Führ mich ins Licht
Melinda Cross
Julia 1535 - 1-2/03
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
1. KAPITEL ...
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Führ mich ins Licht
Melinda Cross
Julia 1535 - 1-2/03
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von briseis
1. KAPITEL
Am Morgen klang die Park Avenue immer gleich. Tausende verschiedenartige Geräusche mischten sich in das Rumoren der erwachenden Stadt. Cassandra Winters liebte jeden einzelnen Laut. Sie stand am Eingang des Hochhauses aus Glas und Stahl. Das hellblonde Haar wehte im Wind, während sie mit leicht geneigtem Kopf lauschte. Lächelnd unterschied sie die fröhlichen Rufe der im Central Park spielenden Kinder vom Verkehrslärm. Sie lächelte noch immer, als ein junger Mann vorbeiging und einen leisen Pfiff ausstieß. „Ein ziemlich geringschätziger Ausdruck der Bewunderung", hatte ihr Vater einmal erklärt. „Ein Kompliment der unhöflichsten Sorte." Cassie hielt es jedoch absolut nicht für unhöflich. Sie brauchte jede Bestätigung ihres Äußeren, die sie bekommen konnte. Und selbst das half nicht immer. Sie war nach wie vor der Überzeugung, hässlich zu sein, und alle Schmeicheleien ihres Vaters hatten dieses Gefühl nicht zerstreuen können. Er war schließlich ihr Vater und musste sie einfach schön finden. „Tut mir Leid, Miss Cassie! Ich habe Sie nicht kommen sehen." „Schon gut, Robert. Mir geht es ausgezeichnet." Sie lächelte freundlich in Richtung des alten Portiers. Auch er gehörte zu ihrem Leben, solange sie sich erinnern konnte. Genau wie die Geräuschkulisse von New York City. „Ich weiß, Miss Cassie. Aber Ihr Vater schätzt es nicht, wenn Sie hier draußen allein sind ... Oh, verzeihen Sie, Miss. Ich vergesse es immer wieder." „Kein Problem, Robert", erwiderte sie sanft. „Ich kann mich auch nicht daran gewöhnen." „Er war so ein guter Mann", meinte er. „Schwer vorstellbar, dass er gestorben ist. Noch dazu so schnell. Aber ich schätze, es war besser so. Ah, hier kommt Ihr Wagen, Miss Cassie. Sie wollen es also wirklich tun?" „Ja, Robert." Sie zählte die beiden Schritte hinunter zum Bürgersteig und dann sieben weitere zum Bordstein. „Ihr Vater war strikt dagegen", fügte er zögernd hinzu. „Mein Vater hat sich zu viele Sorgen um mich gemacht, Robert. Er ist jetzt tot. Ich muss lernen, auf mich selbst aufzupassen. Dafür ist es höchste Zeit. Vermutlich bin ich die einzige Fünfundzwanzigjährige auf der Welt, die rund um die Uhr von einem Babysitter betreut wird." „So ist es doch gar nicht..." „Es ist so, Robert! Es war immer so!" entgegnete sie scharf. „Vater hat sich um mich gekümmert, ich habe mich um Vater gekümmert, und die Dienstboten haben sich um uns beide gekümmert. Wir haben uns fast zwanzig Jahre lang dort oben abgekapselt, und das ist nun endlich vorbei!" Sie spürte, dass er verletzt war, und streckte besänftigend die Hand aus. Behutsam umfasste er ihre Finger. „Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Robert, ich würde mich sonst schrecklich fühlen. Mir wird es bestimmt gut ergehen. Ich werde einmal die Woche schreiben." Langsam ließ sie die Hand über seinen Arm gleiten, bis sie sein Gesicht erreicht hatte. „Danke, Robert - für Ihre Hilfe beim Begräbnis und für alles andere. In ein paar Monaten sehen wir uns wieder." Sie nahm auf dem Rücksitz der Limousine Platz und hörte, wie der Chauffeur leise die Tür hinter ihr schloss. Lächelnd wandte sie sich dem Fenster zu und winkte in Roberts Richtung. Ob er ihren Abschiedsgruß überhaupt bemerkte? Das ist eines der Probleme, die mit der Blindheit verbunden sind, dachte sie. Man weiß nie, ob jemand zurückwinkt. Die Fahrt den Hudson entlang nach Windrow dauerte zwei Stunden. Die Hälfte der Zeit benötigte man, um die Stadt zu verlassen, und das war angenehm. Außerhalb des Wagens gab es eine Million unterschiedlicher Geräusche, die eine Million unterschiedlicher Geschichten
erzählten. Cassie langweilte sich nie, solange sie nur etwas zu hören hatte. Doch dann lag die Stadt hinter ihnen, und die Eintönigkeit der ländlichen Ruhe lullte sie in den Schlaf. Sie erwachte, als der Wagen hielt. Nun gut, Cassie, sagte sie sich, das war also für längere Zeit deine letzte Fahrt in einer Limousine - vielleicht sogar für immer. Der Chauffeur öffnete für sie die Tür und half ihr aus dem Auto. Dann stellte er das Gepäck neben sie auf den Gehweg. „Sie stehen direkt vor dem Haupthaus, Miss", verkündete er. „Einfach die Stufen hinauf und. durch die Tür." Hastig, beinahe hektisch, stieg er wieder ein, so als wäre ihre Blindheit eine ansteckende Krankheit, die auch ihn befallen würde, sollte er sich ihr zu lange aussetzen. Manche Menschen waren eben so, das wusste Cassie. Und genau diese Leute vermittelten ihr das Gefühl, hässlich zu sein. All die Jahre über hatte ihr Vater solche Zeitgenossen von ihr fern gehalten. Mark war nicht so. Mark hätte sie nie allein und hilflos zurückgelassen. Er hätte sie ins Gebäude geführt, jemanden gefunden, der sich um sie kümmern würde, und wäre erst aufgebrochen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie gut untergebracht war. Mark war seit vielen Jahren der Familienchauffeur gewesen, mehr Angehöriger als Angestellter, und trotzdem hatte sie ihm kündigen müssen. Eine Woche nach dem Tod ihres Vaters hatte sie alle Dienstboten fortschicken müssen, außer natürlich Mrs. Carmody. So. Einfach die Stufen hinauf und durch die Tür. Aber in welcher Richtung lagen die Stufen, und wie viele waren es? Wo befand sich das Gebäude? Hinter ihr? Neben ihr? Sie neigte den Kopf und lauschte, in der Hoffnung, Geräusche aufzufangen, die von Menschen stammten. Von einem einzigen Menschen. Von irgendjemandem. Der Ruf einer Amsel drang über eine offene Fläche an ihr Ohr, das Klappen einer Tür in der Ferne, meilenweit entfernt, wie es schien. Frustriert ließ sie die Schultern sinken. Mit kurzen, trippelnden Schritten bewegte sie sich vorsichtig nach rechts, bis sie mit dem Fuß gegen ihr Gepäck stieß. Sie beugte sich vor und tastete nach ihrem größten Koffer, dann setzte sie sich auf dessen Kante. „Fabelhaft", sagte sie laut, nur um den Klang einer menschlichen Stimme zu hören. „Eine Blindenschule, und niemand ist hier, um mir wenigstens dabei zu helfen, die Stufen hinaufzugehen." „Warum helfen Sie sich nicht selbst?" ertönte weit über ihr eine Stimme. Erschrocken sprang Cassie auf und stieß dabei den Koffer um. „Wer ist da?" „Ich sagte", beharrte die Stimme, „warum helfen Sie sich nicht selbst?" Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und hob gebieterisch das Kinn. „Und ich sagte: ,Wer ist da?'" konterte sie. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Als die Stimme sich wieder meldete, konnte Cassie ein Lächeln heraushören. „Hier ist Wyatt Field." „Nun gut." Sie atmete erleichtert auf. „Gott sei Dank. Ich dachte schon, das Anwesen wäre verlassen. Da niemand sonst in der Nähe zu sein scheint, wären Sie vielleicht so freundlich, mir zu helfen." „Es wäre mir ein Vergnügen. Das ist mein Job. Verraten Sie mir nur, wie." Sie mochte seine Stimme. Er ist Bass, nein, Bariton, entschied sie. Tief, aber samtig. „Zunächst könnten Sie mich die Treppe hinauf und ins Haus führen. Und dann wäre da noch mein Gepäck." * „Lassen Sie die Sachen stehen", erklärte er. „Darum wird sich später jemand kümmern. Und was die Treppe betrifft - Sie wirken wie eine ziemlich gesunde junge Frau. Ich habe gesehen, wie Sie beide Beine benutzen, und weiß daher, dass Sie nicht körperbehindert sind. Sie können die Stufen allein hinaufsteigen." Cassie lächelte nachsichtig und schloss kurz die Augen. „Ich fürchte, Sie verstehen nicht, Mr. Field. Ich bin blind." Seine Antwort klang ruhig und befehlend. „Mag sein. Aber wie ich schon sagte, nicht körperbehindert." „Sie meinen, Sie wussten, dass ich blind bin?" rief sie empört.
„Natürlich." „Und die ganze Zeit über standen Sie da und haben mich beobachtet, ohne mir zu helfen?" „Ich stehe nicht, sondern sitze. Übrigens ist hier jeder blind - außer dem Personal selbstverständlich. Wenn die wenigen Sehenden, die hier leben, pausenlos die Blinden an die Hand nehmen würden, hätten wir keine Zeit für anderes." Vor Zorn verschlug es ihr fast die Sprache. „Halten Sie mir keine Vorträge! Ich weiß, dass Blinde selbstständig sein sollen. Deshalb bin ich ja hier. Allerdings bin ich gerade erst eingetroffen. Ich finde, Sie könnten zumindest so freundlich sein, mich zur Tür zu bringen!" Ihre bebende Unterlippe strafte den hochmütigen Ton Lügen, und der Mann oben auf der Treppe zögerte. Dies war immer der schwierigste Teil. Zu beobachten, wie sie sich hinaufquälten. „Nun gut, ich will Ihnen ein Zugeständnis machen. Die Stufen sind direkt vor Ihnen." „Wie viele?" „Ich habe sie nie gezählt." Verärgert presste sie die Lippen zusammen und warf den Kopf in den Nacken. Die Sonne ließ das lange hellblonde Haar glänzen, als es Cassie über die Schulter wehte, und Wyatt Field unterdrückte einen bewundernden Pfiff. Sie hatte traumhaftes Haar. Er fragte sich, ob sie es wusste. Sie begann, sich langsam vorwärts zu bewegen, die Arme weit von sich gestreckt. „So nicht", befahl er. „Lassen Sie die Arme sinken. Sie sehen aus wie eine Blinde." „Ich bin eine Blinde!" protestierte sie. „Das bedeutet noch lange nicht, dass Sie so aussehen müssen. Und nun runter mit den Armen. Vor Ihnen befindet sich kein Hindernis. Vertrauen Sie mir." „Ihnen vertrauen? Ich mag vielleicht blind sein, Mr. Field, aber ich bin nicht verrückt!" Sein tiefes Lachen machte sie nur noch wütender. Sie tastete sich weiter vor - allerdings ein wenig schneller -, bis sie mit dem Fuß gegen die erste Stufe stieß. Langsam stieg sie hinauf, zählte dabei automatisch mit und spürte seine Nähe zu ihrer Linken, als sie bei neun angelangt war. Sie stampfte leicht mit dem Fuß auf und lauschte dem Geräusch. Sie war auf der Veranda. Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie vorsichtig weiterging, die Arme sicherheitshalber vorgestreckt, bis ihre Hände das Mauerwerk berührten. Sie ließ sie bis auf Taillenhöhe sinken und bewegte sie hin und her, um den Türknauf zu finden. Stolz drehte sie ihn, öffnete die Tür und betrat das Gebäude. Hinter sich hörte sie, wie Wyatt Field spöttisch applaudierte. „Gütiger Himmel! Sie sind bestimmt Miss Winters. Es tut mir so Leid." Eine junge Frau mit heller Stimme eilte ihr durch die weitläufige Halle entgegen. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Miss Winters. Eigentlich hätte ich draußen auf Sie warten müssen, aber heute Morgen ist die Zeit nur so verflogen. Lassen Sie sich anschauen." Schmale Hände umfassten sanft Cassies Schultern und hielten sie auf Armeslänge entfernt. „Sie sind wahrhaftig eine Schönheit. Aber ich rede und rede, während Sie sich gewiss so verloren wie ein Lamm fühlen. Mein Name ist Maggie, Maggie O'Shea, und mein Haar ist so feuerrot wie das einer jeden echten Irin." „Sind Sie Lehrerin hier? Oder Ärztin?" erkundigte Cassie sich, überwältigt von dem wortreichen Empfang und froh, eine freundliche Stimme zu hören. „Oh nein. Ich bin so etwas wie eine Hausmutter - in Ihrem Fall jedoch, da wir ungefähr gleichaltrig sind, wohl eher eine Hausschwester. Meine Aufgabe ist es, die Gäste zu begrüßen, für ihre Bequemlichkeit zu sorgen und ihnen bei der Eingewöhnung zu helfen. Ich habe für alles ein offenes Ohr und eine Schulter, an der Sie sich ausweinen können, wenn Ihnen danach ist. Ah, Dr. Field, hier sind Sie also!" Cassie wurde wieder ernst. „Dr. Field?"
„Sie haben sich demnach schon kennen gelernt. Dann hat Ihnen wohl Dr. Field hereingeholfen." „Mir hereingeholfen?" fragte Cassie ungläubig. „Ich kann von Glück sagen, dass er mir kein Bein gestellt hat, als ich die Stufen hinaufgestiegen bin." Maggie erwiderte über Cassies Kopf hinweg Dr. Fields Lächeln, erklärte aber vorwurfsvoll: „Er ist einfach unverbesserlich! Dr. Field, Sie erwarten zu früh zu viel. Das tun Sie immer." „Wie sieht er aus?" wollte Cassie spontan wissen. Field zog die Brauen hoch und nickte Maggie aufmunternd zu. „Was glauben Sie denn?" Maggie liebte diesen Teil. Die Neuankömmlinge, die Wyatts scheinbar kühle, abweisende Haltung, während sie zum ersten Mal die Stufen zum Eingang erklommen, noch nicht verwunden hatten, stellten ihn sich meist mit Hörnern und einem Pferdefuß vor. Cassie zögerte kurz, dann drehte sie sich um. Wie sie vermutet hatte, stand er direkt hinter ihr. Sie ließ die Hände prüfend über seinen Oberkörper hinauf zu seinem Gesicht gleiten. Einen Moment lang verweilten ihre Finger auf seinen Wangen. Sie spürte seine Anspannung, bevor sie die Arme wieder sinken ließ. „Er ist einsfünfundachtzig", sagte sie, ohne zu überlegen. „Schwarzes Haar, blaue Augen, glaube ich - ziemlich große für einen Mann, mit dichten Wimpern. Kantiges Kinn, markant, mit einem Grübchen. Gerade, schmale Nase. Recht attraktiv, würde ich vermuten, dank der hohen Wangenknochen. Früher hat er Football gespielt. Quarterback", fügte sie hinzu. Sekundenlang herrschte Schweigen, dann ertönte seine Stimme. „Wie alt bin ich, Miss Winters?" Stirnrunzelnd legte Cassie einen Finger auf die Lippen. „Dreißig. Nein. Einunddreißig." Maggies perlendes Lachen hallte von den Wänden wider. „Da hast du's, Wyatt! Was sagst du dazu?" „War ich nahe dran, Maggie?" fragte Cassie. „Bitte, schmeicheln Sie mir nicht - mein Vater hat das immer getan, als ich noch gelernt habe. Es gibt nichts Schlimmeres." Maggie wurde wieder ernst. „Das wissen wir, Miss Winters", erwiderte sie mitfühlend. „Wir schmeicheln hier den Blinden nicht. Niemals. Sie hatten fast hundertprozentig Recht, allerdings ist er wahrscheinlich noch attraktiver, als Sie dachten, nicht wahr, Wyatt?" erkundigte sie sich scherzhaft. „Er ist ein echter Ladykiller. Aber woher kannten Sie seine Augenfarbe? Nachdem Sie erraten hatten, dass sein Haar schwarz ist, hätten Sie auf dunkle Augen tippen müssen." „Seine Stimme ist zu kalt für dunkle Augen. Das wurde mir schon klar, als er das erste Mal zu mir sprach."
2. KAPITEL
Maggie brachte Cassie zu ihrem Zimmer im ersten Stock und half ihr, sich mit dem Arrangement der Möbel vertraut zu machen. „Ich finde es merkwürdig, dass es hier so viele Treppen gibt, Maggie", meinte Cassie, als sie auf das weiche Doppelbett sank. „Ich dachte, eine Schule für Blinde wäre völlig ebenerdig. Insbesondere eine von diesem Ruf. Die Preise sind weiß Gott hoch genug, um einen Umbau zu finanzieren." Maggie lachte leise. „In der wirklichen Welt gibt es auch Treppen, Miss Winters. Unzählige. Auf Windrow halten wir es für das Wichtigste, Sie zu lehren, mit den Dingen umzugehen, die Ihnen dort draußen Furcht einflößen. Es wäre also nicht sehr hilfreich, sämtliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen, oder?" „Nein, vermutlich nicht." „Na bitte. Sie sollten Ihre Kleidung selbst aufhängen, damit Sie wissen, wo sich welche Sachen befinden - sonst kombinieren Sie womöglich Ihre Garderobe falsch." Verlegen presste Cassie die Lippen zusammen. „Was ist?" „Ich weiß nicht viel über meine Sachen, über die Farben und so. Mrs. Carmody hat mir immer alles herausgelegt ... und mir beim Anziehen geholfen", gestand Cassie zögernd. Maggie unterdrückte ein Seufzen. „Gütiger Himmel! Was können Sie denn überhaupt allein erledigen?" Cassie straffte trotzig die Schultern. „Nichts, Maggie. Absolut gar nichts. Deshalb bin ich hier." Maggie nahm einen Block vom Nachttisch und zog einen Stift aus der Tasche. „Schon gut, Cassie - ich darf Sie doch so nennen, oder? Keine Sorge, Sie werden in kürzester Zeit lernen mit allem umzugehen. Wir werden zuerst ein paar Fragen klären, damit Ihre Lehrer wissen, wo sie anfangen müssen. Leider war Ihre Mrs. Carmody ein bisschen wortkarg, als sie Sie telefonisch anmeldete. Wann sind Sie erblindet?" „Mit sieben." Cassie hörte, wie der Stift übers Papier flog. „Wie?" „Durch einen Autounfall, so hat man es mir zumindest erzählt. Ich selbst erinnere mich überhaupt nicht. An manches aus der Zeit davor kann ich mich erinnern und natürlich an alles danach, aber nicht daran, dass ich im Wagen gewesen bin ... oder an den Unfall." Sie biss sich auf die Unterlippe. „Meine Mutter kam dabei ums Leben." Maggie stieß einen mitfühlenden Laut aus, schrieb jedoch weiter. „Sind Ihre Krankenunterlagen hergeschickt worden?" „Ja, Mrs. Carmody hat sich darum gekümmert. Es dürften allerdings nicht viele Akten sein, denn ich war seit fast zehn Jahren nicht mehr beim Arzt. Ich bin geradezu unverschämt gesund." Maggie blickte stirnrunzelnd auf. „Das ist ein langer Abstand zwischen den Untersuchungen. Was hat man Ihnen über Ihre Sehfähigkeit gesagt?" Cassie legte den Kopf in den Nacken und drängte die aufsteigenden Tränen zurück. „Dass es keinen organischen Grund für meine Blindheit gäbe - hysterische Blindheit, so nannte es der Arzt. Dass meine Augen in Ordnung wären, mein Verstand sich aber schlichtweg weigern würde zu sehen." „Was noch?" Cassie atmete tief durch. „Dass ich einen Psychiater aufsuchen sollte." „Haben Sie es getan?" „Natürlich! Glauben Sie etwa, ich will blind sein? Tut mir Leid, Maggie. Ich wollte nicht unhöflich sein. Es ist nur so frustrierend. In den vergangenen zehn Jahren habe ich mir ständig eingeredet, ich könnte sehen, und mich gefragt, warum die Welt weiterhin schwarz blieb."
„Schon gut", beruhigte sie Maggie. „Warum erzählen Sie mir nicht auch den Rest. Lassen Sie sich Zeit, wir haben es nicht eilig." Seufzend faltete Cassie die Hände im Schoß. „Fast ein Jahr lang habe ich den Psychiater einmal die Woche getroffen. Es war sehr ... schmerzlich. Vater hat sich von Anfang an dagegen gesträubt. Er wollte nicht, dass ich mich aufrege, aber ich habe mich durchgesetzt. Am Ende meinte der Arzt, ich wäre emotional nicht in der Lage, mich dem Trauma zu stellen, das meine Blindheit ausgelöst hat. Ich müsste erst reifer und selbstsicherer werden. Er empfahl mir diese Schule." „Vor fast zehn Jahren? Und da kommen Sie erst jetzt?" Maggie war fassungslos. „Mein Vater war ein wenig ... übervorsichtig. Er begriff nicht, welchen Sinn es haben sollte, eine Schule zu besuchen, auf der ich lerne, mit meiner Blindheit umzugehen, wenn doch vielleicht irgendwann meine Sehkraft zurückkehren würde. Und außerdem ..." Cassie zögerte. „Ja?" „Außerdem fiel es ihm sehr schwer, meine Blindheit zu verkraften. Er konnte sie überhaupt nicht akzeptieren. Er war von Schuldgefühlen zerfressen, was den Unfall betraf. Meine Mutter tot, ich blind ... Eine Zeit lang brachte er nicht einmal das Wort ,blind' über die Lippen - als könnte er die Tatsache ungeschehen machen, indem er sie ignorierte. Wenn er mich nach Windrow geschickt hätte, wäre dies ein Eingeständnis gewesen, dass ich nicht sehen kann." „Ich schließe daraus, dass Ihr Vater am Steuer saß, als der Unfall passierte." „Ja. Nach seiner Denkweise war er für das Ereignis verantwortlich. Die Gewissensbisse haben ihn emotional zerstört. Wir hatten damals ein Grundstück am Hudson, gar nicht weit von hier. Meine Mutter hat das Haus geliebt." Bei der Erinnerung an längst vergangene Zeiten verstummte Cassie lächelnd, dann wurde sie wieder ernst und straffte die Schultern. „Nun ja, mein Vater verkaufte das Anwesen und mietete das Penthouse, bevor ich aus dem Hospital kam. Ich glaube, er hat das Haus ohne Mutter nicht ertragen und dachte, ich hätte es im Penthouse leichter - keine Treppen, kein Fluss, keine Gefahr. Und das war erst der Anfang. Es war sein erklärtes Ziel, dass ich niemals die Enttäuschungen erleben sollte, mit denen andere Blinde täglich konfrontiert werden. Er war geradezu besessen davon und engagierte Dienstboten, die mir die Augen ersetzen sollten. Die mich anzogen, für mich kochten, mich in den Park begleiteten und am Telefon die Nummern für mich wählten. Sie waren einfach für alles zuständig." „Heißt das, Sie haben nie die Braille-Schrift gelernt?" warf Maggie verblüfft ein. „In diesem Punkt hat er eingelenkt - allerdings erst nach einem heftigen Streit. Braille zu lernen war ein weiteres Eingeständnis meiner Blindheit, genau wie der Besuch beim Psychiater. Irgendwann gab Dad schließlich nach und bestellte einen Privatlehrer. Zumindest das habe ich gelernt." „Einen Privatlehrer?" „Natürlich. Ich habe das Penthouse nur selten verlassen, es sei denn, um die Straße zu überqueren und in den Park zu gehen. Mit einem Aufpasser." Maggie legte den Stift beiseite und bemühte sich, ihren Zorn nicht durchklingen zu lassen. „Sie waren also aus all diesen praktischen Erwägungen in den letzten achtzehn Jahren eine Gefangene. Eingesperrt, aber sicher." „Sagen Sie das nicht. Er hat es nicht böse gemeint." „Das tun sie nie." Seufzend stand Maggie auf. „Warum hat er am Ende doch zugestimmt und Sie hergeschickt?" „Das hat er nicht. Er ist vor zwei Wochen gestorben." „Entschuldigung, das wusste ich nicht. Sie wollten also schon seit Jahren herkommen, nicht wahr?" fügte sie sanft hinzu. „Ja, sehr gern sogar."
„Aber Sie wollten Ihren Vater nicht kränken." „So in etwa", erwiderte Cassie leise. „Es fällt mir schwer, ein solches Opfer zu verstehen, Cassie. Den meisten hier dürfte es ähnlich gehen. Sie werden Geduld mit uns haben müssen. Doch nun sind Sie endlich hier, und Ihr Programm steht bereits fest." Ihr Tonfall wurde wieder geschäftsmäßig. „Zuerst die medizinischen Untersuchungen, und zwar heute Nachmittag und eventuell auch morgen, falls die Ärzte mehr Zeit benötigen. Dann beginnen Sie mit Dr. Field." Cassie richtete sich erschrocken auf. „Dr. Field? Warum er? Gibt es keine anderen Lehrer?" Maggie lachte leise. „Ich weiß, welchen Eindruck er anfangs erweckt, und wahrscheinlich wirkt er im Lauf der Zeit noch schlimmer. Aber die meisten Schüler lieben ihn, wenn sie abreisen." Cassie murmelte etwas Unverständliches. „Er ist der Chefpsychiater", fuhr Maggie fort. „Jeder Neuankömmling verbringt die ersten zwei Wochen mit ihm. Sie werden übrigens kaum jemand anderen treffen, außer mir. Betrachten Sie es als Aufnahmeprüfung. Es ist vorbei, ehe Sie es überhaupt merken. Und nun werden wir Ihnen einen Lunch besorgen, und dann ab zu den Ärzten." Maggie war in dem gleichen Maß fürsorglich, wie Dr. Field gleichgültig gewesen war. Sie führte Cassie vorsichtig die breite, geschwungene Treppe hinunter und hielt dabei schützend Cas-sies Ellbogen. Auf dem Weg zum Speisesaal beschrieb sie jedes Detail der einzelnen Räume und wies auf die architektonischen Besonderheiten hin, damit Cassie sich später daran orientieren konnte. Ein Geländer hier, ein Fenstersitz dort. „Der Eingang zum Speisesaal wird von zwei Farnkübeln flankiert", erklärte sie. „Wir haben sie fast erreicht. Können Sie sie riechen?" „Oh ja, es sind Bostonfarne, oder?" „Stimmt." Maggie war verwundert. „Haben Sie das geraten?" „Nein, natürlich nicht. Bostonfarne haben einen unverwechselbaren Duft - wie eigentlich alle Pflanzen. Wir hatten ein kleines Gewächshaus auf dem Dach, und mein Vater hat mich stundenlang gelehrt, die einzelnen Arten zu unterscheiden. Inzwischen kann ich es ganz gut." „Dann sind Sie den meisten unserer Schüler einen Schritt voraus. Die Pflanzen sind nämlich das Einzige, das Wyatt nicht umstellen lässt." „Wie meinen Sie das?" „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Sie werden es früh genug merken. Und nun geradeaus. In der Mitte erstreckt sich ein freier, ungefähr drei Meter breiter Gang. Die Tische bieten jeweils vier Personen Platz, insgesamt gibt es sechzehn davon, acht auf jeder Seite. Wir haben heute den Kaum für uns allein, Sie können also in aller Ruhe umherwandern. Erkunden Sie die Umgebung, und setzen Sie sich, wo Sie möchten." Cassie klammerte sich an Maggies Arm. „Sie lassen mich doch nicht allein, oder?" „Nein, nein." Beruhigend tätschelte Maggie Cassies Hand. „Ich bleibe hier und beobachte Sie. Und nun gehen Sie." Zögernd tappte Cassie vorwärts. Die natürliche Anmut ihrer schlanken Gestalt wurde durch eine ängstliche Verkrampfung beeinträchtigt, die Arme hielt sie in Schulterhöhe von sich gestreckt. „Dort oben sind die Hände für Sie keine Hilfe", rief Maggie ihr nach. „Weder hier noch sonst wo auf der Welt. Die meisten Hindernisse, die Ihnen begegnen werden, sind nur hüfthoch - wie die Tische und Stühle in diesem Raum." Von Maggies logischem Argument überzeugt, ließ Cassie gehorsam die Hände sinken und stieß prompt auf einen Gegenstand, den sie als Stuhllehne identifizierte. Wäre sie in der ursprünglichen Haltung weitergelaufen, wäre sie gestolpert oder hätte sich zumindest das Schienbein gestoßen.
Wie dumm von mir, dachte sie verwundert. Welch simpler und vernünftiger Einwand. Warum hatte ihr das zuvor niemand geraten? Und warum war Dr. Field nicht genauso einfühlsam gewesen wie Maggie? Statt von ihr zu verlangen, dass sie widerspruchslos die Hände sinken ließ, hätte er ihr doch die Gründe hierfür erklären können. Mit wachsendem Selbstvertrauen wanderte sie durch die Tischreihen und versuchte, sich das Arrangement einzuprägen. „Geben Sie sich keine Mühe, Cassie." Maggie war ihr gefolgt. „Mühe wobei?" „Sie wollen sich die Aufstellung merken und zählen die Schritte zwischen den einzelnen Tischen. Das können Sie sich sparen. Beim Abendessen wird alles anders sein." Erstaunt drehte Cassie sich zu ihr um. Maggie lächelte. „Deshalb sind Sie doch hier, oder?" erkundigte sie sich sanft. „Sie wollen lernen, mit dem Unbekannten zu leben." Cassie sank auf den erstbesten Stuhl, den sie ertasten konnte, und schüttelte fassungslos den Kopf. „Wollen Sie damit sagen, das Mobiliar wird immer neu platziert? Damit ich nicht weiß, wo sich was befindet?" „Stimmt. Nur so können Sie lernen. Wenn Sie abreisen, werden Sie in der Lage sein, sich auch an solchen Orten zu bewegen, die Sie früher allein niemals aufgesucht hätten. Vielleicht mögen Sie hier und dort stolpern, aber die Angst wird verschwunden sein. Sie werden genug Selbstvertrauen haben, um sich in jeder Situation zurechtzufinden." Cassie strich mit fahrigen Bewegungen über den Tisch vor ihr. „Ich bin nicht sicher, ob ich das schaffe, Maggie", flüsterte sie. „Mir war nicht klar, dass es so schwer sein würde. Drei Monate hier, ohne zu wissen, wo was ist, gegen Dinge zu stoßen, die nie am selben Platz sind, oder mich zu verlaufen, weil jemand die Möbel verrückt hat - das ist Chaos. Selbst einen Sehenden würde das verunsichern. Für einen Blinden ist es ein Albtraum!" „Es ist nicht so schlimm, wie Sie denken. Sie werden es schon bald als Herausforderung betrachten und nicht als Quälerei. Und außerdem", fuhr Maggie in fröhlichem Tonfall fort, „werden sich einige Dinge nicht ändern. Ihr Zimmer zum Beispiel. Das ist Ihr Zufluchtsort wie Ihr Heim draußen. Außer Ihnen darf niemand etwas verstellen. Und die Pflanzen bleiben auch immer dort, wo sie sind. Wyatt weigert sich, sie bewegen zu lassen. Er behauptet, Blumen seien nicht so anpassungsfähig wie Menschen und würden den Wechsel nicht vertragen." „Allmählich glaube ich, dass Pflanzen hier größere Überlebenschancen haben als ich", meinte Cassie trocken. Maggie lachte. „Ich sterbe vor Hunger. Und Sie, Cassie? Hier. Die Speisekarte ist in Braille-Schrift geschrieben." Cassies Finger flogen über das Blatt, das Maggie ihr in die Hand drückte. Ihre Miene spiegelte die Verwunderung über das Angebot wider. „Wirklich beeindruckend", bemerkte sie. „Dies ist kaum die Auswahl, die man in einer Schulcafeteria erwarten würde." „Wir befinden uns schließlich nicht in einer normalen Cafeteria oder einer durchschnittlichen Blindenschule, doch das wissen Sie ja." „Eigentlich weiß ich nur sehr wenig über Windrow. Ich hatte nie davon gehört, bevor der Arzt es mir empfohlen hat, und seine Beschreibung war äußerst knapp. Er hat mir jedoch auch keine Alternativen genannt. Windrow war offenbar die einzige Schule, die er für passend hielt." „Das verrät mir mehr über Ihre Familie, als Sie ahnen - zumindest über Ihren finanziellen Hintergrund. Oh, hallo, Helen." Cassie vernahm zu ihrer Linken leise Schritte und das Rascheln eines leicht gestärkten Rocks. „Hallo, Miss O'Shea. Und dies ist bestimmt Miss Winters."
Cassie stutzte. „Bin ich hier die einzige Schülerin?" fragte sie. „Jeder scheint sofort zu wissen, wer ich bin." „Wyatt nimmt immer nur einen Schützling auf und widmet ihm dann rund um die Uhr seine ganze Aufmerksamkeit. Diese Methode hat sich als die effektivste erwiesen, ist aber auch einer der Gründe, weshalb der Unterricht auf Windrow so teuer ist", erklärte Maggie. „Dies ist Helen, ein weiterer Fixpunkt in der sich ständig ändernden Umgebung. Der Speisesaal ist ihr Reich. Sie wird Ihnen alle Mahlzeiten entweder hier oder auf Ihrem Zimmer servieren, falls Ihnen das lieber ist. Gemeinsam mit unserem Koch Manny plant sie die Menüs und kümmert sich um die Einkäufe." „Hallo, Helen", begrüßte Cassie sie. „Sie wirken viel zu jung, um als Fixpunkt bezeichnet zu werden." Dem leisen Lachen folgte ein Seufzer, als Helen den Kopf schüttelte. „Danke, Miss Winters, aber ich bin nicht mehr so jung, wie Sie glauben. Stimmen sind mitunter trügerisch." „Vorsicht, Helen", warnte Maggie amüsiert. „Sie kann das Alter hervorragend schätzen." Helen legte den Kopf auf die Seite und zog die Brauen über den bemerkenswert dunklen Augen hoch. „Nun gut. Wie alt bin ich, Miss Winters?" Cassie zuckte die Schultern. „Ohne Sie zu berühren, kann ich tatsächlich nur schätzen, Helen. Ich würde meinen ... dreiunddreißig." Einen Moment lang herrschte Schweigen, und Cassie wartete stirnrunzelnd, dass jemand sprach. „Oje. Ich habe Sie beleidigt, nicht wahr? Wie ich bereits sagte, es ist nur eine Vermutung." „Ich bin letzte Woche dreiunddreißig geworden, Miss Winters. Sie haben mich lediglich überrascht, dabei müsste ich es schon gewöhnt sein. Leute wie Sie verblüffen mich pausenlos. Sie wissen viel mehr, als man denkt." Cassie spürte die unterschwellige Abneigung in Helens Stimme, insbesondere bei der Formulierung „Leute wie Sie", die gleichermaßen abfällig wie neidisch geklungen hatte. Das war natürlich eine völlig absurde Idee. Wie konnte jemand Blinde beneiden? Rasch verdrängte Cassie diesen Gedanken. „Haben Sie schon gewählt?" erkundigte Helen sich kühl. „Suchen Sie etwas für uns aus, Helen", bat Maggie. „Wir legen unser Schicksal in Ihre Hände." Obwohl Cassie bei der Vorstellung, sich Helens Gutdünken auszuliefern, ziemlich unbehaglich zu Mute war, äußerte sie sich nicht dazu. „Wie Sie wünschen, Miss O'Shea", erwiderte Helen und verschwand mit einem leisen Rascheln. Zurück blieben ein leichter Essengeruch und der Duft eines dezenten Parfüms. „Habe ich etwas Falsches gesagt, Maggie?" erkundigte Cassie sich leise, weil sie nicht sicher war, ob Helen den Raum verlassen hatte. Insgeheim fürchtete sie, die ältere Frau könnte noch in der Nähe sein, jede ihrer Bewegungen beobachten und das Gespräch belauschen. „Nein, das haben Sie nicht. Helen ist nur ... anders. Nehmen Sie nichts, was Helen sagt, persönlich. Helen hat ein paar Probleme, die sie allerdings selbst lösen muss. Aber sie haben keinen Einfluss auf Sie oder Helens Arbeit. Sie ist eine wirklich hervorragende Kraft, und wir sind sehr froh, sie zu haben." „Wie sieht sie aus?" „Soll das heißen, Sie wissen es nicht?" neckte Maggie sie. „Ich habe keine Ahnung. Dazu müsste ich sie berühren, und irgendwie habe ich das Gefühl, Helen ist nicht der Typ, der sich anfassen lässt." Maggie lachte. „In diesem Punkt haben Sie zweifellos Recht. Helen ist eine überaus verschlossene Person. Sehr stolz. Und was ihr Äußeres betrifft, so würden Sie sie vermutlich als exotisch bezeichnen. Ihr Haar ist tief schwarz, und sie hat unglaublich große, mandelförmige Augen. Dunkelbraun, glaube ich, obwohl sie fast schwarz wirken. Sie ist ziemlich groß, ungefähr einssiebzig, und hat eine traumhafte Figur. Hohe Wangenknochen ..."
