Henning Klüver
Gebrauchsanweisung für Italien
s&c by ut
Hinterm Brenner liegt das Paradies. Wir alle fahren nach Süde...
297 downloads
2808 Views
849KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Henning Klüver
Gebrauchsanweisung für Italien
s&c by ut
Hinterm Brenner liegt das Paradies. Wir alle fahren nach Süden. Über den Brenner, wo die Sonne wärmer strahlt und der Espresso schmeckt, wie er schmecken sollte. Wir machen unsere italienische Reise, trinken Grappa und Chianti, sehen uns das Colosseum an. Warum ist das so? Henning Klüver kennt die Antwort auf die Frage nach dem Reiz und der Eigenart Italiens. ISBN 3-492-27502-8 © Piper Verlag GmbH, München 2002
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhalt Reisevorbereitungen. Eine Einführung ..................................... 3 Maccheronibäume und Essenslust. Geographische Streifzüge auf der Suche nach der typischen italienischen Küche ............................................................... 11
Mamma Mia. Die Familie zwischen Tradition und Moderne ......................... 36
Piazza Grande e la Città. Lebensstile und Stadtentwicklungen ....................................... 53
Das Land, wo die Zitronen blühen. Landschaftsbilder und Naturgewalten ..................................... 69
Alltag und Träume. Die Bar, das Stadion und die Lust am Reisen .......................... 94
Haudegen und heiße Diskussionen. Streifzüge durch Politik und Geschichte ............................... 110
Von Heiligen, Vögeln und Fischen. Kirche, Glaube und Aberglaube in Italien ............................. 127
Homo Zappens. Öffentliche Stars und private Helden in den Medien .............. 142
O sole mio. Von warmen Farben, schönen Künsten und gutbesuchten Museen.................................................... 160
Literatur (gleichsam eine Liste der Danksagungen) ............. 178
Reisevorbereitungen Eine Einführung
Jedesmal, wenn Paolo Conte »Gelato al limon« singt, wird mir warm ums Herz. Und das nicht wegen des lyrisch-traurigen Textes, den ich jahrelang gar nicht richtig verstanden hatte. Sondern, weil ich immer an dieses frische, lockere, zitronenduftende Speiseeis aus Sizilien denken mußte. Und Eis, wie jeder Kenner weiß, wärmt. Jedenfalls innerlich. Wärmt die Seele. Jetzt könnte jemand einwenden: Die Zitronen, die kommen vielleicht aus Sizilien, aber das Eis, das frische, lockere zutatenduftende, das wurde im Cadore in den venetischen Dolomiten erfunden. Nicht Sizilien? - Nein, Veneto! - Doch, Palermo! - Nein, Cadore! - Palmen und Meer! - Nein, Fichten und Seen! - Süden! - Norden! So sind die italienischen Verhältnisse. Das Land, wo die Zitronen blühen, das kennt man. Über Italien wissen die meisten Deutschen genausogut Bescheid wie über die Aufstellung ihrer Nationalmannschaft. Hier kann jeder mitreden, selbst die, die noch gar nicht da waren. Schließlich ist Italien von Benetton bis zur Pizzeria längst zu uns gekommen. Und was Italien als beliebtes Urlaubsziel angeht, gehört es im Grunde zu Deutschland. Die Italiener sind so sympathisch, weil wir uns ihnen - und sei es auch nur ganz im stillen - ein bißchen überlegen fühlen können. Die Tüchtigen und Pünktlichen, die es am Ende richten müssen, das sind wir. Und doch beneiden wir sie wegen ihrer Kreativität, wegen ihrer Fähigkeit, das Leben -3-
leicht zu nehmen, wegen ihrer Kunstschätze, den vielen Stränden und natürlich wegen der Sonne. O sole mio. Urteile, Vorurteile Den kennen Sie wahrscheinlich: Was ist das Paradies? Das ist ein englischer Polizist, ein französischer Koch, ein deutscher Techniker, ein italienischer Liebhaber, und alles wird von den Schweizern organisiert. In der Hölle dagegen gibt es einen englischen Koch, einen französischen Techniker, einen deutschen Polizisten, einen Schweizer Liebhaber, und alles wird von den Italienern organisiert. Oder wie Winston Churchill gesagt haben soll: »Die Italiener verlieren ihre Fußballspiele, als ob es Kriege wären, und verlieren ihre Kriege, als ob es Fußballspiele wären.« Sind sie so? Über die Beziehungen zwischen Deutschland und Italien gibt es ein bitteres Wort, das jedem, dem beide Kulturen am Herzen liegen, einen Stich versetzt: »Die Deutschen lieben Italien, aber achten die Italiener nicht, die Italiener bewundern Deutschland, aber lieben die Deutschen nicht.« Eine weitere Weisheit besagt: »Die Deutschen leben, um zu arbeiten, die Italiener hingegen arbeiten, um zu leben.« Aber es gibt auch andere Ansätze, wie den des Satirikers Robert Gernhardt: »Italiener sein, verflucht! Ich habe es oft und oft versucht - es geht nicht!« In ihrem letzten Text, den man nach ihrem Tod fand, schrieb die große italienische Journalistin Franca Magnani über die anscheinend unausrottbaren Vorurteile: »Die Klischees, diese von uns so sehr bekämpften und verpönten, haben sich weitgehend bestätigt.« -4-
Die Klischees kommen von weither, in der ersten Auflage des Meyer-Lexikons von 1846 konnte man gar nachlesen: »Der Deutsche und der Italiener divergieren in ihrem Charakter so sehr, daß beide gleichsam die Pole der westeuropäischen Menschheit bilden.« Vorurteile enthalten immer ein Körnchen Wahrheit, aber sagen sie nicht meist mehr über den aus, der sie verbreitet? Die Deutschen kennen wir. Das sind wir schließlich selbst. Wer und wie aber sind die Italiener? Ein Italiener, so hört man, ist vor allem ein Piemonteser oder ein Sizilianer, ein Neapolitaner oder ein Römer. Noch heute steht der regionale, sogar der lokale Bezug vor dem nationalen. Italien ist historisch gesehen »ein Land mit hundert Städten und tausend Türmen«. Als zwischen 1860 und 1870 im Risorgimento, in der nationalen Einheitsbewegung, ein italienischer Einheitsstaat entstand, sagte der erste Ministerpräsident Italiens: »Wir haben Italien geschaffen, jetzt geht es darum, die Italiener zu schaffen.« Das scheint bis heute nicht gelungen zu sein - trotz des römischen Zentralismus (der gerade durch eine Welle der Regionalisierung in Frage gestellt wird), der AzzurriBegeisterung für die Fußballnationalmannschaft und dem Berlusconiwahlverein Forza Italia. Nach wie vor sind die Neapolitaner lebhaft, skeptisch und meist guter Laune, die Sizilianer verschlossen und pessimistisch, die Lombarden geschäftstüchtig, die Piemontesen fleißig, die Ligurier sparsam, die Toskaner gewitzt, die Römer herzlich, aber plump - warum sollten sie »italienisch« werden? Italienisch an Italienern, so habe ich gelernt, ist das Bedürfnis, bella figura zu machen. Nun wollen auch wir Nichtitaliener bella figura, also einen guten Eindruck machen. Aber bei den Italienern geht das tiefer. Ich habe vor -5-
Jahrzehnten, als ich zum ersten Mal nach Italien kam, nicht verstanden, warum mich mehrfach Leute, die ich nach dem Weg gefragt hatte, in eine falsche Richtung schickten. Bis mir jemand erklärte: Bevor ein Italiener zugeben würde, daß er den Weg nicht kennt, schickt er den Suchenden in die Richtung, von der er hofft, daß sie stimmt. Lieber irren, als etwas gar nicht wissen, denn das sei brutta figura, das mache einen schlechten Eindruck. Ein Turiner Bekannter erzählte mir, wie er an einem Sonntag morgen eine auto- und menschenleere Straße bei roter Ampel überquerte. Aus den Augenwinkeln sah er noch einen vigile, einen städtischen Polizisten, vorbeigehen, der ihn prompt herbeizitierte. Mein Bekannter verteidigte sich: eine menschenleere Straße, da gäbe es doch keinen Grund zu warten. Der vigile sagte, die Straße sei nicht das Problem, die Ampel auch nicht, aber ob er ihn, den vigile, nicht gesehen habe? Welche figura würde er als Ordnungshüter abgeben, wenn man in seiner Gegenwart die Ordnung nicht ernst nehme? Man sollte also allen Italienern, den Ordnungshütern voran, immer die Gelegenheit geben, bella figura zu machen. Sie werden es Ihnen herzlich danken. Jeder Italiener kultiviert stets seine individuelle Note, besonders, wenn er sich in der Masse bewegt. Wer je an einem Sonntag abend im Stau auf der Autobahn vor dem casello, der Mautstelle, steht, kann es in den erstaunten Augenpaaren in den Nachbarautos lesen: Warum sind all die anderen eigentlich hier? Diese individualistische Grundhaltung hat übrigens auch dazu geführt, daß in Italien die Kommunistische Partei von Anfang an die freiheitlichste unter ihren europäischen Schwesterparteien war. Was beweist, daß in Italien Alltag und Politik aufs Spannendste verbunden sind. Aber auch in der Politik würde jeder Italiener am liebsten eine eigene Partei bilden, die seine ganz persönlichen Interessen vertritt. Es trifft ihn hart: Wie an der Mautstelle muß man als Individualist eben -6-
Kompromisse schließen und sich irgendwo einreihen (nachdem man aber schnell noch mal jemanden überholt hat). Vielleicht sind deshalb der Kompromiß und die Suche nach dem Konsens trotz gleichsam angeborener Debattierlust »typisch« italienische Eigenschaften. Typisch italienisch? Wie sich einige Bayern eher den Trientinern oder Lombarden verbunden fühlen als den Einwohnern von Mecklenburg-Vorpommern, so fühlen sich viele Piemontesen eher den Franzosen verwandt als den Kalabresen oder Sarden. München liegt näher an Bologna als an Berlin, und Mailand liegt näher an Zürich als an Rom. Doch es gibt Sprachbarrieren, die heute in Europa bedeutender geworden sind als die Grenzbäume. Und es gibt historische Erfahrungen: Noch immer fallen Italienern aller Altersstufen Begriffe ein wie »Hitler«, »NS-Regime« und die »Besetzung Italiens durch die Wehrmacht« (1943-45), wenn sie nach ihrem Verhältnis zu Deutschland gefragt werden. Die Deutschen, das sind die »Panzer«, im Fußball, in der Wirtschaft und im besserwisserischen Auftreten. Ein paar Fakten In Italien leben rund 58 Millionen Menschen. Wenn die gegenwärtige Geburtenrate, die niedrigste der ganzen Welt, konstant bleibt, werden es im Jahr 2050 nur noch 46 Millionen sein. Zur Zeit leben im Land offiziell (mit einer Aufenthaltserlaubnis) 2,2 Millionen Ausländer. Wie viele es inoffiziell sind, weiß man nicht. Die Arbeitslosenquote beträgt (Anfang 2002) 11,8 Prozent (6,1 im Norden und 21,9 im Süden). Pro Woche wird durchschnittlich 35 Stunden gearbeitet - in Deutschland 30, Frankreich 32 und Großbritannien 36. Es gibt drei Millionenstädte: Rom, die -7-
Hauptstadt, hat 2,8 Millionen, Mailand 1,4 Millionen und Neapel 1 Million Einwohner. Die etwa 30 Millionen Hektar große Landesfläche (kleiner als Deutschland und auch als Polen) setzt sich zu drei etwa gleich großen Teilen aus Berglandschaft, Hügeln und Ebene zusammen. Die Luftlinie zwischen nördlichstem und südlichstem Punkt mißt 1177 km (in Deutschland 832 km), die Autobahnstrecke zwischen Brenner und Reggio Calabria ist 1450 km lang. Die Halbinsel ist relativ schmal (Breite bis zu 244 km) und wird von ihren Küsten mit 8600 km Meeresgrenzen geprägt. Dazu zählen auch die Strande, an denen wir so gerne in der Sonne liegen und faulenzen. Oder abgelegene Ufer, an denen Flüchtlinge aus ärmeren Weltgegenden im Schutz der Dunkelheit Zugang zum reichen Europa suchen. Geopolitisch ist das Land in 20 Regionen und 104 Provinzen aufgeteilt. Die im Norden haben einen höheren Lebensstandard (über dem EU-Durchschnitt) als die im Süden (unter dem EUDurchschnitt). Der Nord-Süd-Gegensatz, der die Geschichte und Entwicklung des Landes seit dem Risorgimento geprägt hat (und selbst eine Region wie die Toskana teilt), ist nicht leicht zu fassen. Denn der nördliche Landesteil ist bereits keine homogene Gemeinschaft. Landeskundler und Soziologen trennen etwa zwischen dem Nordwesten (Piemont / Ligurien) und dem Nordosten (Venetien und Friaul), die ganz unterschiedliche Traditionen haben. Auch Piemont und die Lombardei sind sich nicht grün. Nie werde ich so oft gefragt, ob man denn in dem schrecklichen Mailand überhaupt leben könne, wie in Turin. Und Giorgio Bocca, der große alte Publizist, der in Cuneo (Piemont) geboren wurde, aber in Mailand (Lombardei) lebt, erzählt immer gern die Geschichte vorn Zeitungsstreik. Wenn früher in Turin und Umgebung die Mitarbeiter der »Stampa« oder anderer Lokalblätter streikten, verließen die Piemontesen den Kiosk ohne Zeitung, ihnen wäre niemals eingefallen, Mailänder Blätter wie den »Corriere della -8-
Sera« oder den »Giorno« zu kaufen. Was hätten sie darin schon Interessantes erfahren können? Inzwischen gibt es mit der römischen »Repubblica« eine nationale Alternative zu den Mailändern. Die können auch Turiner lesen. Wobei zugleich die Rolle Mittelitaliens beschrieben wäre: nämlich zwischen den verschiedenen Gemütszuständen des Nordens zu vermitteln. Wie verhält es sich mit dem Süden? Wenn man nur an die Städte Neapel, Bari oder Palermo denkt, an Landschaften und Mentalitäten an der kalabresischen Stiefelspitze oder in der sardischen Barbagia, wird deutlich, daß es viele, ganz unterschiedliche »Süden« gibt. Hier liegt einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis von Italien: die Vielseitigkeit und Gegensätzlichkeit, wobei Modernes und Traditionelles nebeneinander existieren und jedes Chaos seine Ordnung hat. Man hüte sich also vor Verallgemeinerungen. Und noch ein paar Kuriosa: Italien ist in Europa der größte Produzent von Bio-Produkten und nach Deutschland der zweitgrößte Konsument. In Italien sind mehr Autos (528) auf 1000 Einwohner zugelassen als in Deutschland (506), den USA (487) und der Schweiz (469). Es stehen auf italienischem Boden im Durchschnitt mehr Wälder als in Irland, Belgien, Holland oder Dänemark. Es soll 57 Millionen Mäuse, 20 Millionen Spatzen und 10 Millionen Igel geben. Die älteste Osteria (»Al Brindisi«) hat in Ferrara seit 1435 geöffnet. Das Thermometer fällt niemals unter null Grad in Taormina, Anacapri, Amalfi und Sanremo. Buon viaggio! Reisebücher über Italien füllen ganze Bibliotheken und Sammlungen. Hermann Hesse schrieb anläßlich seiner italienischen Reise: »Ach, die echte Reiselust ist nichts anderes -9-
und nicht besser als jene gefährliche Lust, unerschrocken zu denken, sich die Welt auf den Kopf zu stellen und von allen Dingen, Menschen und Ereignissen Antworten haben zu wollen. Die wird nicht mit Plänen und nicht mit Büchern gestillt, die fordert mehr und kostet mehr, man muß schon Herz und Blut daran rücken.« Na ja, heute würden wir sagen, ein bißchen Neugier reicht für den Start. Die »Gebrauchsanweisung für Italien« wurde nicht für die Fachleute geschrieben, die alles wissen. Auch nicht für die vielen Italienkenner, die alles besser wissen. Sondern für Liebhaber und Neuankömmlinge, die neugierig sind auf dieses Land und seine Menschen. Ich lebe als Journalist in Italien und nicht als Experte. Ich hatte die Gelegenheit, viele Menschen zu hören, die mir etwas über das Land und seine Leute erzählt haben, Tatsachen und Geschichten. Ihnen allen sei Dank. Wer nur in der Sonne liegen will, braucht nichts über Land und Leute zu wissen. Wer mehr will, der wird in Italien so viele Antworten bekommen, wie er Fragen stellt. Dabei will die »Gebrauchsanweisung« mit Informationen und Beschreibungen den Dialog heute erleichtern. Morgen kann es schon wieder ganz anders aussehen. Buon viaggio, gute Reise! H. K., Mailand im Frühjahr 2002
-10-
Maccheronibäume und Essenslust Geographische Streifzüge auf der Suche nach der typischen italienischen Küche Die elektrische Kaffeemühle rauscht. Der Mann hinter der Theke klopft die Rückstände aus dem Sieb, drückt das frische schwarzbraune Pulver darin fest und macht die Maschine fest zu. Dann drückt er einen Knopf. Es zischt, und bereits nach wenigen Sekunden verbreitet sich ein verführerischer Duft, während die ersten dickflüssigen Tropfen den Boden der Tasse füllen. Jetzt kommt es darauf an, nicht zuviel Wasserdampf durch das Sieb zu pressen. Also wird die Maschine gleich wieder ausgeschaltet, wenn sich eine leichte, kastanienbraune Creme auf der zentimeterhohen schwarzbraun glänzenden Flüssigkeit gebildet hat. Fehlen noch eine Untertasse, ein Löffel und der Zuckertopf: In der »Bottega del Café« in der Londoner Kings Road, dem besten italienischen Café Albions, kann der Tag beginnen - wie in unzähligen anderen Cafés auf der ganzen Welt. Kaffeeriten und Geschmackskorrekturen Caffè ist eine Leidenschaft, die zu Italien gehört wie die Sonne - die sich aber leichter exportieren läßt. Natürlich können nicht einmal die freundlichen Italiener in der Kings Road ein gänzlich südländisches Klima verbreiten (dafür sind die Gäste viel zu britisch), aber gewisse Kaffeeriten lassen überall auf der Welt ein Stück Italien aufleben. Zumal wenn man die Augen schließt, den Duft einatmet, und die Vorfreude auf das kommende Geschmacksvergnügen genießt. Und das Gefühl, in Italien zu sein. -11-
Als ich während meiner Studienjahre mit der Eisenbahn über die Alpen Richtung Süden fuhr, hatte der Zug am Grenzbahnhof Brenner einen besonders langen Aufenthalt, noch länger als heute. Seinen Platz durfte man während des Halts auf keinen Fall verlassen. Ich habe mich aber selten daran gehalten und oft heimlich in der Bahnhofsbar einen ersten Espresso (den die Italiener meist nur schlicht caffè nennen) getrunken. Das war so etwas wie ein Begrüßungsritual, der Duft einer ganz anderen Paßkontrolle, der mir verriet: »Endlich wieder in Italien!« Alles kalter Kaffee? Kalter Kaffee (cqffè freddo) kann im Sommer eine Köstlichkeit sein, besonders, wenn er vor den Augen des Gastes aus noch dampfendem Espresso mit Eis und Zucker im Shaker gemixt wird (caffè shakerato). Im Winter »korrigiert« manch einer seinen Espresso gern mit einem Schuß Hochprozentigem (caffè corretto) oder einfach mit etwas Milchschaum. Kaffee soll wach machen oder halten, und er kann auch die Verdauung anregen. Der klassische cappuccino oder sein kleinerer Verwandter, der marocchino, die mit aufgeschäumter Milch und etwas Kakao eher einer Speise als einem Getränk ähneln, wird von Italienern ebenso wie ein Milchkaffee (cqffè latte) nie nach dem Essen und schon gar nicht am Abend bestellt. Aber italienische Kellner sind langmütig und haben sich an die Wünsche vieler Nordländer gewöhnt. Außerdem hat der Fundamentalismus auch in der Küche nichts verloren. Dennoch, wem ein Espresso zu wenig ist, darf sich einen doppelten (caffè doppio) bestellen. Wer ihn besonders stark möchte, wählt den caffè ristretto. Im Süden des Landes pflegt man heute noch die gute Sitte, zum Kaffee ein Glas Wasser zu reichen. Im Norden ist dagegen der aromatisierte Espresso in Mode gekommen. Als Vettern einer weitverzweigten Familie des corretto treten die Spielarten eines caffè goloso (mit Crèmezusätzen u. a. von Amaretto, -12-
Torroncino oder Gianduia) auf. Hinter caffè sfizioso verbinden sich Aromen auf der Basis von Nüssen, Mandeln oder auch Zimt. Und dennoch: Manchmal widersteht man all diesen süßen Verlockungen, die der Barmann anpreist, und - corretto? nein danke - möchte nur einen einfachen Espresso haben, heiß und schwarz. Es sind vielleicht nur zwei kleine Schlucke, die man für einen caffè braucht, aber im Alltag dienen sie vielfältigen Zwecken: So begrüßt man noch vor dem Frühstück den Morgen und unterbricht den Tag, immer dann, wenn es not tut. »Andiamo a prenderci un caffè«, »Komm, wir trinken einen Kaffee«, heißt die Zauberformel, um Abstand von der Arbeit zu gewinnen, eine Verabredung für den Abend vorzubereiten oder einfach nur ein paar Worte mit einem Freund zu wechseln, den man gerade getroffen hat. Oder um sich nach einem Streit auszusöhnen. Wo anderswo die Friedenspfeife geraucht wird, trinkt man in Italien einen caffè. Wer zahlt? »Pago io« - »ich bezahle«. Der Freund will natürlich seinerseits bezahlen, und jetzt entspinnt sich eine jener Szenen, die jede Bar zum Theater machen, zumal die Dialoge mit entsprechenden Gesten unterstrichen werden. Alberto zum Barmann: »Ich zahle zwei caffè.« Bernardo zu Alberto: »Kommt nicht in Frage!« B zum Barmann: »Die caffè zahle ich.« A zu B: »Du hältst dich da raus.« A zum Barmann: »Also, wieviel?« B zu A: »Nein, mein Lieber, ich bin dran.« A zu B: »Im Gegenteil, du hast gestern schon bezahlt.« C drängt sich zwischen sie und zahlt seine Rechnung. A zum Barmann: »Also, was zahle ich jetzt?« -13-
Barmann: »Ist schon bezahlt.« Alberto und Bernardo gucken sich erstaunt an und sehen gerade noch, wie Cesare die Bar verläßt… Für einen guten Espresso benötigt man eine entsprechende Maschine, und trotz einer unglaublichen Typenvielfalt für den Privatgebrauch schmeckt er eigentlich nur in einer Bar richtig gut - am allerbesten in einer Bar in Neapel und Umgebung. Zu Hause hilft man sich mit der »Moka« oder der »Napoletana«, das wird dann zwar kein Espresso, aber ein guter Mokka ist auch nicht zu verachten. Wobei es immer darauf ankommt, die jeweils richtige Bohnenmischung (auf Arabicabasis) für die entsprechende Brühmethode zu benutzen. Und neben den Industrieprodukten (die besten kommen aus Triest) gibt es in jeder Stadt noch eigene, kleine Röstereien (torrefazione) oder Läden, die verschiedene Mischungen lose anbieten - allein der Duft und die Aussicht auf eine heiße Versuchung lohnen den Eintritt in diese kleinen Institutionen. Wie die Welt auf den Geschmack kam Italienische Cafés und Restaurants gibt es überall. Sogar in der argentinischen Pampa soll es ein »Ristorante Franz y Peppone« geben - italobayerische Küche mit Pizza. Pizza und Pasta sind die italienischen Exportartikel Nummer eins. Der Pastafabrikant Barilla - bei Parma an der Autostrada Mailand-Bologna sieht man die Produktionsanlagen liegen kontrolliert bereits zehn Prozent des amerikanischen Markts. Jetzt hat er die Eröffnung von »Spaghetterie« in ganz Europa angekündigt. Ob die Spaghetti in diesen schnellen Etablissements dann richtig al dente (mit Biß) gekocht sind, und uns der sugo (die Soße) schmeckt, bleibt auszuprobieren. -14-
Der Pizza- und Pastaboom ist der Höhepunkt einer Entwicklung, die vor über hundert Jahren mit der ersten Auswanderungswelle von Italienern begonnen hatte. Denjenigen, die mit ihren Familien ins Ausland zogen, um dort Arbeit und Brot zu suchen, folgten die Köche. Sie eröffneten einfache Restaurants, zunächst nur für die Emigranten selbst. Doch bald kamen die gastgebenden Länder ebenfalls auf den Geschmack der Italiener. (Das erste italienische Restaurant in Deutschland soll angeblich das »Cuneo« im Hamburger Stadtteil St. Pauli aus dem Jahr 1902 sein.) Der weltweite Siegeszug der italienischen Küche war nicht mehr aufzuhalten. Jahrzehnte bevor wir zum ersten Mal das Wort Globalisierung hörten, haben Italiener sie uns bereits vorgeführt. So ergeht es einem immer wieder mit diesem Land, das rückständig scheint, doch in Wirklichkeit in mancherlei Hinsicht weit voraus ist. Wie haben wir eigentlich früher ohne Mozzarella, Basilico und Cappuccino überlebt? Antipasto, Broccoli (sogar schon Brokkoli geschrieben) und Prosecco gehören zum täglichen Sprachgebrauch. Gibt es ein deutsches Wort für Zucchini? Man reibt Parmigiano über die Pasta, trinkt Grappa und Espresso, weiß ein Olio extravergine (natives, kaltgepreßtes Olivenöl) von einem simplen Olio di Oliva (mit Zusätzen anderer pflanzlicher Öle) zu unterscheiden und gebraucht selbstsicher Begriffe wie vongole (Venusmuscheln) und cozze (Miesmuscheln). Einsteiger lächeln am Anfang noch über das für deutsche Ohren so unappetitlich klingende cozze, aber Muscheln die mies sind, hören sich auch nicht viel besser an. Eine italienische Küche gibt es nicht Es gibt viele Liebhaber der italienischen Küche, manch einer ist noch nie in Italien gewesen. Dort würde er erstaunt -15-
feststellen, daß es eine italienische Küche überhaupt nicht gibt. Im Piemont ißt man anders als im Veneto, die toskanische Küche unterscheidet sich von der sizilianischen, zwischen Neapel und Triest liegen (nicht nur) kulinarische Welten. Was hat ein neapolitanischer Auberginenauflauf mit einer julischen jota (Bohnensuppe mit Kohl und Schweinefleisch) gemein, was eine Grappa aus dem Karst mit einem Limoncello aus Capri? Gewiß, es gibt kulinarische Autobahnen, die alles mit allem verbinden, die nennen sich zum Beispiel menu turistico oder »Ciao-Ristorante«. Doch diese Strecken sind langweilig. Das spannende an der italienischen Küche sind ihre Kurven, ist ihre regionale Vielfalt, die sich bis heute erhalten hat. Dieser Reichtum unterscheidet sie von allen anderen Nationalküchen. Auch von der hochgelobten französischen - die übrigens der italienischen viel zu verdanken hat. Als Caterina de Medici 1533 ihrem Ehemann, dem zukünftigen französischen König Heinrich II., nach Paris folgte, brachte sie Köche und Kochbücher aus Florenz mit. Denn in der französischen Hauptstadt aß man zu der Zeit am liebsten dicke Bohnensuppe mit Holzlöffeln aus dem Topf. Die Sprache der Köche und die der Dramatiker Sage mir, was du kochst, und ich sage dir, woher du kommst. An den Eßgewohnheiten konnten sich, früher noch besser als heute, regionale Sticheleien entzünden. Die spitze Zunge der Toskaner machte sich über die mangiafoglie (Salatesser) in Neapel lustig. Die Neapolitaner gaben den Florentinern ein mangiafagiolo (Bohnenesser) zurück. Und die armen Lombarden wurden als mangiarape (Rübenesser) verlacht. Dafür lachten die Mailänder über die mangiamarroni (Maronenesser) der Emilia. Als mangiamaccheroni galten zunächst die Sizilianer, später dann die Neapolitaner, bis der Maccheronifresser zum Schimpfwort für alle Italiener wurde. -16-
Schimpfwort? Welcher Ignorant hat heute noch die Stirn, sich über Maccheroni, Spaghetti, Farfalle, kurz: über Pasta lustig zu machen? Die regionale Vielfalt der Küche ist ein Ergebnis der Geschichte. Italien hat, wie Deutschland, erst spät seine nationale Einheit in einem Staat gefunden. Eine Einheit, die von dem piemontesischen Königreich und von dessen Hauptstadt Turin ausging. Sie wurde von den Menschen in Bari oder Verona, in Catania oder Parma, in Benevent oder Mantua zwar mit dem Kopf begrüßt, aber nicht so sehr mit dem Herzen und schon gar nicht mit dem Bauch. Das gleiche gilt übrigens auch für die Sprache. Die italienische Hochsprache ist eine Art Spätgeburt, welcher der Mailänder Schriftsteller Alessandro Manzoni (1785-1873) auf Grundlage der toskanischen Sprache mit seinem Roman »I promessi sposi« zum Leben verholfen hat. Auf deutsch gibt es eine wunderschöne Neuübersetzung von Burkhardt Kroeber unter dem Titel »Die Brautleute« (Hanser). Aber als Rom 1870 italienische Hauptstadt des jungen Einheitsstaates wurde, sprach der König wie der ganze Hofstaat entweder französisch oder einen piemontesischen Dialekt. In Venedig verstand man den Dialekt der Westalpentäler bereits nicht mehr, in der Romagnastadt Rimini war Neapolitanisch eine Fremdsprache. Ganz abgesehen von den Sprachminderheiten des Albanischen und Griechischen im Süden, des Französischen (Okzidentalischen) im Westen, Ladinischen im Norden und Slowenischen im Nordosten. 75 Prozent der Italiener galten als Analphabeten. Noch heute gibt es zweisprachige Ortsschilder im Aostatal und in Südtirol, im Friaul und im Hinterland von Triest, in Kalabrien und auf Sizilien. Ich verstehe Italienisch recht gut, aber wenn ich etwa nach Neapel komme oder gar nach Sardinien, wo in der Bevölkerung noch eine archaische altrömische Sprache -17-
lebendig ist, gucke ich meinem Gegenüber mitunter verständnislos in die Augen. Der hat dann meistens ein Einsehen und redet Hochitalienisch weiter. Viele, besonders ältere Italiener, denen eine gewisse Sprachfaulheit nachgesagt wird, sind eigentlich alle zweisprachig - von der Beherrschung weiterer Dialekte ganz zu schweigen. So ist auch das italienische Theater traditionell ein Dialekttheater, von einem Autor wie Carlo Goldoni (Venedig, 18. Jahrhundert) bis zu Eduardo De Filippo (Neapel, 20. Jahrhundert). Sogar Dario Fo, der jüngste italienische Literaturnobelpreisträger (1997), hat in seiner bekannten Szenenfolge »Mistero Buffo« eine Kunstsprache auf der Basis eines lombardischen Dialekts geformt. Erst nach dem zweiten Weltkrieg konnte sich das Hochitalienische vor allem über die elektronischen Medien Radio und Fernsehen durchsetzen. Und wenn wir noch einmal von einem Teller Miesmuscheln (zum Beispiel zusammen mit Venusmuscheln auf venezianische Art im Sud von Chilischoten und Weißwein gedünstet) reden wollen, also von den cozze, so ist auch das ein geographischer Begriff, der aus Mittel- und Süditalien stammte. In der nördlichen tyrrhenischen Küste heißen sie auch einfach muscoli (Muskeln), an der oberen Adria nennt man sie manchmal noch wie früher pidocchi di mare (Meeresläuse). Doch hat sich hier ausnahmsweise der Süden einmal sprachlich durchgesetzt. Wer den richtigen, also wissenschaftlich richtigen Namen mitilo (Mytilius) benutzte, würde auf einem der herrlichen Fischmärkte Italiens, zum Beispiel auf der pescheria in Treviso, nur Kopfschütteln ernten. Doch ich will Ihnen den Teller cozze nicht mit solchen linguistischen Feinheiten vermiesen, nehmen Sie noch etwas Zitrone und einen gutgekühlten Pinot grigio aus der Marca Trevignana, dazu krumiges Weißbrot - das Antipasto ist gereicht.
-18-
Die Röte des Rots vom Radicchio Bevor man in einer italienischen Stadt ein Museum, einen Palazzo oder eine Ausgrabungsstätte besichtigt, sollte man auf einen Lebensmittelmarkt gehen. Es gibt viele berühmte, und kein Markt gleicht dem anderen: Rialto in Venedig, Porta Palazzo in Turin, Piazza delle Erbe in Verona, Sant'Ambrogio in Florenz, Campo de' Fiori in Rom oder die Vucciria Vecchia in Palermo - und viele, viele weniger berühmte zum Beispiel in den Gassen von Neapel oder unter den Hallendächern von Mailand (Piazza Wagner), in die man seine Nase stecken und Italien in seiner ganzen Vielfalt erleben kann. Es müssen nicht immer Trüffel sein - aber die herbstlichen Trüffelmärkte in Alba oder Asti sind ein Erlebnis. Von Ort zu Ort verändert sich, was eigentlich gleich ist: Da gibt es in Chioggia den runden und roten radicchio, der am besten roh schmeckt, in Verona ist er rosa und fleischiger, in Castelfranco marmoriert mit ausgefransten Blättern, und schließlich wächst er in Treviso länglich, schmeckt etwas bitterer und kommt gegrillt auf den Tisch. Allen Puristen zum Trotz, die nur das angeblich Ursprüngliche suchen, raten wir zu einem Gang durch einen großen Supermarkt in einem der neuen Einkaufszentren, die sich außerdem zu den neuen Treffpunkten von Jugendlichen und von Familien entwickeln. Die Italiener machen es ja auch: 1988 erledigten sie ihre Einkäufe dort nur zu 16 Prozent, zehn Jahre später waren es bereits 37 Prozent, Tendenz steigend. Artusis Mischrezepte Mit der italienischen Vereinigung im 19. Jahrhundert gingen zahlreiche Versuche einher, aus den vielen regionalen und lokalen Küchen eine nationale zu machen. Eines der -19-
berühmtesten Kochbücher der Zeit, der »Artusi« von 1891, hat sich bis heute als Bestseller erhalten. »Im neunzehnten Jahrhundert war Italien nur auf der Ebene der Briefmarken und der Polizisten vereinigt«, behauptet der Schriftsteller Giorgio Manganelli. »Damals erschien der Artusi, er vermischte die gegensätzlichen exotischen Riten, die Polenta Venetiens und die sizilianischen Maccheroni mit Sardinen und Fenchel, die Frösche nach Florentiner Art und den Spinat, wie er in der Romagna zubereitet wird.« Wie weit in Süditalien die Tradition in die Gegenwart hereinreicht, kann man bei dem apulischen Autor Tommaso Di Ciaula nachlesen, der sich durch Erzählungen aus dem Leben der Unterschicht (»Der Fabrikaffe und die Bäume«) einen Namen gemacht hat: »Früher konnte man von den Festen leben. Wenn du bei allen Festen dabei warst, konntest du mal da, mal dort umsonst essen. Wenn in Mola di Bari das Tintenfischfest war, ging man eben nach Mola, um Tintenfische zu essen. Dann gab es auch noch das Fest der calzoni, der mit Zwiebeln gefüllten Teigtaschen, das war in Acquaviva delle Fonti. In Mariotto war das Taubenfest und in San Michele das Fest der zampine, der gebratenen Schweinsfüße.« Heute sind diese Freßfeste (sagre) im Norden wie im Süden des Landes eine touristische Attraktion, für die man zahlen muß. Italien gehört heute leider längst nicht mehr zu den preisgünstigen Reiseländern. Wein und Wasser Ebensowenig wie den Einheitsbrei gibt es ein Einheitsgetränk. Zugegeben: In diesen Jahren setzt sich das preiswerte Bier (zur Pizza oder zum Fast food) wegen seines geringen Alkoholgehaltes durch. Aber zu einem richtigen Essen gehört -20-
der Wein. Und was haben die Weine Piemonts mit denen Friauls und die der Toskana mit denen Sardiniens oder Siziliens gemeinsam? Sie überzeugen in ihrer Vielfalt. Barolo oder Chianti, Sauvignon del Collio oder Vermentino di Gallura, Marzemino oder Gravello: Man muß schon Abstinenzler sein, um nicht eine eigene Geschmacksrichtung oder gleich einen ganzen Fächer von Liebschaften zu entwickeln. Voraussetzung ist das Probieren von Sorten und Lagen. Dafür eignen sich allerdings (teure) Restaurants wenig, um so mehr jedoch die Weinhandlungen (enoteca) mit Ausschank oder die klassischen Weinschänken (osteria), sofern es sie noch gibt. Der jedes Jahr neu aufgelegte Osteriaführer der SlowfoodBewegung hilft da weiter. Wer einfach nur Wein zum Essen trinken möchte, ist vor allem auf dem Land mit dem meist offenen vino di casa (Tischwein lokaler Provenienz) gut bedient. In großen Städten wird alles schwieriger, weil die Metropolen auf dem unteren Preisniveau am schnellsten dem internationalen Druck der Gleichmacherei nachgeben. Und schließlich: Viel haben wir von der mangelnden Qualität mancher Trinkwasser etwa in gewissen überdüngten Zonen der Poebene gelesen, aber noch fehlt die Abhandlung, die das Hohelied des Mineralwassers anstimmt. Durch die vielen natürlichen Quellen in den Alpen und im Apennin gibt es ein breitgefächertes Angebot von Wassern, je nach Geschmack saurer, schwefeliger, eisenhaltiger. Mit hohem Mineralanteil (minerale) oder mit etwas niedrigerem (oligominerale). Das Sanpellegrino aus der Valbrembana nördlich von Bergamo ist nur das modischste aller Wasser zwischen dem Aostatal, und dem sardischen Hochland. 266 verschiedene Marken kämpfen um Kunden, die immer häufiger zum Wasser aus der Flasche greifen. Die Italiener sind Weltmeister im Verbrauch von Mineralwasser (9 Milliarden Liter jährlich!), jede Familie gibt dafür im Durchschnitt rund 250 Euro im Jahr -21-
aus. In Mailand konnte man sich bis vor wenigen Jahren an einem öffentlichen Brunnen im Parco Sempione sein eigenes Schwefelwasser zapfen. Das ist vorbei - dafür gibt es aber in Rom im Bahnhof Termini die erste reine »Wasser Bar«, die sich ganz zeitgeistgemäß - und die Italiener sind Zeitgeistfans »water store« nennt. Und in Mailänder Snoblokalen wie dem »Corso Como 10« bekommt man neben der Wein- auch eine Wasserliste zum Menü. Noch fehlt der jüngste Schrei der internationalen Wasserszene, das sündhaft teure Eisbergwasser Borealis aus den USA. In wenigen Jahren werden wir vermutlich italienisches Gletscherwasser aus den Alpen angeboten bekommen, das dann »Glacier source« heißen wird. Oder so ähnlich. Slowfood und bitterer Reis Um Wasser kümmert sich die Slowfood-Bewegung (noch) nicht. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die regionale Küche zu schützen und zu fordern. Es geht um Qualität, und die hat ihren Preis. Angefangen hatte alles in dem piemontesischen Städtchen Brà zwischen Alba und Cuneo. Vor zwanzig Jahren erschütterte hier eine Nachricht einen gewissen Carlo Pertini und seinen Freundeskreis: Die größte Fastfoodkette der Welt wollte sich aufmachen, Rom zu erobern. Der Gourmetjournalist Pertini gründete daraufhin die Gegenbewegung unter dem Namen »Slow Food«. Die Bewegung wurde bald international, heute hat sie 30000 Mitglieder in Italien und im Ausland (vor allem in Deutschland). In Turin veranstaltet Slow Food jährlich eine Messe des guten Geschmacks (Salone del Gusto). Zu Slow Food gehört auch ein kleiner Verlag in Brà -22-
(Arcigola Slow Food Editore), der regionale Führer und kulinarische Bücher herausgibt. Zum Beispiel den besten Weinführer des Landes (»Vini d'Italia«), aber auch den über die Osterien, von dem wir bereits gehört haben. In Lokale, die das Zeichen einer Schnecke tragen (das Symbol von Slow Food), kann man bedenkenlos einkehren. So machten wir deshalb einmal halt in Cuccaro Monferrato. Das Monferrato ist eine der noch zu entdeckenden Gegenden Norditaliens mit einer mal sanften, stellenweise aber auch geradezu wilden Mittelgebirgslandschaft nördlich von Asti. Das Spargelrisotto im »Ristorante Garibaldi« habe OscarQualität und sei bezahlbar, lasen wir im Führer. Wir wurden nicht enttäuscht. Gleich nördlich vom Monferrato beginnt Europas größtes Reisanbaugebiet, das sich vom Umland der Provinzhauptstadt Vercelli (mit der wunderschönen gotischen Kirche Sant'Andrea) über Novara bis vor die Tore Mailands zieht. Wer bisher Reis nur als körnigweiße, manchmal etwas langweilig verpappte Beilage kennt, kann bei einem Teller Risotto Vorurteile abbauen. Das Wort Risotto stammt vermutlich aus einer piemontesischen Mundart und bedeutet »trockene Minestra«. Der Reis wird also zusammen mit Gemüse oder Fleisch zu einem breiigen Gericht gekocht, bei dem er den Geschmack seiner Zutaten aufnimmt. Der Laie lernt schnell, daß es auf der Welt zwei große Arten gibt: den Indica-Reis, der beim Kochen kaum Flüssigkeit aufnimmt, und den Japonica-Reis, der sich beim Kochen vollsaugt. Die Italiener benötigen für ihren Risotto natürlich Japonica-Reis. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts baute man immer ein und dieselbe Sorte Reis an, die mit der Zeit anfällig für Krankheiten wurde. In Vercelli, der Reishauptstadt Italiens, wird erzählt, wie der Jesuit Padre Calleri 1839 heimlich zu den Philippinen -23-
aufbrach und mit Samen von 43 asiatischen Sorten wiederkam. Die sollen dann die Grundlage der modernen europäischen Reiskultur geworden sein. Ob es wirklich so war? Jedenfalls ist die Sorten- und Typenvielfalt enorm. In Italien, wo man pro Kopf fünf Kilo Reis pro Jahr verbraucht (im Piemont sogar über zehn), sind rund 60 Sorten registriert. Dabei sollten die Körner möglichst länger als 5,2 Millimeter sein (italienische Bezeichnung: semifino), besser noch länger als 6,4 Millimeter (fino - wenn sie dann noch besonderen Qualitätsmerkmalen entsprechen, dürfen sie sich superfino nennen). Vitalone Nano, der Modereis der neunziger Jahre, ist ein semifino. Aber er ist eher in Mantua oder bei Verona zu Hause, wo es ebenfalls kleine Reisanbaugebiete gibt. Wenn man in den Reismühlen von Vercelli, wo der Rohreis von seinem äußeren Mantel befreit und bis auf seinen weißen Kern geschält wird, nach erster Qualität fragt, bekommt man die heimischen Sorten Arborio, Baldo oder Carnaroli (alle superfino) angeboten. Pizza mit Herz Gilt der Reis als typisch norditalienische Speise, so ist die Pizza das Symbol des Südens. Mehr noch: das Symbol Italiens. Für eine Pizza gilt das besonders: die Pizza Margherita. Sie wurde im Jahr 1889 im Schloß Capodimonte von einem neapolitanischen Pizzabäcker für die Königin Margherita von Savoyen, Ehefrau von Umberto L, kreiert. Grüner Basilikum, weiße Mozzarella und rote Tomaten sind ihre Zutaten - die Farben der italienischen Nationalfahne. Die Pizza ist nichts anderes als eine Teigscheibe, die zusammen mit ihrem Belag im Holzofen gebacken wird, deshalb so verführerisch duftet (duften sollte) und deren -24-
geschmacklicher Facettenreichtum kaum zu überbieten ist. Da gibt es vor allem die Tomate, die mit Columbus im 16. Jahrhundert nach Europa gekommen und in dem klimatisch so verwöhnten Raum um Neapel heimisch geworden ist. Diese Gartenlandschaft Kampaniens liefert die weiteren Beilagen und Kräuter, und aus der Milch ihrer Kühe macht man den Käse. Beim Belag sind der Phantasie, wie inzwischen jedermann auch zwischen Büsum und Basel weiß, keine Grenzen gesetzt: mit rohem Schinken oder Muscheln, mit Sardellen oder Salami, mit Zwiebeln oder Pilzen, Würstchen oder Thunfisch, Knoblauch oder Oliven, den Jahreszeiten gemäß gemischt (quattro stagioni) oder als geschlossene Variante (calzone). Man ißt sie in der traditionellen Scheibenform in der Pizzeria, wo man die eleganten Bewegungen des pizzaiolo (Pizzabäcker) beobachten kann, der den Teigklumpen auf dem Marmortisch flachdrückt, mehrfach in der Luft herumwirbelt, bis der Teig eine runde Form annimmt, ihn auffängt und liebevoll mit Zutaten schmückt. Eine Vereinigung europäischer Pizzabäcker, die rund 30000 Mitglieder hat (davon 25000 in Italien), versucht den Kampf gegen die Internationale der Schnellpizzerien (»Pizza Hut«) aufzunehmen. In vielen Städten Europas und natürlich auch Italiens knattern abends Mofas mit großen Thermokisten durch die Straßen, um den Kunden die Pizza nach Hause vor den Fernseher zu bringen. Mir versetzt das einen Stich ins Herz, wenn ich an die Abende mit Freunden in der Pizzeria denke, die lauten Stimmen, die Rufe, das Lachen - und das Flackern der Holzscheite im nach oben trichterförmig überwölbten Pizzaofen (damit sich kein Ruß bilden kann). Was ist schon eine Pizza ohne Pizzeria?
