John Updike
Gegen Ende der Zeit Deutsch von Maria Carlsson
Rowohlt
Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel Toward the End of Time im Verlag Alfred A. Knopf, New York. Umschlaggestaltung Walter Hellmann Abbildung: «Escalator» (1970) von Richard Estes
1. Auflage September 2000 Copyright © 2000 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Toward, the End. of Time Copyright © 1997 by John Updike Alle deutschen Rechte vorbehalten Satz aus der Galliard PostScript, PageMaker Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 498 06876 8 Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
Vertraut nur mit Gott, sehnen wir uns danach, uns durchdringen zu lassen von jener gelegentlichen Leere, durch welche das Übernatürliche fließt. Charles Wright
«Lives of the Saints»
Wir können nicht mit Gewissheit sagen, dass wir uns ständig in ein zweifaches Selbst aufspalten, denn unser Bewusstsein gleitet nur auf einem Strang der endlos sich teilenden Ketten hin. Martin Gardner
«Wap, Sap, Pap, and Fap »
Inhalt I. Das Reh 9 II. Das Puppenhaus 84 III. Die Abmachung 171 IV Die Tode 273 V Die Dahlie 373
I. Das Reh Der erste Schnee: in diesem Jahr fiel er Ende November. Gloria und ich wachten morgens auf und sahen zartes, ein, zwei Zentimeter dickes Weiß auf den Zweigen der Eiche vor dem Badezimmerfenster, auf der kurvigen Zufahrt unten und auf dem Rondell, um das die Zufahrt herumschwingt – das Laub noch nicht zusammengerecht, das Gras noch grün. Ich suchte in mir nach einer aus der Kindheit übrig gebliebenen Spur von Fröhlichkeit bei dem Anblick, aber da war nichts, nur das aufgestachelte Bewusstsein, dass ich mit meinen Hausherrnpflichten im Rückstand war, und eine diffuse Angst vor der Zeit an sich, der Zeit, die unaufhörlich eine Jahreszeit nach der anderen heranschafft und die mir nun das hier gebracht hatte, diesen üppigen leuchtenden neuen Tag, einer frisch zubereiteten Mahlzeit gleich, die im Krankenhaus einem Patienten mit schwindendem Appetit serviert wird. Aber lässt der Appetit auf neue Tage wirklich jemals nach? Eine Stunde später war ich in fröhlicher Stimmung und schippte meine Veranda und die einzelne lange Granitstufe mit der neuen orangeroten Plastikschaufel frei, einem billigen Ding, das wie ein Baggerlöffel geformt war und sich viel müheloser handhaben ließ als die sperrigen Metallschaufeln meiner Kindheit, an denen der Schnee immer backen blieb und die diese schrapenden hochgebogenen Kanten hatten. Schneeschaufeln aus Plastik sind eine Verbesserung – hält man das für möglich? Die Welt wird nicht nur schlechter. Von leichtem Gewicht, ließ die Schaufel funkelnde Flocken in die stille Luft und auf die nickenden Leucothoen in der Rabatte stieben. Früher haben dort aufgeplusterte Eiben gestanden – der vorige Besitzer hatte sie unterhalb der Fenstersimse gepflanzt, aber im Lauf der Jahre waren sie so gewach9
sen, dass sie die Fenster verdeckten und das Wohnzimmer verfinsterten. Meine Frau, die dynamische Gloria, hat Männer kommen lassen und ihnen befohlen, die Eiben zu roden und sie durch kleine Büsche zu ersetzen, die nun auch immer zotteliger werden. Die Natur gibt einfach keine Ruhe. Die kurzlebigen Funkelflocken schienen eine Mikrosekunde lang in die Luft graviert. Die Wetterfahne auf der Garage, eine kupferne Stockente im Augenblick des Landens – Flügel angehoben, Schwimmfuße gespreizt –, zeigte nach Westen, in einen Wind, der zu schwach war, als dass man ihn hätte spüren können. Der Schnee war zu früh gefallen und so spärlich, dass man noch nicht den Räumdienst (unsere Gartenpflegefirma in ihrer Wintergestalt) bestellen konnte; ich hatte ja noch nicht einmal die Reflektorpfähle an der Zufahrt aufgestellt. Aber diese ein, zwei Zentimeter machten dem Fahrer des FedEx-Truck offenbar Angst, denn irgendwann an diesem stillen Morgen lag zwischen der Windfangtür und dem Eingang ein steifer lila-orange-weißer FedEx-Umschlag, ohne dass der Lkw die Zufahrt heraufgerumpelt wäre. Wie kam der Umschlag – er enthielt einige Wertpapiercoupons, die keine Eile hatten – dorthin? Bis zum Nachmittag, als ich zum Briefkasten hinunterging, waren etliche Lieferwagen und Autos, einschließlich eines, das umsichtig von meiner Frau gesteuert wurde, den Hügel hinauf- und hinabgefahren. Erst auf dem Rückweg entdeckte ich – zwischen den beiden breiten, von Reifenprofilen hinterlassenen Furchen – die Fußspuren. Es waren nicht meine. Meine Stiefelsohlen haben ein unverwechselbares Muster, ein Gitter aus Bögen und Horizontalen, wie die Breiten- und Längengrade auf einem Globus. Und die Fußabdrücke waren zu weit auseinander für mich, meine Schrittweite passte nicht, obwohl ich nicht kurzbeinig bin und einen durchaus energischen Gang habe. Aber ich konnte meine Beine strecken, sosehr ich wollte, ich schaffte es nicht, meine Stiefel auf die länglichen Spuren zu setzen, 10
die von diesem Anderen stammten. War ein Riese in mein Gebiet eingedrungen? Ein Engel, der vom Himmel gefallen war? Schließlich kam ich drauf: der FedEx-Fahrer (oder die Fahrerin, vielfach sind es Frauen, in polizeimäßigen graublauen Uniformen) hatte sich am Morgen mit dem breiten Lkw nicht den bergauf führenden Windungen unserer Zufahrt anvertrauen wollen und war ausgestiegen und zu Fuß gelaufen. Er – es war ein Mann gewesen, keine Frau hätte mit solchen Riesenschritten bergauf rennen können – hatte den unbarmherzigen Druck der Zeit verspürt. Doch obwohl ich das Rätsel gelöst hatte, blieb die Vorstellung, ein übernatürliches Wesen sei gekommen, in mir haften, als ich ins Haus stapfte und die Post, die geistige Hauptmahlzeit meines Tages, auf dem Küchentisch ausbreitete. Vielleicht sollte ich nicht «geistig» sagen, eher «gesellschaftlich», oder «kommunikativ» – seit meinem Rückzug aus der Finanzwelt Bostons spreche ich oft tagelang mit niemandem, außer mit meiner Frau. Ich habe einige Klienten von früher behalten und nehme bei Transaktionen für sie und mein eigenes Wertpapierdepot häufig die Hilfe von FedEx in Anspruch. Einst bediente ich mich mit Vergnügen der Erfindungen von Fax und E-Mail, aber als ich in den Ruhestand ging, kappte ich sozusagen den Draht. Ich wollte zurück zur Natur und meinen eigenen menschlichen Grundlagen, bevor ich allem Adieu sagte. Das ahnungsvolle Gefühl, bei dem FedEx-Fahrer handle es sich um ein übernatürliches Wesen, war nicht bloß der Wahn eines alternden Mannes: Geschöpfe, die anders sind .als wir, existieren ja durchaus, und manche von ihnen sind ziemlich groß. Wale, Elefanten, Nashörner, bengalische Tiger, die noch nicht ganz ausgestorben sind, obschon die wenigen verbliebenen sibirischen Tiger im letzten Krieg dran glauben mussten. Giraffen und Elche, diese ragenden Kreaturen, haben gar eine Blütezeit. Rehwild sucht unser Anwesen heim. 11
Wenn ich unsere Zufahrt hinunter- oder heraufgehe, sehe ich manchmal ein besonders kühnes Reh im Wald – eine große, starkschenkelige Ricke, stumpf graubraun wie ein Kaninchen, die reglos verharrt, als wolle sie mit den Schatten der Bäume verschmelzen. Sie starrt mich an, so unverwandt, dass ich es fast als Anmaßung empfinde und nicht als wachsame Vorsicht. Ihr Herz muss rasen. Meines rast. Wenn ich etwas sage oder so tue, als wollte ich einen Stein werfen, macht sie kehrt und flieht. Der leuchtend weiße Spiegel, der sich dann zeigt, ist bestürzend. Bestürzend sind auch die weißen Säume ihrer großen runden, wie Parabolantennen sich drehenden Ohren über den schwarzen feuchten Kugelaugen. Gloria teilt meine Verzauberung nicht, deshalb erzähle ich ihr nichts von diesen heimlichen Begegnungen. Sie schimpft über diese armen Rehe, die im Frühling die Tulpensprossen abgenagt und im September die Rosensträucher aller Blüten beraubt haben. Wer hätte gedacht, dass Rehe Rosen fressen? Meine Frau möchte, dass die Rehe getötet werden. Sie telefoniert herum, auf der Suche nach Männern mit Gewehren oder Pfeil und Bogen und einem atavistischen Hunger nach Wildbret und der Geduld, stundenlang auf einem Ansitz auszuharren, den sie in den Bäumen bauen werden; sie hat von solchen Männern munkeln gehört. So viel planvolle Anstrengung macht mich müde. Meine Frau ist eine Mörderseele. Nachts träumt sie von meinem Tod, und wenn sie aufwacht, umarmt sie in ihrem Schuldbewusstsein meinen Körper mit einer Heftigkeit, die meine eigenen Sehnsuchtsträume zerreißt. Bei Tageslicht pumpt sie mich mit Vitaminen und Ratschlägen voll, als wolle sie mein Leben verlängern, aber ich kenne die Wahrheit ihrer Träume: sie möchte, dass wir tot sind, ich und die Rehe. Mehr Schnee Anfang Dezember. Heute Morgen, als ich mich zu Vivaldis Vier Jahreszeiten anzog, dem Klang der schim12
mernden, ihr Äußerstes gebenden Geigen (wonach streben sie? welcher Himmel wartet am Ende ihrer aufgelösten Harmonien?), sah ich ein Reh, einem großen dunklen Hund gleich, zusammengerollt auf dem flachen Fahnenmastpodest liegen, vorn im Rasen, der aufs Meer mit seinen schneebestäubten Inseln hinausgeht. Wir haben eine majestätische Aussicht, Richtung Süden und Südwesten über die Massachusetts Bay hin, und majestätisch war auch der Anblick des ruhenden Rehs. Ich muss gedacht haben, ich sei mit einer anderen Frau verheiratet, nach der arglosen Begeisterung zu urteilen, mit der ich die Aufmerksamkeit meiner wirklichen Frau auf das Reh lenkte. Sie war schlagartig hellwach, zog sich in größter Eile an und drängte mich, ihr die Treppe hinunter zu folgen, obwohl ich noch im Pyjama war. «Zieh einfach Stiefel und einen Mantel an», kommandierte sie. Ich gehorchte, dachte aber doch an mein Alter, mein Herz. Gloria bringt mein Herz zum Rasen, einst vor Verlangen, jetzt vor Angst. Sie stürzte zum Wandschrank unter der Treppe und holte aus dem Versteck dort ihren Korb mit meinen alten Golfbällen. Sie hortet sie, um mit ihnen nach den Rehen zu werfen. Als ich anfangs gegen diese Verschwendung protestiert hatte, führte sie einen Zeitungsartikel an, demzufolge Golfbälle innerhalb weniger Monate, nachdem man sie aus der versiegelten Verpackung genommen hat, ihre Kompressionsdichte verlieren und, wenn sie erst einmal über ein Jahr alt sind, im Grunde keinen Wert mehr haben. Wir gingen also hinaus, sie in ihrem gerechten Zorn und schimmernden Nerz, ich im Pyjama und in Stiefeln und meinem alten Parka mit den aufgeplatzten Nähten, aus denen der Gänseflaum quoll; aber als wir um die Seitenveranda herum durch den knirschenden Schnee angestapft kamen, war das Reh, das sicher schon gehört hatte, wie wir die Haustür öffneten und schlössen, nicht mehr da. «Sieh dir das an», sagte meine 13
Frau, die mit dem Korb unterm Arm das beladene, unschuldige Aussehen einer vorzeitlichen Sammlerin hatte. «Die Spuren sind überall!» Und es stimmte, man konnte deutlich sehen, wie das hungrige Tier, dessen Unschuld nur belastet war mit den Bedürfnissen seines ansehnlichen Körpers, vom Taxus neben dem Rosenbeet hinüber zum Buxus gegangen war, vom Buxus zum runden Liguster beim Vogelbad und vom Vogelbad zum Euonymus drüben bei der Zufahrt, nicht weit von unserer Vordertür. Zu meinen geringfügigeren Konflikten mit Gloria gehört die Unfähigkeit, zu einer Einigung zu gelangen, wo die Vorderseite des Hauses ist und wo die Rückseite. Sie findet, die Seite zum Meer hin müsse als Vorderseite angesehen werden, und ich meine, vorn ist dort, wo die Leute ihre Autos parken und von der Zufahrt herkommen. Vielleicht hat das Haus keine Rückseite und dafür zwei Vorderseiten. Es wendet weder den Besuchern den Rücken zu noch den Ozeanbrisen. Das arme anmutige Geschöpf hatte von jedem Strauch nur einen winzigen Bissen genommen, wie ein Diät haltender Bankettgast, der von jedem Gang bloß kostet. Ich muss leise vor mich hin gelächelt haben – ein Fehler. «Dir ist es schnurzegal», sagte meine Frau, «aber für jeden Strauch, den wir ersetzen müssen, können wir Hunderte Dollar hinblättern!» Wie viele von uns, die über ein bestimmtes Alter hinaus sind, sagt sie «Dollar», wenn sie «Welder» meint, die Massachusetts-Währung, die nach einem berühmten Vorkriegsgouverneur, ausnahmsweise einem Republikaner, benannt ist. Sie korrigierte sich: «Dies Reh wird noch einen Schaden in Höhe von fünfzigtausend Welder anrichten – dann werden wir ja sehn, wie komisch du das Ganze findest.» Immer wenn Gloria das Gefühl hat, ich sträube mich, holt sie die Geldpeitsche heraus; sie kennt mich, ich bin ein armes Kind gewesen, und 14
selbst in meinem wohl gepolsterten Ruhestand reagiere ich noch empfindlich bei dem Gedanken, ich könnte in finanzielle Not geraten. «Finde ich es denn komisch?», fragte ich. Ich bezweifelte das. Habgier, Existenzkampf, Verzweiflung, Tod den anderen Lebewesen: die Kräfte, die die Welt regieren. Unter dem Euonymus hatte früher königsblaue Iris geblüht, aber sein in die Breite gehendes grünes, unzureichend gestutztes Wachstum hatte sie erstickt, auch wenn ihre Rhizome immer weiter vorkrochen und den Rasen ruinierten. «Sieh dir das an, überall hat er hingemacht! Alles ist voll mit kleinen Scheißhaufen!» «Musst du unbedingt <Scheiße> sagen?» In den Tagen unserer jungen Liebe hatte ich es anziehend gefunden, wenn sie das Wort «ficken» benutzte und nicht einen milderen Ausdruck. «Bei Rehen, finde ich, kann man
sagen», schlug ich vor. «Oder .» Gloria sah mich verächtlich an, gönnte mir nicht einmal eine Sekunde lang ungläubige Belustigung. Ihr Gesicht war rosa in der Morgenkälte, ihre eisblauen Augen sprühten unter einer flauschigen Wollmütze, die, gerade aufgesetzt, wie der Hut eines Holzsoldaten, eigenartig schmeichelhaft wirkt. Symmetrie, feine weiße Zähne und monomanes Beharren auf ihrer persönlichen Vorstellung von Ordnung, das sind die Merkmale, mit denen sie auf die Welt einwirkt. Jagen, Spuren verfolgen, den Tod eines Feindes planen, das steht ihr, wie ein Pelzkragen. Als wir noch nicht verheiratet waren und ich noch in der Ehe mit einer andern lebte, kaufte ich ihr einen schwarzen Cashmeremantel mit buschigem grauen Fuchspelzbesatz. Die Verkäuferin, eine Frau in mittleren Jahren, rief: «Das sieht phantastisch bei ihr aus!» – eine Sublimierung ihrer Hoffnung, aus dem Verkauf ein bescheidenes Entzücken zu beziehen und teilzuhaben an einer Vision. Es war in gewisser Weise eine Wohltat; sie leistete uns Vorschub 15
bei unserm Ehebruch. Ich rückte fünfzehnhundert Dollar heraus, so leicht, wie man einen Seufzer ausstößt. Gloria fragte in scharfem Ton: «Kannst du an den Spuren erkennen, wohin er gegangen ist?» Das Tier war mir ganz eindeutig als große Ricke erschienen, aber für meine Frau in ihrem Hass war es ein «Er». Meiner eigenen geistigen Gesundheit zuliebe musste ich mich dieser unerbittlichen, auf Rehvernichtung bedachten Stoßrichtung, die das Universum plötzlich annahm, entgegenstellen. «Was für eine Rolle spielt das? In den Wald, so oder so», sagte ich. Der Wald gehörte teils uns, teils unseren Nachbarn. «Es ist wichtig, das zu wissen», sagte Gloria. Ihre blassen, fast weißen Augen wurden schmal; ihre Killerinstinkte blähten sich wie Nüstern, um die Witterung von einem um sich greifenden Übel auf mich auszudehnen. «Wenn er noch hier gewesen wäre und unsere Hecke voll geschissen hätte, hättest du mir dann geholfen, Golfbälle zu werfen?» «Wahrscheinlich nicht», gab ich zu. Meine Zeit auf Erden wird zum Lügen allmählich zu knapp. «Oh!» Ihr Abscheu hätte nicht physischer sein können, wenn ich ihr eine Probe von meinem eigenen Kot vors hübsche rosa Gesicht gehalten hätte. «Du willst, dass er alles kaputtmacht. Um mir eins auszuwischen.» «Keineswegs», protestierte ich, aber so flau, dass die mögliche Wahrheit ihrer Behauptung sie weiter wurmen würde. «Wenn wir ein Gewehr hätten, würdest du schießen?» Die kalte Luft drang durch den Stoff meines Pyjamas. Der morgendliche Globe lag unten neben dem Briefkasten und wartete darauf, geholt zu werden. «Wahrscheinlich nicht.» Aber ich war mir nicht sicher. In meiner Jugend in den Berkshires, diesen durch Erosion niedriger gewordenen, von Touristen überlaufenen grünen Hügeln, war ich mit einem Sportgewehr Kaliber 5,6 mm umge16
gangen, das einem Freund gehörte, der weniger arm war als ich. Es hatte etwas Erregendes gehabt – das schlanke Gewicht, der beißende Hauch, die große Reichweite. Sie spürte diese Unsicherheit und trieb den Keil ihrer Stimme hinein. «Der Grundstücksbesitzer darf das, verstehst du. Egal, ob Schonzeit oder nicht, es muss nur auf seinem Grund und Boden sein. Schädlinge darf man schießen. Steht so im Gesetz.» «Ich hätte Angst», sagte ich und wusste, das würde sitzen, «dass ich einen Nachbarn treffen könnte. Apropos Geld, Schatz – stell dir den Prozess vor!» An diesem Abend hatten wir vor, de bonne heure zu Bett zu gehen, um miteinander zu schlafen. Auf unsere alten Tage mussten wir Kopulationen, zu denen es einst spontan, ohne Vorbedacht oder Vorankündigung, gekommen war, sorgfältig planen. Auf dem Weg zur Treppe sagte sie: «Werfen wir einen Blick aus dem Fenster, um zu sehen, ob das Reh wieder da ist.» Der Garten war dunkel, ein wolkenverschleierter Mond sandte blassesten Schein aus. Meine Frau sah nichts und wandte sich zur Treppe hin. Einst hätte ich mein gesamtes Hab und Gut, dazu noch meine körperliche Gesundheit und das Glück meiner Kinder hingegeben, um mit ihr ins Bett zu gehen, und selbst jetzt noch war es eine erfreuliche Aussicht. Aber zum Teufel mit meinen Augen, vor der geschwungenen Euonymus-hecke, die oben eine Kruste aus verharschtem Schnee trug, sah ich einen schwarzen Höcker aufragen. Der Schatten bewegte sich, veränderte seine Form wie eine Amöbe im schmutzigen Wasser der Dunkelheit oder wie die ektoplasmische Erscheinung eines früheren Bewohners unseres ehrwürdigen Hauses. «Liebes, er frisst gerade die Hecke», sagte ich sanft. Meine Frau kreischte: «Er macht’s wirklich! Tu doch was! Verdammt, steh nicht bloß da und lächle!» 17
Woher wusste sie, dass ich lächelte? Das Wohnzimmer war so dunkel wie der Rasen vorn mit seinem geisterhaften Herbivoren. «Ich rufe die Pientas an! Es ist noch nicht zu spät dafür! Es ist noch nicht mal halb neun! Ich leih mir Charlies Gewehr! Wir müssen was tun, und du bist zu überhaupt nichts bereit!» Die Pientas wohnen fünfzehn Minuten entfernt. Louise ist mit Gloria zusammen im Gartenclub; Charlie ist von europäisch-bäuerlicher Mentalität und genießt das amerikanische Recht, Waffen zu besitzen. Er hat mehrere Schrotflinten, hauptsächlich für die Entenjagd, und meine Frau, die in ihrem schillernd blauen japanischen Kombi in die Dunkelheit hinausgefegt war, kam mit einem dieser Gewehre und einer halb vollen Pappschachtel Munition zurück. Vom Kirchturm unten im Dorf schlug es gerade neun. «Ich lehne es gleich hier gegen die Rückseite des großen Sessels», sagte sie, «und die Kugeln -» «Patronen.» «- die Patronen bringen wir nach oben in den Flur. Charlie macht das so, damit die Kinder nicht rankönnen.» Wir waren in einer zu misstönenden Verfassung, um uns ans Lieben zu machen; wir lasen stattdessen und weckten einander dann immer wieder auf, weil wir mitten in der Nacht ins Bad mussten. Sie ist zwar jünger als ich, aber ihre Blase hat die Freundlichkeit, im Gleichschritt mit meiner nachzulassen. Es war noch dunkel, als sie zu mir redete, mit einer Stimme, die zwischen zärtlichem sexuellen Flüstern und dem Wimmern eines verängstigten Kindes changierte. «Ben! Er ist wieder am Euonymus! Mach schnell*. Ich hab alles bereitgelegt, Socken, Stiefel, Parka.» Ich hatte gerade von Fotografien geträumt, von Lebensmomenten, die Fotografien waren und in einer MarketingBroschüre für einen Investmentfonds platziert werden sollten, was bedeutete, dass sie auf Briefmarkenformat verkleinert 18
werden mussten, obgleich es Farbfotos waren. Ich kam nicht ganz dahinter, was sie zeigten. Meine Kinder aus meiner früheren Ehe? Deren Kinder? Ich war zehnfacher Großvater. Ich machte mir Gedanken wegen der Druckkosten und beschloss, Firman Frothingham, einem meiner Kollegen bei Sibbes, Dudley und Wise, meine Bedenken angesichts derart unziemlicher Werbung um die breite Öffentlichkeit mitzuteilen. Als Gloria nicht lockerließ in ihrem Bemühen, mich zu wecken, ging mir, mit einem Zerren im Magen, auf, dass ich im Ruhestand und diese Broschüre nicht mein Problem war. Ich sagte – und hoffte, mein Aussprechen der Wahrheit in eine Schläfrigkeitsdecke gewickelt herausschmuggeln zu können -: «Ich will verdammt noch mal kein Reh totschießen.» «Nicht totschießen», sagte sie flehend, «nur über seinen Kopf hinwegschießen, damit er merkt, dass wir ihn hassen. O bitte, Liebling, beeil dich!» Sie bat mich selten mit derartiger Inbrunst um etwas, eigentlich gar nicht mehr, seit wir es vor zwanzig Jahren, mannigfachen gesellschaftlichen Hürden zum Trotz, geschafft hatten, zu heiraten. Immer noch nicht ganz aus meinem warmen, rätselhaften Traum aufgetaucht, fand ich mich draußen im vormorgendlichen Düster, in der Hand die Schrotflinte, die ich mit Mühe, unter Zuhilfenahme uralter Knabenerinnerungen, aufgeklappt und mit einer Remington-Patrone geladen hatte. Doch als ich ums Haus herumkam – ich hatte die Vorder(oder Hinter)tür geräuschvoll geöffnet, und der Schnee knirschte bei jedem Schritt –, war das Reh verschwunden. Ein frischer Kothaufen bildete einen großen dunklen runden Klecks im Schnee bei der Euonymushecke. Meine Frau war im Haus geblieben; sie klopfte gegen die Scheibe und rief mit einer Stimme, die rührend erstickt und winzig durch das zwiefache Glas von Fenster und Sturmfenster drang: «Schieß doch! Schieß!» Es klang wie die Stimme einer Cartoonmaus, 19
die unter einem Glassturz hockt. Unwillkürlich zerknitterte mir ein Lächeln sadistischen Vergnügens das Gesicht. Der Friede der grauen Frühe – die Dämmerung nicht mehr als ein dünner lachsfarbener Streif links, nach Osten zu, über dem Meereshorizont, unter einem schräg stehenden Mond – hatte etwas Heiliges, an das ich nicht rühren mochte. Und ich mochte meine schlafenden Nachbarn nicht erschrecken. Uns gehören viereinhalb Hektar, aber vom Haus aus erstreckt das Land sich nur in zwei Richtungen. Die Kellys wohnen kaum einen Wedge-Shot entfernt, auf der anderen Seite einer breit verzweigten Buche, für die Dunhams braucht man einen soliden Schlag mit Eisen drei den Wald hinunter zu den Bahngleisen hin und für Mrs. Lubbetts, in der anderen Richtung, einen guten Drive und dann vielleicht einen Schlag mit Eisen fünf direkt aufs Meer zu. Ich stapfte umher, bereit, über ihren Kopf hinwegzuschießen, falls die Ricke sich blicken ließ; aber das Dreihundertsechzig-Grad-Panorama war jungfräulich still, bis auf das rührende Spektakel, das meine Frau in ihrer Wut und Enttäuschung drinnen im Haus veranstaltete, gefangen und erstickt hinter Glas. Wenn ich mich aufgrund irgendeines verrückten, spontan erfolgenden Quantensprungs umdrehte und auf das Wohnzimmerfenster feuerte, würde es ein scheußliches Durcheinander von Glasscherben und zersplittertem Holz geben, aber voraussichtlich keinen sauberen Unglücksfall. «Du elender Feigling», sagte sie, als ich wieder ins Zimmer kam. «Du hast nichts getan!» «Ich wollte die Nachbarn nicht aufwecken.» Ich registrierte, während ich dies sagte, eine gewisse Eigentümlichkeit an mir, eine Empathieverschiebung: ich konnte mit meinen schlafenden Nachbarn und mit dem hungernden Reh fühlen, nicht aber mit meiner erregten Frau und ihrer wehrlosen Hecke. «Die Euonymushecke», erläuterte sie mir, als ich, gleichsam um mich zu rechtfertigen, dieser Wahr20
nehmung Ausdruck gab, «kann weder weglaufen noch sich verstecken; sie kann nur dastehen und sich fressen lassen.» Genauso wie Gloria nichts anderes tun konnte, dachte ich, als zu versuchen, mich zu dirigieren und zu motivieren; verbissenes weibliches Gezerr und Genörgel ist die Strafe, mit der wir Männer für unsere viel beklagten Privilegien büßen: für die Macht, die Mobilität, den Penis. Julian Jaynes meint, dass bis vor etwa dreitausend Jahren die Menschen sich in Trance bewegten und Anweisungen unmittelbar von den Göttern erhielten. Als meine Frau zur Arbeit gegangen war – sie arbeitet noch, in einer Geschenkboutique, die ihr zu einem Drittel gehört, während ich im Haus vor mich hin dämmere und dann und wann wie auf Geheiß diese Notizen niederschreibe –, hielt ich pflichtschuldig Ausschau nach dem Reh, der Ricke. Sie ließ sich nicht blicken, den ganzen Tag nicht, über dem sich ein stumpfer, lustlos Schnee spuckender Himmel wölbte. Gegen Abend jedoch, im Zwielicht, als ich zum Briefkasten hinunterging, sah ich sie – im Augenwinkel, beim Flaggenmast oben, der Schatten eines sich duckenden Kopfes. Bildete ich es mir ein, oder sah ich sie wirklich, ihre aufmerksamen sensiblen Ohren, das fragende Starren? Ich kämpfte mich den Pfad neben der Felsmauer hoch und sah, wie sie sich auf die ungeheizte, possessive Weise, die Tieren eigen ist, davonmachte, in Sprüngen, um die Beine aus dem verharschten Schnee zu heben, an der Garage vorbei in den Wald diesseits der Bahngleise lief. Ich schreibe «possessiv», um das Air spiritueller Erdhaftung zu vermitteln, das schuldlose Inanspruchnehmen des Raums, der für ihr Blut und ihre Eingeweide, ihre Muskulatur und ihr Fell nötig war. Elektrisiert, den Geboten gehorchend, die meine Frau mir eingepflanzt hatte wie winzige Elektroden, lief ich ins Haus, nahm Charlie Pientas Gewehr, klappte es mit hämmerndem 2l
Herzen auf, schob eine grün ummantelte Schrotpatrone hinein und knallte es wieder zu. Ich ging hinaus. Ich war nicht mehr mit einem Gewehr herumgelaufen, seit ich mir damals von Billy Beckett, meinem besten Freund, dessen Vater in einem Sägewerk arbeitete, die 5,6-mm-Knarre geliehen und auf Blechbüchsen und hockende Vögel geballert hatte. Einmal war ein Vogel, der sich in sicherer Entfernung glaubte, wie ein Stein von seinem Zweig gefallen, und als ich zu ihm ging, sah ich, dass ich ihm sauber den Kopf weggeschossen hatte und nur noch ein flaumiger Ball mit Flügeln und der hübschen schwarzweißen Zeichnung einer Weidenmeise übrig war. Ich habe keinen dezidierten Hang zum Töten, aber das Gefühl, dass die Ricke irgendwo im blau getönten Dämmer dort sich meiner Anwesenheit ebenso bewusst war wie ich mir der ihren, war aufregender als alles, was ich in letzter Zeit erlebt hatte, aufregender auch, als mit Gloria zu schlafen. Sie sieht immer noch gut aus mit ihrer Krone aschblonden Haars und kleidet sich mit einer schönen schmalen Strenge, aber das Straffe, Schlankgefügte eines jungen Frauenkörpers lässt sich nun einmal durch nichts vortäuschen. Ihre Anweisungen, denen ich so blind nachkam, wie die Assyrer zu Zeiten König Hammurapis die Gebote Ischtars befolgten, hatten gelautet, dass das Reh mit ein paar Schüssen zu erschrecken sei. Ich hatte die Post unter dem einen Arm – Rechnungen, Kataloge, einige verfrühte Weihnachtskarten – und das Gewehr unter dem andern, als sie plötzlich dastand, seitlich auf der Zufahrt, näher bei mir als die Meise vor fünfzig Jahren. Ich bückte mich langsam und legte die Post auf einem schneefreien Fleck ab (auf dem schwarzen Asphalt schmilzt der Schnee zuerst), richtete mich dann wieder auf, visierte einen Punkt drei Meter oberhalb des Rückens der erstarrten Silhouette an (die Richtung war günstig, die nächsten Nachbarn wohnen eine Viertelmeile entfernt) und drückte ab. 22
Nichts. Der Abzug war wie festgeschweißt. Die Waffe war nicht entsichert. Zitternd, aber ohne Panik untersuchte ich das für mich ungewohnte Gewehr, fand jedoch keinen Hebel, nur den zum Entspannen, und begriff schließlich, dass ich den Hahn mit dem Daumen spannen musste. Ich machte zwar keinerlei Geräusch, aber meine Hast und meine Verkrampftheit müssen einen Geruch erzeugt haben, der sich der Ricke mitteilte, denn mit einer jähen, erstaunlich mühelosen Kraft setzte sie über die Mauer hinweg – niedrig auf der Zufahrtsseite, zweieinhalb Meter tief auf der anderen – und verschwand im rehfarbenen Wald. Ich feuerte blindlings ins Dämmer zwischen den Bäumen, wo sie untergetaucht war. Das Geräusch war enorm – entschieden, absolut – und der Stoß gegen meine Schulter grob und unvermutet. Eine volle Minute lang, so kam es mir vor, drang ein leises Prasseln aus dem Wald, wie von Graupeln, als die Schrotkörner niederfielen und trockene, von der Salve abgerissene Blätter (die Eichen und Buchen halten ihr Laub praktisch ewig fest) herabwehten auf die kalte stille Erde, den Waldboden, dessen gangbare Pfade und Verzweigungen in der steigenden Flut der Dunkelheit versanken. Meine Post glimmerte auf der Zufahrt wie weißer Kot. Die heimkehrende Gloria war begeistert, als sie hörte, dass ich mit Charlie Pientas Gewehr doch noch geschossen hatte. Sie küsste mich mit Killerinbrunst. Dermaßen belohnt und animiert, machte ich nach dem Abendessen einen Kontrollgang durch den Garten, nur für den Fall, und tatsächlich, da stand, als Schattenriss gegen den Schnee gezeichnet, das hungrige Reh und knabberte am runden Ligusterbusch neben dem Vogelbad. Ich hob das geladene, entsicherte Gewehr und feuerte in die Luft, hoch, aber nicht so hoch, dass ich nicht Grund zu der Annahme gehabt hätte, ein paar Kügelchen würden sie in die Seite treffen. Zu meinem Erstaunen rührte die Ricke sich nicht. Sie schnupperte einfach wei23
ter am Busch herum und putzte die äußersten Blättchen weg, ähnlich wie eine Ehefrau deine lebhaftesten Argumente ignoriert, weil sie sie schon kennt. Erst als ich mich von der Empörung meiner wirklichen Ehefrau anstecken ließ und auf die Kreatur zuging, als wollte ich sie erwürgen oder mit dem Gewehrkolben auf sie einschlagen, machte sie sich, mit undeutlichem Auf- und Abwogen ihres lang gestreckten Kopfes, in leichten Sprüngen davon, als sei sie aus einer Trance erwacht. Zur Belohnung dafür, dass ich ihre Partei ergriffen hatte, gegen das Reh, erbot meine Frau sich, mit mir zu schlafen, die Stellung dürfe ich mir selber aussuchen. Ich mag es, wenn sie auf mir sitzt und das Stoßen besorgt, und als Wohltat empfinde ich es auch, sie von hinten zu vögeln und keinen Gedanken an ihren Orgasmus zu verschwenden. Aber als wir schließlich zu Bett gingen – erst aßen wir, sahen die Networknachrichten, schauten kurz bei Kanal Zwei rein, lasen ein wenig (ich Scientific American, sie die Weihnachtsgeschenkkataloge der Konkurrenz) –, waren wir beide zu schläfrig, um unser neues inniges Einvernehmen in die Tat umzusetzen. Draußen in der Dunkelheit, ein schwanker Fleck Leben auf dem blauen Schnee, äste möglicherweise die Ricke, die weiche Nase verzückt ins kühle Wintergrün vergraben, ihr genügsamer Hirnstamm eingetaucht in einen Traum vom Schlaraffenland für Herbivoren. «Möglicherweise»: das Wort ist wie die kleine Gabelung in der Realität, wenn eine Quantenmessung vorgenommen wird. Jedes Mal, wenn wir entweder den Ort oder den Impuls eines Elementarteilchens messen, wird, nach der heisenbergschen Unschärferelation, die Bestimmbarkeit des jeweils anderen Faktors beeinträchtigt. Die Wellenfunktion des Teilchens kommt zum Erliegen. Unsere Beobachtung ist beschränkt auf unser eines Universum. Aber, so versichern einige Kosmologen, das System – Teilchen, Messapparat und Beobachter umfassend – bleibt auch in anderen möglichen 24
Erscheinungsformen bestehen, in Paralleluniversen, die in diesem Augenblick des Messens abgezweigt sind. Man nennt das die Theorie «vieler Welten». Sie ist intellektuell abstoßend, was nicht bedeutet, dass sie nicht wahr wäre. Wahrheit kann intellektuell abstoßend sein. Aus den nämlichen quantentheoretischen Beweisführungen ergibt sich die Möglichkeit, dass unser Universum, aus dem Nichts geboren, aufgrund der die Schwerkraft aufhebenden Eigenschaften eines «falschen» Vakuums sich augenblicklich so monströs aufgebläht hat, dass die wirklichen Grenzen des Weltalls unendlich viele Lichtjahre jenseits der Materie liegen, von deren Vorhandensein wir uns mit unseren stärksten Teleskopen zu überzeugen vermögen. Roger und Henry, die beiden Söhne meiner Frau, und Carolyn, ihre Tochter, sind zusammen mit Rogers Frau Marcia und Carolyns Mann Felix über Weihnachten zu uns gekommen. Es ist nett, wenn das große alte Haus unter den Schritten anderer bebt und vom Gemurmel mannigfaltiger Familiendiskussionen erfüllt ist. In allen Zimmern, sogar oben im zweiten Stock, duftet es durchdringend nach Holzrauch; die jungen Männer legen immer wieder Scheite nach im Wohnzimmerkamin, den meine Frau und ich kaum je benutzen. Wir wollen nach dem Abendbrot und den Nachrichten einfach nur nach oben ins Bett. Oft sind wir schon um acht in Pyjama und Nachthemd; wir haben einen Spaß daraus gemacht – «Verdammt, du hast schon wieder gewonnen!» –, als sei es eine sportliche Veranstaltung, der Wettlauf ins Bett. Aber in Wahrheit veranstalten wir einen ernsteren Wettlauf: den in den Tod. Wer von uns wird zuerst sterben? Wir mustern einander täglich und taxieren die Chancen. Ich habe ihr eine Vorgabe von fünf Jahren eingeräumt, aber zwei meiner Großeltern sind neunzig geworden – Leute aus den Bergen oben bei Cheshire, zäh wie luftgetrocknetes Rindfleisch. Als 25
meine Mutter starb und ich ihr karges Erbe antrat, vermachte ich die blinzelnden, dünnlippigen Porträtfotos ihrer Eltern der Historical Society in Pittsfield. Aber ich bin nie wieder hingefahren, um nachzusehen, ob sie dort an der Wand hängen. An Weihnachten war von Charlie Pientas Schrotpatronen bloß noch eine übrig, alle anderen waren draufgegangen beim Versuch, die Ricke zu verscheuchen; aber sie kam immer wieder und knabberte an den Büschen, im Morgen- oder Abenddämmer, wenn der Schnee blau war. Schnee, der so früh im Jahr fällt, bleibt lange liegen; er sackt in sich zusammen und wird hart. Alle Hoffnung fahren lassend, dass ich noch etwas ausrichten könnte, ließ meine Frau ihre Gartenclubbeziehungen spielen und machte die Bekanntschaft eines jungen Mannes aus Maine, der seine Kindheit und Jugend mit Jagen verbracht hatte und Rehbraten liebte. Schmal, höflich stand er auf der Zufahrt und hörte sich Glorias Geschichte von der Wildplage an. Obgleich die Jagdsaison vorbei war, versprach er, gleich nach Weihnachten wiederzukommen und zu sehen, was sich machen ließ. Er fuhr einen tomatenroten Pick-up, einen Toyota. Sie sagte mir im Vertrauen, sie halte ihn für zu jungenhaft für diese Aufgabe; sie wollte, dass ihr Jäger groß und stark und grau sei – ein Zwilling von mir, nur nicht so renitent im Wesen. Am sechsundzwanzigsten mussten wir zum Boxing-DayFestessen, zu dem ein befreundeter englischer Immigrant uns jedes Jahr einlud. Meinen Stiefkindern und deren Angetrauten schärften wir ein, im Haus zu bleiben, damit sie nicht erschossen würden. Wir machten nervöse Witze: sie sollten bloß nichts Rehledernes tragen und ihre Hörner einziehen. Die ganze Zeit, während wir beim Boxing-Day-Lunch saßen – Lamm, Broccoli in Sahnesauce, Birnentorte –, malten wir uns ein Blutbad aus, das dem Essen jeglichen Geschmack nahm. Aber als wir Viertel nach vier, im Halbdunkel, zurück26
kamen, war alles ruhig. Auf der Zufahrt waren die Spuren von Lastwagenreifen, aber weit und breit kein Pick-up und nirgendwo Blut im Schnee. Unsere fünf Gäste waren friedlich ums Feuer im Wohnzimmer versammelt und lasen ihre Weihnachtsbücher. Marcia – die so viel Ähnlichkeit mit Carolyn hat, das gleiche glänzende, glattgebürstete braune Haar, die gleiche gerade Nase und aristokratische Stirn, die gleiche selbstbewusste Offenheit des Ausdrucks, dass ich ständig vergesse, welche von beiden Glorias Tochter ist und welche ihre Schwiegertochter – blickte auf und sagte, ihren schleppenden Philadelphia-Ton anklingen lassend: «Wir haben keinen einzigen Schuss gehört. Es hat viel feierliches Hin- und Hergestapfe gegeben, aber keinen Schuss. Tut mir leid, ihr beiden.» Abermals kam es mir so vor, als befänden wir uns gewissermaßen auf einem Möglichkeitszweig und als gebe es einen anderen, auf dem etwas getötet worden war und auf dessen weiteren Verzweigungen dann vieles umkam, alles – ein Universum schwarz von Tod. Dieses Universum, erkannte ich, indes das Holzfeuer funkenstiebend in sich zusammensank, war eines, das uns allen mit Sicherheit bestimmt war. Wir müssen entsetzlich gesündigt haben, irgendwann in unserer protozoischen Vergangenheit, dass wir ein solches Universum verdienen. Ich wünschte inständig, es gäbe nicht diesen grausamen Krieg zwischen dem Reh und meiner Frau. «Das ist doch wohl das Letzte!», sagte Gloria. «Dies Reh ist um diese Tageszeit immer hier! Ich wette, er hat es mit seinem angeberischen blöden Truck verscheucht. Ich fand ja gleich, er sah zu jung aus!» «Es waren zwei Männer, Mom«, sagte Carolyn. «Der ältere war engagierter bei der Sache. Er ist übers ganze Grundstück gegangen und in den Wald und hat nach Rehlosung gesucht.» Noch ein Wort, das netter war als «Scheiße». «Hat er gesagt, dass er wiederkommt?» 27
Es stellte sich heraus, dass niemand zu ihm gegangen war, um mit ihm zu sprechen. Wir hatten ihnen gesagt, sie sollten im Haus bleiben – wir hatten ihnen diese Elektroden in die Köpfe gepflanzt –, und sie hatten gehorcht. Doch sie sind ehrgeizig und intelligent. Alle, bis auf Henry, haben promoviert. Roger und Marcia unterrichten an der University of Pennsylvania, wo sie sich vor dem Krieg kennen gelernt haben. Carolyn und Felix sind schnittiger, sie wohnen am Washington Square, inmitten der Überreste der New York University. Carolyn malt. Dunkler und drei Zentimeter größer als Gloria, erinnert sie mich an ihren Vater, einen Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Boston University, der den Fehler beging, mit seiner Familie in ebendie Nordküstenstadt zu ziehen, in der ich lauerte. Die vier jungen Leute haben alle seine aufrechte Würde, seine Angewohnheit, kurz innezuhalten, bevor sie sich äußern, und einen höflichen Respekt gegenüber der Meinung anderer, der einen mitten im Satz argwöhnen lässt, man liege mit allem ein bisschen falsch. Henry ist weniger akademisch, er wohnt ganz in der Nähe, in Salem, und verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Reparieren von Computern, Videorecordern und Mobiltelefonen. Keines der Kinder hat so recht Glorias fahles Feuer, obschon Marcia und Carolyn mich natürlich doch ein bisschen unruhig machen. So unbezwinglich gepflegt sie in ihrem Äußeren und in ihren Manieren sind, sie scheinen nicht wirklich zufrieden zu sein. Carolyns Bilder grenzen ans Pornographische, und Marcia hat einen Stich ins Kindliche, der sich in einer alarmierenden Babystimme äußert, aus der ich eine verhüllte, gegen mich gerichtete Aggression heraushöre. Wenn ich ihr den flüchtigen Kuss geben will, zu dem mein Stiefschwiegervater-Status mich berechtigt, dreht sie merklich den Kopf weg, drückt den Unterkiefer so fest aufs Schlüsselbein hinunter, dass mein Mund entweder auf ihrem mit Haar bedeckten Ohr landet oder ich 28
mich wie ein Frettchen, das hinter einer Schlange her ist, hineinwühlen muss, um meine Lippen in Kontakt mit ihrer Wange zu bringen; ihre Schulter zuckt dann hoch und haut mir eine unters Kinn. Sie macht sich lustig über die Vorlesungsreihe, an der sie beteiligt ist – «Systemische Dekompensation in Patriarchaten unter besonderer Ber ücksichtigung von Sklavenberichten» –, und spricht wehmütig von einem Leben als Modedesignerin. Ihre Skizzen zeigen hollywoodmäßige Ballroben, aufreizende Abendpyjamas, durchsichtige Blusen, hochgeschlossene Kleider mit Schlitzen bis zur Schenkelmitte. Sie leidet unter Kopfweh und setzt eine Panoramasonnenbrille auf, um den Schmerz zu lindern. Ich frage mich, ob «Kopfweh» eine Chiffre für Menstruationsbeschwerden ist. Es trübt meinen Ruhestandsfrieden, wieder ein menstruierendes weibliches Wesen im Haus zu haben. Zu den Rehbekämpfungsmethoden, die meine Frau ausprobiert hat, gehört das Verstreuen von Menschenhaar auf Hecken und Sträuchern. Ich schämte mich, als ich bei meinem Friseur um ein paar Haarschnipsel bat, aber man gab mir fidel einen ganzen transparenten Müllsack voll von dem Zeug, das Zusammengefegte eines einzigen Tags. Junges glänzendes Haar, schimmerndes rötliches Haar, Haar mit grauen Fäden darin, glattes und lockiges Haar, abgeschnitten in der haarreichen Fülle des Lebens – der riesige Sack, unheimlich leicht beim Hochheben, erinnerte mich an begangene Gräuel, an jene durchorganisierten Todeslager in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, die für immer aufgeräumt haben mit Europas Vorstellung von sich selbst, es sei zivilisiert, und mit der Idee, die westliche Welt sei von der Vorsehung begünstigt und handle nach besonders edlen Grundsätzen. Die Rehe wittern angeblich Menschen in den Haarschnipseln, werden von Abscheu und panischer Angst gepackt und fliehen. Eine andere List, die man Gloria im Gartenclub dringend nahe legte, war, mich an kritischen Stellen auf dem Ra29
sen urinieren zu lassen. Es musste männlicher Urin sein, die Fährte eines Menschenbocks. Ich war ein paar Mal gefällig, an der Euonymushecke und beim Vogelbad, aber das Projekt war zu würdelos, als dass man es systematisch hätte durchführen können, bei der Winterkälte. Und die Ricke schien ganz unbeeindruckt, oder aber sie gewöhnte sich nach anfänglichem Abscheu an den feindlichen scharfen Duft in der Luft. Junge Leute füllen ein Haus mit dem Geruch nach tiefem Schlaf bis in den späten Morgen, nach nächtlichem Angstschweiß angesichts des Lebens mit seinen Möglichkeitsverzweigungen und der Notwendigkeit, sich zu entscheiden. Menstruationsflüssigkeit, ölige Hautabsonderungen, Samen – all diese Sekrete in überreichem Ausmaß. Früher dachte ich, wenn meine Frau stürbe, würde ich mich unter Frauen aus meiner Vergangenheit umsehen, nach Resten leidenschaftlicher Affären von vor dreißig Jahren suchen, in letzter Zeit aber denke ich, ich würde mich ausschließlich an junge Huren mit straffen unteren Körperpartien und langen, gymnastikgestählten Gliedmaßen wenden und sie mit der Lösung des Problems meiner erratischen Erektionen betrauen, wie man mit einer kniffligen Steuerangelegenheit zu einem gut bezahlten Steuerberater geht und sie auf seinem sauberen, bettgroßen Schreibtisch ausbreitet. Zwei Tage nach Weihnachten kam ich, nachdem ich draußen gewesen war und nach einem Vorwand gesucht hatte, Charlies letzte Patrone abzufeuern, mit dem Gewehr in der Hand ins Wohnzimmer. Roger, Marcia, Carolyn und Felix, die dasaßen und lasen und meine mühselig zerkleinerten Holzscheite verbrannten, sprangen auf, taten so, als suchten sie Deckung hinter dem Sofa, und riefen: «Wir reisen ab, Pop! Wir verschwinden von hier!» Sie nennen mich «Pop», heben sich das liebevollere «Dad» für meinen einstigen Nebenbuhler auf. 30
Bevor sie sich dann, zwei Tage vor Neujahr, tatsächlich gen Süden aufmachten, teilte Roger mir seine wohlbedachte Meinung mit, dass es der einwöchige unablässige Holzfeuerrauch aus dem Schornstein gewesen sei, der die Rehe fern gehalten habe. Sie würden wiederkommen, glaubte er. Er ist, der akademischen Ausbildung nach, seinem Vater am nächsten, der wieder geheiratet hat und nach Mexiko gezogen ist, wo die Wirtschaft gesünder ist als in unseren zersplitterten, von Sprengköpfen zernarbten Staaten. Roger hält Vorlesungen über zyklische Abläufe und ist es gewohnt, Vorhersagen zu machen. Ich erwachte mitten in einer der ersten Nächte des neuen Jahres – 2020, eine höhnische starrende Zahl, die einst für optimale Sehschärfe stand – und war von Grauen gepackt: meine berufliche Nützlichkeit vorbei, meine Frau eher Zuchtmeisterin denn Trösterin, mein Körper ein Sumpf, in dessen gärenden Tiefen sich eine zum Tod führende Krankheit zusammenbraute. Und bedrohlicher und in gewisser Weise größer noch als diese nicht eben kleinen Schrecknisse türmte sich mein schlechtes Spielen eines Drei-Sans-Atout-Blatts bei einer freundschaftlichen Bridgepartie mit Grace und Stanley Wren an jenem Abend vor mir auf. Ich ließ zu, dass Grace meinen Stopper-Treffkönig vom Tisch nahm, und als ein niedriges Cœur ausgespielt wurde und ich es bediente, spielte sie Treff, und ich saß in der Klemme; alles, was ich hätte tun müssen, um die hohe Treffkarte zu behalten, war – das erkannte ich jetzt deutlich –, mit dem Karo-Ass herauszukommen und das unselige Cœur in Ruhe zu lassen. Bridge wühlt mich immer auf, weil es mir meine intellektuellen Grenzen vor Augen führt; aus diesem Grund vermeide ich es für gewöhnlich, zu spielen, so wie ich vor Jahren an der U. Mass. nachdem ich mich wiederholt geistig gelenkigen 3l
Computerfreaks aus den westlichen Vororten Bostons hatte geschlagen geben müssen, mit Schach aufgehört habe, einem Spiel, das ich als Kind geliebt hatte, damals in Hammond Falls, wo meine Gegner noch kindlicher waren als ich und wir das Brett auf den ovalen, aus Stoffstreifen geflochtenen Teppich legten, neben dem gusseisernen Holzfeuerofen, der den hinteren Teil des Hauses heizte. Ich fühlte mich wohl auf all den Gebieten – Schach, Sciencefiction, Kino, Comicstrips –, auf denen mein Vater in seinen schmierigen Arbeitskleidern ein Fremder war. Und immer dieser quälende altmännerhafte Harndrang, der mir in der Leistengegend hockt, während ich daliege und versuche, mich wieder zur fahlsüßen Therapie der Träume zu überreden. Träume: da regt sich mit überraschender Kraft noch der Sexus und verwandelt eine Phantomfrau in einen pelzigen feuchten Mittelpunkt der Lust, heiß wie ein Stern, und da fließt die WC-Schüssel von Exkrementen über wie ein stinkender Vulkan, oder ich finde mich nackt auf einer Dinnerparty, genötigt, mich in nächster Nachbarschaft zur juwelengeschmückten Gastgeberin zu erleichtern und gleichzeitig höfliche Konversation zu machen, indes sie sich bemüht, meinen grollenden, speienden Darm zu ignorieren. Voll Scham und Selbstekel wache ich auf, und durchs Badezimmerfenster sehe ich, dass an der dem Meer zugewandten Seite des Hauses – der Rückseite, für mein Empfinden – die Alarmbeleuchtung ausgelöst worden ist. Das beunruhigende Licht, das bis ins Schlafzimmer hinein reichte, hatte mich irrtümlich glauben lassen, die Morgendämmerung ziehe herauf. In Wirklichkeit war noch tiefe Nacht. Es hatte ein wenig geschneit, und ich sah, dass in mehreren leicht verwackelten Linien mittelgro ße Spuren durch den frischen Pulverschnee führten – Rehspuren. Das Geschöpf hat die Angewohnheit, einen Fuß hinter den andern zu setzen, um eine möglichst gerade Linie von Ab32
drücken zu hinterlassen, und das erinnert mich an das kleine scharfzahnige Rad aus dem Nähkasten meiner Großmutter, mit dem sie den gepunkteten Linien auf Schnittmusterbögen folgte. Welch ein sehnsüchtiger, kummervoll nagender Hunger hatte die Ricke zu uns zurückgetrieben? Sie hatte den zeltförmigen Schutz einer großen Hemlocktanne in einem abgelegenen Waldstück verlassen und war wiedergekommen. Es schien, als triebe frisch gefallener Schnee das Tier dazu, sich in die Nähe des Gewehrs, der Rufe, der Golfbälle zu wagen. Die Spuren führten zur Vorderseite des Hauses, wo es nichts Grünes gab, außer ausladenden Rhododendren, deren lange Blätter von der Kälte zu dürren Zigarren aufgerollt waren, und Pachysandra, begraben unter fußhohem eisigen Weiß, und Leucothoen, die, wie ich meiner Frau immer wieder sage, von Anfang an wie Dschungelgewächse ausgesehen haben. Mein Gott, wie roh und rücksichtslos Grace Wren plötzlich wirkte, als sie diese Treffs gegen mich ausspielte und sogar mit der Fünf und der Zwei Stiche machte! Als ob es nicht die mindeste Freundschaft zwischen uns gäbe, als ob wir nicht miteinander getanzt und geflirtet hätten, und als hätte meine Begierde uns beide nicht in Schweiß gebadet. Sie hatte eine gute kesse Figur gehabt, bis ihr Busen dann groß und schwer wurde und heruntersackte. Sie färbt sich die Haare nicht mehr, und der drahtige, grau melierte Look ist nicht unattraktiv. Wie dumm und verletzlich ich war ohne meinen Stopperkönig! Vielleicht war’s dies, was vom Tag übrig geblieben war: die Scham, die ich empfand, als wir Ellbogen an Ellbogen am Kartentisch saßen, und die sich in meinem Traum dann in ein hilfloses Hervorbrechen übel riechender Exkremente verwandelt hat. Ich hatte beschissen gespielt. Oh, grauenhaft! Ich wälzte mich neben meiner ahnungslos schlafenden Frau hin und her, empfand die Rehspuren draußen wie einen Liebesbrief, den ich nicht beantworten konnte, und spielte immer wieder mein Blatt, bis ich beim Versuch, 33
mich zu erinnern, ob die Pikkönigin zu meinem Blatt gehörte oder zum Dummy, aus dem flatternden Ärmel des großen Zauberers in die doppelbödige Kiste des Schlafs glitt. Vor einer Woche fuhr ich mit Henry, dem jüngeren der beiden Söhne meiner Frau, und seiner Freundin, einer unglaublich dünnen, blassen, geschmeidigen Rothaarigen, deren Vater ein Reparaturgeschäft für Fernsehapparate und Videorecorder betreibt, hinunter, um Milch und Orangensaft zu holen und eine Tüte voll so genanntem Smartfood, Popcorn mit Cheddarkäsegeschmack. Auf der Rückfahrt, hügelaufwärts, wurde der Subaru spielend mit dem rutschigen, hinderlichen Straßenbelag fertig, und ich kam mir jugendlich vor, durchlebte noch einmal Teenagermomente, in denen ich den bootsmäßig schlingernden alten Familien-Plymouth nach einem Rendezvous, von dem die Autofenster beschlagen waren, durch einen Berkshire-Blizzard heimwärts steuerte. Der Sohn meiner Frau stellt gern schwungvoll seine Fahrkünste zur Schau und liebt es, rückwärts in unseren schmalen Carport einzuparken, diesen Doppelstellplatz, den der Sohn des vorigen Besitzers aus dem hölzernen Gerippe eines alten Gewächshauses gebaut hat. Aus irgendeinem Grund, vielleicht, um die dünne Rothaarige zu beeindrucken, dachte ich, ich könnte das auch. Henry sprang in jugendlich keckem Überschwang hinaus und machte mir Zeichen, wie ich steuern sollte. Irritiert durch sein Gestikulieren, behindert von einem wuchtigen Mantel und klobigen Stiefeln, die Fenster dunstgetrübt, streifte ich mit dem Heck des Subaru die weiße Holzinnenwand des einstigen Gewächshauses. Es war eine unaufdringliche leichte Berührung, kaum zu spüren, aber ich wusste, es war eine Katastrophe. Die betroffene Autoseite war im Schatten, und mein Stiefsohn versicherte mir ein ums andere Mal: «Es ist nichts, Pop, ich glaube, es hat nicht einmal einen Kratzer gegeben», aber 34
am Morgen, als der Himmel in purem Blau strahlte und sein Licht sich in den frischen Schneewehen spiegelte wie in einem Spiegelsaal, war der Schaden deutlich und beträchtlich. Gloria war wütend – sie hatte auf mich die gleiche Wut wie auf das Reh. Wieder war etwas Wehrloses, ihr Gehörendes, ein Ornament ihrer Existenz, von einem räuberischen Vieh angefressen worden. «Das kostet ein Vermögen», rieb sie mir mit diamantharter Genugtuung hin. «Tausend Welder, mindestens.» Sie hatte einen Punkt gemacht bei unserem Kampf zum Tode hin. Ich war inkompetent, senil. Ich konnte nicht widersprechen. Dabei war mir doch eigentlich nur wegen der ausgelassenen jungen Leute, die mich begleitet hatten, dies katastrophale Missgeschick passiert; wirklich Schuld geben konnte ich mir bloß für mein miserables Bridgespiel. Meine Frau und ich kennen Dutzende von Frauen und eine Reihe Männer, denen es zu gefallen scheint, jeden Tag mehrere Stunden der Ausübung und Vervollkommnung ihrer Bridgekünste zu widmen. Was ist los mit mir, dass ich mich daran stoße, Energie in die Entwicklung einer Fähigkeit zu stecken, deren Resultat ein bekritzelter Bridgeblock ist, Punktaufstellungen, die sich im Nichts verlieren? Was verliert sich nicht im Nichts? Den übrigen Teil ihres Lebens widmen diese Bridgespieler der Pflege ihrer Rosen, dem Trimmen ihrer Hecken, dem Essen und Trinken, dem Putzen ihrer Häuser, der Aufrechterhaltung der Beziehungen zu ihren Kindern und Enkelkindern und sozioökonomisch entsprechenden Bekannten, dem Reisen nach Florida und nach Maine zur jeweils angemessenen Jahreszeit – alles Aktivitäten, die keine Spur hinterlassen. Was ist los mit mir, dass ich eine Spur hinterlassen möchte, indem ich diese unzusammenhängenden, sprunghaften Notizen, mein müßiges Dasein betreffend, niederschreibe? Ein Beschmutzen von Papier – nicht schlechter und nicht besser, als einen Bridgeblock voll zu kritzeln. 35
Unter den Unbestimmtheiten gibt es ein Universum, in dem ich mich, nicht abgelenkt durch die überstimulierende Gegenwart meines Stiefsohns, dafür entschied, den Subaru geradeaus, ohne Schramme, ohne Beule, in den Carport zu fahren. Was für ein Universum wäre das? Es wäre eines, in dem Gloria eine Waffe weniger, ein Ich-hab’s-dir-ja-gleichgesagt weniger gegen mich in der Hand hätte. Es wäre wie das, in dem ich bin, nur dass irgendein anderer Verdruss dem vorderen Teil meines Gehirns zusetzte – dem winzigen, bewussten Teil, der auf einem Urmeer von Hunger, Sexus und halbautomatischen Körperfunktionen treibt. Gestern Abend las ich über den Neandert(h)aler. Es stellt sich heraus, dass er so etwas wie eine Geschichte hat. Er war ein evolutionärer Abkömmling des schlanken Homo erectus, der vor einer Million Jahren oder etwas sp äter von Afrika nach Europa gewandert ist. Obschon die vorrückenden Gletscher auch wieder zurückwichen, war es in Europa überwiegend kalt. Die Neanderthaler (bleiben wir beim altmodischen, angenehm inkorrekten «h») entwickelten den gedrungenen, kräftigen, Wärme speichernden Körperbau der heutigen Arktisbewohner. Sie waren so stark, dass ihre Muskeln, wären sie an unsere Knochen geknüpft, diese zerknacken würden. Ihre eigenen Knochen, so man sie findet, sind oft gebrochen, vielleicht im Kampf mit riesigen Elchen, Wisenten und jenem langhörnigen, ausgestorbenen Wildrind, das man Auerochs oder Ur nennt. Die Relikte der Neanderthaler lassen einen gewissen Fortschritt beim Herstellen von Steinwerkzeugen und -waffen erkennen, aber die Idee, mit Geschossen zu arbeiten, ist ihnen offensichtlich nie gekommen – keine Schleudern, keine Pfeile. Sie mussten mit ihrer Beute im Nahkampf fertig werden, und die Art ihrer Knochenbrüche entspricht, bezogen auf zeitgenössische Berufsgruppen, am ehesten der der Rodeoreiter. Prä-Neanderthaler warfen vor dreihunderttausend Jahren 36
mehrere Hundert Tiere und dreißig Artgenossen in eine Höhle in Spanien; die ersten echten Neanderthaler erschienen siebzigtausend Jahre später. Weitere fünfzigtausend Jahre später brachen die Gletscher so mächtig über Europa herein, dass der Kontinent den fossilen Belegen nach für die nächsten fünfzigtausend Jahre ohne menschliche Wesen war. Man stelle sich das vor: eine Zeitspanne vergeht, zehnmal so lang wie die der überlieferten Menschheitsgeschichte, und die Menschen sind gestrichen aus dem europäischen Stein-undBein-Register! Aber die Evolution hat nicht geschlafen. Als die Gletscher zurückwichen, war das Knochengerüst der Neanderthaler stabiler, und die hunderttausendjährige Blütezeit ihrer Subspezies begann. Sie machten Feuer. Sie bestatteten ihre Toten mit Blumen. Sie stellten Steinmesser her und gruben Löcher für die Stützpfähle hölzerner Behausungen, hinterließen aber keine Näh Werkzeuge; sie müssen ihre Tierfelle ohne Zuschnitt, ohne Naht getragen haben. Sie hatten große Nasen und fliehende Kinne und Stirnen. Ihr Schädel weist das Zungenbein auf, das auf einen Kehlkopfschließen lässt; gemeinschaftliches Jagen und das Weitergeben selbst primitiver handwerklicher Fähigkeiten erfordern ein gewisses Maß an Kommunikation. Die Neanderthaler haben keine Kunst hinterlassen, es sei denn, man hält den polierten Zahn eines jungen Mammuts dafür, der möglicherweise einem Schamanen als Amulett gedient hat. Zertrümmerte Knochen und Schädel legen die Vermutung nahe, dass Kannibalismus ihnen nicht fremd war. Zehntausend Jahre lang haben sie mit den Cro-MagnonMenschen koexistiert, Menschen, die anatomisch wie wir waren und vor vierzigtausend Jahren aus dem Mittleren Osten nach Europa kamen mit Wurfgeschossen, Nähnadeln, fortschrittlicheren Feuerstellen und Unterk ünften und mit Kunst. Die Neanderthaler verschwanden nach und nach; letzte Reste von ihnen finden sich in Südspanien – ein paar 37
Kiefer- und Oberschenkelknochen und Werkzeuge, die etwa dreißigtausend Jahre vor Christus entstanden sind. Es ist diesen gehetzten, immer weniger werdenden Vorzeitmenschen nie in den Sinn gekommen, die Straße von Gibraltar zu überqueren und ins wärmere Afrika zu ziehen. Sie waren ein konservativer, beschränkter, ziemlich glückloser Haufen und nie sehr zahlreich – jeweils immer nur ein paar Tausend, die in Trupps von etwa dreißig Mann umherstreiften. Die späteren Fossilfunde weisen im Vergleich zu früheren eine gewisse Schlankheit auf, worin einige Paläanthropologen den Beweis sehen, dass eine Kreuzung mit dem Homo sapiens stattgefunden hat. Ist nicht drin, sagen andere Paläanthropologen; es hat nie etwas anderes als Krieg, gegenseitigen Abscheu und Mord zwischen den Rassen gegeben. Die meisten Neanderthaler starben, bevor sie halb so alt waren, wie ich jetzt bin. Eines Tages werde ich ebenso vergessen sein, ebenso zerbröselt und wieder eins mit dem Staub wie der grunzende, gierende, hungrige, knochenbrüchige Neanderthaler. Ich kann es einfach nicht glauben! Und das ist ganz sicher dumm von mir. Gestern fuhr ich mit dem Zug nach Boston, um an meinem alten Arbeitsplatz eine Kleinigkeit zu erledigen. Die LynnMarschen waren, vom Zugfenster aus gesehen, weit und jungfräulich – ein leuchtendes arktisches Bild. In Boston hatte der Schnee sich schon in einen grauen Brei verwandelt, und es herrschte ein unwirtlicher Mangel an Parkplätzen, sogar auf den eigens ausgewiesenen Flächen. Meine früheren Partner bei Sibbes, Dudley und Wise waren herzlich, aber gestresst – Konkurrenz an allen Ecken und Enden, härter als früher, und junges Blut sprudelt in der Firma auf und strapaziert die sklerotischen Arterien. Mit der entspannten, dezenten Atmosphäre, die Bostoner Geld zu verbreiten pflegte – in ostentativem Gegensatz zum lauten, unfeinen New Yorker 38
Geld –, ist es vorbei. Die Werte sind unten, jetzt nach dem Krieg, und der Druck ist enorm. Ich bin keinen Augenblick zu früh ausgestiegen. Ich habe meine Schäfchen ins Trockene gebracht, als das noch eine verhältnismäßig leichte Übung war. Seit meinem Weggang sind etliche neue Sekretärinnen eingestellt worden; meine Anwesenheit entzündete in ihren feuchten, klaren, forschenden Augen keinen Funken von Respekt oder potentiellem Engagement. Ich war kein Glied in ihrer Nahrungskette. Ich spielte den freundlichen Trottel von vorgestern, die einzige Rolle, die es für mich gab. Mein Geschäft – die Einlösung einer ansehnlichen Kommunalobligation für meine treue alte Klientin Mrs. Fessenden und die eine oder andere ausgetüftelte kleine Anpassung bei meinen eigenen Wertpapieren – war nur zu schnell erledigt. Nachdem ich respektvoll zur Kenntnis genommen hatte, dass mein altes Büro durch Trennwände aus Mattglas in vier «Terminals» unterteilt worden ist (Ned Partridge, ein technikverliebter Gschaftlhuber, zu meiner Zeit Bürovorsteher, den ich liebend gern gefeuert hätte, konnte seinen Triumph kaum im Zaum halten), blieb mir wenig anderes zu tun, als den Hügel hinauf zum Athenaeum zu gehen, in den englischen Zeitungen zu blättern und dann meinen Weg fortzusetzen zur Cambridge Street und durch den Charles River Park – jedes Trottoir, jeder Fahrdamm unangenehm verschmälert durch Schneewälle – hinüber zur North Station und ziemlich schmählich den Vieruhrzug zurück nach Hause zu nehmen. Boston hatte nicht mehr viel Verwendung für mich. Von meinem Ausflug blieben mir zwei Bilder wie Gräten im Hals stecken: In der North Station drehte eine junge Frau, die mit langem Parka und kariertem Schal gegen die Kälte gewappnet war, mir zufällig gerade in dem Augenblick das Gesicht zu, als ihr ein Bubble-Gum-Ballon aus dem Mund quoll. Den 39
Urmann in mir juckte es bei dieser unbekümmerten, ungehörigen Vorwölbung frecher Scheinnacktheit, diesem Runden aus ihrem Mund, von krasserem Rosa und eklatanter als eine nackte Brust oder ein nackter Penis, im frostigen feuchten Dämmer des Bahnhofs dort, der seit der Renovierung, bei der Boston Garden dem Fleet Center hat weichen müssen, viel trostloser und kahler ist als vorher. Im Zuge der Bauarbeiten damals, vor fünfundzwanzig Jahren, hat man den Bahnsteig angehoben, um ihn auf eine Höhe mit den Böden der stillosen neuen, mit Plastiksitzen bestückten Waggons zu bringen, eine behindertenfreundliche Maßnahme, die normalen Reisenden das alte beschwingte Gefühl verwehrt, mal eben nach Boston reinzuspringen. Und sie haben den Wartebereich vergrößert und zu einem geschlossenen Raum gemacht, jenen Platz, wo wir früher alle in der frischen Luft standen, die erquickend war nach einem langen Tag, an dem wir in unseren abgedichteten Bürogebäuden nur recycelte Gase eingeatmet hatten. Um zu vermeiden, dass die Obdachlosen es sich auf Dauer bequem machen, hat man viele der freundlichen Holzbänke aus dem Bahnhof entfernt, den man vorher schon all seiner alten Läden beraubt hat, nur eine verkleinerte Version des Obststands ist noch da. Nirgendwo kann man sich mehr etwas Süßes kaufen. Ein Übelkeit erregender Geruch nach warmem Käse weht in Schwaden durch den ganzen Bahnhof, er kommt von der Pizzeria her, die am hinteren Ende aufgemacht hat, beim Fleet Center, wo die Kretins, die Sportveranstaltungen besuchen, Lust bekommen könnten, sich ihre Eingeweide mit Fett und Gluten zuzukleistern. In diesem Bahnhof, Jahrzehnte hindurch eine tägliche Station auf meiner Pilgerreise, zeigte die junge Frau mir achtlos ihren rosa Ballon und schlang ihn dann, wimmelnd von Bakterien, in ihre Mundhöhle zurück. Und zweitens, auf der Heimfahrt, als der Zug an den Marschen vorbeifuhr, die jetzt dunkel waren und das Fenster zu 40
einem Spiegel machten, sah ich mich im Dreiviertelprofil, mein starrendes Auge überraschend nah im schwarzen Glas, feucht und rund, wie die wachsame dunkle Augenkugel eines Rehs. Ein Rehauge, furchtsam und auf der Hut – feindselig oder neutral, das war mir nicht ganz klar. Wir können nicht mit dem Gehirn eines andern Wesens denken oder fühlen, aber wir können seine Augen sehen, diese sensiblen Organe, die das Gehirn ausstreckt. Mein Spiegelgesicht war wenige Zoll von dem meinen entfernt, von schmutzig metallischer Hautfarbe, in freiem Flug hineilend, transparent für die Umrisse der Industriegebäude und für die entschwindenden erleuchteten Fenster, wie das Gesicht eines Spions aus dem Weltraum, ein bösartig starrendes Alter Ego. Es jagte mir einen Schreck ein und verhinderte das Nickerchen, das ich mir vorgenommen hatte, die fünfzehn Minuten Schlaf, mit denen der Tag eines Pendlers endet und die ihm Kraft geben für den Abend zu Hause. Weitere dreißig Zentimeter Schnee sind gefallen, zusätzlich zu den sechzig Zentimetern, die schon liegen. Ich stapfte über den vorderen Rasen, um die Weihnachtsbeleuchtung abzunehmen, die wir am Flaggenmast aufziehen, um das Unsere zu tun zur alljährlichen Vorgaukelung, Gott sei in Säuglingsgestalt auf die Erde gekommen. Die Nachbarn erwarten es. Ich habe gehört, dass sogar Schiffe auf See – die verlassen wirkenden Öltanker, die wie lange Pappsilhouetten, gezogen an langsamer Schnur, Salem Harbor ansteuern – es schätzen. Aber meine Frau, die in vielem strikte Ansichten hat, sagt, kein Mensch mit Geschmack habe nach Dreikönig noch die Weihnachtsbeleuchtung draußen. Bei ihrem Vater habe es das nie gegeben. Dreikönig kam und ging, und Tauwetter war nicht in Sicht, deshalb nutzte ich diesen einigermaßen milden hellen Tag, die Sonne ein weiß verwischter Fleck in einer hohen dünnen Wolkendecke. 4l
Durch den Schnee zu gehen, der mir bis zum Schritt reichte, erwies sich als eine Tortur, die fast komisch war in ihrer Härte – schlimmer noch als jene Kindheitserinnerungen, denen wir im Nachhinein misstrauen, Erinnerungen an bis zu den Augen reichende Schneewehen und Tunnel vor der Vorderveranda. Mein Rasen, auf dem ich im Sommer hin und her schlendere und Chip-Shots übe oder Krockettore aufstelle, wenn ich den Besuch meiner Enkelkinder erwarte, war riesig geworden, ein antarktischer Kontinent. Jeder Schritt sog an meinem Bein mit der Schwerkraft eines anderen, viel größeren Planeten. Meine Stiefel füllten sich rasch mit Schnee – ein frösteliges, klebrig feuchtes Gefühl, das ich so seit sechzig Jahren nicht mehr erlebt hatte. Das Bein aus der jeweiligen Vertiefung wieder herauszuziehen war wie das Extrahieren eines gigantischen Zahns. Ich fragte mich, ob die Ricke wohl zusah, ob sie hören konnte, wie ich ächzte, und über meine physische Misere lachte. Ihre samtigen weiß gesäumten Ohren würden sich aufrichten, ihre Augen würden nicht mehr Gemütsbewegung zeigen als meine eigenen sich vorwölbenden Augen im flackernden schwarzen Fenster des Pendlerzugs. Angenommen, mein Herz beschlösse in diesem Augenblick, zu verschnaufen, eine ewigkeitlange Kaffeepause zu machen. Würde die Ricke kommen und mich neugierig beschnuppern, würde der Geruch meines Haars sie noch immer erschrecken, würde das Universum sich verzweigen und mich heil in einen anderen Teil des endlosen Raums befördern? Sind die trichterförmigen Strudel der schwarzen Löcher die Korridore, durch die wir ins Jenseits gelangen? Ich war schon auf einem anderen Planeten. Jeder Schritt eine komische Mühsal, kämpfte ich mich vor zum Fahnenmast auf seinem kleinen gefliesten Podest – ein Spleen des vorigen Besitzers, eines Schifffahrtskundigen, der gern hier Posten bezog und sich an seiner Aussicht auf die Massachusetts Bay freute. Ich grub nach den Stellen, wo die Enden der 42
Glühbirnchenschnüre festgepflockt oder an einen dafür geeigneten Strauch gebunden waren. Es hatte wahrlich etwas Archäologisches, was ich da tat; während meine tauben Finger mit den Knoten kämpften, bekam ich den kalten Zusammenhang zwischen dem Verschütteten und dem Gegenwärtigen zu spüren. Schnee in solcher Menge hüllt die Welt in kosmische Empfindung. Die Euonymushecke ist nicht mehr schutzlos, sie trägt einen dicken weißen Panzer und ist gerundet wie ein futuristisches Motorfahrzeug. Transzendentes Gefunkel läuft drüber hin. Mikroskopische Eisprismen schicken Regenbögen auf meine Netzhaut. Ich bin eingetaucht in die weiße blinde nackte Realität der Natur, herzlos und schön. Ich bin im rauschenden Wasserfall, in der Gewitterwolkenwiege neuer blauer Sterne in einer Nachbargalaxie. Unter der gleißenden Schneehaut lag eine ganze Welt versunken und wartete darauf, wieder geboren zu werden, ihre Einzelteile – Grashalme, Pflöcke, die verknotete Seile hielten – gewissenhaft im Bereich des Potentiellen verstaut. Ich wickelte die steifen, eisverklumpten Glühbirnchenschnüre auf, legte sie in den Pappkarton und brachte den Karton in den zweiten Stock. Von den Fenstern oben hielt ich Ausschau nach Rehspuren, aber natürlich waren keine da. Sie lag vermutlich zusammengekauert im zeltförmigen Schutz einer Hemlocktanne, mit wachsam blickendem feuchten dunklen runden Auge. Eine Nadel in dieses gewölbte Auge zu stechen – das wäre eine infam spannende Sache, ein Tunnel in eine andere Welt. Statt Rehspuren sah ich zwischen den Eichen an der geschwungenen Zufahrt merkwürdige andere Spuren, die von einem Stamm zum andern führten und dann verschwanden: fledermausförmige Vertiefungen im Schnee. Es dauerte erstaunlich lange, bis ich zu dem Schluss kam, dass es die Körperabdrücke von Eichhörnchen waren, deren Winterschlaf nicht tief ist und die eilig von Baum zu Baum turnen. Was 43
aber veranlasst sie, zu denken, dieser Baum könnte besser sein als jener? Ein Nest aus Gras im einen, geheime Eicheldepots im anderen. Reichen Manhattanbewohnern gleich hasten sie zwischen Park Avenue und Wall Street hin und her und beschränken ihre Aufenthalte am Boden auf ein Mindestmaß. Wir Menschenwesen sind noch nicht ganz allein auf diesem verheerten Planeten; es gibt noch anderes Leben. Hörnchen, Ratten, Rehe, die letzten Nashörner und Geparden. Und Insekten natürlich in ihrer unverzagten ichlosen Vielzahl. Und am nächsten Tag dann oder am übernächsten, als ich im Morgengrauen aufwachte, aus dem Gleis gebracht durch das hyperaktive, bedrohliche Wetter – Gloria ist ganz verliebt in die Wetteransager der verschiedenen Fernsehsender und kann sie alle auseinander halten –, ging ich im Halbdunkel hinunter zum Briefkasten, wo der Zusteller die Zeitung deponiert, um sich die Mühe unserer Zufahrt zu sparen. Über mir, im schon blauen Himmel, hing ein Zweidrittelmond. Ich blickte zu ihm hinauf und versuchte, ihn so zu sehen, wie er ist, eine Kugel im Raum, beleuchtet von einer einzelnen Lichtquelle. Die Richtung, in der sich die Quelle befand, war klar erkennbar an der Art, wie das Licht einfiel; es kam aus einer Gegend hinter meinem Rücken. Die Sonne stand im Südosten, war aber noch nicht aufgegangen. Ich versuchte, mir begreiflich zu machen, dass der Mond in das nämliche Licht gehievt war, das mich noch nicht berührt hatte; ein anderes Licht gibt es nicht; es durchtränkt das Sonnensystem, in dessen interplanetarem Raum Nacht und Tag nicht vorkommen; und dieses Licht würde nicht binnen kurzem über dem Horizont hinter meiner linken Schulter, jenseits der Gruppe kleiner Inseln mit schnurrigen Namen emporsteigen, sondern die Oberfläche, auf der ich stand, die gesamte, bis zum Meereshorizont und darüber hinaus reichende Oberfläche tauchte hinunter, der Sonne entgegen, wie der Boden eines gewaltigen abstürzenden Flugzeugs, ein riesiger ge44
krümmter Boden, der sich ungeheuer, unmerklich in genau entgegengesetzter Richtung zur Sonne drehte, die wie ein Knopf in einer ausgekehlten Rille im Bogen über den Himmel ziehen und meinem winzigen, klammernden, flüchtigen, insektenhaften Leben einen neuen Tag hinzufügen würde. In meinem gewölbten Schädel tastete ich mich an diese räumliche Vorstellung heran wie an den Rand einer windumbrausten Klippe oder eines steilen, mit rutschigen Pfannen gedeckten Daches; dann schnellte mein Geist, von Schwindel gepackt, in den Schutz vorwissenschaftlicher Beschränktheit zurück. Ich konnte mir nicht im Mindesten vorstellen, wie der Mond – sein Zunehmen und Abnehmen; seine Art, der Erde immer das gleiche Gesicht zuzukehren; sein monatlicher Umlauf; sein Bewirken von Ebbe und Flut – in dieses gigantische Gravitationsspielzeug mit all seinen Materiekugeln passte. Alles wurde flach und platt für mich; die schneebedeckte Zufahrt unter meinen Füßen hörte auf, sich zu bewegen. Wenn man weiß, dass das Universum, aus naturwissenschaftlicher Sicht, letztendlich ohne Grund und zufällig entstanden ist, wie sonderbar ist es dann, dass Mond und Sonne exakt die gleiche Größe am Himmel haben; wir sehen das bei einer Sonnenfinsternis, da passen beide so genau aufeinander, dass der Strahlenkranz der Sonne mit seinem Licht die Täler des Mondes durchdringt. Kein Wunder, dass die Menschen Jahrtausende hindurch diese beiden astronomisch so ungleichartigen Himmelskörper für Zwillingsgottheiten gehalten haben – konkurrierende Brüder oder Bruder und Schwester, Schutz und Schirm für verschiedene Aspekte der menschlichen Seele. Die Verwandtschaft war keine zwangsläufige. In einem anderen mühelos vorstellbaren System gab es vielleicht zwei Monde oder fünf oder gar keinen. Es könnte zwei Sonnen geben, eine große und eine kleine, die, in einer Gravitationsumarmung vereint, an entgegengesetzten 45
Enden des Horizonts auf- und untergehen. Irgendwo jenseits des Jupiters nehmen unsere Raumsonden die Sonne als einen Stern unter vielen wahr, nicht heller als die Venus, von unserem Planeten aus gesehen. Einer der großen naturwissenschaftlichen Geister, die ich als Knabe bewundert habe, ein freundlicher Zwerg mit backpflaumenhaft verschrumpeltem Gesicht, der im Fernsehen auftrat, um dem Volk etwas beizubringen, sagte, wenn es gelte, unsere gesamte kosmologische Weisheit in einem einzigen Satz an eine unwissende Zukunft weiterzureichen, müsste dieser Satz lauten: Die Sonne ist ein Stern. Die Sonne ist ein Stern. Das Christentum hat gesagt, Gott ist ein Mensch. Der Humanismus hat gesagt, der Mensch ist ein Gott. Indem die Weisen von heute so jainistische Kosmogonien wie die Hypothesen von den kosmischen Strings und der Inflationsphase anfuhren, sagen sie, dass alles nichts ist. Der Kosmos ist geschenkt, eine Quantenvakuumfluktuation. Die Ricke erwacht in ihrem Zelt aus Hemlockzweigen, sie ist hungrig und nähert sich dem Haus, die Füße in fast gerader Linie hintereinander setzend. Meine Frau ist fort und verzehrt die Welt mit ihren Besorgungen, Verbraucherin und Hökerin in einem. Die Ricke knabbert erst vorsichtig, dann gierig an unserer Euonymushecke, die beim Tauwetter neulich an den Rändern bloßgelegt worden ist. Während sie isst, wird sie zu einer jungen schmalgliedrigen Hure, die ich ins Haus einlade. Wir achten darauf, dass wir vom Perserteppich in der Diele, einem kleinen roten, blau umrandeten Ghom, alle schmelzenden Schneeklümpchen wegbürsten, die ihr von den schmalen nackten Füßen fallen. Wir gehen in den zweiten Stock hinauf, wo inmitten der Spinngewebe und Fledermausexkremente ausrangierte Betten und Daunendecken verwahrt werden, als Reserve für meine Stiefkinder. Ihr 46
schmaler Körper legt langsam das Frösteln ab, das Zittern (all die kleinen feinen Härchen an ihrem Körper sind gesträubt), und mit den Gedanken anderswo verweilend, um ihre Würde zu wahren, ist sie mir mit kühler Professionalität zu Diensten. Das Schönste für mich bei unserem Zusammensein ist, ihr zuzusehen, wie sie zwischen dem Bett und dem Bad hin und her geht mit imposanten Flanken, lautlosem Schritt und ganz braun, bis auf die Furche zwischen ihren Hinterbacken. Die Badezimmerarmaturen hier oben sind seit 1905, dem Baujahr des Hauses, nicht ausgewechselt worden; es sind porzellanene Antiquitäten, mondweiß. Die Leistengegend tut mir angenehm weh von der ungewohnten Anstrengung. Mein Samen, der immer noch hervorquillt, träge, wie es bei einem alten Mann nun einmal zugeht, tropft mir auf den Schenkel und hinterlässt einen verräterischen Fleck auf dem Laken. Die Laken werden nur ein- oder zweimal im Jahr gewechselt, wenn ein Kind zu Besuch kommt. Ich werde das Ortstaxi rufen müssen, um das Mädchen fortzuschaffen, weg von meinem Grundstück. Der Fahrer lungert bei einem schmierigen Becher kalt werdenden Kaffees im Drugstore unten im Dorf herum. Ich hinterlasse Spuren, geht mir auf. Meine Körpersäfte sickern in die Öffentlichkeit. Als ich Angst bekomme, um mein Ansehen, meine Sicherheit, meinen häuslichen Frieden, sage ich mir, dass das Mädchen ein Phantasiegespinst ist, eine Abzweigung, die im greifbaren Universum nicht existiert. Als ich heute Morgen zum Briefkasten hinunterging, bemerkte ich in den Wällen, die der Schneepflug zu beiden Seiten der Zufahrt aufgehäuft hat, und im Eis und Harsch auf dem Asphalt die Schmelzmuster – die ziervollen Unterhöhlungen, die mürbe Spitzenklöppelei, entstanden durch Verflüssigung und Verdampfung, die Streifenbildungen nach und nach niedergegangener Schneefälle, manche feuchter, 47
manche vereister als andere. Der Schnee verwest nach seinem eigenen trägen Zeitmaß, in seinem Innern wimmelt es von Schmelzwasserbläschen wie von Bohrasseln. Im Südosten hängen niedrige dünne Wolken, violett, mit einem süßlichen Orangerot gerändert; abschilfernde Flocken dieser metallisch leuchtenden Farbe driften ungebunden dahin, luftige Spiegelbilder der beiden Inseln, die in der Aussicht von unserem Hügel aus schwimmen, Baker’s Island und Misery Island. Hoch oben, an einem Himmel, der schon von mittäglichem Kobaltblau ist, sind zwei Monde zu sehen – ein Halbmond, der durch seinen lecken, durchscheinenden Rand das Himmelsblau trinkt, und ein kleinerer, noch blasserer Mond, dünn wie Seidenpapier. Wenn der erstere, wie die Sonne, scheinbar einen halben Grad von den hundertachtzig Grad der Himmelshalbkugel beansprucht, so hat dieser zweite einen Durchmesser von höchstens einem Sechstelgrad. Seine Form ähnelt der einer Honigwabe, und er hat zwei kaum sichtbare Anhangsgebilde, wie kurze, stumpfe Libellenflügel. Dieser Mond ist menschgemacht – eine Raumstation dreitausend Meilen über der Erde, ein Hundertstel so weit entfernt wie der erste Mond, von Menschen auf die Umlaufbahn geschickt, bevor der Chinesisch-Amerikanische Konflikt die Regierungen außerstand setzte, den Raumfährverkehr aufrecht zu erhalten. Die Erde gab ihren Satelliten auf, und die dort festsitzenden Kolonisten überlebten eine Zeit lang inmitten ihrer enormen Vorräte und ihrer mit Sonnenenergie betriebenen Gewächshäuser. Dann verfolgte die Welt voll Entsetzen die Fernsehübertragungen, die mit den letzten Volts der Generatorenergie gesendet wurden, und sah zu, wie die Raumbewohner einer nach dem andern starben. Diese Begebenheit ist zu einem Mythos geworden und hat zu zahllosen abgeschmackten Nacherzählungen in den Massenmedien ermuntert, und das, obwohl wir alle, die wir auf der 48
Erde leben, uns in exakt der gleichen Situation befinden, nur dass der Maßstab etwas größer ist. Tatsächlich ist es nicht ausgeschlossen, dass es in der Kolonie, in dieser riesigen Wabe aus hohlen Streben und aufs Sorgfaltigste ausgebreiteter Isolierfolie, noch einige lebende Besatzungsmitglieder gibt, die sich von Proteintabletten und hydroponischem Kopfsalat ernähren. Den verstreuten Bevölkerungsresten auf der Erde mangelt es an den technischen Möglichkeiten, ein Rettungskommando hinaufzuschicken, selbst wenn der Wille dazu da wäre. Dieser zweite Mond, mit seinen eigenen Phasen und Finsternisperioden, hängt am Himmel als eine Peinlichkeit, ein schlechtes Gewissen. Einst war meine Spezies stark genug, ihn dort hinaufzuschaffen, und jetzt ist er unerreichbar für uns. Wie sein größerer natürlicher Bruder war er heute ein Halbmond, im selben Winkel vom Sonnenlicht beschienen, zur Hälfte aufgelöst im Blau, durchscheinend wie eine Fata Morgana. Die beiden Solarenergie sammelnden Flügel schienen, als ich hinauf blinzelte, eine optische Aberration zu sein, wie die irisierenden Federn, die von der Sonnenscheibe wegwirbeln, wenn man mit zusammengekniffenen Augen hinschaut oder wenn man mit tropfnassen Wimpern und vom Salz brennenden Corneae aus dem Meer auftaucht. Der Briefkasten wird von mehreren Hemlocktannen überschirmt. Ihr Schatten lässt den Schnee nur zögernd schmelzen auf diesem Teil der Zufahrt, der im Winter wie ein eisiger Tunnel ist. Aber als ich mich, mit dem Boston Globe in der Hand, umwandte und wieder hinaufgehen wollte, traf die faserige rote Sonne, die eben über die grauen Wipfel des Waldes gestiegen war, in so flachem Winkel auf den nackten Asphalt, dass mir die parallelen, vom Schneepflug des Räumdienstes hinterlassenen Schrammen auffielen. Ich hatte sie vorher nie beachtet. Sie hatten etwas eigentümlich Uraltes, etwas Ägyptisches, diese von Menschen verursachten Rillen: wie wenn Sklaven einen mächtigen Stein über den andern 49
geschleift hätten beim Bau einer Pyramide, die so gewaltig war, dass der Tod selbst sich würde geschlagen geben müssen. Unser Tauwetter, das Ende Januar begonnen hat, hält an. Wenn ich von einem Fenster im zweiten Stock auf meinen Rasen hinunterblicke, staune ich, wie vollständig die Büsche und Hecken befreit sind und wie viel grünes Gras zu sehen ist. Wo ich mich, einen Herzanfall herausfordernd, heldenhaft zum Fahnenmast durchgekämpft hatte, um die Weihnachtsbeleuchtung herunterzuholen, gibt es jetzt einen struppigen grünen Pfad, auf dem ich, wenn ich wollte, hinausschlendern könnte, um die amerikanische Flagge zu hissen. Aber ich erspare ihr die Winterstürme, sie ist ohnehin schon so verschlissen, dass die Streifen an den Enden auseinander gehen und jeder zu einem schmalen Wimpel wird. Auf Cape Cod ist der Schnee schon so weit weggetaut, dass einige Golfplätze geöffnet sind. Gestern lud ein Freund, Red Ruggles, mich ein, zusammen mit ihm und einem anderen Freund von ihm, einem pensionierten Verkehrspiloten namens Ken Dixon, hinunterzufahren und auf einem Platz, bei dem ein Freund von Red Mitglied ist, eine Runde zu spielen. Das Mitglied, das in unserm Alter ist, war plötzlich zu krank – Gicht, Arthritis, Grippe, was auch immer –, um zu uns zu stoßen, aber er kündigte uns telefonisch als Gäste an. Red hat sich nicht ernstlich zur Ruhe gesetzt, auch wenn seine beiden Söhne sich inzwischen um die täglichen Belange des Fischverarbeitungsbetriebs kümmern, den er in Gloucester begründet hat. Während er seinen Dodge Caravan die Route l hinunter durch Boston zur Route 3 über die Sagamore Bridge zur Route 6 steuerte, hat er immer wieder zum Mobiltelefon gegriffen und Ferngespräche mit den entlegensten Orten geführt – Wladiwostok, Punta Arenas, Daressalam –, wo noch «Ware» (Fisch) aufzutreiben und zu kaufen 50
ist. Er formuliert die Begrüßung in der jeweiligen Landessprache – «Dobrij den!», «jBuenas dias!», «Jambo!» – und spricht dann in lautem Englisch weiter. Er nennt jeden «Freund». Ich glaube, er fuhrt diese Telefonate teils, um seinen wehrlosen Mitfahrern zu imponieren, und teils, um in sentimentalem Kontakt mit den Resten dessen zu bleiben, was einmal sein Fischimperium gewesen ist. In der Tat sieht es so aus, als gäbe es immer weniger Fisch auf der Welt. Die Ozeane sind ebenso erschöpft und geplündert wie das Festland. Bei Reds Gesprächen am Mobiltelefon geht es zum guten Teil um ein Schwelgen in Erinnerungen – er unterhält sich mit der Person am andern Ende über die reiche Ausbeute von damals, über ganze Verbände von Frachtschiffen mit tiefgekühlter Ware, die Fang auf Fang wie Konvois im Weltkrieg über den Pazifik und um Kap Hörn herum dampften zu den belebten, ehrwürdigen Kais von Gloucester. Die Laufplanken auf den Kais waren, wenn man ihn reden hörte, schlüpfrig und ranzig überzogen mit Lebertran. Langwierige zwei Stunden Fahrt waren nötig, um das felsige, eichenbestandene Cape Ann mit den Dünen und Pechkiefern und salzgebleichten Schindeln von Cape Cod zu vertauschen. Aber man konnte Golf spielen: auf einem Platz, der aus lauter gerundeten Erhebungen bestand, grasbewachsenen Sandhügeln – eine opulente Folge von frisch entblößten Brüsten und Schenkeln, ein kleiner Hügel nach dem andern und dazwischen wohlige Mulden, Ritzen und Schwellungen. Der Ball geriet nie auf eine ebene Stelle, aber auch nie auf eine kahle. Das Gras unter all dem früh gefallenen Schnee hatte keine Zeit gehabt, braun und hart zu werden. Die Grüns waren noch gefroren unter der viertelzollhoch aufgetauten obersten Schicht, die auseinander platzte, wenn der Ball auftraf. Ich empfand mich als meisterlich und liebevoll, wenn ich diese Wunden mit einem zweizinkigen Plastik-U reparierte und die Narben dann mit meinem Schuh glatt klopfte. Es war wun5l
derbar, draußen zu sein und durchzuschwingen. Der Flug des Balls schien inmitten all dieser grünen Schwellungen eine besondere Penetrationskraft zu haben. Mit einem guten Treibschlag ließ sich ein ganzer Abhang nehmen, der einem zusätzliche Yards einbrachte. Bei einem Par 4, Länge 420 Yard, schaffte Ken einen Drive bis zur 150-Yard-Markierung hin. Zweihundertsiebzig Yards! Und das von einem silberhaarigen ehemaligen Piloten, der bei all seinen präliminarischen Maßnahmen außergewöhnlich bedächtig und übervorsichtig ist, als befinde er sich unmittelbar vor dem Takeoff. Ein paar übrig gebliebene weiße Verwehungen in den Sandbunkern und an den schattigen Rändern des Fairway verstärkten unser Gefühl, ein Abenteuer zu erleben. Die Luft war kalt, aber nicht frostig, ich zog meine Winterhandschuhe erst am Ende der Runde an. Wir hatten den Platz für uns: Ken, Red, Ben, das ergab eine wohlklingende Scorekarte. Ich war bescheidener Sieger, mit zwei oder drei Schlägen unter Par, verlor dann aber, als wir um Geld spielten. Bei dem einen Loch ging es um drei Scheine, ich war mit einem Schlag im Vorteil, puttete dann aber dreimal, mit widerwärtig altersschwachen Nerven. Aus dem Rhythmus gebracht, verzog ich meinen vier Fuß langen Putt. Gott, wie ich mich hasste, während Ken und Red vor Freude krähten. Zur Hauptverkehrszeit nach Hause zu fahren war schlimmer, als wenn man sich nach dem Skilaufen oben in North Conway auf den Heimweg macht. Eine Sehne in Reds linkem Bein begann, sich festzufressen, aber man konnte nirgendwo anhalten auf dem Southeast Expressway, auf dem die Autos, mit roten Rücklichtern und weißen Scheinwerfern, ein- und ausströmten im geisterhaften Boston. Die Anfahrt von Süden her war früher aufregend: die gläsernen Wolkenkratzer rückten immer näher und standen dann senkrecht ragend und golden leuchtend rings um einen, wenn die Schnellstraße den Chinatown-Tunnel verließ. Aber seit der 52
Fertigstellung des so genannten Big Dig im Jahr 2002 ist die gesamte Strecke untertunnelt, eine einzige lange Unterführung, die bis zur Causeway Street und den mächtigen verschlungenen Abzweigungen nach Charlestown und zur Mystic River Bridge durchgeht. Verwahrlosung hat dem langen unterirdischen Abschnitt seinen futuristischen Glanz genommen; durchgebrannte Leuchtröhren und heruntergefallene Kacheln werden nicht ausgewechselt. Die blau getönte subterrane Straße, mal flackernd erhellt, mal dunkel, ist gespenstisch, umso gespenstischer, als wir wissen, dass sich über ihrem trüben Dach eine Schneise der Verödung hinzieht; ehedem war dort die alte Hochstraße mit ihren ewigen Verkehrsstaus, jetzt sind da von Unkraut zugewucherte Grünanlagen, stillgelegte Karussells, Joggingwege voller Schlaglöcher, weiträumig verstreute Läden und Restaurants, die eine bankrotte Imitation des Faneuil Hall Marketplace abgeben, und dergleichen mehr, lauter vor sich hin gammelnde Überreste eines Stadtsanierungstraums. Nur wenige der chinesischen Interkontinentalraketen haben es bis hierher geschafft, aber es hat prochinesische Aufstände gegeben, und der Kollaps der Volkswirtschaft hat zusätzlichen materiellen Tribut gefordert. Als wir von der schwindelnd hohen Kleeblattkreuzung über dem Charles zurückblickten auf das Profil der Stadt, sahen wir die blaugläsernen postmodernen Downtown-Gebäude verdunkelt dastehen in ihrer Nachkriegsverlassenheit, und wir sahen die rostigen Stümpfe von Bauprojekten, die man abrupt aufgegeben hatte, weil sie zu teuer waren für unsere geschrumpfte, altersschwache Welt. Wenn der Zusammenbruch der Zivilisation einen Vorteil hat, dann diesen: die Qualität der jungen Frauen, die Huren werden, ist enorm gestiegen. Keine verheerten Psychotikerinnen, keine aufgedunsenen, benebelten Kokssüchtigen mehr für den kritischen Kunden; Zwanzigjährige, die früher Kosmeti53
kerinnen oder Redaktionsassistentinnen geworden wären, Krankenschwestern oder Anwaltsgehilfinnen, haben Effizienz und Anmut in das Gewerbe gebracht. Die Prostitutionsringe inserieren unter Namen wie Samtene Sinnenfreuden, Unverschleierte Phantasien und dergleichen mehr – nicht nur im Herald und im Phoenix, sondern auch im Globe und im Christian Science Monitor. Für den Welder gibt es alles in unserer neuen Welt. Die im Commonwealth gültige Banknote ist sepiafarben, erinnert im Ton an die roten Haare des früheren Gouverneurs. Sie wurde wegen der galoppierenden Dollarinflation in aller Eile ausgegeben, damit das eingefrorene Getriebe von Handel und Wandel wieder in Gang kam. Der Graveur war Republikaner. Deirdre – Deirde Lee, vertraute sie mir bei ihrem letzten, ihrem dritten Besuch an, ein Nachname ist offenbar ein Schatz, mit dem eine Hure ebenso sparsam umgeht wie mit einem Kuss auf den Mund – bewegt sich in unserem Liebesnest im zweiten Stock mittlerweile mit der forschen Energie einer Ehefrau hin und her, sie macht das Bett und packt unsere benutzten Handtücher für die Waschmaschine und den Trockner zusammen. Während ich sie zu Gast habe, werde ich nie das unbehagliche Gefühl los, dass Gloria zurückkommt, unten mit allen Türen knallt, die Treppe heraufklappert und in eisäugige Wut ausbricht, weil Deirdre sich diese hausfraulichen Befugnisse anmaßt. Ich bin mir nicht im Klaren darüber, ob Gloria tot ist; mir ist in Erinnerung, dass ich mich herumgedreht und mit Charlie Pientas Schrotflinte durchs Wohnzimmerfenster hindurch auf sie geschossen habe, aber als ich ins Haus zurückkam, war kein Leichnam da. Es war ein Augenblick der Messung. Ich habe gefühlt, wie das Universum knisterte und sich verzweigte. Deirdre stiehlt auch materielle Dinge – zwei versilberte Leuchter, eine exquisite kleine französische Uhr mit vergoldetem Zifferblatt und einem mit Perlmutt verkleideten Ge54
häuse, die Gloria in die Ehe mitgebracht hat. Ich habe nichts mitgebracht aus den Berkshires, nur die Barttasse meines Großvaters mütterlicherseits und ein stumpfes Tranchierbesteck mit Elfenbeingriff: ich sehe immer noch vor mir, wie mein Vater es in seinen schwieligen, mit Maschinenöl gegerbten Arbeiterhänden hält und einem zähen ThanksgivingTruthahn zu Leibe rückt. Das ängstlich gespannte Gesicht meiner Mutter wird von seinen abgewinkelten Ellbogen gerahmt, sie wartet darauf, dass auf jedem Teller die richtige Anzahl von Fleischscheiben liegt, damit sie den Kartoffelbrei, die Sauce, die Erbsen, die Preiselbeeren dazugeben kann an einem der grässlichen Feiertage in der Kindheit, jenen bitter schmeckenden Gruppenbußen, die wir den verblichenen Kalendergöttern schuldig waren. Als ich es heute wagte, Deirdre ihre Diebereien vorzuwerfen, sah sie mich von oben bis unten an mit ihren ausdruckslosen braunen Augen – teeriger Kaffee, in den ein paar blasse Muskatnusskrümel gefallen waren – und sagte ungerührt: «Ich tue eine Menge für dich.» «Aber Liebling, ich bezahle dich. Letztes Mal hast du sogar mehr bekommen, als du verlangt hast.» Unser Liebesspiel bekam etwas von der Spannung, wie sie auf einer Auktion herrscht, als sie mir in atemlosem Flüsterton anbot, diverse Handlungen an mir vorzunehmen, respektive an sich vornehmen zu lassen, die über das standardmäßige Missionars-Rein-und-Raus hinausgingen. Als ich mit der Zunge von der einen entzückenden kleinen stupsnäsigen Brust zur anderen hinüberwollte – beide braun, bis auf die winzigen Dreiecke eines Minibikinioberteils –, wies sie mich eigens auf den Zusatzpreis hin: «Fünfundzwanzig Welder extra, wenn du an beiden lutschst.» «Du Miststück», keuchte ich; mir gefiel das, und ich wusste, ihr gefiel’s auch, diese feuchte Verfilzung von Geschäft und Feindseligkeit und dazu die Reibung unser beider nack55
ter Epidermen aufeinander. «Fünfzehn. Keinen Penny mehr. Deine Titten sind mit drin im Paket. Ich bezahle dich schließlich für deine Zeit und nicht für jedes einzelne Fitzelchen an dir.» «Fünfunddreißig, wenn du so fest lutschst, dass es mir wehtut», konterte sie. Bis zu diesem Augenblick war es mir nicht in den Sinn gekommen, ihr wehzutun. Jetzt erschien mir die Vorstellung verlockend. Das Universum hatte sich verzweigt. «Au», sagte sie kaum eine Sekunde später und sah mütterlich aus der Sphinxmähne bauschigen schwarzen Haars heraus auf mich nieder; die Wellenkämme der zerzausten Locken an der dem Fenster zugewandten Seite ihres Kopfes schimmerten. Ihr flächiges junges Gesicht, einfach aber eindrucksvoll geschnitten, bis auf die etwas derbe, grobporige Nase, hatte einen undeutlichen Graubraunton, eine Sandsteinschattierung, sofern meine Augen im trüben Dämmerlicht, das durchs Fenster fiel, überhaupt eine Farbe ausmachen konnten. Sie hatte etwas Ägyptisches in diesem Licht, etwas pharaonisch Opakes. «Du lügst», wehrte ich mich. «Das hat gar nicht wehgetan.» «Ich bin da sehr empfindlich. Besonders, wenn ich meinen Eisprung habe.» «Wenn du so beschissen empfindlich bist, solltest du nicht als Hure arbeiten», sagte ich und schlabberte weiter, sodass der kleine glatte Hügel ihrer im Profil sichtbaren Brust glänzte, beschienen von etwas, das jenseits unseres geschützten Handgemenges auf diesem einsamen Planeten war: vom Mond, dem kahlen unbewohnbaren Mond, der über dem tauenden Schnee des Gartens hing. Sie machte mich verrückt, ich geriet in einen so heißen, entzündeten Zustand, wie ich ihn seit meiner Teenagerzeit nicht mehr erlebt hatte, seit dem verschwitzten Gerangel auf 56
