Simon Rose Firlefinanz
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Simon Rose Firlefinanz
ein Ullstein Buch »Ein zweiter Tom Sharpe«, jubelte die britische Presse nach Erscheinen des Erstlingsromans von Simon Rose. Wie der skrupellose Vorsitzende eines Großkonzerns und sein jüngster Angestellter, Tolpatsch und Sündenbock Jeremy, von einer Katastrophe in die andere stolpern, ist in der Tat eine glänzende Satire auf alle Machenschaften des Big Business.
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Simon Rose Firlefinanz Roman
ein Ullstein Buch
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ein Ullstein Buch Nr. 22619 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin Titel der englischen Originalausgabe: Filthy Lucre Ins Deutsche übertragen von Ute Tanner Deutsche Erstausgabe Umschlagentwurf und Illustration: Brian Bagnall Alle Rechte vorbehalten © Simon Rose, 1990 Übersetzung © 1991 Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin Printed in Germany 1992 Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3 548 22619 l Februar 1992
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Rose, Simon: Firlefinanz: Roman / Simon Rose. [Ins Dt. übertr. von Ute Tanner]. – Dt. Erstausg. – Frankfurt/M; Berlin: Ullstein, 1992 (Ullstein-Buch; Nr. 22619) ISBN 3-548-22619-1 NE:GT 3
Dem Andenken von Sid Chaplin, der einem stets Mut gemacht hat.
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Dieses Buch ist ein Roman. Namen, Figuren, Orte und Begebenheiten sind entweder der Phantasie des Autors entsprungen oder romanhaft dargestellt. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, Schauplätzen, lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.
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1 Auf und ab. Und auf und ab. Und auf und ab. Er war fix und fertig. In jüngeren Jahren hatte er sich leichter damit getan, hatte sogar ziemlichen Spaß daran gehabt. Jetzt, wo er älter war, schlaffte er doch merklich schneller ab. Und es war nicht nur die körperliche Erschöpfung, die ihn mitnahm, es war vor allem diese blödsinnige Monotonie. Auf und ab. Und auf und ab. Und auf und ab. Immer und immer wieder. Müßig überlegte er, ob sich wohl ganz grob berechnen ließe, wie oft er dieses Auf und Ab in seinem Leben schon praktiziert hatte. Er merkte, daß er nicht mehr ganz bei der Sache war, und nahm sich zusammen. Nein, mein Lieber, so geht das nicht. Er riskierte einen raschen Blick nach unten, weil er wissen wollte, was sich da tat. Auf und ab. Und auf und ab. Und auf und ab. Ein bißchen tiefer vielleicht. Er korrigierte seine Stellung. Auf und ab. Und auf und ab. Und auf und ab. Wieder blickte er nach unten, und was er dort sah, befriedigte ihn sehr. Jetzt war es bald soweit. Auf und ab. Und auf und ab. Und auf und ab. Ganz schön bescheuert, was er da in seinem Alter trieb. Kaum war man in der einen Richtung fertig geworden, mußte man das Ganze noch mal andersrum machen. Auf und ab. Und auf und ab. Und auf und ab. Gewiß, der Winter in Westafrika war wunderschön, aber lohnte das wirklich die Mühe? Zweitausend Meilen, mein lieber Scholli, das war ein ganz schöner Schlauch. Egal, wie alt man war. Auf und ab. Und auf und ab. Und auf und ab. Verdammt, taten die Flügel weh. Jetzt konnte er London riechen. Man roch es immer, lange bevor man es sah. Kein besonders berauschender Duft, aber wieder mal Heimat für einen Sommer, wie vorher schon viele Sommer lang. Auf und ab. Und auf und ab. Und auf und ab. Da war sein Wegweiser, der lange Lulatsch auf der Säule mit den toten Löwen drunter, überall, wie üblich, Scharen 6
dieser ordinären lärmenden Stare. Er flog weiter und nahm eine leichte Kursänderung vor. Jetzt war er bald am Ziel. Trafalgar Square war nicht der richtige Ort, um junge Mehlschwalben in die Welt zu setzen. Er bevorzugte dafür ein ruhiges Plätzchen, und da war Gilbert Square genau das richtige. Solide, zuverlässige Gebäude mit einer Fülle geräumiger Nistplätze. In der Mitte Bäume und Gras. Baumaterial in unmittelbarer Nähe reichlich vorhanden. Was wollte man mehr? Er flog tiefer und drehte eine Begrüßungsrunde um den Platz, ehe er Nummer Siebzehn ansteuerte. Er bremste scharf. Das durfte doch nicht wahr sein! Das war nicht Nummer Siebzehn. Falsche Höhe, falsche Form, falsche Farbe. Was war denn da kaputt? Ratlos hielt er sich in der Schwebe. Die richtige Stelle war es, das wußte er genau. Er erkannte die Nachbarhäuser, wunderschöne beigefarbene alte Bauten, die jede Menge behaglicher Ecken und Winkel hatten. Dieses riesige Ding da war glatt und scheußlich. Wo war sein Nistplatz geblieben? Von allen Seiten landeten die Kollegen ein. Wenn er sich nicht rasch entschied, war nichts mehr frei. Er belegte einen schmalen Vorsprung mit einem Überhang, unter dem er sich mit Mühe und Not ein Nest bauen konnte, aber zufrieden war er nicht. So ein Scheiß, dachte er vergrätzt. Ein Blick nach unten hätte ihn womöglich heiterer gestimmt; seine Mißfallensbekundung war direkt in einem menschlichen Auge gelandet. Mit dem anderen Auge bemühte sich Jeremy, das Positive zu sehen. Vielleicht war dies ein Zeichen des Himmels, ein glückliches Omen. Er war zwar kein abergläubischer Typ, aber am nächsten Morgen sollte er bei BIG, der British Industrial Group, anfangen, einem der führenden Unternehmen des Landes, das jedes Jahr eine Anzahl von Hochschulabsolventen 7
als Management Trainees aufnahm, und hatte fürchterliches Lampenfieber. Um jedwedem Mißgeschick am kommenden Morgen vorzubeugen, hatte er sich zu einer Generalprobe entschlossen. Mit einer Stoppuhr bewaffnet, war er per U-Bahn von seiner Wohnung in Sussex Gardens, Paddington, zum Russell Square gefahren. Er ließ die Stoppuhr klicken. Achtundzwanzig Minuten und fünfundfünfzig Sekunden von Tür zu Tür. Neunzehn Minuten und dreizehn Sekunden mit der U-Bahn, notierte er, neun Minuten zweiundvierzig Sekunden Fuß weg alles in allem. Er würde noch fünf Minuten für Unvorhergesehenes zugeben. Sicherheitshalber. Gerade sein Talent, so fand er, auch die unbedeutendsten Details mit ins Kalkül zu ziehen, würde ihm bald den Ruf eines vielversprechenden jungen Menschen verschaffen, eines Typs, den man im Auge behalten mußte, eines kommenden großen Mannes. Jeremy wischte sich das Glückszeichen aus dem Auge, überquerte die Straße und betrat die Grünanlage, um die neue Zentrale von British Industrial besser auf sich wirken zu lassen, wobei er an Major Peregrine vorbeikam, der lange, wenn auch letztlich vergeblich, alle Kräfte angespannt hatte, um den Bau dieses Prachtstücks zu verhindern, und eben jetzt mit seinem Hund Rommel Gassi ging. Der Major hatte, wie er bereitwillig allen erzählte, die es hören oder auch nicht hören wollten, im Zweiten Weltkrieg in Südafrika mitgeholfen, Rommel kleinzukriegen, und machte sich für eventuelle neue feindliche Übergriffe der Hunnen fit, indem er sich Dackel hielt, die sämtlich auf den Namen des Feldmarschalls hörten – oder auch nicht. Dieser Rommel war der fünfte. Major Peregrine war nur noch ein blasser Schatten seiner selbst. Seit dreißig Jahren am Gilbert Square wohnhaft, hatte er sich heftig gegen die Pläne gewehrt, ein völlig intaktes georgianisches Stadthaus abzureißen und an seiner Stelle ein vierzehnstöckiges Bürohaus hinzuklotzen. Als Vorsitzender der 8
Anlieger-Initiative hatte er für eine Petition siebentausend Unterschriften gesammelt, von denen die meisten sogar echt waren. Seine Zuversicht, daß es ihm gelingen würde, die Unversehrtheit eines Platzes zu bewahren, der wie durch ein Wunder Görings Bombern und den begehrlichen Blicken so manches Bauunternehmers entgangen war, hatte sich bestätigt. Widerstrebend hatte das Bauamt einen unterderhand als mutig und innovativ bezeichneten Antrag abgelehnt, und Gilbert Square, ein prächtiges Beispiel für das architektonische Werk von Thomas Cubitt, war gerettet. Auf dem Square war geflaggt worden, und einige der Anwohner, von denen die meisten aus Prinzip nie ein Wort miteinander wechselten, setzten sich in ihrer Begeisterung sogar auf ein Bier zusammen. Die sieghafte Hochstimmung des Majors hatte genau zwei Tage angehalten und war in dem Feuer verglüht, das in Gilbert Square Nummer Siebzehn wütete und eine leere Hülle hinterließ. Wie die Stadtplaner genüßlich erläuterten, wäre der Wiederaufbau des Hauses nach den Originalplänen mit astronomischen Kosten verbunden gewesen. Wie gut traf es sich da, daß ausgerechnet auf dem Gelände von Nummer Siebzehn der BIG-Konzern seine neue Zentrale errichten wollte. Nicht auszudenken, wenn statt dessen Nummer Fünfzehn oder Neunzehn ausgebrannt wäre! Um der zweifellos vorhandenen Einsturzgefahr und der damit verbundenen Gefahr für Leib und Leben der Anwohner zu begegnen, hatte das Bauamt entgegenkommenderweise den Bauantrag im Eilverfahren genehmigt. Nur wenige Tage später kamen die Bulldozer. Die anderen Anwohner des Square beeilten sich, Major Peregrine darauf hinzuweisen, daß er geschworen hatte, dieser verdammte Klotz werde nur über seine Leiche gebaut. Da aber die geschäftige Bautätigkeit auf Nummer Siebzehn und der Major gleichzeitig zu sehen waren, wie eine betagte Witwe bemerkte, als sie Rommel auf seinem Verdauungsspaziergang begegnete, mußte wohl das eine oder das andere eine Fata 9
Morgana sein. Mit einem wohlgezielten Schlag ihres Gehstocks konnte sie zu ihrer Zufriedenheit nachweisen, daß der Major, was immer er sonst sein mochte, jedenfalls keine optische Täuschung war. Während er sich hinkend in seine Souterrainwohnung flüchtete, überlegte Major Peregrine, daß selbst einem Mann seines Schlages doch wohl hin und wieder eine Metapher gestattet sein müßte. Genugtuung wurde ihm, als er bei der Einweihung von BIG House sein Mißfallen kundtat, indem er, für alle Beteiligten sichtbar, so lange wie möglich den Atem anhielt. Bei dem heftigen Hustenanfall, der diesem Versuch folgte, flog sein Gebiß heraus und grub sich in den Nacken eines der BIG-Manager. Es war ein Pyrrhussieg. Die Einweihungsfeier war trotzdem weitergegangen. Zum erstenmal seit Jahren erfuhr der Major die Bitternis der Niederlage. Er erfuhr auch, daß Gebisse heutzutage nicht mehr so solide gearbeitet werden wie früher. Die neuen Dritten bereiteten ihm Höllenqualen. Heute gönnte er – wie gewöhnlich – Rommel keine Pause, bis sie die Straße überquert hatten und vor der himmelhohen Scheußlichkeit standen. Nur dort durfte der Hund das Bein heben. Der Major experimentierte seit einem Vierteljahr mit Rommels Futter, und der Beton nahm in der Tat allmählich eine erfreulich widerwärtige Grünfärbung an, doch bewirkte bisher nichts, was die Verdauungsorgane des Dackels durchlief, eine Zersetzung des Materiales. Da muß etwas Stärkeres her, dachte der Major. Etwas viel Stärkeres. Er verfolgte diesen Gedanken weiter. Und noch ein Stück weiter. Zum erstenmal, seit die Bulldozer ihr Werk auf Nummer Siebzehn begonnen hatten, richtete sich der Major zu seiner vollen Größe auf. Er lächelte. »Bange machen gilt nicht, stimmt’s, Rommel? Angriff ist noch immer die beste Verteidigung. Was hoch hinaus will, muß auch wieder runter, wie?« Der Dackel gab keine Antwort. Er hatte genug Mühe sicherzustellen, daß das, was am einen Ende reinging, am 10
anderen Ende auch wieder rauskam. Energisch zog der Major den Dackel aus dem ernsthaften Geschäft der Entsorgung weg in Richtung Heimat. Jetzt galt es, Pläne zu schmieden. Auf der anderen Seite des Platzes sah Jeremy bewundernd zum BIG House hoch. Was für ein prachtvolles Bauwerk. Ganz offenbar war es die Absicht der Architekten gewesen, ein Zeichen zu setzen, mit dem die Rolle der Wirtschaft im modernen Gemeinwesen deutlich gemacht werden sollte. Die Höhe versinnbildlichte die Vormachtstellung von Handel und Wandel gegenüber allen anderen Aktivitäten der Gesellschaft. Die rohe Kraft symbolisierte wohl das überleben des Stärksten. Die Betonverkleidung sollte zweifellos zeigen, daß Fransen und Schnörkel in einem modernen, durchrationalisierten Unternehmen unangebracht waren, während die Rohre, die sich kreuz und quer über die Fassade zogen, das architektonische Äquivalent eines Händedrucks sein mochten und zeigten, daß hier alles offen und ehrlich zuging. Das dreieckige BIG-Logo war sinnig in das Gesamtkonzept integriert und zeigte das menschliche Gesicht der Firma, mit dreieckigen Fenstern in einigen Stockwerken und einer dreieckigen Vorhalle. Ein ehrliches Bauwerk, überlegte Jeremy, das dem Beschauer sehr viel über das Unternehmen verriet, das es beherbergte. Zu behaupten, Jeremy freue sich auf seine erste Stellung, wäre eine Untertreibung gewesen. Seine Bewunderung für die Firma und deren Boss, Alexander Prosser, hatte fast etwas Götzendienerisches an sich. Er verinnerlichte jedes Fitzelchen an Information über den BIG-Konzern und über Prosser, das ihm in die Hände fiel, und den Artikel aus der Zeitschrift Business, den er in der Brieftasche mit sich herumtrug, konnte er auswendig hersagen. Er murmelte ihn leise vor sich hin, wie eine Litanei, während er BIG House auf sich wirken ließ: »Es gibt Leute, die der Meinung sind, der bemerkenswerte Aufschwung der britischen Wirtschaft sei allein diesem 11
Unternehmen und insbesondere jenem Mann zuzuschreiben, der es zu dem gemacht hat, was es heute ist, Alexander Charles Prosser. Wie ein riesiger, allwissender Adler beherrscht dieser überlebensgroße, temperamentsprühende Industriekapitän von seinem Penthouse-Horst aus das gewaltige Imperium der British Industrial Group. Prossers zupackendes Geschäftsgebaren duldet keine Opposition. Was ihm im Wege steht – ob unbelebte Gegenstände oder lebendige Menschen –, wird von diesem menschlichen Dynamo glatt überrannt. Es scheint keinen Aspekt des Geschäftslebens zu geben, den Prosser nicht intuitiv zu begreifen vermöchte. Während andere Unternehmen weiterhin in langweiligtraditionellen Gleisen laufen, verfolgt BIG zahlreiche und vielfältige Aktivitäten, vom Maschinenbau der Muttergesellschaft British Iron Girders über den Freizeitbereich, die Gastronomie und das Hotelgewerbe, Zigarettenfabriken und Brauereien bis zur Anlage von Parkplätzen und zum Hausund Wohnungsbau, Maklergeschäften und dem Lebensmitteleinzelhandel. In den zehn Jahren, seit Prosser am Ruder ist, hat BIG sechzig verschiedene Unternehmen aufgekauft. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen: ›Von null auf sechzig in zehn Jahren ist nicht übel, und die Beschleunigung hält noch an.‹ Kurzum, was für ein Spielchen es auch sei, zu dem man sich in der Wirtschaft zusammensetzt – wenn es Prosser interessiert, wird er kräftig mitmischen.« Jeremys Lippenbewegungen hörten auf. Die Dämmerung senkte sich auf London. Der seit acht Uhr morgens gleichbleibend hohe Geräuschpegel nahm allmählich ab. Die Vögel machten ihre Kehlen frei vom Kohlenmonoxyd und konnten sich mit ihren Stimmen wieder durchsetzen. Während Jeremy zum 13. Stockwerk hochblickte, wo, wie er wußte, Prossers Büro war, ging dort das Licht an. Demnach, dachte er ehrfurchtsvoll, sitzt der große Mann noch über seiner Arbeit. Wieviel Kraft muß in diesem Menschen stecken! 12
Jeremy trat einen Schritt zurück und direkt auf einen Penner, der hinter ihm in einem Hauseingang lag. Hätte Jeremy es fertiggebracht, sich vermöge der Levitation dreizehn Stockwerke hoch in die Lüfte zu erheben, hätte er sich mit eigenen Augen davon überzeugen können, daß Alexander Prosser, Vorstandsvorsitzender und Hauptgeschäftsführer der British Industrial Group, in der Tat mit seiner Kraft noch keineswegs am Ende war. Er lag auf dem Rücken auf seiner Bürocouch, und hätte jemand durchs Fenster geschaut, hätte er sein Gesicht nicht sehen können, da es durch die nackte Rückfront einer seiner Chefassistentinnen, Lorraine Summers, verdeckt war. Rittlings auf ihrem Arbeitgeber sitzend, tat Lorraine ihre Pflicht für Großbritannien und für BIG und hielt die Erinnerung an den heiligen Georg lebendig. Ganz bei der aufrichtenden Sache aber waren beide nicht. Lorraine versuchte, während sie auf und ab nach rechts und links wippte, rasch mal auf die Uhr zu schauen, und überlegte, ob sie es noch schaffen würde, sich mit Janice am Cinecenter in der Tottenham Court Road zu treffen, wo sie sich den neuesten Burt-Reynolds-Film ansehen wollten. Prosser hingegen klopfte sich, während er abwesend Lorraines Brüste knetete, innerlich auf die Schulter. Sein Antrag auf Mitgliedschaft bei Bart’s kam morgen vor den Zulassungsausschuß. Wurde auch langsam Zeit, daß er in diesen renommierten Klub aufgenommen wurde, dessen Mitgliedschaft auf den inneren Kreis führender britischer Unternehmer begrenzt war. Stand er nicht an der Spitze des am schnellsten wachsenden britischen Konzerns, war er nicht einer der reichsten Männer des Landes, Vertrauter der Premierministerin mit ganz großen Chancen, demnächst geadelt zu werden? Warum seine Kollegen sich so lange standhaft geweigert hatten, ihn zu akzeptieren, war ihm ein Rätsel. Schön, dem einen oder anderen hatte er mal auf die Zehen treten müssen. Aber wer von den hochgestochenen alten 13
Armleuchtern, die den Klub gegründet hatten, war nicht mal einer Tussi an die Möpse gegangen oder hatte einen Konkurrenten in die Pfanne gehauen? Diese gemeine Bemerkung von Sir Jocelyn Pardoe, die prompt von der Presse aufgegriffen worden war, hatte ihm ganz schön die Tour vermasselt. Von wegen »größenwahnsinniger kleiner Prolet …« So eine Frechheit. Das würde er zurücknehmen müssen, dieser hochnäsige Aristokratenarsch, wenn er erfuhr, wem nun bald Zugang in die geheiligten Hallen seines Klubs gewährt werden würde. Zu Lorraines Verblüffung ließ Prossers Gemächte, nachdem es Zugang zu ihren geheiligten Hallen gefunden hatte, wenig Neigung erkennen, sie wieder zu verlassen. Während sie ihm, wollüstige Leidenschaft heuchelnd, ins Gesicht sah und es dabei nach Möglichkeit vermied, den kalten Fischaugen zu begegnen, überlegte sie, wieso es ausgerechnet immer die Kleinen, Fiesen, Kahlköpfigen waren, die so viel Erfolg im Leben hatten. Wenn sie der heilige Georg war, so war er entschieden der Drache mit allen Hautproblemen, an denen diese armen Tiere offenbar gelitten hatten. Sie beschleunigte ihre Aktivitäten in der Hoffnung, das Kapitel rasch abschließen zu können, um sich dem entschieden erfreulicheren Anb lick von Burt Reynolds hinzugeben. Es dauerte nicht lange, bis Lorraines Können trotz Prossers Zerstreutheit Erfolg gezeitigt hatte. Sie machte Anstalten, sich abzukoppeln. »Wo willst du denn hin?« fuhr Prosser sie an. »Ich dachte …« »Jetzt werden erst mal ein paar Briefe diktiert.« »Ja, Mr. Prosser.« Gehorsam blieb Lorraine rittlings auf ihrem Boss sitzen. An seine Arbeitsmethoden mußte man sich erst gewöhnen. Hoffentlich, dachte sie, dauert es nicht zu lange, sonst hat er Zeit, wieder zu Kräften zu kommen. Dann blieben sie womöglich, wie sie aus schmerzlicher Erfahrung wußte, die ganze Nacht im Clinch. 14
»An Harry Shepherd, Generaldirektor, Prossers AuspuffCenter«, diktierte er. »Lieber Harry, ich habe einen Brief von einem dankbaren Kunden bekommen, der seiner Freude darüber Ausdruck gibt, daß der Auspuff, den Deine Leute in seinen Wagen eingebaut haben, fast drei Jahre gehalten hat, und schmeichelhafte Vergleiche zu unserer Konkurrenz anstellt. Absatz. Was zum Teufel soll das, Harry? Diese Scheißmetallklumpen sollen nur ein Jahr halten, gerade mal so lange wie die Garantie. Wenn die alle ihren zweiten oder dritten Geburtstag erleben, sackt der Umsatz ab. Bekanntlich mische ich mich prinzipiell nicht in die Geschäftspolitik der Tochterunternehmen von BIG ein, möchte Dir aber wärmstens empfehlen, einen neuen Lieferanten zu suchen, der sich gewissenhafter an unsere Vorgaben hält, weil ich mir sonst möglicherweise einen neuen Geschäftsführer suchen muß. Sorg also dafür, daß meine Geduld nicht eines Tages zum Auspuff rausbläst, Klammer auf haha Klammer zu. Mit freundlichen Grüßen und so weiter.« Prosser steckte den Zeigefinger ins rechte Nasenloch und grub darin herum. Der Finger stieß auf etwas Interessantes, brachte es ans Tageslicht, zeigte es seinem Besitzer und schnippte es weg. Prosser überflog seine Notizen. Lorraine hielt den Stift in der Schwebe, gleich darauf flog er wieder über den Block: »An Jamieson, Brauerei Newcastle …« Der künftige Management Trainee von BIG löste sich von dem fluchenden, spuckenden Penner, wich unter tausend Entschuldigungen zurück und bezog ein paar Meter weiter erneut seinen Beobachtungsposten. Jeremy, dünn und schlaksig, hatte stets einen wachsam- gejagten Zug im Gesicht, was nicht verwunderlich war, wenn man bedenkt, daß er in seinen vierundzwanzig Lebensjahren bisher fast ständig Zielscheibe fauler Witze gewesen war. Schon mit seinem brandroten Haar konnte man ihn herrlich 15
aufziehen. Hinzu kam, daß Jeremy Seaman mit einem Nachnamen geschlagen war, der von freundlichen Zeitgenossen nur zu gern zu »Samen« verballhornt wurde. Wenn er sich nicht dumme Sprüche über Karotten oder Verkehrsampeln anhören mußte, fragte ihn mit Sicherheit einer, ob er in dieser Nacht mal wieder feuchte Träume gehabt hatte. »Lieber Bob«, diktierte Prosser seiner gefälligen Chefassistentin. »Besten Dank für Deinen Brief zu der Entscheidung des Vorstandes, 350 Stellen in Deinem Werk einzusparen. Ich kann durchaus verstehen, daß Du nicht begeistert bist, wenn die Belegschaft verkleinert und gleichzeitig das Produktionssoll erhöht wird, und habe zur Kenntnis genommen, daß Du Zitat nicht mit ansehen wirst, wie man ein Drittel der Mitarbeiter auf die Straße setzt Zitat Ende. Absatz. Ich finde es bedauerlich, daß Du uns nach so vielen Jahren wegen einer Bagatelle verlassen willst, zumal Du mit dieser nicht fristgemäßen Kündigung die Bedingungen Deines Einstellungsvertrages verletzt und dadurch keinen Anspruch auf Abfindung hast. Sicher aber wirst Du mit Deinen siebenundfünfzig Jahren keine Mühe haben, ein neues Betätigungsfeld zu finden. Mit freundlichen Grüßen. P.S. Beste Grüße an Doreen und die Kinder.« Prosser griff nach dem beharrlich piepsenden Telefon. »Verdammter Mist, was soll denn das? Hab ich nicht gesagt, daß ich nicht gestört werden will? Wer? Herrgott noch mal, worauf wartet ihr denn? Durchstellen, wird’s bald … Jack Butterley, das darf ja nicht wahr sein. Ist ja eine halbe Ewigkeit her. Wie ist es denn so bei Nostrum und in der Welt der Soft Drinks?« »Sehr viel erholsamer als bei einem Mistkäfer wie dir, Alex«, kam es gutgelaunt zurück. Der weiche Dialektanklang stand in krassem Gegensatz zu Prossers scharfem, kratzigem 16
Ton. »Und wie geht’s dir, alter Schurke?« »Danke, leidlich. Über Schwierigkeiten muß man sich eben hinwegsexen.« Prosser grinste Lorraine an. »Moment mal, ja?« Er legte die Hand über die Sprechmuschel und scheuchte sie mit einer Handbewegung aus dem Zimmer. »Morgen ist auch noch ein Tag …« Sie löste sich von ihm. Während sie nach ihren Sachen griff und sich zur Tür wandte, gab er ihr einen Klaps auf den Po, daß es nur so schallte. »Dann können wir auch gleich mit den Briefen weitermachen.« Lorraine hörte ihn grölend lachen, als sie die Tür hinter sich schloß. Sie sah auf die Uhr. Mist, der Film hatte schon angefangen. Sie ging zum Aufzug, zo g im Gehen den Reißverschluß am Rock hoch und knöpfte die Bluse zu. Scheißjob. »Wem oder was verdanke ich diese hohe Ehre?« erkundigte sich Prosser. »Du redest neuerdings ziemlich blumig daher, Alex. Was ist bloß aus deinem schönen rotzigen Nordengland-Dialekt geworden?« »Ist mir unterwegs abhanden gekommen. Wie du, Jack. Zehn Jahre ist es jetzt her, seit du abgehauen bist, und der Abschied war nicht gerade herzlich. Wenn ich mich recht erinnere, hast du mich einen grundschlechten, hartherzigen Schlotbaron genannt, der bereit wäre, seine eigene Großmutter zu verkaufen, wenn er noch was für sie kriegen könnte.« Butterleys Lachen dröhnte durch den Hörer. »Ich wette, daß du es als Kompliment aufgefaßt hast, so war es nämlich gemeint.« Dann wurde er ernst. »Kann sein, daß ich einen interessanten Vorschlag für dich habe, Alex. Wir sollten zumindest mal drüber reden.« »Also los, rede.« »Manchmal sitzen so kleine grüne Männchen in der Leitung, die mag ich nicht. Ich bin in einer Telefonzelle um die Ecke.« 17
»Na schön, komm gleich mal vorbei, eine halbe Stunde hab ich für dich. Ich sag unten Bescheid.« Prossers Nüstern weiteten sich. Die Sache reizte ihn. »Nein, warte mal, ist vielleicht besser, wenn du nicht den Haupteingang benutzt. Komm durch die Garage.« Der Major warf einen angewiderten Blick auf seine Küchenwand. Tagsüber hatte sie einen durchaus akzeptablen Gelbton. Nachts aber war sie, wie auch die Wände seines Schlaf- und Wohnzimmers, in dunkles Purpurrot getaucht. Auch daran war dieser verdammte Kasten schuld. Als wäre er nicht tagsüber schon scheußlich genug, hatte irgendein Geisteskranker die Wahnsinnsidee gehabt, ihn nachts mit einem starken purpurfarbenen Scheinwerfer anzustrahlen, der auf das Dach eines gegenüberliegenden Hauses montiert war. Das aufdringliche Violett tauchte nicht nur die Fassade von BIG House in ein geradezu anstößiges Licht, sondern wurde von dem Gebäude reflektiert und kroch noch in die verborgensten Winkel des Gilbert Square. Ein solcher Winkel war die Souterrainwohnung des Majors. Tagsüber mußte er sich auf einen Stuhl stellen und sich den Hals verrenken, um sich über die bauliche Scheußlichkeit zu ärgern. Nachts aber brauchte er sich dazu nicht mal aus seinem Sessel zu erheben. Aus dieser bequemen Stellung heraus skizzierte er Rommel, der sich vor dem Kamin ausgestreckt hatte, die Lage, so wie sie sich aus seiner Sicht darstellte. »Die Lage aus meiner Sicht ist so, daß der Bau dieser Scheußlichkeit eine effektive Kriegserklärung war. Wie Falkland. Hier liegt eine klare Gebietsverletzung vor, gegen die wir uns zur Wehr setzen müssen.« Der Major mit seinem zerklüfteten Gesicht, dem buschigen weißen Schnurrbart, Kurzhaarschnitt, hoher Stirn und einer Vorliebe für Tweed war der Inbegriff des Offiziers, wie er dem Kinogänger im Lauf der Jahre lieb und teuer geworden war. Das hatte seinen guten Grund, denn der Major verdankte seine 18
Kenntnisse des Kriegshandwerks ausschließlich der Kinoleinwand. Nach der Schule hatte er nicht bei der Army, sondern in einer Versicherung angefangen. Nicht einmal Wehrdienst hatte er geleistet; als seine Altersgenossen in die Kasernen eingerückt waren, hatte er sich gerade dringender Geschäfte halber nach Australien begeben müssen. Als er glücklich von den Antipoden zurück war, hatte er sich von einem zivilen Ronald Peregrine zu Major Ronnie Peregrine gewandelt. Die Rangbezeichnung war für ihn beruflich Gold wert – in mehr als einer Beziehung. Wenn ein potentieller Versicherungsnehmer Anstalten machte, sich in das Kleingedruckte zu vertiefen, ließ der Major eine geläufige Beschreibung all der Möglichkeiten vom Stapel, die es gibt, einen Deutschen mit einem Bajonett zu zerlegen. Um ihn zu bremsen, unterschrieben die Kunden unbesehen praktisch alles. Inzwischen war der Major pensioniert, sah aber keinen Grund, sich im Ruhestand von einem so nützlichen Titel zu trennen. Zwar ließ sich der Major unermüdlich über die Attacke aus, die man nun endlich gegen BIG House reiten müßte, aber er hatte keine Ahnung, wie das praktisch zu bewerkstelligen sei. Hätte er die Army tatsächlich mal von innen gesehen, hätte er vielleicht wenigstens noch einen alten Armeerevolver gehabt. Er fahndete in den Küchenschubladen nach einer passenden Waffe. Das Bedrohlichste, was er fand, war ein Brotmesser, das im Einsatz gegen ein vierzehnstöckiges Gebäude wohl doch recht unzulänglich war. Verdrossen machte er eine Dose Hundefutter für Rommel auf und stellte ihm den Futternapf vors Fenster. Ebenso verdrossen inspizierte Rommel den Napf und überlegte, wie sich der Inhalt wohl auf seine Verdauung auswirken mochte. Prosser erwartete Jack Butterley voller Ungeduld. Sie hatten sich ja wirklich eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Fast zwei Jahre hatten Butterley und er British Iron Girders geführt, obgleich der Laden damals noch dem alten Sanderson gehört 19
hatte. Verdammt guter Manager, der Butterley, überlegte Prosser, stand sich nur manchmal mit seiner Ehrpusseligkeit selbst im Wege. Und ein bißchen zu weich in der Führung der Mitarbeiter. Darum war es auch bei ihrer letzten Auseinandersetzung gegangen. Gereizt waren sie beide vorher schon gewesen. Daß der alte Sanderson scheinbar ewig zu leben gedachte und ihnen damit die Expansionspläne vermasselte, die sie so lockten, hatte sie beide genervt. Zuerst hatte die Arbeit mit Butterley echt Spaß gemacht. Prosser erinnerte sich noch, daß er ziemlich am Boden zerstört gewesen war, als sein Kollege ihm eröffnet hatte, er würde gehen. Seither hatte Butterley mehrmals die Firma gewechselt und war vor ein paar Jahren als Finanzchef bei Nostrum gelandet. Butterley war einfach zu früh gegangen. Nur vier Wochen nach seinem Ausscheiden war der alte Sanderson bei einem bedauerlichen Betriebsunfall ums Leben gekommen, so daß Prosser plötzlich Alleinherrscher über die Firma war. Der Aufbau des Großkonzerns konnte beginne n. Als sich die Aufzugtüren öffneten, ging Prosser hin und umarmte Butterley rauh, aber herzlich. Prosser, ein untersetzter Mann, hatte noch etwas von der Kraft in den Armen, die er gehabt hatte, als er in den Klubs von Byker um Geld geboxt hatte. »Sachte, Alex. Wenn so deine Begrüßung für Leute ausfällt, die du nicht leiden kannst, möchte ich nicht wissen, wie gute Bekannte deine Zuneigung überleben.« Butterley machte sich los. In den letzten zehn Jahren hatte sich sein alter Freund verändert. Er brachte zehn, zwölf Kilo mehr auf die Waage, wurde allmählich kahl und kam ihm noch kleiner vor, als er ihn in Erinnerung hatte. »Du hast dich überhaupt nicht verändert, Alex«, sagte Butterley höflich. »Na ja, ein bißchen zugelegt hast du vielleicht, und die Stirn ist ’ne Idee höher, aber ansonsten bist du ganz der alte.« Prosser runzelte die Stirn. Er war es nicht mehr gewöhnt, daß die Leute ihm gegenüber aussprachen, was sie dachten. 20
Butterley hatte schon immer eine gefährliche Kodderschnauze gehabt. »Und du, Jack, bist immer noch so schick in Schale.« Er ging voraus. Es juckte ihn, die Früchte seines Erfolgs vorzuzeigen. »Gefällt dir unser neues Haus?« »Äußerlich verströmt es genausoviel Charme und ästhetische Harmonie wie der Boss von BIG«, sagte Butterley und betrat Prossers feudales Büro. Er sah sich um. Der wuchtige Edelholzschreibtisch beherrschte den Raum, daneben stand eine Konsole mit Monitoren, auf dem spiegelnden Parkett lagen Perserteppiche, die Bilder an den Wänden waren Originale, er erkannte einen Lowry, einen Sutherland, zwei Hockneys, und … ja, tatsächlich, sogar einen Cézanne und einen Monet. »Also wirklich …« Er zögerte, Prosser sollte nicht merken, daß er neidisch war. »Gar nicht schlecht. Hier sieht’s doch wesentlich anders aus als in der zugigen Wellblechbaracke hinter der Gießerei, Alex.« »Kann man wohl sagen. Ich habe jetzt gewissermaßen eine Wohnung über dem Laden.« Prosser deutete auf eine Wendeltreppe. »Da oben sind meine Privaträume. Swimmingpool, Fitneßraum, Sauna. Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach.« »Moderner Komfort, wie er im Buche steht«, sagte Butterley. »Hast ganz hübsch Karriere gemacht, alter Junge.« Daß sein früherer Kollege nicht tiefer beeindruckt war, enttäuschte Prosser. Er ließ das linke Handgelenk vorschnellen. »Ganz hübsche Karriere? Hast du ’ne Ahnung! Wie findest du die Uhr, Jack? Gelbgold. Davon gibt’s nur zwei Exemplare auf der ganzen Welt. Die andere ist in Weißgold.« Er zog die Manschette an dem anderen Handgelenk zurück, unter der eine zweite, fast identische Uhr zum Vorschein kam. »Rat mal, wieviel die kosten.« Er lachte über Butterleys verdattertes Gesicht. »Keine Ahnung.« »So über den Daumen fünfzehntausend pro Stück. Der 21
Anzug knapp tausend. Die Schuhe dreihundert. Selbst die Socken kosten zwanzig Pfund. Eine. Was ich an Klamotten anhabe, ist gut und gern seine vierzigtausend Pfund wert. Du hast schon recht, ganz hübsche Karriere in nur zehn Jahren.« »Noch immer so schlicht und bescheiden wie früher, Alex«, sagte Butterley, während er herumging und sich Prossers Ausstellungsstücke näher ansah. Dieser Raum war weniger ein Büro als eine Galerie, in der Prossers Reichtum zur Schau gestellt war. »Aber bist du auch glücklich, Alex?« »Was Blödsinnigeres konntest du wohl nicht fragen?« Typisch Butterley, dachte Prosser. Noch immer wußte man bei ihm nicht, ob er es ernst meinte oder nicht. Und noch immer war er fünf, sechs Zentimeter größer als Prosser. Alexander Prosser hatte etwas gegen Mitmenschen, die größer waren als er, und faßte folglich auf Anhieb eine Abneigung gege n die meisten neuen Bekannten. Besonders in Rage geriet er, wenn diese Klugscheißer von der Presse ihm das Adjektiv »überlebensgroß« anhängten, womit sie, wie er sehr wohl wußte, auf seine etwas zu kleine Statur anspielten. Es war nur um Nuancen besser als der dumme Spruch vom »überzeugten Junggesellen«. Butterley schwelgte in Erinnerungen. »Weißt du noch, wie wir beide uns die ersten richtigen Anzüge haben bauen lassen? Du hast dem Schneider fast den Kopf abgerissen, weil du nur die Hälfte von den Ausdrücken mitgekriegt hast, die er benutzt hat.« Prosser lachte höflich, aber es schmeckte ihm nicht, wenn man ihm die Zeiten in Erinnerung rief, als er die Rolle des Gentleman noch nicht so gut beherrschte wie heute. »Jetzt kommen die Schneider zu mir, Jack, ich hab keine Zeit mehr, zu Anproben zu laufen.« »Was machen die denn hier?« Butterley deutete auf die erstaunlich schlecht gemachten Büsten von Napoleon, Churchill und Alexander dem Großen. »Von denen laß ich mich inspirieren. Du glaubst gar nicht, 22
was man alles von großen Feldherren der Vergangenheit lernen kann. Heutzutage werden die großen Schlachten im Sitzungssaal geschlagen, nicht mehr auf dem Felde der Ehre.« Butterley sah, daß Prosser, während er herumstolzierte wie ein Gockel, die rechte Hand halb in die Jacke geschoben hatte. Mit seiner Boxernase, die ihm während seiner kurzen Karriere im Ring zweimal und bei privaten Prügeleien mindestens einmal gebrochen worden war, sah er aus wie eine ComicVersion von Napoleon und hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit der Kaiserbüste. Wenn man genauer hinsah, konnte man auch eine gewisse Ähnlichkeit mit den Büsten von Churchill und Alexander erkennen. Butterley gab es einen Ruck. Die Büsten waren nicht schlecht gemacht. Sie waren bewußt so gemacht, daß diese Größen der Vergangenheit Prosser ähnlich sahen. Herrgott noch mal, was war aus dem Mann geworden? Soviel Schwulst war ja schon nicht mehr normal. Butterley trat ans Fenster. Prosser sollte nicht sehen, daß er feixte. »Phantastische Aussicht. Du bist offenbar schwindelfrei. Im Gegensatz zu dem armen alten Sanderson«, setzte er leise hinzu. »Er war nicht mehr der Jüngste«, versetzte Prosser scharf. »Ein richtiger Tattergreis. Warum er in seinem Alter allein auf die Galerie der Gießerei gegangen ist, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Hat wohl das Gleichgewicht verloren.« »Kein hübsches Ende, in die Schmelze zu fallen.« »Über eine Woche wußte keiner, wo er abgeblieben war. Inzwischen waren aus der Schmelze schon Träger für die neue Brücke über den Tyne geworden. Da haben wir dann auch den Trauergottesdienst abgehalten. Ich glaube, es war in seinem Sinne. Er hat immer gesagt, daß er Eisen in den Adern hat.« »Was für ein Glück, daß du zur Stelle warst, um in seine Fußstapfen zu treten.« »Entschuldige meine Unhöflichkeit, Jack. Setz dich doch«, sagte Prosser kühl und eifrig bemüht, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Er deutete auf eine Sitzgruppe mit 23
üppigen Polstersesseln und warf rasch einen Blick in die Runde, um sich zu vergewissern, daß keine heiklen Dokumente herumlagen, ehe er selbst Platz nahm. Er griff nach einem Ding, das aussah wie die Fernbedienung eines Fernsehers, und drückte auf einen Knopf. »Ron, Sandwiches und Bier für zwei«, sagte er in die leere Luft hinein. »Tolles Ding, Jack. Schau mal.« Er drückte auf den nächsten Knopf, und die Vorhänge schlossen sich; auf einen dritten, und die Raumbeleuchtung erlosch bis auf die Lampen über ihren Köpfen. Prosser lehnte sich behaglich zurück. »Und wie läuft es bei Nostrum? Braut ihr immer noch dieses ekelhafte Gesöff aus Löwenzahn und Klette, von dem uns immer schlecht geworden ist, als wir Kinder waren?« »Leider ja. Es ist unser verlustreichstes Produkt. Wer trinkt schon heute noch so was? Selbst anno dazumal war das Zeug eigentlich schon indiskutabel, aber wenn du die WestburySippe von ihren Produkten schwärmen hörst, würdest du das nicht für möglich halten.« Er unterbrach sich, als die Tür aufging und ein ungeschlachter Riese in weißen Boxershorts und Unterhemd mit Bier und belegten Broten auf einem Tablett hereinkam. Hätte er noch etwas mehr Haare im Gesicht gehabt, wäre er im Gorillagehege des Londoner Zoos nicht aufgefallen. Er stellte das Tablett ab, und der Tisch erbebte. Als er sich aufrichtete, reichten seine Hände fast bis zu den Knien und verstärkten so den Eindruck, daß hier endlich das lang gesuchte Bindeglied zwischen Affen und Menschen gefunden war. »Kennst du ihn noch? Ron Niblo, mein alter Boxtrainer.« Butterley stand auf und schüttelte ihm die Hand. »Jetzt ist er mein Kammerdiener und betreut mich glänzend, stimmt’s, Ron?« Ron grunzte, was man, wenn man wollte, als Bestätigung auffassen konnte. Butterley rieb sich die schmerzenden Finger und sah Ron nach, der in einem eigenartigen Schaukelgang das Zimmer 24
verließ. Vielleicht wollte er sich noch ein paar Bananen vom Baum schütteln. Über diesen Gedanken hatte er gar nicht gemerkt, daß Prosser einen weiteren Knopf seiner Trickkiste betätigt hatte. »Ich dachte, er sitzt.« »Vor zwei Jahren rausgekommen«, sagte Prosser undeutlich, den Mund voll Käse und Gewürzgurken. »Total geläutert. Daß er anderen Leuten einen Brocken Beton auf den Kopf schmeißt, wirst du nicht mehr erleben. Der Junge hat sich Witz gekauft. Läßt sich einfach nicht mehr erwischen.« Prosser lachte über sein Bonmot und spuckte Butterley das halb gekaute Essen in den Schoß. Ebenso unvermittelt, wie er angefangen hatte, hörte er auf zu lachen. »Schluß mit dem Gelaber, alter Junge. Was willst du?« Jeremy spürte, daß der morgige Tag einen Wendepunkt in seinem Leben bedeutete. Er war sich seiner Fehler wohl bewußt und bedauerte zutiefst, daß er nicht zu den Menschen gehörte, die notgedrungen nicht nur das Einstecken, sondern auch das Austeilen gelernt haben. Schlagfertigkeit war nicht seine Stärke. Jeremy hatte gelernt, jede Menge einzustecken, aber vierundzwanzig Jahre lang hatte er an seine Quälgeister nichts Stärkeres ausgeteilt als ein ängstliches Lächeln. All das würde sich jetzt ändern. Sobald er BIG House betreten hatte, würde Jeremy Seaman, der liebe Junge, auf Nimmerwiedersehen verschwinden, und an seine Stelle würde Jeremy Seaman, der ausgebuffte, skrupellose, ehrgeizige Jungmanager treten. Was Alexander Prosser geschafft hatte, das konnte auch er schaffen. Es war schlicht und einfach eine Frage der richtigen Einstellung. Von der Intelligenz her sprach nichts dagegen, daß er es mal weit bringen konnte, das wußte er selbst am besten. Immer war er ein Musterschüler gewesen, ein pusseliger Pedant, der sich vor den schier endlosen Neckereien in verbissenes Lernen gerettet hatte. Je mehr man sich über ihn lustig machte, desto 25
zielstrebiger arbeitete er. Er führte ein einsames Leben, nicht nur in der Schule, sondern auch in Cambridge, wo er zu seiner tiefen Enttäuschung festgestellt hatte, daß es unter der Elite der britischen Jugend nicht wenige Witzbolde gab, die sich als Erben Oscar Wildes zu beweisen suchten, indem sie Jeremy mit ihren geistreich sein sollenden Bemerkungen quälten. Allerdings litt er, wie er nur zu gut wußte, an extremer Schüchternheit, was zugegebenermaßen etwas problematisch war, wenn man die Rolle eines ausgebufften, skrupellosen, ehrgeizigen Jungmanagers anstrebte. Diese fast krankhafte Schüchternheit war nicht nur ein Ergebnis der ständigen Neckereien, sondern auch der Bemühungen seiner fanatisch frommen Eltern, Jeremy vor der in ihren Augen fast bodenlos schlechten wirklichen Welt zu behüten. Mehr als einmal fragte keiner der anderen Jungs Mr. oder Mrs. Seaman, ob Jeremy zum Spielen runterkommen dürfe. Sahen die Seamans ihren Sohn schon ungern mit anderen Jungen zusammen, so achteten sie strikt darauf, daß jegliche Kontakte zum anderen Geschlecht unterblieben. Junge Mädchen waren, wie seine zärtlichen Eltern nicht müde wurden, ihm zu erklären, samt und sonders Helfershelferinnen des Leibhaftigen und jederzeit bereit, ihn auf den Pfad der Unehre, Erniedrigung und Verdammnis zu führen, sobald er ihnen auch nur den kleinen Finger reichte. So einprägsam waren diese von seinen Eltern heraufbeschworenen Höllenbilder, daß Jeremy in bebender Angst vor dem anderen Geschlecht und in gänzlicher Unkenntnis der Geheimnisse der Fortpflanzung aufwuchs. In der Liebe hingegen kannte er sich aus, da konnte ihm keiner was vormachen. In Cambridge, in den weichen Polstern eines Kinosessels im Arts Cinema, verliebte er sich unsterblich in eine Frau von atemberaubender Schönheit, eine Frau von Witz und Weltklugheit, die es nicht nötig hatte, billige Scherze über Karotten zu machen. Nachdem er sie als Hauptdarstellerin in My Man Godfrey gesehen hatte, gab es für Jeremy keinen 26
Zweifel mehr daran, daß es auf der ganzen weiten Welt keine herrlichere Frau gab als Carole Lombard. Als er wenig später erfuhr, daß sie 1942 bei einem Flugzeugabsturz den Tod gefunden hatte, war er niedergeschmettert. Wochenlang hatte er einen Trauerflor am Ärmel getragen. »In meiner ersten Zeit bei Nostrum war ich richtig gut drauf, Alex. Ich sah mich als den neuen Besen, der die Spinnweben aus einem verkrusteten alten Familienunternehmen fegen würde, das eigentlich ins vorige Jahrhundert gehörte. Aber es dauerte nicht lange, bis ich kapiert hatte, daß sie im Grunde gar keinen modernen Finanzchef haben wollten, einen, der es versteht, mit Geld zu jonglieren und mehr draus zu machen. Die Familie hätte bestimmt am liebsten einen dieser alten Knasterbärte, der, den Federkiel in der Hand, den ganzen Tag auf einem hohen Stuhl vor dem Hauptbuch sitzt und sagt: ›Ja, Mr. Westbury, nein, Mr. Westbury.‹ Mich haben sie wohl nur als Feigenblatt für die Banken eingestellt. Leider besitze ich drei Prozent Nostrum- Anteile, die habe ich Trottel gekauft, als ich dort eingetreten bin. Damals ahnte ich ja noch nicht, daß du radikale Änderungen bei einer Geschäftsleitungssitzung von Nostrum einfach nicht durchkriegst – das ist, als wolltest du einen Pudding an die Wand nageln. Ehrlich, Alex, manchmal hätte ich mit Wonne David Westbury, Bruder Michael und Onkel Timothy in ihre eigenen Braukessel gestoßen. Das einzige Erfolgserlebnis hatte ich, als ich vor ein, zwei Jahren meinen ganzen Mut zusammennahm und sagte, ich würde kündigen, wenn sie nicht bereit wären, mehr Geld für Forschung und Entwicklung zu bewilligen. Wenigstens damit bin ich durchgekommen. Unser F & E-Team ist erste Sahne, Alex. Echt clevere Jungs. Aber sobald wir den Westburys ein neues Gebräu vorstellten, sahen die uns an, als hätten wir ihnen ins Gesicht gefurzt. Noch höher kann man die Nase eigentlich gar nicht tragen, ohne sich das Genick zu brechen. Ausgesprochen schattig, die Typen. Wir konnten ihnen 27
bringen, was wir wollten, sie waren einfach nicht zu bewegen, das verstaubte Rezept aus Opas Kräuterküche zu ändern, kein einziges zusätzliches Löwenzahnblättchen mehr pro Flasche durfte es sein.« »Hoffentlich bist du nicht nur gekommen, um dich bei mir auszuweinen, Jack«, sagte Prosser und riß eine Dose Bier auf. »Mein Laden hält mich nämlich ganz schön auf Trab.« »Bis zu deinem hundertsten Geburtstag schaffst du’s nie, Alex. Wenn du weiter so krampfhaft in Liebenswürdigkeit und Diplomatie machst, kriegst du demnächst deinen ersten Herzinfarkt. Keine Bange, ich stehl dir schon nicht deine kostbare Zeit. Hast du eine Vorstellung davon, wie groß der Markt für Soft Drinks ist? über drei Milliarden Pfund jährlich allein in Großbritannien. Das ist ein Haufen Heu, Alex.« »Und?« »Und wann ist das letzte wirklich bahnbrechende Produkt in dieser Branche rausgekommen? Coca-Cola ist über hundert Jahre alt, das muß man sich mal vorstellen.« »Demnach habt ihr was Neues?« »Was Neues? Einen todsicheren Renner, Alex! Wenn das Zeug entsprechend angeschoben wird, könnte es das neue Pepsi oder Coke werden. Von beidem haben die Westburys möglicherweise noch nie was läuten hören. Unser neues Kind hat ihnen jedenfalls nicht gefallen. Nach dem ersten Schluck haben sie’s ausgespuckt und gesagt, ihre Altvorderen würden sich im Grabe umdrehen.« Butterley wartete auf einen Kommentar von Prosser, der aber kämpfte gerade mit einem Sandwich. »Ich weiß, daß du heutzutage mit der Welt da draußen nicht viel zu tun hast, aber sind dir mal diese Tütchen für Kinder untergekommen, in denen ein Zeug ist, das anfängt zu zischen und zu prickeln, wenn man es sich auf die Zunge schüttet? Sogenanntes Brausepulver.« Prosser nickte. »So was Ähnliches haben wir uns ausgedacht, nur in flüssiger Form. Beim ersten Schluck geht es in deinem Mund 28
los wie ein Feuerwerk. Das Zeug könnte Tote aufwecken.« Butterley nahm einen Schluck Bier und fixierte Prossers Nase. Nichts. »Wir haben jede Menge Vitamine und Kalorien reingepackt, so daß wir behaupten können, daß es ein toller Ausgleich für den ganzen Fastfood-Scheiß ist, den die Kids heutzutage in sich reinfressen. Koffein ist auch drin, zweihundert Milligramm pro Liter, das Maximum der gesetzlich erlaubten Menge. Damit verstärkt sich nicht nur der Eindruck, daß es dich neu belebt und dir mehr Auftrieb gibt, sondern es bedeutet auch, daß Zischfit – so nennen wir das Zeug – unter Umständen so ein ganz klein bißchen abhängig machen könnte.« »Moment mal, das will ich jetzt genau wissen. Ihr habt ein Getränk erfunden, das die Leute süchtig macht?« Butterley nickte. »Jetzt scheinst du also endlich doch ein paar von deinen Skrupeln über Bord zu werfen, Jack.« »Ohne das Kokain im Originalrezept hätte Coke nie diesen Riesenerfolg eingefahren. Zischfit ist ganz bestimmt weniger schädlich als viele Dinge, mit denen die Youngster experimentieren.« Butterley betrachtete erneut Prossers Nase. Sie zuckte leicht. Er unterdrückte ein Grinsen. In dieser Beziehung hatte Alexander Charles Prosser sich zum Glück nicht geändert. Seine Nase hatte ihn schon früher unweigerlich verraten, wenn er glaubte, eine erfolgversprechende Spur zu verfolgen. Prosser hatte nie kapiert, wieso sein lange nicht so ausgebuffter Kumpel ihn immer im Poker geschlagen hatte. Der Fisch hängt an der Angel, dachte Butterley. Jetzt muß ich nur noch die Leine einholen. Ganz, ganz vorsichtig. Jeremy hatte nur eine Bewerbung losgeschickt, die unter anderem wohl auch deshalb so gut angekommen war, weil ihm sein Tutor eine äußerst schmeichelhafte Referenz geschrieben hatte. Aus lauter Angst, Jeremy könnte ihm für ein Postgraduiertenstudium erhalten bleiben, hatte er sich nicht 29
gescheut, Jeremys künftigem Arbeitgeber die unglaublichsten Märchen aufzutischen. Das Selbstbewußtsein, das Jeremy gewonnen hatte, nachdem ihm der Job bei BIG sicher war, hatte ein halbjähriger Kurs in Unternehmensführung weiter verstärkt. Zum erstenmal im Leben hatte man ihn nicht ausgelacht, sondern beneidet. Auf seine Kommilitonen warteten Jobs in tristen Metallverarbeitungsbetrieben, Supermarktketten oder Versicherungen. Jeremy hingegen hatte den Fuß bereits auf der untersten Sprosse einer Leiter, die geradewegs zu dem hellsten Stern am Firmament der britischen Geschäftswelt führte. Für die Generalprobe hatte Jeremy sich in seine neue Arbeitskluft geworfen. Im Gegensatz zu seinen Kurskollegen, die die Mode der City-Yuppies nachäfften, hatte sich Jeremy wohlweislich an der Garderobe seines Lieblingsdozenten orientiert, der schon sehr viel mehr Erfahrungen in der Welt der Wirtschaft gesammelt hatte. Er war mächtig stolz auf seine neuen Sachen, einen braunen Einreiher, das frische beigefarbene Polyesterhemd, die diskret gestreifte schokoladenbraune Krawatte und die sportlichen Wildlederschuhe, wie sie, den überzeugenden Beteuerungen des Verkäufers zufolge, die bestgekleideten Jungunternehmer heutzutage trugen. Den ganzen Tag schon hatten ihn bewundernde Blicke von Passanten gestreift. Butterley kaute nachdenklich auf seinem Sandwich herum. »Na gut, Jack«, sagte Prosser. »Jetzt laß uns mal Klartext reden. Warum erzählst du mir das alles?« »Die Holzköpfe im Verwaltungsrat von Nostrum fassen Zischfit nicht mit der Kohlenzange an. Im Grunde könnte mir das schnuppe sein, aber wer läßt sich schon gern so eine Chance entgehen? Ich kann nur dann sicher sein, daß das neue Getränk den nötigen Schub kriegt, wenn jemand wie du die Firma übernimmt und den jetzigen Vorstand rausschmeißt – mit einer Ausnahme natürlich.« 30
»Verstehe. Und was verlangst du noch – außer der Geschäftsführung von Nostrum?« »Vollständige technische und finanzielle Selbständigkeit. Keinerlei Einmischung durch dich. Einen Fünfjahresvertrag mit einem Gehalt von 150 000 Pfund pro Jahr. Ach ja, und eine klitzekleine Beteiligung, damit ich was für meine alten Tage habe. Sagen wir ein Prozent vom Umsatz …« »Ein Prozent?« entrüstete sich Prosser. »Gott, was bist du bescheiden, Jack. Aber jetzt muß ich doch mal eine neugierige Frage stellen: Was ist, wenn sich einer dieses Zeug schnappt, es analysieren läßt und dann selber produziert? Dann siehst du nämlich ganz schön alt aus.« »Ich bin zwar überzeugt davon, daß ein ehrenwerter Mann wie du so was nie täte, aber es gibt ja leider auch viele schlechte Menschen auf der Welt, und deshalb habe ich vorgebaut. Unsere Anwälte haben ein hübsches Paket geschnürt mit Patenten und Lizenzen und allem Drum und Dran.« Prosser knurrte gereizt, und Butterley fuhr genüßlich fort: »Nicht daß ich dir nicht traue, aber wenn du Nostrum kaufst, sollst du auch sicher sein, daß du Zischfit kriegst.« Der Fisch ist schon fast aus dem Wasser, dachte Butterley. Noch ein kräftiger Ruck, und ich hab’s geschafft. Ein, zwei harmlose kleine Lügen können jetzt nicht schaden. »Die Sache hat nur einen Haken. Wenn dich das Geschäft interessiert, müßtest du dich sputen. Die Familie hält da zwar ziemlich dicht, aber ich weiß aus sicherer Quelle, daß sie ein Kaufangebot bekommen hat.« »Klingt nicht gut, Jack.« Prosser griff nach seinem Glas und nahm einen kräftigen Schluck Bier. »Wenn man den Gerüchten glauben darf, handelt es sich um Sir Jocelyn Pardoe.« Butterley reagierte schnell, aber so schnell konnte er sich gar nicht bewegen, um dem Bier auszuweichen, das Prosser spuckte. Es vermischte sich mit dem klebrigen Käse und dem Gurkenmampf in seinem Schoß. Butterley ließ alles liegen, wo es war. Prossers Nase zuckte jetzt heftig, jede 31
Ablenkung wäre fatal gewesen. »Pardoe? Hat er Wind von dem neuen Drink gekriegt?« »Kann ich mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich meint er nur, daß er aus Nostrum mehr machen kann. Dazu gehört allerdings nicht viel, das könnte jeder Trottel. Der Laden schreit nach Rationalisierung. Und natürlich würde Nostrum ihm sowieso ganz gut in den Kram passen, er macht ja schon eine Menge auf dem Soft-Drink-Markt. Manchmal denke ich, daß ihm die Limo schon aus den Ohren rauskommen muß. Wenn er Nostrum hätte, könnte er sofort mit der Produktion von Zischfit anfangen. Ich denke aber, daß er sich bei der Familie eine Abfuhr holen wird. Hoffentlich. Ich habe verdammt hart an Zischfit gearbeitet, damit könnte Nostrum ganz groß rauskommen. Aber mir paßt es nicht, wenn ein aufgeblasenes Adelsschwein den ganzen Ruhm einstreicht. Dann schon lieber ein Proletenschwein wie du.« »Sehr schmeichelhaft, Jack.« »Aber wenn die Sache dich nicht interessiert«, sagte Butterley hinterhältig, »könnte ich natürlich selber mal bei Pardoe anklopfen. Wenn ich ihm das von Zischfit stecke, ist er mir vielleicht so dankbar, daß er meine Bedingungen schluckt. Eigentlich keine schlechte Idee, wenn ich es mir recht überlege. Daß Freundschaft und Geschäft zwei paar Stiefel sind, habe ich von dir gelernt.« »Bloß nichts übereilen, Jack! Irgendwie kommen wir beide bestimmt klar. Schließlich ist ja Nostrum nicht ICI. Wieviel ist der Laden wert? Vierzig Millionen?« »Fünfzig, aber um die Aktienmehrheit zu kriegen, müßtest du schon fünfundsechzig bieten.« Prosser dachte laut. »Und du hast drei Prozent. Wenn der Laden zu diesem Preis übernommen wird, machst du über Nacht 450 000 Pfund.« »Von irgendwas muß der Mensch ja leben, Alex.« »Laß mich das mal durchkalkulieren, damit ich weiß, woran 32
wir sind. Dürfte aber nicht allzu problematisch sein. Ach ja, und vor allem müßte ich wohl das Zeug auch mal kosten.« »Das läßt sich machen.« Butterley war ein guter Gedanke gekommen, er mußte sich ein Grinsen verkneifen. »Daß ich heute abend hergekommen bin, war riskant. Ich kann mich damit rausreden, daß ich mal einem alten Kumpel guten Tag sagen wollte, aber in Zukunft ist es wohl besser, wenn man uns nicht zusammen sieht. Ich melde mich, wenn es soweit ist, dann kannst du eine Probe abholen lassen.« »Du könntest jederzeit wieder direkt für mich arbeiten, Jack, das weißt du ja.« »Du kannst dir das vielleicht nicht so vorstellen, Alex, aber nicht jeder fühlt sich wohl bei der Vorstellung, daß das Schwert des Prosser über ihm schwebt und jeden Moment runtersausen kann.« »Du mußt deine Leute in der Furcht des Herrn halten. Eine andere Sprache verstehen diese Drecksäcke alle nicht, nur so kriegst du sie mit ihren Ärschen hoch, damit sie die eine oder andere ehrliche Schurkerei für dich bringen.« Die beiden standen auf und schüttelten sich die Hand. Prosser sah angewidert, daß Butterley eine dicke Schmiere aus Essensresten im Schoß hatte. Von Tischmanieren hatte sein alter Kumpel offenbar immer noch keine Ahnung. »Genaugenommen«, sagte Butterley, »ist das, was wir ausbrüten, ja nicht ganz hasenrein.« »Keine Angst, Jack, ich halte dicht. Vorausgesetzt, daß du nichts rausläßt.« Während Prosser ihn zum Aufzug brachte, fragte er beiläufig: »Nur interessehalber, Jack, was ist denn nun eigentlich drin in deinem Gesöff?« »Die Chemikalien, die so schön prickeln, erfährst du erst, wenn du Nostrum übernimmst. Das Getränk selbst ist ein alter Hut: Löwenzahn und Klette.« Prosser brüllte vor Lachen. Butterley betrat den Aufzug, dann drehte er sich noch einmal zu seinem früheren Kollegen um. »Wie ich sehe, spielst 33
du immer noch deine alten Spielche n, Alex.« »Wie meinst du das?« »Dein Hosenschlitz steht offen, du geiler Sack.« Unten hinkte Jeremy über den Platz, um sich BIG House aus der Nähe anzusehen. Sein Knöchel pochte. Kaum war er den wüsten Schimpfkanonaden des Penners entkommen, als ihn aus unerfindlichen Gründen ein Mann attackiert hatte, der seinen Dackel ausführte. Er hatte mit einem Stock nach ihm geschlagen und ihn drohend angefaucht. »Verfluchte Fata Morgana!« Wirklich herzerfrischend, wie man in London Neuankömmlinge willkommen hieß. Er beruhigte sich wieder, als er vor dem Eingang zu BIG House stand. Hinter dieser Tür würde er nun Tag für Tag sicher und geborgen sein. Bei seiner Annäherung setzte sich die Drehtür von selbst in Bewegung. Erschrocken wich Jeremy zurück; die Tür stand wieder still. Leichtes Unbehagen beschlich ihn. Sein Verhältnis zur Welt der Maschinen war nicht das beste. Irgendwie mochten sie ihn nicht. Wenn er in Zukunft täglich dieses Ding bewältigen mußte, war es vielleicht keine schlechte Idee, schon mal ein bißchen zu üben. Jeremy trat wieder einen Schritt vor. Die Tür begann sich zu drehen. Er trat zurück. Sie stand wieder still. Er vergewisserte sich rasch, daß er unbeobachtet war, dann lief er auf die Tür zu. Als er dicht davorstand, fing sie an sich zu drehen. Jetzt bemerkte er auch das seitlich am Eingang angebrachte Messingschild »British Industrial Group« und streichelte es zärtlich. Hier war jetzt seine Heimat. Auf einem Monitor verfolgte Mr. Bennett, Werkschutzchef der British Industrial, Jeremys Gekasper mit der Tür. Mr. Bennett war ein sehr gewissenhafter Mann. Er legte sein Exemplar von Men Only aus der Hand und beobachtete aufmerksam den Bildschirm. Der Typ vor der Tür sah harmlos aus, aber man konnte nie wissen. Mr. Bennett prägte sich sein Aussehen ein, und als er sich davon überzeugt hatte, daß 34
Jeremy eine Gefahr allenfalls für sich selbst darstellte, steckte er die Hand wieder in die Tasche und vertiefte sich in die anatomischen Einzelheiten der scharfen Avril aus Aylesbury. Das purpurne Gebäude funkelte den Major an, und der Major, der sich auf einen Stuhl in seiner Küche gestellt hatte, funkelte zurück. Der Gang durch die frische Luft hatte ihm keine neuen Erkenntnisse verschafft. Noch immer wartete er auf konstruktive Gedanken. Ein Wagen der Straßenreinigung störte den abendlichen Frieden. Er war damit beschäftigt, den Schmutz umzuverteilen und zu wässern, damit er ein, zwei Stunden an einer Stelle liegenblieb. Bei Major Peregrine regten sich die ersten Ansätze einer Idee … Auch bei Prosser im dreizehnten Stock regte sich etwas, aber das mußte jetzt warten. Vorrang hatten zunächst die Daten auf seinem Computerschirm, die ihm Informationen über Nostrum und eine aktuelle Cash- flow-Analyse für British Industrial Group lieferten. Während seine Nase durch heftiges Zucken ihr Interesse signalisierte, war auch seine linke Hand nicht untätig. Sie griff nach den restlichen belegten Broten, bohrte in der Nase herum, öffnete Bierdosen und schüttete deren Inhalt in den aufgesperrten Mund. Während Prosser sich einen Überblick über Nostrums Finanzlage verschaffte, keimte eine Idee in seinem Hirn. Was hatte Butterley gesagt? Wenn Pardoe Nostrum in die Hand bekam, konnte er praktisch sofort mit der Produktion des Wunderdrinks anfangen … Hochinteressant. Das eröffnete ganz neue Perspektiven. Prosser machte die beiden obersten Hemdenknöpfe auf und griff nach einer Dreieinhalb-Zoll-Diskette, die er an einem Kettchen um den Hals trug. Aus alter Gewohnheit blickte er sich mißtrauisch um. Als er sah, daß keine Gefahr durch unerwünschte Zuschauer drohte, nahm er die Diskette ab und 35
schob sie ins Laufwerk. Er tippte die Paßworte ein und holte sich die gewünschten Daten auf den Bildschirm. Sir Jocelyn Pardoe war also scharf auf Nostrum? Einen Jocelyn Pardoe durfte man nicht enttäuschen … Das einzige Haar in der Suppe war Jack Butterley, der ihn vor zehn Jahren so schnöde hatte sitzenlassen. Das konnte Prosser ihm nicht verzeihen, auch wenn es nach Butterleys Ausscheiden entschieden einfacher gewesen war, den bedauerlichen Unfall des alten Sanderson zu inszenieren. Butterley war ein tüchtiger Manager, aber ein Prozent Umsatzbeteiligung an einer Goldgrube wie Zischfit einfach zu verschenken, das war nicht Prossers Art. Freundschaft und Geschäft waren, wie Jack so richtig bemerkt hatte, zwei Paar Stiefel. Etwas Schriftliches über ihre Abmachung lag ja nicht vor. Butterley war eben wirklich anständiger, als gut für ihn war. Prosser nahm die Kassette, auf der er ihr Gespräch mitgeschnitten hatte, aus dem Recorder, beschriftete sie und ließ sie in der untersten Schreibtischschublade verschwinden. Man konnte nie wissen, wozu man so was noch mal brauchen konnte. »Wer hat heute abend Dienst, Ron?« erkundigte er sich über die Gegensprechanlage. »Jacqui, Boss.« »Ich komme gleich hoch, sag ihr das. So und so.« Prosser feixte. Von seinen Chefassistentinnen war ihm Jacqui in mancherlei Hinsicht die liebste. Besonders weil sie so innovativ war. Das konnte noch ein recht angenehmer Abend werden. Nach sechs Dosen Bier forderte die Natur ihr Recht. Die luxuriöse Naßzelle neben seinem Büro verschmähend, zog Prosser den Vorhang zurück, machte ein Fenster auf und sah auf die Lichter Londons hinaus. Irgendwo da draußen saßen diese arroganten Armleuchter, die nicht akzeptieren konnten, daß er jetzt ein Gentleman war, und ihr Oberarmleuchter, Sir 36
Jocelyn Scheißpardoe. Aber der würde sich noch umgucken. Prosser holte sich einen Stuhl ans Fenster und machte den Hosenschlitz auf. Unten startete Jeremy Seaman seine Stoppuhr für den Rückweg. Es wurde höchste Zeit. Obwohl keine Wolke am Himmel stand, hatte es offenbar angefangen zu regnen.