-25-
Der gebrochene Käse Käse, das soll Käse sein? Er ist weiß wie Porzellan, außen fest und innen feucht. Er hat Biß und ist dennoch weich. Im Mund verbreitet er ein herrliches süßsäuerliches Aroma mit einem leicht nussigen Nachgeschmack. Er erscheint frisch und leicht doch bei einem mittleren Fettgehalt von 20-25 Prozent nimmt der Genießer eines der typischen eiförmigen Häppchen (rund 120 Gramm Gewicht) immerhin über 300 Kalorien zu sich. Dieses Wunderding der Ernährung ist eigentlich eine »Sie«, jedenfalls in Italien, wo »er« seit über 700 Jahren bekannt ist: la mozzarella. Was wäre die Pizza ohne ihren Käse, ohne die Mozzarella? Mozzarella und Parmigiano sind inzwischen die bekanntesten Käsesorten Italiens im Ausland. Beide brachten sich jenseits italienischer Grenzen zunächst als Zutaten ins Gespräch, bevor man ihre wahre, ganz eigenständige Größe entdeckte. Der geriebene Parmigiano als Krönung klassischer Pastagerichte, die Mozzarella als Pizzabelag. Im Gegensatz zum Parmigiano ist Mozzarella jedoch keine geschützte Bezeichnung und kann für jeden quarkähnlichen, gezogenen Frischkäse verwendet werden. Quarkähnlich? Gezogen? Allein die Schwierigkeit, Mozzarella zu beschreiben, zeigt ihre nationale wie regionale Einzigartigkeit. Südlich von Salerno im Alentotal habe ich bei Vallo die Käserei »La Pastorella Cilentana« besucht. Renato, der 22jährige Sohn des Besitzers, zeigte mir hier, wie er mit drei Mitarbeitern Mozzarella herstellt. Die frisch gemolkene und pasteurisierte Milch wird auf 35 bis 36 Grad erhitzt und unter Zusatz von Milchbakterien, Labfermenten und Molkerückständen vom Vortag vergoren. Nach etwa einer Stunde bildet sich eine festere Masse, die absinkt. Der Rahm an der Oberfläche wird abgeschöpft, noch einmal auf rund 80 -26-
Grad erhitzt und zu Ricotta (Molkenkäse) weiterverarbeitet. Die feste Masse muß, von etwas Molke bedeckt, weitere zwei bis drei Stunden ruhen. Dann kommt der entscheidende Moment, in dem sich die Qualität des Käsemeisters (und damit die des Käses) zeigt. Renato bröckelt etwas Käsemasse in kochend heißes Wasser und prüft mit einem Stock, ob der Käse richtig zieht, als würde ein Kaugummi Blasen werfen. Wenn es soweit ist, geht alles sehr schnell: In großen Holzbottichen wird die Käsemasse mit dem Wasser (92 Grad) vermischt und mit einem besenstiellangen Stock für ein bis zwei Minuten verrührt. Ein Gehilfe schöpft die übrigbleibende Flüssigkeit wieder ab (die, mit Salz vermischt, später eine ausgezeichnete Lake zur Aufbewahrung der Mozzarella hergibt), zwei weitere Helfer »brechen« jetzt aus der Mozzarellamasse die typischen Formen heraus oder füllen sie in entsprechende Schablonentrommeln: kleine, eigroße ovolini (ca. 50 Gramm), bocconcini (Häppchen; ca. 120 Gramm) oder ca. 50 Zentimeter lange Würste, die zu Zöpfen geflochten werden. Dieses Brechen (mozzare) hat dem Käse seinen Namen gegeben. Renato benutzt zur Herstellung eine Mischung aus Kuh- und Büffelmilch. Das ist typisch für viele kleine Hersteller, die ihre Produkte grundsätzlich nur lokal vertreiben. Das Alentotal gehört wie der ganze Süden Kampaniens zu den armen Regionen des Landes. Reine Büffelmozzarella wäre hier einfach zu teuer, doch möchten die Kunden nicht ganz auf die Tradition verzichten. Am Schluß stellt Renato Di Lascio auch ein paar Kilo fior di latte aus reiner Kuhmilch her. Die sind für die Pizzeria bestimmt. Für Pizza, sagt der Sohn des Käsemeisters, sei Büffelmozzarella wirklich viel zu schade.
-27-
Auf der Suche nach dem Maccheroni-Baum Adesso pasta! Jetzt zum Höhepunkt der italienischen Küche: die Pasta. AI dente muß sie gekocht sein, also noch Biß haben. Über die Art dieses Bisses können gerade in Süditalien Glaubenskriege geführt werden. Manchmal kommt sie so hart auf den Tisch, daß sie zwischen den Zähnen knackt. Als ich das erste Mal nach Italien kam, bestellte ich mit mühsam zusammengeklaubten Brocken Italienisch in einer kleinen florentinischen Trattoria Spaghetti al pomodoro und wurde sogleich gefragt, ob ich sie al dente wünschte. AI dente? Keine Ahnung, was das bedeuten sollte? Ich wußte nur: dente bedeutet Zahn. Die Wirtsleute lachten, und zehn Minuten später brachten sie mir zwei Teller Spaghetti, einen kleineren und einen etwas größeren. Ich sollte probieren und von dem Teller weiteressen, der mir besser schmeckte. Ich hatte wenig Geld und großen Hunger und wählte nach einer Kostprobe die größere Portion, wobei mir ganz egal war, was es mit dem Zahn auf sich haben sollte. Die Wirtsfrau war zufrieden, ich hatte die Probe bestanden und al dente gewählt. Sie stieß lachend ihren Mann an, offensichtlich hatten die beiden über meinen deutschen Geschmack eine Wette abgeschlossen, und sie hatte gewonnen. Später gab der Mann mir noch einen Vin santo und Mandelkekse aus, setzte sich zu mir an den Tisch und erzählte in gebrochenem Deutsch, daß er früher einmal in Reutlingen bei Daimler gearbeitet habe und wie schrecklich weich gekocht die deutschen Nudeln seien. Pasta ist Volks- und Familiennahrung. Ein Teller Spaghetti bedeutet Geborgenheit, wie sogar die Werbung suggeriert: Dove c'è casa, c'è Barilla, wo ein Zuhause ist, da ist Barilla. Und abends unter Freunden, wenn man nach dem Kino noch -28-
spät zusammensitzt, macht man der Geselligkeit wegen eine Spaghettata, um den aufkommenden Hunger zu stillen - und um einen Vorwand für ein weiteres Glas Wein zu haben. Pasta ist auch Nationalstolz: Als der »Spiegel« in den siebziger Jahren ein Cover mit einer Pistole auf einem Teller Spaghetti hatte, ging ein Sturm der Entrüstung durchs Land. Denn man konnte deutlich sehen, daß die Spaghetti völlig verkocht, also nicht al dente waren. Die Deutschen, so die südländische Volksseele, sollten erst einmal lernen, richtig Spaghetti zu kochen, ehe sie anfangen, Italien zu kritisieren und über Mafia und Terrorismus zu schreiben. Noch heute wird man auf dieses Titelbild angesprochen, das die Italiener den Deutschen noch immer nicht verziehen haben. Es ist interessant, bei dem klassischen Italienreisenden Goethe nachzulesen, was er über seine erste Begegnung mit dieser Götterspeise in Neapel im Mai 1787 notierte: »Die Makkaroni, ein zarter, stark durchgearbeiteter, gekochter, in gewissen Gestalten gepreßter Teig von feinem Mehle, sind von allen Sorten überall um ein geringes zu haben. Sie werden meistens nur in Wasser abgekocht, und der geriebene Käse schmälzt und würzt zugleich die Schüssel. Fast an der Ecke jeder großen Straße sind die Backwerkverfertiger mit ihren Pfannen voll siedenden Öls, besonders an Festtagen, beschäftigt, Fische und Backwerk einem jeden nach seinem Verlangen sogleich zu bereiten. Diese Leute haben einen unglaublichen Abgang, und viele tausend Menschen tragen ihr Mittag- und Abendessen von da auf ein Stückchen Papier davon.« Ein neapolitanischer Imbiß im 18. Jahrhundert also. Warum erwähnt Goethe die Pizza mit keinem Wort? Mochte er sie nicht? Möglich,
daß
bereits
die -29-
Etrusker
Teigwaren
aus
Hartweizenmehl gekocht haben. Schriftliche Hinweise über Maccheroni gibt es zum Beispiel in einem Testament aus dem Jahr 1279, in dem ein Notar aus Genua einen mit Maccheroni gefüllten Korb erwähnt. Dreizehn Jahre später soll Marco Polo die Spaghetti aus China mitgebracht haben. Doch da gab es längst auf Sizilien ein Gericht, das ein arabischer Geograph als »Teig in Form langer Fäden« beschrieb. Wem auch immer die Palme der Schöpfung gebührt - im römischen Spaghettimuseum kann man die verschiedenen Theorien studieren. Mir als Pastafan ist ganz gleich, woher sie stammt, wichtig ist allein, daß es sie immer noch gibt. Heinrich Heine hatte dazu einen wunderschönen Traum: »Vorgestern träumte mir: ich befände mich in Italien und sei ein bunter Harlekin und läge recht faulenzerisch unter einer Trauerweide. Die herabhängenden Zweige dieser Trauerweide waren aber lauter Maccheroni, die mir lang und lieblich ins Maul flossen. Statt Sonnenstrahlen lauter gelbe Butterströme, und endlich fiel von oben herab ein weißer Regen von geriebenem Parmesankäse.« Italien, das Pastaparadies. Heines Maccheronibaum habe ich leider nie gefunden, dafür eine Statistik darüber, daß in Italien 84 Prozent der Pasta industriell hergestellt werden. Es gibt rund 170 Teigwarenfabriken mit rund 8200 Beschäftigten. Die meisten, vor allem die kleinen Betriebe, sind im Süden angesiedelt. Goethe, dem meistzitierten Italienreisenden aller Zeiten, ist nicht entgangen, daß so mancher Hersteller eine geradezu sinnliche Beziehung zu seinen Teigwaren hat: »Da es hier keine Gasthöfe gibt«, schreibt er von seinem Besuch im sizilianischen Girgenti (heute Agrigent) im April 1787, »so hatte uns eine freundliche Familie Platz gemacht und einen erhöhten Alkoven an einem großen Zimmer eingeräumt. Ein grüner Vorhang trennte uns und unser Gepäck von den -30-
Hausgliedern, welche in dem großen Zimmer Nudeln fabrizieren, und zwar von der feinsten, weißesten und kleinsten Sorte, davon diejenigen am teuersten bezahlt werden, die, nachdem sie erst in die Gestalt von gliedslangen Stiften gebracht sind, noch von spitzen Mädchenfingern einmal in sich selbst gedreht, eine schneckenhafte Gestalt annehmen. Wir setzten uns zu den hübschen Kindern, ließen uns die Behandlung erklären und vernahmen, daß sie aus dem besten und schwersten Weizen, Grano forte genannt, fabriziert würden.« »Maccheroni« ist einerseits eine Art Sammelbezeichnung für Pasta in Neapel, andererseits gibt es unzählige Spezialformen. Zum Beispiel die so musikalisch klingenden Maccheroni alla chitarra aus den Abruzzen, bei denen der Teig durch ein Gitter von Drähten gepreßt wird. Der Italienneuling lernt schnell, daß die Pastawelt aus zwei Teilen besteht. Auf der einen Seite die pasta secca (Trockenpasta) aus Hartweizen (grano duro) auf der anderen die pasta fresca (Frischpasta) aus weichem Weizen (grano tenero). Der Hartweizen hat den Vorteil, daß er sich nicht so leicht verformt - so konnten die langen Spaghettischnüre auf den Holzgestellen in der freien Luft Neapels und seines Umlandes (Gragnano, Torre Annunziata) trocknen, ohne daß sie sich kringelten. Weicher Weizen wird nur für die frische Pasta meist unter Verwendung von Eiern - zum Beispiel für die tagliatelle (breite Bandnudeln) oder die Ravioli (Teigtaschen) benutzt. Hartweizen hat den Vorteil, viel gesünder zu sein. Ein Teller Spaghetti mit Tomatensoße und Olivenöl ist nach Diätexperten zusammen mit einem Glas Wein der reinste Jungbrunnen (wenn es denn bei einem Glas bleibt). Frischpasta mit all den Tortellini, Cannelloni und Lasagne kann jedoch vor allem in der Emilia zwischen Parma und Bologna süchtig machen. -31-
Beim Kauf beachte man das italienische Reinheitsgebot. Denn im europäischen Ausland darf Trockenpasta auch aus anderen Zutaten als allein Hartweizen und Wasser hergestellt werden. Bleibt noch, sich für eine Art zu entscheiden - o Qual der Wahl! Ein italienischer Nudelatlas verzeichnet rund einhundert verschiedene Typen aus allen Regionen - von den mit verschiedenen Kräutern eingefärbten gar nicht zu reden. Das Wichtigste kommt zuletzt: Was ist eine Pasta ohne sugo (Soße)? Nichts. Die einfachste (Öl, Knoblauch, Peperoncino) kann bereits köstlich schmecken. Ich werde nie den Teller Maccheroni vergessen, den ich an einem heißen Abend in Neapel mit frischen, also kalten, kleingeschnittenen süßen Tomaten gegessen habe. Meine Frau, die aus Sardinien stammt, bereitet die Spaghetti mit einer Paste aus kleingehackten, in der Sonne getrockneten Tomaten, Knoblauch und Petersilie zu, die in der Pfanne in Öl angeschmort wird. In Alghero (Westsardinien) serviert man die Spaghetti in einem leichten Bad aus Öl und Knoblauch und reibt goldgelbe bottarga (getrockneten Rogen der Meeräsche) darüber. Die Karte der Pastasoßen liest sich wie eine italienische Landkarte: alla bolognese (Bologna), alla matriciana (Amatrice liegt im Latium), alla napoletana (Neapel), alla parmigiana (Parma), alla piacentina (Piacenza) usw. In Catania, wo der Komponist Vincenzo Bellini 1801 auf die Welt kam, heißt die heimische Pasta nach seiner schönsten Oper alla Norma (mit Auberginen und Ricotta-Käse). Jedem sein Süppchen Vielleicht war das eine Folge von Artusi: In Venetien wie in der Lombardei, in Umbrien wie auf Sardinien, im Norden wie im Süden hat sich nach der Vereinigung die Gemüsesuppe durchgesetzt. Die minestròn oder minestrone - das bedeutet -32-
wörtlich: große, dicke Suppe. Zur minestrone gehören weiße Bohnen, Kartoffeln, Sellerie, Karotten und Tomaten. Die Einlage variiert je nach Region. In der Lombardei nimmt man Reis, anderswo geröstete Brotwürfel, am liebsten aber kurze Pasta wie die maltagliati, die schlecht geschnittenen Stücke, die bei der Pastazubereitung übrigbleiben. In Ligurien gibt man zuletzt noch etwas pesto alla genovese, eine Basilikumsoße, hinzu. Und wiederaufgekocht wird sie in der Toskana zur ribollita (u. a. mit Grünkohl). Die Zutaten findet man im eigenen Garten oder auf dem Markt - so wird die Einheitssuppe zu einem individuellen Meisterstück. Das Sprichwort gilt noch heute: »Natale con i tuoi, Pasqua con chi vuoi«, Weihnachten verbringe mit den deinen, Ostern mit wem du willst.« Also ist das Weihnachtsmahl das wichtigste im Jahr, wie die Familie für die Italiener die bedeutendste gesellschaftliche Institution ist. An Heiligabend gibt es traditionell kein Fleisch. Man ißt zum Beispiel den Fettaal, der wie die Schlange als Symbol der Erbsünde gilt, von der uns Christus befreit hat. Am ersten Weihnachtstag gibt es dann ein Menü, das Magen, Leber und Nieren auf eine harte Probe stellt. Auf eine lange Folge von Vorspeisen und Pastagerichten stellen sich die secondi, die Hauptgänge ein: gefüllte Schweinsfüße (zamponi) in der Emilia, die zusammen mit Linsen (dem Aberglauben nach bringen sie Glück und Geld) aber auch in der Silvesternacht und zu Neujahr gegessen werden, oder Truthähne und Kapaune (Norditalien), Lammbraten (auf Sardinien) oder Zicklein (in Süditalien). Zum Nachtisch reicht man besonders im Norden panettone (Mailand) oder pandoro (Verona), ein lockerer Hefekuchen mit oder ohne Rosinen und kandierten Früchten. Der Reichtum der italienischen Regionalküchen breitet sich mit Vor-, Nachspeisen und dem ersten Gang um das Hauptgericht, den eigentlichen Kern eines Essens, herum aus. -33-
Variiert wird so auch die traditionelle Speisenfolge, und fast jeder Gang kann heute zu einem Hauptgang werden. Wer je in der »Trattoria Calcinari« bei Pesaro in den Marken die schier unerschöpfliche Folge von Fischvorspeisen genossen hat, weiß, daß man vom Antipasto gleich zur Nachspeise übergehen kann. Was dabei den Begriff Trattoria angeht, so kann man sich heute nicht mehr darauf verlassen, daß die Trattoria ein eher einfaches Wirtshaus ist, die Osteria vor allem eine Weinkneipe und das Ristorante gehobenen Ansprüchen genügt. Die Bezeichnungen purzeln durcheinander, so daß die Osteria durchaus ein Luxusrestaurant sein und die Trattoria hier eine einfache Küche und die um die Ecke ganz raffinierte Speisenfolgen bieten kann. Essengehen ist jedenfalls teuer geworden in Italien und längst kein Volksvergnügen mehr. Manchmal spürt man jedoch noch die alten Zeiten. Am Sonntagabend, wenn auch die Hausfrau frei hat, ziehen viele Familien in die Pizzeria. Appetit kommt beim Lesen Zum Essen, so haben wir erfahren, gehört die Geselligkeit, aber es gibt auch Solitäre. Der zur Zeit berühmteste Einzelgänger bei Tisch ist vielleicht Commissario Montalbano, den der sizilianische Erfolgsautor Andrea Camilleri ins Leben gerufen hat. Montalbano ißt am liebsten allein. Jedes Gespräch lenkt vom Genuß einer fangfrischen Seebarbe oder in Olivenöl gebackener Gamberetti ab. Allein das Wort »Arbeitsessen« hält Montalbano für ein Sakrileg. »Die Idee mit dem Essen habe ich mir ausgeborgt«, erzählte mir kürzlich Andrea Camilleri. »Ich habe die Idee von Massimo Bontempelli. Der hat eine kleine Erzählung geschrieben über einen Reisenden, der in ein merkwürdiges Dorf kam, wo es die Leute öffentlich miteinander trieben. Sie liebten sich im Stehen, in den -34-
Hauseingängen, auf der Straße. Als der Mann aber Hunger bekam und nach einer Trattoria fragte, hieß es nur: »Psst, nicht so laut. Essen?« Das Essen war im Dorf obszön, nicht das andere, und so führte man ihn heimlich an einen Ort, wo wenige einzelne, jeder für sich, am Tisch saßen und still Gaumenfreuden genossen.« Die Trattoria als Freudenhaus - Camilleri amüsierte sich köstlich über diese Bontempelli-Idee, die er dann in seiner Bestsellerserie über den Commissario Montalbano verarbeitet hat. Das ist nur ein weiterer, wenn auch sehr bildlicher Beleg für den Lehrsatz: Für den Italiener - ob allein (selten) oder in Gesellschaft (oft) - bedeutet Essen reine Lust. Übrigens, heißt es auf deutsch »die Grappa« oder »der Grappa«? Jedenfalls brauche ich jetzt einen Verdauungsschnaps.
-35-
Mamma Mia Die Familie zwischen Tradition und Moderne
Der Großraumwagen war gut besetzt: Einzelpersonen, hier und da ein Pärchen, einige Geschäftsreisende, ein paar stille japanische und ein paar laute amerikanische Touristen. Neben mir, auf der anderen Seite des Ganges, waren gerade vier Plätze frei geworden, die sogleich von einer Familie besetzt wurden: Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Er kümmerte sich ums Gepäck, für das in modernen Zügen kaum noch Platz ist, Mamma kümmerte sich um die Kinder, half beim Ausziehen, und als Streit um die Fensterplätze ausbrach, stiftete sie Frieden, indem sie die Plätze barsch zuteilte. Der Mann saß auf seinem Gangplatz (»so kommst du schneller an unsere Sachen«) und schlug eine Sportzeitung auf. Doch die Frau wollte erst noch die Tasche mit dem Essen. Also mußte das Gepäck umgekramt werden, während die Kinder maulten, sie hätten Hunger. Mamma mahnte zur Ruhe, verteilte die ersten Brote, papà saß wieder und schlug die Zeitung auf. Doch wo waren die Getränke? In einer anderen Tasche. Also wieder aufstehen und im Gepäck suchen. »Kann ich jetzt endlich in Ruhe lesen?« fragte er bereits etwas ungehalten. »Nein«, sagte sie, »mach mir erst mal die Mineralwasserflasche auf.« So ging es noch eine ganze Weile: halt mal, mach mal, sag mal… Wer je behauptet hat, Italien sei eine Männergesellschaft, der kennt die italienische Familie nicht. Hier gibt Mamma den Ton an. Und kennen wir das nicht auch aus vielen Büchern und Filmen? Vielköpfig wurde da meist la famiglia beschrieben, -36-
vielsagend war die Warnung, die man den blonden Jünglingen mit auf den Weg gab, die den äußersten Süden Italiens erkunden wollten: Ein sizilianisches Mädchen hat zwei wunderschöne dunkle Augen jedoch mindestens doppelt so viele Brüder! Und immer und überall stand im Zentrum die Mamma. Mamma, eine vollbusige kleine Frau, sorgte für das Essen (meistens in Form von riesigen Schüsseln voll dampfender Pasta, über die sie mit kräftigem Armschwung den geriebenen Käse streute wie der Bauer das Saatgut auf dem Feld). Und Mamma kümmerte sich ebenfalls um das seelische Wohl aller, sogar um das ihres Ehemanns, obwohl der neben den Söhnen nur eine Nebenrolle in den Augen der Gesellschaft zu spielen schien. Mann und Mamma Mit Klischees verhält es sich oft so, daß sie nicht der Wahrheit entsprechen und dennoch einen typisch italienischen Widerspruch zeigen: Die Gesellschaft ist immer noch patriarchalisch ausgerichtet, der Machotyp gilt als Vorbild, und nicht selten müssen sich auch Touristinnen unangenehmer Anmache erwehren. Doch die Mamma, die ist jedem Macho heilig. Kein Wunder, daß das öffentlich-rechtliche Fernsehen »Mamma RAI« genannt wird, seitdem es immer mehr in den Mittelpunkt der Familie gerückt ist, selbstverständlich auch beim Essen dabei ist, im Schlafzimmer läuft und in einer gewissen Art die Erziehung der Kinder übernommen hat (was man den Kindern manchmal leider anmerkt). Die Italiener wissen eben Mutterrollen zu schätzen. Die Rolle der Mamma scheint auch eine aktuelle Zahl des staatlichen Statistikamtes ISTAT zu bestätigen: 42,9 Prozent aller Verheirateten unter 65 Jahren leben höchstens einen Kilometer von der Wohnung der Mutter entfernt (im Süden 48, -37-
im Norden 34 Prozent). Und wenn im Abteil kurz vor der Ankunft des Zuges Hektik ausbricht und jeder sein telefonino, sein Handy, zückt, um die gute Botschaft der Ankunft seinen Lieben mitzuteilen, hört man nicht selten aus dem Mund gutsituierter Herren mit krokodilledernen Aktentaschen: »Pronto? Mamma, ich komme gerade an.« Und der Mann? Der hat das Sagen außerhalb der Familie, am Arbeitsplatz, in der Bar oder in der Politik. Franca Magnani, die Deutschlandkennerin und große römische Journalistin, hat mir einmal verraten, was den italienischen Mann vom deutschen Mann unterscheidet: »Zeit, Phantasie und - die Mamma.« Wenn sich ein Mann für eine Frau interessiere, finde er immer Zeit, ihr zu imponieren. So läßt sich nach Francas Meinung auch die Frage schwer beantworten, ob Italiener nun fleißig oder faul seien oder nicht: »Es hängt von der Zeit ab, die übrigbleibt, nachdem er sich der geliebten Frau gewidmet hat.« In Sachen Phantasie sind die Italiener ohnehin Weltmeister, auch in den kleinen Gesten des Alltags. Franca sagt: »Das Erfolgsgeheimnis so vieler als latin lovers weltberühmt gewordener Italiener besteht genau darin - nicht in übernatürlichen Leistungen, sondern in der breiten Skala ihrer Ausdrucksmöglichkeiten. Das Aussprechen, Ausschmücken, das Mitteilen ihres Glücks oder Unglücks - das ist eine unbestreitbare lateinische Gabe.« Das habe der italienische Mann von seiner Mamma gelernt, noch in seinen Kinderjahren. Das Verhältnis des Italieners zur Frau, ist sie einmal geheiratet worden, ist für einen Deutschen kaum faßbar. Mehr noch als Ehefrau zu sein, ist sie la mamma dei miei figli, die Mutter meiner Kinder. Womit ihr sozial eine Art Denkmal gesetzt wird, das aber - wie überall auf der Welt - betrogen -38-
werden darf. Nur spricht man nicht darüber, denn eine hintergangene Frau wird bemitleidet, ein gehörnter Mann gar (cornuto) ist das Abbild von Lächerlichkeit. Zwischen Frau und Mann gibt es traditionell eine stillschweigend akzeptierte Verteilung der Machtzentren: er Gesellschaft, sie Familie. Franca Magnani kommentiert: »Es ist falsch, immer nur von der mangelnden Frauenemanzipation zu sprechen, denn die Emanzipation der Männer ist genausowenig verwirklicht.« Nonna Antoniettas Kinder und Kindeskinder Das Bild von der idyllischen italienischen Großfamilie - arm, aber vital und glücklich - hat nie gestimmt. Inzwischen gibt es die Großfamilie überhaupt nicht mehr. Die italienische Familie hat sich unter dem Druck der gesellschaftlichen Entwicklung langsam, aber schließlich radikal verändert. Es werden weniger Ehen geschlossen und weniger Kinder geboren. Brachte jede Italienerin im Durchschnitt vor dreißig Jahren noch 2,42 Kinder zur Welt, waren es Mitte der neunziger Jahre nur noch 1,17 (deutsche Frauen bringen es auf immerhin 1,3). Kaum zu glauben, das kinderliebe, kinderreiche Italien ist heute das Land mit der niedrigsten Geburtenrate der Welt. Im Wechsel von einer Generation hat so etwas wie eine Revolution stattgefunden. »Nonna« Antonietta zum Beispiel wurde 1917 in Bosa auf Sardinien geboren und war eines von acht Kindern aus sehr einfachen Verhältnissen. Als Ehefrau eines Eisenbahnangestellten brachte sie sieben Kinder auf die Welt. Alle Kinder Antoniettas haben wiederum selbst Familien gegründet. Da war es jedoch aus mit dem Kindersegen. Immerhin kamen in der nächsten Generation in jeder Familie zwischen einem und drei Enkel für Nonna Antonietta auf die Welt. Was bereits deutlich über dem Schnitt liegt, aber -39-
andererseits typisch für eine Familie süditalienischer Herkunft ist, bei der es mehr Kinder gibt als im Norden. Beispielhaft ist auch die Nachkriegsgeschichte Antoniettas. Ende der sechziger Jahre zogen zunächst der Ehemann, der seine Anstellung aufgegeben hatte, sowie ihr Bruder und zwei erwachsene Kinder nach Norditalien in die Nähe Mailands, um dort Arbeit zu suchen. Bald darauf wurde der Rest der Familie nachgerufen. Der soziale Aufstieg ermöglichte es den jüngeren Kindern, eine bessere Schule zu besuchen, Abitur zu machen und später sogar zu studieren. In einer großen Wanderbewegung von Süd- nach Norditalien hat zwischen 1950 und 1975 fast ein Drittel der Bevölkerung Italiens den Wohnsitz gewechselt. Einige sind zurückgekehrt, um mit dem verdienten Geld den Ruhestand zu genießen. Viele blieben jedoch im Norden, was später in den neunziger Jahren den kleinbürgerlichen Rassismus der Lega Lombarda / Lega Nord genährt hat. Bereits zu Zeiten dieser »inneren Emigration« war es vereinzelt zu sozialen Konflikten gekommen, wie sie zum Beispiel Viscontis Film »Rocco und seine Brüder« beschreibt. Man konnte damals sogar im liberalen Turin vereinzelt Schilder mit der Aufschrift sehen: »Ich vermiete nicht an Süditaliener«. Im großen und ganzen ist diese Wanderbewegung allerdings in zivilen Bahnen verlaufen. Wenn Nonna Antonietta im hohen Alter heute im Sommer zu Besuch nach Sardinien kommt (ihre Geschwister leben, soweit sie noch leben, alle noch dort), gilt sie im Ort als eine, die es geschafft hat: Sie hat ihre Familie groß und stark gemacht, und sie hat sie zusammengehalten. Was zum Teil aber nur aus der Ferne so aussieht, denn längst ist der Zusammenhalt unter den Familien ihrer Kinder nicht mehr so eng wie in früheren Generationen, und jede lebt den Zeiten entsprechend -40-
weitgehend für sich. In Antoniettas alter Straße in Bosa an der westsardinischen Küste hat sich ebenfalls vieles verändert. Als ich Mitte der siebziger Jahre zum ersten Mal dort hinkam, spielte sich noch das ganze Familienleben zu einem großen Teil im Freien ab. Die Frauen saßen in Gruppen vor ihren einfachen Häusern, webten oder klöppelten, beredeten den Alltag, und überall spielten Kinder. Durch die verwinkelte, mit Treppen abgesetzte Gasse paßte kein Auto, nicht einmal ein Fiat 500. Manchmal kamen Touristen vorbei, die die Decken und Tücher kauften, welche die Frauen gerade gefertigt hatten. In den Häusern liefen bei offenem Fenster die Fernseher, aber außer ein paar gelangweilten Kindern guckte keiner bei »Mamma RAI« zu, wichtig war nur, daß alle Nachbarn sehen (hören) konnten, daß man einen Fernseher besaß. Allerdings besaßen die meisten einen Fernseher, und so konnte es manchmal ganz schön laut werden - zum Glück gab es damals nur zwei Programme. Die Häuser waren unterhalb einer Burganlage zum Teil in den Fels geschlagen, jedes war an das andere geklebt. Sie bestanden aus zwei bis drei übereinanderliegenden Zimmern, die mit einer Treppe verbunden waren. Antonietta erzählte, daß zu Zeiten ihrer Eltern noch jede Familie in einem Zimmer leben mußte. Als reich galt der, der im Erdgeschoß einen Esel stehen hatte. Wenn eine einzelne Familie ein ganzes Haus besaß, galt das als Luxus. Heute werden diese Häuser an Touristen vermietet oder verkauft. Die Kinder der Generation Antoniettas sind fast alle in modernere und praktischere Neubausiedlungen in Bosa gezogen, wo sie jedoch nicht mehr auf der Straße sitzen können. Dafür kann man jetzt mit dem Wagen vom Supermarkt direkt vor die Wohnung fahren und rund zwanzig Fernsehkanäle empfangen.