Autorücksitzen damals, bei dem man sich so peinigend mühevoll, gegen so viele Widerstände ankämpfend, Zoll um Zoll voranarbeitete, ins verbotene heilige Reich des weiblichen Körpers hinein. «Knie dich hin», sagte ich heiser. «Das macht fünfzig Welder mehr.» Ihre harte kleine Stimme mit dem Massachusetts-Akzent, der dem Wort «Welder» das «r» wegnahm, klang ebenfalls ein wenig heiser. «Von hinten kostet normalerweise fünfundsiebzig mehr.» «Und wenn ich in deinen –» «Das mach ich nicht», sagte sie rasch und setzte dann hinzu: «– unter dreihundert.» Sie hatte sich hingekniet, stützte sich mit den Händen ab und bot mir die blanken Halbkugeln ihres festen jungen Hinterteils dar und zwischen ihnen, vom Mondlicht beschienen, den liebreizenden kleinen Fleischknoten ihres Anus, der an eine verheilte Narbe erinnerte. Auch hier war die Sonne nicht hingekommen, in die tiefe Furche in ihrem braunen Hintern, die wie eine schmale weiße Mondsichel aussah. Ich fragte mich, ob es wohl in Revere Beach war, wo sie sich so gewissenhaft von allen Seiten bräunte, ohne Angst vor Keratose, mit der meine alte Schwarte krebsig übersät war. Die Columbushasser haben Recht, wir Nordeuropäer hätten uns nie Richtung Süden über den tobenden Atlantik in diese blendende Neue Welt aufmachen sollen. Es war ein Garten Eden voller Fallgruben; es waren verbotene Früchte; wir haben zu viel davon gekostet und unseren Glauben verloren. Wir haben Flecken bekommen und zu faulen begonnen. Ich gab ihrem festen blanken Butternusshintern mit seiner kindlichen gerüschten Öffnung einen so energischen Klaps, dass sie auf den Rücken fiel, die Augen weit aufgerissen nach dem Schlag. Aber so waidwund und tränenfeucht sie auch blickten, ich bemerkte, dass sie mit professioneller Genugtuung mein triumphierend angeschwollenes Glied wahrnahmen, dessen auf Entladung drängende Säfte meine Adern mit 57
ihrer berauschenden Wirkung überschwemmten. Meine Prostata schmerzte unter dem Andrang. Ich sagte ruhig: «Du kannst diese hypothetischen dreihundert nehmen und –» Sie lag noch immer auf dem Rücken, so wie ich sie hingeworfen hatte, und lachte über meine Pedanterie. «Sie dir sonst wohin stecken», führte sie den Satz für mich zu Ende. «Na los», stichelte sie. «Mach schon, du alter Sack.» Sie spreizte leicht die Beine; ihre Schenkel waren innen blasser als außen. «Aber in meinen Hintern kommst du nicht unter dreihundert. Die Schleimhaut da ist sehr zart. Auf die Weise haben Leute sich früher Aids geholt.» «Mach nicht dauernd so ein Getue um deinen Hintern. Deine Möse reicht völlig. Ich bin keiner von deinen perversen Psycho-Kunden.» Sie war reich bepelzt, auf ihren Unterarmen strudelte dunkler Flaum. Ihr Schamhaar war so ölig, dass es bei stärkerem Licht geschillert hätte. Um am Strand einen Stringtanga tragen zu können, hatte sie es rasiert und nur einen schmalen Mittelstreifen stehen lassen, der wie eine altmodische Schreibmaschinenbürste aussah. Ich meinte, zwischen den elefantengrauen Lippen ihrer Vulva ein empfängliches feuchtes Schimmern wahrzunehmen. Ihre kühlen Finger schienen mich hineinzugeleiten, in Wahrheit aber hielten sie mich zurück, auch dann noch, als ich mich schon duckte, um zuzustoßen. Deirdre murmelte mir ins Ohr: «He, würdest du wollen, dass ich mich auf dein Gesicht setze? Ich könnte dir gleichzeitig einen blasen. Kostet nur hundert extra – ich mach dir einen Sonderpreis.» «Du Miststück, wirst du wohl aufhören, über Geld zu reden!» Aber ich zögerte. Ihr Angebot war verlockend. Sie wusste genau, mit wem sie es zu tun hatte. «Aber nicht so, dass ich komme», feilschte ich. «Mein Sperma soll in dich rein! Geld schindende Fotze du, ich will dich aufspießen, dass ich dir oben zum Kopf rauskomme!» 58
Sie erschauerte unwillkürlich unter mir. Ihr Gesicht sah aus wie das Gesicht eines Mädchens, das gerade auf dem Rücksitz eines Familien-Chevrolets verzupft wird, es war ganz aus Schatten gebaut, eine Ruine aus kleinen Fertigteilen. «Gott, ich hasse Männer», sagte sie im Plauderton, als hätte ich mich inzwischen in einen unparteiischen Anthropologen verwandelt. «Ihr seid alle so blödsinnig stolz wegen nichts – einfach nichts.» «Ah ja?», sagte ich und spießte sie auf. «Das ist nichts?» «Nichts», sagte sie und machte sich steif unter mir wie ein verängstigtes Kind. «Und was ist das?» Sie war jung und schmal und unerregt, hatte einen jungfräulichen Uterus und einen Gebärmutterhals, der noch nie gedehnt worden war. Ich wusste, ich konnte ihr wehtun, und versetzte ihr aus dem Becken heraus einen Stoß, der meine alte Vorsteherdrüse in Mitleidenschaft zog; nach mehr als fünfzig Jahren, in denen sie toxische Sekrete durch ihr kompliziertes Inneres gepresst hatte, sehnte auch sie sich nach dem Ruhestand. Deirdres dunkle Augen weiteten sich und wurden feucht im Schatten, den mein Kopf warf. Ihr Gesicht sank ein wenig tiefer ins schwarze Nest ihres ausgebreiteten Haars ein. «Au», gab sie zu, ein süßer Ton. Als sie mich verließ, durch den Wald davonsprang und ihr Spiegel weißer schimmerte, als man es für möglich gehalten hätte, bemerkte ich, dass die beiden silbernen Wachteln nicht mehr auf dem Esstisch standen. Die eine bückte sich und pickte, die andere reckte den Schnabel in die Höhe. Ich hatte sie Gloria einmal zu Weihnachten geschenkt, auf einem weiter unten befindlichen Ast des dicken grauen Baums der sich verzweigenden Vergangenheit. Aus schwerem Silber – man musste vorsichtig sein, wenn man sie auf den Tisch stellte, damit ihre Füße nicht die Politur zerkratzten –, würden sie sich zu einem Klumpen einschmelzen lassen, für den irgend59
ein betrügerischer Hehler fix ein paar lausige Welder hinblätterte. Die Unterwelt beutet sich selbst aus. Ich empfand tiefe Scham, als sei mein Körper von Krebs befallen. Ich würde die diebische Schlampe das nächste Mal grün und blau schlagen und sie an Hand- und Fußgelenken mit der Wachskordel fesseln, die ich mal gekauft hatte, um die brüchige Gewichtsschnur der alten Schiebefenster zu erneuern, und die noch im Keller liegen musste. Ich würde die Nutte vögeln, bis sie um Gnade winselte, und sie nackt in den Schnee hinausjagen und ihr keinen roten Heller bezahlen. Wenn sie dann schluchzend an die Tür hämmerte, würde ich sie mit Golfbällen bewerfen. Seit Gloria nicht mehr an meiner Seite ist, erscheint mir das Bett in der Nacht riesig und kalt, und im Haus tun sich ungeheure knarrende Tiefen auf, wenn draußen die ungestillten Februarwinde toben. Ich habe eine Weile Sominex genommen, um die einsamen Nachtstunden zu überstehen, aber aus Angst, ich könnte abhängig werden, habe ich es gestern Abend ohne Pille versucht. Der Schlaf kam bei der Lektüre eines befriedigend langweiligen, gediegenen Buchs über den früheren Präsidenten Gore – ich lese nie Belletristik; so viel Brimborium, und was kommt dabei heraus? Bloß ein weiterer Beweis dafür, dass wir von allen Tieren die elendsten sind –, aber dann wachte ich wieder auf, um mich heulendes, speiendes Dunkel. Verstohlene Schritte waren unter und hinter mir wahrnehmbar, undeutlich wie Fingerabdrücke auf schwarzem Glas. Beim Zusammenbruch der Ordnung hat sich das kriminelle Element als das einzige erwiesen, das über die Mittel und die Rücksichtslosigkeit zum Herrschen verfügt. Ich zahle Schutzgeld an zwei Ganoven, Spin und Phil, die aus dem hiesigen Unterholz kommen, und darf für etwas weniger, als ich vormals an Staats- und Bundessteuern entrichtet habe, auf meinem kleinen Hügel wohnen. Natürlich geht es Spin 60
und Phil nicht darum, die Welt für die Demokratie zu sichern oder zu einem zweckmäßigen, aber menschenwürdigen Wohlfahrtsplan beizutragen. Es ist nicht anzunehmen, dass ich, schutzlos wie ich bin, meinen kleinen Landsitz für immer behalten darf, aber für den Augenblick, im vorübergehenden Durcheinander der neuen Welt, die in groben Umrissen Gestalt annimmt, ist mir ein Platz bewilligt; ich werde bewacht. Die Dienstleistungen sind unter dem neuen Regime nicht so umfassend wie unter dem alten, aber nach wie vor gibt es fließendes Wasser und Strom. Es hat mich amüsiert, dass die Abgesandten der Unterwelt für ihr letztes Inkasso bei mir die Zufahrt freiräumen mussten; dank ihnen konnte ich einkaufen, und das Dorftaxi konnte Deirdre zu mir bringen. Die Schritte, die ich zu hören meinte, hielt ich bei näherem Nachdenken für Einbildung; die Welt ist so leer jetzt. Es gibt Hunderte leer stehender Häuser, in denen die Hungernden und Kranken Zuflucht finden können. Mit dem Bevölkerungsdruck ist es, zumindest eine Zeit lang, vorbei. Ich stand auf, um zu urinieren. Ich wollte meine Nervenzellen nicht erregen, indem ich die Nachttischlampe anknipste, und tastete mich deshalb im Dunkeln zum schmalen blassen Spalt hin, hinter dem runzlig die Nachtbeleuchtung des Badezimmers brannte. Es war das Doppelspalt-Experiment, fiel mir dabei ein, das das Paradoxon der Quantenrealität deutlich gemacht hat – ein einzelnes Photon, das durch beide Spalte gleichzeitig drang, war imstande, sich mit sich selbst zu überschneiden und ein gestreiftes Interferenzmuster zu bilden. Vielleicht wäre ich wieder in den Schlaf geglitten, wenn da nicht dies quälende Bewusstsein gewesen wäre, dass ich kein Sominex genommen hatte. Nach einer unbestimmt langen Zeit, in der ich reglos dalag, gab ich es auf, meinen Körper überlisten zu wollen und ihm einzureden, er schlafe; ich richtete mich wieder auf und wollte die Lampe anmachen, aber nicht die auf meinem Nachttisch, sondern die auf 6l
Glorias, und streckte den Arm aus, über das breite Bett hinweg, das kühl und glatt war wie ein Grabstein aus Marmor. Aufgrund irgendeines Gesetzes, das sich zu Beginn unserer Ehe etabliert hatte, stand der Wecker, eine Quarz-Reiseuhr von Braun, auf Glorias Bettseite. Aber weil sie, wie ich, einen leichten, nervösen Schlaf hatte, drehte sie das Zifferblatt immer von sich weg, damit ihr Blick in einem ruhelosen Augenblick nicht als Erstes auf die Leuchtzeiger fiel. Fluchend reckte ich mich, so sehr ich konnte, um auf den Schalter zu drücken und das kleine schwarze Gehäuse umzudrehen, das in seinen zwei Endlosspulen die Zeit enthielt. Viertel nach zwei! Keine drei Stunden Schlaf! Ich wollte nicht glauben, dass es mir um diese Uhrzeit nicht gelang, wieder einzuschlafen, aber in der langen konturenlosen Eintönigkeit, da ich mich von einer Seite auf die andere wälzte und mein Gehirn sich um und um drehte (wie ein Zementmischer voller trockener Steine, dieselben Steine immer und immer wieder, nie sich einbindend in gießbaren Beton), musste ich hinnehmen, dass es anscheinend wirklich nicht ging. Ich war angespannt, wartete auf die ersten Anzeichen der Dämmerung, auf einen Tonwechsel, ein fernes Auto – auf irgendein Geschehen, welches die entspannende Erkenntnis auslösen könnte, dass es außer meinem kreischenden Gehirn noch eine andere Welt gab. Als der Wind draußen sich legte, wurde mein Gehirn noch lauter, warf sinnlos alles durcheinander, Alphabetspiele und Vorschauen auf morgen (ein Tag, für den keine besonderen Vorkommnisse geplant waren, nur ein Check-up beim Zahnarzt und eine nachmittägliche Stippvisite bei einem meiner Enkelkinder und am Abend eine Fernsehsendung über die kosmologischen Implikationen des neuen, vom ehrwürdigen Hubble-Weltraumteleskop gewonnenen extragalaktischen Beweismaterials, eine Sendung, die zu genießen ich zu erschöpft sein würde, wenn ich jetzt nicht einschlief) und Vergleiche zwischen Gloria und Deirdre (Deirdres Körper 62
war nicht so tröstlich wie Glorias, der war zwar weicher, aber auch wärmer und gab Kalorien an die Bettdecken ab, wohingegen Deirdres harte geschmeidige Glieder selbst in der Hitze des Koitus noch kühl blieben; wenn sie aus dem Haus war und davonfuhr mit diesem anrüchigen Taxi, dessen Leuchtschildchen auf dem Dach ich oben vom Fenster aus zusah, wie es einen Kreis auf meiner Zufahrt beschrieb und sich dann entfernte gleich einem kurzzeitig festgehaltenen Planeten, schüttelte es mich vor Kälte, und ich konnte gar nicht schnell genug einen Pullover anziehen) und allen möglichen klirrenden mentalen Schutt, einschließlich einer steinharten Wut über mein idiotisches Selbst, mein dumm und hilflos rotierendes Gehirn. Ich konnte mich nicht von mir befreien. Jedes Mal, wenn meine Gedanken sich genügend lockerten, um ein leuchtendes, durchscheinendes Unsinnsbild zuzulassen, durch das ich hindurchlugen konnte, stürzte mein gieriges Bewusstsein sich mit dem Frohlocken: Ich schlafe ein auf diesen Lichtschimmer und löschte ihn damit aus, und das Guckloch in selige Ruhe hinein war zu. Im wüsten Blizzard der Gedanken betete ich dann und wann zu den vibrierenden Schatten, ließ den aufrührerischen inneren Non-Stop-Redner stumm die Verse des Vaterunsers sprechen oder bloß die schlichte flehentliche Bitte: Lieber Gott, um Himmels willen, lass mich einschlafen. Aber nichts von meiner Folter wurde mir erlassen. Gott war ein vibrierender Klecks, ununterscheidbar von den verwischten anderen in dem trüben Rothko, den meine Schlaflosigkeit an die Zimmerdecke malte. Das Bett unter mir war ein Lager aus verbogenen Nägeln, aus ausgeglühten Kohlen. Kurz vor Morgengrauen dann wurde die Oberfläche der Stille leicht gekräuselt vom Schnurren eines Autos, das die Zufahrt heraufkam, vom leisen Quietschen der Bremsen und vom Aufschlagen von Glorias New York Times auf der Veran63
da. Dann entfernte sich das Schnurren, das wie ein Strudel im Spülstein geformt war, die Zufahrt hinunter. Die Times kam an die Tür, der Globe nur bis zum Briefkasten. Ich ermahnte mich, dass ich das Abonnement kündigen musste. Dieses tägliche Nachrichtenblatt aus einer anderen erschöpften, kaputten Stadt, das die Altpapierlast, die alle vierzehn Tage im orangefarbenen Recycling-Behälter hinausgestellt werden musste, verdoppelte, war mir von Anfang an als eine versnobte Überflüssigkeit erschienen. Aber ich glaubte immer noch nicht ganz, dass Gloria nicht mehr da war. Sie existierte in meinem Kopf und in meinen Träumen. Manchmal finde ich im Traum ihren blutverschmierten und sogar enthaupteten Leichnam auf dem Wohnzimmerteppich, einem ätherischen rosa und himmelblauen Tabriz, der uns vierundzwanzigtausend Dollar kostete, als Dollars noch zählten. Also kommt die Times weiterhin täglich, mit ihren Berichten über drastisches Vorgehen gegen Einbrecher, über Bürgermeister mit motorisch laufendem Mundwerk, über Müll, der nicht abgeholt wird, über öffentliche Schulen, die wie Gefängnisse geführt werden, und Untergrundbahnen, die überquellen von Verkrüppelten und Kranken. Schließlich fing, auf ein Signal vom Thermostaten, der Heizkörper nah an meinem Ohr zu ticken an, und mein verkrampfter Körper entspannte sich. Bald würden die alten Rohre gesellig tuckern, gluckern und bollern. Ich war nicht gänzlich allein im Universum. Das Haus, solid gebaut zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, ist im Lauf der Jahre ein wenig abgesackt, und bei manchen der Rohre sammelt sich in den Krümmern Kondenswasser, das knallend verpufft, wenn der aufsteigende Dampf mit ihm zusammentrifft. Ich stellte mir das Plastikrädchen im Thermostaten vor, das mit den Stundenziffern beschriftet ist, und den kleinen Zapfen, den ich selber in ein kleines Loch bei der Ziffer 6 gesteckt hatte, und die Hebelwirkung, die dieser winzige Plastikzapfen, dieser Reiter 64
(es gab sie in zwei Farben, rot für den Tag, blau für die Nacht) auf das angrenzende kleine Rad ausüben würde, das ein Quecksilberkügelchen in einem zwei Zentimeter langen Glasröhrchen herabfallen ließ, wodurch ein Stromkreis sich schloss, der den Heizkessel aktivierte. Dieses Quecksilberkügelchen, das auf einer temperaturempfindlichen Spiralfeder aus zwei gehärteten Metallen verschiedener Ausdehnungskoeffizienten balanciert – Messing und Stahl vielleicht –, war mir in dieser endlosen Nacht eher ein Freund als der allmächtige ewige Gott. Aber, werden Gläubige mir entgegenhalten, Gott hat den Menschen den Verstand gegeben, Thermostaten zu konstruieren, und darin offenbart sich Seine gnadenvolle Existenz. Ich war plötzlich zu entspannt, um zu widersprechen. Die Heizkörper waren wieder zum Leben erweckt worden und bereit für die Aufgabe, sich um das Haus zu kümmern. Ich konnte meine Nachtwache beenden. Aber inzwischen war es fast sieben, die Sonne, die mit jedem Tag früher schien, warf einen herzlosen weißen Lichtstreifen unter das Rouleau am Fenster, und es war Zeit aufzustehen, auch wenn ich noch so angeschlagen und desolat war und dazu verdammt, dem Vergessen anheim zu fallen. Der Tag war eine feindselige Herausforderung, der ich mich mit angemessener Feindseligkeit stellen musste. Die lästigen Pflichten täglichen Lebens: Zähne putzen, Wangen und Kinn rasieren und besonders vorsichtig die Partie um die Lippen behandeln, die unweigerlich einen gekräuselten, hochmütigen Ausdruck haben, den Ausdruck eines Fremden. Mein Mund hat sich mit den Jahren in den Winkeln nach unten gezogen und etwas leicht Spöttisches bekommen, wie der Mund einer Totenmaske, die eine Seite hängt etwas tiefer als die andere. Glücklicherweise habe ich immer ein eher markantes Gesicht gehabt denn ein hübsches, 65
der Verfall des Fleisches – die Augenlider so schwer, dass die Falten eine über die andere sacken und beim Aufwachen einzeln zurechtgezogen werden müssen, die beiden Stränge der Kehllappen, straff nur dann, wenn ich das Kinn hochrecke, um es unterwärts zu rasieren – macht mir darum verhältnismäßig wenig zu schaffen. Die bedeutungslose Geographie eines alten Gesichts: der merkwürdige dunkle Fleck seitlich an der Oberlippe, die unerklärlich empfindliche Stelle am linken Unterkiefer, die aktinischen Knötchen, die trotz der enervierenden Behandlung mit Efudex wiedergekommen sind. Eine Geographie ähnlich der des Mondes, in der einst Raum war für hypothetische Kanäle und Seehäfen und die sich nun, da wir da oben herumgegangen sind und alle Poren fotografiert haben, als unerbittlich bedeutungslos erwiesen hat, als Musterbeispiel für Nicht-Signifikanz. Der Pickel.eines Hügelchens hier, ein blaugraues mare dort, eine verrunzelte Schattenseite. Aber keine Anatomie: eigentlich nur ödes Indiz für himmlische Zufälligkeit. Obgleich ich das Rauchen vor mehr als dreißig Jahren aufgegeben habe, als bedauernswerte Tabaksüchtige aus Restaurants und Büros verbannt wurden und gezwungen waren, bei jedem Wetter draußen auf dem Trottoir herumzustehen, vermisse ich es immer noch, und sei es nur deshalb, weil es meinen Geruchssinn betäubt hat. Ein feuchtes scharfes Aroma steigt von den versteckten Stellen meines Körpers auf und zieht mir in die Nase, wenn ich, erst das eine, dann das andere Bein hebend, die Pyjamahose abstreife. Kein noch so gründliches Einseifen unter der Dusche unterdrückt für längere Zeit Gerüche, die ich selbst nicht als unangenehm empfinde, über die Gloria sich aber, meiner Erinnerung nach, immer beschwert hat. Dabei hat sie in der schwülschweren Entspanntheit des Schlafs selbst Düfte ausgedünstet, die ich ihr niemals zum Vorwurf gemacht hätte. Allein im Haus mit meiner unnarkotisierten Nase, wittere 66
ich etwas, das zu meinem Schrecken möglicherweise ein Schwelbrand in einer verputzten Wand oder in einem leicht entflammbaren Winkel des Kellers ist, das aber, so folgere ich, nur das Holz sein kann, das die Kellys einen WegdeShot entfernt in ihrem Kamin verbrennen. Ein paar Kohlenstoffatome in der Luft; wie finden unsere Nasenrezeptoren sie aus der schieren Menge geruchlosen Sauerstoffs und Stickstoffs heraus, und wie digitalisieren sie sie zu Signalen, die das Gehirn aktivieren? Das Gehirn stülpt die Augen vor, Moleküle aber werden den Riechzentren in seinem Innern zugeleitet, hinten in der Höhle des Hinterhirns. Dort treffen sich Materie und Geist. Ich ziehe meinen Körper aus, dusche ihn und ziehe ihm wieder etwas an, Sachen, die sich nur unwesentlich von den vorherigen unterscheiden. Hemd und gebügelter Börsenanzug sind nicht mehr vonnöten; die beigefarbene Cordsamthose und der verfilzte blaue Sweater von gestern tun’s auch heute, darunter saubere Wäsche und ein dunkelbrauner Rollkragenpulli aus frisch riechender Baumwolle. Meine papierbleichen nackten Füße mit ihrem violetten Adernmuster bitten um die Socken und die immer unförmiger werdenden Mokassins. Wir sind die Hirten unserer K örper, die Tiere sind, so dumm und nackt und widerspenstig wie Rinder. Der Tod wird uns erlösen von dieser Verantwortung, die mit jedem Tag schwerer wird. Als ich an diesem Morgen mit meiner Garderobe fertig war und mich anschickte, meinen Spaziergang zum Briefkasten hinunter zu machen, um den Globe zu holen, sah ich vom Fenster aus auf dem Rasen zum Meer hin eines der Rehe, die sich jetzt, da Gloria fort ist, ungestört an unserem Strauchwerk gütlich tun. Das, welches an diesem Morgen gerade einen Halbmond in die Euonymushecke fraß, schien noch nicht ganz ausgewachsen und äugte gleichmütig zu meinem Gesicht auf. Er (ich fand, es war ein halbwüchsiger Bock) hatte ein überraschend grobes Maul, so von 67
vorn betrachtet, um die dunkelgenarbten, gerollten Nüstern herum sah er so klobig und dumm aus wie eine Kuh. Ich begann, Rehe als dumme Wiederkäuer zu sehen, nicht mehr so sehr als heraldische Erscheinungen. Gloria hatte mit ihrem Hass nicht ganz und gar Unrecht gehabt. Das Tier witterte allmählich Gefahr in meinem beobachtenden Blick – mein weißes Gesicht ebenso sehr Signal wie sein Spiegel – und stakte mit gekränkter Würde quer über das Fahnenmastpodest und dann Richtung Zufahrt davon. Zollhoher nasser Schnee war gefallen, während ich mit meiner Schlaflosigkeit gekämpft hatte. Von einem anderen oberen Fenster aus sah ich, dass die schwarzen Reifenspuren des Mannes, der Gloria noch immer die Times brachte, am Fuß des steilen, geschwungenen Teils der Zufahrt abrupt aufhörten, so abrupt, als habe der Pick-up sich in Elias oder Phaetons Feuerwagen verwandelt und sich in die Lüfte erhoben. Dunkle Fußspuren jedoch holten die Geschichte aus dem Reich des Übernatürlichen auf die Erde zurück: der arme Kerl hatte nicht riskieren wollen, aus der Kurve zu schlittern, und war, wie der FedEx-Mann zwei Monate zuvor, nach dem ersten Schneefall dieses schneereichen Winters, ausgestiegen und zu Fuß gegangen. Der Globe-Zusteller macht klugerweise immer beim Briefkasten halt. Als ich meine Füße in die L.L.-Bean-MaineJagdstiefel gezwängt hatte und hinunterging, um die Morgenzeitung zu holen, bemerkte ich zusätzlich zu meinen eigenen Spuren (die nah nebeneinander gelegten Ketten gleichen) andere: die zusammengedrängten vier Pfoten des hoppelnden Kaninchens; den vornehmen weiten, in fast gerader Linie verlaufenden Schritt der Rehe; die zierlichen, wie Stiefmütterchen geformten Abdrücke der Katze der Kellys, die zu uns herüberkommt, um den Y-füßigen Vögeln aufzulauern, die sich von unseren lila Kermesbeeren ernähren; und eine beunruhigende und ungewohnte Fährte, ebenso weit 68
ausgreifend wie die der Rehe, aber größer und von weichen Tatzen herrührend. Ich versuchte, mir ein Bild von dem Tier zu machen, und konnte mir nur einen Löwen vorstellen. Einen verhältnismäßig kleinen Löwen. Man liest, dass in dem Maß, wie die Wälder des Nordostens sich die gerodeten Flächen zurückholen, Bären, Coyoten und Berglöwen nach Süden vordringen. Unsere Spezies hat sich selbst einen schweren Schlag versetzt und taumelt, und die anderen, die fast alle schon ausgezählt waren, rücken vor. Wenn man an die Zeiten denkt, da die Hominiden bloß eine zweifüßige zottelige Fußnote waren, verloren inmitten der donnernden Herden gehörnter Unpaarzeher – warum macht dieser Gedanke uns glücklich? Deirdre wird ein wenig zu familiär. Statt sich meinen sexuellen Launen zu unterwerfen, zieht sie es vor, mich mit ihrem feministischen Furor zu beglücken. «Warum sind Männer so grausam?», fragt sie schwermütig, mit einem kleinmädchenhaften Rascheln ihres Kopfes an meiner Schulter. «Natürliche Auslese», erkläre ich ihr. «Die, die töten, überleben, die, die getötet werden, sind nicht mehr drin im Genpool. Aus demselben Grund», fahre ich fort, «sind Frauen masochistisch. Die Fügsamen werden gevögelt und kriegen die Babys, die Zänkischen kriegen nichts. Die Sanftmütigen werden die Erde besitzen.» Ich bin nicht sicher, ob sie zugehört hat. «Gott, ich hasse Männer», sagt sie, weit fort in ihrer eigenen Welt von Erinnerungen und streng begrenzter intellektueller Zust ändigkeit. Ich gestatte mir, wütend zu werden. «Das erzählst du mir dauernd. Aber wo wärst du ohne sie? Eine faule, ungebildete Koksnudel wie du, was bleibt der schon übrig, außer Männer aufzureißen! Du kannst verdammt von Glück sagen, dass du an einen gutmütigen alten Onkel wie mich geraten bist und 69
nicht an irgend so einen verrückten jungen Stecher, der dich windelweich prügeln würde.» «Du bist nicht so unverrückt, Ben. Du bist verrückt danach, dass ich es dir mit dem Mund mache, habe ich gemerkt.» Sie spielt mit meinen weißen Brusthaaren, wickelt sie sich um den Zeigefinger, indes ihr Kopf mit den unbändigen schimmernden Locken mich an der Schulter und seitlich am Hals kitzelt. Es ist wahr, der Anblick ihrer vollen Lippen, die sich gehorsam um mein geschwollenes Glied wölben, dazu die sittsam gesenkten Augenlider, erfüllt mich mit religiösem Frieden. «Und du kannst nicht genug kriegen von meinem Arsch.» Ja, das auch. Ihrer Vagina, so Deirdres unausgesprochener Vorwurf, war ich weniger zugetan als diesen beiden Öffnungen, die für ganz andere Zwecke bestimmt waren, für Nahrungsaufnahme und Ausscheidung, und insofern war ich pervers. Ich selbst sehe es so, dass ich im Alter von Sechsundsechzig Jahren immer noch auf die Vagina hinarbeite – diese Medusa, die in der Antike Männer in Stein verwandelte, dieses heilige mehrlippige Tor zum beängstigenden fruchtbaren Dunkel. Mit dreimal zwanzig plus sechs Jahren hatte ich noch immer nicht die nötige Reife, mich dem purpurn durchbluteten Gefältel zu stellen, den modrigen Ausdünstungen. Ich war immer noch ein Knabe, der die Augen schloss, wenn die Impfnadel eindrang. Mein Flittchen aus der Arbeiterklasse spürte das und konnte mich deshalb nicht leiden, auch wenn es sich jetzt müde neben mir aufrichtete und sich daranmachte, mich zu stimulieren. «Du reicher Blutsauger du», sagte sie. «Du hast dich nie da unten umtun müssen, nicht?» «Was meinst du mit ?» «Unten im Dreck, wo wir andern uns abschinden. Du hast mich vorige Woche eine geldschindende Fotze genannt. Tau70
send Dank. Nur weil ich nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren bin und mein Leben lang Coupons schneiden kann –» «Kein Mensch schneidet mehr Coupons. Ist jetzt alles Computersache. Im Übrigen bin ich bitterarm auf die Welt gekommen. Im Westen des Staats. Wir haben in einer kleinen Stadt nördlich von Pittsfield gewohnt, in Hammond Falls. Dort gab es einen Fluss und ein paar Fabriken aus Backstein, die meisten waren aber schon stillgelegt, als ich geboren wurde. Unser Haus, das den Eltern meiner Mutter gehört hatte, stand oben auf dem Hügel, am Stadtrand draußen, ein altes Farmhaus. Nur dass es schmal und dunkel war, wie ein Reihenhaus in der Großstadt, nah an der Straße, umgeben von abfallendem Ackerland, auf dem sich wieder Wacholder- und Ahorngestrüpp breit machte. Ich ging auf die U. Mass. als das fast nichts gekostet hat, und lernte meine erste Frau kennen. Wir zogen nach Boston, ich bekam ein Studentendarlehen und ging auf die Business School an der Boston University und wurde Effektenmakler. Ich habe meinen Akzent abgelegt, um mich anzupassen. Ich schlage vor, du legst deinen auch ab, Liebchen, wenn du es in diesem äußerst klassenbewussten Commonwealth zu etwas bringen willst.» Sie hätte beinah gespuckt, nackt wie sie da auf dem Bett kauerte. «Commonwealth, von wegen, du kannst mich mal, Liebchen. Du elender Lügner! Wir müssten uns beide den Mund mit Seife auswaschen, ich, weil ich dir deinen Stummelschwanz lutsche, und du, weil du ein solcher Lügner bist. Sieht man diesem Haus ja deutlich an, wie arm deine Leute waren! Alles voller Erbstücke.» «Die gehören Gloria. Meiner verstorbenen Frau.» «Wieso verstorben?» «Sie ist nicht da, oder?» «Nein, geht ja auch nicht, wenn ich da bin, oder? Es sei denn, sie ist bi.» 7l
In wütendem Ärger – sie widersetzte sich mir, sträubte sich mit jeder Faser gegen mich – packte ich ihren braunen Arm, mit dem sie sich über meinem Bauch abstützte, als sei es der Vorderlauf eines Tieres, das sich zum Trinken niederbeugt. «Wieso <Stummel>? Du bist hier die, die lügt! Wenn er so ein Stummel ist, warum würgst du dann, kaum dass du ihn im Mund hast?» Sie zog mürrisch den Arm .weg, auf dem vier weiße Fingerabdrücke sichtbar wurden. «Au. Na gut, kein Stummel. Aber er stinkt.» «Du hast es nötig! Du riechst nach Ebbe da unten – Ebbe mit Abwassereinmündung.» Deirdre strich sich die Lockenmasse vom einen Ohr zurück und betrachtete nachdenklich das erigierte Gegenteil von Stummelschwänzigkeit, eine Folge der Zorneswoge, die durch mein Blut gebrandet war. «Ihr hasst uns, stimmt doch», sagte sie versonnen. «Schwänze hassen Mösen.» «Aber sie lieben Münder», schnulzte ich und versank in Seligkeit, als sie mich geistesabwesend mit den Lippen umschloss und ihre braune Hand, schmal wie ein Huf, die Haut unten am Schaft auf und ab schob, in ein feuchtes, himmelan steigendes Kribbeln hinein. «Wir hassen euch auch», ließ sie mich hinterher wissen, als ich zu ermattet war, um ihr wehzutun. «Ihr besitzt uns, aber wir hassen euch bis aufs Blut.» Sie war, nach tumultuösem Toilettengespül und Mundwassergegurgel, mit kühlem Kopf und in streitlustiger Stimmung aus dem Bad zurückgekommen. «Wen meinst du mit und <euch>?» «Euch reiche Fieslinge. Ich bin vorher noch nie in einem von euren Häusern gewesen. Normalerweise sind die Freier Typen ohne besondere Herkunft, Iren oder Itaker, du weißt schon, die zu wenig Geld haben, um sich daran festzuklammern. Sie wollen sich nicht dran festklammern. Sie sind zu ka72
tholisch. Im Grund ihres Herzens glauben sie, es ist eine Tugend, arm zu sein. Nur die Juden und ihr Wasps, ihr schämt euch nicht, am Geld zu hängen, ihr sitzt in euren Geldhaufen und wälzt euch darin und schmiert euch von oben bis unten damit ein – widerlich! Ihr haltet euch für so toll, dass ihr glaubt, Gott mag es, wenn ihr vor Reichtum stinkt.» «Liebling, ich gebe dir Recht. Ich muss lernen, Geld auszugeben. Was du da eben gemacht hast, war jeden Welder wert.» «Zweihundert.» «Sonst kostet es immer hundertfünfzig.» «Du bist heute ganz schön gekommen. Ich war fast erstickt.» «Ich liebe es, wenn du fast erstickst.» «Das ist mir klar, du Wichser. So hat mein Vater mit mir angefangen, ich musste ihm einen blasen.» Ihre Augen verengten sich, als sie in die Vergangenheit sah und sich anschickte, mein Geständnis mit ihrem zu übertrumpfen. «He», sagte ich, «muss ich mir das anhören? Ich bin kein Therapeut. Sonst fange ich noch an, dir was pro Stunde zu berechnen.» «Ich war acht. Mein Kopf war in genau der richtigen Höhe für ihn. Er hat gesagt, los, tu’s, ich wusste ja nicht – ich dachte, vielleicht ist es ja ganz normal. Er war mein Vater, er hat gesagt, ist in Ordnung so, wem sonst sollte ich denn vertrauen.» «Du hättest zu deiner Mutter gehn können.» «Chchrrr!» – ein katzenhaftes Fauchen. «Die war zu nichts nutze. Die hätte mir eine geknallt und gesagt, ich lüge. Die wollte nichts wissen. Er war auch für sie alles, was sie hatte.» «Es tut mir leid, Liebes, dass ich gesagt habe, du lügst.» «Na gut. Ist nett von dir, dass du das sagst. Ich bin eine Nutte, und ich stehle, aber lügen tue ich im Allgemeinen nicht. Es ist zu verwirrend, es schafft eine andere Welt. Des73
halb bleibe ich bei der Wahrheit, im Allgemeinen. Außer als ich gesagt habe, du hättest einen Stummelschwanz. Du hast einen schönen Schwanz.» «Brich mir nicht das Herz.» «Komplimente verträgst du nicht, was? Du hasst mich zu sehr. Du hasst es, dass du mich brauchst. Männer sind so. Muss ein komisches Gefühl sein, außen an sich dies Ding hängen zu haben, das du ständig füttern musst.» «Ich füttere dich», sagte ich und sah mich gezwungen, sie zu umarmen, ihre biegsame schmale Taille, die lange braune geschmeidige Partie zwischen den winzigen Negativen des Bikinis, und ich fühlte, wie sie hart wurde, weil mein eingestandenes Bedürfnis sie erschreckte und weil sie zu kalkulieren versuchte, wie sie den größten Vorteil daraus schlagen könnte. Ich war ihr Sklave, der Sklave meiner Sklavin. Ich flüsterte ihr ins Ohr, dass ich, bevor ich st ürbe, Ladungen noch und noch in sie pumpen wollte, in ihren Mund, in ihr kleines gekräuseltes Arschloch, in ihre allgewaltige warme kosmische Fotze, alles wollte ich in sie pumpen, es sollte so etwas wie eine klebrige silbrige Brücke ins Jenseits sein, und sie sagte mechanisch: «Mhm, mhm», und taxierte, wie meine Verrücktheit am profitabelsten zu nutzen sei. Unsere Mütter wischen uns den Hintern ab und loben uns für unsere ersten gebrabbelten Worte, unsere Pflegerinnen beim Finale räumen auf und brummeln begütigend im Durcheinander unseres Sterbens, die Frauen aber, die, ganz gleich aus welchen Motiven, unseren Samen durch eine ihrer Öffnungen in sich aufnehmen, liefern die Bestätigung, auf die es ankommt. Sie trinken die milchigen Tränen unserer Lenden. Durch die Körper von Frauen tragen Männer ihre gequälten Händel mit dem Universum aus und produzieren dabei Serienmord und morganatische Ehen, Todesdrohungen, Liebesbriefe und Romane, mit denen sich eine Morgan Library füllen lässt. Frauen verlangen das alles nicht, das ist 74
richtig. Aber was will das Weib? So die berüchtigte, in aller Unschuld gestellte Frage eines in Verruf geratenen Weisen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. In den Pausen zwischen unseren Liebesrunden haben Deirdre und ich Gefallen daran, zusammen das Haus zu erkunden. Nackt. Ich drehe den Thermostaten ganz hoch für dieses Abenteuer. Gloria hat ein sparsames kaltes Haus geführt und, wenn ich nicht hinsah, selbst bei grimmigstem Januarwetter unser Schlafzimmerfenster heimlich ein paar Zentimeter breit geöffnet. Sogar das Sturmfenster hat sie hochgeschoben, obgleich sie sonst doch immer sagte, das könne sie nicht, weil sie sich an den kleinen Schnappverschlüssen die Fingernägel abbreche. Aber wenn sie die Möglichkeit hatte, meinen alten grauen Kopf am Kissen festfrieren zu lassen, ging sie dieses Risiko gern ein. Als ich begann, im Bett eine Strickmütze zu tragen, machte sie sich über mich lustig und zog sie mir ab, wenn ich schlief, um sicherzustellen, dass ich mit Schnupfen und bösem trockenen Husten aufwachte. Meine schlanke junge Gefährtin und ich erforschen selten betretene Gemächer des weitläufigen alten Hauses. Es wurde von einer der legendären reichen Bostoner Familien gebaut, die wegen der Sommerkühle an diese Küste kamen, als es noch keine Klimaanlagen gab und sie mit ihren unbesteuerten Dollars Heerscharen italienischer Maurer und schottisch-irischer Zimmerleute in Dienst nehmen konnten. Sieben Kamine, alle verschieden, in ionischem, dorischem und im Wohnzimmer gar korinthischem Stil. Palladiofenster, säulenumstandene Veranden. Ein voll ausgebautes zweites Stockwerk und ein Keller mit Stuckdecke. Im Lauf von mehr als hundert Jahren hat der Stuck seinen Halt verloren und ist in Brocken heruntergefallen, vor allem in den entlegeneren Winkeln, einschließlich eines mysteriösen Raums, dessen Fußboden aus dem schrundigen Grundgestein besteht, auf dem das Haus errichtet ist. 75
Diese krude Kammer, in der Konstruktion und Urmaterie aufeinander treffen, ist mir nie geheuer gewesen. Sie liegt hinter der Waschküche und dem Dienstbotenbad mit der klobigen alten Porzellantoilette, die oft monatelang nicht gespült wird und eine Schicht aus Stuckstaub auf ihrem Wasseroval trägt. Ein Dampfrohr hat in diesem hintersten felsigen Kellerloch sein Ventil, und das Zischen, wie von einer gefangenen Schlange, erschreckt uns. Deirdre stößt einen Schrei aus, so sehr ekelt sie sich vor dem trockenen Schmutz: seit Jahrzehnten nicht aufgefegte Stuckbröckchen, Tüncheflocken, Backsteinkrümel, Mäusekotklümpchen, Mäusegiftbrösel, alles bleibt an ihren klebrigen nackten Sohlen haften. In der Inbrunst dieses sonderbar fremden Augenblicks sage ich, dass ich ihr die Füße sauber lecken werde, auch wenn ich daran sterben müsste. Meine Genitalien baumeln in der klösterlichen Kellerluft; ich liebe es, wie Deirdres Körper neben dem meinen leeren Raum verdrängt. Von ihrem Fleisch und ihrem Haar weht es mich zart modrig und ölig an, Aromen, die mir tief in die Nasengänge dringen. Ich berühre sie immer wieder, ganz leicht und schuldbewusst, so wie wir eine glatte Statue oder die raue Oberfläche eines Ölbilds berühren, wenn der Museumswärter gerade nicht herschaut. Wir gehen die Kellertreppe hinauf. Nackt bewegen wir uns durchs Parterre, an Glorias Chippendalestühlen, am Mahagonitisch mit den vielen Klappen, an der teakfurnierten Vitrine mit vorspringendem Mittelteil vorbei, die mit Porzellan aus Meißen und Limoges gefüllt ist und mit filigranen, rubinrot gestielten viktorianischen Weingläsern, und unsere schmutzigen Füße hinterlassen Kellerspuren auf dem rosa und blauen Tabriz. Ich suche den Teppich nach Blutflecken ab, sehe aber keine im kahlen Winterlicht. Frohlockend, angstvoll empfinde ich unser gemeinsames Eindringen als systematische Entweihung. Unsere besudelten bloßen Füße, 76
unsere paradiesische Nacktheit. Wenn der weiße FedExTruck plötzlich mit Schwung um die Kurve käme, würde der Fahrer uns durch die Scheiben der Palladiofenster sehen. Ich bekomme eine Erektion, als ich, mit diesem knabenhaft geschmeidigen Körper neben mir, die teppichbelegte Treppe hinaufgehe. Ich äuge zu dem Mädchen hin, es hat mürrische dicke Lippen und eine plumpe stumpfe Nase – ein einfältiges Tiergesicht. Wir inspizieren den ersten Stock, die Zimmer, in denen die Jungen gewohnt haben, bevor sie fortgingen und heirateten. An den Wänden hängen noch Poster mit Rockstars und Autos. Meine Geliebte, durchfährt es mich schamheiß, ist jünger als der jüngere meiner beiden Stiefsöhne. Unsere Beziehung scheint abrupt etwas Ausbeuterisches zu bekommen. Ich greife nach dem kühlen spitzen Ellbogen des Mädchens und führe es die Hintertreppe hinauf zum «Saferaum» im zweiten Stock, wo es eine zusätzliche Alarmanlage gibt, die mittels eines Schalters in einem Wandschrank deaktiviert werden muss; hier verwahrt, hier verwahrte Gloria ihre besonderen Familienschätze – von Ururgroßmüttern geerbte Schmuckstücke, so überladen gefasst, dass man sie nicht tragen kann; silberne Servierteller und Teekannen, so schwer, dass man sie für geringere Anlässe als Staatsbankette nicht hervorholen mag; riesige Punschterrinen aus geschliffenem Glas; Kartons voller Erstausgaben aus der Zeit der Jahrhundertwende, die ihr Großvater mütterlicherseits für viel Geld, zusammen mit seinen Savile-Row-Schuhen und Abendanzügen, aus England kommen ließ und die er, während er las, mit einem kleinen elfenbeinernen Papiermesser, schräg in der siegelringgeschmückten Rechten gehalten, aufschnitt. Damals haben sogar Männer, vermögende Männer, Wert auf Bücher gelegt, als seien es kostbare Kästchen, in denen ein entscheidendes Geheimnis, ein Schlüssel zum Leben vielleicht, enthalten sein könnte. Auch hier zischt ein Dampfrohr, es überheizt die kleine 77
Kammer mit der schrägen Decke. Das einzelne Fenster, ein Mansardfenster, geht auf die tödliche See mit ihren zerklüfteten Inseln und dem von einer verschleierten Sonne herrührenden Zinnglanz hinaus. Deirdre, umgeben von all diesen Schätzen, erschrickt vor etwas, das in ihrem Innern vorgeht – ein chemisches Bedürfnis nach einem schnellen Crackpfeifchen vielleicht oder eine jäh aufwallende Begehrlichkeit. Ich habe ihr zu viel gezeigt. Ich notiere mir im Kopf, dass ich das Vorhängeschloss auswechseln muss, für den Fall, dass sie und dieser zuhälterische Taxifahrer in krimineller Absicht wiederkommen. Glorias splendide Vorfahren, so guten Muts bei ihren luxuriösen Besitzanhäufungen, zischen uns vernichtend in den Ohren. Als schäme sie sich ihrer dürftigen Vorzüge – ihres einstweilen jungen und gesunden Körpers, ihrer Bereitschaft, die Hure zu spielen –, verschränkt Deirdre fest die mageren Arme vor den kleinen Brüsten. Die weindunklen Spitzen sind hart, als sei ihr kalt. Furcht springt wie ein Geruch von ihrer Haut auf meine über, bleibt an mir haften und entschärft meine Erektion. Was wissen wir über die ägyptischen Grabräuber? Wir wissen aufgrund von Schlussfolgerungen, dass sie mutig waren und den Fluch der Götter und Tod durch Folter riskierten. Sie waren gewitzt, drangen sogar bis zur innersten Kammer der großen Cheopspyramide vor und räumten sie aus, bevor tausend Jahre später die Archäologen kamen. Sie waren beharrlich bei ihrer Schatzsuche und hatten bis zum Jahr 1000 vor Christus jedes bekannte Steingrab geleert, nur das des goldgesichtigen Kindkönigs Tutanchamun nicht, das zufällig bei der Freilegung eines anderen Grabs durch einen Geröllhaufen verschüttet worden war. Grabräuberei war ein Beruf, ein Handwerk, eine Zunft, und wurde von ganzen Dörfern betrieben, zum Beispiel vom Dorf Gourna, das über dem Tal der Könige lag und möglicherweise durch tief ausgeschachtete 78
Brunnen mit den Kammersystemen der Königsgräber verbunden war. Die Tunnel der Diebe sind in ihren Ausmaßen, ihrer Raffinesse den sanktionierten Gängen der pharaonischen Ingenieure ebenbürtig. Den gottbegnadeten technischen Errungenschaften der Grabmalerbauer – vorgetäuschte Treppen, monolithische Fallgruben, im Mauerwerk ausgesparte schmale Korridore, viele hundert Fuß lang – standen die Leistungen der frevlerischen Diebe in nichts nach; nicht einmal das Labyrinth des Amenemhet, errichtet an den Ufern des Sees Möris, war vor ihnen sicher. Die Diebe waren zornige Leute und verwüsteten alles, was sie nicht stehlen konnten; sie hebelten riesige Sarkophage auf, rissen Mumien in Stücke, wie Schakale, die über einen Leopardenkadaver herfallen, und schleuderten kostbare Gefäße und Statuen mit solcher Wucht gegen die Wände, dass immer noch Dellen und Flecken aus reinem Gold davon zeugen. Vielleicht war ihre Wut eine Waffe, mit der sie die Götter bekämpften, denn deren Rache fürchteten sie ja trotz allem. Aber ihre Freveltaten waren wohlgetan, sie erfüllten, wie moderne Ökonomen uns erklären, einen nützlichen Zweck, indem sie das Gold wieder in Umlauf brachten – indem sie die ungesunde Investition im Untergrund rückgängig machten und der gravierend unausgeglichenen Handelsbilanz entgegenwirkten, die zwischen dieser Welt und der jenseitigen bestand. Tutanchamuns goldener Sarg allein wog schon zweihundertfünfzig Pfund. Was taten die Räuber, den klebrigen Staub der Verdammnis atmend, sich durch Spalten von mörderischer Enge kratzend, um sehen zu können? Die Bauleute meißelten beim Licht der Sonne, das mittels runder Reflektoren aus Bronze um die Ecken herum gelenkt wurde und, zitternd wie Wasser, die tiefsten Tiefen mühevoll ausgehöhlten Kalksteins erhellte. Aber einer, der nicht dazugehörte, der Mitglied einer Plünderermannschaft war, riskierte Verhaftung durch die Priesterpolizei und Tod durch langsames Bauchaufschlitzen, Hautabzie79
hen oder Pfählen. Keine Folter war zu extrem für die Feinde der Unsterblichkeit; wir brachten unsere Opfer nicht um die flüchtige Illusion des Lebens, wir raubten ihnen eine Ewigkeit. Wir krochen dahin und hielten Lampen aus durchscheinendem Calcit in der ausgestreckten Hand, sodass der Schein nach unten fiel und auch nach oben drang, der gezwirbelte geschlängelte Docht war in einer Kerbe festgeklemmt, und unsere Finger wärmten sich am Alabaster. Der Geruch des Sesamöls war stark, er vermengte sich mit dem Geruch unserer schwitzenden Körper und vergrößerte ihn, so wie die flackernde Flamme unsere Schatten vergrößerte, die rings um uns wogten und wallten, während wir uns Zoll um Zoll in der Totenstille voranarbeiteten. Jedes Stück Boden musste untersucht werden, ob es eine Falle war – ein Abgrund oder eine in empfindlichem Gleichgewicht gehaltene Steinplatte, die unsere zerschmetterten Körper auf die Gerippe vor uns da gewesener Eindringlinge kippte. Das Licht war rötlich auf den gemalten Wänden; unsere Flammen waren orangefarben und ganz unten blau, ein Farbübergang wie im Innern einer Blume, am Fuß jedes einzelnen zarten Blütenblatts. Wir waren zu zweit; wenn ein Docht ausging, konnte er am andern wieder entzündet werden. Wenn ein jäher Luftzug aus einem abzweigenden Gang beide gleichzeitig auslöschte, bedeutete das unser Verderben in diesen unterirdischen Tunneln, es sei denn, es gelang mir, mit Hilfe des trockenen Grases und der Flintsteine, die ich in meinem ledernen Gurtbeutel bei mir trug, neues Feuer zu entfachen. Aber diese Methode hatte ihre Tücken, und die erzürnten Götter würden genügend Atem haben, die Flamme wieder auszublasen. «Die Luft wird schlechter», murmelte mein Komplize. Obgleich mir die Kehle mit Furcht verstopft war wie mit einem Stoffpfropfen, wagte ich zu sagen: «Kann sein, wir nähern uns dem Haus des Goldes, wo die Mumie mit der faulenden Nase und der Urne voll stinkenden Gedärms regiert. 80
Die Pest soll Horus holen! Möge Anubis im ewigen Leben seine eigenen Exkremente verzehren!» Die Toten und ihre Götter zu beleidigen stärkte unseren Mut. Wir hatten den Ersten Göttlichen Gang geschafft, den mit dem dreifachen Tor, das zu umgehen uns zwei Monate zermürbender Arbeit gekostet hatte, nachts, in den stillen Stunden, wenn die Wachen der Priester schliefen, zufrieden mit ihrem Bestechungsgeld und betäubt vom gegorenen Gerstentrank. Wir hatten die Halle der Hindernisse bewältigt; ihr Gewirr von Scheinkorridoren und trügerischen Treppen war vor langer Zeit schon entschlüsselt worden – man brauchte nur der Spur aus Hennapulver zu folgen, die ein Dieb gelegt hatte, der jetzt ebenso tot war wie der Herrscher des Alls in seinem Onyxsarkophag. An den Wänden eines langen, absteigenden Korridors brachte der Schein unserer Lampen leuchtende Farben zum Leben – überfüllte, doch stille Szenen ländlicher Freuden am Nil: Saat, die gesät, Getreide, das geerntet, Fische, die herausgezogen wurden aus den durchsichtigen, als blau ineinander gewebte Zickzacklinien gemalten Wellen; Kühe wurden gehütet, ein Nilpferd wurde gejagt, Arbeiter errichteten einen Tempel, und Tänzerinnen mit überreichem geflochtenen Haar umrandeten ihre großen, sanft starrenden Augen mit Kajal. Schön gefiederte Ibisse und Enten, würdevolle Spießböcke und Affen leisteten den braunen breitschultrigen Menschengestalten Gesellschaft bei den Riten des täglichen Lebens, eines Lebens, dessen der tote König in seinem Haus des Goldes immer noch teilhaftig war, umgeben von seinen juwelenbesetzten Möbeln und Fayencepuppen – den treuen Uschebti – in der Kammer, zu der wir noch nicht vorgedrungen waren. Jetzt zeigten die Wände auf beiden Seiten eine Prozession, die Schätze zu dieser Kammer trug, und Hieroglyphenlisten der Gebete, die auf der Bootsfahrt ins Land der Toten zu Thot und Ra gesprochen werden mussten. Die Steinmassen um und über uns drückten sich uns schwer aufs Gemüt, und 8l
das Atmen wurde noch mühsamer. Jahrhundertelange Reglosigkeit hatte die Luft verdickt. Wir bahnten uns vorsichtig einen Weg durch heruntergefallenes Trümmergestein und gelangten in die Halle der Wahrheit, wo Wandbilder zeigten, wie Osiris das Herz des Monarchen wog und Ammut daneben hockte, bereit, das Herz zu verschlingen, falls es für zu leicht befunden würde. Die Malerei wirkte im Flackerlicht unserer Lampen hastig, skizzenhaft. Der König musste gestorben sein, bevor das Grab ganz fertig war, denn die Wandbilder hörten plötzlich auf. Die Wände wurden rau – Meißelspuren, wild hinpeitschend im unsteten Schein unserer Flammen –, und die Decke wurde niedriger. Es war schwer zu sagen, ob der enger werdende Gang, den unsere Lampen trüb erhellten, zufällig unvollendet geblieben oder ob er eine beabsichtigte Falle war. Die schräg abfallende Decke zwang uns, die Köpfe einzuziehen und die Knie zu beugen. Als wir auch gebückt noch zu groß waren, krochen wir im bleichen Staub wie verkrüppelte Tiere, behindert durch die Notwendigkeit, vorsichtig die Lampen vor uns herzuschieben. Unser Doppelschatten überspann den schrumpfenden Raum mit einem Spinnengeflecht. Die Wände wölbten sich nach innen, sodass wir nicht länger nebeneinander kriechen konnten. Ein leiser Hauch, feucht, als atme ein Nilgeist ihn aus, wischte über unsere Gesichter und ließ unsere empfindlichen Flammen zucken. Als sie sich wieder beruhigt hatten, machte ich im staubigen Dämmer einen Sturz aus, eine Oberschwelle, die schief über einem Geröllhaufen hing. Die unregelmäßige, verzerrte Öffnung hätte, ohne dass auch nur ein Zollbreit Luft geblieben wäre, Kopf und Schultern eines sich schlängelnden Mannes durchgelassen. Mein junger Gefährte hatte sich neben mich gezwängt, obgleich der Platz für einen einzelnen Körper schon nicht ausreichte, und gesellte seine Lampe zu der meinen, um in den Raum hinter der Öffnung hineinzuleuchten. Am äußers82
ten Ende unseres vereinigten Lampenscheins erblickten wir etwas, das wie ein riesiges Goldgesicht aussah. Gold: die Haut der Gottheit. Das Weiß der Augäpfel, aus Alabasterplättchen zusammengesetzt, hob krass die schwarze Iris hervor. Schatten flackerten über die unwandelbaren großen Züge hin und täuschten eine Regung vor. Es war, als erwäge die träge Gesteinsmasse rings um uns, etwas zu tun. Wir sprachen im Flüsterton, damit wir mit unseren Worten nicht die Lampen auslöschten. «Du gehst voran», sagte ich. «Nein», kam die gehauchte Antwort, und meine Flamme schrumpfte auf ihren blauen Fuß am ausgefransten Dochtende zusammen, bis sie dann, orange sich aufrichtend, wieder zu Kräften kam. «Du, Herr», flüsterte er mit seiner kleinen Stimme heiser drängend nah an meinem Ohr. Er war in Angstschweiß gebadet; ich roch es durch die Staubschicht hindurch. «Du bist jünger und schlanker», sagte ich. «Aber du bist stärker und mutiger. Du hast mehr Leben erfahren.» «In der Kammer ist nichts», behauptete ich und kämpfte gegen die Panik an, als sein schlüpfriger, duftender Körper sich in unserem Korsett aus stummem Stein gegen meinen presste. «Da ist etwas.» «Unser Glück, möglicherweise», sagte ich und versuchte, mich nach hinten wegzuschlängeln, damit er vorwärts rutschen konnte. «Beute, um ein Leben in Saus und Braus zu verbringen. Geh hinein, sage ich dir. Da ist nichts.» «Nichts ist nicht nichts», stöhnte er. Seine sandigen nackten Knie rammten sich wie im Krampf gegen meine Brust; in der luftabschnürenden Nähe roch ich sein unbeschnittenes Geschlecht. Wie von einem unwirschen Atem gestreift, verloschen unser beider Lampen. Vollkommenes Dunkel umschloss uns.
II. Das Puppenhaus Weißes Licht schneidet sich jeden Morgen, in strikter Übereinstimmung mit dem Planetenuhrwerk, ein, zwei Minuten früher unter dem Rouleau durch. Das Licht ist kahl, aggressiv, eine himmlische Umlaufzeit entfernt von den einlullenden, gefilterten Morgendämmerungen des Dezembers und Januars, Dämmerungen, die uns dazu einladen, liegen zu bleiben und noch eine halbe Stunde köstlichen körnigen grauen Schlafs zu trinken. Die nackten, mit Salz und Sand bestreuten Straßen, die struppigen Basenflächen und Wiesen, auf denen das Gras in verfilzten braunen Knäueln liegt wie eine Art Teppich, die metallischen Äste und Zweige der winterlich entlaubten Bäume, die Steinchen, die der Schneepflug am Rand der Zufahrt aufgewirbelt und über den Asphalt verteilt hat: alles wird heftig bedrängt von diesem Licht und in eine schmerzhafte Deutlichkeit hineingelockt. Die Erde ist wie eine nackte Frau im Bad, die in einem peinlichen Moment ihrer Toilette von einer Blitzlichtkamera überrascht wird. So runzlig und hässlich sie ist, wir begehren sie. Andere Vorfrühlingszeichen: An einem regnerischen Tag sind die Blattknospen des Flieders sichtlich gelb, pointilles, die mit jedem Tag dicker und saftiger werden in der grauen Luft. Kleine Moospolster bilden sich im Rasen, noch bevor die Schneeglöckchen ihre grünen Nasen aus der verkrusteten Erde im Staudenbeet strecken. Die Vögel werden lauter im Wald; die Krähen halten unruhige, ominöse Massenversammlungen in unseren Eichen ab, und die Trauertauben verstärken ihr kehliges Gurren, während sie sich in Scharen im Dickicht aus Ebereschen, Sumach und Sassafras rechts von der Zufahrt, unterhalb des kurzen geradeaus verlaufenden Abschnitts, einfinden. Kumuluswolken tauchen auf und ver84
teilen sich über einen Himmel, der von arglosem Kobaltblau ist, und wie die See jetzt ihre Schaumkronen trägt, hat etwas Unbekümmertes, Zwinkerndes. Auch wenn der Märzschnee, ergiebig, aber leicht verderblich, uns für ein paar Tage in den Bilderbuchwinter zurückversetzt: die Frühlingszeichen halten an und dehnen sich aus – Risse im wohligen Gehäuse winterlicher Sterilität. Weiter landeinwärts färben die Weiden am Teich auf dem Willowbank-Golfplatz sich über und über gelb, und an der Route 128, die früher auf viele Meilen hin von überhängenden Bäumen gesäumt war, stehen die übrig gebliebenen Ahorne in destilliertem roten Dampf. Ich war Student an der U. Mass. in Amherst, als ich zum ersten Mal auf der Route 128 führ. Ich war neunzehn, fast zwanzig. Im Frühling, als das helle Licht hervorkam und die Luft die Bäume erwärmte und chartreusefarben schäumen ließ, stieg uns ein Durst in die Kehle, in dieser trostlosen binnenländischen Uni dort, dieser tristen satanischen Diplomfabrik, ein Verlangen danach, das Meer zu sehen, Sand unter unseren nackten Füßen zu spüren und den aristokratischen Duft der Salzluft zu riechen. Josh Greenstein, mein Zimmergenosse, besaß ein weißes Pontiac TransAm Cabrio Baujahr 69, das wie eine höckerige lange Badewanne aussah; wir mussten kichern, wenn wir uns hineinsetzten, als ob es wirklich eine Wanne wäre, voll bis zum Rand. Josh und seine feste Freundin, Hester Rosenthal, die entgegen allen Erwartungen blond und blauäugig war, saßen vorn, und wir auf der Rückbank bekamen den ganzen Wind ab, er bombardierte unsere Trommelfelle und spannte unsere Gesichter so trocken und straff wie die Haut von Pauken. Wir fuhren nach Norden zur Route 2 und dann nach Osten durch Concord zur 128. Die Straße, die an den Rändern schon mit den Anfängen des gläsernen High-Tech-Booms gesprenkelt war, führte durch Burlington, Wakefield, Lynnfield, Peabody, Danvers, Beverly und Manchester nach Wingershaek Beach in West 85
Gloucester. Oder wir bogen nach Norden ab und nahmen die Route l nach Crane Beach bei Ipswich, oder wir fuhren noch weiter hinauf, nach Plum Island nahe Newburyport. In der Gegend gab es hier und da mit Brettern verkleidete Häuser, die am Rand von grünenden Wiesen und frisch gepflügten Feldern hockten, zwischen stahlblauen Teichen und knospenden Waldungen. Forsythie, Hartriegel, Magnolie, Kirsche, Apfel überlappten einander in einem Blütenquilt. Kurz vor Topsfield senkte sich die Route l und überquerte den Schwall eines angeschwollenen braunen Flusses. Dieser altehrwürdige Superhighway verlief gerade wie ein Lineal von Boston nach Newburyport, setzte wie mit Siebenmeilenstiefeln über die Hügel hinweg. Als wir auf die l A überwechselten und an der Küste entlangfuhren, erstreckten wintergebleichte Salzmarschen sich bis dort, wo Himmel und Meer zusammentrafen. Es gab mit Gebüsch bewachsene Inseln in den Marschen und lange gerade Gräben. Salzheu (gibt es das?) war in malerischen Haufen auf Holzgestelle geschichtet. Die Luft, die uns ins Gesicht peitschte, war voller Salz, und Josh und Hester sangen zusammen mit dem Radio «Delta Dawn», «Rocky Mountain High», «Killing Me Softly with His Song». Auf dem Strandparkplatz anzukommen hatte etwas von einer Heldentat – wir hatten es uns ausgemalt, uns vorgenommen, und nun, nach vielen Meilen und vielen Songs und nicht zu vielen Zwischenstopps, um zu pinkeln und einen Hot Dog zu essen, hatten wir es geschafft. Und wer ist die, die neben mir sitzt und ein im Wind flatterndes rotes Kopftuch trägt und ein Blinzeln, das das flächige Gesicht romantisch und emotionslos aussehen lässt wie das einer hageren Indianersquaw? Es ist meine feste Freundin, meine Geliebte und meine erste Frau, die hellhaarige Perdita. Sie war ein schlaksiges, schweigsames, häufig sonnengebräuntes Mädchen, das im Hauptfach Kunst studierte, mir dann fünf Kinder gebar und fast bis zum Ende des zwanzigs86
ten Jahrhunderts meine ergebene, obschon wenig begeisterte Gattin blieb. Unsere Kinder, die es mit dem Heiraten und sich Vermehren nicht so eilig hatten wie wir, haben uns inzwischen zehn Enkel beschert – neun Jungen und, zuletzt, ein anbetungswürdiges kleines Mädchen. Rasch hintereinander geboren, wurden unsere Kinder stets in der Gruppe gefüttert, gebadet und auf Ausflüge mitgenommen, und bis zum heutigen Tag ist ihr Umgang untereinander von symbiotischer Achtung und Rücksichtnahme bestimmt. Zum Beispiel haben sie streng in der Reihenfolge geheiratet, in der sie geboren worden sind, und nach dem nämlichen Prinzip sind sie auch beim Zeugen ihrer jeweils zwei Kinder vorgegangen. Zur Lebensweise ihrer Generation gehört es, stabile kleine Familien zu haben, im Gegensatz zu den großen, unordentlichen, am Ende zerrütteten Haushalten, in denen sie selbst aufgewachsen sind. Zum weiteren Beweis ihres Konservatismus sind alle in diesem Staat geblieben und wohnen, je eine Autostunde voneinander entfernt, nahe der Route 128, sodass der alte Highway für mich sowohl mit Familie als auch mit romantischen Erinnerungen verknüpft ist. Sein Hinterland, außer Sicht jenseits der schütter gewordenen Baumreihen und riskant scharfen Abzweigungen, ist für mich reich an kleinen Gärten, elektronisch übermäßig bestückten Wohnzimmern, an Fußballplätzen und Grundschulaulen, wo ich, schlecht vorbereitet wie ich war, versucht habe, die Rolle des Großvaters zu spielen. Der katastrophale Rückgang der Weltbevölkerung hat seltsamerweise nicht den großen Wald zwischen Peabody und Danvers wiedergebracht, den ich in Erinnerung habe. Vielleicht gibt es so etwas nicht, eine Wiederkehr der Jugendlandschaft. Die hohen, frisch belaubten Zweige wischten an Perditas Profil vorbei, ein Zipfel des roten Kopftuchs schlug ihr rhythmisch gegen die Schläfe wie ein rasender Puls, und sie blinzelte mit stoischer Ruhe, ihre Haselnussaugen schmale 87
Schlitze, ihre gespitzten Lippen rissig und trocken. Wir rauchten, und von unseren Zigaretten flogen uns immer wieder Funken und heiße Asche ins Gesicht und auf die Kleider. Als das Ziel endlich nahte, berieten wir uns flüsternd, ob wir Josh bitten sollten, auf der Rückfahrt das Verdeck hochzuklappen. Er studierte im Hauptfach Chemie, wollte sich auf gastroenterologischem Gebiet spezialisieren, und trug dicke Brillengläser, hatte eine schlechte Haut und konnte sehr empfindlich sein, wenn es um das ging, was er für seine Vorrechte hielt. Hester, diese flachshaarige Jewish American Princess, hatte kein Gespür für das Unbehagen derer auf der Rückbank. Im Tumult des Fahrtwinds und der vorbeiflitzenden Landschaft heftete ich meine Augen auf Perditas nackte Knie, die schon gebräunt waren vom Herumsitzen in halb ausgezogenem Zustand auf den Rasenhängen rings um den Campusteich. Als wir schließlich am Strand waren und lärmend ans Wasser gingen, um unsere Zehen über den Rand des Kontinents zu strecken, zog sie ihren Winterrock hoch und entblößte die langen schmalen Beine bis zur Schenkelmitte. Den Rock mit einer Hand gerafft haltend, beugte sie sich über den flachen, gleitenden Wellensaum wie eine Art Sammlerin, eine zeitlose Gestalt von Millet, und verharrte so, bis das sacht klatschende Wasser ihr mit seiner Eiseskälte in die Knöchel biss und sie hastig und vor Schmerz lachend zurückstakste. Als wir alle zusammen geschützt hinter einer warmen Düne lagen, fielen die Sandkörner eines nach dem andern von ihren trocknenden bloßen Füßen, wie der Sand in einem Stundenglas, der still auch das friedlichste, von Katastrophen verschonte Leben verrinnen lässt. Ich schwor mir, mein Leben in Sichtweite des Meers zu verbringen, und ich habe mich daran gehalten. Ihre Füße waren exquisit, wenn ich es mir überlege – die Ballen an den Sohlen dick und rund, die kleinen Zehen vom Bo88
den hochgewölbt und deutlich rudimentär. Sie war die friedfertigste von allen Frauen, die ich gekannt habe, hat sich mehr als die anderen von den Strömungen der Natur tragen lassen. Oder vielleicht entspricht das bloß dem Bild, das ich von ihr in Erinnerung haben möchte: das Gedächtnis ist nicht minder subjektiv als unsere anderen natürlichen Fähigkeiten. Ihre Gene kommen mir jetzt, auf ein Viertel abgeschwächt, aus den Gesichtern meiner Enkelkinder entgegen. Bisweilen erschreckt es mich, wie ähnlich meine Töchter ihrer Mutter sind, sie haben die gleiche Art, geistesabwesend innezuhalten, mit einer gewissen anmutigen Stabilität dazustehen, als ließen sie sich von einer unsichtbaren Strömung durchfließen. Die mittlere meiner Töchter hat einen Afrikaner aus Togo geheiratet, und das hat ein ganz anderes Klima in die Familie gebracht, ein besseres. Durch Scheidung geteilt, beziehungsweise erweitert, wussten wir nicht recht, wie wir eine Familie sein sollten, bis die Afrikaner es uns gezeigt haben. Adrien hat viele Brüder und Schwestern, die über viele Länder verstreut sind und sich akademische Grade erwerben. Er ist sehr schlank, hat aber eine tiefe Stimme und spricht langsam, mit einem Akzent, in dem französische und englische Elemente eine charmante Mischung eingehen. Sein Ururgroßvater, der für die Besatzungsmacht als Schreiber und Übersetzer arbeitete, hat Deutsch gesprochen. Togoland war deutsches Schutzgebiet, bis 1914 alliierte Kolonialtruppen aus Dahomey und von der Goldküste einmarschierten. Hätte sich der Stellungskrieg in Europa doch ebenso rasch beilegen lassen! Das gesamte verstümmelte, unversöhnliche Jahrhundert, das hinter uns liegt, wäre anders verlaufen. Adrien hat die Führung bei meinen Kindern, wie ich sie nie hatte. Mein Status bei ihnen – schattenhaft, bestenfalls, seit meinem Abfall von ihrer Mutter, ein Beschränktsein auf verstohlene Besuche im College und verschämte Auftritte bei Hochzeiten und Taufen – gewann mit Adriens Erscheinen in unserer 89
Mitte plötzlich an Glanz. Meine Sünden wurden beiseite gewischt. Sein eigener Vater hatte auf der anderen Seite des großen Kontinents gelebt, in Tansania, wo er bei der Durchsetzung von Nyereres ujamaa half und seinem Sohn Adrien mit einer Reihe inoffizieller Gattinnen viele Halbgeschwister bescherte. Das war patriarchalisches Verhalten. Ich bekam ein farbenfrohes togoisches Gewand und nahm meinen Platz bei den Zeremonien im Freien ein, als meine beiden braunen Enkelsöhne dem Himmelsgott präsentiert wurden. Man drückte mir Karten in die Hand, auf denen die Segenssprüche in Kwa, die zu diesem Anlass gehörten, in Lautschrift standen, und ich erhob meine Stimme, sprach den Segen und neigte dabei das Glas mit Gin – ein Ersatz für Palmwein – dreimal (nach innen, gegen meine Brust, nicht nach außen), um den Vorfahren in der Erde ein Trankopfer darzubringen. In der Rolle des afrikanischen Großvaters war ich, anders als in der des amerikanischen Vaters, ganz selbstverständlich anerkannt, und meine erwachsenen Kinder durften mich, dank Adriens afrikanischer Magie, plötzlich wieder lieben. Adrien, Irene und ihre beiden kleinen Söhne Olympe und Etienne leben in einem der zahllosen westlichen Außenbezirke von Boston: ein schmales Stück Land mit einer einsamen Fabrik, einem kargen Einkaufszentrum und einem Sportplatz gleich hinter den schicken Wohngegenden Concord und Lincoln. Ich nehme die 128 und fahre dann ein paar Meilen auf der 62. Das Haus steht in einem Neubaugebiet an einem Hang, mit Blick auf schlammige Gärtchen und liegen gebliebene Dreiräder aus Plastik. Adrien und Irene gehen, nachdem sie mir gegenüber ein paar ernste, respektive mädchenhafte Bemerkungen gemacht haben, zum Essen aus und wollen danach ins Kino, und die Jungen und ich sehen uns derweil ein (für mich) unverständliches Cartoon-Video an, das vorsorglich bereitliegt, und anschließend versuche ich, die beiden zu Bett zu bringen, bevor ihre Eltern wieder da 90
sind. Darum geht’s, das ist das Spiel, und sie wissen, dass wir es spielen, sie toben treppauf und treppab, sind nicht wirklich aufsässig, machen nur alles, vom Pyjamaanziehen bis zum Zähneputzen, nervtötend schwierig. Das Haus ist voller Masken und geknoteter, geflochtener, mit Glasperlen besetzter heidnischer Symbole aus Togo; eine Porträtaufnahme von mir, entstanden auf Wunsch von Sibbes, Dudley und Wise anlässlich irgendeines Etappensiegs bei meinem Aufstieg in der Firma, nimmt einen Ehrenplatz im kärglichen Wohnzimmer ein. Aber dieser Fetisch ist keine Gewähr für Disziplin. Die Jungen konterkarieren meine Gutenachtzeremonien immer wieder, sie haben ein entzückendes perlzahniges Lächeln, genau wie die zu Streichen aufgelegte Irene damals, als sie in ihrem Alter war, nur dass das Zahnfleisch der beiden lavendelfarben ist. Ihre Augen sind von einem verblüffenden tintendunklen Ernst – auch nicht das kleinste Stäubchen Muskatnuss in der Schwärze der Iris. Ihr Haar ist ganz und gar von Adrien: Helme aus dichtestem Gekräusel, das sich angenehm federnd anfühlt. Ich kann nicht aufhören, ihnen die Köpfe zu streicheln. Wo sonst kann ich schon eine afrikanische Frisur berühren? Das war etwas, das das Leben nicht für mich vorgesehen hatte. Ich frage mich, welcher Friseur in dieser nahezu reinweißen Stadt eine Ahnung davon hat, wie er ihnen die Haare schneiden soll. Sie sind sieben und fünf. Es ist erstaunlich, aber sie mögen es, wenn man ihnen vorliest, eine Unterhaltung, von der ich gedacht hätte, dass sie zu zahm ist für Kinder, die mit VCR, PC und CD-Player aufwachsen. Adrien unterrichtet Informatik an der hiesigen Prep School, und an den Fußleisten seines Hauses wimmelt es allenthalben von Kabeln, Steckern, Adaptern und blinkenden kleinen Vorrichtungen zum Schutz gegen Überspannung. So liege ich also zwischen meinen beiden Enkelsöhnen auf dem unteren Bett ihrer Etagenbetten und leiere mich durch eine blank gewetzte Geschichte nach der andern, Geschichten von 9l
Feuerwehrautos und Milchwagen, von Elefanten in Anzügen und Abendkleidern, von verwirrten Königen und sanften Riesen, von Hexen in Schindelhütten in Wäldern, wo das mittelalterliche Deutschland, soweit es um Behausungen geht, mit den runden Hütten von Togoland verschmilzt. Nach einer Weile halten die wolligen Krausköpfe, die sich gegen meine Wangen kuscheln, still, und ich mache den ersten Versuch, sie ihren Träumen zu überlassen, ein Versuch, der für gewöhnlich untergeht in einem Gestöber hin und her sausender Schritte, brüderlicher Keilerei und lautstarker gegenseitiger Beschuldigungen. Brummig den Ungehaltenen, Überraschten spielend, gehe ich wieder nach oben und verstaue sie in ihren Betten, nur um kurz darauf abermals die knarrende Treppe hinaufzusteigen und beide im unteren Bett vorzufinden: Olympe ist eingeschlafen, in Étiennes langen gebogenen Wimpern aber hängt noch ein waches schwarzes Glitzern. Er wehrt sich gegen die fester werdende Umklammerung des Schlafs. Sein Hinterteil berührt leicht das seines älteren Bruders, durch die Flanellpyjamas hindurch; ihrer beider runde Köpfe liegen Seite an Seite auf demselben Kissen. Ich habe nie einen Bruder gehabt. Jeden Augenblick können Adrien und Irene zurückkommen, und oft öffnen sie die Haustür so laut, dass die Jungen wieder wach werden und in ein freudiges Willkommensgetobe ausbrechen. Während Etienne im Dämmer des unteren Etagenbetts langsam in Selbstvergessenheit sinkt, bemerke ich, dass der kleine Zeh an seinem Fuß von verdünntem Braun die Form einer Cashewnuss hat und ebenso rudimentär hochgekrümmt ist wie bei Perdita. Vermutlich halte ich dies fest, weil ich nach einem Sinn suche. Die übernatürlichen Beziehungen versagen eine nach der andern, und da bietet uns die Kette von Vorfahren und Nachkommen – die transzendente Entität der Familie – ihren Trost an. Aber die Aufhebung des Egos, welche die Familie 92
verlangt, ist eben das, wogegen wir uns wehren. Die unsterbliche DNS hält genauso mageren Trost für uns bereit wie die Seelenwanderung. Warum gehen, wenn wir unsere Erinnerungen nicht mitnehmen können? Frühling ist für mich immer die Jahreszeit gewesen, die die Furcht vor dem Tod bringt. Ich erwache bleiern im immer stärker werdenden weißen Licht und habe etwas Unverdauliches in mir, das an meinen Magenwänden frisst. Mein idiotisches Unterbewusstes reagiert inzwischen mit Sexträumen auf die Jahreszeit. Letzte Nacht, als Deirdres schmaler Körper leicht neben mir auf der Matratze lag – ihr langer gebräunter knochiger Rücken ist herzzerreißend knabenhaft –, habe ich geträumt, dass ich mit Grace Wren schlief, ausgerechnet mit Grace Wren. Mein erwachtes Ich konnte nicht glauben, mit welcher Leidenschaft ich meinen Körper auf ihren legte (ihn trumpfte) und wie inbrünstig ich mein Becken gegen das rotbraunhaarige Cœur-Ass an der Nahtstelle ihrer Beine presste. Ihr atemloses Gesicht, ihre reichlichen Brüste (reichlich, ja, aber jugendlicher, kesser, es war die Grace von vor zwanzig Jahren), diese Brüste mit ihren reagiblen Knospen, diese bepelzte empfängliche Furche zwischen ihren Beinen, alles war mit so glühender Wirklichkeit unter mir, dass mein armer Ständer schmerzte wie eine zum Bersten gefüllte Blase. In meinem Traum nahm der Schmerz Zuflucht zu ihrem warmen Mund, sie machte es mir mit dem Mund, mit dem Kopf, nur mit dem Kopf, denn sie hatte keinen Körper, es gab bloß ihren abgetrennten saugenden Kopf mit den geschlossenen Augen. Grauenhaft. Ich wachte auf vor Entsetzen über diese Grässlichkeit, diese Schauerlichkeit von Jeffrey Dahmerschem Ausmaß. Es war furchtbar wie etwas in der griechischen Mythologie oder in der aztekischen Religion. Die Geschlechtsteile sind Furien, die alles opfern um dieses einen brennenden Kontaktes willen. Gesellschaft und simpler Anstand sind ständig bemüht, uns an all das andere zu erin93
nern, an den übrigen Körper, an die ganze Person mit ihrer Seele, ihrem Intellekt, ihren achtenswerten sozioökonomischen Komponenten, aber in der Wahrheit der Nacht erheben sich unsere verstümmelnden Bedürfnisse, zerhacken wie ein Amok laufender mongolischer Säbelkämpfer die, die wir zu kennen und zu mögen glauben, und erfüllen uns mit Abscheu angesichts unserer offenbar gewordenen Natur. In derselben Märznacht verwandelte sich, während ich schlief, ein warmer Regen in gefrierenden Regen und dann in Schnee und überzog das wieder auflebende Grün mit einer kandierten Kruste, einer dünnen weißen Karamellschicht, die auf der Asphalthaut der Zufahrt und im wilden Blaubeerund Purpurbeergesträuch längs der Hecke funkelte. Der Winter hatte es immer noch in sich. Auf halbem Weg zum Briefkasten hinunter, um die Morgenzeitung zu holen, tat es mir Leid, dass ich mir nicht die Mühe gemacht hatte, Handschuhe anzuziehen und meine kleinen Jagdstiefel aus Gummi mit den kettenförmig profilierten Sohlen. Ich schlitterte und rutschte. In den Schlagzeilen bot Präsident Smith, dieser anonyme, verlachte Mann, Farmland an: Bürger, die sich bereit erklärten, in den entvölkerten Mittleren Westen zu gehen und dort eine ihnen zugeteilte Anbaufläche zu bewirtschaften, sollten das Land unentgeltlich als Eigentum erhalten. Der alte Homestead Act, neu aufgelegt. Kleine bruchstückhafte Eisfutterale prasselten auf mich nieder, als ein kalter Windstoß die Buchenzweige über mir schüttelte. So müsste die Schlussstimmung meines Lebens sein, dachte ich: alles Alltägliche kristallisch überzuckert. Gestern überredete Deirdre mich dazu, mit ihr zum Einkaufen in die Peabody-Mall zu gehen; sie hatte eine ganze Liste von Haushaltsgegenständen zusammengestellt, die wir brauchten, unter anderem Waschlappen. Mit ihrem rehmäßig empfindsamen Geruchssinn machte sie geltend, dass un94
sere Waschlappen alle einen unbehebbaren Gestank verströmten. «Was hast du mit denen geputzt? », fragte sie mich. Ich errötete und sagte: «Nur mich selbst. Das ist der Geruch des Alters.» Sie sah mich mit diesen kugeligen glänzenden Augen an und registrierte flink, dass sie mich verletzt hatte, so sehr, dass es Ärger geben könnte. Hastig versicherte sie mir: «So riechst du aber nicht. Du riechst gut, wie ein frisch gepudertes Baby. Besonders im Nacken.» Ich überlegte, was sie wohl von Babys wusste. Sie war vielleicht nicht so jung, wie sie mir vorkam – sicher war sie alt genug, um Mutter eines Kindes zu sein, das irgendwo da unten herumkrabbelte, in den trüben Tälern zu Füßen meines kleinen Hügels. Die geheimnisvollen Leute, die in diesen Tälern hausen, waren in Scharen im Einkaufszentrum unterwegs, angetan mit Windjacken, Blue Jeans, hohen eckigen Schirmkappen und barbarisch mit Streifen und Wülsten geschmückten Joggingschuhen. Ruheständler, die mir alle uralt vorkamen, zum Teil aber wohl jünger waren als ich, hingen dösig, in einem frühen Alzheimer-Stadium, auf den Bänken herum, die in der Mall für sie bereitstehen, und warteten darauf, dass ihre unförmigen Frauen sie abholten und zum Auto brachten. Falls ein Gedanke in ihnen dämmerte, als wir vorbeigingen, dann vermutlich der, dass Deirdre meine Tochter war oder eine strenggesichtige junge Begleiterin aus dem Pflegeheim. Wir betraten die Mall durch Filene’s; solch einen Überfluss an Halstüchern und Unterwäsche und spitzen Vinylschuhen zu durchwaten, in einem so beißenden tiefen See von künstlichen Düften zu schwimmen, machte mich schwindlig und benommen. Der Frühling, der noch nicht in der Luft lag, war in der Mode spürbar und in der Unruhe der Kunden, die von der länger werdenden Tageshelle aus ihren engen Gehegen herausgelockt und auf die weite Lichtung des Konsums ge95
trieben wurden. Junge Paare, sichtbar und unsichtbar tätowiert und gepierct, mit geflissentlich brutalen Frisuren, schlenderten Hand in Hand, als ergingen sie sich in einer grellen Landschaft schierer Unnatur, in der sie so zu Hause waren, dass es mich nicht überrascht hätte, wenn sie, mit den Nasenringen scheppernd und Haarfärbeflüssigkeit um sich spritzend, begonnen hätten zu kopulieren. Einkaufszentren sind zu einem Lebensraum von schlampigster Intimität geworden; ihre Kunden haben eben noch in der Stube vor dem Fernseher gehockt, und jetzt streifen sie mit der größten Selbstverständlichkeit über diese Boulevards der Überflüssigkeiten, wo von Leuchtstofflampen erhellte Läden Lockmittel ausgelegt haben, die von joghurtüberzogenen Erdnüssen bis zu elektrisch betriebenen Fitnessgeräten reichen. Angejahrte Frauen hatten sich wie Pausbackpuppen herausgeputzt, mit pastellfarbenen Jogginganzügen, die an die Strampelpyjamas von Kleinkindern erinnerten. Ich war der Einzige weit und breit, der Lederschuhe und Schlips trug. Deirdre stellte mich draußen vor der Banana Republic ab, und zum Abschluss meiner Tortur ging sie mit mir zu Brooks Brothers und kaufte mir ein gestreiftes Hemd, das vermutlich ihrem ganz persönlichen Gangsterschönlingsideal entsprach. Irgendwo in der polierten braunen Maschine ihres Körpers hat sie einen Splitter von Gefühl für mich – ich hätte fast geweint bei dem Gedanken. Nah am Wasser gebaut zu haben, das ist auch ein Zeichen von Senilität, ebenso wie stinkende Waschlappen. Meine Enkelsöhne entlang der Route 128, im Wohnknorpel zwischen den ossifizierten Kommerzzentren, tragen – abgesehen von Etienne und Olympe – modische englische Namen: Kevin, Rodney, Torrance, Tyler, Duncan, Quentin und Keith. Das Mädchen heißt, wahrscheinlich zwangsläufig, Jennifer. Wo tun meine Kinder und ihre Angetrauten bloß solche Namen auf? An Geburtstagskartenständern, anders ist es nicht denkbar, oder auf der Winnie-the-Pooh-Page im In96
ternet. Alle haben sie Probleme. Torrance wurde einen Monat zu früh geboren und ist zart, überempfindlich und elfisch; Tyler, sein jüngerer Bruder, kam mit zwei Wochen Verspätung auf die Welt und hat Klumpfüße und eine Fontanelle, die sich vorzeitig geschlossen hat. Quentin leidet an chronischer Verstopfung, und Duncan ist hyperaktiv: er packt einen Ficus oder eine Stehlampe und schüttelt so lange, bis die Blätter abfallen, beziehungsweise die Glühbirne zu Bruch geht. Rodney hat Schwierigkeiten mit dem Lesen, Kevin hat sich am Klettergerüst in der Turnhalle der Schule das Handgelenk gebrochen, und Keith macht eine schwere Zeit durch, er muss sich mit der Ankunft seiner kleinen Schwester abfinden, um die so viel sexistisches Getue gemacht wird. Aber sie sind alle lieb, haben halbwegs gelernt, wie man GRANDPA schreibt, und schicken mir, auf Veranlassung ihrer Eltern, zum Geburtstag und zu Weihnachten Glückwunschkarten. Es treibt mir die senilen Tränen in die Augen, wenn ich mir vorstelle, wie sie alle in die Zukunft marschieren – watscheln, krabbeln – und meine Gene in den Mahlstrom einer zukünftigen Welt befördern, die ich nie kennen lernen werde. So tapfere Soldaten – in was für einer Schlacht, für welche edle Sache? Die Landser, die aus den Schützengräben ausschwärmten in die Senfgasschwaden hinein, hatten vergleichsweise Genies zu Generälen. Wenn die Liebe zwischen meinen Kindern und mir dank afrikanischer Weisheit eine gewisse gefestigte, ironische, lebbare Form erlangt hat, dann ist die zwischen meinen Enkelkindern und der Erscheinung, die ich auf dem Hintergrund ihrer Kaulquappenaugen abgebe, das reine Chaos. Ich versuche oft, mir vorzustellen, was sie empfinden werden, wenn ich sterbe. Einen leisen Gewissensbiss vielleicht, mit einem Beigeschmack von Komik, das Gefühl, das Jungen haben, die sich zum Baseballspiel verkrümeln unter dem Vorwand, sie müssten zur Beerdigung eines Großelternteils. In ihren mo97
dernen Augen habe ich in hoffnungslos altmodischen, benachteiligten Zeiten gelebt, was kann es da schon ausmachen, selbst für mich, wenn ich sterbe? Als ich im Keller das Puppenhaus für meine Tochter baute – bei dieser Erinnerung wird mir der Stift unerträglich schwer in der Hand. Als ich heute Morgen mit der Zeitung die Zufahrt hinaufging, nahm ich plötzlich, durch den spärlichen, dazwischengeschobenen Wald hindurch, das Geräusch der See wahr; sie hatte eine neue, lautere Stimme. Ein warmes, schneeverzehrendes Nieseln hing in der Luft, und in der Nacht hatte ein feuchter Wind unsere Alarmbeleuchtung ausgelöst – ich bemerkte es, als ich aufstand, um zu urinieren. Die Brise trug mir das Schlagen der Wellen gegen den Strand mit der Dringlichkeit neuester Nachrichten zu, wie das Schreien eines neugeborenen Wesens. Der junge Frühling hat seine eigene Akustik, fiel mir auf. Als ich vor ein paar Tagen ein wenig auf dem Grundstück umherging, hatte ich von den Schneeglöckchen mit den schwer hängenden Köpfen Notiz genommen und von den ersten blassen Taglilienblättern, die aus der graubraunen Erde spitzten, doch in diesen Zeichen war keine frohe Botschaft für mich enthalten. Vielleicht aber in diesem ungestümen Meeresbrausen. Dieser kontinentzermahlende ozeanische Donner muss genauso in den frühesten Tagen unseres Planeten geklungen haben, als die unbelebten Meere gegen felsige Küsten schlugen, die es nicht mehr gibt und die sich allen geologischen Mutmaßungen entziehen. Dieser präzoische Meeresangriff auf meine Ohren hatte etwas Aufmunterndes. Ich mochte das Gewese, dies Unruhestiftende. Ich bewege mich dieser Tage sehr vorsichtig und vermeide nach Möglichkeit jeden Gedanken, der mich in Depression stürzen könnte. Deirdre bemüht sich tapfer, einige Winkel des Hauses von 98
Glorias Dekor zu befreien und sie neu zu gestalten, und schickt mich mit Perserbrücken und Möbelstücken, die sie nicht mehr zu sehen wünscht, in die Scheune hinunter. Diese Scheune, die ursprünglich für Kutschen und Pferde gedacht war und Boxen und Futterraufen hat und, zwecks Ausmistung im Augiasformat, eine Abflussrinne in der Mitte des gemuldeten Bodens, ist schon vollgerümpelt mit alten Fahrrädern und Skiern, mit Lampen, Stühlen und Klappbetten aus Collegetagen und mit Pappkartons voller Lehrbücher, die niemand je wieder zu Rate ziehen wird. Es ist einfacher, diese verurteilten Gegenstände hier in einer Art lebenslänglichen Gewahrsams zu halten, als sich am Sperrmülltag zur Exekution an den Bordstein hinauszustehlen. Solche Magazine, in Garagen und Kellern, in Wandschränken und auf Dachböden, zeugen von unserem Glauben an ewige Wiederkehr, an eine Zukunft, in der es zeitlich unbegrenzte Gelegenheiten für etwaige Wiederverwendung und nochmalige Lektüre gibt. Aber der Zeitpfeil zeigt leider nur in eine Richtung, in die einer Entropie, da alle Meere alle Felsen niedergerissen haben werden und es nicht einmal mehr ein Wispern, nicht den subatomarsten Hauch einer Wellenbewegung gibt. So herumzustolpern und sich durchzuwühlen auf der Suche nach einer Ritze, in der man eine alte Orientbrücke verstauen kann, einszwanzig mal einsachtzig, deren amerikanische Innenausstattungskarriere im Entree der Großmutter von Glorias Vater in Danbury, Connecticut, begonnen hat, ist ein Sichsuhlen im eigenen Tod, ein Kramen in Beerdigungsstätten, die so nichtig sind wie die mit Schätzen angefüllten Grabkammern Ägyptens. Ich erkannte ein schwarzes englisches Fahrrad wieder, ein Weihnachtsgeschenk von Perdita und den Kindern, als ich mich einmal, kurzatmig und übergewichtig, beklagt hatte, nie genug Bewegung zu bekommen. Die Klingel war verrostet, und die Reifen waren platt, und ich hatte es kaum je be99
nutzt. Ein großer Korb, vor mehr als sechzig Jahren von einem Kunsthandwerker am anderen Ende von Massachusetts aus Holzspänen geflochten und mit Draht verklammert, enthielt ein Sammelsurium von Spielzeug aus meiner Kinderzeit, das ich nach dem Tod meiner Mutter auf ihrem Dachboden gefunden hatte. Die Spielsachen schienen älter als ich – ein paar Bauklötzchen mit Mickey-Mouse-Figuren im Basrelief, eine Zündplättchenpistole mit einem Griff aus imitiertem Elfenbein, ein Pluto aus Blech, der, wenn man ihn aufzog, über den Tisch surrte, bis an den Rand, und dann, sein Gewicht auf ein seitliches Rädchen nahe seiner Nase verlagernd, wie von Zauberhand bewegt kehrtmachte, fort von der Gefahr. Kann es sein, dass diese Spielsachen nicht mir gehört haben, sondern meinem Vater, diesem am wenigsten verspielten aller sorgenvollen, von Arbeit zerstörten Männer? Er war Kind gewesen während der Depression, als Spielzeug noch solide aus Blech und Holz hergestellt wurde. Ich entdeckte in der Scheune Stücke von angerosteten Regenrohren, die ich aufgehoben hatte, als wir das Haus vor zu vielen Jahren hatten streichen lassen, und einen plumpen, mit kleckerndem Schellack überzogenen Holztisch, den der kleine Henry stolz, mit meiner widerwilligen Hilfe, zusammengeklopft hatte, damals, als wir noch zu dritt hier gewohnt hatten. All diese unnütz verwahrten Sachen aus der Vergangenheit waren so eng zusammengepfercht, dass es mir die Luft abschnürte. In einer Art Panik räumte ich ruppig, wütend einiges beiseite, um Platz zu schaffen für den alten Teppich, eine Schiffslaterne aus angelaufenem Messing, einen Fußschemel mit verblichener Petitpointstickerei und ein blasses, verwässertes Aquarellporträt von Glorias Mutter, an dessen Stelle Deirdre ein Bild von sich selbst gehängt hat, eine mit Weichzeichner aufgenommene kolorierte Fotografie, auf der sie ihr tief ausgeschnittenes High-School-Ballkleid trägt. Sobald ich fertig war, floh ich und schlang die Luft draußen vor 100
der Scheune in mich hinein wie einer, der beinah ertrunken wäre. Einmal ging ich tatsächlich fast unter im tristen Schutt der Zeit. Perdita und ich bewohnten, als wir Anfang dreißig waren, ein vor der Revolution gebautes Haus mitten in einem verschlafenen Küstenstädtchen namens Coverdale. Wir hatten einen kleinen, aber von unseren Kindern und ihren Freunden stark benutzten Garten, in dessen einer Ecke ich jedes Jahr zwei Reihen Kopfsalat zog, eine Reihe Petersilie, acht Tomatenstauden und einige Zucchinipflanzen – alles Salatzutaten, wenige Schritte von der Küchentür entfernt. Der Frühling hatte sich in jenem Jahr beklemmend um mich verdickt. In Boston, in der abgedichteten, neonbeleuchteten Arbeitswelt von Sibbes, Dudley und Wise, war ich fähig zu funktionieren, zu Hause jedoch, am Wochenende, während rings die Bäume ausschlugen und unsere Kinderhorde – vier, und Roberta zusammengekauert, mit dem Kopf nach unten, in Perditas Bauch – mit schmutzigen Knien und lautstarken Kümmernissen und Zankereien durchs Haus tobte, überkam mich lähmende Depression. Ich sah alles wie durch mehrere dicke, verschmierte Glasscheiben. Zwischen mir und der Welt zirkulierte keine Luft. Ich ging am Spätnachmittag hinaus und grub meine Gartenecke um, und ein Regenwurm, der sich blind krümmte und zurückwollte in sein Erddunkel, kam mir, von meiner Höhe herab gesehen, wie ein Abbild meiner selbst vor. Nur dass ich elend dran war und von Angst geschüttelt und der Wurm nicht. Unsere Älteste, Mildred, würde im Mai acht werden, und ich wollte ihr ein Puppenhaus bauen. Es sollte kein sehr kompliziertes werden, nur vier Zimmer, je zwei übereinander, unter einem spitzen Dach und einem dreieckigen Dachboden, mit einer Treppe aus Wellpappestufen zwischen den beiden Etagen. Ich hatte alles beisammen, das Holz, halbzölliges Sperrholz, die kleinen Nägel und die Dosen mit der weißen 101
und der grauen Farbe fürs Dach und mit der roten für die Tür und die Fensterrahmen und die zweidimensionalen Blendläden, aber jedes Mal, wenn ich in den Keller hinunterstieg, um an dem Puppenhaus zu arbeiten – es ging immer nur dann, wenn Mildred zum Spielen fort war –, schwitzten die rauen Grundmauern aus dem achtzehnten Jahrhundert ein klammes Vergeblichkeitsgefühl aus, das mich zu ersticken drohte. Hätte ich eine weniger primitive Werkbank gehabt; wäre ich in dem Loch da unten von freundlicheren Gegenständen umgeben gewesen als von einem asbestummantelten Heizungsofen, einem schmutzigen länglichen Öltank, einem Stapel ramponierter holzgerahmter Fliegengitter, die ich reparieren und wieder einsetzen musste, sobald ich Zeit und Kraft dafür fand, einem Durcheinander gusseiserner Ofeninnereien – ascheverkrustete Kohlenroste und Rüttelhebel –, nach der Umstellung von Kohle auf Öl liegen geblieben und nie weggeräumt, und einem rachitischen, von Spinnweben überzogenen Gewirr von Fahrrädern; und wäre das Puppenhaus ein weniger simples, ein ausgeklügelteres Artefakt gewesen, hergestellt von einem, der ein geschickterer Tischler war als ich, meine Stimmung hätte sich vielleicht aufgehellt. So aber drückte eine schreckliche Müdigkeit mich nieder und machte meine Hände, die die Werkzeuge hielten, stumpf und taub. Das wirkliche Haus, mitsamt den auf ihm lastenden Hypotheken und den Kindern und ihrer schwangeren Mutter, schien da unten auf mich einzudringen. Am Anfang hatten Perditas Schwangerschaften mich mit Stolz erfüllt, inzwischen aber hatte der Vorgang etwas Abgedroschenes, etwas von einem Schaustück, dem die Fatalität der Natur anhaftete. Abermals war ein neues Leben im Kommen – das unterstrich das Vorübergehende all unserer irdischen Vorkehrungen. Das Haus hatte seit 1750 viele vergängliche Vorkehrungen erlebt. Ich würde sterben, aber auch das kleine Mädchen, für das ich das Puppenhaus baute, würde sterben, 102
würde sterben als alte Frau, für die ich zu einem verschwommenen patriarchalischen Mythos geworden war, und ihre Puppen würden sterben, ausgestoßen aus dem unschuldigen inbrünstigen Als-ob, das ihnen für den Augenblick Leben gab, und die Spinnen in ihren Netzen rings um mich waren gestorben, während sie auf eine Beute warteten, die nie gekommen war, und alles schien sinnlos. Die Spinnenleichen sahen wie kleine graue Gyroskope aus, weiß ich noch, und die geäderten Grundmauersteine hinter der gelochten Platte, die ich über der schmalen Werkbank angenagelt hatte, waren überzogen mit der Feuchtigkeit, die um diese Zeit im Jahr aus dem Erdboden hochdunstete. Es gab keinen Gott, machte jedes Detail des rostenden modernden Kellers klar, es gab nur die Natur, die mein Leben genauso gleichgültig und gnadenlos aufbrauchen würde, wie sie es mit einer Mistkäferleiche in einem Komposthaufen tat. Staub zu Staub: es war, als würde jeder Hammerschlag abgeschwächt durch eine kosmische Trostlosigkeit, jede Abmessung, die ich für meine roststumpfe Säge vornahm, schien Teil des Gitters aus erbarmungslosen Gesetzen, die mich in Kürze auslöschen würden. Ich bekam keine Luft und musste immer wieder hinauf in die relative Helle der Küche und in die körperreiche Gegenwart Perditas, obwohl ihre ratlose ehefrauliche Besorgnis Teil der Beklemmung war. Sie hatte den biologischen Prozess mit mir gemeinsam durchlaufen; wir hatten Kinder in die Welt gesetzt, und gemeinsam würden wir es zu den Krampfadern und den bröckelnden Zähnen der mittleren Jahre bringen. Ich gab ihr die Schuld; selbst in Augenblicken, da sie, meine Verzweiflung spürend, meinen Lebensgeistern mit körperlicher Liebe aufhelfen wollte, hörte ich nicht auf, ihr die Schuld zu geben, und ging habgierig, aber mürrisch auf das Angebot ein. Sie war das Universum, das sich weigerte, mich von seinen Fesseln zu befreien. Der Frühling und seine Samenimperative hingen drückend über mir; Erleichterung 103
kam inmitten unbekleideter Sommerflirts, während der letzten Monate von Perditas Schwangerschaft, in Form des Beginns einer Affäre, meiner ersten. Ihr farbenreiches Gewebe aus fleischlicher Offenbarung, berauschendem Risiko und ängstlichem Schuldbewusstsein überdeckte das verschlingende graue Zeitempfinden. Meine Ehe, das wusste ich, war zum Scheitern verurteilt durch diesen Vertrauensbruch oder durch die, die danach noch kamen, aber ich war wieder lebendig in diesem beständigen unmittelbaren Gefahrenmoment, in dem Tiere ein gesundes Leben fuhren. Zunächst aber kaufte ich, außerstande, den erstickenden Keller noch länger zu ertragen, bei F.A.O. Schwarz in Boston ein Puppenhaus mit aufklappbarem Dach, winzigen Türeingängen und beweglichen Schiebefenstern. Ich bin sicher, es gefiel Mildred besser als das ungeschlachte, das ich ihr gebaut hätte. Es stand viele Jahre lang in ihrem Zimmer, obgleich die Kindheitsphase, in der sie Hausfrauenphantasien zwischen den Miniaturwänden walten lassen und begeistert mit dem Haus spielen konnte, bald vorüber war. Diese Periode im Leben meiner Kinder erscheint mir, wenn ich daran zurückdenke, als etwas, das ich durch meine Abgelenktheit versäumt und verwirkt habe. Ich habe ihnen ein Dach über dem Kopf gegeben und mechanisch als ihr Vater funktioniert, aber in Erinnerung geblieben ist mir eigentlich nur Trauriges – Knochenbrüche, tote Wüstenrennmäuse und Hunde, kleine runde Gesichter, nass von Tränen, ein Übelkeit erregender Strom von Junkfood und die bekümmerten Versuche aller fünf, bevor sie in die Verschwiegenheit der Adoleszenz eintauchten, mich aus mir selbst herauszulocken in den Sonnenschein ihrer Liebe. Wildgänse hoch oben, schreiend. Keine Keilformation – in ihrer Eile, in den warm werdenden Norden zurückzukehren, fliegen sie alle leicht über den rechten Flügel gekippt und bil104