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2 Jeremy hatte seinen ersten Tag bei British Industrial mit atemberaubender Akribie geplant. Er würde zeitig aufstehen, fünf beschauliche Minuten auf dem Klo verbringen, seine Zähne mit Bürste und Zahnseide bearbeiten, zehn Minuten in einem heißen Bad relaxen und dann in seine Sachen steigen, die ordentlich zusammengelegt am Bett seiner harrten. Dort stand auch seine kunstlederne Aktenmappe mit dem Kombinationsschloß und seinen Initialen. Sie enthielt einen Schreibblock, Bleistift und Kugelschreiber, außerdem ein Wirtschaftslexikon, zwei Sandwiches mit Lachspastete, die Sunday Times mit sämtlichen Beilagen und den immer wieder gelesenen, immer wieder zusammengefalteten Brief mit der Aufforderung, sich am 1. April um halb zehn in BIG House einzustellen. Das alles war, wie gesagt, genau geplant. Der Wecker war auf halb acht gestellt in dem durch die gestrige Rekognoszierung gewonnenen beruhigenden Wissen, daß er achtundzwanzig Minuten und fünfundfünfzig Sekunden von Tür zu Tür brauchte. Um halb acht tat Jeremys Wecker keinen Mucks. Um neun Uhr sechsundvierzig flog Jeremys Wohnungstür auf, und ein aufgeregter, ungewaschener, ungekämmter junger Mann in braunem Anzug stolperte die drei Stockwerke hinunter. Unten angekommen, raste er wieder hoch, schloß die Wohnungstür auf, schnappte sich die Aktenmappe und stürzte wieder nach unten. Erst jetzt merkte Jeremy, daß es in seiner Wohnung irgendwie komisch roch. Er würde einen Teil seines ersten Gehalts in eine Teppichreinigung investieren müssen. »Gar nicht so schlimm heute, Mr. Prosser. Vormittags besichtigen Sie die Neubausiedlung in Windsor. Harvey erwartet Sie dort. In fünf Minuten holt der Hubschrauber Sie 38
ab. Um eins sind Sie mit dem Lokalredakteur der Times im L’Escargot verabredet, das heißt, Sie dürfen nicht später als zwanzig vor eins wieder hier sein. Um Viertel vor eins steht der Wagen unten.« Sally sah auf und bemerkte, daß der Wirtschaftsboss ungeniert ihre Beine anstarrte. Dieser geile Bock dachte doch wirklich zu jeder Tages- und Nachtzeit immer nur an das eine. Sie schlug die Beine übereinander, so daß ihr Rock noch ein Stück höher rutschte. Das würde ihm einheizen. Unter dem Kragen und unter der Gürtellinie. Und da er in knapp fünf Minuten auf dem Dach sein mußte, konnte er gar nichts machen, sie konnte ihn gefahrlos triezen. Den Frust gönnte sie ihm. Geschah ihm recht, diesem Dreckskerl! Prosser anzumachen gehörte für Sally zu den positiven Seiten ihres Jobs. Während sie die übrigen Termine dieses Tages herbetete, legte sie die rechte Fessel aufs linke Knie und ließ ganz sacht das rechte Knie sinken, so daß immer mehr Fleisch über dem schwarzen Strumpfrand zum Vorschein kam. Zufrieden registrierte sie die gewünschte Wirkung. Prosser rutschte auf seinem Stuhl herum, nicht nur der besseren Sicht wegen, sondern auch, um das wachsende Spannungsgefühl zu lindern, das ihm dieser Anblick bereitete. »Komm her«, befahl er. »Aber Mr. Prosser!« sagte Sally mit unschuldigem Augenaufschlag. »In fünf Minuten müssen Sie auf dem Dach sein.« »Wenn du denkst, Schätzchen, daß ich da oben mit einem dicken Ständer aufkreuze, bist du schief gewickelt. Jetzt komm schon.« Mist. Sie hätte noch warten sollen. Schon bei dem Gedanken an seine widerlich plump en Hände überlief Sally eine Gänsehaut. Das Telefon läutete. Sie schnappte den Hörer. »Für Sie, Sir«, sagte sie erleichtert. »Ja, was ist?« bellte Prosser. Dann war er plötzlich wie 39
ausgewechselt, seine Stimme klang liebenswürdig, fast unterwürfig. »Meine Bewerbung für Bart’s? Hatte ich total vergessen. Natürlich, der Ausschuß tagt wohl jetzt gerade … Hat schon? Um so besser. Und was hat – … Ach so. Ja. Verstehe. Besten Dank für die Information … Sehr freundlich, daß Sie sich die Mühe gemacht haben. Ja, wir essen gelegentlich mal zusammen. Wiederhören.« Prossers Gesicht war dunkelrot angelaufen. Er stand auf und sagte sehr leise und desto bedrohlicher: »Diese Schweine. Diese dreckigen, säuischen, stinkenden Idioten. Wie konnten sie bloß … Wissen sie nicht, wer ich bin? Wetten, daß dieses intrigierende, hinterfotzige Arschloch Jocelyn Pardoe dahintersteckt?« Wütend griff er sich die Napoleonbüste und schmetterte sie an die Wand, wo sie in tausend Stücke zerbrach. Sally war ganz still stehengeblieben und machte sich möglichst unsichtbar, um seinen Zorn nicht auf sich zu lenken. Prossers Wutanfall legte sich so schnell, wie er gekommen war. »Also dann auf nach Windsor. Wo sind meine Unterlagen?« Er griff sich den Aktenkoffer und ging zur Wendeltreppe. Doch dann wandte er sich noch einmal um. »Wenn ein Jack Butterley anruft, Sally, stell ihn sofort zu mir durch. Egal, wie spät es ist oder wo ich gerade bin. Sofort durchstellen, ist das klar?« »Ja, Mr. Prosser. Selbstverständlich.« So ein Pech: Die Lust war ihm offensichtlich vergangen. Prosser stieg über den 14. Stock hinauf aufs Dach. Er sah zum Himmel auf, an dem bedrohliche Regenwolken standen. Auch das noch! Der Anblick des Hubschraubers, einer Aerospatiale Dauphin 2, die mit wirbelnden Rotorblättern bereitstand, heiterte ihn etwas auf. Noch immer fand er Helikopterfliegen ungeheuer aufregend, und diese Maschine, seine fünfte, war Prossers ganzer Stolz. Der zweimotorige Helikopter, Rufzeichen G40
BIGE, war für dreizehn Passagiere zugelassen, aber Prosser hatte ihn, wie es einem Mann seiner Stellung angemessen war, so umbauen lassen, daß er nur drei bequeme Sessel und die unentbehrliche Couch enthielt. Der scharfe Luftzug, den die Rotorblätter erzeugten, erfrischte ihn. Außer mir gibt’s nur noch drei Unternehmer in London, deren Hochhausdächer als Hubschrauberlandeplatz zugelassen sind, dachte Prosser selbstgefällig. Er zog den Kopf ein, ging mit seinem Aktenkoffer zur Maschine, winkte Buddle, dem Piloten, und stieg ein. Er schnallte sich an, holte eine CD aus dem Ständer neben sich und schob sie in den CD-Spieler ein. Der Hubschrauber erhob sich zum Senkrechtstart und legte sich im Steigen in eine westliche Kurve. Prosser drehte die Lautstärke voll auf. Ein Sousa-Marsch, gespielt von der Militärkapelle der Blues and Royals, dröhnte durch die Kabine. Er warf einen Blick auf das Label. »Der unbesiegbare Adler«. Prosser schnaubte verächtlich. Kein Mensch war unbesiegbar, nicht mal Sir Jocelyn Pardoe. Wenn man dem die Schwingen beschnitt, plumpste er zu Boden wie ein Stein. Im dreizehnten Stock fegte Sally den kaputten Napoleon zusammen und warf ihn in den Mülleimer. Hinter einer Schranktür standen reihenweise Napoleons, Alexander und Churchills. Sie griff sich einen besonders schurkisch aussehenden Bonaparte und stellte ihn bereit. Butterley? Hatte nicht Lorraine erzählt, daß gestern abend ein gewisser Butterley angerufen und daß Prosser sie weggeschickt hatte, um in Ruhe telefonieren zu können? Sie holte das Verzeichnis führender Wirtschaftskräfte aus dem Bücherregal. Da war er: »Butterley, Jack Horace. Finanzchef, Nostrum GmbH.« Sie las weiter. Als Jeremy kurz nach halb elf BIG House betrat, beseelte ihn auch nicht der leiseste Hauch jener Hochstimmung, die er sich 41
gestern abend ausgemalt hatte. Die Fahrt mit der U-Bahn war ein Alptraum gewesen. Bis zu seiner Arbeitsstelle hatte er mitnichten achtundzwanzig Minuten und fünfundfünfzig Sekunden, sondern weit länger gebraucht. Viel mehr Leute fuhren U-Bahn als am Sonntag, dafür schien es viel weniger Züge zu geben als gestern, was irgendwie unlogisch war. Jeremy kam sich in dem schlecht belüfteten U-Bahnwagen vor wie in einer Sardinenbüchse und litt sehr, zumal jemand ganz in seiner Nähe – die genaue Quelle hatte er nicht ausmachen können – starke persönliche Hygieneprobleme zu haben schien. Es roch so ähnlich wie in seiner Wohnung. Entschieden unappetitlich. Und zu allem Überfluß merkte er voller Unbehagen, daß er in der Eile vergessen hatte, aufs Klo zu gehen. Er war so aufgeregt, daß er keine Zeit hatte, sich Gedanken wegen der Drehtür zu machen, die ihn denn auch reibungslos in die Eingangshalle beförderte. Während er sich dem dreieckigen Empfangstresen näherte, bedauerte er schon heftig, daß er sich so beeilt hatte. Hätte er sich etwas mehr Zeit gelassen, wäre er nicht so ins Schwitzen geraten. Die Empfangsdame, die Nägel im Farbton Liebliche Limone gelackt, Lider im Farbton Prachtprimel prangend, telefonierte laut und ungeniert und mit einem starken East-End-Akzent. Jeremy stellte sich schwer atmend vor ihr in Positur und bemühte sich, den Eindruck eines Mannes zu erwecken, für den es sich lohnt, ein Telefongespräch zu beenden. Endlich legte sie den Hörer auf und klimperte leicht mit den falschen Wimpern. »Ja, bitte?« fragte sie gelangweilt und offenbar in der Hoffnung, er habe sich in der Tür geirrt. »Mein Name ist Seaman. Ich werde erwartet«, sagte er und drückte die Arme dicht an den Körper. Sie sah in ihre Unterlagen. »Seaman, Seaman … Ham wa nich. Vertreter, wa?« Jeremy richtete sich stolz auf. »Keineswegs. Ich trete heute den Dienst hier an. In meinem Brief steht, ich soll heute um … 42
ich soll mich heute vormittag hier melden.« Er stellte seine Aktenmappe auf den Tresen und fummelte an dem Zahlenschloß herum, bis es seinen Geburtstag anzeigte, und dann mußte er gleich wieder anfangen zu fummeln, weil ihm eingefallen war, daß er die Kombination von seinem Geburtstag auf das heutige Datum, den Anfang einer neuen Zeitrechnung, umgestellt hatte. Der Brief hatte sich in einer der vielen Beilagen der Zeitung versteckt, und bis er ihn herausgefischt hatte, hing die junge Dame schon wieder am Telefon. Er schob ihr den Brief hin, wodurch sich die Sunday Times in ihre Bestandteile auflöste. Erst als sie ihr Gespräch beendet hatte, eine langwierige Diskussion über die Frage, welche Weinbar sie und eine gewisse Tracey heute mittag mit ihrer Anwesenheit beehren sollten, schenkte sie Jeremy wieder ihre Aufmerksamkeit. Sie nahm den Brief, den er ihr hinstreckte, und las ihn, wobei sich ihre zitronengelb geschminkten Lippen sacht bewegten. »Den hat Mr. Nettle unterschrieben«, stellte sie triumphierend fest. »Der Chef von Humanressourcen, der ist für Sie zuständig.« »Human- was?« »-ressourcen. Also eigentlich isses ja die Personalabteilung, nich, aber wir müssen da Humanressourcen zu sagen oder HUMA – spricht sich leichter, nicht? Weil, das is eben menschlicher, da können die sich irgendwie beziehungsmäßig viel mehr einbringen.« »Aha. Dann bringen Sie sich doch bitte mal ganz lieb ein und richten Sie Mr. Nettle aus, daß ich da bin.« »Glaub nich, daß Sie um diese Zeit Mr. Nettle erwischen.« »Vielleicht versuchen Sie’s mal. Er erwartet mich.« Sie machte ein muffiges Gesicht und hängte sich wieder ans Telefon. »Mr. Nettle ist leider noch nicht da. Nehmen Sie doch Platz, ich sag Ihnen Bescheid, wenn er kommt.« Und nach einer merklichen Pause: »Sir.« 43
»Danke.« In diesem Moment trat ein Mann in dunklem Anzug und Sonnenbrille an den Tresen und zückte einen Ausweis. »Essensgutscheine, Schätzchen.« »Schon wieder? Wir haben doch gerade eine Lieferung gekriegt.« »Weiß ich. Geht eben manchmal ’n bißchen durcheinander.« »Da müssen Sie mit HUMA reden.« Sie befestigte ein Schildchen an seinem Jackenaufschlag und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Fahren Sie am besten gleich rauf. Vierter Stock. Wenn Sie aus dem Lift kommen, links.« Die Innenarchitekten von BIG House hatten an Blumen und Blattwerk nicht gespart. Die Eingangshalle glich einem Gewächshaus, nicht nur äußerlich, sondern auch klimatisch. Damit die Pflanzen sich wohl fühlten, sorgte zusätzliche Feuchtigkeit für heimische Urwaldatmosphäre. Jeremy, noch erhitzt von seinem überstürzten Aufbruch, war bald schweißgebadet. Der dreibeinige Dreieckstuhl, auf dem er sich niedergelassen hatte, war, wie vieles in der Eingangshalle, dem Logo von BIG nachempfunden und erstaunlich unstabil. Jeremy war von dem Empfangstresen nur etwa fünf Meter entfernt, konnte ihn aber über eine Yuccapflanzung hinweg nur sehen, wenn er sich auf der Stuhlkante zur Seite lehnte. Auf diese Weise hoffte er sich bei der Empfangsdame hin und wieder in Erinnerung zu bringen. Aber nicht genug damit, daß ihm diese unbequeme Stellung großes Unbehagen bereitete – er verspürte auch ein immer dringenderes Bedürfnis, ein gewisses Örtchen aufzusuchen, dem das unablässige Plätschern eines Springbrunnens ganz in seiner Nähe zusätzlichen Nachdruck verlieh. Hunger hatte er auch, aber wahrscheinlich machte es einen schlechten Eindruck, wenn er jetzt seine belegten Brote hervorholte. Einkaufen war für den Major gewöhnlich nur eine lästige 44
Pflichtübung. Heute vormittag hatte er geradezu Spaß daran. Der Verkäufer stellte das Sieb, das er von hinten geholt hatte, zu dem Drahtschneider, der schweren Zange, dem Glasschneider, der Taschenlampe, der Stiefelwichse und den Batterien auf den Ladentisch. »Künstliche Blumen brauch ich auch noch«, sagte der Major. »Für das Sieb.« Der Ladenjüngling sperrte Mund und Nase auf. Total daneben, der alte Zausel. Aber schließlich war’s ja sein Geld. Er holte eine Handvoll Ansteckblumen. Der Major musterte sie kritisch und riß die Blütenblätter ab, so daß nur noch Stiele und Blätter übrigblieben. »Bestens, die nehm ich.« Einen anständigen Feldstecher hatte er schon. Fehlten nur noch Seesack, Kopfschutz, Arbeitsjacke und Luftgewehr. Jeremy sah sich um und stellte fest, daß mehrere ausgewachsene Bäume in der Halle standen, die, etwa 35 Meter hoch, bis in die höchsten Höhen des Atriums ragten. Er schüttelte den Kopf über das viele rausgeworfene Geld. Wie konnte man in all das Grünzeug investieren, wenn man die Pflege vernachlässigte? Die Pflanzen verströmten einen geradezu widerlichen Geruch. In der Halle herrschte ständiges Kommen und Gehen. Alle paar Minuten trafen Motorradkuriere ein, die Päckchen an der Rezeption abgaben oder abholten; die in ihren Helmen angebrachten Funkempfänger knisterten. Ob es sich bei den Boten um Schwarze oder Weiße handelte, Männlein, Weiblein oder Marsbewohner, war nicht zu erkennen. In diesem Teil des Empfangsbereichs stand ein Schreibtisch, an dem ein Wachmann saß, mit dem ersichtlich nicht gut Kirschen essen war. Dahinter führten einige Stufen zu den Paternostern. Solche Dinge hatte Jeremy bisher noch nie gesehen. In zwei Öffnungen, die in die Wand eingelassen waren, zogen an einem Endlosband Kabinen vorbei. Fasziniert 45
beobachtete Jeremy die Leute, die ein- und ausstiegen und in der linken Kabine himmelwärts entschwebten, während sie rechts in der Tiefe verschwanden. Nach einer Weile verlor selbst diese Neuheit ihren Reiz. Der Wachmann ließ ihn nicht aus den Augen, und Jeremy wurde immer unbehaglicher zumute. Die Empfangsdame, die inzwischen damit beschäftigt war, ihre Nägel mit einer frischen Lackschicht zu versehen, hatte ihm, seit sie ihn in den Urwald geschickt hatte, keinen Blick mehr gegönnt, nicht mal, als er sich etwas zu weit vorgelehnt hatte und mit seinem Dreieckstuhl krachend zu Boden gegangen war. Wie kam er eigentlich dazu, sich von einem so ungebildeten Ding, das nicht mal ordentlich Englisch sprechen konnte, seinen großen Tag verderben zu lassen? Immerhin hatte er berechtigte Aussichten, dermaleinst in die Führungsspitze des Unternehmens aufzusteigen, während sie auf ewig verdammt war, in den Niederungen des Empfangs zu vegetieren. Man müßte noch mal energisch mit ihr reden. Außerdem ließ vielleicht der Druck auf seine Blase etwas nach, wenn er sich bewegte, und er entkam diesem widerlichen Geruch. Durch die stacheligen Yuccas hindurch drängte er sich zurück zum Tresen und bemerkte dabei peinlich berührt, daß die Sunday Times, in ihre Bestandteile zerlegt, noch immer auf dem Boden herumlag. Er sammelte die fliegenden Blätter auf und drückte sie an die Brust, während er an den Tresen herantrat, wo die Empfangsdame sich gerade versonnen ihre zweieinhalb Zentimeter langen Nägel besah und überlegte, ob es richtig gewesen war, statt der Lieblichen Limone Blonde Blüten aufzutragen. Sie verabschiedete den EssensgutscheinMann mit einem munteren »Tschüs!« und reckte den Daumen hoch, während sie ihm das Schild abnahm, dann wandte sie sich widerstrebend Jeremy zu. »Ich … äh … ich wollte nur fragen, ob Mr. Nettle zufällig inzwischen zurück ist.« »Zurück von wo?« 46
»Wo immer er gewesen ist.« »Glaub nich, daß er überhaupt weg war. Da kann er ja wohl auch nich zurück sein, wie?« »Ich … äh … nein, das stimmt. Vielleicht versuchen Sie’s noch mal in seinem Büro?« Sie tat es und knallte, als sie die unerwartete Antwort hörte, unnötig heftig den Hörer auf die Gabel. »Also, inzwischen war Mr. Nettle wirklich n paar Minuten im Büro, aber jetzt isser wieder weg.« Sie beäugte Jeremy argwöhnisch, als habe sie ihn im Verdacht, mehr zu wissen als sie. Jeremy trat indessen hastig von einem Fuß auf den anderen, um den kritischen Augenblick hinauszuzögern. »Wo ist –« fragte er in seiner Herzensangst. »Mr. Nettle? Keine Ahnung. Ich könnte ihn höchstens ausrufen lassen.« »Nein, nicht Nettle«, sagte Jeremy verzweiflungsvoll. »Die Toilette.« »Belästigt dich der Typ, Charmaine?« Der Wachmann war unerwartet neben Jeremy aufgetaucht. »Er sagt, daß er heut herkommen soll, Mr. Bennett, aber auf meiner Liste isser nich.« Der Chef des Werkschutzes hatte genug gehört. Es handelte sich eindeutig um das verdächtige Subjekt, das sich gestern abend hier vor der Tür herumgedrückt hatte. Aus der Nähe wirkte der Kerl noch verdächtiger. Rotes Haar hatte Mr. Bennett noch nie leiden können. Kommunisten hatten bekanntlich meist rote Haare, obgleich manche sie sich färbten. Tarnungshalber. »Nicht auf deiner Liste, wie? Würden Sie bitte mal Ihre Aktentasche aufmachen, Sir?« »Meine Aktentasche? Warum?« Komisch, aber wenn Jeremy Leute in Uniform und mit Schirmmütze sah, kriegte er unweigerlich ein schlechtes Gewissen. »Sicherheitskontrolle, Sir. Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein.« Die Sunday Times zerstob erneut in alle Winde, während 47
Jeremy mit dem Kombinationsschloß kämpfte. Er wurde allmählich nervös. Jetzt mußte er bald aufs Klo. Sehr bald. Genaugenommen unverzüglich. Endlich war die Aktenmappe offen. Mr. Bennett sah hinein. Langsam, Stück für Stück, nahm er alles heraus und untersuchte es. Erst den Schreibblock, dann die Bleistifte und Kugelschreiber, dann das Buch. Jetzt hatte er einen Plastikbehälter mit einem Deckel in der Hand, durch den etwas in Alufolie Verpacktes zu erkennen war. »Würden Sie das mal aufmachen, Sir?« Über die Schulter des Wachmanns hinweg hatte Jeremy eine Tür erspäht, auf der eine menschliche Gestalt aufgemalt war. Jetzt wurde es allerhöchste Eisenbahn. Er legte einen Spurt ein, die Blätter seiner Sunday Times als Kielwasser hinter sich herziehend. »Halt! Stehenbleiben!« rief jemand hinter ihm, aber Jeremy war inzwischen alles egal. Er riß die Tür auf. Kein Pissoir weit und breit. Er stürmte die einzige freie Kabine. Im gleichen Moment öffnete sich die Tür der Nachbarkabine, jemand kreischte: »Ein Mann!« Von überall her quiekte es jetzt in den höchsten Tönen, rapide leerte sich der Raum. Jeremy nahm es gar nicht wahr. Nie war Pinkeln schöner gewesen. Erst als der Strom versiegt war, dämmerte ihm, daß er die falsche Tür erwischt hatte, aber zu seiner Überraschung war er kein bißchen verlegen. Zu groß war seine Not gewesen. Bei jeder weiteren Verzögerung hätte es eine Katastrophe gegeben. Entscheidungsfreude war ein Merkmal des aufstrebenden Jungmanagers. Allerdings wußte er nicht recht, wie er sich jetzt verhalten sollte. Wenn er gleich wieder rauskam, sah ihn vielleicht jemand. Wenn er blieb, wo er war, kam vielleicht jemand rein und ertappte ihn an einem Ort, an dem er eigentlich nichts zu suchen hatte. So oder so sah er drohende Wolken am Horizont aufziehen. Ein Blick in den Spiegel gab den Ausschlag. So 48
konnte er sich unmöglich zum Dienstantritt melden. Er klemmte den Abfalleimer unter die Tür und beschloß, die Gelegenheit zu nutzen, um seinen äußeren Menschen wieder in Ordnung zu bringen. Vielleicht war inzwischen auch Nettle greifbar. Beim Händewaschen stieg Jeremy erneut der widerwärtige Geruch in die Nase, und jetzt endlich ging ihm auf, daß er möglicherweise irgendwie an seiner eigenen Person hängen könnte. Er schnüffelte an seinen Schuhsohlen. Er schnüffelte an seinen Achselhöhlen und an seinem Jackett. Er beugte sich vor und schnüffelte in seinen unteren Gefilden. Nichts. War wohl doch ein Irrtum gewesen. Er wusch sich das Gesicht. Danach fühlte er sich entschieden besser. Als er aber versuchte, sich die Haare zu kämmen, verfing sich sein Kamm in etwas Klebrigem. Das Geheimnis des großen Gestanks war gelöst. Er ließ das Waschbecken vollaufen und steckte den Kopf ins Wasser. Es ist nicht so einfach, sich an einer Handtuchrolle abzutrocknen, deren Abrollmechanismus streikt. Jeremy fuhr sich mit dem Kamm durch das triefende Haar und sah auf die Uhr. Punkt elf. Vor eineinhalb Stunden hätte er eigentlich seine Tätigkeit aufnehmen sollen. Diesmal würde er sich von dieser gelbgelackten Schnepfe nicht abwimmeln lassen. Eine Schande für die Firma, diese Prolo-Tussi! Wenn er hier mal das Sagen hatte, kamen als Empfangsdamen nur Mädchen mit mittlerer Reife in Frage. Mindestens. Jeremy schob den Abfalleimer weg und machte vorsichtig die Toilettentür einen Spaltbreit auf. Draußen tat sich offenbar nichts. Wenn er jetzt rausging und ganz locker durch die Halle schlenderte, würde kein Mensch was merken. »Keine Bewegung, Karottenkopf. Polizei! Wir sind bewaffnet.«
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3 Jeremy gehorchte bereitwilligst. Hätten die beiden kräftig gebauten, unsympathisch wirkenden Herren im Kampfanzug mit ihren womöglich noch unsympathischer wirkenden MPs ihn ersucht, sich nackt auszuziehen und mit Chrysanthemen im Haar einen altenglischen Volkstanz aufzuführen, wäre er dieser Aufforderung unverzüglich nachgekommen. Er verstand nichts von Schußwaffen, aber selbst er erkannte, daß die MPs direkt auf ihn gerichtet waren. Einer der Männer kam zentimeterweise näher, den Blick ohne Blinzeln fest auf Jeremys Gesicht gerichtet. Jeremy hob die Hände so hoch wie möglich, womit er aber die Herren mit den Ballermännern nicht friedlicher zu stimmen vermochte. Er schloß versuchsweise die Augen. Ja, so war es schon besser. Mit geschlossenen Augen sah gewissermaßen alles viel freundlicher aus. Vielleicht hatte er nur einen besonders lebhaften Alptraum, war in Wirklichkeit noch gar nicht aufgewacht. Gleich würde der Wecker summen, er würde aufwachen, zur Toilette gehen, seine Zähne mit Bürste und Zahnseide bearbeiten, ein schönes heißes Bad nehmen, sich anziehen, seine Aktenmappe ergreifen und sich auf den Weg zur Arbeit machen, ganz so, wie er es geplant hatte. Er wurde grob herumgedreht, so daß er mit dem Gesicht zur Wand stand. Die an seiner Schläfe liegende Mündung der MP fühlte sich erstaunlich kalt an. Einer der Burschen im Kampfanzug spreizte ihm mit Hilfe seiner Stiefel die Beine und riß ihn brutal aus seinen Tagträumen. Brutal war noch milde ausgedrückt. Eine Hand wanderte über seinen ganzen Körper und drückte und bohrte an Stellen, die zu erforschen Jeremy selbst immer Hemmungen gehabt hatte. Aus einiger Entfernung röhrte eine Stimme: »Entwarnung, Jungs. Keine Bombe.« »Keine Bombe?« klang es enttäuscht hinter Jeremy. 50
»Nein. Scheint sich um belegte Brote zu handeln.« »Belegte Brote?« »So isses. Riecht nach Lachspastete … Ja, genau, Lachspastete. Schmeckt nicht schlecht, aber mit Schwarzbrot? Weißes eß ich lieber. Ich steh nicht auf diesen Vollwertscheiß.« »So ’n Mist«, sagte der Mann und drückte in seinem Frust kräftig zu. Jeremy knickte vor Schmerz ein. Offenbar noch immer leicht verärgert, trat ihm der Mann genüßlich gegen den Knöchel, wobei er zufällig eben jene Stelle erwischte, die der Major am vorigen Abend mit seinem Stock getroffen hatte. Doch Jeremy, der sich am Boden wälzte, war inzwischen alles egal. Er hatte die Augen noch immer fest geschlossen, denn er wollte gar nicht wissen, welche weiteren Scheußlichkeiten ihn erwarteten. Als er es dann endlich wagte, wieder um sich zu sehen, erblickte er eine größere Gruppe von Männern in Kampfanzügen, die sich zum Abmarsch bereitmachten. Einer hatte eine Fernbedienung in der Hand, mit der er einen grünen Kasten auf Rädern dirigierte, der aussah wie etwas aus dem Stabilbaukasten. Mit der anderen führte er Jeremys Lachsbrote zum Munde. Die weitverbreitete Ansicht, Rothaarige besäßen ein besonders aufbrausendes Temperament, hätte bei Jeremy wohl niemand bestätigt gefunden. Vierundzwanzig Jahre hatte er die Ausgeglichenheit einer zufriedenen Zuchtsau an den Tag gelegt. Doch muß man bedenken, daß er einen nervenaufreibenden Vormittag hinter sich hatte. Er war an dem wichtigsten Tag seines Lebens nicht rechtzeitig aufgewacht, war in aufgelöstem Zustand an seiner Arbeitsstelle erschienen, eine halbe Stunde von einer Person abgewimmelt worden, deren IQ gegen null ging, aus Versehen in der Damentoilette gelandet, hatte etwas Unappetitliches in seinem Haar gefunden und war von zwei Bewaffneten bedroht, von einem brutal 51
mißhandelt worden. Und jetzt aß ihm zu allem Überfluß noch jemand sein Mittagessen weg. Irgendwo in seinem Innern platzte ein Knoten. Er hinkte zum Empfang hinüber und riß dem Mann im Kampfanzug die restlichen Lachsbrote aus der Hand. »Das sind meine.« Dann wandte er sich an den Chef des Wachdienstes, der in der Nähe stand und ihn mit unverhüllter Abneigung musterte. »Und Ihnen rate ich dringend, in Zukunft über Ihrem Diensteifer nicht ganz den gesunden Menschenverstand zu vergessen.« In der Halle fanden sich nach und nach die evakuierten Mitarbeiter ein, um wieder an ihre Arbeit zu gehen. Charmaine saß wieder auf ihrem Posten am Empfang. Sie konnte es kaum erwarten, Tracey anzurufen. Das war ja noch spitzenmäßiger als damals beim Besuch von Prinzessin Anne in BIG House. Was der wohl auf dem Damenklo gemacht hatte? Sobald die Luft rein war, würde sie mal nachsehen. Aber Jeremy war noch nicht fertig. Mit tropfendem Haar stellte er sich vor den Tresen und nahm die Empfangsdame aufs Korn. »Und jetzt zu Ihnen, mein Kind. Wenn Sie weniger Zeit am Telefon verbringen würden, um mit Ihrer Freundin Tracey tiefsinnige Gespräche über den Sinn des Lebens zu führen, und dafür eifriger das täten, wofür Sie bezahlt werden, wäre das alles vielleicht gar nicht passiert. Falls Sie im Augenblick nichts Wichtigeres zu tun haben und es nicht allzuviel verlangt ist, wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie Mr. Nettle für mich auftreiben könnten. Nicht heute nachmittag, nicht morgen oder nächste Woche, sondern sofort. Unverzüglich. Tout de suite.« »Selbstverständlich, Sir. Natürlich, Sir. Entschuldigen Sie, Sir.« Doch noch ehe sie zum Hörer greifen konnte, tippte jemand Jeremy auf die Schulter. »Ich bin Nettle.« Jeremy fuhr herum. Seine Platte war noch nicht abgelaufen. »Wird auch Zeit. Wissen Sie eigentlich, wie lange ich hier 52
schon warte?« Nettle sah ihn verdutzt an. Von den Trainees, die frisch von der Uni kamen, um hier ihre Stelle anzutreten, war er servilere Töne gewöhnt. Er war ein rundlicher Mann mit spärlichem, sorgfältig über den ganzen Kopf verteiltem Haar und einem dünnen Schnurrbärtchen. Sein rundes Gesicht glänzte ölig, und dieses Adjektiv traf auch auf sein Gebaren zu. Wäre es möglich gewesen, Nettle einzuschmelzen, hätte man längere Zeit nahrhafte Mahlzeiten mit ihm bereiten können. »Tut mir wahnsinnig leid, daß ich nicht da war. Immer auf Trab, immer auf Trab. Aber was soll’s, jetzt bin ich ja hier. Das war ein Vormittag, wie?« Die Sätze quollen aus seinem Mund wie eine Kette prall gefüllter Würstchen. »Hat Charmaine sich nett um Sie gekümmert?« Er deutete auf die Empfangsdame, wartete aber die Antwort nicht ab. »Prächtig, prächtig. Haben Sie natürlich erwartet. Willkommen bei BIG!« Er packte Jeremys Hand, die noch immer die restlichen Lachsbrote umfaßt hielt, schüttelte sie herzhaft und wischte sich die Handfläche mit einem Taschentuch ab. »Jetzt kommen Sie, will Ihnen Ihr Büro zeigen.« Na endlich, dachte Jeremy. Ein Büro. Er griff nach seiner Aktenmappe. Die Lachsbrotreste, die inzwischen nicht mehr sehr appetitanregend aussahen, ließ er bei Charmaine liegen. Zu seiner Überraschung führte Nettle ihn die Treppe hinunter. »Absolut ätzender Tag, absolut ätzend«, fuhr er fort. »Siebenhundertfünfzig Leute evakuiert. Bombenalarm. Dabei waren’s nur belegte Brote. So ein Affentheater. Nicht zu glauben. Immerhin, war ’ne gute Übung. Und dann die Essensgutscheine. Ganz blöde Geschichte. Natürlich fauler Zauber«, sagte er geheimnisvoll, während er eine Tür aufmachte und vor Jeremy einen tristen Gang betrat. Die Opulenz der Eingangshalle mit ihren Grünpflanzen und dicken Teppichen schien ferne Vergangenheit. Hier war der Boden mit zerbröselten Linoleumplatten ausgelegt, die Wände 53
waren in einem jeden Schmutz gnädig tarnenden Braunton gestrichen, die Beleuchtung war trüb. Das alles wirkte wenig einnehmend. »Heute früh die Lieferung. Wie immer. Gutscheine im Wert von einem Pfund pro Tag für alle Mitarbeiter. Siebenhundertfünfzig Mitarbeiter alles in allem. Lieferung für drei Monate. Einundfünfzigtausendsiebenhundertfünfzig Pfund. Haufen Essensgutscheine. Haufen Geld. Der Bote ist kaum weg, da kommt dieser Typ und erzählt was von peinlicher Verwechslung, Druckfehler und und und. Sehr unangenehm, wirklich, müssen eingestampft werden, nehme sie am besten gleich wieder mit, sagt der Typ. Ich bin nicht da. Die Neue kennt sich nicht aus. Der Typ zieht mit den Gutscheinen ab. Ich komme zurück. Komische Geschichte, denke ich, schau mal nach, was da los ist. Gutscheine völlig in Ordnung. Rufe sofort unten an. Typ ist gerade zur Tür raus. Und dann der Bombenalarm. Der Boss wird sich freuen.« Auf halbem Wege den Gang hinunter blieb er stehen. Jeremy roch etwas, was er für die Kantine hielt und was in ihm unerfreuliche Erinnerungen an schulische Abfütterungseinrichtungen weckte. Nettles Redefluß war ungebrochen. »So, hier wären wir. Büro. Alles vom Feinsten. Licht nicht besonders. Eigentlich als Lagerraum gedacht. Muß Sie jetzt allein lassen. Komme später mal vorbei und erklär Ihnen den Laden. Damit Sie sich zurechtfinden. Muß Polizei anrufen. Einundfünfzigtausendsiebenhundertfünfzig Essenbons, Wert ein Pfund pro Stück, einfach weg. Kann sich schön die Wampe vollschlagen, der Typ.« Beim Lachen bibberte sein ganzer Körper, Fettwellen rollten auf seinem Leib auf und nieder. Einen zweiten Händedruck vermeidend – wußte man denn, was Jeremy noch an Schmierig-Wabbligem bereithielt? –, winkte er seinem neuen Management-Trainee nur kurz zu und entschwand. Das Büro war spartanisch eingerichtet: Schreibtisch mit 54
Telefon, ein Schrank und ein kleines Bücherregal, auf dem eine verdorrte Pflanze stand. Das einzige – sehr kleine – Fenster war hoch oben in der Wand angebracht und gewährte einen Ausblick auf die Füße der Passanten. Ansonsten gab es als Lichtquelle nur noch eine nervös zuckende Neonröhre an der Decke. Doch nur der schlechte Arbeiter gibt dem Werkzeug die Schuld. Jeremy sagte sich, daß er zum Arbeiten hergekommen war, und das konnte er hier ebensogut besorgen wie anderswo. Er ging zur Tür und sah erfreut, daß draußen schon ein Name stand. In großen weißen Buchstaben stand dort: »Jeffrey Simpson. Trainee.« Mr. Bennett sah Jeremy mit unverhülltem Haß nach. Diese Stimmungslage war für ihn nichts Ungewöhnliches. Mr. Bennett haßte die meisten seiner Mitmenschen. Er hatte schon früh damit angefangen, indem er seinen Haß auf seine liebevollen Eltern richtete, was diese ihm zugegebenermaßen nicht schwergemacht hatten. Später, in der Schule, erfreute er sich deshalb verständlicherweise nicht allzu großer Beliebtheit. Doch anders als Jeremy hatte sich Mr. Bennett nach seinen Erfahrungen in Kindheit und Jugend nicht in ein Schneckenhaus verkrochen, sondern nahm mit Hilfe seines Berufs Rache an der Menschheit. Er hatte lange überlegt, ob er zur Bereitschaftspolizei oder zur Verkehrsstaffel gehen sollte. Beide Bereiche boten jede Menge Gelegenheiten für rüdes und aggressives Verhalten. Zu guter Letzt ging er dann zum Zoll. Lange glückliche Jahre hatte er am Flughafen Gatwick damit verbracht, gutgelaunten Fluggästen nach vierzehn Tagen Sonnenurlaub das Lächeln auszutreiben. Seine ausgefeilten Methoden zur Demütigung von Reisenden männlichen wie weiblichen Geschlechts hatten ihm bald die Bewunderung seiner Kollegen und die Anerkennung seiner Che fs eingebracht. Nachdem dann aber seinen Vorgesetzten endlich 55
aufgegangen war, daß Mr. Bennett fünf verschiedene Touristinnen bei einer im übrigen verbotenen Leibesvisitation mit ein und demselben Päckchen Haschisch erwischt hatte, war er genötigt gewesen, sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen. Als Werkschutzchef in BIG House hatte nun Mr. Bennett den Himmel auf Erden gefunden. Hier gab es keine kleinlichen Vorschriften über das, was er zu tun oder zu lassen hatte. Die Mitarbeiter von BIG waren ihm auf Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert – und eben dies waren Eigenschaften, die Mr. Bennett in nicht gerade reichem Maße besaß. Bei dem wöchentlichen Match seines örtlichen Rugbyclubs hatte er ausreichend Gelegenheit, unter dem Deckmantel sportlicher Betätigung seine Mit- und Gegenspieler mit Tritten, Hieben, Kratzern und Stößen zu traktieren, aber nicht einmal das gewährte ihm die gleiche innige Befriedigung wie jener Moment, als er einem langjährigen leitenden Angestellten von BIG das Betreten des Hauses hatte verwehren können, weil der seinen Firmenausweis zu Hause gelassen hatte. Die flotte flaschengrüne Uniform mit passender Schirmmütze war nur das Tüpfelchen auf dem i. Da Mr. Bennett keine Freunde besaß, gab es niemanden, der ihm nahe genug gestanden hä tte oder mutig genug gewesen wäre, ihm vorsichtig beizubringen, daß er trotz der Uniform ein widerwärtiger bierbäuchiger Fettwanst mit Schuppen war. Noch nie hatte Mr. Bennett mit so viel Gusto zum Telefon gegriffen wie heute vormittag, als er der Polizei mitgeteilt hatte, ein Mann, der sich geweigert hatte, bei der Sicherheitskontrolle ein verdächtiges Paket aus seiner Aktentasche zu entfernen, habe die Flucht ergriffen. Endlich mal ein richtiger Terrorist in BIG House! Darauf hatte Mr. Bennett schon lange gewartet. Jetzt sah er ganz schön alt aus, was er gar nicht schätzte, und daran war nur dieser rothaarige Laffe schuld. Aber er würde es ihm schon noch heimzahlen, oder er wollte nicht mehr Gordon 56
Bennett heißen. Noch immer kochend vor Wut, wies er einen seiner Untergebenen barsch an, ihn zu vertreten, und verließ das Haus, um frische Luft zu schöpfen. »Ärger?« fragte der Major, der Rommel wieder mal zu einer Urinattacke gegen den Beton von BIG House vorgeschickt hatte. Mr. Bennett kannte Herrn und Hund vo m Sehen und gelegentlichen flüchtigen Zunicken. »Kann man wohl sagen. Bombenalarm, weil so ein Hornochse ein Paket nicht aufgemacht hat Hinterher hat sich rausgestellt, daß es nur belegte Brote waren.« Normalerweise hätte der Major es weit von sich gewiesen, mit dem Feind zu fraternisieren, aber was tut man nicht alles, um an Informationen zu kommen … »Belegte Brote? Nicht zu glauben. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, sage ich immer.« Mr. Bennetts Gesicht erhellte sich. Hier war ein Mann nach seinem Herzen. »Eben! Diese Spinner rasten aus, ehe man sich’s versieht.« »Rote Agitatoren lauern überall, glauben Sie mir! Daß unsere Regierung den Gewerkschaften die Tour vermasselt hat, bedeutet noch nicht, daß die Störenfriede sich alle wieder nach Moskau getrollt haben. Im Gegenteil, die sind jetzt erst mal untergetaucht und warten ab. Möchte wirklich wissen, wofür wir im Krieg gekämpft haben.« Eine militärische Vergangenheit imponierte Mr. Bennett immer. »Armee?« »Sie sagen es. El Alamein, Tobruk und und und. Major, Siebte Panzerdivision. Abteilung Spezialeinsätze. Mehr kann ich nicht sagen.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Nase und musterte Mr. Bennett von oben bis unten. Ein echter Fiesling. »Flotte Uniform. Sitzt blendend. Machen Ihrem Beruf Ehre.« Mr. Bennett schwoll die Brust vor Stolz. Sein Bierbauch schwoll mit, wodurch der Gürtel noch weiter nach unten 57
rutschte. Er zog ihn wieder hoch, aber selbst mit Gürtel war seine ausufernde Leibesfülle kaum mehr zu bändigen. »Danke, Sir. Man muß das Beste aus sich machen, sag ich immer.« Er beschloß, sich dem Major anzuvertrauen, der schien eine mitfühlende Seele zu sein. »Komisch ist es aber doch. Den Typ, der die ganze Geschichte losgetreten hat, einen mickrigen Rotschopf, hab ich schon gestern abend hier gesehen. Hat sich sehr verdächtig benommen. Und heute kommt er an, gibt sich rotzfrech als neuer Mitarbeiter aus und macht Randale.« »Ein Rotschopf? Den hab ich gestern auch gesehen, stundenlang hat er sich hier herumgedrückt. Könnte ein Infiltrator sein. Ein Spion, der Arges im Schilde führt. Schon mal was vom Marsch durch die Institutionen gehört?« »Nein.« »Damit sollten Sie sich mal beschäftigen. Daß so ein Typ heute noch kein Terrorist ist, sagt nicht, daß er es nicht irgendwann mal werden könnte. Vielleicht wartet er nur ab. Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein.« »Sehen Sie, da ist er«, sagte Mr. Bennett leise. Jeremys Gesicht erschien auf Gehsteighöhe. Er hatte sich auf einen Stuhl gestellt und versuchte erfolglos, das Fenster aufzumachen. Rommel hob sein Bein und trübte Jeremy noch mehr die Sicht. »Prächtiges Tier, das Sie da haben, Major.« Ein knallgelber Rolls Royce Silver Spur rollte aus der Tiefgarage und ging vor BIG House in Stellung. »Ich verschwinde jetzt lieber, gleich kommt der Boß.« Mr. Bennett verzog sich schleunigst wieder in die Halle. Der Major ging rasch zurück zu seiner Wohnung. Er wußte, daß ein Reifenwechsel beim Rolls keine ganz unkomplizierte Angelegenheit ist. Allerdings kam es ja auch sehr selten vor, daß eine dieser Edelkarossen einen Platten hatte. Er machte sein Küchenfenster auf und suchte sich für sein neu erworbenes Luftgewehr eine feste Auflage auf dem Fensterbrett. So eine Chance durfte man sich nicht entgehen 58
lassen. Die Schlacht konnte beginnen. Er drückte ab.
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4 »Tut mir leid, daß Sie warten mußten, Mr. Simpson.« Als Nettle zurückkam, kämpfte Jeremy noch immer mit dem Fenster. »Sehe, daß Sie sich schon eingerichtet haben. Freut mich, freut mich.« »Da muß jemand was verwechselt haben«, sagte Jeremy. Daß der Junge immer noch auf seinen Erlebnissen an diesem unglückseligen Vormittag herumritt, wurmte Nettle. »Hab doch schon gesagt, daß es mir leid tut. Mehr kann ich nicht tun. Was passiert ist, ist passiert, Mr. Simpson.« »Aber das ist es ja gerade«, ereiferte sich Jeremy und kletterte vom Stuhl. »Ich heiße nicht Simpson.« »Nicht –? Natürlich sind Sie Simpson. Steht doch an der Tür«, erklärte Nettle mit Nachdruck. »Ich weiß, was an der Tür steht, aber so heiße ich nicht. Irgend jemand muß was verwechselt haben.« »Verwechselt?« wiederholte Nettle tief gekränkt. »Ausgeschlossen. HUMA ist voll auf EDV umgestellt.« Er sah in eine Akte, die er mitgebracht hatte. »Cambridge, ja?« »Ja«, erwiderte Jeremy. »Gut. Peterhouse?« »Nein.« »Nein?« »Nein. Sidney Sussex.« »Ach so. Mathematik?« Seine Stimme klang nicht mehr ganz so markig. »Nein.« »Nein?« »Nein. Betriebswirtschaft.« »Ach«, sagte Nettle, deutlich verunsichert. Ein Fehler in seinen Unterlagen? Das gab es doch gar nicht Sein System war computerisiert und irrte sich nie. Dieser junge Mann fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. 60
»Also nicht Jeffrey Simpson?« »Nein. Mein Name ist Jeremy Seaman.« Warum wollte das diesem Blödmann nicht in den Kopf? »Hier ist der Brief, mit dem Sie mir mitgeteilt haben, daß ich heute me ine neue Stellung antreten soll.« Nettle vertiefte sich geraume Zeit in das Schreiben. »Aber der Brief ist an Jeremy Seaman gerichtet«, sagte er schließlich. »Ja, das bin ich.« Ganz allmählich kam die Botschaft an. »Muß eine Verwechslung sein«, sagte Nettle niedergeschlagen. »Ich werde das checken. Seaman, sagten Sie?« An der Tür drehte er sich noch mal um. »Lassen Sie die Finger vom Fenster. Geht doch nicht auf. Vollklimatisiert. Nur die Fenster im dreizehnten und vierzehnten Stock lassen sich aufmachen.« Sally duckte sich. Alexander der Große flog über ihren Kopf hinweg und landete knapp neben dem Lowry an der Wand. »Wie lange dauert denn so ein Scheißreifenwechsel, verdammt noch mal! Und glaubst du, ich hätte ein Taxi gekriegt, während dieser Idiot von Fahrer da rumgemacht hat? Denkste, Puppe. Den halben Weg mußte ich laufen. Ich, Alexander Prosser, war genötigt, zu Fuß zu gehen! Als ich ankam, war dieser Arsch von der Times schon stockbesoffen. Wollte sich weglachen, witterte wohl Material für seine Klatschspalte. Dann komme ich zurück und stelle fest, daß inzwischen Bombenalarm war und ein Gauner mit fünfzigtausend Pfund Essensgutscheinen ’ne Mücke gemacht hat. Wer hat ihm die Dinger rausgegeben?« »Eine junge Mitarbeiterin, die erst letzte Woche angefangen hat. Sie konnte es nicht wissen.« »Rausschmeißen!« »Aber Mr. Prosser –« »Rausschmeißen. Und Nettle soll der ganzen Abteilung diesen Monat ein Viertel vom Gehalt abziehen. Sich selber 61
auch. Vielleicht sind sie dann in Zukunft nicht mehr ganz so leichtsinnig.« »Ja, Mr. Prosser«, sagte Sally mißbilligend. »Die können noch von Glück sagen, wenn sie mir nicht die ganze Summe zurückzahlen müssen.« Er marschierte ans Fenster und sah mit bösem Gesicht hinaus. »Kein Anruf von Butterley?« »Nein, Mr. Prosser.« Was waren das für Faxen? Wie lange brauchte der Junge für eine ganz simple Verabredung? »Hol Daniels rauf und gib ihm das hier.« Prosser riß einen Zettel mit einem Dutzend Namen von dem Block auf seinem Schreibtisch und drückte ihn Sally in die Hand. »Seine Le ute sollen die Firmen durch die Mühle drehen, wie gehabt, und zwar ein bißchen dalli. Butler soll uns die aktuellen Aktionärslisten beschaffen. Sollen diese eitlen Bankertypen sich ruhig mal den Arsch aufreißen und was tun für die astronomischen Summen, die wir ihnen in den Rachen schmeißen. Wenn was ist – ich bin mit Maggie auf dem Dach, hab mir ’ne kleine Entspannung verdient.« Sally fröstelte. Entspannung? Mit Maggie? Igitt … Sie verständigte Daniels, den Chef der Abteilung Marktanalyse. Inzwischen sah sie rasch die Liste durch. Eine der Firmen war Nostrum, auch der verhaßte Pardoe-Konzern war dabei. Interessant. Irgendwas war hier im Busch. Auf ihrem Schreibtisch ertönte ein Summer. Sie warf einen Blick auf den Monitor. Daniels stand vor der Tür. Sally drückte den Einlaßknopf. Prosser hatte einen Sicherheitstick. Nicht mal seine engsten Mitarbeiter – zu denen auch Daniels gehörte – kannten die Kombination zur Tür seines Büros. Die Abteilung Marktanalyse überwachte die Konkurrenz von BIG, prüfte ihre Stärken und Schwächen, warnte vor ihren Manövern, durchleuchtete ihre Geschäftsmethoden und fahndete nach möglichen Neuerwerbungen für den Konzern. Obgleich die Leute von der 62
Marktanalyse sich um eine möglichst diskrete und geräuschlose Tätigkeit bemühten, lief ihr Bereich bei BIG unter dem Spitznamen AST – Abteilung für Schmutzige Tricks. Nicht zufällig stand auf den Türen von Daniels und seinem Assistenten MI 6 und MI 5. Daniels, ein Mann Mitte Dreißig, früher selbständiger Wertpapiermakler, dem die Behörden nach einem lächerlichen Verstoß gegen irgendwelche albernen Vorschriften, wie er sich auszudrücken pflegte, das Leben etwas schwergemacht hatten, kleidete sich wie ein Banker der alten Schule. Hochgewachsen und distinguiert, trug er seine Sachen wie ein Model auf dem Laufsteg. Da er außerdem fest an seine unwiderstehliche Wirkung auf Frauen glaubte, konnte Sally ihn nicht ausstehen, zumal er zu den Menschen gehörte, die einem nie direkt ins Gesicht sehen können. Seine Züge waren hager, die Wangen hohl, als habe ihm jemand eine Staubsaugerdüse in den Mund gesteckt und sein Gesicht ausgesaugt. Daniels warf sich vor Sallys Schreibtisch in Positur und säuselte: »Welch schönes Bild erblick ich hier …« »Sprechen Sie von mir oder von Ihrem Spiegelbild?« »Touché. Was haben wir denn Wichtiges, daß wir es dem Büroboten nicht anvertrauen wollen?« Sally gab ihm die Liste und übermittelte Prossers Auftrag. »Ist schon eine komische Nummer, unser Boß«, sagte Daniels. »Nicht mal seinen eigenen Leuten traut er über den Weg. Immer muß er falsche Spuren legen. Meist im Verhältnis sechs zu eins. Auf der Liste stehen zwölf Firmen. In Wirklichkeit interessieren ihn also vermutlich nur zwei. Wollen wir wetten, daß ich weiß, welche es sind, Schätzchen?« »Welche denn?« fragte Sally unschuldig. »Nein, meine Schöne, nicht mal dir zuliebe würde ich den Zorn meines Herrn und Meisters auf mich ziehen. Er hat es nämlich gar nicht gern, wenn wir aus der Schule plaudern. Es sei denn, du willst dir selbst was Liebes tun und heute abend mit mir essen.« 63
»Sie wissen so gut wie ich, Mr. Daniels«, sagte Sally mit Nachruck, »daß Mr. Prosser den Mitarbeitern aus dem dreizehnten Stock streng verboten hat, mit Kollegen aus anderen Betriebsbereichen zu fraternisieren.« »Hm. Wenn du mal bei uns bescheidenen Arbeitsbienen in den unteren Gefielden die hübschen Lauscher aufstellen würdest, könntest du Haarsträubendes darüber flüstern hören, was hier oben alles abgeht.« »Ich habe Besseres zu tun, als den ganzen Tag herumzutratschen, Mr. Daniels.« Sie drückte den Türknopf. Als Daniels weg war, ging sie wieder in Prossers Büro, um nach den neuesten Feldherrnschlachten Ordnung zu schaffen. Die Alexanders wurden knapp, stellte sie fest, als sie den Schrank aufmachte. Sie mußte schleunigst nachbestellen. Der Major überprüfte seinen Seesack. Arbeitsjacke, Taschenlampe, Ersatzbatterien, Feldstecher, Drahtschneider, Sieb, künstliche Blumen, Stiefelwichse und die Sun. Alles da, alles paletti. Er machte die Wohnungstür einen Spaltbreit auf. Die Luft schien rein zu sein. Vorsichtig schlich er sich hinaus. »Na, dann wollen wir mal wieder.« Nettle war zurück. Jeremy wartete seit über einer Stunde und war am Verhungern. Die Gerüche, die aus der Kantine durch den Gang zogen, machten ihn ganz verrückt. Hoffentlich klärte sich diese verworrene Angelegenheit nun bald. Nettle war sauer. Der Rausschmiß von Mitarbeitern ließ ihn normalerweise kalt, obgleich die Neue ein ganz niedliches kleines Ding gewesen war. Aber daß er sich selbst das Gehalt kürzen sollte, ging entschieden zu weit. Er schlug die Akte auf, die er mitgebracht hatte. »Sie sagten Seaman?« »Ganz recht.« Jeremys Gesicht erhellte sich. »Aha.« Es klang fast, als habe Nettle insgeheim auf eine andere Antwort gehofft. Wieder warf er einen Blick in seine Unterlagen. »Jeremy Seaman?« 64
»Ja.« »Betriebswirtschaft?« »Ja.« »Sidney Sussex?« »Ja.« »Aha.« Heute lief aber auch alles schief. Nicht mal bis auf die Auswahlliste hatte der Typ es geschafft. Das psychologische Gutachten war, gelinde gesagt, verheerend ausgefallen. Für BIG total unbrauchbar. Wie wurde er den jetzt wieder los, ohne daß es großes Theater gab? »Ja. Natürlich. Jeremy Seaman. Eben, eben. Alles klar. War ein schlimmer Tag für Sie«, sagte er mitfühlend. »Wissen Sie was: Sie machen für heute Feierabend. Ich kläre inzwischen hier die Geschichte, und morgen fangen Sie noch mal ganz von vorn an.« Im Gezweig einer Platane in der Mitte der Grünanlage zwitscherte eine Blaumeise stillvergnügt vor sich hin. Angst mischte sich in ihr Lied, als ein großer Schatten über sie fiel. Aber da war es schon zu spät. Nur noch zweimal konnte sie ihren kurzen, schrillen Hilferuf ausstoßen, dann wurde es still. Ein kraftvoller Hieb hatte ihr den Schädel zerschmettert.
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5 Ron Niblo, wie üblich in Unterhemd und Boxershorts, zog die Vorhänge in Prossers Schlafzimmer zurück. Als eine breite Lichtbahn über das Bett fiel, stieß Prosser einen tiefen Seufzer aus. Nicht den Seufzer, mit dem der Mensch normalerweise den Morgen begrüßt, sondern einen Laut purer Lust. Ein nicht ganz kleiner Hügel unter der Bettdecke lieferte die Erklärung für diese genüßlichen akustischen Signale. Mit Jacqui als Wecker hatte man morgens keine Mühe hochzukommen. »Ein neuer Tag steht vor der Tür«, verkündete Ron munter, während er die Zeitungen und die über Nacht eingegangenen Fax- und Telexmeldungen auf den Nachttisch legte. »Dank Jacqui ist das nicht das einzige, was steht.« Prosser lehnte sich gegen das Kopf teil. »Mit der hast du ein gutes Händchen bewiesen, Ron.« Ohne sich weiter um Jacquis fleißige Zunge zu kümmern, griff er nach der Financial Times. Es gehörte zu Rons Obliegenheiten, Prosser immer neue Chefassistentinnen zuzuführen, was keine leichte Aufgabe war. Junge Damen, die hundertachtzig Silben in der Minute stenografieren und achtzig Worte in der Minute tippen konnten, gab es genug, aber nur recht wenige verstanden es, außer mit der gewissenhaften Ausführung von Sekretariatsarbeiten ihrem Chef auch sonst liebreich zu Diensten zu sein. Jacqui war seit einem Dreivierteljahr dabei. Besser, als sich freiberuflich am Shepherd Market abzuschaffen, hatte sie gesagt. Nur daß sie unentwegt Kaugummi kaute, nervte Niblo, Prosser allerdings schien es nicht zu stören, wenn man von dem einen Riesenkrach absah, als sie vergessen hatte, für ihre morgendlichen Weckaktionen den Kaugummi rauszunehmen. Na, das war ein Theater gewesen! Bloß wegen der paar Kaugummifäden in den Schwanzhaaren hatte er sich angestellt, 66
als ob Jacqui sein Rohr verbogen hätte! Lorraine und Lucinda waren inzwischen auch erfahrene Kräfte, sie waren zwar nicht in dem Sinne Profis wie Jacqui, machten sich aber jetzt immerhin auch schon seit einem Jahr in mancherlei Beziehung für den Boss nützlich. Nur mit Sally gab es Probleme. Sie gehörte erst seit einem halben Jahr zum Team, nachdem ihre Vorgängerin so dumm gewesen war, sich ein Kind anhängen zu lassen. Zuerst sah sie ganz nach der Idealbesetzung aus. Eine Supermaus, das mußte sogar Ron zugeben, der in die andere Richtung gepolt war. üppiges kastanienbraunes Haar. Grüne Augen. Haut wie Milch und Blut. Knackige Figur. Endlos lange, bildschöne Beine. Und wie alle Girls, die Gnade vor Prossers Augen gefunden hatten, mindestens einen Kopf größer als er. Der Boss stand auf große Frauen. Gewitzt durch seine langjährige Erfahrung, hatte sich Ron gleich gedacht, daß Prosser auf Sally abfahren würde. Der Boss hatte sie tatsächlich sofort eingestellt, ohne den letzten, wichtigsten Test abzuwarten. Hätte Ron ihn nicht so gut gekannt, hätte er gesagt, daß der Mann sich verliebt hatte. Prosser behauptete, ihre hübsche Himmelfahrtsnase sei so mit das Schärfste, was er je gesehen hätte. Sie war ganz anders als die anderen Mädels, soviel stand fest. Sie dachte nicht daran zu katzbuckeln. Die anderen blieben schön bescheiden, Sally aber machte rotzige Bemerkungen und hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Mit ihren Kolleginnen konnte sie offenbar nicht viel anfangen. Die ihrerseits fanden sie arrogant und unnahbar. Selbst Lucinda, Tochter eines ziemlich hohen Tiers im Schatzministerium, eine typische Tochter aus gutem Hause mit dem obligaten Perlenkettchen, einer großen Portion Dünkelhaftigkeit und einem entsprechenden Defizit an kleinen grauen Zellen, schien einigen Respekt vor ihr zu haben. Sallys größtes Manko war es, daß sie bei außerdienstlichen Aktivitäten einfach nicht mitspielte. Vor einem Jahr hatte Prosser, ein Anhänger der freien Marktwirtschaft, auch für 67
seine Mädchen eine Konkurrenzsituation geschaffen, indem er ihnen Noten für ihre Leistungen gab und danach die Höhe der monatlichen Prämien festsetzte. Ein genialer Schachzug, behauptete er, mit dem er eine Steigerung nicht nur der Produktivität, sondern auch der Qualität erreicht habe, weil die Mädchen miteinander wetteiferten, um ihre Gehaltsschecks zu erhöhen. Der einzige Nachteil war, daß wegen des scharfen Wettbewerbs Dreierzüge jetzt wegfallen mußten, weil sie zu gefährlich geworden waren. Ron, der die monatlichen Sonderzahlungen verfolgte, stellte fest, daß bei Sally noch kein einziger Bonus eingetragen war. Da war wohl bald die Nachfolgerin fällig. Er ging in die Küche, um Prossers Frühstück zu machen. Während er einer Orange den Lebenssaft auspreßte, läutete das Telefon. Es war Jack Butterley. Ron stellte ins Schlafzimmer durch, legte aber in der Küche den Hörer nicht auf. Er war Prosser treu ergeben, hielt sich aber, schon im Hinblick auf nützliche Börsentips, gern auf dem laufenden. »Morgen, Jack. Du bist ja früh dran!« »Morgen, Alex. Kann mich nicht lange aufhalten. Wollte dir nur sagen, daß ich die Übergabe einer Probe für dich organisiert habe.« Er gab Prosser die Einzelheiten. »Ich bin ja auch sehr für Geheimhaltung, aber müssen wir hier wirklich einen James-Bond-Thriller durchziehen?« »Sicher ist sicher, Alex.« »Na schön, ich komme«, sagte Prosser. Und dank Jacquis raffinierter Zungenkünste ließ er den Worten sogleich die Tat folgen. Als Prosser aufgelegt hatte, ging ein breites Grinsen über Jack Butterleys Gesicht. Gewiß, er brauchte Prosser. Aber er hatte noch ein paar alte Rechnungen mit ihm zu begleichen, und da konnte man durchaus das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Es versprach ein recht vergnüglicher Abend zu werden. Ob Alex Prosser es auch so sehen würde, war 68
allerdings eine andere Frage. Jeremy hatte in seiner Angst, wieder zu verschlafen, die ganze Nacht keine Auge zugetan. Als sein neuer Wecker brav um halb sieben summte, war er schon eine halbe Stunde auf. Um sieben war er gewaschen und angezogen, noch vor acht war er am Gilbert Square. Vor der Zeit dazusein, dachte er, wirkt bestimmt genauso ungünstig wie Unpünktlichkeit. Er beschloß, noch eine Runde durch die Grünanlage zu machen. Der reizbare Mann mit Stock und Dackel war wieder da. Als Jeremy zur Seite trat, um ihm auszuweichen, landete er geradewegs in einem von Rommels Haufen, die dieser strategisch geschickt auf dem Rasen verteilt hatte. Jeremy schurrte mit dem Schuh ein paarmal im Gras herum, zuckelte bis neun durch die Grünanlage und las. Er las die Financial Times, er las die Inschrift auf dem Standbild des politischen Reformers John Cartwright, er las das Schild an einem Haus, das verkündete, daß dort von 1837 – 1839 Sir Roland Hill gelebt hatte, und das Schild an einer ziemlich dürftigen Blutbuche, dem zu entnehmen war, daß Präsident Nehm sie 1953 gepflanzt hatte. Er machte einen weiten Bogen um den Penner, auf den er gestern getreten war und der offenbar in dem Hauseingang gegenüber von BIG House genächtigt hatte. Endlich war es soweit, daß er seine Arbeitsstätte betreten konnte. Da er diesmal die Drehtür bewußt zur Kenntnis nahm, bekam er prompt Probleme. Wenn Tempo und Rhythmus nicht stimmten, lief hier gar nichts. Zweimal beförderte ihn das gemeine Ding wieder zurück auf die Straße. Als er glücklich in der dschungelgrünen Halle stand, traf er auf ein weiteres Hindernis, nämlich auf Mr. Bennett. »Lassen Sie nur, ich kenne mich aus. Mr. Nettle hat mir gestern mein Büro gezeigt.« »Ohne Betriebsausweis kommt hier niemand durch. Tut mir leid, aber so sind nun mal die Vorschriften«, erklärte Mr. 69
Bennett mit sadistischem Vergnügen und rammte Jeremy seinen kurzen knubbeligen Zeigefinger in die Brust. An der Rezeption nahm Charmaine, heute ganz in Rosarot – Lippenstift Feuriger Flamingo, Lidschatten Pralles Pink und Nagellack Knackiges Karmin –, Jeremys Erscheinen sehr erfreut zur Kenntnis. Sie witterte weiteren Klatsch und Tratsch, mit dem sie in der Mittagspause bei ihrer Freundin Eindruck schinden konnte. Tracey arbeitete im Schreibsaal und hatte deshalb besten Zugriff zu der Gerüchteküche der Firma, aber seit dieser Typ sich hier herumtrieb, war Charmaine ihr über. Die arme Tracey war schon stocksauer. »Mr. Nettle is noch nich im Haus«, sagte Charmaine und legte den Hörer auf, »und bei HUMA finden sie keinen Jeremy Seaman. Sie können aber gern warten«, setzte sie hilfsbereit hinzu. Jeremy, erneut in den Yuccawald verbannt, wurde scharf beobachtet, nicht nur von einer hoffnungsvollen Charmaine, sondern auch von einem argwöhnischen Mr. Bennett. In der dampfenden Hitze des BIG-Dschungels sitzend, merkte Jeremy, daß er sich im Gras offenbar nicht gründlich genug abgeputzt hatte. An seinen Schuhen hafteten noch unverkennbare Dackelkotspuren. Ob er sich wohl mal unauffällig aufs Klo verdrücken konnte? Ach nein, vielleicht lieber doch nicht … Es war fast Viertel vor zehn, als Charmaine ihm winkte. »Mr. Nettle schickt Ihnen das hier. Er ist im Augenblick anderweitig beschäftigt, kommt aber später mal bei Ihnen vorbei.« Jeremy hielt Mr. Bennett den Betriebsausweis unter die Nase und sagte lauter als nötig: »Wollen Sie heute wirklich nicht meine Aktentasche filzen?« Mr. Bennett holte tief Luft. »Das wird kaum nötig sein, Mr. Simpson.« Rache läßt sich vorzüglich auch kalt genießen. Vor dem Haus war der Schwälberich eifrig dabei, Baumaterial 70
zusammenzutragen. Andere gingen erst auf Partnersuche, aber jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß man freie Wahl unter den Weibchen hat, wenn man ihnen schon ein bezugsfertiges Heim bieten kann. Nichts zieht bei den Frauen so sehr wie ein behagliches Nest. Sally ging mit Prosser die Termine durch. Er war heute bedeutend besser gelaunt, fast jovial. »Irgendwas für heute abend geplant?« fragte er. »Dinner mit Junkin, einem Ihrer zahmen Abgeordneten.« »Blasen Sie das ab. Ich hab was Wichtigeres vor. Der Wagen soll um halb acht unten sein. Und morgen früh brauch ich Roach, er soll reichlich Zeit mitbringen.« Sally machte sich eine Notiz. Roach war der Finanzchef von British Industrial, Prossers rechte Hand und einer der wenigen Leute, für die er sich Zeit nahm. Neugierig geworden, versuchte sie ihren Chef ein bißchen auszuholen. »Was ist mit Mr. Butterley? Erwarten Sie seinen Anruf noch?« »Nein. Hat sich erledigt«, kam es kurz angebunden. Demnach war sie auf der richtigen Fährte, es hatte was mit Butterley zu tun. Als Sally sein Büro verlassen hatte, dachte Prosser an den Anruf heute früh. Wollte Butterley ihn etwa verarschen? Zu so einem Spiel gehörten zwei, und er, Prosser, hatte die besseren Karten. Sally meldete sich über die Gegensprechanlage: »Ich habe mit Junkin einen anderen Termin ausgemacht, Mr. Prosser. Aber er läßt Ihnen ausrichten, daß verlautet, Sie seien auf der nächsten Liste. Sie wüßten schon, auf welcher.« Prosser drehte sich aufgeregt in seinem Sessel hin und her. Endlich! Ein Adelstitel … Sir Alexander Prosser … eine Anerkennung nicht nur seiner hervorragenden Verdienste um sein Land, sondern auch um die Parteikasse der Konservativen, in die BIG letztes Jahr hunderttausend Pfund hatte fließen 71
lassen. Es war nur recht und billig, daß man sich einem Firmenchef gegenüber erkenntlich zeigte, der so großzügig mit dem Geld der Aktionäre umsprang. Prosser kannte sich in der Vergabe der Ehrungen inzwischen recht gut aus, da er seit Jahren vergeblich auf eine solche wartete. Die nächste Liste wurde Mitte Juni bekanntgegeben, demnach müßte der Brief, der ihn über den Adelstitel unterrichtete, Anfang Mai kommen. Das waren nur noch ein paar Wochen. Das Gesicht von Sir Jocelyn Pardoe möchte ich sehen, wenn er es liest, dachte er. Der wird sich sonstwohin beißen vor Wut. Der Tag ließ sich nicht schlecht an. Gar nicht schlecht. Und wenn auch der heutige Abend erfolgreich verlief, konnte ein neues Kapitel in der ruhmreichen Geschichte von British Industrial beginnen. Der heutige Abend? Verdammt, das hätte er fast verschwitzt. Er rief Sally und erteilte ihr einen recht ungewöhnlichen Auftrag. Nettle gab sich sehr mitfühlend. Er bedauerte Jeremys mißliche Lage. Alles Menschenmögliche werde getan, beteuerte er. Offenbar vermochte der Computer die verblüffende Tatsache, daß Jeffrey Simpson in Wirklichkeit Jeremy Seaman war, ebensowenig zu begreifen wie Nettle selbst. Er möge sich bitte noch etwas gedulden. Aber Jeremy hatte allmählich genug davon, sich zu gedulden. Er wollte endlich arbeiten. Er schloß die einen zunehmend abstoßenderen Geruch verströmenden Schuhe bis zur Mittagspause im Schrank ein, stellte sein Wirtschaftslexikon ins Regal, goß den vertrockneten Efeu, las den Anstellungsvertrag des BIGKonzerns, studierte die interne Telefonliste, die er in einem Schreibtischfach gefunden hatte, dann legte er, erschöpft und um etliche Illusionen ärmer, den Kopf auf die Schreibtischplatte und schlief ein.
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Der Major war sehr mit sich zufrieden. Die gestrige Erkundung war reibungslos verlaufen. Niemand hatte ihn angehalten, als er in seiner Arbeitsjacke, die Sun in der Hand, im städtischen Fuhrpark herumgelaufen war. Nach Anbruch der Dunkelheit hatte er sich in einem Gebüsch auf die Lauer gelegt und durch den Feldstecher das Depot beobachtet. Dank seiner raffinierten Tarnung war er unentdeckt geblieben. Erst als er wieder in seiner Wohnung war, stellte der Major fest, daß er vergessen hatte, sich umzuziehen. Er war drei Kilometer mit Stiefelwichse im Gesicht und einem mit künstlichen Blumen garnierten Sieb auf dem Kopf durch Londons Straßen gelaufen, und kein Aas hatte sich darum gekümmert. Die Ernte seiner Expedition würde er erst in ein, zwei Tagen einfahren können. Bis dahin brauchte der Major etwas, um den Kampfgeist zu stärken. Finster sinnend sah er aus dem Küchenfenster. Vor BIG House stand wieder der gelbe Rolls, der gestern einen Platten gehabt hatte. So etwas passierte äußerst selten, dem Fahrer war es in seiner Praxis vermutlich noch nie vorgekommen. Kann sein, überlegte der Major, daß er es noch nicht für nötig gehalten hat, den geplatzten Reifen reparieren zu lassen. Aber das würde sich ja gleich herausstellen. Er legte das Luftgewehr auf den Fensterrahmen und zielte.
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6 Das Läuten des Telefons holte Jeremy aus tiefem Schlummer. »Hallo?« sagte er schlaftrunken. »Hier Sally Fluke, Chefassistentin von Mr. Prosser. Hätten Sie wohl Zeit, etwas für Mr. Prosser zu erledigen? Fahren Sie in den zwölften Stock, gehen Sie die Treppe hinauf bis zum dreizehnten und melden Sie sich über die Gegensprechanlage.« Jeremy war ganz aus dem Häuschen. Etwas erledigen? Für Mr. Prosser persönlich? Er vergewisserte sich, daß er Notizblock und Kugelschreiber zur Hand hatte, stürzte zur Toilette, pinkelte, wusch sich die Hände, rückte den Schlips zurecht und glättete das Haar. Verdammt, die Schuhe! Er raste zurück ins Büro, holte sie aus dem Schrank, stürzte wieder zum Klo und drehte beide Hähne voll auf. Dann hielt er die Schuhe mit den Sohlen nach oben unter den kräftigen Strahl. Als er sie anzog, waren sie noch ein wenig feucht, aber was zählte schon in diesem Moment diese kleine persönliche Unbequemlichkeit? Er stellte sich vor den linken Paternoster und beobachtete, wie sich erst eine, dann die nächste Kabine aus der Tiefe erhob und nach oben entschwebte. So ganz allein traute er sich da nicht hinein. Da hier unten keine weiteren Fahrgäste in Sicht waren, eilte er die Treppe hinauf ins Erdgeschoß, wo mehr Betrieb war, und sah eine Weile den Leuten beim Einsteigen zu. Im Grunde war es ganz einfach: Man mußte sich in Bewegung setzen, ehe die Kabine auf gleicher Höhe mit dem Fußboden war. Jeremy startete etwas zu früh und fiel Tracey in die Arme, Charmaines Freundin aus dem Schreibsaal, die in der ganzen Firma wegen ihrer erbarmungslosen Anmache verschrien war. »Sie gehen aber ran«, sagte sie anerkennend. Jeremy war ganz geknickt. Dachte sie etwa, das sei Absicht 74
gewesen? »Nein, nein, das ist ein Mißverständnis. Es ist nur … ich habe das noch nie gemacht.« Die Person gab ein rauhes, wieherndes Geräusch von sich, das Jeremy nach einer Schrecksekunde als Gelächter deutete. »Eine männliche Jungfrau«, johlte sie. »Find ich super, daß du gerade bei mir einsteigen willst!« Jeremy wurde krebsrot. »Nein, ich meine … das heißt … ich bin noch nie mit so einem Ding gefahren.« Er mußte ihre Sticheleien und ihr Hyänengeheul bis zum neunten Stock erdulden. »Wenn dir danach ist, mein Kleiner … da läßt sich bestimmt was machen. Bis später«, sagte sie und spitzte schmatzend die Lippen. Jeremy war so durcheinander, daß er sie nicht beim Aussteigen beobachtet hatte. Jetzt wartete er erst mal ab. Der zehnte Stock tauchte auf und versank unter ihm. Der elfte Stock tauchte auf und versank. Hier mußte er raus. Mist. Er setzte sich zu früh in Bewegung, kam nicht rechtzeitig raus und stieß sich die große Zehe. Der zwölfte und letzte Stock verschwand in der Versenkung, die Kabine entschwebte ins Dach. Jeremy bekam es mit der Angst zu tun. Ob die Kabinen beim Herunterfahren andersrum hingen? Er wappnete sich. Die Kabine klinkte sich aus der Laufschiene aus, schwenkte elegant auf die andere Seite hinüber, klinkte sich in die andere Laufschiene ein und schwebte nach unten. Vor lauter Erleichterung, daß man ihn nicht auf den Kopf gestellt hatte, verpaßte er auch auf der Abwärtsfahrt den zwölften Stock. Erst im siebenten Stock nahm er all seinen Mut zusammen und wagte den Absprung. Er würde sich doch lieber an die Treppe halten. In seinen Schuhen gluckste und gurgelte es. Vom zwölften Stock aus führte ein mit Teppichboden ausgelegtes Treppenhaus zu einer schweren Tür mit Sicherheitsschloß und Sprechanlage. Über der Tür war ein Fernsehmonitor installiert. Jeremy drückte den Knopf der Sprechanlage. »Sie müssen Mr. Simpson sein«, sagte eine geisterhafte 75
Frauenstimme. »Kommen Sie herein.« Mit einem Summton wurde die Tür entriegelt. »Nein«, sagte Jeremy gewissenhaft in den Lautsprecher. »Das war eine Verwechslung. Mein Name ist Jeremy Seaman.« Keine Antwort. Er drückte gegen die Tür. Sie rührte sich nicht. Das Summen hatte aufgehört. Er drückte wieder auf den Knopf. »Versuchen Sie’s noch einmal, Mr. Simpson«, sagte die Stimme mit leisem Spott. »Die Tür ist offen.« Jeremy trat ein. Drinnen ließ sich das wahrscheinlich leichter erklären. »Hallo. Ich bin Sally Fluke, eine von Mr. Prossers Chefassistentinnen.« »Donnerwetter!« Jeremy betrachtete staunend den opulenten Raum, und Sally betrachtete staunend ihren Besucher. Sie hatte Nettle gebeten, ihr einen Mitarbeiter zu schicken, der auf ein paar Stunden entbehrlich war. Nettle hatte seinen Auftrag offenbar sehr wörtlich genommen. Der Typ benahm sich wie ein Hinterwäldler, der zum erstenmal auf die sündige Großstadt losgelassen wird. Diese Kla motten! Wie konnte man so was bloß anziehen? Dieser grauenhafte braune Anzug und die scheußliche Krawatte, ebenfalls in diesem verdächtigen Braunton … Sie sah nach unten. Braune Wildlederschuhe – das durfte ja nicht wahr sein! Zu allem Überfluß waren sie klitschnaß. Jeremy hingegen fühlte sich am Ziel seiner Wünsche. Schon an seinem zweiten Arbeitstag stand er hier, wo sein Idol lebte und arbeitete. Über diesen Teppich war Prosser höchstpersönlich geschritten. Hätte er keine Zeugen gehabt, wäre Jeremy auf die Knie gefallen und hätte den geheiligten Boden geküßt. Er folgte Sallys Blick zu seinen Schuhen. »Naß geworden«, erläuterte er überflüssigerweise. »Aber draußen ist schönes Wetter.« »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber darüber möchte ich 76
eigentlich nicht sprechen, es ist ein bißchen peinlich.« Er sah so jammervoll und unglücklich drein, daß Sally nur den Kopf schüttelte und ihm zulächelte. Es war die erste Freundlichkeit, die Jeremy erlebte, seit er bei BIG angefangen hatte. Er lächelte zurück. Immerhin stand er hier im dreizehnten Stock, auserwählt, eine wichtige Angelegenheit für Mr. Prosser höchstpersönlich zu erledigen. Es ging aufwärts. Erschrocken zuckte er zusammen. Sally hatte etwas zu ihm gesagt. »Wie meinten Sie?« »Ein Pennerkostüm, sagte ich. Mr. Prosser will zu einem Kostümball und möchte als Penner gehen.« Jeremy schien so niedergeschmettert von der Banalität dieser Aufgabe, daß sie ihm die Sache ein bißchen schmackhafter machte. »Er legt besonderen Wert darauf, daß eine vertrauenswürdige Person ihm das Kostüm besorgt, deshalb fiel die Wahl auf Sie.« Auch so konnte man Prossers Anweisung auslegen: »Holen Sie sich den neuesten Trainee und sagen Sie ihm, er soll sich gefälligst am Riemen reißen und verdammt noch mal zeigen, was er kann.« Prosser, der nie in den Genuß einer höheren Bildung gekommen war – wenn denn von Bildung bei ihm überhaupt die Rede sein konnte –, haßte Hochschulabsolventen aus tiefstem Herzen und kannte nichts Schöneres, als sie zu demütigen. Sally schlug das Gewissen. Der Junge war so eifrig, so dienstbeflissen. Er hatte sein Notizbuch mitgebracht und schrieb sich alles auf. »Im Branchentelefonbuch stehen etliche Kostümverleiher. Nehmen Sie notfalls ein Taxi, die Spesen können Sie hinterher abrechnen. Oder brauchen Sie einen Vorschuß?« »Nein, nein, nicht nötig«, sagte Jeremy gegen seine Überzeugung. Die Leute bei der Bank murrten schon ob des hoch überzogenen Kontos, obgleich er ihnen beteuert hatte, daß sein erstes Gehalt in Kürze eintreffen würde. Aber er wollte nicht den Eindruck erwecken, daß er knapp bei Kasse war. 77
Notfalls konnte er sich was aus dem Geldautomaten ziehen und es dann gleich wieder aufs Konto einzahlen, das merkten die bestimmt gar nicht. Sally brachte ihn zur Tür. »Wenn Sie mit dem Kostüm bis spätestens halb sechs hier sein könnten, Mr. Simpson …« »Seaman, Miss Fluke.« Sie sah ihn begreiflicherweise etwas ratlos an und machte die Tür hinter ihm zu. Irgendwas, dachte sie, ist hier faul. Prosser war kein Partygänger, er war der ungeselligste Mensch, der ihr je über den Weg gelaufen war. Und wieso nannte dieser Simpson sich so hartnäckig Seaman? Jeremy verpaßte das Erdgeschoß, fuhr in den Keller und auf der anderen Seite wieder hoch. Im dritten Stock gelang ihm schließlich der Ausstieg. Glucksend tappte er in sein Büro, holte das Branchentelefonbuch vom Regal und hängte sich ans Telefon. »Problem? Was für ein Problem?« schnauzte Prosser. Daniels bekam regelmäßig das große Fracksausen, wenn er Prosser eine schlechte Nachricht beibringen mußte. Es gibt Menschen, die der Meinung sind, es sei nichts damit gewonnen, den Träger schlechter Kunde zu bestrafen. Zu ihnen gehörte auch Prosser. Es war nichts damit gewonnen, aber er tat es häufig trotzdem, einfach, weil es Laune machte. »Sie erinnern sich bestimmt an den neuen Supermarkt in Sheffield, bei dem es Schwierigkeiten mit der Baugenehmigung gab, bloß weil dort ein altes Kino steht. Wir haben das übliche gemacht, ein bißchen geschmiert, ein paar Stadträte auf unsre Seite gebracht. Lief alles bestens. Jetzt ist offenbar so ein Spinner dort aus der Gegend an uns vorbei zum Umweltministerium gegangen. Wir haben nicht rechtzeitig Wind davon gekriegt und konnten es nicht mehr verhindern. Das Kino soll unter Denkmalschutz gestellt werden. Hervorragendes Beispiel von 78
Art-Deco-Architektur und all der Quatsch. Wenn das durchgeht, kommen wir an den Kasten nicht mehr ran.« »Und wenn wir einen unserer Linksanwälte auf den Fall loslassen?« »Zu spät. Tut mir wirklich leid.« »Sie dürfen das alles nicht so eng sehen, Godfrey. So was muß man aussitzen, dann erledigt es sich von selber. Schicken Sie mir mal die Pläne rauf, ich kümmere mich drum.« Es war zum Auswachsen! Hatten seine Leute denn gar keine eigenen Ideen? Prosser rief Niblo zu sich. Ein leises Zischen ertönte. Prosser ging zur Wand und öffnete eine Klappe, hinter der sich eine computerisierte Version der guten alten, in Warenhäusern so beliebten Rohrpost befand. Er holte die Baupläne heraus und breitete sie auf seinem Schreibtisch aus. »Da bist du ja, Ron. Hier, nimm dir mal diesen Stadtplan vor. Und dann machst du folgendes …« Jeremy bekam es mit der Angst zu tun. Von den neun KostümVerleihern, die er angerufen hatte, verfügte nur einer über ein Pennerkostüm, und das hatte er, bis er mit dem Taxi hingedüst war, schon vergeben. Es half alles nichts – er dirigierte das Taxi wieder zum Gilbert Square zurück. Auf der Fahrt hatte Jeremy die nassen Schuhe ausgezogen und trocknete seine Socken vor der Autoheizung. Der Geruch des Dackelhaufens stieg ihm immer noch in die Nase. Wo, um Himmels willen, kriegte er jetzt Pennerklamotten her? Er konnte Miss Fluke kaum sagen, Mr. Prosser möge doch lieber als Pirat oder Rittersmann gehen. Die Erleuchtung kam ihm, als sie auf den Gilbert Square einbogen. Das hätte ihm auch schon früher einfallen können … »Nein, nicht hier, auf der anderen Seite«, sagte er zu dem Fahrer. Der Taxameter zeigte fünf Pfund vierzig. Jeremy stieg aus 79
und holte seine Brieftasche hervor. Wieviel Trinkgeld gab man für so eine Fahrt? Er reichte dem Fahrer eine Zwanzigpfundnote durchs Fenster. »Ziehen Sie ab, was Sie für richtig halten«, sagte er. »Danke, Chef, verdammt anständig von Ihnen.« Der Taxifahrer gab Gas und brauste los. Jeremy sah ihm konsterniert nach. Wie sollte er den Leuten von BIG klarmachen, daß es ihn zwanzig Pfund gekostet hatte, auf die andere Seite des Gilbert Square zu kommen? Nicht mal eine Quittung hatte er sich geben lassen. Zum Glück war der Penner, auf den er am Sonntag getreten war, noch da. Er drückte eine braune Papiertüte an sich. Jeremy versuchte, sich nicht merken zu lassen, daß er einmal tief Luft holen mußte. »Entschuldigen Sie bitte.« »Der Mond ist nicht aus grünem Käse«, sagte der Penner vorwurfsvoll. »Wie?« »Nein. Die Erde ist aus grünem Käse.« Der Penner nahm einen Schluck aus der Pulle. »Die Elfen haben es mir erzählt, deshalb muß es stimmen. Haben Sie mal ’ne Plastiktüte für mich?« »Nein, ich –« »Blöder Hund. Von Fledermausscheiße kannst du blind werden.« »Tatsächlich? Ich wollte … ich dachte … Ob Sie mir wohl für einige Zeit Ihre Sachen borgen könnten?« »Hilfe, ein Sittenstrolch«, zeterte der Penner los. »Pst!« Jeremy sah sich besorgt um. »Ich meine, was verlangen Sie, wenn ich mir bis morgen Ihre Sachen leihe?« »Verlangen?« Der Blick des Penners war plötzlich nicht mehr irre, sondern berechnend- verschlagen. »Für meine Sachen?« »Ja.« »Für die Sachen, die ich auf dem Leib trage?« »Ja.« 80
»Für diese herrlichen Gewänder, die in meiner Familie von einer Generation zur nächsten vererbt werden?« »Ja.« »Diese Erbstücke? Diese unbezahlbaren Erbstücke?« »Ja, ja, sie sind wirklich sehr schön. Wieviel verlangen Sie, wenn ich sie mir für einen Tag leihe?« »Wieviel haben Sie?« »Achtzig … ich meine … ist doch egal, wieviel ich habe.« »So ein Zufall! Genau das kostet es Sie. Achtzig Pfund.« »Achtzig Pfund für diese Lumpen?« »So mögen Sie es sehen, aber für mich und ein paar tausend Flöhe sind diese Hüllen Heimat. Achtzig. Mein letztes Wort.« Jeremy sah auf die Uhr. Es war nach halb vier. Er hatte nur noch zwei Stunden Zeit, die Sachen mußten auch noch gereinigt werden. »Okay. Achtzig Pfund.« »Ihre Hand drauf!« Jeremy schauderte es bei der Vorstellung, mit diesem verkommenen Subjekt auf Tuchfühlung gehen zu müssen. »Ich verlasse mich auf Ihr Wort als … als Gentleman«, sagte er großzügig und reichte ihm vier Zwanzigpfundscheine. Der Penner zählte das Geld bedächtig und ließ es dann in den Tiefen seiner Gewänder verschwinden. »Wenn Sie mir schon nicht die Hand geben wollen«, sagte er breit grinsend, »trinken Sie wenigstens einen mit mir.« »Ich trinke nicht«, sagte Jeremy wahrheitsgemäß. »Ich bestehe darauf.« Der Tramp streckte ihm die braune Tüte entgegen. Jeremy hätte gern sein Taschentuch vorgeholt und den Flaschenhals abgewischt, aber er durfte den Mann nicht vor den Kopf stoßen. Er machte die Augen zu und nahm todesmutig einen Schluck. »Das ist ja Mineralwasser«, sagte er verdattert. »Genau, alter Junge. Perrier mit einem Spritzer Zitrone. Wir sind nicht alle dem Teufel Alkohol verfallen.« Der Penner zog 81
die Nase hoch und spuckte aufs Pflaster, haarscharf an Jeremy vorbei. »Sag mal, alter Freund und Kupferstecher, was soll ich denn anziehen, wenn ich dir meine Sachen gebe?« »Das habe ich mir noch nicht überlegt.« »Wenn ich in der Unterwäsche hier sitzen bleibe, hole ich mir den Tod. Es hilft alles nichts, mein Kleiner, du mußt mir neue Klamotten kaufen.« Der Penner stand auf und legte Jeremy einen Arm um die Schulter. »Wohin soll’s denn gehen? Oxford Street, Bond Street oder Knightsbridge?« Bond Street … Jeremy begriff endlich, was ihm die ganze Zeit an dem Penner schon so komisch vorgekommen war. Der Mann mischte zwar großzügig Slang in seine Redeweise, aber seine Aussprache war vom Feinsten. Hätte er nicht in einem Hauseingang herumgelegen, hätte man ihn für einen BBCNachrichtensprecher halten können. »Paß auf, du holst jetzt ein Taxi, und ich zieh mich in den Hauseingang zurück. Taxi muß sein, vom U-Bahn-Fahren wird mir immer schlecht. Du hältst die Tür auf, und ich spring rein, ehe mich der Taxifahrer rausschmeißen kann. Du glaubst gar nicht, wie diese Leute uns Gentlemen von der Straße diskriminieren.« Er kniff Jeremy in die Wange. »Jetzt mach kein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, Kleiner. Keep smiling! Und wenn wir schon dabei sind, sollten wir dir gleich noch ein Paar Schuhe kaufen. Wer den ganzen Tag rumläuft wie du, holt sich im Handumdrehen was weg.« Jeremy sah nach unten und erblickte seine braunen Socken. Er hatte die neuen Schuhe im Taxi stehenlassen. Ich will ja nicht boshaft sein, dachte er, aber hoffentlich sind noch ein paar Brocken Hundedreck dran. Prosser drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Sally, da unten ist ein Saukerl und macht Radkrallen an den Rolls.« »Ist ja unerhört, Mr. Prosser.« Sie streckte dem Lautsprecher die Zunge heraus. 82
»Ist das alles, was dir dazu einfällt? Sag diesem Miststück von Chauffeur, er kann sich nach einem neuen Brötchengeber umsehen, wenn der Wagen nicht um sieben wieder fahrbereit ist. Und er soll den Lack prüfen. Ein einziger Kratzer, und ich verklage diese Scheißtypen von der Verkehrspolizei. Und Nettle soll mir einen neuen Fahrer besorgen.« »Ja, Mr. Prosser.« Es war der fünfte Fahrer in dem halben Jahr, seit sie in der Firma war. Bei Prossers eindeutigem Auftrag war der Schiffbruch vorprogrammiert: Entweder du tust, als ob es keine Geschwindigkeitsbegrenzungen gibt, oder du fliegst. Am Ende stand – so oder so – der Rausschmiß. »Sind die Klamotten schon da?« »Nein, Mr. Prosser. Bis halb sechs kommen sie aber bestimmt.« »Möchte wissen, wofür ich diesen beschissenen Trainees ihr Geld bezahle. Eine Sekunde Verspätung, und er ist draußen. Ich geh mal rauf zu Maggie, die denkt sonst, ich habe sie vergessen.« Sally verzog das Gesicht. Schon beim Gedanken an diese widerliche Maggie wurde ihr ganz schlecht. »Welcher steht mir besser, Jeremy, der graue Flanell oder der Glencheck?« Der Penner hatte darauf bestanden, sich Jeremys Namen sagen zu lassen. »Der Glencheck ist sehr hübsch«, sagte er unglücklich und sah betont auf die Uhr. »Sehr hübsch, Sebastian«, verbesserte der Penner vorwurfsvoll. »Sehr hübsch, Sebastian. Können wir das vielleicht etwas beschleunigen? Probier ihn doch an.« Es kommt vermutlich nicht alle Tage vor, daß jemand mit einem Penner ein Herrenausstattungsgeschäft betritt, um ihn neu einzukleiden. Der Verkäufer aber hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Er bediente Sebastian weit aufmerksamer und unterwürfiger, als Jeremy das je am eigenen Leib erlebt hatte. 83
»Gute Idee. Hier, halt mal.« Er drückte Jeremy etliche schwere Tragetüten von Sainsbury in die Hand. »Inzwischen kannst du mal nach deinen Schuhen sehen. Wenn ich dir raten darf, mein Junge, kauf dir was Solides, Konventionelles. Keinen modischen Schrott. So was wie die da.« Sebastian deutete auf seine Fußbekleidung. Er verschwand in der Umkleidekabine, während Jeremy große Augen machte. Statt des abgelatschten, mit Schnur zusammengehaltenen Schuhwerks, das man füglich von einem Penner hätte erwarten können, trug Sebastian makellose, liebevoll geputzte schwarze Halbschuhe. Als Bürger ohne Wohnung war er entschieden ein ausgefallenes Exemplar. Er roch nicht. Das heißt, der Geruch, den er verströmte, war nicht scharf und widerlich wie bei einem Mann, der seit Wochen im Freien nächtigte, sondern hatte eher einen Hauch von Aftershave an sich. Jeremy warf einen raschen Blick in die Tragetüten. Wozu, um Himmels willen, brauchte ein Penner Funktelefon, eine Zoomkamera, Minikassettenrecorder und Feldstecher?
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7 Es war fast halb sechs und somit eben jene Tageszeit, die Mr. Bennett am wenigsten schätzte, die Stunde des Gezeitenwechsels, da das Gros der Belegschaft in breitem Strom BIG House verließ. Mochte es ihm auch heftig gegen den Strich gehen, den Leuten den Zugang zu diesen heiligen Hallen zu gestatten, sah er doch ein, daß er nur so das Vergnügen haben konnte, sich ihnen in den Weg zu stellen. Daß er keinerlei Handhabe hatte, sie daran zu hindern, abends ohne Kontrolle wieder ins Freie zu gelangen, war ihm ein ständiges Ärgernis. Charmaine übersah ihn betont. Sie spielte noch die beleidigte Leberwurst wegen der blöden kleinen Sache beim Mittagessen, als er ihr im Pub unter dem Tisch mit der Hand unter den Rock gegriffen hatte. Eine echte Pißnelke, diese Charmaine. Und ihre Freundin Tracey war nicht besser. Ständig am Neinsagen, wenn sie eigentlich Ja meinten. Mr. Bennett tat, als kratze ihn das nicht im geringsten, während er mit finsterem Gesicht an seinem Tisch saß und von ruhmreichen Taten auf dem Rugbyfeld träumte. In der Realität war es allerdings so, daß sich der Ruhm von den Lewisham Leopards eher fernhielt. Es war nicht zuletzt Mr. Bennetts Aktivitäten zu ve rdanken, daß die Leopards in ganz Südostlondon berüchtigt waren. Wären sie nicht als Rugbyteam erkennbar gewesen, hätte wohl niemand gezögert, bei dieser Zusammenrottung verdächtiger Mannsbilder unverzüglich das Überfallkommando zu verständigen. Eine Mannschaft, die leichtsinnig genug war, gegen die Leopards anzutreten, merkte bald, daß Wendigkeit und Ballverstand wenig Schutz vor den ebenso häufigen wie bedauerlichen Zwischenfällen boten, die es bei diesen Begegnungen gab. Die Gegner mochten nur einen einzigen eiförmigen Ball auf dem Feld sehen, den man schnappen, treten, boxen und sonstwie mißhandeln konnte. Für 85
die Leopards hingegen gab es auf dem Spielfeld einunddreißig oder – falls der Schiri Mätzchen machte – sogar dreiunddreißig Eier. Mr. Bennett tagt räumte sich nicht nach Lewisham, sondern in den Cardiff Arms Park, zum Entscheidungsspiel um die Triple Crown. Die Partie stand unentschieden. Nur noch fünf Minuten bis zum Abpfiff. Einer der schottischen Flügelspieler war mit dem Ball losgelaufen und sprintete, die walisische Abwehr glatt überrollend, über das Feld. Nichts stand mehr zwischen ihm und einem sicheren Treffer – bis auf Bennett, den walisischen Wunderstürmer. Bennett stellte sich in Positur, bereit für den wichtigsten Angriff seiner Karriere. Es war Jeremys Pech, daß er ausgerechnet in diesem Moment im Laufschritt, Sebastians Sachen unter dem Arm, BIG House betrat. Wenn er sich sehr beeilte, schaffte er es gerade noch. Es war halb fünf geworden, bis Sebastian zu seiner Zufriedenheit neu eingekleidet war. Die Rechnung, einschließlich des Betrags für Jeremys neue Schuhe, belief sich auf fast dreihundert Pfund, und Jeremys Scheck hatte der Verkäufer schnöde zurückgewiesen. Sebastian, der Geheimnisumwitterte, rettete die Situation, indem er eine Kreditkarte zückte. Jeremy konnte nur hoffen, daß seine Bank den Scheck, den er Sebastian ausgeschrieben hatte, nicht platzen ließ. Eigentlich wäre er wohl moralisch verpflichtet gewesen, ihn auf diese Möglichkeit hinzuweisen, aber in diesem Moment hatte er nur eins im Sinn: Er mußte einen Waschsalon finden, und er mußte seinen Termin halten. Als er, die noch feuchten Sachen umklammernd, BIG House betrat, hatte er noch fünf Minuten Spielraum. Wieder verdankte er es seinem Talent, die Widrigkeiten von Drehtüren großzügig zu übersehen, daß er ohne Schwierigkeiten in die Halle gelangte. Doch dann, als Jeremy zu den Aufzügen sprintete, schien über ihm der Himmel einzustürzen. Er wurde an beiden Beinen 86
gepackt und von der Zweizentnerlast des triumphierenden Bennett zu Boden gedrückt, dem das Beifallsgebrüll einer entfesselten Menge in den Ohren gellte. Jeremys Vordringen war damit erfolgreich gestoppt, nicht aber Prossers Pennerkostüm. Das nämlich hatte sich aus Jeremys Griff gelöst und war geradewegs in eine Paterno sterkabine hineingeflogen. Als Jeremy den Kopf hob, entschwand es bereits nach oben. Er versuchte etwas zu sagen, war aber so außer Atem, daß er kaum einen Ton herausbrachte. »Wassollndas?« krächzte er. »Hast es ja mal wieder mächtig eilig, mein Junge«, sagte Mr. Bennett, der inzwischen zum Gilbert Square zurückgekehrt war, aber nicht genau wußte, wieso er, als willkommene Volksbelustigung für die BIG-Mitarbeiter, die in den Feierabend drängten, mit diesem rothaarigen Saboteur auf dem Boden lag. »Sachen«, stieß Jeremy hervor. »Prosser … braucht … was anzuziehen.« Jetzt waren es bestimmt nur noch vier Minuten. »Was anzuziehn?« wiederholte Mr. Bennett begreiflicherweise konsterniert. Inzwischen war das Pennerkostüm schon bis auf halbe Höhe von BIG House gekommen. Bennett stand auf und staubte seine geliebte Uniform ab. Diese Chance nutzte Jeremy, um sich in eine aufwärtsschwebende Kabine zu rollen, wo er auf zwei kreischende Sekretärinnen fiel. »Sag mal, das ist wohl ’ne Sucht von dir, dich auf wehrlose Frauen zu stürzen«, sagte Tracey aus dem Schreibsaal. Jeremy überhörte die Bemerkung. Er hatte Wichtigeres zu bedenken. Sebastians Sachen, schätzte er, waren sechs Kabinen über ihm. Wenn er im neunten Stock ausstieg, erwischte er sie, ehe sie wieder nach unten go ndelten. Er sprang aus der Kabine, sauste zu dem abwärts fahrenden Paternoster hinüber, schnappte sich die Sachen, sprintete die Treppe hinauf und drückte im 13. Stock den Summer. Sally betätigte den 87
Einlaßknopf, und Jeremy fiel durch die Tür. Nach einem halben Jahr bei British Industrial war Sally der Meinung gewesen, nichts Menschliches sei ihr mehr fremd. Aber als sie Jeremy mit seinem von dem Sturz in der Eingangshalle zerschundenen Gesicht und zerrissenem Hosenbein erblickte, der an der Wand lehnte und nach Luft rang, zog sie gegen ihre Gewohnheit die Augenbrauen hoch. Dann holte sie den Erste-Hilfe-Kasten und machte sich daran, ihn zu verarzten. »Schön, daß Sie pünktlich sind. Keine Probleme?« Jeremys Antwort kam stoßweise, unterbrochen nicht nur von häufigem Luftschnappen, sondern von leisen Jammerlauten, wenn der Wattebausch empfindlichere Regionen seines Gesichts berührte. »Keine … mit denen … ich nicht … fertig geworden wäre.« »Schön, die neuen Schuhe. Viel trockener als die alten.« »Hab … die alten … im Taxi … stehenlassen …« keuchte er. »So? Ja, ja, das kommt vor.« Während sie notdürftig Jeremys Gesicht säuberte, entlockte Sally ihm einen Bericht über seine Abenteuer. Er war nur zu gern bereit, sie an seinen Horrorerlebnissen teilhaben zu lassen, wobei er ihr wohlweislich einiges von Sebastians Marotten verschwieg. Beim Zuhören ertappte sich Sally zu ihrer Überraschung dabei, daß sie sich für Jeremy zu erwärmen begann. Selbstsicherheit und Überhebung gab es bei British Industrial mehr als genug. Dieser Junge schien verletzlich und hilflos zu sein und war viel zu anständig, um in den haiverseuchten Gewässern von British Industrial lange überleben zu können. Behutsam nahm sie ihm seine kostbare Last ab. Wenn sie mal wieder besonders boshaft gestimmt war, würde sie Prosser an den Abend erinnern, an dem er echte Pennerklamotten getragen hatte. Ein Jammer, daß Jeremy noch Zeit gehabt hatte, sie in die Waschmaschine zu stecken. Sie machte die Tür auf, um ihn herauszulassen. »Sie haben 88
doch bestimmt bei uns noch kein Gehalt bekommen. Haben Sie denn überhaupt noch Geld?« Jeremy schüttelte den Kopf. Er hatte sich schon darauf gefaßt gemacht, zu Fuß nach Hause zu gehen. Sally machte ihre Handtasche auf und drückte ihm, ohne sich um seine Proteste zu kümmern, zwanzig Pfund in die Hand. »Gute Nacht, Mr. Simpson.« »Seaman«, verbesserte Jeremy kläglich. In der Grünanlage machte ein Spatz zufrieden auf der von Nehm als Beitrag zu Harmonie und Weltfrieden gepflanzten Blutbuche Rast. In der letzten Minute seines allzu kurzen Lebens pickte er nach einem Würmchen, das leichtsinnigerweise just in diesem Moment an einem Ast entlangkrabbelte, verschlang es und fing an, sich die Brustfedern zu putzen. Das bequeme Stadtleben hatte das Reaktionsvermögen des Sperlings stark beeinträchtigt. Der Hieb, der ihn tötete, kam völlig überraschend und brach ihm mit erschreckender Gewalt das Genick.
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8 Die Firma Nostrum war in einem niedrigen, langgezogenen Backsteinbau am Rande von Reading untergebracht. Zur Blütezeit der industriellen Revolution errichtet, konnte das Werk schon damals nicht als architektonisch und technisch besonders innovativ bezeichnet werden. Einmal für gut befundenen Produktionsmethoden und Arbeitsbedingungen hielt die Familie Westbury mit gleicher Unverbrüchlichkeit die Treue wie den Rezepturen ihrer Altvorderen. Abgesehen von Änderungen, die ihnen durch die verweichlichende Gesetzgebung lästiger Politiker aufgezwungen worden waren, hatten sie wenig getan, um dem Fabrikgebäude die Ähnlichkeit mit einem Arbeitshaus zu nehmen. Selbst die Viktorianer liebten den Bau nicht sehr und nannten ihn schlichtweg »Gruselgotik«. Normalerweise schob Ernie Beamish höchst ungern Nachtschicht bei Nostrum: Zwölf Stunden war man in dem zugigen Baucontainer mit der pompösen Bezeichnung »Werkschutzflügel« eingesperrt, als Gesellschaft nur die acht Schwarzweißbildschirme der Fernsehüberwachung und das Gedudel von Radio Two, als Wärmespender einen kleinen Elektroheizofen, der reichlich schwach auf der Brust war. Heute aber hatte er außerdem Janice von der Flascheninspektion, die ihm nicht nur die Zeit, sondern auch das Kältegefühl vertrieb. Vor Schichtbeginn hatte Janice mit Ernie in der Kantine gesessen und ihm beiläufig die eine oder andere Frage zu seinem Job gestellt. »Absolut das Letzte«, hatte Ernie wahrheitsgemäß erwidert, während er Eier, Würstchen, Tomate, Speck und Fritten einschaufelte, »’ne absolute Schnarchnummer.« »Gegen Abwechslung hab ich nichts«, sagte sie durchtrieben. »Ich kenn alle möglichen Nummern, aber mit Schnarchen hab ich’s noch nie gemacht. Vielleicht komm ich 90
später mal vorbei.« Kurz nach neun kreuzte sie auf. Den Overall hatte sie gegen ihre Ausgehuniform vertauscht, knallengen Pulli, Minirock und Stöckelschuhe. Ernie kannte ihren Ruf in der Firma und wunderte sich eigentlich, daß sie erst jetzt auf ihn verfallen war. Wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was seine Kumpel sich erzählten, hatte sie in dem Container der Werkschutzleute fast soviel Zeit verbracht wie er. Janice war ein sehr direkter Mensch mit wenig Sinn für die herkömmlichen Um- und Nebenwege lustvoll- liebreicher Betätigung. Sie schloß die Tür ab, pflanzte sich geradewegs auf Ernies Schoß und legte ihren Mund wie eine Haftmine auf den seinen. Ihre Zunge spielte Haschen mit der von Ernie, gewann und kam bis zu der Stelle, wo er bis zum Alter von zehn Jahren seine Mandeln gehabt hatte. Mit einer Hand zog sie ihm den Hosenschlitz auf und fing an, ihn zu massieren. »Hier haste’s wohl weniger mit dem Werkschutz«, kicherte sie, während Ernie nach Luft rang. Mit der anderen Hand zog sie ihren Schlüpfer bis zu den Fesseln herunter. Ernie hätte nichts gegen ein etwas längeres Vorspiel gehabt, aber er wurde nicht gefragt. Janice schlug die Beine über seinem Drehstuhl übereinander, so daß er nicht weg konnte, und stülpte sich über ihn. Im Hintergrund klimperte Russ Conway »Tiptoe through the Tulips«. Janice hatte bald raus, daß Ernies Spruch von der Schnarchnummer durchaus auch auf seine eigenen Darbietungen anwendbar war. Sie ließ, um ihre Aufgabe etwas kurzweiliger zu gestalten, den Drehstuhl kreisen, bis sie den Monitor sehen konnte. Die Kameras in den Werkshallen hatten ihr nichts Interessantes zu bieten. Das Fließband, an dem sie ihren Arbeitstag verbrachte, konnte ihr gestohlen bleiben. Jetzt aber bewegte sich etwas auf dem Monitor, der den Haupteingang überwachte. Ein Mann machte sich an den dort 91
aufgestellten großen Mülltonnen zu schaffen. Von ihren früheren Besuchen wußte sie, daß die Tonnen bei Pennern beliebt waren, die sich daraus mit Kartons, Papier und sonstigem Schutz und Wärme spendenden Material versorgten. Janice genoß es, aus der Geborgenheit des Werkschutzcontainers heraus diesen Bodensatz der Gesellschaft zu beobachten. Ihre eigenen Sexperimente kamen ihr vor diesem Hintergrund gleich viel aufregender und verworfener vor. Sie klammerte sich mit den Beinen fester an den Stuhl. Ernie war nicht gerade begeistert, daß Janice mitten in einer leidenschaftlichen Umarmung über seine Schulter starrte. Er drehte sich so, daß er die Bildschirme wieder im Blick hatte, wobei der Stuhl eine Windung höher kam. Doch so leicht ließ Janice sich nicht abdrängen. Sie kreiselte prompt wieder in die andere Richtung. Der Penner war offenbar wählerisch. Nichts von dem, was er in die Hand bekam, schien seinen Verstellungen so recht zu entsprechen. Kartons flogen nach rechts und nach links in die Landschaft, Papierberge und anderer Abfall landeten auf dem Boden. »Was hat er denn da, Ernie?« fragte sie. Ernie drehte den Stuhl herum. Endlich, da war es! Dieser verdammte Butterley! Der konnte was erleben, wenn er ihn in die Finger kriegte. In der Tonne am Tor, hatte er gesagt. Nur – da standen jede Menge Tonnen. Bloß gut, daß noch keine Leerung gewesen war. Sie waren sehr spät dran, das hatten sie diesem Trottel von Fahrer zu verdanken. Schon wieder ein Platter, und dann noch die gefürchtete Reifenkralle. Stunden hatte es gedauert, bis der Wagen wieder einsatzfähig war. Auf die Idee, sich Handschuhe mitzubringen, war Prosser nicht gekommen. Er durfte gar nicht daran denken, was das stinkende, klebrige Zeug war, in dem er vorhin mit bloßen 92
Händen herumgewühlt hatte. Aber jetzt war es eindeutig geschafft: Auf dem Etikett der in zerknittertes Papier eingewickelten Flasche prangten seine Initialen: ACP. Prosser wandte sich um – und fand sich einem Bürger ohne Wohnung gegenüber, dessen persönliche Duftnote eine interessante Verbindung mit den Ausdünstungen der Tonnen eingegangen war. »Gib her, Kumpel!« Ehe der große Unternehmer wußte, wie ihm geschah, hatte der Penner ihm die Flasche entrissen. Nun hätte Prosser den anderen mit Leichtigkeit plattmachen können, damit aber hätte er die Flasche und deren kostbaren Inhalt gefährdet. Er versuchte es mit einer anderen beliebten Form der Überredung. »Ich geb dir hundert Pfund dafür.« Der Penner lachte grölend und mit weit aufgerissenem Mund, wobei er Prosser etliche Zahnruinen sehen ließ und ihm seinen stinkenden Atem ins Gesicht blies, der, auf Flaschen gefüllt, zweifellos ein hervorragendes Abbeizmittel ergeben hätte. Ungläubig musterte er Prosser. »Hundert Pfund? Das is ’n Ding, Mann, verdammt noch eins, das is ’n Ding. Die Jungs machen sich in die Hosen, wenn sie das hören.« Er lachte Tränen, während er die Flasche aufschraubte und einen Schluck nahm. Empört spuckte er die Flüssigkeit Prosser ins Gesicht. »Pfui Deibel noch mal! Das ist ja Gift!« Prosser reagierte gerade noch rechtzeitig. Er warf sich zu Boden und bekam die Flasche kurz vor dem Aufschlag zu fassen. Er tastete herum, bis er den Verschluß gefunden hatte, schraubte ihn wieder auf und steckte die Flasche ein. Als er sich aufgerappelt hatte, stand der Penner noch immer vor ihm und wartete. »Ich denk, du willst mir hundert Pfund geben«, sagte er vorwurfsvoll. »Als du die Flasche hattest, war sie hundert Pfund wert«, sagte Prosser. »Jetzt hab ich sie. Damit haben sich die 93
Verhandlungen erledigt. Noch nie was von Risikoabwälzung gehört?« Der Penner stieß ihn empört zur Seite und machte sich auf die Suche nach weniger bescheuerten Gefährten. Janice verfolgte dieses kleine Drama voller Interesse, während Ernie in ihr zippelte und zappelte. Staunend erkannte sie jetzt auf dem Monitor einen Rolls Royce, der ein paar Meter hinter den Tonnen hielt. Ein livrierter Chauffeur sprang heraus, ging zur hinteren Tür und machte sie auf. Eine wohlgeformte junge Dame, anscheinend nur mit Schuhen und Ohrringen bekleidet, entstieg dem Rolls, eine Flasche Champagner unter dem Arm. Sie bedeutete dem Chauffeur, sich zu entfernen, und winkte dem Penner, der sich in Trab setzte. Janice fand das alles ungemein aufregend. Auch Ernie, der inzwischen in Fahrt gekommen war, verfolgte fasziniert die Ereignisse vor dem Werkstor. Allerdings konnte nur immer einer von ihnen auf den Bildschirm sehen, und während sie den Stuhl herumwirbeln ließen, damit jeder mal drankam, wurde auch ihre Leidenschaft ganz schön aufgemischt. Die nackte junge Dame und der Penner stiegen in den Rolls. Der Wagen fuhr an, Sekunden später bremste er scharf, die hintere Tür flog auf und der Penner auf die Straße. Der Wagen fuhr rasch rückwärts, die junge Dame stieg erneut aus, ging zurück zum Werk und begrüßte den anderen Penner mit ausgebreiteten Armen. Der Penner ging mit seiner Beute zum Fabriktor zurück, um sich ein stilles Plätzchen zu suchen. Mit seinen weniger kultivierten Bekannten mochte er diesmal nicht teilen. Es war schon sehr lange her, seit er in den Genuß echten Champagners gekommen war. Jack Butterley kam hinter dem schützenden Gebüsch hervor. Eine Kamera, die auch noch bei diesem Licht brauchbare Aufnahmen machte, kostete viel Geld, aber wenn die Bilder was geworden waren, hatte er damit die beste 94
Versicherungspolice, die sich denken ließ. Jetzt sollte Alex Prosser mal versuchen, ihn in die Pfanne zu hauen. Nachdem der Wagen verschwunden war, hatten Janice und Ernie das Interesse an den Ereignissen vor dem Werkschutzcontainer verloren und konzentrierten sich darauf, ihre eigenen Geschäfte zu einem zufriedenstellenden Abschluß zu bringen. Janice stöhnte. Die Geräusche, die aus ihrer Kehle kamen, wurden immer lauter, je wilder ihre Drehunge n wurden. Weder sie noch Ernie sahen, wie der Penner die Champagnerflasche schüttelte, weder sie noch Ernie erlebten den Augenblick mit, als der Korken aus dem Flaschenhals fuhr. Sie sahen nicht, daß er geradewegs auf die Überwachungskamera zuflog, und auc h daß der Bildschirm schwarz wurde, als der Korken die Linse zerschmetterte, nahmen sie nicht zur Kenntnis. Das ohrenbetäubende Heulen der Alarmanlage allerdings war nicht zu überhören, das just in dem Moment in den Container drang, als Janice stöhnend den Höhepunkt erreicht hatte und Ernie in ihr explodierte. Instinktiv drehte er den Stuhl herum, weil er sehen wollte, was los war. Es war eine Drehung zuviel. Der Sitz hatte seinen höchsten Punkt erreicht, schwankte noch einen Augenblick hin und her, dann krachte er zu Boden. Janice landete, wie so oft, auf dem Rücken, Mann und Stuhlsitz auf ihr. Der Sex, die Sirenen oder der Sturz – eins war zuviel für Ernies Herz und verleidete ihm das Schlagen. Janice schrie jetzt nicht mehr vor Lust, sondern vor Grauen, denn sie hatte gemerkt, daß es ein im wahrsten Sinne des Wortes totes Gewicht war, das auf ihr lastete. Sie kreischte mit den Sirenen um die Wette, so daß Radio Two mit seinem »Tie a Yellow Ribbon round the Old Oak Tree« kaum mehr zu hören war. Eine Viertelstunde später, als die Polizei den Werkschutzcontainer stürmte, kreischte Janice noch immer. 95
Wenig später kreischte sie schon wieder. Irgendwie mußte sie sich ja wohl bei den Beamten, die sie aus ihrer mißlichen Lage gerettet hatten, erkenntlich zeigen. So dauerte es denn seine Zeit, bis die beiden gefälligen Beamten sich der Videoanlage zuwenden konnten. Daß eine Alarmanlage losging, kam schließlich immer wieder mal vor, aber so was wie heute in dem Werkschutzcontainer wurde einem wahrhaftig nicht alle Tage geboten. Jetzt erst entdeckte Constable Norris das Aufzeichnungsgerät mit dem halbstündigen Endlosband und schaltete es ab. Wie er später feststellen sollte, war das einzig Interessante, was auf dem Band zu sehen war, ein Penner, der eine Flasche Champagner aufmachte. Alles, was sich vorher am Tor zugetragen hatte, war schon gelöscht. Hätte der Polizist nur eine Minute früher auf den Knopf gedrückt, hätte er noch das Bild eines davonrollenden Rolls Royce mit der Zulassungsnummer BIG 1 auf dem Band gehabt.
