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Hans-Georg Gadamer (1900-2002) gehört zu den bedeutendsten Vertretern der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Worin...
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Hans-Georg Gadamer (1900-2002) gehört zu den bedeutendsten Vertretern der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Worin besteht eigentlich seine philosophische Hermeneutik? Wie entwickelt und verändert sie sich im Laufder Jahre? Aufeinfache und bündige Weise schildert Donatella Di Cesare Gadamers Leben und geht allen Etappen seines Denkens nach.
ISBN 978-3-16-149946-3
Donatella Di Cesare
GadamerEin philosophisches Porträt
Mohr Siebeck
DoNATELLA Dr CESARE, geboren 1956; Studium in Rom, Tübingen und Heidelberg; ordentl. Professorin für Philosophie an der Universität "La Sapienza" in Rom.
ISBN 978-3-16-149946-3 Broschur ISBN 978-3-16-149539-7 Leinen Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb. de abrufbar.
© 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die italienische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Gadamer bei Socictit editrice il Mulino in Bologna. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Stempel-Garamond gesetzt und von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt. Umschlagentwurf von Uli Gleis in Tübingen unter Verwendung eines Fotos auH dem Besitz der Autorin: Gadamer in Boston, MA, USA, vermutlich im Jahr 1983.
Vorwort Nach Gadamers Ableben im März 2002 hat jeder seiner letzten Schüler auf eigene Weise die Trauer verarbeitet, die Erinnerung aufbewahrt, das innere Geapräch mit dem Lehrer fortgesetzt und den eigenen Weg zur Autonomie eingelchlagen. Der Abschied ist für mich dieses Buch: ein philosophisches Porträt, das von jenem Abstand zehren soll, der kritische Klarheit und Nüchternheit erlaubt. Bei der Suche nach akkuraten und genauen Zügen habe ich selbst das Buch auf Deutsch geschrieben - in der Sprache, die mich an Gadamer gebunden hat. Von Anfang an hat Günter Figal diese Ausgabe befürwortet. Unaufhörlich war die Unterstützung von Georg Siebeck in der Zeit der Vorbereitung. Die letzte Fassung des Textes wurde mit wachem Verständnis von Volker Rühle und Sibylle Gausing revidiert. Dank gebührt der Alexander von HumboldtStiftung, die der Verfasserio Zeit zur Forschung und zum Nachdenken ge-
wlhrte. Die Leserinnen und Leser behalten das letzte Wort, das wohl die ersten neuen Fragen hervorrufen wird.
Iom, im Dezember 2008
Donatella Di Cesare
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
I. Kapitel: Ein Leben durch ein Jahrhundert .................... ; . . . .
5
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Der Himmel über Breslau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marburg und die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein strenger Lehrer: in der Schule Martin Heideggers . . . . . . . . . . . . . . Platon in der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "Ein schreckliches Erwachen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In Deutschland während des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . "Daß wir leben, ist unsere Schuld" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leipzig, der Krieg und das Rektorat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ruhe von Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 6 8 12 15 17 25 31 34 Wahrheit und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Die Hermeneutik in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Die letzten Jahre. Zwischen Erfolg und Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 41
/1. Kapitel: Das Ereignis der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Wider die Methode? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wenn Verstehen wie Atmen ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Wiederentdeckung Vicos. i Humanistische Kultur und hermeneutischer Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der "Einschnitt" Kants. Von der Ästhetik des Geschmacks zur Ästhetik des Genies . . . . . . . . . . 5. Übermacht der Wissenschaft und Irrealität der Kunst. Das ästhetische Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44 46 48 52 56
V111
lnh.dtwc'l 'lc'1cln11'
II/. 1\',tpit cl: In der Kunst verweilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. 2. 3. 4. 5. (,,
7. H. 9. I 0. ll. 12.
Zu einer Plü nomenologie des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Üher die Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Mimesis und Anamnesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zeit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Beispiel der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Seinsvorgang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Okkasionalität der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiel, Kunst, Fest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ,,So ist es!" Die Kunst und ihre Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Transzendenz des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l>i"· Literatur und das Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetik und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 59 62 64
66 68 69
73 75 77 79 82 83
I V. Kapitd: Unterwegs zu einer philosophischen Hermeneutik . . . . . . . .
84
I. Rückhlick auf eine Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. I >il· Kongenialit~it des Vcrstchcns. Welcher Schleiermacher? . . . . . . . . . 3. l>ic.· K ritnk heit des historischen Bewußtseins und die Aporil·n Dihheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. llussc.·rl und die hermencutisehe Wende der Phänomenologie . . . . . . . . ~. lll·rnu•nl'Utik dl•r Faktizität. Über Heidegger hinaus . . . . . . . . . . . . . . .
84
87 91 96 99
V. Kttpitco/.· Die Konstellation des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I. I >as Vl·rstehen zwischen Zirkeln und Spiralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.. A lies Verstehen ist am Ende ein Sichverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. l>er "Voq;riff der Vollkommenheit" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wir sind Zerrspiegel. Über Vorurteile........................... 5. Die Stimmen der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die blinde Arbeit der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 7. Verstehen heißt Anwenden ..................................·. . H. Die exemplarische Praxis der juristischen Hermeneutik . . . . . . . . . . . 9. Die Kreativität der Anwendung und die Einheit der hermeneutischen Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Der Zauberkreis der Hegeischen Reflexion und der Rest der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. "Überrumpelungsversuche" gegen die Philosophie: die Vorwürfe von Relativismus und Selbstwiderspruch . . . . . . . . . . . . 12. Die Grenze erfahren. Die ()ffenheit des hermeneutischen Bewugtseins . . . . . . . . . . . . . . . . .
104 107 110
111 114 117 122 123 125 126 128 131
Jnh•ltst~trzeichnis
IX
VI. Kapitel: Eine lebensnahe Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. 2. 3. 4. 5.
Ist eine philosophische Ethik möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phr6nesis. Vernünftig handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einheit von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die technische Rationalisierung des Lebens. Über die Heilkunst . . . . "Denken in Utopien". Der Philosoph und die Polis.. . . . . . . . . . . . . . . .
136 140 145 147 150
VI I. Kapitel: Die Verborgenheit des Sokrates. Philosophische Hermeneutik und griechische Philosophie.............
155
1. Wir die Griechen- sie die Modernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Über die Sprache der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155 157 159 162 165 173 177
3. 4. 5. 6. 7.
Parmenides und Heraklit. Der Logos der Sterblichen . . . . . . . . . . . . . . . Sokrates, die Philosophie und die Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Platons aporetische Dialektik: Zwischen dem Einen und der Zweiheit Hegel, die Dialektik und die Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Apodiktik und der Ausschluß des Anderen. Über Aristoteles . . . .
VIII. Kapitel: Der Horizont des Gesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1. Die Sprachvergessenheit in der abendländischen Tradition. Platon, Augustin, Humboldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Stimme des Anderen und die Schrift. Auf Derrida hören . . . . . . . 3. Am Anfang ist die Frage. Gegen die Analytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die spekulative Dialektik des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sein, Verstehen, Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Grenzen der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Gespräch, das wir sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Verstehen, Interpretieren, Übersetzen. Wo die Hermeneutik mißverstanden wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Spiel und Gespräch. Die Begegnung mit Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . 10. Die Verschiedenheit der Sprachen und die Zukunft Europas . . . . . . . . 11. Paul Celan. Zwischen Gedicht und Gespräch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Das Ritual und die Reziprozität der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180 188 193 196 198 199 202 205
209 213 216 220
I X. Kapitel: Hermeneutik als Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. 2. 3. 4.
Die Kinder und die Zukunft der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ~2~ Abschied von der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Hermeneutik der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Zwischen Platon und Hegel. Das Unendliche zurückgewinnen . . . . . . 229
X 5. Hermepeutisch-Sein. Über die Wachsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6. Die Grenze, die der Andere ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 7. Der unendliche Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
X. Kapitel: Den Dialog fortsetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Wenn eine Philosophie zur Koine wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. 3. 4. 5. 6.
239 Hermeneutik und Ideologiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Hermeneutik und Neopragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Hermeneutik und Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Hermeneutik oder Nihilismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Hermeneutik des Anderen. Neue Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
Literaturverzeichnis
283
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311
Sachregister ..................................................... 319
Einleitung Der Name Hans-Georg Gadamers ist eng mit der philosophischen Hermeneutik verbunden. Wie nur wenige andere zeitgenössische Strömungen hat die Hermeneutik einen Einfluß ausgeübt, der weit über die Grenzen der Philosophie hinausgeht und in seiner Tragweite und Tiefe nicht zu ermessen ist. Kaum einer der Bereiche der sogenannten humanities, von der Ästhetik bis zur Literaturwissenschaft, von der Theologie bis zur Jurisprudenz, von der Soziologie bis zur Psychiatrie entbehrt heute eines hermeneutischen Substrats. Nicht einmal das epistemologische Denken ist ihr gegenüber neutral geblieben. Noch schwieriger ist es, die breitgefächerte internationale Wirkung der Hermeneutik innerhalb der Philosophie einzuschätzen. Gadamer ist nicht nur ein Zeuge, sondern auch ein Gesprächspartner der wichtigsten philosophischen Richtungen des letzten Jahrhunderts gewesen. Über die Ergebnisse der jeweiligen Auseinandersetzungen hinaus hat seine Offenheit die Verbreitung der Hermeneutik sowohl in den europäischen Ländern als auch in Amerika befördert. Durch diesen Erfolg ist die philosophische Hermeneutik allgemein zum Synonym der "kontinentalen Philosophie" geworden. Gadamer ist eine große Anzahl von Büchern, Aufsätzen, Dissertationen, Kongressen, Debatten und sogar Filmen gewidmet worden. Sein Hauptwerk Wahrheit und Methode wurde in dreizehn Sprachen übersetzt, wobei neben englisch, französisch, spanisch und italienisch vor allem auch russisch, chinesisch und japanisch zu nennen sind. Wenige andere Philosophen waren so sehr auf der öffentlichen Bühne präsent, haben sich so häufig zu den unterschiedlichsten und aktuellsten Themen zu Wort gemeldet. In einer immerunphilosophischer werdenden Epoche hat Gadamer die Notwendigkeit der Philosophie als kritische Wachsamkeit und als bedingungslose Freiheit des Fragens bezeugt. Aber die Schwierigkeit, eine Monographie zu seiner Philosophie zu schreiben, liegt nicht nur darin, von dieser Reichweite ihrer Wirkungen Rechenschaft zu geben. Im Lauf seines langen Lebens hat Gadamer sehr viel geschrieben, wie die zehn Bände seiner Gesammelten Werke belegen. Selbst Wahrheit und Methode, das mühevoll erreichte Ziel, stellt nur eine, wenn auch wichtige Etappe auf seinem Weg von der Phänomenologie zur Dialektik dar. Die Fülle dessen, was er später in mehr als vierzig Jahren hervorgebracht hat, sollte darüber keineswegs vernachlässigt oder gar ignoriert werden, will man die reiche Entfaltung und Differenzierung seiner philosophischen Besinnung nicht allzusehr verengen.
2 Die Relevanz, die man gewöhnlich Wahrheit und Methode zuerkennt, hat nicht nur die nachfolgenden, sondern auch die vorangehenden Schriften in den Schatten gestellt. Damit ist vor allem die entscheidende Rolle in den Hintergrund gerückt, welche die griechische Philosophie für die Hermeneutik gespielt hat. Denn von ihr finden sich nur wenige Spuren in Wahrheit und Methode, einem Werk, in dem eher die Sorge überwiegt, eine hermeneutische Philosophie zu entwerfen, die ihre eigenständigen Konturen sowohl gegenüber der klassischen Hermeneutik als auch der Heideggerschen Hermeneutik der Faktizität gewinnt. Gleichwohl hat Gadamer selbst seine Arbeit Platos dialektische Ethik sowie die Studien über das griechische Denken als "den besten und originellsten Teil" seiner philosophischen Tätigkeit betrachtet.• Überblickt man die Gesamtentwicklung seiner Philosophie, so kann man sagen, daß Gadamers Hauptwerk vielleicht jenes Buch über Platon ist, das er nie geschrieben hat. Gewiß hätte er auch gern einen vollendeterenBand veröffentlicht als jenen, der unter dem Titel Hegels Dialektik erschienen ist, und ebenso gern hätte er den vielen Aufsätzen eine ausgearbeitetere Form gegeben, die er Heidegger gewidmet hat- es sind mehr als zwanzig-, und die nur zum Teil in den Band Heideggers Wege eingegangen sind. Hier zeichnet sich eine weitere Schwierigkeit ab, die eine Monographie zu Gadamer keineswegs verschweigen darf, nämlich seine gequälte und selbstquälerische Beziehung zum Schreiben. Um seine sokratische Unduldsamkeit gegen die Schrift zu umgehen, hat er bis in seine IetztenJahre hinein die Form der Vorlesung, des Vortrags oder der Debatte gewählt. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, daß alles, was er geschrieben hat, bis auf wenige Ausnahmen der Niederschlag des mündlichen Gesprächs ist. Dieser Hang zum Gespräch spiegelt sich auch in seinem Stil wider. Seine Texte, vor allem die der letzten Periode, sind in einem luziden und effektvollen Stil verfaßt, der sie für ein breites Publikum verständlich macht. Zweifellos leiden seine Texte auch unter dem Übergang von der mündlichen zur geschriebenen Form. Doch seine Schreibweise ist ständig darum bemüht, die Alltagssprache zu befragen und sich jeder starren Terminologie zu entziehen. Ohne begrifflich unpräzise zu sein, hätte doch alles, was Gadamer sagt, auch anders gesagt werden können. Deshalb ist jeder seiner Texte offensichtlich unvollendet. Aber diese Unvollendetheit, die durchaus Irritationen hervorrufen kann, ist für Gadamer kein Mangel. Er vertritt sie im Gegenteil auch theoretisch. Deshalb ist diese Schwierigkeit, genauer betrachtet, gar keine Schwierigkeit, und seine Unduldsamkeit gegenüber der Schrift wird ihm nicht nur von persönlichen, sondern auch von philosophischen Gründen diktiert. Es ist unmöglich anzugeben, wo jene in diese übergehen, da Gadamers Philosophie das Zeichen HANS-GEORG GADAMER, Prefazione all'cdizione italiana, in: DERS., Studi platonici, hrsg. von Giovanni Morctto, Torino: Marietri l'J83, XI-XX, hier X I. 1
Einleitung
3
seiner Individualität trägt. Die Wahl des mündlichen Gesprächs ist daher keineswegs willkürlich. Man kann von "philosophischen Texten'c nicht in derselben Weise reden, wie man es von "literarischen Texten" tut. Denn der philosophische Text, dessen begriffliche Fixiertheit letztlich in die Nähe der metaphysischen Starrheit tendieren würde, fängt durch das Wort, das ihn befragend auslegt, wieder neu an zu sprechen. Daher ist das mündliche Gespräch für Gadamer die Form der Philosophie. In ihm tritt die sokratische Inspiration derphilosophischen Hermeneutik hervor. Dieser Inspiration ist Gadamer treu geblieben, nicht nur, um konsequent zu sein, sondern weil es ihm gar nicht anders möglich gewesen wäre. Wenn Heidegger es zum Philosophieren nötig hatte, sich in den Schwarzwald zurückzuziehen, so hatte Gadamer es nötig, durch die Agora zu gehen und sich von der Begegnung mit den Anderen überraschen zu lassen. Er konnte ohne einen Gesprächspartner, ohne die Dialektik von Frage und Antwort nicht denken. Die Anstrengung des Begriffs war für ihn ohne das Wort des Anderen unfaßbar. Eben darum kann seine Philosophie nicht umhin, sich von dem Gespräch, dem sie entsprungen ist, prägen zu lassen, sie kann nicht umhin, je nach dem Gesprächspartner, der Situation und dem Thema immer anders zu sein. Denn die "hermeneutische Philosophie", so schrieb er, "versteht sich [...] nicht als eine ,absolute' Position, sondern als ein Weg der Erfahrung. Sie besteht darauf, daß es kein höheres Prinzip gibt als dies, sich dem Gespräch offenzuhalten." 2 Dies ist wohl nur einer Philosophie der Endlichkeit möglich, die sich ihrer Endlichkeit bewußt ist und doch nicht auf das Unendliche verzichtet, ja aus dem unendlichen Gespräch geradezu die Form des eigenen Philosophierens macht. Ohne dabei die Bedeutung von Wahrheit und Methode vermindern und noch weniger den Wert der veröffentlichten Schriften herabsetzen zu wollen, gilt es jedoch hervorzuheben, daß sich Gadamers Philosophie nicht in ihren schriftlichen Formen erschöpft. Dies bedeutet allerdings nicht, daß es esoterische Lehrstücke gäbe. Was aber Gadamer von Platon sagt, läßt sich auch von Gadamer selbst sagen: Alles in seiner Philosophie ist "protreptisch", alles weist über sich hinaus. Da nichts definitiv sein kann, soll die philosophische Forschung stets offen bleiben, sich nicht festlegen und keine systematische Form annehmen, am wenigsten in den Grenzen eines geschriebenen Textes. Daher verweist sie nicht nur auf das mündliche Gespräch, sondern auf das gelebte Leben überhaupt sowie auf die Entscheidungen des Philosophen. Wer Gadamer gekannt hat, weiß, wie wahr dies ist, und auch, wie schwer und zugleich notwendig es ist, dies alles in einer Monographie wiederzugeben. GADAMER, Selbstdarstellung- Hans-Georg Gadamer ::-11.2.1900 (abgeschlossen 1975), in: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register, Gesammelte Werke (im folgenden: GW), Band 2, 478-508, hier 505. 2
Philosophie war für ihn niemals ein Beruf. Der intensiven Verbindung von Theorie und Praxis entsprechend, durch die sich die Hermeneutik leiten läßt, ist alles, was er sagte, was er tat, wie er sich verhielt, eines. Diese Monographie wird daher den Anspruch der sokratischen Harmonie von Logos und Ergon, von Wort und Tat, aufnehmen, um die Einheit seiner Philosophie hervortreten zu lassen- dies jedoch in dem Bewußtsein, daß trotz des inzwischen erworbenen Abstands jedes Porträt eine Idealisierung ist.
I. Kapitel
Ein Leben durch ein Jahrhundert Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungsarten seiner Vor- und Mitwelt uneins, und so sind die Gespräche des Plato oft nicht allein auf etwas, sondern auch gegen etwas gerichtet. 1
1. Der Himmel über Breslau Hans-Georg Gadamer wurde am 11. Februar 1900 in Marburg geboren. Sein Vater war ein namhafter Professor für pharmazeutische Chemie; zutiefst überzeugt vom wissenschaftlichen Fortschritt, war er, nach Aussagen des Sohnes, autoritär "schlechtester Art und bester Absicht;" 2 1902 wurde er als Ordinarius nach Breslau im heutigen Polen berufen, wo Gadamer seine gesamte Kindheit und Jugendzeit verbrachte. Seine Mutter, Emma Caroline Johanna Gewiese (1869-1904), starb mit nur 35 Jahren im Frühling 1904. Von ihr sollte der Sohn, der sie kaum noch kannte, die Neigung zur Musik, die Leidenschaft für die Kunst und die Liebe zur Literatur in Erinnerung behalten. Die Jahre in Breslau verliefen finster und bedrückt in der grauen Atmosphäre des väterlichen Hauses; sie waren von den Errungenschaften der Technik geprägt, durch die sich das neue Jahrhundert ankündigte. Auf den Straßen der Stadt fuhren die ersten Autos neben den Pferdekutschen herum. Langsam löste das elektrische Licht die Gasbeleuchtung ab; die ersten Kinos wurden eröffnet, das Telefon installiert. Der Zeppelin durchquerte den Himmel über Breslau. Doch der Untergang der Titanic verursachte 1912 den großen Zivilisationsschock, der das optimistische Vertrauen in die Technik zu unterminieren begann. 3 Gadamer besuchte das örtliche renommierte Gymnasium Zum Heiligen
HANS-GEORG GADAMER, Plato und die Dichter (1934), in: Griechische Philosophie I, GW 5, 187-211, hier 187. 2 GADAMER, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt am Main: Klostermann 1977, 9. 3 Vgl. GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft, in: Das Erbe Europas, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, 7-34, hier 8, sowie das Zeugnis Ernst Jüngers, in ANTONIO 1
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Klitssiker,
die Literatur und die Lyrik. Obwohl Brcslau eine ruhige Provinzstadt war, weit abgelegen von der Front, wurden die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs bald spürbar. Aus seinen Wirren ging Deutschland wirtschaftlich gebrochen, politisch unstabil, desillusioniert und gequält von einer großen Orientierungsnot hervor. Im Frühling 1918 schrieb sich Gadamer an der Universität ein. Im ersten Semester schien er noch zwischen den verschiedensten geisteswissenschaftlichen Fächern zu schwanken: Germanistik, Kunstgeschichte, Psychologie, Geschichte und Orientalistik. Aber im zweiten Semester fing er an, die Vorlesungen der Neukantianer Eugen Kühnemann (1868-1946), Julius Guttmann (1880-1950) und Richard Hönigswald (1875-1947) zu hören. Es war dieser letztere, der ihn zur Philosophie hin drängte. Zugelassen zu einem Hauptseminar über Sprachphilosophie, das Hönigswald für die Studenten des letzten Jahres abhielt, stellte Gadamer dort eine Frage über den Unterschied zwischen Zeichen und Wort, die ihm eine unerwartete Lobrede einbrachte, ihn in seiner Selbsteinschätzung bestärkte und ihm gewissermaßen den Weg zur Philosophie bahnte. 4 In jenen Jahren erfolgte die Begegnung mit neuen Ideen auch für ihn, wie für viele andere seiner Generation, durch die Lektüre der Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann (1875-1955) und durch die Kulturkritik des George-Kreises, der sich um Stefan George (1868-1933) gebildet hatte.
2. Marburg und die Philosophie Im Oktober 1919 siedelte Gadamer mit der Familie nach Marburg über, wo der Vater- Johannes Gadamer (1867-1928)- einen neuen Lehrstuhl erhalten hatte und 1922 Rektor wurde. Durch eine glückliche Fügung war in dieser Universitätsstadt das Beste der deutschen Kultur vereint. Es genügt, nur einige Namen in Erinnerung zu rufen: Ernst Robert Curtius (1886-1956) für Romanistik, Rudolf Bultmann {1884-1976) für Theologie, Richard Hamann (1879-1961) für Kunstgeschichte, Paul Natorp (1854-1924) und Nicolai Hartmann (1882-1950) für Philosophie. Aus dieser Fügung wußte Gadamer Vorteil zu ziehen, dank jener Fähigkeit zuzuhören, die ihn schon damals auszeichnete. Die zwanzig Jahre von 1919 bis 1938, die er in dieser Universitätsstadt verbrachte, waren wichtig für seine intellektuelle Bildung und entscheidend für sein philosophisches Denken. GNou/FRANCO VoLPI, Die kommenden Titanen. Gespräche mit Ernst Jünger, Wien: Karolinger 2002, 17-20. 4 Vgl. GADAMER, Zu einem Brief von Hönigswald an Gadamer vom 22.12.1919, in: WoLFDIETRICH ScHMIED-KowARZIK (Hrsg.), Erkennen- Monas- Sprache. Internationales Richard-Hönigswald-Symposium (Kassel 1995). Studien und Materialien zum Neukantianismus Band 9, Würzhurg: Königshausen & Neumann 1997, 455-461, hier 455.
1.
M~tr/Jurg
und die: Philosophie
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Auf die Marburger Zeit geht auch die Begegnung mit dem George-Kreis zurück. Eingeführt wurde er von dem Romanisten Curtius, der damals auch seine Lektüren stark beeinflußte. Eine verächtliche Abkehr von der dekadenten Zivilisationswelt war der Hauptzug des Kreises, der durch die charismatische "Führung" Georges dominiert und von eisernen esoterischen Gesetzen geregelt war. 5 In Marburg drehte sich seine Tätigkeit um den Wirtschaftshistoriker Friedrich Wolters (1876-1930), der dort von 1920 bis 1923 lehrte. Zusammen mit seinem Freund, dem Dichter Oskar Schürer (1892-1949), besuchte Gadamer für eine gewisse Zeit Wolters' Seminare, wo er unter anderem die Bekanntschaft von Hans Anton machte. Dabei wurde er später auch Zeuge der tragisch endenden Beziehung, die Anton mit dem Schriftsteller und Literaturkritiker Max Kommerell (1902-1944) verband. Da Gadamer eigentlich nur vom Vorrang der dichterischen Wahrheitserfahrung angezogen wurde, hielt man ihn aus dem Kreis fern, in dem nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Philosophie immer stärker verfemt wurde. Ein noch härteres Schicksal wurde Kommerel zuteil, der durch seine Distanzierung zu beweisen versuchte, daß man George und seine Dichtung auch außerhalb des Kreises bewundern konnte. Als Gadamer mit seinem Philosophiestudium begann, war Marburg vor allem dank des Neukantianismus berühmt. Dessen Begründer Hermann Cohen (1842-1918) war 1912 nach Berlin gezogen, nachdem er für Jahrzehnte im Zeichen einer "Rückkehr zu Kant" gewirkt hatte; er ließ das umstrittene Schicksal der "Marburger Schule" in den Händenzweier anderer Vertreter zurück: Natorp und Hartmann. Sie sollten Gadamers erste Schritte leiten. Gerade Hartmann, der als letzter Vertreter des Neukantianismus galt, läutete gleichsam dessen Ende ein, als er sich im Namen eines "kritischen Realismus" davon distanzierte. Noch relativ jung, war er aber für Gadamer ein Lehrer, ein Freund und in gewissem Sinne auch ein Vater, der ihn mit seiner Zuneigung und seiner Wertschätzung unterstützte. Dem Anschein nach kalt und abweisend, stand Hartmann seinen Schülern doch sehr nahe. Er verstand sehr gut, sein intensives und konzentriertes Arbeiten durch gemeinsame Abendstunden aufzulockern, in denen seine freundliche und tatkräftige Persönlichkeit zum Ausdruck kam. Sein Einfluß auf Gadamer darf nicht unterbewertet werden. 6 Er war es schließlich auch, der ihn dazu brachte, bei Natorp zu proBis jetzt fehlt noch eine Studie, die ausführlich die Wirkung des George-Kreises in der Philosophie nachzeichnet. Ein wichtiges Zeugnis ist: GADAMER, Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (1983), in: Ästhetik und Poetik II. Hermeneutik im Vollzug, GW 9, 258-270; vgl. auch STEFAN BREUER, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995; CAROLA GROPPE, Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933, Köln u.a.: Böhlau 1997, vor allem 395-399. 6 Vgl. GADAMER, Selbstdarstel1ung, GW 2, 483. Über Gadamers Beziehung zur Marburger Schule vgl. MIRKO WISCHKE, Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik Hans Georg Gadamcrs, Köln u.a.: Böhlau 2001, hier 61-71. Zu Gadamer und Natorp 5
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rnovit.•rc.•n. ( ;adanu.·rs I >isst·n.uion /)tu W(•.wn d(•r l.ust in den platonischen f)ialogen blich unvcrüfft·ntlidu; doch in jenen 11(, schlecht geschriebenen und nur mit fünf FuHnotcn versehenen Seiten deutete sich schon jene Idee des "Guten" an, die als Brücke zwischen Platon und Aristoteles seinen künftigen Denkweg orientieren sollte/ Obwohl Hartmann und Natorp zwei diametral entgegengesetzte Gutachten über die Arbeit schrieben, einigten sie sich doch, die Höchstnote zu vergeben.
3. Ein strenger Lehrer: in der Schule Martin Heideggers Unmittelbar nach seiner Promotion im August 1922 wurde Gadamer von einer schweren Form der Kinderlähmung (Poliomyelitis) befallen. Die Krankheit bedeutete eine Zäsur in seinem Leben. Er mußte isoliert in Quarantäne leben, während sich die Rekonvaleszenz durch den ganzen Winter hinzog. In jenen endlosen Monaten las er unter anderem das Werk Jean Pauls und die Logischen Untersuchungen Edmund Husserls (1859-1938). Doch gerade in der Zeit der Lähmung ereignete sich etwas Neues: Natorp lieh ihm ein Manuskript über Aristoteles, geschrieben von einem jungen Assistenten Husserls in Freiburg: Martin Heidegger (1889-1976). 8 Von Heidegger sprach man seit langem und sein Name war auch Gadamer schon zu Ohren gekommen. Mit der Aura des Ruhmes umgeben, wurde er als der "geheime König" der deutschen Philosophie angesehen; so zumindest sollte ihn Hannah Arendt später in ihren Erinnerungen schildern.9 Aber dieser Ruhm stützte sich allein auf die suggestive Kraft seiner Vorlesungen. Denn Heidegger hatte noch kaum etwas veröffentlicht. Deshalb hatte Natorp, der die Absicht vgl. jüRGEN STOLZENBERG, Hermeneutik und Letztbegründung. Hans-Georg Gadamer und der späte Paul Natorp, in: lsTVAN M. FEH ER (Hrsg.), Kunst, Hermeneutik, Philosophie. Das Denken Hans-Georg Gadamers im Zusammenhang des 20. Jahrhunderts, Heidelberg: Winter 2003, 63-74. 7 GADAMER, Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen (Dissertation, angenommen am 15. Mai 1922 von der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg). Vgl. in diesem Band Kap. VI, 2; Kap. VII, 5. 8 Das lange für verschollen gehaltene Manuskript ist 1989 glücklicherweise in dem Nachlaß von Josef König, einem Schuler Georg Mischs, wiedergefunden worden. Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation). Ausarbeitung für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät (1922), in: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik, Gesamtausgabe (im folgenden: GA) Band 62, hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt am Main: Klostermann 2005,341-415. Vgl. auch GADAMER, I teideggcrs theologischcjugcndschrift, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 6 (1989), 228-235. '1 ROmGER SAt:RANSKt, Ein Meister aus Deutschland. Heidcggcr und seine Zeit, Münrhcn: I Lmsl'r llJ94, IMl.
J. F.in strenger l.ehrer: in dt.•r Schult.• Martin lleideggt.•rs
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hegte, ihn auf ein Extraordinariat an der Universität Marburg zu berufen, einen Bericht seiner Aristoteles-Arbeiten erbeten. Gadamer war wohl von Natorp in seinem positiven Urteil beeinflußt worden, und sobald es ihm seine Kräfte erlaubten, entschloß er sich, nach Freiburg zu gehen. Er schrieb Heidegger am 27. September 1922 einen Brief, auf den dieser ihm umgehend mit einer Karte antwortete. 10 Dies war der Beginn einer Beziehung, die ein ganzes Leben lang anhielt. Die Begegnung mit Heidegger hinterließ bei Gadamer tiefe Spuren. Sie stellte nicht nur seine bisherigen Errungenschaften in Frage, sondern evozierte auch die ersten Zweifel über eine allzu früh erworbene Selbstsicherheit. 11 Im April1923, immer noch auf dem Wege der Genesung und frisch verheiratet mit der in Breslau geborenen Frida Kratz {1898-1979), siedelte Gadamer nach Freiburg über. Die Universitätsszene der kleinen Stadt war von Husserl dominiert. Nicht zuletzt aus diesem Grund fühlte sich Gadamer verpflichtet, dessen Vorlesungen und Seminare zu besuchen. Für Husserl war es klar, daß der junge Student, der ihm von Natorp empfohlen worden war, eine Arbeit über Aristoteles schreiben sollte. Der Name dieses Philosophen schien, neben dem Etikett "Phänomenologiec', das einzige Band, das Husserl und Heidegger noch vereinte. Doch der Begeisterung für den Assistenten entsprach bald die Enttäuschung über den ordentlichen Professor, der sich in seinen Vorlesungen in langen Lehrmonologen erging- Gadamer wird später einmal von der "Gefahr des Katheders" sprechen.l 2 Fjodor Stepun (1884-1965), einer seiner Studienkollegen, hatte Husserl als einen "wahnsinnig gewordenen Uhrmacherc' bezeichnet, denn bei seinem Vortrag drehte er die rechte Hand in der linken in einer Konzentrationsbewegung, die etwas von dem handwerklichen Präzisionsideal seiner Beschreibungskunst handgreiflich machte. 13 Daher blieb die Phänomenologie für Gadamer vor allem die von Max Scheler (1874-1928), dem er schon 1920 in Marburg begegnet war und den er nie zu bewundern aufhörte. Für das Sommersemester 1923 hatte Heidegger einen Kurs über die Logik vorbereitet; da er jedoch erfuhr, daß ein Kollege den gleichen Kurs abhalten würde, entschied er sich, sein Thema zu ändern, und kündigte einen neuen Titel an: Ontologie. Nur wenig später wurde dieser Titel präzisiert: Hermeneutik der Faktizität. 14 Gadamers erste Begegnung mit Heidegger erfolgte also im Zeichen GADAMER, Sechs Briefe an Martin Heidegger aus der Marburger Zeit. Hans Georg Gadamer zum 100. Geburtstag, 11. Februar 2000.Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Meßkirch: Martin-Heidegger-Gesellschaft 1999, 13. 11 Vgl. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 23. 12 GADAMER, Die Unfähigkeit zum Gespräch (1972), GW 2, 207-215, hier 212. Vgl. auch GADAMER, Erinnerungen an Edmund Husserl, in: HANS RAINER SEPP (Hrsg.), Edmund Husserl und die phänomenologische Bewegung, Freiburg/München: Alber 1988, 13-16, hier 14. 13 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 31. 14 Vgl. das Nachwort der Hcrausgcberin in MARTIN HEIDEGGER, Ontologie (Herme10
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der Hermeneutik. Uoch in diesem Sommersemester wurde Gadamer fast noch mehr von einem anderen Thema angezogcn. 15 Heidegger hielt eine Vorlesung und vier Seminare, von denen eines das sechste Buch der Nikomachischen Ethik behandelte. Der von Aristoteles auf diesen Seiten diskutierte Begriff der phr6nesis sollte Gadamer bis in seine IetztenJahre begleiten. 16 Das Seminar zu Aristoteles bezeichnete den Beginn einer noch engeren Beziehung, die weit über die akademischen Grenzen hinausging: Heidegger lud Gadamer ein, gemeinsam die Metaphysik zu lesen, und dieser Vorschlag erstreckte sich unerwarteterweise auch auf die Zeit der Semesterferien. Vom 29. Juli bis zum 23. August 1923 verbrachte Gadamer, zusammen mit seiner Frau, vier Wochen auf Heideggers Hütte in Todtnauberg. Er folgte dem Lehrer und lernte, Aristoteles "phänomenologische( zu lesen; doch zugleich lernte er auch, mit Aristoteles philosophische Fragen an die eigene Zeit zu stellen. 17 Dies war neben den Seminaren in Freiburg seine "erste praktische Einführung in die Universalität der Hermeneutik." 18 Auch Heidegger hatte, allerdings auf seine Weise, das Bedürfnis, eingeführt zu werden. Der Philosoph aus dem Schwarzwald, der sich nie von Freiburg oder von Baden entfernt hatte, war gerade erst von Natorp nach Marburg berufen worden und nutzte daher die Anwesenheit Gadamers, um mehr über jene Philosophenhochburg zu erfahren. Er war von allem anderen als von friedlichen Absichten inspiriert und nahm, noch vor seinem offiziellen Antritt in Marburg, eine fast schon aggressive Haltung 'gegenüber seinen neukantianischen Kollegen ein. Im Visier hatte er vor allem Hartmann. Am 14. Juli 1923 schrieb er an Karl Jaspers (1883-1969), mit dem inzwischen eine Art von philosophischem Freundschaftsbund entstanden war, von seinen kämpferischen Plänen: Hartmann werde er "die Hölle heiß machen", unterstützt von einem "Stoßtrupp" von 16 Schülern, die er aus Freiburg mitbringe. Einige darunter seien bloße Mitläufer, die anderen aber ernst und tüchtig. 19 Zu den letzteren zählte auch Gadamer, der Freiburg nur ungern verließ. Das Sommersemester hatte ihn definitiv von den "abstrakten Denkübungen unter der Leitung Nicolai Hartmanns" entfernt und auf die von Heidegger eingeschlagenen Wege geführt. 20 Bereits seine allerersten Schriften zeugen davon. In einem Beitrag für die 1924 veröffentlichte Festschrift zu Ehren Naneutik der Faktizität), GA 63, hrsg. von Käte Bröcker-Oitmanns, zweite durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main: Klostermann 1995, 113. 15 Vgl. GADAMER, Sechs Briefe an Heidegger aus der Marburger Zeit, 27-32. 16 Vgl. in diesem Band Kap. VI, 2. 17 Vgl. GADAMER, Heidegger und die Griechen (1990), in: Hermeneutik im Rückblick, GW 10, 31-45. 18 GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 486. 19 Vgl. MARTIN HEIDEGGER/KARL }ASPERS, Briefwechsel. 1920-1963, hrsg. von Walter Biemel und Hans Saner, Frankfurt am Main: Klostermann/München: Piper, 41. 20 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 34.
J. Un strenger l.thrcr: in der SchHle Martin Heidt·ggcrs
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torps formulierte Gadamer seine Zweifel über die Idee eines philosophischen "Systems", das innerhalb des Neukantianismus nahezu ein Dogma war. 21 In seiner Besprechung von Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis, die 1924 in der renommierten Zeitschrift Logos erschien, wird der Herkunftsort seines Textes deutlich gedruckt: Freiburg im Breisgau. 22 Obwohl er Hartmanns Annäherung an die Phänomenologie positiv bewertete, hielt er seinen aristotelischen Realismus für nicht radikal genug. Vielmehr verwies er in seiner Besprechung auf die unumgängliche Aufgabe einer "kritischen Destruktion der philosophischen Tradition", womit er Heidegger als die Quelle seiner Überlegungen preisgab. 23 In der langen Auseinandersetzung mit Hartmann wird die rein deskriptive, standpunktfreie Einstellung bestritten: es gibt, so Gadamer, "keine Weise, an die Sache heranzukommen, die nicht durch die Besonderheit des eigenen Standortes entscheidend bestimmt wäre." 24 Das Wort "Hermeneutik" fällt dabei nicht, dennoch sind deren erste Keime sowohl in den Zweifeln an der Systemidee als auch in der Kritik an der Erkenntnistheorie unschwer erkennbar. Die Schwierigkeiten, die jeder neue Anfang bereitet, sind nicht unbeträchtlich. So hatte Gadamer in jenem Wintersemester 1923/24, als er nach Marburg zurückkam -diesmal zusammen mit seinem neuen Lehrer, dessen Assistent er inzwischen geworden war- vor allem das Problem, seinen eigenen Platz innerhalb der komplizierten akademischen Szene zu finden. Er versuchte, in der Beziehung zwischen Hartmann und Heidegger, die sich unvermeidlich immer weiter verschlechterte, zu vermitteln. Während die Studenten in der Mehrzahl zu den Vorlesungen des letzteren gingen, blieben die Vorlesungen des ersteren verwaist. 25 Wenn Heidegger das Katheder betrat, beeindruckte er alle durch seine Konzentrationsfähigkeit, seine Energie und seine Radikalität. "Man kann sich Heideggers Auftreten in Marburg", so erinnert sich Gadamer, "gar nicht dramatisch genug vorstellen." 26 Eine ganze Generation war von ihm fasziniert: Außer Gadamer waren es Philosophen von Rang wie Hannah Arendt (1906Vgl. GADAMER, Zur Systemidee in der Philosophie, in: Festschrift für Paul Natorp zum 70. Geburtstag, Berlin: de Gruyter 1924,55-75. 22 GADAMER, Metaphysik der Erkenntnis. Zu dem gleichnamigen Buch von Nicolai Hartmann, in: Logos 12 (1923/1924), 340-359. Gadamer hat diese beiden Schriften in der Ausgabe seiner Gesammelten Werke nicht veröffentlichen wollen, da er sie für "recht vorlautes Zeug" hielt. Vgl. GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 483. Meiner Meinung nach trifft dieses Urteil nicht zu, und zwar vor allem im Hinblick auf den Aufsatz Zur Systemidee in der Philosophie; deshalb hatte ich ihm vorgeschlagen, ihn in seiner Sammlung Hermeneutische Wege wieder abdrucken zu lassen. 23 GADAMER, Metaphysik der Erkenntnis, 350. 24 GADAMER, Metaphysik der Erkenntnis, 341. 25 Vgl. KARL LöwiTH, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart: Metzler 1986, 65. 26 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 214; Heidegger und die Sprache (1990), GW 10, 14-30, hier 16 f. 21
12 1975), Karl L6with (1H97-1973), Gerhard Krü~~r (1902-1972), Jacoh Klein (1899-1978) und 1--fansjonas (1903-1993).
Doch Heidegger war ein strenger Lehrer, vor allem nachdem er sich von der übermächtigen Figur Husserls befreit hatte; denn dadurch war es ihm gelungen, ein neues Bewußtsein seiner selbst zu erlangen, und zwar nicht nur seines Wertes sondern auch seiner Fähigkeit, in der Zukunft die deutsche Philosophie orientieren zu können. Dies verdankte er nicht zuletzt dem Werk, das in seinen Vorlesungen langsam Gestalt anzunehmen begann: Sein und Zeit. Gadamer, der hingegen noch wenig hervorgebracht hatte, mußte die Auswirkungen ertragen. Denntrotz allem blieb er in den Augen Heideggers weiterhin ein Anhänger Hartmanns. Für den Philosophen aus dem Schwarzwald, der damit seine eigenen kleinbürgerlichen Rachegelüste zu erkennen gab, war Gadamer der Sohn jener akademischen Aristokratie, mit der er nur schwer zusammenleben konnte. Daher drückte er in einem Brief an Löwith vom 27. März 1925 unverblümt und offen seine Zweifel über Gadamers philosophische Begabung aus, dem allerdings bereits 1924 ein Brief an Gadamer selbst vorangegangen war, in dem er schrieb: "Wenn Sie nicht genügend Härte gegen sich selbst aufbringen, wird nichts aus Ihnen." 27 Gadamer hatte beschlossen, sich bei Heidegger zu habilitieren, und nahm mit kaum verhohlener Bitterkeit das mangelnde Vertrauen des genialen Lehrers hin. Er war zutiefst enttäuscht. Seine innere Selbstsicherheit, die bereits durch die Figur des Vaters auf eine harte Probe gestellt worden war, wurde wiederum stark unterminiert.
4. Platon in der Zukunft Nunmehr begannen die Jahre, die Gadamer in seiner Autobiographie als "Niemandsjahre" bezeichnet hat. 28 In seiner Erinnerung beschreibt er sie so: Es waren Jahre eines tiefen Zweifels an meiner wissenschaftlichen Begabung, zugleich Jahre, in denen ich endlich einmal anfing, ernsthaft zu arbeiten: Ich wurde klassischer Philologe unter der freundschaftlichen Anleitung von Paul Friedländer. 29
Der Weg der klassischen Philologie war für Gadamer der Weg seiner Emanzipation von Heidegger. Nach Ostern 1925 nahm er sein neues Studium auf und besuchte die Veranstaltungen von Paul Friedländer (1882-1968) sowie von Ernst Lommatzsch (1871-1949) und PaulJacobstahl (1880-1957). Was er nach der Begegnung mit Heidegger suchte, war ein fester "Boden":
Beide Briefe werden im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am N eckar aufbewahrt. 28 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 30. 29 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 34. 27
4. Platcm in dtr lukunji
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Ich bin eigentlich deshalb klassischer Philologe geworden, weil ich das Gefühl hatte, von der Überlegenheit dieses Denkcns einfach erdrückt zu werden, wenn ich nicht einen eigenen Boden gewann, auf dem ich vielleicht fester stünde als dieser gewaltige Denker selber. 30
Ein fester Boden bedeutete zunächst einmal materielle Sicherheit. Es waren die Jahre der großen Inflation, der Ruin der Mittelschicht in Deutschland. DieLebenssituation Gadamers unterschied sich nicht von der seiner Freunde und Kollegen in Marburg; alle fristeten ihr Leben nur mit Mühe, dank eines Stipendiums der "Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft". 31 Auch deswegen bot die Philologie zweifellos mehr Sicherheit. Sie hätte ihm zwar keine akademische Karriere eröffnen können, aber zumindest die Möglichkeit gegeben, Lehrer für Altgriechisch am Gymnasium zu werden. Ein fester Boden meinte jedoch auch die Grundlage einer sorgfältigen Kenntnis der Texte. Gadamer wechselte vom schlüpfrigen Gelände der zeitgenössischen Philosophie zum stabilen und sicheren Grund der "Klassiker". "Ich lese grundsätzlich nur Bücher, die mindestens zweitausend Jahre alt sind" - diese Antwort gab er damals allen, die ihn nach seinem Studium fragten. 32 Bei einer solchen Entscheidung fühlte er sich von Bultmann bestärkt, dem protestantischen Theologen, der in Heideggers Philosophie den Rahmen für eine kritische Exegese gefunden hatte, durch welche er das Neue Testament zu einem Text machen wollte, der wie jeder andere Klassiker zu lesen sei. Gadamer wurde in die berühmte Graeca Bultmanns aufgenommen - "Graeca" bedeutete in der akademischen Sprache einen Kreis von Dozenten und Studenten, die gemeinsam Texte der klassischen Literatur lasen und interpretierten- und nahm 15 Jahre lang an ihr teil. Dies war eine der Erfahrungen, die seine Bildung am nachhaltigsten prägte. Doch Gadamers anfängliche Leidenschaft für die Literatur wurde dadurch nicht schwächer. Mit seinen engsten Freunden, zu denen Löwith und Krüger gehörten, traf er sich jede Woche, um gemeinsam die großen Romane von Balzac, Tolstoj, Dostojewskj, Gogol und Gontscharow zu lesen, ohne dabei auch moderne Autoren wie Joseph Conrad, Knut Hamsun und Andre Gide zu vernachlässigen. 33 GADAMER, Von Lehrenden und Lernenden (1986), in: Das Erbe Europas, 158-165, hier 159 f.; vgl. auch GADAMER, Paul Friedländer (1993), GW 10, 403-405, hier 403. Vgl. dazu: A Conversation with Hans-Georg Gadamer (mit ALFONS GRIEDER), in: The Journal of the British Society for Phenomenology 26 (1995), 116-126, hier 119. 31 Gadamer erwähnt dies in seinen Briefen vom 15.3.1928, 2.10.1928, 18.10.1928, 17.4.1929. Vgl. GADAMER, Sechs Briefe an Heidegger aus der Marburger Zeit, 17, 21, 25 und 29. Die "Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft" (NG) war eine staatliche wissenschaftliche Förderungsinstitution, die Vorläuferio der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). 32 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 47. 33 Vgl. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 39 sowie LöwiTH, Mein Leben in Deutschland, 64. 30
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J . • liin schrecltliches Erwachen"
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setzen und sich bei Friedländer zu habilitieren. Aber am Tag nach dem Examen erhielt er einen kurzen und keine Widerrede zulassenden Brief von Heidegger, der ihn ermunterte, sich bei ihm in Philosophie zu habilitieren. Gadamer fühlte sich überrascht und geschmeichelt, undtrotzdes anstrengenden Weges, den er bereits zurückgelegt hatte, um Selbstsicherheit und Autonomie zu erlangen, konnte er nicht nein sagen. So bezeichnete Heidegger wiederum eine Kehre in seinem Leben, um es zur Philosophie zurückzuführen. Aber die Zeit drängte. Heidegger war dabei, nach Freiburg zurückzugehen, um dort der Nachfolger Husserls zu werden. Für Gadamer kam aber noch ein nicht weniger dringliches Motiv hinzu: Seit einigen Monaten lag sein schwer erkrankter Vater in der Marburger Universitätsklinik. Er verstarb am 15. April 1928, voll Sorgen über die Zukunft seines Sohnes und noch bevor es diesem möglich war, die Venia legendi zu erlangen. In dieser harten Situation gelang es Gadamer, wiederum ganz auf Platon konzentriert, seine Habilitationsschrift innerhalb eines Jahres zu schreiben. Ihr erster Titel, der dem Inhalt nicht ganz entsprach, war: Phänomenologische Interpretationen des platonischen >Philebos<. Später wurde er jedoch abgeändert: Platos dialektische Ethik war schließlich der Titel des 1931 veröffentlichten Buches. 39 Die Arbeit hatte eigentlich kein richtiges Ende und war als Vorspiel für eine Studie über die Nikomachische Ethik entstanden. Sie wurde sowohl von Friedländer als auch von Heidegger positiv bewertet, so daß Gadamer am 23. Februar 1929 habilitiert wurde.
5. "Ein schreckliches Erwachen" Ein großes Ziel schien damit erreicht. Doch die darauf folgenden Zeiten erwiesen sich als noch schwieriger. Gadamer blieb fast ein Jahrzehnt lang Privatdozent, so daß die dreißiger Jahre die härtesten und kritischsten seines Lebens werden sollten. Die berufliche und finanzielle Situation hatte sich auch nach der Erteilung der Venia legendi nicht verbessert. Er arbeitete am Philosophischen Seminar in Marburg als Privatdozent zusammen mit Löwith und Krüger, mit denen ihn eine lange Freundschaftund eine tiefe Solidarität verband. Nach dem Weggang Heideggers fühlten sich seine drei Schüler, die nun ihrerseits Dozenten waren, sehr viel freier und daher auch viel verantwortlicher, so daß sie eine gemeinsame Front bildeten und sich in kürzester Zeit einen ausgezeichneten Ruf erwarben. Doch Privatdozenten wurden nicht bezahlt und überlebten unter bescheidensten Umständen nur dank zufälliger Stipendien oder Vergütungen, die sie am Ende der Kurse entsprechend der Anzahl ihrer Studenten erhielVgl. GADAMER, Platos dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretationen zum Philebos (1931), GW 5, 3-163. 39
ten. Die Konkurrenz war daher ungemein groft Löwith stach alle anderen aus durch die Kompetenz, die Ironie und den Reiz, die seine Persönlichkeit prägten. Krüger war brillant und logisch im Aufbau und im Vortragen seiner Vorlesungen, so daß er einigermaßen gut zurechtkam. Gadamer dagegen war der jüngste, der am wenigsten sichere, und fühlte sich auf dem Katheder unbehaglich. In Marburg ging unter den Studenten der Ausspruch umher: Was Krüger klar und deutlich unterscheidet, bringt Gadamer wieder durcheinander. So wurde bald eine neue wissenschaftliche Maßeinheit entdeckt: das "Gad ", welches "ein Einheitsmaß unnötiger Kompliziertheit" bezeichnete. 40 In dieser prekären Lage war es unmöglich, genügend Zeit zu finden, um sich der Forschung zu widmen. Im Anschluß an die Habilitationsschrift hatte Gadamer nichts mehr veröffentlicht, und auch das Projekt einer kommentierten Ausgabe der aristotelischen Physik wurde niemals ausgeführt. 41 Allerdings waren dies nicht die eigentlichen Gründe, die es ihm verwehrten, einen Lehrstuhl zu bekommen. 1933 ergriff Adolf Hitler die Macht in Deutschland. Die politischen Ereignisse, die dies sehr schnell nach sich zog, sollten das Leben in dem Land durcheinanderwirbeln und sie machten offenkundig auch nicht vor den Universitäten halt. Obwohl nicht wenige der Dozenten und Studenten kritisch gegenüber der Weimarer Republik eingestellt waren, rief die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten doch Überraschung, Verblüffung und Staunen hervor. Die intellektuelle Welt in Deutschland erwachte wie aus einem langen Schlaf. Es war ein schreckliches Erwachen, und wir durften uns wohl alle nicht ganz davon freisprechen, daß wir es an staatsbürgerlicher Aktivität vorher hatten fehlen lassen. Wir hatten Hitler und die Seinen unterschätzt und folgten darin freilich der liberalen Presse. Keiner von uns hatte Mein Kampf gelesen. 42
Innerhalb der Universität waren alle oder zumindest fast alle davon überzeugt, daß der "Spuk" bald wieder vorüber sei. Die tiefe Verachtung für die Nationalsozialisten, zusammen mit einer ebenso aristokratischen wie albernen Überheblichkeit, führte zu einer schlechterdings falschen Einschätzung der politischen Wirklichkeit. Selbst der Antisemitismus, der viel zu primitiv erschien, um wahr zu sein, wurde als Wahlslogan für Zeiten einer tiefen ökonomischen Krise mißverstanden. Doch die Ereignisse, die zunächst vielleicht, wenn auch mit nicht wenig Blindheit, noch als vereinzelte Vorkommnisse mißdeutet werden konnten, nahmen einen ganz anderen Verlauf, in dem sie sich als langfristig geplante und staatlich sanktionierte Verfolgung von Juden, Kommunisten, politischen Gegnern sowie all denjenigen erwiesen, die für das Naziregime als 40 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 46. 41 Vgl. die Briefe an Heideggcr vom 2.10.1928,
18.10.1928, 17.4.1929, in: GADAMER, Sechs Briefe an Hcideggcr aus der Marburgcr Zeit, 21, 23 f. und 29. 42 GADAMER, Philosophisdtc l.t:hrjahrc, 51.
6. In Deutschland während des Nationalsozialismus
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Fremde und Feinde galten. Die Nürnberger Gesetze ließen schließlich keinen Raum mehr für Illusionen. Alle Dozenten jüdischer "Rasse" wurden gezwungen, den Unterricht zu quittieren. Die Universität Marburg leerte sich dadurch. Während es einigen gelang, auch nach der Kristallnacht 1938 ihr Leben in Deutschland zurückgezogen weiter zu führen, wie zum Beispiel Erich Frank {1883-1949}, verließen die meisten das Land- Löwith als erster. Ihm gesellten sich, um nur einige zu nennen, Strauss, Friedländer, Spitzer, Klein, Auerbach, Kronerund Jacobstahl zu. "Man schämte sich zu bleiben", wird Gadamer später bemerken. 43
6. In Deutschland während des Nationalsozialismus Gadamer blieb. Doch Bleiben bedeutete nicht, dem Nationalsozialismus anzuhängen. Hieraus ergeben sich verschiedene Fragen. Wie hat Gadamer in diesen Jahren gelebt? Was hat er gedacht? Wie hat er gehandelt? Diese Fragen lassen sich in der einen Frage, die damals alle betraf, zusammenfassen: Was sollte man angesichtsdes Nationalsozialismus tun? Nimmt man diejenigen aus, die vor allem wegen der Rassendiskriminierung zur Emigration gezwungen waren, oder die Minderheit derer, die das Exil gewählt hatten, so ist es äußerst schwierig, mit den Kriterien der Gegenwart das Verhalten derer zu ermessen, die damals im "Dritten Reich" blieben. Was uns dennoch nicht der Aufgabe enthebt, ein Urteil zu bilden. Der Fall Gadamer ist kein "Fall"- wie man in den letzten Jahren glauben machen wollte. Die Anschuldigungen, die vom Opportunismus bis zur Kornplizenschaft oder zur Teilnahme reichen, verlangen deshalb nach einer Klärung. Dafür ist es zunächst notwendig zu zeigen, woher die Anschuldigungen stammen und was mit ihnen beabsichtigt wird. 1995 erscheint ein Buch von Teresa Orozco, das darauf abzielt, Gadamers Verwicklungen in den Nationalsozialismus auf der Basis seiner Veröffentlichungen in jener Zeit zu beweisen. 44 1999, GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 54. Vgl. TERESA ÜRozco, Platonische Gewalt. Gadamers politische Hermeneutik in der NS-Zeit, Berlin: Argument 1995 (zweite Auflage 2004). Das Archivmaterial, das Orozco heranzieht, ist eigentlich gering. Für eine erste Besprechung dieses Buches vgl. STEFAN BREUER, Mit Platon in den Führerstaat? Teresa Orozcos Analyse von Gadamers Wirken unter dem NS überzeugt nicht, Frankfurter Allgemeine Zeitung 4.12.95, 4. Über die Möglichkeit einer Verstrickung Gadamers in den Nazionalsozialismus hatte sich schon Grossner geäußert. Vgl. CLAUS GROSSNER, Verfall der Philosophie. Politik deutscher Philosophen, Reinbek bei Hamburg: Wegner 1971, insb. 234-237, hier 234. Ausführliche Informationen über die Philosophie in Deutschland in der Weimarer-Republik und im Dritten Reich gibt STEFAN TILITZKI, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarerrepublik und im Dritten Reich, 2 Bände, Berlin: Akademie-Verlag 2002. Nach dem Buch von Orozco sind dann einige eher polemischen als dokumentierten Artikel zu diesem Thema erschienen: jAN 43
44
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sp:itc:r, l'tsriH'illt dil· von .Jt•;m ( ;rondin v<·rl.d~tl' 1\io~r.tphit· ( i~tda IHl'I'S, l'itw :t.W;\1" umfan~n·idu.· S.wunlun~ von Matl·rialien, die jedoch in unzun·il·ht.·ndl·r hu·m aus~earht.·itt.'l ist und ~t·radezu die ent~c~cngesetztc Wirkung nach sich zog, die der Autor vermutlich beabsichtigt hatte ... ~ Die Art, in der Grondin sich der Aufgabe annimmt, Gadamer zu verteidigen und zwar gerade dort, wo gar keine Verteidigung erforderlich gewesen wäre, weckt Zweifel und Verdacht selbst bei den gutgläubigsten Lesern. Dadurch aber ruft er Irritationen hervor und liefert vor allem denen einen Vorwand, die eigentlich über Gadamer hinaus die Hermeneutik im Visier haben. Auf Englisch erscheint 2000 ein Aufsatz von Richard Wolin, der in äußerst aggressiven Tönen von einer "Komplizenschaft" Gadamers mit dem Nationalsozialismus spricht. 46 Der Aufsatz wird 2001 auch auf deutsch in einer Ausgabe der Internationalen Zeitschrift für Philosophie veröffentlicht. 47 Die Herausgeber ziehen es vor, sich sozusagen auf die vil·r
Ross, Schmuggel: Gadamers Geheimnis, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.02.95, 27; CuRISTIAN DELACAMPAGNE, Questions d'interprt!tation. L'ouvre du dernier des disciples dc Hcideggcr est enfin largcmcnt disponible en fran'iais. Avec ses silences, Le Monde, 17.05.1996; RoBIN MAY ScoTT, Gender, Nazism and Hermeneutics, in: LEWIS E. HAHN (Hrsg.), The Philosophy of Hans-Georg Gadamer. The Library of Living Philosophers, Bd. XXI V, Chicago and La Sallc: Open Court 1997, 499-508. Die politische und philosophische Relevanz von Gadamers Schriften zu Platon in der Nazi-Zeit wurde schon auf ganz andere Weise von Dallmayr und von Sullivan unterstrichen worden. Vgl. Fred DALLMAYR, J lcrmeneutics and Justice, in: KATHLEEN WRIGHT (Hrsg.), Festival of Interpretation, Alhany: SUNY 1990, 95-105; RoBERT R. SuLLIVAN, Political Hermeneutics: Thc Early Thinkin~ of Hans-Georg Gadamer, University Park: Pennsylvania State University Press 1990; vgl. auch SUI.LIVAN, Gadamer's Early and Distinctively Political Hermeneutics, in: LEWIS E. I lAHN (Hrsg.), The Philosophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 237-255, und GADAMER, Rt'ply to Robert R. Sullivan, 256-258. Eine weitere Diskussion um die These von Orozco hat Platz in der Sektion "Gadamer in Question" innerhalb des von Brice Krajewski herausgegebenen Buches gefunden; auf der Seite von Orozco hat sich Geoff Waite zu Wort gemeldet. Eine Antwort auf beide enthält der Beitrag von CATHERINE H. ZucKERT, On the Politics of Gadamcrian Hermencutics, in: BRUCE KRAJEWSKI (Hrsg.), Gadamer's Ripercussions. Re"·onsidering Philosophical Hermeneutics, Berkeley: University of California Press 2001, 229-243. 4s jEAN GRONDIN, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen: Mohr Siebeck 1999. 4c, RICHARD WouN, Nazism and the Complicities of Hans-Georg Gadamer. Untruth and Method, in: The New Republic, 15.5.2000, 36-45, wieder abgedruckt: Fascism and Hermencutics: Gadamer and the Ambiguities of "Inner Emigration", in WouN, The Seduction of Unrcason: The Intellectual Romance with Fascism from Nietzsche to Postmodernism, J>rinccton: Princeton University Press 2004, 89-127; vgl. auch die Besprechung von Grondins Buch: RICHARD WoLIN, Socratic Apology: A wonderful horrible life of Hans-Georg (;adamcr, in: Book/Forum 2003, Summer, http://www.bookforum.com/archive/sum_03/ wolin.html. Aus Mangel an sachlichem Inhalt wird der Beitrag von Wolin am Ende leider nur eine Verleumdung Gadamcrs. Vgl. dazu. RICHARD E. PALMER, A Response to Richard Wolin on Gadamcr and the Nazis', in: International Journal of Philosophical Studies 10 (2002), 467-4H2. 11 V~l. R I <:II AlU> Wou N, Unwahrheit und Methode. Gadamcr und die Zweideutigkeiten dt·r ,inlll'l'l'll Emi~ration', in: lnternatiorult· Zl·itschrih für Philosophie 2001/1 {.,Hcrmcneu-
6. ln I )t•utschland wlihrt•nd dc.•s Natitmalsu7.ialismus
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Spielleitung zu beschränken. Dabei erklären sie als eigenes Ziel, keineswegs einen "Fall" Gadamer auslösen zu wollen, sondern nur die "Kontinuität" zwischen der ,"politischen' Hermeneutik" im Dritten Reich und der späteren "philosophischen Hermeneutik" ans Licht treten zu lassen. 48 Ihre Absicht ist es offensichtlich nicht, mögliche Verwicklungen Gadamers zu belegen, denn diese gibt es in der Tat nicht, sondern die Hermeneutik in Verruf zu bringen. Doch worauf beziehen sich die Anschuldigungen? Was sind die Argumente, die vorgebracht werden? Wenigstens drei Klarstellungen sind zu Beginn notwendig. Erstens war Gadamer kein Nazionalsozialist- im Gegensatz zu Heidegger und anderen "zum Waffendienst einberufenen Musen" 49 • Er ist nie Mitglied der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) und nie Anhänger von nationalsozialistischen Ideen gewesen. Seine Position hat sich auch nach dem Röhm-Putsch vom 30. Juni 1934 nicht geändert, als kein Zweifel mehr über die totalitäre Gewalt der Nazi-Diktatur bestand und keinerlei Form des Widerspruchs mehr zugelassen war. Kein Parteimitglied zu sein war im übrigen keine Bagatelle. Damit riskierte man sein Leben. 50 Gadamer war kein Antisemit. Dies war in jenen Jahren alles andere als selbstverständlich, hatte der Antisemitismus doch tiefe und weitverbreitete Wurzeln. Es lohnt sich, hierzu das bezeichnende Beispiel Gottlob Freges zu zitieren. Der tik und Politik in Deutschland vor und nach 1933"), hrsg. von Andreas Graeser, Dominic Kaegi, Andre Laks und Enno Rudolph, 7-32. Der einzige der Herausgeber, der sich zu Wort meldet, ist Graeser. Dabei drückt bereits das Vorwort das Ressentiment und die Feindseligkeit der Herausgeber aus. Von der Veröffentlichung hat sich Günter Figal sogleich distanziert und ist aus der Leitung der Zeitschrift, die fortan in den Händen Rudolphs verblieb, ausgeschieden. Entgegen der vermutlichen Absichten der Herausgeber ist die polemische Auseinandersetzung nach der Veröffentlichung kaum weitergeführt worden. An dem Band der Internationalen Zeitschrift nahmen außerdem Frank-Rutger Hausmann, Robert R. Sullivan, Micha Brumlik, Georgia Warnke und Gabriel Motzkin teil, mit unterschiedlichen Perspektiven und Akzentsetzungen; den Abschluß bildet ein weiterer Aufsatz von Wolin. Kürzlich hat sich Delannoy mit einem ausgleichenden Beitrag in die Diskussion eingeschaltet, der vor allem auf die Interpretation von Gadamers in Frage gestellten Texte konzentriert ist. Vgl. FRANCK DELANNOY, Gadamers frühes Denken und der Nationalsozialismus, in: MARION HEINZ/GoRAN GRETIC, Philosophie und Zeitgeist im Nationalsozialismus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006,327-351. 48 Vgl. das Vorwort der Herausgeber in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2001/ 1, 4. 49 Wer von einem "existentiellen Anti-Nazismus" ausgeht, der dem eigenen Judentum entspringt, sieht genau die Gefahr, die eine solche Beschuldigung jeder beliebigen Person als Nazi mit sich bringt. Darauf weist zurecht GABKIEL MoTZKIN hin, Comment on Richard Wolin's Untruth and Method, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2001/1, 78-85, hier 78. Die Rede von den "zum Waffendienst einberufenen Musen" stammt von PHILIPPE BURRIN, La France a}'heure allemande, Paris: Seuil1995, Kap. 22. 50 Dies war bekanntlich einer der Gründe, aus denen es so gut wie keine Opposition in Deutschland gab, außer in sehr seltenen und marginalen Fällen. Die Mitglieder der Weißen Rose oder der Roten Kapelle waren sich bewußt, einem sicheren Tod entgegenzugehen.
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I. Kapitel: !:'in /.c•/Jc•tt Jurrh t•in }ttln-hundt·rt
Begründer der modernen Logik und Vater der analytischen Philosophie sympathisierte mit der extremen politischen Rechten und erstrebte ein logisches "drittes Reich", das auch das neue politische Dritte Reich verkündigen sollte. 5 1 Über seine mehrmals geäußerte Verachtung für jede Form von Demokratie, die Anlaß geben sollte, die naive und gefährliche Unterstellung zu vermeiden, daß logische Vernunft auch politische Einsicht erwarten lasse, schreibt er am 30.4.1924 in seinem Tagebuch: Man kann anerkennen, daß es höchst achtbare Juden gibt und es doch für ein Unglück halten, daß es so viele Juden in Deutschland gibt und daß diese volle politische Gleichberechtigung mit den Bürgern arischer Abkunft haben. 52
Nur einige Tage vorher, am 22.4.1924, hatte er eindeutige Worte über seine Einstellung zu Papier gebracht: Ich habe den Antisemitismus eigentlich erst in den IetztenJahren so recht begreifen lernen [sie!]. Wenn man Gesetze gegen die Juden geben will, muß man ein Kennzeichen geben können, aus dem man sicher einen Juden erkennen kann. Darin habe ich immer die Schwierigkeit gesehen. 53
Bei Gadamer gibt es nicht einmal den Schatten solcher Äußerungen. Doch viel wichtiger ist, daß seine Freundschaft zu den Juden, mit denen die meisten jede Beziehung abgebrochen hatten, unverändert blieb. 54 Unter Bedingungen, die keineswegs einfach waren, und in denen der Umgang mit Juden kaum geduldet war, beherbergte Gadamer, was selbst schon eine Form des Widerstands darstellte, seinen Freund Klein für fast zwei Jahre von 1933 bis 1934 bei sich zuhause. Ebenfalls hielt er zu Frank bis zu dessen Weggang aus Marburg 1939, so wie er stets seine Verbindung zu Löwith sowohl während als auch nach der Nazi-Zeit aufrecht erhielt. Dies bezeugt der Briefwechsel zwischen beiden. 55 Über die Verbindung zwischen diesen scheinbar unvermittelbaren Polen vgl. den wichtigen Aufsatz von GoTTFRIED GABRIEL, Reich, Drittes, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karl Gründer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Band 8, 1992, Sp. 496-502. 52 GoTTLOB FREGES politisches Tagebuch. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Gottfried Gabriel und Wolfgang Kienzler, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), 1057-1098, hier 1092. Das Tagebuch ist in die Ausgabe der Nachgelassenen Schriften Freges nicht übernommen worden. Daß Freges Ausführungen im Tagebuch in jeder Hinsicht ernst zu nehmen sind, wird heute nicht bestritten. Dies bedeutet aber, daß die analytische Philosophie gegenüber der "kontinentalen" hermeneutischen Philosophie nicht in Anspruch nehmen darf, vor ethisch-politischen Irrtümern gefeit zu sein. 53 GoTTLOB FREGES politisches Tagebuch, 1087. Vgl. dazu die Empörung Dummetts, dem aber offensichtlich diese naive Unterstellung als selbstverständlich gilt. MICHAEL DuMMETT, Frege. Philosophy of Language, London: Duckworth 1973, XII. 54 Es genügt an dieser Stelle, an den traurigen Abschnitt in der Freundschaft zwischen Husserl und Heidegger zu erinnern, der dem letzteren keineswegs zur Ehre gereicht. ~ 5 Dieses Kapitel aus dem Leben Gadamers ist bis jetzt noch nicht wirklich aufgearbeitet worden. Grondin hat nur wcni~c Briefe aus der Korrespondenz mit Lüwith hcrangc1.ogen, 51
6. In Deutschland während des Nationalsozialismus
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Schließlich war Gadamer keineswegs "unpolitisch" - und sicherlich nicht nach 1933. Zwar mag dieses Thema gegenüber anderen weniger relevant erscheinen. Doch Gadamers vermeintlich unpolitische Einstellung hat ihm den Vorwurf eingebracht, er habe mit einer gewissen "Distanziertheit" auf das geschaut, was um ihn herum geschah, und dabei opportunistisch nur seine eigenen Interessen im Blick gehabt. Doch beschuldigt wird damit zuallererst die Hermeneutik: Insofern sie keine objektiven und normativen Kriterien liefere, könne sie sich nur als eine Philosophie der Uneindeutigkeit, der Ambivalenz und der "Unverbindlichkeit" erweisen. 56 Gadamer gehörte zu der Kulturelite, die sich Hitler niemals angeschlossen hatte und die auch nach dem ersten "schrecklichen Erwachen" unbeirrt meinte, die Nazis würden sich nur für wenige Monate an der Macht halten. Seine Position unterschied sich hierin nicht von derjenigen, die etwa Löwith vertrat. 57 Freilich mindert dies auf keinen Fall die Verantwortlichkeit der Philosophie wie auch der Philosophen in dieser Zeit. Doch die Schwierigkeiten, unmittelbar auf jene traumatische Wirklichkeit reagieren zu können, die da plötzlich in den Marburger Elfenbeinturm eingebrochen war, dürfen keineswegs mit Heideggers zustimmender Haltung gleichgesetzt werden. Denn Heidegger glaubte, in der sogenannten nationalsozialistischen Revolution eine Antwort auf die Seinsvergessenheit des Abendlands erkennen zu können und fühlte sich dazu berufen, "den Führer zu führen". Wie Carl Schmitt blieb er dem nationalsozialistischen Regime treu, auch nachdem er von 1934 bis 1945 jede direkte Verwicklung aufgegeben hatte. Um diesen Unterschied noch klarer zu machen, muß man hinzuzufügen, daß Gadamer nie der Faszination erlag, die der Nationalsozialismus auf die zweite Generation des europäischen Nihilismus ausübte, eine Generation, die auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus der Krise der bürgerlichen Welt war. Außerdem war er allergisch gegen die mystische Exaltiertheit, mit der Ernst Jünger schon im Ersten Weltkrieg die "Stahlgewitter" beschrieben hatte, und zwar nur solche, die vor dem Krieg entstanden sind. Die gesamte Korrespondenz wird im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar aufbewahrt. Ich habe sie einsehen können, wofür ich nicht zuletzt Klaus Stichweh danken möchte. Eine ganz unterschiedliche Haltung nimmt Löwith unter anderem gegenüber Heidegger ein. In einem an Gadamer adressierten Brief vom 2. September 1933 schreibt er: "Dagegen ist mir Heid[egger]s Ausweichen widerlich[,] obwohl nichts Andres zu erwarten war". Über Löwith vgl. jetzt die Monographie von ENRICO DoNAGGIO, Una sobria inquietudine. Karl Löwith e Ia filosofia, Milano: Feltrinelli 2004. 56 Dies ist die These von ANDREAS GRAESER, Philosophische Hermeneutik. Ein Plädoyer der Unverbindlichkeit?, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2001/1,86-92. 57 Löwith schrieb am 16. April 1933 an Paul Tillich: ."Was es mit mir selbst werden soll ist mir noch unbekannt - politisch stehe ich weder links noch rechts sondern mehr denn je inmitten der Philosophie, bei Hegel u[nd] seinen Nachfolgern." Der Entwurf zu diesem Brief wird in der Universitätsbibliothek Marburg aufbewahrt.
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so wie c.·r unln~ri.ihrt von dl'l L'"l'hi"li"du.·n ldc:olo~ic: hlich, die im Hitlerrcgime den Triumph vitalistisdll'r I mpulsc.·, den Sic.·~c.·szu~ von Nittur und Technik, von Kraft und Mytholo~ic fcit.•rtc. Sdtlicf~lich hlic:h t.•r intellektuell immun auch gegenüber der ästhetischen Anziehun~skrah des Nationalsozialismus, die etwa im Georgc-Kreis zu voller Wirkung kam. Gewiß läßt sich von einer "Distanziertheit" in der Haltung Gadamers sprechen. Es war aber keineswegs eine Haltung des Zynismus oder der Resignation. Vielmehr war es die Distanz der Ironie- die im übrigen stets seine Art zu denken und zu handeln ausgezeichnet hat. Gadamer war vor allem sich selbst gegenüber ironisch; er war sicher nicht der Meinung, zu einer höheren Mission berufen zu sein. Diese Ironie hat sein gesamtes Werk geprägt, angefangen mit Wahrheit und Methode, wo bereits jene Philosophie des Spiels Konturen annimmt, die für ihn die menschliche Praxis leitet. 58 In politischer Hinsicht hat Gadamer stets betont, "liberal" zu sein- vor und nach der Nazi-Zeit. 59 Diese Position spiegelt sich sowohl in seinem bis jetzt eigentlich nur wenig studierten politischen Denken als auch in seiner Philosophie wider, die auf eine Befreiung im Sinn eines Übersichhinausgehens zielt. Dies tritt klar in dem Unterschied hervor, der Gadamers philosophische Hermeneutik von Heideggers Denkweg abgrenzt. Für Heidegger ist das Dasein in seiner "Geworfenheit" ausweglos in der Faktizität seines "Da" eingesperrt, die mithin Gefahr läuft, zu einer Falle zu werden- Levinas hat mit aller Deutlichkeit die Nähe zwischen einer solchen Ontologie des Daseins, das sich nur um die eigenen Seinsmodi sorgt und deshalb nichts Anderes fordert, und der "Philosophie des Hitlerismus" hervorgehoben. 6 Für Gadamer ist die Erfah-
°
Vgl. MoTZKIN, Comment on Richard Wolin, 75-85. Zurecht hebt Motzkin diese Eigentümlichkeit Gadamers hervor und betont, daß die Frage, die in seinem Werk gestellt wird, stets auf das Spiel zwischen "Tradition und Subversion", zwischen "Autorität und Ironie" abzielt. s9 "Liberal" bedeutet im deutschen Kontext weder nationalliberal noch konservativ zu sein. So sagt Gadamer: "1 never thought myself as a conservative. [... ). I have always been a liberal from early times to today", in: DIETER MISGELDIGRAEME NICHOLSON (Hrsg.), HansGeorg Gadamer on Education, Poetry, and History: Applied Hermeneutics, Albany: SUNY 1992, 135-153, hier 140; vgl. außerdem Hans-Georg Gadamer im Gespräch mit DöRTE VON WESTERN HAGEN: "Die wirklichen Nazis hatten doch kein Interesse an uns ... ", in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 182 (1990), 543-55, hier 546. 60 Vgl. EMMANUEL LEVINAS, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg/Münchcn: Alber 2006. Zur Auffassung, daß der Andere jenseits des Seins ist, vgl. auch EMMANUEL LEVINAS, La trace de l'autre, in: En decouvrant l'existence avec Husserl et Heidegger, dritte Auflage, Paris: Vrin 1982, 187-202, hier 189-191. Vgl. dazu ADRIAAN T. PEPERZAK, ( )n Lcvinas's Criticism of Heidegger, in: The Philosophy of Emmanuel Levinas Evanston (lllinois): Northwestern University Press 1997, 204-217. In diesem Zusammenhang schreibt Bruns: "thc rclation bctwcen Gadamcr and Lcvinas is not so much one of disagrcement as om· of mutually illuminatin~ diffcrcnccs". V~l. GERALD L. BRUNS, On the Cohercncc of llnm(.'lll'Uti..:s and Ethics. An Essay on (;,ulanll'r and l.cvinas, in: BRUCE KRAJEWSKI SI!
''· In /)(•utsch/,md wiihrt•nd dt•s N~tiollttlmzialinnu~
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rung der Endlichkeit hingegen jenes StoHcn des Daseins gegen seine Grenze, die zwar seine schicksalhafte Exzentrizität hervortreten läßt, es dabei aber dazu treibt, über sich hinaus zu gehen in ein Über, welches stets das unendliche Über des Anderen ist. 61 Aber noch bevor sich dieser Unterschied in der Philosophie profilieren konnte, brach die Beziehung zwischen Schüler und Meister ab. In Marburg ließ die Nachricht von Heideggers offiziellem Eintritt in die Nationalsozialistische Partei alle sprachlos zurück. 62 So gut wie keiner aus dem engeren Kreis seiner Schüler folgte ihm. Und der neue Rektor von Freiburg war seinerseits zutiefst enttäuscht über deren Unentschlossenheit: "Das sind die verwöhnten Professorensöhnchen, die sich nie Enthaltsamkeit leisten wollen." 63 Neben den offenkundigen politischen Motiven lag einer der Gründe für seinen Rücktritt im April 1934 vielleicht gerade in dieser beschämenden Isolierung. 1933 sandte Heidegger einen Stapel verschiedener Schriften an Gadamer, darunter seine Rektoratsrede, und begleitete die Sendung mit einem "deutschen Gruß". 64 Gadamer antwortete nicht. 65 Erst drei Jahre später begegnete er Heidegger wieder. Der Anlaß dazu war die Kunst. Das Thema, das Gadamer im Sommersemester 1936 für seinen Kurs gewählt hatte, lautete: "Kunst und Geschichte (Einführung in die Geisteswissenschaften)". Seinerseits hatte Heidegger im Wintersemester 1934/35, nach dem Mißerfolg des Rektorats, den ersten Vorlesungszyklus zu Hölderlin begonnen. 66 Das Echo dieser Vorlesungen, die bereits als eine "Hölderlin-Philosophie" betrachtet wurden, drang bald bis nach Marburg. Im November 1936 traf schließlich die Kunde von einem dreiteiligen Vortragszyklus ein, den Heidegger in der Nähe von Frankfurt abhalten sollte. Das Thema war Der Ursprung des Kunstwerks. Gadamer, Frank und Krüger
(Hrsg.); Gadamer's Repercussions 2001, 30-54, hier 41. Zu Gadamer und Levinas vgl. auch jAMES RISSER, Shared Life, in: Symposium 6/2 (2002), 167-179. 61 Auf die Unterschiede zwischen Heidegger und Gadamer wird noch öfter eingegangen werden. Zu dem hier diskutierten Punkt im besonderen vgl. in diesem Band Kap. IX, 4-6. 62 Vgl. unter anderem das Zeugnis von LöwiTH, Mein Leben in Deutschland, 33 63 GADAMER, Breslauer Studienjahre. Hans-Georg Gadamer im Gespräch (mit RosWITHA GRAss), in: Schriften des Forschungsprojekts zu Leben und Werk Richard Hönigswalds an der Universität Mannheim, hrsg. von Georg Groth, 1/40 (1996); wieder abgedruckt in: Pädagogische Rundschau 51 (1997), 115-139, hier 124. Vgl. auch GADAMER, Erinnerung, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), 464-468, hier 465. 64 MARTIN HEIDEGGER, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges: 1910-1976, GA 16, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main: Klostermann 2000, 107-117. 65 In der Tat gibt es keine Briefe Gadamers an Heidegger aus der Zeit von 1929 bis 1944. Dagegen blieb Gadamer in jenen Jahren mit Jaspers in Kontakt- wie der Jaspers-N achlaß in Marbach dokumentiert. 66 MARTIN HEIDEGGER, Hölderlins Hymnen "Germanien" und "Der Rhein", GA 39, hrsg. von Susanne Ziegler, zweite durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main: Klostermann 1989.
24 begaben sich ohne Zögern dorthin; allerdings sollte nicht einmal diese Gelegenheit hinreichend sein, um das Eis zu brechen. Erst der Besuch Gadamers in Todtnauberg im Oktober 1937- bei dem er von Krüger und Walter Bröcker (1902-1992) begleitet wurde- stellte die Beziehung zwischen den beiden wieder her. Sie riß dann bis zum Tod Heideggers 1976 auch nicht wieder ab. Doch war diese Beziehung für Gadamer, der die Rolle des Schülers, des Freundes, und schließlich des Nachfolgers zu spielen hatte, alles andere als leicht und angenehm; zwar war sie der Quell vieler Anregungen, aber immer wieder auch Grund für Frustration. "Wir haben nie miteinander erfolgreiche Gespräche geführt"- gestand er nach dem Tod Heideggers ein. 67 Gadamers Haltung gegenüber seinem Lehrer und dessen politischen Entscheidungen unterschied sich eigentlich nicht von der seiner anderen Schüler - weder davor noch danach. 68 Von wenigen Ausnahmen abgesehen - Günther Anders {1902-1992) und Herbert Marcuse {1898-1979) wären zu nennen- zeigte sich niemand unerbittlich; nach dem Bruch von 1933 nahmen alle den Kontakt wieder auf. Auch wenn sie ihm keineswegs gefolgt waren und sie seine Mitwirkung am Nationalsozialismus nie akzeptieren konnten, so gelang es seinen Schülern aber auch nicht, diese in ihrer ganzen Tragweite einzuschätzen. Dies gilt auch für die deutschen Juden. Selbst Löwith brach den Briefwechsel mit Heidegger nicht ab. Hannah Arendt erneuerte die Freundschaft mit ihrem ehemaligen Lehrer anläßlich ihrer Rückkehr nach Deutschland 1950 und in einem Aufsatz, der 1969 zum 80. Geburtstag Heideggers erschien, sprach sie in einer Fußnote von seiner Mitwirkung gar als von einer "Eskapade". 69 Bedenkt man den enormen Einfluß Heideggers, so verblüfft es geradezu, daß Gadamer sich ihm entziehen konnte, zumal der Eintritt in die Nationalsozialistische Partei sich in seiner nächsten Umgebung mit schwindelerregendem Tempo verbreitete, etwa bei Max Kommerell und Hans Lipps {1889-1941). Was ihn von Entscheidungen dieser Art zurückhielt, war nicht zuletzt die Freundschaft mit vielen Juden, die teils beiläufig war, teils aber auch verbindlicher, und die sich in verschiedenen Hinsichten als eine Rettung erweisen sollte - Gadamer hat dies später immer wieder betont/0 Da er gerade die Jahre von 1933 bis GADAMER, Europa und die Oikoumene (1993), GW 10,267-284, hier 274. 68 Diese Zusammenhänge sind zu beachten, wenn man die mehr oder weniger versteckte Anschuldigung prüfen will, die Gadamer vorwirft, nicht jeden Kontakt mit seinem Lehrer abgebrochen zu haben. Die Anschuldigung wird unter anderem von GRONDIN, Gadamer. Eine Biographie, 195 f., vorgebracht. 69 HANNAH ARENDT, Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, in: Merkur 1969, 893-902; wieder abgedruckt in: GüNTHER NESKEIEMIL KETTERING (Hrsg.), Antwort- Martin Heidegger im Gespräch, Pfullingen: Neske 1988, 232-246. 70 Der Stellenwert, den Gadamer stets der Freundschaft zugesprochen hat, darf keineswegs unterbewertet werden. Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 7. Die Antrittsvorlesung, die er am 23. Februar 1929 in Marburg hielt, trug den Titel: Die Rolle der Freundschaft in der philosophischen Fthik. 67
7. "Daß ·wir h·brtl, ist unsere Schuld"
25
1934 zusammen mit ihnen erlebte, nahm er ihren Standpunkt ein und sah die
Ereignisse auch mit ihren Augen. Neben Löwith war es vor allem Klein, der ein passionierter Zeitungsleser und ein aufmerksamer politischer Beobachter war, und der so dem jüngeren Gadamer entscheidende Hinweise gab. 71
7. "Daß wir leben, ist unsere Schuld" Angesichts der Tatsache, daß Gadamer in Deutschland blieb, nie aber in die NSDAP eintrat, wird gegen ihn ein zweifacher Vorwurf erhoben: Er habe seine Karriere opportunistischen Bestrebungen zu verdanken gehabt und er habe Vorträge gehalten und Texte geschrieben, die aufgrundihrer Anklänge und ihrer indirekten Bezugnahmen auf zweideutige Weise mit der nationalsozialistischen Politik übereingestimmt hätten. Der erste Vorwurf betrifft die Person, der zweite das Werk. Beide zielen jedoch weniger auf Gadamer als auf die Hermeneutik. Was den ersten Vorwurf betrifft, so ist es nicht nur, daß Gadamer nie in der NSDAP eingeschrieben war; darüber hinaus gibt es auch nirgendwo ein Dokument, aus dem seine Mitwirkung am Nationalsozialismus abgeleitet werden könnte. Die einzige Ausnahme bildet seine Unterschrift unter dem "Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat". 72 Am Ende dieses Dokuments erscheinen 26 Unterschriften, unter ihnen die von Heidegger, aber auch die von Krüger und von Werner Krauss (1900-1976), der damals Marxist und später ein Mitglied der Roten Kapelle war. 73 Wie kam es zu dieser Unterschrift? Und warum? Das Dokument wurde auf einer öffentlichen Versammlung verlesen, in der die Anwesenden nur dadurch die Unterschrift hätten ablehnen können, daß sie sich der gesamten Unternehmung widersetzten. Sich zu widersetzen hätte jedoch im besten Fall bedeutet, die Koffer zu packen. Von der heutigen SituaDie Beziehung zwischen Gadamer und Klein ist bisher noch nicht genügend aufgearbeitet worden. Sie ist sowohl auf der menschlichen als auch auf der philosophischen Ebene bedeutsam. In letzter Zeit hat aber Burt Hopkins sehr viel dazu beigetragen, eine neuen Zugang zu Kleins Philosophie, auch in Zusammenhang mit seiner Kritik an Husserls Phänomenologie, zu eröffnen. Vgl. BuRT HoPKINS, Meaning and Truth in Klein's PhilosophicoMathematical Writings, in: The St. John's Review 48/3 (2005): 57-87. Vgl. hierzu in diesem Band Kap. VII, 4. 72 Überreicht vom Nationalsozialistischen Lehrerbund Deutschland/Sachsen, Dresden 1933. 73 Vgl. Gadamer im Gespräch mit DöRTE VON WESTERNHAGEN, 548; vgl. außerdem GEORGE LEAMAN, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsprofessoren, Berlin/Hamburg: Argument 1993, 40 f. Krauss wurde 1943 zu Tode verurteilt; Gadamer griff sofort mit einem Brief ein, der zumindest teilweise dazu beitrug, die Todesstrafe in eine Haftstrafe umzuwandeln, die mit dem Krieg beendet wurde. Der Brief zugunst~.:n von Krauss ist publiziert in: Lcndemains 18 (1969/70), 147-148. 71
tion aus mag man Gadamer, und nicht nur ihm, zum Vorwurf machen, seinen Dissens nicht offen ausgedrückt zu haben. Im Deutschland jener Zeit gab es zwischen aktiver Zustimmung und Schweigen nicht viele Möglichkeiten. Das Sprichwort, dem zufolge der, der schweigt, zustimmt, galt in jenem totalitären Staat mit Sicherheit nicht. Das eigene Leben stand auf dem Spiel, und wer schwieg, der wollte es einfach nicht riskieren. So schreibt Jaspers 1946: Wir Überlebenden haben nicht den Tod gesucht. Wir sind nicht, als unsere jüdischen Freunde abgeführt wurden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrien, bis man auch uns vernichtete. Wir haben es vorgezogen, am Leben zu bleiben mit dem schwachen, wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte doch nichts helfen können. Daß wir leben, ist unsere Schuld/4
In Deutschland geblieben zu sein und überlebt zu haben: darin würde die Schuld Gadamers bestehen. Gleichwohl war das Leben in jenen Jahren alles andere als leicht; im Gegenteil, es waren Jahre der Mühen und Hindernisse. Gadamer hätte sich diese größtenteils erspart, wenn er, wie sein Lehrer, Parteimitglied geworden wäre. Auf jeden Fall hätte ihm dies seine Karriere erleichtert. Es ist nämlich evident, daß ihm seine politische Haltung geschadet hat- wie hätte t.'S auch anders sein können? Gadamer habilitierte 1929, aber erst 1939 wurde er onlc.•ntlicher Professor. Anfangs bekam er keine Vertretungsprofessur wegen dc.·r schlechten finanziellen Bedingungen, in denen sich die Universität befand. l>c.•n t.•rsten l.chrauftra~ erhielt er in Marburg im Wintersemester 1933/34. In drn c.Ltri\Uffol~t.·ndt.•n Semc.•stern, dem Sommersemester 1934 und dem Wintersenwstt.•r 1934/3;, wurde er an die Universität Kiel berufen, wo der Lehrstuhl von Ridurc.l Kront.'l', c.lt.•r als Judl' nicht mehr Ichren durfte, vakant geblieben war. Da t.•r ahc.~r in K icl Wl'iter kc.·ine Aussichten hatte, kehrte er im Winter 1935 nach Marhur~ zuriic.:k, wo dil' La~e sich inzwischen tiefgreifend verändert hatte. Der Druck der Nationalsozialisten hatte sich verstärkt. Einige Monate zuvor hatte das Philosophische Seminar für ihn das Extraordinariat beantragt, was eine übliche Praxis nach sechs Jahren der Privatdozentur war. Aber der Dozentenbund, die Vereinigung der nationalsozialistischen Hochschullehrer, wehrte sich dagegen; Gadamer war nämlich als politisch unzuverlässig eingestuft. Sogar der Verlust des Privatdozententitels wurde angedeutet. Gadamer befand sich damit an einem äußerst schwierigen Scheideweg. Er hätte auf die akademische Karriere verzichten müssen, einen anderen Beruf wählen (aber welchen?), und vielleicht die Emigration in Erwägung ziehen können- oder er hätte endlich den Parteiausweis beantragen müssen. Er wählte jedoch weder den einen noch den anderen Weg, sondern suchte nach einer Lösung aus diesem Dilemma. Im Herbst 1935 meldete er sich "freiwillig" für eine Art Rehabilitierungslager, das seit kurzem eingerichtet worden war, um Do74 KARL jASPERS,
Sch ncidcr 1946, 64 f.
Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage, Heidelbcrg:
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zenten auf den nationalsozialistischen Kurs einzuschwören. Er fuhr in das Lager von Weichselmünde an der Ostsee in der Nähe von Danzig, wo er einige Wochen verbrachte. Die "Rehabilitierung" war eigentlich eher Formsache: neben einigen "paramilitärischen Dummheiten", Gesängen und Gymnastikübungen, denen sich die Teilnehmer unterziehen mußten, war kein Glaubensbekenntnis verlangt. Wie alle anderen, so mußte auch Gadamer öffentlich darlegen, womit er sich beschäftigte. Das bekannte Interesse der Deutschen für die Philosophie machte ihm das Leben dabei um einiges leichter/5 Im Lauf dieser Rehabilitierung wurden einmal alle Teilnehmer des Lagers zu einer Veranstaltung nach Tannenberg gebracht. Bei dieser Gelegenheit sah er von weitem Hitler. Was ihm dabei ins Auge fiel, war die niedrige Statur, die nervöse Art, die Hände zu bewegen, sowie die Mäßigkeit seiner Person, die einen geradezu "linkischen" Eindruck machte. 76 Zurück in Marburg übernahm Gadamer im Wintersemester 1935/36 sowie im folgenden Sommersemester 1936 die Vertretung des Lehrstuhls von Frank, der aufgrund der Rassendiskriminierung "suspendiert" worden war. Gerade Frank, der mit Gadamer in enger Freundschaft verbunden war, hatte sich für seine Nominierung eingesetzt. 77 Doch derart paradoxe Situationen waren inzwischen zur Normalität geworden. Wäre die Vertretung nicht an Gadamer gegangen, so hätte sie Krüger erhalten (der_ aber schon eine Verpflichtung hatte) oder ein anderer. Viele Lehrstühle waren unbesetzt; von diesen wurden einige gestrichen. Dies geschah dann auch mit dem Lehrstuhl Franks, der 1936 gänzlich wegfiel. Gadamer, der auf den Ausgang seines schon im Dezember 1935 gestellten Antrags wartete, erlangte den Titel eines außerordentlichen Professors am 20. April1937; ein Jahr später wurde er zur Vertretung nach Leipzig berufen, wo er Anfang 1939 endlich einen Lehrstuhl erhielt. Die "Indoktrinierung", der er sich- nicht ohne Ironie- unterzogen hatte, um "rehabilitiert" zu werden, war in den Augen der Nazis wohl entscheidend gewesen. Hätte er diesen Schritt nicht unternommen, so hätte er wahrscheinlich auf die Lehre verzichten müssen. Allerdings hat es wenig Sinn, auf der Basis bloßer Hypothesen zu argumentieren. Nichtsdestoweniger ist es wirklich zweifelhaft, zu behaupten, Gadamer habe seine Karriere auf opportune, ja geradezu opportunistische Weise vorangebracht, indem er von den politischen Bedingungen Nazi-Deutschlands profitierte. 78 Die Lehrstühle, die aufgrund der Rassengesetze unbesetzt geblieben waren, mögen ihm die Sache sicherlich erleichtert haVgl. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 56. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 57. 77 Trotz der Bedenken Gadamers ist es nur zu gut vorstellbar, daß es für Frank weniger bitter war, seinen Lehrstuhl in den Händen eines Freundes zu wissen, weshalb er ihn auch weiterhin unterstützte. 78 VgJ. GRONDIN, Gadamer. Eine Biographie, 206f., sowie WoLIN, Unwahrheit und Methode, JOf. 75
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2H
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ben, woht·i hi ngq.~t.·n seine Weigerung, der NSI>A P beizutreten, ein grogcs Hindernis war. Wie kann man hier Vor- und Nachteile abwägen? Und wäre es nicht um vieles einfacher gewesen, den hauptsächlichen Nachteil zu beseitigen und sich als Nationalsozialist zu erklären? Gadamers Entscheidung in diesen Jahren bestand darin, zu bleiben und weiterhin Philosophie zu unterrichten. Er verzichtete jedoch auf Veröffentlichungen/9 In der Zeit von 1933 bis 1945 hat er neben seinen zahlreichen, vor allem in den dreißiger Jahren verfaßten Rezensionen (über 20 lassen sich aufzählen) und seinen Vorträgen oder kurzen Stellungnahmen (ungefähr 25), die fast alle in den vierziger Jahren entstanden sind, nur sechs philosophisch relevante Arbeiten veröffentlicht: 1934 Plato und die Dichter und Antike Atomtheorie, 1939 Zu Kants Begründung der Ästhetik und dem Sinn der Kunst sowie Hegel und der geschichtliche Geist, 1940 Hege! und die antike Dialektik, 1941 Volk und Geschichte im Denken Herders, 1942 Platos Staat der Erziehung. 80 Gadamer ließ nicht nur die Arbeit an der Physik und Ethik des Aristoteles ruhen, sondern ging auch auf keinerlei Themen ein, die eindeutig politische Anklänge enthielten. Das sprechendste Beispiel hierfür ist wohl eine Arbeit über Hölderlin und die Nachwirkungen der Französischen Revolution auf die deutsche Kultur: Zum einen wollte Gadamer sich mit dieser Arbeit keinen Angriffen aussetzen, liebten es die Nazis doch, von einem "Sonderweg" Deutschlands zu sprechen; zum anderen befürchtete er eine Instrumentalisierung Hölderlins. 81 Seine Forschungstätigkeit beschränkte sich zumeist auf die griechische Philosophie. Erst am Ende der dreißiger Jahre begann der Name Hegels und im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie derjenige Herders in Erscheinung zu treten. Doch selbst das scheinbare "Rückzugsgebiet" der griechischen Philosophie sollte sich als alles andere als sicher erweisen wodurch wiederum bestätigt wird, daß die Philosophie, sofern sie ihren Ort in der Polis hat, schon immer politisch ist. 82 Der zweite Vorwurf gegen Gadamer betrifft die Veröffentlichungen aus jenen Jahren. Die angefochten Texte sind insbesondere: Plato und die Dichterund die Arbeit über Herder. Wie gestaltet sich die Anschuldigung gegen den Platon Gadamers? Zweifellos ist Platons Philosophie der rote Faden in seiner philosophischen Besinnung dieser Jahre- und nicht nur dieser Jahre. Was ihn interes-
Vor allem wollte er sich nicht mit der nationalsozialistischen Zensur herumschlagen. A llcrdings war Gadamer in diesen Jahren auch krank und litt sehr unter den ihm vom "Dozcntcnbund" verursachten Diatriben. 110 Abgesehen von der Schrift über Kants Ästhetik, die in Wahrheit und Methode weiter~cführt wird, wurden alle diese Arbeiten in unveränderter Form wieder veröffentlicht, mit Ausnahme des Aufsatzes über Herder. 111 Die Arbeit wurde erst in den achziger Jahren wieder aufgenommen: GADAMER, Die (il·hcnwärtihkcit Hi1lderlins (1983), GW 9, 39-41. Hl V~l. (;;tdanll'r im Cl·spr:ü:h mit l>üRTE voN WJ·:STERNifAC;FN, 549. 79
7. ,.Daß wir leben, ist unsere Schuld"
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sierte, war die "sophistische und platonische Staatslehre"; doch er mußte "vorsichtshalber", wie er sich später erinnert, seine Forschungen unterbrechen. 83 Veröffentlicht wurden daher nur die beiden Aufsätze Plato und die Dichter sowie Platos Staat der Erziehung. 84 Die Anschuldigung interpretiert beide, und vor allem den ersten, vor dem Hintergrund der in Deutschland zunehmenden Nazifizierung der Altertumswissenschaft, eines tiefgehenden und unaufhaltsamen Prozesses der "ideologischen Transformation", der von Jaegers "Neuhumanismus", dessen Mitverantwortung besonders hervorgehoben wird, über die Philologie von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1848-1931) schließlich bis auf den Klassizismus Winckelmanns zurückgehen solle. 85 Die Idee Deutschlands als neues Hellas habe in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in der politischen Relevanz Ausdruck gefunden, die dem griechischen Altertum beigemessen wurde und die das Interesse auf den Platon der Politeia gelenkt habe. Die Schuld Gadamers, der in diesen Kontext einzugliedern sei, bestünde in seiner Verteidigung einer der umstrittensten Stellen Platons, nämlich der Vertreibung der Dichter aus der Stadt. Einmal abgesehen von der vereinfachenden Art, in der hier die Geschichte der Altertumswissenschaften in Deutschland nachgezeichnet wird, waren es gewiß nicht wenige Philologen und Philosophen, die in den dreißiger Jahren eine Verbindung zwischen dem platonischen und dem nationalsozialistischen Staat zogen. Dies ist jedoch bei Gadamer keineswegs der Fall, der sich vielmehr auf Platons Utopie mit dem genau entgegengesetzten Ziel berief, die jedes Wahrheitsanspruchs beraubte Dichtung zu kritisieren und anband des "inneren Staats" ein Erziehungsmodell anzuregen, das eine Wiedergeburt der Polis hätte andeuten können. 86 Just 1934, ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, und dann wiederum 1942, drückte Gadamer in tyrannos seinen politischen Dissens durch eine ironische und utopische Anspielungskunst aus, mit der allein der totalitäre Staat hätte von innen her kritisiert werden können. 87 Dies, und nichts anderes, will das von Goethe entliehene Motto besagen, GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 489. GADAMER, Plato und die Dichter, GW 5, 187-211; Platos Staat der Erziehung (1942), GW 5, 249-262. 85 Vgl. WouN, Unwahrheit und Methode, 18; TERESA ÜRozco, Die Platon-Rezeption in Deutschland um 1933, in: ILSE KaROTIN (Hrsg.), Die besten Geister der Nation: Philosophie und Nationalsozialismus, Wien: Picus 1994, 141-185. Jaeger war gezwungen gewesen, 1936 zu emigrieren und hatte zunächst in Chicago, dann in Harvard unterricht. Angesichts seines Ideals der paideia, das Heidegger nicht zufällig verachtete, muß man sich hüten, vorschnelle Urteile zu fällen, die den Neuhumanismus letztendlich an den Nationalsozialismus angleichen würden. 86 Die Verurteilung der Dichtung sowie jeder Art von Kunst, die nur der Selbstvergessenheit dient, nimmt die Kritik am "ästhetischen Bewußtsein" vorweg. Vgl. in diesem Band Kap. II, 5. 87 Orozco entgeht diese Bedeutung der Anspielung, vgl. TERESA ÜROZCO, Die Kunst der Anspielung. Hans-Georg Gadamers philosophische Intervention im Nationalsozialis83 84
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das am Anfang des Vortrags über Plato und die J)ichtcr steht: "Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungsarten seiner Vor- und Mitwelt uneins." Nicht zufällig wird Gadamer in der Entfaltung seines politischenDenkensauf diese Themen zurückkommen, um den Wert der Utopie aufzuzeigen. 88 Weitere Vorwürfe werden auch gegen den 1941 entstandenen Aufsatz Volk und Geschichte bei Herder vorgebracht, der im Kontext der damaligen Germanistik interpretiert wird. In Herder, insofern er als Kritiker der Aufklärung und Vertreter der Eigentümlichkeit jeder Kultur galt, sah die Germanistik, die nicht wenigerangepaßt war als die Philologie, den Propheten des Pangermanismus. 89 Dessen Begriff des "Volkes" schien sich dafür geradezu anzubieten. Der Text über Herder lag einem Vortrag zugrunde, den Gadamer 1941 am Deutschen Institut in Paris hielt.90 In der Kriegszeit unternahm er zwei weitere Reisen: 1940 nach Florenz und 1944 nach Portugal und Spanien. Obwohl er keine "politischen Meriten" hatte, wurden die Reisen dennoch aufgrund des wissenschaftlichen Ansehens genehmigt, das er schon damals genoß. Aber gewiß waren diese Reisen auch ein zweischneidiges Schwert. Dazu schrieb er später: kh wrkitllntc nicht, daß man damit zur Auslandspropaganda mißbraucht wurde, für dil· m.tnrhnul l'in politisch Unbescholtener gerade recht sein konnte. 91
Zum t•int·n IMrgcn jl·ne lh·isen die konkrete Gefahr, sich zum Instrument der n.uiou.tlso/.i,\listisdten Madllmaschine machen zu lassen; zum anderen aber hull'll Nil· dil· c;d,·~enhl·it, einen lbmals gar nicht selbstverständlichen Kontakt mi1 d,... iuh·ll~·ktuell,·n Weh ,\llf~erlulh Deutschlands zu knüpfen. Nicht zuletzt w.u· d.,lwi m(;~lil'h, l.dll'nsmittd mit nach Hause zu bringen, die dort unauf-
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Vortr
mus, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 37 (1995), 311-324. Auch in der Sammelrezension, die 1933 erschien: GADAMER, Die neue Platoforschung (1933), GW 5, 213-229, kommt sowohl der Begriff der "Utopie" als auch der des "Staates der Erziehung" vor. 88 Vgl. in diesem Band Kap. VI, 5. 89 Vgl. JosT ScHNEIDER (Hrsg.), Herder im "Dritten Reich", Bielefeld: Aisthesis 1994. 90 Die Vermutungen von Orozco und Wolin bezüglich der Umstände, unter denen der Vortrag stattfand, haben sich als historisch falsch erwiesen. Für eine gründliche Diskussion vgl. FRANK-RUTGER HAUSMANN, Unwahrheit als Methode? Zu Hans-Georg Gadamers Publikationen im Dritten Reich, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2001/1, 33-54. 91 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 118. 92 Für einen Vergleich der Passagen vgl. ÜRozco, Platonische Gewalt, 235-239.
8. Leipzig, der Krirg und dtts Rektorat
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larismus" abnickende Stellung belegen.93 Im Kielwasser Hegels war Gadamer schon seit einigen Jahren der Frage der Geschichtsphilosophie nachgegangen. Insofern ist sein Interesse für Herder keineswegs überraschend, auf dessen Denken sich Gadamer auch in Wahrheit und Methode noch berufen wird.94 Doch auch wenn der Begriff des Volkes- damals wie heute- in zweideutiger Weise verwendet werden kann, gibt es in dem Text keine einzige Passage, in der die Schlüsselworte des nationalsozialistischen Jargons vorkommen -was in jenen Jahren üblich und nahezu selbstverständlich war. Vor diesem Hintergrund ist eher das Fehlen solcher Worte bezeichnend. Doch das wichtigste ist Gadamers Beharren auf dem Bildungsideal der Menschheit im Sinne Herders, das für die Nazis eher als eine Provokation klingen mußte. Aber Gadamer hat nicht nur die Schriften jener Jahre wieder veröffentlicht. Nach dem Krieg hat er sowohl über den Nationalsozialismus als auch über sein eigenes Leben damals gesprochen - was ihn von Heideggers "Schweigen" unterscheidet - und er hat in seiner Autobiographie, in verschiedenen Aufsätzen sowie in vielen Interviews mehrmals Stellung bezogen.95 Doch diese Reflexionen und Fragen nach dem, was geschehen war, bargen für ihn, nicht weniger als für alle diejenigen, die- von Strauss bis Löwith- aus dem Nationalsozialismus den Ausgangspunkt ihres Denkens machten, die Schwierigkeit, ein Ereignis zu verstehen, das als traumatischer Riß erlebt worden war.96
8. Leipzig, der Krieg und das Rektorat Nach fast zehn Jahren des Wartens, am l.Januar 1939, erhielt Gadamer endlich einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Leipzig, die als eine der politisch am wenigsten willfährigen Universitäten galt. Die Antrittsvorlesung, die er am 8. Juli desselben Jahres hielt, trug den Titel Hege[ und der geschichtliche Geist. Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen. Der Zweite Weltkrieg begann. Gadamer, der bis zu jenem Moment die Möglichkeit eines Krieges nicht in Betracht gezogen hatte, wurde nun eines besseren belehrt.
Vgl. RICHARD WouN, Gadamer und der deutsche Sonderweg, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2001/1, 93-103, hier 99. 94 Vgl. in diesem Band Kap. IV, 3. 95 Vgl. die sorgfältig zusammengestellte Liste von RICHARD E. PALMER, Published Interviews and Archival Tapes, in: LEWIS E. HAHN (Hrsg.), The Philosophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 588-599. 96 Die Perspektive des Exils war ausschlaggebend für die kleine Gruppe deutscher Juden, die als erste in Auschwitz einen ,,Bruch" in der abendländischen Geschichte erkannten. 93
32 Die Kric~snachricht in l.c..·ipzi~ Wilr wie..· l:inc Todl:snachricht. Bedrücktes Schweigen ringsum. Düstere Gesichter auf den Straf~e11. l...J Ich selber war wie zerschmettert. Hatte mir immer die Illusion hoc..:hgehaltcn, dag solch ein Wahnsinn nicht geschehen könnte.'' 7
Die Ereignisse überschlugen sich. Am 22. Juni 1941 gab Hitler den Befehl, in Rußland einzumarschieren. Dem folgte unmittelbar der Auftrag, die schon seit langem geplante "Endlösung" anzugehen. Innerhalb von nur zwei Tagen wurden im Januar 1942 alle in Leipzig verbliebenen Juden von der Gestapo deportiert.98 Aber die Niederlage von Stalingrad eröffnete eine neue Phase des Konflikts und gab all denen neue Hoffnung, die unter dem Bombenhagel auf das Ende des Terrors warteten. Et illud transit: das war das Motto, das in Leipzig diese Haltung ausdrückte. 99 Gadamer machte es sich zu eigen. Das Leben in der Stadt war von Luftangriffen gekennzeichnet. Am 4. Dezember 1943 wurde das Stadtzentrum nahezu vollständig zerstört und mehr als die Hälfte der Universitätsgebäude flog in die Luft. In den noch heil gebliebenen Räumen oder in den Luftschutzbunkern wurde allerdings weiterhin gelehrt. Mit den wenigen Studenten, die noch da waren, las Gadamer Rilkes dritte Duineser Elegie. Seine beiden Schüler Karl-Heinz Volkmann-Schluck (1914-1981) und Walter Schulz (1912-2000) waren an die Ostfront versetzt worden. 100 Zu Beginn des Jahres 1945, als er inzwischen schon von der Großlandung der Alliierten erfahren hatte, wurde Gadamer, der wehrdienstuntauglich war, zum Volkssturm einberufen, der letzten Bastion des Naziregimes, das nicht davor zurückschreckte, auch Alte und Kinder einzuziehen, um sie nebenbei auch unter Kontrolle zu halten. Am 18. April1945 rückten die amerikanischen Besatzungstruppen in Leipzig ein. Am 8. Mai kapitulierte die nahezu vollständig zerstörte Stadt. Nur zwei Monate später übernahmen die Sowjets anstelle der Amerikaner die Kontrolle in Politik und Verwaltung. Anfang 1946 wurde es notwendig, über einen neuen Rektor abzustimmen. Die Wahl der Russen fiel auf Gadamer, der niemals in der NSDAP eingeschrieben war. Die Wiedereröffnung der Universität am 5. Februar 1946 war der Rahmen für seine Rektoratsrede: Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft. 101 Gadamer teilte die von den Russen erhobene Forderung GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 113. Vgl. DAVID CASSIDY, Uncertainty. The Life and Science of Werner Heisenberg, New York: Freeman 1992, 430. 99 Vgl. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 118. Vgl. auch GADAMER, Heimat und Sprache (1992), in: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, GW 8, 366-372, hier: 367, sowie: Gadamer im Gespräch mit DöRTE voN WESTERN HAGEN, 550. 100 Volkmann-Schluck war nicht nur der erste, sondern er war auch der Lieblingsschüler Gadamers. Vgl. GADAMER, Gedenkreden auf Karl-Heinz Volkmann-Schluck (1914-1981), Kölner Universitätsreden 59, (Selbstveröffentlichung) 1982, 8-17. 101 Vgl. GADAMER, Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft, Leipzig: J.A. Barth 1947, jetzt: Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft (1947), GW 10, 287-294, sowie GADAMER, Über die Ursprünglichkeit der Philosophie. Zwei Vorträge, Bcrlin: Chronos 1948. 97
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8. Leipzig, der Krieg und das Rektorat
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nach einer "demokratischen Erneuerung" der deutschen Universität. Es ginge darum, so führte er aus, eine in Verruf geratene Institution zu retten, ohne dabei jene Frage zu umgehen, welche die Debatten der kommenden Jahrzehnte bestimmen sollte: Wie konnte in dem Volk der Dichter und Denker das "Unwesen des Nationalsozialismus" entstehen? 102 Gadamer betonte die Rolle der Wissenschaft, die er in ihrem weitesten Sinn als episteme, das heißt als theoretisches Wissen verstand, das insofern ursprünglich ist, als es die Form des Lebens selbst ist. Dabei zeichnete er eine neue Gestalt des Forschers vor und kritisierte zugleich die Verantwortlichkeit der deutschen Wissenschaftler: ihre "Weltfremdheit", ihren Mangel an "Entschiedenheit" und ihre fehlende "Bescheidenheit". All das hatte sie zur "Anpassung an das nationalsozialistische System" wenn nicht zur dessen Unterstützung gebracht. 103 Gerade in jenen Wochen jährte sich der Geburtstag von Leibniz (1647-1716), der geeignet schien, einen neuen Bezugspunkt für die Welt der Wissenschaft zu bilden. In seiner Festrede zeigte Gadamer die beispielhafte Weise an, in der es dem großen Philosophen gelungen war, aus den Trümmern des Dreißigjährigen Kriegs den "Weg zu Europa" ausfindig zu machen. 104 Doch paradoxerweise stellte die Figur Leibniz' ein Hindernis in seiner Beziehung zu den Russen dar, die sich auf ihn beriefen, um die Akademien als reine und freie Forschungszentren von den Universitäten getrennt zu halten. Gadamer war hingegen überzeugt, daß diese Freiheit und Autonomie auch den Universitäten zukommen müsse. 105 Der Bruch mit der russischen Verwaltung wurde daher unvermeidlich. Gadamer fing an, nach einem neuen Lehrstuhl zu suchen, und zwar mit der Absicht, in den Westsektor überzusiedeln. In Freiburg hatte Heidegger, der von den Alliierten der Lehre enthoben worden war, den Wunsch geäußert, Gadamer als seinen Nachfolger zu sehen. 106 Das Schwinden jeder Hoffnung auf eine Wiedervereinigung Deutschlands und die allmähliche Durchsetzung der Logik des Kalten Krieges trugen dazu bei, Gadamers Lage in Leipzig noch unerträglicher zu machen. Am 1. Oktober 1947 reichte er in einem Klima der Verdächtigungen und Denunziationen seinen Rücktritt als Rektor ein. 107 Im GADAMER, Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft, GW 10,287. GADAMER, Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft, GW 10,293. 104 GADAMER, Zum 300. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz. Festrede an der Universität Leipzig (1946/90), GW 10,295-307, hier 297. 105 Vgl. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 131. 106 Vgl. den Brief Heideggers an Stadelmann vom 1. September 1945: "In erster Linie empfehle ich Gadamer (Leipzig); wo er zur Zeit ist, weiß ich nicht. Er ist nach dem geistigen Format, als Lehrer und Kollege und überhaupt der Wertvollste. Ich möchte mir ihn als meinen Nachfolger wünschen, wenn es so weit wäre". (HEIDEGGER, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges: 1910-1976, 395). 107 Das Kapitel seiner Autobiographie, das er diesen Jahren gewidmet hat, ist daher auch mit dem Wort Illusionen überschrieben. Vgl. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 122138. 102
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I. Kapitrl: Fi11 l.rhr11 durt'h ,.;,., j,rhrhumlrrt
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September entschied er sich, einen ihm an der Universität Frankfurt angebotenen Lehrstuhl anzunehmen. Ein letztes Ereignis bestätigte ihn noch in dieser Entscheidung. Als er am 7. November 1947 wegen der formellen Übergabe für kurze Zeit nach Leipzig zurückkehrte, wurde er von der Militärpolizei verhaftet. Der Grund wurde nie bekannt und der Vorfall blieb mit dem Hauch eines kafkaesken Geheimnisses umgegeben; wahrscheinlich ging es um eine Revanche für seinen Rücktritt. 108 Nach vier Tagen im Gefängnis wurde er infolge der Proteste der Universität und der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) auf freien Fuß gesetzt. Unverzüglich zog er nicht ohne Schwierigkeit und nach einer abenteuerlichen Reise, die gut fünf Tage dauerte, aus dem Ostsektor in die Mainmetropole um, die damals von den alliierten Truppen besetzt war; er fuhr auf einem Güterwagen, auf dem er seine Bücher, seine Habseligkeiten und das Wenige aufzuladen vermochte, was ihm nach dem Krieg geblieben war. In der stürmischen und zermürbenden Zeit des Rektorats hatte sich Gadamcr keinem philosophischen Projekt von größerer Reichweite widmen können. Doch damals sind die Interpretationen dichterischer Werke von Hölderlin, Gocthe, Rilke, Hesse aufgekeimt, die später zum großen Teil in den 9. Band der Gesammelten Werke eingegangen sind. Dabei handelt es sich nicht nur um den ersten Kern einer "poetischen Hermeneutik". Sie dokumentieren die grundlegende Rolle der Dichtung, gleichsam als "Religion der Innerlichkeit", in jener schwierigen Phase seines Lebens. Doch obendrein zeugen diese Interpretationen vor allem von seinem Bestreben, das aus den Trümmern zu retten, was von der deutschen Kultur übrig geblieben war.
9. Die Ruhe von Heidelberg Im Verlauf des Wiederaufbaus hielt es Gadamer für äußerst notwendig, die Rolle der Philosophie erneut zu fördern. Einige seiner Veröffentlichungen aus den späten vierziger Jahren haben daher einen pädagogischen Hintergrund, wie etwa die Neuausgabe des Grundrisses der Geschichte der Philosophie von Dilthey oder die Übersetzung von Buch XII der Metaphysik von Aristoteles. Die in Frankfurt von 1947 bis 1950 verbrachten Jahre stellten für ihn lediglich ein weder bedeutsames noch glückliches "Zwischenspiel'' dar. 109 Die Lebensbedingungen in derNachkriegszeitwaren ungemein hart. Es fehlte nahezu an allem. Und während seine Ehe in die Brüche ging, mußte er sich die ganze Zeit um die Universität kümmern, wo er den einzigen seit 1945 freigewordenen Lehrstuhl in Philosophie erhalten hatte, der bereits zahlreiche Studenten be108 lOCJ
Vgl. Vgl.
GADAMER, GADAMER,
Philosophische Lehrjahre, 133-135. Philosophische Lehrjahre, 139-150.