„Wie Dr. Field." „Ausgeprägter, aber ähnlich, ja." „Und sie ist schön." Maggie zögerte. „So könnte man es nennen. Eine dunkle Schönheit, wenn Sie wissen, was ich meine." Cassie schüttelte den Kopf. „Nun ja, sie ist anders als Sie", erklärte Maggie ernst. „Sie besitzen eine frische, reine, fast unschuldige Schönheit. Helen hingegen ist ... dunkel. Geheimnisvoll. Beinahe tragisch." Cassie saß bewegungslos da, die Hände im Schoß gefaltet. Maggie bemerkte ihre angespannte Haltung. „Stimmt etwas nicht?" Sie atmete tief durch. „Was Sie da gerade gesagt haben ..." wisperte sie. „Über mich ..." „Sie meinen, was Ihre Art von Schönheit angeht?" Es dauerte einen Moment, bis Maggie die Erkenntnis dämmerte. „Gütiger Himmel! Hat Ihnen zuvor niemand gesagt, wie schön Sie sind? Unmöglich!" „Nur Menschen, die mich geliebt haben", erwiderte Cassie verlegen. „Und Sie dachten, weil sie Sie geliebt haben ... Oh, Cassie! Sie können Ihr eigenes Gesicht ertasten, dabei müssen Sie doch gemerkt haben, dass Sie nicht zum Durchschnitt gehören." „Man kann Schönheit nicht fühlen, Maggie. Man kann sie nicht einmal spüren. Jedenfalls nicht die äußere." Maggie nickte versonnen. „Trotzdem wussten Sie, dass Wyatt attraktiv ist", erinnerte sie. „Er ist zu grausam, um hässlich zu sein", entgegnete Cassie spontan, und Maggies melodisches Lachen erfüllte den Raum. Helen brachte den ersten Gang, und die Konversation wandte sich bald dem Essen, der luxuriösen Ausstattung des Speisesaals und der Geschichte von Windrow zu. „Ich finde, es ist eine schrecklich snobistische Einrichtung", verkündete Maggie zwischen zwei Bissen. „Harlan Windrow, der Gründer, hat sie nur ins Leben gerufen, um die Bedürfnisse seines einzigen Sohnes zu befriedigen, der plötzlich erblindet war. All die anderen Blindenschulen dienten nur ,der breiten Masse', wie er es bezeichnete, und boten keine spezielle Ausbildung, wie sein Sohn sie benötigte, um seinen rechtmäßigen Platz in der amerikanischen Oberschicht einzunehmen." In ihrer Stimme schwang die Verachtung für den längst Verstorbenen und dessen Ansichten mit. „Es war eine andere Zeit und änderte sich erst, als Windrow starb. Nichtsdestotrotz blieb es eine Schule für die Superreichen. Wir sind inzwischen ein wenig praxisorientierter, doch nach wie vor bereiten wir die Angehörigen der Oberschicht darauf vor, in ihrer gewohnten Umgebung mit ihrer Behinderung umzugehen. Das mag vielleicht herablassend klingen, ist es aber nicht. Eigentlich sind es die anderen Schulen, die die Reichen diskriminieren. Sie können in diesem Land Hunderte von Blindenschulen besuchen und lernen, wie Sie sich der Mittelschicht anpassen - nur Windrow bietet den Vermögenden Hilfe, sich in ihrer Welt zurechtzufinden." Cassies Enttäuschung war unverkennbar. „Heißt das, ich lerne hier, wie man als reiche Blinde lebt? Nichts Praktisches?" „Das ist doch praktisch, oder? Schließlich stammen Sie aus diesem Umfeld und kehren dahin zurück. Außerdem hätte es wenig Sinn, Sie auf irgendeinen Beruf vorzubereiten. Ich bezweifle, dass Sie Windrow verlassen und sich um einen Job als Sekretärin bewerben werden. Sie würden in zwei Jahren weniger verdienen, als Sie gerade für den dreimonatigen Aufenthalt hier bezahlt haben. Aber das wissen Sie bestimmt." Sie würden sich wundern, wie wenig ich weiß, dachte Cassie. Und Sie wären noch erstaunter, wenn Sie erfahren würden, dass ich meinen letzten Dollar dafür geopfert habe, herkommen zu können. „Sie lehren doch gewiss Dinge, die ein Durchschnittsmensch draußen brauchen kann?" erkundigte sie sich zögernd.
Maggie berührte sanft ihre Hand. „Wir lehren die Blinden, blind zu sein. Genau wie jede andere Schule. Selbstvertrauen zu haben, sich wohl zu fühlen und tüchtig zu sein. Das tun wir in einer Umgebung, die Ihrem Heim ähnelt. Das Einzige, worauf wir verzichten, ist die Berufsausbildung. Unsere Zöglinge haben dafür keine Verwendung. Sie werden bald feststellen, dass wir in den übrigen Punkten sehr gründlich und anspruchsvoll sind. Falls Sie mit dem Essen fertig sind", fügte sie hinzu, „sollten wir jetzt zur Klinik gehen. Die Ärzte warten." Cassie nickte wortlos, legte die Serviette auf den Tisch und erhob sich. „Ich bin fertig", sagte sie resigniert.
3. KAPITEL
Dr. Franklin zog das Untersuchungsgerät von dem Behandlungsstuhl fort, auf dem Cassie saß. „Okay, Miss Winters. Sie können sich jetzt entspannen." Erst als sie sich zurücklehnte, merkte sie, wie verkrampft sie war. Unwillkürlich musste sie über ihre Nervosität lächeln. „Nun, Dr. Franklin, was haben Sie herausgefunden?" Der ältliche, untersetzte Arzt verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete eindringlich Cassies Gesicht. „Es wäre vielleicht einfacher, wenn Sie mir erzählen würden, was Sie im Lauf der Jahre herausgefunden haben, Cassie - ich darf Sie doch so nennen, oder?" „Aber gern. Zuhause nennt mich niemand Miss Winters, mit Ausnahme des Portiers. Mir ist das ein bisschen unangenehm, weil ich dabei das Gefühl habe, dass ich hundert bin." Dr. Franklin schmunzelte. „Fein. Und nun berichten Sie mir, was Sie über Ihren Zustand wissen. Wenn Sie fertig sind, werde ich die Lücken füllen." Seufzend schloss sie die Augen. „Die Diagnose lautete auf hysterische Erblindung, bedingt durch den Unfall. Meine Augen können zwar sehen, aber das Hirn weigert sich, die Bilder zu verarbeiten. Man vermutet, das emotionale Trauma des Unfalls sowie die Gehirnerschütterung, die ich dabei erlitten habe, hätten zu einer Amnesie geführt - mit anderen Worten, mein Verstand will sich nicht mit den grausamen Details befassen und hat zum Selbstschutz alles verdrängt. Durch den Gedächtnisverlust wurde die Erinnerung ausgelöscht und durch die Blindheit die Welt ausgeschlossen." Sie atmete tief durch. „Wie mache ich mich bis jetzt?" „Ausgezeichnet", erwiderte er. „Fahren Sie fort." Cassie lachte unbehaglich. „Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen, außer einer Kleinigkeit, die mich beunruhigt. Wie Sie bestimmt wissen, dauert hysterische Blindheit nur ein paar Tage, allerhöchstens Wochen, dann arbeitet das Hirn wieder normal, und der Patient kann sehen. Die Schlussfolgerung ist eindeutig. Ich kenne sie seit Jahren." Mühsam rang sie um Fassung. „Und wie lautet diese Schlussfolgerung, Cassie?" fragte der Arzt ruhig. „Meine Behinderung ist nicht hysterischer Natur. Wenn dem so wäre, hätte ich mein Sehvermögen schon längst wiedererlangt. Meine Blindheit ist echt und hat einen physischen Auslöser. Einen, den man weder nach dem Unfall noch vor zehn Jahren, als ich zuletzt untersucht wurde, feststellen konnte. Dank der technischen Fortschritte, die in der Zwischenzeit gemacht wurden, können Ihre Geräte den Grund sicher herausfinden. Deshalb waren Sie auch so schnell fertig. Sie brauchen mich nicht zu schonen. Ich habe bereits seit langem begriffen, dass mein Zustand von Dauer ist." Dr. Franklin räusperte sich kurz, bevor er sich vorbeugte und Cassie die Hand auf die Schulter legte. „Ich möchte Ihnen etwas über hysterische Blindheit erzählen, das Sie vielleicht nicht wissen", begann er. „Bei den Tests reagieren die Augen noch immer auf Licht - selbst die Kraft des Gehirns kann diesen Reflex nicht unterdrücken. Optische Reize hingegen - wie beispielsweise ein sich rasch näherndes Objekt - bleiben unbemerkt. Hier!" „Was meinen Sie?" „Sie sind zusammengezuckt", verkündete er triumphierend. „Wie bitte?" „Konzentrieren Sie sich, Cassie. Konzentrieren Sie sich auf Ihren Körper, insbesondere auf Ihren Kopf." Sie spürte einen Luftzug, als er mit der Hand vor ihrem Gesicht hin und her wedelte. Sofort wich sie zurück. „Na also. Sie sind zurückgezuckt. Haben Sie es gefühlt?" „Natürlich habe ich das", erwiderte sie ungeduldig. „Sie haben etwas in Richtung meines Gesichts bewegt, und ich bin ausgewichen. Eine völlig normale Reaktion. Ich habe gefühlt, dass etwas auf mich zukam."
Dr. Franklin lachte leise. „Mag sein. Vermutlich. Aber als ich Sie mit dem Projektor untersucht und Bilder in rascher Folge vergrößert habe - und zwar ohne Geräusche oder einen Luftzug, wie ihn meine Hand verursacht hat - da sind Sie ebenfalls zusammengezuckt. Jedes Mal." Ihr stockte der Atem. „Und das bedeutet?" „Dass Sie nach wie vor sehen können, Cassie. Sie sind nicht blind. Das waren Sie wahrscheinlich nie." „Hätten Sie dann vielleicht die Güte, mir zu erklären, warum die Welt in den vergangenen achtzehn Jahren für mich schwarz war, Dr. Franklin?" Ihre Stimme wurde zum Ende des Satzes beinahe schrill. „Betrachten Sie es einmal von dieser Warte: Nicht die Welt war schwarz, sondern Ihr Geist." Nachdrücklich schüttelte sie den Kopf. „Das verstehe ich nicht." „Wir auch nicht", räumte er ein. „Viele Teile des Hirns werden uns wohl ewig ein Rätsel bleiben. Sie haben Recht, was hysterische Blindheit betrifft. Ihre endete vermutlich wenige Tage oder Wochen nach dem Unfall, das werden wir nie mit absoluter Sicherheit ergründen. Danach begann ihr Hirn Bilder zu empfangen, die Ihre Augen wahrnahmen - genauso, wie es sein sollte. Es konnte nicht anders. Allerdings wollte es nicht und hat die optischen Reize verdrängt. So als hätte es die Eindrücke genommen und sofort in einer Schublade versteckt, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Können Sie mir folgen? In meiner Praxis ist mir noch kein solcher Fall begegnet, aber ich bin überzeugt, irgendwo sind ähnliche Krankengeschichten dokumentiert." Plötzlich begann sie zu zittern, und mit den Tränen kam der dumpfe, quälende Schmerz, der seit Jahren ihr Begleiter war. Trotz des Ausbruchs strahlt sie eine stille Würde aus, dachte der Arzt, während er sie tröstend umfangen hielt, bis der Moment der Schwäche vorbei war. „Haben Sie tatsächlich all die Jahre geglaubt, dass Sie physiologisch blind sind?" Cassie nickte und richtete sich auf. Ihre Augen waren gerötet, „Und jetzt ist es noch schlimmer", flüsterte sie. „Ich fühle mich wie eine Betrügerin. Die ganze Zeit war ich gar nicht blind, aber ich konnte trotzdem nichts sehen!" Sie schluchzte erneut auf. „Blind ist blind, Cassie. Es ist eine Tatsache, gleichgültig, ob eine Sinnestäuschung oder eine Schädigung der Augen vorliegt. Wenigstens besteht jetzt eine Chance - eine gute Chance -, dass Sie wieder sehen können. Sie müssen nichts weiter tun, als die Tür zu öffnen, die Ihr Verstand vor Jahren geschlossen hat, und das ist womöglich der schwierigste Teil. Offenbar ist Ihr Hirn überzeugt, dass sich hinter dieser Tür etwas verbirgt, das schlimmer ist als ein Leben in Dunkelheit. Doch das ist Dr. Fields Fachgebiet." Tapfer kämpfte sie gegen die Tränen an. Dr. Franklin betrachtete sie einen Moment lang, dann nickte er zufrieden. „Kommen Sie mit, Cassie." Er führte sie von ihrem Platz zu einem Sofa neben der Tür. „Setzen Sie sich, und entspannen Sie sich. Ich will Dr. Field nur kurz über das Ergebnis informieren. Er holt Sie gleich ab." „Doktor?" „Ja?" Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich fühle mich ein bisschen ... Tut mir Leid. Ich weiß nicht recht, wie ich es erklären soll ... Als wäre ich achtzehn Jahre lang mit einem Gipsverband herumgelaufen und hätte erst jetzt herausgefunden, dass mein Bein gar nicht gebrochen war. Es wäre vielleicht leichter zu ertragen, wenn ich wüsste, dass es nicht so ... außergewöhnlich ist." „In den nächsten Tagen werde ich gründliche Erkundigungen einziehen, Cassie. Sobald ich einen ähnlichen Fall finde, teile ich es Dr. Field mit. Er wird es Ihnen dann sagen. Cassie ..."
„Ja?" „Sie wirken viel zu traurig für eine Frau, die soeben gehört hat, dass sie eine Chance hat, wieder zu sehen. Machen Sie ein fröhliches Gesicht. Wir haben gerade erst angefangen." Cassie schenkte dem freundlichen Arzt ein zaghaftes Lächeln, das jedoch sofort wieder erlosch, als sich die Tür hinter ihm schloss. Sie dachte an eine andere Tür - die Tür, die ihr Verstand vor fast zwanzig Jahren verriegelt hatte - und fragte sich, welche Schrecken dahinter verborgen sein mochten. „Das wär's in groben Zügen, Wyatt. Ich habe so etwas noch nie gesehen." Kopfschüttelnd lehnte Dr. Franklin sich in dem bequemen Ledersessel vor dem Fenster zurück. Wyatt stand vor dem Schreibtisch des älteren Arztes, den Blick unverwandt auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet. „Du bist sicher, dass sie dir nichts vormacht." Es war weniger eine Frage als vielmehr eine Bestätigung dessen, was er gerade gehört hatte. „Also wirklich, Wyatt", empörte sich Dr. Franklin. „Mir ist noch nie ein solcher Skeptiker begegnet. Es wundert mich, dass du trotz dieser zynischen Einstellung einen so großen Erfolg hast. Wie überleben eigentlich die Patienten deine Behandlung?" Wyatt lächelte spöttisch. „Vielleicht überleben meine Patienten, gerade weil ich ein Zyniker bin. Von euch Lehrer-als-Freunde-Leuten gibt es hier genug. Ihr macht es den Blinden zu angenehm. Ich bin derjenige, der sie fordert." Franklin schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich kenne deine Philosophie, Wyatt. Mir fällt es nur schwer, dir die Ahnungslosen auszuliefern. Nachdem sie mein Büro verlassen haben, steht ihnen zwei Wochen lang die Hölle bevor. Nein, sag nichts. Ich weiß Bescheid. Die Demütigungen und die unerbittliche Disziplin, die du ihnen abverlangst, sind notwendig. Sie machen sie stark, unabhängig und selbstbewusst." Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich fürchte allerdings, dass eines Tages ein Patient eintrifft, dem der Mut fehlt, all das zu ertragen. Der so behütet und verwöhnt wurde, dass er zusammenbricht, statt zu kämpfen und seine Ängste zu besiegen. Meiner Meinung nach könnte Cassie Winters dieser Patient sein." „Sie ist stärker, als du denkst. Das sind sie alle." Wie immer bei solchen Gelegenheiten suchte Franklin vergeblich in den markanten Zügen seines Gegenübers nach irgendwelchen Gefühlsregungen. Im Lauf der achtjährigen Zusammenarbeit hatte er Wyatt wie den Sohn lieben gelernt, der ihm versagt geblieben war. Er hatte sogar die Hoffnung gehegt, seine Tochter würde den jungen, faszinierenden Arzt heiraten, aber Marianne hatte diese Träume zerschlagen und stattdessen einen Ingenieur geehelicht, der irgendwo im Atlantik auf einer Ölplattform arbeitete. „Wyatt Field ist der kälteste Mann, dem ich je begegnet bin, Daddy", hatte sie nach dem ersten Zusammentreffen erklärt. „Ich begreife nicht, weshalb du ihn so gern hast." Franklin fragte sich das manchmal selbst. Und dennoch, ohne je darüber gesprochen zu haben, hatte die gemeinsame Arbeit sie beide zusammengeschweißt. „Matt." Versonnen musterte er Wyatts Gesicht und wunderte sich einmal mehr, wie ein so attraktiver Mann bei den vielen Annäherungsversuchen der Frauen in seiner Umgebung derart unberührt bleiben konnte. „Er ist der mit Abstand schönste Mann, den ich je gesehen habe", hatte seine Frau Katy behauptet, nachdem sie Wyatt kennen gelernt hatte. „Wie ein griechischer Gott, Matthew. Ich schwöre dir, wenn du selbst nicht so verdammt sexy wärst, würde ich ihn anflehen, mit mir durchzubrennen." Sie hatte dabei seinen nicht unbeträchtlichen Bauch getätschelt und ihn zielstrebig zum Schlafzimmer gezogen. Die süße Katy. Seine Traumfrau seit über siebenunddreißig Jahren ... „Matt." Er zuckte zusammen und lächelte verlegen. „Entschuldige, Wyatt. Ich war mit meinen Gedanken woanders." „Wie immer. Gibt es sonst noch irgendetwas, das ich über das Opferlamm wissen muss?"
„Sogar eine ganze Menge. Leider existiert keine Krankengeschichte. Vor zehn Jahren war sie bei einem Psychiater in Behandlung. Er hat mir am Telefon mitgeteilt, dass er nichts erreichen konnte. Miss Winters war nach seinem eigenen Bekunden der größte Fehlschlag seiner Karriere." „Wer war es?" „VanDeMeir." Wyatt zog die Brauen hoch. „Er ist der beste Psychiater in New York City, Wyatt." „Für vierhundert Dollar die Stunde sollte er das auch sein." „Fünfhundert." Er schüttelte verächtlich den Kopf. „Tu nicht so entrüstet, Wyatt. Wenn du unsere Gebühren zu Grunde legst, bist du auch nicht viel billiger." Der jüngere Arzt presste die Lippen zusammen. „Reg dich ab", fuhr Dr. Franklin schmunzelnd fort. „Es war lediglich ein freundschaftlicher Seitenhieb. Ich weiß, dass du keinen Einfluss auf die Preise hast. Außerdem bin ich über deine Sozialfälle informiert, obwohl du dir alle Mühe gibst, sie geheim zu halten. Nur deshalb bin ich überzeugt, dass du kein Monster bist." Fields Unschuldsmiene tat er mit einer Handbewegung ab. „Versuch nicht, mir einzureden, Martin Hausmeyer hätte seinen Aufenthalt hier bezahlt. Ein Grundschullehrer verdient nicht genug, um sich drei Monate in Windrow leisten zu können. Seit du zum Personal gehörst, hatten wir pro Jahr mindestens zwei Schüler, für die selbst ein Semester auf dem College zu teuer wäre. Wir wussten, dass jemand sie finanziert, aber erst Hausmeyer hat das Geheimnis gelüftet. Er hat es mir erzählt." „Wer ist außer dir darüber informiert?" fragte Wyatt besorgt. „Niemand. Und ich gebe dir mein Wort, dass es so bleibt." Wyatt entspannte sich. „Es ist Zeit für mich, mit der Arbeit zu beginnen, Matt. Sag mir Bescheid, sobald du einen ähnlichen Fall wie den des Winters-Mädchens entdeckst. Und grüß Katy von mir." „Vergiss nicht das Dinner am Freitag." „Keinesfalls." An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Danke." Schmunzelnd blickte Franklin ihm hinterher. Er war froh, den Freund einen ganzen Abend von der Arbeit fern halten zu können. Der Junge war viel zu eingespannt, er dachte an nichts anderes als seinen Beruf. Zu gern hätte er gewusst, welche dunklen Mächte ihn wohl antreiben mochten? Als die Tür geöffnet wurde, merkte Cassie sofort, dass Wyatt Field gekommen war. „Hallo, Dr. Field", sagte sie ruhig und fragte sich, ob ihr Gesicht noch immer Tränenspuren aufwies. „Miss Winters", erwiderte er kühl. „Kommen Sie bitte mit." Gehorsam erhob sie sich und blieb stehen, weil sie damit rechnete, dass er sie beim Arm nehmen würde. Erst als er nichts äußerte und sich ihr auch nicht näherte, erinnerte sie sich an den demütigenden Aufstieg die Treppe hinauf und erkannte, dass sie von diesem Mann keine Hilfe zu erwarten hatte. Sie drehte sich um, tastete sich an der Couch entlang in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und hielt abrupt inne, als sie seinen Körper direkt vor sich spürte. „Wohin gehen wir?" „Spazieren. Zur Vordertür der Klinik hinaus - den Weg zurück, den Sie bei Ihrer Ankunft genommen haben ..." „Ich habe nicht darauf geachtet", unterbrach sie ihn wütend. „Maggie hat mich geführt." „... und dann über den Hof, am Brunnen in der Mitte links vorbei, ungefähr eine halbe Meile nach Westen. Dort ist ein Bach, Sie werden ihn hören, wenn Sie nahe genug sind. Am
Ufer steht eine alte Eiche, um deren Stamm eine Bank aufgestellt ist. Wir werden uns setzen und miteinander reden." „Klingt idyllisch", spottete sie. „Eine wunderbare Art, einen Sommernachmittag zu verbringen." „Das dachte ich auch. Gehen Sie voraus." Cassie traute ihren Ohren kaum. „Voraus? Sie machen Witze!" „Ich mache niemals Witze, Miss Winters." Sie wandte sich ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vergessen Sie es. Ich habe nicht vor, durch die Gegend zu stolpern und Ihren abartigen Sinn für Humor zu befriedigen. Sie wollen den Nachmittag über am Bach sitzen? Gut. Zeigen Sie mir den Weg, oder gehen Sie allein!" Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da legte er ihr schon die Hände auf die Schultern und drehte sie mühelos zu sich um. „Miss Winters, dies ist weder ein Machtkampf noch eines Ihrer Gesellschaftsspielchen, bei denen Sie abwechselnd das schüchterne, unnahbare oder verwöhnte Geschöpf spielen." Verblüfft stand sie vor ihm, die blicklosen blauen Augen weit geöffnet. „Hier gibt es keinen Wettstreit", fuhr er ungerührt fort. „In den nächsten zwei Wochen ist mein Wille nicht nur oberstes Gebot, er ist unantastbar. Sie werden tun, was ich sage, wann immer ich es sage, und ich werde Ihr Geld oder meine Zeit nicht damit verschwenden, übertriebene Rücksicht auf Ihre kostbare Befindlichkeit zu nehmen. Ist das klar?" Cassie schluckte trocken, dann straffte sie die Schultern. „Dr. Field, ich habe beschlossen, nicht auf Windrow zu bleiben. Sie müssen sich also für die kommenden vierzehn Tage eine andere Beschäftigung suchen. Ich reise noch heute Abend ab!" „Ach ja?" Sie nickte kurz. Zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren war sie froh, den Gesichtsausdruck eines anderen Menschen nicht sehen zu können. Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen Ärger zu unterdrücken. „Weil Sie soeben erfahren haben, dass Ihre Erblindung keine physischen Ursachen hat, glauben Sie wohl, Sie könnten sich selbst heilen. Und dass es wenig Sinn hat, das Leben einer unabhängigen Blinden zu erlernen, wenn man sein Sehvermögen wiedererlangen kann. Habe ich Recht?" „So in etwa", erwiderte sie hochmütig. Er verstärkte den Druck seiner Finger, bis sie vor Schmerz zusammenzuckte. „Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie achtzehn Jahre Zeit hatten, sich selbst zu heilen - und das scheint Ihnen nicht sonderlich gut gelungen zu sein, oder? Was haben Sie vor? Wollen Sie nach Hause fahren, sich in das selbst geschaffene Mausoleum an der Park Avenue zurückziehen und sich weiter bemuttern und beschützen lassen, bis von Cassie Winters nichts mehr übrig ist? Glauben Sie wirklich, dass Ihr Sehvermögen in einer Umgebung auf wundersame Weise wiederkehrt, in der Sie immer hilfloser werden?" Er schüttelte sie unsanft hin und her. „Es wird nicht funktionieren", prophezeite er. „Das Umfeld hat Ihre Behinderung kultiviert." Wyatt stieß sie von sich und ließ die Arme sinken. Cassie wich vor ihm zurück, erschrocken über seine Unerbittlichkeit und erschüttert über die Möglichkeit, dass er mit seinen Worten ins Schwarze getroffen haben könnte. „Ich begreife Menschen wie Sie nicht", fügte er hinzu, und sie fühlte sich unwillkürlich an Helen erinnert. „Sie sind in Ihrem goldenen Käfig zufrieden. Manchmal glaube ich, Sie möchten zwar frei sein, haben aber zu viel Angst davor. Für das eigene Leben verantwortlich zu sein flößt Ihnen Furcht ein. Ich durchschaue Sie, Miss Winters. Sie sind nicht der Meinung, dass Sie Windrow nicht mehr brauchen, sondern Ihnen graut vor dem, was wir erreichen könnten. Wir könnten schließlich den Dämon ausfindig machen, der Sie in der Finsternis gefangen hält, und das wollen Sie nicht riskieren. Es ist viel sicherer und bequemer so -reich und blind."
Einzig der Schock hinderte Cassie daran, in Tränen auszubrechen. Wie betäubt von Dr. Fields gnadenlosem Urteil stand sie zitternd da und hätte am liebsten vor Wut aufgeschrien. Sie wollte ihm entgegenschleudern, dass es keinen goldenen Käfig, kein Geld, keine strahlende, gesicherte finanzielle Zukunft gab. Keine Dienstboten, keinen Luxus und keine Park Avenue, wenn der Mietvertrag in sechs Monaten auslief. Andererseits verschaffte es ihr eine seltsame Genugtuung, ihn in dem Glauben zu lassen, sie sei ebenfalls eine verwöhnte Reiche. Dieses Geheimnis würde der einzige Schutz vor dem erbarmungslosen Mann sein, der in den kommenden zwei Wochen jedes Detail ihres Lebens durchleuchten würde. Inzwischen hatte sie nämlich erkannt, dass sie auf Windrow angewiesen war - und auf diesen Mann. Er verkörperte nicht nur die einzige Chance, wieder sehen zu können, sondern auch die einzige Chance, falls sie es nicht schaffen sollte. Nach all den Jahren der Dunkelheit hatte sie begriffen, dass es höchste Zeit war, zu lernen, mit der Blindheit zu leben. Sie atmete noch einmal tief durch. „Wenn Sie beiseite treten würden, werde ich versuchen, den Weg aus dem Gebäude zu finden, Dr. Field. Ich werde mich außerdem bemühen, den Fluss zu finden, und falls es mir wie durch ein Wunder gelingen sollte, in dessen Nähe zu kommen, bitte ich Sie nur, zu verhindern, dass ich hineinfalle." Erstaunt blickte er in ihr Gesicht. Cassie Winters hatte die Herausforderung angenommen. Er war selbst überrascht, wie emotional er reagiert hatte. Am Ende hatte er geglaubt, sie verstört zu haben und mit ihr seinen ersten Fehlschlag erleben zu müssen, aber dann hatte sie sich anders besonnen - sie hatte das behütete Dasein gegen die Mühsal auf Windrow getauscht. Einen flüchtigen Moment lang fragte er sich, weshalb es ihm so wichtig gewesen war, sie nicht zu verlieren, gleich darauf sagte er sich jedoch, dass es ihm lediglich widerstrebte, Niederlagen zu akzeptieren. Also trat er beiseite und betrachtete ihr makelloses Profil. Auf ihren Zügen spiegelte sich Entschlossenheit wider. „Gehen Sie voran, Miss Winters. Ich bin direkt hinter Ihnen." Der Widerhall ihrer Schritte deutete darauf hin, dass der Klinikflur breit und unmöbliert war. Eine leichte Veränderung in der Akustik verriet, dass sie an einen abzweigenden Korridor kamen. Automatisch wandte Cassie sich nach rechts. Ihr Hirn hatte den Weg ins Gebäude und wieder hinaus gespeichert, und so konnte sie sich ganz von ihrem Gefühl leiten lassen. Sie musste sich lediglich mehrmals daran erinnern, die Arme auf Hüfthöhe zu halten, wie Maggie es sie gelehrt hatte. „Wir schützen immer unsere Köpfe und Gesichter", sagte Wyatt Field, der ihr mit einem halben Schritt Abstand folgte. „Es ist reiner Instinkt, unsere Augen abzuschirmen." Er hatte also ihren inneren Kampf, die Hände unten zu lassen, bemerkt. War es so offensichtlich gewesen? „Ironischerweise müssen die Augen der Blinden nicht geschützt werden, und daher kommt es meist zu Verletzungen der Beine. Auch Instinkte können blind sein. Wir bringen unseren Schülern bei, sie zu unterdrücken." Cassie trat auf die Gummimatte am Eingang und hörte die Tür vor ihr aufgleiten. Mit zitternden Knien blieb sie stehen. „Es ist alles in Ordnung", ertönte seine Stimme. „Die Tür bleibt offen. Sie können hindurchgehen." Aber das war es nicht. Sie hatte soeben ganz allein den Weg aus einem fremden Gebäude gefunden. Ohne eine leitende Hand an ihrem Ellbogen, ohne Richtungsangaben. Einfach so. Cassie Winters und ihre Sinne hatten sich selbst geholfen und sich auf niemanden verlassen. Und sie hatte es geschafft. Der Triumph war überwältigend, der Sieg unendlich süß, und er gehörte ihr allein. Field hatte nichts dazu beitragen. Doch sie stand noch am Anfang, und hinter der Tür, die sich vor ihr geöffnet hatte, begann ein neues Leben. Aufgeregt und ängstlich zugleich, ging Cassie weiter.
4. KAPITEL
Als Cassie das Gebäude verließ, verflog ihr Optimismus, und sie wurde von einer unter Blinden weit verbreiteten Furcht befallen: der Furcht vor freien Plätzen. Ohne Mauern, die man berühren konnte oder die Geräusche zurückwarfen, gab es keine Anhaltspunkte. Sofort verlor Cassie die Orientierung. Vor der Tür blieb sie regungslos stehen, genau wie vorhin, als der Chauffeur sie abgeliefert hatte. Wyatt wusste, dass sie sich ohne Richtungsangabe nicht von der Stelle rühren würde. Das Selbstvertrauen, das sie während des erfolgreichen Marsches durch die Klinik gewonnen hatte, war dahin. Seine Erfahrung sagte ihm, dass sie erneut in Hoffnungslosigkeit versinken würde. „Ein wenig Vorsicht ist vernünftig." Er trat neben sie. „Besonders im Freien. Hier lauern wie überall auf der Welt Rasenmäher, Harken und ähnliche Todesfallen." Sie lachte nervös. „Im Freien werden Sie fast immer auf Hinweise angewiesen sein. Das ist keine Schande", fügte er hinzu. „Laufen Sie einfach ganz langsam. Wir testen jetzt Ihren Richtungssinn und nicht die Fähigkeit, Hindernisse aufzuspüren. Das kommt später. Ich werde Sie warnen, falls Sie in Gefahr sind, gegen einen Baum zu stoßen. Vertrauen Sie mir." „Ich glaube, das sagten Sie schon einmal", erwiderte sie trocken. „Und ich werde es wieder sagen. Ständig. Es ist das Wichtigste, das Blinde lernen müssen - und das Schwerste. Einem Stock zu vertrauen oder einem Führhund, ihren eigenen Sinnen oder einer anderen Person, die helfen will. Ohne dieses Vertrauen werden Sie nie Selbstsicherheit gewinnen. Nun los." „Ich bin wirklich nicht für einen Spaziergang durch die Felder angezogen", protestierte sie leise. Er betrachtete kurz ihre schlanke Gestalt in dem blauen Leinenkostüm und bemerkte amüsiert den gerüschten Kragen ihrer Seidenbluse sowie die weit geschnittene Jacke. Wer immer zu Hause für diese Frau gesorgt hatte, tat dies schon seit Jahren und hielt sie noch immer für ein junges Mädchen. Ihre Garderobe war von geradezu kindlicher Sittsamkeit und verhüllte die Konturen ihres Körpers. „Wir gehen nicht durch Felder", entgegnete er ungeduldig. „Windrow verfügt über zwei Hektar gepflegter Rasenfläche. Sie werden weder über einen Maulwurfshügel stolpern noch in Dornenbüschen hängen bleiben. Es ist allerdings ein warmer Nachmittag, vielleicht möchten Sie Ihre Jacke hier lassen." Instinktiv kuschelte sie sich tiefer hinein. Er hatte das erwartet. Kleidungsstücke gehörten zum Verteidigungssystem der Blinden. Je mehr Lagen sich zwischen dem Betreffenden und der unbekannten Welt befanden, desto sicherer fühlte er sich. Zögernd bewegte sie sich die Stufen hinunter und auf den plätschernden Brunnen zu. Obwohl ihr die Strecke wie eine Meile erschien, hatte sie kaum hundert Schritte zurückgelegt, als sie die ersten Wassertropfen spürte, die ihr ins Gesicht sprühten. Zufrieden lächelnd ging sie weiter, bis sie mit dem Fuß gegen den gemauerten Sockel stieß. Mit den Händen suchte sie nach dem Beckenrand und stellte fest, dass dieser höher war, als sie erwartet hatte. Sie tauchte die Finger in das kühle Nass und hielt ihr Gesicht lachend dem feinen Nebel entgegen. Unwillkürlich musste auch Wyatt lächeln. „Können Sie schwimmen?" „Früher schon - als Kind. Aber ich habe es seit Jahren nicht mehr probiert." „Bald haben Sie dazu Gelegenheit, und zwar in der nächsten Woche, sobald Sie mir ein wenig mehr vertrauen." Erschrocken drehte sie sich zu ihm um. „Machen Sie sich keine Sorgen", meinte er schmunzelnd. „Ich verspreche, Sie heute nicht in den Fluss zu werfen." Cassie verzog zweifelnd den Mund und wandte sich dann nach links, in der Hoffnung, dies möge Richtung Westen sein. Schweigend wanderten sie geradezu quälend langsam über
die weitläufige Rasenfläche. Sie brauchte völlige Stille, um sich auf die ersten Schritte auf unbekanntem Terrain zu konzentrieren. Ihre Ohren fingen jeden Laut auf: Die niedrigen Büsche erkannte sie am leisen Rascheln der Blätter in der milden Brise, sie spürte die nahen Bäume durch das Flügelschlagen der Vögel über ihr und das Knarren der Äste. Das Gelände fiel leicht ab und wurde zunehmend weicher. Cassie hörte das Rauschen von Wasser über Steine lange vor Wyatt. „Ein wundervolles Geräusch", flüsterte sie und blieb stehen, um zu lauschen. „Welches Geräusch?" „Der Fluss natürlich." Ein Sonnenstrahl brach durch das dichte Laub und zauberte tanzende Lichter auf ihr Gesicht. Sie hatte die Lippen etwas geöffnet, und ein tiefer Ernst, wie ihn Wyatt selbst noch nie empfunden hatte, spiegelte sich auf ihren Zügen wider. Er räusperte sich. „Sie machen mit dem linken Bein längere Schritte als mit dem rechten. Sie steuern also etwas nach links, denken Sie daran. Sie müssen diese Abweichung ausgleichen, um die Bank zu finden, von der ich Ihnen erzählt habe. Sie befindet sich in gerader Linie vom Brunnen." Der ernste Ausdruck verflog, als sie mit entschlossener Miene begann, sich in einem leichten Winkel nach rechts zu bewegen. Das Plätschern wurde lauter. Wyatt beobachtete sie, während sie sich der Bank immer mehr näherte. Plötzlich hielt sie inne. „Die Eiche ist hier." Sie deutete auf den Baum. „Ich weiß allerdings nicht, wie weit die Bank vom Stamm entfernt ist, und möchte mich nicht stoßen." Erstaunt zog er die Brauen hoch. „Woher wussten Sie, dass dies die Eiche ist?" Cassie kräuselte die Nase. „Es ist die einzige Eiche, an der wir bislang vorbeigekommen sind, und wenn ich weiterlaufe, lande ich im Wasser." „Sie können die Eiche riechen?" „Das Hobby meines Vaters war Gartenbau." „Verstehe." „Und?" fragte sie ungeduldig. „Was ,und'?" „Werden Sie mich zur Bank führen?" „Keinesfalls." „Zur Hölle mit Ihnen!" Zornig stampfte sie mit dem Fuß auf, doch der Wutausbruch verlor auf dem weichen Boden an Wirkung. Sie drehte sich um, das goldblonde Haar umwehte ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Dann schleuderte sie ihre Schuhe von sich, so dass sie in hohem Bogen durch die Luft flogen. Trotzig ließ sie sich aufs Gras fallen. „Sie haben Ihre Schuhe weggeworfen", bemerkte er amüsiert. „Na und?" konterte sie. „Nun, es dürfte Ihnen schwer fallen, sie wieder zu finden." Frustriert presste sie die Lippen zusammen, schloss die Augen und zählte im Stillen bis zehn. Das Schlimme war, dass sie ihren Fehler sofort erkannt hatte. Hier gab es keine Mrs. Carmody, die alles aufsammelte. Sogar das simple Vergnügen, ihre Schuhe schwungvoll abzustreifen, war ihr verwehrt. „Ich werde sie finden", verkündete sie. „Allein." „Und ob." Mit einem beinahe zärtlichen Lächeln betrachtete er ihr hochmütiges Profil, doch in seiner Stimme schwang nichts Zärtliches mit. „Gelegentlich sichten wir auf Windrow eine Schlange", fügte er hinzu. Cassie war mit einem Satz wieder auf den Füßen, die Augen weit geöffnet. Sie legte den Kopf auf die Seite, als könnte sie das Rascheln trockener Schuppen auf dem Gras hören. Stattdessen vernahm sie jedoch nur ein leises Lachen und wandte sich zu Wyatt um. „Okay", rief sie. „Ich werde diese verdammte Bank finden!"