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9 Es war nicht nur fast Mitternacht, sondern es war auch fast fünf Jahre her, seit der Major zum letzten Mal am Steuer eines Wagens gesessen hatte. Damals hatte er kurz hinter dem Abzweig Cobham auf der Autobahn A 3 seinen treuen Morris Minor eingebüßt. So zuverlässig der kleine Wagen gewesen war, ehe sich ihm und dem Major unverschämterweise eine Eiche in den Weg gestellt hatte – mit einem Fahrzeug der Straßenreinigung hatte er doch recht wenig Gemeinsamkeiten gehabt. Es traf sich deshalb gut, daß wenig Verkehr war, denn der Major bewegte sich etwas sprunghaft vorwärts, ja, man konnte den Eindruck gewinnen, daß er beide Fahrbahnen gleich gern benutzte. Den größten Teil der Drei-Kilometer-Strecke vom Depot zum BIG House legte der Major im ersten Gang zurück. Als er um die Ecke auf den Gilbert Square kam, entströmte Auspuff und Kühlerhaube beißender schwarzer Rauch. Es gelang ihm, den Laster vor der Garageneinfahrt von BIG House zum Stehen zu bringen. Er ließ den Motor laufen, zog sich eine schwarze Strickmütze über den Kopf und sprang von der Fahrerkabine herunter. Er löste ein Ende des Schlauchs, schob ihn durch das geschlossene Gittertor der Garage, betätigte einen seitlich am Fahrzeug angebrachten Hebel und sah, wie das Wasser aus dem Schlauch strömte. Zufrieden schwang sich der Major wieder in die Fahrerkabine, holte einen Hammer aus seinem Seesack und ließ ihn ein paarmal wuchtig auf Zündschloß und Schlüssel niedersausen. Dann sprang er herunter, machte dasselbe mit dem Wasserzulaufhebel und trat den Heimweg an. In seiner Wohnung setzte der Major den Feldstecher an die Augen. Noch immer entströmte dem Auspuff schwarzer Rauch, der Motor lief demnach weiter. Noch immer mußte er damit rechnen, daß das Fahrzeug entdeckt wurde, ehe der 97
Wassertank leer war. Der Major hob sein Luftgewehr und schoß zwei Reifen platt. Im dreizehnten Stock von BIG House schraubte Prosser die Flasche auf, goß etwas von der Flüssigkeit in ein Glas und hielt es ans Licht. Der Inhalt, trüb-dunkelbraun und mit kleinen Kohlensäurebläschen durchsetzt, wirkte völlig normal und harmlos. Hatte Butterley ihm am Ende einen Bären aufgebunden? Vielleicht war er durch den Frust bei Nostrum ausgeflippt? »Wie lange soll ich denn noch warten?« rief Lorraine ungeduldig. »Maul halten«, befahl Prosser und sog das widerlichsüßliche Aroma ein wie die Blume eines teuren Weins. »Wenn du was Nützliches machen willst, ziehst du dich schon mal aus.« Er nahm einen Schluck. Längst vergessene Erinnerungen an einen vielgeliebten Geschmack aus Kindertagen stellten sich ein. Löwenzahn und Klette. Mehr nicht. Er nahm noch einen Schluck und behielt ihn im Mund. Das Prickeln verstärkte sich, die Bläschen wurden größer, wurden riesengroß, zerplatzten und brannten ein wahres Feuerwerk in seinem Mund ab. Ein kolossales Gefühl, selbst wenn man vorgewarnt war. Ebenso unvermittelt, wie es angefangen hatte, hörte das Sprotzeln und Brausen wieder auf, und Prosser fühlte sich erstaunlich friedlich und entspannt. Er ließ die Flüssigkeit im Mund herumschwappen, aber ihre Kraft war verbraucht. Das Zeug schmeckte durchaus angenehm. Er ließ es durch die Kehle rinnen. Das Prickeln verstärkte die Wirkung. Enorm erfrischend, wie Butterley gesagt hatte. Der Drink war ein Knüller, das hatte er im Gefühl. Überrascht merkte er, daß er nach der Flasche griff, um sich noch ein Glas einzuschenken. Dann sah er Lorraine, die unter dem offenstehenden Pelzmantel nur ein rotes Spitzenkorselett trug und die Hände 98
ungeduldig in die Hüften gestemmt hatte. Seine Lust, im Fond des Rolls zweimal gestillt, stand wieder auf. Er nahm Lorraine den Pelzmantel von den Schultern und winkte sie mit einer Kopfbewegung zur Couch. Dann griff er nach dem Glas. Wenn das Getränk im Mund eine derart stupende Wirkung entfaltete, legte es möglicherweise in anderen warmen, feuchten Öffnungen ein ähnliches Verhalten an den Tag. Er fand seine Vermutung bestätigt, als Lorraine wenig später entfesselt zu quietschen begann.
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10 »Genial, Alex, das gebe ich zu. Aber auch sehr kompliziert. Und je komplizierter etwas ist, desto mehr kann bekanntlich auch schiefgehen.« Prosser hatte seinen Plan Joe Roach vorgelegt, der wie gewöhnlich mit geschlossenen Augen zugehört und das Für und Wider gewissenhaft gegeneinander abgewogen hatte. Die Arbeitsteilung hatte sich bewährt. Prosser umriß in groben Zügen, was er erreichen wollte, während Roach, von Beruf Buchhalter, die Ideen seines Herrn und Meisters in die Praxis umsetzte und die Durchführung überwachte. Einen größeren Unterschied zwischen zwei Menschen – sowohl im Aussehen als auch im Charakter – konnte man sich kaum vorstellen. Während Prosser kühn und wagemutig war, arbeitete Roach mit kühler Berechnung. Im Gegensatz zu seinem Boss war er hager und hatte ein beflissenes Dutzendgesicht. Er war Brillenträger und blinzelte viel. Sein Kinn war immer stoppelig, nicht einem modischen Trend folgend, sondern weil er einen so starken Bartwuchs hatte, daß er sich mindestens zweimal am Tag rasieren mußte. Allerdings war er nicht größer als Prosser, der, sosehr er für langbeinige Frauen schwärmte, mit Männern von ihn überragender Größe nichts im Sinn hatte. Roach war ein treusorgender Familienvater, wie die unzähligen Fotos von Frau und Töchtern in seinem Büro belegten. Für seine Mitarbeiter hätte es solcher Beweise nicht bedurft, da seine Frau ständig in der Firma anrief. »Du hast das Zeug probiert, Joe. Du bist meiner Meinung, daß es eine große Zukunft hat. Wir brauchen Nostrum.« Erregt und ungeduldig lief Prosser im Zimmer auf und ab. »Gewiß. Aber wir können die Firma auf viel einfachere Weise an uns bringen. Nostrum ist ein ganz mickriger Laden. Den kriegen wir so!« Roach schnippte mit den Fingern. 100
»Müssen wir wirklich Pardoe da mit reinziehen?« »Dieser arrogante Lackaffe ist mir lange genug auf den Docht gegangen. Ich wünsche, daß er aus dem Verkehr gezogen wird. Und falls es schiefgeht, können wir immer noch Nostrum ganz normal aufkaufen. Selbst wenn wir zweimal oder dreimal soviel dafür zahlen müßten, wie die Firma zur Zeit wert ist, wäre das immer noch ein Schnäppchen.« »Ja, und das wäre auch völlig legal. Aber wenn wir mit deinem Plan ernst machen, Alex, ist das nicht nur am Rande der Legalität, sondern weit drüber weg. Ich habe keine Lust, mich auf Staatskosten verpflegen zu lassen, nur damit du dein Hühnchen mit Pardoe rupfen kannst.« Prosser blieb unvermittelt stehen und sah Roach scharf an. »Soll das heißen, daß du nicht mitmachst?« fragte er giftig. Moralische Bedenken war Prosser von seinen Untergebenen nicht gewöhnt, von denen aus der Führungsriege schon gar nicht. Nachdem sich jetzt Butterley wieder gemeldet hatte, war Roach, der immer zimperlicher wurde, vielleicht nicht mehr ganz so unentbehrlich, wie er sich einbildete. Gewiß, er wußte einiges über Prosser, was der nicht gern an die große Glocke hängen mochte. Andererseits waren auf der Diskette, die Prosser um den Hals trug, auch über Roach viele recht aufschlußreiche Informationen gespeichert. »Aber nein, Alex«, wehrte Roach beflissen ab. Er wußte nur zu gut, wie gefährlich es war, den Boss zu bremsen. »Ich meinte nur, daß es sich nicht lohnt, deshalb eine Haftstrafe zu riskieren.« Prosser nickte. »Natürlich nicht. Wir brauchen einen, der notfalls für uns in den Knast geht. Einen Prügelknaben, einen Sündenbock, einen, der die Sache für uns ausbadet. Guter Tip, Joe. Ich kümmere mich gleich darum. Zuerst aber werde ich Butterley bitten, mir eine aktuelle Liste aller NostrumAktionäre zu beschaffen. Dann habe ich sie schneller, als wenn ich mich an die Firma direkt wenden muß. Außerdem wittern die bei Nostrum sonst vielleicht, daß was im Busch ist.« 101
Roach schob ihm den Telegraph über den Tisch. »Schon gelesen?« Eine Meldung auf Seite drei war angestrichen. Prosser überflog die beiden Absätze mit der Überschrift: »Fahrerloser Brummi rammt denkmalgeschütztes Kino«. Er legte das Blatt aus der Hand und schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Unerhört! Laster mit schadhaften Bremsen dürften sie gar nicht mehr auf die Straße lassen.« »Das Kino steht auf einer Anhöhe, Alex. Wie kann ein Laster da –« Sein Funktelefon zirpte. »Hier Roach. Ja, Désirée? Wie geht’s meinem Schatz … Tut mir leid, daß Jocasta spucken mußte, Liebling, aber ich weiß wirklich nicht, wie – … In die Waschmaschine? Ist ja zum Totlachen … verzeih, Liebling, so habe ich das nicht gemeint, ich meinte –« Mit der freien Hand tippte er eine Nummer in einen der beiden Apparate auf seinem Schreibtisch ein. Der andere Apparat läutete. »Ich muß Schluß machen, Désirée, da kommt das wichtige Gespräch, auf das ich warte. Wiederhören.« Das Läuten verstummte, als er den Hörer aus der Hand legte. »Die Zentrale hat Anweisung, sie unter keinen Umständen durchzustellen. Einmal habe ich abends meine Aktentasche nicht abgeschlossen, und das gerissene Luder hat sich die Nummer meines Funktelefons geangelt. Jetzt habe ich keine Sekunde mehr Ruhe vor ihr. Ehe ist der größte Mist, Alex, laß dich da bloß nie drauf ein.« Als Prosser in sein Büro zurückkam, stand Lucinda am Fenster und sah so gebannt durch seinen Feldstecher, daß er sich unbemerkt anschleichen und sie befummeln konnte. Sie sprang hoch wie von der Tarantel gestochen. »Verdammter Idiot, da kann man sich ja zu Tode – … Ach, Sie sind’s, Mr. Prosser. Ich habe gar nicht gemerkt, daß … ich habe nur …« So schnell fiel ihr keine passende Ausrede ein. »Was gibt’s denn da so Spannendes?« Er nahm ihr den Feldstecher ab und stellte ihn scharf. Lucinda versuchte, sich unbemerkt zur Tür zu stehlen, aber Prosser schnippte mit den Fingern. »Hiergeblieben. Kannst du 102
mir verraten, warum mein Chauffeur mit einem Haartrockner in dem Rolls herumkriecht?« Es mag möglich sein, einem für sein aufbrausendes Temperament berüchtigten Wirtschaftsführer schonend beizubringen, daß unbekannte Täter viereinhalbtausend Liter Wasser in die Tiefgarage seiner Hauptverwaltung gepumpt haben. Lucinda aber verstand sich nicht auf diese Kuns t. Sie gab sich die größte Mühe, kam aber bei Prosser nicht gut an. »Gib mir mal den Napoleon rüber.« Sie reichte ihm die Büste und wich zurück. Aber sie hatte nichts zu befürchten. Er machte ein Fenster auf und wartete, bis der Fahrer sich ein paar Schritte vom Wagen entfernt hatte. Dann ließ er, unter Berücksichtigung der Windrichtung, Kaiser Napoleon Bonaparte fallen. »Scheiße!« Die Büste hatte den Fahrer um einen Meter verfehlt und war genau auf dem Dach von Prossers nagelneuem Rolls-Royce Silver Spur gelandet. Noch aus dem dreizehnten Stock und ohne Feldstecher erkannte Prosser, daß die Delle mehr als ein kleiner Schönheitsfehler war. Er drückte eine Taste seiner Gegensprechanlage. »Mr. Bennett?« Seine Stimme war von bedrohlicher Sanftmut. »Wie nett, daß Sie gerade greifbar sind. Es gibt da ein paar Kleinigkeiten, auf die ich gern Ihr Augenmerk lenken würde. Ich denke da an den falschen Alarm wegen der Bombe. Und die so rätselhaft verschwundenen Essensgutscheine im Wert von fünfzigtausend Pfund. Und vielleicht erinnern Sie sich noch, daß mein Wagen durch Reifenkrallen blockiert wurde, was mir erhebliche Unannehmlichkeiten bereitet hat, obgleich Ihre Abteilung Anweisung hat, unter Einsatz gewisser finanzieller Hilfsmittel dafür zu sorgen, daß derlei Dinge nicht passieren.« Prossers Stimme war in einem kontrollierten Crescendo, das Rossini mit Stolz erfüllt hätte, allmählich lauter geworden. Aus dem Pianissimo war er inzwischen ins Mezzoforte gewechselt. »Jetzt höre ich, daß letzte Nacht unsere Garage durch ein Fahrzeug der Straßenreinigung unter Wasser 103
gesetzt wurde – bitte unterbrechen Sie mich nicht, Mr. Bennett, es ist mir völlig gleichgültig, ob Sie Dienst hatten oder nicht. Zu allem Oberfluß hat ein Vandale das Dach meines Wagens beschädigt, während er vor Ihrer Nase stand.« Prossers Stimme hallte jetzt in kräftigstem Fortissimo. »Ich gehe davon aus, daß Sie Ihre Nase schätzen, Mr. Bennett. Falls Sie sich nicht von ihr trennen möchten, rate ich Ihnen dringend, sich verdammt noch mal Ihren Scheißarsch aufzureißen und dafür zu sorgen, daß diese Schweinereien aufhören. Ist das klar?« Er schaltete ab, ohne die Antwort abzuwarten. »Lucinda, gestern hat ein Trainee für mich was besorgt. Stell fest, wer es war. Soll in zehn Minuten antanzen. Laß dir von Nettle seine Akte raussuchen. Nein, warte, sagen wir in einer Viertelstunde. Erst kannst du noch eine Kleinigkeit für mich tun.« Jeremy hatte einen recht unerfreulichen Vormittag hinter sich. Er konnte machen, was er wollte – die Abteilung Humanressourcen oder HUMA war einfach nicht bereit, ihm zu bestätigen, daß es ihn gab. Und HUMA brauchte er zur Rückzahlung der 365 Pfund und 97 Pence – einschließlich seiner Schuhe, die er nach reiflicher Überlegung mit auf die Rechnung gesetzt hatte, da er ja seine eigenen während einer Dienstfahrt eingebüßt hatte. Zu Jeremys Überraschung hatte HUMA gegen die Summe selbst überhaupt nichts einzuwenden und war gern bereit, sie ihm zu erstatten. Das heißt – nicht ihm als Jeremy Seaman. Als Jeremy Seaman war er noch immer nicht im Computer, für HUMA gab es diesen Jeremy Seaman folglich nicht. Man war gern bereit, ihm einen Scheck auf Jeffrey Simpson auszustellen, auf dessen Namen ein Konto bei Jeremys Bank lief. Damit war er aber seinem Geld um keinen Schritt näher gekommen, denn er war nun mal nicht dieser blöde Jeffrey Simpson, wie er immer wieder beteuerte. Mit seinem Bankkonto war es sowieso ein Kreuz. Nachdem 104
er der Bank eröffnet hatte, er sei jetzt ein geschätzter Mitarbeiter der British Industrial Group und erwarte täglich, ja, stündlich sein erstes Gehalt, hatte der stellvertretende Filialleiter, Mr. Cutpurse, einen Beweis verlangt. Ein Schreiben der Firma BIG beispielsweise. HUMA hatte bereitwillig bestätigt, daß ein Jeffrey Simpson in die Dienste von BIG getreten war, was Jeremy natürlich nicht weiterbrachte. Der Teufelskreis blieb ungebrochen und Jeremy zahlungsunfähig. Er suchte noch immer vergeblich nach einem Ausweg, als das Telefon läutete und ihn erneut in den 13. Stock zitierte, diesmal vor das Angesicht des großen Zampano höchstpersönlich. Jeremy sah wohlweislich davon ab, den Paternoster zu benutzen, und ging zu Fuß nach oben. Miss Fluke war nicht zu sehen. Er konnte sich deshalb auch nicht bei ihr dafür bedanken, daß sie gestern so nett zu ihm gewesen war. Andererseits brauchte er ihr nun auch nicht zu erklären, warum er ihr die zwanzig Pfund noch nicht zurückzahlen konnte. Jacqui, die vollbusige Chefassistentin, die ihm öffnete, war auffallend muffig und kurz angebunden. Er sollte bald erfahren, daß an den durchaus nicht seltenen Tagen, da Alexander Prosser, Vorstandsvorsitzender der British Industrial Group, nicht Sonne im Herzen, im Hirn und auf der Zunge hatte, der ganze 13. Stock dafür büßen mußte. Mit vor Aufregung deutlich drückender Blase folgte Jeremy ihr zur Tür vom großen Boss. Er hätte den Weg mit geschlossenen Augen gefunden, so stark war der Duft, den sie verströmte. Jacqui öffnete ihm die Tür und machte, daß sie wegkam. Sie legte keinen gesteigerten Wert auf eine erneute Abreibung. Prosser saß hinter einem riesigen Eichenschreibtisch und spuckte am Telefon Gift und Galle. Jeremy blieb ehrfürchtig unter der Tür stehen. Er hatte Angst, einen schlechten Eindruck zu machen, weil er das Gespräch mitbekam, und summte sich eins, um darzutun, daß er überhaupt nicht hinhörte. Prossers 105
Büro war ihm von den zahllosen Presseberichten, die er in seiner Sammlung hatte, wohlvertraut. Der Blick auf London aus den beiden Panoramafenstern war atemberaubend – genauso hatte er ihn sich vorgestellt. Prosser musterte den linkischen, wenig einnehmenden jungen Mann, der sich an der Tür herumdrückte. Machte einen vielversprechenden Eindruck. Bemüht, aber naiv – so lautete das sichere Urteil des Unternehmers. Warum summte dieser Heini bloß unentwegt vor sich hin? Er sah, wie Jeremy die Gemäldesammlung betrachtete. Falls der junge Schnösel was von Kunst verstand, würde er jetzt große Augen machen. Alle Bilder trugen Namensschilder, nicht so sehr aus Angabe, sondern weil Prosser bei den meisten Künstlern gewisse Schwierigkeiten hatte, sich ihre Namen und die Namen ihrer Werke zu merken. Alles erstklassige Leute, hatten seine Berater ihm versichert. Das wollte er sich auch ausgebeten haben. Fast sechs Millionen Pfund hatte er für die gerahmten Leinwandfetzen in seinen beiden Stockwerken hingeblättert. Man mußte sich wirklich wundern: Ein paar Farbkleckse, und so ein Pinselfritze hatte mehrere hunderttausend Pfund verdient. Dafür mußte einer wie er sich monatelang die Seele aus dem Leib schuften. Immerhin – erst vor kurzem hatten Experten den Wert seiner Sammlung auf etwas über zehn Millionen Pfund veranschlagt, er konnte sich wohl nicht beklagen. Endlich legte Prosser auf. »Kannst gehen«, blaffte er. Verblüfft, aber gehorsam drehte Jeremy sich um und machte die Tür auf. »Idiot! Sie doch nic ht«, schnauzte Prosser. Jeremy drehte sich wieder um und sah eine junge Dame unter Prossers Schreibtisch hervorkrabbeln. »Hatte eine Kontaktlinse verloren«, erläuterte Lucinda matt und rückte ihre Perlenkette zurecht. Im Prinzip hatte sie nichts gegen Schwanzlutschen, das gehörte eben mit zum Job, aber 106
daß Prosser sich dazu fremde Leute ins Zimmer holte, fand sie widerwärtig. Es machte ihm einfach Spaß, sie zu demütigen. Schaudernd dachte sie daran, wie er eine Vorstandssitzung abgehalten hatte, während sie unter dem Vorstandstisch den Mund vollgenommen hatte. Der Saukerl hatte sogar gedroht, gelegentlich mal Daddy zu einem Gespräch zu bitten, während sie Zungenfee spielte. Nur zu gern hätte Lucinda Prosser den Dienst aufgekündigt, aber er hatte ihr sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß dann die Presse erfahren würde, wie sie in einer bestimmten Situation alles rausgelassen hatte, was Daddy über den Regierungshaushalt wußte, womit Prosser wieder mal ein kleines Vermögen verdient hatte. Und wenn der gemeine Hund seine Drohung wahr machte, konnte Daddy sich seine schöne Pension in den Schornstein schreiben. Daß sein Idol ihm auch noch entgegenkam, überwältigte Jeremy derart, daß er nicht merkte, wie Prossers linke Hand, während die Rechte sich ihm zum Gruß entgegenstreckte, den Reißverschluß am Hosenschlitz hochzog. »Sie sind …« Prosser hielt wartend inne. Jeremy zögerte. Hatte man ihn als Jeremy Seaman oder als Jeffrey Simpson herbeizitiert? Wenn er sich für den falschen Namen entschied, würde man ihn wegschicken, und er hatte sich die Chance verscherzt, bei dem Spitzenmanager von British Industrial mit seinen Fähigkeiten zu glänzen. Prosser wartete. Einer, der zu dämlich war, um seinen eigenen Namen zu behalten, war genau das, was er brauchte. Im Gegensatz zu Sally empfand Prosser keinerlei spontane Sympathie für Jeremy. Der junge Mann ließ nicht nur ernste Zweifel an seiner Intelligenz aufkommen, er besaß auch die Unverschämtheit, mindestens zwanzig Zentimeter größer zu sein als sein Vorstandsvorsitzender. »Jeremy Seaman, Sir.« Nach erheblichen Bedenken hatte er sich dafür entschieden, seinen eigenen Namen zu wählen. »Willkommen in der British Industrial Group, Jeremy«, sagte Prosser und schenkte ihm ein Lächeln, das normalerweise 107
Kabinettsministern vorbehalten blieb oder Unternehmern, deren Firmen er sich einzuverleiben gedachte. »Bitte setzen Sie sich doch, Jeremy.« Er deutete auf ein Sofa und griff nach der Personalakte. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Jeremy nenne?« Prosser setzte sich ihm gegenüber. »Wie gefällt es Ihnen bei British Industrial, Jeremy? Entspricht alles Ihren Erwartungen?« Er machte eine Pause, aber Jeremy brachte kein Wort heraus. Wie soll man dem Vorstandsvorsitzenden einer Firma, in die man eben erst eingetreten ist, klarmache n, daß sein Personalchef ein hoffnungsloser Trottel ist? »Freut mich, freut mich. Ich habe gern zufriedene Mitarbeiter um mich. Halte nichts von der altmodischen Methode, Jeremy, eine Schranke zwischen Belegschaft und Geschäftsleitung aufzurichten. Einen großen Teil des Erfolges von BIG führe ich darauf zurück, daß bei uns der Dialog zwischen oben und unten funktioniert. Trotzdem bitte ich durchaus nicht alle Trainees zu mir herauf. Aber wie Sie diesen Auftrag gestern für mich erledigt haben, das hat mir imponiert. Hat mir unheimlich imponiert, mein Junge.« »Danke, Sir«, stieß Jeremy hervor. »Ich möchte gern etwas mehr über Sie erfahren. Erzählen Sie doch mal, was Sie bisher so gemacht haben.« Stotternd berichtete Jeremy von seiner Ausbildung, dem Hochschulabschluß, dem Kurs für Unternehmensführung. Und dann war der Bann gebrochen, und Jeremy gestand schwärmerisch, es sei schon immer sein sehnlichster Wunsch gewesen, für die British Industrial Group und deren genialen Boss zu arbeiten. Seamans welpenhafte Anhänglichkeit überzeugte Prosser davon, daß er fündig geworden war. Er unterdrückte ein Gähnen. »Was meinen Sie, Jeremy, trauen Sie sich zu, meinen Job zu machen?« »Nein, Sir. Das heißt, Sir, noch nicht, Sir. Aber ich hoffe sehr, daß ich eines Tages gut genug sein werde, um …« Er bremste erschrocken ab. 108
»Bestens. Strebsamkeit und Ehrgeiz sehe ich gern. Wirtschaftswissenschaften also … Sie wissen demnach genau Bescheid über Angebot und Nachfrage, Preiselastizität und und und?« »Ja, Sir«, sagte Jeremy beflissen. »Da wissen Sie mehr als ich. Können Sie Bilanzen lesen?« »Ja, Sir.« »Respekt. Böhmische Dörfer für mich.« »Aber –« »Wirtschaftspläne? Wissen Sie, wie man einen Wirtschaftsplan aufstellt?« fragte er tückisch. »Ja, Sir«, erwiderte Jeremy verwirrt. »Hätte keine Ahnung, wo ich da anfangen sollte. Bin mit vierzehn raus aus der Schule. Hab in meinem ganzen Leben noch keine verdammte Prüfung gemacht. Überlege mir manchmal, wo ich mit einer ordentlichen Schulbildung gelandet wäre.« Seine Ironie war an Jeremy verschwendet, der nur weise nickte. »Aber wozu brauche ich eine Ausbildung, wenn ich all diese cleveren Typen für mich arbeiten lasse, die für mich Männchen machen, sobald ich mit dem Finger schnippe? Dafür hab ich den meisten dieser Schreibtischtäter etwas voraus. Ein Gefühl hier – « Und er hämmerte mit der Faust an die Stelle, wo bei anderen Leuten das Herz sitzt, »ein Gefühl, das mir sagt, was machbar ist und was nicht. Ich kaufe und verkaufe, Jeremy. Firmen. Immobilien. Menschen. Und zwar mit durchschlagendem Erfolg. Ich sage meinen Leuten, was ich haben will, und sie sorgen dafür, daß ich es kriege. Was ist denn Ihr Spezialgebiet?« »Ich habe mich viel mit Unternehmensethik beschäftigt.« »Unternehmensethik?« wiederholte Prosser verdutzt. War das denn nicht ein Widerspruch in sich? »Ja. Ein faszinierendes Thema.« In seiner Begeisterung konnte Jeremy sich kaum bremsen. »Mal angenommen, Sie haben mehrere Bewerber für eine Stelle. Alle sind gut, aber einer arbeitet für die Konkurrenz und verspricht Ihnen 109
ausführliche Informationen über den Kundenstamm, wenn Sie ihn einstellen. Was machen Sie?« »Na los, Jeremy, spucken Sie’s aus.« »Sie nehmen ihn natürlich nicht. Wenn er von seinem früheren Arbeitgeber Informationen klaut, wird er es bei Ihnen genauso machen.« »Das soll er bei mir mal versuchen, der Saukerl.« Und für so ein Studium bezahlten die Burschen auch noch teures Geld! Schön dumm, den Kerl nicht zu nehmen. Das einzig Vernünftige war, ihn einzustellen, sich die Informationen von ihm geben zu lassen und ihn dann hochkant rauszuschmeißen. »Wirklich sehr fesselnd, Jeremy. Jetzt bin ich davon überzeugt, daß Sie der Richtige für einen kleinen Auftrag sind, den ich zu vergeben habe. Ich will wissen, ob Sie das Zeug zu Höherem haben, oder ob Sie den Rest Ihres Lebens als Trainee verbringen werden. Lesen Sie Bücher?« »O ja, ich lese leidenschaftlich gern.« »Ich komme leider nicht sehr viel dazu, für mich müßte der Tag 48 Stunden haben. Nun hat mich Business gebeten, etwas über die Bücher zu schreiben, die ich zur Zeit lese, und ich will die Leute nicht enttäuschen. Wie wäre es, wenn Sie mir diesen Artikel schreiben und etwas zu den Büchern sagen würden, die ich Ihrer Meinung nach lesen würde, wenn ich Zeit dazu hätte.« »Aber natürlich, Mr. Prosser, es wäre mir eine Ehre.« Jeremy holte sein Notizbuch hervor und kritzelte eifrig. »Eben, eben, das dachte ich mir …« Der Trottel sieht aus wie ein Schäferhund, der auf den nächsten Pfiff wartet. Nur ist er eben kein Schäferhund, sondern eins der Schafe, das sich bereitwillig nicht nur zur Schur, sondern zur Schlachtbank führen läßt. »Was für Bücher soll ich denn nehmen?« »Da verlasse ich mich ganz auf Ihr Urteil, Jeremy. Schreiben Sie doch einfach über die Bücher, die Sie zur Zeit lesen, und tun Sie so, als wären Sie ich. Nur zu intellektuell 110
darf es nicht sein, die Leute sollen nicht denken, daß ich Schostakowitsch lese oder so Leute.« Jeremy kritzelte noch immer. Prosser stand auf, die Audienz war beendet. »Ende der Woche, wenn das möglich ist.« »Ende der Woche«, wiederholte Jeremy und schrieb. »Danke, Jeremy«, sagte Prosser. »Danke, Jeremy«, sagte Jeremy und schrieb. »Wiedersehen, Jeremy.« »Wieder … Ach so.« Als er aufstand, überragte er Prosser um Haupteslänge. »Entschuldigen Sie bitte, Sir, ich war so vertieft … Sie können sich ganz auf mich verlassen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir diese Chance geben.« »Eine verdiente Chance, mein Junge, davon bin ich überzeugt«, sagte Prosser und ging mit ihm zur Tür. »Jacqui bringt Sie raus. Sie wird Ihnen auch das Pennerkostüm geben.« »Ach ja, Sir, es war gar nicht so einfach, an die Sachen ranzukommen, und –« »Ich habe mich doch schon bedankt.« Prossers höfliche Fassade begann zu bröckeln. Das Nettsein – besonders seinen Mitarbeitern gegenüber – strengte ihn immer furchtbar an. »Darum geht es nicht, Sir. Ich mußte einige hundert Pfund auslegen und –« »Gehen Sie einfach zur Personalabteilung – zur Abteilung Humanressourcen, meine ich –, die erledigen das schon. Wiedersehen.« Prosser schob Jeremy energisch durch die Tür. Beschissene Akademiker, überflüssig wie ein Kropf. Der Major legte die Schere aus der Hand und bewunderte sein Werk. »Wie findest du das, Rommel? Beeindruckend, was?« Falls der Dackel eine Meinung dazu hatte, behielt er sie wohlweislich für sich. Doch der Major war hochzufrieden. Was er zustande gebracht hatte, war das, was man – wenn ihn die Erinnerung an eine kurze Tätigkeit hinter einer Bühne nicht trog – eine Lichtblende nannte. Sorgfältig rollte er das hitzebeständige Azetat mit den vier herausgeschnittenen 111
Buchstaben zusammen, steckte die Stoffbahn nebst Schere und breitem Klebeband in seinen Seesack und verließ das Haus. Wenig später stieg er die Stufen zu einem Stadthaus hinauf, das, genau wie das seine, schon längst aus zahlreichen kleinen Einzelwohnungen bestand. Die Namen an den Klingelknöpfen waren ihm sämtlich unbekannt, aber er drückte vorsichtshalber alle gleichzeitig. »Wer ist da?« ertönte eine körperlose Stimme aus der Sprechanlage. »Lieferung«, schwindelte der Major. Der Türöffner summte. Der Major stieß die Tür auf und stieg die Treppe hoch. »Jack! Nett, daß du anrufst. Ich wollte mich schon melden, aber bei mir ging’s mal wieder rund. Du weißt ja, wie das ist« Prosser hatte Butterley fünf Minuten zappeln lassen, ehe er sich dazu bequemte, das Gespräch anzunehmen. »Und ob, Alex, und ob … Was hältst du von dem Drink?« »Von dem Drink?« wiederholte Prosser unbestimmt. »Ja, richtig. Der Drink. Sehr interessant. Ich habe ein paar Leute hier probieren lassen, und sie sind ganz meiner Meinung. Zweifellos interessant. Aber ob es eine solche Sensation ist, wie du mir neulich hast weismachen wollen, ist doch recht fraglich.« »Vergiß nicht, daß ich dich in- und auswendig kenne, Alex. Hör auf, mich zu verarschen. Willst du den Laden haben oder nicht? Sonst gehe ich zu Pardoe.« Prosser lehnte sich in seinem Sessel zurück und feixte. Wenn sein Plan so lief, wie er sich das vorstellte, würde von Pardoe in Kürze kein Hund mehr ein Stück Brot nehmen. »Es ist eine heikle Entscheidung, Jack. Das Gesöff hat Möglichkeiten, durchaus. Aber garantieren kann mir die keiner, und wenn’s schiefgeht, ist Nostrum für mich nur ein Klotz am Bein.« Prosser hütete sich, Jack die Ergebnisse der Recherchen von Godfrey Daniels und seinen Leuten zu verraten. Wenn er 112
Nostrum abriß und den Grund und Boden verkaufte, bekam er mindestens so viel, wie er für die Firma wahrscheinlich würde hinblättern müssen. »Andererseits sind wir alte Freunde, und ich gebe viel auf dein Urteil. Ich denke also, wir riskieren es. Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen. Es wird eine Weile dauern, bis das Projekt angeleiert ist.« »Warum die Übernahme einer kleinen Klitsche wie Nostrum so schwierig sein soll, kapiere ich zwar nicht, Alex, aber du wirst schon wissen, was du tust.« »Du könntest die Sache beschleunigen, indem du mir eine aktuelle Aktionärsliste beschaffst.« »Wird gemacht. Sonst noch was?« »Es wäre vielleicht klüger, wenn du dich in Zukunft nicht mehr von der Zentrale vermitteln läßt. Am besten rufst du mich über Funk an.« Er gab Butterley die Nummer. »Okay. Viel Glück, Alex.« »Danke, Jack. Aber mit Glück allein läßt sich kein Blumentopf gewinnen.« Jeremy ließ seinen Entwurf auf dem Schreibtisch liegen, nahm die Sachen, die Prosser ihm zurückgegeben hatte, und verließ das Haus. Er war im siebenten Himmel. Hatte nicht Mr. Prosser höchstpersönlich ihm zwei sehr verantwortungsvolle Aufgaben anvertraut, kaum daß er in dessen Unternehmen angefangen hatte? Offenbar hatte der sein Talent auf den ersten Blick erkannt. Er war kleiner, als Jeremy erwartet hatte. Genaugenommen reichte Alexander Prosser ihm nur bis zur Schulter. Aber berühmte Männer von unterdurchschnittlicher Körpergröße gab es in den Geschichtsbüchern ja in Hülle und Fülle. Strahlend schlenderte Jeremy durch die Halle. Die unbeschwerte Sorglosigkeit seines Hauptverdächtigen kam bei Mr. Bennett nicht gut an. Sein ohnehin nicht gerade sonniges Gemüt hatte sich durch Prossers Anruf noch mehr verdüstert. Irgendwann – und zwar sehr bald – würde er diesem jungen 113
Idioten das dämliche Lächeln von der Fresse polieren. Jeremy bewältigte den Weg auf die Straße ohne größere Schwierigkeiten. Offenbar hatte er den Dreh inzwischen raus. Nachdenken war hier – wie auch sonst häufig – nicht gefragt. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er auch die Paternoster meisterte. Jeremy überquerte den Platz. Sebastian beobachtete BIG House durch einen Feldstecher. Jeremy stellte sich direkt vor ihn und nahm ihm die Sicht. »Mann, haben Sie mich aber erschreckt! Hab schon gedacht, ich werd blind«, sagte Sebastian. »Ach, du bist’s nur, Jeremy. Du darfst dich nicht so an die Leute anschleichen, das gehört sich nicht.« Jeremy übergab das Kleiderbündel und sah, daß Sebastian schon wieder in Lumpen ging. »Danke, Jeremy. Du bist ein kluger Junge und ein Gentleman.« »Wo – ähem – sind denn die Sachen, die ich dir gekauft habe?« »Hab ich versilbert. Für einen anständigen Preis. Über zwanzig Pfund. Jetzt sperr mal die Ohren auf«, sagte er, Jeremys empörtes Gestotter überhörend. »Du hast mir einen Gefallen getan, und eine Hand wäscht die andere. Wenn du weißt, was gut für dich ist, läßt du dich nicht mehr da oben im dreizehnten Stock blicken.« »Woher weißt du denn, daß ich da war?« »Ich weiß mehr, als du denkst, Jeremy. Laß dir raten und halt dich fern vom dreizehnten Stock und besonders von Prosser. Der ist ungesund für dich. Alles klar?« »Nein, überhaupt nicht Was soll denn das heißen?« Ein Passant kam näher. Sebastian brach in ein wahnwitziges Gewieher aus. »Pilbeam hat die Bismarck versenkt. Eine milde Gabe für den Gynäkologen«, plärrte er und setzte leiser hinzu: »Hau ab, Jeremy. Ich muß auf meinen Ruf bedacht sein.«
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Prosser schob die Diskette ein, suchte sich die Telefonnummer, die er brauchte, lernte sie auswendig, holte die Diskette wieder heraus und hängte sie um den Hals. Dann ging er mit seinem Funktelefon die Wendeltreppe hinauf zum Dach. Zwar wurde sein Büro regelmäßig auf Wanzen untersucht und lag so hoch, daß von den umliegenden Gebäuden aus eine Abhörmöglichkeit durch Richtfunk nicht gegeben war, aber Prosser war, wenn es um seinen Kopf ging, für größtmögliche Risikobegrenzung. Er wäre wohl nicht ganz so locker gewesen, hätte er gewußt, daß aus dem Schatten eines Torwegs auf der anderen Seite des Square ein starkes Fernglas auf ihn gerichtet war. Er tippte die Nummer ein. Eine farblose weibliche Stimme meldete sich: »Ja?« »Mr. Fallas bitte.« »Wer will ihn sprechen?« »Ein früherer Klient.« Prosser wartete. »Hier Nicholai Fallas.« Zahlreiche osteuropäische Länder und Sprachen hatten über drei Generationen hinweg ihre Spuren in seiner Stimme hinterlassen. »Ich hoffe, Sie wissen, wer ich bin, Mr. Fallas. Vielleicht erinnern Sie sich noch, daß Sie zuletzt vor acht Monaten für mich tätig waren. Es ging um eine Beteiligung, die kurz vor dem Scheitern stand.« »Gehe ich recht in der Annahme, daß es die durch mein Büro aufgedeckten Seitensprünge eines gewissen Vorstandsvorsitzenden waren, die den Ausschlag bei der Übernahme gaben?« »Ihr Gedächtnis macht Ihnen alle Ehre, Mr. Fallas«, sagte Prosser. »Ich glaube, ich habe noch nie ein so unterhaltsames Video gesehen. Heute habe ich einen neuen Auftrag für Sie. Ich brauche Informationen über das Tun und Treiben von David Westbury, Inhaber und Hauptgeschäftsführer der Getränkefirma Nostrum. Sollte sich dabei etwas über seinen Bruder Michael oder Onkel Timothy Westbury herausstellen, 115
um so besser. Hat Sir Jocelyn Pardoe schon mal mit Ihrer Agentur gearbeitet?« »Unternehmen meiner Art finden, soweit ich weiß, nicht Sir Jocelyns Billigung.« »Dann haben Sie sicher nichts dagegen, auch seinen Namen und den von Lady Amanda Pardoe auf die Liste zu setzen.« »Natürlich nicht. Aber dafür brauche ich wesentlich mehr Personal als für Ihren letzten Auftrag.« »Verstehe. Ich lasse Ihnen zwanzigtausend Pfund als Anzahlung auf Ihr Konto überweisen. Wird das genügen?« »Legen Sie Wert auf ein persönliches Gespräch?« »Ich denke, das wäre nicht klug, Mr. Fallas. Schicken Sie mir Ihre Berichte über Fax. In dringenden Fällen können Sie mich unter folgender Nummer erreichen …« Prosser arbeitete gern mit Fallas, der in einschlägigen Kreisen als der beste und – sicher nicht zufällig – auch als der skrupelloseste Ermittler in Finanzsachen galt. Wenn der Mann diesen Auftrag gut über die Bühne brachte, war direkt zu überlegen, ob man nicht Fallas’ Agentur ganz in den Konzern einbinden sollte. Prossers nächster Anruf galt einer in seinem Besitz befindlichen auffällig unauffälligen Firma auf den CaymanInseln. Den Firmensitz kannte er ebensowenig wie die beiden sogenannten Direktoren des Unternehmens. Je weiter er sie sich vom Leibe halten konnte, desto besser. Er meldete sich als »Big Boy« und gab Auftrag, zweihunderttausend NostrumAnteile zu kaufen und den Betrag von einem Schweizer Nummernkonto abbuchen zu lassen. Die Schweizer gaben sich zwar sehr eifrig, wenn es darum ging, Aktienschwindeleien aufzudecken, aber daß die Bank jemals mit den Namen des Kontoinhabers herausrücken würde, war kaum zu befürchten. Um sich gegen diese unwahrscheinliche Eventualität noch zusätzlich abzusichern, hatte Prosser mehrere Strohfirmen zwischengeschaltet (wie die russische Puppe in der Puppe, eine inzestuös in die anderen geschmiegt) und sie in führenden Finanzzentren der Welt, wie den niederländischen Antillen, 116
den Turks- und Caicos-Inseln und den Cook-Inseln, angesiedelt. Keiner Behörde würde es je gelingen, diese verschlungenen Fäden zu entwirren. Seine Freiheit war Prosser ebenso lieb wie teuer. Er gab noch zwei Kaufaufträge für Nostrum- Aktien mit ähnlichen – aber nicht den gleichen – Beträgen, abzubuchen einmal von einer Bank auf den Bermudas, zum zweiten bei einem Geldinstitut in Liberia. Beide Länder waren bekannt dafür, daß sie die gesetzliche Überwachung ihrer finanziellen Dienstleistungen eher locker betrieben. Dann gab er Anweisung, zwei Strohfirmen zu gründen, eigens zu dem Zweck, kleine Mengen von Nostrum-Aktien zu kaufen. Als Prosser fertig war, fiel ihm Maggie ein, und das Gewissen schlug ihm. Neuerdings vernachlässigte er sie. So ging das nicht weiter. Am Ende dachte sie noch, er hätte sie vergessen! Nach beendeter Mission feierte der Major die sichere Rückkehr auf die terra firma, indem er mit Rommel einen Spaziergang zu dem Feuerwehrfahrzeug machte, das er schon von seinem Aussichtspunkt in luftiger Höhe gesichtet hatte. Ganz in der Nähe stand Mr. Bennett. »Was ist denn hier kaputt?« erkundigte sich der Major. »Jemand hat letzte Nacht die Tiefgarage unter Wasser gesetzt. Viereinhalbtausend Liter Wasser aus einem Straßenfahrzeug abgelassen. Stunden haben wir gebraucht, bis wir das einigermaßen wieder im Griff hatten. Im Wagen vo m Chef stand das Wasser zwei Zentimeter hoch. Riesensauerei. Die von der Polizei haben sich halbtotgelacht. Vorher hatten sie dem Rolls schon ’ne Kralle verpaßt. Furchtbares Theater, ehe wir ihn in der Werkstatt hatten. Und wer hat jetzt den Schwarzen Peter? Dreimal dürfen Sie raten …« »Sehr bedauerlich, wirklich sehr bedauerlich. Hatten Sie letzte Nacht Dienst?« »Nein, aber ich krieg die Abreibung, wenn meine Leute 117
Nieten sind. Einer ist natürlich sofort geflogen. Sehr ärgerlich, wo wir sowieso knapp mit dem Personal sind.« »Sie sollten einen hier aus dem Viertel einstellen«, sagte der Major. »Einen, der den Laden im Auge behalten kann, auch wenn er außer Dienst ist.« Mr. Bennetts Hirn, ohnehin kein Meisterstück von Mutter Natur, war in den Rugbyjahren noch schwerfälliger geworden. Der Major machte einen neuen Anlauf. »Möglichst einen Mann mit militärischen Erfahrungen. Der Ihre Theorien über diesen Rotschopf nachempfinden kann.« Mit zögerndem Klimpern fiel der Groschen. »Sprechen Sie von sich?« »Na ja, der Jüngste bin ich ja nicht mehr, Mr. Bennett, aber wer sein Leben lang Uniform getragen hat, der sehnt sich einfach nach Ordnung und Disziplin. Wäre froh über die Chance. Was Sie brauchen, ist jemand mit soldatischen Gewohnheiten. Das ist alles Teil einer teuflischen Verschwörung, ganz klar. Außerdem kann man von meiner Wohnung aus dieses imposante Bauwerk sehen, und somit wäre ich gewissermaßen rund um die Uhr im Dienst.« »Wenn Sie nächste Woche anfangen können, ist die Sache geritzt«, sagte Mr. Bennett hocherfreut. Sie besiegelten die Abmachung mit einem markigen Handschlag, ohne von dem ebenso plötzlichen wie grausigen Ableben einer großen Amsel ganz in ihrer Nähe Notiz zu nehmen.
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11 Für Alexander Prosser war ein Schlafzimmer ein Raum, in dem Betten zu stehen hatten. In seinem standen drei. In einer Ecke befand sich ein Feldbett, das Napoleon angeblich bei seinem Ägyptenfeldzug benutzt hatte und auf dem er behaglich zu ruhen pflegte, während nackte junge Eingeborene in der Nähe angepflockt waren, um die Insekten auf sich zu ziehen. Auf der anderen Seite stand eine balinesische Ruhebank aus dem 18. Jahrhundert, geschmückt mit kunstvoll geschnitzten Paaren, Dreiern und Quartetten, die anschaulich illustrierten, wie man es anzustellen hatte, dem Orgasmus durch zusätzliche Leistenbrüche, Muskelrisse und Bandscheibenvorfälle noch intensiveren Genuß abzugewinnen. Das Hauptbett, das fast den ganzen Raum beanspruchte, hatte dem Vernehmen nach Ludwig dem Vierzehnten gehört. Zwar bot es für seine Zeit durchaus genug Platz, doch bei einem Test mit seiner damaligen Chefassistentin hatte Prosser festgestellt, daß es für seine Bedürfnisse doch etwas eng war. Trotz der flehentlichen Bitten des Antiquitätenhändlers, durch den er an diese Liegestatt gekommen war, hatte Prosser das Bett in verschiedene Richtungen erweitern und den üppigen Baldachin so weit verstärken lassen, daß er jetzt das Gewicht einer am Kopf oder an den Füßen daran aufgehängten Person zu tragen vermochte. Im Kopfteil war Telefon, in allen vier Pfosten waren Lautsprecher eingebaut worden. Der Händler hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten. Prosser hatte außerdem das Bett zu einem Kabrio umbauen lassen – mit einem Betthimmel, den man nach oben hin aufziehen konnte, weil ja sonst die Spiegel an der Decke witzlos gewesen wären. Es gab auch einige an strategisch günstigen Stellen angebrachte Spiegel an der Wand, die ansonsten für Prossers ganz private Kunstsammlung reserviert war. Selbst der abgebrühteste Beamte von der Sitte wäre 119
möglicherweise angesichts dieser haarsträubenden Beispiele von Obszönität und Lasterhaftigkeit leicht aus der Fassung geraten. Eine Kollektion indischer und japanischer Holzschnitte aus dem späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert gehörte ebenso in die Sammlung wie westliche Erotika von Rowlandson, Georg Grosz, Henry Fuseli, Tom Wesselmann und zwei späte, ungemein zweideutige Picassos. Prosser lag, von Kissen gestützt, im Bett und sah drei Frauen und zwei Männern zu, die auf einer Großleinwand demonstrierten, was man mit einem SupermarktEinkaufswagen und den darin enthaltenen Lebensmitteln alles anfangen kann. Jacqui, die sich immer giftete, wenn Prosser in ihrem Beisein Porno guckte, versuchte ihm einmal mehr zu beweisen, daß es auf der Leinwand nichts gab, was eine Professionelle nicht im wirklichen Leben nachvollziehen konnte. Prosser war drauf und dran zu kapitulieren, als das Telefon läutete. Er machte eine Klappe in einem der Bettpfosten auf und griff hinein. »Was zum Teufel ist los, Ron … Hat es nicht Zeit bis morgen früh? … Gut, ich komme.« Zu seinem Ärger allerdings kam er eben nicht gleich, so daß er Jacqui abschütteln mußte. Über seinen gesenkten Ständer zog er Hose und Hemd und eilte zum Aufzug. Ron hatte gesagt, er müsse unbedingt herunterkommen, und so leicht verlor der nicht die Nerven. Jacqui lehnte sich verärgert zurück und sah auf die Leinwand. Idiotisch, diese Geschichte von den Mädels an der Supermarktkasse. Kam ihr aber irgendwie bekannt vor. Natürlich. Das mit der Gurke war ja sie. Na, da würde der kleine Mistkäfer aber Augen machen … Auf der anderen Seite vom Gilbert Square blickten Prosser, Ron Niblo und Mr. Bennett zum BIG House hoch, während ein jubilierender Major in seiner Küche saß und sie aufmerksam beobachtete. 120
»Die Zentrale kann die Anrufe nicht mehr verkraften. Das verdammte Ding ist offenbar in halb London zu sehen.« »Ich denk, mich knutscht ein Elch«, knurrte Bennett. »Sehr eindrucksvoll«, sagte Prosser. »Haben Sie als Chef des Werkschutzes – noch sind Sie’s ja – eine Erklärung dafür?« »Da hat uns wohl jemand eins auswischen wollen.« Auf ein Zeichen von Prosser packte Niblo den unglücklichen Werkschutzchef an den Armen und verdrehte sie ihm auf dem Rücken. »Was glauben Sie, was ich Ihnen auswische, wenn diese Sauerei nicht umgehend geklärt wird«, sagte Prosser sehr leise. Das violette Licht machte sein Lächeln noch bedrohlicher. »Ich lasse mir nicht gern von meinen Mitarbeitern in die Suppe spucken, stimmt’s, Ron?« Damit rammte er Bennett die rechte Faust in den Bierbauch, daß ihm der Atem wegblieb. Ein linker Nierenhaken folgte. Bennetts Zweizentnermassen sackten zu Boden. »Lassen Sie das Licht löschen. Ich will wissen, wie die Saukerle das gemacht haben. Und keine weiteren Zwischenfälle, ist das klar?« Bennett nickte kläglich. Niblo versetzte ihm im Gehen noch einen Tritt in die Rippen, dann folgte er Prosser zurück zum BIG House. Vor dem Eingang warf Prosser noch einen Blick nach oben. Der Einfall war ebenso genial wie gemein. Hoch über seinem Kopf leuchtete dank der von dem Major so liebevoll präparierten Lichtblende in violetten Riesenlettern das Wort »FICK« in dreißig Metern Höhe über der Stadt.
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12 Die Presse jubilierte. Zwar gaben die wenigsten Blätter jemals dem bewußten Wort Raum in ihren Textspalten, sie hatten aber keine Hemmungen, es in großformatigen Fotos auf ihre Titelseiten zu klatschen. Prosser gab – ungewohnt publicityscheu – in einer kurzen Erklärung seine Meinung kund, es handele sich um das Werk antikapitalistischer Spinner, und war darüber hinaus zu keiner Äußerung zu bewegen. Jeremy, dessen Financial Times es nicht für nötig befunden hatte, ihren Lesern das höchstgelegene Graffiti der Welt zu melden, hatte Mühe, sich einen Weg durch die Halle zu bahnen, in der es von reizbaren, mit Kameras, Notizblöcken und Kassettenrecordern bewaffneten Gestalten in abgerissenen Klamotten nur so wimmelte. Was diese Leute hier wollten, interessierte ihn nicht sonderlich. Er hatte einen Auftrag von Mr. Prosser und brannte darauf, sich an die Arbeit zu setzen. Eisiger Schreck durchzuckte ihn, als er sein Büro betrat. Es war leer. Sämtliche Schriftstücke waren vom Schreibtisch verschwunden, auch das Wirtschaftslexikon. Nicht mal die verdorrte Topfpflanze war mehr da. Der Radau der Reporter war so groß, daß Charmaine sich bei Tracey kaum verständlich machen konnte. »Hunderte, sag ich dir«, schrie sie ins Telefon, während sie mit den falschen Wimpern ihrer galapagosgrün bemalten Augen klimperte und für die Reporter die sorgfältig geschminkten Lippen – Farbton Sinnliches Smaragd – aufwarf. »Die Sun, der Star, der Mirror, einfach alle. Die haben mich schon tausendmal geknipst, gut und gern. Echt hammermäßig, sag ich dir. Viel stärker als die Typen vom Bombenkommando. Einer hat mir zwei Riesen geboten, wenn er mich oben ohne fotografieren darf. Was sagste dazu? Ganz schöner Haufen 122
Kohle, wie? Was meinste, Tracey, soll ich?« Jeremy warf sich ins Getümmel und kämpfte sich zu ihr durch. Charmaine legte auf, nachdem sie versprochen hatte, heute um halb eins über einer Quiche und einem Bacardi alles rauszulassen. Da kam schon wieder dieser rothaarige Typ, der neulich schuld an dem Bombenalarm gewesen war. Vielleicht hatte er auch hier wieder seine Hand im Spiel. »Ich bin beraubt worden«, stieß Jeremy atemlos hervor. »Mein Büro. Sämtliche Unterlagen sind weg. Einfach alles.« »Is ja ätzend«, sagte Charmaine mitfühlend. »Wie war doch gleich der Name?« Jeremy gönnte weder ihr noch dem Computer die Genugtuung, wieder einmal seine Existenz zu leugnen. »Simpson«, sagte er mit Nachdruck. »Jeremy Simpson.« Sie tippte den Namen ein. »Jeremy Simpson? Ham wir nich.« »Natürlich haben Sie den. Er arbeitet schon eine Woche hier. Er hat ein Büro im Souterrain«, sagte Jeremy unsicher. Am Ende hatte Nettle ihn schon ganz aus dem Computer gelöscht? »Und jemand ist bei ihm eingebrochen. Ich meine … bei mir eingebrochen.« »Setzen Sie sich doch ’n Augenblick«, überschrie Charmaine den Lärm. »Ich seh mal zu, ob ich jemand von HUMA rankriege.« Prosser schäumte. Ausgerechnet am Tag der Vorstandssitzung mußte das passieren. Theoretisch führte bei der British Industrial Group, wie bei anderen Firmen auch, der Vorstand die Geschäfte. Nicht einmal Prosser hatte eine Möglichkeit gefunden, die Vorschrift, daß ein Vorstand hin und wieder auch mal zu tagen hat, außer Kraft zu setzen. Und so saßen denn um den Tisch herum sieben Herren, die mit Bedacht aufgrund ihrer besonderen Untüchtigkeit und Rückgratlosigkeit ausgewählt worden waren, sieben verkalkte Trittbrettfahrer, bei denen man sich darauf verlassen konnte, 123
daß sie ihm nicht dazwischenfunkten, wenn er in der Firma nach Gutdünken schaltete und waltete. Obschon es auch dem Dümmsten unter ihnen einleuchten mußte, daß sie im Grunde völlig unbedeutend waren, hatten sie alle irgendwo noch Überreste von Stolz und taten deshalb so, als seien sie unentbehrlich für die Gesamtleitung des Konzerns. Die Führung der einzelnen Konzerngruppen lag in den Händen tüchtiger Geschäftsführer, die Prosser mit einem großzügigen Gehalt bei der Stange hielt, ohne sie jemals in den Vorstand vordringen zu lassen. Heute vormittag führten alle sieben Vorständler bewegte Klage darüber, wie hart es doch sei, einem Unternehmen vorzustehen, das vom Dach seiner Zentrale aus ein sittlich höchst bedenkliches und obendrein noch weit nach London hineinleuchtendes purpurnes Zeichen gesetzt hatte. Wenn ich denke, wieviel Kohle die mit ihrem Job einfahren, dachte Prosser, müßten sie sich eigentlich von mir das Wort in den Hintern tätowieren lassen und hinterher noch danke schön sagen. Er behandelte sie nach Verdienst und Würdigkeit – wie Schuljungen, die noch nicht trocken hinter den Ohren sind – und machte sie mit dem demütigenden Aufruf einer Anwesenheitsliste kirre. »Collingwood?« »Hier«, kam es gedrückt. »Armstrong.« »Hier.« »Eldon … Bourne … Akenside … Stowell … Brand.« Alle machten ein dümmlich- verlegenes Gesicht, wenn ihr Name fiel. Bei Brand, der schwerhörig war, mußte Prosser sogar mehrere Anläufe machen. Eigentlich hätte auch Roach dabeisein müssen, aber Prosser und er waren sich darüber einig, daß es völlig sinnlos war, wenn sie beide ihre Zeit mit dieser lächerlichen Farce vertrödelten. »Ehe wir zur eigentlichen Tagesordnung kommen, meine Herren, habe ich Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Wie wir 124
bei unserer letzten Sitzung besprochen haben – ohne daß wir dabei zu konkreten Ergebnissen gekommen wären –, sind die Erlöse bei British Iron Girders, unserer Gründergesellschaft und ein Grundpfeiler unseres Konzerns, bedenklich zurückgegangen, eine wirtschaftliche Erholung in diesem Bereich ist nicht abzusehen. Erfreulicherweise zeichnet sich jetzt ein Ausweg aus dieser mißlichen Lage ab. Mir liegt ein Plan vor, der die Schließung der Gießerei nach sich ziehen würde.« Er überhörte das verstörte Volksgemurmel, das sich am Vorstandstisch erhoben hatte, und fuhr fort: »Es besteht die Möglichkeit, das Gelände in einen großen Vergnügungspark umzuwandeln, dessen Leitmotiv unsere industrielle Vergangenheit wäre. Todesmutige Erkundungen der alten Zeche, Schatzsuche auf den Schlackenhaufen, eine Fahrt mit der Einschienenbahn durch eine phantastische Fabriklandschaft – so in der Art. Die Idee ist nicht nur sehr originell und innovativ, sondern auch so gewinnversprechend, daß wir sie, da werden Sie mir sicher alle zustimmen, sehr ernst nehmen müssen.« Prosser betonte das Wort »sicher«, um zu verdeut lichen, daß Abweichler bei ihm keine Chance hatten. »Bitte verteilen Sie die Unterlagen, Sally.« Sally, die links neben ihm saß, gehorchte. Sie taten ihr ehrlich leid, diese abgehalfterten Fabrikbesitzer, die dumm genug waren, ihre Unternehmen in Prossers schmierige Hände zu legen. Gewiß bereuten sie alle schon den Tag, an dem sie sich entgegen ihrer besseren Überzeugung dem schnöden Mammon verschrieben hatten. Sie sah, wie ein oder zwei auf den Notizblöcken herumkritzelten, die auf ihrem Platz lagen. Die armen Trottel ahnten natürlich nicht, daß man die Blöcke nach der Sitzung der Abteilung Marketinganalyse übergeben würde, die dem Vorstandsvorsitzenden Meldung zu machen hatte, wenn sich respektlose oder zersetzende Bemerkungen oder Zeichnungen fanden. Während seine Vorstandskollegen die Unterlagen lasen, sah sich Prosser im Sitzungsraum um, der nach seinen Ideen 125
geschmackvoll gestaltet war, mit Marmorwänden, griechischen Säulen, einem Deckengemälde, an dem weiße Wolken über einen blauen Himmel zogen, und etlichen nackten, barock gerundeten Damen an den Wänden. Seine linke Hand wanderte zu Sallys Bein. Als sie sich in Richtung Hüfte vorarbeitete, gab Sally ihr einen energischen Klaps. Aus dem Augenwinkel sah Prosser, daß Peter Akenside beim Lesen dunkelrot anlief. Und dann kam die erwartete Explosion. »Als das unmittelbar für British Iron Girders verantwortliche Vorstandsmitglied hätte ich wohl vor Ausarbeitung eines solchen Plans gefragt werden müssen.« Prosser heuchelte Bedauern. »Tut mir wirklich leid. Aber ich habe fest mit deinem Einverständnis gerechnet, deshalb dachte ich, daß es keine Rolle spielt.« »Keine Rolle? Das wird ja immer schöner! In dem Werk selbst sind sechshundert Leute beschäftigt, die Belegschaften unserer Lieferanten und Zulieferer gar nicht gerechnet. Du kannst derart schwerwiegende Entscheidungen nicht treffen, ohne dich mit mir abzusprechen.« Die anderen Vorstandsmitglieder blickten verdattert drein und bestaunten Akensides Kühnheit. Der letzte Kollege, der ernsthafte Anzeichen von Selbständigkeit zu erkennen gegeben hatte, war Hindmarsh gewesen, einst Besitzer eines gutgehenden Touristikunternehmens; von ihm munkelte man, er sei jetzt Nachtwächter in einem der BIG-Werke in Südwales. »Von dir hätte ich wirklich mehr Einsicht erwartet, Peter. Daß du an der alten Firma hängst, ist verständlich, ich habe ja selber mal dort angefangen. Aber wir können den Fortschritt nun mal nicht bremsen, und die Leute stehen ja auch nicht alle endgültig auf der Straße. Wenn in drei Jahren der Vergnügungspark fertig ist, gibt es dort Jobs in Hülle und Fülle. Wer soll denn die Eintrittskarten ausgeben, die Züge fahren, die Klos putzen?« Prosser sah seinen Kollegen Akenside vielsagend und deutlich drohend an. Doch der hatte sein Pulver noch nicht ganz verschossen. 126
»Wir reden von Facharbeitern, Alex, mit einer über Generationen erworbenen Berufserfahrung. Die kannst du nicht so einfach zu Rummelplatzangestellten machen.« »Diese Berufserfahrungen, wie du sie nennst, sind leider Schnee von gestern. Aber machbar wäre vielleicht, eine Mustergießerei einzurichten, wo die Besucher ihnen bei der Arbeit zusehen können. Ich werde es bei den Planern anregen.« Akenside war anzusehen, daß er damit unzufrieden war. »Ich hoffe sehr, daß du dich nicht zu irgendwelchen unbedachten Handlungen hinreißen läßt, Peter. Es wäre schade, nur aus Prinzipienreiterei deine Bezugsrechte zu gefährden. Wenn du natürlich unbedingt hundertfünfzigtausend Pfund zum Fenster rauswerfen willst …« »Kommen da auch Schiffschaukeln hin?« fragte Brand aus heiterem Himmel. »Fand ich immer gut, Schiffschaukeln.« Der Mann, halb taub und total vergreist, hätte von jedem anderen Vorstandsposten schon vor Jahren zurücktreten müssen. »Daß British Iron Girders im Wahlkreis der Premierministerin liegt, hast du hoffentlich nicht aus den Augen verloren, Alex.« »Was du nicht sagst.« Prosser heuchelte Überraschung. »Ja, richtig, jetzt fällt es mir auch wieder ein. Aber du willst doch wohl nicht andeuten, daß wir durch solche Rücksichten ein solides unternehmerisches Konzept gefährden würden?« »Und Wurfbuden«, brabbelte Brand. Prosser legte eine Pause ein, aber Akenside hatte sich auf seinen Sessel zurückfallen lassen. Was wollte er gegen einen Mann ausrichten, der bereit war, sich mit der Premierministerin persönlich anzulegen? Er merkte, daß seine Vorstandskollegen starr auf ihre Unterlagen blickten, um den großen Vorsitzenden nicht ansehen zu müssen. Auch Prosser hatte es gemerkt. Waschlappen, alle miteinander. »Gut, dann wollen wir mal in die Tagesordnung einsteigen.« »Am besten haben mir immer die Dampfkarussells von 127
Gavioli gefallen«, flötete Brand. Die Eingangshalle hatte trotz ihrer üppigen Ausstattung für Jeremy schon längst ihren Reiz verloren, und die Journalistenrotte war bedauernd zu dem Schluß gekommen, daß – zumindest tagsüber – hier keine Sensationen mehr zu erwarten waren, und hatte sich davongemacht. Eine fürchterliche Ahnung beschlich ihn: Vielleicht waren seine Sachen gar nicht gestohlen worden. Vielleicht war er entlassen. Er ging zum Empfang hinüber. »Erinnern Sie sich noch an mich?« Charmaine kicherte. Als ob sie den Typ je vergessen könnte! »Und wenn ich Ihnen nun sage, daß ich Jeremy Seaman heiße?« »Seaman? Warum rücken Sie denn damit erst jetzt raus?? Die warten schon eine halbe Ewigkeit auf Sie. Ich laß Sie raufbringen.« Der Schwälberich flatterte im Tiefflug über den Eingang zu BIG House hinweg, um zu sehen, was sich dort tat. Die Menschen waren und blieben ihm ein Rätsel. Er hatte versucht, seinen Freunden klarzumachen, daß diese seltsamen Wesen sich Bäume in ihren Nestern hielten, aber das hatte ihm keiner abgenommen, ebensowenig wie die Sache mit dem Riesenwurm, den er bei den Zweibeinern gesehen hatte. Was seine Mitvögel von ihm dachten, kümmerte ihn nicht mehr, dazu war er zu alt, aber seine Neugier war mit zunehmendem Alter nicht geringer geworden. Der Vorstand brauchte noch eine Stunde, bis er pro forma sämtliche von Prosser getroffenen Entscheidungen gebilligt hatte. Prosser war nicht ganz bei der Sache. Er hatte andere, wichtigere Dinge im Kopf. Als er endlich Schluß machen 128
konnte, blieb er noch ein paar Minuten, um bei Sherry und Canapees höflichen Smalltalk zu machen und Akenside versöhnlich zu stimmen. Diese Weihnachtsmänner waren allesamt zu dumm, um einen Eimer Wasser umzukippen, aber sieben andere Typen, die ähnlich fügsam waren, bekam er bestimmt nicht so ohne weiteres zusammen. Ehe er in sein Büro ging, schaute er bei Roach vorbei. »Sekunde, Alex. Nein, Désirée, du kannst nicht erwarten, daß der Gasableser die Schuhe auszieht, ehe er ins Haus kommt, nur weil es regnet … Na gut, dann soll er erst ablesen und dann die Diele aufwischen … Muß Schluß machen, Schätzchen. Entschuldige, Alex. Wie ist es gelaufen?« »Pure Zeitverschwendung, wie immer. Wo steht eigentlich geschrieben, daß Vorstandsmitglieder Menschen sein müssen? Affen wären billiger und effektiver. Aber Ärger werden sie uns kaum machen. Kann sein, daß Akenside sich ein bißchen aufplustert, nachdem er sein Optionsrecht ausgeübt hat, aber mehr kommt bestimmt nicht. Hauptsache, die Belegschaft kriegt nicht vorzeitig Wind von der Sache. Möchte nicht, daß es da Zoff bei der Arbeit gibt.« »Und ich dachte, Arbeit mit Zoff ist deine Spezialität, Alex.« Roach konnte einem mit seinen Kalauern manchmal echt auf den Geist gehen. Als Prosser ins Büro kam, blinkte das Fax-Gerät. Er gab seine Codenummer ein und las die Meldungen. Alle Transaktionen waren sehr günstig ausgeführt. Er schob die Diskette in das Laufwerk seines Computers, speicherte die Daten und steckte das Fax in den Reißwolf. Für seine eigenen Bedürfnisse war vorgesorgt. Jetzt kam auch die Firma zu ihrem Recht. Er wählte den gerissensten Aktienhändler, den er kannte. »Morrie? Hier Alex.« »Was macht die Kunst, Alex? Ich hoffe, du rufst geschäftlich an?« »Ich möchte, daß du ein paar Aktien für BIG 129
zusammenkaufst. Ich will das nicht an die große Glocke hängen, deshalb müssen die Banker draußen vor bleiben, die können doch das Maul nicht halten.« »Welche Firmen?« Morrie war mit Worten ebenso sparsam wie mit dem Geld seiner Kunden, was Prosser für ihn einnahm. Er haßte die moderne Händlergeneration, diese albernen, naßforschen, überbezahlten Ignoranten. Ohne ein Riesenteam ging es bei diesen jaulenden Yuppies einfach nicht. Da konnte man ja gleich per Anzeige im Evening Standard bekanntgeben, was man vorhatte. Nein, Prosser setzte voll auf alte Hasen. »Nostrum und Pardoe Trust. Knöpf die Aktien möglichst nicht Leuten ab, die positiv zu BIG stehen. Kann sein, daß wir ihre Anteile später gut gebrauchen können.« »Bei Pardoe sehe ich keine Probleme«, sagte Morrie nach kurzer Denkpause. »Bei Nostrum ist der Markt allerdings eng. Könnte schwierig werden, größere Mengen aufzukaufen, ohne daß sich der Preis bewegt, aber ich will sehen, was sich machen läßt.« Damit legte er auf. Prosser wußte, daß Morrie nichts Eiligeres zu tun haben würde, als für sich selbst Aktien beider Firmen zu kaufen. Erst dann würde er für BIG tätig werden. Dieses Absahnen betrachtete er als Teil seines Honorars. Prosser lehnte sich zufrieden zurück. Er freute sich auf die Schlacht mit Pardoe. »Wenn du mich anpinkelst, Sir Jocelyn«, sagte er in den leeren Raum hinein, »pinkele ich zurück. Und wie!« »Wenn Sie mir bitte folgen würden, Mr. Seaman.« Die junge Frau, die gestern unter Prossers Schreibtisch gewesen war, stand plötzlich neben Jeremy. Verdutzt gehorchte er. Mit schaukelnden Hüften und schaukelnder Perlenkette führte ihn Lucinda zu den Aufzügen, verschmähte aber den Paternoster und ging statt dessen auf eine unauffällige Tür zu, die Jeremy noch nie benutzt hatte. Die Aufzugtür öffnete sich, nachdem sie eine vierstellige 130
Zahlenkombination eingetippt hatte, eine 1777, stellte Jeremy fest. »Brandywine. Woher sollen wir so was wissen, können Sie mir das mal verraten?« sagte sie rätselhaft. Da ihm darauf keine passende Antwort einfiel, fuhren sie schweigend nach oben, beide in den Anblick der Leuchtzahlen auf der Stockwerksanzeige vertieft. Bei der 13 hielt der Aufzug an. Lucinda stieg aus und ging zielstrebig den Gang hinunter. Jeremy trottete brav hinterdrein. Zu seinem Bedauern war Miss Fluke nirgends zu sehen. »Da wären wir.« Sie lächelte schmal und führte ihn in ein Büro. Es schien leer zu sein, und Jeremy wagte einen Blick in die Runde. Es war wohl kaum anzunehmen, daß man ihn nur deshalb in den 13. Stock geleitet hatte, um ihm mitzuteilen, daß er entlassen war. Der Unterschied zu seiner früheren Arbeitsstätte war frappant. Ein dicker Teppich, prachtvolle Aussicht, gute Beleuchtung, eine raffinierte Telefonanlage, zwei große neue Schreibtische, an den Wänden geschmackvolle Drucke. Beim Umhersehen entdeckte er ein paar Sachen, die ihm merkwürdig bekannt vorkamen. Außer einem Philodendron in der Ecke stand auch ein verdorrter Efeu herum, der dem in seinem früheren Zimmer sehr ähnelte. Im Bücherregal sah er nur ein einziges Buc h, ein Lexikon der Wirtschaftsbegriffe von A-Z, wie er eins hatte. Er sah genauer hin. Es war seins, er erkannte es an dem Fettfleck auf dem Rücken. Was wurde hier bloß gespielt? Als habe er die Frage laut gestellt, flog die Tür auf, und Prosser erschien auf der Bildfläche. »Jeremy! Wie geht’s, mein Junge? Kümmert man sich gut um Sie? Wie gefällt Ihnen Ihr neues Büro? Nicht übel, wie?« Jeremy erinnerte in diesem Augenblick fatal an einen Goldfisch, der mit aufgesperrtem Maul auf sein Futter wartet. Prosser tönte unbekümmert weiter. »Habe gestern einen guten Eindruck von Ihnen gewonnen. Einen ausgezeichneten 131
Eindruck. Genau der richtige Mann für meinen Artikel. Und deshalb habe ich beschlossen, Sie ständig in meiner Nähe zu behalten.« Er legte Jeremy einen Arm um die Schulter und führte ihn zum Fenster. »Es bedrückt mich, daß wir in unserem Unternehmen nicht mehr denken lassen. Wo wäre der Konzern ohne neue Ideen? Wir brauchen unsere eigene Denkfabrik. Wenn die Politiker sich so was leisten, warum sollten wir darauf verzichten? Und wer sind unsere besten Denker? Nicht irgendwelche alten Zausel, Jeremy, sondern unsere jungen, aufstrebenden Kräfte. Wir brauchen frisches Blut an der Spitze der British Industrial Group. Und so bin ich auf Sie gekommen. Ich habe mir Ihre Akte angesehen. Sehr eindrucksvoll. Sie sind mein Mann. Frischer Wind in der Führungsspitze. Sie sollen meine persönliche Denkfabrik werden, mein zweites Gehirn. Ich möchte, daß Sie hier sitzen und denken. Denken Sie lange, Jeremy, denken Sie fleißig. Bringen Sie mir neue Ideen. Sagen Sie mir, was wir richtig und was wir falsch machen. Sie sind jung. Sie sind begabt. Sie sind der neue Direktor der Denkfabrik bei British Industrial. Herzlichen Glückwunsch. Ich habe Ihnen ein paar Karten drucken lassen«, fuhr er fort und riß das Päckchen auf, das er in der Hand hielt. »Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich ein paar behalte für den Fall, daß Sie später mal ein berühmter Mann werden.« Er nahm einige Karten heraus und verstaute sie sorgfältig in seiner Brieftasche. Dann drückte er Jeremy die Hand. Ebensogut hätte er einer Flickenpuppe die Flosse schütteln können. »So, und jetzt muß ich noch ein paar Sachen erledigen, und Sie sollen sich erst mal eingewöhnen. Ich erwarte große Dinge von Ihnen, Jeremy. Große Dinge.« Jeremy wußte, daß die British Industrial als entscheidungsfreudig bekannt war, aber eine so rasche Entwicklung hätte er denn doch nicht für möglich gehalten. Er 132
sah sich die Visitenkarten an. Jeremy Seaman, Direktor der Denkfabrik, British Indus trial Group. Klang toll. Oben war das dreieckige Firmenlogo eingedruckt, darunter in erhabenen Goldbuchstaben sein Name. Sein richtiger Name. Keine Rede mehr von diesem Jeffrey-Simpson-Quatsch. Ein bißchen verwirrend war die ganze Geschichte schon. Natürlich war er jung, das war nicht zu leugnen. Und ganz unbegabt wohl auch nicht. Aber Originalität war eigentlich nie seine Stärke gewesen. Im Gegenteil, er hatte stets versucht, solche gefährlichen Tendenzen zu unterdrücken und sich statt dessen an schlüssig von anderen Leuten bewiesene, unzweifelhafte Fakten zu halten. Warum wohl hatte Mr. Prosser ausgerechnet ihn für diese Aufgabe ausersehen? Der große Wirtschaftsboss war indessen wieder in sein eigenes Büro zurückgekehrt, wo er auch Sally in ratloses Erstaunen versetzte. »Du bist nicht mehr meine Chefassistentin. Statt dessen wirst du Sekretärin bei einem vielversprechenden jungen Mann, einem gewissen Jeremy Seaman. Dürfte nicht allzu anstrengend sein.« Und nicht von allzu langer Dauer, dachte er. Prosser ging unruhig im Zimmer auf und ab. Die Trennung von Sally fiel ihm schwerer, als er gedacht hatte. Gewiß, sie hatte immer ein bißchen wider den Stachel gelockt, aber sie war eine Wucht, daran gab es nichts zu tippen. Wenn sie dieses durchtriebene Lächeln aufsetzte, wurde er immer ganz gieprig. »Es ist ein gewisses Risiko, diesen Jungen zu befördern«, fuhr er fort. »Er ist neu und noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Ich brauche eine vertrauenswürdige Person, die ihn ein bißchen im Auge behält. Ich will alles über ihn wissen. Was er macht. Wohin er geht und was er denkt. Wenn er einen fahren läßt, will ich wissen, wie’s riecht.« »Wieder mal sehr charmant formuliert.« Wenn Prosser sich einbildete, sie würde für ihn spionieren, hatte er sich geschnitten. 133
»Du weißt schon, was ich meine. Er wird Hilfe brauchen, um sich zurechtzufinden. Bleib ihm auf der Pelle. Auch ganz nah, wenn’s sein muß.« »Und die Fraternisierungsregeln?« »Scheiß auf die Fraternisierungsregeln«, sagte Prosser wütend. Warum regte sich plötzlich so etwas wie Eifersucht in ihm? Alles Quatsch, schätzungsweise war der Typ sowieso schwul. Sally war heilfroh, daß sie nicht mehr direkt für Prosser zu arbeiten brauchte, ließ es sich aber nicht anmerken. Ihr einziges Vergnügen dabei war gewesen, ihn an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen. Das Telefon auf Prossers Schreibtisch läutete. Gute Gelegenheit für eine Abschiedsvorstellung. Mit kreisenden Hüften ging Sally ganz langsam zum Schreibtisch hinüber, beugte sich vor und beglückte Prosser mit einer hinreißenden Aussicht auf ihre Hinterfront. Die Bewegung wirkte wie der rote Lappen auf den Bullen in der Arena – nur mit dem Unterschied, daß Prosser keine Zeit mit Schnauben und Scharren vergeudete, sondern beschloß, sofort zur Sache zu kommen. Er stellte sich hinter Sally, zog ihren Rock hoch, machte den Hosenschlitz auf und holte seinen Pimmel hervor. Sie sah über die Schulter und lächelte aufreizend. »Die Premierministerin«, sagte sie sanft und reichte ihm den Hörer. Ehe sie, den Rock glattstreiche nd, das Zimmer verließ, sah sie noch einmal zurück. Prosser hatte ihn noch in der Hand, aber er stand nur noch auf Halbmast. Spiel, Satz und Sieg gingen an sie. Sie machte sich auf die Suche nach Jeremy Seaman, wer immer das sein mochte. Die Premierministerin war nicht in heiterster Stimmung. »Daß meine politischen Gegner mir Tretminen legen, überrascht mich nicht, Alexander. Aber daß einer meiner treuesten 134
Anhänger mich derart enttäuscht, hätte ich nie gedacht.« »Ich bedaure unendlich«, sagte Prosser. »Was meinen Sie nur?« »Das wissen Sie ganz genau, verdammt noch mal. Ich meine dieses hirnverbrannte Vorhaben, British Iron Girders zu schließen.« Roach hatte schnell gearbeitet. »Es ist richtig, daß wir auf dieser Grundlage eine Wirtschaftlichkeitsstudie aus gearbeitet haben. Aber Sie wissen besser als jeder andere, daß es zahlreiche Diskussionsgrundlagen gibt, die nie in die Praxis umgesetzt werden.« Was für eine Frau! Prosser fand ihre Herrschsucht ungeheuer aufregend. Maggie, ihre Namensvetterin auf dem Dach, hatte er gezähmt. Warum sollte er es nicht auch bei ihr versuchen? Es war eine gewaltige Herausforderung. »Was glauben Sie, welcher Eindruck in der Öffentlichkeit entsteht, wenn einer der treuesten Freunde und Geldgeber unserer Partei in meinem Wahlkreis sechshundert Leute um ihren Arbeitsplatz bringt? Ein gefundenes Fressen für die Presse. Ich warne Sie, Alexander! Wenn Sie das durchziehen, wird nichts aus Ihrem Adelstitel.« »Wir haben bekanntlich des öfteren über die Möglichkeit eines Adelstitels miteinander gesprochen. Es gibt da direkte Wechselbeziehungen zu den großzügigen Parteispenden meines Unternehmens. Aber irgendwie wird nie was draus …« »Ich will ganz offen sein, Alexander. Ihr Name stand tatsächlich auf der Vorschlagsliste. Aber nach der Sache mit dem bewußten Wort auf dem Dach Ihres Verwaltungsgebäudes mußte ich ihn zu meinem Bedauern wieder streichen.« »Auch ich bedaure das.« Das war bestimmt gelogen, eine Ausrede, die ihr sehr gelegen kam. Er hatte ihre Ausreden satt. »Ich finde die Pläne zur Nutzung des Geländes von British Iron Girders durchaus interessant. Nur weil ich zu einer bestimmten politischen Partei tendiere, dürfte ich mich von Rechts wegen dem Fortschritt nicht in den Weg stellen. Möglicherweise 135
komme ich aus dem Dilemma nur dadurch heraus, daß ich unsere Zuwendungen streiche.« Einen Augenblick blieb es still in der Leitung. »Und wenn ich verspreche, daß Sie bei der nächsten Neujahrsliste, sobald sich hier der Wirbel etwas gelegt hat, einen Adelstitel erhalten?« »Dann wäre es gut denkbar, daß ich in dem Vorhaben mehr Nachteile als Vorteile sehe und reichlich Geld in Ihre Kassen fließen lasse.« »Gut, Sie haben mein Wort.« »Danke. Ich fühle mich geehrt. Wenn ich noch um eine kurze schriftliche Bestätigung bitten dürfte?« Die hohe Frau seufzte. »Ich werde es veranlassen. Sie sind ein elender Schurke, Alexander, aber damit sage ich Ihnen sicher nichts Neues.« »Besten Dank für Ihren Anruf, Ma’am.« Er legte auf. Dabei merkte er, was er noch in der Hand hielt, und holte sich per Knopfdruck eine der ihm verbliebenen Chefassistentinnen zur Assistenz heran. Als die Tür aufging, machte sich Jeremy auf das Schlimmste gefaßt. Auf Prosser, der ihm erklären würde, es sei alles eine Verwechslung gewesen. Auf Nettle, der ihm seine Papiere in die Hand drücken würde. Als Sally hereinkam, fiel ihm nicht nur ein Stein vom Herzen, er freute sich auch aufrichtig, sie wiederzusehen, denn er hatte inzwischen oft an sie gedacht. Dann fiel ihm plötzlich ein, welche Rolle sie letzte Nacht in einem ihm ungewohnten Traum gespielt hatte, und er wurde dunkelrot. »Da sind Sie ja wieder!« Sie schüttelte ihm die Hand. »Heißen Sie wirklich Seaman?« »Ja«, sagte Jeremy zurückhaltend. Würde sie nun auch, wie alle anderen, Witze auf seine Kosten machen? »Sie Ärmster, wie müssen Sie gelitten haben! Ich habe gerade erfahren, daß ich Ihre Sekretärin sein soll.« 136
»Das freut mich aber sehr, Miss Fluke«, sagte Jeremy ehrlich. »Tun Sie mir den Gefallen und nennen Sie mich Sally.« »Sie werden es nicht glauben, Sally: Mr. Prosser hat mich zum Leiter der Denkfabrik von BIG ernannt.« »Herzlichen Glückwunsch. Ich wußte gar nicht, daß wir so was haben. Womit haben Sie denn den großen Mann so beeindruckt?« »Ich weiß es nicht, das ist ja eben das Komische. Wenn man davon absieht, daß ich ihm das Pennerkostüm beschafft habe. Ich schreibe einen Artikel für ihn, aber den hat er noch gar nicht gesehen.« »Merkwürdig«, sagte Sally. Was brütete Prosser jetzt schon wieder aus? Es gab Geschäftsführer großer Konzernbereiche, die noch nie den 13. Stock betreten hatten. »Und was ist eine Denkfabrik?« »Ich soll Mr. Prossers zweites Gehirn sein und Ideen für British Industrial liefern.« Sally kicherte, verstummte aber sofort, als sie merkte, daß er eingeschnappt war. »Das geht nicht gegen Sie, Jeremy, die ganze Geschichte ist nur so eigenartig. Sie haben doch erst vor ein paar Tagen bei BIG angefangen. Und schon sind Sie hier im dreizehnten Stock, Schoßkind von Prosser, mit einem feudalen Büro, einem wohlklingenden Titel und der tüchtigsten Sekretärin, die BIG zu bieten hat.« »Ich bin auch ganz durcheinander«, gestand Jeremy. »Manchmal meine ich, daß ich jeden Augenblick aufwachen müßte. Aber was soll’s! Wir werden’s nicht ergründen … Ich habe mir vorgenommen, fleißig zu arbeiten, um Mr. Prossers Vertrauen zu rechtfertigen.« »Recht so«, lobte Sally. »Wo soll ich anfangen?« »Tja, ich weiß nicht recht … Ich muß den Artikel zu Ende schreiben, weiter habe ich noch nicht gedacht.« »Haben Sie denn überhaupt Arbeit für mich?« »Wenn Sie mir helfen könnten, mit Mr. Nettle 137
klarzukommen, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Dann könnte ich Ihnen nämlich das Geld zurückzahlen, das Sie mir freundlicherweise vorgestreckt haben.« Jeremy erzählte ihr von seinen Problemen mit der Abteilung Humanressourcen. »Überlassen Sie das mir«, sagte Sally. »Ich werde tun, was ich kann, obgleich es hier Leute gibt, die im Kampf mit diesem Scheißcomputer das Zeitliche gesegnet haben.« »Ehrlich?« fragte Jeremy erschüttert. »Nur bildlich gesprochen.« Sie beobachtete ihn, während er wieder zu seinem Füller griff, um an seinem Artikel zu arbeiten. Er war so erstaunlich … ja … bemüht. Für ihn war alles neu und strahlend und wundervoll. Die Enttäuschungen, die sie alle bei BIG erlebt hatten, standen ihm noch bevor. Er war so verletzlich, so hilflos, so völlig unwissend, was die Intrigen in einem Großkonzern betraf. Konnte er sich denn nicht denken, daß ein Mann wie Prosser nicht auf gut Glück unerfahrene Management-Trainees an seine Seite holte? So etwas gab es nicht in der wirklichen Welt. Und eben weil dies in Jeremys Fall geschehen war, mußte es einen sehr guten Grund dafür geben. BIG hatte zahllose Ideenlieferanten, aber die hockten alle irgendwo im vierten oder fünften Stock und nicht hier oben. Es war gut und schön, wenn er ratlos die Schultern zuckte und erklärte, er würde seine Glückssträhne nach Kräften nutzen, aber sie hatte den bösen Verdacht, daß Alexander Prosser bei seinen Plänen nicht in erster Linie Jeremy Seamans Wohlergehen im Sinn hatte. Sally legte auf. »Ich kann Nettle im Augenblick nicht erreichen.« Sie ging zu Jeremy hinüber und sah ihm über die Schulter. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen? Wie lautet denn Ihre Aufgabe genau?« »Ich soll über die Bücher schreiben, die ich im Augenblick lese, und so tun, als wenn ich Mr. Prosser wäre. Er selbst kommt wohl nicht viel zum Lesen.« »Schon möglich.« Sally las, was Jeremy geschrieben hatte. 138
»Sind das wirklich die Sachen, die Sie im Augenblick lesen?« »Ja.« »Na, dann nur weiter so.« Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Lange würde Jeremy nicht im 13. Stock bleiben. Nach dem Skandal der letzten Nacht hatte der Major fest damit gerechnet, das purpurne Ärgernis ein für allemal los zu sein. Doch da hatte er die Rechnung ohne Alexander Charles Prosser gemacht. Zur üblichen Zeit ging das Licht an. Der Major, der gerade dabei war, die Artikel, in denen sein Triumph geschildert wurde, auszuschneiden, um sie in sein Album zu kleben, sprang wütend auf, lief in die Küche und stellte sich auf einen Stuhl. Sie konnten doch nicht alles gelassen haben, wie es war? Nein, keine Sorge. Prosser hatte eine andere Lichtblende anfertigen lassen. In dreißig Meter Höhe leuchteten über ganz London hinweg die drei Buchstaben B – I – G. Schweren Schrittes und mit gebeugten Schultern schleppte sich der Major zu seinem Sessel zurück. Sie hatten ihm seinen Geistesblitz geklaut und die gewaltigste Leuchtreklame des Landes daraus gemacht. Er knüllte die Zeitungsausschnitte zusammen und warf sie ins Feuer. Doch während er blicklos in die Flammen starrte, kam ihm eine neue, eine bedeutend dramatischere Idee.