den eine einzige lange Diagonale, die auf den WillowbankCountry-Club zuhält. Grüner Gänsekot macht aus dem kurzen sechsten Fairway am Teich ein Abwurfgelände, so viel ist davon da. Und der Himmel ist bewölkt und sieht wirr und zerwühlt aus wie nasse Wäsche; im Winter sieht er nie so aus, da weiß er, was er will. Ab und an fallen große Tropfen, gleich darauf scheint wieder die Sonne und lässt die Pfützen blitzen wie Schilde. Auf der Rückfahrt von einer Stippvisite im ehemaligen Supermarkt – fast nur noch leere Regale jetzt, aber es hieß, sie bekämen Orangensaft und Hähnchenbrüste herein und man müsse höchstens eine Stunde Schlange stehen – hörte ich im Radio einen Mann aus Minnesota mit schmelzender Stimme ein altes Gedicht über den Frühling lesen, und sobald ich im Haus war, versuchte ich, ein paar Zeilen auf Papier festzuhalten. Kaum dass es März geworden, steht draußen auf verlassenen Wiesen eine Farbe, die für die Wissenschaft nicht fassbar ist, doch fühlbar für die menschliche Natur. Diese Farbe weilt auf dem Grase (möglicherweise habe ich mich verhört) und offenbart den fernsten Baum und spricht beinah zum Dichter, aber dann verblassen Horizonte, der Mittag senkt den Blick (vermutlich ein Hörfehler), sie geht, und uns lässt sie zurück. Es war, als sei man ein Psychotiker und höre die kranken Neuronen, die entarteten Stimmen der Götter, über Funk im eigenen Kopf sprechen. Ich hatte das noch nie zuvor gehört: die Traurigkeit des Frühlings in Worten ausgedrückt. Verlust legt als ein Schatten sich auf unsern Glücksmoment, und dann etwas, das klang wie Versündigung an einem Sakrament. Unheimliches magisches Zeug. Ich habe nie erfahren, wie der Dichter oder die Dichterin heißt. Spin und Phil, die Kassierer für die hiesigen Verbrechensoberherren, kamen zum Haus herauf, um die Monatsrate abzuholen. Neunhundertfünfundzwanzig Welder für den Stan105
dardschutz, eintausend für den Luxus-Service. Das Geld muss bar hingeblättert werden, in Zwanzig-Welder-Scheinen. Ich habe bislang, auf ihre Empfehlung, den Luxustarif bezahlt, aber heute fragte ich: «Was habe ich eigentlich davon, wenn ich den Luxustarif zahle und nicht bloß den Standardpreis?» Ich nehme an, Deirdre im Haus zu haben machte mich mutig. Sie ist zwar nur eine Frau, aber sie ist eine von ihnen, gehört zu den Talleuten, zu den Leuten jenseits dieses Hügels. Spin ist fesch, er hat einen rötlich grauen buschigen Schnauzbart, rollt unentwegt einen Zahnstocher im Mund hin und her und drückt sich auf eine hübsch akkurate Art aus, wie ein Filmschauspieler alter Schule. «Mr. Turnbull, wir bieten Ihnen eine aktive Gegenleistung, nicht bloß eine passive. Beim Luxustarif kriegt jeder, der Ihnen Scherereien macht, es mit uns zu tun, jeder. Beim Standardservice kriegen Sie mit uns keinen Ärger, aber wenn irgendjemand sonst Ihnen in die Quere kommt, sind Sie auf sich gestellt. Können Sie so weit folgen?» «So eben und eben», sage ich. «Angenommen, ich zahle Ihnen gar nichts, inwiefern würde sich das vom Standardservice unterscheiden?» Phil ist stämmiger und trägt immer noch braune Anzüge, die aussehen, als würden sie nie gebügelt. «Wär ‘ne hässliche Sache, Ben», sagte er mit einem kurzen Schulterrucken, das sein Jackett schlechter sitzen ließ denn je. «Ich möchte darüber gar nicht erst nachdenken müssen. Ich möchte nicht, dass Sie darüber nachdenken müssen. He, ist doch ein schönes Plätzchen, das Sie hier haben. Allerdings viel Holz. Hundert Jahre altes Holz, mindestens. Wenn’s auf diesem Hügel mal anfängt zu brennen, hört das nicht wieder auf. So lange Schläuche hat die Feuerwehr nicht.» Ich hatte die Absicht, zu zahlen, aber wie man es in den alten Tagen mit Versicherungsvertretern gemacht hat oder mit 106
den Repräsentanten von Aktiengesellschaften, die Beteiligungspapiere an den Mann zu bringen versuchten, wollte ich die beiden ein bisschen ärgern, sie arbeiten lassen für das, von dem wir alle drei wussten, dass es eine von der Gesellschaft billigend in Kauf genommene Abzockerei war. «Ich brauche gar nicht so viel Haus«, erklärte ich. «So teuer, wie das Ganze ist, überlege ich mir, ob ich nicht ausziehen soll. Schließlich zahle ich ja auch noch Steuern, zusätzlich zu allem andern.» «Die paar Steuern», sagte Spin mit kühlem Spott. «Grundsteuern und Commonwealth-Steuern. Ich kann mich an die Zeit erinnern, und Sie auch, als es Bundessteuern gab und die Institution, die für die Eintreibung gesorgt hat, auf Zack war. IRS war ihr Name.» Ich sagte: «Im Radio ist viel die Rede davon, sie wieder einzuführen. Eine Menge Leute vermissen die Bundesregierung.» «Mordschancen», sagte Phil. «Nach dieser bescheuerten Klopperei mit den Schlitzaugen kann man das vergessen.» Deirdre hörte die Männerstimmen vorn auf dem Rondell und kam heraus, mit Lockenwicklern im Haar und grüner Creme im Gesicht. «Haut ihr Idioten auch mal wieder ab?», erkundigte sie sich. «Pass auf, was du redest, Dee», sagte Phil. «Sie kennen Deirdre?», fragte ich. Phil antwortete nicht. «Wir waren zusammen auf der High School», gab sie zu. «Er war damals ein Versager, und er ist jetzt einer. Wozu wollen sie Geld von dir?» «Für meinen Schutz», erklärte ich ihr. «Sie passen auf, dass mir nichts geschieht, trotz des Zusammenbruchs von Recht und Ordnung.» «Ha!», sagte sie. «Diese beiden Pfeifen behaupten, sie sind die neuen Hüter von Recht und Ordnung? Geh rein und ruf die Polizei, Ben. Das hier ist Einsch üchterung und Andro107
hung von Gewalt und Brandstiftung und ich weiß nicht was sonst noch alles.» «Gibt es noch Polizei?», dachte ich laut. «Klar», sagte Deirdre. «Man sieht sie gar nicht mehr Posten stehen bei Straßenbauarbeiten», sagte ich und fügte hilfsbereit hinzu: «Vielleicht, weil es keine Straßenbauarbeiten gibt.» «Sie haben zu viel damit zu tun, schwachköpfige Halunken wie die hier einzulochen und den Schlüssel wegzuwerfen», sagte Deirdre. Spin betrachtete sie nachdenklich lächelnd und schob den Zahnstocher mit der Zunge vom einen Mundwinkel in den anderen. «Die Polizisten und wir», sagte er, «sind Kollegen. Wir haben alle ein Interesse daran, in der Gemeinde wieder Ordnung herzustellen.» Phil war bestrebt, das Lächeln seines Kumpans mit anzüglichem Grinsen zu bekräftigen. «Damals auf der High School, Dee», sagte er, «haben sie gesagt, du lässt dich von jedem flachlegen.» Das Universum verzweigte sich; ich würde nach Hause kommen und sie vergewaltigt vorfinden, die Kehle aufgeschlitzt, ein Zettel mit einer höhnischen Nachricht an der blutverschmierten Leiche festgepinnt. «Es ist mir scheißegal, was die gesagt haben», sagte sie. «Die haben auch gesagt, du wärst ein vertrotteltes Arschloch. Verpisst euch von diesem Grundstück, und wehe, ihr macht nicht Schluss mit der Einschüchterung von meinem – meinem Mann.» Ich musste protestieren. «Sie schüchtern mich nicht ein, Liebes. Wir haben eine Vereinbarung getroffen, lange bevor du auf der Bildfläche erschienen bist, wenn es dir nichts ausmacht, dass ich darauf hinweise.» Jungs gegen Mädchen: wie oft läuft es doch darauf hinaus. Auch heutzutage noch. 108
Deirdre ist in dem Punkt wie Gloria: sie gerät in helle Aufregung, in Panik geradezu, wenn sie das Gefühl hat, jemand will ihr das Revier streitig machen. Ihre Augen, grotesk komisch wirkend, so kreisrund von der grünen Gesichtscreme umgeben, rollten wild von Phil zu Spin zu mir und klappten dann fest zu; ihr Mund verzog sich seitlich zu einem Schlitz, die Adern an ihrem Hals schwollen an, und ein furchtbarer Laut kam zwischen ihren Lippen hervor, hoch wie ein Sirenenton, aber mit viel Luft, in kurzen Stößen herausgekeucht. Wir lachten alle, ich etwas weniger herzhaft als die beiden anderen. «Liebling», sagte ich, «so liegen die Dinge nun mal, seit dem Krieg. Wir alle müssen uns umorientieren.» Deirdre in ihrer blinden Wut senkte den Kopf und rammte ihn erst Spin und dann Phil in den Bauch; Phil grapschte sich eine Faust voll Lockenwickler und Schwarzhaar und hielt die mit den Armen dreschende Deirdre auf Abstand, während Spin, den Zahnstocher von der Mitte seiner Unterlippe baumeln lassend, mich ansah und sagte: «Das ist nicht vernünftig, Mr. Turnbull. Wir sind nur fürs Kassieren zuständig. Wir machen nicht die Regeln.» «Das weiß ich doch. Ich hole das Geld. Gloria, du beruhigst dich jetzt. Ich meine, Deirdre.» «Du bist auf einer Seite mit diesem Pack!», schrie sie, und ihre Stimme klang erstickt, weil Phil ihr den Kopf auf die Brust hinunterdrückte. «Gegen mich!» Ich rannte nach oben zur Kommode, wo ich das in Massachusetts gültige Zahlungsmittel gebündelt unter meinen gefalteten Unterhemden versteckt hatte. Der alte Gouverneur mit dem Sepiahaar blickte mit schläfrigen Augen aus der groben Gravierung heraus. Als der Dollar explodierte und nichts mehr wert war, mussten nicht nur Staaten, sondern auch Gemeindeverwaltungen und Hotelketten Ersatzgeld ausgeben. Unseres ist in letzter Zeit ziemlich wertbeständig, dank des neu belebten Muschel- und Hummergeschäfts. Seit die Prärie 109
radioaktiv verseuchtes Trockengebiet ist, lebt die dezimierte Bevölkerung in den Städten des mittleren Westens von Miesmuscheln aus New England und Äpfeln aus dem Staat New York, die per Lastwagen dorthin transportiert werden. Die drei Eindringlinge hatten sich in Abständen auf dem Rondell aufgepflanzt. Deirdre stand, die Lockenwickler wieder zurechtrückend, drüben beim Euonymus, dessen braun zernagte Stellen in Höhe ihrer Taille waren. Phil musterte sie und taxierte, wann er wohl einen Wiederannäherungsversuch riskieren könnte. Spin war ganz Geschäftsmann und wartete gleich vorn an der granitenen Verandastufe; ich gab ihm das Geld. Die sepiafarbenen Scheine sahen nichtswürdig aus mit der ziemlich hochnäsigen Fratze darauf. Spin warf einen Blick auf die Weldernoten, zählte sie aber nicht; er verstaute den Packen in der Seitentasche seiner Jacke und versäumte nicht, die Taschenpatte wieder glatt zu streichen. Er war, was die Garderobe anging, schon eine Jahreszeit weiter, trug ein leichtes kariertes Sportsakko und taubengraue, nach unten sich verschmälernde Slacks. Leutselig schnupperte er in die Luft. «Nächstes Mal, wenn wir uns sehn», versprach er, «ist das Gras grün.» Phil redete bittend auf Deirdres Hinterkopf ein: «Ihr kriegt echt was für euer Geld, ehrlich. Ohne uns seid ihr hier oben total aufgeschmissen.» Sie weigerte sich, ihm das Gesicht zuzuwenden oder irgendetwas zu sagen. Ich äugte zu den beiden Muskelmännern hin und zuckte um Entschuldigung bittend mit den Schultern. «Möchten Sie eine Quittung, Mr. Turnbull?», fragte Spin. «Ich vertraue Ihnen», sagte ich. «Machen Sie’s gut.» «Erklären Sie Ihrer kleinen Freundin», legte Phil mir nahe, «dass die Welt sich geändert hat. Sie ist nicht mehr das, was sie mal war.» «Sie weiß das», sagte ich und empfand jetzt selber Feind110
seligkeit. Ausgeraubt zu werden ist eine Sache, gezwungen zu sein, seine Zustimmung dazu zu geben, eine andere. Aber schon wahr, wenn sie mich nicht «beschützten», würden andere es tun. Eigentlich habe ich, verglichen mit den meisten Menschen auf dem Planeten, ein ziemlich gutes Leben in diesen meinen Sonnenuntergangsjahren. Das Meer hat etwas früher an diesem Märzmorgen einen Anblick geboten, wie man ihn im Winter nie hat – es lag still wie ein See, sein zartes Blau so blass, dass es kaum noch blau war, durchzogen von Streifen in dunklerem Ton, herrührend vielleicht von einem Hummerfangboot, das sie eine Stunde zuvor aufgepflügt hat. Als ich zum Briefkasten hinuntergehe, sehe ich, dass die Taglilien im steingefassten Beet auf der rechten Seite der Zufahrt gut fünf Zentimeter gewachsen sind, und die Zwiebelpflanzen auf der sonnigen Seite der weißen Garage haben spitze Schößlinge getrieben, dicht nebeneinander, wie Kammzinken. Hin und wieder taucht ein Boot – ein Motorboot, kein Segler – auf dem Wasser auf, und aus dem Wald dringt das Geraschel von Unbefugten: Teenager auf Mountainbikes, Kinder, die heimlich rauchen. Gestern Abend, als ich in die neblige kühle Dunkelheit hinaustrat und vergeblich versuchte, einen Kometen zu sehen, über den in letzter Zeit viel im Globe zu lesen ist, sprang mich ein echter Frühlingsgeruch an – der kaustische, abstoßende, aber nicht ganz und gar widerliche Gestank eines Skunks. Man sieht sie nie, es sei denn als zermanschten schwarzweißen Fellklumpen auf der Straße. Aber der Geruch ihrer Existenz trifft uns jäh, selbst durch die Metallwände eines rasenden Autos hindurch, und schärft unseren Sinn für die verborgenen Schichten tierischen Daseins, dessen Geschöpfe sich durch kodierte Duftmassen bewegen, durch unsichtbare Informationswolken. Eigenartiger Traum letzte Nacht, seine Einzelheiten ent111
gleiten mir, während ich schreibe. Gloria und ich wollten nach Hause, wir waren aus irgendeinem Anlass in Boston, ein kleines Konzert vielleicht oder ein lohnender Plausch im Tavern Club oder in ihrem Club, der zu Ehren der Gattin Cäsars Calpurnia heißt. Man konnte die Stadt, die durch den Big Dig unterwühlt war, nur «oben» verlassen – an einer schmalen Stelle mit starkem Verkehr wie die Mystic River Bridge. Wir gingen zu Fuß, Gloria vorneweg. Die Einfahrt einer Unterführung – ein Traumecho auf den Tunnel unter dem alten Charlestown-Ring oder auf den, der nach einem legendären Baseballspieler benannt ist – gähnte verwirrend vor mir, wie die unklaren Abzweigungen vom Memorial Drive, die ein Auto jählings über den Fluss katapultieren oder auf den Kendall Square. Sie führte mich nach rechts, auf einem Zementweg, der auf gleicher Höhe blieb – einer dieser schlecht gekennzeichneten schmuddeligen Gehwege, die an großen neuen Baukomplexen entlangführen. Nur dass er sich am Rand von Gebäuden hinzuziehen schien, die rechts neben mir schwindelnd steil abfielen. Gloria ging z ügigen Schritts, mit der energischen Ungeduld und Achtlosigkeit derer, die in komfortable Verhältnisse hineingeboren sind, und ich folgte ihr furchtsam auf dem obskuren Pfad, der dann und wann eine Kurve machte, als spüre er den Wehrgängen uralter Stadtmauern nach; in der Realität entsprechen ihm vielleicht am ehesten die vorsintflutlichen Fußgängerwege rings um den Court Square, im Schatten der historischen grauen City Hall, die jetzt ein Chinakriegsmahnmal ist. Gloria ging mit keinem Wort auf den gellenden Abgrund aus senkrechten Fassaden und vorspringenden Kranzsimsen unter uns ein, und ich erwähnte ihn auch nicht. Ich rang stumm mit meinem Entsetzen. Dann kamen wir an eine Stelle, wo sich zwischen den Dächern eine Lücke auftat – ein Traumbild vom Mystic River vielleicht –, und ich erstarrte, 112
war vor Angst außerstande, den Schritt hinüber zu tun. Aber Gloria machte irgendwie kehrt und brachte mich sicher und geschickt über die bedrohliche Schlucht hinweg, und zusammen gelangten wir auf die andere Seite. Es war wie ein Flackern auf dem Höhepunkt eines Stummfilms, diese Transposition auf die sichere, die nördliche Seite von Boston. Ich wachte auf, und neben mir lag nicht Gloria, sondern Deirdre, ihr geschmeidiger, zart schwitzender Körper sandte einen ein wenig strengen, metallischen Geruch aus, ihr Gesicht war in die Beuge der schlanken braunen Arme geschmiegt, die sich in seidiger Erschlaffung seitlich um ihren Kopf gelegt hatten, während sie den unbekümmerten, unerschütterbaren Schlaf der Jugend schlief. Perdita, die erste Frau, mit der ich auf Vertragsbasis das Bett teilte, pflegte, ganz gleich, wie spät wir schlafen gegangen waren, bei Tagesanbruch aufzuwachen. Zu den Geräuschen ihres Hantierens im Schlafzimmer und kurz darauf unten in der Küche schlief ich dann meist wieder ein, wie früher in Hammond Falls zu den Geräuschen der morgendlichen Hausarbeit meiner Mutter. Es ist wie mit Sonne und Mond, erkannte ich als junger Ehemann, Männer und Frauen bewegen sich nach unterschiedlichem Zeitplan, gehen unabhängig voneinander auf und unter. In den vielen Jahren meines Pendlerdaseins, das 1977 begann, hat es zwei denkwürdige Tragödien auf der Mystic River Bridge gegeben. Kurz vor Morgengrauen geriet eines Tages ein überladener Laster außer Kontrolle und prallte mit solcher Wucht gegen einen Brückenpfeiler, dass die gesamte obere Fahrbahn zusammenkrachte, der Fahrer zerquetscht wurde und der frühmorgendliche Pendlerverkehr ins Stocken kam und sich an einem Abgrund ähnlich dem in meinem Traum staute; die Brücke war für mindestens ein Jahr gesperrt. Jahre später dann stellte ein Ehemann, der Polizei und Öffentlichkeit fast davon überzeugt hatte, dass seine schwangere Frau neben ihm im Auto, während einer Irrfahrt durch 113
Roxbury, von einem unbekannten Schwarzen erschossen worden war, seinen Wagen mitten auf der Brücke ab und sprang, als die Wahrheit nach und nach zutage kam, in den Tod: er hatte die Tat begangen, sie lange im Voraus geplant in seinem von Leidenschaft für eine jüngere, nicht schwangere Frau überhitzten Hirn. Um den Verdacht von sich abzulenken, hatte er sich eine Kugel in den eigenen Bauch gejagt, was vermutlich schmerzhafter war, als er vorausgesehen hatte. Der Brief, in dem er seinen Selbstmord ankündigte, enthielt kein Geständnis und war voller Selbstmitleid. Der Zwischenfall brachte uns Neuengländer alle ins Grübeln: Steckt in jedem Ehemann ein Gattinnenmörder? Deirdre führt ein sehr unordentliches Haus. Die schmutzige Wäsche sammelt sich im Deckelkorb, das Geschirr stapelt sich in der Spüle. Sie lässt sogar Bananen- und Eierschalen und Toastrinden im Müllzerkleinerer vergammeln, dabei ist es doch nur eine Sache von Sekunden, und befriedigend obendrein, das Ding anzuschalten, den Wasserhahn aufzudrehen und zuzuhören, wie die Abfälle zermahlen werden. Bevor sie bei mir einzog, habe ich sie zu NarcAnon geschickt, und anfänglich war sie begeistert und entschlossen bei der Sache, aber seit einiger Zeit bemerke ich Zeichen von Rückfälligkeit. Auf Anwandlungen grundloser Euphorie, gepaart mit manisch erotischem, aufgekratztem Verhalten, folgen Phasen feindseliger Verschlossenheit. Sie ist wie ein Papierdrachen, dessen Schnur ich zwar noch in der Hand halte, den ich aber weit weg außer Kontrolle trudeln und absacken sehe. Neulich Nacht hat sie ins Bett gemacht. Ich war perplex: ich wachte auf, weil etwas Warmes, Nasses durch den Stoff meines Pyjamas drang, und als ich sie weckte – sie schlief nackt – und ihr vorhielt, was sie getan hatte, schien sie nicht zu begreifen. Sie zog mit mir zusammen das nasse Laken weg, half mir, ein trockenes Handtuch über die feuchte Stelle auf der Matratze zu legen und ein frisches Laken darüber zu 114
breiten, war aber anscheinend immer noch in tiefem Schlaf, gefangen in einem drogenumnebelten Traum, der kein Ende nehmen wollte. Am Morgen konnte ich sie nicht dazu bewegen, über das Vorgefallene zu sprechen, und in der Tat drang ich auch nicht allzu sehr in sie; auch für mich war es peinlich. Einige Jugendliche – ich nehme an, es waren Jugendliche – haben ein Fenster zertrümmert und sind in die Scheune eingebrochen. Was sie alles gestohlen haben, weiß ich nicht so genau. Zwei Fahrräder, mindestens, die Henry und Roger gehört haben. Ein Gummifloß – kein großer Erfolg –, mit dem Henry im Teich spielen konnte, als er ein kleiner Junge war und sich einsam fühlte auf unserm Hügel, weil sein Bruder und seine Schwester schon fort waren auf der Prep School; ich weiß noch, wie er versucht hat, aus dem Entenpaar, das jeden Frühling in der Nähe des Teichs nistete, Haustiere zu machen. Sie haben eine Reihe flaumiger Küken ausgebrütet, und die Schnappschildkröte, die unten im Schlick lebte, hat sie sich alle geholt, jeden Tag eines. Außerdem fehlen einige der Mickey-Mouse-Klötzchen – sie haben inzwischen einen gewissen Sammlerwert – aus meinem alten Spielzeugkorb, dem verwitterten brüchigen großen Korb aus dem Apfelanbaugebiet der Berkshires. Und eine Lampe mit Porzellanfuß und ein gefaltetes Leinentischtuch, das mir offenbar im Gedächtnis geblieben ist seit meinem vorigen deprimierenden Besuch in diesem Speicherraum, der mich beklemmend an den Keller des Hauses erinnert hat, welches ich einst, viele Welten zuvor, mit Perdita geteilt habe. Vielleicht bin ich damals nicht vor Perdita geflohen, sondern vor jenem Keller, in dem ich es nicht ertrug, ein Puppenhaus für ein kleines Mädchen zu bauen, das bald zu groß dafür sein und es in das tote Land ausgedienter Spielsachen verbannen würde. Ich meine, die Jugendlichen, die ich im Wald krakeelen und krachen höre, jetzt da es wärmer wird, seien die Diebe 115
gewesen. Deirdre ist sicher, dass Spin und Phil es waren, «zur Warnung». «Warum sollten die uns warnen? Ich bin ein musterhaftes Mitglied ihres Vereins, habe alle Beiträge voll bezahlt, bis Ende März.» «Ben, du bist so naiv. Die wollen mehr, mehr. Die machen weiter, bis es nichts mehr bei dir zu holen gibt, bis sie dich total ausgelutscht haben.» Das Bild rief mir allzu lebhaft ihre Vergangenheit als schwanzlutschende Prostituierte in Erinnerung. Sie schien Spin und Phil ein bisschen zu gut zu kennen. Ich hätte sie am liebsten geschlagen, diese Verstocktheit, diesen Drogennebel, der sie unerreichbar machte, aus ihr herausgepr ügelt. Ihre Lippen sahen geschwollen aus und bewegten sich steif, wie der Mund eines Menschen bei großer Kälte, dabei war der Tag sonnig, wenn auch ein wenig frisch – einer der ersten wärmenden Tage, da eine atavistische Ader in dir dich drängt, auf einen Felsen zu kriechen, alte Schildkröte, und dir den Panzer von der Sonne durchweichen zu lassen. Ken und Red fragten mich, ob ich mit ihnen zum Skilaufen führe, und ich sagte ja, obgleich es mir ein bisschen widerstrebte, Deirdre den ganzen Tag allein im Haus zu lassen – sie hat sich in letzter Zeit so gefährlich aufgeführt, mit dieser leichtsinnigen weiblichen Gleichgültigkeit gegen sich selbst, die vermutlich dem Bedürfnis der Natur, mit DNS um sich zu werfen, entgegenkommt, für männliche Nerven aber höllisch strapaziös ist. Ich kramte im Keller meine Skier und Stiefel hervor, in der feuchten Waschküche neben dem kleinen Raum, in dem der schrundige Grundfels hockt wie ein ungebetener Gast, ein chthonischer Geist. Der Keller dieses Hauses ist anderthalb Jahrhunderte jünger und um etliche Grade heiterer als der in dem vor der Revolution gebauten Haus, das ich einst mit Perdita und meinen fünf unmündigen 116
Kindern bewohnt habe. Mein jetziger Keller verströmt das Selbstgefühl der Oberschicht zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Die gleiche bauliche Großzügigkeit, die in den Sommerresidenzen für die Herrschaft üblich war, ist, in Moll transponiert, auch in den unterirdischen Quartieren des Gesindes anzutreffen. Es gibt Fundamente aus gefugtem, rostgetöntem Granit, Trennwände aus weiß gestrichenem Backstein, Dampf- und Abflussrohre von gusseiserner Gediegenheit, spinnwebige Räume, die den Hobbys (Kunsttischlerei, Fotografie) der Söhne der früheren Besitzer geweiht waren. Im dunkelsten und feuchtesten dieser Räume – der einstigen Dunkelkammer, deren Fenster immer noch mit Rigipsplatten vernagelt sind, verwahre ich meine Skier. Seit Februar letzten Jahres hatte ich sie nicht mehr benutzt, und ich stellte fest, dass sie an den Kanten Rost angesetzt hatten. Die fensterlose unterirdische Feuchtigkeit war durch den Segeltuchüberzug gedrungen, und Sauerstoffatome hatten sich mit Eisenatomen verbunden. Natürliche Prozesse nehmen ihren Lauf ganz ohne unsere Zeugenschaft: gibt es einen schlagenderen Beweis für unsere Irrelevanz? Bertrand Russell (glaube ich) hat das menschliche Bewusstsein ein «Epiphänomenon» genannt – flüchtig, oberflächlich vorhanden, eine Blase, aufgeworfen durch Konfluenzen im blinden Strudeln unbeseelter Materie, wie die leeren braunen Schaumgerinnsel, die ein schnell fließender Bach aufquirlt. Wir fuhren zwei Stunden in Kens grauem Audi Richtung Norden. Red musste auf die globalen Gespräche, mit denen er die Mitfahrer in seinem hochgerüsteten Caravan beglückt, verzichten. Ken trug seine alte Pilotenmütze, als wir auf der Route 93 durch Waldstücke aus neu heranwachsenden Bäumen und an den kahlen Flanken von Industriegebäuden vorbei über Reading, Wilmington, Andover nach New Hampshire schwangen. Oberhalb von Concord lagen viele der Ferienhaussiedlungen, die in die Berghänge hineingekeilt wa117
ren, als verkohlte Gerippe da. Als der Strom der Zweitwohnsitzkäufer, die aus dem Großraum Boston zurück zur Natur wollten, wegen der Katastrophen des letzten Jahrzehnts versiegt war und diese Dörfer aus genormten Holzhäusern verlassen dastanden, hatten die hungernden Einheimischen sie in ihrer eigenen Zurück-zur-Natur-Bewegung geplündert und in Brand gesteckt. Aber die Natur ließ sich Zeit beim Verdauen dieser pseudobukolischen Einmischungen; die blaubraunen Hügel mit ihren schroffen Felsbuckeln waren von breiten schwarzen Narben gezeichnet und mit einem Gewirr von Rohren und Kabeln behängt. Elektronische Geräte hatten beim Plündern zu den begehrtesten Objekten gehört, doch ihr Wert hing von einer elektronischen Infrastruktur ab, die eines der ersten Opfer der urbanen Katastrophe und der globalen Bevölkerungsdezimierung gewesen war. Loon Mountain war eines der wenigen Skigebiete, die für Besucher noch zugänglich waren. Die Gondelbahn war geschlossen, wegen Mangels an Schweizer Ersatzteilen, und die Männer, die den Sessellift bedienten, sahen unrasiert und hinterhältig aus. Sie wirkten in ihren Holzfällerhemden und bunten Parkas wie böse Trolle, die den Berg ausbeuteten mit rasselnden, quietschenden Erzloren; voll fuhren die hinauf, und leer kamen sie herunter. Die übergewichtige pockennarbige Frau hinter dem Billettschalter wollte meinen Führerschein sehen, um zu überprüfen, ob mir tatsächlich Seniorenermäßigung zustand. «Sechsundsechzig», sagte sie, als sie stirnrunzelnd nachgerechnet hatte. «Okay, Sonny. Was für’n Trick haben Sie – Bäckchen wie’n Baby und so’n Wuschelhaar.» Angesichts ihres derben Flirtversuchs fragte ich mich, ob sie wohl Deirdres jugendliche Hautabsonderungen gewittert hatte, die an mir hafteten und mich mit einer ungeriatrischen Aura von sexuellem Erfolg umgaben. Ken und Red krähten vor Vergnügen über mein Erröten und bekamen anstandslos ihre eigenen Seniorenbilletts. 118
Die Bedingungen waren nahezu ideal. Der viele Schnee dieses Winters – der erste war schon im November gefallen – hatte eine zwei Meter dicke Grundlage geschaffen, die man mit Kunstschnee und Planierraupen in Schuss gehalten hatte. Die Oberfläche war rau, übersät mit noch nicht planiertem losen Firn, und es gab keine Pisten entlang der Liftstrecke. Gespenstisch wenig Leute waren unterwegs. Ein paar Flegel mit Snowboards ritschten ihre rohen Bögen in die schimmernden Hänge und sausten und sprangen über die Hindernisse, die man für sie angelegt hatte, und ein paar Ruheständler, amüsierhungrig wie wir, bewegten sich vorsichtig und kontrolliert die ausgefahrenen Pisten hinunter. Von uns dreien konnte nur Ken als vorsichtig bezeichnet werden; er führt seine steifen Schwünge mit gewissenhaft geknickten Knien und wohlüberlegtem Stockeinsatz aus. Red, der nie Unterricht gehabt hat, pflanzt sich hin, Skier drei ßig Zentimeter auseinander, und fährt mit einem Juchzer einfach geradeaus den Berg hinunter, legt nur dann einen Schwung ein, wenn seine Skier wegen der zunehmenden Geschwindigkeit vom Boden abheben. Seine leuchtend rote Skimütze wird rasch immer kleiner und verschwindet unten zwischen den Granitwänden der Auslaufrinnen und in den welligen Hubbelhalden. Seine Angestellten in Gloucester haben ihm zu Weihnachten aus Jux eine silberfarbene Windjacke geschenkt, auf der groß NICHT VERGESSEN FISCH ESSEN! steht, und heute hat er sie angezogen, darunter einen Rollkragenpulli und einen Sweater aus ungefärbter Shetlandwolle. Ich habe einen biederen, insgeheim aber verwegenen Stil. Ich versuche, an meine Füße zu denken – Gewicht erst auf den einen, dann auf den andern verlagern –, und ich konzentriere mich auf die Innenkanten, auf denen mein ganzes Gewicht und meine verschlungenen, hässlichen Eingeweide balancieren wie auf einer einzelnen Schlittschuhkufe. Aber die Skier, denen ein buckliger Troll im Skiladen den Rost wegge119
schliffen hatte, wollten immer wieder unter mir weglaufen und brachten mich zwei-, dreimal fast zu Fall, bis ich mich daran erinnerte, dass Skifahren ja gar nichts anderes ist als ein Fallen, ein Kapitulieren vor dem Unvorstellbaren und Angstmachenden. Danach begann ich zu fliegen, zu fühlen, wie mein gelockertes Körpergewicht elegant meine Geschwindigkeit unter Kontrolle hielt, als ich links, rechts, dann wieder links in die Falllinie schwang. Wir bekommen mehr Höhe, wenn wir altern; je älter wir werden, desto länger und tückischer wird die Entfernung zur Erde. Für ein Kleinkind ist die Erde ein Spielgefährte, nicht weiter weg als ein schmerzloser Plumps auf den Hosenboden. Meine Beine – die Knie, die Oberschenkelmuskel – taten mir nach vier oder fünf Abfahrten so weh, dass ich immer wieder anhielt und nach Luft rang, während Reds Mütze unten verschwand und Ken stetig und steif seine Stemmschwünge den Berg hinunter machte. Ich appellierte an Muskeln, die seit einem Jahr untätig gewesen waren. Die Jahre bewegen sich in uns hinein; die zyklische Bewegung ist nicht die einzige, die sie vollführen. Stehenbleibend, schwer atmend, bewunderte ich den Himmel, ein bodenloses Enzianblau, in dem die beiden Monde schwammen; ihre oberen Hemisphären waren durch eine von zahllosen ineinander greifenden Rädchen bewirkte Umstellung im Himmelsmechanismus von der Sonne beschienen, sodass sie wie poröse Kekse aussahen, getunkt in ein durchscheinendes Astralgebräu. Das Tal mit seinen gewundenen Straßen und übereinander gestaffelten Condos lag tief unter mir ausgebreitet, und ungefähr in Augenhöhe, etwas höher vielleicht, schimmerte der weiße Gipfel des Mount Washington über den dazwischengeschobenen dunkleren Kämmen. Alles hier in New Hampshire war braungrau, braun und blau. Die klare Luft traf meine Sinne mit der Schärfe eines Hundegebells, das irgendwo im Tal ertönte. Auf der Rückfahrt waren wir alle drei still, betäubt von so 120
viel ungewohnter frischer Luft und körperlicher Bewegung. Unsere Altmännernähe zum Tod schien alles Unangenehme zu verlieren, wenn man sie in so geselligem Schweigen teilte. Der automatische Geschwindigkeitsregler des Audi zog uns stetig gen Süden. Der Schnee hörte auf, lag nur noch in schmutzig verharschten Streifen an den Rändern der Route 93. Zur Rechten spiegelte sich in der goldenen Kuppel des Kapitols in Concord das sinkende Tageslicht. Südlich von Concord wälzten sich früher um diese Uhrzeit Ströme von Scheinwerfern hin, wenn die Pendler nach ihrer täglichen Plünderung des Staatssäckels von «Taxachusetts» in dieses Niedrigsteuerasyl zurückkehrten. Jetzt war von dem goldenen Strom nur noch ein Rinnsal übrig, auf einem Highway, der für das Sechsfache an Verkehr ausgelegt war. Die Berge um uns schrumpften und wurden weniger. Das Radio, das auf einen Bostoner Sender eingestellt war, der Easy-Listening-Musik brachte, hatte mittlerweile einen fast störungsfreien, leicht verträumten Klang. Kens Kopf, wieder mit Pilotenmütze, ruckte aus einem Nickerchen hoch; Red hatte «O Gott!» gekeucht und hastig das Lenkrad gepackt, als das Auto aus der Spur glitt. Ken war verlegen, aber wir waren genauso schuld, wir hatten unseren Gedanken nachgehangen, anstatt eine anregende Plauderei in Gang zu halten. Ken fuhr an die Seite, um mit Red den Platz zu tauschen, und als er sich im Kopilotensitz zurechtsetzte, erzählte er uns, dass er während all seiner Flugjahre niemals einschlafen konnte, wenn er als Passagier unterwegs war, ganz gleich, wie sehr er unterm Jetlag litt. Er wusste zu viel, hielt unentwegt sachkundig die Ohren gespitzt, ob die Motoren auch das richtige Geräusch machten. Nur wenn er aufrecht im ergonomisch geformten schwarzen Pilotensitz saß, meilentief unter ihm Wolken, dunkle Ozeanweiten oder mit Ortschaften gesprenkeltes Land, und der Autopilot zuverlässig seine Arbeit tat, zog es ihn unwiderstehlich ins Reich der Träume. 121
Ich kam vor sieben an, alles war still im Haus, aber etwas hatte sich verändert. Eine infinitesimale Messung war vorgenommen worden, und Deirdre und ich waren in einem anderen Universum. Die Luft in den Zimmern hatte sich gewandelt. Sie roch nach einem anderen Mann. Deirdre kam träge, schon im Bademantel, die Treppe herunter. «Ich hab den ganzen Tag im Haus geschuftet und mich schmuddelig gefühlt, da hab ich schnell geduscht», sagte sie zur Erklärung. «Wie war’s beim Skilaufen?» «Schön», sagte ich. «Aber Ken ist auf der Rückfahrt am Steuer eingeschlafen, und beinah wären wir alle draufgegangen. Und außerdem kann ich kaum noch die Knie bewegen, die sind so was nicht gewohnt. Irgendwas Besonderes, während ich weg war?» «Nein, nichts.» «Gar nichts? Kein Anruf?» «Doch, eine alte Dame. Sie war besorgt, weil die Kurse heute um vierzig Punkte runtergegangen sind. Ich hab ihr gesagt, du bist unterwegs und amüsierst dich mit ein paar Kumpeln. Sie schien darüber sauer zu sein. , hab ich gesagt, <er ist im Ruhestand. Sie können nicht erwarten, dass er den ganzen Tag zu Hause sitzt und auf Ihre Mäuse aufpasst.>» «Das kann nur Mrs. Fessenden gewesen sein. Ich muss sie anrufen und sie beruhigen. Ich werde sie daran erinnern, dass sie in langfristige Papiere investiert hat und sich keine Sorgen zu machen braucht über das tägliche Auf und Ab. Diese alten Leute haben nicht genug zu tun, da machen sie sich eben Sorgen.» Mir ging auf, dass von Deirdres Standpunkt aus auch ich alt war. Ich hatte mein Alter vergessen im Nachglühen des Skiausflugs. «Was gibt’s zum Abendessen, Liebling?» «Oh», sagte Deirdre und schlug durchtrieben die langbewimperten Augen nieder, «ich hab keinen Hunger. Ich hab zwischendurch ein bisschen geknabbert. Im Kühlschrank 122
sind noch ein paar Ravioli von gestern Abend, die kannst du zack in der Mikrowelle fertig machen.» «Danke. Zack fertig gemachte Ravioli, mein liebstes Schlemmergericht. Aber erst will ich aus den Skiklamotten raus.» Das Haus hatte etwas Nacktes. Auf dem Weg zur Treppe warf ich einen Blick ins Wohnzimmer und ins Esszimmer, um zu sehen, ob wieder etwas fehlte. Zu Glorias Zeit waren es prachtvolle Zimmer gewesen, Schauräume für die Familienantiquitäten, aber seit sie fort war – verschwunden? tot? –, hatte nach und nach, anfangs unmerklich, eine Schäbigkeit um sich gegriffen. Sogar der Teppich, der wunderbare rosablaue Täbriz, sah verblichen aus, hinten, wo die gläsernen Fenstertüren waren und das kleine Sofa mit der ovalen Rückenlehne und dem écrufarbenen Seidenbezug, den die Sonne jeden Tag ein bisschen mehr zerstörte, während sie ihren Bogen über dem Meereshorizont beschrieb. Und mir schien, als stünden nicht mehr so viele hübsche Kleinigkeiten herum – Leuchter, silberne Bilderrahmen, Limoges-Figurinen. Im Schlafzimmer, meinte ich, hätte ich einige Schubladen meiner Kommode ein paar Zentimeter offen gelassen; jetzt waren sie alle bündig geschlossen, und die Bettdecke war allzu straff gezogen. So viel Ordentlichkeit sah Deirdre nicht ähnlich, auch dann nicht, wenn sie, ihren Worten zufolge, den ganzen Tag im Haus geschuftet hatte. Ich schnupperte. Kam der Aschehauch in der Luft von einer Zigarette oder von einem Geist im Kamin? Die vorigen Besitzer hatten hier oben oft Feuer gemacht, man sah es an den verrußten Schamottesteinen. Sie hatten das Haus ausführlich und voll Vertrauen genutzt, als etwas, das von Rechts wegen ihr Eigen war. Die Information, die meine olfaktorischen Zellen erhielten, entschlüsselte sich mir schlagartig als Mann in verbeultem braunem Anzug. Sein nacktes, untersetztes, behaartes Bild war in der Quecksilberbeschichtung des ovalen Spiegels eingelassen, 123
ich müsste nur über die Technik verfügen, es wieder herauszuholen. Die Technologie der Zukunft wird imstande sein, die exakte Position jeglichen Atoms in der Vergangenheit zu rekonstruieren aufgrund seines Ortes in der Gegenwart, so wie die Techniker in der Fabrik jeden Tastendruck, der dem strengen Gedächtnis des Computers eingegeben ist, zurückholen können, auch dann, wenn der Befehl zum Löschen erteilt wurde. Vor Jahren las ich im Scientific American von einem sonderbaren Wissenschaftler, der behauptete, am Ende der Zeit, von ihm der Omega-Punkt genannt, würden die gütigen Wesen einer phantastisch fortgeschrittenen Zivilisation, die im entropischen beziehungsweise implodierenden Universum ansässig sei, uns alle mit größter Sorgfalt wieder zusammensetzen und zu neuem Leben erwecken, jeden einzelnen Menschen, der je auf Erden gewandelt war, mich, einen mittelalterlichen Stallburschen, einen Auerochsen jagenden Neandert(h)aler, zusammen mit Glorias sämtlichen Vorfahren und den Millionen chinesischer Zivilisten, die unlängst bei dem beklagenswerten Chinesisch-Amerikanischen Konflikt umgekommen waren. Die These schien eher unwahrscheinlich, auch wenn der heilige Paulus sie ansatzweise vorweggenommen hatte, und unter physikalischem Aspekt war sie zweifellos extrem. Der Eindringling müsste auch Spuren in Deirdres Nervensystem hinterlassen haben, während ich auf den Skipisten unbeholfen Ekstase suchte. Als ich die Treppe hinunterging, sah ich in den teppichbelegten Stufen akkurat hintereinander gereihte Bodenwellen und stellte mir vor, dass ich leicht, mit fest geschlossenen Knien, drüber hinschwang, von einer Seite zur anderen und im Bogen um die Geländerpfosten auf dem Treppenabsatz herum. Als ich dann pflichtschuldig meine zack fertig gemachten Ravioli aß, dazu ein bisschen welken Broccoli, von dem ich die braunsten Spitzen abgeschnitten hatte, bevor ich ihn in die Mikrowellenschüssel stopfte, 124
strich sie auf eine untypische Weise um mich herum. Sie gab sich Mühe, nett und gefällig zu sein, aber ihre Reaktionen in der Unterhaltung waren so träge wie die eines Computers, dessen Speicherkapazität voll ausgelastet ist. Kein Zweifel, ihrer wurde besser gefüttert als meiner. «Gott», sagte ich und stöberte im chaotischen Kühlschrank nach irgendetwas anderem Halbvergammelten, das ich mir noch aufwärmen könnte, «wirklich ein gutes Gefühl, wenn man sich zur Abwechslung mal ein bisschen bewegt hat! Wir sollten uns körperlich mehr betätigen, wo’s doch jetzt nach Frühling riecht. Was macht dein Sexualleben?» Das alarmierte sie. «Wieso, das weißt du doch», sagte sie. «Dasselbe wie deins.» «Tatsächlich? Wann haben wir das letzte Mal miteinander geschlafen?», fragte ich. Sie hatte die Antwort parat, so beduselt sie auch wirkte. «Vor acht Tagen. Letzten Dienstag, als du von der neuen Sprecherin auf Kanal Sieben aufgegeilt warst.» Eine knusprige Blondine mit glasklarem eckigen Grübchenkinn, das sie der Kamera entgegenreckt, während sie durchs Objektiv hindurch vom Teleprompter abliest. Sie hat schmale, dunkel geschminkte, lang gezogene Lippen, mit denen sie selten lächelt, außer zum Schluss: dann gibt sie ein großes befriedigtes Lächeln frei, das alles sagt. Sie hat so viel Klasse, dass sie niemals mit dem Wetteransager oder dem Flaps, der für Sport zuständig ist, herumplänkelt. «Tolle Fotze, diese Neue», gab ich zu. «Hast du heute Abend was vor?» «Nein.» Aber sie sagte das gedehnt, zögernd, um mich zu ärgern. «Hättest du Lust, früh zu Bett zu gehn? Ich meine, gleich nach den Nachrichten, bevor ich vom Skilaufen zu müde bin und anfange zu schnarchen.» «Ja, na ja», sagte Deirdre. «Wenn du möchtest. Ich wollte mir noch die Haare waschen.» 125
«Wasch sie hinterher. Lass mich erst an sie ran.» «An sie ran – wie?» Vielleicht dachte sie an eine perverse Nummer, die sie mal geschoben hatte. Sie war straff gespannt, wie das Bett, das sie heute ein zweites Mal gemacht hatte. «Ach», sagte ich, nicht geneigt, ihr in irgendeiner Weise entgegenzukommen, «ich weiß noch nicht, wie. Ich hab’s aber nicht gern, wenn ich mich eingeengt fühlen muss, weil du mich nicht an deine frisch gewaschenen Haare lässt. Hatten wir nicht noch Joghurteis? Mit Pfirsichgeschmack – ich sehe den Becher vor mir, gleich hier, neben dem tiefgekühlten Zitronenkuchen. Wo ist er? Wer hat ihn gegessen?» «Wer hat was gegessen.» «Den Pfirsichjoghurt, du dumme Nuss.» Sie erinnerte mich ärgerlich an die Nacht, als sie ins Bett gemacht hatte und sich weigerte, davon Notiz zu nehmen. «Er ist weg. Lass uns den Zitronenkuchen für morgen Abend auftauen. Und lass uns endlich ins Bett gehn und sehn, was wir mit deinen Haaren anstellen können.» «Mir passt dein Ton nicht», sagte Deirdre. «Und mir passt deiner nicht.» «Du hast so was Überdrehtes.» «Und du hast offenbar gesnifft oder was geschluckt oder gespritzt und verheimlichst mir etwas.» «Scheiße, verdammt, so mies wie du drauf bist, glaubst du, ich lass mich da von dir vögeln, bloß weil du’s befiehlst?» «Irgendein mysteriöser Kerl hat mir mein ganzes Pfirsichjoghurteis weggegessen! Wer zum Teufel bist du eigentlich, dass du nicht mit mir vögeln willst, obwohl ich dich so darum bitte und all die beschissenen Rechnungen bezahle!» «Ich bin deine Ehefrau – wär ‘ne Möglichkeit.» «Als Hure warst du mir aber lieber.» «Klar. Geht allen Männern so. Huren sind ihnen lieber als Ehefrauen.» 126
«Du warst vorher unverfälschter.» «Logisch, Männer müssen so denken.» «Du hast dich stückweise verhökert, hast mit dir handeln lassen.» «Na schön, du Hund. Eine Million Welder, und du kannst mir die Haare voll spritzen.» «Ich habe keine Million Welder.» «Hast du wohl. Ich hab die Auszüge gesehn.» «Nur ein Bruchteil dieser Guthaben ist sofort realisierbar, Miss Schnüffelnase. Sagen wir zwei Millionen, wenn du mir erzählst, was du heute wirklich gemacht hast.» «Ich hab Hausarbeit gemacht und dich lieb gehabt, wenn du’s unbedingt wissen willst. Ich habe gedacht, wie gern ich mit dir ins Bett will, sobald du vom Skilaufen mit diesen Blödmännern zurückkommst. Ich habe den ganzen ersten Stock gefegt und Staub gewischt und auf dem Rasen draußen trockene Zweige und anderes Winterzeugs aufgesammelt.» Beschämt sah ich, dass ihr Tränen über die unteren Lidränder quollen wie dünner Schleim und das Braun ihrer Augen zu stärkerem Glanz lackierten. Wir sind jeder ein muköses System interaktiver Flüssigkeiten. Unsere olfaktorischen Zellen sind offene Nervenenden, gebettet in feinen Schleim, der die flüchtigen Moleküle auflöst, die wir einatmen. «Da waren überall kleine Haufen», fuhr sie fort, und ihre Stimme zitterte, «kleine Scheißhaufen.» «Rehlosung», sagte ich, alle Hoffnung auf Pfirsichjoghurteis fahren lassend und gehemmt, väterlich den Arm um sie legend. «Lass uns nicht ins Bett gehn», sagte ich. «Wir sind beide in miserabler Verfassung. Schauen wir mal, was es im Fernsehen gibt.» «Ja, diese blonde Schlampe, die dich so heiß macht.» Und pervers erregt jetzt, setzte sie hinzu: «Ben, ich will eine Hure sein, wenn du das möchtest. Überlegen wir uns irgendwas Verrücktes, wie wir dich zum Abschlaffen bringen können.» 127
«Vielleicht», regte ich zuvorkommend an, «während wir uns die Schlampe auf Kanal Sieben ansehn.» Kanadagänse ziehen so oft mit ihrem harten Schrei hoch oben vorüber, dass ich schon gar nicht mehr aufschaue. Zwei haben den Teich unten beim Briefkasten besucht, jetzt da die Oberfläche teilweise vom Eis befreit ist. Es schmilzt von den Rändern zur Mitte hin. Die Gänse mit ihren hochmütigen schwarzen Gesichtern und perlmuttgrauen Leibern stören ein Stockentenpaar, das den Teich bewohnt, seit sich am Schilfrand, an der Stelle, wo die Fließbewegung am stärksten ist, schwarzes Wasser aufgetan hat. Einmal blieb ich beim Briefkasten stehen und sah den Enten zu. Mein beobachtender Blick erschreckte sie, und das kleine braune Weibchen versuchte davonzupaddeln und geriet in den Eismatsch. Der Erpel mit dem prächtig grünen Kopf paddelte hinterher, und so war das Weibchen unversehens in der Rolle eines Eisbrechers: es planschte sich durch den grauen Brei und schlug mit den Flügeln, um sich zusätzliche Schubkraft zu geben, als das Eis fester wurde. Sie pflügte eine geschlängelte Spur, auf der ihr der stattliche Erpel gelassen gleitend folgte, bis sie, weiter fort von der Bedrohung, die meine stumme Gegenwart darstellte, wieder offenes Wasser fand. Merkwürdig, wie beide, Ente und Enterich, sich vollkommen einig zu sein schienen, dass die schwierige Aufgabe ihr zukam. Das Weibchen der Spezies kümmert sich um die ernsten Angelegenheiten, und das Männchen hat das Gefieder. Gestern besuchte ich den kleinen Keith und Baby Jennifer in dem minzgrünen Ranchhaus in Lynnfield, das Roberta, meinem jüngsten Kind, und ihrem Bauunternehmergatten Tony O’Brien gehört. Jenny ist sechs Monate alt, ihr großer seidiger kubischer Kopf ist jetzt von einem feinen Flaum bedeckt, der komisch steil absteht, als sei er mit statischer Elektrizität geladen. Als ich ihr den Karottenbrei einlöffelte, wan128
derten ihre Hände mit den gespreizten Fingern und den durchsichtigen Nägeln vor Aufregung über die Merkwürdigkeit, dass dieser raue alte Mann sie fütterte, immer wieder in ihren Mund, in dem schon der Brei war, und stellten, im Verein mit dem silbernen Löffel, ein Gemenge von Gegenständen und Absichten her. Ihre winzige blaue Faust packte ein orangefarbenes Püreeklümpchen, hielt es fest und wischte es dann schläfrig über die eine hauchzarte Augenbraue. «Lass das», sagte ich scharf, und meine Tochter, deren eigene Kleinkindzeit zusammengerollt irgendwo im grauen Neuronengewirr meines atrophierenden Gedächtnisses liegt, erklärte mir geduldig, dass Babys zuerst lernen, wie man etwas festhält, und viel später erst begreifen, wie man die Feinheiten des Loslassens koordiniert. Ich selbst habe seit frühester Kindheit Dingen – Spielsachen, Werkzeugen – eine feindselige Absicht zugeschrieben, einen Hang, sich mir entgegenzustellen und meine Pläne zu vereiteln. Ein Einzelkind, sehe ich im Universum selbstsüchtig einen großen antagonistischen Bruder. Trotz des Fauxpas, mit Jennifer zu reden, als ob sie eine Erwachsene sei, die sich unbedingt quer legen muss, durfte ich ihr die Flasche geben, die exakt eine Minute in der Mikrowelle warmgemacht worden war; Perdita und ich hatten die Fläschchen in heißem Wasser auf dem Herd aufwärmen müssen und die Temperatur dann an der Innenseite unserer Handgelenke geprüft, mit einem kleinen Kuss blutwarmer Milch, den meine Adern nicht vergessen haben. Eine kosmische Ruhe senkte sich herab: Nahrung und das Verlangen danach trafen zusammen. Näher würde ich dem Gefühl nie kommen, wie es ist, Brüste zu haben. Als ich probehalber an der Flasche zog, war ich überrascht, mit welcher Kraft Jennifers kleiner Mund sie festhielt – abermals: eine ernste Angelegenheit. Ich fürchte, es ist ein Defekt – möglicherweise einer, den ich mit sämtlichen männlichen Lebewesen teile –, dass ich 129
unfähig bin, ernste Angelegenheiten wirklich ernst zu nehmen. Essen, huren, schlafen, sterben – im Grunde doch alles ein Tick würdelos und lächerlich. Ich staunte früher immer über die Heftigkeit, mit der Gloria protestierte, wenn ich, am Steuer eines unserer Autos, ihrer Ansicht nach einem anderen Auto zu nahe kam, auf der falschen Spur fuhr, eine Rutschpartie auf vereister Fahrbahn riskierte oder – in diesem Punkt mag ich mich einer kleinen Quälerei schuldig gemacht haben – unempfindlich war gegenüber den Gefahren der Eisenbahngleise am Fuß unseres Hügels. Es machte mir Spaß, über sie hinwegzubrettern, ohne anzuhalten und nach links und rechts zu sehen, und wenn die Ampel auf Rot stand und wütend blinkte, doch noch ein Stück vorzufahren und zu sehen, ob der Zug weit genug weg war, dass man’s drauf ankommen lassen und hinüberflitzen konnte. Was für ein Gezeter Gloria immer wegen ihres bisschen Lebens veranstaltete! Frauen tragen die Last der Welt, das ist wohl so, aber Männer haben die Magie – die allentscheidende Magie, den strahlenden superdichten Samen, der aus dem Nichts hervorgeschleudert worden ist und den Urknall erzeugt hat. Männliche Homosexuelle, so meine Theorie, verachten die rosigen, weichen Lockungen, die die Natur erschaffen hat, um sie fruchtbringend auf Abwege zu führen; sie sind schnurstracks auf diese Magie aus, der auch weibliche Wesen, Tod und Verderben nicht scheuend, sich entgegenwerfen. Mädchen verlieben sich in Serienmörder und in Rockstars, die züngeln wie Reptilien. Es kränkte mich, es setzte mich herab, wenn Gloria so empört die Gelegenheit ausschlug, mit mir unter den Rädern eines Vorortzugs zu sterben. Einmal, als ich den Wagen heimlich vorwärts rollen ließ, zog sie den Schlüssel aus dem Zündschloss; ein andermal öffnete sie die Tür auf ihrer Seite und wäre hinausgesprungen, wenn ich nicht gebremst hätte. Mit dem Leben zu spielen übte keinen erotischen Zauber auf sie aus. Ich war 130
beleidigt. Wenn die Magie nicht funktioniert, bleibt von einem Mann nicht viel. Ein eigenartiges Symptom, möglicherweise tödlich: wenn ich mit einem kleinen Kind auf dem Arm dastehe, werden mir die Knie weich, so wachsweich, dass ich Angst habe, ich falle hin mit meiner kostbaren Last. Eine Willensanstrengung hält mich aufrecht, bis der Anfall vorüber ist, oder ich schaffe es, mich auf einen Stuhl zu setzen. Ich bemerkte das zum ersten Mal, als Duncan, mein siebter Enkelsohn, geboren wurde. Ich brach fast zusammen in der cremefarbenen Entbindungsstation des Krankenhauses. Das knochenlose Bündel in meinen Armen, mit dem runden Gesicht, das noch blau war von der Passage durch den Geburtskanal, vermehrte mein Eigengewicht um nahezu unerträgliche dreitausenddreihundert Gramm. Als ich Gloria mein rätselhaftes Symptom anvertraute, diagnostizierte sie schlicht einen Blutdruckabfall und verordnete mir Wasser. Sie selbst bemühte sich, acht Viertellitergläser pro Tag zu trinken. «Trinkeln und pinkeln» lautete ein Schönheitstipp einer ihrer unflätigen Freundinnen aus dem Calpurnia-Club. Das hielt die Haut angeblich von innen elastisch und feucht wie die eines Babys. Ich muss gestehen, Baby Jennifers Haut ist so köstlich, dass ich mich nicht im Zaum halten kann und mit meinen rissigen alten Lippen immer wieder auf ihre Wangen niederstoßen muss, auf ihre wunderbare ernste glatte Stirn, ihren flaumigen Schädel, der nach gestaltlosen, pudrigen Gedanken duftet. Man könnte immerfort lachen, geradezu kreischen vor Entzücken über diese kindlichen Texturen und Aromen. Ich fühle mich taumelig mitgerissen vom Strudel des Lebens. Ich denke, ich war zu der Zeit, als meine eigenen Kinder klein waren, zu beschäftigt mit dem täglichen Getriebe – der anhaltenden, Vermögen schaffenden Hausse während meiner dreißiger Jahre –, um Luft zu holen. Erst nach dem Zusammenbruch im Jahr 2000, 131
als die verwirrten Computer der Weltwirtschaft etliche Milliarden entzogen, nahm ich Notiz von meinen Kindern, aber da waren sie schon Teenager. Jennifer ist zauberhaft, alle sagen wir ihr das. Ihr Bruder und ihre acht Cousins, die sie alle schon kennen gelernt hat, bestätigen sie in ihrer Macht. Sie ist eine heilige Larve, die mit Gelée royale gemästet wird. Die männliche Magie wird auf sie übergehen, und sie wird die Turnbull-DNS, zur Hälfte mit O’Brien-Genen verpanscht, in Richtung Ewigkeit tragen. Von würdevoller Autorität mit ihrem schieferblauen Blick, ihrem elektrisch geladenen flaumigen, einstweilen noch farblosen Haar, ist sie eine Person aus eigenem Recht und gebietet über alle Register menschlicher Interaktion. Wenn sie das Karottenmus schluckt und mich mit verschmiertem Mund anlächelt, bin ich geschmeichelt; ich war, zu Beginn meines Besuchs, verletzt und beleidigt, als sie bei meinem befremdlichen Anblick das Gesicht an der Schulter ihrer Mutter verbarg. Wir wetteifern um ihre Gewogenheit; ich empfinde einen beschämenden Drang, sie den dicken Armen ihres Vaters zu entreißen und in das samtige Gefältel ihres Ohrs hineinzuflüstern, dass sein Bauunternehmen am Rand des Bankrotts entlangschwankt und dass seine Gläubiger ihr, ohne mein diskretes finanzielles Eingreifen, längst das Dach über dem Kopf weggenommen hätten. Ich bin eifersüchtig auf das junge Eheleben, das Tony, mit meiner lieben Tochter als seiner Habe, hier in der pastellfarbenen Neubausiedlung von Lynnfield fuhrt. Roberta steht in ihrer kleinen Küche am Elektroherd, und nach der anmutigen, leichten Art, mit der sie sich, einen Plastiklöffel in der Hand, umdreht und eine von Tonys barschen, nörgeligen Bemerkungen hinnimmt («Das Gör riecht, als ob’s ‘ne frische Windel braucht»), könnte sie, aus dem Augenwinkel gesehen, Perdita sein, Perdita vor fünfunddreißig Jahren. Ihr elliptischer physischer Stil lebt in ihren Töchtern fort, die sich, so wird mir wiederholt versichert, 132
Männer erwählen, welche mir ähnlich sind. Die Ähnlichkeit bleibt mir verborgen. Dem kleinen mürrischen Keith ergeht es wie mir in dieser Familie: wir gehören zwar dazu, bleiben aber doch außen vor, sind ausgeschlossen aus dem heiligen Dreieck VaterMutter-Baby. Keith und ich sind äußere Hüllen, die abgestreift werden; hilflos und vernachlässigt sehen wir mit an, wie Jennifer machtvoll ihr Zauberregiment fuhrt und die um ihre Gunst buhlen, belohnt oder abweist. Roberta erzählt mir, dass Keith des Öfteren früh am Morgen oder während des Nachmittagsschlafs still in Jennifers Zimmer gegangen ist und seine Spielsachen ins Gitterbettchen gepackt hat – Teddybären, Holzeisenbahnen, Plastiktelefone, Kipplader aus Metall, alles hat er so aufeinander gestapelt, dass Jennifers ganzer Körper bedeckt war, einschließlich des Kopfes. Tony hat daraufhin einen Riegel an der Tür angebracht, so hoch, dass Keith nicht herankann. Sie ernähren mich gut bei diesen Besuchen und lassen mich, meinem Rang, meiner Häuptlingswürde huldigend, das gegrillte Hähnchen oder den Schmorbraten tranchieren, aber ich bin jedes Mal erleichtert, wenn ich mich verabschiede, zur Tür hinausgehe und mich in mein Auto mit der Heizung und dem Radio setze, als entflöhe ich einer unrühmlichen Vergangenheit oder als entfernte ich meine Variable aus einer Gleichung, die ohne mich schon knifflig genug ist. Krokusse blühen vorn auf dem Rondell, an einer Stelle, wo das Sonnenlicht vom Granithöcker reflektiert wird und die Erde wärmt. Die Farben, Lila und Weiß, erscheinen ein wenig vulgär und abgenützt – betont österlich –, verglichen mit dem unberührten, keuschen Elfenbeinton der Schneeglöckchen, von denen immer noch ein besonders großer Horst im sonst leblosen Wald leuchtet. Die Erde in Glorias Beeten sieht bröckelig aus, wird immer rissiger, je mehr der Frost 133
sich aus dem Boden hervorarbeitet; ein Riese hebt sich von unten hoch. Die Taglilien im Beet an der Zufahrt stehen inzwischen als dreiblättrige heraldische Silhouetten da – blassgrüne fleurs de lis. Die Forsythienruten sind symmetrisch mit Knospen besetzt wie mit Sägezähnen, behalten in diesem zögerlichen grauen Frühling ihre signalgelben Blüten aber noch für sich. Gestern habe ich die erste Wanderdrossel gesehen; sie stolzierte in ihrer vertrauten staubigen Uniform auf dem Kiesrand der Zufahrt entlang und warf sich mit heftigem Flügelschlag in die Luft, als ich näher kam. Ein spießiger Vogel, großtuerisch in seiner Behäbigkeit, verdorben von den vielen Liedern und Gedichten, die ihm unerklärlicherweise gewidmet sind. Ich hatte, als ich mit meinem Globe wieder hinaufging, mehr Interesse an zwei kleinen gelbbraunen Vögeln, der eine mit rosig überhauchtem Kopf, deren Namen ich nicht kannte. Sie kreisten umeinander im hellen spröden Zweiggeflecht des Gefüllten Schneeballs und führten dabei eine Art Bockspringen auf: der eine nahm einen Zweig tiefer als der andere Platz, dann schnellte der andere hoch und ließ sich direkt über dem ersten nieder – ein Balztanz, der strengen geometrischen Regeln folgte. Die Hintergrundgeräusche der Natur nehmen zu: als ich das Bett machte (zuvor hatte ich die eher unwillige Deirdre zwischen den Laken durchgeschüttelt) und das Fenster sowie das Sturmfenster einen Spalt breit öffnete, um unsere Körpergerüche hinauszulassen, hörte ich ein gedämpftes Trommeln, so mechanisch, dass es nicht einmal ein Specht sein konnte, der auf morsches Holz einhackte. Es gibt rein anorganische Wesen auf diesem Planeten; vorläufig sind sie quasi nur als Unterholz für die Sauerstoff atmende, aus Fleisch und Blut bestehende Fauna vorhanden, aber ihre Existenz ist unbestreitbar, und sie entwickeln sich, sie warten auf ihre Stunde, genauso wie es unsere Säugetiervorfahren während der langen Ära der Dinosaurier getan haben. Die mikroskopi134
schen ersten Formen sind mutmaßlich in großstädtischen Müllkippen entstanden oder, was wahrscheinlicher ist, in den Deponien an der Peripherie riesiger Militärbasen oder Kernbrennstofffabriken, wo ein Brei aus ausgelaufenem Mineralöl und chemischen Nebenprodukten durch schwache radioaktive Streuungen mit Energie gespeist wurde. Metallteilchen, kleiner als die kleinsten Eisenfeilspäne, verbanden sich und wurden zu einer Kettenreaktion getrieben, möglicherweise aufgrund des chemischen Prozesses der Oxidation, der zufällig dicht neben einem absichtslosen Gemisch aus chemischen Wirkstoffen ablief. Die daraus resultierenden winzigen Kreaturen waren anatomisch zwar viel simpler als ihre organischen Pendants, besaßen jedoch genügend Komplexität, um sich in der Industriemüllsuppe zu reproduzieren. Ein Geist der Zielgerichtetheit sozusagen, der ihren bereits verfeinerteren, differenzierteren Komponenten innewohnte, befähigte die Metallobioformen, viel produktiver mit anatomischen Varianten zu experimentieren als die grundsätzlich konservativen, ateleologischen DNS-gesteuerten Organismen. In der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne seit ihrem ersten bescheidenen unbezeugten Auftreten – es muss in jedem Fall lange nach der industriellen Revolution und der Erfindung von Verbrennungskraftmaschinen gewesen sein – haben sich Metallspezies von der Größe und dem Gewicht von Spitzhörnchen und Feldmäusen herausgebildet und zwei klar voneinander geschiedene Stämme. Der eine Stamm, «Ölfresser» genannt, «lebt» von den Erdölspuren auf Fahrbahnen, im Asphalt, in natürlichen Teervorkommen und auf Stranden, felsigen wie auch sandigen, die besonders schwer von Tankerhavarien betroffen sind. Die anderen, die «Funkenfresser», zapfen Energie aus dem elektrischen Strom, zum Beispiel aus noch funktionierenden Elektrozäunen und aus Kabeln, ob ober- oder unterirdisch. Wie Zecken beißen sie sich durch die Isolierung und saugen sich 135
fest, bis sie gesättigt sind. Diese metallenen Schädlinge brauchen keinen Schlaf und müssen sich nie paaren; sie können sich den ganzen Tag frei und ungehindert der Energieaufnahme widmen und ebenso der Suche nach Öl, natürlichem und synthetischem, mit dem ihre Glieder sich gegen Korrosion, Rost und Reibung schützen lassen. Die Ausdehnung ihrer Population scheint sich allein nach der Menge des Materials zu richten, das die Menschheit benutzt und ausrangiert hat. Wenn die Bahn freigemacht werden muss, weil sie Zugang zu einer bestimmten chemischen Nahrungsquelle benötigen, rotten sie erbarmungslos die organische Tierwelt des betreffenden Gebiets aus; die zerfetzten Kadaver bleiben liegen und faulen und locken organische Räuber an, die dann ihrerseits vernichtet werden, von den Füßen aufwärts. Die Köpfe einiger trilobitengroßer Arten – überdimensionalen Kellerasseln ähnlich – sind Miniaturkettensägen. Fernsehkommentatoren überbieten einander dann und wann mit besorgten Meldungen über die Bedrohung durch diese «Pseudozoen», denn die Wissenschaft sagt die Evolution noch größerer, noch gefräßigerer Formen voraus; diese Entwicklung jedoch scheint in weiter Ferne angesichts der vielen dringlicheren Überlebensprobleme auf unserem verheerten, entvölkerten Planeten. Die Pseudozoen oder Metallobioformen, im volkstümlichen Sprachgebrauch auch «Schnicker» genannt, wagen sich bei Tage selten aus ihren Schlupflöchern hervor. Sie halten sich an die Müllkippen und Deponien, die sie hervorgebracht haben, und an die öl- und elektrizitätsreichen Untergrundbezirke der großen Städte, sind in letzter Zeit aber auch weiter draußen, in weniger bebauten Gebieten, gesichtet worden. Also war es vielleicht ein Pseudozoon, das das mechanisch trommelnde Geräusch gemacht hat, ein Geräusch, das ich fälschlich für einen Vorboten des Frühlings hielt. 136
Wir haben jetzt April, und Deirdre und ich entfernten an einem böigen Karfreitag vom Rosenbeet auf der Meerseite Glorias Mulchdecke – Buchweizenhülsen und Eichenlaub, niedergehalten durch Zweige, die ich von einer Hemlocktanne gesägt hatte. Wenn wir hügelabwärts blickten, links an Mrs. Lubbetts’ Haus vorbei, konnten wir sehen, wie die Gischt von Wellen, die sich am Strand brachen, lautlos aufstob und davonwehte. Eine Möwe hing in Höhe unserer Augen reglos im Wind. Mit geröteten Wangen kehrten wir ins Haus zurück, tranken Tee mit Rum und fühlten einander so zugetan wie seit Tagen nicht. Am Ostersonntag überraschte sie mich damit, dass sie in die Kirche wollte. Sie sagte, es bringe Unglück, wenn man nicht gehe. Das Christentum, einst eine gewaltige Kathedrale, gebaut auf Schwertern und Kronen, im einen Querschiff Philosophie beherbergend, im anderen Musik und im Hauptschiff die ganze Humanitas Europas und der beiden Amerikas, ist abgestorben: übrig nur noch, was zuerst da gewesen war, geistloser Aberglaube. Wir gingen zum Neun-Uhr-Gottesdienst in die Kirche ihrer Kindheit, eine heruntergekommene vereinigte Soundso (presbyterianisch und methodistisch? kongregational und reformiert?), deren Fenster in rautenförmige Felder eingeteilt waren, zur einen Hälfte Klarglas, zur anderen biblische Szenen in der verschschwiemelten Art, wie man sich die Welt des ersten Jahrhunderts vorgestellt hat: lilarote und safrangelbe Gewänder, wehe edle arische Gesichter und dazu die wild fuchtelnden Posen jüdischer Aufrührer. In dem hohen luftlosen Raum mit den knarzenden Bänken roch es nach Kampfer und Bienenwachs und der gasigen, unmäßigen Hitze eines Ofens, der einmal in der Woche geheizt wurde. Wir waren zum Kindergottesdienst gekommen, das war der, an den Deirdre sich erinnerte. Vor zehn Jahren war sie eine Dreizehnjährige gewesen. Ich dagegen war vor zehn Jah137
ren ziemlich genau so wie jetzt, nur dass das Haar auf meinem Kopf dichter und brauner war und ich an fünf Tagen in der Woche mit dem Zug zur Arbeit fuhr. Die zur Andacht versammelten Kinder raschelten und schnatterten so laut durcheinander, dass die Stimme der jungen Pastorin mit der Jeanne d’Arc-Frisur – schimmernde Ponys und an den Seiten glatt und kurz – kaum zu hören war. Sie las aus dem Kolosserbrief Kapitel drei («Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden. Ihr seid ja gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott») und schmückte die Auferstehungsgeschichte aus Johannes Kapitel zwanzig hübsch zu einer Frauengeschichte aus – das Abenteuer des starken Gefühls und des Betroffenseins der Maria Magdalena. Sie war es, die in aller Frühe, als es noch finster war an jenem ersten Ostertag, ans Grab kam und sah, dass der Stein fortgenommen und das Grab leer war. «Da läuft sie», erzählt uns der Evangelist, «und kommt zu Simon Petrus und zu dem anderen Jünger, welchen Jesus lieb hatte…» Die beiden veranstalten ein Wettrennen zum Grab, einigen sich darauf, dass es tatsächlich leer ist, bis auf die säuberlich gefalteten Binden, und rennen wieder weg. Männer! Hetzen immer gleich weiter zur nächsten Sache. Maria blieb und weinte. Und während sie weinte, beugte sie sich nieder, schaute ins Grab und sah zwei Engel, einen zu Häupten und einen zu Füßen des leeren Platzes, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte. Sie fragten sie: «Weib, was weinest du?» In der Tat, warum weinen Frauen? Sie weinen, so schien es mir in meiner Zerstreutheit, um die Welt an sich, mit ihrer Schönheit und ihrer Vergeudung, ihrem Gemenge von Grausamkeit und Güte. Ich habe Perdita in Florenz einmal in Tränen ausbrechen sehen, ich glaube, in der Kirche San Miniato al Monte. Keine der ganz großen Sehenswürdigkeiten, fand ich, auf der anderen Seite des Arno, eine Basilika mit offenem Dachstuhl, schwarzweiß gestreiften Wänden und einem, wie 138
ich mich zu erinnern meine, über Treppen erreichbaren Hochchor. Bestürzt über ihre Tränen und in der Annahme, dass ich irgendetwas falsch gemacht hatte, fasste ich sie beim Arm und fragte sie, warum sie weine. «Weil’s so schön ist», schluchzte sie. Gloria weint nicht so leicht, war aber schier untröstlich nach dem Tod von Lily Bart in The House of Mirth – Lily, einer unfruchtbaren Autorin unfruchtbare Heldin, die ein schlafendes Kind neben sich wähnt, während sie stirbt. Und Gloria hatte Tränen in den Augen, als sie vor einem Jahr im Frühling ins Haus kam und mir meldete, die Rehe hätten alle Tulpen abgefressen. Meine Mutter, bedrängt von Armut und eingepfercht durch die engen Grenzen, die mein Vater ihr zog, weinte in meinem kindlichen Beisein oft über diese oder jene familiäre Enttäuschung oder ein neues Anzeichen körperlichen Verfalls. Ihre Zähne bereiteten ihr viel Kummer, erst, indem sie wehtaten – so stechend, dass ihr die Tränen in die Augen schössen –, und dann, weil sie entstellend wegbröckelten und an die kleine rosa Gaumenplatte, die sie abends in ein Wasserglas im Bad tat, immer neue klägliche Lückenbüßer gehängt werden mussten. Alten Fotografien zufolge war sie einmal eine ländliche Schönheit gewesen, keck, hellhaarig, zartknochig und sommersprossig, das Nesthäkchen der Kimballs aus Cheshire. Wenn es am Küchentisch zu einer Zankerei kam – bei den Zankereien meiner Eltern ging es immer um dasselbe, so kam es mir vor, darum, dass es nicht reichte –, verschränkte sie die Arme und legte den Kopf darauf, so dass ihr von Kummer gerötetes Gesicht verborgen war und Entsetzen mich fasste, denn ihr Gesicht war das Gesicht des Lebens für mich, und ich ertrug es nicht, wenn es sich verbarg. Ich habe so viele Tränen des Zorns, der Enttäuschung und des Schmerzes auf dem Gesicht meiner Mutter gesehen, damals in unserem trüben Haus auf der schattigen Nordseite des Hügels an der Straße, die aus Hammond Falls hinausführte, dass ich mich frage, ob mein Herz sich nicht auf Dauer verhärtet hat, 139
um mir lebenslänglich lähmendes Leid zu ersparen. Scheinbar für immer in der Latenzperiode gefangen und danach in den hilflosen mittleren Teenagerjahren, verkroch ich mich vor dem Familienelend im warmen Winkel der Küche hinter dem Holzfeuerofen oder ging im Sommer nach oben, legte mich quer auf mein schmales Bett und las Sciencefiction -Amazing, Astounding, diese vergnüglichen Schundhefte, die in den Sechzigern nur fünfzig Cent kosteten – oder in Plastikschutzhüllen steckende, für den Laien bearbeitete Abhandlungen über Kosmologie, von Asimov oder Gamow, die ich mir aus der Leihbücherei in Pittsfield holte. Unwahrscheinlich ferne, strahlende, explodierende Fakten verringerten ein wenig den Druck der mich unmittelbar umgebenden nackten Tatsachen – der Linoleumboden in der Küche mit den abgenutzten schwarzrandigen Stellen, die Schwellen aus Fichtenholz, über die so viele Füße geschlurft waren, dass sie sich in der Mitte muldeten wie müde Matratzen, die dünnen gestrichenen Türen mit den schwarzen Klinken, das bierschlierige, fast wahnsinnige Leuchten der Niederlage in den Augen meines Vaters, wenn er später als sonst von der Arbeit kam. Gigantische Realitäten – Gottes Fakten – hoben mich ein wenig aus alledem heraus, auch aus meinem armen mageren, von Klaustrophobie geschüttelten Selbst. Der schmale steife Kragen lag schimmernd weiß um den schlanken, mädchenhaften Hals unserer Predigerin. Er hatte etwas Provozierendes, wie die Verstümmelungen – Zungenund Brustwarzenringe, bläuliche Tattoos –, mit denen die Jugend sich geringschätzig am eigenen Leib vergeht und uns, den Nichtgepiercten und Tattoolosen, ihre Verachtung kundtut. Über dem Geraschel und Gequengel der Kinder hörte ich sie predigen: «Maria antwortete den Engeln, man habe ihren Herrn weggenommen, und sie wisse nicht, wo man ihn hingelegt habe, deshalb weine sie.» Man sieht Maria Magdalena vor sich, über die Zeiten140
schlucht hinweg – zwei volle Jahrtausende minus eine Dekade –, wie sie in ihrer Fassungslosigkeit erneut in Tränen ausbricht. Sie waren jung, alle diese Jünger und Gefolgsleute des jugendlichen Messias, jünger als so manche Rockgruppe von heute. Dann wurde die Frage wiederholt, von einer neuen Gestalt, einem Mann, der neben Maria stand: «Weib, was weinest du?» In der Meinung, dieser Fremde sei der Gärtner, hier im Garten nahe der Kreuzigungsstätte, nahm Maria sich jetzt ein wenig zusammen, gab sich mit mehr Würde und sagte, sich mit den Handrücken die tränenverschmierten Wangen abwischend und den Mann nicht richtig ansehend: «Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast, ich werde ihn dann holen.» Dieses diesseitige Verlangen nach dem Körper, auch wenn es nur ein toter Körper, ein Leichnam ist, übergeht unsere Exegetin, ihre kleinen Hände flattern dabei graziös unter den Talarärmeln hervor. «Der seltsame Unbekannte, den sie in dieser verwirrenden Umgebung für den Gärtner hält, spricht sie mit ihrem Namen an: <Maria.> Sie dreht sich um und sagt: , das heißt <Meister>. In ihrer Wiedererkennungsfreude muss sie wohl die Hand nach Ihm ausgestreckt haben, denn Er sagt: Jesus weist ihren instinktiven Wunsch nach Berührung ab. Warum?» Sie schwieg erwartungsvoll, und wir hörten, wie die Kinder unruhig auf den knarzenden Bänken herumrutschten und ein kleiner Junge sich quengelnd gegen den festen Griff seiner Mutter wehrte, die ihn ruhig zu halten versuchte. Superposition, dachte ich. Bevor Christus in den Himmel auffuhr, befand Er sich in einem Zustand, den die Quantentheorie Superposition nennt – weder hier noch dort, nicht oben und nicht unten. Er war Schrödingers Katze. 141
«Einige Verse weiter im selben Kapitel», predigte unsere Inquisitorin, «fordert Jesus Seinen Jünger Thomas auf, Ihn zu berühren, damit Thomas nicht mehr zweifelt. Thomas hat gesagt, bevor er an den auferstandenen Jesus glaubt, will er erst die Nägelmale in Seinen Händen sehen und seine eigene Hand in die vom Lanzenstich herrührende Wunde in Jesu Seite legen. Jesus willigt ein. Um dem andern Mann den Zweifel zu nehmen, lässt Er sich intim von ihm berühren. Eine Sache unter Männern. Maria Magdalena muss sich, um zu glauben, mit dem Augenschein begnügen. Jesus verbietet ihr, Ihn anzurühren, weil Er noch nicht zu Seinem Vater aufgefahren ist. Er ist in einem heiklen Zwischenstadium. Aber er hat einen Auftrag für Maria, sie soll zu den Jüngern gehen und allen sagen, dass Er auferstanden ist. Maria gehorcht. Wie so viele Frauen in der Bibel schickt sie sich in ihre untergeordnete Rolle und gehorcht. Doch weil es ihr ein Bedürfnis war, zu weinen, am Grab zu bleiben und mit ihren Gefühlen zurechtzukommen, ist sie es gewesen und nicht Petrus oder der andere Jünger, den Jesus lieb hatte und den man gemeinhin für Johannes, Sohn des Zebedäus, hält – nicht die, sondern Maria sieht als Erste den auferstandenen Christus und hört ihren Namen aus Seinem Mund: <Maria.> Für die Menschen in biblischen Zeiten war das gesprochene Wort so gut wie eine Berührung, jedes Wort war lebendig in ihren Ohren. Sie hatten kein Fernsehen, sie hatten kein MTV und keine animierten Hologramme, für sie war das gesprochene Wort die schärfste Unterhaltung weit und breit. <Maria>. . .» Das Kind in der Bankreihe vor mir, ein kleiner Junge, zwei vielleicht, mit einer Triefnase und Haaren, die ziemlich die gleiche durchscheinende Zitronenfarbe hatten wie sein Rotz, war völlig fasziniert von mir und lenkte mich vom Schlusswort der jungen Geistlichen ab, ihrer Parallele zwischen Marias verwirrendem Ostererlebnis und der Art, in der Christus 142
sich im Morgennebel, in Gestalt eines Gärtners, an uns alle heranschleicht. Amen. Als wir die Köpfe zum abschließenden Gebet senkten, war ich mir intensiv des Körpers an meiner Seite bewusst; er war mir vertraut und doch auch wieder nicht, wie er so demütig vornübergekrümmt dastand, umschlossen von einem steifen lila Kleid, das ich noch nie gesehen hatte. Ich bewegte meinen Ellbogen an der Rückenlehne der Bank entlang, um den ihren zu berühren, und sie zog demonstrativ ihren Arm weg. Noli me tangere. Ich stellte mir die braune Haut, die geschmeidigen, teilweise rasierten Körperpartien unter dem ordinären Glanz des krokusfarbenen Kleids mit dem gestärkten weißen Kragen vor. Ihre Ergebenheit bei diesem Gottesdienst, ihre Demut gegenüber dem mächtigen männlichen Geist, dem er gewidmet war, erregten mich. Wie die meisten der jungen Frauen hier trug sie keinen Hut, kein «Easter bonnet»: ihr Kopfschmuck war ihr hochgebauschtes Haar, die Lockenfülle, die ein Friseur geduldig toupiert hatte. Paulus wendet irgendwo in seinen Briefen viele Verse an die strittige Frage, ob und wie Frauen ihr aufreizendes Haar scheren oder bedecken sollen. Die Pastorin hatte sich an der offenen T ür postiert, obwohl es kalt draußen war und minutenkurzer fahler Sonnenschein sich mit unzeitigen Schneeschauern abwechselte. Sie begrüßte Deirdre mit Namen, aber erst nach einem Zögern, mit dem sie deutlich machte, dass Deirdre sich lange nicht hatte blicken lassen. Als sie mir vorgestellt wurde, ließ sie ihre aufmerksamen blanken Augen hin und her schnellen zwischen unseren schlecht zusammenpassenden Gesichtern, bevor sie mir einen festen kleinen Händedruck gewährte und ein brüskes Lächeln, das ich nicht anders als knabenhaft bezeichnen kann. Ihre Zähne waren ebenso gerade und akkurat wie ihre Ponys. Mir gefallen diese heutigen weiblichen Wesen, die so ganz 143
ohne den hinterhältigen Firlefanz auskommen, den der Anstieg des Kapitalismus den Frauen aufgenötigt hat. Mir gefiel auch, dass meine drogenbeduselte Gefährtin mich in die Kirche geschleppt hatte, diese unansehnliche braune Kirche, die für einen gediegenen, immer mehr verblassenden Arbeiterklassenprotestantismus stand. Etwas schutzlos Nacktes, etwas unverhüllt Bedürftiges zeigte sich darin. Gloria war eine Episkopalistin alten Stils gewesen, die jede Änderung an der Sprache des Gebetbuchs von Thomas Cranmer übel nahm und sich ärgerte über evangelikale Verunreinigungen des Gottesdienstes, wie zum Beispiel eine Kanzelpredigt bei der Morgenandacht oder die Angewohnheit, jedes Mal den Friedenssegen zu spenden. Perdita war vom Unitariertum zum Buddhismus und zu ehrenamtlicher Tätigkeit in einer Wohlfahrtseinrichtung gedriftet. Beide Frauen waren Religionsaristokratinnen, Gott war für sie ein unfeiner armer Verwandter, sozial benachteiligt obendrein dadurch, dass es ihn nicht gab. Für die primitive Deirdre gab es etwas, es durchglühte die Krümmungen und Windungen ihrer Natur, und sie schämte sich nicht, sich davor zu verneigen. Ich selbst schämte mich zwar, war aber gleichfalls ein wenig primitiv und hatte, in Erweiterung meiner Andachtsgefühle ihrem Körper gegenüber, gern teilgenommen an diesem Gottesdienst. Arm in Arm traten wir aus einem Flockenwirbel in einen pollenfarbenen Schleier aus Sonnenlicht auf unserem Weg zum geparkten Auto. Ich fühlte mich erleichtert, dass ich das getan, dass ich Ostern hinter mich gebracht hatte. Vielleicht ist Ostern das Problem, das ich mit dem Frühling habe – die unvernünftige Erwartung, die damit verknüpft ist. In jenem fernen Frühling, als ich vor Angst zu gelähmt war, um das Puppenhaus für meine kleine Tochter Mildred zu bauen, ging ich, riesenhaft in meiner Erstarrtheit, an einem warmen Tag hinaus und war überrascht über die Schwärme winziger ge144
flügelter Ephemeriden, die schon in der Luft tanzten, nach irgendwelchen verbindlichen Spielregeln auf und ab und hin und her schwebten und sich als bescheidenes Glied in der Nahrungskette anboten, obwohl es eigentlich noch zu rau war, als dass Spinnen sich hätten regen können, und sicher noch keine Schwalben in den Norden zurückgekehrt waren. Schneeglöckchen – Galanthus nivalis, eine frühe kleine Amaryllisart – haben mir immer Kopfzerbrechen gemacht: wenn Blumen dazu da sind, Insekten anzulocken, woher kommen die Insekten in dieser gerade eben aufgetauten Welt? Jedenfalls, in meinem matschigen Garten waren Insekten, und wenn diese Eintagsfliegen nicht vom nahen Tod bedrückt waren, warum sollte ich es sein? Eine große Kameradschaft lebendiger Zellen, die alle dazu verdammt waren, wieder zu fühllosem Staub zu werden, heiterte mich einen Moment lang auf. Ich stellte mich meinem Leben – meinem Haus, meinen viereinhalb Kindern, meinen zwei Autos, meinem Zweitausendquadratmeter-Grundstück – und machte weiter, bis zum gegenwärtigen Augenblick. Steuererklärungszeit. Auch wenn niemand die Bundesregierung ernst nimmt – der District of Columbia ist zur G änze seinen einsamen Monumenten überlassen und einander bekriegenden afroamerikanischen Jugendbanden, die jedes Büro bis auf den letzten Hefter, die letzte Fotokopiererpatrone geplündert haben –, existiert in Maryland und Virginia ein bleicher Behördenschatten, zu schwach, um mehr zu tun, als Formulare zu verschicken, die ich sentimental in der Schublade mit den Bescheiden aus der Vorkriegszeit verwahre. Deirdre ist sehr aufgebracht, weil ich zugelassen habe, dass Phil und Spin wieder den Schutzgeldbetrag erhöhen – von einem glatten Tausender auf eintausenddreihundertfünfzig. Spin hat mir erklärt, dass sie jetzt höhere Unkosten hätten, wegen der Teenagerkonkurrenz aus Lynn, die sich an der 145
Küste breit machen will. «Die halten sich an keine Regeln, Mr. Turnbull», setzte er mir auseinander. «Für die bedeutet Töten gar nichts – kein Mittel, zu dem man nur im äußersten Fall greift, aus Verantwortung fürs Geschäft, für die hat das reinen Unterhaltungswert. Sie wollen doch nicht, dass diese Typen sich bei Ihnen bedienen – die ziehn Ihnen das Fell über die Ohren und hängen es dann zum Trocknen auf.» Dem machohaften, zerknautschten Phil ging es gegen den Strich, dass sein Partner sich ängstlich zeigte. «Du meine Güte, das sind Kinder», sagte er. «Höchstens fünfzehn, sechzehn. Manche sogar erst zehn oder elf, großer Gott! So was kann sich doch nicht mit erfahrenen Leuten messen. Wir sind Profis, hab ich Recht? Wir bieten echten Service, wir halten uns an die Abmachungen. Unsere Klienten vertrauen uns, hab ich Recht, Mr. Turnbull?» «Sie haben Recht, Phil.» «Wenn eins von diesen Blagen aus Lynn auf Ihrem Hügel aufkreuzt, wissen Sie ja, wie Sie uns erreichen können. Sie haben unsere Telefonnummern.» «Ja, hab ich.» Phils Augen glitten zu Deirdre hinüber, die unweigerlich zur Tür herauskommt, wenn sie Männerstimmen auf der Zufahrt hört. «Wie behandelt sie Sie?», fragte er mich, als ob sie nicht selber reden könnte. «Spurt sie?» «Sie ist meine kleine Freundin», sagte ich, nicht erbaut von seinem Ton. «Ich könnte Ihnen da so allerhand erzählen», sagte er. «Von früher. Was, Dee?» «Erzähl, so viel du willst. Als Arschloch bleibst du einsame Spitze.» Seine Augen flitzten von Deirdres Gesicht zu meinem zu Spins, aber er hielt den Mund, was so anstrengend war, dass sein Kopf sich vorreckte wie der eines Bisons. Sie wollten mich nicht kränken, sie wollten den Welder in Fluss halten. 146
Aber Deirdre war nicht mehr zu bremsen. «Wieso zahlst du diesen Witzfiguren überhaupt irgendwas? Die können null für dich tun, wenn du wirklich mal Schutz brauchst. Kuck sie dir doch an, die machen sich vor Angst in die Hose wegen der Jungs aus Lynn. Warte, wenn erst die Russengangs aus Mattapan herkommen! Das sind zwei miese billige Strolche, Ben, und du bist ihr Goldesel.» «Sie haben bisher gut auf mich aufgepasst», sagte ich. Spin schien erschrocken über diese Rückendeckung; der Zahnstocher ruckte hin und her unter seinem Schnauzbart. «Hörst du das, Klugscheißerin?», sagte er zu Deirdre. «Das kommt von einem, der was auf dem Kasten hat, von einem ehemaligen Finanzfachmann. Von einem, der sich aus dem hinterletzten Kaff im Westen des Staats nach oben getrickst hat.» «Woher wissen Sie das?», fragte ich, nun meinerseits erschrocken. Phil grinste und vergewisserte sich, ob Deirdre auch alles mitbekam. «Was wir über unsere Klienten wissen müssen, das wissen wir auch», sagte er. «Leckt mich», sagte sie. «Wenn die Kids aus Lynn herkommen, wacht ihr beide eines Tages auf und habt ‘ne Kugel im Bauch. Oder sie schlitzen euch ein Grinsen in die Kehle, neben dem eure Fressen bloß noch so groß wie Arschlöcher sind.» Phil nahm das zur Kenntnis und blinzelte mir zu. «Behalten Sie sie im Auge, Mr. Turnbull. In der High School haben alle gesagt, von Schwanzlutschen versteht sie was, aber das heißt noch lange nicht, dass auf sie Verlass ist. » Spin steckte das Aprilgeld ein. Die Besprechung abschließend, sagte er: «Haben Sie Vertrauen zu uns», aber die Worte klangen wacklig, selbst für mich. Als ihr rostiger alter Camaro die Zufahrt hinunterschwenkte und wir wieder im Haus waren, setzte ich 147
Deirdre auseinander, dass Spin und Phil mir sehr viel weniger abknöpften als vormals die Regierung und dass ich im Vergleich zu früher ausgesprochen günstig wegkäme, auch wenn der Schutz, den sie mir zusicherten, vielleicht nicht so effektiv sei. «Ja, aber als es eine Regierung gab, gab es auch so was wie das FBI und das Federal Reserve Board, Institutionen, die für Stabilität gesorgt haben. Es hat eine gewisse Ordnung gegeben, eine Struktur, und die ist es wert, dass man anst ändig dafür zahlt», belehrte sie mich. «Ohne diese Ordnung läuft alles bloß aufs Überleben der Stärkeren hinaus, auf rohe Gewalt.» «Woher hast du das alles?», fragte ich. «Es klingt so gar nicht nach dir.» «Es kam neulich Nacht im Fernsehen, als ich nicht schlafen konnte. Ich krieg’s manchmal mit der Angst, es ist nachts so schrecklich still hier. Du hast tief und fest geschlafen. Es war eine Sendung über das Römische Reich. Bevor es untergegangen ist, wie es da noch die Ausbreitung des Christentums möglich gemacht hat. All die Straßen und Soldaten – das Christentum war nie aus Jerusalem rausgekommen ohne diese Straßen. Und es musste raus aus Jerusalem, das jüdische Establishment hätte es sonst platt gemacht. Die Juden haben es gehasst, dabei waren’s am Anfang alles Juden.» Ich war belustigt; diese junge Person unter meinem Dach versuchte zu wachsen, zu lernen, sich zurechtzufinden in der Welt, wie sie jetzt war. Sie wollte ein Leben leben. Meine Belustigung war natürlich grausam. «Ich muss dir sagen, Deirdre, dass es mir ziemlich egal ist, was in der Welt vor sich geht. Die Jahre, die mir in ihr zur Verfügung stehen, sind mehr oder minder aufgebraucht. Du bist ein später Stachel in meinem Leben, eine letzte Freude, und ich bin dankbar. Aber meine Zeit wird langsam knapp. Was Spin und Phil und die Kids aus Lynn mit der Welt machen, ist deren Sache. Ich 148
möchte nichts weiter als mir ein bisschen Frieden erkaufen, von einem Tag zum andern.» «Du kannst dich nicht einfach verkriechen«, sagte sie wütend. «Was ist mit mir!» «Was ist mit dir, meine Liebe? Dir geht es gut, meinst du nicht? Du hast hier oben Unterkunft und Verpflegung. Du bist entschieden besser dran als früher, als du drei oder vier Kunden pro Nacht bedienen musstest und als du von der Hostessenagentur geschröpft wurdest und Angst hattest, dass irgendein Psychopath, der mit seinen libidinösen Trieben nicht zurande kommt, dich mal aufschlitzen oder erdrosseln würde.» «Ja», sagte sie. «Aber ich hab hier nicht genug zu tun. Jedes Mal, wenn ich etwas vorschlage, was man hier verändern könnte, bist du dagegen, weil Gloria es anders gemacht hätte. Gloria, Gloria. Ben, ich find’s langweilig hier! Nicht einmal Bumsen ist noch drin – zumindest scheinst du’s nicht mehr so oft zu wollen.» «Ich will es wieder öfter, sobald der Frühling vorbei ist», versprach ich. «Der Frühling macht mich immer fertig, keine Ahnung, woran das liegt. Noch ein Weilchen, und es wird wieder gut mit uns.» Die alte Puppenhauspanik stieg mir in die Kehle und schnürte sie zusammen. «Bleib bei mir, Liebling. Da draußen gibt es nichts, nur –» Nur was? Heidentum. Importierte fernöstliche Götter, betrügerische Weise und Seher. Den Niedergang Roms. Die Fliederknospen sind zweizinkig, und die ersten Blättchen entrollen sich. Jede schmale Forsythienknospe trägt an ihrer Spitze einen gelben Schimmer. Die Taglilien sind schon gut entwickelt – Büschel aus lauter kleinen Krummsäbeln. Die Päonien ragen einen roten Zollbreit aus der Erde. Eine einzelne Narzisse trompetet ihren goldenen Ton über die sterbenden Krokusse vorn auf dem Rondell hinweg. Das tote 149
Gras ist grün überhaucht. Es ist endgültig vorbei mit dem Winter und der Sicherheit, die er unter seinem niedrigen Plafond gewährt. Auf der Rückfahrt von einem spätabendlichen Ausflug zu Christy’s, dem Laden, wo es Knabberzeug, Milch und Orangensaft gibt, hörte ich, als ich um den Teich herumschwang, die Zirpfrösche; ich ließ das Fenster herunter, um sie deutlicher zu hören. Das Geräusch war wie ein Panzer, metallisch, zusammengesetzt aus glänzenden, einander überlappenden Schuppen, dünn geklopften Klangovalen, ein hirnloser drängender Chor, der die ganze Luft erfüllte, und ob er aus dem Schlamm aufstieg oder von den Bäumen niedertönte, war in der Dunkelheit schwer auszumachen. Das Geräusch war einfach da, überall und nirgendwo, wie im vergangenen Monat der Skunkgeruch. Am nächsten Tag prasselte heftiger, beharrlicher Frühlingsregen herab, er trommelte in den Dachrinnen und peitschte mit anmaßender Schärfe gegen die Fensterscheiben. Deirdre machte in mürrischer Laune Aerobic zu einem von Glorias uralten Jane-Fonda-Videos, während ich, seit Ostern von Gedanken an Paulus umgetrieben, in der Enzyklopädie und der selten konsultierten Familienbibel st öberte. Ohne Paulus wäre vielleicht ein Christus gewesen, aber es hätte keine Christologie gegeben und keine Theologie der Krise. Aus heutiger Sicht, zweitausend Jahre danach, erscheinen seine Reisen wie Wurmlöcher in versteinertem Holz, dem schon verrotteten östlichen Rand des Imperiums, gepunktete Linien, die von einem Ruinenensemble zum andern fuhren oder in leere türkische Landstriche, wo sogar die Namen, die Paulus kannte – Lystra, Derbe –, vom Wind der Zeit verweht worden sind. Antiochia in Pisidien, wo Paulus die erste galatische Gemeinde gründete, verfiel im Lauf der Jahrhunderte zu einem Trümmerhaufen aus Marmorblöcken und eingestürzten Aquäduktbögen; der Ort blieb verschollen, bis die Nach150
forschungen des englischen Geistlichen Arundell 1833 zu seiner Wiederentdeckung führten. Iconium, das dem pisidischen Antiochia Konkurrenz machte als Zentrum des Christentums im Innern Kleinasiens, bestand, nach den Besuchen des Paulus, aus einem Patriarchat mit vielen kleineren Kirchen an den Berghängen ringsum. Eine Stadt in einer blühenden Oase, umgeben von Wüste in tausend Meter Höhe, war Iconium von Kaiser Claudius als Veteranenkolonie gegründet worden, und diese ehemaligen Soldaten bildeten, zusammen mit hellenisierten Galatern, mit Juden und Phrygern, die Bevölkerung. Poppäa, Neros Frau, war auf den Münzen der Siedlung als Göttin dargestellt. In späterer Zeit wurde Iconium Sultansresidenz der Rum-Seldschuken und Hauptquartier für die Tanzenden Mewlewi-Derwische aus der Türkei; die in der Region ansässigen Armenier blieben dem Christentum treu, wurden aber während des Ersten Weltkriegs barbarisch hingeschlachtet. In Iconium begab es sich, dass Paulus die junge Thekla traf, eine Heidin, die, gebannt von seinen Predigten über die Keuschheit, zur Heiligen wurde und, in der Sprache der schwärmerischen orientalischen Kirche, zur «Erzmärtyrerin unter den Frauen und den Aposteln ebenbürtig». Die apokryphen Akten des Paulus und der Thekla, im zweiten Jahrhundert von einem phantasiebegabten Priester abgefasst, enthalten die einzige bekannte Beschreibung vom Äußeren des Paulus: «Ein Mann von kleiner Statur, mit zusammengewachsenen Brauen und einer recht großen Nase, kahlköpfig, säbelbeinig, untersetzt, eine wohltuende Erscheinung, denn manchmal sah er aus wie ein Mann, und manchmal hatte er das Gesicht eines Engels.» Die Generationen haben sich schwer damit getan, Paulus zu lieben, trotz der Bravourleistungen, die er vollbrachte, um der Welt das Christentum schmackhaft zu machen, ja es überhaupt erst zu erfinden, und den Protestantismus obendrein, 151
der sich fünfzehn Jahrhunderte später schließlich ernsthaft den extremen, antisozialen Grundsatz des Paulus zu Eigen machte, wonach der Mensch allein durch den Glauben gerechtfertigt wird und nicht durch die Erfüllung des Gesetzes. Was für einen unmöglichen Artikel er da anpries: den gekreuzigten Christus, für die Juden ein Ärgernis und für die Griechen eine Torheit. Den Nichtjuden war Paulus zu jüdisch – ein Pharisäer, ein Tempelschreier –, und den Juden erschien er zu vernarrt in die Nichtjuden. Er hatte zu viele Haare in den Nasenlöchern, zu viel Speichel auf den schnellen Lippen; der vornübergekrümmte kleine Zeltmacher, kahlköpfig, knorrig, war durch seinen Anfall auf der Straße nach Damaskus zu etwas Übermenschlichem deformiert worden – ein jäher Lichtstrahl, um den viel Wesens gemacht worden ist, hatte ihn hyperaktiv werden lassen, unerträglich vor lauter selbstischer Selbstlosigkeit, mit der er sich des Öfteren tätlichen Angriffen und unflätigen Beschimpfungen aussetzte. Die griechische Sprache ergoss sich in grammatisch unkorrektem, aufgeregtem Schwall aus seinem Mund, und ich, Johannes Markus, Vetter des Barnabas, ärgerte mich über die Hinterlist, mit der mein frommer und weiser älterer Vetter auf seiner eigenen Insel, im Beisein der Freunde und Verwandten, die uns auf dieser unserer ersten Missionsreise vom syrischen Antiochia aus willkommen geheißen hatten, als Leiter unserer Expedition abgesetzt wurde. Die Wende kam in Paphos, am andern Ende der Römerstraße, die in Salamis begann, der Stadt, in der wir – Barnabas, Paulus und ich – an Land gegangen waren, um in den Synagogen zu predigen. Der Statthalter Sergius Paulus, ein geckenhafter Dilettant auf dem Feld der Dichtkunst und der Philosophie, wie so viele Männer aus dem Patriziertum, das die hohen Kolonialbeamten stellte, befahl uns in seinen Palast und verlangte, dass wir mit der Schar gelehrter Narren, die er um sich versammelt hatte, debattierten. Der Bekann152
teste unter ihnen war Barjesus, genannt Elymas, einer der jüdischen Trugpropheten und Zauberer, die sich in diesen kranken Zeiten der Hexerei und der fiebrigen asiatischen Kulte überall einschlichen. Dieser schlangenzüngige Mann unterbrach Paulus immer wieder mit Zwischenrufen und widersprach dem selbst ernannten Apostel, als der versuchte, dem Statthalter die verwickelten, kühnen Behauptungen unseres Glaubens darzulegen. Schließlich drehte Paulus sich mit flammenden Augen um, und mit der gleichen Wut, mit der er, in der Erinnerung von Gläubigen, die Verfolgung des Stephanus angeführt und Steine und Flüche gleichermaßen auf den ohnmächtig hinsinkenden Märtyrer geschleudert hatte, nannte er Barjesus einen Sohn des Teufels, einen Feind aller Gerechtigkeit, einen Verkrümmer der geraden Wege des Herrn. Mit Schaum vor dem Mund und nach oben verdrehten Augen, als setze gleich einer seiner Anfälle ein, sagte er zu Barjesus: «Die Hand des Herrn kommt über dich; du sollst eine Zeit lang die Sonne nicht sehen.» Was dann geschah, war unglaublich: dunkler Nebel hüllte den Mann ein, und er verstummte, nur dass er noch darum bat, jemand möge ihn aus dem Saal führen. Natürlich war Sergius Paulus beeindruckt, Römer waren immer beeindruckt, wenn ihnen Grausamkeit vorgeführt wurde. Der Statthalter wünschte, in Privataudienz über diesen gekreuzigten und auferstandenen Messias eingehender unterrichtet zu werden und Näheres über die neue Ordnung zu erfahren, die Er in die Welt gebracht hatte. Es erfüllte mich mit Abscheu, zu sehen, wie Paulus sich mit dieser Eroberung eines unserer Kolonialherren spreizte, doch war ich zu jung, um meinen sanftmütigen Vetter vor den großartigen Anwandlungen des Zeltmachers zu bewahren. Paulus brannte jetzt vor Verlangen danach, unsere Botschaft nach Westen zu tragen, zu den unbeschnittenen Mischlingsvölkerschaften der Weiten Kleinasiens. Er wollte nach Ephesus segeln, denn er glaubte, dass das Wort Jesu, wie eine 153
