HEINZ VIEWEG
Flucht in die Wüste
1956 VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/57/56) ...
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HEINZ VIEWEG
Flucht in die Wüste
1956 VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/57/56) Umschlagzeichnung: Werner Kulle, Berlin Gestaltung und Typografie: Kollektiv Neues Leben Druck; Karl-Marx-Werk. Pößneck. V15/30
Der Wachposten auf der hohen grauen Mauer des Forts verhielt den Schritt. Er fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, schob die mit dem langen weißen Nackenschutz versehene Kopfbedeckung aus der Stirn und spähte in die unendliche Wüste. Die Sonne versank hinter den Bergen. Tiefblaue Schatten krochen in die Talsohlen, und der Mond schimmerte schon am Horizont. Fast schwarz, wie eine Gewitterwand, stieg die Nacht empor. Die Luft war noch immer von der Glut des Tages erfüllt. Der Wachposten leckte sich die trocknen rissigen Lippen. Sein Blick glitt über das Fort und blieb an den hellerleuchteten Fenstern der Kantine haften. Heute war Soldtag. Das laute Grölen der Legionäre klang herauf. „Noch eine Stunde“, murmelte der Posten und hängte das Schnellfeuergewehr über die andere Schulter. Wieder hallten seine Schritte dumpf und hart auf dem alten Gemäuer. In dem langgestreckten Kantinenraum hockten die Legionäre an roh zusammengezimmerten Tischen, spielten Karten, würfelten oder dösten stumpf vor sich hin. Rauchschwaden hingen wie Nebelschleier im Raum. Ein Radio krächzte. Das laute Stimmengewirr verschluckte die schrillen Töne.
Ein älterer Legionär erzählte Erlebnisse. Dabei spielten seine Finger nervös mit den Medaillen an der Brust. Oft lief ein Zucken über sein braunes, von einer breiten Narbe entstelltes Gesicht. Neben ihm saß Franz Gruber aus Offenbach. Der erhob sich jetzt und wankte an einen Nebentisch. Schwer ließ er sich dort nieder, legte die massigen Fäuste hart auf die Tischplatte und starrte sein Gegenüber, einen jungen schmächtigen Italiener, aus glasigen Augen an. „Mag nicht mehr drüben hocken“‘, brummte er. „Immer das alte Lied!“ Er zog eine halbvolle Flasche französischen Kognaks aus der Hosentasche und trank. Tief aufseufzend stellte er die Flasche vor sich hin und schob den breiten Oberkörper weit nach vorn. „Na, Carlo, denkst du an Carrara und deine Vilma?“ Der Italiener antwortete nicht. Unverwandt sah er auf sein Weinglas. Gruber nickte vor sich hin. „Verdammtes Hundeleben in diesem dreckigen Wüstenfort. Habe heute mal wieder so richtig den Kanal voll. Könnte den ganzen Laden hier zertrümmern.“ Er entkorkte die Kognakflasche, füllte dem Italiener das leere Glas und schlug ihm derb auf die Schulter. „Wohl bekomm’s, Carlo!“ Gruber erhob die Flasche. Da wurde krachend die Tür aufgestoßen. Ein französischer Legionär betrat, einen Jungen vor sich herschiebend, die Kantine. Mit lautem Hallo wurden beide begrüßt. Der dunkelhäutige Junge versuchte, sich dem Griff des Franzosen zu entwinden. Doch dieser verdrehte ihm den Arm und zerrte ihn zu einem der Ti-
sche. „Schenkt ein für Mohammed!“ rief er und drückte den kleinen Araber auf einen Stuhl. Mohammed wurde, zur Belustigung der Legionäre, häufig zum Trinken gezwungen. Seit zwei Jahren war Ifra Ben Abul als Pferdejunge im Fort. Die Besatzung nannte ihn einfach Mohammed. Er versorgte nicht nur die Pferde, er putzte auch Schuhe, reinigte Eßgeschirre, klopfte Uniformen. Er tat all das, wozu die Legionäre keine Lust hatten. Und allzuoft war ein Fußtritt der Lohn. In der Kantine wurde es immer lauter, Mohammed war von Legionären umringt. Ein Deutscher hielt ihm eine volle Flasche Weinbrand entgegen. „Sauf, du braune Ratte“, lallte er. Der Junge preßte die Hände auf den Mund. Das reizte die Schaulustigen nur um so mehr. Ein Spanier goß ihm sein Glas Wein ins Gesicht. „Da hast du einen Vorgeschmack“, schrie er und schüttelte sich vor Lachen. Der schwere rote Wein lief Mohammed wie Blut über das schmale Gesicht und tropfte auf das abgetragene, schmutzige Soldatenhemd. Plötzlich spürte der Junge einen harten Griff im Genick. Gleichzeitig setzte ihm der Franzose die Weinbrandflasche an den Mund. Mohammed kniff die Lippen zusammen und versuchte die Flasche wegzudrücken. Polternd fiel sie auf den Boden und floß aus. Am Nebentisch kam Franz Gruber aus seinem Dämmerschlaf zu sich. Er hob den Kopf und sah, wie Mohammed, von einem Fußtritt getroffen, gegen die Wand prallte. „Kröte, verdammte“, fluchte der Franzo-
se. Gruber erhob sich. Wie ein Klotz stand er da. Er packte den Spanier, der den Jungen wieder hochzerren wollte, vor der Brust und hielt ihm die Faust unter die Nase. „Laßt Mohammed in Ruhe, oder…“ Gruber holte drohend aus, „Oho, du willst uns den Spaß verderben“, rief der Franzose und maß Gruber mit verächtlichem Blick. „Lassen wir uns das gefallen?“ Er blickte die Umstehenden herausfordernd an. „Los, bringt die braune Katze her“, unterstützte ihn der Spanier. „Wo ist die Kognakflasche?“ Gruber stieß den Spanier auf einen Stuhl und stellte sich vor Mohammed. „Laßt ihn in Ruhe“, knurrte er dumpf. „Er ist mein Freund, verstanden?“ Franz sprach Französisch, das er wie Deutsch beherrschte. „Hört euch das an!“ höhnte der Franzose, stemmte die Hände in die Hüften und lächelte zynisch. „Die braune Kröte ist sein Freund! Der Freund eines Legionärs unseres Forts…“ Grubers Gesicht, vom Alkohol ohnehin gerötet, lief dunkel an. Die kleinen glasigen Augen stierten. „Ich… Legionär…?“ Er lachte gepreßt auf. „Ich bin kein Legionär. Betrogen hat man mich, jawohl, betrogen! Als Elektromonteur für Frankreich hab’ ich den Vertrag unterschrieben, und gelandet bin ich in dieser gottverlassenen Wüste. Das ist Betrug, ich…“ Carlo Marresi zog ihn am Ärmel. „Franz, halt doch das Maul! Du weißt ja nicht, was du sprichst.“ Gruber schüttelte den Italiener ab. In Wut gekommen, schimpfte er weiter, „Was wollen wir hier in der Wü-
ste? Für Frankreich die Kastanien aus…“ Carlo stieß ihm heftig in die Seite. „Laß mich!“ fauchte Gruber böse. „Ich sage nur die Wahrheit. Jawohl, die Wahrheit. Ich bin kein Legionär, ich bin Franz Gruber aus Offenbach, den man…“ Unerwartet wurde Gruber so stark angerempelt, daß er zur Seite torkelte. Es war gut gemeint und sollte ihn endlich zum Schweigen bringen. Doch er faßte es als Herausforderung auf und hieb dem Nächststehenden die Faust auf die Kinnspitze. Im Nu entstand eine Schlägerei. Ein Tisch fiel um, Gläser klirrten. Mohammed nutzte den Tumult und entwich aus der Kantine. Gruber bekam einen heftigen Schlag gegen die Stirn. Er taumelte zurück, doch gleich darauf schoß er wieder nach vorn. Hochrot im Gesicht, trommelte er mit den Fäusten los. Der Kantinenwirt rief die Wache an. Wenig später wurde die Tür aufgestoßen. Ein französischer Sergeant und zwei Wachposten betraten den Raum. Franz Gruber wurde abgeführt. Eine große dickleibige Spinne kroch langsam über den anscheinend leblosen Menschenkörper. Nach geraumer Zeit berührte sie das Gesicht. Franz Gruber erwachte und schlug um sich. „Mistviecher, verdammte!“ Er schnellte hoch und rieb sich die Augen. „Der fünfte Tag in diesem Dreckloch“, seufzte er. Dann starrte er reglos vor sich hin. Die rohen Steinmauern seines Gefängnisses atmeten kalte Nässe. Weiße und grünliche Schimmelpilze überzogen die Wände. Durch das schmale vergitterte Fenster fiel nur spärlich das Tageslicht. Gruber fröstelte. Er sehnte
sich nach der Sonne, nach ihren heißen Strahlen, die er so oft verflucht hatte. Nur wenige Schritte maß die Zelle. Gereizt lief Gruber auf und ab. Unvermittelt blieb er vor der Eisentür stehen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als wolle er die Tür einschlagen. Wie ein Stier schob er den Kopf nach vorn. An den Schläfen schwollen die Adern, und das Blut pochte. Minutenlang verharrte er so; dann sank der Kopf auf die Brust, schlaff hingen die Arme am Körper. Er setzte sich wieder auf die Holzpritsche. In Gedanken sah er sich abermals vor Leutnant Cutron stehen, der ihn vernommen hatte, hörte dessen schneidende Stimme: „Ein Rebell sind Sie! Ein Meuterer!“ Der Offizier hatte ihm die Aussagen der Legionäre vorgelesen. Gruber war blaß geworden, kein Wort hatte er entgegnet. Er hätte sich auch nicht verteidigen können, denn er wußte nicht mehr, was er im Rausch gesagt hatte. Schritte vor der Zelle rissen ihn aus seinem Grübeln. Die kleine Luke in der schweren Eisentür wurde geöffnet. Das schmale Gesicht des langen Österreichers grinste ihm entgegen. „Dein Essen, Franz!“ Eine Blechschüssel mit Suppe wurde hereingereicht. Gruber nahm sie ab, roch hinein und stellte sie auf die Pritsche. „Hab’ bis morgen früh Wache“, sagte der Österreicher leise. „Hier sind Zigaretten und Zündhölzer. Rauche aber erst in der Nacht. Wenn Kontrolle kommt, dann…“ Gruber nickte.