-41-
Die vielen Rollen der Frauen Eine entscheidende Veränderung der Familienverhältnisse hat der Eintritt der Frauen in die Arbeitswelt gebracht. Durch Arbeit und eigenes Einkommen gibt es für sie keinen ökonomischen Zwang mehr zur Ehe, dennoch heiraten die meisten. Die Ehe war lange Zeit ein wirklicher Bund fürs Leben, und die katholische Kirche wachte streng über ihr Sakrament. Eine Scheidung war (fast) ausgeschlossen. Mit Ironie und Sarkasmus behandelt ein Film wie »Scheidung auf italienisch« (Regie: Pietro Germi) aus dem Jahr 1961 das Problem von der Männerseite aus. Der Baron Cefalù (eine Traumrolle für Marcello Mastroianni), der seine Geliebte heiraten möchte, träumt davon, seine Frau einfach umzubringen, um aus dem Gefängnis der Ehe zu entkommen. Eine Scheidung war ja ausgeschlossen. Aber Mord würde ihn vielleicht lebenslang hinter ganz andere Gitter bringen. Also treibt der Baron seine Frau in die Arme eines Liebhabers und überredet diesen, mit ihr durchzubrennen. Cefalù fährt den beiden nach, und erschießt als gekränkter Ehe- und Ehrenmann seine Frau, was nach italienischem Recht ein geringes Vergehen ist. Nach kurzem Gefängnisaufenthalt kann der Baron zum zweiten Mal zum Traualtar gehen… Ein neues Scheidungsrecht, das 1974 mit einem Volksentscheid gegen die Kirche und die damals christdemokratische Regierung durchgesetzt wurde, hat dann endlich auch die zivile Ehescheidung ermöglicht. Eine »Scheidung auf italienisch« war für Männer nicht mehr notwendig. Durch das Gesetz wurde jedoch die soziale Rolle der Frau deutlich gestärkt. Dem Scheidungsrecht folgte 1981 ein Abtreibungsrecht, das wieder per Volksentscheid gegen die Kirche und die christdemokratische Partei (DC) durchgesetzt -42-
werden mußte. Ähnlich wie in anderen westlichen Gesellschaften ist jetzt die Schwangerschaftsunterbrechung während der ersten drei Monate möglich. Die Schattenseite der sozialen Emanzipation zeigt sich in der Doppelbelastung durch Beruf und Hausarbeit. 1995 haben 70 Prozent der Frauen, die in einem Arbeitsverhältnis standen, mindestens 60 Wochenstunden gearbeitet. Das kann man sogar am Strand sehen, wenn sich die Familie unter dem ombrellone, dem Sonnenschirm, breitmacht. Im Schatten sitzt da die Nonna im schwarzen Unterkleid, die Frau muß sich ihre guten Ratschläge anhören, um die Kinder kümmern, Kummertränen abwischen, den Nudelsalat vorbereiten und verteilen, den Platz gegen zudringliche Nachbarn verteidigen, aufräumen, die Kinder, die inzwischen baden waren, abtrocknen - während der Mann rauchend Radio hört, über seine Sonnenbrille schönen Beinen und Busen nachschielt, Zeitung liest oder sich in die Strandbar verdrückt. Er hat schließlich Urlaub und will nicht so enden wie sein Kollege aus dem Zugabteil vom Kapitelanfang. So ruht auch auf den Schultern der modernen Mamma nach wie vor die größte Last. Die Kinder sind zwar weniger geworden. Dafür bleiben sie jedoch viel länger zu Hause wohnen. Von meinen italienischen Nichten und Neffen (ich glaube, es sind 12) leben bis auf die Älteste, die verheiratet ist, noch alle bei ihren Eltern, obgleich einige schon älter als dreißig Jahre sind. Meine Freundin Claudia lernte mal einen sehr attraktiven jungen Mann kennen, der bereits erfolgreich im Berufsleben stand und sich in der Öffentlichkeit mit der Sicherheit eines Filmhelden bewegte. Doch der Held lebte zu Hause im Kinderzimmer von einst, und Mamma brachte ihm jeden Morgen ein Glas frisch gepreßten Orangensaftes ans Bett. Die Beziehung zu Claudia hielt nicht lang. Die Italiener sind demnach ein Volk von Muttersöhnchen: 71 Prozent der Nichtverheirateten unter 30 Jahren leben bei der Mamma. Dafür gibt es viele Gründe. Die Jungen (die -43-
manchmal schon graue Schläfen haben) müssen sich nicht mehr vom Vater emanzipieren, dessen Rolle als Patriarch verblaßt ist. Außerdem bietet der Wohnungsmarkt (rund 69 Prozent der Familien leben in Eigentumswohnungen) wenig preisgünstige Alternativen. Aber entscheidend ist: Es ist so unwiderstehlich bequem. Mamma sorgt für gutes Essen, frische Wäsche, ein geputztes Zimmer und aufbauenden Zuspruch. Dieser »Mammismus« steht an der Wurzel vieler nationaler Übel - vom Opportunismus bis zum laxen Umgang mit der Sauberkeit auf den Straßen und in den Parks. Zu Hause ist es nämlich picobello sauber. Mamma und die Familie stünden, wie manche Soziologen meinen, der Zivilgesellschaft geradezu feindlich gegenüber. Und bedeutet nicht auch die extreme Dichte von Mobiltelefonen in Italien, daß man gleichsam über eine elektronische Nabelschnur mit der Familie verbunden bleiben will? »Pronto, mamma, butta la pasta, sto venendo!« »Mama, setz die Spaghetti auf, ich komme jetzt nach Hause.« Theoretisch stehen Frauen alle Berufskarrieren offen, in der Politik sind sie jedoch deutlich unterrepräsentiert. Die Männer wiederum, die in den vergangenen Jahrzehnten politische Verantwortung trugen und nicht müde wurden, die Werte der Familie in Sonntagsreden hochzuhalten, haben sich wenig um konkrete Familienpolitik gekümmert. Es gibt kaum ein anderes europäisches Land, in dem Familie und Kinder einen so hohen emotionalen Stellenwert einnehmen und es gleichzeitig so sehr an öffentlichen Einrichtungen wie Spielplätzen, Kindergärten, Kinder- und Wohngeld, Familienberatung mangelt. Es drängt sich der Verdacht auf, daß der Staat der Familie mit der gleichen Indifferenz gegenübersteht wie die Familie dem Staat. Kein Wunder, daß die Familie oft die Lücken füllt, die der Staat gelassen hat. Zum Beispiel im Krankenhaus, wo die Familie zur Pflege des Patienten beitragen muß, oder bei der Altersversorgung. Von ihrer Pension könnte auch Nonna Antonietta nicht leben, zum Glück hat sie noch Kinder, die -44-
Familie eben, die sich um sie kümmert. Marias Pasta und die Kinder der Villa Emma Solidarität, auch unter Nachbarn, wird ganz groß geschrieben, die Gastfreundschaft noch größer. Natürlich hilft man sich auch in anderen Ländern, aber nirgendwo bin ich mit so viel Herzlichkeit eingeladen worden wie in Italien. Ich erinnere mich an eine Tramptour durch Sardinien, als ich in Olbia die Abendfähre nach Civitavecchia erreichen mußte. Ich hatte mich spät auf den Weg gemacht und lange an einer Straße in der Nähe von Macomer gestanden. Aber außer ein paar Bauern auf ihren Eseln oder ihren maultierhaft wirkenden Mofas kam niemand vorbei. Endlich hielt ein klappriger Fiat mit einem älteren Ehepaar, das aus Olbia stammte. Er hieß Giuseppe und sie natürlich Maria. Auf dem vollgestopften Rücksitz wurde Platz gemacht, und ich durfte einsteigen. Weil ich mich so spät auf den Weg gemacht hatte und auch der Fiat die Steigungen der Ausläufer des Monte Ortobene nur mühsam nehmen konnte (die heutige Schnellstraße um Nuoro herum gab es damals noch nicht), fuhr die Fähre pünktlich ohne mich ab, obwohl mich die beiden Alten bis zum Hafen und zum Anleger brachten. Ich bedankte mich und wollte mich auf die Suche nach einer einfachen Unterkunft machen. Giuseppe sagte: »Kommt gar nicht in Frage, du bleibst bei uns.« Sie beratschlagten kurz, dann entschieden sie, daß ich bei Tiu (Onkel) Gavino übernachten sollte, weil bei ihnen kein Bett frei war. Aber als erstes würde uns Maria eine Pasta kochen. »Mit Tomaten aus dem eigenen Garten«, sagte Giuseppe, und auch den Wein würde er selber machen. Es wurde ein wundervoller Abend. Wenn nur die Kopfschmerzen am nächsten Morgen nicht gewesen wären… aber mit -45-
selbstgekelterten Weinen ist das immer so eine Sache. Solidarität wird und wurde auch aus politischen Gründen geübt. Während des Zweiten Weltkrieges haben viele Familien politisch Verfolgten Schutz geboten. In Nonantola bei Modena kamen kürzlich einige »Kinder« der Villa Emma zu einer Ausstellungseröffnung wieder zusammen. Die heute über siebzigjährigen deutschstämmigen Juden lebten Anfang der vierziger Jahre in der Villa Emma, einem Heim am Rande des Städtchen Nonantola, in das sie auf einem abenteuerlichen Fluchtweg aus Deutschland über Kroatien und Slowenien gekommen waren. Das faschistische Italien gewährte diesen rund 70 elternlosen Kindern, die von jüdischen Hilfsorganisationen unterstützt wurden, Asyl unter der Bedingung, daß jeder Kontakt mit Italienern verboten war. Natürlich lernten italienische Kinder schnell die aus der Villa Emma kennen; sie spielten miteinander und freundeten sich an. Als deutsche Truppen am 8. September 1943 Italien besetzten, verschwanden die Kinder noch in derselben Nacht aus ihrem Heim. Einige wurden im Priesterseminar oder im Kloster, die meisten aber bei den Familien Nonantolas versteckt. Nach einigen Wochen gelang fast allen die Flucht in die Schweiz, von wo aus sie nach Kriegsende Palästina erreichten. Der Pate und das Prinzip Familie Die Familie ist mehr als Verwandtschaft. Der Familienzusammenhalt hat in Norditalien sowie in einigen Gegenden Mittel- und Süditaliens ein ganzes Netz von Kleinunternehmen entstehen lassen, das als Grundlage des wirtschaftlichen Reichtums des Landes gilt. -46-
Mein Schwager besitzt zum Beispiel einen kleinen Betrieb für Decken- und Wandverkleidungen. Er hatte einen festen Arbeitsplatz in der Industrie aufgegeben, um sich ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Möglich wurde das nur, weil zunächst seine Frau und später auch sein Sohn mitgearbeitet haben. Sie wohnen nur einen Steinwurf von ihrer Werkstatt im Hinterland Mailands entfernt. Wer etwa zwischen Turin im Piemont bis nach Treviso in Venetien mit dem Auto durch das Umland der größeren Städte fährt, wird überall diese Kombination von Wohn- und Arbeitsgebäuden entdecken. Wie um einen Bienenstock summt der Verkehr, Last- und Lieferwagen bestimmen das Bild der oft überlasteten Straßen, die in keinem Reiseführer beschrieben werden. Hier wird jedoch in kleinen, effizienten und flexiblen Betrieben der Reichtum produziert, der Italien zur fünftgrößten Wirtschaftskraft des Westens macht. Dagegen hat das Großunternehmen als Familienbetrieb keine Chance mehr. Sogar die Agnellis müssen sich die Macht im Haus mit anderen Partnern teilen. Manchmal passen sich die kleinen Familienfirmen geradezu ideal ins Landschaftsbild ein. Zum Beispiel auf den Hügeln um Sanremo, wo rund 6000 Blumenzüchter ihre eigenen kleinen Unternehmen betreiben, ist zwischen herrlichen Palmen und exotischen Kakteen eine Gartenlandschaft mit kleinen Wohnund großen Gewächshäusern entstanden. Und von oben blickt man auf das sich leicht im Wind kräuselnde blaue Meer. Der Einfluß der Familien reicht traditionell sehr weit. Früher galt: Wer eine Hilfestellung, gar einen Arbeitsplatz oder eine Vergünstigung haben wollte, hatte es leichter, wenn er dabei Familienbeziehungen ins Spiel bringen konnte. Diese raccomandazioni hatten als eine Art soziales Empfehlungsschreiben mehr Gewicht als etwa ein exzellentes Abschlußzeugnis. In einigen Gegenden Süditaliens gilt das heute noch. -47-
Vor kurzem konnte man in der Zeitung die Geschichte von Carmelina, einem Mädchen aus dem Landwirtschaftszentrum Bernalda in der Basilicata, lesen. Ihr Bruder fragte sie, ob sie eine raccomandazione für die Teilnahme an der Ausschreibung eines Arbeitsplatzes haben wolle. Und sie antwortete ganz naiv aufrichtig: »Ja, aber nur, damit ich normal behandelt werde, wie alle anderen auch.« Denn alle bekommen eine spintarella, einen kleinen Anschub. Empfehlung und Bestechung gehen Hand in Hand. Diese kleinen Anschübe der Familie helfen zusammen mit kleinen Geldgeschenken, einen Platz im Krankenhaus zu finden, nicht lange auf die Ausstellung eines Passes warten zu müssen oder eine bessere Note in der Schule zu bekommen. In Bernalda und ähnlichen Zentren findet man keine Arbeit, wenn man nicht raccomandati ist. Manchmal kann der Anschub aber auch schiefgehen. Ein Anwalt erinnerte sich eines Zivilstreites, bei dem die eine Partei mit einer spintarella beim zuständigen Richter nachhalf. Aber wie so häufig im Süden hatten die streitenden Familien den gleichen Nachnamen. Der etwas konfuse Richter nahm die Aufmerksamkeit der einen Seite dankend an, gab jedoch der anderen recht. Der reiche Verwandte einer spintarella heißt tangente und spielt vor allem in Norditalien eine Rolle. Mit einer tangente (wörtlich: Umgehung) setzt man gesetzliche Vorschriften außer Kraft, bekommt Bauaufträge genehmigt oder hält die Steuerlast niedriger. Als vor zehn Jahren in Mailand der kleine Stadtbeamte Mario Chiesa auf frischer Tat ertappt wurde, wie er so eine tangente entgegennahm, kam ein ungeheurer Finanz- und Bestechungsfilz zutage. Die Regierungsparteien hatten das zum Prinzip gemacht: Wer einen öffentlichen Auftrag haben wollte, mußte eine tangente in die Parteikasse zahlen - und manchmal auch in die Privatschatulle eines Ministers. Mutige -48-
Staatsanwälte und Richter ermittelten unter dem Schlagwort mani pulite (saubere Hände) gegen Unternehmer und Politiker, und die Wähler straften das Parteiensystem der Nachkriegszeit ab, das bald darauf unterging. In dem Parteiensystem hatte sich das »Prinzip Familie« lange gehalten. Die Christdemokraten zum Beispiel, die sich heute in viele kleine Parteien aufgesplittert haben, waren nichts anderes als eine Verbindung unterschiedlichster politischer Gruppen politischer »Familien«, in denen man Karriere aufgrund von »Familienempfehlungen« machte. Wie einst die Päpste in der Renaissance und im Barock für ihre Familien Ämter, Posten und sogar eigene Staaten schufen, so entstanden in der Nachkriegszeit aus »familiären« Versorgungsgründen und ohne gesellschaftliche Notwendigkeit Hunderte von staatlichen Einrichtungen mit einer Unzahl von Posten, die unter den regierenden Politfamilien aufgeteilt wurden. Was wäre ein Buch über Italien, ohne den Hinweis auf die Familienbande im organisierten Verbrechen? Die großen kriminellen Vereinigungen wie Mafia (Sizilien), N'Drangheta (Kalabrien), Sacra Corona Unita (Apulien) und Camorra (Kampanien) spiegeln natürlich Familienstrukturen wider. Und haben sie, wie wir alle aus dem »Paten« wissen, in die USA exportiert. Machtkämpfe der Mafia werden nach wie vor zwischen rivalisierenden »Familien«, so nennen sich die Banden selber, ausgetragen. Innerhalb dieser Gruppen gibt es Erkennungsriten wie zum Beispiel den Familienkuß. Daß er ihn einmal mit einem Mafiaboß ausgetauscht haben soll, wäre dem christdemokratischen Politiker Giulio Andreotti beinahe zum Verhängnis geworden. Doch ein Gericht in Palermo sprach Andreotti frei. -49-
Familienvater Berlusconi Im organisierten Verbrechen wie in der Politik oder im Privatbereich war und ist das Wohl der Familie das wichtigste Ziel, dem sich alle Mitglieder unterzuordnen haben. Denn die Familie gilt vielerorts immer noch als die einzige soziale Institution, die Sicherheit verspricht. Als höhere Instanz kann sich allenfalls noch die Kirche verstehen. Die (katholische) Religion spielt deshalb innerhalb der Familien eine wichtige Rolle. Es gibt gerade in Wohnungen einfacher Menschen, meist auf der Anrichte, eine Art Hausaltar, der mit den merkwürdigsten Gegenständen der Verehrung dekoriert ist - alles hat hier Platz, nur Geschmacksfragen nicht. Doch trotz Messe und oratorio (Jugendbetreuung in der Gemeinde) bleibt auch der Einfluß der Kirche begrenzt, wenn es um das Wohl der Familie geht. Nonna Antonietta sagt, sie glaube an Gott, nicht an den Priester. Ist das heute alles noch so? Wer sich länger in Italien aufgehalten hat, weiß von Familiengeschichten sämtlicher Ausprägungen zu erzählen. Zum Beispiel wird heute noch der Posten eines Aufsehers in den (staatlich verwalteten) Ausgrabungen Pompejis vom Vater auf den Sohn »vererbt«. Zwar scheint Italien in den letzten Jahren mit Siebenmeilenstiefeln in die Moderne und in die Zukunft zu stürmen, doch bleibt der Sinn für die Familie und das Mißtrauen gegenüber den »fremden« Institutionen in breiten Volksschichten fest verankert. So hat Silvio Berlusconi die Wahlen vom Mai 2001 nicht deshalb so erdrutschartig gewonnen, weil er eine bessere Politik als die seiner Vorgänger versprach, sondern weniger Politik, weniger Staat, weniger Steuern, weniger Bürokratie. Und weil er sich auch nicht als -50-
Politiker, sondern als Oberhaupt einer Familie präsentierte, das zusammen mit seiner Frau Veronica, seinen Kindern Marina und Piersilvio und seinem Bruder Paolo ein Wirtschafts- und Finanzimperium zu immer neuen Gewinnen führte. Und natürlich war da noch die Mamma Rosa, die ihren Silvio sowieso für den Größten hält und ihn auch allen anderen Müttern Italiens ans Herz legte. Und wer wollte nicht dem Rat einer Mamma folgen? Zum Schluß: Die Käsefamilie Im kulinarisch geprägten Italien ist es auch nicht überraschend, wenn sich Künstler wie Alberto Savinio mit Kennerschaft zum Beispiel über die »Käsefamilie« äußern konnten. Alberto Savinio ist das Pseudonym von Andrea de Chirico. Er wurde 1891 in Athen geboren und starb 1952 in Rom. Anders als sein Bruder Giorgio, der Hauptvertreter des Stils der metaphysischen Malerei, malte Savinio phantastische, surrealistisch-groteske Kompositionen und schrieb verspieltverschrobene Texte - zum Beispiel über die Käsefamilie. Der Parmigiano-Reggiano sei ein Basiskäse, wie Savinio erläutert. »Er ist in der Käsefamilie, was der Kontrabaß in der Familie der Saiteninstrumente ist. Auf den Grundton im tiefen, väterlichen Baß des Parmesans stützen sich die leichteren Mitglieder des Käsequartetts: Taleggio und Crescenza sind die Bratschen und Altstimmen der Familie, zu ihnen gesellt sich der Kleinkram der hohen Töne, die zarten Flöten- und Pikkolokollegen, der kleine, weiße Montevecchiakäse, der, winzig, untersetzt und mit Pfefferaugen versetzt, in einem grünen Ölsee weicht.« Den Gorgonzola nennt unser Autor einen »erwachsenen« Käse. »In seiner Jugend heißt er Panerone. Der Panerone, beziehungsweise der kleine Gorgonzola, ist weiß und fett, -51-
delikat und feucht wie der Gaumen eines jungen Kälbchens. Der Panerone ist ein Käse vor der Geschlechtsreife, sofern man die Fermentation als Geschlechtsreife verstehen darf. Zwischen einem Panerone und einem Gorgonzola besteht derselbe Unterschied wie zwischen einer bartlosen und einer bärtigen Wange.« Der Parmesan ist der Vater, welches aber der Mutter-Käse ist, sagt Savinio nicht. Die Mamma bleibt ein großes Geheimnis.
-52-
Piazza Grande e la Città Lebensstile und Stadtentwicklungen
Der Verkehr braust vorüber. Autos, Motorini, dazwischen Busse, die an der Haltestelle nur so kurz stop machen, daß die Menschen kaum Zeit zum Ein- und Aussteigen haben. Es wird gehupt, ein Mofafahrer schimpft hinter einem Auto her, das ihn abgedrängt hatte. Ein paar Schritte weiter sitzen Gäste beim Aperitif an den Tischen unter den Arkaden des Palazzo Enzo, Kinder stochern mit ihren Trinkhalmen zwischen den Eiswürfeln in der Cola, zwei Fahrradfahrer unterhalten sich angeregt an den Stufen zur Piazza Maggiore, vor dem Dom hockt ein Liebespärchen, und irgendwo spielt jemand Gitarre. Touristen gehen mit aufgeschlagenem Reiseführer umher: Im Palazzo Enzo lebte mehrere Jahrzehnte lang Re Enzo, der Sohn des Stauferkaisers Friedrich II., samt Hofstaat »inhaftiert«. Diese Piazza ist für Volksversammlungen geschaffen worden, erst später entschloß man sich, hier auch einen Dom zu bauen, und stritt sich über die Größe mit dem Papst. Eine Gedenktafel erinnert an die Befreiung Bolognas vom Faschismus durch Alliierte und Partisanen. »Ich hätte jetzt gern ein Eis«, sagt eine Touristin und klappt ihren Reiseführer zu. Kein Zweifel, die italienische Lebensart, ihre vielfältigen Ausdrucksformen und ihr Verhältnis zur Geschichte spiegeln sich nirgends so anschaulich wider wie auf der piazza. Jeder italienische Ort, in Großstädten jedes Viertel, hat mindestens einen zentralen Platz. An diesem Platz liegen wie in einem begehbaren Geschichtsbuch eine wichtige Kirche, Regierungspaläste vom Rathaus bis zum repräsentativen Sitz früherer Herrscher, mindestens eine Bar oder ein Café und eine -53-
Osteria. Dazu kommen je nach Anlage Denkmäler, Geschäfte, Büros, Wohnungen. Nicht selten wird auf dem Platz auch Markt gehalten. Mehr als in anderen westeuropäischen Ländern, die natürlich auch eine Kultur der Plätze kennen, konzentriert die südeuropäische, die italienische piazza das Leben einer Stadt. Hier trifft man sich - zufällig oder weil man sich verabredet hat -, sonnt sich auf den Stufen der Kirche oder den Treppen eines Palazzos, diskutiert in den Cafés, genießt die Ruhe oder fühlt sich wohl in der Hektik. Der Schriftsteller Claudio Magris hat das einmal sehr schön ausgedrückt: »Die Piazza ist eine Art Sonntag der Stadt. Sie ist der Ort, an dem die Atemnot nachläßt und man Luft schöpfen kann. Im Gegensatz zu den Straßen, die man schnell entlangläuft, um an ein Ziel zu kommen, macht man auf einer Piazza halt.« Die Straßen italienischer Städte sind mit ihren oft schmalen Fußwegen besonders für Kinder schwer zu ertragen; im Wagen sitzen sie zudem genau auf der Höhe der Auspuffrohre. Erst auf der piazza, die oft autofrei ist, löst sich die Spannung. Hier können sie spielen, laufen und den Eltern Zeit geben, sich umzusehen. Nirgendwo läßt sich das Verhalten der Menschen so gut beobachten. Und nirgendwo lernt man so schnell, Einheimische von Ausländern zu unterscheiden. Im Sommer ist das besonders leicht. Da hilft schon ein Blick auf die Kleidung. In Italien gehört die Wärme und der Umgang mit ihr zum Alltag, in anderen Ländern gelten heiße Tage und Wochen eher als Ausnahme - und in Bekleidungsfragen herrscht dann manchmal ebenfalls Ausnahmezustand. Und die Urlaubssituation als solche ist ja bereits eine Art Auszeit von Konventionen. Die Italiener, die viel mehr als wir Wert auf Kleidung legen -54-
und die vor allem wissen, was ihnen steht und was nicht, kann man jedoch am besten an ihrer Körpersprache erkennen. Kein anderes Volk hat diese Sprache so zur Perfektion gebracht. Man achte auf die bewegte Eleganz, mit der Worte verstärkt oder einfach nur begleitet werden. Und oft ersetzt die Geste gar eine ganze Antwort. Meine Kinder wachsen zweisprachig auf. Wenn sie Deutsch reden, verhalten sie sich deutlich steifer. Wenn sie aber Italienisch reden, scheinen sie in einem beweglicheren Körper zu stecken. Und ich sehe meine Tochter Mara vor mir, wie sie ihre Mutter anguckt, die Fingerspitzen der erhobenen Hand aneinandergedrückt, die sie stumm hin und her bewegt. Das heißt: »Was will der Kerl, was schreibt der bloß?« Vom Campo zum Campus Über die piazza schreibt er. Und über dieses einmalige Gefühl, das sich selbst auf einem italienischen Dorfplatz einstellt, wenn das, was man aus Geschichtsbüchern weiß, plötzlich einen konkreten Boden bekommt. Das Buch öffnet sich, und aus Buchstaben werden Haus- und Pflastersteine. Denn die piazza hat im Laufe ihrer Geschichte immer eine öffentliche und politische Funktion gehabt. Gerade im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert war sie ein Forum für Demokraten und Republikaner. Auf ihr bekannte man sich zu seinen gesellschaftlichen Zielen, informierte die Massen (weil die Massenmedien in der Hand des politischen Gegners waren) und fühlte sich gemeinsam mit Gleichgesinnten in seiner politischen Leidenschaft gestärkt. Die totalitären Regimes haben diese demokratische Tradition gefürchtet und sich der piazza bemächtigt. Mussolinis Reden auf der Piazza Venezia in Rom waren nur der Höhepunkt der öffentlichen Inszenierungen im Faschismus, die alle Plätze im -55-
Land mit einbezogen. Die Piazza war das Sprachrohr des Regimes und ihr Appellhof. Nach dem Krieg hat sogar die Kirche öffentlich Flagge gezeigt, Pius XII. wird von manchen Historikern als »der Duce von Piazza San Pietro« bezeichnet. Johannes Paul II. hat daran, wenn auch in anderem Stil, anzuknüpfen gewußt. Die Plätze Roms konnte man ein paar Jahrzehnte lang nach ihrer politischen Couleur einteilen. Als »rot« galt zum Beispiel die riesige Piazza San Giovanni, wo regelmäßig Gewerkschaften und KPI zu Demonstrationen aufriefen. »Schwarz« (im Deutschen würden wir sagen »braun«) war die Piazza del Popolo, auf der Neofaschisten aufmarschierten. Von dieser römischen Topographie sind nur noch Reflexe geblieben. Auf der Piazza Santi Apostoli trafen sich ein paarmal, meist vor und nach den Wahlen der vergangenen Jahre, die Anhänger des Ulivo, des Bündnisses der linken Mitte. Ein Zeichen auch dies: Auf der Piazza San Giovanni, auf der heute Rockkonzerte veranstaltet werden, haben Hunderttausende Platz, auf der Piazza Santi Apostoli Tausende. Scendere in piazza (auf den Platz hinausgehen) sagt man im Italienischen, wenn die Demonstranten im deutschen Sprachraum »auf die Straße gehen«. Und wenn manche Politiker sich im Norden Europas nicht dem »Druck der Straße« beugen wollen, so wehren sich ihre italienischen Kollegen dem »Druck der piazza« - dabei scheint die Zeit der Massendemonstrationen endgültig vorbei. Während der Ära des Fernsehens, die in Italien in den siebziger Jahren begann, hat die piazza nach und nach ihre Funktion als Forum politischer Öffentlichkeit verloren. Heute sind es oft kleine, radikale Gruppen, die die piazza nur noch als Kulisse nutzen, um mit welchen Mitteln auch immer die Aufmerksamkeit der Medienöffentlichkeit auf sich zu ziehen. Dieser Verlust an demokratischen und auch an kommerziellen -56-
Funktionen - die großen Märkte sind längst in die Einkaufszentren der Vorstädte abgewandert - hat die piazza zu einem Symbol ihrer selbst werden lassen. Die Entvölkerung der Innenstädte, ausgelöst durch hohe Grundstückspreise, verwandeln nicht nur in Italien die historischen Zentren der Städte in Museen oder in Schaufensterfolgen internationaler Boutiquenketten. Manche Plätze, wie die Piazza San Marco in Venedig oder die Piazza dei Miracoli in Pisa, drohen lediglich noch als urbane Hülle für Reiseveranstalter zu dienen. Überhaupt, so hört man Kassandra aus allen Medien rufen, erzeuge der Anpassungsdruck an den Tourismus Risse im historisch-kulturellen Netz, das dieses Land wie kein zweites überzieht. Das Überraschende an Italien ist immer, daß die Gesellschaft Eigenkräfte entwickelt, die das Netz wieder flicken. So zum Beispiel auf der herrlichen mittelalterlichen Piazza del Campo, die sich muschelgleich in eine Senke des auf Hügeln errichteten Siena schmiegt. Die Bewohner der Stadt haben sich sowieso das Recht auf »ihren« Platz, auf dem zweimal im Jahr das berühmte Rennen um den Palio ausgetragen wird, nie ganz nehmen lassen. Und außerdem hat die historische Anlage eine neue Funktion gewonnen: aus dem »Campo« ist auch ein Campus der nahen Universität, einer der besten von ganz Italien, geworden. Große Freiheit Autobahnraststätte Während wir Besucher die historischen Plätze bewundern, die urbane Vitalität bestaunen, uns in diesem Ensemble aus Vergangenheit und Gegenwart einfach wohl fühlen, gibt es eine Gruppe von Italienern, die unter einer Art von »Platzangst« leidet. Das sind Jugendliche, die den immergleichen Gesichtern und Beziehungen, der sozialen -57-
Kontrolle und schließlich der erdrückenden Monumentalität von Geschichte entfliehen wollen. Sie schwingen sich auf ihr Motorrad, setzen sich nach der Arbeit ins Auto und suchen die neuen, die anonymen Plätze auf: die Disko, das Einkaufszentrum, die Autobahnraststätte. Besonders am Abend und in der Nacht sind die Raststätten in Nord- und Mittelitalien Ziel von jungen Menschen. Sie sind Pausenstops zwischen zwei Diskoaufenthalten oder Treffpunkte nach einer im Chatroom unter Spitznamen getroffenen Verabredung. »Ich bin Lou, bist du Bingo?« Die Autobahnraststätte bietet Fast food italienischer Provenienz (Pizza, Salate, belegte Brote) und guter Qualität sowie einen blitzblanken Selbstbedienungsshop mit Gebrauchsartikeln von der Sonnenbrille bis zu Hansaplast und Gatorade, vom Parmigiano bis zu CDs und Regenschirmen. Eine Generation, die mit dem Werbefernsehen als Babysitter aufgewachsen ist, findet hier ihre Warenwelt in Reinkultur und fühlt sich frei, obgleich jeder Winkel von Überwachungskameras ausgespäht wird. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, daß Lou und Bingo in gar nicht so ferner Zukunft ihren Enkeln voller Stolz die schönen Plätze und Städte zeigen werden, denen sie heute den Rücken zudrehen. An Auswahl herrscht kein Mangel. Ebensowenig an Bezeichnungen. Nicht alle Plätze heißen piazza, sondern die kleinen heißen piazzetta, die ganz großen piazzale - und wechseln das Geschlecht von weiblich zu männlich. Außerdem gibt es noch den largo, das bedeutet dem Wortsinn nach »Verbreiterung«, und den campo, was sich von »Feld« ableitet. Und schließlich ganz klassisch das foro (Forum). Italien hat Hunderte von Plätzen, berühmte und weniger bekannte. Ich bin, wie die meisten, ein piazza-Fan. Faszinierend sind diejenigen Plätze, die sich zum Meer öffnen, -58-
zum Beispiel die Piazza dell'Unità in Triest, aber ebenso die, die gleichsam in einem Hof sich selbst genügen, wie die Piazzetta von Capri. Die typischen Marktplätze (Piazza delle Erbe oder Piazza Mercato) Venetiens und der Toskana (Lucca) sind wahre Schatzgruben, und die großen spätbarocken Szenographien Roms und Süditaliens (Neapel, Palermo, Lecce) versetzen ihre Betrachter immer wieder in Staunen. Die Piazza ist auch ein Ort der Popkultur, nicht nur, weil auf ihr Konzerte veranstaltet werden, sondern weil es Songs über sie gibt und Lucio Dalla zum Beispiel mit seiner »Piazza Grande« Bologna ein Denkmal gesetzt hat. Manchmal »dreht« sich ein Platz, wie die Piazza Ducale in Vigevano (in der Nähe von Mailand), die ursprünglich als repräsentativer Vorplatz eines Kastells der Sforza entstanden war und heute nach kleinen geschickten Umbauten im Barock als Domplatz erscheint. Eine Piazza ist oft ein Guckloch in die Geschichte des Landes. Das ist jedoch nicht immer so offensichtlich wie in Vigevano. Vielen Italienern gilt der Piazzale Loreto in Mailand als »tragischer Platz«, auf dem die Geburtsstunde des republikanischen Italiens schlug. Auf diesem Platz am nördlichen Rand der Innenstadt wurden nach einem Attentat auf einen deutschen Militärlastwagen im August 1944 15 italienische Geiseln erschossen und ihre Leichen anschließend zur Schau gestellt. Ende April 1945, nachdem Benito Mussolini und seine Freundin Clara Petacci auf der Flucht nahe der Schweizer Grenze von Partisanen erschossen worden waren, brachte man ihre Körper nach Mailand, wo man sie symbolträchtig auf dem Piazzale Loreto ausstellte. Um sie besser zu zeigen, ließen die siegreichen Widerstandskämpfer sie an den Füßen hochziehen und hängten sie wie Schlachtstücke an den Dachträger einer Tankstelle. Das Foto von dieser Szene ging um die Welt. Auf der heute gesichtslosen Platzanlage, die eine reine -59-
Verkehrsdrehscheibe geworden ist, erinnert fast nichts mehr an diese Vorgänge. Nur in einer Nebenstraße findet man eine mit Taubendreck verschmutzte Erinnerungstafel an 15 Menschen, die hier im »Namen der Freiheit« fielen. Kein Hinweis auf die Umstände, namenlos die Täter. Die Piazza als Opernbühne Mailand ist sicher nicht die Stadt, an die wir zuerst denken, wenn wir uns eine italienische piazza vorstellen. Da sehen wir lieber eine kleinere Stadt vor uns, etwa Urbino, wo in der Senke zwischen zwei Hügeln die zentrale Piazza della Repubblica entstanden ist. Rotbraune Backsteingebäude geben sich bedeutend, wie das spätbarocke Collegio Raffaello oder der klassizistische Palazzo Albani mit seinen Arkaden. Es gibt mehrere Cafés, einen Zeitungsstand, Platz für Stühle und Tische, Platz zum Flanieren - und in der Mitte einen Brunnen. Und manchmal findet hier ein Blumenmarkt statt. Es ist der ideale Ort zum Ausruhen und zum Treffen, zum sich Zeigen und zum Zusehen. Um mit dem berühmten Germanisten aus Triest, Claudio Magris, zu sprechen: sonntäglich auch im Alltag. Es beginnt noch ganz unspektakulär am Morgen, wenn man mit einem Packen Zeitungen unter dem Arm einen Platz zum Frühstück sucht. Ein paar Studenten kommen vorbei, ein Professor grüßt, der Polizist diskutiert mit einem Autofahrer, der hier durchfahren will, aber nicht darf. Weil er aber dem kleinen Stadtbus den Weg versperrt, dann doch durchfahren kann - »aber nur das eine Mal!«. Die Sonne scheint, in den Zeitungen steht nichts Neues, das könnte ein schöner Tag werden. Schon sieht man einen Freund, und die Verabredung zum Mittagessen ist perfekt. Am späten Nachmittag sind alle Plätze in den Cafés besetzt, -60-
jetzt scheint der ganze Ort auf der piazza versammelt. »Ciao bionda!« - »Lunga vita!« Rufe gehen von einem Tisch zum anderen, man begrüßt und grüßt zurück, nippt am roten Aperitif und plaudert mit der schönen Tischnachbarin. Was machen wir heute abend? Sehen wir uns nach dem Essen? Gibt es was Sehenswertes im Kino? Man hört lautes Lachen, und irgendwo fließen vielleicht Tränen. Über der ganzen piazza liegt ein fröhliches Summen, eisschleckend gehen Teenager auf und ab, bis sie plötzlich kichernd schneller gehen, weil sich ein Pärchen ziemlich ungeniert auf den Stufen vorm Collegio küßt. Daneben ist Streit ausgebrochen - »calma, ragazzi!« Touristen drängeln sich suchend durch die vielen Grüppchen, die sich gebildet haben. Es wird diskutiert über Tiefgaragen oder ob man die Eisenbahn wieder aufleben lassen soll. Man schimpft laut über die Diebe in der Regierung (ladri!) und das langweilige Fernsehprogramm von gestern (che noia!). Studenten tauschen ihre Notizen aus. Am Brunnenrand stehen zwei Jugendliche, die bereits am Morgen hier gestanden haben und vielleicht noch später hier stehen werden - auf der piazza kann man einen ganzen Tag verbringen. Wer weiß, was hier heute alles ausgeheckt worden ist, welche Geschäfte verhandelt worden sind, welche Tragödien von hier ihren Ausgang nehmen oder welches Glück? Aus einem offenen Fenster hört man Rossiniklänge, und plötzlich versteht man, warum so viele Opern auf einer piazza spielen, warum Italien, Oper und piazza zusammengehören. Und warum nur in Italien ein ganzer Opernraum, wie das Aldo Rossi mit dem Innenraum des Teatro Carlo Felice von Genua gemacht hat, postmodern als piazza gestaltet werden konnte. Auf irgendeinem dieser Stühle der Piazza von Urbino hat früher einmal Wolfgang Hildesheimer gesessen und sich vermutlich köstlich amüsiert. Così fan tutti. -61-
Das Mittelalter zum Anfassen Als Italien während der neunziger Jahre nach den Finanz- und Korruptionsskandalen eine schwere gesellschaftliche und institutionelle Krise durchlebte, und auch die alten politischen Parteien an Glaubwürdigkeit verloren, redete man ein paar Jahre lang von einem »Partito dei sindaci«, einer Partei der Bürgermeister. Nach einer Reform des Kommunalwahlrechts wurden damals zum ersten Mal die Bürgermeister größerer Gemeinden direkt vom Volk gewählt. Sie erhielten damit eine Legitimation, die der Regierung in den Augen der Öffentlichkeit fehlte. Es war natürlich ein Trugschluß, daß eine politische Erneuerung der Nation von den Bürgermeister (die außerdem den unterschiedlichsten Parteien angehörten) ausgehen konnte. Die öffentliche Reaktion zeigte jedoch, wie stark die historische Rolle der Städte nach wie vor im gesellschaftlichen Bewußtsein verankert ist. Fast zweitausend Jahre prägten in Nord- und Mittelitalien die Städte die Geschichte des Landes. Im Mittelalter befreiten sich viele Kommunen von den Feudalherren wie von der Macht des Klerus. Die neuen Machthaber gerieten aber immer wieder in Konflikt mit denen der Nachbarstädte und mit dem Kaiser im fernen Deutschland. Der zog regelmäßig nach Italien, um zu zeigen, wer Herr im Staate war. Was nicht immer gelang: 1176 siegte bei Legnano in der Nähe von Mailand eine Liga lombardischer Städte gegen Kaiser Barbarossa. Dieser Sieg wird heute noch mit einem Kostümfest, großen Umzügen, bei dem der Streitwagen (carroccio) im Mittelpunkt steht, und einem Pferderennen gefeiert. 801 Jahre nach der Schlacht von Legnano, habe ich ausgerechnet in jener Stadt geheiratet. Aber das ist eine ganz andere Geschichte (und eine ganz andere Schlacht)… -62-
Stadtregionen als Lebensnerven Die Einwohnerzahl der Gemeinden sagt heute wenig über die Städte aus. Wer mit dem Auto oder mit dem Zug durchs Land fährt, nimmt oft gar nicht wahr, wo eine Gemeinde beginnt oder aufhört. Es sind deshalb die Stadtregionen, die in positiver wie in negativer Hinsicht das Stand- und Landschaftsbild Italiens bestimmen. Besonders fällt das in der Po-Ebene auf: In einem rund 50 km breiten Streifen zwischen Turin im Westen und Udine im Osten, der rund sieben Prozent des Staatsgebietes entspricht, lebt ein Viertel der Bewohner Italiens. Hier hat sich die Hälfte der verarbeitenden Industrie des Landes angesiedelt. Knotenpunkte bilden in diesem Streifen die Stadtregion um Turin (rund 2 Millionen Einwohner), die um Mailand, Como, Bergamo (6 Millionen Einwohner) und die um Venedig, Padua, Treviso (1,2 Millionen Einwohner). Von Mailand aus schiebt sich ein verstädteter Raum an der Via Emilia (der alten römischen Konsularstraße) bis nach Bologna und schließt Städte wie Lodi, Piacenza, Parma, Reggio Emilia und Modena mit ein. Es ist vorauszusehen, daß sich dieser Stadtraum bis an die Adria nach Rimini fortsetzen wird. In Mittelitalien ist Verstädterung größeren Ausmaßes nur im Raum Florenz, Pisa, Livorno (1,5 Millionen Einwohner) zu erkennen. Die Hauptstadt Rom, die wenig Waren - dafür um so mehr Gesetze und Verordnungen - produziert (hier sind fast 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung bei der öffentlichen Hand angestellt), ist die größte Stadt Italiens. Sie ist sogar die einzige, die als Gemeinde auch einen dauernden Zustrom verzeichnen kann. Die Stadtregion dagegen (3,6 Millionen Einwohner) wächst kaum. Sie wird von der äußerst lebhaften und zugleich -63-
bedrohlich engen Region um Neapel, Caserta und Castellamare mit Ausläufern nach Avellino und Salerno (4,2 Millionen Einwohner) übertroffen. Hier registriert man auch die höchste Einwohnerdichte (1733 Menschen je Quadratkilometer, der Landesdurchschnitt beträgt 188 Einwohner je Quadratkilometer). Daß das Leben in Neapel nicht einfach sein kann, läßt sich bereits aus der Statistik ablesen. In keiner europäischen Großstadt gibt es weniger Grünfläche als in Neapel. Neapel ist dennoch eine unglaublich vitale Stadt, voller Widersprüche aber mit einem (Über-)Lebenswillen, der mich immer wieder fasziniert. Man hofft auf sein Glück, und setzt - koste es, was es wolle - im Glücksspiel seine letzten Lire und Centesimi ein. Man lacht ebensoviel, wie man weint. Die Stadt ist zum Weglaufen - und voller guter Laune. Die Lebenslust und Ironie der Neapolitaner macht auch vor Friedhofsmauern nicht halt. Als die Elf von Napoli 1990 zum zweiten Mal nacheinander italienischer Fußballmeister geworden war, hat jemand auf die Mauer eine Botschaft an die Toten als Grafitto gesprüht: »Ihr wißt ja gar nicht, was ihr versäumt!« Schnäppchen mit kleinen Fehlern Man fährt nach Italien natürlich auch zum Einkaufen. Nicht so sehr wegen Benetton & Co., die findet man zu Hause auch. Auch nicht wegen der Kaufhäuser, wenn man einmal von dem Mailänder Nobelhaus Rinascente oder dem neuen Armanipalast in der Via Manzoni absieht. Die meisten Kaufhäuser (Upim, Coin, Standa u. a.) sind nicht gerade von herausragender Qualität. Man geht in die vielen kleinen Geschäfte, wühlt sich durch Boutiquen und Krimskramsläden und wirft einen Blick in die Antiquariate. Es ist tröstlich, daß sich trotz Globalisierung und -64-
europäischer Einheitswährung in den Stadtzentren so etwas wie eine Einkaufskultur erhalten hat, die vom Kleinen ausgeht. Zwar sind an den Stadträndern große Einkaufszentren entstanden. Die Mailänder sind zum Beispiel ganz verrückt nach IKEA, so daß wir inzwischen zwei schwedische Möbellager am Ort haben, obwohl die angrenzende Brianza berühmt ist für ihre Holzproduktionen und Qualitätsgeschäfte. Aber Märkte spielen immer noch eine große Rolle. Auch für die, die gerne ein Schnäppchen machen möchten. Meine Frau Lidia verschwindet samstags immer schnell nach dem Mittagessen, wenn das Treiben zwischen den Buden und Verkaufsständen in dem Viale Papiniano etwas nachgelassen hat. Dann kann sie in Ruhe »ihre« Stände anlaufen, von denen sie weiß, daß sie Ware von Modedesignern, die vielleicht den einen oder anderen kaum sichtbaren Makel haben, zu Spottpreisen anbieten. Und wenn später Freunde beim Abendessen oder auf der Party ihr neues Armanijäckchen bewundern und fragen, wo man dieses Modell noch bekommen könnte, sagt sie nur: »Bei meinem Lieferanten.« Irgendwo findet man alles immer noch preiswerter. In den großen Verwaltungssitzen der Unternehmen, aber besonders in den römischen Ministerien, gibt es eigene kleine Läden, wo man zu Fabrikpreisen einkaufen kann, oder es gehen Einkaufslisten herum. Längs der Ausfallstraßen der Städte bieten Firmen Direktverkäufe an. Wer will, plant nach bestimmten Schnäppchenführern seine Reiseroute nach diesen Gelegenheiten (die bei oft kleiner Auswahl nicht immer welche sind). Selbst in den Städten findet man entsprechende Einkaufsmöglichkeiten. Als ich zu Weihnachten meiner Frau etwas zum Anziehen schenken wollte, drückte mir meine ältere Tochter eine tessera, einen Ausweis, in die Hand, mit der man in einem kleinen Spezialgeschäft bis zu 50 Prozent Preisnachlaß bekommen -65-
kann. Diese tessera ist eigentlich für die Angestellten der umliegenden Büros und Firmen gedacht, aber irgendwie war Gianna daran gekommen. Wie? Egal, der Hosenanzug paßte Lidia wunderbar, auch wenn es unter dem Tannenbaum beinahe zu einem Ehekrach gekommen wäre: »Spinnst du denn, so viel Geld auszugeben?« Der Hinweis, das sei eine occasione, eine Gelegenheit, die auszuschlagen ein Verbrechen gewesen wäre, sorgte wieder für harmonische Stimmung. Erst später erfuhr ich, daß der Ausweis meiner Frau gehört, die ganz in der Nähe der Boutique arbeitet. Früher war das Einkaufen durch nicht ganz einfache und dazu regional unterschiedliche Öffnungszeiten geregelt. Mittags waren (und sind) viele Läden geschlossen, Bäcker dazu am Montagnachmittag, Lebensmittelgeschäfte am Mittwochnachmittag, alle übrigen am Montagvormittag. Abends, auch samstags, kann man bis 19.30/20 Uhr einkaufen. Zwischen orario continuato (durchgehend geöffnet) und komplizierten Öffnungszeiten läßt sich heute in Italien alles finden. In Mailand hat die Kommunalverwaltung inzwischen die Sonntagsschließung aufgehoben, die Geschäfte können also ihre Waren anbieten (wenn sich die Besitzer etwas davon versprechen). Mein Supermarkt hat täglich (also auch sonntags) von 9-21 Uhr geöffnet. Viele kleine Läden halten nichts davon. Da finde ich auch manchmal wochentags zur besten Einkaufszeit ein Schild an der verschlossenen Tür: ritorno subito - komme gleich wieder. Dann gehe ich erst mal in die Bar, einen Espresso trinken - da treffe ich dann auch den Elektriker, bei dem ich eine Glühbirne kaufen wollte.
-66-
Ein Sonnenstrahl in Rom Ich lebe trotz aller metropoler Last heute sehr gerne in Mailand, weil die Stadt kulturell anregend ist wie keine zweite und sie voller neuer Ideen und Initiativen steckt. Turin ist eine verkannte Schönheit und im Zentrum eine schmucke Residenzstadt. Venedig fasziniert - trotz des Massenandrangs, dem man zum Glück auch entgehen kann. Parma oder Mantua, Cremona oder Ferrara sind städtische Kleinode im Schwemmland des Po. Ich nutze jede Gelegenheit, um Städte und Städtchen wie Siena und Urbino zu besuchen. Im Gedächtnis bleiben herrliche Aufenthalte in Lecce, Syrakus oder Marsala und natürlich in sardischen Orten wie dem weißen Alghero oder dem melancholischen Nuoro, der Hauptstadt der wilden Barbagia. Und schließlich genieße ich jede Reise nach Neapel. Meine erste große städtische Liebe, die man bekanntlich nie vergißt, war Rom, wo ich an einem Pfingstsamstag 1972 zum ersten Mal abends mit dem Zug ankam. Freunde, die vorgefahren waren, holten mich ab, und wir fuhren mit dem Auto über die Piazza Venezia mit dem angestrahlten, unglaublich weißen »Altare della patria«, dem »Altar des Vaterlandes«, ich sah den Mond über dem Palatin leuchten und unter ihm das Forum Romanum, im lichterblinkenden und hupenden Verkehr umkreisten wir das Kolosseum, ich war wie trunken… Am nächsten Morgen unternahmen wir einen kleinen Spaziergang, der zum schönsten Weg gehört, den ich in Rom empfehlen kann. Bei Tagesanbruch haben wir uns aufgemacht. Auf der Piazza di Spagna fing gerade der Kioskbesitzer an, die Packen mit den Zeitungen aufzuschnüren, die ihm bereits im Morgengrauen auf die Straße gestellt worden waren. Erst viel später, als ich ganz in der Nähe lebte, erfuhr ich, daß der Kioskbesitzer Otello hieß und noch Max Frisch und Ingeborg -67-
Bachmann kennengelernt hatte. Am Barcaccia-Brunnen vorbei stiegen wir die schwingende Treppe, die sich wie eine Folge immer neuer kleiner Bühnen darbietet, zur Kirche Trinità dei Monti hoch. Und von oben kann man zum ersten Mal den Blick auf die Kuppellandschaft Roms genießen, der einen die folgende Wegstrecke begleitet. Wir gingen vorbei an der Villa Medici, wo, hinter Sträuchern versteckt, eine Gedenksäule steht. Sie erinnert daran, daß Galileo Galilei hier einst gefangengehalten wurde, bevor er der Wahrheit abschwor, um sein Leben zu retten und einem Berufsverbot zu entgehen. Rom begeisterte mich von Anfang an mit dieser Mischung aus Ästhetik und geschichtlichen Spuren. Dazu gehört die Eleganz auch seiner unbedeutenden Bauwerke, wie der Casina Valadier inmitten immergrüner Bäume. In den Gartenanlagen dahinter strahlen die Büsten der Patrioten aus der Einheitsbewegung ein geradezu melancholisches Pathos aus. Und ohne Ende scheint jedesmal der Blick auf die Stadt, die langsam im Morgendunst erwacht. Es sind Blicke, die Blumen und Bäume in den ockerbraunen Tonkübeln auf den Terrassen der Dachgeschosse streifen, über die graue Kuppel des Pantheons gehen, die roten romanischen Kirchtürme einfangen, und die sich schließlich auf der gegenüberliegenden Seite im grünen Gianicolo mit seinem Leuchtturm verlieren. Und nebenan erhebt sich der Vatikanhügel, wo der »römische Glauben«, die älteste Institution der Welt, ihren Sitz hat. Wenn man so früh aufgestanden ist, daß der erste Sonnenstrahl, der über den Hügel der Villa Borghese klettert, die Laterne der Peterskuppel genau in dem Augenblick trifft, wenn man auf die Terrasse über der Piazza del Popolo tritt, dann hört man den Tag klingen. Aber vermutlich sind das nur die römischen Glocken, die den Morgen einläuten.
