Annika Akdeniz-Taxer Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
VS RESEARCH
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Öffentlichkeit, P...
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Annika Akdeniz-Taxer Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
VS RESEARCH
Annika Akdeniz-Taxer
Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment Frauen in der Lokalpolitik ländlich geprägter Gegenden der Türkei
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Uta Ruppert
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität Frankfurt am Main, 2009 D.30
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz und Layout: SatzReproService GmbH Jena Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17121-0
Für Sarya, für Bilal und für meine Eltern
Geleitwort
Die Studie von Annika Akdeniz-Taxer über Bürgermeisterinnen in ländlichen Kommunen der Türkei stellt einen Beitrag zur feministisch-politologischen Debatte um Partizipation und Geschlecht dar, der gleich in mehrfacher Hinsicht Neues leistet. Zunächst wird hier eine wirklich neue empirische Frage gestellt. Untersuchte feministische Politikwissenschaft bisher Zusammenhänge von Partizipation und Geschlecht in Ländern, die nicht zur OECD bzw. eher zu deren Peripherie zu zählen sind, so fokussierte sie meist auf formalpolitische Partizipation von Frauen an nationalen Politikprozessen oder auf Muster der sozialen Partizipation von Frauen. Formalpolitische Partizipation von Frauen in ländlichen Regionen wurde dagegen bisher so gut wie gar nicht systematisch untersucht. Wie wichtig diese bisher vernachlässigte Frage für die Transformationsforschung insgesamt und speziell die Geschlechterforschung über Politikwandel in der Transformation tatsächlich ist, wird insbesondere dann deutlich, wenn Partizipation und Demokratie zusammengedacht werden und sich der Blick auf die Chancen der Konsolidierung junger oder schwacher Demokratien richtet. Auch wenn sich der Mainstream sozialwissenschaftlicher Forschung bislang wenig darum kümmert, ist es unmittelbar einleuchtend, dass eine gesellschaftliche Verankerung demokratischer Prinzipien ohne die politische Teilhabe von Frauen gerade in den strukturell konservativeren ländlichen Regionen schlicht nicht möglich ist. Diese Forschungslücke zu bearbeiten hat sich Frau Akdeniz-Taxer gleichsam als Pionierin auf den Weg gemacht, um das Material für eine hoch interessante Studie über die Teilhabe von Frauen in der türkischen Kommunalpolitik – als Bürgermeisterinnen in ländlich geprägten Gegenden der Türkei – zusammenzutragen. Dass sie in allen achtzehn im Jahr 2006 von Bürgermeisterinnen geführten türkischen Kommunen ausführliche Leitfaden-Interviews geführt hat, ist ein besonders faszinierender Aspekt ihrer Studie. Auf der Basis dieser hervorragenden Datengrundlage entwickelt die Verfasserin eine ebenso differenzierte wie detailreiche Analyse der Wege türkischer Frauen an die Spitze der Kommunalpolitik, ihrer Politikstile und politischen Ziele, ihrer geschlechterpolitischen Interessen und Identitäten sowie nicht zuletzt der Resultate, die sie damit erzielen. Bürgermeisterinnen in der Türkei eröffnen neue, geschlechtssensible Diskurse, wirken als Vorbild für die politische Partizipation von Frauen, die sich sowohl horizontal (in ihren Netzwerken) als auch vertikal (auf die formelle Politikebene) ausdehnt und verstehen sich – gemessen an den Ergebnissen aller Studien über politi-
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Geleitwort
sche Partizipation und Repräsentation von Frauen in EU-Ländern – überraschend selbstverständlich als Vertreterinnen spezifischer Fraueninteressen. Auf Maskulinisierungsversuche ihrer (männlichen) politischen Gegner (das Iron-Lady-Stigma) reagieren sie mit strategischen Entwürfen weiblicher Differenz und betonen beispielsweise Mutterschaft als Qualifikationsmerkmal für ihre Arbeit. Gegenüber den Anliegen der türkischen Frauenbewegung sind sie offen und zumindest auf der Ebene der Vertretung praktischer Genderinteressen, d.h. der Verbesserung weiblicher Lebenslagen, vernetzen sie sich mit feministischen Aktivistinnen und Organisationen aus der Hauptstadt und tragen Themen der feministischen Bewegung in ihre Dörfer. Zusammenhänge zwischen Öffentlichkeitskonzepten und Partizipations- bzw. Politikchancen von Frauen in den ländlichen Regionen der Türkei theoretisch zu fassen und dabei Öffentlichkeit und Partizipation neu zusammen zu denken, ist das zweite grundsätzliche Verdienst dieser Untersuchung. Von der Anwendbarkeit herkömmlicher Öffentlichkeitskonzepte auf ländliche Kommunen über die Zusammenhänge von Partizipation und Repräsentation und deren geschlechtskritische Hinterfragungen hin zur lokalen politischen Partizipation von Frauen in der Türkei wird hier eine ganz eigene Perspektive auf Empowerment als Fluchtpunkt dieser Prozesse entworfen. Gegen die gängige feministische Betonung des politischen Charakters der privaten Sphäre schlägt Annika Akdeniz-Taxer für die ländliche Türkei eine Unterscheidung zwischen einer politisch institutionellen, männlich geprägten Sphäre der Öffentlichkeit und einer im institutionellen bzw. im formalpolitischen Sinne als „unpolitisch“ zu bezeichnenden Sphäre der Frauen vor, die sie aus einer Reihe ganz konkreter Fragen an ihr Feld gewonnen hat: „Wo diskutiert wer über politische Anliegen“?, „Welche Akteurinnen machen Öffentlichkeit aus?“ „Welche Themen werden in dieser Öffentlichkeit diskutiert“? „Wie verhalten sich „staatlich/politische und gesellschaftliche Sphäre in der ländlichen Kommune zueinander“? Zu den besonders interessanten Erkenntnissen, die aus dieser Perspektive entwickelt werden, zählt der Befund, dass mehrere Bürgermeisterinnen in den ländlichen Regionen der Türkei gewissermaßen „private Öffentlichkeiten“ schaffen, indem sie sich die Trennung der „männlichen“ und „weiblichen“ Handlungssphären für ihre Mobilisierungs- und Politikstrategien bewusst zunutze machen und zum Beispiel neue soziale Orte für Frauen in der Öffentlichkeit der Kommune etablieren. Dass und wie Bürgermeisterinnen in ländlichen Kommunen der Türkei dabei selbst als eine Art Brücke zwischen den beiden Sphären fungieren ist ein anderer Aspekt, der anschaulich entwickelt wird und zugleich das Potenzial der theoretischen Unterscheidung in „männliche“ und „weibliche“ Öffentlichkeit, die diese beiden Sphären nicht als schlichten Gegensatz, sondern als miteinander verbundene, zueinander im Verhältnis stehende Bereiche fasst, verdeutlicht. Bürgermeisterinnen in der Türkei
Geleitwort
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personifizieren gleichsam die möglichen und tatsächlichen Grenzüberschreitungen zwischen den Sphären. Nicht zuletzt wird darin deutlich, dass die räumliche Dimension der Prozesse eine entscheidende Rolle spielt. Bürgermeisterinnen bewirken im wahrsten (räumlichen) Sinne des Wortes die Öffnung der politischen Sphäre für Frauen: Männerräume (z. B. das Rathaus) werden für Frauen zugänglich, frauenspezifische Projekte werden in der Öffentlichkeit der Kommune platziert, holen Frauen aus dem Haus und die „private“ Gemeinschaft der Frauen wird durch die Zusammenarbeit mit einer Bürgermeisterin so aufgewertet, dass sie als „teilöffentliche Arena“ mit sehr konkreten Wirkungen auf die politische Sphäre wahrgenommen wird. Ich wünsche dieser empirisch wie theoretisch höchst interessanten und anregenden Studie eine gebührend breite Rezeption in verschiedenen Teilbereichen von Politikwissenschaft, Soziologie und Anthropologie, für die sie wichtige neue Erkenntnisse bereitstellt. Prof. Dr. Uta Ruppert
Vorwort
An erster Stelle möchte ich mich bei Prof. Dr. Uta Ruppert bedanken für die Initiative zur Forschung, für die Unterstützung dieser Arbeit, ihre Kritik, ihre Ermutigung und die Geduld, die sie mit mir hatte. Des Weiteren möchte ich Prof. Dr. Ursula Apitzsch für die Übernahme des Zweitgutachtens danken. Besonderer Dank gilt den Bürgermeisterinnen der Türkei und den Frauen in der Türkei, die sich zu Interviews bereit erklärten. Außerdem danke ich dem Graduiertenkolleg „Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung“ für die finanzielle Förderung und inhaltliche Unterstützung sowie dem Cornelia-Goethe-Centrum der Universität Frankfurt für die Hilfe bzgl. Infrastruktur und Organisation. Besonders dankbar bin ich außerdem unserem Kolloquium für die lebhaften Diskussionen und die Geduld. Ich möchte vor allem den Anteil von Modeste Somé für das Zustandekommen dieser Arbeit hervorheben, da Modeste leider nicht mehr erfahren konnte, was aus unseren gemeinsamen Feldforschungsgesprächen geworden ist: Ich danke ihm vor allem für die ermutigende Unterstützung bei der Entscheidungsfindung und seine kritischen Kommentare und hilfreichen Tipps während der Feldforschungsphasen. Einen wesentlichen Anteil meines Dankes gebührt Mustafa Özkul, der trotz der häufig schlechten Aufnahmequalität der Interviews zuverlässig, schnell und präzise die Interviews transkribierte. Außerdem bedanke ich mich bei Anıl Al-Rebholz und Tanja Scheiterbauer für die türkeispezifischen Gespräche und Anregungen, all den Menschen in der Türkei, die mich aufnahmen und mir halfen. Schließlich bedanke ich mich bei meinen Eltern für ihre Unterstützung in vielfältiger Weise; Sarya, weil sie gleich lernte, nachts durchzuschlafen; und Bilal für alles. Annika Akdeniz-Taxer
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
1.1 1.2 1.3 1.4
Partizipation von Frauen in der Lokalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlichkeit und politische Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politisches System und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politikerinnen in ländlich geprägten Gebieten in der Türkei als Forschungsthema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die empirische Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18 22 23
2 Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik der Türkei . . . . . .
31
2.1 Anfänge der Frauenbewegung, Staatsfeminismus und gesellschaftlicher Konservatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Frauenbewegung seit 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Positionen von Frauen in der türkischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Partizipation in der institutionellen Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 35 41 44 47
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
25 28 29
Öffentlichkeiten in der ländlichen Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Politische Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Repräsentation und Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Lokale politische Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Partizipation und Empowerment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Empowerment und Frauen in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
4 Kommunalpolitik jenseits der Metropolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.1 Zentren und Peripherien der Türkei: Die Metropolen und „der Rest“? . . 81 4.2 Klientelismus und As¸iretçilik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
14
Inhaltsverzeichnis
4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
Die Reform der lokalen Administration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur und Aufgaben der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kommunale Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung der Kommunalwahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die frauenpolitische Landschaft der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90 90 91 94 96
5 Methodologie und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
5.1 5.2 5.3 5.4
Exkurs: Feldforschung in der Türkei jenseits der Metropolen . . . . . . . . Methodische Vorgehensweise und methodologische Überlegungen . . . . Die Feldforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung und Darstellung des empirischen Materials . . . . . . . . . . . .
99 102 105 107
6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen in der ländlich geprägten Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
Geographie der Bürgermeisterinnenkommunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bürgermeisterinnen der Türkei, 2004–2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vielfältige Wege in die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politisierungsgründe der Bürgermeisterinnen der Türkei . . . . . . . . . . . . Steinige und ebene Wege bis zur Kandidatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wahlkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.1 Orte der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2 Aktivierung der Frauen im Wahlkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.3 Geschlechtspezifische Reaktionen während des Wahlkampfes . . 6.7 Politischer Alltag in den Kommunalverwaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.1 Pflichten und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.2 Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.3 Sorge für Infrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.4 Sorge für Soziales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Frauenspezifische Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8.1 Ökonomische Kooperativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8.2 Frauenversammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8.3 Erhöhung des Frauenanteils in den Kommunen . . . . . . . . . . . . . . 6.8.4 Vorteile für Gemeinden mit einer Frau an der Spitze . . . . . . . . . . 6.9 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109 115 116 119 131 136 140 142 144 149 150 153 156 159 161 162 164 165 166 166
7 Gesellschaftlicher Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 7.1 Veränderungen der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 7.1.1 Erweiterungen des für Frauen öffentlichen Raumes . . . . . . . . . . . 169
Inhaltsverzeichnis
7.1.2 „Private“ Öffentlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Das Überschreiten der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Die Bürgermeisterin als öffentliche und private Person . . . . . . . . 7.1.5 Nutzung von Medien als lokale Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Veränderungen der politischen Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Erweiterung der politischen Partizipation von Frauen . . . . . . . . . 7.2.2 Einbeziehung anderer Partizipationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Empowerment-Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 174 176 178 180 181 182 185 187
8 Politischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 8.1 Repräsentation und Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Politikverständnis der Politikerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Maskuline Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Das Ideal der Hausfrau und Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Frauenpolitik in der ländlichen Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Frauenbewegung auf dem Lande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Frauen in der Lokalpolitik und die Frauenbewegung . . . . . . . . . . 8.3.3 Frauenpolitik als Kooperation zwischen Kommunalverwaltung und Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Frauenpolitik und Demokratiefrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 „Hizmet mi, demokrasi mi?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193 199 201 203 210 211 213 218 222 227
9 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
1
Einleitung
Natürlich ist es unter den Bedingungen unserer Tage ein bisschen schwierig, als Frau in der Politik Fuß zu fassen, im Ergebnis aber hat die Frau eine klare Mission. Die Frauen waren immer zu Hause aus Gründen, die ihren Ursprung in den allgemeinen Bedingungen in der Türkei und in der gesellschaftlichen Rückständigkeit hatten. In einigen Bereichen gibt es Frauen im Arbeitsleben. Aber in der Politik gibt es viel zu wenig. Als Resultat des Kampfes, den die Frauen ausfochten, übernahmen wir ein Amt in der Politik. Aber natürlich ist das nicht ausreichend, leider sind nur von 3216 Bürgermeistern in der Türkei 18 Frauen. Tatsächlich sprechen die Experten dennoch über die Türkei als einem Land, in dem es Demokratie und Frauenrechte gibt. (…) Die türkische Demokratie ist eine Schande. Bei diesem Thema müssen wir uns sehr anstrengen. Zuvor gab es in Dogˇubeyazıt keine Frauen in der Kommunalversammlung. Auch in der Provinzversammlung gab es keine Frau. Seit den Wahlen 2004 haben wir drei weibliche Mitglieder. Ins¸ allah können wir das nächste Mal diese Zahl noch erhöhen. Unsere Partei misst den Frauen sehr viel Bedeutung bei, sie erkennt, dass mit den Frauen einige Entwicklungen möglich sind, sie erkennt, dass mit der Frau Demokratie möglich sein wird. Die Hälfte der Gesellschaft sind Frauen, ohne die Befreiung der Frau kann die Gesellschaft nicht befreit werden. In dieser Epoche ist die Rolle, die der Frau gegeben wird, sehr wichtig, aber unser Ziel ist, in Zukunft die Anzahl der Frauen zu erhöhen. 35–40% (der Listenplätze unserer Partei1) wurden den Frauen gegeben, dies ist ein Erfolg des Kampfes, den die Frauen ausfochten. Von selbst wurde ihnen das also nicht gegeben. Wenn wir nicht gekämpft hätten, nicht diskutiert hätten, wenn wir nicht diese Verhältnisse geschaffen hätten, wären vielleicht auch diese 35% nicht gegeben worden. Aber wir wollen, dass 50% dabei herauskommen. Und die Frau muss wirklich in der Politik Platz einnehmen. Denn es gibt in der Gesellschaft wirklich das Bedürfnis nach den Frauen. Wenn wir eine saubere Gesellschaft, ein sauberes Land schaffen wollen, liegt dies in der Hand der Frau selbst. Je mehr die Selbstsicherheit bei den Frauen sich entwickeln wird, desto mehr wird auch ins¸ allah ihr Anteil steigen. Mukaddes Kubilay, Bürgermeisterin in Dogˇubeyazıt
Mukaddes Kubilays Worte stehen dem „Mainstreamdiskurs“ über den Zusammenhang von Frauen und Politik in der Türkei diametral entgegen: Während dieser stets die Fortschrittlichkeit des politischen Systems in der Türkei wegen der langen Verankerung von Frauenrechten betont und die fehlende Präsenz von Frauen in der Politik der Rückständigkeit der Gesellschaft, insbesondere auf dem Land, und der mangelnden Aktionsbereitschaft der Frauen selbst zuschreibt, betont diese Politikerin, die an der äußersten Peripherie des Landes in einer ländlichen, feudal geprägten 1
Die DEHAP, der Mukaddes Kubilay zum Zeitpunkt des Interviews angehörte, war bei den Kommunalwahlen 2004 die einzige Partei mit einer Frauenquote.
A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/978-3-531-93113-5 _1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
18
1 Einleitung
Umgebung gewählt wurde, dass nur durch „Kampf“ innerhalb der in ihren Augen mangelnden demokratischen Kultur in der Türkei Partizipation von Frauen in der institutionell politischen Sphäre und Demokratie erreicht werden könne. Obwohl es sehr schwer sei, als Frau in der politischen Sphäre Fuß zu fassen, da die gesellschaftliche Geschlechterordnung dies erschwere bzw. unmöglich mache, gelang es einigen wenigen Frauen, durch „Kampf“ sich politische Ämter anzueignen. Auch wenn 18 Frauen hierbei erfolgreich waren und nun Bürgermeisterinnen sind, sei die geringe Partizipation von Frauen in der Lokalpolitik Indiz für die mangelnde Demokratie in der Türkei, die nicht nur aufgrund von Frauenrechten verwirklicht werde, sondern durch „gesellschaftliche Befreiung“, durch gleiche Teilhabe und Repräsentation von Frauen in den politischen Institutionen. Gleichzeitig macht sie deutlich, dass es ihr nicht nur um numerische Präsenz von Frauen in der Politik geht, sondern um das Potential von Frauen, die Gesellschaft zu entwickeln, ein „sauberes Land“ zu schaffen. Sie betont, dass Frauen gemeinsam kämpfen müssten, um sich im männlich dominierten System durchsetzen zu können. Dafür müssten sie mehr „Selbstsicherheit“ gewinnen, um in der politischen Sphäre Verantwortung übernehmen zu können. Nachdem Mukaddes Kubilay jahrelang in I˙zmir gelebt und gearbeitet hatte, ließ sie 1999 ihr Haus, ihr Geschäft, Kinder und Enkelkinder zurück, um in Dogˇubeyazıt im äußersten Osten, in dem Ort ihrer Herkunft, das Bürgermeisteramt zu übernehmen. Nachdem dort stets Angehörige mächtiger Familien und Stämme die politische Herrschaft innegehabt hatten, wurde nun zum ersten Mal eine Frau Bürgermeisterin – eine Frau, die schon in I˙zmir sich in der Frauenbewegung und in linken und kurdischorientierten Parteien engagiert hatte. Wie kommt es dazu, dass an der äußersten Peripherie der Türkei, an der iranischen Grenze am Fuße des Berg Ararats, eine Frau im Jahre 2004 schon zum zweiten Mal zur Bürgermeisterin gewählt wurde und dabei für ostanatolische Verhältnisse eine recht radikale Rhetorik verwendet? Stellt sie eine Ausnahme dar unter diesen 18 Bürgermeisterinnen, oder spielten sich in den anderen 17 Gemeinden ähnliche Prozesse wie in Dogˇubeyazıt ab, die zur Wahl einer Frau an die Spitze der Kommunalpolitik führten?
1.1
Partizipation von Frauen in der Lokalpolitik
In Anbetracht der statistischen Daten2 über kommunalpolitisch aktive Frauen in der Türkei ist die Frage berechtigt, ob es wissenschaftlich überhaupt vertretbar ist, den Blick auf die wenigen politischen Amtsinhaberinnen zu werfen. Schließlich gehört 2
Vgl. nächstes Kapitel.
1.1 Partizipation von Frauen in der Lokalpolitik
19
die Türkei heute weltweit zu den Ländern mit extrem niedriger politischer Partizipation von Frauen in den formalen politischen Institutionen. Obwohl die Modernisierungspolitik einer großen Anzahl von Frauen eine gute Ausbildung ermöglichte und an Universitäten, Staatsinstitutionen und im privaten Sektor ein Drittel der Beschäftigten Frauen sind, bleiben die Türen der Politik weiterhin für Frauen geschlossen. Wenngleich Frauen in hohem Maße im unkonventionellen Bereich politisch partizipieren und sich zivilgesellschaftlich engagieren, schafften es im Verlauf der Geschichte der türkischen Republik nur wenige Frauen, überhaupt als Kandidatin für Parlaments- oder Kommunalwahlen aufgestellt zu werden3. Doch gerade deshalb ist es wichtig, diese wenigen Frauen in der institutionellen Politik zu untersuchen, um verstehen zu können, wie erfolgreiche Wege von Frauen in die Politik aussehen. Nicht zuletzt aus frauenpolitischem Interesse ist es notwendig, sich mit den Möglichkeiten und Grenzen frauenpolitischen Engagements innerhalb der Institutionen und auf der lokalen Ebene auseinanderzusetzen. So legitimierte Yes¸im Arat ihre Dissertation über Politikerinnen in den 1980er Jahren mit den Worten: So wichtig es auch sein mag, außerhalb der etablierten Machtstrukturen zu kämpfen, ist es auch wichtig, innerhalb derer Macht zu erlangen4. Heidi Wedel zufolge wurden in den neunziger Jahren die Kandidaturen von Frauen von Wählerinnen im Gecekondu explizit unterstützt und zunehmend die Forderung nach Frauen in formellen kommunalpolitischen Ämtern diskutiert, die jedoch (noch) nicht mit der nötigen Geschlossenheit und Vehemenz gegen die verschiedenen Ausschlussstrategien von Männern durchzusetzen versucht wurde.5 Auch im internationalen Kontext wird zunehmend die Präsenz von Frauen in (kommunal-)politischen Ämtern diskutiert: Likhapha Mbatha weist darauf hin, dass, obwohl die Erhöhung des Zugangs von Frauen zu Repräsentation auf der lokalen politischen Ebene ein Schlüsselmechanismus sei zur Erhöhung der Entscheidungsmacht von Frauen, es wenig Forschung zu den institutionellen, politischen und kulturellen Bedingungen gebe, unter denen Politikerinnen auf lokaler Ebene arbeiten.6 Im lateinamerikanischen Kontext untersuchte Fiona Macaulay die Präsenz von Frauen in Parteien auf kommunaler Ebene und stellte fest, dass Frauen, obgleich sie innerhalb der Parteien und der nationalen Regierung von Entscheidungsmechanismen ausgeschlossen wurden, sie in anderen subnationalen formalpolitischen Sphären Fuß fassen konnten.7 Am Beispiel des afrikanischen Kontexts beschäftigten sich 3
Ein erster Durchbruch auf nationaler Ebene wurde bei den Wahlen 2007 erreicht. Vgl. unten. Arat 1989. 5 Wedel 1999, S. 295. 6 Mbatha 2003, S. 188. 7 Macaulay 2006, Macaulay 1998. 4
20
1 Einleitung
Shireen Hassim und Anne Marie Goetz mit der Frage, wie in einer repräsentativen Demokratie die gleichberechtigte Partizipation von Frauen erreicht werden könne8. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Ausmaß, in dem einerseits Forderungen und Programmatik der Frauenbewegungen, andererseits Interessen von Wählerinnen von Lokalpolitikerinnen in der Kommunalpolitik verankert werden können. Maxine Molyneux und Shahra Razavi werfen außerdem die Frage auf, wie Elitefrauen in der Politik als effektive Repräsentantinnen von Interessen weniger privilegierter Frauen agieren können9: Es sei vielleicht zu früh, um von Frauen in der Politik zu erwarten, dass sie durchschlagenden Erfolg verbuchen könnten, da sie als Neuankömmlinge im öffentlichen Amt Zeit und Unterstützung von Seiten der Frauenbewegung und von NGOs bräuchten, bevor sie zu effektiven Anwältinnen von Frauenrechten werden könnten als einer gegenkulturellen Agenda, der Widerstand in den politischen Institutionen gegenüberstehe. Die derzeitigen frauenpolitischen Aktionen, Positionen und Interaktionen hinsichtlich der Präsenz von Frauen in den politischen Institutionen, wie sie aus internationalen Perspektiven dargestellt werden, lassen sich auch innerhalb der Türkei beobachten: So nehmen sich Teile der Frauenbewegung der Kommunalpolitik als Aktionsfläche an und entwickeln geschlechtersensible Programme für die lokale Politikagenda. Heute wird in weiten Teilen der Frauenbewegung die aktive Partizipation von Frauen in politischen Entscheidungsstrukturen als wesentlich für das Ziel der Geschlechtergleichheit in der Türkei betrachtet, die „Feminisierung der Politik“ steht im Blickpunkt ihrer Aktionen.10 Mittlerweile ist die geringe politische Partizipation von Frauen Thema in der medialen und zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit und wird im Zusammenhang mit der Demokratisierung des Landes und der Dezentralisierung des politischen Systems diskutiert. Ein zentrales Argument liegt darin begründet, dass die Gleichstellungspolitik des Staates nicht erfolgreich die gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter erreichen konnte – vielmehr müsse diese sowohl von den einzelnen Individuen, den Familien und sozialen wie auch kommunalen Gruppen vertreten werden. Bürgermeisterinnen als Autoritäten im Lokalen könnten dabei sich mit ihrer Person und ihrem Amt in persönlichen Beziehungen und Kontakten für frauenspezifische Probleme, Ungerechtigkeiten usw. einsetzen. Sie könnten also für einen grassroots-Prozess der gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung einen unschätzbaren Beitrag leisten. Sowohl diese Positionierung der Frauenbewegung gegenüber Staat, lokalpolitischem System und lokaler Gemeinschaft als auch die Entwicklungen der politischen 8
Goetz/ Hasseem 2003. Molyneux/ Razavi 2005, S. 989. 10 Keresteciogˇlu 2004, Çubukçu 2004, Alkan 2005. 9
1.1 Partizipation von Frauen in der Lokalpolitik
21
Teilhabe von Frauen auf der Mikroebene der lokalen Gemeinschaft sollten als Teil des derzeitigen Transformationsprozesses in der Türkei betrachtet werden. Die Transformationsforschung in der Türkei konzentriert sich jedoch, wie in anderen (regionalen) Kontexten, auf die Rolle des Staates und der Eliten als transformationsrelevante Akteure11. So fokussieren Untersuchungen des gegenwärtigen Demokratisierungsprozesses in der Türkei in erster Linie die Parteienlandschaft, d. h. derzeit den kometenhaften Aufstieg der AKP; die blockierenden Elemente im Staatsapparat, d. h. an erster Stelle die starke politische Position des Militärs12, sowie die juristischen Reformen im Zusammenhang des EU-Beitrittprozesses: Wenngleich die Türkei hinsichtlich ihrer demokratischen Institutionen und Verfahren als „liberale Demokratie“ bezeichnet werden könne, nennt bspw. Heinz Kramer13 eine Reihe von Merkmalen des demokratischen Systems in der Türkei, die gemessen an dem Modell der liberalen Demokratie es als „defekt“ ausweisen: die unabhängige Rolle des Militärs; der Zustand des Parteiensystems; der Justizapparat als Demokratisierungsproblem; die politische Kultur. Die möglichen Merkmale „mangelnde Partizipation von Frauen“ und „fehlende Dezentralisierung“ werden nicht genannt. Yılmaz Esmer erklärt die Fortschrittlichkeit des türkischen demokratischen Systems mit dem Frauenwahlrecht 193014. Dabei wird aber trotz aller Diskussionen um Konsolidierung von Demokratie in der Türkei die Erwähnung der fehlenden „Konsolidierung“ der gleichberechtigten Präsenz von Frauen in politische Entscheidungsprozesse außer acht gelassen. Außerdem ignoriert die politikwissenschaftliche Forschung weitestgehend die ländlichen Strukturen des Landes und überlässt sie in der Regel als Forschungsobjekt der Ethnographie. „Das Dorf“ fungiert zwar als Kulisse für die sozialen und familiären Beziehungen der BinnenmigrantInnen, den Bevölkerungen der ländlich geprägten Gebiete wird aber kein Einfluss auf die gesellschaftliche Dynamik im Land zugetraut. Dabei ist die Türkei trotz der anhaltenden Abwanderung in die Städte immer noch agrarisch geprägt, 35,4% der Bevölkerung leben auf dem Land. Mein Interesse richtet sich deshalb aus einer anderen Perspektive auf Transitionsprozesse: ich gehe davon aus, dass eine Einschätzung der Transformationsleistung und des politischen Wandels die Position marginalisierter Bevölkerungen an 11
Vgl. Merkel 1999, Heper 2002, Özbudun 2006, Özel 2003, der Band der Turkish Studies Vol. 6, No. 2, Juni 2005. Zur Kritik an der Transformationsforschung vgl. Harders 2002, Schütze 2005. 12 Bezeichnend hierfür ist, dass bspw. in Zusammenhang mit den Turbulenzen um die Wahlen 2007 eine Flut von wissenschaftlichen Artikeln erschien. Vgl. Tas¸pınar 2007, Balkir 2007, Shankland 2007, Turan 2007, Öktem 2007, Jenkins 2007, Baran 2008, u.v. m. 13 Kramer 2004. 14 Esmer 2002.
22
1 Einleitung
der Peripherie miteinbeziehen muss. Ich stelle gewissermaßen ein peripheres Thema in das Zentrum der Arbeit, das durch die „doppelte Peripherisierung“ durch die Wissenschaft bisher nicht beachtet wurde: Die lokalen politischen Prozesse vollziehen sich an der Peripherie des politikwissenschaftlichen Mainstreams, obwohl gerade die Kommunalpolitik Grundlagen für die Konsolidierung der Demokratie schaffen kann; die Nichtpräsenz von Frauen in diesen Prozessen, ihre periphere Situation hinsichtlich der Kommunalpolitik wird als „normal“ hingenommen. In diesem Sinne möchte ich die Perspektive auf Staat und Gesellschaft „von unten“, aus „peripheren“ Ortschaften versuchen zu rekonstruieren und zu analysieren. Während in der makrotheoretischen Transformationsforschung die politische Partizipation von Frauen meist unterschätzt oder auch ignoriert wurde, konzentrierte sich die geschlechtersensible Transformationsforschung wiederum eher auf mikropolitische Prozesse15: Auch wenn letztere sowohl die politische Meso- als auch Makroebene im Blick hat, stehen eher lebensweltliche Perspektiven, informelle Netzwerke, soziale Bewegungen und arme, marginalisierte Frauen im Zentrum. Deshalb möchte ich in Fortsetzung dieser geschlechtersensiblen Transformationsforschung Frauen der Mesoebene in lokalpolitischen Entscheidungspositionen in den Blick nehmen, ohne deren Beziehungen zur Mikroebene der lokalen geschlechterspezifischen Gemeinschaft außer acht zu lassen. Dabei gehe ich davon aus, dass Geschlechterverhältnisse sich grundlegend nur im Lokalen, auf der Mikroebene der Gesellschaft ändern lassen, nicht durch nationale Gesetzesänderungen. Diese bieten zwar einen notwendigen Rahmen für geschlechtersensible Politiken, Veränderungen jedoch brauchen lokale politische Partizipationsstrukturen in durchlässigen Öffentlichkeitsverhältnissen, Empowerment und Demokratie innerhalb der Familie und der lokalen Gemeinschaft, Unterstützung durch die kommunalpolitische Ebene und durch frauenpolitische Organisationen. Diese Leerstelle innerhalb der Transformationsforschung ist Gegenstand der vorliegenden Studie.
1.2
Öffentlichkeit und politische Partizipation
Der Politikbegriff, der der Arbeit zugrunde liegt, ist weit gefasst und umfasst vielfältige Aktivitäten, an denen Frauen teilhaben, durch die sie gesellschaftliche und formalpolitische Prozesse beeinflussen. Die Partizipation von Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft ist die Grundlage für das Erreichen von Demokratie. Dazu gehört auch ihre Präsenz in den politischen Institutionen. Um im politischen System 15
Vgl. Schütze 2007, Harders 2001, Wedel 1999.
1.3 Politisches System und Staat
23
Repräsentativität herzustellen, müssen Angehörige aller gesellschaftlicher Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt sein. Bislang wurden jedoch die Erfahrungen und Interessen von Frauen systematisch aus der politischen Sphäre ausgegrenzt. Voraussetzung für erweiterte Rahmenbedingungen politischer Partizipation ist eine Veränderung der geschlechtsspezifisch konnotierten Räume innerhalb der Gemeinde. Entscheidend dabei ist, dass die für Frauen zugänglichen Räume erweitert und die öffentliche Sphäre für Frauen geöffnet wird. Insofern stellt sich die Frage, inwieweit in der Türkei infolge des Transformationsprozesses des militärdominierten defektdemokratischen Systems Öffentlichkeit nicht mehr nur als eine staatlich dominierte normative Sphäre sich darstellt, sondern als „ein Diskurs- und Handlungsraum“ gelten kann, zu dem die Gesellschaft Zutritt und die Möglichkeit zur Intervention hat (vgl. Schütze), und inwieweit dies gerade auch in lokalen ländlich geprägten Kommunen sich darstellt. Es geht darum, wie nicht nur die Präsenz von Frauen in öffentlichen repräsentativen Institutionen erhöht werden kann, sondern auch darum, Bedingungen anzunehmen, um von deskriptiver numerischer Repräsentation zu substantieller Repräsentation zu gelangen, von einer weiblichen Präsenz zu frauen- und gesellschaftsfördernden Aktivitäten in der Politik.
1.3
Politisches System und Staat
Partizipation von Frauen ist eingebettet in die staatliche Verfasstheit und findet im Rahmen des politischen Systems statt. Insofern ist es notwendig, Staat und politisches System als Rahmen für Öffentlichkeit und Partizipationsstrukturen miteinzubeziehen. Das Interessante an der Entwicklung des politischen Systems in der Türkei ist die lange Tradition der formalen demokratischen Strukturen und der Westbindung einerseits, andererseits die Tradition der Staatszentriertheit, der Dominanz und politischen Einmischung des Militärs und seiner Funktion als Hüter der kemalistischen Staates, sowie politische Parteien, die sich stets mehr um interne Machtkämpfe und klientelistische Abhängigkeiten kümmerten. Seit den 80er Jahren jedoch entwickelte sich mehr und mehr Widerstand innerhalb der Gesellschaft gegen die überkommenen Strukturen: Am Ende des letzten Jahrhunderts war die Türkei schließlich tief gespalten zwischen den etablierten politischen Kräften und der Gesellschaft; gespalten in eine „alte Türkei“ des kemalistischen Establishments und eine „neue Türkei“ der Zivilgesellschaft. Korruptionsskandale der alten Garde der Politiker riefen vielfach öffentliche Proteste der Bevölkerung hervor. Die schwere Wirtschaftskrise im Frühjahr 2001 verschärfte den Druck auf die Eliten, die Reformierung des Staates in die
24
1 Einleitung
Hand zu nehmen. Im Herbst 2002 brachten die türkischen Parlamentswahlen mit der AKP eine Partei als stärkste Kraft ins Parlament, die sich sowohl als Vertreterin „des armen Volkes“ betrachtet und von vielen städtischen Armen als ihre Interessenanwältin gesehen wird, als auch von breiten Teilen der Mittelschicht getragen wird. In der Zeit, während die vorliegende Arbeit entstand, die Jahre 2004 bis 2007, erlebte die Türkei also eine turbulente Umbruchphase, die immer wieder auch die Forschungssituationen beeinflusste. Die letzte Regierung überraschte zunächst durch ihren Reformeifer und die Geschwindigkeit, mit der sie ihre Gesetzgebung an die Kopenhagener Kriterien16 anpasste, bspw. bezüglich der Defizite in den Bereichen Rechtsstaat, Stellung des Militärs im Staat und Menschenrechte. Auch wenn die Umsetzung der Reformen bislang noch zu wünschen übrig lässt, so zeigten sich in der Umgangsweise im Rahmen des politischen Systems Anzeichen für grundlegende Systemänderungen. Die Euphorie, die im Land zu Beginn meiner Feldforschungen zu spüren war, schien jedoch von Reise zu Reise abzunehmen, immer wieder wurde über besorgniserregende Ereignisse berichtet. Ein Ereignis bewegte besonders die frauenpolitische Szene: 2005 wurde eine Demonstration von Frauen am 8. März in Istanbul von der Polizei niedergeschlagen. Als zwei kurdische Jugendliche anlässlich des Nevrozfestes eine türkische Flagge verbrannten, reagierte die türkische Bevölkerung mit einer Patriotismuswelle: Die ganze (West-)Türkei versank in einem roten Flaggenmeer. Nachdem schon 2005 es immer wieder zu Gefechten zwischen der PKK und der türkischen Armee kam17, flammten 2006 in den kurdischen Gebieten Unruhen in den Städten auf, die die Konfliktausmaße der neunziger Jahre erreichten. 2007 schließlich war geprägt von turbulenten Auseinandersetzungen auf nationaler Ebene zwischen der AKP-Regierung und kemalistischen Kräften, die schließlich in Neuwahlen mündeten. Die derzeitige innenpolitische Lage in der Türkei wird einerseits als „tief gespalten“18 bezeichnet, andererseits ist „vom Geburtstag der zweiten türkischen Republik“ die Rede19 und von einer „neuen Mitte“ in einer „nachkemalistischen Ära“20: Auch wenn weiterhin die türkische Gesellschaft tief gespalten ist aufgrund ethnischer, ideologischer, religiöser, sozialer Differenzen, 16
Erklärungen finden sich im Glossar. Die militärischen Auseinandersetzungen schränkten mitunter auch die Feldforschungsplanungen ein, bspw. war während meines Aufenthalts in Tunceli die hohe Militärpräsenz in der Provinz unübersehbar, da es wenige Tage zuvor selbst auf der Nationalstraße Gefechte gegeben hatte. Ständige Militärkontrollen im gesamten Kurdengebiet zeugten von der angespannten Lage. 18 Bspw. Baran 2008. 19 Öktem 2007. 20 Kramer 2007. 17
1.4 Politikerinnen in ländlich geprägten Gebieten in der Türkei als Forschungsthema
25
zeichnet sich in der Tat ab, dass sich weitreichende innergesellschaftliche Verständigungsprozesse vollziehen. Ein Meilenstein waren die nationalen Wahlen im Juli 2007 in der Türkei auf alle Fälle für den (wenn auch moderaten) Erfolg des frauenpolitischen Engagements: Nachdem im türkischen Parlament der Frauenanteil nie 4,5% überschritten hatte, wurde er durch diese Wahl mehr als verdoppelt; knapp 10% der Abgeordneten sind nun weiblich. Während zuvor auf nationaler Ebene lediglich Frauen aus den großen Städten der Westtürkei aktiv werden konnten, sind die jetzigen weiblichen Abgeordneten Repräsentantinnen aller Regionen; die neun kurdischen Abgeordneten wurden sogar in ländlichen Gebieten des Südostens gewählt und weisen keinen „elitären Background“ auf, der eigentlich gerade für Parlamentsabgeordnete ungeschriebenes Gesetz ist: „They will carrry the mandate of Turkey’s poorest, most disenfranchised and oppressed group, Kurdish women from the rural and suburban parts of the southeast“21. Große Beachtung fanden während des Wahlkampfs Aktionen der Frauenbewegung, die für die Wahl von Frauen warb.22 Auch wenn der Anteil von Politikerinnnen auf kommunaler Ebene (noch) wesentlich geringer ist, ist dieser Erfolg auf nationaler Ebene gewissermaßen das Ergebnis der vorherigen frauenpolitischen Aktivitäten, die auch versuchten, die ländlichen Regionen und kommunalpolitischen Entscheidungsträgerinnen miteinzubeziehen. Wie die Aktivistin Fatma Nevin Vargün es ausdrückt, gab und gibt es überall in der Türkei eine „lautlose Bewegung“ unter politisch engagierten Frauen auf der lokalen politischen Ebene, die versuche, in der Kommunalpolitik neue Ansätze zu erreichen.
1.4
Politikerinnen in ländlich geprägten Gebieten in der Türkei als Forschungsthema
Bislang gibt es keine Literatur, die explizit sich mit Kommunalpolitikerinnen in der ländlichen Türkei befasst. In der Anthropologie ist das türkische Dorf zwar ein recht beliebtes Forschungsthema, jedoch findet die Problematik von Frauen in Entscheidungspositionen nur wenig Beachtung. „Dorfforscher“ wie Werner Schiffauer23 und 21
Vgl. Öktem 2007. Die NGO KADER initiierte eine „Schnurrbartkampagne“, um darauf aufmerksam zu machen, dass frau wohl nur mit Schnurrbart eine Chance hätte, gewählt zu werden. Außerdem setzte sie die AKP und CHP unter Druck, 10% der vorderen Listenplätze an Frauen zu vergeben. 23 Zu den klassischen anthropologischen Texten der Dorfliteratur im deutschsprachigen Raum gehört Werner Schiffauers „Die Bauern von Subay“, in dem der Autor Machtstrukturen und politische Prozesse in einem Dorf an der westlichen Schwarzmeerküste beschreibt. Vgl. Schiffauer 1987. 22
26
1 Einleitung
Paul Stirling24 klammern die Fragen nach möglichen politischen Partizipationsstrukturen von Frauen quasi aus. Demgegenüber problematisiert Martin van Bruinessen25 im Vorwort seiner neu aufgelegten Dissertation zu Machtstrukturen in der kurdischen Gesellschaft, dass er aus Männersicht habe schreiben müssen, da er keinen Zugang zur „Frauensphäre“ haben konnte. Eine weitere neue Studie von Hanne Straube, die den Lebenskreislauf und die Aufgaben der Menschen darin in einem ägäischen Dorf beschreibt, bezieht gerade den Alltag der Frauen mit in die Analyse ein, thematisiert jedoch nicht politische Konflikte und Handlungsperspektiven26. Einige anthropologische Untersuchungen widmen sich speziell der Situation von Frauen in Dörfern: Nükhet Sirman untersucht die Art und Weise, wie Frauen in einem westtürkischen Dorf Machtfelder im Rahmen der bestehenden patriarchalen Machtverhältnisse in Aushandlungsprozessen sich aneignen: wegen der Bedeutung von Heiratsplanung und Familie in ländlichen Gesellschaften hätten Frauen in ihrem sozialen Umfeld eine angesehene Position außerhalb des Hauses erringen können. Sie analysiert die Beziehungen, die Frauen in der Familie, der Nachbarschaft und im Dorf pflegen, die Austauschnetzwerke, die hieraus hervorgehen, als Strategien für Empowerment; die Frauen formten so die Struktur der Dorfgemeinschaft, man könnte sie sogar als Gründerin der Dorfgemeinschaft betrachten27. Emine Onaran I˙ncirliogˇlu vollzieht eine Untersuchung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in zwei zentralanatolischen Dörfern mit dem Ziel, das Klischee der unterwürfigen, unterdrückten muslimisch-türkischen Bäuerin zu widerlegen28. Lale Yalçın-Heckmann analysiert wiederum die Lebensbedingungen von Frauen unter Nomaden und Halbnomaden in der Provinz Hakkari, d. h. in einer kurdischen Region29. Sabine Strasser verfasste ihre Dissertation über das Verständnis von (Un-)Reinheit türkischer Dorffrauen und bezieht sich dabei auf ihre Feldforschung in einem Dorf an der östlichen Schwarzmeerküste bei Trabzon30. Die genannten Studien gehen meist von einem Dorf als einem eher geschlossenen sozialen Raum aus, gehen nur „aus Dorfsicht“ auf die sozialen Umbruchprozesse ein. Während in der anthropologischen 24
Paul Stirling ist quasi der „Vater“ der europäischen Forschung über das türkische Dorf. Vgl. Stirling 1965/ 94. 25 Martin van Bruinessen wiederum ist einer der grundlegenden Kurdistanforscher. Die ländliche kurdische Bevölkerung steht im Mittelpunkt seiner Dissertation, in der er primordiale Loyalitäten in den kurdischen Gebieten der siebziger Jahre untersucht. Vgl. Bruinessen 1989. 26 Straube 2002. 27 Sirman 1991. 28 ˙ Incirliogˇlu 1998. 29 Yalçın-Heckmann 1991. 30 Strasser 1995.