Auf Knien rutschte sie dem Baumstamm entgegen, die Hände ausgestreckt, bis sie auf eine massive Planke aus Redwoodholz stieß. Sie berührte kurz einen aufgeschrammten Fingerknöchel mit den Lippen, dann zog sie sich hoch und setzte sich. Wyatt lächelte zufrieden und ließ sich neben ihr nieder. „Meine Strümpfe sind ruiniert." Cassie strich über die Laufmaschen. „Sie können es sich leisten." „Ich kann nicht ..." Sie biss sich auf die Zunge. „Niemand kann sich Verschwendung leisten." „Dann sollten Sie das nächste Mal laufen, statt auf allen vieren umherzukrabbeln." Sein Lachen war warm und weich, ein Laut, der ihr durchaus gefallen hätte, wäre sie nicht so wütend gewesen. „Ich schätze, Sie sind daran gewöhnt, gehasst zu werden." „Ja." „Und es stört Sie nicht im Mindesten." „Richtig." Sie drehte sich zu ihm um und schwieg ein paar Sekunden. Ihre Augen waren fest auf seine gerichtet, und obwohl er wusste, dass ihr Blick nur zufällig seine Augen traf, hatte er das unbehagliche Gefühl, eindringlich gemustert zu werden. Er nutzte die Gelegenheit, ihr Gesicht zu studieren und sich jede Einzelheit einzuprägen. Es gehörte schließlich zu seinem Job, das Mienenspiel seiner Patienten genau zu kennen, damit er ihre Gedanken erraten konnte, die sie eigentlich vor ihm verbergen wollten. Cassie Winters war wunderschön. Unwillkürlich verspürte er den kindischen Wunsch, sie zu berühren, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte. Ein herzförmiges Gesicht mit großen blauen Augen - ein Kristallblau, wie er es aus Reiseprospekten über die Karibik kannte. Zarte Röte überzog ihren makellosen Teint. Die Flügel ihrer Nase bebten, sobald Cassie wütend war, und kräuselten sich bei Frust. Ihre vollen Lippen waren erstaunlich ausdrucksvoll, sie konnten sich zu einem hinreißenden Mona-Lisa-Lächeln verziehen, zu einer schmalen Linie zusammenpressen oder einem kindlichen Schmollen gleichen, das ihm das Herz schwer machte. Er hatte all diese Details bereits registriert und sorgfältig im Gedächtnis gespeichert, damit er sich später daran orientieren und seine eigenen Reaktionen darauf abstimmen konnte. Hartnäckig redete er sich ein, dass es Teil seines Berufes sei, den Patienten so gründlich zu betrachten, allerdings war ihm noch nie eine Frau begegnet, die er so gern berührt hätte. „Was tun Sie?" erkundigte sie sich misstrauisch. „Ich sehe mir Ihr Gesicht an", erwiderte er ehrlich. „Wie sehe ich aus?" „Sagen Sie es mir." Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will nicht den Psychiater spielen. Mich interessiert der Eindruck, den Sie von mir haben." Er lachte. „Sie zahlen eine Menge Geld, um ,Psychiater zu spielen', wie Sie es nennen." Cassie zögerte. „Darf ich Sie anfassen?" „Natürlich." Es war eine völlig normale Bitte. Die Patienten waren immer neugierig auf ihn, und er war an die federleichten Berührungen auf seinem Gesicht gewöhnt. Sie kniete sich auf die Bank, wobei sie sich vergeblich bemühte, die Knie mit dem Rock zu schützen. „Tut das nicht weh?" „Eine sonderbare Frage von einem Mann, der den ganzen Tag schon begierig darauf wartet, dass ich auf der Nase lande." Wyatt lächelte - bis ihre Hände sich auf seine Brust legten. Sogleich zwang er sich zu einer ausdruckslosen Miene. Cassie ließ die Finger zu seinen Wangen hinaufwandern und dort verweilen. Er unterdrückte das verwunderte Stirnrunzeln, bevor sie seine Brauen erreichte. Ihr
Verhalten unterschied sich grundlegend von der flüchtigen Erkundung in Maggies Gegenwart, der krasse Gegensatz flößte ihm Unbehagen ein. Ihre Finger begannen sich langsam, fast sinnlich, in kühlen, sachten Kreisen über seine Brauen zu bewegen, seine Schläfen entlang. Mit den Daumen zeichnete sie seine Nasenflügel nach, dann strich sie über den Anflug von Bartstoppeln auf seinem Kinn. Ihre Augen blieben dabei weit geöffnet und unverwandt auf sein Gesicht gerichtet, was er fast noch verwirrender fand als die federleichte Berührung. Normalerweise hielten die Patienten dabei die Augen geschlossen und konzentrierten instinktiv all ihre Empfindungen auf die Fingerspitzen. Für ihn war diese scheinbar optische Begutachtung eine neue Erfahrung. Nervös fuhr er mit der Zungenspitze über die Lippen - genau in dem Moment, als ihre Finger zu seinem Mund glitten. Cassie lachte leise. Sie spürte, wie die Hitze in seine Wangen stieg, und zögerte kurz, bevor sie den Konturen seiner Lippen folgte. Erst mit einem Finger, dann mit allen. Vorsichtig drückte sie den Daumen auf seine volle Unterlippe. Wyatt fühlte plötzlich die Hitze des Nachmittags und wurde von dem unstillbaren Wunsch befallen, tiefer zu atmen. Als er den Mund öffnete, glitt ihr Daumen über die weiche Innenseite seiner Lippe, und unwillkürlich teilten sich auch ihre Lippen. Sofort spannte er die Muskeln an, unfähig, den Blick von den verführerischen Lippen zu wenden, die nur wenige Zentimeter von ihm entfernt waren. Obwohl er schon hunderte solcher Situationen mit anderen Patienten erlebt hatte, war er diesmal seltsam bewegt und ballte die Fäuste. Cassies Berührungen waren unbeschreiblich erregend, Und doch war ihre Unschuld unverkennbar. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, welche Reaktionen sie in ihm hervorrief. Ihre Hände wanderten tiefer, umfassten seinen Nacken, glitten über seine Schultern, legten sich auf seine muskulösen Oberarme und hielten an den Ellbogen inne. Rasch öffnete er die Fäuste, bevor sie die Inspektion fortsetzte und seine Hilflosigkeit bemerkte. Er erschauerte, während sie die Finger über seine Handflächen gleiten ließ, und erstarrte, als sie seine Oberschenkel erreichte. „Was ist los?" fragte sie verwundert. Wyatt bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. „Gar nichts. Ich bin nur noch nie so intensiv untersucht worden." „Wie meinen Sie das? Sie sind doch bestimmt inzwischen an so etwas gewöhnt." „Normalerweise beschränken sich die Patienten auf mein Gesicht und eventuell meine Arme." „Das ist absurd." Sie strich über seine Schenkel. „Sie haben schließlich auch einen Körper, nicht nur Gesicht und Arme. Wie konnten sie wissen, wie Sie aussehen?" Er spürte, wie sich im linken Bein ein Krampf anbahnte, und versuchte, den Muskel unter ihrer Hand zu entspannen - vergeblich. Seine Kehle war wie zugeschnürt; dies änderte sich erst, als sie über seine Knie und die Waden hinunter zu den Füßen tastete. Zu seiner größten Erleichterung zog sie sich endlich zurück und richtete sich laut lachend auf. „Was ist denn so komisch?" erkundigte er sich gereizt. „Ich finde, ein Psychiater in Turnschuhen wirkt ein bisschen albern", meinte sie. „Es passt einfach nicht ins Bild." Wyatt hatte das dunkle Gefühl, dass ihm die Situation entglitt, und deshalb schwang eine übertriebene Schärfe in seiner Stimme mit. „Und welches Bild haben Sie von Psychiatern?" Als sie die Hände erneut zu seinem Gesicht hob, wich er verblüfft zurück und stieß sich prompt den Kopf am Baumstamm. „Was haben Sie vor?" „Ich wollte nur feststellen, wie Sie aussehen, wenn Sie wütend sind", erklärte sie ruhig und zog seinen Kopf zu sich. Behutsam rieb sie über die schmerzende Stelle. „Das mit Ihrem Kopf tut mir übrigens Leid." Ihr Gesicht war kaum zehn Zentimeter von seinem entfernt, ihr warmer Atem streifte seine Wange. Das war mehr, als Wyatt ertragen konnte. Er packte ihre Hände und schob sie
fort. Bestürzung spiegelte sich auf ihren Zügen wider. Angesichts des gekränkten Ausdrucks in ihren Augen und der erschrockenen Miene biss er die Zähne zusammen. Doch plötzlich, ohne sich dessen recht bewusst zu sein, gab er eine Hand frei, umfasste ihren Nacken und riss sie an seine Brust. Den Mund auf ihre leicht geöffneten Lippen gepresst, versuchte er, sein wie wild pochendes Herz zu besänftigen - vergeblich. Zuerst schien sie sich gegen den unbarmherzigen Druck seiner Hand wehren zu wollen, doch dann bewegte sie zaghaft die Lippen, so als würde sie etwas Neues, Aufregendes erkunden. Wyatt stockte der Atem, unter Aufbietung all seiner Willenskraft löste er sich von ihr und schloss verzweifelt die Augen. Erst jetzt dämmerte ihm, was er angerichtet hatte. „Verdammt", stöhnte er. Verwirrt stand Cassie auf und wartete, was als Nächstes passieren würde. Was nun? fragte sie sich im Stillen. Ganz einfach. In Büchern ist dies der Moment, in dem er dir sagt, dass er dich liebt und ohne dich nicht leben kann. Ihr heiratet und lebt glücklich bis in alle Ewigkeit, ihr bekommt zwei Kinder und kauft ein Haus vor der Stadt. In Büchern ist das immer so. Aber sei ehrlich, Cassie, du kennst die Welt nur aus Büchern, und dies muss der große Zauber sein, die Liebe auf den ersten Blick. Nur wie kannst du dich auf den ersten Blick verlieben, wenn du nicht einmal sehen kannst? War dieser heiße Schauer, als Wyatt dich küsste, tatsächlich Liebe? Fühlt es sich so an? Okay, Cassie, befahl sie sich. Wie wirst du dich verhalten? Tu so, als hättest du Erfahrung. Tu so, als wärst du eine normale Frau von fünfundzwanzig Jahren. Tu so, als hättest du dich verabredet und Beziehungen gehabt, als wärst du hundert, nein, tausend Mal geküsst worden. Du kennst die Männer. Du weißt, wie sie denken. Also, was wirst du jetzt tun? Sie hörte das Rascheln seiner Hose auf der Bank, doch sie ahnte nicht, dass er sich aufgerichtet hatte und sie anschaute, als wäre sie ein Feind, den er bekämpfen musste. Als er endlich sprach, klang seine Stimme spöttisch und rau, und das gehörte nicht zu der Szene, die sie sich vorgestellt hatte. „Setzen Sie sich, Miss Winters." Miss Winters. Er nannte sie Miss Winters. Sollte er nicht Cassie zu ihr sagen? Wenn man jemanden heiraten und den Rest des Lebens mit ihm verbringen wollte, würde man ihn doch mit dem Vornamen anreden, oder? Gehorsam ließ sie sich wieder neben ihm nieder. Wyatt bemerkte ihre Verwirrung. Unbändige Wut auf sich selbst stieg in ihm auf. Zum ersten Mal in seinem Berufsleben hatte er die Kontrolle verloren, und ihm war klar, dass er das Arzt-Patienten-Verhältnis ernsthaft gefährdet hatte. „Was denken Sie?" Er bemühte sich um einen professionellen Tonfall. Frustriert hob sie die Hände. „Nur das, was Sie vielleicht erwarten." „Sie weichen mir aus." „Es war eine Fangfrage." Er lächelte. Einerseits freute er sich über ihre Schlagfertigkeit, andererseits deprimierte es ihn, dass sie sich abkapselte. Es konnte keine emotionale Bindung zwischen ihnen geben. Niemals. Gefühlsmäßig engagierte Patienten wurden verschwiegen und versuchten mit allen Mitteln, ihre Empfindungen zu schützen. „Nun gut. Dann will ich deutlicher werden. Was denken Sie von mir, Miss Winters?" Cassie atmete tief durch. „Ich weiß nicht, was ich von Ihnen denken soll! Erst sind Sie arrogant, beleidigend und gemein ... und dann ..." Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „... und dann küssen Sie mich so ..." Hilflos zuckte sie die Schultern. „Es tut mir Leid, falls ich Sie durcheinander gebracht haben sollte", erwiderte er. „Das war nicht meine Absicht. Meine Aufgabe hier ist es, Ihr Selbstvertrauen zu stärken, nicht, es zu brechen."
Sie errötete vor Scham. Das war es also, überlegte sie bitter. Ein Teil der Behandlung. Blinde junge Frauen werden geküsst, damit sie sich für begehrenswert - und normal - halten. Man baut ihr Selbstvertrauen auf und gaukelt ihnen vor, sie wären etwas ganz Besonderes. „Miss Winters? Sind Sie bereit weiterzumachen?" Er fragte, ob sie bereit sei, weiterzumachen - so als wäre nichts passiert! „Ich kann es kaum erwarten", konterte sie bitter. „Was kommt als Nächstes? Wechseln wir vom Kuss zur Vergewaltigung, oder gibt es noch andere Varianten?" Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. „Ich finde, Sie reagieren ein bisschen übertrieben, Miss Winters ..." „Kein Wunder", rief sie. „Verrückte reagieren immer übertrieben! Und ich bin schließlich verrückt! Ich bin die Frau, die sich einbildet, blind zu sein, erinnern Sie sich?" „Nun, ganz so ist es nicht", wandte er ein. „Sie sind die Frau, die sich für die Blindheit entschieden hat, die blind sein will. Allmählich gelange ich zu der Überzeugung, dass Sie es genießen." Seine Grausamkeit weckte in ihr den Wunsch, ihn zu ohrfeigen, zu bestrafen, zu verletzen. „Darf ich Ihr Gesicht noch einmal berühren, Dr. Field?" fragte sie und drehte sich zu ihm um. „Nur zu." Er bemühte sich, die abrupten Stimmungsschwankungen dieser sonderbaren jungen Frau zu ergründen. Die Finger ihrer Linken fanden schnell seine Wange, und nachdem sie ihr Ziel ausgemacht hatte, ließ Cassie ihre Rechte gegen seine andere Wange klatschen. Der laute Schlag zerriss die nachmittägliche Ruhe und ließ Wyatts Kopf nach hinten schnellen. „Niemand genießt es, blind zu sein, Dr. Field." Er biss die Zähne zusammen, bis sein Kiefer schmerzte, und zwang sich, die Hände still zu halten. Es dauerte etliche Sekunden, bis er sein Temperament gezügelt hatte, und sie wurde zunehmend nervöser. Endlich durchbrach seine Stimme die Stille. Erleichtert atmete Cassie auf. „Versuchen Sie so etwas nie wieder, Miss Winters. Ich habe nämlich nicht die geringsten Hemmungen, verwöhnte, reiche, blinde Mädchen übers Knie zu legen. Und es gibt niemanden, der Ihnen diese Demütigung ersparen könnte." Langsam erhob er sich von der Bank und fühlte sich erschöpft wie nie zuvor in seinem Leben. Seine Wange prickelte noch immer. Cassie erschrak, als sie ihn aufstehen hörte, und machte sich instinktiv bereit zur Flucht. Wyatt wandte sich jedoch ab und ging in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Ich sehe Sie beim Abendessen", rief er über die Schulter zurück. Seine Stimme war bereits beängstigend weit entfernt. „Mit Ihren Schuhen." „Warten Sie", schrie sie verzweifelt. „Warten Sie auf mich!" In ihrer Panik sank sie auf die Knie. „Dr. Field, ich kann meine Schuhe nicht finden!" Sie hörte ihn lachen und kauerte sich wie betäubt auf ihre Fersen, fassungslos, dass er sie tatsächlich allein zurückließ. Der Schock wich allerdings bald tiefer Wut und wuchs sich zu blankem Hass aus. Cassie gab sich ganz diesem geradezu berauschenden Gefühl hin, das ihr eiserne Entschlossenheit verlieh. Sie senkte den Kopf, um nach den Schuhen zu suchen. Mit weit ausholenden Bewegungen tastete sie über das weiche Gras. Der Wunsch, die Schuhe zu finden und auf ihr Zimmer zurückzukehren, war überwältigend. Es wäre ein Triumph, bei dem sie eine ebenso große Genugtuung verspüren würde wie in der Sekunde, als ihre Hand Dr. Fields Wange getroffen hatte. Die Furcht würde später kommen.
5. KAPITEL
Maggie lehnte an der Verandabrüstung und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das glatte Holz, während sie angestrengt über den Rasen in Richtung Fluss spähte. Sie atmete erleichtert auf, als Wyatts große Gestalt in Sicht kam, doch dann bemerkte sie, dass er allein war, und presste die Lippen zusammen. „Wo ist sie?" fragte sie, als er das Haus erreicht hatte. Wyatt betrachtete die kleine wütende Person auf der obersten Treppenstufe. „Sie ist unten am Fluss - auf der Suche nach ihren Schuhen, die sie in einem Wutanfall weggeschleudert hat." Maggie traute ihren Ohren kaum. „Sie haben sie allein gelassen? Was ist nur in Sie gefahren, Wyatt? Das können Sie doch nicht tun!" „Es ist bereits geschehen." „Nun, das lässt sich ändern. Ich werde zu ihr gehen." Entschlossen eilte Maggie die Treppe hinunter, aber Wyatt hielt sie zurück. „Geben Sie ihr eine Chance, Maggie", sagte er. „Sie ist stärker, als Sie denken, stärker, als sie selbst glaubt, und dies ist ihre erste echte Prüfung. Sie wird es schaffen, falls Sie nicht alles verderben. Sie muss es allein tun." „Und wenn sie ins Wasser fällt? Mit dem Kopf auf die Felsen schlägt oder sich einen Arm bricht? Was dann? Sie haben noch nie einen neuen Patienten ganz allein gelassen. Sonst haben Sie ihn immer aus einiger Entfernung beobachtet." „Bei ihr würde es nicht funktionieren. Sie ist zu sensibel und würde merken, wenn ich in der Nähe wäre." „Heute ist ihr erster Tag. Warum drängen Sie sie? Sie haben schließlich drei Monate Zeit." „Sie täuschen sich. Ich habe sie nur zwei Wochen für mich. Außerdem liegt ihr Fall anders. Maggie. Ich will sie nicht nur lehren, mit der Blindheit umzugehen. Ich will, dass sie wieder sieht." „Selbst auf die Gefahr hin, dass sie daran zerbricht?" Wyatt zuckte ungerührt die Schultern. Sie hatte längst erkannt, dass ihre inständigen Bitten um ein bisschen mehr Freundlichkeit nichts an seinen strengen Methoden ändern würden. Überdies hatte er ihr unmissverständlich klar gemacht, dass er keinerlei Einmischung duldete. Resigniert ließ sie sich auf einer der Stufen nieder. „Sie sind ein harter Mann, Wyatt." „Güte heilt nicht alle Wunden", erwiderte er lächelnd und setzte sich neben sie. „Insbesondere nicht die großen. Wann werden Sie endlich lernen, mir zu vertrauen, Maggie?" Liebevoll und verzweifelt zugleich blickte sie zu ihm hinüber. Vor einiger Zeit war sie überzeugt gewesen, diese kühlen blauen Augen könnten den Lauf der Sonne bestimmen. Ein durchaus verständlicher Irrtum, tröstete sie sich im Stillen. Man musste schon verrückt sein, um sich nicht auf den ersten Blick in einen so attraktiven Mann zu verlieben - allerdings musste man noch verrückter sein, um es ernst zu nehmen. Sie seufzte wehmütig. Während Maggie und Wyatt geduldig auf der Treppe saßen, kroch Cassie hilflos im Schatten der alten Eiche herum und suchte den zweiten Schuh. Den ersten hatte sie schnell gefunden, er war ganz in der Nähe der Stelle gelandet, wo sie ihn fortgeschleudert hatte. Das Aufspüren des zweiten erwies sich jedoch als weitaus schwieriger, und bald wich der Stolz tiefer Frustration. Sie rutschte auf Händen und Knien umher, spitze Kiesel zerrissen ihr die Strümpfe und bohrten sich in ihre Haut. Ihre Suche brachte sie dem Ufer immer näher. Cassie kämpfte mit den Tränen, während sie mit fahrigen Bewegungen über das Gras tastete. „Verdammt", fluchte sie und kauerte sich auf die Fersen.
Es war nicht fair. Was wusste der allmächtige Dr. Field denn schon über Blinde? Wie konnte er es wagen, sie hier draußen allein zu lassen und ihr zu befehlen, die Schuhe zu finden? Schließlich wusste er genau, dass es schier unmöglich war. Sie kämpfte sich auf die Füße, den Schuh noch immer fest umklammert. Erst als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, kam ihr in den Sinn, wie schmutzig und zerzaust sie aussehen musste. Doch dann erinnerte sie sich an Dr. Fields Stimme. Wie hatte sie sie nur je für weich und melodisch halten können? Nein, diese Stimme war hart, scharf und verächtlich, und die Vorstellung, ihrem Besitzer ohne beide Schuhe gegenüberzutreten, war für Cassie plötzlich unerträglich. Also sank sie erneut auf die Knie und setzte die Suche energisch fort. Sie befand sich inzwischen an der Böschung, die zum Fluss führte, ganz in der Nähe plätscherte munter das Wasser. Mit weit ausholenden Bewegungen wollte sie das Ufer erkunden und sich dann langsam zur Eiche vorarbeiten. Allerdings hatte sie bei ihrem Plan die Möglichkeit außer Acht gelassen, dass der weiche Boden unter ihrem Gewicht nachgeben könnte, und als es geschah, traf es sie völlig unvorbereitet. In einer Sekunde kniete sie auf solidem Untergrund, in der nächsten sackte sie weg, weil das Erdreich unter ihr in den Fluss rutschte. Überrascht schnappte sie nach Luft, viel zu verängstigt, um zu schreien, und klammerte sich verzweifelt an den Rand des Abhangs. Cassie hatte keine Ahnung, wie tief sie stürzen würde, wenn sie den Halt verlor. Das Wasser unter ihr schien sie mit seinem fröhlichen Rauschen zu verspotten. Vergeblich versuchte sie, die Entfernung zu schätzen. Ein Meter? Zwei? Fünf? Weit genug, um sich ein Bein zu brechen? Tief genug, um zu ertrinken? Panik erfasste sie, ein leises Wimmern entrang sich ihren Lippen, und plötzlich konnte sie sich nicht mehr festhalten. Sie spürte, dass sie stürzte. Sie fiel knapp zehn Zentimeter auf den weichen Sand, der das Flussbett säumte, und der Schock, so dicht über festem Boden geschwebt zu haben, verblüffte sie mehr, als es ein ernsthafter Sturz getan hätte. Regungslos stand sie da, erinnerte sich an die Furcht und rang um Atem. Gleich darauf malte sie sich das Bild aus, das sie vermutlich abgegeben hatte: verzweifelt um ihr Leben ringend, an die Böschung geklammert, während ihre Füße nur Zentimeter von der Rettung entfernt waren. Mit einem hysterischen Lachen sank sie auf die Knie und ließ den Tränen der Erleichterung freien Lauf. Lachend und weinend verarbeitete sie die erlittenen Qualen, bis in ihrem Inneren der Hass gegen den Mann erwachte, der an allem schuld war. Schließlich kauerte sie sich auf die Fersen und fuhr sich mit den Händen über die tränenüberströmten Wangen. Sie wollte fluchen und die wüstesten Beschimpfungen auf Dr. Wyatt Field ausstoßen, unterdrückte jedoch diesen Impuls. Nach einigen Sekunden wurde ihr allerdings klar, dass sie sagen konnte, was immer sie wollte. Zum ersten Mal seit achtzehn Jahren befand sie sich nicht in Hör- oder Sichtweite anderer Menschen. Sie war absolut allein. Diese Erkenntnis ernüchterte sie. Keine Mrs. Carmody, kein Vater, keine Dienstboten, nur Cassie. Cassandra Winters allein auf der Welt. Die Verlockungen des Abenteuers und die schwere Bürde der Verantwortung stritten in einer Seele miteinander, die keines von beidem je kennen gelernt hatte. „Es wird sehr schwer werden", prophezeite sie, einer unerklärlichen Eingebung folgend. In der nachmittäglichen Stille klang ihre Stimme dünn und verunsichert. „Da sind Sie ja!" Maggies fröhliche Stimme riss Cassie aus ihren Gedanken. Plötzlich hörte sie auch den Brunnen. Sie war also angekommen. Sie hatte es geschafft. Sie hatte den Weg vom Ufer zurück zum Haus und beide Schuhe gefunden, und sie hatte das Hauptgebäude gefunden. Und zwar ganz allein. Zerzaust, aber würdevoll hob sie bei Maggies Ruf stolz das Kinn. Lächelnd lief sie auf Maggie zu.
„Gütiger Himmel", flüsterte Maggie angesichts der zerrissenen Strümpfe, des wirren Haars und des ruinierten Kostüms der Blinden. „Bravo, Wyatt", raunte sie ihm zu. „Das ist Ihr Werk. Ich hoffe, Sie sind zufrieden." Besorgt beobachtete er Cassie, die mit kurzen, steifen Schritten den Hof überquerte, dann bemerkte er den entschlossenen Zug um ihren Mund und die energisch gestrafften Schultern. „Das bin ich, Maggie", erwiderte er leise. „Das bin ich wirklich." Er wartete, bis Cassie nur noch einen halben Meter von ihm entfernt war. „Wie ich sehe, haben Sie Ihre Schuhe gefunden, Miss Winters", stellte er kühl fest. In die blicklosen Augen trat ein wütendes Funkeln. „Selbstverständlich, Dr. Field." Sie konnte sich nur mühsam beherrschen. „Es war eine Kleinigkeit." „Und wie war Ihr erster Spaziergang allein im Freien?" erkundigte er sich. „Wesentlich angenehmer als mein erster Spaziergang mit Ihnen", konterte sie zu Maggies Entzücken. Wyatt reagierte auf ihren Tonfall mit einem lauten Seufzer. Seine Miene verriet Maggie jedoch, dass er mit seiner Arbeit sehr zufrieden war. „Ich schlage vor, Sie säubern sich vor dem Dinner ein wenig, Miss Winters", empfahl er und wandte sich zum Gehen. „Sie bieten keinen besonders schönen Anblick." „Zum Teufel mit ihm", flüsterte Cassie. Erst als sie Maggies Hand auf ihrem Arm spürte, gestattete sie sich, die Schultern vor Erschöpfung sinken zu lassen. „Kommen Sie, Cassie", meinte Maggie, als Wyatt außer Hörweite war. „Ich begleite Sie, ob es ihm nun gefällt oder nicht." Sie führte die völlig ausgelaugte Cassie auf ihr Zimmer, obwohl es gegen die Regeln des Hauses verstieß, den Patienten in dieser Weise zu helfen oder sie gar zu trösten. Das Mädchen hatte offenbar für einen Tag genug durchgemacht. Während sie später auf dem Bett saß und darauf wartete, dass Cassie aus der Dusche kam, wunderte sie sich wohl zum hundertsten Mal über die Unerbittlichkeit dieses Mannes. Cassie verließ das Bad und blieb zwischen Bett und Kommode stehen, um sich das Haar zu frottieren. „Halte ich Sie von der Arbeit ab, Maggie?" Sie spürte die Anwesenheit der anderen Frau. „Nein, nein." „Was ist los? Ihre Stimme klingt so sonderbar." Maggie unterdrückte ein Lächeln. „Nichts, gar nichts. Ich bin nur erstaunt. Die meisten unserer Schützlinge sind nämlich äußerst schüchtern." Cassie hielt inne, dann lachte sie laut auf. „Ich habe ganz vergessen, dass ich nackt bin." Sie trat an den Kleiderschrank und durchsuchte ihre Garderobe, bis sie den weichen Stoff ihres Bademantels fühlte. „An Schüchternheit denkt man überhaupt nicht, wenn man täglich von jemandem angezogen wird", erklärte sie und hüllte sich in den rosa Mantel. „Es kommt Ihnen gar nicht in den Sinn, zumal Sie Ihren eigenen Körper ohnehin nicht sehen können." „Viele unserer Patienten sind hier, weil sie plötzlich erblindet sind. Sie sind mit all den Tabus der Sehenden belastet. Wir hatten noch nie jemanden, der schon so lange blind ist wie Sie." Seufzend sank Cassie auf den Stuhl vor dem Frisiertisch. „Oder der so hilflos ist. Wenn Sie nicht wären, würde ich vermutlich heute noch abreisen, Maggie. Die Aussicht, zwei volle Wochen mit Dr. Field zu verbringen, versetzt mich in Panik." Maggie lachte. „Am Anfang sagen das alle, aber Sie werden Ihre Meinung über ihn ändern, das verspreche ich." Cassie starrte blicklos vor sich hin und erinnerte sich errötend an den Kuss, der ihr Selbstvertrauen hatte aufbauen sollen. „Ich finde, er ist ein grausamer, rücksichtsloser Mann", flüsterte sie. „Und ich glaube, ich werde ihn nie verstehen." Maggie erhob sich vom Bett. „Das tut keiner von uns", räumte sie ein. „Glücklicherweise müssen Sie das auch nicht. Es ist vielmehr seine Aufgabe, Sie zu verstehen. Aber genug
davon. Wie wäre es heute Abend mit dem schwarzen Hosenanzug? Ich wette, Sie sehen in Schwarz atemberaubend aus." Gewiss, dachte Cassie wehmütig. Bewundern Sie die atemberaubende Blinde. Beobachten Sie, wie sie über Stühle stolpert und gegen Wände rennt. Atemlos vielleicht - aber atemberaubend? Niemals. „Maggie?" fragte sie scheu. „Ist es für alle so schwer?" „Schwer? Bis jetzt schien Ihnen alles ganz leicht zu fallen", entgegnete sie betont munter. „Für den ersten Tag war es ein Riesenerfolg, dass Sie den Weg vom Fluss zum Haus allein gefunden haben." Cassie begann, sich das Haar zu kämmen. „Nun ja, das habe ich geschafft." Dann erzählte sie Maggie, was ihr passiert war, nachdem Dr. Field sie verlassen hatte. Während sie sprach, verblassten die Ängste und Frustrationen, und es erwachte in ihr das Gefühl, eine berauschende Erfahrung gemacht zu haben. Ihr Vater wäre stolz auf sie gewesen. Oder vielleicht doch nicht? Er hatte sie nie dazu ermutigt, unabhängiger zu werden, sondern alle Bemühungen ihrerseits boykottiert. Eine nach der anderen, jede Idee wurde verworfen ... der Besuch einer öffentlichen Schule, der Aufenthalt auf Windrow und, was am erstaunlichsten war, die Sitzungen beim Therapeuten. Damals hatte sie sich gefragt, ob er nur deshalb zögerte, sie zu einem Psychiater zu schicken, weil er nicht wollte, dass sie wieder sehen konnte. Vielleicht gefiel es ihm, dass sie blind und völlig von ihm abhängig war. Vielleicht fürchtete er, sie zu verlieren, sobald sie ihr Sehvermögen wiedererlangt hatte. Schließlich verließen normale Menschen als Erwachsene ihr Elternhaus, um Karriere zu machen, zu heiraten oder ein eigenes Leben zu führen. Aber Cassie blieb bei Daddy - bis zum Ende. Sie verdrängte die trüben Gedanken, weil sie nicht glauben mochte, dass jemand so selbstsüchtig sein könnte. Außerdem hatte ihr Vater Recht gehabt. Als sie irgendwann offen rebelliert hatte und ein Jahr lang zum Psychiater gegangen war, hatten sie beide endlose Streitigkeiten, unbeantwortete Fragen und ein schmerzliches Aufwühlen der Vergangenheit durchleiden müssen. Und das für nichts und wieder nichts. Sie hatte damals unbeschreibliche Schuldgefühle gehabt, denn sie hatte die Wunden eines Mannes aufreißen müssen, der sie stets behütet und verwöhnt hatte. Deshalb hatte sie entschieden, lieber blind zu bleiben, falls die Erinnerung an den Unfall die einzige Möglichkeit sein sollte, ihr Sehvermögen wiederzuerlangen. Cassie massierte sich die Schläfen, um den Kopfschmerz zu beseitigen, der sie stets befiel, wenn sie an ihren Vater dachte. Maggies Stimme riss sie aus ihren Grübeleien. „Wie ich es vermutet habe. Das Outfit ist umwerfend! Kommen Sie, lassen Sie uns den bösen Doktor überraschen." Cassie rang sich ein Lächeln ab, als Maggie sie zur Tür führte. Sie fühlte sich wie ein Opferlamm. Maggie trotzte Wyatt ganz offen, indem sie Cassie die Treppe hinunter und direkt zu seinem Tisch im Speisesaal geleitete. Sie ignorierte sein missbilligendes Stirnrunzeln und wandte sich zum Gehen, nachdem Cassie Platz genommen hatte. Ein Muskel zuckte in seiner Wange, als er Maggie hinterherschaute. Wyatt beschloss insgeheim, später mit ihr zu reden. „Schwarz steht Ihnen", bemerkte er und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Cassie. „So?" Die Geräusche ihrer Umgebung lenkten sie ab. Besteck klirrte auf Porzellan, leises Stimmengewirr erfüllte die Luft, und gelegentlich klang es, als würden zwei Kristallgläser aneinander gestoßen. „Wer sind die anderen Gäste?" fragte sie. „Der Rest des Personals. Lehrer, Krankenschwestern - wer immer gerade Dienst hat. Wir nehmen alle die Abendmahlzeit hier ein. Dadurch haben die Patienten Gelegenheit, sich im großen Speisesaal zu unterhalten, ohne sich von uns beobachtet zu fühlen."