-68-
Das Land, wo die Zitronen blühen Landschaftsbilder und Naturgewalten
Das soll Meer sein? Eine italienische Freundin, die ich mit an die Nordseeküste genommen hatte, war ganz enttäuscht von ihrer ersten Begegnung mit dem Atlantischen Ozean. Das Wasser war grau, aufgewühlt und schmutzig. Dunkle Wolken eilten über den Himmel, und nur ab und zu kam die Sonne durch, die dann ein merkwürdig milchiges Licht über die schaumig auslaufenden Wellen warf. Über den Strand wehte ein frischer Juniwind und trieb uns den Sand in die Augen. Als wir später wiederkamen, hatte sich der Wind gelegt, dafür aber war das Meer nicht mehr da. Vor uns lag Schlamm, lag das endlos braune Watt. Meine Freundin sagte gar nichts mehr. Ein paar Wochen später fuhren wir auf Sardinien zusammen die Küstenstraße von Alghero nach Bosa entlang. Zum Teil schroffe Gebirgszüge, nur mit der Macchia mediterranea und wenigen Olivenbäumen bedeckt, fallen steil zum Meer ab. Die kaum befahrene Straße windet sich auf und ab und läßt immer wieder den Blick auf das Wasser frei, das an diesem Septembernachmittag tiefblau unter uns leuchtete und im Sonnenlicht glitzerte, als würden Tausende von Brillanten auf der Oberfläche schwimmen. Eine leichte Brise hinterließ leicht kräuselnde Spuren auf dem sonst ganz ruhigen Meer. Vor einer kleinen Bucht lag ein Segelboot. Weiter draußen konnte man mit etwas Glück einen Schwarm Tümmler springen sehen. »Siehst du«, sagte sie, als hätten wir unser Gespräch von damals erst kurz zuvor unterbrochen, »das ist Meer.« Diesmal sagte ich nichts. -69-
Es ist nicht leicht, einer Italienerin, die zudem noch von einer Insel stammt, zu erklären, daß man beides mögen kann: die wattbraune Herbheit der Nordsee und die brillantenblaue Schönheit des Mittelmeers. Unverständlich reagieren die Einheimischen auch auf die Frage nach der Wassertemperatur, mit der man in Norddeutschland ganze Gesprächsrunden lebendig halten kann. Das Mittelmeer ist als Binnenmeer sehr viel wärmer als Gewässer in gleicher Breitenlage. Das kalte Tiefwasser des Atlantiks kommt nicht über die flache Schwelle von Gibraltar hinweg, so daß man noch in großen Tiefen zum Beispiel des Ligurischen Meeres bis zu 12 bis 14 Grad Celsius messen kann. An der Oberfläche wird es an den Küsten im Sommer zwischen 23 und 26 Grad warm. Für einen Italiener gilt deshalb, entweder man kann im Meer baden (zwischen Juni und September), oder man kann nicht im Meer baden (während der restlichen Jahreszeit). 18 oder 19 Grad Wassertemperatur, die an Nord- und Ostsee durchaus niemanden schrecken, fallen automatisch in die zweite Kategorie. Wer jetzt badet, erntet freundlich zurückhaltenden Spott. Mit solch einem Spottblick bin auch ich bedacht worden, als ich mich beim ersten Besuch eines Hallenbades in Mailand nach einer kalten Dusche erkundigt hatte. »Sind Sie Holländer?« fragte mich der Bademeister. »Nein, Deutscher.« - »Das ist das gleiche.« Mentalität und Charakter, das muß auch etwas mit dem Meer zu tun haben. Italien hat alles Ja, Italien hat alles. Es hat hohe Berge, an der Grenze nach Frankreich sogar die höchsten Europas. Es hat Ebenen in den Niederungen des Po sowie im Küstenland Venetiens und des -70-
Friauls. Es hat ein kräftiges Mittelgebirge, was sich wie eine Art Wirbelsäule die Halbinsel entlangzieht, die nach ihm seinen Namen trägt: Apenninhalbinsel. Es hat herrliche Binnenseen. Und es hat mehr als 8000 Kilometer lange Küsten, meist felsig aber auch oft sandig auslaufend, zur besonderen Freude der Badegäste. Zudem hat es mehr Wälder, als man denkt. Vor allem in Süditalien findet man sie etwa auf dem Gargano oder dem Aspromonte oder in einigen wilden Gebirgszonen Sardiniens. Ideale Verstecke für Leute, die Grund haben, sich und andere zu verstecken. Bestimmte Verbrechen, wie zum Beispiel die Entführung von Menschen, wären in anderen westeuropäischen Ländern bereits aus geographischen und logistischen Gründen gar nicht in dem Ausmaß möglich, wie sie in Italien eine Zeitlang an der Tagesordnung gewesen sind. Man findet allerdings sehr viel weniger Wälder, als es früher einmal gegeben hatte, weil die Menschen seit der Antike zur Gewinnung von Brenn- und Bauholz sowie von Weideflächen und Kulturland Bäume und Sträucher sträflich gerodet haben, ohne an Aufforstungen zu denken. Die Apenninhalbinsel ist erdgeschichtlich ein junges Land und deshalb immer noch in Bewegung, wie Erdbeben und Vulkanausbrüche zeigen. Was die Bodengüte betrifft, ist Italien ein relativ armes Land und außerdem mit Ausnahme der PoEbene schwer zu bebauen - was wiederum die Menschen dazu getrieben hat, auch anderen Kulturformen als der Landwirtschaft nachzugehen. Und damit den Weg für die einzigartige kulturhistorische Entwicklung des italienischen Raums möglich gemacht hat. Das Klima wird durch eine starken Nord-Süd-Gegensatz geprägt: im Norden ist es subozeanisch, das heißt, es ist feucht, und das Land wird von vielen fließenden Gewässern durchzogen. Im Süden ist es sommertrocken und vom Mittelmeer geprägt. Flüsse werden hier nicht lang. -71-
Über Geißböcke und einen stillen Berg Haben die Menschen in Italien ein Verhältnis zu ihrer Natur? Ganz pauschal könnte man sagen: nein. Die Städter fahren mit dem Auto am Wochenende in die Natur, um Luft zu holen, gut essen zu gehen oder um ihren Müll in die Landschaft zu kippen. Und die, die auf dem Land wohnen, sehen die Natur vor allem als etwas an, aus dem man Profit ziehen kann. Sie pflegen ihren Garten, aber das Feld nebenan oder der öffentliche Grund und Boden gar ist ihnen egal. In Italien gibt es kein romantisches Raunen, wie es der deutsche Sprachraum für seine Wälder und Auen kennt. Ein »Erlkönig« wäre in der italienischen Literatur ebenso undenkbar wie die sentimentale Schilderung mediterraner Landschaft im »Taugenichts«. Wenn überhaupt philosophiert man über die Unendlichkeit, wie es Italiens Goethe, Giacomo Leopardi (1798 - 1837), in seinem berühmten Gedicht »L'infinito« ausdrückt: »Schon immer lieb war mir der stille Berg/… Doch sitzend, schauend, stell ich unbegrenzt / Den Raum dahinter… / Mir in Gedanken vor.« Oder man beschreibt die Natur, wenig bedeutungsschwanger, dafür mit um so wacherem, kindlichem Erstaunen, wie es etwa die Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda (1871 -1936) aus Sardinien getan hat: »Der Nebel hatte sich verzogen. Und die schwarzen Umrisse der Sträucher zeichneten sich gegen das blasse Blau des Horizonts ab. Alles war plötzlich klar, als hätten unsichtbare Hände die Schleier des schlechten Wetters fortgezogen. Und ein großer Regenbogen mit sieben leuchtenden Farben, der sich in einem kleineren und bleicheren gleichsam spiegelte, wölbte sich über der ganzen Landschaft.« Keiner hat sich jedoch so unmißverständlich ausgedrückt wie Giorgio Manganelli in seinem »Handbuch für unnütze Leidenschaften« (1985): »Über Felder und Wiesen laufen -72-
Faune, Geißböcke, Nymphen und Silene; zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit begegnet man bocksartigen, gehörnten, behaarten, halbnackten Geschöpfen von äußerst zweifelhaftem Niveau. Eine Urcousine von mir kam von einer Sommerfrische auf dem Lande mit einer unglaublich verderbten und ungebührlichen Redeweise zurück und gefiel sich in den obszönsten Witzen… Darüber hinaus hat man mir versichert, daß die Faune weder Weinsorten noch Jahrgänge unterscheiden können; für sie ist alles eins, ob Brachetto oder Barolo, Rapitalà oder Rubesco. Die Nymphen sprechen nur Dialekt und weigern sich, die Verse des illustren Leopardi, selbst in eigens für Nymphen kommentierten Ausgaben, zu lesen.« Aber verhält sich nicht alles ganz anders? Die vielen Landschaftsschutzgebiete (die parco naturale heißen) zeigen, daß die Italiener sehr wohl ein Verhältnis zur Natur haben und nicht immer nur Antennen für den Handyfunk auf ihre Berge pflanzen. Der größte, der Nationalpark des Gran Paradiso wurde 1922 nach dem Modell des amerikanischen Yellowstone Parks gegründet. Er bedeckt 700 Quadratkilometer rund um das Alpenmassiv des Gran Paradiso. Man stößt außerdem überall im Land auf Umweltschutzorganisationen: vom Lipu (Vogelschutz) über die Legambiente (Naturschutz) und Italia nostra (Umwelt- und Kulturgüterschutz) bis zur italienischen Sektion des World Wildlife Fund, deren Vertreter ihren Landsleuten meist auf den Leserpostseiten der Zeitungen mit feurigen Briefen ins Gewissen reden. Italien hat eben alles, sogar Naturschützer. Alte Seen und junge Badelust Er ist der größte. In Italien findet man kein Gewässer, was es an Fläche, Breite und Tiefe mit dem Gardasee, dem Lago di -73-
Garda, aufnehmen könnte. Seine enzianblauen Wasser sind so sauber, daß er als einziger der großen norditalienischen Seen heute noch Trinkwasser liefern kann. Ein See mit vielen Gesichtern. Im Norden, wo die Berge heranrücken, wirkt er wie ein Fjord. Fallende Winde machen ihn zum Paradies für Surfer. Im Süden fließt er dann breit und mächtig wie ein Meer. An kleinen Stränden genießt man Sonne und Wasser. Geschützt durch den Monte Baldo, bildet der Gardasee eine klimatische Insel in den Voralpen, ein Stück Süditalien nahe der deutschen Sprachgrenze: Palmen, Zypressen, immergrüne Eichen, Olivenöl, Wein… Die oberitalienische Seenlandschaft vom Lago di Orta, über den Lago Maggiore, den Lago di Como, den Lago d'Iseo und schließlich den Lago di Garda (um nur die größten zu nennen) galt bereits in der Antike wegen des milden und temperierten Klimas als Sommerfrische. Aber niemand wäre auf die Idee gekommen, hier im Wasser zu baden, wie auch kein Römer je im Mittelmeer gebadet hätte. Wenn überhaupt, baute man Thermen in Ufernähe, um das Quellwasser zu nutzen - und des schönen Blickes wegen. Daran hat sich lange nichts geändert. Keiner der Bildungsreisenden von Goethe bis Seume beschreibt ein Badevergnügen. Baden im freien Gewässer war etwas für die unteren Schichten. Wie überhaupt die freie Natur etwas Feindliches war, wo man stürzen oder sich verlaufen, von Tieren angegriffen oder von Unwettern überrascht werden konnte. Von Wegelagerern ganz zu schweigen. Wer etwas auf sich hielt, schuf sich Parkanlagen oder Gärten. Jahrtausendelang waren auch die Ufer der Seen bis auf die Häfen dicht bewachsen. Straßen gab es ganz wenige, und die Orte erreichte man oft nur mit dem Boot. Erst die Bademode veränderte seit dem 19. Jahrhundert dann innerhalb weniger Jahrzehnte das Landschaftsbild. Straßen wurden gebaut, Promenaden angelegt. Der Hang zum Exotischen verlangte nach Palmen und Zypressen, die dort angepflanzt wurden, wo -74-
ehedem noch bewaldete Ufer lagen. Am Lago di Orta und am Lago di Varese hat sich hier und da die »antike«, die ursprüngliche Natur erhalten, da, wo es in Ufernähe zu sumpfig und deswegen zum Baden ungeeignet ist. Erste Reise: Gardas Olivenriviera Die Venezianer, welche die Region jahrhundertelang verwalteten, nannten den Gardasee »Magnifica Patria« herrliche Heimat. Heute gehört das sonnige Ostufer größtenteils zur Region Venetien, dem Veneto. Unsere erste Station heißt Malcesine. Und als erstes bietet sich unseren Blicken eine Burg, die auf einem Felsvorsprung thront. Es wird nicht die einzige sein auf dieser kleinen Reise. Vor den Venezianern hatten die Scaliger, ein finsteres Herrschergeschlecht aus Verona, während des Mittelalters am östlichen Gardasee die Macht inne. Die Scaliger untermauerten sie mit zahlreichen Kastellen. Später haben die Venezianer die Burgen umgebaut und für ihre eigenen Zwecke genutzt. Und noch später haben sich die Österreicher gefreut, Festungsanlagen vorzufinden, hinter die man sich zurückziehen konnte. Eine besondere Geschichte gehört gleichsam zum Inventar von Malcesine, dieser Burg und jeder Italienreise. Johann Wolfgang von Goethe nämlich machte auf seiner italienischen Reise hier Station. Und als er die romantisch daliegende Burg zeichnen wollte, die bereits zu einer Ruine verfallen war, hätte man ihn beinahe als Spion verhaftet. Den folgenden Disput und die Gastfreundlichkeit der Einwohner hat er dann so ausführlich in seinem Tagebuch beschrieben, daß er heute für Malcesine der beste Werbeträger ist. Ein echter Zeitzeuge - und als solcher auch eingesetzt. Sogar einen Museumsraum hat man ihm in der Burg gewidmet. -75-
Am Hang ziehen sich dicht an dicht die Olivenbäume hin, die diesem sonnigen Küstenstreifen des Gardasees ihren Namen gegeben haben: Riviera degli Olivi - Olivenriviera. Aus den prallgrünen Oliven wird das Öl gepreßt, das in aller Welt als Delikatesse geschätzt wird und hier auf den Tisch jeder Trattoria gehört. Die Olivenriviera klingt in einer idyllische Endmoränenlandschaft aus, durch die sich der Fluß Mincio schlängelt. Bei Valeggio sul Mincio vereinen sich vor allem auf den Tischen der Restaurants die unterschiedlichen Traditionen verschiedener Eßkulturen zwischen den Provinzen von Mantua und Verona, zwischen der Lombardei und Venetien zu mediterranen Speisenfolgen. Nur mal angenommen, wir hätten einen leichten Kajak dabei - und keine Angst vor Hindernissen wie Schleusen und Staustufen, die umlaufen werden müßten. Wir würden das Boot zu Wasser lassen, den Mincio hinabfahren, uns im Po treiben lassen, das Delta erkunden, die Lagune Venedigs… Und dann hätten wir das weite blaue Meer vor uns, von dem wir an grauen Tagen im Winter immer geträumt haben. Zweite Reise: Familiengeschichten an der Adria Was soll das Geschrei, ist etwas passiert? Roberto schiebt die Sonnenbrille hoch und blickt durch sein Fernglas auf das Wasser zu den Steinbuhnen. Ein kleines Schlauchboot ist umgekippt, aber der siebenjährige Kapitän taucht schon wieder prustend aus dem Meer auf. Nichts ist passiert. Roberto, der Sportstudent aus Bologna, verdient sich im Sommer in Rimini ein bißchen Geld als bagnino, als Bademeister. Von seinem Turm aus hat er den ganzen Strand im Blick. Von genau 337 Sicherheitstürmen, im Schnitt alle 300 Meter einer, werden die Strandbäder der Riviera adriatica überwacht. Sicher ist sicher. -76-
An der Adria ist der bagnino längst eine historische Figur. Ob er heute noch Liebesabenteuer mit blonden Nordeuropäerinnen bestehen muß, weiß ich nicht. Ausgebildet ist er darin jedenfalls nicht (aber darin brauchen Italiener eigentlich auch gar keine Ausbildung, sie haben als latin lover Naturtalent). Zur Ausbildung gehört jedoch ein Kurs in Lebensrettung, und als Zeichen für diese Aufgabe tragen sie ein rotes Hemd. Aber meist müssen die »roten Männer« nur abgetriebene Surfer, die sich zu weit hinausgewagt haben, wieder »einfangen«, wie Roberto es lächelnd nennt. Die Küste von den Lidi di Comacchio bis nach Cattolica und Pesaro besitzt laut Tourismuswerbung den sichersten Strand Europas. Familienfreundlich ist er ganz bestimmt: Der Boden fällt am Ufer ganz seicht ab, und das Meer bleibt auf 500 Meter motorbootfrei. Im feinen und weichen Sand fühlen sich besonders Kinder wohl. Deshalb ist die ganze Adria auch ein riesiger Familienbetrieb. Alles spielt sich am Strand ab oder auf den ersten Metern im Meer. Denn richtig Schwimmen wollen eigentlich nur die Fremden. Die machen dann manchmal auch den bagnini Arbeit, wenn sie bei gefährlichen Strömungen trotz Badeverbots ins Wasser steigen, abgetrieben werden und nicht mehr ans Ufer zurückfinden. Die italienischen Urlauber dagegen spielen und plantschen im Wasser, kühlen sich ab und führen fröhlich prustend die Gespräche weiter, die auf der Liege unter dem Sonnenschirm begonnen haben. Man tauscht Blicke aus, und Teens beiderlei Geschlechts zeigen Imponiergehabe. Das Meer ist ein Raum für soziale Kontakte. Jedenfalls solange es keine Quallenplage gibt. Die konnte in manchen Jahren den Urlaubern den Spaß verderben - und der Branche das Geschäft. Gucken Sie Roberto an. Welche Fragen der allein zu beantworten hat. Ist das Wasser heute warm genug? Ist es erfrischend genug? Ist es sauber genug? Ist es sicher genug? Ist es tief genug? Ist es flach genug? Jedem schenkt er sein -77-
schelmisches Lächeln: »Sì, sì, natürlich.« Immer gut aufgelegt, der braungebrannte Roberto. Alle Fragen werden ernst genommen, auch die von der kleinen Zopfhaarigen, die an seinen Aussichtsturm klopft: »Du, gibt's heute Haifische im Meer?« Haifische? Hat man so etwas schon an der Adria gehört? Aber Roberto nimmt jede Frage ernst. »Un momento.« Der bagnino schiebt die Sonnenbrille hoch, sucht mit seinem Fernglas das stille blaue Wasser ab, das sich nur ganz langsam hebt und senkt, dann guckt er ganz ernst zu dem Mädchen hinunter: »Heute nicht.« Fischer und Flaneure Wem das Treiben am Strand zu laut, zu quirlig, zu familiär wird, kann sich absetzen. Morgens um sechs Uhr legt die »Moby Dick« von Marina di Ravenna ab. Skipper Ballerini hat auch heute wieder seine Mannschaft zusammen. Wer mit ihm die Makrelen fangen will, muß nicht unbedingt ein Mann mit Bart sein. Frauen sind darunter, auch Jugendliche. Urlauber von den Lidi di Ravenna. Bald hat die »Moby Dick« die Mole hinter sich gelassen und tuckert aufs offene Meer, die frühen Sonnenstrahlen tauchen die meist verschlafenen Gesichter der »Mannschaft« in ein rötlich warmes Licht. Bis 15 Meilen hinaus kann die Reise zu den Fischgründen gehen. Werden die ersten Schwärme entdeckt, lockt man sie mit gepreßten Sardinen an. Und dann darf gefischt werden. An der Adria gibt es eine ganze Reihe von Häfen, in denen das Seefischen angeboten wird. Dabei geht es meistens um Makrelenfang, aber man kann ebenfalls an einer aufwendigeren Jagd nach Thunfischen (am besten im September) teilnehmen. -78-
Vom Wasser aus bekommt man ein neues Gefühl für diesen Küstenstreifen, der so ganz anders ist, als es das Vorurteil vom Teutonengrill will. Man muß nur wissen, worauf man sich einläßt. Und einen gewissen Reiz hat diese Mischung aus Urlaubsindustrie und Natur zweifellos. Hier sieht es nach Ferien aus. Man findet selten so viele fröhliche Menschen beieinander. Und dazu kommen die Romagnoli, denen die (Gast-) Freundlichkeit geradezu angeboren scheint. Die Emilia-Romagna ist eine Doppelregion mit einer doppelten Identität. Auch die Emilianer zwischen Piacenza, Parma und Modena öffnen gern ihre Türe, doch wie einem immer wieder erzählt wird - bekommt man von ihnen dann ein Glas Wasser angeboten, während die Romagnoli eine Weinflasche aus dem Keller holen. Und während die Emilia die Heimat vieler Kommunisten war, galt die Romagna als Stammland der Anarchisten. Ich mag auch Rimini. Gleich hinter der (allerdings lauten) Strandpromenade und dem berühmten »Grandhotel« mit seinen Kronleuchtern und Plüschsesseln beginnen die grünen Alleen, durch die man Spazierengehen kann. Was in unseren hektischen Städten längst nicht mehr möglich ist: Hier läßt sich noch flanieren. Irgendwo laden eine Bar oder Café zur kleinen Pause. Und zum romantischen Hafen ist es nicht weit. Die vielen Villen der Gründerzeit erinnern an die Jahre, als Reisen noch das Privileg weniger war, die Rimini zu ihrem Lieblingsplatz erkoren hatten. Besonders Anfang Oktober, wenn der Abendwind vom Meer her durch die Alleen streicht, scheint die Gartenstadt durchzuatmen nach einem letzten Tag voll Sonne, Sport und Strandvergnügen. Die Saison geht zu Ende, der Abend neigt sich über Rimini. Und hinter der Eisenbahn, in der Altstadt, die auch eine Kulturstadt ist, suche ich »meine«, eine etwas versteckt gelegene piazzetta. Es gibt hier einen Buchladen, einen Bäcker und zwei preiswerte Restaurants. Man sitzt -79-
draußen und genießt. Federico Fellini, der große Filmregisseur, der Rimini in »Amarcord« ein Kinodenkmal gesetzt hat, ist hier aufgewachsen. Natürlich hat er das Meer geliebt. Und auch von Rom aus, wo er zuletzt gelebt hatte, träumte er sich immer wieder zurück: »Am Strand wird unser Heimweh klar und durchsichtig, vor allem vor dem winterlichen Meer mit den weißen Wellenkämmen und dem starken Wind, so wie ich es zum ersten Mal gesehen habe.« Jetzt aber ist Sommer. Die Sonne steht im Zenit des strahlend mittagsblauen Himmels, unsere Mannschaft ist mit der »Moby Dick« auf dem Heimweg. An Bord gibt es für den ersten Hunger eine Portion Pasta. So gegen halb zwei wird der Skipper dann seinen Kutter wieder in Marina di Ravenna festmachen. Von weitem sieht man schon den grünen Pinienstreifen der Küste und den Leuchtturm des alten Hafens. Die mittlere Adria gehört zu den meistkontrollierten Küstenabschnitten des Mittelmeeres. Das heißt nicht unbedingt, daß das Wasser hier sauberer ist als anderswo. Die Wasserverschmutzung ist vielmehr eines der größten Probleme dieses herrlichen Meeres. Besonders in den städtischen Ballungsräumen in Küstennähe ist der Verschmutzungsgrad relativ hoch. An dünnbesiedelten Küsten des Festlands, wie zum Beispiel in Kalabrien, auf kleinen, Sizilien vorgelagerten Inseln oder an manchen Abschnitten Sardiniens findet man noch verhältnismäßig sauberes Wasser. Wichtig wird sein, daß alle italienischen Städte ihre Abwasser durch Kläranlagen reinigen lassen, bevor sie in die Flüsse oder ins Meer fließen. Es ist eine Schande für die sich so europäisch gebende Großstadt Mailand, daß sie bis heute keine vernünftige Kläranlage besitzt. Die Verschmutzung des Po und seiner Nebenflüsse ist auch für die überdüngten Wasser verantwortlich, die südlich von Venedig in die Adria fließen und hier im Sommer bei ruhigen -80-
Wetterlagen Algenteppiche entstehen lassen können, welche die Lebenswelt des Meeres ersticken und das Baden unappetitlich machen. Die unabhängige Umweltorganisation Legambiente verteilt jedes Jahre blaue Wimpel für die Strande mit der höchsten Urlaubsqualität. Dazu gehören neben der Reinheit des Wassers auch die Sauberkeit der Strande und Servicedienste. Für die Gemeinden ist die bandiera blu inzwischen ein Standortfaktor geworden, der gerne für die Werbung genutzt wird. Und für die Reisenden ist das ein kleines Stück Sicherheit mehr. Dritte Reise: Südlich von Siena Das kennen auch die, die Italien gar nicht kennen: Weinhügel und Zypressen, blaue Berge und ziegelbraune Städte. Es muß aber nicht immer das Chianti sein. Wie wäre es mit einem Ausflug zum Monte Amiata? Wenn man von Siena Richtung Süden fährt, weiß man oft nicht, wohin man vor lauter Begeisterung schauen soll. Sanft laufen die Hügel in den Tälern der kleinen Flüsse Arbia, Ombrone, Asso, Orcia, Paglia aus. Unterbrochen nur hier und da durch die wild anmutenden steilen Lehmabbrüche, die sogenannte crete. Zum Beispiel bei der Abtei Monte Oliveto Maggiore, wo allein die Fresken Signorellis einen Abstecher wert wären. Auf den Spitzen der Hügel glimmen in der Dämmerung die ersten Lichter auf, und gegen den noch leuchtenden frühen Abendhimmel zeichnen sich scharf die Umrisse von Türmen und Häusern ab: Montalcino. In der Ferne baut sich breit ausladend das Massiv des Monte Amiata auf. Dann ist der Augenblick gekommen, das Fenster herunterzukurbeln und mit der Abendfrische den würzigen Geruch von Thymian und Bohnenkraut ins Auto strömen zu lassen. Einst zogen auf dieser Hauptverkehrsverbindung Kaiser und -81-
Heere, Pilger und Kaufleute gen Süden. In moderner Zeit hat die Autostrada del Sole die nach dem römischen Konsul Cassius benannte Staatsstraße Cassia, die Siena mit Rom verbindet, zur Provinzstraße und die daran liegenden Orte zu verschlafenen Landstädtchen herabgestuft. Zum Glück vielleicht. Zum Glück jedenfalls für den Reisenden, der den Abend in der Kleinstadt Montalcino genießen kann. Der kleine Ort auf der Kuppe eines von Oliven- und Weingärten bewachsenen Hügels war immer wieder Zufluchtsstätte für Bürger Sienas gewesen, die vor dem Herrschaftsanspruch der Florentiner aus ihrer geliebten Stadt flüchten mußten. Lange Zeit blieb Montalcino die letzte freie Bastion Sienas und wurde erst spät, Mitte des 16. Jahrhunderts, von den Medici in das Großherzogtum Toskana einverleibt. Von der Unabhängigkeit zeugt der schöne Palazzo Comunale, von der Fluchtburg der Sienesen die wuchtige Festung. In der Festungsanlage finden wir eine Weinstube, in der der Wein ausgeschenkt wird, der dem Ort zu neuem Ruhm verholfen hat: der Brunello. Aus der Sangiovese-grosso-Traube gekeltert und mindestens dreieinhalb Jahre in Eichen- oder Kastanienfässern gelagert (nach dem alten DOC-Gesetz waren es sogar vier), darf der Brunello dann auf Flaschen gezogen werden und bekommt somit das italienische Höchstprädikat DOCG (Denominazione di Origine Controllata e Garantita). Jung als Rosso di Montalcino getrunken, schmeckt er frischer und bekommt vor allem unseren Geldbeuteln viel besser. Seine lange Lagerfähigkeit und das volle Bukett verdankt er dem Mikroklima und dem steinigen Boden (galestro) rund um Montalcino. Der Galestro hat auch dem Weißwein der Gegend den Namen gegeben. Manchmal sind die niedrighängenden Reben mit Netzen behängt - zum Schutz vor Wildschweinen. Die machen den Weinbauern wie Biondi-Santi, Lisini oder Capanna Sorgen mit speziellen Gewürzen zubereitet, sind sie jedoch bei den -82-
Gästen der Wirtshäuser in der südlichen Toskana äußerst beliebt. Nicht weit von Montalcino befindet sich die Miniaturstadt Pienza. Enea Silvio Piccolomini, der als einer der frühen humanistischen Päpste unter dem Namen Pius II. 1458 den Thron im Lateran bestieg, wollte sein toskanisches Heimatdorf Corsignano in eine Stadt verwandeln. Er beauftragte den Architekten Bernardo Rossellino, eine Stadtanlage nach dem Ideal des Humanisten Leon Battista Alberti zu entwerfen und gleichsam aus dem Boden zu stampfen. Vor allem baute Rossellino aber den Dom und den Palazzo Piccolomini von Pienza, wie der Ort dann hieß. Pienza, das bedeutet »Piusstadt«. Klassische Renaissanceformen wechseln in ihr mit gotischen Stilmitteln und geben so diesem Florenz im Puppenstubenformat einen besonderen Reiz. Deutsche Spuren Von den Loggien des Familienpalastes der Piccolomini hat man einen unvergleichbaren Blick auf die Südtoskana. Zitternd steht die Luft über den welligen crete (die typischen goldbraunen, kaum bewachsenen Hügel um Siena), wird gleichsam aufgefrischt über dem fruchtbaren grünen Orciatal und verglimmt schließlich an der Gipfellinie des Amiatamassivs. Keine Zypressen, hier ist die Toskana anders. Was überall gleich klingt, sind die Rufe der Mauersegler, die mit ihrem durchdringenden »Srih, Srih« den Glockenturm der Kathedrale unaufhörlich umkreisen. In der Toskana, zumal in Florenz, wo gegen Ende des Zweiten Weltkriegs fast alle Brücken von der Wehrmacht gesprengt wurden, ist es nicht immer angenehm, auf deutsche Spuren zu stoßen. Im Palazzo Piccolomini von Pienza hängt aus dem Jahr 1943 ein schriftlicher Befehl der -83-
Militärkommandantur 1003, Außenstelle Siena, unterschrieben von Generalfeldmarschall Kesselring: »Dieses Bauwerk mit seiner gesamten Ausstattung steht als Kunstdenkmal unter deutschem Schutz!« Waren auch die Deutschen hier anders? Das hat Widerstandskämpfer natürlich nicht davon abgehalten, sich den Okkupanten mit Waffengewalt zu widersetzen: »Beseelt von inbrünstiger Vaterlandsliebe und gestützt durch unumstößlichen Glauben an die Ideale der Freiheit!« heißt es auf einer Tafel an der Piazza, die an die Kampfhandlungen zwischen Partisanen und der Wehrmacht Hitlers am 6. April 1944 in der nahen Gemeinde Monticchiello erinnert. Monticchiello ist in den vergangenen Jahren durch sein teatro povero bekannt geworden. Bauern führen dort im Sommer unter Anleitung eines Lehrers und eines Journalisten selbstentworfene Alltagsstücke auf der Piazza auf. Inzwischen haben die Inszenierungen etwas von ihrer Spontaneität verloren und werden von der Tourismusbehörde gesponsert. Der warme Geldregen hat den 300-Seelen-Ort jedoch am Leben gehalten. Zehn Monate lang im Jahr geht es hier noch so verschlafen zu, wie vor der großen Landflucht und der folgenden Touristeninvasion in vielen anderen Dörfern und Städtchen der Toskana. Ein Berg voller Geschichten Der Monte Amiata ist ein erloschener Vulkan, von dessen Gipfelkreuz (1738 Meter) wir an klaren Tagen weit nach Umbrien, Latium und über die Maremmaebene bis zum Meer blicken können. Er hat auf mich immer eine stille Faszination ausgeübt. Hierher zogen sich im Mittelalter Häretiker wie Fra Dolcino -84-
und seine Männer zurück. Der sonderbar gläubige Mönch ist allen Umberto-Eco-Lesern aus »Der Name der Rose« bekannt. Und eben an denselben Hängen predigte im 19. Jahrhundert ein Böttcher aus dem Dorf Santa Fiora »als wiedererstandener Christus« die Abschaffung des Privateigentums. Auf diese Weise brachte er natürlich Kirche und Staat gegen sich auf. Der Böttcher mit Namen Davide Lazzaretti wurde im Jahr 1878, als er an der Spitze seiner Anhänger vom nahen Monte Labbro von einer Prozession zurückkehrte, von den Carabinieri auf offener Straße erschossen. In Santa Fiora und dem mittelalterlichen Ort Arcidosso tragen heute immer noch Häuser das Symbol der »Gesellschaft christlicher Familien« Lazzarettis. Der Monte Amiata, oder wie die Leute hier schlicht sagen: la montagna (der Berg), steckt voller Geschichte und Ablagerungen, die sich wie die Lavaschichten übereinandertürmen. Die Etrusker gewannen an seinen Hängen einst Zinnober. Vor 140 Jahren begann man, Quecksilber abzubauen. Es entwickelte sich die größte Quecksilberproduktion der Welt (1000 Tonnen pro Tag zu Beginn des Jahrhunderts entsprach 35 Prozent des Weltmarktes). Nach einer vorübergehenden Schließung in den siebziger Jahren wird vor allem in Abbadia S. Salvatore seit 1981 wieder Quecksilbererz verarbeitet. Daß der Vulkan noch nicht ganz erloschen ist, davon zeugen die heißen Dämpfe und Quellen, die dem Berg entspringen. In Bagno Vignoni, einem mittelalterlichen Dörfchen (21 Einwohner), sprudelt 51 Grad heißes, kalkhaltiges Wasser mitten im Ort in ein rechteckiges Becken, das dem sowjetischen Regisseur Tarkowski als Kulisse für seinen Film »Nostalgia« diente. Die heilige Caterina soll in dieser mittelalterlichen Thermenanlage gebadet haben. Für die Kurgäste gibt es heute hinter dem Hotel einen neuen Pool. Wenn der Besucher Glück hat, steht er ganz allein am Rande -85-
einer dampfenden Piazza und wird von nebliger Wärme umhüllt. Manchmal steigen richtige Nebel auf, und bei der Fahrt nach Abbadia S. Salvatore flimmert es uns plötzlich so hell vor den Augen, daß wir anhalten müssen. Im Ort prasselt dann der Regen mit Gewalt herab - und mit nassen Füßen macht selbst die hübsch restaurierte Krypta einer Klosterkirche von San Salvatore nicht viel her. Zurück im Tal, auf der langgezogenen Brücke über den Pagliafluss, bleibt der Monte Amiata verhangen. Graue Schleier klammern sich an die Kronen der Buchen. Bei Regen wird selbst die Toskana trist. Jedenfalls solange die Wolkendecke nicht plötzlich wieder aufreißt und jenes strahlende Blau durchscheinen läßt, das so leuchtet wie die Trikots der italienischen Fußballnationalmannschaft. Wenn die Erde bebt Wie dünn die Haut ist, die Natur und Kultur über die Erde gespannt haben, kann man am Vesuv, auf Stromboli und in den vergangenen Jahren besonders am Ätna beobachten. Der Ätna ist mit seinen 3350 Metern der höchste noch tätige Vulkan Europas. Seine Ausbrüche dauern oft Wochen an. 1669 waren es sogar 122 Tage. Die abfließende Lava erreichte schließlich die Stadt Catania und zerstörte sie. In den Andenkenläden werden deshalb auch allerlei Dinge (zum Beispiel Aschenbecher) aus grauschwarzem Lavastein angeboten. Ein in Stein gebanntes Gruseln. Der Schriftsteller Carlo Levi hat die Umgebung Catanias eindrucksvoll beschrieben: »Es ist eine wundersam und zugleich entsetzliche Landschaft in Schwarz, Lila und Grau aus nackter oder moosbedeckter Lava, die von einem urzeitlichen Wind mit krausen, launischen Wellen überzogen wurde. Die Pflanzen sind es, die aus dem Stein allmählich wieder -86-
fruchtbaren Boden schaffen. Am Anfang die Pilze, Moose und Flechten, die den violetten Basalt grün, rot oder grau inkrustieren und ihn unterhöhlen, bis der Kardamom und dann der Ginster mit seinen verschiedenen Arten Wurzel fassen können. Erst nach dem Ginster erscheint die Kaktusfeige. Nach der Kaktusfeige kommen die anderen Pflanzen: die Sykomore, die Pistazie, der Mandelbaum, die Olive und zuletzt die Rebe. So kann man an den Pflanzen das Alter des vom Vulkan herabgeflossenen Lavastroms feststellen, bis schließlich ein neuer Strom all diese Reben, Oliven, Feigen, Ginster und Flechten überschwemmt und die Steinwüste wiederkehren läßt.« Immerhin hat man während der letzten Jahre damit begonnen, die Lavaströme mit Hilfe von Erdaufschüttungen um die Ortschaften herumzuleiten, so daß eine Katastrophe wie die vor 330 Jahren kaum noch denkbar ist. Dennoch kann es immer wieder einzelne Häuser und kleinere Dörfer treffen. Wie dünn auch die Haut der Zivilisation ist, zeigen die auf norditalienische Mauern hingeschmierten Parolen gegen süditalienische Landsleute: Forza Etna! - »Los Ätna, weiter so!« Meist werden Vulkanausbrüche von leichten Erdbeben begleitet, auch wenn Wissenschaftler darauf hinweisen, daß zwischen diesen beiden Kräften kein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das einen beschleicht, wenn plötzlich die Lampe über dem Tisch anfängt zu schwingen, die Bank, auf der man sitzt, wackelt und ein paar Bücher im Schrank umkippen. Bevor man auf alle Fragen (Warum ist mir schwindelig? Warum fallen die Bücher um?) Antworten findet, hat man es realisiert: ein Erdbeben. Ich habe mich zum Glück immer nur in den Randzonen eines Erdbebens aufgehalten. Zum Beispiel in Rom 1980, als in Irpinia, südöstlich von Neapel, ganze Ortschaften zerstört wurden. In Neapel stehen heute noch Gerüste, die damals zum -87-
Schutz der Häuser der Altstadt errichtet wurden. Und noch im vergangenen Winter hausten Menschen in der Irpinia in Containern, die vor 22 Jahren als Notunterkünfte aufgestellt worden waren. Die Apenninhalbinsel liegt auf einem äußerst labilen Erdgrund, in dem Erdplatten aneinanderstoßen. Alle drei bis vier Jahre gibt es Beben mit zerstörerischen Folgen. Besonders gefährdet sind Teile des Mittleren Apennins, Kalabrien und Nordostsizilien sowie der Alpensüdrand bis nach Friaul, wo es 1976/77 zu mehreren katastrophalen Beben gekommen war. Als wolle sich uns die Natur, die mehr ist als ein Garten Eden, in Erinnerung rufen. Garten mit Brandflecken Wenn ich von meinem Balkon im sechsten Stock in einen weiten Hof blicke - an besonders klaren Tagen oder nach Gewittern läßt sich am Horizont der schneebedeckte Monte Rosa sehen -, zeigt sich mir eine Terrassen- und Dachgartenlandschaft mit Büschen, kleinen Bäumen und Topfpflanzen aller Art. Auf meinem Balkon blüht, wenn auch etwas kümmerlich, ein Zitronenbaum. Das vielerorts betonselige graue Mailand ist, von oben gesehen, eine grüne Stadt. Aber das ist noch gar nichts im Vergleich mit dem Rest Italiens. Vom Satelliten aus gesehen, zeigen sich in Italien über 90 Prozent des Territoriums als »grünes«, das heißt nicht urbanisiertes Gebiet. Rom zum Beispiel ist nicht nur die größte Stadt Italiens, sondern mit rund 82000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche (zu der allerdings auch die Parks zählen) auch das größte »Dorf«. Im Sommer erschrecken immer wieder die Bilder von Waldund Buschbränden. Es ist schwer, die Ursache dieser -88-
Brandkatastrophen herauszufinden: Das Feuer kann aus Nachlässigkeit entstanden oder von Brandstiftern gelegt worden sein. Manchmal sind es Grundstücksspekulanten, die versuchen, einen Baugrund für sich nutzbar zu machen. Oder Sonderkommandos zur Brandbekämpfung und Wiederaufforstung legen gar selbst Feuer, um sich die Arbeitsplätze zu erhalten, wie ein Ministeriumsbericht im Jahr 2001 einräumen mußte. Italien kann man immer noch als Garten Europas bezeichnen. Die Gemüsekulturen im Umland von Neapel oder im Salento südlich von Lecce, die Zitronen- und Apfelsinenplantagen bei Catania fallen mir ein, ebenso die neuen Raps- und Sonnenblumenfelder, die durch EU-Subventionen vor allem in Mittelitalien entstanden sind. Getreide wird im großen Stil in Apulien angebaut, und im Piemont wachsen Hasel- und Walnußbäume. Die silbrig glänzenden Olivenblätter sind geradezu ein Symbol für mediterrane Landschaft geworden. Daneben gibt es allerdings auch die für die Maschinennutzung zurechtgestutzten Bäume der öden Obstplantagen oder die graubraunen Kiwi- oder Sojapflanzungen. Der blaublühende Flachs, der früher für die Leinenproduktion benötigt wurde, ist leider fast verschwunden. Dafür läßt jeder grüne Weinberg an einen gedeckten Tisch denken. Die Rebenpracht erinnert mich zudem daran, daß ich bald wieder zu einem Winzer fahren sollte, um meine Vorräte zu ergänzen. Beim Anblick von Wein muß ich immer an die barberaroten Trikots des mythischen FC Turin denken, der in den vierziger Jahren fünf Meistertitel nacheinander gewann, bevor die gesamte Mannschaft 1949 bei einem Flugzeugabsturz am Supergahügel vor Turin ums Leben kam. Es gibt Menschen in meiner Umgebung, die glauben, daß ich mit meiner Begeisterung für den Fußball und allem, was damit zu tun hat, ein bißchen übertreibe. Aber vielleicht hat das ja -89-
ebenfalls mit dem Wein zu tun. Die Natur hat (leider) ein gutes Gedächtnis Man spricht heute immer davon, daß der Umweltschutz eine Erfindung der Gegenwart sei. Bereits in früheren Jahrhunderten sagten hydraulische Studien einen langsamen Abbau der Gebirgs- und Hügelformationen durch Erosion voraus. Der Boden würde, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, einfach Richtung Küste wandern. Um also Erdrutsche zu verhindern, wurden Landpächter in der Toskana bereits im 18. Jahrhundert dazu verpflichtet, möglichst wenig in Hanglagen anzubauen oder wenigstens Terrassen anzulegen. Sie mußten die Wasserläufe kontrollieren, das Regenwasser auffangen und ableiten. Notfalls leitete man sogar ganze Flüsse um, und umgekehrt schüttete man Erdmulden auf. Steile Hügellagen wurden abgeflacht, urbar gemacht und kamen damit unter die Wacht der Bauern. Ein weiteres Mittel war auch die Aufforstung, in der Toskana und in weiten Landstrichen Kalabriens. Und so entpuppen sich das Hügelprofil und die Naturschönheiten der Toskana, die uns gleichsam von Gottes Hand geschaffenen scheinen, als ein Werk der Menschen. Seit der Landflucht und dem Rückgang der Agrarwirtschaft hat der Mensch die Natur wieder stärker sich selber überlassen. 1951 wurden noch 27 Millionen Hektar landwirtschaftlich genutzt, heute sind es nur noch 15 Millionen. Hinzu kommen die vielen bekannten Sünden: von der Asphaltierung der Wasserläufe über das Abholzen der Wälder bis zur unkontrollierten Besiedelung und Verstädterung. Die Folge sind Erdrutsche und Überschwemmungen bei extremer Belastung wie Dauerregen, besonders an den Rändern des Apennins und im Voralpenraum. Und plötzlich kann eine Stadt wie Turin unter Wasser stehen, wie es im Oktober 2000 der -90-
Fall war. Ich hatte damals Karten für das Spiel der Champions League Juventus gegen den HSV, und die Autobahn MailandTurin war wegen eines Brückenbruchs gesperrt. Ein paar Stunden vor Spielbeginn aber wurde eine Notbrücke errichtet. So hatte der HSV im Stadio delle Alpi zwei Fans mehr (meine Tochter Gianna und mich) und gewann mit unserer Unterstützung prompt und sensationell mit 3:1. Der Gerechtigkeit halber muß ich hinzufügen, daß der HSV trotz dieses Sieges nicht einmal die erste Runde der Champions League überstand. Mit dem Po durch Literatur und Geschichte Die Deiche waren gebrochen. »Das Wasser hat hier überall außerordentlichen Schaden gethan, wie du gewiss schon aus den öffentlichen Blättern wirst gehört haben… Es arbeiten oft mehrere hundert Mann an den Dämmen und werden Jahre arbeiten müssen, ehe sie alles wieder in den alten Stand setzen.« Johann Gottfried Seume kam im Winter 1802 auf seiner Fußreise nach Syrakus bei starken Regenfällen in die Poebene, kurz nachdem der mächtige Fluß über die Ufer getreten war. Seit jeher kämpfen die Menschen um und mit dem Po, dessen Hochwasser hier sogar die Zeitrechnung bestimmten: »Die Leute in Ferrara hatten die Jahre nach den Dammbrüchen des Po berechnet, bevor sie dazu Übergingen, sie nach den napoleonischen Aushebungen zu zählen.« So beginnt Riccardo Bacchellis Buch »Die Mühle am Po«. Es sind die wiederkehrenden Überschwemmungen, welche dieser großen Familiensaga jedesmal eine dramatische Wendung geben, so als schriebe nicht der Autor, sondern der Fluß diese Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Heute muß der Po, in dessen Einzugsgebiet ein Drittel der italienischen Staatsbürger -91-
lebt, für so manchen politischen Unsinn herhalten. Die rechtspopulistische Lega Nord, die keine Gelegenheit ausläßt, um zusammen mit katholischen Priestern gegen den »heidnischen« Islam und den Bau von Moscheen zu protestieren, hat den Po in einer verquasten Mythologie zum »Gott Padaniens« erhoben. Jedes Jahr pilgert Parteigründer Umberto Bossi in die Alpen zur Quelle am Monviso und entnimmt eine Ampulle des göttlichen Nasses. Die Quelle ist allerdings auch die einzige Stelle am Po, an der das Wasser noch trinkbar ist. Inzwischen hat sich in Sachen Umwelt einiges getan. Seit über zehn Jahren bewirkt aktiver Landschaftsschutz, daß die Zersiedelung am Flußbett nicht fortschreitet. Man baut zur Zeit - oft gegen heftige Proteste der Anwohner an einem System von Flutfeldern, das dem Fluß bei Hochwasser neuen Raum geben soll. Außerdem wurden die Hauptdeiche verstärkt. Bei der letzten Extrembelastung im Herbst 2000 haben die Flutungen Erfolg gehabt und die Deiche gehalten. Kaum vorstellbar, daß ein Jahr später die schlimmste Trockenperiode der Nachkriegszeit den größten Fluß Italiens in ein Rinnsal verwandelt hatte. An dem Tag, als es aufgehört hatte zu regnen, schrieb Seume: »Der Po ist hier ein großes, schönes, majestätisches Wasser, und die heitere, helle Abendsonne vergoldete seine Wellen, und links und rechts die Ufer in weiter, weiter Ferne. Es war, als ob ein Ozean herabrollte, und die Griechen haben ihn mit vollem Recht Eridanus oder den Wogenwälzer genannt.« Der Eridanus ist der Fluß, in den der übermütige Phaethon, der Sohn des Helios, mit seinem feurigen Sonnenwagen stürzte und starb. An den Ufern des Flusses beweinten Phaethons Schwestern den »Strahlenden« so lange, bis ihre Tränen zu -92-
Bernstein erstarrten und sie selbst sich in Pappeln verwandelten. Bäume, wie sie heute am Po stehen. Das soll Italien sein? Ich gestehe, ich mag die Pappeln am Fluß lieber als die Blaue Grotte in Capri.