1.4 Politikerinnen in ländlich geprägten Gebieten in der Türkei als Forschungsthema
27
Literatur teilweise die Begriffe Öffentlichkeit und Privatheit als Kategorien zur Beschreibung der sozialen Lebensbedingungen von Frauen zumindest Erwähnung finden, wird die Frage nach formalpolitischer Partizipation nicht gestellt. Da aber gerade das Zusammendenken von Öffentlichkeitskonzeption und Partizipationsstruktur Aufschluss über die gesellschaftlich-politische Integration von Frauen geben kann, zeigt sich hier eine Leerstelle, die es auf politikwissenschaftlicher Ebene zu füllen gilt. Während Frauen in ländlichen Gebieten bislang kaum für PolitikwissenschaftlerInnen von Interesse waren, befasste sich eine Reihe von türkischen Wissenschaftlerinnen mit der Frage, warum nur wenige Frauen sich an der institutionellen Politik in der Türkei beteiligen. Die grundlegende Analyse stammt von Yes¸im Arat: „The Patriarchal Paradox“31. Hierin beschreibt sie, wie Frauen in der Türkei in erster Linie im Namen verwandter Männer Einlass in die Politik finden. Die Studie erlangte gewissermaßen Kanonstatus in der Türkei, wenngleich die empirischen Ergebnisse Anfang der 80er Jahre erhoben wurden. Ays¸e Günes¸ -Ayata, Canan Aslan und Serpil Sancar Üs¸ür erklären, warum türkische Frauen nicht in der Politik anzutreffen sind32. All diese Studien haben gemeinsam, dass sie sich in erster Linie auf Frauen auf Parlamentsebene beziehen, Frauen in der Kommunalpolitik nur am Rande Erwähnung finden. Als allgemeine Werke zur türkischen Lokalpolitik sind ebenfalls nur wenige Studien zu nennen. Zur Diskussion um Dezentralisierung gab Metin Heper33 einen kleinen Sammelband heraus, eine neue Arbeit zur Frage nach lokaler Demokratie auf kommunaler Ebene in der Türkei verfasste Akif Çukurçayır34. Eine mikropolitische Untersuchung der Kommunalpolitik im Kreis Datça bietet Horst Unbehauns Dissertation35: Entlang der historischen Rekonstruktion der kommunalpolitischen Prozesse zeigt er, wie seit der Gründung der Republik sich allmählich die Patronagepolitik der ortsansässigen Notablen hin zu klientelistischen Parteipolitiken wandelte. Bzgl. der Partizipation von Frauen beschränkt er sich darauf, die Wahl einiger Frauen als parteipolitische Strategie einiger einflussreicher Politiker zu deuten. Eine quantitative Untersuchung der Meinung bzgl. der Europapolitik unter Kommunalpolitikern der Provinzen Antalya, Burdur und Isparta verfasste Erol Esen36. 31
Y. Arat 1989. Günes¸-Ayata/ Aslan 2004. 33 Heper 1986. 34 Çukurçayır 2000. 35 Unbehaun 1994. Er gibt hierin außerdem eine Übersicht zur Forschung von Klientelismus und Patronage in der Türkei. 36 Esen 2005. 32
28
1 Einleitung
Während in den bisher genannten Studien politische Partizipation von Frauen in der Kommunalpolitik höchstens nur am Rande Erwähnung findet, widmen die Dissertationen von Heidi Wedel und Ayten Alkan sich dezidiert diesem Thema. Heidi Wedel beschreibt in „Lokalpolitik und Geschlechterrollen“, wie in I˙stanbuler Gecekondus Frauen in Zusammenhang mit Verstädterungsprozessen sich lokal organisieren und beginnen, sich zu politisieren. Ayten Alkan wiederum befasst sich in „Yerel Yönetimler ve Cinsiyet“ („Die Lokalverwaltung und Geschlecht“) mit der Frage, wie die Kommunalverwaltung frauengerecht gestaltet werden könnte. Sie bezieht sich dabei auf Feldforschung in Ankara. Sowohl Heidi Wedel als auch Ayten Alkan beschränken sich also auf städtische Kontexte. Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass – es zwar einige Studien über Dörfer und ländliche Gebiete in der Türkei gibt, jedoch dabei die virulenten sozialen Veränderungsprozesse, die durch Migration, Bürgerkrieg, Verstädterung und Verdörflichung entstehen, häufig ausgeklammert werden, vor allem in Zusammenhang mit ihrer türkeiweiten Dimension, und der Zusammenhang zwischen politischer Partizipation und Frauen keine Erwähnung findet. – Analysen der Partizipation von Frauen bisher Frauen in ländlich geprägten Regionen nicht miteinbezogen und Forschung bzgl. Kommunalpolitik im ländlichen Raum keine geschlechtsspezifische Dimension umfassten. – es zwar Studien zu türkischen Politikerinnen gibt, dabei aber Kommunalpolitikerinnen häufig nur am Rande Erwähnung finden, außerdem in der Regel die Problematik im Mittelpunkt steht, warum Frauen nicht politisch partizipieren.
1.5
Die empirische Grundlage
Eine bisher einzigartige, jedoch notwendige Herangehensweise an die Problematik stellt das Sample dar, auf das sich die Untersuchung stützt: Im Zentrum stehen die derzeitigen gewählten weiblichen Bürgermeisterinnen der Türkei, d. h. die Gesamtheit der Frauen in diesem Amt wurde für die Studie miteinbezogen. Notwendig war dies insofern, da auf diese Weise Frauen aller Regionen befragt werden konnten, schließlich wurden diese 18 Frauen in unterschiedlichen Lebenskontexten zwischen der bulgarischen und der iranischen Grenze, zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer in ganz unterschiedlichen Kommunen gewählt. Auch wenn dieses Vorgehen mit sich bringt, dass keine Region bzw. Gemeinde vertiefend betrachtet werden konnte, zeigt gerade der Vergleich der regional verschiedenen Kommunen miteinander Parallelen und Unterschiede in sozialen und politischen Angelegenheiten auf und trägt zum Verständnis der Bedingungen bei, unter denen politisch aktive Frauen in der Türkei agieren.
1.6 Aufbau der Arbeit
1.6
29
Aufbau der Arbeit
Zu Beginn geht es um eine „eher inhaltliche“ (Kapitel 2) und eine „eher theoretische“ (Kapitel 3) Herangehensweise an die Thematik: Zunächst stelle ich die Entwicklung der Partizipation von Frauen in öffentlichen Bereichen dar und umreiße kurz die aktuelle Lage dieser Problematik. Dabei geht es nicht zuletzt darum zu zeigen, dass Frauen in verschiedenen Sphären der Gesellschaft aktiv sind und ihre Partizipation durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst wird: Die Interaktion von Staat und Frauenbewegung; die staatliche Anerkennung von Frauenrechten; die Durchlässigkeit des Bildungssystems, der Arbeitswelt und des politischen Systems für die Teilhabe von Mädchen und Frauen; gesellschaftliche und kulturelle Faktoren, die der gleichberechtigten Partizipation entgegenstehen. Vor diesem Hintergrund werden die theoretischen Begriffe Öffentlichkeit, Partizipation und Empowerment im Kontext ländlich geprägter Gebiete in der Türkei diskutiert hinsichtlich der Möglichkeiten politischer Partizipation von Frauen. Anschließend präsentiere ich die Ergebnisse des empirischen Materials: Als Hintergrundwissen für das Verständnis der empirischen Ergebnisse erläutere ich erst einmal die Grundlagen des politischen und staatlichen Systems hinsichtlich der lokalen Politikebene einschließlich der Kommunalwahlen und gehe kurz auf zivilgesellschaftliche Kräfte ein, die auf der lokalen Ebene agieren (Kapitel 4). Nach der Schilderung der methodischen und methodologischen Grundlagen der Arbeit und der Feldforschung (Kapitel 5) folgt die grundlegende Darstellung der politischen Prozesse, die zur Wahl von Frauen in der Kommunalpolitik führten und des politischen Alltags nach der Wahl (Kapitel 6). In Kapitel 7 und 8 schließlich reflektiere ich die empirischen Befunde in Bezug auf die theoretischen Grundlagen der Arbeit, d. h. es geht um die Diskussion der Begriffe Öffentlichkeit, politische Partizipation und Empowerment von Frauen im Kontext der Lokalpolitik in der ländlich geprägten Türkei. Daraus wiederum stellt sich die Frage nach den Bedingungen und Voraussetzungen von Frauenpolitik in der ländlichen bzw. peripheren Kommunen.
2
Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik der Türkei
Im Folgenden möchte ich versuchen, die bisherigen Erfolge und Hindernisse für die Partizipation von Frauen in der türkischen Öffentlichkeit nachzuzeichnen37. Partizipation bezieht sich dabei sowohl auf Teilhabe an ökonomischen und sozialen Prozessen als auch am institutionell politischen Leben. Dieses Vorgehen ist insofern nicht unumstritten, da unter türkischen Feministinnen seit den siebziger Jahren wegen der Dominanz des autoritären Staates eine Kluft zwischen institutioneller und zivilgesellschaftlicher Sphäre bewusst aufrecht erhalten wurde38. Ich denke jedoch, dass trotz der erfahrenen Trennung beider Partizipationsmuster im Verlauf der türkischen Geschichte in den letzten Jahren die Wege von Frauen in der institutionellen Politik und der Zivilgesellschaft vermehrt sich kreuzten, parallel verliefen und mitunter sich vereinten.39 Insofern ist es nahe liegend zu versuchen, beide Bereiche so eng wie möglich darzustellen. Auch wenn die analytische Trennung von politischer und gesellschaftlicher Partizipation im Auge behalten werden sollte, ist das Zusammendenken verschiedener Partizipationsformen wichtig, um Partizipationsstrukturen von Frauen sichtbar zu machen – wenngleich bislang der Fokus der feministischen Forschung eher auf der Untersuchung von Partizipationsstrukturen jenseits der institutionellen Politik lag.40 Partizipationsmöglichkeiten für Frauen in der türkischen Öffentlichkeit wurden und werden durch vielfältige Bedingungen beeinflusst: In historischer Hinsicht spielten zunächst die Rechtsreformen zu Zeiten der Republikgründung eine bedeutende Rolle, des Weiteren stellt die Entwicklung der Frauenbewegung einen zentralen Faktor für die Situation von Frauen in der türkischen Gesellschaft dar. Fest verwurzelte konservative Einstellungen sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch in den institutionell politischen Strukturen bestimmen des Weiteren die Partizipationsmöglichkeiten von Frauen. Es lassen sich also vier Dimensionen ausmachen, die für die weibliche Partizipation in der allgemeinen politischen Öffentlichkeit eine Rolle spielen: die juristische Dimension, d. h. in erster Linie die Geschichte der staatlichen Rechtsreformen; die zivilgesellschaftliche Dimension, d. h. die Entwicklung der 37
Zum Partizipations- und Öffentlichkeitsbegriff vgl. nächstes Kapitel. Vgl. Tekeli 1997, Keresteciogˇlu 2004, Al-Rebholz 2007. 39 Diese Thematik wird auch im weiteren Verlauf dieser Studie eine Rolle spielen. 40 Vgl. Harders 2002, Harders 1995, Wedel 1999, Schütze 2005, Singerman 1995. 38
A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/ 978-3-531-93113-5_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
32
2 Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik der Türkei
Frauen(rechts-)bewegung, von Frauengruppen und -organisationen; die gesellschaftliche Dimension, d. h. die Präsenz von Frauen im Berufs- und Alltagsleben sowie die Bedeutung von kulturellen Praktiken und Einstellungen bzgl. der Geschlechterverhältnisse; die institutionellpolitische Dimension, d. h. die Präsenz von Frauen in politischen Ämtern und Parteien. Eine fünfte Dimension, die für die vorliegende Arbeit bedeutsam ist, jedoch in der Literatur meist vernachlässigt wird, ist die Frage nach dem regionalen Einfluss auf die Situation von Frauen in der Türkei, d. h. von Frauen an der Peripherie, auf dem Lande, in ländlich geprägten Siedlungen. Zunächst möchte ich in einem kurzen historischen Aufriss die Entwicklung der Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit darstellen und anschließend die zeitgenössischen soziopolitischen Bedingungen für das Partizipationsverhalten von Frauen in der Türkei aufzeigen. Dabei gehe ich auch auf die wenigen Informationen, die es zur lokalpolitischen Partizipation von Frauen jenseits der Metropolen gibt, ein.
2.1
Anfänge der Frauenbewegung, Staatsfeminismus und gesellschaftlicher Konservatismus
Wenngleich im Osmanischen Reich Frauen vom Zugang zur öffentlichen Sphäre ausgeschlossen waren und keine Möglichkeit hatten, politisch zu partizipieren, entwickelte sich die türkische Frauenbewegung aus der Zeit der Tanzimat-Reformen41 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Frauen begannen, sich zu organisieren: In Zeitschriften forderten sie Menschenrechte, Ausbildungsrechte, soziale und politische Rechte ein42, gründeten zwischen 1908 und 1920 mehr als 25 Frauenorganisationen, organisierten neben Konferenzen spektakuläre Aktionen.43 Zu Beginn der Geschichte der türkischen Republik wurde Frauen infolge der Umwälzungen im politischen System im Rahmen des kemalistischen Modernisierungsprojektes eine wichtige Rolle zuerkannt: Während der ersten Jahre nach der Gründung der Republik wurde versucht, den Frauen in der Türkei „von oben“, durch den Staat, mit radikalen Reformen die Gleichstellung mit Männern zuzuerkennen. Die 41
1841 wurde das Recht auf Eheschließung durch einen Zivilrichter (Kadi), einige Jahre später das Erbrecht für Töchter eingeführt. 1858 bzw. 1862 wurde die erste höhere Schule für Mädchen eröffnet, 1869 wurde der Grundschulbesuch für beide Geschlechter verpflichtend. Seit 1914 können Frauen die Universität besuchen. Vgl. Tekeli 1997; Z. Arat 1998, S. 7. 42 Zwischen 1869 bis 1927 erschienen über vierzig Zeitschriften, die ausschließlich von Frauen produziert und herausgegeben wurden. Themen, die von diesen „ersten Feministinnen“ diskutiert wurden, waren Scheidung, Polygamie, Geschlechtersegregation, Teilhabe an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, Arbeit, Bildung, Partizipation. Vgl. Tekeli 1997. 43 Tekeli 1997.
2.1 Anfänge der Frauenbewegung
33
Anwesenheit von Frauen in der Öffentlichkeit symbolisierte den progressiven, westlich orientierten Kemalismus, insbesondere die säkulare Ausrichtung des Staates. Frauen wurde ermöglicht, am öffentlichen Leben zu partizipieren und in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden. Das islamische Zivilrecht des Osmanischen Reiches wurde 1926 durch die Übernahme des Schweizer Zivilrechts ersetzt, wodurch Frauen formale Gleichheit zuerkannt wurde. Eigene Initiativen von Frauen wurden jedoch unterdrückt: So wurde die „Frauenvolkspartei“ („Kadınlar Halk Fırkası“), die 1923 einige Frauen gegründet hatten, verboten. An ihrer Stelle gründeten Frauen den Türkischen Frauenverband (Türk Kadınlar Birligˇi), der wiederum unter dem Druck der Regierung 1935 aufgelöst wurde44. Der Staat wurde selbst zum Förderer der Frauen: 1931 führte die Türkei das Kommunalwahlrecht und 1934 das allgemeine Wahlrecht für Frauen ein. Auch wenn dies einen fundamentalen Wechsel für Politik und Staat bedeutete und den Grundstein legte für die Entwicklung der institutionellpolitischen Partizipation von Frauen, erhielt die unabhängige Organisation von Frauen keinen Raum, da im kemalistischen Verständnis weitere frauenspezifische Aktivitäten nicht für nötig gehalten wurden wegen der nun gesetzlich erreichten Gleichheit von Mann und Frau. Indem die Universalität des Staatsbürgertums propagiert und gefordert wurde, dass jeder und jede auf gleiche Weise am politischen öffentlichen Leben und im demokratischen Prozess teilhaben sollte, wurde außer acht gelassen, dass durch die realen gesellschaftlichen Bedingungen nicht alle Bürger in gleicher Weise ihr staatlich gegebenes Recht auch in Anspruch nehmen können: Dadurch, dass die Reformen die Mehrheit der Frauen in den ländlichen und städtischen Unterschichten kaum erreichte, verstärkte sich die soziokulturelle Dichotomie unter den Frauen innerhalb der Republik.45 Trotz der „neuen Rollen“ und „neuen Möglichkeiten“, die für Frauen in den 20er und 30er Jahren durch die republikanischen Reformen geschaffen wurden, lebten die Frauen noch im patriarchalen System, das durch Geschlechterungleichheiten im Rechtssystem, in der Erziehung, im ökonomischen Leben und in der Familie geprägt war.46 Dies wird vor allem daran deutlich, in welcher Weise Veränderungen im politischen System im Laufe der neueren Geschichte und gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse einander beeinflussten. So bedeutete der Wechsel vom Einparteiensystem der Anfangsjahre der Republik hin zu einem Mehrparteiensystem, der eigentlich eine demokratisierende Entwicklung des politischen Systems darstellte, dass weniger Frauen in der institutionellen Politik partizipierten. Während 1935 der Anteil an weiblichen Abgeordneten im Parlament 44
Die letzte Präsidentin Latife Bekir Hanım erklärte, dass der TKP nicht mehr gebraucht werde, da die Frauen in der Türkei die gleichen Rechte wie die Männer erreicht hätten. Vgl. Abadan-Unat/ Tokgöz 1994; Tekeli 1997; Arat 1997; Yaraman 1999. 45 Vgl. Wedel 2000, S. 110, Durakbas¸ a 1998, Arat 2000. 46 Vgl. Çubukçu 2004.
34
2 Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik der Türkei
4.5% betrug, sank er nach 1945 kontinuierlich.47 Dieses Phänomen lässt sich damit erklären, dass die politische Repräsentation von Frauen eng damit verknüpft ist, in welcher Weise die Partei Kandidatinnen unterstützt, und mit dem Status, den Frauen in den Parteien einnehmen. Das Mehrparteiensystem zog dabei mehr Wettbewerb zu Lasten der Kandidatinnen in den Parteien nach sich. Paradoxerweise konnten also immer weniger Frauen mit der zunehmenden Demokratisierung seit den fünfziger Jahren sich in der Politik etablieren, die von Männern dominiert wurde und die mit dem geringer werdenden Einfluss der Staatseliten in den Parteien das patriarchale System der Gesellschaft widerspiegelte. Demokratisierung auf nationaler Ebene bedeutete also eine Reduktion der politischen Repräsentation von Frauen.48 Diese Entwicklung vollzog sich auch in der Kommunalpolitik: In den Gemeindeversammlungen gab es zwischen 1933 und 1946 einige Frauen, doch auch hier bedeutete die Transition zu einer Mehrparteiendemokratie geringere Chancen, gewählt zu werden.49 1950 wurde die erste Bürgermeisterin gewählt50, zwischen 1950 und 1980 gab es jedoch lediglich zehn Bürgermeisterinnen. Dass selbst in den ländlichen Gebieten es Frauen gab, die für politische Ämter nominiert wurden, wird in der Regel in Zusammenhang mit den andauernden Patronage-Strukturen gesehen51. Der Erhalt der formalen Freiheitsrechte reichte also nicht, um die Gesellschaft und die Situation der Frauen in ihr grundlegend zu verändern. Ays¸ e Durakbas¸ a urteilt zusammenfassend über den Staatsfeminismus des Kemalismus: “Kemalism, although a progressive ideology that fostered women’s participation in education and the the professions, did not alter the patriarchal norms of morality and in fact maintained the basic cultural conservatism about male/ female relations, despite its radicalism in opening a space for women in the public domain.”52
47
Vgl. Abadan-Unat/ Tokgöz 1994, S. 711ff. 1950 nach den ersten Wahlen, bei denen mehrere Parteien zugelassen waren, fiel der Frauenanteil in der Nationalversammlung auf unter 1%. 48 Vgl. Günes¸ -Ayata/ Aslan 2004, S. 263. 49 Vgl. Abadan-Unat/ Tokgöz 1994, S. 712. 50 Müfide Ilhan wurde 1950 in Mersin als Kandidatin der DP zur Bürgermeisterin gewählt, sie war Lehrerin zuvor und Mutter von sieben Kindern. Vgl. „Türkiye’nin ilk kadın belediye bas¸ kanının öyküsü“, Hürriyet 11. 3. 2004. 51 Horst Unbehaun erwähnt bspw., dass im Kreis Datça 1939 in einem Dorf zwei Ehefrauen einflussreicher Parteifunktionäre zu „Wahlmännern“ ernannt wurden: „Dies dürfte jedoch kaum als Durchbruch zu einer gleichberechtigten Stellung der Frauen zu werten sein, sondern vielmehr als das Bestreben der beiden Familienoberhäupter, sich ihren Einfluss in der Partei durch die Ernennung ihrer Ehefrauen von der Parteispitze bestätigen zu lassen.“ Unbehaun 1994, S. 143. Des Weiteren wurde die Frauenorganisation der CHP in Datça in den siebziger Jahren von den Töchtern der alten Agˇ a-Familien dominiert, die auf diese Weise ihren Familien einen gewissen Einfluss sichern sollten (Unbehaun 1994, S. 255). 52 Durakbas¸ a 1999, S. 140.
2.2 Die Frauenbewegung seit 1980
35
Diese Einschätzung hat bis in die Gegenwart hinein Gültigkeit: Auch wenn Frauen heute formal gleichen Zugang wie Männer in öffentliche Bereiche wie Bildungsinstitutionen, Berufsleben, Politik haben, verhindern konservative Einstellungen und patriarchale Moralvorstellungen, fehlende Schul- und Berufsausbildung von Frauen die gleichberechtigte Nutzung.
2.2
Die Frauenbewegung seit 1980
Trotz der juristisch gegebenen Gleichberechtigung entwickelte sich das Bewusstsein für die Benachteiligung von Frauen innerhalb der Gesellschaft während der Phase der Studentenbewegung und sozialen Spannungen in den siebziger Jahren. Innerhalb der linken Bewegung gründeten Frauen Organisationen, um weitere Frauen für die aktive Mitarbeit zu gewinnen.53 Die Thematisierung von Frauenrechten wurde dem Kampf gegen die Klassenherrschaft untergeordnet, die Unterdrückung von Frauen wurde der sozio-ökonomischen Rückständigkeit des Landes zugeschrieben. Als nach dem Militärputsch 1980 eine Phase der Depolitisierung der Gesellschaft begann, entwickelte sich die Frauenbewegung als erste demokratische Oppositionsbewegung. Nach der Phase der extremen Politisierung und Radikalisierung, in der Frauen innerhalb dieser Auseinandersetzungen frauenspezifische Aktivitäten nicht auf die Tagesordnung setzten oder setzen konnten, entstand also in den achtziger Jahren eine neue feministische Bewegung, die bzgl. ihrer Anliegen der zweiten Welle der Frauenbewegung im Westen ähnelte.54 Unter türkischen Wissenschaftlerinnen wird ihr sehr viel Bedeutung beigemessen: “The women’s movement, as the first democratic reflex of the political system in the wake of the 1980 military coup holds a unique place in Turkey’s democratization process that followed. While staging social opposition to expose specific problems of Turkish women, the women’s movement also directed an integrated criticism towards conventional relations and mechanisms entrenched culturally, politically, sociologically, economic, etc., in every field. This approach questioned the status quo in its every aspect and called for ‘a new democratic society.’”55
53
Innerhalb der verbotenen Türkischen Kommunistischen Partei wurde 1975 der „Frauenbund für den Fortschritt“ (Ilerici Kadınlar Dernegˇi) gegründet. Vgl. Tekeli 1997. 54 1981 entstanden die ersten feministischen Selbsterfahrungsgruppen in Istanbul. Zeitschriften beschäftigten sich mit feministischen Themen, wie bspw. die Zeitschrift Kadınca und die Wochenzeitung Somut. Vgl. Tekeli 1997. Zur Geschichte der türkischen Frauenbewegung vgl. auch Gündüz 2000. 55 Çubukçu 2004, S. 57.
36
2 Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik der Türkei
Der erste Schritt zu dieser gewünschten „neuen demokratischen Gesellschaft“ bestand in der Aneignung der öffentlichen Sphäre, in der Frauen nun mehr als die formalpolitischen Rechte einforderten: “An opportunity opened for those who began to call themselves feminists, when pre-1980 political actors on the Left and the Right were persecuted. These women encroached upon the public space that had been monopolized by the state as they organized to expand their opportunities and solve their gender-based problems. They demanded substantive equality beyond formal equality, expressed their needs to be in control of their own sexuality and protested domestic violence.”56
Vor allem Frauen, die zuvor in der linken Bewegung partizipiert hatten, engagierten sich nun in diesem Rahmen. Die meisten Aktivistinnen stammten aus der Mittelschicht, verfügten über eine gute Ausbildung und wohnten in den Städten. Einen wichtigen Beitrag zur Bewusstwerdung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten leisteten einige Wissenschaftlerinnen, die sich mit der Situation von Frauen in der türkischen Gesellschaft und Politik befassten. Außerdem entstanden eine Reihe von Zeitschriften, die sich mit Themen wie Gewalt, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung usw. auseinandersetzten57. Des Weiteren wurden Seminare, Konferenzen und Kampagnen zur Bewusstwerdung geschlechtsspezifischer Ungleichheit organisiert.58 Dass die Frauenbewegung in der Zeit der Militärdiktatur entstand, ermöglichte also einerseits, dass Frauen wegen des Verbots der klassischen ideologisch orientierten Parteien und Bewegungen relativ unbehelligt ihre Themen in der Öffentlichkeit diskutieren konnten, andererseits blieb sie wegen der repressiven Situation im Staat auf wenige Akteurinnen und Wirkungskreise beschränkt, es gelang ihr nicht, ein größeres gesellschaftliches Umfeld zu erreichen. Vor allem in den Regionen außerhalb der Metropolen konnte sie sich nicht verwurzeln. Jedoch hatte sie das Thema der Benachteiligung von Frauen erfolgreich auf die Tagesordnung der politischen Öffentlichkeit gesetzt.59 Des weiteren entwickelten Frauen nach der Phase der Bewusstwerdung geschlechtsspezifischer Diskriminierung zu Beginn dieser zweiten Welle der Frauenbewegung nun politischen Protest in der Öffentlichkeit. Die Kampagne gegen häusliche Gewalt (Dayagˇa Kars¸ ı Kampanya) mit der Forderung nach der Einrichtung von Frauenhäusern vereinigte Frauen unterschiedlicher politischer und ideologischer Richtungen. Die erste Massendemonstration der achtziger Jahre richtete sich gegen häusliche Gewalt. Aus der Kampagne ging 1990 die Mor Çatı Kadın Sıgˇınagˇı Vakfı 56
Y. Arat 2000, S. 112f. S¸irin Tekeli nennt als erstes feministisches Journal die Zeitschrift Feminist, die 1987 herauskam, außerdem die Zeitschrift Kaktüs. Tekeli 1997 S. 84. 58 Çubukçu 2004. 59 Vgl. Çubukçu 2004 S.71; Sancar Üs¸ ür 2000. 57
2.2 Die Frauenbewegung seit 1980
37
(„Lila-Dach-Frauenhaus-Stiftung“) hervor, die Hilfe und Unterstützung den Frauen bietet, die Opfer häuslicher Gewalt werden. In den folgenden Jahren etablierten einige Kommunalverwaltungen Frauenhäuser und Gästehäuser60. Seit Beginn der 90er Jahre entwickelte sich die Institutionalisierung des Feminismus in der Form von „Projektfeminismus“61, d. h. nachdem zunächst die Schaffung feministischen Bewusstseins während der 80er Jahre im Vordergrund gestanden hatte, begann die feministische Bewegung nun mit der Schaffung eigener Institutionen und Gender-Mainstreaming. Die Einrichtung des Generaldirektorats für den Status und Probleme der Frau (Kadının Statüsü ve Sorunları Genel Müdürlügˇü, KSSGM) 1990 sorgte für Diskussionen innerhalb der Frauenbewegung: Teile der Bewegung begrüßten diese Entwicklung, die die Präsenz staatlicher Institutionen für notwendig erachteten, um so innerhalb der Staatsbürokratie an Einfluss bzgl. der Sensibilisierung für geschlechterspezifische Problematiken zu gewinnen. Andere fürchteten um die Autonomie der unabhängigen Frauenbewegung, hatten Angst, dass sie durch den kemalistischen Staat für überflüssig erklärt werden könnten – wie bereits die Türkische Frauenunion in den Anfangsjahren der Republik. Diese Befürchtung bewahrheitete sich nicht, vielmehr entwickelte sich das KSSGM zu einem „Verbündeten“ der Frauenbewegung auf der nationalen Politikebene62: “The KSSGM experience demonstrates that civil society forces can build a relationship with the state without loosing their critical perspective and consequently can question public policies and contribute to forming new policies. Although KSSGM is a public institution tied to the Prime Ministry, it was able to develop relations with the women’s movement and served as a bridge in transmitting the demands of this movement to official bodies.”63
Die anvisierte Änderung der Position des Staates bzgl. Gewalt gegen Frauen vollzog sich durch die Einrichtung von „Gästehäusern“ für Frauen durch die Sozialdienste und durch das Gesetz zum Schutz der Familie64. Des Weiteren wurde zwischen 1990 60
Vgl. Arat 1998. Folgende Kommunalverwaltungen gehörten hierzu: Bakırköy und S¸is¸ li in Istanbul, Kayseri, Nazıllı, Ankara, Antalya, Bursa Eskis¸ ehir, Izmir. Allerdings wurden die meisten nach der Wahl 1995 wieder geschlossen. 61 Keresteciogˇlu 2004, Çubukçu 2004. 62 Das KSSGM versucht, politische Strategien mit Frauenorganisationen zu koordinieren, es unterstützt die universitären Frauen- und Geschlechterforschungszentren, erstellt eine Datenbank zur Situation von Frauen in der Türkei und arbeitete für die Rechtsreformen zugunsten der Position von Frauen. (Vgl. Keresteciogˇlu 2004.) 63 Keresteciogˇlu 2004, S. 85. 64 Dieses Gesetz umfasst Maßnahmen gegen häusliche Gewalt durch „einen der Eheleute oder Familienangehörige, die unter dem gleichen Dach leben“, d. h. es bezieht die Fälle mit ein, in denen Söhne, Brüder oder Schwiegermütter Gewalt ausüben. Erklärt die Justiz eine Anzeige (Fortsetzung auf S. 38)
38
2 Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik der Türkei
und 2002 das Zivilrecht geändert65. Besonderen Anteil an dem Prozess bis zur Gesetzesänderung hatten Angehörige der Frauenbewegung durch Unterschriftenaktionen, Stellungnahmen, Besuche bei Parlamentariern und Angehörigen der Parteien. Eine weitere fundamentale Änderung im Recht zielte auf das Strafrecht: Hierbei wird besonders deutlich, wie sich die Auffassung geändert hat, Frauen als abhängige Familienangehörige im Rahmen des patriarchalen Systems zu sehen – vielmehr zeigt sich im Text der Versuch, im Recht Frauen als individuelle Subjekte anzuerkennen66. So wurden sexuelle Straftaten, die zunächst unter „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“ geführt wurden, nun unter „Straftaten gegen Personen“ gruppiert: “The classification of sex crimes under the title ‘Crimes Against Public Decency’ reflected a mentality that conserved values such as ‘common morality’, ‘family and social order’ and ‘public decency’ instead of the physical and sexual integrity of the individual.”67 Mit der Verfassungsreform 2001 wurde auch die Verfassung an grundlegender Stelle geändert: Der Satz „Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesellschaft“ wurde ergänzt mit dem Satz „und stützt sich auf Gleichheit der Eheleute“. 64
(Fortsetzung von S. 37) für gerechtfertigt, kann der Verursacher der Gewalt für sechs Monate des Hauses verwiesen werden. Hält er sich nicht daran, kann er inhaftiert werden. Der Staat zahlt in dieser Zeit Unterhalt der Ehefrau. Keresteciogˇlu erkennt mit dem Gesetz Anzeichen dafür, dass der Staat die Perspektive auf patriarchale Beziehungen in der Privatsphäre ändert: “This approach implies the acknowledgement of an unequal power relationship between men and women socially and economically, and that the victim in this relationship should be protected.” (Keresteciogˇlu 2004, S. 80.) Problematisch ist jedoch die Umsetzung des Gesetzes, solange es innerhalb der Gesellschaft nicht bekannt ist und solange die staatlichen Institutionen nicht hierfür sensibilisiert sind. Aufklärung übernahmen in erster Linie Frauenorganisationen. 65 Seit 1990 benötigen Frauen nicht die Erlaubnis ihres Mannes für die Annahme einer Arbeitsstelle; seit 1997 können Frauen ihren Geburtsnamen zusammen mit dem Namen des Mannes als Doppelnamen behalten; Ehebruch gilt nicht mehr als Straftat; das Heiratsalter wurde erhöht; Paragraphen, die den Mann zum Haushaltsvorstand erklärten und begünstigten, wurden durch Formulierungen ersetzt, die die Gleichheit zwischen den Geschlechtern anvisieren. Hierzu gehört, dass Frauen nun nicht mehr die Wohnung des Mannes als ständigen Wohnsitz haben müssen, sondern Eheleute gemeinsam einen Wohnsitz wählen; dass beiden das Eigentum der Familie gehört und beide darüber gemeinsam entscheiden müssen. 66 So wurde Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand aufgenommen; Frauen werden nicht mehr in „Jungfrauen“ und „Nichtjungfrauen“ unterschieden (in der vorherigen Fassung wurde der Vergewaltiger einer Nichtjungfrau weniger hart bestraft als ein Vergewaltiger einer Jungfrau). Die Strafe im Fall einer Vergewaltigung auszusetzen, falls der Vergewaltiger sein Opfer nach der Tat heiratet, ist nicht mehr möglich; sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz wurde als Straftatbestand in das Strafrecht aufgenommen; ein „Ehrenmörder“ kann nun nicht mehr mit Strafminderung wegen einer „ungerechtfertigten provokativen Aktion“ rechnen. 67 Keresteciogˇlu 2004, S. 88.
2.2 Die Frauenbewegung seit 1980
39
Teil des Reformpaketes 2004 war außerdem ein Artikel, der festlegt, dass der Staat Vorkehrungen treffen werde, um in der Praxis die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu erreichen. Dies kann als Grundlage für Praktiken positiver Diskriminierung gewertet werden wie bspw. Quoten in den Parteien. Die Organisationsweise der Frauenbewegung, in kleinen Gruppen sich um ein Projekt oder Thema zu versammeln, kennzeichnete laut S¸irin Tekeli die Bewegung und unterschied und unterscheidet sie von anderen Bewegungen, die darauf abzielen, Massen zu mobilisieren. Dennoch war sie sowohl in der ersten als auch der zweiten Phase insofern sehr homogen, da Frauen mit ähnlichem sozialen und gesellschaftlichen Hintergrund sich organisierten. Doch am Ende der achtziger Jahre begann die Frauenbewegung, sich zu diversifizieren und zu pluralisieren, einerseits bzgl. ihrer Ansätze und Methoden, andererseits bzgl. der unterschiedlichen kulturellen, ethnischen, klassenspezifischen und politischen Identitäten der Frauen. Feministinnen begannen, sich in Gruppen einzuordnen: „radikale Feministinnen“68, „sozialistische Feministinnen“, „egalitäre (kemalistische) Feministinnen“69, „muslimische Feministinnen“70, „kurdische Feministinnen“71, usw.72 Während S¸irin Tekeli noch 1997 kritisiert, dass der Feminismus in der Türkei als Bewegung der Elite begann und bis heute geblieben sei, was eine seiner Hauptschwächen zu sein scheine73, habe laut I˙nci Özkan Keresteciogˇlu der feministische Diskurs in den letzten Jahren so viele Frauen erreichen können, die zuvor unerreichbar gewesen waren: nachdem zunächst in erster Linie gut ausgebildete Frauen und Studentinnen in den städtischen Zentren der feministischen Bewegung angehört hatten, begann sie seit den neunziger Jahren sich geographisch und sozial weiter auszubreiten, Frauenorganisationen entstanden in vielen Provinzstädten wie Diyarbakır, Antalya, Adana, Mersin, Gaziantep, Samsun und Eskisehir. Sie beklagt jedoch, dass mit der Ausbreitung der Frauenbewegung sowohl horizontal als auch vertikal sie ihre alternative Sprache und ihren eigenen Weg, Politik zu machen, verloren habe. So bezeichnet sie die achtziger Jahre als „Ära der feministischen Bewegung“, während die neunziger Jahre als „Zeit der Frauenbewegung, die durch feministisches 68
Prominente Vertreterin radikaler Feministinnen ist die Wissenschaftlerin S¸irin Tekeli. Als Beispiel für die Aktivitäten radikaler Feministinnen vgl. Y. Arat 1998. 69 Eine bekannte Vertreterin kemalistischer Feministinnen ist Nermin Abadan-Unat. Vgl. Z. Arat 1998, S. 28. 70 Vgl. I˙lyasogˇlu 1998. 71 Vgl. Wedel 2000, Keresteciogˇlu 2004, Al-Rebholz 2007. 72 Vgl. Çubukçu S. 69. Es gibt Anzeichen, dass in den letzten Jahren sich unter den jüngeren Feministinnen weitere Richtungen entwickelt haben, dass bspw. junge Türkinnen weniger ideologisch als vielmehr auf gleicher Augenhöhe mit kurdischen Frauen zusammenarbeiten. 73 Tekeli 1997, S. 87.
40
2 Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik der Türkei
Bewusstsein motiviert wurde“, definiert werden könne.74 Sevgi Uçan Çubukçu beurteilt diese Entwicklung hinsichtlich des Transformationspotentials für Staat und Gesellschaft und betont die Bedeutung der Aneignung der politische Öffentlichkeit durch feministische Organisationen auch außerhalb der städtischen Zentren: “The feminist protest of the ‘80s has succeeded in penetrating into public policies through all kinds of formations such as associations, foundations and companies that sprung from itself or was created with its influence, by bringing alternative models, rules or approaches (…) Widespread and varied outside urban centers as well, these constructs have their mark on the gains that have a transformative quality on the gender-biased content of the state and society in Turkey.”75
In den neunziger Jahren noch betonte S¸irin Tekeli in einer Einschätzung der Frauenbewegung, dass diese lieber autonom dem Staat gegenüber verhalte: „Um die Zeit der Jahrhundertwende, als die osmanischen Frauen keine Bürgerrechte besaßen und dabei waren, sie sich zu erkämpfen, nahmen sie eine unterwürfigere Pose ein, als es die Frauen heute tun. Darüber hinaus konnten viele von ihnen geforderte Reformen nur durch den Staat umgesetzt werden. Die heutige Frauenbewegung hingegen steht der übermächtigen, autoritären Staatstradition der Türkei überaus skeptisch gegenüber und hat sich dafür ausgesprochen, vor allem auf der Ebene der Zivilgesellschaft zu arbeiten. Die Aneignung feministischer Ideen durch politische Parteien und Staatsbeamte ist ein immer wiederkehrender Grund zum Misstrauen, so dass die feministische Frauenbewegung es vorzieht, eine marginale Kraft zu bleiben, anstatt mit den neu geschaffenen staatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten.“76
Einige Jahre später also, in diesem Jahrzehnt, beobachten türkische Wissenschaftlerinnen ein verändertes Verhältnis zwischen Staat und Frauenbewegung sowie ihre geographische und soziale Ausbreitung. Anıl Al-Rebholz beschreibt diese neue Beziehung zwischen Frauenbewegung und Staat und betont die Heterogenisierung der ersteren: “When looking at the period since 2000, one can argue that this negative attitude against state institutions has changed. Since the 1990s one observes the diversification and pluralisation of women’s movements and organisations not only with regard to different intellectual and ideological streams within them, but also with regard to different cultures of organisation and political traditions.”77
Vor dem Hintergrund dieser gegenwärtigen Neuorientierung der Frauenbewegung, insbesondere hinsichtlich ihres Verhältnisses zur institutionellen Politik sollte die 74
Keresteciogˇlu 2004, S.75. Eine mögliche Bezeichnung dieses Jahrzehnts prognostiziert sie allerdings nicht. 75 Çubukçu 2004 S.99. 76 Tekeli 1997, S. 88. 77 Al-Rebholz 2007, S. 223.
2.3 Positionen von Frauen in der türkischen Gesellschaft
41
Thematik dieser Arbeit verstanden werden: Auch wenn weder „die Frauenbewegung“ noch „der Staat“ im Zentrum stehen, sondern vielmehr Frauen in formalpolitischen Ämtern im lokalen Raum einschließlich ihrer politischen Strategien, spielen Teile dieser „Frauenbewegung auf der Suche jenseits der Großstädte“ und ihre veränderte Einstellung nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber der kommunalpolitischen Systeme eine wesentliche Rolle.