9. Die Ruhe von Heidelberg
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treuen mußte. Gerade als Gadamer sich anschickte, Frankfurt zu verlassen, kehrten Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969) aus Amerika zurück. So ergab sich damals kein Anlaß für eine Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule, die erst viel später in der Diskussion mit Habermas stattfinden sollte. 110 In der Zeit des Wiederaufbaus wurden auch die Kontakte mit all denjenigen wieder angeknüpft, die zum Exil gezwungen waren. Als besonders wichtig erwies sich in dieser Hinsicht die Reise nach Argentinien, wo Gadamer vom März bis April 1948 am Internationalen Kongreß für Philosophie in Mendoza, dem ersten nach dem Krieg, teilnahm. Der Titel seines Vortrags lautete: Die Grenzen der historischen Vernunft.1 11 Anläßlich dieses Kongresses traf er unter anderem wieder mit Helmut Kuhn (1899-1991) und Karl Löwith zusammen. 112 Bei seiner Rückkehr fand er eine Neuigkeit vor: Verbittert und desillusioniert nach der Veröffentlichung seines umstrittenen Buches über die Schuldfrage hatte sich Karl Jaspers entschlossen, auf seinen Lehrstuhl in Heidelberg zu verzichten. Er fühlte sich genötigt, Deutschland zu verlassen und nach Basel überzusiedeln. Gadamer bewarb sich und wurde am 2. September 1949 an die Universität Heidelberg berufen. Die kleine Stadt am Ufer des Neckars wurde nach Breslau und Marburg seine dritte Heimatstadt, vielleicht diejenige, mit der er am tiefsten verbunden war und wo er fast 53 Jahre zubrachte - den letzten langen Abschnitt seines Lebens, der zugleich der fruchtbarste und glücklichste war. Nur wenig später gelang es ihm, ein Versprechen einzulösen, das er nicht zuletzt sich selbst gegeben hatte: Löwith die Rückkehr zu ermöglichen. Nach Jahrzehnten Exils in Italien, Japan und Amerika erhielt Löwith im April1951 einen Lehrstuhl am Philosophischen Seminar in Heidelberg. So konnte die Zusammenarbeit zwischen beiden Philosophen wieder aufgenommen werden; sie war von einer Freundschaft getragen, die weder der Nationalsozialismus noch der Krieg hatten auslöschen können. Für die alten Schüler blieb dennoch die Frage "Heidegger" offen, der, weiterhin aus den akademischen Kreisen verbannt, isoliert in Freiburg lebte. Schon damals begann sich jene doppelte und nahezu schizophrene Haltung abzuzeichnen, die auf Jahre hinaus das Verhältnis der deutschen (und nicht nur deutschen) Philosophen zu Heidegger charakterisieren sollte: auf der einen Seite unterwürfige Nachahmung, auf der anderen Ausschließung bis hin zur Verdrängung. Löwiths Einstellung gegenüber seinem ehemaligen Lehrer war bekanntlich durch eine unaufgeregte aber unnach-
Vgl. in diesem Band Kap. X, 2. Vgl. GADAMER, Die Grenzen der historischen Vernunft {1949), GW 10, 175-178. 112 Vgl. " ... nein, das letzte Wort will ich gar nicht haben." Ein Gespräch mit dem Philosophen Hans-Georg Gadamer über die gewaltlose Macht der Sprache, in: Frankfurter Rundschau, 11.2.1995, 8. 110
111
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giebige fcindschaft geprägt. Um so grüf~cr war die Überraschung, als man von seiner Teilnahme an der Festschrift erfuhr, die Gadamer zum Anlaß des 60. Geburtstags von Heidegger vorbereitete. Ohne die Zustimmung von Löwith wäre die Festschrift, für die auch Krüger und Romano Guardini (1885-1968) einen Beitrag schrieben, niemals erschienen. 113 In jenen Jahren, in denen Heidegger längst noch nicht den Ruhm erlangt hatte, den er erst 1950 durch die Veröffentlichung der Holzwege erreichen sollte, versuchte Gadamer, ihn aus seiner Isolierung herauszuholen, indem er ihn des öfteren einlud, kurze Seminarzyklen in Heidelberg zu halten. 114 Zusammen mit Kuhn konnte Gadamer, der inzwischen eine zweite Ehe mit Käte Lekebusch (1921-2006) geschlossen hatte, 1953 die Philosophische Rundschau gründen. Die Zeitschrift, die sich der Diskussion von Neuerscheinungen widmet, entwickelte sich alsbald zu einem der angesehensten philosophischen Journale in Deutschland. Zahlreiche jüngere Philosophen versammelten sich in ihrem Umkreis, von Jürgen Habermas bis Walter Schulz, von Ernst Tugendhat bis Wolfgang Wieland. Sie sollten aus ihrer Mitarbeit Anregungen und Anstöße empfangen, die ihnen dann halfen, den eigenen Weg zu wählen. Doch Gadamer war keineswegs dazu bestimmt, nur eine "protreptische" Rolle zu spielen. Von der Bedeutung des Dialogs auch für die Lehrpraxis überzeugt, wirkte er als ein aufmerksamer, sorgfältiger und zugänglicher Lehrer. Nach der ersten Generation von "Schülern", die noch auf die Marburger und die Leipziger Zeit zurückging- der erste war damals Arthur Henkel (1915-2005)bildete sich schon in Frankfurt, aber dann vor allem in Heidelberg eine zweite Schülergeneration, die hauptsächlich aus Deutschen bestand: Dieter Henrich c:-1927), Reiner Wiehl c:-1929), Friedrich Fulda c:-1929), Wolfgang Wieland (::-1933), Konrad Cramer c:-1936), Rüdiger Bubner (1941-2007) und später Gottfried Boehm c:-1942). Zu dieser Generation gehörten auch Valerio Verra (19282001), Gianni Vattimo (::-1936) sowie der Spanier Emilio Lled6 C'"1927)} 15 Die Festschrift Hermeneutik und Dialektik, die ihm zu seinem 70. Geburtstag gewidmet wurde, zeugt nicht nur von dem Widerhall der Hermeneutik in Deutschland, sondern beweist auch die von Gadamer geleistete Arbeit bei der Ausbildung so zahlreicher und vor allem so unterschiedlicher Schüler. In der letzten Zeit seines Lebens intensivierte sich die Lehrtätigkeit, die er in Nordamerika, in Italien und schließlich wieder in Heidelberg ausübte. Gadamer gelang es so, eine dritte Generation von Schülern heranzubilden: Günter Figal in Deutschland,
Mit dem Titel Anteile erschien die Festschrift 1950, um ein Jahr verspätet, bei Klostermann. Sie trug keine Widmung und führte auch nicht den Namen des Herausgebers, der offenkundig Gadamer war. 114 Gad.tmcr gelang es auch, Hcidcgger zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hcidclherg wählen zu lassen. 11 ~ Vgl. (;ADAM ER, Sclhstdarstcllung, CW 2, 49.\. 113
10. Wahrheit und Methode
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Dennis J. Schmidt in den Vereinigten Staaten, Jean Grondin in Kanada und Donatella Di Cesare in ltalien. 116
10. Wahrheit und Methode Seine Schüler hatten ihrerseits einen positiven Einfluß auf Gadamer. In den fünfzigerJahrenwaren gerade sie es, die ihn drängten, all das, was er in den Vorlesungen vortrug, endlich schriftlich niederzulegen. Denn seit 1931, dem Erscheinungsjahr von Platos dialektischer Ethik, hatte Gadamer kein Buch mehr veröffentlicht. Auch Heidegger legte den Finger auf diese Wunde, indem er unablässig wiederholte: " Gadamer muß endlich mal ein Buch schreiben! " 117 Allerdings war gerade er der Grund, der Gadamer zögern ließ. Der kritische Blick des Philosophen aus Meßkirch verfolgte Gadamer nach wie vor, der später gestand: "Mir [blieb] das Schreiben auf lange hinaus eine rechte Qual. Immer hatte ich das verdammte Gefühl, Heidegger guckte mir dabei über die Schulter." 118 Um die Mitte der fünfziger Jahre entschloß er sich, zurückgezogener zu leben und jede Ablenkung zu vermeiden. Er nahm sich die Vorlesungsnotizen vor, die er in den letzten Jahrzehnten gesammelt hatte. Aus dem gesamten Material konnte Gadamer, der eigentlich ein Meister kurzer Aufrisse war, ein Manuskript aus mehr als 500 Seiten zusammenstellen. Der Titel war von Anfang an ein Problem. Es war vorauszusehen, daß er das Wort "Hermeneutik" enthalten würde. In der neuen Konnotation war das Wort schon in Bultmanns 1950 erschienenem Buch Das Problem der Hermeneutik aufgetreten. Seinerseits gedachte Gadamer das, was er nun schon seit einiger Zeit betrieb, "philosophische Hermeneutik" zu nennen; doch er zögerte, von "hermeneutischer Philosophie" zu sprechen. Er wollte nämlich die Abweichung einer Philosophie hervorheben, die deshalb nicht mehr metaphysisch ist, weil sie annimmt, aus dem "Mittelpunkt" zu entspringen, auf den das Verstehen in seiner Universalität sie verweist, und die darum auf eine "Letztbegründung" verzichtet.119 Wenn es einprius gibt, so ist dies die Hermeneutik, die dazu noch eine philosophische Relevanz beanspruchen kann. Mit dem Titel Grundzüge einer philo-
Die Erinnerungen dieser letzten Schüler an Gadamer sind festgehalten in dem Band: GüNTER FIGAL (Hrsg.), Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, Stuttgart: Reclam 2000. Carsten Dutt ist Gadamer in seinen letzten Jahren am Philosophischen Seminar beigestanden; ihm ist unter anderem das vielleicht gelungenste Interview zu verdanken: CARSTEN DuTT (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer im Gespräch, Heidelberg: Winter 1995. 117 Vgl. Gadamer im Gespräch, 11.2.1995 (Interview mit dem Österreichischen Rundfunk). 118 GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 491. 119 Vgl. in diesem Band Kap. IX. 116
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sophisch('n 11crm('neutik wurde das Buch dem Verleger Hans-Georg Siebeck in Tübingcn eingereicht, der aber unumwunden seine Bedenken äußerte. Was solle denn "Hermeneutik" heißen? Der geplante Titel wurde daher zum Untertitel und Gadamers opus magnum wurde als Wahrheit und Methode vertrieben, was übrigens nicht wenige Mißverständnisse provozieren sollte. 120 Wahrheit und Methode, das Ziel, das er erst spät erreicht hatte, wurde gleichwohl der Ausgangspunkt für sein gesamtes darauffolgendes Denken. Die Ausgabe seiner Gesammelten Werke in zehn Bänden zog sich von 1985 bis 1995 hin. 121 Schaut man auf die Gesamtbibliographie seiner Schriften, die von Etsuro Makita Cz-1961) zusammengestellt wurde, so erkennt man freilich, daß es sich hierbei nur um einen Teil seiner Veröffentlichungen handelt. Gadamer liebte die Form des Vortrags, den er oft frei hielt. Denn so konnte er mit den Anderen ins Gespräch kommen, auch wenn die Anderen eine Menge von Hunderten waren. Aus dieser unermüdlichen Tätigkeit ist eine Reihe weiter Bücher hervorgegangen: Hegels Dialektik von 1971, Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar über Celans "Atemkristall" von 1976, Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft von 1976, Lob der Theorie von 1983, Heideggers Wege von 1983, Das Erbe Europas von 1989, Über die Verborgenheit der Gesundheit von 1993.
11. Die Hermeneutik in der Welt Zu Beginn der sechziger Jahre, nach der Veröffentlichung von Wahrheit und Methode, nahm Gadamer sein gewohntes Leben wieder auf. Das Buch hatte zunächst nur eine beschränkte Resonanz gefunden. 122 Erst mit der zweiten Auflage von 1965 sollte sich dies ändern. Zum Erfolg des Werkes trugen entschieden zum einen die zahlreichen Übersetzungen bei und zum anderen die Auseinandersetzungen, die es hervorrief- vor allem mit Habermas und Derrida. 123 Gerade die Fragen und Kritiken spornten Gadamer an, seine philosophische Her-
Vgl. in diesem Band Kap. Il, l. Gadamer hat bei der Herausgabe seiner Werke persönlich mitgewirkt. Seine Absicht war unter anderem, die Veröffentlichung seiner Vorlesungen zu vermeiden. Im März 1997 wollte er sein Büro an der Universität aufräumen und warf eine große Menge von Papieren weg, darunter die Manuskripte seiner in Amerika gehaltenen Vorlesungen. An diesem Tag traf ich leider erst später als gewöhnlich an der Universität ein, als viele der Papiere schon unwiederbringlich verloren waren. Es gelang mir, einige bedeutende Briefwechsel zu retten, darunter die mit Löwith und mit Klein sowie den vor kurzem wieder aufgetauchten Briefwechsel mit Hcidegger. Ich brachte die Dokumente damals zum Universitätsarchiv in Heidclbcrg, zusammen mit allen anderen Materialien, die am Philosophischen Seminar aufbewahrt wurden. Sie finden sich heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar, wo inzwischen ein Gadamer·An:hiv erilffnct worden ist. I.!.! Vgl. die Liste: dl·r Rc:t.l'nsionl'll in diesem Band K.lp. X, I. 111 Vgl. in dil'Sl'lll lttnd Kap. X für alk· l>iskussinm·n um G.ubmcrs Werk. 120 121
11. Die Hermeneutik in der Welt
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meneutik weiter zu entfalten, zu verändern und zuweilen auf bedeutsame Weise umzudenken. Nach dem Wintersemester 1967/68 ging er in den Ruhestand; doch obwohl er "emeritiert" war, hielt er bis 1970 weiterhin Seminare in Heidelberg. Er hatte damals schon mehrere Einladungen nach Amerika erhalten, die er aber stets ablehnte. Dabei war jedoch keinerlei Abschließung bzw. Zurückhaltung im Spiel, wie Heidegger sie hegte. Der Grund war ein anderer: Er sprach nur sehr schlecht englisch und fürchtete, daß dies ein großes Hindernis wäre. Tugendhat ermutigte ihn jedoch und konnte ihn schließlich überzeugen, nach Amerika zu fahren. Die Gelegenheit dazu bot sich anläßlich einer Konferenz zu Schleiermacher, die Charles Scott an der Vanderbilt University in Nashville, Tennesse, veranstaltete.124 Im Februar 1968 stach Gadamer mit der Queen Elizabeth vom Hamburger Hafen aus in See. Er schrieb an Heidegger: Um den Hiat der Emeritierung zu überbrücken, habe ich eine Einladung nach USA angenommen und werde von Mitte Februar bis Ostern unterwegs sein. Drüben ist es zwar nicht die Philosophie, die sich für mich interessiert- für die bin ich ein nicht einmal sehenswerter Oldtimer-. Aber gerade dieser Zustand der dortigen Philosophie hat meinem Buch bei den Theologen und den Geisteswissenschaftlern (und criticists vor allem) eine unerwartete Aktualität verschafft. Sie sehen darin eine Legitimierung ihrer eigenen Bedürfnisse, die die philosophy of science unbefriedigt läßt. 125
Dieser ersten Reise sollte viele weitere folgen. Gadamer wurde an zahlreiche amerikanische Universitäten eingeladen, um dort zu lehren: an die Catholic University of America in Washington, D.C. (1969), die Syracuse University (1971), die McMaster University in Hamilton in Kanada (1972-1974) und vor allem an das Boston College (1974-1986). Mit der Lehre in Nordamerika wurde ein neues Kapitel in seinem Leben aufgeschlagen, von dem er als von einer "zweiten Jugend" sprach. 126 In Amerika war sein Name in der Tat noch völlig unbekannt- es war, als begänne er bei Null. In dem "neuen Kontinent" dominierte die analytische Philosophie, während alle anderen philosophischen Strömungen, die entweder auf die Departments von Literaturwissenschaft oder von Theologie verbannt waren, als "Phänomenologie" galten. Daß dort überall die analytische Philosophie einen großen Raum einnahm und die sogenannte Kontinentalphilosophie ganz im Schatten war, bedeutete für mich keine Überraschung, auch nicht, daß die deutsche Philosophie unserer Zeit überhaupt nur durch die Phänomenologie Husserls bekannt war, Heidegger und die Hermeneutik dagegen nicht. Als ich aber langsam besser englisch sprechen lernte, zeigte es sich, 124
Vgl. GADAMER, Das Problem der Sprache bei Schleiermacher (1968), in: Neuere Phi-
losophie II. Probleme- Gestalten, GW 4, 361-373. m Brief an Hcideggcr vom 3.2.1968, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. 12" GA OA M t-:R, Philosophische Lehrjahre, 19N.
I. Kapitel: Ein Lt!ben durch ein Jahrhundert
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daß auch von der analytischen Philosophie her Brücken zur Hermeneutik gangbar waren. 127
Richard Palmer (*1933) half ihm eingangs, die ersten Brücken zu schlagen. Palmer hatte einige Jahre in Heidelberg studiert und 1969 das erste englische Buch zur Einführung in die Hermeneutik veröffentlicht. 128 Gewiß waren am Anfang nicht nur die Themen, sondern auch die Art, in der Gadamer die Philosophie auffaßte und praktizierte, im amerikanischen Kontext fremd. Dennoch gab er nicht auf. Er unterrichtete weiter, fast zwei Jahrzehnte lang, und nachdem er zunächst nur in den Abteilungen für humanities aufgenommen wurde, erhielt er nach und nach auch Zugang zu denen der Philosophie. Diesiebziger Jahre waren eine entscheidende Zeit, nicht zuletzt deshalb, weil Gadamers Anwesenheit in den Vereinigten Staaten mit einer Art kritischer Selbstreflexion innerhalb der analytischen Philosophie zusammenfiel. Die Hermeneutik wurde zugleich zum Bezugspunkt und zum Beweggrund der Auseinandersetzung. Nach wie vor scheint es schwierig zu sein, die tiefe und nachhaltige Wirkung voll einzuschätzen, die Gadamers Lehrtätigkeit sowohl in der Verbreitung der "kontinentalen Philosophie" als auch in der Hermeneutisierung der Analytischen Philosophie hinterließ. Darüber hinaus gilt es auch festzuhalten, daß die Erfahrung in Amerika Gadamers Horizont, der bis dahin auf die deutsche Welt eingeschränkt geblieben war, beträchtlich erweiterte, und zweifellos einen starken Einfluß auf die Inhalte und auf die Art seines Denkens ausübte. Gadamer reiste auch nach Südamerika, nach Japan und nach Afrika, vernachlässigte jedoch Europa keineswegs. Seit den achtziger Jahren veranlaßten die Altersgründe ihn dazu, auf Flugreisen zu verzichten und die Bahn vorzuziehen. Er konzentrierte seine Tätigkeit auf Italien, das Land, dem er sich seit langem, nämlich seit den begeisterten Erzählungen Löwiths, verbunden fühlte, der während des Ersten Weltkriegs in Genua inhaftiert war. Seinerseits war Gadamer schon seit den dreißiger Jahren mehrmals in Italien gewesen und auch nach dem Krieg, in den fünfziger Jahren, war er wiederholt als einfacher Tourist dorthin zurückgekehrt. 1961 wurde er nach Mailand und im Anschluß daran nach Rom eingeladen, wo er an der von Castelli organisierten Konferenz zum "Problem der Entmythologisierung" teilnahm. 129 Seine damaligen Kontakte führten ihn vor allem nach Nord- und Mittelitalien. Nach Neapel kam er anläßlich einer Tagung am Goethe-Institut; bei dieser Gelegenheit hielt er am 22. April 1978 seinen ersten Vortrag Hegel und die Hermeneutik am lstituto Italiano per gli Studi filosofici, wohin ihn Gerardo Marotta eingeladen hatte. 130 GADAMER, Mit der Sprache denken (1990), GW 10,346-353, hier 346-347. 128 RICHARD E. PALMER, Hermeneutics: Interpretation Theory in Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, and Gadamer, Evanston (Illinois): Northwestern University Press 1969. 129 Vgl. in diesem Band Kap. X, 5. 130 Der Vortrag ist von Gadamer leicht überarbeitet worden, als er am 13. Juni 1979 den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart erhielt; vgl. GADAMER, Das Erbe Hegels, in: HANS-GEORG 127
12. Die letzten fahre. Zwischen Erfolg und Einsamkeit
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So begann eine lange und intensive Zusammenarbeit, die Gadamer von 1980 bis zu seinem letzten Seminar Vom Wort zum Begriff, vom Begriff zum Wort, das er dort vom 6. bis 10. Januar 1997 hielt, in Anspruch nahm. 131 Dabei muß hervorgehoben werden, daß sich seine Tätigkeit keineswegs auf vereinzelte Vorträge beschränkte. So pflegte er in Neapel- wo er am 27. November 1990 die Ehrenbürgerschaft empfing- jährlich einen regelrechten Vorlesungszyklus abzuhalten. Es ist insofern wohl nicht übertrieben zu sagen, daß der Lehrberuf am Palazzo Serra di Cassano nach Heidelberg und Boston die letzte Cathedra Gadamers war. Ohne Zeit und Kraft zu schonen, bereiste er obendrein das gesamte Süditalien, wo seine Lehrtätigkeit tiefe Spuren hinterließ. 132 Zahlreiche Verbindungen unterhielt Gadamer neben Neapel auch mit dem Land, das für ihn weiterhin die Magna Grecia, Großgriechenland war. Diese besonders von Marotta unters.trichene "geistige Verwandtschaft", war von Gegenseitigkeit geprägt.133 Der Rang, den Neapel der deutschen Philosophie immer zuerkannt hat, fand ein Pendant in der Bedeutung, die für Gadamer nicht nur die Namen von Pythagoras und Parmenides, sondern auch die von Bruno, Campanella und Vico hatten, nicht zu vergessen Bertrando Spaventa und Benedetto Croce. Die Jahre der Lehrtätigkeit in Neapel waren Jahre der hermeneutischen Praxis, in der er die Sprache des Anderen sprach und dabei verstand, auf dessen Ansprüche zu hören und dessen Eigentümlichkeit schätzen zu lernen.
12. Die letzten Jahre. Zwischen Erfolg und Einsamkeit Der so spät erworbene Ruhm erreichte schließlich weltweite Dimensionen. Ab den siebziger Jahren erhielt er in Deutschland und im Ausland Ehrungen und Preise, die sich im letzten Jahrzehnt seines Lebens noch vermehrten. 134 Hinzu kamen die Ehrendoktorwürden der Universitäten Bamberg, Tübingen, Washington, Hamilton, Ottawa, Boston, Breslau, Leipzig, Prag und schließlich, im Jahr GADAMER/]ÜRGEN HABERMAS, Das Erbe Hegels, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, 33-84, wieder abgedruckt: Das Erbe Hegels (1980), GW 4, 463-483. Vgl. in diesem Band Kap. VII, 6. 131 Eine Gesamtübersicht über Gadamers Seminare findet sich bei ANTONIO GARGANO, Hans-Georg Gadamer e l'Istituto ltaliano per gli Studi filosofici, in: Sophia (4) 2002, 151-155. 132 Einer Initiative des lstituto Italiano degli Studi filosofici in Neapel sowie der RAI Educational in diesen Jahren war es zu verdanken, daß Gadamer für die Reihe Enciclopedia multimediale delle scienze filosofiche eine Serie von 27 Videokassetten aufnahm, welche die Geschichte des philosophischen Denkens behandelte. Die Serie trug den Titel Il cammino della filosofia (Der Weg der Philosophie); sie ging auf eine Idee von Gerardo Marotta zurück (vgl. www.emsf.rai.it). 133 Vgl. GERARDO MAROTTA, Mit Gadamer für ein Europa der Kultur, in: GüNTER FtGAL (Hrsg.), Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer 2000,21-32, hier 25. 134 Vgl. die Zeittafel in diesem Band.
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I. 1\ ••/'tte•l: fm I rht·n ,/"rc h ,.", J,,hrhu~~t/,.,.t
.ZOOO, St. Pl'tl·rshur~. I >ndl dt·r Ehrendoktor, den ihm die Universität Marburg <\111 24. Juni I'J'JlJ verlid1, ht.·dl'Utete für Gadäuncr eine besondere Freude, denn sie hesie~ehe gleichsam seine lange Karriere. Der Erfol~ nahm ~eradezu Übermaße an. In seinem Büro am Heidelberger Philosophischen Seminar, das er auf Jahrzehnte hinaus behielt, gaben sich Photo~raphen, Journalisten, Kollegen und Studenten aus aller Welt die Klinke in die Hand. Nur mühsam gelang es ihm, all den Verpflichtungen gerecht zu werden, auf die er nicht verzichten wollte, da er vom Wert der Begegnung mit den jungen Generationen überzeugt war. In der Tat kamen diese auch in Scharen, um ihn zu treffen. Doch er hatte dabei, wie er auch zugab, die Rolle einer "Lokomotivecc eingenommen, und sah sich zuweilen, wenn auch verdrossen, gezwungen, den absonderlichsten Anfragen der vielen Bittsteller entgegenzukommen, die ein Interview, eine Widmung oder auch nur eine Unterschrift ergattern wollten, in der Hoffnung, ein wenig an seiner Fama teilzuhaben. Einige wünschten sich einfach nur, den berühmtesten der lebenden Philosophen in persona zu sehen. Seine öffentlichen Auftritte waren daher stets Massenereignisse. All dies entfernte ihn jedoch allzuweit vom Gravitationszentrum seines Lebens. Mit dem Erfolg wuchs auch die Einsamkeit. Seit langem schon fühlte sich Gadamer "zurückgeblieben", fast wie ein lebendiger "Anachronismus", nachdemallseine Freunde und Weggefährten allmählich verschwunden waren. Es gab ein Datum, das er nie vergaß, den 24. Mai 1973: An diesem Tag war Karl Löwith gestorben, den er für seinen besten Freund erachtet hatte. Gadamer war damals überzeugt, daß auch er bald sterben würde, und hatte sich gleichsam darauf vorbereitet. Unter anderem hatte er damals den größten Teil seiner Bücher an die Bibliothek der McMaster Universität in Kanada verkauft. Die Einsamkeit sowie ein großes Fremdheitsgefühl -das Wort, das er oft verwendete, war "unheimlich" -steigerten sich vor allem in den letzten Jahren. Daneben war es ihm nicht entgangen, daß die philosophische Szene in Deutschland, angefangen gerade mit Heidelberg, andere Konturen angenommen hatte. Nicht wenige hatten begonnen, sich mit analytischer Philosophie zu beschäftigen, und dies just zu einer Zeit, in der die amerikanischen Analytiker ein wachsendes Interesse an der Hermeneutik zeigten. 135 Am 11. Februar 2000, an seinem 100. Geburtstag, ehrte ihn die Universität Heidelberg mit einer großen öffentlichen Zeremonie in der Aula Magna. Diese Veranstaltung wurde zusammen mit der Akademie der Wissenschaften, dem Philosophischen Seminar und der Stadt Heidelberg durchgeführt. Sie schloß auch eine philosophische Tagung ein, deren Hauptfigur Gadamer war. 136
m Vgl. in diesem Band Kap. X, 1. 11 '' Vgl. ROUJGI~R ßuJJNER (Hrsg.), .. Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache". llomm.lgl' an l Lms·GL·or~ GaJ~1mcr, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.
12. Die letzten Jahre. Zwischen Erfolg und Einsamkeit
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Im Sommer 2001, nach dem jährlichen Hermeneutik-Symposium, das seine amerikanischen Schüler, vor allem Lawrence K. Schmidt und James C. Risser, seit 1989 in Heidelberg organisiert hatten, war deutlich zu erkennen, daß es Gadamer nicht mehr gut ging, und dieses Mal nicht nur physisch. 137 Die Lage spitzte sich zwischen Ende August und Anfang September zu. Er hatte fast ganz aufgehört, an die Universität zu gehen, wie er es bis dahin zu tun pflegte; seine Beine trugen ihn nicht mehr. Doch es ging nicht nur darum. Er vermochte nicht mehr, lange Zeit zu lesen und auch ein Gespräch konnte ihn ermüden. Seine sprichwörtliche Fähigkeit, sich zu konzentrieren, hatte nachgelassen: jenes volle "Dabei-Sein", sein ganz und gar Mit- und Eingenommen-sein von all dem, was er tat, jene aufmerksame Hinwendung, die er zu einer philosophischen Kategorie seiner Hermeneutik erhoben hatte. Es gelang ihm nicht mehr, von sich selber abzusehen- und gerade dies bedeutete das Ende. Er war sich dessen übrigens vollauf bewußt. Zur Überraschung derjenigen, die ihm naqe standen, hatte er sich in der letzten Zeit selbst die Koffer gepackt, da nun, wie er sagte, endlich die Stunde gekommen sei. In gewissem Sinn war er hin und her gerissen zwischen seiner engen Verbundenheit mit dem Leben und dem Prozeß einer langsamen und unaufhebbaren Entfremdung, die nicht so sehr die Welt des dritten Jahrtausends betraf, dessen Ereignisse er jeden Tag mit Leidenschaft verfolgte, als vielmehr die Welt, die ihn unmittelbar umgab. Und dennoch brauchte man, in jenen Tagen im März, nur einmal den Namen Parmenides zu erwähnen, damit er den Blick hob und mit Eifer zu sprechen begann. Wahrhaft "zuhause" fühlte er sich allein in der Philosophie. Am Abend des 13. März 2002 verstarb Gadamer in der Universitätsklinik in Heidelberg. Er wurde im Friedhof Köpfel in Ziegelhausen beerdigt. Auf seinem Grabstein steht: Hans-Georg Gadamer- Philosoph.
Das erste inoffizielle Meeting hat eigentlich schon in Sommer 1988 stattgefunden; die Teilnehmer waren damals: Lawrence K. Schmidt, James C. Risser, Brice Wachterhauserund Joel Weinsheimer. Diese erste Gruppe veranstaltete dann das Symposium 1989 an dem Wissenschaftsforum. Ab 1989 wurde das Symposium am Philosophischen Seminar in Heidetberg jedes zwei Jahre organisiert; nach dem Erfolg wurde es ab 1991 jedes Jahr veranstaltet. Viele renommierte amerikanische Philosophen, wie John Sallis, und viele wichtige Vertreter der philosophischer Hermeneutik in Amerika, wie auch Richard E. Palmer, Christopher P. Smith und Charles Scott, nahmen regelmäßig teil. Dies war auch eine wertvolle Gelegenheit für ein Gespräch zwischen amerikanischen und europäischen Philosophen. Nach Gadamers Tod 2002 wurde das Symposium nach Freiburg verlegt, wo es weiter noch jedes Jahr an dem dortigen Philosophischen Seminar stattfindet. 137
//.Kapitel
Das Ereignis der Wahrheit Was das Werkzeug der Methode nicht leistet, muß vielmehr und kann auch wirklich durch eine Disziplin des Fragens und des Forschens geleistet werden, die Wahrheit verbürgt. 1
1. Wider die Methode? Was heißt Wahrheit und Methode? Die Bedeutung der Konjunktion "und" hat dazu beigetragen, aus diesem Titel nahezu ein Rätsel zu machen. Hat "Methode" einen negativen Wert, dann verbindet das "und" nicht, sondern stellt eine Alternative dar. Der Titel ließe sich folglich so umschreiben: "Wahrheit oder Methode". 2 In einer radikaleren Version könnte man sogar an die Formulierung denken: Wahrheit gegen Methode. 3 Ist diese letzte Vorbild und Metapher für die exakten Naturwissenschaften, so ereignet sich die Wahrheit außerhalb der Methode. Deshalb kann man von "extramethodischen" Erfahrungen der Wahrheit reden. Doch es gilt hier gleich, eine Fehldeutung aufzuklären. Gadamer versteht zwar die Hermeneutik nicht mehr traditionell als eine Interpretationslehre und möchte sie deshalb von der Last der Methodologie befreien. Er will aber keineswegs die Methode als solche in Frage stellen. Der Titel enthält stillschweigend HANS-GEORG GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 494. Vgl. GIANNI VATTIMO in seiner Einleitung zur italienischen Ausgabe von Wahrheit und Methode (L'ontologia ermeneutica nella filosofia contemporanea. lntroduzione a HansGeorg Gadamer, Verita e metodo, Mailand: Bompiani 1986, V). 3 Dies ist die Deutung, die etwa Rorty vorschlägt. Vgl. RICHARD RoRTY, Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, übers. von Michael Gebauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2 1984,388, Anm. 1: "Man könnte Gadamers Buch einen Traktat gegen den Methodengedanken nennen, falls damit das Unternehmen der Kommensuration gemeint ist. Es ist lehrreich, die Parallelen zu beobachten, die zwischen seinem Buch und Feyerabends Wider den Methodenzwang bestehen". Vgl. PAUL FEYERABEND, Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, übers. von Hermann Vetter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. Auch Habermas deutet den Titel in polemischem Sinn: "Wahrheit gegen Methode", allerdings in einer Art, die Gadamers Absicht sehr viel näher ist, als Rortys Deutung (Zur Gadamcrs Diskussion mit Habcrmas und mit Rorty vgl. in diesem Band Kap. X, 2-3). 1
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1. Wider die Methode?
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eine gewisse Spannung zwischen "Methode" und "Wahrheit". Aber wenn er später diese Spannung näher bestimmen wird, gibt Gadamer zu, sie in einem polemischen Sinn zugespitzt zu haben. 4 Dies sei notwendig gewesen, um die Grenzen der Wissenschaft einem Zeitalter aufzuzeigen, in welchem der Glaube an sie den Aberglauben streift. Im Nachwort zur dritten Auflage von Wahrheit und Methode schreibt er: Am Ende gehört es, wie selbst Descartes anerkennt, zu der besonderen Struktur des Zurechtbiegenseines verbogenen Dinges, daß man es nach der Gegenrichtung beugen muß. Verbogen aber war das Ding- nicht so sehr die Methodik der Wissenschaften als ihr reflexives Selbstbewußtsein. 5
Wenn die philosophische Hermeneutik die Spannung zwischen Wahrheit und Methode hervorhebt, so will sie damit nicht in Konflikt mit der Wissenschaft und ihrer Methode geraten, sondern nur die Gelegenheit für ein kritisches Nachdenken über die Wahrheit bieten, die auch in der Wissenschaft einbezogen und impliziert ist. Auf dieses kritische Nachdenken verweist das "und". Daraus entsteht übrigens die epistemologische Relevanz der Hermeneutik, die in der Philosophie des letzten Jahrhunderts - so suggeriert Gadamer - geradezu als ein Versuch anzusehen ist, ,"einen zwischen der Philosophie und den Wissenschaften vermittelnden Beitrag zu leisten." 6 Die polemische pannung im Titel darf deshalb nicht als eine Antithese oder gar als ein Hiat lesen werden. Nun war es freilich ein plattes Mißverständnis, wenn man d e Parole "Wahrheit und Methode" mit der Anklage belastete, daß hier die Method nstrenge der modernen Wissenschaft verkannt werde. 7 \
Es ist keineswegs so, daß die Hermeneutik die Methode rticht zuläßt oder sie '-· verwirft. Es wäre absurd, die Notwendigkeit der Methode zu verkennen, wenn man etwa ein mathematisches Problem löst, einen Wolkenkratzer aufbaut oder einen Impfstoff gegen eine Krankheit finden muß. Die Hermeneutik läßt jedoch nicht zu, daß die Methode, dank der Faszination, die sie aufgrund ihrer enormen Ergebnisse ausübt, auf mechanische Weise überall auferlegt wird. Die Methode setzt voraus, daß das Objekt definierbar ist und das Subjekt es durch die wissenschaftliche Beweisführung objektiv definieren kann; sie geht also von einer instrumentellen Auffassung des Erkennens aus, in welcher das Subjekt Vgl. GADAMER, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu •Wahrheit und Methode< (1967), GW 2, 232-250, hier 238. ~ GADAMER, Nachwort zur 3. Auflage (1972), GW 2, 448-478, hier 453. " GADAMER, Nachwort zur 3. Auflage, GW 2, 450. Vgl. MICHAEL KELLY, On Hermeneutics and Scicnce: Why Hcrmcncutics is Not Anti-Science, in: Southern Journal of Philosophy 25 (1987), 481-500. Ausschlaggebend bleibt dazu der Beitrag von WoLFGANG WIELAND, Mi;glichkciten der Wissenschaftstheorie, in: RüoiGER BuBNJ-:R/KoNRAD CRAMERI RJ·:tNEK Wn:111., llcrmcnclnik und Diall·ktik. Hans-Gcorg Gadamcr zum 70. Geburtstag, 2 Biindt•, Tühingc.·n: Mohr 1970, lhnd I, 31-56. 1 ( ;A IM M FK, N"dtwon :rm .\. Auf1.l~t·,
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Il. Kapitel: Das Ereignis der Wahrheit
sicher ist, über das Objekt verfügen zu können. Aber wenn diese Methode in den Bereichen der Wissenschaft auch angemessen ist, so muß sie es doch keineswegs auch auf allen anderen Gebieten sein, auf denen sie eher eine Verkürzung wenn nicht gar eine Verkehrung der Wahrheitserfahrung mit sich bringen würde. Schon Husserl wehrt sich gegen die Mathematisierung der einzigen erfahrenen und erfahrbaren Welt, die jeder wissenschaftlichen Forschung vorangeht, das heißt unserer alltäglichen "Lebenswelt". Gadamer bewegt sich im Kielwasser Husserls, nimmt aber die Wahrheit der Lebenswelt viel stärker in Anspruch. Die Methode ist für ihn ein gültiges und legitimes Erkenntnisverfahren. 8 Dennoch bleibt sie sekundär und abgeleitet gegenüber all jenen Erfahrungen der Wahrheit, die zu ihrer Logik nicht gehören, die außerhalb bleiben und ihr sogar vorangehen. Außerhalb bedeutet hier voran. Und die extramethodischen Erfahrungen der Wahrheit, welche die Hermeneutik wieder ans Licht zu bringen strebt, haben einen Vorrang, der zugleich auch Autonomie bedeutet. Anders gesagt: die Wahrheit, die der Methode vorangeht, ist autonom, weil sie die Methode nicht braucht, um verifiziert, bestätigt oder begründet zu werden. Im Gegenteil ist in der Methode schon immer ein hermeneutisches Vorverständnis im Spiel. Denn ihre Anwendung geht ja zunächst von unserer sprachlichen Orientierung aus, die das "tragende Medium alles Verstehens" ist- so wie jede Spezialsprache von der gemeinsamen Sprache ausgeht, von der sie sich nicht abtrennen läßt.9 "So schließt alle Wissenschaft eine hermeneutische Komponente ein." 10 Wenn es hier ein Fundament gibt, so ist es das der Hermeneutik und ihrer Wahrheit.
2. Wenn Verstehen wie Atmen ist Doch was bedeutet hermeneutische Wahrheit? Ist dies nicht eine contradictio in adiecto, wenn Wahrheit objektiv, verifizierbar und unbezweifelbar sein soll? Die philosophische Hermeneutik denkt die Wahrheit nicht mehr in der Art der szientistischen Erkenntnislehre. Daher zielt sie auch nicht auf eine Erkenntnismethode, aus der eine neue Theorie der Wahrheit abzuleiten wäre. Und die Erwartung, in Wahrheit und Methode eine solche Theorie zu finden, wird notwendigerweise enttäuscht. Nicht das Erkennen, sondern das Verstehen ist in der hermeneutischen Wahrheit im Spiel. Denn die Hermeneutik fragt sich nicht, was die Möglichkeitsbe-
Vgl. TuAN A. NuYEN, Truth, Method and Objectivity: Husserl and Gadamer on Scientific Method, in: Philosophy of thc Social Seiences 20 (1990), 437-452. 9 GADAMt:R, Nachwort :t.UI" 3. Auflage, GW 2, 459. 10 GA DA M ER, Na"·hwort zur .1. Auflngc, GW 2, 458. 8
2. Wenn Verstehen wie Atmen ist
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dingungen für die Erkenntnis sind und noch weniger, was für eine Methode verfolgt werden soll. Statt dessen fragt sie nach dem, was geschieht, wenn man versteht. 11 Dies ist die neue hermeneutische Fragestellung. Sie betrifft das Geschehen des Verstehens, das Ereignis der Wahrheit. Die Hermeneutik erstrebt nichts anderes, als das Verstehen zu verstehen. Doch das Verstehen ist weder ein Prozeß noch ein Erkenntnisverfahren. Und das Erkennen ist vielmehr eine vom Verstehen abgeleitete Modalität. Was ist also das Verstehen? Es ist eine Fähigkeit, die weniger ein Handeln als ein Erleiden ist. In diesem Sinn kann man von der Erfahrung des Verstehens sprechen. Das Verstehen ist kein Begreifen, Beherrschen oder Kontrollieren. Verstehen ist wie Atmen. Und man kann sich nicht entscheiden, nicht mehr zu atmen. Es handelt sich daher nicht um ein Wissen, sondern um ein Sein. In diesem Sinne ist es das Verstehen, das uns trägt und gründet. Der große Irrtum der modernen Methodologie ist, daß sie uns diesen tragenden Grund vergessen läßt. Soll aber der Grund des Verstehens seinerseits begründet werden? "Bedarf es einer Begründung dessen, was uns immer schon trägt?" 12 Die Einstellung Gadamers ist nicht einfach antifundamentalistisch. Seine Absicht ist vielmehr, den Grund aus der Vergessenheit wieder hervortreten zu lassen, um ihn als Grund vorzuführen, als so grundlegend, daß er sich jeder Begründung entzieht. Dabei erweist sich die Hermeneutik- im Sinne Platons- als anamnetisch. Wenn die Wahrheit ein Ereignis des Verstehens ist, dann kann sie weder deduziert noch theoretisch aufgefaßt, sondern nur jeweils an dem Ort gezeigt werden, an dem sie sich ereignet. Die Hermeneutik möchte lediglich das Ereignis der Wahrheit beschreiben. Obwohl sie sich mit den bedeutsamsten philosophischen und wissenschaftlichen Wahrheitstheorien auseinandersetzt, enthält sie sich doch jeder Versuchung, eine eigene Wahrheitstheorie zu definieren. Dies entspricht ihrer Überzeugung, daß Wahrheit und folglich auch die eigene Wahrheit, ein Ereignis ist. 13 Die Hermeneutik trachtet daher, jene Erfahrun n der Wahrheit wieder auftauchen zu lassen, zu deren Verdunkelungs st die Geisteswissenschaften mit ihrer Methodensucht beigetragen haben: Kunst, Geschichte und Sprache.
Vgl. GADAM ER, Wahrheit und Methode, GW 1, 3. Zur Auffassung des Geschehens vgl. 0AMIR BARBARIC, Geschehen als Übergang, GüNTER FIGALijEAN GRONDINIDENNIS J. ScHMIDT (Hrsg.), Hermeneutische Wege. Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten, Tübingcn: Mohr Sicheck 2000, 63-83. 12 GA l>A M ER, Vorwort 7.ur 2. Auflage {1965}, GW 2, 437-448, hier 447. l.l V~l.
Wci n lu·i m: lkl ;r. • AdH·n :iu m 1994.
3. I >ic Wicdcrcntdcckun~ Vicns. l furnanistischc Kultur und h<.·rn1cncutischcr Sinn Um das einzusehen, mug man auf den Herkunftsort blicken, auf den die Geisteswissenschaften mit ihrem antiken Namen der humaniora hindeuten. Es ist also notwendig, die humanistische Tradition wiederzuentdecken, die heute entweder verdrängt, oder geradezu offen abgelehnt zu werden scheint. Besonders eklatant ist der Fall Heideggers, der in seinem berühmten Brief über den "Humanismus" entschieden Abstand von ihr genommen hat. 14 Daß Gadamer dagegen eine Wiederentdeckung vorschlägt, markiert einen Unterschied zwischen beiden Philosophen, der nicht unbeachtet bleiben darf. In der Konstellation des Humanismus wählt Gadamer einige "Leitbegriffe" aus, die Licht auf ein Modell des Wissens werfen können, das eine Alternative zum methodischen Wissen darstellt: Kultur, Gemeinsinn, Urteilskraft, Geschmack. Diese Begriffe verweisen aufeinander und schildern die Etappen dieser wichtigen Wiederentdeckung aus. Der erste Leitbcgriff ist derjenige der Bildung, die als "Erziehung", aber auch als "Kultur" ausgelegt werden kann. 15 Gadamer wird bis in die letzten Jahre immer wieder auf die Frage nach der Bildung zurückkommen, die für ihn eine der dringendsten unserer Zeit ist. 16 Was heißt aber Bildung? Um diesen Begriff zu klären, wird die Wortgeschichte befragt. In der Nachfolge Wilhelm von Humboldts (1767-1835) erlangt das Wort eine komplexe Bedeutung. Zum einen entspricht es der lateinischen formatio; zum anderen enthält Bildung in sich den Ausdruck Bild, der über die alte mystische Tradition auf Genesis 1, 26 verweist: wenn der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde, so muß er dieses Bild entwickeln. Bildung deutet daher nicht auf ein Sein, sondern auf ein Werden hin, das nicht das Resultat eines Vorgangs, sondern vielmehr eine ständige Fort- und Weiterbildung ist.l 7 Doch dieser Vorgang betrifft nicht etwas Gegebenes, wie wenn ein Talent kultiviert oder ein Stoff assimiliert wird. Bildung heißt sich bilden. Es gilt deshalb, Hegel zu folgen, der in diesem Begriff die Voraussetzung selbst der Philosophie anerkannt hat. Bildung besagt für ihn jene "Erhebung zur Allgemeinheit", die eine "Aufopferung der Besonderheit für das Allge-
MARTIN HEIDEGGER, Brief über den ,Humanismus', in: Wegmarken, GA 9, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, zweite durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main: Klostermann 1996, 313-364. 15 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 15-24. 16 Vgl. HANS-GEORG GADAMER, Erziehung ist sich erziehen, Heidelberg: Kurpfälzischer Verlag 2000. 17 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 17. 14
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llll'illl'" vnl.l11gt. 1H Fitw ·'""l'l'l' Art, Bildun~ zu sagen, ist demnach "Abstraktionskroth" odl·r .wd1 Ab~tdnd von sich selbst. Wie wird der GdJildl·tc vom Ungebildeten unterschieden? "Wer sich der Partikularität übcrlägt, ist ungebildet, z.B. wer seinem blinden Zorn ohne Maß und Verhältnis nachgibt." 19 Ungebildet ist also derjenige, der nicht von sich absehen, sich nicht von der eigenen Unmittelbarkeit distanzieren kann und nicht fähig ist, sich auf einen allgemeinen Standpunkt zu erheben, von dem aus er in neuer und veränderter Weise auf seine Besonderheit schauen kann. Wenn Kultur Abstand bedeutet, so ist jede Form des Abstands von sich selbst und daher bereits jedes praktische Verhalten, angefangen mit der Arbeit, schon deshalb Kultur, weil sie den Einzelnen zwingt, über die eigene Begrenztheit hinauszugehen. Dies leuchtet aber umsomehr im Blick auf die Theorie ein, die als solche die Mühe erfordert, sich mit Dingen zu befassen, die nicht unmittelbar gegeben, sondern fern und fremd sind. So etwa wenn man die Sprache und die Welt der Antike studiert. Hierbei erreicht man den größten Abstand und es ist die Fremdheit, die ihn provoziert. Sich im Anderen wiederzuerkennen: das ist Kultur. Gebildet ist demnach nicht derjenige, der kultiviert ist, insofern er ein vielfältiges Wissen abgespeichert hat. Gebildet ist derjenige, der im sokratischen Sinn um sein Nichtwissen weiß, der die Grenze seiner eigenen Endlichkeit anerkennt. Indem er diese Grenze anerkennt, erkennt er den Anderen und den Standpunkt des Anderen an. Dies ist das Ideal der humanistischen Kultur, die an der conditio humana ansetzt. So schreibt Gadamer in seinen letzten Jahren: "Bildung heißt, sich die Dinge vom Standpunkt eines anderen ansehen zu können." 20 Dies bedeutet, auch sich selbst mit dem Blick des Anderen und von seinem Standpunkt aus sehen zu können. Es scheint daher klar zu sein, daß die Allgemeinheit, zu der man sich erhebt, "nicht eine [...] des Begriffes", das heißt keine methodische Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine ist. 21 Hier läßt sich Gadamer durch Hermann L. F. von Helmholtz (1821-1894) anleiten, der das Modell der Geisteswissenschaften zwar nur negativ charakterisiert, dennoch an ihrer Basis eine Induktion sieht, die im Unterschied zur "logischen Induktion" eine "künstlerisch-instinktive Induktion" ist, die er auch als eine Art ,,Takt" bezeichnet. 22 Die Allgemeinheit, die GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 18. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 18. 10 GADAM ER, Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt. Ein Studium-generale-Vortrag (1990), GW 8, 339-349, hier 349. 11 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 23. l.l GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 11. Vgl. REINHARD ScHULZ, Helmholtz und Gadamer: Provokation und Solidarität. Über den Ursprung der philosophischen Hermeneutik im Geist der Naturwissenschaft, in: Philosophia naturalis. Archiv für Naturphilosophil· und diL· philusophisdwn Grcnzgd,ictc der exakten Wissenschaften und Wissensl·h.tft~~l"sL·hidllt' U/1 ( I'J'I~). 141-15.'. 111
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wen.IL"n ki)nnc:n. sind dit• ( ;,•mrinJ"I~tzc c.lcr Rhc.·torik für Vi"·o c.li"· ( )rtr des induktiven und c.·rfindc.·risrlwn Erkrnnc.-ns. { >hne in etwas andl"rrm hc~ründet zu sein, sind sie ihn·rsl·its ~runc.llc~cnd, sind sie die ()rte, in denen sich der "gemeinschaftliche Sinn .. artikuliert. Mit einer Bedeutung, die schon Kommunikation und Sprache mit anklingen läßt, verweist communis "gemeinschaftlich" auf das Mitteilsame und Miteinandergeteilte. Dasselbe läßt sich auch für jene konkrete, vorläufige und historisch gültige Allgemeinheit sagen, die den Gemeinsinn untermauert. Man versteht daher, warum Gadamers Vicodeutung gerade den Gemeinsinn im Auge hat, der nicht als eine allen gemeinsame Fähigkeit interpretiert werden kann, sondern als der "Sinn, der Gemeinschaft stiftet." 27 Vicos Appell an den Gemeinsinn, in dem Gadamer eine Wiederaufnahme nicht nur des lateinischen sensus communis, sondern auch der aristotelischen phr6nesis sieht, ist somit ein Appell an jenen Sinn, der in allen lebt und der sich nur im Zusammenleben erlangen läßt, das heißt an den Sinn für das gemeinschaftliche Gute. Gebildet ist der, der Sinn für die Gemeinschaft hat. Was entspricht nun dem Gemeinsinn in der deutschen Sprache und in der deutschen Tradition? In der lateinischen, italienischen und französischen, aber auch in der englischen Tradition, zeigt der Gemeinsinn die allgemeine Eigenschaft des Bürgers an. Ein Beispiel hierfür ist der common sense, mit dem Shaftesbury (1671-1713) die soziale Tugend der sympathy verstanden hatte; daraus wird dann die Lehre vommoralsense entstehen. 28 In der deutschen Tradition hingegen, die sich erst mit der Reflexion über die Geisteswissenschaften ausformen wird, ist der Gemeinsinn, der nun intellektualisiert und seines politischen und sozialen Inhaltes beraubt wird, auf ein bloßes Korrektiv, auf die Fähigkeit der Urteilskraft reduziert. 29 Der Gemeinsinn kann auch Urteilskraft genannt werden, denn was sich durch diesen Sinn bildet, ist die Fähigkeit zu beurteilen, was angemessen und richtig ist. Die Urteilskraft ist keine formelle Fähigkeit, sondern ein Erfordernis, das der sozialen und moralischen Solidarität entspringt. Sie manifestiert sich von Fall zu Fall, und es ist nicht möglich, sich bei ihr auf ein Prinzip oder eine Methode zu berufen. Von daher rührt die Verlegenheit dessen, der urteilt. Das Urteilen, das mit dem sinnlichen Unterscheidungsvermögen zusammenhängt, ist fast wie das Schmecken, wie das unmittelbare Zurückweisen oder Annehmen der Dinge. Der "Geschmack", der eher einen moralischen als einen ästhetischen Wert hat, ist eine andere Weise, um Urteilskraft, Gemeinsinn und Kultur zu sagen. 30 Auf alle diese Weisen kann jener Sinn bezeichnet werden, den man nicht lehren oder lernen kann, der nicht das Ergebnis von Regeln oder Inhalten, sondern
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2'J Jo
GADAMER, Wahrheit und GADAMER, Wahrheit und GADAM ER, Wahrheit und GA DAM ER, W.lhrhcit und
Methode, GW 1, 26. Methode, GW 1, 31. Methode, GW 1, 36. Methode, GW I, 40.
II. 1\ ,.,,u"/: I),,. /·.'r'"'R'". ""' \r.',t/,, ,".,, eine praktische Lehc.·nswc.-ishcit i!'tt, die mo\n nur kultivieren und verfeinern kann und ohne die das menschliche Zusammenleben undenkbar wäre. Dieser hermeneutische Sinn, der in der Wiederentdeckung des Humanismus Konturen gewonnen hat, ist ein Wissen ganz anderer Art im Vergleich zu dem der exakten und methodischen Wissenschaften. Würde man ihn an diesem messen, dann müßte er aus dem Reich der Erkenntnis ausgeschlossen oder auf eine ästhetische Funktion herabgesetzt werden. Damit würde aber nicht nur das gesamte Vermächtnis der humanistischen Wissenschaften verloren gehen, das sich auf diesen Sinn stützt, sondern auch eine humane Auffassung des Wissens.
4. Der "Einschnitt" Kants. Von der Ästhetik des Geschmacks zur Ästhetik des Genies Die langsame, aber unaufhaltsame Verfinsterung der humanistischen Tradition ist für Gadamer mit dem Namen Kants verbunden, der seinerseits jedoch den Wert dieser Tradition anerkannt hat. Wie kann man aber Kant eine solche Verantwortung zuschreiben? Die Geisteswissenschaften, die als solche erst seit Kant existieren, werden von nun an vor eine radikale Alternative gestellt: Methode oder Ästhetik. Sie müssen sich nämlich entweder an der Methode der exakten Wissenschaften messen, wobei sie aber riskieren zu verschwinden; oder sie müssen sich einer Ästhetisierung unterwerfen. In beiden Fällen liegt der Ausgangspunkt in der Kritik der reinen Vernunft von 1781. Kant nimmt das Erfordernis wahr, die Metaphysik neu zu definieren, mit der Absicht, sie zu retten. Das Ergebnis dieses Unternehmens ist jedoch genau das Gegenteil: Indem sie an einer strengen Wissenschaft gemessen wird - an der reinen Wissenschaft der Natur- wird die Metaphysik für immer in Verruf gebracht. Der Schatten ihrer Verurteilung fällt auch aufalljene Formen des Wissens, die den Kriterien und Methoden der Wissenschaft gar nicht folgen; daher wird die letztere ihrerseits auch nur noch als exakte Wissenschaft verstanden. Damit ist das Schicksal jener Wissenschaften besiegelt, die als "humanistisch" bezeichnet werden, in denen das Echo der humanistischen Tradition noch nicht abgeklungen ist, und die in Deutschland den Namen von "Geisteswissenschaften" erhalten. Diese Wissenschaften werden negativ bestimmt. Von Anfang an sind sie von einem Mangel affiziert. So diskreditiert der "Einschnitt" Kants jede Form von nicht-methodischem Wissen, das sich in der humanistischen Tradition entwickelt hatte. 31 Wie könnten nun Kultur, Gemeinsinn, Urteilskraft und Geschmack noch begründet und legitimiert werden? OffensichtGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 46. Vgl. ISTVAN M. fEHER, Gadamcrs Destruktion der Ästhetik im Zusammenhan~ seiner philosophischen Ncubcgründun~ der 31
53 lieh hat der G,:sdun.tl'k nidltN mit der Wissenschaft zu tun. Ooch wenn er keine Wissenschaft ist, was ist er c.lötnn? Er ist Ästhetik. Dies ist die Antwort, die Kant in die Wege leitet und die auf seinen Spuren radikalisiert wird. Tatsächlich fällt heute die Kultur des Geschmacks bzw. des guten Geschmacks ganz in den Bereich der Ästhetik. In dem Maße, wie dieser Bereich sich deutlicher profiliert, treten zwei eng miteinander verbundene Phänomene hervor. Einerseits werden die Geisteswissenschaften von der humanistischen Tradition abgetrennt, und damit sowohl gezwungen, sich mit dem Wahrheitsmonopol der exakten Wissenschaften zu messen, als auch verpflichtet, sich von einer ganz anderen Identität her zu verstehen. 32 Bei diesem Verlust der Herkunft und der Identität finden sie andererseits in ihrer Ästhetisierung eine Möglichkeit zu überleben, dies jedoch um den Preis, jeglichen Erkenntniswert zu verlieren. Denn einer so wenig vertrauenswürdigen Quelle wie der Urteilskraft kann man nichts oder fast nichts anvertrauen. In diesem Sinn kann Gadamer sagen, daß die kantische Begründung der Ästhetik epochemachend ist. 33 Nach der ersten Kritik und nach der Kritik der praktischen Vernunft von 1788legt Kant die Fundamente der neuen Ästhetik in einer autonomen Domäne, jenseits der Erkenntnis und jenseits der Moral, in der Kritik der Urteilskraft von 1790. Seine Frage betrifft die Möglichkeit, in dem, was den Geschmack angeht, ein Apriori zu entdecken, das dessen Anspruch auf Allgemeingültigkeit legitimiert. Um die drastische Reduktion besser zu verstehen, die diese Fragestellung mit sich bringt, gilt es daran zu erinnern, daß alles, was ästhetisch war, vor allem das ästhetische Urteil, zum Bereich des Geschmacks gehörte, und daß der Geschmack, der fast ein Synonym des Gemeinsinnes war, auch eine moralische und politische Konnotation hatte. Nachdem er von dieser Konnotation abstrahiert, nachdem er also ästhetisiert wird, läßt sich der Geschmack der Kritik unterwerfen, um einem Gültigkeitskriterium zu entsprechen, das letztlich das der Wissenschaft ist. Und weil es unmittelbar einleuchtet, daß er diesem Kriterium nicht entsprechen kann, wird er jeder "Erkenntnisbedeutung" beraubt und auf ein subjektives Prinzip reduziert. 34 Von den als schön beurteilten Gegenständen erkennt man in der Tat nichts. Mit großer Mühe gelangt Kant dazu, dem Geschmack eine "subjektive Allgemeinheit" zuzuschreiben - eine paradoxe Formulierung zur Bezeichnung jenes freien Spieles der Vermögen, das die Quelle der ästhetischen Lust ist und das, Geisteswissenschaften, in: DIETMAR KocH (Hrsg.), Denkwege. Philosophische Aufsätze, Tübingen: Attempto Verlag 1998,25-54. 32 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 46 f. 33 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 47. Vgl. DENNIS J. ScHMIDT, Aesthetics and Subjectivity. Subjektivierung der Ästhetik durch Kantische Kritik (GW 1, 48-87), in: GüNTER FIGAL (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer- Wahrheit und Methode, Berlin: Akademie Verlag 2007, 29-43. 14 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 49.
zw.u 1.wc.·ckm~f~i~ suhjtoktiv, th•tulcu:h in jNirm Suhit·kt idt•ttti"d' und "ll~l·mc:in rnittc.•ilhar ist.J" In der komplexen lnterprc:t;\tion, die (i;u.f.uner von dc.·r k.uuisc.:lu.·n Ästhetik gibt, hebt er eine Untcrschcidun~ besonders hervor, die.· in der dritten Kritik eher sekundär bleibt und dennoch unumgänglich ist, will man die Autonomie der Ästhetik in dem von Kant gemeinten Sinn nachvollziehen. Es ist die Unterscheidung zwischen "freier Schönheit" und "anhängender Schönheit". 36 Dieses Thema, auf das Gadamer mehrmals zurückkommt- etwa in seiner Arbeit Anschauung und Anschaulichkeit von 198037 - stellt einen der Angelpunkte dar, um den sich seine kritische Deutung Kants dreht. Doch worin besteht diese Unterscheidung? Die freie Schönheit, für Kant auch die wahre Schönheit, ist diejenige, die zum Gegenstand eines "reinen Geschmackurteils" werden kann, zu dem keine intellektuellen oder moralischen Gesichtspunkte hinzukommen. Die von Kant angeführten Beispiele sind die reine Musik, also die Musik ohne Inhalt, die Arabesken und die Blumenornamente. Diese Gegenstände sind schön, weil sie keinem anderen Zweck als dem der reinen Schönheit gehorchen. Weniger rein ist dagegen die Schönheit der adhärierenden Gegenstände, die so genannt werden, weil sie einem Begriff anhängen. Ihre Zweckmäßigkeit ist nicht mehr rein ästhetisch. Beispiele sind die Schönheit einer menschlichen Figur, eines Tieres oder eines Gebäudes. Hier wird ein anderer und weitergehender Zweck vorausgesetzt, denn ein Gebäude hat auch noch nützlich zu sein. In diesen Fällen wird ein reines Geschmacksurteil unmöglich, da es von der Vorstellung eines Zwecks beeinträchtigt wird. Gadamer bezeichnet diese Lehre als "höchst fatal", weil sie den Augenblick markiert, von dem an das ästhetische Urteil jeder Erkenntnisbedeutung beraubt wird; die Ästhetik kann von jetzt ab nur noch überleben, indem sie sich negativ von der Erkenntnis und der Moral abgrenzt. 38 Doch Gadamer weiß auch, daß die Ästhetik mit Kant noch nicht den Höhepunkt dieser Entwicklung erreicht hat, für den das Schöne trotz allem noch ein "Symbol des Sittlichguten" ist. 39 Das Schöne ist in diesem Zusammenhang insbesondere das "Naturschöne". Es ist, als ob die Natur selbst zu unserem ästhetischen Vergnügen beitragen würde. Die "wunderbare Zweckmäßigkeit der Natur für uns" deutet demnach darauf hin, daß wir der Endzweck der Schöpfung sind und sie offenbart unsere moralische Bestimmung.4 Freilich enthält dieser Gedanke bereits eine reduzierte moralische Bedeutung der Ästhetik. Aus ihr
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Vgl. IMMANUEL KANT, Kritik der Urteilskraft, in: Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, Band X,§ 6, B 18-19/A 18-19, 124-125. 36 KANT, Kritik der Urteilskraft,§ 16, B 49 f./A 49 f., 146 f. 37 Vgl. GADAMER, Anschauung und Anschaulichkeit (1980), GW 8, 189-205. 38 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 50. 39 KANT, Kritik der Urteilskraft,§ 59, B 257/A 254,297. 40 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 56. 35
t•rk 1:\ rt sir h d l'l' Vur1u ~. dt•n 1\ .uu dt·m N .u ursdltttH•n ll t,,... d ,ts Kunst Sl' hi;n,· l'.u~,·std1r.~1
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41
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KANT, Kritik der Urteilskraft,§ 42, B 166-173/A 163-171,231-236. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 57. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 59-61. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 65.
Dilthc.·y (IHJ.1-I'JII). der ;HHi dem Erldlnis cirwn Schliissclhc~riff nicht nur der Ästhetik, sondern auch c.h.•r llcrnu•ncutik der (ieistcswisscnschaftcn macht. 45 Insoweit sie aus dem Erlebnis hervorzugehen scheint, wird die Kunst immer mehr von der Wahrheit abgetrennt und gegenüber der Vernunft marginalisiert. Dies wird durch die Entwicklungen des Erlebnisbegriffs belegt, die Gadamer in Betracht zieht. 46 Im Laufe des 19. Jahrhunderts folgt der Begriff zwei angeblich gegensätzlichen, doch eigentlich komplementären Linien. Zum einen wird im Erlebnis eine letzte Gegebenheit aufgezeigt, welche die "Tatsache" der Empiristen ausbalancieren soll. Zum anderen wird der Kult des Erlebnisses in einem "pantheistischen" Horizont dekliniert, der sich gerade vermöge seiner unergründlichen Vielschichtigkeit jeder rationalen Erkenntnis entzieht. 47 Das Erlebnis findet eine letzte Instanz in der "Lebensphilosophie". Doch Positivismus und Pantheismus sind letztendlich zwei Seiten derselben Medaille. Im Zeitalter der "Wissenschaft", die über die Vernunft herrscht, geraten daher die Geisteswissenschaften auf ihrer fieberhaften Suche nach einer letzten Gegebenheit, die sie rechtfertigen könnte, unvermeidlich in einen Irrationalismus, der ihre Marginalität bestätigt.
5. Übermacht der Wissenschaft und Irrealität der Kunst. Das ästhetische Bewußtsein Auf diesem Weg bildet sich schließlich ein Bereich der ästhetischen Erfahrung, das heißt ein Reich des Scheins neben der realen Welt aus. Durch das ganze 19. und 20. Jahrhundert hindurch gilt es als selbstverständlich, daß die Kunst nichts mit der Erkenntnis zu tun hat. Von hier ausgehend entwickelt sich, auf der Basis des kantischen und des romantischen Geniebegriffs, das ästhetische Bewußtsezn. Um die Grenzen dieses Bewußtseins zu zeigen, kommt Gadamer auf die Allegorie zu sprechen.48 Warum hat der Ausdehnung des ästhetischen Bewußtseins zugleich eine Herabsetzung der Allegorie entsprochen? Mehr als eine Kunstform, wie etwa in der allegorischen Malerei, ist die Allegorie eine rhetorische und exegetische Form. Um ein Beispiel anzuführen: Die allegorische Darstellung der Gerechtigkeit ist die einer Göttin mit verbundenen Augen, die eine Waage in der Hand hält. Dies bedeutet, daß die Allegorie nicht allein das
Vgl. in diesem Band Kap. IV, 3. 46 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 70-76. 47 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 69. 48 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 76-87. Vgl. dazu. joEL C. WEINSHEIM ER, Gadamer's Hermeneutics. A rcading of Truth and Method, New Haven and London: Yalc University Press 1985, 89 f. 45
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dn WisH•nsc·haft und Irrealität der Kunst
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Werk des Genies ist, sondern sich auf feste Traditionen stützt. 49 Sie ist also eine Art Geheimschrift, die über das, was sie ausdrückt, hinaus auf eine bestimmte Wirklichkeit weist. In diesem Sinn ist sie eine Wirklichkeitserfahrung. 50 Dieser Anspruch, der sie für das ästhetische Bewußtsein verdächtig macht, läßt sie in den Augen Gadamers gerade interessant aussehen. Wenn es ihm deshalb um eine "Rehabilitierung der Allegorie" geht, so deutet sich in dieser Intention bereits die Notwendigkeit an, eine Beziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit auf neue Weise zurückzugewinnen. 51 In Bezug auf die für ihn fatale Trennung zwischen Kunst und Wirklichkeit spricht Gadamer von einer Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins. Sie ist der Preis, der für die Autonomie der Ästhetik zu entrichten war. Bereits Schiller mußte ihn bezahlen, der zwar eine Überwindung der kantischen Dualismen erstrebte, damit aber nur den Abgrund zwischen Kunst und Realität vertieft hat. 52 Ermöglicht und verfestigt wird dieser Abgrund jedoch genaugenommen durch die szientistische Reduktion, welche die Realität weiterhin auf die raum-zeitliche Materie begrenzt, die von der Wissenschaft untersucht und kontrolliert wird. Alles übrige ist für sie Schein oder gar Fiktion. Es ist kein Zufall, daß in der angelsächsischen Welt das Wort fiction zur Bezeichnung von Literatur verwendet wird. 53 Durch die "ästhetische Unterscheidung" wird die Kunst entwirklicht. 54 Das ästhetische Bewußtsein, das im Gegenstand nur dessen "ästhetische Qualität" anerkennt, trennt und abstrahiert ihn von der realen Welt, um ihn in die Sphäre des schönen Scheins zu versetzen. 55 Doch dies geschieht nur, weil die Wissenschaft sich bereits das eigentliche Sein angeeignet hat. Die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins ist insofern das Ergebnis des okkulten Wissenschaftsimperiums. Die Kunst erlangt auf diese Weise zwar eine Autonomie, doch diese ist nur imaginär. Der deutlichste Beweis dafür sind die Stätten, die zwar für die Kunst bestimmt sind, sie letztlich aber marginalisieren. Es gibt keine Stadt, die nicht Theater, Konzertsäle oder Kunstzentren hätte. Sie aber halten die Kunst von der Realität fern, die anders und anderswo ist, die von Wirtschaft und Wissenschaft verwaltet und dominiert wird. Als Ort dieser Marginalisierung der Kunst gilt für Gadamer das Museum: Im Unterschied zu den älteren Sammlungen, die einen Geschmack widerspiegelten oder die Arbeiten einer einzigen Schule enthielten, ist das Museum heute eine "Sammlung von Sammlungen", 49
50 51
52
5·1
Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 85. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 82. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 76. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 87 f. GAUAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1990), GW 8, 400-440, hier
424. 54
.,~
GAJ>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 91. (;AI>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 91.
wt.•ldu·, nkht :t.ult.•tl'.t c.lun:h tlir hi~toriHcht• Anurc.lnunv. dl'r Exptmi\tl', den ei~enen U rspru n~ vcrhi r~t. '\tl llicr l'.clchricrt llit:o~ iist ht.•t isc he Ucw u f~tsci n sei nc eigene lrrcalit;it. Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, daf~ eine solche Entwirklichung auch Auswirkungen auf den Künstler hat, der "seinen Platz in der Welt verliert", da er sich vorgaukelt, in völliger Unabhängigkeit produzieren zu können. Er wird zu einem Außenseiter, dem man zugesteht, wie ein Boheme zu leben. Damit macht die entsakralisicrte und säkularisierte Welt der Wissenschaft auf ihrer unablässigen Suche nach neuen Mythen aus dem Künstler eine Art von "irdischem Erlöser", von dem die Rettung der Welt abhängen soll. Seine Tragik besteht darin, daß er immer nur eine besondere Erlösung vollbringen kann- die eigentlich die Negation der Erlösung ist- und durch das um ihn sich versammelnde Publikum die Schmach dieser Besonderheit erfährt. 57 Doch selbst in der Vergangenheit- so mahnt Gadamer- war die Auftragskunst die Regel. Und von Mozarts Requiem bis zur Sixtinischen Kapelle dürfte es schwierig sein, Ausnahmen zu finden. Was das ästhetische Bewußtsein Inspiration, Genialität und Schöpfung nennt, ist für den Künstler auf sehr prosaische Weise Beruf und Arbeit, auch und vor allem Auftragsarbeit. Doch auf ihrem Weg kommt die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins letztendlich dazu, von der Kunst selbst zu abstrahieren, deren Beziehung zur Realität eben deshalb zurückgewonnen werden muß. Diese Beziehung ist keine Beziehung der Diskontinuität. Die Kunst unterbricht zwar die hermeneutische Kontinuität unserer Existenz, schneidet sie aber nicht ab. Weit davon entfernt, eine Art Traumereignis zu sein, das nur in Ernüchterung endet, kann die Begegnung mit dem Kunstwerk das Leben so tief prägen, daß sie den Anfang einer Erneuerung, einer ganz neuen Weise, in der Welt zu leben markiert. 58 Nicht nur ist die Kunst keine entwirklichte Wirklichkeit; sie ist im Gegenteil eine potenzierte Wirklichkeit in dem Sinn, daß ihr Sein zuwächst. Gadamer wird deshalb von einem "Zuwachs an Sein" sprechen. 59 Kunst ist demnach eine Erfahrung der Wahrheit. Wo sich aber die Auffassung der Kunst ändert, da wird sich offenbar auch die Auffassung der Wahrheit ändern.
56
57 58 59
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 92. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 94. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 106. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 145.
III. Kapitel
In der Kunst verweilen Auch die ästhetische Erfahrung ist eine Weise des Selbstverstehens. 1 Das Wesen der Zeitedahrung der Kunst ist, daß wir zu verweilen lernen. Das ist vielleicht die uns zugemessene endliche Entsprechung zu dem, was man Ewigkeit nennt. 2
1. Zu einer Phänomenologie des Spiels Es mag vielleicht überraschend erscheinen- und Gadamer selbst weist im Rückblick darauf hin-, daß ein Werk wie Wahrheit und Methode, das schon im Titel eine Auseinandersetzung mit der Wahrheit ankündigt, gleich zu Beginn ein langes Kapitel der Kunst widmet. 3 Doch gerade die Kunst spielt in der philosophischen Hermeneutik eine Schlüsselrolle. Nur von der Kunst her läßt sich nämlich aufs neue erfahren, was Wahrheit ist. Hieraus entsteht das Erfordernis, die Ästhetik vom Widerstreit mit der modernen Wissenschaft zu entbinden. Deren Anspruch auf Objektivität hat die ästhetische Erfahrung in eine Subjektivität zurückgedrängt, die sich scheinbar nur in frivoler und spielerischer Selbstbezüglichkeit ergeht. Die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins hat diesen Triumph der Wissenschaft schließlich besiegelt. Wie kann man. dieser Sackgasse entkommen? Der von Gadamer aufgezeigte Weg führt zu einer Auffassung der Kunst als Erfahrung des Seins, oder besser als "Zuwachs an Sein", in der die Subjektivität nur eine sekundäre Rolle spielt.4 Deshalb stellt er der starren Dichotomie von Subjekt und Objekt das dynamische Modell einer Begegnung entgegen, die einen Geschehenscharakter hat: "Alle Begegnung mit der Sprache der Kunst [ist] Begegnung mit einem unabge-
HANS-GEORG GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 102. 2 GADAMER, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest {1974), GW 8, 94-142, hier 136. 3 GADAMER, Wort und Bild- )so wahr, so seiend< (1992), GW 8, 373-399, hier 373. 4 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW t, 145. 1
60
I I I. Kapitel: In der Kunst verweilen
schlossenen Geschehen und selbst ein Teil dieses Geschehens." 5 Eine "Ontologie des Kunstwerks" wird dieses neue Modell verdeutlichen. Gadamers Ontologie des Kunstwerks entfaltet sich am Leitfaden des Spiels. Aber genauer betrachtet durchzieht dieser Leitfaden sein gesamtes Werk. So ist es gerade das Spiel, das Kunst und Sprache miteinander verbindet. 6 Das Spiel gehört nämlich zu den Begriffen, welche die Metaphysik der Subjektivität unterminieren, von Grund auf bedrohen und eben aufs Spiel setzen. Doch vom Spiel hatten auch schon Kant und Schiller gesprochen, und zwar ebenfalls im ästhetischen Sinn. Während Kant sich auf das freie Spiel unserer Erkenntnisvermögen bezieht, sieht Schiller in der Kunst das Spiel, das von jedem Zwang der Erkenntnis und der Moral befreit. Gegenüber dem Ernst der letzteren sollte das Spiel der Kunst den ästhetischen Raum des entertainment und des divertissement erschließen. Gadamer hingegen fragt sich weniger, ob die Kunst, als vielmehr, ob das Spiel etwas Ernstes sei. Anders gesagt: Er stützt sich auf die Kategorien des ästhetischen Bewußtseins, um dieses jedoch umzukehren. Das Spiel der Subjektivität schlägt dabei in das Spiel der Kunst um, das die Subjektivität selbst einschränkt und aufs Spiel setzt, während sich die Irrealität bzw. der schöne Schein des ästhetischen Bewußtseins in die Realität der Kunst umkehrt, die wirklicher ist als die Wirklichkeit. Weit davon entfernt, nur ein müßiger Zeitvertreib zu sein, verlangt das Spiel, ernst genommen zu werden. Ein Spiel findet statt, wenn der Spieler von ihm eingenommen und gefangen ist, wenn er also völlig in das Spiel versenkt ist. "Wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber." 7 Das Spielläßt nicht zu, daß der Spieler außerhalb bleibt bzw. daß er sich zu dem Spiel wie zu einem Objekt verhält. Gadamer hört hier auf die Sprache, die vom Spiel des Lichts, dem Spiel der Wellen, der Kräfte, der Farben und sogar von Wortspielen spricht. Spielen bedeutet aber nicht nur, an einem Spiel teilzunehmen, sondern auch, ein Musik- oder ein Theaterstück aufzuführen. Gibt es ein Subjekt des Spiels, so ist dieses, wie aus diesen Beispielen ersichtlich wird, nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst. Gadamer verweist daher auf ein "Primat des Spiels vor den es ausführenden Spielern." 8 Spielen bedeutet, sich in das Spiel hineinziehen zu lassen; denn es ist das Spiel, das seine Regeln, seine Bewegung und seine Vorherrschaft durchsetzt und somit den Spieler ergreift, ihn gefangen und im Spiel hält- nicht umgekehrt. Und dem Spieler bleibt nichts anderes übrig, als sich dem Spiel zu unterwerfen, sich einer "ihn übertreffenden Wirklichkeit" zu beugen, die ihn gerade deshalb über die eigenen Grenzen erhebt.9 Man darf sich also nicht anGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 105. 6 Vgl. GADAMER, Zwischen Phänomenologie und Dialektik- Versuch einer Selbstkritik, GW 2, 5 f. 7 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW I, 108. 11 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW I, 111. '' GAJ>AMER, W;thrlu·it und Ml·thodc, GW 1, 115. 5
1. Zu einer Phänomenologie des Spiels
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maßen, das Spiel zu dominieren, regeln oder führen zu können. Man darf sich nicht anmaßen, aktiv zu sein. Gadamer spricht von dem "medialen Sinn" des Spielens, wobei er sich auf den Aspekt des griechischen Verbs bezieht, in dem eine Aktivität angezeigt wird, die das Subjekt dermaßen einnimmt, daß sie in eine Passivität übergeht. 10 Daher läßt sich sagen: "Alles Spielen ist ein Gespieltwerden."11 Das Spielen ist nicht irgendeine Tätigkeit, die das Subjekt für sich selbst ausführt, sondern es erfordert Gegenseitigkeit: selbst in den Patiencespielen ist es notwendig, daß etwas der Bewegung des Spielers durch eine symmetrische Bewegung entspricht. So geschieht es im Spiel des Kindes mit dem Ball, und im Spiel der Katze, die sich ein Wollknäuel aussucht, das mit ihr spielt. So geschieht es aber auch, wenn man mit den Möglichkeiten des Lebens spielt. Diese Phänomenologie des Spiels, die durch Begriffe wie Kunst, Fest, Ritual bis hin zur Sprache hindurchgeht und sie miteinander in Verbindung bringt, erhält in Gadamers Hermeneutik eine Bedeutung, die nicht unterschätzt werden darf. Aber welchen Stellenwert kommt dem Spiel in einer Ontologie des Kunstwerks zu? Das Spiel bringt zwei widersprüchliche und dennoch korrelierte Aspekte der ästhetischen Erfahrung ans Licht. Man kann einerseits sagen, daß die Subjektivität, so wie sie sich im Spiel der autonomen Wirklichkeit des Spieles beugt, die sie überragt, sich auch vor der Transzendenz der Kunst verneigt. Man muß andererseits hinzufügen, daß diese Transzendenz keine gleichgültige, keine abgetrennte ist, da sie nämlich die Subjektivität aufs Spiel setzt, sie hineinzieht und gefangen hält. Dieses Gefangensein ist eine andere Art, um Verstehen zu sagen. Das Gedicht spricht mich an, das Gemälde schaut mich an. Die Subjektivität, die das Spiel der Kunst spielt, wird zu einer höheren Wirklichkeit erhoben, hört dabei jedoch nicht auf, angesprochen zu sein. Weil sie dem Anspruch der Kunst antwortet, bleibt sie sekundär. Dieser Anspruch scheint fast wie ein Diktat, eine Art Aufforderung zu sein, die auf den sakralen Charakter der Kunst, auf ihre Absolutheit, auf ihre Hoheit verweist. 12 Dies ist das Thema, auf dem Gadamer vor allem in seinen letzten Arbeiten insistiert. Die Absolutheit läßt an eine "Auszeichnung" denken. Und in der Tat verwendet Gadamer mehrmals dieses Wort. Doch dabei würde man wohl Gefahr laufen, in die "ästhetische Unterscheidung" zurückzufallen, die das Kunstwerk von der wirklichen Welt abtrennt und es in die Sphäre des schönen Scheins versetzt. Hier gilt es, Gadamer bis in die Feinheiten seiner Abgrenzung zu folgen. Das Kunstwerk zeichnet sich gegenüber der Wirklichkeit aus, doch es trennt sich nie von ihr. Darum spricht er von einer "ästhetischen Nicht-Unterscheidung", da diese eine Unterscheidung voraussetzt, die nicht als Auszeichnung, Wahrheit und Methode, GW 1, 111. Wahrheit und Methode, GW 1, 112. 12 JoAo MANUI~I. l>liQlll·:, Die Kunst als Ort immancmcr Transzendenz. Zu einer fund.uncnt;llth<.·olo~isl.:ht.•n Rc:t.cption der Kunstphilosophie Hans-Gcorg Gadamers, Frankfurt 10 GADAMER, 11 GAI>AMER,
am M.tin: Kncdn tlJ97.
62
III. Kapitel: In der Kunst verweilen
sondern als distinktiver Charakter aufzufassen ist. 13 Denn die Kunst ist wirklicher als die Wirklichkeit, sie ist ein Überschuß an Wirklichkeit, ein Zuwachs an Sein. Deshalb kann sie eine "Richtigkeit" für sich in Anspruch nehmen, gegen die keine wissenschaftliche Richtigkeit wird aufkommen können: die Richtigkeit einer astronomischen Entdeckung wird viel früher vergehen als die der Mona Lisa. Die Kunst kann eine Wahrheit beanspruchen, die sie zur Aussage macht. Kunst als Aussage lautet denn auch der Titel des 8. Bandes der Gesammelten Werke, der sich durchgängig mit der Ästhetik befaßt. Dieser Begriff der "Aussage" ist in einem polemischen Sinn der Logik entnommen, die jede Wahrheit auf eine propositionale Wahrheit verkürzt. Gadamer will damit sagen, daß die Kunst dank ihrer Wahrheit mehr Aussage als jede andere Aussage ist. Ihre Aussage ist eine Anrede; sie hört nicht auf, uns anzusprechen und uns zu einer Antwort aufzufordern. Diese Antwort ist ein Mitspielen, und zwar ein Mitspielen des Spiels der Kunst. Es ist in diesem Mitspielen, daß das Kunstwerk sich wirklich vollzieht.
2. Über die Verwandlung Es bleibt aber noch zu klären, inwiefern das Kunstwerk, als Spiel verstanden, nicht etwa nur ein flüchtiges Ereignis ist, sondern Beständigkeit und Autonomie als Werk erlangt. Gadamer spricht vom ontologischen Vorgang der Kunst als Emanation oder Darstellung. Wenn die Seinsweise des Spiels die der Selbstdarstellung ist, weil es nicht auf einen zweckmäßigen Zusammenhang verweist, so ist die Seinsweise der Kunst die der Darstellung. Denn hier öffnet der geschlossene Raum der Spielwelt eine seiner Wände und weist über sich hinaus auf diejenigen, die zuschauend daran teilhaben. 14 Kunst ist dann Darstellung von etwas und Darstellungfür jemanden. Hierin gewinnt das Sein des Kunstwerks Gestalt. In diesem Zusammenhang spricht Gadamer in Wahrheit und Methode von der "Verwandlung ins Gebilde". Was bedeutet dies? Verwandlung [...] meint, daß etwas auf einmal und als Ganzes ein anderes ist, so daß dies andere, das es als Verwandeltes ist, sein wahres Sein ist, dem gegenüber sein früheres Sein nichtig ist. 15
Gadamer will zunächst sagen, daß sich das Spiel der Kunst zu einem Gebilde verdichtet, in dem es die eigene "Idealität" erreicht. 16 Doch das Wort "Verwandlung" hat zahlreiche Nachklänge, die zur Klärung eines so komplexen Begriffs weiter bestimmt werden müssen. Wahrheit und Methode, GW 1, 122. Wahrheit und Methode, GW I, 114. GAnAMI~R, Wahrheit und Mt>tlmdc, GW I, lll1. GAUAMI·:K, Wahrheit und M"·thmh.·,CiW 1,JJ(,-117.
13 GAl>AMER,
14 1~
11'
Vgl.
GADA M ER,
2. Über die Verwandlung
63
Was dargestellt wird, verwandelt sich in ein Gebilde, das des Kunstwerks, dank dessen es einen Zuwachs an Sein erlangt oder besser - um den Irrtum zu vermeiden, der die Vorstellung einer Quantität nahe legen könnte- dank dessen es sein wahres Sein erlangt. Verwandlung ist in diesem Sinn "Verwandlung ins Wahre." 17 Dabei ist es keineswegs so, daß das Dargestellte etwa seine Identität verändern würde. Man denke an das Beispiel eines Porträts. Im Fall eines gelungenen Porträts kann man sagen: "das ist er" oder "das ist sie ganz genau"; im Fall eines mißlungenen Porträts sagt man dagegen: "das ist er nicht", "das ist sie gar nicht". In beiden Fällen geht es um dieselbe Person, nur läßt das gelungene Porträt ihr Sein erkennbar bzw. wieder erkennbar werden. Hierin liegt die "Seinsvalenz" des Bildes. 18 Diese Valenz tritt dort um so mehr zutage, wo die Kunst das darstellt, was nicht in Wirklichkeit existiert. Paradigmatisch ist das religiöse Bild - man denke an die Ikone der Ostkirchen - das "mit dem Abgebildeten seinsmäßig kommuniziert." 19 Verwandlung hat hier auch einen religiösen Anklang, und indem sie an die Epiphanie erinnert, deutet sie auf eine Erhöhung in einen Seinsrang, der neues Licht auch auf das wirft, was das Dargestellte einmal war. Aber die Verwandlung ist ein Vorgang, der nicht nur das Dargestellte betrifft. Die Kunst verwandelt auch denjenigen, der von ihr erreicht wird. Wer am Spiel der Kunst teilnimmt, kann sich der Verwandlung seines eigenen Seins nicht entziehen. Während sie das verwandelte Sein des Dargestellten offenbart, enthüllt die Kunst uns zugleich unser Sein, die Gesamtheit unseres In-der-WeltSeins, des Seins unserer Welt, das auf einmal verwandelt ist. Eine andere Art, um Verwandlung zu sagen, ist "Vermittlung", die wiederum den zweifachen Sinn der Ausführung und der Interpretation hat. Sie bezieht sich zum einen auf die Inszenierung und auf die Aufführung eines Werkes (man denke hier an ein Musikstück), zum anderen auf die Weise, in welcher der Zuschauer es interpretiert. Man muß hier von "totaler Vermittlung" reden; es bedeutet, daß nicht nur die Kunst mit ihrer Deutung verschmilzt, sondern auch, daß "das Vermittelnde als Vermittelndes sich selbst aufhebt." 20 Die Deutung ist nämlich gelungen, wenn sie sich nicht selbst zu erkef?.nen gibt, sondern das Kunstwerk zum Sprechen bringt. 21
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 118. GAOAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 139. Vgl. dazu GuY DENIAU, Bild und Sprache. Ü bcr die Seinsvalenz des Bildes. Ästhetische und Hermeneutische Folgerungen (GW l, 139-176), in GüNTER FIGAL (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer- Wahrheit und Methode 2007, 59-74. 1'1 GAJ>AMER, Wahrheit und Methode, GW I, 147. 10 (iAOAMEK, W.1hrhc:it und Methode:, GW 1, 125. 17
111
11
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in di"·"~·m 1\and K.lp. V111, 11.
111. 1\"pltrl: IH 1lr•t· 1\umt vr.•t··w•'' ""
3. Zwischen Min1csisund Ani\111tH.•sis Wenn in Wahrheit und Methode zu lesen ist, dag die Kunst sich als Scinsgeschehen, als Welteröffnung, als Wahrheitsereignis auffassen läßt, so würde man erwarten, dem Namen Heideggers zu begegnen, der jedoch in dieser Ontologie des Kunstwerkes kein einziges Mal vorkommt. Dies ist schon sehr erstaunlich, zumal wenn man einige unverwechselbare Nachklänge von Heidegger vernimmt: Die Verwandlung ins Werk erinnert etwa an das "Ins-WerkSetzen der Wahrheit", von dem Heidegger in seinem berühmten Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks von 1935-1936 spricht. Noch erstaunlicher wird dieses Schweigen, wenn man bedenkt, daß Gadamer 1959 auf Heideggers Anraten ein wichtiges Nachwort zu dessen Aufsatz unter dem Titel Die Wahrheit des Kunstwerks für die Reclamausgabe geschrieben hat. 22 Denn zweifellos verdankt Gadamer seinem Lehrer viel gerade im Blick auf seine Auffassung der Kunst als seinsoffenbarende Erfahrung. Beiall diesen Affinitäten gibt es doch auch nicht wenige Unterschiede zwischen beiden Philosophen, die im Lauf der Zeit immer deutlicher hervortreten. Wichtig ist dabei vor allem, daß der philosophische Zusammenhang, in den Sein, Wahrheit und Werk eingefügt sind, völlig unterschiedlich ist- so wie ihre Einstellung zur "Seinsfrage", zur Metaphysik und zu deren Überwindung unterschiedlich ist. 23 Gadamer teilt weder Heideggers Idee der Seinsvergessenheit, welche die Geschichte der abendländischen Metaphysik gezeichnet habe, noch das Bedürfnis einer Überwindung der Metaphysik. In einem schlichtweg unmetaphysischen Sinn insistiert er hingegen auf der Reminiszenz des Seins, die er als das auffaßt, was die Subjektivität immer schon übersteigt. 24 So wird die vom Spiel gefangene Subjektivität in der Kunst über sich selbst hinaus geführt, bis sie die eigene Grenze erfährt bzw. sich an das Sein erinnert. Die Kunst ist für Gadamer eben diese Reminiszenz des Seins und die Begegnung mit dem Kunstwerk ein anamnetisches Wiedererkennen. Kunst ist Mimesis insofern sie immer Anamnesis ist. Damit markiert er den Abstand zu Heidegger durch die Wiederaufnahme zweierplatonischer Begriffe. Nach dem Triumph der Genieästhetik und der Durchsetzung der Wissenschaft, die der Kunst jeden Erkenntniswert absprechen, war der Begriff der Mimesis ganz aufgegeben worden. Gadamer versucht nun, ihn Zurückzugewinnen und zu rehabilitieren. Schon für A ristoteles ist die Mimesis keine bloße Wiederholung oder Kopie, die letztendlich auf eine Verdoppelung des Wirklichen hinauslaufen würde. "Wer nachahmt, muß weglasJetzt in GADAMER, Die Wahrheit des Kunstwerks {1960), in: Neuere Philosophie IHegel, Husserl, Heidegger, GW 3, 249-261. 23 Vgl. in diesem Band Kap. IV, 5; Kap. IX, 2. 24 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW J, 108. 22
65 Sl'n und lwrvorhdwn." ·'" PI.Huns l.chrc der Mimesis bietet ihrerseits zwar wichti~c Ans~itzc, lwn:itc:t jl·doc.:h i'.u~ll·irh Schwierigkeiten. In der Politeia stützt sich Platon hl·kanntlich ituf den ontologischen Unterschied, nicht nur um das Bild vom Urbild, und zwar den sinnlichen Gegenstand, der Bild ist, von dessen Idee, die Urbild ist, abzugrenzen, sondern auch um das Bild als solches, das heif~t als Abbild eines Bildes auf eine dritte Stufe herabzusetzen. Gadamer geht von dieser Herabsetzung aus und spielt gewissermaßen Platon gegen Platon aus. 26 Dabei kehrt er zunächst die Beziehung zwischen Bild und Urbild um, denn das Urbild ist immer nur im Bild da. Darüber hinaus behauptet er, daß dies umso mehr für das künstlerische Bild gilt, das, weit davon entfernt, auf einen Seinsverlust hinauszulaufen, ein Zuwachs an Sein ist. Gerade hier und nur hier, im künstlerischen Bild, läßt sich das Urbild erkennen bzw. wiedererkennen. Dieses Wiederkennen, das die Mimesis auslöst, ist immer ein "mehr" erkennen, als man vorher kannte. 27 Dies wird verständlicher im Licht dessen, was Platon im Phaidon über die Anamnesis sagt. 28 Wiedererkennen ist für ihn kein einfaches Erkennen, sondern eine Erinnerung an die eingeborenen Ideen. Aufgrund des höheren Seinsrangs, den diese haben, verweist die Anamnesis schon hier auf einen Zuwachs an Sein. In seinem Aufsatz Kunst und Nachahmung geht Gadamer jedoch noch weiter, indem er die platonische Mimesislehre durch die pythagoreische korrigiert. 29 Der damit eröffnete neue Aspekt der Mimesis darf schon deshalb nicht unbeachtet bleiben, weil die Erinnerung an das Urbild den Eindruck erwecken könnte, es handle sich um eine realistische Nachahmung, die auf das Wesen zielt. Die pythagoreische Mimesis führt die Idee einer kosmischen Ordnung ein - k6smos ist die Ordnung des Sternenhimmels, der für die Griechen das Glänzen des Schönen selbst ist. Nach dem antiken Wortgebrauch ist mimesis "von dem Sternentanz her gewählt." 30 Und die Sterne stellen die reinen mathematischen Gesetzlichkeiten und Proportionen dar. Nicht weniger als die himmlischen Harmonien sind die Sterne konstant und verläßlich im Vergleich zur Unbeständigkeit des menschlichen Lebens. In der Kunst findet daher ein Ordnungsbedürfnis Ausdruck, das sie vor dem Chaos auszeichnet, in dem für geGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 120. Vgl. in diesem Band Kap. VI, 5. 27 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 119. 28 PLATON, Phaidon 72e-73b. Platons Dialoge werden zitiert nach: Platonis Opera, hrsg. von John Burnet, Oxford 1900-1907 (Die deutsche Übersetzungen von Platon sind von Friedrich D.E. Schleiermacher). Vgl. dazu DIETER TEICHERT, Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis: Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Hans-Georg Gadamcrs, Stuttgart: Metzler 1991; jAMES RISSER, The Rememhrance of the Truth. The Truth of Rcmcbrancc, in: BRICE R. WACHTERHAUSER (Hrsg.), Hermeneuries and truth, Chicago: Nnrthwcstcrn Univcrsity Press 1994, 123-136. 1'1 GA DA M FR, Kunst und Nachahmung (1967) GW 8, 25-36. 10 (;ADAMI'R, l>il·Aktu
26
66 wöhnlich die Beziehungen der Welt erscheinen. Einer solchen Auffassung der Mimesis, die sich weniger auf ein Urbild als vielmehr auf ein Urverhältnis beruft, in dem sich die alltägliche Unordnung in eine kosmische Ordnung verwandelt, entsprechen insbesondere die gegenwärtigen Künste, von der absoluten Musik bis hin zur abstrakten Malerei. Man kann diese Künste insofern mimetisch nennen, als sie, das Getrennte und Fragmentierte zusammenhaltend, die Möglichkeit einer Ordnung hervorrufen. Dies soll jedoch keineswegs heißen, daß das neue Ordnungszeugnis das bisher Gewohnte nicht in Abrede stellt. Die Vertrautheit, mit der das Kunstwerk uns anrührt, ist zugleich auf rätselhafte Weise Erschütterung und Einsturz des Gewohnten. 31
Die ordnungsgebende Mimesis der Kunst ist ein anamnetisches Wiedererkennen, weil es uns aus dem ontischen Schlaf reißt, in dem wir, verirrt, verwirrt und im Chaos der Seienden des alltäglichen Lebens konsumiert, den Sinn für das Sein verloren haben. Das Ereignis der Kunst geschieht, um uns daran zu erinnern. Im Kunstwerk erkennen wir die Welt, in der wir leben, so wieder, als würden wir sie zum ersten Mal erkennen, und bei diesem Wiederkennen des schon Erkannten sagen wir vor seinerneuen Gegenwart nicht ohne Überraschung und unversehens erkennend "so ist es", um seine Richtigkeit zu bestätigen. Hier enthüllt die ästhetische Erfahrung ihre Kontinuität zur Existenz, die in der Kunst sich selbst begegnet.
4. Die Zeit der Kunst Was aber ist darunter zu verstehen, wenn man in Bezug auf die Kunst von "Gegenwart" spricht? Der Begriff der Gegenwart und der Präsenz ist eng mit dem der "Repräsentationc' bzw. der "Darstellung" verbunden. In Wahrheit und Methode verwendet Gadamer das Wort Darstellung, das aber nach und nach durch das von Heidegger stammende Wort Vollzug ersetzt wird. "Hermeneutik im Vollzug" ist der Titel des 9. Bandes der Gesammelten Werke, welcher der poetischen Hermeneutik gewidmet ist. Man kann also sagen, daß das Kunstwerk sich erst in dem Ins-Werk-Setzen seines Vollzugs ergibt, bzw. daß das Sein des Kunstwerks in seiner Darstellung liegt. Wenn er später eine weitere Verwandtschaft zwischen Kunst und Sprache zum Vorschein bringt, wird Gadamer sagen: "Kunst ist im Vollzug, wie Sprache im Gespräch." 32 Was das künstlerische Bild und das poetische Wort auszeichnet, ist ihre "Gegenwärtigkeit". Das Kunstwerk erreicht uns dadurch, daß es jeden Abstand 31 GADAMER,
32 GADAMER,
Ästhetik und Hermeneutik (1964), GW 8, 1-8, hier 8. Wort und Bild- •so wahr, so seiende, GW 8, 395.
rl. IJtt~l.r.tl rlrt· Kumt
67
überbrückt. Fs ist ...ahsulut .. im llc~clschen Sinn des Wortes, da es trotz aller Untcrschit·de und Ahstiinde der Geschichte den Anspruch auf Absolutheit erheben kann. ,.Trotz" bedeutet hier "hindurch". Die Kunst geht nämlich durch die Geschichte hindurch, allerdings nicht als ein Wesen, das unverändert alle Veränderungen überlebt und somit Siegerin über die Geschichte bleibt. Vielmehr ist sie ein Ereignis, in dem sich die Zeiten der Geschichte begegnen. In der Darstellung, die das Werk zum neuen Leben ruft, wird die Vergangenheit Gegenwart. Die Kunst- so schreibt Gadamer in seinem Beitrag zum Thema Ende der Kunst?- ist "Gegenwart der Vergangenheit". 33 Er bezieht sich damit auf die berühmte These Hegels vom "Vergangenheitscharakter der Kunst" oder vom "Tod der Kunst", auf die er in zahlreichen Arbeiten zurückkommt, um hervorzuheben, daß sie keineswegs auf banale Weise als das bloße Ende der Kunst aufzufassen ist, wie wenn man vom Ende der Philosophie spricht. Der "Vergangenheitscharakterc' will für Hegel besagen, daß die Kunst sich nicht mehr von selbst versteht, daß sie einer Rechtfertigung bedarf, weil das Kunstwerk nicht mehr das Göttliche ist, das wir verehren. 34 Die Kunst erscheint ihm "vergangen" gegenüber dem Begriff. Wenn man deshalb vom Ende der Kunst spricht, behauptet man auf spekulative Weise sowohl ihre Gleichzeitigkeit, weil die Kunst keinem Fortschritt unterworfen ist, als auch ihre Souveränität im Verhältnis zur Geschichte. 35 In diesem Sinne ist die vergangene Gegenwart der Kunst eine absolute Gegenwart und eine absolute Präsenz, auf die ein Vergleich mit der christlichen Parusie Licht werfen kann. 36 Um die Zeit der Kunst, jene "Gegenwart sui generis" zu verdeutlichen, führt Gadamer ausdrücklich theologische Begriffe ein. Dabei spielt der Begriff der ,,Gleichzeitigkeit" eine Schlüsselrolle, den er, vermittelt durch die dialektische Theologie Karl Barths (1886-1968) und Rudolf Bultmanns, von Kierkegaard übernimmt. 37 Für diesen hat die christliche Botschaft der Rettung auch heute eine unverminderte Dringlichkeit: Weit davon entfernt, eine Geschichte aus vergangeneo Jahrhunderten zu sein, erhebt sie einen Anspruch hier und jetzt. Gadamer bezieht diesen Anspruch auf die ästhetische Erfahrung, um zu zeigen, daß die Zeitlichkeit der Kunst nicht die jenes Abstands ist, der sowohl vom ästhetischen Bewußtsein als auch vom Historismus markiert worden ist. Die Kunst ist immer gleichzeitig. Um das zu verstehen, muß man den Begriff der GADAMER, Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst bis zur Antikunst von heute (1985), in: Das Erbe Europas, 63-86; auch in: GW 8, 206-220, hier 208. ·14 GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 97. ·'"' Vgl. VALEKIO VERKA, L'csthctique hcgclienne dans l'interpretation de Hans-Georg Gad;tmcr, in: Pn:KKI;. OsMo {Hrsg.), Autour dt• Hcgcl, Paris: Vrin 2000,417-427. 't· V~l. (;I\ IM MI· K, W.thrlu.'it und Methode, GW I, 132 f. II (;1\UI\MJo:K, w.ahrlu·itund Mcthmlc. c;w I, 126. 33
68
Gleichzeitigkeit dem der Simultaneität entgegenstellen. Geht man durch ein Museum, in dem die Werke nach Epochen und nach Stilen ausgestellt sind, so macht man die Erfahrung dieser Simultaneität. Hier bewegt sich das ästhetische Bewußtsein von einem Saal zu dem anderen, von der Renaissance zum Barock, vom Impressionismus zum Expressionismus, wo die verschiedenen Werke simultan zum Gegenstand einer einzigen ästhetischen Erfahrung werden. Die Historisierung ist zwar unumgänglich. Noch bevor wir einen Braque betrachten, wissen wir, daß er ein Kubist ist. Aber die Zeitlichkeit der Kunst reduziert sich keineswegs auf einen solchen historischen Abstand. Ebensowenig kann die ästhetische Simultaneität jemals die ursprüngliche Gleichzeitigkeit auslöschen, die aus der Wahrheit der Kunst ausstrahlt. Es gibt immer etwas Fesselndes im Kunstwerk, das es der historischen Forschung entzieht und somit gegenwärtig und gleichzeitig erscheinen läßt. 38 Diese Zeit ist eine Gegenwart, in der uns aus der Vergangenheit die Zukunft entgegenkommt, auf die wir warten und die auf uns wartet. Es ist in dieser Weile, die weder lang genug ist, um sich zu langweilen, noch kurz genug, um sich abzulenken, daß die Kunst uns zum Verweilen einlädt. 39
5. Das Beispiel der Tragödie Es überrascht daher nicht, daß die Gleichzeitigkeit für Gadamer gerade in der Tragödie ein vortreffliches Beispiel findet. Die Komplexität der Tragödie hat für die Ästhetik stets ein Problem dargestellt, und sie hat Theoretiker wie Hamann und Scheler, die für Gadamer wichtige Gesprächspartner gewesen sind, dazu geführt, das Tragische als ein ethisch-metaphysisches und nahezu außerästhetisches Phänomen zu betrachten. 40 Im Gegensatz zu der Unterscheidung, die das ästhetische Bewußtsein charakterisiert, hat man es hier in der Tat mit einer "ästhetischen Nicht-Unterscheidung" zu tun. Das tragische Kunstwerk verweist unmittelbar auf die Tragödie des Lebens. Doch gerade dies bringt Gadamer dazu, das Tragische als ein ästhetisches Grundphänomen zu denken. Dies nicht nur deshalb, weil die Tragödie ihr Sein in der Darstellung hat, oder weil der Zuschauer in die Ausführung der Tragödie einbezogen ist. Sondern vor allem deshalb, weil es hier eine Kontinuität zum Leben gibt, die anderswo nicht zu finden ist. Auch wenn die Gleichzeitigkeit mehr als evident ist, so ist das, was Gadamer interessiert, noch ein anderer Aspekt, den Aristoteles in der Poetik ersichtlich
38 39
Vgl. GADAMER, Wort und Bild- >so wahr, so seiend<, GW 8, 377. Vgl. GADAMER, Wort und Bild- >so wahr, so seiend<, GW 8, 392-393, sowie Kap.
III, 8. 40
Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 134.
69 macht.'" Es ~cht um jc.•nc berühmte Definition, der zufolge die Tragödie eine katharsis, eine Rcini~un~ der Leidenschaften, von eleos und ph6bos, von Jammer und Bangigkeit vollbringt. Diese Definition kann, je nachdem, ob man den Genitiv im objektiven oder im subjektiven Sinn auffaßt, unterschiedlich gedeutet werden: als Befreiung von den Leidenschaften oder als deren Läuterung. 42 Gadamer entscheidet sich für die zweite Interpretation, aber er sieht hierin nicht den Schlüssel für das Phänomen. Der Schlüssel wird vielmehr von Aristoteles selbst geliefert, für den die Wirkung auf den Zuschauer zum Wesen der Tragödie gehört. Der Zuschauer wird so weit einbezogen, daß er eine Reinigung der eigenen Affekte erfährt. Die Tragödie ist deshalb exemplarisch, weil sie das, was eigentlich in jeder Kunst geschieht, dramatisiert: die Begegnung des Zuschauers mit sich selbst. Scheint die Teilhabe am tragischen Ritus eher ein Heraustreten aus dem alltäglichen Leben zu sein, so vertieft hingegen das Dabeisein im Zuschauer die Kontinuität mit sich selbst. 43 Wer bei der Tragödie anwesend ist, wer dabei ist, findet sich selbst und die Tragik der eigenen endlichen Existenz wieder. Diese Teilnahme wird dann zu einer Wahrheitserfahrung.
6. Der Seinsvorgang der Darstellung Statt daher nur ein bloßes Beispiel zu sein, scheint die Tragödie Gadamer eher als ein hervorragendes Muster zu dienen, sowohl was ihre Kontinuität- ist doch der Schritt vom tragischen Werk zur Tragödie des Lebens klein- als auch was ihre Inszenierung oder besser: ihre Darstellung betrifft. Denn sie bestätigt unzweideutig seine These, der zufolge ",Darstellung' als die Seinsart des Kunstwerks selbst anerkannt werden [muß]."44 Anders gesagt: Wenn das Spiel sich ins Gebilde verwandelt hat und trotz der von ihm erreichten idealen Einheit wiederholt dargestellt und verstanden werden kann, dann erreicht seinerseits dieses Gebilde, das jedoch Spiel bleibt, sein volles Sein nur darin, daß es "gespielt", das heißt ausgeführt, dargestellt und inszeniert wird. 45 Gadamer spricht in diesem Zusammenhang von einer "doppelten Mimesis" wie etwa der des Dichters und des Schauspielers.46 Was aber in beiden mimetischen Prozessen zum Sein wird, ist dasselbe, nämlich das Kunstwerk. Kurzum: das Kunstwerk läßt sich ontoloARISTOTELES, Poetica, 1449b 24-28. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 135 f. 43 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 137. 44 GADAM ER, Wahrheit und Methode, GW 1, 121. Zur vieldeutigen Konnotation von .,Darstellung" bei Gadamer vgl. jEAN GRONDIN, L'art comme presentation chez HansGcorg Gadamcr. Portee ct limites d'un concept, in: Etudes Germaniques (Hans-Georg Cadarncr- Esthctique ct hcrmcneutique, hrsg. von Frank Delannoy) 62 (2007), 337-350. H GAl)AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 122. ,.,, Ct\1>1\MJ-:R, Wahrheit und Methode, GW l, 122. 41
42
70
II/. 1\(tpitrl: in dr.•r 1\umt vrru•t•ilt•rl
gisch von seiner Darstellung nicht trennen. Während Gadamcr in den Arbeiten der letzten Jahre dem Verstchensvorgang, und zwar dem Hören und dem Antworten auf den Anspruch der Kunst, immer mehr Raum gibt, konzentriert er sich in Wahrheit und Methode vor allem auf den "Seinsvorgang der Darstellung."47 Dies tritt deutlich in den sogenannten "transitorischen", d.h. den reproduktiven oder darstellenden Künsten zutage. Es genügt, dabei an ein Musikstück zu denken, das es nicht gibt, solange es nicht aufgeführt wird. Das Beispiel der Musik ist das beredtste Beispiel. Doch dasselbe läßt sich auch für di~ Rezitation eines Gedichts oder die Inszenierung eines Theaterstücks sagen. Jede Darstellung bringt das Werk zum Sein, sie läßt es auf eine gewisse Weise sein. Die Darstellung ist daher immer auch eine Interpretation. Das Werk erlangt sein Sein nur insofern, als es interpretiert wird. Man darf hier jedoch nicht an eine Interpretation denken, die in die Subjektivität des Interpreten eingeschlossen bleibt. Denn das Werk muß zwangsläufig vor anderen aufgeführt werden. Dabei geht es nicht um eine bloß subjektive Vielheit von Interpretationen, sondern eher um mögliche Seinsweisen des Werkes. 48 Dessen ontologische Untrennbarkeit von seiner Aufführung verbietet jedoch nicht, es von dieser zu unterscheiden. So kann uns eine Inszenierung von Anton Tschechows Kirschgarten enttäuschen, weil uns etwa die Aktualisierung des Stücks zu weit geht. Die Inszenierung scheint uns dem Werk nicht gerecht zu werden, sie kommt uns daher nicht "richtig" vor. Und wir können dies behaupten, weil uns eine andere Aufführung vorschwebt, die uns richtiger vorkommt. Doch "richtiger" bedeutet hier nicht "richtig" in einem absoluten Sinn: die Vorstellung einer allein richtigen Darstellung widerspricht unserer Endlichkeit. So gibt es zwar keine richtige, ein für alle Mal festgelegte Darstellung, aber ebensowenig gibt es eine Willkür der Reproduktion. 49 Wir würden einem Geigenspieler niemals gestatten, aus einem Stück von Mozart alle möglichen beliebigen Effekte zu produzieren. Das heißt, daß alle möglichen, wie immer auch unterschiedlichen Darstellungen eines Werkes auch dort dem Kriterium einer "richtigen" Darstellung unterstellt bleiben, wo dieses Kriterium beweglich ist. Obwohl das Kunstwerk dergestalt von seiner Aufführung unterscheidbar ist, läßt es sich doch von ihr nicht trennen und bleibt auf sie angewiesen. Trittall dies bei den transitorischen Künsten, welche die Identität und Kontinuität des Werkes zur Zukunft hin offenhalten, deutlich hervor, so ist es hingegen bei allen anderen Künsten weniger klar. Läßt sich so etwas auch für die Malerei oder die Baukunst sagen? Oder für die Literatur? Gadamer glaubt, seine These auf alle Kunstformen ausdehnen zu können. Man muß jedoch her47 48
49
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 122. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 123. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 124-125.
71
vorhehcn, d,tH dit.~ in W,thrht'it und Methode der Kunst gewidmeten Abschnitte, keine umfassende und intcgrative Ästhetik anbieten wollen. Gadamer strebt vielmehr danach, von der Kunst her eine Wahrheit zurückzugewinnen, die den methodischen Wahrheitsbegriff aufs Spiel setzt und über die Kunst hinaus auf eine Hermeneutik hinweist, die sich am Leitfaden der Sprache als universal entlarvt. Die von der Kunst aufgezeigte Wahrheit ist die des verwandelten und dargestellten Seins, das als eine "gesteigerte Wahrheit" erkennbar wird. 50 Diese Wahrheit ist zugleich aber auch die Wahrheit einer Selbstbegegnung, die in der Kunst zustande kommt. Auch wenn die transitorischen Künste in dieser Hinsicht besonders anschaulich sind, so schließt dies nicht aus, daß der Seinsvorgang der Darstellung sich auch in den bildenden und in den plastischen Künsten ergibt. Gadamer nennt als Beispiel das Gemälde. Von seinem Rahmen umschlossen, erweist sich das Gemälde als vollkommen autonom und von jedwedem Ort unabhängig, so daß es ohne weiteres von einer Galerie zur anderen gebracht werden kann. Das Gemälde präsentiert sich hier als Hauptzeuge des ästhetischen Bewußtseins. Denn nichts an ihm scheint auf eine Vermittlung bzw. auf eine Darstellung zu verweisen. Die Schwierigkeit, zu zeigen, inwiefern sich dennoch auch das Gemälde als Bild nur in seiner Darstellung erfüllt, zwingt Gadamer, seine Konzeption der Darstellung noch genauer zu bestimmen. Zunächst gilt, was auch zuvor schon für jedes Kunstwerk gesagt wurde: Das Bild stellt etwas oder jemanden dar und es stellt dies für jemanden dar. Obwohl es sich als Bild nicht auf ein bloßes Abbild reduzieren läßt, hat das Gemälde dennoch keine autonome Realität und verweist auf ein Urbild. Die Beziehungen, die Gadamer zwischen diesen Begriffen umreißt, sind schon bei der Umkehrung der platonischen Mimesis hervorgetreten. Das Bild bestätigt also weiterhin seine Theorie über die" Seinsvalenz des Bilds." 51 Und es läßt sich leicht erahnen, daß man hier eine Antwort auf die Frage nach der Darstellung finden wird. Ein erster Schritt besteht darin, das Bild als Gemälde von einem einfachen Abbild zu unterscheiden. Das Abbild hat keinen anderen Zweck, als dem Urbild gleichzukommen. Das Kriterium, nach dem es sich bemißt, ist das der Adäquatheit. Insofern wäre das ideale Abbild das Spiegelbild, da man im Spiegel das Seiende selbst sieht. Doch hierbei handelt es sich genaugenommen nicht um ein Abbild, weil es nämlich nicht für sich besteht. Das Abbild will angeschaut werden. Aber das Abbild ist nur instrumentell; es ist ein Mittel, das auf das Urbild zurückweist und das, sobald es seinen Zweck erreicht hat, keinen Grund mehr zu existieren hat und sich aufhebt. Als Gemälde hingegen hebt sich das Bild keineswegs auf, weil es sich zu dem Urbild nicht wie ein Mittel zu
~° CAtMMFK, \I (;1\lli\MFH.,
W.thrhc.·it und Mcthodt'. GW 1, 142. W.thrhcit und Ml·tho(tc:·, GW I, 13'J-14lJ.
72
einem Zweck verh:ilt. llier ist dils Bild .,verweisend, indem es verweilen läfh."~ 2 Der Zweck ist nicht das, was dar~estcllt wird, sondern wit: es dargestellt wird. Das Wie der Darstellung hängt mit dem Dargeste11ten aufs engste zusammen. Diese ontologische Untrennbarkeit, die auch seinen sakralen Charakter rechtfertigt, deutet bereits auf den Seinsrang des Bildes hin, der in seiner eigentümlichen Beziehung zum Urbild allerdings noch weiter ans Licht tritt. Das Bild ist in der Tat mehr als ein einfaches Abbild, denn es "sagt über das Urbild etwas aus." 53 Die Beziehung ist hier keine einseitige mehr. Das Urbild braucht das Bild, das es darstellt, um sich selbst darin darzustellen. Dies bedeutet nicht, daß es dieses bestimmte Bild braucht; es könnte durchaus auch in einem anderen zur Darstellung kommen. Die Darstellungsart ist aber für sein Sein nicht akzidentell. Vielmehr verändert jede Darstellung den Seinszustand des Dargestellten, das hier einen "Zuwachs an Sein" erlangt. 54 Die Beziehung kehrt sich um:
'
Strenggenommen ist es so, daß erst durch das Bild das Urbild eigentlich zum Ur-Bilde wird, d.h. erst vom Bilde her wird das Dargestellte eigentliche bildhaft. 55
Dies gilt auch für die banalsten Gegenstände des alltäglichen Lebens, die am ehesten vergessen und am wenigsten wahrgenommen und beachtet werden, die aber plötzlich, dank ihrer Darstellung in einem Bild, eine neue Seinswürde erlangen. Es ist dies etwa der Fall bei einem Stilleben. Man könnte aber auch zahlreiche Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst heranziehen: von den Schuhen van Goghs bis zum Stuhl von Matisse. Gadamers These hat jedoch ein anderes Thema im Visier, das sie in einer sonderbaren Art radikalisiert, jedoch gerade dadurch ihre Aktualität belegt: Wer in einem Bild erscheint, neigt schon deshalb zur Darstellung, weil er eine repräsentative Funktion erfüllt. Dies ist der Fall des Herrschers, des Staatsmanns oder des Helden. Ein solches Repräsentationsbild scheint seinen Rang zu verlieren, weil es die Notwendigkeit des Dargestellten darstellt, sich darzustellen. Doch genauer betrachtet soll das Dargestellte der Erwartung entsprechen, die man von seinem Bild hegt. Das Paradox liegt darin: Ist das Bild nur das Sichoffenbaren des Urbildes, so wird dieses zum Urbild erst in dem Bild. Wer sich zeigen muß, der gehört nicht mehr sich selbst und muß "sich schließlich so zeigen, wie sein Bild es vorschreibt." 56
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 158. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 145. 54 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 145. Vgl. dazu GoTTFRIED BoEHM, Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst, in: HANS-GEORG GADAMER (Hrsg.), Die Moderne und die Grenze der Vergegenständlichung, München: Klüser 1996, 95-125; vgl. auch BoEHM, Das Bild und die hermeneutische Reflexion, in: GüNTER FIGALI HANS-HELMUTH GANDER (Hrsg.), Dimensionen des Hermeneutischen. Heidegger und Gadamer, Frankfurt am Main: Klostermann 2005, 23-35, insb. 29 f. 55 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 146 f. 5l• GADAMF.R, Wahrheit und Methode, GW I, 147. 52
53
73
7. I >ic ( >kkasionalität der Kunst Die Darstellung, die sich für die plastischen ebenso wie für die transitorischen Künste als konstitutiv erweist, scheint das Kunstwerk eng mit der in ihm dargestellten Welt zu verbinden. Das Porträt, aber auch das Widmungsgedicht und die Komödie können hierzu vielsagende Beispiele liefern. 57 So schließt das Porträt, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, in seinen Bildgehalt den Verweis auf das Urbild ein. Dieser Verweis scheint jedoch zu jedem Kunstwerk zu gehören, das sich darum stets in einen Lebenshorizont einfügt. Dies bedeutet, daß das Kunstwerk als solches mit einer Situation bzw. mit einer Okkasion zusammenhängt. Von "Okkasionalität" kann man in Bezug auf jedes Werk reden, selbst wenn es auf den ersten Blick nicht okkasionell zu sein scheint. Okkasionalität besagt, daß die Bedeutung sich aus der Gelegenheit, in der sie gemeint wird, inhaltlich fortbestimmt, so daß sie mehr enthält als ohne diese Gelegenheit. 58
Diese der Kunst innewohnende Okkasionalität, die bei Gadamer in der Sprache ein Pendant finden wird, bildet ein zusätzliches Argument gegen die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins. Es könnte zwar auch als eine historistische oder historisierende Betrachtung gedeutet werden, so als ob man von dem historischen Kontext ausgehen müßte, um ein Werk zu interpretieren. Gadamer aber will sowohl das ästhetische Bewußtsein vermeiden, das die Kunst aus der Kontinuität des Lebens abstrahiert, als auch den Historismus, der gern vergißt, daß das Werk ein Kunstwerk ist. Um deshalb nicht in einem historisierenden Sinn mißverstanden zu werden, spricht er von einer "allgemeinen Okkasionalität."59 Dabei stellt er klar, daß es zur Deutung eines Werks keineswegs nötig ist, das Problem des Bezugs zu lösen, das heißt die Entstehungszusammenhänge zu rekonstruieren. Es hilft nichts, alle Bezüge zu kennen, um etwa eine Satire von Horaz zu verstehen. Auf der anderen Seite aber hält Picassos Guernica seine Bezüge aufrecht und wird sie aufrechterhalten, auch wenn diese nicht mehr bekannt sein sollten. Die Okkasionalität ist daher nichts anderes als der Sinnverweis des Werkes auf das Urbild. Seine Okkasionalität ist auch die unsrige, diejenige unserer Welt. Der okkasionelle Sinn des Werkes ist immer auch der Sinn, den es im Lauf seiner Wirkungsgeschichte für uns erlangt. Deshalb bestimmt sich dieser Sinn ständig neu. Beispiele dafür bieten die Skulptur und die Architektur an. So wachsen etwa der Plastik und dem Denkmal in unserer Welt neue Funktionen und neue Aufgaben zu. Aber noch bezeichnender ist in vielerlei Hinsicht der ~ 7 Über das Porträt als "ikonischen Logos" vgl. GoTTFRIED BoEHM, Bildnis und Indi-
viduum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renassaince, München: Prcstcl 1985. '\H GAl>AMt:R, Wahrheit und Methode, GW I, 149. "'' (;ADAM FR, Wahrhl·it und Methode, GW 1, 153.
