiner Vollendung entgegen. Ich weiß nicht, ob ich dich beglück wünschen oder verprügeln soll ob einer derart dreisten Lüge.« »Das ist keine Lüge!«, erregte sich Orro. »Alles, was ich sagte, ist wahr! Du kannst es dir ansehen! Jetzt gleich!« Der Kobold schüttelte den Kugelkopf und wedelte mit einem Händchen. »Das kannst du vergessen! Einen wie mich würden sie nicht in ih rer Mitte dulden. Fleggos gehören nicht in die zivilisierten Bereiche der Borraner.« Auch wieder wahr, gab Orro dem Kleinen Recht. Wenn dann noch
einer mitbekommt, dass er sprechen kann...
»Gibt es einen besonderen Grund, dass du mich besuchst?« 69
»Gibt es einen besonderen Grund, dass die Larven leuchten und die Steine strahlen?«, fragte Tatenfreud zurück. »Ich wollte nur eben mal nach dem Rechten sehen, schauen, ob es dir gut geht, ob dein Eifer dich auch weiterhin beflügelt.« »Ist das so wichtig für dich?« Orro legte sich wieder aufs Bett und streckte die Glieder. »Das ist es«, sagte der Fleggo ungewöhnlich ernst. »Das ist es in der Tat. Du weißt nicht warum und wirst es vielleicht nie erfahren, doch sei versichert, dass dein Wirken wesentlicher Bestandteil einer großen Sache ist.« »Warum sagst du mir nicht, worum es geht? Möglicherweise könnte ich dir dann noch besser helfen?« »Du hilfst nicht mir«, gab der Fleggo zur Antwort. »Du hilfst dir selbst und deinem Volk. So jedenfalls ist es vorgesehen. Mehr kann ich dir sowieso nicht sagen, da deine Funktion eine ganz andere ist und nicht durch Dinge weit außerhalb deines Begriffsvermögens beeinflusst werden soll.« Orro kam sich vor wie ein unmündiges Kind, dessen Befriedigung seiner Wissbegierde stets auf später verschoben wurde. Weitaus gra vierender war die Tatsache, diese Eröffnungen von einem Tier gesagt zu bekommen, dass man ansonsten lieb getätschelt und dann ver scheucht hätte. Wieder ertappte sich Orro dabei, an der Glaubhaftig keit des Wesens zu zweifeln. Wenn es stumm dasaß und nur die Au gen leicht verdrehte, wirkte es wie ein typischer Vertreter seiner Gat tung: dumm, tollpatschig und menschenscheu. »Du schaust mich an wie eine Mahlzeit«, piepste Tatenfreud. »Entschuldigung«, riss sich Orro von seinen Betrachtungen los. »Mir ist nur gerade etwas eingefallen.« Der Kobold stellte sich auf. »Ich verlasse dich jetzt wieder. Bleib deinen Vorsätzen treu und beobachte die Entwicklungen um dich herum.« Er tappte zwei Schritte zurück. »Einschneidende Veränderungen stehen bevor. Halte dich an die Pläne und an deinen Ehrgeiz. Dann kann nichts geschehen.« »Wohin wir st du gehen?« 70
überall. Er sah Trauer und Angst. Aber auch Zweifel. Mochte sein, dass einige sogar ihn selbst für den Tod von Shil verantwortlich machten. Weg!, brannte sich der Gedanke in seinen Kopf. Ich muss hier
weg!
Schaudernd wandte er sich von seiner toten Freundin ab. Sein ganzes Leben lang würde er ihren Anblick nicht vergessen können. Er war durcheinander. Sein Herz raste. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Bunte Flecken tanzten einen höllischen Reigen vor seinen Augen und ließen sich auch durch Reiben und Kneifen der Lider nicht vertreiben. Wohin sollte er gehen? Keinesfalls wollte er alleine sein. Er musste mit jemandem reden. Mit einem Freund. Vauc! Ja, er würde den alten Vauc aufsuchen. Sogleich verwarf er den Gedanken wieder. Das Gefühl, dass der Alte nicht hundertprozentig auf seiner Seite stand, hatte sich zu tief in Orro festgesetzt. Trotz der nachträglichen Unterstützung Vaucs hatte sich zwischen ihnen eine Wand aus Misstrauen aufgebaut. Ihm würde Orro sein Leid nicht anvertrauen können. Blieb nur noch Frai! Was immer Orro auch von dem Geistlichen hielt und was immer dieser auch vorhatte und nicht sagte, er war doch ein Mann der Kir che, ein Verkünder Gottes. Orros seelische Qual würde bei dem Präla ten gut aufgehoben sein. Wie von Sinnen rannte er die Straße hinab zur Messhalle, stürmte hinein, fand niemanden vor und hetzte durch die Hintertür hinaus auf das Freigelände, auf dem auch seine Maschine stand. Der nächste Schock erwartete ihn bereits! * »Oh nein! Nein! Was tut ihr denn bloß!?« Orro machte sämtliche seelischen Tiefs, für die man ein ganzes Leben Zeit hatte, innerhalb weniger Sekunden durch. Der Schmerz und das Unverständnis über Shils bestialischen Tod rückten kurzzeitig in der emotionalen Prioritätenliste einen Rang nach unten. 73
»Bitte! So hört doch auf damit!« Niemand schien ihn zu beachten. Niemand von denjenigen, die begonnen hatten, das noch im Entstehen begriffene Lebenswerk des jungen Orro zu zerschlagen. Sie machten sich nicht die Mühe, es zu demontieren - es Stück für Stück auseinander zu nehmen - sondern schlugen in zügelloser Raserei mit ihren Knüppeln und Eisenstangen darauf ein, sprengten die Verstrebungen los und verbeulten, zerbra chen und zersplitterten. »Komm noch einen Schritt näher«, war nun doch einer der Arbei ter aufmerksam geworden, »und du wirst noch vor ihm bei deinem Schöpfer sein!« Fast war es Orro, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelau fen. Er wurde langsamer und blieb schließlich stehen, keine zwanzig Meter von der tobsüchtigen Meute entfernt. Der drohend erhobene Bolzenhammer flößte ihm Respekt ein. Aufstöhnend sank Orro in die Knie. Er konnte es nicht ertragen, die Zerstörung seines Traums mit ansehen zu müssen und trotzdem war er nicht imstande, den Blick von dem Schauspiel abwenden. Der Borraner, der immer noch mit hoch erhobenem Hiebwerkzeug vor ihm stand, deutete Orros Verständnislosigkeit richtig. Die Wut des Mannes hatte nicht nachgelassen, jedoch machte er keine allzu offen sichtlichen Anstalten mehr, Orro bei der nächst besten Gelegenheit zu erschlagen. »Das hast du nun davon!« Der Mann war von der Anstrengung noch außer Atem. »Ehrliche Arbeit war dir nicht gut genug. Du wolltest höher hinaus. Nun sieh, was du angerichtet hast. Sieh, was du ihm angetan hast.« Worum ging es denn nur? Wer war gemeint und was war ihm zu gestoßen? Auch die anderen kamen allmählich zur Ruhe, als sie Orro aus machten. Denn allein durch seinen Anblick bekam ihr Hass eine völlig neue Qualität. »Was in Gottes Namen ist denn bloß geschehen?!« Orro schrie es heraus, während er in sich zusammensank und steinerweichend zu 74
schluchzen begann. Unter seinen Fingerkuppen brach das harte, tro ckene Erdreich auf. »Der Riemen des Schwungrads ist bei einem Probelauf gerissen«, raunte eine raue Stimme. »Unseren Freund Arpa hat es das Leben gekostet. Er wurde in zwei Hälften zerrissen.« »Das Material war unbrauchbar!«, rief ein anderer. »Du hättest es sehen müssen, sagt Frai!« »Das ist nicht wahr!«, krächzte Orro und versuchte vergeblich, seinen Worten Festigkeit zu vermitteln. »Ich habe den Riemen kontrol liert! Er war gut und stabil! Hört ihr? Er war stabil!« »Alles deine Schuld!«, murmelte ein Chor aus acht Stimmen, der seine schwelende Feindseligkeit kaum mehr zu zügeln vermochte. »Warum habt ihr die Maschine in Betrieb genommen? Warum habt ihr nicht gewartet? Es hätte niemals so weit kommen müssen...!« Die Erkenntnis, dass die Meute keinen vernünftigen Argumenten zugänglich war, sickerte schwer in Orros Bewusstsein. »Ich habe es ihnen gesagt!« Prälat Frai! Orro erkannte ihn ohne den geringsten Zweifel, ob wohl er ihn nicht sehen konnte. »Es war an der Zeit, dein Werk zu prüfen. Dich zu prüfen!« Die Arbeiter ließen ihre Hiebwaffen sinken, verloren allerdings nicht ihre Angespanntheit. Frai kam vom anderen Ende des Geländes herangegangen und verschaffte Orro mit seiner Präsenz und machtvol len Ausstrahlung einen winzigen Aufschub, bevor die aufgebrachten Männer sich weiter seiner annahmen - und ihn töten würden! »Du hast zu mir von Wahrhaftigkeit gesprochen, Orro«, trat der Geistliche an den immer noch knienden Jungen heran, vorbei an den schwitzenden Henkern, die ihm bereitwillig Platz machten. »Und ich habe dir tatsächlich geglaubt. Ich habe deine Lügen für bare Münze genommen.« »Lügen?«, ächzte Orro. »Ich habe dich nicht belogen! Das darfst du nicht glauben! Ich habe es ehrlich gemeint, aus tiefstem Herzen!« »Nur eingeredet hast du dir das - und mir! Selbstsucht war deine Triebfeder - Anerkennung und Ruhm sollten dein Lohn sein! So wie das Wort, das du mir gegeben hast, nichts wert war, ist auch deine 75
Erfindung lediglich dürftiges Flickwerk. Damit hat die Lüge sich selbst enttarnt.« Das Kirchenoberhaupt tat einen schweren Seufzer. »Ich kann beim besten Willen nichts mehr für dich tun... Gott sei deiner armen Seele gnädig.« Orro wimmerte. Gleich würden sie über ihn herfallen und mit ihren Werkzeugen, die für die Bearbeitung von Fels und Stahl geschaffen worden waren, seinen Körper in blutigen Matsch verwandeln. Was hatte denn jetzt noch Sinn? Er hatte alles verloren, nachdem er es fest in den Händen gehalten hatte. Das Schicksal hatte es ihm hineingelegt und nun forderte es zurück, was es leichtfertig vergeben hatte. Im Hintergrund sah Orro eine Pfütze aus Blut, in der etwas lag, das einmal Arpa gewesen sein musste. Gleichzeitig wurden die Bilder seiner toten Freundin Shil wieder in seiner Erinnerung lebendig. Mal sah er sie vor seinem geistigen Auge ausgeweidet auf dem Karren liegen, mal erlebte er sie tanzend, dabei Glück und Liebe ausstrahlend. Im schnellen Wechsel jagten sich die Bilder in seinem Kopf, schlossen sich zusammen zu kleinen Wirbeln und ihr Säuseln formte sich zu einer Frage, die nur Orro verstand: Warum? Warum geschieht das alles? Warum geschieht es dir? Warum jetzt und warum so überraschend? Die anfängliche Schwäche, die Orros Leib hatte zittern lassen, wandelte sich vom Feind zum Freund. Aus ihr erwuchs eine Kraft, die der junge Erfinder unter normalen Umständen niemals hätte mobilisie ren können. Sie loderte unglaublich hell, doch ebenso schnell würde sie sich verbrauchen. Darum durfte Orro keine Sekunde länger zögern. Er sprang auf, hörte ein, zwei ungläubige Ausrufe und duckte sich bereits unter einem gegen ihn geführten Hieb hinweg. Schnell und wendig hechtete er um die Arbeiter herum, die zu spät reagierten und ihm mit ihrem schweren Gerät nicht in gleicher Geschwindigkeit hin terher rennen konnten. Drei jedoch ließen ihr Werkzeug fallen und spurteten dem Fliehenden nach. Nach fünfzig Metern schon ließen sie von der Verfolgung ab und schauten dem Flüchtling enttäuscht hinter her. Mit ihm konnten sie es nicht aufnehmen. Er war wesentlich jünger und seine Todesangst verlieh ihm Flügel. 76
»Lasst es gut sein, Leute«, beschwichtigte Prälat Frai die Gemü ter. Am dem Messgebäude gegenüberliegenden Teil des Geländes wurde Orro zu einem winzigen Strich, der vom matten Schwefelschein des Phosphorgesteins aufgesogen wurde.
Ja, renn nur, du Narr! Meine Gesellschaft, meine Stadt, kannst du nicht ändern! Unter keinen Umständen hätte ich das zugelassen! Geh hinaus und finde endlich die Wahrheit, die du so lange gesucht hast. Finde deinen Frieden mit ihr oder gehe daran zugrunde. Solltest du aber jemals zurückkommen, dann wird dein Ende so unvergleichlich sein, dass nicht einmal deine engsten Freunde dich noch zum Märtyrer erheben werden!
4. Das vertraute Bild der heimatlichen Galaxis wuchs nur unmerklich auf den Hauptbildschirmen der Oktaederschiffe an. Der Pulk, der über TeChe'Lo-Kadeh ausgeschwärmt war und sich strategisch verteilt hatte, hatte sich auf dem Rückflug wieder zusammengefunden und setzte zu einem erneuten Raumsprung an, der ihn kurz hinter der Peripherie Gho'onhs absetzen würde. Von dort aus näherte sich die monatelange Reise über beinahe zwanzig Millionen Lichtjahre langsam ihrem Ende. Kein Tag würde dann mehr vergehen, bis sie das Zwillingssonnensys tem und damit die Zentrumswelt erreichten. Ein beeindruckendes Schauspiel bot sich den Evolutionären, als sie schließlich Gho-tro'onh, ihren Heimatplaneten, erblickten. Vorgelagert befand sich das Andockknäuel der Oktaedereinheiten, die sich Modul für Modul anflanschten und so ein Gebilde schufen, das einem giganti schen Kristall nicht unähnlich war oder der Wabenstruktur eines Bie nenstocks. In dem Gebilde gab es noch zahlreiche Löcher und tiefe Einschnitte, doch wenn erst die noch ausstehenden Raumschiffe von ihren Missionen eintrafen, würde sich das Bild komplettieren. ‹Sonneschön› übernahm das Andockmanöver alleine, während ‹Morgengruß› seinen Gedanken nachhing und über die Meldung der obersten Denker nachdachte. Es sollte eine außerordentliche Ver 77
sammlung einberufen werden. Anscheinend waren während ihrer lan gen Reise weitere Hiobsbotschaften aus Te-Che'Lo-Kadeh eingetroffen - dem ›neuen Land‹, wie ‹Morgengruß› den fremden Sternennebel außerhalb der erforschten Grenzen getauft hatte. »Nehmen wir die Kapsel zur Oberfläche oder emittieren wir unser Bewusstsein?«, erkundigte sich ‹Morgengruß›. Auf dem Schirm war zu sehen, wie sie den äußeren Rand der gewaltigen Oktaederkugel pas sierten, um sich an die nächste Schiffseinheit anzukoppeln. »Wir nehmen die Kapsel«, entschied ‹Sonneschön›. »Ich erwarte in der Heimat keinerlei Gefahren, die ein körperloses Erscheinen recht fertigen würden.« Da hatte er natürlich Recht. Andererseits überlegte ‹Morgengruß›, ob es nicht sinnvoll war, sich auf diese Weise auf die Materie- und Körperlosigkeit, die ihre Rasse anstrebte, vorzubereiten. Wahrschein lich aber waren diese beiden Zustände sowieso nicht miteinander ver gleichbar. Der Verlust der Individualität war etwas vollkommen an deres, als der Verlust des körperhaften Seins. Viele seiner Art hatten damit ein Problem, das wusste ‹Morgengruß›. Viele wollten nicht ein fach als unbewusster Teil eines großen Ganzen weiterexistieren, ob wohl es, objektiv betrachtet, lediglich die Umkehr eines Prozesses war, der vor Ewigkeiten die Abspaltung von genau diesem großen Ganzen zur Folge gehabt hatte. Der Schritt zur Vergeistigung war ein ver hältnismäßig kleiner, doch nicht minder einschneidender, um - endlich! - wieder eins zu werden mit dem Ursprung, eins zu werden mit... »Andockvorgang abgeschlossen!«, meldete ‹Sonneschön›. »Ge hen wir zur Kapsel.« Das Beiboot manövrierte zwischen den nachfolgenden Oktaeder schiffen hindurch zur Planetenoberfläche, wo es in einer künstlich an gelegten Senke verschwand und zwischen mehreren anderen Kleinst transportern landete. Die beiden Evolutionäre gingen anschließend durch ein Hangar schott zur Transitröhre, die sie direkt zur Arena transportieren würde. Dort wollten sie auf die Ansprache der höchsten Denker warten. Es dauerte noch eine Weile, bis auch die letzten Reisenden ihren Weg zur Arena gefunden hatten. Die bereits Anwesenden nutzten die 78
Zeit, um sich mental mit ihren Gefährten auszutauschen, die aus allen möglichen Regionen außerhalb der bekannten Grenzzone zu rückgekommen waren. Ihre Erfahrungen allerdings hatten keine be denklichen oder sogar erschreckenden Inhalte. Te-Che'Lo-Kadeh schien die einzige Galaxis zu sein, in der sich nicht nur Rätselhaftes abgespielt hatte, das niemand zuzuordnen wusste, sondern die etwas beherbergte, was sich zur Bedrohung für tausende Völker entwickeln konnte - und zur Bedrohung für Gho'onh! Vom Grunde der Arena stieg eine strahlende Kugel auf und signa lisierte damit, dass die höchsten Denker nun bereit waren, sich ihrem Volk mitzuteilen. Zu jedem Individuum wurde auf unvergleichliche Weise eine Verbindung hergestellt, so dass niemandem auch nur eine Silbe des gesprochenen - oder gedachten - Wortes entgehen würde. »Euch allen ist bekannt, welche Entdeckungen unsere Kundschaf terschiffe in einer der postperipheren Galaxien gemacht haben«, be gann die Stimme - das Orchester aus Stimmen, das nur eine einzige war. »Eine uns unbekannte Macht scheint Leerräume zu schaffen, die von jeglicher Lebensform befreit sind. Während der vergangenen Mo nate - noch vor der Rückkehr unserer Forschungseinheiten - erreichten uns laufend weitere unerfreuliche Meldungen aus Te-Che'Lo-Kadeh. Je weiter unsere Aufklärer sich dem Zentrum näherten, umso weniger bewohnte Planeten fanden sie vor. Planeten allerdings, die einst Hoch burgen aufstrebender Zivilisationen gewesen sein mussten. Von ihnen jedoch zeugten lediglich verlassene Städte und undefinierbare Artefak te, die einem verheerenden Sturm der Zerstörung zum Opfer gefallen waren. Gerade in diesem Moment erhalten wir über die Gedankenwelle weitere Meldungen. Die Schiffe wurden angewiesen, ihren ursprüngli chen Auftrag zurückzustellen und schnellstmöglich das Phänomen zu erforschen. So fliegen mehrere Einheiten aus verschiedenen Richtun gen das Zentrum der Galaxis an. Dieser geografische Mittelpunkt ist gleichzeitig auch die größte Ausdehnung des Nichtlebens. Keinerlei Anzeichen auch nur der kleinsten und unbedeutendsten Lebensformen sind dort vorzufinden.« 79
Ein Evolutionär aus dem Publikum meldete sich zu Wort. Seine Frage wurde mental über die Lichtkugel weitergeleitet und von den annähernd einer Million Anwesenden deutlich verstanden. »Haben wir denn keine Möglichkeit, Näheres über diese besorg niserregenden Vorfälle in Erfahrung zu bringen? Unser angehäuftes Wissen - einzigartig in Umfang und Vielfalt - sollte uns Antworten ge ben können.« »Die Speicher der sechsunddreißig Monde Gho-tro'onhs werden seit der ersten Meldung über die Anomalie durchforstet. Bisher erfolg los. Die neuen Daten aus Te-Che'Lo-Kadeh fließen permanent ein und werden mit den vorhandenen Datensätzen abgeglichen. Es steht je doch nicht zu erwarten, jetzt noch verwertbare Hinweise aufzude cken.« »Wird dies Konsequenzen für das große Ziel unseres Volkes - die Vergeistigung - zeitigen?«, wurde eine andere Frage laut. Die Antwort der höchsten Denker verzögerte sich um jenen Au genblick, der zum Ausdruck brachte, welches Gewicht ihr zukam. »Eine endgültige Entscheidung ist noch nicht gefällt.« Fünf, sechs Sekunden Pause. Zu lange, um auch nur den geringsten Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass das Schicksal jedes einzelnen Evolutionäre von der weiteren Entwicklung in der toten Galaxis abhing. »Jedes wei tere Wort in diesem Zusammenhang ist unnötig. Es gilt, weiter zu be obachten und Informationen zu sammeln. Das ist unsere gegenwärtige Aufgabe.« »Kann es zum Konflikt mit den ›Gängern des dreizehnten Weges‹ kommen?« Derselbe Sprecher hatte eine zusätzliche Frage gestellt. »Ein Konflikt ist nicht vorgesehen. Das Ziel haben wir stets vor Augen. Lediglich der Zeitpunkt kann variieren.« »Viele von uns sehen den Plan zur Schaffung von Gh'Ea gefähr det.« »Es gibt keinen Grund zur Besorgnis«, erwiderten die höchsten Denker. Sie waren schon lange mehr Geist als Materie, Vorreiter eines Prozesses, der sich auf ihre gesamte Rasse ausweiten sollte. Aus einer vom Normalkontinuum abgeschotteten Sphäre wachten sie über das Wohl der Evolutionäre. Und nur aus dieser Sphäre hinaus war es über 80
haupt möglich, mit den ›Gängern des dreizehnten Weges‹ zu kommu nizieren. »Wir bleiben wachsam und halten Kontakt. Unsere Vorge hensweise ist den ›Gängern‹ bekannt. Ihr alle sollt wissen, dass wir keine unbedachten Beschlüsse fassen. Dies hätte in der Tat die von euch angesprochenen Konsequenzen zur Folge: die Gefährdung der Gh'Ea-Sequenz sowie die Entzweiung von den ›Gängern‹. Dazu darf und wird es nicht kommen. Und nun geht euren gewohnten Tätigkei ten nach.« Die Ansprache war damit beendet. Ihrem eigentlichen Zweck, drängende Fragen erschöpfend zu beantworten, war sie nur bedingt nachgekommen und hatte eher weitere nagende Fragen aufgeworfen. Die Stimmung unter den Evolutionären zweiter Potenz wurde über lagert von einem einzigen Gefühl: Ungewissheit. Nicht nur, dass ihr Volk in zwei Lager gespalten war - jene, die zum Einheitsbewusstsein verschmelzen wollten und jene, denen die materielle Existenz wichtiger schien - und die Kluft sich zu vergrößern schien, nein, diese innere Bedrohung wurde zusätzlich noch überschattet von dem nicht greifba ren Unheil, das in einer Millionen Lichtjahre entfernten Galaxis bereits seine Fänge nach ihnen ausstreckte! * Es glich dem Eintauchen in einen abgrundlosen, dunklen Schlund. Die Besatzungen der Oktaederschiffe spürten es alle gleich intensiv, egal, von welcher Seite sie sich dem Zentrum Te-Che'Lo-Kadehs näherten. Hatten sie zu Anfang bereits düstere Vorahnungen beschlichen, als sie eine verlöschte Zivilisation nach der anderen vorgefunden hatten, schwoll das Gefühl von Bedrohung beständig an, reifte das winzige Geschwür von Furcht heran zu einem pochenden Klumpen, der jede weitere Art der Wahrnehmung zu ersticken drohte. Irgendetwas hatte sich im Mittelpunkt dieser Sterneninsel festge setzt, hatte eine grauenerregende Zone frei von organischem Leben geschaffen und baute seinen Machtbereich beständig aus. Nicht mehr lange - gemessen an kosmischen Maßstäben - und die Galaxis würde 81
eine trockene, tote Wüste aus Milliarden von Sonnen und Planeten sein. Auf den Bildschirmen gab es kaum etwas Außergewöhnliches zu entdecken. Das, was unsichtbar zwischen den Sternen brütete, war weder optisch noch akustisch zu erfassen. Aber es war fühlbar, wenn man seine Sinne auf ein Level heben konnte, das über der materiellen Ebene lag. »Es wird schlimmer. Schlimmer, als wir es uns vorzustellen wag ten.« ‹Freudeglanz› sandte seinem Partner einen mentalen Impuls, der diesen Eindruck verdeutlichte. »Ein klarer Nachteil der Körperhaftigkeit«, warf ‹Denkegut› ein. »Du fühlst deine materielle Existenz bedroht und marterst deinen Geist mit unerfreulichen Vorstellungen.« »Du weißt, dass ich nicht so denke. Keiner von uns. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme des physischen Körpers, um sich zu schüt zen. Die Natur hat gut vorgesorgt.« ‹Denkegut› lenkte seinen Blick vom Hauptbildschirm auf die sen sorische Kontrolle. »Bald werden wir dieses Handicap überwunden haben. Dann kön nen wir uns unserer eigentlichen Aufgaben widmen.« »Du meinst, als Handlanger der ›Gänger‹ zu fungieren?« »Warum so negativ? Spielt sich dein Gemüt wieder auf? Im Kos mos ist es nun einmal so eingerichtet, dass alle Lebewesen entspre chend ihrer Fortentwicklung eingesetzt werden. Damit ist gewährleis tet, dass Problemstellungen angemessen und kompetent gelöst wer den, ohne eine Spezies zu überfordern und vor unüberwindliche Hin dernisse zu stellen.« ‹Freudeglanz› ließ es dabei bewenden. Eine Fortführung der Dis kussion würde lediglich die Fronten verhärten. ‹Denkegut› gehörte eindeutig zu jener Gruppe von Evolutionären, die die Vergeistigung als das höchste Ziel ihrer Rasse ansahen. ‹Freudeglanz› selbst zählte sich zum entgegen gesetzten Lager. Der Verlust der Stofflichkeit erfüllte ihn mit Unbehagen. Er wusste, dass er ganz persönlich noch nicht reif war für diesen Schritt. Und Millionen Evolutionäre teilten seine Einschät 82
zung. Sicher, sie würden sich dem Diktat der obersten Denker unter ordnen. Doch ‹Freudeglanz› konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, in eine Epoche unvorhersehbarer Entscheidungen hineingerutscht zu sein. Die Entdeckung Te-Che'Lo-Kadehs war kein Zufall. Nichts ge schah zufällig. Und ebenso wenig hatte es mit Willkür zu tun, dass das System Gho-tro'onh vom zwölften in den dreizehnten Zyklus wechsel te. Zeitgleich erfuhren sie vom Plan der ›Gänger des dreizehnten We ges‹, mit Gh'Ea einen evolutionsstabilen kosmischen Fixpunkt zu schaf fen. Die Zusammenhänge waren unübersehbar. Nur hatte ‹Freude glanz› die Befürchtung, die ‹Gänger› ließen ihren zukünftigen Partner über substanzielle Gegebenheiten im Unklaren. Ließen sie eventuell sogar ins offene Messer laufen. Plötzlich glaubte ‹Freudeglanz› die Wahrheit zum Greifen nah. Sie wirkte durchdacht und fern der Spekulation, einfach logisch. Und in ihrem Kern beschäftigte sie sich mit Verrat. »Was wäre«, sagte er zu ‹Denkegut›, »wenn die ›Gänger‹ uns nur benutzten?« »Aber das tun sie doch!« ‹Denkegut› konnte dem Einwand nicht folgen. »Nur für sie geben wir unsere jetzige Existenz auf. Wir gliedern uns in den universellen Wachstumsprozess ein, um diesen Entitäten zu Diensten sein zu können.« Hielt sein Begleiter denn für alle Bedenken einen klugen Vers pa rat? Es hörte sich an wie auswendig gelernt. Nicht wie aus Überzeu gung gesprochen. Die höchsten Denker hatten fortwährend genau diese Argumentation wiederholt. Sie ging unweigerlich einher mit dem Verlust der Persönlichkeit, der Individualität. Auch diesen Einwand hatte man zu entkräften versucht: Ein Lebewesen auf dem Sprung brett zur dritten Potenz durfte nicht der Komplize oder gar Sklave sei nes Egos sein, sondern dessen Herr. Verständlich, dachte ‹Freudeglanz›, aber selbst für einen Evolutio när eine große Hürde. Noch im selben Moment ergänzte er seine Über legung. Viele von uns sind ihren Kinderschuhen noch nicht entwach
sen. Ich gehöre zu ihnen...