2.3
Positionen von Frauen in der türkischen Gesellschaft
Die gegenwärtige Situation für Frauen in der heutigen Gesellschaft, im Bildungsbereich und im Berufsleben, ist weiterhin ambivalent: Während einerseits durch gesellschaftliche Werte Mädchen und Frauen in erster Linie in die Rolle als Hausfrau und Mutter gedrängt werden, wird gleichzeitig in der Öffentlichkeit die Schulbildung und Berufstätigkeit von Frauen weitgehend akzeptiert. In einer neueren repräsentativen Studie von Ersin Kalaycıogˇlu und Binnaz Toprak zeichnet sich ab, dass die Einstellungen der Menschen sich gegenüber früheren Ergebnissen verändert haben: So waren 92,2% der Interviewten der Ansicht, dass Frauen, die arbeiten wollen, dies möglich sein sollte. 25% lehnten es ab, dass Frauen mit Männern zusammen arbeiten. Die geringere Bildung von Frauen im Vergleich zu Männern wird von 83% der Bevölkerung als Hindernis für die Entwicklung der Türkei gesehen, das Hauptproblem bzgl. der Bildungschancen von Frauen seien weniger traditionelle Einstellungen als vielmehr die finanzielle Situation der Familien. 97,1% der verheirateten Frauen fordern, dass ihre Männer sich an der Hausarbeit und der Kindererziehung beteiligen sollten, 21,4% unterstützen die Idee, dass Hausfrauen ein Einkommen von ihren Männern erhalten sollten. Die Mehrheit findet, dass der Staat aktiv sich um die Probleme arbeitender Frauen kümmern sollte, 95,6% unterstützen die Einrichtung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten.78 Demgegenüber arbeiteten einer Studie bzgl. häuslicher Gewalt zufolge im Jahre 1995 40% der Frauen nicht außerhalb des Hauses wegen der Einwände der Ehemänner.79 Zwar gehörte das Recht auf Schulbildung für Mädchen schon in Osmanischer Zeit zu den wichtigsten Forderungen der Frauenbewegung und wurde nach der Republikgründung durch den Staat unterstützt. Infolgedessen stieg die Alphabetisieerungsrate kontinuierlich an – die erfolgreiche Durchsetzung des Zieles, Mädchen und Frauen durch Schul- und Ausbildung in die Gesellschaft zu integrieren, zeigt sich außerdem in dem hohen Anteil von Frauen in „typischen Männerberufen“ 78 79
Kalaycıogˇlu/ Toprak 2004. Vgl. Müftüler-Baç 1995 S. 313.
42
2 Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik der Türkei
und an der Universität. Frauen mit einer qualifizierten Berufsausbildung haben gute Chancen auf einen Arbeitsplatz, 35% der Beschäftigten in den staatlichen Institutionen, Universitäten und in der Wirtschaft sind Frauen80. Diesbezüglich lässt sich feststellen, dass das kemalistische Projekt durchaus erfolgreich war. Andererseits konnte bis heute türkeiweit keine Gleichheit der Geschlechter in Schul- und Ausbildung erreicht werden, auf allen Ebenen der Schul- und Ausbildung liegt der Anteil von Frauen unter dem der Männer. Im Jahre 2000 waren 19,4% der Frauen Analphabetinnen, allerdings sinkt diese Zahl weiter. Der Anteil von Frauen ohne bzw. mit geringer Schulbildung schwankt stark hinsichtlich Altersgruppe und Regionen: Am höchsten ist die Analphabetinnenquote im Südosten (39%)81, im Osten (21%) und in der Schwarzmeerregion (21%).82 Da 600.000 Mädchen in der Türkei zu Beginn dieses Jahrtausends nicht zur Schule geschickt wurden, initiierten der Staat und UNICEF 2003 das Projekt „Haydi kızlar okula!“ („auf, Mädchen, in die Schule!“), das allen Mädchen im Grundschulalter ermöglichen soll, eingeschult zu werden. Wenngleich mittlerweile 91,8% der Mädchen die Grundschule besuchen, sind lediglich 57,2% der SchülerInnen an weiterführenden Schulen weiblich. Im Arbeitsleben ist diese ambivalente Situation für Frauen noch weit ausgeprägter: Seit den fünfziger Jahren sank die Erwerbsquote türkischer Frauen von 72% (1955) auf 27,9% (1999). Die Partizipationsrate am Arbeitsmarkt in städtischen Gebieten lag 2003 für Männer bei 68,4%, für Frauen bei 18,6%, in der GAP-Region lag der Anteil von Frauen bei lediglich 8%.83 Wesentliche Ursache hierfür ist die Binnenmigration vom Land in die Stadt im Zuge der Industrialisierung des Landes.84 Während Frauen auf dem Land als unbezahlte Familienangehörige in der Landwirtschaft arbeiteten, bewirkte die Migration in die Städte einen Hausfrauisierungseffekt: In der Stadt haben Migrantinnen ohne Berufsausbildung kaum eine Chance, Arbeit zu finden, zumal traditionelle Normen eine Beschäftigung außer Haus für Frauen verhindern, solange männliche Brotverdiener der Familie angehören. Weit mehr junge unverheiratete Frauen zwischen 20 und 24 Jahren sind offiziell erwerbstätig als ältere verheiratete, da sie eher eine Schul- und Berufsausbildung ha80
Vgl. Gögˇüs¸ -Tan 2000; Ecevit 2000. Vgl. Gögˇüs¸ -Tan 2000. Die Angaben diesbezüglich variieren hier recht stark. Gülen Elmas gibt einen Anteil von 44,4% von Analphabetinnen für die GAP-Region an sowie 18,2% unter den Männern. Während landesweit 59,4% der Bevölkerung eine weiterführende Schule besuchen, können dies lediglich 25,2% in der GAP-Region. Nur 4,3% der Bevölkerung in der GAP-Region besucht eine Universität, im Vergleich zu 27,8% im landesweiten Durchschnitt. Vgl. Elmas 2004, S. 9. 82 Vgl. Gögˇüs¸ -Tan 2000. 83 Vgl. Elmas 2004, S. 9. 84 Vgl. Ecevit 2000. 81
2.3 Positionen von Frauen in der türkischen Gesellschaft
43
ben und nicht durch eine eigene Familie und Haushaltspflichten an einer Beschäftigung außer Haus gehindert werden.85 Dennoch tragen viele dieser Frauen informell durch den Verkauf von Handarbeiten und durch Heimarbeit zum Familieneinkommen bei. Die Migration in die Städte kann für Frauen aus ländlichen Gebieten sowohl eine Verbesserung als auch eine Verschlechterung für ihr ökonomische und soziale Leben bedeuten: So bewirkten GAP und die rasche Urbanisierung infolge der bürgerkriegsbedingten Migration in Südostanatolien, dass Frauen, die in den Dörfern in der Landwirtschaft beschäftigt waren, nun in der Stadt keiner außerhäuslichen Beschäftigung nachgehen konnten, was einen Verlust an Sozialprestige nach sich zog, sogar die Suizidrate unter (jungen) Frauen ansteigen ließ. Nur ein Prozent der Beschäftigten in der GAP-Region sind Frauen, diese wiederum sind meist wenig gebildet und verwitwet. Abgesehen von dieser Gruppe sind weibliche Beschäftigte hier in der Regel besser gebildet als männliche Beschäftigte.86 Tahire Erman und Heidi Wedel jedoch zeigen Beispiele von BewohnerInnen der Gecekondus, die die Migration vom Dorf in die Stadt als Möglichkeit des sozialen und ökonomischen Aufstieges sehen.87 So schildert Tahire Erman, dass die Aufrechterhaltung der Beziehungen ins Herkunftsdorf von Migrantinnen als Nachteil gesehen werde, da so von ihnen in der Regel erwartet werde, dass sie in den Sommermonaten weiterhin für die Feldarbeit ins Dorf zurückkehrten. Auf dem Land ist der Anteil an arbeitenden Frauen weiterhin weit über dem türkischen Durchschnitt, Dreiviertel von ihnen sind als unbezahlte Familienangehörige in der Landwirtschaft beschäftigt.88 Günseli Berik wiederum stellt in einer Studie regionale Unterschiede von Geschlechter-Ungleichheiten in vier TeppichweberinnenDörfern und der Art der Kontrolle von Männern über die Arbeitskraft der Frauen und ihr Einkommen dar. Sie stellt beispielsweise fest, dass in Dörfern mit mechanisierter Landwirtschaft die geschlechtliche Arbeitsteilung weit rigider ist als in Dörfern mit überwiegend diversifizierter Subsistenzproduktion. Werden im ersten Fall Frauen zu Vollzeitweberinnen in Werkstätten, zumal, wenn eine Agrarwirtschaft nicht mehr betrieben wird, verlieren sie die Kontrolle über ihre Arbeitskraft an ihre Männer im Gegensatz zu Hausweberinnen, die weit mehr Autonomie in ihrer Arbeitsplanung haben. Die Arbeitslosenquote ist unter jungen Frauen mit Gymnasialabschluss sehr viel höher als unter Männern mit vergleichbarem Abschluss (44% zu 24%), Hochschulabsolventinnen finden demgegenüber leichter Arbeit. Yıldız Ecevit erklärt diese 85
Vgl. Ecevit 2000. Elmas 2004, S. 16f. 87 Erman 2001, Wedel 1999. 88 Vgl. Müftüler-Baç 1999, S. 313; Ecevit 2000. 86
44
2 Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik der Türkei
große Differenz mit der Geschlechtersegregation, die Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt versperre89. Insgesamt lässt sich festhalten, dass trotz formaler Rechte sowohl im Bildungssystem als auch hinsichtlich des Arbeitsmarkts informelle Regeln, traditionelle Einstellungen und praktizierte Geschlechtertrennung gleichberechtigte Teilhabe von Frauen verhindern, auch wenn der öffentlich geäußerte Widerstand geringer wird. 2.4
Partizipation in der institutionellen Politik
Wie schon in der Einleitung erwähnt, wurden bei den Parlamentswahlen 2007 fast 10% Frauen gewählt, nachdem sie zuvor nie mehr als 4,5% der Sitze einnehmen konnten, d. h. die Anzahl der Frauen im Parlament hat sich mehr als verdoppelt. Über Frauen in kommunalpolitischen Ämtern seit Gründung der Republik ist nur wenig bekannt. 1984 waren 2% der Bürgermeister weiblich, ihr Anteil fiel dann aber im Jahre 1994 auf 0,5 %90. Laut Günes¸ -Ayata und Aslan ist es kaum möglich, Daten über die Zahl der Gemeindevertreter bis Mitte der achtziger Jahre zu erheben. Vor 1980 war jedenfalls der prozentuale Anteil weiblicher Mitglieder in den Stadträten im Steigen und betrug in Istanbul etwa 10%. Außerdem steht fest, dass 1984 die meisten Frauen in die Kommunalversammlungen der Großstädte gewählt wurden, womit in erster Linie Istanbul und Ankara gemeint sind. Seit den Kommunalwahlen im März 2004 sind von 3216 Bürgermeistern lediglich 18 Frauen, das sind 0,6%; 1,7% der Provinzversammlungsmitglieder und 2,5 der Kommunalversammlungsmitglieder sind weiblich.91 Wie zuvor erwähnt, wurden früher Frauen vor allem in den Metropolen in die institutionelle Politik gewählt, während heute keine einzige der Bürgermeisterinnen in den Metropolen (d. h. Istanbul, Ankara und Izmir) und den Zentren der Großstädte gewählt wurde. Über die Zahl weiblicher Kommunalversammlungsmitglieder und Muhtare existieren keine Zahlen92. Die geringe politische Beteiligung von Frauen in der Türkei veranlasste einige Wissenschaftlerinnen, sich mit den Gründen hierfür auseinanderzusetzen93. Dabei 89
Ecevit 2000. Günes¸ -Ayata/ Aslan 2004, S. 264.. 91 KADER: Es¸ it Temsil için Cinsiyet Kotası. Erkek Demokrasiden Gerçek Demokrasiye. Istanbul 2005. S. 15. 92 Laut Aussage von Fatma Nevin Vargün/ KA-DER. Ein Problem, dass die Erfassung von Frauen in den politischen Institutionen erschwert, ist, dass türkische Vornamen mitunter sowohl als Männer- als auch Frauenname verwendet werden. So wurde bspw. zunächst in den Medien nach den Kommunalwahlen die Zahl der Bürgermeisterinnen mit 24 angegeben. 93 Bspw. Tekeli 1988, Abadan-Unat/ Tokgöz 1994, Günes¸ -Ayata/ Aslan 2004. 90
2.4 Partizipation in der institutionellen Politik
45
beschreiben sie die soziale Position der Frauen in der Türkei als Rahmen für Möglichkeiten und Begrenzungen der türkischen Demokratisierung, jedoch verhinderten in erster Linie patriarchale Einstellungen, die weiterhin das soziale Leben prägen, eine höhere weibliche Partizipation: Günes¸ -Ayata/ Aslan sehen einen direkten Zusammenhang zwischen dem geringeren Interesse der Frauen an der Politik sowie ihrer geringere Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen und der untergeordneten Stellung in der Familie. Auch lasse der zentrale Stellenwert, den Heirat und Familie im Leben der Frauen einnehmen, vermuten, dass sich geschlechtsspezifische Rollenbilder über die Aufgaben von Männer und Frauen im Haushalt darauf auswirken, wie öffentliche Tätigkeiten von Frauen wahrgenommen werden.94 Neben der sozialen Struktur seien die Organisationssysteme der Parteien Grund für das Unvermögen der Frauen, erfolgreich in der Politik zu sein. Obwohl 20–30% der Mitglieder der wichtigsten Parteien Frauen sind, die auf der Graswurzelebene aktiv um neue Mitglieder werben, haben sie kaum eine Chance, Erfolg versprechende Listenplätze vor Wahlen zu ergattern. Frauenkommissionen der Parteien dienen zwar als notwendige Plattformen, um Frauen zu ermutigen, sich für politische Prozesse zu engagieren, sie sind jedoch nicht in die Entscheidungsprozesse integriert, sondern zweitrangige Organisationen ohne Einfluss auf die männliche Entscheidungsstruktur der Partei. So dominieren weiterhin sowohl Mainstreamdiskurse und -Praktiken als auch männliche Kandidaten und Amtsinhaber, während in den Frauenkommissionen „Frauenthemen“ verschlossen bleiben und Frauen auf Posten innerhalb der Kommissionen beschränkt sind.95 Des weiteren hat der Parteiführer eine unverhältnismäßig starke Position in der Organisation: Er kann nahezu uneingeschränkt über die Kandidatenaufstellungen entscheiden, innerparteiliche Demokratie findet nicht statt.96 Das Fehlen ökonomischer Ressourcen ist ein wichtiger Punkt, der Frauen daran hindert, politisch aktiv zu werden. Außerdem scheinen der geringere Anteil der Frauen in den Schulen und der größere Abstand zwischen Männern und Frauen im Ausbildungsniveau in einer direkten Beziehung zum niedrigeren gesellschaftlichen Status der Frauen in der Türkei zu stehen.97 94
Günes¸ -Ayata/ Aslan 2004, S. 265ff. Günes¸ -Ayata/ Aslan 2004; Keresteciogˇlu 2004; Müftüler-Baç 2005; TÜSIAD 2000; IULA 1998. „Frauenthemen“ bezieht sich im Zusammenhang mit den Frauenkommissionen der Parteien zunächst einmal auf die „traditionellen“ Themen wie Kinder, Gesundheitsfürsorge, Wohltätigkeit; doch auch Themen, die durch die Frauenbewegung diskutiert wurden, wurden und werden zunehmend unter formalpolitisch aktiven Frauen verhandelt. Vgl. weitere Kapitel dieser Arbeit. 96 Vgl. Kramer 2004. 97 Günes¸ -Ayata/ Aslan 2004, S. 268. 95
46
2 Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik der Türkei
In der bereits erwähnten Studie von Ersin Kalaycıogˇlu und Binnaz Toprak jedoch zeigt sich, dass innerhalb der Bevölkerung der Widerstand gegenüber der politischen Partizipation von Frauen gering ist: 34.4% der Männer und 18.6% der Frauen bekundeten Interesse an Politik. Wäre die politische Sphäre für Frauen geöffnet, würden 33,8% der Frauen in Betracht ziehen, einer Partei beizutreten und aktiv in der Politik zu partizipieren. 75,9% der türkischen Bevölkerung sind der Ansicht, dass die Regierung und die politischen Parteien nicht genug Aufmerksamkeit Frauenthemen schenken würde. Des Weiteren denken 73,2% der Bevölkerung (79% der Frauen), dass nicht ausreichend Frauen im Parlament seien; 65,1% der Befragten (74,4% der befragten Frauen), dass nur so wenig Frauen in der Politik aktiv seien, da sie nicht die gleichen Chancen hätten wie Männer; 75,9% sind der Ansicht, dass die Regierung und politische Parteien nicht genug Aufmerksamkeit frauenspezifischen Themen geben.98 81,3% der Befragten denken, dass eine Frau Bürgermeisterin sein könnte. 63,7% der Männer wären mit der Parteimitgliedschaft ihrer Frau einverstanden, 36,3% wären dagegen. 68,5% der Männer und 73,7% der Frauen hätten nichts gegen die aktive Partizipation ihrer Töchter.99 In einer früheren Studie waren Frauen gegen die aktive Teilhabe ihrer Kinder in der Politik: 42,6% waren dagegen, dass ihre Söhne in die Politik einsteigen, 67,4%, dass ihre Töchter Politikerin werden.100 Dies ist insofern bemerkenswert, da Günes¸ -Ayata zu dem Schluss kam, dass Politikerinnen als abstrakte Kategorie tendenziell weniger abgelehnt werden101, jedoch die politische Arbeit (weiblicher) Familienangehöriger nicht gewünscht wird. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass zur Zeit der Studie Günes¸ -Ayatas insgesamt das Ansehen der Politik noch geringer war und weiterhin Interventionen des Militärs gefürchtet wurden, dass im Laufe der letzten Jahre im Bewusstsein der Bevölkerung jedoch die Einsicht gewachsen ist, dass die minoritäre Position von Frauen unter den politischen Eliten nicht mit einer Demokratisierung zu vereinbaren ist. Schließlich wächst auch der internationale Druck, dass mehr Frauen in der Politik partizipieren sollten: Wegen der Bedeutung des Integrationsprozesses der Türkei in die Europäische Union könne es sich eigentlich keine Regierung und keine Partei mehr leisten, die Augen vor der politischen Marginalisierung von Frauen zu verschließen: „Das Verlangen der Öffentlichkeit nach neuen politischen Kräften, die neue Wege zur Lösung der chronischen Probleme aufzeigen, macht deutlich, dass nur jene Parteien 98
Kalaycıogˇlu/ Toprak 2004. Kalaycıogˇlu/ Toprak 2004. 100 Vgl. Günes¸ -Ayata 1991. Nur 15% der Hausfrauen akzeptierten nach dieser Studie, dass ihre Töchter eine Laufbahn in der Politik einschlagen. Jüngere Eltern und gut ausgebildete Eltern eher das politische Engagement der Tochter. 101 In ihrer Umfrage akzeptierten 68,6% der Befragten (73% der weiblichen Befragten) eine Frau im Bürgermeisteramt. 99
47
2.5 Fazit
langfristig überleben können, die in der Lage sind, eine progressive und radikale Agenda vorzulegen. Eine Politik, die das Geschlecht als Kategorie berücksichtigt, eröffnet die Perspektive auf einen radikalen Wandel, auf eine Umgestaltung des politischen Systems und eine Veränderung der politischen Akteure.“102
2.5
Fazit
Auch wenn in der Literatur bekräftigt wird, dass die Frauenbewegung sich bis in periphere Landesteile ausbreite und sich diversifiziere, dass sich feministische Gruppen auch außerhalb der städtischen Zentren ausgebreitet hätten, dass dabei das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft sich neu definiert habe, dass auch in diesen Regionen sich die Einstellungen der Menschen hinsichtlich der Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik geändert habe, fehlt bislang eine tiefere Betrachtung dieser Entwicklung – zumal gleichzeitig betont wird, dass der Großteil der Frauen in der Türkei weiterhin im Bildungsbereich und im Arbeitsleben benachteiligt werde, dass weiterhin Frauen mit dem Argument der Tradition auf den häuslichen Bereich reduziert werden. Nachfolgend möchte ich deshalb, ausgehend von den genannten theoretischen Begriffen, darlegen, in welcher Weise ich diese Frage nach der lokalpolitischen Partizipation von Frauen in der Öffentlichkeit bzw. in formalpolitischen Institutionen anzunähern gilt.
102
Günes¸ -Ayata/ Aslan 2004.
3
Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
Nach diesem kurzen Aufriss der Bedingungen von Partizipationsformen von Frauen in Öffentlichkeitsstrukturen in der Türkei, d. h. nach dieser türkeispezifischen Annäherung an die Thematik geht es nun darum, anhand der theoretischen Diskussionen, die für die Problematik maßgebend sind, das Thema der Arbeit abzustecken. Dabei gehe ich zunächst von den anthropologischen Werken aus, um Öffentlichkeitsverhältnisse in der ländlichen Gemeinde zu skizzieren, und erläutere anschließend die Begriffe Öffentlichkeit, Partizipation, Repräsentation und Empowerment hinsichtlich ihrer Relevanz für die nachfolgende empirische Untersuchung.
3.1
Öffentlichkeiten in der ländlichen Gemeinde
Es mag zunächst bedenklich stimmen, den Öffentlichkeitsbegriff als grundlegende Kategorie in Zusammenhang mit Gemeinschaften in der ländlich geprägten Türkei anzuwenden. Schließlich werden Öffentlichkeitskonzepte, trotz aller Kontroversität, meist in Verbindung mit bürgerlichen, industriellen Gesellschaften gedacht, in der Regel wird das Leben in ländlichen Gemeinschaften explizit ausgeklammert: So weist Habermas darauf hin, dass „ältere Formen großfamiliärer Gemeinsamkeit …, wie sie vom Volke noch, besonders auf dem Lande, weit über das 18. Jahrhundert hinaus festgehalten werden … vorbürgerlich auch in dem Sinne sind, dass sie sich der Unterscheidung von ,öffentlich‘ und ,privat‘ nicht fügen“103. Insofern ist die Frage berechtigt, ob bzw. in welcher Weise der Öffentlichkeitsbegriff auf die sozialen und politischen Strukturen in ländlich geprägten Kommunen der Türkei anwendbar ist. Auch in den bisher vorliegenden erwähnten Studien über Frauen in der ländlichen Türkei wird zwar auf die Öffentlichkeits- und Privatheitsthematik eingegangen, sie wird aber nicht als grundlegendes analytisches Konzept in Erwägung gezogen. Nükhet Sirman weist vielmehr daraufhin, dass in der Anthropologie Begriffe und Kategorien zur Analyse der Situation von Frauen wie Produktion, Reproduktion, Privatheit und Öffentlichkeit zur Untersuchung bäuerlicher Gesellschaften für nicht ausreichend erklärt wurden, da sie für Industriegesellschaften entwickelt worden seien104. 103 104
Habermas 1990, S. 108. Sirman 1991.
A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/ 978-3-531-93113-5_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
50
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
Auch Emine I˙ncirliogˇlu will zeigen, dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im türkischen Dorf nicht notwendigerweise zu einer simplen Dichotomisierung von Privatheit und Öffentlichkeit führe. Schließlich seien Frauen über „öffentliche Angelegenheiten“ häufig gut informiert, sie wüssten über politische und makroökonomische Entwicklungen Bescheid und zeigten Selbstvertrauen bei der Partizipation in der Öffentlichkeit: “The gendered division of labour in villages does not necessarily lead to a simple public-private dichotomization, nor to women’s ignorance of the ‘public sphere’. In 1986, one elder Sakaltutan woman identified men’s and women’s responsibilities as dıs¸ arı is¸ leri (external affairs) and evin is¸ leri (household affairs), respectively. In ‘external affairs’ she included bringing in money, purchasing the necessities of town, and linking the household members with public institutions when the need arises, such as taking them to hospitals and registering their births and deaths. However, because ‘household affairs’ are very ‘liberally’ defined – including income and expense management (gelir-gider), deciding about profit and loss (kar, zarar), and thinking of the household necessities (evin eksigˇi gedigˇi) – it does not make much theoretical sense to equate household affairs with private affairs. (…) ‘knowledge’ of ‘public matters’ including extra-domestic economy and politics, is not restricted to men. Many women were not only well-informed about their husband’s income, but their were also able to carry a discussion about increasing inflation, rents in cities, cost of gold in market, or interest rates.”105
Eine theoretische Trennung in eine private und eine öffentliche Sphäre könne somit nicht aufrechterhalten werden. Was Habermas in historischer Perspektive für die ländlichen Gegenden Europas feststellt, beschreiben türkische Autorinnen in der Absicht, die spezifische Lebenswirklichkeit von türkischen Dorfrauen jenseits von „Unterdrückungskategorien“ und eurozentristischen Ansätzen zu rekonstruieren. In diesem Rahmen sichern Dorfgemeinschaft und Familienverbund einerseits soziale Kontrolle, andererseits ermöglichen sie selbstbewusstes Handeln und Sprechen im Rahmen der Gemeinschaft; ökonomische Strukturen und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, des weiteren die Beteiligung der Frauen an Produktions- und Reproduktionsaufgaben beeinflussen die Öffentlichkeitsstruktur; schließlich spielt die Marginalisierung der Landbevölkerungen innerhalb der Gesamtgesellschaft eine nicht unbedeutende Rolle hinsichtlich der Lebens- und Umgangsweise in ländlich geprägten Regionen. Die Verwendung des Wortes „Öffentlichkeit“ stünde hierbei nicht als Gegenpol zu Privatheit für geschlechtsspezifische Hierarchisierung und Exklusion von Frauen aus gewissen Bereichen der dörflichen Gemeinschaft. Vielmehr sei „Öffentlichkeit“ im Dorf zwar von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung geprägt, jedoch könnten Frauen an ihr wegen ihres Ansehens innerhalb der Gemeinschaft teilhaben. Der angenommene theoretische Öffentlichkeitsbegriff bleibt aller105
I˙ncirliogˇlu 1999, S. 213.
3.1 Öffentlichkeiten in der ländlichen Gemeinde
51
dings in diesen Texten türkischer Anthropologinnen unklar, er wird auf einen potenziellen Gegenpol zum Privatheitsbegriff reduziert. Diese Dichotomie wiederum soll dadurch in Frage gestellt werden, da im türkischen Dorf es durchaus Möglichkeiten für Frauen gebe, Ansehen und gesellschaftliche Partizipation zu erreichen. Eine solche Öffentlichkeitskonstruktion verstellt aber, denke ich, den Blick auf Geschlechterungleichheiten und unterschiedliche Zugänge zu Handlungsspielräumen und politischen Prozessen. Auch wenn aus anthropologischer Sicht es überzeugend erscheint, dass Frauen gewisse Machtpositionen erreichen können und dabei auch gemeinschafts-, sozial- und familienpolitisch agieren, stellt sich die Frage, ob sie nicht weiterhin aus der institutionellen politischen Sphäre weitgehend ausgeschlossen bleiben: Die im vorherigen Kapitel dargelegten statistischen Daten zur institutionellen Partizipation von Frauen sowie Studien von Politologinnen über Politikerinnen insbesondere auf nationaler Ebene geben Anlass, weiterhin davon auszugehen, dass auf kommunaler Ebene sich eine Trennung in eine frauenspezifische unpolitische Sphäre und eine männerdominierte politische Sphäre abzeichnet. Yakın Ertürk drückt diese Problematik folgendermaßen aus: „Heute wird in allen Landesteilen, in den städtischen und ländlichen Bereichen, in Landwirtschaft und Industrie, Frauenarbeit intensiv beansprucht. Aber in all diesen Bereichen bleiben Frauen von Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Dieser Zustand manifestiert sich am deutlichsten in den politischen Institutionen. (…) Institutionelle Politik auf regionaler, nationaler oder internationaler Ebene erweist sich als losgelöst von Alltagserfahrungen, gleichsam als ob der Bereich der Politik nur Männern offen stehen würde. Jedoch zeigt sich in den traditionellen Produktionsprozessen, in denen sich weibliche und männliche Arbeitsleistungen ergänzen, keine Trennung zwischen den Bereichen Alltagsleben und Politik, verstanden als politische Entscheidungsprozesse. Diese Betrachtungsweise birgt sicher die Gefahr, Frauenunterdrückung in traditionell patriarchalen Verhältnissen zu übersehen.“106
Schließlich geben auch einige anthropologische Werke Aufschluss darüber, wie das soziale Leben entlang geschlechtertrennender Grenzen organisiert ist und wie politische Prozesse in der ländlich geprägten Türkei verlaufen: Werner Schiffauer geht zwar nicht auf eine mögliche Rolle der Frauen bzgl. der Dorfpolitik in dem von ihm untersuchten Dorf ein – wenngleich Frauen als Opfer oder Streitobjekt auch hierbei Erwähnung finden –, er beschreibt jedoch bezeichnenderweise die Konstruktion von „Innen“ und „Außen“ der Familie in der Gemeinschaft im Rahmen der Darstellung der Organisation der Produktion: „Die Arbeitsteilung folgt der für den Wert der Ehre (namus) konstitutiven Unterscheidung von Innen und Außen. Im Wesentlichen produzieren die Männer außerhalb des Hauses das, was die Frauen innen weiterverarbeiten und veredeln.“107 106 107
Ertürk 1991, S. 168. Schiffauer 1987, S. 107.
52
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
Die Männer regeln für die Familie die Angelegenheiten, die außerhalb der familiären Beziehungen angesiedelt sind: “The men’s avoidance of the house, except for the specific purposes of eating and sleeping, reflects their wider social relationships. It is a simple if sometimes neglected fact that a higher position in any system of social relations involves a wider range of social ties outside it. The men’s network and the women’s touch at many points, but they are separate. The men’s is wider, related to political power both in the village and in the wider society. One effect of the guest room and the informal open air groups of men is to maintain these wider relationships, and thus their clear superiority in village society.”108
Innerhalb dieses Systems wiederum könnten Frauen Entscheidungsmacht erlangen: Während der Haushaltsvorstand die Arbeiten der Männer selbst einteile, delegiere er die Einteilung der Frauenarbeiten an seine Frau. So sei bei aller prinzipiellen Autorität des Haushaltsvorstandes eine relative Autonomie der Handlungsbereiche von Mann und Frau gewahrt109. Das, was Schiffauer als das „Innen“ der familiären Produktionsorganisation bezeichnet, lässt sich ebenfalls als die private Sphäre der Familie bezeichnen, in der die Produktionsaufgaben der Frauen stattfinden, während das „Außen“ den Männern vorbehalten bleibt. Innerhalb ihres Bereiches wiederum verfügt die Frau des Haushaltsvorstandes über relative Macht, indem sie für die Aufgabenverteilung unter den Frauen des Hauses zuständig ist. Diese „private Sphäre der Familie“ ist allerdings insofern nur begrenzt privat, da sie auch als „begrenzt öffentlicher Raum der Frauen“ fungiert, der wiederum sich auf das Viertel, das mahalle, einschließlich der Felder und Gärten ausdehnen kann110. Indirekt verweist Schiffauer auf den Grund für die Nichtpräsenz von Frauen in der politischen Sphäre: Moralvorstellung und Ehrbegriff lassen nicht zu, dass Frauen sich in dieser aufhalten. Auch wenn es türkeiweit regionale Unterschiede gibt, in welcher Weise die Produktion im ländlichen Bereich organisiert wird und dies wiederum Auswirkung auf die geschlechtsbezogene Arbeitsteilung hat111, ist festzustellen, dass in der ganzen ländlichen Türkei es eine scharfe räumliche Trennung von privater und öffentlicher Sphäre gibt, die durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung geprägt wird und Grundlage der traditionellen Wert- und Moralvorstellungen ist. Durch diese Trennung ist es Frauen kaum möglich, Eintritt in die institutionell politische Sphäre zu erreichen, wenngleich sie innerhalb der Familie bzw. der Gemeinschaft als politische Akteurinnen der Mikroebene auftreten können. Yes¸ im Arat betont jedoch, dass 108
Stirling 1965. Schiffauer 1987, S. 109. 110 Vgl. Strasser 1995, S. 54; Wedel 1999. 111 Berik 1991. 109
3.1 Öffentlichkeiten in der ländlichen Gemeinde
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wegen des fehlenden Zugangs der Frauen zur Öffentlichkeit auch innerhalb der Familie eine nichthierarchische Machtbalance nicht möglich sei: “It is doubtful that a non-hierarchical power balance can be maintained within the family where the wife has limited access to the public realm, and has insignificant economic and political power. Although women do exercise authority in their separate realms, this does not necessarily mean that they can maintain a non-hierarchical power balance within the family, especially when they are not the breadwinners.”112
Es sollte betont werden, dass der Ausschluss von Frauen aus der politischen Öffentlichkeit und der institutionell politischen Sphäre kein spezifisch türkische Phänomen ist, sondern auf der ganzen Welt in unterschiedlichen Ausprägungen zu finden ist: „Die weltweit unbefriedigende Partizipationsbilanz von Frauen muss als Zusammenspiel dieser (diskursiven, systemischen, historischen, kulturellen und ökonomischen) Faktoren begriffen werden und darf nicht zuungunsten von Frauen individualisiert werden. Politische Partizipation sollte aus feministischer Sicht also in einer Weise konzeptualisiert werden, die die unterschiedliche Wirkung und Funktion formaler und informeller Geschlechterregime sichtbar machen kann. Denn der strukturelle Ausschluss von Frauen nimmt jeweils kontextabhängige Formen an, die Produkte unterschiedlicher ökonomischer, politischer und ideologischer Rahmenbedingungen sind.“113 „Die Sphäre der politischen Beziehungen galt in Mexiko lange Zeit als männlichdominiert. Sie gründete sich auf vertikale Patron-Klientel-Beziehungen zwischen dem Staat und der Bevölkerung …. Frauen waren von dieser Patrons- und Gefolgsmännerhierarchie weitestgehend ausgeschlossen. Die ,formelle‘ Politik der Institutionen, Ämter und Versammlungen war für Frauen, da sie Macht beinhaltete und im öffentlichen gesellschaftlichen Raum stattfand, in der Vergangenheit nur begrenzt zugänglich.“114 „Frauen sind aus der politischen Öffentlichkeit in Afrika (spätestens) seit der Zeit der Unabhängigkeit strukturell ausgeschlossen. Sie gehören in der Regel weder der politischen Elite, noch den staatstragenden und umgekehrt vom Staat getragenen Klientelsystemen, noch den ,richtigen‘, politisch konfliktfähigen Gruppen an. Frauen in ländlichen Regionen erfahren (institutionelle) Politik häufig als ihrer Lebenswelt’völlig fremde und daher sowohl außerhalb ihrer eigenen Möglichkeiten als auch außerhalb ihrer eigenen Möglichkeiten als auch außerhalb ihrer Interessen liegende Männerangelegenheit.“115
Es geht jedoch darum, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der geschlechtsspezifischen Strukturierung von Öffentlichkeit und politischem System in unterschiedlichen Zusammenhängen und Regionen zu analysieren. 112
Y. Arat 1989, S. 39. Harders 2001, S. 40. 114 Schütze 2005 S. 13. 115 Ruppert 1998, S. 501. 113
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3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
Während mit anthropologischem Interesse sowohl gesellschaftliche, ökonomische als auch politische Blickwinkel eingenommen werden, ohne jeweils zu spezifizieren, welche Auswirkungen sich daraus für die Qualität der Öffentlichkeit ergeben, ist für eine politikwissenschaftliche Sichtweise nun von zentraler Bedeutung, was als politische Öffentlichkeit gelten soll. In der Regel beziehen sich Definitionen dieses Begriffes auf gesamtgesellschaftliche Verhältnisse, so dass in einem weiteren Schritt anhand folgender Fragen zu überlegen ist, ob überhaupt dieser Begriff auf eine kommunale Gemeinschaft in der ländlichen Türkei anzuwenden ist. Wo diskutiert wer wie über politische Anliegen? Wer hat auf welche Weise Einfluss auf die institutionell politische Sphäre? Welche (individuellen und kollektiven) AkteurInnen machen Öffentlichkeit aus? Welche Themen werden in dieser Öffentlichkeit diskutiert? In welchem Verhältnis steht eine öffentliche Sphäre einer ländlich geprägten Gemeinde in der Türkei zum Staat bzw. zum politischen System? Gibt es eine Trennung von staatlicher/ politischer und gesellschaftlicher Sphäre in der ländlichen Kommune? Des Weiteren gilt es zu überlegen, ob oder inwieweit „politische Öffentlichkeit“ und „politische Sphäre“ identisch sind – und welche Bereiche ich überhaupt als „politische Sphäre“ fassen kann. Das „institutionell Politische“ bezieht sich auf das politische System und die staatlichen Organe, die bis zur kommunalen Ebene reichen: der Dorfvorsteher oder Bürgermeister, die Verwaltungsstruktur, die Parteien. Daneben existieren informelle Formen der politischen Partizipation, die die institutionelle politische Sphäre beeinflussen. Horst Unbehaun beschreibt detailliert die in den Kaffeehäusern institutionalisierte Sphäre der Dorföffentlichkeit116: „Die Kaffeehäuser sind traditionellerweise die Orte, an denen die männlichen Dorfbewohner Lokalpolitik diskutieren und betreiben. Hier werden Gerüchte und Nachrichten, Erfundenes oder Wahrheiten von jedermann dazu benutzt, seinen Status in der Dorföffentlichkeit sicherzustellen oder zu verbessern – bzw. den von Rivalen zu diskreditieren. Die Kaffeehäuser sind im Dorf die politische Sphäre par excellence.“117
Demnach ist das Kahve der Ort, an dem über Politik diskutiert wird – und da Frauen traditionellerweise keinen Zutritt zu ihnen haben, haben sie nicht die Möglichkeit, „ihren Status in der Dorföffentlichkeit sicherzustellen“. Auch das Rathaus oder das Amtszimmer des Gemeindevorstehers sind meist Räume, zu denen Frauen keinen Zutritt haben – meist befinden sich diese Räume in unmittelbarer Nähe des Kahves. Die männliche politische Sphäre hat demnach zwei Ebenen: die offizielle, institutionalisierte politische Ebene der Kommunalverwaltung und die informelle, 116
Es wichtig zu betonen, dass diese an für sich informellen Partizipationsformen institutionalisiert sind – jedoch nicht institutionell sind. Letzteres Adjektiv bezieht sich nur auf staatliche und formal-politische Einrichtungen und Prozesse. Vgl. unten. 117 Unbehaun 1994, S. 207f.
3.1 Öffentlichkeiten in der ländlichen Gemeinde
55
durch Klientelismus geprägte Ebene, die sich in der männlich geprägten Dorföffentlichkeit, die sich im Kahve entfaltet, etabliert hat. Beide Ebenen beeinflussen einander118 . Auch wenn innerhalb der Gemeinschaft der Frauen Entscheidungen bzgl. der Gesellschafts- und Sozialpolitik der Dorfgemeinschaft getroffen werden, finden diese informell im privaten Bereich statt – der dadurch zu einer halböffentlichen Sphäre wird. Es gibt keine Einflussnahme auf die institutionelle politische Sphäre in der Gemeinde. Ich möchte deshalb zunächst einmal davon ausgehen, dass eine Trennung in eine private und eine öffentliche Sphäre in den meisten Gemeinden der ländlich geprägten Türkei weiterhin Realität ist und Frauen trotz ihrer Möglichkeiten zur innerfamiliären Machterlangung von institutionellen bzw. öffentlich-politischen Angelegenheiten ausgeschlossen werden. Auf diese Weise lässt sich erklären, warum Frauen in der Türkei so wenig formalpolitisch partizipieren und warum die Kandidatur von Frauen mit solch Brisanz wahrgenommen wird. Es ist natürlich bedenkenswert, inwieweit die Öffentlichkeitsverhältnisse im Dorf, d. h. in einem (zumindest theoretisch) geschlossenen sozialen Raum überhaupt noch für die heutigen kommunalen Gemeinschaften gelten angesichts der immensen Umwälzungen der Sozialstruktur infolge von Migrationsprozessen, die alle Regionen in der Türkei betreffen. Ich denke jedoch, dass einiges dafür spricht, von der Gültigkeit der Aussagen der AnthropologInnen weiterhin auszugehen: So bleiben trotz der gegenwärtigen Transformationsprozesse durch Migration in die Stadt, in andere Regionen zunächst einmal die geschlechtsspezifischen Sphären erhalten, bzw. werden sogar verschärft.119 Im Zentrum dieser Arbeit steht nun aber die Frage nach möglichen Veränderungen dieser Öffentlichkeits- und Privatheitskonstruktion durch veränderte Partizipationspotentiale für Frauen in Zusammenhang mit der Präsenz von Frauen in der lokalen institutionell politischen Sphäre. Um einschätzen zu können, ob und wie hier überhaupt Veränderungen erkennbar sind, möchte ich die Gedanken einiger AutorInnen zur Konstruktion von Öffentlichkeit heranziehen, die im weiteren Verlauf der Arbeit relevant werden. Öffentlichkeitstheorien können trotz ihrer Vielfältigkeit grob in zwei Richtungen eingeteilt werden: Einerseits kann die politische Öffentlichkeit als Herrschaftssphäre verstanden werden, als Bereich der Exekutive und der gesellschaftlichen Elite, als konkreten Raum innerhalb der politischen Institutionen; andererseits kann Öffentlichkeit in Zusammenhang mit partizipatorischen Vorstellungen des Politischen verbunden sein: Hierbei werden „Vorstellungen gemeinschaftlicher Beratungs- und 118 119
Vgl. Unbehaun 1994. Vgl. Wedel 1999, Erman 2001.