vom Himmel gesandte Plage, sich am besten von den wimmelnden Häfen aus verbreitete. Zunächst aber musste er vorlieb nehmen mit einem Schiff nach Attalia, das an der gleichen sumpfigen Küste lag wie seine Heimatstadt Tarsus, nur weiter westlich. In der Ferne, vor dem Bug, tauchten langsam die schneebedeckten Gipfel des Taurus auf. Paulus hatte die aberwitzige Idee, in diese Berge zu steigen und die hoch gelegenen Städte zu bekehren, die die Zeltweberei seines Vaters mit Ziegenhaar beliefert hatten. Aus Kindertagen waren ihm viele freundliche, nach Wolle duftende Hirten und Händler in Erinnerung, die nach Tarsus herunterkamen. Er versicherte uns, dass die Galater nicht die Barbaren seien, für die wir Judäer sie hielten; sie seien interessiert an Religion, hätten einen Appetit darauf, der gegenwärtig von betrügerischen Wundertätern bedient werde, von Apollonius von Tyana und Peregrinus Proteus und Alexander von Abonoteichos. Die Namen kollerten ihm aus dem Mund wie fröhliche Flüche; er liebte Sprache und ließ sie zwischen seinen Lippen hervorsprudeln, und oft war in seinen flinken Augen ein Glitzern, das ich nicht anders als vergnügt nennen kann, ein schalkhaftes Leuchten, entzündet von der Hyperaktivität seines gotttrunkenen Hirns. Er wurde von Anfällen gepeinigt, bei denen Dämonen ihm die Glieder verrenkten und verknoteten, und er erduldete Zeiten lähmender Kraftlosigkeit; er litt mehr Schmerz in seinem gekrümmten Körper, als er uns sehen lassen wollte. Petrus war ganz anders gewesen. Er hatte oft im Haus meiner Mutter Maria in Jerusalem geweilt. Seine Hand hatte auf meinem Kopf gelegen, während er in seinem weichen galiläischen Tonfall scherzte, mein Schulknaben-Griechisch lobte und sich lustig machte über sein ungehobeltes eigenes und mir versprach, dass wir eines Tages zusammen reisen würden, bis ganz nach Rom, und ich sollte sein Übersetzer sein. Er war ein groß gewachsener, breitschultriger Mann, 154
aufrecht, ein Fels, sein Bart war, schon als er noch in der Fülle seines Mannestums gestanden, alabasterweiß geworden. Er hatte Jesus von früh bis spät gekannt, drei Jahre lang, und war von Ihm geliebt worden. Paulus hatte Jesus nie gekannt, hatte nur Seine Stimme gehört in einer Donnerwolke und einem Flächenblitz, nie in der ruhigen Gesellschaft von Menschen auf der Landstraße, auf dem Feld, auf einem Fischerboot, in einem Zimmer oben zur Abendbrotzeit. Er hatte Ihn nie berührt, nie mit Ihm gescherzt, nie einen Hauch von Seinen Körperausdünstungen in die Nase bekommen, nie Seinen tändelnden Umgang mit den Frauen erlebt, die sich den Jüngern anschlössen. Paulus hatte ein wirklichkeitsfremdes Verständnis von Frauen und von Jesus, das seinen Vorstellungen von beiden, ebenso wie seiner beteuerten Liebe zu beiden, etwas Überspanntes gab. Für Simon Petrus waren die Wunder unseres Herrn nüchterne Tatsachen gewesen; der Auferweckung der Tochter des Jairus hatten nur er und die Brüder Jakobus und Johannes beigewohnt. Er und die anderen, die Jesus gut gekannt hatten, waren Männer des Gesetzes, die untereinander zu verstehen suchten, auf welche Weise genau das Gesetz erfüllt worden war durch des Herrn Predigten und Heilungen und Auferstehung und dadurch, dass Er den Getreuen dann viele Tage lang erschien. Doch als ich alt genug war, um zu reisen und in den Synagogen unsere frohe Botschaft zu verkünden, kam die Einladung dazu nicht vom freundlichen Petrus, sondern von Barnabas, dem Neffen meiner Mutter, den die Gemeinde in Antiochia auserwählt hatte, nach der Rückkehr aus Jerusalem gemeinsam mit Paulus auf Missionsreise zu gehen. Wir verließen das gottlose Gebrodel des vom Sumpffieber verseuchten Attalia und gingen am Ufer des Kestros, an Zitronen- und Orangenhainen vorbei, zur herrlichen Stadt Perge hinauf. Hier begann der Weg ins Gebirge. Am Abend machten wir Rast. Der boshafte Herbergswirt erz ählte uns 155
von den isaurischen Räubern, die Reisenden auflauerten und die Leichen dann in den eisigen Bergseen versenkten. Er erzählte auch von Wölfen, von Berglöwen und von den Bären, nach denen die Berge ihren Namen hatten. Paulus tat das mit Verachtung ab, er sagte, er habe von Gott persönlich den Auftrag, zu den Heiden zu predigen; Gott werde uns beschützen. Im kühlen Morgennebel brachen wir auf. Der Weg war von wilden Kakteen und stachligen Opuntien gesäumt, die uns überragten; wir stiegen höher, und Kiefern und Tannen umstanden uns und riesige Besenhirse; und als wir unsere Augen zu den Gipfeln erhoben, sahen wir mächtige Zedern, die sich im Wind wiegten. Und dies waren erst die unteren Bergkämme. Der Weg wurde schmaler und steiniger und schlängelte sich in beschwerlichen Windungen weiter. Der Fluss, der uns eine Weile begleitet hatte, blieb, in einer letzten rauschenden Kaskade niederstürzend, unter uns zurück. Von der plappernden Stimme des Flusses verlassen, konnten wir den Wind über uns hören, der die Zedern bog und die Felskanten schärfte. Ein schmaler Pass, auf der einen Seite eine rote Felswand, schwitzend von schmelzendem Eis, auf der andern ein schroffer Abgrund, führte uns auf keinen Gipfel, sondern nur neuen, noch steileren Anstiegen entgegen. Paulus kletterte voran, Barnabas stapfte ihm nach, ließ sich mitschleppen von des andern Tatendrang, und ich blieb stehen, betäubt von dem schieren Ausmaß an Gebirge vor uns, Wand auf Wand, hintereinander gestaffelt, der fernste Grat schneebedeckt, obwohl der April schon weit fortgeschritten war. Wir alle haben unsere Erleuchtungen, auf der Straße nach Damaskus oder anderswo. Ich tat laut meine Weigerung kund, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Paulus schlitterte ein Stück zurück, Kiesel spritzten unter seinen Sandalen hervor, die ebenso staubig und rissig waren wie die verhornte graue Haut an seinen Füßen. «Was höre ich, mein Sohn?» 156
«Rabbi, das hier ist Wahnsinn. Über uns nichts als kahle, gefahrvolle Berge und dann Gebirgsstädte, die doch nur Gerüchte für uns sind. Wo sind die Synagogen, die Ghettos, in denen wir Obdach und Gehör finden?» Paulus lachte kurz auf, in seinem schwarzen Bart waren die schartigen braunen Zähne zu sehen. «Die Juden sind da, mein Sohn, wenn auch nicht in solcher Zahl, wie du sie von Judäa, Syrien und Zypern her gewohnt bist. Überall, wo der Kaiser seine Ordnung errichtet hat, haben unsere Brüder sich längst umgetan, sie gehen dort den Geschäften nach, die Geduld und genaues Hinsehen verlangen, und befolgen auf Punkt und Komma die engmaschigen alten Gesetze der Thora.» Die hänselnde Verachtung, mit der er von den Juden sprach, obgleich er doch selber Jude war. Zorn stieg in mir auf, und ich fragte: «Du willst den Beschnittenen in diesen verstreuten Siedlungen Christus bringen, und deshalb verlangst du von uns, dass wir unser Leben in einer eisigen Einöde aufs Spiel setzen, ist es so? » «Den Beschnittenen und den Unbeschnittenen. In Christus gilt weder die Beschneidung noch das Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirksam ist. In Christus gibt es nicht Juden noch Griechen, nicht Sklaven noch Freie, nicht Mann noch Weib. Seid ihr aber Christi, so seid ihr Abrahams Kinder und Erben nach der Verheißung. Du hast mich viele Male so sprechen hören, Johannes Markus; warum scheinst du jetzt darüber streiten zu wollen?» Ich war ein junger Mann, und es lag mir fern, mit Paulus auf der Höhe seiner Macht und seines missionarischen Drangs zu streiten. Aber ich hatte die Erzählungen von unserm Herrn und die Worte, die er gesagt, in mich aufgenommen, bevor ich laufen konnte, denn das Haus meiner Mutter war das erste in Jerusalem, in dem die Anhänger des Weges sich versammelten. Das Letzte Abendmahl fand in ihrem Obergemach statt. Als Jesus zum Himmel aufgefahren war, 157
kamen die Jünger am selben Ort zusammen, ihre Zungen gelähmt vor Verwirrung. Manchmal spürte ich Seine Gegenwart inmitten derer, die dort versammelt waren, und ich wusste in meinem Herzen, wann Seine Botschaft verfälscht wurde. Paulus und Barnabas waren auf dem steilen Pfad stehen geblieben und hatten ihre Bündel am Fuß der schwitzenden roten Felswand abgesetzt. «Unser Herr hat gesagt», erklärte ich ihnen, «dass Er nicht gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern sie zu erfüllen.» Paulus lächelte nicht mehr, er sagte schnell, in seiner überstürzten, kollernden Sprechweise: «Wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit kommt, so ist Christus umsonst gestorben. Christus ist gestorben, auf dass alle Völker gerettet werden. Alle, nicht nur das Geschlecht Abrahams. Bevor Christus kam, war das Gesetz unser Zuchtmeister, aber seit uns der Glaube offenbart ist, stehen wir nicht mehr unter einem Zuchtmeister. Wir sind frei, in der Liebe Christi.» «Aber Christus ist von Abraham gekommen», sagte ich, «und seine Jünger kamen aus der Synagoge. Wenn die Heiden nicht beschnitten werden müssen, um bekehrt zu werden, und weiter Fleisch essen dürfen, das nach den Gesetzen des Leviticus unrein ist, dann hätte Christus nicht Jude zu sein brauchen.» «Er hat sich sein Judentum erwählt», sagte Paulus, «so wie die Juden selbst Erwählte waren. Aber nun, da Er gekommen ist, gibt es keine Juden mehr. Wir, die wir Juden von Geburt sind, wissen, dass wir durch den Glauben an Christus gerechtfertigt werden und nicht, indem wir tun, was das Gesetz befiehlt. Wenn das Gesetz Leben spenden könnte, käme die Gerechtigkeit wahrhaftig aus dem Gesetz. Christus aber hat uns losgekauft vom Fluch des Gesetzes, indem er für uns zum Fluch wurde, denn es steht geschrieben: Verflucht ist jeder, der am Holz hängt. Christus und nur Christus ist das neue Leben, das allen Völkern gegeben ist, sogar den wilden Stäm158
men jenseits der Grenzen Roms und nicht nur den Kindern des Gesetzes.» Ich hielt meine Stellung auf dem steilen Pfad dort und sagte zu Paulus, seiner wachsenden Erregung zum Trotz: «Mose und unsere Priester haben das Gesetz doch gewiss nicht empfangen, damit es als Fluch wirke, sondern damit es uns rein halte unter den Unreinen und wir uns in unserm Bund von allen andern unterscheiden. Wenn Christus das Gesetz so ganz und gar aufgehoben hat, wie du sagst, dann kann jeder selbst bestimmen, was Tugend ist, und Gerechtigkeit ist nur mehr ein leeres Wort. Die Heiden werden zu Christus kommen, wie man von einem Zimmer ins andere geht, ohne Unterwürfigkeit und Ritual, ohne Züchtigung und Schmerz.» Paulus setzte die ganze Kunst seiner Augen ein und ließ sie leidenschaftlich lodern; er breitete die Arme aus, als stünde er gekreuzigt vor uns. «Ich bin gesteinigt und ausgepeitscht worden, weil ich Christi Sieg in Liebe verkündet habe», sagte er. «Ich habe in diesem Leben aller Zuflucht und Sicherheit entsagt. Aber, mein zweifelnder junger Freund, ich freue mich in meinem Leiden! Die Jesus zugehören, kreuzigen ihr Fleisch. Sie sterben für diese Welt, auf dass sie das Leben durch den Geist haben. Was bedeutet da Beschneidung? Was Reinheit und Zubereitung des Fleisches, das doch, wie unser Herr gesagt hat, durch die Gedärme wieder hinausgeht? Ich sage zu dir, was ich zu Petrus gesagt habe, als er in Antiochia davor zurückscheute, mit den Heiden zu essen: Heuchler! Jude und Heide sind eins in Christus! Ich sage dir, wer sich ans Werk macht und dann zaudert, taugt nicht für das Reich Gottes!» Barnabas wollte vermitteln, es schmerzte ihn, seinen jungen Vetter so harschen Worten ausgesetzt zu sehen. Doch eben weil Paulus so wütend, so unbeherrscht war, fühlte ich mich befreit von aller höflichen Nachgiebigkeit ihm gegenüber, und ich fand mich bestätigt in meinem Verdacht, dass er des Meisters Wort verdrehte in seiner Leidenschaft, die 159
Welt zu bekehren, jedermann zum Juden zu stempeln und keinem zu erlauben, einer zu sein. Seit Saul sich an der Steinigung des Stephanus beteiligt und gehört hatte, wie der Märtyrer die starrsinnigen Leute verwünschte, die schon immer ihre Propheten verfolgt hätten, war er von Hass auf die Juden erfüllt, dabei war er selbst der Inbegriff eines Juden, streitdurstig und heißblütig wie kaum einer sonst. Als unser Zorn ein wenig abgekühlt war und wir uns eine Hand voll Oliven und etwas hartes, in einem nahen Quellflüsschen eingeweichtes Brot geteilt hatten, da oben auf dem schattigen Pass eine Stunde nördlich von Perge, besprach Barnabas mit mir, dass ich nach Attalia hinuntergehen und ein Schiff zurück nach Caesarea und Jerusalem nehmen solle. Er liebte mich, glaubte aber, weil er von der Gemeinde in Antiochia den Auftrag hatte, Paulus zu begleiten, müsse er das tun, auch wenn es den Tod bedeutete. Außerdem, so denke ich, witterte er Ruhm und Ehre auf dem Weg des Paulus. Andere haben aufgeschrieben, was den beiden in den Städten des südlichen Galatien widerfuhr. Dem steilwandigen, vom Kestros ausgewaschenen Engtal folgend, gelangten sie heil an versteckten Räuberbanden vorbei und durch verspätete Schneesturme hindurch in das wilde Umland der Kilikischen Pforte. Sie wanderten auf den Höhen gen Osten und ließen den weiten blauen See und den mächtigen Berg Sultan Dagh hinter sich. Im pisidischen Antiochia, wo einige der Bewohner den persischen Gott Mithras anbeteten und andere die wollüstige Göttin Kybele, wurde Paulus von blindmachenden Kopfschmerzen befallen und durchlitt fiebrige Erschöpfungszustände, gewann aber trotzdem viele Anhänger unter den Heiden; die Priester wurden immer eifersüchtiger, überschütteten ihn und Barnabas mit Unrat und trieben sie beide aus der Stadt. In Iconium begegnete Paulus Thekla, und seine glühenden Reden verlockten sie, den Weg des Mar160
tyriums zu beschreiten. Er hielt den Heiden viele erfolgreiche Predigten und wurde abermals von den Juden verjagt; sie trugen der römischen Verwaltung vor, dass Paulus nicht nur ein Häretiker, sondern obendrein ein Umstürzler sei, denn er behaupte, ein gewisser König Jesus sei der wahre Herrscher im östlichen Teil des Imperiums. In Lystra heilte Paulus einen Lahmen, worauf die unwissende Menge ihn als Hermes begrüßte und den Barnabas als Zeus, und man hätte sie gar als Götter angebetet, wäre Paulus ihrem Aberglauben nicht mit scharfem Tadel entgegengetreten. Es gab nur wenige Juden in Lystra, aber aus Antiochia und Iconium trafen Abordnungen ein und überredeten das Volk, Paulus zu steinigen; für tot gehalten, wurde er, der an der Steinigung des Stephanus teilgehabt, zur Stadt hinausgeschleift, blieb aber durch ein Wunder am Leben. Gemeinsam mit Barnabas ging er weiter nach Derbe, dort gründeten sie die letzte der galatischen Gemeinden und kehrten nach Attalia und von dort nach Antiochia in Syrien zurück; sie nahmen denselben Weg, auf dem sie gekommen waren – Lystra, Iconium, Antiochia Pisidiä –, und besuchten noch einmal die christlichen Gemeinden, die sie ins Leben gerufen hatten, trotz der Feindseligkeit und der Verfolgungen seitens der Juden, die denken mussten, dass ihre anfängliche Gastfreundschaft missbraucht und ihr heiliger alter Bund billig einer Heerschar von Unbeschnittenen zugänglich gemacht worden war – römischen Soldaten und griechischen Gerbern, Frauen und Sklaven, Asiaten und Kappadokiern, Phönikern und Skythen, Legionen von Barbaren, die bis dahin im Morast des Aberglaubens und der fleischlichen Lüste gefangen waren. Die Missionsreisen führten Paulus in immer fernere Gegenden, nach Thessalonich und Beröa in Makedonien, nach Athen und Korinth in Achaia, nach Ephesus – wo die Silberschmiede einen Aufstand gegen ihn entfesselten, weil seine Predigten ihren Handel mit Artemis-Statuetten und -Tempel161
chen bedrohten – und gar bis nach Spanien, wie manche sagen; dass er nach Rom kam, dafür bin ich Zeuge. Trotz all dieser Reisen jedoch blieben die galatischen Kirchen ihm immer die liebsten unter seinen Kindern, sie waren die Erstgeborenen und Adressaten des ersten seiner Briefe, die weitergereicht und bewahrt worden sind. Ich, Johannes Markus, in meinen Mannesjahren unter meinem lateinischen Namen bekannt, habe mich im Lauf der Zeit mit Paulus ausgesöhnt. Fast zwanzig Jahre nach unserem Streit und unserer Trennung in den Bergen oberhalb Perges war ich mit ihm und Petrus in Rom. Unserer bedrängten kleinen Gemeinde dort war seit langem sein Besuch versprochen. Er sandte einen Brief voraus, wortmächtig von Christus kündend, um ihnen im Geiste beizustehen. Zwei Jahre lang lebte Paulus in Rom als Gefangener, er schrieb viel und empfing jeden, der ihn um Unterweisung und Erleuchtung bat. Städte sind unheilige Orte, aber ihre Menschenmengen waren für die Verbreitung des Wortes unentbehrlich. Auf dem Lande verschmolz Christi Botschaft mit dem Vogelgesang. Rom war die Hauptstadt des Antichrist, und die Einnahme dieses Bollwerks war entscheidend für unseren Feldzug. Ich war schon einige Jahre als Dolmetsch und Sekretär des Petrus in Rom gewesen, bevor Paulus dorthin gebracht wurde. In jenen Jahren hatte ich begonnen, in meinem groben Griechisch niederzuschreiben, was ich vom Leben Jesu erfahren hatte. Paulus und Petrus fanden beide den Märtyrertod unter Nero Claudius Cäsar, der von seiner lasterhaften Gemahlin Poppäa zu immer größeren Schändlichkeiten und Tollheiten aufgestachelt wurde und den Christen die Schuld für den Großbrand gab, den er, so flüsterten viele, mit eigener Hand gelegt hatte. Petrus wurde zum Hohn mit dem Kopf nach unten ans Kreuz geschlagen, Paulus, weil er römischer Bürger war, drei Meilen vor der Stadtmauer enthauptet. 162
Ich wurde mit Gottes Hilfe bewahrt vor dem Gemetzel Neros, auf dass ich einen Bericht über das Leben unseres Erlösers schriebe, ihn abfasste in den schlichten Worten, die ich von Petrus und anderen Männern und Frauen gehört habe, welche Jesus kannten, als Er unter den Menschen lebte, Dämonen austrieb, die Menge speiste, mit dem Speichel Seiner Zunge Wunden heilte und Seine Botschaft in Gleichnisse kleidete, nicht aus einer Wolke sprach wie ein orientalischer Magus, noch den seit Abrahams Zeiten bestehenden Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden wegzauberte. Versucht von den Pharisäern, gab er Antwort auf jegliche Frage, und auf dem Berge führte er ein Gespräch mit Mose und Elia, wie es bezeugt ist von Petrus, Jakobus und Johannes. Dieses schreibe ich, Johannes Markus, auf Pergament nieder, wo es nicht verändert werden kann und fortbestehen wird in alle Zeit. Im Wald überraschte ich heute einen Schmetterling, oder richtiger, er überraschte mich, der erste in diesem Frühling – ein Trauermantel mit dunklen, blass gesäumten Flügeln. Der Wald trägt eine Färbung, die exakt den Rauch von Frühlingsfeuern nachahmt. Die länglichen roten Buchenknospen schweben, zu Sternbildern gruppiert, im seitwärts sich ausbreitenden Geäst des grauborkigen Baumes. Das schneidende Gelb der Forsythien hat seinen Durchbruch geschafft. Die Bradford-Birnbäume unten im Ort entfalten eine kühle, fluoreszierend weiße Pracht, und die Spitz- und Silber- und Eschenahorne produzieren einen chartreusefarbenen Schaum – junges Laub, denkt man, aber bei näherem Hinsehen entdeckt man, dass es aufplatzende grünliche Blüten sind. Noch kann man in den Wald hineinsehen, ein noppiger, verschwommener Anblick; in ein, zwei Wochen wird dort eine Wand aus undurchdringlichem Grün stehen. Ende April: ein schweres süßes Verwischen der Konturen ist im Gange, die Luft ist von einem Dampf erfüllt, von einem sauerstoffreichen Ausatmen, nun da die Vegetation 163
sich ernstlich daranmacht, in ihren Milliarden fotosynthetischer Zellen die Elemente umzuwälzen. Der Teich, von dem nachts die Zirpfrösche rufen, trägt morgens einen Nebelschleier. Der tote Rasen ist plötzlich wieder zum Leben erwacht – nicht mehr lange, und er muss gemäht werden –, und die Taglilien verstecken in ihrem kleinen Dschungel kräftige Grasbüschel. Am Rand der Zufahrt habe ich den ersten Löwenzahn gesehen. Die regenstreifigen Fenster gehen auf eine goldengrün zerlaufende Durchtränktheit hinaus; die Natur wird rücksichtslos in eine Lauge getaucht, die alles wegbeizt, was sie nicht stärkt bei ihrem Anstieg zu feuchtschwerer Fülle, zur Flut hirnlosen, triumphierenden Wachstums. Menschen fühlen es ebenso wie Pflanzen, dies bedenkenlose Übermaß an Stimulanzien in der Luft; auf einmal sind Kinder auf den Straßen los, sie verstopfen den Eingang zum Convenience-Laden, schrammen rüde mit ihren Skateboards und Rollerblades über die Gehwege und stellen in Shorts und weiten, lose hängenden T-Shirts ihre teigige Winterhaut zur Schau. Wo sind sie den ganzen Winter über gewesen, diese Kinder? Sie sind spontan ausgeschlüpft, wie die Fliegen, die jetzt brummend gegen die Fensterscheiben in der Küche torkeln, benommen von der Wärme. Als ich durch die Merchants Road zur Route 128 hinausfahre, komme ich an einer Hängekirsche vorbei, die ihren alljährlichen, mir gut bekannten, aber deshalb nicht minder spektakulären Auftritt in Rosarot vor dem frostigen Weiß einer Sternmagnolie im benachbarten Vorgarten hat. Violett überhauchte Magnolien bauschen sich allenthalben, dick und blass wie Haremsfrauen, und selbst meine armen kleinen dürren Birnbäume an der Zufahrt haben ein paar Blüten zuwege gebracht, um deren eine ich eine schläfrige Biene taumeln sah, die erste in diesem Jahr. Auf der Route 128 herrschte dichter Verkehr, ohne dass es einen praktischen Grund dafür gab – ein weiteres Frühlingsphänomen, aus der Garage befreite Autos und neu erwachte Reiselust. 164
Ich war auf der Rückfahrt von einem Besuch bei meinen Enkeln Torrance und Tyler, den Söhnen meines Sohnes Matthew und seiner wunderschönen, ungemein blonden, schrägäugigen Frau Eeva, einer Finnin, einem Elfenkind aus den Granitsteinbrüchen und Künstlerkolonien von Rockport. Sie wohnen in Gloucester, umgeben von Drogenabhängigen und arbeitslosen portugiesischen Fischern, in einem ausufernden selbst gebastelten Haus einen Block vom glitzernden, kaum noch genutzten Hafen entfernt. Torrance ist zart, dunkel und koboldhaft: und hat enorm lange mädchenhafte Wimpern, und der klumpfüßige Tyler ist stämmig und phlegmatisch und hat irgendwo in sich eine lappische Ader. Beide Jungen sind herzzerreißend, wenn ich mich auf sie konzentriere, was nicht leicht zu bewerkstelligen ist; ihr brüderliches Gerangel und ihre sporadischen Vorstöße in Großvaters Aufmerksamkeitsspanne konkurrieren mit Eevas Erläuterung des speziellen Kräutertees, den sie serviert und den sie für ihren alternden Schwiegervater als besonders geeignet erachtet. Und ohnehin gilt mein Hauptaugenmerk meinem eigenen Kind, Matthew. Von meinen fünf Kindern ist er das, dem gegenüber ich die meisten Schuldgefühle habe, auch wenn er stets heiter und von unergründbarer Freundlichkeit ist. Doch gerade die Hingabe, mit der er einen heulenden Sohn tröstet, führt mir überdeutlich vor Augen, dass ich in seinem Kinderleben nie für ihn da war, immer war ich fort in Boston, nicht nur, um die festgesetzten zehn Stunden pro Tag zu arbeiten, sondern, um nach Büroschluss noch im Federal Club, im Brandy Pete’s und in der Parker-House-Bar die Männerbündelei zu betreiben, die im Wertpapiergeschäft unerlässlich ist und dem Schmieden von Kontakten dient. Auch seine offenkundig monogame Liebe zu Eeva fasse ich als Vorwurf auf, als entschiedene Reaktion auf die Vorortpolygamie, die letztendlich zu meiner Scheidung von seiner Mutter geführt hat. Wie Perdita hat Eeva einen Hang zum Künstlerischen, der 165
sich in geschnitzten Kloben aus Lindenholz und ziemlich wunderbaren Objekten aus geschmolzenem und nur leicht angeblasenem Glas kundtut. Ihre frauliche Schönheit, in der Vollreifen Fülle ihrer vierunddreißig Jahre, kommt über mich mit dem Duft nach einem Sud aus Kamille, Orangenschale, Hagebutte, Zitronengras, Hibiskus, Wegwarte, Schlangenwurz, Nelkenpfeffer und Honig – diese Mischung, gut durchgezogen und heiß, sei ausgezeichnet für den Blutdruck, die Verdauung und den Hauttonus. Ihre arktischen Augen verengen sich, und sie wird zu einer finnischen Hexe, als sie diese Zauberformel spricht. Den vorteilhaften Einfluss auf die Potenz, bilde ich mir schuldbewusst ein, hat sie unerwähnt gelassen, um das Stilgefühl meines Sohnes nicht zu verletzen. Er bleibt angenehm vage, als ich mich erkundige, was seine Karriere als freiberuflicher Architekt macht, und als ich aufstehe, voll gestopft mit fett- und zuckerfreien Plätzchen, fühle ich diese Schwäche in den Knien, die ich mit dem zusätzlichen Gewicht eines im Arm gehaltenen Kindes verbinde, obgleich beide Jungen zu groß und zu zappelig sind, als dass ich sie tragen könnte. Als ich im Auto sitze und in die kreisförmige Straße einbiege, die mich zur Route 128 bringt, wird mir mit jähem Schreck klar, warum Torrance mir so viele neue Spielsachen vorführte, und warum beide, er und seine Mutter, mit so neugieriger Gespanntheit zu mir hinsahen, als ich, ganz der vollendete Gast und eifrige Konsument von Reformhauskost, mich in der Mitte ihres hafermehlfarbenen Sofas niederließ. Der Junge hatte Geburtstag gehabt. Vielleicht nicht genau an dem Tag, auf jeden Fall aber irgendwann Ende April. Ich hatte es vollkommen vergessen. Wie alt war er jetzt? Ich versuchte, mir die Umstände seiner Geburt zu vergegenwärtigen, die Situation in der Klinik. Er hatte in einem Plexiglaskorb gelegen wie ein kleines gehäutetes Kaninchen und darum gekämpft, am Leben zu bleiben, trotz seiner zu frühen Geburt. 166
Wir konnten es alle fühlen, durch das Plexiglas hindurch, wie schwer er um sein Leben kämpfte. Eeva hatte geweint, weil sie ihn nicht stillen, ihm nicht helfen konnte. Jetzt war er acht. Ein kritischer Geburtstag, er markiert den Eintritt ins dritte und letzte Quadriennium der Kindheit, bevor dann mit dreizehn die Stürme der Pubertät einsetzen. Es war meinem armen alten hohlen Kopf einfach entfallen. Sobald ich zu Hause war, würde ich Matthew anrufen und eine lahme Entschuldigung murmeln – eine Wunde mehr, die ich ihm zugefügt hatte, diesem gutartigsten meiner Kinder, diesem klaglosen Sohn – und zur Strafe in die Peabody-Mall gehen und irgendein übertriebenes, unnützes Geschenk besorgen. Meine von Schuldgefühlen und Selbsthass verdüsterte Stimmung dämpfte ein wenig den stechenden Schmerz und die Überraschung, als ich bei meiner Rückkehr das Haus geplündert vorfand: aus dem Wohnzimmer war, unter anderem, der schöne rosa-blaue Tabriz verschwunden, und auf dem Tisch in der Diele lag eine liederlich mit Kugelschreiber geschriebene Nachricht von Deirdre. Lieber Ben – tut mir leid, ich halte es nicht mehr aus, das Leben hier ist einfach zu langweilig, obwohl mir klar ist, dass Du Dir Mühe gibst. Wir sind einfach zu verschieden. Ich will Dir so gern alles recht machen, aber ich weiß, meistens krieg ich es nicht hin. Außerdem fehlt mir ehrlich gesagt mein Dope zu sehr. Ich gehe deshalb woandershin, das ist die einzige Möglichkeit, wie ich mit mir selber klarkommen kann. Wir haben ein paar hübsche Sachen mitgenommen, Dir aber noch eine ganze Menge übrig gelassen, Phil sagt, Du bist mir was schuldig, das ist mit drin bei den Rechten der Frau. Mach’s gut Schatz D. 167
Da hob sich das rostige Schleusentor meines Herzens, und ein Schwall von Reue brach sich Bahn. Ich ging durchs Haus, um nachzusehen, was gestohlen worden war, im Geiste aber machte ich eine Bestandsaufnahme von ihren festen Hinterbacken, zwei Bronzehalbkugeln gleich, vollkommen, bis auf die weißen Bogenlinien, die der Stringtanga hinterlassen hatte; vom straffen Gelände ihres Rückens mit Wirbelsäule, Schulterblättern und Muskeln, wie es sich entspannte, wenn sie neben mir einschlief; von ihrem sonst so kaltschnäuzigen Mund, der sein süßes sanftes O um mein aufgerichtetes Glied formte, mit entschlossenem Schlucken, wie ein Kind eine bittere Medizin einnimmt, hinunter bis zur kitzlig behaarten Wurzel. Sie hatte mehr sein wollen als mein geiles Spielzeug, mein Sexobjekt, aber ich hatte diese stumme Bitte überhört. Ich hatte vorigen Monat ihren instinktiven Versuch, Frühjahrsputz im Haus zu veranstalten, nicht ernst genommen, so starr hatte ich sie und unser Zusammenleben in die Kategorie Schmutz eingeordnet. Doch sie hatte den Nestbautrieb in sich wie jede Frau. Ich war ihr bei ihren Bemühungen, den Haushalt zu führen, keine Hilfe gewesen. Ich hatte sie nur wie ein hornköpfiger Bock bespringen und in den Pausen zwischen meinen erratischen Potenzschüben ignorieren wollen. Ein zittriges Gefühl nicht wieder gutzumachender Schuld rotierte in meinem Magen, als ich im Kopf ihr Gesicht rekonstruierte, die glänzenden runden braunen Augen so verletzlich wie Gallertblasen, die eine verirrte Nadel aufstechen konnte, die Sphinxmähne, das stumpfe Schnäuzchen von einer Nase. Ich peinigte mich, indem ich mir die seidigen Flüsse dunkler Härchen in Erinnerung rief, die ich bei zärtlich genauem Hinsehen überall an ihren Gliedmaßen entdeckte, und die mädchenhaften Geheimnisse zwischen ihren Beinen, die feuchte geöffnete rosa Schote mit der magischen Erbse und die trockenere andere Öffnung, einem runzellidrigen Reptilienblinzeln gleich. Die gereizte Lebhaftigkeit, mit der sie sich durchs 168
Haus bewegte, die Antriebslosigkeit, die sie dann und wann überkam und den ganzen Nachmittag so tief im Bett begrub, dass im Deckenwirrwarr nur noch ein Büschel schwarzen Haars und ein einzelnes geschlossenes Auge von ihr sichtbar war. Aus, vorbei, Ende; ich hatte keine Lust auf eine andere Hure, selbst wenn ich wüsste, wo eine zu finden wäre in dem anarchischen Knäuel da unten am Fuß meines Hügels. Das Haus sah aus, als hätten zwei Schwachsinnige – oder auch drei – sich darüber hergemacht: Gegenstände von geringem Wert waren mitgenommen worden, kostbare großenteils zurückgelassen. Vielleicht gab es für die Beschaffung von Hehlerware irgendwelche bizarren Regeln, nach denen man das feine Staffordshire-Porzellan von Glorias Großmutter unangetastet im Mahagonischrank stehen ließ und dafür eine Kaffeemaschine aus Plastik und Aluminium mitnahm, die ich nie benutzte, da ich Kaffee schon vor Jahrzehnten den obskuren Gottheiten geopfert hatte, die den Blutdruck kontrollieren. Der Wohnzimmerteppich – mit was für einem Gewicht sie sich da abgeplagt hatten! – bedeutete den größten Verlust, aber seine Abwesenheit legte ein Ahornparkett frei, dessen Schönheit lange Zeit verborgen gewesen war. Jedes übrig gebliebene Möbelstück war jetzt zweifach da, verdoppelt durch sein undeutliches Spiegelbild in der gewachsten Oberfläche des Fußbodens. Deirdres Diebstähle wirkten so willkürlich wie die Entscheidungen eines liebenden Herzens, dem dieses oder jenes unbedeutende Detail der geliebten Person besonders teuer ist und das Merkmalen, die allgemein als würdiger befunden werden könnten, keine Beachtung schenkt. Mir hat zum Beispiel immer gefallen, dass Perdita es nie schaffte, mit dem Rauchen und Trinken aufzuhören, und den ganzen Sommer über barfuß ging und ihre Füße nur so starrten vor Schmutz, und nicht gefallen hat mir, dass sie ständig versuchte, weniger vom Glück Begünstigten zu helfen – dass sie Geld an die Äthiopienhilfe schickte und sich einen Tag pro Woche 169
ehrenamtlich in einer Wohlfahrtseinrichtung in Dorchester betätigte. Ich mag es, wenn Frauen schmutzig und ausschließlich auf mich konzentriert sind. Ich hatte mich, im Verein mit Deirdre, den zunehmenden Bedürfnissen des Grundstücks und des Gartens gegenüber als hilflos erwiesen. Unkraut und Zierpflanzen schössen nur so in die Höhe. Die Blätter der Taglilien im Beet neben der Zufahrt reichten mir bis zu den Knien; am hinteren Ende des Gartens waren ein paar Tulpen aufgesprungen. Die Päonien mussten an Stäbe gebunden werden, sogar ich konnte das sehen. Gloria hatte immer alles erledigt und Arbeiten, die sie nicht selber tun konnte, überwacht. Ständig hatte sie am Telefon gehangen und mit dem Rasenpflegedienst verhandelt, mit dem Baumdoktor, mit dem Klempner, der die Sprinkleranlage in Ordnung hielt, mit Gewächshäusern und Gärtnereien, und viele Stunden lang in den matschigen Beeten gekniet, gepflanzt und umgepflanzt, Dünger und Torfmull, Mulch und Lehm gemischt und dabei einen großen ramponierten Strohhut getragen, den wir einmal in den Ferien auf St. Croix gekauft hatten. Ich hatte es gemocht, wenn sie so schmutzig aussah, sich mit erdverschmiertem Handschuh über die Wange gefahren war, weil ein Mückenstich sie juckte, und es hatte mir gefallen, wie sie gegen Abend, wenn es dunkel wurde, hundemüde ihre verdreckten, verschwitzten Sachen, einschließlich des Slips, in der Waschküche auszog und nackt die Treppe hinaufging, an den starrenden Erbstücken vorbei, um ihren schmerzenden Körper in der Badewanne einzuweichen, und es mir überließ, zum Abendbrot eine Quiche oder einen aufgetauten Meatloaf in den Ofen zu schieben. Männer mögen es, wenn sie nützlich sein können. Es hatte mir Spaß gemacht, meiner nackten Königin der Ackerkrume dienlich zu sein.
III. Die Abmachung Am ersten Mai, als ich in den offenen Schuppen ging, der als Garage dient, sah ich im Augenwinkel einen Schatten von einem der Dachsparren herabschnellen, und ich wusste, die Rauchschwalben waren zurückgekehrt, um ihr Nest zu bauen. Wie sie uns finden in dem kontinentalen Ozean aus Grün, habe ich nie herausbekommen, auch nicht, ob es dieselben Vögel sind oder ein Paar, von dem der eine hier geschlüpft ist. Ihre rätselhafte Ankunft war für Gloria und mich immer das Zeichen dafür gewesen, dass wirklich der Sommer nahte. Ein paar Tage später kreuzte sie selbst auf. Ich hatte sie nicht erschossen, und wenn doch, dann in einem anderen, eine Spur anders gearteten Universum. «Wo hast du gesteckt?», fragte ich ein wenig zaghaft. Mir war unklar, wie lange sie weg gewesen war; je älter ich werde, desto mehr Löcher bekommt mein Gedächtnis, und weil es Löcher sind, ist es schwierig, ihre Gr öße abzuschätzen. «Du hörst nie zu, wenn ich dir sage, wohin ich gehe», sagte sie. Und sie redete weiter und erklärte mir, wo sie gewesen war. Es stimmte, während ihre roten Lippen munter auf- und zuklappten und ihr Unterkiefer, wenn sie eine theatralische Pause einlegte, seine ziemlich enervierende selbstzufriedene kleine Mahlbewegung machte, breitete sich in meinem Kopf eine Leere aus, in der vereinzelte Wörter wie «Tagung» und «Geschenkboutique» und «Singapur» aufhüpften und keinerlei Sinn ergaben. Veranstalteten Geschenkboutiquenbesitzer jetzt Tagungen in Singapur? Sie fuhr fort: «Und im Calpurnia-Club hat eine einen wundervollen Vortrag über englische Blumenrabatten gehalten. Ich habe sie wegen der Rehe gefragt, und sie sagte, im Vereinigten Königreich seien die nur in Schottland ein Problem. Aber ein anderes Mit171
glied, eine entzückende Person aus Dedham, ihr Name ist Polly Martingale – sie sagt übrigens, sie ist eine Tante von einem Schützling von dir bei Sibbes, Dudley und Wise, Ned Partridge -» «Dieser schleimige Mistkerl ist kein Schützling von mir.» «die wusste ein Mittel, das es zu kaufen gibt und das AgRepel heißt. Es wird aus den zermahlenen Schulterblättern und Gott weiß was von Kühen gemacht. Es stinkt wie der Tod. Sie hat mir die Telefonnummer von einem Mann in Boxford gegeben, bei dem man es bekommt, und ich möchte ihn jetzt sofort anrufen. Mach jetzt keine Widerworte, Ben. Sei einmal in deinem Leben nicht renitent.» Was für ein Appell. Ich hatte irgendeine Erklärung hervorblubbern wollen, wieso der Tabriz und die Kaffeemaschine und die anderen Sachen verschwunden waren, aber ich brachte nichts heraus; ich stand da mit offenem Mund, stumm und dumm. Ich fragte mich, wie viele von Deirdres kringeligen schwarzen Haaren wohl auf dem Bettlaken sichtbar waren und wie viele verräterische Flecken wir hinterlassen hatten. Gloria warf mir aus ihren eisblauen Augen einen raschen prüfenden Blick zu. Fünf Jahre jünger als ich, sucht sie mich wachsam wie ein Vogel, der auf Würmer aus ist, nach Zeichen des unvermeidlichen Verfalls ab, der ihr die wohlgepolsterte Freiheit einer Witwe bescheren wird. So viele ihrer Freundinnen sind Witwen, alleinige Inhaberinnen von ehedem gemeinschaftlichen Konten; endlich frei und unbeschwert, verfügen sie die Realisierung all der Haus- und Gartenpläne – den luftigen Flügelanbau am düsteren Kerngehäuse; den überdachten Pool mit Gegenstromanlage; die Neupflasterung der Auffahrt; den kunstvollen und so praktischen Gartenzaun, mit doppeltem Lattengeflecht zugleich ein Spalier für Clematis und Rosen; den verglasten Pavillon hinten im Garten zum Lesen und romantisch einsamen Vorsichhinträumen –, die der elende Gatte, wäre er noch am Leben, 172
verboten hätte. Sie beneidet diese Frauen um die Ungebundenheit, die sich in deren Witwenkleidern kundtut. Um ihren auf mich gezielten Todeswunsch zu entschärfen, ist es mir zur Gewohnheit geworden, ihr nichts abzuschlagen, auch wenn manche ihrer Ideen zur Heimverschönerung – beispielsweise die Badezimmerwände ganz mit Spiegeln zu verkleiden und die alten krummhalsigen Nickelhähne herauszureißen und durch unmenschlich stromlinienförmige Messingarmaturen aus der Schweiz zu ersetzen – mir absurd vorkommen. Wozu die vielen Spiegel, in denen wir doch nur sehen, wie unsere Falten sich vermehren? Meinem Anblick im Rasierspiegel standzuhalten ist zur Haupthürde auf dem Weg in den Tag geworden. Wenn die verspiegelte Schranktür offen steht, kann ich mich aus einer Schwindel erregenden Vielzahl von Blickwinkeln sehen, und mein Profil verhundertfacht und verliert sich, wenn ich mich vorbeuge, in die leicht gekrümmte Unendlichkeit hinein, die ein Spiegelpaar aus dem Nichts erschaffen kann. Als ich zum ersten Mal meinen Kopf im Profil sah, den schlaffen, opisthognathen Unterkiefer, die ziemlich abgeplattete Partie hinten am Schädel, war ich neun Jahre alt und zur Anprobe meines ersten erwachsenen Jacketts im England-Brothers-Warenhaus an der Northstreet in Pittsfield; Entsetzen packte mich, als ich diesen hässlichen Bruder in meiner eigenen Haut entdeckte. Er war ein Fremder, keinesfalls eine Art Zwilling. Er sah neandert(h)alerhaft aus. Jetzt sehe ich diesen hässlichen Bruder mit schütter und weiß gewordenem Haar, die tot wirkenden Ohrläppchen in die Länge gezogen wie durch afrikanischen Zauber, die Augen geschrumpft, als hätte ein Kopfjäger aus Neuguinea sie präpariert, die Haut gesprenkelt mit rosa Flecken von zu viel Sonne und mit geplatzten Äderchen – nicht nur einen, sondern Dutzende von ihm, die sich parabolisch in der astronomischen Komplexität von Glorias mannigfachen Spiegeln verlieren. Aber um mit einer Frau zu leben, muss der Mann 173
lernen, ihrem Nestverbesserungstrieb gefällig zu sein. Wir sind beide, Männer und Frauen, zur Symbiose verurteilt. «Ich bin nicht renitent», sagte ich. Das AgRepel, das in großen Plastikeimern von dem von Polly Martingale empfohlenen Mann in Boxford eintraf, sah wie klumpiger, schmutzig weißer Lehm aus und roch wirklich nach Tod. Aber auf eine tückisch leise Art: wir mussten mit der Nase ganz nah herangehen, um den Schlachthausgeruch wahrzunehmen, und wir fragten uns, während wir die Rosenbeete mit dem Zeug einfassten und es klümpchenweise unter der Euonymushecke und unter dem Taxus verteilten, ob die Rehe ihre Köpfe wohl tief genug senken würden, um sich vergraulen zu lassen. «Tu überall was hin, wo Rehscheiße ist», wies Gloria mich an. «», sagte ich, «oder oder oder <Mist>, wenn’s unbedingt sein muss, aber, bitte, sag nicht dauernd <Scheiße> dazu.» Ich hatte das Gefühl, inzwischen tat sie es, um mich zu kränken. «Es ist und bleibt Scheiße», sagte sie. «Nur weil du zu faul bist, muss ich in meinem eigenen Garten auf Knien rumrutschen und mich mit zeckenverseuchter Rehscheiße abgeben.» Sie hörte sich für mich ganz ähnlich wie Deirdre an; ich fragte mich, ob eine von beiden die andere absorbiert hatte. Ohne rechte Überzeugungskraft wandte ich ein: «Die Zecken sind nicht in den Exkrementen. Sie sitzen im Fell und gehen von da auf Feldmäuse über, irgendwie, und dann beißen sie Menschen. Aber nur, wenn sie nicht anders können.» Die Zecken und die Krankheit, die sie übertrugen, erschienen mir eher unwirklich, waren für Gloria aber sehr wirklich. Ihr Gesicht im Schatten des karibischen Strohhuts wurde weiß vor Wut bei dem Gedanken, dass die Rehe sich auf ihr Grundstück wagten und die Spirochäten in ihren Blutstrom eindrangen und Schüttelfrost, Fieber und Schmerzen und eventuell 174
Herzschwäche und Arthritis verursachten. Leute starben sogar daran, versicherte sie mir. Diese allwissende Mrs. Martingale kannte jemanden, der jemanden aus New London kannte, der ins Krankenhaus gemusst hatte und gestorben war. Ich staunte, dass Gloria so fest verknüpft war mit dieser Welt und nicht wie ich, an einer dünnen Leine hängend, abdriftete. Als ich aufhörte, an jedem Werktag mit dem Zug zu Sibbes, Dudley und Wise zu fahren, habe ich mich – so kommt es mir vor – in mehrere unbeteiligte Parteien gespalten. Meine Wellenfunktion ist erloschen. Entgegen starkem inneren Widerstand, wohl wissend, dass man das unschuldige Herz eines Kindes benutzte, um mich zum Erdulden eines Vertrags zu erpressen, der Spenden bringen sollte, fuhr ich zur morgendlichen Hauptverkehrszeit eine Stunde lang auf der 128, um teilzunehmen am Großelterntag in Kevins Privatschule, der Dimmesdale Academy: nur Jungen, von der vierten bis zur achten Klasse. Das Schulgelände erstreckt sich außerhalb Lexingtons, der Wiege der Revolution, eine bukolische Anlage am Ende einer gewundenen Straße mit noblen, im Kolonialstil gehaltenen Häusern, die in schönstem Frühlingsstaat dastehen, umschäumt von Blüten und jungem Laub. Kevin hat sich vom Bruch seines Handgelenks erholt und ist mit seinen elf Jahren ein schmaler, sportlicher Blondschopf mit schlaksigen Manieren und kindlicher Piepsstimme, obgleich er mir bis zur Schulter reicht. Seine Großeltern väterlicherseits haben sich nach Hawaii zurückgezogen, aber Perdita war da, die Haare achtlos zusammengesteckt und großzügig mit Grau durchwirkt; zum Friseur zu gehen, sich die Nägel zu lackieren, so etwas war immer unter ihrer Würde gewesen, auch Lippenstift hatte sie verschmäht, bis auf ein gewisses milchiges Rosa, das zu unserer Collegezeit in Mode gewesen war. Ich traf mit Verspätung ein und fand nur mit Mühe das Anmeldungsbüro im 175
Durcheinander der vielen kleinen mit Brettern verkleideten Gebäude, die seit den Zwergschulanfängen des Instituts im Jahr 1846 nach und nach, immer nur eines zur Zeit, hinzugebaut worden waren. Das Klebeschildchen mit meinem und mit Kevins Namen pellte immer wieder ab vom Revers meines allzu wolligen Tweedjacketts. Manche Großeltern sahen zehn Jahre jünger aus als ich und manche zehn Jahre älter, grundsätzlich aber befand ich mich unter Angehörigen meiner Generation. Wir waren in den konformistischen Fünfzigern geboren worden, waren Teenager in den tollen, buntbewegten Sechzigern gewesen und junge Erwachsene in den drogenzerlöcherten, sexgetriebenen Siebzigern. Wir waren den Kriegen unserer stolzen Nation im Großen und Ganzen heil entkommen, den Scharmützeln des Kalten Kriegs und dann der furchtbaren, wiewohl kurzen Chinesisch-Amerikanischen Massenvernichtung. Aids hatte, vor der Entwicklung des so verblüffend einfachen wie wirksamen Impfstoffs, gewisse Randgruppen der Gesellschaft betroffen, Homosexuelle, Drogenabhängige und die Kinder der Armen, aber nicht uns. Wer hier war, hatte noch Gewinnchancen in der Krebslotterie und war keinem der Unfälle erlegen – Auto, Industrie, Herz-Kreislauf–, die die Reihen aktiver Amerikaner lichten. Ich fand es erstaunlich, wie viele wir waren: weißhaarig und arthritisch, ähnelten wir den spezialisierten Pflanzen, die, eine Woche nachdem ein Waldbrand scheinbar alles Leben in Asche verwandelt hat, aus dem Boden sprießen. Und unsere zahlreichen Enkelsöhne waren da, um die Menschheit weiterzuführen, tiefer hinein ins einundzwanzigste Jahrhundert, bis an den Rand des unvorstellbaren zweiundzwanzigsten. Ich war ungehalten über die Zumutung, eine Stunde fahren zu müssen und einen Vormittag meines zur Neige gehenden Lebens zu opfern, aber es waren Großeltern aus Arizona und Florida da, und ich hatte einmal mehr Grund, mich mei176
nes verhältnismäßig unterentwickelten Familiensinns zu schämen. Meine Leidenschaft fürs Weiterleben war durch das Zeugen von Kindern nur bedingt beschwichtigt worden. Perdita war aus Boston gekommen, wo sie im mehr oder minder verelendeten South End mit einem beträchtlich jüngeren Mann zusammenlebt, der Geoff heißt, einen vagen Hang zum Künstlerischen hat wie sie und zum Teil schwul ist, aber vielleicht nicht in dem Teil, der ihr zugewandt ist. Lang und schmal, schmaler noch als bei unserer ersten Begegnung in den Sechzigern (auf den Stufen der Du Bois Library, sie in engen Jeans mit bunten Flicken auf beiden Gesäßhälften und bauchfreiem, im Nacken geknotetem Batiktop, etwas Selbstgedrehtes paffend, das nach der knauserigen Spitzfingrigkeit, mit der sie es hielt, eindeutig ein Joint war), hat sie den Jahren erlaubt, hundert Blüten aus sich kreuzenden Fältchen auf ihrem Gesicht zu treiben, und hält ihr grau gesträhntes Haar mit einigen wenigen, wahrscheinlich rostigen Klammern zusammen. Diese hagere alte Hexe hat eine Schönheit an sich, die ich als einer der Letzten auf Erden noch erkennen kann. Für mich wird sie immer das Mädchen am Strand sein, von dessen nackten Füßen in der warmen Kuhle hinter einer Düne der trocknende Sand rieselte, Körnchen um Körnchen. Verbunden jetzt nur noch durch unsere Nachkommenschaft, folgten wir Kevin, als er uns auf einen Rundgang durch die Schule mitnahm – die neue Turnhalle, blitzend vor Stahl und schrammenlosem Hartholzboden, die überbeanspruchten Computereinrichtungen, für deren Erweiterung ein Geldgeber benötigt wurde –, und saßen Seite an Seite, als der Direktor in Umrissen seine Pläne für die Zukunft darlegte und ein Chor noch nicht vom Stimmbruch berührter Knabenstimmen flötend einige Madrigale und vereinfachte BroadwayShow-Melodien vortrug. Perdita besitzt die besondere, ersten Ehefrauen eigene Fähigkeit, auf Anhieb verständlich zu sein. «Löwenzahn», flüsterte sie, und ich wusste, sie meinte 177
die Frau zwei Reihen vor uns, deren Kopf mit dem reinweißen, ganz gleichmäßig frisierten Haar wie eine Pusteblume aussah. «Muffin», antwortete ich, und sie wusste, dass ich den Direktor meinte, einen mitteljungen Mann von bauchiger Gestalt und geschwollener Ausdrucksweise. Der Begriff hatte zu unserem Collegejargon damals auf dem Campus der U. Mass. gehört, er stammte von ihr und bezeichnete einen der drei Typen, in die sich die gesamte Menschheit einteilen ließ; die zweite Kategorie war «Pferd» gewesen, und die dritte hatte ich vergessen. Konnte es so etwas Simples wie «Vogel» gewesen sein? Wenn unser Universum nur drei Dimensionen (plus Zeit) benötigt, um zu existieren, und alle Hadronen aus jeweils drei Quarks und den dazugehörigen Antiquarks aufgebaut sind und der Regenbogen mit all seinen Streifen auf drei Grundfarben beruht, dann reichten vielleicht drei Kategorien für die Menschheit. «Rodney –», begann sie. «Hat immer noch Probleme mit dem Lesen», sprach ich den Satz für sie zu Ende. Rodney war Kevins jüngerer Bruder, dem die locker-gelenkige Leichtigkeit des Älteren gänzlich abging und immer abgehen würde. «Es ist aber besser geworden, sagt Mildred.» «Wahrscheinlich hat er den Postalphabetismus von Carol geerbt.» Carol Eliade, der Mann meiner ältesten Tochter und der Vater der Jungen, stammte von rumänischen Einwanderern ab und war, vor dem Krieg, ein Genie darin gewesen, den Japanern bei der Miniaturisierung von Computerchips einen Schritt voraus zu sein. Der Krieg (vielleicht weniger eine Sache zwischen uns und China als eine zwischen China und unserem Protegé Japan, ein Kampf um die Vormacht in Asien, wozu auch das separatistische Sibirien gehörte) hatte Japan zu stark ruiniert, als dass es noch konkurrenzf ähig wäre, obgleich die Stehaufkraft einer niedergeworfenen Nation immer größer ist, als man für möglich hält. Frische Trie178
be sprießen aus der heißen Asche, Unkraut schießt in neuen Mutationen auf. Die globale Katastrophe hatte die zarte Chemie zwischen Perdita und mir intakt gelassen, wie ein Spinngewebe, das zwei morsche alte Äste verbindet. Im Mathematikunterricht, in dem Dezimalrechnen geübt wurde, fühlte ich mich durch ihre Gegenwart dazu animiert, mich an dem Rechenspiel zu beteiligen, bei dem Zahlen in Buchstaben übertragen werden mussten, die dann einen schicken Satz ergaben, in diesem Fall: LIEBE IST FARBENBLIND. Ich suchte noch nach dem «N», als Perdita mich sanft daraufhinwies, dass der kleine Junge auf dem Platz neben Kevin bereits fertig sei. «Der macht das jeden Tag», sagte ich und stieß ein rivalenhaftes Knurren aus, das sie zum Lachen brachte. Sie würde in mir immer einen intellektuell aggressiven, gesellschaftlich unsicheren Collegestudenten sehen. Unser siebenundvierzig Jahre altes Spinnweb riss, als wir uns mit einem Kuss von unserem Enkelsohn verabschiedeten und ihm nachsahen, wie er, einen Lacrosseschläger rasch, geschickt von einer Hand in die andere nehmend, über das frisch ergrünte, noch matschige Spielfeld lief. Der Himmel sieht immer so groß aus über flachen Schulsportplätzen und den Kindern, die dort rennen, auf der Jagd nach ihrer fernen Zukunft, indes sich oben bedenkliche silbrig schwarze Wolken entrollen. Auf der Rückfahrt zur 128 fiel mir auf, dass der Frühling im Westen von Boston weiter fortgeschritten war als im Norden: die Ahornblüten, jetzt ein chartreusefarbener Staub auf den Straßen, hatten zartem Blattwerk Platz gemacht, und an den weißen Lattenzäunen blühten schon in roten und gelben Reihen die Tulpen. «Was macht die unvergleichliche Perdita?», fragte Gloria bei meiner Rückkehr. «Ist sie immer noch magersüchtig?» «Sie war okay», sagte ich. «Nicht unangenehm.» «Warum auch! Sie hat in Boston diesen zauberhaften jungen Geliebten und kassiert weiterhin Unterhalt von dir.» 179
«Ich bin nicht sicher, ob er wirklich ihr Geliebter ist», sagte ich. «Die Kinder sagen, er ist schwul. Ich habe ihn nie kennen gelernt.» «Und hast du noch ein bisschen Aufmerksamkeit für Kevin erübrigen können?», fragte sie; das Thema Perdita weiter zu verfolgen brachte nichts, hatte sie entschieden. Aber es wurmte sie. Meine Lossagung von meiner früheren Frau war nie vollständig genug gewesen, um Gloria zufrieden zu stellen. Sie war eine systematische Person, und der Rest Perdita in unserem Leben störte sie, erschien ihr als Unreinlichkeit – Schmutz in den Ecken, gewissermaßen. Aber es ihr recht zu machen hieße für mich, Perdita in einem Maß wegzuradieren, als hätte es sie nie gegeben und als hätte ich eine leer gefegte Vergangenheit. Kevin war ein ungefährlicherer Gesprächsgegenstand. «Er war süß», sagte ich. «Immer noch ganz offen und kindlich, aber ich könnte schwören, dass er seit letztem Monat fünf Zentimeter gewachsen ist. Er hat sich rührend darüber gefreut, dass ich gekommen bin; ich nehme an, ich habe irgendwie vermittelt, dass es mir widerstrebt hat, an einem Werktag diese weite Fahrt zu machen.» Werktage und Wochenenden, aus hartnäckiger Gewohnheit unterschieden sie sich für mich noch immer voneinander. «Du könntest ihm ja klarmachen, dass er einer von zehn ist», sagte sie. «Du könntest deine gesamte Zeit damit zubringen, Großvater zu sein.» «Anstatt als nutzloser Ruheständler zu Haus herumzuhängen», sagte ich, eine Spur – eine beinah subliminale Spur aufsässig. Aber insgesamt ist mein Verhalten Gloria gegenüber, seit sie wieder da ist, von Demut und Dankbarkeit bestimmt. Sie kümmert sich um den Rasen und alles andere, was wächst, und plagt sich mit dem Unkraut und den Arbeitern, die täglich kommen und Äste kappen, Dünger ausbringen und die Beete sauber abstechen. Und während das Grün draußen vor 180
den Fenstern sich zu seiner Maienfülle steigert (die Buchenblätter falten sich wie zarte, in die Höhe gehobene Schirme auf; an der Zufahrt sind allenthalben die Röhren der Funkien hervorgebrochen und beginnen, sich zu entrollen), erblüht auf wundersame Weise auch das Innere des Hauses. Eines Morgens standen die Wachteln wieder auf dem Esszimmertisch; dunkel erinnerte Nippsachen drängen sich dichter auf dem Kaminsims und auf den Sofatischchen im Wohnzimmer; eines Tages, daran zweifle ich nicht, wird der große schöne Teppich daliegen wie ein neu erwachter Rasen. Unter Glorias leidenschaftlicher Obhut erholt sich das geschändete Haus. Bald wird von meinen Freveltaten keine einzige verräterische Narbe mehr sein. Ich wache jede Nacht gegen vier auf und habe, nachdem ich im Bad war, um zu urinieren, Mühe, wieder in den Schlaf zu finden. Irgendein undeutlicher Angstkeil schiebt sich mir blockierend in den Weg. Im Gegensatz zu Deirdre schnarcht Gloria, meist nicht laut, aber mit einer Pausen- und Synkopierungsvielfalt, die mich daran hindert, wegzuhören. Das Bett ist wie eine Schräge, von der ich in einen Abgrund fallen könnte. Der Höhenangsttraum vor einigen Wochen, in dem es darum ging, aus Boston herauszukommen, hatte einen Knacks in mir vertieft. Früher gelang es mir, wieder einzuschlafen, indem ich mir ins Gedächtnis rief, was ich gerade geträumt hatte, in letzter Zeit aber sind meine Träume ein wildes widriges Durcheinander halb vergessener Gesichter, die verzerrt sind vom Druck alter Nöte – ungewollte Schwangerschaften, anschwellende, außer Kontrolle geratende Amouren, berufliche Rückschläge in den aseptischen Büros an der State Street, zermürbend lange Krankheiten bei den Kindern, die Kränkungen und Abfuhren, mit denen sie weinend aus der Schule heimkamen, Häuser in Coverdale, deren Teppiche und Tapeten sich voll gesogen haben mit der 181
bitteren Feuchte ehelicher Langeweile und Unzufriedenheit, und alles durchwirkt mit einer betäubten, aber atmenden Version des Entsetzens, das ich damals im Keller empfand, als ich das Puppenhaus für Milly bauen wollte. Ich träume und bin unglücklich, und doch sträube ich mich im Morgenlicht gegen das Erwachen, ich bleibe liegen und falle ein ums andere Mal ins Dösen, wenn das feste, aus Querträgern, Ständern und Balken gefügte Endoskelett des Hauses schon längst unter Glorias energischem Schritt erbebt. Als ich zum Briefkasten hinuntergehe, um den Globe zu holen, sehe ich, dass das gelbe Blütenkonfetti der Forsythien frischen grünen Blättern weicht, und ich blinzele zu dem neuen Objekt hinauf, das an unserem Firmament erschienen ist. Wie der irisierende Halo, der manchmal um Zirruswolken liegt, verlangt es Aufmerksamkeit, denn allein schon seine Größe, die in keinerlei Proportion zu Irdischem steht, gibt Rätsel auf. Es ist mindestens zwanzigmal größer als der Mond, den die newtonsche Mechanik zum Begleiter der Erde ernannt hat, und misst das Dreifache der verlassenen Wabe, die die Menschen vor dem kataklysmischen Krieg auf die Umlaufbahn geschickt haben. Dieser neue Mond, nachts als schwach strahlendes Lasso sichtbar, das langsam über das erstarrte Sternengesprenkel hinzieht, ist bei Tage wie der Abdruck eines Cocktailglases in das überwölbende Sauerstoffblau geprägt, ein blasser, zuweilen silbriger Ring. Vielleicht hat es ihn, wie manche Theorien besagen, schon in vorgeschichtlicher Zeit gegeben; vielleicht hat er über den Dinosaurierherden geschwebt, über den ersten Amphibien, den toten Kontinenten, bevor die Meere Lebensformen herausbildeten, die komplexer waren als Algen. Es ist ein Raumschiff, so viel ist klar, das seinen Ausgangspunkt entweder irgendwo in unserer Milchstraße hat oder womöglich gar aus einer anderen Galaxie stammt, denn sein Erscheinen an unserem Himmel deutet darauf hin (es sei denn, sein Ursprung 182
ist aller astronomischen Wahrscheinlichkeit zum Trotz nur wenige Lichtjahre entfernt), dass seine Erbauer und Steuerer mit einem unvorstellbaren technischen Wissen den physikalischen Raumzeit-Knoten durchhauen haben – dass sie eine Möglichkeit gefunden haben, sich mittels der Kraft des Geistes von einem Punkt zum andern zu bewegen. Dass der Geist ein fremdes Element im physischen Kosmos sei, hat man intuitiv schon vor langer Zeit erkannt, aber erst gegen Ende des vergangenen Jahrtausends haben Wissenschaftler seinen Platz unter den Urkräften definiert. Teilchen, die kleiner seien als ein Quark, hieß es widerwillig, seien rein mathematisch, also geistig. Und weiter, der Kosmos sei, seinen chemischen und atomischen Gesetzen nach, vorzüglich darauf eingerichtet, genügend Dauerhaftigkeit und Stabilität für die Evolution intelligenten Lebens bereitzustellen. Bis es diese Intelligenz gebe, existiere das Universum nur im vorläufigsten Sinne, etwa wie ein Stück oder ein Drehbuch in Textform als Vorbedingung dafür existiere, dass es inszeniert wird, dass die Dekorationen zusammengeklopft werden und die Scheinwerfer ihr Licht in drei Dimensionen aussenden. Computersimulationen haben zur Genüge deutlich gemacht, dass ein Universum, welches jünger wäre als fünfzehn Milliarden Jahre und einen Durchmesser von weniger als fünfzehn Milliarden Lichtjahren hätte und weniger als eine Milliarde Milliarde (1018) Sterne enthielte, zu klein gewesen wäre, um auf Kohlenstoff beruhendes Leben hervorzubringen. Wir – und die Algen und die Regenwürmer und die Meerengel – brauchten all diese explodierenden Supernovae, weil es sonst die schweren Elemente nicht gäbe; wir brauchten die ganze dunkle Materie, damit die Gravitationsgeschwindigkeit sich verringerte und Leben entstehen konnte. In einem Universum, in dem die gravitative Feinstrukturkonstante 10-30 betrüge und nicht, wie es der Fall ist, 10-40, wäre alles 105 mal kleiner und 1010 mal dichter; unsere Sonne hätte 183
einen Durchmesser von zwei Kilometern und würde mit einem heißen blauen Licht brennen, für die Lebensdauer von einem Jahr. Ein der Erde äquivalenter Planet würde diesen Stern alle zwanzig Tage einmal umkreisen und sich einmal pro Sekunde um die eigene Achse drehen, was einem Jahr von zwei Millionen Tagen entspräche. Aber in solch einem zusammengedrängten Universum stärkerer Gravitation würden die Sterne sich gegenseitig die dunkle Materie entreißen, und die planetaren Lebensformen, die sich vielleicht entwickelten – größer als Bakterien wären sie ohnehin nicht –, würden rasch untergehen. Zulänglich günstige Bedingungen erfordern einen Anfangsdichte-Parameter mit einer Genauigkeit von eins zu 1060. So sieht’s aus: die Chancen, dass der Geist nicht bloß ein blindes Nebenprodukt materieller Kräfte ist, stehen eins zu 1000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000. Und trotzdem bin ich nur unzulänglich beruhigt. Der dünne Torus, der höher als die Wolken, aber niedriger als der Mond dahinschwimmt, zeigt, dass irgendwo im Universum der Geist über die Materie triumphiert hat, anstatt im Widerstreit mit ihr zu koexistieren, wie auf unserem Planeten. Aber die Geister – oder der ungeheure Geist – hinter dieser vollkommen kreisförmigen Intrusion an unserem Himmel teilen/teilt sich nicht mit. Eingehende Untersuchung mit Teleskopen, wo immer solche Instrumente den Krieg überlebt haben, lässt keinerlei Oberflächenstruktur erkennen, nur hier und da Partien von leicht verstärkter Glätte, die möglicherweise Sichtscheiben sind. Der bleiche Ring schwebt dort oben wie das offene Auge eines Toten. Werden wir beobachtet wie von einem Zoologen, der sich auf ideale Weise jeder Interaktion enthält und in einem geruchsicheren Käfig über kreischenden, sich die Köpfe kratzenden Affenhorden hängt? Oder ist es so, dass es zwischen oben und unten nicht mehr Verständigung geben kann als zwischen einem Menschen 184
und einem unterirdischen Ameisennest? Aber Myrmekologen kommunizieren auf ihre Weise doch recht gut mit Ameisenstaaten, so wie es auch ein kleiner grausamer Junge tut, der mit einem Stock in einen wimmelnden Haufen sticht. Wir blicken zu dem starrenden Ring hinauf und warten auf den stochernden Stock in unserm Haufen, auf den Stoß des mächtigen Worts jenseits unserer armseligen Wörter. Nichts kommt. Nur Psychotiker und publicitysüchtige Lügner werden von Außerirdischen entführt, und es geht auch keine wahrnehmbare Strahlung – von Radio bis Gamma – von dem schwebenden Raumschiff aus. Vielleicht hat sein Auftauchen aus ferner Unermesslichkeit seine gesamte Energie verschlungen; vielleicht hat es, nachdem es die worterzeugende Reibung der sich dem Ego entgegenstellenden Raumzeit überwunden hat, einfach nichts zu sagen. So leben wir unseren kleinen Alltag inmitten unserer zerscherbten Zivilisation, als ob der riesige schwach leuchtende Torus nicht da wäre. Viele behaupten, er sei nicht da. Heute ist er mir schwächer erschienen, mehr mit dem Blau verschmolzen, als gebe er seine unergründliche Mission allmählich auf. Massentäuschungen sind zu allen Zeiten in der Geschichte vorgekommen, manchmal manifestieren sie sich in ausgetüfteltem, übereinstimmend geschildertem Detail. Trotzdem halte ich an meinem Glauben fest, dass das Objekt – grob geschätzt siebenhundert Kilometer im Durchmesser – real ist, auch wenn es aus einer Substanz besteht, die auf der Erde nicht fassbar ist. Möglich, dass der Schrecken, der meinen Träumen zugrunde liegt, gerade an die Wirklichkeitsoberfläche kommt. Es gibt mehr Geräusche und Zeichen von Aktivität im Wald, jetzt da die Bäume zur Hälfte frisch belaubt sind und einen gefleckten grünen Vorhang schaffen. Gestern hörte ich von dort, wo die Bahngleise sind, ein Gejohle und Geknüppel und dann 185
ein stetiges Hämmern, so laut, dass es nicht von einer Metallobioform stammen konnte. Ich ging durch den alten Hemlocktannenbestand, an dem dicken Horst von Schneeglöckchen vorbei, deren schwer hängende, das Erdreich durchstoßende Blüten geschmolzen sind wie ihr Namenspatron und zum Beweis, dass sie da waren, nur winzige harte grüne Knoten zurückgelassen haben. Überall auf dem Waldboden schieben sich durch den Teppich aus totem Laub ovale, glänzende, nicht ganz symmetrische Blättchen hervor – Arbutus, glaube ich, auch «Falsches Maiglöckchen» genannt. Und Giersch sprießt auf, und die roten Miniaturblätter des treibenden Giftsumach leuchten. Wo das Auge vom Haus aus nicht hinreicht, beginnt die Wildnis. Trockene Äste liegen verstreut im Weg; entwurzelte tote Bäume lehnen schräg an den noch lebenden. Einige eingesunkene Reisighaufen stammen aus der Amtszeit des vorigen Besitzers, als er und seine Söhne jung waren. Andere, weniger gesetzt und mit Nadeln und Laub bedeckt, haben sich in meinen früheren, tatkräftigeren Tagen hier erhoben. Zerklüftete, mit Gestrüpp bewachsene granitene Steilabbrüche teilen den Wald in hohes und tiefes Gelände; Unbefugte auf der Suche nach einem Zugang zum Strand haben einen Pfad getrampelt, er verläuft ungefähr parallel zum Bach, der sich gluckernd und glitzernd durch das Sumpfland an der Grenze unseres Besitztums schlängelt. Die Steilabbrüche bilden an manchen Stellen Mulden, in denen Eindringlinge, meist Jugendliche, sich genügend geschützt und versteckt fühlen, um an ihren Zigaretten und Sixpacks zu nuckeln, die sie sich wenige Schritte entfernt besorgt haben, auf der anderen Seite der Gleise, über die die Pendlerzüge rattern. Die Stimmen und das Gepolter und Geklopf stiegen von einer Stelle auf, die durch den schrundigen, stachligen Stamm einer vor langer Zeit umgestürzten Kiefer verdeckt und von den Gleisen aus nicht zu sehen ist. Ich erspähte sie von oben – drei junge Männer mit 186
dunklem Haar und, wie es schien, kräftigen Oberkörpern, bekleidet nur mit dünnen weißen T-Shirts, obwohl die Mailuft kühl ist und nach Regen riecht. Sie sahen erschrocken auf – das menschliche Gesicht ein aufblinkendes Signal in unseren Augen, so intensiv wie der Spiegel eines Rehs –, als ich, vom unvermeidlichen Knacken toten Holzes begleitet, zu ihnen hinunterging. Ich fühlte mich nackt ohne Waffe, obgleich ich keinen Grund hatte, anzunehmen, dass sie Waffen hatten. «Kann ich Ihnen helfen?», fragte ich – die Standarderöffnung des Besitzers. Ich fühlte, wie mein Herz pumpte und mein Blut in einem aggressiv abwehrenden Reflex aufwallte. Der Sarkasmus entging ihnen. Sie sahen mich stumm an. Sie stammten nicht in gerader Linie von afrikanischen Vorfahren ab, waren aber eindeutig dunkel. Portugiesisches und spanisches Blut war auf irgendeinem nächtlich tropischen Nebenweg kurz ausgeschert und hatte olivfarbene Haut mit einem Stich ins Negroide versehen. Misstrauische braune Gesichter mit schwarzen Augen, so glänzend und verletzlich und zornig wie Deirdres oder wie die gallertige Kugel, die mich letzten Winter aus dem dahingleitenden Zugfenster angestarrt hatte. Ich formulierte meine Frage anders: «Ist Ihnen bewusst, dass das hier Privatbesitz ist?» Sie hatten angefangen, etwas zu bauen, ohne richtiges Werkzeug, nur mit einem rostigen Hammer, einer Kaffeebüchse voll Nägel und einer Bügelsäge, die zum Holzsägen erbärmlich ungeeignet war. Aus den wenigen Ästen, die sie einstweilen auf gleiche Länge gebracht und unstabil zusammengenagelt hatten, wurde nicht ersichtlich, was für eine Art von Bau es werden sollte, auf der kleinen Erhebung hier inmitten der gefurchten Granitbrocken. «Wer sagt das?», fragte einer – der Größte – zurück. «Ich fürchte, ich», sagte ich. «Diese viereinhalb Hektar 187
hier gehören mir. Wenn ihr mir nicht glaubt, kommt mit, wir rufen bei der Polizei an.» Unsere kleine Hauptstraße, mit einer blauen Telefonbox neben dem Convenience-Laden, war nur wenige Schritte entfernt, auf der anderen Seite der Gleise. Haskells Crossing heißt unser Dorf; jede Übergangsstelle der B & M-Linie zwischen Gloucester und Boston hat in den alten Zeiten ihren Namen gehabt, und manche Namen gibt es heute noch, so auch Haskells Crossing, obgleich der alte Haskell-Landsitz längst in Grundstücke von je achttausend Quadratmetern aufgeteilt ist. Diese Jungen waren den Schienen gefolgt, nach Norden, zu einem besseren Leben hin. Ein anderer kicherte, hatte aber doch genug Zweifel, wie man sich bei solch einem Treffen benahm, dass er lieber das Gesicht abwandte und seine Antwort zum grünenden Waldboden hinunter nuschelte: «Ja, machen Sie ma, Mister. Die sin ganz scharf drauf un komm gleich angerannt. Die Polizei, na klar.» Der Ältere, Größere fühlte sich auf genügend festem Boden, um einen Vorschlag zu unterbreiten. Er sprach sorgfältig. «Wir wollen uns nur ein Plätzchen zurechtmachen, für den Fall, dass es mal regnet.» «Ein gemütliches Plätzchen», sagte der andere. Er versuchte, sich meinem sarkastischen Ton von vorhin anzupassen, taxierte ich. Er war der flinkköpfige Anwalt der Gruppe. Ich hatte das Gefühl, das Besitzrecht an diesem Stück Land entglitt mir gerade. Ich sah den dritten Jungen an, den dunkelsten und schmälsten; er schien nicht viel älter als Kevin und nicht so groß. «Dieser Platz hat nichts Gemütliches», sagte ich entschieden zu ihm. «Von dieser Zeit im Jahr an wimmelt es hier von Insekten. Es gibt Giftsumach und kratzige Dornsträucher. Nachts kommen Fledermäuse.» Meinem Gefühl nach waren sie Stadtjungen, aus Salem oder Lynn, aber nicht ganz aus Boston. «Vor ein paar Jahren», erzählte ich, «waren hier tollwütige Waschbären; wenn man gebissen 188
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wurde, konnte man dran sterben.» Dass ich all das zum Jüngsten hin sprach, gab mir den Mut, dem Größten der drei ins Auge zu sehen und in gespielt gleichmütigem Ton zu sagen: «Ich schlage vor, ihr verschwindet jetzt von meinem Grundstück.» In meiner seitlich herunterhängenden Hand juckte es mich jetzt wirklich nach einem Gewehr, selbst wenn es nur das geliehene 5,6 mm gewesen wäre, mit dem ich vor fünfzig Jahren die Weidenmeise geköpft hatte. Ohne eine Miene zu verziehen, gab er mir etwas Verblüffendes zur Antwort: «Phil sagt, Sie zahlen ihm Pacht.» «Phil? Sie kennen Phil?» Ich reagierte, als ob Phil ein enger Freund wäre, so erleichtert war ich, dass es zwischen diesen Jugendlichen und der Erwachsenenwelt eine Verbindung gab. Der kleine Anwalt warf ein, als passe es ihm nicht, dass sein Mandant sich in der Sache äußerte: «Meine große Schwester kennt Deirdre. Die sagt, das issn leeres Grundstück hier.» «Das ist nicht richtig», sagte ich. «Ich wohne hier, es ist meins.» Ich schwenkte um, was wahrscheinlich verhängnisvoll war. «Es gibt sehr viele unbewohnte Grundstücke, seit dem Krieg.» Ich räumte ihnen ein theoretisches Recht auf Landnahme und Hausbesetzung ein, um sie dazu zu verleiten, sich anderswo umzutun. «In letzter Zeit nicht mehr so viele», informierte mich der Anführer in seiner ausdruckslosen Nüchternheit. Seine Lippen sahen betäubt aus, als hätten sie sich an den Worten verbrannt, die er gezwungenermaßen hervorbringen musste. «Weniger als noch vor kurzem. Leute sind auf Achse, ziehn um und so.» Der Jüngste, an den ich, meinen rührenden, dankbaren Enkelsohn vor Augen, appelliert hatte, gab mit einer jähen, weit ausholenden Bewegung seines dünnen, gelenkigen Arms eine nahezu poetische Erklärung ab: «Die ganzen Bäume und toten Felsen hier, die ham kein Sinn, für niemand.» «Sie haben Sinn für mich», erklärte ich ihm in großväter189
lichem Ton. «Für mich und meine Frau. Sie sind Teil unseres Lebensraums.» Mein Ton, oder dieser merkwürdige Begriff, brachte den Anwalt der Gruppe wieder zum Kichern, und wie um diese Entgleisung zu überspielen, plädierte er dann, seine sich weitenden Augen auf mein Gesicht geheftet und mich dazu herausfordernd, wegzusehen: «Wir ham gedacht, nur so’n kleiner Kontrollposten fürn Sommer. Wenn’s kalt wird, isser nich mehr zu gebrauchen, Hand drauf.» «Kontrollposten? Was wollt ihr denn kontrollieren?» Das war meine spontane Replik, aber es war die falsche. Ich hätte den saisonbedingten Eingriff in meine Rechte sofort zurückweisen sollen. Mit meiner Verhandlungstaktik war es nicht mehr weit her. Der Ältere lächelte – zumindest milderte sich seine stumpfe starre Einschätzung meiner Person und meiner Möglichkeiten, ein Hindernis für ihn zu sein. «Fix was los in der Gegend», lautete seine Antwort. «Er meint den Fußgängerverkehr», sagte der Anwalt. «Sie wissn es vielleich nich, Mann, aber ‘ne Menge Leute benutzn den Weg, um ans Wasser zu komm. Wir tun Ihn ein Gefallen, wir passn auf, dass die Leute nich an Ihr Haus rangehn.» «So viel Freundlichkeit, und alles gratis?», fragte ich – wieder ein Fehler, eine sarkastische Bemerkung, die als Zugeständnis aufgefasst werden musste. «Sie sagn es», stimmte der Wortführer eifrig zu, und sein Blick blieb in leuchtender Unverschämtheit auf mein Gesicht geheftet. «Keine Kosten, erstklassiger Schutz. Un wir bring hier auch ‘n bisschen Ordnung rein. Räum den Dreck weg.» Es war eine Gegend, die ich, seit meine physischen Aktivitäten allgemein etwas nachgelassen hatten, höchstens noch ein- oder zweimal im Jahr aufsuchte. In unserer Anfangszeit hier gingen Gloria und ich jede Woche an den Strand, streiften durch den Wald, schichteten Reisig auf und träumten von 190
Freudenfeuern. Vorbei. Dies Gelände war nur noch dem Grundbuch nach mein. Eine Waldstreu aus Bierdosen und Plastikwasserflaschen hatte sich gebildet. Der Anführer langte hinunter und nahm den Hammer auf. In seiner plumpen olivfarbenen Faust wurde das Werkzeug zu einer Waffe. Dickfellig sagte er: «Reden Sie mit Deirdre und Phil.» «Nein», sagte ich, in einem Ton, der sogar mir zickig und aufgeregt in den Ohren klang. «Ich werde mit meiner Frau reden. Und mit der Polizei.» «Mhm.» «Geht klar.» «Das machn Sie ma, Mister.» Alle hatten sie etwas gesagt, um sich gegenseitig zu bestärken. Die drei Jungen verbanden sich zu einer dichten Einheit, die mich mit Antigravitationswucht wegtrieb. Mein Gesicht brannte vor Wut und Angst, und mein Herz raste, als ich den Hang hinaufkletterte, der schlüpfrig war von toten Tannennadeln. Rings um mich im jungen Laub begannen Regentropfen zu ticken. Regen würde die Eindringlinge verjagen, tröstete ich mich feige. Aber ich habe Gloria gegenüber nichts von diesem gestrigen Vorfall erwähnt. Ich wollte nicht, dass sie mehr über Deirdre erfuhr, als sie sich vermutlich schon zusammengereimt hatte. Das Haus genas. Sogar die nutzlose alte Kaffeemaschine, die gestohlen worden war, hatte sich wieder angefunden, in einem Unterschrank in der Küche, hinter den selten hervorgeholten Suppenschüsseln. So viel aber sagte ich doch: ich fragte sie, ob es ihr etwas ausmache, sich von den Pientas noch einmal die Schrotflinte zu leihen. Als Erklärung gab ich an, ich hätte Rehkot im Wald gesehen. In den Vorortstraßen, wo immer noch eine gewisse Ordnung herrscht, und sogar in den Gärten jener Häuser, die verlassen und mit Brettern vernagelt oder nur noch ausgebrannte Hülsen sind, übertönt jetzt das schallende Magentarot der 191
Kirschäpfel das zurückhaltendere Pink der japanischen Zierkirschen, das dämmerige Purpurrosa des Judasbaums und das scheue, zu den Seiten hinwehende Wolkenweiß des Hartriegels. Der verkrüppelte alte Apfelbaum rechts von der Zufahrt, immer wieder gekappt, damit er nicht den Blick versperrt, hat sich hier und da Blüten in die Zweige gesteckt, dünnhäutig weiß mit einem rosa Anflug, wie der Teint eines englischen Kindes. Die Fliederrispen, vor einiger Zeit noch winzige trockene Kegel von der Farbe verhutzelter Weinbeeren, werden groß und locker und hell. Die schwellenden Azaleenknospen, näher am Haus, glänzen wie abgelutschte Bonbons. Aber so überschwänglich die Kirschäpfel unten im Dorf auch blühen, wir haben einen in unserm Garten, auf der Seite zu den Kellys hin, der ist halb tot. Mit diktatorischer Strenge die Zügel wieder straff ziehend, die ich während ihrer Abwesenheit hatte schleifen lassen, wies Gloria mich an, ihn zu fällen. «Gib ihm eine Chance», bat ich. «Er hat seine Chance gehabt», sagte sie. «Tu’s, oder ich hole den Baumdienst. Die verlangen dreihundert Welder, und wenn sie ihn in den Zerhacker stecken, sind’s nochmal dreihundert. Du jammerst doch immer über Geld, jetzt hast du Gelegenheit zum Sparen.» «Und wenn ich mir dabei nun die Hand absäge?» «Das passiert nicht», sagte sie in einem Ton grimmiger Unzufriedenheit. Widerstrebend ging ich in den dumpfigen, spinnwebigen Keller hinunter, schärfte die Kettensäge Glied für Glied mit einer stumpfen runden Feile und stellte mit Schraubenschlüssel und Schraubenzieher die Spannung neu ein. Es hat Jahre gedauert, bis ich dahinter gekommen bin, wie das geht; die Stellschraube ist nicht sichtbar, man muss sich hintasten wie beim Sex oder (denke ich mir) wie bei einer Wurzelkanalbehandlung. 192
Rasch ziehende Frühlingswolken mischten abwechselnd Schatten und Sonnenschein in die kühle, vom Meer kommende Brise. Dass der Baum halb tot war, hieß, dass er zur Hälfte noch lebte, rührend pflichtbewusst sich mühte, die Säfte steigen und Zellteilung geschehen zu lassen und dem windzerzausten, bewölkten Himmel ein paar vereinzelte Knospen entgegenzustrecken, auch wenn die unteren Zweige abbrachen wie die Finger einer Mumie. Als die Säge – gefräßig und glattgängig in den ersten Minuten, ihr Biss saftig von frischem Maschinenöl – die trockenen unteren Äste wegschnitt, geriet ich, etwas höher, an kleinere, noch feuchte Zweige mit grünem Kambium, und ich hielt erst einmal inne und rief Gloria. Sie schaute sich die runden Wunden an, aus denen Wasser austrat, und seufzte. «Ben, du passt nie auf, aber es ist jedes Jahr dasselbe. Ein Junge vom Gartendienst schneidet das Totholz heraus, und den Rest lassen wir stehn und sagen, mal abwarten, vielleicht erholt der Baum sich. Aber er erholt sich nicht, er will einfach nicht. Er ist von einem Käfer befallen, oder er fühlt sich nicht wohl an diesem Platz. Er hat sich nie wohl gefühlt. Der Wind ist zu salzig, oder der Granit ist zu nah unterm Erdreich, irgendwas. Säg ihn ab. Jetzt ist die Zeit dafür. Wir finden etwas, das hier besser gedeiht. Wahrscheinlich ein Nadelgehölz – eine Douglastanne oder eine Blaufichte.» Als sie sah, dass ich immer noch zögerte und dastand, mit einem Gesicht, das einen gequälten Ausdruck gehabt haben muss, sagte sie mit einem Lächeln, wie sie es mir seit ihrer Rückkehr nur noch selten schenkt: «Schätzchen, du identifizierst dich zu stark. Man darf nicht sentimental sein, wenn’s darum geht, eine Immobilie in Schuss zu halten. Du hast die Wahl: lass alles verkommen, und der Wert des Anwesens sinkt auf nahezu Null, oder aber du erlöst diesen sehr unglücklichen Kirschapfel jetzt von seinem Elend.» Tatsächlich bereitete es ein gewisses Vergnügen, den hilf193
losen Baum zu zerstückeln, ihn von außen nach innen zu amputieren, zuzusehen, wie seine abgetrennten Glieder sich in immer höherem Gewirr auf dem Rasen häuften, und den Stamm dann, so wie er dastand, ein großer Stumpf, in kamingerechte, etwa dreißig Zentimeter lange Stücke zu zerlegen. Die Säge hakte, verklemmte sich im nassen Holz. Der arme Baum schickte immer noch Saft zu Phantomknospen hinauf. Ich schleifte die Äste zur Verbrennungsgrube und schichtete die Kaminstücke in der Garage auf mit der Absicht, sie an einem Wintertag in Scheite zu spalten. Auch ich war halb tot, aber meine andere Hälfte war lebendig und hatte gesiegt. Der Baum war mein Bruder gewesen, jetzt war er mein gefallener Feind. Ich weidete mich an seinem verstümmelten Leichnam und steckte das Kettensägeblatt in die orangefarbene Plastikhülle zurück, auf der STIHL stand. Das war vor einigen Tagen, während des zaghaften Keimens einer neuen Jahreszeit. Heute ist es Sommer geworden, obgleich wir noch Mai haben. In Boston, hieß es im Fernsehen, betrage die Temperatur zweiunddreißig Grad, und an der Nordküste sei sie kaum geringer. Die Atmosphäre eines anderen Planeten hat die Herrschaft übernommen. Der Kühlschrank arbeitet so sehr, dass er schwitzt. Die See sieht eingesunken aus, speckig, wie die konkave Unterseite eines Silberbarrens. Der Flieder explodiert in blassem Violett und erschlafft, sodass die Zweige überhängen, zur Zufahrt hin, und die Flanken der Lieferwagen streifen, die sich in einem Dunst aus Abgasen und Pollen zum Haus heraufmahlen. Gloria trägt ein raffiniertes Sommerkleid, das sich ihr eng um die Hüften schmiegt, und entschwindet nach Boston. Sie überlässt es mir, die Sturmfenster hochzuschieben, die Fliegengitter herunterzuziehen und in unserem Schlafzimmer das Klimagerät zu installieren. Es überwintert im Wandschrank unter der Treppe zum Dachgeschoss, neben der alten 194
Kommode – ein Überbleibsel aus meiner Ehe mit Perdita und eines der wenigen Möbelstücke im Haus, die ich mein Eigen nennen kann. Als ich den Apparat hochwuchte und in den Armen halte, ist er zehn Pfund schwerer als letztes Mal; ihn durch drei Türen zu tragen und im offenen Fenster abzusetzen, wo er kippelig auf den Aluminiumrippen hockt, in denen der Rahmen des Fliegengitters arretiert wird, geht fast über meine Kraft. Aber das Jahr, da ich ihn nicht mehr heben kann, wird in einem Quantensprung meinen Tod näher bringen, also bewältige ich die Aufgabe, keuchend, fluchend und sogar orgasmische Schreie ausstoßend in meiner äußersten Muskelanstrengung. Gloria ist, als Publikum, nicht anwesend, aber sie ist anwesend in meinem Kopf; ich will erreichen, dass sie sich in absentia schuldig fühlt – ein hoffnungsloses Spiel. Von einem gewissen Alter an ist die Ehe größtenteils, in ihren bitteren wie auch in ihren zarten Augenblicken, ein mentales Spiel von Angriff und Abwehr, ausgetragen am Rand des Grabes. Wenn sie mich tot vorfindet, gestorben an einem Herzanfall, mit dem Klimagerät in den Armen, wird sie sich das nie verzeihen: gut. Warum besteht sie auch darauf, dass das Ding installiert wird, wenn wir in zwei, drei Tagen doch wieder kühles Wetter bekommen. Es gibt einen magischen Moment, während der schwere Kasten auf den Aluminiumrippen schwankt und ich mich mit einer Hand abmühe, den hölzernen Schieberahmen herunterzulassen, damit er hinter dem Gehäuse des Klimageräts einrastet: wenn sich da mein schweißfeuchter Griff lockert, kracht die ganze komplizierte, sperrige Chose ein Stockwerk tief auf die Steinplatten hinunter und geht widerwärtig zu Bruch. Auch das wäre gut, es würde Gloria eine Lehre sein. Aber bis jetzt ist es nicht passiert. Und es wird auch dies Jahr nicht passieren. Als das Metallmonstrum sicher sitzt, ziehe ich die Ziehharmonikafalten aus Kunststoff aus, die, in 195
Metalllöcher geschraubt, die restliche Fensterbreite ausfüllen, stöpsele den wichtigtuerischen, mit drei Kontaktstiften versehenen Stecker in die Steckdose, die den ganzen Winter über auf diesen Augenblick wartet, stelle das kühlende Summen an (ein leises Rasseln darin, als müsste der Apparat sich mal räuspern) und verlasse das Zimmer. Gloria ist diejenige, die unbedingt eine Klimaanlage braucht; der Hottentotte, der tief in mir versteckt ist, der afrikanische Großvater, liebt die Hitze pur – feuchtigkeitsschwer, träge machend, die Glieder liebkosend wie ein glattes loses Gewand. Draußen vor den Fenstern hat die Hitze vielfältige neue Gerüche aus der Natur gepresst, modrige Düfte nach wieder einsetzender Fäulnis und sich ausbreitendem Gerank. Die Bäume haben jetzt etwas Lotteriges, Überladenes. Sogar die Eichen, die immer die Letzten sind, haben sich zusätzlich zu ihren hängenden gelben Kätzchen mit rot überflogenen, gezackten und reich gelappten kleinen Blättern geschmückt. Animiert durch meinen siegreichen Kampf mit dem Klimagerät wagte ich mich in den Wald, wo ich aus nächster Nähe Klopfen und Lachen hörte. Die Akustik in dem Gelände hier ist so, dass Stimmen und Radiomusik aus dem Ort auf der anderen Seite der Gleise manchmal verblüffend nah klingen; aber die Geräusche, die ich jetzt hörte, schienen unmittelbar zu meinen Füßen aufzusteigen. Ich nahm das Gewehr mit. Insektenschwärme sind unter den dichter werdenden, schattigen Blätterdächern erwacht. Auf dem Fußboden im Bad lag heute Morgen ein toter Tausendfüßer, halb zerdrückt, als sei jemand aus Versehen drauf getreten. Ich schaute ihn mir an, ratlos ob der schrecklichen verknäulten Kompliziertheit, aus der das Leben gewichen war, und zu zimperlich, die Finger zu benutzen, nahm ich ihn mit Handfeger und Schaufel auf, kippte ihn in die Toilette und spülte ihn weg. Bevor es die Toilette mit Wasserspülung gab, haben die Menschen da eigentlich auch nur annähernd eine Idee 196
vom Ende der Welt gehabt? Dutzende kleiner Eintagsfliegen wurden von meinem Schweiß angezogen. Geboren für einen einzigen Tag, waren sie verrückt nach mir; ich war die Liebe ihres winzigen Lebens. Die Eindringlinge hörten meine Schritte, obwohl ich versucht hatte, mich anzuschleichen. Zu den drei graubraunen Gesichtern, noch dunkler jetzt, da der Schatten sich vertieft hatte, war ein viertes gekommen, heller, aber doch schmutzig wirkend im dämmerigen Licht unterhalb der Steilabbrüche hier, nahe dem Trampelpfad, der parallel zum weiter unten sickernden Bach verläuft. Dieses vierte Gesicht war weiblich, es gehörte einem mageren jungen Mädchen. Die kleine Hütte war erbärmlich, eine wacklige Bude, zusammengenagelt aus heruntergefallenen Ästen, die einsturzgefährdeten Wände abgestützt von gegabelten Zweigen, die unter dem besonders schweren Schnee des letzten Winters abgebrochen waren und noch Herbstlaub trugen. Als Dach dienten große Reststücke von Gipskartonplatten, die sie wahrscheinlich im Müll eines hiesigen Umgestaltungsprojekts gefunden und quer über die Gleise hergeschleppt hatten. Die würden sich nicht lange halten, ein tüchtiger Regenguss, und sie wären hin, wollte ich gerade sagen, aber als ich ins Innere linste, sah ich ein im Großen und Ganzen gemütliches Plätzchen, gestreift mit Licht und möbliert mit ein paar Gartenstühlen aus Metallgeflecht, die sie irgendwo in der Nachbarschaft gestohlen hatten – nicht bei mir, sah ich mit einem Blick. Meine hatten weitere Maschen und waren sicher in der Scheune verstaut. Wo beschliefen sie das Mädchen, falls sie’s taten? Ihre Anwesenheit unter ihnen gab unserer Begegnung eine neue Spannung. Sehnig und schmutzig, war sie doch zum Anknabbern, schlank und gerade gewachsen, knochige Hüften, von engen zerrissenen Jeans umschlossen, und straffe Brüste, die sich spitz unterm baumwollenen T-Shirt abzeichneten. Sie hatte ein eckiges Kinn und einen hell bewimperten 197
Blinzelblick. Keiner stellte sie mir vor; ich nickte ihr zu. Ihre Anwesenheit nötigte uns zu einer gewissen Höflichkeit und verbreitete zugleich ein Aroma von Gefahr und Rivalität. Ich trug, wie von ungefähr, Charlie Pientas Schrotgewehr unterm Arm. «Ihr habt eure Festung also fertig», sagte ich. «Das is keine Festung», sagte der größte Junge, der Anführer. «Wir benutzen das hier bloß, um den Weg zu überwachen.» «Und was sehn Sie?» Als ob ich sein Hauptmann wäre und er mir Meldung machte. «Bis jetz nich viel», sagte er nach einer Pause, in der er sich damit herumschlug, ob es nicht falsch war, irgendwie verkehrt, dass er auf meine Frage überhaupt einging. Sein Vize, der schnellzüngige Anwalt, witterte eine Gelegenheit, mich für die Truppe anzuwerben. «Bis jetz nich viel, aber bei dem schön Wetter, und wo die Schule demnächs aus is, da laufen hier Massen lang, is doch klar. Bei uns komm die nich durch.» «Was wollt ihr denn machen?», fragte ich, ehrlich neugierig. «Sie zurückschicken, Mann.» «Und wenn sie sich nicht zurückschicken lassen?» «Wir ham unsere Methoden», sagte der Große, als sein Vize schwieg. «Na, das ist ja sehr nett», sagte ich und lächelte das sehnige blonde Mädchen an, als könnten wir beide, sie und ich, uns einen Spaß auf Kosten dieser dunkelhäutigen Ganoven machen. «Das ist mehr, als die Polizei je getan hat.» «Polizei», sagte der Jüngste, der, welcher mich an meinen ältesten Enkelsohn erinnerte. «Ham Sie die einglich angerufn weng uns? Wollten Sie doch machn, oder?» Ich wandte mich zu ihm hin, überrascht und gekränkt von seiner Herausforderung. «Das hebe ich mir noch auf. Ich dachte, ich gebe euch erst die Chance, freiwillig das Feld zu 198
räumen. Euch ist doch klar», fuhr ich fort, und meine Augen kehrten zu dem Mädchen zurück, das etwa vierzehn war und näher an den großen stummen Anführer heranrückte – sie gehörte zu ihm, bedeutete diese Geste –, «dass eure kleine Hütte hier in zehn Minuten abgerissen werden kann. Es sollte mich nicht wundern, wenn sie eines Morgens, wenn ihr aufkreuzt, verschwunden ist. Wie seid ihr überhaupt hergekommen nach Haskeils Crossing?» «Bahn», sagte der Anführer, als bewege das blasse Mädchen an seiner Seite ihn mit respektvollem Druck dazu, den Mund aufzumachen. «Aus Lynn.» Der kleine Anwalt beeilte sich, die Bresche zu reparieren, die dieses Zugeständnis möglicherweise in seine Sicherheitsvorkehrungen geschlagen hatte. «Von jetz an schläft einer nachts hier», ließ er mich wissen. «Wenn hier irngwas abgeht, krichters sofort mit.» Ich schob mir das Gewehr unter den anderen Arm und warf verstohlen einen Blick hinunter, um zu sehen, ob es noch gesichert war. Das Letzte, was ich wollte, war, dass sich aus Versehen ein Schuss löste; aber meine innere Spannung schien imstande, den Abzug zu betätigen, ohne dass ich ihn berührte. «Ich war noch nicht bei der Polizei», sagte ich. «Aber das nächste Mal, wenn ich Spin und Phil sehe, werde ich mich beschweren. Ich zahle ihnen gutes Geld dafür, dass sie mir Leute wie euch vom Hals halten. Sie müssten jeden Tag vorbeikommen.» Jetzt, da ich das sagte, fiel mir auf, dass sie schon einige Tage überfällig waren. Der Anwalt lächelte, ein gewinnendes Lächeln, das seine Oberlippe hochkrempelte und viel violettes Zahnfleisch sehen ließ. «Wolltn wir Ihnen grade mitteiln», sagte er, «Phil und Spin komm nich vorbei. Wir solln für sie kassiern. Wir ham denen ihre Vollmacht.» «Phil und Spin», sagte der Jüngste und machte eine ausgreifende Armbewegung nach oben hin, als hätten die Geis199
ter der beiden sich in den Baumwipfeln niedergelassen, «die vergemb jetz Aufträge! » «An Subunternehmer», erläuterte der Anwalt. «Sie sin jetz ‘ne Nummer zu groß für Kassierkram, desweng ham sie uns geschickt. Sie sin ‘n echt guter Kunde, ham sie gesagt, einer, der kein Ärger macht. Bein paar von denen muss man bisschen nachhelfn.» Ich war wieder da, dachte ich in einer jähen Glücksanwandlung, war wieder in meinem Büro bei Sibbes, Dudley und Wise und führte Verhandlungen – schindete Prozentpunkte, suchte nach Schwachstellen. Formen mussten gewahrt werden, Verfahrensordnungen waren einzuhalten. «Woher weiß ich, dass Sie berechtigt sind, für Phil und Spin zu handeln?», fragte ich. «Zeigen Sie mir ein Schriftstück.» «Zeing Sie uns Phil und Spin», sagte dieser im Werden begriffene Anwalt. «Wenn Sie mein, dass die kassiern komm, wo sin die denn?» «Der Umstand, dass sie nicht hier sind, beweist nicht, dass sie Sie beauftragt haben», sagte ich. «Ich möchte eine schriftliche Vollmacht sehen, ein Dokument, das Spin unterzeichnet hat.» «Wir gehn nich so nach Dokumenten», wurde ich belehrt, «wir gehn mehr nach dem, was Tatsache is. Tatsache is, Phil und Spin hörn auf.» «Hören auf», sagte ich, mich wappnend gegen den auffrischenden kalten Wind der Bedrohung. «Soll das etwa heißen, dass ihr jetzt das Revier übernehmt? Kinder wie ihr? Ihr habt es mit Erwachsenen zu tun, Jungs.» Ich verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, wie ein Golfspieler, der sich für seinen Schlag zurechtruckelt, und der Gewehrlauf schwenkte leicht, in einer Linie, über ihre Knie hin. Sie hielten den Atem an. Dann sagte der Größte der drei: «Sie ham ‘ne Scheune da oben, nich?» 200
Ich war so verblüfft, dass ich nicht gleich reagierte. «Wir sind oben gewesen», half er nach. «Hübsche alte Scheune mit Schindeldach und Pferdeboxen.» «Aus den Pferd-und-Buggy-Tagen», sagte ich. «Anfang voriges Jahrhundert. Zwanzigstes Jahrhundert, verstehn Sie.» Ich vermutete, dass sie von Geschichte, von Zeit nicht viel Ahnung hatten. «Bevor das Auto sich durchsetzte, haben die Leute noch Buggys gehabt, die von Pferden gezogen wurden. Ist euch das Wort ein Begriff?» Warum wollte ich diesen Jungen etwas beibringen? Meinen Enkelsöhnen gegenüber drängte es mich nie dazu. «War ‘n Jammer, wenn die Scheune abbrennt», sagte der Große. «Sind ‘ne Menge hübsche Sachen drin.» So hübsch waren sie eigentlich nicht – Junggesellenmöbel, die Glorias Söhne bei ihrem sozialen Aufstieg nicht mehr hatten gebrauchen können, ein paar alte Schrankkoffer mit gewölbten Deckeln und ein zerlegtes Bettgestell aus Ahornholz vom Dachboden meines Elternhauses, eine in verschnörkeltem Goldrahmen steckende Fotografie meines schnurrbärtigen Großvaters, die ich nicht der Historical Society in Pittsfield vermacht hatte, überzählige oder kaputte Gartengeräte, in Kartons verpackte Bücher, die auf den Regalen im Haus keinen Platz mehr hatten. Gerumpel, aber Stück für Stück mit meinem Leben verbunden: eine schreckliche Vorstellung, es könnte in Flammen aufgehen. «Sie sagen also, Sie wollen meine Scheune niederbrennen», stellte ich fest, um die Verhandlungen auf den Punkt zu bringen. «Da hatter kein Wort nich von gesagt», mischte der Anwalt sich ein. «Er hat bloß gesagt, was’n elender Jammer, wenn’s mal Feuer inner Scheune gibt. Nich viel Wasserdruck da oben aufm Berg, falls die Futzis vonner Feuerwehr überhaup komm. Die Finanzdecke bein öffentlichen Diensten is zur Zeit mächtich dünn. Haskells Crossing kann anscheind 201
nich mal das Benzin bezahln für die Löschfahrzeuge, diese großn olln Pumpdinger, die sie noch von früher ham.» Ich war beeindruckt von seinem reichen Wissen in Verwaltungsdingen, wandte mich aber an den Großen, den sein Kumpan, wie ich zu spüren meinte, unterschätzte und überfürsorglich verteidigte. «Wenn ich euch das Schutzgeld zahle, woher weiß ich, dass Spin und Phil nicht auch noch kommen und kassieren wollen? Ich kann nicht doppelt bezahlen. Das wäre nicht fair.» Zumindest so viel war noch übrig von den Vereinigten Staaten nach dem Chinesischen Krieg: der Glaube an Fairness, an elementare Rechte, die jedem, ungeachtet seines Glaubens und seiner Hautfarbe, garantiert waren. Die Jungen akzeptierten meinen Standpunkt, aus großen Augen mich ansehend im lichtgesprenkelten, höhlenartigen, von Insekten durchsummten Wald. Mittag war vorbei, der Schatten wurde tiefer und machte die Luft feucht, und die Mücken hatten zu stechen begonnen. Jeder von uns musste sich im Lauf der Konferenz hin und wieder mit der Hand das umsirrte Gesicht freiwedeln oder sich auf einen nackten Arm schlagen, der gerade gestochen wurde. In einem Universum, das in seinen subatomaren Parametern nur eine winzige Spur von diesem hier abwiche, überlegte ich, hätte die Zeit gerade für die Evolution von Mücken und Nacktkiemerschnecken gereicht, bevor die Sonne gigantisch expandierte und dann titanisch kollabierte. «Ich musste um eine Quittung bitten», sagte ich, «und um die schriftliche Zusicherung, dass niemand sonst mich belästigt.» Der Vize sagte: «Is nich so unser Ding, Zusicherungn und Quittungn – wir unterschreim nichts, was die Polizei gegen uns benutzn könnte.» «Sie haben mir gesagt, es gibt keine Polizei», erinnerte ich ihn. Das blasse Mädchen musste lächeln. «Sind noch genug da, 202