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Schlagartig war sie wieder da - die Empfindung unfasslichen Schreckens! Nicht sichtbar! Nicht greifbar! Aber von einer machtvollen Präsenz, die jedes Quäntchen Leben aus den titanenhaften Leibern der beiden Evolutionäre quetschen konnte. Und dann... »Da kommt etwas auf uns zu!«, raunte ‹Denkegut›, der auch während des Gesprächs mit ‹Freudeglanz› den Blick nicht von den Anzeigen der Außenbeobachtung genommen hatte. »Etwas sehr Schnelles und sehr Großes...« »Ein Angriff?«, mutmaßte ‹Freudeglanz›, besann sich jedoch dar auf, dass ihr Schiff für Fremdrassen nicht ortbar war. Trotzdem schien ihm das Auftauchen dieses Objekts - es konnte sich seines Erachtens nur um ein Raumschiff handeln, nicht um einen Kometen oder Ähnli ches - in höchstem Maße verdächtig, als dass es vollkommen grundlos genau ihren Weg kreuzte, wo doch über tausende von Lichtjahren weder Lebewesen noch funktionstüchtige Schiffe aufzufinden waren. »Ein riesiger Sternenkreuzer«, bestätigte ‹Denkegut› die geheime Vermutung seines Begleiters. »Er ist sechs Millionen Kilometer vor uns aus dem Nichts aufgetaucht. Möglicherweise der Rücksturz aus einem Etappensprung. Hat nichts mit uns zu tun...« Die Art, wie er den letzten Satz vorbrachte, machte deutlich, dass der stille Wunsch aus ihm sprach, nicht die gefestigte Erkenntnis. Jetzt trat auch ‹Freudeglanz› an das Überwachungspult. Auf An hieb konnte er die Unmenge an Daten nicht verarbeiten beziehungs weise sinnvoll filtern. »Was kannst du erkennen?« ‹Denkeguts› Augen flogen förmlich über die Kolonnen aus Zahlen und Wellenkurven. »Das Schiff beschleunigt wieder.« Mehr sagte er nicht. Um ganz sicher zu gehen, fragte er mental bei der bio-psionischen Steuerkom ponente nach. »Es besteht eine achtundneunzigprozentige Sicherheit, dass die energetischen Aktivitäten auf dem Fremdschiff nicht in Waf fensysteme umgeleitet werden. Ausschließliche Verwendung nur im Triebwerksbereich sowie zur Grundversorgung.« 84
Achtundneunzig Prozent, sinnierte ‹Freudeglanz›. Statistische Werte haben eine erschreckend geringe Aussagekraft, ganz gleich, wie hoch ihre Wahrscheinlichkeit ist. Sein Glaube an die überlegene Tech
nik der Evolutionäre war in Te-Che'Lo-Kadeh nicht mehr viel wert. In dieser Galaxis nistete das Unbegreifliche in jedem Wasserstoffatom, das die schwarze Leere zwischen den Sternen füllte. Er warf einen Blick auf den Hauptbildschirm und vermeinte bereits das unbekannte Raumschiff heranrasen zu sehen, wie es sich aus der Schwärze des Alls hervorwölbte, um alles und jeden zu verschlingen. Ein gefräßiges Monstrum, das in den Gedanken eines Evolutionärs der zweiten Potenz rein gar nichts verloren hatte und doch gleichsam real war. Ein Wider spruch in sich! »Größe des Objekts 1500 mal 230 mal 320 Kilometer«, wiederhol te ‹Denkegut› sachlich die Daten, die der Bordcomputer ihm lieferte. »Der Scan lässt keine Rückschlüsse auf die Antriebstechnologie zu. Auch Lebewesen im üblichen Sinne scheint es dort nicht zu geben. Dafür riesige Hohlräume, gewaltige Lagerhallen, die angefüllt sind mit Behältern einer undefinierbaren Substanz. Vermutlich ist dieser Trans porter robotgesteuert und braucht keine organische Besatzung.« »Er hat die Größe eines kleinen Mondes«, meinte ‹Freudeglanz› staunend. »Uns ist keine Spezies bekannt, die Vergleichbares erbaut hätte oder erbauen könnte.« »Das Schiff liegt immer noch auf Kollisionskurs und könnte uns al lein durch ein unabsichtliches Ramm-Manöver vernichten. Darauf will ich es nicht ankommen lassen.« Der Oktaeder wich von seiner ursprünglichen Flugbahn geringfü gig ab. »Bahnkorrektur erfolgreich. Scans laufen weiter.« »Worum mag es sich handeln?«, dachte ‹Freudeglanz› laut. »Ha ben wir es bereits mit jener Macht zu tun, die diese Galaxis in einen kosmischen Friedhof verwandelt hat?« Das Fremdschiff beschleunigte mit Werten, die für herkömmliche Schubtriebwerke kaum möglich waren. Die Bio-Psionik des Oktaeders war bemüht ein Abbild auf die Schirme zu projizieren, doch blieb es lediglich bei einem verschwommenen Gebilde, dessen Konturen sich 85
nicht einmal eindeutig festlegen ließen. Das lag nicht an der Ge schwindigkeit, mit der es sich fortbewegte, sondern an der Qualität der Sensoren, die es einfangen wollten. Sie waren nicht in der Lage, ein scharfes, detailreiches Bild zu liefern. Nicht von diesem Raumtranspor ter. »Gleich ist das Ding bei uns!« ‹Denkegut› hätte es nicht zu sagen brauchen - wieder einmal wa ren es weder Augen noch Ohren, die die Anwesenheit von etwas un ermesslich Fremdartigem registrierten. Der Geist der Evolutionäre erlitt einen fürchterlichen Schock, als eine finstere Woge abscheulicher Grausamkeit über sie hinwegfegte. Das Empfinden auf mentaler Ebene war in solchem Maße intensiv, dass es beinahe zu einer gewaltsamen Trennung von Körper und Verstand gekommen wäre, wobei der Kör per selbst als verdorrte Hülle zurückgeblieben und der Geist tausend fach zersplittert in alle Winde verstreut worden wäre. Viele Minuten, nachdem der planetoidgroße Transporter vorbeigedonnert war folgten immer noch kleine und mittlere Schübe übelkeiterregender finsterer Wogen und ‹Freudeglanz› war innerlich versucht, diesen nie erlebten negativen Gefühlen einen Namen zu geben, obwohl sich alles in ihm sträubte, sie als das... Böse schlechthin zu bezeichnen. Eine solche Kategorisierung existierte im Gemeindenken der Evolutionäre nicht, obwohl gerade ihr Fehlen fast schon wieder ein unwiderlegbarer Be weis ihrer Existenz war. Gemächlich plätscherte die Zeit dahin, bis ‹Freudeglanz› und ‹Denkegut› sich gesammelt hatten. Die Eindringlichkeit des Erlebnisses würde sie bis ans Ende ihrer Tage nicht mehr loslassen. Beide hatten sie unabhängig voneinander denselben Schluss gefasst. »Wir müssen Te-Che'Lo-Kadeh umgehend verlassen! Die Psionik steht in Kontakt zu unseren weiteren Einheiten und berichtet von gleichartigen Beobachtungen. Wobei wir die Begegnung am eindring lichsten zu spüren bekommen haben.« »Du meinst, da ist eine ganze Flotte von diesen undefinierbaren Kästen unterwegs?«, wollte ‹Freudeglanz› sichergehen, seinen Partner nicht missverstanden zu haben. 86
»Sie schwärmen sternförmig aus. In sämtliche Richtungen. Jedes unserer Schiffe konnte zumindest einen Peilkontakt vermelden.« »Die höchsten Denker müssen umgehend informiert werden!« ‹Denkegut› gab einen entsprechenden Befehl an das Oktaederge hirn ab. Es bestätigte allerdings nicht sofort, sondern schien mit einer anderen Sache beschäftigt. »Ist die Mitteilung abgestrahlt?« ‹Freudeglanz› hakte energisch nach, obwohl es ihm ein Leichtes gewesen wäre, sich in die Psionik einzuklinken und die erforderlichen Informationen selbst abzurufen. Indes - er unterließ es. ‹Denkegut› wies ihn zurück und versank in tiefer Konzentration. Mehrere Minuten rührte er sich nicht und kommunizierte lautlos mit dem Rechengehirn. Ebenfalls schweigend war ‹Freudeglanz› fast so weit, seine soeben getroffene Entscheidung, sich nicht bei der BioPsionik einzuloggen, wieder zu verwerfen, als ‹Denkegut› zu sprechen begann. »Nun haben wir endgültig verloren«, murmelte er wohl mehr zu sich selbst, als dass er sich an seinen Begleiter gewandt hatte. Erst die darauf folgenden Worte waren für ‹Freudeglanz› bestimmt. »Wir stehen einsam und verlassen in einer lebensfeindlichen Ein öde.« »Was soll das heißen?« ‹Freudeglanz› verspürte einen beklem menden Druck, der so gänzlich untypisch war für ein Wesen seiner Bewusstseinsstufe. »Die Gedankenwelle ist ausgefallen«, eröffnete ‹Denkegut› ohne weitere Umschweife. »Sie ist defekt, meinst du?« »Nein«, widersprach der Evolutionär. »Sie funktioniert nicht mehr. Nach dem Datenabgleich mit den anderen Schiffen ist sie verstummt.« »Können wir sie nicht wieder regenerieren? Die Mentalkapazität mehrerer Besatzungen sollte in der Lage sein...« »Sie ist verstummt!«, raubte ‹Denkegut› dem Gefährten jegliche Illusion. »Das Abstrahlfeld kann sich nicht mehr aufbauen. Es wird von außen blockiert. Nicht einmal die Bio-Psionik weiß wovon.« 87
‹Freudeglanz'› Gesicht zeigte keine Regung. Ebenso waren seine Gedanken erstarrt und in ihrem natürlichen Fluss gestört. »Unsere Bandfunksprüche wären eine halbe Ewigkeit unterwegs«, flüsterte er ergriffen. »Wir können nicht einmal unsere versprengten Einheiten koordi nieren. Einige Hundert Lichtjahre sind bereits eine zu große Entfer nung. Wir würden tage- und wochenlang auf Antwort warten.« »Und unsere Heimat Gho'onh ist einem unüberwindlichen Feind hilflos ausgeliefert.« Davor hatten sie sich alle insgeheim gefürchtet, seit sie die un heimliche und abstoßende Aura der dunklen Galaxis gepackt hielt. Wa ren sie zu Beginn noch der Meinung gewesen, einem rätselhaften, je doch erklärbaren Phänomen gegenüberzustehen, so hatte die Realität sie mittlerweile überholt und in dem Bewusstsein zurückgelassen, in die finsteren Abgründe des Daseins gestoßen worden zu sein. Und aus diesem alles verschlingenden Schlund gab es aus eigenem Bemühen kein Entkommen. »Lass uns nach Gho'onh aufbrechen«, gab ‹Denkegut› die einzig Sinn machende Anregung. »Hoffen wir, dass die anderen Besatzungen genauso entscheiden.« »Unsere Schiffe sind schnell, aber es werden trotz allem viele Mo nate vergehen.« »Immer noch besser, als wenn die höchsten Denker niemals in Kenntnis gesetzt werden.« Die Argumentation hatte einiges für sich. Denn tatenlos auf den himmlischen Segen zu warten hieße in diesem Fall, bereitwillig seine Existenz aufzugeben. Noch war die Zeit dafür nicht reif. ‹Denkegut› programmierte die Kurskoordinaten ihrer Heimatgala xis Gho'onh.
Was werden wir vorfinden, wenn wir unsere Welt wieder sehen? Wird sie noch dieselbe sein oder ausgebrannt und vom Feind überlau fen?
‹Freudeglanz› verscheuchte den Gedanken an eine solche Zu kunftsvision. Er konnte natürlich nicht wissen, dass Gho-tro'onh, sein 88
Heimatplanet, tatsächlich nicht mehr derselbe sein würde, wenn er ihn wieder sah. Noch weniger konnte er ahnen, dass die Veränderung nur indirekt auf ihren schrecklichen Gegner zurückzuführen war... * Acht Monate vergingen auf einem Flug, der in jeder Hinsicht ohne die erwarteten Komplikationen verlief. Nicht nur, dass keine Spur der ge heimnisvollen Raumtransporter mehr aufgefunden wurde - was jedoch nicht unbedingt als positives Zeichen gewertet werden konnte - es hatte ab und zu sogar den Anschein, als ließe sich die Gedankenwelle wieder aufbauen. Immer aufs Neue wurde die Hoffnung allerdings jäh zerstört, wenn das Abstrahlfeld aus unerfindlichen Gründen in sich zusammenfiel. Der Eindruck erhielt immer konkretere Gestalt, dass sie aus Te-Che'Lo-Kadeh etwas mitgebracht hatten, was diese schnellste Art der Nachrichtenübermittlung nicht zuließ. Oder dass sich etwas aus der toten Galaxis ausgebreitet hatte, was nach und nach die interstel lare Kommunikation zum Erliegen bringen würde. Beide Möglichkeiten waren nicht dazu angetan, weiterhin unbeschwert in die Zukunft zu blicken. Die Hoffnung, die höchsten Denker vorab über die Vorfälle informieren zu können, hatte sich somit zerschlagen. Die Unruhe je doch, das heimische Zwillingssystem entvölkert vorzufinden, blieb und erhielt gerade durch die andauernden Rückschläge bezüglich der Ge dankenwelle neue Nahrung. Dass sämtliche Befürchtungen unbegründet waren, bemerkten ‹Freudeglanz› und ‹Denkegut› erst, als sie in das heimische System eintauchten. Noch kurz zuvor - nach Überschreiten der galaktischen Peripherie und den anschließenden Raumsprüngen - wurde jede Auf fälligkeit als Bestätigung der Anwesenheit jener Fremden gewertet, die die Evolutionäre ihre Anders- und Bösartigkeit in so eindringlicher Wei se hatten spüren lassen. Die apokalyptische Schockfront, die mit dem Raumtransporter einer gischtenden Welle gleich über sie hinwegge schwappt war, hatte sich als unauslöschliche Warnung in ihre Einge weide eingebrannt und verursachte beim bloßen Gedanken schon phy sisch spürbare Beklommenheit. 89
»Ich denke, wir können aufatmen.« Diesmal war es ‹Freude glanz›, der akribisch die Werte der Peilsensoren analysierte und defini tiv vertraute Muster erkannte. Dann - ohne eine Ankündigung - verlangsamte das Oktaederschiff seine Geschwindigkeit und kam zum Stillstand. Die beiden Evolutionäre sahen sich stillschweigend an und nah men gleichzeitig Kontakt zur bio-psionischen Schiffskomponente auf. »Sie kontrollieren unsere Einreisebefugnis«, konnte ‹Denkegut› es kaum fassen. »Sie tasten das komplette Schiff ab«, ergänzte ‹Freudeglanz›. »Als könnten wir sonst wer sein.« »Was auch immer in unserer Abwesenheit vorgefallen ist, es hat die höchsten Denker veranlasst, besondere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Ich gebe zu, ich bin neugierig, die Hintergründe zu erfah ren...« Sie erfuhren sie. Nachdem sie an das Oktaeder-Konglomerat über Gho-tro'onh angedockt hatten und ihr Beiboot in der Oberflächensenke gelandet war, wurden sie unverzüglich von einem Dreierkomitee in Empfang genommen. Allem Anschein nach bestand ihre einzige Auf gabe darin, die Besatzungen der einlaufenden Schiffe auf die neuesten Veränderungen vorzubereiten, ohne jedes Mal die höchsten Denker behelligen zu müssen. ‹Denkegut› und ‹Freudeglanz› wurden in einen separaten Raum innerhalb des Großhangars geführt. Nicht ohne Irritierung stellten sie fest, dass beim Durchlass ihre Körperstrukturdaten und die Hirnmatrix gescannt wurden. Sie merkten es an einem dumpfen Summton, ver bunden mit einem durchdringenden Kribbeln sowie einem hauchfeinen Wispern in ihren Köpfen. Auf Gho-tro'onh ist große Furcht eingekehrt, zog ‹Freudeglanz› ein persönliches Resümee. Das Dreierkomitee stellte sich, jeder einzeln, mental bei ihnen vor. ‹Denkegut› hörte, dass sich die Öffnung, die in diesen leeren Raum führte und in dem es nichts gab, außer einigen nichts sagenden Schaltkästen, schloss. Selbst auf Sitzgelegenheiten hatte man ver zichtet. 90
Warum dieser Raum? Warum wurden sie für ein simples Gespräch derart abgeschottet? Befürchtete man abgehört zu werden? Befürchte te man selbst hier - sozusagen im Hoheitsgebiet der Evolutionäre - die Anwesenheit und den Einfluss von etwas... Unbekanntem? ‹Freudeglanz› stellte fest, dass die Geborgenheit, die ihm die Hei mat hatte geben sollen, brüchig geworden war. Fast schon fühlte er sich entwurzelt. Fast schon war er bereit, wieder das Oktaederschiff aufzusuchen und in den Weiten des Alls auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Es herrschte eine gespannte Atmosphäre vor. Absolut atypisch für ihre Spezies und kaum förderlich für den Weg, den sie einzuschlagen beabsichtigten. »Euer Befremden ist sicher gerechtfertigt«, begannen die Drei wie aus einem Mund ihre Ansprache. »Doch es ist alles nach den Vorgaben der höchsten Denker eingerichtet.« ‹Denkegut› registrierte keinen Makel in der Aufrichtigkeit des Ge sagten und erwartete ungeduldig zusätzliche Erläuterungen. »Praktisch über Nacht hat sich unser Volk in zwei Lager gespalten. Auslöser waren die beunruhigenden Meldungen der Forschungsflotte aus Te-Che'Lo-Kadeh und natürlich der Ausfall der Gedankenwelle we nig später. Diese plötzliche Isolierung von den Verbänden wurde welt weit mit tiefster Betroffenheit aufgenommen...« »Wie ging es dann weiter?«, erkundigte sich ‹Freudeglanz›, die eigene Erregung herunterspielend. »Die höchsten Denker wurden mit zwei gegenpoligen Meinungen konfrontiert: Eine Seite verlangte die Beschleunigung des Vergeisti gungsprozesses, die Gegenpartei wollte ihn hinauszögern, um zuerst in der materiellen Welt die Zustände zu richten.« »Wie haben... wir uns entschieden?« ‹Denkegut›, ein Verfechter der Geistlösung, strauchelte nahezu über seine eigenen Worte, die den Kern der Antwort in sich trugen und nur Ausdruck seiner Unentschlos senheit und vielleicht auch Ängstlichkeit waren, sie selber auszuspre chen. »Für die Materie«, folgte die emotionslose Erwiderung. »Und für den Krieg!« 91
Fünf Titanen standen sich reglos gegenüber, die die meisten der ihnen bekannten Rassen spielend um das Zwei- bis Dreifache überrag ten. Und wie so viele dieser niederen Völker ihre Eigenarten entwickelt hatten im Umgang miteinander, so suchte nun auch ‹Denkegut› nach einer Geste - wie etwa das Abstützen seines Körpers an einem Möbel stück oder Ähnlichem - um seine Fassungslosigkeit weit über das ge dachte oder gesprochene Wort hinaus zur Geltung zu bringen. Natür lich hätte es einer derartigen Unterstreichung seiner Ablehnung nicht bedurft, doch irgendwie hatte er die kleinen Wesen mit ihren urtümli chen Ritualen lieb gewonnen, fühlte sich ihnen verbunden und unter drückte eigentlich ständig seinen Hang zur Imitation. Auch das mochte ein weiterer Beweis ihrer aller Herkunft sein, die sie schon vor Urzeiten abgelegt zu haben glaubten. Doch selbst auf der Ebene der zweiten Potenz konnte kein Evolutionär seine Wurzeln verleugnen. Sie waren nicht besser als die Primitiven und die Technokraten, sie waren nur anders, waren den Weg zum Ursprung all dessen was war und sein würde nur vorausgegangen, um ihn für die nachfolgenden Pilger zu ebnen. Die Offenbarung des Komitees kam damit einem Rückfall in die Barbarei gleich. »Gho-tro'onh rüstet auf. Habe ich dich da richtig verstanden?« »Absolut«, erhielt ‹Denkegut› zur Antwort. »Und eure Aufgabe?«, schaltete sich ‹Freudeglanz› in die Unter haltung ein. »Worin besteht sie? Sollt ihr die Kontrahenten vorsortie ren, damit sie sich nicht in die Quere kommen...?!« »Wir sollen informieren«, ignorierten die Sprecher die Nuancen der Unbeherrschtheit. »Viele Schiffe sind bereits vor euch gelandet. Viele werden noch kommen. Die Besatzungen sollen wissen, woran sie sind.« »Ich betrachte es schon fast als Verrat an den ›Gängern des drei zehnten Weges‹, die Schaffung eines Einheitsbewusstseins in eine unbestimmte Zukunft zu verlegen.« ‹Denkegut› hielt mit seiner Mei nung nicht hinter dem Berg und es war ihm durchaus anzumerken wenigstens ‹Freudeglanz› war sensibel genug, dies wahrzunehmen dass er persönlich mehr als nur enttäuscht war. Ja, er betrachtete es 92
als Kränkung. Die hohen Ziele wurden zugunsten martialischer Ausei nandersetzungen, die sie nicht gewinnen konnten, aus den Augen ver loren. Aber, so sagte er sich gleich darauf, vielleicht gab es für ihre Spezies auch gar kein Weiterkommen. Konnte es nicht sein, dass sie die Spitze ihrer Entwicklung bereits erklommen hatten und sich nun wieder talwärts orientierten? War es nicht vorstellbar, dass die höchs ten Denker gar keine andere Entscheidung hatten treffen können, weil es gegen die Programmierung dieser Existenzebene verstoßen hätte? »Die ›Gänger des dreizehnten Weges‹ haben unser Verständnis in Richtung dieser Alternative gelenkt«, kam es leidenschaftslos. In Richtung einer kriegerischen Auseinandersetzung?, stellte ‹Denkegut› den Sinnzusammenhang her. Gegen einen Feind, den nie
mand kennt, den niemand sieht und gegen den sich bisher niemand wehren konnte?