Die Anwesenheit so vieler Fremder flößte Cassie Unbehagen ein. „Werde ich sie kennen lernen?" erkundigte sie sich zögernd. „Ganz gewiss nicht", erwiderte er nachdrücklich. „Jedenfalls nicht in den nächsten zwei Wochen. Für diese Leute existieren Sie erst, wenn ich es sage." „Was soll diese alberne Regel? Ich werde hier drei Monate verbringen, da ist es doch nur natürlich, dass ich erfahre, wer sie sind." Ein Anflug von Ungeduld schwang in seiner Stimme mit. „Bei uns dient alles einem bestimmten Zweck. In den ersten vierzehn Tagen verkörpert das Personal all die Fremden, denen Sie draußen begegnen werden, sobald Sie uns verlassen. Daher wäre es wenig sinnvoll, wenn ich Sie jedem sofort vorstellen würde. Sie können sich nicht mit jedem Menschen auf der Welt verbrüdern. Es wird immer Fremde geben, und Sie müssen lernen, damit umzugehen." Sie verzog trotzig den Mund, obwohl sie die Logik einsah. Fremde waren die unsichtbaren, unbekannten Feinde der Blinden. In dem unterbewussten Bestreben, den Feind auszuschalten, verspürte sie den überwältigenden Drang, sich mit jedem anzufreunden, der ihr begegnete. „Aber das ist nicht der einzige Grund, oder?" fragte sie, einer spontanen Eingebung folgend. „Indem Sie mich von anderen Menschen isolieren, machen Sie mich noch abhängiger von sich." Er lächelte über ihren Scharfsinn und die unverhohlene Feindseligkeit. „Sehr richtig", bestätigte er. „Zumindest für zwei Wochen haben Sie nur mich." „Und Maggie", erinnerte sie ihn. „Und Maggie - vorausgesetzt, sie verletzt nicht noch mehr Regeln." Bei dem Gedanken, Maggies Trost zu verlieren, geriet sie in Panik. Sie war nicht nur ein sicherer Hafen nach Wyatts unerbittlicher Strenge, sondern versprach auch die engste Freundin zu werden, die Cassie je hatte. „Was meinen Sie damit? Welche Regeln hat Maggie verletzt?" „Sie führt Sie herum wie ein Blindenhund und ersetzt die Person, die das daheim für Sie getan hat." Aufgrund ihrer guten Erziehung gelang es Cassie, die Fassung zu wahren. Sie beugte sich ein wenig vor und sagte leise: „Es ist mein erster Tag auf Windrow, und bislang war er nicht sonderlich erfreulich. Durch einen Raum voller Fremder zu stolpern hätte mich schlichtweg überfordert. Maggie war einfühlsam genug, das zu erkennen, und hat mir geholfen. Viele Fremde draußen hätten mir die gleiche Freundlichkeit erwiesen, allerdings bin ich ziemlich sicher, dass Sie nie auf diese Idee kommen würden." Wyatt bewunderte im Stillen ihre Selbstbeherrschung. „Es gibt keine Entschuldigung für das, was Maggie getan hat, und es wird nicht wieder passieren. Von nun an sind Sie auf sich allein gestellt, selbst wenn es bedeutet, dass ich Maggie vom Dienst suspendieren muss, solange Sie im Haupthaus wohnen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, Miss Winters, Sie werden lernen, blind zu sein." Sie wurde blass. „Sie lieben die Macht, die Sie in Ihrem kleinen Königreich ausüben, oder?" beschwerte sie sich. „Nun, Sie sind nicht der einzige Psychiater auf der Welt. Ich bin sicher, Sie können ersetzt werden." Er lächelte amüsiert. „Wir sind nicht in New York, Miss Winters. Es steht nicht in Ihrer Macht, mich zu feuern, und es wäre auch dumm, wenn Sie es versuchen würden. Ich bin der beste Psychiater, den es gibt. Sie können froh sein, mich zu haben." Cassie unterdrückte ihre Wut. Sie würde diesen unmöglichen Mann tolerieren, so wie sie die Eigenheiten eines tüchtigen Dienstboten ignorieren würde. Plötzlich durchrann sie ein Schauer, als sie daran dachte, wie er unten am Fluss seinen Körper an ihren gepresst hatte. Energisch verdrängte sie diese Erinnerung.
Wyatt bemerkte ihr leichtes Zittern und schrieb es dem Ärger zu. Er beobachtete, wie sich die unterschiedlichsten Emotionen auf ihren Zügen widerspiegelten, bis sie sich endlich seiner Autorität beugte. Ihr Zorn war ein Pluspunkt, er konnte ihn gegen ihre Psyche verwenden, solange er nicht zu übermächtig wurde. Er beschloss, ihr Temperament etwas zu zügeln. „Ich habe mir erlaubt, für uns beide zu bestellen, Miss Winters. Sie haben hoffentlich nichts dagegen. Unser Koch bietet nur selten junge Tauben an, und sie sind immer köstlich. Ich wollte nicht, dass Sie diesen Genuss versäumen." Sie nickte wortlos und hörte, wie das Glas zu ihrer Rechten gefüllt wurde. „Ein leichter Chablis", fuhr er fort. „Nichts Besonderes, aber wunderbar zu Geflügel." Unauffällig bewegten sich die Finger ihrer rechten Hand zu dem schweren Kristallglas. Wyatt verfolgte das geschickte Manöver, während er sich selbst einschenkte. Es erstaunte ihn immer wieder, dass es für reiche Blinde wichtiger war, sich bei Tisch mit der Anmut Sehender zu bewegen, als die Straße überqueren zu können. „Wollen wir auf Ihre Zukunft trinken, Miss Winters?" Als sein Glas ihres berührte, fragte sie sich unwillkürlich, wie Dr. Field wohl reagieren würde, wenn er wüsste, dass ihr ein Leben in Armut bevorstand. „Auf meine Zukunft und das, was Sie daraus machen werden." Der Wein war tatsächlich ausgezeichnet, und nach dem ersten Glas begann sie sich zu entspannen. Der Zukunft konnte sie sich später stellen, wenn ihr keine andere Wahl mehr blieb. Im Moment freute sie sich auf eine exzellente Mahlzeit mit einem attraktiven Mann in luxuriösem Ambiente, und das genügte ihr. Sie hörte, dass ihr nachgeschenkt wurde. „Wo leben Sie, Dr. Field?" „Nur ein paar Meilen von hier entfernt." „In einer Stadt?" „Nein, in einem Landhaus am Fluss." Cassie versuchte, sich die ernste, düstere Gestalt, als die sie sich Dr. Wyatt Field vorstellte, vor einem Cottage inmitten von weiten Feldern und einem Blumengarten auszumalen, und hätte beinahe laut aufgelacht. Er würde besser in eine Burg mit Wassergraben passen, überlegte sie, in irgendein finsteres Gemäuer ohne Strom. Sie behielt ihre Gedanken jedoch für sich und sagte stattdessen: „Als Kind habe ich selbst in dieser Gegend gewohnt. Soweit ich mich erinnere, war sie wunderschön, besonders im Herbst." „Das ist sie noch immer. Ist es Ihnen schwer gefallen, sich an die Stadt zu gewöhnen?" „Wollen Sie vor dem Dinner eine therapeutische Sitzung abhalten?" Er lachte leise. „Betrachten Sie es als höfliche Frage. Schlichte Neugier. Zumindest während dieser Mahlzeit werden wir das Arzt-Patienten-Verhältnis außer Acht lassen. Wir sind nur zwei Menschen, die einander besser kennen lernen wollen." „Glauben Sie wirklich, Sie schaffen es, unsere Rollen zu vergessen?" Er furchte die Stirn, weil ihm plötzlich in den Sinn kam, wie angenehm es wäre, die berufliche Beziehung auf Dauer zu ignorieren. „Natürlich wäre es gefährlich, diesen Punkt völlig zu vergessen", räumte er ein. „Allerdings können wir ihn in den Hintergrund drängen vorübergehend." Sie nickte versonnen. „Nun gut. Nein, sich an die Stadt zu gewöhnen war nicht so schwer, wie Sie vielleicht glauben. Das Land wird schnell langweilig, wenn man blind ist. Es gibt nicht genug Geräusche. In den Jahren nach dem Unfall hat Daddy mich an den Wochenenden immer mit aufs Land genommen. Als er jedoch merkte, dass ich es kaum erwarten konnte, in die Stadt zurückzukehren, hörten die Ausflüge auf. Man braucht Augen, um die Idylle zu genießen." „Manche Blinden würden Ihnen widersprechen. Sie finden die Stadt beängstigend."
„Ich kann mir in der Stadt nichts Erschreckenderes vorstellen als meinen ersten Tag auf Windrow", entgegnete sie ruhig. Sie hörte, dass er vor Unbehagen sein Gewicht auf dem Stuhl verlagerte. „Reden wir nicht mehr über den Nachmittag", erwiderte er kurz angebunden. Cassie zuckte betont lässig die Schultern und überlegte, welchen Teil des Nachmittags er unbedingt vergessen wollte. Vermutlich den Kuss. „Und nun berichten Sie mir über Ihr Leben in der Stadt", fuhr er sachlich fort. „Wie verbringen Sie die Zeit?" Seufzend lehnte sie sich zurück. „Ich lese viel - natürlich Braille - und höre Musik. Mein Vater hat mit mir gelegentlich ein Konzert besucht. Außerdem bin ich viel im Park und lausche." „Im Central Park?" „Ja, er liegt auf der anderen Straßenseite." „Also lesen Sie über das Leben anderer Menschen, belauschen ihre Unterhaltungen und hören die Musik, die andere machen. Fein. Und was ist mit Ihrem eigenen Leben? Was tun Sie selbst?" Einerseits ärgerte sie die Andeutung, dass sie ihr Leben sinnlos vergeudete, andererseits jedoch erkannte sie die Wahrheit, die darin steckte. „Ich selbst? Ich unternehme Stadtrundfahrten. Was haben Sie eigentlich erwartet?" Er schmunzelte über ihr Temperament. „Ich habe ein Privatleben erwartet. Dafür benötigt man keine Augen. Was ist mit Freunden? Liebhabern?" „Das ist eine unverschämte Frage, die kein Gentleman einer Dame am ersten Abend stellen würde!" „Treiben Sie das Spiel nicht zu weit, Miss Winters. Sie sind hier nicht auf Urlaub, und es ist nicht unser erstes Rendezvous." „Wenn es das wäre, würde es garantiert kein zweites geben!" „Sie haben also keine erwähnenswerten Freunde und offenbar auch keine Liebhaber. In Ihrem Alter recht erstaunlich. Für mich klingt das wie ein ziemlich leeres Dasein." Heiße Röte stieg ihr in die Wangen, und Dr. Field beobachtete ihre Verlegenheit mit unangemessener Faszination. „Und was ist mit Ihrem Privatleben, Dr. Field?" erkundigte sie sich ironisch. „Wer ist momentan Ihre Freundin?" „Sie haben demnach den Schluss gezogen, dass ich nicht verheiratet bin." „Offensichtlich nicht." Allmählich begann er, die Konversation zu genießen. „Warum offensichtlich?" „Sie sind viel zu egoistisch, um mit einer Frau eine dauerhafte Beziehung zu haben vorausgesetzt, Sie könnten eine finden, die Sie will, was höchst zweifelhaft ist." „Stimmt", bestätigte er. „Ich lebe allein. Und um Ihre Frage zu beantworten: Mein Privatleben geht Sie nichts an." „Aber meines geht Sie etwas an?" „Genau. Dafür bezahlen Sie mich." Frustriert presste Cassie die Lippen zusammen. „Es ist unmöglich, auch nur eine Mahlzeit lang so zu tun, als wären Sie kein Arzt und ich keine Patientin. Die bloße Idee ist lächerlich. Am Besten lassen wir das Thema. Was möchten Sie als Psychiater über mich wissen, Dr. Field?" Sie bot ihm zwar ihre Zusammenarbeit, doch unterbewusst errichtete sie eine Mauer zwischen sich und ihm. „Im Moment nichts", erwiderte er. „Helen bringt nämlich die Suppe." Helen servierte alle Gänge mit der formvollendeten Höflichkeit aller Hausangestellten, aber Cassie vermisste die Freundlichkeit, die sie von daheim kannte. Nach dem jahrelangen unausgesprochenen Mitgefühl des Personals bot Helens Zurückhaltung einen verwirrenden Kontrast.
„Nennen Sie mich doch Cassie", bat sie, als Helen das Hauptgericht servierte. Die Antwort war kurz und bündig. „Lieber nicht, Miss Winters." In der Überzeugung, Helen würde nur den Regeln des Hauses gehorchen, die während der ersten zwei Wochen allen Mitarbeitern außer Maggie Distanz vorschrieben, nahm Cassie die Bemerkung nicht persönlich. Sonderbarerweise schien jedoch Dr. Field darüber verärgert. „Das wäre alles, Helen", sagte er vorwurfsvoll. Sogar das Rascheln von Helens gestärkter Schürze klang wütend, als die Frau den Tisch verließ, und ihre Schritte wirkten schwerer als sonst. Offenbar war Cassie nicht die Einzige, die Dr. Fields Manieren unerträglich fand. „Sie hatten Recht mit der Taube", meinte Cassie, als die Teller abgeräumt wurden. „Sie war köstlich." Wyatt schenkte aromatischen Kaffee aus einer silbernen Kanne aus und gestattete sich sekundenlang den Luxus, sich auszumalen, Cassie Winters wäre weder blind noch seine Patientin. Das war nicht allzu schwer. Sie saß ihm gegenüber, umgeben von dem Luxus, in dem sie aufgewachsen war, und strahlte mit jeder Geste Anmut und Selbstvertrauen aus. Wegen ihrer Geschicklichkeit beim Essen und Trinken musste man sich ständig vor Augen halten, dass sie blind war. Er war wie hypnotisiert von dem simplen Vergnügen, mit einer außergewöhnlich schönen Frau zu speisen. „Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor, Miss Winters?" „Ich versuche, nicht daran zu denken", erklärte sie ehrlich. Die Hoffnungslosigkeit in ihrer Stimme verblüffte ihn. „Eine Ehe?" hakte er nach. „Kinder?" Sie lächelte wehmütig, und ihm fiel auf, dass sich nur ein Mundwinkel nach oben bewegte, wenn sie verbittert war. „Das scheint die einzige Alternative für jemanden wie mich zu sein, oder? Aber offen gestanden, habe ich das nie in Betracht gezogen." „Eine sonderbare Antwort. Eine Frau wie Sie muss von verliebten jungen Männern doch geradezu belagert worden sein. Hat Ihnen denn keiner gefallen?" Cassie überlegte, wie offen sie sein sollte, schließlich sagte sie sich, dass dieser Mann - so unsympathisch er auch sein mochte - alles über sie wissen musste. „Es hat nicht einen einzigen verliebten jungen Mann gegeben, Dr. Field. Keinen Freund außerhalb der Familie und schon gar keinen Liebhaber. Sie hatten völlig Recht. Ich hatte keine Gelegenheit, in dem Leben, das mein Vater für mich organisiert hat, jemanden kennen zu lernen." „Verzeihen Sie, aber das kann ich nur schwer glauben." „Trotzdem ist es die Wahrheit. Ich habe nie eine Schule besucht, und obwohl mein Privatunterricht ausgezeichnet war, hat er nicht viel für mein Privatleben gebracht. Nach Mutters Tod hat Daddy sich zurückgezogen und die Gesellschaft gemieden, so dass auch dieser Bereich wenig Abwechslung bot. Ich habe nur Leute getroffen, die in unserem Haus wohnten oder über die ich buchstäblich im Park gestolpert bin. Leider war der Märchenprinz nicht darunter - und selbst wenn, hätte Mrs. Carmody ihn garantiert verscheucht. Sie war meine ständige Begleiterin, und ich fürchte, sie hat eine ziemlich schlechte Meinung über Männer." „Dann waren Sie all die Jahre völlig isoliert." „Völlig beschützt", korrigierte sie. „Doch das ist aus Ihrer Sicht wohl das Gleiche." „Demnach bin ich der erste Mann, mit dem Sie nicht nur eine oberflächliche Beziehung haben." Obwohl er innerlich vor Zorn auf ihren toten Vater kochte, klang seine Stimme trügerisch heiter. „Beziehung!" Sie lachte spöttisch. „Dr. Field, Sie sind der erste Mann, mit dem ich allein gesprochen habe. Außer Daddy und den Dienstboten natürlich." „Haben Sie je dagegen aufbegehrt?"
Sie seufzte. „Nein, Dr. Field. Ich habe es selbstverständlich bedauert, aber ich habe nie aufbegehrt. Und um die Frage zu beantworten, die Sie noch gar nicht gestellt haben: Ich habe meinen Vater nicht gehasst, sondern ihn sehr geliebt." Er spürte, wie sich seine Wangen vor Wut röteten. „Ich kenne keinen Menschen, der gegen solche Beschränkungen nicht rebelliert hätte", sagte er vorsichtig. „Nun, jetzt kennen Sie einen." Trotzig richtete sie die blicklosen Augen geradeaus. Wyatt fühlte sich unwillkürlich an ein missbrauchtes Kind erinnert. Geliebt, verwöhnt, behütet, aber nichtsdestotrotz durch Entbehrungen missbraucht. Er verdrängte den wachsenden Hass gegen einen toten Mann und bemühte sich um einen neutralen Tonfall. „Was für eine Vergeudung", rief er und verlor wieder einmal den Kampf gegen sein Temperament. Sogleich bereute er seinen Fehler. Verblüfft über seinen unerwarteten Gefühlsausbruch, zog sie die Brauen hoch, doch er wechselte rasch das Thema. „Noch einen Kaffee?" „Nein, danke. Ich würde jedoch gern ein wenig laufen. Ein Spaziergang im Dunkeln ist der einzige Luxus, der mir in der Stadt nicht erlaubt war. Darf ich es hier?" „Oh ja. Blinde sind lausige Räuber. Der Park ist absolut sicher." Wyatt erhob sich und rückte ihr den Stuhl zurecht. Durch die leichte Berührung an ihrem Ellbogen spürte sie, dass er ihr den Arm bot. Nach kurzem Zögern akzeptierte sie die Geste. „Ich dachte, es wäre hier verboten, Blinde zu führen." „Selbst ich habe Manieren, Miss Winters. Sie werden noch genügend Gelegenheit haben, allein in diesen Raum zu stolpern und wieder hinaus. Heute Abend sind Sie jedoch in Begleitung, und ein Begleiter reicht jeder Dame seinen Arm, egal, ob blind oder nicht." „Danke, Dr. Field." Anmutig schob sie ihre Hand durch seine Armbeuge. Er zuckte bei der Berührung kaum merklich zusammen, und sie spürte seine angespannten Muskeln unter ihren Fingern. Es fühlte sich ganz anders an als sonst, wenn sie den Arm ihres Vaters genommen hatte. Schweigend umrundeten sie den Hof. Die Stille wurde nur durchbrochen, wenn sie an einem Gebäude vorbeikamen und Wyatt Cassie darauf aufmerksam machte. „Dies ist der Schlafsaal", erklärte er einmal. „Dort werden Sie später wohnen. Er befindet sich zu Ihrer Rechten, und wenn Sie aufpassen, werden Sie ihn sofort erkennen, sobald Sie sich ihm nähern." „Ich habe nicht aufgepasst", gestand sie. „Ich habe den Bummel viel zu sehr genossen. Allerdings könnte sogar ein Kind das Haus finden. Der Weg wechselt von Zement zu Ziegelpflaster, und zwar hier." Sie blieb unvermittelt stehen. „Wenn ich hier abbiege, gelange ich vermutlich zum Eingang." „Ausgezeichnet. Ihr Scharfsinn ist bemerkenswert." „Sind alle Gebäude so markiert?" „Ja. Dieser Weg besteht aus Ziegeln, der zur Cafeteria ist aus mit Kies bestreutem Asphalt, zum so genannten Schulhaus kommen Sie über Kopfsteinpflaster, und zur Sporthalle führt ein naturbelassener Pfad." „Und wie ist es im Winter?" „Sämtliche Strecken werden unterirdisch beheizt und trocken gehalten. Sie sind die einzigen Orientierungshilfen für unsere Schüler. Wir dürfen sie nicht unter Schnee verstecken." „Sehr clever", lobte Cassie. „Danke." „War es Ihre Idee?" „Natürlich." Sie war überrascht, dass ein Mann, der sich nach außen hin Blinden gegenüber so feindselig benahm und keinerlei Verständnis für ihre Behinderung zeigte, dennoch so viel
Mühe darauf verwandt hatte, ihnen den Aufenthalt auf Windrow zu erleichtern. Er war ein Phänomen, das ihr Begriffsvermögen überstieg. Sie atmete die kühle Nachtluft ein und sog die fremdartigen, ländlichen Düfte tief ein. „Das ist wahrer Luxus." Cassie seufzte. „Ein Spaziergang in der Dunkelheit. Darf ich das jeden Abend machen?" Wyatt ging weiter, und sie passte sich automatisch seinen langen Schritten an. „Wann immer Sie möchten - sofern Sie Zeit dafür haben. Der Gehweg führt einmal um das Gelände, Sie können sich also nicht verirren. Wenn Sie lange genug laufen, kommen Sie stets an den Ausgangspunkt zurück." „Und wie finde ich das Hauptgebäude?" „Sie werden es hören." Er lachte leise. „Das war übrigens Maggies Beitrag. Es ist das einzige Haus mit einer Geräuschquelle. Mich wundert, dass Ihnen das noch nicht aufgefallen ist." Sie schob ihren Arm weiter unter seinen und ging unbewusst dichter neben ihm her. „Ist Ihnen kalt?" „Ein bisschen. Man kann den bevorstehenden Herbst förmlich riechen. Im Gegensatz zu Ihnen trage ich kein Jackett ..." Sie hielt inne und drehte sich zu ihm um. Ihre Hände lagen auf seiner Brust, bevor er ihre Absichten durchschaute. Sie bewegten sich hinauf zu seinem Hals, glitten über den Kragen seines Hemdes und dann die Krawatte entlang wieder hinunter bis zu seinem Gürtel. Dort verweilten sie einen Moment, bevor Cassie die Arme sinken ließ. Er stieß den Atem aus, den er bei der ersten Berührung angehalten hatte. Sie legte den Kopf zurück und lächelte. „Ich wusste nicht, was Sie anhaben", erklärte sie. „Welche Farbe hat das Hemd?" „Weiß", flüsterte er rau. „Und die Krawatte?" „Blau mit kleinen orangefarbenen Drachen." Sie nahm seinen Arm und ging weiter. Der Druck ihrer Hand auf seinem Arm schien unerträglich stark und heiß, obwohl er in Wirklichkeit federleicht war. Mit jedem Schritt malte Wyatt sich aus, dass ihre Körper näher und näher aneinander rückten. Abrupt blieb er stehen, streifte das Jackett ab und hielt es hinter sie - weniger weil er glaubte, sie könnte frieren, sondern weil ihm immer heißer wurde. „Hier", befahl er. „Ziehen Sie das an." Sie gehorchte und kuschelte sich mit einem zufriedenen Seufzer hinein. „Danke. Das ist schon viel besser." Nichts war besser. Jedenfalls nicht für Wyatt. Es war schlimmer. Jetzt trennte nur noch der dünne Hemdenstoff die Haut seines Armes von ihren warmen Fingern. Wyatt war sich ihrer Nähe und Berührung bewusster denn je. Es ist lächerlich, dachte er ärgerlich. Es ist absolut lächerlich, dass ich mich so zu einer Frau hingezogen fühle, die ich erst seit wenigen Stunden kenne. „Oh!" Cassie blieb stehen und legte lauschend den Kopf auf die Seite. Das Haar fiel ihr über die Schulter, und eine goldblonde Strähne ringelte sich wie ein Lichtstrahl bis zum Ansatz ihrer Brüste. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden. „Das ist also die Geräuschquelle. Eine Windharfe, wie hübsch." Sie lächelte verträumt. Sie ist deine Patientin, mehr nicht, ermahnte er sich. Sie darf nichts anderes für dich sein. „Orientieren Sie sich immer am Brunnen", riet er, um sich abzulenken. „Zählen Sie morgen die Schritte. Er befindet sich genau auf halber Strecke zwischen dem Haupthaus und dem Untersuchungszentrum." Cassie nickte und drehte sich zu ihm um. „Gehen Sie jetzt heim?" „Ja." „Und was passiert morgen?"
„Ich treffe Sie um acht zum Frühstück im Speisesaal. Maggie wird Sie um sieben telefonisch wecken." „Morgen geht es also los." „Jawohl." Sie zuckte die Schultern und wirkte in dem Jackett auf einmal winzig. „Es mag vielleicht albern klingen, aber ich hatte einen wundervollen Abend, trotz ... allem", endete sie verlegen. Wyatt betrachtete sie mit der amüsierten Geduld eines Erwachsenen, der sich an der Begeisterung eines Kindes weidet. „Es ist leicht, Ihnen eine Freude zu machen", meinte er. „Und Sie sind ein angenehmer Gesellschafter - jedenfalls manchmal", erwiderte sie und hob die Hände zu seinem Gesicht. Sein Gesicht zu berühren war für Cassie eine völlig normale Geste. Zu Hause tat sie es ständig, bei ihrem Vater, den Dienstboten oder Mrs. Carmody. Es bedeutete Hallo und auf Wiedersehen oder hundert andere Harmlosigkeiten, die Blinde nicht mit ihren Augen ausdrücken konnten. Einen kurzen Moment lang hatte sie vergessen, dass dies der Mann war, der sie hilflos am Fluss zurückgelassen hatte, der Mann, der sie beleidigt und wegen ihrer Unsicherheit verspottet hatte. Während des Spaziergangs war er ein Begleiter geworden, ein Mensch, zu dem sie Zuneigung entwickeln könnte, und genau das sagte ihre Geste aus. Sie spürte, wie er die Kiefer zusammenpresste. Plötzlich erkannte sie voller Schrecken, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sofort ließ sie die Hände sinken, doch er hatte bereits ihre Arme gepackt und hielt sie fest umklammert. Er sah sie an. Trotz ihrer Blindheit spürte sie seinen Blick, fühlte die knisternde Spannung, die sie auf einmal umgab. Ein leichter Luftzug auf ihren Wangen, und dann legten sich seine Lippen auf ihre ... Da war es wieder, jenes unglaubliche, aufregende Prickeln, das ihren Körper durchrann, bis sie schwach, atemlos und völlig verstört war. Sie merkte, dass seine Lippen weicher wurden und sich teilten, hörte ihn seufzend einatmen, als ihre Lippen seinen folgten, und wusste in dieser Sekunde, dass er ihr genauso ausgeliefert war wie sie ihm. Hier und jetzt, in diesem Augenblick, war sie nicht blind, keine Ausgestoßene, nichts Besonderes. Die Augen fest geschlossen und hingebungsvoll an ihn geschmiegt, war Cassie zum allerersten Mal nur Frau. Wyatt fühlte, wie sie sich an ihn drängte, fühlte die zögernde Reaktion ihres Mundes unter seinem. Er löste sich von ihr, erstaunt über ihre Stärke, verblüfft über seine Hilflosigkeit. Ratlos schloss er die Augen und rang um Fassung, und als er die Lider wieder aufschlug, starrte Cassie blicklos geradeaus - ein Bild hoffnungsloser Verwirrung. Es hätte nicht passieren dürfen. Bis zu diesem Tag war es noch nie passiert und war auch nicht beabsichtigt gewesen. Dabei war er vorbereitet gewesen. Gewarnt durch seinen Fehler am Nachmittag, hatte er sich mit Entschlossenheit gewappnet und gegen die Reize dieser Frau immun geglaubt. Er hatte sich ständig ermahnt, dass sie eine Patientin und somit tabu war. Aber dann hatte ihre Hand seine Wange berührt, und ihr Gesicht war nur Zentimeter von seinem entfernt gewesen. Sie hatte erwartungsvoll den Kopf gehoben, ihn mit Augen gestreichelt, die nicht sehen konnten, und ihn schier um den Verstand gebracht. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, hatten ihrer beider Lippen sich gefunden, und es war zu spät gewesen. Reumütig und verärgert zugleich kämpfte er gegen Emotionen, die er sich nicht erklären konnte. Für sie war alles ganz natürlich gewesen. Sie hatte instinktiv gehandelt, ohne daran zu denken, dass sie eine professionelle Beziehung wahren mussten. Glücklicherweise schien ihr nicht bewusst zu sein, dass er in seiner Verantwortung als ihr Psychiater versagt hatte. Er hatte nicht nur zum zweiten Mal an einem Tag ihr Verhältnis gefährdet, sondern darüber hinaus das Vertrauen einer jungen Frau missbraucht, die so naiv war, dass sie den Reaktionen ihres eigenen Körpers hilflos ausgeliefert war. „Ich brauche mein Jackett", erklärte er und schämte sich gleich darauf, weil es ihm nicht gelungen war, den Zorn aus seiner Stimme herauszuhalten.
„Es tut mir Leid", wisperte sie, aufgewühlt von dem soeben Erlebten. Sie verstand weder den Kuss noch Wyatts Feindseligkeit. „Es gibt nichts, wofür Sie sich entschuldigen müssten. Schließlich ist es nicht Ihre Schuld, dass ich meine Reaktion auf Sie nicht unter Kontrolle habe." Wovon redete er? Er hatte seine Reaktion auf sie nicht unter Kontrolle? Gab es womöglich etwas, das ihre Blindheit wettmachte? Etwas, das einen Mann anzog, ihn fesselte und sogar die Beherrschung verlieren ließ? Die bloße Vorstellung war atemberaubend. Zum ersten Mal seit dem Unfall verspürte sie einen Anflug von Selbstrespekt. „Ich sehe Sie morgen beim Frühstück", sagte er. „Beim Frühstück", wiederholte sie lächelnd und wandte sich zum Haus. Wyatt blieb allein zurück, die Hände frustriert zu Fäusten geballt. Er beobachtete, wie sie die Stufen hinauf zur Veranda zählte. Unter anderen Umständen hätte er sich über ihre wachsende Selbstsicherheit gefreut.
6. KAPITEL
Cassie beugte sich über den Frisiertisch und strich mit den Fingern über den Spiegel. Wie sah sie aus? Würde sie es je erfahren? Maggies Weckruf um sieben hatte sie eine halbe Stunde nach dem Aufstehen erreicht, und jetzt, um halb acht, war sie bereit, zum ersten Mal allein hinunterzugehen. „Möchten Sie mit mir Kaffee trinken, Maggie?" hatte sie am Telefon gefragt. „Ich kann in einer halben Stunde unten sein, dann haben wir noch ein bisschen Zeit, bevor Dr. Field eintrifft." Vielleicht dauert es allerdings auch dreißig Minuten, bis ich den Speisesaal gefunden habe, überlegte sie, verdrängte jedoch rasch die Zweifel. Am Vorabend war sie schließlich auch auf ihr Zimmer gekommen. Noch ein paar Tage, und sie würde sich hier wie zu Hause fühlen. Sie schloss die Tür hinter sich und zählte zwanzig Schritte den Flur entlang bis zur Treppe. Der Schmerz in den Fingerknöcheln ließ sie zusammenzucken. Sie hatte das Ziel verfehlt. Also ging sie zwei Schritte zurück und fand das Geländer. Das Schrittezählen funktioniert nämlich nur, wenn die Schritte jedes Mal exakt die gleiche Länge haben Sehende ahnen nicht, wie drastisch die jeweilige Stimmung die Schrittlänge beeinflussen kann. An diesem Morgen war Cassie glücklich, und daher waren ihre Schritte auch zu lang. Vorsichtig bewegte sie sich die geschwungene Treppe hinunter und blieb an deren Fuß stehen, um sich zu orientieren. Sie erinnerte sich, am Vortag eine freie geflieste Fläche überquert zu haben. Mit kurzen Schritten tastete sie sich zur Wand vor und wandte sich nach rechts, die linke Hand auf die hüfthohe Täfelung gelegt. Cassie lief weiter, bis sie den Duft von Kaffee und Farn wahrnahm. Geschickt umging sie den großen Pflanzkübel, drehte sich nach links. Vor ihr lag der breite Durchgang zum Speisesaal. Maggie wollte gerade einen Schluck Kaffee trinken, als sie die zierliche Gestalt an der Tür bemerkte. Eine weniger selbstsichere Frau als Maggie O'Shea wäre bei diesem Anblick vermutlich neidisch geworden. Cassies kindliche Unschuld spiegelte sich auf ihrem makellosen Gesicht wider und weckte Maggies Beschützerinstinkt. Das blinde Mädchen strahlte eine solche Vorfreude aus, als habe ihm die Welt soeben etwas so Wundervolles geschenkt, dass es nun kaum erwarten konnte, was als Nächstes geschehen würde. Lächelnd stellte Maggie die Tasse wieder ab und nickte zufrieden, als Cassie sofort den Kopf in Richtung des leisen Klirrens wandte. Zielstrebig bahnte Cassie sich den Weg vorbei an den willkürlich im Raum verteilten Tischen. Als sie endlich den Stuhl gegenüber Maggies erreicht hatte, atmete sie erleichtert auf. „Okay, Maggie. Sie können sich jetzt wieder normal bewegen. Ich weiß, dass Sie hier sind." Maggie lachte und berührte Cassies Hand. „Das haben Sie sehr gut gemacht. Beinahe anmutig. Wo ist die schüchterne, ängstliche Blinde von gestern geblieben?" Cassie setzte sich und beugte sich vor. „Ich bin ja so froh, dass ich hier bin", begann sie euphorisch. „Es ist so viel Wundervolles passiert!" Ihre Begeisterung war ansteckend. „Ich habe gestern den Weg vom Fluss zurück gefunden, ich bin nach dem Dinner draußen spazieren gegangen, ich bin heute zu Ihrem Tisch gelangt, ohne mir ein Bein zu brechen, und..." Sie verstummte, weil sie nicht imstande war, ihre Freude über das Erreichte in Worte zu fassen. Außerdem wollte sie nicht verraten, welcher Entdeckung sie ihre gute Laune in erster Linie verdankte. Ein Mann hatte auf sie als Frau reagiert - nicht als Blinde, sondern nur als Frau. Selbst die warmherzige, sensible Maggie würde nie begreifen, was das für Cassie bedeutete. Stirnrunzelnd füllte Maggie Cassies Tasse. Es war immer das Gleiche: die überschwängliche Phase, wenn sie zum ersten Mal etwas ganz allein gemeistert hatten. Der Vorgeschmack von Freiheit und Unabhängigkeit war für die Blinden berauschend, und
solange sie darin schwelgten, erschien ihnen alles möglich. Arme Cassie. Der Glanz würde rasch verfliegen, wenn sie merkte, dass sie erst am Anfang stand und das Schlimmste noch vor ihr lag. Um zu vermeiden, dass Cassie allzu abrupt in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde, versuchte Maggie, sie auf Rückschläge vorzubereiten. „Sie haben viel geschafft, aber nun wird es schwieriger. Wyatt wird immer mehr von Ihnen fordern und Dinge erwarten, die unmöglich scheinen." „Das ist unwichtig, Maggie. Ich kann jetzt alles tun, aber das verstehen Sie nicht." Dann wechselte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung das Thema. „Reden wir nicht mehr über mich, erzählen Sie mir von sich." Verwundert zog Maggie die Brauen hoch. Die Schüler interessierten sich nur höchst selten für das Privatleben des Personals. „Was wollen Sie wissen?" erkundigte sie sich zögernd. „Nun ..." Cassie konnte ihre Neugier kaum zügeln. „Wo wohnen Sie? Was tun Sie, wenn Sie nicht hier arbeiten? Haben Sie einen Freund oder einen Ehemann? Mögen Sie Tiere?" Sie lachte. „Einfach alles, Maggie. Erzählen Sie mir alles." Maggie war ein wenig ratlos. Zum ersten Mal hatte sie bei einem ihrer Schützlinge das Gefühl, sich ihm wie einer Freundin anvertrauen zu können. „Ich lebe in einem kleinen Cottage ungefähr eine Meile von hier entfernt", begann sie. „Allerdings verbringe ich dort nur die Wochenenden. Ansonsten wohne ich hier, das gehört zu meinem Job. Das Haus hat Fensterläden, Blumenkästen und einen Holzzaun um den Garten." „Und wie verbringen Sie dort die Wochenenden?" Cassie brannte darauf, mehr aus dem Leben eines anderen Menschen zu erfahren und ihren Wissensdurst zu stillen. Früher hatte sie nie eine Chance dazu gehabt, weil sie niemanden außerhalb ihres begrenzten Kreises getroffen hatte. Beide Frauen lachten über eine Anekdote, als Wyatt an der Tür auftauchte. Maggie bemerkte ihn sofort, und ihre Heiterkeit wich verblüffter Verwirrung. Er trug saubere Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover, war jedoch unrasiert. Offenbar hatte er die übliche Sorgfalt auf seine Garderobe verwandt, dann aber vergessen, sich zu rasieren. Eine solche Achtlosigkeit sah ihm absolut nicht ähnlich. Cassie wunderte sich, warum Maggie mitten im Satz verstummt war. „Guten Morgen, Wyatt", begrüßte Maggie ihn mit einem fragenden Blick. Bei der Erwähnung seines Namens begann Cassie zu strahlen und wandte sich in seine Richtung. „Guten Morgen", rief sie fröhlich. Ein düsterer Schatten huschte über sein Gesicht. Wyatt näherte sich dem Tisch zögernd, beinahe widerwillig. Neben Maggie blieb er stehen. „Haben Sie sie heute wieder angezogen, oder hat sie das ganz allein geschafft?" fragte er schroff. Er ignorierte Cassies Anwesenheit, als wäre sie nicht nur blind, sondern auch taub. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie nicht geführt werden soll. Es ist unverkennbar, dass Sie sie hergebracht haben, sonst hätte sie nämlich eine Spur umgeworfener Stühle zurückgelassen." Empört über die unverdiente Zurechtweisung, schnappte Maggie nach Luft. Sie war nicht gewöhnt, vor Patienten getadelt zu werden. Mit hochrotem Kopf sprang sie auf. „Cassie", begann sie ruhig, den Blick unverwandt auf Wyatt gerichtet, „ich weiß genau, wann ich den Mund halten muss. Falls ich jetzt etwas sage, werde ich es später bereuen. Ich überlasse es Ihnen, die Sache klarzustellen." Ihre feuerroten Locken tanzten, als sie hinauseilte. Wyatt schaute ihr kurz hinterher, dann setzte er sich auf den Stuhl, den Maggie freigemacht hatte. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und blickte zu Cassie hinüber. Sie trug einen leichten, schimmernden Pullover, der die Farben ihrer Augen betonte. Wyatts Verärgerung wuchs, er hatte das Gefühl, jedes von Cassies Kleidungsstücken würde nur dem Zweck dienen, ihn zu erregen. „Guten Morgen, Miss Winters", grüßte er kühl.