um einen zu nerven», sagte sie. «Aber das ist auch alles, was sie können.» Dass sie plötzlich redete, schien uns alle auf derselben Seite einer stillschweigend zwischen den Geschlechtern gezogenen Trennlinie zu vereinen. Energisch sagte ich zu ihnen: «Wenn ihr ins Geschäft kommen wollt, müsst ihr euch Geschäftsmethoden aneignen. Ihr müsst eine Vertrauensbasis schaffen. Für nichts kriegt ihr nichts von den Leuten, egal, was für eine Welt das ist.» Als hätte diese Einführungslektion mich fürs Erste weiterer Verpflichtungen enthoben, wandte ich mich dem mageren Mädchen zu und fragte wie auf einer Party: «Und wie heißen Sie?» Sie hatte rauchgraue, misstrauische Augen, ins Grünliche spielend. Ihre Nase war gerade, die Nasenflügel sahen ein wenig wund aus. Die Lippen waren schmal und ungeschminkt; sie verzog sie, angesteckt von meiner Höflichkeit, zu einem Lächeln, aber von der Seite zu ihren Gefährten hinsehend, nahm sie sich sogleich wieder zusammen. Im trüben, von wirbelnden, stechenden Insekten durchwölkten Licht wurde der gesprächigste der drei Jungen kindlicher und aggressiver, als die Fähigkeit des Mädchens, eine andere Sprache zu sprechen, ins Spiel kam. Er reckte herausfordernd sein ovales Gesicht zu mir hoch und schob die Lippen vor. «Sie muss keim Mensch sagn, wie sie heißt», sagte er. «Doreen», sagte sie, leise, aber bestimmt. «Stammen Sie von hier?», fragte ich sie. Meine Cocktailparty-Artigkeiten schienen ihre Beschützer sprachlos zu machen. Ich wollte wissen, und sie spürte das, was sie mit diesen finsteren Strolchen zu tun hatte. «Nicht weit von hier», gab sie zu. «Eine Pfadfinderin», wagte ich mich vor. Eine, die die Eindringlinge aus Lynn mit dem hiesigen Gelände vertraut machte. Ein weiblicher Judas. 203
Meine Höflichkeit, meine gesetzte, reife Art verlockten sie nicht mehr. «Das sind meine Freunde», wies sie mich scharf zurecht. Ich stellte sie mir nackt in der lose zusammengenagelten Hütte vor, mit dem größten, schwerfälligsten der drei Jungen, während die beiden anderen Wache hielten. Sie würde ihm dienen, unerfahren, ungeschickt, aber ihm dienen. Ich grollte ihr, denn ich wusste, in der kommenden Nacht würde ich neben der ahnungslos schlafenden, von Boston erschöpften Gloria liegen und mich sehnen, nach ihr, nach diesem blassen Waldsonnenlicht, wie ich mich kaum noch nach etwas sehnte. Ich würde mich von der linken auf die rechte Seite drehen und wieder zurück und mir ausmalen, wie Doreen und ich im gestreiften Licht dieser wackligen, von Krabbeltieren wimmelnden Hütte lägen. Ich würde dem Drang widerstehen, mir Erleichterung zu verschaffen, und nicht Hand an meine Genitalien legen – Klumpen von obsoleter Bedeutung in runzligen, aus dünnster Haut gemachten Beuteln –, denn Gloria würde den Spermafleck entdecken, wenn sie das Bett machte. Ich würde wieder zum verklemmten pubertierenden Knaben werden, der schlaflos dalag, voller Angst vor unsichtbaren Mächten in jenem engen Haus auf dem Hügel oberhalb von Hammond Falls. Ich bezweifelte, dass Doreen mein Verlangen spürte, es wäre ihr auch zu lächerlich vorgekommen. Aber mag sein, dass ich mich geirrt habe. Ich habe nie für mich geklärt, wieweit Frauen sich männlichen Begehrens bewusst sind – ihr eigenes Geschlecht ist so geheimnisvoll zwischen ihren Beinen versteckt – und inwiefern sie einfach so dahintreiben und auf ein plötzliches Hereinbrechen warten, dessen Unvorhersehbarkeit Teil seines Reizes ist. Die Verhandlungen konnten so nicht weitergehen. «Ich brauche einen Beleg dafür, dass ihr berechtigt seid, für Spin und Phil zu kassieren», sagte ich und war mir im selben Au204
genblick nicht sicher, ob ich es wirklich ausgesprochen oder bloß gedacht hatte. Im einen wie im andern Fall ging mein Durchsetzungsvermögen in den feuchten Höhlen des dichter werdenden Grüns verloren, als ich, das tröstliche Schrotgewehr unterm Arm, den schlüpfrigen Hang zu meinem Haus hinaufging. Hummerfangboote, leuchtend weiß im gläsernen blauen Morgen, mit roten Scheuerleisten, sind wieder in der Bucht aufgezogen, Schildwachen ihrer beharrlichen, barbarischen Ernte. Jeder Nadelbaumzweig ist fransig mit frischen hellen Trieben gesäumt; die Österreichischen Schwarzkiefern haben zolllange Kerzen aufgesteckt, alles, so scheint es, in wenigen warmen Tagen. An der Zufahrt blüht Sibirische Wieseniris, die unbekümmert ins Taglilienbeet vorgedrungen ist; die komplex gefalteten Köpfchen von imperialem Purpur erheben sich auf schlanken Stielen über den kreuz und quer durcheinander liegenden langen schmalen Blättern, deren Auftauchen als einzelne heraldische Schwertlilien ich vor wenigen Wochen erst so begierig vermerkt habe. Auf dem Rondell an der Vorderseite (Gloria würde sagen, an der Rückseite) des Hauses beugen sich die dünnen Zweige der Brautspieren tief unter ihren weißen Blüten, und der Enkianthus hat seine rötlichen, beerengroßen, von den Bienen geliebten Glöckchen herausgehängt. Eben noch sind die dicken, turbanförmigen Rhododendronknospen so prall, als wollten sie platzen, und am nächsten Tag schon haben sie sich weit geöffnet, gesellen ihre Farben zu denen der Azaleen und des noch nicht verwelkten Flieders und häufen Uberfluss auf Luxus. Gibt es denn Bienen in solchen Schwärmen, dass sie so viel Pollen, so viel Nektar überhaupt verarbeiten können? Dieser bedenkenlose Juniansturm – der Mond voll und cheddarfarben von Osten her über dem Wald aufsteigend, der wachsame Torus um sieben in der Frühe blass wie ein Was205
serzeichen in teurem blauen Briefpapier, die trockene Wabe am deutlichsten zur Mittagszeit, unerreichbar und verlassen auf ihrer Umlaufbahn. Gestern Abend hat es geregnet; während des Essens konnten wir durch die Küchenfenster das weiche Niederströmen sehen, das durch den abendlichen Temperaturrückgang ausgelöst worden war; das späte Licht wurde verdunkelt vom Regenvorhang, dessen Silberfäden sich verdickten und vor dem Hintergrund aus inzwischen geschlossenem Grün schimmerten wie gezupfte Harfensaiten. Am Morgen war der trocknende fleckige Asphalt der Zufahrt mit zerschlagenen Azaleenblüten bestreut. Ich holte Milch und Orangensaft im so genannten Convenience-Laden wohl eher deren Bequemlichkeit als unsere, scheint mir –, und als ich wieder hinausging (bei dem schönen Wetter jetzt muss man über Kinderwagen steigen, die unmittelbar vor der Tür abgestellt sind, und ungehobelten Jungen ausweichen, die schlapp auf ihren Skateboards hocken und an Schokoriegeln und Sodawasserdosen nuckeln), fuhr ich zusammen beim Anblick einer langbeinigen Frau in Shorts: ihr Haar war unaufdringlich schick von grauen Strähnen durchzogen, und in ihrem Gesicht sprang ein Lächeln auf, das wie eine Reklame für gewissenhaftes Benutzen von Zahnseide war. Kannten wir einander? Ich glaube nicht, aber es hätte gut sein können. Ihr schlanker, zielstrebig in Form gehaltener Körper, die appetitlichen hellbraunen Bermudashorts, das kanariengelbe Polohemd, die dezenten Perlohrringe, alles zeugte von der kultivierten, legeren Klasse, zu der ich unbedingt hatte gehören wollen. Wir hätten uns in Korridoren mit feudalen schalldämpfenden Teppichböden begegnet sein können, bei einer tempogeladenen zwanglosen Zusammenkunft in einer Wohnung in Boston vorm freitäglichen Sinfoniekonzert oder an der gestreiften Aschenbahn beim Leichtathletikwettkampf in einer Mädchentagesschule, sie jung genug, um meine Geliebte zu sein, aber alt genug, um mehrere Ehen hinter sich ge206
bracht zu haben, nach denen sie jeweils betuchter gewesen war als vorher. Oder vielleicht war sie ihrem ersten Kotillonpartner treu geblieben, und gemeinsam hielten sie sich abseits beim Zergehen der Welt, als ließen sie einen schnellen Tanz aus, der nicht nach ihrem Geschmack war. Sie begnügten sich mit einem sanft abfallenden Rasen, einem beheizten Swimmingpool, zwei gleichen Autos der Marke Mercedes mit putzigen Plaketten, auf denen ER und SIE stand oder KATER und KATZE. Wir gingen aneinander vorbei auf dem mit Sodawasser bespritzten Bürgersteig, und vielleicht spürte sie, zwischen ihren Beinen oder im limbischen System hinten in ihrem Gehirn, dass ich sie anbetete. Sie zuckte ganz leicht zusammen, oder straffte sich, als müsste sie durch eine automatische Tür. Ich hätte mehr getan, als für sie zu sterben – ich hätte für sie gelebt. Von armer Herkunft, bin ich offenbar fasziniert von Leuten der Oberschicht. Träge akzeptieren sie mich in ihrer Mitte, zu sicher in sich selbst ruhend, um sich darum zu scheren, dass ich insgeheim ein hämischer Fremdling bin. Die Golfsaison hat begonnen, und ich bin drei- oder viermal in der Woche drüben im Club, kreuze zum Lunch auf, mische mittwochs und samstags bei den Viererrunden mit. Manche dieser Männer sind nie einem Beruf nachgegangen. Ihre Lebensstadien sind durch eine ununterbrochene Folge von Spielen markiert: das Kind wird von seinen Kindermädchen mit Krocket und Federball vertraut gemacht und bekommt dann Tennis-, Segel- und Reitstunden; der Internatsknabe stählt sich mit Fußball, Eishockey und Lacrosse; der Collegestudent wird dazu überredet, seine Knochen als Lineman beim Football zu riskieren und seine Sehkraft und Nervenstärke im Baseballteam zu beweisen, indes Skilaufen an bierseligen Wochenenden in den White Mountains ihm zur zweiten Natur wird und er sich während rumgeschwängerter Winterferien in den Tropen spielend an den Unterwasserrausch beim Ge207
rätetauchen gewöhnt; der vorstädtische Ehemann tut sich mit seiner Frau zum Paddle-Tennis zusammen und tritt gegen seinen einstigen Zimmergenossen vom College beim Squash an; der Herr vom Lande, zehn Pfund schwerer und mit rosigerem Gesicht, gibt sich den physisch leichteren, finanziell aber gewichtigeren Vergnügungen von Polo und Regattasegeln hin; der fällige Mann von deutlich reiferen Jahren begeistert sich für die fußgängerische Herausforderung beim Golf und für das gesetzte, überschaubare Hin und Her gemischter Doppel am Sonntagvormittag; und der krummschultrige Alte, immer noch erfreulich konkurrenzorientiert, sucht den Kitzel des Wettkampfs bei Billard, Bridge, Backgammon und, ja, wieder bei Krocket, in einer formelleren, weiß gekleideten Version. Als der heilige Petrus noch die Himmelspforte bewachte, wie hätte er wohl diese so ganz an geregelte Lustbarkeit hingegebenen Leben beurteilt? Nicht zu reden vom zeitverschlingenden Getue um die feinen Details persönlichen Komforts, angemessener Kleidung, exklusiver, von Gleichgesinnten aufgesuchter Ferienorte und dreier elegant genug zelebrierter Mahlzeiten pro Tag? Nichts geleistet, hätte Petrus wohl in sein goldenes Hauptbuch eingetragen und mit seinem nie versagenden Engelsfederkiel einmal mehr einen Kandidaten in den endlosen, rot liniierten Spalten der Verdammten angekreuzt. Doch nein; seine Himmelsfeder zögert über dem sanft leuchtenden Pergament, er bewegt sie über den Bundsteg des Hauptbuchs zur gegenüberliegenden Seite, schreibt mit lächelnder Entschiedenheit: Keinen Schaden angerichtet und macht ein Häkchen in der azurblauen Tabelle der Geretteten. Die Auserwählten von New England halten das für eine Selbstverständlichkeit, und es ist schwer vorstellbar, dass der Himmel ihnen etwas Besseres bieten könnte, als sie schon zu Lebzeiten haben. Die Seelen dieser rein dekorativen Männer sind wohl gerüstet für die heitere Monotonie 208
der Chöre zu Gottes Lob und Preis, bei der Sünder, die an Abwechslung in ihrem irdischen Dasein gewohnt sind, verrückt werden würden. Der Sommerzyklus der Wochenendvierer und Seniorenturniere, Zeitvertreib für uns alte Knacker, hat begonnen, und letzte Woche musste ich in der Endrunde gegen meine Kumpel Red Ruggles und Ken Dixon antreten. Mein Partner war der nette, mir nicht näher bekannte Fred Hanover, der beträchtlich älter ist als ich, was schon genügt, mich für ihn einzunehmen. Er war mal Clubmeister. Überlegene Könnerschaft blitzt auf, dann wieder trifft er den Ball mehrfach hintereinander zu hoch und wird verfolgt vom Geräusch des Schrittmachers in seiner Brust; es fällt ihm schwer, nicht auf seinen Herzschlag zu lauschen, während sein Leben mechanisch vertickt. Er und ich hatten gleichzeitiges Schlappmachen vermieden und funktionierten gut genug zusammen, um zwei vorherige Gegnerpaare zu schlagen. Aber gegen Red und Ken zu spielen war merkwürdig, an diesem Sonntagmorgen, als das Gras noch nass war und ein kalter Wind mir durch die schlecht ausgewählten Golfshorts schnitt. Wir schlugen in einem Gestöber von Herzlichkeit ab, aber am zehnten Abschlag, bei Lochgleichstand, hatte ich keine Schwierigkeiten, unsere Gegner zu hassen. Ich hatte unzählige Runden zusammen mit den beiden gespielt, und die Wut, die seit langem in mir schwelte, entzündete sich jetzt lichterloh: Wut auf Reds schlampiges, kraftstrotzendes Drauflosdreschen – seine Unterarme dick und muskulös von jahrelangem Fischeschuppen und Austernknacken – und auf Kens überbedächtigen, zeitraubenden Stil, als ginge er im Geiste eine lange Checkliste vorm Takeoff durch. Während der pensionierte Pilot minutenlang, so kam es mir vor, über den Ball gebeugt dastand, bevor er ihn mit seiner rasend machenden mechanischen Präzision in die Luft beförderte, konnte ich nicht aufhören, seine Schuhe anzustarren und sie zu verab209
scheuen, weiße Schuhe, die eigentümlich dicke Sohlen hatten, wie der eine erhöhte Schuh, den ein Krüppel trägt, um das Hinken abzumildern. Aber das hier waren zwei, zwei Schuhe von übertriebener Schuhhaftigkeit, wie die Schuhe in altmodischen Comicstrips, obschon unanfechtbar seriös und weiß. Trotzdem, irgendein unfairer Vorteil schien im Spiel, oder eine hinterlistige Überheblichkeit, denn als ich endlich dran war und am zehnten Loch, einem Par fünf, meinen Drive schlug, gelang es mir nicht, beim Rückschwung eine ungeduldige Hast zu zügeln und beim Abschwung den übereifrigen Einsatz der rechten Hand und das Flattern des rechten Ellbogens zu verhindern. Der Ball zog nach links, bog dann aber, infolge der miserablen Schlagtechnik, nach rechts aus und flog in die Mitte des Fairways zurück. Ich setzte mit diszipliniertem Rückschwung das Fairway-Holz ein und hob den Ball über die Hindernisse und Erhebungen hinweg bis auf fünfzig Yard ans Grün heran. Fred verpatzte, nach einem guten Drive, seinen zweiten, dritten und vierten Schlag, sah jedes Mal auf, stieß einen gequälten Jaulton aus und machte eine erregte Handbewegung, als wolle er sich das tickende Herz aus der Brust reißen. Sein fünfter Schlag ging in den Querbunker, und er nahm den Ball auf; das Loch blieb mir überlassen. Ken und Red waren beide nur mit Mühe vorangekommen, und es sah so aus, als ob das Loch mit einem Par zu gewinnen wäre. Der Flaggenstock war vorn links, vielleicht zwölf Fuß weit auf dem Grün. Ich plante, dem Ball einen geschickten kleinen Stoß zu geben, sodass er zweimal im mittelkurzen Gras aufkommen und beim zweiten Mal aufs Grün dribbeln und dicht ans Loch heranrollen würde. Ich hatte das Ganze so deutlich vor Augen wie eine schraffierte, kolorierte Illustration in einem Golf buch. Fred schlurfte an meine Seite mit seinem freundlichen, sonnengegerbten Sportsmanngesicht, sein dichtes, strohiges, ausgebleichtes Haar verstrubbelt vom 210
Wind. Er sagte drängend, mit leiser Stimme: «Peilen Sie die Mitte vom Grün an, Ben. Bringen Sie ihn sicher rauf.» Er hatte an den beiden vorherigen Tagen keinmal den Versuch gemacht, mir einen Rat zu geben, so sehr ich möglicherweise einen gebraucht hätte. Er stand unter Druck und übertrug ihn auf mich. Mein schlauer kleiner Stoßschlag, der mir als bereits vollbracht in den Händen gekribbelt hatte, während sie leicht den Pitching-Wedge umschlossen hielten, löste sich in Luft auf. «Meinen Sie wirklich?», sagte ich. Der ehemalige Clubmeister blieb fest. «Bringen Sie ihn auf den Tanzboden», sagte er und presste Ober- und Unterkiefer aufeinander, als ob das die letzten Worte in seinem Leben wären. Meisterlich selbstbeherrscht ging ich den Chip nicht energisch an, sondern schnippte ihn über den sicheren, kurz gemähten Teil des abfallenden Rasens, sodass der Ball aufs Grün hüpfte und fünfundzwanzig Fuß vom Loch entfernt liegen blieb. «Spitze», knurrte mein Partner dankbar. Er war während der beiden Tage so sorglos gewesen, dass seine Angespanntheit mir jetzt auf die Nerven ging. Es war schließlich bloß ein Spiel, oder? Ich kam mir geradezu schwindlig groß vor, als ich mit meinem Putter aufs Grün ging. Fred hatte aufgenommen, Reds Chip war weit übers Grün hinausgegangen, aber Ken hatte sich lehrbuchmäßig – nach einem so langen Zögern, dass ich schon dachte, seine Zahnräder blockierten – auf sechs oder sieben Fuß angenähert. Wenn er einlochte, brächte er ein Par unter Dach und Fach, und dieser Gedanke bewog mich, eben unterhalb der Bewusstseinsschwelle, nicht in einer leichten Kurve gegen das Loch zu spielen, sondern direkt zu zielen und ein unschlagbares Birdie zu holen. Ich war zu aufgewühlt, um Notiz von der Neigung des Grüns hier zu nehmen oder von dem kurzen Schnitt, dessentwegen das Gras die Farbe und die Beschaffenheit von ge211
toastetem Brot hatte. Ich führte den Putt aus, hörte Fred am Rand meines Gesichtsfelds stöhnen und beobachtete mit äußerstem Entsetzen, wie der Ball (ein Unglück bringender gefundener Ultra) links am Lochrand vorbeifegte und albtraumhaft weiterrollte, an Kens Ball vorbei. Grenzenlose Verlegenheit überkam mich und ein Gefühl tiefer Unfähigkeit; ich ging zum verabscheuenswürdigen Ultra, als wanderte ich ans Ende einer verdorrten, radioaktiv verseuchten Erde, und vornübergebeugt dastehend, konnte ich plötzlich nicht mehr sehen, und das Blut hämmerte mir gegen die Trommelfelle wie ein tobender Gefangener. Blind, taub nahm ich mich zusammen für den zweiten Pütt, versuchte es noch einmal und traf natürlich daneben, rechts dran vorbei, weil ich die kleine Bodenwelle ignorierte. «Tut mir leid, Fred», sagte ich laut und wünschte im Stillen, dass er und alle anderen Zeugen meines elenden Dreimal-Puttens tot umfielen. Auch, dass Ken seinen machbaren Sieben-Fuß-Putt verschlug, konnte meine Schande nicht lindern; es war mein Loch gewesen, ich hätte es gewinnen müssen, und ich hatte es vermasselt. Ich hatte es vermasselt, glaubte ich insgeheim, weil mein Partner mit seiner eigenen Wettkampfleidenschaft die Zen-Zone besetzt hatte, die zu erreichen ich im Begriff gewesen war; aber es gab keine Möglichkeit, das auszusprechen, und keine Möglichkeit, meinen tölpelhaften Schnitzer auszubügeln, es sei denn, ich gewann jetzt einige Löcher. Doch je verbissener ich mich bemühte, desto schlechter spielte ich: ich überzog beim Rückschwung, war beim Abschwung ungenau, witschte mit dem Schlägerkopf erst im allerletzten Sekundenbruchteil gegen den Ball, ließ meinem rechten Ellbogen alle Bewegungsfreiheit, die er wollte, als könnte das die Hebelkraft verstärken. Angesichts meiner Unbrauchbarkeit kratzte Fred ein bisschen von seinem alten Könnertum zusammen; wir plackten und rackerten uns über die Steigungen und Neigungen dieser sonntag212
vormittäglichen Partie und endeten zwei unter auf dem siebzehnten Loch. Wir hätten gewinnen können, und ich allein war schuld, dass es anders gekommen war. Dreimal putten bei fünfundzwanzig Fuß Entfernung. Wieder und wieder spielte ich im Kopf das Loch, ich konnte nicht aufhören. Ich nahm eine Schlaftablette, wachte aber um drei in der Frühe auf und war wieder auf dem zehnten Grün, schwindelnd hoch über dem immer kleiner werdenden Putterkopf, und drosch den Ball ein ums andere Mal Meilen und Abermeilen am Loch vorbei, während Ken in seinen unsäglichen Schuhen dastand und zusah, lächelnd, staunend, als hätte eine Stewardess ihm soeben mitgeteilt, sie wolle den Stopover in London nun doch in seinem Hotelzimmer verbringen, und mein Partner, eben außer Sicht um die Ecke meines Schädels, stöhnte, als hätte ich ihm einen Faustschlag unter seinen Herzschrittmacher versetzt. Ich krümmte mich; ich war kurz davor, die selig schnarchende Gloria wachzurütteln; meine Augen verfluchten die leere Zimmerdecke, und meine zusammengebissenen Zähne hielten einen Schrei zurück; ich fragte mich, was für einen Sinn das menschliche Leben überhaupt hatte, wenn so entsetzliche Sachen unterm Himmel passieren konnten. Am nächsten Morgen – es war Memorial Day, auf dem Friedhof im Ort wurden Salutschüsse abgefeuert, und die Fernsehkommentatoren setzten ihre feierlichsten Gesichter auf, um eine Minute lang über die Millionen zu plauschen, die jüngst im Krieg ihr Leben fürs Vaterland gelassen hatten – sagte Gloria mir, ich nähme Golf zu ernst. Sie überlege, ob es nicht besser sei, wenn ich damit aufhörte, zumal sie dringend meine Hilfe im Garten brauche, nun da wir endlich schönes Wetter hätten. Mit Golf aufhören? Ich liebe diese Männer. Sie allein verzeihen mir meine Warzen und meine Steifgliedrigkeit, meinen Mundgeruch und die zu langen Haare in den Nasenlö213
chern, mein Zittern und die weißen krebsigen Knötchen auf meiner Haut. Auch mit ihnen, meinen Golfgefährten, geht es bergab, dem Verfall entgegen, und sie versuchen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, stehen, mit einem kalten Beck’s in der einen Hand und einem fettigen Häufchen gesalzener Erdnüsse in der hohlen anderen, im gestreiften Zelt, das der Club aufgeschlagen hat, und machen Spaße über ihre eigenen Fehler und verpassten Chancen, scherzen darüber, dass das Leben ein solcher Murks ist, ein einziger Schlauch, Männer, die auf diese Erde hier gestellt sind, mit einem Hunger, den sie stillen müssen, wenn sie nicht sterben wollen, und dann sterben sie doch, Männer und auch Frauen, denn zur Feier der Preisverleihung (Ben und Fred, Zweite in der Bradford-Gruppe, Applaus-Applaus-Applaus) sind Frauen in den Club gekommen, die Gattinnen und Freundinnen und Töchter und Enkeltöchter der Spieler, und helfen, das Zelt mit menschlichem Geplauder und Gelächter zu füllen, mit Gläserklirren und genüsslichem Häppchenkauen, die Frauen in kessen Sommerröcken und Polohemden, gepflegt, schlank, sonnengebräunt, wie die Frau, die ich vor dem Convenience-Laden gesehen habe, Frauen, die mit ihren lichten Sopranstimmen das tapfere Baritongebrumm verschönen, während unsichtbar überm Zeltdach draußen die traurigen Monde transzendenter Zeugenschaft und leerer Bemühung ihre blassen Formen verlieren und wiedererlangen im gemächlichen, opernhaften Gewoge der dicken Wolken. Sogar Gloria war da, sie hatte sich aus Loyalität für ein Weilchen von ihrem Garten losgerissen und trug den Strohhut, den wir vor Jahren auf St. Croix gekauft hatten. Ich war gerührt und gab ihr einen Kuss auf die Wange im kühlen Schatten des alten Sonnenhuts, Souvenir aus innigeren Tagen. Als ich zur Scheune hinunterging, um unsere beiden Käfigfallen zu holen – Rehe sind nicht unsere einzigen marodie214
renden Plagegeister; Gloria behauptet, die Waldmurmeltiere in ihren endlosen Bauten warten bloß darauf, dass der Blumengarten reift –, entdeckte ich eine Leiche, die auf der Plankenrampe in sitzender Haltung gegen das Scheunentor gelehnt war. Ich komme nicht jeden Tag zur Scheune herunter, und der Zersetzungsgeruch war stark, viel stärker als AgRepel. Es gibt das Wort modrig, das scheint mir für das AgRepel zuzutreffen, und dumpf muffig, so empfinde ich den Geruch, der mir entgegensteigt, wenn ich mich zufällig über eine Toilettenschüssel beuge, deren Unterkante lange nicht mit der Scheuerbürste in Berührung gekommen ist, und stinkend, das sind die – nicht ganz und gar widerlichen – Ausdünstungen eines Skunks. Dann gibt es faulig, brandig und mephitisch: Pestlüfte aus dem verwesenden Herzen der Natur, wo Satan mit seinem giftigen Atem sich windet, bis zur Hüfte eingeschlossen in Gottes unerbittlichem Eis. Wir wenden das Gesicht ab, schämen uns für die Schöpfung. Es war Spins Leiche, ich sah es am Schnauzbart und an der feschen Kombination aus blau gestreiftem Button-downHemd und gelber Paisleykrawatte mit gleich gemustertem Stecktuch. Der kittfarbene Sommeranzug war aus der Façon, nasse Nächte und das Aufblähen des Körpers, der in ihm steckte, hatten ihn ruiniert. Das Gesicht, rund und konturenlos jetzt wie das eines Kindes, war ein scheckiges Käsefarbensortiment. Der eine Augapfel war mit einem Zahnstocher durchbohrt, wie eine Martini-Olive – etwas Kindliches lag in dieser Grausamkeit –, und der Knüppel oder der Stein, mit dem man seinen Hinterkopf traktiert hatte, war auch nachdrücklich gegen seinen Mund zum Einsatz gekommen, vielleicht, um den einen oder andern Goldzahn zu lockern. Die Leiche hatte eine Wolke summender Interessenten angelockt, und die Hände, starr, mit hammerförmig verdickten Fingerspitzen wegen des gestauten Blutes, wimmelten von kleinen braunen Ameisen. 215
Noch während ich gegen den Brechreiz kämpfte, die brennend aufsteigende Säure wieder hinunterwürgte, schwebte etwas in mir hoch und frei über diesem zusammengesackten Haufen inaktivierter Moleküle, die sich breiig aufspalteten auf dem Weg zu ihrer nächsten Verbindung. Auf dem Golfplatz kam man oft an einer Taube, einem Kaninchen vorbei, die von einem Habicht, einem Fuchs oder einer Eule zerrissen worden waren: ein dezentes kleines Gefluse von Federn oder Fell, schnell dahin wie eine Pusteblume. Bis auf die Kunststofffäden in seinem Anzug und die Plastikspitzen an seinen Schnürsenkeln würde Spin in den Mulch des Waldbodens eingehen wie ein toter Maulwurf. Die Galanterie seines Versuchs, sich gut anzuziehen und gepflegt auszudrücken, besser zu erscheinen als ein notfalls Gewalt anwendender Ganove, war verflogen, hatte sich vermischt mit den Atomen der Luft, ihr Kobaltblau läuternd. Wir hatten unsere allmonatliche Verhandlung für gewöhnlich damit beendet, dass wir uns gegenseitig beteuerten, wie sehr wir einander vertrauten. In undankbaren, chaotischen Zeiten hatten wir eine Beziehung aufgebaut. Ich rannte zum Haus zurück. Gloria war nicht da, ich hatte nicht zugehört, als sie mir sagte, wohin sie wollte, zum Friseur, zur Pediküre, zur Aerobicstunde oder in den CalpurniaClub zum Lunch oder zu einem Vortrag. Ich war allein im Haus mit meiner auf und nieder wogenden Brust und dem Ekel erregenden, zähen Geruch von Spins irdischen Überresten. Ich wählte die Nummer der Polizei, die vorn im Telefonbuch verzeichnet war. Nach dreimaligem Läuten sprang eine zuckerige Automatenstimme an und hieß mich, die Eins zu drücken, falls es sich um einen Notfall handle, die Zwei, falls ich sachdienliche Angaben bezüglich eines Verbrechens zu machen hätte, die Drei, falls ich Informationen über die Verkehrslage oder die Zahlungsbedingungen von Bußgeld wegen verkehrswidrigen Verhaltens benötigte, und die Vier, 216
falls ich aus irgendeinem anderen Grund mit der Polizei zu sprechen wünschte. Ich drückte die Zwei; dieselbe gleichmütige Zuckerstimme wies mich an, die Eins zu wählen, wenn es sich um ein Gewaltverbrechen handle, die Zwei, wenn es um Diebstahl gehe, die Drei, wenn ein Wirtschaftsdelikt vorliege, und die Vier, wenn es eine Nachbarschaftssache sei, jemand, der ein öffentliches Ärgernis darstelle oder anderweitig gegen die bürgerliche Ordnung verstoße. Der Schweiß brach mir aus; ich kam mir vor, als sei ich in einen Stahlbehälter gesperrt. Ich drückte die Eins und dann die Vier, und die Stimme teilte mir freundlich, mit Pausen zwischen den einzelnen Worten, mit: «Wir bedauern, zur Zeit sind alle Leitungen besetzt. Aber legen Sie, bitte, nicht auf, einer unserer Mitarbeiter nimmt in Kürze Ihre Wünsche entgegen. Wir danken für Ihren Anruf und bitten um Verständnis für die Verzögerung.» Es folgte Easy-listening-Musik vom Band, Nummern aus dem alten Standardrepertoire in Arrangements für Streicher und ohne Singstimmen. Aus meiner Kindheit erkannte ich «Penny Lane» von den Beatles wieder und aus meiner Teenagerzeit «Get Back». Dass die Texte zu diesen Songs fehlten, war eine politische Aussage; seit dem Krieg wünschte die nominelle Regierung in Washington keine charakteristischen Stimmen und Themen, die mit Rebellion assoziiert werden könnten. Aus den Jahren meiner Ehe mit Perdita kam «Call Me», ein Titel von Blondie, und «Like a Virgin» von Madonna, Geistermelodien, bloß noch einlullend ohne die aufreizenden Schmirgelstimmen der ursprünglichen Interpretinnen. Ich legte auf, versuchte es noch einmal, drückte die angegebenen Nummerntasten, variierte die Reihenfolge, bekam aber nie eine menschliche Stimme ans Ohr. Eine peinigende Sekunde lang gab es eine Unterbrechung beim Umstellen im vollautomatisierten Schaltsystem, aber dann setzte die gesangslose Musik wieder ein. Die Polizei war unein217
nehmbar hinter ihren computerisierten Deflektoren. Ich wählte 911, und das Besetztzeichen kam. Ich wählte die Nummer der Feuerwehr und wurde musikalisch vertröstet, irgendein barockes Geklingel, Bach oder Vivaldi, ich legte auf, bevor ich heraushatte, wer’s war. Ich stürzte wieder nach draußen. Die Vögel – Stärlinge, ein raukehliges Spottdrosselpaar und die nistenden Rauchschwalben – füllten die Luft mit aufgeregtem Getschilp und Gezwitscher, das kaum weniger mechanisch klang als die gelegentlichen Geräusche der sich entwickelnden Metallobioformen. Der Junisonnenschein knallte nieder wie eine Stanzform und gab jedem Blatt und Grashalm seine Gestalt. Ich rannte zur Scheune hinunter – auf einem kleinen Heckenweg, einst von Kutschen und Roadstern benutzt –, und wie ich befürchtet hatte, war Spins Leiche nicht mehr da, lehnte nicht mehr auf der Plankenrampe am Scheunentor, dessen letzter Farbanstrich sich in grünen Flocken am Holz festhielt wie Hunderte irisierender Insekten. Nur ein Schatten von Feuchtigkeit war geblieben, wo sein Körper gelehnt hatte, und ein in der Luft hängender Gestank. Die Leiche war eine Botschaft gewesen, anstelle einer Bescheinigung, und die Jungen hatten sie weggeräumt, sobald ich die Nachricht bekommen hatte. Ich wurde beobachtet, auch wenn ich bei meinem raschen prüfenden Blick in den Wald nur tief gestaffeltes Grün-in-Grün sah, das gelappte Laub des Ahorns, die dreiteiligen Blätter des Hickory und das fein gezackte Buchenlaub, Blätter, die gegen das Kohlendioxid vorrückten und es anknabberten und zerfranste Lufthöhlen und -tunnel formten, bis hinunter zu den Gleisen und zum Bach. Ich war scheinbar allein auf meinem vegetabilen Planeten. Ein paar abgebrannte Streichhölzer waren auf den Planken, neben dem zweibeinigen feuchten Schatten, zurückgelassen worden, ein kleiner Wink, dass weitere Scheußlichkeiten passieren könnten. 218
Ohne alternative Schritte in Betracht zu ziehen, ging ich, mich hier und da an Bäumen festhaltend, um nicht auszurutschen auf den schlüpfrigen Kiefernnadeln, zur Hütte der Jungen hinunter. Nur der Große war da. Ohne die Vermittlung des Möchtegernanwalts und das beschwichtigende Dabeisein des Jüngsten und des mageren blonden Mädchens fühlte ich zum ersten Mal sein Gewicht als Mann, seine tödliche Kapazität. Der Schock über diese Entdeckung stand mir offenbar im Gesicht geschrieben, denn er gestattete sich ein knappes Lächeln unter der breiten braunen Nase und dem opaken schwarzen Blick. «So», sagte ich mit verschwörerhafter Ungezwungenheit, «Sie haben also die Befugnis zum Kassieren.» «So isses. Spin hat sich vorzeitig zur Ruhe gesetzt, haben wir ja gesagt.» «Und Phil und Deirdre?» Warum war mir das wichtig? Meine Stimme hatte gezittert. «Die treiben sich noch irgendwo rum, vielleicht.» «Bleibt es bei der bisherigen Monatsgebühr?» «Wir haben an’n kleinen Zuschlag gedacht. Weil wir Ihnen ja nu Bereitschaftsdienst bieten.» Er beherrschte schon das korporative «Wir», in dessen Schutz sich alle möglichen Brutalitäten begehen lassen und alles bestritten werden kann. «Wie viel ist <ein kleiner Zuschlagt» «Wir haben gedacht, alles zusammen vielleicht zweitausend pro Monat? Sie schulden uns noch für Mai. Macht viertausend.» «Zwei und zwei macht vier, das stimmt. Saftige Erh öhung, von tausenddreihundertfünfzig auf zweitausend.» Er zuckte mit den Schultern. Obgleich er für mich als <der Große> figurierte, war er etliche Zentimeter kleiner als ich. Auch gewichtsmäßig war ich ihm überlegen, allerdings ließen meine Pfunde sich nicht so mobilisieren wie die gummizähen 219
Pfunde der Jugend. Die Ritzen in der Hütte, sah ich, waren mit Moos zugestopft – zum Schutz gegen Insekten, wenn nicht schon gegen die Kälte –, und das Dach bestand nicht mehr aus Rigipsplattenresten, sondern aus irgendwo ergattertem Sperrholz. Sie lernten. Amerika ist eine einzige große Schule. Zweitausend Welder, das war viel Geld für einen Pensionär in wirtschaftlich chaotischen Zeiten, aber es war immer noch weitaus weniger, als die alte Regierung mir an Dollars abgeknöpft hatte für ihre Kriege und allgemeine medizinische Versorgung, für ihre Hirngespinste von Raumschiffen am Himmel und Chancengleichheit für jedermann. Ein Junge aus Lynn würde schwerlich eine Ahnung davon haben, was ein weißer Finanzberater im Lauf der Jahre alles beiseite tun konnte. Es war ein Pappenstiel, was er da verlangte. «Ich geb’s Ihnen morgen. So viel Geld, da muss ich erst zur Bank. Aber ich verlange etwas dafür.» Er schwieg, sein Gesicht war ausdruckslos. «Ich möchte, dass Sie und Ihre Kumpel sich nur hier unten aufhalten, auf dieser Seite des –», ich bezweifelte, dass ihm das Wort «Steilabbruch» geläufig war, und sagte, eine Handbewegung machend: «– des Felsens da. Bleiben Sie weg von der Scheune und vom Haus. Ich habe meiner Frau gegenüber nichts von alledem hier erwähnt, aber wenn sie dahinter kommt, sieht die Sache für Sie anders aus. Sie ist sehr viel energischer als ich – nicht annähernd so zugänglich. Sie hat dies weibliche Revierverhalten.» Er sah mich immer noch stumm, mit leerem Gesicht an. Vielleicht war an meinen Behauptungen und Drohungen nichts, was eine Antwort verdiente. Alle Zugeständnisse waren gemacht worden; ich empfand eine gewisse feige Lust und Erleichterung. «Deirdre sagt», rang mein Gegenüber sich schließlich gnädig ab, um die Unterhaltung zu beenden, «Sie haben ‘ne Scheißangst vor Ihrer Alten.» 220
Der Frühling ist so weit vorgerückt, an den Sommer heran, dass er matschig geworden ist und alle Form verloren hat. Azaleen, Hartriegel, Flieder, Obstbäume: alle Blüten verwelkt und abgefallen, in den Detritus feuchter Erde. Weiß ist die Farbe der Stunde – Maiglöckchen, Brautspieren, der Schneeball, der sich an der steilen Böschung festhält und dessen hängende, weiche Zweige an den Spitzen Wurzeln schlagen. Auf dem Weg zum Briefkasten gehe ich mit dem Gesicht nah an eine der großen Trugdolden heran und finde, dass dieser unangenehme Strauch nach Fäulnis riecht, an die mephitische Aura erinnert, von der Spins Leiche umgeben war. Ich kann nicht glauben, dass die Jungen diese Leiche anderswohin schleifen, um sich einem anderen Schutzgeldkunden zu empfehlen, aber ich hätte es gehört, denke ich, wenn auf meinem Grundstück ein Grab geschaufelt worden wäre; man kann keine zehn Zentimeter tief graben, ohne auf Granit zu stoßen. Sie erschienen zu dritt oben bei der Scheune, um die gebündelten sepiafarbenen Scheine abzuholen, mit denen ich von der Bank zurückgekommen war, und Gloria hatte sie von einem Fenster im zweiten Stock erspäht. Ich erklärte ihr, wer sie waren – die Nachfolger von Spin und Phil. «Ich finde es lächerlich», sagte sie, «dass du dich mit solchen Männern einlässt. Und jetzt auch noch mit Jungen. Was meinst du, könnte man wohl einen von denen dazu bringen, ein paar Stunden pro Woche für uns zu arbeiten und auf dem Grundstück mitzuhelfen? Ich bin völlig zerstört, Jeremy spielt mit dem Gedanken, seine Ausbildung an den Nagel zu hängen und nach Mexiko zu gehn.» Mexiko, das während des Chinesisch-Amerikanischen Konflikts neutral geblieben war, zog viele unserer jungen Leute an, galt als ein Land, in dem sich Chancen boten. Wer keine legale Aufnahme fand, schlich sich über die grüne Grenze, ganze Scharen waren das, und die mexikanischen 221
Behörden verdoppelten die Grenzposten und zogen immer mehr Elektrozäune aus Maschendraht hoch. Sie sprachen davon, eine Art Chinesischer Mauer zu errichten, in aztekischer Bauweise. «Ich glaube nicht, dass diese Jungs Lust auf Gartenarbeit haben. Die stehn mehr auf kriminelle Betätigung und sind sehr gefährlich. Überlass es mir, mit ihnen zu verhandeln.» Als Gloria sehr jung war, hatte man ihr tänzerisches Talent nachgesagt, und bis zu ihrem sechzehnten Jahr ungefähr hatte sie Ballettunterricht gehabt. Wann immer sie meint, sich durchsetzen zu müssen, strafft sie den Rücken und spreizt die Füße, so auch jetzt. «Ben, du solltest ihnen wirklich kein Geld geben. Das ist zum Fenster rausgeworfen und vermittelt ihnen ein falsches Gefühl für die Realität. Ruf die Polizei. Du sagst, es gibt keine Polizisten, aber ich sehe doch dauernd welche – erst gestern Morgen, drei auf einmal, alle jung und in Uniform, sie haben an der Einsturzstelle auf der Stra ße nach Magnolia den Verkehr geregelt.» «Das haben die nebenberuflich gemacht», sagte ich, «oder es waren Banditen in gestohlenen Uniformen. Sie überfallen die Geldtransporter und die UPS-Vans.» «Zu mir waren sie sehr höflich.» Jeremy war von einem hiesigen fundamentalistischen College zu uns gekommen. Er hatte einen hübschen, aber kleinen Kopf, nicht breiter als sein kräftiger, biegsamer Hals, und legte in manchen Momenten eine schlangenharte Grazie an den Tag. Ich war abhängig von ihm geworden; sein Erscheinen am Samstag- oder Sonntagmorgen erfüllte mich mit Energie, und ich ging die Gartenarbeit mit einem Tatendrang an, den ich allein nicht mehr aufbrachte, so streng Gloria mir auch ins Gewissen redete. Gemeinsam kappten, schleppten, gruben, stutzten, mähten wir, Jeremy und ich. Er hatte sich längst vom Fundamentalismus verabschiedet und gestand mir, wenn er gelegentlich verschlafen wirkte, dass er einen 222
Streifzug durch die Bars von Gloucester gemacht habe und anschließend in der Wohnung eines Mädchens gelandet sei. In seiner angeborenen christlichen Manierlichkeit aber ersparte er mir Details, die mich hätten neidisch machen können – ob das Mädchen sich die Wohnung mit einer Freundin teilte, ob diese Freundin mit von der Partie war, ob die Mädchen irgendwas miteinander machten, und er sah dabei zu –, Details, nach denen mein dicker Schädel sich sehnte im schweißtreibenden Sonnenschein draußen. Jeremy kann alle Motorgeräte anlassen – den Laubpuster, den Kantenschneider mit der im Kreis schwirrenden Nylonschnur –, die für mich wie verklebt sind mit ihren erbitternd zähflüssigen Gemischen aus kaum voneinander zu unterscheidendem Öl und Benzin. Während wir uns Seite an Seite abschinden in einem trostlosen Winkel des Gartens, den Gloria in den Herrlichkeitszustand zurückversetzen möchte, dessen er sich in den sagenhaften Zeiten erfreut haben soll, da es Hauspersonal und frisch importierte italienische G ärtner gab, denke ich darüber nach, wie wenig dazu gehört, eine Beziehung zu schaffen: Vater- und Sohnesgefühle entspinnen sich zwischen uns gleich zarten Fäden sexueller Affinität. Als mich einmal eine Hornisse unmittelbar unters Auge stach, bebte seine Stimme vor Aufregung und Besorgnis, worüber ich achselzuckend, unter Tränen, hinwegging. Er bewundert meine Gelenkigkeit, wenn wir über die Felssteine balancieren, die Arme voller Abfälle für die Verbrennungsgrube oder für den Komposthaufen, oder wenn wir zusammen in die Zierapfelbäume klettern, um die senkrechten Triebe zu kappen, die sich in Glorias Meerblick bohren. Ich bestärke ihn in seiner Absicht, nach Mexiko zu gehen. Ich sage ihm, dass er sich glücklich schätzen könne, jung zu sein in einer Welt, in der es so viel freien Raum gebe und die mannigfachen Möglichkeiten, welche die verringerte Bevölkerungsdichte biete. Die Welt, in der ich meine Jugend verbracht hätte, sage ich ihm, 223
sei überfüllt gewesen mit anderen so genannten Babyboomern, sodass ich nur hätte vorankommen und meine Schäfchen ins Trockne bringen können, indem ich einen Zwölfstundentag in Kauf nahm und mich in klösterlichem Gehorsam der straff organisierten Hackordnung fügte. Als er sich mit einer weichen Wellenbewegung des barnackigen geschmeidigen Halses in seinen alten Nissan hineinduckt, spüre ich einen jähen erotischen Stich. Sex scheint allgegenwärtig zu sein, nun da die feuchte Hitze eine Tagtäglichkeit geworden ist. Warmes Wetter kreiert sexuelle Halluzinationen. Im Wartezimmer meines Periodontologen fordert die lächelnde Hygienikerin einen Patienten (nicht mich) auf, ihr nach oben zu folgen, weil sie bei ihm etwas blasen wolle – jedenfalls meine ich zu hören, dass sie das sagt. Ziemlich zu Beginn meiner ausgedehnten zahnmedizinischen Erlebnisse gab es eine Miss Edna Wade, Assistentin von Dr. Gottlieb, einem der zwei Juden in Hammond Falls (der andere betrieb das kleine Kino, das in den Siebzigern dichtgemacht hat). Beim Reinigen meiner Zähne presste Miss Wade ihre mächtige runde Brust gegen mein heißes Ohr, bis das Schmalz darin schmolz und ich Angst hatte, der Reißverschluss meiner Hose könnte platzen. Weil Gloria in Boston war, um alles Mögliche zu erledigen – Stoff für Schonbezüge besorgen, Lunch im CalpurniaClub, Tee im Ritz mit einer Vorkriegsfreundin von der Windsor School und zum krönenden Abschluss eine Gesichtsmassage und eine Pediküre –, und draußen abschreckender Dschungel herrschte, ging ich an meine heimlichen Pornographievorräte, die versteckt sind hinter den uniformen Bänden einer stämmigen Bibelkommentar-Ausgabe, einst Eigentum von Hochwürden, Glorias Großonkel, und ließ mich anregen von den absurden Kombinationswechseln in einem Paperback, das Rex und Flora – von der Jungfrau zum Weibsteufel hieß. Als meine Erektion, in Erwiderung auf Floras 224
sachkundige Durchführung der Fellatio an einem Botenjungen, sich zu voller Größe entfaltet hatte, meine Eier hätschelnd von meiner linken Hand umfasst, bewunderte ich mein Glied – die umgekehrte lavendelfarbene Herzform der Eichel, die majestätische dehnfeste Säule mit ihrer Marmorierung aus blaugrünen Adern und der dreischäftigen Unterseite. Wackerer, treuer Freund! Gefährte meines Lebens. Ich liebte ihn; Erektionsglut überschwemmte meinen Organismus mit dem warmen Blut des Wohlgefühls; in diesen geschwellten Augenblicken verspürte ich kein Bedürfnis, mein irdisches Dasein zu rechtfertigen; alles war in Ordnung. Ich wünschte, mein Hals wäre so biegsam wie Jeremys und ich könnte mich tief genug hinunterbeugen, um mir selbst eine schmachtende Flora zu sein und wenigstens den ersten durchsichtigen Tropfen zu trinken, wenn schon nicht den dickeren geronnenen Rahm, den meine vergrößerte alte Prostata träge, Minuten nach meinem Höhepunkt, freigibt. Wenn ich nicht so viele Freunde hätte, im Club und im Büro, die an der Prostata operiert worden sind und unter der Demütigung des Harnflusses und dem Elend der Impotenz leiden, wäre meine Erektion wohl kein so stolzes Erlebnis gewesen. Oft genug in meiner Jugend hatte ich sie bloß als störend empfunden, als etwas Lästiges, das beseitigt werden musste, dessen man sich mit Hilfe einer Hand oder einer paraten Vagina entledigte, damit man sich wieder dem eigentlichen Geschäft des Lebens widmen konnte. Was war so eigentlich an diesem Geschäft, versuche ich mich jetzt zu erinnern. Jeden Morgen Punkt acht Uhr fünfunddreißig bei Sibbes, Dudley und Wise erscheinen, dem blinden, ahnungslosen Othello der Stinkreichen den ehrlichen Jago vorspielen, aus sicherer State-Street-Entfernung versuchen, Wall Street mit seinen drachenhaften Zuckungen und Windungen zu überlisten – schimärische und numerische Ephemera, rückblickend gesehen. Nichts, was je so handfest und eigentlich 225
gewesen wäre, fühle ich, indes der Griff, mit dem ich den besten Teil meiner selbst umklammert halte, sich lockert, wie dieser steife Schwanz, der an seiner Spitze einen schimmernden ersten Tropfen trägt, lecker und ungeleckt. Meine Tage verstreichen, und mir ist bewusst, mit welch unaufmerksamem Blick ich die Welt wahrgenommen habe. Die Pflanzen in ihrer fleischigen bescheidenen Komplexität; die Muster des Himmels und des Meers, die sich, wie die Strudellinien von Fingerabdrücken, nie ganz wiederholen; die sorgfältig herausgesuchte Farbnuance und Passform der rostfleckigen Granitbrocken, die die italienischen Maurer von einst so liebevoll in Mauern und Terrassen eingefügt haben, auf diesem Grundstück und auf allen anderen meilenweit entlang der Nordküste. Als ich gestern auf der Toilette saß, sah ich plötzlich, als sei es das erste Mal, das wundersame Maschenwerk der Jockey-Unterhose, die sich über meine Knie spannte. Winzige Nadeln, die in ausgeklügelten Gruppen angeordnet waren und mit unmenschlicher Geschwindigkeit funktionierten, hatten winzige weiße Fäden dazu gebracht, sich vollkommen gleichmäßig miteinander zu verschlingen, damit dies angenehm weiche, leichte, zart elastische Gewebe entstehen konnte. Ingenieure hatten Generationen von Maschinen entworfen und verfeinert, riesige Wirkmaschinen, bestückt mit Batterien hakenförmiger Nadeln, die kaum dicker waren als Haare und doch bewegliche Teile enthielten, feinste Federn und Schnäpper, um mechanisch die komplizierte Stricktätigkeit geduldiger Menschenhände zu kopieren. Auf allen Seiten bin ich von solchen Fabrikationswundern umgeben, die von Menschen geschaffenen sind noch am ehesten zu enträtseln, doch gebührt ihnen darum nicht weniger Lob und Preis als denen der blinden Weberin Natur. Die Wahrheit aber ist, ich bin stumpf und matt und dabei, mich aufzulösen. Merkwürdige Beschwerden schicken Eilmeldungen durch das Nervengeflecht. Ein scharfer kleiner 226
Schmerz unterhalb des linken Ohrs, der kommt und geht – erste Alarmzeichen eines Lymphknotens, der an Krebszellen erstickt? Beim Aufwachen ein Gefühl, als seien die Augen mit einem Film überzogen, der eine halbe Stunde zu Beginn jeden Tags den Blick verdunkelt. Plötzliches Pochen und Zukken unmittelbar unter der Haut des Gesichts. Jähes dringliches Sichbemerkbarmachen der Blase unterhalb der Gürtellinie. Nicht zu reden von arthritischen Fingergelenken, nächtlichem Magenweh und den mysteriösen Geräuschen und feinen stechenden Schmerzen, die das Herz ausstrahlt, während es Tag und Nacht seine Schwerarbeit im breiigen totalen Dunkel hinter meinen Rippen tut. Welcher meiner vielen inneren Sklaven wird als erster rebellieren und in einer Kettenrevolution meine Tyrannenherrschaft zu Fall bringen? Wie viel danklose Anstrengung diese Leibeigenen in meinem Innern aufbieten, um das eitle, wankelmütige, launische Bewusstsein auf seinem Thron in meinem Schädel zu halten! Heute Morgen verhieß ein Sprecher im Radio, zwischen kleinen Portionen Offenbach und Buxtehude, Temperaturen um die dreißig Grad Celsius; das Meer, fiel mir auf, war dunstig grau in seiner flachen Reglosigkeit, sah ein bisschen so aus wie am kältesten Tag im Januar, wenn die minus zwanzig Grad kalte Luft Dampf hochsaugt in ihr kristallklares Nichts. Der weit hingebreitete Nebelschleier verhängt an diesem Morgen den Horizont und lässt fast ganz den kleinen dunklen Landstreifen der Südküste verschwinden – Hingham und Cohasset und so weiter –, wo gleichfalls nutzlose alte geile Männer aufstehen und sich exquisit gefertigte Unterhosen anziehen. Als ich zum Briefkasten hinuntergehe, um den Globe zu holen, verharre ich bei der Kalmie, die jetzt, Mitte Juni, in voller Blüte steht. Die großen Blumen sind, ähnlich wie bei meinen verblühten Rhododendren, in Wahrheit breitglockige Doldentrauben, zusammengesetzt aus vielen kleinen, auf klebrigen Stielchen stehenden rosaweißen Blüten, jede ein 227
striktes Fünfeck mit tiefgrüner Mitte, einem dekorativen Kreis aus blutfarbenen Winkeln und Bögen und zehn Staubfäden, deren dunkelrote Staubbeutel sich auf halber H öhe gegen die Innenwand des fünfeckigen Blütennapfes lehnen, jedes der zehn weißen Filamente dabei gebogen wie eine Katapultfeder, die Stempel aufrecht und mit rötlichen Köpfen in der Mitte: die ganze Formation so exakt und von so hypnotisierender Konzentrizität wie ein Wasserballett à la Hollywood, von oben gefilmt. Inmitten solcher unendlich vervielfachten Muster gehen wir unseren ziellosen Weg; das Millimeterpapier der Natur, das in feinere Quadrate eingeteilt ist, als Moleküle groß sind, verdient ein Nachzeichnen der Linien, das weniger grob ist als unsere ungerichteten Bewusstseinsanstrengungen. Dies ganze erlesene Gerüst, wozu? Aufgestellt für einige wenige schwankende Dekaden eines verzweifelt gierigen Ichs, das durchs mikrokosmische Unterholz trampelt wie ein geblendeter, wehklagender Riese. Die beiden hübschen kleinen Kaimienblüten, die ich gestern vor mich auf den Arbeitstisch gelegt hatte, um sie beschreiben zu können, sind heute auf die Größe zerquetschter Insekten zusammengeschrumpft. Ihre scharf umrissenen Blütenblätter und Stempel und Staubbeutel hatten hauptsächlich aus Wasser bestanden und sind jetzt verdampft. Und als ich die Zufahrt hinunterging, sah ich, dass die Sibirische Iris inzwischen verblüht ist, die Taglilien noch im Knospenstadium sind, aber ein paar Exemplare einer weißen Irissorte ihre Flaggen gehisst haben – diese weichen lappigen Fetalen, die, wie ich aus Petersons Field Guide to Wildflowers erfahre, verschiedene Namen tragen. Die hoch stehenden heißen Domblätter, die unteren die großen und kleinen Hängeblätter. Glorias Päonien können sich kaum halten vor flauschig fludriger Unbändigkeit, und nur wenige Tage noch, dann öff228
nen sich ihre Rosen. Eine Gruppe prächtiger phallischer Lupinen tut sich groß in ihrem kleinen Blumengarten hinter dem einstigen Gewächshaus, einem Gartenstück, umgeben von einer Balustrade, die der vorige Besitzer aufbewahrt hat, als er die Veranda auf der Meerseite abriss. Die Lupinenblüten sind Miniaturtaschen, purpurrot und weiß rings um den Stiel verteilt wie Schulfarben in einem Cheerleader-Pompon. Und Vögel. Es ist ein wunderbarer Frühling für Vögel gewesen. Der winzige scharfe Kopf der Schwalbenmutter lugt über den Nestrand, während sie versteckt da hockt und ihr Gelege ausbrütet. Ein glänzender brauner Vogel hängt kopfüber am äußersten Ende eines niedergebogenen Hickoryzweigs vor meinem Fenster und ist voller Unruhe wegen etwas, was ich nicht sehen kann – eine Raupe, irgendeine Baumleckerei. Wanderdrosseln, kommt mir in den Sinn, sechzig Jahre nachdem Miss Lunt, meine Lehrerin in der ersten Klasse, so ein merkwürdiges Getue um sie gemacht hat, verbringen mehr Zeit damit, über den Rasen und die Zufahrt zu hüpfen, als zu fliegen oder auf einem Zweig zu sitzen; und wenn sie doch einmal fliegen, dann mit schwerem, walzenförmigem Körper und hektischem Flügelschlag, ähnlich wie Fasane. Ohne es zu wissen, sind sie dabei, die Lüfte zu verlassen. In einigen Millionen Jahren sind Wanderdrosseln wahrscheinlich ebenso flügellos wie Dodos und Riesenalken, aber keineswegs ausgerottet, sondern, im Gegenteil, so verbreitet wie Ratten und genauso ungeliebt. In edlem Kontrast dippen und flippen die Schwalben durch den Äther, als gehöre ihnen das unsichtbare Element. Beatrice war mit ihren beiden Kindern in der Gegend und und kam zum Tee vorbei. Sie und Allan wohnen in Wellesley; von meinen beiden Söhnen ist er der, welcher einen ähnlichen Lebensweg eingeschlagen hat wie ich, allerdings hat er ihn nicht in halbländlicher Armut begonnen, sondern in vorstädtischem Komfort. Er ist im Bostoner Finanzwesen tätig, 229
nicht, wie ich früher, als Sachwalter einzelner reicher Witwen und versoffener Erben, sondern als stellvertretender Geschäftsführer einer Investmentgesellschaft, dieser phantastischen Erfindung, die auch Minderbemittelten die Teilhabe an einem Portfolio in großem Stil ermöglicht. Seine Gesellschaft heißt Pop-Cap oder Low-Yield oder Slo-Grow oder so ähnlich. Eine Zeit lang war er bei Chi-Hi und befasste sich hauptsächlich mit Papieren, die an den Börsen von Hongkong und Shanghai gehandelt wurden. Der große Krieg machte dem erst einmal ein Ende. Aber seit die Insel, gemäß den Bestimmungen des Chinesisch-Amerikanischen Abkommens, wieder in die Hände unserer loyalen britischen Verbündeten übergegangen ist, sieht Allan glänzende Möglichkeiten voraus, in zehn Jahren oder so, wenn Festlandchina nicht mehr so verstrahlt ist und sich wieder eine Infrastruktur zulegt. Beatrice ist dunkelhaarig und fängt an, in die Breite zu gehen. Aber es ist wirklich nur der Anfang – ihr Gesicht ist ein perlklares madonnenhaftes Oval mit luxuriösen langen schwarzen Brauen, die sich zur Nase hin verbreitern und ihr einen aristokratisch missmutigen Ausdruck geben. Die rosenknospigen Lippen unter der Nase mit den engen Nüstern sind oft schmollend gekräuselt. Die zunehmende Opulenz ihrer Figur wurde betont von einem appetitlichen, korallenroten Sommerkleid, das ihre Arme unbedeckt ließ und, wenn sie die Beine übereinander schlug, während wir auf der Seitenveranda saßen, so viel blasse Schenkelfülle entblößte, dass ich den Blick abwenden musste. Eine so reife junge Frau – die Bedeutung von «jung» ändert sich, Beatrice ist etwa fünfunddreißig – zu Gast zu haben (ohne Gloria, die war in Framingham auf einer Gartenclubkonferenz über Krankheiten und Schädlingsbefall bei Blütensträuchern) hatte einen lyrischen unerlaubten Aspekt, war überflogen von einem Schatten der Inzestuosität, den wir zu zerstreuen suchten, indem 230
wir hier draußen in der Nachmittagssonne saßen und zusahen, wie Quentin und Duncan auf dem Rasen spielten. Besser gesagt, wie sie immer wieder Anläufe zum Spielen unternahmen und nie länger als fünf Minuten durchhielten. Quentin, der ältere von beiden, war träg und misstrauisch und schleppte sich dauernd zu seiner Mutter, mit dem Daumen im Mund, obwohl er fast sechs ist, und sein dreijähriger Bruder tobte unterdes hyperaktiv hin und her zwischen Felsstein und Busch und den Krocketkugeln und -Schlägern, die ich anlässlich ihres Besuchs aus einem spinnwebigen Winkel des Gartenschuppens gekramt hatte. Ich hatte auch einen Fußball gefunden, aus dem die Luft halb heraus war; nach einer knappen Minute war sie ganz heraus, und der Ball war weg, verschluckt vom dunstigen abgesenkten Gelände voll stachliger Wildrosen gleich neben dem Rasen. «Duncan hat mich gehauen», sagte Quentin und nahm so lange, wie er für diese Mitteilung brauchte, den Daumen aus dem Mund. «Mit so einem Stock da», sagte er, schob den Daumen wieder hinein und sah von unten zum Gesicht seiner Mutter auf, mit Augen, die das gleiche verführerische Sherrybraun hatten wie die ihren. Beatrice raucht noch, auf einnehmende Art. Als sie Quentins schweren Kopf an ihrem Busen empfing, ohne das Kind mit der Zigarette zu verletzen oder ihren Tee zu verschütten, verstärkte sich der Ausdruck schwarzbrauigen Missmuts, den ich attraktiv fand. «Schläger», sagte ich pedantisch großväterlich. «Diese bunten Stöcke nennt man Krocketschläger. Man schlägt die Kugel damit durch die kleinen Bögen. Das sind die Tore. Soll Grandpa es euch nochmal zeigen?» Ich hatte es ihnen schon einmal erklärt. Der kleine überdrehte Duncan hatte gespannt zugehört und war dann mit einem Freudenjuchzer durch die von mir abgesteckte Spielstraße gewirbelt und hatte auf jedes Tor eingeprügelt, bis es 231
hochflog. Jetzt war das Kind in seinem geblümten kurzen Latzhöschen zu Glorias Rosenbeet hinübergetrollt, riss in größter Geschwindigkeit eine Knospe nach der andern ab und skandierte dabei, unsere Schelte vorwegnehmend: «Ungezogen! Ungezogen!» «Dunkie, lass das!», rief Beatrice, aber lahm, müde, in einem mechanischen Ton, den das Kind ignorieren konnte. Sie zog an ihrer Zigarette und signalisierte mit der m ächtigen Rauchwolke, die sie ausstieß, abgrundtiefe stille Verzweiflung. Der Rauch wob sich zwischen Quentins schimmernden Ringellocken hindurch, und das Kind plinkerte feierlich mit den rosa Lidern. Die Schlaffheit der zarten, nichtswollenden weißen Gliedmaßen des Kindes weckte in mir eine beunruhigende Vorstellung davon, wie meine Schwiegertochter sich im Bett hinbreitete. Ich stürzte von der Veranda, um Glorias Rosen zu retten, die dann aber doch zu harte Stiele hatten, als dass Duncan größeren Schaden hätte anrichten können. Er hatte sich an einem Dorn gestochen, und sein kleines eckiges bockiges Gesicht, getönt von der Sonnenbräune, die ein Kind sich so leicht und achtlos erwirbt, zerknitterte und zerkrumpelte unter dem Druck des Protestgeheuls, das sich in seiner Brust staute. Er blinzelte unsicher zu mir hoch und reckte mir dann, mit einem einzigen bebenden erstickten Schluchzer, den gestochenen Daumen entgegen. Ich drückte ihn an die Lippen, er war klebrig wie ein alter Himbeerbonbon. Das kleine Gesicht hielt der Tränenflut nicht länger stand. Ich nahm ihn auf den Arm, und obwohl mir bei diesem merkwürdigen altmännerhaften Reflex fast die Knie wegknickten unter dem Gewicht der kleinen Seele, trug ich ihn auf die schützende Veranda. Er hielt seiner Mutter den verletzten Daumen hin. «Grandpa hat Kuss gegeben», sagte er. «Danke, Ben», sagte Beatrice. «Ich habe nicht die Puste für ihn.» 232
«Wen wundert das, Beatrice.» Unsere Vornamen sickerten ans Sonnenlicht wie Gerüchte von einer Affäre. Ausgezogen musste sie so viele weiße Rundungen haben wie eine aufquellende Haufenwolke. «Was macht das Problem mit dem großen Geschäft bei, äh, Nummer eins?» «An manchen Tagen scheint es, als hätte er’s raus», sagte sie und führte die Teetasse samt Untertasse um Quentins aufdringlichen Lockenkopf herum, «und dann geht wieder nichts mehr. Wenn Al und ich von Häufchenmachen reden, sieht er uns an, als wären wir nicht bei Trost und ungeheuer geschmacklos. Wahrscheinlich ist es auch ein bisschen eklig, wenn man drüber nachdenkt. Wie so vieles. Aber wenn’s einem ein gutes Gefühl gibt, vergessen normale Kinder dann nicht, dass es eklig ist?» «Sollte man denken», sagte ich, als kennte ich mich persönlich nicht aus. Ich verbot mir die Vorstellung, wie meine Schwiegertochter ihren weißen Rumpf auf den Toilettensitz hievte und ihrem ausladenden Gesäß gebot, der Natur den ihr zustehenden täglichen Tribut an Kotsubstanz zu zollen. Ein gutes Gefühl, wirklich? Das Klirren ihrer Tasse und das Seufzen, mit dem sie den Rauch ausatmete, schienen irritierend laut, während wir hier auf der Veranda saßen und das sinkende Sonnenlicht wie eine langsame Flut auf den Dielen vorrückte und unsere Füße umspülte. Die von Insekten sirrende Hitze war durchwoben mit den gedämpften Gerüchen nach Exkrementen, Sex und Tod. Die Kousa-Hartriegel, die Gloria drüben bei der Eibenhecke auf der Grenze zum Grundstück der Kellys vom Baumdienst hatte pflanzen lassen, blühten auf ihre unbefriedigende Weise: weiße Brakteen, zwischen die grünen Blätter gestreut wie Papierfetzchen, die flüchtig an die Oberseite der Zweige genäht sind. Ich suchte nach einem Thema, mit dem sich unser Schweigen überbrücken ließe. «Wie gefällt Allan seine Arbeit?» Beatrice reagierte mit Wucht. «Er liebt sie!», rief sie voll 233
Erbitterung. «Bewerten, kaufen, alles per Computer, er kann nicht genug davon kriegen. Er ist ganz hin und weg von den herrlichen Asiaten, den paar, die noch übrig sind, von ihrem Unternehmungsgeist, ihrem Fleiß und so weiter. Ich glaube, er denkt, dass Abendländer ziemlich dekadent und verfettet sind. Wie ich. Ich habe das Gefühl, um ihm zu gefallen, müsste ich Japanerin sein oder so. Eine von den kleinen ThaiSchönheiten, von denen er jedes Mal schwärmt, wenn er in Bangkok war.» Beide Jungen hatten angefangen, sich in unseren Armen zu winden, als der Name ihres Vaters fiel. Duncan wurde zu einem Bündel aus zähen, drahtigen Muskeln; als er mit Quentin zu den Schlägern und Kugeln auf dem sonnenbeschienenen Rasen zurückkehrte, hatten die Bewegungen des älteren Bruders im Vergleich zu seinen etwas Zimperliches, Weibliches, Verstopftes. Vielleicht hatte Quentin meine Melancholie geerbt. Ich hielt sie für ein Übel, das mit dem Alter über mich gekommen war, in Wahrheit aber hatte ich mich immer am Rand der Depression bewegt. Das Haus in den Berkshires hatte abgetretene Fußböden gehabt und schimmelige Tapeten, die an den verputzten Wänden des engen Treppenschachtes backten. Wachstuch auf dem Küchentisch, Linoleum auf dem Fußboden. Draußen gelbbleiche Maisstoppelfelder und das gleichgültige Sausen und Brausen des Verkehrs auf der Route 8. Mächtige Schlepplaster, beladen mit rohen Holzstämmen, Baumleichen, zogen ungestüm vorbei, von Norden kommend, aus den Kiefernpflanzungen, in deren düsteren Schneisen sich hier und da Kleckse von Sonnenlicht zeigten und bärengestaltige Ahnungen von der Vergänglichkeit sich bargen. Das Puppenhaus im verwahrlosten Keller. Das plündernde Reh in einer verheerten Welt. Der zerdrückte Leichnam des Tausendfüßers. Die Kaimienblüten, zusammengeschrumpft zu einem Nichts. Als Kind habe ich das Leben so geliebt, dass der Gedanke an seine Endlichkeit die 234
Freude, die es mir eigentlich hätte machen sollen, weitgehend aufgehoben hat. «Gloria ist nicht viel zu Hause, oder?», fragte Beatrice; sie äugte zu den Jungen hinüber und wandte mir ihr Profil zu, und falls eine Bosheit in der Frage lag, so war es nur eine ganz milde. «Gloria», sagte ich loyal, «ist unglaublich rührig. Sie schuftet wie ein Vieh hier im Garten und saust dann zur Geschenkboutique. Ihre beiden Partnerinnen, sagt sie, sind ausgemachte Schwachköpfe. Und dann muss sie noch zum Friseur, zur Maniküre, zu ihrer Aerobiclehrerin – ich überblicke schon gar nicht mehr, wie viele Leute zu ihrer persönlichen Wartungscrew gehören.» «Gloria ist sehr schön», sagte Beatrice, freilich lustlos. «Vielleicht sollte ich es auch mit Aerobic versuchen. Oder keinen Alkohol mehr trinken. Alle sagen, man nimmt sofort fünf bis zehn Pfund ab. Wie ist es, Ben, wenn man nicht mehr trinkt?» «Als ob man jeden Morgen in Kansas aufwacht. Aber wenigstens hat man keine Kopfschmerzen und nicht mehr diesen pelzigen Belag im Mund.» «Ich brauche den kleinen Kick», sagte sie. «Allan sagt, es macht nichts, die Asiaten saufen wie ein Loch. Er sagt, die haben sich nie die Birne benebeln lassen mit dem jüdischchristlichen Gott. Die Japaner haben die Missionare umgebracht, und die Chinesen haben sie zum Teil reingelassen, ihnen aber nie eine Audienz beim Kaiser ermöglicht. Sie haben sie einfach draußen vorm Palast warten lassen, Generationen lang. Duncan, lass das!» Der kleine Junge quälte den älteren, indem er schadenfroh so tat, als wolle er ihm die Hose herunterziehen. Jung wie Duncan war, wusste er genau, wo der Bruder seine Schwachstelle hatte. Quentin drehte sich panisch im Kreis und versuchte, Duncan abzuschütteln. Die Spottdrossel war unter235
des in dem großen Taxus, den das Reh angeknabbert hatte, in mitfühlendes Gekreisch ausgebrochen. Während der Paarungszeit hatte uns der Vogel damit amüsiert, dass er sich ganz oben auf den Fahnenmast hockte, mit einem komplizierten Lockruf hochsprang, mitten im Satz kehrtmachte und sich wieder auf der Mastspitze niederließ. Das aufgeregte Geflatter der beiden Jungen war ähnlich, nur gefärbt von Quentins Verlegenheit und Duncans wilder Schadenfreude. «Häufchen machen!», schrie Duncan immer wieder mit wütender Lust. «Häufchen machen!» Das Sonnenlicht war uns an den Fußknöcheln hochgekrochen und prallte grell von der Glasplatte des Korbtisches und von den Porzellantassen ab. Als Beatrice sich vorbeugte, um ihre Zigarette im restlichen Schluck Tee auszulöschen, stürzte ihr das Licht in den korallenfarbenen Ausschnitt, in die feuchte warme Höhlung zwischen den Brüsten. Der Kuss der ausgelöschten Zigarette hing in der Luft. «So sind sie den ganzen Tag, dauernd gehn sie aufeinander los», sagte sie. «Nächstes Jahr fängt die Schule an – ich bete, dass es bald so weit ist.» Ihre Augen blieben auf ihre breite Hand geheftet, die über der Tasse mit dem kalt gewordenen Schluck Tee schwebte. Ihre Brauen hatten sich zusammengezogen und eine senkrechte Falte über der Nasenwurzel entstehen lassen. Wie nett wäre es, dachte ich, unter ihr zu liegen und das Schaukeln ihrer Brüste zu fühlen, schwer und weich, über meinem Gesicht, meinem offenen Mund, meinen geschlossenen Lidern. In seiner Verzweiflung hatte Quentin einen Krocketschläger gepackt, und ich hatte Angst, er werde seinem wilden kleinen Bruder etwas antun. Ich stürzte auf den Rasen hinaus, nahm ihm die Waffe weg und blaffte: «Schluss jetzt! Es reicht!» Die Jungen waren bei ihrem arbeitswütigen Vater so wenig an männliche Zurechtweisung gewöhnt, dass beide Heulpetergesichter machten und zu ihrer Mutter rannten, 236
die in einer Art Halbschlaf auf dem weißen Korbsofa saß, eine nicht eingreifende Göttin. Sie fasste meine Intervention als Kritik auf und beschloss zu gehen, stellte ihre Tasse aufs Tablett zurück und versuchte, sich aufzuraffen. Quentin fläzte sich so zerrend gegen sie, dass ein Träger ihres Kleids ihr über die runde braune Schulter rutschte und einen milchweißen Streifen von einer birnenförmig schwellenden Titte sehen ließ. Das dunklere Fleisch um den Nippel herum war genoppt und köstlich rubbelig, stellte ich mir vor. «Es war reizend, Ben», sagte sie und rückte ohne Hast den Träger zurecht. «Danke für den guten Tee. Du musst unbedingt dieser Tage mit Gloria nach Wellesley kommen, ich brauche ihren Rat für den Garten. Er gerät außer Kontrolle, genau wie die Kinder. Allan hat diesen tierisch langen Arbeitstag, aber die Schuld liegt hauptsächlich bei mir. Ich bin so versumpft; ich will bloß noch den ganzen Tag schlafen und die ganze Nacht essen und mich morgens dann übergeben.» Sie stand auf und gähnte. «Das klingt ja, als ob –» «Ja. Wir haben’s für uns behalten, in der Hoffnung, dass es wieder weggeht. Noch siebeneinhalb Monate, das halt ich nicht aus! Ich bin zu alt zum Kinderkriegen.» «Bea, das ist wunderbar!» Ich warf mich ihr entgegen und schürfte mir das Schienbein an der Glasplatte des Korbtisches auf. «Oder schlichtweg dämlich», sagte sie, schloss die Augen und hielt mir die Wange zum Kuss hin, ähnlich wie Duncan mich seinen verletzten Daumen hatte küssen lassen. «Wie geheim ist es denn?», fragte ich. «Du kannst es Gloria erzählen, aber nicht deinen Kindern, versteh mich bitte. Allan geniert sich ein bisschen, er möchte nicht aufgezogen werden, vor allem von Matt nicht. Es war natürlich nicht geplant. Wir halten nichts davon, mehr als zwei zu haben.» 237
«Das ist sehr altmodisch von euch. Die Welt muss wieder bevölkert werden», machte ich ihr klar. «Fürs nächste Gemetzel», sagte sie seufzend. «Aber ich gebe zu, ich hätte nichts dagegen, wenn’s ein Mädchen würde. Das Blatt scheint sich in der Hinsicht ja auch schon gewendet zu haben, die kleinen Vettern sind nicht mehr unter sich.» «Eben. Verschaff Jennifer ein bisschen Konkurrenz», sagte ich ermutigend. «Konkurrenz», sagte Beatrice; sie schloss wieder die Augen und erschauerte. Im schrägen Licht stehend wurde sie diagonal durchschnitten, wie die großäugige Pikdame. Sie trägt ihr schimmerndes Haar in der Mitte gescheitelt und zu einem Knoten hochgesteckt, sodass ihr Nacken zu sehen ist, die symmetrisch strudelnden, nicht miteingefangenen feinen Härchen dort. Sich mit den Lippen in diesen Flaum zu wühlen: wie eine Achselhöhle, nur weicher. «Belebt das Geschäft», ergänzte ich. «Aufregend», sagte ich, bemüht, den richtigen, forsch enthusiastischen Schwiegervaterton zu treffen, «das mit dem Baby.» Aber die Aussicht auf ein elftes Enkelkind ließ mein Leben noch überflüssiger und unsinniger erscheinen, verloren in einem Meer des Zeugens und Gebärens. Die drei Wellesley-Turnbulls veranstalteten ein beschwichtigendes Spektakel familiärer Zuneigung und gaben mir klebrige Küsschen, bevor sie sich wieder in ihren bordeauxroten Mazda klemmten, aber ich war deprimiert nach dem Besuch. Mein Hin und Her mit Beatrice war ein einziges nervöses Vorspiel gewesen, und geendet hatte es mit biologischer Eifersucht auf meinen Sohn; das Wechselspiel zwischen seinen beiden kleinen Söhnen hatte mich einmal mehr in den bedrückenden Keller des Lebens blicken lassen, wo in dunklen Winkeln hirnlose Spinnen gegliederte Insekten fangen, sie Stück um Stück verzehren, einen fusseligen Eierbeutel hinterlassen und sterben. All diese lang238
beinigen toten Spinnen, zusammengeklappten Gyroskopen gleich, die wir von Radnetzen herabbaumeln sehen – sind sie verhungert, haben sie vergeblich ein Netz gesponnen, oder sind sie eines natürlichen Todes gestorben, an Altersschwäche, nach langen Jahren, in denen sie von Kranken- und Sozialversicherung gezehrt haben? Allein, verängstigt, ging ich in den Wald und den Hang hinunter – mich an Zweigen festhaltend, damit ich nicht ausrutschte und mir die alten Knochen brach –, um zu sehen, ob meine Freunde aus Lynn auf ihrem Posten waren. Ich hörte Stimmen, einschließlich einer weiblichen, die beim Knacken des Reisigs unter meinen Schritten leiser wurden und verstummten. Die Hütte hatte einen Anbau bekommen; das Dach bestand aus gewelltem undurchsichtigen Kunststoff, den man im Baumarkt bekam, und ruhte auf einem Gerüst aus akkuraten, fünf mal zehn Zentimeter starken Brettern – keine toten Äste mehr, die als Stützen dienen mussten. Es gab einen erhöhten Fußboden aus Sperrholz mit wandhoch davor gespanntem Fliegendraht. Zwei Schatten zeichneten sich undeutlich hinter dem Drahtnetz ab, und in einer Öffnung erschien das Gesicht des blonden Mädchens. «Ach Sie sind das», sagte sie; es klang gelangweilt, aber nicht feindselig. «Störe ich bei irgendwas?» «Wir sitzen bloß so rum und quatschen», ließ der andere Schatten sich vernehmen. Es war die lockere leichte Stimme des jüngsten der drei Jungen. «Ham Sie nich grade Besuch gehabt?» «Meine Schwiegertochter und zwei Enkel.» «Doller roter Mazda, was die da hat. Sie rast auch ganz schön.» Das Gefühl, dass man mir nachspionierte, war mir unangenehm; Gloria und ich hatten dieses Anwesen wegen seiner Abgeschiedenheit gekauft. «Wo sind eure beiden Freunde?», fragte ich. 239
«Unterwegs, Dampf machn», sagte der Junge. «Sie haben was zu erledigen», präzisierte das Mädchen misstrauisch. Aber ich hatte meinen Tribut bis zum ersten Juli voll bezahlt und war entschlossen, mich nicht vergraulen zu lassen. «Ich sehe, ihr habt euch eine Veranda mit Fliegengitter zugelegt.» «Das mit den Mücken war nicht mehr feierlich.» «Da sagen Sie was.» Ich schlug geräuschvoll dreimal zu, nach einer echten und zwei imaginären. «Wie ist es denn da drinnen? Bestimmt nett.» Sie zögerten mit der Antwort, waren aber zu jung, um unverblümt grob zu sein. «Komm Sie kuckn», rief der Junge, und das Mädchen hob an einer Stelle das Drahtnetz so weit an, dass ich gebückt eintreten konnte. Es war traumhaft in dem kleinen Unterschlupf. Die gestohlenen Gartenstühle aus Metallgeflecht stellten die perfekt passende minimalistische Einrichtung dar, und ein Stuhl war noch frei für mich. Sonnenlicht sickerte durch das gewellte Plastikdach und schuf ein grün gesprenkeltes Dämmer, wie unter Wasser; die Bäume in meinem Wald nahmen nebelhafte phantastische Gestalt an draußen hinterm Fliegengitter, das mit einer säuberlichen Reihe von Steinen am Boden befestigt war. «Ich habe gedacht», sagte ich und setzte mich, «ich komme mal runter und seh nach, wie’s euch hier so geht.» «Wir könn nich klagn», sagte der Junge. Jedenfalls bis jetzt nicht, hieß das, bis zu diesem Besuch, mit dem ich ihm Grund zur Klage gab. Das Mädchen war nicht ganz so zugeknöpft. «José und Ray mussten weg, geschäftlich», sagte sie. «Gut, gut», sagte ich und streckte in mitteilsamer Stimmung die Beine aus. «So ging’s mir auch, jeden Tag mit dem Zug nach Beantown, acht, neun Arbeitsstunden mindestens, 240
Aug in Auge mit den andern Haien. Der Trick war, die Millionen einer reichen Witwe unter den Daumen zu kriegen und das Geld dann so hin und her zu schieben, dass die Broker, mit denen man befreundet war, auf ihre Kosten kamen. Oder eine hübsche saftige Stiftung zu verwalten für null Komma acht Prozent im Jahr. Pensionsfonds, Altersrücklagen – so was hat sich auch ganz nett geläppert, die armen reichen Säcke blickten nicht durch bei den vierteljährlichen Geschäftsberichten. Leute, die Geld haben, hegen meist den unterbewussten Wunsch, es loszuwerden. So was wie ein finanzieller Todeswunsch – auf die Weise sorgt die Spezies für Ausgleich. Ihr kennt sicher den Spruch
Er nickte wortlos, im vagen Gefühl, dass sehr viel mehr Konversation mit mir ein Verrat an seinen Kumpeln wäre. Er sah, dass ich ein gewiefter Plauderer war, wenn ich wollte. «Ich bin Sechsundsechzig», sagte ich zu ihm. «Stell dir das mal vor. Als ich so alt war wie du, wenn mir da einer gesagt hätte, dass ich eines Tages Sechsundsechzig sein würde, dem hätte ich ins Gesicht gelacht. Als ich jung war, gab es den Schnack: , und nun sieh dir an, was aus mir geworden ist.» Er sah es sich an, mit Augen, die wie runde Öltropfen waren. «Soll ich dich Kevin Nummer zwei nennen?», fragte ich. Seine Augen wanderten zu Doreen und hinaus zu den geisterhaften Bäumen und wieder zu mir. Er wusste, wenn man seinen Namen preisgab, war das ein möglicherweise verhängnisvolles Zugeständnis. «Manolete», flüsterte er, gerade eben laut genug, dass ich es hören konnte. «So hieß vor langer Zeit einmal ein großer Stierkämpfer», sagte ich. «Ein schöner und berühmter Name. Trage ihn mit Stolz, Manolete, bei deinen Auftritten in der Arena des Lebens. Mögen deine poses immer ohne Fehl sein, und möge die Menge dir stets beide Ohren und den Schwanz zuerkennen.» Damit er nicht glaubte, ich triebe meinen Spott mit ihm, setzte ich ihm auseinander: «Das macht die Zeit, weißt du. Sie lässt dich elf sein, dann Sechsundsechzig, und gibt dir das Gefühl, dazwischen liege nur ein Augenblick. Einmal vorbei, hinterlässt sie keine Spur. Sie ist irgendwo da draußen im All, unerreichbar. Der Zeitpfeil. Manche Wissenschaftler meinen, die Richtung, in die er zeigt, sei umkehrbar in Quantenzuständen, und andere meinen, sie wäre umkehrbar, wenn das Universum am Ende der Zeit ebenso glatt wäre wie am Anfang. Ich kann’s mir selber nicht so richtig vorstellen.» Ich wandte mich wieder Doreen zu: «Wie läuft es geschäftlich für Ray und José?» «Gut, glaub ich.» Sie klang nicht überzeugt. 242
Manolete – der Name passte – hatte wieder Gelegenheit für eine seiner jähen ausgreifenden Gesten: seine Hand fegte in hohem Bogen Richtung Decke, deren Farbton uns auf dem Grund eines schmutzigen Swimmingpools festzuhalten schien, «‘ne Menge alte Kunden von Spin und Phil sagn: Sie sagn: <Wir wolln Beweise.>» «Na, mir habt ihr welche gegeben», sagte ich. Doreen wollte nicht außen vor bleiben bei unserer Männerunterhaltung und rückte mit der Information heraus: «Sie bringen die Hunde und Katzen von den Leuten um und legen sie ihnen vor die Haustür, aber viele sagen trotzdem, sie wollen nicht zahlen.» «Menschen sind nun mal egoistisch», sagte ich. «Bei eurer Tätigkeit kommt es entscheidend darauf an, dass ihr Vertrauen schafft. Phil und Spin, denen haben die Leute vertraut. Sie haben sie nicht unbedingt gemocbt, aber sie konnten eine Beziehung zu ihnen herstellen. Ihr habt alle den Nachteil, wenn ich das mal so sagen darf, dass ihr ein bisschen jung wirkt.» Manoletes Arm schnellte vor und zielte auf mich wie ein Degen. «Die wern sich wundern, von weng jung! Wir ham die Kanonen und gemb’n Scheiß nich drauf, woher!» «Gut gesagt», sagte ich. «Aber was ihr braucht, um Leute wie mich zu überzeugen, ist etwas Schriftliches. Ich weiß, in eurem Alter hält man es nicht mal für nötig, lesen zu lernen, aber das ist nun mal die Art, wie die Leute, die ihr überzeugen wollt, miteinander verhandeln. Indem sie etwas zu Papier bringen. Angenommen, ich würde euch ein Empfehlungsschreiben geben. Ungefähr so: Wie hört sich das an?» 243
«Wie Scheiße vonner ganz ollen Sorte», sagte Manolete, aber mit einem Lächeln, unter Wasser hier. Doreen fragte: «Wieso würden Sie das für uns tun?» Die zerrissenen Jeans, das schlabberige T-Shirt, die stoppeligen kurzen Haare konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie mit ihren dreizehn, demnächst vierzehn Jahren anfing, eine Figur zu bekommen. Schmale biegsame Taille, knospende Brüste. Am einen Ende des Fruchtbarkeitskontinuums, an dessen anderem Beatrice stand. «Ich mag euch», sagte ich. «Ihr habt ein paar frische Gesichter in mein einsames Leben gebracht. Und ihr haltet mir Eindringlinge vom Leib, nicht?» «, sagn wir, wenn einer zum Strand will», sagte Manolete und machte dazu eine seiner verhaltensten Armbewegungen. «Recht so», sagte ich. «Außerdem scheint mir, wenn ich euch so ein Empfehlungsschreiben gebe, das euch in der Gegend hier zu mehr Glaubwürdigkeit verhilft, dann habe ich doch sicher Anspruch auf Rabatt.» «Rabatt?», fragte Doreen. «Wie viel?» «Ach… was wäre denn recht und billig? Sagen wir, zehn, nein, fünfzehn Prozent. Fünfzehn Prozent vom Monatsbetrag. Gib mir jetzt keine Antwort. Besprich es mit den andern beiden. Aber weise sie deutlich daraufhin, dass es die einzige Möglichkeit ist, ihre Machenschaften auf respektable Füße zu stellen. Ich würde das Schreiben in blauer Tinte abfassen, auf einem Briefbogen mit meinem eingravierten Namen, damit jeder sieht, dass es echt ist.» Als der lange Juninachmittag hier auf der Ostseite des Hügels allmählich in den feuchten Schatten schlüpfte, fanden immer mehr Mücken Lücken im Drahtnetz. Ich erschlug mehrere, die im Anflug auf mein Ohr waren. Merkwürdig, ich, der ich es nicht über mich bringe, eine Spinne zu töten, und es immer entsetzlich fand, wenn ich im Haus etwas repa244
rierte, und eine kroch selbstmörderisch in die nasse Farbe hinein, habe kein Herz für Mücken, obwohl sie alle angehende Mütter sind und ein Tröpfchen Blut suchen, um ihre Nachkommenschaft zu nähren. Dieser Klagegesang, mit dem sie sich schon von weitem verraten – ich frage mich, warum die Evolution ihn nicht zum Schweigen gebracht hat, indem sie die Nichtsingenden hat überleben lassen. Aber die Evolution hat ihre Eigenheiten, ihre Mucken und tut nicht immer das, was auf der Hand liegt. «Ihr braucht was gegen die Plagegeister», sagte ich und gab beim Aufstehen Acht, dass ich mit dem Kopf nicht gegen das gewellte Dach stieß. «Wir haben was», sagte Doreen, nicht mehr so freundlich, nun da das Licht von diesem zerbrechlichen Unterschlupf wegebbte und feuchte Kühle sich ausbreitete. «Aber das nützt ‘n Dreck gegen die tickenden Biester da.» «Die mach ich platt», prahlte Manolete wieder. Gloria musste inzwischen zurück sein, aus Boston oder sonst wo. Ich konnte durch die Bäume hindurch das Röhren von Automotoren hören, aber von wo es kam, von unserer Zufahrt oder von weiter weg, konnte ich nicht sagen. Die Akustik auf diesem Hügel ist immer trügerisch gewesen. Unterhaltungen an der Tankstelle unten im Ort klingen, als fanden sie unmittelbar vorm Küchenfenster statt, hingegen ist es mir oben in meinem Studio – meinem Logbuchraum – nicht möglich, das Näherkommen des FedEX-Trucks auf der Zufahrt zu hören. Wenn das Getöse auf mein Ohr trifft, ist der unachtsame Truck schon wieder auf der Rückfahrt, außer Sicht hinter der Kurve beim Taglilienbeet, und hat einmal mehr einen tief hängenden Ast der Hemlocktanne abgerissen. «Und ihr habt einen Kühler für Getränke, wie ich sehe», sagte ich; in einer Ecke des anderen Raums hatte ich etwas Styroporweißes ausgemacht. «Gegen eine bescheidene Entschädigung wäre ich vielleicht damit einverstanden, dass ihr euch aus einer Steckdose in meiner Garage mit Strom be245
dient. Ihr braucht eine Menge Verlängerungskabel, aber ihr könntet euch dann einen Ventilator und eine Lampe hinstellen und sogar einen kleinen Kühlschrank. Natürlich nicht umsonst.» «Hey, Big Guy», sagte der Junge. «Uns gefällt das hier, so wie’s is. Und wie es is, da quatscht uns keiner rein.» «Big Guy» – das zu hören war die Schlitterpartie in den Wald wert gewesen. Es ergab sich, dass der längste Tag des Jahres 2020 n. Chr. regnerisch und neblig war, das frühe Morgengrauen und der späte Sonnenuntergang verborgen in einer weißen schweren Tröpfchenmasse. Der Tag war ein langer blasser Wurm, der sich aus dem Dunkel hochkrümmte und wieder zurück. Das Papier wellt sich schlaff, während ich schreibe, und will das Bleistiftgrau nicht annehmen. Die Päonien in Glorias Blumengarten sind schon ziemlich hinüber, aber einige Knospen, die fest zusammengewickelten Seidengespinste fleckig, wie gebatikt, warten noch darauf, sich zu entfalten. Die großen weißen sind an den Rändern hier und da leuchtend rot betupft wie mit Blutflecken. Die zweifarbigen Lupinen sind verblüht, dafür haben jetzt die hohen Stängel des Fingerhuts ihre Zeit und gelbe Akeleien, filigrane tanzende Schätzchen, die jegliche Verbindung mit ihren Stielen zu leugnen scheinen. Das Seifenkraut ist den Rabatten entwischt und hat sich unter das Unkraut bei den alten Frühbeeten gemischt, von denen die Zeit nur ein Durcheinander von Glasscherben und eingetrockneten Kittkrümeln übrig gelassen hat. Gloria hat vom geschwungenen Beet zum Meer hin einige Rosen geschnitten und beim Juniwettbewerb des Gartenclubs den zweiten Platz belegt und bunte Bänder heimgebracht. Ich bin sicher, sie wäre auf Platz eins gekommen, wenn sie mit dem Schnitt ihrer Nennungen ein paar Stunden 246
gewartet hätte, denn die hatten sich bis zum Abend, als die Preisrichter ihre Urteile fällten, einfach zu weit geöffnet. Bei dem Wettbewerb kommt es weniger aufs schöne Wachstum an als auf den Zeitpunkt des Schneidens. Jetzt hocken die Bewerberinnen in Wassergläsern überall in der Küche herum, opulent wie alte Schauspielerinnen, und die Preisbänder baumeln in der Bibliothek, sind mit ihren Schnürchen zwischen die sechs Bände von Winston Churchills Geschichte des vorletzten großen Kriegs geklemmt. Ich machte einen aus mehreren Gründen fälligen Ausflug nach Boston. Im Zug und in der North Station und sogar in den Straßen des Finanzdistrikts, vor allem am Quincy Market mit seinen Touristenfallen und Juvenilia, unmäßig viel nacktes Fleisch. Einiges davon war schon tief und robust gebräunt; junge weibliche Hinterteile schoben ihre Halbkugeln unter den ausgefransten Säumen radikal abgeschnittener Denims hervor und ließen gelegentlich den pastellfarbenen, mondsichelförmigen Rand eines winzigen Slips aufblitzen. Ich dachte an Deirdre. Aber sonst – wie widerlich Menschen sind! In der Ambulanzabteilung des Mass. General Hospital, wo mein Dermatologe seine halbjährliche Ernte bei mir hielt – er eist mir zischend mit schmerzhaften Spritzern flüssigen Stickstoffs die Keratoseknötchen weg –, drängten sich ausschließlich Fettsüchtige, Krebszerfressene, Hirngeschädigte, Verkrüppelte zu mir in den Fahrstuhl. Aus dem Augenwinkel wahrgenommen, verzerrten die Gesichter sich, sodass ich den deutlichen Eindruck hatte, neben mir stehe das vielfach transplantierte, zusammengestückelte Opfer einer Brandkatastrophe, sein Gesicht ein Chaos aus Wülsten und Hautflicken. Als ich aber genauer hinlinste, sah ich, dass es ohne jede Narbe war und zwanzig Jahre jünger als mein eigenes, von der Sonne Beschädigtes. Ich wandte meinen neuen Trick an: indem ich mich innerlich auf ein Gesicht am Rand meines Blickfelds 247
konzentrierte, gelang es mir, den Eindruck von wimmelnder Deformität rings um mich zu erzeugen, als führe ich aufwärts in einem Lift voller Mutanten oder grausig versehrter Überlebender des letzten großen Kriegs, deren rohes Fleisch verstrahlt und deren Verstümmelung jenseits aller plastischen Chirurgie war. Tatsächlich gibt es, abgesehen von den leer stehenden Büroblocks und den apathischen, zuweilen entstellten Bettlern in olivgrünem Drillich, merkwürdig wenig im heutigen Amerika, das an den globalen Holocaust vor knapp einem Jahrzehnt erinnert. Es ist immer Art des Landes gewesen, weiterzumachen. Alles geht seinen normalen Gang – das ist der Anspruch und das Ideal, auch wenn der Präsident und die Mitglieder der Legislative in Washington so wenig Kontrolle über uns haben wie die römischen Kaiser im fünften Jahrhundert nach Christus über die Bevölkerung von Iberien oder Thrakien. Schon vor dem Krieg hatte der bürokratische Apparat in einem Maß metastasiert, dass er nur mehr zu seinem eigenen Wachstum funktionierte. Die Nachkriegswelt fürchtet sich vor jedweder zentralisierten Macht. Unser Commonwealth-Geld wird nicht in Boston gedruckt oder im zentral gelegenen Worcester, sondern von sechs oder sieben unabhängigen Kleinstadtdruckereien; das Design variiert erheblich. Aber die elektronischen Verbindungen mit anderen Teilen des Landes leben wieder auf, und der Handelsverkehr macht eine erweiterte Infrastruktur notwendig. Es wird sogar von einer Fluglinie New York-Kalifornien geredet; Kalifornien ist von den chinesischen Bombern am übelsten zugerichtet worden, und Erdbeben, Waldbrände und Schlammlawinen haben ihm den Rest gegeben, es quasi in die Steinzeit zurückversetzt, heißt es. Die Küsten wieder zu vereinen ist ein Traum, den Demagogen in Radio-Talkrunden hochspielen. Das erste Mal, dass ich einen Preis gewonnen habe und mir der Möglichkeit bewusst wurde, dass es Preise zu gewin248
nen gab, war anlässlich eines Sommersprossenwettbewerbs bei einem Kirchenpicknick. Wir gehörten – halbherzig – der United Congregational von Cheshire an, mit der kärglich ausgestatteten Sonntagsschule im Souterrain und den großen Klarglasfenstern und der schäbig gestrichenen Säulenfassade, die wie die eines griechischen Tempels aussehen sollte. Der Puritanismus hatte an Würze, an Schärfe verloren auf seinem Weg in den Westen von Massachusetts; es war mir so vorgekommen, als sei das weiße Licht grausam durch das Klarglas auf unsere Gesichter und unsere Sonntagskleider gefallen und habe uns gnadenlos hervorgehoben, wie unter einem Mikroskop. Welch einen Trost, frage ich mich jetzt, hat der laue Kongregationalglaube meinem Vater und meiner Mutter gebracht, als die mit der Armut kämpften, mit Zahnschmerzen, chronischer Arbeitslosigkeit und dauernder Unzufriedenheit? Gleichviel, als Kind habe ich Sommersprossenwettbewerbe gewonnen, und auch wenn die Sommersprossen später verblasst sind, die empfindliche helle Haut ist geblieben, in den Stachel- und Basalzellen schwelt DNS-Schädigung. Während der langen Wartezeit in der Praxis meines Dermatologen studierte ich voller Abscheu die anderen Patienten. Sie kamen mir alle älter vor als ich, Tapergreise, die sich sabbernd an ihren Krückstöcken festhielten, dabei waren sie höchstwahrscheinlich im selben Alter wie ich. Ich schaue immer noch mit der unversöhnlichen Einstellung eines geldorientierten jungen Mannes aus den Fenstern meiner Augen. Mein Herz wies jede Zugehörigkeit zu diesen ekelhaften Relikten des vergangenen, unbeweinten Jahrhunderts von sich; stattdessen trachtete ich danach, mich heimlich flirtend mit der bemerkenswert attraktiven Schwester zu verbünden, die mich schließlich in eine Untersuchungskabine führte, mir einen zusammengefalteten blauen Papierkittel gab und mir bedeutete, ich solle mich freimachen. Warum machen wir uns nicht zusammen frei, Süße? 249
Der Dermatologe, selbst ein Relikt, untersuchte mich zerstreut und fand nichts, was der Dienste eines Chirurgen bedurft hätte. Dabei mag ich diese Exzisionen, sie haben so etwas Entschiedenes – ein Satz kranker Zellen weniger, den man mit sich herumschleppt. Der Arzt, der eine Haut weich wie Rosenblätter hat, nur dass sie braun verwelkt ist, besprühte einige Flecken in meinem Gesicht und auf meinem rechten Handrücken mit schmerzhaften Spritzern flüssigen Stickstoffs und sagte, es sei ein weiteres Vitamin-A-Derivat gefunden worden, mit dem sich die Entartung von Hautzellen bis zu einem gewissen Grad rückgängig machen lasse. Ich winkte ab: «In meinem Alter –» «Na, na», sagte er. Er war zehn Jahre älter als ich. «Mehr Respekt vor der Haut bitte. Sie hält länger als jedes andere Organ. Menschen sterben an Herzversagen oder an Leberversagen, aber nie an Hautversagen. Denken Sie an die irischen Moorleichen, die durch chemische Stoffe im Torf konserviert sind, bei denen ist die Haut genauso gut erhalten wie die Knochen. Fünftausend Jahre alte Tätowierungen, so klar und blau wie am Tag, als sie gestochen worden sind.» In seiner zunehmenden Senilität aber vergaß er, mir das Rezept für die eben noch empfohlene Vitamin-A-Salbe auszustellen. Mrs. Fessenden, bei der die Senilität gleichfalls auf dem Vormarsch ist, hat seit einiger Zeit die fixe Idee, dass ihre angelegten Gelder alle im elektronischen Labyrinth des computerisierten Finanzwesens verschwunden sind. Die Furcht ist begründet: Datenbanken erlöschen, Regierungen verdämmern, Inflation macht die Währung zu einem Witz. Aber das Wesen des Kapitalismus gebietet, dass einmal etablierter Reichtum fortbestehe, auf dass er andere dazu verlocke, für ihn zu arbeiten. Reichtum überdauert Kriege, Demenz und hochgradige persönliche Unwürdigkeit. So trottete ich vom Krankenhaus durch die Trümmerlandschaft aus Backstein und Beton (Government Center wurde die Gegend früher 250
genannt), wo einst das John F. Kennedy Building und die City Hall standen (beide während des Krieges von Amerikanern, die mit den Chinesen sympathisierten, in die Luft gejagt, obwohl alle Einwohner von Chinatown auf den Inseln im Hafen interniert waren), hinüber zur State Street und meinem alten Büro bei Sibbes, Dudley und Wise. Hier war ich glücklich gewesen, hier hatte ich – in bescheidenem Umfang – Macht gehabt. Ich träume oft, dass ich mit dem Lift hinauffahre und alles, was sich jenseits des Schreibtisches der Empfangssekretärin befindet, albtraumhaft verändert ist. Ich musste heute unbedingt etwas auftreiben, womit ich Mrs. Fessenden beweisen konnte, dass sie immer noch eine reiche Frau war, wie sehr die Welt auch schwankte. Aber was gab es denn schon, außer suspekten Computerausdrucken? Die sähen alle gleich aus und könnten sonst was bedeuten, sagte sie. Mit der widerwilligen Hilfe von Ned Partridge, der jetzt einen spillerigen Assistenten mit dem ökonomischen Namen Gary Gray hat, fand ich in einem Hinterzimmer voller altmodischer Dokumentenordner einige gravierte Aktienscheine des Chicago Municipal Water Authority Board von 1920, die zum Nachlass ihres Vaters gehörten und auf sie übergegangen waren. Sie waren wunderschön verziert mit kreuzschraffierten Fontänen, überfließenden Vasen, nackten Nereiden und dem bärtigen Haupt eines jubelnden Neptun. Unten, über der Spitzenmusterradierung am äußersten Rand, zog sich ein Tableau hin: ein französischer Pelzhändler, der in Begleitung zweier in Hirschleder gekleideter Indianer von der sumpfigen Mündung des Chicagoflusses aus über den Michigansee zum Horizont späht. Eine andere von Neds Hilfskräften, ein kompakt gebautes Mädchen in jadegrünem Futteralfummel, der sich eng an ihre honigbraune Haut schmiegte – Afrika war irgendwo auf der Landkarte ihrer Gene kürzlich mit Asien zusammengestoßen –, half mir, auf dem neuesten Stand der Technik befindliche farbige Xerokopien dieser anti251