74
I li. Kapitel: In der Kunst verweilen
Fall der Architektur. Für das ästhetische Bewußtsein handelt es sich dabei um eine Kunstform, die wegen der praktischen Dimension, die sie charakterisiert, nur einen marginalen Stellenwert hat und schon fast nicht mehr zur Ästhetik gehört. Doch die Architektur ist ein Problem auch für das historische Bewußtsein, weil ein Bauwerk sich in einer neuen Gegenwart nur insofern durchsetzen kann, als es den veränderten Forderungen seiner Umwelt entspricht. Auch hier liegt das Werk in der Darstellung, und seine Seinsvalenz ist keine statische. Das Werk bleibt nämlich nicht in seiner ursprünglichen Welt fixiert und sein Weiterleben ist keineswegs eine Art Entfremdung. 60 Vielmehr verlangt es eine Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Beredte Beispiele hierfür sind etwa das Musee d'Orsay in Paris oder die Tate Gallery in London: ein ehemaliger Bahnhof und eine ehemalige Fabrik, die zum Museum umgebaut worden sind. Die Okkasionalität zeichnet so die Aufgabe vor, ein Werk jeweils in seinen veränderten Kontexten zu verstehen und zu situieren. Von Wahrheit und Methode bis hin zu seinen letzten Aufsätzen hat deshalb gerade die Architektur für Gadamer einen paradigmatischen Wert, der sich nicht nur aus diesem ihrem Vollzugscharakter ergibt, sondern auch aus dem eigentümlichen Verstehen, das sie uns abverlangt. Und Verstehen heißt hier "Besuchen", "Begehen" und "Bewohnen."61 In seiner Ontologie der Kunst geht Gadamer schließlich auch ~uf die Kunst des Dekorativen ein, die gewöhnlich als Gegensatz zur eigentlichen schöpferischen Kunst gesehen und daher aus der Ästhetik vertrieben wird. Sie bietet ihm erneut die Gelegenheit, seinen Begriff der Okkasionalität und vor allem den der Darstellung auf die Probe zu stellen. Denn die Dekoration ist durchaus nichts Äußerliches, sondern gehört vielmehr zur Erscheinungsweise dessen, der es trägt. 62 Es ist also das Ornament, welches das Sein des Trägers zum Vorschein bringt und es erst sein läßt. Das Sein ist überhaupt erst im Seinsvorgang der Darstellung da. Auch dieser Fall entspricht also Gadamers Anliegen, zu zeigen, daß Darstellung allen Künsten wesentlich ist. Die Darstellung verweist auf ein Sein, das nur in diesem Vorgang liegt und nur hier zu seiner Wahrheit kommt. An der Darstellung nimmt aber immer auch der Zuschauer teil, der von seiner Gegenwart her in das Spiel der Kunst einbezogen wird.
60 61 62
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 162. GADAMER, Über das Lesen von Bauten und Bildern (1979), GW 8, 331-338, hier 334. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 164.
8. Spiel, Kunst, Fest
75
8. Spiel, Kunst, Fest In Gadamers Skizzierung des Darstellungsvorgangs scheint sich eine Frage anzudeuten, die sich auch in Bezug auf die Zeit der Kunst, auf jene Gegenwart der Vergangenheit stellt. Es ist die Frage nach der Identität eines Gebildes, das durch die Geschichte und deren Differenzierungen hindurchgeht. Um was für eine "Identität" handelt es sich hier, wenn das Kunstwerk doch durch die Darstellung jeweils aufs neue ins Leben gerufen wird? Ist es überhaupt berechtigt, einen Anspruch auf Identität zu erheben? Diese Frage ist deshalb so komplex, weil sie sich über den Zusammenhang hinaus, in dem sie sich stellt, als eine sehr viel umfangreichere philosophische Frage erweist. In Zweifel steht der metaphysische Begriff der Identität, der schon durch den Begriff des "Spiels" erschüttert worden ist. Nach der Phänomenologie des Spiels hat die Phänomenologie der Kunst weiterhin dazu beigetragen, ihn zu unterminieren. Aus der Erfahrung der Kunst entsteht also das Bedürfnis sowohl nach einerneuen Auffassung der Wahrheit als auch nach einer neuen Betrachtung der Identität. In den Jahren nach Wahrheit und Methode spricht Gadamer deshalb von einer "hermeneutischen Identität". 63 Denn es ist "die hermeneutische Identität, die die Werkeinheit stiftet."64 Es handelt sich um eine Identität, die nur in ihrer Differenz, nur in ihrer Differenzierung ist, das heißt in der radikalen Temporalität ihres Werdens, Wiederkehrens, Rekurrierens. 65 Diese Identität hat das Paradox einer Wiederholung des U nwiederholbaren an sich. Wiederholung meint hier freilich nicht, daß etwas im eigentlichen Sinne wiederholt, d.h. auf ein Ursprüngliches zurückgeführt würde. Vielmehr ist jede Wiederholung gleich ursprünglich zu dem Werk selbst. 66
Die neue Identität, die hier ans Licht tritt, ist eine Identität, die sich nur in der Differenz bildet. Daher zeigt sich die Differenz als unerläßlich für die Identität. Obwohl Gadamer von der Identität her zur Differenz kommt und nicht umgekehrt, sollte man seine Nähe zu Derrida hier keineswegs außer Acht lassen. 67 Um diese neue hermeneutische Identität zu erhellen, die uns schon beim Spiel und bei der Kunst begegnet ist, beruft sich Gadamer auf das "Fest". Die Feierlichkeit der Kunst und das Thema des Festes durchziehen sein ganzes Denken, von Wahrheit und Methode bis zum Beitrag über Kunst als Spiel, Symbol, Fest GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 116. GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 116. 6s Neue Überlegungen zu diesem Thema in: BELA BAcs6, Die "Wiederholung" als ästhetische und existenzielle Kategorie, in: Die Unvermeidbarkeit des Irrtums. Essays zur Hermeneutik, Cuxhavcn/Dartford: Junghans 1997, 57-66. 6t, GAI>AM~R. Wahrheit und Methode, GW 1, 127 f. " 7 V~l. in diesem Band Kap. X, 4. 63
64
7(, von l'J74 und dt.·m Auf'siltz Zur PhJnomc•nolof,Ü.' von Ritual ur1d Sprache von 1992. Was aber ist ein l:cst? Man künntt.• zunächst ;tntwortcn: "Das Fest ist nur, indem es gefeiert wird."l,K Ein Fest zu begehen, es zu feiern, dies bedeutet nicht
einfach, daß man nicht arbeitet. Mehr als die Arbeit, stiftet das Fest ein Gemeinsam-Sein. Ein Fest ist da, wenn eine Gemeinschaft sich versammelt, und die Gemeinschaft ist eine solche dank des Festes. Doch dies ist etwas, was wir kaum mehr kennen. "Es ist eine Kunst, zu feiern." 69 Diese Kunst, die den Antiken wohlbekannt war und die zugleich die Kunst des Zusammenseins ist, wird immer seltener. Um die vielschichtige Zeiterfahrung des Festes zu verstehen, ist das Wort "Begehung" wichtig, das auf das "Gehen" verweist/ 0 Doch es ist nicht ein Gehen, um ein Ziel zu erreichen. Vielmehr ist das Ziel schon beim Gehen erreicht. Das Fest ist da, es hat sein Dasein in der Weile, in der es begangen wird. Doch die Gegenwart des Festes ist keine einfache, sondern eine Gegenwart, in welcher die Vergangenheit wieder-kehrt und re-kurriert. Daher spricht man von der Wiederkehr des Festes. Die Wiederkehr gehört zum Fest nicht weniger als die Gemeinschaft, die es begeht. Wiederkehren bedeutet, daß sich ein vergangenes Ereignis seiner Unwiederholbarkeit zum Trotz in der Gegenwart wiederholt. Daher ist jedes Fest stets identisch und stets anders. Es ist identisch, weil es dieses eine Fest ist, das wiederkehrt, wie zum Beispiel Ostern. Und es ist anders, weil es stets auf unterschiedliche Weise gefeiert wird. Es verweist auf kein ursprüngliches historisches Ereignis, das in der Erinnerung gegenwärtig wird. Selbst wenn der größte Teil der Feste auf ein solches Ereignis zurückgehen mag, so gibt es Feste doch nur im rituellen Vollzug ihrer Begehung. Dies zeigt der Umstand, daß oftmals niemand mehr an jenes ursprüngliche ~reignis denkt. So wird zwar in jedem Sommer das Schloß in Heidelberg beleuchtet und alle nehmen an diesem Fest teil, doch nur wenige erinnern sich beim Feiern des Festes daran, daß es an die große Einäscherung Alt-Heidelbergs während des Abzugs der Franzosen im 17. Jahrhundert gemahnt. 71 Die Wiederkehr des Festes hat daher seine "Eigenzeit." 72 "Das ist das Feiern. Der berechnende, disponierende Charakter, in dem man sonst über seine Zeit verfügt, wird im Feiern sozusagen zum Stillstand gebracht." 73 Die Zeit des Festes ist für Gadamer sehr wichtig. Erstens deshalb, weil die wiederkehrenden Feste nicht in eine Zeitordnung eingetragen werden können, sondern weil umgekehrt die Zeitordnung erst dadurch entsteht, daß sie nach GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 129. GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 130 f. 70 GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 131. 71 Vgl. GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992), GW 8, 400-440, hier 415. 72 GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 133. 73 GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 133. 68
69
77 dt·r Wit•th·rkdu dt•r h·stt· ~k.-ndic.·rt wird- angdangl'n mit dl'mjahr selbst. Und zweitens, weilth.·r Prim.u der Wiederkehr des Festes der Primat dessen ist, was zu seiner Zeit kommt und seine eigene Zeit hat, die sich weder berechnen noch ausfüllen läfh. Die pragmatische Erfahrung der Zeit ist die Erfahrung der scheinbar zur Verfügung stehenden Zeit, die Zeit, die man für etwas hat oder zu haben meint; dies ist jedoch eine "leere Zeit", die durch die Geschäftigkeit aufgefüllt werden oder in der Langeweile leer bleiben kann. Die Zeit des Festes ist dagegen eine "erfüllte Zeit", welche die Zeit der Berechnung zum Stillstand bringt und verweilen läßt, eine Zeit dieser Begehung, welche die Begehung der Zeit selbst ist.74 Die Erfahrung des Festes scheint also der Erfahrung der Kunst ähnlich zu sein, weil sie dazu einlädt, zu verweilen, teilzunehmen, dabeizusein. Wie es sich aber beim Spiel verhält, so auch in der Kunst und beim Fest: Wer an der Ausführung teilnimmt, wer mitspielt und mitfeiert, der wird verändert, verwandelt, aus seiner Subjektivität zu einer höheren Wirklichkeit erhoben, welche die einer nahezu "sakralen", alle ergreifenden Gemeinsamkeit ist/5
9. "So ist es!" Die Kunst und ihre Wahrheit Das Verweilen beim Kunstwerk hat für Gadamer einen sehr hohen Stellenwert, der sogar über die Kunsterfahrung selbst hinausgeht. Doch was heißt es, zu verweilen? Die bloße Unterhaltung, im Sinn von entertainment und divertissement, ist etwas ganz anderes als das Verweilen, das vielmehr dem Schauen nahe steht. Doch Schauen wiederum ist kein bloßes Zuschauen. Das griechische Wort theoria wird schon in Wahrheit und Methode mit der sakralen Kommunion des Festes und der Kunst in Zusammenhang gebracht/6 Theoria meint hier, an einem festlichen Akt teilzunehmen und ganz hingegeben zu sein. 77 Theoria ist wirkliche Teilnahme, kein Tun, sondern ein Erleiden (pathos), nämlich das hingerissene Eingenommensein vom Anblick. 78
Der theoros, der dabei ist und am Ritus des Festes teilnimmt, ist außer sich. Dieses Außersichsein ist aber nichts anderes als jene ekstatische Selbstvergessenheit, die sich ergibt, wenn man hingerissen und ganz eingenommen ist. "In Wahrheit ist Außersichsein die positive Möglichkeit, ganz bei etwas dabei zu Zu dieser Unterscheidung vgl. GADAMER, Über leere und erfüllte Zeit (1969), GW 4, 137-153. 75 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 129; Überdie Festlichkeit des Theaters (1954), GW 8, 296-304, hier 298. 76 Vgl. GAI>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 129. 77 Zur Frage n;H.:h dem thc~oros vgl. Guv lh:NJAU, Cognitio imaginativa. La phenomenologit.• ht.•rmC:m·utiquc dc (iadamcr, Brüsscl: Uusia 2002, hit.·r 159-320. lH (;1\J)AMI . K, w.lhrlu·it und Mt•thodc, c;w I, 130. 74
7H
111.
1(,,,,,,,./: ln drr 1\uml ·r•t'rt''''''''"
scin." 7'1 D.ts l>&tbcisl·in isl dc:mn•tch t'inc ,,ufnu·rks.unc Zuwendung, die deshalb einer Kontinuität mit sich selber entspricht. HO Bereits mit der Kultur hat mangelernt, die eigenen unmittelbaren Interessen zu vergcsscn.Hl Und so zeichnet das Außersichsein, das sich als Dabeisein aufdeckt, über die Kunsterfahrung hinaus die hermeneutische Haltung sich selbst und den anderen gegenüber aus. 81 Doch das wartende und gewahrende Verweilen hat noch eine weitere Bedeutung, die in dem grundlegenden Aufsatz von 1992 hervortritt, der die letzte Etappe von Gadamers ästhetischem Denken ausmacht: Wort und Bild- ,so wahr, so seiend'. 83 Wer hingerissen ist, wer etwa an einem Kult teilnimmt, läßt das Göttliche "herauskommen". 84 Das Verweilen ist hier mit dem Göttlichen im Falle des Kults, und mit dem "Herauskommen" der Wahrheit im Fall der Kunst verbunden. Um diese Verbindung zu klären, hebt Gadamer vor allem auf Platons Philebos ab, in dem das Werden als ein Werden zum Sein gedeutet wird, das dem Sein etwas von seinem Gewordensein beläßt. "Das Sein kommt aus dem Werden heraus." 85 Von diesem Werden zum Sein ist Aristoteles in seiner Physik zwanglos zum Sein des Werdens übergegangen und hat in diesem Zusammenhang den Begriff der energeia eingeführt. Diese deutet die "Gleichzeitigkeit" an, welche die Zeitstruktur jener Tätigkeiten charakterisiert, die kein Ziel über sich hinaus haben, wie das Sehen und Gesehenhaben, das Betrachten und Betrachtethaben. Das Zugleich charakterisiert auch das Verweilen, das ein Dabeisein bei dem meint, in das man versunken ist und in dem man aufgeht. Aristoteles führt als Beispiel das Leben an, und Gadamer nimmt dieses Beispiel wieder auf. Verweilen ist hier eine andere Art, um zu sagen, "daß man ,am Leben ist'." 86 Doch was geschieht, wenn man die Einladung der Kunst annimmt und im Bild oder im Wort verweilt? Verweilen bedeutet nicht, etwas durchzuführen, dieses oder jenes zu tun, sondern derart ganz dabei zu sein, daß man das Kunstwerk herauskommen läßt- und dieses Lassen ist wie ein Machen. 87 DasHerauskommen zeichnet die Erfahrung der Kunst aus. "Wir sind dabei- und am Ende vertieft sich der Eindruck immer mehr: ,So ist es.'." 88 Wir sagen "So ist es", "es
79 80 81
82 83 84
85
GADAMER, Wahrheit und Methode, GWl, 131. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 130 f. Vgl. in diesem Band Kap. II, 2. Vgl. in diesem Band Kap. IX, 5. GADAMER, Wort und Bild- >So wahr, so seiend•, GW 8, 373-399. GADAMER, Wort und Bild- >so wahr, so seiend•, GW 8, 389. GADAMER, Wort und Bild- >So wahr, so seiend•, GW 8, 386. Vgl. PLATON, Philebos,
27b 8. GADAMER, Wort und Bild- >SO wahr, so seiend·, GW 8, 387. Über Kunst als energeia vgl. DIETER TEICHERT, Kunst als Geschehen. Gadamers antisubjektivistische Ästhetik und Kunsttheorie, in: lsTVAN M. FnffR (Hrsg.). Kunst, Hermeneutik, Philosophie 2003, 193-217, insb. 211 ff. Kl GADAMER, Wort und Bild- >so wahr, so seiend•, GW 8, 389 f. KK GA I>A M ER, Wort und Bild- •so wahr, so s<.·icnd•, GW R, 3R8. R6
79 ist riclui~'\ zum llt•r,tuskommc.·n der Kunst, zum ,.Hervorscheincn" des Schönen, das J ie W&thrc Vollt.•Ju.lun~ des Sternenhimmels hat. Die Wahrheit Jc.·r Kunst ist also nicht nur die der aletheia. Anders als bei Hcidcggcr spielt sich die Wahrheit des Kunstwerks für Gadamer nicht so sehr in der ontologischen Verwicklung von Unverborgenheit und Verborgenheit ab. Die Wahrheit der Kunst ist weniger die Entbergung von etwas, das aus der Verborgenheit herauskommt, als vielmehr und vor allem dieses Herauskommen selbst. 89 Und wenn auch das Werk immer dasselbe ist, so kommt es doch in jeder Begegnung immer anders heraus.90 Es ist in diesem jeweils unterschiedlichen Herauskommen, daß das Werk ist: "so wahr, so seiend". Es hat weder die Seinsweise eines geschöpften Gegenstandes noch die Seinsweise der Nachschöpfung durch den, der es erfährt. Denn es ereignet sich nur im Vollzug seines Herauskommens. Es dürfte schwierig sein, sich dieses Herauskommen anders als eine Begegnung, oder besser, mit Gadamer als ein Gespräch vorzustellen. Es ist an dieser Stelle unerläßlich, nach dem Unterschied zwischen Wort und Bild zu fragen. Zwar faßt Gadamer weder hier noch anderswo diesen Unterschied in theoretischer Form. Doch gibt uns die Nähe von Poesie und poiesis einen Hinweis darauf, daß auch das Dichten, nicht weniger als das Malen oder das Meißeln, sicherlich ein Machen ist. In diesem letzteren Fall ist das Machen allerdings ein "wirkliches Machen", weil ein Material zum Herstellen, Farben oder Stein, gebraucht wird. Im Fall der Poesie ist es hingegen "fast mehr als ein Machen", weil es in dem luftigen Hauch und dem Wunder des Gedächtnisses ganze Welten entstehen läßt.91 Hier wird aufgrunddes Seinsranges des Wortes das Nicht-Sein zum Sein.
10. Die Transzendenz des Schönen Gadamer stimmt religiöse Töne an, wenn er die Hoheit und die Feierlichkeit der Kunst beschreibt und auf die Art anspielt, in der sie wie das Göttliche als ein Ereignis "herauskommt", das dem des Kultes ähnlich ist: in der für diesen kennzeichnenden Gleichzeitigkeit und ekstatischen Versunkenheit dessen, der von ihm eingenommen ist, sowie in der sakralen Kommunion, die es ermöglicht. Diese Korrespondenz ist offensichtlich kein Zufall. In einigen Aufsätzen aus verschiedenen Zeiten, die in einem Teil des 8. Bands der Werke unter dem beVgl. GADAMER, Wort und Bild- •so wahr, so seiend<, GW 8, 388 f. Zu Gadamers Abst.md von Hcidcggcr in Bezug auf die Wahrheit der Kunst vgl.joHN SALLIS, The Hermeneutics of thc Artwurk. Die: Ontologie des Kunstwerks und ihre hermeneutische Bedeutung (GW I, H7-13H), in: GiiNlTR F1c;A1. (Hrsg.), Hans-Gcorg Gadamer- Wahrheit und Methode 2007, 45-57, hil·r SS-56. ' 10 V~l. (;AUAMI'R, Won und Bild- •so w.1hr, so seiend•, GW 8, 390. '' 1 (;1\lli\MI·H., Wortund Bild·· •MI w.thr, so scil•nd•, (iW H, 378. 1111
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deutsamen Titel Die Transzendenz des Schönen versammelt sind, beharrt er explizit auf der Nähe zwischen Kunst und Religion, ja geradezu auf der religiösen Dimension der Kunst. Diese religiöse Dimension geht bis auf den Mythos zurück. Doch was ist der Mythos? Der antike Begriff des mythos scheint mit dem Göttlichen in einer Weise verbunden zu sein, die zwar unauflöslich ist, sich aber dennoch nur in der Erzählung abspielt. Der Mythos ist das Gesagte, ist die Sage, die so angenommen werden muß, wie sie ist, weil sie keine andere Möglichkeit der Erfahrung zuläßt. Er ist ein Traditionsgehalt, der nur geglaubt werden kann.92 Wie unter anderem aus dem Aufsatz Mythologie und Offenbarungsreligion von 1981 hervorgeht, entfernt sich Gadamer hierbei von Bultmann, der im Zug der "Entmythologisierung", der er die biblischen Tradition unterzogen hatte, im Mythos jenen Gegenpol zur Vernunft sah, an den nun nicht mehr geglaubt werden kann. Doch für Gadamer profiliert sich der Mythos gerade in der Beziehung zum Logos. Wichtig wird für ihn in diesem Zusammenhang vor allem die Auseinandersetzung mit Max Weber (1864-1920) und mit dessen berühmter These von der "Entzauberung der Welt", die er in seinem Werk Wissenschaft als Beruf von 1919 vertreten hatte. Die entzauberte Welt ist für Weber diejenige Welt, die nicht mehr an den Zauber glaubt, ja die an gar nichts mehr glaubt außer an die Wissenschaft; es ist die Welt der Aufklärung und des wissenschaftlichen Atheismus, die das Leben dadurch rationalisiert haben, daß sie aus ihm all das ausschlossen, was durch die Methode nicht verifizierbar ist. Der Mythos wird hier als Gegensatz zum Logos der Vernunft betrachtet. Die von Weber dargelegte Entzauberung wäre demnach das Ergebnis einer Art allgemeinen Entwicklungsgesetzes. Zusammengefaßt wird dieses Gesetz im Titel von Wilhelm Nestles Werk Vom Mythus zum Logos von 1940. Gadamer geht es nun darum, dieses Paradigma zu revidieren. Weit davon entfernt, ein allgemeines Entwicklungsgesetz zu sein, ist dies vielmehr nur ein "historisches Faktum", zu dem die vom Christentum hervorgebrachte Säkularisierung beigetragen hat, indem sie das mythische, von den heidnischen Göttern beherrschte Weltbild zerstörte. Vom Mythos zum Logos, Entzauberung der Wirklichkeit wäre nur dann der eindeutige Richtungssinn der Geschichte, wenn die entzauberte Vernunft ihrer selbst mächtig wäre und sich in absoluter Selbstsetzung realisierte. Was wir aber sehen, ist die tatsächliche Abhängigkeit der Vernunft von überlegener wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, staatlicher Macht. Die Idee einer absoluten Vernunft ist eine Illusion. 93
Das Paradigma "vom Mythos zum Logos" entsteht aus der Entgegensetzung von Mythos und Vernunft und aus deren Absolutheitsanspruch, mit dem sie versucht, den Mythos auf ihre eigenen Grundlagen zurückzuführen bzw. zu reduzieren und das heißt: ihn zu überwinden oder gar auszulöschen. Doch gerade 92 GADAMER,
Mythos und Vernunft (1954), GW 8, 163-169, hier 162 und 165.
'~-' GA DAM ER, Mythos und Vernunft, GW 8, ~67.
81
weil die Vernunft nidtt .thsolut, sondern real und geschichtlich ist, konnte sie weder den Mythos rHu.:h ;uH.fl'l'l'llicht-wisscnschaftlichc Erfahrungen der Wahrheit abschaffen, die, obzwar an den Rand gedrängt, doch weiterhin von den Grenzen der Vernunft zeugen. Gadamer fragt nun nach den Konsequenzen dieser Entgegensetzung vor allem im Licht jenes fruchtbaren Bündnisses von Mythos und Logos in der griechischen Kultur, dessen höchstes Zeugnis für ihn die platonischen Dialoge sind.94 Von dieser Kultur bleibt uns das Wort mythos, das auf ein "Jenseits'' des Wissens und der Wissenschaft hindeutet.95 Doch ist es gerade dieses "Jenseits", welches heute verneint wird. Die heutige Lage ist nun ganz anders als die noch von Weber beschriebene, der doch immerhin die Grenzen der Wissenschaft anerkannt hatte. Sie hat kein Beispiel in der Geschichte und erscheint deshalb als so einzigartig weil der Zugang zum Jenseits und zum Über der Transzendenz erstmals als verschlossen gilt. In ihrer planetarischen Ausdehnung läßt die Wissenschaft kein Über mehr zu. Und so erkennt der Atheismus der Indifferenz auch die religiöse Frage nicht mehr an. Ist dies das Ende einer Illusion?- so fragt sich Gadamer. Oder muß man nicht vielmehr den Verzicht auf dieses Über für eine Illusion halten? Je mehr das Über verneint wird, um so stärker tritt es hervor, und es führt dabei nicht nur die Unmöglichkeit vor Augen, daß die Vernunft alle Lebensräume auszufüllen vermag, sondern zeigt auch die Möglichkeit einer "vernünftigeren" Vernunft, die von den Erfahrungen des Über ausgehend, sowohl in der Kunst als auch in der Religion dahin gelangt, sich selbst besser zu verstehen.96 In diesem Über der Transzendenz läßt sich die Wesensnähe von Religion und Kunst erfassen. Ästhetische und religiöse Erfahrung, die uns beide aus dem ontischen Schlaf wecken, verweisen uns auf das Sein. Und die Nähe zwischen ihnen ist derart, daß selbst dort, wo die Religion zu schwinden scheint, die Kunst herbeieilt, um sich gleichsam mit dem Mythos zu verschmelzen: Auf diese Weise "sieht die dichterische Welterfahrung mythisch".97 Es ist kein Zufall, daß Gadamer in diesem Zusammenhang Rilkes Engel erwähnt. Auch an anderer Stelle deutet diese Figur für ihn auf die Bewegung der Transzendenz hin, die so unerläßlich für das Leben ist. 98 Und unerläßlich für das Leben ist auch das Schöne der Kunst, das wie das Heilige in seiner Wahrheit einfach da ist. "Schön ist etwas, auf das nie die Frage trifft, wozu es da ist." 99 Andererseits ist das Schöne stets die Evokation einer möglichen heiligen Ordnung. 100
Mythos und Logos (1981), GW 8, 170-179, hier 173. Mythos und Logos, GW 8, 170. % GA llA M J·:R, Mythos und Vernunft, GW 8, 168. '17 GA UA M ER, Mythos und Vernunft, GW 8, 168. 'IH V~l. in dil'Sl'lll Hand K;tp. V I II, 6. "'' GAJMMI·K, Wort und Hild- •so wahr, so Sl'il'IHI•, GWH, 3HO. 100 V~l. <;"""MFR, l>il· Aktu;tlit;ü dl·s Sdli'lll<.'n, <;w H, 12.\. 94 GADAMER,
'1 ~ GADAMER,
82
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11. Die Literatur und das Lesen Die letzte Kunstform, die Gadamer in Wahrheit und Methode in Betracht zieht, ist die Literatur, der hier allerdings nur knapp fünf Seiten gewidmet werden. 101 Dies ist erstaunlich, denkt man an die Rolle, welche die Literatur auf seinem Denkweg spielt, dessen spätere Entwicklungen sie nur noch mehr bestätigen. Der 8. und der 9. Band der Gesammelten Werke versammeln die zahlreichen Aufsätze, in denen die Hermeneutik nicht nur und nicht so sehr auf die bildenden Künste, sondern vor allem auf Literatur und Dichtung angewendet wird. Anband der Interpretationen von Goethe und Hölderlin, von Rilke und George, und der Erläuterungen und Kommentare zur Lyrik des 20. Jahrhunderts, insbesondere Hilde Domins (1909-2006) und Paul Celans (1920-1970), wird die poetische Hermeneutik eine Bedeutung erlangen, die weit über das Anwendungsmoment hinausgeht, um sich auf tragende philosophische Begriffe sowie zuletzt auf die Auffassung der Sprache selbst auszuwirken. Um so mehr muß man sich nach den Gründen für die eher flüchtige Berührung der Literatur in Wahrheit und Methode fragen. Offensichtlich hat Gadamer auch in diesem Fall einen Beweis seiner Darstellungstheorie im Auge. Ebenso evident ist aber auch, daß die Zeit um 1960 noch nicht reif dafür ist und er deshalb mit einer Konzeption kollidiert, der zufolge das literarische Werk eine geschlossene Form ist, die nur in der Idealität des Textes existiert. Eine Darstellung, die eine ontologische Tragweite hat, schien bei der Literatur ausgeschlossen zu sein. 102 Denn worin sollte die Darstellung bestehen? Gadamers Antwort lautet, daß hier die Darstellung im Vollzug des Lesens liegt. Das Lesen eines Buches ist "ein Geschehen, in welchem sich der gelesene Inhalt zur Darstellung bringt." 103 Daß sich das literarische Werk im Lesen vollzieht, das solchermaßen zum Sinn des Textes beiträgt, gilt vom heutigen Standpunkt aus als nahezu selbstverständlich. Doch dies ist nur deshalb der Fall, weil die philosophische Hermeneutik auf die Literaturwissenschaft, insbesondere auf J auß und Iser, einen maßgeblichen Einfluß ausgeübt hat. 104 Selbst durch diese Entwicklungen beeinflußt, hat Gadamer dem Lesen immer mehr Raum gegeben, das für ihn das Ereignis bezeichnet, in dem sich das Werk, und zwar nicht nur das literarische, sondern auch das musikalische, das bildnerische und sogar das architektonische Werk vollzieht. Was heißt dann Lesen? Es heißt, die Chiffren des Werks entschlüsseln, um ihnen eine Stimme und damit Leben zurückzugeben. Auch wenn man auf den Sinn von "Sammeln"
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 165-169. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 165. 103 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 166. 104 Vgl. in diesem Band Kap. X, 1. Vgl dazu JoEL C. WEINSHEIMER, Philosophical Hermcneutics and Literary Theory, New Havcn: Yflc Univcrsity Press 1991. 101
102
I J. A•th"tl' NmJ lftrmem!utik
83
oder "Sichsammcln'• acht~t, der im deutschen Wort anklingt, bedeutet Lesen sprechen lassen. Lesen erreicht dabei eine universale Tragweite: "Alle unsere Erfahrung ist Lesen:' lOS Die sukzessive Erweiterung dieses Begriffs bei Gadamer geht mit der Anerkennung der Universalität der Sprache einher: in seinem Spätwerk dehnt sich der Bedeutungsbereich des Lesens so weit aus, daß es schließlich mit der Hermeneutik selbst zusammenfällt. 106
12. Ästhetik und Hermeneutik Es ist daher unvermeidbar, daß sich die Frage nach der Beziehung zwischen Ästhetik und Hermeneutik schon in Wahrheit und Methode stellt. Aber welche Ästhetik? Und welche Hermeneutik? Es kann sich gewiß nicht mehr um die Ästhetik handeln, wie sie das ästhetische Bewußtsein meint. Denn in der Kunst steht die Wahrheit auf dem Spiel. Und die Wahrheit kann man weder beherrschen, noch kontrollieren oder besitzen, da sie erst in einer Begegnung herauskommt: in der Begegnung mit der Kunst, die dadurch, daß sie uns anspricht und uns zum Verweilen einlädt, danach verlangt, verstanden zu werden. Es ist aber auch deutlich geworden, daß die Begegnung mit der Kunst für jeden eine Begegnung mit sich selbst ist. Das Verstehen dieser Wahrheit impliziert daher immer ein Verstehen seiner selbst, und aus diesem Ereignis geht man stets verändert hervor. Hierin hat sich der Übergang von der Ästhetik zur Hermeneutik bereits vollzogen. Dieser Übergang zeigt sich als notwendig im Licht der Kunst und ihrer Wahrheit, die zugleich eine kritische Revision der Ästhetik und eine Ausweitung ihres Bereiches mit sich gebracht hat. "Die Ästhetik muß in der Hermeneutik aufgehen. ccJOl Aber auch die Hermeneutik muß sich ihrerseits ausweiten, um der Erfahrung der Kunst gerecht werden zu können. Wie Gadamer in seiner Arbeit Ästhetik und Hermeneutik betont, ist es unerläßlich, daß die Hermeneutik, die zwar in den Geisteswissenschaften an Belang gewonnen hatte, dabei jedoch marginal und begrenzt geblieben war, sich von der zentral gewordenen Frage des Verstehens her auf andere und neue Weise auffaßt. 108
10 ~ GADAMER,
Mythologie und Offenbarungsreligion (1981}, GW 8, 174-179, hier 178.
106 Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 2. 107 GAnAM~R, Wahrheit und Methode, GW 1, 170. 10" GA llA M ao~. Äto~thr.tik und Hermeneutik, GW 8, 1-8.
IV. Kapitel
Unterwegs zu einer philosophischen Hermeneutik Schleiermachers Idee einer universalen Hermeneutik [...] ist aus der Vorstellung entstanden, daß die Erfahrung der Fremdheit und die Möglichkeit des Mißverständnisses eine universelle ist. 1 Was man heute .philosophische Hermeneutik" nennt, steht zu einem guten Teile auf phänomenologischem Grunde. 2 Faktzität meint ja das Faktum in seinem Faktum-sein, also gerade das, wohinter man nicht zurückgehen kann. Als Faktum, hinter das man nicht zurückgehen kann, findet sich auch bei Dilthey [...] das Leben charakterisiert.3
1. Rückblick auf eine Disziplin Die Frage des Verstehens, die im Bereich der Ästhetik eine zentrale Stellung einnimmt, fordert eine Neubestimmung der Hermeneutik, und zwar eine kritische Rekonstruktion ihrer Geschichte, die letztendlich auf die Geschichte ihrer Konstruktion hinausläuft. Es ist nämlich nicht übertrieben zu sagen, daß die Hermeneutik seit der Mitte der fünfzigerJahregewissermaßen konstruiert worden ist. Es sind die Jahre, in denen Heidegger sich in seinem berühmten, zwischen 1953 und 1954 geschriebenen Aufsatz Aus einem Gespräch von der Sprache nach der Bedeutung des Wortes "Hermeneutik" fragt; beinahe zur seihen Zeit arbeitet Gadamer an seinem Entwurf einer philosophischen Hermeneutik. 4 HANS-GEORG GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 182 f. GADAMER, Kant und die hermeneutische Wendung (1975), GW 3, 213-222, hier 214. 3 GADAMER, Der eine Weg Martin Heideggers (1986), GW 3, 417-430, hier 422. 4 MARTIN HEIDEGGER, Aus einem Gespräch von der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, GA 13, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfun am Main: Klostermann 1985, 85-155, insb. 90-94. 1
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1>il·l >ist.ipli11, dit· ,.,.,, ,,.il tl,•m 17. .J.thrhundc..·n b,·rmem·uti'·"' ~cnannt wird, das lwi f~t dit· .1111 i kc Mt' I hodt·nldu·c dt.·r I nterprctation, weist eigentlich eine extrem fr,tgmt·ntit•rtt· hu·m Geschichtliche Vorbereitung< von Wahrheit und Methode wieder aufgenommen und damit vor allem das historiographische Muster bestätigt hätte, in dessen Licht die Genealogie der Hermeneutik gewöhnlich gelesen wird. 7 Dieses Muster, das in fast allen darauf folgenden Rekonstruktionen der stets streng im Singular aufgefaßten Hermeneutik wiederholt wird, läßt sich leicht in seinen Einzelschritten zusammenfassen. Die antike hermeneia, die in der griechischen Welt die Kunst des Sprechens, Verkündens, Erklärens, Übersetzens ist, bringt nur verstreute und unzusammenhängende Regeln hervor. Für eine erste Wende steht Luther (1483-1546), der mit dem Prinzip sola scriptura eine von allen Autoritäten befreite Exegese verteidigt. Doch die sakrale Hermeneutik verknüpft sich bald mit der weltlichen Hermeneutik, und zwar vor allem mit der humanistischen Philologie, die wieder einen kritischen Zugang zu den Klassikern eröffnet. 8 Für die zweite Wende, die den Übergang
Vgl.jEAN GRONDIN, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, insb. 1-20. Auf den Bruch in der Traditon der Hermeneutik und auf deren fragwürdige .,Identität" lenkt die Aufmerksamkeit joHN WRAE STANl.EY, Die gebrochene Tradition. Zur Genese der philosophischen Hermeneutik HansGeorg Gadamers, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, insb. 11-112; vgl. auch GüNTER FIGAL, Die Komplexität philosophischer Hermeneutik, in: Der Sinn des Verstehens, Stuttgart: Reclam 1996, 11-31. fl WILHELM DILTHEY, Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: Gesammelte Schriften (im folgenden GS), Band V, hrsg. von Georg Misch, vierte Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964,317-338. Zu einem Überblick vgl.JosEF BLEICHER, Contemporary Hcrmcneutics. Hcrmcneutics as Method, Philosophy and Critique, London: Routledge & Kcg;w 1980; vgl. auch ERWIN HUFNAGEL, Einführung in die Hermeneutik (1976), zweite Auflage, St. Augustin: Al:;\dl·rnia 2000; HANS INEICHEN, Philosophische Hermeneutik, Frciburg/Münda·n: All,t.•r l'J'JI. 7 V~l. ( ;J\ DJ\ MI K, w.. t...twit UIH.I Mc.·thut.ic:, GW 1, 177-221. " ~->• i-.r inll'lt.'""·'"' JliiH'IIIc·du·u, d.1f~ sidt t.lil·llcrmt.•m·utik in der Vcr~angcnhcit oftmals 5
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von der "Vorgeschichte.. :t.ur d~cntlichen "Gesd1idatt·.. m~rkicrt, ~tcht Friedrich D.E. Schleiermacher (1768-1834}, dem das Vc.·rdienst zukommt, die Hermeneutik zu einer allgemeinen Verstehenskunst vereinheitlicht zu haben. Weitet Dilthey diese Kunst zu einer Methodologie der Geisteswissenschaften aus, so befreit Heidegger sie aus der Methode und siedelt sie auf dem Boden der menschlichen Faktizität an. Schließlich gelangt Gadamer zur Begründung einer philosophischen Hermeneutik, die den Anspruch auf Universalität erhebt. Dieses Muster setzt nicht nur eine Vorgeschichte und eine Geschichte voraus, sondern unterscheidet auch zwischen einer "klassischen" und einer im Sinn Heideggers und Gadamers "philosophischen" Hermeneutik. Darin liegt gewiß ein Widerspruch: Auf der einen Seite findet die Geschichte der Hermeneutik ihr Telos in der philosophischen Hermeneutik, und auf der anderen Seite gewinnt diese an Profil, indem sie den Bruch mit der klassischen Hermeneutik hervorhebt. Vor diesem Hintergrund wird es leicht nachvollziehbar, warum Gadamers Rekonstruktionen in Wahrheit und Methode- zum Beispiel die Schleiermachers und Diltheys -oftmals Dekonstruktionen sind. Nach den kritischen Einwänden, die ihm entgegengehalten wurden, hat Gadamer zwar den Kontrast zwischen klassischer und philosophischer Hermeneutik abgeschwächt.9 Doch hat er auch in späteren Arbeiten dieses Muster weiterhin vorgeführt, wie etwa in der Anthologie Seminar: Philosophische Hermeneutik, die er gemeinsam mit Gottfried Boehm herausgegeben hat, und im Artikel Hermeneutik, der 1974 für das Historische Wörterbuch der Philosophie geschrieben wurde. 10
als antidogmatisch und antitraditional erwies und sie dort eine Rolle spielte, wo religiöse, kulturelle oder politische Konflikte aufgetreten waren. 9 Vgl. insbesondere EMILIO BETTI, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen: Mohr Siebeck 1967 (ital. Teoria generale deWinterpretazione, 1955); ERIC D. HIRSCH (1967), Prinzipien der Interpretation, München: Fink 1972 (engl. Validity in Interpretation, New Haven: Yale University Press 1967); THOMAS M. SEEBOHM, Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn: Bouvier 1972. 10 HANS-GEORG GADAMER, Hermeneutik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Kar] Gründer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Band 3, 1974, Sp. 1061-1073; vgl. auch Klassische und philosophische Hermeneutik (1968), GW 2, 92-117.
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2. I >iL• Kun~cni.tlit~it des Vcrstchcns. Wt·ldll'l. Sc:h lcicrmachcr? Die Auscinandersl·tzun~ mit der klassischen Hermeneutik fängt mit der Rekonstruktion von Schleiermachcrs Entwurf an. 11 In diesem Zusammenhang ist es sogleich geboten, zwei große Grenzen dieser Rekonstruktion hervorzuheben: zum einen greift sie auf das Bild des romantischen Philosophen zurück, das Dilthey schon skizziert hatte; zum anderen tut sie Schleiermacher unrecht, da sie ihm nämlich vorwirft, seine Hermeneutik sei noch von einer "ästhetischen Metaphysik der Individualität" beherrscht, die ihn dazu gebracht habe, das hermeneutische Problem aus dem Blick zu verlieren. 12 Der Begründerder modernen Hermeneutik hätte sozusagen die Hermeneutik verfehlt. Eine solche kritische Rekonstruktion entspricht offensichtlich Gadamers strategischer Zielsetzung, der eigenen Wende ein schärferes Profil zu verleihen. Dazu stehen ihm zwei Wege offen: Er kann aus Schleiermacher entweder eine Art von Anti-Hegel machen, das heißt einen Philosophen der Empathie, der Sympathie und des psycho-genialischen Verstehens, von dem man Abstand zu nehmen hätte; oder er kann die Bedeutung anerkennen, die Schlei~rmacher der grammatischen Seite der Interpretation zuschreibt, um damit das weise Gleichgewicht zur Geltung zu bringen, mit dem dieser den gegenseitigen Zusammenhang von Sprache und Individuum umreißt. Im letzten Fall hätte Gadamer hier ein Modell für den dritten, der Sprache gewidmeten Teil von Wahrheit und Methode finden können. Eine indirekte Anerkennung dieser zweiten Möglichkeit stellt der Satz Schleiermachers dar, den Gadamer als Motto für sein Sprachkapitel wählt: "Alles Vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache." 13 Aber Gadamer schlägt den ersten Weg ein. Dies hat ihm zahlreiche Kritiken eingebracht. 14 Zu seiner Verteidigung läßt sich jedoch anführen, daß er aufgrund einer mehrmals betonten Solidarität mit Vgl. GADAM ER, Wahrheit und Methode, GW 1, 188-200. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 193. 1.\ GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 387. Vgl. FRIEDRICH DANIEL ERNST S<:B 1.1-:1 ERMACHER, Hermeneutik. Nach den Handschriften neu herausgegeben und eingeleitet von Heinz Kimmcrle, Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Jahrgang 1959, zweite Abhandlung, Heidelberg: Winter 11
12
IC153, JR. l.f Szondi hat diese Kritiken an~cstoßcn: PETER SzoNDI, Einführung in die literariNcht·l icrmeneutik, Fr;tnkfurt am Main: Suhrkamp 1975. Dann folgten MANFRED FRANK, l>.lS i nd ividud lt• A ll~t·mei m·. Tex tstruktu ricru ng und -i nterpretation nach Schleierm.u·lwr, Fr.tnk fun 0'\IH Main: Suhrkamp 1977; RoN BoNTEKOE, A Fusion of Horizont: (;,uLmwr ;tnd Sl'hlt·il·rm.t~.:lwr, in: lntern.ttional Philosophical Quarterly 27 (1987), 3-16; C111USTJAN lht(NFI<, l..t philosophil· dt• Sl'hlt•it·rmadtcr. Paris: Edition du CERF 1995. V~l.)"l/1 d,·nn,·u,·n krili~odtl'l\ lh·itr.l~ von ANI>IHA AKNI>T, S~.:hll·icrm:H:hers Hermencu-
HH der romantischen Hermeneutik auch die Aporien uffcnlegt, die sowohl bei Schleiermacher als auch bei Dilthcy aus einer noch viel zu methodologischen Darlegungsweisc der hermeneutischen Frage entstehen. Man darf ferner nicht vergessen, daß ohne Gadamers Rekonstruktion heute kaum jemand über Schleiermachers oder Diltheys Hermeneutik sprechen würde. Schleiermacher wäre vielleicht nur noch ein bedeutender protestantischer Theologe, der in Deutschland für seine Platonübertragungen berühmt ist und Dilthey wäre wohl nur noch für seine Studien zur Geschichte der Philosophie und zur Methodologie der Geisteswissenschaften anerkannt. Wie sehr sie auch ungerechtfertigte Kritik enthalten mag, so hat sich seine Rekonstruktion doch in beiden Fällen als eine Wied~rentdeckung erwiesen. In seiner Deutung Schleiermachers hat Gadamer die Hermeneutik mit der Ästhetik, nicht mit der Dialektik und der Ethik in Verbindung gebracht. Darum zieht er die "psychologische" der "grammatischen" Interpretation vor, auch wenn bei Schleiermacher beide Seiten vorhanden sind. Wie zeichnet sich dann der hermeneutische Akt bei Schleiermacher ab? Die Kluft zwischen Autor und Interpret scheint bei ihm psychologisch "durch das Gefühl, also ein unmittelbares sympathetisches und kongeniales Verstehen" überschritten zu werden. 15 Das Verstehen sei für Schleiermacher deshalb die Nachbildung einer ursprünglichen Produktion. Deshalb sei es ihm darum gegangen, zu jenem "Keimentschluß" zurückzugehen, das heißt zu jenem lebendigen und absolut individuellen Moment, aus dem die Produktion des Genies entsteht. 16 Genial und schöpferisch wie die Produktion muß dann auch die Nachbildung sein. Für Gadamers Schleiermacher ist das Verstehen eine Kunst, nicht weniger als das Sprechen. In diesem Sinn ist die "Hermeneutik[...] eine Art Umkehrung zur Rhetorik und Poetik." 17 Ein Text oder eine Rede wird nicht aufgrundseines bzw. ihres "sachlichen Inhaltes" verstanden, sondern als "ästhetisches Gebilde", als "Kunstwerk" und als "Ausdruck" einer einzelnen Individualität. 18 Hieraus entspringt der divinatorische Charakter der Hermeneutik. Der divinatorische Akt des Verstehens stützt sich für Gadamer auf die Unmittelbarkeit des Gefühls- wobei die
tik im Horizont Gadamers, in: MIRKO WISCHKE/MICHAEL HoFER (Hrsg.), Gadamer verstehen- Understanding Gadamer 2003, 157-168. Sehr von Gadamer beeinflußt, ·und zuletzt auch von der existentialen Hermeneutik Heideggers, ist dagegen das Buch von GIANNI VATTIMO, Schleiermacher filosofo dell'interpretazione, Mailand: Mursia 1986, das erste Buch über die Philosophie Schleiermachers, das jedoch die Verbindung zwischen der Hermeneutik auf der einen Seite und der Dialektik und Ethik auf der anderen im Dunkeln läßt. 15 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 194. 16 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 191. 17 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 192. 18 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 191 f.
Auslegung für Srhl,·ic·t'nhh'lll•r, nnl~h vor dem divinatorischen, dils verKicichendc Verfahn.·n c.·rftH'(h·n.l'' Diese Psydwlogisit•ru nt-; von Schleiermachers Hermeneutik fällt mit ihrer Ästhctisierun~ zusammen, da das Verstandene eigentlich Ausdruck einer stets von allen Regeln freien Individualität ist. 20 Indem er den Schatten der kantischen Genieästhetik auf diese Hermeneutik wirft, fällt es Gadamer leicht, sie des Subjektivismus zu bezichtigen. Schleiermacher würde demnach die Aufmerksamkeit nur dem Ausdruck des individuellen Subjekts, also des Autors schenken. Viel fruchtbarer wäre es aber wohl gewesen, den Akzent auf eine andere Besonderheit von Schleiermachers Hermeneutik zu legen, in der sein Abstand zur philosophischen Hermeneutik stärker zutage tritt. Gadamer selbst deutet zu Beginn seiner Rekonstruktion auf diese Besonderheit hin, läßt dann aber das Thema fallen und verweist es auf den Zusammenhang, in dem er seine eigene Hermeneutik entwickelt. 21 Schleiermacher markiert eine Wende in der Geschichte der Hermeneutik, weil er das Problem des Verstehens in seiner ganzen Radikalität stellt. Auf dem bereits von Friedrich Schlegel (1772-1829) eröffneten Weg, den auch Humboldt einschlägt, wird das Verstehen nicht mehr als selbstverständlich angesehen, da es von Anfang an durch das Nichtverstehen und das Mißverstehen beeinträchtigt wird. Man versteht nicht immer und überall, und das Mißverständnis tritt nicht nur in den Grenzfällen, nicht nur in den dunklen Stellen hervor, auf welche eben die Hermeneutik angewendet wurde. Im Gegenteil sagt Schleiermacher, daß "sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden.'' 22 Das Mißverstehen, das bei der Auslegung heiliger Texte, die in fremden, alten und eben schwer zu interpretierenden Sprachen geschrieben sind, fast unvermeidbar scheint, stellt daher nur ein Symptom des sehr viel umfangreicheren Mißverstehens dar, das in dem Gespräch des alltäglichen Lebens immer wieder vorkommt. Durch diese Umkehrung der Perspektive beginnt Schleiermacher, der: damit die Spezialhermeneutiken in dem ihnen gemeinsamen Verfahren des Verstehens vereinigt, Licht auf die Universalität der Hermeneutik zu werfen. Seit Schleiermacher werden Mißverstehen und Nichtverstehen, selbst wenn sie in verschiedener Form aufgefaßt werden, in die Kon-
Vgl. FRIEDRICH DANIEL ERNST ScHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977,325-327. 20 In einem Exkurs, der in den Zusätzen zu Wahrheit und Methode veröffentlicht wurde und den Titel Zum Begriff des Ausdrucks trägt, hat Gadamer seine Kritik an der psychologischen Auffassung des Ausdrucks entwickelt; dabei hat er den Ausdruck auf das Erlebnis des Subjekts zurückgeführt, ohne jedoch seine rhetorisch-sprachliche Entstehung in Betracht zu ;-.iehcn. Vgl. GAUAMER, Exkurse I-VI (1960), GW 2, 375-386, insb. 384-386. 21 Vgl. GA 1>1\ MER, Wahrheit und Methode, GW 1, 188 f. 21 ScJJU:JERMACIIJo:R,lfcrmcncutik und Kritik, 92. 19
stcllation der Hermeneutik ein~cschrichcn hleihcn. l>•ts Verstehen wird fortan nie wieder als selbstverständlich gelten. Schleiermacher geht also vom Mißverstehen und vom Nichtverstehen aus und er sieht die Aufgabe der Hermeneutik im Übergang zum Verstehen. Doch niemals wird es einen Punkt geben, in dem dieser Übergang vollendet und das Verständnis vollkommen wäre. Die hermeneutische Aufgabe ist unendlich. Es gibt weder Einfühlung noch Empathie bei Schleiermacher. 23 Und wenn es sie auch gäbe, wären sie nicht das Ziel der Interpretation, die in der Ausübung ihrer kritischen Wachsamkeit über jede Form der Identifizierung hinausgeht. Daher muß man "die Rede zuerst eben so gut und dann besser [...] verstehen als ihr Urheber." 24 Mit diesen Worten formuliert Schleiermacher einen alten hermeneutischen Grundsatz um - für Gadamer "[zeichnet] sich die gesamte Geschichte der neueren Hermeneutik" in dieser Formel ab25 -,der genau betrachtet auf Kant zurückgeht. In der Kritik der reinen Vernunft wird in Bezug auf Platons "Idee" gesagt, daß es "gar nichts Ungewöhnliches" sei, einen Autor "sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte."26 Auch Schleiermacher denkt, daß das Verstehen eine produktive Nachbildung ist, die das besser sagen kann, was der Autor gesagt hat- allein schon deshalb, weil es noch einmal gesagt wird. Besser-Verstehen spielt hier bereits auf ein Anders-Verstehen an. 27 Im Nachwort zur dritten Auflage von Wahrheit und Methode gibt Gadamer "eine gewisse Einseitigkeit" in seiner Rekonstruktion der Hermeneutik zu; doch er beharrt weiterhin darauf, daß der eigentümlichste Beitrag Schleiermachers gerade in der psychologischen Auslegung liege. 28 Und später noch, in seinem Versuch einer Selbstkritik von 1985, über den es zu einer Debatte mit Manfred Frank (*1945} kommt, betont er wiederum die Relevanz der psychologischen Auslegung, auch wenn er zugleich einsieht, Ästhetik und Dialektik vernachlässigt zu haben. 29 Dabei bezieht er sich auf den wichtigen Text von 1968 Das Problem der Sprache bei Schleiermacher, in dem er bereits den Vorgang der niemals dialektisch abgeschlossenen Vermittlung zwischen Sprache und Sprecher schärfer umrissen und dadurch seine Position korrigiert hatte. 30 Zurecht fragt sich Jung, ob es jemals "solche naiven Einfühlungshermeneutiken" gegeben hat. MATTHIASjUNG, Hermeneutik zur Einführung. Auslegung, Interpretation, Verstehen, Deutung, Hamburg: Junius 2001, 63. 24 ScHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, 94. 25 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 195. 26 IMMANUEL KANT, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. von Jens Timmermann, Hamburg: Meiner 1998, B 370/A 314. 27 Vgl. in diesem Band Kap. V, 2. 28 GADAMER, Nachwort zur 3. Auflage, GW 2, 462. 29 Vgl. GADAMER, Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, GW2, 14f. 30 Vgl. GADAMER, Das Problem der Sprache bei Schleiermacher (196R}, GW 4, 361-373. 23
3. I >i<.· Kntnkhcit lies historischen Bcwul~tscins und die Aporien Diltheys In der Zeit nach Schleiermacher dehnt sich die Hermeneutik durch die "historische Schule" weiter aus, zu deren größten Vertretern der Philologe August W. Boeck (1785-1867), sowie die Historiker Leopold von Ranke (1795-1886) und Gustav Droysen (1808-1884) gehören. Für Gadamer, der die Grenzen des ästhetischen Bewußtseins bereits aufgezeigt hat, bietet die Auseinandersetzung mit der historischen Schule und dann später mit Dilthey die Gelegenheit, die Frage des historischen Bewußtseins zu erörtern, die ihn in den Jahren vor Wahrheit und Methode schon beschäftigt hatte. Wenn die Geschichte ein Ziel und ein Ende hat, sei es eine göttliche oder eine menschliche Vollendung, dann richtet sich ihr Lauf entschlossen auf einen positiven Sinn aus. Diese metaphysisch-christliche Auffassung hat auch säkularisierte Formen angenommen: das aufklärerische Credo des Fortschritts und die Hegeische Geschichtsphilosophie. Erst als der metaphysische Hintergrund zerfällt, zeigt sich die Frage des historischen Bewußtseins in ihrem ganzen abgründigen Ernst. Es gibt weder ein Ziel noch ein Ende der Geschichte; was es gibt, sind nur die endlichen Zwecke des Menschen, der in seiner Geschichtlichkeit die eigene Endlichkeit anerkennt- dies ist die tragische Wahrheit des geschichtlichen Bewußtseins. In einigen Arbeiten aus den vierziger Jahren, besonders in dem Beitrag Die Grenzen der historischen Vernunft von 1949, wird die "historische Krankheit", welche die Entstehung des europäischen Nihilismus markiert, durch Nietzsches Worte demaskiert. 31 Hat das historische Bewußtsein den modernen Menschen gelehrt, die Welt mit hundert Augen zu betrachten, oder hat es ihm die Welt nicht vielmehr in einen Schwindel von Perspektiven aufgelöst? Und was bedeutet dem Menschen, der sich selbst als geschichtlich und endlich weiß, die Welt der Geschichte in ihrer unendlichen Vielfalt? Diese Frage wird bereits von Herder in seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1744 aufgeworfen. Der ironische Titel verrät, Gadamer zufolge, die Absicht, sich jeder Geschichtsphilosophie zu enthalten, welche vom Anspruch des aufgeklärten Menschen geleitet würde, sich zum Spiegel der Vergangenheit zu machen. 32 Da jeder Fortschritt zugleich auch ein Verlust ist, fällt die Idee der Perfektionierung aus. Nur wenige Jahre später wird Humboldt warnend darauf hinweisen, daß das Sein in der Zeit immer zugleich ein Erzeugen und Untergehen ist. Alles andere als linear, zeigt sich der Geschichtsverlauf eher als ein chaotisches Fluten, in dem es weder eine Überwindung hin zu einer harmonischen Vervollkommnung noch eine absoJl '1
GA IMMER, Die Grenzen der historischen Vernunft (1949), GW 10,175-178. V~l. CADA M I~R. I Ierd er und die geschichtliche Welt (1967), GW 4, 318-335.
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lute Synthcsis gibt. Die Geschichte "hat kein au{~er ihr auffindbares und feststehendes Telos." 33 Wie soll man sich nun in diesem Chaos orientieren? Wie soll man noch nach einem Sinn in diesem Schauspiel der glänzenden Siege und traurigen Untergänge suchen? Die historische Schule versucht diese Fragen zu beantworten, indem sie die von Herder und Humboldt entwickelte Auffassung der Hegeischen Geschichtsphilosophie entgegensetzt, welche mit ihrer aprioristischen Teleologie den historischen Fakten Gewalt antue. Es verwundert daher nicht, daß die Hermeneutik der Weg der Orientierung für die Historik wird. Aber die Historik ist Gadamer zufolge eine ästhetisierende Hermeneutik, die überdies positivistische Konnotationen annimmt, nicht nur weil sie sich an die Fakten halten will, sondern auch, weil sie auf Objektivität zielt. Das Deutungskriterium, das sie anwendet, ist das Verhältnis von Teil und Ganzem. Stillschweigend postuliert sie, die Geschichte sei wie ein großes Buch, das entziffert werden muß. Doch nur der Text der Philologen ist ein in sich geschlossenes Ganzes. Dagegen ist "das Buch der Geschichte für jede Gegenwart ein im Dunkel abbrechendes Fragment." 34 Wie könnte der Interpret das gesamte Buch vor Augen haben, ohne dabei seiner eigenen Geschichtlichkeit unrecht zu tun? Und wie könnte er andererseits auf das Ganze verzichten, das letztlich das Ganze der Weltgeschichte ist? Es sind dies die beiden Aporien, aus denen sich die historische Schule nicht herauswinden kann. Die große Frage nach der Weltgeschichte muß deshalb offen bleiben. Dennoch wird von hier aus allmählich klarer, daß es möglicherweise gar nicht darum geht, ob und wie der Mensch die Geschichte versteht, sondern ob und wie er sich selbst geschichtlich versteht, indem er jeweils sein Verstehen der Geschichte ändert. Entscheidend ist auf diesem Weg die Auseinandersetzung mit Dilthey, auch wenn Gadamers Interpretation durchaus diskutabel ist. 35 Hier gilt es wiederum, einen Unterschied zu Heidegger hervorzuheben. Während dieser mit der Tradition der Geisteswissenschaften und daher auch mit Dilthey bricht, zieht Gadamer den Dialog vor. Zeugnisse dafür bieten seine Arbeiten der fünfziger Jahre, sowie die 1957 in Leuven gehaltenen Vorträge. 36 Es ist kein Zufall, daß gerade die GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 207. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 203. 35 Auch hier hat es, wie im Fall von Schleiermacher, nicht an Kritik gefehlt, die besonders von den Epigonen der sogenannten Diltheyschule stammte, der Autoren wie Georg Misch, Hermann Nohl, Josef König, Raymond Aaron, George Gusdorf, Otto Friedrich Bollnow und Frithjof Rodi zugehören. Die schärfste Kritik ist von Frithjof Rodi vorgebracht worden. FRITHJOF RoDI, Die Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20.Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. 36 Es genügt, an die Texte von GADAMER, Wahrheit in den Geisteswissenschaften (1953), GW 2, 37-43, und Was ist Wahrheit? (1957), GW 2, 44-56 zu erinnern. Vgl. HANS-GEORG GADAMER, Das Problem des historischen Bewußtseins, aus dem Französischen rückübersetzt von Tobias Nikolaus Klass, Tübingcn: Mohr Siebeck 2001 (frz. Le problerne de Ja con33
34
Konfrontation mit I >iltht.·y dils Milnuskript von Wahrheit und Methode eröffnet.37 Ebenso wahr ist aber auch, da{~ die Gestalt Dilthcys in den darauf folgenden Jahrzehnten in Gadamers Werk immer mehr zu verblassen scheint. Gadamer hat ihm obendrein nicht viele Aufsätze gewidmet: abgesehen von dem ersten, den er 1933 für den hundertsten Geburtstag Diltheys geschrieben hatte, gehen alle übrigen auf die achtziger Jahre zurück und sind meistens Überarbeitungen des in Wahrheit und Methode enthaltenen Kapitels. 38 Eine Ausnahme bildet der Aufsatz Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule von 1991, in dem Gadamer auf die von Frithjof Radi vorgebrachte Kritik antwortet und dabei seine Interpretation teilweise modifiziert. 39 Das Wort "Hermeneutik" kommt bei Dilthey nur sehr selten vor. Von Anfang an ist es sein Ziel, sich aus den Engpässen zu befreien, in denen die historische Schule auf halbem Wege "zwischen Philosophie und Erfahrung" stecken geblieben war. 40 Das Zeitalter Diltheys ist vom Zusammenstoß zwischen der romantischen Kultur und dem beginnenden Positivismus geprägt. Die Ablehnung der Hegeischen Philosophie begünstigt eine Rückkehr zu Kant. So wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Naturwissenschaften begründet hatte, so nimmt sich Dilthey vor, die Geschichtswissenschaften durch eine "Kritik der historischen Vernunft" zu begründen - eine wirkungsträchtige Formulierung und ein möglicher Titel für ein Buch, das er, Gadamer zufolge, auch wegen der Aporien seines Denkens niemals veröffentlicht hat. 41 Die Frage, die Dilthey beschäftigt, ist die des geschichtlichen Bewußtseins in der Form, die es nach Nietzsche angenommen hat. Wenn jedes Volk, jede Epoche und jede Manifestation des Geistes historisch aufzufassen sind, wie ist es dann möglich, eine allgemein gültige Erkenntnis der Geschichte zu garanscience historique, Leuven/Paris: Publications Universitaires de Louvain/Beatrice-Nauwelaerts 1963 [neu hrsg. von Pierre Fruchon, Paris: Seuil1996]). 37 Dieser Text entspricht dem der ersten Leuvener Vorlesung- vgl. GADAMER, Das Problem des historischen Bewußtseins, 23-33- so daß Gadamer ihn herangezogen hat, um die Vorlesungen zu redigieren. Eine verkürzte Version der Ursprungsfassung von 1955-1956 wird im Archiv der Universitätsbibliothek in Heidelberg aufbewahrt (Heid. Hs. 3913); der Anfangsteil ist vor kurzem unter der Herausgabe von Jean Grondin in: Dilthey-Jahrbuch 1992-1993, 131-142, veröffentlicht worden. 38 Vgl. GADAMER, Wilhelm Dilthey zu seinem 100. Geburtstag (1933), GW 4, 425-428. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 222-246. Als spätere Aufsätze vgl. GADAMER, Das Problem Diltheys. Zwischen Romantik und Positivismus (1984), GW 4, 406-424; Der Unvollendete und das Unvollendbare. Zum 150. Geburtstag von Wilhelm Dilthey (1983), GW 4, 429-435; Wilhclm Dilthey und Ortega. Philosophie des Lebens (1985), GW 4, 436-447. 39 Vgl. GADAMER, Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule (1991), GW 10, 185-205. 40 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 223. 41 Vgl. GADAMER, Der Unvollendete und das Unvollcndbarc, GW 4, 431. Die Wendung Dihhcys erscheint schon in c.·inc.·m T,t~chuchcintrag von 1860. Vgl. Der junge Dilthey. Ein l.cbc:nshi ld in 1\ridc.·n u ntl Ti4);c.·hü(:hcrn 1H51-l H70, :r.us&unmcngcsct:r.t von Clara Misch geh. l>ihhc.·y, l.c.·ip:t.i);: 'lt.·ulmt·r I'J.H, 1 l'HtO,
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IV. Kapitel: Unterwegs zu einer philosophischen flt:rmeneutik
tieren? Der Geschichtserkenntnis allgemeine Gültigkeit zuzuschreiben, bedeutet jedoch, sie an der wissenschaftlichen Erkenntnis zu messen. Diltheys Absicht - schon in der Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 - liegt gerade darin, sich die Hermeneutik zunutze zumachen, um die Geisteswissenschaften in den Rang der Naturwissenschaften zu erheben. Auch wenn er dabei stets zwischen einem einheitlichen und einem komplementären Modell schwankt, neigt Dilthey schließlich dem letzteren zu, welches den hermeneutischen Ansatz nur für die Geisteswissenschaften reserviert. Gadamers kritische Deutung nimmt hier ihren Ausgang. Er führt Diltheys Schwanken auf den inneren Widerspruch von dessen Denken zurück: den Widerspruch zwischen Positivismus und Romantik, zwischen dem methodologischen Anspruch auf objektive Erkenntnis und der romantischen Einsicht in die Geschichtlichkeit des Erkennens. Wenn wir geschichtliche Wesen sind, wie können wir dann jemals eine universale Erkenntnis erlangen, die über unsere Geschichtlichkeit hinausgeht? Ist nicht die feste Gewißheit, das fundamenturn inconcussum, das Dilthey für die Geisteswissenschaften reklamiert, von vornherein durch deren grundsätzliche Geschichtlichkeit beeinträchtigt? Und läuft man dabei nicht Gefahr, das Modell der Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften zu projizieren? Im Gegensatz zu den Neukantianern unterscheidet Dilthey jedoch sehr wohl zwischen geschichtlicher und naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Dazu nimmt er den Grundsatz verum-factum wieder auf, den Vico auf die "bürgerliche Welt" angewendet hatte: Der Mensch erkennt als wahr nur das, was er gemacht hat, und zwar nur in der Geschichte, nicht in der Natur. Auf diese Weise rechtfertigt er die Möglichkeit der Geschichtserkenntnis. 42 Wie auch in der romantischen Hermeneutik liegt dabei die Lösung in der Kongenialität von Subjekt und Objekt. Für Gadamer ist jedoch gerade dies das Problem. Auf welche Weise läßt sich nämlich der Übergang von der einzelnen geschichtlichen Erfahrung zur allgemeinen Erfahrung der Geschichte erklären? Überträgt Vicos Grundsatz schließlich nicht seinerseits eine mit der Kunstwelt verbundene Erfahrung auf die Welt der Geschichte? Ist es überhaupt sinnvoll, im Blick auf die Bedingungen, denen der Mensch im Geschichtsverlauf unterliegen soll, von einem "Machen" zu reden? In diesen Fragen liegt einer der wichtigsten Einwände Gadamers gegen Dilthey. Das geschichtliche Bewußtsein ist für Dilthey auf der einen Seite das durch die Geschichte bedingte Bewußtsein, und auf der anderen Seite das Bewußtsein von der Geschichte, die Bewußtwerdung des geschichtlichen Charakters all dessen, was menschlich ist. Dieses Bewußtsein unterscheidet unsere Epoche von allen vorhergehenden. Das geschichtliche Bewußtsein würde sich demnach als Heilmittel gegen die von ihm selbst verursachten Übel erweisen . .f!
V~l. GAt>AMFR,
Wahrheit und Mcthmll'. GW I, 226.
Da wir unscn:r (;c..·~~·hidttlirhkc.·it hcwuf~t sind, wären wir in der Lage, jenen Abstand ~:i nzu ndunc..·n, dc..·r c..•s uns erlauben würde, sie auf objektive Weise zu erkennen. Das Bewugtscin gc..·ht in Erkenntnis, das Selbstbewußtsein in Wissen über. Doch bei diesem Ü bcrgang wird als selbstverständlich angenommen, daß das Bewußtsein "eine Weise der Selbsterkenntnis" im cartesianischen Sinne ist. 43 Kurzum: Diltheys geschichtliches Bewußtsein täuscht sich- nicht anders als das ästhetische Bewußtsein - über die eigenen Möglichkeiten. Diesem geschichtlichen Bewußtsein, das sich sicher ist, zu einer transparenten Erkenntnis seiner selbst zu gelangen, wird Gadamer "das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein" entgegenstellen.44 Dilthey hat dennoch zahlreiche Versuche unternommen, das Bewußtsein in seinem geschichtlichen Sein zu verankern. Dazu hat er den Begriff des "Lebens" eingeführt, der zum Schlußstein seiner Hermeneutik avanciert ist. Noch bevor es sie erkennt, versteht das Individuum die Lebenswelt bereits insofern, als es sie in Sinnverbindungen oder -Strukturen artikuliert, die folglich jeweils wieder verstanden werden können. Der Vorgang, aus dem der Sinn entsteht, ist das Leben, das sich dadurch artikuliert: ,,Leben erfaßt hier Leben". 45 Oder mit den Worten Gadamers: "Das Leben selbst legt sich aus. Es hat selbst hermeneutische Struktur." 46 Das Verstehen stellt deshalb den umgekehrten Vorgang gegenüber demjenigen dar, in dem sich das Erlebnis in verständlichen Sinnfiguren ausdrückt. Wenn das Leben, das sich artikuliert, reflektierend auf sich zurückkommen kann, so wird es zum hermeneutischen Prinzip, das den Übergang von der individuellen zur allgemeinen Erfahrung und das heißt letztlich: von der Psychologie zur Hermeneutik aufklären müßte. Denn es müßte näher bestimmen, auf welche Weise sich das Individuum mit dem objektiven Geist verbindet. 47 Zum einen hat das Leben jedes Einzelnen den Charakter der Geschichtlichkeit, zum anderen ist die Geschichte nichts anderes als das Leben vom Standpunkt der gesamten Menschheit her betrachtet. So erweist sich das Leben als das Apriori, das die Möglich~eit garantiert, alle individuellen und geschichtlichen Manifestationen zu verstehen, während sich die Geschichte wie ein Text strukturiert. Durch die hermeneutische Zirkularität, die vom Ganzen zu den Teilen und von den Teilen zum Ganzen geht, lassen sich anband einer sich niemals im GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 239. Vgl. in diesem Band Kap. V, 6. •s WILHELM DILTHEY, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, GS VII, hrsg. von Bernhard Groethuyscn, zweite Auflage, Göttingcn: Vandcnhoeck & Ruprecht 1958, 136. ·U· GAt>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 230. '17 Vgl. GAt>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 228 f. Vgl. ToM NENON, Hermeneutical Truth and thc Structure of Human Experience: Gadamer's Critique of Dilthey, in LAWRJ~NCE K. S<:UMJDT (Hrsg.). Thc Spcctcr of Rclativism. Truth, Dialogue and Phronesis in Philusophil';\1 Hcrmcncuti"s• Evanston (lllinois): Northwcstcrn Univcrsity Press 1995, 3'J-SS. 43
44
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1/t•miC'n~utik
Absoluten vollendenden Bcwe~un~ immer wcitcq.;chcndc Zusammenhänge im Hinblick auf die Universalgeschichte errcichcn.'u1 Doch für Gadamer ist dieser Begriff des Lebens, in dem das Moment der Selbstreflexion scharf akzentuiert wird, immer noch mit cartesianischen Voraussetzungen belastet - angefangen mit der Annäherung des methodischen Zweifels an den Zweifel, der die menschliche Existenz quält. Dilthey sieht nicht, daß die Suche nach Gewißheit in der Wissenschaft und im Leben zwei sehr verschiedene Wege geht. Der Zweifel der ersteren, der cartesianische Zweifel, zweifelt, um eine unbezweifelbare Gewißheit zu erlangen; der Zweifel des letzteren, der existentielle Zweifel, zweifelt an der Möglichkeit selbst einer solchen Gewißheit. Weit davon entfernt, seine Fortführung zu sein, ist der methodische Zweifel der wissenschaftlichen Reflexion "eine gegen das Leben gerichtete Bewegung.u 49 Und hier polarisiert Gadamer den Gegensatz zwischen Wissenschaft und Leben bei Dilthey: das wissenschaftliche Wissen bietet Sicherheit und Schutz gegen die "Unergründlichkeit" des Lebens. 5° Aber die Sicherheit, die das Leben sucht, ist nicht die Sicherheit, die von einem letzten Grund hergeleitet werden kann, und mehr noch als eine Begründung verlangt es Zugehörigkeits- und Gemeinschaftsformen. Trotzdem bleibt das Programm einer Philosophie des Lebens gültig, die allerdings aus den epistemologischen Engpässen befreit werden muß, in denen Dilthey gefangen blieb. Dies wird dank der Phänomenologie geschehen.
4. Husserl und die hermeneutische Wende der Phänomenologie Im Gegensatz zur üblichen Auffassung darf die Beziehung zwischen Gadamer und Husserl keineswegs unterschätzt werden. Dies schon aufgrund der theoretischen Relevanz, welche die Phänomenologie offensichtlich für die Hermeneutik hat und die von Gadamer mehrfach hervorgehoben wurde. Insofern entscheidet sich seine Begegnung mit Husserl nicht in den wenigen Monaten, die er 1923 in Freiburg zugebracht hat. Neben den entsprechenden Passagen in Wahrheit und Methode hat Gadamer in den siebziger Jahren zwei Aufsätze über die Phänomenologie geschrieben: Die Wissenschaft von der Lebenswelt von 1972 und Zur Aktualität der Husserlschen Phänomenologie von 1974. 51 Besonders Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 241. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 242. so GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 243. st Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 246-257. Vgl. GADAMER, Die Wissenschaft von der Lebenswelt (1972), GW 3, 147-159 und Zur Aktualität der Husserlschen Phänomenologie (1974), GW 3, 160-171. Vgl.jERÖME PoREE, Phenomenologie, hermeneutique et discours philosophiquc, in: Archives dc Philosophie 56 (1993), 389-415; 1.u Husserl und 48
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ist jt-dod1 dc.·r sdwn J')("\ Vl'rÜHt·ntlichtl' lkitl'il~ l>it• phdnomenologische !lt·7.m·g,un}!., in dem t•r l'im· Bilanz c.h:r I>d.,;ttll' um die Ph~inomenologie zieht und zugleich seine t•igene Position präzisiert. Doch was verbindet Gadamer mit Husserl? Und was trennt ihn von ihm? I-lusserls Parole Zurück zu den Sachen selbst! hat eine befreiende Funktion, weil sie nämlich der Philosophie den Weg zeigt, um den Engpässen der Formeln und Theorien zu entkommen und eben zu den "Sachen selbst" zurückzukehren. 52 Die Philosophie kann sich weder weiterhin nur mit wissenschaftlichen Theorien beschäftigen, um sich als "Meta-Theorie" oder eine Wissenschaft zweiten Ranges zu etablieren, noch darf sie sich auf die Geschichte der Philosophie beschränken. Geboten ist also, zu den "Sachen selbst" zurückzukehren und von ihnen aus zu philosophieren. Die Gelehrsamkeit hat wenig mit der Ausübung der Philosophie zu tun. Unverzichtar ist geradezu eine philosophische Bekehrung, eine Suspendierung oder Epoche der natürlichen Einstellung und daher eine phänomenologische "Reduktion", die als eine Umerziehung zur Philosophie aufzufassen ist. 53 Die erste Wirkung dieses Vorhabens, das eine unmittelbare Faszination sowohl auf Heidegger als auch auf Gadamer ausübte, ist eine Befreiung vom technischen Vokabular des Neukantianismus und vor allem vom Paradigma des wissenschaftlichen Objektivismus. Der hermeneutische Sinn von Husserls Appell darf keineswegs unbeachtet bleiben. Die Philosophie muß alle Theorien hinter sich lassen, die nicht auf einer sichtbaren und von allen geteilten Phänomenalität gründen, und sie muß von den Sachen ausgehen, so wie diese sich in der "Anschauung.:' geben. Darin klingt auch die Einladung an, die Philosophie möge sich nur an das halten, was in der Anschauung gegeben ist und sich vor jeder metaphysischen Konstruktion hüten - eine Einladung, die bereits auf die Möglichkeit einer Überwindung der Metaphysik verweist. Die Sachen, zu denen Husserl zurückkehren will, sind nicht die Dinge an sich, unabhängig vom Bewußtsein, denn diese sind vielmehr nur dank der Intentionalität des Bewußtseins gegeben. "Intentionalität" bedeutet hier, daß jeder Gegenstand die Seinsweise des Bewußtseins hat. Es ist also die Intentionalität, die das Wirkliche vor den Augen des Bewußtseins auftauchen läßt und die demzufolge als eine hermeneutische Kategorie verstanden werden kann: denn es gibt keine Gegenständlichkeit ohne die konstitutive Intentionalität des Bewußtseins. Doch Husserl hat auch eingesehen, daß diese "Konstitution" nicht auf die Leistung eines GaJamcr vgl. Guv DENIAU, L'heritage husserlienne de l'hermeneutique gadamerienne, in: Epokhe 14 (1994), 211-226 sowie DAVID VESSEY, Who Was Gadamer's Husserl?, in: The Ncw Ycarbook for Phcnomenology and Phenomenological Philosophy VII (2007), 1-23. ~ 2 EuMUNI> HussERl., Logische Untersuchungen. Erster Band. Vorwort, Husserliana XVIII, hrsg. von Elmar llolcnstcin, Den Haag: Nijhoff 1975,9. H Ft>MIINI> llussi-:RJ., I>ic IJcc der Phänomenologie, Husscrliana 11, hrsg. von Walter 1\it'md, l kn ll.l.\~: Nijhoff 1<J;O, 44.
I V. 1\,,pltt•l: llmrt·tt'r'R• tu rim•r philmuphisdJe•n 1/t•rmc·m·utik
transzendentalen Subjekts zurückzuführen ist. Genaucr betrachtet trägt das Subjekt zur Konstitution des Sinns bei, der zusammen mit ihm entsteht- ohne diesen jemals beherrschen zu können. Die Konstitution ist die "Wiederaufbaubewegung" der Intentionalität, die sich in einem stets jenseits der Grenzen des Subjektes liegenden Sinnhorizont entfaltet. 54 In Wahrheit und Methode nimmt Gadamer diesen Begriff des "Horizontes" wieder auf. Indem sie sich in einen Horizont einschreibt, muß sich jede Intentionalität genauso bewegen, wie sich auch der Horizont bewegt. 55 Andererseits wird hier auch auf den impliziten Horizont des Verstehens verwiesen, der aus der unterirdischen Zeitlichkeit des Bewußtseinslebens hervortritt, für das Husserl auch von "absoluter Historizität" spricht- ein Ausdruck übrigens, den Gadamer zweimal erwähnt. 56 Doch weit wichtiger ist für ihn die "Lebenswelt". Gadamer kommt immer wieder auf diesen Begriff zurück, um seine Produktivität und seine "erstaunliche Resonanz" in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hervorzuheben. 57 Die "Lebenswelt" ist ein Ausdruck, den Husserl wohl als Gegensatz zur "Welt der Wissenschaft" geprägt hat. 58 Die Intentionalität selbst erfordert die Lebenswelt, weil das Ego nicht mehr die Quelle der Sinnkonstitution ist und es daher notwendig wird, zu einer weiteren Quelle zurückzugehen, und zwar zu der anonymen, aber dafür immer stärker intersubjektiv verstandenen Quelle der Lebenswelt. Dennoch ist Husserl für Gadamer nicht radikal genug gewesen. In der so umrissenen Lebenswelt scheint es, als könne man bereits die Endlichkeit des Ego erkennen. Dagegen verzichtet Husserl nicht darauf, die Lebenswelt zu begründen, indem er sie auf die transzendentale Subjektivität eines "Ur-Ichs" zurückführt. 59 Dies bedeutet, daß er trotz allem in einer cartesianischen Auffassung der Philosophie befangen bleibt, die als apodiktische Wissenschaft auf eine Letztbegründung zielt. Dies ist der Punkt, an dem sich die Hermeneutik am weitesten von der Phänomenologie entfernt, und an dem sich die hermeneutische Wende der Phänomenologie vollzieht. In der Phänomenologie hat nämlich die Sprache, wie auch in großen Teilen der philosophischen Tradition, weiterhin nur eine sekundäre Rolle gespielt; und doch hätte gerade sie den Hebel einer Kritik am Neukantianismus bilden können. Obwohl sie die Wende vom "Faktum" der WissenGADAMER, Die phänomenologische Bewegung (1963), GW 3, 105-146, hier 135. Vgl. in diesem Band Kap. V, 6. 56 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 248 und 259. 57 GADAMER, Die Phänomenologische Bewegung, GW 3, 123. 58 Es ist interessant zu bemerken, daß Gadamer den Begriff der Lebenswelt als das Resultat von Husserls spätem Denken versteht, gleichsam als eine Antwort auf Heidegger, während die Veröffentlichungen aus dem Nachlaß gezeigt haben, daß der Begriff sehr früh auftaucht und daß es vielmehr Heidcgger war. der ihn zunutze gemacht hatte. 5" GAilAMF.R, Wahrheit und Mt.·thodc. c;w t. 252. 54
55
schaft :t.ur Lcbcnswdt mark icrt hiU, iMt die Phänomcnolo~ic hier nicht weitergegangen, da sie die Rolle c.ler Sprache in der Lebenswelt nicht erkannte. Denn sie hat auf die Idee der Letztbcgründung nicht verzichtet. Ein Motiv verweist aber auf das andere: Die Idee einer Letztbegründung führt dazu, die Sprache zu ignorieren, während die Sprache jede Begründung aufs Spiel setzt. 60 Im Gegensatz dazu hat die Hermeneutik sich darum bemüht, der rätselhaften Nähe zwischen Sprache und Vernunft einen Ort in der Philosophie zu geben. Die hermeneutische Wende der Phänomenologie ist eine Wende zur Sprache gewesen.
5. Hermeneutik der Faktizität.
Über Heidegger hinaus Doch erst die von Heidegger vollzogene Wende der Phänomenologie wird die ontologischen Voraussetzungen der Letztbegründung aufdecken. Dabei stellt sich heraus, daß das fundamenturn inconcussum genauer betrachtet concussum, das heißt zeitlich und endlich ist. Kurzum: Es ist "der Begründungsgedanke selbst", der hier eine" völlige Umkehrung" erfahren hat. 61 Gadamers Hermeneutik beginnt in Wahrheit und Methode erst nach einem langen Abschnitt, in dem Heideggers Entwurf in Betracht gezogen wird. 62 Dies ist durchaus keine Überraschung, denn trotz aller Anregungen, welche die philosophische Hermeneutik von Schleiermacher, von Dilthey und schließlich auch von Husserl bekommen hat, ist es letztlich doch Heidegger, der ihr den entscheidenden Anstoß gibt. Doch welcher Heideg.ger? Diese Frage ist von keinem geringen Gewicht. Von ihr aus läßt sich nämlich nicht nur der ihm in Wahrheit und Methode gewidmete Abschnitt erläutern, sondern darüber hinaus auch die gesamte, von Gadamer entfaltete Lektüre Heideggers erhellen. Dabei muß man deutlich hervorheben, daß der Heidegger, auf den sich Gadamer bezieht, nicht der von Sein und Zeit, sondern vielmehr der von Hermeneutik der Faktizität ist, also der "erste" Heidegger, dessen Vorlesungen er in den zwanziger Jahren gehört hat- auch wenn es nach Gadamer irreführend ist, von einem ,,ersten" und einem "zweiten" Heidegger zu sprechen, weil man so Gefahr laufe, die Kontinuität seines Denkens zu verfehlen. Und diese Kontinuität läßt sich gerade zwischen der Hermeneutik der Faktizität und der "Kehre" des späten Heideggers erblicken; sie wird lediglich durch das Zwischenspiel von Sein und Zeit unterbrochen 63 • 60
Vgl.
GADAMER,
Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache,
435. Wahrheit und Methode, GW 1, 261. '• 2 Vgl. GAI>AMER, Wahrheit und Methode, GW I, 258-269. "' V~l. (;1\I>AMFR Wahrhrit un(l Methode, GW 1, 261. 61 GADAMER,
GW
8, 401, 418 und
Später, in einem Aufsatz von I'JHC., der hc.·zeichncnJcrwcisc den Titel Der eine Weg Martin Hcidcggt.'rs tr~i~t, wirJ Gadamer von einer "Kehre vor der Kehre" sprechen, um das zu unterstreichen, was schlief~( ich eine zusammenhängende Entwicklung war. 64 Man kann daher sagen, daß er sehr früh eine Einheit im Denkweg Heideggers gesehen hat, und daß er sich darüber hinaus dessen bewußt war, diese sowohl in seiner Interpretation als auch in seiner eigenen Philosophie zur Geltung zu bringen. Indem er weiterhin von Hermeneutik gesprochen hat, als die anderen Interpreten schon längst nicht mehr davon redeten, hat er das Ende des Heideggerschen Denkwegs auf seinen hermeneutischen Anfang zurückbeziehen können. Allerdings ist eine solche Behauptung erst heute, aufgrundvon Heideggers Vorlesungs- und Seminarmanuskripten möglich, die seit den achtziger Jahren veröffentlicht worden sind. 1960, in der Zeit von Wahrheit und Methode, wurde der Heidegger von Sein und Zeit noch als der erste Heidegger angesehen, von dem der spätere, der des dichtenden Denkens, Abstand genommen habe. Diese Lesart wurde vom größten Teil der Interpreten geteilt. Die "Hermeneutik der Faktizität" war damals nahezu unbekannt- Spuren von ihr hatten sich noch im Gedächtnis Gadamers erhalten, in seinen Mitschriften, sowie selbstverständlich in den Manuskripten Heideggers. Nachdem diese einmal veröffentlicht wurden, standen Gadamer nicht nur die Texte, sondern auch die zuvor vermißte Distanz zur Verfügung, um schreiben zu können. Daraus ist die 1983 erschienene Sammlung Heideggers Wege hervorgegangen. Zu diesen Aufsätzen, die für die Veröffentlichung überarbeitet wurden, sind dann später mehr als zehn weitere hinzugekommen, von denen die letzten sieben im 1995 erschienenen 10. Band der Werke enthalten sind. Es liegt geradezu auf der Hand, daß wenn Heideggers Vorlesungen früher veröffentlicht worden wären, der Abschnitt in Wahrheit und Methode einen anderen Inhalt und vielleicht auch einen anderen Charakter erhalten hätte. Doch als Gadamer ihn schrieb, konnte er sich nur auf Sein und Zeit stützen, um die Bedeutung von Heideggers Denken für die Hermeneutik zu unterstreichen. Um seine Argumentation überzeugender zu machen, die den radikalen Wechsel in der Auffassung des Verstehens darlegen soll, zieht er überraschenderweise den Grafen von Yorck (1835-1897) hinzu, der sowohl wegen seiner kritischen Briefe an Dilthey als auch deshalb bekannt wurde, weil Heidegger einen Teil dieser Korrespondenz im§ 77 von Sein und Zeit wiedergegeben hat. Yorck wird für ihn zu einer Schlüsselfigur in der Überwindung des von Dilthey vertretenen epistemologischen Paradigmas. Nicht nur weist er auf dessen Ästhetizismus hin, der sich in einer objektivistischen Weltsicht gefällt; er zeigt auch, daß Dilthey die Zugehörigkeit des Interpreten zum Interpretierten nicht einmal ahnt und daß er die Geschichtlichkeit des Lebens, die er noch zu cartesianisch 64 GADAMER,
Der eine Weg Martin Heidcggcrs, GW 3, 417-430, hier 423.
\. 1/r•Wir'llr'tflll# t/r•r /•r4J,tllll•fl· IJ/Ir·t 1/r•lc/t•J!.J!.r'l ",",",,
10 I
dl·nkt, nirht t•iu~,·~t·ht·n h.tt.''" I )unkd hleiht al>l·r das Altl·rnillivmodcll, das Yorck enl w idt, so w it· .uad1 rd.niv dt:~nkcl die Ausführun~en von Gadatner sind, der sich i.ihri~ens spiill·r nicht mehr auf Yorck berufen wird. Erst mit Heide~~er wird der für die Hermeneutik entscheidende Begriff der ,.Zugehörigkeit" in Wahrheit und Methode geklärt. 66 Dies ist jedoch nur dank einer vollkommen neuen Weise möglich, das Verstehen aufzufassen. Obwohl er nicht über die veröffentlichten Materialien verfügt, bezieht sich Gadamer ausdrücklich auf die "Hermeneutik der Faktizität."67 Was heißt aber Hermeneutik der Faktizität? Zunächst bedeutet "Faktizität" keineswegs eine letzte Gegebenheit, eine neue Positivität. Unter Faktizität- so erklärt Heidegger in der Vorlesung von 1923 - muß man den Seinscharakter unseres "Daseins" verstehen, das es nicht wie jedwedes andere Seiende gibt; denn Da-sein heißt diese Faktizität zu vollziehen. 68 Anders gesagt: In dieser Faktizität, die ich bin, geht es immer um mich, um das, was ich aus mir mache. Aber warum soll man von "Hermeneutik" reden? Weil Hermeneutik- so Heidegger weiter- als ein Zugangsweg zur Faktizität verstanden wird. 69 Mehr noch: Das Dasein ist, es existiert, nur insofern es versteht. Die Hermeneutik haftet dem Körper der Faktizität an und artikuliert sie, sagt sie aus, versteht sie. Ohne sie gäbe es die Faktizität des Daseins nicht und dieses könnte gar nicht existieren. Die Faktizität kann nur hermeneutisch sein. Zum ersten Mal betrifft die Hermeneutik nicht allein die Texte, sondern die Existenz. 70 Der damit vollzogene Bruch ist radikal. Denn er bedeutet, daß man nicht wählen kann zu verstehen oder nicht zu verstehen. Existieren ist verstehen- verstehen ist existieren. Um dies mit Gadamers wirkungsvollen Worten zu sagen: "Verstehen ist [...] die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins." 71 Es sind zahlreiche philosophische Implikationen, die dieser fundamentale Übergang mit sich bringen kann und mit sich bringt. Bei seiner Vollzugsweise, das heißt beim Verstehen, das immer auch ein Sichverstehen ist, offenbart das Das~in seine unentrinnbare Zeitlichkeit, seine unumgängliche Endlichkeit. Die Idee einer Letztbegründung erscheint mehr denn je zweifelhaft und problematisch, während sich der unerschütterliche Grund als erschütterlich erweist und zeigt, daß er ein Traum der Metaphysik war, die zur Beseitigung der Endlichkeit einen sicheren, festen und unveränderlichen Halt gesucht hatte: ein absoluVgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 255-258. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 266. 7 " GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 259. Aber schon in dem Aufsatz Das Problem des historischen Bewußtseins von 1957 spricht er in Bezug auf Heidegger von "Hermeneutik der Faktizität". Vgl. GADAMER, Das Problem des historischen Bewußtseins, 33. M II F.l DECi GER, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), 7. '''1 I hii>ECaii~R, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), 14. 70 Zu diesem Thema vgl. BEN VEDDER, Was ist Hermeneutik? Ein Weg von der Textdeutung :t.ur lntt.·rprel;llion der Wirklichkeit, Stuttgart: Kohlhammer 2000. /I (;AI lA M ... )(, w•• hrht.·it und Mt.·thodc. GW I, 264. fl!l
tot.
102
I V.
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111
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tcs rundament, auf dem ,,lt~s andere he~rünc.fct werden konnte, ein subjectum oder hypokeimenon, zu dem sich der Mensch im Denken der Moderne selbst erhoben hat. Aber ist dieses Dasein wirklich das Fundamentall dessen, was ist, oder ist es nicht seinerseits ins Sein "geworfen", und auch dies nur für eine winzige Zeitspanne? Von dieser "Geworfenheit" des Daseins kann die Hermeneutik der Faktizität nicht mehr absehen. Und gerade weil die Geworfenheit die Unverfügbarkeit des "Da", in dem das Dasein ist, noch deutlicher enthüllt, müßte man besser von einer Hermeneutik der Geworfenheit oder sogar von einer Hermeneutik der Endlichkeit reden. 72 Blickt man aber nicht nur auf Wahrheit und Methode, sondern auch auf die Sammlung Heideggers Wege, sowie auf die zahlreichen späteren Aufsätze, also auf das Buch über Heidegger, das Gadamer niemals fertiggeschrieben hat, so ist es nicht übertrieben zu sagen, daß sich seine Schuld gegenüber seinem Lehrer darin erschöpft: in der neuen Weise, das Verstehen in seinem Zusammenhang mit der Endlichkeit des Daseins aufzufassen. Es ist daher viel einfacher zu zeigen, was die beiden Philosophen verbindet, als was sie trennt. Das Bild eines Gadamer, der sich auf die "Urbanisierung der Heideggerschen Provinz" beschränkt, muß ohne weiteres revidiert werden. 73 Gewiß hat Gadamer teilweise selbst zu diesem Bild beigetragen, indem er viele unaufmerksame Leser dazu gebracht hat, in seinem Denken eher eine Fortsetzung als einen Bruch mit Heidegger zu sehen. Vielleicht wollte er diesen Bruch selbst nicht ganz anerkennen und noch weniger betonen. Dennoch ist die Filiation weit weniger direkt als man gewöhnlich glaubt. 74 Vgl. in diesem Band Kap. IX, § 3. Vgl.jüRGEN HABERMAS, Urbanisierung der Heideggerschen Provinz: Laudatio auf Hans-Georg Gadamer aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart 1979, in: HANS-GEORG GADAMER/jüRGEN HABERMAS, Das Erbe Hegels, 9-31, wieder abgedruckt in: HABERMAS, Philosophisch-politische Profile. Dritte erweiterte Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, 392-401. 74 Über Kontinuität und Diskontinuität zwischen Heidegger und Gadamer hatte schon Bernasconi geschrieben: vgl. RoBERT BERNASCONI, Bridging the Abyss: Heidegger and Gadamer, in: Research in Phenomenology XVI {1986), 1-24. Aber die meisten Arbeiten zu diesem Thema sind vor allem in den letzten Jahren erschienen. Das Verhältnis beider Philosophen zu Platon, Aristoteles, Hölderlin und Hegel ist von Coltman untersucht worden: vgl. Roo CoLTMAN, The Language of Hermeneutics: Gadamer and Heidegger in Dialogue, Albany: SUNY 1998; vgl. auch WALTER LAMMI, Hans-Georg Gadamer's Platonic ,Destruktion' of the Later Heidegger, in: Philosophy Today 41 (1997), 394-404; SAYED TAWFIK, The Phenomenological Motives of Heideggers and Gadamers Hermeneuries of Literary Text, in: Analeeta Husserliana 53 (1998), 181-207; INGRID ScHEIBLER, Gadamer. Between Heidegger and Habermas, Lanham u.a.: Rowman & Littlefield Publishers 2000; jEAN GRONDIN, Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zu Hermeneutik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001; jAMES RISSER, From Phenomenology to Hermeneuries and Beyond: The Transformation of Hermeneuries after Phenomenology, in: lsTVAN M. FEHf:R (Hrsg.), Kunst, Hermeneutik, Philosophie 2003, 75-88; vgl. jetzt auch DAMIR BARBARI<\ Aneignung der Welt. Heidegger- Gadamcr- Fink, Frankfurt .1m Main u.a.: Lang 2007. 72 73
103 G&u.Luner teilt die r.ulik.tlc.·, ;.\her auch solipsistische Unruhe llcidcggcrs, seine Sor~e um die Existenz, sein Streben nach Eigentlichkeit, nicht; die Daseinsanalytik, in der er einen "transzendentalen" Rest sieht, bleibt ihm fremd/ 5 Vor allem folgt er nicht der Entwicklung von Sein und Zeit, wo die Hermeneutik der Faktizität im Dienst der Seinsfrage steht. Diese ist im übrigen für die philosophische Hermeneutik keine Frage mehr, da sie keinen Anspruch erhebt, eine Ontologie zu fundieren. Dies erklärt auch, warum Gadamer sich das Problem der "Überwindung" der Metaphysik nicht stellt, warum er kein Interesse für die "Geschichte der Metaphysik" und noch weniger für einen neuen "Anfang" zeigt. 76 Und was soll man schließlich zu der Art und Weise sagen, in der Gadamer anband einer Phänomenologie des Verstehens die Endlichkeit und die Grenze liest, die stets das Über des Anderen ist, und dabei jede Letztbegründung durch die Dialektik der Sprache, durch das Gespräch, aufs Spiel setzt? An der Wasserscheide, zu der die Hermeneutik der Faktizität gelangt, wird man schließlich Gadamer auf dem Weg seiner philosophischen Hermeneutik folgen mussen.
GAI>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 261 und 268. V~l. in diesem li;tnJ Kap. VII, 2; Kap. IX, 2. Vgl. RoBERT DosTAL, Gadamcr's Rcli.uion to lll·idc~gl'l' and Phcnollll'lllllo~y. in: RoBERT DosTAL (Hrsg.), The Cambridge 1"
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C:omp.aniunto ( ;,,d.uncr lOO.l, 147-lM,, hier ltlO L
.J.
V.
Kapitel
Die Konstellation des Verstehens
Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht. 1 In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. 2
1. Das Verstehen zwischen Zirkeln und Spiralen In seiner Rekonstruktion der Hermeneutik legt Gadamer den Akzent mehr auf den Bruch als auf die Kontinuität. Und der Bruch hängt mit "Heideggers Aufdeckung der Vorstruktur des Verstehens" zusammen. 3 Im Verstehen erblickt Heidegger die Bewegung des Daseins selbst und in deren Zirkularität spürt er dessen Grundcharakter auf. Gadamer geht von Heidegger aus, re-interpretiert jedoch sowohl den Zirkel als auch das Verstehen und erweitert auf unerhört universale Weise den hermeneutischen Zirkel, der zum roten Faden des gesamten Mittelteils von Wahrheit und Methode wird. Was bedeutet aber die"Vorstruktur des Verstehens", also das Vorverständnis? Und warum kündigt es eine neue Art an, das Verstehen aufzufassen? Die romantische Hermeneutik geht vom prius des Nichtverstehens und des Mißverstehens aus. Das Verstehen bestimmt sich für Schleiermacher negativ; es beruht "auf dem Factum des Nichtverstehens". 4 Denn es stellt sich als eine Überwindung des Nichtverstehens und des Mißverstehens heraus- eine Überwindung, die aber jeweils zum Scheitern verurteilt ist, es sei denn, es werden chimärische Auswege wie der einer empathischen Einfühlung gefunden. Diesseits solcher illusorischen Glücksmomente scheint die romantische Hermeneutik beim Nichtverstehen zu stagnteren. HANS GEORG GADAMER., Wahrheit und Methode, GW 1, 302. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 281. 3 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 270. 4 FRIEDRICH DANIEL ERNST ScHLEIERMACHER, Allgemeine Hermeneutik von 1809/ 10, hrsg. von Wolfgang Virmond in: KuRT-VIKTOR SBLGE (Hrsg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß, Berlin 1984, Teilband 2, Berlin/New York: de Gruyter 1985, 1270-1310, hier 1271. 1
2
105
Was die philosophisrhc lll·rrncncutik hingegen auszeil'hnct, ist die Umkehrung der Pr~\ missen. ln .\'t.>in und Zeit ist das Verstehen das prius, von dem Hcideggcr ausgeht. Weit davon entfernt, ein privativcr Zustand zu sein, erweist es sich als das Urphänomen, aus dem sich Nichtverstehen und Mißverstehen als abgeleitete Phänomene ergeben. 5 Das Verstehen ist schon immer da, wohingegen Nichtverstehen und Mißverstehen nur im Rahmen des Verstehens zustande kommen. Nur sofern ich verstehe, kann ich, Heidegger zufolge, auch nicht verstehen oder mißverstehen. Von hier aus gestaltet sich die Hermeneutik um und verpflichtet sich, das Verstehen auf neue und radikalere Weise zu denken. Seit der antiken Rhetorik - daran erinnert Gadamer- ist das Verstehen durch die Figur des Zirkels dargestellt worden. 6 Diese Figur ist dann von der Rhetorik auf die Hermeneutik übergegangen. Der Zirkel umschreibt die Bewegung von den Teilen zum Ganzen und vom Ganzen zu den Teilen. Notwendigerweise setzen Teile und Ganzes einander voraus und bedingen sich gegenseitig. Es ist kein Zufall, daß ihr zirkuläres Verhältnis immer wieder durch den Zusammenhang erläutert wird, der die Sätze zur Totalität eines Textes verbindet: das Verständnis eines einzelnen Satzes setzt das des Textes voraus, doch seinerseits kann das Verständnis des Textes nur aus dem der Sätze entspringen. In dieser Zirkularität verdichtet sich der Grundsatz jedweden Verstehens, der zum ersten Mal im Zeitalter der Romantik von G.A. Friedrich Ast (1778-1841) formuliert wird/ Zirkularität schließt Linearität aus. Die zirkuläre Verflechtung kann nämlich nicht aufgelöst und eingeebnet werden. Diese Einsicht bringt Schleiermacher dazu, die Legitimität des Verstehens in Frage zu stellen, da nämlich das Verstehen, wie die Figur des Zirkels deutlich zeigt, durch das Fehlen eines Grundes beeinträchtigt wird. 8 Auch wenn es durch die Teile hindurchgeht und durch sie motiviert und gerechtfertigt wird, ist das Verstehen des Ganzen von Anfang an grundlos. D~r Zirkel erscheint so betrachtet als ein methodisches Hindernis. Deshalb wollte Schleiermacher ihn durch die Figur der Spirale ersetzen- eine Figur, die nicht zufällig in neuererZeitvon einigen Interpreten wieder aufgenommen wurde.9 Denn mit ihr könnte sich die Zirkularität in Li5
Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Sein und Zeit, GA 2, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 1977, § 32, 199. & Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 296 und Vom Zirkel des Verstehens (1959), GW 2, 57-65, hier 57. Vgl. DAVID C. HoY, The Critical Circle: Literatur, History and Philosophical Hcrmeneutics, Berkcley: University of California Press 1978. 7 GH>R<; ANTON FRIEDRICH AST, Hermeneutik, in: HANS-GEORG GADAMER/GoTTfiRIF.D BoEt-tM, Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979,
111-130, hic.~r llfl-117. H '1
und
Scu u:n:IC MAC II ER, Hermeneutik und Kritik, 144. V~l. dl'n sd1ünc.·n Aufsatz von WERN ER HA M AC:H ER, Hermeneutische Ellipsen -Schrift Zirkt•l ht•i Srhlc.·ic.·rmac.:hcr in: ULRtCft NASSEN (llrs~.). Tcxthcrmcncutik: Geschichte,
106
nearität aut1(1sen. I >aht.•i mllf~tc 111•\11 ;lhl·r vomussetzen, Jaf! das Verständnis des Ganzen durch Jas Jcr Teile in cinl'lll ;tsymptntischcn Annäherungsprozcf~ korrigiert und ergänzt wird. Dieses Vcrstchensmndcll berücksichtigt jedoch nicht, daß die Grundlosigkeit bei jeder Wendung der Spirale bestehen bleibt, weil sie strukturell und also unüberwindbar ist. Zu Schleiermachers negativer Sicht des Zirkels trägt sicherlich seine Art bei, das Verhältnis zwischen Nicht-Verstehen und Verstehen als eine dichotomische Entgegensetzung zu fassen. Nur wenn diese Entgegensetzung aufgegeben wird, kann der Zirkel, und mithin auch seine Grundlosigkeit, eine andere Bedeutung erlangen. Genau dies geschieht bei Heidegger. Die Zirkularität zeichnet sich nun in der Weise ab, in der die Existenz- die Heidegger "Dasein" nennt- sich versteht und sich verstehend existiert. In die Welt geworfen, entwirft sich das menschliche Dasein jeweils nach seinen Verstehensantizipationen. So sorgt es sich um die eigene Zukunft und öffnet sich den eigenen Möglichkeiten. 10 "Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung"- schreibt Heidegger. 11 Auslegen heißt nicht nur, das Verstandene anzunehmen, sondern es auch zu entfalten und zu artikulieren. Der hermeneutische Zirkel spielt sich hier zwischen Verstehen und Auslegen ab: Es gibt keine Auslegung, wo es kein ihr zuvor kommendes Vorverstehen gibt. Dies ist jedoch ein traditionelles Beispiel, das mißverstanden werden könnte. Darum sagt Heidegger, daß er den Zirkel über die "philologische Interpretation" hinausführen möchte. Es geht ihm darum, dem Zirkel eine ganz neue Reichweite zu geben, die über die Interpretation eines Textes hinausgeht und ihm einen "existenzialen" Wert zuerkennt. Das Verstehen ist die Vollzugsweise des Daseins. Diese seine Ausweitung erlaubt auch eine ganz neue Lektüre des Zirkels. Denn was ist eigentlich ein Zirkel? Bekanntlich ist er in der Logik immer nur ein circulus vitiosus, dessen Fehler darin liegt, das vorauszusetzen, was zu beweisen wäre. Die Zirkularität des Verstehens scheint diesen Fehler sogar direkt vorzuzeigen. Doch Heidegger kommt dem Einwand zuvor, den die Logiker hier anbringen könnten: er kehrt ihr Argument dadurch um, daß er die Zirkularität und Ursprünglichkeit des Verstehens betont, die hier nunmehr ihre Verbindung enthüllen. Nur aus der cartesianischen Perspektive der Linearität kann der Zirkel als eine "unvermeidliche Unvollkommenheit" erscheinen. 12 Das epiAktualität, Kritik, Paderborn: Schöningh 1979, 113-148; vgl. auchjüRGEN BaLTEN, Die hermeneutische Spirale, in: Poetica 17 (1985), 355-371; jEAN GREISCH, Le cercle et l'ellipse. Lc Statut de l'hermeneutique de Platon aSchleiermacher, in: Revue des scienccs philosophiques et theologiques 73 (1989), 161-164. 10 HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 31, 193. 11 HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 32, 197. 12 HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 32,203. Vgl. dazu joHN TATE, The Hermcncutic Circle vs. The Enlightment, in: Telos 110 (1998), 283-296; jAAKO HrNTIKKA, Gadamer. Squaring the hermeneutical circle, in: Revue internationale de philosophic 54 (2000). 487-498.
1. Al/,.,
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107
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2. Alles Verstehen ist am Ende ein Sichverstehen Mit dem hermeneutischen Zirkel öffnet Gadamer den systematischen Teil von Wahrheit und Methode, der den prägnanten Titel trägt: Grundzüge einer Theorie der hermeneutischen Erfahrung. 14 Fast mit den Worten von Sein und Zeit betont er, daß "dieser Zirkel einen ontologisch positiven Sinn hat." 15 Dennoch lehnt sich Gadamer an die klassische Version der Rhetorik und der Hermeneutik an und führt daher die sich zwischen Teilen und Ganzem abspielende Bewegung wieder ein. 16 Ist dies ein Rückfall in eine vorheideggersche Auffassung des Zirkels? Oder kündigt sich hier etwas Neues an? Die Motivation, von der Heidegger ausgeht, ist existenzial. Gadamer seinerseits wendet sich gegen_ das methodische Objektivitätsideal, das den Wert des Verstehens zu verkürzen und zu entstellen droht. Deshalb unterscheiden sich die von beiden angeführten Beispiele: Spricht Heidegger von der Existenzauslegung, so verweist Gadamer auf die Textinterpretation, wobei er von den "VorMe~nungen" ausgeht, die den Sinn des Ganzen vorwegnehmen. 17 Es wäre jedoch ein Irrtum, wollte man daraus wie Marquard den Schluß ziehen, daß Heideggers "Sein zum Tode" durch Gadamers "Sein zum Text" ersetzt würde. 18 HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 32,203. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 270-384. 15 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 271. 16 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 296-299. Über den Zusammenhang von Hermeneutik und Rhetorik bei Gadamer vgl. jEAN GRONDIN, Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition, in: Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, 17-45; vgl. jetzt Roool.PHE GASCHE, Understanding and Rhetoricity. On Hans-Georg Gadamcr's Philosophical Hermeneutics, in: EvA HORN (Hrsg.), Literatur als PhilosophiePhilosophie als Literatur, München: Fink 2006, 35-55. 17 V~l. GA r>A M1-:R, Wahrheit und Methode, GW 1, 272. 1" Vgl. Ono M A RQUA Rn, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart: Redam 1982, 130. Gad.mu·r st·lhst h;H zu di~s~r l>dinition Stellung genommen. GAOAMF.R, Rhetorik, Hermcneu13
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Da er sich der cxistcnzialt·n Ausw~itun~ vollauf bcwuf~t ist, die das Verstehen bei Heidcgger erreicht hat, beschränkt sich Gadamcr nicht darauf, die Struktur des Daseins als "Zugehörigkeit" des Interpreten zum Interpretierten umzudeuten. 19 Vielmehr bietet er eine kritische Fassung der "Geworfenheit" an. Bei seiner Schilderung des Daseins, das jeweils, indem es sich versteht, über sich hinausgeht, hat Heidegger den Sinn der Zukunft hervorgehoben. Aber das Sich-Entwerfen des Daseins von seiner Geworfenheit her auf seine künftigen Möglichkeiten ist nur eine Dimension des Verstehens. Die Dimension der Vergangenheit gehört, so Gadamer deshalb, "genauso ursprünglich und wesentlich" zum Dasein. 20 Denn "das sich auf sein Seinkönnen entwerfende Dasein ist immer schon ,gewesen'." 21 Um sich auf die Zukunft zu entwerfen, muß das Dasein von dem ausgehen, was es schon verstanden hat. Doch das schon Verstandene ist gewesen, ist vergangen. Von dieser Dimension läßt sich nicht abstrahieren. Das schon Verstandene wirkt im Verstehen selbst fort; es ist ihm gegenüber nicht neutral und indifferent- und noch weniger von ihm abtrennbar. Vollzieht man diese Trennung, dann wird das Dasein von seiner Gemeinschaft isoliert, zu der es doch immer schon gehört. Der Zirkel des Verstehens, wie Heidegger ihn gezeichnet hat, ist demnach viel zu abstrakt -so der indirekte Vorwurf Gadamers. Hier droht die Gefahr, daß ein isoliertes und vergangenheitsloses Dasein auftaucht, das sich zu seiner Zukunft mit derselben freien Abstraktheit verhält, wie sein Vorläufer, das phänomenologische Subjekt. Aber die Hermeneutik der Faktizität hatte doch gerade im Gegenteil gezeigt, daß es die unüberholbaren Grenzen seines "Da" sind, die das Entwerfen des Daseins zugleich einschränken und ermöglichen. Der Zirkel bleibt also in der Hermeneutik die Figur für das Verstehen, das nun jedoch immer mehr als Teilhabe und Teilnahme aufgefaßt wird, wobei der Verstehende immer schon verstanden hat und ins Verstandene einbezogen und involviert ist. Innerhalb dieser Zirkularität ist es - aufgrund der ontologischen Zugehörigkeit des Verstehenden zum Verstandenen- offensichtlich, daß der Verstehende sich auf Möglichkeiten entwirft, die ihm schon immer zugehören. Dies wird in einer der bedeutendsten Thesen der philosophischen Hermeneutik zutreffend formuliert, in der es heißt, "daß alles [...] Verstehen am Ende ein Sichverstehen ist." 22 Diese These wurde zwar schon in Sein und Zeit umrissen, wo sie deutlich macht, daß das Dasein aufgrund seiner Sorgestruktur gar nicht umhin kann, tik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode, GW 2, 232-250, hier 233. Vgl. auch eine später eingefügte Fußnote in Wahrheit und Methode: GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 317. 19 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 268. 20 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 266. 21 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 268. 22 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 265.
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sirh /.ll vt·rsl du·n. 11 1>orh l'S ist aus dt·r Si du ( ;;HLtmt•rs t•i n h·h ll'l', das Verstehen st·inl·r sdhstund das Vl·rstdll'n von Anlkrl'l1\ zutn·nnl'll, d.t l'S jeweils um denselben Vor~an~ ~dll. Schon im alh~i~lichrn Verstehen der I>i nge, die "zuhanden" sind, wie etwa heim Greifen einer Türklinke, um eine Tür zu öffnen- wo klar ist, dag das Verstehen immer ein "sich auf etwas verstehen", weniger ein Wissen als ein Können ist- versteht sich das Dasein selbst dadurch, daß es zugleich die Dinge versteht, mit denen es in der Lebenswelt umgeht. Diese sind im übrigen niemals nackte Dinge, denen unser Verstehen eine gewisse Färbung hinzufügte, sondern sie sind schon immer durch Vor-Griffe gegeben und insofern vor-verstanden. Versteht sich das Dasein immer dadurch, daß es das Andere versteht, so kann es sich nicht verstehen, wo es das Andere oder den Anderen nicht versteht. Gadamer folgt zwar dem von Heidegger eröffneten Weg, versucht dabei allerdings, die Dualität zwischen Sich und Anderem zu überwinden. Der Ort, an dem das Verstehen immer schon erfolgt, ist der des Sichverstehens. Um ein mögliches Mißverständnis zu vermeiden, gilt es hier hervorzuheben, daß "Sichverstehen" keineswegs "Selbstverstehen" meint. 24 Das Selbstverstehen wäre letztendlich das Selbst bewußtsein, das unerschütterlich selbstgewiß ist- für die Hermeneutik ist dies jedoch nur eine leere Chimäre. Für sie gibt es im Verstehen kein Sich, das als solches das Andere oder den Anderen ausschließen würde. Das Verstehen ist Verstehen von Sich und Anderem in ein und demselben Atemzug, denn das Sichverstehen kann sich nur durch das Verstehen des Anderen artikulieren. Die auf dem Spiel stehende Unterscheidung ist deshalb nicht die zwischen Sich und Anderem, sondern zwischen dem schon Verstandenen und dem noch nicht Verstandenen. So geht die Hermeneutik, Heideggers Lehre folgend, vom Verstehen aus und ·weitet dieses auf den für unüberschreitbar gehaltenen Übergang vom Nicht-Verstehen zum Verstehen aus. Doch auf den Spuren Schleiermachers beherbergt sie von Anfang an das Fremde in sich.
HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 12, 78. Gadamer hat sowohl von "Sichverstehen" als auch von "Selbstverständnis" gesprochen, was "irreführend" ist- wie er selbst aber eingeräumt hat. Vgl. GADAMER, Dekonstruktion und Hermeneutik (1988), GW 10, 138-147, hier 142: "Hier liegt, wie mir scheint, eine falsche Auffassung von Selbstverständnis zugrunde. >Selbstverständnis< ist vielleicht ein irreführender Ausdruck, den ich gebraucht habe und den ich im Anschluß an die moderne protestantische Theologie - wohl aber auch an die Sprachtradition Heideggers - natürlich fand." Auf den religiösen bzw. pietistischen Unterton des so aufgefaßten Selbstverständnisses hat er schon hingewiesen. Vgl. GADAMER, Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer Beitrag zur frage der >Entmythologisierung< (1961), GW 2, 121-132, hier 125 und 130. Der Begriff des Selbstverständnisses, der ein "Erbstück des transzendentalen Idealismus" ist, meint keineswegs ein "souveränes Mit-sich-selbst-Vermitteltsein des Selbstbewufhseins"~ vidmehr ist l'r auf die Tatsache bezogen, "daß wir uns nicht verstehen, es sei dl·nn vor Cott". Vgl. dazu aw.:h f>Jo:TRA PLn:c;Jo:R, Sprache im Gespräch. Studien zum herme1\l'Uiisdwn Spr.lrhVl'f'St:indnis ht•i llans-(~l'Of~ c;;\danll'r, Wien: wuv 2000,207 f. 23
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Vollkornrncnhcit"
Was den Zirkel und die Vollzugsweise des Vcrstchcns betrifft, so bleiben aber noch viele Fragen offen. Um sie zu stellen, schlägt Gadamer den Weg der phänomenologischen Beschreibung ein. Weit davon entfernt, normative Vorschriften zu formulieren, versucht die Hermeneutik vielmehr das ans Licht zu bringen, was in der Praxis des Verstehens geschieht. Dieses Fehlen von Vorschriften und Normen ist aber keineswegs mit einem Fehlen von Kriterien gleichzusetzen. Die Hermeneutik gibt durchaus keinen Freibrief für interpretatorische Willkür, sondern besteht im Gegenteil auf einer kritischen Auffassung der Interpretation. Sich ihrer Voraussetzungen vollauf bewußt, vermeidet eine solche Interpretation, diese einfach blind zu übernehmen, und überläßt sich- wie Heidegger schon nahelegte-ganz den "Sachen selbst". 25 Dieser letzte Ausdruck, auf den auch Gadamer zurückgreift, ist ein Vermächtnis der Phänomenologie und muß als solches eigens erhellt werden. 26 Daß sich der Interpret den "Sachen selbst" überlassen muß, impliziert keineswegs das Ideal einer objektiven Erkenntnis. Man darf nicht "Sache" mit "Objekt~' verwechseln. Im Kontext der Hermeneutik ist die "Sache" weder das "Ding an sich" von Kant, noch die "Sache selbst" von Husserl. Folgt man der Etymologie, so bedeutet Sache hier so etwas wie Streitsache- nicht anders als cosa auf Italienisch oder chose auf Französisch, die aus dem lateinischen causa entstammen. Die "Sache" ist das Argument, das zur Debatte steht, worüber diskutiert wird und von der man angesprochen wird. 27 Man ist in die zu verstehende Sache immer schon impliziert und geradezu von ihr ergriffen. Wichtig in diesem dialogischen Modell ist, daß der Interpret seine Vorgriffe in Übereinstimmung mit der Sache legitimiert, die ihn in Anspruch nimmt. Doch er soll sich nicht nur durch seine Vorgriffe leiten lassen, denn darin steckt gerade die Willkür. Führen wir ein Beispiel an. Ich habe mich entschlossen, ein Buch über Platon zu rezensieren; ich habe meine Meinung über Platon und werde daher von dieser ausgehen. Werde ich aber in der Rezension nur von meinen Gedanken schreiben, ohne die im Buch dargelegten zu beachten, so wird sich eine schlechte Rezension ergeben. Vom Interpreten wird weder unmögliche Neutralität noch Selbstvergessenheit verlangt. Was verlangt wird, ist vielmehr eine "Offenheit" gegenüber der Andersheit des Textes, das heißt die Fä-
HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 32, 203. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 272. 27 Auch Gadamer hat später die Bedeutung von "Sache" auf diese Weise präzisiert. Vgl. GADAMER, Dialogischer Rückblick auf das Gesammelte Werk, in: GADAMER, Lesebuch, hrsg. von Jean Grondin, Tübingen: Mohr Siebeck (UTB) 1997, 280-295, hier 285. Vgl. dazu PAVEL KoUBA, Die Sache des Verstehens, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2/1996, 185-196, insb. 189 f. 25
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111 hi~kt·it,
den 'l'l·xt spn.·du•n tu l.uucrn. 1" l>ttrin "·rkl·nnt m.m "rin hrt·mcncutisdt ~t·sc.:hultt.•s Bl•wugtst.•in." 1'1 I >c.·r lnh.·q,rct, der sich Jt.•r c.·i~enrn Vor~riffc und der eigenen Vorein~enomnu.·nht·it brwufh ist, läfh uen Text seine eigene Wahrheit geltend machen. Dies ist das einzige Kriterium, das die Hermeneutik ausdrücklich angibt. Gadamer nennt es den ,,Vorgriff der Vollkommenheit." 3° Kurzum: Einem zu interpretierenden Text wird Vollkommenheit verliehen. Man setzt nämlich voraus, daß der Text eine Wahrheit hat und eine Kohärenz, mit der er sie zur Geltung bringen kann. Um den Zirkel wiederaufzunehmen, so ist die kohärente Einheit des Ganzen die Vorwegnahme, die das Verständnis der Teile leitet, und die Einstimmung aller Teile zum Ganzem, welche diese Kohärenz beglaubigen kann, wird zum Kriterium der Richtigkeit. Nur dann wenn die Resultate der Interpretation dem Vorgriff der Vollkommenheit nicht entsprechen, wenn es nicht gelingt, eine kohärente Wahrheit erscheinen zu lassen, verschiebt sich die Interpretation vom Text auf den Autor und wird psychologisch. Dies ist für Gadamer aber nur eine weitere Bestätigung dafür, daß Verstehen bedeutet, sich auf die "Sache" zu verstehen, und nur nachträglich auf das Verstehen eines Autors abzielt. 31
4. Wir sind Zerrspiegel. Über Vorurteile Das Vorverständnis, von dem der Verstehende ausgeht, ist der Komplex seiner "Vorurteile". 32 Auf diese Weise fängt Gadamer an, den hermeneutischen Zirkel näher zu bestimmen. Zeigt Heidegger, daß das Verstehen sich auf das schon Verstandene gründet, so legt Gadamer klar, daß das schon Verstandene bzw. das Vor-Verstandene ein Vor-Urteil ist. Um die hermeneutische Fragestellung zu radikalisieren, und sie zu ihren letzten Konsequenzen zu führen, gilt es deshalb, "die wesenhafte Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens" anzuerkennen. 33 Durch diese These ist Gadamer vor allem darum bemüht, die Vorurteile zu rehabilitieren. Dies geschieht durch eine Kritik der Aufklärung. Schaut man auf das lateinische Wort preiudicium und auf seinen juristischen Gebrauch, so gibt "Vorurteil" an sich weder einen negativen noch einen positiven Sinn vor. Erst seit der Aufklärung erlangt es die negative Konnotation, die es heute immer noch hat und bedeutet schließlich ,,unbegründetes Urteil." 34 Diese semantische 28 l':l
30 31 32
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GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 273 f. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 273. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 299. Vgl. in diesem Band Kap. IV, 2. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 272 und 274. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 274. GAUAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 275.
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Verschiebung ist wichti~: 1);ts Vorurteil wird für Ltlsrh ~duhcn, weil es nicht durch eine sichere und objektive Begründung lq;itimiert wird. 1>och die Voraussetzung, unter der die Aufklärung das Vorurteil diskreditiert, ist seinerseits auch ein Vorurteil, und zwar ein "Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt." 35 Es ist durchaus ein Paradox, das Denken von seinen Vorurteilen durch ein anderes Vorurteil befreien zu wollen! Ist es daher nicht notwendig, dieses neue Vorurteil aufzuklären und zu revidieren? Es ist völlig im Geist der Aufklärung, wenn Gadamer deren Vorurteil einer strengen Kritik unterzieht und es als Erbe des cartesianischen Zweifels aufdeckt. Denn in seinem Glauben an das Ideal der wissenschaftlichen Erkenntnis und in seiner Treue zu ihm, die auf dem methodischen Zweifel gründet, entstellt dieses Vorurteilletztlich die Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens. Hier kündigt sich die Frage der Letztbegründung an, die im Licht der Endlichkeit der menschlichen Existenz anfängt, sich als unmöglich zu erweisen. Gleichviel ob die Vorurteile der Rücksicht auf die Autorität von anderen oder der eigenen "Überstürzung" entstammen, in jedem Fall erfordert die Aufklärung, daß die Tradition vorurteilslos vor dem Gericht der Vernunft beurteilt wird. Indem sie diese abstrakte Alternative zwischen Tradition und Vernunft wieder aufnimmt, bekräftigt die Romantik das Gesetz der Überwindung des Mythos durch den Logos; nur tut sie es in umgekehrter und daher traditionalistischer und konservativer Form. 36 Aus der romantischen Reaktion, letztlich jedoch aus der Aufklärung bahnt sich die Geschichtswissenschaft an, welche die Welt der Vergangenheit objektiv erkennen will. Dabei wird der "Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung" als selbstverständlich betrachtet. 37Anders gesagt: Man glaubt an die Möglichkeit eines Subjekts, das von der Zugehörigkeit absieht, die es als Interpret mit dem Interpretierten verbindet und sich somit über die Geschichte, die geschichtliche Überlieferung, die eigenen Vorurteile erhebt und zum Spiegel seiner selbst macht, um mit objektiver Rationalität erkennen und urteilen zu können. Man will einfach nicht einräumen, daß die menschliche Vernunft- wie Kant gelehrt hat- nicht absolut, sondern endlich und geschichtlich ist. Der Fokus der Subjektivität ist nur ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins. 38 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 275. Vgl. DAVID DETMER, Gadamer's Critique of the Enlightenment, in: LEWIS E. HAHN (Hrsg.); The Philosophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 275-286; vgl. auch DoNALD lPPERCIEL, Descartes and Gadamer on Prejudice, in: Dialogue 41 (2002), 635-652. 36 Vgl. in diesem Band Kap. III, 10. 37 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 280. 311 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW l, 281. 35
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Rduhiliticrung lwdt.·latt.·t hh (i;tJnrner durchaus kl·ine Lobrede auf die Vorurteile. Man kannund m.\11 muf~ die eigenen Vorurteile zum Bewußtsein bringen. Aber so sehr das Bcwugtscin auch kritisch ausgebildet ist, so kann es doch niemals vollendet sein.l fielt man eine solche Vollendung für möglich, so würde man wieder in den Irrtum der Aufklärung zurückfallen. Kann man dann aber wenigstens zwischen wahren und falschen Vorurteilen unterscheiden? Diese Frage, die Wahrheit und Methode aufwirft, bleibt deshalb unbeantwortet, weil sie schlecht gestellt ist und noch immer unter dem epistemologischen Paradigma der Erkenntnis leidet. Denn fände man ein Kriterium zur Unterscheidung der Vorurteile, so hieße dies, über sie verfügen zu können. Aber letztlich hinterläßt die negative Konnotation des Vorurteils auch bei Gadamer ihren Eindruck und hindert ihn daran, es als positive Grenze aufzuzeigen. Obwohl es ein Schlüsselbegriff von Wahrheit und Methode ist (der dann allerdings später kaum mehr aufgenommen wird), bahnt das Vorurteil jedoch nicht den Weg zu einer radikal neuen Sicht der Grenze. Eines der Kriterien, das Gadamer vorbringt, um zwischen wahren und falschen Vorurteilen zu unterscheiden, ist der "Zeitenabstand". 39 Auf Dauer setzt sich für ihn eine Interpretation aufgrund ihrer Fruchtbarkeit durch. Wie soll man sonst die eigentliche von derjenigen Kunst abgrenzen, die nur dem Geschmack des Augenblicks entspricht? Doch auch wenn der Zeitenabstand eine Rolle beim Verstehen spielt, kann er nicht als einziges Unterscheidungskriterium angenommen werden- und Gadamer selbst wird seine These ändern und den Text dementsprechend korrigieren. 40 Überschätzt wird dabei nämlich der vom Abstand gebildete Filter. Gadamer hat recht, wenn er den Zeitenabstand nicht als einen zu überspringenden Abgrund auffaßt, sondern als jene Kontinuität, die das Verstehen möglich macht. Der Abstand löst jedoch nicht die Frage nach der Legitimität von Urteilen und Vorurteilen über zeitgenössische Werke. Er kann sogar die entgegensetzte Wirkung als die gewünschte haben und ·die weniger gültigen Interpretationen konsolidieren, die gültigeren dagegen verdunkeln. So sind in vergangenen Zeiten ganze Stellen aus klassischen Werken gestrichen worden, weil sie in vielerlei Hinsicht als ungeeignet angesehen wurden, ganz zu schweigen von der nur mündlich existierenden Geschichte jener Völker oder Generationen, von denen nicht einmal eine Erinnerung bleibt. Die Tradition kann auch eine verdeckende Wirkung haben .
GADAM.ER, Wahrheit und Methodl·, GW 1, 301. Wiihrend es in dl·r ersten A.ufbgc von Wahrheit und Methode heißt: "Nichts anderes als ... ", steht in dL·r fünftL·n Aull.&~l' von I'JH(,: "Oh ... " . V~l. GAOAMER, Wahrheit und Mcthmll·, <;w I, J04. .1'1
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V, KAplt,/,· /);" Ku",ttll"tlrm drs Vtr~tthtm
5. I>ic Stimrncn der Tradition Was ist überhaupt Tradition? Und welchen Anteil hat sie am Verstehen? Die Wiederentdeckung der Tradition ist vielleicht das am meisten mißverstandene Kapitel der Hermeneutik. Es ist wohl möglich, daß die Art, in der Gadamer in Wahrheit und Methode davon redet und dabei den Begriff der "Tradition" mit dem der "Autorität" und des "Klassischen" in Verbindung bringt, zu nicht wenigen Fehldeutungen und Fehleinschätzungen Anlaß gegeben hat.41 In seiner Argumentation beschreibt Gadamer den hermeneutischen Zirkel weiter. Mit den Vorurteilen hat er dem Vorverständnis, von dem der Verstehende ausgeht, einen Namen gegeben. Es ist jedoch klar, daß auch andere Vorverständnisse im Zirkel ins Spiel kommen müssen - diesmal nicht die des Verstehenden, sondern des Verstandenen. Freilich ist eine deutliche Unterscheidung zwischen den einen und den anderen nicht einfach durchführbar, weil die Vorurteile ihrerseits eine Form der Tradition sind, und zwar die Form, welche die Tradition im Verstehenden annimmt. Wie schon im Fall der Vorurteile, so schließt auch die Rehabilitierung der Tradition keineswegs eine Apologie oder auch nur eine Verteidigung der von ihr hervorgebrachten Wirkungen ein. Es wäre ein gravierendes Mißverständnis, Gadamers Position für bloßen Traditionalismus zu halten. 42 Er meint mit Tradition vielmehr das Unvordenkliche im Verstehen. Unvordenkliches verweist auf zwei miteinander verbundene Bedeutungen. Auf der einen Seite deutet es auf die Unmöglichkeit für den Verstehenden, frei über das Unvordenkliche aller in der Tradition sedimentierten Vorverständnisse zu verfügen. Auf der anderen Seite hebt es auf das Fehlen einer letzten Begründung ab; justim Fortwirken der Tradition kommt nämlich zutage, wie überflüssig der Begriff der Letztbegründung außerhalb des begrenzten Rahmens der logisch-mathematischen Erkenntnis ist. "Eben das ist es vielmehr, was wir Tradition nennen: ohne Begründung zu gelten." 43 Damit will Gadamer keineswegs sagen, daß das, was traditionsgemäß ist, als grundlegend gelten soll. Dies wäre eben eine traditionalistische Position. Er will vielmehr sagen, daß nicht alles, was nach der Tradition gilt, auf eine letzte Begründung zurückgeführt werden kann. In jedem Begründungsakt spielt auch die Tradition immer eine Rolle, insofern ein großer Teil dessen, was zu diesem Akt gehört, eine grundlose Gültigkeit aufweist. Die Begründung setzt die Tradition voraus- nicht umgekehrt. Die Sprache, das heißt die Form überhaupt, in der die Tradition Gestalt annimmt und überliefert wird, zeigt dies
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42 43
Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 281-295. Vgl. in diesem Band Kap. X, 2. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 285.
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nicht nur dl·utlirh .lUf', sondt•rn Nrl:r.t- wie sich hcrausstdlcn wird- auch jeden Anspruch t.•irwr l.c.·tztlw~dindun~ •tufs Spicl. 44 Wie kann dit.• Tradition sich dann aber behaupten, wenn sie nicht diejenige rationale Gülti~kcit hat, die aus einer Letztbegründung erfolgt? Es ist wohl wahr, daß sie sich behaupten kann, ohne dabei von der Vernunft eingehend geprüft zu werden- zumindest nicht bewußt. Es ist aber ebenso wahr, daß es ein Fehler wäre, die Tradition als eine irrationale und autoritäre Macht anzusehen. Die Tradition erhält diesen Anschein erst im Verlauf der Aufklärung, wo sie der abstrakten Vernunft entgegengesetzt wird. Und gerade diese Entgegensetzung bestreitet Gadamer. Dies zunächst schon deshalb, weil sie gar nicht in Rechnung stellt, wieviel Tradition bereits in der menschlichen Vernunft steckt, die eben endlich und geschichtlich ist. Darüber hinaus berücksichtigt sie gar nicht, wie viel Vernunft umgekehrt in die Tradition fließt. In Bezug darauf spricht Gadamer von einer "in Freiheit übernommenen" Tradition. 45 Damit bezieht er sich nicht auf den Gestus eines abgetrennten Bewußtseins, das sich eine zum Objekt geronnene Tradition aneignet, indem es sie der kritischen Prüfung durch eine instrumentale Vernunft unterzieht. Für eine solche Vernunft, die sich anmaßt, die Ordnung der Dinge und somit auch die Geschichte kontrollieren und beherrschen zu können, gilt die Tradition als Korrektiv. Denn sie zeigt ihr ihre Grenzen auf. Doch genauer betrachtet, kann die eine auf die andere nicht verzichten. Die Vernunft kann auf die Tradition nicht verzichten, weil eben die Tradition der grundlegendste Grund aller rationalen Projekte und aller linearen Begründungen bildet. Und die Tradition kann ihrerseits nicht auf die Vernunft verzichten, weil sie zu ihrer Fortwirkung jeweils die freie Zustimmung der Vernunft braucht. Ihre "Beharrungskraft" allein würde nicht genügen. 46 In diesem Sinn sollte man von einer Vernünftigkeit der Tradition sprechen, die sich insofern erhält, als sie sich durch die Vernunft erneut. Kontinuität ist keineswegs selbstverständlich und erfordert immer wieder Bestätigung. Dafür ließen sich zahlreiche Beispiele anführen; es genügt jedoch schon, an die Zustimmung zu denken, die wir beim Gebrauch von traditionellen Gruß- oder Dankformen geben. Wenn etwa ein Engländer you're welcome sagt, was zwar dem deutschen bitte entspricht, wörtlich aber du bist willkommen bedeutet, so verwendet er nicht bloß eine Formel, sondern setzt eine Tradition fort, an deren Vernünftigkeit er sich, wenn auch nur unabsichtlich und fast versehentlich, dennoch anschließt und sie daraufhin anerkennt. Gewiß ist es übertrieben, in Bezug auf diese Anerkennung von einem "Akt" zu sprechen, da es dabei fast niemals um einen bewußt vollzogenen Akt geht. Gadamer will 44
V~l. in diesem Band Kap. VIII.
Wahrheit und Methode, GW 1, 285. of(, GAI>A M ER, w.,hrhcit und Methode, GW 1, 286. Zu einigen problematischen Zusammt•nh:in~cn v~l. BFRN n AtJ ERO<:Hs, Gad;uncr über Tradition, in: Zeitschrift für philosophisrhL· hu·srhun~ 49 (1995), 294-] II. 0
GA DA M ER,
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aber unterstreichen, "LtH die Vl·rnunft nicht nur d;tdurch wirkt, dag sie erneuert oder umstürzt, sondern auch dadurch, daf~ sie bewahrt. Dieser letzte Akt ist lediglich weniger auffallend als der erste. Darum genießt alles Aufbewahrte eine Autorität. Und dies ist etwas, das - Gadamcr zufolge - weder Jaspers noch Krüger eingesehen haben. So wie persönliche Autorität durch einen Akt der Freiheit und der Vernunft anerkannt wird, so wird auch die "namenlos gewordene Autorität" der Tradition anerkannt. 47 Hierin liegt keine Irrationalität, vielmehr wird die Autorität der Tradition insoweit akzeptiert, als der Überlieferungsvorgang fortgesetzt wird. Eine Tradition, deren Autorität fraglich zu sein scheint, wird bald aussterben, es sei denn, sie kann sich krafteiner repressiven Restauration oder als folkloristische Form aufrechterhalten. Man kann hier die Wichtigkeit erahnen, welche die Hermeneutik dem Begriff der "Überlieferung" neben dem der "Tradition" beimißt. Es gibt für sie keine Tradition ohne Überlieferung, denn eine nicht weiter überlieferte Tradition versteinert und erlischt. Die Tradition darf nicht deshalb statisch verstanden werden, weil sie der geschichtliche Überlieferungsvorgang des Vergangeneo ist. 48 Der Akzent liegt dabei auf der dynamischen Beziehung, welche die Vergangenheit mit dem geschichtlichen Bewußtsein verbindet. Gadamer schreibt: "Wir stehen vielmehr ständig in Überlieferung."49 Dies heißt zum einen, daß wir an einem ununterbrochenen Gespräch teilhaben, in dem sich die Tradition verlängern kann, und zum anderen, daß selbst unser Sein sich durch diese Teilhabe de-finiert bzw. als endlich erweist. Was unser geschichtliches Bewußtsein durchzieht, ist "eine Vielzahl von Stimmen, in denen die Vergangenheit widerklingt." 50 Als geschichtliches ist unser Bewußtsein kein eigenes, intimes und vertrauliches Bewußtsein, sondern schon immer zutiefst fremd aufgrund der Stimmen der Vergangenheit, die wir in unserer Intimität beherbergen. Andererseits können wir am Gespräch der Überlieferung nur dadurch teilnehmen, daß wir diese Stimmen der Vergangenheit immer wieder neu artikulieren. Dabei vergegenwärtigen wir die Vergangenheit, die, so Gadamer, "nur in der Vielfachheit solcher Stimmen [...] da" ist. 51 Wenn er den Begriff der Überlieferung bestimmt, deutet er auch den Begriff der Teilhabe aus, welche eine "Teilhabe am gemeinsamen Sinn" ist, und zwar an einem sprachlich artikulierten und artikulierbaren Sinn. 52 Auf diese Weise kommt er letztendlich dazu, in dieser stets offenen VerGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 285. Vgl. HANS-HELMUTH GANDER, In den Netzen der Überlieferung. Eine hermeneutische Analyse zur Geschichtlichkeit der Erkenntnis, in: GüNTER FIGALijEAN GRONDIN/ DENNIS E. ScHMIDT, (Hrsg.), Hermeneutische Wege 2000, 257-268; vgl. auch jAMES RisSER, lnterpreting Tradition, in: The Journal for the British Society for Phenomenology 34 (2003), 297-308. 49 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 286. 50 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 289. 51 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 289. 52 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW l, 297. 47
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zwischrn Ei~rncm und Fremdem den ,.wahrt.•n Ort der Hermeneutik" au fzuzcigrn. ~-' Um eine solche Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart zu erhellen, wählt Gadamer das Beispiel des Klassischen. Von Hegel auch durch Curtius übernommen, weist der Begriff des "Klassischen" zugleich einen normativen und einen geschichtlichen Wert auf. Klassisch ist das, was eine solche Vollkommenheit erreicht hat, daß es ein nachzuahmendes Vorbild anbieten kann. Dieser normative Wert ist jedoch größtenteils durch den Historismus ausgelöscht worden, der allein den geschichtlichen Wert des Klassischen hervorgehoben hat. Ohne die Lösung des Historismus zu übernehmen, aber auch ohne in eine unhistorische Denkweise zurückzufallen, betont Gadamer, daß ein normatives Element im geschichtlichen Bewußtsein immer bestehen bleibt. Doch deshalb ist im "Klassischen" der normative Wert keineswegs "übergeschichtlich ": denn auch wenn es sich weder mit einer Epoche noch mit einem Stil identifizieren läßt, gipfelt im Klassischen "eine ausgezeichnete Weise des Geschichtlichseins selbst." 54 Im Zerstörerischen Vergehen der Zeit behält das Klassische vom Vergangenen ein Unvergangenes in immer erneuerter Bewährung zurück und erhebt es zu einer zeitlosen Gegenwart, die für jede Gegenwart Gleichzeitigkeit bedeutet. Indem es von der Vergangenheit zeugt, sich aber auch der Gegenwart zuwendet, vermittelt das Klassische zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Hier fragt sich Gadamer, ob das Klassische, über den Grenzfall hinaus, den es darstellt, nicht diejenige Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ans Licht bringt, die eigentlich allem Verstehen zugrunde liegt. Das Verstehen ist selbst nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln. 55
6. Die blinde Arbeit der Geschichte Der Begriff der Wirkungsgeschichte ist der Angelpunkt, um den sich der theoretische Teil von Wahrheit und Methode dreht. Nachdem er den Instrumentalismus des historischen Bewußtseins überwunden hat, wird Gadamer im Rest des Buches alle Konsequenzen ziehen, die sich aus dem neuen Bewußtsein der Wirkungsgeschichte für die historische und sprachliche Erfahrung ergeben. Doch was bedeutet "Wirkungsgeschichte"? Dieser Ausdruck war schon in der Literaturkritik des 19. Jahrhunderts verbreitet und verwies hier auf jene 53 GAt>AMER,
~ 4 GAI>A M ER, .,., (iAt>AMFR,
Wahrheit und Methode, GW 1, 300. Wahrheit und Mt•thodc, GW I, 294 . W,lhrlwitund Mcthudt•, CW I, 295.
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V. 1\ 14/'ltrl: /)i,- 1\umlr//,,t",,., clc•, Vrnttht•n'
llilfsdisziplin, die sich mit dt.•r Rezeption eines Werkes und vor allem mit den daraus entstandenen l>eutun~en beschäftigte.~(, Die verschiedenen Arten, in denen- im Laufe der Jahrhunderte- Texte gelesen und Ereignisse gedeutet worden sind, bezeugen die Produktivität der Geschichte: jeder Text, jedes Ereignis nimmt eine neue Bedeutung an und zeigt eine neue Seite auf, je nach den Erwartungen, die der geschichtliche Kontext hervorruft, aber auch je nach den vorhergehenden Auslegungen. Führen wir einige Beispiele an. Wir wissen zwar nicht, wie genau Hegel Platon einschätzte, aber sicherlich betrachten wir Platon aufgrundvon Hegels Lektüre anders. Und wir blicken mit anderen Augen, eher den Augen der Besiegten als denen der Sieger, auf ein Ereignis wie die Eroberung Amerikas. Kurzum: Um ein Werk oder ein Ereignis zu erforschen, ist es notwendig, seine Wirkungen in der Geschichte zu berücksichtigen. Deshalb hat der Historismus so großes Interesse an der Geschichte der Wirkung und der Wirksamkeit; aber er wird durch die naive Absicht geleitet, das Originalwerk von seiner Rezeption zu trennen, um es in voller Objektivität zu ergründen. Das geschichtliche Bewußtsein scheint hier aufgeklärter als die Aufklärung selbst zu sein, weil es auf das Credo des Fortschritts verzichtet und darauf zielt, den Lauf der Geschichte nicht rational zu verstehen, da dieser Lauf sozusagen vernunftfremd ist, sondern von den Höhen des geschichtlichen Bewußtseins aus. An dieser Stelle spielt Gadamer gegen die Anmaßung dieses Bewußtseins das Prinzip der Wirkungsgeschichte aus. Um diesen Wendepunkt in der philosophischen Hermeneutik zu verstehen, muß man etwas bei der komplexen Bedeutung des Wortes verweilen. Wichtig ist, daß "Wirkungsgeschichte" nicht nur und nicht so sehr die "Geschichte der Wirkungen" meint, also die Rezeptionsgeschichte, die sich als solche erkennen und erforschen läßt. Gadamer versucht hier vielmehr, etwas Grundsätzlicheres zu sagen. Um es zu erfassen, muß man beachten, daß sich "Wirkung" nicht nur auf das Resultat einer Tätigkeit, sondern auch auf die Tätigkeit selbst bezieht. "Wirkung" ist ein Synonym für "Wirken" - auch als Operieren und Arbeiten gemeint. "Wirkungsgeschichte" hat also einen zweifachen Sinn. Auf der einen Seite verweist sie auf ein Produkt: zum Beispiel auf die verschiedenen Interpretationen der Bibel, die als Wirkungen der Geschichte angesehen werden können bzw. als Produkte ihrer im Laufe der Jahrhunderte vollbrachten Arbeit. 57 Auf der anderen Seite verweist sie auch auf eine Tätigkeit, und zwar auf das blinde und stille Wirken der Geschichte, das kein Telos besitzt und das oft unbeachtet und verborgen, nahezu unbewußt bleibt und insofern "mehr Sein als Bewußt-
Vgl. KARL RoBERT MAN DELKOW, Probleme der Wirkungsgeschichtc, in: Jahrbuch für internationale Germanistik II (1970), 69-78, hier 71. 57 Vgl.jEAN GRONDIN, La conscience du travail dc l'histoire et le prohcme de la verite cn hermeneutique, in: L'horizon hermencutique de Ia pcnsec contemporainc, Paris: Vrin 1993, 213-233. 56
I 1'J sl·in" ist."'H I >ic.· Arlll·it dc.·r ( ;r~tn·hirhtc vcrs;tmmclt so c.lie lle~elsc.:he Ncgativität in sirh, die ein l.eidc.·u und l•'.rlc.·ic.lcn ist, eine Mühsal wie Jie der Geburt, mit der c.lie Gest.:hic.:hte unvorher~esd1ene und unvorhersehbare rrüchte erbringt, in denen sie ihre Spuren hinterläHt.ln ihrer Arbeit ist die Geschichte ein beständiges Wirken, das Spuren schreibt und ein-schreibt, welche die Vergangenheit lesbar machen und dennoch unwiderruflich abwesend sein lassen. Es ist dieser Weg, auf dem die Geschichte uns erreicht, die wir nicht unversehrt bleiben; denn durch ihr Wirken durchdringt sie uns sehr viel tiefer, als unser Bewußtsein annehmen mag. Gerade dies bedeutet hier "Wirkung": daß die Geschichte weiter und über das Bewußtsein hinauswirkt, das wir von ihr haben können. Anders gesagt: die Geschichte unterwirft uns ihren Wirkungen und kontaminiert uns derart in unseren vermutlichen Intimitäten, daß sie uns das Eigene als fremd und das Fremde als eigen erscheinen läßt. 59 Weit davon entfernt, sich auf die Geschichte der Wirkungen oder auf die Wirkungen der Geschichte zu reduzieren, ist die Wirkungsgeschichte diese stets wirkende "Verflechtung" beider, in die das Bewußtsein einbezogen und in der es vernetzt ist. Dieses Netz, das die Geschichte webt, wirkt auch dort, wo man eigentlich nichts spürt und nicht einmal etwas ahnt. Niemals wird das Bewußtsein ein solch undurchdringliches Gewirr, von dem es selbst durchdrungen und das seine Substanz ist, auflösen können. Daher ist es auch niemals transparent und rein, sondern opak und befleckt. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist als solches von der Geschichte "erwirkt", ausgearbeitet und gepeinigt. 60 Es kann sich den vielfältigen geschichtlichen Wirkungen schon deshalb nicht entziehen, weil es niemals einJenseits der Geschichte erreichen kann, von dem aus es sie beobachten könnte. Mehr als 4andelnd, scheint es erleidend, hingerissen und einbezogen in jenes "Ineinanderspiel" zu sein, wodurch Gadamer den hermeneutischen Zirkel geschildert hat. 61 Um den Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins näher zu erläutern, ist es notwendig, wenigstens zwei Bedeutungen zu unterscheiden. Eine erste Bedeutung wird durch den objektiven Genitiv bestimmt. Dieses Bewußtsein weiß um seine Geschichtlichkeit, es weiß, daß es immer situiert ist. Es ist "ein Bewußtsein der hermeneutischen Situation." 62 Unüberhörbar ist hierbei die existentielle Nuance: der Begriff der "Situation", den Gadamer aus Jaspers Philosophie übernommen hat, trägt dazu bei, sie hervorzuheben. Dieses Bewußtsein weiß nicht nur, daß es zum Horizont einer Epoche gehört, sondern auch, das es sich an einem bestimmten Punkt des Raumes und der Zeit befindet:
~H GA DA M ER, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, "~"~ Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 306. t.o V~l. GA DA M Jo:R, Wahrheit und Methode, GW 1, 307. 1' 1 (;ADAMEK, 1' 1
(;ADAMFK,
Wahrhl·it und Methode, GW 1,298. Wahrlwitund Methode, GW 1, 307.
GW 2, 232-250, hier 247.
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V. 1\rtf'"'l:
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1lr• Vrntrhrm
dem l>rt dl·r ci~cncn Situ;uion, dl•n c.·s nur verlitssen k&utn, indem es in eine andere Situation übergeht. Seine Situiertheil läf~t sich daher niemals überwinden. Hier geht also nicht um objektive Erkenntnis, sondern vielmehr um "Erhellung"- um ein anderes Wort von Jaspers hier zu verwenden. Von der eigenen Situation ausgehend weiß dieses Bewu{~tsein, daß "Geschichtlichkeit heißt, nie im Sichwissen Auf[zu]gehen."63 Dies wird durch die Geschichte verhindert, die sich in keinem absoluten Subjekt integrieren läßt. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein weiß nämlich, daß die Geschichte bei jedem Verstehen, auch beim Sichverstehen, am Werk ist. Demzufolge ist es nicht nur von der Geschichte bestimmt, begrenzt und definiert, sondern auch der Unendlichkeit des Verstehens ausgeliefert. Was aber das Bewußtsein begrenzt, ist zugleich auch seine wahre Chance. Die von der Geschichte gewirkte Arbeit schließt es nämlich durchaus nicht in die Einseitigkeit eines unaufhebbaren Gesichtspunkts ein; denn während sie es in ihr Netz einspinnt, an dem sie unablässig weiterwebt, eröffnet sie dem Bewußtsein zugleich auch die Möglichkeit eines unendlichen Gesprächs mit der Überlieferung. Die zweite Bedeutung des "wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins" legt der subjektive Genitiv nahe. In diesem Fall kann man metaphorisch sagen, daß die Geschichte ein Bewußtsein von sich selbst hat, insofern Bewußtsein das Ergebnis ihres Wirkens ist. Hier klingt zwar deutlich Hegels Geschichtskonzeption an, was Gadamer in der Tat den Verdacht einer Ontologisierung der Geschichte eingetragen hat: als ob bei ihm die Geschichte eine Art autonomer Macht, ein gigantisches Bewußtsein wäre, das sich, gleichsam als Neuauflage der Seinsgeschichte Heideggers, jedes andere Bewußtsein einverleiben würde. So gelesen wäre die Wirkungsgeschichte ein langer Monolog, der im absoluten Geist gipfelt. Ganz im Gegenteil möchte Gadamer aber den Weg der Phänomenologie zurückgehen. 64 Der metaphorische Sinn des Genitivs verweist daher auf ein gemeinschaftliches Bewußtsein, das die Arbeit der Geschichte hervorbringt und das darum das subjektive Bewußtsein übersteigt. Diesem letzteren ist eine dialogische Interaktion keineswegs verwehrt, doch sein Über ist zugleich auch seine Grenze. Dies ist wohl der wichtigste Effekt, den das Wirken der Geschichte hervorbringt: dem modernen Bewußtsein seine Grenze aufzuzeigen, und zwar seine Unmöglichkeit, Selbstbewußtsein zu sein. Man sollte daher diesem Bewußtsein, das weniger von sich, als von der eigenen Grenze weiß, vielleicht einen anderen Namen geben. Dies hätte unter anderem den Vorteil, die idealistischen Konnotationen zu vermeiden, die im Begriff des Bewußtseins nachklingen. Der Name, den Gadamer vorschlägt, und dessen Entfaltung er vor allem in seinen letzten Schriften immer mehr Raum gibt, ist
63 64
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 307. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 307.
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••W.tchs.unkt:it". St.lll Ikw uf~l· Sein s.a~t die philosophisdtt' llcrmcncutik Wachsam-St•in."" Noch in der erstt·n Aufl.\~c von Wahrheit und Methode sprach Gadamer von "Aufgabe", als er sich auf den "Verstehensvollzug" bezog, der in der Geschichte als "Horizontverschmelzung" von Vergangenheit und Zukunft zustande kommt. 66 Doch das Wort "Aufgabe" hat zu zahlreichen Fehldeutungen Anlaß gegeben. Viele Interpreten haben deshalb von einer "Aufgabe des Verstehens" geredet, als ob das Verstehen für die Hermeneutik eine methodologische Übung oder eine moralische Pflicht wäre. Aber schon die letzte, 1986 erschienene und revidierte Auflage, führt eine wichtige Änderung ein: das Wort "Aufgabe" wird durch das Wort "Wachheit" ersetzt. 67 Das Bewußtsein, das um die Arbeit der Geschichte weiß und das ebenso weiß, daß diese auch in seinem Inneren wirkt, wacht über die Horizontverschmelzung. Von der Wachheit her ist es möglich zu klären, was Gadamer mit "Horizontverschmelzung" meint. Situiertheit bedeutet, an einen Punkt in Raum und Zeit gebunden zu sein, der die Sicht einschränkt. Wie zunächst Husserl, dann aber auch Heidegger und Jaspers gezeigt haben, deutet das aus dem Griechischen stammende Wort "Horizont" auf den beweglichen Kreis hin, der alles begrenzt, was von einem Punkt aus sichtbar ist, und der unsere Grenze bezeichnet, die sich mit uns mitbewegt. So spricht man von mehr oder weniger begrenzten Horizonten, von Horizontweite und von der Öffnung neuer Horizonte. 68 Das Verstehen kann als eine Begegnungzweier Horizonte betrachtet werden, die sich in eine bestimmte geschichtliche Konstellation einschreibt. Der Historismus begreift diese Begegnung als ein Sich-Hineinversetzen des Bewußtseins, das sich anmaßt, aus dem Horizont der Gegenwart herauszutreten, um in den der Vergangenheit einzudringen und ihn sich anzueignen. Wer versteht, scheint also insofern eine Position von objektiver Neutralität erreicht zu haben. Die von Gadamer geltend gemachten Zweifel betreffen nicht nur diese Position, sondern erfassen auch die Möglichkeit, die Horizonte überhaupt voneinander zu trennen, als ob es sich um geschlossene Horizonte handelte. Diese Vorstellung ist für ihn nichts weiter als eine Abstraktion. Denn zum einen bewegen sich die Horizonte, und wir mit ihnen, so daß auch der Horizont der Vergangenheit nicht fest liegt, sondern sich in der Artikulation einerneuen Gegenwart bewegt. Zum anderen sind die Grenzen zwischen beiden durchaus nicht deutlich: Ein Horizont geht in einen anderen über und bildet somit einen beweglichen Horizont, der die Tiefe der Geschichte umfaßt, aus der das menschliche Leben lebt und die es als "Herkunft und Überlieferung" definiert. 69 Die Horizonte sind &s V~l. M
"7 t.K 1''1
in diesem Band Kap. IX, 5. GADAMEK, Wahrheit und Methode, GW 1, 311 f. GAL>J\MEK, Wahrheit und Methode, GW 1, 312. V~l. (;1\DJ\MI·:K, Wahrlll'it und Methode:, GW 1, 307 f. <; 1\ Dl\ MI· R, W.tlnlu:it und 1\h·tlw~k·, ( ;w I, .HO.
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V.
1(,,",,,/: 1>11 Komt1llatinn J,. Vrrstrhnu
daher nicht trennbar, sondern lediglich unterscheidbar. Ihre Begegnung erweist sich als eine "Horizontvcrschmeb~ung'\ die für Gadamer nicht nur eine horizontale, sondern auch eine vertikale Richtung hat/ 0 Denn sie ist "die Erhebung zu einer höheren Allgemeinheit", in der die Grenze eines jeden Horizonts überschritten bzw. erweitert und eben deshalb auch erhoben wird.7 1 Die Bewegung der Augen, die sich vom Naheliegenden heben, um in die Ferne zu blicken, zeigt sehr gut diese Erhebung, in der ein neuer Standpunkt eingenommen wird. Aus ihr gehen beide Horizonte, der eigene und der fremde, verändert hervor. 72
7. Verstehen heißt Anwenden Welche Rolle spielt hierbei nun die Anwendung? Die Antwort auf diese Frage sucht Gadamer in der Geschichte der klassischen Hermeneutik, in der die Anwendung noch vor Schleiermacher einen integrierenden Bestandteil des lnterpretationsvorgangs ausmachte. Er deutet auf den Pietismus hin - insbesondere aufJohannJacob Rambach (1693-1735)13 -wo der subtilitas intelligenti und der subtilitas explicandi eine subtilitas applicandi zur Seite gestellt wurde. Gadamer lenkt die Aufmerksamkeit zunächst auf das Wort subtilitas, das durch "Feinheit des Geistes" übersetzt werden kann. 74 Damit möchte er deutlich machen, daß das Verstehen kein regelgeleitetes Procedere, sondern vielmehr eine Fähigkeit ist, die schon in der Rhetorik Subtilität oder, besser, Scharfsinn genannt wurde, und die- wie Vico gelehrt hat- mit der Tradition und dem Gemeinsinn zusammenhängt.75 In der Hermeneutik heiliger Texte fordert das Moment des Verstehens das Moment der Auslegung, und das der Auslegung seinerseits das der Anwendung. Denn wie wäre es möglich, die Heilige Schrift zu verstehen oder, bes-
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 312. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 310. 72 Sicherlich ist das Wort "Verschmelzung" keine glückliche Wahl gewesen, sondern hat zahlreiche, zum Teil berechtigte Kritiken hervorgerufen, da es mehr als ein Mißverständnis veranlassen kann. Insbesondere läßt die "Verschmelzung" an einen Verstehensprozeß denken, in dem die Identität dessen, der versteht, nicht weniger als die des Verstandenen verloren geht- und offenkundig auch der Unterschied zwischen ihnen. Paradigmatisch ist die Kritik von STANLEY RosEN, Interpretation and Fusion of Horizonts: Remarks on Gadamer, in: RosEN, Metaphysics and Ordinary Language, New Haven: Yale University Press 1999, 182-201; vgl. auch MARINA VITKIN, The Fusion of Horizons on Knolewdge and Alterity, in: Philosophy and Social Research 21 (1995), 57-76. 73 In Wirklichkeit spricht Rambach von applicatio erst im letzten Teil seines Werks. Vgl. jOHANN jACOB RAMBACH, Institutiones hermeneuticae sacrae, Band IV, Kap. 111: De sensus inventi adplicatione, Jena: Hartung 1723, 804 f. Vgl. auch jEAN-CLAUDE GENS, La revaluation par Gadamer du concept pietiste d'application, in: L'art du comprendre 4 (1996), 24-37. 74 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 312. 7S Vgl. in diesem Band Kap. II, 2. 70 71
H. /),,. t'.\'rmp/,".,., hr l•t·,u:is dt•r juruti.u Iw" ",.,.",,.,ll'lftik
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ser, auszulc~en, ohne sie auf die gc~cnwärtige Situation anwenden zu können? Ist es nicht gerade die Anwendung, die das vollzogene Verstehen bezeugt? Gadamers Absicht ist eine zweifache: Zum einen möchte er die Anwendung wiedergewinnen, welche die Romantik, und um so mehr die nachromantische Epistemologie ausgeschlossen hatte, und zum anderen trachtet er danach, Verstehen, Auslegen und Anwenden nicht als getrennte, sondern als konstitutive Momente eines einheitlichen Vorgangs aufzuzeigen/6 Die Anwendung ist darum nicht sukzessiv, sondern ist vielmehr die tragende Achse des Verstehens. "Verstehen ist[...] immer schon Anwenden." 77 Ließe es sich nicht in die Praxis übersetzen, dann wäre das Verstehen gar kein Verstehen. Die Wiederaufnahme des Begriffs der applicatio, der Anwendung, bringt folglich einen Paradigmenwechsel in der Hermeneutik mit sich. Während der Erkenntniswert sekundär wird, avanciert dagegen der praktische Wert des Verstehens. Dieser Paradigmenwechsel führt auch eine Änderung in das Disziplinmodell ein, wofür nicht mehr die historisch-philologische Auslegung, sondern die theologische und die juristische Hermeneutik gilt. Der Fall des Interpreten, der die Heilige Schrift auslegt, indem er sie auf die Gegenwart anwendet, ist durchaus kein Grenzfall. Im Gegenteil exemplifiziert er jede Verstehensform. Den Begriff der Anwendung wiederzugewinnen, bedeutet daher für Gadamer, von der theologischen und juristischen Hermeneutik auszugehen, um die Philologie und die Historik neu zu denken. Dieses neue Modell dürfte wohl ein für alle Mal offenlegen, daß die Hermeneutik keine Form der Herrschaft, sondern eine Form des Dienens ist, wie es die Anwendung des Wortes Gottes oder der Gesetzesintention und ganz allgemein all diejenigen Auslegungsformen zeigen, bei denen Anwenden immer auch eine Anstrengung, ein sich Widmen oder Weihen dem gegenüber einschließt, was zur Geltung kommen soll.l8
8. Die exemplarische Praxis der juristischen Hermeneutik Was bei den "praktischen" Hermeneutiken ans Licht kommt, ist zum einen die Beziehung, die sich zwischen Allgemeinem und Besonderem im Auslegungsund Anwendungsvorgang abzeichnet und zum anderen der Wert, den die Anwendung einnimmt. Die juristische Hermeneutik ist deshalb von den anderen hermeneutischen Disziplinen abgetrennt worden, weil sie- nur als Hilfsmittel des Rechts betrachtet- mit dem geschichtlichen Verstehen vermeintlich wenig zu tun habe. Bctti etwa betont, daB ein Text zunächst objektiv verstanden werden müsse und erst dann angcwcmlc.·t werden kann. Vgl. in diesem Band Kap. X, 1. n GAI>AMER, W;thrhcit und Mcthmh-. GW I, 314. Vgl. joEL C. WEINSHEIMER, Gadamcr's llcrrnc.·m·tllil·, IH4-l'J'J. IH (;AI>AMIIK, w.,hrlwilun,J Mcrhndc.·, c;w 1, .'llfl. 7"
124
V. Kapitel: Dit! Konstellation des Verstehens
Gadamer zieht diese Trennung in Zweifel. Worin liegt der Unterschied zwischen dem Rechtshistoriker und dem Juristen? Diesen Unterschied hatte besonders Betti betont, den Gadamer in diesem Kontext hinzuzieht.79 Gegenüber dem Rechtshistoriker, dem nur die Aufgabe zukomme, den ursprünglichen Sinn eines Gesetzes zu erfassen, solle der Richter, Betti zufolge, das Gesetz auf den Einzelfall anwenden. Der hier schlummernde Gedanke ist, daß der ursprüngliche Sinn etwas Selbstverständliches sei und daß es ebenso selbstverständlich sei, ihn auf die jeweiligen Umstände anzuwenden. Für Gadamer hingegen ist dieser Unterschied keineswegs eindeutig. Der Ausgangs- und der Zielpunkt sind zwar jeweils verschieden, der hermeneutische Weg ist jedoch dergleiche. Der Richter geht vom Einzelfall aus und handelt im Hinblick auf diesen Fall mit praktisch-normativen Finalitäten; der Historiker geht von keinem Einzelfall aus und zielt auf den Sinn des Gesetzes mit theoretisch-deskriptiven Finalitäten. Gleichwohl muß sich der Jurist auch als Historiker, und der Historiker sich als Jurist verhalten. Was sie gemeinsam haben, ist das Verstehen des Gesetzes, das aufgrundder Geschichtlichkeit des Verstehens immer eine Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart, das heißt immer eine Anwendung ist. Auch der Historiker kann nicht umhin, beim Studium eines Gesetzes (gleichviel ob es in kraftist oder nicht), zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln, und zwar einfach deshalb, weil er als Interpret von seiner eigenen Situiertheit nicht absehen kann. Und beim Verstehen des Gesetzes kann sich der Historiker darüber hinaus auch der Anwendung nicht entziehen. Der sogenannte "Sinn des Gesetzes" ist kein abstraktes, mit sich selbst identisches Allgemeines, sondern der Sinn, den das Gesetz in den verschiedenen konkreten Fällen, in denen es angewendet worden ist, angenommen hat. Eben darum muß der Historiker alle Anwendungen des Gesetzes in Betracht ziehen- bis hin zur gegenwärtigen. Wo er aber das Gesetz auf die Gegenwart anwendet, tut er nichts anderes als das, was auch der Richter tut. Dieser wird seinerseits, sofern er das Gesetz auf den Einzelfall anwendet, dessen derzeitigen Sinn verstehen und damit zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermitteln. Der Jurist verhält sich, mit anderen Worten, immer auch als Historiker. Verstehen ist "Konkretisierung des Gesetzes", und damit eben Anwendung. 80 Anhand der juristischen Hermeneutik wird klar, daß die Anwendung nicht mit einer "Art logischer Technik der Subsumption" des Besonderen unter ein Allgemeines verwechselt werden darf. 81 Vielmehr handelt es sich um eine KonkreVgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 330-332. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 335. 81 HANS-GEORG GADAMER, Hermeneutik als praktische Philosophie, in: GADAMER, Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, 78-109, hier 88. Vgl. ANTHONY KERBY, Gadamer's Concrctc Universal, in: Man and World 24 (1991), 49-61. 79
80
9. Die Kreativität der Anwendung und die Einheit der hermeneutischen Disziplinen
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tisierung, die eine "produktive Rechtsergänzung" ist. 82 Eben weil sie kein logisch-mathematisches Verfahren, sondern ein geschichtliches Geschehen ist, erweist sich die Anwendung als produktiv bzw. kreativ, da sie immer auch eine reproduktive Überwindung ist: des Allgemeinen im Besonderen, des Identischen im Verschiedenen, des Abstrakten im Konkreten. Hier ist ihre Nähe zu jener schon bei der Kunst - etwa bei der Musik - aufgetauchten reproduktiven Auslegung zu erblicken, von der das Werk untrennbar ist. 83 Nicht zufällig führt Gadamer auch in diesem Zusammenhang eine "hermeneutische Identität" ein, die zur Zukunft hin offen ist und allein in der Zeitlichkeit ihres ständigen Sichdifferenzierens liegt. Anwendung ist dann lediglich eine andere, umfassendere Bezeichnung für das, was in der Kunst Aufführung genannt wird.
9. Die Kreativität der Anwendung und die Einheit der hermeneutischen Disziplinen Auf diesem Weg weitet Gadamer die Grenzen des Verstehens aus. Seine Absicht dabei ist, die Einheit der hermeneutischen Disziplinen wiederzugewinnen. Wo läßt sich aber diese Einheit aufspüren? Weder in der Universalität des Verstehensvorgangs, noch in der des geschichtlichen Bewußtseins, und ebensowenig in der objektiven Betrachtung der Philologie. Als "Vermittlung von Damals und Heute, von Du und Ich" ist eben die Anwendung der Faden, der die hermeneutischen Disziplinen miteinander verbindet. 84 Auch in der theologischen Hermeneutik muß das Kerygma, die Heilsverkündigung, wie bei der Konkretisierung des Gesetzes, wiederholt werden, um wirksam zu sein, das heißt auch sie "läßt sich nicht von ihrem Vollzug lösen"dies jedoch mit der gebotenen Unterscheidung, daß im Verhältnis von menschli'chem und göttlichem Gesetz letzteres den "schlechthinnigen Vorrang" über der Auslegung behält. 85 Die Anwendung ist bei jedem Verstehen am Werk, auch bei der philologischen und der historischen Hermeneutik. Von dieser Auffassung her kann Gadamer nicht nur die Objektivität kritisieren, die im historisch-philologischen Bereich vorherrscht, sondern auch den Universalitätsanspruch der Historik in Abrede stellen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts hat diese sich auf das Modell der Philologie berufen, die das Einzelne vom Ganzen ausgehend und als Ergebnis des Ganzen
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 335. Rl Vgl. in diesem Band Kap. 111,6 und 8. 84 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 339. Man soll in diesem Zusammenhang den Eintluf~ Hcgcls nicht unterschätzen. Vgl. jEPF MnsCHERLING, Hegelian Elements in Gadamcr's Nution of Application and Play, in: Man and World 25 (1992), 61-67. 11 ~ GAUAMIOt, Wahrheit und Methode, <;w I, 336. 82
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versteht- selbst wenn das Gan:t.e in der Geschichte niemals gegeben ist. Wenn man von einer Philologisierung der Historie sprechen kann, dann kann mangenausogut von einer Historisierung der Philologie sprechen. "Der Philologe ist Historiker." 86 Er interpretiert die Texte, indem er nicht ihrem Ausdruckswillen folgt, sondern auf das blickt, was der Ausdruck "verrät": die Texte werden "nicht nur in dem verstanden, was sie sagen, sondern in dem, was sich in ihnen bezeugt", das heißt als Urkunden der großen Geschichtserzählung. 87 Das Modell der Objektivität stellt sich deshalb als ungeeignet sowohl für die Philologie als auch für die Historie heraus, weil Verstehen in beiden Fällen Anwenden ist. Der Philologe liest die Texte auf das hin, was sie ihm sagen, und diese Lektüre ist eine reproduktive Auslegung- so wie auch jedes Lesen immer schon ein Anwenden ist. Dasselbe gilt für die "Fakten", die der Historiker auf ihren Sinn hin erforscht, welcher offenkundig ihrer geschichtlichen Wirkung entspringt. 88 Kurzum: Die Vergangenheit, die sich vor dem Historiker vergegenwärtigt, ist bereits Ergebnis der Arbeit der Geschichte, sie ist Resultat einer Anwendung, der sich nicht einmal der Historiker selbst entziehen kann. Woraus würden sich sonst seine Fragen ergeben, wenn nicht aus seiner Zugehörigkeit zu jener Vergangenheit, die er sprechen lassen möchte? Auch der Historiker führt also eine Anwendung aus, die sich jedoch nicht auf einen einzelnen Text, sondern auf die gesamte Einheit der geschichtlichen Überlieferung bezieht. Hier könnte man auf die Metapher des Lesens zurückgreifen: Der Historiker liest "das große Buch der Weltgeschichte", indem er es mit der Gegenwart des eigenen Lebens vermittelt, das damit nicht weniger verstanden bzw. verwandelt wird als das Buch selbst. 89 "Das Verstehen erweist sich als eine Weise der Wirkung und weiß sich als eine solche Wirkung." 90 In diesem wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein, das allem Verstehen gemeinsam ist, sieht Gadamer die Möglichkeit, die Einheit der hermeneutischen Disziplinen zurückzugewinnen.
10. Der Zauberkreis der Hegeischen Reflexion und der Rest der Endlichkeit Wenn man von wirkungsgeschichtlichem Bewußtsein spricht, so bleiben jedoch viele offene Fragen, die um das Wort "Bewußtsein" kreisen. Gadamer selbst überlegt: "Aber was ist das für ein Bewußtsein?" 91 Eine solche Frage bringt
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GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 342. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 342. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 344. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 345. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 346. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 347.
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127
c.bs Pruhlt·m dt•r Rc•f/,•xivität mit sich, die in jeder Bewußtseinsform impliziert :t.u Sl'lll sdll'int. llicr wird eine Auseinandersetzung mit Hegel und mit seiner .. Rcflexionsphilosophie" unvermeidlich.92 He~cl kommt ein ~anz besonderes Verdienst zu: Er hat eingesehen, daß die Geschichte nicht nur der Forschungsgegenstand, sondern die Verfassung des Bewußtseins selbst ist, das aus seiner eigenen Wirkungsgeschichte hervorgeht und damit zum Selbstbewußtsein wird. Auch die Hermeneutik kulminiert ihrerseits in einem solchen reflektierenden wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein. Wird man aber deshalb das hermeneutische Bewußtsein als eine Neuauflage des Hegeischen Selbstbewußtseins verstehen müssen? Gadamer wird in dieser Frage zu einer entschiedenen Stellungnahme gedrängt, um die "Wahrheit des Hegeischen Denkens" gegen den reflektierenden und totalisierenden Anspruch seines Systems festzuhalten. 93 Er muß dazu den "Zauberkreis" der Reflexionsphilosophie durchbrechen. Mit "Reflexionsphilosophie" ist Hegels Anspruch gemeint, die Geschichte im Bewußtsein aufzuheben. Doch der Ausdruck "Reflexionsphilosophie" ist zweideutig, und deshalb sagt er eigentlich noch mehr. Hegel hatte ihn bereits verwendet, um Kant,Jacobi und Fichte vorzuwerfen, sie seien innerhalb der Domäne der Subjektivität stehen geblieben. Gadamer seinerseits wendet diesen Vorwurf gegen Hegel, indem er argumentiert, daß dieser die Wirkungen übersehen habe, die letztlich die Geschichte auf das Bewußtsein ausübt: Damit habe er die Geschichte in der Wahrheit des absoluten Bewußtseins aufgelöst. Es ist diese ."absolute Vermittlung von Geschichte und Wahrheit", der die Hermeneutik entgehen will.94 Die Gefahr liegt in der Absolutheit eines Bewußtseins, dessen Reflexion jede ihm entgegengesetzte Unmittelbarkeit löst und auflöst, und die dadurch zu einer restlosen Identifizierung von Geschichte und geschichtlichem Bewußtsein gelangt. Der hermeneutische Begriff der Wirkungsgeschichte vermeidet hingegen eine solche absolute Identifizierung und denkt ein wirkungsgeschichtliches Bewußtsein, in dem die Unmittelbarkeit der Bedingtheit niemals durch die Reflexion bis zur Transparenz und Durchsichtigkeit aufgehoben ist. Bei der Schilderung eines Bewußtseins, das sich selbst nicht durchschaut, sondern vielmehr wachsam ist, führt Gadamer die Wirkungsgeschichte ins Feld, um gegen Hegel der "Allmacht der Reflexion" eine Grenze zu setzen.95 Hier stellt sich die Frage nach der Grenze, welche die ganze philosophische Hermeneutik durchzieht und sie zu einer Philosophie der unendlichen Endlichkeit macht.96 Diese Frage setzt bei der Suche nach jenem "archimedischen Punkt" an, der es erlauben soll, die Reflexionsphilosophie aus den Angeln zu '~ 2 Vgl. GAI>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 346-352.
Wahrheit und Methode, GW 1, 348. Wahrheit und Methode, GW 1, 347. GAUAMI·:K, W;thrhcit und Methode, GW 1, 348. V~l. in dil·sc.·m 1\ollld K•tp. I X, 3-4.
" 1 GADAMER, "" GA DA M ER, '1.,
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12M
hebcn.lJJ In dieser ll insidn ist der Ahsl•\nd zu unterstreichen, der Gadamer von anderen Philosophen des 20. Jahrhunderts trennt, welche dieselbe Absicht verfolgen. Es genügt hier, an die Strömung der jüdischen Philosophie zu denken, die von Franz Rosenzweig {1886-1929) bis zu Emmanuel Levinas {1906-1995) reicht. Jener gesuchte archimedische Punkt liegt für Gadamer nicht in der Andersheit des ,,Du", die diese Tradition hervorhebt. Für ihn hat Hegel selbst in den Gestalten des Geistes, die in der Phänomenologie beschrieben werden, gewissermaßen die Einwände vorweggenommen, die ihm später entgegengehalten werden. Es scheint hier keine Position zu geben, die nicht sogleich in die absolute Vermittlung der Reflexion integriert würde: keine der Berufungen auf die Unmittelbarkeit, weder die des Seins, des Leibes, des Du oder der Produktionsverhältnisse hat letztlich etwas Unmittelbares an sich, sondern ist ein Verfahren der Reflexion. Der Hebel, um die Philosophie Hegels auszuhängen, ist für Gadamer deshalb keine neue Unmittelbarkeit als vielmehr der unbewältigte Rest zwischen Geschichte und geschichtlichem Bewußtsein, das heißt das endliche menschliche Bewußtsein, das den Weg zur Unendlichkeit erschließt- zu jener "schlechten Unendlichkeit", die Gadamer, Hegel treu bleibend, nicht nur als "eine Unwahrheit", sondern auch als "eine Wahrheit" versteht.98 Dazu muß er sie freilich gegen Hegeliesen und damit eine Forderung der Hegeischen Philosophie wieder geltend machen, welche diese im absoluten Geist zum Schweigen gebracht hatte. Es ist die Endlichkeit, die den Zauberkreis durchbricht, die einen Riß in die totale dialektische Vermittlung einführt, ihr die Totalisierung untersagt, die Vollendung verhindert, die Schließung des Werdens verbietet, das Absolute und die Verabsolutierung verneint. Es ist diese unendliche Endlichkeit gleichsam die Linie, die Gadamers Stellung gegenüber Hegel abgrenzt.99
11. "Überrumpelungsversuche" gegen die Philosophie:
die Vorwürfe von Relativismus und Selbstwiderspruch Zweierlei grundsätzliche Vorwürfe hat die Hermeneutik auf sich gezogen: den des Relativismus und den des Selbstwiderspruchs. Beide stellen für Gadamer Gestalten der Reflexionsphilosophie dar, in denen diese in neuem Gewande auftritt. Dies erklärt, wenigstens zum Teil, warum erbeideVorwürfe mit einer gewissen Unbekümmertheit behandelt. Doch hinter solcher Unbekümmertheit verbirgt sich wohl auch eine Irritation, weil die Hermeneutik sich gegenüber dieser Kritik bereits als Antwort, ja sogar als vorgängige Frage versteht, die deren Grundlage zu destruieren strebt. 97 98
99
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 349. GADAMER, Das Erbe Hegels, GW 4, 465; Wahrheit und Methode, GW 1, 350. Vgl. in diesem Band Kap. VII, 6; Kap. IX, 4.
129
I kr Vorwurf d<.·s Rd.tt ivi,nnls l~if~t sic:h leicht zus;tlllllll'llfasscn: Wenn sich das wirkungsgeschidulidt<.' lh·wuf~tsein niemals von der eigenen Geschichtlichkcit abtrennen tif~t, ist es dann nicht seinerseits relativ? Von hier aus ist der Schritt zur Behauptung, alles sei relativ, kurz. Und noch kürzer ist der Schritt zur Annahme, alles sei entschuldbar. Einem solchen schweren Risiko würde sich die Hermeneutik- laut solchem Vorwurf- aussetzen. Doch am Ende ist vielleicht dies das eigentliche Ziel dieser Anschuldigung: Angst und Unruhe zu säen, indem sie die Konsequenzen einer Preisgabe des absoluten Standpunktes zugunsten eines relativen vorführt. Gerade hierin liegt aber eine Verwechselung, welche die Hermeneutik nicht akzeptieren kann. Die Preisgabe des Absoluten impliziert nämlich keineswegs eine Verabsolutierung des Relativen. Wer diese Ansicht vertritt, geht letztlich noch von einer absoluten und absolutistischen Konzeption der Wahrheit aus, die eigentlich auf eine Letztbegründung hinausläuft. Nur innerhalb dieses Absolutismus der Wahrheit könnte man den Vorwurf des Relativismus erheben, der für die Hermeneutik deshalb irritierend ist, weil er über all das hinwegsieht, was ihr eigentliches Anliegen ist: die Idee einer Letztbegründung in Frage zu stellen. Wer nicht auf ein fundamenturn inconcussum verzichtet, verneint die Endlichkeit, verdrängt sie in all ihren Formen, und sieht in diesen nur eine Grenze, die im Hinblick auf eine absolute Wahrheit überwunden werden soll. Der negativen Auffassung der Grenze stellt jedoch die Hermeneutik eine positive entgegen, der zufolge die Grenze nicht nur das ist, was abschließt und zum Abschluß bringt, sondern auch das, was den Horizont einerneuen Wahrheit eröffnet. 100 Es ist deshalb ein schweres Mißverständnis, die grundlegende Erfahrung der Geschichtlichkeit für einen billigen Relativismus zu nehmen. Radikaler ausgedrückt: Die Frage des Relativismus kann nur innerhalb der Reflexion entstehen. Sie zu widerlegen, würde bereits heißen, in den leeren Schwindel ihrer Luftspiegelungen einzutreten. Der Weg, den die Hermeneutik einschlägt, ist vielmehr die Destruktion des metaphysischen Idols der absoluten Wahrheit. Der zweite Vorwurf, demzufolge die Hermeneutik, sofern sie die Geschichtlichkeit des Verstehens hervorhebt, sich selbst am Ende widerspräche, ist eine neue Version des klassischen Arguments gegen die Skeptiker. Der siegesgewisse Ton dessen, der diesen Vorwurf erhebt, ist ebenso ärgerlich wie der spöttische Ton desjenigen, der ihr den Relativismus entgegenhält. In beiden Fällen, die eng miteinander verbunden sind, maßt man sich an, mit zwei Sätzen eine ganze Philosophie zu erledigen. Vor allem in diesem letzteren Fall geschieht dies auf eine sehr wenig philosophische Weise, die an das denken läßt, was erst Heidegger und dann auch Gadamer einen "Überrumpelungsversuch" genannt haben. 101 1°0 V~l. in d il'Sl'lll 101 IIJ.IIlH;ld·M, Sl·in
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130
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Es ist indessen sehr zweifelhaft, daf! Philosophie mit Siegen solcher Art etwas zu tun hat. Obwohl auch dieses Argument formal unbestreitbar ist, schlägt es sowohl auf den zurück, der argumentiert, als auch auf den Wahrheitsanspruch der reflektierenden Argumentation, die tatsächlich jeder philosophischen Entwicklung entbehrt. Gadamer vergleicht eine solche "leere Reflexion" mit dem Sophismus, der plausiblen, aber sterilen Schlußfolgerung der Sophisten. Denn sie flüchtet sich in Formalismen, um den geschichtlichen Charakter des Verstehens nicht einsehen zu müssen; dabei bemerkt sie nicht, daß sie in demselben Augenblick, in dem sie die Geschichtlichkeit verneint, sie in der Tat grundsätzlich anerkennt und in ihrer Universalität bestätigt. Ihr letztes Ziel ist es, eine Wahrheit außerhalb der Zeit und außerhalb des Raums zu behalten, eine Wahrheit, die deshalb absolut ist, weil sie von jeder Bedingtheit, die sie bedingen könnte, von jeder Grenze, die sie begrenzen könnte, von jeder Schranke, die sie einschränken und als endlich aufzeigen könnte, losgelöst ist. Doch die Wahrheit, die sie in Anspruch nimmt, ist absolut nur, weil sie die eigene Grenze verabsolutiert, weil sie aus dem eigenen Standpunkt den bedingungslosen Beobachtungspunkt macht: es ist die Wahrheit der eigenen Reflexion, die sich in sich selbst reflektiert, sich in sich selbst widerspiegelt. Gewiß nicht nach dieser Wahrheit strebt die Hermeneutik, die vielmehr auf der menschlichen Endlichkeit beharrt. Kann diese sich wirklich ihrer eigenen endlichen Bedingtheit entziehen, indem sie dank der reflektierenden Argumentation erkennt, daß sie sich ohne Selbstwiderspruch nicht aufrechterhalten könnte? Offenkundig nicht. Denn wenn dies so wäre, dann würde die Endlichkeit zu einem neuen Absoluten avancieren, einem Absoluten, das jetzt jedoch keine absolute Wahrheit mehr garantieren kann. Aber gerät man wirklich in einen Selbstwiderspruch, wenn man die Endlichkeit in Erinnerung ruft? Das Sagen der Endlichkeit hebt die Endlichkeit keineswegs auf. Das Reflexionsargument ist hier nicht "am Platze", da es nicht um logische Relationen, sondern um "Lebensverhältnisse" geht. 102 Die Hermeneutik gerät deshalb überhaupt nicht in einen Widerspruch, da sie sich lediglich darauf beschränkt, die Endlichkeit in den endlichen Zeiten und Worten zu sagen, in denen sich die Wahrheitserfahrung für die Menschen ergibt. Eine Wahrheit, die dieser conditio humana nicht entspricht, ist keine Wahrheit mehr für uns. Das gilt auch für die Wahrheiten der Wissenschaften, insofern sich diese, um sich verständlich zu machen, in der Sprache einer bestimmten Epoche artikulieren müssen. Ihrerseits weiß die Hermeneutik sehr gut, daß sie der Endlichkeit nicht entfliehen kann, und sie weiß ebenso gut, daß sie nichts anderes als eine zeitliche Antwort auf die Frage nach der absoluten Wahrheit ist, die ihr Zeitalter stellt. Da sie von der Konstellation, in der sie von Anfang an eingeschrieben ist, nicht abstrahiert und aus der eigenen historisch-sprachlichen Zusammengehörigkeit, die sie einschränkt und be102
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW I, 452.
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131
dingt, nidll absieht, dt.•nlu !tit• kt•incNwc~s Jaran, diese Bedin~thcit in einer sich für universal ausgehenden AwoJsit~C zu formulieren. Statt dessen zieht sie es vor, sich in den Grenzen des 1)i;tlo~s zu entfalten, an dem sie teilhat. Nur der Dialog pafh zu einem hermeneutischen Bewußtsein, das seine Endlichkeit nicht vergif~t und sich offenhält für das Über der eigenen Grenze, das heißt für den Anderen.
12. Die Grenze erfahren. Die Offenheit des hermeneutischen Bewußtseins Um die Offenheit zu erläutern, die das hermeneutische Bewußtsein charakterisiert und die es der Geschlossenheit der Reflexionsphilosophie entgegenstellt, hält sich Gadamer in Wahrheit und Methode lange bei dem Begriff der "Erfahrung" auf. 103 Später wird er mehrfach die "Schlüsselstellung" dieser Seiten für das ganze Werk betonen. 104 Die Rekonstruktion der Begriffsgeschichte wird für ihn der Anlaß für eine Auseinandersetzung mit vielen Philosophen: von Aristoteles bis Bacon, von Hegel bis Husserl und Heidegger. 105 Doch es ist ein Vers aus dem Agamemnon von Aischylos, der gleichsam den hermeneutischen Begriff der Erfahrung vorbildlich zusammenfaßt: pathei mathos, "durch Leiden lernen". 106 Was heißt also Erfahrung für die Hermeneutik? Und warum stellt sich jede Erfahrung als eine hermeneutische Erfahrung heraus? Die Erfahrung muß zuerst vom wissenschaftlichen Experiment unterschieden werden. Erfahren heißt nicht Experimentieren. Das Experiment wird in einem Laboratorium nach induktiver Methode durchgeführt und es wird kontrolliert, verifiziert und bestätigt - bis zum Beweis des Gegenteils. Sein Erfolg liegt in der Bestätigung, die von der Möglichkeit der Wiederholung abhängt, in der jedoch jede Geschichtlichkeit abgeschafft ist. Die Durchsetzung des wissenschaftlichen Paradigmas hat die Erfahrung auf das Experiment herabgesetzt, und es ist eben diese Herabsetzung, die Gadamer kritisiert. Schon Husserl hat die Idealisierung des Experiments erfaßt, dann aber innerhalb der Le-
Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 352-368. Vgl. auch seine Entgegnung auf den Aufsatz von RoBERT SoKOLOWSKI in: LEwis E. HAHN (Hrsg.), The Philosophy of Hans-Georg Gadamer 1997,235. Zum Begriff der "Erfahrung" vgl.JoHN HoGAN, Gadamer and the Hcrmeneutical Experience, in: Philosophy Today 20 (1976), 3-12. 104 GADAMER, Vorwort zur 2. Auflage, GW 2, 445. tos Einen Vergleich zwischen dem empiristischen und dem hermeneutischen Begriff der Erfahrung bietet jetzt FRIEDERIKE REsE, Experience et induction chez Aristode, Bacon an Gadamer, in: Guv DENlAUfANDRE STANGUENNEC (Hrsg.), Experience et hermeneutique, Colloquc dc Nantcs, Juin 2005, Paris: Le Cercle Hermeneutique (Collection Pheno), 2006, 103
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Wahrheit und Mcthodl·, CW I, .162; v~l. Aischylos, Agamcmnon, v. 177.
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benswclt eine Genealo~ic der Edtthrung skizziert, die der wissenschaftlichen Erfahrung sehr nahe kommt. Diese wird spätestens seit Bacon und seiner Experimentalmethode in einer teleologischen Perspektive gesehen: das telos, das Ziel der Erfahrung, liegt demnach nur in deren Erkenntnisleistung. 107 Um dieser Perspektive zu entgehen, muß man in der Philosophie nach anderen deskriptiven Modellen suchen. Gadamer findet sie bei Aristoteles und Hegel. Wenn Aristoteles die Erfahrung, die empeiria, schildert, verwendet er jenes berühmte Bild eines fliehenden Heeres, das allmählich zum Stehen kommt und nun wieder der arche gehorcht - man darf hier die zweifache Bedeutung dieses griechischen Wortes als "Prinzip" und "Kommando" keineswegs außer acht lassen. 108 Unsere Wahrnehmungen sind ein Fluß wie das fliehende Heer, und obwohl sie zunächst flüchtig und isoliert sind, wiederholen sie sich, bleiben aufgrund dessen dann schließlich stehen und vereinigen sich um das neue Kommando herum, das hier die Wissenschaft repräsentiert. Dieses Bild illustriert den Übergang von den Wahrnehmungen zur allgemeinen Wahrheit des Begriffs. Die Erfahrung spielt dabei eine Mittelrolle zwischen Wahrnehmung und Begriff und sie ist letztendlich das, was den Übergang hervorbringt. Denn die Erfahrung behält die Wahrnehmungen aufgrund des ihnen Gemeinsamen - die empeiria ist stets mit der mneme, diese ihrerseits stets mit dem Iogos verbunden - und vereinigt sie zu einem Allgemeinen, das zwar das Allgemeine der Wissenschaft vorbereitet, von diesem aber insofern abweicht, als es ein zugleich offenes und von den erfahrenen Wahrnehmungen untrennbares Allgemeines ist. Dieses Allgemeine, das von dem abstrakten Universalbegriff der Wissenschaft unterschieden werden muß, zeigt die konstitutive Offenheit der Erfahrung, die als solche stets verändert und verwandelt werden kann. 109 Aber das Bild hinkt: Es geht von der unhaltbaren Voraussetzung aus, daß es vor der Flucht einen "Stand" des Heeres gegeben habe. Dies gilt jedoch nicht für den Vorgang der Erfahrung. Aristoteles beschreibt ihn deshalb so, weil er nicht so sehr den Vorgang, als vielmehr das Endergebnis, das heißt die Wissenschaft, im Auge hat. Der Mangel wird dabei zum Vorteil, da er eine vernachlässigte Eigentümlichkeit der Erfahrung hervortreten läßt: ihre Unvorhersehbarkeit. Die Erfahrung ist ein Ereignis, das niemand kontrollieren kann und das auf plötzliche und unerklärliche Weise geschieht. Hier setzt Gadamer seine neue Konzeption der Erfahrung an, die nicht als eine positive Entwicklung, nicht bejahend und bestätigend zu verstehen ist,
Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 355. 108 Vgl. ARISTOTELES, Analytica posteriora, 99b. 109 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 356-358. Zur Komplexität des Verhältnisses zwischen Erfahrung und Hermeneutik vgl. GuY DENIAU, De quelle experiencc l'hermeneutique fait-elle Ia theorie?, in GuY DENJAUl ANDRE STANGUEN N EC (Hrs~.). Expcriencc et hermencutique 2006, 191-202. 107
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sondern als ,.1w~.ll ivn Pn ll.l'f~". 110 Erfahrung ist für ihn Negation. Zunächst ist sie Nq~c.ttion u nscn·r Erw.trt un~l·n. Dies schließt keineswegs aus, daß es Erfahrungen gehen kann, Jil· sich in diese Erwartungen eingliedern, indem sie etwa
falsche Vcrallgcmcincrungcn korrigieren. Dies ist übrigens der Grundsatz des trial and error, den Karl Popper (1902-1994) formuliert hat. In dieser Hinsicht scheint er Gadamer durchaus sehr nah zu sein; aber der nicht zu übersehende Abstand beider liegt in dem voluntaristischen Charakter von Poppers Begriff der Erfahrung, der diese ihrer "leidenschaftlichen" und widerfahrenden Seite beraubt. 111 Ganz anders ist die negative Erfahrung, die für Gadamer die "eigentliche" ist. 112 Statt zu herrschen, wird man von ihr beherrscht und am Ende ist man nicht so sehr dementiert, als vielmehr desorientiert. So sagen wir etwa: "Ich habe auch diese Erfahrung machen müssen." Dies bedeutet: "Ich habe es nicht erwartet und habe lernen müssen." Und zwar habe ich gelernt, daß sich die Sachen nicht so verhielten, wie ich glaubte. In einem Augenblick hat sich alles verändert- und ich selbst habe mich verändert. Ich bin anders in einer anders gewordenen Welt- ich bin anderswo. Die Etymologie des Wortes "Erfahrung", das "Fahrt" anklingen läßt, deutet auf diesen Sinn hin. Erfahrungen machen ist wie Fahren. Schon Heidegger hält diesen Zusammenhang fest, wenn er schreibt: "Eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt." 113 Die Negativität, die mithin die Erfahrung konstituiert, unterscheidet sie radikal von der theoretischen Erkenntnis. Um dies deutlich zu machen, ist für Gadamer die Auseinandersetzung mit Hegel unerläßlich. In der Phänomenologie des Geistes wird die Erfahrung bekanntlich als eine "Umkehrung des Bewußtseyns selbst" beschrieben. 114 Dabei geht es auch hier gerade um jene Verwandlung, die von einer unerwarteten Erfahrung hervorgebracht wird. Doch Hegel betrachtet die Umkehrung als eine dialektische Bewegung, in der das Bewußtsein, nachdem es sich im Fremden erkannt hat, zur Gewißheit seiner selbst zurückkehrt. Die Erfahrung wird dabei im absoluten Selbstbewußtsein überschritten. Auch wenn er mit Hegel das Bewußtsein dialektisch denkt, kann Gadamer diesen Ausgang, der die Erfahrung abschließen würde, nicht mitvollzieVgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 358 f. 111 Vgl. hierzu die von Gadamer selbst eingefügte Bemerkung (GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 359 sowie GADAMER, Philosophie oder Wissenschaftstheorie?, in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 125-149, hier 142-143). 112 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 359. 113 HEIDEGGER, Unterwegs zur Sprache, 149. 114 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke, Band 9, hrsg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg: Felix Meiner 1980, 61. Zum Begriff der "Erfahrung" zwischen Hegel und Gadamer vgl. auch: Lms FIHIA lU><> CA M A, Erfahrung, Erinnerung und Text. Über das Gespräch zwischen Gadamer und llq~d und dil· ( ;n·nn'tl zwisdll'n l>i.tll·ktik und llcrnH.'Ill'Utik, Wiirzhurg: KönigshauSl'll & Nl"lllll.lllll lQQ(,, in,h. ofl ll~. 110
ll4 hen. Er bleibt kunseqUl'llt in Sl·incr Vl·rtcidi~un~ der schlechten Unendlichkeit und hält am Moment der Ne~ativität fest, das sich bei ihm in die ständige "Offenheit" der Erfahrung übersetzt. Gerade weil sie eine konstitutive Negation aufweist, ist die Erfahrung offen und kann sich nie, soll sie nicht zum Erliegen kommen, im Wissen der Wissenschaft abschließen. 115 Auf der einen Seite ist die Offenheit der Ort, an dem sich die Erfahrung vollzieht, auf der anderen ist es die Erfahrung, welche die Offenheit wiederherstellt: durch ihren negativen Charakter bringt sie notwendig neue Erfahrungen hervor. "Daher ist derjenige, den man erfahren nennt, nicht nur durch Erfahrungen zu einem solchen geworden, sondern auch für Erfahrungen offen." 116 Erfahrung ist gewiß nichts, dem man sich im Leben entziehen kann. Dennoch kann man verschiedene Haltungen einnehmen: Der eine scheut vor seinen Erfahrungen zurück, indem er sich selbst und den eigenen Horizont verschließt; der andere nimmt sie dagegen hin, setzt sich ihr aus und bejaht seine Situation in der Offenheit, zu der seine Endlichkeit ihn bestimmt hat. Wenn die Erfahrung aber negativ ist, was lehrt sie dann? Die Antwort liegt im Diktum von Aischylos: von der Erfahrung lernt man, die eigenen Grenzen, die Grenzen der eigenen Endlichkeit zu sehen. "Erfahrung ist also Erfahrung der menschlichen Endlichkeit." 117 Wer sich der eigenen Grenzen bewußt ist, weiß, daß er nicht Herr über seine Zeit und seine Zukunft ist. Er weiß, daß es nicht stimmt, daß jeder Moment der richtige sei und daß es ebensowenig stimmt, daß alles sich lösen und retten, alles sich rückgängig machen lasse. Und er weiß, daß nicht alles voraussehbar und planbar ist, weil jede Planung endlicher Wesen begrenzt und endlich ist. 118 Wer die eigenen Grenzen einsieht, hat Urteilskraft; doch bewußt wird man sich der eigenen Grenzen nur im Vollzug der eigentlichen Erfahrung. Je mehr man sich der Erfahrung öffnet, desto differenzierter wird das Bewußtsein der eigenen Endlichkeit und desto mehr bildet man seine Urteilskraft aus. Das hermeneutische Bewußtsein ist nichts anderes als das Bewußtsein der eigenen Grenzen. Der Mensch, der sich der Erfahrung verschließt, der Ungebildete, der seinen Standpunkt verabsolutiert, begnügt sich mit seinem begrenzten Horizont, sieht die eigene Grenze nicht und vermag sich deshalb auch nicht auf das Über der Grenze einzulassen. Er kann den Anderen nicht anerkennen und braucht ihn auch nicht. Das hermeneutische Bewußtsein nimmt hingegen die Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 361. Insofern kann man vom Tragischen der hermeneutischen Erfahrung sprechen, nur aber so lang sie wortlos bleibt. Vgl. GERALD L. BRuNs, On the Tragedy of Hermeneutical Experience, in: WALTER JosT/ MICHAEL J. HYDE (Hrsg.), Rhetorics and Hermeneutics in Our Time: A Reader, New Haven & London: Yale University Press 1997, 73-89. 116 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 361. 117 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 363. 118 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 363. 115
11. Dir Cirr111.r tr/tchrtn. Die Offenheit des hermeneutischen Bewußtseins
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eigene Grenze wahr und wird dazu gedrängt, sie zu überwinden, was nur im Anderen und mit dem Anderen möglich ist. Diese Gegenseitigkeit ist für die hermeneutische Erfahrung unerläßlich. Der enge Zusammenhang zwischen Offenheit und Endlichkeit liegt gerade in einer positiven Auffassung der Grenze, die immer als das Über des Anderen gelesen wird. 119 Die Erfahrung des Du, die Gadamer schildert, ist somit weder die tragische Erfahrung des Scheiterns der menschlichen Endlichkeit noch die moralische Erfahrung der Aufnahme des Anderen unter ein gemeinsames Gesetz. Vielmehr ist die Offenheit gegenüber der Andersheit des Du eine Notwendigkeit für das hermeneutische Bewußtsein, denn für dieses ist der Andere das Über der eigenen Grenze, der Ausweg aus der eigenen Endlichkeit. Mit dem Begriff der Anwendung und dann dem der Erfahrung gelangt das Verstehen zu seiner größten Ausweitung. Es ist daher kein Wunder, daß die Erfahrung auch mit der Überlieferung zu tun hat. In diesem Zusammenhang spricht Gadamer von "hermeneutischer Erfahrung". 120 Die Vergangenheit zu verstehen bedeutet, sie im Überlieferungsgeschehen zu erfahren, als eine Gegenwart, die der Zukunft etwas zu sagen hat. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein artikuliert sich dann im Vollzug der hermeneutischen Erfahrung und ihrer Offenheit, die in diesem Fall die Offenheit gegenüber der Tradition ist. So wie es gilt, dem Du das Wort zu lassen, so gilt es, der Stimme der Tradition Gehör zu schenken.
119
Diese enge Verbindung ist zum Beispiel von Bormann übersehen worden. Vgl. CLAUS VON BoR MANN, Die Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung, in: KARL ÜTTO APEL u.a. (Hrsg.), Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, 83-119. 120 GAOAMP.K,
Wilhrhcil und Methude, GW I, 363.
VI. Kapitel
Eine lebensnahe Ethik Trotzdem kann die Meinung wohl nicht die sein, daß man in derselben Weise, wie man singen, sprechen oder schreiben lernt und es am Ende kann, auch leben lernt und es am Ende kann. 1 Der aristotelische Begriff der Praxis bekommt nun noch einen spezifischen Akzent, sofern er auf den Status des freien Bürgers in der Polis angewandt wird. Dort ist menschliche Praxis im eminenten Sinne des Wortes. 2 ...wenn anders das Wesen einer Utopie sich so definieren läßt, daß sie die Form der Anzüglichkeit aus der Ferne sei. 3
1. Ist eine philosophische Ethik möglich? Verstehen bedeutet also Anwenden; denn es muß stets in die Praxis übersetzt werden und ist daher eine Form des Handeins auf sich selbst, in der Welt, mit den Anderen. So verwundert es nicht, daß die Hermeneutik, indem sie neben ihrem theoretischen auch ihren praktischen Wert zurückgewinnt, den sie seit der Antike hatte, eine Nähe zur praktischen Philosophie zeigt. Dies stellt Gadamer in seinem Aufsatz Hermeneutik als praktische Philosophie von 1972 deutlich heraus. 4 Dadurch tritt die ethische Dimension der Hermeneutik stärker ans Licht, die nicht im Verstehen als solchem, und noch weniger in einer vermeintlichen Aufgabe oder Pflicht des Verstehens, sondern in der Offenheit des hermeneutischen Bewußtseins liegt, das dazu bewegt wird, die eigene
HANS-GEORG GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles {1978}, in: Griechische Philosophie 111. Plato im Dialog, GW 7, 128-227, hier 196. 2 GADAMER, Hermeneutik als praktische Philosophie {1972), in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 78-109, hier 81. 3 GADAMER, Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen (1983), GW 7., 270-289, hier 277. • GADAMER, Hermeneutik als praktische Philosophie, 78-109. 1
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Grenze in das vo11 dt·m Andt·rc.·n vcrhciHene Über zu überwinden und sich zur ethischen Wach hl·it zu l'rhdwn. Gcnau betrachtet wird Protreptikos< von 1927, der wichtige Essay Praktisches Wissen, der, lange unveröffentlicht, auf das Jahr 1930 zurückgeht, das 1931 erschienene Buch Platons dialektische Ethik, das Kapitel zu Aristoteles, das den Vorträgen über Das Problem des historischen Bewußtseins beigefügt und dann im Exkurs von Wahrheit und Methode wiederaufgenommen wurde, bis hin zu den mehr als 20 Aufsätzen der späteren Jahre zu diesem Thema. 6 1998 erschien darüber hinaus seine Ausgabe des sechsten Buchs der Nikomachischen Ethik bei Klostermann.l Daß die Aktualität der von den griechischen Philosophen umrissenen Ethik und Politik in den letzten Jahrzehnten wiederentdeckt wurde, ist zum großen Teil der philosophischen Hermeneutik zu verdanken. Insbesondere Gadamers Lektüre von Aristoteles hat die Fragen der Ethik wieder ins Zentrum der philosophischen Debatte gerückt und damit vor allem in Deutschland zur sogenannten "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" geführt. 8 Allerdings ist nicht nur seine Wiederaufnahme von Aristoteles, sondern auch seine gesamte Einstellung gegenüber der Ethik häufig mißverstanden worden. Dies hat sowohl Vorwürfe evoziert wie den des ethischen Relativismus, der jedoch eher den
Zur Auseinandersetzung mit der Wertethik vgl. auch die Aufsätze: GADAMER, Das ontoiQgische Problem des Wertes (1971), GW 4, 189-202; Wertethik und praktische Philosophie (1982), GW 4, 203-215. 6 Vgl. GADAMER, Der aristotelische >Protreptikos< und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik (1927), GW 5, 164-186; Praktisches Wissen (1930), GW 5, 230-248; Wahrheit und Methode, GW 1, 317-329. 7 Vgl. ARISTOTELES, Nikomachische Ethik VI, hrsg. und übers. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main: Klostermann 1998. 8 Vgl. MANFRED RIEDEL (Hrsg.), Die Rehabilitierung der praktischen Philosophie, 2 Bände, Freiburg: Rombach 1972-1974; dieses Werk hat gleichsam den Anfang der praktischen Philosophie in Deutschland markiert. Für einen Überblick, in dem auch kritische Fragen gestellt werden, vgl. FRANeo VoLPI, Praktische Klugheit im Nihilismus der Technik. Hermeneutik, praktische Philosophie, Neoaristotelismus, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1/1992, 5-23; vgl. VoLPI, Hermeneutique et philosophie pratique, in: Guy DENIAuljEAN-CLAUDE GENS, L'heritage de Hans-Georg Gadamer, Paris: Le Cercle Hermcneutiquc (Collcction Pheno) 2004, 13-36. Vgl. auch MATTHEW FosTER, Gadamer and Practical Philosophy. Thc Hcrmcneutics of Moral Confidence, Atlant: Scholar Press 1991; EMMANlll'l. CATTIN, L'hcrmcncutiquc comme philosophic pratique. Aristotc dans Gadanu·r, in: Philosophil· 7.\ (2002), 7.'\-R(,. 5
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"Ncoaristotclismus" trifft, als aul·h eine gewisse Herabsetzung seines Vorhabens bewirkt, weil man annahm, daf~ das, was über Aristoteles und die praktische Philosophie zu sagen war, Jahre zuvor schon von Heidegger gesagt worden sei. Gadamer spielt Aristoteles gegen Kant aus in einem wichtigen Aufsatz von 1963 Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, der vielleicht den größten Widerhall gefunden hat.9 Es wäre jedoch ein triviales Mißverständnis zu glauben, daß hier ein aristotelischer Wertrelativismus gegen den kantischen Universalismus geltend gemacht wird. Die entscheidende Frage zielt vielmehr auf die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, das heißt auf eine "Begründung" der Ethik im Husserlschen Sinn- wie Gadamer viel später in einem Aufsatz von 1989 Aristoteles und die imperativische Ethik präzisiert, in dem er dieses Thema wieder aufnimmt. 10 In dieser Frage verbirgt sich eine "schwer auflösbare Verwicklung", welche die Ethik in dem Augenblick betrifft, in dem sie sich, um philosophisch zu sein, als Reflexion über das Allgemeine erhebt. 11 Eine solche philosophische Ethik, die unbedingt und absolut sein will, ist jedoch eine Ethik, die dem Leben fern steht und - wie Kierkegaard gezeigt hat - von der konkreten Situation getrennt ist, in der sich jeweils eine Wahl aufzwingt. Kant kommt ein zweifacher Verdienst zu: Zum einen hat er die Überheblichkeit der Aufklärungsethik entlarvt, indem er gezeigt hat, daß die "Stimme der Vernunft" sich in jedem hören läßt; und zum anderen hat er die universale Absolutheit des reinen, von allen Neigungen und Interessen freien Sittengesetzes gesichert, in welchem sich der gute Wille ausdrückt. Wo liegt dann die Schattenseite der imperativischen Ethik? Gewiß nicht in ihrer Allgemeinheit, sondern in ihrem Intellektualismus, der die Richtigkeit des moralischen Handeins von einer abstrakten Norm abhängig macht, als ob der Handelnde stets imstande wäre, die Norm objektiv und mit dem gebotenen Abstand zu erkennen. Auf diese Weise wird aber das moralische Handeln auf das Paradigma der Methode verkürzt. Und wenn in der heutigen Ethik der Begriff der "Norm" dominiert, der vom Vorbild des wissenschaftlichen Gesetzes geprägt ist, so geschieht dies sicherlich auch, weil Kant den kategorischen Imperativ als ein Naturgesetz formuliert hat. Krüger hat die Frage so verdeutlicht: Kants Ethik setzt voraus, daß das Sittengesetz bereits anerkannt worden ist. 12 Das Beispiel, das hierzu angeführt wird, ist das des Selbstmords. Nach dem kategorischen Imperativ, dem zufolge die eigene Maxime als ein allgemeines Gesetz gelten sollte, wird der Selbstmörder, solange er im Besitz seiner Vernunft ist, nicht umhinkönnen, die
GADAMER, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik (1963), GW 4, 175-188. Vgl. GADAMER, Aristoteles und die imperativische Ethik (1989), GW 7, 381-395. 11 GADAMER, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, GW 4, 176. 12 Gadamer hatte die Arbeit von GERHARD KRÜGER, Philosophie und Moral in der Kantischen Ethik, Tübingen: Mohr 1931, vor Augen. 9
10
139 Unhalth;trkl·it Sl'itwr l•:nt"d'"ic.lunK ."u sehen. Diese ßl·trachtungswcise ist jedoch vid zu intdll·ktualiNliNl~h: Wer von Selbstmordgedanken verfolgt wird, hat nicht ~cnu~ Vernunft, um über die Unrechtmäßigkeit seiner eigenen Tat nachdenken zu können. Das Nachdenken wird hier an einem Ideal objektiver Erkenntnis gemessen, an das Kant die Ethik bindet, indem er in der Grenze, der unser Urteil unterliegt, das Indiz sowohl einer Eintrübung der Reinheit als auch einer Form der Heteronomie sieht. Verliert man aber auf diese Weise nicht die Eigentümlichkeit des moralischen Handeins aus dem Blick, das nicht bloß ein Erkennen, und noch weniger ein objektives Erkennen ist? Gibt es wirklich absolute Normen, denen sich das moralische Handeln anpassen muß, oder hat man es hier nicht mit einer Gesetzlichkeit zu tun, die, ganz anders als das Gesetz der Wissenschaften, vielmehr die jüdische Torah oder die n6moi der Griechen in Erinnerung ruft? Gadamers Kritik an Kant warnt zunächst vor einer Ethik, die von der Situation entfernt ist, in der sich derjenige befindet, der handeln muß, und die sogar das konkrete Erfordernis verdeckt, das heißt von der "Ausnahmesituation" abstrahiert - die am Ende gar keine Ausnahme ist, bedenkt man, daß "die Ausnahme, verführt zu werden, eine allgemeine menschliche Situation ist." 13 Indem er den Akzent auf die Situation legt, von der niemand, am wenigsten der Philosoph, vorgeben kann, ihr entkommen zu sein, zeigt Gadamer die Unmöglichkeit einer philosophischen Ethik auf, die nicht um die eigene Fragwürdigkeit weiß, ja diese nicht als ihren wesentlichen Inhalt annimmt - denn nur so kann sie der Unbedingtheit des Sittlichen genügen: "Dann aber ist die philosophische Ethik in der gleichen Lage, in der sich ein jeder befindet.n 14 Der Philosoph, der sich mit Ethik beschäftigt, ist insof~rn kein Experte, der mehr als die anderen weiß und darum Hinweise geben oder sogar neue Gesetze aufstellen und neue Tafeln schreiben könnte - ganz im Gegenteil ist er vielmehr in höherem Maße der Gefahr ausgesetzt, der Situation zu entfliehen. 15 Der Experte in Ethik, Bioethik, Wirtschaftsethik, bildet, wie jeder anderer "Experte" auch, schon deshalb ein Problem, weil er letztendlich den anderen die Entscheidung abnimmt und sie ihrer Verantwortung enthebt.
GADAMER, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, GW 4, 180 f. GADAMER, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, GW 4, 184. Vgl. RoNALD BEINER, Do We Need a Philosophical Ethics? Theory, Prudence, and the Primacy of Ethos, in: RoBERT BARLETT/SusAN CoLLINS (Hrsg.), Action and Contemplation, Albany: SUNY 1999, 37-52. IS Eine ähnliche Stellung nimmt Gadamer auch in Bezug auf die Figur des Philosophen. V~l. in dil·scm Hand Kap. IX, 1. 13
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2. Phron(.•sis. Vernünftig handeln Wir geben uns im allgemeinen mit der Definition des Guten nicht zufrieden. Denn wir möchten wissen, was das Gute ist, um es in die Praxis umsetzen zu können. Die philosophische Ethik läßt sich also von der praktischen Ethik nicht trennen: es ist ausgerechnet die Ethik, die den unerläßlichen Übergang von der Theorie zur Praxis deutlich macht. Hierin liegt die Aktualität des Aristoteles: Seine ganze Ethik ist von jener "anderen Art von Wissen" bestimmt, die im Leben auf dem Spiel steht. 16 In seiner Kritik am "theoretischen Subjekt" der Metaphysik, das gegenüber dem Dasein, das in der Sorge um die Welt sich selbst versteht, auf künstliche Weise amputiert sei, hat Heidegger eine entscheidende Etappe in der Wiederentdeckung des praktischen Wissens eingeläutet. Spuren davon finden sich in den Vorlesungen über Aristoteles von 1921-1922, im Natorpbericht und im Seminar über das Buch VI der Nikomachischen Ethik, das zuerst 1923 in Freiburg gehalten und später in der Marburger Vorlesung von 1924-1925 wiederaufgenommen wurde. 17 Es ist also durchaus wahr, daß die phänomenologischen Forschungen des frühen Heideggers die Rehabilitierung der praktischen Philosophie in die Wege geleitet haben; es ist aber ebenso wahr, daß die heute viel diskutierte ethische Dimension seines Denkens, insofern sie die Sorge um das Selbst ins Zentrum stellt, die Sorge um den Anderen im Dunkeln läßt. 18 Es ist kein Zufall, daß nach 1945 sowohl seine direkten Schüler von Krüger, der auf die kantische Moral zurückgreift, über Hannah Arendt, die bekanntlich die vita activa auf ihren Höhepunkt zurückführt, bis hin zu Leo Strauss, der das griechische Naturrecht zur Geltung bringt als auch diejenigen, die sich eher indirekt auf Heidegger berufen, vor allem Emmanuel Levinas, der die Ethik zur Ersten Philosophie erhebt, von der Priorität des Anderen ausgehen und weniger nach dem Handeln des einzelnen fragen, als nach dem gemeinsamen und kommunikativen Handeln.19 Zu diesen letzteren zählt auch Gadamer.
GADAMER, Aristoteles und die imperativische Ethik, GW 7, 388. Vgl. ARISTOTELES, Ethica Nicomachea, 1141b 33, 1142a 30; Ethica Eudemeia, 1242b 36. 17 Der Natorpbericht ist veröffentlicht in: MARTIN HEIDEGGER, Phänomenologische Interpretationen, 341-415. Das Seminar zu Buch VI der Nikomachischen Ethik wurde als· Einleitung zur Vorlesung über den Sophistes veröffentlicht (MARTIN HEIDEGGER, Platon: Sophistes, GA 19, hrsg. von Iogeborg Schüßler, Frankfurt am Main: Klostermann 1992, 21-188). 18 Auch Gadamer hat sich über die Frage der Ethik bei Heidegger geäußert. Vgl. zum Beispiel seine Rezension zum Buch von Werner Marx: Gibt es auf Erden ein Maß?, GW 3, 333-349. Hier lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Begründung der Ethik und auf die Verbindung von Ethik und Metaphysik. 19 Die Ethik der intersubjektiven Kommunikation wurde von Apel und Habcrmas entwickelt. 16
141 s~inl·lh·hahilitinuu~ dt•a- pr.-kti~u:hcn Philosophi~,
•1uch wenn sie zweifellos von ll~idq~gc:rs Ansatz h,·,·influf't ist, folgt jedoch einem anderen Weg, wie es schon in dem Essay l'r,d•ti~L'ht•s Wissen von 1930 zutage kommt, der später in dem Kapitel über .,Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles" von Wahrheit und Methode wiederaufgenommen wird. 20 Dieses Kapitel, das die Wiedergeburt der praktischen Philosophie im 20. Jahrhundert markiert, umreißt auf wenigen Seiten zumindest vier Schlüsselideen: die Autonomie und die Eigentümlichkeit des praktischen Handelns, den Wert der phr6nesis, das heißt- so wie Gadamer es übersetzt- der "Vernünftigkeit", die das menschliche Verhalten leitet, die Notwendigkeit, das ethos, nämlich den Zusammenhang der ethischpolitischen Beziehungen in Betracht zu ziehen, innerhalb dessen sich das Handeln orientiert, und schließlich den Hinweis auf einen zwangsläufig dialektischen Weg der Ethik, auf dem die theoretische Suche nach dem Guten, die sich im Dialog mit dem Anderen artikuliert, an sich schon die Realisierung des praktischen Guten ist. Worin entfernt sich Gadamer dann eigentlich von Heidegger? Unterschiedlich, und gewissermaßen sogar entgegengesetzt, sind zunächst ihre Perspektiven. Heidegger läßt Platon hinter sich, um sich Aristoteles zuzuwenden, wobei er nicht so sehr die phr6nesis als vielmehr die sophia im Auge hat, welche die Grundlage bildet, auf der er seine theoretische Philosophie entwickeln möchte.21 Umgekehrt liest Gadamer die aristotelische Ethik im Licht von Platons Dialektik, und Aristoteles interessiert ihn nur, sofern er sokratischer als Sokrates selbst sein kann- wie aus seiner gesamten Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie deutlich hervorgehen wird. 22 Aus dieser platonischen Perspektive, welche übrige~s die Einheit von Theorie und Praxis betont, kann es
GADAMER, Praktisches Wissen, GW 5, 230-248; Wahrheit und Methode, GW 1, 3"17-329. 21 Im Nachwort zu seiner Edition der Nikomachischen Ethik VI von 1998 betont Gadamer: "Offenkundig ist es nicht dess~n Interesse an der Ethik, das Heidegger [...] verfolgt". (ARISTOTELES, Nikomachische Ethik VI, hrsg. und übers. von Hans-Georg Gadamer, 67). Heidegger geht es vielmehr um den Unterschied von theoretischer und praktischer Philosophie. Zu diesem Unterschied vgl. GüNTER FrGAL, Vollzugssinn und Faktizität, in: FIGAL, Der Sinn des Verstehens, 32-44. Im Anschluß an Figal hat Stolzenberg die Relevanz des .. praktischen" Ansatzes bei Gadamer hervorgehoben: jüRGEN STOLZEN BERG, Hermeneutik der praktischen Vernunft. Hans-Georg Gadamer interpretiert Martin Heideggers Aristoteles Interpretation, in: GüNTER FIGAL/HANS-HELMUTH GANDER (Hrsg.), ,,Dimensionen des Hermeneutischen". Heidegger und Gadamer, Frankfurt am Main: Klostermann 2005, 133-152, insb. 134-135. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Gadamer vgl. ENRICO B1-:RT1, Thc Reccption of Aristotle's lntellectual Virtues in Gadamer and the Hermeneutic Philosophy, in: RICCARDO Pozzo {Hrsg.), The Impact of Aristotelianism on Modern Philusnphy, (Studics in philosophy and thc history of philosophy, Vol. 39), Washington D.C.: c.uholic Univl·rsity of Amcrica Press 2004,285-300. n V~l. in dil•scm Band Kitp. VII, 7. 20
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VI. 1\tf/litrl: /:'inP lrbrnmf4ht• 1-:thik
nicht überraschen, daf~ die praktische Weisheit weniger in ihrer individuellen als in ihrer gemeinschaftlichen Dimension gesehen wird. 23 Gadamers Aufmerksamkeit richtet sich nicht so sehr auf die Beziehung zwischen sophia und phr6nesis als vor allem auf die zwischen phr6nesis und techne. In dieser Beziehung, die seine gesamte Reflexion über die griechische Philosophie durchzieht, läßt sich die Unterscheidung zwischen "Wahrheit" und "Methode" bereits in nuce erblicken. 24 Obwohl im Kapitel über Aristoteles philosophische Probleme von beträchtlichem Gewicht berührt werden, wie etwa das Problem der "Anwendung", und demzufolge auch das eines neuen Begriffs des "Allgemeinen", das dem konkreten Besonderen nicht auferlegt werden kann, liegt die "hermeneutische Aktualität" der aristotelischen Ethik für ihn doch in dem neuen Paradigma der phr6nesis. Der Kern von Gadamers Argumentation ist gerade die Abgrenzung des praktischen Wissens der phr6nesis. Diese Abgrenzung bietet keinerlei Schwierigkeiten gegenüber dem theoretischen Wissen der episteme, das heißt der Wissenschaft, die, wie die Mathematik zeigt, das Wissen des Unveränderlichen und des objektiv Beweisbaren ist. Dies gilt um so mehr für die sophia, die das unveränderliche Sein der Dinge von ihren Prinzipien ausgehend denkt. Oft sind also diejenigen, die viel wissen, gar nicht weise; sie kennen zwar "wunderbare Dinge", übersehen aber die menschlichen Güter. 25 Weitaus komplexer ist die Frage nach der Beziehung zwischen phr6nesis und techne: Ein praktisches Wissen ist nämlich sowohl die Weisheit, die das Handeln leitet (praxis), als auch die Fähigkeit, die das Herstellen des Handwerkers führt (poiesis). Worin besteht dann der Unterschied zwischen beiden? Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen dem Wissen, das mein Verhalten leitet, und dem Wissen, das die Art regiert, in welcher ich eine Tonvase gestalte? Um eine Vase zu gestalten, muß ich zunächst eine techne gelernt haben- sonst weiß ich nicht, wie ich vorgehen soll. Eine techne kann man lernen, aber auch verlernen. 26 Anders verhält es sich beim ethischen Wissen. Ich kann zwar wählen, ob ich eine Kunst lernen oder einen Beruf ergreifen will, und ich kann wählen, die Arbeit aufzugeben, oder zu unterbrechen, um mich auszuruhen. Aber ich kann mich jener konstitutiv menschlichen Situation nicht entziehen, die mich zwingt zu handeln, das heißt Entscheidungen zu treffen. "Der Mensch steht schon im-
Vgl. zu diesem Thema CHRISTOPHER P. SMITH, Phr6nesis. The Individual and the Community. Divergent Appropriation of Aristotle's Ethical Discernment in Heidegger's and Gadamer's Hermeneutics, in: MIRKO WISCHKEIMICHAEL HoFER (Hrsg.), Gadamer verstehen- Understanding Gadamer 2003, 169-185. 24 GADAMER, Natur und Welt. Die hermeneutische Dimension in Naturerkenntnis und Naturwissenschaft (1986), GW 7, 418-442, hier 430. 25 ARISTOTELES, Ethica Nicomachea, 1141b 5-7. 26 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 322. Vgl. josEPH DuNNio:, Aristode after Gadamer: An Analysis of the Distinction between the Concepts of Phronesis and Thechne, in: Irish Philosophical Journal2 (1985), 105-123. 23
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mcr im Umkn·is dt·Nst·u, wofür t"H auf phrrinesis &tnkommt.''.u Hierbei geht es nicht darum, zu lcrnt.
2K 29
30
GADAMER, Praktisches Wissen, GW 5, 242. GA l>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 326. Vgl. ARISTOTELES, Ethica Nicomachea, 1094a 23. V~l. GA I>A M ER, Wahrheit und Methode, GW 1, 327.
11 ARISTOTEI.I~S,
Ethic
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sarnmcn. Wenn ich cinl' V;tSl' gcst;\ltc, so cndl•t nu.·in llcrstcllcn in diesem Produkt. Mein ethisches flandein hat hin~c~cn sein Ziel in sich selbst. Mehr als ein Tun ist es ein Sein, ja es ist die Art, in der Wclt zu sein. Man ist so, wie man sich verhält. Dies rückt den Unterschied zwischen ethischem und praktischem Wissen stärker ins Licht. In diesem letzteren ist das hergestellte Objekt von mir getrennt. Dagegen kann ich im ethischen Handeln nicht über mich verfügen, als ob ich ein Objekt wäre. Es fehlt hier nämlich der Abstand, der es ermöglicht, auf sich selbst zu schauen, so wie man auf ein Objekt schaut. Denn man ist immer schon in die Situation einbezogen, in der man handeln muß. Das praktische ethische Wissen ist ein "Sich-Wissen", das weder in der Form der Objektivierung noch in der des Abstands zu sich, sondern vielmehr in der Form der "Wachsamkeit" gegeben ist. 32 Wenn in dieser hermeneutischen Ethik, die lebensnah und daher entschieden antinormativ ist, jede apriorische Norm in Frage gestellt wird, so bedeutet dies keineswegs, daß im Gegenzug die Situation oder sogar das ethos normativ wird, das heißt die Gesamtheit der "von uns allen geteilten Überzeugungen, Wertungen, Gewöhnungen." 33 Man würde sonst die Rolle der phr6nesis jedes einzelnen unterschätzen. Das dialogische Verhältnis zwischen Sprache und Sprecher kann dieses ethische Modell klarstellen. 34 Von den ethischen Ordnungen der p6lis ausgehend handelt jeder durch seine phr6nesis geleitet, und zwar durch die Tugend, das ethos im Licht der individuellen Situation zu artikulieren, und er kann in der Anerkennung des "Tunlichen", des zugleich Angemessenen und Richtigen, direkt ins Zentrum zielen, die Mitte treffen und das Gute, das prakton agath6n realisieren. Daher ist "das Gute zunächst nichts als der gemeinsame Logos." 35 Unser Handeln, die prohairesis, das heißt die "Wahl des Besseren", das Sichprojizieren in die Zukunft der Möglichkeit, die unser Sein de-finiert, erfolgt daher stets "im Horizont der Polis." 36 Anders gesagt: Das ethische Handeln ist immer auch ein politisches Handeln. So läßt sich Gadamers Aufmerksamkeit für jene "Modifikationen" erklären, die sich in Aristoteles' Bestimmung der phr6nesis in der Nikomachischen Ethik zeigen. 37 Noch ersichtlicher wird der Bezug der GADAMER, Praktisches Wissen, GW 5, 238. GADAMER, Problerne der praktischen Vernunft (1980), GW 2, 319-329, hier 325. Vgl. ERNST TuGENDHAT, Probleme der Ethik, Stuttgart: Redam 1984, hier 39. Zweifel an der Berufung auf das menschliche Ethos wurden kürzlich von Ineichen geäußert: vgl. HANS INEICHEN, Gadarner über praktische Philosophie. Einige kritische Bemerkungen, in: ANDRZEJ PRZYLEBSKI (Hrsg.), Das Erbe Gadamers, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2006, 247-254, hier 252. 34 Vgl. GADAMER, Über die Planung der Zukunft (1965), GW 2, 155-173, hier 170. 35 GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, GW 7, 208. 36 GADAMER, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, GW 4, 185 und 188. 37 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 328; Einführung, in: Aristotcles, Nikomachische Ethik VI, hrsg. und übers. von Hans-Gcorg Gadamcr, 9 f. 32 33
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nidu uur .aut Nidt Ndhst, sondern auch auf den Anderen, der in diesem Bc~riff mil l'in~t·M.·hloNscn ist, wenn Aristoteles von synesis spricht. Die Entschcidun~, zu dt·r dil' phrt)nc·sis führt, ist ein Sich-Beraten, das immer ein Mit-den-Anderen-berillen ist. So wie mein Beraten niemals abstrakt und isoliert ist, so ist die phronesis keine individuelle Weisheit; denn sie ist von der synesis, von dem "Verständnis", untrennbar, das mir ermöglicht, das Handeln des Anderen nachzuvollziehen. Wenn ich Einsicht und Nachsicht habe, wenn ich richtig unterscheiden, auf die Situation des Anderen eingehen und daher richtig urteilen kann, (die aristotelischen Begriffe hierfür sind gn6me, syngn6me und epeikeia), so ist dies aufgrund der "Zugehörigkeit" möglich, die mich in der Gemeinschaft immer schon mit dem Anderen verbindet und mir einerseits verbietet, eine äußerliche und desinteressierte Stellung einzunehmen, mir andererseits jedoch erlaubt, Ratschläge zu geben und anzunehmen - all dies im Zeichen der Freundschaft.
3. Die Einheit von Theorie und Praxis Auch wenn der Diskurs über eine lebensnahe Ethik den Übergang zwischen Theorie und Praxis offensichtlich macht, heißt dies nicht, daß Gadamer sich dem Chor derjenigen anschließt, die in der Theorie etwas Negatives sehen. Es ist eher das Gegenteil der Fall. Lob der Theorie ist der Titel seines 1983 veröffentlichten Buches, in dem er eine neue Auffassung von Theorie und Praxis vorschlägt, deren Beziehung sich in einer substantiellen Kontinuität realisiert. Es liegt hier im übrigen auf der Hand, daß die philosophische Hermeneutik, obwohl sie sich als praktische Philosophie versteht, keineswegs darauf verzichtet, eine theoretische Philosophie zu sein. Die heute weit verbreitete Entgegensetzung zwischen Praxis und Theorie wird durch eine geläufige Wendung bestätigt: "Das ist alles rein theoretisch; aber was geschieht dann in der Praxis?". Doch die Neubewertung der Praxis bringt auch eine Neubewertung der Theorie mit sich. Was ist aber stattdessen in den letzten Jahrhunderten geschehen? Auf der einen Seite hat die Theorie an Würde verloren und sich auf einen rein instrumentellen Begriff reduziert, dessen man sich zur Erlangung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse bedient; und auf der anderen Seite ist die Praxis zur bloßen Anwendung der Wissenschaft herabgesunken. Um den Wert der Praxis und den Wert der Theorie wieder:~.uentdecken, muß man den Zusammenhang der griechischen Philosophie in Betracht ziehen, in dem die theoria eine Form der praxis ist. Aktiv im höchsten Grade sind diejenigen, die eine Denktätigkeit ausüben. 38 Wichtig hierbei ist, dan theorC'in nicht so sehr "schauen" bedeutet, als vielmehr "teilnehmen", im IM AIUSTOTFII'S,
Politir.t, U.l'h 21.
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Sinn der Teilnahme etwa an dc.•r llcili~keit des Festes oder der Kunst. 3'J Über sich hinaus gehen und in anderem verweilen, bedeutet da-sein, am Leben sein. 40 Deshalb ist die Theorie eine Form des Lebens, ja sie ist die höchste Form, so wie der Blick hoch und erhoben ist, der sie lenkt. Die Theorie ist eine Art, mit den Anderen und durch die Anderen, zu handeln, zu leben und da zu sein, eine aktive Teilnahme an dem, was plötzlich eintritt und sich als "gemeinsames Gute' allen anbietet. 41 Im Gegensatz zu den Gütern, die nur privat bleiben und sich vermindern, wenn sie mit Anderen geteilt werden, kann das Gute, das in der Theorie auf dem Spiel steht, niemals ein privates, sondern immer nur ein gemeinsames Gut sein, und weit davon entfernt sich zu vermindern, steigert es sich und wächst es an, wenn man es mit Anderen teilt. 42 Wenn die Theorie ein Handeln, das heißt letztendlich eine Praxis ist, dann ist die Praxis ihrerseits immer schon Theorie. Denn sie ist ein Absehen von sich selbst, um sich den Anderen zuzuwenden und, zusammen mit ihnen, das, was richtig ist, das heißt das gemeinsame Gute anzustreben. 43 "Praxis ist Sich-Verhalten und Handeln in Solidarität." 44 Der Verweis über sich hinaus und die Teilnahme am Gemeinsamen zeichnen die Kontinuität von Theorie und Praxis aus. Gadamer meint hier das Spezifische der menschlichen Praxis. Von Praxis kann man nämlich in Bezug auf jedes Lebewesens sprechen. Aber im Fall der Tiere bleibt das Verhalten an die Natur und an ihren Selbsterhaltungsinstinkt gebunden. Das menschliche Wesen löst sich dagegen aus dem Kreislauf der Natur; sein Handeln überschreitet die unmittelbaren Erfordernisse des Lebens. Das Überleben ist ein Leben über sich hinaus, das in der Bestattung der Toten bezeugt wird- einem entscheidenden Schritt in der Menschwerdung. 45 Wie schon Hegel betont hatte, manifestiert sich das Über-Leben ebenso in dem enormen Verzicht der Arbeit, deren Produkt weniger dem Individuum als der Gemeinschaft zugehört, wie in der Sprache, die durch die Entfernung des Gegenwärtigen und die Vergegenwärtigung des Entfernten die prohairesis, das heißt die Wahl des Besseren und die Beratung im Hinblick auf künftige gemeinsame Ziele ermöglicht. Hier läßt sich der politische Charakter der menschlichen Praxis erfassen, deren ethossich in dem l6gos artikuliert, der das Fundament der p6lis ist.