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3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
Lernprozesse in ,lokalen Kommunen‘ wie etwa bei Dewey, der Gründung einer sich selbst organisierenden, herrschaftsfreien Öffentlichkeit, bspw. in Form von Räten bei Arendt, bis hin zu deliberativen Verfahren der politischen Willens- und Meinungsbildung in einer nichtorganisierten Öffentlichkeit, die Habermas in der ,Zivilgesellschaft‘ verortet sieht“120, in den Mittelpunkt gestellt. Ich möchte zunächst auf diese zweite Vorstellung von partizipatorischer Öffentlichkeit eingehen und anschließend Möglichkeiten aufzeigen, wie lokale institutionell-politische Sphären hierin eingebunden werden können. Öffentlichkeit im Sinne Habermas’ bezeichnet eine Art Bühne in modernen Gesellschaften, die durch diskursive Prozesse der politischen Bürger entsteht, als herrschaftsfreien Kontext, in dem die sozialen AkteurInnen über öffentliche Angelegenheiten diskutieren, sich eine politische Meinung bilden und politische Entscheidungen legitimiert werden. Diese Arena ist begrifflich vom Staat unterschieden und ein Ort, an dem Diskurse hervorgebracht und verbreitet werden, die sich zum Staat prinzipiell kritisch verhalten können. Die zunächst eindeutige Trennung von Gesellschaft und Staat wurde jedoch durch die Entwicklung der Industriegesellschaft aufgehoben. In diesem Sinne ist also die öffentliche Sphäre von der politischen Administration getrennt. Sie ist der Ort, an dem neue Angelegenheiten thematisiert und neue Identitäten präsentiert werden.121 Ein grundlegendes Problem besteht jedoch wegen der Beschränkung auf bürgerliche Gesellschaften in den Schriften Habermas’, so dass es unumgänglich ist, solche AutorInnen heranzuziehen, die gerade dies in Frage stellen. Nancy Fraser etwa kritisiert gerade diese Annahme Habermas’: Er versäume es, nichtliberale, nichtbürgerliche konkurrierende Öffentlichkeiten zu untersuchen. Zeitgleich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit seien eine Menge konkurrierender Gegenöffentlichkeiten entstanden, darunter auch „volkstümlich bäuerliche Öffentlichkeiten“122. Gegenöffentlichkeiten stellten praktisch von Anfang an die ausschließenden Normen des bürgerlichen Publikums in Frage und bildeten alternative Stile des politischen Verhaltens und alternative Normen der öffentlichen Rede aus. Außerdem trügen Gegenöffentlichkeiten dazu bei, den diskursiven Raum zu erweitern, insofern sie als Reaktion auf Ausschlüsse der dominanten Öffentlichkeit entstünden. 120
Lösch 2005, S. 79. Habermas 1990, S. 86ff. 122 Fraser 1997, S. 118. Auch wenn ich die Worte „volkstümlich“ und „bäuerlich“ als (ab-)wertend verstehe, sehe ich im Kern hier den Anhaltspunkt, warum eben auch „auf dem Lande“ von Öffentlichkeiten gesprochen werden kann. „Volkstümlich“ wird jedoch eher apolitisch verwendet, „bäuerlich“ impliziert eine einfache, rohe, unkultivierte Lebensweise, im Gegensatz zum zivilisierten städtischen Leben. Ich ziehe deshalb das Adjektiv „ländlich“ vor, da es eine neutrale Bedeutung hat: Es ist das Gegenteil zu „städtisch“ bzgl. der Siedlungsund Produktionsform. 121
3.1 Öffentlichkeiten in der ländlichen Gemeinde
57
Somit stellt sich für unseren Zusammenhang die Frage, wie Öffentlichkeit(en) sich in den untersuchten Kommunen in Zusammenhang mit der Wahl einer Frau ins Bürgermeisteramt beschreiben lässt (lassen): Haben sich in den Kommunen separierte Öffentlichkeiten entwickelt, neben der zuvor beschriebenen „allgemeinen männlich dominierten Öffentlichkeit“? Können diese als „Formen von Gegenöffentlichkeit“ im Sinne Frasers bezeichnet werden? In welchem Verhältnis stehen sie zu (türkeiweiten) allgemeinen bzw. potentiellen Gegenöffentlichkeiten? Wenn wir die vorherige Darstellung von Frauenöffentlichkeiten im türkischen Dorf heranziehen, müsste man die Existenz einer Gegenöffentlichkeit in diesem Zusammenhang verneinen: Eine segregierte Öffentlichkeit von Frauen in einer ländlich geprägten Gemeinde bildet keinen herausfordernden, konkurrierenden, kritisierenden Gegenpol, weder zum Staat noch zur politischen Öffentlichkeit der Kommune, sondern sie ist Teil des sozialen Kommunikationssystems und der informellen politischen Kultur. Die zuvor dargestellte paradoxe Situation, dass in der Türkei trotz der frühen Einführung des Wahlrechtes für Frauen bis heute kaum Politikerinnen aufzufinden sind, stellt in Frage, dass durch die formale Gleichheit auf politischer Ebene gesellschaftliche Ungleichheiten beseitigt werden könnten. Insofern können wir davon ausgehen, dass ohne Präsenz einer marginalisierten Gruppe – wie etwa Frauen in der Türkei bezogen auf die institutionell politische Sphäre – in der allgemeinen Öffentlichkeit Angehörige dieser Gruppe keine bzw. weniger Chancen haben, in politische Entscheidungspositionen zu gelangen. Beziehen wir dies auf die In- und Exklusionsmechanismen der allgemeinen Öffentlichkeit, die wie zuvor erläutert die Arena der diskursiven Diskussion und somit grundlegend für die Ausbildung einer politischen Identität ist, ist zu vermuten, dass informelle Hindernisse die partizipatorische Gleichstellung verhindern. Wie schaffen es aber trotzdem Angehörige marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen in Entscheidungspositionen der Politik? Was verändert sich dadurch für andere Angehörige dieser Gruppe? Ein weiterer wichtiger Punkt, auf den Fraser eingeht, ist die Frage nach dem Politisierungspotential der Öffentlichkeiten marginalisierter Gruppen, die von der allgemein politischen Sphäre ausgeschlossen waren bzw. sind. In diesem Sinne könnten Gegenöffentlichkeiten als Politisierungsarenen gelten: Wenn es nur eine einzige, umfassende öffentliche Sphäre gebe, hätten Mitglieder untergeordneter Gruppen keine Arenen, in denen sie unter sich über ihre Bedürfnisse, Ziele und Strategien beraten könnten. Selbst wenn die formale politische Integration durch das Wahlrecht fehlte, sei eine Vielzahl von Möglichkeiten gegeben, Zugang zum öffentlichen Leben und zu einer Vielfalt öffentlicher Arenen zu finden. Die Sicht, dass Frauen und Schwarze – bezogen auf den amerikanischen Kontext – von „der Öffentlichkeit“ ausgeschlossen waren, erweise sich somit als ideologisch. Mitglieder untergeordneter sozialer Gruppen hielten wiederholt die Gründung alternativer Öffentlichkeiten
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3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
für vorteilhaft: In „subalternen Gegenöffentlichkeiten“ entstünden parallel existierende diskursive Arenen, in denen Mitglieder untergeordneter sozialer Gruppen Gegendiskurse erfinden und verbreiten, „die Gegendiskurse erlauben ihnen dann, oppositionelle Interpretationen ihrer Identitäten, Interessen und Bedürfnisse zu formulieren“123. Vergleichbar hierzu lässt sich im Türkeikontext die Entwicklung der zivilgesellschaftlichen Strukturen von Frauen und – als wichtige Minderheit und politische Kraft gerade bzgl. frauenspezifischer Politik – Kurden betrachten. Während, wie zuvor dargelegt, Frauen nach dem Militärputsch 1980 die Möglichkeit hatten, sich politisch und öffentlich in der Frauenbewegung zu engagieren und dabei sowohl innerhalb des Staates als auch als unabhängige Kräfte sich entfalten konnten, agierten kurdische Gruppen stets in Opposition zum Staat – inwieweit kurdische Frauen wiederum sich aufgrund ihrer doppelten Marginalisierung als Kurdin und als Frau politisieren, gilt es außerdem zu beachten. Eine weitere Problematik, die die Thematik dieser Studie in Bezug auf die Habermasschen Prämissen hat, ist dessen Annahme einer scharfen Trennung von Zivilgesellschaft und Staat als Basis einer funktionierenden Öffentlichkeit. Dies ist insofern bedenkenswert, da sich die Frage stellt, wo bzw. wie sich in der kommunalen Gemeinschaft „der Staat“ manifestiert: geht es um Strukturen, die für den türkischen Zentralstaat stehen? Oder können wir den Gegensatz Staat–Zivilgesellschaft ansatzweise auf das Verhältnis zwischen kommunaler Verwaltung und gesellschaftlichen Kräften übertragen? Habermas versteht unter „liberaler Öffentlichkeit“ die „zum Publikum versammelten Privatleute“, die keine Amtsträger sind und deren Diskurs nicht zu bindenden, souveränen Beschlüssen führt, die die Ausübung der Staatsmacht autorisieren, vielmehr die öffentlichen Meinung prägen. Öffentlichkeit ist nicht der Staat oder im Staat verankert, sondern ein informell mobilisiertes Organ einer diskursiven Meinungsbildung auf der Nichtregierungsseite.124 Da wir uns in der vorliegenden Studie gerade mit Amtsträgerinnen auf kommunaler Ebene beschäftigen, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis kommunale Öffentlichkeit, kommunale Verwaltung und AkteurInnen zueinander stehen könnten. Fraser unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen starken und schwachen Öffentlichkeiten125: Schwache Öffentlichkeiten seien solche, deren deliberative Praxis ausschließlich in der Meinungsbildung bestehe und sich nicht auf die Beschlussfassung erstrecke, während starke Öffentlichkeiten sowohl die Meinungsbildung als 123
Fraser 1997, S. 129. Habermas 1990, S. 86. 125 Fraser 1997, S. 143ff. 124
3.1 Öffentlichkeiten in der ländlichen Gemeinde
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auch die Beschlussfassung einschließe. Das Parlament beispielsweise übernehme die Aufgabe einer öffentlichen Sphäre innerhalb des Staates. Fraser sieht in einer möglichen Vermehrung von starken Öffentlichkeiten in der Form selbstverwalteter Einrichtungen die Möglichkeit der Gründung von Orten, an denen direkte oder quasi-direkte Demokratie herrsche; jede Konzeption der öffentlichen Sphäre, die eine scharfe Trennung zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat verlange, werde nicht in der Lage sein, sich die Formen der Selbstverwaltung, der Koordinierung zwischen den Öffentlichkeiten und der politischen Rechenschaftspflichtigkeit vorzustellen, die für eine demokratische und egalitäre Gesellschaft wesentlich seien. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Partizipationsformen von Frauen und ihrer potentiellen Repräsentation durch andere Frauen in politischen Institutionen steht letztendlich im Zentrum dieser Studie und wird im Verlauf dieses Kapitels ausführlicher behandelt. Auch wenn die Frage außer acht gelassen werden sollte, inwieweit wir politisierte Frauen in der ländlich geprägten Türkei als „Bewegung“ fassen können, lassen sich auch andere Öffentlichkeitskonzepte, die im Rahmen der Bewegungsforschung entwickelt wurden, für die Thematik dieser Arbeit heranziehen. Ulla Wischermann entwickelte für ihre Studie über die Frauenbewegung um 1900 das Konzept der „Bewegungsöffentlichkeit“: „Bewegungsöffentlichkeiten“ entstünden durch soziale Bewegungen, welche an den institutionalisierten Formen der Macht und der etablierten Politik nicht teil haben. Sie müssten deshalb versuchen, über Personen, Institutionen und Medien Einfluss zu gewinnen. Solche Öffentlichkeiten böten Handlungssphären für unterschiedliche soziale Akteure, insbesondere für diejenigen, die sich in der Öffentlichkeit nicht hinreichend vertreten fühlen. Sie stellen einen Raum für kollektive Lernprozesse und einen Raum für das Einüben alternativer diskursiver Praktiken bereit. Sowohl informelle als auch institutionelle Handlungssphären, die als Foren für politische Diskurse fungieren, gehörten zur Öffentlichkeit, welche als „sich dynamisch entfaltender gesellschaftlicher Verständigungsprozess“ verstanden werden kann, in dem „politische Übereinkünfte ausgehandelt und erzielt werden“.126 Eine Beschreibung dieses Prozesses dürfe nicht nur die massenmediale Kommunikation in den Mittelpunkt stellen, sondern müsse viele unterschiedliche Ebenen und Faktoren berücksichtigen: Persönliche Beziehungen, formelle und informelle Netze, personale und medienvermittelte Kommunikation, unterschiedliche (Teil-) Öffentlichkeiten; d. h. einfache, mittlere, mediale und symbolische Öffentlichkeiten trügen als Ganzes zum Erfolg bzw. Misserfolg sozialer Bewegungen bei. Es geht dabei nicht darum zu überlegen, ob Frauen im lokalen Raum eine „soziale Bewegung“ schaffen, sondern darum, ob sie wegen der ähnlichen Situation 126
Wischermann 2003, S. 14.
60
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
eine vergleichbare Öffentlichkeit herstellen: Auch sie partizipieren nicht an den institutionalisierten Formen der Macht und der etablierten Politik und werden in der Öffentlichkeit nicht hinreichend vertreten, haben aber durch eine Frau an der Spitze der Gemeinde eine potentielle Verbündete im politischen System, zu der aufgrund der Überschaubarkeit des lokalpolitischen Raumes persönliche Beziehungen gepflegt werden könnten; die Bedeutung informeller Netzwerke von Frauen für mikropolitische Prozesse ist gegeben; ob bzw. inwieweit andere (Teil)- Öffentlichkeiten existieren, ist Gegenstand der weiteren Analyse. Da wir in den lokalen Gemeinschaften in der Türkei zunächst nicht von einer sozialen Bewegung ausgehen können, möchte ich des weiteren auf einige Studien eingehen, die sich mit der Entstehung von Öffentlichkeiten innerhalb eines begrenzten sozialen Raumes beschäftigen. Diese Bedeutung von Öffentlichkeit im Lokalen ist der Anknüpfungspunkt für die vorliegende Arbeit, auch wenn in diesen Studien in erster Linie städtische soziale Bewegungen im Mittelpunkt stehen. Stephanie Schütze befasst sich bezüglich dieser Frage mit der politischen Kultur und geschlechtsspezifischer Partizipation in einer Unterschichtssiedlung in MexikoStadt, Santo Domingo. So sind im Fall von Santo Domingo sowohl die öffentlichen Räume wie die Versammlungsorte, die Kommunikationsprozesse innerhalb der Beziehungsnetzwerke der SiedlerInnen als auch ihre mediale Veröffentlichung (wie Zeitungsartikel oder Forderungspapiere an die Regierung) Komponenten der Herstellung von lokalen Öffentlichkeiten. Stefanie Schütze zieht zum einen Ulla Wischermanns Konzept heran, zum anderen Sergio Costas Bezeichnung „kleine Öffentlichkeiten“. Diese definiert Costa als die Sphären des kommunikativen Austausches, die sich auf begrenzten Raum ausbilden: geographisch ausgegrenzte Sozialräume sogenannte „pedaco“s, welche als intermediäre Sphäre zwischen der Häuslichkeit und der Öffentlichkeit verstanden werden können, die für ein Minimum an festen gesellschaftlichen Bindungen sorgen in einem Kontext, der durch unbeständige Arbeitsverhältnisse und prekäre Existenzgrundlagen gekennzeichnet ist. Im Falle Santa Domingos stellten die lokalen Bewegungsöffentlichkeiten oder kleinen Öffentlichkeiten durch ihre Forderungen und Aktionen eine Verbindung zur allgemeinen (nationalen) Öffentlichkeit her. Die Herstellung von lokaler Öffentlichkeit eröffnete den SiedlerInnen von Santo Domingo neue Möglichkeiten der Kommunikation sowohl innerhalb der sozialen Gruppe als auch in der Interaktion mit den Verwaltungs- und Regierungsbehörden. Auf diese Weise gelingt die Sichtbarwerdung in der breiteren politischen Öffentlichkeit. Zentraler Gedanke in diesem Konzept ist, dass Öffentlichkeit auch in begrenzten sozialen Räumen entstehen kann. Bezogen auf die Türkei bestätigt Heidi Wedel die Existenz solch „kleiner“ Öffentlichkeiten, auch wenn sie sie nicht als solche bezeichnet: sie beschreibt, wie im Gecekondu unter dem Schutz der „,dorfähnlichen
3.1 Öffentlichkeiten in der ländlichen Gemeinde
61
Familialität‘ in den Gassen gerade auch für die Frauen eine gewisse, wenn auch klar für Fremde abgegrenzte öffentliche Sphäre entstehen (kann). In Ausdehnung ihres Privatraumes verrichten Frauen hier ihre Arbeit, beobachten, treffen und helfen sich dabei, tauschen Informationen aus und schaffen und pflegen ihre informellen Netzwerke“127. Hier könne zwar politische Aktivität im kleinen Kreis stattfinden, jedoch kämen nur die Frauen aus der unmittelbaren Nachbarschaft zusammen. Geschlossene öffentliche Räume stünden den Frauen im Gecekonduviertel nicht zur Verfügung, weshalb politisch interessierte Frauen keine Möglichkeit hätten, größere Versammlungen durchzuführen, wenngleich gelegentlich der Korankursraum genutzt werden könne oder die Privathäuser zu öffentlichen Zwecken umfunktioniert würden. Die Frage stellt sich, ob solche Verhältnisse auch im ländlichen Bereich zu finden sind – schließlich entwickelten sich Gecekondus durch MigrantInnen aus den ländlichen Regionen der Türkei. Urbanisierungsprozesse, wie sie im Gecekondu entstanden sind, können spezielle Partizipationsmöglichkeiten für Frauen nach sich ziehen – doch gibt es nicht auch jenseits der Metropolen Bestrebungen von Frauen, eigene Öffentlichkeiten zu bilden, die gerade auf politische Veränderungen abzielen, d. h. die die herrschenden Strukturen in Frage stellen und die diskursiven Auseinandersetzungen um frauenspezifische Anliegen erweitern suchen? Aufgrund der verbreiteten und fest im sozialen Leben verankerten patriarchalen Geschlechterordnung stellt sich insbesondere die Frage, welche Themen von Frauen als frauenspezifische Themen artikuliert und als „von allgemeinen Interesse“ in öffentliche Diskussionen eingebracht werden. Dabei sollten gerade Themen, die von Frauen aus ihrer Position als Hausfrauen und Mütter artikuliert werden, mit Sorgfalt betrachtet werden, da sie bisher eben häufig nicht im öffentlichen Raum Gehör fanden. Laut Fraser seien Frauen zudem „innovativ, weil sie die bisher charakteristischerweise ,privaten‘ Idiome der Häuslichkeit und Mutterschaft als Sprungbretter zur öffentlichen Betätigung kreativ nutzten“128. In Bezug auf Partizipation von Frauen an der Öffentlichkeit in der ländlichen Türkei ist nun interessant zu fragen, ob diese die Möglichkeit haben, sich an diskursiven Auseinandersetzungen in der kommunalen Öffentlichkeit zu beteiligen, d. h. zu untersuchen, ob frauen- bzw. genderspezifische Angelegenheiten von „öffentlichem Interesse“ sind. Die Umsetzung in politische Praxis und gesellschaftlichen Wandel stellt einen weiteren zentralen Punkt dieser Studie dar – des Weiteren, welcher dieser beiden Aspekte den anderen evoziert. Stephanie Schütze erkannte in ihrer Untersuchung die Notwendigkeit der theoretischen Neubestimmung von Privatheit in Zusammenhang mit der politischen Parti127 128
Wedel 1999, S. 161. Fraser 1997.
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3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
zipation von Siedlerinnen in Mexiko: Für diese habe Privatheit zwei unterschiedliche Bedeutungen bekommen: „Erstens Privatheit als häusliche Sphäre in Abgrenzung zu Öffentlichkeit als Sphäre des Gemeinschaftsengagements, und zweitens Privatheit als selbstbestimmter intimer Raum im Sinne des Gegenprinzips zu kollektiven Zwängen (wie z. B. denen der mexikanischen Großfamilie).“ In ihrem Beispiel habe die Beteiligung der Frauen aus Santo Domingo an der sozialen Bewegung eine „Politisierung des Privaten im doppelten Sinne zur Folge: einerseits im Sinne der öffentlichen Beteiligung der Frauen am politischen Geschehen in ihrem sozialen Umfeld und andererseits im Sinne der Durchsetzung der weiblichen Privatheit als eines selbstbestimmten intimen Raumes“.129 Es ist also wichtig, bei der Konzentration auf Öffentlichkeiten weiterhin Konstruktionen und Bedeutungen des Privaten im Blick zu behalten. Schließlich bedeutet die private häusliche Sphäre in der Türkei ähnlich wie in Mexiko für Frauen häufig die Unterordnung innerhalb der familiären Hierarchie, d. h. Selbstbestimmung beginnt nicht in der Öffentlichkeit und hört dort auf, sondern umfasst ebenso die Privatsphäre. Schließlich darf nicht außer acht gelassen werden, dass die Existenz von Frauen in den institutionell politischen Strukturen immer auch in Zusammenhang mit dem nationalen Demokratisierungsprozess in der Türkei gesehen wird. Die Frage nach einem möglichen Demokratisierungsschub infolge der Partizipation von Frauen in lokalpolitischen Ämtern sollte jedoch nicht vernachlässigen, dass es dabei (an erster Stelle) auch um die Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit geht. Insofern sollte die Verbindung von Öffentlichkeit, politischer Partizipation von Frauen und dem Grad der Demokratisierung im lokalen Kontext ins Auge gefasst werden. Unterstützend hierzu bieten sich Leonardo Avritzers Überlegungen zur Bedeutung von Öffentlichkeit für die bisherigen Debatten um Demokratisierung. Er schlägt ein Demokratiemodell vor, das die Bedeutung der Bildung einer Öffentlichkeit in den Mittelpunkt stellt, in der Bürger als Gleichberechtigte teilhaben und formelle politische Entscheidungsprozesse beeinflussen können130. Dabei zeigt er, wie demokratische kollektive Aktion den Raum öffnete für die Partizipation der Bevölkerung und traditionelle (hierarchische und klientelistische) Verständnisse von Politik transformierte. Bezogen auf den lateinamerikanischen Kontext argumentiert Leonardo Avritzer, dass die Untersuchung von Öffentlichkeiten die Überwindung der Dichotomie zwischen institutionalistischen und eliteorientierten demokratietheoretischen Makroperspektiven und alltags- und bewegungstheoretischen Perspektiven ermögliche. Eine weitere Demokratisierung in Lateinamerika sei bei einziger Konzentration auf 129 130
Schütze S. 274f. Avritzer betont im lateinamerikanischen Zusammenhang die Rolle von Partizipation der Bevölkerung durch Menschenrechtsorganisationen im Demokratisierungsprozess. Vgl. Avritzer 2002.
3.2 Politische Partizipation
63
die Eliten unmöglich. Um Staat-Gesellschaft-Beziehungen zu demokratisieren, sollten demokratische Potentiale, die auf gesellschaftlicher Ebene auftreten, in die politische Arena durch Partizipationsmodelle transferiert werden. In seinem Konzept liegt die öffentliche Sphäre zwischen Markt und Staat und beinhaltet individuelle Kommunikation und Verhandlungen durch face-to-face-Interaktionen, sie ist also ein Raum für direkte Interaktionen, der unabhängig vom Staat ist, in dem sich Individuen begegnen und die Handlungen der politischen Autoritäten debattieren, über politische Angelegenheiten verhandeln und Strategien entwickeln, um die politischen Autoritäten sensibel für ihre Diskussionen und Verhandlungen zu machen. Partizipation wird in die Demokratietheorie integriert, ohne sie zu einem Teil der Administration zu machen. Als Ausgangspunkt für die nachfolgende Untersuchung sollte die Vorstellung eines Konzeptes von Öffentlichkeit und Privatheit für die Analyse herangezogen werden, das nicht hauptsächlich Dichotomien und Polaritäten herausstellt, sondern die beiden Begriffe als Eckpunkte eines Kontinuums begreift(Wischermann), wenn es darum geht, die Partizipationsformen von Frauen einzuordnen. Öffentlichkeit kann zunächst einmal allgemein als Raum der Interaktion von Individuen und kollektiven Akteuren definiert werden zur Diskussion von Themen, die neue politische Bereiche betreffen und Staat und politisches System kritisieren können. Öffentlichkeit bedeutet des weiteren im hier relevanten Kontext der Lokalpolitik einen gesellschaftlichen Raum, in dem das Politische der Kommune verhandelt wird. Struktur erhält dieser Raum durch die Formen der politischen Partizipation der lokalen AkteurInnen, d. h. durch ihre Interaktionen, ihre Kommunikation und ihr Handeln miteinander, durch die Inhalte, die diese hervorbringen. Insofern ist es denkbar, dass auch die lokalpolitischen Institutionen durch politische AkteurInnen Teil der gemeinschaftlichen Öffentlichkeit sind. In den ländlich geprägten Kommunen ist es allerdings eher unwahrscheinlich, dass diese Öffentlichkeit ein herrschaftsfreier Raum ist, vielmehr wird er durch die klientelistischen und hierarchisierten sozialen Beziehungen der AkteurInnen geprägt. Ausschlaggebend ist jedoch, dass Öffentlichkeit im Kontext der peripher situierten Gemeinschaft in der Türkei den Raum für Partizipation in Gesellschaft und Politik darstellt. Insofern lässt sich der Grad des Sichtbarwerdens von Frauen in unterschiedlich sich konstituierenden Öffentlichkeitsformen als Beginn bzw. Ausweitung gesellschaftlicher Inklusion sehen.
3.2
Politische Partizipation
Aufbauend auf der zuvor dargelegten Konstruktion von Öffentlichkeit(en) und Privatheit stellt sich nun die Frage, was passiert, wenn über diese Grenzen hinweg neue politische Partizipationsstrukturen entstehen.
64
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
Verändern sich die Öffentlichkeitsverhältnisse, wenn Frauen andere Wege einschlagen, um politisch zu partizipieren? Zunächst einmal möchte ich drei Dimensionen des Partizipationsbegriffes131 erläutern, die hierbei relevant sein können. Auch wenn die Vielfalt des Partizipationsbegriffes die Fülle an Demokratietheorien widerspiegelt, lassen sich vereinfacht zwei grundlegende Unterschiede feststellen: Während ein enger Partizipationsbegriff lediglich die Beteiligung der Bürger an den herkömmlichen Formen bürgerlicher Öffentlichkeit und parlamentarischer Demokratie definiert, zielt ein erweiterter Partizipationsbegriff Vilmar zufolge auf die umfassende Beteiligung der Bürger an gesellschaftlichen Prozessen, und zwar sowohl an Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen als auch an sozialen und speziell politischen Aktivitäten.132 In diesem Sinne wird der Partizipationsbegriff, d. h. im Verständnis von Partizipation als Bestrebungen in relevanten gesellschaftlichen Subsystemen, grundlegend für die Frage nach dem Grad der Demokratisierung, d. h. eine möglichst optimale Beteiligung von Bürgern an Entscheidungsbildung und den Aktivitäten des sozio-ökonomischen Lebens. Schultze bietet für diese Unterscheidung das Begriffspaar der instrumentellen und normativen Partizipationsbegriffe an: „Instrumentell bzw. zweckrational sind alle diejenigen Formen politischer Beteiligung, die Bürger freiwillig, individuell und/oder kollektiv im Verbund mit anderen unternehmen, um politische Entscheidungen direkt oder indirekt zu ihren Gunsten zu beeinflussen.“133 Ziel ist, die politischen Entscheidungsträger in Regierung, Bürokratie, Parlament und Parteien auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu erreichen. Demokratie wird hierbei als Schutz vor Übergriffen des Staates auf die Rechten und Freiheiten der Bürger definiert. Dagegen ist im normativen Verständnis „Partizipation nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch Ziel und Wert an sich. Es geht nicht nur um Einflussnahme und Interessendurchsetzung, sondern um Selbstverwirklichung im Prozess des direktdemokratischen Zusammenhandelns und um politisch-soziale Teilhabe in möglichst vielen Bereichen der Gesellschaft.“134 Demokratie wird also in diesem Sinne als gesellschaftliche Lebensform und Partizipation als Mittel der Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche im Sinne
131
Eine umfassende Darstellung der Diskussion um den Partizipationsbegriff leistete Cilja Harders, weshalb ich lediglich die Faktoren herausgreife, die für die vorliegende Arbeit relevant sind. Vgl. Harders 2001. 132 Vilmar 1986. 133 Schultze 1995. 134 Schultze 1995.
3.2 Politische Partizipation
65
umfassender und gleicher Teilhabe verstanden. Partizipatorische Demokratietheorie umfasst somit solche Konzepte, die darauf abzielen, „demokratische Entscheidungsstrukturen … überall dort zu verankern, wo sie bis heute gar nicht oder nicht ausreichend gelten, insbesondere im Privaten, im Stadtteil und am Arbeitsplatz.“135 Nun geht es in dieser Arbeit um Frauen in den Institutionen, d. h. die Frage stellt sich, ob es bei der Problematik lediglich um instrumentelle Partizipation geht, d. h. um individuelle direkte Beeinflussung der politischen Prozesse auf lokaler Ebene, oder um Ausweitung von Partizipation für alle BürgerInnen als Grundlage der lokalen demokratischen Organisation der Gemeinschaft. Anders gesagt: Was bringt es „den“ Frauen einer Gemeinde hinsichtlich eigener (fehlender) Partizipationsalternativen, wenn eine Frau in der Lokalpolitik vertreten ist? Die feministische Forschung verwies auf zwei strukturelle Probleme bei der Aufzählung von Partizipationsformen: Die Trennung von politischer und sozialer Partizipation und die systematische Einbeziehung von Geschlecht als Strukturkategorie.136 Wenn allein die der öffentlichen Sphäre zugeschriebenen Handlungen überhaupt als politisch bezeichnet werden, ist die Konsequenz, dass alle Aktivitäten, die konventionellerweise als privat eingeordnet werden, von vornherein aus der Analyse der Partizipationsformen ausgeschlossen sind. Um das politische Interesse und politische Aktivitäten von Frauen angemessen beurteilen zu können, muss ich also davon ausgehen, dass wegen der spezifischen Konstruktion der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit wie schon erwähnt das Engagement von Frauen in politikwissenschaftlichen Analysen nicht miteinbezogen wurde: “The family and informal political institutions have been excluded from discussions of political participation due to a specific construct of the boundaries between what constitues ‘the public’ as opposed to ‘the private’.”137
Das Ausklammern des sozialen Bereiches und somit weiblich dominierten Formen sozialer Partizipation hängt also unmittelbar mit der Dichotomisierung des öffentlichen und privaten Bereiches zusammen, somit müsste „die analytische Aufhebung der Dichotomie von Privat und Öffentlich (…) in einen Politikbegriff münden, der die privaten und nicht-öffentlichen Aktivitäten von Frauen einschließt und dadurch sichtbar macht.“138 So könne die künstliche Trennung von so genannter politischer und sozialer Partizipation vermieden werden: 135
Holland-Cunz S. 140. Vgl. z. B. Meyer 1992, Sauer 1994, Hoecker 1995, Lauth/ Liebert 1999, Wedel 1999, Harders 2002, Craske 1999. 137 Singerman 1995. 138 Harders 2002, S. 42. 136
66
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
„Politische Partizipation im Sinne eines so erweiterten Politikbegriffs beschränkt sich nicht auf konventionelle Partizipationsformen, sondern schließt auch unkonventionelle und informelle Partizipationsformen sowie andere informelle soziale oder ökonomische Aktivitäten, die in der so genannten privaten Sphäre ihren Ausgang nehmen, mit ein.“139
Insofern sollte das soziale Engagement von Frauen, sollten ihre informellen Aktivitäten mitberücksichtigt werden. Auf diese Weise wird die Vorstellung von Politikformen durch Strategien zur individuelle Lebenssicherung, die Bedeutung von Netzwerken, die Einbeziehung des Privaten erweitert. Partizipation wird also als Teilhabe an sozialen, politischen, ökonomischen Prozessen in der zivilgesellschaftlichen und staatlichen Sphäre, in der als öffentlich und der als privat bezeichneten Sphäre verstanden. Anhand der Partizipationsperspektive lassen sich dabei Mechanismen von Exklusion- und Inklusion aufzeigen; dies verweist sowohl auf Öffentlichkeitskonzeptionen als auch den Grad der Transformationsprozesse, die wiederum Konstruktionen der Geschlechterverhältnisse tangieren. Insofern ist der Partizipationsbegriff gewissermaßen das Verbindungsstück zwischen Öffentlichkeitsbegriff und Transformationsprozess. In diesem Sinne wird die Grundlage der Partizipatorischen Demokratietheorie, die in erster Linie die Ausdehnung von Partizipationsformen auf die Arbeitssphäre fordert, durch eine geschlechtersensible Sicht erweitert. Gleichzeitig bietet diese wiederum weitere Argumente für die Bedeutung von Partizipationsformen im sozialen und privaten Bereich140; nicht zuletzt habe Partizipation eine integrative, Zugehörigkeit erzeugende Funktion und sollte im lokalen Bereich eingeübt werden. Laut Holland-Cunz werde Patemans Befund einer Relation zwischen der Möglichkeit und dem Willen zur politischen Beteiligung durch die feministische Forschung bestätigt, in der sich „eine eindeutige sozial weibliche Präferenz für dasjenige Feld des Politischen (zeige), in dem die strukturellen Eintrittsbarrieren niedrig sind.“141 In Studien wie jenen von Heidi Wedel und Cilja Harders kann durch einen solchen erweiterten Partizipationsbegriff einerseits gezeigt werden, dass in den Überlebensökonomien, d. h. auf der Mikroebene der Gecekondus bzw. der Kairoer Armenviertel Frauen wichtige politische Akteurinnen sind, sie aber auf der Meso- und Makroebene weitgehend von formalen Organisations- und Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden.142
139
Harders 2002, S. 42. Carole Pateman zufolge könne der einzelne Bürger sich um so besser am System beteiligen, je mehr er Gelegenheit dazu habe. Vgl. Pateman 1970, S. 25. 141 Holland-Cunz, S. 1998, 149f. 142 Harders, S. 40ff. 140
3.2 Politische Partizipation
67
Da im Mittelpunkt meines Interesses Frauen stehen, die in Entscheidungspositionen auf lokalpolitischer Ebene gelangt sind, stellt sich die Frage, inwieweit ein solch erweiterter Partizipationsbegriff überhaupt relevant ist, schließlich scheint ja ein Bereich hierdurch anvisiert zu sein, der eher unter einem instrumentellen Partizipationsbegriff gefasst werden könnte. Ich gehe jedoch aus, dass ohne die Perspektive auf geschlechterspezifische soziale und ökonomische Partizipationsstrukturen die Möglichkeiten und Prozesse zur Wahl einer Frau in ein lokalpolitisches Amt in der ländlich geprägten Türkei nicht angemessen erklärt werden kann. Gerade durch die Perspektive auf gewählte Frauen und ihre politischen Handlungsstrategien kann gezeigt werden, wie das Politische und Private miteinander verknüpft sind. Das Geschlechtersystem in der lokalen Gemeinschaft prägt und verlangt die Herausbildung von spezifischen Partizipationsmustern, die die Wahl einer Frau erst ermöglichen. Eine weitere grundlegende Unterscheidung, die für die Wahl- und Entscheidungsstrukturen einer Lokalpolitikerin relevant sind, ist die zwischen informeller und formaler politischer Partizipation. Während unter formal institutionalisierter Partizipation bspw. Mitgliedschaft in politischen Organisationen wie Parteien und Beteiligung an Wahlen verstanden wird, umfassen informelle Partizipationsformen die Teilnahme an sozialen Bewegungen, an klientelistischen Strukturen, an Selbsthilfenetzwerken und anderen Formen der Partizipation; Ziel in jedem Fall ist die Beeinflussung von Entscheidungen des politischen Systems, wozu sowohl die Wahl der EntscheidungsträgerInnen als auch die Möglichkeit der permanenten Einwirkung auf laufende Entscheidungsprozesse gehöre.143 Dabei spielen insbesondere zwei Dimensionen der informellen Partizipation eine Rolle: die Bedeutung die Bedeutung frauenspezifischer politischer Organisationsweisen infolge der Exklusion von Frauen aus der männlich dominierten öffentlichen Sphäre (als „Halböffentlichkeiten“) und klientelistischer und traditioneller Partizipationsformen in der ländlichen Türkei: „Der Begriff Klientelismus enthält (…) immer ein politisches Element, das über den relativ engen politischen Umkreis im Rahmen der Patronage hinausgeht. Während der Patron ausschließlich Ressourcen monopolisiert, die seine Machtbasis im Dorf garantieren, wird im Klientelismus der Patron als Vermittler zwischen verschiedenen politischen Sphären tätig. Er stellt Verbindungen zu Netzwerken der Parteien und/ oder der Zentralbürokratie her, sofern er nicht selbst, etwa als Parteiaktivist, Teil dieser Netzwerke ist. Der Bezug zu regionalen und nationalen Sphären der Politik ist für diese Vermittlungsakte daher essentiell. Durch sie vollzieht sich die Kommunikation und Ressourcenverteilung zwischen Zentrum und Peripherie, deren Distanz voneinander mit wachsender Intensität und Zahl der Vermittlungsakte abnimmt.“144
143 144
Lauth/ Liebert 1999, S. 16f. Unbehaun 1997, S. 44.
68
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
Klientelistische Strukturen sind eine institutionalisierte politische Partizipationsform, die politische Partizipation zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich bedeutet. Die Entwicklung des Klientelismus in der Kommunalpolitik in der Südwesttürkei ist Thema der Dissertation von Horst Unbehaun: Im Zentrums seines Interesses steht die Entwicklung politischer Partizipation auf der Mikroebene eines Landkreises, wozu er längsschnittartig die politischen Prozesse seit der Republikgründung aus lokaler Perspektive rekonstruiert. Um die politische Sphäre einer Kleinstadt und der umliegenden Dörfer in einer Zeit zu erfassen, in der der Übergang von einer traditionellen zu einer ,modernen‘ Gesellschaft vollzogen werde, geht auch er von einem weit gefassten Verständnis des Begriffes der Politischen Partizipation aus: „Politische Partizipation beschränkt sich im Rahmen der untersuchten gesellschaftlichen Mikrokosmen nicht nur auf das oben angeführte Verhältnis, in dem Mitglieder der Gesellschaft dem Staat aktiv gegenübertreten und sich im Rahmen demokratischer Wahlen oder über Interessengruppen und Parteien an staatlich gelenkten Entscheidungsprozessen beteiligen. Vielmehr sollen auch die Beziehungen innerhalb gesellschaftlicher Subsysteme (Stamm, Dorf, Sippen, Nachbarschaften, Gefolgschaften etc.), die lokale Machtverhältnisse organisieren, als politische Aktionen behandelt werden.“145
Nachdem zu Beginn der Türkischen Republik in den ländlichen Gebieten PatronKlient-Beziehungen weit verbreitet waren, habe es seither sozioökonomische Entwicklungen gegeben, wodurch traditionelle Patronagebeziehungen durch andere Formen der politischen Partizipation abgelöst wurden. Weiterhin sei allerdings die türkische Gesellschaft durch klientelistische Beziehungen durchdrungen, wenngleich sich ein Übergang zu „autonomeren Formen politischer Partizipation“ vollziehe146. Zweifellos ist auch heute der Klientelismus in unterschiedlichen Ausprägungen immer noch eine zentrale Institution, gerade in ländlichen Gebieten. Im Südosten und Osten existiert weiterhin der Einfluss des As¸ iretçilik, einer spezifisch türkischkurdischen Form des Feudalismus, der innerhalb der südostanatolischen Stammesgesellschaft auf der Macht lokaler Notabler, der Agˇas, gründet147. In diesem Zusammenhang ist Arats These des „patriarchalen Paradoxes“148 zu verstehen, dass Frauen nur im Rahmen der patriarchalen Machtstrukturen durch die Protektion und den Willen männlicher Verwandter in politische Ämter gelangen könnten. Auch Heidi Wedel schildert, wie Gecekondufrauen Parteimitgliedschaft für die klientelistische Absicherung ihrer Familie nutzen: „Gerade auf der Ebene einer 145
Unbehaun 1994, S. 23. Unbehaun 1994, S. 49. 147 Vgl. Bruinessen 1989, Strohmeier/ Yalçın-Heckmann 2003. 148 Arat 1989. 146
3.3 Repräsentation und Partizipation
69
kleinen community, wo Delegiertenstimmen Gewicht haben, stärkt die Beteiligung der Ehefrau auch den Einfluss des Mannes.“149 So stellt sich die Frage, ob zwanzig Jahre nach Arats Studie Frauen auch ohne den politisch-gesellschaftlichen Einfluss der Familie politischen Erfolg verbuchen können, ob es andere strukturelle Einflussfaktoren gibt, die es Frauen erleichtern, gewählt zu werden, oder ob weiterhin Formen des Klientelismus Frauen den Zugang in die formalpolitische Sphäre öffnen oder versperren.