„Sie müssen sich bei Maggie entschuldigen", meinte sie schüchtern. „Ich habe mich selbst angezogen und den Weg zu diesem Tisch ganz allein gefunden. Maggie hat dort gewartet, wo Sie jetzt sitzen. Sie hat mir nicht ein Mal geholfen." „Ich werde dafür sorgen, dass Sie beide einen Orden bekommen", versprach er verächtlich. „Und nun lassen Sie uns das Frühstück bestellen, damit wir endlich mit Ihrer Behandlung fortfahren können. Wie ich bereits erwähnte, sind Sie nicht hier, um Freundschaften zu schließen, sondern um zu lernen." Seine unverhohlene Feindseligkeit brachte sie vollends aus der Fassung. In der letzten Nacht hatte sie eine Stunde wach gelegen und über das unberechenbare Benehmen dieses Mannes nachgedacht. Am Ende war sie zu einer beglückenden Schlussfolgerung gelangt: Der Zwischenfall am Fluss war genauso wenig Teil der Therapie wie die Episode am Abend. Aus einem unerfindlichen Grund fühlte Dr. Field sich zu ihr hingezogen, und von nun an würde sich in den gemeinsamen zwei Wochen eine ganz besondere Beziehung entwickeln vielleicht sogar eine dauerhafte -, und es würde keine weiteren Spannungen zwischen ihnen geben. Leider hielt er sich nicht an das von ihr erhoffte Szenario. Seine Stimmung verriet, dass ihn mehr bewegte als nur unterschwelliger Zorn, weil er am Vortag die Beherrschung verloren hatte. Unerklärlicherweise hasste er sie. Cassie merkte, wie sich ihre mühsam erworbene Selbstsicherheit verflüchtigte. Du dummes, blindes Ding, schalt sie sich im Stillen. Wie konntest du dir nur je einbilden, einem solchen Mann zu gefallen? Mit grimmiger Genugtuung beobachtete Wyatt, wie ihre Verwirrung blanker Resignation wich. Heute war es leicht. Grausam zu sein war leicht. Die unterschiedlichsten Emotionen spiegelten sich auf ihren Zügen wider, und er genoss ihr Leiden, denn er hasste sie. Im Moment hasste er leidenschaftlicher, als er je zuvor gehasst hatte. Er verabscheute die Macht, die sie über ihn ausübte und mit der sie ihn zwei Mal an einem Tag dazu gebracht hatte, beinahe völlig die Kontrolle über sich zu verlieren. Er hasste ihre Fähigkeit, ihm den Seelenfrieden zu rauben, sich in seine Träume zu schleichen, seine Gedanken zu beeinflussen und ihn zu veranlassen, seine Kompetenz als Psychiater infrage zu stellen. Ein schwächerer Mann als er hätte den Fall abgegeben. Doch damit hätte er seine Niederlage eingestanden, und Wyatt Field gab sich nicht so leicht geschlagen. Stattdessen wählte er den selbstquälerischen Weg, nahezu jede Stunde der nächsten vierzehn Tage in ihrer Gesellschaft verbringen und dabei professionelle Distanz wahren zu müssen. Koste es, was es wolle, er würde seine erschreckend starken Emotionen abtöten, die in Cassie Winters' Seele verborgenen Geheimnisse aufdecken und sie zwingen, wieder zu sehen. Schweigend nahmen sie das Frühstück ein. „Was wissen Sie noch von Ihrer Mutter?" fragte er unvermittelt, als die Teller von einer Angestellten abgeräumt wurden, die Cassie nicht identifizieren konnte. „Wo ist Helen?" „Sie fängt erst um elf an, aber die Dienstzeiten des Personals brauchen Sie nicht zu interessieren. Ich habe Ihnen eine Frage gestellt." Sie biss sich auf die Lippe. „Warum sind Sie so böse mit mir? Was habe ich falsch gemacht?" Er lachte kalt. „Glauben Sie, mein gesamtes Leben dreht sich um Cassie Winters? Muss der Grund meines Verhaltens unbedingt etwas mit Ihnen zu tun haben? Sie müssen allmählich lernen, dass Sie nicht für jeden Menschen der Mittelpunkt der Welt sind." Die Zurückweisung war zu schroff. Eine erfahrenere Frau hätte das erkannt, doch für Cassie kamen diese Worte einer Ohrfeige gleich. Verlegen senkte sie den Kopf. „Sind alle Blinden so selbstbezogen, oder bin nur ich es?"
Wyatt wappnete sich innerlich gegen die Verzweiflung in ihrer Stimme und machte sich gleichzeitig schwere Vorwürfe. Obwohl er wusste, dass er zu hart mit ihr umging, war er unfähig, sich zu mäßigen. Falls er auch nur ein bisschen einlenkte, wäre er außer Stande, sie zu behandeln. „Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter", beharrte er. Cassie ließ die Schultern sinken. „Sie war schön", flüsterte sie, den Blick auf einen Punkt in ferner Vergangenheit gerichtet. „Alles an ihr war sanft und still. Ihre Augen, ihr Lächeln, ihre Stimme. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je laut geworden wäre. Nicht ein einziges Mal. Ungewöhnlich, nicht wahr?" Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und Wyatt erkannte, dass sie nicht mehr zu ihm sprach, sondern laut ihren Gedanken nachhing. „Ich weiß noch, wie ich einmal eine kleine Schlange auf dem Feld hinter unserem Haus gefangen und meiner Mutter gebracht habe, die auf einem Gartenstuhl saß. Da sie Angst vor Schlangen hatte, bin ich ihr nicht zu nahe gekommen und habe ihr das Tier nur entgegengestreckt, um es ihr zu zeigen. Sie hat erst das Reptil und dann mich angeschaut. Lächelnd hat sie mir erklärt, das Tierchen wäre sehr hübsch, aber eindeutig verschreckt. Ich solle es behutsam absetzen, damit es zu seiner Familie zurückkehren könne." Amüsiert schüttelte Cassie den Kopf. „Gemeinsam haben wir beobachtet, wie die Schlange davonglitt. Erst danach ist meine Mutter aufgesprungen, zu mir gelaufen und hat mich zum Haus getragen. In den folgenden Wochen haben wir so lange Reptilienbücher studiert, bis sie sicher sein konnte, dass ich nie wieder eine Mokassinschlange anfassen würde." „Gütiger Himmel!" Wyatts spontaner Ausruf schien sie noch mehr zu erheitern. „Sie war wirklich erstaunlich und hat immer das Richtige getan." Er überlegte, wie viel Kraft es die Frau gekostet haben musste, nicht laut aufzuschreien, als sie die Giftschlange in der Hand ihrer Tochter bemerkte. „Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrer Mutter?" „Es war sehr eng. Ich wollte nie woanders sein als bei ihr - und natürlich bei meinem Vater. Wir standen uns alle nahe, doch meine Beziehung zu Mom war etwas Besonderes. Sie war nicht nur meine Mutter, sondern meine Bezugsperson." Plötzlich war es Cassie ungemein wichtig, ihn von den Vorzügen dieser vor fast zwanzig Jahren verstorbenen Frau zu überzeugen. „Sie war immer da, hatte stets ein offenes Ohr für mich, als wäre das, was ich zu sagen hatte, das Interessanteste auf der Welt." Sie seufzte. „Können wir jetzt über etwas anderes reden?" Der flehende Ausdruck in ihren Augen traf Wyatt wie ein Messerstich. „Wohin fuhren Sie in der Nacht des Unfalls?" fragte er rau. „Ich ... weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern." „Sprechen wir über den Tag. Was haben Sie an dem Tag gemacht?" Ihr Verstand wehrte sich dagegen, die lang verdrängten Bilder heraufzubeschwören. Cassie war den Tränen nahe. „Ich habe Klavier geübt. Mom und ich haben morgens immer Klavier geübt. Sie hat mich unterrichtet." „Welches Stück haben Sie an jenem Morgen geprobt?" Sie umklammerte die Serviette, bis die Haut sich weiß über ihren Fingerknöcheln spannte. Auf einmal meinte sie, die Melodie zu vernehmen, zunächst schwach, überlagert von einem schrillen Klingeln, dann deutlicher und lauter, bis die harmonischen Akkorde das Klirren übertönten. Verzweifelt presste sie die Hände auf die Ohren, um gegen die kreischenden Dissonanzen anzukämpfen, die ihr die Trommelfelle zu sprengen drohten. Sie musste schreien, damit Wyatt sie hörte. „Beethoven! Die Mondscheinsonate!" So unvermittelt, wie er begonnen hatte, verstummte der Lärm in ihrem Kopf. Cassie ließ verblüfft die Hände sinken. Im Speisesaal herrschte Totenstille, alle Anwesenden schienen den Atem anzuhalten. Die Ruhe war geradezu furchteinflößend. „Ich wusste es nicht", wisperte sie fassungslos. „Ich spiele nie Beethoven."
„Lassen Sie uns spazieren gehen, Cassie." Ohne es zu merken, hatte er ihren Vornamen benutzt. Getrieben von einer unerklärlichen Energie, sprang Cassie auf. Ihr Gesicht war blass, die Augen vor Panik geweitet. Sie wandte sich zur Flucht aus diesem Raum und vergaß dabei völlig, dass Blinde niemals überstürzt flohen. Der Drang, dem Unbekannten zu entrinnen, war jedoch so übermächtig, dass er jeden klaren Gedanken ausschloss. Sie stieß frontal gegen einen gedeckten Tisch, machte einen Schritt zur Seite und stolperte prompt über einen Stuhl. Ohne auf den Schmerz zu achten, stürmte sie weiter. Fort von dem, was die quälenden Erinnerungen weckte, fort von dem Mann, der sie zwang, sich an das zu erinnern, was ihr Verstand unbedingt im Dunkeln halten wollte. Wie in Trance registrierte sie, dass sie mit der Hüfte gegen etwas Hölzernes, Unnachgiebiges prallte, und stemmte sich mit aller Kraft dagegen, bis Wyatts Stimme zu ihr durchdrang. „Cassie! Stopp!" Sie spürte seine Hände auf ihren Armen, wurde an Tischen und Stühlen vorbeigeschoben, hinaus in die Halle, über die Veranda und die Stufen hinunter. Draußen angekommen, atmete sie die Morgenluft tief ein und versuchte, ein Frösteln zu unterdrücken, das selbst der warme Sonnenschein nicht vertreiben konnte. Schweigend wartete Wyatt, bis sie sich wieder gefangen hatte. Am liebsten hätte er sie in die Arme geschlossen. „Nun", sagte sie verlegen, „auf diese Szene werde ich wohl kaum mit Stolz zurückblicken." „Das sollten Sie aber", entgegnete er sanft. „Und Sie werden es auch noch tun. Wir müssen darüber reden." „Bitte nicht." „Leider bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Sie wurden soeben mit einem Bruchstück der Vergangenheit konfrontiert, das Ihr Verstand lange verdrängt hat, und Sie haben die Situation gemeistert. Darauf können Sie stolz sein. Es ist ein Anfang. Sie können den Prozess nicht aufhalten." „Vielleicht ist Blindsein besser", meinte sie. „Wenn schon die Erinnerung an ein Klarvierstück so niederschmetternd ist, muss der Rest unerträglich sein." „Das war es - für die Seele eines Kindes. Aber jetzt sind Sie eine erwachsene Frau und in der Lage, Dinge zu akzeptieren, die Sie damals zerstört hätten. Außerdem ist es vielleicht gar nicht so schrecklich, wie Sie denken." Sie seufzte resigniert. „Können Sie das garantieren?" „Nein, natürlich nicht. Es ist jedoch die einzige Chance, die Sie haben. Also los." Betont munter fügte er hinzu: „Versprechen Sie mir, die Schuhe anzubehalten, wenn wir nun zum Fluss gehen?" Cassie lächelte, und Wyatt beobachtete fasziniert, wie sämtliche Spuren des Entsetzens von ihrem Gesicht verschwanden, als hätten sie nie existiert. Sie besaß die Neugier und Naivität eines Kindes, und das war gut so. Da sie sich allerdings so rasch von der ersten aufwühlenden Begegnung mit der Vergangenheit erholt hatte, beschloss er, die Therapie voranzutreiben. „Wenn ich es mir recht überlege, sollten wir woandershin gehen. Zur Hauptstraße beispielsweise." „Zur Hauptstraße?" wiederholte sie unbehaglich. Wie alle Blinden fürchtete sie das Neue. „Warum nicht zum Fluss? Dort war es recht angenehm, und ich kenne den Weg." „Genau deshalb wählen wir ein anderes Ziel", erklärte er nachdrücklich. „Und nun bringen Sie uns zur Landstraße." Nach kurzem Überlegen streckte sie die Hand aus, um nach seinem Arm zu tasten. „Nein", rief er so schroff, dass sie einen Schritt zurückwich. „Allein!" Statt jedoch mit gleicher Schärfe zu reagieren, machte sie eine bekümmerte Miene. Kämpfe, verdammt! befahl er ihr im Stillen. Steh nicht einfach nur so da! Wehr dich!
Er zwang sich zu einem boshaften Tonfall. „Was ist los, Miss Winters? Können Sie denn gar nichts allein? Vielleicht hatten Sie ja Recht. Vielleicht sollten Sie Windrow verlassen und in Ihren Kokon an der Park Avenue zurückkehren. Ich brauche ohnehin ein wenig Urlaub. Es langweilt mich, den Babysitter zu spielen." Cassies Miene wurde ausdruckslos. „Na schön, Dr. Field. Zur Hauptstraße. Möglicherweise habe ich Glück, und Sie geraten unter einen Lastwagen." Wyatt lächelte zufrieden. Sie überquerte den Gehweg, bis sie die Bordsteinkante spürte. Vorsichtig stieg sie auf die Fahrbahn und begann, mit kurzen, zögernden Schritten zu laufen, wobei sie sich an der steinernen Schwelle orientierte. Wyatt folgte ihr und fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, bis die Furcht vor dem Marsch ins Nichts sie stoppen würde. Es dauerte länger, als er erwartet hatte. Sie hatten schon fast die Hälfte der Auffahrt zurückgelegt, die von der Hauptstraße nach Windrow führte, bevor Cassie innehielt. „Weiter kann ich nicht", sagte sie. „Es ist unmöglich." „Sie sind fast dort. Gehen Sie weiter." Sie machte noch einen Schritt, dann blieb sie wieder stehen. „Nein. Sie wissen nicht, worum Sie mich bitten." Ihre Stimme bebte leicht. „Ich bitte nicht, ich verlange. Und nun los." „Nein!" schrie sie und drehte sich um. „Wozu?" „Weil Sie Angst haben." „Natürlich habe ich Angst. Ich laufe in ein schwarzes Loch! In eine endlose Leere! Das würde jeden erschrecken. Warum begreifen Sie das nicht?" „Ich begreife nur zu gut, Miss Winters", versicherte er ruhig. „Sie fürchten sich vor der Zukunft, vor der Vergangenheit und vor einem harmlosen Bummel über eine Landstraße. Sie fürchten sich vor allem. Mit anderen Worten, Sie fürchten sich vor dem Leben. Ich verstehe nicht, warum Sie sich nicht schon längst umgebracht haben." Fassungslos starrte Cassie ihn an. „Sie sind abscheulich", flüsterte sie. „Sie besitzen überhaupt keine Gefühle. Nichts berührt Sie. Sie sind derjenige, der Selbstmord begehen sollte, nicht ich. Wofür, um alles in der Welt, leben Sie?" fügte sie kopfschüttelnd hinzu. Wyatt ließ ihre Vorwürfe an sich abprallen. Er spürte, dass sie allmählich anfing, ihn zu verabscheuen, und das gefiel ihm. Plötzlich hatte sie eine Eingebung. „Sie hassen uns Blinde", wisperte sie schockiert. „Und diesen Hass können nicht einmal Sie kontrollieren. Er hat Sie hart gemacht." Er zuckte leicht zusammen. „Es ist ein Berufsrisiko, wenn man ständig mit Leuten wie Ihnen zu tun hat", erwiderte er lässig. „Nutzlose Menschen, die pausenlos Ansprüche stellen und ein sinnloses Leben führen." Als er sah, wie sie die Schultern straffte, um seine Beleidigungen mit unerschütterlicher Ruhe zu erdulden, ließ er seine Stimme noch verächtlicher klingen. „Sie belasten Ihre Familien und Freunde mit Ihrer Hilflosigkeit und schwelgen im Mitgefühl, das Fremde Ihnen entgegenbringen. Aus Furcht vor dem Unbekannten wenden Sie sich von den Menschen ab, die Sie brauchen - so lange, bis die Außenwelt für Sie gar nicht mehr existiert. Sie tun nur noch so, als wären Sie am Leben!" Es dauerte eine Weile, bis Cassie die ganze Tragweite seiner Worte erfasst hatte. Ein therapeutischer Trick, redete sie sich ein. Er versucht lediglich, mich zu provozieren. Ein Teil von ihr glaubte daran, doch ihre durch die Blindheit geschärften Sinne sagten ihr, dass er es unterbewusst - ernst meinte. Wyatt Field hasste Blinde oder zumindest diejenigen, die sich nicht selbst helfen wollten. „Welcher Blinde hat Sie so sehr verletzt?" Er traute seinen Ohren kaum. Ihre intuitive Frage hatte ihn wie ein Faustschlag getroffen. Niemand, auch nicht seine Kollegen, ahnte etwas von der blinden Frau in seiner Vergangenheit, und nun erriet ein Mädchen, das ihn erst einige Stunden kannte, was er so verzweifelt zu verbergen suchte. Ihm war, als könnte sie seine geheimsten Gedanken lesen -
eine erschreckende Vorstellung. In einer Beziehung, in der einer die Motive des anderen spürte, gab es keine Privatsphäre. Dies war einer der Gründe, weshalb Wyatt nie eine feste Bindung eingegangen war. Geschickt wechselte er das Thema. „Machen Sie Ihren Vater für den Tod Ihrer Mutter verantwortlich?" „Nein." „Geben Sie sich selbst die Schuld?" „Nein!" „Erinnern Sie sich, mit Ihrer Mutter im Wagen gesessen zu haben? Hat sie geschrien? Oder Sie?" Seine Fragen kamen wie aus der Pistole geschossen. „Nein. Nein. Nein." Verunsichert wich sie vor ihm zurück und wartete zitternd, dass er das Verhör fortsetzte. Zu ihrer Überraschung herrschte jedoch Schweigen, und allmählich drangen die Geräusche der Umgebung wieder in ihr Bewusstsein: zwitschernde Vögel, raschelnde Blätter und das Zirpen der Grashüpfer. „Lassen Sie uns umkehren", sagte er plötzlich, doch sie rührte sich nicht von der Stelle. Sie konnte nicht umkehren. Nicht mehr. Es gab kein Zurück. „Ich gehe zur Straße", erklärte sie entschlossen. Wyatt folgte ihr wortlos.
7. KAPITEL
Cassie saß über den Tisch in ihrem Zimmer gebeugt. In der einen Hand hielt sie die BrailleTafel, in der anderen einen Stift. Geschickt tastete sie mit den Fingern nach den Buchstaben und schrieb durch die vorgestanzten Öffnungen. Liebe Mrs. Carmody, ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich Sie vermisse. Windrow ist schön - zumindest fühlt es sich schön an -, und die Ärzte hier meinen, es bestehe noch immer eine Chance, dass ' ich wieder sehen kann. Falls dies passiert, sind unsere Probleme gar nicht mehr so unüberwindlich. Bitte treffen Sie noch keine endgültigen Entscheidungen. Nach meiner Entlassung bleiben uns noch drei Monate, bevor der Mietvertrag ausläuft. Wir haben also genug Zeit zum Planen. Das Geld wird solange reichen. Grüßen Sie Robert von mir. Seufzend lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück. Natürlich machte sie sich etwas vor. Selbst wenn sie ihr Sehvermögen wiedererlangte, wie sollte sie Mrs. Carmody bezahlen? Welchen Job könnte sie finden, der es ihr erlaubte, eine Haushälterin zu beschäftigen? Cassie lächelte versonnen. Mrs. Carmody als Haushälterin zu bezeichnen war eigentlich eine schamlose Untertreibung. Zugegeben, sie war für diesen Posten engagiert worden, als Cassie noch ein Baby war. Die steife, ordentliche, unbeugsame Mrs. Carmody. Nach dem Unfall war sie jedoch für Cassie und ihren Vater zu einem sicheren Hafen geworden. Diese spröde, reservierte Frau hatte sich vergeblich bemüht, Cassie die Mutter zu ersetzen, die Augen und die Freunde, die sie nie haben würde. Und dann war jener unglaubliche Tag nach dem Tod des Vaters gekommen, als die Anwälte Cassies Welt endgültig zerstörten. Mrs. Carmody war wie immer bei ihr gewesen. „Ich habe es versucht, Miss Winters", hatte der Anwalt sich entschuldigt, „aber es war sinnlos. Ihr Vater hat nach dem Unfall nicht mit sich reden lassen. Als junger Mann verfügte er über ein ansehnliches Vermögen, und mit einiger Sorgfalt wäre es im Laufe der Jahre gewachsen. Obwohl er nach dem Unfall nicht mehr als Jurist tätig war, wäre bei sorgfältiger Verwaltung heute genug übrig, um Ihnen ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen." Er räusperte sich. „Leider hat er sich geweigert, seinen Lebensstil zu ändern. Kurz, seine Extravaganzen waren finanzieller Selbstmord. Selbst wenn er noch leben würde, wäre es so nicht weitergegangen. Er hatte bereits die meisten seiner Lebensversicherungen beliehen. Lediglich eine kleine Police hat ihn vor dem Bankrott gerettet." „Demnach ist nichts übrig", warf Mrs. Carmody nüchtern ein. „Cassie erbt nichts." „Nur einen bescheidenen Treuhandfonds, den ihre Mutter vor vielen Jahren eingerichtet hat. Dieses Geld konnte er nicht antasten. Es ist noch immer vorhanden und hat Zinsen angesammelt. Nicht viel, aber wenigstens etwas." Er nannte die Summe, aber Cassie hörte ihm nicht zu. Sie wusste nichts über Finanzdinge, weil sie sich nie damit hatte befassen müssen. Geld war stets da gewesen, und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass es eines Tages anders sein könnte. „So viel zum liebenden Vater", bemerkte Mrs. Carmody verächtlich. „Und ich habe den Mann noch bedauert!" „Glauben Sie mir, er hat Ihr Mitgefühl verdient", entgegnete der Anwalt. „Nach dem Unfall war er nicht mehr der Alte. Meiner Meinung nach war ihm nicht klar, was er tat." „Das hilft Cassie auch nicht, oder?" Sie wandte sich zu ihrem sichtlich schockierten Schützling um. Es war zwecklos, einen Toten zu beschimpfen. „Es ist nicht so schlimm, wie es scheint, Cassie. Es reicht beispielsweise, um Ihre Behandlung auf Windrow zu bezahlen. Vielleicht kann man Sie dort kurieren. Danach bleibt sogar etwas übrig. Wir werden natürlich das Personal entlassen und dadurch sparen. Ich suche mir eine andere Stellung, werde jedoch nicht in dem Haushalt wohnen. Sie und ich werden irgendwo ein kleines Apartment mieten. Wir kommen schon zurecht, warten Sie's nur ab."
In der Woche, die seit der schicksalhaften Unterredung vergangen war, hatte Cassie sich immer wieder vor Augen gehalten, dass ihr Vater sie geliebt hatte. Er war lediglich schwach und einsam gewesen, und das konnte man ihm schwerlich vorwerfen. Inzwischen hatte sie erkannt, dass er durch den Unfall schwerer gestraft worden war als sie. Er hatte sie als Vorwand benutzt, um sich in ein schützendes Schneckenhaus zurückzuziehen, in dem er den Rest seines Daseins verbringen konnte, ohne an die Vergangenheit erinnert zu werden. Der Tod war für ihn eine Erlösung gewesen. Seit dem Unglück hatte er nur dahinvegetiert und keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, was er Cassie mit seinem Rückzug aus dem Leben antat. Sie erinnerte sich, Dr. Field gesagt zu haben, dass sie ihren Vater geliebt hatte. Inzwischen wusste sie jedoch, dass der Vater, den sie geliebt hatte, seit achtzehn Jahren tot gewesen war und nicht erst seit zwei Wochen. Wyatts Worte hallten in ihren Ohren wider. Aus Furcht vor dem Unbekannten wenden Sie sich von den Menschen ab, die Sie brauchen - so lange, bis die Außenwelt für Sie gar nicht mehr existiert. Cassie lächelte bitter. Er hatte die Blinden gemeint, aber stattdessen ihren Vater beschrieben und nicht sie. Ihr einziger Fehler hatte darin bestanden, einer leeren Hülle zu vertrauen, die ihr nichts mehr zu geben hatte. Nie wieder würde sie sich auf einen anderen Menschen verlassen! Sie tastete über die erhabenen Symbole auf ihrer Armbanduhr und machte sich bereit, zum Lunch hinunterzugehen. Nach dem schrecklichen Ausflug zur Straße hatte Dr. Field ihr eine Stunde freigegeben, und die Zeit war fast um. „Gütiger Himmel, Wyatt! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du hast durchgemacht." Stirnrunzelnd beobachtete Dr. Franklin, wie der jüngerer Mann das Büro betrat und sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken ließ. „Hat dir heute schon jemand gesagt, dass du vergessen hast, dich zu rasieren, oder willst du dir einen Bart wachsen lassen?" Wyatt rieb erstaunt über sein raues Kinn. „Ist mir gar nicht aufgefallen. Ich hatte es heute Morgen eilig." Schmunzelnd lehnte Dr. Franklin sich zurück. „Führt der rätselhafte Dr. Field tatsächlich ein geheimes Nachtleben?" „Ich habe letzte Nacht gearbeitet." Die Antwort klang so scharf, dass Dr. Franklin verblüfft die Brauen hochzog. „Entschuldige", fügte Wyatt rasch hinzu. „Ich habe einige ... ungewöhnliche Probleme." „Möchtest du darüber reden?" „Nein. Ich bin nur vorbeigekommen, um mich zu erkundigen, ob du einen Fall wie den von Miss Winters gefunden hast." Matt seufzte. „Bislang nicht, aber ich habe im ganzen Land angefragt. Falls es je etwas Ähnliches gegeben hat, werde ich davon erfahren. Du tappst völlig im Dunkeln, nicht wahr?" Wyatt sprang auf und begann, rastlos im Zimmer auf und ab zu laufen. „Ich bin nicht sicher, wie ich sie behandeln soll - zumindest nicht ohne Anhaltspunkte. Solange ich mich nicht an den Erfahrungen anderer orientieren kann, bin ich auf Vermutungen angewiesen. Was, wenn ich sie zu sehr dränge und sie ihr Geheimnis, was immer es sein mag, für alle Ewigkeit in sich verschließt? Was, wenn ich nicht hartnäckig genug bin und wir nichts erreichen? Sie wird es kein zweites Mal versuchen." „Dein Instinkt hat dich noch nie getrogen", meinte Matt, beunruhigt über Wyatts Zweifel. „Warum hast du plötzlich Bedenken?" Wyatt blieb vor dem Tisch stehen und entspannte sich ein wenig. „Du hast Recht. Ich habe überreagiert. Die verborgenen Ängste in der Seele eines Menschen ans Tageslicht zu holen ist allerdings etwas anderes, als einem Blinden Selbstvertrauen einzuflößen. Ich habe die Psychiatrie lange Zeit nicht unter diesem Aspekt praktiziert, und nun fehlt mir einfach die Übung."
„Es fällt dir besonders schwer, gerade dieser Patientin wehzutun, oder?" „Du spielst den Psychiater für den Psychiater, Matt." Dr. Franklin zuckte die Schultern. „Tut mir Leid. Hast du bei ihr schon Fortschritte erzielt?" „Vielleicht sogar zu viele. Heute Morgen hat sie sich an etwas erinnert - nur eine Kleinigkeit -, an ein Stück, das sie am Tag des Unfalls auf dem Klavier gespielt hat. Das Ergebnis war allerdings verheerend." „Es ist immerhin ein Anfang." „Oder das Ende. Ich habe sie in einem schwachen Moment erwischt, aber ich fürchte, das wird nicht noch einmal passieren. Falls ihr Verstand eine Abwehr gegen mich aufbaut, habe ich keine Chance." „Bist du sicher, dass du sie nicht zu sehr drängst?" „Nein", erwiderte Wyatt bedrückt. „Ich bin nicht sicher." Er wandte sich zum Gehen, blieb an der Tür jedoch kurz stehen. „Hättet ihr etwas dagegen, wenn ich sie am Freitagabend zum Dinner mitbringen würde, Matt? Ich möchte sie gern in familiärer Umgebung beobachten und sehen, wie sie auf eine Mutterfigur reagiert. Katy ist die beste Mutter, die ich kenne." „Kein Problem. Hoffentlich hilft es. Katy wird sich freuen." „Danke." Nachdem die Tür sich hinter Wyatt geschlossen hatte, blieb Matthew Franklin noch lange am Schreibtisch sitzen. Täuschte er sich, oder hatte tatsächlich ein sonderbarer Unterton in Wyatts Stimme mitgeschwungen? Gewiss, er war ein einfühlsamer junger Mann, aber hatte er sich je zuvor derart um einen Patienten bemüht? War er je so versessen auf Erfolg gewesen, als würde sein eigenes Leben davon abhängen? Nach kurzem Überlegen griff Dr. Franklin nach dem Telefon. Er würde Katy lediglich erzählen, was Wyatt gesagt hatte, nämlich dass er eine Patientin mitbringen würde, um sie in familiärer Atmosphäre zu beobachten. Katy würde unvoreingenommen seinen Verdacht entweder bestätigen oder widerlegen. Ihr Urteil in diesen Dingen war unfehlbar. Cassie wusste sofort, dass Wyatt im Speisesaal war, obwohl die leisen Geräusche, die er beim Eintreten verursacht hatte, vom Stimmengewirr der anderen Gäste übertönt wurden. Mit schlafwandlerischer Sicherheit drehte sie den Kopf in seine Richtung und öffnete erwartungsvoll die Lippen. Seine Anwesenheit spüren zu können war eine faszinierende Erfahrung. Obwohl er kein Wort geäußert und keiner der Anwesenden seinen Namen genannt hatte, wusste sie, dass er hier war - als ob all ihre Sinne auf diesen einen Mann fixiert waren. Wyatt entdeckte sie in rund zehn Meter Entfernung an einem Tisch am anderen Ende des Raums. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sein nahezu lautloses Erscheinen nicht unbemerkt geblieben war. Es befanden sich mindestens ein Dutzend Gäste im Saal, und keiner hatte von ihm Notiz genommen - bis auf eine Person, und die war blind. Aus der Distanz sah sie winzig und überaus verletzlich aus. Sie hatte den Pullover vom Vormittag mit einer leichten Bluse vertauscht. Wyatt ärgerte sich insgeheim, dass ihm dieses Detail überhaupt auffiel. „Ich wusste, dass Sie hier sind", sagte sie schlicht, als er ihr gegenüber Platz nahm. „Kein Wunder", erwiderte er schroff. „Ich habe schließlich nicht versucht, meine Anwesenheit zu verbergen." Beinahe wäre er an dieser Lüge erstickt. „Ich begreife es nicht", beharrte sie jedoch. „Noch bevor Sie den Saal betraten, wusste ich, dass Sie hier sind und mich von der Tür aus beobachten." „Sechster Sinn", erklärte er nach kurzem Schweigen. „Es ist absolut nichts Besonderes bei Blinden. Außerdem sind Sie nicht blind. Zumindest nicht mit den Augen, sondern nur durch Ihren Verstand." Cassie nickte versonnen.
Sie hatte auch die Frisur geändert und das Haar zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Augen wirkten dadurch noch größer, die dichten Wimpern warfen lange Schatten auf ihre Wangen, sobald sie die Lider senkte. „Sie starren mich an", bemerkte sie plötzlich. „Na und?" konterte er trotzig wie ein ertappter Schuljunge. Sein scharfer Tonfall verwirrte und empörte sie gleichermaßen. „Es ist unhöflich." „Sie sind bestimmt daran gewöhnt, dass man Sie anstarrt." „Natürlich bin ich das", bestätigte sie bitter. „Blinde werden immer angestarrt. Trotzdem ist es unhöflich, und gerade Sie müssten es besser wissen!" „Ich sehe Sie nicht an, weil Sie blind sind, Miss Winters, sondern weil Sie schön sind." Lediglich das leichte Stirnrunzeln verriet ihre Verunsicherung. „Das Kompliment bereitet Ihnen offenbar Unbehagen. Das sollte es nicht. Es ist Zeit, dass Sie mehr über Ihr Äußeres erfahren. Erinnern Sie sich noch an die Farbe Ihres Haars oder Ihrer Augen?" Cassie nickte und überlegte fieberhaft, wohin diese Unterhaltung führen würde. „Ihre Augen sind wirklich bemerkenswert", fuhr Wyatt fort. „Ich glaube nicht, dass ich je eine solche Farbe gesehen habe. Ihr Haar hingegen ist sehr hell. Man könnte fast meinen, ein Künstler habe die Konturen ihres Gesichts gezeichnet und nur die Augen koloriert. Sie sind zu blass. Halten Sie sich so selten im Freien auf?" „Vielen Dank. Mir reicht die Beschreibung. Lieber weiß ich nichts über mein Aussehen, als dass ich es von Ihnen höre." „Schmeichelei macht Sie nervös?" „Welche Schmeichelei? Dass ich farblos bin?" Er schwieg eine Weile, und als er endlich sprach, klang seine Stimme professionell und kühl. „Die meisten meiner Patienten hegen Zweifel über ihr Äußeres. Blinde neigen zu der Annahme, Blindheit sei entstellend, und daher mangelt es ihnen am nötigen Selbstvertrauen. Man muss sie überzeugen, dass sie auf andere nicht abstoßend wirken." „Also erzählen Sie uns, wir seien schön", spottete sie. „Keineswegs. Meine letzte Patientin hat das Sehvermögen verloren, als sie bei einem Verkehrsunfall durch die Windschutzscheibe geschleudert wurde. Was von ihrem Gesicht übrig blieb, war nicht gerade schön, aber nicht annähernd so schrecklich, wie sie glaubte. Nachdem sie das begriffen hatte, ging es ihr besser. Ich habe nie behauptet, sie sei schön. Es wäre eine grausame Lüge gewesen. Ihnen habe ich gesagt, dass Sie schön sind, weil es der Wahrheit entspricht." „Haben Sie mich deshalb geküsst?" erkundigte sie sich unschuldig. „Weil ich schön bin?" Die Frage kam so unerwartet, dass Wyatt zusammenzuckte. Er räusperte sich. „Vermutlich." „Küssen Sie all Ihre Patientinnen?" „Natürlich nicht!" „Nur die schönen?" Sie fragte mit der arglosen Neugier eines Menschen, der sich bemüht, die Motive eines anderen zu ergründen. Er suchte fieberhaft nach einer harmlosen Erklärung. „Es hätte nie passieren dürfen, da es jedoch einmal geschehen ist, will ich Ihnen nichts vormachen. Sie sind eine schöne junge Frau, und ich kann leider nicht leugnen, dass ich darauf reagiert habe. Dieser Zwischenfall hat allerdings keine Bedeutung für unsere Beziehung als Arzt und Patientin. Verstehen Sie?" „Nein." Seufzend schloss er die Augen. „Betrachten Sie es als einen Fehler, Miss Winters. Das ist alles. Es wird nicht wieder vorkommen." Cassie senkte den Kopf.