Vgl. in diesem Band Kap. III, 9. 40 Vgl. in diesem Band Kap. IX, 5. 41 Vgl. GADAMER, Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft (1974), in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 54-77, hier 64. 42 Vgl. HANS-GEORG GADAMER, Lob der Theorie (1980), in: GADAMER, Lob der Theorie. Reden und Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983,26-50, hier 45. 43 Vgl. GADAMER, Lob der Theorie, 47 f. 44 GADAMER, Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft, 77. 45 Vgl. in diesem Band Kap. IX, 3. 39
4. I >ic tc.·d1 n iNchc Rationalisicru ng des l.cbcns.
Ühcr die Heilkunst Der Freiheitsraum droht dort fast zu verschwinden, wo die Praxis auf eine anonyme Anwendung herabgesetzt ist, wo sie zur Technik wird. Nicht nur setzt sich dann ein Primat des Herstellens über das Handeln durch, sondern das Herstellen orientiert sich nicht mehr an einem naturhaft gegebenen Maß, und zielt vielmehr darauf ab, die Natur selbst durch eine "künstliche Gegenwirklichkeit" zu ersetzen. 46 Die technische Zivilisation führt in ihrer Totalisierung nicht nur zur künstlichen Verwandlung der Natur und zur Eroberung des Weltraums, sondern bringt auch eine wachsende rationale Kontrolle von immer größeren Bereichen des menschlichen Lebens mit sich. Diese Veränderung des Lebens hat bislang noch unbekannte und schwer einzuschätzende Auswirkungen. Sicher ist nur, daß sie "Anpassungsqualitäten" prämiert und die "kreative Potenz'' sowie die Urteilskraft benachteiligt.47 In dem geschlossenen Laboratorium der Erde schrumpft der Platz für das, was gemeinsam ist und Gemeinsamkeit erwirkt; die zermürbende Suche nach Profit belohnt offensichtlich nur die privaten Güter. Daß in der "großen Weltfabrik" die ökonomische über die soziale Vernunft dominiert, ist durchaus nicht überraschend.48 Gleichwohl hat eine einfache Kritik der Technik, wie jede Kulturkritik nur "wenig innere Glaubwürdigkeit", da sie die Vorzüge dessen genießt, was sie kritisiert.49 Der affekthafte Widerstand gegen das Neue und der Aberglaube, der häufig die Form einer Flucht vor der Freiheit annimmt, sind extreme Reaktionen, die nur zeigen, wie wenig die Menschheit auf den Fortschritt der Technik vorbereitet ist. 50 Die Konsequenzen dieses Fortschritts dürfen allerdings nicht der Wissenschaft angelastet werden. Auch wenn die Wissenschaft versuchen kann, sich selbst zu entmythologisieren, so kommt das Handeln doch der Politik zu. Das bedeutet für Gadamer, "neue verbindende und gemeinsame Solidaritäten wieder bewußt" zu machen, die Notwendigkeit der Kohäsion gerade dort hervortreten zu lassen, wo die Teilung waltet, und darauf hinzuweisen, daß gerade die "unaufhebbaren Unterschiede" am Ende vereinigen. 51 Es ist die Politik, die der Wissenschaft ihre Grenze aufzeigen muß, "denn was immer die Wissenschaft
HANS-GEORG GADAMER, Theorie, Technik, Praxis (1972), in: GADAMER, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, 11-49, hier 18. 47 GADAMER, Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft, 60. 48 GADAMER, Über die Planung der Zukunft, GW 2, 156. 49 GADAMER, Über die Planung der Zukunft, GW 2, 159. ~0 Vgl. GA DAM ER, Theorie, Technik, Praxis, 41. " 1 (~AI> AM ER, Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft, 76; Über die 1'1anung dL·r Zukunft, <;W 2, 171. 46
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vermag, es wird ein Maf~ nicht ühcrschrciten können, das vielleicht keiner kennt und das dennoch allen gesetzt ist.'' ...z Es ist aber zugleich auch wahr, daf~ sich der Gegensatz zwischen politischem Handeln und technischem Herstellen extrem zugespitzt und daß der Spielraum der Politik sich zunehmend verengt hat. Die technische Rationalisierung des Lebens, die sich in eine Potenzierung der Kontrollmittel übersetzt, führt zur Desorientierung und macht die Wahl der Zwecke überflüssig. Mehr noch: Das Verhältnis zwischen Mittel und Zweck ist gänzlich verkehrt worden. Dies zeigt sich etwa in der Sprache der Informatik, die alle Zwecke ausschließt, die sich mit ihren Mitteln nicht kodifizieren lassen. Demnach ließe sich auch nur das denken, was kodifizierbar und kommunizierbar ist. Doch dies ist nur ein Beispiel unter vielen; in Wirklichkeit betrifft diese Umkehrung alle Formen unseres Lebens, in denen wir über die außerordentlichen Kräfte verfügen, die uns die Technik bietet und im Vergleich zu früher wesentlich mehr machen können. Aber dieses "mehr" läßt dasjenige völlig im Dunkeln, was wir nicht mehr machen können, und es bedeutet vielleicht nicht einmal das, was wir machen wollen. Der Pakt, den wir mit der Technik schließen, verpflichtet uns zu einem Verzicht an Handlungsfreiheit. Unbewußt legen wir deshalb unsere Wahl häufig in die Hände dessen, der die Mittel besser kennt als wir: in die Hände des Experten. In dem Aufsatz Die Grenzen des Experten von 1989 betont Gadamer die Unersetzbarkeit dieser Gestalt, die zwischen dem wissenschaftlichen Wissen und seinen Nachwirkungen auf die soziale Ebene vermittelt. 53 Dennoch dürfen die Risiken einer "Expertengesellschaft", die sich auf Spezialisierung stützt, nicht verschwiegen werden. Der Experte ist derjenige, der über ein bestimmtes Wissen verfügt und als solcher muß er angehört werden; es ist jedoch keineswegs sicher, daß er auch mehr Erfahrung und Weisheit hat als die anderen. Es wäre daher ein Irrtum, ihm die endgültige Entscheidung und das letzte Wort zu überlassen. Dies hätte unter anderem den verheerenden Effekt, daß die Vielen ihre Verantwortung abgeben und sich damit der Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten berauben. Die Folge davon ist eine Erosion der sozialen Vernunft, die uns bei der Wahl von gemeinsamen Zwecken leiten sollte und nun einer diffusen Irrationalität Platz macht. Werden die Handlungsmöglichkeiten verengt, so reduziert sich auch jene labile Gleichgewichtszone, die es dem menschlichen Leben ermöglicht, von seiner schicksalhaften "Exzentrizität" her immer wieder den Mittelpunkt zu finden. 54 Gerade die Medizin, die mit diesem Gleichgewicht zu tun hat, belegt, wie wichtig die praktische Erfahrung und das Urteil sind. Zeugnis für 52
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54
GADAMER, Über die Planung der Zukunft, GW 2, 173. GADAMER, Die Grenzen des Experten, in: Das Erbe Europas, 136-157. GADAMER, Theorie, Technik, Praxis, in: Über die Verborgenheit der Gesundheit, 26.
Gadamers lntc.·rc.•ssc.· an der .. llrilkunst•• ist sein 1993 erschienenes Buch Über dic Vcrhorgc•nhcit dc•r ( ,·,·sundht.'it, das nicht nur für Ärzte oder für Kranke, sondern für alle gcsduieht.•n worden ist- weil alle lernen müssen, sich um sich selbst zu sorgen. Von der Verborgenheit der Gesundheit her untersucht es die eigenartige Zweideutigkeit der Medizin, dietrotzder enormen technisch-wissenschaftlichen Fortschritte immer noch das praktische Wissen und die Entscheidung des Arztes verlangt. Der eigentümliche Charakter der Medizin liegt in dem Umstand, daß sie ihr Ergebnis nicht in einem Produkt hat- obwohl freilich die Tendenz zur Hospitalisierung und zur Betrachtung des Kranken als eines Objektes, als eines kranken Körpers, zunehmend stärker wird. Die Aufgabe des Arztes ist es zu heilen, das heißt das natürliche Gleichgewicht wiederherzustellen. 55 Die Medizin ist demzufolge diejenige Kunst des Gleichgewichts, die mit der Natur zusammenarbeitet und die deshalb eine deutlich hermeneutische Neigung zeigt: nicht nur weil der Arzt selbst Patient ist, sondern auch, weil die Behandlung, wie jede gelungene Interpretation, nur dann erfolgreich ist, wenn sie sich selbst aufhebt, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. 56 Das Verschwinden des Arztes, der sich zurückzieht, um den Patienten wieder frei zu lassen, gilt um so mehr für die Psychiatrie. In dem Vortrag Hermeneutik und Psychiatrie von 1989 insistiert Gadamer vor allem auf der Beziehung der Teilnahme: Wenn derjenige, der heilt, selber Patient ist, soll derjenige, der Patient ist, nicht zur Passivität des Arzneimittels verdammt sein, sondern zur aktiven Selbstsorge aufgerufen werden. 57 Nichts darf einfach und restlos einem Experten anvertraut werden, am wenigsten das Gleichgewicht des eigenen Lebens. Denn das Handeln, das die Teilnahme an der Gemeinschaft erlaubt, ist das unverfügbare Recht aller.
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Zu diesem Thema vgl. FRED DALLMAYR, The Enigma ofHealth: Gadamer at Century's End, in: LAWRENCE K. ScHMIDT (Hrsg.), Language and Linguisticality in Gadamer's Hermeneutics, Lanham u.a.: Lexington Books 2000, 155-169. Vgl. auch VITTORIO LINGIARDI, Hemeneutics and the Philosophy of Medicine: Hans-Georg Gadamer's Platonic Metaphor, in: Thcoretical Medicine and Bioethics 20 (1999), 413-422; FREDRIK SvENAEUS, Hermeneutics of Medicine in thc Wake of Gadamer: the Issue of Phronesis, in: Theoretical Medicine and Biocthics 24 (2003), 407-431. ~6 Vgl. GAOAMER, Apologie der Heilkunst (1965), in: Über die Verborgenheit der Geaundhcit, 50-64. Zu einer solchen Auffassung der Interpretation vgl. in diesem Band Kap. VIII,§ II. "' 1 GA I>A M J~R. llcrmcncutik und Psychiatrie (1989), in: Über die Verborgenheit der Geaundlu•it, lOl-·ll.l.
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VI. K14plt1l: I·.' I"' ltbrnmahr Fthilt
5. "Denken in Utopien". l)er Philosoph und die Polis Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Platons Philosophie und insbesondere mit der Politeia entfaltet sich Gadamers politisches Denken, das eng mit seiner Ethik verbunden ist, schon seit den dreißiger Jahren mit einer unübersehbaren Kontinuität. Der Angelpunkt, um den sich diese Auseinandersetzung dreht, ist der Begriff der "Utopie", der eine immer umfassendere Relevanz erhält, bis er letztlich eine Denkweise bezeichnet. Die Hermeneutik als politische Philosophie ist zwangsläufig ein Denken in Utopien. Doch was besagt Utopie? Utopie ist eine "Anzüglichkeit aus der Ferne" - so führt Gadamer schon in seiner Schrift Platons Staat der Erziehung von 1942 aus. 58 Er wird auf diese Bestimmung später mehrmals zurückkommen. 59 Um die Bedeutung zu verstehen, die er der Utopie beimißt, muß man jedoch von seinem 1934 gehaltenen Vortrag, Platon und die Dichter ausgehen, um von hier zu dem wichtigen Aufsatz Platos Denken in Utopien von 1982 zu gelangen, der die kritische Tragweite der platonischen Utopie in einer polemischen Diskussion mit Popper verteidigt. 60 "Wie war Sokrates möglich, der Gerechte in einer ungerechten Stadt?" 61 Sokrates Verurteilung liegt der großen platonischen Utopie zugrunde, die also keine abstrakte Forderung darstellt, sondern aus einem konkreten politischen Kontext hervorgeht. Für die politische Karriere bestimmt, hält Platon angesichtsdes Todes seines Lehrers inne. Seine Philosophie entsteht aus diesem Tod -deshalb wird sie durch Sokrates' Mund sprechen. Selbst die Reisen nach Syrakus dürfen nicht als ein Abweichen von diesem Weg gelesen werden. 62 Doch der Verzicht auf die politische Karriere bedeutet keineswegs den Verzicht auf die Politik - ganz im Gegenteil: "Plato ist nicht mehr, aber auch nicht weniger Staatsmann, als Sokrates es war." 63 Was Gadamer im Jahre 1942 hier von Platon sagt, läßt sich auch auf ihn selbst beziehen. 64 Platons Utopie kommt aus der Wirklichkeit der p6lis her und weist auf diese Wirklichkeit zurück. GADAMER, Platos Staat der Erziehung, GW 5, 251. GADAMER, Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft, 67. 60 GADAMER, Plato und die Dichter, GW 5, 187-211; Platos Denken in Utopien, GW 7, 270-289. Das Werk, auf das sich Gadamer bezieht, ist: KARL PoPPER, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1944), 2 Bände, in: Gesammelte Werke in deutscher Sprache, Bd. 5-6, Tübingen: Mohr Siebeck 82003. 61 GADAMER, Platos Staat der Erziehung, GW 5, 252. 62 Vgl. PLATON, Siebenter Brief, 327e. 63 GADAMER, Platos Staat der Erziehung, GW 5, 251. 64 Zu behaupten, wie Grondin es tut, daß Gadamers Arbeit "apolitisch" sei, weil Platons Staat kein historisch wirkliches Projekt ist, bedeutet, die Rolle zu übersehen, welche die platonische Utopie von Anfang an in seinem Denken spielt. Vgl. GRONDIN, Gadamer. Eine Biographie, 215. Die politische Dimension von Gadamers Denken wird dagegen von Dallmayr hervorgehoben, der die Politeia als Utopie, als "city in speech" interpretiert. Vgl. dazu FRED DALLMAYR, Hermeneutics and Justice, in KATHLEEN WRIGHT (Hrsg.), Festival of Interpretation 1990, 95-105, hier 95 f. Über die politische Tragweite der Dichtung bei Gada58
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Erst der 1\lirk .wt d.ts d.untllit(c Athen crlauht es, dit· .tnsnnstl'll unbcgreiflidll' llilhun~ Pl.atons ~t·~t·•lliht·r den Dichtern zu verstehen. Im zehnten Buch der J>olitcitl Wl'rdl·n lll'kitnclllich Homer und die gro{~en dramatischen Dichter zum Ausschlug aus dem Staat verurtcilt.(,s Hierbei geht es weder nur um eine Kritik am Mythos, noch um die alte Feindschaft zwischen Dichtung und Philosophie. Es wäre eine Reduktion zu meinen, Platon sei von den ontologischen Voraussetzungen seines Systems dazu gebracht worden, die Dichtung für eine Darstellung der Wirklichkeit, das heißt für eine Kopie der Kopie der Ideenwelt zu halten. Gadamer schlägt deshalb vor, den Zusammenhang zu beachten, in dem die Verurteilung erfolgt. 66 Und dieser Vorschlag soll offenkundig auch für Gadamer selbst gelten, der in den Jahren des Nationalsozialismus schreibt. Die Dichtung war die Grundlage der griechischen paideia, das heißt jenes Bodens, auf dem die Sophistik herangewachsen war. Auf der einen Seite hatten die Sophisten die Texte der Dichter verwendet, sie aber zugleich ihres Inhalts entleert; und auf der anderen Seite hatten sie ein neues ethos umrissen, demzufolge Gerechtigkeit das Recht des Stärkeren sei. 67 Die Verurteilung der Dichtung in Platons Schrift über den Staat ist insofern ein Angriff gegen die Sophistik und sie hat ein doppeltes Ziel. Erstens geht es darum, die Gefahren einer Kunst aufzuzeigen, die ganz der Bezauberung und der Selbstvergessenheit geweiht und jedes Wahrheitswertes beraubt ist. Die Kritik an der Dichtung ist daher durchaus keine ontologische Kritik: soweit sie sich auf deren Wirkung konzentriert, ist sie vielmehr "eine Kritik des ,ästhetischen Bewußtseins'."68 Das zweite Zielliegt darin, mit der Utopie eines "inneren Staates" ein neues Erziehungsmodell aufzustellen, welches das Präludium zu einer Wiedergeburt der p6lis sein kann. Das aber wird erst durch eine Philosophie möglich, welche die Veranlagung des Menschen, "für andere zu sein", zu befördern weiß. 69 An dem neuen "Staat der Erziehung" preist Sokrates jene Gerechtigkeit, die dort beginnt, wo jeder über sich selbst wacht, statt Rechte über die anderen zu reklamieren. Dieser Staat gründet auf einer Neubildung der Seele. Denn nur der Mensch, der mit sich selbst in rechtem Einklang steht, kann mit den Anderen übereinstimmen/0 Auch Hannah Arendt betont die pl.atonische Analogie zwischen den Teilen der
mc:r vgl. DENNisj. ScHMIDT, Wozu Hermeneutik? On Poetry and the Political, in: ScHMIDT, Lyrical and Ethical Subjects. Essays on the Periphery of the Word, Freedom and History, Albany: SUNY 2005, 19-31, insb. 20 f. M PLATON, Res publica, 595a-608c. M Vgl. GADAMER, Plato und die Dichter, GW 5, 193. " 7 Vgl. GA DAME R, Plato und die Dichter, GW 5, 195. 1111 GA nA M ER, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, GW 5, 206. Auf die A•thctisicrung der Kunst kommt Gadamer in Wahrheit und Methode zurück (vgl. in diesem Ba ntl Kilp. 111, 1). ,,., GAI>AMER, Plato und di<.· Dichter, GW 5, 200. ' 0 V~l. P1xroN, Rt·s puhlic1, 4.Hd-445c
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V I. 1\d/Jitrl: l·.'lm·lr/Jcmnahc• fthlk
Seele und den Teilen der Stadt. 11 Doch während Arendt das Handeln in den Bereich des theoretischen Erkcnnens eingefügt sieht, liegt für Gadamer das Verdienst Platons darin, da{~ er das politische Handeln vom technischen Herstellen unterscheidet und es unauflösbar mit der Philosophie als Erziehungspraxis verbindet. Vor dem Hintergrund der Politeia zeichnet sich die Gemeinschaft der platonischen Akademie ab, die auf die Verwirklichung dieser Praxis zielte. Der utopische Staat verweist auf eine Erziehung, die "gerade (...] nicht autoritative Erziehung aus der Kraft einer idealen Organisation", sondern die Erfahrung der Gerechtigkeit selbst ist, die man schon in der dialektischen Untersuchung macht. Keine politische Einrichtung kann ohne die philosophische Erziehung der Bürger ein gutes Ende nehmen. 72 Da sie lehrt, auf das gemeinsame Gute zu blicken, ist die Philosophie das Heilmittel gegen jeden Mißbrauch der Macht. Es ist daher ein Irrtum, Platons "Staat der Erziehung" für einen realen Reformvorschlag zu nehmen, wie es Popper tut, und wie es schon Aristoteles getan hatte/3 Dieser erfaßt den dialektischen Wert deseidosbeim Idealstaat ebensowenig wie in seiner Kritik der Ideenlehre. Platons Werke, die Politeia, aber auch die Nomoi, lassen sich- dies ist Gadamers These- in die literarische Gattung der Utopie eingliedern, die in der griechischen Literatur bereits belegt war. Dabei geht es nicht um einen Handlungsplan, sondern um eine ironische Kritik an der Gegenwart. Doch mit Platon erlangt die Utopie einen weitergehenden politischen und philosophischen Sinn. Sie wird zur Chiffre des Weiters und des Über, auf das das Denken der p6lis und in der p6lis nicht verzichten kann; sie wird zur Chiffre nicht nur des politischen Denkens, sondern des Denkens überhaupt, und zwar des Denkens, das nicht stehen bleibt, das sich nicht abschließt, sondern sich ständig auf das Weiter und Über hin öffnet. Platons große Leistung liegt darin, daß er die atopia des Sokrates, seine Sonderbarkeit und Fremdheit, sein Außer-Ort-Sein, das ihn an den Rand und an die Grenze der p6lis gedrängt hatte, in eine u-topia umwandelt.74 Der Philosoph bleibt an der Grenze- und Gadamers Platon betont dies auch und vor allem während des "Dritten Reiches"- doch von diesem nichtOrt, oder besser Noch-nicht-Ort, gibt er einen Wink, eine Andeutung, eine Anzüglichkeit aus der Ferne.75 Der Dialog, den er schreibt, ist ein spekulativer
Vgl. HANNAH ARENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich: Piper 1981,244 f., 260 f. In diesem Zusammenhang vgl. LAWRENCE BISKOWSKI, Reason in Politics: Arendt and Gadamer on the Role of the Eide, in: Polity 31 (1998), 217-244. 72 GADAMER, Plato und die Dichter, GW 5, 197. Vgl. auch GADAMER, Platos Staat der Erziehung, GW 5, 262; Platos Denken in Utopien, GW 7, 284. 73 Vgl. ARISTOTELES, Politica, 1269b 1-1261a 9. Vgl. dazu auch RoBERT R. SuLLIVAN, Poets, Education and State, in: SuLLIVAN, Political Hermeneutics, 137-164, insb. 142 f. 74 Zur Bedeutung des atopos für die Hermeneutik vgl. in diesem Band Kap. VIII, 8. 75 Vgl. GADAMER, Platos Denken in Utopien, GW 7, 277. Dies alles ist der Analyse von Orozco offenkundig entgangen. Vgl. in diesem Band Kap. I, 6. 71
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Philosoph und dit' l'u/,.\
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Wink -und Sokratl·s ist t'inc .. utopische Denkfigur" 76 - da er die politische Wirklichkeit rdh:kticrt, die damit in ein helleres Licht rückt, indem er auf das verweist, was diepolisnicht ist, indem er von der Grenze her kritisch auf deren Grenzen deutet. Platons Absicht ist es demnach keineswegs, irgendeine neue Reform einzuführen. Der "praktische" Wert der Utopie, die nicht auf Handlung, sondern auf kritische Reflexion einstellt, liegt nicht im Sinn des Wünschens, sondern des Wählens. 77 Dies heißt aber gerade nicht, daß sich die Utopie in die Irrealität verflüchtigt. Vielmehr deutet sie den ou-topos, den "Nicht-Ort" als den Ort um, der anders und über ist, den es noch nicht gibt, den es aber geben wird und der im Unbedingten des gemeinsamen Wortes sein wird, von dem aus die p6lis sich neu denken läßt. Die Utopie erweist sich hier als ein "dialektischer Begriff": Dank ihres sich im Dialog vollziehenden Über-tragens und Hinaus-tragens in das Über des Anderen, wird sie für die Hermeneutik zu einer "Denkweise". 78 "Denken in Utopien" bedeutet, in dem unendlich endlichen Vorgang der dialogischen und dichotomischen Dialektik zu denken, in dem die Entscheidung einer verantwortlichen Antwort gefordert ist. Es bedeutet, ,,im Bilde des Unmöglichen[...] das Mögliche zu erwirken" und zur Öffnung auf ein Weiter und Über zu gelangen, die nur der Andere anbieten kann. Hier zeichnet sich die politische Stellung der philosophischen Hermeneutik ab, die sich, ohne das Negative einer Kritik an der Gegenwart zu verschweigen, dem u-topischen Wort der Zukunft zuwendet. 79 Die Dialektik der Utopie liegt in ihrem spekulativen Charakter. Die ideale Stadt reflektierte contrariodie Grenzen der realen Stadt. Obwohl sie sich niemals verwirklicht, läßt die "Philosophenherrschaft~' den Mißbrauch der Macht zutage treten, der eine Versuchung für jeden ist, der sie ausübt. Auf der spekulativen Dialektik der Utopie insistiert Gadamer auch in dem Kapitel "Das Wissen des Guten und die Polis", das in seinem umfassenden Essay Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles von 1978 enthalten ist. 80 Die Utopie ist hier das politische Modell, das der Planung entgegengesetzt wird. In seinem Aufsatz von 1966 Über die Planung der Zukunft warnt Gadamer vor der Verplanung einer politischen Weltordnung, die offensichtlich von der ökonomischen Ordnung suggeriert wird. 81 Sie verführe dazu, an eine normative Politik zu glauben, GADAMER, Platos Denken in Utopien, GW 7, 283. GADAMER, Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft, 67-69. 7H GA DAME R, Platos Denken in Utopien, GW 7, 283. 711 GADAMER, Plato und die Dichter, GW 5, 197. In dem Interview mit Dutt zeichnet sich die Affinität der Hermeneutik nicht nur zur Ideologiekritik, sondern auch zur Frankfurter Schule ah. Vgl. CA RSTEN DuTT (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer im Gespräch. Hermeneutik, ÄHthctik, pmktische Philosophie, zweite aktual. Aufl., Heidelberg: Winter 1995, 72-75. HO (;AUAMI 1 K,I >il· Idee des Cutcn zwischen Plato und Aristoteles, GW 7, 162-185. NI ( rA llA MI( R, Ühcnlie PLtnung dt~r Zukunft, GW 2. 155-173. 7"
77
154 welche ihre Aufgabe darin sieht, jede Unordnung, wie etwa die der "unterentwickelten" Länder, zu eliminieren, und die schließlich die Welt erstmals als das Objekt einer rationalen wissenschaftlichen Produktion erscheinen läßt. Entscheidend wird dann die Ordnung um der Ordnungwillen bzw. das Mittel, das zum Selbstzweck wird: die "perfekte Verwaltung", deren Ideal die Neutralität ist, ja die gar kein Ideal mehr kennt. 82 Vor dem Hintergrund der Verplanung der Welt zeichnet sich der dialektische Wert des "Spiels der Utopie" umso deutlicher ab. In diesem Spiellassen Vernunft und Weisheit- wie Platon zeigt83 Raum für die Unordnung der menschlichen Dinge, ohne jedoch aufzuhören, unablässig auf das Weiter und Über einer idealen Stadt der Gerechtigkeit hinzudeuten.
82
83
GADAMER, Über die Planung der Zukunft, GW 2, 160. Vgl. GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, GW 7, 168.
VII. Kapitel
Die Verborgenheit des Sokrates. Philosophische Hermeneutik und griechische Philosophie
Aber im Zentrum meiner Studien blieb Plato. 1
1. Wir die Griechen - sie die Modernen Es ist wohl unmöglich, sich die philosophische Hermeneutik ohne die griechische Philosophie vorzustellen. Doch die Hermeneutik ist kein Rückgang von den Fragen der gegenwärtigen Philosophie zum historisch-philologischen Studium der griechischen Texte, und Gadamers Absicht läßt sich nicht auf eine bloße "Anwendung" reduzieren. Die griechische Philosophie spielt für die Hermeneutik eine ausschlaggebende Rolle, die bisher noch nicht hinreichend erkannt worden ist. Bereits hier ist eine Wirkungsgeschichte der Hermeneutik am Werk, die destruiert werden muß, we~n man vermeiden will, daß Wahrheit und Methode das opus magnum bleibt, in dem die gesamte Hermeneutik enthalten aein soll und das seinen Schatten auf alle anderen Arbeiten wirft, angefangen ~j. den Studien zur griechischen Philosophie. In diesem Zusammenhang IChreibt Pöggeler: Liest man Wahrheit und Methode, so kann man (ehe man zum dritten Teil über Sein als Sprache kommt} durchaus annehmen, man habe es mit einem Aristoteliker zu tun, der Rhetorik, Poetik, dazu die rechtliche Verfaßtheit des Lebens als Leitfäden nehme. Die Arbeiten des Bandes 7 der Gesammelten Werke, sicherlich ein zweiter Höhepunkt neben Wahrheit und Methode, erweisen Gadamer eher als Platoniker. 2
Selbstdarstellung, GW 2, 487. 2 0TTO PöGGRI.BR, Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie, Freiburg/München: Albor 1994,497. Vgl. auch das Urteil von WHRNER BEIERWALTES, Rezension zu Gesammelte W~rkt ~und ll, in: Philmmphy and History 20 (1987), 120-122. I HANS-GtmRo GADAMER,
VII. 1\ r4f•lt,l: !);,.
Vl'rbor~rnhrit
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Man muH sich daher fragc.'ll: Welche Bc1.ichung bcstdu i'.wi~u:hl'n Jlhilnsnphischcr Hermeneutik und griechischer Philosophie? Damit wird zugleich die ganz aktuelle Frage gestellt: Braucht man wirklich die Griechen für die Philosophie? Gadamers Antwort ist ein entschiedenes Ja. Die griechische Philosophie ist die Konstellation der philosophischen Hermeneutik. Beide sind durch die Zirkularität des Verstehens miteinander verbunden. Die Lektüre der griechischen Texte ist eine philosophisch-hermeneutische Lektüre, während die griechische Philosophie eine Herausforderung darstellt, da sie moderne Gewohnheiten und Vorurteile in Zweifel zieht. Die Hermeneutik nimmt diese Herausforderung an und läßt sich von den Griechen in der zirkulären Offenheit eines unendlichen Gesprächs leiten. Die Aktualität der griechischen Philosophie wird zur Hermeneutik selbst, die als philosophische Aufarbeitung des Dialogs mit den Griechen deshalb möglich ist, weiltrotz der Brüche und Unterbrechungen eine Kontinuität besteht. 3 Die Hermeneutik nähert sich den Griechen nicht von der kritischen Überlegenheit der Moderne aus, die sich im Besitz einer unendlich verfeinerten Logik über die Alten hinaus glaubt, sondern von der Überzeugung aus, daß ,Philosophie' ein sich gleichbleibendes Widerfahrnis des Menschen ist, das ihn als Menschen auszeichnet, und daß es darin keinen Fortschritt gibt, sondern nur Teilhabe. 4
Was Gadamer hier im Sinn hat, wenn er von ,,Teilhabe" spricht, ist die platonische methexis. Daher schreibt er in dem Aufsatz Die Gegenwartsbedeutung der griechischen Philosophie von 1972, daß die Begegnung mit den Griechen für uns letztendlich eine "Begegnung mit uns selber" ist. 5 So wird die griechische Philosophie zusammen mit der Hermeneutik zu einem neuen Paradigma der Philosophie, und zwar derjenigen, die heute "kontinentale Philosophie" genannt
Dagegen denkt Strauss die Beziehung zwischen Griechentum und Moderne als eine Entgegensetzung. Vgl. HANS-GEORG GADAMER, Philosophizing in Opposition: Strauss and Voegelin on Communication and Science, in: PETER EMBERLEY/BARRY CooPER (Hrsg.), Faith and Political Philosophy. The Correspondance between Leo Strauss and Eric Voegelin 1934-1964, University Park: Pennsylvania State University Press 1993,249-259. 4 GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, GW 7, 130. 5 HANS-GEORG GADAMER, Die Gegenwartsbedeutung der Griechischen Philosophie {1972), in: GADAMER, Hermeneutische Entwürfe. Vorträge und Aufsätze, Tübingen: Mohr Siebeck 2000, 97-111, hier 99. Gadamers Lektüre der Griechen wird aber problematisiert von YvoN LAFRANCE, Notre rapport a Ia pensee grecque: ,.Gadamer ou Schleiermacher?", in: CATHERINE CoLLOBERT (Hrsg.), L'avenir de Ia philosophie est-il grec?, Montreal: Fides 2001, 44-54; vgl. in demselben Band: FRAN<;OIS RENAUD, L'appropriation de Ia philosophie grecque chez Hans-Georg Gadamer, 79-96; vgl. auch RENAUD, Gadamers Rückgang auf die Griechen, in: ANDRZEJ PRZYLEBSKI (Hrsg.), Das Erbe Gadamers 2006, 95-118. Zu diesem Thema auch GÜNTER FIGAL, Platonforschung und hermeneutische Philosophie, in THOMAS A. SZLEZAKIKARL-HEINZ STANZEL {Hrsg.), Platonisches Philosophieren. Zehn Vorträge zu Ehren von Hans Joachim Krämer, Hildesheim u.a.: Olms 2001, 19-29, hier 26. 3
1~7
wird. I >i\lwi uinunt du·l\&•lt&•hunK 1.WiNcht.•n •• den (iriechen und uns" eine völlig andere Bedl·ut llll~~ .w: Wn du•
2. Über die Sprache der Metaphysik Bei seiner phänomenologischen Interpretation der Griechen folgt Heidegger einem neuen Leitwort: "Destruktion". Aber indem er für Husserls Forderung eintritt, die Erfahrungen der Lebenswelt unmittelbar anzuzeigen, merkt Heidegger, daß eine solche Unmittelbarkeit nicht möglich ist, da das Anzeigen stets durch die Sprache vermittelt ist. Es gilt daher zu destruieren, das heißt die überGADAMER, Die griechische Philosophie und das moderne Denken (1978), in: Griechische Philosophie li, GW 6, 3-8, hier 3. Zu einer Bilanz seines Interesses für die Griechen vgl. das Interview mit Glenn Most, "Die Griechen, unsere Lehrer". Ein Interview mit GLENN W. MosT, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1994/1, 139-149. 7 Es genügt, hier die Philosophen und Altphilologen zu nennen, mit denen Gadamer in Verbindung steht: neben Paul Friedländer sind vor allem Werner Jaeger, Julius Stenze!, Karl Reinhardt, Kurt Riezler, Bruno Snell und Kurt von Fritz zu nennen. Nach 1960 wird Gadamcr die in Amerika veröffentlichten Studien zur griechischen Philosophie sehr aufmerksam verfolgen. K V~l. in diesem Band Kap. IV, 4. 6
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lagerten Schichten abzubauen, durch welche die Tradition die Philosophie domestiziert und die ursprünglichen Denkerfahrungen verdeckt hat. Unerläßlich ist es daher, die Herkunft der Begriffe offenzulegen, und so die Sprache der Philosophie auf den Lebenszusammenhang zurückzubringen, dem sie entsprungen ist. Nur durch den Abbau der durch Jahrhunderte abendländischer Metaphysik versteinerten Sprache wird das Philosophieren wieder möglich sein. Auf diesem Weg wird einerseits die Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie wieder eröffnet und die in Vergessenheit geratene "Seinsfrage" neu gestellt; andererseits fängt man wieder an, von den eigenen Lebenserfahrungen aus zu denken. Für Gadamer handelt es sich hierbei um ein und dasselbe, wenn die Philosophie immer ein "durchgehender Dialog mit sich selbst" ist.9 Die Seinsfrage vertieft sich und spitzt sich zu in der Frage nach der Sprache der Metaphysik. Gerade hier kann Gadamer nicht verschweigen, was ihn von seinem Lehrer distanziert. Sowohl in seinem Aufsatz von 1968 Die Sprache der Metaphysik als auch amEndein Heidegger und die Sprache von 1990 fragt er sich, was eigentlich die "Sprache der Metaphysik" sein soll.l 0 Seine These lautet, daß es eine Sprache der Metaphysik gar nicht gibt. "Sprache ist immer nur die eine, die wir mit anderen und zu anderen sprechen." 11 Dies schließt keineswegs aus, daß es eine "metaphysische" Tradition gibt, die sich durch eine sprachliche und begriffliche Starrheit konsolidiert hat. 12 Metaphysik ist dann diese Starrheit. Die philosophische Sprache aber schlägt ihre Wurzeln in die alltägliche Sprache- und nicht einmal die Metaphysik hat sie abtrennen können. Es ist daher nicht die Sprache, die metaphysisch ist, sondern ihre Erstarrung in Begriffen, die jedoch, sobald sie- wie Wittgenstein nahelegt 13 - wieder in den Fluß des philosophischen Dialogs einfügt werden, bereits die Linien ihrer eigenen Überwindung vorzeichnen.
GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 430. GADAMER, Die Sprache der Metaphysik (1968), GW 3, 229-237; Heidegger und die Sprache {1990), GW 10, 14-30. Vgl. INGRID ScHEIBLER, Gadamer's Appropriation of Heidegger: Langnage and the Achievement of Continuity, in: Etudes phenomenologiques 26 {1997), 59-89, insb. 66 f. 11 GADAMER, Dekonstruktion und Hermeneutik, GW 10, 144. 12 Gadamer ist es deshalb immer wichtig, die Geschichte eines Begriffs zu rekonstruieren bzw. zu destruieren, da man nur von hier aus wieder anfangen kann zu philosophieren. Zu. diesem Thema vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, 432 f.; Begriffsgeschichte als Philosophie (1970), GW 2, 77-91; Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie (1971), GW 4, 78-94. Vgl. dazu REINER WIEHL, Begriffsbestimmung und Begriffsgeschichte: Zum Verhältnis von Phänomenologie, Dialektik und Hermeneutik, in: RüDIGER BuBNER/ KoNRAD CRAMERIREINER WIEHL, Hermeneutik und Dialektik 1970, Band I, 167-213; vgl. jetzt auch WIEHL, Die philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers jenseits von Erkenntnistheorie und Existenzphilosophie, in: ANDRZEJ PRZYLEBSKI (Hrsg.), Das Erbe Gadamers 2006, 33-63, insb. 44 ff. 13 Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 9. 9
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Auf diese WL·ist• srllf;inkl &.lir llcrmcneutik nicht nur die Frage nach der Sprache der Metilphysik, sondern auch die Frage nach der Metaphysik selbst ein. 14 Gadamer teilt keineswegs die katastrophistische Betrachtung einer zum Niedergang verurteilten Geschichte der Philosophie. Bei ihm entfällt auch die Sorge um eine "Vcrwindung" der Metaphysik, die er bezeichnenderweise als "eine bewußte Leistung des Erleidens" einer Vergangenheit auslegt, in der man gleichsam "daran" bleibt, auch wenn man sie überwunden hat. 15 Was wäre denn ein "Jenseits" der Metaphysik? Noch weniger teilt er das Heideggersche Projekt, die Geschichte der abendländischen Metaphysik zurückzugehen, um einen neuen "Anfang" des Denkens vorzubereiten. Nichts ist für die Hermeneutik "metaphysischer" als ein totaler N euanfang, ein neuer Beginn, da man schon immer inmitten eines Dialogs ist. Doch auch Gadamer baut die philosophische Tradition ab, gräbt in ihrer Wirkungsgeschichte - was obendrein belegt, daß das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein kein parasitäres Bewußtsein ist- auf der Suche nach dem Sokrates, der in der Vorsokratischen und in der nachsokratischen Philosophie verborgen ist. Auf einem Weg, der durch Parmenides und Heraklit, durch Platon und Aristoteles hindurch führt, setzt sich Gadamer von den ersten Aufsätzen der zwanziger Jahre bis zum 7. Band seiner Werke dafür ein, die Geschichte der griechischen Philosophie zu destruieren, um sie auf ihre vergessene sokratische Inspiration zurückzuführen.
3. Parmenides und Heraklit. Der Logos der Sterblichen Heideggers Rückkehr zu den Vorsokratikern, die durch Aristoteles vermittelt wird, ist von der Notwendigkeit bestimmt, sich einenunmetaphysischen Zugang zur phjsis zu eröffnen, die als Aufgehen in die Anwesenheit gedacht wird. Für Gadamer ist hingegen der Gedanke der phjsis ein aristotelischer und kein vorsokratischer Gedanke, den der "meta-physische" Aristoteles auf die Vorsokratiker zurück projiziert hat. 16 Es gilt daher, sich von der aristotelischen Konstruktion zu befreien, welche die ganze griechische Philosophie als eine Vgl. in diesem Band Kap. IX, 2. GADAMER, Hegel und Heidegger (1971}, GW 3, 87. Vgl. auch Heideggers positives Kommentar zu Gadamers Erörterung der "Verwindung" in einem Brief an Gadamer vom 2. Dezember 1971 (unvollständig gedruckt in: HANS-GEORG GADAMER/jüRGEN HABERMAS, Das Erbe Hegels, Nachwort, 89-94; GADAMER, Das Erbe Hegels, GW 4, 476-483; GADAMER, La dialettica di Hegel, übersetz. von Riccardo Dottori, Torino: Marietti 1996, 182-188, hier 186). Aber zu dem Unterschied zwischen Heidegger und Gadamer vor allem in Bezug auf den ncucn "Anfang" vgl. RoBERT J. DosTAL, Gadamer's Continuos Challenge: Hcidcggcr's Plato Interpretation, in: LEWIS E. HAHN (Hrsg.), The Philosophy of HansGcnq.; Gadamcr 1997, 289-307, hier 302. 1'' V~l. GA IM M EK, llcraklit-Studicn (1990), GW 7, 43-82, hier 49 und 52. 14
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VII. 1\"",,,.,,. I Jir Vrrbor~rnhrit Jr~ .\'ultratts
Naturphilosophie liest und zu lesen zwingt, die von Thalcs bis zu Aristoteles teleologisch fortschreitet. Welches ist nun das Bild von Parmenides und Heraklit, das aus diesem Hinterfragen der Überlieferung entsteht? Beide sind weit entfernt von der ionischen Philosophie des Thales, Anaximanders und Anaximenes. Sie blicken nicht auf die phjsis, auf die als Grund oder Substanz aller Dinge verstandene Natur, sondern schauen auf das menschliche Irren und die menschliche Endlichkeit. Ihr Denken hat eine politische, ethische und letztendlich religiöse Inspiration- moderne Termini, die nur mit Vorsicht für Philosophen gebraucht werden können, deren Logos unauflöslich mit dem mjthos verbunden bleibt. 17 Dies wird zunächst in den Fragmenten aus dem Lehrgedicht des Parmenides ersichtlich. Es ist eine große Naivität zu glauben, daß in diesem Gedicht eine Seinslehre aufzufinden sei. Nach Gadamer darf man hier von der literarischen Fiktion keineswegs absehen. Der Logos, der behauptet, daß das Sein ist, wird von einer Göttin verkündet. 18 Warum ist dies so? Weil der Logos, der zur Wahrheit, zur aletheia führt, der also Sein und Nichtsein nicht vermischt, nur ein göttlicher sein kann. 19 Dagegen können die Sterblichen, wenn sie sprechen, nicht umhin, im seihen Atemzug "ist" und "ist nicht" zu sagen, das heißt sich zu widersprechen, ohne "zwischen dem Ja und dem Nein" zu entscheiden. 20 Der göttlichen Wahrheit stehen die vielen "Meinungen" der Sterblichen entgegen, die "taub und blind, entgeistert" sind, unfähig, das "nicht" zu vermeiden und so zu einem endlosen Irren bestimmt. 21 Die Göttin beschreibt ihre vom Widerspruch getrübte Welt; doch dabei bleibt sie "auf dem Weg der Wahrheit", der nur der Dimension des Göttlichen vorbehalten ist. 22 Sterblich wie die anderen, spricht Parmenides nicht in der ersten Person, sondern greift auf den Mythos zurück und läßt somit die Göttin reden. Der Logos des Seins ist also ein Logos des Jenseits; als solcher trifft er die Sterblichen nicht, die sich mit dem Tod, mit ihrem Ende, mit ihrer Endlichkeit plagen. 23 Daß der Logos des Seins jenseits ist, läßt sich auch als kritischer Wink gegen Heidegger und seine Seinsfrage interpretieren. Jedenfalls bleibt der menschliche Logos "diesseits des Seins"- wie der Titel des Aufsatzes Parmenides oder das Diesseits des Seins suggeriert. Nach der tradierten Geschichtsschreibung hat Parmenides die Trennung zwischen sinnVgl. GADAMER, Parmenides oder das Diesseits des Seins (1988), GW 7, 3-31, hier 14-15. Zu diesem Thema vgl. auch ANDRE LAKS, Gadamer et les presocratiques, in: jEAN-CLAUDE GENs/PAVLOS KoNTos/PIERRE RoDRIGO, Gadamer et les Grecs, Paris: Vrin 2004, 13-29. 18 PARMENIDES, VS Fr B 6, 1-3. Die Fragmente der Vorsokratiker werden zitiert nach: HERMANN DIELs/WALTHER KRANZ, Die Fragmente der Vorsokratiker, siebte Auflage, Berlin: Weidmann 1954, Band 1-3. 19 PARMENIDES, VS Fr B 8, 50-65. 20 PARMENIDES, VS Fr B 6, 1-2. 21 PARMENIDES, VS Fr B 6, 4-7. 22 GADAMER, Parmenides oder das Diesseits des Seins, GW 7, 9. 23 Vgl. GADAMER, Parmenides oder das Diesseits des Seins, GW 7, 24. 17
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lichcr und intclligihlt•r Wdt t•in~dührt. Für Gadamcr hingegen ist er der Philosoph der Endlichkt·it, dt•r Weh niimlich, die nur diesseits ist, die Sein und Nichtsein zugleich ist, während das Sein nur den Göttern zukommt. Nicht anders verhält es sich bei Heraklit. Folgt man- wie Gadamer es tutdem historiographischen Paradigma, das Reinhardt vorschlägt, dann hat er zur seihen Zeit oder sogar später als Parmenides gelebt. 24 Heraklit ist kein Gegner der ionischen Schule gewesen und er hat auch nie eine Kosmologie aufstellen wollen. Selbst seine Feuerlehre, die auch Aristoteles verwirrt, ist eine stoische Umdeutung. 25 Heraklit hat die spekulative Einheit der Gegensätze in jener "strittigen Harmonie" denken können, die der Logos der Welt ist. 26 "In allem Unterschiedenen das Eine Gewahren"- das ist sein Verdienst. 27 Gadamer erwähnt in diesem Zusammenhang Hegels berühmte Worte: "es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen." 28 Bei den Entgegensetzungen, von denen Heraklit spricht, liegt das Geheimnis der Einheit nicht im Übergang vom Seiben zum Verschiedenen, sondern im plötzlichen Wandel. 29 Beleg dafür sind oft die Worte: so zeigt das Wort bios zugleich das "Leben" und den todbringenden "Bogen" an. 30 Die Untrennbarkeit von Leben und Tod zeichnet sich darin "wie ein letztes, unlösbares, sich selbst lösendes Rätsel" ab. 31 Gibt es eine Rückkehr vom Tod zum Leben, wie vom Schlaf zum Erwachen? Diese Frage wird später vom platonischen Sokrates im Phaidon wiederaufgenommen. Heraklit forscht über die Vielheit hinaus und entdeckt das Eine im plötzlichen Aufflammen und Erlöschen des Lebens wie auch des Feuers. Genau dies bedeutet der Satz, der über der Eingangstür von Heideggers Hütte in Todtnauberg eingeschnitzt steht: "A.lles steuert der Blitz." 32 Doch Heraklit möchte auch Vgl. KARL REINHARDT, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, Frankfurt am Main: Klostermann 1977. Die Aufsätze zu Heraklit folgen im Band Plato im pialog (GW 7) auf die zu Parmenides. Hier soll die Aufmerksamkeit auch auf die beiden Rezensionen gelenkt werden, die Gadamer Reinhardt gewidmet hat: GADAMER, Schein und Sein. Zum Tode von Karl Reinhardt (1958), GW 6, 278-288; Die Krise des Helden. Zum Gedenken an Karl Reinhardt nach zehn Jahren (1966), GW 6, 285-291; vgl. auch sein Porträt in GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 151-160. 2S Vgl. GADAMER, Heraklit-Studien, GW 7, 51 f. 26 HERAKLIT, VS Fr B 10, 1-2. 27 GADAMER, Heraklit-Studien, GW 7, 57. 28 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Werke, Band 18, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, 320. Vgl. GADAMER, Vom Anfang bei Heraklit (1974), GW 6, 232-241, hier 232 (wieder abgedruckt mit dem Titel: Zur Überlieferung Heraklits, in: GADAMER, Der Anfang des Wissens, Stuttgart: Reclarn 1999, 17-34, hier 17); Hcgel und Heraklit (1990), GW 7, 32-42, hier 32. l«~ GADAMER, Heraklit-Studien, GW 7, 48. lO Ht~RAKI.IT, VS Fr B 48 . .ll GA J>A M ER, llcraklit-Studien, GW 7, 41. l.l I fi:.KAKI.IT, VS 1:r B 64. Vgl. auch Hcideggers Auslegung von Heraklit in: MARTIN llto IW<«;I 1 K, l.ogos (llt•r•lklit Fragment 50), in: I ll-:1 nEGGER, Vorträge und Aufsätze, GA 7, 24
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vom Schlaf des Unverständnisses aufwecken. Es ist daher nicht schwer, sein berühmtes Fragment hermeneutisch zu lesen: "Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt, doch im Schlaf wendet sich jeder von ihr ab in seine eigene."33 Der Weg, um aus der Nacht der Isolierung aufzutauchen und um zu sich zurückzukehren, ist der Weg, der zum Anderen führt, zur "Teilhabe am gemeinsamen Tage und der gemeinsamen Welt." 34 Von Heraklit sagt Gadamer: Gar zu offenkundig weint dieser Philosoph über die Menschen und ihren Unverstand und denkt selbstvergessen über das menschliche Leben nach, das, zwischen Schlaf und Wachen, Tod und Leben, Traum und der allen gemeinsamen Vernunft des Tages ausgespannt, sich selbst zutiefst unverständlich ist- so wahr es dem Jähen des Wechsels und dem Rätsel des Nichtseins ausgesetzt ist. 35
In diesem Aufruf zur Wachheit, zur Wachsamkeit, zur Philosophie, läßt sich seine Nähe zu Sokrates ausmachen, und dies umso mehr, als Heraklit sagt: "Ich habe mich selbst gesucht." 36
4. Sokrates, die Philosophie und die Unsterblichkeit Aber in Gadamers Nachzeichnung ist es Sokrates, der den wahren Wendepunkt darstellt. Sokrates ist der Philosoph überhaupt, weil die Liebe zur sophia bei ihm den Übergang vom Schlaf zum Wachen vollzieht, wachsam wird und sich zu jenem Wissen erhebt, das zunächst um sein Nichtwissen weiß. Auch wenn Gadamer ihm nicht mehr als drei Aufsätze gewidmet hat, dominiert die Figur des Sokrates die philosophische Hermeneutik und bildet das unnachahmliche und dennoch nachzuahmende Modell. Der Sokrates Gadamers ist der von Platon vor allem in der Apologie, im Euthyphron und der im Phaidon portraitierte Sokrates- denn es ist der platonische Sokrates, der auf unser geschichtliches Bewußtsein gewirkt hat. 37 Auf dem von Parmenides und Heraklit eröffneten Weg gibt er enttäuscht die Erforschung der natürlichen Phänomene, der Stellung der Erde, der Drehungen des Himmels auf. Würde er nämlich so verfahren wie die Naturphilosophen, die sich hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt am Main: Klostermann 2000, 211234. Zu einem Vergleich zwischen Heidegger und Gadamer in diesem Zusammenhang vgl. HANS RuiN, Einheit in der Differenz- Differenz in der Einheit. Heraklit und die Wahrheit der Hermeneutik, in GüNTER FIGALijEAN GRONDIN/DENNIS J. ScHMIDT {Hrsg.), Hermeneutische Wege 2000, 87-106. 33 HERAKLIT, VS Fr B 89. 34 GADAMER, Heraklit-Studien, GW 7, 78. Zur Nähe von Schlaf und Tod vgl. auch GADAMER, Goethe und Heraklit (1999), in: Hermeneutische Entwürfe, 234-237. 35 GADAMER, Hegel und Heraklit, GW 7, 38. 36 HERAKLIT, VS Fr B 101; GADAMER, Hegel und Heraklit, GW 7, 40; Heraklit-Studien, GW 7, 55. 37 GADAMER, Heraklit-Studien, GW 7, 83.
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den Sacht.•n unmiuc:lh.ar #'.uwrndrn und verlan~en, sie mit den fünf Sinnen zu erfassen, so würde er ;tlll Ende.· seine Seele völlig verblenden. Daher bereitet er sich auf die .,zweite l•'alut'" vor- eine Metapher, mit der die Griechen den extremen Fall bezeichneten, in dem das Schiff bei Windstille nur mit den Rudern fortbewegt werden konnte. Die zweite Fahrt des Sokrates ist seine Flucht in die Logoi, die im Phaidon geschildert wird- für Gadamer die epochale Wende, die sich in der griechischen Philosophie vollzieht, und zugleich ein entscheidender Übergang für die Hermeneutik. 38 Man darf den ironischen Ton nicht übersehen, mit dem Platon von dieser "zweiten" Fahrt spricht, die der unmittelbaren Erfahrung bei weitem überlegen ist. Sie stellt den Durchgang vom Sinnlichen zum Intelligiblen dar, das jedoch nicht das Intelligible der Ideen, sondern der Logoi ist. 39 Gadamer übersetzt die Worte von Sokrates im Phaidon folgendermaßen: "Es schien mir daher richtig, meine Zuflucht zu der Weise zu nehmen, wie wir von den Dingen reden, und darin die Wahrheit über die Dinge zu betrachten." 40 Die Flucht in die Logoi ist die Anamnesis der Sprache, die anamnetische Anerkennung des Anderen und des Wortes des Anderen, das die gemeinsame Erfahrung artikuliert. Mit Sokrates maßt sich die Philosophie nicht mehr an, die Dinge in ihrer Unmittelbarkeit zu schauen. Und indem sie den Blick von ihnen abwendet, schenkt sie dem Wort des Anderen Gehör. Sie wird zum Dialog. Hierin vor allem liegt die sokratische Inspiration der Hermeneutik. "Ich bin lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt"- so sagt Sokrates im Phaidros. 41 Mehr als eine Flucht ist dies der Eintritt der Philosophie in die Welt der p6lis, in die Gemeinschaft der Bürger. Mit Sokrates entdeckt die Philosophie ihre politische und ethische Berufung. Sie befaßt sich mit dem Warum der menschlichen Handlungen und stellt sich zum ersten Mal die Frage nach dem "Guten", welche die gesamte klassische Philosophie, angefangen mit Platon und Aristoteles, in ihren Bann ziehen wird. 42 Doch mit Anderen zusammenzuleben ist keine einfache Sache - am wenigsten für einen Philosophen. In Athen lebt Sokrates mit den Anderen, aber er lebt nicht wie die Anderen. Sein Prozeß und sein Todesurteil wegen asebeia, "Unfrömmigkeit", werden damit unvermeidbar. Sokrates hört nur auf seinen Vgl. PLATON, Phaidon, 96a-99b. Vgl. MARK PAINTER, Phaedo 99d-101d: Socrates and Gadamer's ,Second Way', in: Southwestern Philosophical Review 14 (1998), 179-186. 39 Vgl. GADAMER, Platos dialektische Ethik, GW 5, 53. 40 PLATON, Phaidon, 99d. Übersetzung nach: PLATON, Texte zur Ideenlehre, hrsg. und Ubers. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main: Klostermann 1978, 21 [Hervorhebung von mir: DDC]. 41 PI.ATON, Phaidros, 230d. 42 Für ein Portrait von Sukratcs vgl. GüNTER FIGAL, Sokrates, München: Beck 1995. Vgl. auch FRANcrsJ. AMBROSH>, Thc PigurcofSocrates in Gadamcr's Philosophical Hermeneutic~, in: LEW IS E. llAttN (llrs~.), Thc Philosophy of Hans-Gcorg Gadamcr 1997,259-273. 38
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Oämun. Eben dies ist seine ruscbeia, seine "Priimmigkcit•t, nämlich der ergebene Respekt, mit dem er "Beschcidung im Nichtwissen zcigt." 43 Oer religiöse Charakter des sokratischen Nichtwissens deckt die Eingebildctheit des technisch-wissenschaftlichen Wissens auf, das sich in der griechischen Aufklärung verbreitet hatte. 44 Mit seinem beständigen Fragen provoziert er den Anspruch der Athener, die wissen wollen, was das Gute ist. Der Dienst, den er leistet, ist ein göttlicher. Dem Orakel von Deiphi zufolge ist Sokrates der weiseste aller Menschen. Sokrates hingegen sagt, daß er nicht weiß - und damit bestätigt und widerlegt er das Orakel zugleich. 45 Die Provokation erweist sich als die göttliche Berufung der Philosophie. Deshalb flieht Sokrates nicht, sondern nimmt seine Verurteilung an und trinkt den Schierlingsbecher. Aber selbst noch als bereits Teile seines Körpers erkaltet sind, fährt er fort zu reden und zu fragen. Er empfiehlt, "dem Asklepios einen Hahn" zu opfern:46 Ein Opfer für den Gott der Medizin, um zu sagen, daß er geheilt ist und daß für ihn ein neues und wahres Leben beginnt. Der Tod des Philosophen ist die Bestätigung seines Lebens, seine Worte sind der überzeugendste Beweis der Unsterblichkeit der Seele. In einem der vielleicht schönsten Aufsätze, die Gadamer der griechischen Philosophie gewidmet hat, Die Unsterblichkeitsbeweise in Platos >Phaidon<,47 läßt er Sokrates für ihn reden. An der äußersten Grenze des Todes, ohne verstehen oder verständlich machen zu wollen, was die Grenze des menschlichen Verstehens selbst markiert, ist das Wort des sterbenden Philosophen an die Anderen gerichtet, die an seinem Sterben teilhaben, damit es zu einer Antwort wird, damit das Gespräch weitergeht- auch nach dem Tod. Das ist die Weise, in der die Hermeneutik die Unsterblichkeit denkt.48
GADAMER, Sokrates' Frömmigkeit des Nichtwissens (1990), GW 7, 83-117, hier 109. Vgl. GADAMER, Sokrates und das Göttliche, in: HERBERT KESSLER (Hrsg.), Sokrates. Gestalt und Idee, Heiterheim: Graue Edition 1993,97-108. 45 Vg1. GADAMER, Sokrates' Frömmigkeit des Nichtwissens, GW 7, 111. 46 PLATON, Phaidon, 118a. 47 GADAMER, Die Unsterblichkeitsbeweise in Platos >Phaidon< (1973), GW 6, 187-200. 48 Vgl. in diesem Band Kap. IX, 4. 43
44
'· Pl.uons ''pnrctischc l)ialcktik: Zwisdwn dcrn Einen und der Zweiheit Die philosophisrhc llcrmcncutik ist eine bewußte Wiederaufnahme der platonischen Philosophie im 20. Jahrhundert. 49 Es ist Platon, der den Weg über die Metaphysik hinaus zum Offenen der philosophischen Erfahrung deutet: von der Dialektik zum Dialog. Wer ist aber dann der Platon Gadamers? Er ist nicht der "metaphysische" Philosoph, der für die Seinsvergessenheit verantwortlich ist, wie ihn die Lektüre Heideggers und davor diejenige Nietzsches präsentiert. 50 "Daß Plato mehr war als der Vorbereiter der aristotelischen ,Ontotheologie', den Heidegger in ihm sah, blieb mir beständig gewiß", schreibt Gadamer 1983. 51 Doch er ist auch nicht der Begründer einer Prinzipientheorie, wie ihn die Tübinger Schule interpretiert. 52 Es ist wohl wahr, daß es ohne Platon niemals eine Metaphysik gegeben hätte. Es ist aber ebenso wahr, daß "Platon kein Platoniker" war. 53 Diese polemische These, in der das emanzipatorische Potential seiner Deutung hervortritt, bringt Gadamer auch auf den Spuren Schleiermachers dazu, in Platon den Meister des Dialogs wiederzuentdecken, dessen Dialektik in ihrer sokratischen Anlage eine Reflexion über die Endlichkeit ist. 54 Von In diesem Sinn hat Reale zurecht Gadamer als den "Platoniker" des letzten Jahrhunderts bezeichnet. Vgl. GIOVANNI REALE, Gadamer, ein großer Platoniker des 20.Jahrhunderts, in: GüNTER FIGAL (Hrsg.), Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, 2000, 92-104, hier 92. so Die Grenzen von Heideggers Platoninterpretation zeigt zum Beispiel ALAIN BouToT, Heidegger et Platon. Le problerne du nihilisme, Paris: PUP 1987; man muß auch an Heideggers negative Auffassung der Dialektik als "Schein" denken. Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt- Endlichkeit- Einsamkeit, GA 29/30, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 1992,306. st GADAMER, Die Aufgabe der Philosophie (1983), in: Das Erbe Europas, 166-173, hier 49
170: Die Tübinger Schule, deren bedeutendste Vertreter Konrad Gaiser, Hans Joachim Krämer, Heinz Happ und in jüngerer Zeit Thomas Alexander Szlezak sind, und mit der auch die Deutung von Giovanni Reale und Maurizio Migliori übereinstimmt, sieht Platons eigentliche Lehre in den "ungeschriebenen" Lehrstücken, die in der Akademie weitergegeben wurden und die auf der Basis einiger Zeugnisse rekonstruiert werden können, zu denen auch die von Aristoteles zählen. Es ergibt sich daraus eine systematische und stark mathematisierte Philosophie. Gadamer richtet dagegen sein Augenmerk auf den sokratischen Platon, obwohl auch er sich für die indirekte Überlieferung interessiert, nicht zuletzt wegen ihrer Implikationen für die Beziehung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vgl. in diesem Band Kap. VIII, 2). Von hier aus hat er in den Dialogen den "Königsweg" für die Platoninterpretation 1esehen; vgl. GADAMER, Platos ungeschriebene Dialektik (1968), GW 6, 129-153, hier 133. Für die lct:t.te Stellungnahme Gadamers zur Tübinger Schule vgl. seine Einleitung zu dem lillnd: GllJSIWI'E GIRGENTI {Hrsg.), La nuova interpretazione di Platone, Milano: Rusconi 52
I'J'JH, t'J-23. ~\ (;AUAMI'K,
Sdhstd.trstdlung, GW 2, 508.
~· (; 1\ IIA MI· I(. s~.·hll·il'l"llliH:hcr als Pliltoni kcr ( l'J6'J),
GW 4, 374-383, hier 374-376. Vgl.
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VII. 1\ ,.,,",,,. I)I, VrrburN.tHhc-it Jr~ .\'ultrdlrs
dieser Dialektik ausgchcnJ h1tt die llcrmcncutik sich in einem ununterbrochenen Prozeß entfaltet. Die einheitliche Auffassung der platonischen Philosophie hindert Gadamer nicht daran, bestimmte Texte zu privilegieren: den Phaidon, das Symposion, den Phaidros, den Philebos, den Parmenides, den Theaitetos, den Sophistes, den Timaios, die Politeia und den Siebenten Brief Wie schon im Fall der Vorsokratiker zielt er darauf, die Lektüre des Aristoteles zu destruieren und zu zeigen, daß dessen Kritik an Platon ungerechtfertigt ist. Denn zum einen gibt es bei ihm keinen chorism6s, keine ontologische Trennung zwischen Ideen und sinnlicher Welt, und zum anderen geht auf der Basis des Parmenides deutlich hervor, was Platon eigentlich interessiert: das "Gewebe der Ideen", die dialektische Verflechtung. 55 Das Werk Gadamers, das in nuce bereits die wichtigsten Züge nicht nur seiner Platondeutung, sondern seiner gesamten Philosophie enthält, ist das 1931 erschienene Buch, Platons dialektische Ethik, in dessen Zentrum der Philebos steht. 56 Bevor jedoch die Verbindung zwischen Ethik und Dialektik erläutert wird, gilt es zu sagen, was unter "Dialektik", dem Schlüsselwort der philosophischen Hermeneutik, zu verstehen ist. Die platonische Philosophie ist Dialektik nicht nur, weil sie im Begreifen sich unterwegs zum Begriff hält, sondern weil sie als so begreifende den Menschen selbst als ein solches Unterwegs und Zwischen weiß. 57
Man muß die griechische Vorsilbe dia- im Auge halten, die "durch" bedeutet. 58 Dann läßt sich der sokratische Sinn der platonischen Philosophie fassen, die hierzu CHRISTOPHER P. SMITH, H.-G. Gadamer's Interpretation of Plato, in: Journal of the British Society for Phenomenology, 12 (1981), 211-230; CHARLES L. GRISWOLD, Gadamer and the Interpretation of Plato, in: Ancient Philosophy 1 (1981), 171-178; aus einer kritischen Sicht hat sich White ausgedrückt: vgl. NICHOLAS P. WHITE, Observations and Questions about Hans-Georg Gadamer's Interpretation of Plato, in: CHARLES L. GRISWOLD (Hrsg.), Platonic Writings - Platonic Readings, New York & London: Routledge 1988, 247-257; FRAN<;OIS RENAUD, Die Resokratisierung Platons. Die platonische Hermeneutik HansGeorg Gadamers, Sankt Augustin: Academia 1999. Vgl. auch jAMES RISSER, Gadamer's Plato and the Task of the Philosophy, in MIRKO WISCHKEIMICHAEL HoFER (Hrsg.), Gadamer verstehen- Understanding Gadamer 2003,87-100. 55 GADAMER, Dialektik und Sophistik im siebenten Platonischen Brief (1964), GW 6, 90-115, hier 113. Der Verzicht auf die Theoriezweier Welten bei Platon impliziert ein Umdenken der ganzen abendländischen Tradition. So sagt Zuckert: "Gadamer asks his readers to reconsider and reconceive their understanding of the entire Western tradition". Vgl. CATHERINE H. ZucKERT, Hermeneuries in Practice: Gadamer on Ancient Philosophy, in: RoBERT J. DosTAL (Hrsg.), The Cambridge Companion to Gadamer 2002, 200-224, hier 219 f.; siehe auch ZucKERT, Postmodern Platos. Nietzsche, Heidegger, Gadamer, Strauss, Derrida, Chicago/London: The University of Chicago Press 1996, hier 70-103. 56 GADAMER, Platos dialektische Ethik, GW 5, 3-163. 57 GADAMER, Platos dialektische Ethik, GW 5, 6. 58 GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, GW 7, 182.
sich in der dial,:ktisdwn ( >Ht·nltcit '!.wischen l;r;t~l' und Antwort entfaltet und, da sie sich als ein soldll's Z~wisC"ht.•u erkennt, die darctus entstehende Vorläufigkeit, Unbestimmtheit, Unvollendetheit einräumt. 59 Indem sie sich endlich weiß, nimmt sie die unendliche Offenheit an. Sie ist daher keine sophia, da sie nicht vorgibt, Weisheit zu sein. Vielmehr ist sie philo-sophia, Streben nach Weisheit. 60 Eine solche Dialektik ist dialogisch: ihr "Zwischen" ist das Zwischen des Dia-logs. Die platonische Dialektik entspringt nicht nur dem sokratischen Dialog, in dem der dialogische Charakter des Logos ans Licht kommt, sondern entfaltet sich exemplarisch am Leitfaden der Sprache. Daher bildet sie sich in dialogischer Form aus, indem sie die Logoi immer wieder in "die ursprüngliche Bewegung des Gesprächs zurück[stellt]." 61 Sokrates' "Flucht" in die Logoi, die nicht zufällig mit der "Hypothese" der Ideen zusammenfällt, erlangt hier eine weitergehende Relevanz. 62 Die Idee ist an dem Namen und an der Rede verankert. Auf der Suche nach einem "Grund" der Wahrheit findet Sokrates diesen in jenem eigentümlichen "Sichgleichbleiben" des Namens auch bei seinem Sichdifferenzieren, das heißt in jener "Gemeinsamkeit des Verständnisses der Welt", das sich hier artikuliert. 63 Die Philosophie setzt bei der Sprache an, dem Ort des unreflektierten Wissens, das durch die Anamnesis, die selbst wiederum nur eine sprachliche ist, reflektiert und bewußt werden kann- wenn auch stets in unvollendeter Weise. Aber Gadamers These ist noch radikaler: Platon entdeckt das "dialektische Wundere', die Möglichkeit des Einen im Vielen und des Vielen im Einen, weil er auf die Struktur des Logos schaut. 64 Wie ist es möglich, daß das Eine Vieles und das Viele Eines ist? Wie ist dieser Widerspruch möglich, gegen den die Eleaten den Zeigefinger erhoben und von dem die Sophisten profitiert haben? Handelt es sich hier nicht um einen Widerspruch, der sogar das Sprechen unmöglich macht? Denn es wird gesagt, daß das Eine Vieles ist, daß es sich selbst ist, insofern es Eines ist, und sich selbst nicht Vgl. GADAMER, Zur Vorgeschichte der Metaphysik (1950), GW 6, 9-29. " 0 Vgl. GADAMER, Platos ungeschriebene Dialektik, GW 6, 153. 61 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 374. Der Dialog, den Sokrates führt, in der genialen Weise, in der Platon ihn portraitiert- vgl. Plato als Porträtist (1988), GW 7, 228-257 - ist das Modell des Philosophierens selbst, weil der Leser in den Fortgang von Frage und Antwort hineingezogen wird und die eigene scheinbare Überlegenheit verliert. Für Gadamer heißt dies: "Mit Plato philosophieren, nicht: Plato kritisieren, ist die Aufgabe". Vgl. GADAMI~R. Selbstdarstellung, GW 2, 501. Vgl. STEPAN SPINKA, "Plato im Dialog". Hans-Georg Gadamcr als Interpret der platonischen Dialektik, in MIRKO WISCHKEIMICHAEL HoFER (Hrsg.), Gadamer verstehen- Understanding Gadamer 2003, 120-137. " 2 Vgl. GA DA M ER, Zur platonischen Erkenntnistheorie (1988), GW 7, 328-337, hier 335. "·' GA DA M EK, Platos dialektische Ethik, GW 5, 51 f. Vgl. P. CHRISTOPHER SMITH, Hermencutics ;tml lluman Finitudc. Towar a Theory of Ethical Understanding, New York: Jlnnlham Uniwrsity Pn.·ss I'J'JI, 144 f. "" (;ADAM I·K, Zur Vor~l'M:hichtl' dc:r Metaphysik, GW 6, 20. 59
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ist, insofern es Vieles ist, so dafl nun schließlich Sein und Nichtsein miteinander vermischt. Für Platon mündet der Streit mit den Sophisten nicht in eine "Misologie", in einen Haß auf die Reden. 65 Im Gegenteil warnt der Fremde aus Elea im Sophistes: "Denn des Iogos beraubt wären wir, was das größte ist, auch der Philosophie beraubt."66 Wenn die Philosophie eine noetische, eine intellektuelle Anschauung des Seins wäre, so brauchte sie nichts Anderes als das Sein zu sagen, sie könnte im Identischen bleiben, das heißt nichts sagen, auf das Sagen ganz verzichten. Die Philosophie begänne und endete - auf göttliche Weise - in der Anschauung des Seins. Da sie sich darauf jedoch nicht reduzieren kann, verlangt sie den dianoetischen, den diskursiven Übergang zum Anderen des Seins, zum von ihm Verschiedenen: das heißt, sie muß gesagt werden und braucht den Logos. Indem sie sich auf die Diskursivität des Logos angewiesen weiß, ist sich die Philosophie seit Platon dessen bewußt, daß sie sich nur in jenem "Zwischen" entfalten kann, das die Rede durchquert, daß sie nicht anders als dialektisch sein kann. Um die Philosophie zu retten, ist es notwendig, den Logos zu retten, ihn zu legitimieren. Doch gerade durch diesen neuen Blick auf die eigentümliche Verflechtung des Logos erscheint auch das Sein anders. Die Dialektik versteht sich als das Sich-zur-Sprache-bringen des Seins selbst, sie "denkt nicht im Logos
das Sein [...], sondern sie denkt das Sein selbst als Logos."67 Das Wunder des Einen und des Vielen liegt in ihrer "Verflechtung", in ihrer symploke. Der Logos ist zugleich Vieles, das in das Eine gefügt ist, und Eines, das Vieles in sich trägt. Eines und Vieles sind Begriffe, die korreliert und fließend sind. Gadamer schreibt: "Alle Vereinheitlichung des Vielen zielt auf die Vervielfachung des Einen."68 Dies ist dank der "Haltlosigkeit" der Rede möglich. 69 So zeichnet sich in der Sprache eine zirkuläre Bewegung des Aufstiegs und des Abstiegs ab, die vom Einen zum Vielen und vom Vielen zum Einen geht. Was für den Dialektiker in dieser unendlichen Zirkularität zählt, die sich in der Endlichkeit des legein, des Sagens, artikuliert, ist das, was den meisten entgeht, nämlich was "in der Mitte" liegt.7° In diesem fruchtbaren Zwischen, im dia-des legein, des Redeos, das stets ein dialegesthai, ein Miteinanderreden ist, webt sich das Geflecht des Seins. Das hierangewandte Verfahren, das stets durch die Reden hindurchgeht, ist das der diairesis, die für Gadamer "die positive Wendung der Dialektik,[...] die
PLATON, Phaidon, 89c-d. Es ist zu bemerken, daß Gadamer ein negatives Bild der Sophistik hat, das man nicht unbedingt teilen muß. 66 PLATON, Sophistes, 260a. 67 GADAMER, Zur Vorgeschichte der Metaphysik, GW 6, 28. 68 GADAMER, Platos dialektische Ethik, GW 5, 90. 69 GADAMER, Zur Vorgeschichte der Metaphysik, GW 6, 21. 70 PLATON, Philebos, 17a. 65
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tEuporit•' narh dc.·r .Aporie•'" tl.-t·Ntdlt. 11 Die Kunst des Dialektikcrs wird im Ph{tidros ~csrhildc.·rt./J Sie.• hc.•Ntrht darin, eine Idee zu zerlegen, die in ihrer Einheit erscheint, und sie.· .. ~licdcrmäl~ig" zu unterscheiden; dabei gilt es, deren natürlichem Nervc.•ngcflcc:ht zu folgen, wie es etwa beim Zerteilen der Sakralopfer anschaulich wird.n Die diairesis ist also ein dichotomisches Verfahren. Durch Unterscheidung werden die kennzeichnenden Merkmale dessen, was man sucht, zum Vorschein gebracht; die daraus resultierende Gesamtheit ist der dihairetische Logos. Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, daß dieser Logos eine objektive Definition des Wesens einer Sache sei, denn in Wirklichkeit beschränkt er sich darauf, jeweils eine neue Perspektive herauszuheben. Die Unmöglichkeit, zu einer Definition zu gelangen- was hingegen Aristoteles für möglich halten wird - ist auf die "unaufhebbare Schwäche" aller Formen des menschlichen Erkennens zurückzuführen, den Namen (6noma), die Rede (l6gos), das Abbild (eidolon), das Wissen (episteme)- von der nous, der Anschauung grundverschieden - die Platon in dem berühmten Exkurs des Siebenten Briefs untersucht. 74 Doch gerade aus dieser Schwäche - so schreibt Gadamer in seiner Studie zur Dialektik und Sophistik im siebenten Platonischen Brief- geht die "Produktivität" der Dialektik hervor. 75 Jeder dihairetische Logos läßt immer die eigene Überwindung zu, weil seine Einheit aus der Verflechtung eines Vielen entsteht, das stets von neuem aufgelöst werden kann. Was Gadamer die "Grenzen" der Sprache nennen wird, auf die man im Sprechen und Denken immer wieder stößt, enthüllt einerseits das unvermeidbare Scheitern jeder systematischen Darstellung der Philosophie und bestimmt andererseits die dialektische Forschung zu einem unendlichen Fortschreiten. 76 Die Verflechtung des Logos spielt eine ausschlaggebende Rolle bei Gadamers Interpretation der platonischen Dialektik. Erst in der bislang noch nicht völlig geklärten Verflechtungdes Einen und des Vielen, des Vielen und des Einen, entscheidet sich das Schicksal des Logos und der Philosophie. Ein anderes Wort für V~rflechtung ist "Mischung"; das Eine und das Viele haben ihrerseits schon eine Geschichte und gehen auf zwei pythagoreische Kategorien zurück: das peras, die Grenze, und das dpeiron, das Unbegrenzte. Diese beiden Kategorien neu zu interpretieren, ist nach Gadamer "die große Leistung des platonischen Den71
GADAMER, Zur Vorgeschichte der Metaphysik, GW 6, 23. PLATON, Phaidros, 265d 6. 73 Die Idee ist hier nichts anderes als die Frage, durch welche die Untersuchung eröffnet wird; Gadamer übernimmt damit Natorps Konzeption der Idee als Ausgangspunkt. Vgl. PAUL NATORP, Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus (1902), Hamburg: Meiner 1994, 150-163. Vgl. auch PAULETTE KIDDER, Gadamer and the Platonic Eidos, in: Philosophy Today 39 (1995), 83-92. 74 Pr.ATON, Siebenter Brief, 342a-344d. Vgl. GADAMER, Dialektik und Sophistik im siebenten Platonischen Brief, GW 6, 107. 7 ~ GAUAMER, Dialektik und Sophistik im siebenten Platonischen Brief, GW 6, 106. "' V~l. in c.licsc..•m Band Kilp. VIII, 6. 72
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VII. 1\,_pitrl: /Jit Vtrburgrtlhrit
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Sultr"l«"s
kens" gewesen, wie auch aus der Politeia und aus dem Theaitetos hcrvorgeht. 77 Dabei gilt es hervorzuheben, daß die "Grenze" in der gesamten Vorsokratischen Philosophie eine positive Bedeutung hat, die Bedeutung von etwas, das anfängt: die Grenze markiert kein Ende, sondern öffnet, erschließt. Dank der Grenze tritt das, was ist, aus dem Unbegrenzten heraus. Das Unbegrenzte hat indessen eine negative Bedeutung; es ist das Unvollendete, das Unvollkommene- eigentlich gerade das Gegenteil von dem, was wir heute gewöhnlich glauben. Platon bewahrt die positive Bedeutung der Grenze, rehabilitiert aber das Unbegrenzte. Diese Rehabilitierung, mit der er gleichsam den Vatermord an Parmenides begeht, ist maßgebend für die philosophische Hermeneutik, die sich um den Begriff der "Grenze" als Philosophie der unendlichen Endlichkeit entwickelt und sich somit als Erbin der platonischen Philosophie erweist. 78 Die Interpretation des Philebos erhält damit eine Tragweite, die nicht übersehen werden darf. 79 Nach der pythagoreischen Zahlenlehre ist die Grenze dem Unbegrenzten entgegengesetzt. Aufgrund einer "naiven ontologischen Identifizierung", wie Jacob Klein erklärt, unterscheiden die Pythagoreer nicht zwischen "Grenze" und "Begrenztem". 80 Die Neuerung, die Platon erbringt, liegt eben in dem "Begrenzten", dem "Gemischten", das der "Mischung" von Grenze und Unbegrenztem entspringt. All das, was ist, was zu dieser Welt gehört, ist "begrenzt", "gemischt" bzw. es ist nur dank einer Mischung. Gadamer hält daher fest: "Die ontologische ,Mischung' des Unbestimmten und des Bestimmenden zur Bestimmtheit ist also die Bedingung der Möglichkeit des Seins und Einheitseins von (ontisch) Gemischtem." 81 Nach einer Proportion, nach einem Logos zu mischen, bedeutet, das Seiende zum Sein werden zu lassen. 82 In Platons Philosophie werden die Grenze und das Unbegrenzte der Pythagoreer das "Eine" und die "Zweiheit" (dyad) genannt. 83 In seinem Aufsatz GADAMER, Platos ungeschriebene Dialektik, GW 6, 140. Vgl. in diesem Band Kap. IX, 3-4. 79 Vgl. PLATON, Philebos, 23b-27b sowie GADAMER, Platos dialektische Ethik, GW 5, 94-107. 80 An diesem für seine Philosophie entscheidenden Punkt verdankt Gadamer Klein viel. Vgl. }ACOB KLEIN, Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra, in: Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik, Abteilung B: Studien, Band 3, Erstes Heft, Berlin 1934, 18-105 und Zweites Heft, Berlin 1936, 122-235; wieder abgedruckt in englischer Sprache: Greek Mathematical Thought and the Origin of the Alg(bra, übers. von Winfree J. Smith und Eva Brann, Cambrige (Mass.): MIT Press 1968, hier 68 und 70. Vgl. jetzt BuRT HoPKINS, Klein and Gadamer on the Arithmos-Structure of Platonic Eidetic Numbers, in: Philosophy Today 52 (2008}, 151-157. 81 GADAMER, Platos dialektische Ethik, GW 5, 102. 82 Der Begriff des Logos entstammt der Mathematik und heißt "Beziehung": die Zahl, wie auch der Logos, ist ein Geflecht, ein Gewebe von Beziehungen. Vgl. hierzu: GADAMER, Mathematik und Dialektik bei Plato (1982}, GW 7, 290-312. 83 Aristoteles gebraucht den Terminus dyas, "Zweiheit", um Platons Philosophie zu beschreiben; doch in dieser letzteren erscheint er gar nicht und gilt deshalb als Schlüssclbc77 78
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ühc..·r 1)/,ttm IOI~t')( lnu·/J,.",. I )1tf/t•ktik deutc..·t ( ;~lllamc..·r d~H;tuf hin, daH das Prohlc..·m dc..·r Vidhl'it von Anl;ut~ 1\ll das Problem der Dualität ist.H 4 Ooch was ist die Zwt'ihcit, die..· in der llcrmcneutik eine weit wichtigere Rolle spielen wird, als man sic..:h für ~t~wilhnlich vorstellt? Das "Eine" ist die Grenze, die vereint, indem sie begrenzt und eingrenzt. Die "unbestimmte Zweiheit" ist der Weg, um die Differenz in die Einheit einzuführen und somit dem unendlichen Sichdifferenzieren des Vielen Rechnung zu tragen. Wenn Platon es jedoch vorzieht, von "Zweiheit" statt vom Unbegrenzten zu sprechen, so wird es dafür einen Grund geben. Als Prinzip der Differenz und der Differenzierung trägt die Zweiheit auch in ihrer Unbegrenztheit dazu bei, die Ordnung der Welt festzulegen. 85 Die Zweiheit ist dann die Weise, in der Platon das Unbegrenzte rehabilitiert. Denn das Unbegrenzte stellt nicht mehr die maßlose Unendlichkeit des Nichtseins dar, sondern ist das Nichtsein verstanden als Anderssein, ist die Differenz des Nichtseins bei seinem unendlichen Sichdifferenzieren. Die Zweiheit ist ein anderer Name für das "ist nicht", das der Fremde aus Elea im Sophistes reklamiert und in Anspruch nimmt. 86 Nur dadurch kann der Logos gerettet werden, kann die koinonia der höchsten Seinsgattungen, und vor allem die gegenseitige Teilnahme von Sein und Nichtsein, von Seibern und Verschiedenem bewiesen werden. Für Gadamer hat die Zweiheit jedoch noch eine präzisere und wirkungsvollere Bedeutung. Dies zunächst deshalb, weil sie nicht nur auf die Differenz, sondern auch auf das un-endliche Differenzieren verweist. Daraus ergibt sich eine neue Konzeption des Seins: das Differenzieren setzt das Sein in Gang, das ein Werden zum Sein ist, das heißt ein Sein, das nur als Verflechtung von Grenze und Unbegrenztem, Identität und Differenz, Einem und Vielem wird, wie Platon im Timaios zeigt. 87 Doch die Zweiheit wirkt sich auch auf die Philosophie und auf das menschliche Leben aus. So wie sie zusammen mit dem Einen die unendliche Reihe der Zahlen generieren kann, so ermöglicht sie jeden Logos, bestimmt ihn jedoch zur Unvollendetheit. Daher rührt der unendliche und unbestimmte Charakter des dialektißchen Logos bzw. der Philosophie. 88 Andererseits ist die Zweiheit griff der sogenannten "ungeschriebenen Lehre" Platons. Vgl. ARISTOTELES, Metaphysica, 987b 25. 11.. Vgl. GADAMER, Platos ungeschriebene Dialektik, GW 6, 137. Dem für Gadamers Philu~nphie entscheidenden Begriff der "Zweiheit" ist bis jetzt nur eine geringe Aufmerksamkeit geschenkt worden; eine Ausnahme stellt ein kurzer Beitrag von Prufer dar. Vgl. THOMAS f,RllliJ~R. A Thought or Two on Gadamer's Plato, in: LEWIS E. HAHN (Hrsg.), The Philosophy of Hans-Gcorg Gadamer 1997, 549-551; siehe auch GADAMER, Reply to Thomas Prufer, ~~2-554. 11 " Vgl. GAUAMJo:R, Platos ungeschriebene 11'' PI.ATON, Suphistl'S, 257b.
Tirn;tios, 37a-b. V~l. (;ADAMJ-:Jt, Pl.uos un~cschrichcnc l>i.,lcktik, GW (,, 150. Platon kann hier offen-
111 Pl.ATON, 1111
Dialektik, GW 6, 150.
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VII. 1\ ~/'ltrl,· I>lt Vrrlmr~rt1hrlt dr~ Sokratt'J
auch für das menschliche Lehen entscheidend, das jeden Tag zum "Versinken ins Maßlose" verurteilt ist. H'J Obwohl es sich jeweils im Zentrum, in der mes6tes, ausbalancieren muß, bleibt es stets dem Unbegrenzten der Zweiheit ausgesetzt, die jede Vollendung untersagt und verhindert, daß das Ende mit dem Ziel zusammenfällt. Man erfaßt hierin die ethische Dimension der aporetischen Dialektik. Denn diese läßt die aporia, die Schwierigkeit der Unterscheidung offen, die stets auch eine Entscheidung ist. Das Geflecht des Logos deutet nicht nur auf eine neue Art, das Sein in der Mischung zu denken, sondern verweist auch auf ein Leben, das sich durch das Maß begrenzt. Verflechtung, Mischung, Begrenztes, Maß werden zu Schlüsselbegriffen für die Hermeneutik und für ihre Art, das Leben als ein Getränk zu verstehen, das, nach der Metapher des Philebos, richtig gemischt werden muß. 90 Dabei wird auch die Lust nicht fehlen, die auch als "unbegrenzt" bezeichnet wird, weil ein Leben, das sich dem Genuß hingibt, keine Grenze kennt; ebenso wird der Schmerz nicht fehlen, die "Störung" der Hingabe an die Lust, die das Dasein zum eigenen Gravitationszentrum zurückführen kann.91 Doch das menschliche Wesen verwirklicht und versteht sich dadurch, daß es stets sein Zentrum wiederherstellt - was nur mit dem Anderen möglich ist.92 Es gibt daher keine Definition des Guten, und es kann auch keine geben, da es absurd wäre, das Gute in seiner Transzendenz als eine höchste Idee anzusehen.93 Die Idee des Guten hat die Jenseitigkeit eines Über, die sie einer regulativen Idee nähert.94 Sie ergibt sich in dem richtigen Maß und in der richtigen Proportion, die notwendigerweise als schön erscheinen muß - hier ist es, wo das Gute sich ins Schöne "flüchtet" 95 - und sie vollzieht sich in der Vereinigung des Vielen, das heißt im Einen, das stets offen und endlich ist. "Das menschliche Leben ist daher in sich selbst dialektisch." 96 kundig die Annahme der von Hegel so genannten "schlechten Unendlichkeit" zugeschrieben werden. Vgl. in diesem Band Kap. IX, 4. 89 GADAMER, Platos ungeschriebene Dialektik, GW 6, 153. 90 Vgl. GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, GW 7, 192. 91 GADAMER, Platos dialektische Ethik, GW 5, 130. Es ist interessant zu bemerken, daß Gadamers erste Veröffentlichung die Lust behandelt, die letzte dagegen den Schmerz: es ist das kleine, posthum erschienene Buch Schmerz (vgl. HANs-GEORG GADAMER, Schmerz. Einschätzungen aus medizinischer, philosophischer und therapeutischer Sicht, Heidelberg: Winter 2004). 92 Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 7. 93 Vgl. GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, GW 7, 198. Gegen diese Auffassung vgl. aber CHRISTOPHER GILL, Critical Response to the Hermeneutic Approach from an Analytic Perspective, in: GIOVANNI REALEISAMUEL ScOLNICOV (Hrsg.), New Images of Plato: Dialogues on the Idea of the Good, Sankt Augustin: Academia Verlag 2002,211-222, insb. 213-219. 94 Vgl. GADAMER, Plato als Porträtist, GW 7, 248. 95 GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, GW 7, 192 f. 96 GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristotelcs, GW 7, 197.
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6. l1c~cl, die.' 1>iitlcktik und die 1·lcrn1cncutik Wo er die Verwindung der Metaphysik aufzuklären versucht, mit der es sich wie bei einem Schmerz verhält, den man erträgt und gerade deshalb daran bleibt, führt Gadamer aus, daß dies "nun im besonderen für Hegel [gilt], daß man an ihm in einer eigentümlichen Weise daran bleibt." 97 Was ist es also, das Gadamer an Hcgel und an seinem "Erbe" daran bleiben läßt? Die Begegnung mit Hegel erfolgt im Zeichen Platons - wie Gadamer in dem Vortrag Das ErbeHegels unterstreicht.98 Kein anderer moderner Philosoph hat es verstanden, die griechische Dialektik derart weiterzuentwickeln: Hegel, der letzte der Griechen. Auf ähnliche Weise hatte sich schon Heidegger ausgedrückt: "Bei dem Namen ,die Griechen' denken wir an den Anfang der Philosophie, bei dem Namen ,Hegel' an deren Vollendung." 99 Auch Gadamer sieht diese Nähe, doch seine Distanzierung von der Interpretation, die Heidegger sowohl von Platon als auch von der gesamten abendländischen Philosophie gibt, vertieft sich im Fall Hegels noch weiter. Gadamer kann nämlich das Urteil nicht teilen, dem zufolge Hegel die "Vollendung der Metaphysik der Subjektivität" darstellen würde. Sobald man nämlich in Betracht zieht, was Hegel bei den Griechen und überall, wo es Philosophie gibt, als "das Spekulative" anerkennt, tritt eher das Gegenteil zutage. 100 In seinem Band Hegels Dialektik stellt Gadamer die komplexe Beziehung zwischen Hegel und den Griechen heraus, eine Beziehung gleichsam von gegenseitigem Austausch, bei dem es die Gegenseitigkeit eben nicht erlaubt, von einer "Vollendung" zu reden. Wenn Hegelinden Griechen das erblickt, was die Griechen selber nicht gesehen hatten, so ist es andererseits nur durch die Griechen möglich, Hegels Philosophie auf neue Weise zu betrachten. Der Zusammenhang zwischen Gadamer, Hegel und den Griechen ist die Dialektik. Die Kunst der Dialektik geht auf jene ersten Philosophen zurück, die das Festland der sinnlichen Erfahrung hinter sich ließen und sich zum ersten Mal auf das hohe Meer des reinen Denkens begaben. 101 Hegels Blick richtet sich auf die eleatische und auf die platonische Dialektik, insbesondere- wie GadaGADAMER, Hegel und Heidegger, GW 3, 87. Vgl. auch GADAMER, Hegels Philosophie und ihre Nachwirkungen bis heute (1972), in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 32-53. 98 Der Vortrag wurde 1978 in Neapel unter dem Titel Hege! und die Hermeneutik gehalten (vgl. in diesem Band Kap. I, 11). Vgl. GADAMER, Das Erbe Hegels, GW 4, 467. 99 MARTIN HEIDEGGER, Hegel und die Griechen, in: Wegmarken, 427-444. 100 GADAMER, Hegel und die antike Dialektik (1961), GW 3, 3-28, hier 25. Für eine vergleichende Studie vgl. MEROLD WESTPHAL, Hegeland Gadamer, in: BRICE R. WACHTERHAUSER (Hrsg.), Hermeneuries and Modern Philosophy, Albany: SUNY 1986, 65-86; vgl. auch Tu..:onoRE K 1ESEL, Hcgcl and Hermeneutics, in: FREDERICK G. WEISS (Hrsg.); Beyund Epistcmology, Thc llaguc: Nijhoff 1974, 197-220. 101 V~l. <jA DA M F K, l>il· Idee der IIegcisehen Logik (1971), GW 3, 65-86, hier 69. 97
174 mer in seinem Aufsatz liege/ und die antike Dialektik ausführt- auf die "spekulativen" Dialoge: den Sophistes, den Parmenides, den Philebos. 102 Vor allem dem Parmenides fällt aber eine entscheidende Rolle zu. Denn hier zeigt sich, daß die Wahrheit niemals an einer isolierten Idee haftet, sondern stets in der Verbindung von Ideen, in der Bewegung liegt, die den Widerspruch entdeckt und in sich die Antithese von Sein und Nichtsein, von Identität und Differenz aufnimmt: in einer Bewegung also, die sich zwischen dem Einen und dem Vielen entfaltet. 103 Obwohl Hegel glaubt, diese Bewegung auch im Sophistes ausmachen zu können, so ist es doch vor allem der sokratische Stil des Dialogs Parmenides, der in seiner "immanenten Plastik" die Selbstentwicklung des Denkens zeigt. 104 Wo liegt aber die Schwäche dieser Dialektik? Zunächst in ihrer "permanenten Unruhec', in der das Eine, wenn es auch schon impliziert ist, doch noch nicht, mit Hegels Worten, als die höchste Einheit, als die Totalität des Ganzen, gedacht wird. 105 Die platonische Dialektik sei daher nur negativ und bringe in ihrer Aporie nichts Positives hervor. In der Tat- so kommentiert Gadamer- ist die platonische Dialektik keine Methode; es gibt keinen Anfang und noch weniger ein Wissen, das stufenweise zu einer absoluten Vollendung im Begriff gelangen würde. 106 Stimmt er im ersten Teil dieser Kritik mit Hegel überein, so distanziert er sich im zweiten Teil von ihm, indem er Hegel gegen Hegel ausspielt. Die antiken Philosophen strebten danach, sich aus der Unmittelbarkeit des Sinnlichen zu erheben, um die Universalität des Denkens zu erreichen. Umgekehrt ist die Moderne, in der das Individuum bereits von abstrakten Formen umgeben ist, durch die Bemühung charakterisiert, das Feste wieder flüssig zu machen. Auf diese Weise beschreibt auch Hegel die quereile zwischen Antike und Moderne. Der antiken Philosophie fehlt demnach noch die Selbstgewißheit als Subjektivität, es fehlt ihr das Selbstbewußtsein; aber gerade deshalb ist sie näher an der Flüssigkeit, in der ,"alles Vorkommendec im natürlichen, sprachlichen Bewußtsein gedacht wird." 107 Hierin zeigt sich, in welchem Maße die Modernen nach wie vor auf die Antiken angewiesen sind. Die moderne Dialektik muß die antike wiederaufnehmen, in der die spekulative Bewegung des Denkens sichtbar wird. 108 Was zu klären bleibt, ist aber nicht nur die Bedeutung des "Spekulativen", sondern auch dessen Zusammenhang mit dem "Logischen". Dieses Thema :wird Hegel und die antike Dialektik, GW 3, 4. Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 69 und 75. GADAMER, Hegel und die antike Dialektik, GW 3, 5. Vgl. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 75. Vgl. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 70. GADAMER, Hegel und die antike Dialektik, GW 3, 6. Vgl. GADAMER, Hegel und die antike Dialektik, GW 3, 27 f.
102 GADAMER, 103 104 105 106 107 108
Vgl.
GADAMER,
175
in dem wichti~stcn Aufsiltl. vnn Gadamers Sammlung behandelt: Die Idee der Hegeischen Logik. 10'' Nitchdcm er erläutert hat, inwiefern die Phänomenologie des Geistes und die Wissensc:haji der Logik die beiden großen Bücher Hegels sind, stellt Gadamcr die Aktualität der Hegeischen Logik zur Debatte. 110 Gleichzeitig aber bereitet er sich auf eine strenge Kritik Hegels vor, die in der These kulminiert: "Dialektik muß sich in Hermeneutik zurücknehmen." 111 Hegels große Entdeckung ist, daß sich die Philosophie in einer spekulativen Bewegung vollzieht. Als ihr völlig unangemessen erweist sich deshalb die traditionelle Form des Satzes, das heißt des "Verstandesurteils" bzw. der Aussage, die ein Subjekt mit einem Prädikat verbindet und die Aristoteles als l6gos apophantik6s bezeichnet. Der philosophische Satz, der sich nicht damit zufrieden gibt, nur zu urteilen, sondern der in dem zu Denkenden verweilt und sich in ihm vergißt, ist ein spekulativer Satz. Dieser Satz hat eine Besonderheit: Er geht nicht vom Subjekt zum Prädikat über, sondern sagt die Wahrheit des Subjekts in der Form des Prädikats. Führen wir ein Beispiel an: "Gott ist Einer." Nun ist Einer kein Prädikat Gottes, sondern sein eigentliches Wesen. Das Subjekt wird durch das Prädikat nicht bestimmt. Die Gedankenbestimmung erleidet vielmehr einen "Gegenstoß" und wird aufgehalten. 112 Sie beginnt zwar im Subjekt, als ob dieses ihre Grundlage wäre, dennoch entdeckt sie, daß das Prädikat die Substanz ist, während das Subjekt, das in das Prädikat übergegangen ist, in ihm aufgehoben wird. Der spekulative Satz prädiziert daher nicht wie eine einfache Aussage, sondern schwingt hin und her - sein spekulativer Charakter ist eben dieses Schwingen, in dem "die Identität des Subjects und Prädiears den Unterschied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht vernichten [soll]." 113 Kurzum: Der spekulative Satz beschränkt sich nicht darauf, die Identität zu prädizieren, sondern stellt eine harmonische Einheit her, in der die Identität jeweils die Differenz bestehen läßt. 114 Seine Relevanz liegt gerade darin, daß er noch vor jeder Aussage die spekulative bzw. die dialektische Bewegung der Sprache deutlich erkennen läßt. Gadamer faßt dies so: Zwischen Tautologie und Selbstaufhebung in der unendlichen Bestimmung seines Sinns hält der ,spekulative Satz' die Mitte, und hierin liegt die höchste Aktualität Hegels. Der spekulative Satz ist nicht so sehr Aussage als Sprache. 115
Hegel spricht in diesem Zusammenhang auch von dem "logischen Instinkt" der Sprache. Damit meint er vor allem, daß sich die logischen Strukturen in den
109
IIO 111
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113 114 m
Vgl. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 65-86. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 65 f. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 86. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, 43. HEGHL, Phänomenologie des Geistes, 43 f. Vgl. GADAMI!R, Hcgcl und die antike Dialektik, GW 3, 14-16. GAnA M EK, Dit.• Idee der Hc~clschcn Logik, GW 3, 83.
VII. 1\ "''"''·' IJI1 VrrburJlr.Hhl'it Jr• .\'ult r,ur.•
grammatischen Strukturen widct'HJlic~cln und Ja(~ sich die Verflechtungen und Korrelationen der Logik dank jener .,Vokale des Seins" realisieren, von denen Platon im Sophistes spricht. 1Jt, ,,Die Denkformen sind zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt", schreibt Hcgel in der Wissenschaft der Logik, so daß für den Menschen ,,in alles, [...] was er zu dem seinigen macht, [...] sich die Sprache eingedrängt [hat]." 117 Allerdings bedeutet der logische Instinkt der Sprache für ihn noch etwas mehr, nämlich das Neigen der Sprache zum "Logischen", ihr Bestreben, in der Idee der Logik die eigene Vollendung zu finden. Die instinktive oder natürliche Logik der Sprache würde so in der Erhebung zur philosophischen Logik ihr Ziel und Ende finden, wie das Wort in der Erhebung zum Begriff. Gadamer kann offenkundig Hegel bei diesem Salto mortale des Denkens über die Sprache hinaus nicht folgen. Die Sprache ist nämlich keine "Durchgangsform", die das Denken hinter sich lassen kann, wenn es die Transparenz des Gedachten im Begriff erreicht. 118 Hege! sieht nicht, daß die Bewegung der Sprache, eben weil sie spekulativ ist, eine "doppelte Richtung" hat: Während sie den Begriff im Wort vergegenwärtigt, untersagt sie ihn zugleich, revoziert und wider-ruft ihn, ruft ihn zurück. Denn im Wort, das niemals isoliert ist, sondern stets auf ein Ganzes und auf seine Beziehungen zu dem Ganzen verweist, reflektiert das Gesagte stets das Ungesagte. 119 Hege! hat recht, wenn er im "Logischen" und im "Spekulativen" - die hier synonym geworden sind - diejenige "dialektische Artikulation" erkennt, in der die Sprache selber liegt; er hat sich jedoch mit seiner Annahme geirrt, daß es eine Bewegung geben könne, die nur in einer Richtung verläuft und ihr Ziel außerhalb und jenseits der Sprache findet. Der Triumphmarsch des Selbstbewußtseins scheitert hier an seinem Anspruch, sich eine stabile Bleibe in derjenigen Form der "Aneignung" des Anderen zu verschaffen, welche die abendländische Tradition unterminiert hat. Die Reflexion, die in der Bewegung der instinktiven Logik der Sprache liegt, ist stets "unheimisch" und kann als solche nicht an einem bestimmten Ort angehalten werden. 120 Aber auch das Epos des absoluten Geistes, der sich in Hegels großem Monolog entfaltet hatte, endet ebenso in einem Scheitern. 121 So wie es keine Vollendung in der Hegeischen Dialektik gibt, so stellt Hegel auch keine Vollendung der antiken Dialektik dar. "Wenn sich die Hegeische PLATON, Sophistes, 253a-b. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Wissenschaft der Logik. Erster Band. Gesammelte Werke, Bd. 21, hrsg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Hamburg: Felix Meiner 1984, 10. 118 GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 82. 119 Zur spekulativen Dialektik des Wortes bei Gadamer vgl. in diesem Band Kap. VIII, 4. 120 GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 85. 121 Vgl. GADAMER, Hege! und die antike Dialektik, GW 3, 5; Wahrheit und Methode, GW t, 375. 116 117
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ldt.•t.· d,:r l.o~ik dt.•tt Ht.·zu~ .nlf dil•n,uiirlidlc l.o~ik I... J vollt.·in~cstehcn würde", so wi.irdt.• sie sit.:h unvt.•rsdwns wil·dcr in der Nähe der platonischen Dialektik tindcn. 111 War es zunächst not wt.·ndig gewesen, die griechische Dialektik durch Hegcl zu lesen, um die in ihr noch fehlende Einheit zu entdecken, so gilt es jetzt, die Hegeische Dialektik durch die griechische zu lesen, um einzusehen, daß jene Totalität keine geschlossene sein kann- wenn sie weder totalisierend noch totalitär sein soll. Offen hält sie gerade die Negativität, die Aporie, die sowohl in der unbestimmten Zweiheit Platons als auch in der "schlechten Unendlichkeit" Hegels zurückbleibt. 123 In der Weise, in der sich der objektive Geist in der Sprache artikuliert, begrenzt er zum einen den subjektiven Geist und bestreitet zum anderen von Innen her den absoluten Geist, das heißt es macht ihn unmöglich. Mehr noch: Es ist die Sprache, die das neue Modell eines Ganzen anbietet, das stets unendlich offen ist. Daß sich die Dialektik in Hermeneutik "zurücknehmen" muß, bedeutet, daß sie sich widerrufen muß, so wie der Begriff sich jeweils im Wort widerruft und revoziert. Es bedeutet, daß jene zweifache Richtung anerkannt werden muß: vom Wort zum Begriff und vom Begriff zum Wort. 124 Dies heißt aber auch, daß die metaphysische Dialektik Hegels sich auf die zeitgenössische Form der dialogischen Dialektik Platons, nämlich auf die philosophische Hermeneutik verlassen muß. Hegel selbst war sich übrigens der spekulativen Bedeutung der platonischen Dialektik durchaus bewußt, wie er sich auch all dessen bewußt war, was bei der Trennung der Dialektik von der Analytik durch die Verschließung verloren ging, welche die aristotelische Apodiktik dekretiert hatte. 125
7. Die Apodiktik und der Ausschluß des Anderen.
Über Aristoteles Obwohl Gadamer aufgrund seiner Rehabilitierung der phr6nesis für einen Aristoteliker wenn nicht gar für einen Neoaristoteliker gehalten wird, ist er genauer betrachtet das Gegenteil. Um das Etikett zu korrigieren, könnte man ihn geradezu als Anti-Aristoteliker bezeichnen. Die Nähe Gadamers zu Aristoteles beschränkt sich letztendlich auf das Kapitel, in welchem die philosophische Hermeneutik dem praktischen Wissen des Aristoteles insofern begegnet, als Aristoteles selber platonische und sogar sokratische Motive wieder aufnimmt. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 86. Vgl. in diesem Band Kap. IX, 4. Vgl. jAMES RISSER, In the Shadow of Hegel: Infinite I>ialoguc in Gadamer's Hermeneutics, in: Research in Phenomenology 32 (2002), 86-102. 124 Gadamcr ist auf dieses Thema bis in seine letzten Jahre immer wieder zurückgekommen und hat 1997 auch das letzte Seminar in Neapel darüber gehalten. Vgl. auch GADAMER, Vom Wort zum Bc~riff, in: Lesebuch, 100-111. ll'l CAt>AMFK, lll·~d und dil· antike Diall'ktik, (;W J, 22. 122 123
17H
Gadamer betont dies in dl'l' I'J'JO cnchicncn Studie /)it.· soA•ratisc:he Frage und Aristoteles. 126 Ansonst muH m&\ll jedod1 eher von Ferne reden. Zunächst liest Gadamer die Geschichte der griechischen Philosophie, indem er ihre aristotelische Rekonstruktion demoliert. Aber diese Distanz zu Aristoteles hat auch noch eine beachtliche philosophische Bedeutung. Gadamer ist nämlich weit entfernt vom apodiktischen Philosophieren des Stagiriten und er teilt seine Kritik an Platon keineswegs. In seinen Augen stellt Aristoteles die apodiktische Verschließung der platonischen Dialektik dar. Läßt sich die Dialektik wirklich als Zwischenglied auf dem Weg zur episteme, zur apodiktischen Wissenschaft auffassen, die Aristoteles erreicht haben soll? Für Gadamer gilt es, dieses Urteil zu revidieren. Es klagt Platons Philosophie wegen einer fehlenden Fixierung der Begriffe an, die sie aufgrund ihrer dialektischen Vokation doch gerade vermeiden wollte. Nach Aristoteles ist Platons dihairetische Methode wegen dieser Unbestimmtheit ungenügend; dies wird für ihn durch die Schwierigkeit bewiesen, jeweils den richtigen Punkt der dichotomischen Einteilung auszuwählen. Die Dihairesis könne daher nicht den Anspruch erheben, eine wissenschaftliche Methode zu sein. 127 Die aristotelische Apodiktik - und der Übergang von der literarischen Form des Dialogs zu der des Traktats bezeugt dies wohl - tendiert dazu, die platonische Dialektik zu überwinden, indem sie ihr eine wissenschaftliche Fundierung im Begriff sicherstellen will, derdie universale und notwendige Definition für das Wesen des Gegenstands ist. Doch die "Begriffsbildung", selbst wenn sie auf den ersten Blick einen Gewinn an Klarheit zu bedeuten scheint, erweist sich eigentlich als ein zweifacher Verlust. Bei der Begriffsbildung geht nämlich die "unerschöpfliche Vieldeutigkeit" der alltäglichen Sprache verloren, während die philosophische Sprache auf eine starre Terminologie herabgesetzt wird. 128 Obendrein extrapoliert und isoliert die apodiktische Rede die in ihr enthaltenen Begriffe: techne, episteme, sophia, phr6nesis, nous mögen vielleicht klarere Konturen erhalten, dabei wird aber die Verbindung nicht mehr ersichtlich, die sie untereinander und mit dem Kontext verknüpft, aus dem sie stammen. Der größte Verlust, den die aristotelische Apodiktik mit sich bringt, deren Aufgabe darin besteht, das Vereinte zu trennen, ist jedoch die Hypostasierung der sinnlichen und der intelligiblen Welt. Die Zweiweltenlehre ist eine Konsequenz der aristotelischen Kritik an Platon. Es ist daGADAMER, Die sokratische Frage und Aristoteles, GW 7, 373-380. Vgl. jEAN GRaNDlN, Gadamers sokratische Destruktion der griechischen Philosophie, in: GRONDIN, Der Sinn für Hermeneutik, 54-70, hier 69. Vgl. jetzt auch jAMEY FINDLING, Gadamer and thc Platonic Contribution to Practical Philosophy, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 4 (2005), 125-139. 12 7 Vgl. ARISTOTELES, Analytica priora, 46a 31-b 19. 128 Vgl. GADAMER, Die sokratische Frage und Aristoteles, GW 7, 377; Aristotcles und die imperativische Ethik, GW 7, 388. 126
hc.·r t'lir <;,ld.unc.·r J'Mr.ulcuu•rwriNr ~rudr Aristotdc.•s, dc.•r c.lun·h ~c.·inc.·n Vrrzicht ;tuf dc.·n sokr.uisdwn I >i.tlo~ dc.·n Ansto(~ für den Pl~ttoni."mus ~c~chcn hat. ln ihn:r Ahsidlt, l'in twtwcndi~cs Beweisverfahren zu etablieren, muß die Apodiktik auc.:h noch ;tuf ein ilndercs für die Dialektik eigentümliches Moment verzichten: die Zustimmunt.; des Anderen. Die Objektivität, auf welche die Definition zielt, impliziert eine endgültige Verständigung. Von dieser Verständigung ist der Andere als solcher ausgeschlossen. Es bleibt ihm nur, die Angemessenheil des definitorischen Logos zu bestätigen. Der Andere, mit dem die Übereinstimmung erstrebt wird, ist also in nichts verschieden von allen Anderen, oder besser, er wird nur in dem beansprucht, worin er gerade nicht verschieden von den Anderen ist. 129
Diese Verständigung, die zur Definition führt, markiert ein finis, ein Ziel, das zugleich das Ende des Sprechens und des Gespräches ist. Die hermeneutische Offenheit wird dadurch aufs Spiel gesetzt. In der dialogischen Dialektik verhalten sich die Dinge dagegen genau umgekehrt, da ihre Vorläufigkeit nicht zu einer unwiderruflichen Definition, sondern zu einem Gespräch führt, das in seiner offenen Unbestimmtheit, als Frage, stets eine Antwort verlangt. Die Interpretation, die der Dialektiker vorschlägt, macht aufgrundder Offenheit, die sie bewahrt, weitere Interpretationen möglich. Deshalb vollzieht sich die Dialektik in einem Sprechen, das unendlich bereit ist, seine Motivation, seine Rechtfertigung und seine Begründung in der Antwort des Anderen zu finden. In der Weise, in der Gadamer sie wieder aufnimmt, lebt die platonische Dialektik aus der Teilhabe des Anderen und sie ist bei jedem ihrer Schritte von der Möglichkeit getragen, sich der Übereinstimmung des Anderen zu vergewissern.
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t.l" (IAt>AMEK, Platos diall•ktischc Ethik, GW 5, 31.
VIII. Kapitel
Der Horizont des Gesprächs Sprache ist ein Uni-versale und keineswegs ein abgeschlossenes Ganzes. 1
Das Gespräch, das wir sind, [ist] nie einendendes Gespräch. Kein Won ist ein letztes, so wie es kein erstes Wort gibt. 2 Voraussetzungslos ist dann das, worin die beiden Sprechenden so übereinstimmen, daß es keiner Begründung bedarf. 3
1. Die Sprachvergessenheit in der abendländischen Tradition. Platon, Augustin, Humboldt Als Gadamer den letzten Teil von Wahrheit und Methode schrieb, hatte die Sprache noch nicht die Hauptrolle auf der philosophischen Bühne inne, die sie wenig später übernehmen sollte. Die sogenannte linguistische Wende des 20. Jahrhunderts, in der die verschiedensten philosophischen Strömungen zusammenlaufen sollten, war noch nicht vollzogen: vom logischen Positivismus bis zu Wittgenstein, vom amerikanischen Pragmatismus bis zum Strukturalismus und zur Psychoanalyse, von Heidegger bis zur Transzendentalpragmatik von Apel und Habermas, von Merleau-Ponty bis zu Derridas Dekonstruktion. Auch die philosophische Hermeneutik sollte ihren Beitrag dazu leisten. Doch Gadamer selbst ging nicht davon aus, daß seine eigene •Wendung" -die "ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache" - dem linguistic turn entsprechen könnte. In einer Anmerkung zu der letzten Auflage von Wahrheit und Methode schreibt er:
1 2
3
Hans-Georg GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 402. GADAMER, Dekonstruktion und Hermeneutik, GW 10, 140. GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 406.
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kh vt.·rkt.·nm· nidu, daf~ dt·r ,liu~uistic turn', von dem ich damals, in den frühen 50er .J.,hrt.•n mH.:h keine Kenntnis h;ttlt.', d.tssclbc erkannt hat. 4
Wie präsentiert sich nun die Sprachreflexion im Deutschland der frühen sechzi~cr Jahre? Wittgenstein war noch so gut wie unbekannt. Die analytische Philosophie, die in Nordamerika allmählich die Oberhand gewonnen hatte, war mit dem Positivismus des Wiener Kreises assoziiert und eben deshalb verfemt. Auf der anderen Seite blieb die Sprache in Husserls Phänomenologie ein sekundäres Moment. Erst mit Heidegger sollte sich die Perspektive radikal verändern. Gadamer kannte den größten Teil der Aufsätze, die Heidegger seit 1935 dem Zusammenhang von Sprache und Dichtung gewidmet hatte und fand dort mit Sicherheit wichtige Inspirationsquellen. Dennoch darf man nicht vergessen, daß Unterwegs zur Sprache erst 1959 erschien, als Wahrheit und Methode schon im Druck war. So wie er sich in den ästhetischen Teilen nicht auf Heidegger beruft, so erwähnt er dessen Namen in Abschnitten über die Sprache nicht. 5 Trotzdem sind Heideggers Wendungen hier und da unverkennbar herauszuhören - angefangen mit der Kehre, in Bezug auf welche Gadamer jedoch von Wendung spricht. Eindeutig ist dabei seine Absicht, sich von Heidegger zu distanzieren, der die Hermeneutik hinter sich gelassen hat, um sich dem Geheimnis der Sprache zuzuwenden. Denn seine Kehre ist für Gadamer eine Rückkehr zur frühen Hermeneutik der Geworfenheit. 6 Dagegen vollzieht sich Gadamers •Wendung" auf dem Boden der philosophischen Hermeneutik. In der deutschen Philosophie ist die Sprache alles andere als ein unerforschtcs Feld. Es genügt hier die Namen von Ernst Cassirer, Hans Lipps, Johannes Lohmann,Julius Stenzel und vor allem von Richard Hönigswald in Erinnerung zu bringen - Namen, die Gadamer mehrmals erwähnt.l Sie alle verweisen auf die große Tradition der Sprachphilosophie, die mit dem Denken Hamanns, Herdersund vor allem Humboldts verbunden ist. Von dieser Tradition läßt sich Gadamer nicht trennen. Doch die nicht ohne Mühe geleistete Synthesis des dritten Teils von Wahrheit und Methode kann nicht verhindern, daß viele Ausführungen hier unbefriedigend und fragwürdig erscheinen und viele theoretische Argumente eirien rudimentären Charakter zeigen. Es ist deshalb kein Zufall, daß dieser dritte Teil, im Unterschied zu den beiden anderen, nur eine verBleichsweise geringe Resonanz haben wird. Und es ist ebensowenig ein Zufall, daß Gadamcr in den darauf folgenden Jahrzehnten immer wieder auf diesen GAI>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 421; Zwischen Phänomenologie und Dialektik- Versuch einer Selbstkritik, GW 2, 4. ~ V~l. in diest.•m Band Kap. 111, 3. 11 Vgl. in diesem Band Kap. IV, 5. 1 Die 1\cdeutun~ I f()ni~swalds und seines grundlegenden Buchs zur Sprachphilosophie h•rrt nol'h t•i•wr an~<.'llll'SSt:lll'll Anerkennung (vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 11 40H). V~l. Ku:llt\ltU llc')Nu;swt\11>, Philosophil· und Spr.tchc. Problemkritik und System (1'1.\7), I >.umst.uh: Wiso.;t•nsrh.lltlidu: Burh~t·sdlschaft 1970. 4
182
Teil zurückkommen wird, wähn•nd die Sprache zum Leitfaden der gesamten letzten Phase seiner Philosophie avanciert. Beinahe die Hälfte des dritten Teils ist einer langen Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition gewidmet. 8 Was ist mit der Sprache in der Geschichte der Philosophie geschehen? -dies ist die Frage, von der Gadamer ausgeht. Seine strenge und unnachgiebige Antwort ist, daß die Sprache vollkommen vergessen und verdrängt worden sei, so daß man von einer "Sprachvergessenheit" reden müsse.9 Ist die abendländische Tradition für Heidegger durch eine Seinsvergessenheit gekennzeichnet, so steht sie für Gadamer im Zeichen einer Sprachvergessenheit. Und für beideistder Hauptverantwortliche dafür Platon. Was bedeutet "Sprachvergessenheit"? Es bedeutet, daß die innerste Verbindung der Sprache mit dem Denken aufgelöst worden ist. Deshalb konnte das Denken als unabhängig von der Sprache möglich erscheinen und die Sprache ihrerseits zu einem bloßen Werkzeug des Denkens herabgestuft werden. Das instrumentelle Sprachverständnis, demzufolge die Worte nichts anderes als Zeichen für schon selbstständig existierende Ideen und Sachen sind, bildete die stillschweigende Voraussetzung der gesamten abendländischen Reflexion. Schon die griechische Philosophie weigert sich, Gadamer zufolge, die konstitutive Rolle anzuerkennen, welche die Sprache im Vollzug des Denkens spielt, und sie strebt deshalb danach, dem Denken einen Raum jenseits der Sprache zu erschließen. 10 Und gerade hier verbirgt sich- angefangen mit Platon- das Wesen der Sprache. Gadamers Lektüre konzentriert sich auf den Kratylos, der ihm als paradigmatische "Grundschrift" gilt. 11 In diesem Dialog sind zwei Theorien einander entgegengesetzt: die des Kratylos, demzufolge eine natürliche Ähnlichkeit zwischen Name und Sache besteht, und die des Hermogenes, für den die Worte nur konventionelle Etiketten sind. Obwohl Platon die Unvertretbarkeit beider Theorien behauptet, gelangt er nicht über sie hinaus. Gadamers Interpretation zufolge liegt sein Fehler darin, daß er beweisen will, die vermeintliche "Richtigkeit" der Worte sei keine Garantie für eine "sachliche Wahrheit" und es sei daher nötig, die Sachen ohne Worte zu erkennen. 12 Als trüber Widerschein des Lichtes der Idee ist das Wort ein Hindernis, um zur Wahrheit des Seienden vorzudringen. Unter Anklage steht also hier die platonische Ideenlehre, die entwickelt worden war, um dem Sprachmißbrauch der Sophisten zu begegnen. Dennoch kommt Gadamer zu dem überraschenden Urteil, Platons Entdeckung der Ideen verdecke "das eigene Wesen der Sprache noch gründlicher[...], als es 8 9
10
11 12
Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 409-460. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 422. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 421-422. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 409. GA DAMER, Wahrheit und Methode, GW I, 411.