quierten Beweise für finanzielle Sicherheit anzufertigen, und erklärte sich heimlich einverstanden, sie Mrs. Fessenden per FedEx, auf Kosten der Firma, nach Chestnut Hill zu schicken. Die klimatisierten Büroräume in ihren Schattierungen écrufarbener Fluoreszenz stellten eine Art Paradies dar, und ich war versucht zu bleiben. Einst war ich hier willkommen gewesen, und es gehörte zu den übleren Streichen der Zeit, dass ich ein Fremdkörper geworden war, ein Erreger, der neutralisiert und ausgestoßen werden musste. Die höheren Chargen verstanden das besser als die hübschen unteren. Das Unangenehme an Ned Partridges Gesicht ist, neben dem papierbleichen Stubenhockerteint, die Art, wie seine lange matte Nase sich irgendwie immer im Profil zeigt, auch dann, wenn er einen frontal ansieht. In dem picassoesken Durcheinander scheinen auch seine fischigen Augen nicht dort zu sein, wo sie hingehören. «Ohne Sie ist der Laden nicht mehr das, was er mal war, Ben», sagte er, und die Heuchelei war so offenkundig, dass die Mischlingsschönheit einen wimperngefiederten Blick in seine Richtung abschoss. «Ihr scheint ganz gut zurechtzukommen», sagte ich. «Schon, aber es gibt keinen Meinungsaustausch mehr. Es ist nicht mehr lustig.» «Mit mir war’s lustig?», fragte ich ungläubig. «Es gibt keine Noblesse mehr», redete er weiter, meine Frage übergehend. Die afroasiatische Assistentin klappte sittsam die Liddeckel über dem feuchten Schatz ihres Blicks in seinen schimmernden bewimperten Gefäßen zu. Als hätte ich, ein armer Junge aus dem gottverlassenen Hammond Falls, die Fahne einer untergehenden Vornehmheit hochgehalten. «Ihr habt noch Firman Frothingham», sagte ich. «Mit dem ist es lustig.» «Jaaa, der ist noch da, aber unter uns» – sein Gesicht rückte näher, wurde unscharf –, «Frothy hat viel von seinem Feu252
er verloren, seinem Esprit. Alles bloß noch Halsabschneiderei jetzt», sagte Ned und lehnte sich, Lippen und Nasenflügel gegeneinander verschiebend, in seinem Sessel zurück. «Wilde», schnaubte er. «Jeder sticht sich sein bisschen Torf und zieht die Zugbrücke hoch. Bingo und leck mich, Mac. Pat soll Sie rausbegleiten, Ben, wir haben das Stockwerk neu unterteilt, seit Sie weg sind.» Pat, in der Tat. Patpatpatsch. Als ich ihr durch die écrufarben schwebende Helligkeit der Büroräume folgte, sah ich, dass das schmale grüne Kleid mit dem Schlitz, der ein goldbraunes Stück Schenkel entblößte, ihrem diskret, jedoch unleugbar fettsteißigen Gesäß eng genug anlag, um die Furche kundzutun. Auch ihr Gesicht hatte, als es mir auf Nimmerwiedersehen zulächelte, seine kräftigen Rundungen. Sie war ein Stück Fleisch der Extraklasse, und ich hoffte, sie schindete einen anständigen Preis heraus. Solchermaßen ausgestoßen, stieg ich in die stickigen, schmutzigen Straßen hinab, zum massenhaft sich drängenden Pöbel. Es war, als sei die Weltbevölkerung nie halbiert worden. Abendländische Haut in all ihren eklig geäderten und gesprenkelten Schattierungen schwappte und rempelte auf der Congress Street, eine sich wälzende Flut von Leibern, die ich hastig durchpflügte, um zur North Station zu kommen. Der Käse- und Tomatenmarkgestank italienischen Fastfoods in der Bahnhofshalle verursachte mir Brechreiz. Übergewichtige Mädchen stierten auf ihrer planlosen Suche nach Stimulierung glatt durch mich hindurch. Der Pendlerzug wird im Sommer zu einem Transporter, der seine Fracht an die Strande der Nordküste befördert, und die Vinylsitze nehmen einen Geruch nach Salzwasser und Sonnenmilch und nassen Handtüchern an und nach schläfrigen braun gebrannten jungen Körpern, die es kaum aushaken, so dringend müssen sie pinkeln. Wenn wir älter werden und der Appetit nachlässt, sind wir mäkliger mit dem Essen, fällt mir auf – wir 253
riechen zweifelhafte Zutaten, die die Jugend gierig hinunterschlingt, und haben auch einen Widerwillen gegen die Ausscheidungsgerüche der Paarung, von den sauren gegorenen Getränken, die uns unsere Hemmungen nehmen, bis zu den postkoitalen Pfützen. Das Duftgemunkel all dieser Absonderungen und unmäßig raffinierten Gameten bereitet uns Übelkeit. Ich schreibe dies und bezweifle zugleich, dass es wahr ist. Es hat etwas räuberisch Großartiges, wie unsere hässliche vielfingrige Spezies, mit ihrem absurd am Körper verteilten spärlichen Haar und dem überdimensionierten Schädel, den Erdball nach und nach, Gemetzel um Gemetzel, in Wellen anthropogenen Fetts eingenommen hat, Mammut, Auerochs, Dodo und Nashorn auslöschend, Tiger, Gepard und Wildschwein in ungesunde Zoos abdrängend, wo sie in der Nacht nichts anderes wittern als Menschen – ein Meer von menschlichem Geruch und Auswurf und Samen. Ich bin Teil davon, noch immer; im selben beschämenden Winkel meiner selbst, in dem ich mich nach endloser Fortdauer sehne, bin ich so fleischlich wie eh. Ich erinnere mich an den verzückten Kindheitsaugenblick, kreidig und erhaben im Geschmack wie ein Ur-Malzbonbon, da ich zum ersten Mal Pornographie kostete. Schmierige Seiten wurden herumgereicht, von Hand zu Hand, damals, in den finsteren Zeiten der Textvervielfältigung, zerfledderte Hektographien, verwischte Durchschläge gar. Es gab eine inspirierende Prosadichtung über einen Jungen aus der sechsten Klasse, den die Lehrerin nach dem Unterricht in der Schule behält; sie steigt auf eine Leiter, um eine Weihnachtsdekoration zu befestigen, und lässt ihn an ihren Beinen hochschauen, damit er sieht, dass sie unterm Rock nichts anhat. Im weiteren Verlauf der Saga lässt sie ihn von ihren ausgiebigen Säften kosten und holt aus seinem Hosenschlitz das jungfräuliche Silberzepter heraus. Erstaunlich! Wir Schuljun254
gen wunderten uns: passierte so etwas tatsächlich? In irgendeinem Universum vielleicht, aber bestimmt nicht in diesem. Ich, ein knospender Geschäftsmann, fragte mich, wer die Erwachsenen waren, die so köstliche Phantasien auf uns darbende Jugendliche regnen ließen, und wie sich in solch einer Branche Gewinne erzielen ließen. Ein anderes Stück sexueller Samisdat-Literatur bezog den weiblichen Standpunkt und reimte sich: Ich nahm meine Titten raus, zaghaft stolz, sie waren groß, Und errötete, als Teds Finger mir kroch in den Schoß. Ich schluckte, als sein Glied sich steil vor mir reckte, Doch er bat, dass ich’s streichelte, und auch, dass ich’s leckte. Wie oft habe ich mir gewünscht, ich hätte mir mehr Strophen gemerkt und nicht bloß diese eine, und ich verfluchte mich für mein schlechtes Gedächtnis. Aber die anderen Jungen drängten mich, grapschten mit sudeligen Fingern nach den mürben, oft gefalteten hektographierten Seiten und drohten, den revelatorischen Text in Stücke zu reißen. Ein Detail war, rein technisch, so interessant, dass es mir unvergesslich geblieben ist: während Ted die Heldin auf ihre Defloration vorbereitete, schob er ihr kundig ein Kissen unter die H üften. Kissenarsch auf arschküssendem Kissen: ein heiliges Geheimnis, das ich da witterte, der Vaginalkanal im richtigen Neigungswinkel himmelwärts gekippt wie ein Flakrohr, um von hoch oben Ekstase herunterzuholen. Ich hegte diesen verwegenen Schnipsel sexuellen Insiderwissens an der schmutzigen Unterseite meines Herzens, habe aber in den folgenden fünfundfünfzig Jahren weniger Verwendung für den Tipp gefunden, als ich mir vorgestellt hatte. Erziehung ist so unrationell, so auf gut Glück. In der ersten Geschichte – ist der Schüler dann auf die Leiter gestiegen, und die Lehrerin hat unten gestanden und ihre 255
nackten Brüste an seinen Füßen gerieben, eine Art biblischer Waschung? Oder habe ich das mehr oder weniger erfunden, in einer suspekten Welle aufgedeckter Erinnerung? Der Kaimienstrauch an der Zufahrt, dessen fünfeckige Blüten kleine Wunderwerke biologischer Designkunst waren, hat diese Blüten inzwischen abgeworfen, hat sie in rosaweißem Kreis um sich gebreitet, steht da wie eine junge Frau, die aus ihren weiten Petticoats geschlüpft ist. Wie viel vom Sommer vorüber ist, ehe er noch angefangen hat! Sein Anfang steht im Zeichen seines Endes, wie unsere Geburt im Zeichen unseres Todes steht. Urzeit gleich Endzeit, hat mal jemand im Lauf meiner Auf-gut-Glück-Erziehung gesagt. Der Rasen ist trocken und hat bräunlich gelbe Stellen; vom Ende eines jeden Tags werden ein, zwei Minuten abgeknipst; die harten weißen Segel vor dem Mittsommerblau der Bucht wirken so unsubtil wie die Tapetenbordüre im Spielzimmer eines verwöhnten Kindes. Die Blätter der kleinen Stieleichen an der Zufahrt, fällt mir auf, als ich zum Briefkasten gehe, sind mit Sternbildern gesprenkelt – Löcher, gefressen von Insekten oder deren wollköpfigen Larven. Gras und Unkraut haben sich beeilt, in Samen zu schießen, sie wissen, dass ihre Zeit knapp ist. Das Jahr ist wie ein Leben – es ist später, als du denkst, das, worauf es ankommt, ist erledigt, aus und vorbei, und du hast noch gar nicht richtig angefangen. Bei unserer Wahrnehmung von Vorwärtsbewegung ist so etwas wie eine Gezeitenverzögerung im Spiel. Wie ich schon meinen Schützlingen auseinanderzusetzen versuchte – eine Erklärung für die unbegreifliche Tatsache (unbegreiflich eher für die Physiker als für die normalen Menschen, die können es sich anders ja nicht vorstellen), dass der Zeitpfeil nur in eine Richtung zeigt, ist, dass die Anfangssingularität, das Universum im Augenblick des Big 256
Bang, vollkommen oder fast vollkommen glatt war, in der Konsistenz wie ein orangefarbenes Wassereis am Stiel, wohingegen die Endsingularität, bei der die Milliarden Galaxien in sich zusammenstürzen, nicht nur nicht glatt, sondern ausgesprochen rau sein dürfte, wie Sahneeis mit Knusperbröckchen. Es leuchtet ein: alle diese glühenden Sonnen, rot und aufgebläht oder weiß und geschrumpft oder gelb wie unsere bescheidene eigene, blau und jung oder schwarz und kollabiert zu rasend rotierenden Neutronensternen oder noch dichteren, alles verschlingenden schwarzen Löchern, dazu Planeten und schlackegleiche Planetoiden, malerische Wolken aus leuchtendem Gas und dunkle Materie, ob hypothetisch oder tatsächlich vorhanden, und titanische Neutrinoströme – kaum zu erwarten, dass sich all das reibungslos auf einen Punkt zusammenzieht, auf eine Singularität, die um etliche Größenordnungen kleiner ist als ein Stecknadelkopf. Mit anderen Worten, die weylsche Krümmung hat beim Big Bang sehr gegen Null tendiert, wird aber beim Big Crunch ungleich stärker sein. Aber, frage ich mich dumm, woher weiß der Zeitpfeil das, in unserem lächerlichen engen Umfeld? Was hindert ihn daran, zu kreiseln wie eine Kompassnadel, in Scherben gegangene Tassen wieder heil auf den Tisch springen zu lassen und mich, wenn nicht gerade in ein Kindheitsich, so doch in den jungen Vorortbock zurückzuverwandeln, der ich war, als ich noch in der Ehe mit Perdita lebte? Eines geschäftigen Sommertags, an dem für jedermann alles so kam wie vorgesehen, fiel es mir zu, drei Frauen zu vögeln – Perdita am Morgen, weil ich auf eine Geschäftsreise musste und wir uns gern «aufgetankt» voneinander trennten; zur Lunchzeit im Parker House dann, nachdem der Zimmerkellner ein paar Clubsandwiches und Eistee gebracht hatte, eine h übsche, beruflich aber chancenlose Analystin aus der Firma, Abteilung festverzinsliche Wertpapiere; und die dritte in mei257
nem Hotelzimmer in Houston, eine übergewichtige kaugummikauende Hure, die ich in der sattelbraunen Bar bei Whiskey und Frijoles aufgetan hatte. Weil sie eine Professionelle war, erklärte ich ihr die Situation ganz unverblümt, und die krasse Direktheit meiner Erklärung geilte mich so auf, dass ich, begleitet von ihren gedehnten, widerwillig gewährten Komplimenten, zweimal kam. In allen Fällen pfeilte mein Samen hinaus ins Dunkel, wie die vertickenden Minuten meines Mannestums. Heute Morgen habe ich Angst vor mir selbst bekommen. Ich fing beim Rasieren geistesabwesend mit dem Kinn und der Gegend unter der Unterlippe an und machte mich dann an die Oberlippe. Es war, als hätte ich einen Moment lang vergessen, ich zu sein. Ich gehe beim Rasieren in der immer gleichen Reihenfolge vor: Wangenbart mit heißem Waschlappen aufweichen, Seife in Seifenschale schaumig rühren, rechte Wange rasieren, dann linke, dann Oberlippe und ganz zum Schluss die knifflige knubblige Kinnregion, wobei ich die Unterlippe mit den oberen Zähnen festhalten muss. Ich habe mich in dieser Gegend öfter geschnitten als in jeder anderen und spare sie mir stets bis zuletzt auf. Plötzlich nahm ich sie außer der Reihe dran. Meine Identität war usurpiert worden von einem Außerirdischen, dem in diesem einen kleinen Punkt die Information fehlte; eine andere Hand, nicht mehr meine, führte Regie. Es war, wie wenn im Reich der Quanten Ort oder Impuls eines Elektrons gemessen würde: die Wellenfunktion erlischt, und ein neues Universum sprießt auf und blüht. Gelobt sei der Herr an diesem prangendem letzten Tag im Juni. Die See ist gesprenkelt mit weißen Schaumkronen Mähnen weißer Hengste, sagt das abergläubische Volk, für uns aber, die wir in frommer, friedvoller Abgeschiedenheit auf unserer Inselhöhe leben, ein göttliches Zeichen der Si258
cherheit, die jagende Nachhut eines nächtlichen Sturms, der stark genug gewesen war, die kleinen drachenköpfigen, mit viereckigen Segeln bestückten Galeerenschiffe der hellhäutigen Teufel aus dem fernen Lothland in den Häfen festzuhalten. Über das schmale Wasser zwischen unserm Vorwerk und dem festländischen Munster sind Gerüchte zu uns gedrungen, dass die Überfälle immer näher rücken. Die seefahrenden Widersacher sind von grenzenloser Gier und Grausamkeit, und die Vorsehung in ihrer wundersamen Geduld gewährt ihnen ein weites Betätigungsfeld dafür, auf dass unleugbare Beweise ihrer Schuld sich ansammeln und ihre Seelen der ewigen Verdammnis anheim fallen. Die frommen Mönche von Lindisfarne, die herrlich schöne Codices geschaffen und Seite um Seite beschrieben haben, wurden ausgeraubt und gefoltert im Juni des Jahres 793 nach der Geburt unseres Herrn aus einer holden Jungfrau, und die Räuber kamen wieder im Jahre 801, um die Gebäude in Brand zu stecken, und 806 kamen sie, um noch mehr hilflose Mönche zu töten. Sankt Columbcilles lichtes Iona ist unter viel Blutvergießen gefallen, und Inis Murray wird wohl nie mehr erstehen, so stark wurde es zerstört im zweiten Jahr dieses unseres schrecklichen neunten Jahrhunderts. Glendalough, Clonfert, Clonmacnoise und Kildare, wo Sankt Brigid, niemand Geringerer, einer heiligen Versammlung von Männern und Frauen als hohe Äbtissin vorsteht – keines der Klöster konnte dem von See kommenden Bösen standhalten. Die Plünderer mit den goldenen Bärten sind sogar in Patraics geliebtes Armagh eingedrungen und haben die geweihten Gebäude bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die Gräuel, die Gott in Seiner Gnade zulässt! Alles nur, um die Gläubigen zu prüfen, sagt unser gelehrter Abt – um die Getreuen aufzupolieren, dass sie zu funkelnden Engeln würden im Heer, welches von Satan und seinen verstockten und verbannten Legionen geschwächt worden ist. 259
Aber, sagt er, um die Furcht in den milchbärtigen Gesichtern der Jungen unter uns zu beschwichtigen, es sei höchst unwahrscheinlich, dass die Lothländer auf unser abgelegenes, felsiges Eiland kämen, so arm wie wir sind, dreißig Brüder und noch einmal so viele Schafe, neun Ziegen und ein einzelner pflichttreuer Ziegenbock, zwei Ochsengespanne, die den Pflug durch unser tief gelegenes kleines Stück Ackerland ziehen, und ein Pferch mit Schweinen, wegen des Specks, den wir verkaufen (wir essen kein Fleisch), und wegen des Quiekens, wenn die seltenen Fremden den einsamen, mit Flintsteinen bestreuten Pfad vom Kiesstrand heraufkommen. Ein Mann wie ich, der kein geschriebenes Zeichen lesen kann, bloß das des Kreuzes und das große tanzende «X», das am Anfang von Christi Namen steht – Bruder Guaire hat mir Seiten gezeigt, an denen er sich im Skriptorium abgemüht hat, glühende Muster, die mich schwindlig machten, als ich versuchte, ihnen nachzugehen, bis zum Ende der knotenartigen Verschlungenheiten, die Tinten alle in den unvergänglichen Farben von Edelsteinen –, ein Mann wie ich, von einer hartherzigen Hure von Mutter, bevor er noch die Fähigkeit hatte, sich zu erinnern, in den Schoß der Kirche geworfen und von ihr aufgezogen in der Barmherzigkeit Gottes, denen, die über ihm stehen, zu dienen, begabt mit nichts, außer vielleicht einer ermunternden Art im Umgang mit den stummen Geschöpfen und mit den Kräutern des Gartens, ein Mann, dessen Hauptfreude das schlichte Lächeln der Kreatur ist und eine einzige fleischlose Mahlzeit am Tag (Kleie, in Ziegenmilch eingeweicht, oder Seebarsch mit Brot und ungekochten Bohnen) und die Befriedigung, kreuzförmig ausgestreckt auf dem Lehmboden seiner Steinhütte zu liegen und seinen Hunger und Schmerz dem gekreuzigten Gott darzubringen, so einer würde sicher verschont bleiben von der Wut der brandschatzenden Antichristen aus den Ländern im Norden, wo es nichts als Eis gibt und beb ärtete Meereswesen mit 260
schwermütigen Augen wie die Augen von Männern, die auf ewig verdammt sind. Die höchstgelegene Weide auf unserer steinigen Insel besteht aus Grasbüscheln, die von den Ziegen abgenagt sind; unter den obersten Felssimsen grasen in der Vegetationszeit die Schafe auf breiten grünen Hängen, die Winterlämmer sind fast schon so groß wie ihre Mütter, und alle verharren reglos wie graue Findlinge in der goldenen Morgensonne, die Köpfe gesenkt zum Fressen. Dann und wann weht das Blöken eines Lamms, das sich verloren vorkommt, zu mir herab. Zwei Habichte pfeifen einander zu, während sie wachsam im Wind hängen. Die Kräuter und Arzneiblumen in ihren schäumenden Beetreihen wiegen sich in Höhe meiner Knie – das Gelb von Himmelsschlüssel und Mutterkraut, die Lilablautöne von Ysop und Lavendel, das hübsche nützliche Grün von Minze und Kohl. Bruder Vergil hat mir erklärt – bevor er dann an vergiftetem Blut und Altersschwäche dahingesiecht ist –, dass er die Pflanzen nach den vier Körpersäften anordnet: hier Thymian und Ysop, warme, trockene Kräuter, die den Schleim klären; dort Klette und Braunwurz, kühl und trocken, die das sanguinische System von Gicht und Diarrhöe reinigen; hier Senna und Nieswurz, die mit ihrer Hitze den Stau der schwarzen Galle lösen, der zu Verstopfung und Melancholie fuhrt; und dort Rhabarber und Löwenzahn, die mit ihrer kühlen Feuchtigkeit den hitzigen, trockenen Gemütswallungen entgegenwirken, zu denen es bei einem Übermaß an gelber Galle kommt. Knoblauch und Basilikum, Koriander und Gelbwurz – wahrlich, die stummen Pflanzen halten in ihren Wurzeln und Stielen, ihren Kelchen und Korollen tausend Antworten auf die mannigfachen Fragen bereit, die der Körper, mangelhaft und unausgewogen, in seinem Aufruhr stellt. Gott gibt in Seiner unendlichen Güte in jeden Ritz Seiner sprießenden Schöpfung etwas von den Wesenssäften Seines Friedens und Seiner Liebe, und 261
der Schlüssel, nach dem Er verfährt, liegt in der wunderbaren Vielgestaltigkeit der Blumen und Blätter verborgen. Getrocknete oberirdische Teile ergeben Sude und Umschläge, gegen die keine Krankheit etwas vermag. Bei Kopfschmerzen Lavendel und Mutterkraut; bei Furunkeln Umschläge aus Mutterkraut; bei Halsweh Aufgüsse aus Sonnenhutwurzeln oder Felberichblüten, vermischt mit einer Tinktur aus adstringierenden, schleimmindernden Kräutern, zum Beispiel dem Silbrigen Fingerkraut; bei Hämorrhoiden eine Salbe aus Feigwurz – welches Übel auch immer uns befallen mag bei unserm Tun, in Gottes Garten ist ein Kraut dagegen gewachsen. Sogar in der Schlacht geschlagene Wunden verschwinden nach und nach bei der Behandlung mit Braunheil und lila blühendem Schwarzwurz, vom einfachen Volk Beinwohl genannt. Vor Christi Geburt hat Gott in Seiner Großmut sich die Mühe gemacht, diese Geheimnisse den heidnischen Griechen zu offenbaren, deren größter Weiser Aristoteles hieß. Wenn ich mich bücke, um die Reihen meiner lebendigen Kirche voll stummer Andächtiger von Unkraut zu befreien, bitte ich um Vergebung für die vielen Tode, die ich durch Ausreißen verursache, denn auch das Unkraut, zu gering, um einen Namen zu haben, besitzt ohne Zweifel Eigenschaften, die, klug extrahiert und kombiniert, den Pflänzlein zur Aufnahme im Chor der Heilkräuter verhelfen würden. Gott hat nichts ohne Absicht erschaffen, auch wenn manche Absicht uns jetzt noch verborgen ist, uns aber ganz gewiss enthüllt wird an dem Tag, da die Lebendigen gleichwie die Toten in ihren auferstandenen Leibern vor Gericht geladen werden und die dichte Verwobenheit, die rings um uns singt, sich nur als ein durchbrochener Schatten der herrlichen wahren Welt erweist, die Seinen Dienern bereitet ist. Dieser Tag kann nicht mehr fern sein, sagt der Abt. In der Tat, dass acht Jahrhunderte vergehen durften, seit unser Herr Qual und Verzweiflung am Kreuz erduldete, würde Paulus und die ande262
ren frühen Heiligen in Staunen versetzen ob des Ausmaßes an Zeit, das der verhärteten Menschheit für die eigene Seelenrettung bewilligt wurde. Alle, die sich mit dem Geist des Jenseitigen befassen, stimmen darin überein, dass die Welt gewisslich vor dem Jahr 1000 enden muss, denn ein Jahr, das mehr Ziffern hätte als die Dreieinigkeit, wäre notwendig eine Blasphemie. Die Schweine in ihrem Pferch aus Zweiggeflecht und Erlenholzpflöcken sind in jähes Quieken ausgebrochen. Nach Westen schauend, wo unsere bucklige Insel gleich einer Sonnenuhr ihren schrumpfenden Morgenschatten aufs flimmernde Silber des endlosen Westmeers wirft, sehe ich eine lautlos aufgetauchte Schar von Segeln, alle in der unheilvollen eckigen Form. Die schlanken Boote liegen mit der Symmetrie von Buchstaben auf dem gleißenden Wasser, vor und hinter dem Mast der nämliche drachenhafte Aufschwung. Wahrscheinlich bemerke ich sie als Letzter, so in Gedanken vertieft, wie ich hier, pflegend und pflückend, zwischen den Krautern hocke. Jetzt dringt Geschrei vom Haus des Abtes und vom Rundturm her an meine Ohren. Ich laufe zum Klippenrand und sehe blondbärtige Männer in Rüstungen und mit eng anliegenden, in der Sonne blitzenden Helmen ungeachtet der stürmischen Wellen an den Kiesstrand waten. Einige sind schon mitten unter uns. Schreie und Wehklagen steigen auf und machen die Schafe auf ihren hohen Wiesenhängen unruhig. Ihr Blöken und der langsame Herzschlag der Brandung unten am Strand übertönen fast gänzlich die dumpfen Kampflaute, die zu mir dringen. Mönche in ihrem Sackleinen leisten Breitschwertern und Streit äxten nicht mehr Widerstand als Nacktschnecken dem Messer des Gärtners. Der nachlässige Bewuchs des Klippenrands streicht mir klebrig von kühlem Tau und vom Wolfsmilchsaft um die nackten Beine, als ich davonhaste und meinen Korb wegwerfe, den ich schon zur Hälfte mit Fenchel gefüllt habe für ein 263
Mahl, das nun nie mehr aufgetragen wird. Mein erster Gedanke hat meiner bienenkorbförmigen Steinhütte gegolten, doch von diesem stillen Ort, an den ich mich zum Schlafen und zum Beten zurückziehe, gäbe es kein Entkommen, wenn ein tobender Teufel im Eingang erschiene. Weiter unten, jenseits der schützenden Mauer, fällt die Klippenwand in zerklüfteten Spalten und flachen tröpfelnden Höhlen ab, dort müsste sich mit Geduld ein Unwetter überstehen lassen. Hoch oben kreisen Möwen, neugierig ob des Tumults, doch in sicherem Abstand. Die Glocke der Kapelle, teures schweres Eisen – beinahe hätte sie das Floß versenkt, auf dem sie in einwöchiger Fahrt um Dingle herum herbeigeschafft worden ist –, hebt rasend zu läuten an, als wolle sie die eigene Christenstimme zum Bersten bringen, in dröhnende Schwingung gerissen nicht von fromm am Seil ziehenden Händen, sondern von der höhnischen Rohheit eines durch Met und blutigen Raubzug befeuerten Nordländers. Ich halte den Atem an hinter dem Vorsprung des steinernen Melkhauses. Durch die Ritzen in der schrägen Wand, die meinen Nasenlöchern, wie einen letzten Erdenhauch, den Geruch nach frischem, mit Dung bespritztem Heu gewähren, erspähe ich Rauch, der hinter der Kapelle aus Eichenholz hochringelt, hinter dem dairthech, in dem ich so viele Male gesehen habe, wie der schimmernde Kelch in die Höhe gehoben wurde beim Wechselgesang der Brüder. Ich sehe, dass das, was da Feuer gefangen hat, das breite Reetdach des tech mór ist, wo wir zu essen und miteinander zu reden pflegten, oftmals durchaus mit der Heiterkeit ganz normaler Männer, und die, die lesen konnten, haben gelesen an den Tischen, die Blätter aus Pergament wurden steif wie windgeblähte Segel. Jetzt quillt, zu fuchtelnden Klumpen geballt, eine Horde langhaariger Widersacher in Fellen und ledernen Brustharnischen aus der Kapellentür. Einer hält unseren kostbaren Kelch hoch, dessen Randverzierung aus Silberfiligran in den 264
leuchtenden Farben von Schafblut und Mittagshimmel emailliert ist: das Muster hat jedes Mal unter meinen Augen gestrudelt, wenn die weißen Hände des Abtes mir Christi Blut, süß und stark wie dunkler Königinnenhonig, an die Lippen hielten. In meiner Kehle habe ich dann die schwere Wärme von Gottes innerstem Sein gespürt. Der Lothländer, der den Kelch hochhält, senkt ihn jetzt, und in heidnischer Verrohtheit spucken seine Gefährten in das reine Gefäß, und schlimmere Entweihung noch begehen sie mit ihren unteren Körperteilen an ihm, gleichwie an einem wehrlosen Mädchen. Die hohen Leuchter, die feinen heiligen Altartücher, der Reliquienschrein aus Zedernholz mit den kostbaren Metallintarsien, in dem die Knochen der Hand von Sankt Finnian liegen, alles fällt den Plünderern zur Beute. Die illuminierten Evangeliare, in einer verschlossenen Truhe unter dem Lesepult der Kapelle verwahrt, haben sie auseinander gerissen, wegen der Edelsteine in den Buchdeckeln, und die leuchtenden Seiten liegen überall verstreut und sind zertrampelt. Es ist ein teuflischer Anblick, der Magen dreht sich mir um: Bruder Guaire! Seine Knoten alle zunichte gemacht! Auf dem Reetdach des tech mór wehen orangerote Flammenfahnen, und der Rauch, der von diesem Feuer und von anderen aufsteigt, färbt den Schauplatz bleigrau, als habe eine schwere Gewitterwolke sich auf ihn gesenkt. Im trüben grausigen Wirrwarr sehe ich, wie der kleine Kopf des Abtes, bleich und gütig, am Ende eines Langspießes herumgeschwenkt wird. Die nackten, verstümmelten Leichen meiner Brüder werden in den geheiligten Brunnen geworfen, der mit seinem wundersamen Süßwasser, unter dem Grund des Salzmeers geschöpft, unserer Kolonie das Leben hier ermöglicht hat. Gott hat uns verlassen, um unseren Glauben auf die Probe zu stellen. Die Tiere, mit Stricken aneinander gebunden und fortgeschleift oder mit Knüppeln vorwärts getrieben, brüllen, als ginge es zur Schlachtbank, 265
aber es sind nicht die Tiere, die geschlachtet werden. Sie werden noch eine Weile leben. Das Unterste ist zuoberst gekehrt in diesem Universum, die Hühner heben sich mit gespreizten Federn vom Boden, als wollten sie hinauf zu den Möwen, die unbeteiligt über der Verwüstung schweben. Und jetzt erdröhnt hinter mir ein Schritt. Mein Feind ist gekommen. Er ist jung, aber groß und rau in seiner Rüstung. Ein feinmaschiger eiserner Kettenpanzer bedeckt das langärmelige grüne Wollhemd, das von salziger Gischt verkrustet ist. Er scheint frisch geformt im Gießhaus der Schlacht; vielleicht werde ich der Erste sein, den er erschlägt. Ich zwinge meine Augen, ihm ins Gesicht zu sehen. Sein Helm ist eine spitz zulaufende eherne Kuppel, erweitert um einen nach unten breiter werdenden Nasenschutz. Goldenes Haar flie ßt unter dem Helm hervor auf die von einem roten Überwurf bedeckten Schultern. Als er mit beiden Händen die schlackeschwarze Streitaxt packt und die Arme hochreißt, hebt sich das lockige Vlies seines Barts, und die Spange, die den Überwurf zusammenhält, wird sichtbar – ein Eisengesicht mit runden starrenden Augen, schlangengleichen Hörnern und Reißzähnen: sein Gott, Feind und Antithese meines Gottes. Er spricht einige Worte in seiner melodischen Heidensprache. Ich kauere mich vor ihm zusammen, mache mich ganz klein, damit seine Axt eine Handbreit weiter hinuntermuss, um mich zu treffen. Hastig sammle ich meine Gedanken in einem letzten Gebet zu Christus; wie mein Verderben jetzt, so wird Er dereinst vor mir aufragen, vor meinem auferstandenen Leib am Tage des Gerichts, im blendenden Licht des Lebens, das da kommen wird. Und wenn ich auch tausend mal tausend Jahre schlafe, sage ich mir doch, es wird mir vorkommen wie ein Augenblick. Aber noch gibt es in diesem Leben etwas zu sehen. Die hundsweißen Zähne des Ungläubigen sind entblößt. Schrecken schwärmen aus seinen tief liegenden Augen wie Bienen, die Honig heimbringen aus den 266
getüpfelten Höhlen eines hohen blauen Fingerhuts. Ich sehe, dass der Jüngling ebenso viel Angst hat wie ich. Dieser Augenblick, in dem unsere Leben zusammengetroffen sind, zeigt sich mit schrecklicher Klarheit von zwei Seiten. Mörder und Märtyrer sind gleichermaßen am Opfer beteiligt, das unser Herr befiehlt. Gift und Arznei sind derselbe Extrakt. Dunkel und Licht sind eins. Der Sommer verlangt von uns ein Koexistieren mit zu vielen anderen Lebewesen. Das vegetabile Übermaß schwächt die Moral. Der Himmel verliert Farbe in der feuchten Hitze; das Meer verwandelt sich in einen Parkplatz für Segelboote. In den zerzausten Gärten des Dorfs spielen sich orangegelbe Taglilien auf; Wilde Möhre und Seifenkraut putzen die Wiesen; Gänseblümchen und Wegwarte sprenkeln die struppigen Straßenränder. Mitten auf unserer Zufahrt ein toter, ausgeweideter Frosch: fallen gelassen von einer Krähe? aus Ungeschicklichkeit oder weil sie satt war? Die Geheimnisse des übervollen Lebens. Ich machte mich auf in den summenden Wald und traf die Delegation, komplett bis auf Doreen, Zigaretten rauchend in der Hütte an. «Hält die Mücken ab», sagte der Große. José hieß er, rief ich mir in Erinnerung. «Wie geht’s denn so, Gentlemen?», fragte ich die drei. «Morng wern hier massnhaft Kids durchwolln », informierte mich der Anwalt. Das war Ray. Morgen war Independence Day. Haskeils Crossing veranstaltet jedes Jahr ein Feuerwerk, das Scharen aus dem Dorf und von außerhalb anlockt. Barbrüstige Wikinger, schon betrunken, schleppen große Kühlboxen voll Bier an. Diese jungen Kerle können noch so abstoßend und ohne Zukunft sein, sie haben immer Mädchen bei sich, die mit ihnen gehen: das sagt einiges über unsere Spezies aus. Kein Mann ist so übel, dass er nicht eine Frau anzöge. Wären Frauen wählerisch, die Art stürbe aus. 267
Nichtsnutzige brutale Boyfriends erinnern die Mädchen angenehm an ihre nichtsnutzigen brutalen Väter. «Und was gedenkt ihr zu tun?», fragte ich. Die Frage kam ungelegen. «Sie in Schach haltn», schlug Ray schließlich vor. «Das ist alles? Ihr müsst von jedem, der passieren will, eine Gebühr verlangen.» «Mein Sie das im Ernst?» «Wozu seid ihr denn hier, wenn ihr das nicht macht? Die Gebühr darf natürlich nicht so hoch sein, dass niemand sie bezahlen kann, sie muss sich schon in Grenzen halten. Sagen wir, drei Welder pro Kopf, fünf pro Pärchen. Kleinkinder zahlen nichts», regte ich an. Ray, der kleine Anwalt, fragte: «Das war mit Ihrer Erlaubnis?» «Aber ja», sagte ich. «Gegen Beteiligung natürlich.» «Beteiligung? Wie hoch?» Ich hatte es nicht durchgerechnet, schlug aber vor: «Zwanzig Prozent. Ein Welder von fünf. Das ist nicht viel. Wie sollen die Leute denn sonst zum Feuerwerk kommen?» «Und wenn sie sagn, sie bezahln nich?», fragte José. Die opake schwarze Iris in seinem schweren nahtlosen Gesicht hatte etwas knopfartig Aufgesetztes, etwas Hervorstehendes, eine optische Täuschung vielleicht, weil seine Augen so glänzten, so luxuriös lackiert waren. Ich lachte. Lachen im Wald klingt unheimlich, gedämpft vom Laub. «Fragen Sie mich das im Ernst? So’n knallharter Bursche wie Sie? Vielleicht sollte ich mir einen anderen Beschützer suchen.» «Sie sagn also, murks sie ab, wenn sie nich blechn?» «Das scheint mir übertrieben. Und wohl auch kontraproduktiv. Was Sie brauchen, ist zahlende Kundschaft, die glücklich Schlange steht. Aber bitte, es liegt ganz bei Ihnen. Ich habe Sie nicht gebeten, hier zu kampieren, auf meinem 268
Grund und Boden. Lassen Sie sie durch, wenn Sie wollen. Sie haben dickere Fische an der Angel, wissen Sie noch? Wie läuft’s denn so mit meinen Nachbarn?» Jeder wartete darauf, dass der andere etwas sagte. «Nicht so toll, hm?», sagte ich schließlich. «Die komm schon», log der Anwalt. Manolete machte eine jähe heftige Armbewegung. «Tut den’n noch leid, wenn wir ihre Häuser anzündn. Pfuuum!» «Geschäftsleute haben ein Sprichwort», sagte ich. «Töte nicht die Gans, die die goldnen Eier legt.» Manolete, nicht nur der Jüngste, sondern wahrscheinlich auch der Intelligenteste, sagte in seiner abrupten, aufbrausenden Kleinjungenart: «Die einzing Eier, die die legn, is, dass wir gefällichs abhaun solln von ihrm Scheißgrundstück!» «Mit Mr. und Mrs. Kelly konnte man reden», sagte Ray. «Wir ham den ‘n Ihrn Brief gezeigt. Sie ham gesagt, okay, sie gemb was, aber nur ‘n Teil von dem, was Sie gezahlt ham, weil sie bloß ‘n bisschen über ein Hektar ham, im Gegensatz zu Ihrn viernhalb.» Er lernte die Sprache, dachte ich. «Sagen Sie ihnen, das könne ja sein», sagte ich, «aber sie seien zu sechst und die Turnbulls nur zu zweit. Vielleicht erwähnen Sie beiläufig, dass es euch grässlich wäre, wenn eines ihrer Kinder gekidnappt würde. Lösegeld käme sehr viel teurer als Schutzgeld.» Sie ließen es sich gesagt sein, die drei braunen Gesichter im sonnengeschlitzten Dämmer ihres wackligen kleinen Gehäuses. José sagte: «Die Dunhams, die sind mit überhaup nix rübergekomm. Die ham uns wie Dreck behandelt. Er hat selber Gewehre, hat der Arsch gesagt.» Die Dunhams waren ein perfektes Paar, es sei denn, man hielte Kinderlosigkeit für einen Makel. Ihr mustergültiges Pseudokolonialhaus, im Winter sichtbar, lag versteckt im Laubwald, keine zweihundert Meter von Glorias Blumengar269
ten entfernt. Sportliche Mittfünfziger, passten sie zusammen wie Salz- und Pfefferstreuer. Beide geschmeidig, beide ewig lächelnd, obschon ein wenig förmlich, selbst im Jogginganzug, beider Haut leuchtend im gleichen Sonnenbraunton, ihr Haar mit exakt der gleichen kleidsamen Menge Grau durchmischt, entstammten sie alten New-England-Familien und hatten etwa gleich viel Geld und Cachet mitgebracht. Das Leid der Welt und das Leid, das Elternschaft mit sich bringt, war an ihnen vorübergegangen; es war eine so makellos glatte, undurchlässige Schönheit um sie, dass es einen reizte, daran zu kratzen. Das Einzige, was sie verletzlich machte, waren ihre Tiere. Sie hatten zwei preisgekrönte Perserkatzen, einen perfekt getrimmten Zwergpudel und ein geschecktes Pony, das im Sommer auf einer kleinen, von ihrem Teil des Waldes abgezwackten Koppel graste. «Ihr könntet erwägen, eine der beiden Katzen zu töten», legte ich den Jungen nahe. «Sie lassen sie morgens raus, damit sie Bewegung haben und im Gebüsch ihr Geschäft erledigen können. Bringt einfach eine um, legt den Kadaver auf die Veranda und kommt am nächsten Tag vorbei, um zu kassieren. Ihr braucht nichts zuzugeben, streitet es aber auch nicht ab. Wenn sie immer noch nichts rausrücken, erledigt den Pudel, diesen elenden Kläffer. Das Pferd – bevor ihr das umbringt, besorgt euch erst Sprühfarbe und besprüht seine Flanken. Wenn es sich das gefallen lässt und stillhält, sprüht ihr in Ziffern eure monatliche Forderung drauf. Wie eine Rechnung auf vier Beinen.» Im Gehäuse aus künstlichem Zwielicht, mit seinen Gerüchen nach Tabakqualm und verschwitzten Matratzen und Tannennadeln unter der Sperrholzabdeckung, brachen die Jungen in Gelächter aus über so viel Bosheit. «Ham Sie ‘n Tipp für uns, was wir mit Mrs. Lubbetts machen solln?», fragte Ray. Ich genoss das. Ich liebte diese fixen Jungen, die so lern270
willig waren, so offen für Anregungen und meinen Enkelsöhnen darin so überlegen. Pearl Lubbetts war eine jüdische Witwe – Earl Lubbetts hatte seine Schäfchen mit Kartoffelchips und abgepacktem Popcorn ins Trockne gebracht –, die im Lauf der Jahre das herrische, raubeinige Gehabe einer Wasp-Matriarchin angenommen hatte. Sie trug meistens Gummistiefel und Latzhosen mit matschverkrusteten Knien und kommandierte Arbeitertrupps bei diesem oder jenem Projekt herum: Neuanlagen von Grünflächen, Ausschachtungs-, Wald- oder Maurerarbeiten. Sie hatte eine private Schutzmauer gebaut, um ihren Rasen vor den Gezeiten zu bewahren, und in einem entfernten Winkel ihres Grundstücks hatte sie ein modernistisches Strandhaus errichtet, das einzige Gebäude, das in meinen Meerblick ragte, sommers wie winters. Sie hatte die umstehenden Bäume gerodet, sodass ich ständig freie Sicht auf das Haus hatte; mit seiner gebleichten Redwood-Verkleidung, seinem weißen Flachdach im Floridastil, seinem Sonnendeck mit der Balustrade, die wie ein Elfenbeinkamm aussah, war es ein unübersehbarer Schandfleck in meinem Ausblick. Metall- und Glaselemente auf dem Dach und an den Wänden – Schutzblenden, Oberlichter, sich drehende Dunstabzüge und komplizierte Schornsteinüberdachungen aus Blech – sandten lästige Blinkzeichen in mein Gesichtsfeld, unbeantwortbare Notsignale vom Meeresrand; ganz gleich, welche Stunde zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, irgendein spiegelnder Gegenstand schleuderte dreist Protonen durch meine Fenster mitten auf meine Netzhaut. «Ihr könntet ihr kleines Strandhaus abfackeln», schlug ich vor. «Das würde ihr ein Licht aufstecken und ihr klarmachen, dass ihr ernst zu nehmende Persönlichkeiten seid. Wenn ihr kassieren geht», fiel mir ein hinzuzufügen, «war’s günstig, ihr hättet Anzüge an, wenigstens Jacke und Krawatte. Das macht enorm was aus, hebt die Glaubwürdigkeit.» 271
Die Jungen berieten sich stumm, mit Blicken. Weiße Dreiecke blitzten neben den hin und her gleitenden Pupillen. «He, wieso erzähln Sie uns einglich so ‘n Kram?», wollte Ray wissen. «Ich mag euch Jungs. Ich möchte, dass ihr’s schafft.» «Was ham Sie davon?» Ich ließ ein kurzes Schweigen vergehen. «Wie war’s mit zwanzig Prozent?», sagte ich. «Zehn reichen», sagte José. Ray warf einen ruckartigen Blick zur Seite, überrascht, dass er als Unterhändler ausgestochen wurde. «Zehn vom Schutzgeld, zwanzig vom Eintritt morgen», sagte ich entgegenkommend. Ray übernahm wieder die Rolle des Wortführers. «Woher wissn Sie, dass wir Sie nich beschubsn? » «So traurig, wie es heutzutage um die Welt bestellt ist, können wir nur mit Vertrauen etwas erreichen. Ich vertraue euch, so einfach ist das», sagte ich. José, der Größte, war es dann, der aufstand, seine breite, aber weiche Hand ausstreckte und sagte: «Abgemacht.»
IV. Die Tode Unabhängigkeitstag: meine amerikanische Flagge knatterte in einem ablandigen Ostwind am Mast. Eine Zeit lang hatte sie sich im Seil verfangen und schwirrte wie ein Insekt, das mit einem Flügel am Fliegenpapier festklebt, bis ich schließlich über den Rasen lief, das gestreifte und gestirnte Tuch niederholte und es neu aufzog an der Flaggleine. Draußen auf der weiten blauen Wasserfläche krängten Segelboote in der Morgenbrise, und in der Abendflaute versammelten sich schnittige weiße Motorboote, um das Feuerwerk zu sehen, das am öffentlichen Teil des Strandes steigen sollte. Man konnte den Lärm und die Musik von bierseligen Partys hören, die schon im Gange waren. Ich hätte gern gewusst, wie meine Jungs sich beim Eintreiben des Wegezolls machten. Unten im Ort, beim Convenience-Laden, hingen weiße Jungen in schlabberigen Hemden und Shorts herum und Mädchen in besser sitzenden, schickeren Klamotten und ließen den Feiertag versickern wie ausgekipptes Sprudelwasser auf warmem Zement. Die Unbekümmertheit und Unschuld unserer Unabhängigkeit glitzerte wie eine Art Schweiß auf ihren nackten Gliedern, ob sommersprossig, honig- oder mahagonifarben. Manchmal denke ich, was mich am Tod stören wird, ist nicht so sehr, dass man nicht mehr lebt, sondern dass man kein Amerikaner mehr ist. Sogar für die Verlierer liegt eine Befreiung im Entkommen aus der göttlichen Ordnung. Die Blütenköpfe auf dem Rosenbeet, so rot und weiß und rosa gegen das blaue Meer sich abhebend, sind ersch öpft, ihre abgefallenen Fetalen bedecken den sanft hügeligen Mulch aus Buchweizenhülsen; Glorias rückwärtiger kleiner Garten aber trägt eine verschwenderische Fülle merkwürdig geformter Blumen, deren Namen ich nicht so genau weiß. 273
Schafgarbe? Eberraute? Auf jeden Fall Löwenmaul und Kapuzinerkresse – Kapuzinerkresse mit der eigenartigen blumenförmigen Wappenzeichnung auf den Blütenblättern, die Linien Stumpffarben wie bei einer Tätowierung. Die Clematis auf der sonnenbeschienenen Seite des Gartenschuppens ist erstaunlich, sie klimmt mit ihren quicken roten Ranken am Spalier hoch, das ich dort angebracht habe, und überschüttet die Bretterverkleidung mit einem samtenen Regen aus Pupurblüten, die gebändert sind wie Ornate. Gloria schneidet die Pflanze jedes Frühjahr rigoros auf einen Strunk zurück, und ihr Vertrauen wird zuverlässig belohnt. Die Rauchschwalben in der offenen Garage, so zögerlich beim Nestbau, haben für das Ausbrüten ihrer Eier nur wenige Wochen gebraucht. Heute war es so weit: die Luft war plötzlich voller taumeliger Babyvögel. Sie fliegen in Schwenks auf und nieder, immer kurz davor, die Balance zu verlieren, wie Kinder, die zum ersten Mal Rad fahren. Es sind drei, und sie ruhen von ihrem Abenteuer auf der hölzernen Dachrinne aus, hocken so dicht aneinander gedrängt da wie zuvor in ihrem engen Nest, erschrocken von dem weiten durchsichtigen Raum um sie her. Gloria und ich hatten sie beobachtet, wenn wir in der Garage zu tun hatten, gleich von dem Tag an, da sie geschlüpft waren, blinde Schnäbel, grotesk weit aufgerissen über den Nestrand gereckt, die winzigen kahlen Körper fast platzend, so überdehnt und verzerrt vom jähen Post-OvumHunger. Unermüdlich jagten die munteren Eltern im Tiefflug über den Rasen und die Büsche hin und erschnappten unsichtbare Insekten. Keine zwei Wochen, und die hilflosen hässlichen Nestlinge hatten Federn und genügend Flügelkraft, um blaurückig und rosenbäuchig als Räuber aus eigenem Recht zu pfeilendem Jagdflug zu starten. Die Jungvögel waren rasch fix und fertig entwickelt, bis hin zu den wippenden weiß gefleckten Spießen ihrer tief gegabelten Schwänze. Eine Zeit lang werden sie auf unserem 274
Grundstück bleiben und von ihren Eltern lernen (wie?), worauf es ankommt, wenn man überleben will, aber das Nest, ein Schlammnapf, mit Grashalmen und Tannennadeln als Bindestoff durchflochten, ist geräumt. Wie unterweisen Vögel Vögel, Elefanten Elefanten, ohne Sprache? Selbst zur Nachahmung bedarf es eines Primatenhirns. In weniger als einem Monat werden unsere Babys nach Peru fliegen, die trockenen braunen Blätter des Kirschapfels werden sich in der offenen Garage häufen, und der dünne Atem des Herbstes wird das grüne Wachstum matt machen. Der Asphalt der Zufahrt bekommt dann eine andere Oberflächenstruktur, knirscht anders unter unseren Schuhen. Unsere Schatten sind welker, schwächer, und die Vorahnung vom Ende würzt die kürzer werdenden Tage, wenn die Schwalben nicht mehr da sind. Aber noch sind sie bei uns, ein Familienseminar im Mückenfangen abhaltend, und das Feuerwerk zu Ehren des vierten Juli kommt in Sicht, eine Sekunde bevor die erstickten Knallgeräusche zu hören sind; vom vorderen Rasen aus, auf der Meerseite, kann man zusehen, wie es am mondbleichen Himmel über den stummen, verschmolzenen, flehenden Silhouetten der Bäume explodiert. Gloria ging sofort ins Haus, sie sagte, die Mücken brächten sie um. Ich stand auf dem Fahnenmastpodest, als in unserem Schlafzimmer die Lampen angingen und das Klimagerät zu summen anfing. Die Stadtväter, wer immer sie waren, hatten trotz ihres geschrumpften Etats ein ansehnliches Spektakel zuwege gebracht. Es gab Sachen, die waren ganz neu für mich – gleißend weiße Strahlen, die aus einer zweiflügeligen orangefarbenen Schmetterlingsform herausschössen und sie einige Sekunden lang kreisförmig umschwebten; eine riesige lautlose Chrysantheme, deren Blütenblätter an den Spitzen blau und am Grund golden waren; wehende Konstellationen kalter weißer Funkelsterne; und mehrere Feuerwerkskörper, bei denen chemische Reaktionen eine Farbe entfalteten, wie 275
ich sie nie zuvor am Himmel gesehen hatte, gewalttätig grell, in flüchtigen Splitterschauern über die Schwärze geschüttet. Verpuffte Strontium-, Barium-, Natrium-, Magnesium- und Quecksilberchloridsalze ätzten ihre Signaturen in das dunkle Firmament, ein infernalischer Regenbogen, an dem nicht die Sonne schuld war. Glorias goldenes Fenster erlosch in dem Augenblick, als das Finale aus einander überlappenden Explosionen verebbte und die versammelten Motorboote ein dankbares Tutkonzert anstimmten. Ich stand im Dunkeln da, fröstelnd und von Mücken zerstochen. Wohin sollte ich gehen? Sie hasste es, wenn ich mich neben sie unter die Decke schob und das fragile Schritt-für-Schritt in ihr störte, mit dem das Bewusstsein sich auflöst. Als ich mich umdrehte und gerade vom Podest herunter auf den feuchten Rasen treten wollte, raschelte etwas im tief liegenden Gelände mit den Wildrosen – wir hatten einst vorgehabt, dort einen Swimmingpool anzulegen, ein ausgeträumter Traum, lebendig nur insofern, als wir immer noch vom «Swimmingpoolgelände» sprechen –, und ich spürte, dass jemand da war und gemeinsam mit mir zugeschaut hatte. Das Reh. Und ungefähr eine Woche darauf, bei Tage, wurde der große blasse Torus am Himmel, das geisterhafte Wasserzeichen im unermesslichen Crane-Paper-Blau der Atmosphäre, noch größer und bewegte sich auf die Erde zu. Immer gewaltiger und ungeheurer werdend, breitete er sich nach und nach aus, bis sein sanft flimmernder Rand den Meereshorizont berührte und hinter den Baumwipfeln verschwand; er legte sich um die sichtbare Erdscheibe; wir waren von ihm umschlossen; unser runder Planet war wie ein Fangpflock für seinen Wurfring. Das blaue Loch in der Mitte des Torus, während dieser vielen Monate nicht breiter als der zehnfache Sonnendurchmesser, hatte sich geweitet und aufgewölbt und war jetzt selbst das Firmament; die obere Begrenzung seiner «Materie» – um ebendas, um Materie, schien es sich nicht zu han276
dein – sank, sich zerdehnend, ab und verlor sich, eine kaum noch wahrnehmbare blasse Linie, hinter fernen gebirgigen Sommerwolken. Die ganze Zeit durchströmte mich ein sahniges, schwereloses Gefühl unumstößlicher Bestätigung. Es war kurz vor Mittag; ich war einer Eingebung folgend auf den Rasen hinausgetreten. Die jungen Schwalben kurvten noch ein wenig ungestüm herum, aber die anderen Vögel waren verstummt, wie bei einer Sonnenfinsternis mit ihrer zur Unzeit einsetzenden Dämmerung. Ich erinnerte mich daran, dass ich einmal auf einem Berghang in den Berkshires stand, über mir tönende Sternenhelle, und durch ein Binokular, das meines Vaters schwielige Hand mir gereicht hatte, einen Kometen beobachtete: ein faseriger Ball mit Schweif, der sich nicht von der Stelle zu rühren schien. Ich würde nicht sterben, erkannte ich; es würde alles gut werden. All die flüchtigen Eindrücke, die ich je empfangen hatte, waren irgendwo aufbewahrt und konnten nochmals abgespielt werden. Alle Schatten wären weggewischt, wenn Licht allenthalben war und nicht beschränkt auf bestimmte Orte – Sterne, heiße Punkte, Nadelstiche im Nichts. Dabei war die bloße Idee von Licht, geboren aus Verbrennung und atomarer Kollision, eigentlich zu grell für den Frieden, der innerhalb des Torus verheißen war. Alle Scherben meines spirituellen Seins zusammengefügt – Perdita und Gloria; das alte Haus in Hammond Falls, arm an Besitztümern, aber reich an Bedeutung, und meine jetzige Villa, reich, aber ohne Bedeutung; meine Kinder und meine Stiefkinder und mit ihnen meine Enkel und alle trostbedürftigen verlassenen Kinder auf der Welt. Zeit war eine Einrichtung, die für nichtig erklärt werden würde; ihre Tragödie war aus falscher Wahrnehmung entstanden, einem auf hoher Ebene begrenzten Begriffsvermögen wie dem, welches die Biene im Klee herumsummen und den Hund, anhänglich, wenngleich ratlos, hinter seinem Herrn hertrotten lässt. (Ich habe mit Hunden gelebt, besitze 277
jetzt aber keinen mehr. In Hammond Falls hatten wir eine männliche Promenadenmischung namens Skeezix und später eine Hündin, die Daisy hieß und zur Hälfte ein Cockerspaniel war; Perdita und ich hielten uns dann nacheinander mehrere Golden Retrievers als Kindermädchen für unsere Sprösslinge und kauften eines Tages, nicht billig, eine bronzefarbene Dobermann-Hündin, die von einem der letzten Milchlieferwagen, die in Massachusetts noch im Einsatz waren, überfahren wurde. Mit gebrochenem Rückgrat lag Cleo zwanzig Minuten lang zuckend auf der Straße, bis ein junger Polizist kam und ihr eine Kugel in den Kopf schoss; sie zuckte und winselte und bat uns mit ihren bernsteinfarbenen Augen um Verzeihung für ihr Missgeschick, bat, dass wir sie trotzdem liebten, so wie sie uns geliebt hatte.) Dass die Freude der Schöpfung, die die auf- und niedergehenden Generationen von Vögeln und Bakterien, Menschen und Baumriesen durchströmt, keine Illusion ist, sondern eine ewige Grundwahrheit, und dass eine himmlische Ökonomie, gegenüber deren Wirken wir blind sind, jeden einzelnen Moment unseres Lebens aufwiegen und jede Ahnung von Glück zur Erfüllung bringen wird: diese selige Gewissheit von einer allumfassenden Versöhnung breitete sich gleich einem mächtigen Magnetfeld über den erschöpften Planeten aus, als er, wie in einem Zauberkunststück, durch den kosmischen Ring geführt wurde, der sich am Mitternachtshimmel über Australien entfernte und sich als schwach leuchtender kleiner Kringel in der Nachbarschaft des Sternbildes Octans verlor. Am Morgen war er aus allen Teleskopen verschwunden, auch aus den stärksten. Jeder hatte ihn gesehen, jeder hatte ihn gespürt, aber die Berichterstattung in den Medien war spärlich und verhalten. Leute machten in Interviews, bei der Schilderung ihrer mystischen Empfindungen, voneinander abweichende Angaben hinsichtlich Zeitpunkt und Dauer des Ereignisses. Exakte 278
Worte zu finden war schwer. Naturwissenschaftler und Psychologen warfen in aller Eile Gedrucktes auf den Markt: Theorien über Massenhalluzination, die sich gelegentlich sogar auf lichtempfindliches Fotomaterial auswirken könne. Zunehmend setzt sich die Ansicht durch, es habe den Torus nie gegeben – er habe sich niemals an unserem Himmel gezeigt –, beziehungsweise er sei ebenso wenig ein dreidimensionales Phänomen wie der Hof, der in Nebelnächten den Mond umgibt. Zweifel und Spott sind schick geworden, bei Fernseh-Talkshows und unter Schulkindern. An den jungen Leuten sah man plötzlich T-Shirts, auf denen der Torus in der Mitte ein Fragezeichen hatte oder diagonal durchgestrichen war und das Symbol für Negation darstellte. Sogar für Liebende war es peinlich, über den transzendenten Moment zu reden. Ein Gedanken- und Erfahrungsaustausch brachte störende Diskrepanzen ans Licht. Es ist wahr, die Erinnerung an Seligkeit verblasst, ebenso wie die an Schmerz. Ich schreibe meine Schilderung keine zehn Tage nach dem Ereignis nieder, um es in meinem Gedächtnis zu verankern, und dennoch haben sich Zweifel eingeschlichen. Was habe ich wirklich empfunden? Menschen sind grotesk suggestibel, um sich geschlechtliche Begegnung und Stammessolidarität zu erleichtern. Ich fühle mich erschöpft und gereizt, eingetaucht ins giftige, gefräßige Wachstum des Hochsommers. Seit neuestem wache ich zweimal in der Nacht auf und muss urinieren, und manchmal kommt nur ein Tröpfeln und ein eiszapfenhaft zustechender kleiner Schmerz in einer niederen versteckten Gegend meiner selbst, an einer dunklen und unzugänglichen Unterseite, von der ich mir immer lieber vorgemacht habe, es gäbe sie nicht. Gloria bringt Blumen ins Haus – Kapuzinerkresse quillt in Orange- und Gelbtönen über den Rand einer bauchigen Steingutschale, und das samtene Violett der Clematis glüht 279
ein, zwei Tage lang auf dem Mahagonitisch in der Diele, in einer spiralig geriffelten Vase, die so blassblau ist wie Glorias Augen. Über einem Wasserglas zwischen den beiden silbernen Wachteln auf dem Esszimmertisch schwebt eine Schleierkrautwolke. Als sie fort war, zu ihrer Aerobicstunde, ging ich in unseren Wald, um die Jungen aus Lynn zu besuchen. Hinter der Scheune schreckte ich ein Reh auf; in dreschenden Sprüngen, so jäh und laut, dass mein Herz ins Rasen kam – ein Schimmern, ein Blitzen, rostbraune Flanke, weißer Spiegel, verschluckt vom Blätterwerk –, floh er oder sie ins unzugängliche, von Stechwinde durchwucherte Gelände diesseits der dunhamschen Koppel. Ich ging weiter, einen undeutlichen Pfad entlang, den meine Schritte hügelabwärts getreten haben, und fühlte die Hitze des fellumkleideten Tierleibs, die noch in der Luft hing. Leuchtend graue Himmelsfetzen kletterten oben zwischen den Baumkronen umher. Nur Doreen war in der Hütte, sie las eine Schulausgabe – gekürzt und vereinfacht für die unteren High-School-Klassen – jenes Meisters aus dem zwanzigsten Jahrhundert namens John Grisham. Sie war ein Mädchen mit Grips, kam mir in den Sinn, das nur vorübergehend vom eigentlichen Weg abgekommen war. Sie wollte was erfahren übers Leben, war zu Experimenten bereit. Ihre bestrumpften Füße lagen auf einem der Metallgeflechtstühle, und sie saß auf einem andern, der Gitterrost bequemer gemacht durch eine schmutzige, zu einem Polster gefaltete Wolldecke. In der stickigen Hitze der engen Hütte hatte sie das T-Shirt ausgezogen und saß da mit nackten Armen, nacktem Bauch und weißem BH. Als ich eintrat, trübte mein Schatten den Schimmer des bestürzenden Wäschestücks; ihr Gesicht hob sich, und es sah gleichfalls trüb aus, verschmiert, ein defensives spöttisches Grinsen bewölkte ihren Mund. In absichtlich schroffem Ton fragte ich sie: «Wo sind deine Spezis?» 280
«Unterwegs, Geschäfte abschließen. José und Ray haben sich Anzüge zugelegt, wie Sie’s ihnen gesagt haben.» «Und? Läuft es jetzt besser?» «Scheint so. Sie sagen, die Leute behandeln sie jetzt mehr so, wie sie Phil und Spin behandelt haben. Sie spucken die Scheine aus.» «Gut. Hab ich’s nicht gesagt?» «Sie sehn ziemlich bescheuert aus.» «Für dich.» Unser Schweigen war nicht so unangenehm, wie ich vermutet hätte. Mit einem Seufzen setzte ich mich auf einen dritten Stuhl und sah zum quadratischen Fenster hinaus, um meine Augen abzuwenden von der sommersprossigen, knochigen Partie oberhalb ihrer Brüste, den glänzenden Rundungen ihrer Schultern, die wie umgestülpte Porzellantassen waren, der einzelnen, vom Nabel eingedellten Falte in ihrem flachen Bauch. Das Quadrat zeigte eine abstrakte Komposition, ein lautloses, regloses Zusammenklirren scharfkantiger Blätter, schrundiger Felsbrocken, stechender Äste und gezackter Ausschnitte eines lichtgesättigten Himmels. Die Jungen hatten die Knüppelwände mit zolldickem Sperrholz verstärkt, das sie an die senkrechten Verstrebungen genagelt hatten, um sich im Innern ihres Unterschlupfs verhältnismäßig glatte Wandflächen zu verschaffen, ohne Ritzen. Dieses Mehr an Ungestörtheit hatte seinen Preis: für Krabbeltiere und neugierige Blicke gab es kein Durchkommen mehr, aber für frische Luft auch nicht; wenn die Tür zum drahtvergitterten Anbau geschlossen war wie jetzt, herrschte eine zum Schneiden dicke schwüle Hitze in dem kleinen Kabuff. Mir gefiel’s. Ich habe das Geschlossene immer lieber gehabt als das allzu Offene, das stickige Bett lieber als die prickelnde Dusche. Ich fragte mich, ob die Jungs wohl gewusst hatten, dass ich im Anrücken war. Sie beobachteten mich genauer, als ich sie je beobachten könnte. 281
«Die Sache kommt also in Gang», sagte ich. «Ich schau dauernd aus dem Fenster, um nachzusehn, ob Mrs. Lubbetts’ architektonisch unpassendes Strandhaus schon abgebrannt ist.» Sie holte tief Luft, was für einen Augenblick den Falz in ihrem Bauch verschwinden ließ. «Sie haben gesagt», sagte sie, «Sie können mich anfassen, soviel Sie wollen, aber keine Penetration.» Ich räusperte mich in der drückenden Schwüle, ängstlich darauf bedacht, jetzt keinen falschen Schritt zu tun. «Das ist sehr großzügig von ihnen», gestattete ich mir zu sagen. «Ist das als Ersatz gedacht für meinen Anteil an den Einnahmen? Und was möchtest du, Doreen? Überhaupt nicht angefasst werden, könnte ich mir denken.» «Vielleicht hätte ich gar nicht so viel dagegen», sagte sie, nahm die Füße vom Stuhl und legte stattdessen den Grisham dort ab, die Seite, bis zu der sie gekommen war, markierend, indem sie den größeren, ungelesenen Teil des Buchs auf der Sitzfläche deponierte und den Rest herunterhängen ließ. «Das Buch ist schrecklich macho und lehrerhaft.» Sie stand auf, schon größer und fraulicher geworden, die Bluejeans hingen ihr unverschämt auf den vorspringenden Hüftknochen, schief und so weit unten, dass der Rand eines hellblauen Slips zu sehen war. Ich hatte Angst und berührte die weiße Haut ihrer langen Taille, wie man eine Herdplatte oder ein Bügeleisen antippt, um zu prüfen, ob sie heiß sind. Sie fühlte sich überraschend kühl an und roch sauber. Während meine sich erwärmenden Hände schüchtern die Einzelheiten erkundeten, die Schmiegsamkeit ihrer Taille, die unreife Festigkeit ihres Hinterteils, hatte ich nicht die Absicht, irgendeines ihrer Kleidungsstücke zu entfernen; der winzige elastische BH rutschte ganz von selbst herunter, auf ein Achselzucken hin, das ihre Idee war. Sie krempelte ihn hinauf und streifte ihn sich über den 282
dicken rotblonden Haarschopf hinweg. Die Schatten zwischen ihren Rippen flimmerten, als sie das tat. Ihre Br üste rochen nach Puder, wie der Schädel eines Säuglings, und ihre Brustwarzen waren kugelig, wie Jelängerjelieberbeeren, nur etwas blasser, überhauchter. Im Flüsterton erörterten wir, ob die Genehmigung, sie zu berühren, auch für meine Zunge und meinen Mund galt, und kamen zu einem positiven Schluss. Ihre Fingerspitzen spielten mit meinen Ohrmuscheln, während sie hinuntersah auf meinen armen alten Skalp, der nackt war wie der eines Babys unter dem immer weniger werdenden weißen Haar. Es rührte mich, in welchem Maß – für ein doch relativ so unentwickeltes, flachbrüstiges, blasshäutiges Mädchen – ihre Brüste da waren, vorspringend, ja sogar sich darreichend; ihr Gesicht mit dem ausgeprägten Kinn schwebte undeutlich über dem meinen wie ein Mutterschiff im Raum, indes ich schlabberte und schnüffelte und stöhnte. Sie erbot sich gütig, mich dort zu berühren, wo ich vorsprang, um mein Stöhnen zu lindern, aber ich sagte nein, zwischen den Jungs und mir gebe es eine Abmachung, und ich hätte ihnen Vertrauen gepredigt. «Es mit der Hand machen ist keine Penetration», sagte Doreen. «Es würde meine Seele penetrieren», sagte ich. «Es würde mich zur liebeskranken Nervensäge machen.» Als Belohnung für mich selbst, weil ich diesen Verzicht geleistet hatte, zog ich ihr die Jeans mitsamt dem Slip herunter, nahm ihre straffen, porzellanglatten Hinterbacken in meine schwieligen alten dickfingrigen Hände und pflanzte einen Zungenkuss in ihren flachen Nabel. Wie weiß ihr Bauch war! Ihr Schamhaar war nicht mehr als ein rötlicher Flaum, am dichtesten in der Mitte, aber sie hatte sich trotzdem die Seiten rasiert, weil die Bademode es so wollte. Ich streichelte die kleinen Pickel, wo die Schnurrhärchen wieder nachwachsen würden. Was ist das, dieses Bedürfnis bei uns Menschen, sich an den kost283
barsten, zartesten Stellen zu verstümmeln? Nasenlöcher, Ohrläppchen, Brustwarzen. Beschneidung. Kunst, nehme ich an. Mit dem Messer der Kritik an Gottes fein durchdachtes Werk herangehen. Ich ließ Doreen mit noch nicht wieder hochgezogenen Jeans stehen und stolperte hastig den schl üpfrigen Hügel hinauf, weg von diesem niederen Teil des Waldes. Ich keuchte und fühlte mich angeschwollen. Es ging mir nur um eines: dass ich mich wieder einpasste ins langsam drehende Getriebe meiner ordentlichen Welt. An der Stelle, wo das Reh zusammengezuckt und davongeprescht war, hing noch immer die Hitzewolke in der Luft und ließ mein Gesicht glühen. Gloria musste inzwischen zu Hause sein. Sie durfte mich nicht so sehen, so aufgelöst. Eine eisäugige Frage würde die nächste nach sich ziehen, und war der Wahrheitsabgrund einmal geöffnet, ließ er sich nicht wieder zudecken. Die Rundung ihres Autos, ihres schillernd blauen Infiniti, leuchtete auf der Zufahrt. Die Insel eintöniger Sicherheit, die ich mir aus der Welt herausgetrennt hatte, erschien mir jäh als etwas Kostbares. Ich spuckte mir den bitteren Jelängerjeliebergeschmack von der Zunge und tauchte, schon mein Gattenlächeln tragend, aus dem Schatten der Scheune hervor. Zurück im Club, war ich in den Umkleideraum gegangen, um die Schuhe zu wechseln nach einer ärgerlichen Runde, bei der Red und ich verloren hatten gegen Ken und einen neuen Kumpel von ihm, einen jüngeren Mann, der Glenn hieß, Glenn Caniff, und Leiter der Frachtabteilung bei einer Fluggesellschaft war. Glenns Schläge waren mit unseren nicht zu vergleichen – seine besten Drives gingen sechzig Yards über unsere hinaus und zogen auf einer anderen Flugbahn davon, nah am Boden, dann aufsteigend und einer parabolischen, durch Backspin bewirkten Kurve folgend. Seine Schulterdrehung war übertrieben und seine Kniearbeit ein bisschen un284
kontrolliert, aber wenn er den Ball voll traf, gab’s kein Halten mehr. Seine Chips und Putts waren auch nicht schlecht. Bei meinem zwischendurch immer mal wieder bilderbuchmäßigen Schwung und Reds grobschlächtiger Unterarmwucht mangelt es uns für gewöhnlich nicht an Weite, aber neben Glenn kamen wir uns alt und stöckerig vor, und als wir uns ins Zeug legten und ein paar Yards zusätzlich schaffen wollten, lief alles aus dem Ruder, und die Bälle landeten im Unkraut. Bei zwei Drives traf ich den Ball so weit oben, dass er es gerade bis zum Damenabschlag schaffte, und Red konnte seine rechte Hand nicht davon abhalten, den Ball um den linken Auspfosten zu wickeln. Je frustrierter wir waren, desto umgänglicher und freundlicher wurde Glenn, widerlich, und Ken spielte immer langsamer und bedächtiger und schenkte uns dies verschlafene, silberhaarige, jungenhafte Pilotengrinsen. Immerhin versenkte ich beim letzten Loch einen langen Putt, sodass ich nicht in gänzlich vergrätzter Stimmung vom Platz ging. Die drei anderen, die leichte Spikes trugen, waren sofort der für Clubmitglieder reservierten Veranda zugestrebt, um Drinks und Erdnüsse zu bestellen, abzurechnen und sich vergnügt noch einmal ihre besten Schläge zu vergegenwärtigen, ich dagegen hielt an reellen Stollen fest, ich liebe den drohenden Lärm, den sie auf Beton und Asphalt machen, darf mit ihnen aber nicht auf die hölzerne Veranda. Außerdem musste ich urinieren und ein paar Minuten allein sein. Eine gewisse Lichtscheu in mir erträgt den ununterbrochenen Sonnenschein lustiger Kumpelhaftigkeit nur einige Stunden lang und will dann in den Schatten mürrischer Einsamkeit. Der Umkleidebereich, neu mit Teppichboden ausgelegt im letzten Winter, im Zuge einer Renovierung, auf der die jüngeren Mitglieder bestanden hatten und bei der auch die freundlichen alten grünen Spinde aus Metall ersetzt worden 285
waren durch teure, weniger geräumige aus lasierter Buche, erschien zunächst leer. Ich schreckte zusammen, als ich dann einen nackten Mann aus dem gefliesten Duschraum kommen sah. Er war fürchterlich behaart und hatte mit seiner breiten Brust und seinen Säbelbeinen etwas Geducktes, wie ein Tier, das zum Sprung ansetzt. Als er mich sah, bekam er den gleichen Schreck wie ich eben; er war zweifellos versunken gewesen in die Träumereien, die der Dusche folgen – der Dampf, das starke, wie mit Nadeln stechende Wasser, das Gesicht blind hochgereckt, dem urzeitlichen Geprassel entgegen –, als das große raue Handtuch ihn wieder mit seiner prickelnden Außenseite vertraut machte. Es bestürzte mich, zu denken, dass der Club jetzt so unzivilisiert aussehenden Leuten die Mitgliedschaft gewährte, aber dann überlegte ich, dass junge Männer allesamt, auch ich damals in der Blüte meiner Jahre, etwas Unzivilisiertes in ihrem Erscheinungsbild haben, etwas, das sich nicht weiterentwickelt hat seit der Zeit der Stammesfehden und der nackten Gruppenjagd auf den heiligen Bären und das zottige Mammut. Dieser bedrohliche Schatten kam in unserer renovierten Höhle fragend, blinzelnd, das Handtuch hinter sich herschleifend, auf mich zu. «Ben?», sagte er mit leichter, zivilisierter Stimme. «Aaron Chafetz.» Natürlich. Mein Arzt. Mein neuer junger Arzt, unerkennbar in seiner wolligen Haut und kurzsichtig ohne seine Brille. Mein langjähriger Arzt Ike Fidelman, vier Jahre älter als ich, hatte einen Schlaganfall gehabt. Es hatte mich nicht sonderlich gestört, er hatte immer schon aus dem Mundwinkel heraus geredet und eine vernuschelte, unwirsche Aussprache gehabt. Aber er war abrupt in den Ruhestand gegangen und weggezogen, in die so genannte Oregon-Wildnis – chinesische Flugkörper hatten die Städte verwüstet, die Brücken, das Boeing-Werk –, um fortan bei seiner Tochter zu leben, die eine buddhistische Priesterin geworden war. 286
«Ike», hatte ich mich am Telefon beschwert, «wie können Sie mich derart hängen lassen!» «Tu ich nicht. Ein fabelhafter Junge übernimmt die Praxis. Der kennt sich aus mit dem ganzen neuen Kram.» «Ich will den neuen Kram nicht.» Ike hatte Homöopathie angewandt. Gloria nannte ihn den einzigen jüdischen Christian-Science-Vertreter auf dem Feld der Medizin. «Wenn’s nötig ist, wollen Sie ihn», sagte er. «Die vollbringen jetzt Wunder mit Superlasern, Ben. Vor dreißig Jahren hätte ich eine Flosse statt eines linken Arms gehabt und eine Luftblase im Gehirn. Machen Sie’s gut. Vorsicht bei Kaffee, Schnaps, gebratenem Fleisch und jungen Mädchen.» Hatte er vergessen, dass ich auf Glorias Drängen Alkohol und Kaffee komplett gestrichen hatte? Aus Schuldbewusstsein – heimlich wünschte sie mir ja den Tod – war sie übermäßig an meiner Gesundheit interessiert, legte mir jeden Morgen Vitaminpillen neben den Orangensaft und setzte mir permanent mit ausgewogener Ernährung zu. «Dr. Chafetz», sagte ich, absurd förmlich, aber unfähig, ihn anders anzureden. Ein Arzt ist ein Arzt. Wir wollten einander die Hand schütteln, ließen es dann aber. Unsere Aufmachung hatte sich irritierend verkehrt: normalerweise war ich der, der nichts anhatte. Ich hatte seinen Körper noch nie gesehen; die Stämmigkeit und Behaartheit seines Rumpfs standen im Widerspruch zu dem schmalen asketischen Gesicht, der beginnenden Stirnglatze, der kleinen goldgefassten Brille. Ohne die Brille hatte er nah herankommen müssen, um mich zu erkennen. Ich ignorierte den tierhaft nackten Körper und konzentrierte mich auf sein Gesicht: blass, sensibel, rasiert. Er hatte eine respektvolle, gedämpfte Art, ganz besonders dann, wenn er prüfte, ob ich einen Hodenbruch hatte, und mit eingefettetem Zeigefinger meine Prostata abtastete. Beim letzten Mal hatte das ziemlich wehgetan, es hatte gebrannt, und ich war 287
mir nicht sicher gewesen, ob das normal war. Ich hatte bloß gehofft, dass er meine Tränen nicht für einen Ausdruck erotischer Dankbarkeit gehalten hatte. Nur mit größter Mühe vermag ich am fernen verwischten Horizont meines psychosomatischen Universums zu erkennen, wieso männliche Homosexuelle emotional angewiesen sein könnten auf die Penetration dieser engen verletzlichen Analöffnung, neben der die Vagina sich ausnimmt wie eine zähe alte Tasche, in der alles Mögliche Platz hat. Ein anderes Universum, eines, das dünner war als eine Rasierklinge, schnitt sich in den düsteren Umkleideraum. Chafetz war ein nackter Jude und ich ein uniformierter guter Deutscher, in ein Vernichtungslager abkommandiert, um dort ein jüngeres Mitglied der Herrenrasse auf seinem Wachtposten abzulösen, damit der Mann an die russische Front konnte, wo die Slawen sich den Segnungen des Dritten Reichs gegenüber als verstockt und renitent erwiesen hatten. Der Himmel hing tief und voller Rauch, tagein, tagaus. Die Sonne verbarg ihr Gesicht. Alle Farbe war aus der Welt gewichen, es gab nur noch das stumpfe Braun von totem Gestrüpp und hier und da, ganz in der Nähe, leuchtend hingespritztes Blut. Es war Winter, Anfang 1944, in Polen. Eisen regierte die bittere Luft – das Eisen der Gewehre, der Stacheldrahtzäune und der Schienen, auf denen die Dampflokomotiven ihre eisernen Güterwagen mit der zusammengepferchten Menschenfracht zogen. Der dünne Schnee auf der harten Erde war schnell mit Aschepartikeln gesprenkelt. Von den Wachttürmen sah man auf monotones, sumpfiges Gelände, das sich in der Ferne zögernd zu niedrigen Reihen blauer Hügel erhob, die die niedrigen blauen Wolken widerspiegelten, dickflüssig und wellig. Dazwischen lag ein Band aus Silberlicht, schräg durchschnitten von den Strahlen einer matten Sonne. Saatkrähen kreisten über schneebestäubten Stoppelfeldern. 288
Übelkeit nistete in unseren Eingeweiden, seit die Meldungen von der Ostfront, wurden sie auch noch so schmetternd als strategische Triumphe über wehrlose Barbaren präsentiert, immer deutlicher von Niederlage kündeten. Feindliche Flugzeuge, wenngleich in verheerender Zahl abgeschossen, bombardierten die Heimat: in brummenden Schwärmen näherten sie sich, mit dem grausamen Ziel, unsere Frauen und unschuldigen Kinder auszulöschen. Das Mischlingsgesindel der verjudeten Erde setzte uns mit einem hartnäckigen düsteren Druck zu, den des Führers Magie nicht gänzlich von uns nehmen konnte. Eine Komplizenschaft des Verlorenseins entstand zwischen uns und den verlausten H äftlingen. Sie stanken nach Krankheit, nach Erbrochenem, nach der gelben Scheiße der Ruhr, obwohl wir uns bemühten, sie sauber zu halten, indem wir sie regelmäßig im Freien mit dem Schlauch abspritzten, auch an Tagen, wenn die Pisse in den Latrinen zu Eis gefroren war. Zu dem einen in der schlotternden Reihe, dem, der mir am nächsten stand, sagte ich, und ein Gefühl der Kameradschaft stieg in mir hoch und trat mir auf die Lippen wie die Säure bei einem Brechreiz: «Du stirbst, das weißt du. Du bist fast schon tot. Kapierst du das?» Was für ein kranker Dämon in mir brachte mich dazu, derart dummes Zeug zu reden? Von dem jungen Juden kam keine Antwort. Vielleicht war er nicht so jung, wie er auf den ersten Blick wirkte. Die jungen Männer starben meist vor den älteren, die waren knorpliger, nicht so leicht zu brechen, bei denen war der Geist länger mit dem Körper verschweißt. Dieser hier starrte an mir vorbei, durch mich hindurch, mit Augen, die wie kleine Kugeln aus schwarzem Öl waren, dem Öl, das das Reich so dringend benötigte. Seine weiße Haut in der beißenden Kälte hatte einen fahlen wächsernen Schimmer, unterschied sich widerwärtig von der klaren rosa Reinheit arischer Haut. Seine Augen waren aufreizend in ihrer glänzenden Undurchsichtigkeit. Ich sah, dass selbst Männer, 289
die uns vollkommen ausgeliefert waren, noch die Stirn besaßen, unverschämt zu sein. «Schwein, du musst sterben, weil du ein Beweis bist», fuhr ich fort, «ein ekelhafter Beweis.» Sogar in der eisigen Luft dünstete seine wächserne Haut ein warmes menschliches Aroma aus. Ich fragte mich, mit wie vielen Verrätereien und obszönen Handlungen in der Baracke er sich wohl das Fett auf den Knochen bewahrt hatte. Etwas scheußlich Tierisches lag in der Art, wie sein krummer Hals sich zwischen den weißen Schultern mit den grausigen jüdischen Epauletten aus schwarzem Haar vorreckte. «Wenn alle Beweise vernichtet sind», ließ ich ihn freundlich wissen, «wird die Welt nie und nimmer glauben, was wir mit euch gemacht haben.» Und ich bezwang den Übelkeit erregenden Impuls, ihm in einer Kameraderie der Hoffnungslosigkeit den Arm um die Schultern zu legen und an seinem schwer hängenden beschnittenen Schwanz herumzufingern, der aussah wie ein Stück Scheiße, das bläulich weiß aus einem warmen Arsch kommt, die Haut dünner und feiner als die einer Frau, gleich an welcher Körperstelle. Stattdessen hob ich mein stämmiges Mauser-Gewehr und rammte ihm den Kolben in die Seite seines ausdruckslosen, tierischen, feuchtäugigen Gesichts. Er taumelte, hielt sich aber auf den Beinen. «Antworte, wenn ich mit dir rede, Judenschwein!», brüllte ich. Die anderen Häftlinge und die anderen Aufseher und sogar die Krähen hoch oben rührten sich nicht, als ob sie auf einem Standfoto festgehalten wären und wir beide, der Mann und ich, in einem zerkratzten, zappelnden Film vorkämen. Es war kein Schwarzweißfilm, denn der rote Fleck an der Schläfe des Häftlings wurde immer leuchtender, während ich zusah, und zwei Rinnsale sickerten ihm parallel nebeneinander über die schmale Wange herab. Panisch suchte ich nach irgendeiner Freundlichkeit, die ich sagen könnte. In meinem Mund hatte sich ein Geschmack 290
nach Eisen gesammelt, obgleich überhaupt keine Zeit – Zeit, wie wir sie begreifen – verstrichen war. «Wie ist Ihr Spiel gelaufen?», brachte ich schließlich heraus. Er hatte geduscht, also musste er irgendein Spiel hinter sich haben – Tennis, höchstwahrscheinlich. «Gut, Ben», sagte er auf seine achtsame, manierliche, respektvolle und delikat zögerliche Weise. «Drei Sätze sind an uns gegangen. Und wie war Ihres?» «Miserabel, wie immer. Es ist, als hätte ich eine schwächende Krankheit und weiß es nicht. Aber beim letzten Loch habe ich einen Putt versenkt, das gibt mir wieder Auftrieb.» Mein Zuhörer nibbelte sich jetzt weiter mit dem Handtuch ab und hielt dabei diskret seine Genitalien bedeckt. Er wollte sich soeben abwenden, da platzte es aus mir heraus: «Wo ich Sie grad hier sehe – ich bin doch sicher fällig für einen Check-up.» Dr. Chafetz kehrte mir den Rücken zu. Schwarzes Fell bedeckte seine Schulterblätter in symmetrischen Strudeln wie Hurrikanwolken und bildete unten an seiner Wirbels äule, oberhalb der Gesäßhälften mit ihrem transparenteren Flaum, ein dunkles flauschiges Dreieck. «Kein Problem», sagte er über die epaulettengeschmückte Schulter hinweg mit seiner zuvorkommenden, artigen Ungezwungenheit. «Rufen Sie in der Praxis an und lassen Sie sich einen Termin geben, Ben. Wir schieben Sie dazwischen.» Auf den Hochsommerglanz legt sich mählich der Staub der Tage. Das Grün der Bäume ist matter im Ton, wie auf einem Barbizon-Gemälde, dessen Firnis nachgedunkelt ist. Blutweiderich blüht über Tausende Quadratmeter hin in der Marsch, die wir vom vierten Fairway aus sehen, dort, wo das Dogleg um einen unter Seerosen erstickten Teich herumknickt. Glorias Beete schäumen von taubenetzten Schmuckkörbchen und Margeriten, von Ehrenpreis und Wiesensalbei, von Rud291
beckien auf ihren schwanken Stielen und hohen Disteln mit ihren blauen Seeigelchen. Dieses Jahr hat sie, zum ersten Mal, soweit ich mich erinnern kann, einer Dahlie zu vegetabilischem Wohlbefinden verhelfen, einer einzelnen Dahlie von unanständig lebhaftem Rosa, dem saftigen, satten Fleischton junger Mädchenschamlippen. Um die Veranden im Ort unten plustern sich Hortensien, hauptsächlich in dem ausgespülten Blau, bei dem man an Wäscheballen denkt. Freie Stellen am Straßenrand haben Goldrute und Wegwarte zu Gast. Die Goldrute neigt sich vornüber, beugt sich ihrem allergenreichen Eigengewicht, die Wegwarte dagegen strebt hoch hinaus, ihre Stängel schießen gerade nach oben, wie Linien, die Punkte miteinander verbinden. Auf dem Weg zum Briefkasten bewundere ich die Vogelbeertrauben an den beiden schmächtigen Bäumchen, die Jeremy und ich letzten Herbst an der Stützmauer haben stehen lassen, orangerote Beeren, die zusammen mit den winzigen weißen eiskörnchengleichen Beeren des Zypressenwacholders an Weihnachten erinnern. Vom Badezimmerfenster aus sehe ich, während ich mich rasiere, einen rostfarbenen Anflug auf den obersten Blättern des Spindelstrauchs, der über den Weg gewachsen ist, den die vorigen Besitzer durch ihren Steingarten gelegt haben. Im Wald lässt hier und da ein Silberahorn ein Fünkchen Gelb aufblitzen, die anderen Bäume dagegen – Eiche, Buche, der Sassafras, der wie ein Tiffanylampenschirm geformt ist – bleiben vorerst bei ihrem grünen Einerlei. An den kleinen Birnen bilden sich von Würmern aufgeworfene Fruchtbläschen, und die Blaubeersträucher, habe ich neulich bemerkt, bringen mehr Gallen als Beeren hervor, und ihre Blätter sind von Japankäfern zu dünnem Spitzengewebe zernagt. Anfang August setzen die langen Abenddämmerungen ein, und ein elegischer, abgematteter, trockener Ton bestimmt die Stunde zwischen sieben und acht, die im Juli noch 292
reich ist an blauem Himmel, hohen Wolken und Seelenlimonade. In der Garage ist es still – die Schwalben sind mit ihren drei zwitschernden, schwirrenden Jungen nach Peru aufgebrochen, haben das napfförmige, aus Schlamm gebaute Nest, das noch immer am Dachsparren klebt, verlassen. Die weiß betauten Netze der Grasspinnen auf dem morgendlichen Rasen sind nicht zu übersehen, auch die Zirrusstreifen nicht, die die Kumuluswolken von gestern verdrängt haben. Monströse Pilzgebilde sind über Nacht im Gras aufgetaucht, manche ähneln den Satanspilzen in Bilderbüchern, andere aber sehen aus wie Krebsgeschwülste, geformt nur vom ziellosen Hervordrängen gierig wachsender Zellen. Ein Fußtritt, und die braune Masse, fester als sie scheint, fällt in fleischigen Brocken auseinander. Einige Tage nach meinem Termin rief Dr. Chafetz an und teilte mir mit, der PSA-Test, dessentwegen er meine Blutprobe eingeschickt hatte, habe einen Wert von elf ergeben. Er schwieg. «Ist das schlimm?», fragte ich. «Nein, nicht sehr schlimm», sagte er mit seinem respektvollen Zögern, diesem empfindsamen Beinah-Stottern. «Aber es ist hoch.» «Was gilt denn als normal?» Ich hatte das Gefühl, ich müsste ihm sein Wissen aus der Nase zerren. Er steckte bereits tief in einer medizinischen Krise, die mich noch nicht erfasst und heruntergezogen hatte. Meine Gedanken schossen hin und her und suchten zwischen den mageren Fakten nach einem Ausweg. «Alles unter vier», sagte er. «Schon fünf verlangt genaueres Hinsehen.» Ich schwieg störrisch, ärgerte mich, dass er verlegen war auf meine Kosten. Um wessen PSA-Wert ging es, um meinen oder seinen? Schließlich sagte er: «Ihre Prostata hat sich bei der manu293
ellen Untersuchung nicht ungewöhnlich vergrößert angefühlt, schien auch keine rauen Stellen zu haben.» Schien? Was trieb er eigentlich – sammelte er vage Impressionen? «Okay, weiter, was geschieht als Nächstes?», fragte ich so energisch, dass seine Stimme sich daraufhin nicht bloß respektvoll ausnahm, sondern knabenhaft verschüchtert. Ich war der Kapo, er der nackte, schlotternde, verurteilte Häftling. «Eine Biopsie. In Boston. Wir haben Beziehungen zu einem ausgezeichneten Mann am MGH, einem Urologen. Wir besorgen Ihnen einen Termin.» Woher kam dieses «wir», hinter dem er sich auf einmal versteckte? «Wie heißt er?» «Schneider.» «Wie denn sonst!», lachte ich aufmunternd. Der Junge brauchte ein bisschen Hilfe. «Dr. Andrew», fuhr er fort – ich hatte ihn unterbrochen. «Handy Andy», sagte ich, unerschütterbar, unvernichtbar, unsterblich. Ich legte auf und streifte durch die Zimmer des Hauses. Es war, als sei jedes von ihnen geschrubbt worden; das langweilig Altgewohnte, das wie eine dünne Schicht über allem gelegen hatte, war fort. Das Haus wirkte glanzvoll, weiträumig, kostbar. Und während ich durch die Räume ging, wurde mir bewusst, dass ich in jedem eine etwas andere Person war, es immer schon gewesen bin. Im Esszimmer, in Gegenwart der zerschlissenen, fleckigen alten Seidentapete mit phantastischen, durch die Jahrhunderte führenden Veduten – Tempel, Grotten, Burgen, Kathedralen; Rom, Jerusalem, Athen, Ninive; Alpen und Alhambra, schneebedeckte Gipfel und spitz ragende Zypressen – und umgeben von Glorias ständiger Versammlung schimmernder Mahagoniantiquitäten war ich ganz der galante, liebenswürdige Gastgeber, eine Spur affektiert à la achtzehntes Jahrhundert und mit gesetztem grauhaa294
rigem Timbre. In der Küche, wo ich in der Mikrowelle schnell eine Tasse Wasser heiß machte, um einen Teebeutel hineinzutun, und aus dem Brotkasten eine natriumarme Brezel nahm, war ich Jedermann, ein Magen auf zwei Beinen, ein behostes Fossil aus der paläotechnischen Ära, da Kühlschränke und Elektroherde noch Gewicht und dicke Außenhäute hatten. In der dunklen kleinen Bibliothek wurde ich zum griesgrämigen Squire, einem schrulligen Steckenpferdreiter vom Lande, einem dem neunzehnten Jahrhundert verhafteten Hüter uniformer Gesamtausgaben von Balzac und Dickens, O. Henry und Winston Churchill (dem Staatsmann, nicht dem amerikanischen Romancier.) Im Wohnzimmer, das ich auf meinem Weg zur Veranda durchquerte, war ich für einen Augenblick eine lässige, luftige Person, der heitere Besitzer spiegel- und samtverkleideter Weiten, in denen ein einzelner großer rosa-blauer Täbris lag; für einen kurzen Moment kehrte ich zurück in die romantische Zeit der Ginpartys und Segeltörns, war ich gleich einem unbeschwerten Schmetterling, der sich befreit hatte aus der engen, bedrückenden Puppe jenes mit Asphaltschindeln gedeckten Farmhauses, das einsam auf seinem abfallenden, winterlich fahlen Stoppelfeld am Rand einer sterbenden kleinen Industriestadt stand. Von Hammond Falls nach Haskells Crossing: wahrlich keine große Pilgertat, wenn man bedenkt, dass ich fast siebenundsechzig Jahre Zeit gehabt hatte für den Weg. Ich setzte mich auf das Korbsofa (es ächzte unter meinem neuen Angstgewicht) und fühlte mich auch im Freien von einem mich bestimmenden Raum umgeben, einem etwas anderen, einem gleißenden Zimmer: darin war ich ein unbedeutendes Insekt und taumelte für diese kurzen hellen Augenblicke meines Lebens verzückt in einem wirbelnden, leuchtenden, zwitschernden, singenden kosmischen Exzess des Gebärens und Sterbens mit. Von den Quasaren bis zum Regenbogenschillern meiner Libellenflügel, alles verschwen295
derische Übertreibungen, Verzierungen auf der Obsidianhaut einer unantastbaren ewigen Dunkelheit. Mein Puls flatterte. Ich kam mir wie ein junges Mädchen vor mit meinem Geheimnis. Ich redete erst mit Doreen, bevor ich mich Gloria anvertraute. Doreen verstand nicht, warum ich mich jetzt schon so aufregte; sie hatte keine Ahnung, wo die Prostata überhaupt saß, und ihr Gesicht verzog sich angeekelt, als ich es ihr erklärte. Gloria nahm die Nachricht statuenhaft, mit der tragischen Größe kommender Witwenschaft, entgegen. Seit langem auf die Rolle der Ehefrau festgelegt, hatte sie sich über Jahre hin mit ödem Text herumschlagen müssen, jetzt endlich aber zeigte sich, dass der Part ihrer Talente würdig war. Sie fühlte sich in ihren neuen gehobenen Status ein und wollte, bis es so weit war, nur noch die mustergültige liebende Gattin sein: ich sah geradezu, wie die eherne Absicht ihr auf der im Übrigen ungetrübten breiten Stirn geschrieben stand. Sie würde mir in die nächste Welt hinüberhelfen und zur Belohnung dann den höchsten Rang einnehmen, nicht länger mehr Regentin im Namen eines seneszenten Mannes sein, sondern unumschränkte Königin. Sie würde den Gesang von der Mitte der Bühne strömen lassen. Die Tage haben jetzt in der Frühe, wenn ich hinuntergehe, um den Globe zu holen, eine leichte Frische. Ein gelb blühendes Unkraut – Habichtskraut, glaube ich – hat sich in den Ritzen des Wäschetrockenplatzes aus bröckelndem Beton angesiedelt, und ich bücke mich im Vorübergehen, reiße einige Stängel aus und werfe sie auf den Haufen in der Verbrennungsgrube. Von Kindheit an habe ich diesen Monat geliebt – das flache trockene Aroma, das braune Gras, von dem die Hitze hochprallt und einem gegen die nackten Beine faucht, das Fehlen jedweden lästigen Feiertags, der die freie Zeit vor dem Labor Day und dem Ende der Schulferien stört. Am Samstag wies Gloria Jeremy und mich an, die Sibiri296
sche Iris auszugraben, die sich auf dem steinigen Hang hinter den beiden mageren Birnbäumen rechts von der Zufahrt breit gemacht hat. Wir gingen den Horst erst mit Schaufeln an, die aber auf zu viele Steine stießen, und nahmen dann die Hacke, die ich mit durchschlagender Wirkung zu schwingen wusste. Jeremy schrie plötzlich auf und schoss mit der Hand hinunter, um eine Gartenschlange zu packen, die sich wie etwas Flüssiges durchs Gras ringelte. Die Wellenbewegung der kleinen Schlange und der Schimmer ihrer polychromen Schuppen waren so schön, dass es uns beiden einen Schock versetzte, als wir sahen, dass ihr Schwanzende zerfleischt war und trübes Reptilienblut absonderte. Eine Schaufel oder die Hacke in meinen Händen hatte sie getroffen, ein Schlag aus heiterem Himmel, als sie getarnt und ohne Arg ihres Wegs schlängelte. Jeremy legte sie vorsichtig ins Gras zurück, und sie schlüpfte mit unbeeinträchtigter Gewandtheit davon, aber ich dachte, dass eine Schlange kein Band war, das man beliebig zerschneiden konnte: sie hatte eine Anatomie, Gedärme und einen Anus und konnte ebenso wenig wie ich längere Zeit mit zermalmter Hinterpartie leben. Ich hasse es, wenn unsere Menschenbemühungen, Ordnung über das Land zu bringen, Tod und Schmerz und Verstümmelung für diese unschuldigen Geschöpfe bedeuten, deren Vorfahren sich Abermillionen Jahre lang der Erde erfreut haben, bis dann der nackte Affe mit seiner Technik und dem erbosenden Bewusstsein von seiner eigenen Sünde auftauchte. Ich nahm es Gloria übel, dass sie uns diesen harmlosen, gedeihenden Irisbatzen roden ließ, weil er ihre eisblauen, vereinfachenden Augen beleidigte. Wie kommen wir dazu, zu bestimmen, was Unkraut ist oder Ungeziefer? Jetzt muss die hübsche Schlange, in ihrer Vollkommenheit versehrt, irgendwo in einer Spalte liegen und fühlen, wie ihr schlanker Körper stockt und nach und nach versagt; glasiges Nichts wird sich auf das kleine Juwel ihres vorwurfslosen Gehirns senken. 297
Die Arbeit Seite an Seite mit Jeremy ließ mich darüber nachdenken, wie es damals war, neben meinem Vater zu arbeiten. Er konnte etwas, bis zu einem gewissen Grad: er verstand, mit Hammer und Nägeln umzugehen, und kam mit einfachen Elektroleitungen und Installationsarbeiten zurecht. Eine Zeit lang arbeitete er für eine Dachdeckerfirma; er behauptete, die Höhe mache ihm nichts aus, aber wenn er heimkam, klagte er jedes Mal, wie übel Dachdecker die Leute betrogen, selbst die vertrauensvollste arme Witwe. Er hatte hinten einen Gemüsegarten, in dem er am Ende des Tages herumstand, und auf der einen Seite der Garage eine kleine Werkstatt mit aufgereihten Weckgläsern voller Schrauben und Nägel, die vor sich hin rosteten. Eine Weile hatte er einen Job in der Montagehalle bei GE in Pittsfield, aber die Eintönigkeit am Band, gestand er eines Tages beim Abendbrot, mache ihn körperlich krank. Er wechselte von Job zu Job mit seinen dürftigen Kenntnissen, seiner Interesselosigkeit, seiner Ungelerntheit. Doch, wir brachten einiges gemeinsam zu Ende – eine Hundehütte für Skeezix, einen Seifenkistenrennwagen, der die Nummer 9 bekam, in Silber mit schwarzer Umrandung –, aber meistens war er zu müde. Er wollte bloß in seinem braunen Kunstledersessel mit den abgeschabten Armlehnen sitzen und fernsehen und sich das Abendbrot bringen lassen. Ich schwor mir, nie in meinem Leben derart müde zu sein. Letzte Nacht war ich im Bad, als der Vorortzug, lauter als sonst, wie mir schien, über die Gleise am anderen Ende des Waldes donnerte. In wenigen Monaten, wenn das Laub gefallen ist, kann ich die goldenen Fenster flackernd vorbeiziehen sehen. Der gedämpfte Krach ließ mich vor Wonne erschauern, versetzte mich in ein Entzücken, das von meinen frühesten Erinnerungen an Straßenverkehr herrührt, große Dinge, die draußen vorbeibrausen, ins Tal hinunter. Ich liebe auch den Donner – erst das Splittern und Krachen in der Fer298
ne (wie eine Erdbeerschachtel, die kaputtgeht, wenn man draufdrückt), dann ganz nah, ein wüstes, gefährliches Toben gleich überm Dach, Schläge, so schwer, dass die Schieberahmen der Fenster klappern und die dünnen Scheiben in ihrer Kittfassung klirren, und dann das halbwegs beruhigt weiterziehende, immer noch leicht gereizte Grollen und das Gurgeln der übersatten Regenrinnen. Dinge, die sicher vorübergehen: etwas, das mich zutiefst befriedigte. Jetzt bin vielleicht ich das Ding, das vergeht, mein Körper eine Haut, die ich abstreife, wenngleich sie an manchen Stellen noch recht festsitzt und nicht herunterwill. Die Biopsie war weder schmerzlos noch schmerzhaft. Durch den Einlauf, den ich mir am Abend zuvor und dann noch einmal am Morgen auf dem kalten Badezimmerfußboden gemacht hatte, während ich die Unterseite des Waschbeckens studierte und darauf wartete, dass sich in meinem Darm etwas rührte, war ich seelisch abgestumpft gegenüber der Demütigung der rektalen Ultraschallsonde und der eigentlichen Ernte der winzigen Gewebeproben, die mittels eines drachenköpfigen, durch meinen armen schlaffen Penis eingeführten Katheters ins Werk gesetzt wurde. Ein dumpfes Klicken, ein ominöses inneres Ziepen und davor Dr. Schneiders gemurmeltes «Ein kleiner Knips». Ein kleiner Knips, ein kleiner Knips, und ich war wieder in meinen Kleidern und ging, leicht mitgenommen, mit kabbelndem leeren MagenDarm-Trakt, die Cambridge Street entlang zur State, wo die alte Truppe bei Sibbes, Dudley und Wise mir freundlicher vorkam als sonst – vielleicht waren meine Erwartungen in puncto Freundlichkeit bescheidener geworden. Ich fühlte mich wie ein wandelnder Haufen defekter Innereien, und sie behandelten mich voller Artigkeit als Geistwesen, als eine verblasste Eminenz. Der Urologe war ein junger Mann gewesen mit blondem, über der Stirn sich lichtendem Krisselhaar und einem Teint, 299
auf den das Rosafeuchte der unteren Partien abgefärbt hatte, die seine Spezialität waren. Er hatte eine breitschultrige, strenge irische Arzthelferin, die bei uns im Raum blieb und während der Schnippelprozedur unter dem diskreten blauen Tuch unvermutet meine Hand hielt. Das war eine der vielen unpersönlichen Freundlichkeiten, erkannte ich, mit denen wir überschüttet werden, wenn unsere Kräfte nachlassen. Unsere Gastgeberin, die Welt, ist ganz besonders liebenswürdig, geradezu überschwänglich, wenn sie erleichtert feststellt, dass wir endlich Anstalten machen zu gehen. Aber meine Kräfte hatten nicht nachgelassen. Ich war keine Schlange mit zermanschtem Schwanzende. Das kribbelnde versengte Gefühl im oberen Teil meines Rektums stachelte mich nur zu umso lebhafterer Effizienz und aggressiverem Know-how an. Ich war gekommen, um in Mrs. Fessendens Depot sowie in meinem eigenen und in einigen anderen, noch in meiner Obhut befindlichen ein paar Umstellungen vorzunehmen: weg von zyklischen Werten, die unsicheren Zeiten entgegengingen, jetzt wo es inmitten der gigantischen Zerstörung Anzeichen für ein Wiederaufleben der asiatischen Niedriglohnwirtschaft gab, hin zu Technologiefonds – gezielte Genverpflanzung und Miniaturisierung in atomarem Maßstab, Möglichkeiten, die endlich nicht mehr bloß in der Theorie existierten. Die großen Fenster gingen auf ein Boston leicht gewundener Straßen hinaus, Fährten zwischen Blocks aus ziegelroten Trümmerhaufen und Geschäftshäusern, die nach der dramatischen Bevölkerungsdezimierung aufgegeben worden waren – zum Teil so überstürzt, dass keine Zeit zum Vernageln der Schaufenster gewesen war. Diese verlassenen Blocks muteten von hoch oben wie ein weites Gefäß voller Chancen an. Wir Überlebenden waren Erben eines leeren Raums, den wir uns zunutze machen konnten, Erben einer Zukunft, die dank der Lockerung der Ordnung ungeahnte Möglichkeiten bot. Evolutionärer Wandel vollzieht 300
sich in kleinen isolierten Populationen; weit verbreitete Arten neigen dazu, vor lauter Erfolg zu stagnieren. Wir waren Pfeilschwänze und Krokodile gewesen, jetzt waren wir behände, auf unser jeweiliges Biotop abgestimmte Säuger, hatten unsere Reihen skrupellos gelichtet und legten uns rapid Hufe zu, lemurengroße Augen und spezialisierte Muskelmägen. Ich würde es nicht mehr erleben, aber die Luft war erfüllt davon, eine Art planetarischer Erwartung, die vibrierend über dem Trümmerschutt hing. Gary Gray war es, der sich meiner annahm. Er wirkte nicht mehr so spillerig, hatte, im Gegenteil, eine richtige kleine Wampe angesetzt, die er ziemlich ungeniert zur Schau stellte in dem mit einem Logo bedruckten T-Shirt, das bei Leuten seiner Generation zum üblichen Büro-Outfit avanciert ist. Ich fühle mich immer noch nackt ohne Anzug, obgleich meine Anzüge, seit ich im Ruhestand bin, klamm und muffig werden auf ihren Zedernholzbügeln. «Wo ist Ned, hat er Urlaub?», fragte ich. «So könnte man’s nennen», sagte er, und der Seitenblick, mit dem er mich streifte, ermunterte mich nicht, mehr zu fragen. Das Herz hüpfte mir vor Schadenfreude bei dem Gedanken, dass Ned auf die Nase gefallen sein könnte. Der eigene Aufstieg verschafft einem ein prekäres Glück, über dem immer ein Schatten liegt: das Blatt kann sich wieder wenden, oder andere feiern die größeren Triumphe; der Sturz eines andern aber bereitet dauerhafte Befriedigung. «So könnte man’s nennen, aber so ist es nicht?» «Man kann’s optimistisch formulieren und sagen, er hat Urlaub auf unbestimmte Zeit.» Gary lächelte grau. «Er ist den Zahlenfuchsern im Weg gewesen. Er hatte eine zu verbale Art, sich auszudrücken.» «Und Pat? Sie war seine Assistentin.» «Ich weiß, wer Pat war», sagte er mit übertriebener, genervter Betonung, die vielleicht ein ironischer Hinweis auf 301