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13 Als Privilegierter vom 13. Stock, glaubte Jeremy, hatte er wohl das Recht, den Sonderaufzug zu benutzen. Doch als er die 1777 eintippte, wie er es Lucinda abgeguckt hatte, ertönte gellendes Sirenengeheul, das blitzartig Mr. Bennett und zwei seiner Helfer auf den Plan rief. Jeremy hätte alles erklären können, aber dazu bekam er keine Gelegenheit. Er wurde unverzüglich zum Werkschutzraum gebracht und – unnötig grob, wie er fand – von dem triumphierenden Bennett durchsucht, der fest davon überzeugt war, daß ihm ein großer Fang gelungen war. Während zwei Werkschutzleute Jeremys Arme festhielten, stolzierte Bennett, die Hände auf den Rücken gelegt, auf und ab und bombardierte ihn mit Fragen wie ein drittklassiger Filmschauspieler in der Rolle eines Gestapobeamten. »Aber ich verstehe das nicht«, sagte Jeremy. »Ich dachte, der Code ist 1777.« »Da bist du auf dem falschen Dampfer, mein Junge«, höhnte Bennett. »Magersfontein hättest du haben sollen, und diesmal hab ich dich. Name, du Mißgeburt!« Er stieß Jeremy seinen Schlagstock gegen die Brust. »Jeremy Seaman.« »Und warum hast du dann einen Werksausweis auf den Namen Jeffrey Simpson? Aufschreiben, Jungs. Angeschuldigter benutzt falschen Namen.« »Das kann ich erklären«, sagte Jeremy, während Mr. Bennetts Schlagstock sich in seinen Magen bohrte. »Schnauze!« Der Chef des Werkschutzes genoß es, vor seinen Untergebenen den dicken Max markieren zu können. »Was hast du in dem Aufzug gewollt?« »Ich wollte zum dreizehnten Stock fahren. Da arbeite ich nämlich.« »Kann ja jeder sagen. Seit wann?« 140
»Seit gestern. Als Direktor der BIG-Denkfabrik«, erwiderte Jeremy ungehalten. »Wenn Sie mich einen Augenblick loslassen, kann ich es beweisen. Ich hab eine Visitenkarte in der Tasche.« »Ein Trick, Jungs, laßt euch auf nichts ein. Haltet ihn fest. Das ist ein ganz gefährlicher Typ.« Trotz seiner Notlage fand Jeremy die Vorstellung, von ihm könne irgendeine Gefahr ausgehen, ungemein erheiternd. Sein Lächeln reizte Mr. Bennett noch mehr. Er legte Jeremy den Schlagstock unters Kinn und zwang ihn, den Kopf zurückzulegen. »Das Grinsen wird dir schon vergehen, wenn die Polizei dich wegbringt, du Pfeife.« »Polizei? Jetzt machen Sie sich nicht lächerlich, Sie mieser Angeber. Seit ich hier bin, schikanieren Sie mich nur. Fragen Sie doch Mr. Prosser, wenn Sie nicht glauben, daß ich im dreizehnten Stock arbeite. Er hat mir den Posten übertragen.« Mr. Bennett versuchte, den Schlagstock in Jeremys rechtes Nasenloch zu bohren. »Damit ich vor dem Chef als Trottel dastehe, wie? ›Ach, bitte, Chef, können Sie mir sagen, ob Sie gestern einen Terroristen zum Leiter Ihrer Denkfabrik ernannt haben?‹« »Terroristen? Was reden Sie da für einen Unsinn?« stieß Jeremy hervor. »Sehe ich aus wie ein Terrorist? Also jetzt reicht’s! Wenn Sie nicht Mr. Prosser anrufen wollen, fragen Sie Miss Fluke. Sie wird Ihnen bestätigen, was ich gesagt habe.« »Gut, du Armleuchter, wir werden dir schon auf die Schliche kommen. Wirst ja sehn, was du davon hast.« Mr. Bennett zwinkerte den beiden Wachmännern zu, die Jeremy festhielten, und griff zum Telefon. »Miss Fluke? Hier Bennett vom Werkschutz. Kennen Sie einen Jeremy Seaman alias Jeffrey Simpson? Wir haben ihn festgenommen, weil er versucht hat, ohne Erlaubnis den Speziallift zu benutzen.« Was Sally sagte, konnte Jeremy nicht hören, aber die 141
durchschlagende Wirkung ihrer Antwort war deutlich an Bennetts Gesicht zu erkennen. Er wurde aschfahl. »Soso … Jawohl, Miss Fluke … Sofort, Miss Fluke.« Er legte den Hörer auf und sagte widerstrebend: »Laßt ihn los, Jungs. Ich muß mich offenbar bei Ihnen entschuldigen«, zischelte er und sah Jeremy finster an. »Miss Fluke hat mir soeben mitgeteilt, daß Sie berechtigt sind, den Lift zu benutzen. Sie hat mich gebeten, Sie selbst in den dreizehnten Stock zu bringen. Bitte folgen Sie mir … Sir.« Das letzte Wort blieb ihm fast in der Kehle stecken. Während er zackig wie auf dem Exerzierplatz zum Aufzug marschierte, meinte Bennett seine beiden Untergebenen prusten zu hören. Die konnten was erleben. Alle konnten sie was erleben. Mochten auch die anderen sich von diesem Typ da einwickeln lassen, er, Gordon Bennett, ging ihm nicht auf den Leim. Hier war was faul. Oberfaul. Aber er würde es schon noch rauskriegen. »Jetzt kommt der Laden in Schwung, Joe. Schau dir das an.« Prosser stürmte in das Zimmer seines Finanzchefs, ohne anzuklopfen. Er war glänzender Laune. Die gleichen Blätter, die sich gestern noch aufgeplustert hatten, weil er den braven Londonern eine dreißig Meter hohe Obszönität zugemutet hatte, waren heute des Lobes voll, weil er, wie es hieß, den groben Unfug von Rowdys und Rabauken geschickt für sich genutzt hatte. Die meisten Frühausgaben brachten Fotos vom New Look des BIG House bei Nacht und betrieben damit kostenlose Werbung für den Konzern. Prosser war mit sic h und der Welt ausnehmend zufrieden. Roach hing, wie gewohnt, am Telefon. Er hob entschuldigend die Hand. »Kleine Mädchen haben es nun mal so an sich, daß sie der Katze Kleider anziehen wollen, Désirée … Du mußt es so sehen: Wir dürften die einzige Katze in London haben, die Roland-Klein-Garderobe trägt und nach 142
Chanel Nummer Fünf riecht. Ich muß jetzt Schluß machen. Bis später.« Verzweifelt richtete er den Blick gen Himmel. »Es hilft nichts, ich muß mir eine neue Nummer zuteilen lassen. Was ist denn mit dir los, Alex? Du siehst aus, als hättest du im Lotto gewonnen.« »Wir betreiben das Lottogeschäft, Joe, wir haben es nicht nötig, auf die Gewinne zu warten. Die Zeitungen hast du gelesen? Ein Triumph! Und ich habe noch mehr gute Nachrichten.« Er warf ihm die Liste der Nostrum-Aktionäre hin, die Butterley ihm geschickt hatte. »Schau dir die mal genau an und sag mir, ob dir was auffällt.« Roach ließ den Zeigefinger an der linken Spalte herunterwandern. Plötzlich stieß er einen Pfiff aus. »Empire Assurance. Sechs Prozent Nostrum-Anteile. Mein lieber Schwan.« Er feixte. »Da ist wohl wieder mal unser gemeinsamer Freund Bernie Korngold am Abzocken.« »Das ist noch nicht alles«, meinte Prosser. »Daniels sagt, daß sie auch eine vierprozentige Beteiligung bei Pardoe Trust haben. Wenn Korngold auf unserer Seite ist, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.« »Aber ist er auf unserer Seite? Bekanntlich hält Bernie letztlich immer nur sich selber die Stange.« »Kann nicht schaden, wenn wir ein bißchen nachhelfen. Erkundige dich mal, ob er gern segelt. Wir könnten ihm die BIG Princess zu einer einwöchigen Mittelmeer-Kreuzfahrt anbieten, für eine Studienreise. Und an zarten Händen, die seine wabbelige Wampe mit Sonnenöl salben, soll’s auch nicht fehlen. Morrie sagt, daß er den Aufkauf der Anteile für BIG fast abgeschlossen hat. Wir sollten Bernie zureden, sich noch ein bißchen stärker zu engagieren. Je mehr Anteile in den Händen guter Bekannter sind, desto besser. Legen wir doch gleich mal die Codewörter fest. Das will ich diesmal nicht diesen Ärschen von den Banken überlassen. Was haben sie letztes Mal ausgegraben, nur um mit ihrer Scheißbildung anzugeben? Griechische Götter, nicht?« 143
»Ich habe eine Idee.« Roach griff in die Aktentasche und holte ein Heftchen heraus. »Meine Kids sind im Augenblick ganz verrückt auf Noddy, du weißt ja, diese Familie aus Spielzeugland. Wie war’s damit?« Prosser griente. »Pardoe als Mister Plod, der böse Polizist?« Roach griff nach einem Kugelschreiber und machte sich Notizen. »Warum nicht? Und sein Unternehmen ist einfach Mister Plods Haus. Äffchen Mickey wäre dann David Westbury, Michael Westbury kann Hund Kläffi sein und Onkel Timothy Bär Brumm.« »Was gibt’s noch für Namen in der Schwarte?« fragte Prosser. Roach blätterte. »Seaman könnte ich mir als Gilbert Golly vorstellen.« »Hört sich nicht schlecht an. Ich habe Sally auf ihn angesetzt.« »Sie kann Kätzchen Kuschel sein. Wer fehlt noch? Butterley als Wackelmann, was meinst du?« »Sehr gut. Der wird bei dem Geschäft noch schwer ins Wackeln kommen. Und Lady Amanda? Vergiß nicht, daß wir ihr eine wichtige Rolle zugedacht haben.« »Die muß dann Bärin Tessie sein. Bleiben nur wir beide. Noddy und Großohr.« Als Jeremy auf dem Weg in sein Büro an der geöffneten Tür von Roach vorbeikam, hörte er erhobene Stimmen. Prosser, dachte er. Die andere Stimme kannte er nicht. »Ich bin Noddy, du kannst Großohr sein.« »Du wirst verdammt noch mal tun, was dir gesagt wird. Ich bin Noddy, und damit Schluß. Du bist Großohr.« »Das ist nicht fair. Die Idee stammt schließlich vo n mir.« »Es ist meine Firma, und ich entscheide, wer was ist. Ich bin Noddy. Aus die Maus.« »Wir können ja abzählen.« »Eck, Speck, Dreck – und du bist weg.« »Wenn schon abgezählt wird, dann aber richtig, Großohr.« 144
»Laß mich in Ruhe mit deinem Scheiß-Großohr. Fighten wir ’ne Runde?« »Das ist gemein. Du warst Profiboxer, ich bin Buchhalter. Gegen dich hab ich doch null Chancen.« »Hasenfuß! Hosenscheißer! Trittst du gegen mich an oder nicht?« »Na schön, du hast gewonnen. Ich bin Großohr. Aber von Rechts wegen hätte ich Noddy sein müssen.« »Verlieren will gelernt sein«, sagte Prosser höhnisch. Als er im Eiltempo das Büro verließ, lief er Jeremy in die Arme, der wie angewurzelt auf dem Gang stand. »Schau mal, Großohr«, rief er über die Schulter. »Da ist Gilbert Golly.« Mittlerweile konnte Jeremy nichts mehr erschüttern, was er bei British Industrial erlebte. Prosser war schon weitergegangen. Jeremy rannte hinter ihm her. »Ich bin mit dem Artikel fertig, Sir«, sagte er eifrig. »Möchten Sie ihn lesen?« »Verschonen Sie mich mit Einzelheiten, Golly. Schicken Sie ihn ab, er ist bestimmt sehr gut geworden.« Jeremy war enttäuscht. Er und Sally hatten gestern abend wie die Wilden geschuftet, um den Artikel abzuschließen. Als sie fertig waren, hatte Sally ein gemeinsames Abendessen vorgeschlagen. Eigentlich hatte er noch für die Denkfabrik arbeiten wollen, aber diese Vorstellung lockte ihn plötzlich gar nicht mehr. Sie hatten stundenlang geredet, oder, besser gesagt, Jeremy hatte geredet. So schüchtern er sonst auch war, Sally hatte eine Art, ihn anzusehen, die ihm die Hemmungen nahm. Sie hatte so ein bezauberndes Lächeln und so nette Augen. Vor allem lachte sie ihn nicht aus wie die anderen. Unmerklich verdrängte eine andere Frau Carole Lombard aus Jeremys wankelmütigem Herzen. Er war dabei, sich zu verlieben. Er hatte geredet und geredet. Nach vierundzwanzig einsamen Jahren hatte er viel nachzuholen. Er redete sich seine ganze Lebensgeschichte vom Herzen, erzählte von den 145
endlosen Ulks und dummen Witzen, unter denen er in der Schule und an der Uni gelitten hatte, von dem Trost, den er in der Arbeit gefunden hatte, dem leuchtenden Beispiel, das ihm Alexander Prosser gewesen war. Er erzählte von seiner Aufregung, als ihm die Einstellung in dem Unternehmen des verehrten Mannes zugesagt worden war. Und von seinem Seminar in Unternehmensethik. Sally erwies sich als eine so gute, verständnisvolle Zuhörerin, daß Jeremy ihr sogar von seiner größten Demütigung in Cambridge erzählte, dem Versuch, die komplizierte Kunst des Fahrradfahrens zu meistern. Normalerweise ging er Maschinen und Geräten tunlichst aus dem Wege, aber da alle anderen Studenten in Cambridge radfahren konnten, wie immer sie auch sonst geistig und körperlich beschaffen sein mochten, wollte er nicht glauben, daß ihm diese Fähigkeit abging. Sein Fahrrad hatte sich als ausgewachsenes Monster entpuppt, das gar nicht daran dachte, ihn von einem Ort zum anderen zu befördern, sondern offensichtlich nur seine gänzliche Vernichtung im Sinn hatte. In Uni-Kreisen, wo jeder jeden kannte, sprach sich Jeremys Kampf mit dem Drachen schnell herum. Bald galt es als megain, sich anzusehen, wie er morgens zur Vorlesung fuhr. Entschlossen, der gierigen Meute keine Gelegenheit zu geben, sich seiner Niederlage zu erfreuen, verließ Jeremy jeden Morgen seine Bude im Southcourt, schob sein Fahrrad durch den »Dustbin court« und die Lodge auf die Straße, schwang sich in den Sattel, wackelte ein paarmal hin und her und fiel dann zur Freude seiner Zuschauer prompt in den Staub. »Zuerst habe ich nicht kapiert, weshalb ich plötzlich zu so vielen Partys eingeladen wurde. Dann kriegte ich mit, daß sich, wenn ich ging, alle am Fenster drängelten, um zuzusehen, wie ich auf meinen Drahtesel stieg. Das kam aber erst raus, als jemand mich fragte, ob ich nicht meine ›Darbietung‹ auf der Abschlußfeier zeigen wollte.« Als Sally lachte, war er nicht beleidigt. Im Gegenteil, ihm 146
wurde ganz warm ums Herz. Sie lachte ja nicht über ihn wie die anderen. Sie lachte mit ihm. Ihre Augen blitzten, sie sah unheimlich hübsch aus. Gegen Ende seines Berichts, als Jeremy davon sprach, wie stolz er darauf war, daß er für ein Unternehmen wie BIG arbeiten durfte und daß er schon so bald so großen Eindruck auf Alexander Prosser gemacht hatte, wurde Sally ernst. »Jeremy«, sagte sie, »ich bin schon sehr viel länger hier als du. Du darfst nicht alles glauben, was du über BIG oder über Prosser in der Presse liest. Oft ist es nur das, was er und Roach den Lesern verkaufen wollen. Prosser ist Geschäftsmann, und als erfolgreicher Geschäftsmann muß man hart und manchmal rücksichtslos sein. Was du über einen Filmstar liest, glaubst du ja auch nicht alles …« Diese Bemerkung stürzte Jeremy in erhebliche Verwirrung. Störrisch hatte er jedes Wort, das er über Carole Lombard las, für bare Münze geno mmen, obschon er in den HollywoodKlatschspalten auch viel Widersprüchliches gefunden hatte. Für ihn war das, was man schwarz auf weiß besaß, stets nichts anderes als die reine Wahrheit gewesen. Sally schüttelte den Kopf. Seine Geschichte hatte sie davon überzeugt, daß er ihrer Fürsorge und Aufmerksamkeit dringend bedurfte – noch dringender, als sie gedacht hatte. Er hatte keine Ahnung, wie es im wirklichen Leben zuging, und diese Schwärmerei für Prosser war geradezu anormal. So schmerzlich es für ihn auch sein mochte, ein Stück Aufklärung erschien hier dringend geboten. Je länger sie ihm zuhörte, desto unabweisbarer drängte sich Sally die Erkenntnis auf, daß es mit einem Stück Aufklärung nicht getan war. Dem armen Jungen fehlten die elementarsten Grundkennt nisse. Als sie ihm den routiniert-einladenden Blick schenkte, bei dem die meisten Männer weiche Knie bekamen, lächelte Jeremy nur sonnig zurück und redete weiter wie ein Wasserfall. Hatte er im Gegensatz zu den Aufsteigertypen aus den Führungsetagen der Wirtschaft, mit denen sie sonst 147
ausging, denn überhaupt keine Erfahrung mit Frauen? Zu ihrer Überraschung merkte Sally, daß sie diese Vorstellung durchaus reizvoll fand … Am nächsten Morgen war sie früh im Büro. Sie war empört, als sie hörte, wie Jeremy von Mr. Bennett behandelt worden war. Teilnahmsvoll machte sie ihm eine Tasse Tee. »Ich habe ein richtig schlechtes Gewissen«, sagte sie, als Jeremy seinen Bericht beendet hatte. »Das von dem Code hätte ich dir sagen müssen. Er ändert sich täglich. Aber weil Prosser einen Sicherheitstick hat, läßt er die Codenummer nicht am Schwarzen Brett aushängen. Statt dessen nennt er uns den Namen einer Schlacht, die Jahreszahl müssen wir selbst rauskriegen. Gestern war die Schlacht von Brandywine, 1777. Heute ist Magersfontein, die war 1899. Hier, das wirst du brauchen.« Sie holte ein Lexikon der Geschichtszahlen aus dem Schreibtisch. »Hüte es gut, die Dinger sind rar wie Goldstaub. Die neueste Schlacht hängt immer an dem Schwarzen Brett vor dem Büro von Roach.« Der Name Roach erinnerte Jeremy an das eigenartige Streitgespräch um Noddy und Großohr, das er gerade mit angehört hatte. Sally spitzte die Ohren. Codeworte wurden meist bei Firmenübernahmen eingesetzt. Aber warum hatten sie dann auch Jeremy ein Codewort verpaßt? Irgendwie hatte es etwas mit Nostrum zu tun, aber noch war ihr nicht klar, welche Rolle Jeremy in diesem Spielchen zugeteilt war. Sie beschloß, sich mit diesem Problem in einer ruhigen Stunde zu beschäftigen, und machte erst einmal einen neuen Anlauf, HUMA davon zu überzeugen, daß es bei BIG tatsächlich den Posten eines Direktors der Denkfabrik gab und daß der Stelleninhaber Jeremy war. Erst wenn der Computer ihn als BIG-Mitarbeiter akzeptiert hatte, würde er seine vierhundert Pfund zurückbekommen, ohne die seine finanzielle Lage äußerst prekär war. Sally hatte ihm schon wieder fünfzig Pfund leihen müssen.
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Prosser stand auf dem Dach und telefonierte mit Fallas. »Ich habe Ihre Nachricht erhalten. Sie sind ganz sicher, daß sie nächste Woche nach Barbados wollen?« »Fehler kann ich mir nicht leisten.« »Ob sie wohl auch allein fliegen würde, wenn er aus irgendeinem Grunde unabkömmlich wäre?« »Durchaus möglich.« »Dann sollten wir es Mister Plod, wie wir ihn von jetzt ab nennen wollen, möglichst schwermachen, sich vo n seinem Schreibtisch zu trennen. Ich wäre Ihnen für Vorschläge dankbar.« Fallas hatte Prossers Bitte vorausgesehen. Er skizzierte einen Plan, dem Prosser bereitwillig zustimmte, auch wenn er mit erheblichen Kosten verbunden war. Plod, dem bösen Polizisten, drohte Zoff im Revier. Im Schutz des Hauseingangs, gegen neugierige Passantenblicke abgeschirmt durch einen SupermarktEinkaufswagen, in dem sich Tüten türmten, beobachtete Sebastian Embleton Alexander Prosser und nahm den Feldstecher nur von den Augen, um auf die Uhr zu sehen und sich einen Vermerk in seinem Notizbuch zu machen. Als er das Gespräch beendet hatte, ging Prosser zu einem Schuppen in einer Ecke des Flachdaches. Er machte die Tür auf und wartete einen Augenblick, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Hallo, Maggie, ich bin’s.« Seine Stimme war sanft und liebevoll, dies war ein ganz anderer Prosser als der Machiavelli vom 13. Stock. »Ich muß auf ein paar Tage verreisen, da machen wir am besten vorher noch einen kleinen Ausflug, was?« Er holte von einem Regal einen kräftigen Falknerhandschuh, den er auf die linke Hand zog. Dann löste er die Geschirre, mit denen Maggie an die Stange gebunden war, und trug sie hinaus in die Sonne. Sie blinzelte und sah sich, erwartungsvoll nickend, mit ihren blanken orangefarbenen Augen um. Sie 149
schlug mit den Flügeln, aber Prosser hielt sie fest. Maggie war sein Stolz und seine Freude, ein wunderschönes einjähriges Habichtsweibchen, eine zweieinhalb Pfund schwere grausame Kampfmaschine. Er nahm ein blutiges Stück Kaninchen aus der Tasche. Der Greifvogel schnappte das Fleisch und schlang es gierig hinunter. »Du hattest Hunger, was? Komm, wir verschaffen dir was Interessanteres.« Er ging zum Dachrand und lockerte den Griff. Das Habichtsweibchen drehte mit leisem Gigigig den Kopf. Ein Düsenflugzeug donnerte über sie hinweg, das sie störte. Sie schlug mit den Flügeln und krallte sich fest in den Handschuh. Ohne Schutz hätten die Fänge sich tief in Prossers Hand gegraben. Er hatte von Beizvögeln gehört, denen man die Füße hatte abschneiden müssen, um die sich vor Schmerz windenden Besitzer zu befreien. Maggie gab es einen Ruck, mit einem Schlag war sie hellwach. Sie hatte etwas gesichtet. Prosser ließ die Geschirre los und warf den Vogel von der Faust. Er griff nach dem Feldstecher und stellte ihn scharf. Offenbar war sie hinter einer ganz gewöhnlichen Haustaube her. Falls Maggie einen Fehler hatte, so war es eine gewisse Wahllosigkeit beim Beutemachen, worin sie sich gründlich von ihrem Herrn und Meister unterschied. Er sah, wie sie über der Taube in Stellung ging, rüttelte, bis sie ihrer Beute sicher war, und zustieß. Eine leise Vorahnung hatte die Taube zu schnellerem Flug angetrieben, aber Maggie entkam sie nicht. Sie schlug die Fänge in den Kopf der Taube, die sofort tot war. Das Habichtsweibchen kam zurück aufs Dach, die Beute baumelte von ihren Fängen wie die Aktentasche an der Hand des Pendlers. Prosser ließ sie atzen, bis sie satt war, dann nahm er sie wieder auf die Faust. Sie war in prächtiger Verfassung. Sie sprang auf seine ausgestreckte Faust, rülpste, wischte sich den Schnabel am Handschuh ab und schlief zufrieden ein. 150
Behutsam trug Prosser sie zurück zu ihrem Gehege, streichelte ihr Gefieder und horchte auf ihr leises Gigigig. Erschöpft brachte sich der Schwälberich in seinem Nest in Sicherheit, das er geschickt hinter einem Gewirr von Rohren gleich unter dem Dachgesims von BIG House verborgen hatte. Einen schrecklichen Moment lang hatte er gedacht, dieser fürchterliche Vogel habe es auf ihn abgesehen. Er war sehr erleichtert, als er sah, daß er die fette, verpennte Taube schlug. Man mußte staunen, wie gefährlich das Stadtleben neuerdings geworden war. Trotzdem dachte er nicht an einen Umzug. Dieses Haus bot entschieden mehr Abwechslung als das vorige. Es gab immer unheimlich viel zu sehen, besonders hier oben. Er trippelte auf den Rohren entlang und sah durch die Fenster. Da war ja wieder dieser fette kleine Mensch, der immer seinen eigenen Wurm bei sich trug. Und was für einen! Groß, rosafarben und saftig. So was hatte er noch nie gesehen. Was hier vor sich ging, war wohl eine Art menschliches Paarungsritual. Das Männchen bot ständig seinen Wurm irgendwelchen Weibchen an, aber die fanden wohl nicht viel Gefallen daran, denn sie gaben ihn immer wieder zurück. Der Schwälberich schaute fasziniert durchs Fenster. Diese Menschen waren wirklich eine irrsinnig komische Spezies!
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14 Friedlich zog über BIG House der junge Morgen herauf. Der Major hatte seinen Privatkrieg vorübergehend eingestellt, um sich von Mr. Bennett in den neuen Job einweisen zu lassen. Zitternd und zagend hatte er zunächst die Höhle des Löwen betreten, inzwischen aber waren seine Bedenken geschwunden. Zum ersten Mal in seinem Leben steckte er in einer Uniform und sah darin, wie er heute früh beim Anziehen Rommel gegenüber mehrmals betonte, gar nicht übel aus. Während er, in strammer Haltung neben Mr. Bennett stehend, die Menge an sich vorüberziehen ließ, einem neuen Montag entgegen, spürte auch der Major die Faszination der Macht, über die der Werkschutzboß verfügte. Besonderen Eindruck hatte es ihm gemacht, als eine Sekretärin, die ihren Betriebsausweis vergessen hatte, in Tränen aufgelöst nach Hause fahren mußte, um ihn zu holen, obgleich die Kleine, wie Mr. Bennett dem Major gegenüber unverblümt einräumte, seit mindestens drei Jahren in der Verkaufsabteilung arbeitete. »Aber darum geht es nicht, Major. Man muß diesen Leuten begreiflich machen, wie wichtig stete Wachsamkeit ist. Dieser rothaarige Radaubruder ist noch nicht durch. Mit dem dürften wir unseren Spaß haben. Mal sehen, welchen Namen er heute benutzt.« Doch in dieser Erwartung sahen sich die beiden getäuscht. Jeremy war bereits wohlbehalten in seinem Büro eingetroffen. Sally war auf die schlaue Idee gekommen, ihn durch die Tiefgarage direkt zu dem Sonderaufzug in den 13. Stock zu dirigieren, so daß er die Halle gar nicht zu betreten brauchte. Er tippte die 1709 ein und hoffte inständig, daß er sich die Jahreszahl für die Schlacht von Malplaquet richtig gemerkt hatte. Keine Sirene gellte, kein Wachmann erschien, um sich auf ihn zu stürzen, ungehindert erreichte er seine neue Wirkungsstätte. 152
Jeremy war am Wochenende nicht recht zur Ruhe gekommen. Immer öfter und in immer ungewöhnlicherer Form hatte sich Sally in seine Gedanken gedrängt. Er hatte versucht, den Bildern zu entfliehen, indem er sich einen alten Film der Twentieth Century Fox angesehen hatte, aber auf dem Körper von Carole Lombard hatte plötzlich Sallys Kopf gesessen. Auch in seinen Träumen tauchte sie nach wie vor auf, und zu Jeremys wachsender Bestürzung und Beschämung hatte sie Nacht für Nacht weniger an. Als Gegenmittel war offenkundig harte Arbeit angesagt, aber es fällt schwer, originelle Ideen auszubrüten, wenn einem Gedanken an die Sekretärin sämtliche Gehirnwindungen blockieren. Fairerweise muß dazugesagt werden, daß nach heutigen Moralbegriffen diese Gedanken bemerkenswert sittsam waren. Das war auch gar nicht anders möglich, da sein Wissen um das andere Geschlecht, ja sogar um die kniffligeren Details seines eigenen, ausgesprochen begrenzt war. Das Wenige, was er wußte, hatte er hauptsächlich aus Hollywoodfilmen der dreißiger und vierziger Jahre, in denen sich ein Paar eben noch küßt und sich gleich darauf rauchend gegenübersitzt. Was sich dazwischen abspielte, lag für ihn noch immer weitgehend im dunkeln. Als Schuljunge hatte er sich einige Halb- oder Viertelwahrheiten über den Fortpflanzungsakt angelesen, und dank seines prüden Elternhauses und seiner einsiedlerischen Lebensweise in späteren Jahren war es dabei geblieben. »Bumsen«, so dachte er, mußte eine grobe und vor allem laute Tätigkeit sein, unter der er sich ansonsten nichts weiter vorstellen konnte und die ihm im Zusammenhang mit Frauen, besonders Frauen vom Schlage einer Carole Lombard oder Sally Fluke, gänzlich undenkbar erschien. Sally war heute schon zeitig im Büro gewesen, um ungestört ein paar Möbel herumzurücken. Nachdem das erledigt war, ging sie zu Jacqui, die gerade frühstückte. 153
»Ich denk, mich tritt ein Pferd«, spottete Jacqui. »Eine ganz gewöhnliche Sekretärin wagt sich unter die Augen einer Chefassistentin?« »Halt den Mund und gib mir mal den Toast rüber. Ich bin heilfroh, daß ich mich nicht mehr von Prosser betatschen lassen muß.« »Ach was, da gibt’s Schlimmeres. Kannst es mir glauben.« »Glaub ich dir aufs Wort«, sagte Sally trocken und strich Butter auf ihren Toast. »Trag du bloß nicht die Nase so hoch. Hauptsache, er hat Kohle«, sagte Jacqui. »Männer, die bei mir ankommen wollen, müssen eine dicke Brieftasche haben, und in der Beziehung ist Prosser in Ordnung.« »Was hast du denn da?« Sally griff nach einem Zettel, der auf dem Tisch herumlag. »Spesen, Schätzchen.« »Spesen? Du, ich werd verrückt! Strümpfe, Strapse, Korselett, BH mit Durchblick, zwickellose Slips … Willst du dir das alles etwa erstatten lassen?« »Ich probier’s einfach mal. Wenn Prosser unbedingt will, daß ich in so was rumlaufe, kann er die Klamotten eigentlich auch bezahlen. Und was ich bei dem für einen Verschleiß habe …« »Möchte wissen, was die von HUMA für ein Gesicht machen, wenn sie die Abrechnung bekommen. Nettle springen bestimmt die Glubschaugen aus den Höhlen«, sagte Sally. »Na, bei dem Typ, den du jetzt hast, brauchst du so ein Zeug ja nicht. Ein richtiger Softi.« Sally biß sich auf die Lippen. »Der ist schon in Ordnung.« »Muß er wohl. Der Boss scheint große Stücke auf ihn zu halten. In dem Sitzungsbericht, den er mir gestern diktiert hat, lobt er ihn wegen seiner Ideen über den grünen Klee. Sieht Prosser überhaupt nicht ähnlich. Auf den Gedanken mit der Leuchtreklame ist er offenbar auch gekommen. Er heißt doch Seaman, nicht?« 154
Sally, die einen halben Toast im Mund und tausend Fragen auf der Zunge hatte, nickte nur. Sie hätte wetten mögen, daß die Idee nicht von Jeremy stammte. Was hatte Prosser nur mit ihm vor? »Himmel, so spät schon?« sagte Jacqui erschrocken. »Zeit für meinen Weckauftrag. Unpünktlichkeit kann er nicht leiden.« Sie holte einen grellroten Lippenstift aus der Tasche. Als sie sah, daß Sally große Augen machte, griente sie. »Ätzend, nicht? Aber du weißt ja, wie er’s gern hat. Oder auch nicht. Kann sein, daß er dich deshalb abgesägt hat. Warum bist du nicht ein bißchen gefälliger, Schätzchen? Damit kommt man einfach weiter. Machs gut!« Sally ging sehr nachdenklich zurück in ihr Büro, wo Jeremy am Schreibtisch saß und Löcher in die Luft starrte. Als sie hereinkam, fuhr er verlegen zusammen und versuchte, ihrem Blick auszuweichen. Was ist denn plötzlich los mit mir, dachte er. Benahm sich so ein angehender Wirtschaftsboss? »Ich tippe mal eben den Artikel«, sagte Sally. »Dann kannst du dich wieder in deine Denkarbeit versenken.« Trotz aller Mühe gelang es Jeremy nicht, seine Gedanken oder seine Augen lange von ihr abzuwenden. Er hatte sie direkt im Blick. Schreibtisch und Sessel waren so herumgerückt, daß sie im rechten Winkel zu ihm saß. Diese Stellung, die Sally vorhin mit Bedacht herbeigeführt hatte, gab ihm Gelegenheit, ihr Profil zu betrachten. Er bemühte sich, dies unauffällig zu tun, indem er vorgab, ins Leere zu starren, dabei nachdenklich mit einem Bleistift an die Schneidezähne klopfte und sie dann, während er ein anderes Loch in der Luft fixierte, mit einem raschen Blick streifte. Dabei stellte er unter anderem fest, daß sie die Andeutung einer Himmelfahrtsnase hatte, was sehr reizvoll wirkte. Eine wirklich nicht alltägliche Nase. Mit sehr niedlichen Sommersprossen drauf. Der nächste Blick erfaßte den Mund. Der nächste ihr Kinn. Der nächste – oje oje … Jeremy sah rasch auf den Schreibtisch herunter. Das Licht 155
schien durch Sallys Bluse, und man sah deutlich, was drunter war. Nicht bloß die Umrisse. Er spürte, wie seine Hose aufs peinlichste zu spannen begann. Angestrengt kritzelte er auf seinem Schreibblock herum, doch dann mußte er ganz schnell seine Kritzelei wieder überkritzeln, weil sie irgendwie anstößige Formen hatte und alles nur noch schlimmer machte. Er versuchte, an nichts zu denken, aber das funktionierte nicht. Je mehr er sich anstrengte, den schrecklichen Impuls zu verdrängen, desto übermächtiger wurde er. Er durfte nicht aufsehen, auf keinen Fall, denn dann würde er, ob er wollte oder nicht, in Sallys Richtung schauen, und … Er hob den Blick. Er konnte nicht anders. Mit größter Willensanstrengung sah er an Sally vorbei auf die Skyline von London. Vielleicht hatte er sich das, was er meinte gesehen zu haben, nur eingebildet? Unwiderstehlich wurde sein Blick wieder von Sally angezogen. Von ihrer Nase, ihrem Mund, ihrem Kinn, ihrem Hals, ihrem –. In diesem Moment sah sie ihn an. »Was hältst du von einer Mittagspause? Um die Ecke ist ein netter Italiener. Gar nicht teuer.« Jeremy, puterrot im Gesicht, nickte eifrig. Wenn er sie damit vom Fenster wegbekam … Aber dann wurde ihm klar, daß er unmöglich aufstehen konnte, solange sie im Zimmer war. Wenn sie seinen Zustand erkannte, würde sie vermutlich nie mehr ein Wort mit ihm wechseln. »Willst du dich nicht noch ein bißchen frisch machen?« fragte er in seiner Not. »Nein, danke, von mir aus können wir gleich gehen.« »Vielleicht bringst du den Artikel eben noch in die Poststelle?« »Ich gebe ihn nachher in die Rohrpost.« »Ach so. Ja. Hm. Also eigentlich habe ich im Moment noch gar keinen Hunger. Wollen wir nicht noch etwas warten?« »Später wird es dort unheimlich voll«, sagte sie zu dem sich 156
windenden Jeremy. »Jetzt komm schon. Ich hole den Aufzug.« Sein unbotmäßiger kleiner Freund machte sich immer noch mausig, als er Sally auf den Gang folgte, aber dank seines Mantels konnte er sich wenigstens wieder unter Menschen wagen. Unten riefen sie Mr. Bennett im Duett einen freundlichen Gruß zu. Der Werkschutzchef machte ein so verdutztes Gesicht, daß sie beide kicherten wie die Schulkinder, als sie BIG House verließen. Prosser und Roach verfolgten interessiert die Mittagsnachrichten der BBC im Fernsehen. Der Reporter Justin Ewer bemühte sich, der Frage auf den Grund zu gehen, warum in einem Unternehmen, in dem Störungen des Arbeitsfriedens bisher unüblich gewesen waren, ein kleiner Ausstand so schnell hatte eskalieren können. In seinen einleitenden Worten klang deutlich an, daß die Schuld dafür eindeutig beim Arbeitgeber zu suchen war, eine Einstellung, die bei Ewer nicht überraschte. Mit strikter Objektivität hält man sich nicht zwölf Jahre lang bei der BBC. Hinter ihm sperrten zwanzig Männer in grünen Anoraks, Transparente schwenkend und Parolen skandierend, den Zugang zum Werkstor. Ihnen stand eine Handvoll Polizisten gegenüber. Ewer wandte sich an einen der grünen Anoraks. »Ben Lobb, Sie sind Betriebsratsvorsitzender in diesem Werk. Vielleicht können Sie unseren Zuschauern erläutern, worum es bei Ihrem Arbeitskampf geht?« Lobb zauberte jenen traurig-ernsthaften Ich-bin-nichtschuld-Kumpel- Ausdruck auf sein Gesicht, den er beim Gewerkschaftsseminar »über den Umgang mit den Medien« gelernt hatte. (Leiter dieser Seminare war Justin Ewer, der sich damit einen einträglichen Nebenverdienst verschaffte.) »Es geht darum, daß die Geschäftsleitung dieses Ausbeuterbetriebs, dieser Verein moderner Sklavenhalter, meinen Mitgliedern auf empörende Art und Weise die unveräußerlichen menschlichen 157
Grundwerte verweigert.« Hinter Ewer fuhren mehrere Busse vor, aus denen weitere grüne Anoraks quollen. »Können Sie das noch etwas näher ausführen?« fragte Ewer. »Einer der Kollegen wollte aufs Klo. Kein unbilliges Verlangen, werden Sie sagen. Aber nicht hier bei Pardoe. Hier meint die Geschäftsleitung, sie könne unseren Leuten vorschreiben, wann sie zu pinkeln haben und wann nicht. Das ist unmenschlich, ja, geradezu diabolisch.« Wieder tauchten Busse auf, die diesmal polizeiliche Verstärkung ausspuckten. »Was sagen Sie zu der Erklärung der Geschäftsleitung, Mr. Lobb, der betroffene Kollege sei innerhalb von zwei Stunden siebenmal austreten gewesen?« Lobb feixte in die Kamera. »Wer muß, der muß. Welches Recht haben diese Leute, uns das Pinkeln vorzuschreiben? Ein Mensch mit schwacher Blase hat Mitleid und nicht Strafe verdient.« Die Kamera holte die Transparente näher heran. »Freies Pullern für alle!« – »Pardoe, verpiß dich!« – »Pardoe ins Stammbuch: Geschäft ist Geschäft!« – »Hände weg vom Pillermann!« – »Pardoe kürzt Pinkelzeit!« und »Wir nehme n unsere Sache selber in die Hand!« Der letzte Streikposten in der Reihe machte Anstalten, auf besonders praxisnahe Weise zu demonstrieren, was er von den einschränkenden Maßnahmen der Geschäftsleitung hielt. Daraufhin zog auch der nächste den Reißverschluß herunter, ein dritter schloß sich an. Bald war ein ernsthafter Pinkelwettbewerb im Gange. Die Polizei wich diskret zurück. Die Kamera schwenkte schleunigst wieder zu Ewer. »Sind das alles Mitarbeiter von Pardoe?« fragte er und deutete auf die Streikposten, die von den Bussen heranströmten. »Also jedes Gesicht erkenne ich nicht wieder«, sagte Lobb wahrheitsgemäß, der nur zu gut wußte, daß in der Mehrzahl der grünen Anoraks Studenten steckten, die mit diesem Auftritt ihre dürftigen Stipendien aufstockten, »aber wenn andere 158
Werktätige oder Kollegen aus dem unter Thatcher entstandenen gewaltigen Heer von Arbeitslosen sich mit uns solidarisieren wollen, kann ich ihnen das nicht verbieten.« Der Kameramann schwenkte zurück zum Werkstor. Man hatte ihm beigebracht, seine Kamera stets dahin zu richten, wo was los war, und sei es auch nur, daß eine Schar erwachsener Männer die Sache in die Hand nahm und sah, wie sie ablief. Einem Polizisten riß der Geduldsfaden, nachdem er zum zweitenmal mit Urin bespritzt worden war. Er war sowieso schon stocksauer, da er bisher vergeblich auf den Befehl zum Einsatz gewartet hatte. Die Provokation war ungeheuer. Überall griffen jetzt die Streikposten in die Hosen und zu ihren Waffen. »Stecken Sie das Ding weg, Jones«, blökte ein Inspector ins Megaphon. »Das geht denn doch zu weit.« Aber auch ein einfacher Polizist hat seine Würde. Überall öffneten sich die Hosenschlitze. »Wenn die Kollegen, die sich soeben entblößt haben, unverzüglich ihre Schniepel wegstecken, soll der Vorfall vergessen sein. Sonst –«Doch die Schlacht hatte schon begonnen. Fontänen sprühten durch die Luft. Dann ging alles sehr schnell. Die Spezialeinheiten, die hinter den Linien ihrer uniformierten Kollegen Aufstellung genommen hatten, starteten einen Entlastungsangriff. Auch sie machten sich an ihren Sachen zu schaffen. Da ihre Anzüge eigens dafür gedacht waren, eben jene Körperteile zu schützen, zu denen sie jetzt vorzudringen suchten, war das ein mühevolles Unterfangen. Doch dann rückten auch sie vor, die Schutzschilde in der einen, Rohre in der anderen Hand. Schon gewann die Polizei die Oberhand, gelbe Ströme gingen auf die Streikposten nieder. Doch den Neuankömmlingen am Werkstor waren die Beamten, deren Waffen nur mit Kantinentee scharf gemacht waren, nicht gewachs en. Jeder Bus hatte mehrere Kästen Bier (aber keine Entsorgungsmöglichkeit) an Bord gehabt. Als die Busse vor Pardoes Werk hielten, waren sämtliche Flaschen 159
leer. Zu den Klängen der Internationale demonstrierten die Werktätigen die Macht bestimmter Werkzeuge des Proletariats. Die Polizei mußte sich in Ermangelung von Nachschub zurückziehen. »Scheiße«, entfuhr es Ewer, was, wie die Zuschauer deutlich erkennen konnten, den Tatbestand nicht ganz korrekt wiedergab. Ewer hatte ein Polizeipferd gemeint, das sich vor die Kamera verirrt hatte. »Scheucht den Zossen weg!« Der Kameramann tat es, und die Zuschauer konnten hautnah einen bedauerlichen Ausrutscher des BBC-Reporters Justin Ewer miterleben. Er hatte auf dem mittlerweile unangenehm glitschigen Rasen den Halt verloren und landete angstschlotternd unter dem Pferd. Jeden Augenblick konnte das Untier ihn unter die Hufe nehmen. Seine Angst war unbegründet. Der gut gezogene Gaul entschloß sich statt dessen zu einer Solidaritätskundgebung zugunsten der Polizei. Der heiße, dampfende Strahl traf voll das Gesicht des Wirtschaftskorrespondenten der BBC. Im ganzen Land sprangen Hunderte von Geschäftsleuten, die irgendwann einmal unter Ewer gelitten hatten, vor ihren Fernsehschirmen auf und spendeten begeisterten Beifall. Prosser reagierte zurückhaltender. »Möchte nicht wissen, was uns der Spaß kostet«, sagte er knurrig. »Also das war wirklich ein Meisterstück von Fallas.« Roach liefen die Tränen über die Wangen. »Bis Pardoe diesen Haufen wieder zur Ruhe gebracht hat, können Tage vergehen. Schau dir die Aktienkurse an. Schon zehn Pence runter.« Prosser drückte einen Knopf an seiner Steuerkonsole. »Morrie Minchkin bitte. Dalli!« Er wandte sich an Roach: »Ich fliege los, sobald ich von Fallas höre. Niemand darf erfahren, wo ich stecke. Solange ich weg bin, hältst du die Stellung. Der Presse kannst du sagen, daß wir unsere Beteiligung an Pardoe als langfristige Investition ansehen. Das übliche Gewäsch, das nichts besagt und uns alle Möglichkeiten offenläßt. Übrigens 160
habe ich noch ein paar Sitzungsberichte diktiert, in denen die Geistesblitze von Gilbert Golly herausgestellt werden.« Morrie meldete sich. »Daß Pardoe Ärger im Betrieb hat, weißt du wohl schon, Alex? Die Aktien sind fast im Keller.« »Bestens. Dann können wir weiter einsteigen. Tu das bitte, und zwar so auffällig wie möglich. Keine Leisetreterei mehr. Und die Erklärung kannst du sofort abgeben. Die Börse und dieser aalglatte Scheißer Jocelyn sollen heute nachmittag noch erfahren, daß BIG einen mitteilungspflichtigen Anteil an Pardoe Trust besitzt.«
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15 Der heitere Himmel der Karibik spiegelte sich nicht in Alexander Prossers Seele. Um nicht unerwünschte Aufmerksamkeit auf seine Reise zu lenken, hatte er alle Vorbereitungen selbst treffen müssen. Vom Einsatz des Firmenjets hatte Fallas ihm abgeraten, da alle internationalen Flüge routinemäßig registriert wurden, und so hatte er sich wie der Plebs einer alternden Concorde von British Airways anvertrauen müssen. Prosser war es nicht gewohnt, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Daß er sich Stunden vor dem Abflug in Heathrow zum Check- in hatte einfinden müssen, war schlimm genug. Zu allem Überfluß aber hatte auch noch das Bodenpersonal sein Ansinnen, drei Plätze zu belegen, um während des Flugs keine Nachbarn zu haben, als gelungenen Scherz betrachtet. So saß er denn eingekeilt zwischen einer Witwe, die von einer soeben ausgezahlten Lebensversicherung, und dem Reisereporter einer Sonntagszeitung, der von dem kostenlosen Champagner berauscht war. Prosser verkündete jedem, der es hören oder auch nicht hören wollte, daß er von diesem Tuntengesöff nichts hielt, und motzte die Stewardessen an, weil sie kein Newcastler Dunkles an Bord hatten und auch sonst keinerlei Bereitschaft zeigten, ihm gefällig zu sein. Warum hatte er bloß auf Fallas gehört? Im Firmenjet hätte er sich von einer oder mehreren seiner Assistentinnen im Whirlpool umsorgen lassen können. Der lange Flug machte ihn unerträglich scharf. Als sie glücklich auf dem Grantley Adams Airport gelandet waren, war ihm überdies unerträglich heiß. Er konnte es kaum erwarten, das Spannungsgefühl zwischen den Beinen und seinen dicken Flanellanzug loszuwerden. Bedauerlicherweise war sein Gepäck nicht mit ihm zusammen auf Barbados gelandet, und trotz Prossers wüsten Drohungen konnte niemand ihn darüber aufklären, wo es abgeblieben war. 162
Wie ihm ein luftig in Hawaiihemd und Shorts gekleideter Mitarbeiter von Fallas mitteilte, war Amanda Pardoe im Cobbler’s Lane Hotel abgestiegen. Er fuhr den schrecklich schwitzenden Prosser in einem klapprigen Ford Cortina hin. Prosser war nicht gern im Ausland. Es roch anders, damit fing es schon mal an, und hier, wo es von Sambos und Scheißpalmen nur so wimmelte, war es besonders schlimm. Er stürmte zum Empfang und verlangte in barschem Ton das beste Zimmer, das die Herberge zu bieten hatte. Seit früh um sechs auf den Beinen, nach einem siebenstündigen Flug in einem inzwischen erheblich verknitterten warmen Anzug, klein, schwitzend, stoppelbärtig, ohne Reservierung und ohne Gepäck, sah Prosser wahrhaftig nicht so aus, wie man sich den Gast eines Fünf-Sterne-Hotels normalerweise vorstellt. Die junge Dame am Empfang machte sich nicht einmal die Mühe, den Computer zu befragen. »Bedaure, Sir, aber wir sind zur Zeit total ausgebucht. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf –« »Mir ist heiß, und ich bin müde. In ein anderes Hotel geh ich nicht. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, verschaffen Sie mir ein Zimmer, ehe bei mir die Sicherung durchbrennt.« »Bedaure, wir sind ausgebucht, Sir.« »Na gut«, schnauzte Prosser. »Dann kaufe ich eben den Scheißladen. Wieviel?« »Bitte, Sir?« Die junge Frau sah sich hilfesuchend um. Der Typ war offenbar total daneben. »Wieviel wollen Sie für Ihre Bettenburg haben? Ich kaufe das Ding. Mit allem Drum und Dran.« »Ich glaube, da sollte der Geschäftsführer –« »Gute Idee. Holen Sie mir den Obermotz.« Schon der Anblick des ihn um Haupteslänge überragenden Geschäftsführers in dunklem Anzug und Krawatte brachte Prosser in Rage. Der hochnäsige französische Akzent und eine irritierende Gewohnheit, beim Sprechen die Hände aneinander zu reiben, taten ein übriges. Derart von oben herab war er lange 163
nicht mehr behandelt worden. »Guten Tag, mein ’err. Isch ’eiße Pierre Valeron und bin Geschäftsführer vom Cobbler’s Lane. Was kann ich für Sie tun … Sir?« Das »Sir« klang wie eine Ohrfeige. »Nur ’ne ganze Kleinigkeit, mein Junge. Ich will das Hotel kaufen, weil das offenbar die einzige Möglichkeit ist, bei Ihnen ein Zimmer zu kriegen, und ich will jemanden sprechen, der die entsprechenden Vollmachten hat.« »Darf ich fragen, wie Monsieur ’eißen?« »Prosser. Alexander Prosser.« Der Mann im dunklen Anzug war von einer Sekunde zur anderen wie ausgewechselt. »Von der British Industrial Group?« »Genau.« Daß sich sein Ruhm schon bis hierher herumgesprochen hatte, besänftigte Prosser etwas. Der Geschäftsführer schob das Mädchen am Empfang zur Seite und drückte ein paar Computertasten. »Meine Kollegin hat sich offenbar vertan, Sir«, brabbelte er. »Sie haben Glück, Sir, eine Reservierung ist soeben gestrichen worden. Unsere Penthouse-Suite ist frei, Sir.« »Ist mir scheißegal. Dazu ist es jetzt zu spät. Ich will den Laden kaufen.« Wenn Prosser sich mal was in den Kopf gesetzt hatte, brachte ihn keine Macht der Welt mehr davon ab. »Wenn Sie jetzt, nach Ende der Saison, noch so ausgebucht sind, ist Ihr Betrieb offenbar eine Goldgrube. Den muß ich haben.« Der Geschäftsführer fuhr nervös mit einem Finger am inneren Kragenrand entlang. »Leider nichts zu machen, Sir.« »Red kein Blech, Franzmann! Für mich gibt’s nichts, was sich nicht machen ließe. Ich will dieses Hotel haben.« »Sie können es nicht haben, Mr. Prosser. Es geht wirklich nicht.« »Und warum nicht? Können Sie mir einen guten Grund dafür verraten?« »Weil es Ihnen bereits gehört, Sir.« 164
»Guten Morgen, mein lieber Junge.« Jeremy war absichtlich zeitig gekommen – die Schlacht des Tages war Chattanooga, 1863 –, um Sallys Schreibtisch in eine weniger aufregende Stellung zu rücken. Doch Roach hatte ihn auf dem Gang abgefangen. »Da sind Sie aber früh aus den Federn gestiegen, wie? Sehr lobenswerter Pflichteifer. Ich merke schon, Mr. Prossers Vertrauen zu Ihnen ist voll gerechtfertigt. Wir sind zufrieden mit Ihnen, Jeremy. Sehr zufrieden. Hier sind die Schlüssel für Ihren Wagen, einen funkelnagelneuen BMW 525i. Er wartet in der Tiefgarage, Sie brauchen ihn nur noch anzulassen.« »Aber –«setzte Jeremy an. »Kein Aber, Jeremy. Ein Mann in Ihrer Position braucht einen standesgemäßen Firmenwagen, das ist doch klar. Bitte hier unterschreiben.« Roach hielt dem verdatterten Jeremy die Wagenschlüssel unter die Nase. »Aber Sie verstehen mich nicht, ich habe –« »Zieren Sie sich nicht, mein Junge. Sein Glück muß man am Schöpf packen.« Widerstrebend nahm Jeremy die Schlüssel entgegen. »Sagen Sie, Mr. Roach, könnten wir wohl mal kurz über mein Gehalt sprechen?« Roach zog ein sanft mißbilligendes Gesicht. »Nun wollen wir mal nicht gleich happig werden, Jeremy. Zwanzigtausend pro Jahr und ein Firmenwagen – das scheint mir für einen jungen Mann in Ihrer Position eine recht großzügige Regelung zu sein.« »Zwanzigtausend Pfund …« wiederholte Jeremy benommen. »Es geht mir gar nicht um den Betrag, es –« »Sie enttäuschen mich, Jeremy. So schnell können Sie beim besten Willen keine Gehaltserhöhung verlangen. Sie sind doch schließlich erst … Moment bitte.« Aus der Innentasche seines Sakkos drang ein gedämpftes Dringdringdring. »Roach … Ja, Désirée? Lieb, daß du anrufst.« Er bedeutete Jeremy, sich zu 165
verziehen. »Ja, natürlich kann der Klempner auf die Innentoilette, wenn er mal muß … Wenn du nichts für sein Rohr tust, kann er sich auch nicht um unsere Rohre kümmern … Dann schüttest du eben eine Ladung Desinfektionsmittel rein wie sonst auch, wenn andere Leute unser Klo benutzen.« Jeremy betrat leicht verdattert sein Büro. Zwanzigtausend Pfund, ein Firmenwagen, ein eigenes Büro im 13. Stock … Er blickte da einfach nicht mehr durch. Wie konnte Roach sagen, sie seien zufrieden mit ihm, wenn er überhaupt noch nichts geleistet hatte? Er war mit diesem Problem noch lange nicht fertig und stand mit offenem Mund da, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte, als Sally ein paar Minuten später zu ihm trat. Sie hatte sich vorgenommen, ihm diese Angewohnheit, wie so manches andere auch, schleunigst abzugewöhnen. »Irgendwie bescheuert«, fand sie, als er ihr von seinem Gespräch mit Roach berichtete. »Aber freu dich doch. Immer zugreifen, wenn man dir was gibt.« »Aber sie haben mir ja noch gar nichts gegeben. Oder bist du mit HUMA schon klargekommen?« »Noch nicht«, räumte sie ein. »Aber ich mache gleich noch mal einen Anlauf.« »Das hier ist heute früh gekommen.« Jeremy reichte ihr einen Brief von Nettle, an Jeffrey Simpson gerichtet und des Inhalts, sein unentschuldigtes Fernbleiben sei unliebsam aufgefallen, und er, Nettle, sähe sich deshalb, sofern Mr. Simpson es nicht durch Vorlage eines ärztlichen Attests rechtfertigen könne, zu seinem Bedauern genötigt, das Arbeitsverhältnis zu lösen. »Aber das betrifft dich doch gar nicht.« »Nicht, wenn HUMA glaubt, daß Jeffrey Simpson Jeffrey Simpson ist. Wenn man aber dort der Meinung ist, Jeffrey Simpson sei Jeremy Seaman oder Jeremy Seaman sei Jeffrey Simpson, meinen sie vielleicht in dem Brief doch mich und nicht Jeffrey Simpson. Alles klar?« 166
»Nicht ganz. Aber ich rede noch mal mit den Leuten.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, der noch genauso stand wie am Vortag. »Sag mal, Sally –«setzte Jeremy an. »Ja?« »Ach, nichts.« Wenn er sie bat, den Schreibtisch umzustellen, würde sie wissen wollen, warum. Wenn er den ganzen Tag nur nach unten sah, ließ es sich vielleicht aushalten. Obgleich er hundemüde war, gab Prosser schließlich jeden Versuch auf, doch noch Schlaf zu finden. Bei offenem Fenster war der Lärm der zahllosen in der Bucht herumflitzenden Wasserskifahrer unerträglich. Kein Wunder, daß man sie hierzulande »Moskitos« nannte. Wenn er aber das Fenster zumachte, hielt ihn das Summen der Klimaanlage wach. Es mußte am Lärm liegen. Ein Jetlag wie bei ganz gewöhnlichen Sterblichen war ja wohl bei einem hochkarätigen Wirtschaftsführer wie ihm nicht drin. Sein Gastgeschenk schlief tief und fest. Als er vor ein paar Stunden zurückgekommen war, hatte sie dagelegen, ein Kärtchen auf der Brust: »Mit den besten Empfehlungen der Direktion.« Englisch konnte sie offenbar nicht, aber das hatte nicht weiter gestört. Prosser schubste sie grob beiseite, aber sie wachte nicht auf. Er gähnte, kratzte sich an den Eiern, rappelte sich auf und zog sich an. Während sie ihn in die hiesigen Sitten und Gebräuche eingeführt hatte, waren seine Sachen gereinigt und gebügelt worden. Prosser nahm ein paar Scheine aus der Brieftasche, legte sie so, daß das Mädel – oder vielleicht der nächste Freier – sie finden mußte, und ging nach unten. Von einer Telefonzelle in der Halle aus meldete er sich bei Fallas’ Mitarbeiter und machte sich dann auf die Suche nach Lady Pardoe. Amanda Pardoe lag am Swimmingpool unter einem Sonnenschirm und las die neueste Jackie Collins. Sie trug einen 167
einteiligen Badeanzug und war noch recht gut erhalten. Das Gesicht wirkte nach wie vor leicht orientalisch mit dem kantigen Kinn und den langgezogenen Schlitzaugen. Im Gegensatz zu früher hatte ihre Erscheinung etwas ausgesprochen Elegantes. Und die Titten waren noch tadellos. Ehe sie sich Pardoe geangelt hatte, war sie Model gewesen. Dürfte inzwischen weitgehend aus Plastikteilen bestehen, dachte Prosser. Wie damals mein Flugzeugmodellbaukasten. In diesem Moment sah sie hoch. Als sie merkte, daß sich jemand vor ihr aufgepflanzt hatte, ließ sie zwecks besserer Sicht die Sonnenbrille auf die Nasenspitze rutschen, erkannte ihn aber nicht. Sie griff nach einem Glas, trank und sah erneut auf. Da stand dieser Typ noch immer und nahm ihr die Sonne. »Kenne ich Sie? Ja, verdammt, natürlich kenne ich dich. Porky Prosser!« »Verflucht, nicht diesen Namen«, zischte Prosser. »Ich will nicht hoffen, daß du dich deiner Vergangenheit schämst, Porkilein?« sagte sie laut. Prosser setzte sich auf die Nachbarliege. »Nicht nur ich habe mich von einem Teil meiner Vergangenheit verabschiedet, Miss Ada Hawthornthwaite.« »Ich heiße jetzt Amanda, und das -thwaite habe ich gesetzlich abgelegt, lange ehe ich Lady Amanda Pardoe wurde«, sagte sie eisig und betrachtete ihn über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg. »Du hast ganz schön zugenommen, mein Lieber. Nur auf dem Kopf sieht’s ein bißchen dünn aus. Wo hast du deine ganzen Haare gelassen?« Prosser zügelte seine Angriffslust. Er konnte es sich nicht leisten, diese boshafte Tücke gegen sich aufzubringen. »Und wieso läufst du in diesem lächerlichen Anzug rum? Wir haben doch mindestens dreißig Grad im Schatten.« »Du hast dich gut gehalten, Ada, pardon, Amanda.« »Wir halten uns eben fit, Jocelyn und ich. Solltest du auch mal versuchen.« Sie knuffte ihn in den gutgepolsterten Bauch. »Was treibst du eigentlich hier?« 168
»Bin auf Inspektionsreise. Das Hotel gehört mir. Hätte nicht erwartet, daß Jocelyn hier absteigt. Wo steckt er überhaupt?« Prosser sah sich um. »Das Hotel habe ich ausgesucht. Und Jocelyn ist in London, woran du nicht ganz unschuldig bist. Wie man hört, hat die Firma British Industrial bekanntgegeben, daß sie einen nicht unbeträchtlichen Aktienanteil an Pardoe Trust besitzt.« »Tatsächlich?« Prosser zog die Augenbrauen hoch. »War mir im Moment gar nicht geläufig. In Kleinigkeiten lasse ich meine Jungs an langer Leine laufen. Hoffentlich hat dir das nicht den Urlaub verdorben.« »Ein bißchen langweilig war’s schon. Aber jetzt habe ich ja jemanden, mit dem ich über die gute alte Zeit plaudern kann. Augenblick mal.« Sie schlug ihr Buch an der Stelle auf, an der sie aufgehört hatte, knickte den Buchrücken nach hinten und riß die gelesenen Seiten kurzerhand heraus. »Wie lange haben wir uns eigentlich nicht mehr gesehen?« »Es dürften an die sechsundzwanzig Jahre sein. Du warst sechzehn, ich war vierzehn. Was haben sie damals immer über dich gesagt …« »Ich erinnere mich nicht«, sagte Amanda frostig. Prosser schnippte mit den Fingern. »Jetzt weiß ich’s wieder. ›Adas Vögelkunde ist das Größte.‹ Du würdest schon für ein Threepenny-Stück die Beine breit machen, hat’s geheißen. Ich habe zehn, zwölf Kids in der Schule die Jacke vollgehauen, um an Geld zu kommen. Und als ich dann glaubte, genug beisammen zu haben, hab ich die Schule geschwänzt und dich auf der Straße abgepaßt.« Amanda lachte. »Ja, das weiß ich noch. Es war ein unvergeßlicher Anblick. Ein Auge zugeschwollen, Platz- und Schürfwunden am ganzen Körper. Dann hast du mir deine schmutzige Pfote voll Geld hingestreckt und gefragt, was du dafür kriegst. Ich hab dir eine geklebt und mir deine Unverschämtheiten verbeten.« »Aber weggeschickt hast du mich nicht.« 169
»Hm«, sagte Amanda versonne n. Sie legte ihre Hand auf Prossers Bein und ließ sie langsam aufwärts wandern. »Du warst ein eifriger Schüler, das muß man dir lassen. Dein Spitzname hätte nicht treffender sein können. Du hast richtig die Sau rausgelassen, Porky.« Sie rückte näher heran und fuhr mit den langen Fingernägeln an seinem Anzug entlang. »Inzwischen hast du bestimmt allerlei dazugelernt«, schnurrte sie. Prosser sah mit gespielter Langeweile auf die Uhr. »Verdammt, schon so spät? Ich hab noch jede Menge zu erledigen. Dein Mann wäre bestimmt weniger begeistert von diesen Reminiszenzen.« Amandas Stirn umwölkte sich. »Der hätte Schaum vor dem Mund, wenn er wüßte, daß ich mit dir auch nur ein Wort wechsle. Er kann dich nicht ausstehen. Aber warum läßt er mich hier allein? Selber schuld … Essen wir zusammen, Alex?« Prosser tat, als müsse er über diesen Vorschlag ernsthaft nachdenken. »Ich versuche, mich frei zu machen«, versprach er. Dann stand er auf, beugte sich vor und gab Amanda einen Kuß, was der auf der anderen Seite des Pools verborgene Fotograf pflichtschuldigst für die Nachwelt festhielt. Der Major sah auf die Uhr. Nur noch ein paar Minuten bis zur Ablösung. Erst einen Tag schob er hier Dienst, und schon taten ihm die Füße weh. Er trat fest auf, um den Kreislauf anzukurbeln. Es wurde Zeit, seine Kampagne wiederaufzunehmen. Ärgerlich, daß er bisher dem Elefanten nur Nadelstiche versetzt hatte. Er würde sich etwas ausdenken müssen, was dem Dickhäuter echt unter die Haut ging und ihn zur Raserei brachte. Zum Glück mangelte es ihm, seit er für BIG tätig war, nicht an Informationen über den Gegner. Mr. Bennett war ein Klatschmaul erster Ordnung und lieferte dem Major 170
bereitwillig jede Menge Auskünfte nicht nur über das Gebäude, sondern auch über den großen Boss. Inzwischen wußte der Major sogar, daß der Vorstandsvorsitzende der British Industrial Group einen Vogel hatte. Einen Raubvogel, den er auf dem Dach von BIG House hielt. Nachdem seine Ablösung eingetroffen war, ging der Major in Bennetts Büro. Der Werkschutzchef hatte dem Major seinen Schlüssel anvertraut und ihm angeboten, er könne es jederzeit benutzen, wenn er wolle. Der Major schloß hinter sich ab, setzte sich, nahm sich das Branchentelefonbuch vor, legte die schmerzenden Füße auf den Schreibtisch und führte sein erstes Gespräch. »Firma Metro Bürobedarf? Verbinden Sie mich bitte mit dem Verkauf. Mein Name ist Nettle, Leiter der Abteilung Humanressourcen bei der British Industrial Group.« »Und im Supermarkt nimmt die Filialleiterin sie beiseite und fragt, ob sie denn noch nicht gemerkt hat, wie sie rumläuft. Die Frau schaut an sich runter, sieht die Titte, die ihr aus dem Kleid hängt, und kreischt: O Gott, ich hab den Lütten im Bus vergessen.« Prosser brüllte vor Lachen über seinen Witz, und Amanda lachte aus Leibeskräften mit. Sie saßen im Restaurant des Hotels und mußten fast schreien, um sich über den Lärm der Steel Band hinweg verständlich zu machen. Prosser selbst stand ja mehr auf Bier, aber für Lady Pardoe mußte es Champagner sein. Als sie mit dem fertig waren, hatten sie eine Flasche Brouilly leer gemacht und waren jetzt beim Likör angelangt, während sie sich gegenseitig Witze aus Englands Norden und Schnurren aus ihrer Jugendzeit erzählten. Prosser sprach schon mit etwas schwerer Zunge. Lady Amanda, die ihm gegenübersaß, hatte sich mächtig in Schale geworfen. Enger schwarzer Fummel mit glitzrigen Klunkern in einem unheimlich tiefen Ausschnitt. Prosser spürte ihr Bein unter dem Tisch und sagte sich, daß er wohl in Kürze 171
Gelegenheit haben würde, sich besagten Ausschnitt aus der Nähe anzusehen. Er schenkte ihr nach. »Warum hat dein Mann so einen Haß auf mich, Amanda?« »Ich war so blöd, ihm zu erzählen, daß wir uns von früher kennen, und ich glaube, er hat den Verdacht, daß wir uns damals nicht nur gekannt, sondern auch erkannt haben, wie es in der Bibel heißt. Heute braucht er nur deinen Namen zu hören, dann fängt er an zu toben.« »Der Mann ist über sechzig. Bei dem hast du doch bestimmt nur ans Geld gedacht.« »Aber sicher, Schätzchen. Als Frau muß man eben sehen, wo man bleibt. Und du hattest damals, als ich mich nach einem Ehemann umsah, noch kein müdes Pfund. Eine Handvoll Kleingeld hätte mich nämlich inzwischen nicht mehr gereizt.« Prosser beugte sich vor und flüsterte im Verschwörerton: »Hast du denn jetzt alles, was du brauchst?« »Materiell oder – in anderer Beziehung?« »Beides.« »Ich kann mich nicht beklagen, aber von beidem kann man eigentlich nie genug kriegen.« »Ich denke da mehr an die … andere Beziehung.« Prosser zog die Hand aus der Tasche. Sie war voller Münzen, die er nacheinander in Lady Amandas Ausschnitt fallen ließ. Sie hinderte ihn nicht daran. Er war noch immer so derb und rotzig wie damals. Und doch – die animalische Kraft, die gefährliche Entschlossenheit, die er ausstrahlte, hatten etwas Faszinierendes. Prosser war ein Kontrastprogramm zu dem laschen, beklagenswert zugeknöpften Jocelyn. »Wollen wir uns nicht zu einer kleinen Bibelstunde auf mein Zimmer zurückziehen?« gurrte sie. Jeremy saß am Steuer seines neuen Wagens und schwelgte in dessen Luxus. Sally hatte ihn in die Tiefgarage geschickt, er sollte sich erst mal mit den Bedienungselementen vertraut machen. 172
Er sah sich um. Niemand in Sicht. Es konnte nicht schaden, den Motor anzulassen. Der war so leise, daß er ein paarmal Gas geben mußte, um sich zu überzeugen, daß er lief. Das satte Röhren des Auspuffs hallte durch die Tiefgarage. Er schaltete die Scheinwerfer ein. Der Lichtkegel fiel auf seinen frisch an die weißgetünchte Wand gepinselten Namen. Daneben stand der Name von Prosser, dessen Rolls auf dem Nachbarplatz stand. Jeremy spielte mit dem Scheibenwischer, dem Lenkrad, dem Kassettenradio, der Heizung und aus Versehen auch mit der Hupe, die ihm hier im geschlossenen Raum fast das Trommelfell sprengte. Der BMW war ein Automatikwagen. Jeremy hatte noch nie am Steuer eines Wagens mit automatischer Gangschaltung gesessen, ja, genaugenommen hatte er noch nie am Steuer irgendeines Wagens gesessen. Aber mitgefahren war er schließlich oft genug … Er stellte den Schalthebel Versuchsweise auf den Rückwärtsgang, gab ein bißchen Gas und sah über die Schulter. Keine Bewegung. Er gab ein wenig mehr Gas. Noch immer nichts. Der Wagen rückte und rührte sich nicht. Was hatte er falsch gemacht? Richtig, die Handbremse … Er löste sie, der Wagen machte einen Satz nach hinten, stieß gegen einen Betonpfeiler und blieb stehen. Mit etwas wackeligen Knien stieg Jeremy aus und besah sich den Schaden. Viel war nicht passiert, nur die Stoßstange hatte eine kleine Beule. Wenn er den Wagen wieder an seinen Platz stellte, merkte bestimmt kein Mensch was. Er versuchte ihn zu schieben, aber daraus wurde nichts. Er ließ den Motor wieder an, stellte den Schalthebel vorsichtig auf Drive und ließ wohlweislich den Fuß vom Gas. Der Wagen rollte zentimeterweise vorwärts, und Jeremy drehte am Lenkrad, um ihn wieder in die Parklücke zu manövrieren. Er drehte zu weit, der Wagen bewegte sich sacht auf Prossers Rolls-Royce zu. Diesmal ging Jeremy kein Risiko ein. Er stieg mit dem Fuß auf die Bremse, ehe noch mehr 173
passieren konnte. Nur landete er leider auf dem Gaspedal. Der Wagen schoß nach vorn. Einigermaßen fassungslos sah der Major auf seinen Monitor. Bennett hatte offenbar recht, der Mann war tatsächlich ein Saboteur. Nicht zu fassen, diese Zerstörungswut! Der Major war nicht böse über die Konkurrenz, ganz im Gegenteil. Wenn’s nach ihm ging, konnte das Team nicht groß genug sein. Nur betrieb der Bursche die Sache denn doch etwas zu öffentlich. Jeden Augenblick konnte er erwischt werden. Der Major lockerte den Stecker des Videorecorders, und das Bild verschwand. Er ließ das Band ein Stück zurücklaufen und setzte das Gerät dann wieder in Gang. Jetzt waren alle Beweise gelöscht. Ja, ja, auf die moderne Technik war eben kein Verlaß. Der Major tätigte seinen nächsten Anruf. »Wenn du dir ein bißchen was dazuverdienen willst, hab ich genau das Richtige für dich, altes Mädchen. Todsicherer Tip.« Amanda schenkte Rum ein, reichte Prosser sein Glas und setzte sich neben ihn aufs Bett. »Ich bin ganz Ohr.« Sie hickste und mußte lachen. »Tut mir leid. Bin ein bißchen bedudelt.« »Nein, ich sag’s dir doch lieber nicht. Nicht ganz koscher, die Sache. Und du bist blau, vielleicht vergißt du’s ja auch.« »Komm, sei nicht so! Ich schreib’s mir auf. Großes Pfadfinderehrenwort.« »Du warst doch nie bei den Pfadfindern.« »Mit meiner Ehre war’s auch nie weit her«, kicherte Amanda und drehte Prosser den Rücken. »Machst du mir mal den Reißverschluß auf?« Prosser ließ sich nicht lange bitten. Sie stand auf, ließ das Kleid zu Boden fallen und stand in schwarzen Strümpfen, Strapsen, Schlüpfern und einem BH vor ihm, der alle Körbchen voll zu tun hatte, seine zweifache Last zu tragen. »Ich mach dir 174
einen Vorschlag«, sagte sie, zog ihn am Schlips hoch und beknabberte sein Ohr. »Laß uns tauschen. Meinen Körper gegen deinen Tip.« »Ach, ich weiß nicht … Hätte gar nichts sagen sollen. Tut mir schon wieder leid.« »Stell dir doch mal vor, die Frau deines Todfeindes zu ficken. Macht dich das nicht an? Wenn Jocelyn das erfährt, springt er im Quadrat.« Eine Hand hatte sich in seine Unterhose geschoben und leistete dort hervorragende Überzeugungsarbeit. Die andere fummelte an Knöpfen und Reißverschlüssen. »Erst der Körper, dann der Tip.« »Du kannst damit anfangen, daß du dir deine Münzen zurückholst, Porky. Ohne die Hände zu benutzen, wohlgemerkt.« »Wie beim Wurstschnappen?« fragte er. »Wie beim Wurstschnappen«, bestätigte Amanda. Auf dem dunklen Balkon hob Fallas’ Mitarbeiter erneut die Kamera vors Auge. Als Sally in die Tiefgarage kam, bemühte sich Jeremy immer noch, den BMW wieder in die Parklücke zu steuern. Zum xten Mal stellte er den Schalthebel auf Rückwärtsgang, dann wieder auf Drive, zurück in den Rückwärtsgang, wieder auf Drive, ohne auf das Knirschen, Mahlen und Malmen zu achten, das seine Bemühungen begleitete. Sally besah sich entsetzt das Schlachtfeld, das ihn umgab. Prossers Rolls, der Mercedes von Roach, Godfrey Daniels’ Porsche – keiner war ungeschoren davongekommen. Kaputte Scheinwerfer, eingedellte Stoßstangen, wohin das Auge blickte. Jeremy hatte auch ein Rohr getroffen, das sich an einem der Pfeiler hochzog und aus dem jetzt zischender Dampf entwich. Nur Sallys Wagen, der bescheiden in einer Ecke stand, war dem Gemetzel entgangen. Kühler und Kofferraum des BMW sahen aus wie Ziehharmonikabälge. In diesem 175
Moment schoß der Wagen wieder vor, rammte den Rolls, dessen Kofferraumdeckel aufsprang, machte einen Satz nach hinten und knallte in den Mercedes. Sally lief hin und riß die Tür auf. »Bist du wahnsinnig geworden?« schrie sie Jeremy an. »Was machst du denn da?« »Fast geschafft«, erwiderte er undeutlich. »Noch einmal rangieren, und dann –« »Kannst du nicht fahren? O verdammt – du kannst wirklich nicht fahren, stimmt’s?« »Bisher nicht«, sagte er stolz. »Aber jetzt hab ich den Bogen fast raus.« »Rutsch rüber, du armer Irrer.« Er schob sich auf den Beifahrersitz, Sally sprang in den Wagen, stellte den Schalthebel auf Drive und gab Gas. Der BMW raste die Rampe hinauf und blieb stehen, während Sally ihre Magnetkarte in den Automaten an der Schranke steckte. Das Gitter hob sich, und mit lautem Quietschen schossen sie hinaus auf die Straße. Sally bog nach links ab und fädelte sich in den dichten Verkehr ein. Sie wandte sich Jeremy zu. »Wenn wir Glück haben, hat uns keiner wegfahren sehen. Warum hast du denn nicht rausgelassen, daß du nicht Auto fahren kannst, du Unglückswurm?« »Was kann ich denn dafür?« erwiderte Jeremy gekränkt. »Ich hab versucht, es dir zu sagen, und ich hab versucht, es Roach zu sagen, aber ihr habt ja nicht hingehört. Beim Rückwärtsrausfahren, hab ich mir gedacht, kann doch eigentlich gar nichts passieren. Auto fahren kann schließlich jeder Trottel, so schwierig kann das doch nicht sein.« »Ein paar Fahrstunden sind dabei nicht schädlich, besonders, wenn man ein Trottel ist. Du und die Technik – das scheint wirklich ein besonderes Kapitel zu sein. Ich möchte nicht wissen, was du da unten an Schaden angerichtet hast.« Sie fuhr an den Straßenrand, holte einen Stift und einen Umschlag aus dem Handschuhfach und begann zu schreiben. Verdammter Mist. Warum hatte sie sich nicht in einen 176
sportgestählten Muskelmann verliebt? Warum mußte es ausgerechnet Jeremy sein? »Jetzt sperr die Ohren auf. Ich lasse den BMW verschwinden und versuche, meinen Wagen aus der Garage zu holen. Du fährst mit der U-Bahn zu meiner Wohnung und wartest dort auf mich. Hier ist der Schlüssel. Aber untersteh dich, bei mir zu Hause was anzufassen! Alles klar? Hier ist die Adresse. Crown Reach 85.« Sie gab ihm den Umschlag und schubste ihn unsanft aus dem Wagen. »In Pimlico aussteigen. Victoria Line«, rief sie ihm noch durchs Fenster nach. »Und von Rechts wegen gehörtest du weggesteckt«, setzte sie leiser hinzu, während sie sich mit dem BMW wieder in den fließenden Verkehr einfädelte. Amanda Pardoe kramte in ihrer Tasche herum und holte einen ledergebundenen Tasche nkalender mit Monogramm heraus. »Jetzt sei aber fair, Alex. Ich habe mich an die Abmachung gehalten, jetzt bist du dran. Wie kann ich mir ein bißchen Taschengeld verdienen?« Prosser stützte sich auf einen Ellbogen und ließ den Blick auf ihrem nackten Körper Spazierengehen. Kein Wunder, daß sie so fit war, wenn sie so was jeden Tag trieb. Mit diesem Waschlappen Pardoe konnte sie unmöglich auf ihre Kosten kommen. »Also gut, Amanda. Aber du mußt mir versprechen, es nicht weiterzusagen.« »Ich will auf der Stelle tot umfallen«, beteuerte sie, »wenn ich was verrate.« »Wir wollen eine kleine Getränkefirma übernehmen. Die verdammten Federfuchser haben mir die Hände gebunden, so daß wir noch mindestens ein Vierteljahr warten müssen – aus steuerlichen Gründen, wenn ic h das recht verstanden habe –, du müßtest die Anteile also noch eine Weile parken.« Prosser lachte in sich hinein. »Dein Mann wird stocksauer sein. Es heißt nämlich, daß er sich auch für den Laden interessiert.« »Wie heißt die Firma?« Sie zückte den Kugelschreiber. 177
»Versprich mir, daß du auf keinen Fall mit Jocelyn darüber sprichst«, verlangte Prosser. »Wo werde ich denn … Rück schon raus mit dem Namen.« »Nostrum.« »Nostrum«, notierte Amanda und leckte sich die Lippen. Sie spekulierte gern ein bißchen, besonders wenn sie es ganz ohne Risiko tun konnte. »Ich bin schon wieder ganz geil, Alex. Wenn ich an Geld denke, kommt’s mir immer. Paß mal auf, jetzt machen wir es wie früher. Im Stehen an der Wand.« Am Eingang zu Crown Reach, einem relativ neuen Apartmenthaus direkt am Fluß, nördlich der Vauxhall Bridge, war ein Sicherheitsbeamter postiert. In der hell erleuchteten Eingangshalle hingen Drucke an den Wänden, Grünpflanzen standen herum und bequeme Sessel. In der Diele von Jeremys Wohnhaus lagen allenfalls Berge von Briefen – meist Drucksachen – für Mieter, die längst ausgezogen waren. Das Apartment verschlug ihm den Atem. Von dem riesigen Wohnzimmer aus hatte man einen herrlichen Blick flußaufwärts und flußabwärts. Im Vergleich mit diesem Luxus kam ihm sein Zimmer in Paddington mit den abblätternden Tapeten und der kümmerlichen Kochnische noch schäbiger vor. Er sah sich die gerahmten Drucke und die vielen Bücher an. Von einigen wenigen Romanen abgesehen, waren es Fachbücher über Wirtschaft, Finanzen und Management. Vielleicht nur Fassade, dachte er geringschätzig, aber als er aufs Geratewohl den einen oder anderen Band aufschlug, sah er, daß die Seiten mit zahlreichen Randbemerkungen versehen und schon recht abgegriffen waren. Vielleicht gehörten sie gar nicht Sally? Vielleicht wohnte hier noch jemand, ein Lebensgefährte zum Beispiel? Ein Jammer, daß ich nicht mehr über sie weiß, dachte Jeremy. Er las die Randbemerkungen und überlegte hin und her, ob sie von einem Mann oder einer Frau stammen mochten. Er nahm sic h ein Managementbuch und setzte sich damit 178
aufs Sofa. Sallys Parfüm hing im Raum. Jeremy zog die Schuhe aus, legte die Füße hoch und fing an zu lesen. Amanda Pardoes sexuelle Neigungen waren, seit Prosser das letzte Mal das Vergnügen ihrer Gesellschaft ge habt hatte, raffinierter geworden. Um nicht zu sagen pervers. Er blickte auf die nackt auf dem Bett liegende Lady Amanda hinunter, Hände und Füße wunschgemäß mit Vorhangschnur und den Gürteln ihrer Frotteebademäntel an die vier Bettpfosten gefesselt. Die Bademäntel würde er auf Pardoes Rechnung setzen lassen. Das Glas Honig, das er auf ihren Wunsch hin beim Zimmerservice bestellt hatte, stand halb leer neben dem Bett. Er spülte den Mund mit Rum aus, wurde aber den Geschmack nicht los. Zuerst fand er es ja ein bißchen verrückt, als sie ihn anwies, ihren Körper über und über mit Honig zu bestreichen. Aber als er dann angefangen hatte, den Honig abzuschlecken, hatte er ungeahnte Wirkungen erzielt. Unter ihren wilden Zuckungen hätte jeden Augenblick das Bett zusammenbrechen können. »Ada«, flüsterte er. Keine Antwort. Sie schnarchte leise. Prosser schlich sich zum Nachttisch, griff sich ihre Handtasche und ging damit ins Badezimmer. Er schloß die Tür, machte Licht an, zog ein Paar Gummihandschuhe aus der Tasche und streifte sie über. Nach einigem Suchen fand er glücklich ihr Kreditkartenetui, holte Visacard und Mastercard heraus und legte sie nebeneinander ans Waschbecken. Dann zog er eine Minikamera aus der Tasche, die ihm die Abteilung Marktanalyse besorgt hatte, machte eine Aufnahme, drehte die Karten um und betätigte noch einmal den Auslöser. Da war ihr Taschenkalender. Er schlug ihn auf und las: »Nostrum kaufen. Übernahme. Todsicherer Tip. Nicht vergessen.« Ein brauchbares Stück, dachte er bei sich und steckte es ein. Während er die Kreditkarten wieder in Amandas Handtasche verstaute, sah er die Kondompackung, die ganz 179
unten gelegen hatte. Er riß die Packung auf, nahm drei Gummis heraus und steckte sie ebenfalls ein, dann stellte er das Päckchen mit den restlichen Überziehern gut sichtbar auf den Nachttisch neben die Handtasche. Prosser warf der schlafenden Amanda noch einen Kuß zu, hängte das »Nicht stören!«-Schild an die Tür und machte sie geräuschlos von außen zu. Leise in sich hineinlachend, ging er durch die Halle. Von Fallas’ Mitarbeiter wußte er, daß Pardoe schon in der Maschine nach Barbados saß. Zu gern hätte er Sir Jocelyns Gesicht beim Anblick seiner honigbeschmiert an die Bettpfosten gebundenen treusorgenden Ehefrau gesehen. Hoffentlich, dachte Prosser, wacht sie auf, ehe Pardoe kommt. Von wegen, ich hätte zugenommen. So eine Schnapsidee!