»Das glaube ich euch nicht!«, sagte er frei heraus. »Die ›Gänger‹ haben die Erhebung unserer Rasse auf das nächst höhere Niveau nur als Ganzes vorgesehen.« »Und doch ist es die Wahrheit.« Das Dreiergespann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Man ließ uns wissen, dass die Spaltung unse res Volkes zwar unerwünscht, jedoch ohne Vorbehalt Teil des Schöp fungsaktes sei. Dies werde man respektieren. Daher wird es eine Teil vergeistigung auf freiwilliger Basis geben. Auch die höchsten Denker haben erkannt, dass die Einheit viele unreife Bestandteile haben und ihr somit schaden würde. Viele Evolutionäre fühlen sich der neuen Aufgabe nicht gewachsen, fühlen sich dem Materiellen mehr verbun den als dem Spirituellen. Ihnen soll die Möglichkeit eröffnet werden, ohne Druck von außen ihre Entwicklung im Rahmen des Schöpfungs plans zu vollenden.« ‹Denkegut› und ‹Freudeglanz› wussten nicht, was sie sagen soll ten. »Was erwartet diejenigen, die auf Gho-tro'onh zurückbleiben?«, nahm ‹Freudeglanz› als Erster den Gesprächsfaden wieder auf. »Der Kampfeinsatz auf einem Kriegsschiff! Tag für Tag werden mehr Forschungskreuzer für die Schlacht gerüstet. Unzählige Hilfsvöl ker sind an den Umbauarbeiten beteiligt.« 93
»Welche Strategie verfolgen die höchsten Denker?« In ‹Freude glanz'› Innerstem kroch das Unwohlsein aus den dunkelsten Ecken hervor und machte sich daran, das zentrale Nervengeflecht zu er obern. »Ich meine, wir jagen einem Phantom hinterher! Wie wollen wir es aufspüren? Wie können wir es bekämpfen...?« Sie sagten es ihm - und ‹Freudeglanz› erschauerte! * An der äußeren Form der Oktaeder hatte sich nichts verändert, doch ihr Innenleben war ein gänzlich anderes geworden. Die über hundert Einheiten, die sich 200 Lichtjahre vom Zwillingssonnensystem zusam menrotteten, waren die ersten ihrer Bauart und beherbergten ein Waf fenarsenal, das entwickelt worden war, jeder nur denkbaren Heraus forderung zu trotzen. Es gab konventionelle Projektil- und Plasmage schütze, Laserrampen für hochkonzentrierten Punktbeschuss sowie Raumminen, Raketen und Nuklearbomben. Von diesen Waffen erhoff ten sich die Evolutionäre noch nicht einmal einen sonderlichen Effekt gegen die vermutete dunkle Macht aus Te-Che'Lo-Kadeh. Sie würden lediglich dann den Ausschlag geben, wenn das Niveau des Kampfes ein Level erreichte, in dem zwei halbtote Kontrahenten mit dem Rü cken zur Wand ihre allerletzten Vergeltungsschläge austeilten und nur noch vage hoffen konnten, dem anderen damit irgendeinen Schaden zuzufügen. Bevor es so weit war, sollte allerdings eine weitaus moder nere und ausgeklügeltere Technik zum Einsatz kommen. So hoch ihr Bewusstsein schon aufgestiegen war, so breit war auch der Erfin dungsreichtum der Evolutionäre. Das Wissen um komplexe hyperphy sikalische Vorgänge ließ sich hervorragend einbinden in ein Konzept exorbitanten Kriegswerkzeugs. Daher gab es neben Vernichtungswaf fen, die auf mehrdimensionaler Basis arbeiteten, ebenso defensive Systeme, die die Aufgabe hatten, das gegnerische Angriffspotenzial zu blocken oder unbrauchbar zu machen sowie den Geist der Angreifer zu verwirren. Die Projektoren dieser Mentalstrahlung ließen sich in ihrer Wirkungsweise beliebig einstellen und konnten so geeicht werden, dass die Betroffenen sich selbst vernichteten. 94
Derart gerüstet schwärmten die hundert Oktaeder aus, um - im Kontrast zu ihrer komplizierten Ausstattung - einer simplen Taktik zu folgen: sichten und vernichten! Überall dort, wo außergewöhnliche und - nach eigenem Ermessen - bedenkliche Ortungsimpulse aufgenommen wurden, sollten die Kampfstationen zum Einsatz kommen und zu ihrem tödlichen Reigen aufspielen. In weitem Umkreis sollte alles zerstört werden, was nach einem Feind aussah oder ihm dienlich sein könnte. Ihm sollte auf diese Weise die Grundlage seiner weiteren Expansion genommen werden. Und ebenso wenig, wie die Evolutionäre sich bisher in die Angelegen heiten der Völker der unteren Bewusstseinsstufen eingemischt hatten, so kümmerte es sie nun, wenn diese in der entfesselten Vernich tungsorgie vergingen. Der Zweck heiligte die Mittel und war, auf den Punkt gebracht, doch nur bemitleidenswerter Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit. Doch die Saat der Gewalt sollte noch andere Früchte hervorbrin gen. Tragischerweise spielten die Wirrnisse dieser Zeit dem Feind eher in die Hände, als ihn aufzuhalten... * Staunend äugten Felb, Sjol und Barr auf die vorbeisausende Land schaft, die sie durch die getönten Scheiben der Magnetschwebebahn sahen. »Ich weiß zwar nicht wie und warum dieses Gefährt funktioniert«, kommentierte Felb, was ihn bewegte und drückte sich dabei schutzsu chend zurück in seinen Kontursitz, »aber eines weiß ich mit Gewiss heit: es ist mir unheimlich.« »Du solltest stolz sein, deinem Volk einen solchen Dienst erweisen zu dürfen«, meinte Sjol ein wenig vorwurfsvoll. »Ach wirklich?« Felb lachte freudlos auf. »Da bin ich ja in guter Gesellschaft mit zehn Millionen anderen.« 95
»Sie nehmen nur die, die sie gebrauchen können«, bekam Sjol von Barr Unterstützung. »Und du gehörst dazu. Das ist doch schon was.« »Da hörst du's«, sagte Sjol beiläufig. »Du gehörst zu einer 0,2 Prozent-Elite. Wer wird sich denn da beklagen...?« »Ich beklage mich gar nicht«, wehrte Felb ab. Misstrauisch schiel te er durch die Scheibe, die vom Fußboden aus bis zur Mitte der sanft gerundeten Decke reichte und dort in einer Schiene verschwand. Sträucher, Bäume und Hügel rasten in irrwitzigem Tempo vorbei. Felb presste sich beinahe ängstlich in seinen Sessel. Es war seine dritte Fahrt in dem Hochgeschwindigkeitszug und doch packte ihn gerade jetzt wieder das Gefühl, ein heftiger Sog könnte ihn erfassen und ein fach durch die mattdunkle Scheibe ins Freie reißen. »Im Gegenteil. Die hypnotisch-suggestive Schulung ist das Phänomenalste, was ich jemals in meinem Leben erfahren durfte. Vielleicht das Beeindruckendste, was überhaupt je ein Borraner erfahren durfte.« »Ganz meine Meinung«, bestätigte Sjol, der ihm gegenüber saß. Barr machte ebenfalls eine Geste der Zustimmung. »Andererseits«, begann Felb einen Einwand, »sehe ich absolut keinen praktischen Nutzen in dem, was wir lernen.« »Wir lernen nicht für uns, mein Lieber, sondern für die Fleggos.« Wieder so ein Punkt, an dem sich Felb stieß. »Irgendwie scheint es mir unwahrscheinlich, dass diese kleinen Kerle über ein solch hohes Wissen verfügen. Ich will sagen, dass die Natur diese Sache ungerecht handhabt. Die Kobolde haben viel im Kopf, aber nichts in den Armen, wisst ihr?« »Dafür haben sie jetzt uns«, fasste Sjol gähnend zusammen, der die ewige Nörgelei und Spitzfindigkeiten seines Kollegen Felb recht ermüdend fand. Felb hatte eine Erwiderung auf der Zunge, sprach sie jedoch nicht mehr aus, als er den Blick von Barr bemerkte, der eine lauernde Er wartungshaltung ausdrückte. Bestimmt würde auch Barr einiges loslas sen, wenn er, Felb, sich jetzt nicht am Riemen riss. 96
Einige Minuten saßen die drei schweigend da und jeder hing sei nen Gedanken nach. Fasziniert und erschrocken zugleich konnte Felb seine Augen nicht von dem dahinfliegenden Gelände abwenden. Welch ein unfassbares Tempo, kreiste es in seinem Kopf. Eine neue Idee schwirrte durch seinen Verstand, die er unbedingt noch an den Mann bringen musste, doch im Moment zurückhielt, da das Desin teresse seiner Mitreisenden allzu offensichtlich war. Umso erstaunter war Felb, als er plötzlich von Sjol angesprochen wurde. »Eigentlich hast du gar nicht einmal so Unrecht, Felb«, sagte er grübelnd. »Durch die hypnotisch-suggestive Ausbildung können wir zwar Maschinen für die Fleggos bauen, doch unseren eigenen Entwick lungsstand bereichert das gewonnene Wissen nicht.« »Das sage ich doch!«, hieb Felb in die Bresche. »Unsere grandio seste technische Errungenschaft ist das Telegrafieren! Was die Kobol de uns in den Verstand impfen ist so weit von uns entfernt wie die Sonne von Borra.« »Der Technologietransfer ist für uns nutzlos«, resümierte Barr ru hig, »weil eine Menge Zwischenstufen, die aufeinander aufbauen, feh len. Du hast gerade den Keller deines Hauses ausgehoben, als auch schon die Dachdecker vor Ort sind. Sie können nichts tun, weil die Bo denplatte und das Erdgeschoss fehlen. Ihre Fähigkeiten sind somit verschwendet und überflüssig.« »Genau wie unser Unterricht«, stimmte Felb zu. »Heute allerdings werden wir zum ersten Mal unser neu erworbenes Wissen anwenden können. Sie lassen uns an die Maschine.« »Bist du deshalb so nervös?«, erkundigte sich Sjol, dem die ver krampfte Haltung seines Gegenübers während der ganzen Fahrt nicht entgangen war. Felb brauchte einen Augenblick zum Nachdenken. »Nein«, sagte er schließlich, »das ist es nicht.« Wieder sah er hin aus. Nicht auf die endlos vortragende Wand aus grünen und braunen Farbschlieren. Sondern in eine unbestimmte Ferne. Er hatte keine Furcht vor dem Zug. Oder dem Hinausfallen. Das war ihm nun klar. Es war das zweischneidige Gefühl an etwas mitzuwirken, das sich seiner Begutachtung entzog und von dem er nicht wusste, was es in letzter 97
Konsequenz darstellte und wofür es benötigt wurde. Möglicherweise diente es dem Wohle vieler. Genauso gut konnte es unermesslichen Schaden anrichten. Wer, außer den Fleggos, konnte das beurteilen? Die Kobolde kamen von weit her. Das hatten sie bei ihrer Ankunft damals verraten. Von einem fernen Planeten, was an sich schon einer Zumutung an die Vorstellungskraft gleichkam. Jedoch hatten sie ein paar ganz nette technische Tricks drauf. Felb lachte in sich hinein. Ein paar nette technische Tricks? Hatte er das wirklich gerade gedacht? Guter Gott! Das war die Untertreibung schlechthin. Das, was die Ko bolde Elektrizität nannten, hatte den meisten Zuschauern damals voll ständig den Atem geraubt. Die Fleggos hatten ihnen gezeigt, wie man anstelle von kompliziert aneinander gereihten Pieptönen richtige Stim men von Stadt zu Stadt übertragen konnte. Eine Sensation! Und dann die Pläne dieser Maschine, die Wasserdampf in mechanische Kraft um zuwandeln imstande war. Davon würde ganz Borra profitieren. Als Gegenleistung erwarteten sie Hilfe für ihre Stationen, die... Just in diesem Moment hob sich die Kuppel einer solchen Station über eine Anhöhe hinweg. Trotz der enormen Geschwindigkeit des Magnetzuges wurde sie nur unmerklich größer, was auf ihre giganti schen Ausmaße schließen ließ. Ehrfurcht und Befangenheit hielten sich beim Anblick des Oktaeders, der groß war wie zehn ihrer Städte oder noch mehr, die Waage. Wer solches zu errichten vermochte, der konn te nicht weit von Gottgleichheit entfernt sein. »Ich fühle lediglich eine eigentümliche Schwermut«, griff Felb die Frage Sjols wieder auf. »Sonst nichts.« »Der Zug wird langsamer«, erkannte Barr. Sein Augenmerk richte te sich nun ebenfalls auf das riesige Konstrukt, das noch gut fünfzig Kilometer entfernt und doch deutlich zu erkennen war. »Himmel, Leu te! Was für ein Anblick!« Er durfte ihn bereits das dritte Mal in sich aufnehmen. Wie Sjol und Felb. Seine Bewunderung indes hatte sich von Tag zu Tag gesteigert. Aus sämtlichen Richtungen trafen Züge und Gleiter sowie große Flugmaschinen ein. Alle dockten auf unterschiedlicher Höhe bei dem Oktaeder an und entließen die Borraner zu Hunderttausenden ins In nere ihrer neuen Wirkungsstätte. Ein Großteil würde weiter an den 98
Schulungen teilnehmen, wieder eine Masse anderer betätigte sich bei der Konstruktion von wundersamen Gerätschaften. Die Kobolde hatten einmal durchblicken lassen, dass sie die Borraner wegen ihrer Geleh rigkeit und Fingerfertigkeit achteten. An und für sich sollten sie sich glücklich schätzen - Felb eingeschlossen - an einem Projekt von diesen Dimensionen teilnehmen zu können. Wenn da nicht ein bitterer Beige schmack gewesen wäre, der zwar einer soliden Grundlage entbehrte, nichtsdestotrotz den Eindruck einer waghalsigen Gratwanderung ver mittelte. »Komm schon!«, forderten Sjol und Barr ihren Kollegen auf. »Wir sind an der Reihe. Die Magnetbahn ist ins Sockelsegment des Okta eders eingefahren.« Was sie sahen kannten sie bereits. Was vor ihnen lag, war ihnen noch unbekannt. Gemeinsam mit einigen Hundert Borranern, die eben falls in ihrem Zug gesessen hatten, gingen sie durch lange, helle Korri dore, vorbei an zahllosen Türen, Schotten und Schächten. Mehrmals mussten sie Aufzüge benutzen. Eine reichlich an der Sache vor beigehende Bezeichnung für eine Kraft, die sie scheinbar mühelos, schnell und gleichförmig ohne Kabinen und Drahtseile in die Höhe trug. Auf Lebewesen, die sich nach der Erfindung des Paternoster schon in der Nähe des Himmelreichs wähnten, wirkte dieser wissen schaftliche Zauber reichlich märchenhaft. Dank der mehrtägigen Kon ditionierung in den Lernkapseln kamen die meisten mit den sie umge benden Wundern mittlerweile ganz gut zurecht. Oder anders ausge drückt: Sie standen nicht mehr gaffend mit offenen Mündern davor. »Dauert ganz schön lange«, sagte Felb. »Das Ding ist mordsmäßig groß.« »So groß«, konkretisierte Barr sofort, »dass zehntausend Borra ner, die kreuz und quer hier drinnen ausgesetzt würden, sich ein gan zes Leben lang nicht ein einziges Mal über den Weg laufen würden. Hat mir einer von den Fleggos gesagt.« Felb schluckte. »Das ist groß.« Ebenso fragte er sich, wann ein Fleggo sich herabgelassen hatte, mit Barr so vertraulich zu werden. Mit Felb hatte noch keiner der Kobolde geredet. Er hatte allerdings auch kaum einen gesehen und nach der intensiven hypnotisch-suggestiven 99
Schulung keinerlei Bedürfnis verspürt, philosophische Be trachtungsweisen mit den Kleinwüchsigen auszudiskutieren. Das borranische Trio hörte irgendwann auf, die zurückgelegten Decks zu zählen oder zu versuchen, sich in den Korridorwindungen zurechtzufinden. Sie waren praktisch schon beim Verlassen des Mag netzuges kanalisiert worden und trotteten seitdem gesittet hinter ei nem Fleggo her, der auf einer Flugscheibe sozusagen den Kopf der Menschenschlange bildete. Sie erreichten eine weitläufige, kreisrunde Brüstung mit einem Ra dius von gut zweihundert Metern. Von ihr zweigten jede Menge Stege ab, die zu einer Art Ballon in ihrem Zentrum führten. Dieser Ballon hatte die Form einer Kugel, ragte turmhoch in eine weit gespannte Kuppel und war von irrlichterndem, blauen Leuchten und weiß glühenden Entladungen erfüllt. Ein Summen und Knistern lag in der Luft. Aus der Tiefe des Schachts, den man erblickte, wenn man sich über die Brüstung beugte, tönte dumpfes Dröhnen.
Nicht ganz der Arbeitsplatz, an dem ich bis zu meinem Lebensen de schaffen möchte, dachte Felb missmutig. Die Atmosphäre behagte
ihm wenig. Es war laut und überall gab es Geräusche, die ihm fremd waren. Wo er hinsah gab es Wahrnehmungen, die er nicht einzureihen wusste. »Wir sind da«, schallte die Stimme des Fleggos zu ihnen herüber und war auch zur selben Zeit direkt in ihren Köpfen. Für Felb bestätig ten sich damit seine schlimmsten Befürchtungen: Auf unbestimmte Zeit würde er Tag und Nacht an diesem Ort zubringen. Als er im Geleit mehrerer Dutzend Borraner den Eisensteg überquerte, liefen auch schon die Bilder aus der Hypnoschulung vor seinem geistigen Auge ab. Er erkannte seinen Einsatzort, identifizierte Maschinenteile, die er verbauen würde. Keine schwierige Aufgabe, die vor ihm lag. Eher eine eintönige. Stundenlang sprach er kein Wort - so wie jeder Borraner einzig mit seiner Arbeit beschäftigt war. Die Lastenkräne schwenkten bei Bedarf von der Kuppeldecke herunter und setzten Maschinenteile und Elektronikzubehör ab. 100
Immer dieselben Handgriffe. Immer dieselbe Reihenfolge. Und immer dieselben Gedanken, die Felb nie aus seinem Kopf vertrieben bekam und die ihn zwischenzeitlich ablenkten. Er scheuchte sie fort, ein ums andere Mal. Doch hartnäckig wie hungrige Greifschnäbler kehrten sie stets zu ihm zurück. Sie waren auch zu jenem Zeitpunkt bei ihm - diese nagenden Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns - als er dieses kleine Röhrchen in eine Magnethalterung einführen sollte, die sich in einem Zylinder befand, der von rot-weißen Energiefingern in der Balance gehalten wurde und zu einem Geräteteil gehörte, das jenseits des Verständnis horizonts eines Borraners lag. Normalerweise schnappte der selbst steuernde Verschluss von alleine zu, wenn das Röhrchen zu einem gewissen Grade eingedrungen war. Aus irgendeinem Grund zog Felb es wieder an sich, der Verschluss fasste ins Leere, summte durch dringend, während Felb einen neuen Anlauf wagte, sich beim erneuten Aufschnappen jedoch erschrak und das Röhrchen in die flirrenden E nergiewellen rutschte. Selbst das war für gewöhnlich nicht möglich, da ein Abschirmfeld den hochenergetischen Stabilisierungsbereich sicher te. Es musste für eine tausendstel Sekunde ausgesetzt haben. So ge ringfügig und mit menschlichen Sinnen nicht registrierbar war der Zeit raum, dass Felb nicht bemerkte, wie das blitzschnell reaktivierte Schutzfeld das Röhrchen im Fallen durchtrennte. Niemand hatte die Chance, etwas zu bemerken oder im Nachhi nein der Fehlerursache auf den Grund zu gehen. Mit dem Sekundenbruchteil, in dem das Röhrchen zerbarst, ende ten fünf Milliarden Leben auf Borra! * Unglauben und Entsetzen waren für die Evolutionäre zweiter Potenz eher abstrakte Begriffe, auch wenn sie durchaus in der Lage waren, sie zum Ausdruck zu bringen. Wie jetzt. »Die gesamte Oberfläche von Borra ist verwüstet. Während eines Lidschlags.« Der Evolutionär ‹Lobeviel› starrte auf die Holografie, die 101
anstelle der zweidimensionalen Bildschirmdarstellung projiziert wurde. Sie zeigte Borra aus einem planetennahen Orbit, in dem sein Schiff stationär verankert war. Die Waffensysteme der Oktaederschiffe spieen Tod und Verderben aus in so vielen bewohnten Regionen - ihre desaströse Wirkung war hinlänglich bekannt. Nur war es ein Unterschied, ob sie ganz bewusst im Weltraum eingesetzt wurden, wo das Ausmaß der Zerstörung schon rein optisch einen eher geringfügigen Eindruck hinterließ oder ob sie überraschend direkt auf einem Planeten gezündet wurden. Nie zuvor hatte es einen Unfall wie diesen gegeben. Denn nur um einen solchen konnte es sich handeln. ‹Lobeviel› betrachtete das sanfte Glühen um Borra, das sich als leiser Nachhall der Quantenexplosion um diese Welt schmiegte. Die dreißig Oktaederschiffe, die zur Aufrüstung gelandet und Arbeitsstätte für viele Millionen Einheimische geworden waren, hatte es förmlich in ihre atomaren Bestandteile zerlegt. Messungen zeigten an, dass ledig lich organische Materie verschont geblieben war. Was nicht hieß, dass auch nur ein einziger Borraner noch am Leben war. Diese absonder liche Detonation hatte sie sämtlichen Lebens beraubt und nur leere, nackte Körperhüllen zurückgelassen. Eine Art Schutzmantel hatte sich über jeden einzelnen Toten gelegt wie eine zweite Haut und würde ihn für die Ewigkeit konservieren. Wie bizarr!, wandte sich ‹Lobeviel› von den sensorischen Kontrol len ab. Eine planetarische Trophäensammlung! Gewohnt routiniert brachte er Ordnung in seine Gedanken und stellte eine Verbindung zu den anderen Orbitalen Stationen her. Es fand ein rascher Informationsaustausch statt. »Die Psionik gibt mit hoher Wahrscheinlichkeit bekannt, dass die Störungsursache beim Quantenballon gelegen haben muss«, sagte ‹Tatenfreud› am anderen Ende der Leitung. Störungsursache!, wiederholte ‹Lobeviel›. So kann man das natür lich auch nennen. Er enthielt sich jeglicher offen ausgesprochener Wertung des Vorfalls. »Eine komplette aufstrebende Zivilisation wurde einfach hinweg gefegt«, sprach er weiter. »Ein Unrecht, das nie mehr gutzumachen ist 102
und für das es noch weniger eine Rechtfertigung gibt. Selbst im Ange sicht einer eklatanten Gefahr aus Te-Che'Lo-Kadeh.« Es herrschte Ruhe im Äther. Wenige Atemzüge lang. »Ich glaube, es gibt Überlebende«, brachte ‹Tatenfreud› stockend hervor. »Ja, ich sehe es ebenfalls«, bestätigte ‹Lobeviel›. »Dann lasst uns retten, was noch zu retten ist.« Wie ein Zeichen des bevorstehenden Untergangs, drängte sich ‹Lobeviel› ein düsterer Zusammenhang auf. Als wäre der Feind nur
aufzuhalten, indem wir uns selbst vernichten. Die eine Hälfte unserer Rasse geht den Weg der ›Gänger‹ und strebt hin zur vergeistigten Einheit. Wir hingegen - ausgerechnet! - sind die Kriegstreiber der ma teriellen Welt und unsere dunkelste Stunde steht uns erst noch be vor...
Das Körnchen Wahrheit, das diesem Gedankengang innewohnte, wuchs von Minute zu Minute bedrohlich an!
5. Orros Flucht lag bereits einige Tage zurück. Die Wogen der Unruhe hatten sich geglättet; die Männer und Frauen der Höhlenstadt gingen wie bisher ihren Arbeiten nach, bauten Keißa ab, transportierten Was ser von den unterirdischen Seen nach Hause und weiteten die Stollen aus. Prälat Frai nahm zufrieden zur Kenntnis, dass er alles wieder fest im Griff und der Alltag sich normalisiert hatte. Kaum jemand ver schwendete noch einen Gedanken an den Ruhestörer Orro, der ihre heile Welt derart in Aufregung versetzt hatte, dass Frai sogar genötigt gewesen war, einen Mörder zu bestellen, um Orros Freundin zu töten. Allerdings wäre das gar nicht nötig gewesen, denn die Ereignisse hat ten eine Eigenmotorik entwickelt, die selbst der Kirchenvorsteher nicht hatte voraussehen können. Der Unfall an der Dampfmaschine hatte den Ausschlag gegeben und Orros ehrgeizigem Projekt den Todesstoß versetzt. Der junge Borraner hatte nur noch weglaufen können, da er andernfalls gelyncht worden wäre. Nun, da er fort war, hatte der Prä 103
lat freie Hand, um die Saat der Verachtung, die in den Herzen der Städter für Orro keimte, zur vollen Blüte zu bringen. Sollte Orro also tatsächlich jemals zurückkehren - Frai betrachtete diesen Gesichts punkt als eher vernachlässigbar - dann würde er seinem eigenen Ende mit offenen Armen entgegen rennen. Dann würde es für ihn keine Möglichkeit mehr geben zu fliehen. Dann würde er in den Köpfen sei ner Landsleute nur ein verachtenswerter Intrigant sein, der großes Unheil über alle gebracht und dafür den Tod verdient hatte. Schließlich würde sein Name nur noch schale Erinnerung sein und alsbald ganz verblassen. Prälat Frai stand in der Andachtshalle und schickte Gott seinen Dank für die begrüßenswerte Fügung der Dinge. Dabei streifte sein Blick den jungen Valk, der stoisch diverse Reinigungsarbeiten durch führte und seit Orros Verschwinden noch schweigsamer als zuvor ge worden war. An seiner Gefügigkeit hatte es jedoch nichts geändert und nur das interessierte letztendlich den Geistlichen. Eher schon würde er sich mit Vauc auseinandersetzen müssen. Der alte Mann kam oft zum Freigelände hinter der Messhalle und stand lange stumm vor den Trümmern der Dampfmaschine. War es nur die innere Verbundenheit zu Orro, dessen Vertrauter er über die Jahre gewesen war oder steckte etwas anderes dahinter? War es im End effekt Vaucs eigene Vergangenheit, aus der sich nun Parallelen zu Or ros Schicksal ziehen ließen? Frai nahm sich vor, den Alten - er schmunzelte - ins Gebet zu nehmen. Nicht dass er fürchtete, Vauc würde sich in der Öffentlichkeit als Sympathisant Orros zu erkennen geben und dessen Handlungen ins rechte Licht zu rücken versuchen das sicher nicht. Doch der Mann der Kirche wollte nicht mit einem stör rischen alten Forscher über Begebenheiten diskutieren, die längst ab gehakt waren und keinesfalls mehr auf den Tisch gehörten. Weder zwischen ihnen beiden noch irgendwo anders. Schädliche Tendenzen für das Gemeinwohl würde Prälat Frai im Ansatz zu ersticken wissen. Nur seiner feinsinnigen Vorausschau war es zu verdanken, dass das ›Projekt Dampfmaschine‹ nicht schon wesentlich früher eskaliert war. Im Nachhinein betrachtet hatte er sich in der Vergangenheit vielleicht zu diskret verhalten, anstatt mit eisernem Nachdruck durchzugreifen. 104
Ein Fehler - sofern es sich darum handelte und nicht um die Vor sehung selbst, als deren ausführendes Organ er sich gerne sah - der nun ein für allemal ausgemerzt worden war. Einige Augenblicke beobachtete Frai seinen Zögling Valk - Orros Freund - bei der Arbeit. Nein, von ihm ging keine Gefahr aus. Ihn hatte er an die Kandare genommen. Mit Widerstand war nicht zu rechnen, auch wenn Valk den Prälaten für Orros Scheitern und irgendwann für dessen Tod verant wortlich machen würde. Valk war kein Kämpfer, vielmehr ein Duck mäuser. Dazu hatte Frai ihn mit größter Strenge erzogen, denn ein Aufbegehren in jeglicher Form konnte der Kirchenvorsteher in seinem Umfeld nicht dulden. Valk spürte die sengenden Blicke auf seiner Haut, wandte leicht den Kopf und zog ihn verschüchtert wieder ein; unter den Augen Frais fühlte er sich wie in einer Schraubzwinge, der er sich entwinden muss te, bevor sie ihm die Luft aus den Lungen presste. Guter Junge, dachte der Prälat. Dein bedingungsloser Gehorsam
wird dich zu einem vorzüglichen Bürger machen.