seine eigenen sexuellen Präferenzen sein sollte. «Sie hat einen Seitensprung gemacht, rüber zu Sturbridge, Morrissey und Blaine. Die haben ihr ein paar Depots und einen eigenen abgeteilten Arbeitsplatz versprochen, wenn sie Abendkurse in Finanzmanagement belegt.» «Sie schien recht viel versprechend», sagte ich. «Eine, die mit Leuten umgehn kann.» Ich habe Homosexuelle nie verstanden: sie treffen ihre Wahl, oder lassen sie biologisch für sich treffen, und äußern sich dann sehr bissig und indigniert über die Partei, der sie sich nicht haben anschließen wollen – die Partei der sich Fortpflanzenden, der fruchtbaren männlich-weiblichen Reiberei. «Sie war ein Flittchen», sagte Gary. «Sie können dies Büro hier benutzen. Aber die Zugriffscodes sind alle geändert worden, in einer der Schubladen liegt ein Hardcopy-Ausdruck. Die Fuchser wollen nicht, dass ihre Zahlen von Outsidern benutzt werden, auch nicht von hoch geschätzten früheren Insidern wie Ihnen. Ihr Herz hat ordentlich pittepat gemacht, als Sie sie gesehn haben, was, Ben Boy?» Er verzog sich mit seinem anzüglichen Grinsen und seinem ausgebauchten Logo (EXKREMENTE MÜSSEN SEIN, lautete es). Während ich meine Transaktionen tappend, tastend in die Datenbank eintippte, hatte ich ein Gefühl, als schwebte ich frei im Raum mit meinem brennenden Steiß, und leise Agoraphobie beschlich mich. Ich wollte hinaus aus dieser rechtwinklig abgetrennten Helle und mir eine freundliche dunkle Ritze suchen. Entfernt von meinem eigenen, immer wieder abgeschrittenen Grund und Boden fühle ich mich zunehmend verängstigt und desorientiert. Boston war seit vierzig Jahren mein zweites Zuhause, aber jetzt erschien es mir feindlich und konturenlos, eine Leere unter meinen Füßen. Das war sogar bei einer Golfrunde in Brookline so, die Red mit einem guten Bekannten, der Mitglied des Country 302
Club ist, arrangierte. Als er mich mit seinem Dodge-Caravan abholte und anfing, über Mobiltelefon Gespräche zu führen mit Durban, Südafrika, und Perth, Australien – was es an Fisch auf dem Planeten gibt, ist in der südlichen Hemisphäre versammelt, wie glitzernde Schneeflocken, die auf den Boden einer Glaskugel absinken –, kam ich mir irgendwie gekidnappt vor. Angst rieselte mir im Hinterkopf, wie das Tröpfeln von kaltem Wasser, das das ganze Haus mit seinem Gemurmel erfüllt, wenn im Spülkasten einer Toilette der Schwimmer nicht richtig angebracht ist. Ken Dixon saß auf dem Rücksitz, stumm, vielleicht, weil er Reds laute, weitschweifige Unterhaltung über schwindende «Produkt»Schwärme nicht stören wollte, vielleicht, weil auch er, auf derselben Sendefrequenz wie ich, das Wispern der Angst hörte, das Murmeln eines verheerenden Lecks, das Versickern der Substanz der Welt. Der Platz mit seinen Mondbuckeln aus schwarzem Puddingstein, seinen Par-fünf-Bahnen, die sich wie Metaphern für die traumdunkle, verschlungene Lebensreise an Klippen vorbeiwanden und durch Sandbunker erschwerte Hänge hinauf, war wie ausgehöhlt, eine allen gemeinsame Sinnestäuschung, bestehend aus Elektronen und Protonen, trudelnd in einem Raum, der zu neunundneunzig Prozent ein Vakuum war. Unser Gastgeber hieß Les, mit vollem Namen Lester Trout; er hatte sich von Red einfangen lassen, als der, noch vor dem Krieg, in Bostoner Geldkreisen seine Netze auswarf, um Investoren für eine vergrößerte Gefrier- und Verpackungsfabrik an Land zu ziehen. Les war ein glücklicher reicher Mann, gut erhalten und wohl in Schuss. Golf war zu seinem Leben geworden; er ging den Platz einmal täglich an, um sein Handicap von acht auf sieben zu bringen und im nächsten Jahr auf sechs. Er entspulte sich mit einer wundervoll kompakten Kraft in den Ball, und nach einem besonders geglückten Schlag ließ er ein raubtierhaftes Lächeln aufblit303
zen, mit dem er uns einlud, die Freude an seinem Spiel zu teilen. Am zwölften Loch, einem Par drei, erlebte ich einen wahnhaften Augenblick: ich rechnete damit, dass ich gleich sehen würde, wie der mit Eisen neun losgeschickte, in einer hübschen Linkskurve fliegende Ball das erhöhte Grün durchschlug wie eine Trommel aus grünem Papier oder den Schmutzfilm auf einem Tümpel. Doch nein, er traf auf festen Grund, unser uraltes Sedimentgestein. Er hüpfte einmal auf und blieb liegen. Ich stellte mir vor, und das Bild wollte nicht vergehen, wie eine ganz hinten im Gemüsefach des Kühlschranks vergessene Orange zu einer gräulich grünen Kugel zusammenschrumpft, die trübe Wölkchen auspufft wie ein Pollensack. So bewegte ich mich durch die Schleier der Maja, und mein Unwirklichkeitsgefühl half mir, ein wenig besser zu spielen als sonst. Mir war alles gleichgültig, ich wollte nur heim in den Schoß meiner häuslichen Umgebung, zurück zur geschwungenen Zufahrt, zum weißen Haus, zum laubreichen Wald, zu den Kids im Wald, zum Reh, zur Frau, zu den Blumen, und schwang deshalb leicht und mühelos und erntete Bravorufe, die fast ganz übertönt wurden vom Murmeln des Entsetzens, das im Hintergrund meines Gehirns rieselte. Ich übertreibe. Die Dynamik des Spiels drang sehr wohl zu mir durch. Ich war mit unserem Gastgeber zusammengespannt, der uns anderen mit seiner teuer erworbenen Spielstärke so viele Schläge vorgab, dass, wenn er ins Wanken geriet – und zwangsläufig geriet er oft ins Wanken: ein Putt, der haarscharf am Loch vorbeiging, ein Drive, der zu weit nach links ausscherte –, die ganze Last mir zufiel. Jedes Mal, wenn unser Supergolfer in seiner Würde angeknackst war, hieß das, Red und Ken dort und Ben hier, zwei gegen einen. In meinem tranceähnlichen Zustand hielt ich mich besser als vor einiger Zeit in der Endrunde zusammen mit Fred Hano304
ver gegen dieselben beiden Kumpel. Alle drei waren wir zum ersten Mal in diesem Puddingsteinparadies, und es herrschte eine heimliche Solidarität zwischen uns, auch wenn ich der Alliierte des bösen Gastgebers war. Mein geistesabwesendes Golfspiel nahm eine nachgerade behagliche Leichtigkeit an. Die Bahn, auf der der Ball fliegen sollte, war wie mit breiten Furchen in der Luft markiert; das Gefühl war das genaue Gegenteil von dem, das ich sonst so oft habe und das mich so quält: dass die korrekte Bahn ganz schmal ist, eine Art Rasierklingenschneide, von der der Ball immer wieder zur einen oder zur andern Seite herunterrutscht. Vor allem in der zweiten Matchhälfte, als ich beim kurzen, unübersichtlichen zehnten Loch das Par einhielt und auch beim langen elften mit der kahlen Klippe und dem grasbewachsenen Quergraben, war ich es, der die Punkte brachte; wir gewannen und kassierten zwei Welder, die Les Trout triumphierend, als hätte er gerade eine weitere Million gemacht, in seiner Brieftasche verstaute. Ich staune, während ich dies niederschreibe, mit was für kindischen Spielen wir unser kurzes Leben vertun. Pythagoras, habe ich gelesen, hat geglaubt, die Zeit sei die Seele und der zeugende Urstoff des Universums. Und wir mögen noch so sehr mit ihr hadern und sie wegen ihrer zerstörerischen Auswirkungen verfluchen, wahr ist doch, wir können uns unsere menschliche Existenz nicht vorstellen ohne sie: nichts würde geschehen – wir wären platt gegen den Raum gedrückt wie in den Zeichnungen, mit denen mathematische Pfiffikusse illustrieren, was für verrückte Folgen es hätte, wenn unsere drei Dimensionen auf zwei reduziert würden. Descartes hat behauptet, er glaube, dass die Zeit eine ununterbrochene Reihe vergehender Augenblicke sei, die Gott fortlaufend, Sekunde für Sekunde, in immer neuem, wohlerwogenem Schöpfungsakt ersetze. Dieser groteske Gedanke ist mir gekommen, als ich ein Kind war, und wahr305
scheinlich kommt er den meisten Kindern, sobald in ihren Gehirnen Platz ist für Metaphysisches. Wissenschaft beginnt mit dem Verfolgen von Zeit. Die Maya hatten Kalender, in denen Schaltjahre präziser berechnet waren als in unseren eigenen. Bewohner der Andamanen führen einen Kalender, der auf den Düften beruht, welche die Pflanzen in den jeweiligen Jahreszeiten beim Blühen und Welken verströmen. Jeden Morgen entdecke ich ein paar welke Blätter mehr auf der Zufahrt, ein paar gelbe Leuchtstellen mehr in den Kronen der jungen Ahorne, die sich im Teich spiegeln. Wenn ich mich vor dem Spiegel im Bad rasiere und schräg nach unten blicke, sehe ich, dass das Laub des Spindelstrauchs, Euonymus atropurpureus, der im terrassenförmig angelegten, vom Badezimmerfenster aus überblickbaren Teil des Gartens wächst, eine Spur rötlicher überhaucht ist als am Tag zuvor. Gloria weist mich daraufhin, dass ich mich nicht ordentlich rasiere, obwohl ich es nun schon so lange tue. Ich lasse einige Stoppeln unterm Kinn und dicht unter der Nase stehen; ich gehe nicht weit genug am Hals hinunter, sodass mir unschöne lange weiße Haare aus dem Hemdkragen ragen. Sie behauptet auch, mich durch die Rinnsale auf der beschlagenen Glastür überwachend, dass ich nicht richtig dusche – ich nehme nicht genug Seife, ich schiebe meine Vorhaut nicht zurück und schrubbe mich dort nicht gründlich. Die Frauen unbeschnittener Männer bekämen siebenmal häufiger Gebärmutterhalskrebs als die Frauen von beschnittenen Männern, behauptet sie. Na, dann heirate doch einen Juden oder werde Nonne, denke ich. Ich habe die Entscheidung nicht getroffen, das haben der alte Dr. Hardwick und meine Mutter unter sich ausgemacht, im Krankenhaus von Pittsfield damals, an einem Septembernachmittag im Jahr 1953. Vielleicht haben sie heimlich geplant, dass meine Frauen Gebärmutterhalskrebs bekommen sollen. Es gab so etwas wie eine Verschwörung zwischen dem jungalten Doc Hardwick mit den 306
dunklen Brauen und meiner zierlichen, rotblonden Mutter; ich konnte es spüren an der Art, wie sie sich als Zweiergruppe neben meinem Bett aufbauten, als ich Windpocken hatte und später Mumps. Ich konnte es heraushören aus ihrem Geplauder, wenn sie unten beim Kaffee saßen, zu einer Zeit, da mein Vater fort war zur Arbeit und Hausbesuche eigentlich schon der Vergangenheit angehörten. Nach den mehr als sechs Jahrzehnten, in denen ich Gelegenheit gehabt habe, mir darüber Gedanken zu machen, erscheint mir mein Unbeschnittensein als das vielleicht Wertvollste an mir. Meine umhüllte Eichel vermittelt dem gesamten stumpfigen Strunk, der mich in der Jugend hin und wieder in Verlegenheit gebracht, mir aber in reiferen Jahren gute Dienste geleistet hat, eine reaktionsfreudige Sensibilität; ich bin der Homo naturalis, der unversehrte Mann, Adam vor dem Bund, und es kränkt mich tief, dass Gloria gerade das an mir kritisiert. Perdita hat sich nie über meinen armen klobigen Körper beschwert, obschon ihr Schweigen, ihre zunehmende Reserviertheit, ihre Art, das Gesicht zu verziehen und am Ende ihre Meinung ganz und gar für sich zu behalten, vernichtender waren als alle Worte. Für Gloria bin ich gewissermaßen ein Garten, in dem sie jäten, in Form schneiden, hochbinden, Verblühtes entfernen und Blattläuse vergiften muss. Sie kann es nicht fassen, dass ich nach all den Jahren die Gabel manchmal auf die rechte Seite lege und Messer und Löffel auf die linke; der Affront wäre nicht größer, wenn ich mich zu Tisch setzte und hätte keine Hosen an. Wenn wir zusammen tanzen – auf den Hochzeiten, zu denen wir dann und wann gehen, um mitzuerleben, wie die Zeit die jüngere Generation in ihre Fortpflanzungsmühlen steckt –, befiehlt sie mir, große Schritte zu machen und nicht so mit den Schultern zu schaukeln. Ob ich meine Suppe schlürfe oder mir im dunklen Kino, wenn’s keiner sehen kann, in der Nase pule oder mir zum karierten 307
Jackett eine gestreifte Krawatte umbinde – ganz gleich, was es ist, unschuldige kleine Hemmungslosigkeiten dieser Art lösen ein heftiges Tadelgestöber aus, und wahrscheinlich ist es unrecht von mir, ihr das übel zu nehmen. Sie möchte mich ja nur erziehen, wie eine Rose am Spalier. Ich werde allmählich alt und matt und füge mich immer widerstandsloser ihrer unermüdlichen Belehrung. Sie findet, dass ich ein vertrottelter Fahrer bin und dass es gefährlich ist, neben mir zu sitzen, also scheint es am einfachsten, das Steuer ihr zu überlassen, wenn wir zu zweit im Auto sind. Ergeben reiche ich ihr vorm Schlafengehen meinen Pyjama, damit sie prüft, ob er hinlänglich sauber ist und ich ihn noch einmal anziehen kann. Sie beschnüffelt den Kragen, macht ein Gesicht, gibt mir den Pyjama zurück und sagt: «Wäschekorb.» Doch ich falle nicht bei jedem Schnüffeltest durch. Manchmal, meist kurz vor dem Abendessen, wenn ihr Biorhythmus in eine verliebte Phase eintritt, drückt sie mir ihre Nase an den Hals und sagt: «Dein Geruch stimmt. Dein Geruch sagt, du gehörst mir. Das ist wie bei einer Mutter – sie erkennt ihr Baby am Geruch. Und das Baby erkennt die Mutter.» Diese elementaren animalischen Wahrheiten verlieren für sie nie ihren Reiz; sie ist so vertraut mit der Sprache der Gerüche, dass ich Angst habe, sie könnte in meinem Gesicht womöglich noch eine Spur von Doreens Duft wahrnehmen. Ich habe mir nämlich das Recht erworben, unten in der Bretterbude, mich mit Nase und Mund zwischen Doreens Beinen zu vertiefen und, ihre seidigen Schenkel mit meinen Schultern abstützend, die Zunge zwischen die hauchfein nach Moschus riechenden, zart bepelzten rosa Falten zu schieben; damit komme ich einer Penetration so nah, wie ich es mir gerade eben noch gestatten kann, beziehungsweise wie meine stille Übereinkunft mit den Jungen aus Lynn es mir erlaubt. Es ist ein seltenes Ereignis – sie sind viel unterwegs und nehmen ihre Räuberbraut mit –, und ich schrubbe mir 308
hinterher das Gesicht, mit so viel Seife, als müsste der Verwesungsgeruch einer Mumie überdeckt werden. Den zweiten amourösen Gipfelpunkt erreicht Glorias Biorhythmus nachts zwischen vier und fünf, dann wird sie wach und ist in einem nervlich angespannten Zustand. Sie umarmt mich, küsst mich auf den Hals, flüstert mir Einladungen zu. Ihre aristokratischen Finger tasten sacht nach meinem Penis; ich gebe ihr einen Klaps auf die Hand und versuche, mir meine Traumumfangenheit zu erhalten. Ihr Nachthemd ist hochgerutscht; sie schafft es, dass ich den Arm um sie schlinge; ihre Brüste liegen plötzlich in meinen Händen, als seien sie hineingehüpft; ihr Hintern pufft gegen meine schlummernde Männlichkeit, die sich dösig überlegt, ob sie der Aufforderung folgen soll, und das Für und Wider abwägt. «Es ist mitten in der Nacht», knurre ich. «Ich weiß ja, ich weiß», sagt sie mitleidig, reumütig. «Kannst du dir das denn nicht für den Tag aufheben, Liebling?» «Das tu ich, das tu ich – gute Idee», sagt Gloria verhaucht, demütig, aber ein herzzerreißender Hoffnungston schwingt mit, als könnte ich am Ende doch noch zustoßen. Wir wissen beide, dass sie dies Verlangen nie bei Tage empfinden wird, da gibt es zu viel zu tun, die Welt drängt an zu vielen Enden – Geschenkboutique, Gartenclub, Zeitung, Telefon –, und ihre Leidenschaft beruht zum Teil darauf, dass ich schlafe, kindlich schutzlos und präsexuell, und eine perverse Sehnsucht in ihr auslöse. Mein Gehirn zupft an der gemütlichen Decke des Traums, den ich gerade geträumt habe (ich war wieder in Hammond Falls und spielte Pick-up-Baseball), und gleichzeitig überlege ich, ob ich als Mann und Amerikaner nicht die Pflicht habe, mich zum Aufwachen zu zwingen und meiner bedürftigen Frau gefällig zu sein. Sie flüstert: «Ich gehe nach nebenan und lese», und ich schlafe dankbar wieder ein. Alle meine alten Spielgefährten sind im Traum da – Poxy Sonnen, 309
Billy Beckett, Fats Weathersby –, und hinterm sich wegschrägenden linken Außenfeld sind die roten Ziegelschornsteine der Stadt unten am Fluss zu sehen. Ich bin es nicht allein, den Gloria zum Verzweifeln unvollkommen findet. Die Jungen vom Rasendienst haben keine Ahnung, wie man einen Rasen mäht, die Reinmachfrauen lassen überall in den Ecken, unter der Decke, die Spinnweben hängen, und der Zahnarzt hat ihr eine grotesk falsch angepasste Krone in den Mund gesetzt – zu gelb, zu groß. In der Tat besteht ihr Charme zuvörderst aus ihrem Lächeln, strahlend und breit, die Zähne auffallend makellos. Meine Mutter, die damals noch lebte, hat es bedauert, dass ich Perdita und die Kinder verließ, hat aber, als sie Gloria kennen lernte, zugegeben: «Für diese Zähne lohnt sich’s.» Ihre eigenen Zähne haben ihr viel Kummer bereitet, als sie in ihren Vierzigern war, hatte sie fast nur noch Zahnersatz im Mund. Seit meiner Begegnung mit Dr. Chafetz im Umkleideraum und den darauffolgenden medizinischen Maßnahmen hat meine Frau sich bemüht, ihre Kritik an mir im Zaum zu halten. Sie schaut mir ins Gesicht, nachdem sie an meinem Hals geschnüffelt hat, und ihre Augenlider röten sich jäh. Ich drücke sie an mich und weiß, sie zählt die Tage, die Wochen, und vielleicht sind es noch Jahre, aber das Ende ihrer Gefangenschaft, ihres Festgelegtseins auf diese eine unmanierliche Portion männlichen Fleisches, ist in Sicht. Ich halte sie im Arm, verzeihe das Unausgesprochene. «Du bist mir so unendlich lieb und wert», murmelt sie in ihrer Herzensverwirrung. Männer sind unvernünftig in ihren widerstreitenden Ansprüchen Frauen gegenüber. Ich habe Perdita zum Vorwurf gemacht, dass sie mir nicht totale Fürsorge hat zukommen lassen – dass sie mir in den indolenten Phasen, da sie in ihrem eigenen Engagement nachließ, Freiheiten zugestand, die ich missbraucht habe. Und Gloria werfe ich vor, mich mit einer 310
Fürsorge zu ersticken, die mich gleichwohl nicht bewahrt hat vor dem Alter und seinen Gefahren. Wie ich im Frühling daraufgewartet hatte, dass die Krokusse sich öffnen, und dann beobachtete, wie die Forsythien und der Flieder jeden Tag ein wenig mehr von ihrer Farbe zeigten, so beobachte ich jetzt vom Badezimmerfenster aus, während ich mich rasiere, wie die Blätter des Spindelstrauchs einen immer intensiveren rötlich violetten Ton annehmen. Der Biopsiebefund war positiv: winzige, unter der Oberfläche befindliche Tumoren im linken Lappen, wie morsche Stellen in einer alten Kastanie. Ich verspürte heute die heftige Sehnsucht, Jennifer zu sehen, und fuhr, nachdem ich Roberta angerufen hatte, hinüber nach Lynnfield. Das kleine Mädchen war gerade aus dem Mittagsschlaf erwacht und schien erfreut über meinen Besuch – auf dem Arm ihrer Mutter streckte sie mir beide Ärmchen entgegen und wollte, dass ich sie hielte. Ich fühlte mich unheimlich geschmeichelt. Sie ist zehn Monate alt, plappert und steht wackelig auf den Beinen, und nicht mehr lange, dann kann sie sprechen und laufen. Einstweilen aber fehlen dem Apparat von Herausforderung und Reaktion noch ein paar neurale Zahnrädchen in ihrem ernsten, seidigen Kopf. «Und was sagt das Schaf?», fragte Roberta sie, den Kehrreim aus einem Kleinkinderbuch wiederholend, das sie jeden Abend lasen. Jennifer drehte den Kopf herum und sah mich an, als ob die Frage an mich gerichtet sei. «B-, b-», soufflierte ich. Ihr Kopf drehte sich wieder zurück, und sie sah fragend zu ihrer Mutter hin. Sie hatte zu zappeln angefangen und wurde mir schwer in den Armen. Ich stellte sie auf den Küchenfußboden, und eine Sekunde lang blieb sie stehen, dann ließ sie sich vorsichtig auf ihren windelgepolsterten Hintern plumpsen und rappelte sich wieder hoch, indem sie sich an einem Kü311
chenstuhl festhielt. In unschuldigem Nichtbegreifen sah sie zu uns beiden auf, die breite Rundung ihrer Stirn wie die eines Krugs, der darauf wartet, gefüllt zu werden. «Bäää», sagten Roberta und ich gleichzeitig, in spontanem Vater-Tochter-Chor. «Bäää.» Jennifer hielt sich mit der einen Hand am Stuhlsitz fest und steckte sich die beiden mittleren Finger der anderen Hand in den Mund, während sie unverwandt zu uns hinaufstarrte und zu ergründen versuchte, was wir von ihr wollten. Sie nahm die Finger aus dem Mund, streckte den Arm aus, so weit sie nur konnte, machte mit der spuckefeuchten Hand eine Faust und öffnete sie wieder, zu, auf, zu, auf. «Das ist richtig», sagte Roberta mit Stolz in der Stimme. «Winke, winke! Klein Jenny macht winke, winke!» Jennifer lächelte, erfreut, unseren Ton getroffen zu haben, und ließ die Winkewinkegeste nach und nach ersterben. Dafür tauchte eine andere ihrer Fähigkeiten aus den labyrinthischen Gängen ihres sich entwickelnden Gehirns hervor. Sie hob beide Hände über den Kopf – oder, richtiger, über die Ohren, denn ihre Arme sind so kurz, dass ihre Gesten alle eine entzückende Stummeligkeit haben. Roberta begriff sofort. «Sooo groß», gurrte sie eifrig. «Jennifer ist sooo groß!» Das Kind fühlte sich verstanden und patschte die Hände zusammen, hätte beinah daneben gepatscht. «Backe Kuchen», sagte die Mutter gehorsam im Singsangton, «backe, backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen.» Während dieser Sekunden, da Jennifer mit beiden Händen beschäftigt gewesen war, hatte sie frei gestanden, ohne es zu merken; als es ihr plötzlich bewusst wurde, setzte sie sich vor Schreck auf den Boden und hätte sicher zu weinen angefangen, wenn Roberta nicht flügelrauschend herbeigestürzt wäre und sie in triumphierender, überwältigender Umarmung zu sich emporgerissen hätte. So ziehen Frauen Samen zu Sämlingen hoch, Sämlinge zu widerstandsfähigen Pflan312
zen. Weibliche Kleinkinder, kleine Mädchen, wecken die tiefste Zärtlichkeit in uns, weil der Schmerz der Liebe und des Gebärens sie erwartet, wie ja ihre Eizellen schon sämtlich in ihren winzigen Eierstöcken gespeichert sind. Ich trank eine Tasse Kräutertee, aß drei fettarme Ingwerplätzchen und sah zu, wie der scheue kleine Keith aus zusammensteckbaren Plastikklötzchen zwei Bauwerke errichtete und wieder zerstörte; dann kam Irene mit Olympe und Etienne von einem Besuch bei Eeva, Torrance und Tyler in Gloucester und machte Station auf ihrem Weg nach Hause in den Westen von Boston. Meine Kinder und ihre Angetrauten besuchen einander regelmäßig, sie leben in einer engen geschwisterlichen Wechselbeziehung, die schon lange ohne mich und auch ohne Perdita auskommt. Wir sind emeritierte Eltern, sind vermutlich immer ein wenig außen vor gewesen. Unsere Kinder haben sich selbst großgezogen, mit Hilfe der Nachbarn, des Fernsehens und der internationalen Konzerne, die hofften, ihnen etwas zu verkaufen. Meine beiden nachsichtigen halbafrikanischen Enkel ertrugen mit ironischem Lächeln die unbeholfene Wichtigtuerei ihrer kleinen weißen Verwandten und gingen mit ihnen in den Garten (Olympe schleppte Jennifer wie einen Sack, mit dem Gesicht nach vorn, ihr Bauch dermaßen in die Länge gereckt, dass der Nabel aussah, als werde er gleich einen Schrei ausstoßen), und meine beiden Töchter ließen sich, ein wenig förmlich, zur Konversation mit ihrem Vater nieder. Ich sagte ihnen nichts von der Diagnose, die mir vor kurzem gestellt worden war, und sie weihten mich nicht in den Familientratsch ein, der durch Irenes Nachmittag bei der schrägäugigen, bohemehaften Eeva vermutlich neue Nahrung erhalten hatte. Es macht mich müde, darüber nachzudenken, was wir eigentlich geredet haben – mit was für einer ranzigen Aufgeräumtheit ich versucht habe, wieder den Vater zu spielen. In Wahrheit war es mir gerade recht, dazusitzen, an einer zweiten Tasse 313
Kräutertee zu nippen und den Mädchen zuzusehen, die jetzt Frauen sind, die eine Ende dreißig, die andere Anfang vierzig, sie beim Reden, Gestikulieren und leisen Kichern zu beobachten und festzustellen, dass sie die gleiche langknochige, selbstvergessene Anmut haben wie ihre Mutter, als die in ihrem Alter war oder jünger. Perdita war ungefähr so alt gewesen wie die beiden jetzt, als ich sie verlassen hatte, unter Begleitumständen von solcher Bitternis, solcher Traurigkeit, als gehe es um ein Sterben. Es war ein Sterben, ein Töten, und uns fehlten die Gewissheiten, die die letzten zwanzig Jahre gebracht haben: dass es ein anderes Leben gab, dass wir ohne einander leben konnten. Wir hatten 1978 geheiratet, gegen Ende eines Jahrzehnts größter Freizügigkeit, aber wir waren im Grunde ein altmodisches Paar. Wir verbrachten in jenem ersten Sommer einige Wochen im Haus ihrer Eltern im entlegensten Vermont – karges schütteres Bergland, das mich an die Berkshires erinnerte, das ich aber aus einem anderen sozialen Blickwinkel sah, mit den Augen dessen, der nicht gezwungen war, der Gegend dort einen Lebensunterhalt abzuringen. Ich hatte die Business School an der Boston University absolviert und war bei Sibbes, Dudley und Wise angenommen worden. Wir spielten Romme im Schein einer Petroleumlampe, schoben einen alten Walzenmäher über den holprigen Rasen und badeten versteckt im Wald in einem eiskalten Bach. Einmal schmuggelte ich eine kleine Instamatic in die Tasche mit unseren Badesachen und machte ohne ihr Wissen ein paar Nacktaufnahmen von ihr, weil ich fand, dass sie so schön war. Als sie die Abzüge sah, war sie entsetzt und versteckte sie so, dass sie erst bei der Scheidung wieder auftauchten, als unsere gesamte Habe um und um gewühlt wurde. Sie hatte sie in einer Wäscheschublade verwahrt, unter dem Auslegepapier. Ich wollte sie gern haben und bat sie darum, aber sie sagte, errötend, nein – das seien ihre. Ihr Körper, zwar nie wieder 314
so glatt und schön geformt, aber ihrer, ihr Eigentum, das sie dem nächsten Mann schenken würde. Russischen Puppen gleich, die eine in der andern wohnen, enthalte ich einen sommersprossigen jungenhaften Ballspieler, und Perdita birgt in sich une jeune fille nue comme Diane se baignant. Gemeinsam mit meinen Töchtern trat ich aus dem kleinen grünen Ranchhaus in Lynnfield hinaus ins Freie, um die Kinder zu bewundern, die alle vier verdreckt waren und völlig in Anspruch genommen von dem Vorhaben, das nackte Erdreich am Zaun in eine Rennstrecke zu verwandeln. Entlang der Route 128, auf der ich nach Osten fuhr, wiegte sich hohes gelbbraunes Gras in der sinkenden Sonne. Gras will sterben, will in die Höhe wachsen, Samen bilden und sterben. Es kurz und grün zu halten, als Rasen, ist grausam und unnatürlich, rufen uns die Pro-Gramineen-Aktivisten mahnend zu, während sie weggeschleift und niedergeknüppelt werden von Vertretern der mächtigen Pro-Rasen-Fraktion, zu der die Mäherhersteller gehören und die großen Saatgut-und-Dünger-Konzerne. Als ich auf meiner Zufahrt anhielt und ausstieg, schlug eine Eichel klickend aufs Autodach, und eine zweite traf mich an der Schulter. Die Luft war noch sommerlich und der Himmel glatt und blau, wie mit Email überzogen, aber die Eichen begannen loszulassen. Loslassen: Naturphilosophie in nuce. Eicheiförmiges macht mir zu schaffen. Meine sinistre Begegnung mit Dr. Chafetz im Umkleideraum ist nur die unterste Sprosse einer Leiter gewesen, auf der ich jetzt höher steige, zum nächsten Arzt. Den stämmigen, feuchthändigen Urologen habe ich hinter mir gelassen und bin nun bei einem drahtigen Radiologen angelangt, einem ergrauten Mittfünfziger, der immer noch ins Schwärmen gerät angesichts der Wunder der Technik, die sich mehren, selbst in Zeiten des sozialen Chaos. «Vor zwanzig, dreißig Jahren», sagt er mir, «wären Sie ein todsicherer Kandidat für Prostatektomie gewesen – 315
schnips raus mit dem verdammten Ding und zur Hölle mit dem benachbarten Gewebe. Barbarisch! Die haben da in einem Meer von Blut rumgesäbelt, mit dem Ergebnis, dass die Patienten komplett impotent waren, sich fast immer jahrelang in die Hosen gepinkelt haben und von Glück sagen konnten, wenn sie ihren Sphinkter überhaupt wieder unter Kontrolle bekamen. Bei der fokussierten Bestrahlungstherapie jetzt richten wir den Strahlenkegel exakt auf den Tumor aus und laufen nie Gefahr, den Dickdarm oder die Blase auch nur anzukokeln. Präzision! Auf den Mikrometer genau! Früher hat man nur Röntgenstrahlen eingesetzt und dazu ein paar Gammastrahlen, die hauen stärker rein – wir erzielen jetzt sauberere, schnellere Resultate mit Protonenbestrahlung. Wir töten die Zellen nicht einfach, Ben – wir bringen sie dazu, dass sie sich selbst töten, durch Apoptosis, das ist eine Methode, wie sie beispielsweise der heranwachsende Fötus anwendet, um die embryonalen Kiemen zu zerstören. Im Körper geht unentwegt ein Ausrangieren vor sich, er mistet andauernd aus. Und es gibt allerlei Tricks, die ihm beim Großreinemachen helfen können: radioaktive Implantate, Chemotherapie. Prostata zum Beispiel» – der Wortteil «-krebs» wurde nie mitgesprochen – «ist, der Natur der Sache nach, einer Hormonbehandlung zugänglich, die die Androgenbildung hemmt. Nicht unbedingt ein Kinderspiel, Ben, aber doch fast. Sagen wir, Mensch-ärgere-dich-nicht.» Bildete ich es mir ein, oder sagten mehr Leute als sonst «Ben» zu mir, seit meine Gesundheit diesen Knacks bekommen hatte? «Irgendwelche Fragen, Ben? Haben Sie mir überhaupt zugehört?» Nein, nicht richtig. Wenn damals auf dem College ein wichtiges Examen bevorstand, konnte ich mich, je näher es rückte, immer weniger auf die notwendigen Bücher konzentrieren; sie entwickelten einen Antimagnetismus, der meine Hand zu316
rückstieß, wenn ich nach ihnen greifen wollte. Jeder der endlichen Augenblicke vor der Prüfung schien unendlich teilbar, und immer das nächste Zeitteilchen würde das sein, in dem ich schließlich der Realität ins Auge sähe und mich konzentrierte. Zeitteilchen sind nicht infinitesimal; sie sammeln sich an. Ich habe früher nie das Gefühl gehabt, meine Zähne seien mit einem Schmutzfilm überzogen, erinnere mich auch nicht, dass ich je irgendwelche Körpergerüche an mir wahrgenommen und das dringende Bedürfnis nach einem Bad gehabt hätte. Perdita und ich haben, glaube ich, immer vollkommen nach nichts, beziehungsweise angenehm füreinander gerochen. Jetzt möchte ich mir immerfort die Zähne putzen, auch dann, wenn ich seit dem letzten Putzen überhaupt nichts gegessen habe. Und mein Hals – warum ist mein Hals so schweißnass, wenn ich aufwache? Kopfkissen, Pyjama, Hemdkragen – ein unsichtbarer Schadstoff hat sich auf allem abgesetzt, Sekunde um Sekunde. Auf dem Weg zum Briefkasten bemerke ich, dass sich auf den warzigen Bäckchen der verkümmerten Birnen eine leichte Röte zeigt. Aber die wilden Blaubeeren, denen Jeremy so gern mit seinem schwirrenden Kantenschneider zu Leibe rücken will, was ich ihm immer wieder ausrede, lassen sich in diesem August merkwürdig viel Zeit mit dem Blauwerden. Oder aber die Vögel und die Rehe da draußen fressen sie weg, sowie sie reifen. Manche Farne legen sich einen dezenten Braunton zu. Der Herbst ist fast da. Ihr werdet mir fehlen, liebe Seiten, die ihr weiß und unbeschrieben vor mir lagt mit jedem neuen Tag. Hier, statt der einen Leerzeile lasse ich euch heute zwei.
Jetzt – ja, es gibt noch ein Jetzt – tragen die Ahorne orangefarbene Girlanden und Schöpfe, Gebinden gleich, die ein massiger grüner Freier schüchtern als Geschenk darbringt, 317
die Rosskastanienblätter welken von den Rändern zur Mitte hin, und ein leiser Rotweindunst umschleiert einige der Bäume, die ich vom Auto aus sehe, wenn Gloria mich auf der Route 128 zu einem meiner inzwischen nicht mehr zu zählenden Arzttermine fährt. Sie hat sich dafür entschieden, in ihrem Blumengarten alle Schmuckkörbchen auszureißen. Zaghaft, zart fragt sie mich, ob ich Lust hätte, herauszukommen und ihr bei der Arbeit zuzusehen – nicht ihr zu helfen, natürlich nicht. Jeder Schritt, den ich tue, ist mit einer Mühsal, einer Schmerzhaftigkeit verbunden, die die Welt – das Grün des Rasens, die Transparenz der Luft, die federnde Festigkeit des von Leben durchdrungenen Erdbodens – auf verrückte Weise köstlich machen. Alles schmeckt wie in Kindertagen: nach Neuheit und Anstrengung; jede Oberfläche gibt sich mit einer verwirrenden, einladenden Tiefe an Möglichkeit, an zukünftiger Zeit ohne Ende. Das Jahr ist in den annähernd vier Wochen, die ich im Krankenhaus verbracht habe, mit Blick auf Backsteinmauern und räudige Stadtplatanen, weniger vorangekommen, als ich dachte. Ich habe beschlossen, diesem dem Lauf des Jahres gewidmeten Tagebuch einen ausführlichen Bericht über die obszöne Operation, die ich fürs Erste überlebt habe, zu ersparen. Der Eingriff hat mich inkontinent und impotent gemacht, Ersteres für eine Weile, Letzteres, fürchte ich, für immer. Eine Wundheit am Grund meiner Blase, ein scheuerndes Brennen am Ort der Ausmerzung (dem Teufelsversteck, nach alter religiöser Überlieferung) erinnern mich an die Gewalt, die meinem widerspenstigen Fleisch angetan worden ist. Die Operation war, wie vom drahtigen Radiologen vorhergesagt, ein Wunder an präzis ausgerichteter, so nur im einundzwanzigsten Jahrhundert möglicher Bestrahlung – reine Protonen, zielgenau, mit einer zulässigen Abweichung von einem millionstel Meter, abgefeuert von etwas, das sich Delayed-Focus318
Laser nennt – und nicht das fröhliche Prostatektomie-Blutbad von anno dazumal. Die negativen Auswirkungen und die Unsicherheitsfaktoren sind aber doch nicht so drastisch herabgemindert, wie die Zelebranten des wissenschaftlichen Fortschritts einem gern weismachen wollen. Unser Körper, der auch im Jahr 2020 das einzige Mittel ist, durch das wir «leben», bewahrt sich eine störrische atavistische Unlenkbarkeit. Ein Mensch zu sein bedeutet immer noch, dem Fleisch zu unterliegen, zu leiden und zu sterben. Wir sind jetzt zu dritt im Haus – Gloria, ich und mein bevorstehendes Ableben. Glorias Augen leuchten; ihre Äußerungen und Gesten haben schauspielerinnenhaften Schwung, seit sie sich der Anwesenheit dieses Dritten bewusst ist. Sie als Witwe, tapfer, trauernd und frei: von diesem Bild ist sie erfüllt, ganz so wie die Vorstellung von einer idyllisch glücklichen verheirateten Frau den Phantasien eines heranreifenden Mädchens die Richtung vorgibt. Sie versucht, netter zu sein, hat aber in ihrer gesteigerten Vitalität schärfere Kanten, die in meine erhöhte Empfindlichkeit schneiden. Ihre grelle, schmerzhaft entschiedene, artikulierte Gegenwart auszuhalten ist zu einer Anstrengung geworden. Von meinem Krankenhausaufenthalt ist mir vor allem dies in Erinnerung: die weiße, süßklebrige Verschwörung des Ganzen, gleich einer allgegenwärtigen, weich leuchtenden ätherischen Lotion, die eifrige Komplizenschaft, mit der ich bei den therapeutischen Ritualen mitmachte, mich den obligatorischen Demütigungen unterzog, mich heiter zwanglos in den schmachvollen Zwang fügte. Was für eine eigenartige Erleichterung es ist, all die Rollen und Kostüme und höflichen Verstellungen, die das Leben von uns verlangt, abzulegen und nichts als ein Körper zu sein, an dem noch das schmählichste, schändlichste Detail offen, in größerem Kreis, unter die Lupe genommen und diskutiert, ja sogar wertgeschätzt wird, mit einer Zärtlichkeit, wie man sie den Zehen, 319
den Bäuerchen, den Häufchen eines Kleinkindes entgegenbringt. Inmitten von Schmerz, Angst und Hilflosigkeit feiert die Eigenliebe still für sich eine kleine Orgie. Andere, weihevoll in Weiß, gehen eilig ein und aus, nehmen lebhaft teil an den Unanständigkeiten und benennen das bislang Unaussprechliche mit fachsprachlichen Namen. Die verkommenste Hure, aus dem Leim wie eine Puppe vor Jieprigkeit nach Kokain, verzeiht dir nicht so sehr wie die Nachtschwester, die die Bettpfanne unter dir wegnimmt. Im phosphoreszierenden Klinikzwielicht, darin die vielfarbenen Lämpchen vielfältiger Monitore blinken, sieht sie lächelnd auf dein Gesicht herab und steckt dir, als sei es eine technisch ausgereiftere Brustwarze, das Digitalthermometer mit der körnigen Plastikhaut in den Mund. In diesen Ritzen des Albtraums wird ein tiefes verstecktes Bedürfnis gestillt. Um es kurz zu machen: ich war auf unschuldige Weise stolz darauf, ein guter Patient zu sein – ich könnte auch sagen, ein guter Soldat zu sein, in jedem Fall eine moralisch fragwürdige Übung in Solidarität. Ich erbat nicht mehr Schmerzmittel, als von höchster Stelle für mich vorgesehen, ich machte in den Behandlungsintervallen angemessene Scherze, ich bewunderte die großen summenden Apparate, unter deren giftigem Fokus ich von Zeit zu Zeit festgeschnallt wurde, ich fand mich stoisch mit meinem Haarausfall und meinem entzündeten Anus ab; ich störte mich nur an den gelegentlichen zermürbenden Übelkeitsattacken und an den kläglichen verhutzelten Resten, die die Prozeduren von meinen geliebten Genitalien übrig gelassen hatten. «Was hat dir denn nicht gefallen an den Schmuckkörbchen?», fragte ich mit kränkelndem Krächzen. In meiner zarten Empfindlichkeit bildete ich mir ein, ich könnte fühlen, wie die Feuchte des Rasens durch die Sohlen meiner Schuhe kroch – barock mit Nähten und Wülsten geschmückte Laufschuhe, gekauft, um meine Genesung zu beschleunigen. 320
«Sie haben sich nicht eingefügt», erklärte Gloria knapp und bündig. «Sie wollten sich auf sämtlichen Beeten breit machen.» «Keine guten Soldaten», sagte ich, mit dieser neuen Stimme, in der ein beständiges Kratzen zu sein scheint. «Genau.» Erdklumpen, Pflanzentrümmer flogen. Ausgerissene Blumen lagen zusammengeknäult da und starrten gen Himmel, hatten nicht das Nervensystem, um zu erkennen, dass all die chemischen Transaktionen, Leben genannt, abrupt annulliert worden waren. Ich spürte – gespenstisches, unwirkliches Gefühl! –, wie ein dünner Urinstrom warm aus meiner Blase in den Plastikkatheter rann, der ihn in den beschwerlichen, unterhalb meines Knies festgeschnallten Beutel weiterleitete. Der Beutel war amüsanterweise fleischfarben – als könnte es mir in den Sinn kommen, mit ihm am Bein an einem Schönheitswettbewerb teilzunehmen, ohne dass er auffiel. Manchmal gab es einen Stau, und Urin, der schon einmal abgeflossen war, stieg zurück bis in Höhe meines welken Penis und lief mir an den Schenkeln herunter. Große glockige Purpurwinden waren am grünen Zaun hinaufgeklettert, und die einzelne Dahlie war in meiner Abwesenheit gewachsen und hatte sich zu einem kleinen Baum verzweigt, der mit zahlreichen Blüten besetzt war, alle in dem rosa Fleischton jüngferlicher Schamlippen. Etwas Widerliches, Übles ging vom Blumengarten aus – dicht wuchernde namenlose Gewächse, bläulich fahl, schufen Verstecke für Nacktschnecken und Schlupfwinkel für Afterspinnen mit eirunden Leibern und gewaltig entwickelten bösartigen Mandibeln. Tatsächlich untergruben und durchwühlten Maulwürfe, Ratten und Waldmurmeltiere den weichen, oft gemulchten Boden. Waldmurmeltiere knabbern die obersten Teile von Glorias Blumen weg – besonders der Mohn hat es ihnen angetan –, deswegen stellt sie gnadenlos so genannte Gnadenfallen 321
auf, niedrige rechteckige Käfige, deren Türen diagonal zufallen und einschnappen, wenn das unglückselige Tier auf einen zentralen Auslöser tritt. Während ich fort war, hatte sie ein Wesen gefangen, das sich in aller Ruhe einen Notausstieg durch das verzinkte Drahtgeflecht genagt hatte. Das konnte nur bedeuten, dass ihr eine Metallobioform in die Falle gegangen war und dass sie größer wurden. Alle Exemplare, die ich bislang gesehen oder über die ich gelesen hatte, hätten durch die anderthalb Quadratzentimeter großen Maschen hindurchschlüpfen können. «Ben, wenn du einfach nur so rumstehst und zusiehst, wie ich mich abrackere, könntest du dann die Schmuckkörbchen nicht mal eben schnell in die Schubkarre werfen und sie runterbringen zum Komposthaufen?» «Es ist eine Qual für mich, wenn ich mich vornüberbeugen muss.» «Der Arzt sagt, je mehr Bewegung du hast, desto besser für dich.» «Der Arzt hat keinen Katheter im Schwanz und keinen Pissbeutel am Bein.» «Du brauchst nicht gleich zotig zu werden.» Wieder sauste ein Büschel ausgerissener Schmuckkörbchen durch die Luft, Erdkrümel regneten nieder und sprenkelten meine bis eben noch unbefleckten Laufschuhe. Sie waren aquamarin, türkis, karmesinrot, schwarz und weiß und hatten gestreifte Schnürbänder. Gloria setzte hinzu: «Die Karre ist in der Garage.» Nach getaner Tat war mir, als hätte ich eine Ladung Betontrümmer den Mount Greylock hinaufgewuchtet. «Als du im Krankenhaus warst, habe ich Angst gehabt», sagte sie. «Ich habe dauernd Geräusche und Stimmen im Wald gehört.» Ein angespanntes Schuldgefühl zerrte an meiner Wunde, den Taschen in meinem Fleisch, die man ausgebrannt und von Krebs gereinigt hatte. Auch wenn der Delayed-Focus-La322
ser das gesunde Gewebe theoretisch nicht angegriffen hatte, wusste das Fleisch doch, dass und warum ihm Gewalt angetan worden war. Das Fleisch weiß alles und vergisst nichts. «Oh?», sagte ich. «Ich wundere mich, seit ich wieder zu Hause bin, wie still es hier ist.» In meiner Gefangenschaft lauschte ich die ganze Zeit darauf, ob die Jungen aus Lynn, meine Adoptivenkel, an die Tür kämen und sich ehrerbietig nach meinem Befinden erkundigten oder ob Doreen sich nachts unter meinem Fenster einfände und einen leisen sinnlichen Pfiff zu mir heraufschickte. Ich suchte sogar die Zufahrt nach ihren Zigarettenstummeln ab. Mein Fleisch erinnerte sich an den Geruch ihrer Zigaretten in der stickigen Enge des Bretterverschlags, an den Malzduft, den sie ausdünstete, an die glänzend glatte Stelle zwischen ihren Brüsten, diesen kleinen straffen Kegeln mit den Jelängerjelieberbeeren an der Spitze. Sie mochte es – und gab in diesem einen Punkt auch zu, dass sie es mochte –, wenn ich ihre Nippel mit schnellen Flatterbewegungen meiner Zunge streichelte. Nachts lag ich da und horchte, ob es Geräusche von menschlichem Leben im Wald gebe, aber ich hörte nichts, nur das Kontraaltsummen der Zikaden – tausend hirnlose, miteinander verschmolzene Stimmen, wie ein nicht menschliches Funksignal aus dem All. «Ich weiß», sagte Gloria. Sie senkte den Blick, um weiterzujäten, und ihre Wangen bauchten sich in einem selbstzufriedenen Lächeln. «Ich habe etwas unternommen.» «Was denn?» Ich wappnete mich innerlich gegen ihre Antwort. Jede seelische Erregung oder Beängstigung ruckt am Sitz meines Schmerzes. «Mach du dir darüber keine Gedanken», sagte sie. «Aber es hat gewirkt.» Und in meiner Hinfälligkeit, meinem verstümmelten Selbstwertgefühl fügte ich mich darein, dass sie es jetzt war, die die Oberhand hatte bei allem, was vor sich ging auf unse323
rem Hügel hier, in unserem Nachkriegsdämmer, unserem Zwielicht jenseits von Recht und Ordnung; ich ließ es über mich hinweggleiten wie ein Gravitationsfeld, das leicht, mit nur ganz feinem Sternenstaubknirschen, über ein anderes hingleitet. Zeichen: das eintönige Zirpen der Zikaden in der Nacht und ein einzelnes leuchtend scharlachfarbenes Blatt am langsam sich rötlich färbenden Spindelstrauch, auf den ich hinunterschaue, wenn ich mich zittrig rasiere, und weiße Astern allenthalben, Kennblume des frühen Herbstes – an den Kiesrändern der Zufahrt, im Schatten unter den Hemlocktannen und weiter, bis in den Wald hinein, weiße Astern mit ihren holzigen Stielen und ihren ein wenig zerlumpt aussehenden gesägten Blättern. Wie merkwürdig es sein muss, eine Herbstblume zu sein, zu warten, während all die anderen – Schneeglöckchen und Krokus, Wiesenmargerite und Weiderich, Wilde Möhre und Goldrute – den emsigen Bestäubern schöne Augen machen, und erst wenn die Tage kürzer und die Insektenvölker träge werden und an ihr Ende kommen und nur noch ein paar im Zickzackflug das Gelände erkundende Libellen da sind und ziellos auf und nieder wehende Kohlweißlinge, die eigenen scheuen, jungfräulichen, sterngleichen Reize zu entfalten. Was für eine Geduld die Natur besitzt, dachte ich, als ich grotesk vorsichtig in den Wald hinunterstakste, mein Rektum gegen jeden sich spannenden Muskel protestierte und ich größte Angst hatte, ich könnte auf den Tannennadeln oder auf einem Fleckchen nackten lockeren Bodens ausrutschen und mit meiner hypersensiblen Wunde zu Fall kommen. Gloria ist jetzt die meiste Zeit zu Haus und hat ein Auge auf mich. Ihre beiden Partnerinnen – die Besitzerinnen der übrigen zwei Drittel – kümmern sich derzeit allein um die friedlich dümpelnden Geschäfte der Geschenkboutique. Die 324
vertratschten Treffen im Calpurnia-Club, die Shoppingstreifzüge durch die Chestnut Hill Mall, die Buchgruppe am Dienstag, die Bridgerunde am Donnerstagnachmittag drüben im Willowbank – alles vorerst auf Eis gelegt, derweil sie mich umschwebt wie ein heiterer soignierter Geier. Sie hat einen neuen Friseur aufgetan, an der Newbury Street, der die perfekte Tönung für sie gefunden hat, ein kupfrig überhauchtes blasses Platinblond, das sich so subtil mit dem Grau verbindet, dass ihr Haar nicht im Mindesten gefärbt wirkt, sondern nur ganz leicht unirdisch: eine Gloriole, eine Haube für die angehende Witwe. Wenn sie nicht gerade müde von der Gartenarbeit hereinkommt, läuft sie im Haus jetzt immer in ominös förmlicher Garderobe herum – sie trägt keine Sneakers mehr, sondern Schuhe, keine Slacks oder Jeans, sondern Kleider. Nicht, dass sie schon für die Kirche angezogen wäre, aber doch so, dass sie jederzeit mit Würde und Eleganz einen unangemeldeten distinguierten Gast empfangen könnte, jemanden, der sich mir als die leblose Version meiner selbst darstellt, welche ich aus mir hervorbringe – die massive, pflockartige, letzte russische Puppe im Innersten mehrerer ineinander geschachtelter hohler Puppen. Aber heute musste sie für eine Stunde nach Swampscott zur Zahnpflege, und ich meinte, meine Kräfte reichten gerade eben aus, um es bis in den Wald zu schaffen, am Steilabbruch vorbei hinunter zur Hütte nahe dem Trampelpfad. Ich kämpfe ständig gegen die Angstvorstellung, dass ich hinfalle und mir den Katheter tief in die Eingeweide ramme. Als ich nach einem Buchenschössling griff, um mich bei meinem Bergabschlittern zu bremsen, sah ich über den struppigen Buckel eines Granitbrockens hinweg, dass die H ütte weg war. Mehr noch, ich sah, als ich näher kam, dass der Platz, wo sie gestanden hatte, in einem Umkreis von zehn Metern rasiert worden war wie mit einem Rasenmäher. Einem wütenden Rasenmäher: die alten trockenen Äste und sogar das 325
Sperrholz und der Fliegendraht, den die Jungen für ihren Unterschlupf gestohlen hatten, alles war kurz und klein gehackt, wie zerkaut und ausgespuckt. Der Boden war mit Fetzen von der Größe meiner Handfläche bedeckt – Teerpappe, Aluminiummaschendraht, Pressholz, Wellplastik, Stoff, Gummi, Leder. Es dauerte eine Minute, bis ich begriff, dass diese Fetzen nicht von einem Lumpenhaufen stammten, sondern von Körpern weggerissen worden waren, Körpern, die – wo waren die? In der Luft hing ein Geruch, der nicht nur vom verrottenden Laub im Herbstwald herrührte oder vom sumpfigen Bach, der einen Steinwurf weit entfernt zwischen Rohrkolben sickerte, sondern auch von süßlich verwesendem Säugetierfleisch. Und da ich nun wusste, wonach ich suchen musste, hatte ich keine Schwierigkeiten, es in der gleichmäßig verteilten Trümmerschicht zu finden: Knochensplitter, verschrumpelte Hautfetzen, kaum zu unterscheiden von den Blättern, die über die modernden Laubschichten vergangener Jahre zu wehen begannen, und schwärzliche Reste von inneren Organen. Ich dachte an die Schlange, die ich verletzt hatte. Nach dem Zersetzungsstadium zu urteilen, waren vielleicht eine oder zwei Wochen vergangen; organische Aasfresser, von Ameisen bis zu Füchsen, hatten offenbar viel von den Überresten weggeschafft. Wie viele Körper hier gerade zur Natur zurückkehrten (als hätten sie sie je verlassen), konnte ich nicht abschätzen. Mein Rektum schrie; der anstrengende Weg den Hügel hinab war ein einziger Affront gewesen, und ich musste noch die Steigung zurück schaffen, bevor Gloria mit strahlenden, plaquefreien Zähnen und gekräftigtem Zahnfleisch nach Hause kam. Nicht mehr als zwei, vermutete ich. José und Ray, die Nachtdienst hatten. Den kleinen Manolete ins Gemetzel mit einzubeziehen, ertrug ich nicht, mein inneres Auge hielt die Vorstellung nicht aus. Die Metallobioformen hatten sogar die Schädel zerraspelt; die glänzenden schwarzen Haarbü326
schel, die verstreut lagen wie Stücke von Kaninchenfell, könnten jedem der drei gehört haben, aber nicht Doreen. Ich betete – nennen wir’s einfach so –, dass sie beim Angriff nicht da gewesen war, aber als ich mich zum Gehen wandte, fiel mein Blick auf ein Stofffetzchen: blaue Baumwolle mit einer weißen Litze, wie man sie vielleicht als Einfassung für Bikinislips nahm. Sie überraschte mich immer damit, dass sie unter ihrer lümmelhaften Aufmachung hübsche pastellfarbene kleine Sachen anhatte. So freudlos unsere Beziehung auch war, glaube ich doch, dass ich gerade anfing, sie zu amüsieren, und dass sie Pläne für unser nächstes Rendezvous machte. Der grünliche Schimmer ihrer Augen, der sich vertiefte, wenn meine raue alte Zunge ihr eine Weile lang zugesetzt hatte, war zum Staub zurückgekehrt. Aber solche Slips konnten im natürlichen achtlosen Lauf der Dinge in der Hütte vergessen worden sein. Viele der Stoffreste waren steif von braunem eingetrocknetem Blut, und das Fetzchen Blau, das ich in die Hand nahm und dessen feines Wirkgewebe ich zwischen Zeigefinger und Daumen rieb, war ganz ohne Blut. Als ich da im Kreis des Massakers stand – ein Kreis, so geometrisch, als sei er mit einem Riesenzirkel gezogen –, ging mir auf, dass das Metallgeschmeiß unmittelbar unter meinen Füßen sein könnte, im Begriff, mich zur Strecke zu bringen. So flink, wie Katheter und Urinbeutel es zuließen, hüpfte ich an den Rand und darüber hinaus, dorthin, wo das Unterholz noch nicht verbissen war, wo noch herabgefallene Zweige umherlagen, Stechwinde wucherte und wilde Waldastern blühten. Schmerzgepeinigt und gehbehindert, wie ich war, flog ich geradezu den Hügel hinauf. Warum hatten die Metallobioformen beschlossen, diesen Platz leer zu räumen? Oder hatten sie in dem Gewirr aus feinem Kupferdraht, das ihnen als Gehirn ausreichte, «beschlossen», irgendetwas, ganz gleich, was, zu tun? Feuchtigkeit, die 327
Freundin organischer Formen, war ihre Feindin, und diese kleine Erhebung war die trockenste Stelle in der n äheren Umgebung. Die Schnicker waren wegen der parasitären Natur ihrer Energieaufnahme in ihrem Aktionsradius eingeschränkt; die «runkenfressenden» Pseudozoen mussten sich in der Nähe von elektrischen Leitungen aufhalten oder, in den Städten, dicht bei den Stromschienen der Massenverkehrsmittel, und die «Ölfresser» benötigten reichlich ausgelaufenes Mineralöl, das sie in einem Nest wie Haskeils Crossing mit Leichtigkeit rund um die Amoco-Tankstelle fanden. Es kann nur so gewesen sein: nach der Räumung eines derart großen kreisförmigen Platzes trippelten oder glitten sie in gr ößter Eile über die Eisenbahngleise (wo sie auf den Schwellen einen kleinen Imbiss, bestehend aus einigen Tropfen Dieselkraftstoff und Bremsflüssigkeit, einnehmen konnten) in unser kleines Dorfzentrum, um ihre erschöpften Energievorräte aufzufüllen. Viele Schnicker, von einem Flugzeugträger aufgestiegenen Maschinen gleich, deren Missionen knapp über den Punkt hinausführten, von dem noch eine Rückkehr möglich gewesen wäre, hatten es nicht geschafft; ihre rostenden kleinen Schrottleiber – die meisten nicht größer als Marienkäfer, denen sie in der Form ähnelten, nur ohne die lustigen Tupfen – lagen überall im Unterholz herum. Aber die Spezies dehnte ihr Verbreitungsgebiet offenbar aus und drang in Waldregionen vor, in denen vor dem Krieg nur organische Fauna anzutreffen gewesen war. Sogar als ich wieder auf meinem eigenen Rasen stand, überprüfte ich mehrmals nervös meine Knöchel, hob immer wieder die Füße an und malte mir die erbarmungslosen Bisse aus, die sich zu glühender Kreissägenschärfe steigerten. Überlebende schildern im Fernsehen, ein Angriff sei, als werde man mit den Füßen, dann mit den Beinen in einen Fleischwolf gestoßen. Diese Erfahrung hatten also auch der massige, lakonische Ray, der zungenfertige José, der kleine 328
tintenäugige Manolete mit dem drolligen Hang zu jähen, hochfahrenden Gesten gemacht. Sie waren die Letzten auf Erden gewesen, die gehofft hatten, von mir etwas zu lernen. Wäre ich hier gewesen und hätte sie beraten, sie könnten vielleicht alle noch am Leben sein. Ende September, ein heftiger, nasser Sturm tobt; die Bäume werfen sich peitschend hin und her im Kampf mit der wild gewordenen Luft. Im Wald zwischen meinen Fenstern und dem Strand kehren sich in schnellen Wellen die hellen Unterseiten der Blätter nach oben, und abgerissene kleine Zweige, triefend von nassem Grün, bedecken die Zufahrt vor dem Haus, auf der dem Meer abgewandten Seite, die Gloria die Rückseite nennt. Aus den Kronen der Eichen rings um das Rondell kommt ein pfeifendes Sausen und ein Heulen, und ich rechne damit, dass über kurz oder lang eine von ihnen herunterkracht oder zumindest einen geborstenen Leitast abwirft. Aber dies ist kein Hurrikan, bloß ein netter New-England-Nordost, der es nicht zum Äußersten kommen lässt – wie eine Krankheit, die uns nicht töten will, sondern nur mit uns spielt, zum Zeitvertreib. Der Katheter ist vor ein paar Tagen entfernt worden: einerseits eine Erleichterung, insofern, als das Gepäck, an dem ich zu tragen habe, verringert ist, andererseits aber eine neue peinliche Beschwernis, denn ich habe es nun zu Windeln gebracht – Depends Adult Incontinence Pants. Sie werden binnen einer Stunde nass und schwer, und Gloria hat mir im Gästezimmer taktvoll eine Gummiunterlage auf die Matratze gelegt. Ich stehe mehrmals in der Nacht auf und wechsle meine Verpackung; am Morgen aber bin ich schläfrig überrascht, dass unsere Schlafzimmervorhänge und der Bücherschrank vertauscht sind gegen die kärglicheren, kahleren Möbel des Gästezimmers. Die Decke ist in der einen Ecke in mehreren breiten prismenförmigen Winkeln abgestuft, weil eine kleine 329
Stiege im darüber liegenden zweiten Stock den Platz benötigt, und im Halbschlaf schaue ich zu dieser architektonischen Notlösung hin, als sei sie ein Ding an sich, eine hockende winklige Gestalt, die feindselig, aber still, anstelle einer Ehefrau, den Raum mit mir teilt. Gloria kümmert sich um mich, aber das Haus erzittert unter dem gereizten Knallen und Einschnappen der Trenntüren, die sie zwischen sich und mich geschoben hat. Sie möchte trocken bleiben. In meiner Impotenz habe ich aufgehört, von irgendwelchem Nutzen zu sein. Für sie ist unsere Beziehung nur mehr etwas, das nobel und klaglos durchgestanden werden muss; sie verdient sich Punkte im Himmel, wie man das früher nannte, und ihre Tugendhaftigkeit quält mich mit ihrer Härte, ihrem Glanz so sehr, dass ich mich krümme. Was ich an ihr, im Vergleich zu Perdita, so mochte, war dies: die körperliche Liebe hat Perdita und mich verrührt wie einen dunklen Teig aus Fleisch und Begierde, und das Mischungsverhältnis hat in den seltensten Fällen exakt gestimmt, sodass der eine sich betrogen und der andere sich schuldig fühlte, als hätte unser Sexualakt eine Fusion zu sein, an der wir beide genau zur Hälfte beteiligt waren, wie an dem Genmix in unseren Kindern; mit Gloria dagegen hat es solche wechselseitigen Schuld- und Verantwortungsgefühle nie gegeben. Wir haben einander benutzt, ich sie, sie mich, mit dem Zweck, zu zwei individuellen, keiner Entschuldigung bedürfenden Orgasmen zu kommen, manchmal gleichzeitig, manchmal auch nicht. Diese sexuelle Klarheit schien es wert, dass ich mein Leben für sie aufgab – meine geachtete Stellung, meine finanzielle Sicherheit, das Glück meiner Kinder. Wie sich dann zeigte, war der Preis niedriger, als ich befürchtet hatte; das Leben ging weiter, die Welt fuhr fort, sich zu drehen, und so würde es auch im Gefolge dieses wütenden Septembersturms sein, wie viele Äste er auch herunterrisse. Ich verlasse immer wieder das Bett, watschle von einem 330
Fenster zum anderen, sehe die Welt in Nässe zerfließen und fühle, wie meine Windel immer schwerer hängt und ausgewechselt werden muss. In meiner Zeit als junger Vater an der Seite Perditas hatten wir einen Windelservice, der jeden Montag einen ammoniakreichen, wassersatten Sack abholte und uns im Austausch dafür eckige Stapel frischer, trockener, gefalteter Windeln übergab. So einen Service gibt es jetzt nicht mehr. Was ich jetzt beseitige, kommt in einen grünen Abfallbeutel, den Gloria jeden Mittwoch hinten in ihrem Kombi an die Straße hinunterkarrt, auf dass er in irgendeiner entfernten Müllgrube seinen Platz einnehme, zum Ergötzen zukünftiger Archäologen. Das Bild, das sie sich von uns machen, wird das von gewissenhaften Zeitungslesern mit einem Fimmel für saugfähige Einlagen sein. Wenn ich Gloria nie mehr mit steifem Schwanz einen Orgasmus bescheren kann, bin ich für sie nur noch als steifer Leichnam von Nutzen, der ihr liquide Mittel hinterlässt. Im fiebrigen Catch-as-catch-can unserer ersten Verliebtheit habe ich sie mehr als einmal mit der Hand zum Orgasmus gebracht (im Kino) oder mit dem Fuß (unterm Tisch im Restaurant) oder mit dem Mund, während sie auf einem Bett kniete und niederblickte wie eine rundhügelige Schneefrau, meinen Kopf festhaltend zwischen ihren schmelzenden Schenkeln. Doch ich fürchte, dass sie solche Zufluchtnahmen jetzt indiskutabel fände, unwürdig für eine Frau von Anfang sechzig. Ich meinerseits bin im Krankenhaus siebenundsechzig geworden, ein Quantensprung, unbeachtet, bis auf einen rührenden Cartoonpostkartenregen von meinen zehn Enkelkindern, deren Namenszüge von Kevins erwachsen mit Kugelschreiber hingeworfener Schrägschrift bis zu einem Buntstiftgekrakel von Jennifer reichen, der Roberta natürlich die kleine besabberte Hand geführt hat. Ich lese viel, vermeide indes in meinem schmählichen, zerbrechlichen Zustand, der mich schnell ermüden lässt, die 331
emotionale Beanspruchung durch erzählende Literatur, diese ratternde, grob zusammengeklopfte alte Achterbahn, deren Rauf und Runter Lügen gestraft wird von der – nehmt alles nur in allem – Plattheit menschlicher Erfahrung, ihrem sisyphusmäßigen Ewiggleichen, und halte mich an die zeitlich und räumlich von uns abweichenden Leben der Geschichte und des National Geographie. Dieses großartige Magazin ist fast als einziges während des gesamten Chinesisch-Amerikanischen Konflikts erschienen und hat uns, meilenweit vom hasserfüllten Propagandalärm entfernt, herrliche Bildstrecken über die malerischen Yakhirten im jurtengetüpfelten sandigen Hinterland ebenjenes Reichs gebracht, das wir zu vernichten trachteten. Irgendwo inmitten der Atomexplosionen hat man die Druckfarbe, das Kunstdruckpapier und die harmlosen Texte gefunden, um den Marsch gelber Rücken in Gang zu halten, der keinmal ins Stocken gekommen ist seit den Tagen des Forschungsreisenden, Schriftstellers, Staatsmannes Teddy Roosevelt. Die übersehenen Stellen auf den Landkarten und Zeittafeln faszinieren mich – das frühe Mittelalter zum Beispiel, auch das finstere genannt, vom Untergang Roms bis etwa zum Jahr 1000. Nicht nur, dass in diesen Jahrhunderten römische Institutionen, von den Bürgern unbemerkt, zu vormittelalterlichem leerem Schein permutierten und irisches Klosterwesen eine widersinnige Blütezeit erlebte, während Sarazenen und Wikinger Europa in einem Schreckenswürgegriff hielten, nein, in unscheinbaren, anonymen Gehöften und Werkstätten wurden umwälzende technische Neuerungen in die Tat umgesetzt, die die theoretisierenden, an Sklaven gebundenen Alten nie gewagt hätten: Kurbel und Hufeisen, Klimmet und Steigbügel – von allen offenbar gottverlassenen Jahrhunderten war es ausgerechnet das neunte, in dem diese Gegenstände in Erscheinung traten. Um das Jahr 1000 trugen der sächsische Räderpflug, Wind- und Wassermühlen und 332
Dreifelderwirtschaft dazu bei, dass sich ein Ackerlandteppich ausbreitete, wie die Weisen in Griechenland und die Tyrannen in Rom ihn sich nie hätten träumen lassen. Vielleicht keimt in der dekadenten, halb zerstörten Welt zu Füßen meines Hügels gerade eine ähnliche technische Saat. Dekadenz hat, ebenso wie Zerstörung, etwas für sich: sie befreit Menschen. Menschen sterben, die Menschheit aber ist so zäh und elastisch wie das lebendige Holz, das draußen vor meinem Fenster stöhnt. Ein großer weißer Truck röhrt die Zufahrt herauf und hält platschend an. Gloria geht mit eilig klackenden Hacken an die Tür, und es kommt zu einer erstaunlich ausführlichen, geradezu vertraulichen Unterhaltung. Ich schiebe mich steif aus dem Bett, dessen zerknitterte, muffelnde Laken mir zur verhassten zweiten Haut geworden sind, gehe ans Fenster und sehe gerade noch, wie der FedEx-Mann – oder die Frau, an den Haaren lässt es sich nicht erkennen – wieder auf dem Fahrersitz Platz nimmt. Er oder sie verstaut einige sepiafarbene Scheine in einer ledernen Brieftasche, und unterhalb des dunkelblauen Hemds ist an einem umgeschnallten Gurt ein dickes Lederdreieck zu sehen. Ich rufe Gloria und bitte sie heraufzukommen; nach einer Weile tut sie mir den Gefallen. Sie anzusehen, ihr strahlendes, intelligentes, reifes Gesicht, umrahmt von raffiniert getöntem aschblonden Haar, tut ebenso weh, als sähe man in die Sonne. «War das für mich?», krächze ich. «Nein, Schatz, für mich, du wirst es nicht glauben.» «Um was ging’s denn?» «Was Geschäftliches.» «Das ist mir klar. Und was?» «Also, ich wollte es dir ja nicht sagen, aber FedEx erhebt jetzt eine Monatsgebühr.» «Wofür!» Ihr ohnehin schon leuchtendes Gesicht wurde noch heller. «Für alles! Für die öffentlichen Einrichtungen und die In333
standhaltung der Straßen und für unseren Schutz. FedEx übernimmt viel von dem, was früher die Regierung gemacht hat, jetzt aber nicht mehr schafft. Er ist wie der Pony-Express, der den Wilden Westen gezähmt hat.» «Oder Mussolini, der bei der Bahn für Pünktlichkeit gesorgt hat.» Die Anspielung verpuffte; der letzte Krieg hatte den Zweiten Weltkrieg verblassen lassen wie ein Wandgemälde im Postamt. «Was ist mit den netten Leuten, die von mir immer Schutzgeld bekommen haben?», fragte ich. «Spin und Phil und dann die Jungs aus Lynn.» «Ein Haufen armseliger kleiner Ganoven, Schatz. Die sind alle raus aus dem Geschäft. FedEx operiert landesweit; die haben ein Netzwerk, das New England wieder in Kontakt mit Chicago und Kalifornien bringen kann. Ein großer Glücksfall, wirklich.» «Du hörst dich an wie ein Werbespot.» «Wenn ich etwas für eine Verbesserung halte, scheue ich mich nicht, das auszusprechen, im Gegensatz zu gewissen, mir gut bekannten grantigen alten Zynikern. Konzentriere du dich jetzt mal darauf, dass du regelmäßig deine Windeln wechselst und deine Übungen machst.» Kegel-Übungen – ein mentales Training, dazu bestimmt, den traumatisierten Blasenschließmuskel zu reaktivieren. Es war frustrierend schwierig, in Gedanken diese winzigen Muskelgruppen zu lokalisieren (es gibt zwei dieser Art, eine am Ende des Rektums und eine an der Wurzel des Penis), die wir, sobald wir laufen und sprechen können, zu kontrollieren lernen: beherrschen wir sie, haben wir das Billett, mit dem wir zur gesitteten menschlichen Gesellschaft zugelassen werden. Nun, ich war ausgeschieden aus dem Club. Und ich hatte nicht gewusst, dass Gloria mich für einen Zyniker hielt. In Bezug auf welche sonnige Philosophie, der sie selber anhing? In der Ehe kommt es nach und nach weniger auf unsere Körper an, dafür umso mehr auf unsere Anschauungen. Aber ich wollte 334
nicht streiten, ich hatte nicht die Kraft dafür. Ich sagte: «Es hat vom Fenster aus so ausgesehen, als hätte er eine Knarre.»
«Sie. Eine sehr nette, tüchtige junge Frau hat den Truck gefahren, Mr. Chauvinist. Aber es stimmt, bei den Verpflichtungen, die sie jetzt übernommen haben, müssen sie Waffen tragen. Sie müssen sich und uns gegen asoziale Elemente verteidigen. Die Stimmen im Wald, die ich die ganze Zeit gehört habe – ich habe mit FedEx darüber gesprochen, und die haben dem Spuk ein für alle Mal ein Ende gemacht.» «Das waren Kinderstimmen», sagte ich und fühlte, wie sich bei ihrer Eröffnung Muskeln in mir rührten, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie hatte. «Das waren Stimmen von Hausfriedensbruchbegehern», sagte Gloria, unwiderstehlich in ihrer Zielbewusstheit und Gewissensklarheit. «Ist dir je in den Sinn gekommen», fragte ich sie, «dass ich ein asoziales Element sein könnte?» «Du? Du bist ein sehr kranker Mann, dem es besser geht, wenn er schön seine Übungen macht.» «Mein Problem ist, dass ich nicht einmal weiß, ob ich sie wirklich mache», gestand ich. «Vielleicht spanne ich bloß meine Bauchmuskeln an.» «Denk <Schwanz>», sagte sie. Mein Niedergang hat eine neue Freimütigkeit in unsere Beziehung gebracht, eine erfrischende Unkompliziertheit, wie damals in den fernen Tagen, da wir einander nur zu sehen brauchten, um zu wissen: eine stille Ecke und zehn Minuten für uns, und wir würden ficken, um das Band zwischen uns zu festigen und den heiß erkämpften Anteil am jeweils anderen zu unterfüttern. Denk Schwanz: nichts Zynisches daran. Im Haus ist es jetzt morgens und abends kalt, aber Gloria will nicht, dass ich die Heizung anstelle. Ihr Vater, ein prinzipienstrenger, Pfeife rauchender Herr aus Connecticut, habe 335
den Thermostaten niemals vor Allerheiligen angerührt, sagt sie. Nach demselben Kalender schaltete er am Memorial Day von Whiskey-Soda auf Gin-Tonic und am Labor Day wieder auf Whiskey-Soda. In seinem Kleiderschrank wechselten Seersucker- und Tweedjacketts einander so pünktlich ab wie die Guards vor Buckingham Palace, und nie holte er den Mercedes aus der Garage, ohne den Ölstand zu prüfen. Er war unfehlbar im Einhalten der einzig richtigen Verfahrensweise. An den kältesten Tagen vor Allerheiligen machte er im Wohnzimmer zu Wilton Feuer im Kamin, und alle tranken dann Tee, Klein Gloria Kamillentee aus einer geblümten Tasse, Mommy und Daddy rauchigen Darjeeling, eingeschenkt aus der blaugrünen, mit böse aussehenden, langschwänzigen Vögeln bemalten Kanne, und dazu gab es Plätzchen, auf einem Tablett gereicht vom treuen Hausmädchen Mary, das nach der Mutter Gottes benannt war. Mary hatte eine schmale Nase, die an der Spitze immer rot war, wegen des Hausherrn Vorliebe für kalte Räume vielleicht. Wenn Gloria mich berührt, fühlen ihre Hände sich eisig an. Ich frage mich, ob ich vielleicht dauernd erhöhte Temperatur habe, ein Zornglühen meines Körpers, weil man sich so an ihm vergangen hat. Als ich den Küchenschrank öffne, um mir einen Becher für meinen Frühstückstee herunterzuholen (ordinärer Lipton’s, in einem zugeklammerten Beutel), werde ich von Sonnenhelle geblendet und habe Angst, ich könnte aus Ungeschick etwas kaputtmachen. Die Sonnenschräge ist anders jetzt, niedriger. Wir sind über die Tagundnachtgleiche hinaus. Die Erde ist wie ein Schiff, das ganz leicht seinen Kurs geändert hat; wir würden nichts merken, nur dass die Sonne die gemaserte Holztäfelung unserer Kabine an einer etwas anderen Stelle wärmt, während wir uns zum Dinner umziehen. Vergangene Nacht, als ich aufstand, um meine Windel zu wechseln, habe ich den halb auf den Rücken gekippten Halbmond gesehen und mich gezwungen, bis in meine verschlafenen Eingewei336
de hinein zu begreifen, dass der Mond sich mit seiner erleuchteten Hälfte der Sonne zukehrte, die Stunden zuvor hinter den Bäumen der Kellys abgetaucht und den Blicken entschwunden war, in eben der schrägen Richtung, aus der der Mond erhellt wurde. Zwei Kugeln am Himmel, die eine leuchtend, die andere reflektierend, so einfach ist das. Wir leben zwischen ihren Umlaufbahnen wie Staubflusen in einem Uhrwerk. Der Sturm ist in nordöstlicher Richtung, gen Neufundland, weitergezogen, das Wetter ist klar und ruhig. Die See ist hier und da milchig gestreift, Zeichen vollkommener Windstille, und die Hummerfangboote am fernen Ende von Cat Island wirken scharf umrissen und weiß und nah. Die Küste von Hingham und Hüll – wo ich letzten Juli Feuerwerksraketen aufsteigen sah, undeutlich, verwischt wie Kometen – schwebt zwanzig Meilen entfernt leuchtend blau und klar bis ins Detail über einer weiten spiegelnden Fläche, die aus schierer Luft zu sein scheint. Andere optische Täuschungen: 1. Beim Rasieren neulich Morgen sah ich einen ungeheuren bernsteinfarbenen Schmetterling panisch gegen die Fensterscheibe flattern, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass das vom Eintauchen des Rasierapparats bewegte Wasser die Spiegelung des Lampenlichts aufs Fenster warf, das um diese neuerdings verschattete Zeit – sieben Uhr in der Frühe – fast undurchsichtig war. 2. An dem Tag, da ich mich zum ersten Mal kräftig genug fühlte, um zum Briefkasten hinunterzugehen, sah ich, als ich um die Biegung der Zufahrt schlurfte («Ein kleiner Schritt für einen Menschen…»), etwas Langes, Dunkles krumm auf dem Briefkasten hocken. Mein erster Gedanke war, dass ein mächtiger Vogel, ein Kranich, ein Bussard, ein Pterodaktylus, sich dort niedergelassen hatte, mein zweiter, dass ein Päckchen, zu groß, um in den Kasten hineinzupas337
sen, in bizarrer Schieflage mit Gummibändern außen am Verschlussriegel festgemacht war. Als ich mich dann ängstlich näherte, erkannte ich, dass der Schatten Teil eines tief hängenden Hemlocktannenastes war, der meinen aus der Übung geratenen Blick genarrt hatte. Der Ast war immer da. Ich war sieben Wochen lang nicht diesen Weg gegangen. Die Klimmer im Wald – Giftsumach und Wilder Wein – beginnen, sich zu röten, und auch die Ahorne, jeder auf seine Weise. Der hohe Rotahorn nimmt nach und nach einen gedeckten Burgunderton an, indes der impulsivere Zuckerahorn in Orange und Neonpink aufleuchtet. Die Spitzahorne an der Hauptstraße im Dorf werden bald zu einem klaren Gelb verblassen, das ein wenig stumpfer ist als das der Hickorys. Als Gloria mich nach Danvers zur Lahey-Klinik fuhr, wo ein paar Bluttests gemacht werden sollten, sah ich durchs Autofenster einen prachtvollen hohen Hickory, dessen äußere Blätter, vom milden Septemberlicht beschienen, noch grün waren, während das Laub weiter innen, im Schatten, sich schon golden verfärbt hatte – ein Kerngehäuse aus Gold, ein flirrendes Innenleben, in ein geziemendes schönes Äußeres gehüllt; ein gefangener Mädchengeist, dachte ich, im Infiniti vorbeieilend, eine wirbelnde Dryade. Roberta kam mich besuchen und brachte Keith und Jennifer mit – meine Kinder sind heftig bekümmert wegen meines lädierten Zeugungsapparats, dem sie ihre Existenz verdanken, und machen ein lästiges, wenngleich liebevolles Gewese darum. In ihren erwachsenen, zerknitternden Gesichtern sehe ich immer noch die runden Backen und die klaren, vertrauensvollen Augen von Zehnjährigen, die von mir Schutz und Führung und – das Schwierigste überhaupt – Unterhaltung erwarten. Wie soll ich erklären, dass ich in Ruhe gelassen werden muss, ohne zupfende, zerrende Familienangehörige, wenn ich genesen soll? Dass ich meinen Teil von der 338
Welt gehabt habe und es für mich nur noch Rettung von innen her geben kann, indem ich Dienst tue am Altar meiner Wunde und warte, dass die Natur oder die Macht dahinter mich sacht, über eine Reihe unsichtbarer Stufen, von meiner Katastrophe fortgeleitet, hinüber in eine andere Welt? Mittags gaben wir Jennifer zu essen. Sie packte immer wieder den Silbernapf, der uns bei Firestone & Parson eine Hand voll Scheine gekostet hat, kippte den Inhalt auf die Ablagefläche des Hochstuhls und ließ das ohnehin schon reichlich zerbeulte Schüsselchen mit Absicht auf den Fußboden fallen. Als sie das zum vierten Mal tat und ihren herausfordernden schieferblauen Blick dabei fest auf mich gerichtet hielt, explodierte ich. «Lass das!», sagte ich zu Jennifer, und zu Roberta sagte ich im Jammerton: «Was soll das, warum macht sie das dauernd!» Jennifer, die vor kurzem ihren ersten Geburtstag gefeiert hatte, war es nicht gewohnt, angeblafft zu werden; ihr Mund bildete einen kleinen Kreis um ein Spuckebläschen herum, dann zog er sich in den Winkeln nach unten, und sie weinte los, ein Brüllen, danach ein Schluchzen und Schniefen. Roberta tröstete sie. «Mein süßer Schatz», sagte sie, «Grampy hat es nicht so gemeint. Er hat bloß vergessen, wie kleine Mädchen sind.» Zu mir gewandt, sagte sie: «Daddy, das ist doch einfach nur die Art, wie sie sich an Raum gewöhnt.» Robertas Bemerkung, zweifellos irgendeinem digitalisierten Handbuch über kindliche Entwicklung entnommen, war nützlich: ich sah eine Gemeinsamkeit zwischen dem Kind und mir, eine, die über den Umstand, dass wir beide Windeln trugen, hinausging. Mit Bewegungen und Wahrnehmungen, so tapsig wie die Jennifers, gewöhnte ich mich an Zeit. Eine merkwürdige Entität. Sie existiert nicht auf TeilchenEbene, habe ich gelesen: die grundlegenden physikalischen 339
Gesetze sind zeitsymmetrisch, gäbe es nicht eine winzige Ausnahme, das Teilchen, das neutrales Kaon heißt. Wenn das neutrale Kaon nicht wäre, würden Gebäude sich vielleicht genauso oft selbst aufbauen, wie sie einst ürzen, und alte Männer würden jung werden, nicht nur in ihren Träumen. In meinen Träumen scheine ich auf einem langen Erntetisch zu schweifen, der mit den vergangenen Epochen meines Lebens beladen ist. Eines Nachts bin ich wieder in der High School von Hammond Falls, schlendere durch die engen, mit Spinden voll gestellten Flure und trage meine Loafers und durchgescheuerten Bluejeans – durchgescheuert und zerrissen, aber so, wie die Schulkleiderordnung es gerade noch zulässt, denn hinter der asozialen Pose bin ich ein gewissenhafter Schüler, der heimlich den Ehrgeiz hegt, aufs College zu gehen und Hammond Falls für immer hinter sich zu lassen. Ich atme tief die Ausdünstungen von Haargel, billigem Parfüm und hormonaler Überproduktion ein; ich beäuge die umwerfenden Mädchen mit den Faltenröcken und den vorgewölbten Pullovern und male mir den Samstagabendausflug mit meinen Kumpeln nach Pittsfield aus – erst zu McDonald’s oder Teo’s an der Dalton Avenue, dann ein Film im Showplace oder im Capitol an der North Street, anschließend Apple pie bei Rosa’s oder im Popcorn Wagon. Großstadtstraßen, verbotenes Bier, Lampenlicht, das sich in schwarzen Pfützen spiegelt, Freiheit und Sünde gleich um die Ecke. Überall um mich herum sind die zärtliche Hitze und die latente Gewalt der High School, ihr schneller, kruder Glamour, gepaart mit der schrulligen Regelmäßigkeit ihres stündlichen Läutens und der vom Lehrplan bestimmten Wanderungen von Zimmer zu Zimmer. Killer in unserem Auftreten, sind wir vom Abschlussjahrgang 1971 doch so fügsam wie Lagerinsassen. Das «System» wird zwar allenthalben bespöttelt und beklagt, aber weit und breit ist kein besseres in Sicht, das uns aus diesen spind340
gesäumten Fluren mit ihrem hoffnungsvollen, rebellischen Radau errettet. Dann wache ich auf, meine Windel durchnässt, auf dem Dach Eichhörnchengetrappel und in der Ecke mir gegenüber die sonderbare Deckenkonstruktion des Gästezimmers, wie ein verrücktwinkliger Sarg, begraben in Schatten. Mit einem grauenhaften Schlingern im Magen wird mir bewusst, dass ich nie wieder zur High School gehen werde, nicht, solange die Zeit nicht rückwärts läuft. In einer anderen Nacht bin ich in unserem Kolonialhaus an der East Maine Street in Coverdale und noch verheiratet mit Perdita. Wir sind undeutlich von Kindern in allen Größen umgeben, doch das wirkliche Gebrodel spielt sich zwischen uns und unseren Altersgenossen ab, den anderen jungen Paaren, die alle zu zweit zusammengesperrt in ihren Häusern leben, sich aber danach verzehren, auszubrechen, jeder Ehepartner verzweifelt darauf aus, sich, wie in einem Rüttelbecher voll verschiedener Chemikalien, mit einem anderen zu verbinden. Ein prickelndes, unseliges Geflecht von unerlaubten Beziehungen, vergangenen und zukünftigen, ist unter uns ausgespannt wie ein Netz unter den fliegenden Körpern von Trapezkünstlern; wir sind noch geschmeidig, obschon in unseren Dreißigern. Unsere Häuser und Gärten sind vernachlässigt; aus den Augenwinkeln nehmen wir flüchtig die Signale wahr, mit denen unsere Kinder uns um Aufmerksamkeit bitten. Die zergehenden Wände häuslichen Lebens, die zu vielen Berührungspunkte – mit Ehepartnern, Geliebten, Noch-nicht-Geliebten, noch lebenden Eltern, mit Kindern, die jeden Tag schwieriger werden und mehr wissen, mit Katzen und Hunden, deren plötzliches Sterben die Entsetzlichkeit des Ganzen unterstreicht –, alles schlägt über meinem schlafenden Geist zusammen, der in seiner beizenden Turnbull-Essenz schwimmt. Perdita, hinreißend und erbarmungswürdig in ihrer Nacktheit, weint sich in der Pantry die Augen aus, während die Party, zu der 341
wir geladen haben, noch im Gange ist; ich bin mir des gesellschaftlich Ungehörigen ihres glatt anliegenden, mythischen Kostüms bewusst und wache auf, dämmrig dankbar, dass ich ihrem Kummer nicht mehr auf den Grund gehen muss. Was für ein Wunder an Speicherung, dass alle Abschnitte meines Lebens, mit ihren Bedrückungen und ihren Stimulierungen, zusammengerollt in meinem Gehirn liegen. Mein gegenwärtiger elender Zustand ist ein Gericht mehr auf dem großen Tisch, einem Bordbüffet, das nach hinten hin immer reichhaltiger wird, beginnend mit der fluoreszierenden Suppe des Lebens bei Sibbes, Dudley und Wise und endend mit dem Plumpudding des Weihnachtsfestes in Kindertagen, als ich meine ersten Skier bekam – aus Holz und gebraucht, wie ich gleich an den Schrammen sah. Zeit ist in meinem Gehirn zu einer Art Raum geworden – gefurchte und gewundene Rindenfelder, über die müßig, dann und wann, belebende Elektrizität hinflackert, während ich schlafe. Aber in meinen Träumen herrscht überwiegend eine Atmosphäre der Angst, der Grauenhaftigkeit. Warum ist das so? Mein Leben ist ein glückliches gewesen, so wie die Dinge liegen: Krieg und Seuche haben einen Bogen um mich gemacht. New England war der am geringfügigsten bombardierte Sektor der ehemaligen Vereinigten Staaten. Der Chinesisch-Amerikanische Konflikt dauerte alles in allem vier Monate und war hauptsächlich eine Angelegenheit hoch spezialisierter junger Männer und Frauen, die in abgeschotteten Sicherheitsräumen 3-D-Computergraphiken interpretierten, auf Knöpfe drückten und damit Unmengen von Zivilisten ausradierten, die nie erfuhren, was auf sie niederging. Es starben mehr Chinesen als Amerikaner, Millionen mehr. Der radioaktive Niederschlag ließ vor allem die dunkelhäutige Mehrheit der Welt in ihren Ghettos und unhygienischen Dörfern erkranken. Und dennoch träumte ich erst gestern Nacht entsetzlich von einem Teich, rings herum Jungen, die 342
biegsame Stöcke, Bambuspeitschen vielleicht, niedersausen ließen auf die blassen breiten Fische, die zum Luftschnappen an die Oberfläche tauchten. Ein früherer Traum war wie von einem Spinnennetz durchzogen gewesen, unzählige staubige, von selbst sich verschiebende Senkrechtstreben und Gitter, der Höllenmechanismus einer lokalen oder globalen Verschwörung oder Hexenkunst, der sich um mich zusammenzog, eindickend wie Verdauungssäfte um eine hinuntergeschluckte Mücke; ich entkam nur, weil ich aufwachte. Dieses Grauen muss mit Geschichte zu tun haben – mit dem Weltgeist. Nanoblitze zerebraler Elektrizität zucken über den Teil meines Gehirns hin, in dem Stammeserinnerungen gespeichert sind, von den Metzeleien der Neanderthaler bis heute. Das Sonnenlicht kommt in unvermutetem Winkel zu mir, wie befreit. Es liegt, gesprenkelt mit dem Schmutz, der an den Fensterscheiben haftet, auf der Seite, die ich mit diesem Gekritzel verunziere, und blendet mich, als ich in der Küche am Ausguss meine Frühstücksflockenschüssel abspüle, sodass ich sie beinah fallen lasse, als hätte ich eine leichte Ohrfeige bekommen. Auf dem Dach oben ein ungestümes Hin und Her von Eichhörnchen, die kaum noch wissen, wo ihnen der Kopf steht, so viele Eicheln sind zu vergraben. Wildgänse, zu ihrem liebenswert unvollkommenen V formiert, ziehen laut schreiend vorüber. Alles da draußen ist hell und leuchtend und kurz vorm Kippen. Das schräge Sonnenlicht glitzert in den Pappeln und scheint durch die Blätter; die meisten sind zwar noch grün, aber sie werden dünn, verlieren an Substanz. Der Cornus auf dem Rondell rötet sich. Jeremy entfernt auf Glorias Geheiß braune Funkienblätter, während ich mich in meiner Gebrechlichkeit im Haus verkrieche. Jeremy hat es nie nach Mexiko geschafft. Wir werfen unsere Träume ab, einen nach dem andern. 343
Eine Woche ist vergangen. Die Zeit besteht, meinem Gefühl nach, aus Bruchstücken, die bald hier, bald dort vorstoßen, wie die sich stauenden Eisschollen am Nordpol. Manche treiben glatt vorüber; die Dunkelheit des Morgens gleitet durch eine wellige, funkelnde Zwischenspanne in die Dunkelheit des Abends; dann und wann stellt eine Stunde sich hochkant und rührt sich nicht. Etliche Bäume haben sich ein schmetterndes Gelb übergeworfen. Die zartesten Ahorne, die mit kleinen, kaum eingeschnittenen Blättern, kommen nah an das sensationelle Lachsrosa im Innern eines Wellhorngehäuses heran. Die Bradford-Birnbäume unten im Ort sind so sanft grün wie im Juni, habe ich vom Auto aus gesehen, als Gloria mich zur Bank und zum Postamt mitnahm. Eine merkwürdige Unterschiedlichkeit herrscht: die eine Buche steht hier Mitte Oktober über und über mit klirrendem Gold behängt, und ihre Nachbarin trägt noch kein einziges verfärbtes Blatt. Der Spindelstrauch, der im August zu erröten begann, ist immer noch zur Hälfte grün, während sein kleinerer Gefährte schnell einen Magentaton angenommen hat, so brillant, dass man seinen Augen nicht traut. Einer unserer Hartriegel ist von gedämpftem bräunlichen Burgunderrot, die Blätter des andern hingegen sind gesprenkelt, keines wie das andere, jedes einzeln in ein Safranfarbebad getaucht, das dunkle, grobporige Stellen frei lässt, wie Fäulnisleberflecken auf einer Birnenhaut. Ein niedriger, geweihartig verzweigter Sumach, der sich sperrig unter die wilden Rosen mischt, zeigt ein tintiges, fast auberginendunkles Rot, bewahrt sich an den Unterseiten seiner Blätter einstweilen aber ein helles Minzgrün. Und Äpfel und Birnen an ihren mageren borstigen Bäumchen, und Beeren – weiß am großen Zypressenwacholder neben der Zufahrt, schwarz an den Stielchen des Streifenahorns – mehren die optische Ernte, zusammen mit Glorias tapfer ausharrenden Rosen und der üppigen, reich verzweigten Dahlie. Das Sonnenlicht spiegelt sich in dieser 344
Vielfalt warmer Schattierungen und bekommt etwas Überirdisches; die See gleißt in einem Blau, von dem ich nicht gedacht hätte, dass es ohne getönten Filter zu haben wäre. In der Nacht wache ich auf, weil meine Windel nass ist; ich wechsle sie gegen eine trockene aus, kann aber trotzdem nicht wieder einschlafen. Das Haus knarrt rings um mich wie eine Galeone beim Schiften der Segel; vom zweiten Stock her kommt deutliches Poltern, aber die Lämpchen unserer Alarmanlage glimmen in stetigem Grün und zeigen keinen körperhaften Eindringling an. In den demnächst kahlen Bäumen draußen pfeift der Wind. Es wird Zeit, die Sturmfenster herunterzulassen. Aus Gründen der Sparsamkeit und der Behaglichkeit tue ich das gern früh; Gloria, die frische Luft liebt, schiebt es so lange wie möglich hinaus, bis zu einem Tag im November, an dem es so kalt ist, dass meine froststeifen Finger schmerzen, wenn sie an den kleinen verrosteten Schnappverschlüssen nesteln. Ich lege mich wieder ins Gästebett und warte, dass es Morgen wird. Der Wind gaukelt mir das Geräusch des ersten Zugs vor. Ich sehne mich danach, dass im Dorf der Verkehr erwacht. Zwar befehle ich meinen Ohren, sich zu verschließen, aber sie öffnen sich weit, um den neuen Tag zu trinken. Die dichte schwarze Oberfläche der Erwartung teilt sich schließlich, und der Fünfuhrdreißig-Zug schiebt seinen Metallrädersturm aus dem amorphen Seufzen des Waldes hervor: das Geräusch vergrößert sich, wölbt sich zu einer Lautstärke, die das Haus auf seiner starren granitenen Unterlage erzittern lässt, und verliert dann rasch an Tonhöhe und Volumen, als der Zug seine Fahrt verlangsamt, um an der Station Haskells Crossing zu halten. Wer steigt wohl ein, und wer steigt aus? An ein Einschlafen ist nicht mehr zu denken; in der nächsten halben Stunde wird das Auto, das Gloria die New York Times bringt, die Zufahrt heraufpreschen und um das Rondell kurven. Ich lausche mit jedem Nerv darauf, dass 345
es kommt, aber das Geräusch überfällt mich dann mit einer unerwarteten Nähe, ist plötzlich unmittelbar am Haus und füllt die Stille mit seinem automobilen Pomp – ich höre das satte Schlurren von Reifen, das Knistern zermalmter Zweige, das Quietschen von Federn, als der Wagen im Bogen vor die Veranda schwenkt, ein Ächzen von leicht betätigten Bremsen, das rasche Ticken des Motors während des kurzen Halts, dann das Aufschlagen der gefalteten Zeitung auf den Verandadielen und, im selben Augenblick, das abschätzige Beschleunigen des Autos die Zufahrt hinunter. Ein kiebiger, reibungslos funktionierender Auftritt, hübsch perfektioniert seit den schneereichen Wintertagen, als der Fahrer schmählich vor der steilen Kurve parkte und den Rest des Wegs zu Fuß hinaufging. Das Haus muss ihm blind und taub und fühllos vorkommen wie ein weißes Mausoleum, wenn er im Halblicht so schneidig vorbeisegelt. Er hat keine Ahnung, dass es ein Bewusstsein hat: ich bin wach, ein nur zu wacher Geist. Überall im dunklen Nordosten sind Männer und Frauen wach im sich regenden milden Elend, das wir Leben nennen. Durch die nämlichen Fenster – «vordere» Fenster nenne ich sie, auch wenn Gloria sagt, die Seite zum Meer hin sei die Vorderseite – hörte ich am Vormittag, als ich, rasiert und angezogen, mich aber bei der Lektüre eines Scientific American von meiner schlaflosen Nacht erholend, auf dem Bett lag, wie ein Truck heraufdonnerte und Glorias Stimme, klar und glockengleich und mir vertrauter als meine eigene, sich mit einer anderen verflocht, die nicht ganz so klangvoll, aber ebenfalls vertraut war. Ich linste hinunter und erspähte über den Rand des Verandadaches hinweg den nickenden hellen Kopf meiner Frau, die sich angeregt mit einem untersetzten Mann in polizeiblauer FedEx-Uniform unterhielt. Kein Paket wurde übergeben, sondern ein Bündel Scheine, es wanderte von ihrer Hand in seine und von dort in eine abgewetzte Ledertasche. Die Eichhörnchen sind in wilder Aufregung, weil sie so 346
viel sammeln und verstecken müssen; eines von ihnen raste an der Dachkante über meinem Kopf entlang, und als der FedEx-Mann, durch das Getrappel aufmerksam geworden, hinaufschaute, sah ich sein Gesicht. Es war Phil. Er war also nicht beseitigt worden, wie Spin. Er lebte noch, wie ich. Als der Truck auf der Zufahrt davongedonnert war, rief ich Gloria und sagte, sie solle heraufkommen. Die Tyrannei der Kranken ist ausschweifend. Sie kam. «Wer war das?», fragte ich. «Der FedEx-Mann, Schatz. Du hast ihn bestimmt schon gesehen.» «Warum hast du ihm Geld gegeben?» «Lieber, ich hab’s dir doch erklärt. Sie lassen sich bezahlen, und als Gegenleistung sorgen sie für Ruhe und Ordnung. Sie waren es, die sich um die grässlichen Kinder gekümmert haben – die hatten sich in unserm Wald eine Hütte gebaut und die Nachbarn terrorisiert. Anscheinend waren die es, die Pearl Lubbetts’ teures Strandhaus niedergebrannt haben. Es ist wirklich großartig, was die machen. FedEx, meine ich. Die Wachmannschaften, die sie zum Schutz ihres Lieferdienstes beschäftigen, werden jetzt auch in Städten eingesetzt. Sie wollen wieder Banknoten einführen, mit denen die Leute in jedem Staat was anfangen können. Es ist sogar die Rede davon, laut Times, die Bundesregierung, oder was davon übrig ist, nach Memphis zu verlegen, da hat FedEx seine Zentrale und alle seine Flugzeuge. Es wird Zeit, dass jemand die Zügel in die Hand nimmt, jetzt, wo die Mexikaner kurz vorm Einmarsch stehen.» Die mexikanische Wiederinbesitznahme von Texas, New Mexico, Arizona und Südkalifornien war in letzter Zeit, zusammen mit vielen anderen Grässlichkeiten – Schießereien in Dorchester, Vergewaltigungen in Mattapan – ein Thema im Globe gewesen, das zu mir, der ich abgekapselt in meiner eigenen mikrokosmischen Geographie und meinem gezeichne347
ten, gezüchtigten Körper lebte, in einem lediglich literarischen Bezug stand. «Das ist ein Netzwerk, die können alles», fuhr Gloria fort, mit einem Blitzen ihrer schönen Zähne und einem Zurückwerfen ihres aschblonden Haars, ganz so wie vor zwanzig Jahren zur Krönung einer ihrer – darf ich sagen, unserer? – sexuellen Glanztaten. Sie konnte mich mitten im Sinfoniekonzert, durch die Hosentasche meines grauen Anzugs hindurch, oder auf der mitternächtlichen Heimfahrt von Boston im neonbunten Vorkriegsverkehr auf der Route 1 meinen Reißverschluss öffnend, zu einer Erektion herumkriegen. «Man sagt, Präsident Smith sei schon zurückgetreten, aber es gibt keine Möglichkeit, das festzustellen.» Manchmal träume ich, ich hätte eine Erektion, mit mauvefarbenem Kopf wie ein Kaninchenherz, eine, die so hart und blutgefüllt ist, dass die Adern an meinem Hals sympathetisch anschwellen; aber wenn ich aufwache, ist mein armer Schwanz rot und schlapp wie ein Hahnenkamm. Wie hat ein so überflüssiges Anhängsel jemals der Nabel meiner Welt sein können? Die Lächerlichkeit des Lebens trifft mich jäh, wenn die letzten plausiblen Fetzen meines Traums zergehen und die Vorort-Huris, beschworen von meiner Sehnsucht – Grace Wren, saugend; Muriel Kelly, weit gespreizt –, mir ihr flüchtiges weißes Fleisch entziehen, aber zu lachen gibt es nichts. Gleichviel, ich brenne darauf, Phil allein zu treffen, ihn zu fragen, was aus Deirdre geworden ist. Ich lebe auf einem Planeten, dessen Vegetation golden ist, Gold in all seinen Schattierungen, von Rötlichbraun bis Platinweiß, doch immer leuchtend, hoch, überreich. Rote kontrastierende Masern ziehen sich durch seine unendlichen Schichtungen; Folien aus Orange wirbeln auf und falten sich hinein in gesteppte Vertiefungen aus raschelndem Schatten. Ein Blätterschauer trudelt und flimmert in der gleichen Dia348
gonale nieder wie das sinkende Licht unseres Zentralgestirns. Gold auf diesem Planeten rostet; die Atome seines Elements sind begierig danach, sich mit dem Blau des Sauerstoffs und dem Grün verdampften Schwefels zu verbinden. Aus des Goldes flüchtiger, allgegenwärtiger Substanz sind die Balken unserer Häuser gemacht, das Stroh unserer Dächer, die Streu für unser Vieh. Doch wir achten das Element nicht gering, wir schwelgen in seinem Reichtum, der jede Oberfläche bedeckt, bis an den Rand des Meers, das von goldfunkelnden Salzen durchdrungen und also auch golden ist. Goldschaumhaufen auf hohen Stielen messen sich mit den Wolken in ihren Zusammenballungen und vereinigen sich in zerklüfteter Linie mit dem Himmel, dem die beständigen Sternenlichtfluten einen tiefen, überirdischen Chartreuseton geben. Theologen sehen darin einen Beweis für die Existenz Gottes: hätte der ungeheure Himmel eine andere Farbe, eine, die weniger besänftigend wäre als dieses Grün, unsere liebevoll gearbeiteten Augen wären versengt und blind. Heute wartete Phil auf mich am Briefkasten, seinen weißen FedEx-Truck hatte er an der Einmündung unseres ungepflasterten Waldwegs geparkt. Der Teich hatte eine muntere Zeit, er spiegelte gerade die an seinem Rand lodernde Wand aus Ahornen und Birken wider. Zwei Enten rempelten jedes Mal, wenn sie abhoben und wieder landeten oder mit komischer Flinkheit die Bürzel hochkippten, um unter Wasser nach irgendeinem Happen zu schnappen, mit ihren sich ausbreitenden Wellenkreisen gegen das Spiegelbild. «Wie geht’s denn so, Mr. Turnbull?», fragte Phil. Die düstere graublaue Uniform passte ihm besser als früher seine braunen Anzüge. «War ja ziemlich happig, die Operation, hat Ihre Frau mir erzählt.» Ich zuckte mit den Achseln. «Das ist heute bloß noch eine Geschicklichkeitssache. Ein Strahl aus reinen Protonen, nicht 349