Wyatt atmete erleichtert auf, als Helen am Tisch erschien. „Ich nehme das Gleiche, was Miss Winters bestellt hat." „Sie hat noch gar nichts bestellt, Dr. Field." Unverhohlener Ärger schwang in ihrer Stimme mit. „Die Küche ist nur ihretwegen noch geöffnet." „Es tut mir Leid, Helen", warf Cassie ein. „Mir war nicht klar ... Ich habe nur auf Dr. Field gewartet." Vorwurfsvoll sah er Helen an. „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Cassie. Das Personal ist zu Ihrer Bequemlichkeit da und nicht umgekehrt. Nicht wahr, Helen?" „Natürlich." Sie errötete. , „Ist schon gut", versicherte Cassie. Die feindselige Atmosphäre verwirrte sie. „Ich nehme das Lamm. Danke, Helen." Wyatt hielt zwei Finger in die Luft, woraufhin Helen kurz nickte und sich abwandte. „Würde es Ihre Regeln verletzen, wenn Sie mir etwas über sich erzählen würden?" fragte Cassie sanft. „Was möchten Sie wissen?" „Was tun Sie am liebsten, wenn Sie Zeit für sich selbst haben?" Sie hörte, wie er mit der Serviette spielte. „Ich kenne keine Freizeit." „Sie widmen jede wache Minute Ihrer Arbeit?" „So ist es." Cassie dachte darüber nach, dann rümpfte sie die Nase. „Klingt langweilig." Er lachte. „Mir wird oft vorgeworfen, dass ich genau das bin." „Haben Sie deshalb nie geheiratet?" „Mag sein." „Waren Sie je verliebt?" Prüfend betrachtete er ihr Gesicht, fand jedoch nicht das geringste Anzeichen von Spott, sondern nur ernsthaftes Interesse. „Ein Mal", gestand er. „In meine Lehrerin, als ich in der vierten Klasse war." Sie zuckte die Schultern. „Na gut. Spielen Sie ruhig den Geheimnisvollen." „Ich spiele nicht den Geheimnisvollen. Mein Privatleben hat allerdings nichts mit unserem Verhältnis zu tun. Darüber lasse ich nicht mit mir reden." „Es ist schon komisch ... Als Blinder entwickelt man ein Gespür dafür, wie die Menschen auf einen reagieren. Ich kann Ihnen nicht erklären, woher die Signale kommen, aber sie sind da. Maggie beispielsweise hat mich auf Anhieb gemocht, und ich denke, wir werden Freundinnen. Und obwohl ich mit Dr. Franklin nur kurze Zeit verbracht habe, empfindet er eine fast väterliche Sorge um mich." Sie verstummte, als Helen wortlos das Essen servierte. Erst als die Frau außer Hörweite war, fuhr Cassie fort. „Helen lehnt mich ab, sie hasst mich beinahe. Sie hingegen, Dr. Field", sie griff zur Gabel, „Sie haben Angst vor mir. Bislang hatte noch nie jemand Angst vor mir." Wyatt wollte wütend protestieren. Bevor er allerdings etwas äußern konnte, hatte Cassie das Fleisch probiert und lächelte ihn an. „Das Lamm ist köstlich." Er wusste, dass er den Vorwürfen zu viel Bedeutung verleihen würde, wenn er sie ignorierte, also zwang er sich, die Diskussion fortzusetzen. „In dem, was Sie sagen, steckt ein Körnchen Wahrheit. Ich habe noch nie einen Fall wie Ihren behandelt. Möglicherweise hat das bis jetzt niemand. Aus therapeutischer Sicht bewege ich mich auf ungewohntem Terrain, und das flößt mir Unbehagen ein. Mir war nicht klar, dass es so offenkundig war." „Gestern wollten Sie wissen, was ich von Ihnen halte. Heute möchte ich wissen, was Sie von mir halten." Er legte das Besteck auf den Teller. „Ich glaube, Sie könnten als Therapeutin Karriere machen. Ich beabsichtige allerdings nicht, Ihr erster Patient zu werden. Hier bin ich derjenige, der Fragen stellt." „Ich kann nicht anders", flüsterte sie. „Ich will alles über Sie wissen."
„Wenn Sie aufgegessen haben, kehren wir zur Arbeit zurück. Wir haben schon zu viel Zeit vergeudet." Der kalte Tonfall ließ Cassie erschauern. „Ich bin fertig." Anmutig tupfte sie sich mit der Serviette die Lippen ab. „Was steht heute Nachmittag auf dem Stundenplan? Bergsteigen?" „Nichts so Leichtes. Wir werden reden." Er wartete, bis sie den Weg auf die Veranda gefunden hatte, dann legte er eine Hand um ihren Ellbogen und geleitete sie zur Hinterfront. Sie liefen über rauen, ungepflegten Boden, der von hohem Unkraut überwuchert war. „Es ist nur ein schmaler Streifen", beruhigte er sie, als sie zögerte. „Gleich erreichen wir einen Pfad, auf dem wir leichter vorankommen." „Wohin gehen wir?" fragte sie. „Der Weg führt zu einer Anhöhe hinter dem Haupthaus. Vorsicht - vor uns liegt ein umgestürzter Baum." Vorsichtig half er ihr über das Hindernis. „Der Hügel ist oben ganz flach und bietet eine atemberaubende Aussicht", fügte er hinzu. „Ich dachte, wir würden keinen Berg erklimmen", erinnerte sie ihn gereizt. Ihre Beine begannen von der ungewohnten Anstrengung zu schmerzen. „Dies ist zwar kein Berg, aber immerhin der höchste Punkt in der Gegend. Sie können meilenweit in alle Richtungen schauen." „Sie meinen, Sie können!" „Sie werden es fühlen, und ich glaube, es wird Ihnen gefallen. Außerdem ist es ein guter Platz für ein Gespräch - an einem Tag wie heute allemal besser als ein stickiges Büro." Schweigend kletterten sie weiter. Cassie stolperte plötzlich über einen Ast, der im Gras verborgen war. Sofort legte Wyatt den Arm um ihre Taille und stützte sie. „Tut mir Leid. Ich hätte besser aufpassen müssen." „Warum so besorgt, Doktor?" erkundigte sie sich atemlos. „Ist es nicht ein Verstoß gegen die heiligen Regeln, einen Blinden zu führen?" „Ich habe zwei gute Gründe dafür. Erstens: Wir erwarten nicht, dass Sie nach Ihrer Abreise aus Windrow eine Trekkingtour beginnen. Dafür trainieren wir Sie nicht. Und zweitens: Ich möchte nicht, dass Sie sich überanstrengen und womöglich deshalb frustriert sind. Nur wenn Sie entspannt sind, können Sie sich konzentrieren." Nach ein paar Schritten blieb sie unvermittelt stehen. „Wir sind da, nicht wahr?" flüsterte sie aufgeregt. „Ich spüre den Wind auf meinem Gesicht." „Nur noch wenige Meter ..." Er verstummte, als sie sich losriss und wie ein ungeduldiges Kind auf allen vieren vorwärts stürmte. Oben angelangt, richtete sie sich triumphierend auf. „Es ist fantastisch! Was befindet sich vor mir?" „Nichts. Ringsum ist nichts als Gras." Spontan löste sie die Spange aus ihrem Haar, die den Pferdeschwanz zusammenhielt. Sie hatte Wyatts Anwesenheit ebenso vergessen wie ihre Blindheit oder die unzähligen Beschränkungen, die sie jahrelang vor der Welt abgeschottet hatten. Der Wind und die Weite nahmen ihre Sinne gefangen und vermittelten ihr das Gefühl von Freiheit. Mit weit ausgebreiteten Armen drehte sie sich im Kreis. Schließlich ließ sie sich zu Boden sinken und streckte sich in der Sonne aus. Erst als ein Schatten auf ihr Gesicht fiel, hob sie den Kopf. „Ich fühle mich, als wäre ich auf dem Gipfel der Welt und nichts könnte sich mir in den Weg stellen." Stirnrunzelnd überlegte Wyatt, wie er an diese Bemerkung anknüpfen könnte. Cassie war nicht mehr eine Fünfundzwanzigjährige, die ein Leben in Dunkelheit hinter sich hatte, sondern sie war wieder ein Kind - offen, sorglos und unendlich verletzbar. „Wann haben Sie zuletzt so empfunden?" Er legte sich neben sie und stützte sich auf einen Ellbogen. „Als ich noch sehen konnte."
„Und was sehen Sie jetzt?" Sie zuckte zusammen. „Wie meinen Sie das?" „Tun Sie so, als könnten Sie sehen", befahl er. „Schließen Sie die Augen, stellen Sie sich vor, Sie wären nicht blind, und beschreiben Sie, was Sie sehen." Mit einem nervösen Lachen wandte sie sich ihm zu. Ihre Körper waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt. „Ist das Spiel oder Ernst?" „Ernst." Er rückte von ihr ab und setzte sich hin. Sie folgte seiner Stimme und kniete sich vor ihn, dann tastete sie nach seinem Arm. Wyatt zwang sich, nicht zurückzuweichen, als ihre Hand rasch aufwärts glitt und sein Gesicht berührte. Die kurzen Bartstoppeln kitzelten ihre Finger. „Ich sehe Sie", erklärte sie ruhig und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Das ist nicht die Realität, sondern Einbildung. Was sehen Sie wirklich?" „Einen verärgerten Mann." Er schob ihre Hand fort. „Was sehen Sie?" wiederholte er unerbittlich. „Das habe ich Ihnen doch gesagt", rief sie. „Ich sehe Sie!" „Das ist eine Lüge! Sie geben sich keine Mühe! Sie wollen nicht sehen! Sie wollen blind sein!" Sie rutschte von ihm fort, verblüfft über seinen schnellen Stimmungswechsel, der sogar die Welt um ihn verändert zu haben schien. Plötzlich dröhnte ihr der sanfte Wind in den Ohren; der Hügel verhieß nicht mehr grenzenlose Freiheit, sondern bedrohliche Leere, und, was am erschreckendsten war, die milde Wärme der Sonne hatte sich in sengende Hitze verwandelt, die ihr die Luft zum Atmen abzuschnüren drohte. Es ist nur der Stress, redete sie sich verzweifelt ein und schloss die Augen. Eine Täuschung. Du kannst atmen, hier gibt es genug Luft. Er will dich aus der Fassung bringen, und du reagierst darauf ... „Was sehen Sie?" Seine Stimme klang laut, aber sonderbar erstickt. Farben beherrschten ihr Gehirn, ein wilder Wirbel von Gelb und Orange. Es ist nicht wirklich, sagte sie sich wieder und wieder. Denk nicht mehr daran. Denk an den Himmel, an blauen Himmel. Erinnere dich an Blau. Du hattest einmal ein blaues Kleid... „Was sehen Sie?" Die Stimme war körperlos, hart, laut, furchteinflößend. Sie drang in Cassies Verstand, durchschnitt ihn wie einen Vorhang und legte das Gelb und Orange dahinter frei. Sie sprang auf, die Augen weit aufgerissen, die Lippen vor Panik leicht geöffnet. Wyatt erhob sich ebenfalls und blieb regungslos stehen. Angesichts ihrer Miene befielen ihn Zweifel, ob er sie noch weiter in die Richtung drängen sollte, die ihr Verstand eingeschlagen hatte. Trotzdem waren die Worte heraus, ehe er es verhindern konnte. „Was sehen Sie?" Cassie straffte die Schultern, den Blick voller Entsetzen auf einen Punkt in der Vergangenheit gerichtet. „Feuer", wisperte sie. „Es ist Feuer!" Dann wirbelte sie herum, um vor dem Bild zu fliehen. Sie hatte die Kante des Abhangs fast erreicht, als Wyatt sie einholte. Er zog sie an sich, barg ihren Kopf an seiner Brust und streichelte ihr Haar. Allmählich verblasste die Vision, und Cassie hörte auf zu zittern. Erst jetzt merkte sie, dass er sie umfangen hielt. Sie vernahm seinen Herzschlag und schmiegte sich enger an Wyatt. Sogleich verstärkte er den Druck seiner Arme. „Ich habe es verloren", flüsterte sie. „Ich war der Erinnerung ganz nahe, und dann habe ich sie verloren." „Sie kehrt nicht auf einmal zurück, sondern nur in Teilen." Seine Lippen berührten ihr Haar. „Ihr Verstand bereitet Sie Stück für Stück darauf vor. Irgendwann fügt sich alles zusammen."
Der Duft seines Eau de Toilette stieg ihr in die Nase. Er machte ihr die Nähe und Ausstrahlung des Mannes bewusst, der sie hielt. Plötzlich war er nicht Dr. Wyatt Field und sie nicht Cassandra Winters. Sie besaßen keine Identität mehr, sie waren nur noch ein Mann und eine Frau. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, rührten beide sich nicht von der Stelle und hielten den Atem an, bis sie das Gefühl hatten, die Erde unter ihren Füßen hätte zu beben begonnen. Und plötzlich drängte Cassie sich an ihn. Verblüfft registrierte Wyatt, dass der Körper in seinen Armen sich grundlegend verändert hatte. Aus dem Trost suchenden Kind war in Sekundenbruchteilen eine Frau geworden, die von Verlangen getrieben ihre Hüften und Brüste an ihn presste. Ehe er es verhindern konnte wenn es ihm überhaupt gelungen wäre -, reagierten seine Sinne, und die Leidenschaft entflammte. Cassie lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken. Sie spürte seinen heißen Atem auf ihrem Hals und erkannte trotz ihrer Unerfahrenheit instinktiv, dass er die sanfte Wölbung ihrer Brüste betrachtete, die sich unter der dünnen Bluse abzeichnete. Eine Locke seines Haars streifte ihre Kehle, und ein wohliger Schauer durchrann sie. Sie verschränkte die Finger hinter seinem Nacken und zog seinen Kopf zu sich herab. Einen flüchtigen Moment lang versuchte er, dem Druck zu widerstehen, doch dann gab er den Widerstand auf und senkte seinen Mund auf die zarte Haut über dem Ausschnitt. Gleich darauf zuckte er zusammen und stieß Cassie von sich. „Nein!" In seinem Aufschrei lag nichts Menschliches. Er glich vielmehr dem Klagelaut eines verwundeten Tieres. Erschrocken wich sie vor ihm zurück. Wyatt blieb stehen, den Blick unverwandt auf ihre Augen gerichtet, die ihn vorwurfsvoll anzusehen schienen. „Es tut mir Leid", flüsterte er heiser. „Das sollte es auch", erwiderte sie mit bebenden Lippen. „Du beendest nie, was du angefangen hast." „Das verstehen Sie nicht, Cassie." Sosehr er sich auch danach sehnte, er durfte sie nicht duzen. „Sie verstehen gar nichts." „Oh doch", erklärte sie ruhig. „Ich weiß, dass du mich begehrst." Diese schlichte Feststellung brachte ihn fast aus der Fassung. Es dauerte einen Moment, bis er seine Betroffenheit überwunden hatte. Dann hob er entschlossen den Kopf. „Ich habe in meinem Leben schon viele Frauen begehrt. Sie unterscheiden sich nicht von hundert anderen." Er beobachtete, wie sich nacheinander Verblüffung, Ärger und Kummer auf ihren Zügen widerspiegelten. Sie glaubte ihm also. „Wenn ich eine Frau wollte, hat es nie ein Hindernis gegeben", fuhr er fort, „diesmal ist es jedoch anders. Ich kann nicht gleichzeitig Ihr Arzt und Ihr Liebhaber sein, deshalb muss ich mich für eines von beidem entscheiden. Für das wichtigere. Es fällt mir nicht schwer. Ob ich eine Frau mehr oder weniger habe, hat keinen Einfluss auf mein Leben." Er erstickte beinahe an dieser Lüge. Als Cassies Miene allerdings völlig ausdruckslos wurde, wäre er am liebsten vor ihr auf die Knie gesunken, hätte sein Gesicht an ihren Schoß geschmiegt und dem Verlangen freien Lauf gelassen. Stattdessen aber blieb er stehen und wartete. Sie hatte die Schultern gestrafft und bemühte sich, seine Worte zu verkraften. „Ich weiß, dass Sie gegenwärtig von Empfindungen überwältigt werden, die Ihnen bislang fremd waren. Sie machen gerade einen sexuellen Reifeprozess durch, den die meisten jungen Frauen als Teenager durchleben. Ich habe diese Erfahrungen längst hinter mir." Er rang sich ein verächtliches Lachen ab. „Sie können mir nichts bieten, was mir nicht schon ein Dutzend anderer Frauen vorher gegeben haben. Absolut nichts. Haben Sie das begriffen?" Cassie nickte stumm.
„Nehmen Sie es nicht so schwer." Wyatt war überrascht, dass er derart lässig mit ihr sprechen konnte, während sein Herz wie wild pochte und jeder Muskel in seinem Körper danach verlangte, sie in die Arme zu schließen. „Es ist nichts, dessen Sie sich schämen müssten. Eines Tages werden Sie sich daran erinnern und lachen." Sie rang sich ein zaghaftes Lächeln ab und akzeptierte die dreiste Lüge. „Wollen wir umkehren?" erkundigte er sich betont munter. Als sie erneut stumm nickte, zerriss ihm ihre stoische Duldsamkeit schier das Herz. Besorgt beobachtete er sie auf dem Weg zum Haupthaus. Sie bewegte sich, als würde eine schwere Bürde auf ihren Schultern lasten, und versank immer tiefer in eine Depression, die sich als unüberwindlich erweisen würde, falls es ihm nicht gelang, sie davon zu befreien. Er hatte zwar ein Problem gelöst, aber dadurch ein neues heraufbeschworen. „Zeigen Sie mir Ihr Zimmer", bat er spontan, als sie das Gebäude betraten. Schweigend führte sie ihn die Treppe hinauf. „Ich möchte, dass Sie sich jetzt entspannen", sagte er, nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. „Legen Sie sich hin. Schließen Sie die Augen." Zögernd wandte sie sich dem Bett zu. Sie wünschte nichts sehnlicher, als sich in die weichen Kissen zu kuscheln und der Erschöpfung nachzugeben, die sie plötzlich befallen hatte. Sie wollte schlafen, nichts als schlafen - vielleicht für immer. Wyatt spürte, dass ihr Verstand im Schlaf Zuflucht suchen wollte, das klassische Symptom einer akuten Depression. Auf diesem Gebiet kannte er sich aus. „Ich will nur ein bisschen bei Ihnen sitzen, das ist alles." Er ließ sich in dem einzigen Sessel nieder und streckte die Beine aus. „Sie mögen Dr. Franklin, nicht wahr?" fragte er. Cassie setzte sich auf die Bettkante und nickte. „Er hat ein paar Meilen von hier entfernt ein schönes Haus und eine hübsche Frau - Katy. Ich glaube, Sie würden ihr gefallen. Hätten Sie Lust, am Freitagabend mit ihnen zu essen, um alldem hier für eine Weile zu entrinnen?" Er betrachtete eindringlich ihr Gesicht, bemerkte ihr Blinzeln und den beinahe glasigen Ausdruck ihrer Augen. Sie nickte kurz sagte aber immer noch nichts. Ihre Finger spielten nervös mit den Fransen der Tagesdecke. „Dr. Franklin und ich arbeiten schon seit Jahren zusammen und verstehen uns ausgezeichnet. Er hat früher sogar davon geträumt, mich mit seiner Tochter zu verkuppeln." Ein Anflug von Leben kehrte in ihre Augen zurück. „Er weiß natürlich nicht, dass ich es weiß", fügte er vertraulich hinzu. „Ich würde es ihm nie verraten, aber seine Versuche, uns zusammenzubringen, waren ziemlich offensichtlich. Er hat alles probiert, außer mich zu fesseln und ihr zu Füßen zu legen." Ein Lächeln umspielte Cassies Mundwinkel, und Wyatt atmete erleichtert auf. Er lockte sie langsam und vorsichtig aus ihrem Schneckenhaus, indem er ihre Gedanken mit leichter Konversation von dem Vorfall auf dem Hügel ablenkte. „Demnach war es nicht gerade eine perfekte Verbindung", sagte sie endlich. „Wohl kaum. Marianne konnte meine Anwesenheit kaum ertragen. Sie hat einen Ölsucher oder so geheiratet und die Pläne ihres Vaters gründlich durchkreuzt." Die Vorstellung, dass ihn tatsächlich jemand abgewiesen hatte, entlockte Cassie ein zufriedenes Lächeln. Sie unterdrückte ein Gähnen. „Ich bin müde und möchte schlafen." „Gleich", erwiderte er ungeduldig. „Zuvor würde ich gern über das reden, was Sie auf dem Hügel gesehen haben." Stirnrunzelnd überlegte sie. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich sah Feuer, und das hat mir Angst gemacht." „Aber es macht Ihnen keine Angst, sich jetzt daran zu erinnern." „Nein, eigentlich nicht. Es ist nur noch nebelhaft, wie ein Film, den ich vor langer Zeit gesehen habe."
„Wie das Klavierstück. Nachdem es einmal in Ihr Gedächtnis zurückgekehrt ist, verschwindet die Furcht. Können Sie mir folgen? Die Furcht vor der Erinnerung ist schlimmer als die Erinnerung selbst." Er beugte sich vor und stützte die Arme auf die Knie. Für Sie wäre es einfacher, wenn Sie den Unfallhergang bewusst rekonstruieren könnten, Cassie. Es ist viel schwieriger und anstrengender, das Unterbewusstsein zu zwingen, gegen den Verstand anzukämpfen - so als würde man es ständig wieder durchleben müssen, statt sich einfach nur daran zu erinnern. Wollen Sie es einmal versuchen?" Sie nickte entschlossen. „Na gut. Das Feuer hängt offenbar mit dem Unfall zusammen, wir müssen daher annehmen, dass der Wagen gebrannt hat. Und Sie haben es gesehen." Er legte eine kurze Pause ein und wartete gespannt auf eine Reaktion. Ihre Miene blieb jedoch unverändert. „Falls Sie Ihre Mutter gefangen in dem brennenden Auto gesehen haben, ohne ihr helfen zu können, wäre das ein fast unerträgliches Trauma. Denken Sie nach. Können Sie sich an etwas Derartiges erinnern?" Sie schloss die Augen und konzentrierte sich, doch dann zuckte sie die Schultern. „Tut mir Leid, nein." Wyatt atmete tief durch, bevor er aufsprang und sie anschrie: „Werden Sie endlich erwachsen!" Als sie erschrocken zusammenfuhr, senkte er die Stimme zu einem geringschätzigen Flüstern. „Sie erwarten, dass ein erwachsener Mann Sie ernst nimmt? Sie sind ein Kind, das sich im Körper einer Frau verbirgt. Sie verstecken sich vor der Erinnerung, die Sie heilen könnte. Sie sind nur eine halbe Frau, Cassie Winters. Vielleicht sogar nicht einmal das!" Schockiert schnappte sie nach Luft, ihre Wangen wurden feuerrot. „Hinaus!" rief sie. Ein bitteres und dennoch zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund. „Gern", antwortete er ruhig und schlug die Tür hinter sich ins Schloss. Dann lehnte er sich gegen die Wand und hörte erfreut, wie im Zimmer immer wieder eine Faust aufs Kopfkissen schlug. „Gut, Cassie", flüsterte er. „Gut für dich."
8. KAPITEL
Als Cassie abends gegenüber von Wyatt Platz nahm, spürte sie sofort, dass er sich verändert hatte. Ihre Sinne warnten sie, noch bevor er ein Wort geäußert hatte, und als er sprach, bestätigte seine Stimme den Verdacht. Es schwang ein neuer Unterton mit, hart und kalt wie Stahl. Ihren Versuch, eine unverbindliche Konversation zu führen, blockte er mit dem Hinweis ab, dass es sich um kein privates Dinner handle. Die Mahlzeit verlief in angespannter Atmosphäre. Auf jede noch so harmlose Frage erhielt Cassie eine knappe, gereizte Antwort. Am Ende erkundigte sie sich schüchtern: „Könnten wir heute wieder einen Spaziergang machen?" „Tun Sie, was Sie wollen", erwiderte er abweisend. „Ich fahre nach Hause." Am nächsten Morgen hatte sich seine Laune nicht gebessert, sondern eher verschlechtert. Der Mann, der sie am Fluss bebend vor Leidenschaft geküsst und auf dem Hügel tröstend umarmt hatte, war einem Furcht erregenden Fremden gewichen. Wyatts Bestreben, ihr Gedächtnis zu aktivieren und sie zu zwingen, wieder zu sehen, wurde zur Besessenheit, und ohne dass Cassie sich dessen bewusst war, begann ihre Psyche sich ihm zu verschließen. In den folgenden Tagen bedrängte er sie entweder mit unerbittlichen Fragen oder versuchte, sie während scheinbar harmloser Plaudereien auszuhorchen. Vergeblich. Sie wollte sich ja erinnern und bemühte sich verzweifelt darum, aber allmählich wurde die Furcht, Wyatts Zorn heraufzubeschwören, ebenso groß wie die Furcht, nie wieder sehen zu können. Instinktiv spürte sie, dass sich seine Miene bei den Worten „Ich erinnere mich nicht" verdüsterte und vorwurfsvoll wurde. Allerdings gab es auch Momente, da sie eine unterschwellige Zärtlichkeit bei ihm zu erkennen glaubte, Momente, in denen sein Kummer so deutlich wurde, dass sie merkte, wie persönlich er diesen Kampf nahm. Diese Augenblicke wurden jedoch immer seltener, während der emotionale Stress wuchs. Häufig weinte Cassie sich nachts in den Schlaf. Ausgeklügelte Übungen, die ihr helfen sollten, sich als Blinde zurechtzufinden, und schonungsloses Ringen um die Vergangenheit wechselten einander ab. Am Ende der ersten Woche fühlte sie sich wie eine tickende Zeitbombe. Frustriert wartete sie am Freitagmorgen am Frühstückstisch und wappnete sich mental gegen die bevorstehende Tortur. Es kostete sie unendlich viel Kraft, die Schultern nicht hängen zu lassen. „Guten Morgen, Cassie." Sie nickte kaum merklich. „Wollen wir zuerst über Ihre Mutter oder Ihren Vater sprechen?" „Weder noch. Ich möchte heute nicht reden, und das ist etwas, wozu nicht einmal Sie mich zwingen können", erklärte sie trotzig. „Okay", meinte er. Ihre Weigerung schien ihn nicht sonderlich zu verwundern. „Es gibt genug anderes, was wir unternehmen können, wenn Ihnen nicht nach einer Unterhaltung zu Mute ist. Die Wortgefechte haben mich ohnehin gelangweilt." Misstrauisch hob sie den Kopf. Mit einem bitteren Lächeln betrachtete er ihr Gesicht, das ihre Gedanken deutlicher widerspiegelte, als sie ahnte. Er legte seine Hand auf ihre. Die Berührung war so unvermutet, dass Cassie erschrocken die Finger zurückzog. „Entschuldigung. Sie sind heute wohl ein bisschen nervös, oder?" „Ich verbringe jede wache Stunde mit einem Sadisten", konterte sie hitzig. „An meiner Stelle wären Sie auch nervös. Gott sei Dank ist die Hälfte vorbei." „Wenn Sie die zwei Wochen mit mir so sehen, sollten Sie Gott auch gleich dafür danken, dass Sie blind bleiben." „Bislang hat die Zeit mit Ihnen nicht viel gebracht, Dr. Field. Oder ist es Ihnen noch nicht aufgefallen? Ich bin nach wie vor blind."
„Das habe ich bemerkt. Ich habe nie behauptet, es würde leicht sein oder schnell gehen, aber Sie werden sich erinnern. Und Sie werden sehen." Es war unverkennbar, dass er sich weigerte, eine Niederlage zu akzeptieren. „Ich stelle für Sie die große Herausforderung dar, nicht wahr? Ihren Schlüssel zu Ruhm und Reichtum. Der Fall, der Maßstäbe setzt und Ihren Namen in der Literatur verewigt." „So könnte man es formulieren", bestätigte er sanft. „Dann lassen Sie uns weitermachen. Ich möchte Ihnen natürlich nicht im Wege stehen. Wohin?" Er blickte bedauernd in zwei wütend funkelnde Augen, die sich weigerten, ihn zu sehen. „Führen Sie uns zur Sporthalle." Mit einem gelangweilten Schulterzucken erhob sie sich. Die Morgenluft war frisch und verhieß einen frühen Herbstanbruch. Cassie spürte die schwache Sonnenwärme wie durch einen Schleier. „Herrscht Nebel, oder sind es nur Wolken?" fragte sie auf dem Weg zur Sporthalle. „Sagen Sie's mir." „Die Luft ist zu trocken für Nebel, und der Morgen ist zu kühl für Dunst. Bleiben also nur Smog oder Wolken." „Riechen Sie Verunreinigungen?" Sie atmete tief ein und bemerkte lächelnd eine Vielzahl von Düften, die sie in der Stadt nie wahrgenommen hatte. „Nein. Allerdings war vor kurzem ein Wagen hier. Man kann die Abgase noch riechen." In diesem Moment hörte Wyatt, wie hinter dem Ärztehaus eine Autotür zugeschlagen wurde. Bewundernd schüttelte er den Kopf. Die Abgase waren ihm völlig entgangen. „Ach übrigens, es handelt sich um Federwolken - und zwar sehr hohe." Ihr Scharfsinn verblüffte ihn immer wieder. „Es soll später aufklaren. Vielleicht ist es schon wärmer, wenn wir die Halle verlassen." Cassie zögerte kurz. Sie mochte sich nicht ausmalen, welche körperlichen Strapazen er sich diesmal für sie ausgedacht hatte. Nichtsdestotrotz steuerte sie zielstrebig auf das Gebäude zu. Die Tür war aus Metall, statt einer Klinke verfügte sie über eine lange Eisenstange und schwang nach innen auf, als Cassie sich dagegen lehnte. Nachdem die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, nahm Cassie die fremden Geräusche und Düfte in sich auf. Ein Ball prallte auf harten Holzboden und dann gegen eine aufgehängte Platte. „Blinde spielen Basketball?" fragte sie verwundert. „Und ob. Der Eingang zur Halle befindet sich direkt vor Ihnen, aber heute gehen wir nicht hinein. Ich wollte Ihnen lediglich zeigen, wo sie ist." Sie ahnte, was er vorhatte. „Das Schwimmbad?" erkundigte sie sich unbehaglich. „Ja." Da sie wusste, dass sie den Pool allein finden musste, wandte sie sich nach links und folgte dem beißenden Chlorgeruch. Sie tastete sich an der rechten Wand entlang und bog in den ersten Korridor ab, an den sie kam. Als ihre Finger die Angeln einer schweren Tür berührten, blieb sie stehen. „Hier ist es." „Dann lassen Sie uns hineingehen." Sie betrat einen für ihr Empfinden höhlenartigen Saal und spürte die bedrohliche Wasserfläche vor sich. „Gleich neben Ihnen ist eine Tür", erklärte Wyatt. „Dahinter befinden sich eine Reihe von Schließfächern. Eines der Spinde trägt in Augenhöhe eine Tafel, auf der Ihr Name in BrailleSchrift steht. Im Fach liegt ein Badeanzug, den Maggie für Sie ausgesucht hat. Beeilen Sie sich, ich werde hier auf Sie warten. Wir haben das Becken nur für zwei Stunden." „Sie wollen auch schwimmen?"
„Ja, aber ich werde schon umgezogen sein, bevor Sie überhaupt Ihr Fach finden." Gehorsam lief sie über die winzigen Mosaikfliesen, bis sie die Tür erreichte und sie öffnete. Sie schloss sie hinter sich und atmete tief durch. Als Kind hatte sie viele Stunden im Pool verbracht -konnte sie noch schwimmen, oder hatte sie es verlernt? Sie hatte den Raum bereits zur Hälfte durchquert, als sie bemerkte, dass sie die wichtigste Regel von Windrow verletzte und die Hände nicht in Hüfthöhe hielt. Prompt stieß sie sich das Schienbein an etwas Hartem, Hölzernem. Eine Holzbank mit hoher Rückenlehne. Sie hätte den Zusammenprall vermeiden können, wenn sie nicht so leichtsinnig gewesen wäre. Selbst wenn Wyatt nicht in der Nähe war, verfolgten sie seine Lektionen, und sie wurde bestraft, sobald sie sie ignorierte. Mit zusammengepressten Lippen umrundete sie die Bank und suchte die Schließfächer. Ihres war das dritte von links. Obwohl sie es schnell entdeckt hatte, kehrten ihre Finger zu den anderen Schildern zurück. All diese Patientinnen wohnten nun im Schlafsaal. Ihre Namen vermittelten Cassie das berauschende Gefühl, nicht die einzige Blinde auf der Welt zu sein. Es gab andere wie sie! Es klopfte ungeduldig an der Tür. „Wo bleiben Sie?" „Einen Moment noch!" Rasch entledigte sie sich ihrer Sachen und streifte den Badeanzug über. Nach achtzehn Jahren in Dunkelheit hatte sie in einer leeren Umkleidekabine binnen weniger Sekunden verwandte Seelen gefunden. Sie freute sich darauf, diese Menschen zu treffen. Ihr Vater hatte sie aus übertriebener Fürsorge nicht nur von der Welt der Sehenden isoliert, sondern auch von der der Blinden. Erst jetzt wurde ihr klar, wie grausam dieser aufgezwungene Verzicht war. Aber das war Vergangenheit, sie verzieh ihm sofort. Ohne auch nur einen Gedanken an ihr Äußeres zu verschwenden, verließ sie den Raum. Der schlichte Badeanzug umschloss ihren Körper wie eine zweite Haut, und da sie ihren Körper nie gesehen hatte, benahm sie sich so unbefangen wie ein Kind. Außerdem verliehen ihr all die Menschen, von denen sie nur die Namen kannte, zusätzlichen Mut. Sie war nicht mehr allein, und deshalb erschien ihr Dr. Field nicht mehr so bedrohlich. Wyatt stockte bei ihrem Anblick der Atem. Cassie hatte eine perfekte Figur und war sich dessen nicht im Entferntesten bewusst. Er schämte sich fast, ihre verführerischen Kurven überhaupt bemerkt zu haben. Sie stand reglos an der Tür und versuchte, ihn auszumachen. Ihre Haltung verriet neues Selbstvertrauen. „Was hat so lange gedauert?" fragte er betont ungeduldig. „Ich habe Freundschaften geschlossen", erwiderte sie geheimnisvoll. Erst jetzt sah er, welch grundlegende Veränderung sie durchgemacht hatte. Die unschuldige Freude auf ihrem Gesicht verblüffte ihn. Wortlos wandte er sich ab und sprang ins Wasser. Er blieb fast eine Minute untergetaucht, bis seine Lungen brannten und seine Sinne sich ausschließlich aufs Überleben konzentrierten und alle anderen Gedanken verdrängten. Als er wieder an die Oberfläche kam, fühlte er sich sonderbar befreit. Cassie bewegte sich langsam zum Beckenrand und wich mit einem leisen Aufschrei zurück, als sie ein paar Spritzer trafen. Ihre Nervosität von vorhin war verschwunden, und Wyatt befürchtete schon, sie würde sich kopfüber in den Pool stürzen, bevor er Gelegenheit hatte, sie einzuweisen. „Können Sie schwimmen?" fragte er wassertretend. „Ich weiß nicht", meinte sie fröhlich. „Dann drehen Sie sich nach links und gehen zum Beckenende. Dort ist der flache Teil. Wir werden dort beginnen." Er tauchte unter den Korkleinen durch, die das Becken in Bahnen teilte, und erwartete Cassie. „Vor Ihnen sind vier halbrunde Stufen", erklärte er. Sie bewegte sich vorsichtig hinab, und als das Wasser ihre Taille umspülte, erschauerte sie vor Wonne. Lachend hüpfte sie hoch und landete mit einem Bauchklatscher direkt neben
Wyatt, den der Aufprall fast von den Füßen riss. Nach einigen zögernden Schwimmstößen wurden ihre Bewegungen immer sicherer und kraftvoller. Sie freute sich wie ein Kind. „Ich kann schwimmen!" Es war unverkennbar, dass in der Kabine etwas Unvermutetes mit ihr passiert war, etwas, das ihr Selbstvertrauen gestärkt hatte. Auch ihre Haltung ihm gegenüber hatte sich geändert. Frustriert runzelte Wyatt die Stirn. „Was ist da drinnen vorgefallen?" Er packte sie bei den Schultern. Sie lächelte versonnen. „Es waren die Schilder auf den Schränken ... Sie haben Namen, das macht sie real. Achtzehn Jahre lang", fuhr sie ernst fort, „war ich die einzige Blinde in einer Welt von Sehenden. Niemand hat das erlebt, was ich erlebt habe, niemand konnte meine Ängste und Probleme verstehen oder begreifen, wie verdammt schwer alles war. Und nun habe ich plötzlich Gesellschaft!" Kopfschüttelnd überlegte er, wie er die bisherige Feindseligkeit wieder heraufbeschwören konnte, die er dazu benutzt hatte, Cassies Blockade zu durchdringen. Bekümmert erkannte er, dass diese Chance vertan war. Glückliche Menschen erforschten nicht ihr Unterbewusstsein oder ihr Gedächtnis, sondern schwelgten in der Seligkeit des Augenblicks. Zu seinen schmerzlichsten Berufserfahrungen gehörte die Tatsache, dass nur jene Patienten Fortschritte erzielten, die in einen Kampf verstrickt waren. Cassie hingegen war gegenwärtig mit sich und dem Leben viel zu zufrieden, um eine Veränderung anzustreben. Sie war nahezu unverwundbar. Verzweifelt ließ er die Schultern sinken und seufzte leise - allerdings nicht leise genug. Cassie traute ihren Ohren kaum. Plötzlich war er nicht mehr der unbesiegbare Dr. Field, sondern nur noch ein Mann, der wie alle Männer Emotionen und Enttäuschungen unterworfen war. Den Menschen hinter dem Roboter zu entdecken glich einem Geschenk. Ein Geschenk zur Feier ihrer eigenen Unbeschwertheit. Übermütig befreite sie sich aus seinem Griff, glitt unter Wasser, umfasste Wyatts Fesseln und riss ihn von den Füßen. Er kippte nach hinten und schmeckte Chlor. Als er wieder auftauchte, empfing sie ihn mit einem wahren Wasserschwall. „Was, zum Teufel...?" Im ersten Moment wusste er nicht, wie er auf diese Attacke reagieren sollte. Seine Stimme hatte ihn jedoch verraten, und Cassie warf lachend Hände voll Wasser in seine Richtung. Sogleich nahm er', Rache. Ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, was er tat oder ob es angemessen sei, begann er, sie nass zu spritzen. Eine Weile planschten sie wie Kinder im Pool. Nachdem der erste Überschwang sich gelegt hatte, wurde Wyatt mit schmerzlicher Deutlichkeit bewusst, wer er war, und er hielt sofort inne. Cassies Lachen verstummte gleichzeitig mit seinem, weil sie den Stimmungswechsel spürte. Schwer atmend standen sie einander gegenüber. „Genug geschwommen", sagte er mürrisch und wandte sich zum Beckenrand. „Warum?" Sie folgte ihm, bis ihre Hand seinen Arm fand und sich darum schloss. „Sie sagten, wir hätten den Pool für zwei Stunden. Die Zeit ist noch nicht um." Er senkte den Blick, als sie sich vor ihn stellte und ihm den Weg versperrte. Das Wasser rann ihr von den Schultern und Brüsten, feine Tropfen hingen in ihren Wimpern. „Weil es zu nichts führt", erwiderte er ausweichend. „Muss denn alles einem therapeutischen Zweck dienen? Haben Sie nie Spaß?" „Nur in meiner Freizeit. Sie bezahlen mich nicht, um sich zu amüsieren." „Sie sind versessen darauf, mir etwas für mein Geld zu bieten, oder? Was wollten Sie durch das Schwimmen überhaupt erreichen?" „Die meisten Blinden fürchten sich zunächst vor dem Wasser. Wenn sie diese Angst überwinden, steigert das ihr Vertrauen zu mir und gelegentlich auch in ihre eigenen Fähigkeiten. Sie hingegen fürchten sich vor nichts, Cassie."