Valk wurde aus der Begutachtung entlassen. Seinem Instinkt fol gend wandte Frai sich der rückwärtigen Tür der Halle zu, um auf das weitläufige Gelände dahinter hinauszutreten. Was er sah, als er den Türspalt weiter aufzog, überraschte ihn nicht. Da stand wahrhaftig der alte Vauc in Gedanken versunken bei den Überresten der Maschine.
Als wenn ich es geahnt hätte.
Bedächtig trat Frai an den Mann heran. »Du wirkst nachdenklich«, begann er und bemerkte, dass Vauc leicht zusammenfuhr, sich aber nicht umdrehte. »Wenn du reden möchtest, dann reden wir.« »Ich wüsste nicht, was wir zu bereden hätten«, ließ sich der An gesprochene zu einer Äußerung herab. »Dann werde ich es anders formulieren«, sagte Frai und es lag keine Freundlichkeit mehr in seiner Stimme. »Ich will mit dir reden. Und du wirst mir diesen Wunsch nicht abschlagen, was immer du auch hier draußen bei diesem...« Er suchte ein passendes Wort, das seine 105
Verachtung für Orros Werk treffend zum Ausdruck brachte. »... Abfall zu finden hofftest.« Er erntete einen stummen Blick Vaucs. Darin las er Verständnis, jedoch ebenso tief empfundene Melancholie. In der Wohnstube des Prälaten setzten sie sich an den kleinen Tisch, so, wie sie es in der Vergangenheit oftmals getan hatten, um Dinge von großer Tragweite zu besprechen oder einfach einen Gedan kenaustausch zu tätigen. Diesmal war es anders. Diesmal hatte Vauc nicht das Gefühl, als gleichberechtigter Partner zu reden. Eher als De linquent auf der Anklagebank. Und Frai gab sich keine Mühe, diesen Eindruck zu verwischen. »Nun sage mir doch bitte, was dich andauernd zu den Trümmern dieser Maschine treibt. Was willst du dort? Ist es das schlechte Gewis sen, Orro an mich verkauft zu haben? Ist es die Trauer um einen Freund, den du nie mehr wieder sehen wirst?« Der alte Vauc hielt den Kopf gesenkt und blieb stumm. »Soll ich es dir sagen, ja?« Der Kirchenvorsteher wurde merklich ungehalten. »Ich glaube, dass deine Erinnerungen dich überwältigen. In deiner Jugend warst du wie Orro. Ungestüm, voller Tatendrang und unzähligen undurchführbaren Ideen im Kopf.« Die Betonung des Wor tes ›undurchführbar‹ hatte den Nachhall eines späten Vorwurfs. »Du hast sie nie verwirklicht. Das hat schon mein Vorgänger zu verhindern gewusst. Aber sie waren immer noch da, diese Ideen. Und dann taucht Orro auf. Du verfolgtest seinen Werdegang von Anfang an, hast dich seiner angenommen, den netten alten Herrn und vertrauen erweckenden Mentor gespielt. Wie leicht ist dir der junge Narr ins Netz gegangen! - Und wozu?« Die Frage hatte rein rhetorischen Charakter. Ungerührt fuhr Prälat Frai fort, als Vauc immer noch keine Wortmeldung äußerte. »Du glaubtest, Orro könne deine eigenen gescheiterten Pläne auf greifen und verwirklichen. Da staunst du, was? Es ist mir nicht ent gangen, wie du ihn Schritt für Schritt in die von dir gewünschte Rich tung gedrängt hast. Er war ja so gelehrig, nicht wahr? Hing gierig an deinen Lippen, wenn du deine Weisheiten preisgegeben hast. Du woll test, dass er das vollendet, was du begonnen hast und niemals zu En 106
de führen durftest. Hast du Orro gesehen, dann hast du dich selbst gesehen.« Frai lachte humorlos auf. »Du dachtest tatsächlich, er hätte eine Chance...« Nun hatte Vauc doch aufgesehen. Er fühlte sich überführt. Er war beschämt, dass seine Motive derart offensichtlich für andere gewesen waren. »Wie lächerlich muss ich dir erschienen sein«, sagte Vauc klein laut. »Doch es ist sinnlos, es zu leugnen. - Warum hast du so lange gewartet?« Warum hast du nicht viel früher eingegriffen und den Spuk beendet, flüsterten seine Gedanken. »Da fragst du noch?«, antwortete der Prälat, um sofort leise hin zuzufügen: »Nein, du konntest meine Absichten natürlich nicht ahnen. Aber vielleicht kannst du dir vorstellen, in welcher Lage ich mich be funden habe. Ich trage große Verantwortung für die Borraner, für ihr Wohl und für jenes der Stadt. Alles funktioniert, weil alles wundervoll aufeinander abgestimmt ist. Vergleiche es mit einem Räderwerk, bei dem die Zähne aller Radkränze perfekt ineinander greifen, um eine Gesamtbewegung auszuführen. Wenn sich nun etwas zwischen die Zahnräder setzt - ein Span etwa oder ein Steinchen oder auch nur einige Sandkörner - gerät die Gesamtbewegung ins Stocken oder hört einfach auf. Der anfängliche Mangel an Geschmeidigkeit innerhalb der Bewegung führt zu ihrem vorzeitigen Ende. Eine analoge Störung hat Orro für das soziale und wirtschaftliche Gefüge dieser unserer Stadt mit sich gebracht. Er war der Sand im Getriebe ihres Motors. Nur hätte es wenig genützt, ihn auf der Stelle unschädlich zu machen. Du warst damals einsichtig genug - möglicherweise nennst du es schlicht feige deine Pläne aufzugeben. Für Orro musste eine radikalere Lösung her, um ein für alle Mal den Keim der geistigen Aufsässigkeit abzutöten. Im Zusammenhang mit seiner Person dürfen auch bei späteren Generati onen keine Worte fallen wie Freidenker, fortschrittlicher Geist oder Reformator. Orro soll dem Gedächtnis dieser Welt nur als eines erhal ten bleiben: als Verbrecher! Als Aufrührer, Renegat, Terrorist! Wie du willst! Dahin gehen meine Anstrengungen. Dieses Bild deines Schütz lings will ich fest im Bewusstsein der Bevölkerung verankern! Jeder potenzielle Nachahmer soll von Beginn an in seine Schranken verwie 107
sen werden. Nicht die Verwirklichung des Einzelnen zählt! Nicht revolu tionärer Wahn! Es geht schlicht und ergreifend um das Gemeinwohl, dessen Beschützer ich bin.« Wenn Vauc betroffen oder gar schockiert war von den schonungs losen Eröffnungen, so zeigte er es nicht. Er war zu ausgebrannt, um hitzig reagieren zu können, zu alt, um Vernunft gegen Starrsinn zu tauschen. Aber nicht zu träge, um hinter die Fassade des Geistlichen zu blicken. »Was um alles in der Welt versuchst du zu beschützen?« »Hörst du mir nicht zu? Ich sagte doch...« »Was du sagtest, ist nur ein Teil der Wahrheit. Nenne mich feige, dass ich meine Ziele nicht weiter verfolgt habe. Nenne mich inkonse quent, weil ich meine Pläne der Dampfmaschine nicht an Orro gege ben habe. Meine Entwürfe, die deinem Vorgänger wohl so manche schlaflose Nacht bereitet haben. Denke von mir, was dir in den Sinn kommt, aber unterschätze nicht meine Intelligenz.« Vauc erwartete ein Aufbrausen des Prälaten, ein vehementes Ab streiten der Unterstellung. Im Ansatz erweckte Frai auch diesen Ein druck, wenn man die spartanischen Nuancen in seiner Miene zu lesen verstand. Er beherrschte sich jedoch und blieb gelassen. »Du willst also die Wahrheit wissen?«, fragte er hintergründig. »Bist du dir auch sicher, sie verkraften zu können?« »Wie kann ich das im Vorhinein wissen? Du hast schließlich noch nichts gesagt.« »Treibe mit mir keine albernen Spielchen!«, wurde Frai laut. »Was du die Wahrheit nennst, ist eine quälende Bürde! Du musst deinen Verstand vor ihr verschließen, sonst zerstört sie dich Stück für Stück! Also frage ich dich ein zweites Mal: Willst du diese Last auf dich neh men?« Jetzt war der alte Vauc erschrocken, plötzlich hatte er Angst vor der eigenen Courage. Sollte er den entscheidenden Schritt nicht lieber unterlassen? Sollte er sich mit dem begnügen, was er wusste und auf die endgültige und wichtigste Erfahrung verzichten? Manchmal lebte es sich besser, wenn einiges im Dunkeln blieb. Wissen konnte zur Be drohung werden, an der man zugrunde ging. 108
Prälat Frai witterte den Zwiespalt, in dem sein alter Freund sich befand, wie ein Raubtier seine Beute. Vauc würde kneifen. Trotz des verlockenden Angebots würde er nicht wagen, es anzunehmen. In Frais Einschätzung lagen sein Diener Valk und Vauc auf einer Wellen länge. Beide hatten sie keinen Mumm in den Knochen. »Ich will alles wissen!«, kam es beherzt von dem Forscher. »Mehr denn je.« Frai schien enttäuscht, überspielte die Emotion jedoch mit einem Lächeln. »Sage später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt...« * Sie gingen in einen Nebenraum. Einen Nebenraum allerdings, den selbst Vauc niemals zuvor zu Gesicht bekommen hatte und dessen Zugang sich hinter einem Regal verbarg, das sich über einen Hebel mechanismus in seinem Innern verschieben ließ. »Das hatte ich nicht erwartet«, bekannte Vauc. Sein Herz pochte. Die Erwartungen stiegen. Aber auch die Furcht. Wenn man die Größe eines Geheimnisses daran messen mochte, welche Vorkehrungen zu seiner Bewahrung getroffen wurden, konnte er sich bereits jetzt auf einiges gefasst machen. »Noch kannst du umkehren«, riet Frai und machte sich daran, den Zugang über einen weiteren Hebel zu schließen. »Du brauchtest dir nichts vorzuwerfen und könntest weiterhin friedlich schlafen.« »Ich möchte nicht mehr schlafen«, hallte Vaucs Stimme durch den schmalen Gang, dessen Wände mattes Licht abgaben. »Ich will aufwa chen.« Ein gutes Stück ging es geradeaus. Der Gang machte einige un bedeutende Windungen und mündete unspektakulär in einen Raum, in dem sich weitere Regale befanden, zwei Tische, ein Schreibpult und einige Stühle. Auch hier herrschte nur mäßige Helligkeit vor. »Bitte«, sagte Prälat Frai. »Bedien dich.« Vauc ließ den Blick kreisen. Wo sollte er anfangen? Es würde Tage und Wochen dauern, die Unterlagen zu durchstöbern. Wer wusste, 109
was für Nichtigkeiten in den alten Schwarten niedergeschrieben wor den waren. Vauc ging es allein um die Essenz. Er wollte auf der Stelle zur Sache kommen. »Die Chronik von Borra«, schloss Vauc aus dem Anblick unzähliger Schriftrollen, Papiere und Bücher. »Sicher äußerst spannend. Doch ich möchte meine Zeit nicht mit Geschichten vertrödeln.« »Kommt da dein jugendlicher Elan wieder zum Vorschein?«, spöt telte Frai. »Welches Buch ist für mich wichtig? Welches muss ich lesen, um das große Rätsel unseres Planeten zu verstehen?« Der Geistliche gab einen abfälligen Laut von sich. »Ich bezweifle sehr stark, dass du es verstehst. In seinem ganzen Ausmaß. Und Begreifen ist beileibe kein Attribut, das ich dir verspro chen hätte. Ich gebe dir Wissen. Was du daraus machst, bleibt dir überlassen.« »Welches Buch ist es?«, überging Vauc energisch den Einwand. Frai deutete voraus. »Das mit dem dunklen Rücken.« Fasziniert setzte Vauc einen Fuß vor den anderen. Er hatte nur noch Augen für dieses Buch, das sich aufgrund seiner Färbung deutlich sichtbar von allen anderen abhob und alleine deswegen bereits die gesamte Aufmerksamkeit eines Betrachters hätte auf sich ziehen müs sen, wenn da nicht immer der Gedanke im Hintergrund gewesen wäre, dass etwas so Geheimnisvolles wie die Wahrheit über Borra kaum in so etwas Offensichtlichem verborgen sein könnte. Es bewahrheitete sich, dass das beste Versteck immer das augenfälligste war. »Was werde ich finden?«, sagte Vauc mehr zu sich selbst und Frai gab ihm trotzdem die Antwort: »Dasselbe wie Orro dort draußen. Si cher nicht ganz so anschaulich, aber im Kern absolut identisch.« Verwirrung prägte für einen Moment Vaucs Gesichtszüge. »Du warst selbst schon an jenem Ort weit außerhalb der Stadt, ist es nicht so? Du kennst den Weg ganz genau. Daher weißt du auch, wohin du die Menschenkolonnen schicken kannst, um Wasser und Kei ßa zu holen, ohne über das Vermächtnis unserer Vergangenheit zu 110
stolpern. Was ist mit den anderen Städten? Wie übst du dort deine Kontrolle aus?« »Es gibt keine anderen Städte«, versetzte Prälat Frai trocken. »Es gibt nur uns. Wir sind Borra. Sonst nichts.« »Das... das ist nicht wahr!« Beinahe vergaß Vauc, das Buch aus dem Regal zu ziehen, als er sich hastig umwandte. »Ich bekomme viele Dinge von Händlern aus den Nachbargemeinden.« »Pocc? Meinst du den?« Frai verschränkte die Arme hinter dem Rücken und trat auf Vauc zu. »Ein Vasall. Mein Vasall! Nicht dazu da um dich zu täuschen, sondern Orro. Er stellte zu viele Fragen nach dem Woher. Demgegenüber war es zu früh, ihn mundtot zu machen. Alles zu seiner Zeit. Alles eine Frage der Effektivität. Orro in dieser frühen Phase seiner Entwicklung zu beseitigen hätte nichts bewirkt, weißt du? Und Pocc? Er lebt im Untergrund. Nur ich weiß wo. Er liefer te von mir ausgewählte Gegenstände, um sie dir zu verkaufen, damit du sie Orro zeigst. Damit er sieht, woher die Dinge kommen, die wir nicht selbst herzustellen in der Lage sind. Natürlich war mir klar, dass diese kleinen ›Beweise‹ seine Wissbegierde nicht lange im Zaum hal ten würden. Doch sie verschafften mir Zeit. Und wie dir bekannt ist, regelt sich mit der Zeit alles von selbst.« Der alte Vauc ging nicht darauf ein. Er nahm das Buch und legte es auf das geneigte Schreibpult. Dann schlug er es auf und begann zu lesen. Geraume Zeit stand Prälat Frai unbeweglich in dem Raum und starrte auf den Forscher, der sich mit jedem Satz tiefer in den hand schriftlichen Eintragungen verfing. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Noch an diesem Tag - in dieser Stunde - würde Vauc wissen, was der Mann Gottes schon lange wusste. Aber konnte er damit umgehen? Oder würde es erforderlich sein, den alten Freund ebenfalls von der Bildfläche verschwinden zu lassen? Ein lautes, schleifendes Geräusch ließ Frai in seinen Überlegungen innehalten. Und augenblicklich wusste er, wer es verursacht hatte.
Valk! Kleiner, erbärmlicher Spitzel!
Der Prälat vergeudete keine Sekunde und hetzte den Gang hoch. Das Regal war verschoben. 111
Er hat mich beobachtet, als ich den Mechanismus betätigte, fand der Kirchenvorsteher gleich eine Erklärung. Er ist nicht so unbedarft, wie ich vermutete. In der Wohnstube gab es keine Spur von Valk. Ebenso wenig in der Messhalle, die Frai zügig durchlief und die nur angelehnte Tür zum Freigelände aufriss. Da sah er Valk davonrennen. In dieselbe Richtung, in die auch Or ro vor einigen Tagen geflüchtet war. Er weiß nicht um das Geheimnis, beruhigte sich Frai. Er ist nur
beunruhigt wegen des Geheimgangs. Aber er vermutet einiges, fühlt sich unsicher und sucht die Nähe eines Vertrauten. Die Nähe Orros. »Orro darf keinerlei Unterstützung erhalten«, sagte der Prälat laut und mit fester Stimme. »Darum werde ich mich kümmern müssen.« Die Worte waren kaum verklungen, da erreichte den Geistlichen ein dumpfer Schrei. Zwei weitere Ansätze folgten. Lauter. Fast schrill. Fast hysterisch. »Vauc«, murmelte Frai. »Du wolltest ja mit aller Gewalt Bescheid wissen...« *
Valk war gerannt, so schnell ihn die Beine tragen konnten, weg, ein fach nur weg von Frai, der Kirche und den falschen Freunden, die ei gentlich nur einer waren und den Namen Vauc trugen. Wie einträchtig sie beieinander gesessen hatten. Wie selbstver ständlich der Prälat den Eingang in sein Heiligtum geöffnet hatte, je nen verborgenen Gang, den Valk selber nicht kannte und der dieses unbestimmbare Gefühl in ihm geschürt hatte, das ununterbrochen als Echo von den Innenwänden seines Schädels widerhallte: Sie haben
dich getäuscht! Sie stecken alle miteinander unter einer Decke!