Ein Geräusch an der Kellertür ließ den Österreicher aufhorchen. Hastig schlug er die Luke zu und ging. Nachdenklich setzte sich Gruber auf die Pritsche, und während er die Suppe löffelte, überkam ihn von neuem der Zorn. Er schleuderte den Löffel gegen die Wand, sprang auf. „Verfluchtes Räubergesindel! Schleppen unsereinen für ihren dreckigen Krieg in die Wüste, und dann soll man noch obendrein das Maul halten.“ Wieder lief er auf und ab wie ein gereiztes Tier. Erschöpft marschierten die Legionäre durch den feinkörnigen Sand. Die Füße waren wundgescheuert, die Augen rot und verschwollen. Geländefahrzeuge ratterten hinter der Kolonne her. Unbarmherzig brannte die Sonne. Ein Dunstschleier verhüllte sie, doch ihre Kraft war nicht gemindert. Wie ein milchigweißer Fleck hing sie am Himmel. Die heiße Luft wallte über den nahen Bergen, und es schien, als tanze das Zackengewirr. Täuschende Luftspiegelungen schwebten über dem weißen Land: Seen mit Ungewissen Ufern und rosafarbene Städte, deren Kuppeln und Minaretts wieder verschwanden. Carlo Marresi nahm nichts davon wahr. Er hörte nur die rollende Salve. Wieder und wieder. Ihr Dröhnen zersprengte ihm fast den Schädel. Seine Hände zuckten. Die Ohren zuhalten! dachte er. Nur das nicht mehr hören… Ein Schauer lief ihm über den Rücken, trotz der wallenden Hitze. Am Morgen waren sie losmarschiert. „Säuberungsaktion“, hatte man ihnen gesagt. Die Dörfer, die sie
durchstreift hatten, waren leer gewesen bis auf wenige Greise und Kinder. Keine Kugel war ihnen entgegengeschwirrt. Und doch hatten die Legionäre geschossen. Geschossen auf wehrlose Menschen! Dann waren sie auf vier junge Algerier gestoßen. „Partisanen!“ hatte der Leutnant geschrien. Sie wurden verhört, und als sie nicht sprachen, sollte die Peitsche sie zum Sprechen bringen. Blutüberströmt waren sie zusammengebrochen. Wieder jagte ein Schauer über Carlos Rücken. Die schneidende Stimme des Sergeanten gellte ihm in den Ohren. Der hatte einige Legionäre aufgerufen - und dann, zuletzt, war sein Name gefallen. Sie waren wenige Meter marschiert, bis zu einer armseligen Lehmhütte. Dort hatten sie gestanden, die vier jungen Menschen, aneinandergefesselt, gezeichnet von den Qualen der letzten Stunden. Hinter ihnen war eine Grube ausgeworfen. Noch einmal durchlebte Carlo diese schrecklichen Minuten, sah sich und die anderen vor den Todgeweihten, das Gewehr bei Fuß, spürte sein Herz im Halse schlagen. Und dann der Befehl: Legt an! Sein Denken hatte ausgesetzt. Er hatte das Gewehr hochgerissen und wie hinter einer Nebelwand über Kimme und Korn die Menschen gesehen. Feuer! Rollend war die Salve in der Wüste verhallt… Er aber hörte sie noch immer. Und wenn er sich auch die Ohren zuhielte, hören würde er sie doch. „Im Gleichschritt!“ befahl jetzt ein Offizier. Das Fort war erreicht. Das breite Tor öffnete sich. Die Legionäre traten in ihre Unterkünfte. Carlo Mar-
resi ließ sich auf seine Pritsche fallen. Das Hemd klebte ihm am Körper, doch er war zu kraftlos, es auszuziehen. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, starrte er zur Decke.! Oh, wie er den Dienst haßte, diesen grausam harten und eintönigen Dienst, Wie anders hatte er sich das Leben in der Fremdenlegion vorgestellt. Romantisch, voller Abenteuer. Über ein Jahr war es nun her, daß er von Hause weggegangen war, um sich anwerben zu lassen. Als er das erstemal afrikanischen Boden betrat, die neuen Legionäre in Sidi-bel-Abbes einmarschierten, hatte sein Herz gejubelt. Nun würden die großen Abenteuer beginnen! Mit schneidiger Militärmusik waren sie empfangen worden. An der Kasernenmauer hatten grelle Plakate geklebt mit lächelnden Legionärsgesichtern, Palmen, blauem Himmel und halbnackten braunen Mädchen, Aber wie schnell war der Traum zerronnen… Carlo schloß die Augen, dachte an die erste Geländeübung, die sie für den Wüstenkrieg drillen sollte. Dicht an den steinigen Boden gepreßt, war er vorwärts gekrochen, das Gewehr in der Linken vor sich herschiebend. Heiß brannte die Sonne; die Luft flimmerte vor Glut. Langsam arbeitete er sich weiter, blieb dann einen Augenblick im Schatten einer verkrüppelten Kiefer liegen. Die Augen schmerzten. Seine geschwollene Zunge fuhr über die aufgerissenen blutigen Lippen. „Wasser!“ hauchte er. „Einen kleinen Becher nur.“ Seit drei Tagen lagen sie in der Wüste von Khamasis.
Und vierzehn Tage sollte diese Übung dauern. Carlos Kopf sank in den heißen Sand. Ihm war, als hätte er schon wochenlang nichts mehr getrunken. Die kleine Ration, die sie mittags erhalten hatten, war ihm fast auf den Lippen verdunstet. Jetzt hörte er vor sich Schüsse. Carlo hob den Kopf und spähte nach links. Da klatschte ihm eine dünne Reitpeitsche ins Genick. Ein Fußtritt in den Bücken folgte. „Deckung!“ schrie der Sergeant. Fluchend sprang er zwischen den Legionären umher, trat ihnen in die Rippen, ließ immer wieder die Peitsche niedersausen. Feindbeschuß nannte er das. „Auf, marsch, marsch! Vorwärts!“ brüllte er nun. Carlo sprang auf. Er taumelte vor Schwäche. Schwarze Kreise tanzten vor seinen entzündeten Augen. „Deckung!“ Nicht schnell genug lag er am Boden. Der Sergeant schoß auf ihn zu. Ein Stoß mit der Stiefelspitze gegen die Schläfen raubte ihm fast die Besinnung. Und dann ging es so weiter. „Auf! – Nieder! – Auf! – Nieder!“ Das Blut der aufgeschlagenen Ellbogen sickerte durch die Ärmel. Endlich, gegen vier Uhr nachmittags, war die Übung beendet. Die Legionäre formierten sich zu Sektionen. Ausgerichtet standen sie nebeneinander. Wie Automaten führten sie die Befehle aus. „Stillgestanden!“ gellte das Kommando. Der Leutnant nahm die Meldung entgegen. Dann ging es zum Zeltlager. „Ein Lied!“ brüllte der blonde deutsche Korporal, und die ausgedorrten Kehlen der Legionäre krächzten: „Heiß über Afrika die Sonne glüht!“ Carlo bewegte die aufgesprungenen Lippen, formte mühsam die Worte. Plötzlich riß ihn ein Sergeant aus der Reihe. „Hast wohl keine Lust zum
Singen?“ schrie er. „Warte, ich werde dir’s geben!“ Ein Faustschlag ließ Carlo zu Boden taumeln. Als er sich wieder hochraffte, wurde ihm ein zweiter, mit Sand beschwerter Tornister vor die Brust gehängt. Im Laufschritt mußte er, laut singend, um die marschierende Abteilung jagen. Dann war er in den glutheißen Sand gesunken. Carlo wischte sich mit der flachen Hand über die schweißnasse Stirn und öffnete die Augen. Ja – so war es gewesen. Und damals hatte er zum erstenmal an Flucht gedacht. Wie oft schon hatte er seither Pläne gemacht, einen jeden aber wieder verworfen. Wohin auch fliehen? Im Süden lag die unendliche Wüste, im Osten erhoben sich die Berge. Die Küste mit ihren Häfen war weit, und ohne Sprachkenntnisse unterzutauchen oder auf ein Schiff zu gelangen war schwierig. Das Schlimmste aber war die Angst. Die Angst vor den furchtbaren Strafen, wenn sie ihn fassen würden. Carlo warf sich auf die Seite. Seine Blicke tasteten über die schlafenden Kameraden. Einen müßte er haben, einen, dem er vertrauen könnte. Gewiß dachten viele wie er an Flucht. Aber mit wem könnte er sprechen? – Franz Gruber wäre der einzige. Doch der saß im Bunker. Nun war es zu spät. Carlo fluchte in sich hinein. Noch lange wälzte er sich in dieser Nacht hin und her, Die Woche neigte sich dem Ende zu; der dienstfreie Sonntag brach an. Carlo Marresi schlief bis zum Mittag. Nach dem Essen legte er sich wieder auf die Pritsche. Im Raum lastete dumpfe Schwüle. Nur wenige
Kameraden waren in der Unterkunft. Die meisten hockten schon wieder in der Kantine. Nach einiger Zeit erhob sich Carlo, zündete sich eine Zigarette an und trat ins Freie. Schwer war ihm heute ums Herz. Er dachte an zu Hause, an seine Mutter und an Vilma, sein Mädel. Doch wieder und wieder schob sich das Bild der Erschießung vor die Bilder der Heimat. Gewaltsam versuchte er es zu verdrängen. Er beschloß, in die Kantine zu gehen. Als er aber das Lärmen hörte, schlenderte er an der Kantinentür vorüber und weiter an der weißgetünchten Mauer des Verwaltungsgebäudes entlang. Plötzlich stand er vor dem Lichtschacht, der zum Gefängnisgang hinunterführte. Kaum einen Meter breit und halb so hoch, wirkte die Öffnung wie ein dunkles Auge in der hellen Mauer. Fünf starke Eisenstäbe machten jede Flucht durch den Schacht unmöglich. Acht Tage saß Franz Gruber nun schon da unten. Hätte das Maul halten sollen! Carlo entsann sich der drei Tage, die er wegen Disziplinvergehens abgesessen hatte. – Wenn man durch die Gitterstäbe in den Lichtschacht… Seine Gedanken stockten. Ja, die Zellentüren waren von außen nur durch einen starken Eisenriegel gesichert! Da könnte man Franz… Er schüttelte den Kopf, und ohne es eigentlich zu wollen, stieß er mit dem Fuß gegen einen der Gitterstäbe. Mit einem knirschenden Laut gab das Eisen nach. Carlo erschrak. Argwöhnisch blickte er umher, dann bückte er sich und umfaßte den Eisenstab. Im Mauerwerk durchgerostet! Schnell bog er ihn wieder in die alte Stellung und schritt eilig zur Unterkunft zurück.
Dort warf er sich auf sein Lager, rauchte eine Zigarette nach der anderen und grübelte. Es war schon Mitternacht, als er Müdigkeit verspürte. Noch einmal überdachte er seinen Plan. Ja, so könnte es gelingen. In vier Tagen hatte er Torwache. Bis dahin mußte alles vorbereitet sein, sorgfältig vorbereitet. Am nächsten Tage, nach Dienstschluß, saß Carlo Marresi vor der Unterkunft und ordnete seine Sachen. Eine der dunklen französischen Zigaretten zwischen den Lippen, zog er neue Schnürbänder in die Schuhe. Seine Gedanken aber schienen ganz woanders zu sein. Ab und zu hob er den Kopf und blickte sich um. Legionäre kamen aus der Unterkunft. Einer rief ihm zu: „He, Carlo, schmeiß die Klamotten hin. Komm mit in die Kantine!“ Der Italiener winkte ab. „Heute nicht. Ich will schlafen.“ Er sah den Kameraden nach, wie sie mit schleppenden, müden Schritten zur Kantine gingen. Eine Viertelstunde mochte vergangen sein – Carlo beschäftigte sich noch immer mit den Schuhen –, als der Araberjunge Mohammed mit einem Kochgeschirr den Platz vor der Unterkunft überquerte. Carlo zuckte zusammen. Fast zaghaft rief er ihn an. „Eh, Mohammed, komm her, Schuhe putzen!“ Der Junge trat heran, stellte das Kochgeschirr auf den Boden und griff nach einem der Schuhe. Wieder schaute Carlo unauffällig umher; niemand war in der Nähe. „Hast du dir etwas zu essen geholt?“ fragte er freundlich. Er sprach Deutsch. Auch Mohammed hatte diese Sprache schnell erlernt, da der größte Teil der Legionäre aus Deutschen bestand.