Lächelnd legte sie ihm die Hände auf die Schultern. „Dann sollten Sie sich freuen. Ein Problem weniger für Sie. Ich vertraue Ihnen bereits - und mir auch." Seine Sinne konzentrierten sich auf die Haut unter ihren Fingern. Er versuchte, vor ihr zurückzuweichen, doch sie verstärkte einfach den Druck und ließ sich vom Wasser tragen, während Wyatt sich bewegte. Dabei lachte sie, als wäre alles nur ein Spiel. Mit wenigen Schritten hatte er den flachen Teil erreicht, und Cassie wurde gegen seine Brust getrieben. Rasch richtete sie sich auf. Einer spontanen Eingebung folgend, hob sie die Hände zu seinen Wangen. Obwohl sie fühlte, wie er die Lippen aufeinander presste und die Nackenmuskeln anspannte, erkundete sie seinen Hals mit einer Hand, während sie mit der anderen durch sein dichtes Haar fuhr. „Ich sehe Sie nur an", flüsterte sie. „Sie sollten eigentlich daran gewöhnt sein." Dann glitten ihre Hände über seine Schultern und Oberarme, bis sie auf seiner Brust zusammentrafen. Er öffnete die Lippen und hoffte, seine Atemzüge mochten nicht verraten, wie heftig er auf ihre Berührungen reagierte. Sie strich mit den Fingern durch die feuchten Locken auf seiner Brust. Ihr Blick schien direkt auf seine Augen gerichtet zu sein. Wyatt war wie gelähmt. Egal, wie eindringlich sein Verstand ihm riet, sich ihrer aufreizenden Nähe zu entziehen, sein Körper weigerte sich hartnäckig, ihm zu gehorchen. Die Augen fest geschlossen, bemühte er sich, die kümmerlichen Reste seiner Selbstbeherrschung zu mobilisieren. Cassie war von dem Körper unter ihren Händen fasziniert. Was als instinktives Bedürfnis, Wyatt zu fühlen, begonnen hatte, entwickelte sich nun zu unverhohlener Neugier auf den Körper eines Mannes - und steigerte sich unvermittelt zu grenzenlosem Entzücken, als seine Muskeln unter ihren Fingern erbebten. Sie hörte, wie ihm der Atem stockte, als ihre Finger seine Brust hinabglitten. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, das Blut schien ihr in den Ohren zu rauschen. Die Empfindungen waren unbeschreiblich und völlig neu für sie. Heiße Schauer durchströmten sie, und das Verlangen, von Wyatt berührt zu werden, drohte sie zu überwältigen. Als seine starken Bauchmuskeln unter ihren Händen zurückzuckten, verließen Cassies Beine die Kraft, und sie sank ein wenig nach vorn. Unter Wasser pressten sich ihre Hüften an seine. Wyatt durchfuhr es wie ein Stromschlag. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, hob er die Hand zu ihrer Schulter und ließ sie über die weiche Wölbung ihrer Brüste abwärts zu ihrem Schenkel wandern. Cassie rang nach Atem. Sie spürte feuchtes Haar auf ihrer Haut, als er den Kopf senkte, um den Ansatz ihrer Brüste zu küssen. Ein verwunderter Laut kam ihr über die Lippen, während Wogen der Lust sie durchrannen. Dann umfasste Wyatt ihren Kopf. Sie fühlte seinen warmen Atem, lange bevor er ihren Mund mit seinem eroberte. Als er mit der Zunge ihre Lippen teilte, konnte sie ihre Vorfreude kaum noch zügeln. Geschickt streifte sie einen Träger des Badeanzugs über die Schulter und schlüpfte mit dem Arm heraus. Das Gefühl, Wyatts Haut auf ihrer nackten Brust zu spüren, war himmlisch. Er sprang zurück, als hätte er sich verbrannt. „Was tust du?" fragte er heiser und hielt sie auf Armeslänge von sich fort. Dann schob er den Träger wieder zurück an seinen Platz. „Bin ich so hässlich?" „Gütiger Himmel, nein." Durch regelmäßige Atemzüge versuchte er, die verkrampften Muskeln zu entspannen. Er merkte, wie sie über seine Brust tastete. Sofort ergriff er ihre Hand und hielt sie von sich. „Den Pool benutzen auch andere", fügte er rau hinzu. „Wir könnten jederzeit gestört werden." „Sind sie nicht alle blind?" Sie wollte sich verführerisch an ihn schmiegen. Er entkam ihr, indem er zum Beckenrand zurückwich. „Das Personal ist nicht blind." Ein sinnliches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Dann lass uns woandershin gehen." „Cassie!" Sie hatte diesen Tonfall, eine Mischung aus Zorn und unterdrückter Leidenschaft, schon einmal gehört. Er war wieder der Löwe und sie das Opfer.
Wyatt schwang sich aus dem Wasser und blickte sekundenlang regungslos auf sie herab. „Komm heraus", befahl er schließlich. „Es ist Zeit für den Lunch. Wir treffen uns in zehn Minuten vor dem Gebäude."
9. KAPITEL
Cassie hatte sich in aller Eile angezogen und eilte zum Ausgang des Gebäudes. Was mochte sie draußen erwarten? Ihrer eigenen Gefühle war sie sich völlig sicher, aber Wyatts blieben ihr ein Rätsel. Es fehlte ihr zwar die nötige Erfahrung, um die Emotionen der Männer zu durchschauen, aber eines wusste sie: Das Feuer ihrer Leidenschaft war außer Kontrolle geraten, und dieses Problem musste gelöst werden. Er würde darauf bestehen, und sie konnte ihn nicht daran hindern. Energisch straffte sie die Schultern, stieß die Tür auf und trat hinaus ins Sonnenlicht. Wyatt lehnte an der Wand, die Arme über der Brust verschränkt. Ihm war ebenso klar wie ihr, dass die nächsten Minuten über den weiteren Verlauf ihres Verhältnisses entscheiden würden. Cassies Heilung stand auf dem Spiel. Ein scharfer Schmerz durchzuckte seine Brust, als er das lange feuchte Haar betrachtete, das ihr noch immer zart gerötetes Gesicht umrahmte. Lächelnd wandte sie sich zu ihm um und streckte ihm die Hand entgegen. Er schluckte trocken. „Komm", sagte sie betont munter, um die unvermeidliche Konfrontation hinauszuzögern. „Ich sterbe vor Hunger." Wyatt ignorierte die ausgestreckte Hand, lief allerdings auf dem Weg zum Haupthaus neben Cassie. „Wir müssen reden." Nach kurzem Schweigen erkundigte sie sich schüchtern: „Warum bist du so verärgert?" „In unserer Beziehung ist kein Raum für persönliche Gefühle, wenn du wieder sehen willst." „Und wie unterbindet man persönliche Gefühle?" „Indem man sie gar nicht erst zulässt." „Dann sind wir bereits gescheitert", erklärte sie fröhlich. „Wir sollten aufgeben." „Cassie." Er seufzte. „Oberflächlicher Sex mit Patientinnen ist nicht mein Stil. Dabei werden beide Seiten verletzt." Sie hörte das Beben in seiner Stimme, und ihre Zuversicht wuchs. „Oberflächlicher Sex? Ich glaube nicht, dass es oberflächlich sein würde", flüsterte sie. „Und deshalb fürchtest du dich davor. Du hast Angst vor der Liebe." „Liebe?" wiederholte er verächtlich. „Was weißt du denn über Liebe? Hattest du je Gelegenheit, in deinem Elfenbeinturm an der Park Avenue etwas darüber zu lernen? Das wahre Leben ist kein Märchen. Menschen verlieben sich nicht innerhalb einer Woche, und körperliches Verlangen entsteht oft ohne Liebe. Wir haben einander begehrt, das ist alles. Es gibt einen Unterschied zwischen Lust und Liebe." Seine Worte klangen erbarmungslos - gleichzeitig jedoch auch verunsichert und verheißungsvoll. Allein darauf achtete Cassie. „Das ist nicht deine wahre Meinung", beharrte sie und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten, als er den Weg fortsetzte. „Ich bin verliebt, und zwar in dich." Sie unterdrückte ein Lachen. Heiterkeit hatte in diesem Gespräch, das über ihre Zukunft entscheiden würde, nichts zu suchen. „Gütiger Himmel, es ist unglaublich. Ich habe mich in meinen Psychiater verliebt." „Es ist nicht nur unglaublich, es ist absurd. Eine Kleinmädchenfantasie. Das kann man unmöglich ernst nehmen. Du hast selbst gesagt, dass du noch nie allein mit einem Mann gesprochen hast -- da ist es ganz normal, wenn du dir einbildest, in den erstbesten Mann verliebt zu sein, den du kennen lernst." Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte damit rechnen müssen." Cassie atmete erleichtert auf. Immerhin leugnete er nicht, irgendetwas für sie zu empfinden, sondern zweifelte lediglich an ihren Gefühlen für ihn. Daran konnte er allerdings nichts ändern, es sei denn, sie ließ es zu.
Mit einem geheimnisvollen Lächeln lief sie auf das melodische Klingeln der Windharfe zu und stieg die Stufen hinauf. Dann stieß sie die Tür auf und wandte sich zur Treppe. „Wir treffen uns im Speisesaal", rief sie Wyatt über die Schulter zu, bevor sie nach oben eilte. Schweigend beobachtete Wyatt ihren Aufstieg, bevor er zum Speisesaal ging. Jede Bewegung kostete ihn unendliche Anstrengung. An der Tür blieb er stehen und lehnte sich an den Rahmen, ohne zu bemerken, dass sich ihm jemand vorsichtig näherte. „Wyatt?" Stirnrunzelnd betrachtete Matt Franklin den jüngeren Mann. „Du siehst schrecklich aus. Fühlst du dich nicht wohl?" Es dauerte einen Moment, bis Wyatt sein Gegenüber erkannte. „Matt! Was tust du hier?" Ganz allmählich nahm er auch die anderen Gäste wahr. Er hatte den Eindruck, aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. „Katy wütet in der Küche wie ein Wirbelsturm, um das Dinner für heute Abend vorzubereiten. Ich habe ihr versprochen, hier zu essen und ihr aus dem Weg zu gehen." „Verdammt! Das habe ich völlig vergessen." „Komm." Matt nahm seinen Arm und führte ihn zu einem Tisch neben dem Eingang. „Setz dich zu mir. Ich habe bereits gegessen, aber für eine Tasse Kaffee reicht meine Zeit noch." Besorgt beobachtete er, wie Wyatt sich erschöpft auf dem Stuhl zurücklehnte. „Ist etwas nicht in Ordnung?" „Cassie Winters ist nicht in Ordnung. Absolut nicht in Ordnung." „Du bist zu ehrgeizig, Wyatt, und verlangst zu viel von ihr. Ich glaube nicht, dass Cassie deinem Druck standhalten kann." Wyatt lachte bitter. „Sie kann ihm durchaus standhalten, Matt. Sie ist nämlich erheblich belastbarer als ich." Plötzlich richtete er sich kerzengerade auf. Cassie hatte den Raum betreten. Schmunzelnd blickte Matt zu der zierlichen Gestalt hinüber, die vor Energie zu sprühen schien. Sie steuerte zielstrebig auf den Tisch zu und streckte lächelnd die Hand aus. „Hallo, Dr. Franklin." Er erhob sich und umfasste ihre Finger. Dann rückte er einen Stuhl für sie zurecht. „Hallo, Cassie. Sie sind noch hübscher, als ich Sie in Erinnerung hatte. Aufgeweicht, aber hübsch." Cassie lachte. „Wir kommen direkt aus dem Schwimmbad. Leider hatte ich keine Zeit, mir das Haar zu trocknen." „Schwimmen Sie gern?" „Oh ja, aber der Spaß endete viel zu früh." Wyatt zuckte bei ihren Worten zusammen. Matt nahm wieder Platz. „Sie scheinen sich rasch einzuleben. Eines würde mich allerdings interessieren - woher, um alles in der Welt, wussten Sie, dass ich hier bin?" „Ich würde gern behaupten, es handle sich um den berühmten sechsten Sinn, aber den habe ich nur bei wenigen Menschen. Ehrlich gesagt, ich habe Sie schon in der Halle gehört." Lachend wandte Matt sich zu Wyatt um, dessen angespannte Miene ihm Unbehagen bereitete. „Katy erwartet euch beide um sechs. Ich würde dir ein Mittagsschläfchen empfehlen, Wyatt. Solltest du nämlich so aussehen wie jetzt, wenn du nachher bei uns auftauchst, wird sie dich das Wochenende über ans Bett im Gästezimmer fesseln." „Wie sieht er denn aus, Dr. Franklin?" fragte Cassie spontan. „Stimmt etwas nicht mit ihm?" Verwundert registrierte Matt ihr besorgtes Gesicht. „Er sieht nur müde aus, Cassie." Er tätschelte ihr besänftigend die Hand. „Sie arbeiten offenbar zu hart mit ihm." „Meine Augen sind lediglich vom Chlor gereizt, das ist alles", versicherte Wyatt und warf Matt einen vernichtenden1 Blick zu. „Dr. Franklin glaubt, gerötete Augen seien ein Anzeichen von Krankheit, und Katy bemuttert mich gnadenlos." „Oh." Cassie nickte unsicher. „Dann lasse ich euch beide jetzt zum Lunch allein." Matt stand auf. „Bis nachher."
„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, Dr. Franklin." Sie lächelte ihn an. „Es ist eine wunderbare Abwechslung, im Familienkreis zu essen." Matt schaute Wyatt über ihren Kopf hinweg warnend an. „Ich will, dass ihr beide heute Abend ausgeruht seid. Also keine anstrengenden Übungen am Nachmittag." Nachdem er verschwunden war, herrschte verlegenes Schweigen, das nur kurz durch Helen unterbrochen wurde, die die Bestellungen notieren wollte. Sie war so kühl und abweisend wie immer, aber diesmal achtete Cassie nicht auf die unverhohlene Feindseligkeit der Frau. „Bist du wirklich erschöpft?" fragte sie, als Helen gegangen war. „Du musst schrecklich aussehen, wenn Dr. Franklin solch ein Aufhebens darum macht." „So ist er eben", erwiderte er schroff. „Er sorgt sich wie ein liebender Vater und bildet sich Probleme ein, wo gar keine sind." „Verstehe." Eine Weile äußerten beide kein Wort, dann meinte Cassie: „Es geht um mich, oder? Du hast Zweifel wegen meiner Therapie." Er beschloss, ehrlich zu sein. „Uns läuft die Zeit davon, Cassie, wir haben nur noch eine Woche. Ja, ich habe Zweifel. Ich liege nachts wach und grüble darüber nach." Sie malte sich aus, wie er in die Dunkelheit starrte und an sie dachte. „Ich denke, du bist körperlich und seelisch bereit, dich den Erinnerungen zu stellen, die für deine Blindheit verantwortlich sind", fuhr er fort. „Nur deine Reaktion auf mich hält dich zurück. Vielleicht sollte ich dich gar nicht behandeln. Die Beziehung, die du dir zwischen uns erträumst, steht dir im Weg." „Ich erträume mir keine Beziehung", entgegnete sie sanft. „Sie ist real, und das weißt du genauso gut wie ich." Ihre unerschütterliche Überzeugung frustrierte ihn. Er legte seine Hand auf ihre, um seinen nächsten Worten die Schärfe zu nehmen. Cassie drehte ihre Hand, so dass sie ihre Finger mit seinen verschränken konnte. Selbst diese eigentlich harmlose Berührung wirkte unbeschreiblich sinnlich. „Deine Gefühle sind nichts Außergewöhnliches. Patienten glauben oft, sie hätten sich in ihre Ärzte verliebt - insbesondere in Psychiater ..." „Erzähl mir nichts über Gefühlsprojektion, Wyatt. Ich habe alles darüber gelesen, und in diesem Fall trifft es einfach nicht zu." „Es ist ganz natürlich, dass du so empfindest. Wenn man sich einbildet, verliebt zu sein, wirkt diese Liebe echt." Sie lächelte nachsichtig. „Glaub, was du willst. Es wird mich nicht daran hindern, dich zu lieben." „Das geht nicht, Cassie. Du musst begreifen, dass du einer Illusion nachjagst, sonst ist meine Behandlung völlig zwecklos." Er zog seine Hand zurück. „Du bist berauscht von deinen Erfolgen. Du hast die Kraft, deine Vergangenheit zu erforschen, wenn du nicht von der Gegenwart abgelenkt wirst. Und weil ich für die Fortschritte verantwortlich bin, bist du mir dankbar. Unbewusst hast du entschieden, mir deine Liebe als Lohn anzubieten - so einfach ist das." Cassie lächelte. „Aus deinem Mund klingt es ziemlich trocken und klinisch." „Und logisch. Es passiert häufig." „Verlieben sich all deine Patientinnen in dich?" neckte sie ihn. „Viele - zumindest bilden sie es sich ein. Aber nur vorübergehend", fügte er rasch hinzu. „Das Gefühl verblasst, sobald sie es durchschaut haben." Er zuckte zusammen, als sie unter dem Tisch eine Hand auf seinen Oberschenkel legte. Sofort rutschte er mit dem Stuhl zurück. „Und machen sie dich alle so nervös?" erkundigte sie sich. „Gott sei Dank sind nicht alle so schamlos wie du", flüsterte er verärgert. Ehe er wusste, wie ihm geschah, sprang sie auf, setzte sich auf seinen Schoß und umfasste sein Gesicht. „Verdammt, Cassie", raunte er mit hochrotem Kopf. Wenn er auch nur einen
Rest von Würde wahren wollte, musste er unter allen Umständen eine Szene vermeiden. „Steh auf! Der Raum ist voller Menschen." „Ich sehe niemanden." Spielerisch ließ sie die Zungenspitze über seine Unterlippe gleiten. Wyatt stöhnte leise auf, hatte sich jedoch gleich wieder unter Kontrolle. Er umspannte mit beiden Händen ihre Taille, hob sie mühelos hoch und stellte sie auf die Füße. Cassie hörte hier und da erstauntes Raunen. Zufrieden kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück, während Wyatt nach Atem rang. Sie hatte jedoch nicht bemerkt, dass Helen inzwischen an den Tisch gekommen war. „Hoffentlich störe ich nicht", sagte die Frau frostig. „Der Lunch ist fertig." Sie knallte beide Teller so achtlos aufs Tischtuch, dass sie vor Wyatt etwas Weinsauce verschüttete. Er war viel zu verlegen, um sie tadelnd anzuschauen, viel zu wütend auf sich selbst, um seiner Stimme zu trauen. Als er die Sprache wieder gefunden hatte, war Helen längst gegangen. „Tu das nie, nie wieder, Cassie", befahl er drohend. „Ich will nicht, dass du deine kindlichen Fantasien vor dem Personal auslebst. Hast du mich verstanden?" Cassie traute ihren Ohren kaum. Sie hatte ihn doch nur geküsst. Was war daran so schlimm? „Nein, ich habe dich nicht verstanden." „Das wirst du auch nie", erklärte er verächtlich. „Genau darin liegt das Problem. Du warst zu lange eingesperrt, um dich je in der wirklichen Welt zurechtzufinden, und ich war zu dumm, das zu erkennen. Eigentlich sollte ich dir dankbar sein, dass du es mir so deutlich vor Augen geführt hast. Ich werde dich künftig nicht mehr wie eine Frau, sondern wie ein Kind behandeln." „Ich habe dich in Verlegenheit gebracht", wisperte sie. „Es tut mir Leid." Seine gleichgültige Antwort jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. „Iss auf, du hast den Rest des Nachmittags frei. Ich würde das Dinner mit den Franklins gern absagen, aber dann müsste ich mir eine plausible Ausrede einfallen lassen. Also müssen wir es irgendwie durchstehen. Ich hole dich um Viertel vor sechs ab." „Ich bin nicht hungrig." Sie schob ihren Teller beiseite. „Wie du meinst", erwiderte er gelangweilt und beobachtete, wie sie sich erhob und hinausging. Während sie mit schweren Schritten die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg, fragte sie sich bekümmert, ob sein Zorn sich wieder legen würde.
10. KAPITEL
Cassie klammerte sich an den Schalensitz des flachen Sportwagens und fühlte sich so unbehaglich wie noch nie in ihrem Leben. Seit der knappen Begrüßung, als Wyatt sie am Haupthaus abgeholt hatte, war kein Wort mehr gefallen. Seine unverhohlene Gleichgültigkeit ihr gegenüber zerstörte auch die letzte Hoffnung, dass er ihre Gefühle erwidern könnte. Obwohl Wyatt sich bemühte, die Augen unverwandt auf die Straße zu richten, schweifte sein Blick immer wieder zu der zusammengekauerten Gestalt zu seiner Rechten. Er bog in eine gewundene, von Pinien gesäumte Auffahrt und hielt den Wagen schließlich vor einem anmutigen Gebäude im Kolonialstil an. „Wir sind da", erklärte er ruhig und wandte sich zum ersten Mal ganz zu Cassie um. „Ich glaube, ich habe noch gar nicht erwähnt, wie hübsch du heute Abend aussiehst. Dein Kleid gefällt mir." Die moosgrüne Seide ließ ihr Haar noch intensiver leuchten und harmonierte erstaunlicherweise perfekt mit ihren blauen Augen. Sein Blick fiel auf den V-Ausschnitt, der über dem Ansatz ihrer wohlgeformten Brüste endete. Hastig öffnete Wyatt die Tür. Nachdem er ihr aus dem Auto geholfen hatte, blieb sie vor ihm stehen. „Wyatt..." begann sie zögernd, um sich gleich darauf zu korrigieren. „Dr. Field, ich muss Ihnen etwas sagen, sonst wird der Abend für mich unerträglich." Sie hob die Hand an seine Wange, ihr Daumen berührte seinen Mundwinkel. „Ich möchte mich für den Vorfall beim Lunch entschuldigen. Es war äußerst gedankenlos von mir, Sie vor Ihren Kollegen und Mitarbeitern derart in Verlegenheit zu bringen." Impulsiv bedeckte er ihre Hand mit seiner. „Können Sie mir verzeihen?" Er verstärkte den Druck seiner Finger, bevor er den Kopf leicht drehte und ihre Handfläche küsste. Cassies Herz klopfte, als wollte es zerspringen. Rasch zog sie die Hand zurück, seine zärtliche Geste verwirrte sie. „Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss, Cassie, denn ich war viel zu grob. Ich war viel wütender auf mich als auf Sie und habe mich falsch verhalten. Können wir Freunde bleiben oder wenigstens Waffenstillstand wahren? Wenn wir den heutigen Tag vergessen, können wir Ihre Behandlung fortsetzen." Sie nickte traurig. Wie sollte sie diesen Tag je vergessen oder so tun, als würde sie nichts Ernstes für Wyatt empfinden? „Kommt herein, ihr beiden", rief Dr. Franklin ihnen von der Haustür zu. Katy Franklin lächelte bewundernd, als ihr Cassie wenig später vorgestellt wurde. „Wissen Sie überhaupt, wie schön Sie sind, mein Kind? Hat Matthew Sie schon gebeten, mit ihm durchzubrennen?" Cassie errötete bei diesem Kompliment. Resolut nahm Katy ihre Hand, führte sie zu einer langen Couch im angrenzenden Wohnzimmer und zog sie neben sich auf die Polster. „Es war sehr freundlich von Ihnen, mich zum Dinner einzuladen, Mrs. Franklin." „Unsinn. Und nennen Sie mich um Himmels willen Katy. Ich halte es nicht aus, einen ganzen Abend lang mit ,Mrs. Franklin' angesprochen zu werden. Dann müsste ich mich nämlich tadellos benehmen, und das kann ich nicht, wie Matt und Wyatt Ihnen bestätigen werden." „Stimmt", rief Wyatt aus der Halle. „Du hast bereits einen deiner Gäste völlig ignoriert, Katy. Hast du denn gar keine Manieren?" Cassie stutzte. Dieser warme, liebevoll-scherzhafte Tonfall von Wyatt war ihr neu. „Entschuldigen Sie mich, Liebes", flüsterte Katy ihr ins Ohr. „Ich muss den extrem attraktiven Mann begrüßen, der Ihnen gefolgt ist."
Wyatt lächelte die untersetzte Frau an, die ihm entgegeneilte. Sie umarmte ihn herzlich und küsste ihn auf die Wange. „Hallo, mein Lieber. Du wirkst ein bisschen müde. Geht es dir gut?" „Hör auf, Katy. Matt hat mir heute schon wegen meines guten Aussehens Vorwürfe gemacht. Mein Ego verträgt keinen weiteren Tief schlag - insbesondere nicht von der schönsten Frau der Welt." Mit geheuchelter Bescheidenheit strich Katy sich über das kurze graue Haar. „Ich reiche diesen Titel huldvoll an Cassie weiter", erwiderte sie und schaute zur Couch hinüber. „Ich bin absolut keine Konkurrenz für sie. Komm und setz dich, nein, nicht hier ... in den Sessel dort. Matt spielt wieder den Barkeeper und hat ein teuflisches Gebräu für uns gemixt." „Das habe ich gehört, Weib", beschwerte Dr. Franklin sich, als er die Drinks servierte, und Cassie beneidete unwillkürlich die Frau, der die tiefe Zuneigung in seiner Stimme galt. „Es sind garantiert die besten Cocktails, die ihr je getrunken habt." „Und die farbigsten." Katy betrachtete skeptisch die grellrote Mischung in ihrem Glas. „Es ist köstlich", versicherte Cassie. „Das Mädchen hat Geschmack", lobte Dr. Franklin. „Cassie kommt aus der Stadt, Katy. Hatte ich dir das erzählt?" „Nein, hast du nicht." Scheinbar gekränkt ließ Katy sich wieder auf der Couch nieder. „Und ich habe schlichte Hausmannskost vorbereitet. Sie müssen es mit Würde tragen, Cassie. Das Essen heute Abend dürfte sich grundlegend von dem unterscheiden, was Sie sonst gewöhnt sind." „Was immer es ist, es riecht wundervoll. Wie ..." Cassie schloss die Augen. Wyatt sah sie prüfend an. „Wie was, Cassie?" „Wie es früher in unserer Küche gerochen hat, wenn die Köchin freihatte und Mom kochte." Wyatt schaute zu Matt hinüber, der anerkennend nickte. Katy beobachtete die beiden Männer verwundert. Matthew hatte ihr lediglich erzählt, dass die junge Patientin, die sie zum Dinner erwarteten, an partieller Amnesie leide und Wyatt hoffe, in häuslicher Umgebung ihr Erinnerungsvermögen zu stimulieren. Bislang schien der Plan aufzugehen. Eines hatte Matthew allerdings nicht erwähnt. Etwas so Offensichtliches, dass man es nur als Narr oder Blinder übersehen konnte. Und ihr Ehemann war weder das eine noch das andere. Lächelnd lehnte Katy sich zurück, während Matt mit den Gästen plauderte. „Nimmst du nächsten Monat an dem Seminar teil, Wyatt?" erkundigte er sich. Katy leerte ihr Glas und stand auf. „Das reicht", erklärte sie. „Wenn sie über den Job reden, sollten wir hier verschwinden, Cassie. Wir kümmern uns ums Dinner, und sie können nachher abwaschen." „Ich soll Ihnen helfen?" fragte Cassie ungläubig und begeistert zugleich. „Bin ich Ihnen nicht im Weg?" „Keinesfalls. Ich werde Sie schon beschäftigen. Kommen Sie, Liebes. Zur Küche geht es hier entlang." Cassie folgte ihr durch eine Schwingtür in einen Raum, der hell ¦ und luftig wirkte. „Warum setzen Sie sich nicht an den Tisch? Ich bringe Ihnen die Vorspeisen und eine Platte, auf der Sie alles anordnen können." Cassie war viel zu aufgeregt, um sich vor der ungewohnten Aufgabe zu fürchten. Sie hörte, wie mehrere Behälter vor ihr auf den Tisch gestellt wurden, und roch Oliven, sauer eingelegtes Gemüse, Karotten und Sellerie. „Hier ist die Platte. Arrangieren Sie alles nach Ihrem Geschmack. Ich hole inzwischen neue Drinks." Als Katy ins Wohnzimmer kam, nahm Matt sie beiseite. „Was ist nur in dich gefahren? Du hast noch nie einen Gast in die Küche gebeten, geschweige denn von ihm verlangt, sich sein eigenes Essen zu kochen."
Sie griff nach den Gläsern. „Du wolltest doch eine familiäre Atmosphäre", erinnerte sie ihn leise. „Jede Mutter lässt sich von ihrer Tochter in der Küche helfen, oder?" Lächelnd blickte Matt seiner Frau nach, die wieder durch die Schwingtür verschwand. Erwartungsvoll hob Cassie den Kopf. „Wie finden Sie mein Werk?" fragte sie zaghaft. „Sehr schön, meine Liebe, aber Sie waren viel zu schnell. Würde es Ihnen etwas ausmachen, den Kartoffelsalat abzuschmecken? Ich hinke im Zeitplan ein bisschen hinterher." „Kartoffelsalat?" wiederholte Cassie unsicher. Katy brachte eine große Steingutschüssel zum Tisch. „Wie ich schon sagte, Hausmannskost. Gebratenes Hähnchen, Kartoffelsalat, Gemüse aus dem Garten und Apfelkuchen. Hier. Salz und Pfeffer stehen auf zwei Uhr, Paprika auf drei." „Ich weiß nicht, wie man Kartoffelsalat abschmeckt", meinte Cassie bekümmert. „Ich habe noch nie gekocht." „Kein Problem", beruhigte Katy sie. „Kosten Sie einfach, und geben Sie so lange Gewürze zu, bis es Ihnen schmeckt. Nur Mut. Es ist nahezu unmöglich, Kartoffelsalat zu ruinieren." „Okay." Stirnrunzelnd steckte sie einen großen Holzlöffel in die Schüssel. Wahrend Katy sich am Herd zu schaffen machte, lächelte sie über die ernste Miene des hübschen Mädchens. „Das erinnert mich an die Stunden, in denen ich meiner Tochter Marianne das Kochen beigebracht habe." „Dr. Field hat mir erzählt, dass sie geheiratet hat und fortgezogen ist. Sie müssen sie vermissen." „Ja, sehr. Deshalb freue ich mich, Sie bei mir zu haben." Cassie streute Salz über den Salat. „Ist es Ihnen nicht lästig, Besuch von Patienten zu haben?" „Nein." Katy lachte. „Sie sind die allererste Patientin. In all den Jahren, die wir hier leben, habe ich nie einen Windrow-Zögling getroffen, geschweige denn bewirtet." „So?" Verwundert hob Cassie den Kopf. „Warum ...?" Katy zögerte. Sie hatte noch nie gut lügen können. „Das habe ich mich auch gefragt." Sie setzte sich zu Cassie an den Tisch. „Hier ist Ihr Drink. Die Bohnen brauchen noch mindestens zehn Minuten. Wir können uns also eine kleine Pause gönnen." Sie trank einen Schluck. „Matthew hat mir lediglich berichtet, Sie würden unter einer seltenen Form von Amnesie leiden, und dass Wyatt hofft, die häusliche Atmosphäre würde ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, damit Sie wieder sehen können." „Meine Mutter wurde bei dem Autounfall getötet, durch den ich blind geworden bin. Ich kann mich an das Unglück nicht erinnern." Katy seufzte mitfühlend. „Verstehe. Mir fällt also in dem Plan die Mutterrolle zu. Deshalb sind Sie hier. Zumindest ist das einer der Gründe." Cassie war enttäuscht und schämte sich beinahe, dass der Abend ein therapeutisches Experiment darstellte und diese warmherzige Frau dazugehörte. „Ich denke allerdings, dass Matt noch ein anderes Motiv hatte - abgesehen davon, dass er Sie mag und wusste, wie sehr ich mich über Ihren Besuch freuen würde. Meiner Meinung nach hegt er einen ganz bestimmten Verdacht." „Und welchen?" „Dass Sie und Wyatt ineinander verliebt sind." „Wie bitte?" „Oh Liebes, es ist so offensichtlich, dass es schon fast komisch wirkt. Sie beide geben sich redlich Mühe, so zu tun, als wäre nichts - sogar voreinander. Mir sind noch nie zwei Menschen begegnet, die sich derart anstrengen, einander nicht zu lieben." Katy streichelte ihr die Wange. „Wenn Sie sehen könnten, wie Wyatt Sie anschaut, vor allem wenn er sich unbeobachtet glaubt, dann wüssten Sie Bescheid. Sie können es übrigens genauso wenig
verbergen. Ich begreife nicht, warum ihr euch so sträubt. Liebe ist doch gar nicht so schlimm." Plötzlich wollte Cassie unbedingt herausfinden, wie ihre Gastgeberin aussah. Katy saß regungslos da, während die Finger über ihr Gesicht huschten. „Was ist, Liebes?" fragte sie, als sie die Tränen in Cassies Augen bemerkte. Instinktiv zog sie die junge Frau an sich. Cassie erwiderte scheu die tröstliche Umarmung und trauerte um die Mutter, die seit achtzehn Jahren tot war. Und dann begann sie zu reden. Katy lauschte schweigend, als Cassie ihr von den Erfolgen und Enttäuschungen der letzten Woche berichtete. Katys Arme waren warm, und es tat so gut, beschützt und behütet zu werden. Mrs. Carmody hatte sich zwar bemüht, aber es war ihr nie gelungen, einem mutterlosen Kind das Gefühl von Zuneigung zu vermitteln. Zum ersten Mal seit dem Tod der Mutter wurde Cassie rückhaltlose Herzensgüte zuteil. „Sie haben sich zu leicht von Wyatt überzeugen lassen, dass er nichts für Sie empfindet, obwohl alle Zeichen dagegen sprachen", sagte Katy sanft. „Haben Sie so wenig Selbstbewusstsein, dass Sie lieber seine Behauptungen geglaubt haben, statt zu kämpfen?" Widerstrebend löste Cassie sich aus den Armen der älteren Frau und trocknete ihre Tränen. „Er war sehr überzeugend." „Daran wird sich vermutlich auch nichts ändern. Liebe ist für Wyatt nämlich eine völlig neue Erfahrung. Er hatte schon immer Angst, sich zu binden. Außerdem ist er Ihr Arzt. Es ist Ärzten streng verboten, sich in ihre Patienten zu verlieben." Katy berührte sacht Cassies Wange. „Er liebt Sie, das ist so deutlich wie die Nase in Ihrem Gesicht." „Ich kann meine Nase nicht sehen", erinnerte Cassie sie. „Aber das heißt doch nicht, dass sie nicht da ist. oder?" Cassie strotzte förmlich vor Selbstvertrauen, als sie später am Esstisch Platz nahmen. Wyatt spürte das unsichtbare Band zwischen den beiden Frauen. Obwohl er nicht wusste, was sich in der Küche abgespielt hatte, ahnte er, dass er" erneut die Kontrolle verloren hatte. Wie bereits am Vormittag wirkte sie auch jetzt sonderbar zufrieden und stolz, und er bereute den Impuls, der ihn bewogen hatte, sie herzubringen. Solange Cassie glücklich war, gab es keine Möglichkeit, in ihre Psyche vorzudringen, kein Mittel, die schwarze Mauer ihrer Blindheit einzureißen. Bekümmert betrachtete er ihr fröhliches Gesicht. Diese Unbeschwertheit würde er bei der erstbesten Gelegenheit zerstören müssen. Vielleicht morgen, wenn er Cassie für sich allein hatte und ihre neuen Freunde ihr keinen moralischen Beistand leisten konnten. Dann würde er von vorn anfangen. Kaum hatte Matt die Tür hinter Cassie und Wyatt geschlossen, stemmte Katy missbilligend die Hände in die Hüften. „Warum hast du mir nichts davon gesagt?" fragte sie. „Du wusstest doch, dass die beiden ineinander verliebt sind." Er zog seine Frau an sich. „Bei Wyatt habe ich es vermutet, aber ich brauchte die Bestätigung einer Expertin. Hätte ich vorher etwas erwähnt, hätte ich dein Urteil vielleicht beeinflusst." „Ich hoffe, du hast Wyatt den Kopf gewaschen. Er versucht, Cassie einzureden, ihre Empfindungen wären lediglich eine Gefühlsprojektion, außerdem behauptet er, sie würde ihm nichts bedeuten. Es bricht dem armen Mädchen das Herz - dabei ist sie genau die Richtige für ihn. Es ist höchste Zeit, dass er heiratet." Matt lachte. „Übertreibst du nicht ein wenig?" „Menschen, die sich lieben, sollten heiraten. Du musst mit Wyatt sprechen, er macht nämlich einen großen Fehler."