Der größte Geheimniskrämer war auch noch der, der nach außen hin so offen und treuherzig tat und der ihn, Valk, streng nach seinem Willen erzogen und stets aufs Neue mit der Lüge genährt hatte. Prälat Frai - der Verkünder von Gottes Wort! Es war zum Lachen. Völlig ab surd! Die Angst vor Strafe hatte Valk schweigen und die Augen ver 112
schließen lassen. Doch was er heute gesehen hatte - durch dieses fin gernagelgroße Loch in Frais Wohnraum - hatte die selbst auferlegte mentale Barriere zerbrochen. Was hatte er denn von der Zusam menkunft halten sollen, wenn nicht ein Treffen intimer Kollaborateure, die auf ihre eigene Weise den Verrat an seinem Freund Orro zelebrier ten. Wie sonst waren ihre Kommentare zu verstehen gewesen? Alles fügte sich zu einem vollständigen Bild. Valk hatte gar nicht den vollen Wortlaut mitbekommen müssen, um schließlich den großen Zusam menhang zu schlussfolgern. Genau das hatte den Ausschlag gegeben. Die Enthüllung des ver steckten Zugangs war eine bloße Dreingabe. Valk hatte sich keine Ge danken um seine Zukunft gemacht, sein weiteres Leben. Er war nur gelaufen. Weiter. Immer weiter nach vorne. Das Morgen spielte unter den gegebenen Umständen keine Rolle mehr. In dieser Stadt - in die ser Welt! - deren wackliger Unterbau ein Lügengespinst war, wollte er nicht mehr leben. Jetzt war es an der Zeit, seine Freundschaft unter Beweis zu stel len, Orro irgendwo in den dunklen, fremden und kalten Stollen aufzu finden und ihm zu berichten, was er belauscht hatte. Danach konnten sie gemeinsame Pläne schmieden. Und, ja, möglicherweise konnten sie die Höhlenwelt verlassen, um außerhalb ihr Glück zu suchen... Valk wurde langsamer. Nicht nur, dass sein Körper eine Ruhepau se brauchte, auch das Gelände, diese steinerne Röhre, wurde zuse hends unwegiger. Er stolperte einige Male und konnte sich nur noch im Pirschgang vortasten. Die Kälte kroch durch die Kleidung in seine Glieder. Er wusste nicht, ob es irgendwann wieder wärmer werden würde, ob ein erhitzter Luftstoß der unterirdischen Springquellen durch das Höhleninnere ziehen würde. Vor Valk lag einzig die Ungewissheit, doch er wollte sie unter keinen Umständen mehr gegen das eintau schen, was er zurückgelassen hatte. Er wollte die neue Situation meis tern und seine Motivation hieß Orro. Wenn er den Freund fand und ihm seine Geschichte erzählte... Es würde sein wie in alten Kinderzei ten, vielleicht sogar besser. Nicht nur die Unbeschwertheit dieser Tage würden sie aufleben lassen, sie würden ebenso ihre neu erlangte Frei 113
heit genießen und mit einem milden Lächeln die Last des zurücklie genden Lebens verabschieden. Die schönen Gedanken entfachten erneut die Glut des Lebens in dem frierenden Valk. Das Hungergefühl konnte er verdrängen, doch es würde nie ganz verschwinden und stetig stärker werden. Die Lichtausbeute des phosphoreszierenden Gesteins variierte in dem endlos wirkenden Stollen und erzeugte mitunter trügerische Wahrnehmungen. An einigen Stellen schien der Stollen abzuzweigen, sich zu verästeln. Wenn Valk jedoch heran war stellte er fest, dem unwirklichen Schattenspiel des Höhlengangs zum Opfer gefallen zu sein. Mehrmals hintereinander erlag er einer solchen Täuschung und beschloss daraufhin, seinen Augen nicht mehr zu trauen und sich nicht verunsichern zu lassen. Er musste sich bewegen, das Tempo erhöhen und sich damit aufwärmen. An den Hunger durfte er sowieso nicht denken; weit und breit würde er nichts zu essen finden. Keißa fand sich nur an bestimmten Plätzen und Valk glaubte nicht daran, in der Nähe von einem zu sein. Bis hierher hatte sich bestimmt noch niemand vor ihm gewagt, um das auszukundschaften. Außer Orro natürlich. Und dem Prälaten. Eventuell auch Vauc. Im Endeffekt war es unerheblich. Wie viele Stunden waren vergangen? Orro spürte die Kälte und den Hunger kaum mehr, dafür die läh mende Müdigkeit. Er ging weiter, obwohl alles in ihm danach schrie, sich einfach an Ort und Stelle niederzulegen und in erlösenden Schlaf zu fallen. Auf keinen Fall!, rappelte er sich immer wieder hoch. Ich muss Or
ro erreichen! Wenn Frai oder die Städter mich verfolgen, darf ich keine Minute vergeuden! Die Zeit schlich dahin. Jedenfalls kam es Valk so vor. An seinen Füßen schienen Bleigewichte zu kleben. Er taumelte in einer Art Tran ce den Gang entlang, alle Sinne voraus gerichtet und das Unwesentli che nicht zum Gehirn vordringen lassend. Ein Zustand der Unbewusst 114
heit, der sämtliche Körperfunktionen auf den Bewegungsapparat redu zierte und auch nur diesen registrierte. »Orro?«, krächzte Valks Stimme eine Ewigkeit später. Spielten seine Sinne ihm erneut einen Streich und gaukelten ihm schattenhafte Bewegungen vor, die es letztlich nur in seiner Einbildung gab, die von überstrapazierten Sehnerven gespeist wurde? Und wieder: »Orro?« Der Name polterte als unverständliche Mi schung sinnlos aneinander gereihter Vokale und Konsonanten über Valks Lippen. Nur in seinem Geist hatte er den gewohnten Klang. Bei Gott! Na sicher! Er war es! Das war Orro! Valk spurtete vor. Und in seiner Vorstellung entstand tatsächlich der Eindruck einer sehr schnellen Bewegung. Doch er währte nur kurz. Der Schatten, den Valk als seinen Freund identifiziert hatte, wurde größer und größer, bis er sein gesamtes Gesichtsfeld ausfüllte. Dann zerplatzte etwas grell und lodernd vor Valks Augen, nur um ihn an schließend in tiefste Finsternis zu stürzen. * Der Prozess kehrte sich um. In der Schwärze erschienen blitzende Lichtpunkte. Dröhnende Laute folterten sein Gehör. Das Dunkel zer floss, als die Lichtpunkte sich zu Bällen ausweiteten und in strahlendem Weiß miteinander verschmolzen. Die dumpfen Geräusche pegel ten sich auf einer Ebene ein, die sie zu verständlichen Silben und Wor ten transformierte. »Mensch, Valk! Wirst du jetzt endlich zu dir kommen!« »Orro?«, sprach Valk den Namen des Freundes aus und wieder war da die Unsicherheit, einem Trugbild aufzusitzen. Was war echt und was nicht? Valk glaubte mit Bestimmtheit sagen zu können, dass er nicht mehr in der Lage war, diesen Unterschied festzustellen. »Na also. Endlich sprichst du mit mir.« »Was ist geschehen?«, stöhnte Valk. Sein Kopf schmerzte scheuß lich. »Du Trampel bist vor einen Stalaktit gelaufen. Hast ihn wohl mit mir verwechselt in deinem... Delirium.« 115
»Ich... ja, ich erinnere mich.« Er stockte. »Mir ist hundeelend.« »Du brauchst etwas zu essen und danach jede Menge Schlaf.« Orro verschwand in einer Senke zum Ende des sich stark erwei ternden Stollens hin. Als er zurückkehrte hielt er eine weißbraune Mas se in den Händen. »Keißa!«, staunte Valk. »Woher...?« »Keine Ahnung. Greifschnäbler habe ich hier noch nicht gesehen. Irgendjemand scheint sich einen Vorrat angelegt zu haben. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Iss einfach.« Valk drückte sein Gesicht in das dargebotene Keißa, lehnte sich mit vollem Mund zurück und schabte die restliche Masse von Orros Handflächen. Orro störte den jungen Kirchendiener nicht beim Essen und wartete geduldig, bis dieser gesättigt war. »Das habe ich gebraucht. Lange hätte ich den Hunger nicht mehr ausgehalten.« »Du hättest noch ganz Anderes durch gestanden, wenn es von dir verlangt worden wäre«, widersprach Orro. »Wir haben noch lange nicht unsere Grenzen ausgelotet.« Er musterte Valk eingehend. »Jetzt sag mir, warum du Tor mir gefolgt bist?« Ausführlich berichtete Valk von seinen Erlebnissen, von dem Ge spräch zwischen Frai und Vauc und von dem Geheimgang. »Dieser Teufel!«, brach es aus Orro hervor. »Er hat alles geplant! Sein freundliches Entgegenkommen, die Bereitstellung des Geländes zum Bau meiner Maschine - nur dazu gedacht, mein Scheitern voll kommen zu machen, mich zu demoralisieren und die Menge gegen mich aufzuwiegeln!« Eine Menge Erinnerungen brachen sich in jenen Augenblicken Bahn. Erinnerungen, die Orro schmerzten. Erinnerungen an Shil... seine liebe, kleine, süße Shil... seine tote Shil! Grausam ver stümmelt lag sie in seinen Gedanken vor ihm auf dem Karren. Es war das letzte Bild, was er von ihr in sein Gedächtnis gerettet hatte. Und es tat in jeder Sekunde, die er es betrachtete, so furchtbar weh. »Aber was tust du eigentlich hier?«, stellte nun Valk eine Frage. »Es ist Tage her, dass du verschwunden bist.« Orro knipste die Bilder in seinem Kopf aus und wandte sich Valk zu. 116
»Ich sitze hier rum und warte.« »Du wartest? Worauf denn bloß?« Valks Züge waren von Unver ständnis geprägt. »Ich warte darauf, dass ich mich dazu durchringe weiterzugehen.« Jetzt verstand Valk gar nichts mehr. »Du sitzt seit Tagen an dieser Stelle und gehst nicht weiter? Aus welchem Grund, Orro?« »Weil ich Angst habe.« »Vor dem, was vor dir liegt?«, fragte Valk. »Du solltest eher Angst vor dem haben, was hinter dir liegt.« »Hinter mir liegen nur Lüge und Verrat«, stellte Orro klar und bes tätigte damit Valks eigene Erfahrungen. »Aber vor mir liegt die Wahr heit.« Schweigend erwartete Valk weitergehende Erklärungen. »Zwanzig Schritte hinter der Senke beginnt eine neue Welt. Um sie herum liegt ein hauchfeiner Schleier aus Licht... aus Lichtpartikeln, wollte ich sagen. Winzige Funken wie aufgewirbelter Schlamm im kla ren Wasser. Ich war halb hindurchgegangen, als ich die Stimme hörte und das Gesicht sah. Es war riesig groß, füllte mein gesamtes Sichtfeld aus. Und es sprach zu mir, nannte mich bei meinem Namen...« »Da bist du wieder raus aus dem Schleier, richtig?« »Ich war zu Tode erschrocken!«, gestikulierte Orro. »Woher kann te mich dieses Wesen, habe ich mich sofort gefragt. Mir war klar, dass etwas Übernatürliches vor sich ging. Doch eine andere Sache hat mich dabei noch mehr beunruhigt...« »Machs nicht so spannend. Was war es?« »Dieses Wesen«, begann Orro vorsichtig, »schien mir auf verrück te, unerklärliche Weise - vertraut.« Orro bemerkte Valks zweifelnden Blick und ergänzte: »Halte mich nicht für übergeschnappt. Du kannst das nicht verstehen. Ich wurde trotzdem an diesen Fleggo erinnert, der mich von Zeit zu Zeit des Nachts besuchen kam.« »Ein Fleggo hat dich besucht?« Valk dehnte die Worte in absolu tem Unglauben. »Kein gewöhnlicher Fleggo, nein.« Orro konnte sich gut vorstellen, wie abstrus diese Vorstellung auf seinen Freund wirken musste. 117
Schließlich hatte er nur dem alten Vauc von seiner Begegnung erzählt. Wer sonst hätte ihm diese Geschichte wohl abgekauft? »Wie dem auch sei«, fuhr Orro fort, »für den Bruchteil eines Au genblicks glaubte ich die Verwandtschaft beider Wesen zu fühlen. Da habe ich mich gefragt, ob die Wahrheit, die auf mich wartet, nicht doch zu groß für mich ist.« Einen Moment wusste Valk darauf nichts zu erwidern. Dann je doch strahlte er Orro aufmunternd an. »Wenn's weiter nichts ist.« Valk erhob sich und stiefelte in Rich tung der Senke. »Das können wir zwei doch leicht herausfinden.« »Warte mal, ich denke nicht, dass...« ... das eine so gute Idee ist, hatte er sagen wollen. Valk hingegen achtete nicht auf diesen Einwand und auch nicht auf alle anderen, die noch folgen mochten. Beherzt ging er Schritt um Schritt dem neuen Ziel entgegen. Orro blieb vorerst unschlüssig. Sollte er seinen Kameraden für seinen Mut bewundern oder dessen Absicht verdammen, die seine, Orros, Gewissenskonflikte zur Belanglosigkeit herunterspielte. Die lediglich zeigte, mit welcher Leichtigkeit Valk Vorhaben ausführte, die für Orro schier unüberwindlich waren. Orro stand ebenfalls auf und ging - anfangs stockend und in un angenehmer Erwartung dessen, dem er sich nur allzu ungerne stellte dem Freund nach. Schließlich konnte er Valk nicht offenen Auges in sein Unglück rennen lassen... * Valk erreichte als Erster die Ziellinie, durchschritt das feine Gespinst aus fluktuierendem Licht. Auf seiner Haut spürte er das Prickeln und Kitzeln umherschwirrender Partikel, von denen er nicht zu sagen wuss te, um was es sich genau handelte. Der Schleier umfloss seine Gestalt lückenlos und schloss sich hinter ihr wieder. Die anfängliche Be geisterung des jungen Kirchendieners wurde schlagartig von einem Unbehagen verdrängt, für das er ebenfalls keine Erklärung fand. Es steigerte sich so weit, dass er heftige Übelkeit empfand. 118
»Geht es dir nicht gut?«, erkundigte sich Orro, der eine halbe Mi nute darauf hinter Valk erschien und sich sofort auf seinen Freund fixiert hatte, sei es, um dem fremd vertrauten Anblick des ins Riesen hafte vergrößerten Gesichts zu entgehen, das jede Sekunde innerhalb der Sphäre auftauchen mochte oder weil Orro wirklich echten Anteil am Gesundheitszustand Valks nahm. »Sieht man das so deutlich?«, würgte Valk hervor und krümmte sich leicht zusammen. Orro packte den Freund bei den Schultern und stützte ihn. Einige Sekunden verharrten sie in dieser Stellung, bis Valk ein Zeichen gab und Orro ihn losließ. »Es geht schon wieder«, röchelte Valk. In seinem Mund hatten sich allerlei Bitterstoffe angesammelt. Er spuckte mehrmals hinterein ander aus, ließ den Speichel aus dem offenen Mund laufen und fühlte eine langsame Besserung seines Zustands. Sein Elend schwand, blieb jedoch als unbehagliches Bauchgrimmen stets im Hintergrund. Orro ließ Valk keine Sekunde aus den Augen und so sah der Gefährte als erstes die Materialisation, die den begrenzten Horizont der Höhlensen ke zur Gänze ausfüllte. Obwohl Orro nicht hinsah, konnte er sich der Präsenz der Erschei nung nicht entziehen. Und während Valk förmlich erstarrte und seine Lippenbewegungen signalisierten, dass er etwas sagen wollte, seine Stimmbänder sich allerdings nicht dazu in der Lage zeigten, drehte Orro bedächtig den Kopf zur Seite und erhielt aus den Augenwinkeln bereits eine Ahnung des Anblicks, der ihm noch bevorstand. »Ich grüße dich, Orro«, sagte eine Stimme von überall her. Sie war laut und schien jeden Winkel auszufüllen, ohne sich an den Wän den der Höhle zu brechen und als vielgestaltiges Echo zurückzukehren. Allem Anschein nach existierte sie nur in ihrem eigenen kleinen Kos mos innerhalb des Lichtschleiers. »Und ich freue mich, dass du zu mir zurückgekehrt bist.« Orro verengte die Augen zu Schlitzen. Das Antlitz blendete ihn, doch allmählich gewöhnte er sich an die Helligkeit. »Wer bist du?«, fragte Orro. Er war verunsichert. Die Stimme hat te nur mit ihm gesprochen, hatte nur ihn willkommen geheißen. Von Valk war überhaupt keine Rede gewesen. 119
»Verdammt, Orro, mir ist gar nicht gut«, keuchte Valk plötzlich. Die Übelkeit kletterte in ihm hoch wie Schmutzwasser in einem ver stopften Abfluss. Heftiger als zuvor. So stark, dass es den Jungen nicht mehr auf den Beinen hielt und er aufstöhnend in die Knie ging. »So mach doch etwas!«, schrie Orro in seiner Hilflosigkeit das rie senhafte Gesicht an, beugte sich gleichzeitig über Valk und wurde brüsk von ihm abgewiesen. »Ich möchte nicht, dass dein Freund hier bei uns ist«, sagte das Wesen, dem Orro eine wie auch immer geartete Verbindung mit dem Fleggo ‹Tatenfreud› andichtete. »Dann bereitest du ihm diese Schmerzen?«, folgerte Orro erbost. »Es ist nichts im Gegensatz zu dem, was er ertragen müsste, wenn er bliebe. Er ist nicht bereit. Meine Worte sind allein für dich bestimmt.« Valk spie einen Schwall brauner Flüssigkeit und unverdauten Kei ßas aus. »Ich gehe schon«, brabbelte er unverständlich. Unbeholfen tappte er gebückt rückwärts und glitt durch den Lichtervorhang. »Ist es wieder besser?«, wollte Orro wissen. Valk nickte stumm und Orro wertete es als Bestätigung seiner Frage. Als er ziemlich sicher war, dass der Freund seine Unterstützung nicht mehr benötigte, wandte er sich dem Gesicht zu. Orro war über sich selber erstaunt, dass er ihm dieses Mal völlig angstfrei ge genübertrat. Rückblickend erschienen ihm seine eigenen Vorbehalte als überzogen und eines Forschers unwürdig. Schließlich hatte er im mer alles wissen, hatte immer den Dingen auf den Grund gehen wol len. Es gab keine vernünftige Begründung, am heutigen Tage etwas an dieser Einstellung zu ändern. Das Gesicht - vielmehr die Manifestation einer für borranische Begriffe unbegreiflichen Wesenheit - blickte gütig auf Orro herab. »Wir sind uns bereits begegnet«, griff es Orros zuvor gestellte Frage auf. »Allerdings habe ich eine dir vertraute Gestalt gewählt, da ich außerhalb dieses Bereichs einen Körper benötige.« Also doch! Orro zählte zwei und zwei zusammen und... »Tatenfreud!«, rief er aus. »Du bist der Fleggo!« 120
»Unter anderem.« »Warum hast du seinen Körper gewählt«, fragte Orro weiter und hatte die Tatsache eines Geistwesens, das nach Belieben in Lebens formen eindringen konnte, längst akzeptiert, »und nicht den eines Bor raners?« »Die Struktur des Fleggos ist einfach. Es lässt sich leicht kontrollie ren und leicht wieder verlassen. Der Körper eines Borraners - vor allem sein geistiges Gefüge - ist zu komplex. Ein Eindringen hätte bleibende Schäden zur Folge haben können.« »Du bist sehr mächtig und hast auf alles eine Antwort.« »Macht ist nichts, das Wesen meiner Art demonstrieren. Wir wir ken machtvoll in deinen Augen, doch du und ich sind ein und dassel be.« »Dann bin ich wie du?« »Ich sagte nicht, dass wir gleich sind. Du hast meine Entwick lungsstufe lange nicht erreicht. Doch wir beide haben denselben Ur sprung. Unser aller Ziel ist es, dahin zurückzukehren, auch wenn ihr euch dessen nicht bewusst seid. Anders kann ich es dir nicht erklären. Vielleicht besitzt du noch nicht die nötige Reife, um zu verstehen.« »Gebrauche die richtigen Worte, um es mir verständlich zu ma chen«, forderte Orro ‹Tatenfreud› auf. »Das sprachliche Niveau entspricht auch immer dem geistigen. Reicht der Geist nicht aus, findet er auch nie die richtigen Worte.« »Ich bitte dich: Hilf mir zu verstehen.« »Deswegen bist du hier. Du suchst nach dem Sinn, den du in dei ner Welt nicht siehst. Und instinktiv hast du gespürt, dass etwas nicht stimmen kann.« »Ja, genauso ist es.« »Dabei gibt es genügend Einflüsse um dich herum, die dir gerade diesen Umstand ausreden wollen, die deine Ideen blockieren und das Vorwärtskommen deiner Brüder und Schwestern behindern.« »Prälat Frai!«, sagte Orro wie aus der Pistole geschossen. »Er herrscht über die Stadt! Er hat sich mein Vertrauen erschlichen, um mich anschließend ans Messer zu liefern!« 121
»Nur, weil du meine Pläne umgesetzt hast«, gab ‹Tatenfreud› zu verstehen. »Die Dampfmaschine, richtig! Der Fleggo - du - hat mir die ent scheidenden Denkanstöße vermittelt. Sie hätte funktioniert. Ich weiß es!« »Unbedingt. Dein alter Freund Vauc hatte schon ähnliche Ansätze, aber nicht die Kraft, sie gegen alle Widerstände durchzusetzen. Er hat dich von frühester Jugend an in die richtige Richtung gelenkt, wollte, dass du sein Werk vollendest. Er hat dir niemals seine eigenen Kon struktionszeichnungen gezeigt und hätte es auch nie getan, egal, ob du das Grundprinzip verstanden hättest oder nicht. Er war der Mei nung, du müsstest es aus eigener Kraft schaffen. Ich hingegen hielt es für erforderlich, dir unter die Arme zu greifen. Gerade auch im Hinblick auf die Katastrophe, die sich von euch unverschuldet ereignete.« »Wovon sprichst du?«, wurde Orro mit einem Mal sehr ernst. Da war es erneut, dieses Unbehagen wie bei ihrer ersten Begegnung. Die Furcht vor dem Unbekannten. Dieses Mal jedoch würde er nicht davor fliehen. Er war lange genug immer nur weggerannt. »Du bist hier, weil du dir viele Fragen stellst. Es sind die Fragen nach dem Warum und Woher, deren Beantwortung du dir aus eigener Überlegung nicht erarbeiten kannst. Woher kommen all die Dinge, die ihr nicht eigenständig produzieren könnt? Warum lebt ihr in Höhlen und nicht frei und ungebunden auf der Oberfläche eures Planeten? Wovon ernähren sich die Greifschnäbler? Denn wie du folgerichtig er kannt hast, finden sie innerhalb eurer Höhlenwelt keine Nahrung.« Orro war betroffen, wie ‹Tatenfreud› sein Innerstes nach außen kehrte. »Ich gebe dir all die Antworten, die du nie gefunden hast. Ich hof fe inständig, du kannst sie verkraften. Allerdings macht auch das mitt lerweile keinen Unterschied mehr. Zu viel hat sich verändert...« »Bitte«, flüsterte Orro ehrfürchtig und in Erwartung von etwas Gewaltigem, von dem er nicht sagen konnte, ob es ihn zerschmettern würde, »sage mir die Wahrheit.« * 122
»Einst war dem Zuhause ein grüner, fruchtbarer Planet«, begann der Mund in dem Gesicht der visuellen Manifestation von ‹Tatenfreud›, »und ihr ein unbelastetes, aufstrebendes Volk, gerade am Beginn des Zeitalters der Industrialisierung. Ein natürlicher Prozess von Forschung verbunden mit der Entwicklung neuer Technologien. Ihr standet gera de erst am Anfang...« Eine Pause entstand. Ob sie der Vorbereitung einer alles entschei denden Eröffnung diente oder lediglich der Überlegung entsprang, gerade diese nun doch lieber zurückzuhalten, war für Orro nicht er sichtlich. Er würde auch nicht nachfragen, egal, wie lange die Un terbrechung auch dauerte. Denn obwohl die Aussagen ‹Tatenfreuds› noch kaum schwerwiegende Informationen enthielten - ließ man außer Acht, dass der erste Satz bereits eine Bestätigung Orros dunkelster Vermutungen enthielt - waren sie doch Vorboten erschütternder Fak ten. Das fühlte und wusste Orro. Und deshalb hielt er es für ange bracht zu schweigen. »Wenn man es genau nimmt«, griff ‹Tatenfreud› seinen letzten Satz auf, »stand auch meine Rasse erst am Anfang. Wir hatten weit reichende Pläne und wir hatten euch ausgewählt, uns bei ihrer Ausfüh rung zu helfen. Für euch war das alles neu und unverständlich, als unsere Schiffe eines Tages im Himmel erschienen. Aber ihr hattet kei ne Angst, wart verblüfft und mehr noch neugierig. Wir hatten keinerlei Probleme mit euch Kontakt aufzunehmen, eure Fragen zu beantworten und eure Zweifel zu zerstreuen. Das lag wahrscheinlich auch an der Gestalt, die wir gewählt hatten: kleine hagere Körper mit großen Köp fen und Augen. Wesen, die wir auf einer ausgestorbenen Welt ge funden hatten, deren Geist dem unseren Platz machte und die uns perfekt für einen Erstkontakt erschienen, weil sie augenscheinlich kei nen überlegenen und damit Furcht einflößenden Eindruck erweckten. Ich will nicht näher auf die Hintergründe eingehen, die meine Ras se veranlassten, Borra aufzusuchen; es wäre unnötiger Ballast für dich und würde weit mehr Fragen aufwerfen, als ich zu beantworten ge neigt bin. Dich interessiert etwas anderes. Du willst Licht in das Dunkel deiner Vergangenheit bringen. 123
Wir konnten also die Regierenden deiner Welt überzeugen, uns bei unserem Anliegen zu unterstützen: beim Ausbau unserer Raum kreuzer zu Kriegsschiffen.« ‹Tatenfreud› ließ eine kurze Erklärung folgen, damit Orro sich zu mindest entfernt etwas unter ›Raumschiffen‹ und Ähnlichem vorstellen konnte. »Nicht, dass du dir jetzt falsche Vorstellungen machst, Orro. Ich rede nicht von einigen Hundert oder Tausend Arbeitern, sondern von vielen Millionen auf dem ganzen Planeten. Dreißig unserer Oktaeder waren auf Borra stationiert...« Er verdeutlichte den Begriff ›Oktaeder‹. »... Hunderttausende Borraner mit dem Zusammenbau technischer Einrichtungen beschäftigt. Wenn ihre Arbeit getan sein würde, sollten die Schiffe weiter zu unseren Werften fliegen, um mit Maschinen aus gerüstet zu werden, die auf vielen anderen Welten gefertigt wurden. Aber es sollte nie dazu kommen...« Alles in Orro verkrampfte sich unwillkürlich. Er hatte einiges ge hört, unter dem er sich selbst mit ‹Tatenfreuds› Erläuterungen wenig vorstellen konnte, wo seine Visualisierungskraft schlichtweg überfor dert war und versagte. Das Gefühl hingegen, den Wendepunkt der Geschichte zum Greifen nah vor sich zu wissen, mit den ultimativen Antworten die nagende Leere in seinem Innern zu füllen, sprach für sich selbst und bedurfte keinerlei Deutung. Es war genau so, wie er es sich vorgestellt und weshalb er den endgültigen Schritt - den Schritt hin zur einzigen, zwar schmerzhaften, doch gleichfalls erlösenden Wahrheit - tagelang hinausgezögert hatte.
Falsch!, sagte er sich. Es war schlimmer. In diesen Momenten bangen Hoffens schlich sich sogar der Anflug von Verständnis für das Verhalten von Prälat Frai und den alten Vauc in Orros Denken. Sie beide hatten mehr gewusst als die Masse der Borraner. Besonders der Kirchenvorsteher hütete das Vermächtnis ihres einst stolzen Volkes wie ein überaus gefährliches Gut. Und wenn er wusste, was Orro wusste und noch erfahren würde, dann war es wirklich besser, wenn dieser Schatz nicht mit der Öffentlichkeit geteilt wurde. 124
Orro überkamen ernste Zweifel, ob seine Neugier in Einklang zu bringen war mit seiner angeknacksten Psyche. Jedoch war der Weg zurück unter seinen Füßen weg gebrochen; es ging nur noch voraus. ‹Tatenfreud› registrierte Orros Irritierung, wollte ihm demgegen über nicht allzu viel Zeit einräumen, sich in ihnen zu verlieren und setzte seine Erzählung fort. »Wir haben nie eindeutig klären können, was letztendlich zur Ver nichtung deiner Welt geführt hat. Nenne es einen technischen Defekt, eine Unwägbarkeit im Brodem unzähliger, sich ständig verändernder Möglichkeiten. Es fällt nicht weiter ins Gewicht. Was zählt ist die Schuld, die wir als Kollektiv auf uns nehmen. Unsere Einmischung hat eure Auslöschung verursacht. Die Explosion eines unserer Raumschiffe hat eine unvergleichliche Kettenreaktion ausgelöst und das Angesicht von Borra auf ewig verwüstet. Da es sich nicht um eine Detonation im herkömmlichen Sinne handelte, sondern um quantenmechanische Freisetzungen, zeitigt das Ergebnis auch nicht die typischen Merkmale von materieller Zersetzung, Feuer, Ruß und Asche. Auch wenn du es nicht verstehst sage ich dir, dass die Quantenenergie ein Existenzni veau außerhalb der Lebensmöglichkeiten organischer Strukturen ge schaffen hat. Dieser Vorgang ist selbst mit unseren Möglichkeiten irre parabel. Borra ist so tot, als hätten die negativen Kräfte aus TeChe'Lo-Kadeh...« ... ihr grausiges Werk verrichtet, hatte der Evolutionär ‹Ta tenfreud› sagen wollen und erschrak förmlich vor diesem Postulat. »Eine Handvoll Borraner überlebte«, berichtete er schnell weiter. »Eine Fügung des Schicksals wollte es, dass sie sich zur Zeit der Ka tastrophe unter der Erde aufhielten und die mineralischen Verbindun gen des Höhlenbaus die Quantenstrahlung absorbierten. Die Borraner starben nicht aus. Die Bedingungen ihres Überlebens waren jedoch alles andere als erfreulich. Wieder mussten wir eingreifen, um euch zu schützen und zu erhalten.« Er spricht von uns wie von Nutstieren, kam es Orro in den Sinn. Er
und seine Artgenossen sind die Mörder meiner Vorfahren. Und doch fühle ich keinen Hass. Ich kenne die Welt nicht, von der er erzählt. Es ist nur ein bizarres Konstrukt, mit dem mich nichts verbindet.
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»Wie habt ihr den Ahnen geholfen?«, erkundigte Orro sich. »Vordringlich war es wichtig, für Nahrung zu sorgen. Die Höhlen, deren Zugänge teilweise nachträglich von uns versiegelt wurden, be herbergten kaum Essbares. In kürzester Zeit wäre alles verschwunden ohne nachzuwachsen. Dann kam uns die Idee mit den Greifschnäblern.« »Sie verlassen die Höhlen«, sprach Orro triumphierend aus, was lange nur eine seiner Thesen gewesen war, »und fressen. Von ihren Ausscheidungen konnten wir uns ernähren.« Plötzlich erkannte Orro den Widerspruch. »Du sagtest, nichts Organisches könne auf der Oberfläche existie ren.« »Die Greifschnäbler, wie ihr sie genannt habt, sind nicht orga nisch. Sie wurden von uns erschaffen und funktionieren auf Siliziumba sis, nicht auf Kohlenstoff.« Orro konnte mit dieser Information nichts anfangen; er akzeptier te sie einfach. Das also war nun das große Geheimnis, dem er immerzu hinterher gerannt war. Fast entpuppte es sich nicht einmal als sonderlich große Überraschung. Er hatte immer von einem Leben außerhalb der Höh lenwelt geträumt. Es war ihm irgendwie stets bewusst gewesen, dass sein Volk sich nicht unterirdisch hatte entwickeln können. Des Weite ren war der zivilisatorische Status quo seines Volkes ihm stets absurd erschienen. Seine Entwicklung schien keinen Ursprungspunkt zu ha ben, begann an einer willkürlichen Stelle und endete auch dort. Vieles machte nach ‹Tatenfreuds› Erläuterungen Sinn, einige Kleinigkeiten waren unbeantwortet geblieben. »Warum ausgerechnet ich?«, fragte Orro einer plötzlichen Einge bung folgend. »Warum hast du dich ausgerechnet an mich gewandt, bist in Verkleidung eines Fleggos erschienen und hast mich zum Bau der Maschine angeregt?« »Weil es insgeheim dein Traum war. Und weil ich etwas gutma chen wollte...« Orro verstand es nicht und wollte sich auch nicht daran aufhalten. Statt deprimiert und voller Vorwürfe den Evolutionären gegenüber zu 126
sein, wollte er aus der Vergangenheit neues Potenzial für eine bessere Zukunft schöpfen. Und entgegen seiner noch vor wenigen Minuten gefassten Meinung, die Borraner in ihrem gegenwärtigen Schlafzu stand zu belassen, hielt er es nun für erforderlich, sie allesamt zu in formieren. Dann würde sich zeigen, ob sie wirklich in der Lage waren, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen, sich ihm zu stellen und es zu meistern. »Eine Sache möchte ich dir noch sagen«, drang es aus dem über großen Gesicht ‹Tatenfreuds›, der merkte, dass Orro sich zum Gehen wandte. »Deine Vorfahren mögen nicht mehr am Leben sein, doch sie sind weiterhin vorhanden.« Orro blickte auf. »Du meinst, sie sind Geister, die uns beobach ten?« »Keine Geister. Sie bestehen in ihrer physischen Gestalt weiter. Außerhalb eurer Höhlen. Wie ich sagte, hatte die Explosion eines unse rer Oktaeder keine grob physikalischen Auswirkungen ähnlich einem Sprengstoff oder einer abbrennenden Kerze. Sie überschrieb lediglich die organische Matrix. So wie du ausradierten Text durch einen neuen ersetzt«, präzisierte ‹Tatenfreud›, der den Begriff ›Überschreiben‹ aus computertechnologischer Sicht voreilig benutzt hatte. »Die Milliarden Borraner von früher sind konserviert und werden die Ewigkeit über dauern.« Komisch, dachte Orro, der sich nur entfernt eine Vorstellung da von machte wie es aussehen musste, wenn ein kompletter Planet von Toten übersät war. Trotzdem fühlte er einen tiefen inneren Frieden.