Der Junge nickte und sagte nach einer Weile: „Mohammed hat viel Hunger, Alle Pferde putzen und Sättel putzen, dann viel Hunger.“ Carlo antwortete nicht. Er betrachtete das schmale dunkelbraune Gesicht Mohammeds. Wie alt mochte er sein? Zwölf oder vierzehn Jahre? Sicher wußte er es selbst nicht genau. Als die Legionäre ins Fort kamen, war er schon da. Carlo hätte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie der Araberjunge hierhergekommen war. Doch Franz Gruber hatte Mohammed gefragt. Und so hatte auch Carlo erfahren, daß der Junge aus einem kleinen Dorf stammte, das von der ersten Besatzung des Forts bei einer der „Säuberungsaktionen“ niedergebrannt worden war. Dabei hatte Mohammed seine Eltern verloren. Ziellos war er umhergeirrt und Tage später von einem französischen Patrouillenoffizier aufgegriffen worden, der ihn als Pferdepfleger mit ins Fort gebracht hatte. Jetzt beugte sich Carlo zu dem Jungen und fragte leise: „Bist du gern hier im Fort bei den Pferden? Oder möchtest du lieber in dein Dorf zurück?“ Mohammed hielt im Schuhputzen inne, sah den Italiener scheu und mißtrauisch an; dann senkte er den Kopf. Das struppige dunkle Haar fiel ihm wirr in die Stirn. Carlo sah von der Seite, wie der Mund des Jungen zuckte. „Warum antwortest du nicht, Mohammed? Du möchtest fort von hier, ich weiß es auch so. Du magst die Franzosen nicht, alle Legionäre magst du nicht, Ganz deutlich kann ich es auf deinem Gesicht lesen.“ Ein Zittern durchlief die Gestalt des Jungen. Er
schwieg. Carlo legte ihm die Hand auf die Schulter, beobachtete, ob sie auch niemand belauschte und flüsterte: „Der deutsche Legionär Franz ist doch dein Freund. Du weißt, daß er im Gefängnis ist, weil er dich in der Kantine beschützt hat. Er soll erschossen werden und…“ Das Wort erstarb Carlo im Munde. Er erschrak. Welche Wirkung das Gesagte auf den Jungen ausübte! Die großen schwarzen Augen weiteten sich vor Entsetzen, der Schuh fiel ihm aus der Hand. Jeden Augenblick konnte der Junge etwas Unüberlegtes tun. Hastig sprach Carlo weiter. „Mohammed, du bist doch ein tapferer Araber, schon ein richtiger Mann. Willst du mir helfen?“ Er war sicher, der Junge würde ihn nicht verraten. Während Carlo mit gedämpfter Stimme seinen Plan entwickelte, putzte Mohammed eifrig auf dem Schuh herum. Unerwartet bogen zwei französische Offiziere um die Ecke der Unterkunft. Der Italiener erfaßte blitzschnell die Situation, versetzte Mohammed einen Fußtritt und schimpfte. „Nicht mal die Schuhe kann das dreckige braune Gesindel ordentlich putzen. Avanti, komm her, du Hundesohn!“ Er hielt dem Jungen einen Schuh entgegen. Die Offiziere grinsten und schritten vorbei. In dieser Nacht konnte Mohammed lange nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich auf seinem Strohlager im Pferdestall. Was hatte Carlo gesagt? Ein Seil müsse er beschaffen, einen starken Hanfstrick, zehn Schritt lang. Damit sollte er Franz aus dem Gefängnis holen. Er, Mohammed, würde diese Heldentat vollbringen, er
ganz allein! Sein Herz klopfte heftig bei diesem Gedanken, und er zweifelte keine Sekunde, daß es ihm gelingen werde, seinen großen Freund zu retten. Der Junge starrte in die Dunkelheit. Drei der besten Pferde mußte er noch aussuchen; das war nicht schwer. Er wußte schon, welche er nehmen würde. Den feurigen schwarzen Hengst des Kommandanten und die beiden kleinen braunen Stuten. Das waren die besten im Stall. Morgen wollte er die drei Pferde besonders gut füttern. Er hätte vor Freude aufjubeln können, doch er blieb ganz still liegen: „Durch nichts darfst du dich verraten“, hatte Carlo gesagt. „Befolge genau meine Anweisungen, sonst geht alles schief, und wir sind verloren.“ Mohammed überdachte alle Einzelheiten. Zwei Wassersäcke wollte er heimlich füllen und unter dem Stroh verstecken. Essen für ein paar Tage würde ihm Carlo morgen unbemerkt geben. Hafer für die Pferde durfte er auch nicht vergessen. Das Wichtigste war das Seil! Aber er wußte schon, wo er es finden würde. „Noch zwei Nächte“, murmelte er und schlief langsam ein. Als das erste Hornsignal die Legionäre weckte, schrak auch Mohammed auf. Er klopfte das Stroh von seiner ärmlichen Kleidung und begann, wie jeden Morgen, Wasser für die Pferde zu holen. Auf dem großen Platz waren die Legionäre angetreten. Der Blick des Jungen streifte die vorderste Reihe. Dort stand Carlo in sandfarbener Kleidung, die Mütze
etwas tief in die Stirn gezogen, das Gewehr bei Fuß. Er beachtete Mohammed nicht. Offiziere kamen, Kommandorufe erschallten. Eine Abteilung rückte zur Übung aus. Mohammed stand noch eine Weile im Stalltor, dann machte er sich wieder an seine Arbeit, schleppte Hafer, putzte Pferde und Sattelzeug. Drei Sättel polierte er besonders gut und sah genau nach, ob das Riemenzeug auch nirgends defekt sei. Wie ihm heute zumute war – so ganz anders als sonst. Mit Schwung striegelte er den schwarzen Hengst des Kommandanten, so lange, bis ihm der Arm weh tat. Er legte den Kopf an den Hals des Tieres und streichelte es liebevoll. „Mussa“, flüsterte er und sah sich dabei scheu um. „Mussa, Mohammed wird bald auf dir in die Wüste reiten. Du wirst jagen, Mussa, so schnell wie ein Pfeil, und niemand wird uns einholen können. Hast du gehört, Mussa?“ Als habe der Hengst die Worte verstanden, wieherte er laut. Mohammed klopfte ihm den Hals. Während er die kleine braune Stute bürstete, dachte er immerzu an das Seil. In der Gerätekammer lagen Schnüre und Stricke, das wußte er. Hoffentlich waren sie stark genug, nicht nur ihn, sondern auch Franz zu tragen. Mohammed beschloß, gleich hinüberzugehen. Er legte die Bürste aus der Hand und trat an das Stalltor. Niemand war zu sehen. Wie verlassen lag das Fort im grellen Sonnenlicht. Die eine Hand in der Hosentasche, schlenderte er im Schatten des Wirtschaftsgebäudes dahin; Die Tür der Gerätekammer war nicht verschlossen.
Sie knarrte laut, als der Junge sie öffnete. Muffiger Geruch strömte ihm entgegen. Zwischen Zement- und Kalksäcken standen ein paar alte Schaufeln; zerlöcherte Schießscheiben lehnten an der Wand. Suchend sah sich Mohammed um. Nanu, wo sind denn…? Doch gleich hellte sich sein Gesicht auf. Hinter einem Kalksack schaute das Ende eines starken Hanfstricks hervor. Er erfaßte es, zerrte daran und stemmte sich mit den Beinen gegen den Sack. Plötzlich gab das Seilende nach. Der Junge prallte gegen die Wand. In den Händen hielt er ein kaum meterlanges Stück. Enttäuschung malte sich in seinen Zügen. Er suchte jeden Winkel ab. Einige Stücke lagen noch hinter den Säcken, doch sie waren alle zu dünn. Was nun? Zehn Schritt lang mußte das Seil sein, und er hatte nur ein kurzes Stück gefunden. Fieberhaft überlegte er, suchte in Gedanken alle Winkel im Fort nach einem Seil ab. Entmutigt schüttelte er den Kopf, verbarg das Stück unter seinem Hemd und lief zum Pferdestall zurück. Lange betrachtete er das Seilende, als könnte es dadurch länger werden. Woher nehme ich nur ein langes Seil? hämmerte es in ihm. Wie hilfesuchend preßte er seine Wange an das glatte Fell des Hengstes. „Mohammed muß ein Seil nahen. Mussa, ein Seil…“, sagte er kaum hörbar. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Nun war alles aus. Er würde Franz nicht befreien können. Vor Erregung begann er zu zittern. Er hockte sich nieder, lehnte sich gegen einen Stützbalken und grübelte, während seine Blicke über die vertrauten Gegenstände im Stall
glitten. Mit einemmal wurden seine Augen groß. Er stand auf, griff nach einem der langen Lederriemen des Sattelzeuges und strich liebevoll darüber. Jetzt kam Leben in ihn. Er nahm fünf, sechs Riemen vom Haken, legte sie nebeneinander. Das war das beste Seil! Man brauchte sie nur zusammenzuknoten. Seine Hände bebten, als er versuchsweise zwei Riemen miteinander verband. Die Erregung, die ihm das Herz zusammengepreßt hatte, wich. Eine Welle des Glücks durchflutete den mageren Körper. Erlöst atmete Mohammed auf. – Zwei Stunden mochten vergangen sein. Der Junge verspürte Hunger. Er ging hinüber zur Küche und blieb vor dem Fenster stehen. Der Koch sah von seiner Arbeit auf. „Eh, Mohammed, du Hundesohn, wo treibst du dich herum?“ rief er. „Komm herein, Kessel scheuern.“ Mohammed ließ sich das nicht zweimal sagen; er wußte, der Koch würde ihm zu essen geben. So lief er schnell um das Gebäude und betrat den Küchenraum. „Bist du ein Dreckkerl“, schnauzte ihn der Koch an und betrachtete kopfschüttelnd das schmutzige, zerrissene Hemd des Jungen. „Geh auf die Kammer und laß dir mal anständige Sachen geben.“ Mohammed senkte den Kopf und blieb stehen. „Na, wird’s bald? Los, ab, aber schnell!“ „Ich… ich… sie geben mir kein anderes Hemd“, stotterte Mohammed. „So, sie geben dir keins.“ Der Koch griff zum Telefonhörer. „Eh, Pierre“, rief er laut, „hier Armand. Hör mal, dieser Dreckkerl, der Mohammed,
muß ein neues Hemd haben. – Ja, auch eine Hose. Kann diese Ratte so nicht mehr in die Küche lassen. Kommt Kontrolle, ist der Teufel los. Ich schicke ihn dir gleich rüber.“ Er knallte den Hörer auf die Gabel. „Ab, zur Kammer. Aber beeil dich!“ Der Tag verging Mohammed wie im Fluge. Die Nacht kam, und er lag auf seinem Strohlager. Dumpfe Schwüle war im Stall. Ein Pferd scharrte unaufhörlich. Er stand auf und beruhigte das Tier. Dann legte er sich wieder nieder und lauschte in die Stille. Er strich über sein neues Hemd. Es hatte zwei große Brusttaschen und war noch nirgends geflickt. Welch ein Glück, solch ein Hemd zu haben! Auch die Hose schien noch neu zu sein. Der Franzose auf der Bekleidungskammer hatte ihm zum Abschied zwar einen Tritt versetzt. Aber was machte das schon aus für so schöne neue Sachen! Mohammed stieß die Luft hörbar durch die Nase. Wie gut, daß er an die Riemen gedacht hatte! Ein besseres Seil konnte es gar nicht geben. Carlo und Franz würden staunen. Die Wassersäcke wollte er morgen füllen, am Abend, wenn er die Pferde tränkte. Auch die Packtaschen. Proviant für ein paar Tage hatte er, wie verabredet, heute im Stroh vorgefunden. So war alles vorbereitet. Noch eine Nacht! Eine einzige, dann…. Der Tag war noch nicht erwacht. Carlo Marresi drehte sich zur Seite und sah durchs Fenster. Groß und hell blinkten die Sterne über der Wüste. Bald würden sie im blendenden Licht der Sonne verbleichen. Ein neuer Tag würde anbrechen, der harte eintönige Dienst beginnen. Und doch war es ein ganz besonderer Tag…