dicker als eine Bleistiftmine, geht durch die guten Zellen hindurch und räumt auf mit den schlechten.» «Kann ja sein, aber es gibt miese Nachwirkungen, sagt sie. Ihre bessere Hälfte und ich, wir haben uns ‘ne Menge zu erzählen gehabt, als Sie im Krankenhaus waren. Tolle Frau übrigens. Sie weiß, was sie will, und hat keine Angst, es einem klarzumachen. So’n Weib lass ich mir gefallen.» Ich hatte Phil noch nie so viel reden hören; in den alten Tagen hatte Spin meist das Wort geführt. «Sie mag Sie auch», sagte ich. «Sie mag es, dass FedEx jetzt alles in die Hand nehmen, die asozialen Elemente ausrotten und die Vereinigten Staaten von Amerika wieder einführen will.» «Naa ja», sagte er gemessen, in einem Ton, den ich für den Ausdruck amtlicher FedEx-Würde hielt; die Großunternehmen haben zusätzlich zu allem anderen noch das Monopol für gutes Benehmen übernommen. «FedEx ist nicht ohne Konkurrenz.» Seine kleinen Augen standen eng zusammen, waren aber von einem hellen ernsten Grau, wie die polierte Unterseite einer Maschine, und umrahmt von überraschend langen Wimpern. «Aber zumindest kriegen wir alles östlich vom Mississippi unter Kontrolle. Strategisch l äuft das so, dass zuerst die kleinen Transportunternehmen geschluckt werden, und UPS kommt dran, wenn’s so weit ist.» Er trat näher; aus seinen Doppelkinnfalten und Achselhöhlen wehte mich ein saures männliches Aroma an. «Unter uns, die arbeiten gerade eine Methode aus, wie man die Schnicker fernsteuern kann, mit Funksignalen – die Gehirne von den kleinen Biestern sind schließlich nichts weiter als Transistoren. Wenn sie den Dreh erst mal raushaben, wird das das tollste Ding in der Geschichte der Kriegführung, seit der Zähmung des Pferds.» «Und der Erfindung des Hufeisens und des Steigbügels», sagte ich. «Andernfalls hätten kriegerische Hirten mit ihren Pferden keine Angriffsdistanzen zurücklegen können.» 350
«Da kann ich nicht folgen.» Er runzelte die Stirn. «Hey» – seine kleinen Augen verengten sich vor Vergnügen über den Hieb, der gleich kommen würde –, «wie findet der alte Schwingelschwengel es denn, dass er nu außer Betrieb ist? Sie müssen ja ‘n mächtig scharfer Hahn gewesen sein, wenn man Deirdre so reden hört.» «Deirdre», sagte ich. «Genau. Erzählen Sie mir von Deirdre. Was ist mit ihr? Als Spin umgebracht wurde, hatte ich Angst –» «Tja, Spin», sagte Phil. «Echt scheußlich. Die Kids haben’s mit Steinen gemacht. Was anderes hatten die kleinen Primitivlinge nicht – echt krass. Aber wissen Sie», fuhr er, zunehmend philosophisch, fort, «Spin war zwar ‘n starker Typ, aber manchmal hat er zu viel gequasselt. Wissen Sie noch, wie er sich dauernd rausputzen musste wie ein Dandy? Das war ein Zeichen von Unsicherheit, er ahnte, dass er bei seinen Geschäften auf ziemlich einsamem Posten stand. Er hatte nicht das, was dieser Laden hier hat» – Phil tippte auf das Emblem auf seiner Brusttasche –, «Korpsgeist. So, wie es in der Welt zugeht, kann man’s nicht alleine schaffen. Ausgeschlossen. Die fressen dich auf. Das habe ich auch zu Deirdre gesagt. Aber die Fotze hört ja nicht.» Das Präsens gab mir Hoffnung. «Wo ist sie?», fragte ich. Er sah mich, immer noch belustigt, an. «Was wollen Sie denn jetzt mit ihr? Ihr Pimmel ist doch bloß noch’n Andenken, nach dem, was Ihre Frau sagt.» «Gloria redet darüber?» «Auf sehr kultivierte Art natürlich. Ich sage ja, sie ist Sonderklasse. Und was ich echt schätze, sie hat ‘n Kopf auf ihren Schultern. Sie nennt die Sachen nicht direkt beim Namen, das nicht, aber ich sage Ihnen, die weiß genau, was sie will, und holt es sich. Wenn Sie wissen, was ich meine.» Leute, die es im Leben zu etwas gebracht haben, werden sehr schnell langweilig; was immer sie sagen, es ist ein ver351
brämtes Geprahle. Er wollte über seine Beziehung zu Gloria sprechen, ich wollte über Deirdre reden. «Sie erzählen mir gar nichts von Deirdre», sagte ich. «Als sie mich verlassen hat, haben Sie da mit ihr zusammengelebt?» Ich versuchte mir vorzustellen, wie dieser Grobsack sich verschwitzt und unförmig neben sie legte, neben ihren Körper mit dem schmalen, knochigen Rücken und dem seidigen Überzug aus feinem fließenden Haar, und mein Zorn galt ganz allein Deirdre, weil sie das zuließ, weil sie so billig weggab, was ich für kostbar zu halten beschlossen hatte. «Eine Weile», räumte er beiläufig ein. Nicht nur Phils Augen, auch seine Ohren waren klein – nicht größer als Teetassenhenkel und fest hineingedrückt in die schwammigen Seiten des Schädels zwischen den wulstig vorspringenden rasierten bläulichen Kinnbacken und dem wulstig abstehenden kringeligen Drahthaar. Zwischen Haaransatz und Augenbrauen war wenig Platz für eine Stirn. «Wir waren gute Kumpel, sie ist bei mir eingezogen. Aber sie ist rastlos, Ben.» Wann würde Schluss damit sein, dass jeder mich Ben nannte? Ich war nicht aller Welt Freund. «Sie will raus, irgendwo dahin» – seine Geste begriff den flammenden Teich mit ein, die Wände aus Wald, die weite, über allem sich wölbende Illusion eines blauen Himmels. «Sie ist eine Hure, wissen Sie das? Sie macht die Beine für Sie breit, fein, aber für den nächsten macht sie’s auch. Es ist ihr völlig egal, alle können sie mal am Arsch lecken, buchstäblich. Sie hat bloß Dope im Sinn und diese fixe Idee von Freiheit. Ich hab ein paar Mal versucht, Vernunft in sie reinzuprügeln, aber es hat nichts genützt. Sie hat nichts begriffen. Sie ist wie ein wildes Tier, verstehn Sie?» Ich war nicht darauf erpicht, mir ausgerechnet das anzuhören, aber es gefiel mir durchaus, die Möglichkeit zu haben, offen über Deirdre zu reden – mit meiner Zunge das süße Geheimnis ihres Namens aus dem körnigen Dunkel meiner Gedächtniszellen hervorzuholen. Die Art, wie sie jedes Mal 352
keuchend über den Aufpreis verhandelte, wenn ich beim Liebemachen vom vorher Vereinbarten abwich. Ihr fester Butternusshintern mit dem weißen Strippennegativ in die Höhe gereckt, der kleine Fleischknoten zwischen den schimmernd glatten Halbkugeln sichtbar im Mondlicht, das in genau dem richtigen himmlischen Winkel durch das Fenster im zweiten Stock fiel. Die ebenen Flächen ihres Gesichts, an die ägyptische Sphinx erinnernd oder an einen schweren Aztekenkopf aus massivem Sandstein, nur in einen kleineren Maßstab übertragen, in einen weiblichen mit moderner nihilistischer Nervosität. Ihr prüdes lila Kleid mit dem kleinen weißen Kragen, das am Ostermorgen neben mir in der Kirche geraschelt hatte, als die knäbische Pastorin über den auferstandenen Jesus predigte, der zu Maria Magdalena sagte: «Rühre mich nicht an.» Ihr heißer Wunsch – jetzt endlich spürte ich ihn –, Zuflucht zu finden. Ich rückte dichter an Phil heran, wie an einen gedrungenen Heizkörper an einem rauen Wintertag. In der Nähe eines Mannes, der mit derselben Frau gevögelt hat wie du, gibt es Wärme. Es ist, als sei darin, dass sie sich für ihn ausgezogen hat, eine elektrisierende Nachricht enthalten, die er dir überbringen soll. Er hat die gleichen leisen Schreie gehört, den gleichen erregten Duft gerochen, die gleiche willfährige Geschmeidigkeit gefühlt, die gleichen mondbeschienenen Wölbungen und Vertiefungen und Haartuffs gesehen – es war alles in Phils System gespeichert, ich müsste es mir nur herausholen können. Er war ein gesunder FedEx-Mann und trug die attraktive Uniform der Macht; er konnte es sich leisten, seine Eroberungen für nichts Besonderes zu halten, ich konnte das nicht mehr. Meine sexuellen Erinnerungen waren für mich inzwischen Heldensagen aus einer untergegangenen Zeit, da ich nicht impotent war und meinen Samen in das zuckende Gesicht einer Frau schießen konnte wie Munition aus Milch. Deirdres Flanken hatten in der Erinnerung die 353
goldene Herrlichkeit von Tempelmauern angenommen, die in einen wolkenlosen Himmel ragen und von einer ägyptischen Sonne gewärmt werden. Obgleich Phil sie für eine Hure hielt, lag doch ein Abglanz ihrer heiligen Glut auf ihm – sein öliges, schwarzlockiges Schamhaar hatte sich mit ihrem verflochten –, und ich rückte noch einen Zoll näher an ihn heran, als die beiden Enten auf dem Teich plötzlich aufeinander losgingen, quakend und mit heftigem Flügelschlag konzentrische Wellen ausschickend, die in das rote Spiegelbild der Ahorne krachten. Phil verkannte den Grund für meine Zutraulichkeit. Er meinte, für den expandierenden FedEx-Konzern zu arbeiten sei das Interessanteste an ihm. Er senkte die Stimme und teilte mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit: «Noch ‘n paar Monate, dann stehn unsere Leitungen, dann müssen wir nicht mal mehr persönlich kommen, um zu kassieren. Die Monatsgebühr wird dann automatisch von Ihrem Konto abgebucht. Geil, was?» «Woher weiß ich, dass Sie nicht zu viel abbuchen?» «Alles eine Sache des Vertrauens, das haben Sie selber immer gesagt. Vertrauen Sie uns. Sie merken es überhaupt nicht.» «Ist sie bei Ihnen gekommen?» «Ha?» «Deirdre.» Ich war schamlos jetzt in meiner Hinfälligkeit. Warum soll man in einer Welt abnehmender Tage zögerlich sein bei der Suche nach Wahrheit? «Haben Sie sie zum Höhepunkt bringen können?» «Hey, Ben, machen Sie mal halblang. Wozu soll das denn gut sein?» Er erspähte flüchtig meine Not und verachtete mich lächelnd dafür. «Ich möchte es wissen», bat ich. «Sie fehlt mir. Deirdre.» Als ich ihren Namen aussprach, regte sich da mein Penis? Ich fühlte etwas. «Ich möchte, dass es ihr gut geht.» 354
«Ich habe Ihnen gesagt, sie war eine Hure. Ob sie kam oder nicht, darum ging’s nicht.» «Für mich schon», gestand ich. «Ich hab mir Mühe gegeben. Aber ich war mir nie sicher, sie konnte einem so gut was vormachen. Mit den Gedanken war sie immer ein bisschen woanders, fanden Sie nicht auch?» Er sah, dass er für mich lediglich als Emanation der Möse, die wir uns geteilt hatten, von Bedeutung war, und schnappte ein. «Wo sie den nächsten Fix herkriegt, das hat sie gedacht», sagte er schroff, mir den Faden abschneidend. «Sie sind alle so. Sie hassen ihre Kunden, Ben, machen Sie sich nichts vor. Hey, Sie sehn auf einmal gar nicht gut aus. Glauben Sie, Sie schaffen es den Berg rauf?» «Die Ärzte wollen, dass ich mich bewege», sagte ich. «Sie wollen, dass ich tot umfalle.» Als ich den geschwungenen Asphaltweg hinaufschlurfte, an den Obstbäumen mit ihren abgeworfenen verrottenden Früchten, an den Blatt um Blatt sich purpurn färbenden Fliederbüschen, am Sassafras, der wie eine umgestülpte Schale geformt war, am Zypressenwacholder mit seinem Raureif aus winzigen Beeren vorbei, entschied ich, dass die Regung meines Penis im Augenblick, da ich Deirdres Namen aussprach, wahrscheinlich nur ein Hervorsickern von warmem Urin gewesen war, das ich zufällig wahrgenommen hatte. Ich fasste den Entschluss, meine Kegel-Übungen mit mehr Energie anzugehen. Seit drei Tagen Regen und einer dieser herbstlichen Nordostwinde, die die Blätter von den Bäumen prügeln und sie am nassen Erdboden festpappen. Der Hickory vor meinem Fenster aber hat sich noch kaum verfärbt, zeigt nur hier und da ein wenig Gelb. Aufgeregte Eichhörnchen zerzausen seine Krone, klettern bis ans Ende der weich herabhängenden Zweige und überqueren dann mit donnerndem Getrappel das Dach über mir. 355
Die Regenrinne war am einen Ende verstopft, und das überlaufende Wasser bildete hinter der Pachysandra eine Pfütze, die zu einem der Kellerfenster hin abfloss. In einer Vitalitätsanwandlung, die Gloria beunruhigte, zog ich mein altes Ölzeug an, lehnte im prasselnden Regen die Ausziehleiter gegen das Dach, kletterte die rutschigen Sprossen hinauf und räumte, mich hütend, einen Blick in den steilen dreieckigen Raum unter meinen Füßen zu riskieren, mit den Händen den Pfropf aus Zweigen und Blättern weg. Es lag eine primitive Befriedigung darin, zu sehen, wie ein strudelnder Sog entstand und der Wasserspiegel in der alten Holzrinne nach und nach sank, getreu den geduldigen, allgegenwärtigen physikalischen Gesetzen. Kindheitsspiele: die Elemente wieder in die richtigen Bahnen lenken. Der Mensch als hydraulischer Verkehrspolizist. Zurück auf dem Boden, zog ich mit der Spitzhacke durch den Pachysandrateppich eine Rinne, die die Pfütze zur Zufahrt hin ableiten sollte, aber die Schwerkraft war wider mich. Ist die Schwerkraft wider uns, was ist dann für uns? Ich war gern draußen im Regen – er ließ meine nasse Papierwindel als etwas Natürliches erscheinen, ein Stück durchtränkter Natur. Als ich wieder im Haus war und meine Sachen in der Waschküche zum Trocknen ausbreitete, nahm ich bewusst die Wärme wahr, die die Heizkörper ausstrahlten, und ich war so gerührt und dankbar, als hätte ein treuer Diener daran gedacht, mir ein Tablett mit Tee und warmen Scones zurechtzumachen. Das Haus mit seinen Strom- und Rohrleitungen führt ein eigenständiges Leben, wie ein mütterlicher sesshafter Megaschnicker. Gloria bekannte, meine Anstrengungen hätten ihr Angst gemacht, doch ich fühlte mich belebt, gestärkt und genoss das Prickeln in meinem Gesicht. Erst am Abend, im Bett, als ich ein populäres Buch über Kosmologie lesen wollte, brach enorme Müdigkeit über mich herein – diese ungeheure, un356
abweisliche Erschöpfung, die sogar die Gewissheit des Todes beiseite wischt in ihrer Hast, mit der sie einem die Augen schließt. Ich lebe, ich bin lebendig, denke ich jetzt manchmal, während ich dem Regen in den Dachrinnen zuhöre und meine Gliedmaßen in ihrer ganzen Länge unter den weichen Decken spüre. Was für ein Segen Leben ist, vom Standpunkt eines Steins oder eines Kubikmeters schwarzen Wassers in den eisigen Ozeantiefen her gedacht. Und sogar dort gelingt es Molekülansammlungen offenbar, ein winziges Bewusstseinslicht zu entzünden. Das Universum hasst den Tod, kann das sein? Ist Gott für uns, wer ist dann wider uns? Weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur kann uns scheiden von… den Lebenden. Eine armselige, aber köstliche Gnadenfrist vor dem unwiderruflichen Beginn der Zeitlosigkeit. Ich denke an all die Mistkerle wie Gary Gray und Firman Frothingham, die mich nur zu gern tot sähen, und das Vergnügen, meinen Feinden eins auszuwischen, wärmt mein erkaltendes Herz. Der Himmel war heute früh, bei Tagesanbruch, ein rosa Löschpapier und lag über einer See, deren Blau von ähnlich verschwommener, faseriger Beschaffenheit war. Die goldenen Bäume im Vordergrund sahen nach dem Sturm jetzt grämlich und dunkler aus, wirkten schorfig und wie von Rost heimgesucht. Wenn die Blätter fallen, senkt der Himmel sich wieder auf unser Bewusstsein nieder. Als ich langsam auf dem feuchten Asphalt hinuntergehe, wo das strömende Wasser kleine Haufen und lang gestreckte niedrige Geschiebehügel aus Kiefernnadeln, Eicheln, Hickorynüssen, Reisig und vom Wegrand hergeschwemmtem Kies zurückgelassen hat, ist mir, als sähe ich bruchstückhaft, in einzelnen Bögen hinter den eilig hinziehenden, lichter werdenden Regenwolken, den himmlischen Ring, den Torus. Ist er trotz der allgemeinen Gleichgültigkeit, mit der sein Abschied quittiert wurde, zu357
rückgekehrt, oder ist es nur ein Gaukelbild, Sonnenlicht, das sich in einem hohen Schleier aus Kristallen bricht – ein weißer Regenbogen? Dem Buch zufolge, das sich gestern Abend als so einschläfernd erwies, kommt und geht der Torus seit Äonen in einem bestimmten Rhythmus, wie einer jener Kometen, die auf ihren elliptischen Bahnen weit in den interstellaren Raum hinausschwingen und nach den alten Newtonschen Gesetzen an unseren Himmel zurückkehren müssen. Mehreren Generationen ist seine Gegenwart offenkundig, er gilt ihnen als Urheber von Vorzeichen, Wundern, Warnungen und Bestätigungen. Die Menschen leben in seinem bleichen Licht, singen sein Lob, während sie arbeiten, sehen selbst ihre elementarsten Körperfunktionen, ihre Anwandlungen von Genuss und Reue als Teile eines Musters, das der Torus aufgrund seiner Idealität vorgibt. Dann verblasst er nach und nach, er wird zum Gespött, und seine Existenz wird bestritten. Den Generationen wird es lästig, die Frömmigkeit der Väter zu übernehmen und fortzusetzen; ein Schrei nach Freiheit und dem Recht auf Selbstausdruck steigt zu dem himmlischen Trauring auf, der inzwischen wie eine Fessel erscheint oder wie der Deckel eines unterirdischen Verlieses. Vielleicht sind es die Sprechchöre, die ihn wegtreiben. Weil er den Planeten immer nur bei bestimmten Durchgängen berührt und nie mit mehr als einer Ahnung von allumfassendem Wohlgefühl, kann er so gründlich ignoriert werden, als existiere er tatsächlich nicht. Die Altäre sind vergessen; die Tempel zerfallen zu moosbedeckten Ruinen. Doch ein Hauch von Unschlüssigkeit hängt in der Leere. Die öffentliche Unordnung wächst. Telefonzellen werden mutwillig zerstört. Graffiti bedecken jede der Schönheit und optischen Harmonie geweihte Oberfläche aus Stein. Kinder legen sich Waffen zu und erschießen einander so beiläufig, wie die Bilder auf dem Fernsehschirm hin358
flackern. Erwachsene ertränken ihre Unruhe und Verzweiflung in Alkohol. Die Welt für sich ist nicht genug; es muss noch eine andere geben, damit diese hier Sinn bekommt. Und Blutopfer werden eingeführt von den Tyrannen, die in der widerstandslosen Wirrnis und Lethargie an die Macht gelangen; riesige Trommeln und Rauchfässer schicken ihre Signale zum rotschlierigen Himmel hinauf; mit Drogen betäubte Jugendliche, auserwählt wegen ihrer physischen Vollkommenheit, lassen sich von vermummten Priestern, die meergrüne Obsidianmesser schwingen, das Herz aus der atmenden Brust schneiden. Irgendwann, wenn er die Zeit für gekommen hält, taucht der Torus wieder auf. Persönliche Vernunft und allgemeine gute Sitten treten wieder in Kraft, aber immer trägt die soziale Ordnung Samen in sich, kleiner und dunkler als Mäusekot, Körnchen der Unzufriedenheit und des Grolls. Der neue Zyklus hat begonnen. Diese Zyklen nehmen weit mehr Zeit in Anspruch, als man ursprünglich dachte: Jahrmillionen eher denn Jahrtausende. Die Zeit zermahlt die Ruinen der einen Epoche, die Überreste ihrer unvergänglichen Monumente, zu feinem Sand, der den Vorfahren der nächsten Epoche als Inbegriff von Wüste erscheint, wenn sie Hand in Hand, ihre Blöße mit Blättern bedeckt, aus dem Garten Eden heraustreten. Und immer kreisen hoch oben, lautlos gellend, gebieterisch silbern und rein, die Sterne, und sie verschieben sich minuziös und bilden neue Konstellationen, neue Arrangements im hingebreiteten, irgendwann erlöschenden Gefunkel auf dem samtenen Auslagetuch des Raums. Das Meer zwischen den kahl werdenden Bäumen kräuselt sich in roten Fäden, die splissig die geblähte, nie untergehende Sonne widerspiegeln. Als ich, mit dem Globe in der Hand, die Zufahrt hinaufgehe, blicke ich flüchtig nach links, zum Sauerblattbaum hin, den Gloria vor zehn Jahren gepflanzt hat, und seine Herbst359
Schönheit trifft mich wie ein Schock – lange ovale Blätter, an den unteren Zweigen eines übers andere gelegt, sodass ein Paravent aus einander überschneidenden Scharlach-, Gelb-, Braun-, Rosa- und Grüntönen entstanden ist. Gloria ist inzwischen, ja, sauer auf diesen Baum – er ist für ihren Geschmack zu eifrig gewachsen zwischen den Birnbäumen und den Fliederbüschen. Er hat seine Nachbarn rasch überragt, und die allzu ausladenden Zweige sind unter schwerem Schnee weggebrochen und haben staksige Nebentriebe ausgesandt. Sie spricht sogar davon, ihn zu fällen, nachdem sie es zehn Jahre mit ihm versucht hat. Die Gärtner der Welt sind unsentimental beim Korrigieren ihrer Irrt ümer. Vielleicht gibt es zwischen dem Baum und mir ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Ungeliebt, selten eines Blickes gewürdigt, summt der Baum einen aus Herbstfarben komponierten Choral vor sich hin und streckt sich einem zugleich entgegen, wie mit langknochigen fedrigen Händen, seine weißen Blüten müde Köpfchen, knapp einen Zentimeter lang, die zu einseitigen, sich auffächernden Trauben angeordnet sind. Er blüht auch dann noch, wenn seine Blätter fallen. Gegen vier am Nachmittag, als das Sonnenlicht gerade in der richtigen Schräge einfiel, ging ich ohne besonderen Grund in das Gästezimmer auf der Meerseite – nicht das, in dem ich schlafe, das geht aufs Rondell hinaus – und war überwältigt beim Anblick eines Fensters, das ganz ebenmäßig, stoffmustergleich, mit sonnendurchglühten buttergelben Hickoryblättern bedeckt war. Ein Fenster wie ein senkrecht gestellter Schaukasten voll reiner, ungebändigter Helligkeit. Ich erkenne jetzt, da es zu spät ist, dass ich der Welt nicht genug Aufmerksamkeit, nicht genug Anerkennung gezollt habe. Das Radio bringt zwischen Wettervorhersage und Börsenbericht Klaviermusik von Schubert, eine Melodie, die sich mehrfach wiederholt und sich in heiterem Glück selbst liebkost, und ich denke an ihn und Mozart: beide sterben jung, 360
verströmen aber bis zum letzten Augenblick Meisterwerke, schwingen sich höher und immer höher empor, indes das Leben von ihnen abfällt, preisen in ihrer engelhaften Gelöstheit die Welt, die sie dem Elend und der Armut ausgeliefert hat, dem Schmutz, dem Fieber, dem Totenbett. Meine Augen werden feucht, ein sicheres Zeichen von Senilität. Gloria hat mit Hilfe von FedEx und dessen alles verschlingendem Netzwerk einen Rehtöter aufgetan. Er fährt einen staubigen, mit grüner Tarnfarbe beklecksten Truck und parkt entweder auf der Zufahrt oder an der Einmündung des ungepflasterten Wegs jenseits des Briefkastens. Ich schlurfte hinunter, um ihn zu begrüßen. Er stand, einen Schritt von der Eingangstür entfernt, in der Diele auf dem kleinen roten Ghom. Er ist ungefähr in meinem Alter, ein bisschen kleiner und sehniger, hat aber das gleiche trockene schütter anliegende Grauhaar und die gleichen hornigen Flecken auf den Handrücken. Seine Hände zittern, Folge langjährigen Alkoholkonsums oder die ersten Anzeichen von Parkinson. Seine unteren Zähne sind bräunlich und schieben sich schief übereinander, und seine Stimme ist erbaulich sanft. Etwas Gottseliges ist um ihn. Er sprach von «Zeichen», Kothaufen meinend, und davon, hauchdünne blaue Fäden über Erfolg versprechende Fährten im Wald zu legen. Er schilderte mir, wie ein Reh, von einem Pfeil getroffen, sich auf der Stelle in einem Bett aus Dorngestrüpp niedertut und zulässt, dass man zu seiner Tötung herantritt, weil es das Überwältigende, Unfassbare, das ihm passiert ist, nicht mit Menschen verbindet; es hat nicht die Schaltungen, um die Verbindung herzustellen. Dieser Gottselige ist der Ansicht, dass Tiere nicht annähernd so schmerzempfindlich sind wie wir. Sie gehören einer anderen, praktisch schmerzfreien Ordnung an. Erjagt sie mit Pfeil und Bogen, weil es ein schöner Sport ist – er lebt, wie ich, im Ruhestand und könnte eigentlich zufrieden sein: frü361
her musste er zum Geldverdienen auf Masten klettern und Stromzähler ablesen, was eine Disposition zu Heimlichkeit und raschem Beobachten gefördert haben mag – und weil er und seine Frau Rehfleisch lieben. Ich hatte noch nie zuvor von einer Frau gehört, die Rehfleisch liebt, aber ich bin in mancherlei Hinsicht ja noch recht naiv, vor allem, was Frauen angeht. Die beiden zerlegen den Kadaver und heben ihn jahrelang in ihrer Gefriertruhe auf, wie Eheleute in einer Hütte im Märchen. Die Bogenschützenzeit beginnt bald, Anfang November. Er wird an günstiger Stelle einen Jagdschirm aufbauen, sich um fünf in der Frühe dahinter postieren und stundenlang so stehen bleiben, ohne sich zu rühren. Welcher Mönch in einer kalten Steinzelle könnte mehr tun, um sich zu kasteien? Er ist einer von Glorias Heiligen. Ihr Vater war ein Heiliger dessen, was sich schickt; dieser Mann – er heißt John, wie ihr Vater – ist ein Naturheiliger, der selbstlos mit den Bäumen, Büschen und Felsen verschmilzt. Seine Existenz überfrachtet mein Universum, beeinträchtigt es, und mich dazu, aber ich bin neugierig, wie es weitergeht. Apropos Männer: Red und Ken kamen mich besuchen und schauten betreten drein, weil sie mich nicht schon früher besucht hatten. Aber bis vor einer Woche etwa war die Golfsaison noch in vollem Gang gewesen, und jetzt wollten sie mir mitteilen, was herausgekommen war beim Labor-Day-Wochenend-Vierer, bei der gemischten Herbstrunde (man musste mit der Frau eines andern zusammenspielen, eine Quelle endlosen prickelnden Vergnügens), bei der Seniorenmeisterschaft (über fünfundfünfzig), bei den Plimpton-Supersenioren (über siebzig, benannt nach Ed Plimpton, dem Zweiten bei einer Amateurmeisterschaft von Massachusetts, der Mitglied des Clubs gewesen war), beim Columbus-Day-Bestentreffen und einem neuen Turnier, bei dem der Score nach dem Stableford-System notiert wird und das zu Ehren von Dale 362
MacPhail benannt ist, einem stellvertretenden Pro, den es im Krieg in einem Raketensilo auf den Aleuten erwischt hat. Ich saß mit meinen Besuchern in der Bibliothek und fühlte mich unbehaglich. Gloria hasst es, wenn ich auf das mit Seidendamast bezogene Sitzpolster meines Lieblingsohrensessels Urin kleckern lasse; sie hält mir dauernd vor, wie viel es kostet, den Bezug erneuern zu lassen. Ich bemühte mich, den angemessenen launigen Gastgeberton zu treffen, aber Ken mit seinem Silberhaar und den gesträubten Augenbrauen sah die ganze Zeit wie ein Airline-Logo aus, eine Art Menschenadler, und verfiel in stummes Stieren, genauso wie er auf dem Golfplatz über einem Putt oder einem kurzen Chip erbitternd zur Bildsäule erstarren kann. Red hatte sein Minitelefon in der Tasche; es klingelte unentwegt, und er verzog sich immer wieder in die Diele und brabbelte über einen Fang in irgendeinem entlegenen Winkel der Welt – bei den Seychellen etwa. Es fiel mir schwer, zu glauben, dass die Gesellschaft dieser Männer mich jemals in einen Glückstaumel versetzt hatte. Doch als sie gegangen waren, zog es mich durch die Küche zum Wandschrank im rückwärtigen Flur, wo ich meine Golfschläger verwahre. Das maskuline stechende Aroma schweißgetränkter Griffe und oft getragener Lederschuhe schlug mir entgegen, als ich die Tür öffnete. Viele hundert Stunden meines Lebens hatten ihren Duftfilm auf dieser Ausrüstung hinterlassen. Ich konnte das Gummi in den Bällen riechen, das harte Pressholz der Tees und das sumpfig satte nasse Gras, durch das ich gestapft war, vor allem das Gras des sechsten Fairway, wo die Wildgänse alle ihren röhrenförmigen grünen Kot deponieren und die schwarz gepanzerten Schildkröten sich auf den Felsen sonnen, zwischen denen der Ball bei einem Slice mit weichem Platschen aufkommt. Ich sehnte mich danach, wieder in dem Körper des gesunden Ogers zu sein, der diese Gerüche zurückgelassen hatte. 363
«Also wann, was denkst du?», hatte Ken mich schließlich gefragt. «Wann was?» «Wann kommst du wieder auf den Platz?» «Man kann im November noch jede Menge Golf spielen, Benny Boy», pflichtete Red ihm bei. «Sogar im Dezember, wenn’s keinen Schnee gibt», sagte Ken, und sein Adlerstarren milderte sich zu einem Teddybärglotzen bei dem kindlichen Gedanken an Schnee. «Nun mal sachte. Strengt euren Grips an», sagte ich. «Ich kann kaum laufen. Ich blubbere über von Pipi.» «Du brauchst nicht zu laufen», sagte Ken. «Wir mieten uns Wagen. Du brauchst bloß den Schläger zu schwingen. Dein Schwung ist sowieso immer zu hart gewesen. Zu hart und zu schnell. Schwing langsam, wie ich.» «Ich habe immer gesagt», sagte ich, «wenn der Tag kommt, an dem ich die Strecke nicht mehr zu Fuß gehn kann, höre ich auf.» Red schnaubte ungeduldig. «Du kannst nächstes Jahr zu Fuß gehn. Dies Jahr fährst du eben. Rapple dich endlich auf, Herrgott nochmal. Du siehst aus wie ‘ne tote Makrele.» Das Telefon schnarrte in seiner Hemdtasche. Er ging hinaus in die Diele. «¡Saludos, mi amigo muy caro!», hörten wir ihn rufen. Die Vorstellung, im nächsten Sommer Golf zu spielen, fiel mir schwer. Noch ein Jahr – all die Zahnräder im Getriebe der Jahreszeiten, die sich drehen, die schweren Himmelskörper, die an ihren Platz geschoben werden mussten. «Mit wem hast du gespielt?», fragte ich Ken. Er blinzelte und starrte geradeaus, als erwarte er, dass diese anderen Golfer ihm auf den uniformen Rücken meiner Churchill-Ausgabe erschienen. «Oh, wir haben ein paar nette Runden mit Fred gehabt, sein Schrittmacher scheint nicht mehr so laut zu sein, und zum Columbus-Day-Bestentreffen 364
hatten wir Les da, der hat wirklich einen unglaublichen Schlag, er hat einen neuen Driver, einen mit Magnesiumkopf und Glasfaserschaft, hättest du das gedacht? Und ein paar von den jüngeren Mitgliedern – Glenn Caniff und seine Kumpel, du müsstest mal sehn, wie Glenn dieser Tage die alte Pille abzischen lässt, und der kleine Mel Spiegelman, man denkt, der hat keinen einzigen Muskel im Leib, aber wow, wenn der durchzieht …» Er verstummte, vielleicht, weil er merkte, wie eifersüchtig und traurig seine Schilderung mich machte. Ich war ersetzbar, wurde bereits ersetzt, und kein Turnier würde je nach mir benannt werden. Und so stattete ich, als sie in Reds Caravan die Zufahrt hinunter entschwunden waren, meinem Golfschrank eine Gedenkvisite ab, ich nahm sogar den Putter heraus und dachte daran, auf dem großen Tabriz im Wohnzimmer ein paar Übungsschläge zu machen. Aber das war mir dann zu mühsam und zu sehr auf ein Selbst bezogen, aus dem ich mich mit einem Quantensprung hinauskatapultiert hatte in einen neuen Orbit. Wenn er in seinem grünen Truck auf der Zufahrt auftaucht – er erkundet das Terrain, fertigt im Kopf eine Karte davon an –, gehe ich meist hinaus und sage dem Rehtöter guten Tag. Er erklärt mir Dinge über die Natur, die ich nicht wusste. Eines Tages wies er mich auf die hässlichen Pilzgebilde hin, die wie monströse bräunliche Gehirne auf dem Rasen wachsen. «Das da sind Waldschwämme», sagte er. «Sie wachsen nur da, wo Eichen stehn. Schmecken ausgezeichnet, in Scheiben geschnitten und kurz angebraten oder in einer Spaghettisauce. Vorher in Salzwasser legen, damit Schmutz und Insekten rausgehn. Manchmal sitzt ein Salamander drin, aber das macht nichts. Hier.» Mit einem schwarzen Taschenmesser, wie es früher in Hammond Falls jeder Mann in der Tasche seines Overalls bei sich hatte, schnitt er einen säuberli365
chen Würfel weißen Fruchtfleisches aus der runzligen braunen Masse heraus und reichte ihn mir. Er war überraschend schwer und hatte eine angenehme gummiartige Feuchtigkeit, wie ein großer Radiergummi. «Sie sind ziemlich selten, aber hier oben kommen sie reichlich vor, so viele Eichen, wie Sie hier stehn haben. Erzählen Sie Ihrer Frau, was ich Ihnen erklärt habe, sie ist garantiert begeistert.» Liegt es an meiner impotenten Überempfindlichkeit, oder machen Männer meiner Frau tatsächlich dauernd Avancen? Bin ich schon tot? Aber Gloria war von der Idee keineswegs begeistert, sie war sogar angewidert und wollte sich die Scheiben, die ich hübsch dünn zurechtgeschnitten und gewaschen und in einer mit Klarsichtfolie abgedeckten Schüssel in den Kühlschrank gestellt hatte, nicht einmal ansehen. Für sie war dies Stück Natur, das jenseits ihres Gartenbereichs gewachsen war, eine Unverschämtheit, womöglich noch eine giftige. Ich probierte ein rohes Scheibchen – es schmeckte zuerst fad, wie etwas festerer Tofu oder wie Kokosnussfleisch, nur weniger süß und frisch, aber der Nachgeschmack hatte dann eine Schärfe, die mir im Mund zurückblieb, auch als ich mit einem Glas Orangensaft nachspülte. «John sagt, man soll sie leicht in Butter anbraten», sagte ich, aber Gloria sagte nein; sie wollte keinen Gestank in ihrer Küche. Nein zu sagen wird immer selbstverständlicher für sie. Es wird zu ihrer Spezialität. Als ich hinausgehe, stürzt mir der Himmel entgegen, durch die Eichenkronen hindurch, die den Rasen und die Zufahrt mit ihren Blättern zugedeckt haben. Im Wald und an der 128 zeigen sich die ersten vollkommen kahlen Bäume: silbrige Fächerkorallen – tot oder nur schlafend, nicht leicht, das zu entscheiden. Nackt, offenbaren sie sich in ihren flehentlichen ringenden Wuchsformen. Die Eichen drängt es zu den Seiten hin, die Hickorys in die Höhe und wieder herab. Besonders nah gehen einem die Eschen mit ihren büscheligen 366
äußersten Zweigen, die wie greifende, klammernde Finger sind, und die Birken in ihrem windgeduckten Gekrümmtsein. Das Laub war nur Verschleierung; diese farblosen verrenkten Skelette sind die Wahrheit. Die ihrem Mittagsstand sich nähernde Sonne verwandelt die See in eine weite Fläche aus unvermischtem Licht, grausam anzusehen. Zwischen den Bäumen ist die Uferlinie sichtbar. Die Vielfarbigkeit der Herbstes sinkt zu einem mürben Rostton ab, aufgesplittert in tausend trockene Facetten reflektierten Sonnenlichts. Meine Augen wandern immer wieder zu der verkohlten Narbe hin, wo Mrs. Lubbetts’ Strandhaus gewesen war, wie die Zunge eine ungewohnte Zahnlücke befühlt. Abends rücken die Lichter von Haskells Crossing zwischen den entlaubten Bäumen näher, wie die Taschenlampen einer Jagdgesellschaft. Die armen Jungen aus Lynn – hätten die Metallobioformen sie nicht zerraspelt, wären sie in diesen Tagen jetzt preisgegeben wie Asseln, wenn ein verrotteter Baumstamm weggewälzt wird. Am Halloween-Abend hat eine neue Intensität der Kälte die Sterne über uns anschwellen lassen. Kein Kind kommt an unsere Tür. Das Haus steht zu weit entfernt, die Zufahrt ist abschreckend lang. Gloria und ich sind ein bisschen niedergeschlagen und essen so viel von den bereitgelegten Süßigkeiten – Candy Corn und Reese’s Peanut Butter Cups –, dass uns beinah schlecht wird. Seite an Seite sitzen wir auf dem grünen Sofa und sehen uns im Fernsehen einen Dokumentarfilm über den alten Westen an. Fotografien von weiten steinigen Landschaften und von ausdruckslosen bronzenen Gesichtern: Indianerhäuptlinge, zur Strecke gebracht und zu entwürdigender Kapitulation gezwungen nach Massakern an Flussufern und nach heroischen Märschen durch DakotaSchneestürme zu einer Zufluchtsstätte in Kanada, wo die Sparsamkeit der fernen Königin keine Maßnahmen gegen das drohende Verhungern zulässt; sie müssen umkehren, ei367
nen bitteren Vertrag mit dem bärtigen Großen Weißen Vater in Washington schließen und ins unfruchtbare Reservat zurückgehen. Zusagen über Zusagen, die nicht gehalten werden, und zu einer Pyramide aufgeschichtete Schädel von Bisons, die man niederträchtig abgeschlachtet hat, um den Indianern den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Heutige Nachkommen dieser vertriebenen Ureinwohner werden in Farbe interviewt. Mit ethnisch korrektem langen Schwarzhaar und langsamer professoraler Sprechweise auftretend, tragen sie ihre historische Klage sachkundig, aber weniger ergreifend vor als die stummen bronzenen Gesichter, die die siegreiche Republik als Scheinentschuldigung auf ihren Münzen und Briefmarken abgebildet hat. Der Chinesisch-Amerikanische Konflikt, schoss es mir durch den Kopf, könnte als Rache gesehen werden, ein Racheakt, vollzogen von der Supermacht des asiatischen Kontinents, von dem die nordamerikanischen Ureinwohner über die Bering-Landbrücke herübergekommen waren. Übelkeit erregend mit Zuckerzeug und Schuldgefühlen angefüllt, gingen wir zu Bett. Ich folgte Gloria ins Schlafzimmer, das unseres war und zu ihrem geworden ist. Schüchtern sah ich ihr zu, wie sie methodisch die allabendlichen Riten vollzog: mit der Zahnseide hantieren, die Zähne putzen, den Mund spülen, die Gesichtscreme auftragen. Sie setzte sich die mit Gel gefüllten Schienen ein, mit denen sie ihren Zähnen das kostbare Weiß bewahrt, von dem meine Mutter einst – es durchaus ernst meinend – gesagt hatte, es lohne sich, dafür einiges aufzugeben. Diese transparenten Kunststoffschienen, so dünn und leicht sie auch sind, schieben Glorias Lippen vor und verleihen ihr einen kleinen Sprachfehler, der mich erregt, das bisschen von mir, das noch erregt werden kann. Eine verzweifelte, hilflose Liebe überkam mich, wie für ein Kind, als sie sich adrett unter die Bettdecke schob und, eine kleine, durchdringend nach Banane riechende Flasche aufschrau368
bend, sich anschickte, den Lack auf ihren Fingernägeln zu erneuern. Mit all diesen Riten – inzwischen weiß ich das – versucht sie auf ihre Art, die Zeit anzuhalten und zu besiegen, so wie ich es auf meine Art mit dem Niederschreiben dieser konfusen traurigen Notizen versuche. Vergebliche Mühe, ihre ebenso wie meine, aber nur auf lange Sicht. «Soll ich bleiben?», fragte ich. «Warum?» «Ach, weil’s gemütlich ist. Weil wir uns beide elend fühlen, wegen der Indianer.» «Das stimmt», räumte sie ein, «aber realistisch gesehn konnten wir doch gar nichts anderes tun, wir konnten sie doch nicht im gesamten Land mit Pfeil und Bogen rumlaufen lassen.» «Sie konnten schon mit dem Gewehr umgehen. Sie haben versucht, sich uns anzupassen. Sie haben Land bestellt, sind zur Kirche gegangen.» Ich redete bloß, um den Augenblick der Trennung hinauszuzögern. Sie war in die Beschäftigung mit ihren Nägeln vertieft. Sie ist ihr eigener innigster Garten, der unablässiger Pflege bedarf. Ich drängte mich in einen kostbaren Augenblick friedvoller Konzentration hinein; ihre hellen Brauen runzelten sich in unausgesprochenem Ärger. «Ich brauch’s, dass du mich in den Arm nimmst.» «Ben. Ich mache mir grad die Nägel. Deinetwegen passiert mir noch ein Fehler.» «Ich vermisse uns.» Sie wusste, was ich meinte, sah aber weder auf, noch sagte sie etwas. Der winzige Pinsel mit dem chemischen Lösungsmittel wanderte um den ovalen Nagel des Ringfingers an ihrer Linken mit dem schmalen Goldreifen. Was für einen Reim würde ein interplanetarischer Reisender sich auf unsere kleinen symbolischen Fesseln und die unsichtbar daran befestigten Ketten machen? 369
«Das Entscheidende kann ich zwar nicht», sagte ich, um Entschuldigung bittend, «aber –» «Du machst doch bloß das Bett nass und mich dazu», sagte sie. Errötend redete ich weiter: «Ich brauche es so dringend, dass du mich berührst. Der Film hat mir irgendwie Angst gemacht. Das ganze furchtbare Jahrhundert damals, all der Imperialismus, und jetzt sind alle tot – die Sieger und die Verlierer, die Cowboys und die Indianer, der Norden, der Süden, alle. Und keine kostümierten Kinder sind an die Tür gekommen. Ich habe heute mit Roberta gesprochen, Jennifer ist zusammen mit Keith losgezogen, beide als Käfer verkleidet, mit wippenden Spiralfederfühlern an den Kappen. Irene hat mir erzählt, Olympe und Etienne hätten die Idee gehabt, sich die Gesichter weiß anzumalen, das sei ihre einzige Verkleidung gewesen. Kein gutes Zeichen, oder? Noch ein paar Jahre, und sie hassen mich. Den weißen Großvater.» «Niemand hasst dich», sagte Gloria und blickte unbeirrt auf ihre Hände nieder. «Jeder weiß, du kannst nichts dafür, dass du bist, wie du bist.» Hände – wie sehr habe ich früher meine eigenen Hände geliebt. Mit zwölf oder dreizehn, in dem Alter, da Sexualität und Narzissmus beginnen. In meiner winzigen Dachkammer mit der schrägen Decke und dem Joe-Namath-Poster an der Wand auf dem Bett liegend, betrachtete ich meine Hände mit den beweglichen Fingern, drehte sie langsam in der staubgesprenkelten Luft, sah mir die fein gefurchten Innenflächen an, dann die sommersprossigen Rücken, ließ sie im Sturzflug niedersausen, fing sie ab und ließ die eine schräg aufsteigen, wie eine Weltraumrakete, die fast waagerecht in die Stratosphäre eindringt auf ihrer rüttelnden Reise zum Mond. Ich staunte über ihre Gliederung, über die Gelenkverbindungen, über ihre unwillkürliche Anmut, ihre Empfindsamkeit und Greifstärke. Meine Fingerabdrücke: auf der ganzen Welt, un370
ter all den Milliarden von Lebenden und Sterbenden, gab es sie nur dieses eine Mal. Wenn ich es wollte – wenn die gebieterische Stimme auf ihrem Thron hinten in meinem Schädel es befahl –, verwandelten meine Hände sich gehorsam in kleine Tänzer, in feuernde Pistolen oder Schmetterlinge oder Fäuste. Sie waren immer bei mir, waren mir näher als alles andere an mir, waren das Ich, das ich jederzeit ohne Spiegel sehen konnte – Emissäre, die der Herrscher in mir eines Tages aussenden würde mit dem Auftrag, die Welt zu packen und zu formen. «Du wirst nicht nass», versicherte ich. «Ich tue mir eine frische Depends um – übrigens wirklich gut durchdacht, die Dinger. Ich mache regelmäßig meine Kegel-Übungen, ich spüre schon einen Unterschied zu vorher, und irgendwann demnächst –» «Genau», sagte Gloria. «Irgendwann demnächst.» Sie hielt mir zum Kuss das Gesicht hin, glänzend von nicht absorbiertem Fett und um den Mund herum vorgewölbt wie bei einem schönen Affen mit Überbiss. Ihre Augen waren geschlossen; ein kleines erwartungsvolles Lächeln auf ihren blassen Lippen ahnte meinen Kuss, der sich auf ihren Mund senkte, wie ein Habicht niederschwebt, um sich einen Singvogel oder eine Wühlmaus zu krallen. Ihr Gesicht war ein kalter fettiger See und roch medizinisch. «Irgendwann demnächst machen wir was», versprach sie. «Es ist gut, dass du es möchtest – ein Zeichen, dass es dir besser geht. Aber jetzt geh bitte in dein Zimmer. Nimm eine Pille, wenn du meinst, dass du nicht schlafen kannst.» Ich gehorchte. Es war angenehm genug im Gästezimmer. Die Bettlaken waren sauber und kühl, und die bizarre Gestalt in der Ecke an der Decke hatte inzwischen etwas von einem Schutzengel, einem vielwinkligen Numen. Ich schlief ein beim Geratter des Elfuhrzehn-Zugs, das das ganze Haus erbeben ließ, wachte einmal kurz auf, weil ich nass war, und 371
wachte endgültig auf, als der Times-Zusteller das Rondell umkurvte. Der Morgen musste erst noch heraufdämmern, aber im Westen stand ein dicker Mond und bleichte die kahle Novembererde, machte sie so weiß wie den Knochen eines Heiligen, den Fingerknöchel oder den Schulterblattsplitter im goldsilbernen ziselierten Reliquienschrein, der an seinem Fuß blank gewetzt ist von den hungrigen Küssen der Gläubigen.
V. Die Dahlie Auf diesem Planeten gibt es nur zwei Lebensformen – mich und einen ungeheuren Pilz, der mit Ausnahme der steinigsten Stellen alles Land überzogen hat. Die bräunlichen, oberirdisch sich windenden, sich aufwerfenden Formationen sind nur ein Bruchteil seiner Masse, die aus mikroskopisch feinen Hyphen besteht, Zellfäden, die ihr Geflecht in alle Richtungen ausbreiten, sich verknoten und vernetzen zu dem Myzel, das den Thallus bildet, den undifferenzierten Körper meines immensen Teilhabers im Geschäft des Lebens. Er spricht nicht, und er bewegt sich nicht so, dass es sichtbar wäre, aber er verändert sich, charakteristisches Merkmal eines Organismus. Sein Protoplasma ist in ständigem Fluss, es zieht sich aus den älteren Hyphen zurück und strömt bis in die Enden der neueren, die Vakuolen bilden, fleischig werden und ein dunkleres, samteneres Braun annehmen. Obzwar der Pilz letztendlich aus einer einheitlichen Substanz besteht, die immer gleich und unsterblich ist, formieren seine Zellfäden sich gelegentlich doch zu kompakten Massen, die unterschiedliche Funktionen ausüben – Stromata zum Beispiel, kissenartige Myzelkörper, die Sporen tragen, Rhizoide, die den Thallus im Substrat verankern, und Septa, die mehr oder minder kunstvoll als Ventile fungieren und den Fluss enzymatisch verflüssigter Stoffe wie Stärke, Zucker, Cellulose und Lignin regulieren. Weil der Pilz nicht über Chlorophyll verfügt, ist er zu seiner Ernährung ganz auf die verrottende organische Materie im Substrat angewiesen. Woher stammt diese Materie? Ihre Ursprünge sind ein Geheimnis, jedoch eines, das mit Sicherheit von einer tiefen Vorgeschichte auf dem Planeten zeugt, einer Geschichte, so tief, dass die Vorstellungskraft versagt. Der Boden unter meinen Füßen ist ein abgründiger Brunnen an Zeit. 373
Ich gehe umher und esse von dem Pilz, zerreiße ihn mit meinen Händen. Sein weißes, hellbraunhäutiges, an manchen Stellen gesprenkeltes Fleisch ist im Allgemeinen mild, zuweilen süß, selten bitter. Wenn es bitter ist oder sauer, spucke ich es aus und spüle mir den Mund mit in der hohlen Hand geschöpftem H2O, von dem es glücklicherweise mehr als genug gibt. Dank sei Gott für klares Wasser, denke ich; aber ist ein solcher Dank nicht tautologisch, weil ich ohne Wasser nicht hier wäre und also auch gar nicht danken könnte? Leben existiert zwangsläufig unter günstigen Bedingungen, denn ungünstige, abträgliche hätten es niemals hervorgebracht. Der Pilz ist überall, aber nicht überall gleich, bei weitem nicht. In besonders nährstoffreichen Gebieten wird er gewaltig, die Zellfäden sind so dicht miteinander verflochten, dass eine ledrige, aber elastische Festigkeit entsteht und man meint, man gehe auf federndem Rasen. In anderen, kahleren, kälteren Regionen deckt der Pilz sich als dünner trockener Belag über die Felsen, an manchen Stellen nicht mehr als ein Fleck, der sich mit dem Finger wegreiben lässt. Ich lecke mir dann den Finger ab, denn der Pilz ist in diesem mageren Zustand eigentümlich schmackhaft. Es gibt Grotten, schmutzfleckig und schattig, in denen gebogene Lamellen eines süßen, saftigen Myzels einen Schlupfwinkel friedvoller Behaglichkeit schaffen, und es gibt windgefurchte Ebenen, wo seltene, aufrecht wachsende Konidiophoren, mit hellen Konidien besetzt, den Wanderer mit pikantem Fleisch belohnen. Ein so enormes und seinem Wesen nach amorphes Gewächs hebt und senkt sich an gewissen Stellen seiner weiten Oberfläche zu jeder nur denkbaren Form – zum gestielten Blumenkohl eines Baums, zu den fließenden Linien und Wölbungen einer sich zurücklehnenden Frau, zur flimmernden Flachheit des Meers. Überall ist der Pilz essbar, wie ich schon gesagt habe, obschon mir die Fingernägel abbrechen, 374
wenn ich die widerspenstigen Leckerbissen aus den Felsschrunden kratze. Die besonders köstlichen Placken, in denen sich chemische Stoffe verbergen, Lysergsäure etwa, welche ein halluzinatorisches Wohlbefinden auslösen, sind dem äußeren Erscheinungsbild nach ärgerlich schwer zu unterscheiden von Vorkommen der milden, leicht gummiartigen Alltagskost. Im Allgemeinen muss man entweder eine große Menge essen, um das Gefühl zu bekommen, man habe einen äußerst angenehmen Bissen genossen, oder aber sich des Essens ganz und gar enthalten, bis der Hunger jede aufs Geratewohl gepflückte Portion köstlich macht. Der Pilz verspricht nur dies: dass er, wie eintönig auch immer, da ist, Tag für Tag. Seine Abstammung – die organischen Vorgänger, von denen seine Rhizoide sich ernähren – ist ein Rätsel, aber kein so elementares Rätsel, darf ich wohl behaupten, wie meine eigene Existenz hier auf diesem Planeten aller Planeten. Ich frage mich oft, ob der Pilz ein Bewusstsein hat. Keines wie ich, natürlich (ich bin deutlich differenzierter entwickelt, von den Zehnägeln bis zu den Wimpern), aber doch eines, das irgendwie, auf diffuse Weise, zu ihm passt, das abgestimmt ist auf seine endlos sich wiederholende Struktur – ein diesiges Wahrnehmungsvermögen, ähnlich dem der Lichtsensoren blauäugiger Kammmuscheln, das den tastend vordringenden Enden der unermüdlichen Hyphen innewohnt. Und mag er mich eigentlich, oder ist die Tatsache, dass er mich Tag für Tag so geduldig ernährt, ein gleichgültiger Zufall, eine herzlose Wohltätigkeit, die bei seinem blinden, ganz in sich selbst vertieften Leben abfällt? Zuweilen, wenn ich zusammengerollt unter seinen weichen beigefarbenen Lamellen aus thallischem Gewebe liege, fühle ich so etwas wie einen feuchten Atemhauch, der auf Liebe hindeutet. Das ständige Schweigen scheint einen fast hörbaren Knoten herauszubilden, in dem eine drängende Güte enthalten ist, wie in einer geballten Faust. Manchmal entdecke ich in den Windungen 375
einer Aufstülpung eine verblüffend anthropomorphe Anordnung von Wülsten und Bläschen – ein anderer Mensch, im Entstehen begriffen! – und spüre, das ist ein Scherz, ein stummer Kommentar, ein ironischer Gruß von meinem allgegenwärtigen Mitbewohner. Mit Sicherheit ist sein riesiger Körper an manchen Stellen wärmer als an anderen und dünstet eine Sprache von Gerüchen aus – morsch, würzig, modrig, schwach obstartig –, die moduliert ist wie durch eine heimliche Überlegung, eine Hoffnung, Gemeinschaft herzustellen. In gewissen Augenblicken haucht er mich, wie aus einer Achselhöhle oder einer Leistengegend, mit meinem eigenen Geruch nach ranzigem männlichen Schweiß an. John kam heute Nachmittag in seinem grünen Truck, um sich für ein paar Stunden im Wald aufzupflanzen. Die Jagdsaison hat begonnen. Gloria war draußen und harkte Laub. So schwach wie ich mich fühle, muss sie es in diesem Herbst ganz allein tun, außer an den Samstagen, wenn Jeremy sich freimachen kann von seinen Computerkursen und von den Nachwirkungen heißer Studentenpartys, einschließlich – wie er grollend andeutet – eines verkaterten und vergrätzten Mädchens in seinem Bett. Gloria harkt das Laub in Haufen zusammen und schleppt es dann in so prallen Plastiksäcken weg, dass sie in ihren glattsohligen Gummistiefeln unter dem Gewicht schwankt und fast stolpert. Sie hat sich ein rotes Kopftuch umgebunden, und als John anhält, setzt sie ein perlzahniges Lächeln auf, das durch das Novembergeniesel hindurch Freude signalisiert – sogar für mich an meinem entfernten Ausguck im Gästezimmer ist das unverkennbar. Ihr Gesicht glüht von der körperlichen Anstrengung, als sie ihre Last absetzt und quer über die Zufahrt läuft, um den tapferen Rehtöter zu begrüßen. Mir kommt er, weißhaarig, gebeugt und mit zitternden Händen, zu alt vor, als dass eine so mädchenhaft überschwängliche Begrüßung sich lohnte, aber 376
dann überlege ich, dass er ja in meinem Alter ist, womöglich gar ein paar Jahre jünger. Trotz meiner postprostatischen Beschwerden ziehe ich mir Hosen, Schuhe und Hemd an und gehe langsam hinunter. Treppab, habe ich festgestellt, tut es mehr weh als treppauf. Ich trete ins Freie und inhaliere den zu Kopf steigenden Sauerstoff und das durch den Nieselschleier gefilterte Nachmittagslicht. Nur die Ziersträucher – Forsythie, Flieder – halten noch ihre Blätter fest. John hat ein schönes, gemächliches Grinsen, ungeachtet seiner schadhaften Zähne. Seine heiligmäßige Geduld verlangsamt alle seine Gesichtsbewegungen, einschließlich der Zungen- und Lippenbemühungen seiner sorgfältigen, erklärenden Art zu sprechen. Stolz zeigt er uns seine absurde Tarnausrüstung. Hinter dem Fahrersitz seines Trucks stapeln sich vielfältig gemusterte und aus verschiedenen Stoffarten bestehende Outfits. Die Flecken auf der einen Segeltuchjacke imitieren das Grün eines Nadelwalds, und eine andere ist mit den Zweigen und Farben herbstlicher Laubbäume bedruckt. Für den heutigen Tag sucht er sich eine Wasser abweisende Montur aus GoreTex heraus, deren Vorderfront ein Baumstumpf in Lebensgröße ziert. Aber bevor er sie anlegt, zeigt er uns seinen Bogen: aus grauem Metall, mit mehreren bonbonfarbenen Visieren, die über dem nach vorn hin abgeplatteten Handgriffangebracht sind, zusammen mit einem kleinen Schlauchstück, das, wenn man es strafft – er demonstriert es uns –, ein winziges rotes Licht angehen lässt, zum Zielen bei Dunkelheit. An der Sehne, die aussieht, als ob sie einen düsteren, schwermütigen Klang hätte wie eine Harfensaite aus der Hölle, ist ein unpassendes pinselartiges Fusselgebilde befestigt, wie ein ausgefranster Pfeifenreiniger. «Wozu ist das gut?», frage ich. «Wissen Sie, wie man das nennt?», fragt er zurück und gnickert. «Tarantel. Dämpft das Geräusch», erklärt er. «Wenn 377
das Reh das Vibrieren hört, drückt es sich sofort nieder, bestimmt um fünfundzwanzig Zentimeter.» Dramatisch demonstriert er mit seinem eigenen Körper die jähe Abwehrreaktion des Tiers. «Es geht durch die Lappen, wie die Jäger sagen. Duckt sich unterm Schuss weg. Das ist der Instinkt des Rehs, verstehn Sie, sowie es etwas hört, duckt es sich und ist sprungbereit.» Nach dem Leuchten zu urteilen, das Gloria im Gesicht trug, rechnete sie damit, dass ihr wundermilder Erlöser seine Lektion vervollständigte, indem er sich in die Lüfte erhob. «Sie visieren einen Kreis mit einem Durchmesser von etwa fünfzehn Zentimetern an», fuhr John fort, uns beide gleichermaßen ansprechend, obwohl Gloria einige Schritte von mir entfernt stand, mir entfremdet durch meine Krankheit. Seine halbbehandschuhten Finger und Daumen beschrieben die imaginäre Zielscheibe. «Da können Sie sich vorstellen, wie leicht Sie daneben treffen, wenn die Sehne zu hören ist.» Um der Klarheit willen beugte er die Knie und wurde zu einem Reh, das zum Sprung ansetzt. Es sah ein bisschen so aus, als führe er einen Balztanz auf. Ein Schmerzpfeil durchbohrte mich unten, an der dunklen Seite meiner abdominalen Tiefen, als ich murmelte: «Interessant.» Er zeigte uns seine Pfeile – auch sie aus Metall und maschinell hergestellt. «Gekehlt», sagte er, mit dem Zeigefinger liebevoll der Rille nachspürend. «Wegen der Stabilität. Zeitlupenaufnahmen im Film zeigen, wie ein Holzpfeil unter dem enormen Druck, der sich im Augenblick des Loslassens auf das hintere Ende auswirkt, Sie können sich das sicher vorstellen, im Flug sich mal so und mal so biegt, sechs- oder siebenmal vielleicht, und sich dann erst gerade ausrichtet.» Seine Hände machten es vor, sie bogen sich nach innen, dann nach außen. «Bis er sein Ziel erreicht, hat er einen Großteil seiner Energie verbraucht.» «Aber diese Pfeile nicht», soufflierte Gloria ihm eifrig. 378
«Nein, Ma’am», sagte er, und in diesem abstrus förmlichen «Ma’am» lag eine ironische Vertraulichkeit, «die hier fliegen genau.» Der Nieselregen ließ den Asphalt auf der Zufahrt glänzen und gab unserer Besprechung eine film-noir-hafte Intensität. Die Sonne war ein goldenes Geschmier an einem grob gemaserten grauen Himmel, auf den mit dünner Wasserfarbe blaue Streifen gewischt waren. Während ich halbherzig Anstalten machte, Gloria mit dem Laub zu helfen, ging John daran, sich anzuziehen, erst die weiten grün und braun mit Baumstumpf bedruckten Hosen, dann die Jacke und zum Schluss eine olivfarbene Strickmütze, die über der Stirn zu einem kleinen Schirm versteift war, wie das Hütchen eines Schweizer Jodlers. Man sollte denken, dass er lächerlich gewirkt hätte, ein wandelnder Baum, aber ganz im Gegenteil, er sah distinguiert aus und jünger, als er war – ein herrenhafter Schamane, der auszog, mit dem Wald zu verschmelzen. Keine Stunde verging, da brach die Dämmerung herein. Ich kehrte ins Bett zurück und muss eingenickt sein, denn ich schreckte auf, als sein Truck mit Getöse in die Dunkelheit hinausfuhr. Als Gloria mir auf einem Tablett mein Abendessen brachte, bewegte sie sich mit zerstreuter Grazie und lächelte vor sich hin. «Hat er ein Reh erwischt?», fragte ich. «Natürlich nicht, so schnell geht das nicht. Nicht gleich auf Anhieb. Aber er hat gesagt, er kommt in ein paar Tagen wieder. Er bringt dann einen Kitzfieper mit.» «Einen Kitz was?» «Einen Fieper. Ein Ding, das den Ruf nachahmt, den das Kitz ausstößt, damit die Mutter kommt.» «Mein Gott, wie grausam. Das ist der grausamste Kerl, der mir je begegnet ist, und du findest ihn großartig.» «Das finde ich nicht.» Doch das nach innen gekehrte Lächeln war nicht wegzuwischen von ihren gestrafften Wangen, 379
ihrem Mund mit den einwärts gezogenen Winkeln. «Er ist zuversichtlich. Er sagt, die Zeichen sind gut.» «Zeichen.» «Du weißt doch, Schatz. Zeichen. Hinweise. Er fühlt Dinge.» «Und ich nicht, wie?» «Doch, Ben, du auch, aber alles, was du fühlst, hat mit dir selbst zu tun. John fühlt was bei anderen.» Wo sind die Sterne? Die alten Legenden beschreiben den Himmel als ein Zelt, übersät mit Sternen, Ansammlungen von leuchtenden Punkten, die für schlichte Augen die Formen von Göttern und gottähnlichen Wesen annahmen – ein Zentaur, ein Drache, ein Bär, ein Wal. Unsere Vorfahren hüteten ihre Schafe beim Sternenschein, und Seeleute richteten sich beim Steuern ihrer zerbrechlichen Schiffe auf dem wimmelnden Meer nach Sternen, die ihnen dem Namen und ihrer zuverlässigen Position nach vertraut waren. Jetzt zeigt der Nachthimmel ein dunstiges Schiefergrau, dessen schwache Lichtpunkte verwechselt werden können mit den kleinen Gerinnseln, die im Glaskörper im Innern des Augapfels schwimmen. Wissenschaftliche Apparate, die weniger subjektiv sind als das menschliche Auge, melden, dass es dort im Dunkel immer noch ein Universum von Masse und Impuls gibt, hinter der geschlossenen Schranktür sozusagen, und auch wenn die Wissenschaft nur widerstrebend einräumt, wie trüb, wie optisch unerheblich die Sterne sind, verglichen mit dem, was über ihr Erscheinungsbild in der Vergangenheit bekannt ist, hat sie sich doch bemüht, Theorien aufzustellen, warum das so sein könnte. Eine Mutmaßung besagt, es sei zu einer allgemeinen Abschwächung von Signalen gekommen, Folge eines kosmischen Augenblicks des Stillstands. Das Universum habe nach fünfundzwanzig Milliarden Jahren Ausdehnung den Punkt 380
erreicht, da der Anfangsimpuls des Urknalls und die Gesamtmenge der Materie einander exakt die Waage hielten, und verharre für einen Augenblick, wie ein Ball auf dem Gipfelpunkt seiner Flugbahn, ein Innehalten, das sich in einer himmlischen Lichtminderung spiegele, bevor irgendwann der Umschwung in die andere Richtung einsetze. Der geblähte kraftlose Zustand unserer Sonne – sie ist von schlammigem Ziegelrot und so geschwollen, dass ihr Kreisbogen ein Drittel des Horizonts misst – scheint sich als Bestätigung für diese These anzubieten. Wir sind demnach, kosmisch gesehen, in eine träge, abnehmende Zeit eingetreten. Ein anderer Vorschlag lautet, durch eine unvorhergesehene, aber vollkommen einleuchtende Wirkung der Quantenmechanik und ihrer Unschärferelation ergebe sich Folgendes: «virtuelle» Teilchen, mitsamt ihren Antiteilchen für titanisch kleine Zeitspannen ins «Leben» gerufen, vermehren sich in den Gravitations- und elektromagnetischen Feldern, die den «leeren» Raum durchdringen – sie regen sich gegenseitig in solchen Mengen zum Entstehen an, dass der Raum zu einem semitransparenten Gel wird, welches Protonen von weit her adsorbiert. Die Bedingungen mögen auf unsere Galaxis, den näher befindlichen Teil davon, beschränkt sein. Eine dritte Lehrmeinung hält schlicht dafür, dass industrielle Verschmutzung und der durch den letzten Krieg aufgewirbelte Staub die Atmosphäre unseres Planeten eingetrübt hätten. Aber seit Kriegsende hat der Planet zehntausendmal die Sonne umkreist, eine Zeit, in der der meiste Staub sich eigentlich gelegt haben müsste, und die Industrieproduktion hat noch nicht annähernd wieder Vorkriegsniveau erreicht. Eine vierte Theorie besagt, dass die Menschen im Altertum einfach bessere Augen hatten als wir oder (eine fünfte Theorie) dass ihre astronomischen Darstellungen gröblich übertrieben waren im Interesse der Priesterschaft und ihrer imbezilen Herrschermarionetten. 381
Als wir am Spätnachmittag, bei Dunkelheit, zurückkamen von einem Besuch in den blendend hell erleuchteten Räumlichkeiten des Beverly Hospital (die Ärzte sagen, alles laufe bestens: meine Impotenz und Inkontinenz, meine Schmerzen, meine Paranoia, meine Depression, mein Gefühl von schwerer Beeinträchtigung, alles sei im Lot und gehe seinen normalen Genesungsgang), fingen wir mit unseren Scheinwerfern auf der einen Seite der Zufahrt einen als Baum verkleideten Mann ein. Es war John, der nach zweistündigem reglosen Ausharren auf seinem Posten zu seinem Truck zurückging. Gloria ließ, auf den Knopf drückend, das Fenster des Infiniti herunter und fragte mit melodiöser, munterer, liebevoller Stimme: «Wie war’s denn?» «Es war ruhig», gab er zu, ohne jede Spur von Entmutigung. «Unsere Nachbarin, Mrs. Lubbetts, hat mir am Telefon gesagt, sie hätte vier von ihnen gesehn, wie sie gerade ihre Wacholderbüsche verputzten.» «Ja, ja, sie sind da», kam seine wohltönende Antwort. «Es ist nur eine Frage der Zeit.» Was nicht, dachte ich verdrossen. Der Köcher mit vier in Reih und Glied stehenden Pfeilen auf seinem Rücken ließ ihn aussehen wie eine mit Tarnzeug drapierte Flakbatterie. Seine drahtgefassten Brillengläser schienen noch mit dem Licht von unseren Scheinwerfern gefüllt. Um ihn darauf hinzuweisen, dass es mich auch noch gab, zusammengekauert neben Gloria, verzweifelt darauf erpicht, meine Windel zu wechseln, räusperte ich mich und fragte: «Machen Ihnen eigentlich die Schnicker zu schaffen? Die größeren, die es jetzt gibt, können einen Menschen kleinkriegen, habe ich gehört.» Er richtete sich auf, und alles, was ich durch Glorias offenes Fenster von seinem Gesicht noch sehen konnte, war sein heiligmäßiges Lächeln. «Ich habe ein Spray bei mir, ein Ge382
misch aus Sand und Klebstoff. Ein Spritzer, und das verfluchte Kroppzeug bleibt weg von Ihren Füßen.» Gloria brachte vor Begeisterung über so viel Fachwissen den Autositz zum Hüpfen. Jedes Fädchen ihres schimmernden Haars, das sie sich hatte schneiden und tönen lassen, während ich im Krankenhaus meine Untersuchung erduldete, leuchtete im uns umgebenden Licht unserer Scheinwerfer. Oder sandte irgendein raffiniertes Teil in Johns Arsenal eine Sekundärstrahlung aus? «Riechen Sie das?», sagte er unvermittelt. «Was?», fragte sie, atemlos. «Ein Bock. Ganz in der Nähe.» Wir parkten mit laufendem Motor an einer Stelle nicht weit vom Sauerblattbaum, dessen abgefallenes Laub, wie ich bemerkt hatte, einen üppigen, herzhaften Modergeruch ausdünstete. Aber ich wollte nicht streiten, ich wollte nur ins Haus zurück und meine nasse Depends loswerden. «Sie meinen, hier ist ein Bock?», fragte Gloria mit einem Heben der Stimme. «Warum nicht?», fragte John in seinem langsamen Tonfall. «Das ist jetzt die Zeit dafür. Ein Kollege, mit dem ich drüben auf Plum Island auf Jagd war, hat einen Sechsender erwischt, der mit der Nase unten am Boden war, weil er Witterung von einer Ricke gehabt hat. So läuft das bei denen. Wenn der Bock eine Ricke wittert, hat in seinem Hirn kaum noch etwas anderes Platz.» «Wie aufregend!», rief Gloria. «Hat nicht aufgepasst und wurde abgeschossen», sagte John, als bedürfe seine Naturkundelektion einer abschließenden Zusammenfassung. «Ich bin durchnässt», murmelte ich Gloria von der Seite zu. «Es geht mir miserabel.» Widerstrebend steuerte sie das Auto die Zufahrt hinauf, ließ es ganz langsam rollen, als wolle sie Schritt halten mit dem Jäger, der allein hinaufging. 383
Als ich am nächsten Morgen hinunterschlurfte, um den Globe zu holen, machte ich Halt beim Sauerblattbaum und sog das Aroma in seiner näheren Umgebung ein. Es stank, war aber, wie der Geruch, mit dem dein Finger von der Erforschung der Windungen deines Bauchnabels zurückkehrt, oder wie der, den deine Socken von sich geben, wenn du sie dir am Ende eines langen Tages unter die Nase hältst, nicht wirklich unangenehm, denn was du da riechst, bist ja du. Es geschah, während ich schlief, bei Tagesanbruch, zu einer Zeit, da sanftgesichtige Wiederkäuer neugierig, behutsam, die Nase im Dunkel vorgereckt wie eine abwehrende Hand, über die bereifte Laubdecke auf dem Waldboden gehen und in der Reinheit des Morgens nicht damit rechnen, dass ein Feind wach sein könnte. Aber John hatte drei Wochen lang keine Beute heimgebracht und den Wecker gestellt, damit der ihn in aller Frühe wecke, als seine brave Frau noch in tiefem Schlummer lag. Sie wälzte sich herum, hörte, wie er polternd in seine Jagdstiefel stieg, und versank wieder in Wildbretträumen. Ich meinesteils wurde von dem gedämpften Jauchzen geweckt, mit dem John und Gloria auf der Zufahrt unten einander gratulierten. Er war mit dem grünen Truck den ungepflasterten Weg hinuntergefahren, hatte den ausgeweideten Kadaver aufgeladen und war dann zum Haus zurückgekehrt, um meiner Frau seine Trophäe zu zeigen, die obszöne Frucht ihrer beider Verschwörung. Von meinem Fenster aus sah ich den Körper des Rehs: wie ein straffer rostbrauner Sack in den Laderaum geworfen, zusammen mit dem Metallgitter des Baumhochsitzes und ein paar rohen Holzbrettern. Das Weiß der Kehle war auf den ersten Blick nicht zu unterscheiden von dem großen weißen Spiegel am Schwanzende. Mit hämmerndem Herzen nestelte ich mich aus dem verschwitzten Pyjama, kümmerte mich nicht um die durchweichte Windel, 384
deren Ammoniakgeruch mir in den Augen brannte, und zog die Cordhose und den mottenlöcherigen Pullover von gestern an. Für Socken fehlte mir die Geduld, ich streifte mir Loafers über die nackten Füße und bewegte mich schneller die Treppe hinunter, als ich es seit Monaten getan hatte, und riss im Vorbeieilen den alten Parka mit den aufgeplatzten, Daunen spuckenden Nähten vom Haken neben der Küchentür. Es war neblig draußen, und die Kälte legte sich mir wie Fußfesseln um die nackten Knöchel. Der Tag war zu jung, um schon Horizonte zu haben. Ich glaube, seit unserem Hochzeitstag habe ich Glorias Gesicht nicht mehr so leuchten sehen wie in diesem Augenblick, da sie neben dem staubigen, zerbeulten Truck mit der heruntergelassenen Heckklappe stand. Der Morgenrock aus lila Chenille war so eng um sie gewickelt, dass ich wusste, sie hatte darunter nur ein dünnes Baumwollnachthemd an. «Er hat den alten Sandweg überquert!», rief sie mir, vor Stolz beinah platzend, entgegen. «Genau an der Stelle, wo John» – es machte mich frösteln, das Zuneigungs- und Achtungssatte, das sie dieser einen kleinen Silbe zu geben verstand – «sich gleich gedacht hat, dass die Spur zu unserm Garten hin verläuft.» «Sie», sagte ich. «Es ist eine Ricke. Es war eine Ricke.» «Unmittelbar unter meinem Ansitz auf die andere Seite rüber», stimmte John ein. «Ein sauberer Treffer, Entfernung etwa sechs Meter, der kleine Neigungswinkel kam mir gerade recht.» Seinem heiligmäßigen Gesicht mit den schiefen braunen Zähnen und den verwaschenen blauen Augen gelang es nicht, den mörderischen Stolz zu verhehlen, der ihn beseelte. «Möglicherweise hat sie gewittert, dass ich die Sehne spannte», fuhr er fort. «Sie hat sich umgewandt, und ich konnte den Fünfzehn-Zentimeter-Kreis anvisieren, von dem ich gesprochen habe. Zing! Mitten in die Lunge. Sie hat’s höchstens noch hundert Meter weit geschafft, dann ist sie einge385
knickt und hat keine Luft mehr gekriegt. Sie hat mich mit diesem einen langen Blick angesehn, als ob ich ihr zu Hilfe käme, und dann hat sie den hübschen kleinen Kopf auf die Blätter gelegt. Ich habe keinen zweiten Pfeil gebraucht. Je nachdem, was für Knorpelgewebe sie durchbohren, kann es eine fürchterliche Arbeit sein, sie wieder rauszupfriemeln.» Ich sah jetzt die Wunde, ein schmutziges, verfilztes X. Das geronnene Blut verband sich farblich mit dem rötlich braunen Fell, dessen Haarspitzen in der aufgehenden Sonne silbrig schimmerten. Aus meinem Blickwinkel gesehen war der Körper des Rehs lang gestreckt wie der einer Geliebten, die neben einem im Bett liegt. «Wie haben Sie sie in den Laderaum hochgekriegt?», fragte ich. «Der alte Feuerwehrgriff, in die Hocke gehn und stemmen», prahlte er, außerstande, sein Grinsen zu unterdrücken. «Wenn Sie die Eingeweide rausgenommen haben, sind Sie schon mal eine ganze Menge Matsch und Wasser los. Aber sie wiegt immer noch gute vierzig Kilo, können Sie mir glauben. Glücklicherweise war’s nah an der Straße. Manchmal sitzt man dumm da und muss den Kadaver eine Meile oder so schleppen. Ich habe den Wagen rückwärts rangefahren und sie dann hochgestemmt. Man versucht, das Gewicht auf die Beine zu verlagern, und grunzt dabei laut heraus. Das haben wir uns bei den Japanern abgeguckt, den Powergrunzer ausstoßen.» Der Kopf der Ricke auf der heruntergelassenen Heckklappe war mir zugewandt; es war, als wollte sie mit irgendetwas gefüttert werden, ihre Lippen waren leicht zurückgezogen, ein lavendelfarbenes Stück Zunge war zu sehen. Kleine Placken verkrusteten Bluts klebten ihr um die schwarzen Nüstern, Reste des Blutschaums, den sie in ihrer letzten Minute ausgeatmet hatte. Ihre Augen waren offen, lang bewimperte, kaffeebraune Kugeln, in denen unsere Eichen und das große weiße Haus als vertikale Spiegelungen schwammen, wie win386
zige untergetauchte Rückenflossen. Der kurzhaarige fassförmige Körper, eingefallen wegen der Entnahme der Gedärme, der mehrfachen Mägen, der Leber, der Lunge und des Herzens, dampfte in der frostigen Morgenluft eine relative Wärme aus, wie die Wintersee, und ein hilfloser starker Tiergeruch stieg von ihm auf, ein Geruch nach trockenem Haar und feuchter Haut und nach den Kotklümpchen, die sich in der traurigen Todeserschlaffung aus dem sauberen Anus gelöst hatten. Von den inneren Augenwinkeln zogen sich zwei dunkle Zeichnungen herab, wie Tränenspuren. Aber das Bewusstsein, das sich in den beiden glänzenden, tabakfarben gesprenkelten Augen vorgewölbt hatte, war fort, war in einen anderen kosmischen Raum übergegangen. Sein eigenes Aroma nach geduldigem Verschmelzen mit dem Wald ausdünstend und umweht von Mundgeruch – er muss früher mal Pfeifenraucher gewesen sein, wie sonst konnte man es zu derart abgenutzten Zähnen bringen? –, trat John auf mich zu, als wollte er sich von mir gratulieren lassen. Gloria strahlte benommen vor Glück hinter seinen gefleckten Schultern. Er hatte in seinem wuchtigen Tarnanzug und der kompliziert geformten Strickmütze mit dem angedeuteten Schirm etwas Hoheitsvolles, etwas von einem Bräutigam bei einer vorchristlichen Hochzeit. Die Ricke war seine Braut. Oder gehörte sie zu mir, und er und Gloria waren das glückliche Paar an diesem Festtag? Ja, es war offenkundig, zwischen mir und der Ricke gab es eine Wahlverwandtschaft. Ihr konisches schlankes Gesicht mit der grobporigen gummiartigen Schnauze und den nicht wegwischbaren Tränenspuren starrte zu mir hin; ich konnte mich sehen, ein Splitter in Parka und Cordhose, der sich in dem runden, glanzlos werdenden Augapfel spiegelte. Bei einer Frau, die verliebt ist, kann man, eine Weile, nichts falsch machen; dann kommt man an einen Punkt, da ist nichts mehr, was man tut, richtig. Ich hatte, was Gloria angeht, die387
sen Punkt schon vor einiger Zeit erreicht und sp ürte kaum noch einen Hauch von Eifersucht, als sie – die gute Fee von der Nordküste, nichts als ein dünnes Baumwollgewand unter der königlichen Purpurrobe tragend – dem Jäger mit würdevoller Innigkeit ein ums andere Mal dankte und mit beiden Händen seine zitternden Pranken umschloss. Mich ungelenk einbeziehend, sagte John: «Wenn ich mit dem Zerlegen fertig bin, würde ich euch gern ein schönes Rehsteak verehren. Ihr sagt, von welchem Stück.» Die Klassenschranken richteten sich wieder auf. Das Angebot ließ uns beide erstarren. Erwartete er, dass wir mit dem Finger auf den Teil der noch dampfenden Leiche zeigten, der uns besonders zusagte und von dem er uns eine Scheibe abschneiden sollte? Das wäre, als verspeiste man eine große Ratte. Gemeinsam bedeckten wir unsere Ablehnung mit der Sauce nachdrücklicher höflicher Dankbarkeit, in gewissem Sinn aber war es sein Fleisch, das wir abgelehnt hatten. Als er sich seiner Jagdausrüstung und des Baumkostüms entledigt hatte, wirkte er geschrumpft, kleiner an Gestalt und an Geheimnis. Er schloss die Heckklappe und bog den Kopf des Rehs dabei so stark zurück, dass ich zusammenzuckte. Au. Eine Million Jahre lang (ungefähr) wussten wir nicht, was es mit den Sternen auf sich hat. Hauptsächlich bezeugt von den Schlaflosen, von wachenden Hirten und Seeleuten und von den Verrückten, die zu den Stammessehern wurden, tauchte das langsam sich drehende Lichtergesprenkel hoch droben jedes Mal von neuem bei Sonnenuntergang auf, ohne dass wir den Grund dafür kannten. Wir gaben den auffälligsten Lichtpunkten Namen und woben Geschichten, um sie miteinander zu verknüpfen, aber derlei Übungen unserer Phantasie halfen uns nicht weiter; verborgen blieb uns die erstaunliche Wahrheit vom ungeheuren Umfang der Sterne, von ihrer unvorstellbaren Masse, ihrer unerträglichen Hitze, ih388
rer unfasslichen Entfernung, ihrem atomaren Aufruhr, den unablässigen Explosionen und elementaren Umwandlungen: Wasserstoffkerne, die miteinander verschmolzen, sodass die jeweils aus zwei Protonen und zwei Neutronen bestehenden Heliumkerne sich bilden konnten und diese dann in den Konvulsionen einer Supernova mehrere Fusionsprozesse durchliefen und Kohlenstoff, Sauerstoff, Neon und ganz zum Schluss Eisen entstehen ließen. Die Erforschung der Natur der Sterne musste warten, bis Teleskope und Spektrographen erfunden waren, doch bis dahin stiegen viele barbarische Reiche auf und gingen wieder unter, angeführt von Herrschern, die von ihren Priestern zu irdischen Inkarnationen Gottes ausgerufen wurden. Ihre Kriegführung und die Errichtung von majestätischen, Gottmenschen angemessenen Monumenten brachten die Technik nur schleppend voran; auf die Erfindung von zweirädrigen Streitwagen folgte die von Steigbügel und Sattel, von Katapult und Rammbock, von Burggraben und Fallgitter, von Flaschenzug, Schießpulver, Dampflokomotive, Radio, Telefon und von Kohlenwasserstoff verbrennenden Motoren, die Vehikel über den Boden bewegen und sogar in die Luft befördern konnten, und so fort, bis vor hundert Jahren der Augenblick kam, da nachgewiesen wurde, dass hinter den Sternen, die ein Hirte oder ein Seemann des Nachts sieht, weit draußen in den ungeheuren Tiefen des leeren Raums, mehr Sternansammlungen sich befinden. Bei den ersten Beobachtungen sind sie verschwommen gewesen, und so hat man sie Nebel genannt, dann Weltinseln und jetzt Galaxien. Die Zahlen sind so gewaltig und rund, dass sie wie reine Phantasiegespinste erscheinen: hundert Milliarden Sterne in unserer eigenen Galaxis, einer flachgedrückten Spirale mit einem Durchmesser von hunderttausend Lichtjahren, und dahinter abermals hundert Milliarden Galaxien, alle etwa genauso groß wie unsere eigene. Solche 389
Zahlen betäuben uns, wäre es anders, würden wir ununterbrochen schreien. Vor knapp fünfzig Jahren – ein bloßes Blinzeln in der Geschichte unseres Planeten, ein unterdrücktes Gähnen in der Saga unserer Spezies – fand man heraus, dass die Galaxien alle mit titanischen Geschwindigkeiten auf uns zustürzen. Nein, nicht alle: die, die am weitesten entfernt sind, weiter als fünfundzwanzig Milliarden Jahre, bewegen sich von uns weg, wie die so genannte Rotverschiebung in ihren Spektren untrüglich anzeigt – was bedeutet, sie haben sich vor fünfundzwanzig Milliarden Jahren wegbewegt. Jetzt – aber «jetzt» ergibt unter kosmischem Aspekt keinen Sinn. Je weiter wir blicken, desto älter ist, was wir sehen. Innerhalb dieses fernen rötlichen Rings scheinbaren Zurückweichens befindet sich ein Ring des Stillstands – des Innehaltens, des Zögerns –, der ungefähr vierundzwanzig Milliarden Lichtjahre weit weg ist, und die Sterne, die in ihm sind, beginnen, blau zu gellen. Erst flüstern sie nur, aber je näher sie sind, desto ausgeprägter und konstanter ist ihr Blau, denn im Umkreis von fünf Milliarden Lichtjahren sehen wir in die vergleichsweise junge Vergangenheit. Manche dieser Sterne rasen mit einem fast an Lichtgeschwindigkeit grenzenden Tempo auf uns zu. Es ist klar, was geschieht: das Universum kollabiert. Die Rotverschiebung an der Peripherie ist nichts Neues, sie ist uralt und zeugt von einer früheren Expansion. Es werden viele wissenschaftliche Spekulationen über die Expansion angestellt. Wie ist sie zustande gekommen? Der Kollaps erscheint normal und unvermeidlich: die Gravitationskraft, die schwächste, aber unerbittlichste der Grundkräfte, zieht alles nach Hause zurück, in einen singulären Kern – einen unendlich kleinen, unendlich dichten Punkt des Nichts. Warum aber ist das Nichts, um im Bild zu bleiben, je von zu Hause aufgebrochen? Wie sind die Sterne und Galaxien, die Quasa390
re und schwarzen Löcher und Neutrinomeere da draußen an ihren Platz gekommen? Woher stammt diese ungeheure Menge funkelnden Staubs? Da draußen – da oben, da unten – in den konzentrischen Zeitringen muss es andere Seelen geben oder gegeben haben. Die faktisch unendlich große Zahl an Himmelskörpern spricht deutlich dafür, dass ich irgendwo, irgendwann, inmitten einer Galaxie von Brüdern, die mir sehr ähneln, einen identischen Zwilling hatte oder habe. Die Chancen, dass es sich so verhält, sind enorm. Aber ein Beweis ist nie eingetroffen. Was immer andere Bevölkerungen ausgesandt haben könnten – Funksignale, Raumschiffe –, die Entfernungen haben alles abgefangen. Makelloses Schweigen ist die Antwort auf das große Wer. Nicht, dass mein Zwilling weniger ratlos wäre als ich – er wäre sonst nicht mein Zwilling. Die langfristige Perspektive scheint klar. Wenn die Rot-zuBlau-Verschiebung auf einen Zeitraum vor plus/minus fünfundzwanzig Milliarden Jahren datiert werden kann, wird der Kollaps etwa genauso lange andauern, bis sich lokale Auswirkungen wahrnehmen lassen. Die Temperatur der kosmischen Hintergrundstrahlung wird in schätzungsweise zehn Milliarden Jahren von 2 K auf 3 K ansteigen. Von da an wird das Universum im Verlauf von dreieinhalb Milliarden Jahren auf die Hälfte seiner Größe schrumpfen, und dieser Prozess wird sich immer schneller vollziehen. Nach weiteren zehn Milliarden Jahren hat die Hintergrundstrahlung eine Temperatur von 300 K erreicht. Das ist immer noch kalt, zu kalt selbst für die robustesten Lebensformen, aber für unseren Planeten wird es immer schwerer, Wärme abzugeben. Unsere Gletscher schmelzen und unsere Meere verdampfen. Bloße vierzig Millionen Jahre später hat die Hintergrundstrahlung die Temperatur, die zur Hervorbringung und Erhaltung von Leben erforderlich ist, aber die Sonne hat sich inzwischen zu einem roten Riesen ausgedehnt und von unserem verdorrten 391
Planeten vermutlich nicht viel übrig gelassen. Die Hintergrundstrahlung, die Weltraumtemperatur, ist auf 300 °C gestiegen und steigt weiter, und das Universum wird immer kleiner, verringert sich nach jeweils wenigen Jahrmillionen um die Hälfte. Die Galaxien sind miteinander verschmolzen, aber zu Sternenkollisionen kommt es nur selten, es gibt noch genügend leeren Raum. Der Nachthimmel beginnt, in dunklem Rot zu glühen. Nach und nach wird er gelb, dann weiß. Das Universum wird zu einem Ofen, einem engen Verlies mit weiß glühenden Wänden. Alle Planeten werden ihrer Atmosphäre beraubt, und alle Lebensformen, wie einfallsreich sie sich in ihren Schlupfwinkeln und lichtlosen Tiefen herausgebildet haben mögen, werden gnadenlos zu Asche verbrannt. Die Sterne sind nicht mehr imstande, ihre Wärme abzustrahlen, und müssen explodieren; der Raum wird zu heißem Plasma aus sich verdichtendem Gas. Das Tempo beschleunigt sich, die Veränderungen vollziehen sich jetzt in Zeiträumen von hunderttausend, tausend und hundert Jahren, schließlich in Tagen, Minuten, Sekunden, Sekundenbruchteilen. Die Temperatur steigt auf Milliarden Grad an, und die Atomkerne zerfallen. Die Materie wird so stark komprimiert, dass es keine Protonen und Neutronen mehr gibt; ein Fingerhut voll der dicken Suppe aus ungebundenen Quarks wiegt Billionen Tonnen. Schwarze Löcher, diese Höllen absoluter Dichte, verschmelzen miteinander. Nicht nur die Materie, auch Raum und Zeit werden so zusammengepresst, dass sie aufhören zu existieren, und ich und mein Seelenverwandter, mein Zwilling im sich ausdehnenden Staub vergangener Äonen, werden ein und derselbe sein oder, genauer gesagt, nichts und niemand. Aber kann Zeit enden? Raum kann, zusammen mit der Materie, die ihn bestimmt, vernichtet werden, aber kann Zeit sich aus der Grammatik der Consecutio temporum davonmachen? Es war impliziert eine Gegenwart, die noch ist. Kann 392
die Tatsächlichkeit von etwas, das einmal existiert hat – noch dazu ein ganzes Universum mit all seinen 1087 Teilchen, seinem Gewicht von 1050 Tonnen –, je ausgelöscht werden? Zeit, mit dem Stempel des Seins geprägt, muss fortdauern wie ein Blatt Papier, das, wenngleich unbeschrieben, in seinen Fasern ein Wasserzeichen trägt. Die Priester, die mit ihren konischen Kopfbedeckungen Konfigurationen mit Sonnen und Monden bildeten und immer noch ihr absurdes Geschäft auf diesem verlorenen Planeten betreiben, selbst jetzt, im Zeitalter wissenschaftlicher Aufklärung, haben in ihrer archaischen Sprache einen Spruch: Unser Geist wittert Gott in jedem Dickicht aus, und doch lebt er fort im Innern. Er wird getötet und getötet, und doch lebt er. Mein eigener Geist verzagt. Es dauert noch zehn und aberzehn Milliarden Jahre, bis die Blauverschiebung den interstellaren Raum auch nur um ein Grad erwärmt. Ich bin sicher in meinem Nest örtlicher Konditionen, auf meinem Hügel in Sichtweite des noch unverdampften Ozeans. Dennoch ist mir beklommen zumute. So weit mein Auge reicht, ist die Vegetation grau und blattlos. Das Meer hat keine Farbe; seine gleichförmige, kaum gekräuselte Oberfläche erscheint wie das getreue Ebenbild der Entropie. Das Firmament hängt schwer, ein Netzgewebe aus matt strahlendem Mörtel zwischen riesigen Wolken, die so formlos und reglos sind wie Pflastersteine. Seuchen befallen das grindige Land, setzen sich fort durch Mikroorganismen, die sich nur auf Zerst örung verstehen; und seit alle Illusionen von gloire und Zivilisation stiftenden Missionen erloschen sind, fuhren auch die Völker einen Existenzkampf wie Tiere in einem Käfig, in dem es bloß für die Hälfte von ihnen zu essen gibt. Nur sehr kurzfristig ist das Hinsehen zu ertragen. Zwischen hier oben und dem Strand ist der Wald ein kompaktes blattloses Braun, eine Art Riesenmoos. Der Morgen 393
dringt unter seine Oberfläche und erzeugt ein tausendfaches gegabeltes Glitzern beschienener nackter Zweige, ein elektrisches Knistern weißen Sonnenlichts. Das Flachdach von Mrs. Lubbetts’ Haus ist ein Misston in meinem Ausblick, das einzige Zeichen, dass noch andere Menschen hier wohnen. Gestern oder vorgestern – sie fließen wirklich ineinander, die Tage – war die Luft zum ersten Mal seit dem letzten Winter um so vieles kälter als die See, dass das Wasser dampfte: Nebelwölkchen, in Streifen und verschwommenen Zickzackformen, hafteten an der Meeresoberfläche, bis die Sonne mit ihrer Wärme sie aufsog. An solch sonnigen trockenen Tagen scharren und schrapen dürre Blätter fast ohrenbetäubend über den schwarzen Asphalt der Zufahrt. Es gibt noch Laub auf der Welt. Als Gloria mich, «um mich aus meinem Schneckenhaus herauszuholen», zu ein paar Besorgungen mitnahm (hauptsächlich wollte sie sich einen Überblick über die Konkurrenz auf dem Geschenkartikelsektor verschaffen) und mit mir zur so genannten North Shore Shopping Plaza fuhr – ein schäbiges Konsuminferno, das ich einst mit Deirdre besucht hatte, sie wie meine junge Pflegerin aussehend, ich wie jeder andere Rentner, der von der zerrütteten Wirtschaft schmarotzt –, ist mir aufgefallen, dass unter den überwiegend kahlen Bäumen an der Route 128 die Weiden sich in ihren Kronen noch ein Limonadengelb bewahrt haben; das Laub weiter unten, im Schatten, hat sich gelöst, aber die Blätter ganz oben ziehen noch Lebenskraft aus dem immer schräger einfallenden Sonnenlicht. Auch habe ich gesehen, dass einige mir unbekannte Bäume am Highway (eine spezielle Eichenart, glaube ich) sich fast weiß verfärbt haben und trotzdem nicht die Blätter abwerfen, ähnlich wie Bäume, die jäh vom Blitz getötet worden sind. Eine eigenartige Sinnestäuschung: als ich, allmählich wieder kräftiger ausschreitend, hinunterging, um den Globe zu 394
holen, nahm ich mir beim Einbiegen in die erste Kurve vor, den großen Ast aufzuheben, den ich vom Hickorybaum hatte fallen sehen. Aber es war kein Ast da, und ich erinnerte mich dann, dass ich ihn am Morgen, kurz vorm Aufwachen, in einem Traum hatte niederstürzen sehen. Im Traum schaute ich aus dem Fenster, an dem ich so oft sitze und schreibe, und sah, wie der Ast, der höchst auffällig herunterhing, langsam abbrach und fiel. Der Anblick stimmte mich froh, denn der Ast hatte mir seit langem zu schaffen gemacht, und ich hatte jetzt eine freiere Sicht auf das Meer und Misery Island und auf Baker’s Island mit seinem Leuchtturm und den Sommerhäusern der Methodisten. Der Traum war so lebendig gewesen und auf so unaufwendige Weise plausibel, dass ich mich in der «wirklichen», von drei Dimensionen und GreenwichZeit bestimmten Welt nach ihm richten wollte. Im Lauf des Tages, der so kalt begonnen hatte, wurde das Meer vollkommen seidig, von der Küste bis zum Horizont das gleiche zart gekräuselte Blau, als erstrecke es sich in zwei Dimensionen. Es war von feinen, diagonal verlaufenden Fäden durchzogen – «Flotten», sagen die Textilhersteller –, ähnlich wie Gabardine. Die blaue Linie der Südküste schwebte über einem dünnen Streifen Luft, der vom gleichen mürben Gelbbraun war wie der Himmel. Auf dem Rückweg zum Haus hinauf, verärgert darüber, dass Flieder und Forsythie noch immer grün waren, berührte ich einen Forsythienzweig, und mehrere der schmalen, zugespitzten Blätter flatterten zu Boden. Man brauchte sie nur zu streifen, und sie trudelten nieder und gesellten sich zum bunteren Laub des Sauerblattbaums, das schon einen dichten Mulchteppich, zusammengesetzt wie Spanholz, aus Scharlachrot und Gold bildete. Angewidert zog ich die Hand zurück. Es lag mir fern, die Rolle der Natur zu übernehmen, mir ihre letalen zyklischen Rechte anzumaßen. Die Kegel-Übungen wirken. Ich stehe über der Toiletten395
Schüssel und denke an all die ovalen Toilettenschüsseln, in die ich geblickt habe, seit man mich als Kleinkind gelehrt hat, zum Pipimachen die Toilette zu benutzen, damals in dem engen ländlichen Haus, das unter dem Verkehr auf der ins schornsteinreiche Backsteinherz von Hammond Falls hinabführenden Straße erbebte. Ich stelle mir vor, dass ich wieder ein Kind bin, und versuche, meinen verwirrten, verwundeten Körper daran zu erinnern, wie der Blasenschließmuskel zu erschlaffen habe, damit ein goldener Bogen entsteht. In meinem Apparat ist ein Gespenst, das die Ventile kontrolliert. Mir scheint, es gelingt mir immer besser, es zu orten. Ein Sieg des Geistes über die Materie: ich empfinde es als Triumph, wenigstens diesen Teil meines animalischen Selbst zurückzugewinnen. Aber ich kann nur Gloria gegenüber damit prahlen, und das auch nicht zu oft; in ihrem Gesicht zeigt sich Ungeduld mit meinem Körper. In einem Monat ist Weihnachten, sie verbringt jetzt mehr Zeit in ihrer Boutique und überlässt mich mir selbst und meinen vorsichtigen Streifzügen durchs Haus. Eines Tages machte ich mich auf die Suche nach der Dahlie. Die hässlichen weißen Knollen, bedeckt mit schwarzer Erde, die langsam trocknete und von der runzligen Haut wegkrümelte, lagen eine Woche lang auf einem in der Waschküche ausgebreiteten grünen Müllbeutel und verschwanden dann. Ich wusste, sie wollte sie, zwischen Styroporkügelchen verpackt, in einen Pappkarton von fünfundzwanzig Zentimeter Höhe, Breite und Tiefe tun, den sie aus dem Laden mitgebracht hatte, und sie entweder im kühlen Keller oder im trockenen Dachgeschoss verwahren, aber ich wusste nicht, wofür sie sich entschieden hatte. Ich wagte den Gang in den düsteren, dumpfigen Keller, den die Spinnen während meiner Abwesenheit ungehemmt mit ihren Netzen voll gehängt haben, und durchsuchte alle Schränke im zweiten Stock, konnte den Pappkubus aber nirgendwo finden. Ich wollte 396
ihn nur ein paar Sekunden lang ansehen, auch wenn er fest mit Klebeband verschlossen war, und sein Gewicht in meine Hände nehmen. Ich stellte mir vor, dass er leichter sein würde, als ich vermutete. Er würde ägyptisch sein nur in seiner strengen Form und seinem versiegelten Versprechen. Ich könnte sie fragen, wo sie ihn verstaut hat, fürchte aber, dass sie das als Zudringlichkeit empfände. Seit ich ihr nicht mehr im Fleisch nahe kommen kann, ist ihr jede andere Form des Zunahekommens widerwärtig geworden. Sie ist sich dessen nicht bewusst, aber ihr Gesicht und ihre Stimme verraten es und die ungehaltene Raschheit, mit der sie sich um mich herum bewegt. Die Dahlie ist der unverhoffte Triumph ihres Sommers gewesen. Sie liebt sie; sie gehört ihr; jeder Versuch meinerseits, Trost daraus zu schöpfen, wäre ein Affront. Vielleicht fürchtet sie, dass ich den Karton öffne, bevor die Zeit reif ist, bevor der Frühling kommt. Nach und nach dämmert mir, dass sie mich für ein grobes Vieh hält, plump, triebhaft, unberechenbar, mit einem Hang, alles, was verschlossen ist, aufzureißen und alles Zerbrechliche kaputtzumachen. Noch eine Sinnestäuschung: als ich hinunterging, um den Globe zu holen, hörte ich deutlich das Gurgeln eines Gebirgsbaches, der sich glucksend durch eine enge Felsschlucht schlängelte. Mein kleiner Hügel ist aber kein Gebirge, und der Novembermorgen war zwar neblig, doch geregnet hatte es seit Tagen nicht. Trotzdem, das Geräusch war unüberhörbar da, es stieg aus dem sumpfigen Tal zwischen der Zufahrt und dem Strand auf und war doch ganz nah an meinem Ohr – ein riesiger unsichtbarer murmelnder Engel. Es musste eine rationale Erklärung geben, und sie ging mir häppchenweise auf, wie eine codierte Nachricht, die sich in der Luft von selbst entschlüsselt. Dunkle Vögel, sah ich, flatterten von Ast zu Ast im schleierigen Geflecht der Bäume auf dem Hang zum Meer hin. Mir wurde klar, dass sich eine große Schar gen Süden ziehender Stärlinge vorübergehend 397
in meinem Wald niedergelassen hatte und dass die vielstimmigen Zwitscherlaute der Vögel, die fröhlich klingenden Signale, die sie einander zuriefen, verblüffend genau das Gurgeln eines Bachs nachgeahmt hatten, selbst das Blecherne und Pulsierende, das manchmal im Geplätscher aufscheint. Als würden sie von meinem Schlussfolgern und Erkennen aus ihrer Tarnung gescheucht, stiegen Hunderte von Vögeln mit leisem Flügelgebraus auf und ließen sich, immer noch zwitschernd, in der ausladenden Buche auf der Grenze zwischen unserem Grundstück und dem der Kellys nieder. Dicht wie Laubwerk verdunkelten die Stärlinge das kahle Geäst, sodass das Tageslicht nur hier und da in unruhigem Flirren auf die Zweige fiel. Die kleinen schwarzweißen Vögel, die den ganzen Winter bei uns bleiben, wovon leben sie? Pummelig, klaglos hüpfen sie im Gebüsch neben der Zufahrt umher, doch nie sieht man, dass sie sich eine Beere vom Streifenahorn holen oder ein Samenkorn unterm Euonymus aufpicken. Der Flieder hat jäh seine Blätter abgeworfen; aber die Knospen fürs nächste Jahr sind alle schon da. Wenn ich sie zusammendrücke, geben sie nach, wie lebendige Materie es wohl immer tut. Von unten klingen Stimmen herauf. Morgen ist Feiertag, und Glorias Kinder sind gekommen. Ich müsste zu ihnen hinuntergehen und mich von ihnen mit «Pop» anreden lassen. Weil sie Weihnachten mit ihrem richtigen Vater in Mexiko verbringen wollen, feiern sie morgen mit uns Thanksgiving. Scheidung und Wiederverheiratung verlangen den Kindern mathematisch penible Unparteilichkeit und Fairness ab. Eine der Stimmen ist neu – das Quäken und allseits beachtete Schreien eines Säuglings. Roger und Marcia haben in diesem Jahr, das bald zu Ende geht, einen männlichen Spross hervorgebracht und ihn Adam genannt. Er ist ziegelrot. Marcia redet in einem fort mit ihrer Babystimme auf ihn ein, 398
während der Winzling, drei Monate alt, vor Staunen über die Welt noch ganz betäubt, mit schweifendem Blick all dem entgegenstarrt, was auf diesem Planeten zu haben ist – Licht, Milch, Stimmen, Gefahr, Liebe. Beatrice wird ihr Kind, mein elftes Enkelkind, im Januar 2021 zur Welt bringen. Gloria hat sich aufregend die Rolle der Großmutter zu Eigen gemacht; sie hat eine zusätzliche Dimension gewonnen, eine, die mich, so impotent ich bin, zu perversen Phantasien anstachelt. Mein mentaler Lustapparat, der sich hauptsächlich auf Bilder aus der Populärkultur stützt, bleibt ärgerlich intakt. Gloria als Großmutter ist wie eine Schauspielerin in einem Blue Movie, die uns, bevor wir sie in ihrer vorherbestimmten Nacktheit zu sehen bekommen, im Gewand einer Nonne entgegentritt oder als kleines Mädchen mit Rouge auf den Wangen und an einem Lolli lutschend. Sie sagt, die Wetteransager stellten für morgen Schnee in Aussicht. Letztes Jahr um diese Zeit versanken wir fast darin, aber bei dem unschlüssigen Himmel heute ist es viel zu warm. Sie kann die Rosen erst anhäufeln, wenn der Boden friert; sonst nisten sich Mäuse in der lockeren Erde unterm Mulch ein und zernagen die Wurzeln. Es ist so warm, dass irrtümlich ein Schwarm kleiner blasser Falter geschlüpft ist. Im frühen Dunkel taumeln und flattern sie ein, zwei Fuß hoch über dem Asphalt, wie gefangen in einem schmalen Raumzeit-Keil unter dem tödlichen Herannahen des Winters.