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1' GAI>AMI-:R, 14 CiAUAMFR,
Wahrheit und Methode, GW 1, 412. Wahrheit und Methode, GW 1, 415. I" V~l. in d icsem Kapitel 4. "' ( iA UA M I'R, W;lhrheit und Methode, GW 1, 416. 11 V~l. ( iA UA M FR, Wahrheit und Methode, GW 1, 422. 111 V~l. (;1\111\MI·:R, w.lhrhcit und Methode, GW 1, 418. 14' V~l. in dit'S{'Ill 1\.uul Kap. VII, 5-ll. JO <;" Ul\ MI· R, Zur Pldnnllll'tlOio~il· von Ritualund Sprache, GW 8, 435.
1H4
Hier wird die sogenannte "Flucht in die Lu~oi", von der der Phaidon berichtet, als eine "epochale Wendung" in der Philosophie, ja als der "Anfang der Philosophie" betrachtet. 21 In der dunklen Sprachvergessenheit der abendländischen Tradition bildet Augustins Auffassung des verbum interior für Gadamer die einzige Ausnahme. Diese Interpretation steht zu dem verbreiteten Bild Augustins in Widerspruch, das ihn, wie etwa die Ausführungen zu Beginn von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, als Vertreter des Sprachkonventionalismus zeigt. Gadamer stützt sich dabei nicht auf De magistro, sondern auf De trinitate. 22 Genauer betrachtet ist aber nicht Augustin, sondern Thomas von Aquin der am häufigsten zitierte Autor dieses Abschnitts, den Gadamer bezeichnenderweise mit "Sprache und Verbum" überschreibt. 23 Eine zentrale Rolle spielt bei dieser Deutung der christliche Gedanke der Inkarnation. Durch ihre Anlehnung an den Prolog des Johannesevangeliums eröffnet die christliche Theologie eine neue Perspektive. Die Schöpfung geschieht durch das Wort Gottes. Anders als der griechische Logos vollendet der christliche Logos seine Spiritualität, wenn er "Fleisch" wird. 24 Weit davon entfernt, bloß eine Verminderung oder Herabwürdigung zu sein, ist die Inkarnation eine volle und wesentliche Verwirklichung Gottes. Die daraus folgenden Konsequenzen sind keineswegs nur theologisch, denn die Inkarnation wirft nach Gadamer Licht auch auf das Wunder der Sprache. Doch um dies zu verstehen, muß man Augustin folgen, der den umgekehrten Weg geht: er lehnt sich an die Sprache an, um in das Inkarnationsgeheimnis einzudringen. Dazu nimmt er die von den Stoikern eingeführte Unterscheidung zwischen Logos endiathetos und Iogos prophorikos, zwischen innerem und äußerem Logos, wieder auf. Der erste ist der innere Raum des Denkens, der letzte ist die reine Äußerlichkeit. Augustin sieht eine "Analogie" zwischen innerem und äußerem Wort, doch er kehrt sicherlich nicht die Beziehung zwischen Innen und Außen um. 25 Fundamentale theologische Gründe hindern ihn daran: Das verbumdarf als solches nicht mit dem Verbum verwechselt werden, das Gott für seine Offenbarung gewählt hat. Dasselbe gilt für das innere menschliche Wort, das dem äußeren stets vorangeht. Das "wahre" und ursprüngliche Wort -der Spiegel des göttlichen Wortes- ist das innere Wort, das "im Herzen liegt" (verbum in corde). 26 Denn es ist das intime, rein intellektuelle und universelle GADAMER, Zur platonischen Erkenntnistheorie, GW 7, 335; vgl. auch GADAMER, Der Anfang der Philosophie, Stuttgart: Reclam 1996, 72. 22 AucusTINUS, Oe Trinitate, XV, 10-15; vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 424. 23 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 422-431. 24 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 423. 25 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 424. 26 AuGUSTINUS, Oe Trinitate, XV, X, 19. 21
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Wun, d,,, von it•dt·r .ual~na•u hu·m un.ahla:in~i~ isc. I >Mi Vc.·nlic.·nst Au~ustins lic.·~t n.arh <;,ul.uiH'I' ~c·r.ult• c.lttrin. c.IJf~ c.·r ,,d;\s Prohlc.·m der Spnu:he ganz in das lnnc.·rc.· dc.·s I >c.·nkc.·ns t•inkdu·c.·n l~f~t:•u l>un:h die lnkilrnation würde man also demnach zur Jo:ntdc.·c.·kung c.·inc.•s inneren Wortes des Denkens gelangen. Aber Ci.tdamcr fra~t sic.·h nicht zu unrecht, ob hier ,,nicht Unverständliches durch Unverständlichkeit erktirt wird:•lH Denn was ist dieses "innere Wort", das vor und jenseits der Sprache zu liegen scheint? Um aus diesem Engpag einen Ausweg zu finden, vertraut sich Gadamer Thomas an, der das innere Wort eine "forma excogitata" bezeichnet, das heißt die "bis zu Ende gedachte" Sache. 29 In diesem "Zuendedenken" tritt die Prozessualität des inneren Wortes hervor, die auf den diskursiven Charakter verweist, zu dem der endliche menschliche Verstand verurteilt ist. Hierbei scheint sich ein Gegensatz zwischen nous und didnoia, zwischen Anschauung und Diskursivität, zu bilden. Was aber bleibt dann das Gemeinsame zwischen der Prozessualität des menschlichen Wortes und dem Prozeß des göttlichen Wortes? Auch im Vorgang des menschlichen Denkens gibt es keine Veränderung, keinen Übergang von der Potenz zum Akt; vielmehr handelt es sich um ein "Hervorgehen ut actus ex actu", von Akt zu Akt. 30 Das Wort kommt in demselben Augenblick ans Licht, in dem die Erkenntnis der Sache zustande kommt - nicht später. Für Thomas ist das Wort "wie ein Spiegel, in dem die Sache gesehen wird." 31 Dennoch bleibt der Unterschied zwischen göttlichem und menschlichem Wort bestehen: Während das erstere einem einzigen Anschauungsakt entspringt, ist das letztere das Ergebnis einer Denkbewegung, die nach dem Wort sucht, indem es die Sache "bis zu Ende denkt." 32 Deshalb ist das menschliche Wort zerstreut und unvollkommen, denn es kann die Sache in ihrer Ganzheit nicht in sich enthalten. Das erste Resultat dieser Auseinandersetzung mit der scholastischen Theologie ist die Entdeckung, daß das Wort "nicht durch einen reflexiven Akt gebildet wird"- Gadamer wird später sagen, daß Sprechen ein selbstvergessenes Handeln ist. 33 Das zweite Resultat ist die Entdeckung des "Geschehenscharakters" der Sprache. 34 Wie das göttliche Wort sich immer wieder aufs neue im ltlrygma ankündigt, so kann man für das menschliche Wort sagen, daß "der Geschehenscharakter [...] zum Sinne selbst" gehört. 35
Wahrheit und GADAMF.R, Wahrheit und GADAMF.R, Wahrheit und GAUAMER, Wahrheit und GA UAM ER, Wahrheit und
21 GADAMF.R, lM
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Methode, GW Methode, GW Methode, GW Methode, GW Methode, GW Methode, GW Methode, GW Methode, GW Mcthodt·, GW
1, 424.
1, 425 . 1, 426. 1, 428 . 1, 429. 1, 429. I, 430. I, 430 f. I, 430.
186 Der Dialog mit Thomas führt Gadamer dahin zu zeigen, daß die unreflektierte Bildung des Wortes mit der Bildung der Sache im Begriff ein und dasselbe ist. Weitaus unbestimmter ist dagegen die Rolle von Augustinsverbum interior. Denn unklar bleibt hier, was denn dieses innere Wort sein soll, das weder für den Anderen noch für sich selbst hörbar ist und deshalb Gefahr läuft, im unbestimmten Raum der Innerlichkeit zu verschwinden. Man müßte sich sogar fragen, ob es wirklich ein Wort ist. Auch die abgeschwächte Fassung eines "inneren Gesprächs" -das aus einer Lektüre Platons in augustinischer Optik erfolgt- ändert an diesem Problem nichts. Der Versuch, die Universalität der Hermeneutik im verbum interior zu suchen, impliziert weitreichende Konsequenzen. 36 Insbesondere läßt er das Gespenst eines Subjektes wieder auftauchen, das nicht mit sich zu sprechen braucht und daher selbstbewußt ist. Dieser innere Dialog wäre unartikuliert und unhörbar und reduzierte sich letzten Endes auf einen Monolog, oder besser: auf die Unmittelbarkeit einer Selbstpräsenz, die auf jede sprachliche Vermittlung verzichten kann. Damit aber wäre der Rückfall in eine instrumentelle Sprachkonzeption eingeläutet, die das äußere, das hervorgebrachte Wort nur als sekundär, nachträglich und unvollkommen betrachtet. Die Priorität, die dem verbum interiorverliehen wird, ist eine Weise, das Wort, wenn auch nur das innere Wort, der Vernunft zurückzugeben, die sich damit als reine und gereinigte Vernunft erneut über die Sprache erhebt. Nichts liegt jedoch der Hermeneutik ferner. So bezeichnet diese problematische Wiederaufnahme von Augustin eher eine Grenze von Gadamers Sprachreflexion. 37 Auf sie deutet auch deren Schwierigkeit hin, die Lehre des verbum interior mit anderen Teilen der philosophischen Hermeneutik in Einklang zu bringen, vor allem mit der zentralen Stellung des Dialogs. Anders verhält es sich mit der Frage nach den Grenzen der Sprache. Das verbum interior darf nicht mit dem Ungesagten verwechselt werden. Denn die Grenze ist die des gesagten, des hervorgebrachten Wortes, das auf ein Ungesagtes verweist, wobei das Ungesagte nur ein solches ist, weil es immer auch anders gesagt werden kann. Die Hermeneutik setzt also dort an, wo das ausgesprochene Wort beginnt und die Stimme des Anderen hörbar wird. In Heideggers Schatten verläuft auch Gadamers Auseinandersetzung mit Humboldt, dem der Abschnitt über das Thema "Sprache als Welterfahrung" gewidmet ist. 38 Da die Phänomenologie die Rolle vernachlässigt hat, welche die Sprache in der Welt spielt, kommt es der Hermeneutik zu, diese Rolle aufzuzei.gen. Was sie dabei eigentlich aufweisen möchte, ist nicht so sehr die Sprache in der Welt, als vielmehr, in einer radikalen Umkehrung, die Welt in der Sprache. Vgl. insbesondere jEAN GRONDIN, Gadamer und Augustinus. Zum Ursprung des hermeneutischen Universalitätsanspruchs, in: GRONDIN, Der Sinn für Hermeneutik, 24-39. 37 Es ist allerdings wahr, daß Gadamer nach Wahrheit und Methode nur noch selten auf Augustin zurückkommt und dabei über das bereits Gesagte nicht hinausgeht. 38 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 442-460. 36
1H7
Diese.• Umkduun~ wird mit llumhnldt vollzo~cn. Die Spmchverschiedenheit, d:1s lll.•ifh c.f>lN Sich:ulikulicren Jer Sprache in den menschlichen Sprachformcn, ist ein Phiinomc.•n, dits llumboldt intensiver als jeder andere erforscht hat. Dabei haterd ie I ndivic.lwtlität der Sprache crfaßt, ohne deshalb ihre Universalität aus den Augen zu verlieren: jene beiden Pole, zwischen denen sich der Zirkel der Sprache entfaltet. Humboldts Verdienst besteht jedoch nach Gadamer vor allem darin, daß er in jeder Sprache eine "eigene Weltansicht" gesehen hat. 39 Auf der hier gelegten Spur wird es dann möglich sein, die grundlegende und ursprüngliche Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung aufzudecken. Es fehlt in Gadamers Rezeption aber auch nicht an Einwänden gegen Humboldt, die an Heideggers Kritik anknüpfen und sich auf drei grundlegende Einwände zurückführen lassen. Der erste bringt ein altes Vorurteil gegenüber der Sprachphilosophie und der Sprachwissenschaft zur Geltung. Die Grenze Humboldts, der als Schöpfer der modernen Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft anerkannt wird, liege demnach darin, daß er sich zur Sprache als Philologe und nicht als Sprecher verhält und sie daher als ein Forschungsobjekt behandelt.40 Dieser Vorwurf könnte freilich auch gegen Gadamer und selbst gegen Heidegger erhoben werden- außerdem war sich Humboldt über die Gefahr der Vergegenständlichung der Sprache durchaus im klaren. Dem zweiten Einwand zu folge würde sein Begriff der ,,Geisteskraft" den Zusammenhang von Denken und Sprache auf "den Formalismus eines Könnens" einschränken, das heißt auf das Können, die Welt in derenergeiader Sprache zu bilden. 41 Mit diesem zweiten Einwand ist der dritte verbunden: Humboldt gehe von der von Leibniz zuerst entwickelten "Metaphysik der Individualität" aus, und denke demnach ein Subjekt, das durch die Gabe der Sprache die ihm gegenüberstehende Welt strukturiert, die eben dadurch zum "Gegenstand der Sprache" werde. 42 Aber genau betrachtet existiert gar keine Welt ohne Sprache, auf die sich dann die Tätigkeit eines Subjekts richten könnte. Das Verhältnis muß vielmehr umgekehrt werden, denn die Sprache ist das ursprüngliche Fundament. Bei dieaer Umkehrung beschränkt sich Gadamer allerdings darauf, Humboldts Worte zu paraphrasier.en, daß nämlich die Welt nur Welt durch die Sprache ist, so wie es andererseits Sprache nur gibt, insofern sich die Welt in ihr artikuliert. Man versteht hier wohl, was die "ursprüngliche Sprachlichkeit des menschlichen Inder-Welt-Seins" bedeutet.43 Um diese weiter zu klären, unterscheidet Gadamer 311
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 444. 40 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 443. 41 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 444. 42 GA OA MER, Wahrheit und Methode, GW 1, 444, 454. Ähnlich schreibt Heidegger, daß Humbo1dts Ideen "in der Sprache der Metaphysik seines Zeitalters sprechen, bei welcher Spritehr die Philosophie von Lcibniz ein maßgebendes Wort mitspricht". HEIDEGGER, Der W~K :wr Spr;tche, in: Unterwegs zur Sprache. 227-257, hier 238. H CrAili\MFit, W;thrht·it und Methode, GW 1, 447.
188
zwischen Umwelt und Wclt. 44 Erst in der "Umweltfreiheit" bildet sich sprachlich die Welt. 45 Die Frage nach der Welt an sich verliert so an Bedeutung.46 Denn es gibt keinen Standpunkt außerhalb der menschlichen Sprachwelt, von dem aus die Welt an sicherfaßbar wäre. Und die "Welt" ist ihrerseits nichts anderes als die Gesamtheit der menschlichen Spracherfahrung, die sich in den verschiedenen Sprachen strukturiert. Die Welt liegt in diesen Sprachansichten, oder besser, sie ist ihre offene Gesamtheit. Die vermeintliche Relativität einer solchen Auffassung wird durch die Spracherfahrung der Welt überwunden, die jedes Ansichsein umschließt und sich somit als "absolut" erweist. 47 Der Grundbezug von Sprache und Welt bedeutet daher nicht, daß die Welt zum Gegenstand der Sprache wird, sondern daß alles, was ist und was wir sind, schon immer vom Horizont der Sprache umfaßt ist.
2. Die Stimme des Anderen und die Schrift. Auf Derrida hören Die Wendung zur Sprache vollzieht sich in Wahrheit und Methode nicht durch das Modell der Mündlichkeit, sondern durch das der Schriftlichkeit. Obwohl Gadamer das Gegenteil behauptet, geht er von der Textinterpretation aus, um von hier auf das Gespräch zurückzukommen und zur Universalität der Sprache zu gelangen. 48 Dieser Weg ist allerdings unvermeidbar. Denn Geschichte wird im "Medium" der Sprache überliefert bzw. Sprache ist das Geschehen der Geschichte. Hier tritt der sprachliche Charakter des Verstehens hervor, der "die Konkretion des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins" ist.49 Zwar ist es richtig, daß es "Reste der Vergangenheit" gibt; doch etwas ganz anderes ist das, was uns die Überlieferung als Gesagtes oder besser: als Geschriebenes zukommen läßt. 50 Sofern das Geschriebene über jede endliche Bestimmtheit hinausgehoben ist, erlaubt es jedem, an der Überlieferung der Vergangenheit teilzunehmen- vorausgesetzt, daß er lesen kann. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist ein lesendes Bewußtsein. 51 Doch welche Beziehung besteht zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit? Welchen Stellenwert nimmt die Stimme ein? Und welche Rolle spielt der Text? Gadamers komplexe Position in diesen Fragen hat sich im Lauf der Jahre veränGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 447. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 448. 46 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 451. 47 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 454. 48 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 387-389. 49 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 393. so Vgl. GADAMER, Stimme und Sprache (1981), GW 8, 258-270, hier 260. 51 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 393-399. 44 45
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dl·rt; dit:~ ist vor ,dll'lll .tls l··.q.~t·hnis Ncinl·r Aust:in.tndl'l'st'li'.un~ mit I h·rrida zu bt:tri\dltl'll, dil· ;HH.:h t•im· 1>istitni'.icrun~ von Platon n.u.:h sid1 ~c:t.o~cn hat. Seine Position Jiigt sid1 in dl·r These vom untrennbaren Zusammenhang zwischen Mündlit:hkeit und Sduihlichkeit resümieren: In Wahrheit gibt es hier keinen wirklichen Gegensatz. Was geschrieben ist, muß gelesen werden, und daher ist alles Geschriebene ,der Stimme unterworfen'. 52
Gadamer teilt nicht das "einseitige" Urteil, das Platon in der berühmten Stelle des Phaidros gegen das Geschriebene fällt und das auch der Exkurs des Siebenten Briefes wiederholt. 53 Er hält Platons Argument über die eigentümliche "Schwäche", unter der alle geschriebenen Reden leiden, für eine "ironische Übertreibung", und glaubt deshalb nicht an die Idiosynkrasie der Schrift für das Gespräch, die auch im Protagaras vertreten wird. 54 Denn der Text spricht und antwortet dem ihn befragenden Interpreten. Gadamer verzichtet also keineswegs darauf, den Text als Gesprächspartner aufzufassen. Die Hermeneutik selbst ist ja gerade dieses "ln-das-Gesprächkommen mit dem Text." 55 Ohne die Asymmetrie zu vernachlässigen, die das schriftliche gegenüber dem mündlichen Gespräch charakterisiert, in dem ein leibhaftiges Du anwesend ist, hebt Gadamer die Kontinuität zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit hervor. Die Grenzen sind hierbei fließend: Das Geschriebene ist stimmlich und kann jederzeit wieder mündlich werden, und das Mündliche ist seinerseits, sofern es Sprache ist, an sich schon immer "schriftfähig", schon immer zur Schrift bestimmt- wie Gadamer in seinem Aufsatz Unterwegs zur Schrift? von 1983 betont. 56 Anders gesagt: In der Schriftlichkeit ist schon immer potentiell die Mündlichkeit, und in der Mündlichkeit ist schon immer potentiell die Schriftlichkeit gegeben. Der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit erfolgt durch das Lesen. Hier tritt der Abstand von Derrida deutlich zutage. Die lecture wird zu einem Paradigma, das der ecriture stillschweigend entgegengesetzt ist. Und es ist kein Zufall, daß sich das Paradigma des Lesens, das als Sprechenlassen bzw. als Stimmegeben aufgefaßt wird, so erweitert, daß es letztendlich mit der Hermeneutik selbstzusammen fällt. 57 ",Was ist Schrift, wenn sie nicht gelesen wird?" - dies ist die Frage, die Gadamer an Derrida stellt. 58 "Nur dadurch ist Schrift
HANS-GEORG GADAMER, Reply to James Risser, in: LEWIS E. HAHN (Hrsg.), The Philusophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 403-404, hier 403. !ll GADAMER, Unterwegs zur Schrift? (1983), GW 7, 258-269, hier 263; vgl. PLATON, Phaic.lros, 274b-278c; Siebenter Brief, 341c, 344c. ~ 4 GAl>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 396; vgl. PLATON, Protagoras, 329a. ~!I G.Al>AMJo:R, Wahrheit und Methode, GW 1, 374. !lt• G.A nA M J·:R, Unterwegs zur Schrift?, GW 7, 258-269. "' V~l. in diesem ß;tnd Kap. 111, II; Kap. IV, 2. "" (;AUAM!o'lt, lkknnstruktionund Hermeneutik, GW 10,141. !U
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überhaupt ein Sprachphänomen, daß Schrift gelesen wird." 59 Das Geschriebene zeigt sich ebenso stimmlich, wie die gesprochene Sprache immer schon schriftfähig ist. Wie kann man beim Lesen vermeiden, eine Schrift zu vokalisieren bzw. sie mit der Stimme zu artikulieren? Aus dem Jahr 1981 stammt die Arbeit, die den programmatischen und bedeutsamen Titel Stimme und Sprache trägt. 60 Gadamer antwortet hier auf Derridas Einwände und entwickelt dabei seine Auffassung der Stimme, die eine Schlüsselrolle in der Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion spielen wird. 61 Die Stimme ist gewissermaßen der Versuch, eine Brücke zur ecriture zu schlagen. Wenn die Schrift keine "Abbildung der Stimme" ist, so ist auch die Stimme keine Abbildung der Schrift. 62 Doch was haben artikulierte Stimme und Schrift gemeinsam? Schon Platon stellt sich diese Frage in einer Passage des Philebos, die deshalb für die Dialektik entscheidend ist, weil es um die Beziehung zwischen dem Einen und dem Vielen geht. 63 Als Beispiel werden sowohl die von der Stimme artikulierten Laute als auch die alphabetischen Buchstaben angeführt -und man wird am Ende entdecken, daß beide, weit mehr als bloße Beispiele, gerade das sind, was für uns die Einheit des Vielen und die Vielheit des Einen im Iogos ermöglicht. Die Stimme enthüllt unsere Unvollkommenheit und Endlichkeit, weil wir sie nicht beherrschen können. Daher werden wir auf den meson, auf den "Mittelpunkt" der Sprache, auf ihre Mitte verwiesen, das heißt auf jene "Elemente", Sprachlaute und Schriftzeichen, welche die Grenzen in einem sonst unbegrenzten Kontinuum markieren und uns darum sowohl das Sprechen als auch das Schreiben erlauben. Beide sind Konstanten, die einen "Spielraum" eröffnen. Trotz seiner Weite ist dieser aber an die Grenzen, an die articuli gebunden, die in die Unbegrenztheit der phonischen wie der graphischen Materie eingeschnitten sind. 64 Die Artikulation ist also der gegenseitige Zusammenhang von Stimme und Schrift, der Licht auf den durch das Lesen vollzogenen Übergang wirft. Anders als jede natürliche Ausdrucksform sind Sprechen und Schreiben nämlich ein Über-ein-kommen in das~ was gemeinsam ist, angefangen bei den gemeinsamen Spiel-Räumen der Buchstaben und der in jeder Sprache artikulierten Laute.
GADAMER, Stimme und Sprache, GW 8, 264. GADAMER, Stimme und Sprache, GW 8, 258-270. 61 Vgl. meinen Aufsatz: DoNATELLA D1 CESARE, Die Verborgenheit der Stimme. Gadamer zwischen Platon und Derrida, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 5 (2006), 325-345. 62 GADAMER, Hermeneutik auf der Spur {1994), GW 10, 148-174, hier 159. 63 PLATON, Philebos, 14c-18d. 64 Vgl. GADAMER, Stimme und Sprache, GW 8, 259. 59 60
I knnol'h hdt:ilt di,· St immt• IHr (i.ul.un~r- und hierin lie~t sein Abstand zu l>errida- .,sowohl das t'I'Nit' wir JttH letzte Wort."(•' I>ics sollte aber nicht mit ihrer Übt•rk·~t·nhl·it vt·rw"'':hsrh w<.·rdcn. Die Stimme ist für die Hermeneutik die kontinuierliche Jo:inlll'it Jcs Sprcchcns, während die Schrift die Differenz der Unterbrechung kennzeichnet. Es ist "eine Phase im Verständigungsgeschehen", die im Text fixiert wird.M· Doch diese Fixierung ist keineswegs endgültig und der Text ist das Zwischen, das "between", das die Kontinuität der Stimme unterbricht.67 Dem entspricht die Figur des Interpreten, der eben als inter-pres derjenige ist, der dazwischenredet. Der "eminente Text" der Literatur bildet hier keine Ausnahme, da auch er nicht weniger als andere Texte nach einer Stimme verlangt. 68 In die zirkuläre Kontinuität der Stimme trägt der Text eine Diskontinuität ein. Sofern die Hermeneutik eine Philosophie ist, welche die Einheit gegenüber der Differenz, die Kontinuität gegenüber der Diskontinuität betont, bevorzugt sie wohl die Stimme. Wenn man auf den Spuren Derridas nicht umhin kann, die Schrift umzudenken, so bleibt aber doch die Stimme problematisch. Neben Ousia et grammeist es vor allem das kleine Buch Die Stimme und das Phänomen, das in den sechziger Jahren einen starken Eindruck auf Gadamer machte, wie er selber erzählt. 69 Derrida "hat damit an Husserl eine richtige Kritik geübt", indem er das selbstbewußte Cogito in Frage stellte, das sich anmaßt, ohne Zeichen zu denken. 70 Obwohl er dieser Kritik zustimmt, bringt Gadamer ganz offene Zweifel zum Ausdruck, die sich weniger auf den Vorwurf des "Logozentrismus" richten, den Derrida gegen die westliche Metaphysik erhebt- ein Vorwurf übrigens, der besser als "Monologozentrismus" formuliert werden sollte -, als vielmehr auf die Verurteilung der Stimme, oder genauer: auf die Verbindung, die Derrida zwischen Stimme und Selbstpräsenz des Bewußtseins zu sehen glaubt. 71 Auch wenn Gadamer zu keiner gründlichen Kritik gelangt, so läßt sich sein Einwand doch leicht zusammenfassen. Die Stimme, die Derrida einer Metaphysik der Präsenz bezichtigt, ist die phänomenologische Stimme, das "spirituelle Fleisch", das sich selbst weiter präsent ist und sich in der Abwesenheit der Welt weiterhin
GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 419. 66 GADAMER, Text und Interpretation (1983), GW 2, 330-360, hier 341. 61 Vgl. jAMES RISSER, Reading the Text, in: HuGH J. SILVERMAN (Hrsg.), Gadamer and Harmeneutics, New York & London: Routledge 1991, 93-105, hier 102-105. 6ll Vgl. GADAMER, Text und Interpretation, GW 2, 351 11" GADAM ER, Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 149. 10 GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 418. 71 GAOAMER, Destruktion und Dekonstruktion (1985), GW 2, 361-372, hier 371. Vgl. alMr 7.U diesem Thema Ru DOU1 BERN ET, Differenz und Anwesenheit. Derridas und Husltrlll (>hiinomcnnlo~ic der Sprache, der Zeit, der Geschichte, der wissenschaftlichen RationaUtKt. in: EKNST WOI.I'
192 vernimmt (s'entendre)." 2 Man sieht aber nicht ein, warum dies auch für die Stimme in ihrer empirischen Leiblichkeit und in ihrem Zusammenhang mit der Artikulation, das heißt auch mit der Schrift, gelten soll. Diese Stimme müßte doch eigentlich für die Selbstpräsenz des Bewußtseins eine Form des Exils sein, nicht weniger als die Schrift. Anders gesagt: Für die Hermeneutik schneidet die Differenz auch die Stimme ein. Die Möglichkeit des Evozierten, wieder eine Stimme zu haben, tilgt keineswegs den Verweis auf deren Absenz. 73 Dieser Verweis ist der Raum der Differenz in der Stimme. Im übrigen ist die hermeneutische Stimme zunächst immer Stimme des Anderen -die Stimme, die ich höre, bevor ich die meine vernehme. Es ist diese Stimme, welche die Differenz des Andersseins des Du in das hineinträgt, was sonst nur die Identität einer Selbstpräsenz wäre/4 Man darf auch nicht vergessen, daß die Präsenz sowohl für die Hermeneutik als auch für die Dekonstruktion zugleich immer eine Absenz ist; das heißt sie ist nie eine reine, volle und vollkommene Präsenz, die auf einmal, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft gegeben wäre. Sie ist Präsenz einer Absenz, gleichviel, ob sie von der Stimme gesagt oder von der Schrift bezeugt wird. Inwiefern die hermeneutische Stimme Anlaß zu dem Vorwurf gibt, Metaphysik der Präsenz zu sein, und inwiefern hingegen die Dekonstruktion, welche die Phänomenologie im Auge hat, ihrerseits einer objektivistischen Auffassung der Präsenz, nur als Permanenz verstanden, unterliegt, ist eine Frage, die also offen bleibt. Gewiß ist Gadamer, Derrida zufolge, von der Absicht geleitet worden, die Stimme aus ihrer heutigen Verborgenheit auftauchen zu lassen dies allerdings nicht, um ihr eine zentrale Stellung zu verleihen, sondern um die Zusammengehörigkeit von Stimme und Schrift durch die Artikulation zu betonen. Aufgrund der Bedeutung, welche die Stimme in ihr erlangt, ist es kein Wunder, daß die Hermeneutik sich als eine Philosophie des Hörens erweist. 75 Der Sehkraft, die in der gesamten philosophischen Tradition stets der bevorzugte I
]ACQUES DERRIDA, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls (1967), übers. von Jochen Hörisch. Frankfurt: Suhrkamp 1979, 59. 73 GADAMER, Destruktion und Dekonstruktion, GW 2, 371 f. 74 So schreibt zurecht Wachterhauser: "there is no ,pure' alinguistic intuiton of the self, but, according to Gadamer, all self-knowledge is linguistically mediated [...]. Gadamer would argue that even the philosophical attempts to locate and describe the essential core of the selfhood, the transeendental ego, failed to come up with an ahistorical metalangnage of the self". Vgl. BRICE R. WACHTERHAUSER, Must WeBe What We Say? Gadamer on Truth in the Human Sciences, in: BRICE R. WACHTERHAUSER (Hrsg.); Hermeneutics and Modern Philosophy 1986,219-240, hier 230. Vgl. auch in diesem Band Kap. V, 2. 75 In Bezug darauf hat Riedel von einer "akroamatischen" Dimension der Hermeneutik gesprochen- abgeleitet aus dem Griechischen akroasthai, "zuhören". Vgl. MANFRED RIEDEL, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, 163-176. 72
l'JJ Sinn ~cwc.·sc.•n i~t. wird nun d"~ ( irhür crJt~c.·~cn~cstdlt. Md1r als auf llcrder, dem die..· Umlu:hrun~ drr Sinnrnhil'r~rchic im JH.Jahrhunucrt zu verdanken ist, beruft sich (;adanwr unrnittdh&tr •tuf Aristotclcs, der schon deutlich den Vorrang des Hi>rens behauptet hatte.") Während alle anderen Sinne nur zu ihren spezifischen Bereichen einen Zugang eröffnen, ist das Gehör, sofern es an der sprachlichen Erfahrung der Welt teilnimmt, der "Weg zum Ganzen." 77 Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik findet hier seine Legitimität.78 Als Sinn für Sprache ist das Gehör der hermeneutische Sinn überhaupt. "Die Kunst des Verstehens ist sicher vor allen Dingen die Kunst des Zuhörens." 79 Schon in Wahrheit und Methode klingt das Motiv des Hörens im Begriff der Zugehörigkeit des Interpreten zum Interpretatom eindeutig nach. Damit wird darauf hingewiesen, daß ,,zugehörig" derjenige ist, der angesprochen wird und deshalb nicht weghören kann. Gadamer wird mehrmals, bis in seine späten Jahre, auf dieses Thema zurückkommen. Aus dem Jahre 1998 stammt zum Beispiel der Aufsatz Über das Hören, wo er im untrennbaren Zusammenhang von Hören und Verstehen das Moment der freien Öffnung in der Dimension des Anderen erkennt, die jeder menschlichen Beziehung zugrunde liegt. 80
3. Am Anfang ist die Frage. Gegen die Analytik Auf diesem Weg scheint die Offenheit des hermeneutischen Bewußtseins nun deutlichere Konturen anzunehmen. Die Offenheit läßt sich nämlich demjenigen zusprechen, der auf die Stimme des Anderen hört. Die Situation jedes Sprechers, sofern er spricht, ist von Anfang an die des Angesprochenseins. So könnte man sagen: Am Anfang ist die Frage. Dies gilt als weitere Bestimmung für die ursprüngliche Sprachlichkeit unseres In-der-Welt-Seins. Doch die Hermeneutik, die der platonischen Dialektik folgt, lehnt jeden Anfang und jeden Beginn ab. Daher darf auch dieser Anfang nicht abstrakt verabsolutiert werden. Wenn es einen Anfang für die Hermeneutik gibt, so liegt er stets inmitten der dialogitchen Praxis, wo jede Frage ihrerseits eine Antwort und jede Antwort ihrerseits eine Frage is!- bis ins Unendliche. Doch in dieser zirkulären dialektischen Bewegung muß man sokratisch von einem "hermeneutischen Vorrang der Frage" reden. 81 Es ist das Wissen um das 76
Vgl. ARISTOTELES, De sensu, 473a 3; Metaphysica, 980b 23-25.
n GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 466. Vgl. GAL>AMER, Selbstdarstellung, GW 2, 497. GADAMER, Europa und die Oikoumene (1993), GW 10,267-284. MO GAOAMER, Über das Hören, in: Hermeneutische Entwürfe, 48-55, hier 51. NI GAI>AMJo:K, Wahrheit und Methode, GW 1, 368. Vgl. THOMAS ScHWARZ WENTZER, Uu l>iNkrinwn dt·r Fra~c, in GüNTER FrGAl.ljEAN GaoNDINIDENNIS J. ScHMIDT (Hrsg.), llrrmrnt·ut isr hl' Wl'~(' 2000, 21 <J- 240. 7" 711
194
Nichtwissen, das diesen Vorrang rechtfertigt. Wer zu wissen glaubt, braucht nicht zu fragen. Umgekehrt ist derjenige zu fragen fähig, der weiß, daß er nicht weiß -und wie schon aus den platonischen Dialogen hervorgeht, ist es weitaus schwieriger zu fragen als zu antworten. "Das Geheimnis der Frage ist in Wahrheit das Wunder des Denkens." 82 Die Frage erschließt die Offenheit der Möglichkeit, die aporetische Schwebe des "so oder anders", wo eine Unterscheidung gefordert wird, die stets eine Entscheidung ist. Daher ist das "Fragen [...] mehr ein Erleiden als ein Tun." 83 Denn eine Frage wird nicht gestellt, sondern sie stellt oder erhebt sich, drängt sich auf, kommt wie ein Einfall, und es gibt keine Methode, die das Fragen beibringen kann. Nur derjenige weiß zu fragen, der sich durch den einbrechenden und desorientierenden Anstoß der Frage des Anderen ins Offene stellen läst. Der Vorrang der Frage ist der Vorrang der Andersheit des Du. Aber der Vorrang der Frage wird auch durch die alltägliche Praxis legitimiert, in der sich leicht eine Logik von Frage und Antwort erkennen läßt. Was geschieht, wenn man zu verstehen sucht, was in der Alltagssprache gesagt wird? Man geht auf den Fragehorizont zurück, aus dem das Gesagte hervorgetreten ist. Hier liegt einer der wichtigsten Grundsätze der Hermeneutik: das Gesagte wird immer als Antwort von einer Frage her verstanden. 84 Man versteht, wenn man von der Antwort auf die Frage zurückgeht, auf die sie antwortet- so drückt es Gadamer aus, der sich hier auf den englischen Philosophen Robin G. Collingwood (1889-1943) beruft. 85 "Fragen" ist eine andere Weise, um "Verstehen" zu sagen. 86 Der Verweis auf den Fragehorizont, auf den Motivationskontext der Dia-Logik, aus dem das Gesagte herkommt, hat eine theoretische Tragweite, die nicht übersehen werden darf. 87 Denn hier spitzt sich der Gegensatz zwischen hermeneutischer und analytischer Philosophie zu.
GADAMER, Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 162. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 372. 84 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 375; GADAMER, Hermeneutik als praktische Philosophie, in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 102 f. 85 Vgl. TERREY J. DIFFEY, Some Thoughts on the Relationship between Gadamer and Collingwood, in: Philosophical Inquiry 20 (1998}, 1-12. 86 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 379 f. 87 In diesem Zusammenhang kommt Gadamer auf das Thema der .,Okkasionalität" zurück, das er bereits in der Ästhetik behandelt hatte (vgl. in diesem Band Kap. III, 7) . .,Okkasionellen Ausdrücke" sind die, deren Sinn sich allein durch die occasio erfüllt, durch die Gelegenheit, in der sie verwendet werden. Okkasionell heißt jedoch nicht akzidentell. Alles Gesagte erscheint okkasionell, weil es stets auf einen Kontext verweist, dem es entspringt. Gadamers Position, die eine Weiterentwicklung der Position von Lipps darstellt, rückt hier in eine deutliche Nähe zur Pragmatik von Austin. Vgl. HANS LIPPS, Untersuchungen zur hermeneutischen Logik, Frankfurt am Main: Klostermann 1976; joHN L. AusTIN, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam 1985 (engl.: How to do Things with Words?, Cambridge, Mass., 1962). 82 83
195
Wc.·nn die.· I h·ruu•ut·ut ik voll d,•n Aussa~c.·n auf dit.· sit.· motivic.·rc.·ndcn J•'ra~en zu rikk~<.·lu, fol~l sit.• lu·i m·m k ü nstl idwn VerLth rcn, sondc.·rn hri ngt lediglich einen sd1on in uns<.·n.·r ;llh;i~lid•c.·n Praxis üblichen Vorgang zum weiteren Bewuf~tsein. Wenn wir niimlic.~h eine Frage nicht verstehen, die an uns gerichtet wird, sind wir unsererseits gezwungen zu fragen. Dieser Vorgang ist keineswegs künstlich. Im Gegenteil: Es ist sehr künstlich, sich vorzustellen, daß Aussagen vom Himmel fallen und daß sie analytischer Arbeit unterworfen werden können, ohne überhaupt in Betracht zu ziehen, warum sie gesagt werden und in welcher Weise sie auf etwas Antworten sind. 88
Künstlich ist es also, die Aussagen als autonom und von ihrem Motivationskontext getrennt zu betrachten, wie es die analytische Philosophie tut. Die Hermeneutik bestreitet eben diese vermeintliche Autonomie der Aussagen. Gegenüber der unendlichen Vielfalt aller Sprechformen ist die Aussage nur eine von diesen, und dazu noch eine abgeleitete und sekundäre. Aristoteles weiß dies sehr wohl, wenn er zwischen Iogos semantikos und Iogos apophantikos unterscheidet. 89 Alle Reden sind semantisch, das heißt sie bedeuten etwas; dagegen sind nicht alle apophantisch, das heißt nicht für alle gilt die Alternative zwischen wahr und falsch. Zum Beispiel ist das Gebet keine apophantische Rede. In unserer alltäglichen Kommunikation sind die Reden einfach semantisch- und es wäre wirklich seltsam, wenn man alles, was gesagt wird, im Hinblick auf eine solche Verifizierung jedesmal nachprüfen müßte. Der apophantische Logos ist daher durch dne logische Abstraktion aus dem semantischen abgeleitet. Daher rührt seine Nachrangigkeit, die schon von Heidegger hervorgehoben wird.90 Doch im Unterschied zu Heidegger vertritt Gadamer, der damit jede Dichotomie zwilChen Eigentlichem und Uneigentlichern überwindet, die Legitimität der apophantischen Logik auch in ihrer letzten analytischen Version. Auf der anderen Seite muß die analytische Philosophie- bei der "die Dimensionen der Sprachlichkeit nur in einer bestimmten Einschränkung durchmessen" werden91 achließlieh zugeben, eine logische Verkürzug der Sprache zu sein und, ohne deren semantische Wurzeln abzuschneiden, muß sie der Vielfalt der menschlichen Logoi ihren Spielraum und Heimatrecht gewähren. Die Frage nach der Autonomie der Aussage nimmt deshalb weitergehende Konturen an und zeigt sich auch als eine ethische und politische Frage. Man muß dcsha1b die Motive aufdecken, die zur Herrschaft der Aussage geführt haben: Dahinter steht nämlich die Vormacht der modernen Wissenschaft, die vom Ideal der Methode gestützt wird. Seit Galilei verfährt sie vermittels Abstrakllcrmcneutik als praktische Philosophie, in: Vernunft im Zeitalter der
1111 ( iA IMMER,
Willcnsch;tft, 103. 1111 V~l. AKISTl>TJ·:J.I·:s, Pcri llcrmcncias, l7a YO I ft.:Jiwc;c;EH, Sc..·in und Zc..·it, § 33,209. VI (;"PI\ M , . H,
l-4.
I h·rml'tll'llt il~ und Psychiatrie,
in:
Die Verborgenheit der Gesundheit, 204.
196
tion, Isolierung und Experiment, um so viel wie möglich zu dominieren und kontrollieren.92 Die Aussage ist der formalisierte Gegenstand, der vollkommen kontrollierbar ist. Doch die Wissenschaft kann zwar die Aussagen beherrschen, nicht aber die eigenen Zwecke, angefangen von der praktischen Anwendung der Technik. Weder läßt sich die Technik dominieren, noch die Wissenschaft begrenzen- ihre Grenze wird letztlich den politischen Fähigkeiten übertragen. 93 Hierbei sollte man sich fragen, ob für den unbegrenzten Gebrauch des Aussagewissens nicht ein viel zu hoher Preis zu entrichten ist.
4. Die spekulative Dialektik des Wortes "Das ist Hermeneutik, zu wissen, wieviel immer Ungesagtes bleibt, wenn man etwas sagt." 94 Vom Gesagten zum Ungesagten zurückzugehen, heißt spekulieren. Gadamer befaßt sich mit der spekulativen Bewegung der Sprache im vorletzten Kapitel von Wahrheit und Methode, das die Universalität der hermeneutischen Erfahrung einführt. Was bedeutet "spekulativ"?95 Die Etymologie des Wortes verweist auf speculum, auf den Spiegel, der ein Bild widerspiegeln kann. Neben dem Mysterium der Spiegelung bezeichnet "spekulativ" in der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts jemanden, der sich nicht unmittelbar der Handfestigkeit der Erscheinungen überläßt und zu reflektieren weiß. Die neuere Bedeutung des Wortes geht aber auf den "spekulativen Satz" zurück, den Hegel, wie schon gezeigt wurde, in der Phänomenologie des Geistes erörtert.96 Gadamer greift auf diese Bedeutung zurück, verändert sie aber teilweise und erweitert sie auf die Sprache überhaupt. Die Bewegung der Sprache ist für ihn deshalb spekulativ, weil alles Gesagte in seiner Endlichkeit die Unendlichkeit des Ungesagten widerspiegelt und in seiner Grenze auf den Horizont eines Unendlichen verweist. Dies geschieht aber nicht im Fall der Aussage, die vermeintlich unabhängig und abgetrennt von ihrem Horizont ist und die sich allein durch die Auslöschung jeder Differenz, die den Verweis auf Anderes hervorrufen würde, in ihrer Identität behauptet. Die Aussage ist dieser Abfall in das nur Endliche. Im gewöhnlichsten Gebrauch der Sprache hält im Gegenteil das Gesagte mit einer Unendlichkeit des Ungesagten in der Einheit eines Sinnes zusammen und läßt es so verständlich werden. [...] Insofern verhält sich, wer spricht, spekulativ, als seine Worte nicht Seiendes abbilden, sondern ein Verhältnis zum Ganzen des Seins aussprechen. 97 92
93 94 95
96 97
Vgl. GADAMER, Sprache und Verstehen (1970), GW 2, 186. Vgl. GADAMER, Sprache und Verstehen, GW 2, 192 f. GADAMER, Lesebuch, 286. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 460-478. Vgl. in diesem Band Kap. VII, 6. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 473.
197 Jrdrs Wort hric:ht n;imlidt wir ~w• der Mitte eines (;,mzcnlwrvor, durch das al-
lein es Wort ist. M.m künntc.· llurnholdt zum Zeu~en ~tufrufen, demzufolge jedes Wort .. schon dil· ~·\n:t.c Spntchc antönt und voraussetzt."''H Hierin sieht Gadamer die "Dialektik des Wortes", die letztlich die Dialektik von Endlichem und Unendlichem ist. Dal~ das Wort in seiner Endlichkeit die Unendlichkeit des Nichtgesagten evoziert, ohne sie aber aussagen zu können, ist keine "gelegentliche Unvollkommenheit", sondern ein unwiderrufliches Zeugnis unserer Endlichkeit.99 An dieser Stelle entfernt sich Gadamer von Hegel, für den die spekulative Bewegung des Satzes in der dialektischen Darstellung ausgedrückt werden muß. Diese Darstellung ist die Art, in der die Spekulativität sich zeigt oder, besser, sich beweist. Hegel führt also eine Unterscheidung zwischen dem Spekulativen und dem Dialektischen ein. Indem er der Sprache das Reflexionsverhältnis der Begriffsbestimmungen abhört, bringt er dieses dialektisch bestimmte Verhältnis zum absoluten Wissen. Für Gadamer ist hingegen das Spekulative immer noch dialektisch. Deshalb kann man von einer spekulativen Dialektik der Sprache reden. Es ist die Dialektik, die sich aus derjenigen "Mitte" entfaltet, an der alle hermeneutische Erfahrung ansetzt. Gadamer entwindet Hegel so gleichsam den Anfang. Da jedes Wort aus der .Mitte" der Sprache hervorbricht, die auch die "Mitte" des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins ist, kennt die Hermeneutik, die dabei die radikale, durch diese Mitte provozierte Endlichkeit anerkennt, das Problem des Anfangs nicht. 100 Sofern sie vom Ereignis des Wortes in seiner spekulativen Wahrheit ausgeht, weiß die hermeneutische Dialektik im Gegensatz zur metaphysischen Dialektik um die konstitutive und unabschließbare Offenheit dieses Ereignisses.
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Vgl. WrLHELM VON HuMBOLDT, Über das vergleichende Sprachstudium in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Albert Leitzmann, Berlin: Behr (Nachdruck: de Gruyter, Berlin 1968), Bd. IV, 1-35, hier 15. w GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 462. 100 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 476. In diesem Sinn sagt Wright: "For Ciadamcr, language is a center (Mitte), not an end (telos). lt is a medium (Mitte), not a ground C.rch~)." Vgl. KATHLEEN WRIGHl', Gadamer: The Speculative Structure of Language, in: BRtC:It. R. WACHTERHAUSER (Hrsg.), Hermeneutics and Modern Philosophy 1986, 193-218, hJrr 204; Ron Coi.TMAN, Gadamcr, Hcgcl and the Middle of Language, in: Philosophy Tod•y 40 (l'J'J(,), 151-159.
198
5. Sdn, Verstehen, Sprache Im letzten Abschnitt von Wahrhc·it und Methode, der den universalen Aspekt der Hermeneutik betrifft, präzisiert Gadamer die Bedeutung der "Wendung" vom Sein zur Sprache in einem seinerammeisten zitierten und berühmtesten Sätze: "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache." 101 Dieser Ausspruch ist aber auch einer der am meisten mißverstandenen und er kann sich inzwischen schon auf eine eigene Wirkungsgeschichte berufen. Dazu hat Vattimos Deutung wesentlich beigetragen, der, von seiner italienischen Übersetzung von Wahrheit und Methode ausgehend, den Satz im Sinne einer Identifizierung von Sein und Sprache gelesen hat. Hieraus leitet Vattimo die Möglichkeit ab, aus der Hermeneutik eine "schwache Ontologie" zu machen. 102 Damit ist aber auch die weiter reichende und entscheidende Frage der Hermeneutik als Philosophie gestellt. Bedeutsam ist, daß Vattimo diesen Satz als "Übersetzung" einer Stelle aus Sein und Zeit interpretiert. 103 Er bemißt Gadamers Diskurs somit an Heideggers Thesen über die Eigentlichkeit des Seins und erinnert in diesem Zusammenhang auch an die bekannte Metapher der Sprache als "Haus des Seins". 104 Doch bei Gadamer tritt diese Metapher niemals auf. Die Sprache ist für ihn weniger das Haus des Seins als vielmehr die Behausung des Menschen, die sich oft als ein viel zu enges Gehäuse herausstellt. 105 Nur von einer tiefer gehenden Unheimlichkeit her ist aber die Muttersprache für Gadamer der intimste Ort des Bei-sich-seins. 106 Denn die Sprache erscheint so "unheimlich nahe", daß sie "zum Allerdunkelsten" gehört, was es für das menschliche Nachdenken gibt. 107 Zwar ist die Hermeneutik vor allem in ihrer beruhigenderen und Urbanisierteren Version bekannt, die an der Sprache das Vertraute hervorhebt. Doch steht ihr auch eine beunruhigende Version zur Seite, die im Gegenzug das Unheimatliche an ihr unterstreicht. Die flüchtige und ephemere Heimat, die uns die Sprache anbietet, muß jener Heimatlosigkeit mühsam abgewonnen werden, die unsere Endlichkeit in der Sprache noch vor unserer Endlichkeit in der Welt definiert. An dieser Stelle scheint sich die Hermeneutik des späten Gadamers mit der Dekonstruktion Derridas beinahe zu überschneiden.
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 478. Vgl. in diesem Band Kap. X, 6. 103 HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 44, 301 f. 104 Vgl. HEIDEGGER, Brief über den "Humanismus", in: Wegmarken, 313-364, hier 333; Aus einem Gespräch von der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, 112. 105 GADAMER, Die Aufgabe der Philosophie, in: Das Erbe Europas, 172 f. 106 Vgl. GADAMER, Heimat und Sprache (1992), GW 8, 366-372. Vgl. auch HANS-GEORG GADAMER, Leben ist Einkehr in die Sprache. Gedanken über Sprache und Literatur, in: Universitas 10 {1993), 922-926. 107 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 383. 101
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st.uul dt·s Sc.· ins ~t.·~t.·n die.· Spr.tdw? ln dt.•r T.u idc.·nt ifi1.ic.·rt <;,uLuner keineswegs Sein und Sprache.·. In t.·int.·m riirkhlickendt.·n I ntervic.·w aus dem Jahr 1996 warnt er deutlich: .. Aber nein, das lube ich nie ~emeint und auch nicht gesagt, daß alles Spras .,ist" markiert hier Identität und Differenz zugleich; es unterscheidet diesen Satz von einer Tautologie und macht ihn zu einem spekulativen Satz, in dem das Sein in dem Prädikat Sprache entfaltet und verstanden, jedoch nicht ausgeschöpft wird. Denn die Art und Weise, in der sich etwas in der Sprache zeigt, gehört zu seinem Sein, erschöpft es aber nicht. So ist das Wort auf der einen Seite nur .,Wort durch das, was in ihm zur Sprache kommt", aber auf der anderen Seite "ist auch das, was zur Sprache kommt, kein sprachlos Vorgegebenes, sondern empfängt im Wort die Bestimmtheit seiner selbst." 109 In Gadamers Selbstdeutung ist der Relativsatz zwischen den beiden Kommata keine Hinzufügung und er muß vielmehr als eine "Begrenzung" gelesen werden. 110 Denn es wird nicht gesagt, daß Sein Sprache und daß es darüber hinaus auch verständlich ist. Entscheidend ist das Mittelglied, nämlich das Verstehen. 111 Der Satz könnte daher so umgeschrieben werden: Sein, sofern es ... ,Sein, in den Grenzen, in denen es verstanden werden kann, ist Sprache. Das Sein, das sich zu verstehen gibt, ist Sprache. Denn "das Verstehen selbst hat eine grundsätzliche Beziehung auf Sprachlichkeit." 112 Das Sein, das sich für uns verständlich macht, ist so, weil es sich in der Sprache gibt, und eben dieses "Verständliche" ist es, womit sich die Hermeneutik beschäftigt. Vom Verstehen ausgehend ist die Frage nach der Sprache für die Hermeneutik also unumgänglich. Sprache ist "das universale Medium, in dem sich das Verstehen selber vollzieht." 113
6. Die Grenzen der Sprache Die Beziehung zwischen Sein und Sprache weist schon auf die Grenzen der Sprache hin. Die hermeneutische Erfahrung der Sprache, die deren spekulativer Bewegung folgt; erweist sich als Erfahrung der Grenzen der Sprache. Dieses Thema wird schon in Wahrheit und Methode berührt. 114 Doch zentral wird es erst ab den achtziger Jahren, besonders in dem Aufsatz Grenzen der Sprache
lOH GA l>A MFR, Lesebuch, 286. 1011 (;Al>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1,479. IIO A MFR, Ästhetik und Hermeneutik (1964), GW 8, 1-8, hier 7. ' 11 (;AUAMER, W.thrhcit und Methode, GW 1, 399. ' 1 ' (;ADAMI'K, Wahrheit und Ml·thodc, GW I, 392. 11 4 V~ I. (;"DA MFR, Wahrheit und Mcthodl', GW I, 406.
200 von 1985, der einen Wcnd~punkt in Gadarn~rs Ndbstkritischcm Nctchdenkcn darstellt. 115 Die "Grenzen" dürfen nicht als Unvollkommenheiten der Sprache angesehen werden- die etwa an der Perfektion der Vernunft meßbar wären. Worum handelt es sich dann? Die Grenzen der Sprache sind phänomenologisch in dem erfahrbar, was "vorsprachlich", "nebensprachlich", und "übersprachlich" ist. Dabei ist es schon klar, daß sich diese angrenzenden Gebiete durch ihr Streben definieren, Sprache zu werden. Es ist das Streben nach der Sprachlichkeit, nach der Virtualität des Noch-nicht-Gesagten, die auf ihren Vollzug im Sprachereignis wartet und dennoch dazu bestimmt ist, gegen dessen Grenzen zu stoßen. 116 Wird hier einerseits der Vorrang der verbalen Sprache behauptet, in die sich alle anderen "Sprachen" übertragen lassen, so werden andererseits auch deren konstitutive Grenzen hervorgehoben. Gadamer faßt die hermeneutische Erfahrung der Sprachgrenzen in der Suche nach dem rechten Wort zusammen. Das "rechte Wort" ist per definitionem niemals recht- denn sonst wäre es das passende und angemessene Wort für einen schon gegebenen Gegenstand. Bei der Erfahrung ihrer Grenzen scheint die Sprache hingegen alles andere als ein Werkzeug der Beherrschung und Berechnung zu sein. In jedem Sprechen, so selbstvergessen es auch sein mag, erfährt man die Grenze des gesprochenen und - spiegelbildlich - des verstandenen Wortes. So beschreibt Gadamer die Erfahrung der Grenze: Endlich sei auf das tiefste der Probleme hingewiesen, die der Grenze der Sprache wesenhaft eingeboren sind. Ich fühle es nur dunkel, was in anderen Bereichen der Forschung - ich denke vor allem an die Psychoanalyse - bereits eine große Rolle spielt. Es ist das Bewußtsein, daß jeder Sprechende in jedem Augenblick, in dem er das richtige Wort sucht- und das ist das Wort, das den anderen erreicht-, zugleich das Bewußtsein hat, daß er es nicht ganz trifft. Immer geht ein Meinen, ein Intendieren über das hinaus, an dem vorbei, was wirklich in Sprache, in Worte gefaßt den anderen erreicht. Ein ungestilltes Verlangen nach dem treffenden Wort- das ist es wohl, was das eigentliche Leben und Wesen der Sprache ausmacht. Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Unerfüllbarkeit dieses Verlangens, des desir (Lacan}, und der Tatsache, daß unsere eigene menschliche Existenz in der Zeit und vor dem Tode vergeht. 117
Die Erfahrung der Grenze der Sprache ist also die Erfahrung der Grenze unseres Daseins und unserer Endlichkeit. Die Suche nach dem rechten Wort erweist sich als eine unendliche Aufgabe. Dabei ist es allerdings das Wort, das uns immer über uns hinaus bringt. Um dies zu erläutern, beruft sich Gadamer auf Rilkes Engel, auf die von Grenzen umgebene und als Engel evozierte Möglich-
GADAMER, Grenzen der Sprache (1985), GW 8, 350-361. Vgl. DEBORAH CooK, Reflections on Gadamer's Notion of Sprachlichkeit, in: Philosophy and Literature 10 (1986), 84-92. 117 GADAMER, Grenzen der Sprache, GW 8, 361. 115
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kt·it: ,.lJiwr UJI\ hinuht'l k.wu tlt•r l··.u~d.'. 11 " I >.ts Wort, d.ls wir lu·rvorhrill~l'll, hat un."i sdmn imnu·r ulwe hnh, iM ~dton immt•r iiht·r uns hin,\Us. I >it•s ist .Hidt d.ts Tht•ma dt•s wirht i~cn Aufs;\l:t.cs Von dt•r Wahrheil des Worlt'S, dt·r. ah I'J71 nwhrm.ds ~t·sdtrid.,t•n, erst I'J'JJ im N. Band der Gesammelten WcrA•c Vl'r(iffc:ntl irht w u nlt·. 11 '1 l>il· hermeneutische Wahrheit ist an die Sprache ~ehunden,
denn nur in der Sprache ist die Welt für uns da und wir für die Welt. Wenn Gadamer von der ,,Wahrheit des Wortes" spricht, meint er das Wort- als Sin~ular von ,.Worte" und nicht von "Wörter"- in der Vielfaltall seiner Erscheinun~sformen: es sei ein einfaches "Ja" oder das Wort, von dem man bei einer Zusage sagt: "Das ist ein Wort!", oder auch das "Wort" im Prolog des Johannescvangeliums.120 Noch bevor sie im Sinne eines objektiven Genitivs verstanden wird, deutet die Formulierung "Wahrheit des Wortes" auf einen subjektiven Genitiv hin. Denn es ist das Wort, das die Wahrheit erschließt, das sie "herauskommen" läßt, ehe man sie reflektierend als Wahrheit, als wahres bzw. "rechtes" Wort bestätigen kann. So wie er von einer "Seinsvalenz" des Bildes gesprochen hatte, so spricht Gadamer jetzt von einer "Seinsvalenz" des Wortes. 121 Denn die Welt erlangt Sein für uns nur in dem "universale[n] ,Da'" des Wortes, welches das Wunder der Sprache ausmacht. 122 Während das Sein im Wort zum Dasein kommt, werden wir durch das Wort zu diesem "Da" gerufen, sind wir zum Sein wach, erwacht. Im "Da" des Wortes werden wir anamnetisch der Sprachvergessenheit entzogen und zum Sein aufgeweckt. Hierin liegt das Wunder. Doch was sich in dem "Da" aufhält, verweist zugleich auf das, was sich dessen Zugriff entzieht. Die Präsenz des universalen "Da" des Seins im Wort ist daher auch eine Absenz. Das Wort geht schon immer über das "Da" hinaus, transzendiert schon immer sich selbst. Die Hermeneutik kann dieses Spiel von Präsenz und Absenz im Dasein des Wortes nicht übersehen; indem sie an die Grenzen des "Da" stößt, stellt sie sich als Hermeneutik der Sprache und ihrer Grenzen heraus, die in sich stets den Verweis auf das trägt, was im "Da" noch nicht ist- was immer jenseits sein wird. Die Transzendenz der Sprache schreibt der Hermeneutik, die ständig über sich hinausgehen muß, ihre Bewegung vor. Zurecht hebt Habermas desGADAMER, Imendimento e rischio [Verstehen und Spielen], in: Archivio di Filosofia l/2 (1961) (11 problema della demitizzazione, hrsg. von Enrico Castelli Padova: Cedam), 75-82, hier 82; leicht verändert wurde der Aufsatz wieder abgedruckt mit dem Titel: Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der EntmytholuKisicrung, GW 2, 121-132. Zu Rilke sind die beiden Aufsätze Gadamers zu beachten: Mythopoctische Umkehrung in Rilkes >Duineser Elegien<, GW 9, 289-305, und: Rilkes Deutung des Daseins. Zu dem Buch von Rarnano Guardini, GW 9, 271-281. Über den Zusammenhang zwischen Sprache und Freiheit vgl. DENNISj. ScHMIDT, What We Cannot Say: On l.anguagc and Frccdom, in: ScH MIDT, Lyrical and Ethical Subjects, 77-90. 1111 GA I>A M ER, Von der Wahrheit des Wortes (1971), GW 8, 37-57. llO Vgl. GA I>A M 1m, Von der Wahrheit des Wortes, GW 8, 37. 111 Vgl. in dil'Sl'lll Band Kap. 111, 2. w V~l. (;ADAMI:K, Von dl'r Wahrheit des Wortes, GW 8, 54. llH
202
VIII. ltlf,llllt/)" 1/oriJunt dtl (,'r•prJth•
halb hervor, daf~ di~ llc.·rmr.nrutlk .. •ich (... )der in der Sprachpraxis angelegten Tendenz der Sclbstranszcndic.-runK (hr.c.lir.nt)." 11·' Dies stellt aber keineswegs die Nichttranszendierbarkcit des .,Gc~eprächs, das wir sind" in Frage, innerhalb dessen alles auch anders gesagt werden kann.
7. Das Gespräch, das wir sind "Sprache ist Gespräch." 124 Das ist die These, die Gadamer schon in Platos dialektische Ethik formuliert und über Wahrheit und Methode hinaus bis in seine letzten Schriften immer wieder aufnimmt. 125 Die Hermeneutik der Sprache entfaltet sich zu einer Hermeneutik des Gesprächs. Wenn die Sprache sich in der Offenheit einer historischen Sprache ergibt, und sich hier als individuelles Sprechen realisiert, das seinerseits immer ein Sprechen für den Anderen bzw. ein Sprechen mit dem Anderen ist, dann liegt das Dasein der Sprache im Gespräch. Dies ist der geheime Kern von Gadamers Philosophie, die sowohl in ihrem theoretischen Anspruch als auch in ihrer praktischen Absicht eine Philosophie des Gesprächs ist. Dieser These liegt allerdings eine philosophische Motivation zugrunde, die man nicht übersehen darf. Gadamer bietet hier eine radikale Deutung von Hölderlins Vers an: "Seit ein Gespräch wir sind ... " 126 Dies bedeutet nicht nur, daß wir einfach an einem Gespräch teilnehmen. Wir sind schon immer im Gespräch und sprechen in seinem Fluß bzw. von seinem unendlichen Fluß her. Mehr noch: wir sind Gespräch. Jeder von uns ist nicht nur in einem Gespräch, sondern seiner intimsten Natur nach ist er selber Gespräch. Denn das Gespräch ist unser ubi consistam, ist das hermeneutische Universum, in dem wir atmen, in dem wir leben. Doch was soll das heißen, daß das Gespräch ein unendlicher Fluß ist? Jedes Wort eröffnet unendlich viele weitere Worte, mögliche Ant-Worten, die es anregt und befördert. 127 Da es spekulativ das Nichtgesagte reflektiert, kann jedes gesagte Wort nie das letzte sein. Aufgrund dieser Virtualität verweist ein jedes Wort auf die Offenheit, in der man weiter spricht. Deshalb geht das "Sprechen im Element des 'Gesprächs' vor sich." 128 Die durch die Virtualität des Wortes 123
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jüRGEN HABERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhr51986,273.
GADAMER, Hejmat und Sprache, GW 8, 369. 125 Vgl. GADAMER, Platos dialektische Ethik, GW 5, 27-48; Wahrheit und Methode, GW 1, 449; Die Unfähigkeit zum Gespräch (1972), GW 2, 207-215, hier 207; Grenzen der Sprache, GW 8,360. 126 FRIEDRICH HÖLDERLIN, Friedensfeier, in: HöLDERLIN, Sämtliche Werke und Briefe, Gedichte, Band 1, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 338-343, hier 341. 127 GADAMER, Von der Wahrheit des Wortes, GW 8, 38. 128 GADAMER Sprache und Verstehen, GW 2, 198. 124
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c.•ri•Huc.·tt· Unt.•udlic:hlu·il ist dit• lhwndlirhkc.•il dt•s Mitt·in.uulc.·rspn.•c:hcns. l>ar.nas f'ol~t, d,tf~ d;ts ( ;c.·spr
l.l'J 1\0
GAOAMER, Mensch und Sprache (1962), GW 2, 146-154, hier 152. GADAMER, Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? (1970), GW 2, 199-206, hier
200 f. Vgl. in diesem Band Kap. X, 4. jACQliES DERRIDA, Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, da11 Gl·dil"ht, in: jACQliES I>ERR 1l>A- HANS-GEORG GADAMER, Der ununterbrochene Dialu~. hrsg. und mit l'incm Nachwort von Martin Gessmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, 7-·50. 1" C;A ''" M I·:K, l>iL· Unf:ihigkl·it zum Gespräch, GW 2, 211. l.ll
111
20-t
an lnformiltion. W;ls d.lhl•i Hih, iMI dir i'c~~Knun~ mit dem l>u. Das Gespräch ist dann ~clun~en, wenn sich dttN Ich durch das Du und das Du sich durch das kh verändert hat. ,,Das Gcspr~kh vcrwttnddt bcidc." 134 Nach dem Gespräch ist man nicht mehr der, der man vorher war. Paradoxerweise gelingt ein Gespräch um so mehr, je weniger es sich abschlicfh- je tnehr die Uneinigkeit wieder an den Tag kommt, je mehr das Mißverstehen und das Nichtverstehen erneut auftreten. Das Gespräch ist also nicht abgeschlossen, wenn das Wort, welches das Ich an das Du und das Du an das Ich richtet, zu einer neuen Offenheit führt, von der aus, durch neue Fragen und neue Antworten, das Gespräch weitergehen kann. 135 Andererseits kommt das Gespräch für Gadamer derjenigen Grundstimmungdes Lebens entgegen, die für es grundlegend und daher abgründig ist: der Angst. Aus der eigenen Enge getrieben in die ihm stets fremde Weite entfernt sich- wie schon SeheHing gesagt hat- das Ich von sich selbst. In dieser zentrifugalen Bewegung stößt das Ich gegen die Grenze des Anderen, des Du, und verliert seinen Mittelpunkt. Doch ist es gerade das Du, das dem Ich ermöglicht, ihn wiederzufinden. Nur wenn es an den Anderen weggegeben ist, wenn es sich dem Du zuwendet, kann das Ich seinen Schwerpunkt zurückgewinnen und sein Gleichgewicht wiederherstellen. Diesesparadoxale Ereignis findet im Gespräch statt, wo der Mittelpunkt des Ich jeweils durch den Stoß gegen das Du wiederhergestellt wird. Und offensichtlich ist der Mittelpunkt niemals derselbe, sondern stets ein anderer: er differiert durch die Zeit, durch die Sprache, im Gespräch. In der Begegnung mit dem Du versteht sich das I eh immer anders. Wiederherstellen meint hier auch Heilen. Denn sich um sich selbst kümmern heißt nicht, sich in sich selbst zurückziehen, sondern sich um den Anderen kümmern. Und umgekehrt kann man heilen- wie Gadamer mehrmals betont - eben durch das Wort des Dialogs. 136 Das Wort heilt besser als jedwedes Heilmittel- vor allem das Wort eines Freundes. Daraus entsteht die unmittelbare Nähe von Dialog und Freundschaft, der rote Faden, dem Gadamer vom Anfang bis zum Ende seines Denkweges folgt. Denn in der philia, in der die eigenen Grenzen erkannt werden, erkennt man im Anderen, im Freund, "einen Zuwachs an Sein, Selbstgefühl und Lebensreichtum." 137 GADAMER, Sprache und Verstehen, GW 2, 188. Vgl. CLAUDE THERIEN, Gadamer et la phenomenologie du dialogue, in: Laval theologique et philosophique 53 {1997), 167-180. 135 Vgl. GADAMER, Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 162. 136 Vgl. in diesem Band Kap. VI, 4; Kap. IX, 5. 137 GADAMER, Freundschaft und Selbsterkenntnis. Zur Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik (1985), GW 7, 396-406, hier 403. Die erste Fassung dieses Aufsatzes wurde 1928 geschrieben, jedoch erst 1985 veröffentlicht. Von 1999 stammt der Aufsatz: GADAMER, Freundschaft und Solidarität, in: Hermeneutische Entwürfe, 56-65. Vgl. auch den Beitrag von 1970: GADAMER, Vereinsamung als Symptom von Selbstentfremdung, in: Lob der Theorie, 123-138. Vgl. dazu MICHAEL HoFER, Nächstenliebe, Freundschaft, Geselli~ kcit. Verstehen und Anerkennen bei Abcl, Gadamcr und Schleiermacher, München: Fink 134
20~
I >ics alll·s wird dl'IHtorh iu rirwr Zl"il untl.'rsdliitl.l, dit· dun:h dit ,.UnfähigkL"it zum ( lt•.o•ptiich" rh.u·.,ktrl'iNicrt zu sein scheint. I.\" Gdiihrdl·t sind alle Formen des (il·spriidts, dil· im illhii~lichen Leben erscheinen. Gadamcr zeichnet deren Phänomcnolo~ic nilch: vom Lehrgespräch zum Verhandlungsgespräch bis zum 1--leilgespräch.u'J Doch die Unfähigkeit zum Gespräch, die in der psychoanalytischen Therapie sich selbst eingesteht und deshalb die zu heilende "Störung" ist, nimmt im alltäglichen Gespräch, in dem sie nicht eingestanden wird, die "normale" Form einer Beschuldigung des Anderen an. So sagt man etwa: "Mit dir ist nicht zu reden". Diese Unfähigkeit wird sowohl auf die Unfähigkeit zu hören als auch auf die Unfähigkeit zu sprechen zurückgeführt. Man verlernt zu sprechen, wenn die gemeinsame Sprache sich erschöpft und zur Terminologie herabsinkt, so wie es in der monologischen Situation der heutigen Gesellschaft häufig geschieht. 140 Aber in jedem Gespräch, auch in dem am wenigsten gelungenen, wird das Ich durch die Begegnung mit dem Wort des Du über seine Begrenztheit erhoben. Das Du ist der Hebel, dessen das Ich sogar im Selbstgespräch bedarf} 41 Nicht nur, weil das Ich in der Fremdheit des Du, die ihm gleichwohl stets vertraut ist, die eigenen Grenzen erfährt, sondern auch, weil das Ich in der transzendierenden Bewegung der Sprache dank des Du und mit dem Du immer schon jenseits seiner selbst ist: im gemeinsamen Wort. Das "rechte" Wort erweist sich hier als das Wort, welches das Du erreicht, das gehört und seinerseits vom Du hervorgebracht wird, als wäre es seines. In diesem gemeinsam gewordenen Wort, das ihm vom Anderen wieder ertönt, findet das Ich ein Zuhause- ein Zuhause, das jedoch aufgrund der in der Sprache unwiderruflichen Heimatlosigkeit stets flüchtig bleibt. Einen Hegeischen Ausdruck wiederaufnehmend sagt Gadamer, daß das Miteinandersprechen ein Sich-Einhausen ist.
8. Verstehen, Interpretieren, Übersetzen. Wo die Hermeneutik mißverstanden wird Schaut man auf die vier Jahrzehnte ihrer Wirkungsgeschichte, so ist es überralchcnd festzustellen, daß die Hermeneutik gerade in ihrem Versuch, die Frage des Verstehens innerhalb der Philosophie zur Sprache zu bringen, so häufig
1998, insb. 119-198; DAVlD Vt:sSEY, Gadamer's Theory of Friendship as an Alternative to lntcrsubjcctivity, in: Philosophy Today 49 (2005), 61-67. DK V~l. den gleichnamigen Text: GADAMER, Die Unfähigkeit zum Gespräch, GW 2, 201-215. lW V~l. GADAMER, Die Unfähigkeit zum Gespräch, GW 2, 213. '" 0 V~l. GA I>A MJ·:R, Die Unfähigkeit zum Gespräch, GW 2, 214 f. 141 ( iA J>A MEK, Sducihcn und Reden (1983), GW 10, 354-355, hier 354.
206 mif~vcrstandcn
worden ist. I>.ahci ~c:ht es vor allem um zwei Migvcrständnisse, die aufgedeckt werden müssen . Das erste Mif~vcrständnis steckt in dem Vorwurf, das Verstehen sei in der Hermeneutik eine Aneignung des Anderen. Er richtet sich zugleich gegen den Furor, die Wut des Verstehens, die sie animieren, sowie gegen die Versöhnungsabsicht, die sie angeblich leiten würde. 142 Die philosophische Hermeneutik maße sich an, sie könne und müsse besser und vollkommener verstehen, sie könne und müsse versöhnen und abstimmen. Und das Verstehen wäre folglich in der Hermeneutik selbstverständlich. Wenn dem aber so wäre, dann hätte die Hermeneutik keinen Grund zu existieren. Denn sie existiert deswegen, weil sie die philosophische Frage nach dem Verstehen stellt. Als Erbe des Heideggerschen Ansatzes, demzufolge das Verstehen der ursprüngliche Vollzug des Daseins ist, vertritt Gadamer die These, daß "Einverständnis[. .. ] ursprünglicher als Mißverständnis" ist. 143 Es handelt sich hierbei weder um einen billigen Optimismus noch um die Übernahme einer ethischen Aufgabe. Vielmehr wird hier die Praxis von Sprechen und Verstehen phänomenologisch beschrieben. Denn das ursprüngliche Verstehen ist nichts anderes als der Einklang der gemeinsamen Sprache, welche Gemeinsamkeit aufbaut und trägt. Wer in einer historischen Einzelsprache spricht- und dabei für den Anderen und mit dem Anderen spricht -, der stimmt noch vor jeder Abstimmung allein schon dadurch zu, daß er seine Stimme zur Stimme der Anderen anstimmt und sein Selbst in den bedeutenden Lauten der gemeinsamen Sprache artikuliert. Kurzum: Wer spricht, hat damit schon dem Mitgeteilten und deshalb auch Miteinandergeteilten zugestimmt, das ihn mit den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Sprechern verbindet. Noch vor jeder Übereinstimmung mit sich selbst, stimmt er schon mit dem Anderen überein: Sein Sprechen ist daher ein "Übereinkommen". In diesem Sinn interpretiert Gadamer die syntheke des Aristoteles 144: Der Begriff der ,syntheke•, des Übereinkommens, enthält zunächst, daß Sprache sich im Miteinander bildet. 145
Diese Übereinstimmung ist das Präludium der Sprache, das jedes weitere Spiel von Einigkeit und Uneinigkeit in Gang setzt. Dem Präludium kann man sich nicht entziehen: Jeder Sprecher muß das Spiel der Sprache mitspielen, die vorhergehende Gemeinsamkeit annehmen, die ihm die Sprache gewährt. Sprechen Vgl.joCHEN HöRISCH, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. 143 Diese These, die sich bereits in Wahrheit und Methode findet, wird auch in der Folge aufgenommen (GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 390 f.; Sprache und Verstehen, GW 2, 187 f.; Grenzen der Sprache, GW 8, 359). 144 ARISTOTELES, Peri Hcrmeneias, 16a 19. 145 GADAMER, Grenzen der Sprache, GW 8, 354; vgl. auch Die Kultur und das Wort (1980), in: Lob der Theorie, 9-25, hier 15. 142
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207
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d;\nn, die (;c.'nll·ins.llnkc.·it dc.·r in dc.·r Spr;trlw anikulic.·rtc.•n Wclt weiter zu artikulieren, Jenn JilS ( ;c.·sproc.:ht•ne wirJ im Sprc.·rhen weiter ~emcinsam, das Mitgeteilte weiter mitteilbar. Dies ist die Wirklichkeit der menschlichen Kommunikation, das hcif~t des Dialngs. 14c, Doch der Gesprächsflug kann unterbrochen werden und die Einigkeit kann sich in Uneinigkeit verkehren. In diesem Zusammenhang spricht Gadamer von einem "AnstoH". 147 Nahezu unbeachtet geblieben, ist der "AnstoH" ein Schlüsselbegriff der Hermeneutik, weil er die Bewegung des Verstehens klarstellt. 148 Ohne ihn wäre man gezwungen anzunehmen, daß das Verstehen sich von selbst in Gang setzt. Um den Begriff des Anstoßes näher zu bestimmen, geht Gadamer auf die griechische Philosophie zurück. Die Griechen hatten ein sehr schönes Wort für das, wobei unser Verstehen zum Stocken kommt, sie nannten das das atopon. Das heißt eigentlich: Das Ortlose, das, was nicht unterzubringen ist in den Schematismen unserer Verslehenserwartung und das uns deswegen stutzen läßt. 149
Das atopon ist das, was Unruhe und Irritation hervorruft, was uns sonderbar und deshalb unheimlich und fremd vorkommt. Atopos in den platonischen Dialogen ist Sokrates, der Philosoph, der von seinem Außer-Ort die Ordnung der p6lis in Frage stellt und auf das Außen eines ou-t6pos, eines Zu-kommenden Ortes verweist.150 Für die Hermeneutik ist das atopon das Unverständliche, welches in das schon einmal Verstandene, selbstverständlich Geltende, aber nahezu in Vergessenheit Geratene einbricht, welches in die scheinbare Vertrautheit mit der Sprache eingreift und die Gemeinsamkeit der Worte plötzlich in Zweifel zieht. 151 Das Ortlose als Unverständliches läßt also das Nichtverstehen und das Mißverstehen hervortreten. Das verbietet aber durchaus nicht, auf wiederholte Auslegungen zu rekurrieren, um Einigkeit wiederherzustellen-ohne damit jedoch die Uneinigkeit auszuschließen. Das zweite Mißverständnis betrifft die Verbindung von Verstehen und Auslegen. Weit verbreitet ist die Idee, daß Verstehen und Auslegen in der Hermeneutik dasselbe sind. Diese Gleichsetzung hat übrigens zahlreiche Kritiken hervorgerufen. Kann man aber wirklich sagen, daß "Verstehen" und "Auslegen"
In ähnlicher Weise führt Wittgenstein aus: "In der Sprache stimmen die Menschen Ubercin. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform." Vgl. l..UDWIG WnTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe, Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, § 241, 356. 147 GAI>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 272. HK Vgl. GAUAMER, Sprache und Verstehen, GW 2, 184; Rhetorik, Hermeneutik und ld~ologickritik, GW 2, 237. 14'1 GA DA M ER, Sprache und Verstehen, GW 2, 185. I\O Vgl. in diesem ßand Kilp. VI, 5. 1!\l V~l. l>oNA'J'Jo:I.I.A 1>1 CESA RE, Atopos. Die Hermeneutik und der Außer-Ort des Vcrlttrlwm, in: ANUitZI<J PRzn ...:nsKI (llrsg.),lhs Frbl· G.u.Luncrs 2006,85-94. H6
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VIII. Kapitel: Der Horizont des Gesprächs
für die Hermeneutik Synonyme sind? Gewiß nicht, und als Beweis dafür wird es genügen, die Texte auch im Licht von Gadamers komplexer Auffassung des Verstehens zu lesen. Zu diesem Zweck muß ein dritter Terminus hinzugezogen werden: das Übersetzen. Gadamer folgt Schleiermacher, der zu zeigen versucht, daß Nichtverstehen und Mißverstehen nicht auf die Interpretation von Texten beschränkt sind, sondern das Verstehen einer jeden Rede gefährden. 152 Gerade an diesem Punkt wird die Hermeneutik zu einer universalen Fragestellung. Gadamers Absicht ist es daher, die verborgene Verbindung von Auslegen und Verstehen wieder ausfindig zu machen. Doch Verbinden heißt nicht Identifizieren. Durch die notwendige Verschiebung des Akzents auf das Verstehen, von dem er die grundlegende Sprachlichkeit unterstreicht, will Gadamer aber keineswegs behaupten, daß jedes Verstehen ein Auslegen ist, als ob wir- und dies wäre in der Tat eine sonderbare und unvertretbare These- in jedem Augenblick des alltäglichen Verstehens interpretieren würden. Ganz im Gegenteil: Während er an der Kontinuität von Verstehen, Auslegen und Übersetzen festhält-eine Kontinuität, die von dem sie durchziehenden Leitfaden des Nichtverstehens und des Mißverstehens gebildet wird- vernachlässigt er die Unterschiede nicht, die sich als Intensitätsunterschiede quantitativer und nicht qualitativer Art erweisen.153 Wo man etwas versteht, da wird nicht interpretiert und nicht übersetzt, "sondern gesprochen." 154 Und man versteht eine Sprache, wenn man in ihr lebt. Eine Sprache zu verstehen "schließt keinen Interpretationsvorgang ein, sondern ist ein Lebensvollzug." 155 Es kann also ein Verstehen ohne Auslegen geben- ja dies geschieht normalerweise bei jedem Gespräch. Da aber in jedem Gespräch auch Nichtverstehen und Mißverstehen lauern, kann das Verstehen sich unterbrechen und nach dem Zwischen, dem inter- einer Interpretation, einer Auslegung verlangen. Diese Auslegung ist jedoch nicht etwas vom Verstehen Abgetrenntes, sondern vielmehr die Entwicklung des Verstehens, seine "Vollzugsweise"wie bereits Heidegger nahegelegt hatte. 156 Die Auslegung entfaltet sich ihrerseits im Medium der Sprache und ist als eine weitergehende sprachliche Artikulation des Verstehens aufzufassen, die jederzeit möglich ist. Das gilt der Sache nach auch dort, wo sich das Verständnis unmittelbar einstellt und gar keine ausdrückliche Auslegung vorgenommen wird. Denn auch in solchen Fällen von Verstehen gilt, daß die Auslegung möglich sein muß. Das bedeutet aber, die Auslegung ist potentiell im Verstehen enthalten. Sie bringt das Verstehen nur zur ausdrücklichen
152
Vgl. in diesem Band Kap. IV, 2.
153
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 391. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 388. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 388. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 392; HEIDEGGER, Sein und Zeit, § 32,
154 155 156
197.
9. Spiel und Gespräch. Die Begegnung mit Wittgenstein
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Ausweitung. Die Auslegung ist also nicht ein Mittel, durch das das Verstehen herbeigeführt wird, sondern ist in den Gehalt dessen, was da verstanden wird, eingegangen. 157
Die Auslegung, die wie jede Ausführung eine Sinnkonkretion ist, läßt sich als gelungen bezeichnen, wenn sie zurücktritt und ihre Wahrheit "in der Unmittelbarkeit des Verstehens" zeigt. 158 Der Extremfall der "Übersetzung" unterscheidet sich durch eine größere Fremdheit, die zwar auch im Verstehen und im Auslegen gegeben ist, in der Übersetzung jedoch unabwendbar wird. Gadamer führt als Beispiel ein Gespräch in zwei einander fremden Sprachen an. Hier ist der Rückgriff auf die Übersetzung eine "Selbstentmündigung" der Sprecher, die zugeben, entmündigt zu sein und auf die Künstlichkeit einer Über-setzung zurückgreifen zu müssen. 159 Zur Auslegung gedrängt, deren "Vollzug" sie ist, wird die Übersetzung als eine "Überhellung" aufgefaßt. 160 Wenn die Auslegung aber eine explizite Entwicklung des Verstehens ist, so ist die Übersetzung eine explizite, aber "künstliche" Entwicklung. Das "Elend des Übersetzens", das "Buchstabe ohne Geist" ist, würde demnach darin liegen, daß der Übersetzer die "Einheit der Meinung, die ein Satz hat", übertragen muß, ohne sie jemals treffen zu können. 161 In dieser sehr traditionellen und wenig hermeneutischen Konnotation ist das Übersetzen, das streng interlinguistisch konzipiert wird, nicht so sehr ein Extremfall, als vielmehr ein Sonderfall und eine Abweichung von der Norm des intralinguistischen Gesprächs. Auch in seinen späteren Arbeiten wird Gadamer diese negative Sichtweise der Übersetzung nicht ändern und sie weiterhin als eine künstliche Vermittlung des Sinns betrachten, der nur im Gespräch wieder zum Leben erweckt werden kann. Denn Übersetzen oder gar Dolmetschen "ist eben noch ein Rest von lebendigem Gespräch, wenn auch ~rmittelt, gespalten, gebrochen." 162
9. Spiel und Gespräch. Die Begegnung mit Wittgenstein
Auf der vorletzten Seite von Wahrheit und Methode wird das Paradigma des Spiels wieder aufgenommen, das nun jedoch nicht auf die Kunst, sondern auf 'die Sprache bezogen wird. "Sprachliche Spiele sind es auch, in denen wir uns als
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 402. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 404; vgl. auch in diesem Kapitel§ 11. IS'I GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 388. 160 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 389. Zu Gadamers Konzeption der Überllltzung aber auch zu den hierbei mit einbezogenen Schwierigkeiten vgl. joHN SALLIS, HerMeneutik der Übersetzung, in: GüNTER FIGALijEAN GRONDINIDENNIS J. ScHMIDT ·(Hr1~.), Hermencutische Wege 2000, 149-159, insb. 157 f. ltll GAl>AMI\R, Spric: Vidfalt dc.:r Sprachen und das Verstehen der Welt, GW 8, 348. " 7
158
210
Lernende [... J zum Vcrstiinc.lni!l der Wdt t•rhcbcn."ltd Fast scheint es so, als wären dies die Worte Wittgcnstt.•i ns. I >ie überraschende Konvergenz, die sich hier einstellt, wird auch von Gadamcr im Vorwort zur zweiten Auflage von 1965 ausdrücklich vermerkt.l 64 Man muß daher annehmen, daß seine Lektüre von Wittgensteins Hauptschriften, sowohl des Tractatus als auch der Philosophischen Untersuchungen, auf die Jahre zwischen 1960 und 1965, vielleicht schon auf die letzten Monate von 1959 zurückgeht. Aus dem Jahr 1963 stammt jedenfalls sein Aufsatz Die phänomenologische Bewegung, der wohl die bedeutendsten Äußerungen Gadamers über Wittgenstein enthält. Vor allem im Schlußteil wird das "Sprachspiel" als gemeinsamer Nennerall jener neueren Philosophien namhaft gemacht, die auf eine "letzte Begründung" verzichten, wie sie Husserl noch im Sinne hatte. 165 Diese erste Begegnung mit Wittgenstein wird sich zu einer wichtigen Auseinandersetzung entfalten, die sich bis zu den letzten Schriften hinzieht. Die Konvergenz ist deshalb überraschend, weil Wittgenstein in Deutschland am Anfang der sechziger Jahre noch fast unbekannt war. Gadamer ist- wie es scheint- einer der ersten, der ihn produktiv liest. Dreißig Jahre später, 1990, erklärt er: "Der Name Wittgenstein ist heute einer der großen Namen der Philosophie unseres Jahrhunderts." 166 Doch was verbindet und was trennt beide Philosophen? Wieviel Gadamer diese Begegnung bedeutet, liegt auf der Hand. Schon seit einiger Zeit arbeitet er an einer Phänomenologie des Spiels, die ihm die über-metaphysischen Implikationen dieses Begriffs immer deutlicher macht. Die Begegnung mit Wittgenstein bekräftigt ihn in seiner Überzeugung, daß es das "Spiel" ist, das die Metaphysik aufs Spiel setzt, und sie bringt ihn dazu, dieses Paradigma, das er schon auf die Kunst angewendet hatte, noch weiter auszudehnen, indem er nun das Miteinander des Spiels in der Universalität der Sprache, oder besser gesagt: im Gespräch sieht. 167 Es ist also letztlich Wittgenstein, der Gadamer auf einen von Heidegger abweichenden Weg zur Verwindung der Metaphysik hinweist. Die Sprache der Metaphysik ist, wie gezeigt wurde, immer noch Sprache. 168 Auch die erstarrGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 493. GADAMER, Vorwort zur 2. Auflage, GW 2, 446. Vgl. auch GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 507; Phänomenologie, Dialektik, Metaphysik (1983), GW 10, 100-109, hier 107; Mit der Sprache denken (1990), GW 10, 346-353, hier 347; Hermeneutik auf der Spur (1994), GW 10,149. 165 GADAMER, Die phänomenologische Bewegung, GW 3, 142-146. 166 GADAMER, Die Vielfalt der Sprache und das Verstehen der Welt, GW 8, 343. 167 Vgl. GADAMER, Zwischen Phänomenologie und Dialektik- Versuch einer Selbstkritik, GW 2, 5 f. 168 Die lebendige Sprache wird dann immer in ihrer grundsätzlichen Metaphorik zurückgewonnen. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 436 f. Vgl. dazu joEL WEINSREIMER, Gadamer's Metaphorical Hermeneutics, in: HuGH HuGH J. Sn.VERMAN {Hrsg.), Gadamer and Hermeneutics 1991, 181-201; jAMES RISSER, Die Metaphorik des Sprcchcns, 163
164
.Zll tt.•n 1\q~rilh·
/.c.·iduwn, suh.dd sie.· wic.·dc.·r in dc.·n ldwndi~t·n Spr.\rh~t·hrauch, in das Nc.·t1. dc.·r Spr;Khspidc.· t•i n~d ü~t werden und dort wc.·itc.·r .,arhciten"', die Linien ihrer eigenen Ühl'rwindung vor. 1'''1 l>it• K.onvergt·nz, die Gadamer zurecht nicht im Tracttllus, der ;tuf die Zurückführung aller Sätze auf die ",Logik des Satzes"' zielt, sondern in den Philosophischen Untersuchungen ausmacht, findet eine weitere Bestätigung in Wittgensteins "Sprachpragmatik", das heiHt in seiner neuen Sicht der Sprache als öffentlicher Praxis und gemeinsamen Handeins und in seinem Argument gegen die Privatsprache. 170 Die Sprache ist immer ,,öffentlich"; eben darum ist sie immer gemeinsam und zwangsläufig dialogisch. Das Argument gegen die Privatsprache ist eine andere Art, den Vorrang des Dialogs zu betonen. 171 Für Gadamer wie für Wittgenstein ist das Sprechen ein Überein-kommen in jenem Mittelpunkt des Wortes, der das Gemeinsame "gründet" und der mit dem allgemein Gültigen nicht verwechselt werden darf: "auch die Spiele der Kinder sind ja so, daß man nicht mit irgendeinem Besserwissen hinter ihre Festsetzungen zurückgehen darf." 172 Dies übt eine brisante Wirkung selbst auf den Begriff des "Begriffs" aus, der in den Familien der Sprachspiele verstreut zu sein scheint. Dabei verliert er zwar seine scharfen Ränder, gewinnt dafür aber die Produktivität der Unbestimmtheit. 173 Doch ungeachtet ihrer Nähe ist natürlich der Abstand zwischen Wittgenstcin und Gadamer nicht zu übersehen, der vor allem in ihrer unterschiedlichen Auffassung des Verhältnisses zwischen Sprache und Philosophie liegt. Für Wittgenstein ist die Philosophie eine Sprachkritik, eine Therapie, die zur Auflösung der philosophischen Probleme führen soll. 174 Für Gadamer hingegen ist die Hermeneutik ein Hören auf die Sprache, das keineswegs zu einer kathartischen Befreiung von der Philosophie führt. Die Unterschiede erstrecken sich in: GüNTER FIGALijEAN GRONDIN/DENNIS J. ScHMIDT, Hermeneutische Wege 2000, 177-190. 16'J Vgl. GADAMER, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, GW 2, 248; Selbstdarstellung, GW 2, 507; Hermeneutik auf der Spur, GW 10,156; Mit der Sprache denken, GW 10, 349 sowie in diesem Band Kap. VII, 2. Vgl. ULRICH ARNSWALD, On the Certainty of Uncertainty: Language Games and Forms of Life in Gadamer and Wittgenstein, in: jEFF MALPAs/ULRICH ARNSWALDijENS KERTSCHER (Hrsg.), Gadamer's Century. Essays in llonor of Hans-Georg Gadamer, Cambridge, Mass./London: MIT Press 2002,25-44. Neue Ansätze dazu bietet jetzt: CHRIS LAwN, Wirtgenstein and Gadamer: Towards a Post-Analytic Philosophy of Language, London u.a.: Continuum 2004. 170 GADA M ER, Die phänomenologische Bewegung, GW 3, 144; GADAMER, Die Vielfalt tlt'r Sprache und das Verstehen der Welt, GW 8, 343. 171 (;A I>A M ER Heimat und Sprache, GW 8, 369 und Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 432. 171 GA DA M ER, Die phänomenologische Bewegung, GW 3, 144. 171 Vgl. ehd. sowie GA DA M ER, Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 156. 17.. Vgl. GAUA M ER, Hermeneutik (1969}, GW 2, 425-436, hier 429; Die phänomenoloKhu:lw 1\t-wq.~ung, GW ], 146.
212 jedoch auch auf die Spmchrcflcxinn. Gadamcr äuf~ert seine Bedenken sowohl gegen den Terminus "Gebrauch''. der auf eine viel zu instrumentelle Sprachauffassung verweist, als auch gegen den Terminus "Regel", der im Hinblick auf die Komplexität des Sprechens allzu reduktiv erscheint. 175 Der späte Gadamer sieht im Spiel immer deutlicher das Bindeglied zwischen nicht-verbaler und verbaler Kommunikation: von der Tiersprache über die Sprache, die der Mensch mit den Tieren spricht, bis hin zum Sprechenlernen, das ein "Sich-Einspielen-miteinander" des Kindes und des Erwachsenen ist. 176 Spiel ist bereits der vorsprachliche Dialog, aus dem der sprachliche Dialog hervorgehen wird. Indem die strukturelle Verwandtschaft zwischen Spiel und Dialog ans Licht kommt, tritt der "mediale" Charakter des Spielens hervor, das, sofern es stets ein Mit-Spielen ist, jene Tätigkeit bezeichnet, die in Passivität übergeht. Daher verschwindet hier die starre Dichotomie von Objekt und Subjekt. Der Sprecher geht über seine Subjektivität hinaus, indem er sich dem Ineinanderspiel der Sprache beugt, das schon immer auf das Über eines Anderen verweist, und er überläßt sich dem Sagen-Wollen des Anderen, indem er sich mit dessen Wort dekliniert und konjugiert, das dabei zu einem gemeinsamen wird. 177 Hier trennt Gadamer nicht nur ein Abstand von Wittgenstein, sondern auch von Heidegger. Bei Wittgenstein herrscht die Perspektive der Sprecher vor, die sich aufgrund ihrer Kompetenz, d.h. durch ihr Operieren mit Regeln, in der Grammatik der Spiele bewegen können. Das Spiel wird von den Sprechern gespielt und das Sprechen ist "ein Teil [...] einer Tätigkeit", in der ein Rest von Subjektivität überdauert. 178 Bei Gadamer wird diese Perspektive der Sprecher in der gemeinsamen Perspektive des Sprachspiels überwunden. Dies bringt jedoch keine Hypostasierung der Sprache mit sich. Insofern profiliert sich seine Position auch gegenüber Heidegger, denn es ist für ihn nicht die Sprache, die spricht, sondern es sind vielmehr die Sprecher. Während bei Wittgenstein die Herrschaft beim Subjekt verbleibt, geht sie bei Heidegger auf die Sprache über. Gadamers Zwischenstellung reflektiert den "medialen" Charakter des Spiels, der Licht auf den aktiven und dennoch erlittenen Vorgang des Dialogs wirft.
Vgl. GADAMER, Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 156; Europa und die Oikoumenc, GW 10,275. 176 GADAMER, Grenzen der Sprache, GW 8, 356. 177 Vgl. in diesem Band Kap. IX, 7. 178 WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen,§ 23, 250. 175
10. l>il· Verschiedenheit der Spr~u.·hcn und die Zukunft Europas Bei Gadamcr nimmt der Dialog jedoch noch schärfere Konturen an. Er ist für ihn nicht nur der Dialog zwischen Ich und Du, sondern auch der Dialog zwischen den Sprachen. Das Thema der Verschiedenheit, das in Wahrheit und Methode schon in der Auseinandersetzung mit Humboldt berührt wird, gewinnt in der philosophischen und in der politischen Reflexion des späteren Gadamers an zusätzlicher Bedeutung, der seine Aufmerksamkeit immer mehr auf die Zukunft der europäischen Ökumene richtet. Der hierfür wichtigste Text ist Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt von 1990. 179 Die Geschichte des Turmbaus zu Babel (Gen. 11, 4-9) beunruhigt uns bis heute, weil uns nach wie vor die Idee verführt, eine Einheitssprache zu bilden, in der die menschliche Hybris Gestalt annehmen könnte. Der Turmbau zu Babel wiederholt in einer ins Umgekehrte verstellten Form das Problem der Einheit und Vielheit. Da ist die Einheit die Gefahr, und die Vielheit ihre Überwindung.180
Doch wie sieht dieser Turm in der heutigen Welt aus? Die Antwort, die durch die Geschichte des Abendlands gegeben worden ist, läßt für Gadamer keinen Zweifel bestehen: der Turm ist die Wissenschaft. Als Ergebnis der Abstraktionskraft der Logik ragt der Turm auf und, verstärkt auch durch die Sprache der Mathematik, weist er jede Grundlage in der gemeinsamen Sprache ab. Doch diese hört nicht auf, sich in eine Vielfalt historischer Einzelsprachen zu deklinieren. Weder eine Rationalisierung noch eine Bürokratisierung- in dem von Max Weber erläuterten Sinn- werden dieses Problem durch den Bau einer leeren mechanischen Einheit beseitigen. Deshalb soll die Chimäre einer Kunstsprache Platz für den Dialog der Sprachen schaffen, in dem es allein möglich ist, den Wert einer jeden Einzelsprache zu entdecken- denn "man kann in jeder Sprache alles sagen." 181 Diese Einsicht hilft, der Versuchung zu widerstehen, den Anderen die in der eigenen Sprache sedimentierte Welt aufzuzwingen, als ob diese die Welt schlechthin wäre. Der Dialog ist der Weg, um die Verschiedenheit in einer kulturell reicheren Einheit zu bewahren. Die Sprachen Europas sprechen gegen die monologische Einheit und bezeugen das Modell einer Einheit, die sich in Differenzen artikuliert. Wegen der ihr von Anfang an innewohnenden Exzentrizität, die sie auf den Dialog verweist, hat die europäische Ökumene diese differierende, diffe-
Die Vielfalt der Sprache und das Verstehen der Welt, GW 8, 339-349. GA DAMJ.:R, Die Vielfalt der Sprache und das Verstehen der Welt, GW 8, 340. GA DA MJ·:R, Europa und die Oikoumcnc, GW 10,270.
17'1 GADAMER, IRO tKt
214
renz1erte und dczcntricrtc Einheit durch ihre Geschichte hindurch erleben mussen. Gerade hier liegt für Gadamcr die Aktualität Europas, das eine "wahre Schule" des Miteinanderlebens - auf engerem Raum - verschiedener Völker, Kulturen, Religionen und Konfessionen ist. 182 Infolge der Erschütterungen und Traumata, durch die es Jahrhunderte lang gezeichnet worden ist, wurde Europa das Privileg und die Aufgabe zuteil, den Anderen in seinem Anderssein achten zu lernen. 183 In seinem Aufsatz Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft spricht Gadamer nicht nur über den Anderen, sondern auch über das Andere: Es ist das Du, das verlangen kann, respektiert zu werden, aber es ist auch das Andere, das "zunächst als das Andere begegnet", das heißt in jenem Anderssein, das etwa die Natur für uns ist. 184 Der Vorzug, den Anderen bzw. das Andere zu respektieren, ist das, was Europa heute bedeutsam, vielsagend und vielversprechend macht. Diese häufig mißachtete Aufgabe stellt sich in ihrer Universalität dringlicher denn je. Gadamer gewinnt daraus die Überzeugung, daß die europäische Frage mit der "Zukunft der Menschheit im ganzen" zu tun hat. 185 Denn "mit dem Anderen leben, als der Andere des Anderen leben": darin besteht seit langem Europas Aufgabe. 186 Es handelt sich um eine zugleich "ethische" und "politische" Aufgabe, die sich sowohl dem Einzelnen als auch den Völkern und Staaten stellt. In diesem Sinn nimmt Europa die Zukunft der globalisierten Welt vorweg. Und das "neue Babel" beansprucht in seiner Produktivität, daß die Freiräume des menschlichen Miteinanders nicht nur geachtet, sondern auch erlebt werden- dies um so mehr dort, wo die Fremdheit deutlicher hervortritt. 187 Gadamers Betonung des Anderen, des Fremden und Verschiedenen schwächt jedoch keineswegs seine Forderung ab, das Gemeinsame aufzubauen. Wenn es auch wahr ist, daß wir im Anderen uns selbst begegnen und zwar vor allem in dem, was uns von dem Anderen unterscheidet, so müssen wir doch an dem Anderen und mit dem Anderen auch das Gemeinsame anerkennen. 188 Die Forderung insistiert insofern vor allem darauf, die Teilhabe am Gemeinsamen zu festigen und für eine gemeinsame Zukunft zu sorgen. 189 Die Frage nach Europa GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft (1985), in: Das Erbe Europas, 7-34, hier 31. Vgl. DA MIR BARBARIC, Zur Sprachauffassung Hans-Georg Gadamers, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2/1996, 227-235, hier 231 f. 183 GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft Erbe Europas, 30. 1114 GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft Erbe Europas, 28 f. 185 GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft Erbe Europas, 31; vgl. auch Europa und die Oikoumene, GW 10,271. 186 GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft Erbe Europas, 30. 187 Vgl. GADAMER, Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt, GW 8, 348. 188 Vgl. GADAMER, "Bürger zweier Welten" (1985), in: Das Erbe Europas, 106-125, hier 124 f. 189 GADAMER, Die anthropologischen Grundlagen der Freiheit des Menschen (1987), in: Das Erbe Europas, 126-135, hier 135. 182
10.
J),,. Vt·n, J,,,.",."",." elrr ,\'/'''"''''" "",/ ,,,,. lulom/t '""'/'•''
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und sl·inl'l" Zukunh ist d.um mi1 dt•r Fr.a~c n.u:h dl·r <;l·nwinsduh bzw. nach der l>rin~lidlkt:it l'inl·r lll'lll'll ( ;l'llll'insrh;tft cn~ vt.·rknüpft. l>it.·sc letztere ist deshalb einl' so komplizil'l'll' 1:ra~c, Wl·il die europäische Identität heute mehr denn je eine mit sich seihst nicht identische Identität ist. Doch gerade die kreative Erfahrung der Fremdheit, die gewissermaHen das Eigene der exzentrischen Identität Europas ausmacht, bietet eine letzte Zukunftschance, und zwar schon von den europäischen Peripherien und Rändern ausgehend, die zugleich Orte des Scheiteros aber auch Grenzen sind, an denen sich ebenso viele Horizonte erschließen. Die neue Gemeinschaft, die sich vor dem Hintergrund Europas abzeichnet, wird sich deshalb nicht auf ein leeres und abstraktes Allgemeines berufen können- schon für Hegel haben die Europäer als Prinzip und Charakter das "konkrete Allgemeine". Sie wird vielmehr die Differenz postulieren müssen, die Teil des europäischen Erbes ist, jene Differenz, die Europa eine Selbstidentität untersagt und es gezwungen hat, sich immer wieder in der Differenz von sich zu gestalten. Das Erbe Europas verspricht von hier aus eine Zukunft, in welcher die Kultur des Selbst in der Pluralität der Differenzen auch zu einer Kultur des Anderen wird. Doch was stellt das Erbe Europas für Gadamer dar? Das Erbe Europas ist für ihn wie ein Kunstwerk, ein "gelungener Versuch der Einigung von Auseinanderfallendem", ein zwischen der Gefahr des "Vergangenheitscharakters" und der Öffnung zur Utopie schwebendes Kunstwerk, es ist die unmögliche Möglichkeit, jeweils eine Welt im Einklang eines Miteinanders wiederaufzubauen, sie in der Poesie und in der Kunst neu zu schaffen, selbst unter den Trümmern des Prosaischen. 190 Unter diesen Trümmern- den Trümmern Europas, vor allem aber Deutschlands - ist der Wiederaufbau besonders der Philosophie anvertraut: Die Zukunft Europas, so Gadamer, fügt sich in die Zukunft der Philosophie ein. Dabei sind die Lehrer, die Gadamer für das Europa der Zukunft empfiehlt, keineswegs zeitgenössische Philosophen, sondern es sind Platon und Hcgcl: der Dichter-Philosoph und der schwäbische Professor, der das Wort der Philosophie aus der europäischen Vergangenheit aufgenommen und ihm so universellen Widerhall verschafft hat. 191
1'10 GADAM ER,
Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunsthis zur Antikunst von heute, in: Das Erbe Europas, 65 und 74; auch in GW 8, 208 und 21 J. l'll V~ I. CA nA M I~R. Von Lehrenden und Lernenden, in: Das Erbe Europas, 158-165, hier
tt,.\ -1{1~.
216
11. Paul Cclan. Zwischen Gedicht und Gespräch Doch für die philosophische Hermeneutik gibt es bereits einen Ort, an dem man mit dem Anderen als dem Anderen des Anderen leben kann. Dieser Ort ist die Dichtung. Wie soll aber das Gespräch mit der Einmaligkeit der Dichtung in Einklang kommen? Auf die Idee eines Gesprächs des Gedichts kommt Gadamer nach der Begegnung mit Paul Celan, der vielleicht der bedeutendste Dichter auf seinem Denkweg gewesen ist. Wer bin Ich und wer bist Du? ist der Titel des kleinen Buches, das er 1967 Celans Gedichtszyklus "Atemkristall" gewidmet hat. Zu diesem Buch- das Heidegger noch höher schätzte als Wahrheit und Methode- sind später einige Aufsätze hinzugekommen, die jetzt in der 1990 veröffentlichten Sammlung Gedicht und Gespräch enthalten sind. 192 Aber Wer bin ich und wer bist Du? ist zugleich auch das am meisten kritisierte Buch Gadamers. Und diese Kritiken sind zum größten Teil auch durchaus gerechtfertigt. Denn Gadamer gliedert Celan nicht in die jüdische Tradition ein und nimmt ihn letzten Endes nicht für das, was er ist und sein will: der Dichter der Shoah. Man muß allerdings auch betonen, daß sein Buch, das eines der ersten über Celan ist, in einer Zeit veröffentlicht wurde, in der diesertrotzder Verleihung des Büchnerpreises 1960 in Deutschland alles andere als anerkannt war. Es stimmt übrigens auch, daß er Celan als Kronzeugen des hermeneutischen Dialogs wählt und damit die von dessen Dichtung eröffnete Frage "wer bin ich und wer bist du?" universell macht. Mehrmals erwähnt Gadamer den Namen Celans- auch in einem autobiographischen Zusammenhang. Insbesondere ruft er ihn aber deshalb in Erinnerung, weil ihm die dichterische Sprache Celans und die philosophische Sprache Hegels in ihrer Polarität gestatten, die Beziehung zwischen Philosophie und Poesie einzusehen. 193 Dieses Thema behandelt er in dem Aufsatz Philosophie und Poesie von 1977. Im Abstand zur Alltagssprache ist, Gadamer zufolge, die Nähe von Poesie und Philosophie zu betrachten, die sich ihrerseits jedoch in zwei Extreme spalten: die Extreme eines Wortes, das sich selbst vor dem Begriff aufhebt und eines Wortes, das in sich selbst steht. 194 In der alltäglichen, selbstvergessenen Sprache geht das Wort in das Gesagte über bzw. vergeht es am Unsagbaren. In der dichterischen Sprache dagegen steht das Wort "in sich da" und
Vgl. HANS-GEORG GADAMER, Im Schatten des Nihilismus. Was muß der Leser wissen? (1990), in: GADAMER, Gedicht und Gespräch. Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, 91-114, auch in GW 9, 367-382; vgl. GADAMER, Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? (1991), GW 9, 461-469; Verstummen die Dichter? {1970), GW 9, 362-364; Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan (1975), GW 9, 452-460. 193 Vgl. GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 493. 194 Vgl. GADAMER, Philosophie und Poesie (1977), GW 8, 232-239, hier 232-234; Dil' Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 83. 192
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117
zic.·ht sirh ~q.~c.·nillwr dt·m, W.trol t•s s.t~l, nirlat :t.uriidc 1 ''"~ Mit c.•iall'r t•tymologischt•n l·'igur, dit· c.·r voll llc:idc.•ggc.·r ühc.·rnimmt, llt'ht ( ;,llLlmer immer wieder das /)ikttll der l>ichtun~ lwrvor.l'11' I>.ts dicht(.•rische Wort ist "ganz Wort" und, sofern es Sprache im ,.t·minc.·nten Sinn.. ist, mi1chte es auch "beim Wort" genommen werdcn. 1'17 Um di<.·s zu erl~iutern, wird ein Gleichnis von Valery eingeführt: die alltägliche Sprache ist wie das Kleingeld der Scheidemünze, die dichterische Sprache ist wie ein Goldstück, dessen Wert seinem Aufdruck entspricht. 198 Dies gilt um so mehr für die Lyrik, die Gadamer-wie Hegel- gegenüber anderen Kunstformen bevorzugt. 199 Für ihn stellt Celans hermetische Lyrik einen extremen und paradigmatischen Fall in der zeitgenössischen Konstellation dar. Cclan denkt seine Dichtung als eine ,,Flaschenpost", eine Art Geheimschrift. 200 Entziffern, Lesen, Zuhören bestimmen die hermeneutische Arbeit, die dazu tendiert, den fast unlesbar gewordenen Zeichen eine Stimme zurückzugeben. Damit die poetische Botschaft ihren Adressaten erreicht, muß sie gelesen werden, so wie ein Musikstück aufgeführt werden muß- denn Lesen bedeutet, den Text sprechen zu lassen, und deshalb ist es immer schon ein Deuten. 201 Hier zeigt sich für Gadamer die Nähe von Dichten und Deuten. 202 Deuten heißt, sich in den Dienst des poetischen Textes zu stellen, um das herauszuheben, was der Text selber schon zeigt. Eine Interpretation ist nur dann gelungen, wenn sie ganz zurücktritt und ganz in eine neue Erfahrung des Gedichts eingeht. 203 Das deutende Wort deutet nur das, worauf das dichterische Wort bereits GADAMER, Über den Begriff der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit {1971), GW 8, 70-79, 72; Zu Poetik und Hermeneutik {1968/1971), GW 8, 58-69, hier 60. 196 Vgl. GADAMER, Gedicht und Gespräch. Überlegungen zu einer Textprobe Ernst Meistersam Main (1988), in: GADAMER, Gedicht und Gespräch, 165-182, hier 171, auch in GW 9, 335-346, hier 337; Philosophie und Literatur (1981), GW 8, 240-257, hier 251; Dekonstruktion und Hermeneutik, GW 10, 140. 197 GADAMER, Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit, GW 8, 72; Philosophie und Poesie, GW 8, 239. 1911 Vgl. GADAMER, Dichten und Deuten (1961), GW 8, 18-24, hier 19; Zur Poetik und Hermeneutik, GW 8, 59; Philosophie und Poesie, GW 8, 233; Verstummen die Dichter?, GW9, 362. Vgl. CHRISTOPHOR LAWN, Gadamer on Poetic and Every Day Language, in: Philosophy and Literature 25 (2001), 113-126. 199 Vgl. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Ästhetik, Teil III. in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Band 15, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, hier 415-474; vgl. GADAMER, Zur Poetik und Hermeneutik, GW 8, 58-69. 200 PAUL CELAN, Ansprache anläßlich der Entgegenahme des Literaturpreises der Freien llanscstadt Bremen (1958), in: CELAN, Gesammelte Werke in für Bände, hrsg. von Beda Allcmann und Stcfan Reichen unter Mitwirkung von RolfBücher, Band 3: Gedichte III-ProsaRcdcn, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, 185-186, hier 186. 101 Vgl. GADAMER, Lesen ist wie Übersetzen, GW 8, 279-285; Der >eminente Text< und Meine Wahrheit (1986), GW 8, 286-295, hier 287 f. lOl Vgl. GA DAM ER, Dichten und Deuten, GW 8, 18-24. 101 Vgl. CADAMFK, Wer hin Ich und wer hist Du? Kommentar zu Cclans "Atemkristall" (l'J7.\), h.mkfurt .un M.lin: Suhrk.lmp 19R6 (r(."vidicrtc und cq~änzte Ausgabe), 156. 195
218 deutet. Etwas deuten ist al~o immer ..lic Deutung eines Deutens: darin zeigt das deutende Wort seine dichterische B~rufung. Doch das dichterische Wort, sofern es auf etwas deutet, ist seinerseits auch ein deutendes Wort. Dichten und Deuten sind gleichursprünglich. Was sie verbindet, ist das Deuten, das von sich weg über sich hinaus auf Anderes verweist. Nicht der Deutende und nicht der Dichtende besitzen eine eigne Legitimation - sie beide werden durch das, was eigentlich, wo ein Gedicht ist, immer schon übertroffen. Sie folgen beide einem Deut, der ins Offene deutet. 204
Celans Dichten ist ein Deuten, weil es eine Reflexion über die Dichtung ist, die in der Dichtung selbst am Werk ist. Die Dichtung ist für Celan eine "Atemwende". Für Gadamer bezeichnet dies "den hauchartigen Übergang und Umschlag zwischen Ausatmen und Einatmen [...], wo dann der Atemkristall des Gedichts wie eine vereinzelte Schneeflocke in reine Gestalt ausfällt". 205 Der Kristall steht fest im Atem, der als Lebenshauch allen gehört. Von hier aus erhebt er sich von seiner Einzigartigkeit zur Universalität. Es ist nicht "Meingedicht", sondern "dein unumstößliches Zeugnis", denn es stammt von der Sprache des "Du", jenem dialogischen Ort ab, der trotz seiner Einzigartigkeit deshalb universal ist, weil er der Ort des Auftretens der Sprache selbst ist. 206 Die Universalität des Zeugnisses tritt um so deutlicher innerhalb des Gesprächs hervor, welches das Gedicht eröffnet. Im Gedicht sieht Gadamer den Ort, an dem die Grundfrage entsteht: "Wer bin ich und wer bist du?" Die einfachste Antwort ist, daß das "Ich" dasjenige des Dichters und das "Du" dasjenige des Lesers sei. Aber für Gadamer ist dem keineswegs so. Obwohl es oft als das Ich des Dichters verstanden wird, ist das "Ich" doch die "Ich-Form", in der das Ich des Dichters, aber auch das Ich eines jeden mit eingeschlossen ist. 207 Das "Du" ist seinerseits die "Du-Form", die auf das Wort des Ichs hört, es ist der privilegierte Gesprächspartner der dichterischen Botschaft, das Du des Ich, sei es an das Du des ganz Anderen, der Geliebten oder der eigenen Seele gerichtet.208 Damit erlangt die Frage "wer bin ich und wer bist du?" einen völlig neuen Sinn. Zunächst sind "Ich" und "Du" weder unterschieden noch ein für alle Mal festgelegt; "Ich" und "Du" hängen vielmehr zusammen und sind sogar austauschbar. Denn in Dein "Ich" kann mein Ich eintreten, in mein "Du" dein Du. Eintreten heißt hier, die Form des Ich oder des Du anzunehmen und sich in dieser wiederzuerkennen. Die Pole des Ich und des Du bleiben offen und diese Offenheit ist die Aufforderung, die das Gedicht an den Leser richtet, sich in das 204 205 206 207
GADAMER, Dichten und Deuten, GW 8, 23 f. GADAMER, Wer bin Ich und wer bist Du?, 152. GADAMER, Wer bin Ich und wer bist Du?, 124. Vgl. GADAMER, Hilde Domin, Lied der Ermutigung II (1966), GW 9, 320-322 hier
321. 208
GADAMER, Wer bin Ich und wer bist Du?, 120.