Schlagartig nimmt alles, was so weit zurück liegt, wieder Formen an.
»Die Greifschnäbler ernähren sich von ihnen.« Kein vorbereitendes Wort. Keine psychische Einstimmung. Nur die Fakten. »Was... was sagst du da?« Orro flehte darum, sich verhört zu ha ben. In seiner Miene spiegelte sich die Unentschlossenheit, sich vor Entsetzen zur Grimasse zu verzerren. »Es ist die Wahrheit. Du wolltest sie hören. Dir war klar, sie würde nicht schön sein.« 127
»Aber nicht so!«, keuchte Orro unter plötzlicher Atemnot. Dann schrie er: »Nicht so!« Ekel und Abscheu stiegen in ihm auf. Nicht nur, dass sie sich seit Generationen von Exkrementen ernährten - auch dieser Umstand er schien Orro mit einem Mal bizarr und widerlich - sie fraßen auch die Leichen ihrer Mütter und Väter, wenn die Greifschnäbler sie verdaut hatten. »Es kann nicht sein«, schrumpfte Orros Stimme zu einem Flüs tern. »Es kann nicht sein.« Zu abstrakt war der Tatbestand, um die Wirklichkeit zu reflektieren. Daher fand er auch keinen Zugang zu Or ros Bewusstsein. Er stürzte aus dem leuchtenden Partikelvorhang, machte blindlings einige Schritte und kümmerte sich nicht mehr um ‹Tatenfreud›, der ihm sowieso nicht hätte folgen können. Orro wollte nur noch zurück in die Stadt. Jene Stadt, vor der er geflohen war, weil sie sein Lebenswerk ver nichtet hatte, schien ihm nun der einzige Ort, sich zurückzuziehen, um aus den Trümmern seiner Existenz ein solides Fundament für die Ge genwart zu zimmern. Noch war nicht alles verloren. Noch gab es Hoff nung, wie selbst in den dunkelsten Stunden immer noch ein Hoff nungsschimmer erschien. So rief Orro nach seinem Freund Valk, den er außerhalb des Schleiers wusste, um mit ihm gemeinsam den langen Heimweg anzu treten... ... doch Valk gab keine Antwort. Er war und blieb verschwunden! Allerdings nicht für sehr lange... * Kaum hatte er das Gespinst sprudelnder Lichtpartikel hinter sich gelas sen, verschwanden auch die letzten Reste von Übelkeit aus Valks Ma gen- und Bauchgegend. Noch einmal blickte er sich um und sah, dass Orro bereits keine Notiz mehr von ihm nahm. Auch gut, dachte Valk und wanderte ein Stück umher. Vorwürfe über sein überstürztes Handeln machten sich in ihm breit. Was wäre 128
aus ihm geworden, wenn er Orro nicht gefunden hätte? Gemeinsam mit ihm würde er eine Lösung für ihr weiteres Vorgehen finden. Aber alleine...? Er wäre in den Eingeweiden der weitläufigen Höhlen verhun gert. Oder er wäre zurückgekehrt und von Prälat Frai gnadenlos ge züchtigt worden. Wahrscheinlich hätte er die zweite Möglichkeit ge wählt, denn der Hunger war immer stärker als die Furcht. »Das gibt's doch nicht!«, hörte Valk da einen Ausruf der Entrüs tung. »Wer hat von meinen Vorräten gegessen?« Valk war teils erschrocken, teils belustigt. Zuerst dachte er an auf gebrachte Verfolger. Doch kein Städter, der hinter ihm und Orro her war, würde an dieser abgeschiedenen Stelle ein Vorratslager angelegt haben. Welche verirrte Kreatur mochte also hier leben, der sie nie be gegnet waren und die doch ihre Sprache beherrschte? »Reg dich nicht auf«, rief Valk dem noch Unsichtbaren zu. »Ich erkläre es dir!« Er verließ die Senke und betrat den Stollen. Dort, wo er mit Orro gegessen hatte, kauerte eine Gestalt im Dunkel. Sie verlor ihre Harm losigkeit erst, als Valk so nahe bei ihr war, dass das schwach phospho reszierende Gestein den Blick auf ihre eisigen Augen offenbarte. »Ich habe mich nicht aufgeregt«, meinte der Mann, der ein ge wöhnlicher Borraner war wie auch Valk. »Ich wollte dich lediglich zu mir locken.« »Wie... soll ich... das verstehen?«, stammelte Valk eingeschüch tert. Diese Augen strahlten pure Kälte aus. »Da gibt es nichts zu verstehen.« In der Hand des Fremden blitzte ein metallischer Gegenstand. »Wer bist du?«, wollte Valk nur ein einziges Mal tapfer sein und nicht den Schwanz einziehen. »Und was willst du von mir?« »Ich heiße Lomm. Von dir direkt will ich gar nichts. Dessen unge achtet möchte ich dich bitten, dich jetzt nicht zu wehren. Dann ist es schnell vorbei...« * 129
Weit konnte Valk nicht gekommen sein, selbst wenn er gerannt war; Orro hatte ihn kaum zehn Minuten alleine gelassen. Links und rechts der Senke gab es nur soliden Fels, dazwischen den Licht Vorhang und Tatenfreud dahinter. Also brauchte Orro lediglich wieder in den Stollen zurückzugehen, den sie entlanggegangen waren. Und siehe da: sein guter Freund hatte sich tatsächlich zu einem Nickerchen entschlossen und lang hingelegt. Im Dämmerlicht zeigten sich deutlich die Konturen seines Körpers. Direkt an der Futterstelle, schmunzelte Orro. Es war das erste Mal seit geraumer Zeit, dass er befreit aufatmete und sich die schweren Gewitterwolken am Horizont seines Geistes lichteten. Der aufbrandende Schrei fuhr Orro umso heftiger durch Mark und Bein! Sein Begriffsvermögen wurde vollständig ausgehebelt. Erst, als Orro wieder halbwegs klar denken und die Situation erfassen konnte wurde ihm klar, dass er selbst den lang anhaltenden Schrei ausgesto ßen hatte und immer noch laut schrie, während seine Augen die kopf lose Leiche seines Freundes durchbohrten! * Orro japste wie ein Ertrinkender. Valk war tot. Bestialisch ermordet. Sofort bestürmten ihn die Bilder seiner Freundin und Geliebten Shil. Sie war noch übler zugerichtet gewesen, doch das Tatmuster war das gleiche. Noch lag frische Erde auf dem Friedhof seiner Seele, doch schon machten sich die Toten daran, sich an die Oberfläche zu graben. Warum ließ man ihn nicht zur Ruhe kommen? Sollten die letzten Jahre - oder auch nur Tage - seines Lebens durch andauernden Schre cken zu einer grausigen Tortur werden? Wann hatte sein Leiden denn mal ein Ende? Wie viel würde man ihm noch zumuten und wie viel würde er noch ertragen können...? Allmählich gewann er seine Fassung zurück. Atem und Herzschlag normalisierten sich. Nur in seinem Innersten war die winzige Pflanze des Neubeginns verdorrt. Sein Zorn schleuderte flammende Blicke in 130
jene Richtung, in die der Mörder davongelaufen war. Seine Hilflosigkeit ließ Orro die Hände verzweifelt zu Fäusten ballen. Für ihn konnte es keinen neuen Morgen geben. Jetzt nicht mehr. Die Mauer, die ihn von seiner eigenen Zukunft trennte, wurde ständig höher und damit unüberwindlicher. Jeder Versuch, daran hochzuklet tern und auf die andere Seite zu gelangen, war vereitelt worden. Zwei Freunde hatten sterben müssen, sein mutiges Unternehmen vom Bau einer Dampfmaschine war gescheitert und seine Vertrauten hatten sich selbst als Verräter enttarnt. Mehr Zeichen brauchte Orro nicht, um schlussendlich dem Druck des Schicksals nachzugeben. Es war aus. Es ging dem unvermeidlichen Ende entgegen. Doch eines gab es noch zu tun. Valks Tod musste gesühnt, der Attentäter seiner gerechten Strafe zugeführt werden. Dass er sich in unmittelbarer Nähe aufhielt lag auf der Hand. Wie hätte er in der kurzen Zeit diesen schrecklichen Mord begehen können und dann auch noch über alle Berge sein? Es war unmöglich! Orro sprach ein stilles Gebet für Valk und ließ ihn bei der mit Keißa gefüllten Nische liegen. Er nahm die Beine in die Hand und verlangte seinem Körper bei dem anschließenden Lauf alles ab. Orro war so schnell wie selten zuvor, wich mit traumwandlerischer Sicherheit Vor sprüngen, Unebenheiten und hoch stehenden Spitzen aus und hätte nicht viel später jeden Flüchtenden eingeholt gehabt. Der hinterhältige Schlächter, jedoch, tauchte nicht mehr auf. We der war das Echo seiner verhallenden Schritte in der Ferne zu hören, noch gab es sonstige Anzeigen seiner Anwesenheit. Unbeirrt lief Orro weiter, legte ein Drittel der Strecke in einem Viertel der Zeit zurück, die er für den kompletten Hinweg gebraucht hatte. Da war es auch so weit, dass er sich ausruhen musste. Doch lange würde er nicht rasten. Die Wut in seinen Eingeweiden trieb ihn voran, zeigte sich unempfindlich für Hunger und Durst und würde erst verrauchen, wenn er dem Gesuchten leibhaftig gegenüberstand. Nach nicht ganz zwei Tagen erreichte Orro die Stadt - ausgelaugt, durstig und von den Strapazen gezeichnet. Die Flammen seines Hasses 131
loderten bei weitem nicht mehr hell und heiß, waren eher ein zaghaf tes Glimmen auf sandigem Grund. »Da ist er! Bei Gott, du hattest Recht! Er ist zurück!« Verdutzt wischte sich Orro über die Augen, als er den Ausruf ver nahm. Welche Teufelei erwartete ihn nun wieder? »Ergreift ihn! Lasst ihn nicht mehr entwischen!« Was sollte das? Er hatte gar nicht vor davonzulaufen. Als scheuerten Sandkristalle hinter seinen Augäpfeln machte es ihm Mühe, die Blickrichtung zu wechseln. Von allen Seiten huschten Gestalten auf ihn zu. Sie hatten auf ihn gewartet. Sie hatten gewusst, dass er kommen würde. Jetzt sah er auch recht deutlich Prälat Frai aus dem Kirchengebäude treten, wie er sich würdevoll und gemessenen Schrittes, allerdings auch zügig, auf ihn zu bewegte. »Was habt ihr vor?«, presste Orro die Frage so laut es ihm mög lich war aus seinen Lungen. »Was in Herrgottes Namen ist in euch gefahren?« Orro wurde gleichzeitig von einem Dutzend Hände gepackt. »Schweig, du Teufel! Mörder haben bei uns keine Gnade zu er warten!« »Mörder?«, schnappte Orro. »Ich bin doch kein Mörder! Ich ver folge einen Mörder! Er muss bereits hier in der Stadt sein!« Ein wuchtiger Faustschlag in die Rippen ließ ihn verstummen. »Wie Recht du hast!«, folgte die höhnische Erwiderung. »Und er ist uns gerade ins Netz gegangen.« Sechs kräftige Männer schleiften Orro mit sich. Die umstehenden Borraner bildeten eine Gasse, die direkt bei Frai endete. Der Geistliche hatte eine strenge Miene aufgesetzt und wartete, dass man Orro vor ihm zu Boden warf. »Es war unklug von dir heimzukehren«, begann Prälat Frai ohne Emotion. »Doch der Wille des Herrn hat dich in die Arme der Gerech tigkeit zurückgeführt.« »Ihr macht einen Fehler.« Orro stützte sich im Staub ab und hob den Kopf. »Nicht ich bin es, den ihr sucht.« 132
»Nein?« War Frai tatsächlich überrascht oder tat er nur so, bevor er seinen stärksten Trumpf ausspielte? »Sollte es vielleicht jener dort sein?« Der Geistliche deutete hinter sich und machte den Ausblick frei. Orro hustete, blinzelte den Dreck in den Augen weg und erkannte eine Person keine zehn Meter entfernt. Je näher sie kam, umso siche rer war Orro, einen völlig Fremden vor sich zu haben. »Wir hatten enormes Glück, dass Lomm uns vor dir erreichte«, setzte Prälat Frai die Farce seiner Beweisführung fort. »Er kommt von weit her und kennt Wege, die dir verborgen geblieben sein dürften.« »Er ist es, den ihr verurteilen müsst!« Orros Stimme bäumte sich noch einmal kraftvoll auf. »Er hat auch meinen Freund Valk getötet!« »Nun«, tat Frai selbstherrlich, »das hat uns Lomm ein wenig an ders erzählt. Und niemand hegt die geringsten Zweifel an seiner Aus sage. Warum sollte er lügen? Der Mann ist fremd in unserer Stadt, kennt niemanden. Wie also sollte er bewusst jemanden belasten?« »Ein Irrtum!«, rief Orro. »Ihr unterliegt einem grässlichen Irr tum!« »Je mehr du leugnest, desto eindeutiger belegt es deine Schuld.« Frai sprach laut und akzentuiert. Alle Versammelten konnten ihn klar verstehen. »Nicht Lomm belastet dich, du tust es selbst. Sieh das doch ein und bekenne endlich!« Irgendwie kam Orro auf die Beine und keiner hinderte ihn daran. Es war ihm anzusehen, dass ihm für halsbrecherische Aktionen die Reserven fehlten. »Frai belügt euch!«, schrie er und drehte sich langsam um die ei gene Achse, damit seine Worte jeden erreichten. »Er hat euch eure Vergangenheit geraubt und gibt euch einen falschen Glauben! Er kennt die Geschichte Borras! Er weiß, dass wir früher nicht in dunklen Höhlen hausten und uns nicht dem Fortschritt verschlossen haben! Er hält euch absichtlich dumm, damit...« Ein harter Gegenstand traf Orros Kopf und zwang ihn augenblick lich in die Knie. Dort erwischte ihn ein weiterer Hieb, so dass er haltlos niederging. 133
»Hört euch sein Geschwätz nicht weiter an!«, appellierte ein Ar beiter an die Menge. »Ja! Schickt ihn in die Hölle, wo er hingehört!«, wurden weitere Rufe laut. »Bringen wir es zu Ende!« Orro blieb regungslos liegen. In seinen Ohren mischten sich die Schreie und Forderungen zu einem tosenden Rauschen. Er hatte keine Ahnung, was sie mit ihm vorhatten, keinen Willen, sich zu widersetzen. Hier und jetzt konnte er nicht das Mindeste mehr ausrichten. Sie fingen an, mit Gegenständen auf ihn einzuschlagen. Orro spür te es, doch schien es ihm, als wäre es nicht sein eigener Leib, in dem die Knochen brachen. Sein Atem blies in den Staub, verstopfte den Mund und die Nase. Der Eindruck war um vieles realer als die Schläge und die aufplatzende Haut. Wo machte das noch Sinn? Warum erlitt er permanenten körperli chen und seelischen Schmerz, wenn es nicht ein Ziel gab, für das er dieses Elend auf sich nahm? Hatte Tatenfreud ihm nicht die volle Wahrheit gesagt? Gab es trotz der schockierenden Offenbarungen eine Wahrheit hinter der Wahrheit? Sie leisten ganze Arbeit, bedachte Prälat Frai die zornige Meute wohlwollend. Dabei ahnen sie nicht, dass sie ihr letztes Bisschen Frei
heit mit jedem Hieb, den sie austeilen, an mich verspielen.
Lomm trat an seine Seite und beide tauschten sie kurze, bezeich nende Blicke.
Sie sehen nur, was sie sehen wollen und sie hören nur, was sie hören wollen. Der eigentliche Mörder bezichtigt das Opfer. So wird das Opfer zum Täter und niemand bemerkt es. »Macht nur weiter«, gab der Geistliche der Hinrichtung seinen Se gen. »Gott duldet kein Unkraut in seinem Garten Eden.« Morgen, war Frais abschließender Gedanke, geht ihr wie gewohnt
auf die Keißa-Felder. Zufrieden mit dem, was ihr erreicht habt und wieder etwas ärmer im Geist. Meine Macht über euch wird ständig größer und unaufhörlich wachsen. Aber, meine Kinder, wie könntet ihr das wissen... 134
6. ‹Tatenfreud› stand wie kein anderer unter dem schockartigen Eindruck der Quantenexplosion auf Borra. Schnelle Hilfe war nun angesagt, um wenigstens die paar Überlebenden zu retten, die wunderbarerweise der Katastrophe entgangen waren. Das weitläufige Höhlensystem bot den einzigen Lebensraum, den die Quantenstrahlung nicht durchdrun gen hatte. ‹Tatenfreud› ließ sämtliche Zugänge versiegeln, damit die Schutzsuchenden auch nicht rein zufällig an die verseuchte Oberfläche traten. Es war das Einzige, was getan werden konnte, denn selbst der hohe technologische Standard der Evolutionäre konnte die Auswirkun gen des verheerenden Vernichtungssturms nicht ungeschehen ma chen. Einige Wochen vergingen, in denen ‹Tatenfreud› seine borrani schen Schützlinge beobachtete. Sie glichen verängstigten Tieren, de nen der Schrecken in den Knochen saß. Fast ständig kauerten sie ge meinsam an einer Stelle, wärmten sich gegenseitig und standen nur dann auf, wenn der Hunger oder Durst sie dazu veranlasste, Jagd auf Spinnfüßer zu machen oder an einem Bachlauf zu trinken. Voller Sorge stellte ‹Tatenfreud› fest, dass es auf diese Weise nicht weitergehen konnte. Die Spinnfüßer waren auf Nahrung von außerhalb der Höhle angewiesen. Unter den gegebenen Umständen würden sie sehr schnell aussterben, was wiederum bedeutete, dass auch den Borranern die Lebensgrundlage entzogen wurde. Zudem wurde ‹Tatenfreud› die Zeit knapp. Da seine ursprüngliche Aufgabe darin bestanden hatte, die Aufrüstungsarbeiten auf Borra zu überwachen, erwartete man nun, nach der Zerstörung der Flotte, seine Rückmeldung auf Gho-tro'onh. Neue Aufgaben standen parat, neue Hilfsvölker galt es zu konditionie ren. In seinem Hinterkopf nahm ein Plan Gestalt an, doch zu dessen Ausführung wären mehrere Monate erforderlich gewesen. Den höchs ten Denkern gegenüber hätte er keine Rechtfertigung für seine unge wöhnlich hohe Verweildauer anbieten können. Akzeptiert hätten sie sie ohnehin nicht. 135
Seine Abberufung erhielt ‹Tatenfreud› dann auch schon in den kommenden Tagen. Sein Schiff war das letzte im Orbit von Borra und wurde dringend zurückerwartet. Diesen Befehl konnte und durfte er nicht ignorieren. Schweren Herzens wanderte sein Geist noch einmal durch das La ger der borranischen Höhlenbewohner. Sie waren ausgemergelt. Ihre Haut wirkte wie dünnes Pergament. Nicht mehr als zwanzig Individuen hatten das Unglück überlebt und von denen waren acht bereits an Hunger gestorben. Es hatte außerdem den Anschein, dass die un gewohnte Umgebung ihre Entfaltung hemmte. Die armseligen Gestal ten vegetierten einfach bis zu ihrem natürlichen Tod dahin. Sie mach ten keinerlei Veranstaltungen sich zu paaren und ihre Rasse somit vor dem Aussterben zu bewahren. Normalerweise war gerade das eine genetische Grundprogrammierung von Spezies dieser Bewusstseinsstu fe. ‹Tatenfreud› wurde einmal mehr daran erinnert, welch unsagba res Leid die Evolutionäre zweiter Potenz über diese bemitleidenswerten Geschöpfe gebracht hatten. Zur selben Zeit zermarterte er sich das Hirn, um einen Ausweg aus seiner Zwickmühle zu finden. Er wollte die Borraner nicht aufgeben, fühlte sich in die Pflicht genommen, ihnen eine neue Zukunft zu schenken. Als sein Schiff eine Woche später den hohen Orbit um Borra ver ließ, war nur noch ein einziger Höhlenbewohner am Leben. * ‹Morgengruß› und ‹Freudeglanz› waren mit ihren Einheiten im Out back stationiert. Beide hatten sie ihre Gefährten bei der Vergeistigung des einen Teils ihrer Rasse verloren und versahen nun gemeinsam ihren Kriegsdienst im so genannten Hinterland. Damit bezeichneten die Evolutionäre zweiter Potenz eine Galaxienfamilie, die eine Randposition innerhalb der erforschten Raumkugel einnahm. Die Oktaedereinheiten waren viele Monate unterwegs gewesen, um diese Position zu errei chen. Auf Gho-tro'onh war man der Ansicht, mit diesem strategischen Zug eine Gesamtabdeckung des zu beobachtenden Weltraums ge 136
währleistet zu haben. Viele Tausend Schiffe waren zu exakt berechne ten Punkten entsandt worden und sollten auf diese Weise garantieren, dass sich nichts - rein gar nichts - unbemerkt dem heimatlichen Zwil lingssonnensystem und der Zentrumswelt nähern konnte. Oftmals wurden die schwer bewaffneten Kriegsschiffe in Gefechte mit angriffs lustigen Spezies verwickelt oder einfach nur mit Völkern, die in den Oktaedern eine Bedrohung sahen. Rigoros und mit kompromissloser Härte wurden alle Angreifer zurückgeschlagen, die den Waffensyste men der Evolutionäre hoffnungslos unterlegen waren. Während Fremdrassen lediglich die Evolutionäre als Gefahr klassifizierten, stuf ten diese alles und jeden als Bedrohung ein und entfachten einen un vergleichlichen Vernichtungsfeldzug. Ihre Angst - das wollten sie lange Zeit nicht für wahr empfinden – war so groß und die Realität verwäs sernd, dass sie das Unheil, dem sie mit allen Mitteln begegnen wollten, wahrscheinlich nicht erkannt hätten, wenn es direkt vor ihnen erschie nen wäre. Schließlich war Te-Che'Lo-Kadeh selbst von diesem Außen punkt noch Millionen Lichtjahre entfernt. ‹Freudeglanz› erinnerte sich mit Unbehagen an das Auftauchen des geheimnisvollen Raumtranspor ters, der selbst von den Außensensoren nicht zu erfassen gewesen war und beim Vorbeiflug eine Woge aus Furcht und Dunkelheit über ihn und den zwischenzeitlich im Kollektiv aufgegangenen ‹Denkegut› aus geschüttet hatte. Es war die einzige Begegnung dieser Art geblieben. Kein Evolutionär konnte von ähnlichen Vorkommnissen berichten. Was einerseits als beruhigendes Signal gewertet werden konnte, entpuppte sich als nicht minder bedenklich: Dort draußen in der Weite des Alls gab es eine Macht, die sich geschickt zu tarnen wusste, die im Verbor genen agierte und nebenher das Leben einer kompletten Galaxis auf gesaugt hatte. Zog man in Erwägung, dass diese Macht ungehindert schalten und walten und überall ungesehen auftauchen konnte, dann war es nicht zu weit hergeholt, von den Vorboten einer Apokalypse zu sprechen. »Einerseits beneide ich jene, die zur dritten Potenz aufgestiegen sind«, ließ ‹Morgengruß› vernehmen. »Sie haben sich den Wirrnissen der materiellen Welt wirkungsvoll entzogen.« 137
»Sie sind trotzdem noch mit diesen Wirrnissen beschäftigt«, stellte ‹Freudeglanz› klar. »Nur auf einer übergeordneten Ebene.« »Ja, ich weiß. Denn andererseits habe ich die Vergeistigung genau deshalb abgelehnt. Es hätte sich prinzipiell an unserer Situation nichts geändert.« »Das ist nicht wahr!«, widersprach ‹Freudeglanz› energisch. »Als Teil des Kollektivs besitzt du keine Individualität, kein Ego. Das ist wichtig, um nur dem Nutzen einer Sache zu dienen und nicht sich selbst. Heute ist es die Eintönigkeit des Dienstes, die dich klagen lässt. Morgen ist es die Angst vor dem Unbekannten, die dich zögern lässt. Du bist den Gesetzen der Stofflichkeit unterworfen und handelst damit schon unfreiwillig eigennützig.« »Wenn ich nur wüsste, wozu wir hier sind.« ‹Morgengruß› heftete den Blick auf den Außenschirm, der nahe und ferne Galaxiennebel zeigte. »Ungeduld ist ebenfalls eine Tugend der Materie«, stellte ‹Freu deglanz› fest. »Du wärst besser auch dem Kollektiv beigetreten. So weise, wie du dich äußerst.« ‹Morgengruß› meinte, was er sagte. Spott gehörte nicht zu seinem sprachlichen Repertoire. »Ich sehe jedoch, was du meinst«, lenkte ‹Freudeglanz› ein. »Wir bringen Tod und Verderben in jeden noch so entlegenen Winkel des Kosmos. Das ist unvereinbar mit unserer Grundeinstellung und hat zwangsläufig dann auch zur Spaltung unserer Rasse geführt. Deswe gen sind wir hier. Weil die Belange der Welt auf dieser Ebene uns greifbarer - wirklicher - erscheinen, als auf einer Ebene, die wir nicht kennen und die wir nur die ›dritte Potenz‹ nennen. Die physische Ein flussnahme ist uns wichtig. Wir wollen unmittelbare Ergebnisse sehen. Die ›Gänger des dreizehnten Weges‹ planen nach Jahrmillionen.« »Ihre und unsere Zeitbegriffe unterscheiden sich erheblich von einander. Denke nur an Gh'Ea. Jetzt können die ›Gänger‹ und die Auf gestiegenen darangehen, den evolutionären Zentrumspunkt zu schaf fen. Bis zu seiner Reife werden Milliarden Jahre vergehen.« 138
»Ich finde, wir sind trotzdem irgendwie auch an seiner Entstehung beteiligt«, sagte ‹Freudeglanz›. »Wir beschützen Gh'Ea schon jetzt vor möglichen Übergriffen der dunklen Macht in ferner Zukunft.« ‹Morgengruß› konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden. »Ich sehe keine dunkle Macht. Ich höre nur ihren Namen: Zysstho.« Der Begriff war entstanden aus den Zischlauten eines Humanoiden, den die Evolutionäre ‹Lichtertau› und ‹Glaubetreu› direkt von der Front aus Te-Che'Lo-Kadeh gerettet hatten. »Dann sehe ich uns. Unser Treiben ist mittlerweile von dem dieser ominösen Macht nicht mehr zu unterscheiden. Irgendwann wird es nur noch tote Ster neninseln geben. Nur wird dieses Verdienst dann unserem Konto zuge rechnet.« Für einige Momente sponn ‹Freudeglanz› die Idee weiter, überleg te, was wohl eine andere Rasse, der ihren ähnlich, denken musste, wenn sie auf das aggressive Vorgehen der Evolutionäre stieß. Konnte man einem Außenstehenden begreiflich machen, dass dieser Krieg einzig dem Frieden diente? Und war nicht gerade das der größte Wi derspruch überhaupt? Sie wussten doch, dass die Saat der Gewalt immer nur neue Früchte der Gewalt hervorbrachte. Das war ein ganz simpler Umstand. Nur die Begründungen dafür, dass eben dies nicht der Fall war, waren höchst kompliziert und ein deutliches Zeichen ver drehter Wahrheit und propagierter Lüge. »Warum sind wir hier?«, flüsterte ‹Freudeglanz› in Anlehnung an ‹Morgengrußes› anfängliche Aussage. »Ich möchte es so gerne begrei fen, doch mein Innerstes ist leer wie die Schwärze zwischen den Ster nen. Ich fühle mich als Teil eines Ganzen. Ich fühle sogar Ver antwortung. Doch der Plan, der meinem Leben erst Sinn gibt, bleibt mir verborgen. Und das ist unbefriedigend und frustrierend.« »Wie du bereits sagtest«, warf ‹Morgengruß› ein. »Wir alle sind den Gesetzen der Stofflichkeit unterworfen.« Die Bordbiotronik gab neue Standortkoordinaten aus. »Wir wechseln die Stellung«, kommentierte ‹Freudeglanz›. »Unse re Suche ist noch nicht beendet.« »Und sie wird es niemals sein, wenn wir nichts finden.« 139
‹Morgengruß› machte eine geistige Notiz: Aber wenn wir es am wenigsten erwarten, werden wir vielleicht gefunden... * Sie erreichten niemals ihr Ziel. Bereits nach der ersten Sprungphase trafen neue Meldungen ein. Diesmal über ein Relaisschiff. Direkt von Gho-tro'onh. »Das ist wirklich kaum zu glauben«, fasste ‹Morgengruß› die au diovisuelle Übertragung zusammen. »Sie holen uns nach Hause.« »Wir sind mitten im Einsatz und sie brechen ihn ab«, war auch ‹Freudeglanz› zunächst ratlos. Dann bemerkten sie beide, dass die Nachricht noch einen Anhang hatte, der sich nicht automatisch ab spielte und manuell aufgerufen werden musste. Was sie im Anschluss hörten, nahmen sie lediglich in ihren Köpfen wahr.