-93-
Alltag und Träume Die Bar, das Stadion und die Lust am Reisen
Als Gott Italien und die Italiener schuf, schuf er auch die Bar. Keine Institution des Landes ist so kongenial auf die Alltagsbedürfnisse der Menschen zugeschnitten wie die (Snack-)Bar, die es an fast jeder Straßenkreuzung gibt. Meine erreiche ich zwanzig Schritte von der Haustür entfernt, nur der Zeitungskiosk liegt näher. Dort bekomme ich von Signora Giuliana oder ihrem Sohn Stefano meine Morgenlektüre, Tram- und U-Bahn-Karten und einen guten Ratschlag für den Tag. In der Bar, die sinnigerweise »Wonderbar« heißt, gibt es den ersten cqffè des Tages, möglichst dickflüssig, möglichst heiß und, wie ich finde, ohne Zucker, aber da gehöre ich eindeutig zu einer Minderheit. Daran, daß ich in diesem Augenblick kein Hörnchen esse, das in Mailand brioche, in Rom cornetto heißt, erkennt man, daß ich kein echter Italiener bin, sondern lieber am eigenen Eßtisch im Sitzen und mit der Zeitung frühstücke. Den Protest meiner Frau Lidia, sie sei schließlich Italienerin und würde trotzdem nicht in der Bar frühstücken, lasse ich nicht gelten. Erstens ist sie von der deutschen Frühstückskultur infiziert, und zweitens gehört sie zu jener extremen Minderheit von Italienerinnen, die höchstens in die Bar gehen, um sich nach dem Verbleib ihres Ehemannes zu erkundigen.
-94-
Infos vor der »Happy Hour« Damit wären wir bei einer ganz wichtigen Funktion dieser Institution: In der Bar werden persönliche Informationen getauscht. Mal ganz abgesehen davon, daß Angelo, der Mann an der Espressomaschine, mich zu jeder Stunde in einen Milanfan verwandeln will, erzählt er mir regelmäßig, wie das Wetter im Vorort, in dem er wohnt, am frühen Morgen war und welche Rückschlüsse sich daraus für die Entwicklung des gesamten Tages ergeben. Dann erfahre ich, daß der Bäcker schräg gegenüber heute wegen eines Trauerfalls erst später öffnen wird. Und außerdem sollte ich mal langsam meine Hosen aus der Reinigung (tintoria) nebenan abholen, wie die Inhaberin Signora Brambilla ausrichten läßt, die früh morgens immer einen Cappuccino trinkt. Während Peppino, ein kleiner freundlicher älterer Herr aus Apulien und Besitzer der »Wonderbar«, bereits die ersten belegten Brote vorbereitet, bespricht Angela, seine blondgefärbte und immer elegant gekleidete Frau, die meistens hinter der Kasse steht, zusammen mit anderen Gästen die Krankengeschichte eines Nachbarn. Lidia ist eines Tages auf dem Weg zu der Schule, an der sie unterrichtet, die Aktentasche vom Gepäckträger des Fahrrads gerissen worden - mit ihrem Portemonnaie und sämtlichen Ausweisen. Ein richtiger scippo (Kleindiebstahl) vom frisierten Motorroller aus, wie man das immer in der Zeitung liest. Ich hab das natürlich, stinksauer und auf Italien fluchend, in der Bar der ganzen Welt kundgegeben. Ein, zwei Wochen darauf klingelte Angelo, der übrigens auch aus Sardinien stammt, an unserer Haustür: Soeben sei ihm zu Ohren gekommen, daß die Tasche bei der Post aufgetaucht sei. Mit allen Papieren, allerdings ohne das Geld… Die Bar sucht man mehrfach am Tag auf. Zum Morgencqffè -95-
und zwischendurch vor dem Essen. Von caffè-Sorten und Moden habe ich bereits im ersten Kapitel erzählt. Mittags treffen sich die Angestellten aus den nahen Büros zu einem Snack, einem Salat, einer Pasta oder einem Gemüseteller. Einen Pausencaffè gönnt man sich irgendwann am Nachmittag oder manchmal auch nur einen Schluck Wasser. Und dann rückt eine der neueren Errungenschaften in der Geschichte der Bar näher, die happy hour. Im westlichen Norditalien, im Piemont und in der Lombardei hat es immer schon eine regelrechte Aperitifkultur gegeben: Campari mit und ohne Soda, Sekt oder Bier oder die bunten Kalorienbomben der analcolici, der nicht alkoholischen Bittergetränke. Inzwischen sind Cocktails auf hochprozentiger Basis dazugekommen. Auf dem Tresen stehen ab 18 Uhr Teller mit allerlei Brothäppchen, Käse, Oliven, kleinen Essigzwiebeln, Salatstückchen und Salzgebäck - ein kleines antipasto. Nach 20 Uhr schließen die meisten Bars. Aber irgendwo hat immer eine für Nachtschwärmer geöffnet - und noch später, wenn es Morgen wird, eine für Frühaufsteher. Manchmal kann man in einer Bar Zigaretten kaufen (die BarTabacchi mit dem großen T-Logo) und neuerdings hier und da Zeitungen. Normalerweise hält man sich öfter, aber nie lange in einer Bar auf. Doch findet man gelegentlich eine kleine Stammtischgruppe - im Norden sind es meist Rentner, im Süden oft arbeitslose Männer im besten Alter, die bereits am Vormittag das eine oder andere Gläschen trinken. Und bald ziehen sie alle Register ihrer rhetorischen Fähigkeiten, um die ich die Italiener richtig beneide. Hier führt selbst der Dümmste Reden wie Cicero vor dem Senat. Das fängt mit großen, bedeutungsschweren Worten an, von Gesten entsprechend unterstützt, auch wenn es sich nur um eine (dramatische) Erhöhung des Milchpreises von ein paar Lire (früher) oder Centesimi (heute) pro Liter handelt. Das -96-
setzt sich in weitschweifenden Betrachtungen über die allgemeine wirtschaftliche und politische Lage fort. Und es endet meistens in der Klage über den Verlust antiker Werte. Nun redet nicht einer alleine - jeder versucht, zu Wort zu kommen, und da der erste seine Rede noch lange nicht abgeschlossen hat, wenn der zweite und dritte seine Meinung kundtun will oder vielleicht ein ganz anderes Thema anschneidet, ähneln solche Streitgespräche einer vielstimmigen, aber nicht immer harmonischen Fuge. Bei politischen Talkshows im Fernsehen, die in der Regel nach demselben rhetorischen Muster ablaufen, hilft dem Moderator (der oft als Animateur die Streithähne erst richtig anstachelt, so daß sie sich schließlich gegenseitig anschreien) an dieser Stelle nur der erlösende Ruf nach einem kurzen Werbeblock: »pubblicità!« Im siebten Fußballhimmel In manchen Bars steht im Hinterzimmer ein Fernseher, auf dem die Spiele der Lieblingsmannschaft über das Abo-Fernsehen direkt übertragen werden. Es geht hoch her, aber das ist natürlich überhaupt kein Vergleich mit einem Besuch im Stadion. Die großen Vereine wie Juve(ntus Turin), Roma (AS Rom), Milan (AC Mailand) oder Inter(nazionale Mailand) haben einen Dauerkartenausstoß, der selbst reiche Bundesligisten wie Bayern München oder Borussia Dortmund vor Neid erblassen läßt. Da werden vierzig-, fünfzigtausend Saisonkarten verkauft, die so für jedes Heimspiel der ersten Liga (Serie A) ein fast volles Haus garantieren. Besonders beim Derby, wenn die Roma gegen Lazio, Inter gegen Milan oder Juve gegen Toro (FC Turin) spielen, stecken die Fanclubs Energie und auch Geld in das Bühnenspektakel, -97-
das mit seinen bunten Bildinszenierungen an Karneval erinnert. Wie von unsichtbarer Hand geführt, hält Fanblock für Fanblock Schriftzüge oder farbige Fahnen und Pappen hoch. So entwickelt sich langsam und in einer Art Rede- und Gegenrede das riesige Gesamtbild der Kurve. Die beiden Derbyspiele im Jahr sind, jedenfalls für die Kurve, die wichtigsten der Saison. Jeder tifoso, jeder Fan, fordert von dem Club, dem er sein Herz geschenkt hat, die Meisterschaft. Das Team, das sie gewinnt, darf in der folgenden Saison ein Wappenschild auf dem Trikot tragen, den scudetto. Die Meisterschaft, das ist gleichsam der sechste Himmel. Und die verzückten tifosi bauen dann ihren Idolen regelrechte Altäre, wie sie zum Beispiel für Maradona in den Gassen der Armenviertel von Neapel errichtet wurden. Aber der siebte Himmel, das ist die Stadtmeisterschaft, das Derby eben. Ich versuche jedes Jahr, Karten für die beiden Mailänder Derbyspiele zu bekommen. Vor ein paar Monaten erst gewann Inter die Inszenierung der Tribüne eindeutig, als die schwarzblaue Kurve ihre Gegner in der fossa dei leoni (wörtlich: im Löwengraben) ironisch zum schwarzroten Teufel wünschte, auf den sonst die Milanfans besonders stolz sind. Das Spiel auf dem Rasen verlief genau umgekehrt, die Niederlage von Inter war grausam, und ich habe noch nie so viele entsetzte tifosi gesehen, die während des Spiels das Stadion verließen. Am Schluß waren von den rund 25000 Menschen in der Interkurve nur wenige hundert übriggeblieben. Und Milan hatte sechs zu null gewonnen - 6:0! Die »Partie der Rache« ging ebenfalls mit zwei zu vier für Inter verloren. Aber irgendwann werden die Schwarzblauen gegen den Berlusconi-Verein schon noch gewinnen. Grundsätzlich ist Fußball wie auch die Formel Eins oder der -98-
Radsport ein absolutes Medienereignis. Die Spiele werden in einer Konferenzschaltung direkt neunzig Minuten lang im nationalen Radio übertragen. Abgesehen von den Livesendungen des Abo-TVs, gibt es erste Tore dann ab 18 Uhr im freien Fernsehen zu sehen. Einige Lokalsender, die sich keine Bildrechte leisten können, versuchen, ihre Zuschauer auf eine ganz besondere Art zufriedenzustellen: Im Studio sitzen ein paar Experten, die das Spiel auf dem Abosender verfolgen (aber nur sie, der Zuschauer natürlich nicht) und kommentieren. Ab und zu schaltet man live ins Stadion, wo ein meist sehr aufgeregter Sprecher vom Spielgeschehen berichtet. Neben ihm sitzt oft - stumm, aber nett anzusehen - eine tiefdekolletierte Begleiterin. Vom Spiel sieht man dagegen nichts. Der Sonntagabend ist auf allen Kanälen mit Sportshows gefüllt - bis zur letzten großen Sendung ab 22 Uhr 30, der inzwischen mythischen »Domenica sportiva«, die seit Jahrzehnten mit der »Moviola«, der Wiedergabe der Foulszenen in Zeitlupe, ein Schreck für alle Schiedsrichter ist. Aber wichtiger als alle Spielberichte sind auch hier die Kommentare, die Diskussionen, die Interviews. In Italien ist ein Ereignis erst dann tatsächlich ein Ereignis, wenn man darüber lange und beseelt reden kann. Vier zu drei Man kann nicht über Fußball reden, ohne an ein Spiel zu erinnern, das Geschichte gemacht und sogar einem Film den Titel gegeben hat: »Italia-Germania-quattro-a-tre«. In Deutschland ist das Halbfinalspiel bei der Fußballweltmeisterschaft von Mexiko 1970, bei dem Italien im Aztekenstadion in der Verlängerung vier zu drei gewann, nur noch ein Fall für Sporthistoriker und Archivare. In Italien kann -99-
man eine Wiederholung des Spiels der Spiele noch mehrfach im Jahr im Fernsehen erleben. Alessandro Baricco, heute Erfolgsschriftsteller, war damals gerade zwölf Jahre, als Karl-Heinz Schnellinger, »der Verräter« (er spielte zu der Zeit bei Milan), eine Minute vor Ende der regulären Spielzeit den 2:2 Ausgleich schoß. Baricco, der damals die Ferien bei seinen Großeltern verbrachte, schlief bereits, als ihn sein Opa weckte, weil er die Verlängerung am Bildschirm nicht allein verfolgen wollte. »Das letzte Mal, daß mich zuvor jemand mitten in der Nacht geweckt und vor den Fernseher geschleppt hatte, war, als der erste Mensch den Mond betrat.« Soweit Baricco (ein Fan des FC Turin) zur Bedeutung des Spiels am 17. Juni 1970. Der Soziologe Nando Dalla Chiesa hat sogar ein ganzes Buch über la partita del secolo, das Spiel des Jahrhunderts, geschrieben. Das war wirklich ein wichtiges Fußballspiel für Italien. Nach dem Wirtschaftswunder der sechziger Jahre hatte jede Familie endlich so einen Bilderkasten im Wohnzimmer. Die Weltmeisterschaft in Mexiko wurde zum ersten gemeinsamen TV-Erlebnis der Italiener. Sogar viele nationalkritische Achtundsechziger holten mitten in der Nacht die italienische Fahne aus dem Schrank und rannten auf die piazza. Denn besiegt worden war nicht irgendwer. Besiegt worden war Deutschland, das sich damals in vielem größer, reicher und schöner präsentierte als das zurückgebliebene Italien. Ein wirtschaftlich potentes Land, in das Italiener fahren mußten, um Arbeit und Geld zu suchen, und aus dem Touristen und vor allem große blonde Touristinnen kamen, um in Italien Erholung und glutäugige Latin Lovers zu suchen. Und jetzt hatte der Zwerg die arroganten, reichen, blonden Deutschen vier zu drei besiegt. Man hatte nicht die Mauertaktik, den catenaccio benutzt (den ein Trainer wie Arrigo Sacchi heute noch für reaktionäre -100-
Fußballtaktik hält), sondern Kampf und Spielwitz. Boninsegna, Riva und Rivera gegen Schnellinger, Müller und Uns Uwe. Dieser Sieg war für das Land sicher wichtiger als später der Gewinn des Weltmeistertitels gegen die Deutschen in Madrid 1982 (drei zu eins im Endspiel). Damals, 1970 im Aztekenstadion, vollbrachte die italienische Elf das, was die »Helden von Bern« 1954 für Deutschland vollbrachten: das Wunder. Sanremo und die Schwiegersöhne Einmal im Jahr, im grauen Februar meist, sind die Straßen der Städte abends leergefegt. Dann sitzt nämlich die italienische Familie wieder einmal vor dem Fernseher. Abend für Abend, eine Woche lang, wird das italienische Schlagerfestival aus dem Teatro Ariston von Sanremo übertragen. Das Festival ist fast so betagt wie ich. Es wird seit fünfzig Jahren veranstaltet, und obgleich sich jeder Italiener wiederholt fragt, warum er Abend für Abend vor dem Bildschirm hockt, sich immer dieselben Songs anhört und bis nachts auf die Zwischenergebnisse wartet, tut er es sich immer wieder an. Schlager sind gewiß nicht jedermanns Sache, aber man darf von Lucio Dalla, Gino Paoli oder Francesco Guccini, von Mattìa Bazar, Irene Grandi oder Paola Turci mehr Qualität als von den Stars und Sternchen anderer Länder erwarten. Ich mag auch Paolo Conte, aber da meine Töchter fluchtartig das Zimmer verlassen, wenn ich eine CD von ihm auflege, verzichte ich meistens auf die rauchige Stimme des Anwalts aus Asti im höheren Interesse unseres Familienfriedens. Gianna (17) und Mara (14) stehen im Augenblick mehr auf Jennifer Lopez, Madonna oder auf die Gruppe U2. In der Sanremowoche jedoch hocken wir gemeinsam vor dem Fernseher, und ich höre die Kommentare meiner beiden -101-
Teenager: »Max Gazzé, ist der nicht süß?« Hoffentlich bringen sie mir nicht eines Tages so einen Schwiegersohn nach Hause. Es ist also irgendwie eine profane rituelle Handlung, die da rund neun Millionen italienische Haushalte gemeinsam begehen. Das Orchester spielt in großer Besetzung mit vielen Streichern, die Sänger singen live (Mischpult und Arrangements sind aber zugelassen), und die Kamera kurvt über die Bühne, daß einem schwindlig werden könnte. Fester Bestandteil des Rituals sind natürlich die Debatten im Vorfeld um den Entertainer, der die Abende präsentieren soll. Aufgeregt werden die Kandidaturen der Assistentinnen diskutiert, die den Entertainer (meistens ist es ein Mann) auf der Bühne hinterhertrippeln dürfen. In Deutschland würde man das als frauenfeindlich und geschmacklos abtun, was im italienischen Fernsehen unumgänglich scheint: Die blonde, unablässig lächelnde Assistentin des Moderators ist seit den fünfziger Jahren eine Institution. Die Gesellschaft mag sich verändert haben, die Frauen sind emanzipiert wie anderswo in Europa, aber im Fernsehen überleben noch strahlende Relikte einer vergangenen Zeit sexy, lächelnd und mit einer unglaubwürdig blonden Mähne. Eine Kreuzung aus Sophia Loren, Marilyn Monroe und Pamela Anderson. Von September an werden diese Festival-Debatten auf den Entertainmentseiten der italienischen Zeitungen geführt. Hier wird Sanremo mit dem gleichen Ernst behandelt wie etwa eine Saisoneröffnung der Scala. Kürzlich war ich wieder in der freundlichen Stadt an der ligurischen Riviera, die immerhin rund 70000 Einwohner zählt, und habe mir endlich einmal das Teatro Ariston von innen angesehen. Welche Enttäuschung: Es ist ein großer, aber nichtssagender Kino- und Theatersaal. Aber im Fernsehen, der Traumfabrik Italiens, erscheint er wie eine leichte, wolkige Landschaft… -102-
Christus, die Nummer dreiunddreißig Dem Alltag entflieht man für ein paar Minuten auch bei der Lotto- und Totoannahmestelle. Die Italiener sind in antiker Tradition ein Volk von Spielern. Sein Glück muß man herausfordern. Beim Fußballtoto, aber mehr noch beim Lotto. Und Neapel ist die Spielhauptstadt Italiens. Es geht beim (alten) Lotto darum, bestimmte Zahlenkombinationen zwischen eins und 90 für verschiedene »Rollen« zu erraten, die in verschiedenen Städten gespielt werden. Ein Piemonteser wird auf der Turiner Rolle spielen, der Römer vermutlich auf der römischen - aber vielleicht auch auf der Mailänder sein Glück versuchen. Der Neapolitaner setzt ausschließlich auf die Neapels. Mit welchen Zahlen? Das Glück, so glaubt man in Neapel, kann man dem Alltag abzwingen, wenn man ihn nur richtig deutet. Zeichen gibt es zuhauf, man muß allerdings wissen, welche Zahl jeweils dazugehört. Und meist geben die eigenen Träume einem die richtigen »Zeichen«. Wer einen Friedhof träumt, der setzt auf eine Eins, der Nachttopf gilt als 27, Christus als 33, Pulcinella (die berühmte komische Figur aus der commedia dell'arte) als 75. Wer welche Eingebung hat und wie gar ein Traum zu deuten ist, in dem Christus als Pulcinella verkleidet erscheint - soll ich nun auf die 33 oder die 75 setzen? -, dafür gibt es seit mehr als hundert Jahren, seitdem in Neapel Lotto gespielt wird, die Figur des Bild- und Traumdeuters, des sogenannten assistito (desjenigen, der einem beisteht). Gegen eine kleine Gebühr interpretiert dieser assistito jeden Traum. Man kann ihn sogar beauftragen, stellvertretend für einen selbst zu träumen. Natürlich gibt es Reklamationen, wenn die Zahlen dann doch nicht stimmen, aber meistens kann der assistito in lauten und gestenreichen Diskussionen seine Kunden davon überzeugen, daß sie in ihrer Erzählung ein wichtiges Detail zu erwähnen vergessen haben, oder er wird auf andere Hakenschläge des -103-
Schicksals verweisen. Wenn einmal eine Zahl monatelang nicht auftaucht - die 34 (der »Dickkopf«) ließ einmal drei Jahre auf sich warten -, ist ganz Neapel in Aufregung. Da hilft es meistens auch nicht, auf Holz zu klopfen oder, wie man in Italien sagt, tocca ferro, das (Huf-)Eisen zu berühren. Toto (der Fußball- oder Rennsportfachmann ist gefragt) und das klassische Lotto sind weit mehr als reine Glücksspiele. Das Glück (die richtigen Zahlen) kann und muß man sich irgendwie erarbeiten, und ein Lottogewinn wird deshalb auch als eine Art Verdienst angesehen. Einen Lottoschein auszufüllen und abzugeben ist in Neapel auch keine Privatveranstaltung, irgendwie werden der ganze Häuserblock, die ganze Gasse in die Aktion mit einbezogen. Das neue, riesige Gewinne versprechende Superenallotto hat dagegen mit dieser Tradition gebrochen. Da müssen einfach landesweit sechs Zahlen von 100 erraten werden. Der Gewinner kann mehrere Millionen Euro mit nach Hause nehmen, doch die Chance beträgt eins zu 622 Millionen. Da haben Neapels Traumdeuter ausgespielt. Und der Umsatz in den alten Lotto- und Totowetten ist dramatisch zurückgegangen, was wiederum zu einem Rückgang der Gewinnaussichten führt. Vielleicht werden sie in naher Zukunft ganz eingestellt. Lust aufs Spielen haben die Italiener auch zu Hause, im Privaten. Sie hat nichts Anrüchiges, nicht einmal zur heiligen Weihnachtszeit, in der regelmäßig gehörig um Geld gespielt wird - oder um Schokoladenstückchen. Zum Beispiel bei der tombola, einer Art Lotterie, bei der man Spielkarten mit Zahlenkombinationen vor sich liegen hat. Nach und nach werden Zahlen von eins bis hundert ausgerufen, und man deckt das entsprechende Feld auf der Karte ab. Wer zuerst eine Folge von drei (terzina), fünf (cinquina) und schließlich die Zahlen der ganzen Karte abdecken kann, bekommt einen kleinen Geld-104-
oder Schokoladenpreis. Geld, Glück, Schicksal - um den Jahreswechsel herum offenbart sich die heidnische Seele der Italiener. Wer in diesen Tagen Glück im Spiel hat, den wird auch das Schicksal begünstigen. »Italiens Do It Better« Einmal im Jahr zeigt man dem Alltag radikal den Rücken. Sommer bedeutet Ferien- und Urlaubszeit, und da fährt man also weg. Man? Statistiker sind sich da gar nicht so sicher. Nur 43 Prozent aller Italiener können es sich erlauben, länger als vier Tage nacheinander ihren Wohnsitz zu verlassen, das heißt, in die Ferien zu fahren. Der typische Urlaub hat sich verändert. Früher fuhr Familie Rossi (der italienische Otto Normalbürger) in ein möglichst preisgünstiges Quartier an der Adria, ging morgens mit Kind, Kegel und belegten Broten an den Strand, kehrte abends in die Unterkunft zurück und suchte sich dann eine Pizzeria oder Bar an der Strandpromenade, während die Kleinen mit Freunden unterwegs waren. Nach drei Wochen setzte sich Familie Rossi wieder ins Auto und fuhr braungebrannt und gutgelaunt nach Hause zurück. Wer seit längerer Zeit mal wieder an der Adria zwischen Ravenna und Rimini unterwegs ist, wird sich wundern. Es gibt noch die großen Hotelburgen und die kleinen Pensionen, aber rundherum hat sich vieles verändert. Überall sind riesige Vergnügungsanlagen entstanden. Auch die Strandbäder stehen ganz im Zeichen von Sport und Unterhaltung. Und Fitneßstudios, Aktivferiendörfer und Bowlingcenter sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Auf der Strandpromenade sausen abends Inlineskater rechts und links an den Spaziergängern vorbei, und aus den Bars dröhnt Livemusik. -105-
Die Küste hier war immer schon für ihre Diskotheken bekannt, aber heute erschlägt einen das Angebot. Nachts gibt es extra Diskozüge, die das tanzwütige Volk von einem Ort zum anderen fahren. Die Eventkultur hat sich der ganzen Riviera bemächtigt. Ein Tourismusmanager erzählte stolz, daß 150000 Menschen zwischen Ravenna und Rimini im Sommer allein damit beschäftigt seien, die Urlauber bei Laune zu halten. So viele haben früher in Turin bei Fiat gearbeitet. Vom Fließbandarbeiter zum Animateur, das ist Fortschritt! Es ist dann immer wieder tröstlich, alte Bekannte wiederzusehen. Nicht, daß ich den jungen braungebrannten Typen auf der anderen Straßenseite persönlich kenne. Er hat seit geraumer Zeit Blickkontakt mit einem Tisch der Eisbar aufgenommen, an dem zwei blonde Schönheiten sitzen. Und ich bin mir sicher, daß er bald an deren Tisch übersiedeln wird. Der Latin Lover, seine Kunst der Anmache und Verführung, ist noch nicht ganz ausgestorben. Kein Wunder, daß sich Madonna einst mit einem T-Shirt ablichten ließ, auf dem stand: »Italians Do It Better«. So finden wir Urlauber, Italiener und Nichtitaliener, uns am Ende alle im Andenkengeschäft wieder. Die Plastikgondel, der Schiefe Turm in allen Größen, Michelangelos David oder das Kolosseum auf dem Halstuch: Zwischen Souvenirshop und Museumsladen lebt ein kleiner Wirtschaftszweig, der in Italien pro Jahr rund eine Milliarde Euro umsetzt. Dafür könnte man sich zwei erstklassige Fußballmannschaften zusammenkaufen. Unterwegs im Alltag Vielleicht habe ich ja einfach Glück. Aber die meisten Züge, die ich in Italien benutze, kommen pünktlich an. Klar, wenn ich mich - wie immer in letzter Minute - auf der klapprigen Rolltreppe in Milano Centrale an den Stehenden vorbeidrängle -106-
(können sich Mailänder nicht wenigstens dieses eine Mal, an diesem einen Morgen wie Londoner benehmen?) und atemlos Punkt neun Uhr am Bahnsteig acht ankomme, dann blicke ich dem abfahrenden Eurostar nach Rom hinterher. Komme ich mal zehn Minuten zu früh, fährt er dagegen bestimmt fünf Minuten später ab. Abgesehen von derlei Mißgeschicken ist es mir immer erspart geblieben, wovon die Medien laufend berichten: Züge, die bei der größten Hitze und mit abgeschalteter Klimaanlage stundenlang in einem Tunnel stehen, biblische Verspätungen, ausgefallene Verbindungen, überfüllte Waggons, mangelhafte Wartung (60 Prozent aller Wagen der italienischen Eisenbahn sind älter als 20 Jahre), fehlende Informationen und schlechter Service. Sicher, das Essen in den Speisewagen ist dürftig, teuer, und den schlecht Informierten wird immer gleich ein ganzes Menü aufgeschwatzt (dabei kann man zum Beispiel auch nur den ersten Gang essen); die Musik in den Eurostars funktioniert seit Jahren nicht (aber fahre ich denn Eisenbahn, um Musik zu hören?), und von der Sauberkeit auf den Toiletten wollen wir gar nicht erst reden. Und doch gibt es für mich kaum etwas Entspannteres, als im Zug von Mailand nach Turin, Venedig oder Rom zu fahren. Schlangen am Fahrkartenschalter? Man kann sich die Fahrkarten auch kurz vor Reiseantritt in einem der vielen Reisebüros im ganzen Land kaufen. Sogar auf dem Mailänder Bahnhofsgelände gibt es derer zwei. Bei inneritalienischen Verbindungen sollte man nicht vergessen, die Tickets und Zuschläge vor der Abfahrt, wie vorgeschrieben, an einem der kleinen orangefarbigen Automaten zu entwerten, sonst kann der Schaffner später Strafgebühren verlangen. Die Ausrede, der Automat am Gleis habe nicht funktioniert, läßt er nicht gelten. Denn es gibt sie wirklich überall auf dem Bahnhofsgelände, und irgendeiner funktioniert immer - in Italien funktioniert -107-
selbst im schlimmsten Chaos immer irgend etwas. Später, im Zug, kann man lesen, vielleicht sogar arbeiten, mit dem Gegenüber plaudern, sich die Beine vertreten, aus dem Fenster gucken, die Gedanken neben den Gleisen laufen lassen. Draußen ziehen Traumlandschaften vorbei, für die Hollywood Millionenbeträge bezahlen würde: der strahlende Alpenkranz auf dem Weg nach Turin, der südliche Gardasee auf dem Weg nach Venedig (und dann erst die Lagune!) oder die Hügel des toskanisch-umbrischen Apennins. Man muß sich allerdings mit Geduld wappnen angesichts der vielen Handys, die cellulari heißen oder einfach liebevoll telefonini genannt werden. Irgendeins fiept immer, mal mit Verdiklängen, mal mit Mozart, oder grell alarmklingelnd. Sobald Italiener ein Handy am Ohr halten, glauben sie, ihre Umgebung sei in eine einsame Insel verwandelt. Und so brüllen sie in ihre telefonini, daß der ganze Zug mithören kann, beschimpfen die Sekretärin oder den Geschäftspartner, erzählen Liebesabenteuer oder lassen schon mal den Weißwein zum Abendessen kaltstellen. Trotz dieser Unbill kommt mir Eisenbahnfahren in Italien immer wie ein Zeitgewinn vor, nie wie ein Zeitverlust. Wann habe ich schon mal viereinhalb Stunden Zeit für mich allein wie zwischen Mailand und Rom? Ganz im Gegensatz zum Fliegen, wo die Zeit zerhackt wird zwischen Flughafenanfahrt, Einchecken, Personenkontrolle und dem Warten auf den Abflug in den engen Inlandsmaschinen, in denen man nicht einmal eine Zeitung umblättern kann, ohne den Nachbarn zwei Sitzplätze weiter zu stören (und ein Gegenüber gibt es schon gar nicht). Dann folgen ein kurzer, meist wackeliger Flug und das Warten auf die Landeerlaubnis. Mag sein, daß ich eine halbe Stunde früher zu meiner Verabredung in Rom eintreffen würde - aber um Jahre gealtert! Das Auto ist nur dann eine echte Alternative, wenn man Touren übers Land machen will. Städteverbindungen auf der -108-
Autobahn? In Italien fahren 40 Millionen Kraftfahrzeuge auf den Straßen, doppelt so viel wie vor zwanzig Jahren. Es gibt heute rund 6400 Kilometer Autobahnen und 45000 Kilometer Staatsstraßen - fast genauso viele wie vor zwanzig Jahren. Da wird es eng, und Autofahren macht keinen Spaß mehr, auch wenn in Italien sehr viel besser (rücksichtsvoller - ja rücksichtsvoller -, phantasiereicher, weniger spurenstur und vor allem weniger schnell!) gefahren wird als in Nordeuropa. Zu bedenken sind zudem die Staus, bevor man in die Städte einfahren kann, die verstopften Zentren, die für den Verkehr des Mittelalters, bestenfalls der Barockzeit, konzipiert wurden und nicht für die Autoflut der Gegenwart - und der finale Kampf um einen Parkplatz. Zwei ganze Lebensjahre verschwenden die Italiener einer Studie nach bei der Parkplatzsuche, das ist Weltrekord! Statistiker haben außerdem errechnet, daß der Weg zur Arbeit und des Abholen der Kinder von der Schule 1994 noch 45 Minuten in Anspruch nahmen, im Jahr 2000 bereits auf eine Stunde und 15 Minuten gestiegen waren. Meine beiden Kinder fahren deshalb (wenn sie auch jeden Morgen zeternd die Wohnung verlassen) mit der überfüllten Metro zur Deutschen Schule im Zentrum von Mailand, und ich benutze, wann immer ich kann, in den Städten die öffentlichen Verkehrsmittel (auch die sind besser als ihr Ruf, vor allem sind sie preisgünstig) oder zwischen den Städten die Eisenbahn. Solange nicht gestreikt wird. Dann kann es manchmal abenteuerlich werden, und das ist nicht immer lustig. An solchen Tagen ist es wirklich besser, zu Hause zu bleiben. Wer zu Hause bleibt, trifft sich zum Aperitif. Da habe ich gerade die jüngste Nachricht erfahren. Peppino und Angela wollen ihren Lebensabend genießen und die »Wonderbar« verkaufen. Interessenten gäbe es schon. Schade - aber vielleicht sind die kommenden Besitzer ja genauso nett wie die alten. -109-
Haudegen und heiße Diskussionen Streifzüge durch Politik und Geschichte
Das ist überall Männersache: An Stammtischen oder im Wohnzimmer schwingen die Herren der Schöpfung große Worte und ziehen über die Regierung her. Doch über politische Themen zu reden ist in Italien noch ein bißchen mehr Volkssport als anderswo. Ein Sprichwort lautet piove, governo ladro - immer wenn es regnet, stiehlt die Regierung. Und in Italien regnet es häufiger, als uns die Reiseveranstalter glauben machen wollen. Geradezu weise erklärt ein anderes Sprichwort die Suche nach Schlupflöchern im Gesetzesnetz zum Knobelspaß für die Nation: Fatta la legge, trovato l'inganno - sobald ein Gesetz verabschiedet wird, hat man bereits einen Weg gefunden, es zu umgehen. Oder man denke an die herrlichen Auseinandersetzungen zwischen Don Camillo und Peppone, die in Deutschland durch die Filme mit Fernandel und Gino Cervi aus den fünfziger Jahren bekannt geworden sind. Manchmal wurde dabei übersehen, daß der Schriftsteller Giovanni Guareschi (1908 - 1968) diese beiden sympathischen Figuren in offen antikommunistischer Absicht geschaffen hatte. Wobei wir schon mitten in einer der Diskussionen auch der Gegenwart wären, die regelmäßig den Blätterwald rauschen läßt. War Guareschi ein begnadeter Satiriker, der zeit seines Lebens von den Linksintellektuellen geschnitten wurde? Oder nur ein kleiner Propagandist für Kirche und Christdemokraten? Vielleicht war er einfach ein begabter volkstümlicher Autor, über dessen Texte man auch schmunzeln darf, ohne seiner politischen Meinung folgen zu müssen. -110-
Der Faktor K und seine Folgen Es gibt in Italien zwei Arten von politischer Diskussion. Die eine wird von den Politikern und von den Berichterstattern in den Zeitungen geführt. Wobei man manchmal nicht so recht weiß, ob die Politiker die Zeitungen nutzen, um in Interviews und Statements, die am nächsten Tag schon widerrufen werden können, die Volksstimmung zu erspüren. Oder ob manche Zeitungen mit zweideutigen und auf Halbwahrheiten beruhenden Berichten selbst Politik machen und die Politiker zu Reaktionen herausfordern wollen. Die römische Innenpolitik kann mit ihren Winkelzügen, Florettkämpfen und vielen, vielen Andeutungen spannend sein, wie ein Fortsetzungsroman. Da treten Schurken auf, die plötzlich zu Helden werden, oder Helden, die sich als Kleingeister erweisen. Wer jedoch eine oder gar mehrere Folgen dieses Romans ausläßt, hat Schwierigkeiten, überhaupt noch etwas zu verstehen. Viele politische Journalisten gehen davon aus, daß jeder Leser jede Andeutung versteht, jedes Kürzel kennt, jeden Namen einordnen kann, jede Vorgeschichte parat hat. Die andere Ebene der politischen Diskussion ist die populäre. Hier wird Politik stammtischgerecht als ein Schachersystem angesehen, das im Grunde nur darauf angelegt ist, den kleinen Leuten möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Regierung ist weit weg, und oft schimpfen die am lautesten über sie, die sie gewählt haben. Wie anders wäre es zu erklären, daß etwa die Christdemokraten unter Fanfani, Moro, Andreotti fast ein halbes Jahrhundert an der Macht bleiben konnten? Politologen sprechen dabei von dem Faktor K. K wie Kommunismus. Die Christdemokraten (DC), die ihre Partei nach dem Krieg auf Initiative des Vatikans gegründet hatten -111-
ein Mentor war der Kardinal Giovanni Battista Montini, der spätere Papst Paul VI. -, bildeten keine wirklich geschlossene Partei, sondern eher einen Parteienverbund aus verschiedenen christlich inspirierten Strömungen. Als größte Oppositionspartei stand ihnen eine einheitlich auftretende kommunistische Partei gegenüber. Die hatte sich zwar für das westliche demokratisch-parlamentarische System entschieden, aber es war in den Jahrzehnten des Kalten Krieges einfach ausgeschlossen, daß Kommunisten, so sozialdemokratisch sie sich auch verhalten mochten, in einem NATO-Land an die Macht kamen. Als es ihnen während der siebziger Jahre unter ihrem Chef Enrico Berlinguer zu gelingen schien, gab es massiven Druck gegen die Kommunisten (und Finanzhilfen für die Christdemokraten) von amerikanischen wie deutschen Bündnispartnern. Dem Partito Comunista Italiano (PCI) wurde politische Verantwortung nur auf regionaler und lokaler Ebene »gestattet«. So blieben die Christdemokraten meistens zusammen mit kleineren Koalitionspartnern zum Regieren geradezu verdammt, sie konnten gar nicht abgewählt werden. Ganz davon abgesehen, daß die Mehrheit der Italiener bis heute eher wertkonservativ orientiert ist oder zumindest Veränderungen fürchtet, auch wenn sie laut danach schreit. Außerdem gibt es da noch die Gruppe derer, die ihr Herz links, ihr Portemonnaie aber rechts tragen. Und Politik ist selten eine Herzensangelegenheit. Stabile Instabilität Politik ist immer ein kompliziertes Tauschgeschäft von Gefälligkeiten, Genehmigungen, Posten und Aufträgen. Das vermag auch eine hehre demokratische Rhetorik nicht zu verdecken. Voraussetzung dafür, daß dieses Netz hält und -112-
möglichst viele zufriedengestellt werden können, ist ein gewisses Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichsten Interessengruppen, die sich die Macht teilen. Wenn sich in Italien das Gleichgewicht verschoben hat, mußte die Macht innerhalb der herrschenden Eliten neu austariert werden. Denn ein Macht- und Regierungswechsel blieb ja ausgeschlossen, solange die größte Oppositionspartei mit ihrem Kainsmal K als regierungsunfähig galt. So führte bereits eine kleine Gewichtsverschiebung der einen oder anderen Gruppe entweder zu einer Regierungskrise oder gar zu einer vorgezogenen Neuwahl. Das war die paradoxe Situation Italiens: Kaum eine Regierung blieb länger als ein Jahr im Amt, zugleich aber war das Land politisch stabil wie kein anderes im Westen, weil es über Jahrzehnte von den immergleichen politischen Köpfen und Kräften geführt wurde. Das änderte sich abrupt mit dem Ende des Kalten Krieges, als der Faktor K entfiel, die Kommunisten in eine Identitätskrise gerieten und die alten Regierungsparteien zerbrachen. Auslöser war ein riesiger Finanz- und Korruptionsskandal. Wählerstimmen wurden frei, und die kleinbürgerliche Regionalpartei Lega Nord konnte davon ebenso profitieren wie die rechte Alleanza Nazionale (AN). Die AN ist eine demokratische Nachfolgeorganisation der neofaschistischen Sozialbewegung MSI, die als einzige Partei von Macht und Einfluß in den Nachkriegsparlamenten ausgeschlossen blieb und damit auch von Finanzskandalen und Korruptionsaffären. Plötzlich standen die Exfaschisten mit einer reinen Weste da, was sie besonders für Wähler im Süden interessant machte. Im ganzen Land schien Anfang der neunziger Jahre ein neuer Wind zu wehen. Staatsanwälte und Gerichte hatten keine Scheu mehr, auch gegen hohe Politiker, wie den früheren Ministerpräsidenten Bettino Craxi, vorzugehen. Doch diese Aufbruchstimmung ist längst verpufft. Die Koalition der linken -113-
Mitte, die Ende der neunziger Jahre die Regierung stellte, wurde zeitweilig von zwölf Parteien getragen, die, nicht anders als zuvor die Christdemokraten und ihre Partner, an den Fleischtöpfen der Macht beteiligt werden wollten. Und auch die Forza Italia, die inzwischen stärkste Partei Italiens, die sich der Medienunternehmer Silvio Berlusconi für die Eroberung der Regierungsmacht zugeschnitten hat, ist nicht viel mehr als eine Ansammlung verschiedenster politischer Strömungen, die alle von der Popularität ihres Anführers profitieren wollen. Im Palazzo Das Wort palazzo, der Beamtenpalast mit Vor-, Chefzimmern und endlosen Gängen, wird in der Öffentlichkeit als Synonym für Politik und Macht benutzt. Kaum ein Palast verkörpert die volksferne Macht so perfekt wie der Palazzo di Giustizia, der Justizpalast, der eigentlich genau das Gegenteil ausdrücken sollte. Sollen doch vor dem Gesetz alle gleich sein. Vor ein paar Monaten recherchierte ich für einen Beitrag über die Staatsanwälte und Richter, die unter dem Namen »Aktion saubere Hände« (mani pulite) die politische Korruption bekämpfen. Ich wollte mit dem Mailänder Staatsanwalt Gherardo Colombo sprechen. Was ich nicht wußte: Besucher des Justizpalastes müssen einen Nebeneingang benutzen, werden nach Waffen durchsucht und bekommen schließlich einen Besucherausweis. Ich spazierte dagegen nachmittags gegen halb vier durch den Haupteingang dieses bombastischen Gebäudes aus faschistischer Zeit und fand mich mutterseelenallein in einer riesigen Halle wieder, die nur eilig von einem Rechtsanwalt mit fliegenden Rockschößen durchschritten wurde. Endlich traf ich zwei ins Gespräch vertiefte schwerbewaffnete und mit kugelsicheren Westen bekleidete -114-
Polizisten, die ich nach der Staatsanwaltschaft fragen konnte. »Von welchem Gericht?« wurde ich zurückgefragt. »Hier gibt es eine ganze Menge Staatsanwaltschaften.« Das wußte ich nicht, also nannte ich nur den Namen des Staatsanwaltes, der in Italien sehr bekannt ist, und die Polizisten deuteten nach hinten - »Fahrstuhl, vierter Stock« und setzten ihr intensives Gespräch fort. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis ich in dieser Halle einen Fahrstuhl gefunden hatte. Und der hielt dann nur im dritten und fünften Stock. Kein Problem, dachte ich und fuhr in den fünften Stock. Es war aber keineswegs leicht, in dem kafkaesken Gebäude mit seinen verschlungenen Gängen und unzähligen Büros mit der Treppe von einem in den anderen Stock zu gelangen. Ich landete schließlich in einem Zwischengeschoß und stieß auf neue Gänge mit noch mehr Türen. Eine Treppe, die ich fand, führte direkt abwärts in den dritten Stock, es war wie verhext. Die meisten Büros waren verwaist. Nachdem ich viermal gefragt und mich fünfmal verlaufen hatte, gelangte ich, eher durch Zufall, in den vierten Stock und zu den Büros »meiner« Staatsanwaltschaft, wo mich Dr. Colombo bereits etwas ungeduldig erwartete. Nach dem Gespräch wies mir seine Wachmannschaft den richtigen Weg über den richtigen Fahrstuhl zum richtigen Ausgang. Dort staunte man, wie ich überhaupt ohne Kontrollen ins Haus hatte gelangen können. Ich glaube, meine Erklärung, ich sei durch den Haupteingang gekommen, ließ die Polizisten ratlos zurück. Eines muß man ihnen jedoch lassen: Mit ihren schmucken Uniformen und schweren Waffen machten sie wirklich eine bella figura.