Carlo hielt seine Armbanduhr dicht vor das Gesicht; aber die Zeiger leuchteten nur schwach, er konnte die Zeit nicht erkennen. So schloß er wieder die Augen. Wirr jagten seine Gedanken durcheinander: Wird alles klappen? Hat sich Mohammed auch durch nichts verraten? Ob er ein Seil gefunden hat? Ich muß heute mittag unbemerkt mit ihm sprechen. Hoffentlich gelingt es ihm, Franz zu befreien. Wenn sie ihn dabei fassen… Carlo legte den Arm über die Augen. Er fühlte, wie ihm heiß wurde. Wie lange er so gelegen hatte, wußte er nicht. Der Weckruf erschallte, und als erster erhob er sich. Träge schlichen die Dienststunden dahin. Ihm war es, als wollte der Tag kein Ende nehmen, als stünde die Sonne heute besonders lange senkrecht über dem Fort. Und als sie sich endlich neigte, schien es, als tue sie es nur zögernd. Carlos Unruhe steigerte sich von Stunde zu Stunde. Gewaltsam riß er sich zusammen. Sahen ihn die Kameraden heute nicht seltsam an? Hatten sie etwa bemerkt, wie er Mohammed mittags die Uhr gegeben? Immerfort spürte er Blicke auf sich gerichtet. Als sein Name fiel, zuckte er zusammen, und wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme des Korporals: „Abtreten und fertigmachen zum Wachdienst!“ Mohammed sah die kleine Abteilung auf Wache ziehen. In der Mitte schritt Carlo, das Schnellfeuergewehr über die Schulter gehängt. Er blickte nicht rechts, nicht links. Der Junge schleppte die letzten Eimer Wasser in den Stall und tränkte die Pferde. Doch dann lief er noch
zweimal und stellte drei Eimer voll Wasser zur Seite. Kurz ist die Dämmerung in diesen Breiten. Im Stall wurde es dunkel. Mohammed stand neben dem schwarzen Hengst des Kommandanten und strich ihm über den Hals. Das Hornsignal zur Nachtruhe erklang. Mohammeds Herz tat ein paar unruhige Schläge. Seine kleine, sehnige Gestalt straffte sich; dann ging er behutsam zwischen den Pferden hindurch und holte die Wassersäcke unter den Strohballen hervor. Als der erste Sack gefüllt war, lauschte er. Nichts Verdächtiges war zu hören. So machte er sich an den zweiten und den dritten. Nach einer halben Stunde lagen die Wassersäcke und die Packtaschen voll Hafer griffbereit im Versteck, und auch die Riemen waren sorgfältig aneinandergeknüpft. Mohammed spähte durch eine Torritze ins Freie. Fast sternenlos war die Nacht. Im Fort war alles ruhig. Kein Lichtschein drang aus den Fenstern. Er sah auf Carlos Armbanduhr. Er wußte nicht, wie spät es war, aber die Zeiger standen so, wie der Italiener es ihm gezeigt hatte. Also war die Zeit gekommen. Er trat an die Wand und tastete die Sättel ab. Dann nahm er einen vom Haken und legte ihn dem schwarzen Hengst auf. Der spürte, daß ein Ritt bevorstand, und wurde unruhig. Mohammed sprach flüsternd auf das Tier ein, strich ihm über Hals und Kopf und zog die Gurte fest. Geschwind sattelte er auch die beiden braunen Stuten. Die eine wieherte laut. Mohammed ging es durch und durch. Unheimlich war ihm zumute. Beine und Hände zitterten ihm; er hatte Mühe, die Gur-
te festzuschnallen. Abermals lauschte er minutenlang in die Dunkelheit. Die Pferde hatten sich wieder beruhigt. Wie eine Katze schlich er nun durch den dunklen Stall, nahm die zusammen« geknüpften Riemen, trat an die kleine Seitentür und zog behutsam den Riegel zurück. Nur spaltbreit öffnete er sie und kroch am Boden entlang ins Freie. Er wartete, bis die dumpfen Schritte des Wachpostens auf der Mauer verklungen waren; dann lief er gebückt weiter. Immer wieder legte er sich auf die Erde und verharrte regungslos. Endlich hatte er die Seitenwand des Verwaltungsgebäudes erreicht. Meter um Meter schob er sich an den Lichtschacht des Gefängnisganges heran. Jetzt faßte er nach der ersten Gitterstange. Sie saß fest und unbeweglich im Gemäuer. Auch die zweite und die dritte. Mohammed atmete stoßweise, die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Carlo hatte doch gesagt… Da, dieser Gitterstab war es. Der Junge preßte die Hand gegen das Herz; er glaubte, das laute Schlagen müßte man weithin hören. Mit beiden Händen umklammerte er den Eisenstab und bog ihn Zentimeter um Zentimeter zur Seite. Es knirschte und knackte; der durchgerostete Gitterstab brach ab. Mohammed schlug mit den Händen hart auf den Boden. Still blieb er liegen. Bange Minuten vergingen. Doch nichts rührte sich. Schreckhaft kam ihm zum Bewußtsein, wie gefährlich sein Unternehmen war. Wenn sie ihn faßten… Totprügeln würden sie ihn, erschlagen. Angst befiel ihn. Sollte er hinuntersteigen? Vielleicht kam er nie mehr herauf? Was tun, wenn die Zellentür
nicht nur verriegelt, sondern verschlossen war? Schweiß brach ihm aus allen Poren. Zaghaft ergriff er das Lederseil und verknotete es an einem der Gitterstäbe. Dann horchte er wieder in die Nacht Allmählich kehrten Mut und Entschlossenheit zurück. Er gleitet in das Dunkel. Die Hände umschließen die Riemen, die nackten Füße suchen Halt an der platten Wand. Stück um Stück greift er nach. Wie tief mag es sein? Wird das Seil auch reichen? Werden die Knoten halten? Die Hände schmerzen, die Arme erlahmen. Der Schacht scheint kein Ende zu nehmen. Da – endlich fühlt er festen Boden. Er streckt die Arme aus. Kalt and feucht ist die Mauer. Nur schnell, schnell vorwärts. Drei, vier Schritt… dann bleibt er stehen. Eine Tür… Er legt das Ohr daran. Stille, Mohammed will leise rufen, aber kein Laut kommt aus seiner Kehle. Von neuem befällt ihn Angst. Wieder öffnet er den Mund. „Franz…“ Ein Röcheln ist es. Doch Franz Gruber hat es gehört. Er schläft nicht. Mit offenen Augen liegt er auf seiner Pritsche. Er springt auf. Hat er sich getäuscht? Ist wirklich sein Name gerufen worden? Oder sollte es geträumt haben? Da… kaum hörbare, tastende Geräusche. Eine Ratte…? Nein, ein Mensch… ein Mensch ist im Keller! Jetzt, mitten in der Nacht? Franz Gruber hält den Atem an und schrickt zusammen. „Franz! Franz!“ Deutlich hört er es. „Wer ist da?“ fragt er leise. Mohammed lehnt sich gegen die schwere Tür. Ich habe ihn gefunden, hier drinnen ist er! jubelt es in ihm. Seine Hände ergreifen den schweren eisernen Riegel. Millimeterweise zieht er ihn zurück. Es geht schwer,
doch jetzt hat er unheimliche Kräfte. Die Angst, die ihn noch immer beherrscht, verleiht sie ihm. Er hält inne, lauscht. Dann flüstert er: „Mohammed ist es. Mohammed befreit dich.“ Und plötzlich ist er wieder stolz. Er, Mohammed, befreit seinen großen Freund. Der Riegel ist zurück. Franz Gruber drückt behutsam die Tür auf, schlüpft hinaus und faßt nach dem Araberjungen. Mohammed fühlt sich hochgehoben, starke Arme umklammern seinen Körper. „Was ist los? Wie kommst du hierher?“ Mohammeds Worte überstürzen sich. „Schnell fort!“ Er ergreift die Hand des Mannes und zieht ihn zum Lichtschacht. „Dahinauf! Hier das Seil.“ Franz Gruber glaubt immer noch zu träumen. Er hangelt sich hinauf. Die Arme sind steif, und er schafft es kaum. Oben zwängt er sich durch die schmale Öffnung und bleibt dann ruhig liegen. Mit kräftigen Zügen atmet er die klare Luft ein. Wie wohl das tut. Da ist auch schon Mohammed. Sie liegen nebeneinander, horchen und spähen ins Dunkel. Weiter! Der Junge kriecht voran. Endlich ist der Stall erreicht. „Hier stehenbleiben“, sagt Mohammed, „die Pferde werden sonst unruhig.“ Er zerrt Wassersäcke und Packtaschen aus dem Versteck, verstaut sie auf den Pferden. Er tut es wie im Schlaf. Noch zwei Knoten, den Riemen festschnallen, fertig. Dann geht er in eine Ecke, kauert sich zusammen und reißt im Schütze seines Körpers ein Streichholz an. Gleich darauf drückt er mit den Fingern die Flamme aus. Die Zeiger und Ziffern der Armbanduhr leuchten gespenstisch grün. Mit dem Finger fährt er
auf dem Glas die Zeiger entlang. Ja, sie stehen beide senkrecht, wie ein Strich. Seit einer Stunde schritt Carlo Marresi neben dem kleinen sehnigen Griechen hinter dem Haupttor des Forts auf und ab. Im Wachgebäude war es still geworden. Die wachfreien Kameraden lagen auf den harten Holzpritschen und schliefen. Dunkel wölbte sich der Himmel über dem Fort. Die Nacht war kühl, doch Carlo verspürte es nicht. Immer wieder sah er hinüber zum Stallgebäude. Die Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt, deutlich konnte er die Umrisse erkennen. Wie träge die Zeit schlich. Der Italiener umspannte mit der rechten Hand den Riemen des geschulterten Gewehres, als suche er Halt. Die Linke nestelte an der Revolvertasche. Alles in ihm war aufgewühlt, die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Der Sand dämpfte die Schritte der beiden Wachposten. Kein Wort fiel zwischen ihnen. Carlo horchte auf jedes Geräusch. Ganz nahe liefen sie am Wachgebäude vorüber. Aus einem der Fenster schimmerte schwaches Licht. Carlo sah den diensthabenden Korporal an dem rohgezimmerten Schreibtisch sitzen; den Kopf auf die Tischplatte gelegt, schlief auch er. Wie spät mochte es sein? Bis zwölf Uhr hatten sie Wache. Dann kam die Ablösung. Bis dahin mußte Mohammed… Carlo biß die Zähne aufeinander. Wenn nun etwas schiefgegangen war? Er wagte nicht weiterzudenken. Er hängte das Gewehr über die linke Schulter, um die rechte Hand frei zu haben. Lange konnte es nicht mehr dauern. Er griff in die Hosentasche und befühlte den
Torschlüssel, den er heimlich aus dem Wachgebäude genommen hatte. Das war ganz einfach gewesen. Fast zu einfach, dachte er. Alles war bisher so glatt gegangen. Unheimlich… Heiß brannte ihm das kalte Eisen zwischen den Fingern. Plötzlich faßte ihn der Grieche am Arm und verhielt den Schritt. Ein knarrendes Geräusch drang herüber. Carlos Rechte ballte sich zur Faust. Steinhart schien sie zu sein, so preßte er die Finger zusammen. Er wußte genau, woher das Geräusch kam. Er trat einen halben Schritt vor und stand nun dem Griechen gegenüber. Der drehte ihm ahnungslos das Gesicht zu und wollte etwas sagen, als ein leiser Pfiff ertönte. Unerwartet traf Carlos Faust den Griechen mit derartiger Wucht auf die Kinnspitze, daß er zu Boden fiel. Der Italiener stieß den gleichen Pfiff aus, sprang mit ein paar Sätzen ans Tor, schloß es auf und riß den breiten Riegel zurück. Da waren auch schon Mohammed und Franz mit den Pferden heran. Carlo zerrte einen Torflügel auf und sprang auf die von Mohammed bereitgehaltene Stute. Der Lauf seines Gewehres schlug ihm hart an den Kopf. Er achtete nicht darauf. In wildem Galopp sprengten die drei in die Wüste. Hinter ihnen jagten, ungesattelt, die anderen Pferde dahin. Im Fort stürmte die Wachmannschaft heraus. Aufgeregt liefen die Legionäre durcheinander. Schüsse peitschten hinter den Fliehenden her. Die Wachposten auf den Mauern schossen. In der sternarmen Nacht waren die Reiter nur undeutlich zu erkennen. Schrill heulte die Alarmsirene. Die grellen Lichtkegel von vier Scheinwerfern huschten gespenstisch über die Wüste.