»Die Lage hat sich zu unseren Ungunsten verändert. Die vorge schobenen Verbände, die als Offensiv-, Wach- und Patrouillenkräfte in Te-Che'Lo-Kadeh Dienst taten, sind einem gewaltigen Aufbäumen un seres unsichtbaren Gegners zum Opfer gefallen. Mehr als sechs hundert Oktaeder wurden vernichtet. Wie dies geschehen konnte und welche Waffen zum Einsatz kamen ist bislang nicht geklärt. Die Welle der Vernichtung jedoch ist nicht aufzuhalten. Hatte der Feind es in den vergangenen Dekaden vorgezogen, im Untergrund unbemerkt und ungestört zu taktieren, so darf sein blitzschnelles Erscheinen ver bunden mit seiner enormen Schlagkraft als der demoralisierendste Misserfolg der vereinten Bemühungen unserer Rasse angesehen wer den. Wenn ihr diese Aufzeichnung empfangt, sind die letzten Funk sprüche von der schwarz-galaktischen Front noch nicht ausgewertet. Doch ganz gleich, welche Erkenntnisse sie uns bringen mögen: unser Auftrag ist gescheitert! Ein gewaltsames Vorgehen hat sich als ineffek tiv erwiesen. Kostbare Ressourcen jedweder Art sind verschwendet worden. Viele unserer Artgenossen sind einen sinnlosen Tod gestor ben. Das wird nun ein Ende finden. Wenn ihr also in einigen Monaten die Heimat erreicht, so wird sie ein weiteres Mal ihr Antlitz gewandelt 140
haben. Wir haben erkannt, dass nicht Krieg den Zweck unseres physi schen Daseins bestimmt. Das war es, was wir noch zu lernen hatten, als die eine Hälfte unseres Volkes sich zu einem geistigen Kollektiv zusammenschloss und die dritte Potenz erreichte. Uns ist dieser Weg fürs Erste noch verschlossen und deshalb wollen wir unsere Energie und unser Wissen nutzen, um nicht mehr zu zerstören und damit den negativen Mächten immer ähnlicher zu werden. Der neue Plan ist ge fasst. Wir bitten euch, ihn zu unterstützen. Viel Leid haben wir in die entlegensten Regionen getragen, einzig fixiert auf eine Sache, die sich vor uns perfekt zu verbergen wusste. Was wir sahen haben wir zer stört. Aber was wir zerstörten war nicht unser Feind. Immer noch ist es viel zu früh, eine verbindliche Aussage über ihn zu machen. Sicher ist nur, dass wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln keine Chance gegen ihn haben. Uns ist es auferlegt, einen passiven Part zu übernehmen. Nach eurem gesunden Eintreffen auf Gho-tro'onh wer den euch die Einzelheiten unserer Vorkehrungen nahe gebracht.«
»Ein erschütterndes Eingeständnis unserer Überheblichkeit und Unfähigkeit«, erklärte ‹Freudeglanz› leidenschaftslos. »Wie haben die höchsten Denker uns informieren können, wo doch die Front von uns aus gesehen sogar noch sieben Millionen Licht jahre entfernt ist?« ‹Morgengruß› hatte die Frage nicht wirklich an seinen Gefährten gestellt und gab sich auch gleich selbst die Antwort: »Das Kollektiv hat es ihnen gesagt. Nur so kann es gewesen sein.« »Sie beobachten uns, können aber nicht eingreifen.« »Sie wollen es nicht«, entgegnete ‹Morgengruß›. »Schließlich ha ben wir uns diese Misere ganz allein zuzuschreiben.« »Ihnen obliegen andere Aufgaben«, schwächte ‹Freudeglanz› ab und gab eine telepathische Kurskorrekturan die Biotronik weiter. »Wir mussten erst zu Weltenvernichtern degenerieren, bevor unser mit Blindheit geschlagener Geist die Wahrheit sehen konnte. Wir haben jetzt keine Furcht mehr. Niemand von uns hat mehr Furcht. Und wenn sie endgültig gegangen ist, wird die Vernunft ihren Platz einnehmen.« ‹Morgengruß› wirkte nachdenklich. »Hätten wir tatsächlich wieder die Auslöser unserer Waffen be dient, ohne einer sichtbaren Gefahr zu begegnen?« 141
»Unsere Angst hätte uns sehen lassen. Damit wären wir ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen.« ‹Freudeglanz› hatte den eigentlichen Aspekt der Frage ausgelassen und fügte an: »Wir haben unser eigenständiges Denken aufgegeben und nur gehorcht. Das meintest du doch, oder? Unsere Entscheidungen haben wir nicht über dacht und einfach nur funktioniert. Wie beeinflussbar wir doch noch sind.« »Die größte Schwäche des physischen Seins ist seine bedingungs lose selbstsüchtige Aufrechterhaltung. Sind wir nicht die besten Bei spiele dafür? Waren nicht wir es, die sich freiwillig gegen die Vergeisti gung und für die Materie ausgesprochen haben? Natürlich. Und ob es nun Schicksal ist oder nicht, ob Millionen Unschuldiger hingeschlachtet wurden und die Schuldigen noch leben - eines ist gewiss: Wir haben unsere Lektion gelernt. Und davon sollen bald alle profitieren.« In diesem Moment gingen die Vollzugsmeldungen der anderen Schiffe des Konvois ein; sie hatten den vereinbarten Sammelpunkt erreicht und machten sich bereit zum ersten Etappensprung in Rich tung ihrer Heimat. »Es tut gut, wieder Frieden zu spüren.« ‹Morgengruß› registrierte den faden Beigeschmack der Bemer kung. »Frieden kommt nicht von außen. Frieden kann nur jeder in sich selbst finden...« * Auch wenn es so aussah, war der geistige Umschwung nicht über Nacht gekommen, sondern von langer Hand vorbereitet worden. Schon nach den ersten Attacken ihrer Kriegsflotte war den höchsten Denkern klar geworden, dass sie sich wie Blinde durch ein Labyrinth bewegten und jeder ihrer Schritte von der negativen Macht in TeChe'Lo-Kadeh wahrgenommen wurde. Diese Wahrnehmung fand auf einer Ebene statt, die selbst den fortschrittlichen Evolutionären nicht zugänglich war. Von dieser Warte betrachtet gingen ihre Angriffe na turgemäß ins Leere, auch wenn sie sich einbildeten, dem Gegner mit 142
ihren wilden Vernichtungsorgien Niederlage um Niederlage beizubrin gen. Jahrzehnte kämpferischer Auseinandersetzungen verpufften wir kungslos vor einem schattenhaften Feind und schufen brachliegende Öden, die er vollkommen gewaltfrei erobern konnte. Die höchsten Denker hatten diese tragische Ironie längst erkannt: Sie, die Positives in die Welt tragen wollten, sich der Materie zu entledigen gedachten, um höheren Zielen zu dienen, hatten sich verstrickt in kleingeistigen Auseinandersetzungen, wie sie Primitive unterer Bewusstseinsebenen austrugen. Sie, die sich mit Erreichen der zweiten Potenz bereits als unerreichbar eingestuft hatten und noch höher hinauswollten, hatten die bittere Erfahrung machen müssen, dass es ihnen an Reife mangel te. Nur auf diese Weise hatte die Spaltung ihres Volkes entstehen kön nen, die im Plan der ›Gänger des dreizehnten Weges‹ nicht vorgese hen gewesen, jedoch akzeptiert worden war. Denn auch sie stellten nicht die höchste Form der Entwicklung dar. Immer noch gab es In stanzen, die darüber lagen und wieder andere, die in noch höheren Bereichen zu finden waren. Alles baute aufeinander auf. Nichts war entbehrlich, alles wurde gebraucht und erfüllte einen Nutzen. Dies alles nun wussten die höchsten Denker, die sich in der Kälte eines Zwischenmediums aufhielten, das die Kommunikation mit niede ren und übergeordneten Daseinsebenen ermöglichte. Noch während Planet um Planet gefallen war unter dem Beschuss und dem Bombar dement von Myriaden von Oktaedern, war die Entscheidung zur Um kehr bereits gefallen. Als nach Jahrzehnten die ersten Raumschiffe nach Gho-tro'onh zu rückkehrten, war der Anblick der gigantischen sternförmigen Gebilde Furcht einflößend und es ging für kurze Zeit die Vermutung um, die Heimat wäre von den negativen Kräften erobert worden. Dieser Irrtum wurde offensichtlich, als die Oktaeder unbehelligt aneinander andock ten und die Besatzungen staunend das gleißende Kugelgebilde be trachteten, das sie sonst nur von ihren Versammlungen in der planeta ren Arena kannten. Die höchsten Denker hatten es für nötig befunden, ihr Kommunikationszentrum in den freien Raum zu verlagern. Diese Maßnahme galt vorrangig der Beruhigung der einlaufenden Schiffe mit 143
ihren Besatzungsmitgliedern, da beim Anblick der sternförmigen Rie senstationen mit heftigen Reaktionen hatte gerechnet werden müssen. Gespannt verharrten die Evolutionäre in ihren Schiffen und lausch ten aufmerksam den Erklärungen der höchsten Denker. * Was sie gesagt bekamen, war alles andere als aufbauend. Sie sollten Gho-tro'onh verlassen. Für immer. An Bord dieser monumentalen Sta tionen, die die Gestalt von Sterntetraedern besaßen - zwei sich an den Spitzen durchdringende Pyramiden - und die die konsequente geomet rische Fortführung jener Oktaeder waren, mit denen die Evolutionäre bislang das All erkundet und befriedet hatten. Der augenfälligste Un terschied neben der Form war die Ausdehnung der Giganten. Tausend Kilometer maßen sie im Durchmesser und ließen die waffenstarrenden Festungen, als die sich die Oktaeder gegenwärtig zeigten, zu einem bedeutungslosen Nichts verkommen. Es hatte den Anschein, als könn te es niemand aufnehmen mit dieser neuen Generation von Schiffen. Doch ihre Aufgabe sollte nicht im Kriegführen bestehen. Ihre Aufgabe war eine rein passive. ‹Morgengruß› und ‹Freudeglanz› studierten die technischen De tails der Sterntetraeder in einem Hologramm. »Der Antrieb ist ein Generatorblock basierend auf Magnetkraftfeld technik. Er nimmt zehn Kubikkilometer Raum im Zentrum des Schiffes ein. Es gibt zweihundert Hauptebenen zwischen zwei und acht Kilome tern Höhe, die wiederum unterteilt sind in fünfzig bis tausend Decks.« »Wir werden in einer riesigen Arche auf Reisen gehen«, fasste ‹Freudeglanz› zusammen. »Die meisten Decks sind voneinander abge schottet, so dass wir die unterschiedlichsten Atmosphä renzusammensetzungen schaffen können. Ideal für die Aufnahme ei ner Vielzahl verschiedenster Rassen. Die geschätzte Kapazität liegt bei rund einer Milliarde Lebewesen.« ‹Morgengruß› schenkte seine Aufmerksamkeit einer weiteren Be sonderheit. 144
»Die biologisch-psionische Computerkomponente dient nicht nur der Steuerung und Überwachung, sondern auch der Schulung aller Mitreisenden. Das gesammelte Wissen der sechsunddreißig Monde von Gho-tro'onh befindet sich auf unterschiedlichen Obertönen ein und derselben Realitätsfrequenz. Nur dadurch ist es möglich, die unge heuren Datenmengen zu transportieren.« Beeindruckt schwieg ‹Morgengruß›. »Die Zeit unserer aller Abwesenheit ist von den höchsten Denkern mehr als sinnvoll genutzt worden«, sagte ‹Freudeglanz› anerkennend. »In den vor uns liegenden Zeitaltern können wir beweisen, ob wir der gestellten Aufgabe würdig sind und uns in einer noch fernen Zukunft einen Platz im Kollektiv der dritten Potenz gesichert haben.« Die Zeiten des Krieges sollten für immer hinter ihnen liegen. Nicht die Konfrontation durfte das Hauptaugenmerk einer derart hoch entwi ckelten Spezies sein. Dadurch war kein spiritueller Fortschritt zu errei chen. Im Gegenteil. Die Vernichtung von Lebewesen gleich welcher Art führte immer tiefer in die Verstrickungen karmischer Bindungen und kam somit einem Rückfall in die Materie gleich. Karma bedeutete nichts anderes als das Ergebnis aus Aktion und Reaktion. Je weniger man sich einmischte, desto geringer war die karmische Belastung. Die Evolutionäre würden sich nur noch insofern in die Geschicke fremder Völker einmischen, als dass sie diese vor der Bedrohung aus Te-Che'Lo-Kadeh zu retten gedachten. Denn die negative Kraft aus der dunklen und toten Galaxis würde sich weiter ausdehnen, nach be nachbarten Sternennebeln greifen und eine Bastion der Finsternis schaffen. Wer von diesem Los befreit werden wollte, konnte auf der Arche weiterleben wie zuvor auf seiner Heimatwelt. Die Lebensbedin gungen würden exakt kopiert werden, um keinen Bruch in der evoluti onären Kontinuität zu erzeugen. Zu diesem Zweck waren die Sterntet raeder geschaffen worden.
Geschaffen worden, schmolzen die Worte in ‹Freudeglanzes› Ge danken dahin. Nicht konstruiert. Eine Meisterleistung der höchsten
Denker, die die Raumarchen ohne physische Unterstützung einzig kraft ihres Geistes haben greifbare Realität werden lassen. 145
»Wir sind noch lange nicht so weit, unser volles Potenzial zu er fassen«, sagte er laut. »Dem gegenüber haben wir viel Zeit, es zu erkunden«, machte ihm ‹Morgengruß› Mut. Die Lebensspanne eines Evolutionärs betrug Hunderte Generatio nen von jener der meisten Individuen bekannter Völkerstämme. Wenn sie einmal nicht mehr waren, so hofften sie doch, dass die Mitreisen den sich ihrer Selbstbestimmung bewusst waren und die Führung des Schiffes übernahmen. Schließlich war es ihr Schiff, ihre Welt. Die BioPsionik würde ihnen das nötige Wissen zur Erlangung der erforderli chen Reife vermitteln. »Es wird unsere letzte Reise sein, nicht wahr?«, fragte ‹Morgen gruß›. »In gewissem Sinne ja. Warum fragst du?« »Nur eine Erinnerung aus alter Zeit. Dieselbe Frage stellte ich meinem damaligen Gefährten ‹Sonneschön›. Damals, als der letzte Erkundungsflug stattfinden sollte, der schließlich nach Te-Che'LoKadeh führte und...« »Ich entsinne mich. Auch ich war mit meinem Gefährten dorthin unterwegs.« ‹Freudeglanz› unterbrach sich kurz. »Eigenartig, wie die Ereignisse ineinander greifen. Hätten wir nicht diesen einen For schungsauftrag noch ausgeführt, wäre alles ganz anders gekommen. Das Wirken der negativen Kräfte auf der feststofflichen Ebene wäre uns gar nicht aufgefallen. Es hätte keinen Krieg gegeben. Tausende Welten wären nicht unserer blindwütigen Gespensterjagd zum Opfer gefallen.« »Es ist geschehen und es steckte ein Sinn dahinter. Auf der mate riellen Ebene ist nicht sofort alles schlüssig und erklärbar. Das weißt du doch. Und jetzt lass uns das Schiff wechseln. Col'Shan-duur wartet.« »Col'Shan-duur...?«, dehnte ‹Freudeglanz›. »Sendbote der Wand lung?« »Ich mag Namen«, versetzte ‹Morgengruß›, »auch wenn sie in spiritueller Hinsicht keinerlei Bedeutung haben. Und die kleinen Wesen mögen sie ebenso.« 146
Ja, die kleinen Wesen mochten sie auch. Die kleinen Wesen, die immer nur an den fünf Meter großen Evolutionären hoch schauen konnten, wenn sie sie denn einmal zu Gesicht bekamen. Nur wenigen war es vergönnt gewesen, denn die Evolutionäre hatten Fremdrassen nie aktiv beeinflusst und daher auch nicht auf sich aufmerksam ma chen wollen. »Was gäbe ich darum, Gh'Ea noch sehen zu dürfen«, sinnierte ‹Morgengruß› weiter. »In deiner physischen Form wird das nicht möglich sein«, gab ‹Freudeglanz› zu bedenken. »Doch wenn du dereinst die Fesseln der dritten Dimension abgelegt hast, ist Gh'Ea nur einen Gedanken ent fernt...« * Bereits in den ersten fünfhundert Jahren des Flugs füllte sich Col'Shan duur sichtlich mit Leben. Die ersten Decks wurden bevölkert, neue Lebensräume geschaffen und friedlich kolonisiert. Die eintausend Evo lutionäre ließen es sich nicht nehmen, ab und zu unerkannt als Geis terscheinung unter den Fremdvölkern zu wandeln und sie hatten ihre Freude daran, wie sich alles entwickelte, wie die Lebewesen wuchsen und gediehen, als hätten sie nie zuvor ein anderes Zuhause gehabt. Nahm man alles zusammen, war der Sterntetraeder jedoch noch so gut wie unbewohnt. Die in Beschlag genommenen Decks fielen in der Masse der zur Verfügung stehenden Freiräume noch kaum ins Ge wicht. Das würde sich ändern. Doch bis dahin würde eine kleine Ewig keit verstreichen. Genau das war es, was ‹Morgengruß› Kummer berei tete. »Wir reisen mit dem Licht der Sterne«, sagte er eines Tages. »Und ein Flug selbst bis zu den Grenzen des von uns erforschten Raums geht weit über die Lebensdauer eines jeden Evolutionärs hin aus.« ‹Freudeglanz›, der sich oft in seiner Nähe aufhielt, antwortete: »Das ist der Lauf der Dinge. In den Augen der Individuen der ersten 147
Potenz - unseren mannigfaltigen Proteges auf Col'Shan-duur - sind wir nahezu unsterblich. Worauf willst du also hinaus?« »Ich möchte am Ende unserer Reise noch lebendig sein.« ‹Freudeglanz› war nahe daran, etwas wie Mitleid in seinen Blick zu legen. »Es gibt kein Ende. Wir sind nur Warner, persönliche Motive ha ben nie eine Rolle gespielt bei unseren selbst auferlegten Pflichten.« »Fühlst du denn nicht die Größe unserer Aufgabe?«, ereiferte sich ‹Morgengruß›. »Spürst du nicht den Hauch kosmischer Bestimmung, der uns umweht?« »Derartige Auswirkungen seines Tuns kann nur das Kollektiv der dritten Potenz empfinden. Wozu wir uns entschlossen haben, dient keinem höheren Plan. Dabei setze ich voraus, dass auch die höchsten Denker nicht auf Anweisung der ›Gänger des dreizehnten Weges‹ handeln, sondern lediglich versuchen, unsere Geschicke in vernünftige Bahnen zu lenken.« »Das wird es wohl sein«, erwiderte ‹Morgengruß› nach langem Zögern. Was er wirklich dachte, ließ er nicht nach außen dringen. So zog er sich monatelang aus der Gemeinschaft der Evolutionäre zurück, verbrachte viel Zeit mit Gon'O'locc-uur und philosophierte mit ihm über die Welt, das Leben und bestimmte technische Apparaturen zur Le bensverlängerung. ‹Morgengruß› hatte bereits konkrete Vorstellungen, wie so etwas bewerkstelligt werden konnte, wobei ihn das Bordgehirn mehrmals auf die lange zurückliegenden, gescheiterten Versuche zur Erschaffung einer künstlichen Mer-Ka-Ba hinwies. Ein Feld rotierender körpereigener Energiefelder, holte ‹Morgen gruß› sich ins Gedächtnis. Mit dem in Gedankenschnelle jede Entfer
nung im Universum überwunden werden kann. Das ist die Mer-Ka-Ba.