3.3
Repräsentation und Partizipation
Partizipation von Frauen in formalpolitischen Strukturen kann wohl kaum untersucht werden, ohne die Repräsentationsproblematik mit einzubeziehen. Schließlich wird die politische Repräsentation von Frauen häufig in direktem Zusammenhang mit ihrer politischen Teilhabe diskutiert: „In vielen Fällen werden diese Begriffe sogar synonym verwendet oder beide, Partizipationsprinzip und Repräsentationsprinzip, in Ursache und Wirkung gleichgesetzt. Allein die Tatsache, dass Frauen in den politischen Institutionen nicht proportional zur Bevölkerungszahl vertreten sind, spräche gegen ihre adäquate politische Repräsentation. Ohne eine paritätische Besetzung der Repräsentativorgane könne Repräsentation nicht gewährleistet sein und infolgedessen Demokratie nicht verwirklicht werden (…).“150 Der Begriff der Repräsentation151 umfasst allerdings bzgl. der Thematik „Frauen in formalpolitischen Institutionen“ zwei qualitativ verschiedene Bedeutungen: Zum einen kann mit dem Begriff das Verfahren oder System im Rahmen der institutionellpolitischen Strukturen gemeint sein, welches dazu beitragen soll, die quantitative Präsenz einer unterrepräsentierten gesellschaftlichen Gruppe, bspw. von Frauen, in der institutionell-politischen Sphäre zu erhöhen, bspw. durch Quotenregelungen. Begründet wird die Forderung nach quantitativer Repräsentation damit, dass im politischem System die gesellschaftlichen Verhältnisse widergespiegelt werden sollten. 149
Wedel 1999, S. 207. Hierath 2001, S. 44 151 Der Begriff der Repräsentation kann zunächst einmal im sozial-wissenschaftlichen Zusammenhang eine soziale und eine politische Bedeutung haben: „Unter sozialen Aspekten bedeutet Repräsentation die Vertretung einer Anzahl von Personen durch eine einzelne Persönlichkeit oder durch eine Gruppe von Personen. Der Repräsentant handelt dann im Auftrag der Repräsentierten bzw. stellvertretend für sie. (…) die politische Repräsentation unterscheidet sich von der sozialen dadurch, dass gewisse politische Organe oder Institutionen in einem Staat von den Bürgern – z. B. durch Wahl – legitimiert werden, um stellvertretend für sie in ihrem Auftrag Entscheidungen zu treffen und damit Herrschaft auszuüben.“ Kempf 1986, S. 441. 150
70
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
Jedoch bedeutet eine solche Repräsentation auf institutioneller Ebene nicht, dass die Personen inhaltliche RepräsentantInnen ihrer gesellschaftlichen Gruppen sein müssen, d. h. dass sie nicht für diese sprechen müssen: „Jedes System, das den Anspruch erhebt, demokratisch zu sein, sollte zwar garantieren können, dass seine Repräsentanten die ethnische und geschlechtsspezifische Zusammensetzung der Bevölkerung spiegeln, gleichwohl sollten diese nicht als >Vertreter< ihrer ethnischen Gruppe oder ihres Geschlechts betrachtet werden.“152
Zum anderen kann der Begriff der Repräsentation die Frage umfassen, in welcher Weise die AmtsinhaberInnen auch RepräsentantInnen einer gesellschaftlichen Gruppe sein können; d. h. für unseren Kontext: ob Frauen im politischen System inhaltlich andere Frauen vertreten können. In enger Verbindung hierzu steht die Bedeutung möglicher Interessenvertretung im Rahmen eines repräsentativen Systems – schließlich wird die Forderung nach der Erhöhung des Frauenanteils in politischen Ämtern und Funktionen meist im Zusammenhang mit der Annahme einer besseren Vertretung von Fraueninteressen durch Frauen in den politischen Institutionen geäußert. Die Frage stellt sich also, ob die quantitative politische Repräsentation der weiblichen Bevölkerung in den Institutionen als Vertretung einer Interessengruppe „Frauen“ betrachtet werden kann. Dabei kann die Forderung nach mehr Frauen in politischen Ämtern nicht ohne die Tatsache gedacht werden, dass Frauen keine homogene Gruppe darstellen und somit unweigerlich die Frage sich stellt, wessen Interessen durch wen wo im politischen Prozess repräsentiert werden: Schließlich leben Frauen in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen, gehören verschiedenen sozialen Schichten und Ethnien an, haben unterschiedliche Bildungshintergründe und familiäre Konstellationen. Dies bedeutet nicht nur eine Herausforderung für eine mögliche gemeinsame Organisation, sondern auch eine Diversität an Interessen von Frauen und Frauengruppen: „Die Repräsentation von Frauen als Frauen scheiterte möglicherweise nicht nur an der Schwierigkeit, die gemeinsamen Interessen der Frauen zu bestimmen, sondern auch an dem Problem, Mechanismen einzurichten, mittels derer diese Interessen eine Stimme bekommen. Es wurde festgestellt, dass Politikerinnen nicht selten zögern, sich als die Repräsentantinnen der Frauen zu betrachten.“153
Andererseits stellt sich die Frage, ob und wie gesellschaftliche Strukturen, die sich zum Nachteil einer gesellschaftlichen Gruppe auswirken (können), ohne die Präsenz von VertreterInnen dieser Gruppe in Entscheidungspositionen verändert werden können. Insofern betrifft zumindest die Struktur der Geschlechterverhältnisse alle Frauen einer Gesellschaft: 152 153
Phillips 1995, S. 250. Phillips 1995, S. 148.
3.3 Repräsentation und Partizipation
71
„Da Trennung ein grundlegendes Ordnungsprinzip geschlechtsbestimmter Gesellschaften ist, haben Frauen wohl zumindest ein Interesse gemeinsam. Sie brauchen leichteren Zugang zu allen Bereichen. Bei allem, was darüber hinaus geht, können wir nicht einfach von gemeinsamen Interessen der Frauen ausgehen.“154
Ein Ausweg aus dem Dilemma ist denkbar, wenn wir Molyneux’ Konzept unterschiedlicher Geschlechterinteressen155 mitberücksichtigen: Danach geht der Begriff „Fraueninteressen“ von einer Homogenität der Interessen von Frauen aufgrund ihres biologischen Geschlechts aus und berücksichtigt nicht andere Faktoren wie Klasse und Ethnizität. Dem gegenüber können „geschlechtsspezifische Interessen“ an den Lebensumständen und Lebensentwürfen der Menschen in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext festgemacht werden. Molyneux unterscheidet dabei zwischen praktischen und strategischen Geschlechterinteressen: Strategische Geschlechterinteressen werden aus der Analyse der Unterordnung von Frauen und der Formulierung von befriedigenderen Alternativen heraus formuliert.156 Dazu gehören bspw. Ziele wie die Abschaffung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, Erleichterung von Hausarbeit und Kinderbetreuung, Beseitigung von institutionalisierten Formen der Diskriminierung, Maßnahmen gegen Männergewalt. Kämpfe für strategische Geschlechterinteressen fordern dominierende Geschlechterkonstruktionen heraus und zielen darauf ab, diese zu verändern bzw. zu beseitigen. Praktische Geschlechterinteressen ergeben sich aus den konkreten Bedingungen innerhalb der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und werden direkt von den betroffenen Frauen formuliert.157 Sie dienen der besseren Erfüllung der dreifachen Aufgaben der Frauen (Produktion, Reproduktion, community managing), die Unterordnung der Frau wird (zunächst) nicht in Frage gestellt. Während mitunter beide Interessentypen als dichotomes Begriffspaar aufgefasst werden, schlägt Nikki Craske vor, sie als Pole eines Kontinuums zu sehen oder sie als dialektische Termini aufzufassen.158 154
Phillips S. 120. Vgl. Molyneux 2001, Wedel 1999, Craske 1999, Alkan 2005. Heidi Wedel bezieht das Konzept auf die lokale Partizipation von Frauen im Gecekondu, Alkan legt es ihren Überlegungen einer auf Frauen ausgerichteten städtischen Kommunalpolitik zugrunde. Craske bezieht sich wie Molyneux auf den lateinamerikanischen Kontext, dabei zeigen sich einige Parallelen zur Türkei. 156 Molyneux 2001, S. 43; Craske 1999, S. 19; Wedel 1999, S. 36. 157 Molyneux 2001, S. 44f.; Craske 1999, S. 19; Wedel 1999, S. 36. 158 Craske 1999, S. 19. Sie zitiert einen weiteren Aufsatz Molyneux’, indem diese gleichfalls die Interrelation der beiden Begriffe betont. 155
72
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
Unter Berücksichtigung dieser Differenzierung möglicher geschlechtsspezifischer Interessen im Zusammenhang mit anderen Einflussfaktoren wie Klasse, Ethnie, Region, usw. lässt sich zwar keine unmittelbare Verpflichtung von Frauen ableiten, andere Frauen zu repräsentieren, jedoch lässt sich als Frage formulieren, inwieweit gerade Politikerinnen geschlechtersensible Politiken vertreten, d. h. aufgrund möglicher gemeinsamer Erfahrung gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse agieren können oder aufgrund eines geschlechtersensiblen politischen Programms. Dabei ist nicht zuletzt ein Streitpunkt in der Literatur von Bedeutung, nämlich die Frage, ob strategische Geschlechterinteressen nicht nur von „Mittelschichtsfeministinnen“, sondern auch von „armen Graswurzelfrauen“159 formuliert werden können160 – oder, allgemeiner formuliert bzgl. des Kontextes ländlich geprägte Türkei: ob bzw. wie in einer Gemeinde mit einer Bürgermeisterin mit möglichen geschlechterspezifischen Interessen (ob nun praktischen oder strategischen) umgegangen wird. Des weiteren ist zu fragen, ob nicht gerade das politische Amt gewählte Frauen von den nichtgewählten Frauen trennt, oder, wie Molyneux und Razavi das Problem ausdrücken: Wie können Elitefrauen in der Politik als effektive Repräsentantinnen von Interessen weniger privilegierter Frauen agieren? Dies impliziert unweigerlich weitere Problematiken: Können Frauen in politischen Ämtern automatisch als „Elitefrauen“ gelten? Somit ist es erst einmal wichtig, die potentiellen Repräsentantinnen zu betrachten: Gibt es einen einheitlichen Weg und bestimmte Voraussetzungen für Frauen in der Politik, gibt es Bedingungen und biographische Gründe, die unabdingbar sind, um gewählt zu werden? Stellen sie sich überhaupt als Repräsentantinnen (von Frauen) dar? Ein wichtiger Punkt, den Molyneux nennt, sollte stets im Auge behalten werden: Auch wenn feministische Praxis161 die praktischen Interessen der Frauen berücksichtigen, politisieren und in strategische Interessen transformieren sollte, sollte dies in einer Weise geschehen, dass die Frauen sich mit ihr identifizieren können162. 159
Die Gegenüberstellung von „Mittelstandsfeministinnen“ und armen Frauen bezieht sich in der Literatur vor allem auf den Kontext sozialer Bewegung in urbanen Gegenden und Graswurzelengagement der armen Bevölkerung. Im Kontext der vorliegenden Studie kann nicht von diesem Gegensatz ausgegangen werden, da die Ak-teurinnen, d. h. sowohl die interviewten Politikerinnen und NGO-Frauen als auch die indirekt betroffene weibliche Wahlbevölkerung nicht eindeutigen Klassen zugeordnet werden können, wenngleich sicher ihre Mehrheit als „arm“ bezeichnet werden kann. 160 Vgl. die Darstellung dieser Diskussion bei Wedel 1999, S. 37f. 161 Es wäre wohl der falsche Ansatz, damit zu rechnen, dass in der türkischen Lokalpolitik sich lauter Feministinnen aufhalten. Jedoch kann „feministische Praxis“ auch einfach programmatische Ansätze beinhalten, die die Veränderung der (benachteiligten) Position von Frauen anvisieren. 162 Vgl. Molyneux 2001, S. 45, auch Wedel 1999.
3.3 Repräsentation und Partizipation
73
Die Problematik, inwieweit quantitative und inhaltliche Repräsentation zusammenhängen und einander bedingen, beschäftigt auch Anne Marie Goetz: Ihr zufolge ist die Unterscheidung in „deskriptive“ und „substantielle“/ strategische Repräsentation insofern irreführend, da deskriptive Repräsentation ein notweniger erster Schritt sein könne für die institutionelle Transformation, wenn substantielle Repräsentation erreicht werden soll.163 Eine geschlechtersensible institutionelle Reform sei Goetz zufolge nicht nur notwendig, um Frauen in die Politik zu bekommen, sondern auch, damit Politiken und ihre Ausführungen Geschlechtergleichheit anerkennen. Dies führe zu dem sich wiederholenden Dilemma der „Integration oder Autonomie“ der Frauenbewegung, d. h. inwieweit diese durch Einflussnahme auf institutionelle Prozesse und AkteurInnen bzw. durch Partizipation an der institutionellen Politik ihre eigenständige Position bewahren können oder „Teil des Systems“ werden. Im Kontext dieser Arbeit interessiert das Ausmaß, wie weit Forderungen nach substantieller Geschlechtergleichheit, die von der Frauenbewegung formuliert wurden, in der Kommunalpolitik durch Lokalpolitikerinnen verankert werden können. Außerdem ist zu überlegen, inwieweit diese Politikerinnen zugänglich sind für die Präsenz und Interessen von anderen Frauen in der politischen Sphäre. Wie im vorigen Kapitel dargelegt, erkennen Wissenschaftlerinnen derzeitig die Ausbreitung der Frauenbewegung in periphere Landesteile und diskutieren eine mögliche Neuordnung des Verhältnisses zwischen Staat und Frauenbewegung. Insofern stellt sich die Frage, wie es um die Präsenz von Frauenorganisationen in Kommunen mit Bürgermeisterinnen bestellt ist: Sind diese Kommunalpolitikerinnen für politische Aktivistinnen und deren Anliegen offen, bzw. interessieren diese sich für Frauen in den lokalpolitischen Institutionen? Shireen Hassim zufolge reflektierten schließlich die Interventionen der Frauenbewegung die Bedeutung von spezifischen Politiken und der Beziehung zwischen gewählten Frauen und Wählerinnen.164 Goetz führt aus, dass der Erfolg des Interesses, Geschlechtergleichheit in der Politik zu erreichen, von drei hauptsächlichen Faktoren und ihren Interaktionen abhän163
Vgl. Goetz 2003, S. 5. „Deskriptive Repräsentation“ bedeutet, unabhängig von politischen Ideologien Frauen in die Politik zu bekommen, durch Mechanismen, die Frauenrepräsentation erreichen können. 164 Wie Shireen Hassim für Südafrika beschreibt, bezweifelten Frauenorganisationen die Idee, dass das formale Wahlrecht notwendigerweise zu besseren Politikergebnissen für Frauen führen wurde. Formale Mitgliedschaft in politischen Parteien und Befreiungsbewegungen hatten die politische Macht von Frauen zu keinem nennenswerten Grad erhöht. Jedoch wurde die erhöhte Repräsentation von Frauen in gewählten Ämtern und Forderungen nach größerer Sichtbarkeit von Frauenangelegenheiten in nationalen Politikdebatten von der Frauenbewegung als strategisch notwendig gesehen. Dies führte dazu, dass man so viele Frauen wie möglich ins Parlament bekommen wollte. Bei den Wahlen 1999 wiederum spielte die Qualität der Partizipation von Frauen wieder eine zentrale Rolle. Vgl. Hassim 2003.
74
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
ge: Von der Beschaffenheit der Zivilgesellschaft sowie dem Platz und der Macht der Lobby für Geschlechtergleichheit in ihr; von der Beschaffenheit des politischen Systems und die Organisation des politischen Wettbewerbs; von der Beschaffenheit und der Macht des Staates einschließlich des Status der Dezentralisierung. Inwieweit innerhalb dieses Rahmens in der lokalen ländlichen Gemeinde durch eine formalpolitische Entscheidungsträgerin Aktionen und Entscheidungen möglich und gewollt sind, um eine geschlechtergerechte Gemeinschaft zu schaffen bzw. anzustreben, ist eine der Kernfragen der nachfolgenden Analyse.
3.4
Lokale politische Partizipation
Auch wenn die lokale Politikebene gern als potentieller Raum für direkte politische Partizipation, für „wahre Demokratie“ gesehen wird, weist sie ihre eigenen Schwierigkeiten im Vergleich zur nationalen Politikebene auf 165. Mit dem Begriff der Dezentralisierung wird im Rahmen der Entwicklungsforschung auf die Bedeutung der Lokalpolitik für die Demokratisierung Bezug genommen: Durch Machttransfer zu den lokalen gewählten Verwaltungen, finanzielle Kontrolle, Verantwortung für Entwicklungsplanung und Managementkontrolle der lokalen Dienste solle größere Verantwortlichkeit der Bürger erreicht werden; es wird erwartet, dass dann eine verbesserte lokale Verantwortlichkeit für benachteiligte Gruppen und Regionen erreicht wird, sowie bessere Möglichkeiten für arme Gruppen, die lokale (Entwicklungs)-politik zu beeinflussen.166 Schließlich habe die lokale Verwaltung einen unmittelbaren Einfluss auf den Großteil der Bevölkerung, so dass davon ausgegangen wird, dass gerade Frauen von der Dynamik der verbesserten lokalen Verantwortlichkeit profitieren. Es scheine die implizite Annahme zu geben, dass Dezentralisierung ein wirksamer Weg sei, die politische Partizipation und Wirksamkeit von Frauen zu erhöhen, dass Frauen eher fähig sind, auf lokaler Ebene sich politisch zu betätigen, da sie in der Regel eingeschränkt sind bzgl. Zeit, Mobilität und finanzieller Ressourcen. Diese Annahme beruhe jedoch auf Erfahrungen im Westen, wo die Anzahl von Frauen in den lokalen Organen größer sei, lasse sich jedoch nicht unbedingt auf viele Teile der Dritten Welt übertragen. Patriarchale Einflüsse sind häufig auf der lokalen Ebene größer, auch kann die Möglichkeit der Frauenbewegung, Frauen in der Lokalpolitik zu unterstützen, durch Dezentralisierung fragmentiert sein. Dies scheint auch auf die Türkei zuzutreffen: Gerade in der Lokalpolitik spielen die informellen klientelistischen Strukturen unter Männern wie dargelegt eine zentrale Rolle; des weiteren wurde erst jetzt innerhalb von Teilen der 165 166
Vgl. Alkan 2005, Çukurçayır 2000. Vgl. Goetz 2003, S. 21.
3.4 Lokale politische Partizipation
75
Frauenbewegung thematisiert, wie Frauen jenseits der Metropolen überhaupt erreicht werden können.167 Ayten Alkan sieht als größten Vorteil für die Lokalpolitik, dass sie im Gegensatz zur nationalen Politikebene die Möglichkeit biete, im direkten Kontakt mit der Bevölkerung deren Probleme und Anliegen zu lösen. Sie führt aus, dass drei Funktionen der Kommunalverwaltung unterschieden werden können168: die Ausführung der lokalen öffentlichen Dienste, die Repräsentation der lokalen Bevölkerung und Partizipation an der Verwaltung. Frauen erführen ihre (städtische)169 Umgebung auf eine Weise, die abhängig sei von ihren geschlechtsspezifischen Identitäten und Rollen. Auch wenn Frauen und Männer in der gleichen Lebenswelt, aber auf unterschiedliche Weise leben, weil sie von unterschiedlichen Bedingungen umgeben seien, hätten sie andere Probleme und Erwartungen an die Kommunalpolitik; dies zöge nach sich, dass Frauen in dieser Situation spezifische Bedürfnisse haben, die sich auf die lokale (und städtische) Politik und Administration richten, so dass es nötig sei, eine geschlechtersensible Sicht auf lokalpolitische Themen und Prozesse einzunehmen, Gender Mainstreaming170 auf lokaler Ebene zu praktizieren, indem die allgemeine Politik durch eine „Sicht der positiven Diskriminierung“ betrachtet wird, d. h., dass die Erkenntnisse bzgl. unterschiedlicher Bedürfnisse von Männer und Frauen in der lokalen Politikagenda berücksichtigt werden müssten, eine „Politik aus Frauensicht“ etabliert werden müsse: Aufgrund ihrer Verantwortlichkeiten hätten die Kommunalverwaltung und lokalen Dienste eigentlich eine enge Beziehung zum täglichen Leben der Frauen. Nun gehe es darum, eine Antwort für die Fragen zu finden, wie man das spezifische Wissen von Frauen auf die Tagesordnung der Kommunalverwaltung 167
Fiona Macaulay jedoch zeigt hinsichtlich des lateinamerikanischen Kontextes, dass, wenngleich Frauen auf nationaler Ebene entmachtet wurden, indem sie innerhalb der Parteien und der nationalen Regierung von der „richtigen“ Politik ausgeschlossen wurden, sie in anderen subnationalen Sphären Fuß fassen konnten. Dabei habe der Dezentralisierungsprozess das Potential, geschlechterrelevante Politik und ihre Implementierung zu erreichen, doch auch wenn sich auf lokaler Ebene das Terrain von Macht und Politik verändere, sei Empowerment von Frauen abhängig von einer Reihe von Faktoren, wie dem strukturellen und institutionellen Kontext und dem Verhalten der Hauptakteure (Parteien, politische Eliten, Frauenbewegung) in lokalen Arenen. Sie analysiert in erster Linie die Rolle von Frauen in politischen Parteien und staatlichen Institutionen in urbanen Umgebungen in Chile und Brasilien. Vgl. Macaulay 1998, S. 87. 168 Alkan 2005, S. 58ff. 169 Ayten Alkan betont in ihren Ausführungen stets, dass sie sich auf städtische Umwelten bezieht. Ich denke jedoch nicht, dass ihre allgemeinen Ausführungen sich grundlegend von ländlichen Kommunen unterscheiden. 170 Ayten Alkan verwendet den Begriff „toplumsal cinsiyetin anapo-litikalara yerles¸ tirilmesi“, verweist darauf, dass auch andere Begriffe möglich sind: ana-akımlas¸ tırma, merkeziles¸ tirme, ana kurumsal yapılara yerles¸ tirme. Vgl. Alkan 2005, S. 59.
76
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
bringen könne, das weniger technisches Wissen und Ausstattung verlange, sondern es gehe darum, einen anderen Politikstil in der Kommunalpolitik zu schaffen.171
3.5
Partizipation und Empowerment
Schließlich ist zu überlegen, inwieweit bzw. ob die Existenz von Frauen in den lokalpolitischen Institutionen nicht nur der einzelnen Bürgermeisterin, sondern auch anderen Frauen als „geschlechtsspezifisch Repräsentierte“ lokalen Machtgewinn ermöglichen kann. In diesem Rahmen möchte ich den Empowermentbegriff hinzuziehen. Dabei ist wiederum im Auge zu behalten, dass die Berücksichtigung der konventionellen Bedeutung des Empowermentbegriffes nicht ausreicht, auch wenn zunächst wegen des Blickwinkels auf Frauen in den Institutionen dies nahe liegen würde, sondern ein weiter reichendes Verständnis des Begriffes, wie er in der feministischen Entwicklungsforschung verwendet wird, für diese Studie notwendig ist: “In the context of the conventional definition, empowerment must be about bringing people who are outside the decision-making process into it. This puts a strong emphasis on access to political structures and formal decision-making and, on access to markets and incomes that enables people to participate in economic decision-making. It is about individuals being able to maximise the opportunities available to them without, or despite, constraints of structure and State. (…) Feminist interpretations of power lead to a still broader understanding of empowerment, since they go beyond formal and institutional definitions of power, and incorporate the idea of ‘the personal as political’. From feminist perspective, interpreting ‘power over’ entails understanding the dynamics of oppression and internalised oppression. Since these affect the ability of less powerful groups to participate in formal and informal decision-making, and to exert influence, they also affect the way that individuals or groups perceive themselves and their ability to act and influence the world around them. Empowerment is thus more than simply opening up access to decision-making: it must also include the processes that lead people to perceive themselves as able and entitled to occupy that decision-making space (…).”172
Dieser erweiterte Empowermentbegriff umfasst drei Dimensionen: – eine Veränderung auf persönlicher Ebene, die mehr Selbstvertrauen und Unabhängigkeit bei Entscheidungen bedeuten. 171
Ayten Alkan untersuchte nicht nur empirisch diese (gewünschte) „geschlechtersensible Sicht“ auf die Lokalpolitik in den Kommunalverwaltungen von Ankara, sondern verfasste außerdem eine Broschüre der NGO KADER als eine Art Anleitung für die „frauenfreundliche Kommunalverwaltung“. Insofern ist sie auch praxisbezogen aktiv und versucht, in diesem Sinne pragmatisch Politikerinnen zu sensibilisieren für veränderte lokalpolitische Handlungsweisen. 172 Rowlands 1999 S. 143.
3.6 Empowerment und Frauen in der Türkei
77
– die Entwicklung der Fähigkeit, innerhalb von Beziehungen zu verhandeln und diese zu beeinflussen und zu entscheiden. – kollektive Veränderung durch Kooperation und Organisation politischer und sozialer Aktion. Idealerweise sollten demnach Frauen Selbstbewusstsein und Respekt gegenüber sich selbst gewinnen und durch den Prozess des Empowerments letztendlich einen Bruch mit dem existierenden Rollensystem vollziehen. Schließlich entwickelt dieser sich in einem gesellschaftlichen System mit festetablierten Normen bzgl. der Position der Frauen, mit formalen Ausbildungsprogrammen und anderen sozialen und kulturellen Institutionen, die die Geschlechterrollen für die Leben der Frauen festschreiben. Empowermentprozesse müssen demnach nicht durch politische Aktionen in Gang kommen, sondern können durch veränderte Diskurse und Wissen um die eigenen Rechte erreicht werden173. Im Rahmen dieser Arbeit ist nun ein etwas anderer Blick auf den EmpowermentBegriff von Interesse: – Inwieweit bewirkt für Lokalpolitikerinnen in der Türkei ihr politisches Engagement eine Situation des Empowerments? – Entwickeln sich durch die Wahl einer Frau im lokalen Kontext Prozesse kollektiven Empowerments? – Dabei möchte ich anknüpfen an Arbeiten, die Empowermentprozesse in der Türkei darstellen.
3.6
Empowerment und Frauen in der Türkei
In Zusammenhang mit den Bemühungen um Entwicklung in den Gebieten außerhalb der westtürkischen Metropolen, d. h. in erster Linie mit den östlichen und südöstlichen Provinzen fand der Empowermentbegriff Eingang in die Arbeit von Frauen-NGOs in der Türkei. Als Beispiel hierfür schreibt Filiz Kardam über Empowermentprozesse in Zusammenhang mit drei verschiedenen Projekten in Ankara und Diyarbakır. Sie will die Komplexität von Empowermentprozessen zeigen und darstellen, wie durch Empowerment-Trainingsprogramme von Frauenorganisationen sich das Gefühl von Macht und persönlicher Veränderung in Erfahrungen im privaten und öffentlichen Leben manifestieren. Seit Ende der 90er Jahre wurden Empowerment – Trainingsprogramme in Projekten diskutiert, die von Feministinnen initiiert wurden. Insbesondere partizipatorische Ansätze und die Frage, wie man 173
Craske 1999, S. 24.
78
3 Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment
Frauen ihre Potentiale bewusst machen kann, waren Inhalt der Diskussionen. Die Autorin beobachtete, dass Frauen in unterschiedlichen Programmen in ihren eigenen Worten ausdrückten, wie ihr Selbstbewusstsein sich entwickelte und wie ihre Kommunikation mit Familienangehörigen und mit anderen Personen sich verbesserte. Die eigene Stärke, die zuvor von Ehemännern, Kindern und Familie dominiert worden war, machte sich bemerkbar durch die Bereitschaft, die eigenen Rechte zu verteidigen und sich Nischen zu schaffen. Dadurch, dass die anderen getroffen werden, dass man Solidarität füreinander entwickelt, Verbindungen aufbaut, entsteht „Macht miteinander“. Das ultimative Ziel ist „Macht zu“, was bedeutet, dass Frauen zusammen agieren für eine Änderung der praktischen und strategischen Interessen. Normalerweise bedeute allerdings die Teilnahme an einem Trainingsprogramm nicht, dass Frauen zusammen mit anderen Frauen zu gemeinsamen Aktionen zusammen kommen. Dies erfordere einen anderen Kontext und es gebe kein Rezept für den Transfer an Stärke von persönlicher Ebene zur kollektiven Aktion. Filiz Kardam zufolge ist die Türkei kein Land, in dem die Stärke der lokalen Administrationen den Weg öffne für mehr aktive Partizipation seitens der Bevölkerung und der NGOs am Entscheidungsprozess. Auch wenn diese Aussage bzgl. der Mehrheit der Kommunen stimmen mag – ich möchte für die Thematik dieser Arbeit als Frage formulieren, ob nicht durch Frauen in lokalpolitischen Entscheidungsstrukturen sich lokale Machtverhältnisse ändern können. Von zentraler Bedeutung bzgl. des Zusammenhangs von Partizipation und Empowerment im Kontext der armen türkischen Bevölkerung ist Heidi Wedels Studie,, die die Politisierung von Gecekondufrauen in Istanbul untersucht. Wedel weist darauf hin, dass lokale Partizipation ein Moment des Empowerments darstelle: Auch wenn das Engagement von Frauen auf der lokalen Ebene aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, der reproduktiven Rolle der Frau hervorgehe, könne dies weitreichende Konsequenzen haben. Doch allein schon der Bewusstseinanstieg, die kritische Bewertung der herrschenden Politik an sich sei Teil der Politisierung. Durch lokale Aktionen gewännen Gecekondu-Frauen an Selbstbewusstsein, überwänden ihre Isolation und lernten, öffentlich zu reden. Als Hindernisse nennt Wedel für Gecekondufrauen den Mangel an formaler Bildung, Geld, Zeit, räumlicher Mobilität und Organisationserfahrung; ihre Befähigung, trotzdem politisch aktiv zu werden, zögen die Frauen aus ihrer räumlichen Nähe, dadurch, dass ihre Gassen öffentliche Frauenräume bildeten174. Problematisch sei Heidi Wedel zufolge, dass die durch informelle Netzwerke konstituierte Öffentlichkeit kaum den Rahmen von communities of place überschreite und deshalb die so tradierten hierarchischen Beziehungen weitergeführt werden. Eine Organisierung 174
Wedel 1999, S. 161ff.
3.6 Empowerment und Frauen in der Türkei
79
und Vernetzung auf höherer Ebene würde zudem dadurch erschwert, dass aufgrund ihrer stärkeren Betroffenheit und ihres speziellen Wissens lokale Aktionen überwiegend von Frauen getragen werden, welche schon auf Stadtteilebene aus politischen Organisations- und Entscheidungsprozessen ausgeschlossen seien. Angesichts der Ergebnisse Filiz Kardams und Heidi Wedels geht es nun also in dieser Arbeit darum, ob bzw. wie gerade durch aktive Partizipation von Frauen in der lokalen Verwaltung und durch eine mögliche Vernetzung auf höherer politischer Ebene, durch Partizipation an politischen Organisations- und Entscheidungsprozessen Empowerment von Frauen als potentielle Interessengruppe in einer ländlich geprägten Gemeinde in der Türkei über Öffentlichkeits- Privatheitsgrenzen hinweg erreicht werden kann. Forschungsleitend sind folgende Fragen im Zentrum der nachfolgenden empirischen Studie: – Lassen sich unter Berücksichtigung der bisherigen Kenntnisse lokaler geschlechtsspezifischer Strukturen frauenspezifische Öffentlichkeiten aufweisen, die wir als „Gegenöffentlichkeiten“ oder „kleine Öffentlichkeiten“ bezeichnen könnten? – Inwieweit können wir zwischen politischen und sozialen Öffentlichkeiten, bzw. zwischen formal politischen und informell politischen (Gegen-)Öffentlichkeiten unterscheiden? – Gibt es in der ländlichen Türkei Frauen, die die Dominanz der Männer in der allgemeinen Öffentlichkeit in Frage stellen und eigene Bedürfnisse, Ziele und Strategien formulieren? – Ändert sich die allgemeine Öffentlichkeit, wenn eine Frau in ihr eine Entscheidungsposition einnimmt? – Entstehen für Frauen durch eine Bürgermeisterin neue Wege der lokalen Partizipation, oder bleiben sie wegen der patriarchal konstruierten, geschlechtsgetrennten Gesellschaft ausgeschlossen aus formalpolitischen Bereichen?
4
Kommunalpolitik jenseits der Metropolen
Nachfolgend möchte ich die Rahmenbedingungen türkischer Politik, insbesondere auf kommunaler Ebene, kurz darstellen, in denen sich die Prozesse der lokalpolitischen Partizipation von Frauen, die Gegenstand der nachfolgenden Studie sind, vollziehen. Dabei stehen die drei Faktoren Staat, politisches System und Zivilgesellschaft hinsichtlich lokaler Räume im Zentrum des Interesses. Zunächst möchte ich erklären, wie die Begriffe „jenseits der Metropolen“, „Zentrum – Peripherie“, „ländlich geprägt“ zu verstehen sind, d. h. ich möchte die lokalen Räume, um die es nachfolgend geht, definieren. Dabei geht es nicht zuletzt auch darum, wie in der Literatur auf sozialpolitische Konflikte und Spaltungen in der Bevölkerung, zwischen Regionen und Schichten und den Stand der Demokratisierung in der Türkei eingegangen wird. Anschließend stelle ich die Charakteristiken des politischen Systems und des lokalpolitischen Wettbewerbs dar, d. h. in erster Linie bezogen auf das Parteiensystem und die Kommunalwahlen. Außerdem erkläre ich das administrative System, d. h. die Präsenz des Staates auf kommunaler Ebene und sein Verhältnis zum politischen System. Schließlich erläutere ich die „frauenpolitische Landschaft“ in Hinblick auf ihren Einfluss jenseits der Metropolen.
4.1
Zentren und Peripherien der Türkei: Die Metropolen und „der Rest“?
Im Zentrum dieser Arbeit stehen Kommunen in der Türkei, die die Gemeinsamkeit aufweisen, nicht zu den „städtischen Zentren“ zählen, sondern sie sind kleine, ländliche Gemeinden, kleinere Städte in Regionen, die abseits der Wirtschaftszentren der Türkei liegen, oder Siedlungen an der Peripherie der Provinzstädte, die den MigrantInnen aus den Dörfern Zuflucht infolge des Konfliktes zwischen Armee und PKK boten. Als alternative Bezeichnungen, die all diese Kommunen umfassen, wären die Adjektive „ländlich geprägt“ oder auch „peripher“ denkbar, neben der Gemeinsamkeit „abseits der Metropolen“ oder „abseits der städtischen Zentren gelegen“. Alle Begriffe sollten jedoch für sich genommen erläutert werden, da sie allesamt zweideutig sein können. Als „städtische Zentren“ der Türkei können die drei „Metropolen“ Istanbul, Ankara und Izmir bezeichnet werden. Den Metropolenbegriff für diese drei Städte zu verwenden, ist erklärungsbedürftig: Heidi Wedel rechtfertigt ihn damit, dass sie A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/ 978-3-531-93113-5_ 4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Glossar
Agˇa: Notabler Apartman: Türkei-typisches Hochhaus As¸ iret: Stamm As¸ iretçilik: „Tribalismus“ Belediye: Kommunalverwaltung GAP: Güneydogˇu Anadolu Projesi, das Südostanatolienprojekt, wurde in den Achtziger Jahren gegründet. Ziel ist die Entwicklung der sozial und ökonomisch benachteiligten südostanatolischen Region; hierzu gehört in erster Linie die landwirtschaftliche und industrielle Entwicklung durch den Bau mehrerer Staudämme entlang der Flüsse Euphrat und Tigris. Dieses Vorhaben sorgte in mehrfacher Hinsicht für Probleme: Viele Dörfer mussten umgesiedelt werden, Kulturstätten wie Zeugma und Hasankeyf wurden bzw. werden überschwemmt, die landwirtschaftliche Nutzung der Gegend zieht eine ökologische Katastrophe nach sich infolge der Verwendung von Pestiziden und Düngemitteln. Regionale Konflikte mit den arabischen Nachbarstaaten drohen sich zu verschärfen durch die intensive Nutzung des Wassers von Euphrat und Tigris. Gecekondu: „über Nacht gebaut“. Informelle Siedlungen, die von BinnenmigrantInnen in Eigenarbeit auf besetztem Land errichtet wurden. Der Begriff lässt sich auf ein osmanisches Gewohnheitsrecht zurückführen, nachdem ein Haus, das „über Nacht“ auf öffentlichem Boden errichtet wurde, nicht mehr abgerissen werden darf. Kahve: Kaffeehaus/ Teehaus Kemalismus: Staatsideologie der Türkei. Der Begriff bezieht sich auf die Ideen Mustafa Kemal Atatürks, des Gründers der türkischen Republik. Sechs Prinzipien kennzeichnen dabei den Kemalismus: Republikanismus, Nationalismus, Etatismus, Populismus, Revolutionismus und Laizismus. Der Kemalismus bestimmt weiterhin das politische, kulturelle und religiöse Leben in der Türkei. A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/ 978-3-531-92760-2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
4.1 Zentren und Peripherien der Türkei: Die Metropolen und „der Rest“?
83
stand die Marmararegion an erster Stelle, was den Index für sozioökonomische Entwicklung der geographischen Regionen betrifft – was nicht weiter verwunderlich ist angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung Istanbuls, Izmits und Bursas. Doch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in der Marmararegion abgelegene, traditionelle Dörfer gibt, die in erster Linie von Subsistenzproduktion leben, und natürlich Gecekonduviertel an den Peripherien der Großstädte. An zweiter Stelle steht die Ägäis mit der Metropole Izmir, gefolgt von Zentralanatolien, der Region um die Hauptstadt Ankara. Weit zurück liegen dagegen die Schwarzmeerregion, Südostanatolien und Ostanatolien, Regionen, aus denen große Teile der Bevölkerung in den Westen wanderten. Wegen der Bedeutung der landwirtschaftlichen Entwicklung in der GAP-Region hatte Südostanatolien allerdings in den neunziger Jahren die zweithöchste wirtschaftliche Wachstumsrate in der Türkei.179 Die Bedeutung der Landwirtschaft als Produktionsgrundlage einer Gemeinde könnte ein Kriterium sein, das den Begriff „ländlich geprägt“ erläutert. Schließlich leben auch in den peripheren Vierteln der Großstädte die Bewohner häufig von der landwirtschaftlichen Produktion (mitunter neben weiteren Einnahmequellen), sei es durch die Bewirtschaftung der Felder im Ursprungsdorf, sei es durch Tierhaltung in der Stadt. Des Weiteren spielen die sozialen Lebensverhältnisse der Menschen eine Rolle für das Verständnis des „Ländlichen“: Familienbande und dörfliche/ nachbarschaftliche/ Viertel-Gemeinschaft prägen das soziale Leben.180 Außerdem weisen einige soziale Indikatoren auf Unterschiede zwischen „Stadt“ und „Land“ hin: So ist die Fertilitätsrate in ländlichen Gebieten sehr viel höher als in städtischen Regionen; in den östlichen Regionen ist außerdem die Fertilitätsrate höher als im gesamttürkischen Durchschnitt181. Schließlich beschäftigte auch die Politologen die Unterscheidung von „Stadt“ und „Land“, von „Zentrum“ und „Peripherie“. Eine Reihe von AutorInnen beschreiben die Zusammenhänge der türkischen Politik anhand des theoretischen Rahmens Zentrum-Peripherie182. Die Vorstellung, dass die Gesellschaft ein „Zentrum“ habe, in dem sich Werte und Glauben sowie Aktionen sammeln und das beinahe den Charakter von etwas „Heiligem“, einer „Religion“ habe, entspricht der herkömmlichen Bedeutung, die der kemalistischen Elite gegenüber den „islamorientierten ländlichen Massen“ gegeben wird. Als Inbegriff dieser kulturellen Spaltung werden die Wahlen von 1950 interpretiert, in denen „die 179
Vgl. Elmas 2004, S. 6ff. Vgl. Strasser 1995, Straube 2002. 181 Während die Fertilitätsrate in der Türkei im Jahre 2000 bei 2,57 lag, lag sie in der GAPRegion bei 4,07%. Vgl. Elmas 2004, S. 8. 182 Esmer/ Sayarı 2002 S. 3; Tachau 2002, Sayarı 2002, Çarkogˇlu/ Avcı 2002. 180
84
4 Kommunalpolitik jenseits der Metropolen
Peripherie über das Zentrum gesiegt“ habe183, wie auch in folgender Darstellung der historischen Bedeutung der Wahlen deutlich wird: “A very insightful approach points to the cleavage between the center and the periphery, which has characterized Turkish society since the days of the Ottoman Empire. This approach highlights the historic significance of the 1950 election. It was a ‘greening’ election in which rural interests burst onto the political stage in full force, threatening to end the traditional control of the system by the centrist elite. But this was not a simple one-dimensional change in which one political elite displaced another. The DP differed from the CHP principally in that it relied on the support of masses of rural and other voters on the periphery rather than the traditional power and prestige of the state-based civil and military bureaucracy.”184
Diese Darstellung einer Dichotomie zwischen europäisch-westlicher Staatselite und den anatolischen bäuerlichen Massen wird immer wieder gern angeführt, um die politischen Verhältnisse in der Türkei zu erklären: In ähnlicher Weise wurde die Wahl 2002, in der die AKP als neue –„weiße“ – Partei an die Macht kam, u. a. als „eine Revolte des verarmten Anatoliens gegen die alte politische Garde“ bezeichnet. Die Veränderungen in Gesellschaft und Politik lassen sich jedoch nicht so einfach in dieses Schema einfügen: infolge der Binnenmigration änderten sich die Siedlungsverhältnisse grundlegend; die angenommenen Zentrum-Peripherie-Verhältnisse lassen sich geographisch und sozial nicht (mehr) polarisierend fassen. Die „Metropolen“ änderten sich durch die Einflüsse der ländlich geprägten Lebensweise der BinnenmigrantInnen, die Dörfer entwickelten durch die StadtmigrantInnen und die Modernisierung des Landes engere Beziehungen zu den Städten. Des weiteren sind die „ländlichen Massen an der Peripherie“ weit heterogener, als Tachaus Ausdrucksweise annehmen lässt. Nicht nur die politischen Verhältnisse auf dem Land sind wesentlich vielschichtiger – beispielhaft erläutert Horst Unbehaun die politischen und sozialen Verwicklungen infolge von Ortsansässigen und Zugewanderten in einer ländlichen Region; auch schildert Hanne Straube die ethnische und religiöse Vielfalt der ägäischen Gegend, in der sie für ihre Studien im Dorf lebte.185 Als eine Alternative zum „Zentrum-Peripherie-Ansatz“ gilt in der Literatur der „Protestwahlansatz“186, um den Aufstieg der religiösen und nationalistischen Kräfte zu verstehen, der aber gewissermaßen eine Variation des Zentrum-Peripherie-Ansatzes darstellt: Die Zugehörigkeit zu ökonomisch und sozial unterprivilegierten Gruppen habe Wähler in den neunziger Jahren religiös orientierte Parteien wie die RP 183
Tachau 2002. Die Wahlen 1950 waren die ersten nach der Einführung des Mehrparteiensystems. 184 Tachau 2002, S. 39. 185 Straube 2002. 186 Vgl. Esmer 2002; Çarkogˇlu/ Avcı 2002.