Mohammed, Franz und Carlo ritten dicht nebeneinander. Die Körper weit nach vorn gelegt, standen sie fast in den Steigbügeln und berührten kaum die Pferdeleiber. Keiner sah sich um. Jetzt hatte sie ein Scheinwerferkegel erfaßt. Zwei, drei Maschinengewehre hämmerten. Im grellen Licht jagten sie weiter, Kugeln schwirrten durch die Luft, Sand spritzte auf. Carlo vermochte sich nur mühsam auf dem Pferd zu halten. Mohammed ritt ein gutes Stück voraus und feuerte den Hengst immer wieder an. Der Kommandant des Forts hatte sich hastig angekleidet. Breitbeinig, ohne Mütze, stand er in seinem Dienstzimmer. Er brüllte nicht, nur seine Zähne mahlten aufeinander, und seine Augen schienen den vor ihm stehenden wachhabenden Korporal zu durchbohren. Er trat hinter den Schreibtisch und griff zum Telefonhörer. „Leutnant Paysan… sofort den Hubschrauber einsetzen!“ befahl er mit schneidender Stimme. „Alle Geländefahrzeuge zur Verfolgung fertigmachen. Auch die Pferde. – Was…? Kein einziges mehr da?“ Er legte den Hörer auf die Gabel und wandte sich dem kleinen Griechen zu, der mit Carlo Marresi Wache gehabt hatte. Neben dem Griechen stand der Korporal, blaß, mit eingefallenem Gesicht, noch immer in strammer Haltung, Schweiß perlte ihm von der Stirn, In kaum fünfzig Meter Höhe brummte der Hubschrauber durch die Nacht. Grellweiß huschte starkes Scheinwerferlicht über die Wüste. Die drei Fliehenden hörten das Brummen, und eisiger Schreck durchfuhr
sie. An das Flugzeug in dem kleinen Hangar hatte keiner gedacht. Der Lichtkegel kam näher und glitt suchend umher. Mohammed ritt zwischen Franz und Carlo. Er rief die Namen der Tiere und feuerte sie zum letzten an. Das Gelände wurde steinig, Funken stoben unter den Hufen der Pferde auf. „Halt! Halt!“ schrie Mohammed, ließ die Zügel locker und brachte seinen Hengst zum Stehen. Er hatte die Umrisse von großen Felsbrocken entdeckt. Nun sprang er aus dem Sattel und führte sein Pferd. „Hierher!“ rief er, „Schnell, verstecken!“ Zwei große Felsstücke bildeten in der Mitte eine schmale Gasse. Dahinein zerrte Mohammed sein Tier und zwang es in die Knie. Auch Franz’ und Carlos Pferd hatten noch Platz. Die beiden Legionäre legten sich zwischen Steinbrocken. Mohammed hockte sich zitternd vor Kälte und Erregung neben die Pferde. Immer näher kam das Flugzeug. Es zog weite Kreise, und unablässig tastete der Scheinwerfer das Gelände ab. Jetzt huschte er über die ersten Steine. Angsterfüllt preßte sich Mohammed gegen die Felswand. „Allah akbar!“ flehte er. „Allah, sie dürfen uns nicht entdekken. Hilf uns, Allah!“ Er kreuzte die Arme vor der Brust, seine Stirn berührte den Boden. Das Flugzeug brummte dicht über ihnen. Der Scheinwerferkegel erfaßte die Felsbrocken, tauchte sie sekundenlang in grelles Licht. Der Junge schloß die Augen. „Allah, o Allah!“ hauchte er. Den Legionären stockte der Atem. Vor Carlos Augen zogen die Bilder der Heimat vorüber. Das Gesicht seiner Mutter tauchte auf. Und dann hörte er wie-
der die entsetzliche Salve. Franz hatte die Fäuste geballt. Schmerzhaft bohrten sich die Nägel ins Fleisch. Er erwartete jeden Augenblick die todbringenden Maschinengewehrgarben aus dem Flugzeug. Die Sekunden wurden zu Stunden. Plötzlich wurde es wieder dunkel. Der Hubschrauber entfernte sich. Mohammed hob als erster den Kopf. „Allah sei Dank! Allah akbar! Sie haben uns nicht gesehen!“ Die ersten Strahlen der Sonne brachen hervor. Ihr Widerschein färbte den Sand der Wüste, übergoß ihn mit rosigem Licht. Drei Reiter bahnten sich mühsam ihren Weg durch das felsige Gelände. Sie ritten hintereinander. Ihre Pferde waren schweißbedeckt wie sie selbst. Der vorderste bog scharf rechts ab und lenkte sein Pferd unter einen überhängenden Felsvorsprung. Er rief den beiden anderen etwas zu und sprang aus dem Sattel. „Ich glaube, hier können wir bleiben“, sagte Franz Gruber zu Carlo und Mohammed, die von ihren Pferden stiegen. Carlo nickte stumm. Er vermochte sich nicht auf den Beinen zu halten und legte sich völlig erschöpft auf den Boden. Auch Franz wankte; die Schenkel schmerzten ihn. Nur Mohammed schien der Ritt nicht allzuviel ausgemacht zu haben. Behend war er vom Pferd geglitten, lockerte das Riemenzeug und führte alle drei Tiere tiefer unter den Felsüberhang. Er schnallte einen Wassersack ab und setzte sich zu Franz und Carlo. In langen Zügen tranken die drei das lauwarme Wasser. Dann versorgte Mohammed die Pferde.
Der Italiener zog ein Päckchen Zigaretten und Streichhölzer aus der Tasche. Als die Zigaretten brannten, sagte Franz fast feierlich: „Wir haben es geschafft! Wir sind frei!“ Schwer erhob er sich und streckte Carlo die Hand entgegen. „Hab Dank!“ Carlo lächelte müde. „Laß gut sein, Franz!“ Gruber umfaßte jetzt Mohammed, drückte ihn so fest, daß es schmerzte. Der Junge spürte die bärtige Wange des Mannes, den starken Arm um die Schulter, und ein seltsames Gefühl der Geborgenheit überkam ihn. War je ein Mensch gut zu ihm gewesen? Er entsann sich schwach, daß ihn die Mutter manchmal liebevoll beim Kopf genommen hatte. Aber das war lange her. Mohammed senkte den Blick. Er wußte nicht recht, was er tun sollte. Es war alles so neu, so ganz anders als im Fort. Franz strich ihm über das staubige Haar. „Mohammed, ich danke dir. Du hast mich befreit. Du bist ein Held!“ Er sah an sich herunter und überlegte, womit er dem Jungen eine Freude machen könnte. Da fiel sein Blick auf die Armbanduhr, das einzige, was er noch besaß. Er band sie ab und legte sie ihm um den Arm. „Nimm sie, ich schulde dir viel!“ Mohammed hatte Carlos Uhr zurückgegeben. Nun besaß er wieder eine. Franz hatte sie ihm geschenkt. Er durfte sie behalten, für immer. Die Uhr gehörte nun ihm. Mohammed strahlte vor Freude. Lautes Schnarchen brachte Franz in die Wirklichkeit zurück. Carlo war eingeschlafen. „Leg dich auch hin und schlaf“, sagte Franz. „Ich
werde inzwischen Wache halten.“ Der Junge wehrte heftig ab. „Nein, nein, Mohammed ist nicht müde, Mohammed ist Reiten gewöhnt. Mohammed geht dort auf den Fels und paßt auf.“ Franz wollte es nicht zulassen, doch der Junge blieb hartnäckig bei seinem Willen. Endlich gab Franz nach. Ehe er sich hinlegte, deutete er auf Mohammeds Uhr. „Wenn der große Zeiger hier steht und der kleine da, dann weckst du mich. Versprich es mir, Mohammed.“ Der Junge nickte. Beruhigt suchte sich Franz einen bequemen Platz, legte Carlos Maschinenpistole neben sich und schloß die Augen. Mohammed überkletterte Geröll und stieg auf einen flachen Fels. Von hier aus konnte er alles übersehen. Ringsherum war braunrotes Gestein, dazwischen verliefen hellgelbe Sandzungen. So weit das Auge reichte, Gebirgslandschaft. Er setzte sich zwischen zwei Felsbrocken, die ihn vor den heißen Strahlen der Sonne schützten, lehnte sich mit dem Rücken gegen den größeren der Steine und konnte so Franz und Carlo und auch die Pferde im Auge behalten. Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen. Geduckt spähte er in die Richtung, aus der er den Laut vernommen hatte, und entdeckte einige Springmäuse. Erleichtert atmete er auf. Franz und Carlo schliefen noch fest. Auch die Pferde standen ruhig unter dem Felsvorsprung. Mohammed betrachtete seine Uhr. Liebevoll strich er über das Glas und überlegte, wie Carlo und Franz auf der Uhr die Zeit abzulesen vermochten. Er leckte sich die Lippen und wiegte den Kopf. Während er vor sich
hin träumte, stieg die Sonne immer höher. Die Luft flimmerte über dem Gestein, und der Schatten seines Verstecks wurde immer kleiner. Er kletterte hinunter, sah nach den Pferden und berührte dann Franz leicht am Arm. Der schrak zusammen und öffnete die Augen. Auch Carlo erwachte und blinzelte in den von grellem Sonnenlicht erfüllten Himmel. Er wollte sich aufrichten; stöhnend sank er zurück. Jeder einzelne Knochen tat ihm weh. Die ungewohnte stundenlange Hetzjagd auf dem Pferderücken, dazu das unwegsame Gelände, hatte ihn arg mitgenommen. Auch Franz fühlte sich matt und hätte gern weitergeschlafen. Doch stand er sogleich auf und fragte Mohammed, ob er etwas Besonderes bemerkt habe. Der Junge verneinte, suchte sich einen Platz bei den Pferden und schlief sofort ein, Carlo zog ein graues Papier aus der Tasche und faltete es auseinander. „Du hast eine Karte? Großartig!“ sagte Franz erfreut. „Da können wir gleich feststellen, wo wir uns befinden. Binde mal deine Uhr ab, damit wir die Himmelsrichtung…“ Mitten im Satz brach Franz ab und sah verwundert in Carlos grinsendes Gesicht, „Was hast du?“ Statt einer Antwort streckte ihm Carlo die geschlossene Hand entgegen. „Da, nimm.“ „Einen Kompaß? Mensch, Carlo, du bist ein Teufelskerl. Wo hast du den aufgetrieben?“ „Habe ich mir ausgeliehen, vom Schreibtisch in der Wachstube.“ Franz lachte und schlug ihm derb auf die Schulter. Die Karte wurde eingerichtet.