-115-
Parteienmüdigkeit und Unità-Feste Die volkstümliche Skepsis, die jahrzehntelang die römische Politik und ihre Palazzi begleitet hat, ist also ungebrochen. Gerade in vielen Familiendiskussionen habe ich gelernt, daß sich aber etwas verändert hat. Es gibt einerseits noch diese Lust am politischen Gespräch, das oft leidenschaftlich geführt wird. Politische Themen sind schließlich in Italien ein Alltagsgespräch wie in England die Konversation übers Wetter. Früher, zur Zeit des Faschismus, gab es gelegentlich dramatische Risse zwischen Verwandten, wenn sich dabei Parteigänger Mussolinis und Anhänger des Widerstands gegenüberstanden. Heute sind diese Brüche weniger traumatisch, was aber lebhaften Streit nicht ausschließt. Meine Frau kann jedenfalls manchmal recht heftig argumentieren. Ein Schwager, der in seiner Jugend der extremen Linken zugeneigt war, ist heute als Unternehmer selbstredend ein Anhänger Berlusconis. Ein Bruder hat sich dagegen gerade in seinem kleinen Wohnort als Bürgermeisterkandidat für eine Linkskoalition aufstellen lassen (und knapp verloren). Wenn beide aufeinandertreffen, kann es schon mal laut werden. Bevor man sich jedoch wieder trennt, hat man sich selbstverständlich - menschlich, nicht politisch - wieder versöhnt. Aber in allen Familien, die ich kenne, wächst eine gewisse politische Ratlosigkeit. Das drückt sich auch in den Wahlbeteiligungen aus, die früher regelmäßig über dem europäischen Durchschnitt lagen und jetzt darunter absinken. Es gibt immer mehr Parteien und Fraktionen - und immer weniger Leute, die sich an sie binden wollen. Die linksorientierten Italiener gingen früher auf die Sommerfeste der exkommunistischen Zeitung »l'Unità«, die in jedem Dorf oder in einzelnen Stadtvierteln veranstaltet wurden. -116-
Als Höhepunkt gab es nationale Festwochen (oft in einer der »roten« Regionen Emilia-Romagna, Toskana oder Umbrien), zu denen Hunderttausende zusammenströmten. Man traf sich, diskutierte mit bekannten Politikern aller Parteien oder hörte Schriftstellern und Wissenschaftlern zu. Es gab gutes, preiswertes Essen. Man konnte Bücher kaufen, sich auf Musikwie Theaterveranstaltungen vergnügen und sogar tanzen. Inzwischen haben diese Feste viel von ihrer Attraktivität verloren. Sie sind nur noch eine vage Erinnerung an eine lebhafte politische Kultur, an der auch der Reisende teilhaben konnte. Natürlich waren und sind das Propagandaveranstaltungen, aber eben öffentliche, demokratische, auf Mitarbeit setzende Treffen, die - egal welche politische Einstellung man hat - den einzelnen als Staatsbürger ernster nehmen als die Werbeschlachten für politische Konsumenten, die heute über Fernsehen und Plakatwände ausgefochten werden. Wer deshalb auf solch ein Fest stößt, sollte sich nicht scheuen, mal die Nase hineinzustecken. Eine Frage des Gemeinsinns Italienern sagt man grundsätzlich ein mangelndes Staatsverständnis nach. Man traut dem Staat einfach nicht. In einer Umfrage zeigten sich jüngst nur knapp die Hälfte der Befragten bereit, Opfer für Staat oder Nation zu bringen. Man traut nur zwei so unterschiedlichen Organisationen wie der Kirche und den Carabinieri. Lokale Einrichtungen, wie die Stadtverwaltungen, schneiden gegenüber dem Zentralstaat, der über Schule, Krankenhaus und Polizei bestimmt, besser ab. Kein Wunder also, daß in einigen Gegenden die Idee des Regionalismus immer mehr an Raum gewinnt. Aber dennoch darf man nicht von mangelndem Staatssinn auf mangelnden -117-
Gemeinsinn schließen. Vier Straßenbahnhaltestellen von meiner Wohnung entfernt liegt die Piazza XXV Aprile. Sie wird beherrscht von einem Stadttor, das Canova unter der napoleonischen Besatzung Mailands entworfen hat. Nachts ist das Viertel um diese Piazza mit vielen Bars und Restaurants sehr belebt. Immer mehr Geld fließt hierher, der obere Mittelstand siedelt sich an, Designer und Architekten putzen die alten Häuser heraus. Völlig losgelöst von dieser Szenerie steht ein Palazzo, der einer kirchlichen Bruderschaft (Padri Somaschi) gehört, die das ehemalige Seminargebäude für eine lächerlich geringe Miete an ein konfessionell ungebundenes Konsortium von Kooperativen und Sozialunternehmen vermietet hat. So ist der Palazzo dei Giovani e delle Culture Giovanili, ein Haus der Jugend und der Jugendkulturen, entstanden. Hier sind unter anderem eine Jugendherberge, eine Mensa, ein multikultureller Kindergarten und ein Tagungszentrum untergebracht. Außerdem gibt es Räume für alle möglichen Aktivitäten im Rahmen der Sozialarbeit. Die Sozialarbeiter, die hier arbeiten, werden bezahlt. Stefano Radaelli, der das Konsortium leitet, legt Wert darauf, daß es sich hier nicht um volontariato, also um Freiwillige handelt, die neben ihrer Arbeit unentgeltlich hier und da helfen. In Italien gibt es ein Heer von rund 3,7 Millionen Freiwilligen, die segensreich überall da Löcher stopfen, wo der Wohlfahrtsstaat versagt. Volontariato, sagt Stefano, sei nützlich, doch dürfe die Sozialarbeit kein Almosen bleiben, sondern müsse in der Gesellschaft verankert sein. Weil Staat, Regionen und Städte kaum Geld und Strukturen bereitstellen würden, müsse die Gesellschaft mit ihren eigenen Mitteln tätig werden, und das sei eben die Wirtschaftsform eines Unternehmens. Sicher, es handele sich um Non-ProfitGesellschaften, aber das Ziel sei, Gewinne zu machen, um sie zugleich wieder zu investieren. -118-
Im Land, so habe ich erfahren, gibt es 3500 solche Sozialkooperativen mit insgesamt rund 700000 Beschäftigten. Fachleute schätzen, daß in den nächsten Jahren weitere 130000 Arbeitsplätze entstehen werden. Einer der Sozialarbeiter ist der dreißigjährige Enrico, der am Nachmittag und abends durch Bars und Treffpunkte am südlichen Stadtrand von Mailand zieht, um Kontakt zu den Stadtstreichern zu halten. Eine harte Arbeit, bei der es um Drogen, Aids und Alkoholismus geht, »aber vor allem darum, vorzubeugen und dazu beizutragen, daß der Hilfebedürftige das Beste aus sich herausholen und wieder Selbstvertrauen gewinnen kann«. Dafür bekommt Enrico sechs Euro Stundenlohn. Viel zu wenig, aber er sagt, »die Arbeit gefällt mir, weil sie sinnvoll ist«. Mißtrauen in die Politik, heißt es, würde letztlich in einem opportunistischen Verhalten enden, bei dem Gesetzesübertretungen und die zustimmende Duldung von Steuerhinterziehung, von Korruption gar, an der Tagesordnung seien. Es gibt in Italien aber auch den Gemeinsinn von Millionen Freiwilligen und Sozialarbeitern, die helfen wollen, auch wenn sie nicht jedem helfen können. Eine römische Provokation Kann man unterwegs eigentlich Politik und Geschichte sehen? Die Kuppel des Petersdoms konnten Reisende, die sich in früheren Jahrhunderten Rom näherten, bereits von weitem ausmachen. Heute verstellen die Vorstädte, die zum Teil planlos in die Campagna Romana gewachsen sind, diesen Blick, der einst die Herzen höher schlagen ließ. Aber in Rom selbst bleibt die herrliche Kuppel, eine Meisterarbeit Michelangelos, immer wieder ein optischer Bezugspunkt, der aus dem Dächergewirr herausragt. Als ich während meines ersten Romaufenthalts einen Freund -119-
im Stadtviertel Prati besuchen wollte, war ich allerdings etwas verwirrt. Das hatte seinen Grund nicht nur in den vielen lateinischen Straßennamen wie Piazza dei Quiriti, Via degli Scipioni oder Via Pompeo Magno. Das Viertel liegt direkt unterhalb des Vatikans, aber nirgendwo hat man einen Blick auf die wichtigste Kirche der katholischen Welt. Später erfuhr ich, daß hier die Stadtplaner ganz bewußt gegen Kirche und Kirchenstaat vorgegangen waren. Das Viertel entstand in den ersten Jahrzehnten nach der italienischen Vereinigung, etwa zu der Zeit, als Rom 1870 Hauptstadt wurde. Mit militärischer Gewalt war dem Papst bereits zuvor die Herrschaft über den Kirchenstaat (weite Gebiete Latiums, Umbriens, der Marken und der Romagna) entrissen worden. Piemontesische Truppen durchbrachen dann am 20. September 1870 bei der Porta Pia die Stadtmauer und eroberten Rom. In jedem größeren italienischen Ort gibt es deshalb heute eine Via XX Settembre. Der Papst, Pius IX., zog sich schmollend hinter die Mauern des Vatikans zurück. Pius erkannte weder den neuen italienischen Staat an, noch akzeptierte er die Garantien für Kirche und Vatikan, die die Regierung gesetzlich verankern ließ. Er verbot sogar allen Gläubigen, sich aktiv am politischen Leben des Landes zu beteiligen, was nicht wenige Menschen in Gewissenskonflikte stürzte. Das änderte sich erst über vierzig Jahre später, als der Priester Don Luigi Sturzo mit Genehmigung des Vatikans die katholische Volkspartei (Partito popolare) gründen durfte. Die neue rechtsliberale Stadtregierung Roms reagierte nach 1870 auf diese Provokation von Pius mit einer eigenen. Sie ließ eben das moderne Stadtviertel Prati unterhalb des Vatikans bauen, mit geraden Straßen, großzügigen Wohnungsbauten und mit Kasernen, damit sich der Papst wirklich als »Gefangener« fühlte, als den er sich selbst bezeichnet hatte. Die Straßen wurden betont so angelegt, daß sie den Petersdom -120-
ignorierten. Die Stadtväter machten sich zudem einen besonderen Spaß, als es darum ging, den Straßen und Plätzen Namen zu geben. Es sind meistens »antikatholische« Namen, die sich entweder auf die heidnische römische Antike oder auf die nationale Einheitsbewegung (das Risorgimento) beziehen. Die Hauptstraße des neuen Viertels, der angenehme Boulevard Via Cola Di Rienzo, der zur Piazza del Risorgimento bis an die Mauern des Vatikans führt, wurde schließlich nach dem »Demokraten und Revolutionär« benannt, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein neues, von Kaiser und Papst unabhängiges Rom errichten wollte. Am Fuß des Kapitols wurde Cola Di Rienzo 1354 auf dem Gang zu einer Sitzung ermordet. Sein Schicksal beschäftigte vor allem im 19. Jahrhundert Literaten und politische Träumer, zum Beispiel auch Richard Wagner. »Risorgimento« (wörtlich: Wiederauferstehung) hieß eine Zeitschrift, die der rechtsliberale piemontesische Politiker Graf Camillo Cavour zusammen mit anderen ins Leben gerufen hatte. Der Name wurde dann auf die gesamte Einigungsbewegung übertragen, die Graf Cavour zunächst als Minister und später als piemontesischer Regierungschef anführte. Das Land hat es ihm und dem Haudegen Giuseppe Garibaldi in unzähligen Denkmälern, Straßen und Plätzen gedankt. Wilder Regionalismus Bis heute ist jedoch spürbar, daß der Süden Italiens mit Gewalt zur Einigung gezwungen wurde. Die Abstimmungen für oder gegen ein piemontesisches Italien fanden unter massivem Druck statt. Wer damals etwa in Neapel öffentlich dagegen auftrat, mußte mit gewaltsamen Aktionen von Straßenbanden -121-
rechnen und wurde anschließend auch noch in Schutzhaft genommen. Sicherlich war der Anschluß im Vergleich zur Bourbonenherrschaft, die den Süden in Armut, Unwissen und Rückständigkeit belassen hatten, ein Fortschritt. Aber die meisten Menschen haben ihn ebenso passiv erlebt und ertragen wie vorher die Politik der Bourbonen. Giuseppe Tomasi di Lampedusa erzählt in seinem großen Sizilienroman »Der Leopard« die Geschichte einer Epoche, in der sich alles ändern mußte, damit es so blieb, wie es war - das heißt, damit die alten Kräfte in neuem Gewand an der Macht bleiben konnten. Der sizilianische Schriftsteller Andrea Camilleri, der seit Jahren mit seinen Kriminalromanen die italienischen Bestsellerlisten beherrscht, hat neben seinen Krimis wundervolle Bücher über die Probleme der Einigungsjahre geschrieben. Ohne Frage hat der Norden den Süden gleichsam kolonialistisch behandelt und gedemütigt. Dennoch sagte mir Camilleri in einem Interview, daß er »selbst unter der Folter« niemals behaupten würde, daß die italienische Einheit an sich dem Süden des Landes geschadet habe. Das Problem sei die Art und Weise, wie sich diese Einheit vollzogen habe. Und wie die regionalen Regierungen des Südens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihren Autonomien umgegangen seien und sie verspielt haben. Ich habe deshalb nicht schlecht gestaunt, als ich im Herbst 2000 eine große, unter anderem von der Region Kampanien offiziell veranstaltete Ausstellungsreihe über die Bourbonen in Neapel besuchte. Da wurde dieses heruntergekommene Herrscherhaus als aufgeklärt, volksfreundlich und fortschrittlich präsentiert. Und ich fand eine ganze Reihe von Leuten in Neapel, die scheinbar wie befreit von dem Unrecht erzählten, das mit der italienischen Einheit dem Süden angetan worden sei. In jenen Tagen tauchte eine Bourbonenhymne aus den -122-
Archiven wieder auf, die ausgerechnet von Verdi komponiert worden sein soll. Verdi ein Bourbonenanhänger? Ein Lehrer sagte, endlich könne er frei über den »Anschluß« reden, früher habe man solche Themen nur bei verschlossener Tür behandeln dürfen. Ähnliche Stimmen kann man auch in anderen süditalienischen Städten hören. Hier sind Stammtischdiskussionen gesellschaftsfähig geworden. Ganz ähnlich übrigens, wie es mit Umberto Bossi und seiner Lega im Norden geschehen ist. Aus einem gleichsam »wilden« Regionalismus (»Wir Lombarden finanzieren Rom, Süditalien und die Mafia«; »Wir Neapolitaner werden vom Norden ausgenutzt und unmündig gehalten«) wird ein politisches Manifest, das im Fall von Bossi sogar ins Regierungsprogramm einfließt. Daß dabei Fragen des Risorgimento als Katalysator wirken, zeigt wieder einmal, daß man ohne Geschichte die Gegenwart nicht verstehen kann. Der Gründungsmythos des Nachkriegsitaliens Es gibt wohl kaum ein Land in Europa, in dem die öffentliche Diskussion um Geschichte und Kultur so politisiert ist wie in Italien. Bereits Pirandello beklagt sich in seinem Roman »Mattìa Pascal« aus dem Jahr 1904, Geschichte sei dazu da, erzählt zu werden, und nicht, damit man sie unter Beweis stelle. Besonders in den letzten Jahren haben sich die verschiedenen politischen Fraktion historische Fakten nur so um die Ohren gehauen. Zum Beispiel: Daß die Italiener in ihrer zweijährigen Herrschaft während des Zweiten Weltkriegs in Slowenien mehr als 1700 Unschuldige wahllos »massakrierten«, wie die Kulturzeitschrift »Diario« belegt, ist wahr. Wahr ist auch, daß später Partisanen Titos an Faschisten, Mitläufern oder Abweichlern von der eigenen Parteilinie gnadenlos Rache -123-
nahmen und Tausende Italiener in den foibe, den Kalksteinspalten des Karst, ums Leben kamen. Man verrät schon seinen politischen Standpunkt, wenn man für die Zeit von 1943 bis 1945 entweder vom Bürgerkrieg oder von der resistenza, vom Widerstand, spricht. Wenn es um die Erinnerung geht, befindet sich Italien in einer Art kulturellem Kriegszustand: meine Toten gegen deine Toten, meine historischen Enthüllungen gegen deine Uminterpretationen. Dieser Kampf zwischen Revisionisten und Antirevisionisten hat viel mit den Grundlagen der gegenwärtigen italienischen Politik zu tun. Nach dem Krieg galt die Geschichte des Widerstands geradezu als Gründungsmythos eines demokratischen Italiens, das auch die Kommunisten einschließt, die ja den größten Teil des Widerstands getragen haben. Mit der Abkehr vom Gründungsmythos möchten rechtsliberale Kreise vor allem den Democratici di Sinistra (Linksdemokraten) und allen anderen Nachfolgern der ehemaligen kommunistischen Partei das Recht absprechen, diesen Staat heute zu regieren und seine Grundlagen zu gestalten. Eine Art neuer Faktor K. Städte als Geschichtsbücher Ganz im Gegensatz zum politisierten, manchmal intoleranten Umgang mit Geschichte und ihren Interpretationen gibt es auch eine gleichsam apolitische oder jedenfalls tolerante Haltung gegenüber architektonischen oder künstlerischen Zeugnissen vergangener Epochen. In Capri versucht seit Jahren ein Stadtratsmitglied der Alleanza Nazionale, das Lenindenkmal im Ort abreißen zu lassen. Doch der (von rechten Parteien dominierte) Stadtrat hat sich bislang diesem Ansinnen widersetzt. Lenin, der den Schriftsteller Maxim Gorki besucht und sich zwischen 1908 und 1910 zweimal für längere Zeit auf -124-
Capri aufgehalten hatte, gehört nun einmal zur Insel wie die Blaue Grotte. Dieses Verhalten hat Tradition. In den italienischen Städten hat man selten (jedenfalls nicht aus politischen Gründen) Gebäude einer anderen Epoche abreißen lassen. In der Regel hat man sie um- oder einfach im neuen Stil weitergebaut. So läßt sich an Kirchen, die etwa aus römischen Tempeln entstanden sind, eine mehrtausendjährige Geschichte ablesen, weil - wie zum Beispiel beim römischen Pantheon jede Epoche irgend etwas hinzugefügt hat: von der Tempelanlage einer römischen Therme über Renaissancefresken bis zu der Grablege von savoyardischen Königen. In Rom ist nicht nur das Forum Mussolini stehengeblieben, das von einem Obelisken beherrscht wird, auf dem groß »Mussolini Dux« steht, sondern wie in ganz Italien sind Bauten der faschistischen Epoche, etwa im EUR-Viertel, noch in den fünfziger und sechziger Jahren nach den alten Plänen zu Ende gebaut worden. Italienische Städte lassen sich deshalb wie ein Geschichtsbuch lesen, und man wandelt zwischen den Zeiten, wenn man nur die piazza wechselt. Zum Beispiel in Brescia, wo es nur ein paar Schritte sind, bis man vom Faschismus (Piazza Vittoria) in die venezianische Renaissance wechselt (Piazza della Loggia) und schließlich unter Arkaden ins Mittelalter (Piazza del Broletto) kommt, das direkt über die Via dei Musei mit der Antike (Ausgrabungen des Forums und Kapitols) verbunden ist. Geschichte kann sogar im Mund zergehen. Wie jedermann weiß, ist Turin ein Schokoladenzentrum mit herrlichen Cafés und Zuckerbäckereien (pasticcerie), die ein umwerfendes Angebot von Schokoladenpralinés feilbieten. In früheren Jahrhunderten gehörte die heiße Trinkschokolade zu den Vergnügungen der Edelleute am Hof der Savoyer: sie wärmte und gab dem abgeschlafften Körper einen Energiekick. Der -125-
Bürger oder der arme Mann gar durfte von solchen verführerischen Köstlichkeiten nichts wissen. Das änderte sich schnell, und im Piemont wurde fast zeitgleich mit England ein Verfahren entwickelt, wie man Schokoladenpulver in Tafelform binden kann. Jedermann, der es sich leisten konnte, wollte jetzt eine Tafel von dieser neuen Droge. Die Nachfrage wuchs enorm. Als die Truppen Napoleons Ende des 18. Jahrhunderts das Piemont belagerten, gingen aber die Kakaovorräte zur Herstellung von Schokolade zur Neige. Die Zuckerbäcker kamen auf die rettende Idee, mit Haselnüssen, die überall im Piemont wachsen, die Schokolade zu strecken. So entstand das Nougat. Später wurde es dann in kleine Brikettformen gepreßt und in eine goldschimmernde Folie eingepackt. Der kleinen Nougatform gab man den Namen Gianduiotto, nach einer piemontesischen Figur aus der Commedia dell'arte. Wehe, wenn ich nach einer Dienstreise nach Turin keine Gianduiotti, eine Erbschaft der napoleonischen Belagerung, mit nach Hause bringe. Meinen Töchtern ist allerdings Napoleon ziemlich egal.
-126-
Von Heiligen, Vögeln und Fischen Kirche, Glaube und Aberglaube in Italien
So, wie er dasteht, muß man sich den heiligen Franz ganz ohne Heuschnupfen und Pollenallergie vorstellen. Tagein, tagaus lehnt er sich an einen Brunnen auf der Piazza Sant'Angelo an der Ecke zur Via Moscova in Mailand, den langen Körper über das Wasser gebeugt, umgeben von allen erdenklichen Topfund Schnittblumen, die der Blumenhändler je nach Jahreszeit rund um den Brunnen anbietet. Erst am Abend, wenn der Händler die Blumen im Standhäuschen einschließt, oder im Winter, wenn das Angebot weniger üppig ausfällt, erkennt man auf der anderen Seite des Brunnenrandes ein paar kleine Bronzevögel, zu denen die Statue des Heiligen stumm predigt. Die Schriftstellerin Anna Maria Ortese hat ihr vor Jahrzehnten in einer ihrer Mailänder Geschichten ein kleines literarisches Denkmal gesetzt und sie zum Sprechen gebracht. Heilige fürs Volk Heilige gibt es viele. Italien ist voll von Heiligengeschichten, die heute noch die Kirchen füllen. Zum Beispiel, wenn sich in Neapel das geronnene Blut von San Gennaro verflüssigt - oder auch nicht, was dann ein schlechtes Zeichen wäre. Oder wenn Millionenstädte in einen karnevalsartigen Taumel geraten, wie Palermo an den Festtagen der Santa Rosalia (vom zehnten bis 15. Juli). In San Giovanni Rotondo bei Foggia in Apulien hat der Architekt Renzo Piano eine riesige Kuppel gebaut, unter der mehr als siebentausend Menschen Platz finden. Das ist ein -127-
Kirchenraum, der mit einer überspannten Innenfläche von 6000 Quadratmetern und einem Vorplatz von 9000 Quadratmetern kaum dem Petersdom in Rom nachsteht. Diese Wallfahrtskirche ist neben dem Kapuzinerkloster von San Giovanni Rotondo entstanden, wo der von vielen Gläubigen verehrte Padre Pio di Pietralcina 1968 starb und begraben wurde. Padre Pio, der über angeblichen Stigmata immer Handschuhe getragen hatte, wurden Wunderkräfte nachgesagt, auch wenn ihn ärztliche Gutachten als Hysteriker beschreiben. Jetzt sucht man Wunder und Glauben an seinem Grab. Papst Johannes Paul II. hat den volkstümlichen Prediger vor wenigen Jahren seliggesprochen. Ungläubige Kommentatoren reden von einer Antwort des Vatikans auf New-Age-Tendenzen, man spöttelt über Padre Pio gar als »New-Middle-Age«. Das Bedürfnis breiter Volksschichten nach Spiritualität und nach handfestem Glauben bremst solche Kritik kaum. Jährlich kommen über sieben Millionen Pilger zu dem Wallfahrtsort auf dem Vorgebirge des Gargano - mehr als nach Loreto oder Lourdes. Ein mehrteiliger Fernsehfilm zu Padre Pios Leben hat Einschaltquoten wie ein Spiel der Fußballnationalmannschaft erreicht. Statuen, Plaketten, Bildchen von Padre Pio findet man überall. Ich begegne ihm zum Beispiel, wenn ich in dem Schreibwarengeschäft meiner Straße einkaufe, dort steht sein Bild hinter der Kasse im Regal. Und so mancher Autofahrer hat einen Padre-Pio-Anhänger am Rückspiegel baumeln. Besonders in Krisenzeiten nimmt das Bedürfnis nach Führung und Sinngebung zu. Es hat seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nie so viele Marienerscheinungen oder »weinende Statuen« gegeben wie in den vergangenen zehn Jahren. Meist unbedeutende Marienabbildungen in kleinen Orten fangen plötzlich an, blutige Tränen zu vergießen. In Pantano bei Civitavecchia behauptete kürzlich der Pfarrer der Kirche Sant'Agostino, wo eine kleine Gipsstatue stand, sie -128-
habe sogar in seinen Händen geweint. Zehntausende pilgerten wochenlang zu der »Tränenmadonna«. Der Bürgermeister, pikanterweise ein Ex-Kommunist, plante bereits den Bau einer Wallfahrtskirche und den von zwei Hotels. Der Vatikan verhält sich in solchen Fällen verständlicherweise - äußerst zurückhaltend. Denn irgendwann, wie auch in diesem Fall, stellt sich heraus, daß jemand dem »Wunder« ein wenig nachgeholfen hat. Aber es gibt ja so viele »historische« Heilige, die auch in der kleinen Unbill des Alltags angerufen werden können. Der heilige Antonius von Padua, Schutzpatron der Liebenden, hilft manchmal, wenn man etwas verliert. Der heilige Laurentius (der auf dem Rost gemartert wurde) ist gut gegen Brandwunden. Augustinus (weil er selbst so gelehrt war und viel las) gegen Augenleiden. Petrus Martyr (der mit einem Messerhieb in den Kopf ermordet wurde) gegen Kopfschmerzen. In aussichtsloser Lage ruft man die heilige Rita an, und bei Trockenheit auf den Feldern wendet man sich der Santa Scholastica zu. Die Heilige der Autofahrer ist Francesca Romana. Am 9. März wandelte sich das Gelände um ihre Kirche am Rande des Forum Romanum zu einem Feld voller Blechkarossen, die gesegnet werden sollen. Am zweiten Sonntag im Juli versammeln sich Motorradfahrer in der Kirche der Santa Vergine Creta in Castellazzo Bormida bei Alessandria (Piemont) zur Weihe ihrer Motorräder. Ich erinnere mich eines zornigen Ausspruchs meiner Mutter, die beim Betreten einer Kirche zurückgewiesen wurde, weil sie an dem heißen Tag eine ärmellose Bluse trug: »Pferde und Motorräder dürfen in die Kirche und werden geweiht, aber Menschen, die wie Menschen aussehen, nicht!« Gegen Wut und Schlangenbiß hilft übrigens der Apostel Petrus. Andere Heilige bleiben merkwürdig distanziert, auch wenn -129-
sie höchste offizielle Bedeutung haben. Die heilige Katharina von Siena zum Beispiel ist die Schutzpatronin Italiens. In der Kirche San Domenico in Siena wird die Kapelle, in der der Kopf der Heiligen als Reliquie verehrt wird (sie selbst liegt in Rom begraben), durch eine große Europafahne gekennzeichnet. Das blaue Sternenbanner wirkt merkwürdig profan in dem riesigen, lichtdurchfluteten Kirchensaal. Auf einer Tafel kann man lesen, warum es hier hängt: Katharina ist im Herbst 1999 vom Papst auch zur Schutzheiligen Europas ausgerufen worden. Italien hat neben einer heiligen Patronin natürlich auch einen heiligen Patron. Womit wir wieder bei unserem Franz von Assisi wären. Die doppelstöckige Grabeskirche der kleinen Stadt im romanisch-gotischen Übergangsstil gehört gerade wegen der weltbekannten Fresken von Cimabue und Giotto zu den schönsten Kirchenbauten Italiens. Und über die porziuncula, die erste Mönchszelle von Franziskus weit vor den Toren von Assisi, wurde im Stil der späten Renaissance triumphierend die riesige Basilika Santa Maria degli Angeli gebaut. Sie sollte die Pilgermassen aufnehmen, die bereits damals nach Assisi strömten. Ein Erdbeben beschädigte im September 1997 die kleine Stadt und ihre Kulturschätze. Zwei Mönche starben unter herabstürzenden Gewölbeteilen. Doch bereits nach vier Jahren lassen die gründlichen Restaurierungsarbeiten kaum noch Spuren des schweren Bebens entdecken. Franz von Assisi (1181-1226) hat seit jeher Gläubige wie Ungläubige fasziniert. Noch heute ist er in Italien eine Heiligenfigur, die die Gemüter erhitzen kann. Nach der Interpretation des Literaturnobelpreisträgers Dario Fo, der 1999 den Bühnenmonolog »Der heilige Spielmann Franziskus« geschrieben hat, war der gute Mensch von Umbrien ein Gaukler und Bänkelsänger. Einer, der die hierarchischen Strukturen der Kirche ebenso kritisierte wie ihre Prunksucht. -130-
Ein revolutionärer Außenseiter, der zu volkstümlichen und derben Ausdrucksformen gegriffen habe, um sich beim Volk verständlich zu machen. Natürlich hat diese Interpretation Protest von katholischer Seite ausgelöst, aber auch Zustimmung unter einigen Franziskanern gefunden. So bringt dieser Heilige immer wieder Leben in die Kirche. Mal fordert man in seinem Namen Reformen, mal dient er dazu, aufmüpfige Theologen zur Ordnung zu rufen. Weil er sich nicht wehren kann, benutzt ihn jeder für seine Zwecke. Glaube und Aberglaube, Religion und Politik, Heiliges und Profanes in Italien sind das Widersprüche, die gut miteinander auskommen. Aberglaube ist auch ein Glaube Es ist keineswegs immer alles heilig, was nach Weihrauch riecht. Im Jubiläumsjahr 2000 konnte man in Rom sogar heilige Luft in Dosen kaufen. Die Luft mag vor allem für Touristen bestimmt gewesen sein, aber in (Aber-) Glaubensdingen haben die Italiener ganz konkrete Objekte, die sie, halb scherzhaft und halb im Ernst, vor dem Bösen schützen sollen. Millionen tragen eine goldene Halskette mit einem Kreuz oder mit dem Abbild der Madonna, aber nicht wenige haben zusätzlich ein rotes Horn (corno) am Gürtel hängen oder tragen es zumindest versteckt in der Jackentasche bei sich. Manchmal baumelt es auch - neben Padre Pio - am Rückspiegel im Auto. Dann kann man es schnell anfassen, wenn man zum Beispiel einen Leichenzug überholen muß. Das Horn, das früher aus Korallen, heute aber meistens aus Kunststoff gefertigt wird, soll bereits in der Antike gegen den bösen Blick (malocchio) geholfen haben. Der böse Blick kann Liebschaften zerstören, Krankheiten bringen, eigentlich jede Art von Unheil bringen. -131-
Was die Religion angeht, ist man sich nicht ganz sicher, ob der liebe Gott immer Zeit für die kleinen Sorgen hat. Damit einen also das Unheil nicht anspringt, berührt man sein Amulett oder macht ersatzweise das Hornzeichen (le corna): von einer zur Faust geballten Hand sind der Zeigefinger und der kleine Finger abgespreizt. Wer umgekehrt dafür bekannt ist, den bösen Blick zu haben, ist ruiniert - oder kann viel Geld verdienen. Es gibt unter dem Titel »Das Patent« eine kleine Erzählung von Pirandello, in der von einem Richter erzählt wird, der einen schwierigen Fall zu lösen hatte. Ein Mann, der im Städtchen dafür bekannt war, den bösen Blick zu haben, hatte zwei Mitbürger wegen Verleumdung verklagt. Sie hatten nämlich das Hornzeichen gemacht, als er auf der Straße an ihnen vorübergegangen war. Der Richter, der nicht abergläubisch war, aber um seiner Autorität willen auf den Volksglauben Rücksicht nehmen mußte, wollte nun den Mann zur Rücknahme seiner Klage bewegen. Der allerdings war dazu ganz und gar nicht bereit. Er hatte sogar den Anwälten der Gegenpartei »Beweise« in die Hände gespielt, daß er wirklich über die Macht des bösen Blickes verfügte. Er, ein Außenseiter ohne Arbeit und Einkünfte, wollte nämlich verurteilt werden, wie er dem Richter erklärte. »Mir bleibt keine andere Möglichkeit, als meinen bösen Blick zum Beruf zu machen.« Mit der Verurteilung als gleichsam richterlichem Patent ausgestattet, würde er in der Öffentlichkeit auftreten. »Ich werde nichts zu sagen brauchen. Man wird mir Geld geben, damit ich weder fortgehe! Ich werde um alle Fabriken streichen; ich werde mich vor den Läden aufpflanzen; und alle, alle werden mir die Steuer entrichten.« Nun könnte man sagen, die Zeit von Luigi Pirandello (18671936) ist lange vorbei. Aber als Mitte der siebziger Jahre der aus Neapel stammende Staatspräsident Giovanni Leone ein Krankenhaus seiner Heimatstadt besuchte, begrüßte er -132-
freundlich die Kranken - hinter seinem Rücken machte er aber sicherheitshalber das Hornzeichen. Ein Fotograf hat die schöne Szene festgehalten. Wer sich heute durch die vielen Stationen des Privatfernsehens zappt, wird immer wieder auf den einen Magier oder die andere Magierin stoßen, die aus Karten lesen, Anrufern Ratschläge erteilen oder in eine Puppe, die den Träger des bösen Blicks symbolisiert, Nadeln stechen, um den malocchio zu bannen. Wir leben im Zeitalter der Superchips und des Internet, aber welcher (Süd-) Italiener wird sich nicht etwas Salz über die Schulter werfen, wenn er aus Versehen einen Salzstreuer umgekippt hat? Man hütet sich vor schwarzen Katzen (und wenn sie einem über den Weg laufen, macht man le corna). Als Unglückszahl zählt nicht so sehr die Dreizehn, sondern die Siebzehn. Vielleicht hat das etwas mit der römisch-antiken Schreibweise XVII zu tun, ein Amagramm vom lateinischen Wort »VIXI«, das heißt »ich lebte«. Wer das von sich sagt, hat sein Leben also schon hinter sich. Wenn ich daran denke, daß ich an einem siebzehnten geboren wurde und mir jeden Morgen unsere schwarze Hauskatze Micki über den Weg läuft, balle ich lieber schnell die Faust und spreize Zeigefinger und kleinen Finger ab. Während im Süden das rote Horn ganz offen getragen wird und Neapel als die Hauptstadt des volkstümlichen Aberglaubens gilt, ist auch der Norden nicht frei von mystischen Versuchungen. In keiner Stadt gibt es so viele Magier wie etwa in Turin. Die piemontesische Regionalhauptstadt soll zusammen mit Prag und Lyon ein esoterisches Dreieck bilden. Auf der Domfassade ist einzigartig auf der Welt für einen christlichen Bau - der astrologische Meridian dargestellt. Und im Gewölbe unter der Kirche Gran Madre soll das Geheimnis des Heiligen Grals verborgen sein. Wenn es außerdem den Stein der Weisen -133-
wirklich gibt, dann könnte er den Auguren nach in Turin unter der Kirche San Filippo Neri liegen. Kein Wunder, daß die Stadt nicht nur die meisten Zauberer, sondern auch die meisten Philosophen Italiens hervorgebracht hat. Kirche und Gesellschaft Eine portinaia, eine Portiersfrau, ist im Prinzip eine ganz nützliche Einrichtung. Sie begrüßt freundlich Gäste oder Handwerker, weist ihnen den Weg zum Fahrstuhl, nimmt die Post an, wenn man mal nicht da ist, gießt die Blumen, füttert die Katze. Und man kann bei ihr auch mal kurz etwas unterstellen. Wenn sie allerdings mürrisch, unlustig und unfreundlich zu Besuchern ist, nützt diese Einrichtung bis auf die Postverwahrung, die zu ihren Pflichten gehört, recht wenig. Und in die Wohnung möchte man so jemanden erst recht nicht lassen. Zum Beispiel Amelia. Amelia ist eine ziemlich böse Hexe, die dann und wann im topolino, wie die Comic-Hefte von Walt Disney auf italienisch heißen, auftaucht. In der deutschen Fassung heißt diese unsympathische Figur Gundel Gaukelei. Wir hatten also einmal eine nicht sonderlich hilfreiche Portiersfrau, die meine Kinder gleich am ersten Tag Amelia tauften. Einmal im Jahr, kurz vor der Weihnachtszeit, setzte sie jedoch zu einem süffisanten Lächeln an, wenn sie mich über die bevorstehende Segnung der Wohnung durch den Gemeindepfarrer der nahen Franziskusgemeinde informierte aber ich würde ja sicher darauf verzichten wollen. Ich nehme jeden Segen gerne an, auch den meiner Wohnung durch einen Franziskaner, aber der Pfarrer sollte schon wissen, daß ich in einer lutherischen Stadt geboren und getauft worden bin. So hat auch der Pfarrer nie an unserer Wohnungstür geklingelt, Amelia wird ihn vor den Protestanten gewarnt haben. -134-
Italien ist ein Land, in dem fast neunzig Prozent der Bevölkerung katholisch getauft ist. Aber nur noch ein Drittel aller Gläubigen geht regelmäßig einmal in der Woche zur Messe. Säkularisierung, eine veränderte Sexualmoral und die Konsumorientierung der Gesellschaft haben die aktive Teilnahme am Gemeindeleben zurückgehen lassen. Traditionelle kirchliche Regeln und gesellschaftliche Entwicklungen laufen auch in Italien immer weiter auseinander. Gelegentlich schützt man sich noch mit einer doppelten Moral, wenn ein Mädchen zum Beispiel gemeinsam mit ihrem Freund, ihrem ragazzo, in den Urlaub fährt. Die Eltern dulden das, erzählen aber, sie sei mit einer Freundin unterwegs. In ärmeren Landstrichen, wo die katholischen Regeln ungebrochen scheinen, gehört die doppelte Moral zum Alltag. Und wenn man etwa an das Verschweigen der (Homo-) Sexualität in den eigenen Reihen denkt, ist der Vatikan noch heute ein Hort der Bigotterie. Was das Verhältnis zur weltlichen Macht angeht, so wird in der italienischen Verfassung von 1947 die Trennung von Staat und Kirche festgelegt. Der Vatikanstaat mit dem Papst an der Spitze ist zudem ein kleiner unabhängiger Staat. Die Kirche hat jedoch immer eine enorme gesellschaftliche Bedeutung gehabt. Und wenn man in den siebziger und achtziger Jahren einen leichten Rückgang ihres Einflusses beobachten konnte, so spricht man neuerdings von einer deutlichen Wiederentdeckung der Kirche. Das fand zum Beispiel seinen Ausdruck in den Feiern zum Anno Santo, zum Jubiläumsjahr 2000. In den Medien werden neuerdings Fragen der Ethik und der Moral, der Religion und der Kirche mit einer Intensität gestellt, die an vergangene Zeiten erinnert. Es versteht sich von selbst, daß der Papst, obgleich nominell Oberhaupt eines fremden Staates, in Italien immer eine Sonderrolle spielt. Denn der Papst ist zugleich auch Bischof von Rom. Zwar ist der -135-
moderne italienische Staat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen den Willen des Vatikans entstanden, aber dieser Graben ist längst zugeschüttet - spätestens seit den Lateranverträgen aus dem Jahr 1929 und der ununterbrochenen Beteiligung der katholischen Einheitspartei Democrazia Cristiana an der politischen Macht der sogenannten Ersten Republik zwischen 1948 und 1992. In gesellschaftlichen Fragen, wie etwa im Bereich der Bioethik, hat sich die Kirche in den vergangenen Jahren eine Art Meinungsführerschaft erobert. Dabei spielen auch katholische Organisationen, wie etwa Comunione e Liberazione (Kommunion und Befreiung) eine wichtige Rolle. Comunione e Liberazione (CL) wurde 1968 von dem Priester Don Giussani an der katholischen Universität von Mailand als Gegenbewegung zur meist links orientierten Studentenbewegung gegründet. Sieben Jahre später wurde die Laienbewegung von Papst Paul VI. offiziell anerkannt. Sie ist inzwischen international in rund 50 Ländern mit zirka 100000 Mitgliedern außerhalb Italiens verbreitet. CL übt in Italien mit rund 300000 Mitgliedern im konservativen Lager einen wichtigen politischen und kulturellen Einfluß aus, der ebenfalls in der Berlusconi-Partei Forza Italia spürbar ist. Manchmal, wie zuletzt bei den Regionalwahlen in den Marken, fließen CLStimmen allerdings auch linken Kandidaten zu. Zu dieser Laienbewegung gehört heute die Compagnia delle Opere, eine Wirtschaftsgemeinschaft, in der 15000 kleinere und mittlere Unternehmen vor allem aus Norditalien vertreten sind. Höhepunkt der Aktivitäten ist ein jährliches »Freundschaftstreffen« (Meeting dell'Amicizia) in Rimini. Mit modernsten Kommunikationsformen vertritt CL die Interessen der katholischen Kirche in der Gesellschaft und tritt etwa gegen Abtreibung und zivile Ehescheidung ein. Es gibt in Italien an die 800 katholische Organisationen, aber nur wenige sind so einflußreich wie CL. Daneben findet man aber Gruppen -136-
wie die römische Gemeinschaft von Sant'Egidio, die sich an den Idealen des Urchristentums ausrichtet und große Erfolge in der Sozialarbeit und der Friedensbewegung vorweisen kann. Strafmandate für die eilige Geistlichkeit Die Laizisten dagegen, also die Kräfte, die im öffentlichen Raum nicht nur auf eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche achten, sondern diese Trennung für eine Grundlage der politischen Kultur überhaupt halten, finden sich in diesen Jahren in der Defensive wieder. Eine Defensive, die nicht immer einsichtig ist. Wichtige gesellschaftliche Entscheidungen wie die Ehescheidung oder die Schwangerschaftsunterbrechung sind durch Volksentscheide dem religiösen Einfluß entzogen worden. Und zuletzt mußten die italienischen Bischöfe auch noch die Zerschlagung der Democrazia Cristiana, der katholischen Einheitspartei hinnehmen. Ein von 25000 Bürgern unterzeichnetes laizistisches Manifest betont, daß »die Unterscheidung zwischen Recht und Moral das Prinzip des modernen Staates ist, das Europa von den Religionskriegen befreit und die Glaubensfreiheit garantiert hat«. Aber die kirchlichen Hierarchien haben sich, so klagen die Verfasser des Manifestes, noch immer nicht mit diesem Prinzip ausgesöhnt und würden sich weiterhin »in Angelegenheiten der Regierung und des Parlamentes kräftig einmischen«. Und weil die Kirche keine große Partei mehr (oder noch nicht wieder) habe, »hat sich der Vatikan zur Partei gemacht«. Die politische Fragmentierung des katholischen Zentrums erweist sich tatsächlich als Vorteil. Katholische Kräfte sind jetzt in allen politischen Lagern vertreten. Und wenn der Papst selber auftritt, so wird er nicht mehr als geistliches Oberhaupt einer politischen Richtung gesehen (wie es früher die DC -137-
gewesen war), sondern als eine überparteiliche, eine moralische Instanz. Problematisch, sagen die Laizisten, sei deshalb der Versuch, die Kirche, ihre scheinbare überparteiliche Funktion parteilich auszunutzen: zum Beispiel bei der scharfen Verurteilung von Schwangerschaftsverhütung oder von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften sowie bei der Forderung nach öffentlicher Finanzierung katholischer Schulen. Noch reicht der Arm der Kirche jedoch nicht überallhin. Als kürzlich eine Autokolonne mit sieben Bischöfen in eine Radarfalle geriet - statt der erlaubten 90 Stundenkilometer waren sie immerhin mit Tempo 137 auf dem Weg zur Bischofskonferenz nach Rom über die Landstraßen gerast -, küßte ein herbeigeeilter Polizist zwar die Ringe der Eminenzen, zückte aber dann seinen Block mit den Strafzetteln und nahm den Fahrern der eiligen Geistlichkeit außerdem noch die Führerscheine ab. Vom Sonderfall zum Glücksfall Unter der überwiegend katholischen Bevölkerung fallen Andersgläubige kaum auf. Dennoch gibt es sie, und die wachsende Zahl von Muslimen etwa führt manchmal zu Irritationen in der Bevölkerung. Man zählt rund eine Million zugewanderte Islamanhänger, die 130 Gebetsstellen und etwa ebensoviele Kulturzentren unterhalten. Regelrechte Moscheen gibt es bislang nur in Rom (die größte Europas), Mailand und Catania. Und es gibt bereits Italiener, die ähnlich wie in Deutschland bei der Debatte um eine angebliche Leitkultur die cultura dominante, die herrschende Kultur, verteidigen möchten. Was das sei erklärte Kardinal Giacomo Biffi, der Erzbischof von Bologna. In einem Hirtenbrief warnte er vor den bedrohlichen politischen Einflüssen des Islam in Italien -138-
und rief zum Schutz der italienischen Identität auf, die auf dem Katholizismus beruhe. Von kleinen Aufgeregtheiten abgesehen, kommen die verschiedenen Religionen in Italien jedoch gut miteinander aus. Traditionell spielt die jüdische Gemeinde, vor allem die römische, in den Augen der Öffentlichkeit eine besondere Rolle. Weniger öffentlich, dafür aber nicht weniger interessant ist die Rolle der Lutheraner. In der kleinen Sakristei der protestantischen Kirche Mailands standen im Oktober 2000 viele Personen dichtgedrängt beim Aperitif: ein Kardinal und mehrere Bischöfe verschiedener Konfessionen, Diplomaten und Politiker, Journalisten und Wirtschaftsvertreter. Gefeiert wurde ein besonderes Datum: Am 10. Oktober 1850 hatten Christen aus Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern eine protestantische Gemeinde unter dem etwas umständlichen Namen Chiesa Cristiana Protestante in Milano gegründet. Die Chiesa gehört damit nach Venedig, Triest und Rom zu den älteren der 13 lutherischen Gemeinden in Italien, die heute in der ELKI, dem Verband der evangelisch-lutherischen Kirchen in Italien, zusammengefaßt sind. Doch der Eindruck, die Gemeinde sei eine deutschsprachige Nationalitätenkirche, täuscht. Sie ist zwar vor 150 Jahren als Ausländerkirche gegründet worden. Inzwischen hat aber die italienische Sprache aufgeholt und ist ein gleichberechtigter Bestandteil im Alltag wie im Gottesdienst geworden. Entsprechend eng sind die Kontakte mit anderen protestantischen Kirchen, vor allem mit den Waldensern. Aber auch Katholiken, oft als Ehepartner, sind im Gemeindeleben integriert. So wird die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche in einem Ökumenischen Kirchenrat Mailands, in dem 14 christliche Konfessionen vertreten sind, nicht nur vom lutherischen Pfarrer gelobt. Diese positive Erfahrung gilt ebenso für andere lutherische -139-
Gemeinden in Italien zwischen Südtirol und Sizilien. Die italienischen Lutheraner der ELKI gehören ihrerseits zu einem Bund evangelischer Kirchen in Italien, in dem unter anderen Waldenser, Methodisten und Baptisten vertreten sind. Insgesamt zählen dazu rund 50000 Gläubige, eine ganz kleine Insel im schier unendlichen katholischen Ozean. Vor einigen Jahren haben die Lutheraner in einem Vertrag mit dem italienischen Staat offiziell die Anerkennung als Religionsgemeinschaft erhalten. Sie können deshalb jetzt am Verfahren der sogenannten Kultursteuer otto per mille (acht pro tausend) teilnehmen. In Italien gibt es keinen automatischen Kirchensteuereinzug, sondern jeder Steuerzahler kann sich entscheiden, ob er 0,8 Prozent seiner Steuersumme einer bestimmten Kirchengemeinschaft (oder dem Staat für Sonderprojekte) zukommen lassen möchte. Erstaunt blättert man die Abrechnung der otto per mille durch: Rund 45000 Italiener haben sich regelmäßig für die lutherische Kirche entschieden, obwohl die ELKI nur etwas mehr als 7000 Mitglieder zählt. Was steht hinter diesem Erfolg? In Mailand, der größten lutherischen Gemeinde Italiens, ist zum 150. Jahrestag der Gründung eine Festschrift erschienen. Sie betont die Internationalität der Chiesa Protestante, die Raum für Begegnungen verschiedener Konfessionen in verschiedenen Sprachen schaffen konnte. Damit habe sie sich »von einem historischen Sonderfall in einen gesellschaftlichen Glücksfall« gewandelt. Von der evangelischen Kirche sind es nur ein paar Schritte zur Via Moscova, Ecke Piazza Sant'Angelo und zum SanFrancesco-Brunnen mit seinen Blumen. Der Blumenhändler, der vielleicht den originellsten Standplatz Italiens hat, erzählte mir die Geschichte von den Goldfischen. Im Zweiten Weltkrieg nämlich, als in einer Nacht im August des Jahres 1944 die ersten Bomben auf Mailand fielen - am nächsten Morgen waren große Teile der Innenstadt mit ihren -140-
Kulturbauten weitgehend zerstört -, sei ein Mönch aus der Franziskanerkirche Sant'Angelo gekommen, mit einer Kelle in der einen und einem Topf in der anderen Hand. Er sei langsam über den Platz zum Brunnen gegangen, habe Wasser in den Topf geschöpft, dann die Goldfische, die im Brunnen schwammen, einen nach dem anderen herausgefischt und sei schließlich mit den Fischen im Topf in aller Ruhe zur Kirche zurückgekehrt. Ein paar Tage später, als die Alliierten die Bombenangriffe eingestellt hatten und die Kirche wie durch ein Wunder kaum beschädigt worden war, habe er die Goldfische zurück zum Brunnen gebracht und wieder ausgesetzt.