4.1 Zentren und Peripherien der Türkei: Die Metropolen und „der Rest“?
85
oder die FP187 sowie kurdische Parteien wie HEP, DEP und HADEP188 unterstützen lassen, dies reflektiere Unzufriedenheit und Desillusionierung mit den etablierten Parteien189. Das Problematische an diesem Ansatz ist, dass er weiterhin ein „Zentrum“ definiert, das islamorientierte oder kurdische Identitäten quasi ausschließt – lediglich marginalisierte Gruppen ohne ökonomische Stärke oder Sozialprestige würden demnach „Protestparteien“ wählen. Auch wenn die islamorientierten Parteien seit den neunziger Jahren sich als „Antisystemparteien“ und Herausforderinnen der kemalistischen Staatseliten bezeichnen lassen, boten sie sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen Raum, die im etablierten politischen System und im Staatsapparat sich nicht vertreten fühlten: Dazu gehörten und gehören islamorientierte konservative Intellektuelle und Geschäftsleute, StudentInnen und junge AkademikerInnen; besonders Frauen organisierten und organisieren sich innerhalb dieser Parteien190. So sollte die Bedeutung dieser „Protestparteien“ im Zusammenhang mit den „allgemeinen“ politischen Krisen in den 90er Jahren gesehen werden, mit der schwachen Verwurzelung der (damals) etablierten Parteien in der Gesellschaft, Korruption und Personalismus, der wirtschaftlichen Krise. Auch wenn die Wahlkämpfe 1995 und 1999 von der Frage dominiert wurden, wie Laizismus und Einheit der Nation als Basis der kemalistischen Republik gegen die wahrgenommenen islamistischen und kurdischnationalistischen Bedrohungen geschützt werden könnten, zeigte sich schließlich bei der Wahl 2002, dass die Bevölkerung genug hatte von den „alten“ Eliten: Nicht Staat und Sicherheit, sondern Gesellschaft und ihr Wohlstand standen als Themen im Mittelpunkt der Wahl191. Ziya Önis¸ und Fuat Keyman bezeichnen die Wahlen 2002 als „a peaceful, democratic expression of the deep anger felt by Turkish Voters toward a political establishment known more for economic populism, clientelism, and corruption than for democratic accountability“192. 187
Die Refah Partisi, die 1995 stärkste Partei im türkischen Parlament wurde, und ihre Nachfolgepartei Fazilet Partisi gelten als Vorgängerparteien der AKP und der SP. Zu der Problematik, inwieweit die RP als islamistische, konservative oder extremistische Partei, als „Antisystempartei“ oder als „erste moderne Massenpartei der Türkei“ (Kramer) gelten kann, vgl. Kramer 2000, Taxer 2001. Yes¸ ilada 2002. Zur Organisation dieser islamorientierten Parteien auf lokaler Ebene vgl. Yes¸ ilada 2002, Akıncı 1999. 188 Zur Entwicklung der kurdischen Parteien vgl. Strohmeier/ Yalçın-Heckmann, Güney 2002. 189 Vgl. Akıncı 1999, Kramer 2000, Taxer 2001, Sayarı/ Esmer 2002. 190 „Frauen werden (in der RP) als Teil der öffentlichen Sphäre gesehen, ihre Bedeutung für die Bewegung wird betont und wertet sie als gesellschaftliche Subjekte auf. Frauen sind zugleich die Stimme des Volkes’, diejenigen, die ,die Bedürfnisse des Volkes am besten kennen‘. Aber wie das Volk insgesamt so haben auch die Frauen sich dem unterstellten Konsens unterzuordnen.“ Dufner 1998, S. 255. 191 Önis¸ / Keyman 2003, S. 178. 192 Önis¸ / Keyman 2003, S. 177.
86
4 Kommunalpolitik jenseits der Metropolen
Diese gesellschaftlich-politischen Spannungen um die Jahrtausendwende nannte Hakan Yavuz einen Konflikt zwischen einer „neuen“ und einer „alten“ Türkei : “The conflict between the ‘old Turkey’ represented by the Kemalist establishment, and the ‘new Turkey’, represented by civil society, will not be solved through elections alone but rather, through the establishment of a new and more inclusive ‘social contract’ that addresses the cultural diversity of Turkish society.”193
In eine ähnliche Richtung argumentierte Dogˇu Ergil mit seiner Forderung nach einem „neuen Sozialvertrag“: Politische Veränderungen müssten öffentlich verhandelt werden und nicht der Gesellschaft übergestülpt werden, damit das Land seine eigens produzierten Konflikte, seine Isolation und seinen Authoritarismus überwinden könne.194 Auch wenn „Wahlen allein nicht den Konflikt lösen“, so sind sie dennoch ein Zeichen für den Grad der Verhandlungen zwischen Gesellschaft und politischem System und signalisieren mögliche Veränderungen. Ein weiteres Zeichen bot zu dieser Zeit die positive Hervorhebung des Einflussfaktors Zivilgesellschaft, die meist als Gegenpol zum autoritären Staat und zum korrupten politischen System dargestellt wurde, wie auch die Rede Hakan Yavuz’ von einer „neuen“ Türkei zeigt. Zentral dabei ist jedoch, denke ich, dass durch die positive Besetzung des Zivilgesellschaftsbegriffes sowohl in der Gesellschaft als auch in der türkischen Wissenschaft nicht mehr als alleiniges Paradigma das der „westlich-säkularen Elite“ gegen die „islamischen anatolischen Massen“ verwendet wird, sondern der (Zivil)-Gesellschaft mehr Gewicht verliehen wird, wodurch unterschiedliche Gruppierungen, d. h. islamisch orientierte, alevitische, kurdische, feministische,westlich orientierte, kemalistische usw. als gleichrangig angesehen werden. Diese Sichtweise spiegelt sich auch weitestgehend in den Beurteilungen der Wahlen 2007 wieder: Nachdem die Wahlen 2002 schon als „Umsturz der alten Verhältnisse“ gefeiert wurde, wurden die Wahlen 2007195 als „Konsolidierung der ,neuen‘ Türkei“, als „Geburtstag der zweiten türkischen Republik“ interpretiert: 193
Yavuz 1999, S. 115. Ergil 2000. 195 Am 22. 7. 2007 wurde in den Parlamentswahlen abermals die AKP mit Abstand (46,6%) zur stärksten Partei in der Nationalversammlung gewählt. Am 28. 7. 2007 wurde Abdullah Gül zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Alle wichtigen Staatsämter werden nun von Vertretern einer Partei besetzt, die sich aus dem politischen Islam entwickelt hat. Den vorgezogenen Neuwahlen war eine Staatskrise vorausgegangen, nachdem Außenminister Abdullah Gül wegen der Opposition des kemalistischen Establishments nicht zum Staatspräsidenten gewählt werden konnte. Für Aufregung sorgte während der Krise die Ankündigung der Einmischung seitens des Militärs auf ihrer Internetseite, um die Etablierung eines „nichtsäkularen Staatspräsidenten“ zu verhindern, was in der Presse als „Internetputsch“ bezeichnet wurde. Zu den Wahlen und den politischen Spannungen vgl. Balkir 2007, Çarkogˇlu 2007, Jenkins 2007, Kramer 2007, Öktem 2007, Shankland 2007, Tas¸pınar 2007, Turan 2007. 194
4.1 Zentren und Peripherien der Türkei: Die Metropolen und „der Rest“?
87
“The Turkey that is emerging from the July 22 elections is less beholden to the military-civilian elite that drove modernization from above, but is more diverse, more inclusive and, dare one say it, more modern.”196
Ministerpräsident Tayyip Erdogˇan bezeichnete nach der Wahl seine Partei als „im gesellschaftlichen Zentrum etabliert“, und in der Tat konnte sie als einzige Partei in allen Regionen sich verwurzeln, Kurden und Türken an sich binden, außerdem unter Aleviten Anhänger mobilisieren197 und unter Menschen aller sozialen Klassen erfolgreich sein.198 Heinz Kramer spricht von einer „neuen Mitte“ in einer „nachkemalistischen Ära“: Eine oberflächliche Betrachtung der politischen Veränderungen 2007 könnte diese zwar als Indiz für eine stärkere Islamisierung des Landes deuten, jedoch werde verkannt, „dass der Sieg der AKP bei den Parlamentswahlen weniger als Ausgang des Streits zwischen Säkularisten und Religiös-Konservativen um die .richtige Republik‘ zu deuten ist, sondern viel stärker dem Wunsch breiter Massen nach Fortsetzung einer Politik Ausdruck gab, die sie in den vergangenen Jahren als erfolgreich empfunden haben.“199 Die AKP habe sich als führende politische Kraft etablieren können, da sie nicht nur unter den Religiös-Konservativen und den Bewohnern der Gecekondus ihre Anhänger hat, sondern im städtischen Mittelstand, unter den religiösen Minderheiten und in den kurdischen Gebieten Wähler mobilisieren konnte.200 Die Wandlung einer Partei mit Wurzeln im Islam zu einer „konservativ-demokratischen Partei“ oder auch einer „türkisch-muslimischen CDU“201 bedeutet ein Stück weit die Überwindung der tiefen gesellschaftlichen Gegensätze. Als Partei, die im politischen Islam wurzelt, wird die Partei nun gern als Prüfstein für die friedliche, demokratische, gesellschaftliche Einflussnahme in einem muslimisch geprägten Land dargestellt, aufbauend auf einer tief in der Gesellschaft verankerten Struktur. Die stärkste Oppositionspartei CHP, die als älteste Partei der Türkei eigentlich sich strikt zum kemalistischen Staat bekennt, wird Heinz Kramer zufolge weiter an Unterstützung verlieren, wenn sie sich nicht personell und inhaltlich erneuere. Selbst in den südlichen und westlichen Küstenregionen, wo sie traditionell stärkste Kraft ist, hatte sie große Wählerverluste. Die kurdischen Parteien, d. h. zum Zeitpunkt der Feldforschung die DEHAP, zur Zeit ihre Nachfolgerin DTP, konnte mit 21 Abgeordneten, die als unabhängige KandidatInnen kandidiert hatten, als erste Kur196
Öktem 2007. Traditionell wählen Aleviten linke Parteien und waren in Opposition zu den sunnitisch geprägten islamorientierten Parteien. 198 Öktem 2007. 199 Kramer 2007, S. 1f. 200 Kramer 2007, S. 3. 201 Vgl. Hale 2005, Tepe 2005. 197
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4 Kommunalpolitik jenseits der Metropolen
denpartei eine Fraktion im Parlament stellen. Weiterhin findet ein innerparteilicher Machtkampf zwischen gemäßigten und radikalen Mitglieder statt, dessen Ausgang entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Kurdenkonflikts haben wird. Mitte-Rechts-Parteien wie DYP oder ANAP spielen derzeit auf nationaler Ebene keine Rolle, können aber auf lokaler Ebene einige Kommunen regieren. Das „Ende der traditionellen Mitte“, d. h. das Scheitern der rechten Mitte (ANAP und DP/ DYP) und der linken Mitte (DSP und SHP) geht einher mit einer Neukonstituierung innerhalb der AKP und der Reetablierung des türkischen Nationalismus (CHP und MHP) und des kurdischen Nationalismus (DTP). Die Parteien, die von kemalistischer Seite gern als Gefahr für den türkischen Staat gesehen werden, nämlich die kurdisch orientierten und islamorientierten Parteien, bieten heute Frauen für türkeipolitische Verhältnisse im Gegensatz zu den etablierten Parteien recht viel Raum: In der DEHAP bzw. der jetzigen DTP konnte eine Frauenquote durchgesetzt werden, in der AKP sind die Frauen sehr gut organisiert, wenngleich sie es bis zu den nationalen Wahlen im Juli 2007 nicht schafften, in großer Zahl als Kandidatinnen nominiert zu werden. Im Rahmen dieser makropolitischen und makrogesellschaftlichen Entwicklungen geht es nun aber um die Lokalpolitik. Für die lokalen Kontexte dieser Studie halte ich die Verwendung der Begriffe „Zentrum“ und „Peripherie“ insoweit für angebracht, wenn sie nicht in einer extremen Polarität gedacht werden: Die „Metropolen“ etwa haben auch „Peripherien“ innerhalb ihrer Stadtgrenzen, Gecekonduviertel etwa, in denen sozial marginalisierte Bevölkerungsgruppen leben; ebenso können Städte, die im Gesamtkontext Türkei peripher gelegen sind, was die sozialen, geographischen und wirtschaftlichen Bedingungen betrifft, regionale Zentren sein. Trotz allem meine ich mit „Peripherie“ im Kontext der untersuchten Gemeinden ihre Lage „jenseits der Metropolen“, doch eingebunden in die aktuellen soziopolitischen Transformationsprozesse; die große Mehrheit der WählerInnen der derzeitigen Bürgermeisterinnen leben in ländlich geprägten Gegenden in eher schwachen ökonomischen Verhältnissen.
4.2
Klientelismus und As¸ iretçilik
Wie ich schon kurz darlegte, wird die türkische Gesellschaft weiterhin durch klientelistische Beziehungen geprägt. Was bedeutet dies aber konkret für politische Prozesse auf der lokalen Ebene? Horst Unbehaun gibt hierauf detailliert Antwort bzgl. der Kommunalpolitik in einem ägäischen Kreis. Während am Beispiel Datças nachvollzogen werden kann, wie der Einfluss lokaler Notabler zurückgedrängt wurde, ist im Südosten und Osten der Türkei die Gesellschaft weiterhin durch Stammesstrukturen und Feudalismus geprägt:
4.2 Klientelismus und As¸ iretçilik
89
„Mit Regierungsbeamten befreundet zu sein, ist in der Türkei nicht der einzige Weg für Aghas, vom Staat Macht abzuzweigen. (…) Einige Provinzen sind so klein, dass die Zahl der vom persönlichen Gefolge mancher Aghas oder Scheichs … abgegebenen Stimmen ausreichen kann, sie ins Parlament zu bringen. Sind sie einmal im Parlament, haben sie die Möglichkeit, für ihre Anhänger viel zu tun. Beispielsweise können sie sicherstellen, dass Straßen, Bewässerungsanlagen, Wasserleitungen, Elektrizität, Schulen und begehrte, rare Güter eher in die Dörfer ihrer Anhänger kommen als andere. Ihren Einfluss als Parlamentarier in der Hauptstadt nutzen sie, um sich der rechtlichen (und geschäftlichen) Interessen ihrer Anhänger anzunehmen. (…) Parlamentsmitglieder wie Bürgermeister haben auf Grund ihrer Stellung große Möglichkeiten, die eigene lokale Machtposition zu verbessern. Aus diesem Grund ist die Zeit des Wahlkampfes eine Phase verstärkten politischen Kampfes. Schlafende Konflikte werden neu belebt, brechen aus, traditionelle Rivalitäten erhalten frische Impulse. Die kurdische Gesellschaft scheint in solchen Zeiten verstärkten ,Stammescharakter‘ anzunehmen.“202
Nachdem Martin van Bruinessen schon in den siebziger Jahren davon ausgegangen war, dass die Stammesstruktur in bedeutendem Maße durch die Art und Weise der Interaktion mit dem Staat bestimmt sei und dass die zunehmende direkte staatliche Einmischung in die kurdische Peripherie zur ,Retribalisierung‘ führen werde, habe sich dies mittlerweile als richtig herausgestellt: Heute scheine die kurdische Gesellschaft „tribaler“ geworden zu sein, weit mehr von Stammesverhältnissen geprägt. Dennoch sei im Allgemeinen die Macht der Stammesführer geringer als früher, doch würden es viele Beamte nach wie vor vorziehen, mit ihnen zu verhandeln als sich direkt an die Bevölkerung zu wenden: Zumindest indirekt stütze der Staat wie schon in der Vergangenheit daher die Stellung der Aghas203, die gerade unter Migranten weiterhin Macht ausüben können: „Die Migranten vom Land haben unterschiedliche Bindungen und Erwartungen an das städtische Leben. Viele Landlose oder Vertriebene bedienen sich weiter der Beziehungen zu mächtigen Agˇa- oder Scheichfamilien oder sie suchen die Unterstützung von Personen in Machtpositionen, welche städtische oder staatliche Leistungen für sie ,anzapfen‘ können. Migranten sind besonders offen für Einflüsse klientelistischer und religiöser Personen und Interessengruppen und schwer zugänglich für eine Parteipolitik, die sich nicht auf solche Dienstleistungen und protektionistischen Angebote einlassen will.“204
Innerhalb einiger politischer Parteien ist das Patronage- und Klientelsystem besonders ausgeprägt, Erhard Franz nennt insbesondere die ANAP, CHP und DYP: Es existierten ausgedehnte, untereinander rivalisierende Netzwerke zu regionalen bzw. ethnischen Gruppierungen sowie zu Klangruppen in Ostanatolien205. Stam202
Bruinessen 1989, S. 345. Bruinessen 1989, S. 343. 204 Strohmeier/ Yalçın-Heckmann 2003, S. 184. 205 Franz 2003, S. 11. 203
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4 Kommunalpolitik jenseits der Metropolen
mesloyalitäten zerschneiden auch ethnische Identitäten und Loyalitäten, rivalisierende Stämme tendieren traditionell für unterschiedliche Parteien. Dort, wo Stammessolidarität stark ist, spaltet die Politik oberhalb der ethnischen Gruppenidentitäten, die Führer der starken kurdischen Stämme sind gut integriert in den Mainstream der türkischen Gesellschaft und Politik.206
4.3
Die Reform der lokalen Administration
Ein wesentlicher Bereich im politischen und staatlichen System, der im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen dem Reformprozess unterworfen wird, ist die Neustrukturierung der kommunalen Administration. Während die Veränderungen auf nationaler Ebene auch in der europäischen Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wie etwa die Eindämmung des Einflusses des Militärs auf den politischen Entscheidungsprozess oder die Reformierung des Justizbereiches, vollzieht sich die Reformierung des Staates auf unterer Ebene gleichsam unbeobachtet. Dabei ist die Frage, inwieweit es gelingt, Demokratie und Rechtsstaat im alltäglichen, praktischen Handeln im letzten Winkel Anatoliens durchzusetzen, und die wirtschaftliche Entwicklung auch hier zu erreichen, die entscheidende für die Einschätzung des Gelingens des Reformprozesses. Es stellt sich die Frage, wie das „alte System“ auch im Lokalen durchbrochen, die wirtschaftliche und politische Macht der „alten Eliten“ überwunden werden kann; inwieweit die Kommunalverwaltungen diejenigen Akteure werden, die sich im reformierten politischen System mit neuen Kompetenzen und Aufgaben als Rückgrad der Demokratisierung etablieren könnten. Bisher dominierte der zentralistische Staat auch im Lokalen, verfügten die gewählten Kommunalverwaltungen über wenig Handlungsspielraum. Auch wenn von allen Seiten her die neuen Regelungen als nicht umfassend kritisiert werden, finden sich in den lokalen Verwaltungen Ansätze direkter Demokratie und Ideen, mehr Bürgerbeteiligung zu erreichen.
4.4
Struktur und Aufgaben der Verwaltung
Das administrative System in der Türkei besteht zum einen aus der Zentralverwaltung (merkez yönetimi), zum anderen aus der kommunalen Selbstverwaltung (yerel yönetim). Die Zentralverwaltung umfasst die Hauptstadt- und Provinzorganisation 206
Günes¸ -Ayata/ Ayata 2002.
4.5 Die Kommunale Selbstverwaltung
91
und ist der Exekutive zugeordnet, d. h. diese verfügt über ein dichtes Organisationsnetz in der Provinz zur Durchsetzung der zentralen Staatsmacht.207 Ich beschränke mich im Folgenden auf eine kurze Darstellung der Verwaltungsstruktur auf Provinzund Kommunalebene. Die Zentralverwaltung unterteilt das Land in 81 Provinzen (il), diese wiederum sind unterteilt in Bezirke und Kreise. Eine Provinz wird einem Provinzgouverneur (vali) unterstellt, der in dem Provinzhauptort (il merkezi) amtiert und der den Staat auf Provinzebene repräsentiert. Er wird vom Innenminister vorgeschlagen, vom Kabinett ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Er hat zur Aufgabe, Gesetze und Regierungsentscheidungen auf Provinzebene umzusetzen und hat für öffentliche Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches liegen die Militärbehörden, rechtliche Anstalten und die kommunalen Einrichtungen. Ihm zur Seite stehen Provinzvertretungen einiger Ministerien, denen „Provinzverwaltungsdirektoren“ (il s¸ ube müdürü) vorstehen, die wiederum zusammen mit dem Gouverneur den Provinzialrat (il yönetim kurulu) bilden. Eine Provinz besteht aus mehreren Bezirken oder Kreisen (ilçe), deren Hauptorte (Kreisstädte) mindestens 10000 Einwohner haben sollten208. Derzeit gibt es 850 Kreise, denen als Vertreter der Zentralverwaltung der Landrat (kaymakam) vorsteht und der wiederum, ähnlich wie auf Provinzebene, durch einen „Bezirksrat“/ „Kreisrat“ unterstützt wird. 1987 erhielten 10 osttürkische Provinzen eine Militärverwaltung mit Sonderbefugnissen gegenüber der lokalen Verwaltung. In acht Provinzen im Südosten wurde außerdem eine zweite „Regionale Entwicklungsverwaltung“ eingesetzt im Rahmen des GAP-Projektes zur Durchsetzung der entwicklungspolitischen Ziele in dieser Region. Während bis heute die Provinzbehörden der Zentralverwaltung weit mächtiger sind als die kommunale Selbstverwaltungen, lässt sich nun im Zuge des EU-Prozesses eine gegenläufige Initiative erkennen, die die Kommunen stärken soll.
4.5
Die Kommunale Selbstverwaltung
Während die Zentralverwaltung auf Provinz- und Kreisebene vertreten ist und behördliche Niederlassungen der Ministerien umfasst, beinhaltet das System der Kommunalverwaltungen drei Ebenen: die Provinzsonderverwaltung, die „Stadtverwal207 208
Esen 2005, S. 7. Dies trifft allerdings auf viele Kreiszentren nicht zu. Bspw. Dogˇankent in der Provinz Giresun, das zum Sample dieser Arbeit gehört, hat weniger als 4000 Einwohner.
92
4 Kommunalpolitik jenseits der Metropolen
tung“ (belediye) und die „Dorfverwaltung“, in Großstädten gibt es zudem die „Großstadtverwaltung“. Aufgabe der Kommunalverwaltung ist die „Erfüllung der gemeinschaftlichen örtlichen Bedürfnisse in den Provinzen, den Gemeinden und den Dörfern“.209 Unter diesen drei Verwaltungsbereichen gibt es keine hierarchische Abhängigkeit. Die Reform der Kommunalverwaltungen gehörte stets zu den heiß diskutierten Bereichen in der türkischen Politik, zwischen Regierung und Opposition, Zentralregierung und lokaler Verwaltung, zwischen unterschiedlichen politischen Lagern. Im Rahmen der Lokalpolitik bestimmten einerseits klientelistische Beziehungen und Verteilungskämpfe um finanzielle Ressourcen, die politischen Verhältnisse in Ankara, andererseits mischte die nationale Ebene stets eifrig die Karten für die Machtverteilung im Lokalen.210 Die Provinzsonderverwaltung Die Provinzsonderverwaltungen befinden sich stets in den Provinzhauptorten, sie umfasst die Provinzversammlung als Vertretung der Bezirke und den Gouverneur als Vertreter der Zentralregierung, d. h. sie soll die kommunale und die zentrale Verwaltung miteinander verknüpfen. Esen vergleicht die türkischen Provinzen diesbezüglich mit den französischen départments.211 Die belediye Die belediyeler stehen im Zentrum dieser Studie. Sie werden nicht nur als die „wahren Selbstverwaltungen“ angesehen, „die Stadtverwaltungen zählen auch als lokale Selbstverwaltungsorganisationen zu den wichtigsten Kennzeichen des Pluralismus und des demokratischen Entwicklungsstandes eines Landes“.212 Belediye wird in der Regel mit „Stadtverwaltung“ übersetzt. Ich halte insofern diese Übersetzung für überdenkenswert, da sie die Gemeinden mit einer belediye somit als „Stadt“ definiert, dies aber in vielen Fällen zu Missverständnissen führen kann, da viele Gemeinden mit belediye vielmehr eine Dorfsiedlung als eine Stadtsiedlung darstellen, was das Zusammenleben der Einwohner als (Dorf)-Gemeinschaft und die Bedeutung der Landwirtschaft betrifft. Die Übersetzung „Kommunalverwaltung“ halte ich deshalb für passender, auch wenn streng genommen hierunter Vgl. Esen 2005, Unbehaun 1994, S. 88ff. I˙nciogˇlu 2002. Vgl. Unbehaun 1994. 211 Vgl. Esen 2005, S. 24. Da die Provinzsonderverwaltung nicht im Zentrum dieser Arbeit stehen, gehe ich nicht weiter auf sie ein. 212 Esen 2005, S. 29. 209 210
4.5 Die Kommunale Selbstverwaltung
93
auch die Provinzsonderverwaltung und die Dorfverwaltung fallen. Gemeinden mit mehr als 2000 Einwohnern können die Einrichtung einer belediye beantragen. Außerdem können Dörfer auch gemeinsam eine belediye bilden. Da die Gründung einer belediye Möglichkeiten der Erschließung von Finanzquellen bedeutet, ist dies für Dörfer ein begehrenswertes Ziel, nicht zuletzt, da sie ein Zeichen setzt für die Bemühungen zur Verstädterung, „nicht selten wird der Antragsprozess von vielen Kommunalpolitikern zu einer Imagefrage, gar zum Symbol für mehr Pluralismus und mehr Demokratie erhoben“213. Jedoch erhalten die Gemeinden durch den belediye-Status nicht nur Selbstverwaltungsrechte, sondern sind auch verpflichtet, gemeinschaftliche Aufgaben zu übernehmen, da sie nun nicht mehr unter die Verantwortung der Zentralverwaltung und der Provinzsonderverwaltung fallen. 70% der 3216 Gemeinden mit belediye haben weniger als 5000 Einwohner und liegen außerhalb der 81 Provinz- bzw. der 850 Bezirkszentren. Die Pflichten der belediye lassen sich den Bereichen Gesundheit und soziale Hilfe, Bildung und Erziehung, Infrastruktur, Wirtschaft, Landwirtschaft, Transport und Verkehr, Wohlfahrt und Sonstiges zuordnen. Dazu gehören z. B. Raumplanung und Erteilung von Baugenehmigungen, Bau von öffentlichen Marktplätzen, Brücken, Häfen, usw.; Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung, Straßenreinigung und Straßenbeleuchtung; Unterstützung von Kindern bedürftiger Familien, Bibliotheken und andere Bildungsmöglichkeiten. Zu freiwilligen Aufgaben der belediye gehören die Eröffnung von Theatern, Vergnügungszentren und die Veranstaltung von Messen. Je nach Finanzkraft der Kommune sollte die belediye Schlachthöfe und Markthallen, Waisenheime, Geburtskliniken, Krankenhäuser und Sporthallen eröffnen. Die meisten Einnahmen erzielen die Kommunen durch Steuereinnahmen, weitere finanzielle Ressourcen können sie durch das Betreiben der öffentlichen Verkehrsmittel, von Schlachthöfen, Elektrizitätswerken usw. erhalten. Es stellte sich jedoch mit der Zeit heraus, dass Pflichtaufgaben und Erfüllungsmöglichkeiten nicht in Einklang zu bringen waren, gerade in den schnell wachsenden Städten. Viele Verwaltungen gaben infolgedessen einen Teil ihrer Aufgaben zurück an die Zentralbehörden, andere fanden Wege zu neuen Aufgabenfeldern. Zu den Organen der belediye gehören die Kommunalversammlung (belediye meclisi), die alle fünf Jahre neu gewählt wird. Je nach Größe der Kommune gehören zwischen neun und 55 Mitglieder der Versammlung an. Wichtige Entscheidungsund Durchführungsfunktion haben die „Stadtverwaltungsausschüsse“ (belediye encümeni). Drittes Organ der belediye ist der/ die BürgermeisterIn (belediye bas¸ kanı), der/ die alle fünf Jahre nach einfachem Mehrheitswahlrecht gewählt wird. Seine/ Ihre Aufgaben umfassen die Umsetzung der Entscheidungen der Versammlung und der 213
Esen 2005, S. 30.
94
4 Kommunalpolitik jenseits der Metropolen
Ausschüsse und die Leitung der Verwaltung. Er/ sie ist der/ die höchste RepräsentantIn der Gemeinde und verwaltet die Besitzstände der Gemeinde. Allerdings sind die Kommunalverwaltungen weiterhin abhängig von der Zustimmung der Zentralverwaltung, vor allem auch in finanzpolitischen Angelegenheiten. Schließlich wurden in einigen Städten Großstadtverwaltungen eingeführt: in Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa; Adana, Konya, Kayseri, Antep, Antalya, Mersin, Eskisehir, Kocaeli, Samsun, Erzurum, Diyarbakır, Adapazari.214 Die kleinste lokale Selbstverwaltungseinheit ist die Dorfverwaltung (köy yönetimi). Der Dorfvorsteher (muhtar) wird von der Dorfversammlung (köy dernegˇi), der Gesamtheit der Dorfbewohner im Wahlalter, gewählt, allerdings dürfen sich politische Parteien auf Dorfebene nicht organisieren, weshalb der muhtar unabhängig von einer Partei sich zur Wahl stellen muss. Außerdem gibt es einen Ältestenrat (köy ihtiyar heyeti), dem der Dorfimam und der Lehrer als ständige Mitglieder angehören. Auch wenn im zentralistischen Staat Türkei, wie dargestellt, die vom Staat eingesetzten Provinzgouverneure nach wie vor sehr viel mehr Einfluss als die gewählten KommunalpolitikerInnen besitzen, die nur geringe Entscheidungsbefugnis haben, werden gerade im Zusammenhang mit den EU-Beitrittsverhandlungen und mit Vorschlägen zur Lösung des türkisch-kurdischen Konfliktes die lokale und regionale Entwicklung und die Dezentralisierung der kommunalen Politikebene als entscheidende Faktoren für eine weitere Demokratisierung gesehen215. In diesem Rahmen wiederum erklären PolitikerInnen und Aktivistinnen auch die gleichberechtigte Partizipation von Frauen in der Politik als Grundlage für die Legitimierung der Demokratie216.
4.6
Die Bedeutung der Kommunalwahlen
Trotz der relativen Machtlosigkeit der kommunalen gewählten Verwaltungen im Vergleich zu den Instanzen der Zentralregierung wird den Kommunalwahlen in der Regel sehr viel Gewicht beigemessen. Zunächst einmal gelten sie als Hinweis auf die politische Stimmung im Land, auf die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der 214
Auf die Großstadtverwaltungen gehe ich wegen der fehlenden Relevanz für diese Arbeit nicht ein; mehr zu ihnen bei Esen 2005. 215 Bzgl. Dezentralisierung vgl. Henze 1999; Dietert/ Scheuer 1999. Bzgl. der Lösung des türkisch-kurdischen Konfliktes vgl. Vgl. Kilic 1998; Kiris¸ çi, Winrow 1997. 216 Im Rahmen der EU-Beitrittsperspektive wird über den Zusammenhang von Demokratisierung und Partizipation von Frauen in der (Lokal-)politik diskutiert. Vgl. Homepage der Europaabgeordneten Heidi Rühle: Dokumentation des Besuches der Bürgermeisterinnen der Türkei in Brüssel.
4.6 Die Bedeutung der Kommunalwahlen
95
nationalen Regierung: Es zweifelte wohl niemand vor den Kommunalwahlen 2004 daran, dass die AKP und die CHP als Parlamentsparteien die Wahl dominieren würden. So wurde dann das Ergebnis in erster Linie als Bestätigung des Wahlerfolges der AKP bei den Parlamentswahlen gedeutet. Türkeiweit konnte die AKP in 58 von 81 Provinzzentren gewinnen, die CHP in acht, überwiegend in den Küstenregionen und in Thrakien. Des Weiteren konnten MHP und DEHAP in vier Provinzen, die DSP in drei sowie die SP und die DYP in einer Provinz gewinnen. Es wäre jedoch kurzsichtig, lokale Wahlen lediglich vor dem Hintergrund der nationalen Politik zu betrachten: In den regionalen und lokalen Kontexten vollziehen sich zuweilen spannungsreiche Machtkämpfe und Dynamiken, die ganz eigene politische Auseinandersetzungen zur Folge haben. Insofern ist es sinnvoll, für die Beurteilung der Wahl hinsichtlich der türkeiweiten Bedeutung auf die kommunalen Parlamente zu schauen, bezüglich der spezifischen Entwicklungen in den Kommunen sind die Bürgermeisterwahlen allerdings weit interessanter, da diese nicht zuletzt als Persönlichkeitswahl gelten. Während GemeindevorsteherInnen keiner Partei angehören dürfen, lassen sich hinsichtlich der Bedeutung von Parteien für die BürgermeisterInnenwahl und die Wahl der zwei Tendenzen ausmachen: Einerseits haben die KandidatInnen der Regierungspartei(en) sehr gute Chancen gewählt zu werden, da so die Möglichkeit gegeben ist, dass die AmtsinhaberInnen für die Gemeinde in Ankara mehr erreichen können. Andererseits finden sich gerade auf Kommunalebene Angehörige von Parteien, die landesweit kaum mehr Gewicht haben. In der Präsenz von Frauen in der Kommunalpolitik spiegeln sich jedoch keineswegs die Erfolge bzw. Misserfolge der einzelnen Parteien: Die beiden Parteien, die nach den Parlamentswahlen 2002 in der Nationalversammlung vertreten waren, stellten im Vergleich zu den anderen Parteien am wenigsten Frauen auf. Die eindeutig dominierende AKP hatte in keinem der Provinzzentren eine Kandidatin, von 962 Kandidaten waren lediglich ca. zehn Frauen, d. h. 1,247%217. Lediglich in einem Kreis und einer Gemeinde konnten AKP-Kandidatinnen gewinnen. Auch die CHP stellte nur wenige Kandidatinnen auf, die DEHAP hatte ca. 24 Kandidatinnen. Generell kann festgestellt werden, dass Frauen nur von ihren Parteien zur Kandidatin gekürt wurden, wenn die jeweilige Partei nicht mit einem Wahlerfolg rechnen 217
Vgl. KAZETE. Özgür kadın sesi. April 2004. www.kazete.com.tr. Auch in BI˙A Haber Merkezi, 31. 3. 2004, www.bianet.org, sowie in Hürriyet, 1. 3. 2004. Die genauen Angaben sind schwer zu ermitteln, da sämtliche Berichte unterschiedliche Angaben machen und einige der Bürgermeisterinnen nicht nennen. Des Weiteren gaben unmittelbar nach der Wahl die Zeitungen einige Bürgermeister als Bürgermeisterinnen aus, da ihre Namen als Frauennamen aufgefasst wurden: Nuray, Gülcemal, Tansu, Ahsen, Canan, Süreyya, Bilgehan, Beyhan, Mukadder. Vgl. www.bianet.org.
96
4 Kommunalpolitik jenseits der Metropolen
konnte. Die DSP bspw. hatte 57 und die DYP 42 Bürgermeisterinnenkandidatinnen218, von denen nur eine gewählt wurde. Des Weiteren ist Nihal Inciogˇlu zufolge die Bedeutung der Kommunalwahlen seit 1970 deshalb gewachsen, da die rapide Urbanisierung radikal die soziale, ökonomische und politische Landschaft der größten Städte des Landes verändert hatte. Zwischen 1960 und 1997 stieg die Zahl der Städter von 25 auf 65 Millionen. Heute leben mehr als 40 Millionen der 65 Millionen Einwohner in Städten. Istanbul, Ankara und Izmir verfügen über ein Drittel der Wähler. Die Kontrolle über Großstadtkommunen verspricht einer Partei beachtlichen politischen Einfluss. Doch auch in ländlich-peripheren Gebieten der Türkei wird den Kommunalwahlen eine hohe Bedeutung beigemessen: Schließlich geht es hier ebenso um die Verteilung knapper Ressourcen, Arbeitsplätze, Projekte und lokale Verbindungen.
4.7
Die frauenpolitische Landschaft der Türkei
Während die türkische Zivilgesellschaft traditionell als schwach, passiv und staatlich kontrolliert betrachtet wurde, wurde sie in den 1990er Jahren immer sicht- und hörbarer219; bezeichnend hierfür ist die Debatte in der Türkei um den Begriff der Zivilgesellschaft, der sogar zur Begriffsbildung eines „Zivilgesellschaftismus“ (sivil toplumculuk) führte.220 Mittlerweile ist die zivilgesellschaftliche Sphäre politischer Aktivistinnen, die sich mit frauen- und genderspezifischen Themen und Anliegen befasst, äußerst heterogen und unübersichtlich geworden.221 Sevgi Uçan Çubukçu schätzt die Anzahl ihrer 218
Vgl. „Kadın aday rekoru DSP’de“, Hürriyet 1. 3. 2004. „DYP’ nin 1095 kadın adayı var“, Hürriyet 1. 3. 2004. 219 Kubicek 2005, Göksel/ Günes¸ 2005. 220 Cagˇlar 2000. 221 Einen guten Überblick über die türkeiweite Verbreitung von Frauen-NGOs bietet der „Türkiye’de Kadın Örgütleri Rehberi 2004“ („Führer der Frauenorganisationen in der Türkei 2004“) der NGO Uçan Süpürge: Im Rahmen des Projektes „Türkiye’deki Kadın Örgütleri Veri Tabanı Projesi“ wurden Informationen zu NGOs in 41 Städten gesammelt, über die „Zentrale“ von Uçan Süpürge bereits Informationen hatte bzw. deren Existenz in Erfahrung gebracht werden konnte. Es ist also davon auszugehen, dass weitere Gruppen und Organisationen existieren. Wenngleich der NGO-Führer auch NGOs in einigen Kleinstädten und Dörfern aufgenommen hat, ist gerade wegen der geringen Anzahl bekannter NGOs in ländlichen Regionen (die sich in dieser Veröffentlichung interessanterweise alle in der Provinz Çanakkale befinden) davon auszugehen, dass weitere existieren. Des Weiteren zeigt die homepage von Uçan Süpürge die Brandbreite unterschiedlicher Organisiertheit von Frauen in der Türkei. Vgl. www.ucansupurge.org. Auch das KSSGM bietet auf seiner Homepage eine Liste mit Frauenzentren, NGOs, Stiftungen usw. vgl. kssgm.gov.tr.
4.7 Die frauenpolitische Landschaft der Türkei
97
Gruppen und Organisationen auf über 200, wobei informelle Frauenplattformen und Initiativen nicht mit eingerechnet sind222. Auch wenn sich die meisten Frauen-NGOs auf die Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir konzentrieren, entstanden in der ganzen Türkei Gruppen, Organisationen, Kooperativen, Netzwerke, Plattformen, die sich an Frauen richten bzw. sich frauen- und geschlechterspezifischen Themen widmen. Vor allem in Südostanatolien existiert eine hohe Anzahl an Frauen-NGOs, Kooperativen und Frauen-Aktionen223: Neben der Problematik des türkisch-kurdischen Konflikts beeinflusste der soziale und kulturelle Hintergrund der Geschlechterverhältnisse in dieser Region diese Entwicklung. Grob lassen sich zunächst einmal Gruppen säkularer und islamorientierter Frauen unterscheiden, außerdem zwischen Frauen, die sich als Feministinnen und solchen, die sich als nichtfeministische Angehörige der Frauenbewegung verstehen. Unter säkularen Feministinnen unterscheiden sich radikale Feministinnen und kemalistische Feministinnen. Des Weiteren gründeten kurdische Frauen und Feministinnen Organisationen und Gruppen, die sich ihrer spezifischen Probleme annahmen. Einige NGOs sind für den Themenbereich „politisch aktive Frauen in der ländlichen Türkei“ sehr wichtig, da sie versuchen, durch Projekte gerade diese zu erreichen. Ich möchte deshalb nachfolgend einige kurz vorstellen. Eine NGO, die Frauen aller idelogischer und politischer Richtungen zu vereinigen versucht, ist KA-DER224. KA-DER wurde 1997 von politischen Aktivistinnen gegründet, mit dem Ziel, die Repräsentation von Frauen in den politischen Institutionen zu erhöhen. Die NGO unterstützt deshalb alle Kandidatinnen unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit und versucht, durch medienwirksame Kampagnen auf die fehlende weibliche Repräsentanz in den politischen Strukturen aufmerksam zu machen. Nachdem zunächst die nationalen politischen Strukturen im Vordergrund ihrer Arbeit stand, bemüht sich seit 2003 die Abteilung in Ankara, auf lokaler Ebene die Repräsentation von Frauen zu unterstützen und zu erhöhen225. Uçan süpürge („Fliegender Besen“) ist eine NGO, deren Ziel ist, die Kommunikation zwischen Frauenorganisationen zu verbessern sowie Frauen betreffende Informationen und feministische Inhalte unter Frauen in der Türkei zu verbreiten: Çubukçu 2004, S. 100. I˙nci Özkan Keresteciogˇlu schätzt allein die islamistischen Frauenorganisationen, Stiftungen und Gruppen auf über 300. Vgl. Keresteciogˇlu 2004, S. 93. 223 Gerade in den kurdischen Gebieten bemühen sich NGOs um die Alphabetisierung und Berufsausbildung von Frauen: die „Multifunktionsgesellschaftszentren“ ÇATOM bspw. wurden im Rahmen des GAP gegründet. NGOs wie Selis oder die Barıs¸ Anneleri pflegen enge Beziehungen zu den kurdischen Parteien. 224 „Kadın Adayları Destekleme ve Egˇitime Dernegˇi“ („Vereinigung zur Unterstützung und Ausbildung von Kandidatinnen“), wobei die Kurzform „KADER“ auch „Schicksal“ bedeutet. Zu KADER vgl. Sancar Üs¸ ür 2000 S. 228f. 225 Vgl. die Ausführungen im weiteren Verlauf der Arbeit. 222
98
4 Kommunalpolitik jenseits der Metropolen
“One of the most important aims of Flying Broom is to draw up a map of women´s organisations in Turkey and therefore facilitating enhanced communication and interaction between organizations, the preparation of the grounds for collaboration, and thus, to contribute to the empowerment of women by these ways.”226
Hierfür sammelt die NGO Berichte über Frauenprojekte und -organisationen in der ganzen Türkei und veröffentlicht diese. Ein weiteres Projekt der NGO, die „lokalen Reporterinnen“, zielt darauf ab, Informationen über lokale Ereignisse zu sammeln, die die regionale Situation von Frauen betreffen. Hierfür berichten „lokale Reporterinnen“ aus ihrem jeweiligen Umfeld über frauenpolitische Ereignisse und die Lebensverhältnisse von Frauen. Neben einer Zeitschrift und Broschüren gestaltet Uçan süpürge ein Radioprogramm.227 International bekannt wurde das Frauenzentrum KA-MER („kadın merkezi“) in Diyarbakır, das insofern eine Sonderstellung unter kurdischen NGOs einnimmt, da es an erster Stelle unabhängig sein will und frauenpolitisches Engagement als Hauptaufgabe setzt. Ein zentrales Anliegen ist heute die Ausbreitung des Zentrums in benachbarte Provinzen, in die Kreise und Dörfer. Mittlerweile gibt es KA-MER in allen südöstlichen und östlichen Provinzzentren. In den letzten Jahren wurden sogenannte Frauenplattformen populär: Verschiedene Gruppen und Organisationen, Politikerinnen und Zivilgesellschaftlerinnen kommen zusammen, um über geschlechtsspezifische Probleme zu beraten und gemeinsame Initiativen zu planen, bspw., um ein kommunalpolitisches Projekt zu erreichen oder um Gesetzesänderungen vorzuschlagen. Einerseits existieren solche Plattformen in verschiedenen Städten, andererseits findet der Austausch mit politischen Aktivistinnen türkeiweit statt. Viele politische Aktivistinnen sind in mehreren NGOs Mitglied, Wissenschaftlerinnen der universitären Frauenforschungszentren arbeiten in NGOs bzw. mit ihnen zusammen, „frau kennt sich“ türkeiweit und trifft sich auf den regelmäßig stattfindenden frauenpolitischen Treffen und Konferenzen.