Carlo deutete auf einen mit Bleistift eingezeichneten Kreis. „Hier liegt das Fort. Sieben Stunden sind wir geritten. Wir müßten also ungefähr hier sein.“ „Hm – und wie soll es weitergehen? Wohin wollen wir uns wenden? Hattest du schon einen genauen Plan?“ „Nein, Franz, ich hatte nur einen Gedanken: Raus aus dem Fort! Jetzt haben wir ja Zeit zum Beraten. Das Wichtigste ist erst einmal andere Kleidung. Um die zu bekommen, verkaufen wir die Pferde und die Maschinenpistole. Den Revolver behalten wir sicherheitshalber. Und dann schlagen wir uns am besten nach Libyen durch. Dort finden sich bestimmt ein paar Landsleute von mir, die uns helfen.“ Franz leckte sich die spröden trocknen Lippen. „Nicht übel. In Libyen sind wir einigermaßen sicher. Aber bis dahin ist ein verdammt langer Weg. Wenn wir über das Gebirge zur Küste vordringen und uns dann auf ein Schiff schmuggeln würden…“ „Nein, Franz, das ist zu gefährlich. Die algerischen Häfen werden zu stark bewacht. Wir müssen raus aus französischem Gebiet.“ Nachdenklich fuhr sich Franz über die Augen. „Hast recht, Carlo. Versuchen wir also, nach Libyen durchzukommen. Wir werden mit Mohammed sprechen, Vielleicht hat er eine noch bessere Idee. Er kennt ja Land und Leute.“ Franz war aufgestanden. Er deutete auf einen hohen Felskegel, der die anderen Erhebungen um ein gutes Stück überragte. „Steigen wir hinauf, Carlo. Wir müssen sehr wachsam sein.“
Mühsam erklommen sie eine Geröllhalde, die sich steil vor dem Felskegel erhob. Große Steine lösten sich unter ihren Füßen und rollten polternd hinunter. Carlo blieb stehen. „Halt, Franz, hier kommen wir nicht weiter. Versuchen wir es von einer anderen Seite.“ Behutsam stiegen sie wieder abwärts und liefen um den Fels. Franz spähte aufmerksam umher. Plötzlich verhielt er den Schritt. „Carlo, dort ist eine Höhle.“ Er deutete mit der Hand auf eine dunkle, fast mannshohe Öffnung in der Felswand. Der Italiener pfiff leise durch die Zähne. „Komm, die werden wir gleich mal in Augenschein nehmen.“ Er griff nach der Maschinenpistole und entsicherte sie. „Man kann nicht vorsichtig genug sein.“ Franz zog den Revolver aus der Hosentasche. Nun näherten sie sich der Höhle. Muffige Luft strömte heraus. Feiner Flugsand lag auf dem Boden. „Fußspuren sind nicht zu sehen“, meinte Carlo, „nicht mal ein Tier scheint hier drinnen zu hausen. Wie tief mag sie sein? Sicher ist sie ein Unterschlupf von Schmugglern gewesen.“ Franz nickte und befühlte die glatten Wände. „Der Stein ist bearbeitet worden. Hier sieht man es ganz deutlich. Ich glaube, die Höhle geht tief in den Berg hinein. Wäre ein gutes Nachtlager für uns. Aber wir wollen lieber weiterreiten, damit wir morgen ein Dorf erreichen. Wir brauchen Wasser, auch der Zwieback reicht höchstens noch für zwei Tage. – Komm, Carlo, wir müssen Ausschau halten.“ Bald entdeckten sie auch eine geeignete Stelle zum
Aufstieg. Oben angelangt, legten sie sich flach auf das kleine Plateau. Die sandfarbenen Uniformen und ihre braune Haut verschmolzen fast mit dem Fels. Das Gelände war gut zu übersehen. Die Sonne neigte sich zum Horizont. In zarten Farben zeigten sich die fernen Berge. Die Gipfel leuchteten violett. Im Vordergrund erstrahlte eine kleine Hügelkette in sattem Rot. Dunkel, fast schwarz, hoben sich die Talschluchten ab. Beide suchten aufmerksam die Gegend ab. Plötzlich zuckte Carlo zusammen und preßte den erhobenen Kopf an den Fels. Sein Herz hämmerte gegen den Stein. „Menschen“, hauchte er, „dort, rechts vor der großen Sandzunge.“ Franz sah in die angegebene Richtung, und alles Blut wich aus seinem Gesicht. Sieben Menschen kamen langsam näher. „Legionäre! Eine Patrouille aus dem Fort!“ brachte er mühsam hervor. Geblendet von den Strahlen der untergehenden Sonne, konnten sie die Gestalten nur schwer verfolgen. Doch eines stand fest, die Kolonne kam genau auf sie zu. „Fort“, zischte Franz und glitt schon wie eine Schlange vom Plateau herunter. Carlo schob sich hinter ihm her. Seine Finger umkrallten das Gestein, Dann ließ er sich fallen, suchte wieder Halt. Die Hände bluteten, doch er spürte keinen Schmerz. Gehetzt liefen sie zu den Pferden. „Die Höhle…“, sagte Carlo im Lauf, „wir müssen hinein.“ Franz nickte ihm zu. Unsanft wurde Mohammed aus dem Schlaf gerissen. Wie von einem Skorpion gestochen schoß er hoch. „Was… was ist?“ fragte er mit zitternder Stimme.
„Legionäre! Schnell, Mohammed, sie sind schon nahe.“ „Wohin mit den Pferden, Franz? Die Höhle ist zu niedrig.“ Carlo starrte den Freund aus flackernden Augen an. Franz überlegte fieberhaft. Dann hieb er mit der Hand durch die Luft. „Laß sie stehen.“ In aller Eile wurden Wassersäcke und Packtaschen abgeschnallt. „Sind es viele Legionäre?“ erkundigte sich Mohammed. Aus seinen Augen leuchtete die Angst. „Sieben“, antwortete Franz kurz. „Es können auch mehr sein. Hier, nimm die Packtaschen.“ Im Laufschritt ging es zur Höhle. Carlo trat als letzter ein, legte den Wassersack ab und glättete am Eingang den Flugsand, um die Fußspuren zu verwischen. Langsam tasteten sie sich voran. Mit jedem Schritt wurde es dunkler, bis sie schließlich völlige Finsternis umgab. Carlo drehte sich um. Der Eingang der Höhle gähnte ihnen als heller Fleck entgegen, und plötzlich war ihm, als bewegten sich davor Schatten. „Franz!“ flüsterte er kaum vernehmbar. „Sie sind vor dem Eingang.“ Gruber verharrte bewegungslos. Das knirschende Geräusch ihrer Schritte erstarb. Sie lehnten sich gegen den Felsgang, lauschten und spähten nach vorn. Der Eingang war nur noch undeutlich zu erkennen. Die Nacht hatte sich über die Wüste gelegt. Hell und groß blinkten draußen unzählige Sterne. Fast zeitlos tröpfelten die Minuten. Kein Laut durchdrang die Stille. Nur Carlos kurze Atemzüge verrieten, daß hier
Menschen waren. Eisige Kälte entströmte den Felswänden. Der Italiener begann zu frösteln. Ein Schauer überlief seinen schmächtigen Körper, Franz beugte sich zu ihm und flüsterte, ohne den Blick vom Eingang zu wenden: „Du wirst dich getäuscht haben. Vielleicht hast du…“ Seine Stimme erstarb. Der Höhleneingang verdunkelte sich. Das fahle Licht der Sterne verlosch für Sekunden. Auch Carlo hatte es deutlich gesehen. Nun bestand kein Zweifel mehr: Die Legionäre standen draußen. Carlos Hand umspannte den Schaft der Maschinenpistole. Hereinzukommen, nein, das wagten sie bestimmt nicht. Das wäre ihr sicherer Tod. Seine Gedanken stockten… „Franz!“ Er brachte seinen Mund dicht an Grubers Ohr. „Wenn sie schießen! Eine Garbe, und wir sind erledigt. Wir müssen tiefer hinein. Vielleicht hat der Gang irgendwo eine Biegung.“ Mohammed wurde verständigt. Behutsam, jedes Geräusch vermeidend, nahmen sie Packtaschen und Wassersäcke wieder auf. Schritt für Schritt, eine Hand tastend an der Wand, drangen sie vorwärts. Schon nach wenigen Metern wurde der Gang breiter und bog scharf nach links ab. Sie hockten sich nebeneinander auf die Packtaschen. Den Eingang konnte man nun nicht mehr beobachten. Angespannt lauschten sie in die Dunkelheit. Doch nichts geschah. Kein Laut drang an ihr Ohr. Carlo hatte die Maschinenpistole schußbereit über die Knie gelegt. Franz steckte, den Revolver zwischen den Leibriemen. „Sie wollen uns lebend haben, sonst hätten sie längst geschossen“, sagte Carlo jetzt so leise, daß seine Worte
kaum zu vernehmen waren. „Lieber hier drinnen verrecken, als in die Legion zurück“, entgegnete Franz. „Dir ist wohl klar, was uns dann blüht. Das geht nicht mit ein paar Tagen ,Tombe’ ab. Nein, Carlo, lebend bekommen sie mich nicht hier raus.“ Tombe – das Wort ließ Carlo erschauern. Wenige Tage vor ihrer Flucht war erst ein Kamerad wegen Disziplinvergehens zur Tombe verurteilt worden. Deutlich sah er ihn wieder in der mannshohen, mit Stacheldraht umzäunten Grube hocken. Den ganzen Tag über war er schutzlos den sengenden Sonnenstrahlen ausgeliefert gewesen. Nachts hatte er nur eine dünne Wolldecke bekommen. Eine furchtbare Marter, denn die Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht betrugen oft dreißig Grad, Mitternacht war längst vorüber. Noch immer saßen die drei auf den Packtaschen und starrten in die Dunkelheit. Mohammed hatte noch kein Wort gesprochen. Die Angst würgte ihn. Er dachte an die Pferde. Sicher hatten die Legionäre sie schon entdeckt. Nun kamen sie wieder in den Stall des Forts. „Mussa“, sagte der Junge tonlos. „Mussa, nun wird dich Mohammed nie mehr wiedersehen.“ Er erschrak über seine Gedanken. Würde er hier drinnen sterben müssen? Er bedeckte das Gesicht mit den Händen. Nein, nicht sterben. Die Wüste war ja so schön; die Sonne, der Sand, die Felsen… Vielleicht hatte die Höhle noch einen Ausgang? Der gleiche Gedanke drängte sich auch Franz auf. Er