-141-
Homo Zappens Öffentliche Stars und private Helden in den Medien
In meiner Straße ist morgens um fünf die Welt noch in Ordnung. Bei laufendem Motor lädt der Fahrer des Vertriebsdienstes seine Zeitungsstapel vor dem Kiosk ab, den Signora Giuliana und ihr Sohn Stefano soeben öffnen. Ein paar Minuten später schiebt Angelo laut rasselnd die Rolläden der Bar an der Ecke hoch, während die erste Tram durch den Nebel rattert. In Mailand darf man hören, daß der Tag beginnt. Bald zieht ein Hauch frischen Espressoduftes von der Bar aus durch die naßkalte Morgenluft im Winter oder die sich ankündigende Schwüle im Sommer - für die beiden am hellerleuchteten Zeitungskiosk eine heißsüße Versuchung, der sie aber (noch) nicht nachgeben. Erst einmal muß weiter ausund abgepackt, gezählt und sortiert werden. Ganzfrühaufsteher kommen und greifen zum »Corriere della Sera« oder zur »Repubblica«. Und Signora Giuliana, bereits die zweite Zigarette im Mund, stöhnt über die Menge der Beilagen und Gadgets, die sich noch vor dem Kiosk stapeln. »Dio mio, das wird von Mal zu Mal schlimmer, wo soll ich das ganze Zeug heute bloß wieder hinpacken?« Der Kiosk und die Pressefreiheit Diesen Stoßseufzer kann man ungefähr zur gleichen Zeit an rund 38000 Kiosken im ganzen Land hören. Bis zu 5000 verschiedene Presseartikel, oft auch Postkarten oder Fahrkarten -142-
für die öffentlichen Verkehrsmittel werden an diesen Verkaufsständen angeboten, die in der Regel nicht mehr als vier mal zwei Meter Grundfläche haben. Die edicola, wie der Zeitungskiosk in Italien heißt, ist inzwischen eine nationale Institution geworden. Und eine demokratische dazu: Laut Gesetz müssen hier alle Zeitungen zum Verkauf angeboten werden, welche die Verleger anliefern, ob sie nun dem Kioskbesitzer gefallen oder nicht. Die rechtsextreme Tageszeitung wie die linksextreme, das Kirchenblatt wie die Monarchistenpresse. Jeden Tag, auch sonntags - dann hat allerdings wechselweise nur die Hälfte der Verkaufsstände und lediglich bis zum Mittag geöffnet. Damit die Kioske untereinander nicht in Konkurrenz geraten, wird ihnen von der Stadtverwaltung ein Einzugsgebiet zugeteilt (laut Gesetz sind das 850 Familien). Für Signora Giuliana und ihre Familie ist die edicola zugleich so etwas wie eine Rentenversicherung neben der kargen Pension, die sie nach einer schweren Krankheit des Vaters erhält. Alle helfen mit: Sohn Stefano oder Tochter Paola neben ihrer Teilzeitarbeit als Angestellte - denn von den Einnahmen eines Kioskes allein (die Gewinnspanne liegt im Durchschnitt bei 18 Prozent von einem Jahresumsatz von 130000 Euro) kann kaum eine Familie leben. Auf diese familiäre Weise werden die meisten italienischen Verkaufsstände geführt. Der Kiosk ist dabei nicht nur Zeitungsladen, sondern zusammen mit der Bar auch Informationsbörse, an der man den neuesten Klatsch und die letzten Informationen aus der Nachbarschaft erfährt. Und den Nachbar grüßen lassen kann, den man so lange nicht gesehen hat. Signora Giuliana, mit der obligaten Zigarette in den Mundwinkeln, ist zuverlässiger als jede E-Mail. Lange wird diese heile Welt aber nicht mehr bestehen können. Der Markt ruft nach Liberalisierung, und Italien muß sich dem europäischen Trend beugen - nationale -143-
Monopolstrukturen sind längst anachronistisch. Die Zeitungsverleger stöhnen über einen stagnierenden Markt, die Gesamtauflage der Tageszeitungen ist von 1990 noch 6,8 Millionen Stück auf 5,9 Millionen gesunken. Im Durchschnitt kaufte sich nur etwa jeder zehnte Italiener eine Tageszeitung. Wobei die bunte Vielfalt der Wochenzeitungen, von der Regenbogenpresse bis zum politischen Magazin, mehr als doppelt so viele Leser bindet. Die 38000 Kioske mit einem Gesamtumsatz von rund 4,3 Milliarden Euro (davon fast 90 Prozent Presseerzeugnisse) werden als »Flaschenhals« im Vertriebssystem angesehen. Europa kommt, ein Stück Italien geht: Seit kurzem dürfen die meisten Presseerzeugnisse auch an Tankstellen, in Bars, Tabakläden, Supermärkten und im Buchhandel vertrieben werden. Die Zahl der Verkaufsstellen soll sich so vervielfachen. Signora Giuliana und Stefano machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Denn der nächste Supermarkt ist nicht weit. Außerdem haben die beiden mächtigen Tageszeitungen des Landes (»Corriere della Sera« und »La Repubblica«) neben einem kostspieligen Feldzug von Beilagen und Gadgets damit begonnen, in großen Städten einen kostenlosen Zustellungsservice einzurichten, der jedem Leser garantiert, seine Zeitung pünktlich morgens um sieben auf der Fußmatte vor der Wohnungstür zu finden. Ein flächendeckendes Abonnement scheiterte bisher immer an der Unzuverlässigkeit der italienischen Post, und private Kurierdienste sind für die Verlage nur in Ballungszentren bezahlbar. Die Zeitungen Italien ist kein Leseland, schon gar nicht eines von Zeitungslesern. Das hängt mit der späten Alphabetisierung zusammen. Zur Zeit der Einigung konnten drei Viertel der -144-
Bevölkerung weder lesen noch schreiben, 1921 war es noch fast ein Drittel und auch 1961 noch ein Zehntel. Auch beim Zeitungslesen gibt es ein deutliches Gefälle zwischen Nord und Süd und - wie überall auf der Welt zwischen Stadt und Land. Sport(tages)zeitungen sind besonders beliebt, und auch die Regenbogenpresse mit Titeln wie »Gente«, »Gioia« oder »Novella 2000« findet ihre Leser. Bildergeschichten und Fotoromane (»Grand Hotel«) sterben im Norden langsam aus, finden aber im Süden besonders bei einer weiblichen Leserschaft noch Anklang. Männer greifen eher zu Comic-Heften mit Krimis (»Diabolik«) oder zu den Publikationen aus den Rotlicht-Verlagen. Ein paar Zahlen: Die größten überregionalen Zeitungen, die, von ganz wenigen Feiertagen im Jahr abgesehen, täglich, also auch sonntags, erscheinen, sind der »Corriere della Sera« (Mailand, Auflage rund 700000 Exemplare), »La Repubblica« (Rom, 650000 Exemplare), »Il Sole 24 Ore« (Mailand, 420000 Exemplare) und »La Stampa« (Turin, 400000 Exemplare). Dazu kommt die Sportzeitung »La Gazzetta dello Sport« (Mailand, 420000 Exemplare, die aber am Montag bis zu 700000 Stück verkauft). Die wichtigste Zeitungsstadt ist Mailand; hier erscheinen derzeit neun Tageszeitungen, darunter zwei Wirtschafts- und je eine Sport- und Parteizeitung, sowie 38 der rund 55 Wochenzeitschriften. Zusätzlich kann ich mich neuerdings täglich dreier Gratisblätter bedienen, die an Metrostationen, an den Eisenbahnhöfen und in manchen Bars verteilt werden (Auflage in Mailand je zwischen 150000 und 200000 Stück). Diese auf Agenturmeldungen und lokaler Berichterstattung aufgebauten Blätter wie zum Beispiel »City« werden vielleicht die Zeitungslandschaft verändern. In Italien gibt es nämlich keine populäre Boulevardpresse nach Art der »Bild« in Deutschland oder des »Sun« in England. So kann man in Blättern wie dem »Corriere« oder der »Repubblica« sowohl locker aufgemachte -145-
Boulevardthemen aus der Welt der Schönen, der Reichen oder der Unglücklichen finden als auch politische Analysen oder Kulturessays. Das macht die Zeitungen einerseits sehr lebendig, andererseits fehlt es, besonders in der politischen Berichterstattung (cronaca politica), an einer deutlichen Trennung zwischen Meinung und Meldung. Papier ist, wie das Sprichwort sagt, geduldig. Wer erschoß Marta R.? Manchmal gelingt den Kollegen so etwas wie eine Seelenwanderung. Kürzlich las ich in einer überregionalen Zeitung von Autodiebstählen in Turin. Der Artikel begann mit der Schilderung aus der Sicht des Opfers, das bei einem brutalen Raub ums Leben gekommen war: »Sie hatten sich seines BMWs bemächtigt, doch konnte er sich am offenen Hinterfenster festkrallen. Sie werden es nicht schaffen, diesmal, hatte er gedacht. Diesmal wird er seinen Wagen verteidigen können. Doch seine Kraft kam gegen die Potenz des eigenen Motors nicht an. Er wurde auf den Boden geschleudert und verendete in einer häßlichen Blutpfütze.« Nun, »Bild« sprach auch schon mal als erste mit der Leiche. Ganz besonders beliebt sind Kriminalfälle. Wobei aus der Masse der täglichen Verbrechen immer eines herausgefiltert wird, das dann über Wochen in großer Aufmachung verfolgt, beschrieben und kommentiert wird. In diesem Augenblick, in dem ich schreibe, geht es um einen schrecklichen Mord an einem kleinen Jungen im Aostatal, der mit einem Loch im Kopf im Bett der Eltern gefunden wurde. Seit Tagen höre ich von Verdächtigungen - war es ein Verrückter aus dem Ort, ein Ausländer, gar die nervenschwache Mutter? Detailbesessen wird die Suche nach der Tatwaffe beschrieben - war es eine Hacke, ein Stein oder gar eine Madonnenstatue? Und -146-
irgendwann werde ich ausführlich über den Prozeß lesen. Vor einem Jahr beschäftigte das Ableben einer schönen (aber trunksüchtigen) Gräfin in ihrer Villa bei Portofino die Gemüter - es war, so stellte sich schließlich heraus, ein Unfall. Im Jahr davor ging es um den immer noch ungeklärten Tod der Studentin Marta Russo in Rom. Über das mostro di Firenze, das Ungeheuer von Florenz, das Liebespärchen umbrachte, hat Magdalen Nabb inzwischen einen Roman geschrieben. Die Zeitschrift »L'Europeo« war sofort ausverkauft, als sie im Juni 2001 eine Sonderausgabe mit den wichtigsten Kriminalfällen der vergangenen fünfzig Jahre von Salvatore Giuliano über den liebestollen Grafen Casati Stampa und den Mord an Pasolini bis zum Fall Marta Russo herausgab. Die schönsten Kriminal-»Romane« stehen jedoch in den Tageszeitungen, mit aktuellen Fotos, die nichts aussagen, und Zeugen, die nichts gesehen haben, jeden Tag aber Neuigkeiten liefern. Es sind Fortsetzungsromane, die das Leben schreibt. Man darf jedoch nicht ungerecht sein: Die italienische Presse ist gerade in den vergangenen Jahren sehr viel besser als ihr Ruf geworden. Die einst beliebte Form des pastone - eine Mischung aus leichter, möglichst witziger (oder melodramatischer) Schreibe, bunt durcheinandergewürfelten Fakten und einem Schuß Kommentar - wird zugunsten sachlicher Berichte immer weniger gebraucht. Man muß sich zwar oft durch Lyrizismen von Journalisten kämpfen, die sich als verkannte Romanautoren beweisen wollen. Es gibt aber andererseits hervorragende Reportagen oder auf langer Recherche basierende kritische Untersuchungen. Oft greifen die Blätter die neuen Sehgewohnheiten von Internet und Fernsehen auf und bringen neben dem Artikel eine Art Bilderstreifen mit Fotos, Grafiken und kurzen Texten, die das Geschehen zusammenfassen, den Hintergrund skizzieren oder die Chronik der Ereignisse der vergangenen Tage und Wochen abbilden - als würde es sich um eine TV-Serie handeln, bei der -147-
jede Folge eingeleitet wird: »Was bisher geschah…« Urteile, Vorurteile und die Lust am Debattieren Die Auslandsberichterstattung spielt allerdings eine recht dürftige Rolle. Allein über Frankreich wird wie über einen großen Cousin ausführlich und oft nicht ohne Neid berichtet. Man kann den Eindruck gewinnen, daß die italienische Öffentlichkeit einen kleinen Frankreichkomplex hat. Was den deutschen Sprachraum angeht, so gelingt es vor allem der »Repubblica«, mit ihren Artikeln ein einigermaßen kontinuierliches Bild nordalpiner Zustände zu zeichnen. Aber sonst scheint der deutsche Sprachraum nicht viel Themen herzugeben. Unter den italienischen Korrespondenten in Berlin gibt es ein Bonmot: »Was man über Deutschland schreibt, interessiert in Italien niemanden, auch die Kollegen und den Chefredakteur nicht. Dennoch sollte man vorsichtig bleiben: Man kann leicht ein Eigentor schießen. Denn in Wirklichkeit schreibt man immer über die Italiener.« Schließlich sei Deutschland ziemlich italianisiert. In der italienischen Presse purzeln, wie bei der deutschen, Urteile und Vorurteile zusammen. Was für ein Bild hat man von den Deutschen: Fleißig, zuverlässig und pünktlich? »Nicht einmal die Deutschen sind perfekt, und deshalb kann man sie auch gern haben«, schreibt Roberto Giardina, der ehemalige Deutschlandkorrespondent der »Nazione« (aus Florenz) und des »Resto di Carlino« (aus Bologna), in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel »Anleitung die Deutschen zu lieben«. Denn die Italiener wissen um unser deutsches Leid: Wir wollen geliebt werden, werden es aber nicht, weil wir uns immer wie ein Klassenprimus aufführen. Und dann gibt es noch die Last der Vergangenheit: Wenn irgendwo im Bayerischen Wald eine Nazifahne in den Baum gehängt wird, kann man das bestimmt -148-
am nächsten Tag in der italienischen Presse lesen. Aber vielleicht tut uns solch eine kollektive Wachsamkeit auch ganz gut. Allerdings staunen die italienischen Journalisten oft, wie pazifistisch ein Land ist, das den Begriff »Panzer« in alle Sprachen der Welt exportiert hat. Sie wundern sich, wie an Rhein und Elbe skrupulös auf Demokratie geachtet wird. Und sie freuen sich diebisch, wenn ausgerechnet Deutschland als erstes Land aus Brüssel einen Rüffel erhält, weil es die im Maastrichtvertrag geforderten Stabilitätswerte der Europäischen Union nicht einhalten kann. Dabei haben die Deutschen doch immer gedacht, diese Werte sollen ihre starke Wirtschaft vor der »italienischen Krankheit« schützen. Und wer ist nun der Kranke? Ätsch! Doch italienische Journalisten wie Giardina haben auch ein Einsehen mit uns: »Wenn sie das Gefühl haben, daß man sie versteht und akzeptiert, werden die Deutschen zu wunderbaren Partnern, sei es auf europäischer Ebene oder im Schlafzimmer.« Die Lust der Italiener am Debattieren schlägt sich in den Zeitungen nieder: Jeder Intellektuelle greift zur Feder, um sich ohne Scheu auch über Fachgrenzen hinaus zu einem Thema zu äußern, was manchmal sehr anregend sein kann. Oder die Redaktionen rufen laufend irgendwelche Prominente auf, sich mit einem Satz oder Absatz zu irgendeinem Thema zu äußern, was oft die Grenze der Lächerlichkeit überschreitet. Wichtig ist nicht, was man sagt, sondern daß man etwas sagt. Eine der Lieblingsformen ist das Interview, das natürlich selten autorisiert wird - so erhält der Befragte nicht die Chance, alles zu widerrufen oder zumindest als Fehlinterpretation hinzustellen. Im »Corriere« konnte man jüngst einen Brief des Präsidenten der EU-Kommission, Romano Prodi, lesen, der -149-
sich bitter über den Abdruck eines Interviews beklagt, das er nie gegeben hat. Die Redaktion verteidigt sich mit einem kurzen Nachspann, daß es sich um Äußerungen Prodis gehandelt habe, die der Journalist außerhalb offizieller Anlässe gesammelt habe. Ich zweifele nicht an der Aufrichtigkeit des Journalisten, eine Zitatensammlung jedoch als Interview zu verkaufen und sich dazu auf Vorhaltungen hin keiner Schuld bewußt zu sein, ist ein starkes Stück - und das passiert nicht in irgendeinem Provinz- oder Parteiblatt, sondern der (ganz ohne Ironie gesagt) bedeutendsten Tageszeitung Italiens. Es gibt noch ein kleines Problem mit den italienischen Zeitungen: Sie gehören meist zu größeren Wirtschaftsgruppen (Fiat, Berlusconi, Caltagirone oder De Benedetti) und dürfen sich nicht allzu weit von »his masters voice« entfernen. So muß man also mehrere Zeitungen lesen, um ein einigermaßen objektives Bild zu bekommen. Daß parteiische Zeitungen aber höchst anregend sein können, zeigt gerade das Beispiel des »Foglio«. Das ist ein kleines antikonformistisches rechtsliberales Nischenblatt aus Mailand, das der frühere linksextreme Journalist und Intellektuelle Giuliano Ferrara gegründet hat. So überschlagen sich manchmal Biographien. Es gibt auf den nur vier großen Seiten des »Foglio« zwei Spalten mit Meldungen zum Tage, und dann folgen ohne Fotos meist glänzend recherchierte Hintergrundberichte, die nicht an die Tagesaktualität gebunden sein müssen. Allerdings muß man wissen, daß es sich beim »Foglio« um ein intellektuelles Pro-Berlusconi-Blatt handelt. Heldengeschichten Was die Extrembergsteiger unter den Alpinisten sind, das sind die Paparazzi unter den Fotografen. Sie hocken stunden-, oft tagelang hinter Küstenfelsen, um mit Superteleobjektiven -150-
Prominente aus Politik, Showbusiness oder Sport auf Yachten, am Strand oder am Swimmingpool aufzulauern. Ist die Topless-Aufnahme im digitalen Kasten, geht es vom Felsen ab ins Hotel, und via E-Mail wird das Foto an die Agentur geschickt, die es weltweit anbietet. Das ist ein harter Job und kein sonderlich angesehener dazu. Früher war die Via Veneto in Rom das bevorzugte Jagdgebiet der Paparazzi. Das war die Straße der Glamourwelt, wo sich Stars und Sternchen, Jetset und Journalisten in den Bars des »Excelsior« und des »Grand Hôtel«, im »Café de Paris« oder bei »Doney« trafen. Man kam aus dem Kino und dem Theater, die Restaurants schlossen gerade, die Zeitungen druckten an, und die Partys auf den Terrassen der großen bürgerlichen Wohnungen gingen zu Ende. Nur in der Via Veneto pulsierte noch la dolce vita, wie es die Fotoreporter dokumentierten. Schon damals wurde man handgreiflich. Das mußte der Starfotograf Tazio Secchiaroli erleben, der vom Schauspieler Walter Chiari verprügelt wurde und sogar vom ägyptischen ExKönig Faruk einen Faustschlag bekam, weil dem das Blitzlicht des aufdringlichen Fotografen auf die Nerven ging. Es gab eine regelrechte Technik, um die Prominenten aus der Fassung zu bringen, was die Berichte um so dramatischer machte. Busenstar Anita Ekberg und ihr Ehemann Anthony Steel, die sich unter reichlich Alkoholeinfluß regelmäßig Eifersuchtsszenen lieferten, waren besonders beliebte Opfer. Federico Fellini, der sich von Secchiaroli beraten ließ, hat mit dieser Anita Ekberg der Via Veneto in seinem Film »La dolce Vita« ein Denkmal gesetzt - und die Figur des Fotoreporters Paparazzo geschaffen, der zum Namensgeber aller Paparazzi geworden ist. Das Skandalfoto der sechziger Jahre, eine unbekleidete Jacqueline Onassis, wurde auf der griechischen Insel Skorpios geschossen. Inzwischen wildern die Paparazzi gern an der Costa Smeralda auf Sardinien. Sarah Ferguson ist an der Küste -151-
des Aga Khan regelmäßig Sommergast ebenso Britney Spears, Tom Cruise und so manches italienische Fernsehsternchen auch. Hier wurde auch der erste Kuß von Lady Diana und Dodi Al-Fayed dokumentiert. Der frühere Stürmerstar und heutige Fußballtrainer Gianluca Vialli konnte mit Urlaubsfotos aus Sardinien seinen Öffentlichkeitswert steigern. Die Yachten der Berlusconi und Agnelli legen im Hafen von Porto Cervo an, die von Valentino oder Caroline von Monaco ebenfalls. Die Paparazzi-Crew ist international, doch die Italiener bilden die Spitzengruppe. Einer der bekanntesten, Massimo Giordano, weiß, daß seine Bilder nicht als große Kunst angesehen werden. Aber so etwas wie eine Arbeitsethik hat er dennoch, wie er in einem Interview verriet: Er respektiert das Recht auf Privatsphäre, vor allem was Kinder, Kranke und Schwache angehe. Aber das Recht gelte nicht für die, die kommen, »um sich mit blankem Busen oder einem neuen Verlobten fotografieren zu lassen«. Die Fotografen sind alle fest davon überzeugt: Wer sich nicht fotografieren lassen wollte, würde gar nicht erst an die Costa Smeralda kommen. Jede Kaste hat ihre Überzeugungen und ihre Berufsehre, auch die der Paparazzi. Meine ganz privaten Helden sind allerdings die Fußballjournalisten, die direkt aus den Stadien ihre Spielberichte abliefern. Sie arbeiten vor allem für die Sporttageszeitungen. Aber auch der »Corriere« und »Repubblica«, die beide hervorragende Sportteile haben, solange es sich um Fußball oder Formel Eins dreht, veröffentlichen lange und ausführliche technische Spielanalysen, wie sie in Deutschland in keiner Zeitung zu finden sind. Ich habe die Kollegen oft genug auf der Pressetribüne beobachten können, wie sie bei Wind und Wetter auf ihren Laptops bereits in der ersten Hälfte ihren pezzo (Artikel) anlegen, dann während des Spiels laufend umschreiben und am Ende womöglich neu fassen müssen. Bei -152-
den anschließenden Pressekonferenzen herrscht nach den Statements der Trainer nicht das Schweigen, wie man es oft in Deutschland vernehmen kann, wo jeder Journalist möglichst sein Exklusivinterview haben will, sondern ein fröhlich-lautes Frage- und Antwortspiel, bei dem vor allem die Reporter der kleinen Rundfunk- und Fernsehstationen die Hauptrolle spielen. Im Radio wird landesweit jeder Spieltag der Serie A mit einer Schaltkonferenz von allen Plätzen von der ersten bis zur letzten Minute übertragen, das gilt auch für Länderspiele oder die internationalen Clubwettbewerbe mit italienischer Beteiligung. Im Fernsehen wie im Rundfunk brillieren die Kommentatoren durchweg durch Distanz und fußballtechnische Analysen. Ich vermisse vieles in Italien - von knusprigen Brötchen bis zu gebundenen Blumensträußen -, aber die populistische Art der deutschen Fußballreportage (»Jeremies hat im Strafraum fünf Finnen kaltgemacht…«) nicht. Es ist südlich der Alpen auch unbekannt, mit markigen Sprüchen »Spannung« in einen Bericht über ein Spiel zu bringen, über dessen Ergebnis die ganze Nation bereits informiert ist. Der Fernseher läuft und läuft und… In Italien läuft der Fernseher in jeder Wohnung. Und läuft morgens und läuft mittags und läuft abends. Oft gibt es neben dem Gerät im Wohnzimmer weitere in der Küche, im Schlafund auch im Kinderzimmer. Fernseher stehen bei Gefangenen in den Gefängniszellen - sie müssen sogar mit einem ausgestattet sein, wie man bei Adriano Sofri nachlesen kann. Fernseher stehen in Hotelzimmern, und wenn man Pech hat, laufen sie auch in der Pizzeria oder Trattoria. Programmansprüche werden, wenn überhaupt, erst am Abend gestellt, wenn man die Tagesschau (telegiornale) verfolgt, sich -153-
einen Film angucken oder sich von irgendeiner Show ablenken lassen will. Die Programme sind heute von »Big Brother« bis zum »Wer wird Millionär« so international austauschbar wie die Werbespots. Ob öffentlich-rechtliche (drei) oder private Kanäle (um die zwanzig), dem Reisenden wird vieles bekannt vorkommen. So wird man vom Homo sapiens zum Homo zappens erzogen. Durchschnittlich sitzt ein Italiener täglich rund drei Stunden und achtzehn Minuten vor dem Fernseher, während er sich ganze vierzehn Minuten der Lektüre der Tageszeitung widmet. Fremdländisch muten dagegen Zugereisten zunächst die politischen Talkshows an, bei denen die Einschaltquoten in die Höhe schießen, wenn sich die Teilnehmer gegenseitig anschreien. Mit der Tendenz, die Informationsprogramme immer mehr wie Unterhaltungssendungen zu gestalten, nimmt Italien (leider) eine Vorreiterrolle für das restliche Europa ein. Der Machogesellschaft entsprechen die vielen Soubretten und Assistentinnen, die sich durch ihren beneidenswerten Körperbau für diese Statistenrollen qualifizieren. Ihre Aufgabe besteht darin, ihre Maße stumm in Szene zu setzen, ob nun der Mann neben ihnen einen Popstar ansagt oder vom Fußball berichtet. Manchmal dürfen sie sogar selber ein Sätzchen sagen. Haben sie mehr auf dem Kasten, werden sie zu bekannten Showmasterinnen wie zum Beispiel Mara Venier oder Simona Ventura. Auch Ausländerinnen, wie die Deutsche Ela Weber, werden im Land der großen Oberweiten erfolgreich recycelt. Dagegen muten die Kessler-Zwillinge mit ihren in den sechziger Jahren skandalös nackten Beinen heute wie Plüschtiere an. Als Höhepunkt aller Komik gilt es, wenn Männer in Frauenkleidern auftreten. Merkwürdig, die Mehrheit der italienischen Fernsehzuschauer sind weiblichen Geschlechts, aber die Männer haben anscheinend die Fernbedienung in der -154-
Hand. Anderes, Opern, Kunst, Literatur, kann man - wie anderswo auch - meist erst aus dem Nachtprogramm fischen. Oder es überlebt als Nische. Eine Fernbedienung mit Nischenknopf jedoch ist auch in Italien noch nicht erfunden worden. Berlusconi auf allen Kanälen Über das italienische Fernsehsystem wird laufend diskutiert. Derzeit gibt es (noch) drei Kanäle der öffentlich-rechtlichen RAI, die vom Parlament kontrolliert wird. Das bringt es natürlich mit sich, daß sich eine gewisse politische Nähe zur jeweils regierenden parlamentarischen Mehrheit in den Programmen niederschlägt. Früher waren die Christdemokraten die unumstrittenen Herren von RAI Uno, während andere politische Gruppen ins zweite und dritte Programm abgeschoben wurden. Heute schickt sich Berlusconi an, ihr Erbe anzutreten. Daneben gibt es die drei landesweit zu empfangenden Privatkanäle der Mediaset-Gruppe von Berlusconi: »Canale 5«, »Italia 1« und »Rete 4«. Ein unabhängiges viertes, »La 7«, versucht gerade, Fuß zu fassen. Alle anderen Sender haben nur regionale, meist nur lokale Bedeutung. Ihr Programmschema mischt Verkaufssendungen mit spiritistischen Beratungen, Bpicture-Filme mit gelegentlichen Lokalnotizen. Bei außergewöhnlichen Ereignissen wie bei den Demonstrationen des G 8-Gipfels in Genua oder bei der Flugzeugkatastrophe in Mailand können Lokalsender jedoch flexibel reagieren und durch ein nonstop improvisiertes Informationsprogramm zeigen, wozu das Medium Fernsehen fähig ist. Die interessanteste Figur des italienischen und des europäischen Fernsehens ist sicherlich der 1936 in Mailand geborene Silvio Berlusconi. Als junger Bauunternehmer -155-
stampfte er in den sechziger und siebziger Jahren »Milano 2« und »Milano 3«, zwei bürgerliche Trabantenstädte mit hoher Wohnqualität, aus dem Boden. Über ein Kabelnetz für seine Stadtteile (»Canale 5«) entdeckte er die Chance, die das TVMedium bot, als das Verfassungsgericht 1976 das staatliche Monopol für Fernsehen und Radio lockerte. Berlusconi kaufte von den Verlagshäusern Mondadori und Rusconi weitere Sender dazu, die er in einer gesetzlichen Grauzone zu landesweit zu empfangenden Programmen ausbaute. Dabei half ihm sein politischer Freund, der Vorsitzende der sozialistischen Partei, Bettino Craxi. der zwischen 1983 und 1987 Ministerpräsident war. Berlusconi machte dann vor, was Kirch später in Deutschland zeitweilig Erfolg bescherte. Er kaufte von den Produktionsfirmen die Ausstrahlungsrechte für ganze Spielfilmmagazine. Die für Sportübertragungen folgten. Inzwischen haben die italienischen Wähler Berlusconi, den Zaren des Privatfernsehens, zum Ministerpräsidenten und damit zum Wächter ebenfalls über das öffentlich-rechtliche Fernsehen gemacht. Vielleicht ist ihnen das Fernsehen viel gleichgültiger, als erboste Kritiker annehmen. Renaissance des Radios Italien ist ein Paradies für Radioliebhaber jeder Couleur geworden. Schlägt das Herz für die Lega Nord? »Radio Padania« sendet keltische Musik und unterhält mit sezessionistischen Sprüchen. Trost durch Gottes Wort? »Radio Maria« weiß immer Rat oder legt geistliche Gesänge auf. Auf FM 94,15 gibt es nur italienische Schlager und auf 90,0 nur Nachrichten. Und überall kann man Direktsendungen hören, an denen Hörer beteiligt sind, mitreden oder einfach schimpfen. Auf die Spitze getrieben hat das das römische »Radio -156-
Radicale«. Wegen angeblicher politische Gängelung strahlte es tagelang nur das aus, was es vorher auf seinem Anrufbeantworter aufgezeichnet hatte. Für jeden Anrufer 60 Sekunden freie Meinungsäußerung: Flüche und Zoten. Solidaritätsadressen und Liebesgedichte, rassistische Hetze und Veranstaltungshinweise, Gebete und Küchenrezepte - kurz ein (erschreckender) Querschnitt durch die Stimmungslage der Nation. Aber es geht im Radio durchaus auch ganz praktisch zu. Eine halbe Stunde nach einer Überschwemmung in Mailand und der Lombardei wird das Programm geändert. Fachleute, kurzfristig telefonisch zusammengerufen, geben Ratschläge, diskutieren und kommentieren - der eine sitzt im Auto, der andere im Flughafenrestaurant, der dritte in einer Bibliothek. Hörer berichten über die Befahrbarkeit von Straßen, warnen vor Erdrutschen und verstopften Wegen und wissen von Verkehrsstaus lange vor den offiziellen Mitteilungen der Polizei. Während der Sendung entsteht gleichsam ein Notplan für das Katastrophengebiet. Im Radio ist so etwas möglich, wovon das Fernsehen nur träumt: Spontaneität, Kreativität und Flexibilität. Und das Ganze zu relativ geringen Kosten. Unsere Zeit wird jedoch von Bildern dominiert, was will David Radio gegen Goliath Fernsehen schon ausrichten? Italienische Futurologen sind da ganz anderer Meinung: In hundert Jahren werde das Radio das Kommunikationsmittel Nummer eins, dem Fernsehen bliebe - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nur noch der Rang des Videotelefons oder eines Computerspielzeugs. Noch kann man im fernsehsüchtigen Italien davon nicht reden, aber es gibt so etwas wie eine kleine Renaissance des Radios. Während der vergangenen zehn Jahre sind zwischen Südtirol und Sizilien die Hörerzahlen im Durchschnitt jedes Jahr um eine Million Menschen gestiegen, von insgesamt 25 auf 35 Millionen also. Das bedeutet, daß 69 Prozent aller Italiener -157-
jeden Tag Radio hören - und das mehr als mindestens zwei Stunden und vierzig Minuten lang. Diese Zahlen sagen natürlich nichts über die Nutzung der Programme aus. Es gibt eine ganze Reihe von Sendern, die nichts als einen musikalisch eher dürftigen Geräuschteppich senden. Die Statistik gibt jedoch einen Trend wieder. »Dimmi« - Sag mir was Im italienischen Radio wird derzeit vorweggenommen, was auch die Zukunft des Fernsehens bestimmen wird: der Spartensender. Da gibt es verschiedene Stationen für Popmusik, die Parteiensender, den Diözesanfunk oder den Infokanal. Nur Klassik hört man zum Beispiel in der Toskana von »Radio Montebeni Classica FM«, das zugleich als kultureller Veranstalter in Pisa und Prato, Siena oder Lucca auftritt. In Mailand ist mit »Radio Popolare« ein vorbildliches Stadtradio entstanden, das als Produkt der siebziger Jahre etwas von der Unbekümmertheit der Radiopioniere in die Gegenwart gerettet hat, aber zugleich grundsolide und schnell über die Vorgänge in der lombardischen Metropole und ihrem Hinterland berichtet. Auch hier spielen das Handy und der spontane Anruf der Zuhörer eine große Rolle. In einer metropolen Szene wie Mailand sind in den vergangenen zwanzig Jahren viele traditionelle Bindungen zerrissen, man fühlt sich heute einsamer als früher. Innerhalb von Parteien und Gewerkschaften, sogar in der Kirche gibt es nicht mehr dieses Gefühl der Zugehörigkeit. »Radio Popolare« hat es sich zur Aufgabe gemacht, hier einen Dialog zwischen den verschiedensten Personengruppen herzustellen. Bei einem Jahresumsatz von nur 3 Millionen Euro, bleibt die Solidarität der Hörer wichtig. Nur etwa zwei Drittel der Kosten können -158-
durch Werbeeinnahmen finanziert werden. Den Rest bringen »Abonnenten« auf, die ihr Radio mit regelmäßigen, freiwilligen Zahlungen unterstützen. Erholung für alle von Hektik geplagten Seelen liefert schließlich der RAI-Musikkanal »Filodiffusione«, der rund um die Uhr E-Musik von der Klassik bis zur Moderne sendet - und das nicht verstümmelt oder auf Highlights begrenzt, wie die privaten Klassikkanäle in Deutschland oder in England. Es werden im Gegenteil, manchmal vom selben Musikstück verschiedene Fassungen nacheinander zum Vergleich ausgestrahlt. Und alles ohne Werbung. Dafür muß der Hörer natürlich Rundfunkgebühren zahlen. In Italien sind das (das Fernsehen eingeschlossen, das zudem den weitaus größten Teil davon erhält) umgerechnet rund 7 Euro im Monat - so viel wie ein Kinobesuch oder ein Taschenbuch. Manchmal kann man im Radio Szenen hören, die die ganze Krux unserer Informationsgesellschaft enthüllen. Der Moderator eines Mailänder Radios nimmt einen Anruf entgegen: »Dimmi, red los, du bist dran.« Doch am anderen Ende der Leitung ist nur leichtes Atmen zu vernehmen. »Pronto?« hört man den Moderator, mit einer Spur Nervosität in der Stimme, »bist du noch dran?« - »Ja, ja«, sagt eine Frauenstimme. »Also red los«, sagt der Moderator, »sei in onda, du bist auf Sendung.« Wieder Schweigen. »Dimmi!« ruft der Moderator verzweifelt ins Mikrofon. Die Frau antwortet: »Dimmi tu, sag du mir was.«
-159-
O sole mio Von warmen Farben, schönen Künsten und gutbesuchten Museen
Die Mailänder Modewochen üben eine nahezu unerklärliche Faszination aus. Für mich gab es allerdings gleich am ersten Tag Ärger: »Ich will mit!« Gianna war noch nie auf einer Modenschau, aber ich hatte nur eine einzige Karte für die Eröffnungsshow von Simone Ravizza. »Du hast doch keine Ahnung«, ruft sie dem Vater erbost nach, der loszieht, um seine ersten Erfahrungen auf dem Gebiet allein zu sammeln. Auf der Modemesse »Milano Moda Donna«, die zweimal im Jahr im März und im September abgehalten wird, präsentieren rund hundert der wichtigsten Modedesigner der Welt ihre Prêt-à-Porter-Kollektionen für den Frühling und den Herbst. Die Herrenmode wird in Florenz gezeigt, die alta moda (Haute Couture) in Rom, aber kein Ort wird von der Mode mit Armani, Ferré, Versace, Krizia und Co. so beherrscht wie Mailand: Die Models fallen über die Stadt her und machen die Nächte in Discos und In-Kneipen durch. Bereits ein paar Wochen zuvor sieht man überall extrem langbeinige Wesen mit Stadtplänen in der Hand, die auf der Suche nach den Studios sind, in denen sie einen Casting-Termin haben. Die Spitzenmodels von Linda Evangelista bis Naomi Campbell haben das natürlich nicht nötig. Sie kommen erst in letzter Sekunde, wenn es in der Stadt keine Taxis mehr gibt und der Modezirkus von einem schillernden Showtermin zum nächsten hetzt. Vor den Showrooms im Zentrum - Armani hat sich von Tadao Ando sogar ein eigenes Theater bauen lassen -160-