226 227
Uçan süpürge 2004, S. vi. Die vielfältigen Veröffentlichungen von Uçan süpürge geben einen guten Überblick über die Bandbreite der Projekte der NGO und die frauenpolitische Landschaft in der Türkei, bspw. „Uçan Süpürge ,Kadın 2004‘ Radyo Programı“, die Verschriftlichung des Radioprogrammes; „CEDAW Sivil Toplum Forumu: Atölye Çalıs¸ -maları“; die Zeitschrift „Uçan Haber“; die Homepage www.ucansupurge.org.
5
Methodologie und Methoden
5.1
Exkurs: Feldforschung in der Türkei jenseits der Metropolen „Der Charme dieser Gegend zog mich immer wieder an, so dass ich in den folgenden fünfzehn Jahren Zeuge eines raschen sozialen und wirtschaftlichen Wandels im Kreis Datça wurde.“228 „Wie so viele Besucher vor mir war ich von den Landschaften Kurdistans überwältigt, von der Gastfreundschaft seiner Bewohner angenehm überrascht, beeindruckten mich ihre Erzählungen von nationalem Widerstand und Unterdrückung. Es war der Beginn einer ganz und gar romantischen Faszination, die nur allmählich, im Laufe weiterer Besuche, einer realistischeren Einschätzung Platz machte.“229
Ohne einen gewissen Hang zu Romantik und Faszination des Ländlichen lässt sich vielleicht Forschung jenseits der Metropolen in der Türkei kaum durchführen – angesichts der mitunter harten Bedingungen, die die Reisenden in den abgelegenen Siedlungen erwartet, der beschwerlichen, zeitraubenden Fahrten über Landstraßen auf Tausenden von Kilometern, den oft schwierigen Lebensverhältnissen auf dem Land, dem Alleinsein trotz ständiger Gesellschaft. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die meisten PolitikwissenschaftlerInnen ihr Vorhaben eher auf städtische Bereiche konzipieren. Schließlich musste ich wegen der fehlenden grundlegenden Literatur zunächst eher unstrukturiert vorgehen und sammelte auf einer ersten Reise gewissermaßen „alles Material, das mir durch die Finger oder zu Ohren und Augen kam“230. Ich hatte dabei lediglich einige programmatische Vorgaben: Ich wollte im 228
Unbehaun 1994, S. 5. Bruinessen 1989, S. 23. 230 Ich denke, es ist wichtig, diese Vorgehensweise zu betonen, da es mitunter keine andere Möglichkeit gibt, um ein Forschungsfeld zu eröffnen. Eigentlicher Anlass für die Thematik war im Übrigen Günter Seuferts „Café Istanbul“, über das ich in meiner Magistraarbeit schrieb: „Ich möchte an dieser Stelle Günter Seuferts ,Café Istanbul‘ insofern kritisieren, da ich aufgrund seiner Erklärungen zu seiner empirischen Methode, die seiner Studie zugrunde liegt, Zweifel habe, daß seine Ergebnisse repräsentativ sein können: Er besuchte über einen längeren Zeitraum hinweg ein Café in Istanbul, das seiner Meinung nach verschiedenen Gruppen der Gesellschaft als Treffpunkt diene. Auf Grundlage seiner dortigen Gespräche schrieb er dann ,Café Istanbul‘. Meine Vermutung ist aber nun, dass so er keine Möglichkeit haben konnte, Frauen in seine Analyse miteinzubeziehen, da die Mehrheit der türkischen Frauen kein Café besuchen würde, geschweige denn sich in ein Gespräch mit einem fremden (Fortsetzung auf S. 100) 229
A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/ 978-3-531-93113-5_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
100
5 Methodologie und Methoden
ländlich-peripheren Raum über politische Partizipation von Frauen forschen; mich nicht wie Anthropologinnen auf ein Dorf oder eine Region beschränken, sondern verschiedene Regionen mit einbeziehen; mich zwar im lokalen, kommunalen Bereich bewegen, aber dennoch gesellschaftliche Strukturen und das politische System beschreiben; kurz gesagt: es ging mir um die Beziehung zwischen marginalisierten Bevölkerungsgruppen (Frauen im ländlichen Raum) und Politik. Eine wesentliche Einschränkung für die Durchführung der Feldforschung war die Tatsache, dass ich mich als alleinreisende Frau in der ländlichen Türkei ständig in einer eigentlich nicht-schicklichen Situation befand – was wiederum das Datensammeln einschränkte bzw. manches Handeln unmöglich machte, gleichzeitig aber mir die Möglichkeit bot, durch den Kontakt mit Frauen und dem Aufenthalt im häuslichen, privaten Bereich gerade auch die Sichtweise von Frauen kennenzulernen. Während also Martin van Bruinessen für seine Dissertation die praktische Abwesenheit von Frauen als offensichtlichen Mangel erkennt231, da seine Informanten ausnahmslos Männer waren und er keinen Kontakt zu Frauen herstellen konnte, zumal er in erster Linie mit „den Wohlhabenen und Mächtigen“ in Berührung kam, hat eine ForscherIN vielleicht eher die Möglichkeit, sowohl mit Männern als auch Frauen jenseits der politischen Entscheidungszentren in Kontakt zu kommen – wenngleich ich mich auch aus feldforschungstechnischen Gründen entschied, die Entscheidungsträgerinnen in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen, da ich, ähnlich wie Martin van Bruinessen, mich nicht länger an einem Ort aufhalten konnte – allerdings entschied ich dies in einem anderen Zusammenhang als er: Eine erste Feldforschungsreise hatte ich eigentlich mit dem Ziel geplant, die Partizipation von Frauen an den Kommunalwahlen 2004 teilnehmend zu beobachten. Diese Zeit zeigte mir dann jedoch die Grenzen auf, in denen ich mich während des Feldforschungsprozesses bewegen kann und muss. Zweifellos gewährte mir dieser Türkeiaufenthalt interessante und wichtige Einblicke in das Leben von Frauen in türkischen Dörfern: ich wollte untersuchen, wie Dorffrauen sich im Wahlkampf verhalten. Dabei machte ich selbst im ersten Dorf die Erfahrung, überhaupt keine Beobachtung in Bezug auf Wahlkampf machen zu können – das Leben der Frauen vollzog sich wie gewohnt, 230
(Fortsetzung von S. 99) Mann einlassen könnte. Wie auch immer man dazu steht: Die Geschlechtertrennung ist in weiten Teilen der Türkei Realität, und dies müsste meiner Meinung nach in einer empirischen Studie zu ,Alltag, Religion und Politik in der Türkei‘ auch berücksichtigt werden. Wieder einmal wurde nicht in Erwägung gezogen, daß die Realität von Frauen sich von dem unterscheiden könnten, was Männer dazu zu sagen haben. Insofern wäre eine weitere Studie namens ,Hauscafé Anatolia‘ wünschenswert … .“ Vgl. Taxer 2001, S. 104. Auch wenn die vorliegende Arbeit nicht als „Hauscafé Anatolia“ bezeichnet werden kann, nahm die Idee so ihren Anfang. 231 Bruinessen 1989, S. 11.
5.1 Exkurs: Feldforschung in der Türkei jenseits der Metropolen
101
ohne dass über kommunale Politik hierin auch nur gesprochen wurde. Dabei wurde ich selbst als Frau von meinen Gastgeberinnen ebenfalls von den öffentlichen bzw. männerdominierten Plätzen ferngehalten, an denen vielleicht sich der dörfliche Wahlkampf abspielte. Ich denke, dass diese Beobachtung ein sehr wichtiger Ausgangspunkt war, um zu verstehen, was es bedeutet, wenn an anderen Orten der Türkei sich unter Frauen politisches Interesse entwickelt. Ich nahm jedoch aufgrund der erfahrenen Situation der Begrenzung der Bewegungsfreiheit im türkischen Dorf Abstand von der Vorstellung, längere Zeit in einem Dorf Feldforschung durchführen zu können.232 Wegen der geschlechtsbezogenen gesellschaftlichen Bedingungen änderte ich also das Forschungsdesign: Als alleinreisende junge Frau handle ich in der ländlichen Türkei stets gegen die gesellschaftlichen Normen, d. h. der gesamte Forschungsprozess lief entlang einer schwierigen, mitunter auch riskanten Linie zwischen Forschungsanforderungen und gesellschaftlichen Tabubrüchen, zwischen dem Dasein als „Privatperson“ (also als „junge Frau ohne männlichen Schutz“) und „Forscherin“: Weil ich am nächsten Tag vom Südosten nach Istanbul zurückkehren muss, möchte ich gern für die Kinder der Familie Schokolade und für mich selbst Geld von der Bank holen. Ich schlage meinen Gastgeberinnen vor, einen kleinen Spaziergang ins Stadtzentrum zu machen. Sie reagieren zunächst verunsichert, schließlich willigen sie ein. Als wir uns im Schlafzimmer für dieses Ereignis zurechtmachen, tauchen auf einmal diverse junge Männer der Familie auf und verbieten uns den Ausflug: Freundlich wird mir erklärt, dass in der kurdischen Kultur Frauen nicht ins Stadtzentrum gingen, das sei ayip (schändlich). Ich solle meine Bankkarte einem der Männer geben, der dann für mich vom Automaten Geld holen könne – natürlich werde er diese Situation nicht ausnutzen. Nach langer, etwa halbstündiger Diskussion finden wir einen Kompromiss: Wir fahren alle zusammen zu einer Bank außerhalb des Zentrums und ich darf allein und selbständig meine Bankkarte benutzen. Dennoch konnten wir nicht unter Frauen einen Spaziergang machen, für die ganze Aktion mussten wir durch die Männer der Familie beaufsichtigt werden.233 Dass ich mir eines Nachmittags in einer westtürkischen Kreisstadt in der Marmararegion eine Zeitung aus dem Laden holen möchte, der ca. 50 Meter entfernt liegt, endet in eine Diskussion mit meiner Gastgeberin darüber, was „ayıp“ bedeuten kann: es ist ayip, als Frau grundlos spazieren zu gehen. Es ist ayip, als Frau nachmittags aus dem Haus zu gehen. Es ist ayip, den (weiblichen) Gast allein ins 50 m entfernte Internetcafé gehen zu lassen, selbst wenn der Gast zu arbeiten hat. Es ist ayip, den (weiblichen) Gast allein eine Zeitung im 3 Minuten entfernten Laden kaufen zu lassen. Es ist ayip, allein als (weiblicher) Gast Verwandte zu besuchen.234 232
Hanne Straube und Sabine Strasser lebten längere Zeit für ihre Feldforschung in türkischen Dörfern – allerdings hatte Hanne Straube ihren Freund dabei, d. h. eine „männliche Schutzperson“, und Sabine Strasser forschte zusammen mit einer Freundin. 233 Auszug aus meinem Forschungstagebuch, April 2004. 234 Auszug aus meinem Forschungstagebuch, Oktober 2004.
102
5 Methodologie und Methoden
Deshalb entschied ich mich, Interviews mit politisch aktiven Einzelpersonen in den Mittelpunkt zu stellen, jedoch weiterhin jede Gelegenheit wahrzunehmen, um mit weiteren Personen zu sprechen und um weitere Beobachtungen machen zu können. Der Forschungsprozess ist eben, wie Cilja Harders es ausführt, ein sozialer Interaktions- und Kommunikationsprozess, der in die Lebenswelt eingebettet ist und an dessen interpretativer Konstruktion Forscherin und Erforschte gleichermaßen beteiligt sind235 – man könnte auch sagen: er ist ein ständiger Aushandlungsprozess der Forschungsumstände: Während der Türkeireisen erlebte ich immer wieder den gleichen Dialog: Ob ich Türkin sei, wurde ich stets gefragt (wobei ich äußerlich immer sehr auffalle als „Ausländerin“). Auch wenn ich dies verneinte, ließen meine GesprächspartnerInnen nicht locker, ob wenigstens mein Vater, meine Mutter türkisch seien – oder ob ich dann wenigstens einen türkischen Ehemann hätte. Auch wenn ich dies alles nicht bejahen konnte, „einigten“ wir uns stets darauf, dass ich durch meine (fehlerreichen Standard-) Türkisch- und türkisch-kurdische-Kultur-Kenntnisse zumindest halbe Türkin sei. Im Laufe des Zusammenseins wurde dies immer wieder thematisiert – weil ich dies und jenes „richtig“ machte, dies und jenes wisse – gleichzeitig stieß die Tatsache, dass ich als junge Frau allein reiste, auf Unverständnis und Ablehnung – was häufig damit endete, dass meine GastgeberInnen mich „richtig“ betreuen wollten, d. h. mir wurde, wie so vielen „jungen Mädchen“, die Bewegungsfreiheit eingegrenzt bzw. verwehrt. Ich denke, dass dies zeigt, dass ich eben nicht davon ausgehen kann, als „Fremde“ wahrgenommen zu werden – vielmehr scheint die Wahrnehmung als schutzloses, junges Mädchen häufig weit bedeutsamer zu sein. Ich werde gewissermaßen „native“ gemacht, gleichzeitig aber arbeiten die Menschen, denen ich begegne und die häufig zum ersten Mal mit einer Ausländerin in Kontakt kommen, ihre Vorstellungen einer „Fremden“ an mir ab. Ebenso kann ich selbst nicht über meine empirische Forschung sagen, dass ich in eine „andere, fremde Welt“ gehe, dass ich das „Fremde“ versuche zu verstehen, da ich mich „einigermaßen“ zu Hause fühle in der ländlichen Türkei. Ich versuchte deshalb die gegenseitige „Fremdheits“- bzw. „Eigenheit“swahrnehmung aufzuarbeiten durch die Beschreibung der Erfahrungen, die wiederum von in sich verschachtelten Dominanzverhältnissen geprägt sind: Mal bin ich die schutzbedürftige junge Frau, mal die gebildete Forscherin aus dem verheißungsvollen Westen; mal fühle ich mich sehr gut aufgehoben im Kreise einer Großfamilie, genieße die fröhliche Atmosphäre, mal fühle ich mich eingesperrt in die häusliche Sphäre, weit entfernt von dem, was mich eigentlich für die Forschung interessiert, „abgeschoben“ zu Frauen und Kindern.236
5.2
Methodische Vorgehensweise und methodologische Überlegungen
Da in der Politikwissenschaft nur sehr wenig bzw. gar keine Literatur zu dem Thema der politischen Partizipation von Frauen in ländlich geprägten Gegenden verfasst 235 236
Harders 2002, S. 59. Auszug aus meinem Forschungstagebuch, April 2005.
5.2 Methodische Vorgehensweise und methodologische Überlegungen
103
wurde, entwickelte ich die Arbeit als explorative Studie. In diesem Sinne verwendete ich qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung, die einen zunächst offen angelegten Forschungsprozess zulassen: Teilnehmende Beobachtung, informelle Gespräche, Leitfadeninterviews mit Politikerinnen und Aktivistinnen, Sammlung von Dokumenten. Insofern wollte ich gewissermaßen als Politikwissenschaftlerin anhand sozialwissenschaftlicher und ethnographischer Methoden Antwort finden auf eine politikwissenschaftliche Fragestellung; mit unterschiedlichen Methoden und empirischen Daten wollte ich den Blick auf politisch-gesellschaftliche Strukturen richten. Im Verlauf des Forschungsprozesses entwickelte sich allmählich durch die immer konkreter werdende Fragestellung auch die Fokussierung auf bestimmte Untersuchungszusammenhänge, d. h. auf bestimmte Methoden, Personen und Handlungen. Bezogen auf das Theoretische Sampling beschränkte ich mich also nach ersten Felderfahrungen auf eine bestimmte Gruppe von Fällen, die mir eine Gesamterhebung ermöglichten, nämlich der 18 Bürgermeisterinnen der Türkei und ihrer Kommunen. Um eine differenziertere Einschätzung zu erreichen, erweiterte ich dieses Sample durch weitere Dokumente und Interviews mit politischen Aktivistinnen. Als Politikwissenschaftlerin konnte ich nicht nur die Aussagekraft der Daten in die Analyse mit einbeziehen, sondern ich verknüpfte die gefundenen Fälle mit dem strukturellen, politisch-gesellschaftlichen Kontext. Ein „Fall“ bedeutet dabei: eine Kommune mit Bürgermeisterin inklusive aller Phänomene, die ich dazu sammeln konnte. Da also jeder „Fall“ auch andere Forschungsbedingungen darbot, setzt sich die jeweilige „Materialsammlung“ anders zusammen. Um dennoch eine gewisse Vergleichbarkeit der „Fälle“ gewähren zu können, stellte ich die Interviews mit den Bürgermeisterinnen zunächst in den Mittelpunkt der Auswertung. Ich orientierte mich an Studien, die auf ähnliche Weise vorgingen: Cilja Harders entwickelt als Grundlage ihrer Arbeit ein „feministisches Forschungsdesign“, in dem sie anhand eines interdisziplinären Forschungsansatzes feministische, soziologische und ethnologische Forschungsmethodologien und -methoden mit einer politologischen Fragestellung verbindet. Heidi Wedel entschied sich für einen „ganzheitlichen Ansatz“ für ihre Fallstudien in Gecekonduvierteln. Stephanie Schütze beschränkte sich nicht auf die mikrosoziologische-sozialanthropologische Herangehensweise, sondern zog Rückschlüsse auf die gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse.237 Auch wenn ich keine tieferen Fallstudien anfertigte, praktizierte ich diese „Sicht von unten“ in der Absicht, für die Verknüpfungen der politischen Mikro- und Mesoebene sensibilisiert zu werden. 237
Vgl. Schütze 2005, S. 18. Sie entgegnet dem Vorwurf der lokalen Begrenztheit in ihrem Fall mit einem Zitat Clifford Geertz’: “The locus of the study is not the object of the study. Anthropologists don’t study villages (tribes, towns, neighbourhoods…); they study in villages.”
104
5 Methodologie und Methoden
Als methodologische Grundlage bot sich die Grounded Theory238 an: die offene, „dialogische“ Herangehensweise an das Forschungsfeld entsprach meinem Anliegen einer vorsichtigen, verstehenden Annäherung an das Thema, d. h. die Betonung des Prozesscharakters des Forschungsprozesses ist mir sehr wichtig; der Kreislauf aus Datenerhebung- und auswertung wurde sowieso durch den mehrmaligen Wechsel zwischen Deutschland und der Türkei als Forschungsort bedingt, der zunächst wegen der Anwesenheitspflicht während des Semesters in Frankfurt verursacht wurde, jedoch unterstützte diese Rahmenbedingung diesen Forschungsprozess. Das Sammeln unterschiedlicher Materialien, wie es in den Grundtexten der Grounded Theory gefordert wird, kam meiner Auffassung als Feldforscherin entgegen. Des Weiteren weisen sowohl die Grounded Theory als auch die Ethnologie Gemeinsamkeiten auf, die dem Thema dieser Arbeit, Veränderungen von Öffentlichkeiten und politischer Partizipation von Frauen, gerecht werden: „Ihr Nachdruck liegt auf der Erforschung von dynamischen Prozessphänomenen wie sozialem Wandel: d. h. sozialen Bewegungen und den durch sie hervorgebrachten sozialen und kulturellen Innovationen, politischen Handlungsobjekten und den durch sie hervorgerufenen institutionellen Veränderungen, sozialen Dramen und deren symbolischen Ausdrucksformen. Sie betonen die Subjektivität qualitativer Feldforschungen und die Hervorhebungen der subjektiven Erfahrung der Forscherin oder des Forschers.“239
Die Absicht, Dynamiken und Prozesse des sozialen Wandels hinsichtlich der Veränderungen der politischen Verhältnisse darzustellen, erfordert die Vorstellung eines „weiten Politikbegriffs“, „der eingebettet ist in den Versuch, struktur- und handlungsorientierte Sichtweisen bei der Analyse von gesellschaftlichen Verhältnissen zu verknüpfen. Politik ist in dieser Perspektive mehr als die Herstellung gesellschaftlich legitimer Entscheidungen in institutionalisierten Prozessen. Ähnlich wie die Kategorie Geschlecht (…) erweist sich das Forschungsfeld Politik als eines, in dem akteurszentrierte Analyseperspektiven mit dem Blick auf Institutionen und Organisationen, auf Ressourcen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse systematisch verknüpft werden.“240 Die in der Arbeit zentrale Kategorie Geschlecht wird sowohl als Struktur- als auch Prozesskategorie verstanden: „Geschlecht als Strukturkategorie bezeichnet ein gesellschaftliches Gliederungsprinzip, das Männer und Frauen je verschieden in einem als hierarchisch verstandenen Geschlechterverhältnis positioniert: Frauen sind demnach in der sozialen Hierarchie der Geschlechter in der Regel ,unten‘ und Männer in der Regel ,oben‘ verortet. Das Geschlecht bestimmt folglich über das gesellschaftliche ,Sein‘. Demgegenüber nimmt das Verständnis von ,Geschlecht‘ als Prozesskategorie die sozialen Interaktions238
Vgl Strauss/ Glaser 1998; Strauss/ Corbin 1996. Schütze 2005, S. 19. 240 Harders/ Kahlert/ Schindler 2005, S. 20. 239
5.3 Die Feldforschung
105
situationen von Individuen in den Blick, in denen ,das Geschlecht‘ in alltäglichen Handlungen immer wieder neu hergestellt wird (doing gender). Geschlecht wird hier als die unhinterfragt ablaufende, gegenseitige Zuschreibung bestimmter Eigenschaften analysiert. In dieser Sichtweise ist ,Geschlecht‘ kein ,Sein‘, sondern ein ,Tun‘.“241
5.3
Die Feldforschung
Zwischen März 2004 und April 2006 unternahm ich sechs Forschungsreisen in die Türkei. Während des ersten Aufenthaltes in der Türkei vom 6. 3. bis 8. 4. 2004, d. h. unmittelbar vor den Kommunalwahlen 2004, besuchte ich als explorative Phase meiner Feldforschung zwei türkische Dörfer, in denen ich in erster Linie teilnehmend beobachtete. Im Herbst 2004 reiste ich abermals in die Türkei. Nachdem ich den September in Istanbul verbracht hatte, brach ich Ende September dann auf, um in verschiedenen Regionen der Türkei NGOs und Politikerinnen aufzusuchen. Im Laufe des Aufenthaltes kristallisierte sich als interessanter und operationalisierbarer Schwerpunkt meines weiteren Forschungsinteresses die Konzentration auf Gemeinden mit Bürgermeisterinnen heraus. Ich konnte mit einigen Bürgermeisterinnen und Lokalpolitikerinnen (d. h. Mitgliedern der Gemeinderäte) Interviews durchführen, außerdem führte ich zahlreiche informelle Gespräche mit Menschen in den jeweiligen Gemeinden, die mir facettenreiche Eindrücke bzgl. des Lebens in abgelegenen Gebieten der Türkei und der politischen Meinungsvielfalt boten. Ein weiterer wichtiger Bestandteil dieses Aufenthaltes war, dass ich zum ersten Mal nach Südostanatolien reiste. Während ich in früheren Jahren während des Studiums die Westtürkei recht gut kennengelernt hatte, war die Begegnung mit dieser Region zunächst eine recht schwierige Annäherung an eine konfliktreiche Realität des Landes. Als ich für meine Märzreise die Bürgermeisterin von Seyrek, Nurgül Ucar, anrief, lud diese mich zu einem Treffen aller Bürgermeisterinnen der Türkei in Foça ein, das von der NGO KADER organisiert wurde und dem Erfahrungsaustausch und der Vernetzung diente. Infolgedessen wurde ich von den meisten Teilnehmerinnen in ihre Heimatorte eingeladen, so dass ich in den folgenden Wochen insgesamt zwölf Bürgermeisterinnen in der ganzen Türkei besuchte. Außerdem hatte ich in einigen Gemeinden die Möglichkeit, mit anderen Einwohnern zu sprechen, z.B. mit Frauen, die in Kooperativen aktiv sind, mit Familienangehörigen der Politikerin, mit Rathausangestellten, mit Hausfrauen und Müttern, die das Haus nicht verlassen. Im September und Oktober 2005 konnte ich während eines weiteren Türkeiaufenthaltes die restlichen Bürgermeisterinnen sowie KADER in Ankara aufsuchen. Außerdem führte ich im April 2006 Gespräche mit türkischen WissenschaftlerInnen sowie weiteren NGO-Aktivistinnen und überprüfte auf diese Weise meine bisherigen Ergebnisse. 241
Harders/ Kahlert/ Schindler 2005, S. 10.
106
5 Methodologie und Methoden
Nach 6 Türkeiaufenthalten (insgesamt 26 Wochen) habe ich alle 18 Kommunen der Türkei mit Bürgermeisterinnen besucht und mit 15 Bürgermeisterinnen Leitfadeninterviews durchgeführt. Zwei der Bürgermeisterinnen, Nazmiye Kabadayı und Songül Erol Abdil, waren leider trotz Terminvereinbarung nicht anzutreffen; da es zur Situation in Tunceli eine große Anzahl an Internetquellen gibt einschließlich einiger Interviews mit der Bürgermeisterin, greife ich mitunter auf diese Quellen zurück, außerdem verbrachte ich längere Zeit in Tunceli, während ich auf die Bürgermeisterin wartete, und sammelte so Eindrücke. Auch über Nazmiye Kabadayı und ihre Arbeit in Dogˇankent konnte ich einige Zeitungsartikel in die Arbeit miteinbeziehen. Meliha Okutay in Kozcagˇız wollte nicht auf Tonband sprechen, stattdessen verbrachte sie drei Tage mit mir und erzählte dabei eine Menge über ihre politische Arbeit und Ansichten. Insofern fließen die Gedächtnis- und Beobachtungsprotokolle in die Analyse mit ein. Während die Bürgermeisterin von Bagˇlar/ Diyarbakır sich nur zu einem sehr kurzen, wenig informativen Interview bereit erklärte, erhielt ich von ihrer Stellvertreterin sehr viel mehr Informationen, weshalb ich ihre Aussagen gleichberechtigt in Betracht ziehe. Eine Tonbandaufnahme, die des Interviews mit S¸ükran Aydin, ist leider nur teilweise verständlich, so dass dieses Interview nur in Fragmenten berücksichtigt werden konnte. Wegen der unausgewogenen Parteiverteilung unter den Bürgermeisterinnen der Türkei überwiegen Vertreterinnen der DEHAP, während andere Parteien nur durch eine Politikerin vertreten sind. Die erreichte Gesamterhebung erschien mir jedoch wichtiger als eine ausgeglichene Parteienrepräsentation im Sample – schließlich gibt es Gründe, warum diese eben nicht gleichmäßig auf die verschiedenen Parteien verteilt ist. Außerdem habe ich ca. 15 NGO-Aktivistinnen und Parteiaktivistinnen interviewt: Mit Vertreterinnen der Frauenzentren KAMER (Hayriye As¸ cıogˇlu) und SELIS (Fatma und Hatice) in Diyarbakır, mit Vertreterinnen der NGO KADER in Ankara (Fatma Nevin Vargün und Ayten Alkan), mit den Barıs¸ Anneleri in Istanbul (Vildan), mit Mitarbeiterinnen der Frauenkooperativen in Dogˇubeyazıt (Azad, Sevim u. a.), mit der Präsidentin des Kent Konseyi in Antalya (Sema), mit der Vertreterin der Bürgermeisterin in Diyarbakır – Bagˇlar (Rojda Balkas¸ ), mit der einzigen Frau im Kommunalparlament von Alanya (Füsun), mit der stellvertretenden Vorsitzenden der AKP (Güliz), mit Mitgliedern der DEHAP in Istanbul, mit Muhtarinnen in Denizli und in Kas¸ pınar/ Agˇın (Hülya und S¸ükran). Des weiteren habe ich informelle Gespräche mit Einwohnern der betreffenden Gemeinden sowie Angehörigen der Kommunalverwaltung geführt. Diese Gespräche waren stets zufällig und unstrukturiert und können keinesfalls als repräsentativ gelten. Jedoch boten sie mir die Möglichkeit einzuschätzen, inwieweit in der Kommune offen über Politik gesprochen wird. Ich machte mir dabei zu Nutzen, dass ich stets den Menschen auffiel und dass die meisten Menschen in der Türkei AusländerInnen
5.4 Auswertung und Darstellung des empirischen Materials
107
gegenüber sehr offen, gastfreundlich und neugierig sind. Insofern nahm ich jede Gelegenheit wahr, um Gespräche zu führen und berichtete stets über den Grund meines Kommens – ich wurde dabei genauso befragt wie ich dies mit meinem Gegenüber tat. Einige Bürgermeisterinnen luden mich zu sich nach Hause ein, so dass wir uns auch privat unterhalten konnten und ich ihre Familie kennenlernte. Als „Gast“ waren mir zwar einerseits auch wieder Grenzen für die Forschung gesetzt, andererseits konnte ich so auch tiefere Einblicke in das Private erhalten. Es ist also wichtig festzuhalten, dass die Feldforschung selbst sich zwischen öffentlichen und privaten Sphären abspielte, die bestimmte Verhaltensregeln erforderten, welche mitunter ich verletzen musste. Schließlich gehören zu den Datenmaterialien Beobachtungsprotokolle, Fotos, Dokumente (z. B. Wahlwerbung, Parteibroschüren etc.). Alle Interviews wurden auf Türkisch geführt. Leider begann ich erst gegen Ende der Feldforschungsphase damit, mich mit der kurdischen Sprache zu beschäftigen. Auch ignorierte ich zunächst die Tatsache, dass die Hälfte der Interviewten nicht in ihrer Muttersprache mit mir sprach – lediglich in Antakya thematisierten wir die Situation der Zweisprachigkeit (arabisch und türkisch) aufgrund meines früheren Arabischstudiums. Auch wenn ich das Erlernen der jeweiligen regionalen Sprachen für sehr wichtig erachte und es deshalb sehr bedaure, dass ich zunächst mich nicht mit dem Kurdischen beschäftigt hatte, halte ich es grundsätzlich nicht für ein Problem, wenn sowohl Interviewerin als auch Interviewte miteinander in einer Fremdsprache sprechen. Zur erfolgreichen Kommunikation gehört in erster Linie die zwischenmenschliche Beziehung, die sich über andere Faktoren als über Sprache entwickelt. Wer sich verständigen will, kann dies auch über nonverbale Kommunikation sowie mit einer Fremd- bzw. Zweitsprache machen. So wollten einige Frauen, die in Dogˇubeyazıt in der Frauenkooperative arbeiten, gern auf Tonband sprechen, da sie jedoch nur Kurdisch sprachen, sprang meine Begleiterin Azad als Übersetzerin ein. In diesen Fällen halte ich es für weit aussagekräftiger, dass ältere, formal nicht gebildete Frauen mir etwas erzählen wollen, als dass ich auf diese Weise eine Wort-für Wort-Übersetzung erhalte.
5.4
Auswertung und Darstellung des empirischen Materials
Die Auswertung des empirischen Materials wurde in ersten Linie von den Ausführungen Anselm Strauß’ und Barney Glasers242 inspiriert, mit denen sie die methodischen Richtlinien der Grounded Theory darlegten. Im Mittelpunkt der Auswertung standen zunächst die Tonbandprotokolle der Interviews: Als ersten Schritt analysierte ich die 242
Vgl. Strauss/ Glaser 1998.
108
5 Methodologie und Methoden
einzelnen Interviews für sich, d. h. ich rekonstruierte die jeweilige Person und ihre Gemeinde als „Fall“. Einerseits entkontextualisierte ich die Interviewpassagen, die ich als Schlüsselfrequenzen ansah, und verfasste frei assoziierte Interpretationen zu ihnen sowie gegebenenfalls Sequenzanalysen. Dann ergänzte ich diese durch Kontextanalysen, in denen ich das weitere gesammelte Material miteinbezog. Bei diesen Falluntersuchungen richtete ich mich zunächst nach den Grundsätzen des open codings243: Nach diesen Rekonstruktionen von „Fällen“ verglich ich sie anhand von Themen, die ich einerseits durch die vorherige Theorielektüre formuliert hatte, die andererseits von den Bürgermeisterinnen selbst angesprochen wurden. Zu den überraschenden Funden, d. h. Themen, mit denen ich nicht gerechnet hatte, gehörte die enge Verbindung von Bürgermeisterinnen und Frauenbewegung; der hohe Stellenwert, der der Solidarität unter Frauen beigemessen wurde; die Spannweite von unterschiedlichen Biographien und Lebenszusammenhängen der Bürgermeisterinnen. Durch selective coding wiederum ließen sich die zuvor erarbeiteten theoretischen Begriffe wie Partizipationsformen, Öffentlichkeitskonstruktionen, Demokratiebedeutung usw. mit den neugefundenen Kategorien in Zusammenhang bringen und weiter entwickeln. Während die Fallzentrierungen erst einmal ermöglichten, Strategien der Politikerinnen und Details über die Kommunen und ihre BewohnerInnen herauszuarbeiten, konnten sie dann als Hintergrund gewissermaßen dienen, um einzelne Phänomene darzustellen, die durch die Querperspektive hervortraten: Über alle Unterschiede hinweg gibt es gleiche Handlungsstrategien von Frauen in der Kommunalpolitik, die wiederum durch das Abweichen von „besonderen Fällen“ bestätigt werden. Das ethnographische Material (Forschungstagebücher, gesammelte Broschüren, Lokalzeitungen, Gesprächsaufzeichungen, Bilder usw.) nutzte ich einerseits, um die Aussagen der Interviews zu erweitern, zu bekräftigen, oder auch, um die Interviewten, die weniger „sprachgewandt“ als andere waren, stärker noch in die Darstellung der Daten miteinbeziehen zu können; andererseits nutzte ich gerade das Schreiben von Forschungstagebüchern, um die Feldforschungserlebnisse zu reflektieren: „Zur fremdverstehenden, interpretativen Auswertungskomponente der dichten Beschreibung gesellt sich auch noch als zweite Auswertungskomponente die selbstreflektierte, kritische Nutzung der persönlichen Erfahrungen des Forschers oder der Forscherin, die das bereits vorhandene gegenstandsbezogene und theoretische Vorwissen, die Eindrücke und Erlebnisse während der Feldforschung sowie die Intuitionen und Gefühle in bestimmten Interaktionsmomenten betrifft. Diese persönlichen Erfahrungen spielen im textuellen Interpretationsvorgang und auf der Auswertungsebene generell eine große Rolle, sind aber oftmals, solange nicht systematisch reflektiert, schwer benenn- und darstellbar.“244
243 244
Vgl. Strauss/ Glaser 1998; Strauss/ Corbin 1996. Schütze 2005, S. 110.
6
Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen in der ländlich geprägten Türkei
6.1
Geographie der Bürgermeisterinnenkommunen
Während es nicht überraschen mag, dass die 18 türkischen Kommunen, die eine Frau zur Bürgermeisterin wählten, sich sehr von einander unterscheiden, widerspricht die Tatsache, dass keine Frau in den westtürkischen Metropolen gewählt wurde, der verbreiteten Annahme, dass in erster Linie dort Frauen aufgrund der Verwestlichung eine Chance hätten, gewählt zu werden. In der sozioökonomisch führenden Marmararegion wurde nur eine Bürgermeisterin gewählt, und zwar in einem kleinen Dorf an der bulgarischen Grenze. Die meisten Gemeinden sind ländliche Siedlungen; in den drei Großstädten Adana, Diyarbakır und Van wurden in armen, am Rande gelegenen Flüchtlingssiedlungen Frauen gewählt. In fast allen Gemeinden spielt Landwirtschaft als Einkommens- bzw. Subsistenzgrundlage eine wichtige Rolle, selbst in den größeren Siedlungen und den Kreisstädten. Ich möchte im Folgenden die 18 Gemeinden kurz vorstellen und ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Zunächst einmal gibt es Unterschiede in der verwaltungstechnischen Bezeichnung. Lediglich eine Frau wurde in einem Provinzzentrum (il merkezi) gewählt, nämlich in Tunceli. Kreisstädte (ilçe) sind Kızıltepe, Mazidagˇı, Bismil, Dogˇubeyazıt und Dogˇankent. Die restlichen Kommunen, d. h. Kavaklı, Seyrek, Hasköy, Karaçay, Kozcagˇız, I˙nkis¸ la, Küçükdikili, Yes¸ ilköy, Küçükdalyan, Sürgücü, Bagˇlar, Bostaniçi, sind belde, d. h. Orte mit einer belediye. Neben diesen Einordnungen in die Verwaltungshierarchie im zentralistischen türkischen Staat unterscheiden sich die Kommunen bzgl. Ökonomie, Lage, finanziellem Potential, regionaler Position, Nähe zu einem Industriestandort, Bevölkerungszusammensetzung. Einige Kommunen entstanden aus „richtigen Dörfern“, bzw. sind noch „richtige Dörfer“, wie Kavaklı/ Kırklareli, Karaçay/ Denizli, Hasköy/ Us¸ ak, I˙nkis¸ la/ Sivas, Seyrek/ Izmir, Yes¸ ilköy/ Hatay und Sürgücü/ Mardin. Kavaklı, Karaçay, Seyrek und Hasköy entsprechen dem Typus westtürkischer Dörfer245: um ein kleines Zentrum mit Moschee(n), Kahves, Läden und der Kommu245
Eine detaillierte Beschreibung eines ägäischen Dorfes gibt Hanne Straube: „In der Mitte von Bölcek liegt geschützt der Dorfplatz, das traditionelle Zentrum, das unangefochten das Territorium der Männer ist. Durch das Zentrum führt eine gepflasterte Fußgängerpassage, die Einkaufsstraße (Çars¸ ı sokaogˇı) oder Einkaufsviertel (çars¸ ı) genannt wird. Hier befinden (Fortsetzung auf S. 110)
A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/ 978-3-531-93113-5_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
nalverwaltung gruppieren sich ältere Gehöfte, neu erbaute große Beton- oder Steinhäuser liegen meist am Rande. Karaçay und Hasköy sind davon bedroht, wieder vom belediye-Status zum Dorfstatus zurückgestuft zu werden, da sie weniger als 2000 Einwohner haben. Eine Möglichkeit, um dies zu vermeiden, besteht darin, sich mit anderen Dörfern zusammenzuschließen zur Schaffung einer gemeinsamen belediye. Karaçay liegt in den Bergen südöstlich von Denizli und bietet einen freundlichen Anblick mit weißen und beigefarbenen Häusern, an denen Weinreben wachsen, und üppigen Gärten. Das kleine Zentrum besteht, wie so viele Dörfer in der Türkei, aus der Moschee, dem danebenliegenden Kahve mit einer malerischen Terrasse – und natürlich der Kommunalverwaltung, die in einer Etage im Haus gegenüber von Moschee und Kahve untergebracht ist. Da sich Denizli zu einem Zentrum der Textilindustrie entwickeln konnte und dies auch ein Schwerpunkt der Universität ist, bietet die Region auch den Jüngeren Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten. Wie auch in anderen Dörfern, die nicht weit von einer Provinzhauptstadt entfernt sind, nutzen die Einwohner die Vorteile beider Standorte, d. h. die Ruhe, die sozialen Kontakte und das Eigentum an Boden im Dorf sowie die Bequemlichkeiten und Arbeitsmöglichkeiten, soweit möglich, in der Stadt. Auch Kavaklı, in der weiten Sonnenblumenebene Thrakiens gelegen, nicht weit von der bulgarischen Grenze, weist die typische Dorfstruktur mit einem Dorfkern und darum liegenden Gehöften auf, hat aber ein größeres Zentrum als Karaçay mit einem kleinen Platz und einem Park. Auch Kavaklı profitiert von seiner Nähe zum Provinzzentrum Kırklareli, wo Industrie und eine Universität angesiedelt wurden. Die Bürgermeisterin erklärt, in Kavaklı seien die Menschen „modern“ und „europäisch“, alle könnten die Schule besuchen und berufstätig werden. Hasköy im westlichen Binnenland in der Provinz Us¸ ak hat eine sehr hübsche Postkartenansicht mit alten lehmfarbenen Häusern und zwei Moscheen, umgeben von Weingärten und Tabakfeldern. In nächster Nähe finden sich Schluchten und alte Felshöhlen. Hasköy wiederum wurde weit mehr von der Arbeitsmigration, vor allem auch nach Deutschland, getroffen, weshalb die Gemeinde zumindest im Winter einen beinahe ausgestorbenen Eindruck macht. In Seyrek/ Menemen/ Izmir weisen einige erste Eindrücke schon auf seine privilegierte Position hin: Die eigentliche Struktur des ägäischen Dorfes, ist gleich er245
(Fortsetzung von S. 109) sich fast alle Läden und Teehäuser des Ortes. (…) Die Einkaufsstraße führt zum zentralen Platz, an dem die Moschee steht, die damit für beide Viertel gleich gut erreichbar ist. (…) Das Männerzentrum mit dem ,Heiligtum‘ liegt folglich im Schnittpunkt aller Wege und Raumsysteme. (…) Dicht um das Zentrum liegen alle patrizentrischen Institutionen: der Jugendverein, der Verein der Jäger, die Büros der etablierten Parteien … “ (Straube 2002, S. 331).