sprach mit Carlo darüber. „Versuchen wir, weiter vorzudringen. Hier zu hocken und zu warten ist sinnlos. Die Kälte macht uns fertig.“ „Hast recht, Franz. Hier können wir nicht sitzenbleiben. – Warum sie nicht schießen? Sie wissen doch nicht, daß wir hinter einer Biegung sind. Diese Stille… Aber wir können uns nicht getäuscht haben. Ich habe doch deutlich Schatten gesehen. Du ja auch.“ „Still!“ zischte Mohammed jetzt. Carlo und Franz fuhren zusammen. Die Waffen schußbereit, lauschten sie. Minuten vergingen. Franz beugte sich zu Mohammed. „Was ist…?“ „Stimmen…“, hauchte der Junge, „… vor der Höhle.“ Franz spürte plötzlich wieder sein Herz schlagen. Schweiß trat ihm auf die Stirn…“Kommt, wir müssen tiefer hinein“, drängte er. „Wenn sie eine Handgranate werfen…“ Sie erhoben sich. Die Beine waren ihnen steif geworden. Carlo fror, daß ihm die Zähne aufeinanderschlugen. Am liebsten hätte er sich hingelegt, so elend fühlte er sich. Mit schwerfälligen Schritten folgte er Mohammed, der sich dicht hinter Franz hielt. Er sah auf die Leuchtziffern seiner Uhr und dachte: Bald wird es draußen wieder hell. Wenn die Höhle nun keinen zweiten Ausgang hat…? Da blieb Franz stehen. „Halt, rennt mich nicht um. Ich glaube, hier gabelt sich der Gang, Wir müssen Licht machen. Gib mir mal die Zündhölzer.“ „Bist du verrückt“, sagte Carlo heftig. „Wenn der Schein gesehen wird?“ „Unsinn, Carlo, wir sind doch weit hinter der Bie-
gung. Stellt euch beide davor. Ich lasse das Zündholz nur kurz aufleuchten.“ Grell zuckte die Flamme auf. Die Augen der drei verengten sich zu schmalen Schlitzen. Der gelbliche Schein erhellte eine kleine Felsgrotte, von der zwei Höhlengänge abzweigten, die dicht nebeneinander lagen. Franz trat das Zündholz aus. „Was nun? In welchen Gang gehen wir?“ „Der linke ist höher und auch nicht so schmal. Gehen wir in den“, schlug Carlo vor. „Wir müssen uns aber ein Zeichen hinlegen. Vielleicht sind noch mehr Gänge vorhanden. Hast du etwas?“ „Meine Zigarettenschachtel. Die Zigaretten stecke ich so ein.“ Carlo legte die Blechschachtel auf den Boden. „Gehen wir“, sagte Franz. Seine Stimme klang dumpf und unnatürlich, Langsam tasteten sie sich voran. Keiner sprach ein Wort. Oft blieben sie stehen und lauschten; doch nichts war zu hören. Wo mochte der Gang hinführen? Der Wassersack auf der Schulter drückte Carlo, so daß er oft wechseln mußte. Eine Packtasche hatte er sich an den Leibriemen geschnallt. Bei jedem Schritt schlug sie ihm in die Kniekehlen. Dazu die undurchdringliche Finsternis, die das Laufen unsicher und beschwerlich machte. Seine Uhr zeigte drei, als er vorschlug, eine Rast einzulegen. Franz stimmte zu. Nebeneinander saßen sie auf den Packtaschen und kauten den harten Zwieback. Dann ging der Wassersack von Hand zu Hand. „Der Gang nimmt überhaupt kein Ende“, ließ Franz
sich vernehmen. „Und kalt ist es wie in einem Eiskeller. Gib mir mal was zu rauchen.“ Schweigend reichte ihm Carlo eine Zigarette. Das Zündholz flammte auf. Gespenstische Schatten huschten über die Wände des Ganges. Franz hielt das Streichholz hoch und blickte sich um. Weit vermochten sie nicht zu sehen. „Ich vermute, daß hier einstmals Wasser geflossen ist“, sagte er gedehnt. „Wasser…?“ wiederholte Carlo ungläubig. „Ja, Wasser. Ein altes unterirdisches Flußbett. Ich glaube nicht, daß Menschen diese Gänge gearbeitet haben. Das Gestein ist ganz glatt.“ „Da kannst du recht haben, Franz. Wenn es so wäre, dann müßte das Wasser aber mal irgendwo hereingekommen sein. Also gibt es auch einen zweiten Ausgang, vielleicht gar mehrere.“ „Hoffen wir’s, Carlo. Einen werden wir schon finden. Zurück gehen wir jedenfalls nicht, das steht fest. Was meinst du, Mohammed?“ „Nein, nicht zurück. Bestimmt sehen wir bald wieder die Sonne.“ „Das denke ich auch. Fangen lassen wir uns nicht. Verdammt, daß die Kerle uns auch aufspüren mußten! Nun stehen wir ohne Pferde da.“ Franz warf seinen Zigarettenrest gegen die Wand. Funken sprühten auf und verlöschten wie kleine Sternschnuppen. Carlo hatte die Beine angezogen und hielt den Kopf in den Händen. Seine Gedanken jagten sprunghaft durcheinander. Da war das Fort mit den alten hohen Mauern. Wie oft
hatte er als Wachposten dort oben gestanden, in die unendliche Wüste geblickt und geträumt. Geträumt von Italien und von Vilma. Seine Hand tastete nach der Brusttasche, in der das Bild des Mädchens steckte. Vilma… Was mochte sie jetzt tun, in diesem Augenblick, da er in undurchdringlicher Finsternis hockte? Ob sie wohl noch immer in der Pfirsichplantage arbeitete? Ihr schmales, von der Sonne gebräuntes Gesicht tauchte vor ihm auf. Er vernahm ihr helles Lachen, Vilma! Carlo Marresi wühlte mit beiden Händen in den Haaren. Und plötzlich hörte er wieder die Salve… Deutlich sah er die vier jungen Algerier vor der Grube stehen. Legt an! Das Kommando gellte ihm wieder in den Ohren. Über Kimme und Korn hatte er gezielt, so wie er es gelernt hatte. Feuer! – Carlo preßte die Hand vor die Augen, als könne er so die gräßlichen Bilder verlöschen. Er stand auf und drängte weiterzugehen. Die linke Hand tastend an der Wand, lief er vornweg. Der Kopf war ihm schwer, und in den Ohren sauste es, als rausche irgendwo Wasser. Abwechselnd fror und schwitzte er. Seine Schritte wurden immer schleppender. Unerwartet stieß er mit dem Schienbein gegen etwas Hartes, verlor das Gleichgewicht und fiel lang hin. Mit dumpfem Krach schlug der Wassersack auf. „Carlo!“ Franz schob Mohammed zur Seite und tastete nach dem Freund. „Carlo, was ist?“ Benommen richtete sich der Italiener auf. „Ein Steinbrocken… ich bin dagegen gestoßen“, sagte er mühsam und unterdrückte ein Stöhnen. „Vielleicht ist der Gang hier zu Ende. Moment mal,
Carlo.“ Franz zündete ein Streichholz an. Große spitze Steinstücke hatten sich aus der Felswand gelöst und versperrten den Weg. Schlaff lag der Wassersack am Boden. „Das Wasser“, würgte Franz hervor. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sekundenlang auf die nassen Steine; dann riß er den Sack hoch. Leer! Eine scharfe Steinspitze hatte ihn beim Aufprall durchbohrt. Fassungslos sahen alle drei auf die Wasserlache, die langsam zwischen dem Geröll versickerte. Dann verlöschte das Streichholz. Mohammed nahm den Sack und öffnete den Verschluß. Nur wenige Tropfen, flossen heraus. Er fing sie mit dem Mund auf. Das gute Wasser! dachte er. Nun haben wir nur noch einen Sack, der nicht einmal mehr ganz voll ist. Franz untersuchte das Hindernis, stemmte sich gegen einen großen Steinbrocken, aber der ließ sich nicht von der Stelle rücken, Er riß noch zwei Zündhölzer an. „Wir müssen umkehren“, sagte er schließlich, „hier kommen wir nicht vorbei.“ Carlo preßte die Zähne aufeinander. Der brennende Schmerz am Bein ließ nicht nach. „Daß mir das auch passieren mußte!“ Er zog sein Hosenbein hoch. Klebrig fühlte er Blut an seinen Händen, Längst mußte der Tag angebrochen sein, und sie tappten noch immer in der Finsternis. Plötzlich griff Franz mit der linken Hand ins Leere. „Halt! Bleibt stehen! Wir sind wieder in der Grotte.“ Ihm kam die zurückgelaufene Strecke sehr kurz vor.
Oder täuschte die Dunkelheit? Zwei Zündhölzer knickten erst ab, ehe eines brannte. Schreck zeichnete sich auf ihren Gesichtern, als sie im schwachen Schein der Flamme wiederum zwei Gangmündungen erkannten. Stumm sahen sie sich an. „Ich verstehe das nicht“, brach Franz das Schweigen. „Wir sind doch den gleichen Weg, den wir kamen, zurückgelaufen. Wieso stehen wir auf einmal vor zwei neuen Gängen?“ Er leuchtete umher. Eine dicke Staubschicht bedeckte den Boden. Modrige, dumpfe Luft schlug ihnen entgegen. Franz schüttelte den Kopf. „Nein, hier sind wir noch nicht gewesen. Verflucht, das ist ja der reinste Irrgarten. Wo gehen wir nun lang? Ich schlage vor, den linken.“ Carlo nickte gleichgültig. Auch Mohammed sagte nichts. Durst und Hunger quälten ihn. Franz überlegte. Sie mußten wieder ein Zeichen niederlegen. Eines, das sie auch in der Dunkelheit bemerken würden. Er nahm Mohammed den leeren Wassersack aus den Händen und breitete ihn auf den Boden. Niedergeschlagen wankten sie weiter. Sieben Zündhölzer haben wir noch, sprach Franz zu sich. Sieben Stück… Wir müssen einen Ausgang finden. Herrgott, irgendwo müssen wir doch ans Licht kommen! Nagender Zweifel kroch in ihm hoch. Gibt es überhaupt noch ein Entrinnen aus diesem Labyrinth? Stunden um Stunden irren wir schon umher. Wie lange noch? Die Legionäre drängten sich in seine Gedanken. Warteten sie noch immer vor dem Höhlenein-
gang? Ein klirrendes Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Er zündete sofort ein Streichholz an. Carlo Marresi lehnte an der Wand. Die Maschinenpistole war ihm von der Schulter geglitten. Seine Augen glänzten unnatürlich. „Ich gehe nicht mehr weiter“, sagte er leise. „Ich kann nicht mehr.“ Er rutschte mit dem Rücken an der Felswand herunter und verharrte dann regungslos in hockender Stellung. „Ruhen wir uns aus“, schlug Franz vor. „Ein paar Stunden Schlaf ist das Beste. Unsere Nerven sind erschöpft.“ Er leuchtete Carlo ins Gesicht und erschrak. Dicke Schweißperlen standen auf dessen Stirn, und die Augen sahen starr ins Leere. Er hat Fieber! durchfuhr es ihn. Wieder umgab sie undurchdringliche Dunkelheit. „Komm, Carlo, leg dich hin“, bat Franz. Er schnallte ihm die Packtasche vom Leibriemen. Willenlos ließ sich der Italiener auf den harten Felsboden betten. Franz legte ihm kühlend die Hand auf die heiße Stirn, spürte den heißen Atem und dachte: Das ist unser Ende. Doch laut sagte er: „Wird schon vorübergehen, Carlo. Magst du Zwieback essen? Oder willst du Wasser?“ „Trinken“, hauchte der Kranke. Mohammed legte ihm den Wassersack an den Mund, hob ihn vorsichtig an, so daß Carlo Schluck für Schluck trinken konnte. Auch Franz und Mohammed tranken und aßen Zwieback. Heißhungrig verschlang der Araberjunge das harte Gebäck. Zehnmal soviel hätte er essen mögen.