2l'J Ccspriü.:h hincinzuht.'At.'hen. Eint• 1\r"tiiti~lln~ d.1Hir ist dir ihm i\llAehotene M<>~lichkeit, aus seiner Perspt.•ktivc sowohl die Rolle des Ich als auch die des Du auszufüllen. Das Ich und das Du des vom Gedicht crüffnctcn Gesprächs sind nämlich absolut. Das Du ist das Du des absoluten Gesprächspartners und das Ich ist das absolute Ich des Dichters. Ich und Du in ihrer Absolutheit übersetzen das Menschliche des Ich und des Du in eine universale Sprache. So gibt der Dichter dem Schicksal aller eine Stimme. Es erlaubt dem Leser, das Ich zu sein, das der Dichter ist, weil der Dichter das Ich ist, das wir alle sind. 209 Frage und Antwort zugleich, des Ich an das Du, des Du an das Ich, ist das dichterische Wort jenes mühevoll und keuchend gesuchte "rechte Wort", das beiden Schutz und Aufenthalt bietet. 210 Unsere Grunderfahrung als zeitliche Wesen ist die, daß uns alles entgeht. Dem gegenüber bringt das dichterische Wort in seinem "da" gleichsam die Vergänglichkeit der Zeit zum Stehen. Denn in dem dichterischen Wort, in seinem Stehen, ist die Nähe, die Vertrautheit da, in der man sich einhausen, in der man heimisch werden kann: "Das dichterische Wort bezeugt uns unser Dasein, indem es selbst Dasein ist." 211 Damit ist auch der Unterschied zwischen Gedicht und Gespräch angesprochen. Da es nicht vergeht, ist das dichterische Wort im Gegensatz zum Gespräch nicht prozessual. 212 Unser ganzes Sein erstreckt und entfaltet sich zwischen diesen beiden Polen der Sprache: dem Fluß des Gesprächs und dem Kristall der Poesie. 213 Da es dem Text sein dichterisches Diktat vor-schreibt, ist das Wort des Gedichts in seiner kristallinischen Form mehr als jedes andere Wort "Text". Andererseits wird jedes mündliche Wort- und dies konstatiert einen Vorrang der Schrift vor der Mündlichkeit- stets nur ein Versuch sein, den Text des dichterischen Diktats sprechen zu lassen. Gedicht und Gespräch erweisen sich hierbei als extreme Gegensätze: "Das Gedicht gewinnt Dasein als >Literatur<, das Gespräch lebt von der Gunst des Augenblicks". 214 Dank der Unerschöpflichkeit ihres Sinnes sind beide unendlich, wenn auch wiederum in unterschiedlicher Form. Das Gespräch ist im Wort unendlich, das in der horizontalen Unendlichkeit des Miteinandersprechens nach weiter mögVgl. GADAMER, Verstummen die Dichter?, GW 9, 366. Vgl. GADAMER, Wer bin Ich und wer bist Du?, 115; Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr (1971), GW 9, 323-328; Heimat und Sprache, GW 8, 366-372. Vgl. JAMES RISSER, Poetic Dwelling in Gadamer's Hermeneutics, in: Philosophy Today 38 (1994), 369-379; BRUCE KRAJEWSKI, Gadamer's Aesthetics in Practice in Wer bin ich und wer bist du?, in: STEVE MARTINOT (Hrsg.), Maps and Mirrors: Topologies of Art and Politics, (Philosophy, 1iterature, and culture), Evanston (Illinois): Northwestern University Press 2001, 16-27. 211 GADAMER, Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit, GW 8, 79. Vgl. dazu ALEJANDRO A. VALLEGA, On the Tactility of Words. Gadamer's Reading of Paul Celan's Atemkristall, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 3 (2004), 99-121. 212 Vgl. GADAMER, Gedicht und Gespräch, GW 9, 335-346. 213 Vgl. GADAMER, Gedicht und Gespräch, GW 9, 338-339. 214 GADAMER, Gedicht und Gespräch, GW 9, 339. 209
210
220
V /II. 1\ rf/•111'1: l>tr llurilont d,•s ( ;espriühs
liehe Antworten erfragt; LI.\S Gedicht ist im aussagenden Wort unendlich, dessen Sinn eine unerschöpfliche Vcrtikalität hat. 215 Noch vor jedem dialogischen Geschehen stiftet das dichterische Wort in seiner Universalität Gemeinschaft. Das Gedicht ist der "Refrain der Seele", ja es ist der Refrain, in welchem Ich und Du entdecken, "dieselbe Seele" zu sein, worin sie also einstimmen, das heißt mit dem ganzen Gesang mitgehen, zu dem das Gedicht einlädt. 216 Das Gedicht erweist sich derart als konstitutiv dialogisch. Auf die Frage "Wer bin ich und wer bist du?" antwortet es dadurch, daß es die Frage selbst offenhält, denn diese läßt keine endgültige Antwort zu. Vielmehr macht die Frage als Frage bereits ihre eigene Antwort aus. 217 Zu fragen "wer bin ich und wer bist du?" ist demnach eine Art, der Andere des Anderen zu sein.
12. Das Ritual und die Reziprozität der Sprache In der Kunst zu verweilen bedeutet schauen bzw. teilnehmen. Dies verweist auf eine Nähe von Kunst, Fest und Sprache, die das Paradigma des Spiels in der letzten Phase von Gadamers Philosophie immer deutlicher hervortreten läßt. Das Spiel trägt dazu bei, nicht nur Kunst, Fest und Sprache zu klären, sondern wirft Licht auch auf das Ritual, jenes ebenso unvordenkliche wie ungreifbare Phänomen der menschlichen Existenz, dessen Formenvielfalt und Relevanz für Gadamer weit über das hinausgeht, was man bisher von ihm wahrgenommen hatte. Dem Ritual ist der wichtige Aufsatz von 1992 Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache gewidmet. 218 Gadamer korrigiert sich hier selbst, indem er einräumt, sein Augenmerk bisher zu sehr auf die Sprache und zu wenig auf die "Lebenswelt" gerichtet zu haben, in der man der Handlung nicht weniger als dem Wort begegnet. Diese Kursänderung bringt ihn an die Grenze zum "Vorsprachlichen", wo der bereits des öfteren angekündigte Vergleich zwischen Tiersprache und Menschensprache stattfindet. Nicht ohne Schwierigkeit läßt sich in Bezug auf das Verhalten der Tiere und die Weisen ihres Verstehens von "Ritual" sprechen, weil die Handlung hier von der Natur vorgeschrieben wird. Daher sind diese Verhaltensweisen natürlich und spezifisch, das heißt sie variieren je nach der Art. Bei den Menschen GADAMER, Von der Wahrheit des Wortes, GW 8, 37 f.; Wie weit schreibt Sprache das Denken vor?, GW 2, 206. 216 GADAMER, Hölderlin und George (1971), GW 9, 229-244, hier 241; vgl. auch Gedicht und Gespräch, 337-338, 344. 217 Vgl. GADAMER, Wer bin Ich und wer bist Du?, 39. 218 GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 400-440. Vgl. RICHARD E. PALMER, Gadamcr's Recent Work on Language and Philosophy: on "Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache", in: Continental Philosophy Review 33 (2000), 381393; vgl. PA t.M ER, Ritual, Rightness, and Truth in Two Latc Works of Hans-Gcorg Gadarncr, in: l...:w 1s E. II A lfN (Hrsg.), Thc Philosophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 529-547. 215
221
variiert hingegen dl·r sozi;ll vcriinderte Ritus innerllillh dl·rsclben Art; Riten nehmen verschiedenarti~e J:orml'll in verschiedenen Kulturen an. Wo liegt also der spezifische Unterschied? Wo ist die Grenze zwischen Tierischem und Menschlichem? Man könnte sich die Antwort leicht machen, indem man die Kantische Trennung zwischen natürlicher Bedingtheit und Freiheit wieder aufnimmt oder die alten Dualismen von Natur und Geist wiederbelebt. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Auffassung ist dafür durchaus nicht Aristoteles verantwortlich; eher muß man umgekehrt zur Klärung dieser Frage von Aristoteles und seiner Definition der Seele als entelechia des Körpers neu ausgehen. Deshalb führt Gadamer die Unterscheidung zwischen Mitsamt und Miteinander ein, die nur eine logische Unterscheidung ist; ontologisch gesehen ist das eine mit dem anderen aber intensiv verflochten. 219 Trotz der Verbindung des "Mit" liegt der Unterschied zwischen "-samt" und ,,-einander", zwischen einem bloßen Zusammen-sein und einem Zusammen-sein, in der Reziprozität, in der Gegenseitigkeit. Dennoch ist diese Grenze flüssig und das Mitsamt trägt das Miteinander auf dem Untergrund seiner naturhaften Bestimmtheit. Das menschliche Verhalten kommt daher nie zu einer völligen Loslösung von den Triebkräften der Natur, und es ist wohl das Ineinander von Mitsamt und Miteinander, in dem man das Spezifische des Menschen zu sehen hat. Die Ritualität vollzieht sich in den Lebensformen, die das Mitsamt eröffnet, und nur insofern nimmt sie am Miteinander der Sprache teil. Anders gesagt: Der Ritus gehört zum Sprechen, ist aber noch nicht wirklich Sprechen, sondern vielmehr Handeln, während das Sprechen dort, wo es in die Ritualität übergeht, zum Handeln wird. Von hier aus läßt sich das besondere Kennzeichen der menschlichen Sprache besser erfassen, das in dem gemeinsamen Zug von Zeigen und Nennen ans Licht kommt, das heißt in dem Abstand, den jeder Sprecher gegenüber dem, was hier und jetzt ist, ebenso wie gegenüber sich selbst einnimmt, und der auf eine Sinnrichtung hinweist, die zwar nicht bewiesen werden kann, aber schon die Öffnung eines neuen Raumes für sich und den Anderen ist. Es ist dies der Ort, an dem sich die Weltgemeinschaft artikuliert. Das ändert jedoch nichts daran, daß das Sprechen den Charakter eines Rituals hat und daher an Riten teilhat. Dies zeigt sich etwa in den Höflichkeitsformeln der verschiedenen Sprachen, aber auch in der Teilnahme an einer Kultuszeremonie oder der Feier eines Festes, wo die Ritualität dominiert und die Sprache sich ihr gewissermaßen beugt. Denn der Spielraum ist hier begrenzt und jeder spielt die Rolle, die ihm aufgegeben ist. Es handelt sich also um ein Spiel, das aber anders als das Spiel des Gesprächs ist. Das rituelle Spiel, das zwar immer noch sprachlich ist, wird in dem Mitsamt der Kollektivität gespielt, das sprachliche Spiel, das 7.war immer noch rituell ist, hingegen im Miteinander der Gemeinschaft. Der Unterschied besteht auch hierin: Das Mitsamt ist der Beitritt zu einer li'J V~l. (;All/\ M I•:K,
Zur Plüinomcnologic von Ritual und Sprache, GW 8, 407-419.
222 Kollektivität, das Miteinander ist die Aufforderung, in der reziproken Gemeinschaft des Gesprächs das Wort zu ergreifen. In Bezug auf diese Reziprozität knüpft Gadamer an den platonischen Begriff der methexis an, um auf das hinzuweisen, was nicht nur ein Geteiltsein, sondern eine Gemeinsamkeit von Teilnahme und Anteilnahme ist. Das Miteinander der Sprache, in dem es weder ein erstes noch ein letztes Wort gibt, entfaltet sich aus dem einzigen "Voraussetzungslosen", das hier bleibt- Gadamer nennt es mit Platon erneut hikan6n- das heißt aus dem gemeinsamen Wort, zu dem und in dem die Sprecher übereinkommen, um das Gespräch jeweils wieder anzufangen.220 Und die Teilnahme wird nicht nur im unendlichen Spiel von Frage und Antwort gespielt, sondern auch in der verbindenden Gemeinschaft der Sprache und weiterhin in der allgemeinen sprachlichen Verfaßtheit des menschlichen Lebens.
GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 405. Vgl. PLATON, Phaidon, tOte 1. 220
IX. Kapitel
Hermeneutik als Philosophie Die Philosophie ist niemals in der wirklichen Notwendigkeit, ihre Existenzberechtigung zu beweisen, da auch der, der sie bestreitet, in der Reflexionsbewegung begriffen ist, die man Philosophie nennt. 1 Ich wagte nur nicht, das anspruchsvolle Wort "Philosophie" für mich zu gebrauchen, und versuchte es nur attributiv zu verwenden. 2
1. Die Kinder und die Zukunft der Philosophie Welche Rolle spielt die Philosophie heute? Was wird ihre Zukunft sein? Wer ist der Philosoph im Zeitalter der Technik? Diese Fragen sind Gadamer immer häufiger, vor allem in seinen letzten Jahren, gestellt worden. Denn viele haben in ihm den letzten Philosophen gesehen, mit dem ein großes Jahrhundert zu Ende ging. Gadamer war sich der Notwendigkeit bewußt, die Philosophie rechtfertigen zu müssen und hat in zahlreichen Aufsätzen und Interviews geantwortet. Dabei hat er auch deutlich gemacht, wie die Hermeneutik als Philosophie verstanden werden soll. Im Gegensatz zu anderen hat Gadamer nie an das "Ende" der Philosophie geglaubt. Allerdings ist unleugbar, daß das Zeitalter der Wissenschaft und der Technik zutiefst anti-philosophisch ist. Mittlerweile ist es normal geworden zu fragen, wozu die Philosophie überhaupt nützlich sei. Überallläßt sich feststellen, daß die Philosophie in Verruf geraten ist. Wir leben in einem Zeitalter, das die Philosophie zu den theologischen Relikten einer überwundenen Vergangenheit rechnen möchte oder gar nichts so sehr der geheimen und unbewußten Interessenabhängigkeit verdächtigt wie das Ideal der reinen Theorie und der Erkenntnis um der Erkenntnis willen. 3 1
HANS-GEORG GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, GW 7,
223.
z GADAMER, Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule, GW 10, 199. GADAMER, Über die Naturanlage des Menschen zur Philosophie (1971}, in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 110-124, hier 110. 3
224
I.'<, 1\tf/'111/,• llffrmtntHtilt tlls Philumphit
Die philosophische Passion s~hcint nur eine ,,unverantwortliche Flucht in eine Welt verblassender Träume" zu scin. 4 Gibt es aber überhaupt noch Zeit für müßige und unproduktive Spekulationen über unlösbare Probleme in einer Epoche, die von Beschleunigung geprägt ist? Das alte Vorurteil gegenüber der Philosophie hat sich verstärkt und verfestigt, seit sich die auf mathematischen Methoden basierende Erfahrungswissenschaft in der Folge Galileis mit bisher nicht dagewesenem Erfolg durchgesetzt hat; der neue Begriff der Wissenschaft hat die Philosophie, die für die Griechen die höchste "Wissenschaft" war, nicht nur verengt, sondern sie in ihrer Identität unterminiert und zu einer dauernden "Selbstverteidigung" gezwungen. 5 Die philosophischen Systembauten der letzten Jahrhunderte sind selbst nur der mißlungene Versuch, das Erbe der Metaphysik mit der modernen Wissenschaft zu versöhnen. Doch der rasche Zusammenbruch des "Hegelschen Imperiums des absoluten Geistes" bestätigt für Gadamer nur, daß die Metaphysik sich erschöpft hat und die Wissenschaft ins Zentrum des menschlichen Wissens gerückt ist. 6 Die Zäsur zwischen Wissenschaft und Philosophie scheint in wechselseitige Ausschließung zu münden. Was wird dann aber aus der Philosophie? Sollte sie sich nicht doch dem erfolgreichen Modell der strengen Wissenschaft anpassen und das Gewand der Wissenschaftstheorie überziehen? Philosophie oder Wissenschaftstheorie?- so formuliert Gadamer in einem Aufsatz von 1974 die Alternative, die sich hier stellt. 7 Diese Frage betrifft zunächst die Wissenschaft. Denntrotz aller Erwartungen kann die Wissenschaft uns zwar einen unendlichen Fortschritt in der Erforschung der Natur, doch keine Orientierung in der Welt anbieten- in einer Welt, die "uns immer fremder" geworden ist, weil sie "allzu sehr von uns verändert" wurde. 8 Die Wahrnehmung dieser neuen Entfremdung bedeutet allerdings nicht, daß die Philosophie in eine Sphäre des Privaten verbannt werden soll. Es sind die Grenzen der Wissenschaft, die dies verhindern. Dabei geht es nicht nur um ihren Willen, jeden Lebensbereich zu kontrollieren, ohne jedoch die Fremdheit des Todes aufheben zu können. Ihr Paradox liegt vielmehr darin: zum einen befreit ihre Autorität von der Verantwortung einer nun als objektiv erscheinenden Entscheidung; zum anderen erweist sich die Wissenschaft selbst als unfähig, Verantwortung zu übernehmen, da sie nicht imstande ist, der Bedeutung Rechnung zu tragen, die sie für das menschliche Leben erlangt hat- es genügt, hier an die genetische Man_ipulation 4 GADAMER, 5 GADAMER,
Über die Naturanlage des Menschen zur Philosophie, 110. Wissenschaft und Philosophie (1977}, in: Hermeneutische Entwürfe, 12-25,
hier 15. Über die Naturanlage des Menschen zur Philosophie, 111. Philosophie oder Wissenschaftstheorie? (1974}, in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 125-149. 8 GADAMER, Wissenschaft und Philosophie, 25. 6 GADAMER, 7 GADAMER,
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oc.h.·r ''" c.fic.· ~loh;tlc.· Frw;inuun~ lU d,•nkt•n. ln dt•m Au~c.·nhlirk, in dt•m sit• sich i.ilH~r ihn· Prozc.·dur hin.u1s l'l'l'htlc.·rti~l'lllllllf~. ist sie.· srhonlihc.·r sich sdbst hinausgeni>tigt, ist sic.· sdwn Philosophic.·:1 Sobald also die Wissenschaft, um sich zu legitimieren, von ihrer formalisierten Terminologie zur alltäglichen Sprache und zu deren Netz von Sprachspielen zurückgeht, zeigt sie nicht nur, daß sie eine Begründung braucht, sondern legitimiert auch die Philosophie und die Flucht in die Logoi, deren Unabdingbarkeit von Platon bis Hegelaufgewiesen wurde. Sicherlich wird niemand glauben, daß die Philosophie die Rolle, die sie in der Vergangenheit innehatte, wiedererlangen und das gesamte Wissen zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen könnte. Dennoch ist Gadamer davon überzeugt, daß die Philosophie sich weiterhin in die Arbeit der Wissenschaften einmischen und beim technisch rationalisierten Leben ansetzen müsse. Dabei darf sie aber der Kunst nicht zu nahe rücken, auch wenn die großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts- es genügt, den Namen Dostojewskijs zu erwähnen- sich eine philosophische Aufgabe gestellt haben. 10 Denn Philosophie ist nicht nur "Lebensausdruck", sie darf sich der Anstrengung des Begriffs nicht entziehen. Auch im Zeitalter der Wissenschaft kann man ohne Philosophie nicht auskommen, weil sie offenkundig nicht nur eine Phase auf dem Weg des Menschen ist. In Anlehnung an Kant vertritt Gadamer die These, daß Philosophie eine "Naturanlage des Menschen" sei. 11 Sie kommt und geht nicht- sie geht nicht zu Ende. Sie ist ein Charakterzug, der den Menschen ebenso auszeichnet wie sein Wissen um den Tod. Philosophie ist nichts anderes als dieses Denken eines Jenseits.12 Das "Jenseits" ist schon im Namen der Meta-Physik enthalten. Es war Sokrates, der zuerst auf diese Richtung hingewiesen und der Philosophie den Wert verliehen hat, den sie noch heute hat. Denn er hat sie unter die Menschen gebracht und sie von der Erforschung der Natur zu einem ruhelosen, unermüdlichen Gespräch über das Wissen von sich selbst umgewandelt, das stets auch ein Nicht-Wissen ist. Genau dies ist auch der Wert, auf den die Hermeneutik als Philosophie zielt. Da sie eine Naturanlage ist, kann die Philosophie kein Beruf sein. Hierin liegt ihre Schwäche, die aber zugleich auch ihre Stärke ist. Was wäre denn ein Berufsphilosoph? Es ist eine Illusion zu glauben, daß es einen Experten geben könne, der Fragen stellen und die dafür angemessenen Antworten finden kann. Der Philosophieprofessor ist durchaus nicht unbedingt weiser als die anderen, Philosophie oder Wissenschaftstheorie?, 138-139. Wissenschaft und Philosophie, 24; vgl. Über die Naturanlage des Menlchcn 7.ur Philosophie, 118 f. 11 IM MAN u E 1. K A NT, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als WissenIehilft wird auftreten können, in Wcrkausgabe, Band V, hrsg. von Wilhelm Weischedel, flri\nkfurt ;\111 M11in: Suhrkamp 197N, A 48, 141. 11 Cil\lli\MFI<, O!wrdil' Naturanb~t·dt·s Mcnsrht•n, 114. 9 GADAMER,
10 GADA M ER,
226 ja er ist nicht einmalunl·u.•din~t weiNe. Nichts kann ihn vor fehlcrn bewahren. Was ihn von den anderen unterscheidet, ist lediglich die Kenntnis der Tradition, die es ihm erlauben sollte, die Fragen, die in aller Munde sind, leichter zu formulieren. Seine Verantwortung besteht in dieser Fähigkeit und in dem Einfluß, den er als Lehrer und Vorbild ausübt.n Aber Philosophie ist keine Fachkenntnis, denn alle philosophieren- wie unbewußt auch immer. Bereits Kinder stellen Fragen nach der Zukunft, dem Tod, dem Glück. "Ein Kind ist ein wenig wie ein Philosoph, ein Philosoph ein wenig wie ein Kind ". 14 Dies garantiert die Zukunft der Philosophie.
2. Abschied von der Metaphysik Welches ist aber das Verhältnis der Hermeneutik zur Vergangenheit der Philosophie und insbesondere zur Metaphysik? Die Beantwortung dieser Frage ist unerläßlich, um den Ort der Hermeneutik innerhalb der Konstellation der heutigen Philosophie bestimmen zu können. Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, daß Gadamer dieses Verhältnis nie wirklich deutlich gemacht hat. Dies hat Anlaß zu zahlreichen Mißverständnissen gegeben. Aber eine Klärung hätte wohl eine ausdrückliche Distanzierung von Heidegger und seiner Frage nach dem Sein mit sich gebracht. Die Hermeneutik ist keine Metaphysik und sie möchte es auch nicht sein. Dennoch ist sie deshalb auch keine Anti-Metaphysik - als die sich etwa Heideggers Philosophie versteht. Ebensowenig begreift sich die Hermeneutik als eine post-metaphysische Philosophie, denn sie teilt nicht die Sorge um die Verwindung, die von Heidegger auf viele zeitgenössische Philosophien übergegangen ist, von Derridas Dekonstruktion bis zu Rortys Neopragmatismus und zum "schwachen Denken" Vattimos. Es wäre daher vergeblich, nach Schriften Gadamers über die Metaphysik oder die Frage ihrer Verwindung zu suchen. 15 Was die Haltung der Hermeneutik gegenüber dem Sein charakterisiert, ist ihr unmetaphysischer Zug. Wie die meisten Philosophen nach Heidegger spricht auch Gadamer lieber von "Ontologie" als von "Metaphysik". Wahrheit und Methode endet mit einer ontologischen Wendung, die sich am Leitfaden der Sprache vollzieht. Doch mit dieser Wendung entfernt sich die Hermeneutik zugleich endgültig von der Vgl. GADAMER, Über die politische Inkompetenz der Philosophie (1992/1993}, in: Hermeneutische Entwürfe, 35-41, hier 38. 14 Vgl. GADAMER, Cent'anni senza solitudine. Interview mit DoNATELLA D1 CESARE, in: Corriere della sera, 7. Februar 2000. 15 In den wenigen Aufsätzen, in denen er sich auf die Metaphysik bezieht, behandelt Gadamer entweder die Frage nach der Metaphysik bei Heidegger oder die Frage nach der Sprache der Metaphysik (vgl. in diesem Band Kap. VII, 2). 13
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227
( >ntolo~ic.'. l>l·nn dil• ( >ntolo~il• ist dl•r l.o~os, dl·r s.\~l'll will, W;\S das Sein ist. l>a sie l'S ,,hl'l' in scim.•r Unmittdh,trkl·il nidll •tnsrh;tUl'll k
3. Hermeneutik der Endlichkeit Es ist weniger der Abschied vom Sein als vielmehr die Aufmerksamkeit für das Verstehen, welche die Hermeneutik an die Grenze der Endlichkeit drängt. Denn die Endlichkeit greift das Verstehen immer schon an. In diesem Sinn ist die philosophische Hermeneutik eine Philosophie der Endlichkeit. Indem sie sich zur Erbin der Phänomenologie und der Heideggerschen Daseinsanalytik erklärt, offenbart die Hermeneutik einen Zug, den sie mit vielen zeitgenössischen Strömungen gemeinsam hat. Da sie sich der Gefahr bewußt ist, daß nunmehr die Endlichkeit den Platz des Absoluten einnehmen könnte, zögert sie nicht, sich ihrerseits selbst als endlich anzuerkennen. Kurzum: Eine Philosophie der Endlichkeit bringt den unvermeidbaren Übergang zur Endlichkeit der Philosophie mit sich. Als Philosophie der Endlichkeit entfaltet sich die Hermeneutik dadurch, daß sie die Formen zu verstehen versucht, in denen sich die Endlichkeit manifestiert; zugleich ist es aber die Endlichkeit, die das Verstehen, das heißt die Art ihres Philosophierens de-finiert und sie als endlich bestimmt. Daraus folgt, daß eine Philosophie der Endlichkeit, die sich selbst als endlich weiß, nicht anders als hermeneutisch sein kann.
Es gilt festzuhalten, wie weit Gadamers Hermeneutik sowohl von allen nihilistischen Konsequenzen als auch aber von Positionen entfernt ist, die auf eine Rehabilitierung der Metaphysik zielen. Vgl. Rt:INJ:o:R WIEHL, Hcidegger, Gadamer, und die Möglichkeit einer Ontolo~ic heute, in: WrEHL, Metaphysik und Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp I'JW1, 127-154. 16
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Eine solche Radikalisicrung der Endlichkeit, die damit zum Magstab der Philosophie wird, bringt eine ebenso radikale Transformation der Philosophie hervor. Denn die Philosophie, welche die Form und Bedingung ihres Denkens aus der Endlichkeit einnimmt, erkennt sich als endlich an und weiß deshalb, daß sie, ohne auf die Universalität zu verzichten, stets nur an der Grenze ihrer unaneigenbaren Endlichkeit denken kann. Der Begriff der Grenze, der Schranke und des Endes, zieht sich wie ein Leitfaden durch die gesamte Hermeneutik hindurch. 17 Das Bewußtsein der Grenze -und zwar weniger, eine Grenze zu haben, als vielmehr eine Grenze zu sein- ist das, was die menschliche Endlichkeit de-finiert. 18 Deshalb heißt Erfahren, die Grenzen der eigenen Endlichkeit wahrzunehmen. 19 Die Grenze wird dort wahrgenommen, wo das Verstehen zum Nichtverstehen wird (und das Sichverstehen ist dabei keine Ausnahme), wo die Interpretation die Spur der Endlichkeit an sich trägt und nach weiteren Interpretationen verlangt, wo die Erkenntnis niemals zum An-sich der Dinge gelangt, wo die Zeit sich entzieht und nicht mehr verfügbar, ja sogar "schon zu Ende" ist, wo man täglich vom Schlaf überwältigt wird und der Tod ständig bevorsteht. Es gibt keine Erfahrung, die es vermeiden könnte, derart an eine Grenze zu stoßen. Leben heißt also, zwischen beiden Schranken der Geburt und des Todes eine Grenze nach der anderen zu erfahren. Gadamer zitiert in diesem Zusammenhang ein Fragment des Alkmaions von Kroton: "Die Menschen müssen deshalb sterben, weil sie es nicht gelernt haben, das Ende mit dem Anfang zu verknüpfen." 20 Die schicksalhaft bestimmte Linearität des Menschen trennt ihn vom vollkommenen Kreislauf der Natur, in dem Anfang und Ende zusammenfallen. 21 Im Hinblick auf seine Vergänglichkeit ist das Ende nicht das Ziel, der Schluß nicht die Erreichung des Zweckes, und die Finalität scheitert an der Sterblichkeit. Denn Endlichkeit ist keine Vollendung. Dies sagt uns die Sprache, welche die Spur unserer Endlichkeit, der Mittelpunkt, die "Mitte" oder das meson ist, auf das wir als endliche Wesen angewiesen sind. Doch Endlichkeit bedeutet nicht nur Sterblichkeit, nicht nur Zeitlichkeit und ebensowenig nur Sprachlichkeit. Der Aufruf der Hermeneutik zur Endlichkeit darf deshalb nicht mißverstanden und als eine verspätete Fassung existenzialistischer Positionen angesehen werden. Es geht ihr vielmehr um eine Frage, welche die Hermeneutik nicht zufällig in einer Welt stellt, die durch das beschleunigte Niederreißen räumlicher und zeitlicher Grenzen zunehmend uniWahrscheinlich deshalb hat Gadamer dem Thema der Endlichkeit nie einen eigenen Aufsatz gewidmet hat. 18 Vgl. in diesem Band Kap. V, 12. 19 Vgl. GADAMER, Die Religion und die Religionen, in: jACQUES DERRIDAIGIANNI VATTIMO (Hrsg.), Die Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, 240-251, hier 245246. 20 ALKMAION vs 24 A 1,3. 21 GADAMER, Über leere und erfüllte Zeit, GW 4, 144-145. 17
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formiert ist. P;u.uloxt•rwt•iNr irH r~ die Technik seihst, tlie von einer Grenze zur anderen differiert, und tLunit c.lcn Anstof~ bestimmt, der die Endlichkeit in all ihrer Unverständlichkeit aus der heutigen Amnesie wieder zutage treten läßt. Die Illusion des U nbegrenztcn vergrößert nur die Enttäuschung über die Grenze und die Unduldsamkeit vertieft und verschärft nur das Leiden an ihr. An der Grenze der Endlichkeit fragt sich die Hermeneutik nach der Endlichkeit, die nicht mehr als Privation verstanden werden kann.
4. Zwischen Platon und Hegel. Das Unendliche zurückgewinnen Indem sie die Endlichkeit auf radikale Weise nicht als Privation, sondern als Position denkt, zeigt sich die Hermeneutik Heidegger verpflichtet. Sowohl Heidegger als auch Gadamer wissen, daß sie in der Nachfolge der vorsokratischen Philosophie stehen, in der das Endliche als vollkommen und das Unendliche als unvollkommen gilt. Bereits mit dem Christentum wird dann jedoch die Peripetie des Endlichen in der Geschichte des Denkens unabwendbar. Unendlich ist nun das souverän vollkommene Absolute, dem gegenüber das Endliche jahrhundertelang und durch unbegrenzte Variationen hindurch zweitrangig bleibt -das gilt wenigstens bis hin zu Kant, der die Vernunft auf ihre Grenzen hinweist und die Endlichkeit so zumindest im Bereich der Erkenntnistheorie legitimiert. Wie Heidegger deutlich macht, sind die Nachwirkungen auch ontologisch. Die Grenze wird zur Bedingung des unbegrenzten Erkennens, zur Möglichkeit des Transzendierens selbst. Wo eine Grenze ist, da ist auch Transzendenz. Denn Transzendenz ist Überstieg: Was transzendiert, weist über die Erfahrung hinaus, über die Grenze des Ontischen in Richtung auf das Ontologische. Gerade an Kant zeigt Heidegger in der Endlichkeit den Ort auf, dem die Ontologie entspringt. 22 Die Endlichkeit auf radikale Weise zu denken, heißt für ihn, sie als Ursprung einerneuen Ontologie zu denken. Auch wenn die menschliche Endlichkeit eine alltägliche Offenbarung ist, muß sie in ihrer wesentlichen Ursprünglichkeit gesehen werden. Anders gesagt: Die Endlichkeit ist mit dem Ende, mit dem Sein-zum-Tode des Daseins verbunden. Nur wenn dieses anerkennt, daß es "endlich existiert", kann sich das Dasein für sein Ende entscheiden, das seine eigenste und eigentliche Möglichkeit ist. 23 Hierin liegt für Heidegger die endliche Zeitlichkeit des Daseins, das nur deshalb "da" ist, das heißt existiert, weil es versteht und weil es jedes Seiende, sofern es verstanden ist, zum Sein gelangen läßt; auch das Sein gibt sich als solches nur in dieser Endlichkeit. Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Kant und das Problem der Metaphysik. GA 3, hrsg. von Fricdrich-Wilhclrn von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 1991. 1 ' II EJI>Jo:Gca:K, Sein und Zeit,§ 65,430 f. 21
2l0 Und die (Jntolo~ie cn·i~m·t sid1 '''" I >•ucin. Existieren bedeutet für das endliche Dasein Verstehen, und Verstehen hl•dcutct ..l'ranszendieren, Übersteigen. Insofern ist das Dasein stets ein Über. Doch das Über geht nicht auf ein Unendliches zu, sondern re-definiert für Heideggcr jeweils das Endliche. Was ist, hat schon immer eine Grenze. Das Sein als solches ist stets endlich. 24 Im Lichte dieser ursprünglichen Endlichkeit wird das Unendliche verneint. Diese Negation des Unendlichen wirft nicht wenige Probleme auf. Denn der Königsweg zur Endlichkeit, den Heidegger eröffnet hat, scheint eine Sackgasse zu sein. Wenn die Endlichkeit ursprünglich ist, dann schneidet sie ursprünglich das Sein ein, das in der Tat für Heidegger endlich ist. Dennoch ist diese Endlichkeit immer noch sekundär gegenüber dem Sein. Zwar könnte sie- an der Grenze - vom Sein Abschied nehmen. Die Schwierigkeit bliebe dann jedoch bestehen, weil sie jetzt die Endlichkeit in ihrer Beziehung zum verneinten Unendlichen betrifft. Wird die ursprüngliche Endlichkeit letztlich nicht den Anspruch erheben, ein neues Absolutes zu sein, das die gesamten Attribute des Unendlichen in sich versammelt? Wie kann man das Endliche als Endliches bewahren, ohne es in ein Unendliches zu verkehren? Wie kann eine Philosophie der Endlichkeit auf das Unendliche verzichten? Dies ist die Frage, die Gadamer, wenn auch nicht ausdrücklich, stellt. Der Abstand zwischen beiden Philosophen darf hier jedoch keineswegs übersehen werden: Das Endliche negiert für Heidegger das Unendliche und dieses negierte Unendliche wird von Gadamer zurückgewonnen. Das Unendliche liegt für die Hermeneutik in dem "Über", in dem das Dasein beim Verstehen von Endlichem zu Endlichem bis ins Un-Endliche fortschreitet. Es ist deshalb nicht so sehr der Abschied vom Sein, als vielmehr der Vorgang des Verstehens, der das Bedürfnis der Hermeneutik deutlich macht, die Endlichkeit im Lichte eines Un-Endlichen, das dennoch möglich ist und deshalb unmöglich ausgelöscht werden kann, als eine unendlich endliche Endlichkeit zu lesen. Symptomatisch ist die unterschiedliche Haltung beider Philosophen gegenüber der Endlichkeit, aber auch gegenüber dem endgültigen Ende, der äußersten Grenze des Todes. Gadamers Reflexion über den Tod nimmt in seiner Deutung von Platons Phaidon Gestalt an, die auf das Jahr 1973 zurückgeht, sich in dem Aufsatz Der Tod als Frage von 1975 weiterentwickelt und schließlich zu der kürzeren Arbeit Die Erfahrung des Todes von 1983 führt. 25 Gadamer teilt Heideggers Sein-zum-Tode schon deshalb nicht, weil es für ihn in der Beziehung zum endgültigen Ende weder Eigentlichkeit noch Aneignung gibt. Der Tod ist das unerwartete, unvorhersehbare Ereignis, das nicht angeeignet werden kann.
Vgl. HEIDEGGER, Was ist Metaphysik?, in: Wegmarken, 120. Vgl. GADAMER, Die Unsterblichkeitsbeweise in Platos >Phaidon< (1973), GW 6, 187200; Der Tod als Frage (1975), GW 4, 161-172; Die Erfahrung des Todes (1983), GW 4, 288-294. 24
25
I h·nn e-r ist dtts Unverstiindlidu· üht'rh;lllpt.J'• I kn 'l'od t.lt·nkt.•n würde heif~en, das ci~cnc Nit.·ht-mehr-scin;,.u df.•nkc.·n. l>as mt.·nschlirhc I >l'nken des Todes erfährt demnach einen ,.Nicderschla~", den Gadamer jedoch in die These umkehrt: ,,Die Unbegreiflichkeit des Todt.·s ist der hi)chste Triumph des Lebens." 27 Niemand von uns kann denken, nicht mehr zu sein. Daraus entsteht die Antinomie von Tod und Denken, die für die philosophische Hermeneutik schon die Frage nach dem Tod philosophisch fragwürdig macht. Da es sich weigert, sein eigenes Nichtsein zu denken, wandelt das Denken es in künftiges Leben um. So unterstützt es das Leben in seinem ständigen Sichübersteigen. Die Unmöglichkeit, den Tod zu denken, übersetzt sich dabei in die Freiheit, die Möglichkeit eines Über zu denken. Gadamer beruft sich hier auf Simmel und spricht von der "Transzendenz des Lebensu. 28 Wer lebt, kann nicht akzeptieren zu sterben. Dieses Vergessen des Todes, das für Heidegger mit der Seinsvergessenheit einhergeht, wird hingegen von der Hermeneutik als jene Notwendigkeit des Endlichen interpretiert, die nach der Möglichkeit des Unendlichen, das heißt des durch das Gespräch eröffneten Über sucht - auch nach dem Tod. 29 Sofern sie sich im Leben zu einem unendlichen Gespräch bestimmt, ist es nicht verwunderlich, daß die Hermeneutik sich auch in ihrem eschatologischen Bestreben durch das Wort dekliniert und im Gespräch konjugiert. Gerade an der äußersten Grenze tritt für sie die gegenseitige Verbindung von Endlichem und Unendlichem hervor. Das Denken deckt sie auf, indem es die in ihm selbst gelegene Aporie von Endlichem und Unendlichem offenbart: Wenn es wahr ist, daß das Denken endlich ist, so ist es ebenso wahr, daß es das eigene Nichtsein nicht denken kann und es deshalb in ein Anderssein verwandelt bzw. in ein Über übersteigt und so seine Hinwendung zum Unendlichen bezeugt. Ohne die Endlichkeit aufzuheben, kann Gadamer nach Heidegger das Unendliche zurückgewinnen. Dafür stützt er sich auf Hegels schlechte Unendlichkeit und Platons unbestimmte Zweiheit. 30 Hegels Unendlichkeit ist diejenige des Bewußtseins, das in seinem Selbstgespräch, indem es zu sich selber "ich u sagt, schon in sich gespalten ist. 31 Diese "innere Differenzu, dieses SichdifferenAusführlicher zu diesem Thema in: DoNATELLA D1 CESARE, Savoir vivre- savoir mourir. Der Tod als Grenze zwischen Heidegger und Gadamer, in: GüNTER FIGAL!HANS26
HELMUTH GANDER (Hrsg.), Dimensionen des Hermeneutischen- Heidegger und Gadamer 2005, 73-87. Vgl. auch BERND WEYH, Vernunft und Verstehen. Hans-Georg Gadamers anthropologische Hermeneutikkonzeption, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2002, hier 96-100. 27 GA OAM ER, Der Tod als Frage, GW 4, 172. ZH GADAMER, DerTod als Frage, GW 4, 168. l'J Wie Derrida in seiner Gedenkrede hervorgehoben hat. 10 Auf ähnliche Weise liest die Zweiheit Bruns. Vgl. GERALD L. BRUNS, The Hermeneutical Anarchist: Phronesis, Rhctoric, and the Experience of Art, in: Gadamer's Century 2002, 4~-76, hier 52. ' 1 V~l. (;A J>A M FK, I>ic I>i,tlcktik des Sclbstbewufhseins (1973), GW 3, 47-64 sowie
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zieren des Undifferenziertcn, ist die Unendlichkeit, die das Selbstbewußtsein mit dem Leben teilt. Trotz seiner Endlichkeit wird das Leben stets unendlich der Frage ausgesetzt bleiben, die über es hinausgeht, so wie das Bewußtsein, das sich fragt, das nachdenkt und über sich reflektiert, stets zu einem unendlichen Gespräch hin offen sein wird. Denn das Ende ist bei der schlechten Unendlichkeit ein Ende, das immer noch zu-kommen ist. Dank ihrer negativen Seite, die diese Unendlichkeit zur Komplizin der Endlichkeit macht, kommt man hier nie zum Ende und die Dialektik ist zu einer aporetischen Offenheit bestimmt. Hegel zieht hier Platon hinzu und in dessen Licht verweist das Sichdifferenzieren des Undifferenzierten auf die unbestimmte Zweiheit. Die Hermeneutik macht ihr Bedürfnis, am Unendlichen festzuhalten, mit Hilfe von Platons Lektüre des negativ Unendlichen in seiner Verbindung mit dem Nicht-Sein, das heißt dem Anders-Sein, geltend. In demselben Atemzug, in dem das "nicht" zur Chiffre der Differenz wird, erweist sich das Unendliche als das Undifferenzierte in seinem undefinierten Sichdifferenzieren. Bei jeder Differenzierung sagt das "ist" zugleich immer auch das "ist nicht" mit; die Anwesenheit des Identischen kündigt die Abwesenheit des Verschiedenen an. Man kann "ist" nur insofern sagen, als man zugleich "ist nicht" sagt. 32 Unendliches und Endliches rufen einander gegenseitig hervor: das Endliche kann gar nicht umhin, das Unendliche zu evozieren, und dieses kann seinerseits nicht umhin, sich im Endlichen zu artikulieren und zu deklinieren. Das Sein muß sich mit dem Nichtsein kompromittieren, um zum Sein zu kommen, um verständlich, um sagbar in der Verflechtung von Identität und Differenz, Einem und Vielem, Endlichem und Unendlichem zu werden. Deshalb ist das Sein nicht endlich, sondern de-finiert, das heißt mit dem Unendlichen des Nichtseins im Logos verflochten. Erneut nimmt hier der Logos für Gadamer eine paradigmatische Bedeutung an. Indem sie das Unendliche auf diese Weise zurückgewinnt, kann die Hermeneutik auch an der Grenze der Endlichkeit festhalten. Doch Festhalten bedeutet nicht stehen bleiben: die Hermeneutik ist keine Askese der Grenze. 33 Sie folgt darin dem Gestus Kants, der einer bewußteren Vernunft die Grenze zeigt, die transzendiert werden darf. Endliches und Unendliches sind für die Hermeneutik andererseits korreliert und dürfen nicht statisch gefaßt werden. 34 Hierin läßt sich wiederum Gadamers Abstand zu Heidegger erkennen. Das Endliche der HEGEL, Phänomenologie des Geistes, 104 f. Vgl. RoBERT B. PIPPIN, Gadamer•s Hegel, in: ROBERT J. DosTAL (Hrsg.), The Cambridge Companion to Gadamer 2002, 225-238, hier 230 (derselbe Beitrag ist wieder abgedruckt in: Gadamer's Century 2002, 217-238). 32 GADAMER, Plato (1976), GW 3, 238-248, hier 245. 33 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 105; Die phänomenologische Bewegung, GW 3, 141. 34 Auf ähnliche Weise wird die Frage nach der Endlichkeit von Ruggenini interpretiert: vgl. MARIO RuGGENINI, Wahrheit und Endlichkeit, in: INGEBORG ScHLÜSSER/Au:xANDRE ScHILD (Hrsg.), Genos. Phenomenologie et hermeneutique, Lausanne: Payot 2000, 175-189.
233 llt·rnwtu·utik muf~. um ,.irh tu Nttt~rn, ,ftu Unt·ndlidtt' kt•incswc~s verneinen, j
5. Hermeneutisch-Sein. Über die Wachsamkeit In der Hermeneutik ist die Grenze ein Anfang, weil sie das Über erschließt, das der Spielraum des Anderen und mit dem Anderen ist. Jede Begegnung mit der Wahrheit ist stets auch eine Begegnung mit sich selbst, wobei begegnen vor allem heißt, an die eigenen Grenzen zu stoßen, so daß man gedrängt wird, sie zu überschreiten. Es ist kein Zufall, daß Gadamer, um dies zu erläutern, immer wieder auf das Spiel zu sprechen kommt. Genau betrachtet ist es das Spiel, das durch die Hermeneutik hindurch die Metaphysik aufs Spiel setzt. Mehr noch: Die Phänomenologie des Spiels stellt sich als Alternative zu jeder Ontologie dar, zu jedem Diskurs über das Sein, der vorgibt, endgültig und grundlegend zu sein. Das Spiel ist das Paradigma für die Deutung des Über, das sowohl das Verstehen als auch das Leben kennzeichnet, ja ihren gegenseitigen Zusammenhang offenbart. Das Siegel der Endlichkeit prägt sich in die "Transzendenz des Spiels" ein, und Spielen besagt nicht nur "Erheben", sondern auch, "Dauer verleihen". 35 Damit ist weniger ein Halten und Aufhalten gemeint, als vielmehr eine Bewegung, die über das eigene Leben hinausgeht. Leben ist nämlich nicht nur Weiterleben, sondern ist Überleben im Sinn eines Lebens über sich hinaus. Für die Hermeneutik ist das Über eine Art, die menschliche Existenz zu beschreiben, die stets eine Existenz an der Grenze ist. Dies bedeutet, daß es keine Grenzsituationen gibt, sondern daß die Grenze selbst die Situation der Menschen bildet, die sozusagen "Grenzgänger", Wanderer zwischen Diesseits und Jenseits sind, zum Aufenthalt an der Grenze bestimmt, der Grenze ausgeliefert.36 Worin besteht aber der Schritt über die Grenze hinaus? Wer an einem Spiel teilnimmt und dies tut, um seine Existenz in ihrer Vergänglichkeit aufzuhalten, um über sich hinauszugehen, der verweilt im Spiel. Dieses Verweilen zeigt eine Verwandtschaft zum theorein, das bedeutet, hineingezogen, eingenommen, gefangen zu sein. 37 Die Verfassung dessen, der an einem Spiel teilnimmt, ist es, außer sich zu sein. Nach dem Schema des Rationalismus hat das "Außer-Sich-Sein"- in Gegensatz zum Bei-sich-Sein- eine privative und negative Konnotation. Für die Hermeneutik ist das Gegenteil der
Fall. l'\ Vgl. GAl>AMER, Die Aktualität des Schönen, GW 36 GA OA M ER, Die Erfahrung des Todes, GW 4, 293. 17
V~l.
in dil·scm Band Kap. 111, 9; Kap. VI, 3.
8, 137.
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Hermeneutisch-Sein bedeutet Außer-Sic:h-Sein. Schon die Kultur hat sich als jener Abstand von sich selbst erwiesen, der dazu bringt, sich mit dem Blick des Anderen zu sehen. 38 Durch alle Erfahrungen, die hiermit verbunden sind, zeichnet sich eine hingebungsvolle Aufmerksamkeit bzw. eine aufmerksame Hingabe ab, mit der die Hermeneutik schließlich zusammenfällt. Es ist dies die Wachsamkeit, die für sie an die Stelle des Bewußtseins der philosophischen Tradition einrückt. 39 Nur wenn man aufmerksam und wachsam ist, kann man für den Schritt über sich hinaus und aus sich heraus bereit sein. Dieser Schritt erfordert deshalb eine Abwendung von sich selbst, die auch ein Vergessen seiner selbst ist. Paradoxerweise bedeutet das Vergessen seiner selbst hier geradezu wach und wachsam zu sein. Denn nur wenn man sich von sich entfernt, um sich zum Anderen hinzuneigen, und sich dem Anderen ganz zuzuwenden, ist man völlig von ihm hingerissen, und eingenommen- und erst dann ist man wirklich bei sich. Bei sich bleiben, sich in sich selbst zurückziehen, bedeutet dagegen, nicht mehr bei sich zu sein. Denn auch die Sorge um sich selbst ist nichts anderes als die Sorge um den Anderen.40 Das Leben, das sich in sich selbst verschließt und an der Grenze stehen bleibt, ist dasjenige Leben, das über sich selbst nicht mehr hinausgehen kann. Außer-Sich-Sein, Beim-Anderen-Verweilen, ist daher eine Art zu sagen, daß man am Leben ist. Das Modell der vollen Selbstpräsenz und der vollkommenen Selbsttransparenz, das dem griechischen Begriff nous oder dem modernen Begriff der idealen Subjektivität entspricht, enthüllt in der Hermeneutik seine ganze Exzentrizität. Denn ln-Sich-Sein bedeutet Außer-Sich-Sein, das heißt Im-Anderen-Sein. Um bei sich zu sein, muß man beim Anderen sein und braucht man den Anderen. Das Über ist hier als Anderes zu lesen. Weit davon entfernt, eine Askese der Grenze zu sein, ist die Hermeneutik eine Theorie der ekstatischen Versunkenheit im Anderen. Die Instanz des Über übersetzt sich in den Übergang über die Grenze hinaus zum Anderen.
6. Die Grenze, die der Andere ist Das Neue, das die Hermeneutik, vor allem Heidegger gegenüber, einführt, ist die Auffassung der Grenze als Anderer. Obwohl ständig wiederholt wird, daß das Sein bei Heidegger immer ein Mitsein ist, bleibt das Dasein in seiner Geworfenheit doch absolut allein. Hier fehlt der Andere und die Grenze erweist sich als eine unübersteigbare Wand. Wenn das Dasein über sich hinausgeht, geht Vgl. in diesem Band Kap. II, 2. Vgl. in diesem Band Kap. V, 5. 40 GADAMER, Leben und Seele, in: Die Verborgenheit der Gesundheit, 176-188, insb. 183-184. 38 39
2.1~
<.'s ~<.·r;tdc.• nidu .ull dc.·n Amlt•n•n :~.u, Nonc.l<.·rn kd1rt 1.u sid1 1-ur(kk und wendet skh zur <.·i~c.·ntlid•c.·n Sc.·lh"a .. nri~nun~. GadJ.mcr stc:llt c.lic~c Art, c.Jic Enc.llichkcit des Di\seins als "Geworfcnheit" zu fassen, deshillh in l;r.t);e, weil er seine Aufmerksamkeit auf den Anderen und auf die Abwesenheit des Anderen richtet. In seinem Aufsatz Subjektivität und Intersubjektivität, Subjekt und Person von 1975 schreibt er: In jedem Falle schien mir Heideggers Antwort zu wenig für das Phänomen, um das es mir geht. Es ist nicht dies allein, daß ein jeder prinzipiell ein Begrenzter ist. Es geht mir darum, warum ich meine Begrenztheit an der Entgegnung des Anderen erfahren und immer wieder neu zu erfahren lernen muß, wenn ich nur überhaupt in die Lage kommen soll, meine Grenzen zu überschreiten. 41
Indem man auf den Anderen stößt, wird die eigene Endlichkeit wahrnehmbar. 42 Nur wenn die Grenze als der Andere wahrgenommen wird, das heißt nicht als eigene Grenze, die man sich aneignen könnte, sondern eben als Grenze des Anderen, die auf ihn verweist und zu ihm führt, ist diese Grenze offen und wird zum Eröffnungspunkt neuer Möglichkeiten. Um dies zu erläutern, greift Gadamer auf den Mythos der Liebe zurück, wie er in Platons Symposion erzählt wird. 43 Ihm zufolge waren die Menschen ursprünglich sphärisch, kugelförmig, und deshalb vollkommen. Wegen ihres Hochmuts wurden sie von den Göttern in zwei Teile geschnitten. Seither war jeder nur noch Fragment: ein Erkennungszeichen, ein symbolon, aus "Einem in zwei" geschnitten.44 Hier taucht das Zwei der unbestimmten Zweiheit wieder auf, und deutet auf das Unendliche hin, das sich in jedem Fragmenttrotz seiner Endlichkeit verbirgt. Als Fragment wird der Mensch für immer auf den Anderen angewiesen bleiben. Dies bedeutet, daß die Endlichkeit vom Anderen definiert wird, und zwar nicht in dem Sinn, daß sie verschlossen und vom Anderen eingeschränkt würde, sondern umgekehrt in dem Sinn, daß der Andere in seinem unendlichen Anderssein die Grenze überschreitbar macht. Unabhängig davon, wie sie/er erfahren wird, ob als Fremder, aber auch als Feind oder als Gegner, es ist stets der Andere, der über die Grenze hinaus führt. Auch wenn die Grenze auf den Anderen hindeutet, so ist der Andere doch nicht nur Grenze. Er ist auch nicht nur Ergänzung, Kompensation, der andere Teil des Symbols. Weit darüber hinaus ist der Andere die Begegnung und die Teilnahme an der Begegnung, welche die Endlichkeit überschreitet und den Übergang zum Unendlichen eröffnet.
41 GADAMER,
Subjektivität und lntersubjektivität, Subjekt und Person (1975), GW 10,
87-99, hier 98. 42 Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 8. 0 GAI>AMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8,122 f. 44 PI.ATON,
Symposium, 191d.
2J(,
IX. 1\"pltlll.· Hrrmrnruttlt als l'hilmuphi,•
7. l>cr unendliche Dialog Was ist aber dieses Unendliche? Und wie kann überhaupt die Frage nach dem Unendlichen mit der unüberwindbaren Endlichkeit dessen, der die Frage stellt, in Verbindung gebracht werden? Gibt es einen Weg, der der Philosophie diese Verbindung von Endlichem und Unendlichem zeigen und sie dabei auch befestigen könnte? Für die Hermeneutik ist dieser Weg- wie Gadamer nicht müde wird zu wiederholen- der Weg der Sprache. 45 Es ist wohl wahr, daß die Sprache die Spur unserer Endlichkeit ist. Wenn es das Wort nicht gäbe, das die Endlichkeit ursprünglich eröffnet, dann gäbe es auch keine Endlichkeit. Dies bedeutet aber, daß die Sprache gerade insofern endlich ist, als sie offen ist. Die vom Wort eröffnete Endlichkeit ist die einer "Mitte", wie die Öffnung eines Mundes, der zu sprechen beginnt. All unser Verstehen, unser Sprechen und unser Existieren liegt in dieser Offenheit, inmitten des Werdens der Geschichte und der Sprache. Es ist in der Alltäglichkeit der Stunde, daß sowohl die Endlichkeit jedes gesprochenen und jedes verstandenen Wortes als auch die Endlichkeit des Sprechers, der sich auf das Wort verlassen muß, erfahren wird. So entsteht das ungestillte und unstillbare Bedürfnis nach einem anderen Wort, das dem Ungesagten und dem Unverstandenen jeweils eine Stimme verleiht. Dies ist aber nur deshalb möglich, weil das Wort in seiner endlichen Anwesenheit die abwesende Unendlichkeit des Sich-Sagens und SichSagenlassens evoziert. 46 Die Grenze eines jeden Wortes ist daher stets der Anfang eines unendlich Neucn. Denn jedes Wort fragt nach einem anderen Wort -in einem unendlichen Dialog. Wenn der Andere die Möglichkeit zur Überschreitung der Endlichkeit ist, so geschieht dies aufgrund seines Wortes, das aufgenommen, angenommen und - unter dem Geheimnis einer differierenden Identität- wiederholt zum gemeinsamen Wort wird. Die Endlichkeit ist hierbei überschritten, es ist schon im Wort des Anderen über sich hinaus, da dieses Wort auch in seiner Endlichkeit den Zugang zum Unendlichen des Dialogs aufschließt. In diesem Sinn ist der Andere nicht nur Grenze. Denn der Übergang zum Unendlichen ist nur mit dem Anderen möglich, in der Begegnung und in der Teilnahme an der Begegnung. Das endliche Wort, das schon immer gemeinsam ist, da es der Mitte, dem gemeinsamen Mittelpunkt entspringt, ist die eröffnende Grenze, die den Spielraum des Anderen, mit dem Anderen, das Unendliche des Dialogs initiiert. Wie der griechische Terminusmeson suggeriert, ist das, was im Mittelpunkt, in der Offenheit der Begegnung liegt, auch das GeVgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 460-463; Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge (1960), GW 2, 66-76, hier 71; Das Erbe Hegels, GW 4, 480. 46 Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 4; vgl. Gadamer, Wie weit schreibt Sprache das Denken vor?, GW 2, 206. 45
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Vgl.
Phaidros, 243l·-257h. I>il' AktUillität dl·s Schönen, GW 8, 106.
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238 liehen Seelen, welche die Sophia gewählt und geliebt haben. Denn die Götter, die auf dem Himmelsgewölbe zurückgeblieben sind, und dort weiterhin das Wahre anschauen, philosophieren nicht. Mit diesem Mythos beschreibt Platon den Weg der Philosophie, der ein nur menschlicher Weg zwischen Himmel und Erde ist. Die Hermeneutik folgt ihm und situiert sich deshalb in der Mitte zwischen dem Einen und der Zweiheit, dem Endlichen und dem Unendlichen. Obwohl sie um ihre Endlichkeit weiß, verzichtet sie nicht auf das Unendliche. Und sie liefert sich der Offenheit einer aporetischen Dialektik aus, in der sie, sofern sie das erste Wort nicht gesagt hat, auch nicht beansprucht, das letzte zu sagen.
X. Kapitel
Den Dialog fortsetzen Man muß den Andern zu verstehen suchen - und das heißt, daß man darauf gefaßt sein muß, daß man selber im Unrecht ist. 1 Ein schlechter Hermeneutiker, der sich einbildet, er könnte oder müßte das letzte Wort behalten. 2
1. Wenn eine Philosophie zur Koine wird Nach der Veröffentlichung von Wahrheit und Methode rückt die Hermeneutik schnell ins Rampenlicht der philosophischen Szene. Gadamers Werk, das schon bald als einer der wichtigsten Beiträge zur Philosophie des 20. Jahrhunderts anerkannt wird, findet große Resonanz, wie zahlreiche Rezensionen aus den sechziger Jahren belegen. 3 Der verbreitete Enthusiasmus, mit dem es nicht nur in 1
HANS-GEORG GADAMER, Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus (1987),
GW 10, 125-137, hier 130. GADAMER, Nachwort zur 3. Auflage, GW 2, 478. Vgl. HELMUT KuHN, Wahrheit und geschichtliches Verstehen. Bemerkungen zu HansGeorg Gadamers philosophischer Hermeneutik, in: Historische Zeitschrift 193/2 {1961), 376-389; JosEPH MöLLER, Wahrheit und Methode, in: Theologische Quartalsschrift 5 (1961), 467-471; HELMUT ÜGIERMANN, Wahrheit und Methode, in: Scholastik 27 (1961), fOJ-406; ÜSKAR BECKER, Zur Fragwürdigkeit der Transzendierung der ästhetischen Dimension der Kunst, in: Philosophische Rundschau 10 (1962), 225-238; ALPHONSE DE WAEHLENS, Sur une hermeneutique de 1'hermeneutique, in: Revue philosophique de Louvain 60 {1962), 573-591; HEINZ KIMMERLE, Hermeneutische Theorie oder ontologische Hermeneutik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 59 (1962), 114-130; KARL-ÜTTO APEL, Wahrheit und Methode, in: Hegel-Studien 2 (1963), 314-322; WALTER HELLEBRAND, Der Zeitbogen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 49 (1963), 57-76; ÜTTO PöGOILER, Wahrheit und Methode, in: Philosophischer Literaturanzeiger 1 (1963), 6-16; FRANZ WIEACKER, Notizen zur Rechtshistorischen Hermeneutik, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1963, 1-22; joHANNES LOHMANN, Wahrheit und Methode, in: Gnomon 37 (1965), 709-718; KLAUS DocKHORN, Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, in: Göttingsche Gelehrte Anzeigen, 218 (1966), 169-206; HELMUT OcnERMANN, Wahrheit und Methode (Zweite Auflage), in: Theologie und Philosophie 14 (1966), 450-451. Besondere Resonanz hat die kritische Rezension von Pannenberg gehabt, 2
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240 Europ;t, sondc.·rn i\uch in Anu.·rika •tuf~cnommen wird, tif~t sein Potential erahnen, d;ts wc.·it über den Horizont der Philosophie hinausgeht. Doch die Vc:ri>ffentlichung von Wahrheit und Methode, das für Gadamer selbst noch ein work in progress war, markiert auch den Anfang der komplexen Wirkungsgeschichte der Hermeneutik. Auf die Probe gestellt wird sie demonstrieren, dag sie sich durch die Fokussierung der eigenen Position jeweils anders verstehen kann. Der Erfolg der Hermeneutik ist zum größten Teil ihrer Flexibilität sowie ihrer Bereitschaft zuzuschreiben, sich auch mit den schärfsten Kritiken und den härtesten Angriffen auseinanderzusetzen. Deshalb sind alle Versuche, ihre Gültigkeit in Abrede zu stellen, selbst dort, wo sie tatsächlich problematische Kernpunkte treffen, zu keinem Ergebnis gelangt und schnell in Vergessenheit geraten. Exemplarisch ist der Fall des italienischen Juristen Emilio Betti (1890-1968). Seine Allgemeine Theorie der Interpretation, die eigentlich die Entwicklung der Disziplin bis zu Dilthey aufgreift, will die Hermeneutik als eine normative Kunstlehre bestätigen, die Regeln und Prinzipien liefern könne, um die Objektivität der Methode zu garantieren. 4 Von der Philologie bis zur Historik, von der Theologie bis zur juristischen Praxis, überall wäre demnach eine allgemeingültige Interpretation unabdingbar. Daraus ist Bettis Polemik gegen Bultmann und Heidegger entstanden: Beide würden nämlich die Objektivität der Hermeneutik insofern beeinträchtigen, als sie das Verstehen als Existenzbestimmung auffassen. Seine vehemente Attacke gegen Gadamer ist nur eine Konsequenz dieser Kritik. Ihm wirft Betti vor, er habe aus den Vorurteilen die "Bedingung" des Verstehens gemacht und durch seine Anwendungstheorie die objektive "Bedeutung" der Texte mit ihrer "Bedeutsamkeit" für den Interpreten verwechselt; dadurch werde das eigentliche Ziel, und zwar die Festlegung des Textsinnes, wie die mens auctoris ihn gemeint hat, verfehlt. Doch für Gadamer bietet diese allgemeine Theorie der Interpretation a~ Ende keine Hermeneutik an, die eine positive Objektivität garantieren könnte. Im Vorwort zur zweiten Auflage von Wahrheit und Methode, die 1965 erscheint, verteidigt er daher seine eigene Hermeneutik, die weder eine Methode noch eine Methodenreflexion leisten wollte. Der technischen Frage: "Wie sollten wir verstehen?" gehe nämlich schon immer die philosophische Frage voran: "Wie ist Verstehen möglich?" 5 dem zufolge Gadamer in eine hegelianische Perspektive zurückfallen würde: vgl. WoLFHART PANNENBERG, Hermeneutik und Universalgeschichte, Zeitschrift für Theologie und Kirche 60 (1963), 90-121, wieder abgedruckt in: HANS-GEORG GADAMER/GoTTFRIED BoEHM Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, 283-319. 4 Vgl. EMILIO BETTI, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen: Mohr 1967. 1962 veröffentlicht Betti, in offener Polemik gegen Gadamer, auf deutsch eine Zusammenfassung seiner Theorie: EMILIO BETTI, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen: Mohr 1962. 5 Vgl. GADAMER, Vorwort zur 2. Auflage, GW 2, 438 f.
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I h·r von 1\t·tti crhohc.·nc.· l·:inw.lnd wird von dc.·m l.itc.·r.Hurwisscnsduhl~r Erir l>on.dd II irs(h ('1'1 'JlH) w ic.·dc.·r aut'~cnomm~n. Sc.·i n Werk Prinlipien der lntcrprctt~lÜm von IY67 stellt die.· c.•rslc wichti~~ Aus~inandersetzung mit der Herm,:neutik in den Vcr~ini~ten Sta&\t~n dar. 6 Aber auch Hirsch verengt die Weite, die das V~rstehen für die menschliche Existenz bei Gadamer gewonnen hat, und verkürzt es wiederum auf ein methodisches Textverfahren. Die philosophische Hermeneutik ist, ihm zufolge, deshalb unhaltbar, weil sie keine gültigen objektiven Kriterien liefert. Für Hirsch muß der "ursprüngliche Sinn", der mit der Autorenintention zusammenfällt, von der "Bedeutsamkeit", das heißt von der Beziehung zwischen dem ursprünglichen Sinn und den vielfältigen, von den Lesern herbeigeführten Sinnen unterschieden werden. Während die Kritik der Bedeutsamkeit nachgeht, müsse die Interpretation auf den Textsinn zielen. Um die Widersprüche zu vermeiden, in welche die Hermeneutik gerate, welche von einer "Identität" ausgehe, die keine eigentliche Identität, und von einer "Wiederholung", die keine eigentliche Wiederholung sei, müsse man einen stets identischen Textsinn voraussetzen, der nur je nach der Situation des Lesers variiert. Dies, so Hirsch, meine eigentlich auch Gadamer oder "hätte er mit dem Begriff der Horizontverschmelzung meinen sollen". 7 Doch abgesehen von den Schwierigkeiten, die Hirsch mit dem neuen hermeneutischen Begriff der "Identität" zu haben scheint, ist sein Abstand zu Gadamer schon durch seine Auffassung des Verstehens markiert, das für Gadamer "niemals ein subjektives Verhalten zu einem gegebenen ,Gegenstande' ist, sondern zur Wirkungsgeschichte, und das heißt: zum Sein dessen gehört, was verstanden wird." 8 Indem er die Zirkularität gewaltsam zur Linearität aufbiegt, läßt sich Hirsch vom Wahrheitsbegriff einer realistischen Epistemologie leiten und wünscht sich dabei nicht zufällig eine Vermählung zwischen der Hermeneutik und der Falsifikationstheorie Karl Poppers. Blickt man aber auf die Wirkungsgeschichte, so muß man zugeben, daß heute von einer solchen Suche nach einer Methode zur Festlegung des objektiven Textsinnes in den humanities, wie sie Hirsch und Betti postulieren, herzlich wenig übrig geblieben ist. In Gegenteil hat sich der Einfluß der philosophischen Hermeneutik auf die Literaturwissenschaft mit der Zeit ständig erweitert. Gadamers Philosophie hatte schon in den sechziger Jahren an Bedeutung gewonnen, und nachdem sie zwischenzeitig durch ein verstärktes Interesse am französischen Strukturalismus in den Schatten geraten war, hat sie seit den neunziger Jahren in der amerikanischen "comparative literature" eine Wiederbelebung erfahren, die sich
ERIC D. HIRSCH, Prinzipien der Interpretation, München: Fink 1972. HIRSCH, Prinzipien der Interpretation, 311. Vgl. CHRISTOPHER E. ARTHUR, Gadamer and Hirsch: The Canonical Work and the lnterpreter's Intention, in: Cultural Hermeneuries 4 (1977), 183-197. H GA l>A M ER, Vorwort zur 2. Auflage, GW 2, 441. 6
7
242 nicht zuletzt auch dl·r lf.liiWhmrtu.lrn philosophischen Vokation unJ philosophischen Dichte der hutrltlnitit·~ vcnl~nkt. Eines der interessantesten Er~ehnisse der Hermeneutik in diesem Bereich stellt die "Konstanzer Schule" dar, die von Hans Robert Jauß {1921-1997) mit seiner "Rezeptionsästhetik" initiiert wurdc.9 Schon in seinem berühmten Aufsatz von 1967, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, beruft sich Jauß auf Gadamers "Wirkungsgeschichte", um die These zu formulieren, daß die Literaturgeschichtsschreibung aus der Interaktion von Werk und Leser entspringe und nach dem dialogischen Modell verfaßt werden solle. 10 Das literarische Werk ist demnach kein geschichtliches Faktum, sondern ein Ereignis, das der "Rezeption" bedarf, um zu seiner wahren Existenz zu gelangen. Dieses neue hermeneutische Paradigma hindert Jauß jedoch nicht daran, kritische Einwände gegen Gadamer zu erheben - der wichtigste betrifft den Begriff des "Klassischen" 11- und sich dementsprechend von dessen Hermeneutik abzugrenzen. So führt er etwa aus, daß der Text unseren "Erwartungshorizont" bestimme, und danach auch den weiteren Lektüreprozeß kontrolliere. Für Gadamer hingegen beschränkt sich der Text darauf, einen Anstoß zu geben; ansonsten müßte man ihn als eine transhistorische Struktur betrachten. Es ist nicht der Text, der die Veränderung des Horizonts kontrolliert, sondern umgekehrt ist das Ereignis des Verstehens die unkontrollierbare Art, in der sich der Horizont verändert. Zur "Konstanzer Schule" gehört auch Wolfgang Iser {1926-2007), der in Anlehnung an die phänomenologische Ästhetik Roman Ingardens {1893- 1970) eine Phänomenologie des Lesens entworfen hat. 12 Nicht zu unterschätzen ist Gadamers Einfluß auf die Musikwissenschaft, besonders auf Carl Dahlhaus (1928-1989), der als der bedeutendste Musikwissenschaftler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet werden kann. In seinen zahlreichen Schriften hat Dahlhaus sich immer wieder auf Gadamer bezogen und viele hermeneutische Thesen in seiner Musikkonzeption weiterentwickelt; nur der Zeitabstand wird von ihm anders aufgefaßt, da die Tönung der Vergangenheit zum konstitutiven Moment der Aufführung werden soll. Während die ersten kritische Einwände gegen Wahrheit und Methode von der inneren Front kamen, und zwar vor allem aus denjenigen, die für eine Rückkehr zur traditionellen Hermeneutik plädierten, ließen aber auch von außen
Vgl. HANS RoBERT jAuss, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. 10 Vgl. HANS RoBERT jAuss, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: RAINER WARNING (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, München: Fink 4 1994, 126-162. 11 Vgl. in diesem Band Kap. V, 5. 12 Vgl. WoLFGANG lsER, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink 1976. Vgl. NICHOLAS DAVEY, Art's Enigma: Adorno, Gadamer and Iser on Interpretation, in: MIRKO WISCHKEIMICHEL HoFER (Hrsg.), Gadamer verstehen/Understanding Gadamcr 2003, 232-247. 9
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die sich sowohl .Hif llddc:~~t·r 1\ls ;\uch ;lllf die M;lrhuq~t·r Theologie Bultnt;lnns und ltuths lwruh, i~t dir 1\~deutun~, die bei ihr das Wort Gottes erlangt, das zum Erei~nis dt•r ( >Ht•nharung selbst wird. 1H Wahrheit und Methode hat den theoretischen Kern dieses Ansatzes befestigt und dabei zu einem weiteren Nachdenken über die Sprache angeregt. Gleichwohl ist die Debatte, die Gadamers Hermeneutik im theologischen Bereich ausgelöst hat, eher begrenzt geblieben, sei es wegen des antidogmatischen Potentials der Hermeneutik, sei es, weil ihre religiöse Dimension lange verschwiegen wurde. Jedenfalls hat die philosophische Hermeneutik für die protestantische wie für die katholische Theologie eher ein Problem als eine Möglichkeit dargestellt- wohl weil die Theologie immer noch zwischen ihrem metaphysischen Erbe und der obsessiven Angst vor dem Relativismus schwankt. In den letzten Jahren ist allerdings das hermeneutische Interesse der Theologie beständiger und tiefer geworden, wie etwa die Aufsätze belegen, die 2002 in dem umfangreichen Sammelband Between the Human and the Divine erschienen sind. 19 Darüber hinaus hat die Hermeneutik wichtige Auswirkungen nicht nur auf die Rechtsphilosophie, sondern auch auf die Gerichtspraxis gehabt, wie die Werke von Franz Wieacker (1908-1994), Fritz Rittner (::-1921), Ronald Dworkins (::-1931) und Joachim Hruschka (*1935) zeigen. 20 Die Relevanz des Dialogs als Modell für die Beziehung zwischen den juristischen Texten und ihren Interpreten ist vor allem von Giuseppe Zaccaria c:-1947) unterstrichen worden. 21 Von wichtigen Auswirkungen läßt sich auch für den Bereich der Historik sprechen, wo Gadamers privilegierter Gesprächspartner Reinhart Kaselleck (1923-2006) gewesen ist, der die Thesen der Hermeneutik in origineller Art auf die Historiographie angewandt hat. 22 Seinerseits hat auch Gadamer die Auseinandersetwith Gadamer's Hermeneutic, Heidelberg: Winter 1999. Über einen Zusammenhang zwischen Hermeneutik und Homiletik vgl. jEFFREY FRANCIS BuLLOCK, Preaching with a Cupped Ear. Hans-Georg Gadamer's Philosophical Hermeneutics as Postmodern World, New York u.a.: Peter Lang 1999, insb. 77-120. Vgl. auch FRED LAWRENCE, Gadamer, the Hermeneutic Revolution, and Theology, in: RoBERT J. DosTAL (Hrsg.), The Cambridge Companion to Gadamer 2002, 167-200, insb. 188 f. Eine Lektüre von Gadamers Hermeneutik von einem theologischen Standpunkt bietet jetzt PHILIPPE EBERHARD, The Middle Voice in Gadamer's Hermeneutics, Tübingen: Mohr (Siebeck) 2004, über Hermeneutik und Theologie insb. 172-215. 18 Zu Gadamer und Bultmann vgl. THOMAS ÜMMEN, Bultman and Gadamer: The Role of Faith in Theological Hermeneutics, in: Thought 59 (1984), 348-359; jEAN GRONDIN, Gadamer und Bultmann, in MIRKO WisCHKE/MICHAEL HoFER (Hrsg.), Gadamer verstehen - Understanding Gadamer 2003, 186-208. 19 Vgl. ANDRE WIERCINSKI (Hrsg.), Between the Human and the Divine. Philosophical and Theological Hermeneutics, Toronto: The Hermeneutic Press 2002. 20 Zu Gadamer und Dworkin vgl. KENNETH HENLEY, Protestant hermeneutics and the Rule of Law: Gadamer and Dworkin, in: Ratio-Juris 3 (1990), 14-27. 21 Vgl. GIUSEPPE ZACCARIA, Ermeneutica e giurisprudenza. I fondamenti filosofici nella teoria di Hans-Georg Gadamer, Mailand: Giuffre 1984. 22 Vgl. REINHART KosELl.ECKIHANs-GEoRG GADAMER, Historik, Sprache und Her-
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mit dt·r •• llistoriNd~t•n Sdndl'.. inunt•r oHt.•n ~dlitltt.•n, und l.W;tr insbesondere mit Erid1 Rot h.ac:kt•r (I HHH-I'Jll~ ), dem Tht.•oreti ker der "ßegriffsgeschichte.. und (iründl'l' dt.•s Arrhivs für Bt.•grijfsgc:sc:hic:hte in Bonn; nach ihm ging die Leitun~ des Anhivs i\11 Gauamcr und an Joachim Ritter (1903-1974), den heucutenden Vertreter des "Neoaristotclismus" über. 23 Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen hat die Hermeneutik deutliche und zahlreiche Spuren auch in der philosophischen Geschichtsschreibung, vor allem in Deutschland, hinterlassen. Aber es ist wohl unmöglich, mit wenigen Zügen eine Übersicht der mannigfaltigen Entwicklungen zu umreißen, die von der Hermeneutik gefördert oder inspiriert worden sind. Dies gilt nicht nur für die gegenwärtige Philosophie, die von ihr nachhaltig geprägt wurde, sondern auch für das gesamte kulturelle Leben der letzten Jahrzehnte, in dem sie nach wie vor eine maßgebende Rolle spielt. Es genügt hier, nur auf die bedeutendsten Debatten hinzuweisen, die sie mit Habermas' Ideologiekritik, Rortys Neopragmatismus, Derridas Dekonstruktion und Vattimos "schwachem Denken" führte. Die imponierende Bibliographie, die sich hierbei angesammelt hat, wirft ein bezeichnendes Licht auf das komplexe und vielschichtige Phänomen dieser Rezeption. 24 Auffallend sind die zahlreichen Festschriften oder Sammelbände, die der Philosophie Gadamers gewidmet wurden- allein seit dem Jahr 2000 lassen sich über zwanzig zählen. Der von Hahn für die Library of Living Philosophers 1997 herausgegebene Band stellt eine bedeutende Anerkennung und eine Art offizieller Investitur dar. Daneben sind es jedoch vor allem jüngst erschiene Sammelbände, die einen wertvollen Ausblick bieten, da sie zugleich bemerkenswerte Veränderungen in der Wirkungsgeschichte der Hermeneutik ersichtlich machen. Hierbei treten die traditionelleren Themen in den Hintergrund, die bis zu den achtziger Jahren diskutiert wurden, wie etwa das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften, die Auffassung der Geschichte und die Beziehung zum Historismus, sowie all die klassischen hermeneutischen Fragen nach der Geschichte der Hermeneutik, sowie ihren Nachwirkungen auf andere Gebiete, von der Literaturwissenschaft bis zur Soziologie. So schwächt sich etwa die Polemik zwischen Hermeneutik und Ideologiekritik ab, während die Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion, insbesondere nach Derridas Ableben, weiter ge-
meneutik. Eine Rede und eine Antwort, Heidelberg: Manutius 2 2000. Vgl. REINHART KoSELLECK, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989; vgl. auch KoSELLECK, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, mit einem Beitrag von Gadamer. 23 Vgl. GADAMER, Hermeneutik und Historismus (1965), GW 2, 387-424, hier 398 f. Vgl. auch in diesem Band Kap. VI, 1. 24 Gadamer selbst versucht, eine Bilanz zu ziehen: vgl. GADAMER, Nachwort zur 3. Auflage, GW 2, 449-478; Zwischen Phänomenologie und Dialektik- Versuch einer Selbstkritik, GW 2, 3-23.
fi.ihrt und neu ~edadtt wil'd."" Unverändert ist die Auf'mcl'ksamkcit für die praktische Philosophie, dil· ~ll·ichwuhl zusammen mit der Ästhetik ein unumgänglicher theoretischer Kern hlciht. Was in den letzten Jahrzehnten aber an Profil gewinnt, sind vor allem die Reflexion über die Sprache, die schwierige und oft mißverstandene Frage des Verstehens, die Beziehung der Hermeneutik zur griechischen Philosophie, das Thema der Politik, die Auseinandersetzung mit der Wissenschaftstheorie und das Problem des philosophischen Status der Hermeneutik. Dabei nehmen Gadamers Platon- und Hegelinterpretationen sichtbarere Konturen an, und während die Verbindungen der Hermeneutik zur Phänomenologie stärker hervorgehoben werden, erscheint zugleich ihre Beziehung zu Heidegger in einem neuen Licht. Eine wichtige Neuheit ist das Interesse, das die analytische Philosophie in Nordamerika an der Hermeneutik gezeigt hat. Damit wird ein Versäumnis auf beiden Seiten nachgeholt, denn beide hätten eigentlich schon seit dem ihnen gemeinsamen linguistic turn über diese ihre Nähe nachdenken müssen. 26 So hat David C. Hoy 1997 die Affinität zwischen Gadamers Hermeneutik und dem principle of charity hervorgehoben, das für Donald Davidson (1917-2003) die wohlwollende Interpretation leitet. 27 Während die Beziehung zwischen Gadamer und Davidson, aber auch zwischen Davidson und Heidegger, das Thema des Beitrags vonjeff Malpas darstellt, der in dem Sammelband Gadamer's Century veröffentlicht worden ist, hat sich die Aufmerksamkeit der Analytiker vor allem auf die Frage des Verstehens konzentriert. 28 Wichtig ist in diesem ZusamDagegen steht eine Diskussion der Beziehung zwischen philosophischer Hermeneutik und "schwachem Denken" noch aus. Vgl. in diesem Kapitel, 6. 26 Schon 1970 konstatierte Tugendhat das Desideratum einer Auseinandersetzung zwischen der in ihren phänomenologischen Wurzeln verstandenen Hermeneutik und der Sprachanalyse. Vgl. ERNST TuGENDHAT, Phänomenologie und Sprachanalyse, in: RümGER BuBNER/KoNRAD CRAMERIREINER WIEHL (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik 1970, Band II, 3-23. 27 Vgl. DAVID C. HoY, Post-Cartesian Interpretation: Hans-Georg Gadamer and Donald Davidson, in: LEWIS E. HAHN {Hrsg.), The Philosophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 111-128. Vgl. auch KARSTEN R. STEUBER, Understanding Truth and Objectivity. A dialogue between Donald Davidson and Hans-Georg Gadamer, in: BRICE R. WACHTERHAUSER {Hrsg.), Hermeneutics and Truth 1994, 148-171;JoEL WEINSHEIMER, Charity militant. Gadamer, Davidson and post-critical hermeneutics, in: Revue internationale de philosophie 54 (2000), 405-422; BJ0RN ToRGRIM RAMBERG, Interpretation and Understanding in Gadamer and Davidson, in: CARLOS G. PRADO (Hrsg.), A House Divided: Comparing Analytic and Contineutal Philosophy, Amherst: Humanity Books 2003,213-234. 28 Vgl. jEFF MALPAS, Gadamer, Davidson, and the Ground of Understanding, in: jEFF MALPAsiULRICH ARNSWALDijENS KERTSCHER (Hrsg.), Gadamer's Century 2002, 195215. Davidson selbst, der bei Jaeger studiert hat, ist auf seine Beziehung zu Gadamer eingegangen, in einem Beitrag zu Platons Philebos. Vgl. DoNALD DAVIDSON, Gadamer and Plato's Philebos, in: The Philosophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 421-432. Man muß aber hier unterstreichen, daß die "Interpretation" bei Davidson ein weit umfassender Begriff ist, der zuweilen riskiert, viel zu unspezifisch zu werden; nicht zufällig spricht Davidson von "radi25
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mcn lli\n~ t•i n Au fs.uz von .Joh n Md >owcll ('t 1941), der Sl'i n Vt•rlüiltnis zu Gad&tmers Philosophit•, das sdum in seinem Bul'h Geist und Welt von 1994 zutage getreten war, dcutlidll~r pointicrt.l'J Diese Öffnung der analytischen Philosophie zur Hermeneutik geht übrigens auch mit einer Wiederentdeckung Hegels und der gesamten klassischen Philosophie einher. 30 Dabei ist es sicherlich von keinem geringem Belang, dag sich die analytische Philosophie innerhalb der kontinentalen Philosophie ausgerechnet die philosophische Hermeneutik als privilegierte Gesprächspartnerin ausgesucht hat. Auch wenn sie wiederholt und häufig aus ganz entgegengesetzten Richtungen kritisiert worden ist, hat Gadamers philosophische Hermeneutik innerhalb der kontinentalen Philosophie eine dominierende Position gewahrt. Schon in einem Aufsatz von 1985 hat Vattimo die Hermeneutik in diesem Sinn die philosophische Koine der letzten Jahrzehnte genannt. 31 War der Angelpunkt, um den sich die Debatten drehten, in denfünfzigerund sechziger Jahren der Marxismus und in den siebziger Jahren der Strukturalismus, so hat in den achtziger Jahren die philosophische Hermeneutik diese zentrale Stellung eingenommen. In ihr sind die oft verschiedenartigen Strömungen des europäischen Denkens zusammengeflossen, die auch durch die immer dringlichere Konfrontation mit der analytischen Philosophie dazu gebracht worden sind, sich in der neuen Koine wiederzuerkennen. Vattimos Vermutung, die zu vielen Diskussionen Anlaß gegeben hat, zeugt auf jeden Fall von dem glücklichen Geschick der Hermeneutik. Von diesem Geschick soll hier jedoch nur ein einziger bedeutsamer Zug herausgestellt werden. Die philosophische Hermeneutik hat nämlich weniger mit einer zentrifugalen als mit einer zentripetalen Kraft auf die gegenwärtige Kultur gewirkt. Sie hat weniger ausgestrahlt und sich verbreitet, als vielmehr eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Doch dies hat auch zu anhaltenden Rückschlägen geführt, die sich gegen die Hermeneutik wenden. 32 Ihre Auswirkungen haben Positionen hervorgerufen oder inspiriert, die nicht aufgrund ihrer cal interpretation", dabei unterscheidet er oft nicht zwischen Verstehen und Interpretieren. Vgl. DoNALD DAVIDSON, Radical Interpretation, in: DAVIDSON, Inquires into Truth and Interpretation (1984), Oxford/New York: Oxford University Press 2001, zweite Auflage, 125-139. Zu diesem Thema vgl. in diesem Kapitel, 5. 29 joHN McDowELL, Gadamer and Davidson on Understanding and Relativism, in: Gadamer's Century 2002, 173-194; McDowELL, Geist und Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 (engl. Mind and World, Cambridge 1994). Sehr aufschlußreich ist auch der Beitrag von ALASDAIR MAciNTYRE, On Not Having the Last Word: Thoughts on Our Bets to Gadamer, in Gadamer's Century 2002, 157-172; vgl. auch seine Stellungnahme zu Wahrheit und Methode MAciNTYRE, Context of Interpretation. Reflections on Hans-Georg Gadamer's Truth and Method, in: Boston University Journal24 (1976), 41-46. 30 Der Fall Rortys ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Vgl. in diesem Kapitel, 3. 31 Vgl. GtANNI VATTIMO, Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, übers. von Martina Kempter, Frankfurt am Main/New York: Campus 1997, hier 121-198 (ital. Oltre l'interpretazione, Roma/Bari 1994). 32 Vor allem die Situation in Italien ist hierfür beispielhaft, vgl. in diesem Kapitel, 5.
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direkten Herkunft als .. lu·rtnl'fll'Utisch" hl·zc.·ichnet werden künnen, sondern eher wegen ihrer Konvergenz mit Gadamers ursprünglichem Projekt - einer Konvergenz, die sich jedoch in den darauffolgenden Entwicklungen oft auch als eine Divergenz erwiesen hat. Es genügt, hier an die wie auch immer verwandte hermeneutische Phänomenologie Paul Ricreurs (1913-2005) zu erinnern. 33 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob eine Philosophie überhaupt eine Koine sein kann, und worin der Preis besteht, den die Hermeneutik dafür zu entrichten hat. Im heutigen Sprachgebrauch ist "Hermeneutik" gewiß ein Synonym für "kontinentale Philosophie" geworden. So sehr ihr dieses Stehenfür die sogenannte kontinentale Philosophie auch unzweifelhafte Vorteile anbot, so hat es aber auch große Nachteile mit sich gebracht- zunächst einmal und vor allem den einer allzu weitgehenden und oft mißbrauchten Unbestimmtheit. 34 Die Hermeneutik ist von keinem Angriff so ernsthaft in Schwierigkeit gebracht worden wie von der positiven Aufnahme, die man ihr entgegengebracht hat. Aus den Debatten mit Habermas, Rorty und Derrida ist sie eher gestärkt hervorgegangen. 35 Was sie dagegen geschwächt hat, ist eben ihre Ausweitung zu einer Koine, einer Art gemeinsamen Idioms, das sich leicht instrumentalisieren läßt, weil es nahezu jeder semantischen Dichte beraubt und letztendlich gar nicht so weit entfernt von jener Terminologie ist, die Gadamer so oft mit der Metaphysik gleichgesetzt hat. Hieraus ergibt sich die vor allem nach Gadamers Ableben deutlich gewordene Notwendigkeit, die philosophische Hermeneutik zu reinterpretieren. 36 Man muß deshalb keineswegs auf ihre Schlüsselfragen verzichten, sondern im Gegenteil ihren theoretischen Kern neu entdecken. Vgl. GARY E. AYLESWORTH, Dialogue, Text, Narrative: Confronting Gadamer and Ricreur, in: HuGH J. SILVERMAN (Hrsg.), Gadamer and Hermeneuries 1991, 63-81; vgl. auch jAMES DICENSo, Hermeneuries and the Disclousure of Truth. A Study in the Work of Heidegger, Gadamer and Ricreur, Charlotteville: University Press of Virginia 1990. 34 Vgl. ANDRZEJ PRZYLEBSKI, Die Grenzen der hermeneutischen Vernunft. Über die vermeintlichen und wirklichen Begrenzungen der Hermeneutik Gadamers, in: WoLFRAM HaGREBE (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX Deutscher Kongreß für Philosophie, Bonn: Sindair 2002, 221-226. 35 Frontalangriffe haben nur wenig Einfluß gehabt, wie der von HEINRICH RoMBACH, Welt und Gegenwelt. Umdenken über die Wirklichkeit. Die philosophische Hermeneutik, Basel: Herder 1983, der sich auf eine "Hermetik" beruft, die viel ursprünglicher als die Hermeneutik sei, oder die indirekte Kritik von Luhmann, welche die Frage nach dem Verstehen betrifft. Vgl. NIKLAS LuHMANN, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (1987), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000; vgl. dazujAROMIR BREJDAK, Der hermeneutische und der differentielle Begriff des Verstehens: Gadamer- Luhmann, in: ANDRZEJ PRZYLEBSK I (Hrsg.), Das Erbe Gadamers 2006, 227-245. 36 Die Frage wird von Figal gestellt, vgl. GüNTER FIGAL, Philosophische Hermeneutik -hermeneutische Philosophie, in GüNTER FIGALijEAN GRONDINIDENNIS J. ScHMIDT, Hermeneutische Wege 2000, 335-344; vgl. auch FIGAL, Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik, in: MIRKO WISCHKF./MJcHAf.L HoFER (Hrsg.), Gadamer verstehen/Understanding Gadamer 2003, 141-156; sein ncucs Buch ist auch als Antwort auf diese Frage zu verstehen, vgl. FICAI, Ccgcnständlichkt·it. Das 33
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2. l-lcrnlcncutik und Ideologiekritik ln einem langen Forschungsbcricht, der mit dem Titel Zur Logik der Sozialwissenschaften 1967 in der Philosophischen Rundschau veröffentlich wird, nimmt Jürgen Habermas Cz-1929) zum ersten Mal Stellung zu Gadamers Philosophie. 37 Damit beginnt eine Debatte zwischen Hermeneutik und Ideologiekritik, die sich zwar nur über eine begrenzte Zeitspanne hinzieht und stark vom Zeitgeist der späteren sechziger Jahren geprägt ist. Dennoch wird sie sowohl für die Ideologiekritik als auch für die Hermeneutik wichtige Auswirkungen haben. Gadamer antwortet mit seinem Aufsatz Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu >Wahrheit und Methode<. 38 Bald melden sich weitere Vertreter beider Parteien zu Wort, darunter Albrecht Wellmer, KarlOtto Apel und Rüdiger Bubner. Habermas entwickelt seine Position in der Arbeit Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik von 1970 weiter, auf die ein Jahr danach Gadamers Replik folgt. 39 Habermas kommt aus der Frankfurter Schule, steht aber schon seit langem in Kontakt mit Gadamer, der ihn 1961 als außerordentlichen Professor nach Heidelberg berufen hat. Ihm geht es vor allem darum, eine emanzipatorische Ideologiekritik zur Geltung zu bringen, die das marxistische Denken und die Freudsche Psychoanalyse als Bezugspunkte hat. Gegen den in der Soziologie herrschenden objektivistischen Positivismus ist Habermas bereits auf der Suche nach einer sprachtheoretischen Grundlegung der Sozialwissenschaften. Das soziale Handeln richtet sich nicht nach dem Modell von atomistisch und kausal aufeinander wirkenden Kraftzentren; vielmehr vollzieht es sich nach sprachlichen Schemata, welche die Interaktion leiten. Einen Stützpunkt findet er beim späten Wittgenstein, dem es gelungen ist, über die phänomenologische Lebenswelt hinaus zu jenen sprachlich konstituierten "Lebensformen" zu gelangen, die sich anband der von allen geteilten grammatischen Regeln in eine Vielfalt von "Sprachspielen" artikulieren. Sofern es mit der Praxis der Sprachspiele zusammenfällt, stellt sich das soziale Handeln als ein kommunikatives Handeln heraus. 40 Doch für Habermas, Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen: Mohr Siebeck 2006. Zu diesem Thema vgl. auch DoNATELLA D1 CESARE, Re-interpreting Hermeneutics. U-topias from the Continent, in: Philosophy Today 49 {2005), 325-332. 37 Vgl. Jürgen Habermas, Zu Gadamers )Wahrheit und Methode<, in: KARL-ÜTTO APEL u.a. (Hrsg)., Hermeneutik und Ideologiekritik, 45-56. Dieser Literaturbericht wird später wieder abgedruckt: jüRGEN HABERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften (1970), fünfte erweiterte Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, 331-366. 38 GADAMER, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, GW 2, 232-250. 3" Die Debatte schließt Vertreter der beiden Richtungen ein, wie Karl-Otto Apel, Claus von Bormann, Rüdiger Bubner und Hans-Joachim Giegel, und liegt gesammelt in dem Band: KA RI.-ÜTTO AI,EL u.a. (Hrsg.), Hermeneutik und Ideologiekritik, vor. 40 Vgl. HABERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 240 ff. Habermas hat im übrig<.·n rnaßgc:bli~.:h dazu beigetragen, Wittgenstein in Deutschland bekannt zu machen.
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der mehr das Gemeinsanu· ;tls c.t.u Unterschiedliche im Auge hat, ist es notwendig, die "monadische Strukturu der Sprachspiele aufzulösen, in der sonst jeder Handelnde eingesperrt bliebe. Deshalb müsse der Akzent auf die Verbindung der Sprachspiele oder, besser, auf deren "Übersetzung" gelegt werden.'41 Im Hinblick auf die Überwindung dieses Restes an Positivismus, den er in Wittgensteins Konzeption diagnostiziert, bringt Habermas den hermeneutischen Ansatz ins Spiel. Um die grammatischen Schranken niederzureißen, ist es nämlich durchaus nicht nötig, auf den Spuren Noam Chomskys aus der Alltagsprache herauszutreten, sondern es genügt, sich an Humboldt anzuschließen und darin Gadamers Lehre zu folgen. Denn die Hermeneutik hat gezeigt, daß die Sprache sich ständig transzendieren kann; darin weist sie das selbstreflexive Vernunftpotential auf. 42 Die hermeneutische Erfahrung ist insofern nichts anderes als die Bewegung, durch die sich die Vernunft dem Zwang der Sprache entzieht und sich ihrerseits wiederum als sprachlich artikuliert. Alles Gesagte kann immer auch anders gesagt werden: darin besteht die Universalität der Vernunft. Indem sie zugleich die Grenzen einer Sprache reflektiert und negiert, setzt sich die Vernunft im jeweiligen Übersetzungsakt durch. Der Grenzfall der Übersetzung zwischen Sprachen deckt jene Reflexionsart auf, die sich auch innerhalb derselben Sprache vollzieht, wo die Horizonte offen und die Formen dynamisch sind. Wittgenstein hat nicht gesehen, daß die Regelanwendung immer auch Interpretation ist, daß die Sprachkreise nach innen und nach außen "porös" sind; deshalb hat er die Geschichtlichkeit vernachlässigt, welche die Übersetzung entscheidend prägt. Als geschichtlicher Vorgang ist diese nämlich nicht nur horizontal, sondern auch vertikal, weil sie durch Generationen und Epochen hindurchläuft. Wer von der hermeneutischen Gesprächssituation ausgeht, kann die "Offenheit" der Sprache nicht übersehen. Indem er auf Gadamers "großartige Kritik" am Selbstverständnis der Geisteswissenschaften zurückgreift, die auch das "falsche Bewußtsein" ihrer Ausführenden trifft, wird Habermas letztendlich zum maßgebenden Sprecher des Universalitätsanspruchs der Hermeneutik. 43 Auf dem Boden dieser Solidarität her haben die Themen der Kontroverse eine eher zweitrangige Bedeutung, denn sie beziehen sich entweder auf Mißverständnisse oder auf unzureichend geklärte Punkte. Insgesamt handelt es sich um drei Fragebereiche. Der erste kreist um den Begriff der "Tradition", den Gadamer dem der kritischen Reflexion vorgezogen habe, ohne das rechte Gleichgewicht zwischen Autorität und Vernunft zu finden. Damit hänge eine Art "Vorurteil" Gadamers gegenüber den Vorurteilen und eine Diskreditierung der Aufklärung zusammen. Aber wenn auch einige Formulierungen in Wahrheit und Methode überzogen klingen mögen, so hat Gadamer doch niemals die VerZur Logik der Sozialwissenschaften, 272. Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 6. HA BERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 284.
41 HABERMAS, 42 H
251
nunft vt'rdunkc1n wollen. Sein Zid war es ci~cntlich, d~rauf hin~.uzuweisen, daH die Vernunft, weit davon entfernt, souverän zu sein, in der Tradition situiert ist und von der Geschichte ausgearbeitet wird. 44 Habermas selbst erkennt dies durchaus an, wenn er ausführt: "Man ist versucht, gegen Gadamer Gadamer ins Feld zu führen", um das Recht der Reflexion zu verteidigen. 45 Ferner wirft er der Hermeneutik einen "Idealismus der Sprachlichkeitn vor.46 Sie würde sowohl die äußeren Grenzen der Sprache übersehen, das heißt alles, was nicht gesagt werden kann, als auch die inneren Grenzen, nämlich das Netz, das jede Sprache um jeden Sprecher herum webt. Ist der erste Teil des Vorwurfs schlicht unberechtigt, so hat hingegen der zweite durchaus Gewicht für die hermeneutische Debatte.47 "Sprache ist auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht" - so lautet die These von Habermas.48 Die Sprache ist also ideologisch, weil sie das "Interesse" reflektiert. Man gelangt aber zu diesem Schluß dank der hermeneutischen Untersuchung des Verhältnisses zwischen Sprache und Sprecher, das heißt jenes Gesprächs, dessen konfliktträchtigen Charakter Habermas zurecht unterstreicht. Mit dieser Zuspitzung des Konflikts wird die Hermeneutik radikalisiert, sie wird zur Ideologiekritik - ohne dabei jedoch aufzuhören, Hermeneutik zu sein. Um die Machtbeziehungen demaskieren zu können, die in der Sprache am Werk sind, und um damit vor allem die zwingende Rolle des Konsensus zu unterstreichen, mobilisiert Habermas neben der Ideologiekritik auch die Psychoanalyse. In seinem dritten Einwand stellt er deshalb die Dichotomie von Wahrheit und Methode in Frage und zeigt die Möglichkeit eines methodischen Verstehens, das "hinter dem Rücken der Sprache" bis zum falschen individuellen oder sozialen Bewußtsein zurückgeht und es im Namenunverzerrter Kommunikationsverhältnisse einer kritischen Reflexion unterzieht. 49 Psychoanalyse und Ideologiekritik sind demnach der Beweis eines methodisierenden und objektivierenden Verstehens im Bereich der Sozialwissenschaften. 50 In der Tat geht Gadamer - anders als Ricceur - auf den Wissenschaftsstatus dieser Disziplinen nicht ein und betont vielmehr ihren offenkundig hermeneutischen Charakter. 5 1 Ihm geht es darum, die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Methode zu verteidigen, um sich damit gegen die in der Moderne weit verbreitete These zu wenden, daß es keine Wahrheit außerhalb der Methode geben könne. 52 Dennoch -H Vgl. in diesem Band Kap. V, 3-5. •s HABERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 305 -46 HABERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 309. • 7 Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 6. •s HABERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 307. • 9 HABERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 309. 50 HABERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 342. 51 Vgl. PAUL RrcrnuR, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 (frz. De l'interpretation. Essai sur Freud, Paris 1965). ~ 2 V~l. GA DA M F.R, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, GW 2, 238.
252
X. Kapitel: Den Dialogfortsetzen
lenkt er die Aufmerksamkeit auch auf einen anderen Punkt: auf die Übertragung des psychoanalytischen Modells auf die Sozialkritik. 53 Das therapeutische Gespräch erfolgt zwischen einem Patienten, der sich zur Wiedererlangung seines Gleichgewichts einer asymmetrischen Beziehung unterwirft, und einem Psychoanalytiker, der zwar dafür verantwortlich, seinerseits aber "nie zu Ende analysiert ist." 54 Es wäre deshalb wirklich gefährlich, dieses Schema, das durch eine "freiwillige Unterwerfung" zustande kommt, auf alle Bereiche des sozialen Lebens zu übertragen. Dies käme dem Versuch gleich, aus jedem Sprecher einen Patienten zu machen, der wohl oder übel von Störungen und Zwängen der Kommunikation emanzipiert und durch diese Art von "Metahermeneutik" zu einer rationalen und ihrer selbst durchsichtigen Bewußtheit erhoben werden müsse. Diese fragwürdige Übertragung, auf der Habermas jedoch nicht beharren wird, verweist immerhin auf eine weiterreichende und komplexere Frage, deren Beantwortung eine Wasserscheide zwischen beiden Philosophen bildet. Während das psychoanalytische Gespräch für Habermas derjenige Grenzfall ist, der die Universalität der Hermeneutik in Abrede stellt, sieht Gadamer darin nur einen Einzelfall, der sich sprachlich vollzieht und mithin von einer vorherigen Zustimmung, das heißt von jenem Spiel der Sprache ausgeht, dem sich kein Sprecher entziehen kann. 55 Die Sprache, so Gadamer, ist "das Spiel, in dem wir alle mitspielen."56 Doch Zustimmung bedeutet nicht Konsensus - wie schon gezeigt wurde. Und Verstehen bedeutet weder Annehmen noch Billigen. Dies ist eher die Gleichsetzung, die Habermas versehentlich unterläuft. Eine Sprache zu sprechen heißt, im Netz der Sprache vernetzt, doch nicht gefangen zu sein; insofern ist die Sprache kein ideologisches Gefängnis. Faßt man sie so auf, dann macht man aus ihr eine autonome Macht gegenüber dem Sprecher. Überschätzt wird dabei die Reflexionsfähigkeit des Sprechers, der hier, um jede Verblendung zu vermeiden, eine äußere Perspektive zu gewinnen scheint, in der er sich nach aufklärerischem Muster von "dem rhetorisch hervorgebrachten Konsensus" emanzipieren könne. 57 Die philosophische Hermeneutik, die am Schnittpunkt zwischen dem rhetorischen und dem hermeneutischen Aspekt der Sprachlichkeit liegt, hebt die Stellung des Sprechers zur Sprache ins Bewußtsein und öffnet damit den Weg zu jener Reflexion, die durch die spekulative Struktur der Sprache ermöglicht wird. Obwohl sie in ihrer Transzendenz neue und weitere MöglichVgl. GADAMER, Replik zu >Hermeneutik und Ideologiekritik< (1971), GW 2, 251-275, hier 257-259. 54 GADAMER, Replik zu )Hermeneutik und Ideologiekritik<, GW 2, 272. 55 Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 8. Gadamer bezieht sich hier ausdrücklich auf Jacqucs Lacan und die Interpretation, die Lang von ihm gegeben hat: HELMUT LANG, Die Sprache und das Unbewußte.Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. 56 GADAMER, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, GW 2, 243. 57 HABERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 334. 53
253 keiten t•nthülll·n kilnn, wird dic.-•c auf' die SpraL:hc ;tn~cwicscnc Reflexion nie zur "vollen idcalistis~.:hl·n Sinntr;tnsparcnz" gclangen. 5H Dies schlicf~t jedoch nicht aus, daf~ die llermcncutik von der Zustimmung der Sprache ausgehend ebenfalls auf ein Einverständnis abzielt, das- nach Apels Ansicht- als regulatives Ideal eines unendlichen Gesprächs zu betrachten ist. 59 Dieses Ideal hatte Habermas die "Antizipation des guten Lebens" genannt, die allen gemeinsam ist und sich im Kräftespiel des Gesprächs artikuliert, in dem sich Gemeinschaft konstituiert. Habermas selbst wird in den achtziger Jahren die hermeneutische Grundkategorie der "sprachlichen Verständigung" erneut ins Spiel bringen, und aus ihm das Telos seiner "Diskursethik" machen: Dieses zugrundeliegende Einverständnis, das uns vorgängig verbindet und an dem jedes faktisch erzielte Einverständnis kritisiert werden kann, begründet die hermeneutische Utopie des allgemeinen und unbegrenzten Gesprächs in einer gemeinsam bewohnten Lebenswelt. 60
Die Debatte zwischen Hermeneutik und Ideologiekritik bleibt nicht ohne Wirkung. 61 Gadamer wird künftig der Entfaltung des kritischen Potentials der Hermeneutik mehr Aufmerksamkeit schenken: Zwar kann uns die Reflexion nicht aus der Tradition herausbringen; doch die Tradition, und zwar auch jene, aus welcher der Emanzipationstrieb kommt, braucht kritische Fra-
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GADAMER, Replik zu >Hermeneutik und Ideologiekritik<, GW 2, 265. Vgl. GADAMER, Replik zu >Hermeneutik und Ideologiekritik<, GW 2, 272. Vgl. auch KARL-ÜTTO APEL, Transformation der Philosophie, 2 Bde, Band I: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik; Band 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, sowie in jüngerer Zeit: APEL, Regulative Ideas or Truth Happening? An Attempt to Answer the Question of the Conditions of the Possibility of Valid Understanding, in: LEWIS E. HAHN (Hrsg.), The Philosophy of Hans-Georg Gadamer 2002, 67-94. 60 jüRGEN HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handels, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, 193. 61 Ausführlich über diese Debatte: DEMETRIUS TEIGAS, Knowledge and Hermeneutic Understanding. A Study of the Habermas-Gadamer Debate, Lewisburg: Bucknell University Press 1995; vgl. auch DIETER MISGELD, Critical Theory and Hermeneutics: The Debate Between Habermas and Gadamer, in: joHN O'NEILL, On Critical Theory, New York: Sabury Press 1976, 164-183; MICHAEL KELLEY (Hrsg), Hermeneutics and Critical Theory in Ethics and Politics, Cambridge (Mass.)/London: MIT Press 1990; TuAN A. NuYEN, Critique of Ideology: Hermeneutics or Critical Theory? (Gadamer-Habermas), in: Human Studies 17 (1994), 419-432; ALAN How, The Habermas-Gadamer Debate and the Nature of the Social, Brookfield: Averbury 1995; Jost MARIA AGUIRRE ÜRAA, Raison critique ou raison hermeneutique? Une analyse de Ia controverse entre Habermas et Gadamer, Paris: Editions du Cerf 1998; AusTIN HARRINGTON, Some Problems with Gadamer's and Habermas' Dialogical Model of Sociological Understanding, in: Journal for the Theory of Social Bchaviour 29 (1999), 371-384; DAVID INGRAM, Jürgen Habermas and Hans-Georg Gadamcr, in: RoBF.RT C. Sol.OMON/DAVID SHERMAN (Hrsg.), The Blackwell Guide to Contincnul Philosophy, M.tldcn/Oxford: Blackwcll2003, 219-242. 58
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254 gen, um verständlich zu sein. An einer bedeutsamen Stelle seiner Replik schreibt Gadamer: Philosophische Hermeneutik [...] dient also nicht mehr der Überwindung bestimmter Schwierigkeiten des Verstehens, wie sie gegenüber Texten oder im Gespräch mit anderen Menschen begegnen, sondern was sie erstrebt, ist, wie Habermas es nennt, ein ,kritisches Reflexionswissen'. 62
Die Übereinstimmung, welche die Kontinuität der Tradition autorisiert, legitimiert ebenfalls ihre Veränderung. Auch die Revolution ist kein absoluter und insofern abstrakter Wechsel, sondern eine Art der Auseinandersetzung mit der Tradition. Deshalb kann die völlige Übereinstimmung auch als "revolutionäre Solidarität" gelesen werden. 63 Auch in Habermas' Denken wird diese Debatte Spuren hinterlassen. Fest steht, daß die Psychoanalyse seit 1970 nicht mehr das Paradigma einer kritischen Sozialwissenschaft darstellt. Dagegen entwickelt Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handeins eine "Diskursethik", welche die vielfältigen Anstöße zutage bringt, die er dem hermeneutischen Gespräch verdankt. Was Gadamer und Habermas auch nach ihrer Diskussion weiterhin miteinander verbindet, ist der Begriff der "Solidarität", die durch das in der Sprache Gemeinsame ermöglicht wird. Daß die philosophis~he Hermeneutik eine politische Kritik enthält, was durch die Rolle der phronesis bestätigt wird, ist die These von Richard J. Bernstein (*1932), der hierin einen Einfluß der Ideologiekritik erkannt hat. 64 Auf diesem Punkt insistiert Habermas selbst in seiner Laudatio von 1979, die unter dem Titel Hans-Georg Gadamer. Die Urbanisierung der Heideggerschen Provinz bekannt geworden ist. 65 Wenn Habermas das Verdienst zukommt, das emanzipatorische Potential der Hermeneutik hervorgehoben zu haben, das er übrigens mit Vattimo teilt, so hat er dieses Potential jedoch nicht in ihrem "DenGADAMER, Replik zu )Hermeneutik und Ideologiekritik<, GW 2, 254. GADAMER, Replik zu )Hermeneutik und Ideologiekritik<, GW 2, 269. Die von Warnke vorgebrachte Kritik, der zufolge die Hermeneutik keine revolutionäre Praxis erlaubt, kann nicht aufrechterhalten werden; im Gegenteil versteht Warnke die Revolution in viel zu abstrakter Weise. Vgl. GEORGIA WARNKE, Gadamer. Hermeneutics, Tradition, and Reason, Stanford: Stanford University Press 1987. M Gadamer hat diesen Einfluß in einem Brief an Bernstein nur als gering eingeschätzt und mit besonderem Nachdruck auf Platon verwiesen. Vgl. RICHARD J. BERNSTEIN, Beyond Objectivism and Relativism. Science, Hermeneutics, and Praxis, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1983, 264. Für die Auseinandersetzung zwischen Gadamer, Habermas und Rorty vgl. BERNSTEIN, Philosophical Profiles, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1986, 58-93. Vgl. auch den jüngsten Beitrag: RICHARD J. BERNSTEIN, The Constellation ofHermeneutics, Critical Theory and Deconstruction, in: RoBERT J. DosTAL (Hrsg.), The Cambridge Companion to Gadamer 2002, 267-282. 65 Vgl. JüRGEN HABERMAS, Urbanisierung der Heideggerschen Provinz, wieder abgedruckt in: HABERMAS, Philosophisch-politische Profile. Dritte erweiterte Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, 392-401. 62 63
255 ken in Utu.,ien.. gesehen, und :~.w"r einfach deshalh, weil er die Rolle Platons in der Hermeneutik vernachlässit;t hat. Mit der Autorität einer Stimme, der kaum widersprochen wurde, hat er damit zugleich auch dazu beigetragen, Gadamer in den Schatten Heideggers zu stellen - trotz seiner Anknüpfung an Hegel und trotzder gravierenden Unterschiede zwischen der "seinsmystischen Abkehr" Heideggers und dem "Humanismus" Gadamers. 66 Aber in dieser Einstellung von Habermas verbirgt sich ein Problem, das über Gadamers Hermeneutik hinaus die schwierige Beziehung der deutschen Philosophie zu ihrer Geschichte und ihrer Identität betrifft.
3. Hermeneutik und Neopragmatismus Nach 1968 unterrichtet Gadamer an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Sein Werk wird zunächst von Literaturwissenschaftlern, Theologen und Juristen sehr viel intensiver rezipiert als in den philosophischen Departments, an denen die analytische Philosophie dominiert. Gadamer geht der Auseinandersetzung mit ihr jedoch keineswegs aus dem Weg und ist auch hier auf der Suche nach möglichen Brückenschlägen. 67 Die zeitgenössische Konstellation in den Vereinigten Staaten erscheint für den Auftritt der Hermeneutik durchaus günstig. Auf der einen Seite kann das nordamerikanische Denken auf eine solide Tradition des Pragmatismus zurückblicken, und auf der anderen steckt die analytische Philosophie schon seit längerem in einer Krise. Es verwundert daher nicht, daß die Hermeneutik ihren bevorzugten Gesprächspartner in dem Neopragmatisten Richard Rorty (1931-2007) findet, der gerade dabei ist, seinen Lehrstuhl an der Princeton University, einer Hochburg des analytischen Mainstreams, zu verlassen. Rortys Wende wird durch sein 1979 veröffentlichtes Buch Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie bestätigt. Er erklärt die Epoche der systematischen Philosophie für beendet und trachtet danach, eine neue Epoche zu eröffnen, in der die Philosophie, indem sie der "Normalisierung" den Kampf ansagt, hermeneutisch sein wird. Dieses Ergebnis von Rortys Denken wird im Licht der zahlreichen Gemeinsamkeiten deutlicher, die der amerikanische Pragmatismus mit der kontinentalen Hermeneutik teilt. Sowohl WilliamJames (1842-1910) als auch insbesondere J ohn Dewey (1859-1952) gehen von der Notwendigkeit aus, die erkenntnistheoretische Perspektive zu überwinden, die bei der neuzeitlichen Subjekt-ObjektSpaltung stehengeblieben war. Statt dessen rekurrieren sie auf die lebensweltlichen Zusammenhänge, in denen sich das Ich mit den Anderen und mit der Welt bildet. Reziprozität wird zur Chiffre ihres neuen Wahrheitsbegriffs. Eine 66 67
HABERMAS, Urbanisierung der Heideggerschen Provinz, 397. Vgl. GADAMER, Mit der Sprache denken, GW 10, 347.
hcrvornt~cndc
Kunst ein, d;l ~ic •tls wahrheitseröffnendes Ereignis die Existc.'nl'. wt.•it IU:achhaltit;cr verwanc.ldn kann, als dies die abstrakten Wahrhcitsauss;tgcn dcl' Wissenschaft vermögen. Der Pragmatismus ist sich mit der Hermeneutik darüber einig, die Vernunft ihres Absolutheitsanspruches entkleiden zu müssen. Denn Vernunft ist auch für ihn immer konkret und geschichtlich. 68 Als Erneuerer der pragmatistischen Tradition, in der er die Ansätze für eine Kritik an der analytischen Philosophie bereitliegen sieht, beruft sich Rorty ausdrücklich auf Gadamers Hermeneutik. Zu dieser unleugbaren Nähe gesellen sich jedoch auch unübersehbare Distanzen, die sich zum größten Teil aus der Herkunft des amerikanischen Philosophen erklären. 69 Aber gerade deswegen bahnt sein Zugang zur Hermeneutik den Weg zu neuen und originellen Entwicklungen. Auf die Fragen nach der Zukunft der Philosophie gibt die Hermeneutik - Rorty zufolge - eine zweifache Antwort: Sie sagt nein zur "Epistemologie" und ja zur "Bildung". In einem weiteren Sinn ist die Epistemologie für ihn ein Fundamentalismus, der eine letzte epistemologische Begründung der Philosophie postuliert; in einem engeren Sinn ist sie die normal science, die ,,normale Wissenschaft", wie sie Kuhn aufgefaßt hat, und zwar als Komplex von Methoden und Inhalten, die sich innerhalb eines maßgeblichen "Paradigmas" entwickeln. Gegenüber dem Fundamentalismus bietet sich die Hermeneutik als eine klare Alternative an. Eine Bestätigung dafür sieht Rorty in der Kritik, die Gadamer an Husserls Begriff der "Letztbegründung" geübt hat/0 Zugleich ist aber die Hermeneutik durchaus bereit, mit der Epistemologie als "normalem Diskurs" ins Gespräch zu kommen, und damit ihre Fähigkeit zu zeigen, nicht nur verschiedene "normale" Diskurse interagieren zu lassen, sondern sie auch auf "nichtnormale" Diskurse hin zu öffnen, das heißt auf solche, die nach alternativen Paradigmen artikuliert und mit dem herrschen-
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Zu Gadamer und James vgl. PAUL FAIRFIELD, Truth without Methodologism: Gadamer and James, in: American Catholic Quarterly 67 (1993), 285-298; zu Gadamer und Dewey vgl. auch VICTOR KESTENBAUM, Meaning on the Model of Truth: Dewey and Gadamer on Habit and Vorurteil, in: Journal of Speculative Philosophy 6 (1992), 25-66; LAwRENCE K. ScHMIDT, Participation and Ritual: Dewey and Gadamer on Language, in: LAwRENCE K. ScHMIDT (Hrsg.), Language and Linguisticality 2000, 127-142. 69 Vgl. den Vortrag, den Rorty in Heidelberg zum hundertsten Geburtstag von Gadamer gehalten hat, RICHARD RoRTY, >Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache<. Für HansGeorg Gadamer zum 100. Geburtstag, in: RüDIGER BuBNER (Hrsg.), "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache" 2001, 30-49, hier 41. Vgl. GEORGIA WARNKE, Hermeneutics and the Social Sciences: A Gadamerian Critique of Rorty, in: Inquiry 28 (1985), 339-358 und dazu: DoNALD RoTHBERG, Gadamer, Rorty, Hermeneutics and Truth: A Response to G. Warnke's Hermeneutics and the Social Sciences, in: lnquiry 29 (1986), 355-361; vgl. auch STEVE BouMA-PREDIGER, Rorty's Pragmatism and Gadamer's Hermeneutics, in: Journal of the American Academy of Religion 57 (1989), 313-324. 70 Vgl. in diesem Band Kap. IV, 4. 68
2~7
dt.•n Pantdi~1·1u inkomrnl·n~urtlhd Niml." Doch wir der norttH\lt' Diskurs den nichtnormalen brauche.·, so Sl'i dicsrr lctl.tc•·c imml'l' ,.rc;\kt'iv 44 oder "parasitär". Diese drastische Untt.•rsdlc.•idun~ scheint indessen mehr als eine Schwierigkeit zu bereiten- und zwar sowohl für die Hermeneutik als auch für die Philosophie überhaupt. Denn entweder identifiziert sich die Hermeneutik mit dem nichtnormalen Diskurs, wodurch sie allerdings einer systematischen Philosophie, die sich mit dem normalen Diskurs befaßt, Platz einräumen würde, oder sie läßt innerhalb ihrer, auf ebenso gefährliche Weise, die Artikulation eines normalen Diskurses zu, der sich aber ohne weiteres zum grundlegenden Diskurs erheben kann. Wenn die Hermeneutik auf die Letztbegründung verzichtet, dann geschieht dies deshalb, weil sie von vornherein auf ein Einverständnis aufgrund eines vorgegebenen Vokabulars verzichtet, das alle Diskurse adäquat übersetzen könne. Für eine postfundamentalistische Philosophie stellt sich dennoch das Problem, die Vielheit der Paradigmen zu verstehen. Damit berührt Rorty eine Schlüsselfrage der Hermeneutik und kommt Gadamers Standpunkt sehr nahe. Denn weit davon entfernt Aneignung und Unterwerfung zu sein, ist das Verstehen vielmehr der Respekt für das Vokabular, in dem sich die Inkommensurabilität des Anderen artikuliert. Das von der Hermeneutik umrissene Verstehen ist, so Rorty, "eher wie das Kennenlernen einer Person als wie das Durchlaufen eines Beweisgangs." 72 Das Thema der "Konversation" und des "Gesprächs" mit Partnern, die anders und inkommensurabel sind, wird anhand des hermeneutischen Begriffs der "Bildung" weiter entfaltet. 73 Dieses komplexe und vielschichtige deutsche Wort übersetzt Rorty nicht durch education, "Erziehungc', sondern durch edification, "Erbauung". Die edification meint nicht das Erkennen, dessen, was "da draußen" ist; sie bedeutet vielmehr, sich selbst und die Anderen zu bilden, wobei Bildung als die "Reinterpretation" unserer vertrauten Umwelt aufzufassen ist. Die Bildung muß demnach nicht unbedingt konstruktiv sein. Denn der bildende Diskurs soll nicht normal sein, uns durch die Kraft seiner Fremdartigkeit aus unserem alten Selbst herausführen, dazu beitragen, daß wir andere Wesen werden. 74
Es wäre aber ein Irrtum, die edification als "eine auf Fundamenten aufgebaute Struktur" zu verstehen. Denn Bildung ist ihrerseits "Gespräch"/5 Obwohl RICHARD RoRTY, Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, übersetz. von Michael Gebauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981,346. 72 RoRTY, Der Spiegel der Natur, 347. Vgl. auch RoRTY, Questioning, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch 2 (1997), 243-252; On Hans-Georg Gadamer and the Philosophical Conversation, in: London Review of Books 22/6 (2000), 23-25. 73 Vgl. in diesem Band Kap. II, 3. 74 RoRTY, Der Spiegel der Natur, 390. 75 RoRTY, Der Spiegel der Natur, 347 f. 71
258 Rorty einen Ausweg aus der Epistemologie andeutet, ist seine Antwort deshalb keine fundamentalistische, da sie auf die Möglichkeit verweist, das Gespräch endlos offen zu halten. Bis hierher würde Gadamer mit Rorty übereinstimmen und wohl auch dessen Interpretation der Bildung unterschreiben. Mehr Zweifel hätte er dagegen an Rortys Lesart seines Begriffs des "wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins". Während Derrida glaubte, darin das Residuum einer Bewußtseinsmetaphysik aufspüren zu können, möchte Rorty in ihm geradezu den Grundsatz des Neopragmatismus wiederfinden. Gadamer führt seinen Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins ein (eines Bewußtseins von Vergangenem, das uns verändert), um eine Einstellung zu beschreiben, der es weniger darum zu tun ist, was es da draußen in der Welt alles gibt oder in der Geschichte alles gegeben hat, als darum, was wir aus Natur und Geschichte für unsere eigenen Zwecke ,herausholen' können/6
Offensichtlich ist das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein in dieser Lesart nicht an der Interpretation der Vergangenheit orientiert; im Zeichen einer freien Selbstbestimmung entscheidet es vielmehr über den Nutzen des Vergangeneo für die Gegenwart und die Zukunft. Doch Rorty verdreht Gadamers Begriff nicht so sehr, weil er ihn in die Zukunft projiziert, als vor allem weil er hierbei das Nützlichkeitskriterium einführt, das zwar dem Pragmatismus eigentümlich ist, der Hermeneutik aber fremd bleibt. Rortys philosophischer Vorsatz steuert auf eine radikale "Deontologisierung" der Hermeneutik zu, die nicht mit einer Beseitigung ihrer metaphysischen Reste zusammenfällt. Vielmehr geht es ihm darum, den Blick vom Sein abzuwenden und ihn auf die Sprache oder, besser, auf das Gespräch als den Ort zu lenken, an dem eine gemeinsame Erfahrung der Wahrheit in einer nicht fundamentalistischen Weise weiterhin möglich ist. Mit dieser Betonung der übermetaphysischen Ausgänge der Hermeneutik hat Rortys Beitrag in der kontinentalen Philosophie neue Aussichten eröffnet.