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16 »Wach auf, Rambo«, sagte Sally und schüttelte Jeremy. Sie hatte den Wachmann bitten müssen, ihr die Wohnungstür aufzuschließen. »Wie kann man nur schlafen, nachdem man gerade erst als Superstar in dem steilsten Katastrophenfilm aller Zeiten rausgekommen ist?« »War es wirklich so schlimm?« Er reckte die Arme und setzte sich auf. »Schlimmer. Hoffentlich hast du nichts gegen Pizza.« »Sind Zwiebeln drauf?« »Ich glaube nicht.« »Dann habe ich nichts gegen Pizza.« »Gut. Möglich, daß du meine auch noch essen mußt. Mir ist einigermaßen der Appetit vergangen.« Sie holte Besteck aus einer Küchenschublade und deckte den Tisch. »Ich hab den Wagen in einem Parkhaus untergestellt – gehört übrigens auch der Firma –, dann bin ich zum BIG House zurückgefahren und bin durch die Halle rauf in den ersten Stock. Von dort bin ich mit dem Aufzug in die Tiefgarage gefahren. Dort sah es aus, als ob ein mittleres Erdbeben, das sich übers Wochenende in Südamerika austoben wollte, da unten schon mal geübt hatte. So, du kannst kommen, Jeremy … Roach und Godfrey Daniels standen da und brüllten sich gegenseitig und ein halbes Dutzend Wachmänner an, die alle behaupteten, sie könnten nichts dafür. Ich hätte am liebsten laut losgelacht. Als Roach mich sah, fragte – nein, brüllte er, ob ich wüßte, wo du Trottel steckst. Guten Appetit. Scheint Champignonpizza zu sein, mit einer Extraportion Ananas, ist dir das recht? Ich muß leider sagen, daß er nicht gerade höflich von dir gesprochen hat, es sind ein paar wenig schmeichelhafte Ausdrücke gefallen. Du hättest schuld an diesen Verwüstungen, du mit deinem neuen Wagen, hat er gesagt. Na, dem hab ich aber was erzählt … Parmesan? … Nicht genug 181
damit, habe ich gesagt, daß du gar nicht Auto fahren kannst, was du ihm schon den ganzen Tag versucht hast beizubringen, nein, es hat auch niemand für nötig gehalten, dir eine Magnetkarte für die Tiefgarage zu geben. Du hättest also den Wagen unmöglich selbst rausfahren können, das muß, habe ich wahrheitsgemäß gesagt, jemand anders gewesen sein, der Zugang zur Garage hatte. Außerdem, habe ich gesagt, bist du schon vor einer halben Ewigkeit nach Hause gegangen, weil dir nicht gut war. Du kannst es also auf keinen Fall gewesen sein … Pfeffer? … Das hat ihm den Wind aus den Segeln genommen. Dann habe ich ihm gesagt, daß ich mit dir zum Essen verabredet bin und nicht zu spät kommen will, bin durch eine knöcheltiefe Wasserlache aus einem Rohr, das du aus der Verankerung gerissen hattest, zu meinem Wagen gewankt, habe mich, zitternd wie das sprichwörtliche Espenlaub, hineingesetzt – und hier bin ich. Komischerweise hat mir der neue Werkschutzmann den Rücken gestärkt. Hat Roach gegenüber Stein und Bein geschworen, er hätte in der Halle Dienst geschoben, als du vor einer Stunde an ihm vorbeigekommen wärst. Dann hat er mir zugezwinkert. Wahrscheinlich war er blau.« »Es ist sehr lieb von dir, daß du mir geholfen hast«, sagte Jeremy zwischen zwei Pizzabissen. »Aber findest du nicht, daß es ein bißchen – ja, umständlich ist, wenn ich mich nicht freiwillig melde?« »Wenn du in Deckung bleibst, bringt die Versicherung das alles wieder in Ordnung. Sonst kannst du vermutlich in Kürze stempeln gehen – und mußt noch für den ganzen Schaden aufkommen. Das ist keine Frage des Anstands, sondern des Überlebens.« »Ja, dann hilft es wohl nichts«, sagte Jeremy unglücklich und legte sein Besteck zusammen, »Ich muß dir wohl richtig dankbar sein, daß du dich meinetwegen so bemüht hast.« »Das mußt du allerdings.« Sally beugte sich vor und angelte ein Stück Pizza von seinem Teller. »Aber ich will gern 182
zugeben, daß es mir einen Heidenspaß gemacht hat. Wenn Prosser erfährt, was seinem heißgeliebten Wagen zugestoßen ist, kriegt er sich nicht wieder ein.« »Warum magst du Mr. Prosser eigentlich nicht?« »Mal abgesehen davon, daß er ein ungehobelter Klotz ist, hochnäsig, jähzornig, skrupellos, ein Lustmolch und ein Leuteschinder«, sagte Sally, »vermute ich auch, daß er jede Menge Dreck am Stecken hat.« Jeremy blieb die Spucke weg. »Na hör mal! Prosser ist einer unserer angesehensten Unternehmer.« »Angesehen? Bei wem? Bei den Zeitungen und Zeitschriften, die in ihren Spalten sein aufgeblähtes Ego streicheln? Daß ich nicht lache! Was ist mit den vielen Firmen, die er aufgekauft, ausgelutscht und auf den Müll geschmissen hat? Was ist mit den vielen Menschen, die durch ihn um ihren Arbeitsplatz gekommen sind? Und mit seinen Kollegen aus der Wirtschaft, die er ruiniert hat? Er ist völlig gewissenlos, kennt nur zwei Antriebskräfte: Geld und Macht. Wenn so einer heutzutage als angesehener Mann gilt, kann ich nur sagen: Pfui Deibel! Komm, Jeremy, klapp den Mund wieder zu«, fuhr sie ihn ungeduldig an. »Er kann knallhart sein, das gebe ich ja zu, aber –« »Knallhart? Vergiß nicht, daß ich seit über einem halben Jahr im dreizehnten Stock arbeite. Ich habe ihn aus der Nähe erlebt – näher, als mir lieb ist. Er brüstet sich damit, daß er BIG mit Zuckerbrot und Peitsche regiert. Er hat Spaß daran, wenn die Leute vor ihm zittern. Es geilt ihn auf, wenn er einen Mitarbeiter rausschmeißen kann. Er hält sich auf dem Dach einen Raubvogel als Haustier. Er ist kein angenehmer Zeitgenosse, Jeremy.« »Deshalb braucht er aber noch lange keinen Dreck am Stecken zu haben«, wandte er ein. »Stimmt. Trotzdem – ich bin davon überzeugt, daß er ein ausgemachter Gauner ist.« »Weibliche Intuition, was?« spottete Jeremy. 183
»Werd nicht frech, mein Kleiner! Intuition, punktum. Ob weiblich oder männlich, das ist dabei unerheblich.« Jeremy schnaubte verächtlich, während Sally die Teller abräumte, in die Küche brachte und dort geräuschvoll absetzte. »Sag mal, kann ich bei dir mal für … äh … kleine Jungen?« »Hier gibt’s nur was für kleine Mädchen, Jeremy. Durch die Diele links.« Während er weg war, machte sie eine Flasche Wein auf und stellte zwei Gläser bereit. Einer mußte sich schließlich ein bißchen um den Jungen kümmern … Jeremy kam ganz aufgeregt zurück. »Die Urkunde, die bei den kleinen … ich meine, auf der Toilette hängt …« »Ja?« »Hast du wirklich einen Magister in Wirtschaftswissenschaften?« »Ja.« Sally, die es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte, klopfte einladend auf die Polster. »Nicht zu glauben.« Jeremy setzte sich neben sie. Ein Abschluß in Wirtschaftswissenschaften. Und noch dazu aus Harvard. Dann gehörten die Bücher tatsächlich Sally. »Aber das verstehe ich nicht. Wieso arbeitest du mit dieser Ausbildung als Sekretärin?« »Wie viele Unternehmen kennst du, an deren Spitze eine Frau steht? Allein mit einem Magistertitel kommst du da nicht hin, auch heute nicht. Sieh zu, habe ich mir gesagt, daß du dir einen richtig ausgebufften Unternehmertyp eine Weile aus der Nähe anschauen kannst, das bringt dich am schnellsten weiter. Für die meisten Leute sind Sekretärinnen Luft. Ganz erstaunlich, was man auf so einem Posten alles mitkriegt. Als ich anfing, habe ich wohl Prosser ganz ähnlich wie du gesehen. Aber die letzten Monate haben mir die Augen geöffnet. Der Mann ist ein Monster.« Für Jeremy war das alles ein bißchen viel auf einmal. »Aber so eine Magisterurkunde – das ist doch was Tolles. Warum ist sie … warum hast du sie dahin gehängt?« 184
»Sie bleibt dort so lange hängen, bis die kleinen Jungen kleine Mädchen mitspielen lassen. Sobald ich im Vorstand einer anständigen Firma sitze, kriegt sie hier im Wohnzimmer einen Ehrenplatz.« »Deine Wohnung ist super. Da solltest du mal meine Bruchbude sehen … Wie schaffst du das bloß bei deinem Gehalt?« »Ich bekomme einen Mietzuschuß von der Firma. Mr. Prosser legt Wert darauf, daß seine Assistentinnen gut untergebracht sind.« Sie würde ihn vorläufig nicht mit der Eröffnung schocken, daß Prossers Chefassistentinnen im Monat mehr kassierten als die Mitglieder des Konzernvorstands. »Was zu trinken?« Sie rückte näher an Jeremy heran und reichte ihm ein Weinglas. »Ich bin eigentlich mehr für was Softiges …« Sally lächelte durchtrieben. »Hey, Jeremy, wie kommst du mir denn vor?« Er rutschte ein Stück weg. Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut. »Einen Soft Drink meinte ich … Alkohol bin ich nicht gewöhnt.« »Du trinkst nicht, du rauchst nicht, du kannst nicht Auto fahren. Was kannst du denn noch alles nicht?« fragte sie verschmitzt, sah Jeremy tief in die Augen und schmiegte sich an ihn. Er wurde dunkelrot, rückte wieder weg und nahm, um seine Verlegenheit zu kaschieren, einen Schluck aus seinem Glas. »Schmeckt eigentlich gut. Ist das sehr stark?« »Wird dich nicht gleich umwerfen.« Sie schob sich näher heran. »Ich habe mir vorgenommen, ein paar Bildungslücken bei dir auszufüllen.« Bei seinem nächsten Versuch, von Sally abzurücken, stieß Jeremy gegen die Sofalehne. Verzweifelt versuchte er, an Unverfängliches zu denken, aber aus der Nähe wirkte Sally noch aufregender als im Büro. Er trank einen tiefen Schluck Wein. Die obersten beiden Knöpfe ihrer Bluse standen offen 185
und zogen seinen Blick magisch an. Dann kam ihm eine Idee, und er zückte Notizbuch und Kugelschreiber. »Du könntest mir zum Beispiel sagen, was das für ein Wein ist«, sagte er erleichtert. Sie schmiegte sich an ihn, legte den Arm auf die Sofalehne und streifte mit der Hand leicht über seine Nackenhaare. »Weißer Rioja. R- i-o-j-a. Aus Spanien. Aber ich meinte nicht nur Alkohol, Jeremy. Ich glaube, es gibt jede Menge Sachen, von denen du keine Ahnung hast.« Er notierte den Namen und versuchte, nicht auf Sally zu achten, die sich vorgebeugt hatte und mit ihren Lippen und ihrer Zunge seinen Nacken liebkoste. »Über die Organisationsstruktur der BIG-Zentrale bin ich noch nicht so richtig im Bilde, wenn du mir darüber was erzählen könntest …« »Ich meinte auch nicht Organisationsstrukturen. Wenn du mal ein Mann wie Prosser werden willst«, sagte Sally und knabberte zärtlich an Jeremys Ohrläppchen, »mußt du dich auch für seine Hobbys interessieren.« »Ich würde gern mehr darüber wissen, wie er so arbeitet, da gibt es vieles, was ich noch nicht verstehe.« Sally hatte sich zu Jeremys Mund vorgearbeitet. Er mußte sich zurücklehnen, sonst wäre er glatt erstickt. Das alles verwirrte ihn sehr. »Zum Beispiel hatte sich, als ich zum ersten Mal bei Mr. Prosser war, Lucinda unter seinem Schreibtisch versteckt. Damals hat sie gesagt, daß sie eine Kontaktlinse sucht, aber so ganz leuchtet mir das nicht ein, denn inzwischen weiß ich, daß sie gar keine Kontaktlinsen trägt. Nun zerbreche ich mir schon die ganze Zeit den Kopf, was sie wohl da unten gemacht hat.« Sally sah Jeremy scharf an. Konnte ein erwachsenes Mannsbild wirklich so naiv sein? »Offenbar bist du ganz durch Zufall Prossers liebster Freizeitbeschäftigung auf die Spur gekommen. So weit hatte ich es eigentlich mit dem Auffüllen der Lücken beim ersten Mal nicht treiben wollen, aber was soll’s … Was dir 186
dazwischen fehlt, können wir später immer noch ergänzen.« »Oh«, sagte er, als sie mit der ersten Lektion begann. »Oh … oh … oooooh.« »Und so was machen Prossers Assistentinnen?« fragte Jeremy später. »Das und vieles andere. Sein Harem ist sehr vielseitig.« »Das darf ja nicht wahr sein …« Jeremys Neid auf Prosser wuchs ins schier Unermeßliche. »Aber … du warst auch dabei.« »Kein Grund zur Aufregung, Jeremy. Bei mir war das nicht in der Stellenbeschreibung enthalten. Ich habe mich strikt an meine Sekretariatsaufgaben gehalten. Weshalb, glaubst du wohl, hat der große Boß mich an dich weitergereicht?« Er beglückte Sally mit einem der keuschen Küsse, die er in zahllosen alten Hollywoodfilmen gründlich studiert hatte. Zu seiner Überraschung öffnete Sally den Mund und weihte ihn in die Geheimnisse einer fortgeschrittenen Kußtechnik ein. »Sag mal, Sally, ich überlege mir … Hört sich vielleicht dumm an, aber bin ich … ich meine … bin ich noch Jungfrau?« »Eine interessante Frage. Technisch gesehen würde ich sie bejahen.« »Oh.« »Aber laß dir darüber keine grauen Haare wachsen. Wenn du schön gelehrig bist, ist dieser Zustand bald zu beheben.« Wenige Minuten später fragte sie gereizt: »Mußt du dir wirklich über alles und jedes Notizen machen, Jeremy?«
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17 Als Roach Prossers Büro betrat, um seinem Herrn und Meister Bericht über den Verlauf der vergangenen Tage zu erstatten, machte der sich gerade über drei geöffnete Bierdosen her, die in Reih und Glied auf seinem Schreibtisch standen. Erst als die dritte geleert war, fand er die Sprache wieder. »Jetzt geht’s mir wieder besser. Die reinste Affenpisse, das Bier da drüben.« Roach sah sich eine der Dosen an. »Warum trinkst du eigentlich kein BIG-Bier?« »Das fehlte noch! Ich weiß doch, was drin ist.« »Hast du dich gut amüsiert?« »Kann nicht klagen. Ob Mister Plod viel Freude an seinem Urlaub haben wird, ist eine andere Frage.« »Wir hatten kaum unsere Beteiligung bekanntgegeben, da hing er bei uns am Telefon. Kam richtig angeschleimt, als er hörte, daß du nicht zu sprechen bist. An der Börse hab ich eine schwachsinnige Erklärung verbreitet, es handele sich um eine rein vorsorgliche Anlage. Den üblichen Stuß. Habe mir übrigens erlaubt, Ben Lobb, diesen Gewerkschaftsheini von Pardoe, der bei der bewußten Aktion so brauchbar war, auf eine Studienreise nach Barbados zu schicken und ihn im Cobbler’s Lane unterzubringen. Ron hat ihm noch eine Forschungsassistentin spendiert. Hab mir gedacht, daß Mister Plod sich freut, dort einen so lieben alten Bekannten zu treffen.« »Glänzende Idee! Das müßte eigentlich reichen, um ihn auf Trab zu bringen. Schätze, daß das liebende Paar spätestens morgen wieder hier aufkreuzt. Und dann warten auf den Herrn des Hauses ein paar interessante Fotos, die seinen Blutdruck etwas in die Höhe treiben dürften.« Prosser nahm einen Schluck Bier und drückte auf einen Knopf seiner Steuerkonsole. »Pardoes Aktien vollführen ganz hübsche 188
Sprünge, wie ich sehe. Morrie soll noch ein paar abstoßen, solange sie Gewinn bringen. Was macht denn unser Gilbert Golly?« »Hier, sieh selbst!« Roach reichte ihm die neueste Nummer von Business. Während Prosser den von Jeremy verfaßten Artikel las, fingen seine Hände an zu flattern. Er riß die Seite aus dem Heft und knüllte sie zusammen. Roach hatte ihn selten so wütend erlebt. »Was bildet dieser Hornochse sich eigentlich ein? Er macht mich überall zum Gespött der Leute, totlachen werden die sich über mich«, brüllte er. »Management, einfach gemacht … Wirtschaftsterminologie von A-Z … Also das könnte ich ja gerade noch verkraften, aber da setzt sich doch dieser Typ hin und schreibt für die Leser der meistgelesenen Wirtschaftszeitschrift diesseits des Atlantiks, daß ich mit Leidenschaft Thomas, die kleine Lokomotive, und solchen Scheiß lese. Den Mistkerl nehme ich auseinander! Mit bloßen Händen!« »Jetzt halt mal einen Moment die Luft an, Alex«, mahnte Roach. »Du hast ihm selber gesagt, daß er über das schreiben soll, was er gern liest, und nichts anderes hat er gemacht. Er nimmt seine Anweisungen offenbar immer sehr wörtlich.« Prosser war schon auf dem Weg zur Tür. »Und ehe du ihm den Kopf abreißt, laß dir sagen, daß fünfzehn Vorstände und sonstige Führungskräfte angerufen haben, um dir zu gratulieren, fünf Einladungen zu Tischreden eingegange n sind und die tägliche Fernsehsendung ›Geld und Börse‹ dich für Interviews haben will.« »Sag das noch mal …« »Die denken alle, daß es als Ulk gemeint war. Du giltst plötzlich als ungeheuer geistreich. Hat deinem Image ausgesprochen gutgetan.« »Das darf ja nicht wahr sein! Du glaubst doch nicht, daß Seaman das absichtlich gemacht hat?« 189
»Nie im Leben.« »Da fällt mir aber doch ein Stein vom Herzen. Hab schon gedacht, der Junge ist cleverer, als wir glauben. Soll mal antreten, der Typ.« Er drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Jeremy, könnten Sie einen Moment zu mir kommen? … Wie meinten Sie?« Jeremy, der gerade dabeigewesen war, Sally zu küssen, unterbrach seine Tätigkeit. »Verzeihung, hab mich nur ein bißchen gestärkt. Nahrung ist wichtig für die Gehirnze llen. Ich komme sofort.« »Hier. Noch einen zum Mutmachen!« Sally zog ihn am Schlips zu sich heran. »Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe. Laß dich nicht von ihm schurigeln. Was macht der Kopf?« »Kein Problem, solange ich ihn ganz still halte. Nur wenn ich leichtsinnig werde und mal aus Versehen Atem hole, wird’s problematisch.« »Ein Glas Wein, und du bist hinüber. Das muß anders werden, Junge. Jetzt schieb ab! Und toitoitoi!« Der Empfang schien unbesetzt zu sein. »Hallo?« »Hallo!« Charmaine tauchte hinter dem Tresen hoch. »Hab meinen Kugelschreiber verloren«, erläuterte sie. Heute stand sie auf Blau: Turbulentes Türkis für die Nägel, Babyblau für die Lider, Intensiv-Indigo für die Lippen. Ihr plötzliches Auftauchen brachte den Besucher einen Augenblick aus der Fassung. »Mein Name ist Dipley. Felling Computers. Ich hab in einer Viertelstunde eine Verabredung mit Mr. Nettle. Bin ein bißchen früh dran. Aber Morgenstund hat Gold im Mund, nicht?« »Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagte Charmaine. »Ich sag Mr. Nettle Bescheid.« Verflixt, wo war bloß der blöde Kugelschreiber abgeblieben? Dipley kämpfte sich durch den Dschungel und ließ sich mit 190
aller gebotenen Vorsicht auf einem der Dreieck-Hocker nieder. Er konnte kaum stillsitzen vor Aufregung. Nimm dich zusammen, Dipley, ruhig Blut, alter Junge. Das war der große Durchbruch: Lieferung von EDV-Anlagen für sämtliche Abteilungen von BIG House. Jedem Schreibtisch seinen PC. Bei dem Telefongespräch hatte er den Eindruck gewonnen, daß er den Auftrag praktisch schon in der Tasche hatte. Wenn er geschickt taktierte, konnte er sich an BIG gesundstoßen. »Was kann ich für Sie tun?« fragte Charmaine den nächsten Besucher. Vielleicht unter dem Stuhl? Sie tastete mit dem Fuß auf dem Boden herum. »Einiges, Schätzchen. Scholes, ZZZ Drucker. Bin um halb mit Ihrem Mr. Nettle verabredet.« »Nehmen Sie doch bitte Platz, ich sag Bescheid. Ja, bitte?« fragte Charmaine entnervt. Sie war noch nicht mal dazu gekommen, den Hörer abzunehmen. Dipley, Scholes, Dipley, Scholes. Bloß nicht vergessen … »Mr. Nettle erwartet mich. Bright, Metro BüroAusstattungen.« »Bright? Na gut, nehmen Sie Platz«, sagte Charmaine. Dipley, Scholes, Bright. Dipley, Scholes, Bright. Der Major wandte sich an den jungen Mitarbeiter, der neben ihm stand. »Sehen Sie mal auf dem Parkplatz nach dem Rechten. Nicht daß wir wieder so eine Schweinerei wie gestern erleben.« Der große Boss saß hinter seinem Schreibtisch, während Roach es sich auf einem der Sofas bequem gemacht hatte. »Jeremy, mein Junge«, sagte Prosser, »ich habe gerade Ihren Artikel gelesen. Sehr gut. Genau der richtige Ton. Hat mir imponiert. Und deshalb möchte ich Ihnen gleich noch einen kleinen Auftrag geben.« Er klopfte auf eine Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Die Jungs von Forschung und Entwicklung haben mal wieder einen Haufen Papier produziert. Neue Projekte und so weiter. Nehmen Sie den ganzen Kram 191
mal mit und arbeiten Sie ihn durch. Wäre dankbar, wenn Sie mir Ihre Meinung dazu sagen, zu den einzelnen Ideen Stellung nehmen würden. Machen Sie ein paar Notizen, nur handschriftlich. Ganz inoffiziell. Diese Dinge müssen streng geheim bleiben, aber das brauche ich Ihnen ja nicht erst zu sagen.« Jeremy nahm die Akte entgegen und bückte sich, vorgeblich, um einen widerspenstigen Schnürsenkel festzuziehe n. Dabei hatte er Gelegenheit, einen Blick unter den Schreibtisch zu werfen. Zu seiner Enttäuschung sah er da nur Prossers Beine. Dipley, Scholes, Bright, Pelham, Harbottle, Plush, Barrassford, Denham. Wenn ich nicht sofort den Kugelschreiber finde, schreie ich. Und warum meldet sich dieser Nettle nicht? Endlich! »Mr. Nettle«, sprudelte Charmaine los, »hier unten sind ein Mr. Dipley, ein Mr. Scholes, ein Mr …« Mist, schon war ihr der Film gerissen. »Die Herren, die Sie erwarten. Sie sind hier unten bei mir.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel. »Ja, bitte?« »Einen wunderschönen guten Morgen, reizendes Kind. Könnten Sie wohl Mr. Nettle flöten, daß ich hier bin? Mein Name ist Chewton.« Charmaine legte den Kopf auf die Arme und brach in Tränen aus. Unter den wartenden Vertretern verbreitete sich eine gewisse Unruhe. Pelham hatte das dunkle Gefühl, daß er Harbottle schon mal irgendwo gesehen hatte. Barrassford, der stehen mußte, weil sämtliche Sitzgelegenheiten vergeben waren, glaubte sich zu erinnern, daß Scholes einen Stand auf der kürzlich zu Ende gegangenen großen Schau der Drucker und Kopierer im Olympia gehabt hatte. Dipley, der sich in einer gewissen Vorrangstellung wähnte, weil er als erster dagewesen war, wandte sich an seinen Nachbarn: »Vertreter?« Bright grunzte bestätigend. 192
»Soso«, sagte Dipley wachsam. »Ich verkaufe Computer.« »Bürobedarf«, ließ Bright heraus. Beide atmeten freier. Keine Konkurrenz also. »Wir sollen BIG House völlig neu ausrüsten«, vertraute Dipley dem Kollegen an. »Nicht, wenn ich es verhindern kann«, erklärte Pelham, der, wie die anderen, ungeniert zugehört hatte. »Den Auftrag kriegen wir. Zett-Computer. Zett wie zuverlässig.« »Zuverlässig? Da lachen ja die Hühner. Allein für diese Behauptung müßte man Sie wegen arglistiger Täuschung schon rankriegen.« »Stehn Sie auf und sagen Sie das noch mal«, sagte Pelham herausfordernd. Dipley erhob sich und wiederholte seine Anwürfe. Mit empörtem Gebrüll rammte Pelham seine Aktentasche Dipley in den Bauch. Dem gelang es trotz seiner anfänglichen Verblüffung, sich bei Pelham mit einem Tritt vors Schienbein zu revanchieren. Pelham ließ die Aktentasche fallen, die auf Harbottles Füßen landete, und ging mit den Fäusten auf Dipley los. Seine Rechte fällte den Mann von Felling Computers. Harbottle tippte Pelham auf die Schulter. »Das hilft Ihnen gar nischt, mein Gutester, weil meine Firma, ComputerLösungen, schon die Zusage für den Auftrag hat.« Harbottle duckte sich, als Pelham ausholte, und der Hieb traf Chewtons Kinn. Die Gewalt eskalierte. Barrassford schlug Scholes seinen Aktenkoffer über den Kopf. Harbottle bohrte Pelham einen Kugelschreiber ins Auge. Plush versuchte, ein Hundehalsband an Harbottles edelstem Körperteil anzuclipsen. Chewton griff sich einen Stuhl und warf ihn nach Pelham. Der Stuhl traf Denton, der prompt Chewton mit dem Kopf rammte, woraufhin der ihm ins Ohr biß. Immer mehr Besucher, die in der Hoffnung gekommen waren, BIG House das Neueste und Beste an Telefonen, Ordnungssystemen, Büromöbeln, Fotokopierern, Computern, 193
Druckern, Papierwaren und Verkaufsautomaten aufhängen zu können, wurden von der flennenden Charmaine in den Dschungel geschickt, wo sie sich mit mehr oder weniger Schwung ins Getümmel stürzten in der Annahme, es handele sich um eine Art Mutprobe. Dipley, der sich nach Pelhams Hieb wieder aufgerappelt hatte, bezog am Springbrunnen Stellung und schlug auf jeden ein, der in den Bereich seiner wirbelnden Fäuste kam. Vor ihm lag Scholes regungslos unter einem Vertreter für Verkaufsautomaten, dessen Limonademuster im Springbrunnenbecken gelandet waren und dort munter vor sich hin brausten. Erst als sich die Schar der Vertreter hoffnungslos ineinander verknäult hatte, rief der Major mit dem Walkie-Talkie Verstärkung heran. Mr. Bennett stürmte, drei Stufen auf einmal nehmend, vo n der Kantine herauf und erfaßte, in der Halle angekommen, die Situation mit einem Blick. Hier handelte es sich eindeutig um ein Rugbymatch ohne jene lästigen Regeln, die ihm so häufig den Spaß verdarben. Jetzt kam ihm seine langjährige Erfahrung auf den Spielfeldern von Südostlondon zugute. Er legte los. Voller Hingabe trieb er kratzend, beißend, spuckend, schlagend und rammend alles vor sich her, was sich ihm in den Weg stellte. Erst jetzt griff der Major zum Telefon und verständigte die Polizei. Fünfunddreißig hatte er gezählt. Fünf waren nicht gekommen. Erstaunlich, wie lässig manche Vertreter heutzutage im Umgang mit potentiellen Kunden waren. Nettle entstieg dem Paternoster. Er war schlechter Laune, weil man ihn aus einer heiklen Besprechung über eine neue Aktenordnung für die Abteilung Humanressourcen geholt hatte. Das leuchtende Türkis auf dem Nagel von Charmaines Zeigefinger wies ihm die Richtung zu den wartenden Vertretern, die Nettle allerdings wohl auch ohne ihre Hilfe gesichtet hätte. »Was geht hier vor?« donnerte er und stampfte hilflos mit 194
dem Fuß. Die Keilerei ging munter weiter. Inzwischen hatten sich – nur aus Spaß an der Freud – auch einige MotorradKuriere ins Getümmel gestürzt. Der Major schüttelte mißbilligend den Kopf. Mit Schutzhelm kloppen kann jeder, dachte er. »Schluß!« brüllte der Chef der Abteilung Humanressourcen. Und dann beging er einen schwerwiegenden Fehler. »Mein Name ist Nettle. Ich bitte mir aus, daß das sofort aufhört.« Stille senkte sich so jäh auf die Halle von BIG House, als habe jemand den Stecker aus einem Plattenspieler gezogen. Sekundenlang hörte man nur Charmaines Schluchzen und das Brausen in dem limonadegefüllten Springbrunnenbecken. Dann stürzte sich mit einem markerschütternden Schrei und wie ein Mann der Vertretertroß auf Nettle. Jeder wollte der erste sein, der dessen ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich zog. Nettle drehte sich um und flüchtete. Der Major hielt ihn nicht auf. Nettles walzenförmiger kleiner Körper wabbelte an ihm vorbei, der Anzug wogte auf den Fettwülsten hin und her. Er stürzte sich auf den Paternoster und erwischte eine Kabine, die ihn nach oben davontrug. Die geifernde Meute drängte nach, fiel in die nächste Kabine ein und die folgende und die danach, ohne auf den für jeden sichtbar angebrachten Hinweis zu achten, pro Kabine sei nur eine Höchstbelastung von sechs Personen zulässig, und Mr. Bennett und seine Mannen, die versuchten, sie wieder herauszuzerren, mit Tritten traktierend. Der Major nutzte die allgemeine Konfusion, um sich gemächlich zum nächsten Feuermelder zu begeben. Unbeobachtet schlug er die Scheibe ein. Allenthalben öffneten sich die Türen der Büros, und trotz zahlloser Feuerübungen setzten sich die flüchtenden Werktätigen über die Anweisung hinweg, im Falle eines Feuers nicht die Aufzüge zu benutzen, und drängten in den Paternoster, der, hoffnungslos überlastet, prompt stehenblieb, so daß die Fahrgäste zwischen den Stockwerken eingesperrt waren. 195
Während die Feuerglocke gellte, der Springbrunnen perlte und zischte und die armen Seele n, die meinten, im Aufzug eines brennenden Hochhauses festzusitzen, aus Leibeskräften schrien, nahte in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit die Polizei, dein Freund und Helfer. Ein einsamer Constable drehte sich durch die Tür, zuckelte gemütlich zu dem Major und Charmaine hinüber, nahm den Helm ab und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn. »Hier soll’s ’ne Kleinigkeit zu regeln geben?«
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18 »Das ist der Durchbruch, Joe!« Aufgekratzt stürmte Prosser in das Büro seines Finanzchefs. »Dann zieh einen Gummihandschuh an, wenn du die Hand reinstecken mußt, Désirée. Von hier aus kann ich auch nichts machen, wenn’s verstopft ist. Ich muß aufhören. Ja, ich liebe dich auch. Tschüs … Wieso Durchbruch, Alex?« »Fallas hat sich gemeldet. Seine Leute haben Pardoe beim Verlassen der Firma Nostrum beobachtet.« »Alex!« sagte Roach warnend und sprang auf, um die Tür zu schließen. »Du weißt doch: Feind hört mit und so weiter. Nebenan sitzen Gilbert Golly und Kätzchen Kuschel.« »Nicht böse sein, Großohr«, sagte Prosser mit kindlicher Piepsstimme. »Mister Plod hat seinen lieben Freund Mickey Monkey besucht« »Ich werd verrückt! Du hast es geschafft, Alex.« »Noddy, wenn ich bitten darf. Ja, es sieht ganz danach aus. Lady Amanda – pardon, Bärin Tessie – war in einer schlechten Situation. Um Zoff mit ihrem Jocelyn zu vermeiden, mußte sie wohl oder übel rauslassen, daß wir Nostrum schlucken wollen. Denn ihren lieben Mann – oder vielmehr sein Geld – will sie ja schließlich nicht verlieren.« Prosser setzte sich auf die Schreibtischkante. »Hut ab vor dem alten Plod! Das ist wirklich noch einer von der alten Schule. Wer macht sich heutzutage noch die Mühe, bei einem Firmenchef, dessen Laden er übernehmen will, höflich anzufragen, ob sie sich nicht freundschaftlich einigen können?« »Wollen wir hoffen, daß Nostrum entschlossen ist, seine Ehre bis zum letzten Atemzug zu verteidigen, statt sich würdig in das Unvermeidliche zu schicken.« »Ist Mr. Prosser bei Ihnen?« erkundigte sich Lucinda über die Gegensprechanlage. »Ja. Was gibt’s?« fragte Prosser. 197
»Mr. Butterley möchte Sie sprechen. Es ist dringend, sagt er.« »Kann ich mir vorstellen. Bin schon unterwegs.« Er zwinkerte Roach zu. »Will ihm nur Zeit geben, sich ’ne frische Unterhose anzuziehen.« Jeremy setzte das Glas ab und rieb sich das Ohr. »Hast du was mitgekriegt?« fragte Sally. »Nur ein paar Worte, aber ich bin nicht schlau draus geworden. Ein paarmal war von Mister Plod die Rede und von Gilbert Golly. Und gleich zu Anfang hat Prosser gesagt, daß ein Phallus sich gemeldet hat. Komische Ausdrucksweise …« »überrascht mich gar nicht. Der denkt doch kaum an was anderes.« »… und irgendwas mit Butter. Es wäre dringend, hat er gemeint.« »Butter? Das wäre mal was Neues …« »Also wirklich, Sally«, entrüstete sich Jeremy. »Jedenfalls hat es sich nicht so angehört, als ob zwei Meisterverbrecher einen neuen Coup planen.« »Was ist mit diesen neuen Projekten, zu denen Prosser deine Stellungnahme haben will? Das neue Tankstellenkonzept, die Bauklotzrevolution, das computergesteuerte Parkscheinsystem für die BIG-Parkhäuser, das neue Erfrischungsgetränk und all das …« »Und du meinst nicht, daß ihm möglicherweise ehrlich was an meiner Meinung liegt?« »Möglich ist alles. Auch das Unmöglichste.« »Besten Dank für die Blumen!« »Ich finde dich süß, Jeremy. Aber ich fürchte, Prosser ist nicht meiner Meinung. Irgendwas ist hier faul.« »Das haben wir doch alles schon bis zum Gehtnichtmehr durchdiskutiert, Sally. Ich kann mich nicht ewig an den Unterlagen festhalten.« Sally schnippte mit den Fingern. »Das Erfrischungsgetränk! 198
Dieser neue kohlensäurehaltige Sprudel! Klar, darauf hätte ich eigentlich auch eher kommen müssen. Das ist bestimmt des Rätsels Lösung.« »Wieso?« »Weil der BIG-Konzern keine Beteiligung an einer SoftDrink-Firma hat. Nostrum und Pardoe hingegen produzieren beide so ein Zeug. Wieso läßt man als Firmenchef ein Produkt auswerten, das man gar nicht selber herstellt?« »Na ja, aber deshalb braucht er doch noch lange nichts Verbotenes im Schilde zu führen.« »Ich hab’s! Du hast mir doch erzählt, daß du auf einen guten Dreh wegen der Parkhäuser gekommen bist …« »Ja, aber ich weiß nicht, ob ich den in meinen Bericht reinnehmen soll. Er ist nicht sehr moralisch, aber gut für den Umsatz. Bisher ist es doch so, daß die Parkgebühr von dem Augenblick an zählt, in dem man durch die Schranke fährt. Und nur wenn noch Parkplätze frei sind, läßt sie einen durch. Wenn man statt dessen mehr Leute reinlassen würde, müßten die länger rumfahren, um einen Parkplatz zu finden. Das erhöht die Einnahmen. Und weil es dann voller in den Parkhäusern ist, würden die Leute auch beim Rausfahren länger brauchen und müßten höhere Parkgebühren zahlen.« »Genial, Jeremy«, sagte Sally. »Ein Plan so recht nach Prossers Herzen.« »Aber nicht sehr nett.« »Spielt keine Rolle. Schreib’s in deinen Bericht, und wenn Prosser dich deswegen nicht anspricht, wissen wir definitiv, wieviel ihm wirklich an deiner Stellungnahme liegt.« Es klopfte. »Herein!« Zwei Büroboten standen in der Tür. »’tschuldigung, Chefin«, sagte der eine. »Wußte nicht, daß hier noch wer is. Wir sind gleich wieder draußen.« Sie gingen zu Jeremys Schreibtisch und hoben ihn an. »Was machen Sie denn da?« fragte er verstört. 199
»Soll zurück ins Lager. Absetzen, Jacko.« »Warum? Reden Sie keinen Unsinn! Ich brauche den Schreibtisch, er kann nicht zurück ins Lager.« »Auf unserem Laufzettel steht, daß er zurück ins Lager soll, und dahin kommt er auch. Mehr nach links, Jacko.« Der Philodendron krachte zu Boden. »Nee, falsch, nach rechts.« »Wer hat das angeordnet?« fragte Jeremy. »Mr. Nettle. So ist’s gut, Jacko. Jetzt ziehen.« »Dann werde ich Mr. Nettle deswegen ansprechen«, erklärte Jeremy so hoheitsvoll, wie es ihm möglich war. »Der kommt erst in ein paar Tagen aus dem Krankenhaus. Mach die Tür hinter uns zu, Kumpel, ja?« »Ich rede mal mit HUMA«, sagte Sally. »Und du siehst zu, daß du mit deinem Bericht für Prosser weiterkommst. Ich an deiner Stelle würde nicht warten, bis der Schreibtisch wieder da ist. Schreib auf dem Fußboden.« Jeremy seufzte ergeben. »Na gut. Da habe ich wenigstens eine gute Aussicht auf deine Beine.« »Jeremy, was ist nur in dich gefahren?« »Aber Sie hatten mich doch heute schon mal vor«, protestierte die junge Frau. »Tut mir leid, Schätzchen«, beteuerte Mr. Bennett scheinheilig und ließ seine Hände über ihren Körper gleiten. »Aber Befehl ist Befehl. Bis auf weiteres gilt höchste Sicherheitsstufe, und dazu gehören nun mal stichprobenartige Leibesvisitationen.« »Und weshalb treffen Ihre sogenannten Stichproben immer junge weibliche Angestellte?« »Kann ich Ihnen nicht sagen, Miss. Was is’n das?« Die bratpfannengroßen Hände hielten plötzlich in ihrer Wanderung inne. »Wenn Sie’s noch nicht wissen, werd ich’s Ihnen auch nicht verraten. Kann ich jetzt endlich an meine Arbeit?« Mr. Bennett ließ sie passieren. Er war mit Recht stolz auf 200
seine Idee, sich diese Stichproben von Prosser absegnen zu lassen. Sie hatten sich äußerst positiv auf die Arbeitsmoral seiner Männer ausgewirkt, die sich mit Feuereifer, um nicht zu sagen mit Herzenslust, in diese zusätzliche Aufgabe gekniet hatten. Jetzt hatte er keine Probleme mehr, Freiwillige für Überstunden zu bekommen. Wo sonst gab es einen Job, in dem man ausgiebigst und ungestraft junge Damen von oben bis unten befummeln konnte? Nur der Major, der gern den Offizier und Gentleman raushängte, ohne es zu sein, war auf diese in seinen Augen doch etwas degoutante Tätigkeit nicht voll abgefahren. Mr. Bennett hingegen schwebte im siebenten Himmel. Wie damals in Gatwick, dachte er glücklich. Es war Pech für alle Beteiligten, besonders aber für Tracey MacCullen, daß er in seinem Eifer etwas zu weit gegangen war, als er seinen Mitarbeitern hatte vorführen wollen, wie unendlich viele Möglichkeiten es gibt, Sprengstoff oder Drogen an einem weiblichen Körper zu verbergen. Bennett hielt hartnäckig an seiner wiederholt geäußerten Meinung fest, das ganze Gewese sei ihm völlig unbegreiflich, er und seine Männer nähmen eben ihre Obliegenheiten sehr ernst, und als sie mit der Frau fertig gewesen seien, habe einwandfrei festgestanden, daß sie auch nicht die kleinste Kleinigkeit versteckt bei sich geführt hatte. HUMA betrachtete den Fall weniger nachsichtig. Nicht genug damit, daß man dort von einer jähen Kündigungswelle weiblicher Angestellter überrollt worden war, drohte jetzt auch noch die Sekretärinnengewerkschaft mit einem Arbeitskampf. Diese Überreaktion erbitterte Mr. Bennett. In der BIGZentrale wußte jeder Kerl bis hinunter zum letzten Büroboten, daß Tracey MacCullen die Horizontale vom Dienst war. Was hatte die sich bei so einer Kleinigkeit derart aufzuplustern? Mit professionellem Interesse besah er sich ein Paar Titten, die gerade durch die Drehtür gekommen waren. Nicht echt, folgerte er messerscharf. So großzügig konnte Mutter Natur sie 201
unmöglich bedacht haben. Er trat einen Schritt vor. »Entschuldigen Sie, aber hätten Sie etwas dagegen, uns bei unseren Sicherheitsmaßnahmen zu unterstützen? Dauert nur eine Minute.« Prosser öffnete die Tür zum Dach und trat in die Sonne hinaus. David Westbury hatte Butterley und die anderen Kollegen in der Geschäftsleitung von Pardoes Übernahmeangebot in Kenntnis gesetzt und hinzugefügt, daß er natürlich postwendend abgelehnt habe. Eine vorherige Rückfrage bei der Geschäftsleitung hatte er offenbar nicht für nötig gehalten. Was Prosser da eigentlich für ein Spielchen treibe, hatte Butterley wissen wollen. Prossers Versicherung, alles laufe nach Plan, hatte ihn nicht beschwichtigen können. Ohne zu ahnen, daß Sebastian Embleton ihn von der anderen Seite des Platzes scharf beobachtete, tippte Prosser mit seinen Wurstfingern Fallas’ Nummer ein. »Hier Noddy.« »Habe Ihren Anruf schon erwartet. Soll ich weitermachen?« »Ich denke, die in Frage stehende Ware sollte unverzüglich beschafft werden, wie verabredet. Nur mit der Plazierung sollten Sie noch warten. Es wäre nicht gut, wenn sie vorzeitig entdeckt würde«, sagte Prosser. »Sie können sich auf mich verlassen.«, sagte Fallas. Denn mein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit, dachte Prosser. Er würde Maggie einen kleinen Ausflug gönnen. Bei diesem Wetter war mit guter Beute zu rechnen.
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19 »Nostrum? Kurs 158-62«, sagte der Market- maker, aus noch schlafverklebten Augen einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm werfend. »Für tausend wären das … Wie meinst du? Danke, Jake. Ich revanchier mich bei Gelegenheit.« Er griff sich ein Mikrophon von einem der Monitore und verkündete dem Händlersaal: »Nacht- und-Nebel-Aktion. Die Banditen bieten 185 für alle Nostrum- Anteile, die sie kriegen können.« Einige der Händler, die eng gedrängt in vielen Reihen hintereinander hinter ihren Bildschirmen saßen, unter Bedingungen, die Hennen in einer Legebatterie zum Aufstand provoziert hätten, unterbrachen ihre morgendlichen Telefonate und schalteten eiligst auf die Direktleitungen zu ihrem bevorzugten institutionellen Anleger. Wenn aber Cadwallader hier mitmischte, wußten die natürlich schon Bescheid. »Scheiße«, sagte der Market- maker, während er den auf dem Bildschirm angezeigten Preis nach oben korrigierte. »So eine verdammte Scheiße aber auch …« »Was ist denn jetzt kaputt?« fragte sein Nachbar. »Dieser Scheißladen Nostrum ist kaputt. Mir fehlen zweihunderttausend Anteile. Die hat mir alle Morrie Minchkin abgeknöpft, seit Tagen kauft er sie schon auf. Und ich hab gedacht, hier bin ich mal echt auf dem Gewinntrip.« »Das ist aber nicht nett von Morrie.« Der Market- maker legte die Hände zusammen. »Lieber Gott, laß es nicht zu einer Übernahme kommen. Ich verspreche auch, daß ich mit dem Porsche nie wieder schneller als zweihundert fahre.« »Sei kein Trottel«, sagte sein Nachbar. »Du glaubst doch nicht, daß Minchkin an der Sache interessiert wäre, wenn nicht eine Übernahme im Busch wäre.«
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»Wie seh ich aus?« Jeremy drehte sich vor Sally, die das Frühstück machte, in seinem neuen Anzug um die eigene Achse. »Nicht übel. Das will allerdings nicht viel sagen, Schätzchen. So wie du vorher rumgelaufen bist, wärst du aus der bulgarischen Handelsdelegation geflogen. Als Schandfleck auf dem modischen Ruf des Landes. Tut mir ja leid, daß die Klamotten diesmal nur von Marks & Spencer sind, aber bis wir die Sache mit deinem Gehalt geregelt haben, müssen wir auf Savile Row eben noch verzichten. Kaffee?« »Bitte.« Jeremy war zu Sally gezogen. Beide fanden es ziemlich witzlos, daß er Geld, das er nicht hatte, für eine Wohnung ausgab, in der er sich doch nie aufhielt. »Ich kann dir nicht genug danken für all das, was du für mich getan hast, Sally.« »Bilde dir nur nicht ein, daß ich milde Gaben verteile. Früher oder später präsentiere ich dir die Rechnung … Sei mal still!« Sie hob die Hand. Im Radio hatten die Börsennachrichten begonnen. »… war in Tokio ruhig«, sagte die Stimme des Ansagers, »und der Nikkei Index schloß kaum verändert. Hier in London ist die Tendenz nach dem gestrigen flauen Geschäft an der Wall Street ebenfalls lustlos. Die einzige bemerkenswerte Nachricht aus der Wirtschaftswelt ist eine Nacht-und-Nebel-Aktion um Aktien des Erfrischungsgetränkeherstellers Nostrum. Das Interesse eines unbekannten Käufers hat den Kurs um fünfundzwanzig Pence höher getrieben. Eingeweihte rechnen in Kürze mit einer Übernahme.« »Hast du das gehört?« fragte Sally triumphierend. »Was hab ich dir gesagt? Beeil dich, Jeremy, damit wir ins Büro kommen. Ich will sehen, was sich da tut.« »Natürlich steht nicht BIG hinter der Nacht-und-Nebel-Aktion, Morrie. Jetzt reg dich doch bloß wieder ab, sonst kriegst du gleich den nächsten Herzinfarkt, und dann ist eine 204
Transplantation fällig. Womöglich geben sie dir aus Versehen das Herz von einem Goi, und damit wärst du aus dem Geschäft. Außerdem bildest du dir doch nicht ein, daß wir es über Cadwallader machen würden? Aufgeblasene blaublütige Arschlöcher, die ihre Dienstboten holen müssen, wenn sie den Hintern gewischt haben wollen. Wenn du mich fragst, riecht das eher nach Pardoe. Der gleiche Schlag. Ich will jetzt gar keine Nostrum-Aktien kaufen. Im Gegenteil, ich will sie loswerden.« »Bist du wahnsinnig geworden, Alex?« Prosser mußte den Hörer vom Ohr weghalten. »Eine Übernahme liegt in der Luft. Kein Mensch kauft sich mit zehn Prozent in eine Firma wie Nostrum ein, wenn er nicht Interesse an dem Laden hat.« »Morrie, ich bezahl dich nicht dafür, daß du mir sagst, wie ich meinen Laden führen soll, sondern du kriegst dein Geld, weil du ein Händchen für den Aktienhandel hast. Der Markt glaubt, daß eine Übernahme ansteht. Du glaubst, daß eine Übernahme ansteht. Ich glaube, daß eine Übernahme ansteht. Und deshalb kriege ich jetzt vierzig Prozent mehr für die Nostrum-Aktien, als ich seinerzeit bezahlt habe. Ist doch kein schlechtes Geschäft …« »Aber ich hab gedacht, du wolltest selber ein Übernahmeangebot machen.« »Wie kommst du bloß auf so was, Morrie? Davon hab ich nie ein Wort gesagt.« »Schon gut, Alex, der Kunde hat immer recht. Meinetwegen, ich verkauf die verdammten Dinger für dich, aber … Da, jetzt ist es auf dem Schirm. Du hattest recht, wie immer. Pardoe Trust will Nostrum übernehmen. ›Hundertfünfundneunzig Pence pro Aktie, geschätzter Wert der Firma 64 Millionen Pfund‹ … blablabla … ›paßt ideal in Pardoes derzeitige Aktivitäten auf dem ErfrischungsgetränkeMarkt‹ … blablabla … ›Nach den heutigen Käufen besitzt Pardoe jetzt insgesamt 14,9% der Nostrum GmbH.‹ Da haben 205
sie aber nichts anbrennen lassen.« »Und da sieht man mal wieder, was von der Treue der institutionellen Anleger zu halten ist.« »Also eins würde mich ja interessieren: Woher hast du gewußt, daß Pardoe ein Angebot machen würde?« »Wie soll ich das verstehen, Morrie? Ich hab eben eine Nase für solche Sachen.« »Deine Nase möcht ich haben! Demnach hab ich die ganze Chose also tatsächlich in die falsche Kehle gekriegt. Ich hab gedacht, daß du Nostrum haben willst, aber so, wie’s im Augenblick läuft, hilfst du ausgerechnet Pardoe in den Sattel.« »Das Firmeninteresse geht vor, Morrie. Rache kann man auch kalt genießen. Bis bald.« Prosser trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Er erwartete noch einen Anruf. Da war er schon. »Mr. Butterley möchte Sie sprechen, Mr. Prosser.« Er lächelte. Keine Geschäftsleute, die Typen. Weiße Mäuse waren das, die in einem Labyrinth hinter Käsebrocken herjagten. Und die Käsebrocken hatte Prosser gelegt. »Ich bin nicht im Haus, Jacqui. Und wenn du ihn abwimmelst, kann’s nicht schaden, wenn du anklingen läßt, daß ich keine Zeit habe, mich mit ihm und seinesgleichen abzugeben.« Eins mußte er noch erledigen, ehe er sich die wohlverdiente Entspannung gö nnen konnte. Prosser ging die Wendeltreppe zum Dach hinauf und tippte die bewußte Nummer auf den Cayman-Inseln in sein Funktelefon ein. Dank seiner geheimen Transaktionen gehörten ihm jetzt über fünf Prozent NostrumAnteile, die er umgehend loszuschlagen gedachte. Und wenn die jetzt auch noch an Pardoe gingen, sollte es ihm nur recht sein. Sally schüttelte ratlos den Kopf. »Das versteh ich nicht. Beim besten Willen nicht. Ich habe fest damit gerechnet, daß BIG ein 206
Übernahmeangebot für Nostrum machen würde.« »Wenn du dich in diesem Punkt geirrt hast, könnte es nicht sein, daß du auch in allen anderen Punkten falschliegst?« »Tu mir den Gefallen und hör auf zu quasseln, Jeremy. Ich muß nachdenken. Kannst du nicht was Nützliches tun?« Der Vorwurf traf ihn um so schmerzlicher, als er keinen Schreibtisch hatte, hinter dem er sich verschanzen konnte. Er versuchte es mit einer Schmollhaltung, schlug die Arme übereinander und scharrte mit den Füßen über den Teppich, aber Sally dachte angestrengt nach und achtete überhaupt nicht auf ihn. Vergrätzt stand er auf und ging zu Prosser hinüber. Merkwürdigerweise war keine seiner Assistentinnen im Vorzimmer. Er klopfte und betrat Prossers Reich. Prosser und Lucinda standen sich an dem klotzigen Schreibtisch gegenüber wie beim Haschenspielen. Prosser, eine Banane in der Hand, täuschte bald in die eine, bald in die andere Richtung, während sie versuchte, ihn nicht an sich heranzulassen. Als Jeremy eintrat, kreischte sie gerade: »Nein, Mr. Prosser, keine Bananen. Tut mir leid, aber bei Bananen mache ich nun wirklich nicht mehr mit.« Prosser sah kurz zur Tür, und diese Ablenkung nutzte Lucinda zur Flucht. »Besten Dank, Jeremy. Sie hätten es mal wieder nicht besser treffen können. Was ist?« »Entschuldigen Sie die Störung, Sir. Ich wollte nur fragen, ob Sie schon dazu gekommen sind, sich meinen Bericht anzusehen.« Prossers Stimmung wechselte unvermittelt von gnatzigem Groll zu überschwenglicher Begeisterung. »Aber natürlich, mein Junge. Hat mir sehr imponiert, Jeremy, ehrlich. Enorm, was Ihr Gripskasten so alles ausspuckt. Besonders Ihre Anmerkungen zu dem Projekt Erfrischungsgetränk. Hört sich sehr vielversprechend an. Der Sache werden wir nachgehen.« Er schälte die Banane und stopfte sie sich in den Mund. »Wie fanden Sie meinen Vorschlag für die Parkhäuser?« 207
fragte Jeremy. Prosser sah ihn verständnislos an. »Parkhäuser?« tönte es undeutlich durch den Bananenmampf. Jeremy erläuterte seine Idee. »Sehr gut, Jeremy, ausgezeichnet. Warum sind darauf nicht meine Leute … meine anderen Mitarbeiter, meine ich … gekommen? Passen Sie mal auf, mein Junge. Kommen Sie doch mal zum Lunch. Roach und ich laden uns ab und zu ein paar Leute ein, mit denen man vernünftig reden kann. Wir sitzen zusammen, machen ein bißchen Brainstorming und so weiter. Ist sicher ganz interessant für Sie. Lucinda soll Sie auf die nächste Gästeliste setzen.« An Prossers Fax leuchtete das Licht auf. Seine Aufträge waren ausgeführt, zu einem sehr günstigen Kurs. Auch Morrie hatte die BIG-Anteile abgestoßen, so daß Prosser mit einigen unbedeutenden Ausnahmen keine Beteiligung mehr an Nostrum hatte. Bisher lief alles sehr erfreulich. Er übertrug die Information auf die Diskette, die an seinem Hals hing, und gab die Fax-Blätter in den Reißwolf. Sollten sich die Mäuse nur den Käse schmecken lassen. Lange würden sie keine Freude mehr daran haben. Mr. Bennett schob Dienst in der Halle von BIG House, wobei er versuchte, den ohrenbetäubenden Lärm der Preßlufthämmer zu überhören, die unmittelbar vor der Tür ihr Werk vollbrachten, und einen Blick aus Charmaines hyazinthfarben ummalten Augen zu erhaschen. Seit der dummen Geschichte mit Tracey MacCullen spielte sie die Spröde. Dabei konnte er doch im Grunde gar nichts dafür. Die Person hatte es darauf angelegt. Wußte doch jeder, daß sie nie genug davon kriegen konnte. Mr. Bennetts Leibesvisitationen wirkten noch weit abschreckender, als er ahnte. Die meisten weiblichen Angestellten machten einen großen Bogen um Bennett und seine Mannen und zogen es vor, das Haus durch ein 208
Lagerraumfenster im Erdgeschoß zu betreten und zu verlassen. Immer noch besser, ein paarmal am Tag dort herumzuturnen, als sich von gründlichen Händen befummeln zu lassen. Bennett hatte infolgedessen an diesem Vormittag wenig Gelegenheit, seinen Pflichteifer zu demonstrieren. Nur zwei Spinatwachteln um die Fünfzig aus dem Schreibsaal strichen jetzt schon das sechste Mal an ihm vorbei in der Hoffnung, daß die TraceyMacCullen-Episode kein Einzelfall gewesen war, aber Bennett biß nicht an. Die Jüngeren hatten sich noch immer nicht darüber beruhigt, wie übel man der armen Tracey mitgespielt hatte, und waren nicht mehr gewillt, die faulen Ausreden von HUMA hinzunehmen. Solange Nettle im Krankenhaus war – und das schien sich länger hinzuziehen –, mochte dort offenbar niemand eine Entscheidung treffen. Sechs der Frauen beschlossen, selbst die Initiative zu ergreifen. Während Mr. Bennett in der Halle lauerte, kletterten Sharon, Elsie, Sandra, Barbara, Noreen und Tracey aus dem Lagerraumfenster und machten sich mit einer Einkaufsliste auf den Weg nach Soho. Inzwischen liefen die Eingangskörbe im Schreibsaal über. »Mr. Fallas bitte.« »Mit wem spreche ich?« »Mein Name ist Butterley.« Fallas meldete sich. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Butterley?« »Sie sind mir wärmstens empfohlen worden. Würden Sie in einem der von Ihnen übernommenen Aufträge einen Hinderungsgrund dafür sehen, auch für meine Firma zu arbeiten? Nostrum GmbH. Wir möchten Sir Jocelyn Pardoe von der Firma Pardoe Trust und Alexander Prosser von der British Industrial Group observieren lassen.« »Ich sehe da keinen Interessenkonflikt.« »Sie haben den Auftrag, Mr. Fallas.« Jeremy kam in sein Büro zurück, setzte sich auf die 209
Schreibtischkante, hauchte auf seine Fingernägel und rieb sie an seinem Anzug blank. »Du siehst aus wie die Katze, die den Kanarienvogel gefressen hat. Was ist los?« fragte Sally. »Ach, nichts weiter. Nur daß ich zum Lunch bei Mr. Prosser eingeladen bin. Um ein bißchen zu quatschen. Und zum Gedankenaustausch mit ihm und seinen Freunden.« »Dann solltest du schleunigst versuchen, noch ein bißchen trinkfester zu werden, Jeremy. Mr. Prossers Geschäftsessen arten meist in wüste Besäufnisse aus.« Saure Trauben, dachte Jeremy. Purer Neid. »Fand er deine Idee mit den Parkhäusern gut?« »Großartig. Nachdem ich sie ihm noch mal auseinandergesetzt hatte.« »Aber gelesen hatte er deinen Vorschlag nicht?« »Nein, ihm schien nur meine Stellungnahme zu dem Soft Drink aufgefallen zu sein. Komisch, was?« »Oder auch nicht. Kommt auf den Standpunkt an.« »Jetzt hör endlich auf zu motzen, Sally. Gib zu, daß du falschgelegen hast.« »Wenn du meinst … Intelligenz sehr gut, Beobachtungsgabe mangelhaft. Fällt dir hier nichts auf?« »Nein.« »Zum Beispiel das, worauf du sitzt?« »Mein Schreibtisch! Toll, Sally. Wie hast du das geschafft?« »So, wie man in diesem Laden alles schafft. Indem man auf den Putz haut.« Es klopfte. Jeremy machte auf. Vor ihm standen zwei Büroboten. »Heißen Sie Seaman?« »Kommt drauf an«, sagte Jeremy vorsichtig, »ob Sie einen Schreibtisch holen wollen.« »Diesmal nicht, Meister.« »Ja, dann bin ich Jeremy Seaman. Was kann ich für Sie tun?« 210
»Gar nichts, Meister. Okay, Jacko, anheben.« Jeremy wurde ziemlich unsanft beiseite geschubst, während die beiden einen weiteren, sehr viel größeren Schreibtisch heranwuchteten. »Hey, der gehört hier nicht hin«, protestierte Jeremy. »Ich brauche ihn nicht. Ich habe meinen alten Schreibtisch wieder, das genügt mir. Nehmen Sie das Ding wieder mit.« »Geht nicht, Chef. Auf dem Laufzettel steht, daß wir den Schreibtisch in dieses Büro bringen sollen, und das tun wir jetzt, stimmt’s, Jacko? Ein paar Schritte zurück, dann schieben.« Jeremy hörte Sally kichern. »Sei still«, fuhr er sie an, »du kannst aber auch gar nichts ernst nehmen. Hören Sie mal, Sie können diesen Schreibtisch hier nicht stehenlassen.« »Schon zu spät, Chef.« Jacko beförderte das imposante Möbel mit einem energischen Stoß ins Zimmer, und mit vereinten Kräften stellten sie es in die Lücke zwischen Sallys und Jeremys Schreibtisch. »Aber das ist doch idiotisch«, sagte Jeremy aufgebracht. »Für zwei Leute und drei Schreibtische ist hier einfach nicht genug Platz, das sehen Sie doch selbst. Jetzt sei doch mal still, Sally … Können Sie nicht wenigstens den anderen mitnehmen?« »Machen wir, Chef.« »Na also!« »Sobald wir einen Laufzettel dafür haben.« »Gehen Sie nicht«, bettelte Jeremy. »Bitte gehen Sie nicht …« Die Tür schloß sich hinter den beiden Muskelmännern. »Hör endlich auf zu gackern, Sally. Das ist überhaupt nicht komisch.« »Urkomisch sogar, du armes Würstchen. Wenn du die Nase ein bißche n weniger hoch tragen würdest, hättest du das längst kapiert. Jetzt komm an die frische Luft. Nein, schon gut, ich klettere rüber.« 211
Der neugierige Schwälberich saß auf dem Fensterbrett und schüttelte ungläubig den Kopf. Ein so ungemütliches Nest hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Wo sollten die Jungen leben? Hatten diese Zweibeiner darüber schon mal nachgedacht? Ausgelassen kichernd kletterten die Mädchen durch das Lagerhausfenster und breiteten ihre Beute auf dem Fußboden aus. Die bei sechs weiblichen Wesen auf Einkaufstour natürlicherweise auftretende Unentschlossenheit war durch die Art der Einkäufe noch verstärkt worden. Bei manchen Sachen wußte Noreen immer noch nicht, wozu sie eigentlich waren, traute sich aber nicht recht, es zuzugeben. Tracey als die Geschädigte hatte sich zur Anführerin aufgeschwungen. »Okay, haben wir alles? Lippenstift, Tasche, Sekundenkleber, Müllsack, Ball, Batterien? Ihr habt doch hoffentlich Alkali genommen. Nicht daß sie zu früh den Geist aufgeben. Charmaine weiß, was sie zu tun hat?« Sharon sah auf die Uhr. »Sie müßte jetzt eigentlich am Start sein.« »Also gut, Mädels«, sagte Tracey. »Führen wir einen Schlag gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, besonders durch fette, schmierige alte Säcke.« Charmaine verließ ihren Posten und schlenderte zu Mr. Bennett hinüber, dem sofort wieder der Kamm schwoll. Hab doch gewußt, daß sie es nicht lange fertigbringt, mir die kalte Schulter zu zeigen, dachte er. Charmaine leckte sich die burgunderroten Lippen, wie sie es hundertmal in Dallas gesehen hatte, und streckte die Hand aus. Sie griff nach Bennetts Schlips und spielte damit, so daß er abgelenkt war, als Sharon, Elsie, Sandra, Barbara, Noreen und Tracey sich von hinten anschlichen. Während sie ihm den Müllsack über den Kopf stülpten, ruckte Charmaine kräftig an dem Schlips, so daß die Schlinge sich bedrohlich fest zuzog. »Was ist los? Hilfe, 212
Terroristen, ein Überfall!« brüllte und würgte der blinde Mr. Bennett, während er an den Armen gepackt und von sechs Händepaaren durch die Halle und in die Damentoilette gezerrt wurde. Charmaine hängte ein Schild »Außer Betrieb« vor die Tür, drehte sich um und ging an ihren Arbeitsplatz zurück. Trotz verzweifelter Gegenwehr konnte Mr. Bennett nicht verhindern, daß er entblättert wurde. Erst fielen die Schuhe und Socken, dann Jacke, Schlips, Hemd, Unterhemd, zum Schluß Hose und Unterhose. Rüdes Gelächter hallte von den gekachelten Wänden wider, als respektlose Bemerkungen über Größe und Beschaffenheit von Mr. Bennetts Manneszier fielen, Bemerkungen, die selbst im Umkleideraum der Lewisham Leopards als gewagt gegolten hätten. Charmaine stellte die Musikberieselung in der Halle lauter, um Mr. Bennetts Hilfeschreie zu übertönen. Ein Gummikorsett wurde ihm übergestreift und fesselte ihm die Arme. »Seht ihr, es ist die richtige Größe!« krähte Elsie. Tracey griff unter den Müllsack, legte Bennett die Binde über die Augen und riß dann die Plastikverhüllung weg. Während die anderen ihm die Beine festhielten, steckten Barbara und Noreen seine Füße in die zwickellosen Höschen und zogen sie hoch. Strümpfe und Strapse folgten. »Zu schade, daß wir keine Stöckelschuhe in Größe elf gefunden haben«, bedauerte Sharon. Elsie ließ sich mit ihrem Päckchen auf einem Toilettensitz nieder und fing an zu blasen. »Solange sein Dingerich so schlapp runterhängt, können wir nichts machen«, sagte Barbara. »Und ich denk nicht dran, da anzufassen.« »Brauchst du auch nicht, Schätzchen«, sagte Tracey. »Dreh ihn mal rum. Fertig, Sandra? Darauf hab ich mich schon die ganze Zeit gefreut.« Tracey MacCullen stellte sich hinter den Werkschutzmann, und während die anderen ihn an den Schultern festhielten, 213
schaltete sie den Vibrator an und rammte ihn mit aller Kraft in Mr. Bennett hinein. Der machte den Mund auf, um ein Schreck- und Schmerzgebrüll rauszulassen, aber da steckte ihm Sandra den Gummiball in den Mund, so daß ihm eine weitere Teilnahme am Gespräch unmöglich war. »Na also«, sagte Tracey befriedigt. »Das ist wirklich ein erhebender Anblick. Seht euch das an!« Sie staunten über die wunderbare Wirkung des Vibrators. »Eigentlich schade drum«, sagte Sharon. »Können wir nicht –« »Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Tracey. »Der Mann muß seine Strafe haben. Wirklich, was sich manche Frauen so denken … Wo ist das Spray?« Noreen reichte ihr das umweltfreundliche Spray Bullenstop. Mr. Bennett gab dumpf gurgelnde Geräusche von sich, als der betäubende Inhalt der ganzen Dose über sein hoch aufgerichtetes Glied gesprüht wurde. »Ob ihm das weh tut?« »Hoffentlich«, sagte Tracey mit Nachdruck. »Wo ist der Sekundenkleber?« »Kommt nicht erst der Überzieher?« »Am liebsten war’s mir ja, wenn wir den Kleber direkt –« Barbara schauderte. »Nein, du, das geht denn doch zu weit!« Die anderen schüttelten sich und gaben ihr recht. Mr. Bennett, der ebenso verzweifelte wie vergebliche Gegenwehr leistete, war ersichtlich der gleichen Ansicht, aber seine Meinung war nicht gefragt. »Na schön«, sagte Tracey mürrisch. »Aber ich zieh ihm das Ding nicht über.« »Gib her.« Barbara zog die Lümmeltüte aus der Packung. »Los, mach schon«, drängte Tracey. »Brauchst ihn nicht mit Samthandschuhen anzufassen, der spürt sowieso nichts.« Barbara wandte den Blick ab und versah Mr. Bennett mit dem Gummischutz. »Fertig«, meldete Elsie zufrieden aus der Kabine. Alle bewunderten die zu voller Größe aufgeblasene 214
Wunderpuppe Wanda. »Ätzend«, sagte Noreen und hatte damit allen aus der Seele gesprochen. »Bißchen Beeilung, Mädels«, sagte Tracey, »sonst sind wir morgen früh noch hier. Erst der Sekundenkleber.« Sie strich den Kleber auf das Kondom, dann wurde unter lautem Jubel die Vereinigung von Wanda mit Mr. Bennett vollzogen. »Nicht schlecht.« Zufrieden betrachtete Tracey ihr Werk. »Gar nicht schlecht. Jetzt noch der Lippenstift, dann sind wir fertig.« Mr. Bennett wußte nicht, wie ihm geschah. Eben noch hatte er friedlich seinen Dienst in der Eingangshalle versehen, dann war er von Terroristen entführt worden, die aber gar keine Terroristen waren, sondern sich als Tracey MacCullen und ihre Gang entpuppt hatten. Terroristen wären ihm fast lieber gewesen. Die hätten ihm nicht die Kleider vom Leib gerissen und ihm irgendeine summende Teufelei in den Hintern gesteckt. Gar nicht auszudenken, was die verdammten Weiber mit seinem edelsten Teil angestellt hatten. Er spürte da unten überhaupt nichts mehr. Ihn grauste bei dem Gedanken an die teuflische Wirkung von Sekundenklebern. Mr. Bennett wußte nur soviel: Er befand sich in der Eingangshalle von BIG House. Er hörte den Springbrunnen. Wenn es ihm gelang, links an dem Springbrunnen vorbeizukommen, war er auf dem Weg zu seinem Büro, und dort würde er Hilfe finden. Vielleicht konnte er sich ganz unauffällig bis dorthin vorarbeiten. Charmaine, die gespannt hinter ihrem Tresen saß, hatte nicht gewußt, was in Kürze auf sie zukommen würde. Der Anblick von Mr. Bennett mit einer Binde über den Augen, einem Gummiball im Mund, in Gummikorsett, Schlüpfern, Strümpfen und Strapsen, aus dem Damenklo taumelnd und Wanda, die Wunderpuppe, vor sich her tragend, war schon schlimm genug. Aber was war das für ein gräßliches Summgeräusch, das von 215
ihm ausging? Charmaine war ein empfindsames Wesen. Kreischend sprang sie auf und ließ ihren Tresen im Stich. Mr. Bennetts Hoffnung, unbemerkt zu bleiben, war mit Charmaines markerschütterndem Schrei dahin. Noch aber gab er sich nicht geschlagen, sondern tappte unverdrossen weiter durch die Halle. Eigentlich schade, dachte Tracey MacCullen, daß nur so wenige Zuschauer diese kolossale Kreation bewundern konnten. Kurz entschlossen schlug sie die Scheibe des Feuermelders ein. Jetzt bekam Mr. Bennett es doch mit der Angst zu tun. Er hatte keine Lust, sich bei lebendigem Leib verbrennen zu lassen. In Panik rannte er los – und prallte zu seiner Verwunderung gegen eine Wand. Er lief in eine andere Richtung, aber auch dort traf er auf einen eigenartig federnden Widerstand. Inzwischen hatte sich eine beachtliche Zuschauermenge versammelt, um das Schauspiel zu genießen. Die Mitarbeiter waren zwar nach Auslösen des Feueralarms in die Halle geströmt, hatten es aber nicht eilig, das Gebäude zu verlassen. Es gab weder Rauch noch Flammen, und nicht jeden Tag sieht man einen fetischistischen Werkschutzmann mit einer Sexpuppe am Penis durch die Eingangshalle torkeln, mit verbundenen Augen und in einem Gummikorsett, auf dem mit Lippenstift das Wort Lustmolch prangte. Mr. Bennett verlangsamte das Tempo. Für dieses komische Abfedern mußte es irgendeine ganz einfache Erklärung geben. Immer wieder hörte er schmatzende Geräusche, wenn er irgendwo nicht weiterkam. Diese verdammten Weiber mußten ihm irgendwas angeklebt haben, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, was es sein mochte oder wie es befestigt war. Dann kam ihm ein fürchterlicher Gedanke. Sie würden doch nicht … Er taumelte nach links und federte erneut zurück. Gelächter, Pfeifen und Trampeln begleiteten seine Bemühungen. Mr. Bennett war ganz offenkundig nicht mehr 216
allein. In diesem Moment flippte der Werkschutzchef von BIG total aus. Er flüchtete vor dem infernalischen Krach in die Gegenrichtung. Das hätte er nicht tun sollen, denn damit geriet er geradewegs in die üppig wuchernde Vegetation des Atriums. Der Wald von Yuccas mit ihren spitzigen Blättern schien nur auf ihn gewartet zu haben. Mit dem eindrucksvollsten Knaller ihres kurzen Arbeitseinsatzes platzte Wanda, die Wunderpuppe, auseinander.
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20 Mit Mr. Bennetts Entlassung aus den Diensten von BIG wegen anstoßerregenden Verhaltens und der Beförderung des Majors zum Werkschutzchef hörten die störenden Zwischenfälle erstaunlicherweise schlagartig auf. Der Major war wie umgewandelt. Er hatte Spaß daran, stellte er fest, ein Rädchen in der großen BIG-Maschine zu sein. Geradezu genüßlich las er jetzt, wenn er morgens seine Zeitung aufschlug, die Meldungen über immer neue Firmen, die von BIG geschluckt, abgespeckt, geschlachtet oder geschlossen worden waren, unter Anwendung immer neuer Tricks und Kniffe, die er Rommel beim Frühstück zu erläutern pflegte. Da sich aber die Beziehung zwischen Herrn und Hund merklich abgekühlt hatte und Rommel durch Bewegungsmangel stetig feister und träger wurde, ließ sich der Dackel nur selten zu einer Antwort herbei. Unter Sallys Anleitung und sorglicher Pflege blühte Jeremy auf. Es wäre vielleicht übertrieben zu behaupten, er sei ein neuer Mensch geworden, immerhin war er weit weniger schüchtern und unsicher als früher. Daß er finanziell nach wie vor von Sally abhängig war, obgleich der mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassene Nettle beteuerte, Jeremy könne nun täglich mit der Klärung seines Gehaltsproblems rechnen, störte ihn dabei nicht weiter. Er war stolz darauf, daß Prosser ihn häufig zu Rate zog. Zwar waren Jeremy und Sally noch immer unterschiedlicher Meinung darüber, ob sich der große Boß von BIG gerade noch innerhalb oder weit jenseits der Legalität bewegte, aber ansonsten, fand Jeremy, war das Leben durchaus eine gute, runde Sache. Pardoes Übernahmeangebot für Nostrum grummelte leise am Wirtschaftshimmel. Man fühlte sich dabei – wie häufig bei Übernahmeangeboten – an ein Radrennen erinnert. Über viele Runden ziehen die Teilnehmer stur ihre Bahn, bis einer die 218
Nerven verliert und es von einer Minute zur nächsten zu einem atemberaubenden, erbitterten Finish kommt. Noch mochte sich keiner recht festlegen, aber selbst David Westbury und Jack Butterley war mittlerweile klar, daß letztlich Pardoe sich durchsetzen würde. Nostrum hatte den Kontakt zur City so lange schleifen lassen, daß es jetzt schwerfiel, Hilfstruppen in hinreichender Stärke zu rekrutieren, besonders da die anderen Mitglieder der Westbury-Sippe ein Maß an Familiensinn erkennen ließen, das den sich notorisch an- und vergiftenden Borgias alle Ehre gemacht hätte. Pardoe Trust hatte seine Beteiligung an Nostrum auf fast 30% steigern können. Nostrums Tage als selbständiges Unternehmen waren offenkundig gezählt. David Westburys Nerven schleiften am Boden. Seit Wochen wurde der Nostrum-Firmenchef in den frühen Morgenstunden von geheimnisvollen Anrufern aus dem Schlaf gerissen. Auf Schritt und Tritt waren ihm Verfolger auf den Fersen. Zweimal war bei ihm zu Hause eingebrochen worden, seine Wertsachen blieben unberührt, aber zahlreiche geschäftliche Unterlagen verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Für all diese Unerfreulichkeiten gab es wohl nur eine Erklärung: Pardoe war nicht der Gentleman, für den David Westbury ihn gehalten hatte. Ohne Beweise aber waren ihm die Hände gebunden. Die kostspieligen Ermittlungen des von Butterley eingeschalteten Fallas hatten nicht den kleinsten brauchbaren Hinweis ergeben. Wenn es in diesen Tagen einen Menschen gab, der noch desperater war als David Westbury, so war das Jack Butterley. Falls Pardoe die Firma schluckte, war er, der Finanzchef, einer der ersten, denen man den Stuhl vor die Tür setzen würde. Und damit war seine Hoffnung dahin, mit Zischfit zu Ruhm und Reichtum zu kommen. Aber seine Entscheidung stand fest. Wenn Nostrum dran glauben mußte, das hatte er sich fest vorgenommen, war es auch um Prosser geschehen. Butterley hatte genug gegen ihn in der Hand, um ihn hochgehen zu lassen. Besser wäre es natürlich, wenn er, Butterley, sich 219
irgendwie herausretten konnte, ehe es zu dem großen Knall kam. »Du mußt was tun, Alex, ohne deine Hilfe sind wir aufgeschmissen.« »Nichts lieber als das, Jack«, schwindelte Prosser. »Aber Pardoe hat alles schon so schön festgeklopft …« »Dem Typ linkst du doch den Laden mit links wieder ab«, sagte Butterley. Prosser schüttelte betrübt den Kopf. »Ich hab mir die Zahlen immer wieder angesehen, Jack. Ehrlich gesagt, gibt es da ein großes Hindernis: Diese einprozentige Umsatzbeteiligung an Zischfit, die du dir ausbedungen hast. Schmälert die Gewinnspanne ganz gewaltig.« Butterley schluckte. »Also schön, Alex, wenn’s denn sein muß: Unternimm was, und ich gehe auf ein halbes Prozent runter.« »Von mir aus herzlich gern«, beteuerte Prosser mit frommem Augenaufschlag. »Aber seit du zum erstenmal in dieser Sache bei mir warst, hat sich die Situation erheblich verändert. Pardoe braucht nur noch ein paar große institutionelle Anleger, dann hat er gewonnen. Könnte knapp werden. Ein Viertelprozent wäre mir sympathischer.« »Dann hilft es wohl nichts … Aber kann ich mich darauf verlassen, daß das dein letztes Wort ist?« Irgendwann würde er das Prosser heimzahlen. Darauf freute er sich jetzt schon. »Aber klar doch, alter Freund. Ein Viertelprozent, abgemacht?« Mit jenem lobenswerten Maß an Vertrauen, das seit jeher die Verhandlungen honoriger englischer Geschäftsleute kennzeichnet, nahmen zwei Tonbandgeräte das Gespräch Wort für Wort auf. Der große Tag war gekommen, an dem Jeremy mit Prosser und seinen prominenten Freunden mittags zu Tisch sitzen sollte. Er war frühzeitig ins Büro gegangen und wurde im Laufe des 220
Vormittags zunehmend nervöser. Vor Prosser hatte er noch immer einen Heidenrespekt, und er wußte, daß außer ihm und Roach noch der Investment-Manager eines großen Unternehmens und ein weiterer Wirtschaftsboß eingeladen waren, deshalb war er, wie er Sally erklärte, fest entschlossen, einen guten Eindruck zu machen. »Dann rate ich dir dringend, eisern den Mund zu halten.« »Na hör mal …« »Nein, im Ernst, Jeremy. Wenn du die ganze Zeit stumm lächelnd dasitzt, denken die anderen, wunder wie gescheit du bist. Aber sobald du was sagst, findet sich bestimmt einer, der anderer Meinung ist als du. Vergiß nicht, daß das alles ausgebuffte Typen sind. Und iß schön deinen Teller leer, hörst du? Ron Niblo kann sehr ungehalten werden, wenn er den Eindruck hat, daß jemandem sein Essen nicht schmeckt. Ein Journalist, der sein Gemüse hatte liegenlassen, ist von hier aus direkt in die Unfallstation eingeliefert worden – und zwar nicht wegen einer Lebensmittelvergiftung.« Jeremy lief es kalt den Rücken herunter, wenn er an Niblo, diesen Kleiderschrank von Mann, dachte. Sally hatte ihn zu Hilfe geholt, um den dritten Schreibtisch aus dem Zimmer zu schaffen, und er hatte das Möbel mit einer Hand gestemmt wie Balsaholz. Auf seinen neuen Schreibtisch war Jeremy unheimlich stolz, es war das gleiche Modell wie das von Prosser. Wenn er sich täglich neu darauf freute, ins Büro zu gehen, dann unter anderem auch deshalb, weil ihn dort dieser unvergleichliche Arbeitsplatz erwartete. »Warum hat Prosser denn keinen richtigen Koch?« Sally schob einen fertiggetippten Brief in den zugehörigen Umschlag. »Das hängt mit seinem Sicherheitsfimmel zusammen. Er lebt ständig in der Furcht, jemand könnte ihn umbringen. So ganz aus der Luft gegriffen ist diese Angst sicher nicht – Leute, die ihn lieber tot als lebendig sähen, gibt’s genug. Deshalb ist er fast nur per Flugzeug unterwegs. Ganz kann er das Autofahren natürlich nicht vermeiden. Einmal hat 221
er ein Londoner Taxi gekauft, um unbemerkt durch den Stadtverkehr zu kommen, aber diese Anonymität hat sein Ego nicht ausgehalten. Deshalb hat er jetzt den kugelsicheren Rolls.« Sie klebte den Umschlag zu. »Irgendwo hat er mal was von einem italienischen Wirtschaftsführer gelesen, der vergiftet worden ist, deshalb läßt er an sein Essen nicht mal die Assistentinnen ran. Für sein leibliches Wohl ist allein Niblo zuständig, dem vertraut er blind. Im übrigen kocht der Typ gar nicht schlecht. Ein bißchen großküchenmäßig, aber durchaus eßbar. Das hat er im Kna st gelernt, sagt Prosser. In Wormwood Scrubs.« Sally legte den Brief in den Ausgangskorb. »So, und jetzt laß dich anschauen. Steh mal auf.« Jeremy gehorchte. »Gefalle ich dir?« Sie stützte das Kinn in die Hände. »Lieb von dir, daß du dich heute im Dunkeln angezogen hast, um mich nicht zu stören. Das Sakko, das ich dir ausgesucht habe, ist Spitze. Die Hose, die ich dir ausgesucht habe, ist Spitze. Beides zusammen ist verheerend. Du hast zwei verschiedene Anzüge erwischt, du Pflaume.« Auf dem Dach telefonierte Prosser mit Morrie Minchkin. »Ja, Alex?« »Die Entwicklung bei Pardoe Trust gefällt mir nicht recht, Morrie. Wir haben noch immer einige Aktien, und ich hab das Gefühl, daß der Kurs jeden Moment absacken kann. Versuch, sie möglichst vorsichtig abzustoßen.« »Wird gemacht. Gleich nach dem Lunch.« »Mir war’s lieber, wenn du dir das Lunch heute schenken würdest.« Morrie lachte in sich hinein. »Okay, ich laß mir ein paar Sandwiches kommen. Wenn ein Übernahmeangebot läuft, besteht bekanntlich strikte Mitteilungspflicht. Das könnte den Kurs drücken.« 222
»Lehr du mich die Bande von der Börse kennen! Wiederhören, Morrie.« Danach rief er Fallas an. »Hier Noddy. Alles startklar?« »Ja.« »Bestens. Dann sage ich sofort Wackelmann Bescheid und verständige Sie, wann es losge hen kann.« »Einverstanden.« Prosser sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin. So, das war’s. Normalerweise hatte er Nerven wie Drahtseile, jetzt aber merkte er, daß seine Hände feucht geworden waren. Er wischte sie an der Hose ab, dann wählte er die Nummer von Nostrum. Mit der linken Hand drückte er dabei unwillkürlich Daumen. »Jack Butterley, bitte.« »Wer möchte ihn sprechen?« »Sein Bruder.« »Moment bitte.« Klassische Musik ertönte in der Leitung, während die Verbindung hergestellt wurde. »Ja, bitte?« fragte Butterley ziemlich verblüfft. »Erkennst du meine Stimme?« »Aber ja … So schnell hatte ich deinen Anruf gar nicht erwartet … Bruderherz!« »Ist David Westbury im Haus?« »Ich glaube schon.« »Sieh zu, daß du ihn in den Sitzungssaal kriegst. Sag ihm, du hättest etwas sehr Wichtiges mit ihm zu besprechen.« »Und dann?« »Auf dem Konferenztisch steht ein Aschenbecher. Während du mit ihm redest, schmeißt du das Ding auf den Boden, so daß es in tausend Stücke geht.« »Und wozu soll das führen?« »Zur Rettung in der Not, Bruderherz. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe Gäste zum Lunch.« »Mineralwasser?« wiederholte Prosser entrüstet. »Unsinn, 223
mein Junge. Mit der Temperenzlermasche können Sie bei mir keinen Eindruck schinden. Alkohol ist bekanntlich gut fürs Gehirn. Nehmen Sie ein Bier.« Prosser reichte dem widerstrebenden Jeremy einen schäumenden Krug und führte ihn zu den anderen Gästen, deren Gespräch er rücksichtslos unterbrach. »Meine Herren, das ist Jeremy Seaman, Direktor unserer Denkfabrik und der Superschlaueste von unserem superschlauen Nachwuchs. Das ist Max Milton, Jeremy. Obermotz der Firma Argent-Dessous. Er geht gewissermaßen unseren Mädels von Berufs wegen an die Wäsche.« Die anderen lachten pflichtschuldig. Jeremy schüttelte Milton, einem Mann um die Fünfzig, mit rotem Gesicht, langen Koteletten und müden Augen unter schweren Lidern, schüchtern die Hand. »Und das ist Bernie Korngold, Investment-Manager der Versicherungsgesellschaft Empire Assurance. Ein Wort von Bernie – und der Kurs einer Aktie steigt oder fällt um Millionen. Empire ist einer unserer Großaktionäre, deshalb müssen wir besonders nett zu Bernie sein.« Korngold war dunkelbraun gebrannt. Seine sommersprossige Glatze spiegelte unter den Lampen. Goldkettchen klimperten, als Jeremy ihm die Hand schüttelte. Noch hatte zum Glück niemand gemerkt, daß Jeremys Nadelstreifen unterhalb der Taille abrupt aufhörten. »Bernie ist gerade von einem kleinen Segeltörn zurückgekommen«, erläuterte Prosser. »Wie war’s, Bernie?« »Super. Aber anstrengend. Eine einzige Fegerei, Alex, von morgens bis abends. Besten Dank übrigens.« »Ein nautischer Ausdruck, wenn ich nicht irre«, erläuterte Prosser. Zu Jeremys Verblüffung quittierten die anderen diese Bemerkung mit neuerlichem Gelächter. Prosser trat mit Korngold an den Tisch. »Denk an den Jugendschutz, Bernie …« »Was sind Sie doch für ein Tölpel, Butterley. Schauen Sie, was Sie gemacht haben.« David Westbury sah seinen 224
Finanzchef strafend an. Er war ein ordnungsliebender Mann und legte Wert auf Ordnung auch in seinem Sitzungssaal – solange es noch der seine war. Er hockte sich hin, um die Scherben aufzulesen. Butterley sah stirnrunzelnd zu Boden. Ein kaputter Aschenbecher – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Dieser Prosser und sein dämliches Gerede … Auch er hockte sich jetzt hin und half Westbury beim Scherbensammeln. »Vorsicht, Mann, Sie haben ein Stück übersehen.« Westbury war neuerdings wirklich sehr reizbar. »Da drüben, unter dem Tisch.« Butterley robbte hin. »Herrgott noch mal«, stieß Westbury hervor. »Was ist denn das?« Butterley folgte seinem Blick. »Wenn ich mich nicht sehr irre, David, ist das die Rettung aus der Not.« Die British Industrial Group, pflegte Prosser zu erklären, sei im britischen Wirtschaftsleben auf breiter Front im Vormarsch. Bis der Nachtisch auf den Tisch kam, war auch der Boß von BIG reichlich breit, und seine Gäste desgleichen. Das übliche Business Lunch mit Mineralwasser und ein paar Salatblättern war hier verpönt. Bei Prosser gab es ein ausgewachsenes DreiGänge-Menü mit handfester englischer Hausmannskost. Jeremy war froh gewesen, als man sich zu Tisch setzte, weil man dort seine unpassende Hose nicht sah. Sallys Rat befolgend, hatte er sich während des Essens mäuschenstill verhalten. Das fiel ihm nicht schwer, denn für so ein Gespräch fehlte ihm einfach die Sachkunde. Prosser, Korngold und Milton erörterten nicht etwa gewichtige Probleme der Wirtschaft oder der Politik, sondern erzählten sich knallige Stories von Sex und Weibern. Sie redeten von Frauen, die sie gehabt hatten, von Frauen, die sie gern gehabt hätten, und von Frauen, die sie Gott sei Dank nicht hatten haben müssen. Roach beteiligte sich zwar nicht an diesem 225
Erfahrungsaustausch, warf aber hin und wieder eine anzügliche Bemerkung ein. Zu Jeremys Bestürzung trieb Prosser es am schlimmsten und beglückte die anderen mit einer endlosen Flut von Zoten. Jeremy aß brav, was ihm vorgesetzt wurde, und trank, was man ihm einschenkte. Als der Likör aufgefahren wurde, war er ebenso abgefüllt wie die anderen. Inzwischen war der Kasinoton eher noch rüder geworden. Nur hier und da drangen Fetzen des Gesprächs in Jeremys Bewußtsein. »O Himmel, ich hab den Lütten im Bus vergessen«, grölte Prosser. »›Na komm‹, sag ich, ›mach mal ’ne Tour auf meinem Vergnügungsapparat‹, und die blöde Zicke denkt doch tatsächlich, ich meine den Hubschrauber.« Gegen Ende des Essens wurde Jeremys Kopf ein bißchen klarer. »Das war nämlich die Bedingung«, prustete Prosser, während er sich Kümmel nachschenkte. »Wanda wollte nur mit ihm schlafen, wenn er sich ihren Namen auf den Schwanz tätowieren ließ. Das tat er dann auch, und dann merkte er, daß nur ›Wanda‹ dastand, wenn er erigiert war. Sonst sah man bloß das W und das A. Los, Jeremy, trinken Sie aus. Nicht mauern, Junge! Ja, und eines Tages ist er in einem Pub auf dem Klo, und neben ihm steht ein riesiger Schwarzer. Und wie er so am Pinkeln ist, sieht er, daß der Sambo ein W und ein A auf seinem Schwanz hat. ›Ich werd verrückt‹, sagt er. ›Erzähl mir bloß nicht, daß du Wanda kennst.‹ – ›Was laberst du da, Mann?‹ fragt der Nigger. ›Du hast Wanda auf deinem Dingerich eintätowiert‹, sagt unser Mann. ›Wanda? Du spinnst, Mann‹, sagt der Schwarze. ›Guck mal!‹ Er wichst sich einen, der Schwanz wird steif, und da steht: ›Willkommen in Jamaica, ich bin schon da.‹ Los, Jeremy, lach mal. Das sollte nämlich ein Witz sein.« Jeremy lächelte matt. Lange konnte diese Qual ja nicht mehr dauern. Er mußte dringend auf die Toilette. »Zigarre, Jeremy?« Eine dicke Havanna wurde ihm 226
zwischen die Lippen gesteckt und angezündet. Jeremy hatte noch nie geraucht, aber es schien nicht weiter schwierig zu sein. Man brauchte nur tief einzuatmen, dann glühte es am anderen Ende rot auf. War wirklich ein Klacks. Wieso mußten die eigentlich immer unanständige Witze erzählen? Es gab doch auch genug andere. Er war kein großer Witzeerzähler, aber gerade jetzt war ihm ein längst vergessenes Rätsel aus der Kinderzeit wieder eingefallen. »Ich weiß auch einen«, brabbelte er. »Am besten nimmst du erst mal die Zigarre aus dem Mund, Kleiner«, riet Milton ihm gutmütig. »Ich weiß einen Witz.« Jeremy warf Milton einen bösen Blick zu. Von diesem Nußknacker ließ er sich noch lange nichts sagen! »Na, dann mal los«, sagte Prosser. »Bin schon sehr gespannt.« Jeremy rülpste. »Also alle mal herhören! Warum haben Elefanten große Ohren?« Korngold beugte sich vor. »Keine Ahnung. Warum denn?« Jeremy strahlte. »Weil Noddy das Lösegeld nicht zahlen will.« Roach fiel das Glas aus der Hand. Es zerbrach an der Tischkante. Er wechselte einen besorgten Blick mit Prosser. Korngold und Milton stöhnten nur. Jeremy hatte davon nichts mitbekommen. Er stand auf, hielt sich am Tisch fest und hickste. »’tschuldigung. Muß mal zum Klempner. Undichte Stelle im Rohr.« Roach wandte sich beunruhigt an Prosser. »Was quatscht er da von Noddy und Großohr? Und von einer undichten Stelle?« »Keine Ahnung. Aber ich gehe der Sache gleich nach. Kümmere du dich inzwischen um unsere Freunde.« Minchkin lebte davon, daß er alles erfuhr, was sich an der Aktienbörse tat, aber Prosser, das mußte der Neid ihm lassen, war fast noch besser. Der hörte geradezu das Gras wachsen. 227
Der Pardoe-Kurs war an diesem Morgen erfreulich hoch, er hatte keine Mühe, die restlichen BIG-Anteile abzustoßen. Die Investment-Manager warteten schon gierig auf Beute. Das Geschäft ging fast ohne jede Kurserschütterung über die Bühne. Am frühen Nachmittag aber sackten Pardoe Trust und Nostrum merklich ab, und zu seinem großen Ärger konnte Minchkin nicht ergründen, weshalb das so war. Der Börsenreporter des Evening Standard brachte als erster die Meldung, im Sitzungssaal von Nostrum sei ein Abhörgerät gefunden worden. Durch eine Erklärung der Firma über das börseneigene Nachrichtensystem TOPIC wurde diese Meldung wenig später bestätigt. Die Anwälte von Nostrum hatten zu einer neutralen Formulierung geraten, in der von »unbekannten Tätern« die Rede war. Die Polizei habe die Ermittlungen aufgenommen. Börsenmakler gelten nicht gerade als originelle Denker, aber man brauchte kein Einstein zu sein, um zwei und zwei zusammenzuzählen und als Ergebnis Pardoe Trust herauszubekommen. Wer sonst sollte Interesse daran haben, den Sitzungssaal von Nostrum zu verwanzen? Damit war es um Pardoes Ruf geschehen, die Kurse des Unternehmens fielen in den Keller – und zogen Nostrum mit. Schon hieß es, das Übernahmeangebot sei gefährdet. »Haben Sie sich gut amüsiert, Jeremy?« Prosser zog am benachbarten Pissoir seinen Reißverschluß herunter. Jeremy, der gerade damit beschäftigt war, einen Teil der in den letzten zwei Stunden konsumierten Flüssigkeit zu entsorgen, konnte nur mit einem unverständlichen Brummen antworten. Er hatte aus Versehen die blöde Zigarre mitgenommen, und da er im Augenblick beide Hände brauchte, hatte er sich den Glimmstengel wohl oder übel in den Mund stecken müssen, obgleich ihm inzwischen schon ziemlich flau war. »Mmmm«, sagte er. Bei jedem Atemzug kam mehr von diesem scheußlichen, beißenden Rauch in seine Lungen. 228
»Ist alles sehr erfreulich verlaufen, nicht?« meinte Prosser. »Mmm …« Ob Prosser es wohl sehr unhöflich finden würde, wenn er den stink enden Glimmstengel einfach wegwarf? »Glänzender Witz, den Sie da erzählt haben. Hatte er noch irgendeinen – äh – tieferen Sinn?« »Mmmm?« stöhnte Jeremy. »Haben Sie eben ja gesagt?« fragte Prosser bestürzt und fuhr herum, ohne zu bedenken, wo er war. Jeremy machte einen erschrockenen Satz, als ihn unerwartet ein kräftiger Strahl traf. »He, was soll denn das«, stieß er hervor und ließ die Zigarre fallen – ohne ein Gespür dafür, wie gefährlich das sein konnte. Prosser hingegen spürte trotz seines leicht benebelten Zustandes die Gefährlichkeit der Zigarre um so mehr. Er roch verbranntes Fleisch und stieß einen gellenden Schrei aus. Jeremy tat einen Blick in Prossers schmerzverzerrtes Gesicht, einen zweiten auf die Stelle, an der die Zigarre gelandet war, und ergriff schleunigst die Flucht. Die anderen Gäste, bei denen er ob dieser Katastrophe Anteilnahme zu finden hoffte, genossen die Geschichte sehr, und als Milton zu allem Überfluß noch entdeckte, daß Jeremy eine neue Anzugmode kreiert hatte, steigerte sich die allgemeine Heiterkeit ins Unermeßliche. Auch Sally, der er sein Herz ausschüttete, reagierte nicht so, wie er es sich gewünscht hätte. Sie fiel ihm um den Hals und bekam einen Lachanfall. »Was hast du gemacht? Verbrennungen ersten Grades auf seinem Schwanz? Das muß ich den anderen Mädels erzählen. Ich sehe schon die Schlagzeilen. Zigarrenzoff um Prossers Pimmel. Oder: Glutvolle Gaudi in Großkonzern. Oder … Nein, jetzt fällt mir nichts mehr ein.« »Wehe, du erzählst das weiter, Sally. Es ist überhaupt nicht komisch. Mr. Prosser hat offenbar große Schmerzen. Wo ist der Erste-Hilfe-Kasten?« 229
»Laß mich das machen. Ich pinsele ihm mit dem größten Vergnügen Jod auf seinen Jedermann.« Jeremy gab es einen Ruck. »Untersteh dich!« »Na gut«, gab sie nach. »Eigentlich sollte es mich wohl freuen, wenn du dich darüber so aufregst. Ich schicke Lucinda, die versteht sich auf kühlende Wirkung. Sag mal, Jeremy, geht’s dir nicht gut? Du siehst plötzlich ganz grün aus.« Die Zigarre hatte ein weiteres Opfer gefordert. Jeremy stürzte zum Fensterbrett und kotzte in den Philodendrontopf.