„Ich weiß nicht recht, Katy. Es gibt diese Gefühlsübertragungen. Vielleicht sind Wyatts Befürchtungen in diesem Punkt begründet. Außerdem kann ich mich nicht in sein Privatleben einmischen, das würde er mir nie verzeihen." Sie ließ sich nicht beirren. „Wirst du nun mit ihm reden, oder soll ich es erledigen?" Aus langjähriger Erfahrung wusste Matt, dass seine Frau sich von einem einmal getroffenen Entschluss nicht abbringen ließ. „Na gut, aber wenn er nie wieder ein Wort mit uns wechselt, ist es deine Schuld." Sie nickte zufrieden. „Morgen." „Morgen ist Sonnabend und mein freier Tag!" „Es wird nicht lange dauern, Matt. Zum Lunch bist du wieder zu Hause."
11. KAPITEL
Cassie erwachte am nächsten Morgen voller Optimismus. Ihre Blindheit, die Ungewisse Zukunft, der Tod ihres Vaters - all das verblasste zu einem Nebel der mit dem Hier und Jetzt nichts zu tun hatte. Katy hatte bestätigt, dass Wyatt sie, Cassie, liebte, und verglichen damit, war alles andere nebensächlich. Lächelnd erinnerte sie sich an den vergangenen Abend. Die warme, freundschaftliche Atmosphäre, die sie und Wyatt bei den Franklins genossen hatten, war auch auf der kurzen Heimfahrt nicht gewichen. Cassie hatte einen völlig neuen Wyatt Field kennen gelernt: amüsant, zuvorkommend und ein charmanter Plauderer. Sie hatte kein Wort über den wundersamen Wandel verloren, weil sie instinktiv wusste, dass die Anwesenheit der Franklins sie vor dem Psychiater Wyatt Field schützte und ihr gleichzeitig die Begegnung mit dem Mann Wyatt Field ermöglichte. Und der Mann Wyatt Field liebte sie. Als sie hinunterging, erwartete Wyatt sie bereits am Fuß der Treppe. „Wir frühstücken auf der Veranda", sagte er. „Im Westen braut sich ein Sturm zusammen, vielleicht ist es die letzte Gelegenheit, heute etwas frische Luft zu schnappen." Sie nickte zustimmend und lief ihm voran zur Vordertür. Seiner Anweisung folgend, wandte sie sich nach links und tastete sich an der Brüstung entlang, bis sie auf einen Stuhl stieß. Nachdem sie sich gesetzt hatte, brachte ein Kellner Kaffee und ein Körbchen mit süßen Brötchen. Als sie wieder allein waren, atmete sie tief durch. „Ich weiß, dass du mich liebst, Wyatt." Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann hörte sie, wie er seine Tasse abstellte. Wyatt blickte hinaus auf den Park. Dunkle Wolken ballten sich zusammen wie eine gigantische Decke, die über den blauen Himmel gezogen wurde. Der Sturm würde schlimm werden. „Ich dachte, das hätten wir ein für alle Mal geklärt, Cassie." „Es ist sogar Katy aufgefallen", beharrte sie. Ich hätte dir fast geglaubt, aber dann hat Katy mir die Augen geöffnet. Warum leugnest du es? Weil ich deine Patientin bin? Ist das der einzige Grund?" Die Gewitterfront bewegte sich rasch ostwärts. Seufzend lehnte Wyatt sich zurück. „Meine Mutter war blind." Warum erzählte er ihr das? „Durch einen Reitunfall", fuhr er fort. „In ihren Kreisen eine höchst elegante Art, das Augenlicht zu verlieren. Man trug sie von den Feldern herein, während der Rest der Gruppe den Jagdausflug fortsetzte. Unfassbar, oder?" Er trank einen Schluck, den Blick unverwandt auf den Horizont gerichtet. „Sie war eine energiegeladene Frau und hasste Gebrechen, besonders bei sich selbst. Sie hat noch eine Weile gelebt - oder besser gesagt, dahinvegetiert -, dann brachte sie sich um." Cassie wagte kaum zu atmen. „Sie haben mich einmal gefragt, was mich Blinden gegenüber so unerbittlich gemacht hat. Ich denke, das war der Anlass. Ich musste miterleben, wie meine Mutter sich abkapselte und alles ignorierte, was ihr Leben hätte bereichern können. Dafür habe ich sie gehasst, und als sie starb, hasste ich sie, weil sie mich verlassen hatte." Er lachte bitter. „Später lernte ich, die Schwäche zu hassen, an der sie zu Grunde gegangen ist. Dagegen kämpfe ich bei meinen Patienten an." Der Wind hatte sich gelegt, die Luft war schwer und feucht. „Ich mag Sie, Cassie. So wie ich die meisten meiner Patienten mag. Und weil ich ein Mensch bin, fühle ich mich auch körperlich zu Ihnen hingezogen. Aber Liebe? Selbst Sie sollten inzwischen verstehen, warum ich Sie nie lieben könnte. Sie sind das lebende Beispiel für die Schwäche, die meine Mutter in den Tod getrieben hat." Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich glaube, Sie sind sogar noch schlimmer, als sie war. Sie hatte zumindest
keine Wahl, was ihre Blindheit betraf. Sie hingegen sind blind, weil Sie es so wollen. Und nun verraten Sie mir, was man daran lieben soll?" Cassie war wie betäubt. Katy hatte sich also geirrt, doch das war nun nicht mehr wichtig. Durch eine grausame Laune des Schicksals erinnerte sie Wyatt an einen schrecklichen Abschnitt seiner Vergangenheit, und diese Barriere ließ sich nicht überwinden. Was immer sie füreinander empfunden haben mochten, war nicht stark genug. Wyatt war für sie unerreichbar. Bedauernd sah er sie an. „Matt möchte mich kurz im Untersuchungszentrum sprechen", sagte er. Sie rang sich ein Lächeln ab und nickte. „In Ordnung." „Es wird nicht lange dauern. Wenn ich zurück bin, reden wir." „Gut, Dr. Field." Während sie einen Schluck lauwarmen Kaffee trank, registrierte ihr Unterbewusstsein, dass Wyatt den Tisch verließ, die Stufen hinunterstieg und den Platz überquerte. Der Morgen war so ruhig, dass sie sogar trotz des plätschernden Springbrunnens hörte, wie die Tür des Ärztehauses ins Schloss fiel. Eine innere Stimme riet Cassie, das Hauptgebäude zu verlassen und zu laufen. Mit langen Schritten umrundete sie das Haus und bewegte sich durch das Unkraut in Richtung Wald. Hinter ihr bedeckten die schwarzen Wolken bereits die Hälfte des Himmels, und das Laub raschelte in den ersten Böen. Cassie hatte gerade den verwilderten Streifen hinter dem Haupthaus überwunden, als Wyatt Matt Franklin beruhigte, der sich dafür entschuldigt hatte, weil er in die Privatsphäre seines Freundes eingedrungen war. „Schon gut, Matt. Wenn es so offensichtlich ist, musst du dich sogar nach meiner Beziehung zu Cassie erkundigen. Außerdem weiß ich, dass du das Thema nur aus Sorge angeschnitten hast." „Ich hätte nichts davon erwähnt, wenn man mich nicht dazu gezwungen hätte. Katy hat gedroht, selbst mit dir zu reden, falls ich mich weigere. Und das wollte ich dir ersparen." Wyatt lächelte. „Ich könnte Katy oder dir wohl nie etwas vormachen, oder?" „Trotzdem versuchst du, Cassie zu täuschen. Warum behauptest du ..." „Dass ich sie nicht liebe?" unterbrach ihn Wyatt. „Lächerlich, nicht wahr? Ein Psychiater verliebt sich in seine Patientin." „Aber sie liebt dich ebenfalls." „Mag sein. Falls es so ist, wird alles nur noch schlimmer. Du weißt genauso gut wie ich, was Zufriedenheit jetzt bei Cassie anrichten könnte. Sie würde bequem werden und sich nicht mehr bemühen, irgendetwas zu ändern. Sie würde sich auch nicht mehr erinnern wollen." Er seufzte. „Liebe würde Cassie zur Blindheit verdammen. Sobald sie ohne ihr Sehvermögen glücklich ist, braucht sie es nicht mehr. Wenn allerdings das Sehvermögen das Einzige ist, was ihr bleibt, wird sie sich vielleicht darum bemühen." „Wenn du sie überzeugst, dass sie dich verloren hat, wird sie sich möglicherweise völlig zurückziehen und aufgeben", meinte Matt. „Ein gewaltiges Risiko." „Das weiß ich, aber ich musste die Chance ergreifen. Vielleicht weckt neuer Kummer den alten Schmerz." Matt hob entsetzt den Kopf. „Du musstest? Du hast es bereits getan?" „Vor wenigen Minuten." Wyatt stand auf. „Jetzt gehe ich zurück und stoße ihr das Messer ins Herz - falls ich es über mich bringe. Solange sie verletzlich ist, habe ich die Hoffnung, ihre Erinnerung zu aktivieren." „Und wenn es nicht funktioniert?" Frustriert zuckte Wyatt die Schultern. Matt sah den Schmerz in den Augen seines Freundes und nickte ihm aufmunternd zu. „Ich begleite dich zum Haus."
Der Wind riss Wyatt die Tür aus der Hand und schleuderte sie gegen die Außenwand. „Es wird ein böser Sturm." Matt fröstelte. „Ich sollte besser gleich heimfahren." Er wollte sich schon zum Parkplatz wenden, als er Wyatts besorgte Miene bemerkte. „Was ist los?" „Sie ist nicht da. Ich habe sie auf der Veranda zurückgelassen, und nun ist sie fort." „Sie ist nicht dumm, Wyatt. Die Temperaturen sind seit heute Morgen stark gefallen. Vermutlich ist sie wieder hineingegangen." Wyatt sprintete zum Haus, ohne sich von seinem Freund zu verabschieden. „Ruf mich an!" schrie Matt ihm hinterher, doch seine Worte wurden von einer heftigen Bö fortgeweht. Cassie war nicht im Haus. Weder im Erdgeschoss noch in ihrem eigenen Zimmer. Was als vager Verdacht begonnen hatte, entwickelte sich zu einem Albtraum, während Wyatt durchs Haus stürmte und Türen aufriss. Nachdem er die Küchenhilfen aufgeschreckt hatte, kehrte er auf die Veranda zurück. Nach einem kurzen Blick auf den bedrohlichen Himmel rannte er wieder hinein und griff mit zitternden Fingern nach dem Telefon in der Halle.
12. KAPITEL
Cassies Fuß verfing sich in einer hervorstehenden Wurzel. Sie strauchelte, verlor das Gleichgewicht und landete mit ausgestreckten Händen auf dem harten Boden. Nachdem sie wieder aufgestanden war, wischte sie die Finger an ihren Jeans ab und marschierte ohne Zögern weiter. Eine innere Stimme warnte sie, dass sie den Kamm des Hügels eigentlich längst erreicht haben müsste und der Hang steiler war als der Anstieg, den Wyatt und sie neulich genommen hatten. Egal. Es war unwichtig, ob sie sich verlief. Sie war unterwegs, und die körperliche Anstrengung hatte eine beruhigende Wirkung. Sie bemerkte nicht, wie der Wind drohend durch die hohen Gipfel der alten Bäume pfiff. Sie bemerkte auch nicht, dass die Luft immer kälter wurde. Im Gegenteil, Cassie war beinahe zu warm. Sie kletterte, als Matt und Wyatt sich im Untersuchungszentrum unterhielten; sie kletterte, als sie das Gebäude verließen; sie kletterte, als Wyatt von Panik getrieben durchs Haus stürmte. Irgendwann kam sie zu einer zerklüfteten Kuppe, die ungefähr eine Meile von Windrows gepflegtem Park entfernt war. In diesem Moment griff Wyatt nach dem Telefon. Cassie sank keuchend gegen den knorrigen Stamm einer Eiche, der Wind presste ihr die schweißgetränkte Bluse an die Haut. Erst jetzt hörte sie den nahenden Sturm und das ferne Donnergrollen. Plötzlich war ihr kalt. Maggie eilte durch die Vordertür, gefolgt von einer heulenden Bö, die die Farne in der Halle erzittern ließ. Im Foyer waren die Angestellten versammelt und warteten auf Anweisungen. Wyatt löste sich von einer Gruppe und kam auf Maggie zu. Nach einem kurzen Blick auf sein Gesicht wusste sie, dass Cassie noch vermisst wurde. „Gütiger Himmel, Wyatt! Was ist Ihnen denn zugestoßen?" Sein weißes Hemd war zerrissen und schmutzig, seine Wange war von einem Zweig zerkratzt. „Ich war auf dem Hügel. Neulich war ich mit ihr oben, und deshalb dachte ich, dass sie vielleicht dorthin gegangen ist." Er atmete tief durch. „Wir haben das Gelände und alle Gebäude abgesucht. Es gibt keine Spur von ihr." Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. „Die Polizei ist unterwegs." Mitfühlend und besorgt zugleich strich sie ihm eine Locke aus der Stirn. „Was kann ich tun, Wyatt?" „Teilen Sie die Leute ein, Maggie. Ich muss wieder raus. Sie ist irgendwo im Wald, und wir müssen sie aufspüren." Als er zur Tür lief, folgte ihm Maggie. „Hier." Sie streifte sich den Poncho über den Kopf. „Er ist zwar etwas klein für Sie, aber immerhin etwas. Bald fängt es an zu regnen, und wenn Sie auf Cassie treffen, wird sie den Umhang brauchen." „Falls ich sie finde", korrigierte er sie. „Richtig." Er zog den Poncho über und packte Maggies Schultern. „Hören Sie", flüsterte er drängend. „Die Polizisten haben mir gesagt, dass das Zentrum des Sturms erst in ungefähr einer Stunde über uns hinwegtobt. Im ganzen County sind Häuser abgedeckt und Stromleitungen gekappt, bei uns werden wahrscheinlich die Bäume wie Streichhölzer knicken. Wir müssen Cassie vorher finden. Schicken Sie die Leute nicht zu weit fort, damit sie rechtzeitig zurück sind. Ich will nicht, dass jemand verletzt wird." „Ich kümmere mich darum", versprach sie. „Beeilen Sie sich, und sehen Sie zu, dass Sie selbst rechtzeitig wieder da sind." Solange ein Blinder nicht in Panik gerät, besitzt er einen erstaunlich präzisen Richtungssinn. Dank seiner ausgeprägten Instinkte kann ein Blinder sich oft schneller aus einem Irrgarten befreien als ein Sehender.
Cassies Unterbewusstsein orientierte sich an Wind, Schatten und Gelände und lenkte sie so zielstrebig an den Waldrand in der Nähe von Windrows Hauptgebäude. Als die Baumreihen jedoch lichter wurden, schwand der Schutz vor dem immer stärker werdenden Wind. Zum ersten Mal, seit sie die Veranda verlassen hatte, merkte sie, dass der Sturm kurz vor dem Ausbruch stand, und die Lethargie, mit der ihre Psyche sie bislang geschützt hatte, verflog. Knapp fünfzig Meter vom Haus entfernt erfasste sie das Entsetzen und lähmte ihre Instinkte. Eine Bö zerrte an ihrem Haar und peitschte es ihr ins Gesicht. Eisige Kälte drang durch ihre dünne Bluse. Cassie zitterte und spürte, wie ihre Knie nachzugeben drohten. Der Lärm war ohrenbetäubend, als der Wind an den Ästen hoch über ihr zerrte und über das freie Gelände heulte. Vergeblich versuchte sie, die Angst zu ignorieren und sich zu konzentrieren. Sie spürte, wie der Sturm sich immer weiter steigerte, und wich vor ihm zurück. Wäre sie bei klarem Verstand gewesen, hätte sie erkannt, dass ihre Flucht unter die vermeintlich schützenden Bäume sie weiter und weiter vom rettenden Windrow wegführte. Doch die Vernunft war längst von der tief verwurzelten Furcht vor den unberechenbaren Naturgewalten verdrängt worden. „Es ist nur ein Gewitter, Cassie", sagte sie sich laut, um sich Mut zuzusprechen. „Nur ein bisschen Regen, ein bisschen Blitz und Donner, mehr nicht." Sie bewegte sich tiefer in den Wald. „Hier ist der Wind nicht so stark. Du kannst hier bleiben, bis das Schlimmste vorbei ist. Setz dich, ruh dich aus, und später wirst du den Weg hinausfinden, oder sie kommen dich holen. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen." Sie ertastete den Stamm einer uralten Pappel und ließ sich auf der vom Wind abgewandten Seite nieder. Die ersten schweren Regentropfen prasselten auf die Baumkronen über ihr und fielen, durch das Laub gebremst, auf den Waldboden, wo Cassie sich zusammengekauert hatte. Bei jedem Donnergrollen zuckte sie zusammen. „Wyatt", flüsterte sie verzweifelt. „Wyatt, Wyatt, Wyatt." Ein greller Blitz schoss aus den schwarzen Wolken und schlug mit einem gewaltigen Getöse knapp dreißig Meter von ihr entfernt in eine morsche Ulme ein. Und dann brach der eigentliche Sturm los, und der Himmel öffnete seine Schleusen. Die Bäume knarrten und neigten sich, tote Äste fielen herab, und der Boden vibrierte vom Aufprall umstürzender Pinien. Irgendwann schmerzte Cassies Kehle vom ständigen Schreien, und es kam nur noch gelegentlich ein Wimmern über ihre Lippen. Der Sturm tobte mit unverminderter Stärke bis zum Mittag, dann zog er weiter, und die Welt wurde wieder ruhiger. Als die Gefahr vorüber war, wurde rasch ein Suchtrupp organisiert, der den verwüsteten Wald hinter Windrow durchkämmen sollte, aber obwohl jeder Sehende unterwegs war, neigte sich der Tag dem Ende zu, ohne dass eine Spur von Cassie oder Wyatt gefunden wurde. Bis zum späten Nachmittag hallte das Gelände von den Rufen der Helfer wider, danach kehrten sie zum Haus zurück, um sich mit Nahrung und trockener Kleidung zu versorgen, bevor sie erneut aufbrachen. Niemand, am allerwenigsten Wyatt, vermutete, dass Cassie sich so nahe am Hauptgebäude aufhielt, und deshalb blieb sie unentdeckt. Man war lediglich auf einen kleinen weißen Stofffetzen gestoßen. Er hing an einem Gebüsch, genau an der Stelle, wo Cassie ihre Wanderung durch den Wald beendet und sich in Richtung Windrow durchgeschlagen hatte. Von hier schwärmten die Leute aus und riefen ihren Namen, ohne zu ahnen, dass sie sich fast eine Meile hinter ihnen befand. Cassie erinnerte sich nicht, wann sie eingeschlafen war, und wusste auch nicht, was sie geweckt hatte, doch als sie zu sich kam, spürte sie deutlich, dass die Nacht hereinbrach und sie nicht allein war.
„Hallo?" Ihr Schrei war eher ein heiseres Krächzen. „Ist hier jemand?" Sie lauschte angestrengt. Sie hörte das Zwitschern und Flügelschlagen der Vögel, die einen Schlafplatz suchten, das gleichmäßige Tropfen von Wasser -und noch etwas. Das kaum wahrnehmbare Geräusch menschlicher Atemzüge. „Hier! Ich bin hier!" Aber niemand antwortete, keine Schritte näherten sich ihr, und selbst die Atemzüge schienen verstummt zu sein. Cassie zweifelte an ihren Sinnen. Es war jemand hier. Es musste jemand hier sein. Sie konnte sich unmöglich täuschen. Es sei denn, sie hatte geträumt und sich alles nur eingebildet. Sie tastete nach ihrer Uhr. Viertel nach acht. Bestimmt suchte man nach ihr. Sie war seit dem Morgen verschwunden und hatte einen furchtbaren Sturm überstanden. Sie mussten nach ihr suchen. „Wyatt", rief sie, so laut sie konnte. Er war nur wenige Tage Teil ihres Lebens gewesen, und dennoch konnte sie sich eine Zukunft ohne ihn nicht vorstellen. Plötzlich hörte sie wenige Meter vor ihr einen Zweig knacken, und gleichzeitig wehte ein zarter Duft zu ihr herüber. Lächelnd streckte sie eine Hand aus. Die Freude über ihre Rettung war stärker als die Gedanken an Wyatt. „Helen", flüsterte sie schwach. „Gott sei Dan]*." Obwohl Helen schwieg und die Hand nicht ergriff, wusste Cassie, dass sie da war. Der leichte Parfümgeruch stammte zweifelsfrei von ihr - genau wie die Schritte, die sich stetig entfernten. Entfernten? Die Erkenntnis traf Cassie wie ein Schlag. Helen lief fort! „Helen", wollte sie schreien, aber über ihre Lippen kam nur ein verzweifeltes Wispern. Warum? dachte sie. Warum verlässt sie mich? Woher sollte sie auch wissen, dass Helen nie die Absicht gehabt hatte, sich an der Suche zu beteiligen, und nur am Waldrand umhergewandert war, um den Eindruck zu erwecken, als würde sie sich ebenfalls sorgen. Stattdessen hatte sie inständig gehofft, Cassie möge unter einem der unzähligen vom Sturm gefällten Bäume begraben sein. Innerhalb eines Tages hatte Cassie die" Aufmerksamkeit des Mannes errungen, nach dem Helen sich insgeheim seit Jahren sehnte. Seine höfliche Gleichgültigkeit ihr gegenüber war ein ständiges Ärgernis für Helen, aber sie hatte sie akzeptiert, solange niemand sonst erreichte, was ihr verwehrt blieb. Aber dann war Cassie Winters aufgetaucht, und Helen hatte die Zuneigung in Wyatts Augen bemerkt. In diesem Moment war ihr Hass auf Cassie geboren. Tagtäglich hatte Helen mit ansehen müssen, wie sich Wyatts kühle Haltung in Verlangen nach diesem unselbst-ständigen Geschöpf verwandelte. Ihr Zorn war grenzenlos. Sie war über die Begegnung nicht weniger verblüfft als Cassie gewesen. Sie unverletzt vorzufinden war eine bittere Enttäuschung. Und obwohl ihr nie in den Sinn gekommen wäre, der Blinden etwas anzutun, hatte sie keine Lust, die Heldin zu spielen und ihre Feindin nach Hause zu begleiten. Also ging sie fort, versunken in ihre düsteren Gedanken und taub für die jämmerlichen Schreie, die ihr nachhallten. Sollte Cassie doch allein herausfinden. Oder sich von einem anderen retten lassen. Cassie versuchte, Helen zu folgen. Aus Furcht, Helens leise Schritte im Unterholz zu übertönen, wagte sie schon bald nicht mehr zu rufen. Wenn Helen ihr nicht helfen wollte, konnte sie ihr immerhin nach Windrow folgen. Die zusammengekauerte Haltung und die Kälte hatten jedoch die Durchblutung ihrer Beine beeinträchtigt. Als Cassies Kreislauf sich stabilisiert hatte, war Helen bereits weit voraus, Cassies Versuche, ihr nachzulaufen, scheiterten allerdings an Hindernissen, über die sie immer wieder stolperte. Von den zahlreichen Stürzen auf den nassen Boden war sie rasch verschmutzt und entmutigt. Auf dem Grat eines Abhangs hielt sie kurz inne, um zu lauschen. Ihr Gesicht und ihre Hände waren mit Kratzern übersät, doch der Schmerz verblasste, während sie sich angestrengt
bemühte, das Geräusch menschlicher Schritte zu erhaschen. Plötzlich hörte sie das Knacken eines Zweiges. „Helen!" Sie machte einen Schritt nach vorn - und landete im Nichts. Sie konnte nicht wissen, dass der tote Zweig unter dem Gewicht eines Sperlings abgebrochen war, dass der Vogel in der Krone eines alten Baums Zuflucht gesucht hatte, der in einer fünfzehn Meter tiefen Schlucht stand, dass Helen fast eine halbe Meile hinter ihr war und gerade den Rasen hinter dem Hauptgebäude überquerte. Sie wusste nur, dass sie eine steile Böschung hinunterstürzte, über junge Sträucher, Gras und steinigen Boden. Sie rutschte, rollte und überschlug sich, bis ihr Fall abrupt vom versteinerten Stamm einer alten Pappel gestoppt wurde. Ihr Kopf prallte mit einem dumpfen Laut gegen den Baum. Cassie wunderte sich flüchtig über den bunten Lichterregen vor ihren Augen, dann sank sie in Ohnmacht. Über eine Meile entfernt kämpfte Wyatt sich durch den Wald. Er war inzwischen fast zwölf Stunden unterwegs und hatte seine Suche nur zwei Mal kurz unterbrochen, um zum Haus zurückzukehren und sich nach Cassie zu erkundigen. Auch die Franklins waren nach Windrow geeilt, als sie die Nachricht gehört hatten. Katy hatte Wyatt gezwungen, den warmen Regenmantel ihres Mannes anzuziehen. Dann hatte sie ihn mit Schokoriegeln und Traubenzucker versorgt und darauf bestanden, dass er ein Glas Orangensaft trank, bevor er erneut aufbrach. Die Verwüstungen im Wald schockierten ihn. Während des Sturms hatte er zwar das Krachen und Bersten der Bäume gehört, aber der dichte Regen hatte den größten Schaden verborgen. Erst jetzt erkannte er, wie unwahrscheinlich es war, Cassie unversehrt aufzuspüren. Die Vorstellung, ihren zerschmetterten Körper unter einem der umgestürzten Bäume zu finden, brachte ihn fast um.
13. KAPITEL
In den dunklen Stunden nach dem Fall kam Cassie immer wieder zu Bewusstsein und registrierte vage die Geräusche des Waldes, die von der hereinbrechenden Nacht kündeten. Von Hunger, Durst und Kälte geschwächt und vom Schlag auf den Kopf noch benommen, wurde Cassie schließlich von Fieber überwältigt. Sie sank in einen gnädigen Dämmerzustand. Ihre Mutter rief sie ungeduldig. Cassie runzelte im Delirium die Stirn. Ihre Mutter erhob nie die Stimme oder schrie, und doch ließ es sich nicht leugnen. Der grelle Schrei stammte eindeutig von ihrer Mutter. „Duck dich, Cassie! Duck dich!" Das Atmen fiel ihr schwer, irgendwie wurde ihr bewusst, dass ihr Gesicht auf den Schoß ihrer Mutter gepresst wurde, während ihre Mutter sich über sie beugte und sie schützte. Es gab ein schleifendes Geräusch, einen Aufschlag und das Kreischen von Metall auf Metall, das in einer schwarzen Rauchwolke verstummte. Cassie stemmte sich gegen das Gewicht, das auf ihr ruhte, und als sie endlich aufrecht saß, sackte ihre Mutter gegen sie. Das schöne, geliebte Gesicht wirkte heiter wie immer, obwohl ein schmaler Blutfaden zwischen ihren Lippen hervorquoll. Cassie war in ihrem Traum zwar noch ein Kind, aber sie wusste instinktiv, dass ihre Mutter tot war. Heftig schüttelte sie den Kopf, um dem Albtraum zu entrinnen, und plötzlich wurde sie ganz ruhig, weil der Schock sie lähmte. In ihrem Traum sah sie sich selbst mit winzigen Händen am Griff der blockierten Tür zerren, sah kleine Fäuste gegen die Scheibe trommeln ... Und dann, sowohl im Traum als auch in der Gegenwart, begann sie nach ihrem Vater zu rufen. Wyatt stapfte in Richtung Haupthaus durch den Wald, als er den ersten Schrei hörte. Er blieb wie angewurzelt stehen und lauschte. Noch einmal, flehte er im Stillen. Schrei noch einmal. Und sie schrie. Es war das hohe, durchdringende Klagen eines Kindes und erfüllte die Nachtluft mit so viel Grauen, dass Wyatt ein kalter Schauer über den Rücken lief. Er drehte sich um und rannte los. „Daddy!" Die Stimme wurde schwächer und schwächer. „Daddy! Daddy. Dad..." Wyatt stürmte durchs Unterholz, ohne auf die dornigen Sträucher zu achten, die ihm die Arme zerkratzten, oder einen Gedanken an die Gefahren zu verschwenden, die in Form von Wurzeln oder umgestürzten Bäumen auf ihn lauerten. Er wollte nur eines: die matte Stimme erreichen, bevor sie verstummte - bevor Cassie verstummte. Endlich gelangte er an den Abhang und blickte auf die zusammengekauerte Gestalt hinunter. Während er die Böschung hinunterkletterte, schrie er Cassies Namen. Unten angekommen, kniete er sich neben sie. Sein Herz raste aus Furcht, er könnte zu spät gekommen sein. „Cassie", flüsterte er und berührte vorsichtig eine lange Schramme auf ihrer Wange. Erst als sie sich leicht bewegte, atmete er erleichtert auf. „DADDY!" Erschrocken richtete er sich auf. „Cassie! Wach auf!" In seiner Panik vergaß er alles, was er je über Psychiatrie gelernt hatte, vergaß, dass sie endlich dort war, wo er sie von Anfang an hatte haben wollen - in der Vergangenheit und dem Auslöser ihrer Blindheit. „Wach auf. Bitte, wach auf", drängte er sie, aber Cassie schüttelte nur den Kopf und entglitt ihm, dorthin, wo er ihr nicht helfen konnte. Cassie war noch immer im Wagen, eingesperrt von der blockierten Tür und umgeben von beißendem Qualm. Die Cassie von heute wusste instinktiv, dass ihr das Schlimmste noch bevorstand. Obwohl sie nicht durch die Scheibe blicken wollte und sich mit aller Kraft dagegen sträubte, gewann ihre Psyche die Oberhand. Cassie sah durch das Wagenfenster, so wie sie es als Siebenjährige getan hatte. Sie sah das Furchtbare, das sie so lange verdrängt hatte - es war ihr Vater. Er stand wie versteinert ein Stück vom Wagen entfernt und
beobachtete sein einziges Kind, das mit den Fäusten hilflos gegen die Scheiben seines brennenden Gefängnisses trommelte. Seine Augen waren vor Panik und Furcht geweitet, und er machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Cassie schlug mit den Fäusten gegen Wyatts Brust, dann wimmerte sie. „Es ist heiß, Daddy! So heiß! Lass mich raus! Beeil dich, Daddy. Lass mich raus. Warum rührst du dich nicht? Warum stehst du nur so da?" Als Wyatt die Bedeutung der Worte dämmerte, erkannte er, welches grauenvolle Geheimnis die Kinderseele verborgen hatte. „Gütiger Himmel!" Der Zorn drohte ihn zu überwältigen. Allmählich beruhigte Cassie sich in seinen Armen. In jener schicksalhaften Nacht vor achtzehn Jahren war sie vom Schock und dem eingeatmeten Rauch bereits betäubt gewesen, als ein Uniformierter den Wagen aufgebrochen und sie auf die Arme genommen hatte, bevor er losgerannt war. Sie erinnerte sich an seine keuchenden Atemzüge und sein heftig klopfendes Herz, als er sie an der regungslosen Gestalt ihres Vaters vorbeitrug. Gleich darauf gab es eine ohrenbetäubende Detonation, die heiße Druckwelle schleuderte den Officer, der sie mit seinem Körper beschützte, zu Boden. Und dann wurde alles schwarz. Träumend weinte Cassie still vor sich hin, fühlte sich in den Armen des Polizisten sicher und geborgen, hörte ihn unablässig ihren Namen flüstern, während er ihr übers Haar strich. Es war Traum und Wirklichkeit zugleich. Das Weinen steigerte sich zu heftigen Schluchzern, die ihre Schultern beben ließen. Die Erinnerung an das Versagen ihres Vaters war zu schrecklich. Als sie langsam aus dem Albtraum erwachte, erkannte sie, dass der Polizist ihren Namen gar nicht gewusst hatte und dass es Wyatts Stimme und Arme waren, die sie trösteten. „Wyatt?" wisperte sie ungläubig an seiner Brust. „Ja, Cassie." Er zog sie noch fester an sich. „Ich bin hier und werde immer bei dir sein." Sie erschauerte. „Ich habe alles gesehen. Es war mein Vater ... die ganze Zeit... es war mein Vater ..." Zärtlich umfasste er ihren Kopf und wappnete sich gegen das Unvermeidliche. Er wusste, dass der Traum nicht genügte und sie es aussprechen musste, um die Schatten der Vergangenheit endgültig zu vertreiben. Es war sein Job, alte Gespenster ans Licht zu zerren und die Wunden zu heilen, also zwang er sich zu den Fragen, obwohl er die Antworten bereits kannte. „Was hast du gesehen, Cassie? Was hat dein Vater getan?" Unter den geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor. „Er stand einfach da", flüsterte sie. „Er stand da und hat beobachtet, wie ich starb. Wie konnte er nur? Er sah so ... sonderbar aus ... stand nur da und starrte herüber... als ob er mich gar nicht wahrgenommen hätte." Auf einmal konnte auch Wyatt den Mann sehen, der, gelähmt vom Schock, zuschauen musste, wie sein Lebensinhalt vor seinen Augen in Flammen aufging. Obwohl es keine Entschuldigung für diese Tatenlosigkeit gab, begann Wyatt, den Mann zu verstehen. „Er hat dich nicht gesehen, Cassie. Das musst du mir glauben", raunte er. „Angst ist die stärkste Emotion, die wir kennen. Sie schließt alles andere aus. Dein Vater stand unter Schock." Reglos lauschte sie seinen Worten. Sie wollte ihm glauben, weil sie wusste, dass sie um ihrer selbst willen lernen musste, ihren Vater zu bedauern, statt ihn zu hassen. „Erst später wurde ihm klar, was er getan hatte", fuhr Wyatt sanft fort. „Die Schuldgefühle müssen erdrückend gewesen sein. Ich weiß nicht, wie er damit leben konnte. Vermutlich hat er es nur geschafft, indem er sich - dir zuliebe - sagte, dass er trotz aller Versäumnisse alles war, was dir geblieben war." „Und deshalb wollte er mich blind", erwiderte sie bitter. „Meine Blindheit bedeutete, dass ich mich nicht erinnere." „Weil er es nicht ertragen hätte, Cassie, begreifst du das nicht? Er hätte dir nie wieder vor die Augen treten können, wenn du gewusst hättest, dass er dich im Stich gelassen hat."
Erneut strömten ihr die Tränen über die Wangen, diesmal jedoch spülten sie allen Schmerz und Kummer fort, so dass sie die Schwächen ihres Vaters akzeptieren konnte. Sie spürte Wyatts warmen Atem auf ihrem Nacken. Als sie die Augen öffnete, zuckte sie zusammen und schaute auf eine Welt, die ihr seit achtzehn Jahren verborgen gewesen war. „Was ist?" Besorgt hob er den Kopf. „Tut dir etwas weh?" Ein verwundertes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie erblickte blaue Augen, die sie sich wohl tausend Mal vorgestellt hatte, zerzauste schwarze Locken und sah in ein markantes Gesicht, das von unzähligen Kratzern übersät war. Ein Gesicht, das sie noch nie gesehen hatte und das ihr doch so vertraut war. „Du brauchst dringend eine Rasur", meinte sie heiter. Grenzenloses Erstaunen spiegelte sich auf seinen Zügen wider. „Du kannst sehen ..." Lächelnd betrachtete sie ihn, dann strich sie mit dem Finger über den dunklen Schatten auf seiner Wange. „Ich glaube, jetzt ist der Moment, wo du mir tief in die Augen schauen und mich küssen solltest", erklärte sie. Sein Mundwinkel zuckte leicht. „So?" fragte er mit bebender Stimme. „Ja. Danach wirst du zugeben, dass du mich von Anfang an geliebt hast, und anschließend können wir uns dem wichtigsten Thema widmen, dem Termin unserer Hochzeit." „In der Tat." Das leichte Zucken hatte sich in ein halbes Lächeln verwandelt. „Ja, in der Tat. Kannst du mich unterstützen, bis ich etwas Vernünftiges gelernt habe? Es sei denn, du bist sehr reich. Ich kann nämlich nichts anderes, als eine sehr reiche junge Dame zu sein." „Sie haben Glück, Miss Winters. Ich bin ein sehr reicher Mann." „Wirklich? Dass wusste ich nicht." Sie lächelte. Wyatt legte den Arm um ihre Taille und half ihr auf die Füße. Sie schmiegte sich an seine Brust, als er begann, den Abhang hinaufzuklettern. „Wyatt?" „Hm?" „Ist dein Haus groß genug für eine Haushälterin?" „Ja, mit Sicherheit." „Gut. Dann kann Mrs. Carmody bei uns leben. Es ist dir doch recht, oder?" Sie unterdrückte ein Gähnen. „Ja, Cassie. Es ist mir recht." Er lachte leise. „Du setzt allerdings eine ganze Menge voraus. Bis jetzt habe ich dir noch nicht einmal gesagt, wie sehr ich dich liebe." „Das brauchst du nicht. Ich müsste schon blind sein, um das nicht zu sehen." -ENDE -