Franz hockte sich neben Carlo auf eine Packtasche. Wie lange braucht man wohl, um zu verhungern und zu verdursten? überlegte er. Finden wir keinen Ausgang, sind wir in ein paar Tagen erledigt. Er preßte die Hände vors Gesicht; sein Mund zuckte. Aber er konnte sich mit den Todesgedanken nicht abfinden und sprach sich Mut zu. Langsam sank ihm der Kopf vornüber. Hatte er geschlafen? Wie viele Stunden oder Tage waren schon vergangen? Ein Schrei gellte auf. Carlo hatte ihn ausgestoßen. Fieber wühlte in dem erschöpften Körper des Italieners. Er spürte die Sinne schwinden, kämpfte dagegen an. Doch das Fieber war mächtiger. Es schüttelte ihn, trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Kraftlos fiel sein Kopf zur Seite. Franz kniete sich neben den Freund. Er konnte ihm aber nicht helfen. „Carlo!“ Mohammeds Stimme klang weinerlich. „Carlo.!.“ Dann wurde es still. Nur das keuchende Atmen des Italieners war zu hören. „Wir müssen einen Ausgang suchen“, sagte Franz kaum hörbar. „Wir müssen ihn finden, Mohammed!“ Er dachte an Carlo: Sollten sie ihn hier allein und hilflos liegenlassen? Franz grub die Zähne in die Unterlippe. Carlo mitschleppen, in diesem Zustand…? Nein, das war unmöglich. Mohammed mußte bei ihm bleiben. Doch was nützte das? Der konnte ihm auch nicht helfen. „Wir müssen jeder in einer anderen Richtung vordringen und…“ Ein jäher Gedanke schoß in ihm hoch. Wenn wir uns verirren, nicht mehr zu Carlo zurückfinden? Es würgte ihn in der Kehle. Er begann zu schwit-
zen. Krampfhaft überlegte er. Nein, es gab keinen anderen Weg. Sie mußten suchen! Er tastete nach Carlos Hand, fühlte den Puls. Die Hand war heiß, und das Blut hämmerte ihm gegen die Finger. Langsam richtete sich Franz auf, zündete wieder ein Streichholz an. Carlo lag bewegungslos da; nur sein dampfender Atem verriet, daß er lebte. Doch jetzt schlug er die Augen auf. Die gelbe Flamme spiegelte sich in seinen fieberglänzenden Augen. „Franz“, brachte er mühsam hervor, „laßt mich hier liegen. Sucht einen Ausgang. Geht, ehe es zu spät ist. Mir könnt ihr doch nicht helfen. Vielleicht sind wir einem Ausgang ganz nahe…“ Franz senkte den Kopf und schwieg. „Du hast recht“, sagte er dann. „Wir dürfen nichts unversucht lassen.“ Er nahm zwei Zündhölzer aus der Schachtel, brach eine Reibfläche ab und reichte beides Mohammed. Auch den Revolver gab er ihm. „Ich gehe bis zu dem Wassersack zurück und von dort in den anderen Gang. Du gehst hier weiter, Mohammed. Zweigt der Gang irgendwo ab, klemmst du an der rechten Seite einen Stoffetzen in einen Spalt.“ Franz zog sein Hemd aus der Hose und riß einen breiten Streifen ab. „Hier, nimm. Hast du einen Ausgang entdeckt, feuerst du zwei Schüsse ab.“ Er beugte sich zu Carlo und strich ihm über die Stirn. „Wir werden einen Ausgang finden“, sagte er zuversichtlich. „Wenn du magst, trink und iß. Wir lassen dir alles hier.“ Mohammed ergriff Carlos Hand. „Carlo… Mohammed kommt bald zurück. Nicht lan-
ge wirst du allein sein. Dann tragen dich Franz und Mohammed in die Sonne. Die wird dich gleich heilen.“ Carlo lauschte den sich entfernenden Schritten. Eine neue Fieberwelle überfiel ihn. Langsam drang Mohammed vorwärts. Eine Hand tastend an der Wand, die andere wie einen Fühler nach vorn gestreckt. Quälende Gedanken plagten ihn. Jetzt, da er allein war, packte ihn die Angst. Hausten Dschinn in der Höhle? Dschinn, die dienstbaren Geister des Teufels. Sein Atem stockte, er verhielt den Schritt. Dschinn… Carlo… Franz… Ihm wirbelte es im Kopf. Er jagte zurück, schlug gegen die Wand. Still blieb er liegen. Da… grünes Leuchten. Ach, die Armbanduhr. Er raffte sich hoch. Allah, hilf mir! Allah akbar! Mohammed muß einen Ausgang finden. Führte der Weg in die Dschehenna? Nein… nein, nicht in die Hölle. Es war doch nur eine Höhle. Zögernd schritt er weiter. Die Beine waren ihm plötzlich so schwer. Er fror nicht mehr. Heiß wurde ihm. Heiß. War es doch die Glut der Dschehenna, die ihm aus der Tiefe entgegenschlug? Er schluckte krampfhaft und blieb stehen. Allah kehrim, laß mich stark sein! Mutig reckte er den Körper. Unendlich schien der Weg in die Dunkelheit. Wollte denn die Höhle kein Ende nehmen? Da… was war das? Der Gang stieg steil an. Mohammed lief schneller. Immer enger wurde es. Er stieß mit dem Kopf an und verzog schmerzvoll das Gesicht. Dort… Licht… die Sonne! Ein unterdrückter Schrei würgte sich aus seiner Kehle. Schmale Strahlen fielen in die Höhle. Wie spitze
Pfeile stachen sie in die Finsternis. Mohammed sank in die Knie und preßte das Gesicht an eine handbreite Spalte. So tief atmete er, daß ihm schwindlig wurde. Doch im Nu war er wieder hoch, zerrte den Revolver aus der Tasche und feuerte zwei Schüsse ab. .Franz blieb stehen. Deutlich hatte er die peitschenden Knalle gehört; Mohammed – hatte er einen Ausgang entdeckt? Er lehnte sich gegen den Fels, Schwäche befiel ihn. Es dauerte eine geraume Weile, bis er imstande war zurückzulaufen. Fast wäre er über Carlo gestolpert. „Carlo!“ Seine Stimme zitterte. „Carlo! Hast du es gehört?“ Doch der Italiener antwortete nicht. Das Fieber hielt ihn umfangen. Franz zündete ein Streichholz an. Dann hob er den Bewußtlosen auf. Mit jedem Schritt spürte er seine Kraft schwinden. Aber er gab nicht nach. Wie Klammern umspannten seine Arme die schmächtige Gestalt des Italieners. Der Araberjunge kam ihnen entgegen. „Mohammed hat die Sonne gesehen“, jubelte er. „Der Ausgang ist verschüttet; Nur kleine Spalten sind offen. Aber wir werden hinauskommen.“ Jetzt sah auch Franz Licht in die Höhle fallen. Mit letzter Anstrengung schleppte er Carlo die wenigen Meter, dann sank er neben ihm nieder und blieb wie betäubt liegen. Mohammed machte sich sofort am Ausgang zu schaffen, versuchte mit der Hand eine der Lücken zu erweitern. Seine Finger bluteten, doch er arbeitete fieberhaft und brach Stein für Stein heraus. Aber der Spalt verbreiterte sich nur wenig. Franz hatte sich erholt und kroch an die Öffnung.
Große Felsbrocken versperrten sie. Entmutigt schloß er für Sekunden die Augen. Würde es ihnen gelingen, hier hinauszukommen? Er betastete die Spalten. Sonnenglut und Nachtkälte hatten das Gestein zerrissen. Es mußte gelingen! Franz begann zu arbeiten. Die Maschinenpistole fiel ihm ein. Den Lauf als Brechstange… Doch er verwarf den Gedanken wieder. Sie würden sie noch gebrauchen können. Der Anblick des blauen Himmels verlieh ihm Kraft. Mit beiden Händen erfaßte er einen großen Brocken, rückte und zerrte. Endlich… Der Stein legte sich zur Seite, kleinere rollten nach. Es war geschafft! Mohammed schlüpfte als erster durch den Spalt. Franz zwängte sich hinterher. Kaum hatte er sich aufgerichtet blieb er wie erstarrt stehen. Drei braune Gestalten, die Gewehre im Anschlag, traten hinter dem Fels hervor. „Hände hoch!“ riefen sie auf französisch. Mechanisch streckten Franz und auch Mohammed die Arme nach oben. Carlo Marresi schlug die Augen auf. Er sah in ein braunes Gesicht, das sich über ihn beugte. „Wo bin ich?“ fragte er leise. Er versuchte, sich aufzurichten. „Still liegen“, sagte eine hohe weiche Stimme. Mit weit offenen Augen nahm er seine Umgebung auf. Ein junges Mädchen saß neben ihm. Ihre braune Haut hob sich scharf von der weißen Kleidung ab. Sie lächelte und strich ihm über den Arm.
„Wo bin ich?“ wiederholte er und sah dem Mädchen, das ihm den Kopf stützte, ins Gesicht. Sie legte ihm eine Trinkschale an den Mund. Die kühle Flüssigkeit schmeckte süßlich. Carlo trank in langen Zügen; dann sank er erschöpft zurück. Das Mädchen entfernte sich. Gleich darauf trat ein ebenso dunkelhäutiger Mann an sein Lager. Ein kleiner schwarzer Bart zierte sein Kinn. Der Mann sah Carlo forschend an. „Na, wie fühlen Sie sich? Nun haben Sie es endgültig geschafft. In ein paar Tagen können Sie aufstehen.“ „Wo bin ich?“ fragte der Italiener zum dritten Male. „Was ist geschehen?“ Der dunkelhäutige Mann setzte sich zu ihm. „Sie waren krank. Schlimmes Fieber; es wollte nicht weichen. Aber ihre Natur ist gut. – Sie befinden sich bei einer Gruppe algerischer Freiheitskämpfer.“ Schlagartig kam Carlo die Erinnerung zurück. Die Höhle, – Mohammed und Franz… „Sie leben?“ Der Arzt nickte und wandte den Kopf. „Da sind sie!“ Carlo richtete sich auf. „Franz! Mohammed!“ Seine Augen wurden feucht. Franz drückte ihm beide Hände. „Endlich, Carlo. Ich dachte schon… Fast drei Wochen lagst du im Fieber.“ „Aber nun bist du wieder gesund und kannst bald aufstehen“, setzte Mohammed fort und strich Carlo behutsam über die Wange. „Wir waren nur ganz wenig krank. Und Mussa und die Stuten sind auch hier. Ach, Carlo, wir hätten gar nicht in die Höhle zu kriechen brauchen. Wir dachten, die Legionäre wollten uns wieder fangen, aber es waren unsere Leute.“
Carlo sah Franz fragend an. „Ja, es ist schon so“, bestätigte Franz. „Die sieben Gestalten, die wir für Legionäre hielten, waren Freiheitskämpfer. Sie kannten natürlich die Höhle genau und warteten schon am zweiten Ausgang auf uns. Ich hatte recht; es ist ein altes unterirdisches Flußbett. Als Mohammed endlich den Ausgang entdeckte, der obendrein noch verschüttet war, kostete es unsere letzte Kraft, die Brocken beiseite zu räumen. Und als wir es endlich geschafft hatten und im Freien standen, starrten uns drei Gewehrmündungen entgegen. Na, ich kann dir sagen, das Herz rutschte mir bis in die Knie. Aber die Lage änderte sich schnell zu unseren Gunsten. Mohammed legte sich ins Zeug. Ich war froh, daß es so gekommen war. Was hätte ich mit dir machen sollen? Kein Wasser, nichts zu essen. Wir wären umgekommen. Wir können wahrhaftig von Glück reden. Nun sind wir in Sicherheit.“ Carlo kam das Gehörte wie ein Traum vor. Als er den Kopf zu Mohammed wandte, bemerkte er die Maschinenpistole auf dessen Rücken. Auch einen Gürtel hatte der Junge umgeschnallt, in dem Patronen steckten. Mohammed spürte den verwunderten Blick und richtete sich stolz auf, Breitbeinig stellte er sich hin. „Da staunst du, Carlo. Mohammed ist nämlich Meldegänger bei der Freiheitsarmee geworden. Achmed Isahar, der die Armee zusammenstellt, hat Mohammed selbst dazu ernannt. Bald werden wir in den Kampf ziehen und alle Dörfer und Städte befreien. Und Mohammed hilft mit.“ Er schwieg und sah Franz an. Als der nickte, sagte er noch; „Und Franz auch.“