4. Hermeneutik und Dekonstruktion Die erste Begegnung zwischen Gadamer und Derrida fand vom 25. bis 27. April 1981 am Goethe-Institut in Paris statt. Ihr Zweck war eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen den Hauptvertretern der kontinentalen Philosophie. Teilnehmer und Zeugen werden aber einstimmig von einem Gespräch zwischen Tauben reden und die wenig später in Deutschland und Frankreich veröffentlichten Beiträge scheinen dies zu bestätigen. 77 Dennoch wird diese "unwahrDer Spiegel der Natur, 389. Vgl. PHILIPPE FoRGET (Hrsg.), Text und Interpretation. Deutsch-französische De-
76 RoRTY, 77
2~')
wit• Philipp,•llorv.t•t sil· bt•:t.t•idtlll't h.\t ·-Epoche nli\chen. l>il· I'JH9 t•rsrhit·m·ew .unt·rik.tni~t·hc Edition~ J)ialogut.• and lJt•construction. The (iadttmt·r-/Jt'rrid,, . J:'nt·mullt'r, cnth~ilt neue Beiträge von Philosophen bei-
schcinlldtt·l >dMttt•"
der P&trtcicn.'K Die legitime Frage nach der lJzj]'erenz zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion ist auch nach dem Pariser Treffen offengeblieben. Nicht zufällig ist diese Debatte vor allem in Amerika fortgesetzt worden, wo die Nähe beider philosophischer Strömungen Zweifel aufkommen läßt, ob sich hinter unterschiedlichen Etiketten wirklich auch unterschiedliche Positionen ausmachen lassen.79 Doch die gemeinsame Herkunft von Hermeneutik und Dekonstruktion ist durchaus auch in Europa evident. 80 Beide folgen dem von Heidegger vorgezeichneten Weg, setzen sich mit Hegel auseinander und gehen, wenn auch batte (mit Beiträgen von Jacques Derrida, Philippe Forget, Manfred Frank, Hans-Georg Gadamer, Jean Greisch und Fran~ois Laruelle), München: Fink (UTB) 1984. 78 DIANE P. MICHELFELDERIRICHARD E. PALMER (Hrsg.), Dialogue and Deconstruction. The Gadamcr-Derrida-Encounter, Albany: SUNY Press 1989 (der Band enthält Beiträge von: Fred Dallmayr, Josef Simon, James Risser, Charles Shepherdson, Gary B. Madison, Herman Rapaport, Donald G. Marshall, Richard Shusterman, David F. Krell, Robert Bernasconi, John Sallis, John D. Caputo, Neal Oxenhandler, Gabe Eisenstein). 79 Vgl. HuGH J. SILVERMAN/DoN IHDE (Hrsg.); Hermeneutics and Deconstruction, Albany: SUNY 1985;joHN D. CAPUTo/ALEXANDER NEHAMAs/HuGH SILVERMAN, Symposium: Hermeneueies and Deconstruction, in: Journal of Philosophy 83 (1986), 678-692. Vgl. auch GRAEME NICHOLSON, Deconstruction or Dialogue, in: Man and World 19 (1986), 263-274; ERNST BEHLER, Deconstruction versus Hermeneutics: Derrida and Gadamer on Text and Interpretation, in: Southern Humanities Review XXI/3 (1987), 201-223; WAYNE J. FROMAN, L'Ecriture and Philosophical Hermeneutics, in: HuGH J. SILVERMAN (Hrsg.); Gadamer and Hermeneueies 1991, 136-148; jEAN GRONDIN, La definition derridienne de la deconstruction. Contribution au rapproehernem cfel'hermeneutique et de Ia deconstruction, in: Archives de Philosophie 62 (1999), 5-16. 80 Vgl. HEINZ KIMMERLE, Gadamer, Derrida und Kein Ende, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 16 (1991), 223-235; ToNI THOLEN, Erfahrung und Interpretation. Der Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion, Heidelberg: Winter 1999; RoDOLPHE GASCHE, Deconstruction and Hermeneutics, in: NrcHOLAS ROYLE (Hrsg.), Deconstructions. A User's Guide, Houndmills u.a.: Palgrave 2000, 137-150; STEPHEN FELDMAN, Made for Each Other: The lnterdependence of Deconstruction and Philosophical Hermeneutics, in: Philosophy and Social Criticism 26 {2000), 51-70. Einen entscheidenden Beitrag zur Diskussion liefert das Buch von GEORG W. BERTRAM, Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München: Fink 2002, insb. 9-23, 219-221; vgl. BERTRAM, Sprache und Verstehen in Hermeneutik und Dekonstruktion, in: ANDRZEJ PRZYLEBSKI (Hrsg.), Das Erbe Gadamers 2006, 205-226; vgl. auch FABIAN STOERMER, Hermeneutik und Dekonstruktion der Erinnerung. Über Gadamer, Derrida und Hölderlin, München: Fink 2002; auf ihr gemeinsames heideggersches Erbe insistiert ZoRAN jANKOVIC, Au-dela du signe: Gadameret Derrida. Le depassement hermeneutique et deconstructiviste du Dasein, Paris: L'Harmattan 2003; EMIL ANGEHRN, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Verbrück: Weilerswist 2003. Vgl. auch den Band: Dcconstruction ct Hcrmcncutique- Le Cercle Hermeneutique 2, (2004), 59-170 (mit Beiträgen von Guy Dcniau, Natalie Dcpraz, Zoran Jakovic, Catherinc Malabou, Vinccnt Huuillon, l>onatclla Di Ccsarc).
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,\'. ~ rf/llt~l: I >rH I >•alul( jrnt u·t u"
auf verschiedenen Pfaden, un;thtücsi~ auf die griechische Philosophie zurück. Dies spiegelt sich auch in den Themen wider, die sie miteinander teilen. Es genügt, an die Bedeutung der Kunst, vor aJlem der Literatur und der Dichtung, zu denken. 111 Nichtsdestoweniger stellen Hermeneutik und Dekonstruktion unterschiedliche philosophische Optionen dar und verlangen dementsprechend, daß auch dieser Unterschied erhellt wird. Darum hat die im nordamerikanischen Kontext der achziger Jahre aufgeworfene Frage nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: Wie hermeneutisch ist die Dekonstruktion und wie dekonstruktivistisch ist die Hermeneutik? Was ihre beiden Protagonisten betrifft, so scheint es, als hätte die Debatte zunächst tiefere Spuren im Denken Gadamers hinterlassen, der Derridas Herausforderung annimmt und dabei seine Position in mehreren Essays verändert und präzisiert: Destruktion und Dekonstruktion von 1985, Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktion von 1987, Dekonstruktion und Hermeneutik von 1988, Hermeneutik auf der Spur von 1994. 82 Damit drückt er deutlich aus, wie ernst er diese Debatte nimmt und bekundet vor allem seine Hochschätzung für den französischen Philosophen. In Derrida wird er einen der bedeutendsten Namen anerkennen, dem er nach der Veröffentlichung von Wahrheit und Methode begegnet ist: Als ich im Jahre 1960 meinen eigenen Entwurf einer hermeneutischen Philosophie vorgelegt hatte und mich wieder in der Welt umzusehen begann, stieß ich neben den Arbeiten des späteren Wittgenstein auf zwei für mich wichtige Dinge. Einerseits lernte ich Paul ~elan kennen, in dessen Spätwerk ich mich zu vertiefen begann. Andererseits fiel mir in der Festschrift für Beaufret Derridas Aufsatz ,Ousia et Gramme' in die Hände und dessen darauffolgende Bücher vo~ 1967, die ich alsbald studierte. 83
Derrida setzt sich seinerseits nur gelegentlich mit der Hermeneutik auseinander, und wenn, dann vor allem um die Differenz seiner Dekonstruktion zu ihr hervorzuheben. 84 Aber ein Jahr nach dem Tod Gadamers, am 15. Februar 2003, hält er in Heid~lberg die Gedenkrede: Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht. 85 Von jener "merkwürdigen Unterbrechung" damals in Paris her nimmt er den "ununterbrochenen Dialog", jenes "Anrennen" und "Anstürmen" zwischen zwei Widdern, wieder auf, und deutet Ausführlicher über dieses Thema in meinem Aufsatz: DoNATELLA D1 CESARE, Stars and Constellations. The Difference between Gadamer and Derrida, in: Research in Phenomenology 34 (2004) 73-102. 82 GADAMER, Destruktion und Dekonstruktion, GW 2, 361-372; Frühromantik, Hermeneutik und Dekonstruktivismus, GW 10, 125-137; Dekonstruktion und Hermeneutik GW 10, 138-147; Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 148-174. 83 GADAMER, Dekonstruktion und Hermeneutik, GW 10, 149. 84 Zur "Differenz" bei Derrida vgl. RoooLPHE GASCHE, Inventions of Difference. On Jacques Derrida, Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1994. 85 jACQUES DERRIDA, Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht, 7-50. 81
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daht.·i ;tllf den hulen des ( ;t·did1ts hin, Jas sie Vl'rhundl·n h.u. Er beherbeq~t das Wort .. l>ia)o~" in seinem Wortschatz, um eint· unvorher~eschene Interpretation anzukündi~en: Jene "unwahrscheinliche Debatte" sei im Gegensatz dazu, was die meisten geglaubt haben, "gelungen"- und zwar gerade dank der Unterbrechung, die kein "Urmißverständnis" gewesen sei, sondern "eine Epoche, die den Atem anhält, das Urteil zurückhält und sich die Schlußfolgerung zurückbehält". Deshalb habe sie ihre lebendige und provozierende Spur hinterlassen, der noch eine größere Zukunft beschieden sei. 86 Indem er den ununterbrochenen Dialog wiederaufnimmt, wirft Derrida das Thema der "Unterbrechung" erneut auf, das bereits in der Pariser Begegnung aufgetaucht, danach aber in den Schatten geraten war. Er zeigt, wenn auch nur andeutungsweise, weniger in der sprichwörtlichen Entgegensetzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit als vielmehr in der Frage des Verstehens jenes Motiv an, das die Debatte geleitet habe und das nach wie vor Distanz und Nähe beider Philosophien beleuchten könne. Denn im Verstehen sind die Einheit, mit der die Hermeneutik ansetzt, und die Differenz, von der die Dekonstruktion ausgeht, deutlich umrissen. Als Gadamer in Paris den Eröffnungsvortrag hielt, der anschließend unter dem Titel Text und Interpretation veröffentlicht wurde, schien er sich durch seine Auffassung des "Textes" bewußt von der französischen Philosophie im allgemeinen und von der Dekonstruktion im besonderen abzuheben. 87 Er vertrat die Notwendigkeit, dem Text wieder Stimme zu geben, um dessen "Sinneinheit" herauszustellen und ihn wieder auf das Gespräch, dem er entsprungen ist, zurückzuführen. 88 Seine unbestreitbaren Rückfälle in die "Sprache der Metaphysik"- so redet Gadamer beispielsweise noch von der "Aufgabe des Verstehens" -trugen dazu bei, daß seine Ausführungen für Derridas Ohren wie eine ärgerliche Provokation klingen mußten. Den Gipfel erreicht Gadamer, als er vom "guten Willen, einander zu verstehen" spricht und mit diesen Worten die Diskussion auslöst. 89 Es überrascht nicht, daß Derrida am nächsten Tag mit drei kurzen Fragen erwidert, welche die gesamte Hermeneutik ins Visier nehmen und auf ein einziges Ziel hinauslaufen. Hinter der Bemühung der Hermeneutik, den Anderen zu
DERRIDA, Der ununterbrochene Dialog, 8-9. GADAMER, Text und Interpretation, GW 2, 330-360. Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 2. 88 GADAMER, Text und Interpretation, GW 2, 353. 119 GADAMER, Text und Interpretation GW 2, 343; ursprünglich abgedruckt in: PHILIPPE FoRGET (Hrsg.), Text und Interpretation, 24-55, hier 38. Es gilt hier hervorzuheben, daß dieser Ausdruck im gesamten Korpus von Gadamers Schriften nur dieses einzige Mal vorkommt. Was in der Diskussion aber vernachlässigt bleibt, ist unter anderem der Begriff des "Textes", der von Gadamer und Derrida unterschiedlich interpretiert wird, da Gadamer von der Einheit des Textes ausgeht. Was Derrida im Visier hat, ist eben diese vorausgesetzte Einheit. Dazu vgl. RoooLPHE GASCHE, The Tain of the Mirror, Cambridge (Mass.): Harvard Univcrsity Press 1989, hier 278-280. 86
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verstehen, hinter ihrem ,.Appell t\ll den guten Willen", vcrbcq~c sich Nictzschcs "Wille zur Macht".'J0 Schon mit seiner ersten frage bezichtigt er die Hermeneutik des Rückfalls in die Metaphysik. Der WilJc zum Verstehen, der jeder konkreten Interaktion zwischen den Sprechern vorausgeht, weist für Derrida die Züge eines ethischen Axioms auf, das ihn Gadamers guten Willen zum Verstehen mit dem "guten Willen" Kants gleichsetzen läßt. Wird aber der gute Wille zum Verstehen, der so axiomatisch und bedingungslos wie der "absolute Wert" des kantischen Willens sei, nicht zu einer Neuauflage der metaphysischen "Subjektivität", die nach dem von Heidegger genährten Verdacht die Beherrschung des Seins fortsetzt? Mit seiner zweiten Frage zieht Derrida die Psychoanalyse hinzu, die zwar ein Grenz-Fall sei, aber dennoch paradigmatisch das Aufgeben des "guten Willens" und so auch ·das Scheitern des "lebendigen Gesprächs" bezeuge. Schon Habermas hatte in der Psychoanalyse eine problematische Grenze erkannt und Zweifel daran geäußert, daß sie in eine allgemeine Hermeneutik integriert werden könne. Derrida betont nun seinerseits, daß der psychoanalytische Diskurs selbst den weiten interpretativen Kontext, den Gadamer vorschlägt, explodieren lasse und insofern eine derart produktive Interpretation erfordere, die zuerst eines Bruchs bedürfe. Um diesen Begriff des Bruchs oder besser der Unterbrechung dreht sich die dritte, philosophisch entscheidende Frage. Zur Diskussion steht hier das, was Gadamer "Verstehen" nennt. Man muß sich nämlich fragen- so Derrida- ob die Bedingung des Verstehens nicht weniger die grenzenlose Bereitschaft zum Gespräch, der kontinuierliche Bezug zum Anderen, als vielmehr der "Bruch des Bezugs ist, der Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung aller Vermittlung".91 Über das hermeneutische Gespräch bricht damit der Verdacht der Dekonstruktion herein, die sich demgegenüber als Alternative anzubieten scheint, weil sie die Unterbrechung bevorzugt, die Uneinigkeit hütet, die Differenz und die unaneigenbare Andersheit des Anderen bewahrt, die Unmöglichkeit desVerstehensauf sich nimmt. Gadamer antwortet mit dem ebenso kurzen Beitrag Und dennoch Macht des guten Willens. 9~ Mit dem klassischen Argument gegen die Skeptiker läßt er zunächst die Widersprüchlichkeit der Position Derridas zutage treten.
Derridas letzter Beitrag in der Pariser Begegnung kreist um Nietzsche. Vgl. ]ACQUES DERRIDA, Guter Wille zur Macht (II). Die Unterschriften interpretieren (Nietzsche/Heidegger), in: PHILIPPE FoRGET {Hrsg.), Text und Interpretation, 62-77. Das Ziel seiner Polemik ist Heideggers Deutung, der zufolge Nietzsche der letzte Metaphysiker gewesen sei; für Derrida ist es umgekehrt Heidegger, der einer logozentrischen Metaphysik verhaftet bleibt, weil er sich weiterhin nach dem Sein und nach dem Sinn des Seins fragt und dabei verlangt, es in einem Logos festhalten zu können. 91 DERRIDA, Guter Wille zur Macht, in: PHILIPPE FoRGET (Hrsg.), Text und Interpretation, 56-58, hier 58. 92 GADAMER, Und dennoch: Macht des Guten Willens, in: PHILIPPE FoRGET (Hrsg.), Text und Interpretation, 59-61. 90
lrh h"hc.• Müht". die.· .111 mid1 t-\''"h•llh•n 1'1·14t4r11 ;r.u vc.·rstdu·11. Ahrr irh J.:c•/Jt' mit" MUI)(·, wie.· jc.·dc.•r lllt, der ,·iuc.·11 .wdl'll'll vt'l'llll'lum will udc.·r vuu dc.•m .wdc.•n·n vc.•rsl•mdcn wer-
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Diese .,Mühe" habe jl·doch nkhts mit der Metaphysik oder mit dem "guten Willen" Karns zu tun. Gadamer möchte sich vielmehr auf den platonischen Sokratcs berufen, der im Gorgias ausführt, es sei besser, widerlegt zu werden als zu widcrlcgen.94 Dieses Prinzip, in dem die Hermeneutik sich wiedererkennt, ist jedoch keine ethische Instanz. "Auch unmoralische Wesen bemühen sich, einander zu verstehen".95 Deshalb geht es hierbei um eine phänomenologische Feststellung, welche auf die alltägliche Praxis des Sprechens und Verstchens schaut. Wer den Mund öffnet um zu sprechen, möchte verstanden werden- es sei denn, er will etwas verbergen. Derrida und Nietzsche machen hiervon keine Ausnahme: Beide "reden und schreiben, um verstanden zu werden". 96 Dies soll aber keineswegs heißen, daß Nichtverstehen und Mißverstehen beseitigt werden könnten. Gadamer stimmt mit Derrida darin übe rein, daß es kein bruchloses Verstehen gibt. Und das psychoanalytische Gespräch, das nicht darauf zielt, das zu verstehen, was der Sprecher sagen will, sondern was er nicht sagen will, ist ein extremes Zeugnis für einen solchen Bruch. Wo ließe sich aber dann der Abstand zwischen Gadamer und Derrida auffinden, wenn er nicht in der von beiden eingeräumten Notwendigkeit der Unterbrechung liegt? Die Unterbrechung ist für die Hermeneutik nicht etwas Grundlegendes und Ursprüngliches, weil ihr das Präludium der Sprache immer vorangeht. Daher schreibt sich die Unterbrechung in die Konstellation der Sprache ein; sie ist die Differenz, die deren Einheit einritzt. Hier zeigt die Hermeneutik ihre Nähe zur Ideologiekritik.97 Ein noch größerer Abstand zur Dekonstruktion zeigt sich in der Auffassung des Bruchs. Selbst dort, wo der Bruch ausgeprägter und der Stoß heftiger ist, wie im Kunstwerk und vor allem im poetischen Text, nimmt die Hermeneutik diesen Stoß zwar auf, verstärkt ihn aber nicht, so wie sie auch den Bruch nicht vertieft. Eher verhält es sich umgekehrt: Für die Hermeneutik eröffnet die Unterbrechung das Gespräch, schließt es jeGADAMER, Und dennoch: Macht des Guten Willens, 59. PLATON, Gorgias, 458a. '~ 5 GADAMER, Und dennoch: Macht des Guten Willens, 59 [Hervorhebung von mir: DDC] w. GADAMER, Und dennoch: Macht des guten Willens, 61. Aber fragwürdig ist Gadamers Versuch, Derridas Ansatz auf Nietzsche zurückzuführen. Davor warnt Gasehe zurecht in: RoooLPH E GASCHE, Specters of Nietzsche, in: DANIEL 0. DAHLSTROM (Hrsg.), The Procecdings of thc Twentieth World Congress of Philosophy. Band 8. Contemporary PhiloHophy, Bowling Green: Philosophy Documentation Center 2000, 183-193. '17 Gadamer bezieht sich auf die "vorzügliche Derrida-Kritik" bei Habermas. Vgl. GADAM HR, Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, GW 2, 23. Vgl. JOR<;t-:N HABERMAS, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main: Suhr93
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k;~rnp JlJH5, JlJJ
ff.
Joch nicht ab. Wenn sil· aud1 wl'iU, da" der Bruch nie geheilt, das Nichtverstehen nie abgeschafft sein wird, so liefert sie sich doch einem unendlichen Dialog aus.98 Dies ist übrigens die Position, die Gadamer auch in der Konfrontation mit Derrida einnimmt. Einjahr nach ihrer Begegnung in Paris schreibt er: "Wer mir Dekonstruktion ans Herz legt und auf Differenz besteht, steht am Anfang eines Gesprächs, nicht an seinem Ziele." 99 Der Abstand zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion liegt also nicht im guten Willen zum Verstehen, sondern im Verstehen selbst, in der Art nämlich, es entweder aus der Einheit des ununterbrochenen Dialogs oder aus der Differenz der Unterbrechung her zu verstehen. Eine Perspektive verweist für Gadamer auf die andere. Nach Heideggers Versuchen, die Sprache der Metaphysik abzubauen, gibt es für ihn nur noch zwei Wege, vielleicht eine gemeinsame Bahn, die noch ins Freie der philosophischen Erfahrung führen können: der Weg der Hermeneutik, die von der Dialektik zurück zum Dialog geht, und der Weg der Dekonstruktion, der in der ecriture die Brechung der Metaphysik vollzieht.100 In seiner Gedenkrede Beliers nimmt Derrida das Thema der Unterbrechung wieder auf, die diesmal eine letzte Unterbrechung, die Trennung von Leben und Tod ist. Was wird aus dem Dialog werden, nachdem ihm der Tod sein Siegel aufgedrückt hat? Wird es einen Dialog nach dem Tod geben? Der Dialog geht weiter - so Derrida - und setzt seine Spur im Überlebenden fort, der künftig die Stimme des verstorbenen Freundes in sich zu Gehör bringen wird. Die Versprechung und die Verpflichtung finden ihren Ausdruck in dem Vers eines Dichters, der beide Philosophen verbunden hat: Paul Celan. Die Welt ist fort, ich muß Dich tragen. 101 Das Thema des Todes verflicht sich hier mit dem Thema des Gesprächs, aber letztlich auch mit dem des Gedichts. Zwei Werke Gadamers stehen im Hintergrund: Gedicht und Gespräch und Wer bin Ich und wer bist Du? Der Tod des Anderen ist die "Welt nach dem Ende der Welt". 102 Der Überlebende bleibt allein, beraubt der Welt des Anderen, bleibt in der Welt außerhalb der Welt, allein ·verantwortlich und dazu bestimmt, sowohl den Anderen als auch dessen Welt weiterzutragen. Hatte Heidegger auf die Nachbarschaft von Denken und Danken hingewiesen, so rückt Derrida, penser und peser, "Denken" und "Wiegen" zusammen. Um zu denken und zu wiegen, muß man also tragen, in sich tragen und auf sich tragen. Doch "Tragen heißt nicht mehr >mit sich bringen< [comporter], einschließen, in sich begreifen, sondern sich zur unVgl. in diesem Band Kap. VIII, 7. GADAMER, Destruktion und Dekonstruktion, GW 2, 372. 100 Vgl. GADAMER, Destruktion und Dekonstruktion GW 2, 367 f. 101 PAUL CELAN, Grosse, glühende Wölbung, in: CELAN, Atemwende. Gesammelte Werke, Band II, hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von RoH Bücher, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, 97. 102 DERRIDA, Der ununterbrochene Dialog, 15. 98
99
t•mllirht•n lJIH\IlC.'i~t·nharkt·it dt•s ;andt·n.·n h1nzulw~dwn in l{ichtun~ auf seine ahsolutt• 'l'r;tnszendenz in nll'i nt•m I nncrcn seihst, das hl'ifh i nmir ;tuger mir". 10·1 Vielmehr bedeutet es hinüherzutra~en und zu übersetzen, und zwar vor allem das Unübersetzbare, das sich als solches, als irreduzibler Überschuf~ erhalten soll, wenn jener Rest an "Unlesbarkcit" bewahrt werden muß, der die Hermeneutik ermöglicht hat und den die Hermeneutik ermöglicht. Die Verpflichtung der Dekonstruktion besteht darin, die Hermeneutik zu tragen, dabei auf das Gemeinsame zu schauen und den Rest der Differenz zu bewahren. Einheit und Differenz, Differenz und Einheit, bieten wiederum das unheimliche Geheimnis ihres ausweichenden Verweises an. Zwischen beiden Unendlichkeiten ist Cclan das tertium datur, weit weniger der Punkt der Konvergenz als vielmehr ein Punkt neuer Orientierung.
5. Hermeneutik oder Nihilismus? Die eigenartige Geschichte der Hermeneutik in Italien beginnt mit der Übersetzung von Wahrheit und Methode, die Vattimo 1972 veröffentlicht} 04 Gadamer wird gelesen, studiert, rezensiert; sein Denken findet eine so weite Verbreitung, daß es nahezu als Resultat der einheimischen philosophischen Tradition angesehen wird. Doch mehr als anderswo wird die Hermeneutik gerade in Italien zur Koine der Philosophie, mit allen Vorteilen aber auch Nachteilen, die dies mit sich bringt. Sie liefert das gemeinsame Idiom für viele und verschiedene Stimmen, wobei es in dieser Polyphonie schwierig wird, eine gemeinsame Tonart zu finden, in der voneinander so entfernte philosophische Projekte zusammenstimmen könnten. 105 Vielfältig und eklektisch ist der Horizont, in den sich die Hermeneutik in Italien einfügt. Begünstigt wird ihre Aufnahme durch den Historismus, der seit Benedetto Croce (1866-1952) bewußt darauf zielt, dem individuellen und verschiedenartigen Charakter der geschichtlichen Realität gerecht zu werden. Aber einen fruchtbaren Boden findet die Hermeneutik vor allem in der humanistischen Tradition, die schon mit Vico zur Wiederentdeckung der Rhetorik beigetragen hat. Diese starke Affinität erklärt aber auch, warum die phänomenoloDERRIDA, Der ununterbrochene Dialog, 47-48. Die italienische Übersetzung ist die erste überhaupt. lOS Die Frage bleibt weiterhin aktuell. Einen Gesamtüberblick über Gadamers Rezeption in Italien bietet der wichtige Beitrag von VALERIO VERRA, Hans-Georg Gadamers hermeneutische Philosophie in Italien, in: Heidelberger Jahrbücher XXXIV (1990), 177-188. Vgl. auch REIN ER W1 EHL, Vielstimmige Hermeneutik aus Italien, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2/1996,286-292 (es geht hier um eine Besprechung des Bandes: Beiträge zur Hermeneutik aus Italien, hrsg. von Franeo Bianco, Freiburg/München: Alber 1993). Die unvermeidbare Fragmcntierung der italienischen Hermeneutik spricht aber auch für ihre OriKinalit:ü. 103
104
~ische
Komponente der llcrmrnrutik am Anfan~ eher im Schatten geblieben ist. Oie enorme Verbreitun~ von Hcidcggcrs Philosophie, die innerhalb des Existentialismus sehr leicht Eingang fand, vollzieht sich in einem gewissen Antagonismus zur Phänomenologie. Heidegger öffnet sozusagen Gadamer die Tür. Man muß sich allerdings fragen, inwieweit dies für ihn vorteilhaft gewesen ist. "Heidegger und Gadamer" ist die Formel, die sich in kurzer Zeit durchsetzt und zur fragwürdigen Deutungschiffre von Gadamers Philosophie wird. Eine Schlüsselrolle bei der Rezeption der Hermeneutik in Italien spielt Luigi Pareyson (1918-1991). Weit mehrvon der christlichen Tradition als vonder griechischen Philosophie beeinflußt, sieht er in Fichte und Schelling ein mögliches Korrektiv zu Hegel, während sein Existentialismus ihn weit mehr Jaspers als Heidegger nähert. Schon allein dadurch wird die Distanz ersichtlich, die ihn von Gadamer trennt. Gewiß fehlt es auch nicht an Berührungspunkten. In seinem Werk von 1971 Wahrheit und Interpretation betont Pareyson, daß der ursprüngliche Bezug zum Sein zwangsläufig ein hermeneutischer ist, was vor allem in der Kunst ans Licht tritt. 106 Indem er aber die Unersetzbarkeil der Person für den Zugang zur Wahrheit zur Geltung bringt, hebt er zugleich den stark personalen Charakter der Wahrheit hervor. Die hermeneutische Wahrheit entfaltet sich demnach in eine unendliche Reihe von Interpretationen, die sich zwar nicht gegenseitig relativieren, aber dennoch nicht die Absolutheit beanspruchen können, die nur ihrer unerschöpflichen Quelle vorbehalten bleibt. Wenn die Wahrheit eine solche ist, dann stellt sich jede interpretative Erfahrung als Erfahrung der Freiheit heraus. Dies ist die These, die seinem 1995 posthum erschienenen Buch Ontologie der Freiheit zugrunde liegt. 107 Sein Abstand zu Gadamer tritt hier deutlich zutage: Pareyson legt den Akzent auf das Interpretieren, das als "Kongenialität" zustande kommt, während Gadamer ihn auf das Verstehen legt, das sich zunächst als "Anstoß" ergibt. Mehr noch: Der geschichtliche Charakter der Wahrheit, der für die philosophische Hermeneutik unwiderruflich ist, wird bei Pareyson immer mehr zum Schweigen gebracht, bis er tragisch im Unvordenklichen verstummt, das die Quelle des Mythos ist; zu dieser Quelle kehrt das "ontologische und personale" Denken zurück, das sich in seiner Sorge um die Heilsgeschichte als eine Hermeneutik des Christentums als des Gründungsmythos der Moderne enthüllt. Dieser offensichtliche Unterschied zwischen Gadamer und Pareyson bestimmt das Schicksal der philosophischen Hermeneutik in Italien. Denn die meisten Vertreter der Hermeneutik kommen aus Pareysons Schule und fast alle berufen sich unmittelbar auf ihn. 106 LUIGI PAREYSON, Verita e interpretazione, Mailand: 107 LuiGI PAREYSON, Ontologia della liberta. II male
1995.
Mursia 1971. e la sofferenza, Turin: Einaudi
Isoliert und cmblc.•m;ttisdl iNl die FiKur von V;tlcrio Vrrn (l'J2H-2001}, der als St:hü k·r von Parcyson dcnnol'h st.uk von GaJamcr ~rpr~i~t wurde. Bereits auf das Jahr 1963 geht seine i\Us~cwoKenc und eingehende Besprechung von Wahrheit und Methode zurück, die gleichzeitig eine ausdrückliche Parteinahme darstcl1t.108 Der philosophischen Hermeneutik hat Verra bedeutsame Aufsätze gewidmet: von den ersten über die Frage nach dem wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein bis zu den letzten, in denen er die Ästhetik Gadamers mit der Kants und Hegels vergleicht und dabei zeigt, wie weit die Hermeneutik von jeder Relativierung der Wahrheit entfernt ist. Doch seine Lektüre, die nahe an den Texten bleibt, Platon und Hegel als Bezugspunkt behält, hat bis heute nur eine eingeschränkte Resonanz gefunden. Die Urbanisierung der Heideggerschen Provinz, die mittlerweile fast ein Kontinent geworden ist, vollzieht sich gegen Ende der siebziger Jahre in einem komplexen Kontext. Die Erneuerung des Marxismus, der sowohl von seinem aufklärerischen Erbe als auch vor allem von der systematischen und geschlossenen Denkart Hegels befreit werden soll, findet einen neuen Ansatzpunkt in Nietzsches Kritik an der modernen Subjektivität und in Heideggers Destruktion der Metaphysik. Mit der "Krise der Vernunft", auf die schon seit Jahren die Frankfurter Schule hingewiesen hat, beginnt die Debatte um die Postmoderne. Protagonist dieser Debatte ist Gianni Vattimo (::·1936), der als Schüler von Pareyson, Löwith und Gadamer nachhaltig den Ausgang der Hermeneutik in Italien beeinflußt hat. Nicht nur ist ihm die vorzügliche Übersetzung von Wahrheit und Methode zu verdanken, sondern auch der durchschlagende Erfolg dieses Werks. 109 Wenn er auch ein origineller Interpret der philosophischen Hermeneutik gewesen ist, so hat Vattimo doch seine eigene Philosophie entwickelt, deren Bezugspunkte Nietzsche und Heidegger sind. In dem Maße, in dem sie im Lauf der Zeit immer deutlicher ihren Abstand von Gadamers Hermeneutik betont, erweist sie sich als eigenständiges Projekt. Ab 1983 nimmt sie den Namen pensiero debole, "schwaches Denken" an. "Nihilismus" wird zu ihrem Schlüsselwort. Die Geschichte des Seins, das bei dem Heidegger von Sein und Zeit die äußerste Verwandlung in das me 6n erlitten hat, das heißt die Vernichtung in jenes Nichtsein, das Nichts ist, wird von Vattimo in ihrem Untergang aufgenommen. Das schwache Denken, das sich dieser "Schwächung" des Seins bewußt ist, nimmt sie auf sich und sieht im Nihilismus "den einzig mög-
Vgl. VALERIO VERRA, Hans-Georg Gadamer e l'ermeneutica filosofica, in: Filosofia 1963, 412-418. 109 Vattimo äußert sich sehr früh, vgl. GIANNI VATTIMO, Estetica ed ermeneutica in Hans-Georg Gadamer, in: Rivista di estetica 1963, 117-130, jetzt in: VATTIMO, Poesia e ontologia, Mailand: Mursia 1967, 167-186. 108
lid1en Weg der Ontolohic:." 110 AIN dn Denken, das nach dem Untergang und Vcr~chcn des Seins hennl·neutisch .,;rundlos aus den vorübergehenden Formen der Geschichte und der Sprache hervorgeht, dekliniert sich das schwache Denken seinerseits in ein unendliches Spiel von Interpretationen. Im Licht der Identifizierung von Sein und Sprache liest Vattimo die Hermeneutik als "Ontologie des Seinsuntergangs" bzw. als "Ontologie der Aktualität" - wenn das aktuelle Zeitalter das "Zeitalter des Nihilismus" ist. 111 Damit bewegt sich die schwache Ontologie im Gefolge Nietzsches und erkennt sich in jenem "völligen" Nihilismus wieder, der nach dem Verschwinden aller Werte feststellt, daß er die Wahrheit nicht mehr besitzt, daß die Wahrheit nur in den unendlichen perspektivischen Wirkungen der Interpretationen gegeben ist. Die Eroberung des Wahren "wäre demnach ein vom Realen im Sinne eines unmittelbaren Zwangs durch das Gegebene, eines unbestreitbaren Sich-Aufdrängens den An sich, sich entfernender Weg." 112 Nietzsches Perspektivismus spielt hier eine entscheidende Rolle und setzt- in Vattimos Wiederaufnahme des berühmten Spruches "es gibt keine Fakten, nur Interpretationen"- eine Philosophie der Interpretation in Gang. In sie mündet die nihilistische Deklination der Hermeneutik. Der Einfluß Pareysons darf dabei keineswegs unterschätzt werden. Dies gilt sowohl für die Tragweite der Interpretation als auch für die Bedeutung, die das Christentum in der Philosophie des späten Vattimo erhält. In einer Hermeneutik, die ihr Augenmerk weniger auf den Sinn des Seins als vielmehr auf seine Geschichte richtet, und die demnach bereit ist, den eigenen Geschehenscharakter und die eigene Herkunft anzuerkennen, enthüllt sich das Christentum, das im Lichte der Gegenwart gelesen wird, als jenes interpretative Geschehen, dem die Hermeneutik selbst entspringt. Die Geburt des Verbums, die an die Stelle des "Todes Gottes" tritt, leitet daher den nihilistischen Abschwächungsprozeß des Gott-Seins in die Wege, jene Herablassung Gottes, die als solche die "Säkularisierung" des Seins initiiert. Die christliche kenosis ist für Vattimo daher Ursprung und Schicksal der Hermeneutik als nihilistischer Ontologie, die bei der Aufnahme ja Beförderung der Abschwächung nur noch durch die caritas gestützt wird. Dieses religiöse Ergebnis darf aber nicht mißverstanden werden, denn hierbei kommt zugleich auch die ästhetische Erfahrung, die schon in der ersten Phase von Vattimos Denken zentral war, erneut zum Ausdruck. 113 In der Spätmoderne kann für ihn die Kunst, GIANNI VATTIMO, Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik, übers. von Sonja Puntscher Riekmann, überarbeitete Auflage, Wien: Passagen 2005, 71 (ital. Al di Ia del soggetto. Nietzsche, Heidegger e l'ermeneutica, Mailand 1984). 1l1 Vgl. in diesem Kap. VIII, 5. 112 GIAN N1 VATTI MO, Jenseits der Interpretation, 135. 113 Vgl. GrANNI VATTIMO, Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott?, München: Hanscr 2004 (ital. Dopo Ia cristianita. Per un cristianesimo non religioso, Mailand 2002). Eim·n ähnlirhl·n Ansatz findet sich in dem Buch von Vf..ct.AV UMLAlll;, Hermeneutik 110
269 tfic sich in ihrem WahrllC.'its;\tlSJlruch 1tls säkularisil'rtl' Religion präsentiert, der Religion helfen, sich ihn·r do~matischen Inhalte zu entledigen. Was bleibt hier noch von Gadamers philosophischer Hermeneutik? Das schwache Denken ist eine eigentümliche Aufarbeitung der Hermeneutik- aber nicht nur das. Doch man muß sich hier auch vor einer Verwechselung hüten: Hermeneutik ist nicht Nihilismus. Und es ist wichtig, diese Worte auch in Zukunft auseinanderzuhalten, und zwar sowohl um Vattimos philosophischem Beitrag gerecht zu werden, als auch um Klarheit in der Debatte um die Hermeneutik zu schaffen, welche durchaus noch weitere positive Nachwirkungen auch für die Auseinandersetzung zwischen kontinentaler und analytischer Philosophie zeitigen könnte. So sehr man sich auch bemühen mag, es ist unmöglich, in Gadamers Schriften das Wort "Nihilismus" zu finden. 114 Noch wichtiger ist aber, daß eine "hermeneutische Ontologie" eine Art von contradictio in adjecto darstellt, da die Hermeneutik von der Ontologie als Logos, der sagen will, was das Sein ist, Abschied genommen hat. 115 Deshalb gibt es in ihr nicht mehr die Sorge um das Sein, ebensowenig wie das Denken der Verwindung, das Vattimo von Heidegger übernimmt. Zieht man diese Abwesenheit des Seins und der Sorge um das Sein in Betracht, dann rückt Gadamers Hermeneutik eher der Dekonstruktion Derridas nahe. Und wenn sie nicht vom Sein spricht, dann um so weniger vom Nichts. Der Weg der philosophischen Hermeneutik ist insofern demjenigen des Nihilismus und jeder Meontologie genau entgegengesetzt: sie liest das me 6n im Sinne Platons als ouk esti. Aus dem Abgrund des Nichts gewinnt sie damit das Nichtsein als Anderssein zurück, und der Übergang, der sich dabei vollzieht, ist der vom Sein zur Alterität. Das Fehlen jedes tragischen Akzents in der Hermeneutik ist dafür nur eine weitere Bestätigung. Nicht zufällig spürt Vattimo in ihr das Nachlassen jener Dramatik, die noch Heideggers Ontologie prägte, in einer für ihn allzu "irenischen" Sicht der Geschichte und der Sprache. Die Hermeneutik läßt die Negativität einer Grenze hinter sich, die Nichts und Schweigen ist, um sich dem Über des Anderen zuzuwenden. Im Bewußtsein der Grenze und in der Instanz des Über prägt sich jene "religiöse Haltung" der Hermeneutik aus, die Gadamer stets mit dem berühmten Titel einer Rede Kierkegaards zusammengefaßt hat: "Über das Erbauliche in dem Gedanken, gegen Gott allzeit Unrecht zu haben." 116
nach Gadamer, Freiburg/München: Alber 2007, das unter anderem nicht hält, was im Titel verspricht, denn es handelt sich um eine religiös-nihilistische Lektüre von den am häufigsten aufgegriffenen Themen der Philosophie Gadamers. 114 In den 1.wci oder drei Fällen, in denen es vorkommt- zum Beispiel im Titel/rn Schatten des Nihilismus (GW 9, 367)- hat es eine negative Bedeutung. m V~l. in diesem Band Kap. I X, 2. 111' (;ADAM 1·: K , llt•J'IUt'lll'lll i k und ontnlnKisrhc l>i Hcrcn:t. (I 'JH'J), GW 10, SH-75, hier 70.
270 Was das schwache lknkl'll zwcifdlos mit der philosophischen Hermeneutik gemeinsam hat, ist der Verzicht auf eine Letztbegründung in der Philosophie. Doch die Art, in der dieser Verzicht konzipiert wird, macht auch hier einen Unterschied offenkundig, der einen Namen trägt: Nietzsche. Indem Vattimo die Hermeneutik von der Phänomenologie trennt, gewährt er Nietzsches Philosophie der Interpretation einen großen Raum. Demzufolge faßt er die Hermeneutik als eine ,.,Philosophie der Interpretation" auf. Doch die Hermeneutik ist keine Philosophie der Interpretation. Sie hat sich niemals als solche verstanden. Dies ist vielleicht das größte Mißverständnis, das auf der Rezeption der Hermeneutik lastet. 117 Die Frage, die Gadamer aufwirft, ist die Frage des Verstehensnicht die des Interpretierens. Und Verstehen ist nicht Interpretieren, vielmehr ist das Interpretieren ein Grenzfall des Verstehens. 118 Wo das Verstehen durch das Interpretieren ersetzt wird, dort macht sich der Einfluß Nietzsches geltend. So nahe Gadamer Platon und Hegel steht, so groß ist sein Abstand von Nietzsche. Wie läßt sich dieser Abstand erklären? Hierbei handelt es sich nicht um eine Aversion, sondern eher um eine philosophische Motivation. In Nietzsches hermeneutischem Radikalismus sieht Gadamer nämlich die Kehrseite der cartesianischen Metaphysik, da eine Wahrheit, die es nicht gibt, bzw. die es nicht mehr gibt, immer noch die absolute Wahrheit des fundamenturn inconcussum ist. An der Absolutheit dieser Wahrheit gemessen, wird alles übrige nur als bloße Interpretation erscheinen und sich zu einer Perspektive relativieren. Hierin liegt die Komplizenschaft von Metaphysik und Nihilismus, welche die Hermeneutik nicht akzeptieren kann. Dementsprechend akzeptiert sie auch die Resignation nicht, die das Fehlen absoluter Werte und fester Haltepunkte als Kennzeichen unseres Zeitalters nimmt. Im Fehlen einer letztbegründeten Wahrheit ein Zusammenbrechen jeglichen Halts zu sehen, ist eher Indiz intellektueller Überheblichkeit, einer anderen Form des Willens zur Macht} 19
Auf einen weiter gefaßtcn Interpretationsbegriff zielen die Analysen von Scholz zum "präsumtiven" Charakter der Interpretation, vgl. ÜLIVER R. Sc HOLZ, Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen der Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt am Main: 2001, 147-249. Krämers neuere Kritik, die jedoch produktive Ansätze enthält, stützt sich auf eine viel zu umfangreiche Auffassung der Interpretation, vgl. HANS KRÄMER, Kritik der Hermeneutik. Interpretationsphilosophie und Realismus, München: Bcck 2007. 11!1 Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 8. 119 Vgl. GADAMER, Nietzsche- der Antipode. Das Drama Zarathustras (1984), GW 4, 448-462. Zu diesem Thema vgl. NrcHOLAS DAVEY, A World of Hope and Optimism Despite Prcscnt Difficulties: Gadamer's Critique of Perspectivism, in: Man and World 23 (1990), 273-294. Zu Nietzsche und Gadamer vgl. auch joHANN FIGL, Nietzsche und die philosophische llcrmcncutik des 20. Jahrhunderts. Mit besonderer Berücksichtigung Diltheys, Heilleggers und Gadarners, in: Nictzschc-Studien 10/11 (1981-1982), 408-430. 117
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Aher ;tuch wenn sie dil· Met;tphysik ,,ufs Spid Sl'tl'.t und die Ansprüche der Wissenschaft 1.urückweist, die ihre Wurzeln in der Endlichkeit verdrängt, so liefert sich die Hermeneutik deshalb nicht dem Schwindel eines Perspektivismus aus, in dem alles indifferent ist. Die philosophische Hermeneutik schwört der Wahrheit nicht ab. Und sie verzichtet keineswegs auf einen Halt. Dieser Halt ist für sie nicht nur der Andere in seiner nicht anzueignenden Andersheit, sondern das Sein mit dem Anderen.
6. Hermeneutik des Anderen. Neue Perspektiven In seinem Aufsatz, den er Gadamers Philosophie im Jahre 2002 gewidmet hat, schreibt Charles Taylor e:-1931), daß die "große Herausforderung dieses Jahrhunderts" darin bestehe, "den Anderen zu verstehen" und er fügt hinzu, daß gerade hierin "Gadamers ungeheuerer Beitrag zum Denken des 20. Jahrhunderts" liege. 120 Doch seit einigen Jahrzehnten ist die Art, in der die Hermeneutik sich von Anfang an als Verstehen des Anderen konzipiert hat, heftig und teilweise vehement in Abrede gestellt worden. Ein wichtiger Bereich der kontinentalphilosophischen Debatte, der vom "Denken der Differenz" geprägt ist, hat energisch für das Recht des Einzelnen auf seine Andersheit plädiert. Dabei ist die Andersheit zur ethischen Kategorie avanciert, deren Anerkennung und Achtung entschieden gefordert wird. Eine solche Fokussierung auf die Alterität ist aber ein Novum in der abendländischen Philosophie. Bekanntlich wurden die Unterschiede zwischen dem Einen und dem Anderen von den meisten Philosophen nur als akzidentiell und daher nicht als bedenkenswert betrachtet. In diesem Sinn zeichnet die Frage nach der Möglichkeit einer radikalen Andersheit des Anderen das Denken des 20. Jahrhunderts aus. 121 Darin sind sich wahrscheinlich alle einig. Problematisch ist es dagegen festzustellen, wo und wie die Frage nach dem Anderen zuerst angeschnitten worden ist. Hierin würden die Meinungen schon eher auseinandergehen. Für diejenigen, die das Denken der Differenz vertreten und die vor allem an die neuere französische Philosophie anknüpfen, hat die Invention des Ande-
° CHARLES TAYLOR, Understanding the Other: A Gadamerian View on Conceptual
12
Schemes, in: Gadamer's Century 2002, 279-297, hier 279. 121 VgL NrcoLE RucHLAK, Alterität als hermeneutische Perspektive, in: HANS-MARTIN ScHÖNHERR-MANN (Hrsg.), Hermeneutik als Ethik, München: Fink 2004, 151-167; vgl. auch RucHLAK, Das Gespräch mit dem Anderen. Perspektiven einer ethischen Hermeneutik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Über die Frage nach der Alterität in der Hermeneutik vgl. RoBERT BERNASCONI, "You don't Know What I'm Talking About": Altcrity and thc Hcrmeneutical Ideal, in: LAWRENCE K. ScHMIDT (Hrsg.), The Specter of Relativismc, 178-194; LAWRENCE K. ScHMIDT, Respecting Others: The Hermeneueie Virtue, in: Contineotal Philosophy Review 33 (2000), 359-379; vgL auch NrcHOLAS DAVEY, Unquict Undcrsundin~. Gadanwr's Philosophicallkrrnl'lll'Utirs, Alhany: SUNY 2006, 179 f.
272
rcn cint.'l1 unzweifelhaften Ursprun~: die Phänomenologie. Die Frage nach der Erkennharkcit des Anderen sei erst in den phänomenologischen Untersuchungen Husser]s aufgetaucht, der als einer der ersten Philosophen das Thema der Intersubjektivität behandelt habe. Dabei werden andere Quellen beiseite gelassen, angefangen mit der jüdischen Tradition, die nicht nur die sogenannten Philosophen des Dialogs, Buher und Rosenzweig, sondern auch Levinas (wenn nicht auch Derrida) zutiefst beeinflußt hat. Vernachlässigt und vergessen wird jedoch dabei auch die Quelle der Hermeneutik, und zwar eigendich schon der Hermeneutik Schleiermachers. Unbestreitbar wirft die Hermeneutik zum ersten Mal in der Philosophie die Frage nach dem Verstehen auf. Wie die Frage nach dem Anderen, so hatte auch die Frage nach dem Verstehen vorher keine philosophische Relevanz. Vermutlich hängt die eine mit der anderen Frage zusammen. Jedenfalls entfaltet sich die Hermeneutik am Leitfaden des Verstehens, das in einer wenn auch diskontinuierlichen Kontinuität der Hinter-Grund ist, in dem die Frage nach der Andersheit des Anderen unumgänglich wird. Doch die Hermeneutik ist dem Vorwurf ausgesetzt, im Verstehensvorgang die Differenz des Anderen auf die Identität zu reduzieren bzw. reduzieren zu wollen. So liege im Verstehen die "Vernichtung des Individuellen durch das Allgemeine." 122 Sogar das einfache Weiter-Sprechen würde demzufolge, heimlich oder nicht, dem Druck der Anpassung gehorchen. Verstehen heiße im Grunde Verstehen-Wollen. Als letzte Fassung der Metaphysik des Willens demaskiert, solle das hermeneutische Projekt, in dem die Verständigungssuche immer auf einen Konsens und damit auf die Reduktion des Anderen auf das Selbst hinauslaufe, endgültig verworfen werden. Das mißverstandene Verstehen der Hermeneutik wird -gewaltsam?- auf einen Akt der Gewalt reduziert. So betrachtet würde die Hermeneutik - so läßt sich der Grundtenor der Kritiker zusammenfassen jeder ethischen Dimension entbehren. Auffällig und fragwürdig erscheint jedoch diese diametrale Entgegensetzung zwischen philosophischer Hermeneutik und Denken der Alterität, als ob das eine die andere ausschließen würde und müßte. Eine solche Entgegensetzung, die philosophisch kaum motivierbar ist, läßt sich vielleicht durch das strategische Bedürfnis erklären, welches das Denken der Alterität dazu drängt, an Profil zu gewinnen, indem es den Bruch mit der Hermeneutik hervorhebt. Zu diesem Zweck wird die philosophische Hermeneutik Gadamers als die letzte verdächtige Version der alten Denkart präsentiert. Der Verdacht wird um so mehr durch ihre Nähe zu Platon, zu Hegel und nicht zuletzt zu Heidegger genährt. Entscheidend ist dabei aber die mehr oder weniger bewußt nachdrückliche Forderung, sich von der deutschen Philosophie zu befreien, mit ihr für Negative Hermeneutik. Zur sozialen Anthropologie des NichtVerstchcns, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, 207. 122 RoBERT ScHURZ,
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273
imnH.'r :t.u hrc,:hcn, sie ~cwissl'f'maf~t.·n :t.u vcnlriin~cn, und d•tvnn nur die- abstrahiL·rtc- Phänomcnolo~il· zu rl'ttcn. Nicht zufiilli~ wird die Hermeneutik in diesem Zusammenhan~ insofern akzeptiert, als sie auf ihre phänomenologischen Wurzeln hingewiesen wird. Zur Verfolgung dieser Strategie werden einige Themen ignoriert oder gar verschwiegen, wogegen der Akzent auf einigen meistens extrapolierten Wendungen liegen bleibt. Diese sollen vor allem zeigen, daß das hermeneutische Verstehen Aneignung des Anderen, Integration, Inklusion und schließlich Einverleihung des radikal Fremden sei. Durch die Wut des Verstehens animiert, würde die Hermeneutik danach streben, das Unverständliche verständlich, das Ungreifbare greifbar und begreifbar zu machen; sie würde einfach das Fremde bewältigen und überwältigen, das Differente ausklammern und es in den Konsens bzw. in den Pseudo-Dialog zwingen wollen. "Jenseits von Sinn und Verstehen": so lautet ein Kapitel des Bandes Vielstimmigkeit der Rede, des letzten der in vier Bänden erschienen Studien zur Phänomenologie des Fremden von Bernhard Waldenfels C~1934). In diesem Kapitel setzt sich Waldenfels kritisch mit Gadamers Hermeneutik auseinander. Die grundsätzliche Frage, die er an sie richtet, lautet: "Läßt sich das Fremde auf dem Boden der Hermeneutik bewältigen, oder ist dieses dazu angetan, die Hermeneutik selbst noch in Frage zu stellen?" 123 Im Gefolge Schleiermachers würde Gadamer die "Überwindung der Fremdheit" als die "eigentliche Aufgabe" der Hermeneutik betrachten. In dieser Überwindung, in dieser Bewegung vom Fremden zum Eigenen, müsse man einen moderaten Hegelianismus ausmachen. Ähnlich wie Derrida glaubt auch Waldenfels, in der vermeintlichen hermeneutischen "Bemächtigung" des Fremden einen "Willen zum Sinn" zu erkennen. 124 Obwohl er zugesteht, daß das Fremde für die Hermeneutik mehr als nur ein Moment ist, das überwunden werden muß, zielt er vor allem darauf ab, jene "anti-hermeneutische Gegenkraft" wirken zu lassen, die den "Einbrüche[n] des Unverständlichen" entspringe und als solche die Hermeneutik herausfordere. Ohne diese Gegenkraft würde sie um sich selbst kreisen und sich, auf ihrer Suche nach der "Urform" des Gesprächs, ßERNHARD WALDENFELS, Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Band 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, 67. Vgl. dazu HELMUTH VETTER, Philosophische Hermeneutik. Unterwegs zu Heidegger und Gadamer, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2007, 148 f. Hier kann es nicht darum gehen, die inzwischen weit verzweigte Debatte um das Fremde aufzurollen; einen Überblick über den Stand der Diskussion bieten aus unterschiedlichen Perspektiven: IRIS DÄRMANN, Der Fremde zwischen den Fronten von Ethnologie und Philosophie, in: Philosophische Rundschau 43 (1996), 46-63; HERFRIED MÜNKLER (Hrsg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997; FRANZ MARTIN WIMMER, Fremde, in: CHRISTOPH WuLFF (Hrsg.); Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel: Beltz 1997, 1066-1078. 124 Vgl. WAI.DENFELS, Vielstimmigkeit der Rede, 71-72. Es fällt auf, daß fast alle Zitate GadamL·rs hL·i Waldenfels aus Wahrheit und Methode entstammen. 123
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X.
IC~tplttl:
/Jen Dialog j(Jrtsctun
nach dem ,,wahren Gespräch•\ einfach nur selbst bestätigen. 125 Gegen das "generell verordnete Verstehen" der Hermeneutik, das schon als Vorverständnis jeden neuen Anspruch des Fremden eingemeinden bzw. tilgen will, greift Waldenfels auf Levinas' "Asymmetrie" zurück, die in die dialektische Spannung von Anspruch und Antwort einbrechen soll. Denn das Gespräch setzt für ihn, anders als für Gadamer, nicht an dem "Gemeinsamen" an. "Das vielberufene ,Gespräch, das wir sind' - stellt Waldenfels fest - kommt aus der Ferne eines Fremden, dessen Anspruch jeder Partnerschaft vorausgeht". 126 Man würde aber nicht nur Gadamer, sondern auch Schleiermacher unrecht tun, wenn man behauptet, das Fremde würde bei ihnen aufgehoben. Waldenfels' Sichtweise, der zufolge das Unverständliche eine "unaufhebbare Grenze [ist], die sich verschieben, aber nicht tilgen läßt", ist schon sehr deutlich sowohl von Schleiermacher als auch von Humboldt formuliert worden. 127 Fest steht für Schleiermacher, daß "das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will." 128 Vielleicht noch klarer pointiert seinerseits Humboldt: "Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen." 129 Seit Humboldt und Schleierm~cher, die nicht zufällig eine sehr kritische Stellung gegenüber Hegel beziehen, wird das Verstehen nicht mehr als selbstverständlich gelten, da es von Anfang an durch das Nichtverstehen und das Mißverstehen beeinträchtigt ist. Dieses bebeutsame und weiterhin brisante Vermächtnis der hermeneutischen Tradition darf nicht desavouiert werden. Innerhalb der phänomenologischen Lebenswelt folgt Gadamer dem von der Hermeneutik eröffneten Weg zur Sprache und gerade die Sprache ist die Wasserscheide, die seine Perspektive auf den Dialog von derjenigen von Waldenfels abhebt. Von einem hermeneutischen Standpunkt aus kann man ohne weiteres dem Satz von Levinas zustimmen: "Der Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd". 130 Die Frage ist aber für die Hermeneutik die Frage nach dem Fremden. Was ist mit dem "Fremden" gemeint? Ist es das ursprüngliche, radikale, absolute Fremde? Das absolute Fremde wird durch das Schweigen gefährdet, mit dem jedes Absolute droht. Es bleibt unartikuliert und unartikulierbar -jenseits der menschlichen Sprache, jenseits der Hermeneutik. Es ist durchaus WALDEN FELS, Vielstimmigkeit der Rede, 73; vgl. auch Antwortregister, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, insb. 122-137. 126 WALDENFELS, Antwort auf das Fremde, in: BERNHARD WALDENFELS/IRIS DÄRMANN (Hrsg.), Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, München: Fink 1998, 35-49, hier 43. 127 WALDENFELS, Vielstimmigkeit der Rede, 83. 128 ScHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, 328. 129 WILHELM voN HuMBOLDT, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, hrsg. von Donatella Di Cesare, Paderborn u.a.: Schöningh (UTB) 1998, 191. 130 EMMANUEL LEVINAS, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über eine Exteriorität, 2. Auflage, Freiburg/München: Alber 1993, 278. 125
275 nicht so, d;tf~ die J·lermcncutik d;ts Verstehen des l:remdcn unterbiete. Vielmehr entfaltet sie ihre Auffassung des Fremden aus dem Verstehen heraus. Den Ansatzpunkt dafür liefert wiederum die Sprache. Insofern ist das Erste für die Hermeneutik nicht das Fremde, sondern die gemeinsame Sprachlichkeit des Verstehens. Nur in Bezug auf das Gemeinschaftliche kann das Fremde sich als solches herausstellen, nur auf dem Boden der sprachlichen Einheit kann sich das Fremde zeigen. Fremdheit hat also relativ zu dieser Einheit Bestand. Man kann hermeneutisch nicht von einem absoluten Fremden sprechen, da dieses die Stellung des ganz und gar Unzulänglichen hätte. Das Fremde ist für die Hermeneutik immer relativ - es tritt hervor, wo bereits ein Zugang vorliegt, wo bereits Sprachlichkeit gemeinsam ist. Die Fremdheit ist die Differenz des Unverständlichen, das in das schon einmal Verstandene und als selbstverständlich Geltende einbricht, um wiederum das Verstehen zu initiieren. 131 In jedem Verstehen wird so Fremdes entdeckt. Dieses Fremde ist jedoch keine absolute Größe. Das Fremde ist immer ein relativ Fremdes, und als solches ist es das Unverständliche des Anderen. Die Relativität der Fremdheit ist aber keineswegs die Unterwerfung des Fremden unter das Verstehen. Die Fremdheit wird vom Verstehen nicht eingeholt; sie bleibt im Verstehen uneinholbar. Der Vorwurf derjenigen, die das Fremde als eine radikale Herausforderung konturieren, ist daher unberechtigt.132 Trotz aller Kritik scheint die philosophische Hermeneutik doch den Spiel-Raum zu erschließen, in dem die/der/das Andere als unerwartetes, außerordentliches Ereignis einbrechen kann. 133 Wie aber die Hermeneutik in ein interessantes und produktives Gespräch mit der Dekonstruktion gebracht werden kann, so kann sie auch von einem phänomenologischen Ansatz, der den Akzent auf die Fremdheit legt, aufgerüttelt, gefördert, angestachelt werden. Der "Stachel des Fremden" kann sie dazu treiben, die Welt, in der sie niemals glaubte, zu Hause zu sein, durch den Anderen und mit dem Anderen weiter kennenzulernen. 134 Sicher ist allerdings, daß eine künftige Hermeneutik an dieser U makzentuierung, die durch die Phänomenologie des Fremden eingeführt worden ist, nicht vorbei gehen kann. Das Problem ist für die Hermeneutik die Rückkehr. Solange sie mit Heideggers Erbe verbunden bleibt, wird sie sich kaum der Versuchung entziehen können, zum Ursprung zurückkehren zu wollen und dabei der Bewegung zu folgen, die von VgL die Ausführungen in diesem Band über das atopon in Kap. VIII, 8. Vgl. auch GEORG W. BERTRAM, Hermeneutik und Dekonstruktion, 77. 133 Dazu sind wenige Alternativen zu sehen. Vgl. WERNER KoGGE, Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik. Heidegger und Gadamer, Bildesheim u.a.: Olms 2001, 156 f. Ich habe versucht, den Spielraum des Anderen in der Hermeneutik der unendlichen Endlichkeit in diesem Band zu rekonstruieren. 134 Vgl. BERNHARD WALDENFELS, Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Neue Herausforderungen kommen auch aus den verschiedenen Beiträgen des Bandes: LoK RA 1NE Com·: (Hrsg.), Fcminist Interpretations of Hans-Georg Gadamer, UnivL·rsity PMk: du: Pcnnsylv,,ni;l St;\lc University Press 200]. 131
132
27(,
dem Eigenen zum fremden und durch das Fremde hindurch zum Eigenen zurückkehrt. Der simple Verzicht auf die Rückkehr würde andererseits in den nihilistischen Schwindel münden. Doch die Urbanisierung der Provinz erlaubt der Hermeneutik eine Öffnung zur globalisierten Welt, aus der sie die Bewegung zum Anderen und die Rückkehr neu denken kann. Der Andere in seiner Andersheit läßt sich aber für die Hermeneutik nur im Ausgang von der sprachlichen Gemeinsamkeit anerkennen. Deshalb setzt sie bei dem Gemeinschaftlichen an. 135 Man sollte dabei aber nicht vergessen, daß die Hermeneutik sich darauf beschränkt, die alltägliche Praxis des Sprechens und des Verstehens phänomenologisch zu beschreiben. Es geht daher nicht um Bemühungen, Mühe, Aufgabe oder gar Pflicht in einem moralischen Sinn. Hier fehlt zunächst jede ethische und politische Dimension. Denn die Sprache ist die Artikulation unserer Welt. Erst aus dieser sprachlichen Gemeinschaft können eine Ethik und eine Politik aufgebaut werden. Gemeinsamkeit, die so sehr gemeinsam ist, daß sie nicht mehr mein Meinen und dein Meinen ist, sondern gemeinsame Ausgelegtheit der Welt, macht erst sittliche und soziale Solidarität möglich. 136
Niemals hat die Hermeneutik für Konsens oder Versöhnung plädiert. Das "Einverständnis", von dem alle als Sprecher ausgehen, ist der Einklang der gemeinsamen Sprache. Denn Sprechen ist stets ein Überein-kommen. Schon hier wird der Andere anerkannt: Noch vor jeder Übereinstimmung mit sich selbst, stimmt jeder Sprecher mit dem Anderen überein. Sprechen heißt deshalb die sprachliche Gemeinsamkeit weiter und anders artikulieren. Das schließt jedoch nicht aus, daß die Sprache in ihrer stets offenen Bewegung zwischen Vertrautheit und Fremdheit, Verstehen und Nichtverstehen nicht nur den Ansatzpunkt, sondern das Paradigma einer Ethik, einer Politik, eines Rechtes anbietet, die sich aus ihrem gastlichen gemeinsamen und dennoch differierenden Zwischen denken lassen. Dieses Zwischen ist der Spielraum für den Anderen und mit dem Anderen, er ist das Unbedingte der hermeneutischen Wahrheit, der endliche Treff-Punkt des gemeinsamen Wortes, der die Teilnahme am Unendlichen des Dialogs eröffnet.
Zum Begriff der Gemeinschaft vgl. STEPHEN WATSON, Interpretation, Dialogue and Friendship: On the Remainder of Community, in: Research in Phenomenology 26 (1996), 54-97; THOMAS M. ALEXANDER, Eros and Understanding: Gadamer's Aesthetic Ontology of the Community, in: LEWIS H. HAHN (Hrsg.); The Philosophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 323-345; DoNALD MAlER, Community and Alterity: A Gadamerian Approach, in: Philosophy in Contemporary Word 4 (1998), 26-33; jAMES RISSER, Philosophical Hermeneuries and the Question of Comunity, in: CHARLES ScoTT (Hrsg.), lnterrogating the Tradition: Hermeneutics and the History of Philosophy, Albany: SUNY 2000, 19-35. 136 GADAMER, Sprache und Verstehen, GW 2, 188. 135
Zeittafel 11. Februar 1900 Hans-Georg Gadamer wird in Marburg geboren. Oktober 1902 1907-1918
Die Familie zieht nach Breslau um. HGG besucht die Schule zum Heiligen Geist.
1918-1919 Immatrikulation an der Universität in Breslau. HGG hört die Philosophievorlesungen von Richard Hönigswald. Oktober 1919 HGG setzt seine Studien an der Universität Marburg fort und besucht unter anderem die Vorlesungen über Kunstgeschichte (bei Richard Hamann), Romanistik (bei Ernst Roben Curtius) und Philosophie (bei Paul N atorp und Nicolai Hartmann). April- September 1921
HGG studiert für ein Semester in München, wo er am Seminar von Moritz Geiger zum ersten Mal den Namen Heideggers hört.
17. Mai 1922 Promotion bei Natorp. Dissertation: Das Wesen der Lust
nach den platonischen Dialogen. August 1922 HGG fällt einer Kinderlähmung zum Opfer und muß viele Monate in Isolation verbringen. 20. April1923 April- Juli 1923
Heirat mit Frida Kratz. HGG verbringt das Sommersemester in Freiburg, wo er die Lehrveranstaltungen von Martin Heidegger besucht und Edmund Husserl trifft.
1924 Erste Veröffentlichungen: Zur Systemidee in der Philosophie; Besprechung der Metaphysik der Erkenntnis von Nicolai Hartmann.
278 Oktober 1924
HGG folgt Heidegger und kehrt nach Marburg zurück.
1925-1927 HGG studiert Klassische Philologie bei Paul Friedländer. 20. Juli 1927 Staatsexamen in Klassischer Philologie. 23. Februar 1929 Habilitation in Philosophie bei Martin Heidegger mit der Arbeit: Interpretation des platonischen Philebos. 10.-12. Juli 1930 Auf Einladung von Paul Friedländer nimmt HGG an der berühmten Tagung Klassischer Philologen in Naumburg teil (und trifft auch Werner Jaeger). 1931
Bei Meiner erscheint die überarbeitete Fassung seiner Habilitationsthese mit dem Titel: Platos dialektische Ethik.
1933 Machtergreifung Hitlers. 21. April1933
Martin Heidegger wird Rektor an der Universität Freiburg und bekundet offiziell sein Engagement für den Nationalsozialismus.
1933-1937 HGG bekommt einen Lehrauftrag für "Ethik und Ästhetik" an der Universität Marburg; Stellvertretungen in Kiel und Marburg. 24. Januar 1934 Vortrag über Plato und die Dichter vor der Gesellschaft der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Marburg, deren Vorsitzender Bultmann war. 30.Juni 1934 Röhm-Putsch. Hitler läßt den Stabschef der SA ermorden und übernimmt selbst dessen Amt. April1935
Der Dozentenbund lehnt Gadamers Antrag auf den Titel eines nicht beamteten außerordentlichen Professors ab.
1936 Im Sommersemester hält er die Vorlesung DKunst und · Geschichte", die später die Grundlage von Wahrheit und Methode sein wird. 20. April1927 HGG wird außerordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Marburg. 9. November 1938 Reichskristallnacht. Durch die Judenemigration aus Deutschland leeren sich die Universitäten. 1. Januar 1939
HGG wird ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Leipzig.
219 I. September 1939
Deutachland überfällt Polen. Der Zweite Weltkrieg beginnt.
10. Mai 1940 Die Wehrmacht marschiert in Holland, Belgien und Frankreich ein. HGG besucht Karl Jaspers, der in Heidelberg unter Hausarrest steht. 22. Juni 1941
2. Februar 1943 4. Dezember 1943
Hitler befiehlt den Angriff auf die Sowjetunion. Die Massenvernichtung der Juden Europas beginnt. Deutsche Kapitulation in Stalingrad. Das Zentrum von Leipzig wird durch Bombenangriffe der Alliierten völlig zerstört.
6. Juni 1944
Großlandung der Alliierten in der Normandie. HGG erfährt die Nachricht durch eine Studentin.
8. Mai 1945
Kapitulation von Leipzig.
21. Januar 1946 HGG wird Rektor der Universität Leipzig, die von der russischen Besatzungsmacht wieder eröffnet worden ist. Rektoratsrede: Über die Ursprünglichkeit der Wissenschaft. 1. Oktober 1948
30. März- 9. April1948
Umsiedlung in den Westsektor, wo HGG an die Universität Frankfurt berufen wird. Reise nach Argentinien, wo er in Mendoza am ersten internationalen Philosophie-Kongreß nach dem Krieg teilnimmt. HGG trifft Löwith und Kuhn wieder.
2. September 1949 HGG nimmt den Ruf als Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg an. Juni 1950 Umzug nach Heidelberg. Zweite Ehe mit Käte Lekebusch. 27. Mai 1951
1953
Aufnahme in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Zusammen mit Helmuth Kuhn begründet er die Zeitschrift "Philosophische Rundschau".
19.-30. November 1957 Vorträge in Löwen "Über das Problem des historischen Bewußtseins". 1960
Wahrheit und Methode. HGG wird zum Vorsitzenden der Allgemeinen Deutschen Gesellschaft für Philosophie gewählt.
1961
Vortra1arei1e nach Italien (Mailand und Rom). Treffen mit Emilio Betti.
14. Februar 1968 1968-1988
Emeritierung. HGG setzt aber seine Lehrtätigkeit fort. HGG hält Vorlesungen und Seminare an mehreren Universitäten in den Vereinigten Staaten.
11. Februar 1970 Zweibändige Festschrift: Hermeneutik und Dialektik. Auseinandersetzung mit Habermas. 1971
Veröffentlichung des Buches Hegels Dialektik. HGG wird Ritter des Ordens "Pour le merite" und Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes; Reuchlin-Preis der Stadt Pforzheim.
September 1972 Teilnahme am Celan-Kolloquium im Goethe-Institut von ·Paris. Ein Jahr später erscheint sein Buch Wer bin Ich und wer bist Du? 16. Dezember 1976 Anläßlich des Todes von Martin Heidegger hält HGG in Freiburg die Gedenkrede "Sein, Geist, Gott", die später 1983 in seinem Buch Heideggers Wege erscheinen wird. 13. Juni 1979 Hegel-Preis der Stadt Stuttgart.Jürgen Habermas hält eine Laudatio: "Die Urbanisierung der Heideggerschen Provinz"~
25.-27. April1981
Begegnung mitJacques Derrida am Goethe-Institut in Paris.
2.-9. Mai 1981
Erstes Seminar am Istituto Italiano per gli Studi filosofici in Neapel, wohin HGG fast jedes Jahr bis 1997 zurü€kkehren wird.
12. November 1981
Ehrendoktor an der MacMaster University von Hamilton in Canada.
1982
Reise nach Polen. HGG besucht Breslau zum ersten Mal nach dem Krieg.
1985
Die Veröffentlichung der Gesammelten Werke beginnt beim Verlag Mohr Siebeck in Tübingen.
25. Mai 1986 Teilnahme in Meßkirch am Symposium der Martin Heidegger-Gesellschaft (HGG wird bis zu seinem Tod Ehrenmitglied sein). Vortrag: .Der eine Weg Martin Heideggers".
281 15. Juni 1986
Kari-Jasper~·Prcis.
Juli 1989
Erstes Hermeneutik-Meeting, das von nordamerikanischen Philosophen in Heidelberg organisiert wird.
9. November 1989
Fall der Berliner Mauer, was ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, zu Deutschlands Wiedervereinigung führen wird.
20. Oktober 1993
Erste Reise in die neuen Bundesländer. Festrede an der Universität Leipzig.
11. Februar 1995
Der zehnte und letzte Band seiner Gesammelten Werke erscheint: Hermeneutik im Rückblick. Antonio FeltrinelliPreis der Accademia dei Lincei in Rom.
12. Februar 1996
Ehrendoktor der Universität Breslau (Wrodav); im seihen Jahr erhält er auch die Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig.
1997
In Amerika wird ihm ein Band von der Library of Living Philosophers gewidmet.
27. März 1997 24. Juni 1999 11. Februar 2000
7. Juli 2000
13. März 2002
Reise nach Prag, wo HGG den Ehrendoktor bekommt. Ehrendoktor der Universität Marburg. In Heidelberg wird eine Veranstaltung zu Ehren Gadamers von der Stadt und von der Universität organisiert. Unter den Teilnehmern sind auch Habermas, Rorty, Theunissen, Vattimo. Veröffentlichung seines letzten Bandes: Hermeneutische Entwürfe. Seine Schüler widmen ihm zwei Festschriften: Hermeneutische Wege (Mohr Siebeck) und Begegnungen mit Hans- Georg GtZdamer (Reclam). Ehrendoktor der Universität Sankt Petersburg. HGG stirbt in einer Universitätsklinik in Heidelberg.
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a. Ausgabe der Gesammelten Werke Eine zehnbändige Ausgabe der Gesammelten Werke ist von 1985 bis 1995 erschienen; davon gibt es eine Taschenbuchausgabe: HANS-GEORG GADAMER, Gesammelte Werke, Tübingen: Mohr Siebeck UTB (2115) 1999. 1. Hermeneutik 1: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 1986, zweite Auflage 1990. 2. Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, 1986, zweite Auflage 1993. 3. Neuere Philosophie I. Hegel, Husserl, Heidegger, 1987. 4. Neuere Philosophie II. Probleme- Gestalten, 1987. 5. Griechische Philosophie I, 1985. 6. Griechische Philosophie II, 1'985. 7. Griechische Philosophie 111. Platon im Dialog, 1991. 8. Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, 1993. 9. Ästhetik und Poetik II. Hermeneutik im Vollzug, 1993. 10. Hermeneutik im Rückblick, 1995.
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Aristoteles 8-10, 14, 16, 34, 64, 68-69, 78, 102, 131-132, 136-138, 140-145, 152, 155, 157, 159-161, 163, 165-166, 169-170, 172, 175, 177-179, 193, 195, 206,221 Arndt, Andrea 87 Arnswald, Ulrich 211, 246 Arthur, Christopher E. 241 Auerbach, Erich 17 Auerochs, Bernd 115 Augustinus, Aurelius 180, 184-186 Austin, John L. 194 Aylesworth, Gary E. 248
Beierwaltes, Werner 155 Beiner, Ronald 139 Bernasconi, Robert 102,259,271 Berner, Christian 87 Bernet, Rudolf 191 Bernstein, Richard J. 254 Berti, Enrico 141 Bertram, Georg W. 259, 275 Betti, Emilio 86, 123-124,240-241, 280 Biemel, Walter 10, 97 Biser, Eugen 243 Biskowski, Lawrence 152 Bleicher, Josef 85 Boeck, August W. 91 Boehm, Gottfried 36, 72-73, 86, 105, 240 Bollnow, Otto Friedrich 92 Bohen, jürgen 106 Bontekoc, Ron 87 Bormann, Claus von t 35, 249 Bouma-Prediger, Steve 256 Boutot, Alain 165 Braque,George 68 Brejdak, Jaromir 248 Breuer, Stefan 7, 17 Bröcker, Walter 24 Brumlik, Micha 19 Bruno, Giordano 41 Bruns, Gerald L. 22, 134,231 Bubner, Rüdiger 36, 42, 45, 158, 246, 249, 256
Bacon, Francis 131-132 Bacs6, Bela 75 Balzac, Honore de 13 Barbaric, Damir 47, 102, 214 Barlett, Robert 139 Barth, Karl 67, 244 Beaufret, Jean 260 Becker, Oskar 239 Behler, Ernst 259
Bullock, Jeffrey Francis 244 Buhmann, Rudolf 6, 13, 37, 67, 80, 240, 244,278
Burrin, Philippe 19 Campanella, Tommaso 41 Caputo, John D. 259 Cassidy, David 32 Cassirer, Ernst 181
312 Castelli, Enrico 40 Cattin, Emmanuel 137 Celan, Paul 82, 216-218, 260, 264-265, 280 Chomsky, Noam 250 Code, Lorraine 275 Cohen, Hermann 7 Collingwood, Robin George 194 Collins, Susan 139 Collobert, Catharine 156 Coltman, Rod 102, 197 Conrad, Joseph 13 Cook, Deborah 200 Cooper, Barry 156 Cramer, Konrad 36, 45, 158, 246 Croce, Benedetto 41, 265 Curtius, Ernst Robert 6, 7, 177,277 Dahlhaus, Carl 242 Dahlstrom, Daniel 0. 263 Dallmayr, Fred 18, 149-150,259 Därmann, Iris 273 Davey, Niebolas 242, 270-271 Davidson, Donald 246-247 De Waehlens, Alphanse 239 Delacampagne, Christian 18 Delannoy, Franck 19 Deniau, Guy 63, 77, 97, 131-132, 137, 259 Derrida,Jacques 38, 75, 180, 188-192, 198,203,226,228,231,245,248, 258-265,269,272-273 Descartes, Rene 45, 50, 95-96, 98, 100, 106, 112, 270 Detmer David 112 Dewey, John 255-256 Di Cesare, Donatella 37, 190, 207, 226, 231,249,259-260,270 DiCenso, James 248 Diels, Hermann 160 Diffey, Terrey J. 194 Dilthey, Wilhelm 34, 40, 56, 84-88, 91-96,99-100,240 Dockhorn, Klaus 239 Domin, Hilde 82 Donaggio, Enrico 21 Dostal, Robertj. 103, 159, 166,232,244, 254 Dostojewskij, Fjodor M. 13,225
Droysen, johann Gustav 91 Dummett, Michael 20 Dunne, Joseph 142 Duque, Joäo Manuel 61 Dutt, Carsten 37, 153 Dworkin, Ronald 244 Ebeling, Gerhard 243 Eberhard, Philippe 244 Eisenstein, Gabe 259 Eleater 167 Emberley, Peter 156 Fairfield, Paul 256 Feber, lstvan M. 8, 52, 78, 102 Feldman, Stephen 259 Feyerabend, Paul 44 Fichte, Johann Gottlieb 127, 266 Figal, Günter 19, 36-37,41,47, 53, 63, 72, 79,85, 116,141,156,162-163,165,193, 209, 211, 231, 248 Figl, Johann 270 Findling,Jamey 178 Forget, Philippe 258-259, 261-262 Foster, Matthew 137 Frank, Erich 17, 20, 23, 27 Frank, Manfred 87, 89-90, 259 Frege, Gottlob 19-20 Freud, Sigmund 249 Friedländer, Paul 12-15, 17, 157,278 Friedrich, Otto 92 Fritz, Kurt von 157 Fruchon, Pierre 93 Fuchs, Ernst 243 Fulda, Friedrich 36 Gabriel, Gottfried 20 Gadamer,Johannes 5-7, 12, 15 Gaiser, Konrad 165 Galilei, Galileo 195, 224 Gama, Luis Eduardo 133 Gander, Hans-Helmuth 72, 116, 141,231 Gargano, Antonio 41 Gasehe Rodolphe 107,259-261,263 Geiger, Moritz 277 Gens, Jean-Claude 122, 137, 160 George, Stefan 6-7, 22, 82 Gewiese, Emma Caroline johanna 5
313 Gidc, Andre l.l Giegcl Hans-Joachim 249 Gill, Christopher 172 Gnoli, Antonio 6 Goethe, Johann Wolfgang von 30, 34, 55, 82 Gogh, Vincent van 72 Gogol, Nikolaj 13 Gontscharow, Iwan Aleksandrovitch 13 Graeser, Andreas 19,21 Grass, Roswitha 23 Greisch,Jean 106,259 Gretic, Goran 19 Grieder, Alfons 13 Griswold, Charles L. 166 Grondin, Jean 18, 20, 24, 27, 37, 47, 69, 85, 93, 102, 107, 110, 116, 118, 150, 162, 178, 186,193,209,211,244,248,259 Groppe, Carola 7 Grossner, Claus 17 Gründer, Karl 20, 86 Guardini, Romano 36,201 Gusdorf, George 92 Guttmann, Julius 6 liabermas,Jürgen 36,38,41,44, 102,140, 159,180,201-202,243,245,248-255, 262-263,280-281 liahn, Lewis Edwin 18, 31, 112, 159, 163, 171,189,220,245-246,253,276 liamann,Johann Georg 181 liamann, Richard 6, 68, 277 liamsun, Knut 13 liance, Allen 50 liapp, lieinz 165 liarrington, Austin 253 Hartmann, Nicolai 6-8, 10-12, 137, 277 Hausmann, Frank-Rutger 19,30 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 21, 28, 31, 38, 40-41, 48, 67, 87, 91-93, 102, 117-120, 125, 126-128, 131-133, 146, 157, 159, 161, 172-177, 196-197,205, 215-217, 225,229,231-232, 239,243, 246-247, 255, 259, 266-267, 270, 272-274,280 Heidegger, Martin 2, 8-16, 19-25,29,31, 33,35-40,48,64,66,72,79,84,86,88, 92, 97-111, 120-121, 129, 131, 133, 138,
140-142, I ~7-162, 165-166, 173, 180-183, 186-18~ 195,198,206,208, 210, 212, 217, 226-227, 229-232, 234-235,240,243-244,246,254-255, 259,262,264,266-269,272-273,275, 278,280 Heinz, Marion 19 Hellebrand, Walter 239 Helmholtz, Hermann L.F. von 49 Henkel, Arthur 36 Henley, Kenneth 244 Henrich, Dieter 36 Heraklit 159, 161-162 Herder,Johann Gottfried 28,30-31, 91-92,181,193,248 Hesse, Hermann 34 Hilberath, B~nd Jochen 243 HintikkaJaako 106 Hirsch, Donald Eric 86, 241 Hitler, Adolf 16, 21-22,25, 27, 32, 278-279 Hofer, Michael 88, 142, 16(,-167, 204,242, 244,248 Hogan, john l.ll Hogrebc, Wulfram 248 Hölderlin, Fricdrich 23, 2H, 34, 82, 102, 202 Hönigswald, Richard 6, 181, 277 Hopkins, Burt 25, 170 Horaz 73 Hörisch, Jochen 206 Horkheimer, Max 35 Horn, Eva 107 How, Alan 253 Hoy, David C. 105,246 Hruschka, Joachim 244 Hufnagel, Erwin 85 Humboldt, Wilhelm von 48, 89,91-92, 180-181, 186-187, 197,213,250, 274 Husserl, Edmund 8-9, 12, 15, 20, 25, 39, 46, 96-99, 110, 121, 131, 138, 157, 181, 191,210,256,272,277 Hyde, Michael J. 134
Ihde, Don 259 Ineichen, Hans 85, 144 lngarden, Roman 242 lngram, David 253
Ipperciel, Donald 112 Iser, Wolfgang 82, 242 Jacobstahl, Paul 12, 17 Jaeger, Werner 14, 29, 157, 246, 278 James, William 255-256 J ankovic, Zoran 259 Jaspers, Karl 10, 23, 26, 35, 116, 119, 120-121,266,279-281 Jauß, Hans Robert 82, 242 Jeanrond, Hans-Josef 243 Jermann, Christoph 50 Jonas, Hans 12 Jost, Walter 134 Jung, Mattbias 90 Jüngel, Eberhard 243 Jünger, Ernst 6, 21 Kaegi, Dominique 19 Kafka, Pranz 34 Kant, Immanuel 7, 28, 52-57, 60, 89-90, 93, 110, 112, 127, 138-140, 157, 221, 225, 229,232,262-263,267 Kelly, Michael 45 Kerby, Anthony 124 Kertscher, Jens 211, 246 Kessler, Herben 164 Kestenbaum, Victor 256 Kettering, Emil 24 Kidder, Paulette 169 Kienzier Wolfgang 20 Kierkegaard, Sa:ren 67, 138 Kiesel, Theodore 173 Kimmerle, Heinz 87, 239, 259 Klein,Jacob 12, 17, 20, 25, 38, 157, 170 Klostermann, Vittorio 137 Koch, Dietmar 53 Kommerel, Max 7, 24 König,Josef 8, 92 Kontos, Pavlos 160 Karotin, Ilse 29 Koselleck, Reinhart 244-245 Kouba, Pavel 110 Krajewski, Bruce 18, 22,219 Krämer, Hans 156, 270 Kranz, Walther 160 Kratz, Frida 9, 277 Krauss, Werner 25
Krell, David F. 259 Kroner, Richard 17,26 Krüger, Gerhard 12-13, 15-16,23-25,27, 36,116,138,140,157 Kuhn, Helmut 35-36, 239, 279 Kuhn, Thomas S. 243, 256 Kühnemann, Eugen 6 Lacan, Jacques 200, 252 Laks, Andre 19, 160 Lammi, Walter 102 Lang, Helmut 252 Lawn, Chris 211, 217 Lawrence, Fred 244 Leaman, George 25 Leibniz, Gottfried Wilhelm 33, 187 Lekebusch, Käte 36 Levinas, Emmanuel 22-23, 128, 140, 272, 274
Lingiardi, Vittorio 149 Lipps,Hans 24,181,194 Lled6, Emilio 36 Lohmann, Johannes 181, 239 Lommatzsch, Ernst 12 Löwith, Karl 11-13, 15-17,20-21,23-25, 31, 35-36, 38, 40, 42, 267, 279 Luhmann, Niklas 248 Luther, Martin 85 Maclntyre, Alasdair 247 Madison, Gary B. 259 Maier, Donald 276 Makita, Etsuro 38, 283 Malpas, Jeff 211, 246 Mandelkow, Karl Roben 118 Mann, Thomas ~ Marcuse,Herbert 24 Marotta, Gerardo 40-41 Marquard, Odo 107 Marshall, Donald G. 259 Martinot, Steve 219 Marx, Karl 247, 249, 267 Marx, Werner 140 Matisse, Henri 72 McDowell, John 247 Merleau-Ponty, Maurice 180 Michelfelder, Diane P. 259 Migliori, Maurizio 165
315 Misch, Georg 8, 85, 92 Misgeld, Dieter 22, 253 Mitscherling, Jeff 125 Möller, Joseph 239 Most, Glenn W. 157 Motzkin, Gabriet 19,22 Mozart, Wolfgang Amadeus 58, 70 Münkler, Herfried 273 Nassen, Ulrich 105 Natorp, Paul 6-11, 169,277 Nehamas, Alexander 259 Nenon, Tom 95 Neske, Günther 24 Nestle, Wilhelm 80 Nicholson, Graeme 22, 259 Nietzsche, Friedrich 18, 91, 93, 165-166, 262-263,267-268,270 Nohl, Hermann 92 Nuyen Tuan A. 46, 253 Ogiermann, Helmut 239 Ommen, Thomas 244 Orozco, Teresa 17-18,29-30,152 Orth, Ernst Wolfgang 191 Osmo, Pierre 67 Oxenhandler, N eal 259 Painter, Mark 163 Palmer, Richard E. 18, 31, 40, 43,220, 259 Pannenberg, Wolfhart 239-240 Pareyson, Luigi 266-268 Parmenides 41,43,159-162,170 Peperzak, Adriaan T. 22 Picasso, Pablo 73 Picht, Georg 157 Pindar 14 Pippin, Robert B. 232 Platon 2-3, 5, 8, 12-15, 17-18, 28-30, 37, 47, 64-65, 71, 78, 81, 88, 90, 102, 110, 118, 141, 150-154, 155-157, 159, 161-164, 165-172, 173-174, 176-180, 182-183, 189-190,193-194,202,20~ 215,222-223,225,229-232,235,
Popper, Karl 1.13, 150, 152,241,243 Poree, Jeröme 96 Pozzo, Riccardo 141 Prado, Carlos G. 246 Prufer, Thomas 171 Przylebski, Andrzej 144, 156, 158,207, 248,259 Pythagoras 41, 65 Pythagoreer 65, 169-170 Rambach, Johann Jacob 122 Ramberg, Bj"rn Torgrim 246 Ranke, Leopold von 91 Rapaport, Herman 259 Reale, Giovanni 165, 172 Reinhardt, Karl 14, 157, 161 Renaud, Fran~ois 156, 166 Rese, Friederike 131 Ricreur, Paul 248-251 Riedel, Manfred 137, 192 Riezler, Kurt 157 Rilkc, Raincr Maria 32, 34, 81-82, 200-201 .. Ringa, Charle~ Richard 243 Risser,James 2), 43, 65, 102, 166, 177, 189,191,210,219,259,276 Ritter,Joachim 20, 86,245 Rittner, Fritz 244 Robinson, james M. 243 Rodi, Frithjof 92-93 Rodrigo, Pierre 160 Rombach, Heinrich 248 Rorty, Richard 44, 226, 245, 247-248, 254, 255-258,281 Rosen, Stanley 122 Rosenzweig, Franz 128,272 Ross,Jan 17-18 Rothaker, Erich 245 Rothberg, Donald 256 Rousseau, Jean-Jacque 55 Royle, Niebolas 259 Ruchlak, Nicole 271 Rudolph, Enno 19 Ruggenini, Mario 232
237-238,246,254-255,263,26~
269-270,272,278 Plieger, Petra 109 Pöggeler, Otto 155
Safranski, Rüdiger 8 Sallis, John 43, 79, 209, 259 Saner, Hans 10
316
p",o"tnr~gister
Schaeffer, john D. 50 Scheibler, Ingrid 102, 158 Scheler, Max 9, 68, 137 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 204, 266
Schild, Alexandre 232 Schiller, Friedrich 55, 60 Schlegel, Friedrich von 89 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 39-40,65,84,86-90,91-92,99, 104-106,109,122,165,208,272-274 Schlüsser, Iogeborg 232 Schmidt Lawrence K. 43, 95, 149,256,271 Schmidt, Dennis J. 37, 47, 53, 116, 151, 162, 193, 201, 209, 211, 248 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 6 Schmitt, Carl 21 Schneider, Jost 30 Scholz, Oliver R. 270 Schönherr-Mann, Hans-Martin 271 Schulz, Reinhard 49 Schulz, Walter 32, 36
Schürer, Oskar 7 Schurz, Robert 272 Scolnicov, Samuel 172 Scott, Charles 39, 43, 276 Scott, Robin May 18 Seebohm, Thomas M. 86 Seige, Kurt-Viktor 104 Sepp, Hans Reiner 9 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 51 Shepherdson, Charles 259 Sherman, David 253 Shusterman, Richard 259 Siebeck, Hans-Georg 38 Silverman, HughJ. 191,210,248, 259 Simmel, Georg 231 Simon, Josef 259 Smith, P. Christopher 43, 142, 166-167 Snell, Bruno 157 Sokolowski, Robert 131 Sokrates 2-4, 49, 141, 150-153, 155, 159, 162-164, 167, 207, 225 Solomon, Robert C. 253 Spaventa, Bertrando 41 Spinka, Stepan 167 Spitzer, Leo 17 Stachel, Günter 243
Stadelmann, Rudolf 33 Stanguennec, Andre 131-132 Stanley, john Wrae 85 Stanzel, Karl-Heinz 156 Stenzel, Julius 157, 181 Stepun, Fjodor 9 Steuber, Karsten R. 246 Stichweh Klaus 21 Stoermer, Fabian 259 Stoiker 184 Stolzenberg,Jürgen 8, 141 Strauss, Leo 17, 31, 140, 156-157 Sullivan, Robert R. 18-19, 152 Svenaeus, Fredrik 149 Szilasi, Wilhelm 157 Szlezak, Thomas Alexander 156, 165 Szondi, Peter 87 Tate,john 106 Tawfik, Sayed 102 Taylor, Charles 271 Teichert, Dieter 65, 78 Teigas, Demetrius 253 Therien, Claude 204 Theunissen, Michael 281 Thiselton, Anthony C. 243 Thomas von Aquin 184-186 Tilitzki, Stefan 17 Tillich, Paul 21 Tolstoj, Leo Nikolajewitsch 13 . Tschechows, Anton 70 Tugendhat, Ernst 36, 144,246 I I
I
Umlauf, Vaclav 268
/
I
Valery, Paul 217 Vallega, Alejandro A. 219 Vattimo, Gianni 36, 44, 88, 198, 226, 228, 245, 247, 254, 265, 267-270, 281 Verra, Valerio 36, 67, 265, 267 Vessey, David 97,205 Vetter, Helmuth 273 Vico, Giambattista 41,48-51, 94, 122, 265 Vitkin, Marina 122 Volkmann-Schluk, Karl-Heinz 32 Volpi, Franeo 6, 137 Vorsokratiker 159-160, 166, 170,229
,.,,,.,.,"".~.,"
Wachterhauser Brice 43, 65, 192, 197,246 Waite, Geoff 18 Waldenfels, Bernhard 273-275 Warning Rainer 242 Warnke, Georgia 19, 254-256 Watson, Stephen 276 Webe~~ax 80-81,213 Weinsheimer, Joel C. 43, 82, 123, 246 Weiß, Frederick G. 173 Wellmer, Albrecht 249 Wentzer, Thomas Schwarz 193 Westphal, ~erold 173 Weyh, Bernd 231 White, Niebolas P. 166 Wieacker, Franz 239,244 Wiehl, Reiner 36, 45, 158,227,246,265 Wieland, Wolfgang 36 Wierciilski, Andre 244
317
Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 29 Wimmer, Pranz Martin 273 Winckelmann, Johann Joachim 29 Wischke, Mirko 7, 88, 142, 166-167, 242, 244,248 Wittgenstein, Ludwig 158, 180-181, 184, 207, 209-212, 243, 249-250, 260 Wolin, Richard 18-19,22,27,29-31 Wolters, Friedrich 7 Wright, Kathleen 18, 150, 197 Wulff, Christoph 273 Yorck von Wartenburg, Graf Paul 100-101 Zaccaria Giuseppe 244 Zuckert, Catherine H. 18, 166
Sachregister Absolutes 3, 61, 67, 70, 80-81, 95, 112, 120, 127-130, 133-134, 138-139, 174, 176-177, 183, 188, 193, 197, 219, 224, 227, 229-230, 234, 254, 256, 262, 265-266,270,274-275 Allgemeines/Allgemeinheit 48-51, 53-54, 93-94,122-125,132,138,142,211,215, 240,253,272 Allegorie 56-57 Alterität s. Anderssein Anamnesis 64-65, 163, 167 Anderer/Anderes 3, 22-23, 38, 41, 49-50, 78, 103, 109, 134-135, 136-137, 140-141, 145-146, 151, 153, 158, 162-164, 168, 172, 177, 179, 186, 188, 192-194, 196, 202-206,212-216,218,220-221, 233-236,25~261-265,269-276
Anderssein 171, 192, 214, 231, 235, 269, 271-272 Anfang 100, 103, 159, 174, 184, 193, 197, 228, 233, 264, Anschauung 97, 168-169, 185 Anstoß 99, 194, 207, 229, 242, 266 Antisemitismus 16, 19,20 Antwort 3, 130, 153, 164, 167, 179, 193-195, 204, 219-220, 222, 237, 274 Anwenden 122-126, 135-136, 142-143, 145, 147, 155, 240, 250 Apodiktik 98, 177-178 Architektur 73-74 Ästhetik 1, 28, 52-57, 59, 62, 64, 68, 71, 74,83-84,88-90, 194,242,246,26~ 278 Ästhetisierung 52-53, 89, 92, 151 Aufführung 63, 70, 125, 242 Aufklärung 30, 80, 91, 111-113, 115, 118, 138,250,267 Auslegen s. Interpretieren Aussage 62,131,175,195-196,220,256
Autorität 22, 85, 112, 114, 116, 250 Begriff 2-3, 41, 49, 54, 67, 131-132, 158, 166, 174, 176-178, 186, 197,211,216, 225 - Begriffsbildung 178 - Begriffsgeschichte 131, 158 Begründung s. Letztbegründung Besonderes/Besonderheit 123-125, 142 Bewußtsein 50, 95, 97-98, 113, 115-116, 119-121, 126-129, 131, 133-137, 159, 162, 174, 191-193, 195, 197, 200, 228, 231-232,234,250-252,258,269 - ästhetisches Bewufhsein 29,56-61, (,H, 71, 73-74, 83, 91, 95, 151 - gcst:hichtlichc.·s ncwuflucin 'Jl, CJJ-'J~. 116-118, 125. 127-128;-1(,2, - wirkungsgcschichtlidu.•N th~wufhNrin 95,119-120, 12(,-127,12'J, 1.1!, U9,1HH, 258,267 Bild 63, 65-66, 71-73, 78-79, 87-HH, 102, 169, 196, 201 Bildung 31,48-49,256-258 Dabeisein 43, 69, 78 Darstellung 62, 66-67, 69-72, 73-75, 82, 151, 183, 197 Dasein 22-23, 76, 101-104, 106-109, 140, 172,200-202,206,219,227,229-230, 234-235 - Analytik des Daseins 103, 227 Dekonstruktion 190, 192, 198, 203, 226, 245,258-265,269,275 Destruktion 11, 52, 129, 157, 178 Deuten s. Interpretieren Dialektik 1-3, 88, 90, 103, 141, 153, 157, 165-179, 183, 190, 193, 196-197, 232, 237-238,264 Dialog 14, 36, 92, 110, 120, 131, 141, 144, 152-153,156-159,163,165, 16~
320 177-179, 186, 193-194,204,207, 211-213, 216, 220, 236-237, 239, 242, 244,260-261,264,272-274,276 Dichtung 7, 29, 34, 82, 150-151, 181, 216-218, 260 Differenz 85, 125, 134, 167, 171, 174-175, 191-192,196,199,213,215,231-232, 259-265,271-272,275 Dihairesis 169, 178 Diltheyschule 92-93 Drittes Reich 17, 19,20 I>u 125,128,135,189,192,204-205, 218-219 Dyad s. Zweiheit
Einfühlung 87, 90, 104 Einheit 69, 75, 111, 126, 161, 168-169, 171, 174-177, 190-191,209,213-215,225, 261, 263-265, 275 Einverständnis 203,253, 257, 276 Empathie s. Einfühlung Endliches/Endlichkeit 69, 91, 130, 134, 153, 185, 188, 197,228-232,236-238, 276 Energeia 78, 187 Epistemologie 123,224,241, 243, 246, 256,258 Ereignis 44, 47, 64, 66-67, 76, 82-83, 118, 132, 197,230,242,244,256,275 Erfahrung 3, 7, 44, 46-47, 55-59, 61, 64-69,76-78,80-81,83-84,93-95,10~
117, 129, 131-135, 148, 152, 157-158, 163,165,173, 186-188,193,196-19~ 199-200,203,217,219,224,228-229, 250,258,264,266,268 Erkenntnis 46-47, 52-56, 60, 64, 93-95, 110,112-113,120,123,132-133,139, 145,185,223,228-229,243,255 Erlebnis 55-56, 95 Erziehung 14, 29-30,48, 55, 97, 151-152, 257 Ethik 14-15,20,28,68,88,136-154,160, 163,166,172,195,206,214,253-254, 262-263,271-272,276,278 Europa 33,213-215 Existentialismus 228, 266 Existenz 58, 66, 69, 96, 101, 103, 106-108, 112,200,220,233,240-242,256
Experte 139, 148-149, 225 Faktizität 2, 9, 22, 86, 99-103, 108 Fest 75-76, 220 Frage 1, 3, 44, 128, 167, 169, 179, 193-196, 204,222,237 Freiheit 1, 115-116, 147-148, 188, 201, 221, 231,266 Fremd/Fremdheit 49, 84, 109, 116-119, 122, 133, 152,204-205,207,209, 214-215,224,235,273-276 Freundschaft 24, 145, 204, Fundament s. Letztbegründung Gegenseitigkeit 61, 135, 173, 220-222, 237,255 Geisteswissenschaften 1, 40,47-48,5053,56,83,86,88,92,94,241-242,250 Gemälde 61,71 Gemeinschaft 50-51, 76, 96, 108, 120, 142,146,203,215,220-222,253, 275-276 Gemeinsinn 48, 50-52, 55, 122 Geschehen 47, 59-60, 78, 82, 117, 125, 135,185,188,191,220,268 Geschichte 6, 67, 75, 80-81, 91-95, 104-105,112-122,126-128,188,214, 236,245,251,255,258,268-269 Geschichtlichkeit 91-92,94-95, 100, 116, 119-120, 124, 129-131 Geschmack 51-55,57 L Gespräch 2-3,24,66,79,89, 103,116,120, 164, 167, 179, 180, 188-189,202-205, 207-210,216-222,225,231-232,23~
251-258,261-264,273-274 Gesundheit 149 Geworfenheit 22, 102, 108, 181, 235 Gleichzeitigkeit 67-68, 78-79, 117 Grenze 23,49,56,60,64,81,98, 103,108, 113, 115, 120-122, 127, 129, 131-135, 136, 139, 147, 152-153, 164, 169-172, 190, 196, 199-206, 215-220-221, 227-237, 250-251, 269, 274 Grund s. Letztbegründung
Heilen 149,204-205 Hermeneutik - der Faktizität 2, 9-10, 99-103, 108
J21 - juristische 123-124 - klassische 86-87, 122, 245 - philosophische 1, 14, 19,21-22, 37-38, 43,45-46,50,59,84-86,99,103,105, 108, 118, 121, 127, 137, 145, 153, 155-158, 162, 165-166, 170, 17~ 180-181, 206, 216, 227, 231, 239, 242-244,246-248,252,254,266-273, 275 - poetische 34, 82, 217 - theologische 123, 125 - Universalität der 10, 89, 186, 193, 196, 228,250,252 Historik 91-92, 123-126, 240, 244-245 Historismus 67, 73, 117-118, 245, 265 Hören 70,192-193,25,211,217 Horizont 98, 121-122, 134,215,242, 250 Horizontverschmelzung 121-122,241 Humaniora s. Geisteswissenschaften Humanismus 14,48-55,85,255,265 Humanities s. Geisteswissenschaften Ich 125,204-205,216,218-220,255 Idee 65, 90, 151-152, 163, 166-167, 169, 172, 174, 182-183 Idee des Guten 8, 172 Identität 63, 70, 75, 122, 125, 171, 174-175,192,196,199,215,224,232, 236,241,255,272 Ideologiekritik 153,245, 249-255, 263 Intentionalität 97-98 Interpretation 44, 63, 70, 85, 87-90, 106-107, 110-111, 113, 118, 122-123, 125-126,149,179, 188,207-209,21~ 228, 240-241, 246-247, 250,257-259, 261-262,266,268,270 Jenseits 22, 81, 119, 159-160, 201, 205, 225,233 Jurisprudenz 1, 111, 123-124, 240, 244 Klassisches 113-114, 117, 242 Kontext 178, 194 Kultur 6, 48-49, 51-53, 78, 147, 213-215, 221, 234 Kunst 5, 23, 47, 55-88, 113, 125, 142, 146, 151,209-210,215, 217,220, 225, 256, 260,266,268,277-178
Kunstwerk 5H, l>0-64, 6(>-71, 73, 75, 77, 79,215,263 Leben 46,56,58,61,65-69,72-76,78, 80-82,84,95-96,100,112,121,126, 130, 134, 136, 138, 143-149, 155, 158, 161-164,11-172,204-205,208, 221-222,224-225,228,231-234,253, 264 Lebenswelt 46, 95-96, 98-99, 109, 157, 220,249,253,255,274 Lesen 82-83, 126, 188-190, 217,242 Letztbegründung 37, 46-47, 94, 98-99, 101-102, 112, 129, 146, 155, 187 237, 256-257, 270 linguistic turn 180-181, 246 Literatur 5-6, 13, 57, 70, 82, 191,219, 260 Literaturwissenschaft 1, 39, 82, 117, 241-242,255,245 Logik 9, 20, 62, 106, 175-177, 194-195, 213,237 Logos 4, 73, HO-Hl, 112, 132, 144, 146, 159-161, 167-172, 175, 179, IH4, I'JO, 195,22~232,23~262,269
Lust H, 172 Lyrik 6, 82, 217 Malerei 56, (,6, 70, 73 Marburgcr Schu lc 7, 137 Medizin 148-149, 164 Metaphysik 52, 60, 64, 87, 101, 103, 140, 157-159, 165, 173, 183, 187, 191,210, 224-227, 233, 248, 258, 262-264, 267, 270-272 Metaphysik Überwindung der 64, 97, 103,159,173,210,227 Methode 44-47, 50-52, 85, 131-132, 174, 178,195,224,240-241,251 Mimesis 64-66, 69, 71 Mißverstehen 89-90, 104-105,204, 208, 263,274 Mitte/Mittelpunkt 144, 148, 168, 190, 197, 199,204,211,228,236,238 Monolog 9, 120,176,186,191,205,213 Mündlichkeit 2-3, 113, 165, 188-189, 219, 261 Musik 5,54,60,66,70,82, 125,242 Musikwissenschaft 242
322 Mythos 80-81, 112, 151, 160, 235, 237-238,266 Nationalsozialismus 16-22, 24-25, 27-29, 31-33,35,151,278 Natur 22,52,54-55,94,138, 146-14~ 149,160,162,214,220-221,224-225, 228,258 Naturwissenschaften 44,93-94 Neoaristotelismus 138,245 Neopragmatismus 226,245,255-258 Neuhumanismus 14, 29 Neukantianismus 7, 11,97 Nichtsein 160, 162, 168, 171, 174,231-232, 267,269 Nichtverstehen 90, 104-105,204, 207-208,228,263,274,276 Nihilismus 21, 91, 227, 265-270, 276 }{ous 143,169,178,185,234 Objekt 45-46, 59-60,94, 110, 115, 144, 149, 154, 187, 255 Okkasionalität 73-74, 194 Ontologie 22, 60, 61-62, 65, 70, 72, 74, 79, 82,99,103,107-108,120,151,166,170, 180,198,221,226-230,233,258,266, 268-269 Passivität 61, 149, 212 Perspektivismus 268 Phänomenologie 1, 9-11,39,59-61, 75-76,84,96-99,103,108,110,128, 140,157-158,181,186,191-192,200, 205, 210-211, 227, 233, 242, 246, 248-249,263,266,270-276 Philologie 14,29-30, 85, 106, 123, 125-126, 155, 157,240,277-278 Philosophie - analytische 20, 39-40, 42, 181, 194-195,243,246-247,255-256,269 - griechische 2, 28, 137, 142, 145, 155-159, 163-164, 178, 182,207,246, 260 - kontinentale 20, 39, 156, 247-248, 258, 269,271 Phr6nesis 51, 140-145, 157, 177-178,254 Pietismus 109, 122 Planung 134, 153-154, 183
Poesie 79,215-217,219 P6lis 28-29, 136, 144, 146, 150-153, 163, 207 Porträt 4, 63, 73 Positivismus 56, 92-94, 180-181, 243, 249-250 Präsenz 66-67, 186, 191-192,201, 234 Praxis 4, 22, 110, 123, 136, 140-141, 145-148,152,193-195,206,211,240, 249, 254, 263, 276 Protestantismus 13, 88, 109,243-244 Psychiatrie 1, 149 Psychoanalyse 180,200,249,251,254,262 Reflexion 40,96,126-131, 165,176,19~ 223,250-254 Relativismus 128-129, 137-138,244 Religion 80-81,214,228,269 Revolution 254 Rezeptionsästhetik 242 Reziprozität s. Gegenseitigkeit Rhetorik 50-51, 88-89, 105, 107, 122, 155, 252,265 Ritual 220-221 Romantik 55-56,87-88,94, 104-105, 112, 123 Sache 11, 97, 110-111, 163, 169, 182-183, 185-186 Satz 105,175,196-199,209,211 - spekulativer 175, 196 Schlaf 161-162,228 Schmerz 172-173 Schön/Schönheit 53-55,57,60-61,65, 79-81, 172 Schrift/Schriftlichkeit 2-3, 165, 188-192, 219,261 Schwaches Denken 198,226,245-246, 267-270 Seinsfrage 64, 103, 158, 160 Selbstbewußtsein 45, 95, 109, 120, 127, 133, 174, 176, 232 Selbstgespräch 205,231 Selbstvergessenheit 110, 151 Sichverstehen 101, 107, 109, 120, 228 Simultaneität 68 Situation 3, 73, 119-121, 124, 134, 138-139,142-145,193,233,250
323 Skulptur 73 Solidarität 51, 146-147, 254, 276 Sophistik 151, 183 Spekulativ 152-153, 161, 173-177, 196-197, 199, 202, 252 Spiel 22, 59-62, 64-69, 75-77, 190, 195, 206,209-212,220-222,233,236-23~
252-253,275-276 Sprache 2, 46-47, 60-61, 66, 71, 73, 82-83, 87, 89-90, 98-99, 103, 114, 130, 144, 146, 148, 157-159, 163, 167-169, 175-178,180-222,226,228,236-23~
244,246,250-254,258,261,263-265, 268-269, 274-276 Sprachlichkeit 187, 193, 199-200, 208, 228,251-252,271 Sprachphilosophie 181, 187, 243 Sprechen 85, 88, 136, 158, 167, 169, 179, 185,189, 191,200,202,206-20~ 211-212, 217, 219, 221, 236, 263, 276 Stimme 82, 116, 135, 138, 186, 188-193, 206, 217, 219,236, 261, 264-265 Strukturalismus 241, 247 Subjekt 45, 53-55, 59-61, 69-70, 89, 94, 98, 108, 112, 120, 140, 175, 186-18~ 212,255 Subjektivität 55, 59-61, 64, 70, 77, 98, 112, 117, 127, 173-174, 212, 234-235, 267 System/Systematisch 3, 11, 127, 151, 165, 169, 183, 224, 237, 255, 257, 267
Takt 49 Technik 5,22,147-148,196,223,229 Teilnahme 69, 77, 108, 146, 149, 171, 221-222,236-237, 276 Text 2-3, 82, 88, 95, 100-102, 105-107, 110-111, 113, 118, 122, 126, 15~ 188-191, 208, 217, 219, 240-244, 254, 261,263,267 Theologie 1, 6, 13, 39, 55, 67, 88, 109, 123, 125,165,184,223,240,243-244,255 Theorie 4, 46-47, 49, 77, 97, 140-141, 145-146,165-166,224,234 Tier 54, 212, 220-221 Tod 10~ 150,160-162,164,200,224-226, 228-231,264 Tradition 22, 80, 86, 112-116, 122, 128, 135,226,242,250-255
Tr;tgildic 68-69 Transzendentalpragmatik t 80 Transzendenz 61, 79-81, 172,201,229, 231, 233, 252, 265 Über 23, 81, 108, 120, 131, 135, 137, 146, 152-154, 212,230,231-234, 237, 269 Übereinkommen 206, 211, 222, 237, 276 Übereinstimmung 151, 179,206-207,254, 276 Überlieferung 112, 116-117, 120-121, 126, 135, 160, 165, 188 Übersetzung 209 Unendliches/Unendlichkeit 3, 23, 90-91, 120, 127-128, 134, 153, 156, 167-172, 175, 177, 179, 193, 195-197, 200, 202203,219-220,222,22~229-233,235-
238,253,260,264-266,268,274,276 Universalität 10, 37, 71, 83, 86, 89, 94, 104, 125, 130-132, 138, 174, 178, 186-188, 196, 198-199,201, 20H, 210,214, 21H, 220,228,250,252 U ntcrhn·chu nK 15(,, 1lJ I, 20:1, 26 I· -264 Urtc.·i lsk ra ft 4H, 51, 5.\, 1.14, 147 Utopie 29-30,136, 1~0-1~4.21~,2~1.2~~
Verantwortung 139, 145, 14H, 224 Vergessen 21, 47, 64, 77, 110, 151, 1(,2, 16~. 180-185,200,216,231,234 Vernunft 20, 56, 80-81,93,99, 112, 115-116, 118, 138-139, 148, 154, 162, 186,200,229,232,250-251,256,267 Verstehen 37, 46-47,49, 59, 61, 70, 74, 83-84,87-90,92,100-132,135-136, 156,164,188,193,199,203-209, 227-228,230,236,240-242,246-248, 251-252,254,261-264,266,270-276 Verwandlung 62-64 Vorurteil 50, 11-114, 240, 250 Vorverständnis 46, 104, 111, 114,274 Wachsamkeit 1, 90, 121, 127, 144, 162, 233-234 Wahrheit 7, 44-47, 53, 56, 58-59, 62, 64-65,68-69,77-79,81-83,111,127130, 132, 142, 151, 160, 163, 167, 174175, 182-183, 197,201-202, 209, 233, 23~251,255-256,258,266-271,276
324 Welt 46, 56-58, 61-63, 66, 73-74, 79-80, 91-92, 106, 133, 136, 142, 144, 14~ 153-154, 160-167, 170-171, 178, 186-188,191,193, 198,201,203,20~ 209-215,221,224,228,258,260,264, 268, 275-276 Wiederholung 64, 75, 131,241 Wiener Kreis 181 Wirkungsgeschichte 73, 117-120, 127, 241-242 Wissen 33, 47, 48-49, 52, 95-96, 134, 141-144,148,153,162,169,193,225 Wissen praktisches 142, 149, 177 Wissenschaft 5, 7, 32-33, 45-53, 56-59, 62,64,80-81,96-98,112,130-132,134, 138-139, 142, 145-148, 154, 178, 195-196,213,223-225,243,256,271, 279
Wissenschaftstheorie s. Epistemologie Wort 3-4, 6, 41, 78-79, 130, 135, 148, 153, 163-164, 176-177, 180, 182-186, 191, 196-197, 199-207, 212,216-222,227, 231,236-238,244,276 - inneres Wort 184-186 Zeit 66-68, 75-77, 91, 117, 119, 121, 130, 134,200,219,228 Zirkel 104-108, 110-111, 114, 119, 187 Zugehörigkeit 100-101, 108, 112, 126, 145, 193 Zukunft 68, 70, 106, 108, 121, 125, 134-135,144,153,192,213-215,223, 226,258,261 Zweiheit 165, 170-172, 177,231-232,235, 238 Zwischen 167, 276