stauen sich endlose Schlangen von Autos und Schaulustigen. Wer bestimmt die Modefarben? Für eine sfilata, so heißt die Modenschau auf italienisch, wird meist eine Stunde angesetzt - aber wer pünktlich kommt, muß warten. Derweil läuft die Organisationsmaschinerie der Veranstalter auf Hochtouren. Das Pressebüro hat numerierte Eintrittskarten an die Einkäufer, die Journalisten und eine Reihe von Stargästen verschickt (manchmal werden auch für Einkäufer extra Termine angesetzt). Jeder will einen Platz in der ersten Reihe haben, und besonders lange Gesichter machen die, die in der zweiten sitzen müssen. Am »sitting«, an der Sitzordnung, kann man nämlich die Hierarchie der Prominenz erkennen - es versteht sich von selbst, daß meine Plätze immer ganz hinten liegen. Manche Stars und Fachleute kommen unaufgefordert. Hier schlägt die Stunde der Jollys, wie die smarten, jungen, unauffällig elegant (bei Prada zum Beispiel ganz in Grau) gekleideten Damen und Herren des Ordnungsdienstes heißen. Sie fangen die celebrities, die Berühmtheiten, bereits im Gang ab und geleiten sie an vorsorglich freigehaltene Plätze. Außerdem müssen die Bodyguards der Stars (und einiger Models) untergebracht werden, während sich - ciao bella! - die Vips begrüßen, Küßchen hier, Küßchen da. Alain Delon winkt Alba Parietti zu, Elton John umarmt Jennifer Jones. Wie man hört, bezahlen einige Designer ihre Vips pro Auftritt. Derweil boxen sich die Fotografen und Kameramänner am Kopfende des Laufsteges um die besten Plätze und protestieren, weil die sfilata immer noch nicht angefangen hat und der nächste Termin drängt. Hinter der Bühne legt der eigens engagierte Stylist mit nervöser Spannung zusammen mit seinen Helfern letzte Hand an Make-up und Frisur der Models, -161-
der berühmte Designer kontrolliert unterdessen noch einmal den Faltenwurf der Röcke und Blusen, und der Regisseur weist zum letzten Mal den buttafuori ein, der die Models auf den Laufsteg schickt. Seine Arbeit ist enorm wichtig: ein falsches Timing, eine Verzögerung - und der ganze Rhythmus der Show ist dahin. Dann, endlich, setzt die eigens für die Show zusammengestellte Musik ein, der Beat gibt die Schrittfolge vor, die Models stampfen geradezu über den Laufsteg nach draußen, erster Beifall brandet auf. Für die sfilata von Jil Sander - die Marke ist längst von Prada aufgekauft und wird von einem FrankoJugoslawen entworfen - habe ich auch einen Stehplatz für Gianna bekommen. Das heißt, die Tochter sitzt und der Vater steht. Sie ist von der Atmosphäre begeistert. Aber würde sie alles anziehen, was sie gesehen hat? »Ich weiß nicht«, zögert Gianna. »Neunzig Prozent dessen, was man bei einer Modenschau sieht, geht nie in Produktion«, sagt Laura Biagiotti in einem Interview. »Die Show ist vor allem ein Medienereignis, damit man von der Linie des Modeschöpfers spricht.« Nach zehn, spätestens fünfzehn Minuten ist alles schon vorbei, die Fotografen packen eilig ihre Sachen zusammen, und die Models stelzen langbeinig von dannen, vorbei an Autogrammjägern, zum nächsten Termin. Gianna fragt: »Wer bestimmt eigentlich die Modefarben?« Gute Frage. Die Experten wissen das auch nicht so genau. Irgendwie liegen solche Dinge in der Luft, wie die Frage nach der Rocklänge oder die Entscheidung über den freien Bauchnabel. Dabei haben heute viele Stile nebeneinander Platz. Man braucht nur in die Mailänder Nobelboutiquen im »Goldenen Viereck« hinter dem Dom bei der Via Montenapoleone und der -162-
Via della Spiga zu gucken, um sich vom Pluralismus zu überzeugen. Oder sich die meist geschmackvoll gekleideten Italienerinnen (wo lernen die das bloß?) anzusehen. Und dennoch hat jeder Frühling seinen ganz eigenen Stil, jeder Herbst seine besonderen Farben. Santo Versace sagt: »Es gibt so etwas wie eine Grundstimmung, manche erkennen sie früher, andere später.« Und ein Stoffeinkäufer, der, würde er die falschen Farben kaufen, seinen Laden schließen müßte, antwortet nur: »Sie wollen wissen, wer die Farben der Saison bestimmt? Das ist eine Einrichtung, die Mode heißt.« Gianna und ich sind nicht viel klüger geworden. Die neuen alten Farben von Rom Da haben es die Kunsthistoriker einfacher. Sie können anhand von alten Dokumenten entscheiden, welche Farbe etwa die Fassaden der Stadtpaläste in welchem Jahrhundert zierten. Und seitdem man sich intensiver damit befaßt, werden die italienischen Städte bunter. Vor dreißig Jahren war Rom noch eine vor allem von Rotbraun bestimmte Stadt. Jedesmal, wenn ich heute an den Tiber fahre, entdecke ich neue Farben an den Häusern. Sogar die Fassade des Petersdoms sieht inzwischen anders aus als früher. Die Säulen und das Dachgeschoß leuchten in Travertinweiß, die anderen Bauteile sind in hellem Sandbraun gehalten. Und um die zentrale Loge, auf welcher der Papst an hohen Feiertagen den Gläubigen erscheint, schimmern zwei kleine Säulen in Rot vor einer blaßgrünen Wand. Mit dieser »Verschönerung« der riesigen Fassade hätten der Kitsch und die Fernsehkultur über die Kunstgeschichte gesiegt, schimpfen Kritiker wie die Rohrspatzen. Die Restauratoren bestehen dagegen darauf, daß sie die Originalfarben ans Licht -163-
gebracht haben. So wie sie der Baumeister Carlo Maderno gewollt habe, als er die fußballfeldgroße Fassade um 1612 vor der größten und wichtigsten Kirche der katholischen Christenheit errichten ließ. Aber warum muß Rom heute so aussehen, wie es früher einmal war? Auch die Zeit und der Wechsel der Farben, wird von Kritikern argumentiert, gehören zu einer Geschichte, der man Rechnung tragen müsse. Doch die Puristen setzen sich derzeit durch. Mit jeder Gebäuderestaurierung verschwindet etwas von der ockerfarbenen Haut der vergangenen Jahre. So werden Plätze, wie zum Beispiel die Piazza di Spagna, gleichsam zu einem farblichen Fleckenteppich. Rechts von der berühmten Treppe erstrahlt das KeatsShelley-Haus seit ein paar Jahren in frechem Rosarot, während links der Palazzo mit der Babington-Teestube noch in dunklem Ocker gehalten ist. Aus der ebenfalls traditionell dunklen Stirnseite im Norden sticht ein schmales Haus als hellgelber Streifen heraus. Das kürzlich restaurierte Casino der Villa Borghese im Park auf dem Pincio jenseits der Spanischen Treppe leuchtet jetzt ungewöhnlich elfenbeinfarben. War Rom je weißgelb, rosa oder gar noch bunter? Jede Zeit hatte ihre eigene Farbe. Für die Monumentalbauten war bis ins 17. Jahrhundert hinein die Farbe vom Originalmaterial (oder ihre Imitation) bindend: das Rotgrau der Ziegelbauten oder das Weiß des Travertins etwa. Privathäuser, die der kleinen Leute, waren dagegen schon immer farbenfroher, vermuten Experten von der Bibliothek Hertziana. Das Ocker setzt sich endgültig erst mit den Savoyern aus Piemont durch, als Rom Hauptstadt und Königssitz Italiens wird. Mussolini hat schließlich »einen dunklen Farbeimer über Rom ausgeschüttet«, sagt Christoph Luitpold Frommel, der zusammen mit anderen ausländischen Kunsthistorikern von der Stadt um Gutachten bei Restaurierungen gebeten wird. Man könne ja, so Frommel, die Irritation vieler Besucher verstehen, -164-
zumal »das Ocker so dekorativ nachdunkle«, aber die Farben Roms seien nun einmal andere. Historisches Erbe und Gegenwart in den Künsten Die neuen Farben sind vielleicht ein Sinnbild für den Schwung, den das Land bekommen hat. Überall nimmt man Restaurierungsarbeiten in Angriff. Außerdem sind ältere, zum Teil überfällige Arbeiten endlich abgeschlossen worden - zum Beispiel der schiefe Turm von Pisa, das Abendmahl von Leonardo in Mailand oder der Freskenzyklus zur Kreuzlegende von Piero della Francesca in der Kirche S. Francesco von Arezzo. Wenn man dennoch einmal vor einem Baugerüst oder einer geschlossenen Kathedrale stehen sollte, könnten ein paar Zahlen helfen, um zu zeigen, wie schwer Italien an seinem historischen Erbe trägt: Rund 30000 historisch bedeutende Pfarrkirchen, 200 Kathedralen, 60000 Oratorien und Kapellen, 29000 Archive, 300 architektonische Komplexe und weitere 300 Bischofspaläste machen allein aus den religiösen Bauten eine Metropolis der Kulturgüter. Dazu kommen rund 40000 Schlösser, Burgen und Festungen und 20000 unter Denkmalschutz stehende Ortskerne. Kein anderes Land der Welt kennt solche Mengen an illustren Bauschätzen. Und wenn etwa in Prato die Außenkanzel von Donatello und Michelozzo wiederhergestellt worden ist, erregt das ebensowenig Aufsehen wie der Abschluß der Restaurierungsarbeiten der Mailänder Certosa mit den Fresken von Daniele Crespi. Da muß es sich schon um einen Giotto handeln (wie im März 2002 in Padua), damit auch die Zeitungen landesweit darüber berichten. Aber nicht jedes Gerüst läßt sich mit der Flut der Aufgaben erklären. Daß Turin nach dem Brand der Cappella della -165-
Sindone (im April 1997) ein paar Jahre warten mußte, bevor überhaupt die vielen Details des Wiederaufbaus der herrlichen Barockkapelle von Guarino Guarini geklärt werden konnten, war allen Beteiligten von Anfang an klar. Warum es in Venedig um den Wiederaufbau des Opernhauses La Fenice nach dem Brand von 1996 zu einer Dauerposse gekommen ist, bei dem sich verschiedene Baukonsortien untereinander und mit der Stadt stritten und der Übergabetermin von Jahr zu Jahr verschoben wurde, ist nicht einsichtig. Italien ist trotz seiner einmaligen historischen und kunstgeschichtlichen Zeugen nicht der kulturelle Motor Europas. Paris, London, Berlin scheinen Metropolen zu sein, die sehr viel lebhafter nach kulturellen Antworten auf die großen und kleinen Fragen der Gegenwart suchen. Leider entwickeln sich Florenz und Rom ohne innovativen Kulturbetrieb immer mehr zu reinen Museumsplätzen. Doch bieten viel italienische Städte reizvolle Nischen: Es gibt eine bewegte Theaterlandschaft, die neben einigem Mittelmaß die eine oder andere Überraschung bereithält, etwa die Societas Rqffello Sanzio aus Cesena an der romagnolischen Küste, das Teatro delle Albe aus Ravenna oder das Mailänder Teatro dell'Elfo. Im Kino regt sich - wie die Medien sagen - una primavera italiana, ein italienischer Frühling, zu dem die jüngsten internationalen Erfolge von Regisseuren wie Nanni Moretti (»Das Zimmer meines Sohnes«) oder Silvio Soldini (»Brot und Tulpen«) beigetragen haben. Und nicht zu vergessen die Musik! Was eine italienische Oper ist, erklärte mir kürzlich ein angesehener Musikwissenschaftler in Kurzfassung: »Ganz einfach: Eine italienische Oper dauert drei Stunden, und während dieser Zeit will ein Tenor mit einem Sopran ins Bett, aber ein Bariton versucht, das zu verhindern.« Die Langfassung bietet meistens mehr Vergnügen - wenn -166-
man Karten für eine Aufführung bekommt (die man am besten bereits vor Reiseantritt übers Internet buchen sollte). Mag sein, daß sich die Mailänder Scala etwas überschätzt, was ihre künstlerische Ausstrahlung und Bedeutung angeht, dennoch ist sie ein geradezu mythischer Fixpunkt im internationalen Musikleben. Das beste Publikum - sagen die Kritiker - sitzt in Parma. Festivals wie das Rossini Opera Festival in Pesaro, Einrichtungen wie das Teatro del Maggio Musicale Fiorentino oder das Europäische Jugendorchester von Ravenna sind nur einige Beispiele für den musikalischen Reichtum Italiens. Die großen und kleinen Opern- und Theatersäle sind wahre Schmuckkästchen - besonders die ganz kleinen, ob in Busseto bei Parma oder in Vittoria bei Comiso. Im internationalen Ausstellungsvergleich der bildenden Kunst gehört das Land zur europäischen Spitzengruppe. In Venedig bietet der Palazzo Grassi Jahr für Jahr Qualitätsschauen, und die Biennale macht mit ihren Sparten Kunst, Film, Architektur und Tanz nach der Umwandlung in eine Privatstiftung einen ganz frischen und modernen Eindruck. In Mailand stellt ein Privatmann wie der Verleger Gabriele Mazzotta eine bezaubernde Ausstellung nach der anderen auf die Beine. Genua hat sich durch die Restaurierung des Palazzo Ducale einen wunderschönen Ausstellungspalast geschaffen. Auch kleinere Orte wie Bergamo, Mantua, Rivoli, Treviso oder Ferrara warten regelmäßig mit beeindruckendem Programm auf. Hier wird deutlich, daß Kunst und Wohlstand einander zugetan sind und der reiche Norden mit seinen Firmensitzen und Handelsplätzen ein überdurchschnittliches Angebot an den schönen Künsten genießt, während dem Süden wenig Neues bleibt. Die Literatur ist ein merkwürdiges Kapitel. Einerseits ist Italien ein leseschwaches Land, in dem die Hälfte aller Bewohner kein -167-
einziges Buch im Jahr kauft. Andererseits hat es eine lebhafte Literaturszene mit mondänen Literaturpreisen, einer großen Buchmesse (jedes Jahr im Mai in Turin) und einem Lesefestival (im September in Mantua). Die Literaturhauptstadt Italiens ist Mailand, wo allein ein Viertel aller Bücher, die italienische Verlage drucken lassen, auch verkauft werden. Drei große Verlagsgesellschaften (Mondadori, De Agostini, RCS-Rizzoli) beherrschen den Markt, aber die interessantesten Bücher erscheinen in mittleren oder kleineren Häusern, von denen viele ums Überleben kämpfen oder sich - wie Einaudi bei Berlusconis Mondadori den Großen anschließen mußten. Die literarische Einbahnstraße Beim Reis lernt man die interessantesten Leute kennen. Wenn Inge Feltrinelli sagt: »Kommen Sie doch zum Risotto vorbei«, trifft man in dem von roten und gelben Farben geprägten Ambiente der Feltrinelli-Wohnung ausländische Gäste wie zum Beispiel Nadine Gordimer oder Jürgen Habermas, meistens aber italienische Autoren von Umberto Eco bis Erri De Luca oder Antonio Tabucchi. Die immer gutgelaunte Hausherrin wirbelt zwischen ihren Gästen hindurch - Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler, Journalisten -, während sich der Mann, der heute das Sagen hat, bescheiden im Hintergrund hält: Inges Sohn Carlo Feltrinelli. Der Gründer, Giangiacomo Feltrinelli, Erbe einer reichen Industriellenfamilie, kam aus nie ganz geklärten Umständen 1972 bei einem Sprengstoffattentat ums Leben. Carlo hat das Leben seines Vaters in einem bemerkenswerten Buch aufgeschrieben, das eine private, aber zugleich auch eine politische Geschichte Italiens der Nachkriegszeit erzählt: -168-
»Senior Service. Das Leben meines Vaters«. Feltrinelli - mit inzwischen mehr als 100 Filialen zugleich Italiens größter Buchhändler - ist bis heute ein unabhängiges Haus geblieben. Inge sagt: »Bei uns kann keiner rummeckern, außer wir selbst.« Es gibt italienische Autorinnen und Autoren, die besonders in Deutschland gerne gelesen werden: Klassiker der Moderne wie Carlo Emilio Gadda und Italo Calvino sowie Erfolgsschriftsteller der Gegenwart wie Umberto Eco. Es gibt faszinierende Namen und Genres: von dem Gesellschaftskritiker Pier Paolo Pasolini über die Dacia Maraini bis zu Nobelpreisträgern wie Luigi Pirandello. Man liest Eugenio Montale und Dario Fo, liebt Grenzgänger wie Claudio Magris oder Schreibvirtuosen wie Alessandro Baricco. Jeder Name läßt ganze Romanwelten entstehen, und sofort wird man gefragt, warum man nicht Leonardo Sciascia erwähnt habe oder Antonio Tabucchi, Elsa Morante oder Rosetta Loy. Alle wurden und werden sie ins Deutsche übersetzt. Dazu kommen jetzt die Autoren der Italokrimis, der jüngsten Welle italienischer Literatur, die über die Alpen geschwappt ist: Carlo Lucarelli, Marcello Fois und vor allem Andrea Camilleri. Die deutsche Begeisterung für das literarische Italien ist jedoch eine Einbahnstraße. Deutschsprachige Autoren der Gegenwart finden in Italien vielleicht einen Verleger, aber kaum Leser. Pausenwelsch und andere Schulfragen Im vergangenen Sommer erschien bei Bompiani das vielleicht merkwürdigste Buch der Saison mit dem äußerst langweiligen Titel »Nuova grammatica finlandese« (»Neue finnische Grammatik«). Doch der Autor Diego Marani aus Ferrara, der als Übersetzer bei der EU-Kommission in Brüssel arbeitet, ist -169-
ganz und gar kein temperamentloser Sprachexperte, sondern ein phantasiereicher Romancier, der außerdem aus reinem Vergnügen eine neue Sprache erfunden hat: das Europanto. Es setzt sich aus den wichtigsten europäischen Sprachen auf der Basis einer vereinfachten englischen Satz- und Zeitenstruktur zusammen. »Ich esse eine mucho bravo cantante und meine amigos maxime aprreciate moi singante und der guitarre playante.« Das bedeutet: »Ich bin ein guter Sänger und meine Freunde mögen es sehr, wenn ich singe und die Gitarre spiele.« Tischgespräche in einer zweisprachigen Familie in Italien erinnern manchmal an dieses Europanto, wenn vor allem die Kinder Begriffe der einen in der anderen Sprache verwenden und etwa die Mutter fragen: »Vuoi leggere la mia Klassenarbeit?« Dieses Deutschitaliano wird als Umgangssprache in der Pause an den deutschen Schulen in Mailand, Genua oder Rom gepflegt, die als Begegnungsschulen von deutschen und von italienischen Kindern besucht werden. Je nach Jahrgangsstufe werden einige Fächer auch auf italienisch unterrichtet. Manchmal konjugieren die Schüler unter sich sogar deutsche Verben auf italienisch: »Rechniamo quest'Aufgabe?« Deutsch- und Italienischlehrer reagieren mitunter entsetzt auf das »Pausenwelsch«, die Kinder gehen jedoch spielerisch damit um. Und sie haben einen großen Vorteil: Viele deutsche Lehrer tun sich schwer, während ihres Mailand- oder Romaufenthalts Italienisch zu lernen. Und unter den Ortskräften sind es die Italiener, die fast ausnahmslos kein Deutsch sprechen. Da lacht die ganze Klasse, während der Lehrer mal wieder den Witz nicht verstanden hat. Das italienische Schulsystem unterscheidet sich von dem deutschen dadurch, daß es streng zentralistisch organisiert ist -170-
bis hin zu den Prüfungsthemen für das Abitur (diploma), die vom römischen Erziehungsministerium landesweit gleich ausgegeben werden. Pflicht ist bereits ein Kindergartenjahr (scuola materna) ab dem sechsten Lebensjahr, es folgen eine fünfjährige Grundschule (scuola elementare) und eine dreijährige Mittelschule (scuola media). Acht Jahre lang lernen die italienischen Kinder gemeinsam und ohne Begabungsstufen. Mit der achten Klasse endet (bislang) auch die Schulpflicht. Für die weiterführende Schulbildung gibt es ein vielfältiges System von Gymnasien (liceo) und Fachoberschulen (istituto tecnico), die nach fünf weiteren Jahren zum Abitur und zur Hochschulreife (maturità) führen. In Italien machen rund 40 Prozent eines Schülerjahrgangs Abitur (in Deutschland 35 Prozent). Ähnlich wie bei uns beträgt die Mindeststudiendauer auf der Universität vier Jahre bis zum ersten einfachen Hochschulabschluß (laurea), der für die meisten auch der letzte ist. Nur wenige setzen die Ausbildung mit einem Promotionsstudiengang (dottorato di ricerca) fort, der die universitäre Berufslaufbahn eröffnet. Bereits mit der laurea erhält der Studienabgänger im Gegensatz zum deutschen System den Titel dottore. Und wenn man sichergehen und mögliche Beleidigungen vermeiden will, redet man eine Person mit Leitungsfunktionen und überhaupt solche, die gelegentlich Bücher unter dem Arm tragen und mehrere Zeitungen lesen, besser mit dottore an. So halten es auch die Italiener. Kaum werde ich irgendwo (in der Bar, im Geschäft, beim Friseur) als Stammkunde angesehen - und das ist man in der Regel bereits dann, wenn man zum zweiten oder dritten Mal auftaucht -, begrüßt man mich laut mit »Buon giorno, dottore!«. Soll man erklären, daß man in Deutschland trotz eines Hochschulabschlusses noch lange kein »Doktor« ist? »Aber dottore«, hat mich Angelo das erste Mal gefragt, »irgend etwas müssen Sie doch sein?« -171-
Lassen wir den dottore und nennt mich beim Namen! Es gibt Bildungsstätten ganz anderer Art, die typisch für Italien sind, weil sie die kunsthistorische Tradition mit dem Handwerk von heute und der Suche nach neuen Formen verbinden. Unter dem schlichten Namen Fabrica hat sich Benetton zum Beispiel eine Talentschmiede geschaffen. Bis zu dreißig junge Erwachsene arbeiten in der Nähe von Treviso in einer von Tadao Ando umgebauten venezianischen Villa an Projekten in verschiedenen Fachgruppen zusammen. Sie beschäftigen sich mit Design, Fotografie, neuen Medien, Musik, Verlagsprodukten und neuerdings auch mit Kino. Es gibt keinen Unterricht (höchstens Workshops) und keine Lehrer (außer den Leitern der Fachgruppen), sondern nur die Freiheit, auf Firmenkosten ein bis zwei Jahre zu leben und ohne Erfolgszwang kreativ zu experimentieren. Aber was heißt schon ohne Erfolgszwang? Wer darauf setzt, anschließend im Konzern einen Job zu bekommen, wird sich rechtzeitig anpassen wollen. Außerdem sieht es der Patron Luciano Benetton durchaus als Aufgabe von Fabrica, neben dem spielerischen Freiraum »ökonomisch verwertbare Projekte« zu entwickeln. Fabrica ist also keine Einrichtung der Kultur des Elfenbeinturms, sondern die gemeinsame Erfindung des Fotografen und Kommunikationsmanagers Oliviero Toscani und seines intelligenten Firmenchefs Luciano Benetton. Toscani mußte allerdings wegen seiner Fotokampagne gegen die Todesstrafe, die vor allem in den USA zu massiven AntiBenetton-Protesten geführt hatte, nach fast zwanzigjähriger Zusammenarbeit im Frühjahr 2000 das Unternehmen (und Fabrica) verlassen.
-172-
Auch ich in Vespalien Italienisches Design ist eine Art Markenzeichen geworden, wie man jedes Jahr auf der größten europäischen Fachmesse, dem »Salone del mobile«, in Mailand sehen kann. Es gibt viele Kultobjekte aus Italien - von der Olivetti-Schreibmaschine über das Brionvega-Radio oder das Grillo-Telefon bis zur AlessiEspressomaschine. Eine Hauptdarstellerin der italienischen Designgeschichte ist weiblich und läuft, wenn man Gas gibt, auf zwei Rädern - die Vespa. Ihr Name bedeutet auf deutsch »Wespe«, und so sticht sie vierrädrige Konkurrentinnen elegant tailleschwingend aus. Denn die Vespa summt ziemlich laut man könnte es auch knattern nennen - durch die frustriert stehenden Autoreihen, überholt mal links, mal rechts, bis sie vor jeder roten Ampel in der Poleposition steht. Die Italienerin ohne Parkplatzprobleme ist mit weltweit 16 Millionen Exemplaren der Star des Alltags, inzwischen über 50 Jahre jung, und längst ein Mythos der motorisierten Freiheit geworden. In ihrem Alter muß man aber damit rechnen, als Kultobjekt museumsreif zu werden. So konnte man bereits einzelne Exemplare im Guggenheim Museum von Bilbao sehen oder auf Ausstellungen in Paris und Mailand. Aber nirgends zeigt sie alle Seiten ihres Könnens so ausführlich wie im PiaggioMuseum, das im Jahr 2000 in Pontedera, auf dem halben Weg zwischen Pisa und Empoli, eröffnet worden ist. Dort, wo sich die Toskana ganz arbeitsam schlicht und ohne SchickimickiFraktionen gibt, ist die Vespa im Frühjahr 1946 auf die Welt gekommen. Die Herstellerfirma, die bis dato Kampfflugzeuge und Schnellboote produziert hatte, war von Kriegs- auf Friedensproduktion umgestiegen. Vespas Vater, der Flugzeugingenieur Corradino D'Ascanio, Erfinder des modernen Hubschraubers, wollte ein Fahrzeug schaffen, das -173-
einfach zu bedienen war, den Fahrer vor Straßenschmutz schützte und Platz für einen Mitfahrer bot. So wurde sie geboren: mit dreieinhalb Pferdestärken, einem Zweitaktmotor mit 98 Kubikzentimetern und einer Dreigangschaltung unter dem noch wenig attraktiven Modellnamen MP 5. Die Erstgeborene ist im Piaggio-Museum (nur geöffnet mittwochs bis samstags) ebenso zu sehen wie ihre Nachfolgermodelle - insgesamt 60 blankgeputzte und faltenlose Vespas. Darunter die mythische GS von 1955, mit der Audrey Hepburn und Gregory Peck als »ein Herz und eine Krone« (unter der Regie von William Wyler) durch Rom knatterten. Im kleinen Kinosaal des Museums kann man die Filmausschnitte sehen. 150000 Dokumente und eine ganze Bibliothek erzählen die Liebes- und Sozialgeschichte der Vespa. Denn sie war kein gewöhnlicher Motorroller. Das war ein Gefühl von Freiheit mit Sommersonne, von Stracciatella-Eis mit Fahrtwind und Cappuccino mit Gangschaltung. Rosmarin und Benzingeruch: Italien eben. »Auch ich in Vespalien« kalauert Peter Roos in seinem wunderschönen Road-Book »Vespa Stracciatella«. Der Vespa-Knatterton wurde zur italienischen Nationalhymne in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs. Sie war Ehefrau und Geliebte zugleich, teilte mit ihrem Fahrer den Alltag und bot immer wieder zu Träumen Anlaß: so die Vespa Alpha, das Einzelstück für den Film »Dick Smart - Agent 2007«, die auch fliegen konnte und mit wenigen Handgriffen als U-Boot unter Wasser fuhr. Für ihr Alter hat sie vorgesorgt: Für die bleifreie, die schreckliche Zeit gibt es verschiedene Kat-Modelle zum Umrüsten. Überhaupt sorgt ein unglaublicher Einzelteilkatalog dafür, daß fast alle Vespa-Modelle, und seien es die aus den fünfziger Jahren, immer noch repariert werden können. Denn eine Vespa liebt man sein Leben lang, man wirft sie nicht zum alten Eisen. Wenn man sich überhaupt jemals von ihr trennen muß, bringt man sie ins Museum. -174-
Tränen in der Sixtina Jetzt sind wir also da angekommen, wohin Millionen von Reisenden strömen, wenn sie nach Italien fahren - im Museum. Andere Menschen, meine Tochter Mara eingeschlossen, meiden diesen Ort wie die Pest. Bei den Interessen des Vaters und der flächendeckenden Museumsdichte - es gibt rund 3500 in Italien - kann es da gelegentlich zu familiären Konflikten kommen. Alle Museen lassen sich auf eines zurückführen - auf die Uffizien in Florenz. Giorgio Vasari baute für die Regierung des Cosimo de' Medici ab 1560 eines der damals größten Verwaltungszentren Europas. Florenz hatte kurz zuvor mit dem Sieg über Siena die Gewalt über die ganze Toskana erringen können. Diese Räumlichkeiten des Großherzogs waren Ausdruck eines neuen politischen Machtzentrums. Zur politischen Demonstration gehörte auch die künstlerische. Vom ersten Tag an wurde das Obergeschoß als Raum für die großherzogliche Kunstsammlung geplant, die seitdem zu einer der bedeutendsten Sammlungen der westlichen Welt angewachsen ist. Die Venus dei Medici in der Tribuna, dem achteckigen Allerheiligsten der Uffizien, wurde ihr zum Inbegriff. Doch mitunter muß ich Mara recht geben: Lange in einer Schlange vor dem Eingang der Uffizien zu warten, um sich dann wieder in einer Schlange an Botticelli, Michelangelo und all den Köstlichkeiten der Kunstgeschichte vorbeizubewegen - hier wird gedrängelt, da grölt eine Schulklasse -, das macht keinen Spaß und verwandelt das Museum in eine Art kulturellen Supermarkt. Marie Luise Kaschnitz erzählt in einer ihrer römischen Geschichten von einer älteren Dame, die zusammen mit einer Reisegruppe in die Vatikanischen Museen kommt. Man schleust sie wie viele andere tausend Besucher durch sämtliche Säle. Am Schluß bricht die Frau in Tränen aus, weil sie glaubt, man habe ihr die Sixtinische Kapelle vorenthalten. Als man ihr -175-
erklärt, daß sie sehr wohl in der Sixtina gewesen sei, weint sie um so heftiger. Dennoch: Reisende, die Italien lange nicht besucht haben, kommen aus dem Staunen nicht heraus: Historische Gebäude und ihre heruntergekommenen Fassaden sind restauriert, staatliche Museen, die lange geschlossen hatten, sind wieder zugänglich, die Öffnungszeiten sind verlängert (bei freiem Eintritt unter 18 und über 65 Jahren), Servicedienste (Buchläden, Bars etc.) wurden eingerichtet. Die Besucherzahlen der staatlichen Museen haben sich in den vergangenen fünf Jahren von 24 Millionen auf jährlich über 30 Millionen erhöht. Vielleicht wird in den nächsten Jahren auch Mara dazugehören, die sagt: »Bilder mag ich ja, aber die Führungen sind so langweilig.« O sole mio Früher hatten die Museen ausgerechnet an Ferientagen wie dem ferragosto geschlossen, an dem die Menschen Zeit haben, sie zu besichtigen. Ferragosto, das ist der 15. August, der in katholischen Ländern als Maria Himmelfahrt begangen wird. Viele christliche Feiertage haben antike Bräuche und Feste gleichsam besetzt. So auch den ferragosto, der auf die Feriae Augusti zurückgeht (die in der Antike allerdings am 1. August gefeiert wurden). Wer als Italiener sonst nie Urlaub macht, hat wenigstens an diesem Tag frei. Die Woche um ferragosto bedeutet verlassene Städte und überlaufene Ferienquartiere, wo dann das Leben tobt. Einige und ich schließe mich gerne an - bleiben jedoch trotz der schwülen Hitze zu Hause. Die Stadt ist wunderbar ruhig, durch die Straßen fahren nur wenige Autos, Mailand atmet gleichsam ein, zwei Wochen lang durch. In den Parks begegnet man den wenigen Daheimgebliebenen, das sind meist Ältere oder -176-
Ausländer. Viele Restaurants und Geschäfte haben geschlossen. In der Innenstadt sieht man verstörte Touristen, die gar nicht begreifen können, warum sie gespenstisch verlassene Straßen und heruntergelassene Rolläden vorfinden. Nur die staatlichen Museen, wie zum Beispiel das LeonardoFresko bei Santa Maria delle Grazie, bleiben geöffnet. Am Castello hat die Stadtverwaltung ein Restaurantzelt aufstellen lassen, wo man sich abends treffen, zu günstigen Preisen essen und von den Mücken stechen lassen kann. Nebenan spielt eine Band volkstümliche Weisen und Oldies für die Älteren, die beim ballo liscio, beim Walzer und Foxtrott, am warmen Sommerabend schwofen wie anno dazumal… Nach der Woche um ferragosto wacht die Stadt innerhalb weniger Tage wieder mit dem üblichen Lärmpegel auf. Die Urlauber kommen zurück, und bald gibt es keine Parkplätze mehr. Die Rolläden rasseln morgens erneut hoch, und die Preise steigen nach den Ferien so regelmäßig wie die Smogwerte. Signora Giuliana und Stefano sortieren in aller Herrgottsfrühe wieder die Zeitungen. Und, ja, die neuen Besitzer der alten »Wonderbar« sind da, die sich jetzt »Bar del Sole« nennt. Wie soll eine Bar in Italien auch sonst heißen. Kommen Sie, wir trinken einen cqffè.
-177-
Literatur (gleichsam eine Liste der Danksagungen)
Riccardo Bacchelli: Die Mühle am Po. Stuttgart (Klett-Cotta) 1987 Giovanni Balcet: L'economia italiana. Evoluzione, problemi e paradossi. Milano (Feltrinelli) 1997 Piero Bevilacqua: Tra natura e storia. Ronia (Donzelli) 2000 Piero Bevilacqua/Gabriella Corona: Ambiente e risorse nel Mezzogiorno contemporaneo. Roma (Donzelli) 2000 Alberto Capatti / Massimo Montanari: La cucina italiana. Storia di una cultura. Bari / Rorna (Laterza) 1999 Gianni Celati: Landauswärts. Frankfurt (Suhrkamp) 1993 Nando dalla Chiesa: La partita del secolo. Milano (Rizzoli) 2001 Grazia Deledda: Schuf im Wind. Zürich (Manesse) 1992 Marcello D'Orta: Am liebsten Neapel. Hamburg (Rotbuch) 1999 Umberto Eco: Mein verrücktes Italien. München (Hanser) 2000 Carlo Feltrinelli: Senior Service. Das Leben meines Vaters. München (Hanser) 2001 Carlo Emilio Gadda: Wunder Italiens. Berlin (Wagenbach) 1984 Giorgio Galli: Staatsgeschäfte. Affären, Skandale, Verschwörungen: das unterirdische Italien 1943-1990. Hamburg (EVA) 1994 Antonio Gambino: Inventario italiano. Costumi e mentalitä di un Paese materno. Torino (Einaudi) 1998 -178-
Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise. 2 Bd. Frankfurt (Insel) 1976 Ernst Ulrich Große/Günter Trautmann: Italien verstehen. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1997 Eva Gründel / Heinz Tomek: Neapel. Küsten und Inseln. Köln (DuMont) 1989 Giovanni Guareschi: Don Camillo und Peppone. Reinbek (Rowohlt) 1950 Peter Kammerer/Henning Klüver: Anders Reisen. Rom. Reinbek (Rowohlt) 1997 Peter Kammerer/Ekkehart Krippendorff: Reisebuch Italien. Hamburg (Rotbuch) 1990 Henning Klüver: Dario Fo. Eine Biographie. Hamburg (Rotbuch) 1999 Alexander Langer: Die Mehrheit der Minderheiten. Berlin (Wagenbach) 1996 Giorgio Manganelli: Handbuch für unnütze Leidenschaften. Berlin (Wagenbach) 1985 Franca Magnani: Eine italienische Familie. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1990 dies.: Mein Italien. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1997 I Millenari: Wir klagen an. Zwanzig römische Prälaten über die dunklen Seiten des Vatikans. Berlin (Aufbau) 2000 Ralf Nestmeyer: Sizilien. Ein literarisches Landschaftsbild. Frankfurt/Main (Insel) 2000 Tommaso Padoa-Schioppa / Stephen R. Graubard (a cura di): Il caso italiano 2. Milano (Garzanti) 2001 Gianfranco Pasquino: La classe politica. Bologna (il Mulino) 1999 ders.: Dall'Ulivo algovemo Berlusconi. Le elezioni del 13 maggio 2001 e il sistema politico italiano. Bologna (il Mulino) -179-
2002 Jens Petersen: Quo vadis Italia? Ein Staat in der Krise. München (Beck) 1995 ders: Italienbilder - Deutschlandbilder. Köln (SH-Verlag) 1999 Luigi Pirandello: Gesammelte Werke. Hrsg. von Michael Rössner. Berlin (Propyläen) 1997 / 1999 Dietmar Polaczek: Geliebtes Chaos Italien. München / Berlin (Koehler und Amelang) 1998 Nuto Revelli: Der verschollene Deutsche. Tagebuch einer Spurensuche. München (Beck) 1996 Valeska von Roques: Verschwörung gegen den Papst. München (Blessing) 2001 dies.: Die Stunde der Leoparden. Italien im Umbruch. Frankfurt (Suhrkamp) 1996 Klaus Rother/Franz Tichy: Italien. Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 2000 Viktoria von Schirach (Hrsg.): Italienisches Lesebuch. München (Piper) 2001 Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Nördlingen (Greno) 1985 Adriano Sofri: Die Gefängnisse der anderen. Zürich (Edition Epoca) 2001 Lina Sotis: Handbuch der feinen italienischen Art. München (dtv) 1992 Peter Stadier: Cavour, Italiens liberaler Reichsgründer. München (Oldenbourg) 2001 Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Leopard. München (Piper) 1988 Federico Tozzi: Das Gehöft. München (Piper) 1984 ders.: Mit geschlossenen Augen. München (Piper) 1988 Touring Club Italiano: Il paesaggio italiano. Milano (TCI) 2000 -180-
Alice Vollenweider (Hrsg.): Italienische Reise. Literarischer Reiseführer durch das heutige Italien. Berlin (Wagenbach) 1994 dies.: Italiens Provinzen und ihre Küche. Eine Reise und 88 Rezepte. Berlin (Wagenbach) 1990 Klaus Wagenbach (Hrsg.): Nach Italien! Anleitungen für eine glückliche Reise. Berlin (Wagenbach) 1999 Anna Laura Zanatta: Le nuovefamiglie. Bologna (il Mulino) 1997
-181-