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21 Sir Jocelyn legte, geblendet von den gleißenden Lichtern der Fernsehkameras, die Hand vor die Augen. Von hinten hielt ihm jemand einen aufgespannten Golfschirm über den Kopf, um die Unterlagen, die er in der Hand hielt, vor dem abendlichen Nieselregen zu schützen. Seine gewohnte Liebenswürdigkeit drohte ihm unter dem Ansturm der immer gleichen idiotischen Fragen abhanden zu kommen. »Habe ich das nicht bereits in der von mir verlesenen Erklärung beantwortet? Mein Vorstand würde ein derart hinterhältiges Vorgehen weder billigen noch entschuldigen. Falls es dieses Abhörgerät überhaupt gibt, haben wir jedenfalls nichts damit zu schaffen.« »Ewer, BBC«, plärrte der gefürchtete Mattscheibenmotz, der jetzt in seiner Fernsehanstalt und in der Zeitschrift Private Eye nur noch Pisse-Ewer hieß. »Wenn nicht Pardoe Trust die Wanze eingeschmuggelt hat, wer dann?« »Darüber möchte ich eigentlich nicht spekulieren. Allerdings ist es, so meine ich, ein recht eigenartiger Zufall, daß das Gerät ausgerechnet in einer so entscheidenden Phase der Übernahmeverhandlungen entdeckt wurde. Sehr praktisch, sehr hilfreich, nicht wahr …« »Wird die Firma Pardoe aufgrund dieser Entwicklung ihr Angebot zurückziehen?« »Wir müssen bei der Führung von Übernahmeverhandlungen sehr strenge Auflagen beachten, und ich bin deshalb nicht befugt, mich im Detail zu diesem Thema zu äußern. Nur soviel: Wir sehen keinen Anlaß, nicht weiterhin zu unserem Angebot zu stehen. Meine Vorstandskollegen haben mir glaubhaft versichert, daß sie mit diesem Vorfall nichts zu tun hatten. Ich zweifele nicht daran, daß es sich um Gentlemen handelt, auf deren Wort ich mich verlassen kann.« Pardoe ließ die weiter auf ihn einstürmenden Fragen ins Leere laufen. »Jetzt sind Sie aber naß genug geworden, meine Damen 231
und Herren! Ich habe meinen Ausführungen nichts mehr hinzuzufügen und wünsche Ihnen allen eine gute Nacht.« Damit stieg er samt Gefolge die Stufen wieder hinauf und verschwand im Verwaltungsgebäude der Pardoe Trust. Noch ehe Justin Ewer seine Betrachtungen zu dem Fall beendet hatte, stellte Sally mit der Fernbedienung den Kasten ab und wandte sich an Jeremy, der neben ihr im Bett lag. »Interessiert dich das nicht?« »Mich interessiert im Augenblick nur«, stöhnte der leidende Jeremy, »wenigstens ein paar Augen voll Schlaf zu kriegen. Können wir jetzt bitte das Licht ausmachen? Außerdem hab ich das alles schon heute mittag gehört, sie haben beim Essen darüber geredet.« »Beim Essen?« wiederholte Sally aufgeregt. »Wann denn?« »Schrei doch nicht so! Beim Hauptgang, glaube ich. Es muß irgendwann nach dem Witz von dem Bischof und Macbeth gewesen sein. Warum?« »Überleg doch mal, du Hirni! Wo ist der Standard?« Sie griff über den laut jammernden Jeremy hinweg. »Sei nicht so wehleidig«, fertigte sie ihn ab und blätterte hastig in der Zeitung. »Da ist es. ›Die Nachricht, die um halb drei den Aktienmarkt erreichte, führte zu einer sofortigen Reaktion …‹ und so weiter und so fort. Um die Zeit hast du gerade in den Philodendron ge spuckt. Das ist der Beweis!« »Ich sag dir doch, ich muß was Schlechtes gegessen haben. Der Beweis wofür?« »Daß Prosser oder Roach schon vorher von der Wanze gewußt haben. Der Hauptgang war doch sicher noch vor zwei.« »Bestimmt hat Prosser sehr viel bessere Informationsquellen als der Evening Standard, Sally. Außerdem dürfte doch ziemlich klar sein, daß es Pardoes Leute waren, die hier die Hand im Spiel hatten. Wie käme Prosser dazu, sich für so was herzugeben?« »Das weiß ich nicht. Aber ich krieg es schon noch raus.« »Ob du dazu wohl das Licht ausmachen könntest? Danke 232
und gute Nacht.« »Gute Nacht«, tönte es gekränkt aus der Dunkelheit. »Sally?« »Was ist?« »Verstehst du was vom Segeln?« »Nicht viel. Warum?« »Was ist Fegen?« »Machst du Witze? Wie kommst du darauf, daß es was mit Segeln zu tun hat?« »Prosser hat gesagt, es ist was Nautisches. Korngold von der Empire Assurance hat sich bei Prosser dafür bedankt. Komisch, einen so sportlichen Eindruck hat er gar nicht auf mich gemacht.« »Korngold von der Empire Assurance hat sich bei Prosser bedankt, daß er ihm was zum Fegen verschafft hat?« »Ja. Irgendwas von einer großen Prinzessin.« »Ich muß mich wohl mal näher mit der Empire Assurance befassen, die haben da offenbar auch die Finger drin.« »Hör auf, in Rätseln zu sprechen. Was ist Fegen?« »Sag mal, Jeremy, hast du das Gefühl, als ob das Bett mit dir durch den Raum schaukelt?« »Genau. Ganz scheußlich.« »Dann sind deine Navigationskünste dieser Tätigkeit vermutlich zur Zeit nicht gewachsen. Ich erklär’s dir morgen früh. Gute Nacht, Jeremy.«
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22 »Wie fühlst du dich heute?« »Ich warne dich, Großohr. Ein Grinsen – ein einziges schüchternes Grinsen! –, und ich vergesse mich!« Roach versuchte, nicht allzu auffällig den dicken Verband anzustarren, der sich unter Prossers Hose abzeichnete. »Tut’s noch weh?« »Natürlich tut’s noch weh. Verdammt weh. Dir tut auch der Schwanz weh, wenn ein verantwortungsloser Vollidiot ihn als Aschenbecher mißbraucht.« Prosser griff sich einen Bleistift und fuhr bedrohlich leise fort: »Aber eins kann ich dir versprechen. Mit dem Typ rechne ich noch ab. So oder so.« Der Bleistift brach in der Mitte durch. »Der einzige Trost ist, daß Sir Jocelyn von der Presse ganz schön geschlachtet worden ist. Der Ärmste. Nur Gentlemen im Vorstand, wie? Na warte, mein Junge …« Er wandte sich dem Bildschirm mit den Londoner Börsennotierungen zu. »Sieh mal an! Der Aktienmarkt glaubt demnach immer noch, daß man auf das Wort eines Gentleman Häuser bauen kann. Schau dir das an. Die Kurse sind praktisch wieder auf dem gestrigen Stand. Ist das meins oder deins?« »Meins.« Roach nahm sein Funktelefon von Prossers Schreibtisch. »Hier Roach. Hallo, Désirée. Na, so eine Überraschung.« Er schnitt ein Gesicht. »Soso, die Kinderfrau ist krank. Und was soll ich aus zwölf Kilome tern Entfernung dagegen tun? Nein, natürlich kann ich mich nicht um die Blagen kümmern … Tennisstunde? Kannst du nicht absagen? … Dann mußt du sie eben mitnehmen … Tschüs, Désirée … Wirklich, Désirée, ich muß weitermachen … Tschüs.« Er stellte den Apparat wieder hin. »Verdammte Weiber.« Prosser wählte Minchkins Nummer. »Nichts gegen Weiber, Joe. Das Problem sind die Ehefrauen. Hallo, Morrie?… Ja, ich hab den Kurs gesehen. Du kannst jederzeit bekanntgeben, daß 234
BIG die Pardoe-Anteile verkauft hat … Ja, ich weiß, daß wir dazu bis zwölf Zeit haben, aber am besten machst du’s gleich.« Er tippte die nächste Nummer ein. »Ich sag Fallas Bescheid. Zeit für den Fangstoß.« »Ja, also dann bis später.« Roach erhob sich ziemlich hastig. Über das, was jetzt kam, wollte er gar nicht so genau Bescheid wissen. Prosser machte schmale Lippen und wollte gerade etwas über Memmen und Hosenscheißer sagen, als Fallas sich meldete. »Hier Noddy … Ja, wie vereinbart … Am besten im Evening Standard, ganz recht … Lassen wir’s erst mal so laufen, sollen die ruhig selber Detektiv spielen. Wenn sie nicht weiterkommen, können wir immer noch nachhelfen. Wiederhören.« Prosser legte auf und trat, einen seiner geliebten SousaMärsche summend, ans Fenster. »Jetzt kommt der große Kladderadatsch. Leben Sie wohl, Sir Jocelyn, war nett, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.« Peter Mottram quittierte den Umschlag, den der Bote ihm gebracht hatte, und riß ihn auf. Persönlich und vertraulich, nur für den verantwortlichen Redakteur des Wirtschaftsressorts … Sicher wieder so eine PR-Masche. Eine Einladung wahrscheinlich. Er schüttete den Inhalt des Umschlags auf den Schreibtisch. Komische Einladung. Er griff nach dem Foto. Es war sehr grobkörnig, aber der Typ, der da gerade ein Bürohaus verließ, war eindeutig Jocelyn Pardoe. Mottram, der entgegen den Hausregeln eifrig an der Börse spekulierte, besaß seit langem Pardoe-Aktien. Gerade hatte er einen Leitartikel verfaßt, in dem er Sir Jocelyn und seinen Vorstand gegen den geäußerten Verdacht verteidigte und Nostrum vorwarf, mit schmutzigen Tricks ein honoriges Übernameangebot zu Fall bringen zu wollen. Zwar hatte David Westbury der Presse etwas von geheimnisvollen mitternächtlichen Anrufen, ständigen Verfolgern und Einbrechern in seiner Villa 235
vorgeweint, aber Mottram hatte da so seine Zweifel. Dieser Westbury konnte ihnen viel erzählen. Er sah sich das Foto genauer an. An der Tür hinter Pardoe war ein Messingschild zu erkennen: »Nostrum GmbH«. Mottram wurde hellwach. Er griff nach dem Taschenkalender, der ebenfalls in dem Umschlag gesteckt hatte. Auf dem Ledereinband waren die Initialen ARP eingeprägt. Amanda Pardoe? Nicht ausgeschlossen. Er ließ seinen Schreibtischstuhl kreisen und rief einen Reporter heran, der hinter ihm gesessen und in der Nase gebohrt hatte: »S tell mal im Archiv fest, ob Lady Amanda Pardoe einen zweiten Vornamen hat.« Er blätterte in dem Kalender. Friseurtermine, LunchVerabredungen mit Freundinnen, vielleicht auch mit Freunden, Urlaubsplanungen. Die normalen Eintragungen im Kalender einer reichen, vom Luxusleben angeödeten Frau. Für ihn gab das nichts her. Allenfalls für die Jungs von der Klatschkolumne mochte da noch was drin sein. Doch dann las er den letzten Eintrag und saß plötzlich bolzengerade auf seinem Drehstuhl. »Nostrum kaufen. Übernahme. Todsicherer Tip. Nicht vergessen.« Er verglich das Datum. War ihr Mann wirklich so dumm gewesen, ihr zu verraten, daß er die Absicht hatte, Nostrum zu schlucken? Und hatte sie tatsächlich Anteile gekauft? »Ihr zweiter Vorname ist Rowena«, meldete der Reporter. »Okay. Du kriegst raus, wie ihr Mädchenname war, dann saust du zu Nostrum und siehst dir das Aktienregister an. Stell fest, ob sie unter ihrem jetzigen oder ihrem Mädchennamen Aktien gekauft hat, ehe das Übernahmeangebot an die Öffentlichkeit gelangt ist. Ich weiß, es ist unwahrscheinlich, aber versuchen kann man’s ja mal. Wenn der Prokurist hört, was wir suchen, müßte er sich eigentlich einen abbrechen, um dir unter die Arme zu greifen.« Mottram wollte den Umschlag schon in den Papierkorb werfen, da merkte er, daß sich in dem unteren Falz etwas verklemmt hatte. Nach kräftigem Schütteln fiel der 236
Durchschlag eines Kreditkartenbelegs heraus, ausgestellt vor wenigen Tagen für Lady Amanda Pardoe von einem Geschäft für Elektrozubehör in der Tottenham Court Road. Sie hatte dort »Waren« im Wert von 112,50 Pfund gekauft. In wachsender Aufregung rief Mottram seinen Aktienhändler an und gab Order, sofort seine Pardoe-Aktien zu verkaufen. Erst als er die Bestätigung hatte, wählte er eine interne Nummer. »Ich muß dringend den Chef sprechen, Ruth. Möglich, daß uns gerade die beste City-Story seit dem Guinness-Skandal in den Schoß gefallen ist. Danke, ich komme gleich vorbei. Kann nicht schaden, wenn er jemand von der Rechtsabteilung dazuholt.« Suchend sah er sich unter seinen Mitarbeitern um. Er brauchte eine Frau. »Komm mal her, Pam. Versuch schleunigst rauszukriegen, was mit diesem Kreditkartenbeleg gekauft worden ist. Und daß du das Ding bloß nicht verlierst, ist das klar? Ich hab so das Gefühl, daß unsere liebe Freundin sich ein Abhörgerät zugelegt hat. An die kommt man ziemlich problemlos ran. Wenn das stimmt, kauf dir auch so eins und komm damit gleich wieder her. Frag bei Nostrum, ob es derselbe Typ ist, der unter dem Tisch im Sitzungssaal gefunden worden ist. Ein Bild von dem Laden brauche ich auch, nimm einen Fotografen mit. Los jetzt, Schätzchen, erheb dich von deinem faulen Hintern! Worauf wartest du noch?« Jocelyn Pardoes Sekretärin, die seit zweiundzwanzig Jahren bei ihm war, schluchzte jämmerlich, als sie ihm die Zeitung brachte. »Wie können die so furchtbare Sachen schreiben?« Pardoe wußte in groben Zügen schon, was auf der Titelseite stand. »Regen Sie sich nicht auf, Miss Kimble«, sagte er, während er den Artikel überflog. »Die Verleumdungsklage gewinnen wir mit fliegenden Fahnen. Und jetzt verbinden Sie mich bitte mit meiner Frau.« »Ja, Sir Jocelyn«, schniefte sie unglücklich. Pardoe griff zum Hörer. »Amanda? Hast du den Evening 237
Standard gelesen?« »Du machst mir Spaß! Natürlich hab ich den Scheiß im Evening Standard gelesen!« »Es hilft uns nicht weiter, wenn du ausfallend wirst.« »Was zum Teufel hast du mit meiner Kreditkarte gemacht, du hinterhältiges Schwein?« »Ich?« Pardoes abgeklärte Fassade bröckelte. »Diese Unterstellungen verbitte ich mir. Ich mag zu manchem fähig sein, aber daß ich mich als Frau verkleide, wenn ich einkaufen gehe – so weit geht es denn doch nicht.« »Du willst hoffentlich nicht behaupten«, fragte Lady Amanda leise, »daß ich das Scheißding gekauft habe?« »Nein, nein, natürlich nicht«, versicherte er eilig und wenig überzeugend. »Allerdings weiß ich nach der Episode auf Barbados nicht mehr so recht, was ich von dir halten soll. Was ist mit den Aktien? Hast du welche gekauft?« »Klar hab ich welche gekauft. Was dagegen? Leicht verdientes Geld.« Bis jetzt hatte Pardoe noch gehofft, das Ganze würde sich als bedauerlicher Irrtum erweisen. »Du dumme Schnepfe«, fuhr er auf. »Insidergeschäfte sind strafbar, das müßtest sogar du wissen. Für so was kannst du hinter Gitter kommen.« »Wie sollte ich ahnen, daß jemand das merkt? Jetzt steig bitte mal eine Minute von deinem hohen Roß runter, Jocelyn, und sag mir, was wir tun sollen«, giftete Lady Amanda. »Beruhige dich, Liebes, mir wird schon was einfallen.« »Hoffentlich was Gescheites.« »Woher hat eigentlich die Zeitung deinen Taschenkalender?« »Frag mich was Leichteres. Ich hab ihn im Urlaub verloren, keinen Schimmer, wer – o verdammt, jetzt fällt’s mir wieder ein. Von allen dreckigen, schmierigen, widerwärtigen, ordinären, hinterhältigen Säcken ist er mit Abstand der Hinterletzte.« »Wer denn? Was faselst du da, Weib? Von wem redest du?« 238
»Das fragst du noch? Von Prosser. Alexander Charles Prosser.« Jetzt hob auch Pardoe die Stimme. »Prosser? Das ist ja reizend. Vielen herzlichen Dank, Amanda. Erst vögelt dieser miese Napoleon meine Frau, und jetzt macht er auch noch mich fertig.« »Tu mir den Gefallen, Lorraine, und zieh deinen Rock ein Stück runter. Und deine Möpse brauchen mir auch nicht gerade ins Gesicht zu springen.« Schmollend sah Lorraine zu ihrem Boss auf. »Ich denk, Sie haben gern ein bißchen Fleischbeschau, Mr. Prosser.« »Normalerweise schon. Nur hat gestern bekanntlich ein gefährlicher Irrer seine Zigarre auf meinem Schwanz ausgedrückt, da sieht das etwas anders aus. Ich möchte meinen Verband nicht unnötig strapazieren. Selbst deinem Spatzengehirn müßte es eigentlich eingehen, daß heute kleidungsmäßig was Züchtigeres angesagt ist. Der normale Verkehr ist aufgrund einer technischen Störung zur Zeit eingestellt. Wir hoffen, sie in Kürze beheben zu können. Wenn’s soweit ist, erfährst du es als erste, Ehrenwort.« Das Telefon läutete, und er meldete sich. »Ja, was ist? Ach, du bist’s, Morrie.« »Stell mal den Fernseher an, Alex, ein guter alter Bekannter von dir ist im Bild. Kannst mich hinterher noch mal anrufen …« Prosser drückte einen Knopf, und auf dem Schirm erschien erneut Sir Jocelyn Pardoe vor der Hauptverwaltung des Pardoe Trust. »… meine Vorstandskollegen und ich sind uns darüber einig, daß es das beste für alle Beteiligten ist, wenn ich meine Aufgaben im Konzernvorstand ruhen lasse, bis diese … äh … unglückselige Angelegenheit aufgeklärt ist. Meine Kollegen haben mich gebeten, darauf hinzuweisen«, quetschte Pardoe durch zusammengebissene Zähne, »daß die Entscheidung, uns 239
um die Übernahme von Nostrum zu bemühen, seinerzeit nicht einstimmig getroffen wurde und man deshalb jetzt entschieden hat, von dem Vorhaben Abstand zu nehmen. Mein Kollege Henry Garstang wird vorübergehend in meiner Vertretung die Geschäfte führen. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.« Pardoe versuchte, sich der Menge zu entziehen, doch ein vor freudiger Erregung fast ausflippender Justin Ewer vertrat ihm den Weg und hielt ihm ein Mikrophon unter die Nase. Nichts tat er lieber, als auf bereits am Boden liegende Opfer einzudreschen, bis die Fernsehmillionen das Blut fließen sahen. Roach betrat Prossers Büro. Der winkte ihm, er solle sich hinsetzen und den Mund halten. »Sir Jocelyn, ist die Wanze auf Veranlassung Ihrer Frau in den Sitzungssaal von Nostrum geschmuggelt worden?« »Meine Anwälte haben mir geraten, zu dieser Frage zunächst keine Stellung zu nehmen.« »Sir Jocelyn, stimmt es, daß nicht nur Ihre Frau NostrumAktien gekauft hat, sondern daß unmittelbar vor dem Übernahmeangebot eine Bank auf den Cayman-Inseln Anteile für eine Strohmannfirma Jocelyn erworben hat?« Diese Frage traf Pardoe sichtlich unvorbereitet »Ich … das weiß ich nicht«, stotterte er. »Sollte das der Fall sein, haben wir jedenfalls nichts damit zu tun. Ich habe meine Geschäfte stets als ordentlicher Kaufmann geführt, das müssen Sie mir glauben. Ich bin das Opfer einer schändlichen Verleumdungskampagne geworden, und ihr … ihr Journalisten habt meinen Gegnern unwissentlich in die Hände gespielt.« Ewer schlängelte sich noch näher heran. »Sir Jocelyn, müßte man nach dem, was hier geschehen ist, der Firma Pardoe nicht eigentlich raten, ihren Namen zu ändern? Trust heißt schließlich Vertrauen …« Ewer hatte auf den schmalen Stufen einen unsicheren Stand. Viel Kraft stand nicht hinter Pardoes Hieb, aber er reichte aus, um den Reporter rücklings zu Boden zu werfen. Es war der harte Stein, der ihn k. o. gehen ließ, und nicht Pardoes Faust, 240
aber die Zuschauer und die übrigen Reporter sahen das verständlicherweise anders. Es gab Buh- und Schmährufe, als Sir Jocelyn sich durch die Menge drängte. »Das hättest du nicht tun sollen, mein Lieber«, bemerkte Prosser grinsend. »Du bist und bleibst ein Trottel. Große Klasse, diese Szene. Die BBC bietet uns neuerdings wirklich einiges für unser Geld.« »Was höre ich da von einer Strohfirma? So vertrottelt kann er doch gar nicht sein, daß er Aktien auf seinen eigenen Namen gekauft hat …« »Keine Spur. Der ist so anständig, daß es schon fast weh tut. Nein, die Strohfirma Jocelyn war meine Idee. Ein Wunder, daß Nostrum im Aktienregis ter erst jetzt drauf gestoßen ist. Schauderhafte Schlafmützen, die Leute.« »Also das muß man dir lassen, Alex – es läuft alles so, wie du vorausgesagt hast«, sagte Roach, aber sehr glücklich schien er nicht zu sein. »Noch ist die Kuh nicht vom Eis, Joe. Die Namensänderung für Pardoe war gar keine schlechte Idee von diesem Fernsehfritzen. Gelaufen ist der Fall erst, wenn der Pardoe Trust ein Teil von BIG geworden ist. Wird Zeit, daß ich mich mal wieder mit Fallas unterhalte.«
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23 Der neue Hauptgeschäftsführer der Nostrum GmbH erhob sich strahlend hinter seinem Schreibtisch und ging dem Besucher entgegen. »Hab den Hubschrauber gehört, Alex. Scheinst ja blendender Laune zu sein.« Sie schüttelten sich die Hand. »Wundert dich das, Jack? Wollte mal sehen, wie ihr mit unserem Wundertrank weiterkommt. War schließlich schwierig genug, mir das verdammte Gesöff zu sichern.« Butterley verließ mit Prosser sein Büro. Während sie in den Aufzug stiegen, sagte er: »Freut mich ehrlich, wieder mit dir zusammenzuarbeiten, Alex. Ich muß gestehen, daß du mir in den letzten Monaten etliche schlaflose Nächte bereitet hast.« »Du hast doch nicht etwa an mir gezweifelt?« Butterleys herzliches Lachen hallte in der kleinen Kabine wider. »Gezweifelt? Das ist die Untertreibung des Jahres! Zuerst hab ich gedacht, du siehst ganz gemütlich zu, wie Pardoe uns schluckt. Nach dem Riesentheater um die Wanze, die irgendein Helfershelfer von dir bei uns eingeschmuggelt hatte …« Er hielt einen Augenblick erwartungsvoll inne, aber Prosser äußerte sich nicht. »Ja, also nach dieser Geschichte habe ich damit gerechnet, daß du einfach da weitermachen würdest, wo Sir Jocelyn aufgehört hat. Der Restvorstand von Pardoe, diese traurige Altherrenriege, hätte dir doch liebend gern ihre dreißig Prozent von Nostrum zu Füßen gelegt.« Der Aufzug war in der Halle angelangt. Butterley hielt Prosser die Tür auf, sie traten ins Freie und wandten sich nach rechts, zur Fertigung. Es war kühl, aber sonnig. Sie waren beide ohne Mantel, und beim Sprechen hingen ihre Atemwolken in der frischen Herbstluft. Sie senkten die Stimme, als Janice von der Flascheninspektion auf dem Weg zur Kantine an ihnen vorbeihastete. Sie war wieder mal mit 242
Überlegungen beschäftigt, ob der Vater ihres ungeborenen Kindes ein verstorbener Werkschutzmann war oder einer der beiden Polizisten, die ihr in jenen kritischen Stunden so liebreich zur Seite gestanden hatten. Janice drehte sich um und musterte Prosser von hinten. Den hatte sie doch schon mal irgendwo gesehen? »Ich hätte wissen müssen«, fuhr Butterley fort, »daß eine glatte Übernahme für einen gewieften Wirtschaftsfuchs wie dich zu einfach gewesen wäre. Übrigens – ich glaube jetzt zu wissen, wie du Pardoes Ruf kaputtgemacht hast. Es ist ein Klacks, eine Strohfirma auf den Namen Jocelyn zu gründen, besonders auf den Cayman-Inseln. Und eine Kreditkarte fälschen kann jeder. Ein Ehrenmann wie er kommt gegen dich einfach nicht an, nachdem du ihn erst mal im Visier hattest. Wahrscheinlich hattest du auch bei den Aktfotos von Lady Amanda deine Hand im Spiel, die auf geheimnisvolle Art und Weise der News of the World, Men only und ähnlichen Tittenblättern zugespielt worden sind. Und dann warst du als einziger bereit, den Pardoes, die inzwischen in Scheidung lagen, ihre Anteile abzukaufen – keiner sonst wollte die auch nur mit der Kohlenzange anfassen –, und da habe ich kapiert, worauf du hinauswolltest. Und weil die Vorstandsmitglieder von Pardoe Trust alle herumliefen wie frisch geköpfte Hühner, dürfte es einem Mann wie dir nicht allzu schwer gefallen sein, ihnen ein Übernahmeangebot in beiderseitigem Einvernehmen schmackhaft zu machen. Mit der Kontrolle über Pardoe Trust hattest du natürlich auch die dreißig Prozent von Nostrum und konntest den Laden übernehmen, ohne dir noch irgendwo Unterstützung holen zu müssen.« »Du hattest schon immer eine blühende Phantasie, Jack.« »Eins steht jedenfalls fest: Einen besseren Chef für die Leitung eurer neuen Konzerngruppe Erfrischungsgetränke hättest du nicht finden können. Ich frage mich allerdings, ob du mich auch eingestellt hättest, wenn es diese Fotos nicht gegeben hätte, auf denen man sieht, wie du in unseren 243
Mülltonnen herumwühlst.« »Also ganz ehrlich, Jack – eine Zeitlang habe ich wirklich gedacht, du wärst ein Schlappschwanz geworden. Diese Meinung habe ich dann revidiert, als ich erfuhr, daß du Fallas engagiert hattest, um mir nachzuspionieren. Kein schlechter Zug. Der Haken war nur, daß er schon für mich arbeitete.« »Mist!« Butterley stieß geräuschvoll die Luft aus. »Man kann doch heutzutage keinem mehr über den Weg trauen. So, da wären wir. Der Topf mit Gold am Ende des Regenbogens.« Sie standen vor dem Eingang zur Fertigung. Butterley wandte sich an Prosser und sah ihn nachdenklich an. »Wenn ich es mir hinterher so überlege, war dein Plan verdammt riskant. Was hättest du gemacht, wenn er schiefgegangen wäre?« »Könntest du wohl einen Augenblick das Jackett aufmachen, Jack?« »Ja, natürlich, aber warum –? Ach so, alles klar.« Butterley grinste. Prosser hatte nur nachsehen wollen, ob sein früherer Kollege ein Tonband mitlaufen ließ. »Nichts für ungut. Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. Ich habe nichts dagegen, mich von der City, der Presse und den Aktionären feiern zu lassen. Wenn sie denken, daß mir die Sonne aus dem Arsch scheint, will ich ihnen die Illusion nicht rauben. Für die bin ich der große Durchblicker, der gemerkt hat, daß Pardoe Trust ein Schnäppchen ist, der Bedauernswerte, den die Umstände und blödsinnige Vorschriften dazu zwangen, ein Übernahmeangebot für Nostrum zu machen, obwohl mir überhaupt nichts an dem Laden lag, und der Glückspilz, der wenige Tage nach der Übernahme entdeckt, daß die Forschungsabteilung auf einem neuen Produkt sitzt, das Gold wert ist. Wenn aber nicht alles so glatt gelaufen wäre, hätte mich persönlich das auch nicht getroffen. Wir hatten schon einen Sündenbock ausgeguckt. Auf den waren wir eigentlich deshalb verfallen, weil er ein so besonders blauäugiger Trottel ist, aber 244
erstaunlicherweise ist er inzwischen mit ein paar wirklich guten Ideen zur Vermarktung eures Wundertranks rübergekommen. So, und jetzt gehen wir am besten mal rein und sehen uns kurz um, sonst frieren wir uns hier draußen noch die Eier ab.« »Ich kann es einfach nicht fassen, daß du all diese Zufälligkeiten so hinnimmst«, sagte Sally und hängte ihren Mantel auf. »Bist du da immer noch nicht drüber weg? So was gibt es eben.« Jeremy hängte seinen Mantel dazu. Er setzte sich an den Schreibtisch und fuhr, wie jeden Morgen, liebevoll mit den Händen an den Kanten seines Kommandostands entlang. »Zufall Nummer eins.« Sally nahm zum Abzählen die Finger zu Hilfe. »BIG sichert sich die Kontrolle über Pardoe Trust mit Hilfe einer Versicherungsgesellschaft, deren Vermögensverwalter zufällig am Tag davor mit der Führungsriege von BIG geluncht hat und vorher offenbar von eben dieser Firma zu Sonne, Sex und Segeln eingeladen worden war.« »Das mit dem Fegen war vermutlich ein Hörfehler von mir.« »Zufall Nummer zwei. Empire Assurance ist nicht nur an Pardoe Trust beteiligt, sondern besitzt – so ganz von ungefähr – auch Nostrum-Aktien.« Jeremy zuckte die Schultern. »Zufall Nummer drei. An der Spitze von Nostrum steht jetzt ein Mann, der früher eng mit Prosser zusammengearbeitet und der ihn hier besucht hat, ehe die ganze Geschichte ins Rollen kam.« »Die Welt ist klein. Auch die Welt der Wirtschaft. Das beweist überhaupt nichts.« »Zufall Nummer vier. Prossers kleiner Liebling wird gebeten, zu einem Bericht der Forschungsabteilung über ein sensationelles neues Erfrischungsgetränk Stellung zu nehmen – zu einer Zeit, da der Konzern überhaupt keine Fertigungskapazitäten für Erfrischungsgetränke besitzt. Und 245
dann – abrakadabra – sind diese Kapazitäten plötzlich da, Millionen von Litern, und was findet unser großer Boss hinter den Spinnweben im Stübchen der Nostrum-Tüftler? Eben jenes hypothetische neue Erfrischungsgetränk.« »Komm, Sally, leg endlich eine neue Platte auf, die hier hat einen Sprung.« Jeremy zog ein mißbilligendes Gesicht. »Warum kannst du nicht wie jeder vernünftige Mensch einfach zugeben, daß Prosser ein ge nialer Geschäftsmann ist? Und jetzt laß mich bitte arbeiten … Verdammter Mist!« »Was ist denn?« »Ich habe die Schreibtischschlüssel in meinem anderen Sakko steckenlassen.« »Möchte wissen, wieso du überhaupt immer abschließt.« Jeremy sah sie gekränkt an. »Die Marketingstudien zu Zischfit sind streng vertraulich.« Ohne sich um Sallys spöttisch hochgezogene Augenbrauen zu kümmern, ging er in die Knie. »Was soll denn das?« »Ist mir schon öfter passiert«, tönte es dumpf zu ihr herauf. »Unter dem Schreibtisch ist ein Schlitz. Bißchen eng, aber man kann in die Schublade … so, da wären wir.« Triumphierend schwenkte er eine Mappe und machte sich an die Arbeit. »Sag mal, Jeremy«, fragte Sally nachdenklich, »ist das ein Konstruktionsfehler nur bei deinem Schreibtisch, oder sind die alle –« »Post!« rief der Bürobote von draußen. Die Tür wurde aufgerissen, eine Hand legte die Post in den Eingangskorb, schnappte sich alles, was im Ausgangskorb lag, und verschwand wieder. Sally angelte ihren Gehaltsstreifen heraus und einen weiteren langen, schmalen Umschlag. »Sieh mal, was ich hier habe. Sitzt du gut? Mach dich auf einen Schock gefaßt. Ich glaube, deine erste Gehaltsanweisung ist da. Es steht dein richtiger Name drauf. Wir haben es geschafft. Nettle hat offenbar gemerkt, daß mit mir nicht zu spaßen ist.« Aufgeregt nahm Jeremy ihr den Umschlag aus der Hand, riß ihn auf und studierte den Computerausdruck. 246
»Wieviel?« wollte Sally wissen. »Kommt drauf an, ob man in die obere linke oder die untere rechte Ecke guckt. Oben links stehen 1666 Pfund, unten rechts zwei Pfund dreiundfünfzig Pence.« »Man merkt, daß du noch nie einen Gehaltsstreifen in der Hand gehabt hast. Die Dinger zu lesen ist eine Kunst.« Sally drängte ihn beiseite. »Tatsächlich zwei Pfund dreiundfünfzig. Das sind ja horrende Abzüge! Ich kläre das mit HUMA. Und jetzt zieh ab, sonst kommst du noch zu spät zu deiner Sitzung.« Sie rückte ihm den Schlips zurecht und strich ihm eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. Prosser sah zu, wie Maggie den Vogel verschlang. Sie war offenbar hocherfreut über ihre Beute, aber er war dabei um seinen Spaß gekommen. Vom Dach aus hatte er die Jagd nicht verfolgen können. Dann war Maggie mit einer Mehlschwalbe über der Brüstung erschienen, die sie jetzt mit Schnabel und Klauen zerlegte. Als sie fertig war, klebten Fetzen von Gedärm und Blut an ihrem Schnabel, überall lagen Federn herum. Jeremy war von Godfrey Daniels auf die Suche nach dem großen Boss geschickt worden. Staunend sah er sich im 14. Stock um, der den 13. Stock an Prachtentfaltung noch übertraf. Prosser schien auf dem Dach zu sein, die Gelegenheit für eine kurze Erkundung war demnach günstig. Die Türen waren, soweit er sie sehen konnte, alle geschlossen, aber direkt vor Jeremy war der Swimmingpool. Er ging darauf zu, vorsichtshalber ab und zu »Mr. Prosser!« rufend. Das Schwimmbecken, das unter einem Glasdach in hellem Sonnenlicht lag, war von kunstvoll gedrehten mosaikverkleideten Säulen umgeben. Auch die Wände waren mit Mosaikmustern bedeckt. So ähnlich mußten die Luxusbäder ausgesehen haben, in denen die römischen Kaiser ihre Fitneßrunden gedreht hatten. Er fuhr leicht zusammen, als er sah, daß Lucinda im Pool war und Wasser trat. Sie winkte und schwamm auf ihn zu. 247
»Hallo, Schätzchen!« sagte sie und zog sich am Beckenrand hoch. Ach du grüne Neune! Jeremy stand einen Moment wie vom Donner gerührt da und machte Stielaugen, dann lief er Hals über Kopf davon. Lucinda war barfuß bis zum Hals. Schon als er kurz nach dem denkwürdigen Lunch Lucinda auf einen harmlosen Drink eingeladen hatte, war Sally tüchtig mit ihm Schlitten gefahren. Er solle die Finger von dieser mannstollen Person lassen, hatte sie verlangt. Jeremy hatte diesen Ausdruck zwar noch nie gehört, konnte sich aber mit etwas Phantasie einiges darunter vorstellen. Sally hatte ihn nicht im Zweifel darüber gelassen, was sie von Kontakten zwischen ihm und ihren Kolleginnen vom 13. Stock hielt. Und wenn sie ihn erwischte, wie er mit einer pudelnackten Lucinda … Er mochte gar nicht daran denken. Lucindas Lachen folgte ihm die Wendeltreppe hoch und hallte von den Wänden des Pools wider. Jeremy machte die Tür zum Dach auf und trat ins Freie. »Mr. Prosser!« rief er. Prosser wandte sich rasch um und legte ungehalten einen Finger an die Lippen. Wenn auch dieser junge Spund sich bei der Vermarktung von Zischfit als recht anstellig erwiesen hatte – die Sache mit der Zigarre konnte Prosser ihm nicht verzeihen. Eine ganze Woche war der vitale Wirtschaftsführer nicht einsatzfähig gewesen. Prosser hielt Maggie auf der Faust und streichelte ihr beruhigend das Gefieder. Habichte sind wie alle Beizvögel sehr nervös und voller Argwohn Fremden gegenüber. Aber die Chance, eine kleine Rache zu üben, war zu verlockend. Prosser winkte Jeremy näher heran. »Bleiben Sie hinter ihr, damit Sie sie nicht vergrämen.« Er hielt die Faust so hoch wie möglich. Nach der reichlichen Atzung mußte sich der gewünschte Effekt rasch einstellen. »Ja, so ist es gut«, sagte Prosser, als Jeremy etwa einen Meter hinter ihm und dem Vogel stand. Wenn er Glück hatte, war es gleich soweit. »Ich wollte Sie an die Sitzung erinnern, Mr. Prosser«, sagte 248
Jeremy. Weiter kam er nicht. Maggie hatte ihren Verdauungsvorgang beendet. Ein gelblicher Strahl, durchsetzt mit festen Bestandteilen, feuchten Papierkügelchen vom Lineal eines Schuljungen nicht unähnlich, pladderte auf Jeremys Hemd und Jacke. Prosser bog sich vor Lachen, als er Jeremys Gesicht sah. Langsam rann der dampfende Schiet an Jeremys Sachen herunter. »Ja, ja, die Natur will ihr Recht, Seaman! Hätte Sie warnen sollen. Ganz schöner Druck dahinter, was? Ist bei den Viechern eingebaut, damit sie das eigene Nest nicht beschmutzen. Schade um Ihr Hemd und Ihr Sakko. Aber jetzt müssen wir in die Sitzung. Saubermachen können Sie sich später. Wir wollen die anderen doch nicht warten lassen.« Auf der anderen Seite des Gilbert Square wischte sich Sebastian Embleton die Lachtränen ab und stellte das Fernglas beiseite. Er vermerkte die Zeit in seinem Notizbuch, dann griff er nach dem kleinen Kassettenrecorder und fing an zu diktieren. Vor dem Start sah sich der Schwälberich noch einmal in seinem Nest um. Seit Tagen hatte er ihr schon gesagt, es sei höchste Zeit für den Flug gen Süden, aber sie wußte ja immer alles besser. Sie hatte das für die Jahreszeit viel zu milde Wetter genossen und konnte sich einfach nicht trennen. Wären sie vor ein paar Tagen losgeflogen, hätte dieser ekelhafte Greifvogel nicht Hackfleisch aus ihr machen können. Bloß gut, daß die Jungen alle durchgekommen und längst flügge waren. Jetzt mußte er schleunigst los. Im nächsten Jahr würde man weitersehen. »Bisher scheint alles nach Plan zu verlaufen«, sagte Prosser. »Der Marketingtest, den Nostrum durchgeführt hat, war ein Riesenerfolg. Die Ergebnisse liegen vor Ihnen. Die Werke in Luton und Reading werden bis zur offiziellen Einführung des Produkts hundertprozentig auf die Fertigung von Zischfit 249
umgestellt. Die Pardoe-Werke in Belgien, Spanien, Hongkong und Australien werden das Zeug ebenfalls herstellen, wenn auch nicht exklusiv. Lizenzabkommen mit anderen Unternehme n sind in Vorbereitung. Den USA-Markt heben wir uns für später auf. Für Werbemaßnahmen stehen zunächst für Großbritannien zwanzig Millionen Pfund und für die Einführung im Ausland weitere fünfzig Millionen zur Verfügung. Das ist ein schöner Batzen, aber unser Produkt ist eine Revolution auf dem Soft-Drink-Markt, da muß man einfach klotzen. Das Risiko ist groß. Ich bitte mir aus, daß es keine Pannen gibt.« Jeremy fühlte sich ziemlich unbehaglich, während Prosser die weiteren Pläne für Zischfit entwickelte. Der Boss hatte ihm schlankweg verboten, sich vor der Sitzung von dem Vogelschiet zu befreien, und er wußte nur zu gut, welchen durchdringenden Duft er verbreitete. »Wie meinten Sie?« Jeremy fuhr schuldbewußt zusammen. »Spucken Sie aus, was Sie sich haben einfallen lassen«, schnauzte Prosser. »Reißen Sie sich gefälligst zusammen, Seaman. Nieten kann ich hier nicht gebrauchen.« »Ja, Sir.« Jeremy schlug seine Akte auf. Seit dem Zigarrenzoff nannte Prosser ihn nur noch beim Nachnamen. Würde er ihm denn nie verze ihen? Er stand auf, räusperte sich und begann: »Wie Sie wissen, meine Herren …« »Sind Sie bescheuert, Mann? Wir sind hier nicht in einer Volksversammlung!« Jeremy lief dunkelrot an, nahm wieder Platz und ließ den Kopf hängen. »Wie Sie wissen, soll das neue Erfrischungsgetränk weltweit eingeführt werden. Es ist also sinnvoll, eine einheitliche Marketingstrategie zu entwickeln, die mit leichten Abwandlungen für alle Länder einsetzbar ist, in denen wir das Getränk anbieten wollen. Gleichzeitig streben wir an, BIG hier und im Ausland noch fester im Bewußtsein der Verbraucher zu verankern. Auch soll unterstrichen werden, daß das Produkt britischer Herkunft ist.« Jeremy trank einen 250
Schluck Wasser und arbeitete sich in seinem Konzept weiter vor. »Wir werden deshalb in den Werbejingles das auf der ganzen Welt bekannte und berühmte Geläut von Big Ben verwenden. Es dürfte – stündlich vom World Service der BBC verbreitet – die bekannteste britische Tonfolge überhaupt sein. Zur Zeit sind einige Jingles in Vorbereitung, die mit dem bekannten feierlichen Glockenschlag beginnen und dann in einen flotten Disco-Sound übergehen. Zielgruppe für Zischfit ist in erster Linie der jüngere Verbraucher. Bei unserer Werbekampagne werden wir anklingen lassen, daß Zischfit auch einen kle inen Touch von Verruchtheit hat. Wenn wir bei den Kids die Vorstellung wecken können, daß Eltern es vielleicht nicht gern sehen, wenn sie das Zeug trinken, werden sie mit Sicherheit sofort hingehen und es kaufen. Unsere Marketingstudie hat ergeben, daß es einen großen, ausbaufähigen Markt für alles gibt, was die derzeitige Gesundheitsmasche konterkariert. Als Slogan für die Printmedien ist vorgesehen: Zisch mit Zischfit einen drauf. Wegen seines lautmalerischen Klangs ist der Name auch im Ausland vielseitig verwendbar.« Jetzt nahm Daniels den Faden auf. »Ergänzend zu den von uns vorgesehenen Investitionen erwarten wir eine umfangreiche kostenlose Werbung durch die Medien. Die Wochenendparty zur Einführung des Produkts wird auf Mr. Prossers Landsitz in Northumberland stattfinden, wir haben dafür keine Kosten gescheut und werden der Presse alle – wirklich alle! – nur denkbaren leiblichen Genüsse bieten. Auch ein größeres Kontingent von Analytikern und Investmentberatern aus der City wird eingeladen. In einem Monat dürfte Zischfit in aller Munde sein.« »Und wehe, wenn sich das nicht wortwörtlich bewahrheitet«, drohte Prosser. »Dann werden Köpfe rollen. Ich schlage vor, Seaman«, sagte er angewidert zu Jeremy, »daß Sie sich jetzt erst mal säubern. Ganz schöne Unverschämtheit, sich 251
wie ein stinkender Misthaufen in eine seriöse Sitzung zu setzen. Ab mit Ihnen.« Prosser scheuchte ihn mit einer herrischen Handbewegung aus dem Zimmer. Als sich die Tür hinter Jeremy geschlossen hatte, sah Daniels seinen großen Augenblick gekommen. »Ich hätte da eine Idee, die Sie interessieren dürfte.« Er erläuterte Prosser und Roach, was er sich ausgedacht hatte. »Genial!« begeisterte sich Prosser. »Verdammt raffinierter Plan. Ziehe meinen Hut vor Ihnen. Das wird der größte Werbegag aller Zeiten.« »Wir machen es also?« fragte Daniels beglückt. Prosser überlegte einen Augenblick. »Ich habe zwei Einschränkungen. Wir müssen bis zum nächsten Jahr damit warten. Ich kann Ihnen nicht sagen warum, aber vor Februar kann ich es nicht riskieren. Vielleicht ist das aber sogar ganz günstig, denn dann hat die Öffentlichkeit ein paar Monate Zeit, unsere Einführungskampagne zu verinnerlichen. Und dann darf man natürlich nicht übersehen, daß wir uns damit strafbar machen. Publicity hin, Publicity her – ohne Sündenbock geht es nicht.« Daniels sah betont auf den Stuhl, auf dem eben noch Jeremy gesessen hatte. »Stimmt, der bietet sich ja förmlich an«, dachte Prosser laut. »Und wo ist dann das Problem?« fragte Daniels. »Damit die Sache glaubhaft wird, muß es für die Öffentlichkeit so aussehen, als ob der Plan auf seinem Mist gewachsen ist.« »Na schön, wenn es im Interesse der Firma ist …« sagte Daniels mit einiger Überwindung. »Ich kümmere mich gleich mal drum.« Er griff nach seinen Unterlagen und verließ den Raum. »Bleib noch einen Moment da, Joe«, bat Prosser. »Ich muß dir was zeigen.« Er nahm einen langen weißen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke, der als »Dringend. Persönlich und vertraulich« gekennzeichnet war. 252
Roach nahm den Briefbogen heraus und las: »Die Premierministerin hat mich gebeten, Ihnen streng vertraulich mitzuteilen, daß sie die Absicht hat, für die kommende Liste der Neujahrsehrungen Ihrer Majestät Ihren Namen vorzulegen mit der Empfehlung, Ihre Majestät möge gnädigst geruhen, Sie in den nichterblichen Adelsstand zu erheben.« Roach sah hoch. Auf Prossers Gesicht lag – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – ein Ausdruck echter Glückseligkeit. »Herzlichen Glückwunsch. Wurde auch langsam Zeit!« »Da hast du ein wahres Wort gesprochen, Joe. Eigentlich hätte ich dir den Schrieb gar nicht zeigen dürfen, aber noch wochenlang den Mund darüber zu halten, das schafft doch kein Mensch. Ab 1. Januar kann ich mich Sir Alexander Prosser nennen.« »Mußt du damit nicht warten, bis du den Ritterschlag bekommen hast?« »Das passiert erst im Februar. Frühestens. Der Titel steht mir zu, sobald die Ankündigung raus ist. Vielleicht ist es ja nur ein Zufall, aber heute habe ich auch einen schleimigen Entschuldigungsbrief vom Sekretär bei Barts bekommen, in dem er die Schuld daran, daß ich damals nicht in den Club aufgenommen worden bin, Pardoe in die Schuhe schiebt. Sie sind gerade dabei, die damalige Entscheidung zu überprüfen, schreibt er. Aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Wenn wir es jetzt noch schaffen, diese Nulpe Seaman loszuwerden, ist der Erfolg komplett.« »Eigentlich schade. Ich weiß, daß du ihn nicht ausstehen kannst, aber ich hatte mich inzwischen schon richtig an ihn gewöhnt.« An der Tür drehte Roach sich noch einmal um. »Was hast du jetzt wegen British Iron Girders entschieden?« »Wie? Ach so … Der Laden wird dichtgemacht und in einen Freizeitpark umgewandelt. Als Geschäftsmann kann ich nicht dulden, daß wichtige wirtschaftliche Entscheidungen von Politikern getroffen werden. Sonst bilden die sich am Ende noch ein, daß sie im Land das Sagen haben.« 253
Entspannung ist für gestreßte Wirtschaftsführer ein absolutes Muß. Prosser lehnte sich an den Rand des Pools und überließ Lucinda die Arbeit. Wenn man mal von der Dusche absah, war der Swimmingpool der einzige Ort, an dem sich Prosser mit ihr vergnügen konnte, ohne daß er sich mit ihrer beschissenen Perlenkette herumärgern mußte. Ein Wunder, daß sich noch kein Unternehmer gefunden hatte, der wasserfeste Schnüre herstellte. Dann würden diese Schickimicki-Tussis die Dinger bestimmt rund um die Uhr tragen. Ron Niblo kam herein und stellte einen Karton neben Prosser auf den Beckenrand. »Die Einkäufe, Boss.« Prosser langte hinter sich. »Extra für dich besorgt, Lucinda«, sagte er. »Mußt du unbedingt probieren.« Sie beäugte ihn mißtrauisch. Nur zu lebhaft hatte sie noch die Bananenepisode in Erinnerung. Trotz der in einer Klosterschule gesammelten Erfahrungen war sie im Grunde ihres Herzens stinkbürgerlich und fand viele von Prossers Einfällen, mit denen er ihre Sexbeziehung abwechslungsreich zu gestalten trachtete, schlicht und einfach abstoßend. Doch sie behielt ihre Bedenken für sich, denn sie wußte ganz genau, daß für Prosser der Kitzel noch größer war, wenn er sie zu etwas zwingen konnte, was ihr zuwider war. Sie war deshalb ziemlich perplex, als Prosser fies grinsend ein Glas hochhielt. »Stachelbeercreme, Schätzchen. Beste Sorte … Darfst du dir nicht entgehen lassen.« »Ich … ja, warum nicht?« stotterte sie. Vielleicht hatte sie ihm doch Unrecht getan. »Wenn wir mit dieser Nummer durch sind, zeig ich dir eine neue Art, das Zeug zu essen. Hab ich neulich bei einer Auslandsreise kennengelernt. Manche Leute machen es lieber mit Honig, aber der ist mir zu süß. Stachelbeercreme ist herzhafter. Ich hab den Eindruck, daß wir dringend was für deine Bildung tun müssen …«
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24 »Mach kein so selbstzufriedenes Gesicht, Jeremy! Du kannst einem ganz schön auf den Geist gehen mit deinem aufgeblasenen Gehabe.« »Und ich dachte, du freust dich, Sally.« »Natürlich freu ich mich. Auch wenn man bedenkt, daß Anfang Januar immer eine flaue Zeit für Journalisten ist, finde ich es toll, daß der Wirtschaftsteil der Sunday Times dem neuen Marketinggenie von BIG eine ganze Seite widmet. Aber du hast mir den Artikel gestern dreimal und heute schon einmal vorgelesen. Ich kann ihn inzwischen auswendig und unterschreibe alles, was dieser ungebildete Schleimer von sich gegeben hat, vollinhaltlich. Bist du jetzt zufrieden? Wenn es dich nicht stört, daß du diesen Pressefritzen nie zu Gesicht bekommen hast und der Artikel von vorn bis hinten auf Prossers Mist gewachsen ist, kann ich ja wohl auch nichts dazu sagen. Und wenn es dich nicht stört, daß die Party auf Prossers Landsitz zur Einführung von Zischfit ohne den Wunderknaben stattfand, der angeblich diesen weltweiten Erfolg erst möglich gemacht hat, werde auch ich mich darüber nicht aufregen.« »Sir Alexander wollte mich vor der Presse abschirmen«, wehrte sich Jeremy. »Journalisten drehen einem das Wort im Mund herum, hat er gesagt, so was soll ich lieber erfahreneren Leuten überlassen.« »Seit er adlig geworden ist, redet er fast so geschwollen daher wie du. Sir Alexander … wenn ich das schon höre! Nur ein ausgemachter Egozentriker wie er bringt es fertig, sein Personal per Aktennotiz zu informieren, wie in Zukunft die korrekte Anrede für ihn zu lauten hat …« »Etikette ist nun mal sehr wichtig im Leben.« »Gehört es auch zur Etikette, daß er sich ein gigantisches Porträt von sich in die Halle hängt, zu dem alle Mitarbeiter aufsehen müssen? Einfach tierisch!« 255
»Das Bild ist sehr ähnlich geworden, finde ich.« »Eben, das meine ich ja.« »Aber Sally!« sagte Jeremy, entsetzt über diese Blasphemie. »Und überhaupt … Zischfit hat eingeschlagen wie eine Bombe, das mußt du doch zugeben. Auf allen Märkten haben wir unsere Zielvorgaben schon überschritten.« »Heute früh in der U-Bahn hat schon wieder irgendein Typ dieses nervtötende Jingle gesummt. Dafür kann ich mich bei dir bedanken.« »Muß sehr wirkungsvoll sein.« »Ich würde es eher virulent nennen. Wie die Beulenpest. So langsam nervt mich das. Man kann diesem Zischfit-Quatsch einfach nicht mehr entgehen. Auf den Werbeflächen, im Fernsehen, im Radio, in der Presse – überall Zischfit. Und von den Medien wird das Zeug mit kostenloser Werbung noch kräftig angeschoben. Sogar die Modeseite vom Telegraph macht mit. ›Mode im Zischfit- Look‹. Das hältst du ja im Kopf nicht aus. Ich denke, Zischfit ist was zum Trinken und nicht zum Anziehen.« »Flächendeckend nennt man das«, erklärte Jeremy, der das alles als Kompliment auffaßte. »Sehr effektiv. Nächste Woche kommt die Single mit Phil Collins raus. Und das Ganze läuft ja nicht nur in England, sondern in aller Welt.« »Die Welt kann mir leid tun«, bemerkte Sally bissig. »Und macht auch alle Welt bei diesem idiotischen Wettbewerb mit, den du dir ausgedacht hast? Leiern Kinder und Erwachsene von Timbuktu bis Tibet unaufhörlich: Zisch mit Zischfit einen drauf …?« Ihre ständige Quengelei ärgerte Jeremy. Man konnte ja fast denken, sie mißgönnte ihm seinen Erfolg. Er stand auf und ging ans Fenster. Die Aussicht wirkte immer beruhigend auf ihn, sie rückte die Probleme des Alltags wieder in die richtige Perspektive. Er versuchte, das Thema zu wechseln. »Der Philodendron hat ganz schön zugelegt, seit ich hier bin.« Verdammt, wieso sollte er eigentlich das Thema wechseln? 256
Das hatte er nicht nötig, er konnte schließlich stolz sein auf das, was er in Sachen Zischfit auf die Beine gestellt hatte. »Ja, aber natürlich in den entsprechenden Landessprachen. Die Beteiligung ist enorm. Der Junge, der le tzte Woche Sieger geworden ist, hat den Satz fünfzigmal in der Minute geschafft, und erst beim sechsunddreißigtausendsten Mal ist er hängengeblieben. Dafür kriegt er lebenslang wöchentlich seine Zischfit-Lieferung ins Haus.« »Wenn ihm nicht das zwölfstündige Gesabbel dieses hirnrissigen Satzes schon das Leben verkürzt hat, gibt ihm der Dauertropf mit Zischfit bestimmt den Rest … Was ist denn?« Jeremy kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Erinnerst du dich noch an diesen Penner mit den hochgestochenen Allüren, der mir damals seine Klamotten geliehen hat? Sebastian hieß er. Ich hatte ihn ganz vergessen, aber ich glaube, er ist noch da.« »Wo denn?« fragte Sally. »Da unten.« Jeremy deutete hin. »Eben hab ich was aufblitzen sehen. Wahrscheinlich sein Fernglas.« »Was tut denn ein Penner mit einem Fernglas?« »Der war überhaupt komisch. Ich hab mal in seine Tasche geguckt, da hatte er nicht nur das Fernglas drin, sondern auch eine tolle Kamera, ein kleines Diktiergerät und Funktelefon. Ich bin nicht schlau aus ihm geworden. Bei diesem Wetter muß er ja frieren wie ein Schneider …« Sally holte die Post aus dem Eingangskorb, sortierte Unwichtiges aus und reichte Briefe, die eilig aussahen, Jeremy hinüber. »Was ist denn das jetzt schon wieder?« Mit allen Anzeichen des Entsetzens stierte er auf ein Blatt in seiner zitternden Hand. »Eine Telefonrechnung auf meinen Namen, Sally. Über tausend Pfund.« Sie griff nach dem Computerausdruck. »Für ein Funktelefon. Flipp nicht gleich aus, Jeremy, du hast doch gar kein Funktelefon. Es muß ein Irrtum sein. Keiner kann dich 257
zwingen, Gebühren für ein Funktelefon zu zahlen, das du gar nicht besitzt, zumal du immer noch kein eigenes Geld hast. Wir sollten dem Heini von der Sunday Times mal erzählen, daß dank der Supertrottel bei HUMA der neue Werbewunderknabe von BIG seit neun Monaten auf sein Gehalt wartet … Schon gut, ich hab ja nur Spaß gemacht.« Auf dem Gang sah sich Sally die Rechnung genauer an. Wessen Anschluß mochte es sein? Die Gespräche waren detailliert aufgelistet. Auf dem Weg zu Roachs Büro machte sie einen kurzen Abstecher zum Fotokopierer. Der Major übergab Thomas, einem neuen Mitarbeiter, das Dienstbuch und ging zur Mittagspause in seine Wohnung hinüber. Meist aß er in der Kantine oder der »Messe«, wie er zu sagen pflegte, aber Rommel machte ihm neuerdings Kummer. Er war nicht recht auf dem Posten, und der Major ließ ihn ungern lange allein. Außerdem war an so einem frischen, sonnigen Tag ein kurzer Gang durch die Grünanlage genau das richtige für ihn. Der Major war glücklich und zufrieden. Sein Leben hatte wieder einen Sinn. Seine Bemühungen um Sicherheit und Ordnung bei BIG waren Welten entfernt von Mr. Bennetts Schreckensherrschaft. Der Major verlangte von seinen Mitarbeitern stete Höflichkeit und Hilfsbereit schaft und ging selbst mit gutem Beispiel voran. Pünktlich bei Dienstbeginn und nach Feierabend stand er auf seinem Posten, nickte freundlich und wechselte ab und zu ein Wort mit dem einen oder anderen Mitarbeiter. Er schloß seine Wohnungstür auf und rief nach Rommel. In der Wohnung war der Hund nicht, aber durch die Hintertür sah er, daß er ganz am Ende des Gartens lag. Nachdem er bei BIG angetreten war, hatte der Major ein Katzentürchen eingebaut, damit Rommel jederzeit kommen und gehen konnte, wie er wollte. Er schloß die Hintertür auf, holte tief Luft und trat ins Freie. 258
Der Hund lag auf der Seite, und zwar in einer sehr seltsamen Stellung. Aber er schien nicht zu schlafen, der Major meinte eine Bewegung zu erkennen. Als er näher kam, sah er schaudernd, daß nicht der Hund sich bewegt hatte, sondern ein riesiger Vogel, der an den Resten von Rommels Kopf herumhackte. Wutentbrannt brüllte der Major auf und schwenkte die Arme. Der Vogel flog auf – er schien eher überrascht als erschrocken zu sein – und verharrte rüttelnd über dem Garten. Der Major kniete vor dem toten Rommel nieder. Er war noch warm. Von Vögeln verstand der Major nicht viel, aber daß es sich hier um einen Raubvogel handelte, war ihm klar. Und damit stand auch fest, wo das Biest hergekommen war. Der Major lief ins Haus, um sein Luftgewehr zu holen, aber als er wieder herauskam, war der Vogel weggeflogen. »Tut mir wirklich leid, Rommel, alter Junge«, sagte er zu dem toten Hund. »Aber keine Angst, das zahle ich ihm heim, diesem Saukerl, oder ich will nicht Major Peregrine heißen.« Sally lächelte ihr holdestes Lächeln, von dem bisher noch jeder Mann weiche Knie bekommen hatte. »Entschuldigen Sie die Störung, aber heißen Sie Sebastian?« »Dampf steigt auf vom rosa Wackelpudding«, war die sibyllinische Antwort. »Jeremy hat mir gesagt, daß ich Sie wahrscheinlich hier finden würde.« »Jeremy?« Der Penner erhob sich und küßte Sally ritterlich die Hand. »Ja, das ist etwas anderes. Sebastian Embleton zu Ihren Diensten, schöne Frau. Was kann ich für Sie tun?« Prosser hatte schlechte Laune. Seit einer halben Ewigkeit wartete er in bitterer Kälte auf dem Dach. Maggie war über den Platz geflogen und verschwunden, und er stand sich die Beine in den Bauch. Er hatte ihr gepfiffen – der Pfeifton bedeutete Atzung, das wußte sie genau –, aber sie hatte nicht darauf 259
reagiert. Einer der Nachteile der Falknerei war es, daß er sich die Wartezeit auf dem Dach nicht mit einer Gespielin vertreiben konnte. Fremde Gesichter vergrämen den Habicht, und Menschenfrauen sind Habichtsweibchen besonders unsympathisch. Er hatte schon eine ganze Tüte sehr grüner Äpfel vertilgt, und sein Magen fing an zu rebellieren. Hoffentlich ließ der Vogel nicht zu lange auf sich warten, sonst war alles umsonst gewesen. Prosser verspürte ein merkwürdiges Prickeln im Nacken. Er hätte schwören mögen, daß ihn jemand von der anderen Seite des Square aus beobachtete. Aber das war doch gar nicht möglich … In einem Hauseingang blitzte etwas in der Sonne auf. Da war jemand, ganz bestimmt. Er hob das Fernglas und atmete auf. Nur ein Penner. Eigentlich unerhört, daß dieser menschliche Abschaum hier die Gegend verunzierte. Wozu zahlte man schließlich seine Steuern, wenn man direkt vor seiner Nase so einen Schandfleck dulden mußte? Er nahm sich vor, etwas dagegen zu unternehmen. Als Maggie zurückkam, war sie blutverschmiert. Bei ihrem Gerangel war sie offenbar auf heftige Gegenwehr gestoßen. Eine der Schwungpennen fehlte, eine zweite war geknickt. Außerdem hatte das Biest noch immer Hunger, und er mußte ihr rohe Kaninchenstücke geben. Gierig verschlang sie einen Vorderlauf, einen Hinterlauf, zwei Nieren und die halbe Leber, erst dann gab sie sich zufrieden. Wenigstens blieb kein Abfall zurück. Sogar die Knochen verschwanden in ihrem Schlund. Von dem hastigen Kröpfen hatte Maggie einen Schluckauf bekommen. Prosser prallte zurück, als ihr heißer, übelriechender Atem ihn traf. Offenbar hatte sie keine Beute gemacht. Das ist nicht gut für Beizvögel. Sehr schnell gewöhnen sie sich das Jagen ab und werden träge. Wenn sich das nicht bald änderte, würde Ron, wie letztes Jahr, für Maggie lebende Beute im Park aussetzen müssen. 260
Prosser sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, Mr. Seaman auf einen kleinen Botengang zu schicken, und damit war er dann diese Nervensäge hoffentlich ein für allemal los. Daß ein einzelner Mensch so viele Fragen stellen konnte, war geradezu unfaßbar. Nachdem die Übernahme von Pardoe und Nostrum über die Bühne gegangen und der neue Soft Drink erfolgreich auf dem Markt eingeführt war, hatte sich aus Prossers Sicht Jeremy Seamans Nützlichkeit für den Konzern erschöpft. Er zog eine von Jeremys Visitenkarten aus der Tasche, lachte leise vor sich hin und machte sich auf den Weg nach unten. Im vierzehnten Stock wartete Jacqui, die nur mit einem seiner Oberhemden bekleidet war. Sie hob langsam den Saum und sah ihn einladend an. »Komme gleich wieder«, rief er ihr im Vorbeigehen zu. »Kannst schon immer anheizen!« Sally saß auf der Schreibtischkante und tratschte mit Lucinda, aber sie war nur halb bei der Sache. Was sie von Sebastian erfahren hatte – falls das sein richtiger Name war –, beschäftigte sie sehr. Das Gespräch war durchaus ergiebig gewesen. Jeremy hatte recht gehabt. Sebastian verfügte tatsächlich über sämtliche Wunderwerke moderner Technik und außerdem über eine sehr genau gehende Armbanduhr. Sally horchte zu Prossers Büro hinüber, während sie auf ihre eigene Uhr sah. Wenn Lucinda mal einen Augenblick aufhören würde, von diesem neuen Rezept für gegrillte Avocados mit Stilton zu labern, könnte sie besser hören, was sich dort tat. Der Sekundenzeiger erreichte den höchsten Punkt des Zifferblatts. Nichts geschah. Mist. Er zappelte allmählich wieder nach unten. Hurra – aus Prossers Zimmer erklang das Läuten eines Telefons. Na also … »Hallo? Hallo? Sind Sie bescheuert, Mann? Natürlich ist hier nicht Madame Tussaud! Passen Sie beim nächsten Mal gefälligst besser auf beim Wählen, Sie Hornochse!« Prosser 261
legte auf. Die Äpfel rumorten in seinem Bauch. Aber jetzt dauerte es ja nicht mehr lange. »Ja, wie gesagt, Jeremy, es ist nur ein kleines Päckchen. Aber ich brauche eine Vertrauensperson, die es für mich abgibt. Es macht Ihnen doch nichts aus?« »Aber natürlich nicht, Sir Alexander.« Endlich hatte der Boss ihn wieder beim Vornamen genannt, stellte Jeremy beglückt fest. Demnach hatte er ihm verziehen. »Na wunderbar.« Prosser reichte ihm ein flaches kleines Päckchen. »Es ist ein Geschenk für einen verdienten Mitarbeiter von BIG, bei dem ich mich erkenntlich zeigen möchte. Ich muß es ihm unterderhand zukommen lassen, sonst werden seine Kollegen eifersüchtig, und ich muß überall Geschenke anschleppen.« »Ich verstehe vollkommen, Sir Alexander.« »Ja? Freut mich. Wirklich, freut mich sehr … Ich fahre mit Ihnen nach unten und bringe Sie zum Taxi.« »Ta … Taxi?« stotterte Jeremy. »Aber –« »Sie können sich natürlich die Spesen erstatten lassen.« Prosser sah Jeremy streng an. »Bei dem Gehalt, das wir euch jungen Burschen zahlen, könnten Sie allerdings so eine Kleinigkeit auch mal aus Ihrer eigenen Tasche blechen.« »Was mein Gehalt betrifft, Sir Alexander –« Prosser gab Jeremy einen Stups mit seinem Wurstfinger. »Das ist sehr ordentlich, mein Junge. Bilden Sie sich bloß nicht ein, daß Sie mich zu einer Gehaltserhöhung beschwatzen können. Warten Sie gefälligst bis zur jährlichen Überprüfung.« Der Aufzug nahm sie auf, nachdem ihm die Schlacht von Aspromonte – 1862 – eingegeben worden war, und während sie herunterfuhren, gab Prosser seine Anweisungen. Jeremy solle zur St. Stephen’s Tavern in Westminster fahren, direkt gegenüber dem Parlament. »Do rt wird ein gewisser Patrick Riordan das Päckchen übernehmen. Er wartet vor dem Pub auf Sie, ich hab ihm gesagt, wie Sie aussehen. Was ist los? Hat’s Ihnen die Sprache verschlagen?« 262
Jeremy hatte es nicht so sehr die Sprache als den Atem verschlagen. Kaum hatten sich die Aufzugtüren geschlossen, als sich wortwörtlich die Wirkung der grünen Äpfel Luft machte: Prosser ließ völlig ungeniert einen fahren. Das Geräusch brachte Jeremy zwar aus der Fassung, das aber wäre noch nicht so schlimm gewesen. Der Gestank aber, vor dem es kein Entkommen gab, war geradezu infernalisch. So was hatte er noch nie erlebt. Wie man sich zu verhalten hat, wenn der Boss im Aufzug einen rekordverdächtigen Furz losläßt – das hatte man Jeremy an der Uni nicht beigebracht. Er hielt die Luft an und starrte nervös auf die Stockwerksanzeige, die, wie ihm schien, schier unerträglich langsam von einer Zahl zur nächsten umsprang. Prosser machte sich ein boshaftes Vergnügen daraus, weitere Fragen an Jeremy zu richten, und weidete sich an dessen Unbehagen. Diesem Klugscheißer würde er es schon abgewöhnen, mit glühenden Zigarren auf anderer Leute Schwänze zu zielen. Als der Aufzug hielt, ließ Jeremy alle Höflichkeit fahren und stürzte, nach Luft ringend, an Prosser vorbei in die Halle. »Sie müssen mehr für Ihre Fitness tun, junger Mann. Das ist ja ein Gekeuche, als ob Sie gerade die dreizehn Stockwerke zu Fuß runtergegangen wären. Jetzt los, ein bißchen Beeilung.« Am Springbrunnen blieb Prosser stehen. Die farbigen Fluten zischten und brausten. »Super-Idee von mir, ZischfitKonzentrat ins Wasser zu geben. Sehr eindrucksvoll.« »Aber –« setzte Jeremy an. »Ja?« »Nichts, Sir Alexander.« Dem großen Mann war wohl entfallen, daß die Schau im Springbrunnen Jeremys Einfall gewesen war. Die in der Halle herumwimmelnden Mitarbeiter bildeten eine Gasse, durch die Prosser mit Jeremy zum Ausgang schritt. Von allen Seiten tönte es: »Guten Morgen, Sir Alexander!«, »Schöner Tag heute, Sir Alexander!«, »Hallo, Sir Alexander!« 263
Einer schrie immer lauter als der andere, damit der frischgebackene Sir nur ja merkte, daß seine Aktennotiz ernst genommen wurde. Der Wirtschaftsboss trat an den Empfangstresen, Jeremy, noch immer schwer atmend, trottete brav hinterdrein. »Sie da!« schnauzte er Charmaine an, die vor seinem ausgestreckten Finger zurückschreckte wie vor dem Lauf eines geladenen Revolvers. »Sorgen Sie dafür, daß der Spot für mein Bild richtig eingestellt wird. Das Gesicht kriegt nicht genug Licht. Unerträglich, diese Schlamperei.« »Jawohl, Sir Alexander. Sofort, Sir Alexander.« »Und wischen Sie sich den bunten Kleister von der Visage und von den Fingernägeln. Sie sehen ja aus wie ’ne Verkehrsampel.« Draußen wartete ein Taxi. »Hab ich sicherheitshalber bestellen lassen«, erläuterte Prosser. »Geben Sie gut auf das Päckche n acht, es ist empfindlich.« »Jawohl, Sir Alexander, Sie können sich auf mich verlassen.« Prosser feixte, als Jeremy ins Taxi stieg. Das würde der größte Triumph werden, den BIG je gefeiert hatte. Wirklich Spitze, dieser Daniels. War vielleicht nicht verkehrt, ihn in den dreizehnten Stock zu holen. Er konnte Seamans Büro haben. Sally nahm das Internationale Telefonbuch vom Regal und schlug es auf. Sebastians Anruf hatte ihr den Beweis geliefert, daß die Gespräche auf Jeremys Gebührenrechnung von Prossers Apparat aus geführt worden waren. Sie suchte nach dem Land mit der Vorwahl 010-18 09 94, die auf der Telefonrechnung besonders häufig auftrat. Es war weder Anguilla noch Antigua, auch nicht Barbados oder Bermuda. Auf der nächsten Seite wurde sie fündig: die Cayman-Inseln. Unter Eingeweihten waren diese Inseln berühmt als das internationale Zentrum für Insidergeschäfte. Wenn ihr Verdacht sich bestätigte, ergab das durchaus einen Sinn. Sie 264
ahnte jetzt auch, weshalb die Rechnung auf Jeremys Namen lief. Wenn der Anschluß für zwielichtige Geschäfte genutzt werden sollte, lag es nahe, ihn nicht auf den eigenen Namen anzumelden. Und auch Jeremys überraschende Beförderung in den 13. Stock schien plausibel, wenn Prosser ihn als Sündenbock für irgendwelche Schurkereien ausersehen hatte. Dieses Sitzungsprotokoll, von dem Jacqui mal erzählt hatte und in dem Jeremy als Ideenlieferant über den grünen Klee gelobt worden war … Und dann die Berichte der Forschungsabteilung, zu denen Prosser seine Stellungnahme hatte haben wollen … Jetzt gab es einen handgeschriebenen Vermerk von Jeremy über die Vorzüge eines Erfrischungsgetränks, das verdächtige Ähnlichkeit mit Zischfit hatte, und das Datum dieses Vermerks lag vor dem Tag der Übernahme von Nostrum. Ich muß ihn warnen, dachte Sally. Sie hatte Jeremy mit Prosser in den Aufzug steigen sehen, wußte aber nicht, wo die beiden hinwollten. Sie suchte nach Jeremys Taschenkalender, aber den hatte er im Schreibtisch eingeschlossen. In dieser Hinsicht war er schon genauso verrückt wie Prosser. Sie kniete sich hin. Tatsächlich, von hinten konnte man in die Schubladen hineinlangen. Sie angelte den Taschenkalender heraus, aber für diesen Tag waren keine Termine eingetragen. Nur – was hätte sie ihm sagen sollen? Er war so geblendet von Prossers Pracht und Herrlichkeit, daß er ihr bloße Vermutungen bestimmt nicht abgenommen hätte. Sie brauchte Beweise. Das Taxi hielt vor der St. Stephen’s Tavern. Jeremy bat den Fahrer zu warten und stieg aus. Ein stämmiger Mann in Arbeitskleidung und harten, abge wetzten Schuhen stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte. »Mr. Seaman?« Eine unverkennbar irische Stimme. »Sie haben was für mich, stimmt’s?« Jeremy reichte ihm das Päckchen, und der Mann schüttelte 265
ihm kräftig die Hand und legte ihm, über seine Regieanweisung hinausgehend, freundschaftlich einen Arm um die Schultern. Dann steckte er das Päckchen in eine Innentasche seiner Jacke und verschwand ohne ein weiteres Wort im Zugang zur U-Bahn. Allerdings passierte er nicht die Schranke, sondern schwenkte rechts ab zu dem Durchgang, der die Bridge Street unterquert. Auf der anderen Straßenseite ging er die Treppe wieder hinauf, durchschritt, ungesehen von Jeremy, das Tor zum Parlament und zeigte dem diensthabenden Polizeiposten seinen Ausweis vor. Selbst wenn Jeremy Fallas’ Mitarbeiter gesehen hätte, hätte er wohl nur gedacht, daß da mal wieder ein Tourist die Mutter aller Parlamente auf seinen Film bannte. Der Major drehte die letzte Schraube heraus, nahm die Abdeckung weg und legte sie vorsichtig beiseite. Einen Augenblick hielt er horchend inne, aber offenbar hatte niemand etwas bemerkt. Jetzt langte er in den schwarzen Müllsack, holte den toten Dackel heraus und steckte ihn in den Schacht der Klimaanlage. Ein letztes Mal strich er über das verfilzte Fell, dann gab er der Leiche einen kräftigen Stoß, so daß sie tief in den Schacht hineinrutschte. Er legte die Abdeckung wieder auf und zog die vier Schrauben fest. »Leb wohl, guter alter Rommel.«
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25 »Riordan hat mich heute aus Westminster angerufen. Er hat’s ausprobiert. Funktioniert bestens. Alles klar für heute abend.« Daniels saß mit Prosser und Roach im Sitzungssaal beim Frühstück. Sie hatten einen anstrengenden Tag vor sich. »Und er baut auch bestimmt keinen Mist?« fragte Prosser. »Man kennt doch diese irren Iren.« Daniels schüttelte den Kopf. »Die Summe, die wir ausspucken, garantiert, daß selbst der größte Chaot sich am Riemen reißt. Der ist über die Grenze, ehe bei uns jemand aufgewacht ist.« »Du kümmerst dich um die Presse, Joe«, bestimmte Prosser. »Ich bin ja fast den ganzen Tag außer Haus. Muß diesen neuen Supermarkt in Newcastle eröffnen.« »Ist gut. Obgleich mir nicht ganz einleuchtet, wieso wir die Pressefritzen noch extra informieren müssen. Die kriegen das doch sowieso mit.« »Damit auch dem Dümmsten klar wird, daß Seaman hinter der ganzen Sache steckt. Dann gibt’s keine Hexenjagd, der Schuldige wird frei Haus geliefert. Die Fotos sind gut geworden, nicht?« Zufrieden betrachteten sie die Schwarzweißvergrößerungen, auf denen Jeremy zu sehen war, wie er Riordan ein Päckchen übergab. Es klopfte. Lorraine steckte den Kopf zur Tür herein und deutete mit der Hand zur Decke. »Ich muß los«, sagte Prosser. »Der Hubschrauber wartet. Am späten Nachmittag bin ich wieder da. Ich erwarte, daß alles reibungslos läuft. Denkt dran, daß ich am Dienstag zum Ritter geschlagen werde!« »Nein. Das Anarchistenkochbuch. Ein amerikanisches Werk«, sagte der Major erschöpft. Es war die dritte Abteilung in der großen Buchhandlung Foyles, in der er es jetzt versuchte. Weit 267
und breit waren nur Bücher zu sehen – Bücher auf Regalen, Bücher auf dem Fußboden, Bücher rechts und links der Rolltreppe. Aber wo man welche Bücher fand – dieses Geheimnis hatte die Geschäftsleitung von Foyles offenbar vor ihren Mitarbeitern, die allesamt so redeten, als wären sie gerade von ihrer ersten Englischstunde in einer der Sprachenschulen nebenan gekommen, wohlweislich geheimgehalten. Der Verkäufer, offenbar neu im Geschäft, lächelte freundlich. »Kochbücher sein Erdgeschoß.« »Ich will kein Kochbuch, verdammt noch mal. Es geht mir nicht ums Kuchenbacken, es geht um Bom …« In letzter Sekunde gelang es dem leidgeprüften Major, die Stimme zu senken. »Bomben. Bängbäng«, setzte er erläuternd hinzu. »Bumbum.« »Ah. Bumbum …« »Genau. Bumbum!« »Sie müssen gehen Musikabteilung. Oben.« Der Verkäufer deutete auf die Rolltreppe. »Sag mal, Jeremy«, fragte Sally argwöhnisch, »trägst du ein Unterhemd?« Keine Antwort. »Komm, ich will das jetzt wissen! Du trägst ein Unterhemd, stimmt’s?« »Na und? Meine Mutter hat immer gesagt, daß –« »Ist mir egal, was deine Mutter gesagt hat. Aufstrebende Führungskräfte tragen keine Unterhemden, und welche aus Feinripp schon gar nicht Zieh das Hemd aus.« »Wie bitte?« »Du hast mich ganz genau verstanden.« »Aber es ist kalt draußen.« »Spielt keine Rolle.« Jeremy gab sich geschlagen. Er zog Sakko und Hemd aus, nahm den Schlips ab und zögerte. 268
»Also wirklich, Sally …« jammerte er. »Wenn du’s nicht machst, mache ich es.« Sie trat an ihn heran und zog ihm das Unterhemd über den Kopf. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. »’tschuldigung!« Dem Büroboten, der die Post brachte, quollen die Augen aus den Höhlen. Jeremy griff, noch mit nacktem Oberkörper, nach einem Brief und riß ihn auf. »Das darf doch nicht wahr sein!« Er stierte auf den Computerausdruck, dann fing er an, Zahlen in seinen Taschenrechner zu tippen. »Das darf einfach nicht wahr sein.« »Gib her, ich versuche, mit Nettle klarzukommen«, sagte Sally resigniert. »Und dann rufe ich das Guinness-Buch der Rekorde an. Der Fall dürfte sie interessieren. Bestimmt mehr, als er Nettle interessiert.« »Nein, nein.« Jeremy griff zum Telefon. »Diesmal ist alles in Ordnung. Das ausstehende Gehalt für zehn Monate. Die Abzüge scheinen auch zu stimmen. Aber ehe wir die Sektkorken knallen lassen, will ich rasch noch nachfragen, ob das Geld tatsächlich auf meinem Konto ist. Sally, laß das!« Zu spät. Das Fenster stand offen, und Jeremys Unterhemd segelte durch die Lüfte. Der Major hatte das Flüstern aufgegeben und versuchte jetzt auf die bewährte englische Art, sich diesem Ausländer verständlich zu machen. »Du mir zuhören«, brüllte er. »Anarchistenkochbuch. Bomben. Bumbum. Bängbäng.« Wild mit den Händen in der Luft herumfuchtelnd, zeichnete er die Umrisse eines Atompilzes nach. Verständnis dämmerte in den Zügen des diensteifrigen Verkäufers auf. »Ich verstehen. Nicht Musik?« »Nein, verdammt. Nicht Musik.« »Sie Abteilung Tanz. Drüben. Da.« Herzklopfend betrat Sally Prossers Büro. Unter der Tür blieb 269
sie einen Augenblick wartend stehen und horchte. Nichts rührte sich, sie hörte nur das Blut, das in ihren Schläfen pochte. Ganz ruhig, predigte sie sich. Jetzt oder nie! Sie ging zu Prossers Schreibtisch hinüber, jeden Moment darauf gefaßt, daß jemand sie ansprechen und fragen würde, was sie da trieb. Aber nie mand stellte sich ihr in den Weg. Sie hockte sich unter den Schreibtisch und wartete wieder, angespannt lauschend. Dann tastete sie an der Unterseite des Schreibtisches herum. Er war genau wie der von Jeremy. Irgendwo klickte etwas. Sie hielt den Atem an, machte sich so klein wie möglich und verharrte regungslos. Eine Uhr schlug die volle Stunde, und sie holte tief Luft. Ihre tastenden Finger hatten etwas erfaßt. Sie zog und zerrte und hielt eine Kassette in der Hand. »Wackelmann« stand darauf. Jetzt war undeutlich ein Geräusch zu hören, das sie zunächst nicht identifizieren konnte. Doch dann wurde es lauter und lauter, und sie erkannte es: der Hubschrauber, der zur Landung ansetzte. Verdammt, Prosser war früher als vorgesehen zurückgekommen. Rasch steckte sie ihre Beute in die Tasche, lief zur Tür und machte sie vorsichtig auf. Die Luft war rein. Unbehelligt kam sie bis zu ihrem Zimmer. Tanzabteilung? Warum nicht … Alle anderen Möglichkeiten in diesem Bücherlabyrinth hatte er schon erschöpft. »Anarchistenkochbuch«, schrie er einem Verkäufer mit schulterlangem Haar entgegen, dessen Kleidung von oben bis unten mit Buttons bepflastert war. »Ej, nicht so laut, Mann, du weckst noch die Geschäftsleitung. Außerdem ist das der falsche Titel. Rezeptbuch des Revolutionärs heißt die Schwarte.« Der Major sah ihn entgeistert an. »Das kennen Sie?« »Klar, Mann. In Berkeley, wo ich studiert habe, war es praktisch Pflichtlektüre.« »Im Ernst?« 270
»Quatsch, Mann, war doch bloß jokemäßig gemeint. Ihr Tommys macht mir Spaß!« »Wievie l kostet es?« »Ej, hier kannste das nicht kaufen, Mann. Steht auf dem Index. Von wegen Meinungsfreiheit. Wozu willste’s denn haben?« »Wie käme ich dazu, Ihnen zu sagen –« »Weil ich weiß, wie man an so was rankommt, Mann. Was willste denn damit machen?« Der Major, erschöpft und mit seiner Weisheit am Ende, ließ alle Vorsicht fahren und umriß seinen Plan. Er brauchte dieses Buch! »Ej, das ist cool, Mann. Ehrlich, affengeil cool. Aber das Buch brauchste dafür nicht.« »Brauch ich nicht, Mann … ich meine … junge r Mann?« sagte der Major. »Shit, no. Kann ich dir auch sagen, wie man da rangeht. Hab praktisch ein Diplom in so was. Aber erst mal brauchste ’n Gummi.« »Einen Gummi«, wiederholte der Major und zückte sein Notizbuch. »Ist hier auch eine Schreibwarenabteilung?« »Wülste mich verarschen, Mann?« »Nichts liegt mir ferner. Wo sollte ich denn sonst einen Gummi bekommen?« »Na, in der Apotheke, Mann, oder der Drogerie.« »In der Drogerie? Ach, Sie meinen einen Lustgummi«, sagte der Major. »Und wozu soll der gut sein?« »Wenn du mal ’ne Minute aufhörst zu sülzen, Mann, erzähl ich dir’s.« Endlich war Patrick Riordan wieder am Fuß der Treppe angelangt. Bloß gut, daß ich die Tour nicht noch mal machen muß, dachte er. Er warf sich die Werkzeugtasche über die Schulter, verließ über den New Palace Yard das Gelände und trat auf die Straße. 271
Er hatte das Gerät nach Anweisung eingestellt. Wer nicht wußte, wo es war, würde es nie finden, dafür hatte er gesorgt. Die Tat beschwerte sein Gewissen nicht im mindesten. Immerhin hatte sie ihm zwanzigtausend Pfund eingebracht und einen First Class-Flug auf die Bahamas. Er hatte sowieso nur als Aushilfe für bestimmte Instandsetzungsarbeiten im Parlamentsgebäude gearbeitet und hätte danach sehr bald wieder auf der Straße gestanden. Da er jetzt ein reicher Mann war, konnte er sich eigentlich ein Taxi leisten. Aber um diese Tageszeit war er mit der UBahn viel schneller in Heathrow, und sie hatten ihm eingeschärft, er solle möglichst rasch verschwinden. Das hätten sie ihm allerdings nicht extra zu sagen brauchen. In knapp einer Stunde ging das Ding los, und dann war es für ihn sowieso gesünder, wenn er nicht in der Nähe war. Welche Sorte von Gummi es sein sollte, hatte der Langhaarige ihm nicht verraten, sicherheitshalber hatte der Major deshalb von allen gängigen Marken ein Päckchen erworben, was die Kassiererin bei Boots, die zu Recht vermutete, daß der Major bereits einen Seniorenpaß besaß, sichtlich beeindruckte. Welcher am besten funktionierte, würde er einfach ausprobieren müssen. Das Babyöl und die Batterie hatte er auch gleich gekauft Fehlten noch eine Glühbirne, ein Wecker mit Digitalanzeige und eine Tube Sekundenkleber, dann konnte es losgehen. »Die Holzköpfe im Verwaltungsrat von Nostrum fassen Zischfit nicht mit der Kohlenzange an. Im Grunde könnte mir das schnuppe sein, aber wer läßt sich schon gern so eine Chance entgehen? Ich kann nur dann sicher sein, daß das neue Getränk den nötigen Schub kriegt, wenn jemand wie du die Firma übernimmt und den jetzigen Vorstand rausschmeißt – mit einer Ausnahme natürlich.« »Verstehe. Und was verlangst du noch – außer der Geschäftsführung von Nostrum?« 272
»Vollständige technische und finanzielle Selbständigkeit. Keinerlei Einmischung durch dich. Einen Fünfjahresvertrag mit einem Gehalt von 150 000 Pfund pro Jahr. Ach ja, und eine klitzekleine Beteiligung, damit ich was für meine alten Tage habe. Sagen wir ein Prozent vom Umsatz …« »Ein Prozent? Gott, was bist du bescheiden …« Sally stellte den Recorder ab und nahm die Kassette heraus. Jeremy sah todunglücklich aus. Es tat ihr schon fast leid, daß sie das Gespräch für ihn abgespielt hatte. »Und Jack ist vermutlich Jack Butterley?« fragte er. Sally nickte. »Demnach hat Prosser die ganze Geschichte von A bis Z geplant.« »Aber das ist – das ist ungeheuerlich. « »Und weit jenseits der Legalität.« Jeremy sah wie gebannt auf die Kassette und zermarterte sich den Kopf nach einer anderen einleuchtenden Erklärung für das, was er gehört hatte. Sally schnippte mit den Fingern. »Jetzt komm, Jeremy, reiß dich zusammen. Es tut mir leid für dich, daß dein Idol vom Sockel gefallen ist, aber da kann man nichts machen. Jetzt mußt du an dich denken. Glaub mir, er will dich zum Sündenbock machen für den Fall, daß was schiefgeht. Und du kannst nicht einfach warten, bis dich nach irgendeiner Gaunerei von Prosser die Polizei schnappt.« »Das sehe ich alles ein, aber – was machen wir denn nun?« »Wenn wir mit der Kassette einfach zur Polizei gehen …?« »Für eine clevere Person wie dich ist das ein ganz schön blöder Vorschlag. Das, was auf dem Band ist, reicht nicht zu einer Anklage, von einer Verurteilung ganz zu schweigen. Und nur, weil ich nicht zu den Verschwörern gehöre, bin ich noch lange nicht aus dem Schneider. Wenn das stimmt, was du über Prosser sagst, hat er bestimmt jede Menge Material über mich gesammelt. Einem, der Sir Jocelyn Pardoe ruiniert hat, bin ich bestimmt nicht gewachsen.« »Darüber sollten wir vielleicht nicht hier reden. Ich möchte 273
versuchen, die Kassette zurückzubringen, es wäre nicht gut, wenn Prosser ihr Fehlen bemerkt. Im Augenblick ist er mit Roach und Daniels in seinem Zimmer, sie halten offenbar Kriegsrat. Setz dich ins Pub und warte auf mich.« Sally schnupperte. »Bilde ich mir das nur ein, oder riecht es hier irgendwie komisch?« Der Major mußte eine Viertelstunde vor der Schule auf den Lauselümmel warten. Jeden Augenblick, dachte er, kann mich jemand ansprechen und als Sittenstrolch anprangern. »So, Mister, das hätten wir.« Der Major sah auf den schmuddeligen Bengel herunter, der ihm die Flasche entgegenstreckte. »Fünf Pfund, wie vereinbart.« Der Major zückte seine Brieftasche. »Legen Sie man noch n Fünfer zu, Mister.« »Du unverschämtes kleines Ungeheuer!« »Also wenn Sie das Zeug nicht haben wollen …« »Meinetwegen. Hier hast du deinen Zehner.« Der Major gab dem Jungen das Geld und verstaute die Flasche mit Phosphor, frisch aus dem Chemielabor, sorgfältig in seiner Tasche. Jetzt hatte er alle Zutaten beisammen.