Die Evolutionäre hatten sie aus eigener Kraft niemals beherrschen können und waren auf technische Hilfsmittel ausgewichen. Ihr an schließendes Versagen hatte die konventionelle Raumfahrt begünstigt. Doch so weit wollte ‹Morgengruß› es natürlich nicht kommen lassen. Er wollte die kosmischen Gesetze, das Rad des Lebens respektieren. Anders konnte es nicht funktionieren. 148
Er experimentierte sehr, sehr lange. Dabei griff er auch hin und wieder auf Einzelpersonen der aufgesammelten Rassen zurück. Er er schien ihnen in seiner beeindruckenden, ursprünglichen Gestalt, denn es war für ihn kein Problem, die Deckabsperrungen zu umgehen, die die oftmals stark voneinander abweichenden Atmosphärenverhältnisse verlangten. Als ‹Morgengruß› aus seiner relativen Abgeschiedenheit erneut die unmittelbare Nähe seiner Gefährten suchte, da tat er dies auch aus einem nicht unerheblichen Triumphgefühl heraus. »Ich bin froh, dich wieder unter uns zu wissen und hoffe, dass deine sporadischen Besuche im Zentrum sich ausweiten«, empfing ihn ‹Freudeglanz›. Der Kernbereich Gon'O'locc-uurs unter dem gewaltigen Kuppeldom mit dem kilometerweit reichenden Blick in die Tiefe zu ih ren Füßen war von geschäftigem Treiben erfüllt. Einige Hundert Evolu tionäre hielten sich darin auf, was allerdings nicht weiter ungewöhnlich war und lediglich von ‹Morgengruß› über Gebühr registriert wurde, da er mehr oder minder die Einsamkeit seines Forschungsbereichs ge wohnt war. »Gibt es etwas Besonderes?«, fragte er trotzdem. »Sie« - ‹Freudeglanz› deutete auf den Pulk der Versammelten »nehmen Abschied von einer Reihe Gefährten, die aus dem physischen Sein geschieden sind.« Wenn sie den Tod nahen fühlten, schlossen die Evolutionäre sich zu Gruppen zusammen, die in der Meditation das Scheiden und den Neubeginn zelebrierten. »Irgendwann kommt für jeden die Zeit.« Es war als Anspielung auf ‹Morgengrußes› Wunsch zu verstehen, unbeschadet die Jahrmillionen zu überstehen. Daher war ‹Freudeglanz› auch kaum auf die nachfolgende Äußerung gefasst. »Es ist gelungen!«, trumpfte ‹Morgengruß› auf. »Es wird funktio nieren!« Sekundenlang stand ‹Freudeglanz› starr. Hinter seiner Stirn schien es auf Hochtouren zu arbeiten. »Dann willst du also tatsächlich die Schöpfung betrügen?«, zog er messerscharf seine Schlüsse. »Das ist ein schwerwiegender karmischer Eingriff.« 149
»Kein Betrug«, stellte ‹Morgengruß› klar. »Eher ein... Schlupf loch.« »Bitte sprich weiter. Ich höre dir zu.« »Mit Hilfe von Gon'O'locc-uur ist es mir gelungen eine Seelenim plantationsmaschine zu konstruieren. Wenn der Körper alt und schwach ist, versetzt sie meine Seele mit allen Informationen des Vor lebens in einen neuen, frischen Körper...« »In wessen Körper?«, hakte ‹Freudeglanz› nach. »Gon'O'locc-uur arbeitet an einer Lösung dieses... hm, Problems. Ich denke an etwas Künstliches.« »Wenn aber das Resultat nicht deinen Vorstellungen entspricht, bist du sicher auch geneigt, etwas Vorhandenes zu wählen.« ‹Freude glanz› spielte auf die Geschöpfe der unteren Bewusstseinsstufe an, die auf Col'Shan-duur heimisch geworden waren. »Ich hebele den Reinkarnationsprozess damit nicht aus«, ignorier te ‹Morgengruß› den Einwand, um den Argumentationsfaden nicht zu verlieren. »Ich verzögere ihn lediglich.« »Macht das denn einen Unterschied? Ist dir nicht klar, wem du auf diese Weise Schaden zufügst?« ‹Freudeglanz› nahm die Antwort vor weg: »Du bist es selbst.« »Ich... bin mir in diesem Punkt nicht hundertprozentig sicher«, gab ‹Morgengruß› zu. »Doch ich werde mit den Konsequenzen leben. Ich muss es einfach!« »Es ist deine Entscheidung. Mir steht nicht zu, sie zu bewerten.« ‹Morgengruß› empfand gerade das Nichtausgesprochene belas tender, als harsche Kritik. »Ich danke dir für deine Meinung«, sagte er abwesend und verließ den Zentrumsbereich. Dabei dachte er an all die anderen Sterntetra eder-Archen, die ebenfalls mit Kurs in die Unendlichkeit aufgebrochen waren. Inzwischen würden Hunderte unterwegs sein und die höchsten Denker waren lange nicht am Ende ihrer Schaffensphase angelangt. Ze-cec'Zo-lon, Imi-gha'tro'onh, A'Rogh'gadd-luur und wie sie si
‹Tatenfreud› gab ein geistiges Kommando an das Bordgehirn. Im Nu verlöschten die blitzenden Lichtpunkte, brach das neurale Netz zusammen und war nicht mehr vorhanden. In dieser Kettenreaktion erstarb auch der letzte Lebensfunke, der dem in Zersetzung begriffe nen Humanoiden noch innewohnte. »Ruhe sanft, Orro.« Mit diesen Worten entschwand ‹Tatenfreud› und begab sich zu rück in seinen Körper. »Du hast es beendet, ja?«, erkundigte sich ‹Seelenstrahl›. »Ich war in seiner Welt, die auf dem Entwicklungsstand nach der Katastrophe auf Borra basierte«, holte ‹Tatenfreud› weiter aus. »Ich wollte ihm etwas zurückgeben von dem, was wir ihm genommen ha ben: seine Zukunft. Schließlich war er der einzige Überlebende, nach dem die Borraner außerhalb der Quantenstrahlung in den Höhlen auch nicht weiterexistieren konnten. Wie du möglicherweise noch weißt, befand sich Borra vor unserem Erscheinen an der Schwelle zur indus triellen Revolution. Viel geistiges Gut wäre nach der Detonation ver schüttet worden. Orro wollte ich die Chance geben, nahtlos an die Entwicklung seines Volkes ansetzen zu können. Nur zu seiner eigenen Befriedigung.« »Und da hast du es dir anfangs nicht nehmen lassen, in der Ges talt eines Fleggos die Traumrealität ein wenig aufzufrischen.« »Ich wollte doch nur, dass Orro erfolgreich ist. Er hatte so wenig von seinem Leben. Hatte er da nicht ein wenig Anerkennung - viel leicht sogar Ruhm - verdient?« »Ich weiß, dass es nicht Eitelkeit ist, die aus dir spricht«, erkannte ‹Seelenstrahl›. »Du wolltest wirklich helfen. Wenn ich mich auf deine Schwingungen einlasse, dann fühle ich den Schmerz in dir, wie du ihn gefühlt hast, als Borra unterging.« »Doch ich habe es zu gut gemeint. Die Simulation bot zu viel Frei raum für Orros Emotionen. Ich habe nicht vorausgesehen, dass seine aufgewühlte Gefühlswelt das Modell nachhaltig beeinflussen könnte. Selbst mein Eingreifen als Fleggo hat die Besinnung auf das eigentliche Projekt - die Dampfmaschine - nur sporadisch ermöglicht. Orro be schäftigte sich ausgiebig mit Liebe, Intrige, Verrat - und Tod. Die Sy 153
napsen des Neuralgefüges haben sich also entsprechend vernetzt, um diese Gedanken erlebbar zu machen. An einem bestimmten Punkt en dete dann jedoch die Simulation mit Orros Hinrichtung. Daran änderte auch der von mir eingefügte Schutzmechanismus nichts, der ihn an den Grenzen der programmierten Wirklichkeit mit meinem Abbild kon frontierte. Ich erklärte ihm einige der grundlegenden Zusammenhän ge, um ihn gestärkt und motiviert in seine Forschungsarbeit zu entlas sen. Dabei war zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung über sein Able ben bereits gefallen.« »Ich nehme an, die Simulation ist wieder neu gestartet worden, wenn dem Borraner etwas zustieß. Sie war immerhin nur für ihn ent worfen worden. Aber bis auf einige unbedeutende Abweichungen dürf te sie stets gleich verlaufen sein. Abbruch - Neustart - AbbruchNeustart. Ohne Unterlass. Tausende Male.« »Es sollte der Himmel werden für Orro. Doch es wurde seine ganz persönliche Hölle.« »Du darfst dir keine Vorwürfe machen«, versuchte ‹Seelenstrahl› dem Gefährten gut zuzureden. »Die Motive entscheiden über den Wert einer Sache. Und deine Motive waren edel.« Waren sie das?, zweifelte ‹Tatenfreud›. Rechtfertigt mein Drang
zur Hilfe die Qualen dieses Individuums? Meine Realität unterscheidet sich völlig von der Orros, obwohl wir sie zeitlich gesehen gemeinsam erlebten. Er spürte mit jeder Faser den Schmerz, den ich nur mit we nigen belanglosen Worten bedachte. Er hat ihn erlebt, ich habe ihn beschrieben. Völlig gegensätzliche Erfahrungen ein und derselben An gelegenheit. Wie können meine Motive auch nur entfernt gut sein, wenn sie solches Elend entfachen und fern des Begreifens liegen...? Die Ebene meiner Wahrnehmung ist eine ganz andere. Ich hätte sie nie auf Orros Verhältnisse projizieren dürfen.
Der Sterntetraeder Yorr'Ak-sat-C'uul zog weiter seine einsame Bahn. ‹Tatenfreud› drängte sich das Bild eines Wassertropfens auf, der weitab der Quelle nach etwas suchte, was ihn unweigerlich wieder zur Quelle zurückführen würde. Warum sich also von dem trennen, zu dem man gehörte? War das Bestandteil der Selbsterfahrung, die den Tropfen nicht als eigenständig definierte, sondern als Teil des Meeres, 154
dem er entsprang und der dieses Meer durch seine Anwesenheit erst vollständig machte? Ein wenig unruhig blickte ‹Tatenfreud› auf die noch vor ihm lie genden Jahrhunderte bis zu seinem physischen Ende. Auch er kam sich vor wie ein verlorener Wassertropfen und hätte einiges gegeben, wenn das vergeistigte Kollektiv der Evolutionäre ihm ein wenig seiner Sorgen genommen hätte. Das war jedoch unmöglich. Die Distanz zu ihnen war nicht zu überwinden. Orro, dachte ‹Tatenfreud›, du konntest die physische Marter able
gen wie ein unbequemes Gewand. Du hast bereits in diesem Leben für die folgenden mehr als teuer besohlt. ‹Tatenfreud› fühlte sich unangenehm berührt, wenn er über schlug, wie hoch seine Rechnung wohl ausfallen mochte...
7. »Gon'O'locc-uur! Ich will, dass du die Decks, die zum Kuppeldom füh ren, auf der Stelle abriegelst!« Virroc und seine Verbündeten standen mit dem Rücken zur Wand. Vor, neben und über ihnen schlugen Stahlprojektile und Laserstrahlen ein. Wie durch ein Wunder war der Großteil der Verteidiger unverletzt geblieben. »Gon'O'locc-uur! Mach es jetzt!«, schrie Virroc. »Sonst wird es nichts mehr geben, was du beschützen kannst!« »Reg dich doch bitte nicht auf«, erwiderte die Stimme des Bord gehirns sanft und ruhig. »Ich beeile mich doch schon.« Die Männer um Virroc kletterten auf eine kleine Plattform und zo gen sich in einen Schacht zurück. Er war voll gestopft mit achtlos zu sammen gewürfelten technischen Geräten, hinter denen man Deckung finden konnte. Die Aufständischen hatten sie aus ihren Verankerungen gerissen und versucht, den Zugang zum Kuppeldom durch Schlagen und Werfen aufzubrechen. Als dies nicht gelang, hatten sie einfach nur randaliert und in ihrer Raserei zerstört, was ihnen in die Finger fiel. 155
Zu dieser Zeit war Col'Shan-duur bereits hoffnungslos überbevöl kert. Die Population des Sterntetraeders betrug annähernd anderthalb Milliarden Individuen. Tendenz steigend.
Wenn sie sich in ihrer Unwissenheit selbst vernichten, schafft dies den natürlichen Ausgleich der Bevölkerungsdichte. Das waren Virrocs
Überlegungen gewesen. Anfangs schien sich diese Vermutung zu bestätigen, doch schon bald hatte sich gezeigt, dass die Völkerstämme, so verschiedenartig ihre Herkunft und Lebensbedingungen auch sein mochten, durchaus anpassungsfähig waren. Die Ururenkel der ‹Grenzüberschreiter› konn ten ohne Hilfsmittel in beiden Atmosphären überleben. Andernorts wa ren die Schwierigkeiten beim Durchbrechen der Absperrungen sogar wesentlich geringfügiger und führten bereits kurz nach der ersten Kon taktaufnahme zur Vermischung zweier Rassen. Der ersten Bevölkerungsexplosion folgte also unmittelbar die zwei te. Virroc sah es nicht unbedingt mit Unbehagen. Er wusste nur zu gut in seiner Eigenschaft als Evolutionär, dass das Leben immer einen Weg fand, sich auszubreiten. Es war unmöglich, es vollständig auszurotten. Und wer wollte das schon...? Virroc überließ die Intelligenzen fortan sich selbst. Er würde ihnen erst wieder die notwendige Aufmerksamkeit schenken, wenn er sich eines anderen Themas angenommen hatte, das ihn mit Besorgnis er füllte. Col'Shan-duur war nicht nur ein gigantisches Raumschiff, sondern ein unwahrscheinlich komplexer Organismus. Die Symbiose aus orga nischer und anorganischer Materie stellte die Meisterschaft der ‹höchsten Denker› eindrucksvoll dar. Die Beobachtung, die Virroc bereits in einigen Vorexistenzen gemacht hatte, nahm inzwischen bedenklichen Raum ein: das organische Gewebe mutierte! Die symbiotische Kompo sition demontierte sich selbst, war erkrankt. »Die Mutation ist Bestandteil einer Tiefensequenz zur strukturellen Regulierung der transgenetischen Matrix«, hatte Gon'O'locc-uur auf eine entsprechende Frage Virrocs geantwortet. Die Aussage war für Virroc nicht nachvollziehbar, da er weder die Konstruktionsdaten des Sterntetraeders besaß noch seine biologisch-psionische Vernetzung 158
entschlüsseln konnte. Was er wusste war nur eines: Col'Shan-duur war wie aus einem Guss gefertigt. Jede nachträgliche Veränderung mochte das Gesamtsystem schädigen. Vielleicht war sogar das Bordgehirn von der Mutation betroffen und konnte deshalb keine verständlichen Hin weise mehr geben. Das Gewirr in Virrocs Verstand wurde größer und ständig unüber sichtlicher. Was sollte er nun tun? War es nachträglich als Fehler zu klassifizieren, sich mit Bewohnern der Ebenen verbündet zu haben, um deren eigene Landsleute zurückzuschlagen? Hätte er sich nicht auf ihre Stufe hinab lassen und dem Schicksal freie Hand lassen sollen? Wo möglich hätten sich alle Völker gegenseitig ausgelöscht oder wären an Gon'O'locc-uurs Abwehrmaßnahmen kläglich gescheitert. Hatte er ih nen tatsächlich zu viel Spielraum geschaffen und damit die Saat seines eigenen Untergangs ausgebracht? Wie hing alles zusammen? Und: Ließ sich denn jetzt überhaupt noch ein Zusammenhang feststellen? Virroc kehrte in die Wirklichkeit zurück. Er kauerte im Kuppeldom, flankiert von seiner bunten Gefolgschaft. Jongo, der Dürre. Belcheq, der Feiste. Vandan, der Blaue. Suk-Suk, der Schnelle. Dazu eine Hand voll mehr, die sich aus Fremdrassen rekrutierten und deren Namen Virroc sich nicht mehr vergegenwärtigte. Die Stimme des Bordgehirns brach in die Stille ein. Schneidend und hektisch, wie es Virroc vorkam, obwohl Gon'O'locc-uur gleichmä ßig intonierte. »Kursabweichung. Ausfall der Steuerung.« »Was hat das zu bedeuten?«, schrak Virroc hoch. »Behebe gefäl ligst den Schaden!« »Das ist leider nicht möglich. Die befallenen Sektoren verweigern die Zusammenarbeit.« »Du sollst nicht bitten, sondern fordern!«, wurde Virroc unbe herrscht. »Es sind bloß abhängige Maschinenteile!« Am liebsten hätte sich Virroc auf die Zunge gebissen. Ihm war na türlich klar, dass exakt das Gegenteil der Fall war. Wenn die Symbiose aus kohlenstoff- und silikatbasierten Verbindungen gestört war, konnte auch Gon'O'locc-uur auf die Schnelle keine Abhilfe schaffen. 159
Warum nur hatte er die anderen fortgeschickt? Warum drängte es ihn permanent dazu, einsame Entscheidungen zu treffen? Suchte er die Last großer Verantwortung, um sich als Führer hervorzutun? Such te er die Rechtfertigung für seine enorm lange Existenz? Glaubte er, alles besser zu wissen und daher die Meinung seiner Gefährten über gehen zu können? Er konzentrierte sich wieder auf den Stimmenwind in seinem Verstand, der nicht zur Ruhe gekommen war und erst verebbte, als gesagt worden war, was es zu sagen gab. * »Das geht niemals gut!«, hörte Virroc seine eigenen Worte wie aus weiter Entfernung. Die Geschwindigkeit des Sterntetraeders hatte sich auf ein Viertel der Lichtgeschwindigkeit reduziert. Trotzdem war er noch viel zu schnell. »Wir haben die Bahn des vierten äußeren Planeten tangiert«, er läuterte Gon'O'locc-uur gelassen. »Entfernung bis Gh'Ea?« »Eins Punkt vier Milliarden Kilometer.« Jongo und die anderen Inkarnierten warfen sich betroffene Blicke zu. Seit das Bordgehirn die Gegenschubmaßnahmen hatte einleiten können waren mehr als zwei Tage vergangen. Gemessen an dieser Zeit würden sie es nicht schaffen, die Kollision mit Gh'Ea zu ver hindern. Oder sie schossen über ihr Ziel hinaus und verglühten in der Sonne. Oder sie strandeten im Leerraum, ohne die Chance zu haben, jemals einen Planeten zu erreichen. Gute dreihundert Minuten bis zur endgültigen Entscheidung, dach te Virroc grimmig. Verdammt, was war denn nur los mit Col'Shan duur? Warum verweigerte die Arche ihren Dienst? Handelte es sich tatsächlich um Altersschwäche oder waren die eigenartigen Ausfälle auf die unerklärlichen Gewebemutationen zurückzuführen? Tat Gon'O' locc-uur wirklich alles ihm Mögliche, um eine drohende Katastrophe zu verhindern? Virroc hatte sich diesbezüglich mit seinen Vertrauten bera 162
ten. Sie teilten seine Besorgnis, doch eine schlüssige Antwort hielten auch sie nicht parat. Eineinhalb Stunden später wurde der Sterntetraeder in seinen Grundfesten derart erschüttert, dass Virroc befürchtete, das tausend Kilometer durchmessende Schiff würde zerbrechen. Ohrenbetäubender Lärm hallte durch die Zentralekuppel. Die fünf Anwesenden wurden brutal durchgeschüttelt und beiseite geschleudert, als wären sie ge wichtslos. »Bei allen Göttern!«, befleißigte sich Virroc eines Stoßgebets, das er auf irgendeiner Ebene aufgeschnappt hatte. »Gon'O'locc-uur! Mel dung!« »Frontalzusammenstoß mit einem der neunundzwanzig Trabanten des systemgrößten Planeten«, folgte ein Kurzbericht. »Unsere Ge schwindigkeit wurde von knapp 75.000 Sekundenkilometern auf 11.821 Sekundenkilometer gedrosselt. Der Mond wurde zerstört.« Aller Augen begegneten sich und Virroc sprach aus, was alle ver muteten: »Col'Shan-duur hat demnach keine größeren Schäden da vongetragen?« »Die Außenhülle hat standgehalten. Keine irreparablen Defekte. Du brauchst dich nicht zu sorgen.«
Diese Entscheidung solltest du besser mir überlassen.
Für Virroc war klar ersichtlich, dass sie es noch nicht überstanden hatten. * Das Bild, das Gon'O'locc-uur in den Kuppeldom projizierte, zog die ehemaligen Evolutionäre augenblicklich in seinen Bann. »Das also ist Gh'Ea«, flüsterten Belcheq und Vandan wie aus ei nem Mund. Auch Virroc zeigte sich fasziniert. »Nach unserem Start war es nur ein Gedanke und nun steht diese jungfräuliche Welt in voller Blüte.« Achtzehn Stunden waren seit der Kollision mit dem Zwergmond vergangen. Durch das drastisch verringerte Reisetempo hatte sich der 163
Flug in die Länge gezogen. Zwischenzeitlich war es dem Bordgehirn gelungen, die Geschwindigkeit um zusätzliche vierunddreißig Prozent zu senken, so dass der Sterntetraeder nunmehr mit achtundzwanzig Millionen Stundenkilometern dahinraste. »Wir klinken uns in die Mondumlaufbahn ein und werfen einen Gravitationsanker«, gab Virroc bekannt. Suk-Suk sah ihn an wie ein Gespenst. »Hat Gon'O'locc-uur das abgesegnet?« »Im Ernst«, ereiferte sich nun auch Jongo, »das scheint mir sehr riskant.« »Das Risiko ist weitaus geringer, als es aussieht«, schritt das Bordgehirn ein. »Demgegenüber sind die Konsequenzen eines nur be dingt berechenbaren Vorbeiflugs schwerwiegender.« »Ich lege die Fixierung des exakten Manöverzeitpunkts in deine bewährten Hände«, zeigte sich Virroc zuversichtlich. »Projiziere bitte eine Realzeitaufzeichnung unserer Kursbewegung auf den Haupt schirm.« Das Hologramm löste sich auf. Im Kuppeldom entstand ein Halb panorama des voraus liegenden Weltraums. Gh'Ea und sein Mond wa ren winzige Punkte zwischen den Sternen und nur dann zuerkennen, wenn man wusste, wo man zu suchen hatte. In der Zentrale wurde ein Donnern laut. Ganz kurz. »Der Gegenschubgenerator ist angesprungen«, verkündete Gon'O'locc-uur in die plötzlich entstandene Stille, die einzig vom be schleunigten Atmen der fünf Evolutionäre erfüllt war. Jeder rechnete insgeheim damit, dass in der allerletzten Sekunde noch etwas schief gehen würde. »Sein Leistungsintervall von 0,7 Sekunden hat uns eine weitere Geschwindigkeitsverzögerung von 6,3 Prozent eingebracht.« Der Wert war zwar gering, bedeutete aber trotzdem einen echten Vorteil. Jetzt kam es nur darauf an, dass Gon'O'locc-uur den Anker präzise warf. Gh'Ea war inzwischen mit bloßem Auge vor dem Schwarz des Weltalls auszumachen. Auch der Mond war deutlich sichtbar. Die ent scheidende Phase war angelaufen. 164
Virroc zählte im Geiste die Sekunden mit, die sie unaufhaltsam voranjagten. Jeden Moment erachtete er als den richtigen, um den Gravitationsanker zu aktivieren. Warum wartete Gon'O'locc-uur so lange? Misstraute er seinen ei genen Berechnungen? War er eventuell sogar unsicher? Es gab eine Menge Faktoren, die das Gelingen des gewagten Manövers beeinfluss ten: Geschwindigkeit des Schiffes, Eintritt in die Bahnekliptik, Auspege lung des hypersensiblen Magnetfeldes. Jetzt!, schrieen Virrocs Gedanken. Jetzt ist es so weit! Dumpfes Dröhnen, heftiges Vibrieren, das Quietschen und Knarren von starren Streben und Wänden, die einem ungeheuerlichen Druck entgegenwirkten. Wieder fanden Virroc und seine Männer keinen Halt, stürzten zu Boden oder gegen Konsolen. Für mehrere Sekunden liefen die Gravita tionsverhältnisse in dem Sterntetraeder aus dem Ruder. Das Bordge hirn steuerte Billionen unterschiedlicher Funktionen gleichzeitig und brachte Col'Shan-duur schließlich zur Ruhe. »Gravitationsanker gesetzt, meine Herren.« Jongo und Belcheq stießen erleichtert die Luft aus. Virroc schüttel te seinen Kopf, um den Schwindel darin zu vertreiben. Vandan und Suk-Suk halfen sich gegenseitig auf. »Die Exzentrizität der Mondbahn hat sich um ein Grad und ein undzwanzig Minuten verschoben«, meldete Gon'O'locc-uur. »Falls es jemanden interessiert«, fügte er süffisant hinzu, »hat dies außer klei neren Beben keinerlei Effekte auf Gh'Ea gehabt. Die Bewohner werden gut damit klarkommen.« Die Bewohner, belächelte Virroc die Bemerkung und studierte be reits die ersten Oberflächenbilder des blauen Planeten. Kurzschwänzi
ge und langhälsige Monstrositäten, die die satten Urwälder durchstrei fen, die Meere durcheilen und die Lüfte bevölkern.
»Seht es euch gut an«, stellte sich Virroc vor die Panoramaschir me und breitete die Arme aus, als hätte er dies alles geschaffen, »das ist eure neue Heimat. Ein ganzes Universum von Gho-tro'onh entfernt haben wir als Einzige der gewaltigen Flotte aus Raumarchen den Zent rumspunkt erreicht. Nennt es höhere Fügung oder wie ihr wollt. Ich 165
nenne es eine großartige Aufgabe. Der Acker ist bereitet, neue Früchte hervorzubringen.« »Ich weiß, was du meinst«, trat Jongo hinter ihn. »Im Schoß der Erde soll der neue Keim reifen.« »Wenn er erst sprießt«, führte Virroc die Vision fort, »wird Gh'Ea ein leuchtendes Fanal der Hoffnung für den gesamten Kosmos.« Er holte sich in Erinnerung, was er von dem vergeistigten Kollektiv erfah ren hatte. »Bald schon wird das Saatgut Mensch aufgehen und die Blüte Gh'Eas zu neuer Pracht führen.« »Mensch«, murmelte Belcheq im Hintergrund. »Ist das ihr Na me?« »So sollen sie heißen. So sollen sie sein. Einzigartig.« »Welche Rolle hat das Kollektiv uns dabei zugedacht?« Virroc schmunzelte. »Siehst du es nicht? Hier ist ein Schiff mit Milliarden Lebewesen, die es zu einen und zu behüten gilt. Dort ist eine Welt, deren Entwick lung unserem Können obliegt. Sie ist wie ein Kind, das erzogen, dem eine Richtung gezeigt werden muss. Und nun stelle deine Frage aufs Neue. Wenn du kannst...« »Nein, nein«, wehrte Belcheq mit sanftem Lächeln ab und blickte Virroc fest in die Augen. »Ich habe schon verstanden.« Er sah zu Jon go, dann zu Vandan und Suk-Suk. Alle drei nickten ihm zu. »Gh'Ea«, sagte er leise und würdevoll, als er das saftige Grün und das makellose Blau in der Weitwinkelaufnahme verinnerlichte, »du bist wunderschön...« * Warum werden diese Informationen geheim gehalten, Wächter?
‹Um sie vor einer Infektion zu schützen. Die mutierte Biomasse Col'Shan-duurs machte diesen Schritt notwendig.› Meine Beteiligung an derartigen Unterfangen ist mir absolut unbe kannt.
‹Restriktionen dienen nicht dem Autoritätsverlust, sondern dem Schutz. Auch dem deinen, Gon'O'locc-uur.› 166