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26 Reginald Royston, Präsident des Unterhauses Ihrer Britischen Majestät, im parlamentarischen Sprachgebrauch Mr. Speaker genannt, bemühte sich krampfhaft, die Augen offenzuhalten. Doch der Kampf gegen die einschläfernde Wirkung der in erster Lesung behandelten Vorlage über erforderliche Maßnahmen im Zusammenhang mit der Instandhaltung und Verbesserung der Kanalisation war nahezu hoffnungslos. Obschon der ehrenwerte Abgeordnete für Ripon, der zur Zeit das Wort hatte, mit Nachdruck auf die nationale Bedeutung und Dringlichkeit des Problems verwies, hatten sich nur 46 Mitglieder des Unterhauses entschließen können, zu der Debatte zu erscheinen. Durch halbgeschlossene Augen sah Reginald Royston finster in die Runde. Finster musterte er die verkorksten Typen, die glotzend auf der Zuschauergalerie hockten; finster musterte er die unter der Galerie angebrachte Digitaluhr, die der Ehrwürdigkeit dieser geheiligten Hallen Hohn sprach. Finster musterte er die Hinterköpfe der vor ihm sitzenden Schriftführer, dieser Wichtigtuer in Robe und Perücke, die sich ein Vergnügen daraus machten, ihm zu sagen, was er zu tun und zu lassen hatte, und finster musterte er die wenigen sich auf grünem Leder lümmelnden Volksvertreter, in deren Händen zur Zeit das Schicksal der Nation lag. Das war nun der Gipfel seiner Laufbahn! Ein deprimierender Gedanke … Seit jenem unvergeßlichen Augenblick, da er als einfacher Abgeordneter zum erstenmal das britische Unterhaus betreten hatte, war sein Sinnen und Trachten nicht etwa auf Sitz und Stimme im Kabinett gerichtet, nein, von Anfang an war es sein sehnlichster Wunsch gewesen, Speaker im Unterhaus zu werden. Doch mit jedem weiteren Jahr, das ins Land zog, sank das Niveau der Debatten, verschlechterten sich die Umgangsformen im Hohen Haus, und 275
das ersehnte Ziel verlor viel von seinem lockenden Glanz. Als er jetzt auf dem Präsidentenstuhl thronte, der dritthöchste Bürgerliche im Lande, angetan mit Kniehosen, schwarzen Strümpfen, Schnallenschuhen, Robe und üppig gelockter Perücke, war Reginald Royster alles andere als zufrieden mit seinem Los. Viele Jahre hatte er damit verbracht, die Traditionen des Hauses zu verinnerlichen, jeden Abend hatte er mit Feuereifer die Bibel des Unterhausabgeordneten, Erskine Mays Traktat über Gesetze, Privilegien, Arbeitsweisen und Gebräuche des Parlaments, studiert, bis ihn Fragen des Nachruhms nicht weniger beschäftigten als die Probleme der Gegenwart. Liebend gern wäre er in die Geschichte als einer der größten Speaker aller Zeiten eingegangen, doch in Anbetracht der überwältigenden Regierungsmehrheit im Hohen Haus standen die Chancen dafür schlecht. Die Opposition war ein demoralisierter Haufen, die Regierungspartei ein arroganter Riese. Parlamentsdebatten hatten ihren Reiz verloren. Welchen Sinn hatten rhetorische Höhenflüge, wenn das Ergebnis von vornherein feststand? Die Presse hatte nur noch Hohn und Spott für diese angeblich edelste Form der Demokratie. Und ausgerechnet unter diesen traurigen Gegebenheiten mußte Reginald Royston den Vorsitz im Unterhaus führen. Eigentlich hätten angesichts der Macht, über die er kraft seines Amtes verfügte, erwachsene Männer vor ihm zittern und beben müssen, aber Royston wußte, daß dies nicht der Fall war. Die seiner Obhut anvertrauten Volksvertreter weigerten sich standhaft, einen Speaker ernst zu nehmen, der, wenn er sich nicht gerade im Halbschlaf befand, immer aussah, als sei er nur halbwach. Royston, die Schlafmaus, wie er im Unterhaus allgemein hieß, war in Verfahrensfragen unheimlich pingelig. Aber seine wegen irgendwelcher Regelwidrigkeiten ausgesprochenen Tadel und Saalverweise waren derart häufig, daß die Abgeordneten sie inzwischen so wenig ernst nahmen wie Schuljungen eine Strafarbeit. Speaker Royston legte den Kopf zurück, um den in der 276
Rückenlehne seines Amtssitzes angebrachten Lautsprechern näher zu sein. Er hörte nicht mehr so gut wie früher, und selbst bei voller Lautstärke hatte er manchmal Mühe, alles mitzubekommen, was im Saal gesagt wurde. »… daß die Belastung des landesweiten Kanalisationssystems durch die moderne Bevölkerung aufgrund des … äh … ständig wachsenden Volumens der zu entsorgenden Geschäfte …« »Vielleicht könnte der ehrenwerte Abgeordnete das Haus darüber informieren, ob es sich dabei in erster Linie um kleine oder um große Geschäfte handelt …« Unter dem Gelächter von rechts und von links setzte der Abgeordnete für Leith sich wieder hin. Sein Ruf als einer der Scherzkekse vom Dienst war vorerst gerettet. Der Einwurf brachte den Abgeordneten für Ripon noch mehr in Verlegenheit. »Ich danke dem Kollegen von der Opposition für seine Unterstützung, aber ich bin durchaus selbst in der Lage …« Die Aufmerksamkeit des Speakers schweifte ab. Er nahm, um sich wach zu halten, eine Prise Schnupftabak und mußte heftig niesen. Vergeblich fahndete er in dem Faltenwurf seiner Robe nach einem Taschentuch. Kurzerhand führte er die Wollhandschuhe mit den halben Fingerlingen, die zu seiner Amtstracht gehörten, über sein Gesicht und verteilte die Entladung gleichmäßig. Am wohlsten hätte sich Reginald Royston als Speaker vor zweihundert oder mehr Jahren gefühlt, zu jener Zeit, als Speaker Cornwall sich die zäh dahinschleichende Zeit mit ausgiebigem Genuß von Porterbier vertrieb. Bei dem hatte damals sicher niemand was dagegen gehabt, wenn er auf seinem Thronsitz ein paar Minuten Augenpflege betrieb. Und wenn ihn mal ein menschliches Rühren angekommen war, hatte man einfach einen Vorhang um den Thronsitz gezogen, den Deckel hochgeklappt, und schon war die Entsorgung gesichert. Roystons Lieblings-Speaker war Sir Richard Rich 277
gewesen, der sich aktiv am Sturz von Wolsley beteiligt und Sir Thomas More, Fisher, Thomas Cromwell, den Protektor von Somerset, Lord Seymour und den Herzog von Northumberland mit zu Tode gebracht hatte. Als Anne Askew im Londoner Tower gefoltert wurde, hatte Rich höchstpersönlich die Folterbank bedient. Ja, das waren noch Zeiten … Mit grimmiger Miene betrachtete Speaker Royston die Hanswurste, die sich da vor ihm blähten. Zu gern hätte er den einen oder anderen dieser Blechschwätzer auf der Folterbank gesehen. Die bestanden nur aus heißer Luft, ein Pieks, und sie zerplatzten mit einem lauten Knall. Er sah auf die vor den Bänken der Regierung und der Opposition in den Teppich eingewebten roten Striche. Sie waren zwei Schwertlängen voneinander entfernt und für den Fall vorgesehen, daß die ehrenwerten Abgeordneten in der Hitze des Gefechts in Versuchung gerieten, sich gegenseitig aufzuspießen. In seiner Phantasie sah er einen Abgeordneten aufspringen und sich mit hochgestrecktem Rapier auf einen Kollegen von der Opposition stürzen. »… von denen die meisten aus viktorianischer Zeit stammen und stark vom Zahn der Zeit benagt sind.« – »Genau wie das Kabinett«, erscholl ein Zwischenruf, den er überhörte. »Reparaturen sind dringend nötig, sonst –. Ja, gut, ich gestatte einen Einwurf.« »Die ehrenwerten Abgeordneten auf dieser Seite des Hauses dürften mit Befriedigung zur Kenntnis nehmen, daß die Regierung, nachdem wir jahrelang vor einem Zusammenbruch der Kanalisation gewarnt haben, jetzt endlich die Bedeutung dieses ökologischen Problems erkannt hat. Damit hat sie nicht nur grüne Standorte eingenommen, sondern sozusagen braune Positionen bezogen.« »Mr. Speaker, ich finde, daß der ehrenwerte Abgeordnete für Leith damit entschieden zu weit gegangen ist. Mr. Speaker?« Doch weder der ehrenwerte Abgeordnete für Ripon noch die übrigen Mitglieder des Unterhauses, die eifrig ihre 278
Tagesordnungen schwenkten, vermochten die Aufmerksamkeit ihres Vorsitzenden auf sich zu lenken. Ihm waren jetzt endgültig die Augen zugefallen. Felix Mumbles schüttelte die letzten Tropfen ab und zog den Reißverschluß hoch. Ruhig durchatmend ging er zum Waschbecken und ließ warmes Wasser einlaufen. Er tauchte die Hände hinein und neigte den Seifenspender nach vorn. Erfolglos. Er versuchte es mit dem Seifenspender links. Fehlanzeige. Er versuchte es mit dem Seifenspender rechts. Desgleichen. Knickriger Verein, diese BBC! Mumbles drückte den Knopf des Warmlufthändetrockners, der ein kurzes asthmatisches Keuchen von sich gab und gleich wieder verröchelte. Er zerrte an dem Handtuchspender, der aber war blockiert, der Dreck in den Scharnieren war offenbar Wochen alt. Er verließ den ungastlichen Ort und wandte sich, weiter tief und regelmäßig atmend, nach links, in den Nachrichtenraum, wobei er das Wasser von den Händen schüttelte. Wie sollte er mit nassen Händen die Nachrichten verlesen? Eine Zumutung war das! Überall saßen Journalisten und gaben ihre Berichte in die Computer ein. Mumbles sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Reichlich Zeit. Er ging mit seinem Manuskript zum Studio 3E, den wartenden Millionen entgegen. Beim Gehen blätterte er die Seiten durch und sagte Worte, die kritisch werden konnten, leise vor sich hin: »Merionnydd Nant Conwy … zum Auswachsen, diese walisischen Namen … Zimbabwe … Was war eigentlich gegen das gute alte Rhodesien einzuwenden … Ploughkeepsie … Was zum Teufel ist denn das schon wieder …« Mumbles zog energisch an der äußeren Tür, die sich zuerst nur zögernd und mit leisem Zischen, dann, als der Luftwiderstand gebrochen war, mit einem plötzlichen Ruck öffnete. Während sie sich hinter ihm schloß, tat er noch ein 279
paar tiefe Atemzüge, betrat durch eine weitere Tür das eigentliche Studio und nickte dem Aufnahmeleiter zu, der hinter der Scheibe an seinem Steuerpult saß. Mumbles setzte sich und stöpselte die schwarzen Bakelit-Ohrhörer ein. »Iswestija … muß auf dem Heimweg noch Milch kaufen … Weigerstrofer … Donnerstag hat Polly Geburtstag, Donnerstag hat Polly Geburtstag … bloß nicht vergessen, sonst gibt’s eine Katastrophe … Zivojinovic … Lautstärke richtig?« Der Aufnahmeleiter nickte und vertiefte sich wieder in die Computerwoche. Unverbesserlich, diese alten Zausel. Am liebsten wären sie wohl zum Verlesen der Nachrichten immer noch im Smoking angetreten. Machten immer ein Riesentheater. Dabei war’s doch jeden Abend derselbe Scheiß. Hoch über dem Westminster-Palast, in der Glockenstube des Uhrturms, steckte wohlverborgen das von Riordan angebrachte Gerät. Es war an einem Balken hinter den BBC-Mikrophonen befestigt, die ständig auf jene Glocke ausgerichtet waren, die unter dem Namen Big Ben weltweit bekannt ist. Im knapp zwanzig Kilometer von Westminster entfernten Heathrow stieg Patrick Riordan aus der U-Bahn und ging mit langen Schritten zum Check- in der British Airways. »Die Presse weiß Bescheid?« vergewisserte sich Prosser. »Keine Bange, Alex«, sagte Daniels, »wir haben alles fest im Griff. Ob sie zuhören, wissen wir natürlich nicht, aber die Pressemitteilung, die Jeremy Seaman, das neue Marketing-As von BIG, ihnen geschickt hat, haben sie alle bekommen. Falls sie damit jetzt noch nichts anfangen können, helfen wir nach sechs noch mal nach. Dann kriegen sie nämlich die nächste Sendung, und da sind dann auch die Fotos drin.« Prosser und Daniels lachten in Erwartung der kommenden Ereignisse. Roach schwieg. Ihm paßte die ganze Richtung nicht. Aber was sollte er machen? Daniels stand auf. »Ja, dann schalten wir am besten mal die 280
Nachrichten ein.« Speaker Royston erwachte mit einem Ruck und sah auf die Uhr. Noch nicht mal sechs. Ein paar Abgeordnete kriegten mit, wie er halbherzig ein Gähnen unterdrückte, und von den Regierungsbänken hörte er leises Lachen. Freche Bande. Er fixierte sie streng. Aber nur kurz. »Und deshalb, Mr. Speaker, sollten wir in dieser Sache endlich zu Stuhle kommen …« »Von dieser Formulierung würde ich dem ehrenwerten Abgeordneten abraten. Im Zusammenhang mit der Vorlage könnten da leicht Fehlinterpretationen entstehen …« »Ich bin dem ehrenwerten Abgeordneten für Leith für seinen erneuten Diskussionsbeitrag verbunden. Er selbst scheint unter einem besonders schweren Fall verbaler Diarrhöe zu leiden.« »Ich kann den ehrenwerten Kollegen beruhigen. Meine Fäkalien kommen an der richtigen Stelle heraus, während das, was dem ehrenwerten Abgeordneten aus dem Munde quillt –« »Mr. Speaker, darf ich darauf aufmerksam machen …« »Machen, machen«, klang es höhnisch von allen Seiten. Aber der Speaker rührte sich nicht Er träumte von der guten alten Zeit, in der es noch Folterbänke, Daumenschrauben und Eiserne Jungfrauen gegeben hatte. Der rüder werdende Umgangston lockte jene Volksvertreter an, die sich in der Hoffnung auf Putz und Remmidemmi immer gern in der Nähe des Plenarsaals aufhalten. »Ich nehme an, daß die herausgehobene Stellung des ehrenwerten Abgeordneten ihn dafür prädestinierte, diese Vorlage vorzustellen. Die Regierung meint offenbar, daß ein Geheimer Staatsrat, der zur Erläuterung der Vorlage antritt, auch in Abtritten versiert ist. Gäbe es weniger Abtritte und Außenklos in diesem Lande, würde sich das Problem möglicherweise von selbst erledigen.« »Nachttöpfe«, ließ sich der Abgeordnete für Alnwick 281
vernehmen. »Immer noch das Beste. Halte nichts von diesen neumodischen Einrichtungen.« Der ehrenwerte Abgeordnete für Ripon fuhr seinen Hinterbänkler empört an. »Nachttöpfe, Sie Nachtwächter? Damit ist doch die Lagerung des – äh – Stoffes – noch nicht gelöst.« Etliche Abgeordnete, beeindruckt von den stofflichen Formulierungsschwierigkeiten ihres Kollegen, kamen ihm bereitwillig zu Hilfe. »Kakao!« rief einer. »Würste!« rief der nächste. »Scheiße!« »Kacke!« Die Volksvertreter wieherten. Endlich durften sie solche Ausdrücke nicht nur laut, sondern auch straflos in den Raum stellen. »Wenn man bedenkt, was für ein Scheißdreck aus jener Körperöffnung des ehrenwerten Abgeordneten kommt, auf die keine Sonne scheint, schlage ich vor, daß das Haus die Vorlage mit der gebührenden Mißachtung behandelt und sie hinten runterfallen läßt.« »Ich habe den Herrn Kollegen von der Opposition schon immer für einen kleinen Scheißer gehalten. Jetzt wird mir klar, daß ich seine Ekelhaftigkeit bisher noch unterschätzt habe.« »Ich danke dem ehrenwerten Abgeordneten und werde seine Worte sorgsam bewahren. Für meinen Rhabarber kann ich sie gut gebrauchen.« »Rhabarber, Rhabarber«, brabbelten die Hinterbänkler, um die Sache in Schwung zu halten. Von einem Hinterbänkler der Opposition mochte der ehrenwerte Abgeordnete für Ripon sich nicht ausstechen lassen. »Ich würde mich hüten, mir mit den Notizen, die mein ehrenwerter Kollege von der Opposition benutzt hat, auch nur den Hintern zu wischen. Wer weiß, was ich mir damit einfange.« 282
»Eins in die Fresse wirst du dir einfangen, wenn du das nicht zurücknimmst.« »Das wollen wir doch mal sehen.« »Okay, du altes Stinktier, das wird dir noch leid tun.« Der ehrenwerte Abgeordnete für Leith sprang über die vorderste Oppositionsbank und legte dem Abgeordneten für Ripon die Hände um den Hals, der sich mit einem Tritt in die Weichteile seines Kollegen revanchierte. Die übrigen Parlamentarier bildeten, statt die ehrenwerten Abgeordneten zu trennen, zwei Parteien, die die beiden Kämpfenden anfeuerten. Die Zuschauer auf der Tribüne teilten sich je nach politischer Couleur in Beifalls- und Buhrufer. Im Saal wurden Tagesordnungen geschwenkt. In diesem Moment erwachte der Speaker erneut. Was ihm wegen seiner Schwerhörigkeit die Ohren nicht vermittelten, erkannten seine Augen, nachdem sie wieder offenstanden: Es herrschte Putz im Saal. »Ich rufe zur Ordnung«, zeterte er. »Zur Geschäftsordnung, Mr. Speaker. Haben Sie Ordnung oder Dung gesagt?« »Solche Ungebührlichkeiten werde ich nicht dulden. Begeben Sie sich sofort wieder auf Ihre Plätze. Was ist denn das für ein Benehmen …« Die Worte des Speakers zeigten bei den raufenden Parlamentariern wenig Wirkung. Etwas mühsam kam er auf die Beine. »Darf ich die ehrenwerten Abgeordneten darauf hinweisen, daß dem Speaker, wenn er sich erhoben hat, schweigend zuzuhören ist und die ehrenwerten Abgeordneten ihre Plätze einzunehmen haben?« Nur langsam legte sich der Tumult. »Ja, um Himmels willen, was ist denn das?« entsetzte sich der Speaker. »Was erblicken meine Augen? Sehe ich Trugbilder vor mir?« »Rosa Elefanten wahrscheinlich«, zischelte einer der Hinterbänkler, aber da er nicht ins Mikrophon gesprochen hatte, bekam der Speaker das nicht mit. 283
»Ich meine den Abgeordneten für Lytham St. Annes«, donnerte der Präsident des Unterhauses, »der eine empörende Mißachtung für den Präsidenten und für das Hohe Haus erkennen läßt.« Hundert Augenpaare wandten sich besagtem Abgeordneten zu, der bislang friedlich auf der hintersten Regierungsbank vor sich hin gedöst und sich weder an der Debatte noch an dem anschließenden Gerangel beteiligt hatte. »Ich? Was hab ich denn getan, Mr. Speaker?« »Getan? Sie tun es noch! Spielen Sie nicht den Unschuldigen. Antworten Sie – wenn Sie es wagen. Was haben Sie im Mund?« Der Abgeordnete für Lytham St. Annes wurde rot und beeilte sich, den le tzten Bissen seines Müsliriegels herunterzuschlucken. »Nichts«, würgte er. »Ich habe Sie deutlich kauen und damit schamlos gegen die Bestimmungen dieses Hauses verstoßen sehen. Sie wissen so gut wie ich, daß es streng verboten ist, Lebensmittel und Getränke mit in den Saal zu bringen.« »Aber warum hacken Sie denn auf mir rum?« fragte der Abgeordnete kläglich. »Wo sich die anderen gekloppt haben wie die Straßenjungen und Worte wie Scheiße und Kacke in den Saal gebrüllt haben?« »Auch noch unparlamentarische Ausdrücke in den Mund nehmen. Und den Kollegen die Schuld in die Schuhe schieben … Schämen Sie sich, Sir. Ich spreche wohl im Namen aller Parlamentarier, wenn ich diesen Fall als äußerst ernst ansehe. Ich muß den ehrenwerten Abgeordneten bitten, unverzüglich den Saal zu verlassen, da ich sonst genötigt bin, ihn zur Ordnung zu rufen.« Kopfschüttelnd und völlig perplex verließ der Abgeordnete für Lytham St. Annes die Walstatt. Der Speaker ließ die Debatte fortsetzen. »Sir John Laber … äh – Lober meine ich.« Sir John Lober, Abgeordneter für Ripon, Geheimer Staatsrat 284
und Fraktionsvorsitzender, erhob sich erneut. »Wie ich mir auszuführen erlaubte, Mr. Speaker, ehe ich so unziemlich unterbrochen wurde …« Der Aufnahmeleiter hantierte mit einem Knopf hier und einem Schieber da und schaltete auf den Kanal, der über die beiden Mikrophone die Klänge von Big Ben in den Äther schickte. Im Hintergrund hörte er tief unten auf der Straße den Verkehr vorüberrauschen. Dann vertiefte er sich wieder in die Kleinanzeigen seines Computerblättchens. Hinter ihm überprüfte und sortierte ein zweiter Aufnahmeleiter die aktuellen Berichte und legte sie in der Reihenfolge bereit, in der sie in die Nachrichtensendung eingespielt werden sollten. Zwei Minuten vor sechs öffnete sich schwungvo ll die Tür zum Regieraum, der stellvertretende Nachrichtenredakteur stürmte herein und setzte sich wortlos an seinen Platz. Im Studio bezog links von Mumbles der Nachrichtenredakteur Posten und setzte seine Kopfhörer auf. Er blätterte noch einmal das komplette Manuskript durch. Seine Aufgabe war es, dem Nachrichtensprecher die einzelnen Blätter vorzulegen und darauf zu achten, daß die halbstündige Sendung pünktlich beendet wurde. Noch eine Minute. Mumbles überflog die ersten Meldungen. Keine Stolpersteine, wie es schien. Er machte noch ein paar Atemübungen, zum großen Verdruß seines Redakteurs, den die Mischung aus Bierfahne und Mundgeruch mit voller Wucht erwischte. Noch fünfundvierzig Sekunden. Der Aufnahmeleiter schaltete die rote Lampe auf dem Gang ein. Über Lautsprecher hörte man die Zwischenansage, in der Angaben über die an diesem Abend noch zu erwartenden fesselnden Sendungen von Radio Four gemacht wurden. Dreißig Sekunden vor der vollen Stunde war die Ansage beendet. Der Aufnahmeleiter blendete Westminster ein. 285
Mumbles nahm einen Schluck Wasser, ließ ihn im Mund herumrollen und durch die Kehle rinnen. Noch ein, zwei Räusperer, ein letztes Zurechtrücken im Sessel – und er war bereit. Zwanzig Sekunden vor der vollen Stunde hörte Mumbles Big Ben schlagen. Das vierstimmige Geläut erklang in der von Dr. Jowett und Dr. Crotch ersonnenen berühmten Tonfolge: »Ding, dong, ding, dong … ding, dong, ding, dong … ding, dong, ding, dong … ding, dong, ding, dong.« »Hier ist die BBC mit den Sechs-Uhr-Nachrichten. Guten Abend, Ihr Sprecher ist Felix Mumbles … Was ist denn das für eine beschissene Schweinerei?« Über die Kopfhörer kam nicht der vertraute sonore Stundenschlag von Big Ben, sondern das Werbegeklingel, das in den letzten Wochen zum Ohrwurm der Nation geworden war. »Zischfit, Zischfit, Zischfit«, plärrte der Hintergrundchor für alle, die noch im Zweifel über das beworbene Produkt waren. Als Mumbles begriffen hatte, daß die BBC diese Ausdrucksweise bei ihren Nachrichtensprechern vor offenem Mikrophon sicherlich nicht schätzte – und mochte die Situation auch noch so ärgerlich sein –, war es schon zu spät. Und da er davon überzeugt war, daß seine gutbezahlte Stellung sich soeben in Wohlgefallen aufgelöst hatte, tat er seinen Gefühlen keinen Zwang mehr an. »Himmelarschundzwirn, wie kommt verdammt noch mal die Scheiße aufs Dach!« schimpfte er, während der entsetzte Aufnahmeleiter schleunigst Big Ben ausblendete und damit die faszinierten Zuhörer um den letzten Teil des Zischfit-Jingles brachte. »Bei unserer Nachrichtensendung ist offenbar ein kleines technisches Problem aufgetreten«, meldete sich die Ansagerin. »Bis wir es behoben haben, senden wir ein paar Takte Musik. Richtige Musik.« Sekunden später waren alle Telefonleitungen im Broadcasting House der BBC belegt. In Bush House, der 286
Zentrale des World Service, dauerte es ein bißchen länger, aber bald herrschte auch in der dortigen Telefonzentrale der Ausnahmezustand. »Ein echter Heuler«, sagte Prosser und machte das Radio aus. »Gratuliere, Godfrey. Hat ja alles geklappt wie am Schnürchen. Sieh zu, daß die Kuriere die zweite Sendung baldmöglichst verteilen. Wenn Zischfit nicht morgen der Aufmacher in allen überregionalen, ja, in allen internationalen Zeitungen ist, will ich Hugo heißen. Und jetzt entschuldigt ihr mich wohl, ich muß noch ein bißchen arbeiten.« Als seine Mitarbeiter gegangen waren, merkte Prosser, daß es in seinem Zimmer ganz merkwürdig muffelte. Hoffentlich ist das nicht Daniels, dachte er. Einen mit Körpergeruch konnte er im 13. Stock nicht gebrauchen. Dreihundertvierunddreißig Steinstufen führen von der Straße zur Glockenstube des Parlamentsgebäudes. Daß man nur zu Fuß dort hinaufkam, war schlimm genug. Wenn man es überdies noch eilig hatte, war der Aufstieg schierer Mord. Albert Todd blieb in der Tür zur Glockenstube stehen und lehnte sich einen Moment an den Türrahmen, um wieder zu Atem zu kommen. Er sah nach oben. Da war das Schiebegitter, über dem die beiden Mikrophone angebracht waren. Er schloß die Leiter los, die für Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten bereitstand, und legte sie an. Das Gitter ließ sich mühelos zur Seite schieben, und Todd steckte den Kopf durch die Öffnung. Die Verbindung zu den Mikrophonen der BBC war gelöst, statt dessen führten die Kabel zu einem Radiorecorder, der mit Klebeband an dem Balken befestigt war. Im Tonbandteil lag eine Kassette, und an dem Gerät klebte eine Visitenkarte. Todd ließ alles, wie es war. Kein Zweifel, das war ein Fall für die Polizei.
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27 »Ja, wo steckt er denn? Ich muß ihn sprechen«, sagte Prosser. »Tut mir leid, Sir Alexander, aber ich weiß es wirklich nicht«, schwindelte Sally. »Verfluchter Mist!« »Ja, Sir Alexander.« »Soll sofort antanzen, wenn er wieder da ist.« Prosser knallte die Tür hinter sich zu. Was sollte sie machen? Wenn sie jetzt nach unten fuhr, um Jeremy zu warnen, verscherzte sie sich vielleicht die Chance, die Kassette zurückzubringen. Sie beschloß, noch eine Weile zu warten. Die große Abwasserdebatte ging weiter. Der Speaker kochte. Irgendwas war los. Durch den Saal schwappte ein dumpfes Volksgemurmel, das er zwar nicht hören, aber deutlich spüren konnte. Außerdem war es plötzlich voll geworden. Am Thema der Debatte konnte es kaum liegen – ein Mitglied der walisischen Nationalistenfraktion ließ sich gerade umständlich über den ökolo gischen Nutzen von Sickergruben aus. Unter den Neuankömmlingen herrschte merkliche Aufregung. Einige waren zu den Schriftführern gelaufen und berieten sich mit ihnen. Was zum Teufel wurde hier gespielt? Er, Reginald Royston, Präsident des Unterhauses und dritthöchster Bürgerlicher des Landes, ließ sich nicht so einfach an die Wand spielen. »Ruhe bitte! Ich darf die ehrenwerten Abgeordneten daran erinnern, daß 1641 folgender Beschluß gefaßt wurde: ›Wenn jemand flüstert oder seinen Platz verläßt und damit die Beratungen des Hohen Hauses stört, soll der Speaker ihn zur Ordnung rufen.‹ Ich war bereits genötigt, einen Abgeordneten aus dem Saal zu weisen. Bitte fahren Sie fort, Mr. Gwilym Williams.« Der Abgeordnete von Plaid Cymru wollte gerade seine schwülstigen Ausführungen fortsetzen, da erhob sich 288
Edward Stickler, Abgeordneter für Leatherhead, von seinem Platz. Der Speaker nahm ihn sofort aufs Korn. So eine Ungebührlichkeit würde er nicht durchgehen lassen, am allerwenigsten bei einem seiner Lieblingsabgeordneten, der sich in Arbeitsweise und Oberlieferungen des Unterhauses besser auskannte als selbst dessen Präsident. »Von dem Abgeordneten für Leatherhead hätte ich bessere Manieren erwartet. Der Abgeordnete für Llanfairpwll… für Llanfairpwllgwyng … der zur Zeit das Wort führende Abgeordnete ist offenbar nicht gewillt, einen Einwurf zu gestatten …« »Jedenfalls nicht diesem aufgeblasenen Fatzke«, murrte der walisische Volksvertreter. Stickler blieb stehen. »Aber Mr. Speaker …« »Sie werden mich doch nicht zwingen wollen, über einen so hochangesehenen Abgeordneten eine Disziplinarstrafe zu verhängen?« »Mr. Speaker, es geht um eine Frage unserer Privilegien, und dieses Thema ist, wie Sie wissen, vorrangig vor allen anderen zu behandeln.« »Privilegien?« Der Speaker richtete sich auf. Die Vorrechte des Parlaments lagen Reginald Royston ganz besonders am Herzen, und zwar um so mehr, je obskurer und verstaubter sie waren. »Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?« Stickler genoß es, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Wenn er das Wort hatte, begnügte er sich nie damit, sein Anliegen kurz zu umreißen, sondern holte stets zu einer längeren Rede aus. Obgleich keine Abstimmung anstand, herrschte in dem bisher fast leeren Saal plötzlich drangvolle Enge. Mit seiner sono ren Stimme und präzisen Aussprache erinnerte Stickler an einen erfahrenen alten Schauspieler, der bei einer Matinee an einem regnerischen Mittwochmorgen alle Kräfte anspannt, um auch noch auf dem letzten Platz im obersten Rang verstanden zu werden. 289
»Mr. Speaker, ich habe den seit vielen Jahren flagrantesten Fall einer Mißachtung des Parlaments zu melden. Allen Anwesenden dürfte bekannt sein, daß die BBC in der Glockenstube des Uhrturmes Mikrophone installiert hat, mit denen sie den Stundenschlag von Big Ben aufnimmt und nicht nur im Inland über Radio Four, sondern auch über den World Service, also weltweit in den Äther schickt. Heute abend wurde mit besagten Mikrophonen schnöder Mißbrauch getrieben in dem Sinne, daß den Zuhörern in unserem Lande und in der ganzen Welt nicht die Klänge von Big Ben zu Ohren kamen, sondern das Werbegeklingel für ein alkoholfreies Erfrischungsgetränk.« Die Parlamentarier äußerten ihren Unmut in der herkömmlichen Art und Weise. Man meinte sämtliche Tiere eines Bauernhofes zu hören. »Doch damit nicht genug. Der Täter hat sich seines gemeinen Verbrechens auch noch gerühmt, und zwar vermittels einer Presseverlautbarung, die er an alle überregionalen Zeitungen geschickt hat. Ich habe ein Exemplar mitgebracht. Es trägt die Überschrift Werbespotpremiere in der BBC und erläutert ausführlich, wie die schnöde Tat begangen wurde. Noch steht nicht fest, ob der Delinquent sich gegen Gesetze unseres Landes vergangen hat. Doch möchte ich dem Haus zu bedenken geben, daß die Mißachtung des Parlaments ein sehr schwerwiegendes Vergehen ist. Wenn ich aus Erskine May zitieren darf: ›Handlungen, die zwar Leistung und Arbeitsweise des Ober- oder Unterhauses nicht direkt beeinträchtigen, einen solchen Effekt aber möglicherweise indirekt erzielen, indem sie das Haus in ein schlechtes Licht setzen, es der Verachtung oder Lächerlichkeit preisgeben oder seine Autorität mindern, können als Mißachtung des Parlaments verfolgt werden.‹ Ich kann mir kaum ein besseres Beispiel für den in diesem Text umrissenen Tatbestand vorstellen als das, was sich heute abend zugetragen hat. Zur Zeit hören anderthalb Millionen Menschen 290
in diesem unserem Lande Radio Four, und weltweit, so habe ich mir sagen lassen, stellen über acht Millionen täglich den World Service der BBC ein. Die Kunde von dieser Freveltat dürfte sich sehr schnell verbreiten.« Ein Abgeordneter fing an zu skandieren: »Pri- vi- le- gien! Pri-vi- le- gien! Pri-vi- le- gien!« Andere Kollegen nahmen den Ruf auf, und bald hatte die Versammlung würdiger Volksvertreter größte Ähnlichkeit mit einem besonders schrillen Fanclub, der seine Fußballmannschaft anfeuert. »Ehe wir in eine Debatte über weitere Schritte eintreten, Mr. Speaker, möchte ich die ehrenwerten Abgeordneten noch darauf hinweisen, daß dies der erste schwerwiegende Fall eines Verstoßes gegen die Privilegien des Parlaments ist, seit unsere Erörterungen über den Äther in die Welt hinausgehen. Wir sollten deshalb Sorge tragen, daß unsere Beratungen hierzu nicht mitgehört werden können.« Das Haus zollte lautstarken Beifall. Der Speaker, der den Ausführungen Sticklers hingerissen gelauscht hatte, gab dem Ersten Ordnungsbeamten des Unterhauses, Major Godfrey Proudfoot, seine Anweisungen. »Sie sorgen dafür, daß alle Tonaufzeichnungsgeräte unverzüglich abgestellt werden. Lassen Sie die Ausführung dieses Befehls durch Ihre Leute überprüfen.« Was für ein Tag! Er wandte sich wieder an den Abgeordneten für Leatherhead: »Bitte, Mr. Stickler!« »Danke, Mr. Speaker. Es ist unabdingbar, daß das Haus Schritte einleitet – und zwar unverzüglich einleitet! –, um diesen unerhörten Angriff auf seine Würde zu ahnden. Die Identität des Täters steht nicht in Zweifel. Dieser Mensch hat sich seiner Tat offen gerühmt, er besaß sogar die Unverfrorenheit, dem teuflischen Gerät seine Visitenkarte beizugeben. Ich bin der Meinung, daß wir unverzüglich handeln sollten, ehe er Gelegenheit hat, uns zu entschlüpfen.« »Wer ist es denn? Wer ist der Kerl?« schallte es von rechts wie von links. »Der Name des niederträchtigen Schurken ist Jeremy 291
Seaman. Es handelt sich um einen Mitarbeiter der British Industrial Group. Die ehrenwerten Abgeordneten nützen zwar nur selten die Machtbefugnisse, die uns zur Verfügung stehen, um unsere Privilegien zu schützen, aber in diesem Fall, so fürchte ich, bleibt uns keine andere Wahl. Das Haus muß einschreiten, Mr. Speaker, und zwar mit größtmöglicher Beschleunigung, um diesen infamen Missetäter zur Verantwortung zu ziehen. Ich stelle den Antrag, Jeremy Seaman vom Unterhaus in Gewahrsam nehmen zu lassen.« Alle Parteien spendeten donnernden Beifall. Die Abgeordneten warfen ihre Tagesordnungen in die Luft, und zum ersten Mal, seit er seinen Platz auf dem Präsidentensessel des Unterhauses eingenommen hatte, überkam Speaker Royston ein tiefes Glücksgefühl. Der Major hatte sich auf einen ruhigen Abend gefreut, auf einen Schwatz mit Thomas, seinem jungen Mitarbeiter, und auf die Sportsendung im Fernsehen. Doch er hatte kaum seinen Dienst angetreten, als er sich genötigt sah, eine Invasion der Presse abzuwehren. Zum Glück war es nach sechs, der Haupteingang von BIG House war abgeschlossen. Trotzdem hatte er, wenn er einen Seiteneingang aufmachen mußte, um einen verspäteten Mitarbeiter aus dem Haus zu lassen, die größte Mühe, diese unverschämten Typen draußen zu halten. Die Sache war um so ärgerlicher, als weder der Major noch Thomas ahnten, weshalb die Presseleute sich aufführten wie die Verrückten. Im 13. Stock wimmelten Roach und Daniels die Anrufe der Reporter ab. Die Tür zum Büro des Finanzchefs stand einen Spaltbreit offen, und Sally hörte, als sie über den Gang ging: »… ja, sicher. Cleverer junger Mann. Hat in den letzten Monaten ein paar vorzügliche Ideen zur Vermarktung unseres neuen Erfrischungsgetränks gebracht, flippt aber gern mal aus. Normalerweise steht BIG natürlich hundertprozentig hinter seinen Mitarbeitern, aber in diesem Fall sieht die Sache doch 292
etwas anders aus. Er ist über seine eigentliche Aufgabenstellung weit hinausgegangen …« »Gewiß, er konnte ziemlich selbständig arbeiten. Wir legen großen Wert darauf, unsere Kreativen nicht zu bevormunden. Aber so etwas hätten wir nie von ihm erwartet. Ich kann Ihnen versichern, daß die Empörung über diese schändliche Respektlosigkeit gegenüber einer nationalen Institution von Sir Alexander in vollem Umfang geteilt wird …« Obgleich Sally sich redlich bemüht hatte, Jeremy im Trinken etwas zu trainieren, konnte er immer noch nicht viel vertragen. Ein kleines Glas Wein reichte ihm für einen ganzen Abend. Heute allerdings versuchte er, den Kummer über den Sturz seines Idols in Bier zu ertränken. Das also war der Mann, dem er blind vertraut hatte, der Mann, für den er seit fast einem Jahr arbeitete: ein ganz gemeiner Verbrecher … Zufällig hatte Jeremy ein sehr teures und sehr starkes Importbier erwischt. Er hatte die zweite Flasche noch nicht aus, da war er schon reichlich abgefüllt. Eine Polizistin betrat das Pub und sah sich suchend um. Einen Moment erfaßte ihr Blick Jeremy und ging dann weiter. Sie trat zu einer Gruppe von Angestellten, die an der anderen Seite der Theke zechten, und tippte einem auf die Schulter. Was sie sagte, konnte Jeremy nicht hören, aber er erkannte, daß der Mann ein schuldbewußtes Gesicht machte, als er unvermutet eine weibliche Ordnungskraft vor sich sah. Die Polizistin sah ihn scharf an, dann zog sie die Uniformjacke aus und fing an, ihre Bluse aufzuknöpfen. Seine Kumpel brüllten vor Lachen und sangen: »Happy Birthday, dear Kevin!«, während die hübsche Polizistin eine Hülle nach der anderen fallen ließ. Ein Glückspilz, dieser Kevin, dachte Jeremy neidisch. Wo steckt bloß Sally? Zunehmend blau und zunehmend in Selbstmitleid versinkend, wankte er zur Theke, um sich eine dritte Flasche Starkbier zu holen. 293
»Wer dafür ist, sage ja, wer dagegen ist, sage nein … Angenommen«, donnerte der Speaker unter lautem Hurrageschrei der Abgeordneten. Der Speaker stand auf und wartete, bis der Tumult sich gelegt hatte. »Ruhe! Das ist kein Kindergeburtstag! Das Haus hat beschlossen, Jeremy Seaman unverzüglich in Gewahrsam zu nehmen. Der Abgeordnete für Leatherhead hat auf die Bedeut ung schnellen Einschreitens hingewiesen. Das Haus muß rasch handeln, um seinen Ruf und seine Ehre wiederherzustellen. Ich gedenke nicht, die Ausfertigung eines offiziellen Haftbefehls abzuwarten. Der Erste Ordnungsbeamte wird – notfalls mit der erforderlichen Verstärkung – Jeremy Seaman verhaften, und zwar dient ihm dabei«, sagte er, seinen Erskine May zu Rate ziehend, »›als Vollmacht der Amtsstab und nicht ein schriftlicher Haftbefehl‹. Da ohne Amtsstab die parlamentarischen Geschäfte nicht weitergeführt werden können, unterbreche ich die Sitzung. Sie wird nach Vorführung von Jeremy Seaman fortgesetzt.« Sechs oder sieben Abgeordnete wollten Fragen zur Geschäftsordnung stellen, aber der Speaker ignorierte sie, raffte seine Robe, stieg die drei Stufen seines Amtssitzes hinab und schritt gemessen durch den Saal. Als er an Edward Stickler vorbeikam, zwinkerte er dem ehrenwerten Abgeordneten verstohlen zu. Major Godfrey Proudfoot, Erster Ordnungsbeamter des Unterhauses, gab Anweisung, seinen Stellvertreter, den Zweiten Ordnungsbeamten des Unterhauses, und den Stellvertretenden Zweiten Ordnungsbeamten des Unterhauses zu holen. Er rückte sein Schwert zurecht und begab sich zu dem auf dem Tisch des Unterhauses liegenden, aus dem 17. Jahrhundert stammenden Amtsstab aus vergoldetem Silber, dem Symbol der königlichen Gewalt. 294
Wenn das man gutgeht, dachte er. Aber schließlich ist es nicht meine Sache. Er nahm den Amtsstab, legte ihn über die Schulter und trat hinaus auf den New Palace Yard. Die vier würdigen Ordnungsbeamten packten sich und den eineinhalb Meter langen Amtsstab in das wartende Taxi. Major Proudfoot mußte, behindert durch das herabhängende Schwert, auf der äußersten Kante eines der Klappsitze balancieren. Der Taxifahrer drehte sich um und besah sich seine Fahrgäste mißmutig. »Ach du dickes Ei! Da ist aber ’n Aufpreis fällig. Wohin? Kostümball?« Major Proudfoot war als früherer Marineoffizier ein Mann von wenig Worten. »Gilbert Square, und Schnauze halten«, bellte er und schob die Trennscheibe zu, daß sie nur so schepperte. »Sagt mal, Jungs, hat einer von euch eigentlich Geld dabei?« »Was soll das heißen, die lassen Sie nicht rein?« brüllte der Chefredakteur der Daily Mail ins Telefon. »Sie sind von der Presse, Miller, machen Sie denen das gefälligst klar. Keine Ausflüchte, ich brauche das Interview mit Seaman, koste es, was es wolle. Die Schlagzeile steht schon: ›Eine nationale Schande!‹ Also bißchen Beeilung, wenn ich bitten darf!« »Sie halten hier und warten«, befahl Major Proudfoot. »Wir holen einen Gefange nen.« Der Erste Ordnungsbeamte des Unterhauses, in Hoftracht mit Kniehosen und schwarzen Schnallenschuhen, das Schwert in weißer Scheide an seiner linken Seite, stieg aus und legte sich den Amtsstab über die rechte Schulter. Seine Kollegen, alle im Cut, fo lgten ihm. »Gebt mir Flankenschutz«, sagte Proudfoot, »damit diese Proleten uns nicht den Amtsstab kaputtmachen.« Die Presse hatte sich darauf konzentriert, Einlaß in BIG House zu finden, so daß sie das erstaunliche Quartett erst bemerkte, als es mitten unter ihnen war. Major Proudfoot drängelte sich mit seinen Mannen zum Eingang durch und klopfte an die Tür. 295
Doch der Major, hinter dem Thomas Aufstellung genommen hatte, schüttelte nur den Kopf. »Öffnen Sie! Im Namen des Unterhauses Ihrer Majestät!« Die Mühe hätte er sich sparen können. Durch das Glas war kein Wort zu verstehen. »Aufbrechen«, sagte der Erste Ordnungsbeamte des Unterhauses und sah seinen Stellvertreter an. Der sah den Zweiten Ordnungsbeamten des Unterhauses an. Der Zweite Ordnungsbeamte des Unterhauses sah den Stellvertretenden Zweiten Ordnungsbeamten an, der keinen mehr hatte, den er ansehen konnte. »Also gut«, sagte er tapfer. »Ich versuch’s mal.« Die Presse wich zurück, als er Anlauf nahm. Das bomben- und kugelsichere Glas trotzte auch dem Stellvertretenden Zweiten Ordnungsbeamten des Unterhauses, der sich mit einer schweren Schulterprellung zurückzog. Jetzt zückte Major Proudfoot seinen Unterhaus-Ausweis und hielt ihn an die Scheibe. Das half. Die Tür ging so weit auf, daß er hereinschlüpfen konnte, allerdings bekam der Amtsstab eine Delle ab, als sie gleich hinter ihm wieder zugeschlagen wurde. »Ich habe Vollmacht von Ihrer Majestät Unterhaus, Jeremy Seaman zu verhaften«, verkündete Major Proudfoot. »Der ist nicht hier«, sagte der Major. »Wo zum Teufel ist er denn?« »Ich habe keine Ahnung.« »Ich weiß, wo er ist, Major«, ließ sich Thomas vernehmen. »Wo denn?« sagten beide Majore wie aus einem Munde. »Im Stock und Deckel, pardon, im Zepter und Krone. Dem Pub an der Ecke.« »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« »Ich hab doch nicht gewußt, daß Sie ihn suchen, Major.« »Major?« wiederholte Major Proudfoot. »Siebte Panzerdivision, Abteilung Spezialeinsätze«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Wer’s glaubt, wird selig«, knurrte Major Proudfoot und 296
musterte den Werkschutzchef von oben bis unten. Dann wandte er sich an Thomas. »Sie da! Sie bringen uns zu dieser Kneipe und zeigen uns Mr. Seaman!« Wenn das Hereinkommen schon schwierig gewesen war, so erwies sich das Herauskommen als noch problematis cher. Der Amtsstab bekam eine zweite Delle, als Major Proudfoot ihn gegen eine Kamera prallen ließ, die ihm vors Gesicht gehalten wurde. Vor BIG House fuhren jetzt in langer Schlange Taxis vor. Jedem Taxi entstiegen fünf oder sechs Volksvertreter. Da sie ohne Amtsstab ihre Geschäfte nicht weiterführen konnten, hatten sie beschlossen, sich an der Hetzjagd zu beteiligen. Der Erste Ordnungsbeamte des Unterhauses mochte für die Reporter eine unbekannte Größe sein, aber viele der jetzt vor BIG House versammelten Parlamentarier waren bekannte Persönlichkeiten und fanden sich sofort umringt. Der Erste Ordnungsbeamte des Unterhauses und seine Mannen arbeiteten sich mühsam bis zum Zepter und Krone vor. Nach und nach verstummten die frotzelnden, schwatzenden, streitenden Freitagabendzecher. Es kommt nicht alle Tage vor, daß ein Mann in Kniehosen, mit einem Schwert gegürtet und den gewaltigen Amtsstab des Unterhauses über der Schulter, in einem Pub erscheint. Jeremy saß indessen in einer Ecke über seinem fünften Bier. Es dauerte eine Weile, bis er begriffen hatte, daß jemand mit ihm sprach, ein ungemein seltsam gekleideter Mensch, der mit einem komischen, mit glitzernden Klunkern besetzten Stab herumfuchtelte. »Was stellst’n du dar?« fragte er. »Kei-keine Polizischtin bistu nich. Intessant, echt. Bißchen doof. Aber intessant.« »Sind Sie Jeremy Seaman?« »Kann sch-schein, kann auch nicht sch-schein. Nimm’s nich übel, Kumpel, aber vor mir brauchste dich nicht auszuhicks – auszuschiehen. Bei ’ner Polischistin war’s was anderes. Hol dir ’n Stuhl ran. Setz dich her. Haste Sally gesehn?« 297
Proudfoot wandte sich an Thomas. »Ist das der Mann?« Der Junge nickte. »Im Namen des Unterhauses Ihrer Majestät verhafte ich Sie. Als Vollmacht dient dieser Amtsstab und kein schriftlicher Haftbefehl.« Aber Jeremy hatte genug von all diesen dämlichen Typen, die sich so überaus dämlich benahmen. Er hatte einfach keine Lust mehr. Kurz entschlossen griff er sich seine halbleere Flasche und entwetzte in Richtung Klo. Wart nicht länger auf Sally, sagte er sich. Knöpf dir Prosser vor. Sag ihm die Meinung. Er kletterte auf den Toilettensitz. Zu spät merkte er, daß der Deckel nicht geschlossen war. Mit einiger Mühe zog er das nasse Bein aus der Kloschüssel, klappte den Deckel herunter, stellte sich darauf, öffnete das Fenster, zwängte sich durch und sprang in die Gasse hinunter. Als Jeremy auf dem Gilbert Square auftauchte, erscholl ein Schrei aus vielen Kehlen: »Da ist er! Ihm nach!« Ob nüchtern oder betrunken – wenn einem plötzlich eine riesige Menschenme nge auf den Fersen ist, werden Überlebensinstinkte wach. Jeremy wandte sich nach rechts, weg vom BIG House, und setzte sich in Trab. Für einen Mann, der innerhalb kürzester Zeit viereinhalb Flaschen Starkbier konsumiert hat, war es eine beachtliche Leistung. Am Ende des Blocks wandte er sich, noch immer im Galopp, wieder nach rechts. Die Meute schien nicht näher gekommen zu sein. Im Leben eines Reporters hat die körperliche Ertüchtigung normalerweise einen relativ geringen Stellenwert, im Sprint schafft er es meist nur bis zur nächsten Theke. Jeremy schlug wieder einen Haken nach rechts und riskierte dabei einen Blick über die Schulter. Die Meute hatte sich etwas dezimiert, aber ein gutes Dutzend hechelte noch hinterher. Während er erneut rechts abschwenkte, steckte er die freie Hand in die Tasche. Sally hatte ihm das Autofahren beigebracht, heute früh auf dem Weg ins Büro hatte sie ihm 298
noch eine Stunde gegeben. Lieber Gott, mach, daß ich die Magnetkarte noch habe … Er atmete auf, als er das Rechteck aus Plastik ertastete. Dann bog er um die Ecke und war wieder auf dem Gilbert Square. Er mäßigte sein Tempo. Noch immer umdrängte ein Häufchen Unentwegter den Eingang zu BIG House. Gemächlich schlenderte er zum Tor der Tiefgarage. Er hielt sich möglichst nah an der Wand. Am Tor schob er die Karte in den Schlitz. Das Rollgitter hob sich. Hinter ihm erklangen laute Rufe. Er duckte sich und legte, sobald er drin war, die Hand über das magische Auge. Das Gitter senkte sich wieder nach unten. Der erste Verfolger rüttelte heftig an den Stäben. »Jeremy Seaman? Miller von der Mail. War die Sache mit Big Ben wirklich Ihre Idee?« Jeremy war einen Augenblick stehengeblieben, um wieder zu Atem zu kommen. Seine Antwort kam stoßweise, mit schwerer Zunge. »Miller von der Mail? Mann, das ist gut … Echt gut … Geht einem runter wie Öl. Big Ben? Ach, den Jingle meinen Sie … Ja, klar war das meine Idee. Ganz allein meine Idee … Die Musik hab ich aber nicht komponiert. War jemand anders. Und jetzt entschuldigen Sie mich – hicks – bitte … Muß Mr. Prosser zur Brust nehmen. Is ’n Gauner, richrichtiger Gauner – hicks … Psst, nicht weitersagen!« Jeremy versuchte erfolglos, gleichzeitig einen Finger vor den Mund und mit der anderen Hand die Flasche an die Lippen zu legen. Prosser hatte sein Hemd aufgeknöpft. Die Diskette, die an seiner Brust zu hängen pflegte, sirrte in dem Computer auf seinem Schreibtisch. Im Lauf des Tages hatte er Order gegeben, eine größere Menge BIG-Aktien zu kaufen in der Hoffnung, daß der Kurs aufgrund der kostenlosen Publicity für die Firma kräftig steigen würde. Erst jetzt hatte er Gelegenheit, die Transaktion zu speichern. Er nahm die Diskette aus dem Laufwerk und befestigte sie 299
wieder an dem Kettchen um seinen Hals. Dann knöpfte er das Hemd zu und stieg über die Wendeltreppe hinauf zu seinen Privaträumen. Es war ein anstrengender Tag gewesen, er hatte noch keine Zeit zur Entspannung gefunden, dabei hatte er die nach all dem Streß bitter nötig. Er machte sich auf die Suche nach Lorraine. Noch hatte sich ja nichts getan. Roach und Daniels hielten ihm die Presse vom Leib. Ob sie wohl auch soviel Gefallen an Stachelbeercreme finden würde wie Lucinda? »British Industrial«, sagte Roach ergeben ins Funktelefon. »Ach du bist’s, Désirée … Nein, ich weiß nicht, wie spät es ist … Wirklich, so spät schon … Tut mir leid, daß du die Kinder am Hals hast, Schätzchen, aber ich muß mal wieder Oberstunden machen. Hätte dir Bescheid sagen sollen, klar, aber du weißt ja, wie das geht … Ist es nicht ein bißchen spät für eine Tennisstunde? Dein Coach hat offenbar eine sehr ausgeprägte Pflichtauffassung … Moment mal …« Er griff nach einem anderen beharrlich klingelnden Apparat. »Roach? … Guten Abend, Mr. Junkin … Ja, tut mir leid, unsere Zentrale ist zur Zeit überlastet … In Ordnung, ich sag s ihm gleich. Besten Dank … Muß Schluß machen, Désirée, es hat sich was ergeben. Tschüs.« Er legte den Hörer auf. »Daniels, sagen Sie Prosser Bescheid. Sie sind im Anmarsch.« Sally steckte den Kopf zur Tür hinein und atmete auf. Prossers Büro war leer. Mit weichen Knien ging sie zum Schreibtisch und bückte sich. Als sie gerade dabei war, die Kassette von unten wieder in die Schublade zu zaubern, ging die Tür auf. Sally machte sich ganz klein und kniff die Augen zu in der Hoffnung, sich damit unsichtbar machen zu können. Sie hörte Schritte, dann Daniels’ Stimme: »Alex! Alex!« »Ja, was ist?« rief Prosser gereizt von oben. »Dieser Junkin, dein zahmer Abgeordneter, hat eben 300
angerufen. Das Unterhaus hat beschlossen, Seaman in Gewahrsam zu nehmen.« Prosser kam die Treppe herunter. »Das Unterhaus? Wußte gar nicht, daß die das dürfen. Ich dachte, die Polizei schnappt ihn sich. Spielt das für uns eine Rolle?« »Kann ich mir nicht vorstellen. Hauptsache, wir sind ihn los.« »Na schön. Der Werkschutz soll sie so lange wie möglich hinhalten. Wo zum Teufel steckt denn dieser Vollidiot Seaman?« Die Tür flog so heftig auf, daß sie gegen den Türstopper prallte und gleich wieder zuschlug. Sie wurde erneut, diesmal mit gebremster Kraft, geöffnet, und Jeremy erschien auf der Bildfläche. »Prosser«, brüllte er, betrunken und außer Atem. »Sie … Sie … Sie Halunke! Ich weiß alles über Sie. Sie sind kein anständiger Mensch, das ist mir jetzt klar, durch und durch korrupt sind Sie, jawohl, mir können Sie nichts mehr – hicks – vormachen.« »Was faseln Sie da, Mann?« Jeremy hickste noch einmal laut, fuchtelte mit den Armen und verspritzte sein Bier auf Prossers kostbaren Teppich. »Der Deal zwischen Ihnen und Butterley. Weiß Besch-Bescheid.« »Nun halten Sie mal die Luft an, mein Junge. Ich an Ihrer Stelle würde mich jetzt erst mal beruhigen und mich seelisch auf meine Verhaftung vorbereiten.« »Verhaftung? Sie werden verhaftet? Ist ja – hicks – ist ja bestens.« »Nicht ich! Sie sollen verhaftet werden!« »Ich?« Jeremy lachte laut und lange. »Das Ding ist gut. Wo ich doch extra ein Seminar in Unternehmensethik belegt hab … Da kann mich doch keiner verhaften!« Prosser nahm ein Foto aus einer Mappe, die auf seinem Schreibtisch lag. »Wen sehen Sie auf dem Foto?« fragte er. 301
»Halten Sie mal.« Jeremy drückte Prosser die Flasche in die Hand und betrachtete die Aufnahme. »Das bin ich. Mit dem Typ, dem ich gestern Ihr Päckchen gegeben hab.« »Sehr richtig. Und wissen Sie, was in dem Päckchen war? Finger weg«, fuhr er Jeremy an, der fasziniert mit den KlickKlack-Kugeln auf Prossers Schreibtisch spielte. Eine Kugel kollerte herunter, rollte unter den Schreibtisch und landete direkt neben Sally. »Eine Tonbandkassette mit dem ZischfitJingle. Diese Kassette wurde über einen im Uhrturm von Westminster versteckten Radiorecorder heute statt des Geläuts von Big Ben vor den Sechs-Uhr-Nachrichten der BBC eingespielt.« »Clever«, räumte Jeremy ein. »Sehr clever, dieser Einfall von Ihnen.« »War aber gar nicht mein Einfall.« »Seien Sie nicht so bescheiden, Jeremy. Ihre Visit enkarte war an dem Tonbandgerät befestigt. Ein guter Mitarbeiter, nicht wahr, Mr. Daniels – wenn auch hin und wieder etwas übereifrig. Es war doch ein bißchen unbedacht, Presseverlautbarungen herauszuschicken, in denen Sie sich rühmten, als erster einen Werbespot in der BBC untergebracht zu haben. Den Sendungen an die Presse lag dieses Foto bei, auf dem man sehen kann, wie Sie das Päckchen Patrick Riordan übergeben, der seit einigen Monaten mit Ausbesserungsarbeiten am Uhrturm beschäftigt ist.« »Dieser Riordan kann bestätigen, daß er mich überhaupt nicht kennt.« »Darauf würde ich mich an Ihrer Stelle nicht verlassen«, sagte Prosser. »Bedauerlicherweise ist Mr. Riordan inzwischen verzogen. Auf die Bahamas. Er hat beschlossen, sich durch Auswanderung dem Zugriff der Behörden zu entziehen.« »Aber …« Jeremys benebeltes Gehirn versuchte ziemlich erfolglos, diese Mitteilungen aufzunehmen. »Es dürfte deshalb für alle Beteiligten das beste sein, wenn Sie die bittere Medizin schlucken. Normalerweise würde ich 302
natürlich alles tun, um Ihnen zu helfen, aber da ich am Dienstag zum Ritter geschlagen werde, ist es vielleicht besser, wenn ich im Hintergrund bleibe. Sie sollten brav die Suppe auslöffeln, die Sie sich eingebrockt haben, Jeremy. Sonst könnte sich nämlich herausstellen, daß die zwanzigtausend Pfund, die Patrick Riordan kassiert hat, von einem Konto auf den Cayman-Inseln kamen, das auf den Namen Jeremy Seaman läuft. Dieses Geld wiederum kam von einer Strohfirma Seaman, die offenbar einen hübschen Batzen an Spekulationen mit Nostrum- und Pardoe Trust-Aktien verdient hat. Daß Sie sich schon für Zischfit begeistert haben, ehe wir überhaupt wußten, was für ein Zeug das ist – diverse Sitzungsprotokolle beweisen das –, und daß Sie laut Gebührenrechnung Ihres Funktelefons sehr häufig mit Banken auf den Cayman-Inseln telefoniert haben, dürfte sich nicht gerade günstig auf den Fall auswirken. Können Sie mir folgen?« »Kein Wort drüber. Aus die Maus«, lallte Jeremy, der so gut wie nichts mitbekommen hatte und dem inzwischen kotzübel war. Es klopfte. Daniels machte auf. Vor ihm stand Major Godfrey Proudfoot, Erster Ordnungsbeamter des Unterhauses, nach dreizehn Stockwerken ziemlich aufgelöst und außer Atem. Er lehnte sich schwer gegen den Türrahmen und ließ den Amtsstab hinter sich über den Teppich schleifen. »Sie können von Glück sagen, daß ich weiß, wann die Schlacht von Spion Kop war – 1900 nämlich –, sonst wäre ich immer noch unten in der verdammten Halle, und Sie säßen sämtlich hinter Gittern, weil Sie einen Beamten des Unterhauses bei der Ausübung seiner Pflicht behindert haben.« »Da ist ja wieder der Typ in dem komischen Kostüm«, sagte Jeremy. »Sie stehen doch auch auf Kostüme, nicht?« fragte er Prosser. »Ist das ein Freund von Ihnen? Wieso stinkt es hier eigentlich so fürchterlich? Fällt das hier sonst keinem auf? Ihnen auch nicht, Daniels? Oder Ihnen, Prosser, Sie Stinker? 303
Vielleicht ’ne Ratte. Jedenfalls wittere ich Unrat. Ist ja auch kein Wunder, wenn man sich so umsieht …« »Jeremy Seaman, ich verhafte Sie im Namen des Unterhauses Ihrer Majestät«, verkündete der Major noch immer atemlos, aber mit Stentorstimme, »wegen schwerer Mißachtung des Parlaments. Als Vollmacht dient dieser Amtsstab und kein schriftlicher Haftbefehl. Und falls es Sie interessiert«, sagte der Erste Ordnungsbeamte, ergrimmt über die Erniedrigungen dieses Abends, die er letztlich diesen Typen zu verdanken hatte, »es riecht hier nach Tod. Ich hab den Geruch hundertmal in der Nase gehabt, auf allen großen Schlachtfeldern der Welt. Der Tod riecht überall gleich.« Jeremy hatte sich haltsuchend mit der Hand auf die Schreibtischplatte gestützt. Jetzt rutschte er ab, fiel hin und sah sich plötzlich Sally gegenüber, die auf allen vieren unter dem Schreibtisch kauerte. Nach einer kleinen Weile rappelte er sich wieder auf. Der Ordnungsbeamte half kräftig nach. Als sie ihn aus dem Zimmer führten, rief Sally klagend: »Jeremy!« Er drehte sich noch einmal um. »Deine Manieren lassen zu wünschen übrig, Sally. Mit vollem Munde spricht man nicht! Hat deine Mutter dir das nicht beigebracht?«
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28 Daniels begleitete sie nach unten. Als der Besuch weg war, kam Sally vorsichtig unter dem Schreibtisch hervor. »Hallo, Sir Alexander.« »Was zum Teufel machst du denn da unten?« Sally überlegte fieberhaft. »Ich – äh – ich wollte wegen der Investitur mit Ihnen sprechen. Als ich Stimmen hörte, hab ich mich vorsichtshalber versteckt. Was ich zu sagen habe, braucht niemand zu hören.« »Was hast du denn zu sagen? Los, spuck’s schon aus!« »Ich … haben Sie sich schon überlegt, wen Sie mitnehmen werden?« »Wieso? Ich wollte überhaupt niemanden mitnehmen.« Sally sog zischend Luft durch die Zähne. »Das habe ich mir fast gedacht … Ein Wirtschaftsführer ohne weibliche Begleitung bei seiner Investitur – halten Sie das für klug? Sie wissen doch, wie schnell so ein Gerücht herum ist.« Prosser stieg prompt auf die Palme. »Willst du damit sagen, daß die mich dann für einen vom anderen Ufer halten?« »Denkbar wäre es.« »Verdammter Mist! So was darf gar nicht erst hochkommen, da hast du vollkommen recht. Aber Jacqui kann ich nicht mitnehmen, wo sie doch früher im horizontalen Gewerbe war.« Früher ist gut, dachte Sally. »Lucinda trifft dort auf Schritt und Tritt Bekannte, und Lorraine ist bei Hof nicht vorzeigbar. Also mußt du ran, Sally.« »Ich? Aber, Sir Alexa nder …« »Ist bestimmt nett für dich.« »Nein, besten Dank«, zierte sich Sally und genoß Prossers Unbehagen. »Warum denn nicht?« »Ich habe nichts anzuziehen.« »Kauf dir, was du willst, der Preis spielt keine Rolle. Ich 305
flehe dich an, Sally, komm mit! Sonst halten mich die Leute am Ende wirklich noch für einen von diesen beschissenen Arschfickern.« »Sie könnten wohl nicht ausnahmsweise mal bitte sagen …« »Himmelarschundzwirn, du sollst ja nicht die Beine für mich breit machen, du sollst verdammt noch mal nur mit mir in den beschissenen Buckinghampalast kommen und dir die blöde Queen ansehen.« »Wirklich eine charmante Einladung. Ich schlaf mal drüber und sag Ihnen morgen früh Bescheid. Gute Nacht, Sir Alexander.« Es war schwer zu entscheiden, wann genau Reginald Royston, Speaker des Unterhauses und dritthöchster Bürgerlicher des Landes, aufgehört hatte, ein harmloser Sonderling zu sein, und zu einem gefährlichen Irren geworden war. Vermutlich aber war diese Wandlung irgendwann im Laufe jenes Abends eingetreten. Als er sich auf seinem Amtssitz niederließ, vermerkte er zufrieden, daß die Abgeordneten, sichtlich eingeschüchtert von der Bedeutung dieses Augenblicks, ihre Gespräche einstellten. Diese Stimmung kam ihm gerade recht. Die ehrenwerten Abgeordneten wollten Blut sehen. Nichts einte sie mehr, als wenn man sie allesamt zum Narren hielt. Der Speaker war fest entschlossen, diesen Abend zum Höhepunkt seiner Laufbahn zu machen. Damit würde er in die Geschichtsbücher eingehen und war dann den großen Parlamentspräsidenten wie Addington, Cornwall und Rich ebenbürtig. »Führen Sie den Gefangenen vor«, befahl er. Am hinteren Ende des Saals war eine weiße Linie in den Teppich eingewebt. Darüber befanden sich zwei zwischen Eichenpfosten angebrachte bronzene Schranken in Hüfthöhe. Gravitätisch nahte der Erste Ordnungsbeamte des Unterhauses, den verbeulten Amtsstab über der Schulter, hinter ihm schlurfte ein von viereinhalb Flaschen Starkbier noch ziemlich 306
mitgenommener Jeremy. In seinem benebelten Hirn purzelten die Gedanken wild durcheinander. Sally unter Prossers Schreibtisch? Er war fest davon überzeugt gewesen, daß sie den Mann haßte und nur ihn, Jeremy, liebte. Wie konnte sie so etwas nur tun? Dabei hatte sie ihn vor Prosser gewarnt! Jeremy wußte nicht mehr, woran er war. Er versuchte sich zu sammeln, aber sein Schädel dröhnte. »Der Gefangene knie in Demut vor dem Hohen Haus!« »Eine Frage zur Geschäftsordnung, Mr. Speaker.« Der Abgeordnete für Cowley, Ted Biles, stand auf. Er war ein Hitzkopf, der schmerzhafteste Dorn im Fleisch des Speakers, und hieß allgemein wegen seiner zischelnden Aussprache das Reptil von Cowley. »Laut Erskine May brauchen Gefangene nicht mehr vor der Schranke niederzuknien.« Heute war der Speaker nicht gewillt, sich mit Cowleys Erbsenzählerei auseina nderzusetzen. »Der Abgeordnete für Cowley täte gut daran zu bedenken, daß die in Erskine May aufgeführten Präzedenzfälle von den Präsidenten des Unterhauses zusammengetragen wurden. Meine Nachfolger dürften mir später dankbar für eine richtungweisende Halt ung in dieser Sache sein. Der Häftling knie nieder.« Jeremy hatte die Anweisung gar nicht gehört. Er war schrecklich müde. Der Ordnungsbeamte drückte ihm energisch die Schulter herunter, so daß er auf die Knie fiel. Er hielt sich an der Schranke fest. Tatsächlich, so war es viel bequemer. Wenn dieser blöde Typ mit der Perücke nicht soviel quasseln würde, könnte er sogar ein bißchen dösen. »Jeremy Seaman, Sie stehen unter der Anklage –« »Zur Geschäftsordnung, Mr. Speaker. Er steht nicht, Sie haben ihm befohlen, sich hinzuknien«, zischelte das Reptil von Cowley. Diesmal wurde er von seinen Kollegen zur Rechten und zur Linken energisch wieder auf seinen Platz heruntergezogen. »Jeremy Seaman, Sie stehen unter der Anklage, aufs 307
gröblichste die Würde des Parlaments mißachtet und damit unsere Privilegien angetastet zu haben. Sie selbst haben eingestanden, diese schändliche Tat begangen zu haben, mit der Sie das Hohe Haus der Lächerlichkeit ausgesetzt haben. Es obliegt mir nur noch, die Strafe zu verkünden.« »Mr. Speaker!« Biles war erneut aufgesprungen. »Ist das denn hier ein Femegericht? Herrscht hier keine Achtung mehr vor der Gerechtigkeit? Hat nicht der Angeklagte einen Verteidiger zu beanspruchen? Zumindest sollte ihm das Recht eingeräumt werden, sich selbst zu verteidigen.« »Der Abgeordnete für Cowley ist, wie er uns heute abend bereits bewiesen hat, ein eifriger Leser von Erskine May. Er müßte deshalb eigentlich wissen, daß Personen, die wegen Mißachtung des Parlamentes angeklagt sind, kein Verteidiger zusteht. Das Haus kann es auch ablehnen, den Angeklagten selbst anzuhören. Der ehrenwerte Abgeordnete läuft Gefahr, sich mit diesen ständigen Unterbrechungen, die sicherlich auch nicht im Sinne des Hohen Hauses sind, meinen Zorn zuzuziehen.« Im Hohen Haus wurde beifällig gekräht und gewiehert. »Mr. Speaker, dieses Vorgehen ist ein flagranter Verstoß gegen mindestens drei Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention.« »Ich werde nicht dulden, daß der Abgeordnete für Cowley mit Fingern auf mich zeigt. Sollte er sich nicht entschließen können, wieder Platz zu nehmen, bin ich genötigt, ihn zur Ordnung zu rufen. Jeremy Seaman, die Fakten könnten in diesem Fall kaum eindeutiger sein. Ich habe es zwar nicht nötig, Ihnen das Wort zu erteilen, aber man wird Sie anhören, wenn Sie es wünschen, ehe das Haus sein Urteil fällt.« Der Nebel in Jeremys Hirn kam und ging. Manchmal war alles glasklar. Dann wieder konnte er kaum etwas aufnehmen – von folgerichtigem Denken ganz zu schweigen. Ehe er sich zu einer Antwort hatte aufraffen können, nölte der Typ mit der Perücke schon weiter. 308
»In der Vergangenheit hatte das Hohe Haus Vollmacht, die verschiedenartigsten Strafen zu verhängen, es konnte seine Gefangenen foltern, hängen, rädern und vierteilen lassen, in Haft nehmen und mit Geldstrafen belegen. Bedauerlicherweise verfügen wir in Westminster nicht mehr über die Möglichkeit, Gefangene an den Pranger zu stellen. Die ehrenwerten Abgeordneten könnten dann sichtbar kundtun, wie tief betroffen sie von dieser schändlichen Tat sind. Es steht jedoch in meiner Macht, Sie in den Gewahrsam des Ersten Ordnungsbeamten zu geben, solange es dem Hohen Haus gefällt. Ich stelle einen entsprechenden Antrag. Wer dafür ist, sage ja, wer dagegen ist, sage nein.« Nur einige wenige Abgeordnete wagten es, sich gegen die Mehrheit zu stellen, die nach Blut lechzte. »Der Antrag ist angenommen.« Der Nebel über Jeremys Gehirn hob sich vorübergehend. Entsetzt sah er, daß der Speaker sich einen schwarzen Dreispitz aufsetzte, und sank vollends zu Boden. Aus einiger Entfernung sah es aus, als sei er ohnmächtig geworden. Abgeordnete, die näher dran waren, meinten, er sei einfach im Suff weggekippt. »Schütten Sie ihm einen Eimer Wasser über den Kopf«, befahl der Speaker. Sobald Jeremy wieder schwache Lebenszeichen von sich gab, fuhr er fort: »Ehe ich das Urteil verkünde, darf ich die auf der Zuschauertribüne anwesenden Herren von der Presse darauf aufmerksam machen, daß das Parlament zwar nur selten Schritte unternimmt, um seine Privilegien zu schützen, daß dies aber ein unveräußerliches Recht des Hohen Hauses ist. Sie befinden sich hier im obersten Gerichtshof unseres Landes. Meine Entscheidung stützt sich auf die im Laufe von siebenhundert Jahren von meinen Vorgängern zusammengetragenen Präzedenzfälle. Der zunehmend respektlose Ton der Presseberichte über die Arbeit des Unterhauses macht mir seit geraumer Zeit große Sorgen. Bekanntlich gestattet das Hohe Haus die Berichterstattung nur notgedrungen. Ich wünsche nicht, daß 309
sich die Mißachtung des Parlaments, deren der Gefangene überführt ist, in den morgigen Zeitungen niederschlägt. Eine Übertretung einer im Parlament erlassenen Anordnung stellt ebenfalls eine Mißachtung des Parlamentes dar und kann entsprechend geahndet werden.« Er wandte sich wieder an den Gefangenen. »Jeremy Seaman, Sie sind schuldig befunden der schweren Mißachtung des Parlamentes. Im Namen und im Auftrag des Hohen Hauses werden Sie hiermit dem Ersten Ordnungsbeamten in Gewahrsam gegeben, solange es dem Hohen Haus gefällt. Es ist nicht einzusehen, daß für die Kosten der Inhaftierung die öffentliche Hand aufkommt. Da Sie bei einem der führenden Wirtschaftsunternehmen unseres Landes beschäftigt sind – oder möglicherweise beschäftigt waren – , möchte ich annehmen, daß Sie an die Marktkräfte glauben. Es dürfte Sie deshalb freuen zu hören, daß ich den Brauch Wiederaufleben lasse, Gefangene während der Haft ihren Unterhalt selbst bestreiten zu lassen. Sie werden für jeden Hafttag hundert Pfund entrichten. Abführen!« Der Chefredakteur der Daily Mail machte sich fast in die Hosen vor Aufregung. »Ist mir egal, wie kurz es ist, Miller. Wir haben das einzige Interview mit ihm. Keine Bange, da läßt sich eine ganze Seite draus machen. Sehen Sie zu, daß Sie in die Redaktion kommen. So schnell wie möglich.« Jeremy wurde aus dem Sitzungssaal zum Uhrturm geführt und, von hinten angeschoben, die Treppen hinaufbugsiert. Die ständigen Rechtsdrehungen hatten sehr unangenehme Auswirkungen auf sein ohnehin angeschlagenes Innenleben. Er versuchte die Stufen zu zählen, um etwas nüchterner zu werden, aber bei siebzehn verlor er regelmäßig den Faden. Nach hundertvierzehn Stufen rief eine Stimme hinter ihm: »Halt, Gefangener!« Eine ganz gewöhnliche braune Holztür wurde aufgeschlossen, Jeremy mit einem unsanften Stoß in den Raum 310
befördert, hinter ihm drehte sich ein Schlüssel im Schloß, ein Riegel scharrte. Jeremy genoß die segensreiche Stille, die ihn zum erstenmal seit Stunden umgab. Er rollte sich auf dem kalten Steinboden zusammen und schlief sofort ein. Der Major hatte jetzt die erforderlichen Zutaten für die Mixtur aus dem Rezeptbuch des Revolutionärs beisammen. Vor seiner letzten Tat jedoch, der spektakulären Vernichtung von Prosser und BIG House, mußte noch eins erledigt werden. Er würde nie Frieden finden, ehe Rommels Tod gesühnt war. Mit dem Lastenaufzug fuhr er bis zum Dach, ging im Schein der Taschenlampe zu Maggies Schuppen hinüber, drückte die Klinke herunter und trat ein. Nicht einmal Sallys liebreizendstes Lächeln, bei dem selbst die Mächtigsten dieser Erde weiche Knie zu bekommen pflegten, konnte den Polizisten am Tor des New Palace Yard erweichen. »Tut mir leid, Miss, aber er darf keinen Besuch empfangen. Wenn ich Sie rauflasse, bin ich meinen Job los.« Der Mann, dachte Sally erbittert, ist entweder kurzsichtig oder schwul. Resigniert wandte sie sich ab, um den Heimweg nach Crown Reach anzutreten. »Wenn Sie’s gut mit ihm meinen, Miss«, rief er ihr nach, »denken Sie mal daran, wie kalt es da oben ist. Keine Heizung, und der Raum geht nach Osten. Da friert sich selbst der stärkste Eskimo noch einen ab.«
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29 In Jeremys Kopf hallte und dröhnte es ganz fürchterlich. Nie wieder, schwor er sich. Mein Lebtag kommt mir kein Tropfen Alkohol mehr über die Lippen. Mühsam hob er die Lider. Triste braune Wände, kalter Steinboden – der Raum, in dem er aufgewacht war, sah aus wie die Wartehalle eines Bahnhofs. Die Klänge eines einundzwanzig Tonnen schweren Geläuts nur wenige Meter über seinem Kopf bohrten sich in seinen Schädel wie Preßlufthämmer. Die Schwingungen ließen den Boden unter ihm erzittern. Ganz allmählich kam die Erinnerung zurück. An das Pub. An die Verhaftung. Sogar an die vielen Stufen, die er bis zu seinem Gefängnis hatte hinaufsteigen müssen. Nur nebelhaft allerdings erinnerte er sich an das, was ihm im Unterhaus selbst widerfahren war. Nur, daß man ihn für schuldig befunden hatte. Aber – schuldig welchen Vergehens? Und wie lautete sein Urteil? Irgendwann war im Sitzungssaal von Hängen, Rädern und Vierteilen die Rede gewesen. Vielleicht wäre das einer Haft in dieser Folterkammer unter den hallenden Glocken sogar noch vorzuziehen gewesen. Der Lärm war fast unerträglich. Und die Kälte auch, Jeremy setzte sich auf und wickelte sich fester in die Steppdecke. Komisch – genauso eine Steppdecke mit den Bildern aus Thomas, Die Kleine Lokomotive, hatte er auch zu Hause. Alle Zeitungen hatten sich darauf eingestellt, dem Beispiel der Daily Mail mit ihrer Schlagzeile von der »nationalen Schande« zu folgen, in ihren Leitartikeln der BBC und deren unglückseligem Nachrichtensprecher ihre Anteilnahme auszudrücken und das im Gegensatz zu den peinigend langsam mahlenden Mühlen des Gesetzes so rasche, entschiedene 312
Eingreifen des Parlaments zu loben. Die tolpatschige Mahnung des Speakers aber, die Presse möge von einer Berichterstattung über Jeremys Verhandlung absehen, zeitigte eine erstaunliche Wirkung. Roystons Angriff auf die Pressefreiheit ließ die Tat in einem völlig neuen Licht erscheinen. Wichtige Grundwerte, wie die Integrität der Medien, schienen bedroht. Schleunigst wurde allenthalben die erste Seite umgeschrieben. Eben noch war Jeremy gewissermaßen der Staatsfeind Nummer eins gewesen, jetzt wurde er zum Volkshelden hochstilisiert, zu einem Mann, dessen kühne Tat, wie der Daily Telegraph es formulierte, »die aufgeblasenen Volksvertreter verunsichert und der Selbstzufriedenheit der BBC einen Dämpfer verpaßt hat«. Atemlos stürzte Roach in Prossers Büro. »Hast du die Daily Mail gelesen, Alex? Fett auf Seite eins: ›Parlament im ZischfitFieber‹. Muß ein Vermögen an kostenloser Werbung wert sein.« Haarscharf an seinem Kopf vorbei sauste eine Napoleonbüste durch die Luft und zerschellte an der Wand. »Was ist denn los? Freust du dich nicht?« »Wenn du den beschissenen Leitartikel oder dieses verdammte Exklusivinterview gelesen hättest«, fauchte Prosser, »hättest du gesehen, daß die Presse diesen Idioten Seaman in den Himmel hebt. Dieser Knallkopf leimt die BBC und das Parlament, die beiden angesehensten Institutionen unseres Landes, und die Armleuchter von der Presse machen einen Märtyrer aus ihm. Und nicht bloß die Mail. Schau dir das an. Und das. Und das.« Prosser warf die Blätter nacheinander auf den Schreibtisch. »Alle loben die Tat dieses Trottels in den höchsten Tönen.« »Na und? Ich denke, der Zweck der Übung war, kostenlose Werbung für Zischfit zu machen? Die Affäre wird den Absatz ganz schön in die Höhe treiben. Es steht ja nicht nur in der britischen Presse, überall in der Welt erscheinen jetzt solche 313
Artikel.« »Manchmal, Joe«, sagte Prosser voller Verzweiflung, »frage ich mich wirklich, wo du deinen Grips gelassen hast. Wer ist, wenn du den Gazetten glaubst, der Wunderknabe? Wer wird mit Ruhm und Ehre überschüttet? Von meiner Wenigkeit, Sir Alexander Prosser, dem Mann, der aus dem Nichts einen Riesenkonzern geschaffen hat, ist überhaupt nicht mehr die Rede. Held des Tages ist ein rotznäsiger, mit begnadeter Doofheit geschlagener Akademikerarsch, der einen Ethik-Tick hat.« »Aber wir haben es doch extra so gedreht. Im übrigen ist das doch unwichtig. Sie haben den Jungen eingesperrt, damit sind wir ihn los.« »Irgendwann kommt er auch mal wieder raus. Wie stehen wir da, wenn wir ihm dann den Stuhl vor die Tür setzen? Die Presse würde uns fix und fertig machen. Nein, ich fürchte, dieser Seaman hängt uns vorläufig an. Ich trau mich nicht mal, ihn zu degradieren. Bei Daniels ist das was anderes … Und jetzt hau ab, Joe, ich muß nachdenken. Mach zur Abwechslung mal was Nützliches. Frag die Instandhaltung, warum sie noch immer nichts gegen diesen infernalischen Gestank unternommen hat.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Sally. »Warum darf ich nicht zu ihm?« »Er darf keinen Besuch empfangen, ich habe meine Anweisungen«, erklärte der Polizist ungerührt. »Aber ich bin … seine Sekretärin.« »Muß jede Menge Sekretärinnen haben, dieser Seaman. Sie sind heute schon die fünfte oder sechste. Was hat der Typ denn so Besonderes zu bieten?« »Das ist doch lächerlich. Ich werde mich an meinen Abgeordneten wenden.« Der Polizist lachte herzlich. »An Ihren Abgeordneten? Um diese Zeit? Das ist gut, Miss. Also das ist wirklich gelungen!« 314
Jeremys Kopfschmerzen wären lästig genug gewesen, hätte er sich damit in seinem eigenen Bett quälen müssen. Aber hier, wo alle Viertelstunde diese vermaledeiten Glocken loslärmten, würde er sie wohl vorläufig nicht loswerden. Außerdem hatte er Hunger und langweilte sich fürchterlich. Und es war schrecklich kalt hier oben. Keine Heizung. Bloß gut, daß er die Steppdecke hatte, sonst hätte er sich glatt den Tod holen können. Ansonsten tröstete ihn allenfalls noch das Zettelchen von Sally, das sie an die Steppdecke gesteckt hatte: »Wollte doch nur die Kassette zurückbringen, Du Dussel. Ich liebe Dich.« Wie hatte er je an ihr zweifeln können? Immerhin – die Aussicht war atemberaubend. Jeremys Zelle – wenn ein so profaner Raum diese Bezeichnung üb erhaupt verdiente – war auf gleicher Höhe wie das Dach des Parlamentsgebäudes. Nach Osten sah man flußabwärts, vorbei am Shell-Haus und dem Savoy, bis zu den grauen Türmen des Barbican. Flußaufwärts versperrte Buckingham Palace den Blick. Unter ihm lag die Straße, die zur Westminster Bridge führte und auf der zur Zeit offenbar eine Kundgebung abgehalten wurde. Er fand keine Ruhe – nicht nur deshalb, weil sich in seinem Gefängnis weder ein Bett noch ein Stuhl oder sonst eine Sitzgelegenheit befand, sondern weil er ständig auf die Uhr sehen mußte und vor dem nächsten Viertelstundenschlag zitterte. Gleich war wieder die volle Stunde erreicht, das war immer am schlimmsten. Er wappnete sich innerlich und wickelte den Kopf in die Steppdecke, um den ärgsten Lärm abzuhalten. Sally bog um die Ecke, sie wollte zur U-Bahn-Station Westminster, aber dort versperrte eine Kundgebung den Weg, und sie kam nur langsam vorwärts. Die Polizei versuchte, die Protestversammlung aufzulösen, aber die Demonstranten 315
wichen immer wieder auf die Fahrbahn aus, wo sie den Verkehr blockierten, und formierten sich auf dem Gehsteig neu. Sally, wie alle Londoner wenig interessiert an den Anliegen anderer Leute, drängte sich durch die Menschenmenge, ohne nach links oder rechts zu sehen. Erst als sie an einer Gruppe kichernder junger Mädchen vorbeikam, die »Wir lieben Jeremy, wir lieben Jeremy!« skandierten, blieb sie stehen. Sie packte eine der Demonstrantinnen am Arm. »Wo ist er?« Die Kleine gab bereitwillig Auskunft. »Schau mal am Dach lang bis zum Uhrturm. Ganz links, das ist seine Zelle. Toll romantisch, nicht? Ein Gefangener des Parlaments. Wer weiß, vielleicht machen sie ihn wirklich einen Kopf kürzer. Wär doch echter Wahnsinn. Unheimlich aufregend das Ganze.« Sally sah sich um. Die Demonstranten waren ein erstaunlich gemischter Haufen. Viele hatten sich der Kundgebung wohl einfach aus Neugier angeschlossen, weil es sich auf ihrem Weg zur Arbeit so ergab. Ein paar Transparente wurden geschwenkt, die sich für Jeremy einsetzten. Ein geschäftstüchtiger Verkäufer trieb schon einen schwunghaften Handel mit TShirts, die in Riesenbuchstaben verkündeten: »Ich bin für Jeremy!« Ein anderer verhökerte Operngläser aus Plastik zu Wucherpreisen. Trotzdem kaufte Sally ihm eins ab. Als es neun schlug, richtete sie das Glas auf den Uhrturm. Der Schatten am Fenster sah eigentlich nicht nach Jeremy aus. Doch als der neunte Glockenschlag verklungen war, wickelte er sich aus der geräuschdämmenden Steppdecke, und sie erkannte seinen roten Schopf. In diesem Moment ließ die gewohnte Kaltblütigkeit sie im Stich, sie rief und winkte, was das Zeug hielt. Was hier geschah, war ganz einfach eine Gemeinheit. Von Rechts wegen müßte dort im Turm Prosser sitzen und nicht Jeremy, der keiner Fliege was zuleide tun konnte. »Freiheit für Jeremy Seaman!« schrie sie aus Leibeskräften. 316
Sallys Schlachtruf wurde von der jungen Frau neben ihr und ihren Freundinnen aufgenommen. Bald schrie die Menschenmenge, die jetzt die ganze Breite der Bridge Street einnahm und den Zugang zur Westminster Bridge blockierte, im Chor: »Freiheit für Jeremy Seaman! Freiheit für Jeremy Seaman!« Die Personenwagen, Busse und Laster, die wegen der Kundgebung nicht weiterkamen, trugen durch ihr Hupen – ob in freundlicher oder feindseliger Absicht, blieb völlig offen – zu dem allgemeinen Tumult bei. Praktisch, wie sie war, begriff Sally sehr bald, daß sie durch bloßes Herumstehen nichts erreichen würde. Wenn man sie nicht zu ihm ließ, würde sie im BIG House versuchen, ihn herauszubekommen. Prossers Stimmungen wechselten so schnell wie die Kostüme bei einer Travestieschau. Als Sally im 13. Stock eintraf, war er hochgestimmt und äußerst aktiv. Der Rausschmiß von Godfrey Daniels hatte ihm unheimlichen Auftrieb gegeben. Prosser hatte den Vorgang von A bis Z auf dem Monitor der hauseigenen Überwachungsanlage verfolgt. Als Daniels eintraf, wartete in der Halle schon ein Werkschutzmann mit einer Plastiktüte in der Hand, in die man Daniels’ Habseligkeiten gestopft hatte. Der Werkschutzmann hieß ihn sämtliche Taschen ausleeren, nahm ihm Firmenkreditkarte, Firmenausweis und Wagenschlüssel ab, eskortierte ihn zum Ausgang und schob ihn durch die Drehtür. »Und wie soll er nach Hause kommen?« fragte Roach. »Ist mir scheißegal. Von mir aus soll er laufen.« Prosser studierte auf einem anderen Monitor die Aktienkurse. »Schau dir BIG an, Joe. Um dreißig Pence gestiegen. Mit dem Gewinn, den wir heute machen, können wir es uns leisten, Seaman zurückzunehmen. Diesen Vorteil müssen wir nützen. Unsere Werbefritzen sollen sich was ausdenken, damit die Öffentlichkeit sich noch eine Weile an gestern abend erinnert. 317
›Big Ben sagt: Ich trinke Zischfit …‹ oder: ›Zisch und fit im Parlament …‹ Irgendwas in der Richtung. Sollen sich gefälligst anstrengen, damit’s ihnen nicht geht wie Daniels, Worauf wartest du noch? Verpiß dich und geh an deine Arbeit.« Roach hat seine Schuldigkeit getan, überlegte Prosser. Schlapper Typ. Da war Butterley doch ganz anders. Knallhart. Ideal als zweiter Mann. Machte richtig Spaß, mit ihm zu arbeiten. Sie waren vom gleichen Schlag. Roach hatte zu viele Skrupel und Grundsätze. Als er wieder allein war, holte sich Prosser noch mal den BIG-Kurs auf den Schirm. Sollte er die Aktien von gestern abend wieder abstoßen? Nein, ein bißchen würde er sie noch behalten, zur Zeit konnte es nur aufwärts gehen. Gewinnmitnahmen waren angesagt. Über eine Stunde saß Sally grübelnd in Jeremys Büro. Der ekelhafte Gestank, der sich inzwischen in allen Räumen ausgebreitet hatte, lenkte sie immer wieder ab. Sie hatte geglaubt, eine nüchterne junge Frau ohne jede Tendenz zur Rührseligkeit zu sein, jetzt aber mußte sie sich eingestehen, daß Jeremy ihr furchtbar fehlte. Wenn sie nicht wenigstens versuchte, bei Prosser etwas für ihn zu erreichen, würde sie sich nie mehr selbst ins Gesicht sehen können. Wahrscheinlich würde der große Zampano sie einfach auslachen. Trotzdem … Entschlossen klopfte sie an Prossers Tür und trat ein. Er war gerade dabei, Luftreiniger zu versprühen, und begrüßte sie geradezu jovial. »Hereinspaziert, Sally, hereinspaziert. Nachdem dein kleiner Freund hinter Gittern sitzt, hole ich dich wieder zu mir. Ich möchte unsere Arbeitsbeziehung etwas enger gestalten, du weißt schon, was ich meine. Du liegst mir echt am Herzen, Sally …« »Von hier aus sieht’s aus, als ob da eher ein anderer Körperteil im Spiel ist …« Prossers Kehle entstiegen brünstige Neandertalgeräusche. 318
»Also, Mädel, was du brauchst, ist –« Das Telefon läutete, und aus alter Gewohnheit nahm Sally ab. »Hier Sekretariat Sir Alexander. Ja … ja … ja … Und warum kümmert sic h der Major nicht darum? Was soll das heißen, er ist nicht da? Ja, ich sage Sir Alexander Bescheid. Halten Sie die Leute hin, so lange Sie können.« Natürlich, heute war ja der Siebente! Sebastian … über der ganzen Aufregung war ihr das total entfallen. »Was ist?« wollte Prosser wissen. »Der Werkschutz hat angerufen. Drei amtlich aussehende Typen mit dunklem Anzug und Aktentasche sind unten am Empfang, sie haben die Polizei im Schlepptau. Die Leute wollen Sie sprechen. Sie haben angeblich einen Durchsuchungsbefehl.« »Mich? Durchsuchungsbefehl?« Prosser war jäh erbleicht. »Das darf ja nicht wahr sein!« Einen Moment lahmte ihn der Schreck, gleich darauf aber war er wie elektrisiert. Er schloß seinen Schreibtisch auf und zerrte Unterlagen heraus, die er in den Aktenvernichter schob. Dabei bombardierte er Sally mit Anweisungen. »Sag Roach Bescheid. Er soll alles Belastende loswerden. Dann geh zu Daniels in der Marketinganalyse. Scheiße, den hab ich ja rausgeschmissen … Egal, sag dem Zuständigen, er soll dafür sorgen, daß alles unverdächtig aussieht, falls jemand zu ihm schnüffeln kommt.« Sally betrachtete die Blätter, die durch den Reißwolf liefen. Die eine oder andere Information daraus genügte vielleicht schon, um Jeremy zu retten. »Soll ich Ihnen das nicht abnehmen, Sir Alexander?« fragte sie. »Tu, was ich sage. Los, beweg deinen faulen Hintern. Herrgott, diese Frauen! Wenn man denen was sagt, stehen sie noch stundenlang rum und stellen dämliche Fragen.« Als sie an der Tür war, rief er ihr noch nach: »Vorher sag 319
noch dem Piloten Bescheid, er soll den Hubschrauber anwerfen. Vorsichtshalber. Und jetzt verpiß dich.« Aber er war immer noch nicht fertig. Sie war schon unter der Tür, als er sie zurückrief. Er knöpfte sein Hemd auf, angelte nach dem Kettchen mit der Diskette und hängte es Sally um den Hals. Dabei packte er sie mit einem schmerzhaften Griff am Arm. »Die Diskette hebst du mir schön auf. Wo sie jetzt ist, hat sie’s warm und gemütlich, da komm ich auch bald mal hin …« »Was ist denn drauf?« fragte Sally unschuldig. Prosser packte fester zu. »Ich nenne die Diskette Medusa. Wenn jemand anders zu sehen kriegt, was sie gespeichert hat, wird er zu Stein – oder präziser ausgedrückt zu Beton. Kapiert?« »Ja, Sir Alexander.« »Dann zieh Leine, Schätzchen.« Er gab ihr einen Klaps auf den Po und wandte sich wieder dem Reißwolf zu. Roach nahm Sallys Nachricht überraschend gelassen auf, ja, er wirkte fast erleichtert. Sally ging rasch wieder in Jeremys Büro, verständigte die Abteilung Marketinganalyse und den Hubschrauberpiloten, dann nahm sie Prossers Diskette vom Hals, faßte sie, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, mit einem Zellstofftuch an und schob sie in das Laufwerk ihres Computers. Sie startete das Kopierprogramm. Los, mach schon, flehte sie den Computer an. Beeil dich doch! Das Laufwerk surrte und schnurrte eine kleine Ewigkeit, bis alle Daten kopiert waren. Sally löste Prossers Diskette von dem Kettchen und sah sie sich genau an. Erst als sie sich davon überzeugt hatte, daß sie nicht besonders gekennzeichnet war, befestigte sie die neue Diskette und hängte sich das Kettchen wieder um den Hals. Prossers Originaldiskette steckte sie in ihre Handtasche. Als sie die Tür aufmachte, hielt gerade der Aufzug am Ende 320
des Ganges. Einer der Werkschutzmänner stieg aus, gefolgt von zwei Polizeibeamten in Uniform und drei Herren in fast identischen anthrazitfarbenen Anzügen. Einer war Sebastian Embleton, heute ohne wochenalten Bart. Auch sonst wirkte er wie aus dem Ei gepellt – ganz und gar nicht wie jemand, der in einem Hauseingang gegenüber von BIG House zu nächtigen pflegt. Als die Gruppe an ihr vorbeikam, versuchte Sally, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie Embleton erkannt hatte. Sebastian sah mit unbewegtem Gesicht über sie hinweg. Neugierig, aber in sicherem Abstand, fo lgte sie den Besuchern. Der Werkschutzmann klopfte bei Prosser, und Sally hörte, wie der Reißwolf abgestellt wurde. Sebastian, offenbar der Anführer der Gruppe, sagte sein Sprüchlein auf: »… sind nicht verpflichtet, eine Aussage zu machen, was immer Sie aber sagen, kann schriftlich festgehalten und als Beweismaterial verwendet werden.« Prosser war sichtlich perplex. »Können Sie mir noch mal erklären, gegen welches Gesetz ich angeblich verstoßen habe?« »Spielen Sie nicht den Unschuldigen, Prosser. Es handelt sich um das Gesetz über Landschaftsschutz und zum Schutz wildlebender Tiere. Ich habe Grund zur der Annahme, daß Sie einen Vogel besitzen, der in Liste vier dieses Gesetzes aufgeführt und nicht entsprechend der ministeriellen Durchführungsverordnung beringt oder anderweitig gekennzeichnet ist. Damit haben Sie gegen das Gesetz verstoßen. Es ist möglich, daß die Anklage noch auf weitere Tatbestände ausgeweitet wird, den Einsatz gefangener lebender Beute zum Beispiel, aber für den Anfang dürfte das genügen.« »Das Gesetz über Landschaftsschutz und zum Schutz wildlebender Tiere? Ich werd verrückt!« sagte Prosser fassungslos. Er sah auf den Berg unkenntlich gewordener Papierschnitzel und fing an zu lachen. »Im Gegensatz zu Ihnen, Sir Alexander, nehmen wir den Schutz und die Bewahrung der Natur sehr ernst. Sollten Sie 321
sich weigern, uns bei unseren Ermittlungen zu unterstützen, habe ich Vollmacht, Sie selbst und sämtliche Räume in diesem Gebäude durchsuchen zu lassen.« »Sie sind also nicht vom Wirtschaftsministerium?« prustete Prosser, schon ganz schlapp vor Lachen. »Nein, offenbar nicht. Suchen Sie, lieber Freund, suchen Sie nur nach Herzenslust!« »Wir fangen am besten auf dem Dach an.« »Aber gern. Ich gehe mal voraus.« Die Hubschrauberrotoren drehten sich startbereit. Prosser fuhr sich mit der Handkante über den Hals, und der Pilot stellte die Triebwerke ab. Daß diese Burschen nicht vom Wirtschaftsministerium waren und er somit nicht Hals über Kopf das Land verlassen mußte, erleichterte ihn zwar sehr, trotzdem lag ihm nicht das mindeste daran, wegen eines Verstoßes gegen Naturschutzgesetze vor den Kadi gezerrt zu werden. So gleichmütig die britische Öffentlichkeit Wirtschaftsvergehen hinnahm, so empfindlich reagierte sie, wenn es irgendwie um Tiere ging. Nach dem Wirbel um die Big Ben-Affäre konnte er sich so kurz vor der Investitur keinen Ärger mehr leisten. Mühe genug hatte es ihn gekostet, diesen Adelstitel an Land zu ziehen. Nicht auszudenken, wenn da im letzten Moment noch was schiefging … Prosser entriegelte Maggies Schuppen. Sebastian Embleton wich ihm nicht von der Seite. Vor ihnen stand der Major und blinzelte ins Licht wie ein überdimensionaler Uhu. »Gott sei Dank«, sagte er und stolperte ins Freie. »Hab schon gedacht, ich geh hops da drin …« Prosser sah sich suchend um. Von Maggie keine Spur. Er wandte sich an Sebastian: »Sieht aus, als sei der Vogel ausgeflogen, Mr. Embleton. Wirklich ärgerlich. Meine beste Brieftaube …« »Brieftaube?« fuhr Sebastian auf. »Wollen Sie mir erzählen, Sie hätten in diesem Schuppen Brieftauben gehalten?« »Aber natürlich. Was haben Sie denn gedacht?« 322
»Ich verwette meinen Kopf darauf, daß bis vor kurzem hier noch ein Habichtsweibchen gehalten wurde«, erklärte Sebastian. »Sie da«, schnauzte er den Major an, »was für ein Vogel war da drin?« Der Major, verwirrt von dem unerklärlichen Auftauchen der Polizei und der drei Herren in dunklem Anzug, wußte nicht recht, was er sagen sollte. »Hab ich nicht gesehen«, erwiderte er schließlich wahrheitsgemäß. »Es war dunkel, als ich die Tür aufgemacht habe. Irgendwas ist mir entgegengeflogen, ich bin hingefallen, und ehe ich wußte, wie mir geschah, war ich eingeschlossen. Gestunken hat das Vieh jedenfalls wie die Pest.« »Sally, Sie begleiten die Herren wohl zum Ausgang«, sagte Prosser. »Auf Wiedersehen, Sir Alexander«, sagte Embleton verkniffen. »Ich hoffe, Ihr Vogel kehrt bald zurück.« »Wie meinen Sie das?« fragte Prosser. »Als Fachmann müßten Sie wissen, daß eine Brieftaube erst dann ihren Wert bewiesen hat, wenn sie auch wieder in den heimatlichen Schlag zurückkehrt.« »Ach so, ja. Ja, sicher, die wird schon wiederkommen.« »Das werde ich auch. Lassen Sie es sich einstweilen nicht zu gut gehen.« Die Kälte war Jeremys Denkvermögen förderlich. Zum erstenmal seit vielen Monaten konnte er in aller Ruhe und ohne jede Ablenkung seinen Gedanken nachhängen. Mittlerweile hatte er sich an den Klang der Glocken gewöhnt, ja, sie kamen ihm schon fast vor wie alte Freunde. Er hatte bereits mehrere Seiten in seinem Notizbuch vollgeschrieben und konnte es kaum abwarten, Sally seine neuen Marketingideen zu unterbreiten. Es klopfte, die Tür wurde aufgeschlossen, ein hochgewachsener, würdiger Herr zog den Kopf ein, um nicht an den Türsturz zu stoßen, und streckte Jeremy die Hand hin. 323
»Sir John Lober.« »Guten Tag. Ich kann Sie leider nicht bitten, Platz zu nehmen, Sitzgelegenheiten gibt’s hier nicht.« »Du liebe Güte. Ganz schön spartanisch hier, was? Also das muß anders werden …« Sir John wirkte etwas befangen. Er ging zum Fenster und sah hinaus. »Aber der Blick ist phantastisch, das muß ich schon sagen.« Dann wandte er sich wieder Jeremy zu: »Sie möchten sicher wissen, wie lange wir Sie hier noch festhalten wollen, Seaman – äh, Mr. Seaman, meine ich.« »Kann mir wohl auch keiner verdenken …« »Ja, hm, wir haben uns mit der Opposition besprochen und sind uns darüber einig, daß eine längere Haft eigentlich nicht vertretbar ist. Bei Licht besehen, hat man den Eindruck, daß wir uns gestern abend ein wenig von unseren Emotionen haben hinreißen lassen. Es war ein langer Tag, einige Kollegen waren überreizt … Betonen möchte ich allerdings, daß das weder mit der Kundgebung noch mit der Berichterstattung über Ihren Prozeß etwas zu tun hat. Nicht das mindeste. Das Unterhaus würde sich nie auf diese Weise unter Druck setzen lassen. Wir denken einfach mal, daß Sie inzwischen Ihre Lektion gelernt haben.« »Kundgebung? Berichterstattung?« wiederholte Jeremy, aber seine Frage ging in dem Hall der Glocken unter, die die halbe Stunde schlugen. Sir John legte die Hände über die Ohren und konnte es nicht fassen, daß Jeremy diesen höllischen Lärm mit soviel Gleichmut ertrug. Als es wieder still geworden war, fragte Jeremy: »Darf ich das so verstehen, daß ich jetzt frei bin?« »Was?« brüllte Sir John, dessen Hörvermögen sich noch nicht wieder normalisiert hatte. Jeremy wiederholte die Frage. »Nein, also … nicht ganz. Der Speaker ist nämlich bedauerlicherweise anderer Meinung. Er scheint an eine Zeitspanne nicht von Tagen, sondern eher von Monaten, ja, vielleicht gar von Jahren gedacht zu haben – falls von Denken 324
bei ihm überhaupt noch die Rede sein kann. Jetzt droht er damit, die Herausgeber und Redakteure aller Presseorgane unseres Landes wegen Mißachtung des Parlaments vor Gericht zu bringen, was natürlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Eindeutig nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ein tragischer Fall. Und deshalb müssen wir, um Sie rauszukriegen, erst mal ihn reinbringen – in die Klapsmühle nämlich. Nur ist es eben nicht so einfach, einen Speaker abzusetzen. Vor Montag wird daraus wohl nichts. Sehr lä stig, wirft den ganzen parlamentarischen Zeitplan durcheinander. Ob Sie es wohl übers Wochenende hier noch aushalten könnten?« Sally überreichte Prosser die kopierte Medusa-Diskette und ging unter dem Vorwand, sie habe Magenschmerzen, nach Hause. In ihrer Handtasche hatte sie Beweismaterial, das nicht nur Jeremy die Freiheit, sondern Prosser endgültig zu Fall bringen würde. In ihrem Arbeitszimmer in Crown Reach stellte sie den Computer an und schob mit einem Taschentuch, um Prossers Fingerabdrücke nicht zu verwischen, die Diskette ins Laufwerk. Auf dem Schirm erschien die Meldung: »Paßwort eins!« Mist. Eine gesicherte Diskette. Wie kam sie jetzt an das Paßwort heran? Vermutlich kannte das nur Prosser, und sie war schließlich kein Hacker. Sie tippte »Prosser« ein. Der Computer reagierte mit der Meldung: »Falsches Paßwort. Bitte neuer Versuch.« »Alexander« funktionierte ebensowenig wie »Charles«, sein zweiter Vorname. Sally versuchte es mit BIG, mit Pardoe und Nostrum, aber der Erfolg war gleich Null. Resigniert griff sie nach einem Notizblock. Das konnte länger dauern. Aber sie hatte ja das ganze Wochenende vor sich. Jeremy riß den Umschlag der British Industrial auf in der 325
Hoffnung, Sally habe ihm ein paar Zeilen geschrieben. Aber nein – Nettle teilte ihm in wohlgesetzten Worten mit, Jeremy müsse, wenn er über Donnerstag hinaus der Arbeit fernblieb, entweder ein ärztliches Attest beibringen oder mit seiner fristlosen Entlassung rechnen. Jeremy zerknüllte den Schrieb und warf ihn auf den Boden. Sie hatten es ja wieder mal sehr eilig gehabt. Auch Sally hatte es eigentlich eilig, aber das Erfolgserlebnis blieb vorerst aus. Bis Samstag in den frühen Morgenstunden hockte sie vor dem Bildschirm und versuchte, Prossers Code zu knacken. Bei jedem Versuch leuchtete die Meldung auf: »Falsches Paßwort. Bitte neuer Versuch.« In dem Durcheinander auf dem Dach hatte sich der Major davongemacht. Er hatte nicht die geringste Lust, Prosser zu erklären, was er in dem Schuppen gesucht hatte. Bestimmt würde der große Boss ihn am Montag vorladen. Doch für den Montag hatte der Major andere Pläne. Thomas hatte ihm von Godfrey Daniels’ Entlassung erzählt. Diese Chance galt es zu nutzen. Daniels’ Büro lag unmittelbar unter dem von Prosser und stand vermutlich jetzt leer. Wenn er am Montag dort den Brandsatz legte, würde man ihn kaum rechtzeitig entdecken. Wie befriedigend, BIG House und mit ihm auch dessen blutrünstigen Tyrannen am Vorabend seiner Investitur in Flammen aufgehen zu lassen. Montagabend also, dachte der Major zufrieden. Hier in seiner Küche würde er sitzen und warten, bis Rot- und Orangetöne das purpurne Licht an seiner Wand überdeckten, bis die Flammen Prosser und sein verhaßtes Bauwerk verschlungen hatten. Der Brandsatz war bereits fix und fertig und harrte in einer Wohnzimmerecke der weiteren Verwendung. Das Ding sah aus wie aus einer antiquierten Bastelanweisung. Aber aufs Aussehen, dachte der Major, kommt es schließlich nicht an. 326
Er machte sich daran, ein Schild für Daniels’ Tür zu malen. Unbemerkt von dem Major saß in dessen Garten das Habichtsweibchen Maggie auf einem Platanenzweig und putzte sich. Sally hatte eigentlich am Samstag ein Kleid für die Feier im Buckingham Palace kaufen wollen. Aber als sie aufwachte, noch immer vor dem Computer sitzend, den Kopf auf die Arbeitsplatte gelegt, war es schon nach zwölf. Prossers Diskette ging vor. Wenn sie Glück hatte, war sie ja noch vor Ladenschluß am Ziel. Aber sie saß bis zum Anbruch der Dunkelheit über ihrer Arbeit, umgeben von Tellern und Tassen, stummen Zeugen einer eilig eingenommenen Stärkung, und Haufen fliegender Blätter, die von der Ergebnislosigkeit ihrer Bemühungen zeugten. Sie hatte es mit sämtlichen Tochterfirmen versucht, sämtlichen Mitarbeitern, allen Zulieferfirmen, die ihr einfallen wollten. Gegen halb neun war Sally drauf und dran, das Handtuch zu werfen. Sie würde es wohl nie schaffen! »Mist!« dachte sie und war so frustriert, daß sie das Wort eintippte. »Falsches Paßwort. Bitte neuer Versuch«, erwiderte der Computer unerschütterlich. »Scheiße«, gab sie ein. Es tat richtig wohl. »Falsches Paßwort. Bitte neuer Versuch.« »Fick«, hämmerte sie. »Danke«, meldete der Computer. »Paßwort zwei?« Paßwort zwei … Der Knoten war geplatzt! Sie hätte es sich eigentlich denken müssen. Genau das waren doch die Ausdrücke, die ständig im Hirn dieses schmierigen Unflats herumspukten! Da sie seine schmutzige Phantasie kannte, brauchte Sally nur zehn Minuten, bis sie die nächsten beiden Paßwörter gefunden hatte. Mit den klinisch sauberen, nüchtern-sachlichen Bezeichnungen für die Intimbereiche des menschlichen 327
Körpers brauchte sie gar nicht anzufangen. »Schwanz« tippte sie ein – und hatte damit die zweite Hürde genommen. »Danke. Paßwort drei?« sagte der Computer höflich. Fick und Schwanz. Fehlte eigentlich nur noch eins … Sally tippte: »M-Ö-S-E«. Volltreffer! Sally stieß ein Indianergeheul aus, als sich Aladins Wunderhöhle öffnete und Zahlen über Zahlen auf dem Bildschirm erschienen. Bald wurde ihr klar, weshalb Prosser so ängstlich bemüht gewesen war, die Diskette nicht in unbefugte Hände fallen zu lassen. Über zehn Jahre hatte er seine Aktiengeschäfte, die hauptsächlich über obskure ausländische Banken gelaufen waren, genau dokumentiert. Alle Finanzplätze waren vertreten, die besonders von Investoren mit einer gewissen Scheu vor behördlicher Zuwendung geschätzt werden: die CaymanInseln, Bermuda, die Turksund Caicos-Inseln, Niederländische Antillen, Liberia, Panama, Cook Islands, die Schweiz und Liechtenstein. Prosser hatte sich nicht nur für die Aktien von Unternehmen interessiert, an denen BIG Group beteiligt war, stellte Sally fest. Er wußte offenbar stets vorab Bescheid, wenn ein Übernahmeangebot im Busch war – denn immer hatte er sich erfolgreich ein Paket Aktien gesichert, ehe die Nachricht an die Öffentlichkeit gelangte. Sally pfiff verständnisinnig, als sie sah, wie umfangreich seine Spekulationen mit Nostrum- und Pardoe-Trust-Aktien gewesen waren. Allein dabei mußte der Mann ein Vermögen verdient haben. Doch das war nur eine Datei der Diskette. Auf den anderen waren teils skandalöse, teils nur unappetitliche Informationen über das Privatleben aller möglichen Leute – besonders aus der Welt der Wirtschaft – gespeichert. Auch Roach war vertreten, ebenso wie der gesamte BIG-Vorstand. Kein Wunder, daß alle sich klaglos von Prosser hatten schikanieren lassen. Was blieb ihnen übrig? Er hatte alle in einem Würgegriff gepackt, aus dem es kein ehrenhaftes Entkommen gab. 328
Angeekelt las Sally den Namen eines Geschäftsmannes, der wegen seiner außerehelichen Beziehungen zu einem NackedeiModel von der Regenbogenpresse durch den Schmutz gezogen worden war. Die Information war unter einem Datum auf Prossers Diskette gespeichert, das vor dem Zeitpunkt lag, an dem der Skandal publik geworden war. Bestimmt war auch das Prossers Werk gewesen. Daß die Firma des Opfers wenig später von British Industrial geschluckt worden war, konnte kein Zufall sein. Gewissenhaft arbeitete sie sämtliche Dateien der Originaldiskette durch, sichtete und sortierte die Informationen. Es war eine mühselige Arbeit, aber eine, die sie gern und freudig auf sich nahm.
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30 »Jeremy!« »Sally!« In der Zelle des Uhrturms von Westminster fielen sie sich in die Arme. Kurz vor der Mittagspause hatte Sir John Lober bei Sally angerufen und ihr mitgeteilt, daß Jeremys Entlassung unmittelbar bevorstand. »Du hast gräßliche Ringe unter den Augen, Sally. Eigentlich müßte ich, der Gefangene im Turm, derjenige sein, der elend und abgezehrt ist. Aber insgesamt war’s gar nicht so schlimm. Ich hab tüchtig gearbeitet und jede Menge tolle Ideen ge habt. Was hältst du von Werbetafeln mit Leuchtbuchstaben? Die stellen wir an den Ecken auf, und wenn die Autos um die Kurve brausen, erfaßt der Scheinwerferkegel die leuchtenden Kohlensäurebläschen und den Zischfit-Slogan …« »Jeremy«, unterbrach ihn Sally, aber es war sinnlos, echtes Genie ist einfach nicht zu bremsen. »Das ist nur ein Beispiel, mir ist noch viel mehr eingefallen. Du weißt doch, daß heutzutage beim Film Product Placement die große Masche ist, die Firmen zahlen den Produzenten jede Menge Kohle, damit die ihre Erzeugnisse in dem Streifen unterbringen. Mit Büchern müßte sich so was doch auch machen lassen. BIG hat auch Verlagsbeteiligungen. Wir zahlen einfach den Bestsellerautoren was dafür, daß sie BIG-Produkte in ihre Romane packen, das ist als Werbung enorm wirkungsvoll, besonders wenn wir auch die Schutzumschläge nutzen.« »Jeremy, ich muß dir etwas sagen.« »Aber das schärfste ist die Sache mit der neuen Verpackung, Sally. Halt dich fest. In was füllen wir zur Zeit unser Zischfit ab? In ganz gewöhnliche Dosen, wie alle anderen Soft-DrinkHersteller auch. Was fällt dir sofort auf, wenn du von oben auf eine Palette 330
mit Dosen guckst? Klar, nicht? Nein? Gut, ich sag’s dir. Daß zwischen den Dosen eine Menge vergeudeter Platz ist. Welchen Radius hat eine Dose? Ungefähr 3 cm, würde ich sagen. Die Fläche ist pi mal r2 oder etwa 28 Quadratzentimeter, stimmt’s?« »Jeremy, wir müssen ernsthaft miteinander reden …« »Angenommen, du hast vierundsechzig Dosen, das ist eine Gesamtfläche von 1792 Quadratzentimetern. Aber – und das ist der Knackpunkt – an Bodenfläche brauchst du 2304 Quadratzentimeter. Über zwanzig Prozent davon ist bloß Luft. Was liegt näher, als das BIG-Logo zu nutzen und dreieckige Dosen zu produzieren? Ich weiß, was du sagen willst. Daß sie teurer in der Herstellung sind. Stimmt. Aber dafür kann man sie viel dichter zusammenpacken, so daß wir bis zu 99 % oder mehr von unserem Lagerraum nutzen können, und die Dosen brauchen nicht so hoch zu sein. Das ist eine enorme Einsparung. Und weil dreieckige Dosen so was durchschlagend Neues sind, können wir möglicherweise auch am Inhalt sparen. Stell dir mal vor, was das für unsere Gewinnspanne bedeutet …« »Jeremy, ich habe etwas viel Wichtigeres –. Hey, sagtest du dreieckig? Du, das ist gar keine dumme Idee. Die Dosen würden genau aneinanderpassen.« »Eben.« Der Stellvertreter des Zweiten Ordnungsbeamten, der taktvoll vor der Tür gewartet hatte, machte sie vorsichtig auf. Er hatte Anweisung, Seaman mit Samthandschuhen anzufassen, aber die junge Dame war jetzt schon seit ungefähr einer Viertelstunde drin. »Nein, du Pflaume«, sagte sie gerade. »So rechnet man die Fläche eines Dreiecks nicht aus. Hast du denn alles vergessen, was sie dir in der Schule beigebracht haben? Es ist … es ist …« »Ach nee, und wer stottert jetzt rum? Wer hat jetzt die Grundbegriffe der Mathematik vergessen? Wir zeichnen es mal 331
auf, dann läßt es sich ungefähr abschätzen. Angenommen, wir bleiben bei dem gleichen Inhalt pro Dose. Dann bekommen wir auf eine Reihe von 50 cm etwa elf Dosen, insgesamt also 121.« »Genial! Das macht 3388 Quadratzentimeter Dosenfläche auf einer Bodenfläche von 2500 Quadratzentimetern. Du, so revolutionär ist die Idee nun auch wieder nicht. Ja, was ist?« »’tschuldigung, Miss, ich wollte nur wissen, ob Sie noch lange brauchen. Wir haben fast die volle Stunde, und ich möchte lieber nicht hier sein, wenn –« »Zu spät«, freute sich Jeremy, als die Glockenschläge begannen. Es machte ihm immer Spaß, die Reaktion von Besuchern zu beobachten, wenn die Glocken in Aktion traten. Sallys Gesicht war sehenswert. Er nahm sie in die Arme und küßte sie ausgiebig. Die Schwingungen von Big Ben wurden von dem Schallraum, den ihre geöffneten Münder bildeten, zurückgeworfen. An der Tür von Godfrey Daniels’ früherem Büro hing ein Schild: »Eintritt nur mit schriftlicher Genehmigung von Sir Alexander Prosser«. Hinter der Tür war der Major emsig am Werk, etwas behindert durch das Taschentuch, das er sich als Schutz vor dem verwesenden Rommel an die Nase hielt. In der Schachtel, die er unter den Schreibtisch gestellt hatte, schwamm, wohlgeborgen in dem Kondom und von Baby-Öl umspült, der leicht entzündliche Phosphor. Er hatte sich zu guter Letzt für einen original französischen Präser entschieden. Der Major stellte den Wecker auf neun. Dann kletterte er auf den Schreibtisch, holte einen Schraubenzieher aus der Tasche und entschärfte Rauchdetektor und Sprinklerdüse. Aus den Aktenschränken holte er alles an Papier, was er finden konnte, und packte es auf den Schreibtisch. Erst als die Platte unter den Papierbergen nicht mehr zu sehen war, trat der Major zurück, um sein Werk zu bewundern, und siehe, er fand es sehr gut. 332
Er verließ den Raum und sperrte hinter sich ab. Das war’s dann wohl, Sir Alexander Prosser. Sally schloß die Wohnungstür auf. Jeremy schmollte noch, weil sie ihm weder erlaubt hatte, mit den vor dem Parlament lauernden Reportern zu sprechen, noch, Autogramme zu geben. »Warte nur, bis ich dir erzählt habe, was morgen ansteht«, hatte sie ihn vertröstet. »Dann weißt du, warum es klüger ist, wenn du heute auf Tauchstation gehst.« Sie setzte Jeremy vor den Computer und sich auf seinen Schoß. Mit einer Hand fuhr sie ihm zärtlich durchs Haar, mit der anderen schob sie die Diskette in das Laufwerk und gab Prossers erstes Paßwort ein. »Aber Sally«, sagte Jeremy empört, als er sah, was sie getippt hatte. Das zweite Paßwort folgte. »Sag mal, was ist denn in dich gefahren?« Als sie das dritte Paßwort eingab, wurde Jeremy rot. »Das geht wirklich zu weit, Sally. Ich wußte gar nicht, daß du solche Wörter kennst … Hey, was ist denn das?« »Weniger reden, Jeremy, und mehr gucken!« »Ich werd verrückt!« »Lieber nicht. Hier siehst du Sir Alexander Prossers Insidergeschäfte – komplett aufgezeichnet über ein ganzes Jahrzehnt.« »Aber das ist doch genau, was wir brauchen, nicht?« »Eben. Jetzt geht die Post ab, mein Junge!« Bei Prosser ging zu seinem Bedauern gar nichts ab. Er stand auf dem Dach von BIG House und versuchte, Maggie zurückzulocken. Trotz der Trillerpfeife, deren schriller Ton ihr vertraut war, und des frischen Karnickels als Köder ließ sie sich nicht sehen. Verdammtes Vieh. Je länger ein Habicht in Freiheit war, desto schwieriger wird es, ihn wieder an den Menschen zu gewöhnen. Maggie war das 333
ganze Wochenende über weg gewesen, und Prosser hatte eigentlich nicht mehr viel Hoffnung, sie zurückzubekommen. Mit dumpfem Laut schwang die Tür des leeren Schuppens im Wind. In einem Hauseingang auf der anderen Seite des Gilbert Square hockte ein frierender und erbitterter Sebastian Embleton und sah finster durch seinen Feldstecher. »Hallo, das Betrugsdezernat bitte … Sie stellen mich durch … Guten Tag. Mit wem spreche ich? Detective Constable Bosworth? Ich gratuliere Ihnen, Detective Constable Bosworth, heute ist Ihr Glückstag. In Ihren Akten werden Sie feststellen, daß die Ermittlungen der Börsenaufsicht nach der Übernahme von Pilsbury Glass in eine Sackgasse gerieten, als man in diesem Zusammenhang etliche Strohfirmen auf den Cayman Islands entdeckte. Was würden Sie sagen, wenn man Ihnen den Namen des wahren Besitzers dieser Firmen liefern würde – es handelt sich übrigens um einen bekannten englischen Wirtschaftsführer –, zusammen mit detaillierten Angaben über Durchführung der Transaktionen, Kontennummern, den Händler, über den die Geschäfte liefen, und dergleichen? Holen Sie Ihre Akte, Detective Constable Bosworth. In Kürze wird Ihnen die Aufklärung eines der größten britischen Insiderskandale aller Zeiten frei Haus geliefert – in Geschenkverpackung und mit bunten Bändchen. Wenn Sie mir Ihre Durchwahlnummer geben, melde ich mich in einer Viertelstunde wieder.« Er legte auf. »Also wirklich, Jeremy … Diese Häme kenne ich ja gar nicht an dir! Gib mir mal den Apparat, jetzt bin ich dran.« Sally wählte die Nummer des ersten BIGVorstandsmitgliedes auf ihrer Liste. »Mr. Akenside? Hier Sally Fluke, Sir Alexander Prossers Chefassistentin. Es tut mir leid, aber die Vorstandssitzung ist auf morgen nachmittag um drei vorverlegt worden. Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber Sir 334
Alexander läßt Ihnen sagen, er würde großen Wert darauf legen, daß Sie dabei sind … Sie können es einrichten? Wunderbar, ich sage ihm Bescheid.« Sie wählte die nächste Nummer. Bis zu Jeremys Rückruf beim Betrugsdezernat hatte sie mit Ausnahme von Bourne alle Vorstandsmitglieder verständigen können. »Hallo, hier bin ich wieder. Noch immer Detective Constable Bosworth? So was Dummes! Inzwischen hätte man Sie mindestens schon zum Sergeant befördern müssen. Aber das ist bestimmt nur noch eine Frage der Zeit. Haben Sie was zum Schreiben da?« Ein aufgeregter Detective Constable Bosworth reichte die Angaben, die er bekommen hatte, an Detective Sergeant Davies weiter. Ein reservierter Detective Sergeant Davies hielt es immerhin für angebracht, mit seinen Informationen zum Chief Inspector zu gehen. Der Chie f Inspector sagte sich, daß es nicht schaden könne, mal mit dem Commander zu sprechen. Der Commander seinerseits entschloß sich, den persönlichen Referenten des Commissioner zu verständigen, der dann diskret den Commissioner informierte. Der Commissioner wählte Downing Street Number Ten und sprach mit dem Parlamentarischen Sekretär der Premierministerin, der sich ausdrücklich beim Commissioner bedankte. Der Fall würde bei der Premierministerin gewiß auf lebhaftes Interesse stoßen. Und das, dachte er, während er auflegte, ist die Untertreibung des Jahres. So wie ich die Chefin kenne, springt sie im Quadrat. Kurz vor neun saß der Major in seiner Küche und sah mit starrem Blick zum BIG House hinüber. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Um diese Zeit war das Gebäude menschenleer – mit Ausnahme von Prossers Privaträumen im 14. Stock. 335
Vorsichtshalber hatte der Major auch noch die Feuermelder entschärft, damit niemand vorzeitig Wind von dem Unheil bekam, das sich hier zusammenbraute. Von Daniels’ früherem Büro im 12. Stock würden die Flammen hochsteigen und sich zu Prossers Büro und zu den umliegenden Räumen im 13. Stock vorarbeiten. Durch die Kaminwirkung der Wendeltreppe würden Rauch und Hitze in Prossers Privaträume hinaufziehen. Würde ihm der Rauch oder das Feuer den Garaus machen? Genüßlich machte sich der Major über Fish und Chips und matschige Erbsen her und überlegte, warum sie den Fritierteig heutzutage nie mehr so richtig hinkriegten. Jeremy und Sally hatten sich durch eine Meute wartender Reporter mühsam den Weg ins BIG House freikämpfen müssen. Roach hatte Jeremy im 13. Stock freundlich begrüßt und gesagt, er habe ihn vermißt, was offenbar ehrlich gemeint war. Prossers Empfang war weit weniger freundlich ausgefallen. »Wenn Sie so genial sind, bringen Sie mir mal eine gute Idee«, hatte er von Jeremy verlangt. »Eine einzige. Sehen Sie, das können Sie nicht, Sie sind eine Null, daß Sie es nur wissen. Hier hat nur einer Ideen, und das bin ich. Aber in den Himmel gehoben wird ein saudämlicher rothaariger Hosenscheißer. Ich warne Sie, Seaman. Ein falscher Schritt – ein einziger! –, und Sie fliegen!« »Ja, Sir Alexander«, hatte Jeremy unterwürfig gesagt. Die während der Haft im Turm ausgearbeiteten Vorschläge hatten noch ein, zwei Tage Zeit. Wichtig war jetzt erst mal, daß er seinen Job behalten hatte. »Der Betrieb da unten scheint ein bißchen nachzulassen«, sagte Sally kurz vor neun. »Ob wir es wagen?« »Warum nicht? Ich bekomme allmählich Hunger. Und ich denke ja auch, daß der heimkehrende Held eine kleine Belohnung verdient hat.« 336
»Wie kommen Sie mir denn vor, Mr. Seaman? Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen …« »Erklär ich dir später. Können wir nicht die Fenster zumachen? Es kommt verflixt kalt rein.« »Sei froh, daß wir unsere Fenster überhaupt aufmachen können. Das geht nur im dreizehnten und vierzehnten Stock, in den unteren Stockwerken ist der Gestank geradezu mörderisch. Die Klimaanlage scheint ihn noch zu verstärken. Seit Tagen versucht die Instandhaltung vergeblich rauszukriegen, woran es liegt. Wenn Prosser Pech hat, schließen sie ihm noch das Haus wegen gesundheitlicher Gefährdung.« Sie waren schon an der Tür, als das Telefon läutete. Sally hob ab. »Hier Sally Fluke … Carol! Wie nett, daß du anrufst. Macht gar nichts, ich bin neuerdings eigentlich mehr im Büro als in meiner Wohnung. Warte mal eine Sekunde.« Sie legte die Hand über die Muschel. »Eine alte Freundin von der Uni. Können wir einen Augenblick quatschen, oder hast du es sehr eilig?« »Tu dir keinen Zwang an.« Jeremy hatte im Uhrturm genug gefroren und sehnte sich nach ein bißchen Wärme. Er machte das Fenster zu, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und schlug den Economist auf. Der Major polkte eine Gräte aus einer Zahnlücke und blickte scharf zum BIG House hinüber. Es war nach neun. Wieso sah er noch keine Flammen? Jeremy hielt sich das Taschentuch vor die Nase. Bei geschlossenen Fenstern war der süßlich-ranzige Geruch kaum auszuhalten. Sally hing noch immer am Telefon. Er sah betont auf die Uhr. Es war fünf nach neun. Er fuhr sich mit den Fingern am Kragen entlang. Wenn die Fenster zu waren, konnte einem ganz schön heiß werden. 337
31 Der Major hatte den Kopf über die übereinandergeschlagenen Arme gelegt und schnarchte laut. Als ein Arm vom Tisch rutschte, wachte er mit einem Ruck auf. Fröstelnd und noch schlaftrunken sah er sich um und warf einen Blick auf die Uhr. Halb acht. Wie hatte er nur so lange schlafen können? Jetzt fiel ihm auch wieder ein, warum er überhaupt hier am Fenster saß. Er blickte hinaus. BIG House stand noch und war allem Anschein nach unversehrt. Irgendwas war schiefgegangen. Aber was? Schwerfällig tappte er ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Es half nichts – er würde ein letztes Mal die Uniform anziehen und drüben in BIG House nach dem Rechten sehen müssen. Als Sally gegen halb neun in BIG House eintraf, sah sie Prossers Rolls vor dem Eingang stehen. »Vor zehn, halb elf brauchen wir nicht im Palace zu sein«, maulte der Fahrer, als sie ihr Fenster heruntergekurbelt hatte. »Aber nein, ich muß um sechs antreten, um die Karre vom Boss zu putzen. Der denkt wohl, die Queen guckt höchstpersönlich nach, ob sein Rolls sauber ist?« Wütend schmiß er den Schwamm in den Eimer. Sally lächelte amüsiert und fuhr in die Tiefgarage. Sie müsse sich unbedingt im BIG House umziehen, hatte sie Prosser eingeredet und sich dazu ein Zimmer im 14. Stock ausbedungen. Als Losung für den Lift hatte Prosser zur Feier des Tages die Schlacht von Waterloo – 1815 – ausgesucht. Als sie oben ausstieg, lief er in einem purpurfarbenen Morgenrock durch seine Privaträume und ließ die Puppen tanzen. Lucinda, die er dazu angestellt hatte, die Hosen seines 338
Cut zu bügeln, warf Sally giftige Blicke zu. Daß Sally mit in den Buckingham Palace durfte und sie nicht, war schlimm genug. Aber daß sie jetzt auch noch Dienstmädchen spielen sollte, war wirklich ein dicker Hund. Sally lächelte sonnig. Überall standen die Fenster offen. Demnach war der Gestank so schlimm wie eh und je. »He, du!« Prosser, ein mit Kölnisch Wasser getränktes Taschentuch vor der Nase, stürzte sich auf Sally. »Wird mein Wagen gewaschen?« »Als ich eben vorbeigefahren bin, war er schon quietschsauber.« »Und untenrum?« »Wie bitte?« »Vor dem Buckingham Palace gehen sie mit Spiegeln unter die Wagen. Was sollen sie denn von mir denken, wenn mein Rolls unten voller Dreck und Speck ist?« Er wandte sich an Niblo. »Sag dem dämlichen Chauffeur, ich bitte mir aus, daß der Wagen untenrum wie geleckt ist. Hübsch siehst du aus, Schätzchen.« »Ich habe mich noch nicht umgezogen, Sir Alexander.« »Nein, natürlich. Ganz klar.« »Ihr Wagen wird geputzt. Ihr Anzug wird gebügelt. Sie haben noch reichlich Zeit. Wollen Sie nicht zur Entspannung noch in Ruhe duschen oder ein Bad nehmen, während ich mich umziehe? Das tut Ihnen bestimmt gut.« »Wie recht du hast, Schätzchen.« Er kniff Sally in die Wange. »Komm mit unter die Dusche! Stell ich mir unheimlich entspannend vor.« In ihrer Not sah sie auf die Uhr. »Was, so spät schon?« stieß sie hervor. »Nein, dann muß ich mich beeilen.« Zornig schnaubend drehte Prosser ab und stürmte in sein Schlafzimmer. Sally wartete ein paar Minuten, ehe sie ihm nachging. Jetzt wurde es kritisch. Vorsichtig machte sie die Schlafzimmertür auf. Als sie die Dusche prasseln hörte, trat sie ein. Prossers Sachen waren auf dem Fußboden verstreut, aber die Halskette 339
mit ihrem kostbaren Anhänger war nirgends zu sehen. Zitternd vor Aufregung schlich sich Sally zur Badezimmertür, die nicht ganz geschlossen war. Prosser stand unter der Dusche und summte ohne jedes Gefühl für Takt oder Melodie einen seiner geliebten Märsche. Da war die Halskette! Sie hing an der Ecke der Duschkabine. Wenn er mich jetzt sieht, dachte Sally, ist alles aus. Entschlossen griff sie sich die Kette und nahm sie herunter. Im Schlafzimmer hakte sie rasch, ihre Hand mit einem Taschentuch schützend, die Diskette ab und tauschte sie gegen Prossers Originaldiskette aus, die sie und Jeremy kräftig bearbeitet hatten. Die Diskette, die sie aus dem Badezimmer geholt hatte, verstaute sie in ihrer Handtasche. Dann schlich sie auf Zehenspitzen zurück zum Badezimmer – und erschrak. Das Wasserrauschen war verstummt, und als sie gerade die Kette wieder an die Duschkabine hängen wollte, ging die Tür auf. Sie warf die Diskette auf den Badezimmerboden. Wenn ich Glück habe, glaubt Prosser, sie ist runtergefallen, dachte sie. Dann hetzte sie durchs Schlafzimmer zurück auf den Gang. Dort stand Lucinda und sah ihr mit übereinandergeschlagenen Armen entgegen. »Glückwunsch, Sally. Das war eine reife Leistung. Vielleicht verrätst du mir auch noch, was das Ganze eigentlich soll …« »Wie – wie meinst du das?« »Tu nicht so unschuldig. Ich habe alles mit angesehen.« Sally überlegte ernsthaft, ob sie Lucinda einfach über den Haufen rennen und die Flucht ergreifen sollte. Aber damit hätte sie alles verdorben. »Keine Sorge«, sagte Lucinda. »Wenn du Mister Big eins auswischen wolltest, petze ich nicht. Er hat mich heute früh gefeuert. Erst hat er mich noch mal richtig hergenommen, dann hat er mir gesagt, daß ich allmählich zu alt werde. Seit zwei Monaten hab ich keinen Bonus mehr gekriegt.« 340
»Tut mir ehrlich leid, Lucinda. Aber sei nicht zu traurig. Wenn heute alles klappt –« Weiter kam sie nicht. Atemlos kam Ron Niblo angerannt. »Wo ist der Boss?« stieß er hervor. »Da drin«, sagte Lucinda. »Unter der Dusche. Was ist denn los?« Sally horchte, während Niblo ins Schlafzimmer stürzte. »Boss, sie haben den Rolls gekrallt.« »Gekrallt? Was soll das heißen? Wo war denn der Chauffeur, dieser Saukerl?« »Unter dem Wagen, zum Putzen. Er hat es gar nicht mitgekriegt.« Sally und Lucinda gaben sich die größte Mühe, nicht laut herauszuplatzen, als ein tobender Prosser auf dem Gang erschien. Tropfend und nur mit dem Kettchen bekleidet, wirkte er plötzlich gar nicht mehr so bedrohlich. »Diese Mistkäfer! Diese Müllkübel! Wie lange dauert es, bis die Radkralle ab ist?« »Ich hab den Chauffeur erst mal weggeschickt, um die Geldstrafe zu zahlen. Aber ein, zwei Stunden könnten schon draufgehen.« »Stunden? Soviel Zeit habe ich nicht. Ich muß in – verdammter Mist – in knapp einer Stunde im Buckingham Palace sein. Wär ja noch schöner, wenn ich dank dieser Faschistenschweine nicht im eigenen Wagen hinfahren könnte. Tu was, Ron! Himmelarschundzwirn, so tu doch was!« »Was soll ich denn machen? So was dauert seine Zeit. Ich kann doch nicht aus heiterem Himmel –.« »Himmel … Genau das ist es, Ron. Du bist ein wahrer Einstein. Wo steht der Hubschrauber? Hier oder auf dem Heliport in Battersea?« »Er ist oben auf dem Dach.« »Okay. Schnapp dir diesen Saftheini von Piloten. Er soll die Winde anwerfen. Damit holen wir den Wagen aufs Dach, und diese Scheißverkehrsbullen haben das Nachsehen. Da oben kann unsere Instandhaltung dann die Kralle abmachen. Los, 341
steh nicht da wie angewurzelt. Hau ab, verpiß dich, mach ’ne Mücke.« Niblo machte sich auf die Suche nach dem Piloten. Lucinda folgte ihm, seinen schaukelnden Gorillagang nachäffend. Lächelnd verzog sich Sally zum Umziehen in ihr Zimmer. An Daniels’ früherem Büro hing noch immer das Schild, das Unbefugten den Eintritt untersagte. Der Major schloß auf und trat ein. Die Luft war hier nicht besser als in den Räumen von BIG House. Rommels Verwesung machte offenbar gute Fortschritte. Was da mit der Leiche seines treuen Gefährten geschah, war ja nicht gerade sehr appetitlich, doch der brave Dackel wäre mit dieser Rache an seinem Killer bestimmt einverstanden gewesen. Jetzt aber zur Sache. Ein sehr schwer wiegender Fehler konnte ihm nicht unterlaufen sein. Die Konstruktion war im Grunde denkbar einfach, schließlich sollten ja sogar total schattige linke Typen damit umgehen können. Er machte sich daran, die Papierberge abzutragen, die sich auf der Schreibtischplatte türmten. Ein BIG-Mitarbeiter, der draußen auf dem Gang vorbeikam, sah den Schlüssel stecken, las das Schild, drehte gewissenhaft den Schlüssel herum und zog ihn ab, um ihn später beim Werkschutz abzugeben. Niblo stöberte Biddle, den Piloten, in der Kantine auf, wo er sich ein herzhaftes Frühstück mit viel Cholesterin und fetten Fritten einverleibte. Als er ihm erklärt hatte, was Prosser sich ausgedacht hatte, fragte Biddle zunächst nach dem Gewicht des Wagens. »Ganz normaler Wagen, Mann. Wieviel kann so ’n Ding schon wiegen?« »Natürlich streng verboten, so was.« »Quatsch, nur ’ne kleine Ordnungswidrigkeit.« »Ohne Genehmigung mitten in London mit dem 342
Hubschrauber praktisch auf Straßenebene herunterzugehen, ist mehr als eine kleine Ordnungswidrigkeit. Aber warum nicht? Ist mal was anderes. Anderthalb Tonnen krieg ich hoch, das müßte reichen.« »Dann beeil dich ein bißchen. Der Boss flippt total aus, wenn er nicht pünktlich zur Queen kommt. Ich seh zu, daß ich ein paar Leute von der Instandhaltung kriege.« Jeremy kam kurz vor neun ins Büro. Er bemühte sich sehr, so zu tun, als sei dies ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag, aber er konnte kaum stillsitzen. Düstere Befürchtungen plagten ihn. War auch Sally nichts passiert? Hatte sie die Disketten austauschen können? Alles kam darauf an, daß der gemeinsam geschmiedete Plan wie am Schnürchen klappte. Eigentlich hätte alles wie am Schnürchen klappen müssen. Es war doch so einfach. Ein ganz dummer Fehler wahrscheinlich. Ob es vielleicht was mit der Einstellung des Weckers zu tun hatte? Dem Major fiel ein, daß er mal großen Ärger mit einem dieser neumodischen Digitalwecker gehabt hatte. Dieser Quatsch mit der Vierundzwanzig-Stunden-Einteilung wollte ihm einfach nicht eingehen. Bestimmt war darauf wieder mal so ein blöder Ausländer gekommen. Im Zweifelsfall dieser Hitler. Zeigeruhren waren dem Major viel sympathischer. Da wußte man doch, woran man war. Er wühlte weiter in Papier. Biddle war ein Profi. Prosser der Große mochte es noch so eilig haben – beim Starten ließ sich der Pilot nicht hetzen. Er hakte die Checkliste ab, die ihm mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen war. Stromunterbrecher ein. Rotorbremse aus. Kraftstoffzufuhr geschlossen. Benzinstand okay. Zündung okay. Biddle drückte den Starter. Jetzt für das zweite Turbomeca-Arriel-1C1-Triebwerk das Ganze noch mal ganz langsam zum Mitschreiben. Er prüfte Druck, Temperatur, Spannung, schaltete Funk und Radar an. 343
Dann sah er sich rasch um. Ja, das Dach war frei. Er stieg auf, schwebte über den Dachrand hinweg und bewegte sich vorsichtig nach unten, Richtung Straße. Die Digitalanzeige, dachte der Major. Das ist es, da liegt der Hund begraben, entschuldige, Rommel, alter Junge. Er hatte das Ding auf neun Uhr abends einstellen wollen, aber er hätte noch zwölf Stunden zuzählen und auf 21.00 stellen müssen. Was war er doch für ein Trottel … »Wie sehe ich aus?« Prosser stolzierte in seinem Cut auf und ab. »Wie ein Mann, der alle Voraussetzungen erfüllt, von seiner Königin den Ritterschlag zu empfangen.« Sally dachte, daß er sich vielleicht auch für sie ein Kompliment abringen würde, aber Prosser war hinreichend damit beschäftigt, sich selbst zu bewundern. »Ich muß mal eben in mein Büro«, sagte sie. »Ich auch. Hab noch eine Kleinigkeit zu erledigen.« Biddle schwebte direkt über dem Wagen und machte Niblo ein Zeichen, die Winde an der Aufhängung unter dem Hubschrauber zu befestigen. Er jagte die Triebwerke auf ihre vo lle Leistung von 705 PS und hob den Rolls-Royce Silver Spur etwa einen halben Meter an, um sich zu vergewissern, daß er richtig hing. Erst dann begann er wieder mit dem Steigflug. Der war mühseliger, als er gedacht hatte. Der Rolls war wirklich ein schwerer Brocken. Der Major schüttelte den Kopf über seine Dummheit. Wie zur Bestätigung summte jetzt der Wecker. Punkt neun. Zwei kostbare Sekunden verstrichen, bis dem Major aufgegangen war, daß er die Kontakte zwischen Wecker und Batterie nicht gelöst hatte. Die Batterie ihrerseits war noch 344
immer mit dem Faden der Glühbirne verbunden. Wenn sie warm wurde, ehe er einschreiten konnte, brannte sie ein Loch in das Kondom, das Babyöl floß aus, und der hochentzündliche Phosphor kam mit der Luft in Berührung. In heller Panik kramte der Major in den restlichen Papierhaufen herum. Aber es war schon zu spät. Der Phosphor entzündete sich, die Flammen erfaßten die nächstgelegenen Papierstücke, und Sekunden später brannte der ganze Berg lichterloh. Der Major wich zurück. Auf dem Gang war ein Feuerlöscher. Er drehte den Türknauf, aber die Tür rückte und rührte sich nicht. In Todesangst hämmerte er an das Türblatt und rief um Hilfe. Sprinklerdüse und Rauchdetektor konnten ihn nicht retten, die hatte er höchstpersönlich entschärft. Der Major sah, wie sich vor dem Haus der Hubschrauber schwerfällig in die Lüfte erhob. Eng an die Wand gedrückt, schob er sich bis an das dreieckige Fenster heran und versuchte es aufzumachen, aber er war im 12. Stock, und dort ließen sich die Fenster nicht öffnen. »Einfach hinreißend«, sagte Jeremy. »Wie recht du hast«, sagte Sally. »Nur eine Spur weniger Begeisterung, und du hättest dir die Radieschen von unten angucken können. Gefällt dir der Hut?« »Toll.« Jeremy versuchte, sie zu küssen. »Nicht auf die Lippen«, wehrte sie ab. »Die hab ich gerade gemacht. Und dahin auch nicht, du Ferkel. Manchmal frage ich mich, ob es klug war, deine animalischen Instinkte zu wecken. Hier ist die Diskette. Originalversion, ungereinigt. Prosser hat jetzt die von uns überarbeitete Fassung um den Hals. Hoffentlich macht er nicht mehr daran rum, ehe wir losfahren.« Problematisch für Biddle wurde es, als er zur Landung auf dem Dach ansetzte. Der verdammte Schlitten war einfach zu schwer. 345
Er hatte die Triebwerke aufs äußerste beanspruchen müssen, um die erforderliche Höhe zu gewinnen, die Nadeln von Drehzahl- und Temperaturmesser standen schon im roten Feld. Biddle flog die Dauphin 2 jetzt seit zwei Jahren und kannte sie in- und auswendig. Daß etwas nicht so war, wie es sein sollte, hörte er nicht nur an dem unheilverkündenden Jaulen des einen Triebwerks, er spürte es in allen Knochen. In seiner Verzweiflung warf der Major einen Stuhl durchs Fenster. Doch der Hubschrauber war nicht mehr in Sicht. Der Luftzug fachte die Fla mmen an. Er spürte die Hitze im Nacken. Ratlos sah er sich um. Sein Blick fiel auf einen Stahlschrank in der anderen Ecke. Die Flammen hatten die Decke erreicht und leckten an den Schaumstoffplatten, denen beißende Dämpfe entströmten. Der Major flüchtete sich in den Schrank, machte die Tür zu und betete darum, daß er hitzebeständig war. Das war er leider nicht. In seinem Büro kämpfte Prosser mit den Knöpfen des ungewohnten Smokinghemds, langte hinein und holte die Diskette heraus. Jetzt wurde es kritisch. Wenn er nichts unternahm, schmierte die Maschine ab. Dieser verdammte Prosser mit seiner verdammten Luxuskarosse. Es half nichts, er mußte den Wagen ausklinken, und zwar so schnell wie möglich. Für Feinheiten war jetzt keine Zeit mehr. Wenn er ganz dicht über dem Dach herflog und den Wagen direkt über dem Landeplatz vom Haken ließ, würde das gute Stück wohl mit ein paar Beulen davonkommen. Dann mußte er nur darauf achten, nach dem plötzlichen Gewichtsverlust das Gleichgewicht zu halten, aber irgendwie würde er das schon hinkriegen. Biddle machte einen raschen Anflug. Die Räder des Rolls 346
waren nur wenige Zentimeter vom Boden entfernt. Er wollte gerade den Hebel loslassen, um die Limousine auszuklinken, als er sah, wie zwei Leute von der Instandhaltung gemütlich über das Dach geschlendert kamen. Mit der sekundenschnellen Reaktion eines guten Piloten ging er in eine steile Schräglage. Aber der Griff zum Ausklinkhebel war nicht mehr zu stoppen. Während der Wagen zu Boden ging, hatte er alle Hände voll zu tun, um nicht die Kontrolle über die Maschine zu verlieren, aber Erfahrung und Können kamen ihm zu Hilfe. Die Designer der berühmten Automobilwerke in Crewe hatten ihren Ehrgeiz dareingesetzt, den Rolls- Royce Silver Spur zum weltweit schnittigsten und elegantesten Wagen seiner Klasse zu machen. Kein Kraftfahrzeug aber zeigt sich von seiner besten Seite, wenn es durch ein Glasdach kracht, besonders, wenn sich unter diesem Dach ein mit hunderttausend Litern Wasser gefüllter Swimmingpool befindet. Es war Archimedes, der beim Besteigen seines Bades entdeckte, daß ein Körper so viel Wasser verdrängt, wie seinem Volumen entspricht. Allerdings war Archimedes seinerzeit nicht aus großer Höhe von einem Hubschrauber in sein Bad geworfen worden. Die zweieinhalb Tonnen Glas, Metall, Plastik und sonstige Materialien, die mitten im Pool landeten, verdrängten, späteren Schätzungen zufolge, etwa elftausend Liter stark gechlortes Wasser. Das entwichene Wasser demonstrierte nun, nachdem es sich mit einer Entdeckung des alten Archimedes vergnügt hatte, die Richtigkeit von Newtons Gravitationstheorie. Eben noch saß Sir Alexander Charles Prosser völlig trocken an seinem Schreibtisch, gleich darauf riß ihn ein gewaltiger Sturzbach vom Stuhl und spülte ihn in einer Flutwelle, die ihm bis an den Hals reichte, zu einem der mit Recht so berühmten Venedig-Bilder von Meister Canaletto. Dort aber machte das Wasser noch lange nicht halt. Es 347
arbeitete sich vor bis zum 12. Stock. Unbemerkt von dem Major in seinem erhitzten Stahlschrank floß es durch die Decke in Daniels’ früheres Büro und löschte dort das brennende Inferno. Im 11. Stock war der breite Strom schon zu einem gemäßigten, aber senkrecht nach unten rinnenden Fluß geschrumpft, im 10. Stock war er ein Flüßchen, im neunten ein Bach, im achten nur noch ein Rinnsal. Für die wenigen Tropfen, die in einem oder zwei Büros im 7. Stock durch die Decke kamen, lohnte es kaum, einen Schirm aufzuspannen. Die Auswirkungen der Überschwemmung waren im ganzen Haus zu spüren. Kurzschlüsse ließen das Licht erlöschen und Computer explodieren, die Wassermassen überfluteten die Klimaanlage – und trugen die sterblichen Überreste des armen Rommel davon –, und sämtliche Aufzüge blieben stehen. »Man muß auch mal das Positive sehen«, sagte Sally munter, als sie mit Prosser, Lucinda und Niblo am Rande des halb entleerten Beckens stand und sinnend den gelben Rolls betrachtete, der sich auf den Wellen wiegte. »Wäre das Wasser nicht gewesen, hätte der Wagen die Decke durchschlagen, und Sie wären jetzt platt wie eine Briefmarke.« Lucinda stimmte in ihr Lachen ein, Prosser aber schien wenig Sinn für die heitere Seite des Falls zu haben. »Besten Dank, Sally. Damit ist für dich wohl alles in Butter. In einer Dreiviertelstunde soll ich im Buckingham Palace sein, um mich von der Queen zum Ritter schlagen zu lassen, aber ich habe keinen trockenen Faden am Leib und keinen Wagen.« »Wo bleibt der berühmte Prossersche Humor?« fragte Sally. »Die Transportfrage läßt sich lösen, wir nehmen einfach meinen Wagen, und Ihre Sachen kriegen Luc inda und ich schon wieder hin. Mr. Niblo soll sich nach Heizlüftern umsehen, und ich habe meinen Haartrockner mitgebracht. Das ist im Handumdrehen erledigt.«
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Die Temperatur im Unterstand des Majors war deutlich gesunken. Vielleicht hatten die Sprinkler doch ihre Schuldigkeit getan. Er versuchte die Tür aufzustoßen, aber sie rührte sich nicht. Zum zweitenmal innerhalb einer Woche war er eingesperrt. Er hämmerte an die Tür. Doch selbst wenn jemand ihn gehört hätte – die draußen angebrachte Warnung war dazu angetan, auch den kühnsten Retter abzuschrecken. »Du hast mir nie erzählt, daß du einen Mini fährst«, sagte Prosser ziemlich kleinlaut. »Sie haben mich nie danach gefragt.« »Ganz schön peinlich. Ein Mann in meiner Stellung fährt in einem Mini zum Buckingha m Palace. Außerdem sitze ich in einer Pfütze.« »Das tut mir aber leid«, sagte Sally ohne erkennbares Mitgefühl. »Ich begreife immer noch nicht, warum sie uns nicht gestattet haben, mit dem Hubschrauber im Park zu landen. Inzwischen wären wir längst da.« »Ja, wirklich sehr eigenartig. Richtig unfreundlich von den Leuten.« Während sie den Trafalgar Square umrundeten, sagte Prosser: »Du, Sally, ich bin so schrecklich geil. Können wir nicht mal irgendwo kurz halten?« »Was würde wohl die Queen dazu sagen?« »Und was wird sie sagen, wenn ich mit einem dicken Ständer vor ihr stehe?« Sally spürte Prossers Wurstfinger auf ihrem Schenkel und nieste heftig. »Wahrscheinlich würde ihr das Schwert aus der Hand fallen«, sagte sie und streifte, während sie zum Schalthebel griff, seine Hand ab. »Damit wären unsere Probleme gewissermaßen mit einem Schlag gelöst.« »Das ist nicht zum Lachen«, sagte Prosser. Als sie in die 349
Mall einbogen und sich der langen Reihe der Fahrzeuge anschlossen, die langsam in Richtung Buckingham Palace rollten, kam er zum Glück auf andere Gedanken. »Toller Kasten«, meinte er und rutschte, um von den Gaffern nicht erkannt zu werden, tiefer in seinen Sitz. »Fabelhafte Lage. Hab gehört, daß die königliche Familie ihn gar nicht sehr schätzt. Als Hotel wäre so was unschlagbar. Man könnte Höchstpreise verlangen und ein Vermögen damit machen.« »Sie können es ja Ihrer Majestät mal vorschlagen, wenn Sie an der Reihe sind. Machen Sie ihr doch gleich ein konkretes Angebot.« »Das wäre wohl doch nicht recht passend«, sagte er würdevoll. »Alles zu seiner Zeit.« In diesem Moment steckte ein Polizist den Kopf durchs offene Fenster. Prosser zog den durchweichten Brief des Sekretärs der für die Vergabe von Ehrungen und Adelstiteln zuständigen Central Chancery of the Orders of Knighthood hervor, der sie zum Parken auf dem Innenhof berechtigte. Sally mußte den Kofferraum aufmachen, und der Wagen wurde von unten mit Spiegeln überprüft. Erst dann durften sie durch den Torbogen auf den Vorhof fahren. Jeremy und Detective Constable Bosworth standen im St. James Park und sahen den Mini durch das Tor rollen. »Also wie gesagt«, wiederholte Jeremy, »wenn nicht alles genau nach Plan läuft, geht die Information mit allen Einzelheiten an sämtliche überregionalen Blätter.« »Ja, ich weiß, Sie sagen das nicht zum erstenmal. Haben Sie das Material mit?« Jeremy holte einen dicken Umschlag aus seinem Aktenkoffer. »Das ist der Ausdruck aller Dateien, die auf der Diskette gespeichert sind. Die Diskette selbst hat er um den Hals. Die Paßwörter sind auch hier drin.« 350
Constable Bosworth nahm Jeremy den Umschlag ab und riß ihn auf. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mal einen Blick …« Er überflog die erste Seite des Computerausdrucks. »Verdammt und zugenäht – entschuldigen Sie schon, aber … Also wirklich kein Aprilscherz.« Er holte ein Walkie-talkie aus der Tasche. »Pixie, hier Dixie. Ende.« »Ich höre Sie, Pixie.« »Malheur unterwegs. Ich wiederhole: Malheur unterwegs.« »Bilde ich mir das nur ein, oder ist der Anzug eingelaufen?« fragte Prosser, als sie aus dem Mini stiegen. Die Jackenärmel waren mindestens zwei Zentimeter kürzer als vorher, dafür hingen die Hosen fast zwei Zentimeter über die Schuhe. »So gut wie gar nicht«, sagte Sally. »Sie sehen großartig aus, alle werden nur auf Sie blicken.« Und riechen, dachte sie, werden sie dich auch. Der Chlorgestank war noch nicht verflogen. Auf der anderen Seite des Vorhofes entschwanden sie den Blicken der Zuschauer, die sich am Gitter drängten, und betraten über den roten Teppich die Grand Hall. Sally bewunderte die prachtvollen Marmorsäulen, während sie durch ein Spalier von Gardesoldaten die breiten Stufen der Grand Staircaise hinaufstiegen. Prosser überlegte indessen, ob er wohl die Gardisten und die Lakaien als Zugabe bekäme, falls es ihm gelang, seine Hotelpläne zu verwirklichen. Der Ballsaal war ein prachtvoller Anblick. Hoch über ihnen wölbte sich die Decke mit den rosa Kronleuchtern. Der weite Raum selbst war durchgehend in Creme und Gold gehalten. Ganz hinten standen unter einem Baldachin zwei Thronsessel auf einem erhöhten Podest. Auf der Galerie spielte eine Kapelle Gershwin-Melodien. Traditionen und pompöses Trara, Amerikaner fliegen auf so was, dachte Prosser, der inzwischen 351
von Sally getrennt worden war und instruiert wurde, wie er sich vor der Königin zu verhalten hatte. Kurz vor elf betraten fünf Mitglieder der Königlichen Leibgarde, den Beefeaters im Tower von London fast zum Verwechseln ähnlich, den Ballsaal und nahmen hinter dem Thron Aufstellung. Sie waren als Leibwache der Monarchin gedacht. In ihren scharlachfarbenen Tudorwämsern, mit den rot-weiß-blau bebänderten Mützen, den rot-weißen Rosetten an den Schuhen, Gamaschen und weißer Halskrause, die Pike in der Hand, wirkten sie vermutlich nur insofern abschreckend, als potentielle Attentäter bei ihrem Anblick vor Lachen keinen Schritt mehr hätten tun können. Prosser erinnerte sich daran, daß es eben diese imposanten Gestalten waren, die jedes Jahr am Vorabend der feierlichen Parlamentseröffnung mit Hilfe der offenen Flamme von Petroleumlampen die Kellerräume des Hohen Hauses nach Sprengstoff absuchten. Ein Trommelwirbel kündigte das Abspielen der Nationalhymne und die Ankunft der Queen an, und die Menge erhob sich. Nachdem die Musik verstummt war, hörte man im ganzen Ballsaal Prossers Armbanduhren mit feinem Ping die volle Stunde schlagen. Dann nahmen die Feierlichkeiten ihren Lauf. Zunächst war Ihre Majestät damit beschäftigt, Orden anzustecken. Sie schüttelte dem zu Ehrenden die Hand, murmelte ein paar Worte – und schon wurde der nächste angeschleppt. Zwei Stück pro Minute, stellte Prosser anerkennend fest. Ein Refa-Mann hätte seine helle Freude an ihr gehabt. Ein paar Reihen vor ihm saß Fatty Fenwick von der Firma Möbelglück. Wie mochte der bloß an seinen Adelstitel gekommen sein? Mit dieser tuntigen Wohltätigkeitsmasche wahrscheinlich, sagte sich Prosser. Eigentlich eine Unverschämtheit. Da konnte man ja gleich bares Geld auf den Tisch legen. Wertete das ganze System ab! Er sah, wie Fenwick auf dem roten Schemel niederkniete und die Queen das Schwert kurz erst auf seiner rechten, dann 352
auf seiner linken Schulter ruhen ließ. Fenwick stand auf – von wegen »Erhebt Euch, Sir Fatty!«, das gab’s wohl nur im Kino! –, schüttelte ihr die Hand und trat zurück. Der Mann hatte die Grazie und Anmut eines toten Schellfischs. In seiner Vorstellung erlebte Prosser bereits die kommenden Minuten, spürte fast schon das Schwert –. Da war tatsächlich ein leichter Druck auf seiner Schulter, Ärgerlich fuhr er herum. Hinter ihm stand ein Lakai in schwarzem Frack und roter Weste. »Mr. Prosser?« »Sir Alexander«, zischelte Prosser zurückweisend. »Es hat sich da etwas ergeben, Sir … Wenn Sie mir bitte folgen würden.« »Aber was –« »Keine Sorge, Sir, Sie haben noch reichlich Zeit« Verdutzt verließ Prosser hinter dem Lakaien den Ballsaal. Der Lord Chamberlain flüsterte Ihrer Majestät etwas ins Ohr. Sally meinte zu erkennen, daß die Queen die Augenbrauen hochzog und die Nase rümpfte, als sei ein unangenehmer Geruch hineingezogen. Der Lord Chamberlain verlas den nächsten Name n auf der Liste, und Ihre Majestät machte sich wieder daran, Orden anzustecken, Hände zu schütteln und sich bei Untertanen zu bedanken, die vor lauter Ehrfurcht nur noch stumm glotzen konnten. »Sagen Sie mal, was soll denn das?« ereiferte sich Prosser, sobald sie den Saal verlassen hatten. »Alexander Charles Prosser?« Prosser wandte sich um. »Ja. Was wollen Sie von mir? Ich muß gleich wieder rein.« »Alexander Charles Prosser, mein Name ist Rowan. Chief Inspector Rowan. Ich verhafte Sie unter dem Verdacht des Verstoßes gegen das Aktiengesetz. Sie sind nicht verpflichtet, eine Aussage zu machen, aber alles, was Sie sagen, kann schriftlich festgehalten und als Beweismittel gegen Sie 353
verwendet werden.« Prosser stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie sind nicht vielleicht zufällig von der Königlichen Gesellschaft für Vogelschutz?«
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32 Sally, die ihre Hofkleidung gegen das Outfit einer erfolgreichen Geschäftsfrau vertauscht hatte, betrat hoch erhobenen Hauptes den Sitzungssaal der British Industrial Group. Dort wartete bereits der gesamte Vorstand, jeder an seinem gewohnten Platz: Collingwood, Armstrong, Eldon und Bourne, Akenside, Stowell und Brand. Lucinda, die für das Protokoll zuständig war, zwinkerte Sally verstohlen zu, als sie zur Bestürzung der versammelten Direktoren Prossers Platz am Kopfende des Tisches einnahm. Sie hob die Hände, und das Stimmengewirr legte sich. »Meine Herren, ich muß Ihnen mitteilen, daß Mr. Prosser an dieser Vorstandssitzung nicht teilnehmen wird. Er weiß gar nicht, daß sie stattfindet. Zur Zeit unterstützt er, wie es so schön heißt, die Polizei bei ihren Ermittlungen.« Der Aufruhr, den sie eigentlich erwartet hatte, blieb aus. Statt dessen wurde es totenstill. Die sieben Herren am Vorstandstisch versuchten, diese Mitteilung zu verdauen und abzuschätzen, was sie für jeden einzelnen von ihnen bedeuten mochte. »Darf man fragen, welcher Art diese Ermittlungen sind?« fragte einer schüchtern. »Gewiß, Mr. Akenside. Die Polizei glaubt Beweise dafür zu haben, daß Mr. Prosser in umfangreiche Insidergeschäfte verwickelt war, und zwar über eine Zeitspanne von mindestens zehn Jahren.« »Überrascht mich gar nicht. Der Kerl ist ein ausgemachter Gauner.« Am Tisch wurde Zustimmung laut, die Sklaven witterten den ersten Hauch von Freiheit. »Ich denke doch«, sagte Sally betont, »daß wir alle, wie wir hier sitzen, mindestens eine Leiche im Keller haben.« Akenside räusperte sich und sah auf die Tischplatte 355
hinunter. »Die Frage ist«, fuhr Sally fort, »wie es jetzt weitergehen soll. Die Nachricht von Prossers Verhaftung wird in Kürze an die Öffentlichkeit gelangen.« »Vorher sollten wir einen neuen Vorstandsvorsitzenden bestimmen«, meldete sich Eldon zu Wort. »So was wirkt nach außen immer günstig.« Sally konnte sich nicht erinnern, daß er bisher auf einer Vorstandssitzung auch nur den Mund aufgemacht hätte. »Ja, aber wen?« fragte Stowell. »Von Rechts wegen müßte es Akenside sein«, erklärte Eldon, dem die Befreiung von Prossers Joch offenbar neuen Schwung verliehen hatte. »Wenn einer von uns diesem Ganoven die Stirn geboten hat, dann war er es.« Seine Kollegen brummelten zustimmend, bis auf Brand, der Probleme mit seinem Hörgerät hatte. Jeremy war die Aufgabe zugefallen, sich um Roach zu kümmern. Die Gefahr, daß er als Finanzdirektor und faktisch Prossers zweiter Mann versuchen könnte, sich selbst an die Spitze des Konzerns zu manövrieren, wenn er von der ein paar Türen weiter stattfindenden Vorstandssitzung Wind bekam, war nicht von der Hand zu weisen. Es war eine heikle Situation. Immerhin hatten Prosser und Roach viele Jahre lang zusammengearbeitet. »Nur hereinspaziert, mein Junge«, sagte Roach aufgeräumt. »Hier, nehmen Sie eine Zigarre.« Er schob Jeremy die Kiste hin. »Nein, danke. Die letzte ist mir bekanntlich nicht sehr gut bekommen …« Jeremy setzte sich. »Sie sind ja heute so vergnügt.« »Jawohl, mein Junge, bin ich auch. Meine Frau hat eben angerufen. Sie verläßt mich. Mit ihrem Tenniscoach.« »Das tut mir aber leid.« »Mir nicht. Es ist das Beste, was mir seit Jahren passiert ist. 356
Sogar unsere beiden vorlauten Blagen nimmt sie mit.« Roach stand auf und nahm die Fotos aus den Bilderrahmen, die überall im Büro herumstanden. Er stellte den Reißwolf an und ließ fröhlich kichernd ein Bild nach dem anderen durchlaufen. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Jeremy, welche Befreiung das für mich ist. Lassen Sie sich raten, mein Junge: Finger weg von der Ehe!« »Ich … Ja, ich werd’s mir merken. Ich habe leider eine schlechte Nachricht –« »Jetzt fehlt mir nur noch eins zu meinem Glück«, fuhr Roach fort, während ein Foto von Désirée, Jocasta und Jemima in winzige Schnipsel zerfiel. »Ich weiß nicht recht, wie ich es Ihnen sagen soll, Mr. Roach … Kurz und gut, Mr. Prosser ist verhaftet worden.« Roach machte den Mund auf und machte ihn wieder zu, die Mundwinkel hoben sich, und dann ging ein seliges Lächeln über sein Gesicht. »Ist das Ihr Ernst?« »Leider ja. Bei der Investitur.« »Vor dem Ritterschlag?« Jeremy nickte. Einen Augenblick sah Roach nachdenklich vor sich hin. »Die Welt ist doch schön, Jeremy«, sagte er versonnen. »Finden Sie nicht auch? Wollen Sie wirklich keine Zigarre?« Erschöpft nach dem Flug aus Afrika kam der Schwälberich glücklich am BIG House an. Zu seiner Überraschung fand er das vorjährige Nest unversehrt vor. Ein paar kleine Instandsetzungsarbeiten, und es würde wieder so gut wie neu sein. Er beschloß, ehe er sich häuslich niederließ, einen kurzen Erkundungsflug zu machen, um festzustellen, ob der abscheuliche große Vogel noch da war. Aber auch diese ulkigen Menschen wollte er sich ganz gern mal wieder aus der Nähe besehen.
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Sally mußte die Stimme heben, um sich verständlich zu machen. »Aufgrund seiner langen und vielfältigen Erfahrungen wäre Mr. Akenside als Vorstandsvorsitzender zweifellos hervorragend geeignet. Ich fürchte nur, daß sein Terminkalender ihm nicht erlauben wird, ein so anspruchsvolles Amt zu übernehmen.« Akenside warf sich in die Brust. »Das will ich nicht sagen …« Stowell sah Sally an. »An wen hatten Sie denn gedacht?« »Wie wäre es mit Jeremy Seaman?« fragte sie liebenswürdig. Die Ablehnung war einstimmig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. »Unerhört, was er sich geleistet hat«, empörte sich Akenside. »Der? Viel zu jung!« erklärte Bourne. »Keine Erfahrung«, jammerte Stowell. »Dann sagt doch jeder, daß wir uns von diesen Zeitungsschmierern haben unter Druck setzen lassen«, meinte Eldon. »Hat man schon mal einen Vorstandsvorsitzenden mit roten Haaren gesehen?« fragte Armstrong. Brand hielt eine Hand ans Ohr. »Was hat sie gesagt?« Sally nickte Lucinda zu, die aufstand und jedem Vorstandsmitglied eine Mappe mit dem Vermerk ›Persönlich und vertraulich‹ auf den Platz legte. »Ehe Sie Ihre Entscheidung treffen, meine Herren, sollten Sie vielleicht einen Blick in diese Unterlagen tun. Sie befanden sich unter Mr. Prossers Papieren, für die sich möglicherweise die Polizei im Lauf der Ermittlungen interessieren dürfte.« Es wurde still im Saal, während die Direktoren lasen, was Prosser an Informationen über ihre früheren Ausrutscher und Verfehlungen zusammengetragen hatte. Hin und wieder sah einer auf, begegnete dem schuldbewußten Blick eines seiner Kollegen und schlug rasch die Augen nieder. Einige hatten die 358
Hände vor die Akte gelegt wie Schuljungen, die nicht wollen, daß der Nachbar von ihnen abschreibt. »Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen«, erklärte Akenside mit gemessenem Ernst, »und bin zu dem Schluß gekommen, daß mir in der Tat die Zeit fehlt, mich in so verantwortungsvoller Stellung zu engagieren. Vielleicht wäre dieser Seaman tatsächlich der geeignete Mann. An Ideen mangelt es ihm ja offenbar nicht. Auf die Sache mit Big Ben wäre wohl kaum ein anderer gekommen.« »Frisches Blut für den Konzern«, meinte Stowell. »Bei der Öffentlichkeit und den Aktionären kommt er bestimmt gut an«, bestätigte Eldon. »Mal was anderes, ein Vorstandsvorsitzender mit roten Haaren«, argumentierte Armstrong. Brand hielt sich noch an Stowells Bemerkung fest. »Für Blutspenden fühle ich mich in meinem Alter eigentlich nicht mehr zuständig.« »Die Entscheidung ist demnach einstimmig. Jeremy Seaman ist der neue Vorstandsvorsitzende des Konzerns und MitGeschäftsführer.« »Mit-Geschäftsführer?« wiederholte Collingwood. »Mit wem?« Sally sah ihm unerschrocken in die Augen und schenkte ihm ihr strahlend-sieghaftes Lächeln. »Ja. Gut. Einverstanden«, sagte Collingwood und hob die Hand. Hauptsache, diese furchtbare Akte fiel nicht in unbefugte Hände. »Ich bin dafür.« Nacheinander hoben sich die anderen Hände, selbst Brand meldete sich, allerdings nur, weil er mal austreten mußte. Sally stand auf. »Ja, dann will ich Ihnen jetzt Ihren neuen Vorsitzenden vorstellen, meine Herren. Er wird Ihnen etliche hochinteressante Ideen unterbreiten. Die bewußte Akte können Sie im übrigen gern mit nach Hause nehmen, wenn Sie wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie sehr viel Erhellendes für die Polizei enthält. Sobald die eben getroffenen 359
Personalentscheidungen an der Börse bekanntgegeben worden sind, werden sämtliche Kopien vernichtet.« »Die Idee mit den dreieckigen Dosen ist wirklich gut«, sagte Roach. »Aber irgendwo stimmt was nicht mit Ihren Zahlen. Nach Ihren Berechnungen packen Sie 3400 Quadratzentimeter Dosenfläche auf eine Bodenfläche von rund 2500 Quadratzentimetern …« »Nein, da haben Sie meine Notizen falsch gelesen«, protestierte Jeremy. »Fangen wir noch mal ganz von vorn an. Die Fläche eines Dreiecks ist –« Sally steckte ihren Kopf zur Tür herein. »Darf ich Ihnen wohl Mr. Seaman kurz entführen?« Sie hakte sich bei Jeremy ein und zog ihn mit sich fort. »Roach schien von meinen Ideen sehr angetan zu sein«, sagte Jeremy atemlos. »Und ich hab noch einen guten Einfall gehabt. Du weißt doch, wie schwer wir uns mit der Firmenidentität tun. Kein Mensch weiß, welche Firmen im Konzern zu uns gehören. Ich hab gedacht, wir hängen einfach an jeden Firmennamen den Slogan an: Ein Unternehmen des BIG Business. Gut, nicht? Ein Wortspiel, weißt du«, erläuterte er. Sally schob ihn in Prossers Büro. Bei jedem Schritt gluckste und schmatzte der Teppich, über den sich erst heute vormittag zehntausend Liter Wasser aus dem Swimmingpool ergossen hatten. Das Zimmer sah aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. »Du kannst dich bald selbst davon überzeugen, wie deine Ideen ankommen. Du bist der neue Vorstandsvorsitzende und Mit-Geschäftsführer der British Industrial Group.« Jeremys Kommentar war kurz, aber treffend. »Wow!« sagte er. Dann machte er langsam eine Runde durchs Zimmer, strich mit der Hand über den Schreibtisch, die Monitore, die Bilder, das Sofa, den Tisch, die Büsten von Napoleon, Alexander und Churchill. »Ich kann’s kaum glauben. Das soll jetzt mein Büro sein? Moment mal … Mit-Geschäftsführer … Was ist denn da schiefgegangen? Mit wem?« 360
Sally stellte sich vor ihn hin, stemmte die Hände in die Hüften und sah ihm in die Augen. »Hast du dir wirklich eingebildet, ich würde einen armen, schwachen, wehrlosen Mann wie dich hier seinem Schicksal überlassen? Du nimmst diese Hälfte des Zimmers, ich die andere. Natürlich muß sich einiges ändern. Extravaganzen wie der Hubschrauber und der Rolls werden abgeschafft. Ein paar Bilder werden wir verkaufen müssen, weil Schadensersatzforderungen auf uns zukommen. Und mit den knackigen Chefassistentinnen ist auch Schluß. Ab heute bin ich hier die einzige Augenweide. Und daß du mir nicht übermütig wirst, mein Junge! Alle wichtigen Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, ist das klar? In alle Überlegungen, die den Konzern betreffen, möchte ich eingeschaltet werden. Schluß mit den abenteuerlichen Alleingängen auf der Chefetage!« »So ist das also … Ich bin der Boss auf dem Papier, aber in Wirklichkeit hast du das Heft in der Hand. Alles klar. So ähnlich wie in der Ehe.« »O Jeremy!« Sally fiel ihm um den Hals und küßte ihn. »Und ich hab gedacht, du würdest mir nie einen Antrag machen.« »Wie? Das war doch kein –. Na ja, warum eigentlich nicht?« »Du bist ein unverbesserlicher Romantiker, Jeremy. Das liebe ich so an dir.« »Hast du jemals das Gefühl, nicht Herrin über dein Schicksal zu sein?« fragte Jeremy. »Nie«, sagte sie entschieden. »Sally«, sagte er, als er ein paar Minuten später zum Luftschnappen hochkam, »muß auch über eine weniger wichtige Personalfrage gemeinsam entschieden werden?« »Wohl kaum. Warum?« »Dann entschuldigst du mich vielleicht einen Augenblick. Als erste Amtshandlung in meiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer … als 361
Vorstandsvorsitzender und Mit-Geschäftsführer der British Industrial Group möchte ich gern Nettle am Kragen packen und ihn vor die Tür setzen.« »Hoffentlich nimmst du dir kein Beispiel an Prosser und wirfst ständig Mitarbeiter raus, nur weil du sauer auf sie bist. Wo bleibt da deine vielgeliebte Ethik?« »Ich habe bei dieser Sache eine Menge gelernt.« Jeremy, der schon an der Tür war, drehte sich noch einmal zu seiner Verlobten um. »Unter anderem auch, daß diese sogenannte Ethik kalter Kaffee ist.« Er duckte sich gerade noch rechtze itig. Eine Büste von Winston Churchill sauste haarscharf an seinem Kopf vorbei und zerschellte an der Wand in tausend Stücke. Wenig später landete der Schwälberich auf dem Fensterbrett vor Prossers früherem Büro und spähte durch die Scheibe. Igitt, schon wieder so ein Wurm, dachte er angewidert, verfolgte aber dennoch interessiert, was dort im Zimmer ablief. Dachten diese Menschen denn wirklich immer nur ans Essen?
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