6.1 Geographie der Bürgermeisterinnenkommunen
111
kennbar, ebenso die außerhalb gelegene neue, moderne belediye und einige Apartman-Blöcke. Die Kommunalverwaltung ist nicht mehr, wie in den meisten Dörfern, in einer Etage im Zentrum des Dorfes untergebracht neben Moschee und Kahve, sondern am Ortseingang in einem neuen Gebäude mit Spiegelfassade. Die Apartmans deuten an, dass Seyrek sich zu einem Vorort der Metropole Izmir entwickelt, wie auch das Lebenswerk der Bürgermeisterin, die Villakent-Siedlung, ein Wohnungsbauprojekt mit modernen Villen und Einfamilienhäusern mit Gärten, eben eine „Villenstadt“, die jedoch nicht in Seyrek selbst gebaut wurde, sondern als eigene „Stadt“ auf einem Hügel mit Meerblick. Seyrek selbst liegt in einer Ebene zwischen Feldern und ist ca. 20 Minuten von der Küste entfernt. Ähnlichkeiten hierzu finden sich in Yes¸ ilköy/ Dörtyol/ Hatay: Auch Yes¸ ilköy ist weiterhin dörflich geprägt mit weißgekalkten Häusern in blühenden Gärten zwischen Orangenplantagen, jedoch profitiert die Gemeinde wirtschaftlich von der Nähe zum Industriestandort Iskenderun, auf dem Gebiet Yes¸ ilköys endet eine wichtige Ölpipeline, an der Küste wurden außerdem einige Wochenendsiedlungen errichtet – dennoch ist die Arbeitslosigkeit hoch, nicht zuletzt, da eine nicht unerhebliche Anzahl an Flüchtlingen aus dem Osten hier Zuflucht fand. Haupteinnahmequelle ist weiterhin die Zitruskultur, schließlich ist die Gegend eines der wichtigsten Anbaugebiete für Orangen in der Türkei. Hinter der „Perle von Sivas“ schließlich verbirgt sich ein etwas ungewöhnliches Dorf: I˙nkis¸ la. Weit abgelegen nicht nur von den nächsten Provinzhauptstädten Sivas und Kayseri, sondern auch von der Landstraße, im tiefsten Zentralanatolien, nahe dem Ufer des Kızılırmak-Flusses, präsentiert sich das Dorf mit asphaltierten Feldwegen und gepflasterten Dorfstraßen – eine Rarität in der ländlichen Türkei. Ebenso der Mangel an alten Dorfhäusern: fast alle Häuser sind neu erbaut. Es gibt weder Probleme mit der Wasserversorgung noch mit der Kanalisation. Kaum eine Familie in I˙nkis¸ la weist nicht Verwandte in Europa auf, viele sind aus Europa in ihr Dorf zurückgekehrt. Ein ganz anderer Anblick findet sich in den Bergen Südostanatoliens zwischen Diyarbakır und Mardin: die kleine Gemeinde Sürgücü. Beigefarbene Lehmhäuser drängen sich eng an den Burgberg, auf dessen Spitze der Sitz des Agˇas sich befindet. Zum Zeitpunkt des Besuches gab es weder geteerte Straßen noch Kanalisation und fließendes Wasser. Erst seit wenigen Jahren liegt Sürgücü nicht mehr im militärischen Sperrgebiet – die Region litt jahrelang unter den militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Armee und der PKK, wovon die Ruinen vieler benachbarter Dörfer, die niedergebrannt wurden, zeugen. Zum Zeitpunkt des Besuches gehörten Militärkontrollen und Militärpatrouillen immer noch zum Alltag in der Region. Sürgücü ist trotz seiner peripheren Lage sehr belebt und bot auch Flüchtlingen aus den umliegenden Dörfern Zuflucht. Dennoch versuchen gerade die jungen Männer, in
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
den Metropolen Fuß zu fassen. Viele junge Mädchen arbeiten als Saisonarbeiterinnen auf den großen Feldern in der näheren Umgebung – Sürgücü selbst liegt in einem engen Tal, so dass es nur winzige Felder gibt, die mit Pflügen und Maultieren bearbeitet werden. Als großes sich verstädterndes Dorf oder kleine ländlich geprägte Stadt, westlich der Verbindungsstraße zwischen Mardin und Diyarbakır gelegen, hat Mazidagˇı es in den Rang eines Kreiszentrums geschafft. Dies mag der Grund sein, dass die Siedlung einige infrastrukturelle Vorteile hat gegenüber Sürgücü: Es gibt eine gut ausgebaute Straße und ein kleines Zentrum. Allerdings gibt es weiterhin Probleme mit der Wasserversorgung. Die meisten Einwohner sind Bauern, vor allem Trauben werden hier, wie auch in Sürgücü, kultiviert. Kozcagˇız und Dogˇankent sind typische Schwarzmeersiedlungen: Beide Gemeinden sind Siedlungszentren, zu denen die sie umgebenden Dörfer gehören246. Kozcagˇız in der Provinz Bartın an der westlichen Schwarzmeerküste, ca. 5 Stunden nördlich von Ankara gelegen, ist ein kleiner Marktflecken in einem Flusstal zwischen sanften grünen Hügeln, Wiesen und Wäldern mit üppiger Vegetation. Das malerische Küstenstädtchen Amasya, eines der bevorzugten Wochenendziele der Ankaralıs, ist in unmittelbarer Nähe, wovon Kozcagˇız profitieren möchte, ebenso die Provinzhauptstadt Bartın, die zu den kleinsten Provinzzentren der Türkei gehört. Die Kommune wurde 1967 gegründet und umfasst knapp 5000 Einwohner, mit den umliegenden Dörfern zusammen 8000 Einwohner. Wichtigste ökonomische Einnahmequelle ist de Landwirtschaft. Dogˇankent liegt in der Provinz Giresun an der östlichen Schwarzmeerküste 30 km im Inland in einem Flusstal. Wichtigstes Produkt sind Nüsse, außerdem gehört die Almenkultur zum jahreszeitlichen Rhythmus. Die kurdischen Kreiszentren Bismil, Kızıltepe und Dogˇubeyazıt weisen einige Ähnlichkeiten auf: Alle drei sind ältere Siedlungen, die als Zentren für die umliegenden Dörfer fungierten und sich zu kleinen Städten entwickelten, nun aber durch ihre periphere Lage, den Einfluss des Bürgerkrieges, die Massen an Flüchtlingen spezielle Probleme entfaltet haben und verdörflicht wurden: In den letzten vier bis fünf Jahren sei Kızıltepe, nicht weit von der arabisch geprägten Provinzhauptstadt Mardin entfernt, von 30 000 auf 130 000 Einwohner angewachsen und sehe nun aus wie ein Dorf, wie Cihan Sincar erklärt. Das quirlige Stadtzentrum mit dem Markt, die ApartmanBlöcke, die recht hohe Einwohnerzahl verstecken nicht die zahlreichen dorfähnlichen Viertel, die den Flüchtlingen aus den Dörfern ein neues Zuhause gaben. 246
Am Schwarzen Meer im Pontischen Gebirge überwiegen Streudörfer, d. h. es wird über eine weite Fläche gesiedelt, statt eines Dorfzentrums wie in Haufendörfern gibt es in den Tälern Marktflecken, die für den Handel und den Markt der Dörfler wichtig sind.
6.1 Geographie der Bürgermeisterinnenkommunen
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Kızıltepe ist eine kurdisch-nationalistische Hochburg, während der Kreis Mardin ethnisch und religiös sehr heterogen ist. Auch in Bismil, das zwischen Diyarbakır und Batman liegt, überwiegen die ungeteerten, staubigen bis matschigen Straßen, die Pferdefuhrwerke und die hoffnungslosen Lebensumstände. Dogˇubeyazıt liegt im äußersten Osten am Berg Ararat. Das „Stadtzentrum“ von Dogˇubeyazıt besteht aus einigen Straßen mit kommunalen Einrichtungen, Händlern und Kasernen – die iranische Grenze liegt unmittelbar vor den Toren Dogˇubeyazıts –, Hotels – der Berg Ararat und der Ishak-Pas¸ a-Sarayı locken gelegentlich Abenteuertouristen an – daneben beginnen die unzähligen flachen Häuschen, in denen bittere Armut herrscht: außer der Viehzucht bietet das Land keine Möglichkeiten. Die Bewohnerinnen müssen weiterhin mühsam das Wasser zum Haus tragen, viele Männer versuchen, im Westen des Landes Fuß zu fassen. Bagˇlar/ Diyarbakır, Bostaniçi/ Van und Kücükdikili/ Adana sind Flüchtlingssiedlungen in bzw. in der Nähe von größeren Provinzhauptstädten: Alle drei Kommunen sind Armenviertel mit Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsregionen, unterscheiden sich aber dennoch grundlegend voneinander. Küçükdikili ist die etablierteste Ansiedlung, zwischen Mersin und Adana gelegen. Die wirtschaftlich aufsteigende Çukurova, die Ebene zwischen dem Taurusgebirge und den Bergen des Hatay, bot den Ankömmlingen aus dem Osten eine vielversprechende Bleibe – tatsächlich leben viele Kurden weiterhin in solch Gecekonduähnlichen Siedlungen wie Küçükdikili: Die Einwohner kamen aus den Provinzen Diyarbakır, Mus¸ , Bingöl, Hakkari, S¸irnak, Mardin zu Beginn der 90er Jahre247 und bauten sich zunächst Gecekondus, weshalb die Siedlung wie ein Dorf wirkt – erst seit ein, zwei Jahren bauen die Menschen „normale“, d. h. städtische Häuser. Weiterhin betreiben die Menschen Landwirtschaft und halten Tiere – Kühe, Schafe und Hühner. Auch wenn die Einwohner sehr arm sind, bietet die Nähe zu den prosperierenden Großstädten zumindest die Möglichkeit, in den umliegenden Fabriken Arbeit zu finden. Bagˇlar, ein Stadtteil der „heimlichen Hauptstadt der Kurden“ Diyarbakır, ist eine der größten Kommunen der Türkei mit offiziell 350 000 Einwohnern, größer als 28 türkische Provinzen. 98% der Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Der Stadtteil besteht aus schnell hochgezogenen, eng beieinander stehenden ApartmanBlöcken und Gecekondu-Siedlungen, in denen „die Menschen nicht einmal Platz zum Atmen haben“, wie die stellvertretende Bürgermeisterin Rojda es ausdrückt. Es gibt keine Grünflächen, keine Plätze, viele Kinder müssen als Straßenverkäufer oder 247
In industriell sich schnell entwickelnden Städten wie Adana, Mersin und Izmir ist der Anteil der kurdischen Bevölkerung besonders hoch. Vgl. Strohmeier 2003, S. 182.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
Hilfsarbeiter arbeiten. Bagˇlar ist wohl der Stadtteil Diyarbakırs, der am offensichtlichsten die Problematik dieser Stadt und dieser Region verkörpert: Diyarbakır wuchs in den letzten Jahren um das Dreifache, lediglich ein Drittel der Bevölkerung zählt als angestammte Diyarbakırlıs, ein Drittel wird als wirtschaftliche MigrantInnen gerechnet, die vor 1990 in die Stadt zogen, das letzte Drittel machen Vertriebene der umliegenden Dörfer aus, d. h. Bürgerkriegsflüchtlinge. Diese letzte Gruppe bestimmt im Wesentlichen die Einwohnerschaft Bagˇlars. Bis 2002 herrschte in Diyarbakır der Ausnahmezustand, erst langsam erholt sich die Region von den Kriegsjahren. Auch wenn durch die Universität und moderne Stadtviertel eine gewisse freie Atmosphäre sich entwickeln konnte, zeichnen die Armut, die fehlende Industrie, die Menschenmassen das Gesicht der Stadt – wer über die finanziellen Mittel verfügt, verlässt die Stadt Richtung Westen. Doch bezeichnet die Bürgermeisterin ihre Kommune als eine der dynamischsten der Türkei. Bostanici, außerhalb der Provinzhauptstadt Van gelegen, beherbergt vor allem Flüchtlinge aus Hakkari, der ärmsten und abgelegensten Provinz der Türkei. Auch wenn die Siedlung auf den ersten Blick einen freundlichen Eindruck macht mit den frei stehenden Häusern und für ostanatolische Verhältnisse überdurchschnittlich vielen Bäumen, bestimmen auch hier die Armut und das Elend das Leben der Menschen: jedes Haus wird von durchschnittlich 11 Menschen bewohnt, von denen lediglich eine Person Einkommen schafft. Die Frauen bleiben häufig allein mit den Kindern zurück, während die Männer als Saisonarbeiter im Westen arbeiten oder in den ursprünglichen Dörfern versuchen, wieder Landwirtschaft zu betreiben. Eine weitere belde ist Kücükdalyan, ein Stadtteil Antakyas im Hatay, d. h. in unmittelbarer Nähe der syrischen Grenze: Die alte Handelsstadt Antakya ist Grenzstadt und fungiert als ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Syrien und der Türkei, sowohl kulturell – die meisten Einwohner sind arabischer Abstammung, es wird mehr arabisch als türkisch gesprochen, die Bevölkerung setzt sich aus Christen, Sunniten und Schiiten zusammen, familiäre Bindungen existieren über die Grenzen hinweg – als auch wirtschaftlich: Viele Antakyalıs arbeiten in den arabischen Golfstaaten, arabische Touristen kommen ins Hatay, um Urlaub zu machen. Auch wenn das arabische Antakya im südlichen Hatay und das nördliche Hatay, wo Yes¸ ilköy liegt, lediglich eine Passstrasse trennt, unterscheiden sich die beiden Regionen des Hatay sehr: Während Yes¸ ilköy eher als traditionell-konservativ-nationalistisch gilt, wird im kulturell heterogenen Antakya eher links gewählt. Schließlich ist noch die Provinzhauptstadt Tunceli im östlichen Zentralanatolien zu nennen: Zum Zeitpunkt des Besuches gab es in der Region heftige Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der PKK, weshalb die Straßen voller Militär waren und davon abgeraten wurde, die Stadt zu verlassen. Tunceli wird von Aleviten bewohnt, die die Region und die Stadt selbst Dersim nennen. Auch
6.2 Die Bürgermeisterinnen der Türkei, 2004–2009
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wenn in der Regel behauptet wird, dass Aleviten offener und fortschrittlicher als Sunniten seien, fällt in den Straßen sofort auf, dass kaum Frauen in der Öffentlichkeit zu sehen sind. Das Stadtzentrum ist heruntergekommen, die Cafés am Ufer des Flusses Munzur sind geschlossen – Tunceli erweckte nicht den Eindruck eines Ortes, an dem Fremde willkommen sind und Besucher gern bleiben.
6.2
Die Bürgermeisterinnen der Türkei, 2004–2009
Im Folgenden werde ich zunächst einige statistische Daten zu den Bürgermeisterinnen der Türkei zusammenfassen und sie dann anhand ihrer politischen Biographie vorstellen. Von den 18 Bürgermeisterinnen gehören neun der DEHAP und eine der SHP an, d. h. zehn Bürgermeisterinnen rechnen sich zum „Demokratischen Stärkebündnis“248, fünf sind Mitglieder der CHP, zwei der AKP, und eine der DYP. Fünf der Bürgermeisterinnen sind Universitätsabsolventinnen: Fatma ist Landkarteningenieurin, Nurgül ist Journalistin, Nuran Französischlehrerin, Yurdusev Anthropologin, Nazmiye ist Absolventin in Tourismus- und Verwaltungswissenschaft. Gülcihan arbeitete nach dem Gymnasium in der HADEP/ DEHAP und der Stadtverwaltung von Van und studiert noch nebenher Informatik. Auch I˙nci ist „studierende Bürgermeisterin“, arbeitete vor ihrer Wahl in verschiedenen Branchen, außerdem ist sie Mutter und Hausfrau. Meliha ist pensionierte Bankangestellte. Aynur und Lina haben das Gymnasium besucht, anschließend geheiratet, waren Ehefrau und Mutter, Aynur half ihrer Mutter in der Landwirtschaft, Lina machte Sozialarbeit an der Seite ihres Mannes, des vorherigen Bürgermeisters von Kücükdalyan. Auch Hilal war zunächst Ehefrau und Mutter, später Frau des Bürgermeisters. Songül ging nach Abschluss des Gymnasiums nach Ankara und arbeitete in einer Gewerkschaft. Mukaddes holte den Gymnasialabschluss nach der Heirat nach, handelte mit Schreibwaren und arbeitete nebenher in der HADEP/ DEHAP in Izmir. Leyla, zunächst Hausfrau und Mutter, arbeitete nach der Scheidung als Umfragerin, bevor sie Berufspolitikerin wurde. Cihan und S¸ükran, zunächst Hausfrau und Mutter, wurden Berufspolitikerinnen nach der Ermordung ihrer Ehemänner. Zeyniye besuchte vor der Heirat die Handarbeitsschule in Kızıltepe, nach der Heirat wurde sie Bäuerin, Hausfrau und Mutter. 248
Das sogenannte „Demokratische Stärkebündnis“ entstand als Zusammenschluss der SHP und der DEHAP. Zum Zeitpunkt der Feldforschung gehörten die entsprechenden Bürgermeisterinnen noch zur DEHAP, erst während der Auswertungsphase entstand die neue Partei der DTP. Ich verwende deshalb weiterhin die Bezeichnung DEHAP.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
Neun der Bürgermeisterinnen haben Türkisch als Muttersprache, eine ist arabische Muttersprachlerin, von den acht Kurdinnen ist eine Zaza, die anderen haben Kurmanci als Muttersprache249. Unter den interviewten Bürgermeisterinnen ist die Anzahl derer, die ohne Ehemann leben, sehr hoch: vier sind verwitwet, eine ist geschieden, fünf sind ledig, acht sind verheiratet. Eine Bürgermeisterin hat elf Kinder, vier haben drei Kinder, zwei haben zwei Kinder, eine hat ein Kind. Die unverheirateten jungen Frauen wohnen bei den Eltern, Leyla lebt zusammen mit einer Freundin. Bei denen, die in ihren Heimatgemeinden arbeiten, ist meist der Kontakt zur weiteren Familie sehr eng, Frauen der Familie kümmern sich um die minderjährigen Kinder: Zeyniyes älteste Tochter, deren Kinder nur wenig jünger als Zeyniyes jüngste Kinder sind, passt auf diese auf; Aynurs Mutter versorgt deren Kinder. Fast alle Bürgermeisterinnen wurden in ihrer Heimatgemeinde gewählt, d. h. in dem Ort, an dem sie geboren wurden und wo sie aufwuchsen. Lina Cilli wurde in Syrien geboren, kam aber als Kind ins Hatay. Nazmiyes Vater stammt aus Dogˇankent, sie wuchs jedoch in Ankara auf. Zwei (Sezgin, Zeyniye) kamen als „Braut“ in ihre jetzige Heimat, durch die Heirat und die Jahre des gemeinsamen Lebens wurden sie „eine von hier“. Drei erhielten ihren Wahlkreis als Funktionärinnen ihrer Partei: Gülcihan wurde zwar in ihrer Heimatregion Van gewählt, jedoch wohnen in Bostaniçi in erster Linie Bürgerkriegsflüchtlinge aus Hakkari. Leyla als Cihanbeylili aus der Provinz Konya wurde nun in der Provinz Adana in einer Kommune mit Bürgerkriegsflüchtlingen gewählt, wenngleich sie mit ihnen die kurdische Herkunft verbindet. Yurdusev wurde ebenfalls in einer Bürgerkriegsflüchtlingskommune gewählt, allerdings als Türkin aus einer westlichen Provinz in der heimlichen Hauptstadt der Kurden im Südosten.
6.3
Vielfältige Wege in die Politik
Mit der Problematik dieser Arbeit, wie Frauen innerhalb der politischen Strukturen in der Türkei aktiv werden, beschäftigte sich Yes¸ im Arat in den achtziger Jahren in ihrer Dissertation unter dem Titel „The Patriarchal Paradox“. Sie interviewte die damaligen weiblichen Parlamentsabgeordneten sowie Istanbuler Kommunalversammlungsmitglieder. Yes¸ im Arat trennt dabei – in ähnlicher Weise wie Brigitte Geißel250 – zwischen Politisierung aufgrund des Einflusses anderer Personen, d. h. in erster 249
Es gibt mehrere kurdische Dialekte, in der Türkei überwiegt Kurmanci, im östlichen Zentralanatolien wird auch Zazaca gesprochen, vor allem auch unter den dortigen Aleviten. 250 Geißel 1999.
6.3 Vielfältige Wege in die Politik
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Linie der Familie, und Politisierung aufgrund politischer Ereignisse. Während Männer meist wegen politischer Ereignisse politisiert wurden, wurden Frauen durch persönliche Beziehungen politisiert251. Der Politisierungsprozess von Männern und Frauen unterscheide sich somit stark voneinander. Die meisten Männer kamen aus unpolitischen Familien und wurden während der Universität oder kurz darauf politisiert.252 Viele der interviewten Politikerinnen hatten nahe Verwandte in der Politik, die Frauen kamen also aus Familien, wo Politik Teil des privaten Familienlebens war. Auf diese Weise kann Arat bzgl. türkischer Politikerinnen klar ihre These bzgl. der Politisierung weiblicher Politikerinnen durch männliche Verwandte aufbauen: “Whereas most male MPs were politizised in response to political events that had a nationwide impact, most of the women responded to the influence of the political men in their lives. As fathers and husbands, men sparked women’s political interests, and as male politicians they recruited women into politics.”253
Im Gegensatz zu dem, was Arat erwartet hätte in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Männer traditionell das politische Geschäft monopolisiert haben, hatten die wenigen Frauen, die in ein Amt gewählt wurden, große Unterstützung durch die „Patriarchen der Familie“: “In encouraging these women to be politically involved, the fathers and brothers were devolving political authority to women within the constraints of a patriarchal society.”254
Arat unterscheidet fünf Muster zum Eintritt von Frauen in die Politik: Männliche Verwandte als Rollenmodelle255; die „Frau des Ehemannes“ oder die „Tochter des Va-
251
Yes¸ im Arat operiert allerdings mit einem eher engen Politikbegriff. So wurden zwar nur zwei der zwölf interviewten Kommunalversammlungsmitglieder „wegen politischer Ereignisse“ politisiert, vier wurden jedoch langsam durch soziale Arbeit in die Politik involviert. Insofern stellt sich die Frage, inwieweit das soziale Engagement nicht schon als eine Stufe der politischen Partizipation gelten kann – gerade auf der lokalen Ebene. Vgl. Arat 1989, S. 82. 252 Dabei war die Rivalität zwischen CHP und DP der wesentliche Politisierungsgrund zwischen 1945 und 1960, d. h. es scheint, dass Arat unter dem Begriff „politische Ereignisse“ eher Ereignisse im herkömmlichen Verständnis fasst – wie hier die Rivalität zweier Parteien. 253 Y. Arat 1989, S. 93f. 254 Y. Arat 1989, S. 87. 255 Frauen in dieser Gruppe wurden aufgrund des Vorbilds ihres Vaters oder Ehemannes politisiert, jedoch nicht durch jemanden rekrutiert: “For women in this group, initiation into politics was a private matter that took shape within the patriarchal family, bound the patriarchal tie.” Arat 1989, S. 89.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
ters“256; Anwerbung der „politischen Frau“257; Anwerbung der „unpolitischen Frau“258; „Frauen ohne Mann“259. Ohne die Autorität eines Mannes im Rücken könnten nur wenige Frauen sich politisch engagieren: “Without the authoritative male backing, only a few women could move into politics. The tradition of men exercising political power defined the parameters within women exercised political power.”260
Allerdings stellt sie weiter fest, dass unter den Frauen in den städtischen Kommunalversammlungen der Einfluss männlicher Verwandter geringer ist.261 Ays¸ e Günes¸ -Ayata unterscheidet zwei Muster, nach denen Frauen sich politisch engagieren: „Frauen, die sich im Namen oder zugunsten von männlichen Familienangehörigen politisch engagieren“ und „unabhängige Frauen“. Erstere seien vor allem in der Kommunalpolitik tätig, ihr Familienleben und ihr Partner habe aber stets Vorrang. Ihr Verhalten in der Gesellschaft sei „typisch weiblich“, was Auftreten und Aussehen betrifft, ihre Gesprächsthemen beträfen in erster Linie Kinderpflege und Familienprobleme. Vor allem aber sind sie unter Frauen politisch aktiv und pflegen ihre eigenen Kommunikationsnetzwerke: „Ihr Hauptziel dabei ist, die politisch aktiven Männer ihrer Familie zu schützen. In einem Land wie der Türkei, in dem der soziale Aufstieg der Frauen in der Regel an den der Männer gekoppelt ist, drängt die Frau ihren Mann in die Politik und versucht gleichzeitig, ihren Wert für die Familie und ihre Treue dadurch zu beweisen, dass sie sich intensiv mit der Politik beschäftigt. Frauen sind jedoch sehr selten direkt und ausschließlich politisch tätig.“262 256
Frauen dieser Gruppe wurden von Parteien rekrutiert wegen bekannter männlicher Verwandter, d. h. die entsprechenden Parteiführer erwarteten durch diese Frauen Gewinne aufgrund der Popularität des Ehemannes oder des Vaters. 257 Frauen, die durch männliche Verwandte politisiert wurden, dann von Parteien, z. B. durch die Frauenkommissionen der Parteien oder durch die männlichen Verwandten, rekrutiert wurden. 258 Arat bezieht hier auch Frauen mit ein, die sozial aktiv waren und von den Parteien angeworben wurden, da diese durch sie profitieren wollten, d. h. damit sie so soziales Engagement in politisches Engagement umwandelten. 259 Frauen dieser Gruppe, die in Arats Sample sehr klein ist, wurden wie die männlichen Abgeordneten durch politische Ereignisse politisiert, darunter zwei Sozialistinnen und eine, die sich für die Situation armer Frauen einsetzen wollte. „Ohne Mann“ heißt in diesem Fall, dass diese Frauen ohne Unterstützung eines männlichen Verwandten in die Politik gingen. 260 Arat 1989, S. 94. 261 Horst Unbehaun wiederum nennt das Beispiel zweier Frauen, die aufgrund der taktischen Kalküle ihrer Männer in den dreißiger Jahren als „Wahlfrauen“ in einem Dorf in der Provinz Datça aufgestellt wurden (vgl. Unbehaun 1994). 262 Günes¸ -Ayata 1991, S. 194.
6.4 Politisierungsgründe der Bürgermeisterinnen der Türkei
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Während diese Frauen recht jung seien, d. h. zwischen 25 und 40 Jahre alt, seien „unabhängige Frauen“ im allgemeinen über 45 Jahre alt, so dass sie entweder schon verheiratet oder nicht mehr im „attraktiven Heiratsalter“ seien, damit sie in der männerdominierten Politik nicht den Eindruck erweckten, sie seien „ungeschützt“. Da die türkische Gesellschaft und die politischen Verhältnisse in der Türkei sich seitdem stark verändert haben, stellt sich die Frage aktuell, wie in der heutigen Türkei Frauen politisiert werden und es in kommunalpolitische Ämter schaffen, zumal jenseits der Metropolen. Dabei interessiert mich zunächst einmal, ob die derzeitigen Lokalpolitikerinnen wegen frauenspezifischer Lebenskontexte politisiert wurden, oder ob diese keine Rolle spielten für die Entscheidung, politisch aktiv zu werden. Dabei orientiere ich mich an den Überlegungen Brigitte Geißels: sie war in ihrer Studie davon ausgegangen, dass Verlauf und Ergebnis politischer Sozialisation von Frauen durch die Tätigkeiten, Beziehungen und Erfahrungen, die sich im Kontext und als Folge der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung konstituierten, in besonderer Weise geprägt werden, dass das Geschlechterverhältnis als gesellschaftliches Organisationsprinzip die Politisierung von Frauen beeinflusst. Darauf aufbauend stellte sie die Frage, ob die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auch eine Chance für politische Entwicklungspotentiale beinhaltet und vermutete, dass erfahrene Ungleichheiten politisierend wirken könnten: widersprüchliche Belastungen würden nicht mehr nur als private Zumutungen erlebt, sondern als sozial verursachte Konflikte erfahren, aus denen schließlich politische Forderungen artikuliert werden. Die von ihr befragten Kommunalpolitikerinnen ließen jedoch nicht erkennen, dass sie aufgrund gemeinsam geteilter frauenspezifischer Erfahrungen den Weg in die Politik fanden. Schließlich gestaltete es sich schwierig, das strukturell Gemeinsame im Leben von Frauen zu finden. Ich möchte nachfolgend zeigen, inwieweit frauenspezifische Erfahrungen und Begründungen in Verbindung mit anderen Motiven zur Politisierung bzw. zur Entscheidung, Politikerin zu werden, führten. Zunächst stehen dabei die Selbstdarstellungen der interviewten Bürgermeisterinnen im Mittelpunkt. Anschließend gehe ich auf die Frage ein, inwieweit der Prozess, „Politikerin“ zu werden, und der Prozess, „Kandidatin“ zu werden, miteinander verknüpft sein können, und welche Hindernisse und Hilfen es für die gewählten Frauen sowohl für die Kandidatur gab als auch anschließend im Wahlkampf: Hier stehen dann Handlungsstrategien der Kandidatinnen im Mittelpunkt. 6.4
Politisierungsgründe der Bürgermeisterinnen der Türkei Mein Parteieintritt war so: ich war Beamtin, mein Mann auch, d. h. wir waren von Geburt an für die CHP, als Erwachsene auch – Atatürk hatte uns 2 Geschenke gemacht, zum einen die türkische Republik, zum zweiten die CHP. Deshalb wurde ich Kandidatin der CHP.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
D. h. sind Sie in die CHP eingetreten wegen des Programms, die CHP als sozialdemokratische Partei, war das auch wichtig? Ich habe mit der CHP angefangen, und mit der CHP werde ich zu Ende gehen. Sezgin, Karaçay
In Sezgins Aussage wird die starke Identifikation mit der Partei und dem Kemalismus deutlich, die sowohl durch ihre Familie als auch durch ihren Beruf geprägt wurde. Die nationale Ideologie bestimmte ihr Leben, „Politik“ bedeutet für sie stets, ihrer Partei, der CHP, und somit ihrem Heimatland im Namen Atatürks zu dienen. Unabhängig von dieser ideologischen Orientierung handelte sie im Rahmen klientelistischer Regeln, indem sie unterschiedliche Personen unterstützte: Dass ich in die Politik gestoßen wurde, war so: nachdem ich Rentnerin geworden war, unterstützte ich einen Muhtar. Dieser Kollege verlor, da unterstützte ich den Kollegen, der gewonnen hatte. Ich hatte viele Stimmen (mobilisiert), ich wechselte zu ihm. Als unsere Gemeinde Kommune wurde, wurde ich Mitglied in der Gemeindeversammlung. Zwei Perioden lang war ich Mitglied. Und dann entschloss ich mich, es selbst zu werden. Ich habe für das Bürgermeisteramt kandidiert. Den Bürgern sei gedankt, sie unterstützten mich, sie versagten nicht, sie gaben mir ihre Stimme und jetzt arbeite ich als Bürgermeisterin. Das ist alles, so begann es, dass ich in die Politik gestoßen wurde. Sezgin, Karaçay
Doch war dies nicht „alles“, sondern es gab eine weitere Verwicklung auf ihrem Weg ins Bürgermeisteramt: Nachdem Sezgin zunächst als politisch interessierte Frau in die Kommunalversammlung gewählt worden war, fällte sie die Entscheidung, für den Bürgermeisterposten zu kandidieren, als sie durch den vorherigen Bürgermeister als Frau diskriminiert wurde. Als sie ihren Kommunalversammlungskollegen gegenüber scherzte, wenn sie bei der nächsten Wahl kandidieren werde, käme niemand gegen sie an, meinte ihr Vorgänger, sie werde als verwitwete Frau höchstens hundert Stimmen erhalten. Sie fühlte sich dadurch sehr verletzt und entgegnete aus Trotz, sie werde nun gegen ihn antreten, es sei ihr egal, ob sie 100 oder 500 Stimmen bekäme. Aus Eigensinn sei sie also Kandidatin geworden, wegen des Wunsches, es der politischen Männerwelt in ihrem Dorf zu beweisen, dass sie ihnen als Frau gewachsen sei. Die Erfahrung der geschlechtsspezifischen Diskriminierung innerhalb der politischen männlich dominierten Sphäre im Dorf ist also für Sezgin der Auslöser zur Kandidatur. Der familiäre Hintergrund und die ideologische Orientierung bewirkten zwar ihr Interesse an der Kommunalpolitik, die Entscheidung, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren, fällt sie erst in Folge ihrer Benachteiligung als Frau innerhalb der männerdominierten Dorfpolitik. Wie Sezgin wuchs die Mehrheit der Bürgermeisterinnen in politisch interessierten Familien auf, die häufig mit einer Partei sympathisierten, und entwickelte weitere Politisierungsstufen auf individuelle Weise. Dabei betonen die meisten CHP-Politi-
6.4 Politisierungsgründe der Bürgermeisterinnen der Türkei
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kerinnen ihre Verbundenheit zum Kemalismus als Politisierungsgrund, wobei diese auf eine lange Familientradition der Parteizugehörigkeit zurückgehe, oder, wie Sezgin es ausdrückt, ihnen „in die Wiege gelegt“ wurde. Neueren Forschungsergebnissen zufolge spielt für die politischen Einstellungen die subjektive Identifikation mit einer Partei eine wesentliche Rolle, die durch die frühe politische Sozialisation einer Person in einer bestimmten Herkunftsregion geprägt werde.263 Im traditionell linken Hasköy gehört auch Aynur einer CHP-treuen Familie an. Während sie zunächst in der Frauenkommission der CHP aktiv war, entschied sie sich zur Kandidatur, als eine andere Frau für den Bürgermeisterposten kandidierte und ihrer Meinung nach den Wahlkampf „falsch“ führte – dies habe sie besser machen wollen. Auch Aynur beschließt also aufgrund ihrer Wahrnehmung als Frau ihre Kandidatur – da viel mehr Frauen politisch aktiv werden müssten, dies aber „richtig“ angehen sollten, habe sie sich wählen lassen. Auch wenn also die Familie Aynurs Engagement begünstigte, ihr Mann sie dabei unterstützte, beeinflusste in erster Linie ihre geschlechterbewusste Sicht auf die Gesellschaft und ihr Wille, sich aktiv und dynamisch für ihre Heimatgemeinde einzusetzen, ihre Kandidatur. Auch I˙ncis Familie ist seit mehreren Generationen in der Politik, d. h. in der CHP. Als sie zehn Jahre alt war, kandidierte ihr Vater bei der Bürgermeisterwahl in Kavaklı, verlor aber wegen sechs fehlender Stimmen. I˙nci war deshalb sehr traurig mit ihrem Vater. Hinzu kam, dass sie in ihrer Familie sieben Mädchen waren, ihr Vater also keinen Sohn hatte, eine Tatsache, die in der türkischen Gesellschaft nicht leicht zu akzeptieren ist. Jedoch habe ihr Vater „sieben Töchter wie Löwen“, von denen eine Bürgermeisterin wurde, d. h. gewissermaßen die Niederlage des Vaters wiedergutmachte. Aus I˙ncis Erzählung wird ersichtlich, wie sehr die ungewöhnliche Familienkonstellation sie beeinflusst hatte; dass die Tochter bemüht war, für den Vater den gesellschaftlichen Spott zu verhindern, indem sie als Karrierefrau in der Politik sich zeigt. Außerdem war sie unzufrieden mit der vorherigen Kommunalpolitik in Kavaklı, das immer noch wie ein Dorf sei und nun durch ihre sozialdemokratische Politik sich weiterentwickeln, verstädtern solle. Nicht die politiknahe Familie an sich, nicht eine spezielle Bindung an den Vater an sich erklären also die Entscheidung für die Kandidatur, sondern die Erfahrung mit der Reaktion der Gemeinschaft auf die Familienkonstellation sowie die Verbundenheit mit dem Heimatdorf und der sozialdemokratischen CHP bewirkten den Wunsch I˙ncis zu kandidieren. Dass der familiäre Hintergrund nicht der wichtigste Grund für die Politisierung sein muss, zeigt das Beispiel Fatmas. Sie erwähnt ebenfalls, dass ihr Vater in ihrem Heimatdorf kandidiert hatte und Versammlungsmitglied war. Auch wenn sie deshalb also in einer politischen Familie aufwuchs, erklärt sie ihre Entscheidung, selbst po263
Vgl. Franz 2003. S. 8.
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litisch aktiv zu werden, mit ihrer Verbundenheit zu ihrer Heimat. Sie wollte dem Ort dienen, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Gleichzeitig betont sie, dass „das Volk“ sie gewollt habe, schließlich hätten die Menschen in Dörtyol ihr vorgeschlagen zu kandidieren: Meine Freunde haben mich beeinflusst. In der Gemeinde wurde die Stimme laut: Fatma macht den Job, sie ist eine erfolgreiche Frau, ihr Beruf ist für diese Arbeit passend, warum auch nicht, und so ist es passiert. Fatma, Yes¸ ilköy
Für die AKP zu kandidieren, beschloss sie jedoch aus Bewunderung für einen anderen Mann: Da Tayyip Erdogˇan für die Türkei erfolgreiche Politik mache, wollte sie an seiner Seite für Yes¸ ilköy ebenfalls etwas voranbringen. Sie entschied also nicht (partei-)ideologisch, sondern handelte mit dem Ziel, möglichst effektiv die Lage ihres Heimatdorfes zu verbessern. Sie wollte „mit einigen Dingen brechen“, vor allem etwas für die Frauen unternehmen. Während sie selbst seit dem Studium an der Istanbuler Technischen Universität daran gewöhnt ist, in männerdominierten Bereichen zu agieren, zeigt sich ein starkes Bewusstsein für die benachteiligte Lage der Frauen in ihrer Gemeinde. Nazmiye, die in Ankara geboren wurde und aufwuchs, wurde in der Heimat ihres Vaters Bürgermeisterin, nachdem ein Verwandter zu ihr während eines Besuches in Dogˇankent gesagt hatte: „Wenn wir hier eine(n) Bürgermeister(in) wie du hätten, würde er (sie) hier einen besseren Dienst leisten!“ Diese Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf – und sie wurde Kandidatin der AKP. Des Weiteren habe sie etwas für die Heimat ihres Vater tun wollen264. Rojdas Vater war Bürgermeister in der Kleinstadt Lice, bis diese während der Auseinandersetzungen zwischen der PKK und der türkischen Armee 1994 niedergebrannt wurde und die Familie nach Diyarbakır fliehen musste. Auch Rojda spricht davon, dass sie „politisch aktiv“ aufwuchs: „Auf diese Weise waren wir aktiv in der Politik. Wegen meines Vaters waren wir immer in der Politik.“ Die Erfahrung der Flucht, das Trauma der Existenz als Flüchtling war aber letztendlich ausschlaggebend für die Entscheidung, in die Politik zu gehen. Sie sei „langsam in die Politik gestürzt worden“, nach dem Studium war sie zunächst in der Architektenkammer aktiv, d. h. sie wählte zunächst eine zivilgesellschaftliche Form der politischen Aktion, bevor sie sich entschloss, in die institutionelle Politik zu gehen; in diesem Moment habe sie die Benachteiligungen der Frauen in der Gesellschaft wahrgenommen: Als ich mich entschloss, Kandidatin zu werden, nahm ich einiges wahr, ich schaute mich um, im Allgemeinen in einigen Regionen betreffen die ganzen Probleme die Frauen, aber es gibt nur wenig Frauen, die gewählt werden. Leider will hier niemand
264
Vgl. „Kavga olsa ayırabilir mi?“, SABAH, 19. 12. 2006.
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zu viel Verantwortung übernehmen. Die Frauen wollen sich nicht mit diesen Dingen zu sehr befassen. Deshalb wurde ich Kandidatin. Vor allem in Bagˇlar gibt es zu viele Probleme für die Frauen. Es gibt keine Straßen, das beeinflusst die Frauen. Es gibt kein Wasser, das beeinflusst die Frauen. Das ist das, was sie an erster Stelle betrifft. Ich wurde Kandidatin, sagend: Ich will für sie einen Beitrag leisten, und so wurde ich gewählt. So begannen wir die Aufgabe. Rojda, Bagˇlar/ Diyarbakır
Dass sie gerade im verarmten Bagˇlar und nicht in ihrem eigenen Stadtteil Yenis¸ ehir kandidierte, könnte man damit erklären, dass sie als Tochter des ehemaligen Bürgermeisters von Lice einer privilegierten gesellschaftlichen Schicht angehört – trotz der Vertreibung aus Lice konnte ihre Familie in den „guten“ Stadtteil Yenis¸ ehir ziehen, während die meisten Einwohner Lices wohl nach Bagˇlar ziehen mussten, sie nun in Bagˇlar mit einem großen Wählerpotential rechnen konnte. Ich denke aber, dass dies kein Argument sein sollte, um ihre eigene Motivation für die politische Arbeit als Frau und Kurdin herunterzuspielen. Schließlich setzt sie trotz Heirat und Schwangerschaft ihre Arbeit fort, was der eigentliche ungewöhnliche Punkt ist. In der Gemeinde zu kandidieren, in der aufgrund der familiären Verbundenheit und Herkunft am ehesten mit der Wahl gerechnet werden kann, ist nahe liegend. Jedoch entschließen sich weiterhin selbst Töchter einflussreicher Politiker eher selten dazu, politisch aktiv zu werden, zumal, wenn sie verheiratet und schwanger sind. Rojda entscheidet sich für die DEHAP nicht nur, weil ihr Vater in deren Vorgängerparteien arbeitete und sie deshalb eine „geistige Verbundenheit“ mit dieser Partei hatte, sondern auch, weil die DEHAP an erster Stelle sich dem Kurdenproblem annehme. Auch wenn Rojda also einer privilegierten Familie mit Einfluss in der Lokalpolitik angehört, sie deshalb auch ihre Partei wählt, bestimmen ihre Erfahrung als Kurdin, Flüchtling und Frau ihr politisches Engagement, und sie wird in dem Stadtteil aktiv, in dem in erster Linie Frauenpolitik verfolgt wird. Sowohl Nurgül als auch Gülcihan bezeichnen ihre Familien als „demokratische Familien“, was nicht zuletzt ihr politisches Interesse bewirkt habe. Nurgüls Eltern waren zwar als Bauern beide politisch nicht aktiv, jedoch wollten sie ihre Kinder nach besten Bemühungen fördern und praktizierten innerhalb der Familie Gleichberechtigung zwischen Eltern und Kindern, folgten nicht dem verbreiteten Modell der patriarchal strukturierten Familie. Da im Dorf Seyrek es schwierig war, gerade den Mädchen eine gleichberechtigte Lebensweise zu ermöglichen, zog die Familie sogar in die Kreisstadt um, damit Nurgül das Gymnasium besuchen konnte. Im Dorf waren sie zunächst den strengen geschlechtertrennenden Regeln unterworfen, doch gerade der Vater ermutigte seine Töchter dazu, mit diesen zu brechen und „über den Platz zu gehen“. Nurgül entwickelte durch den Einfluss ihrer Eltern eine „humanistische Lebenseinstellung“, die sie zum Journalismusstudium bewegte. Als dann ihr
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Heimatdorf Seyrek eine belediye erhielt, dachten die Dorfbewohner an sie als geeignete Bürgermeisterin. Schließlich war es ihre Mutter, die sie überredete, in die Politik zu gehen, um etwas für das Heimatdorf zu leisten: Als die Menschen begannen, in unser Haus zu kommen, wurde meine Mutter davon beeinflusst. Sie sagte: Setz dich zu mir. Ich setzte mich. Sie sagte: Geh und werde Antwort auf das, was die Menschen wollen. Geh und werde Kandidatin, was wirst du schon verlieren. Gut, sagte ich. Sie sagte: Du wirst es versuchen, so gut es geht. Es ist besser, wenn du den Menschen an dem Ort, an dem du geboren wurdest, hilfst, in die Zukunft zu gehen. In Ordnung, sagte ich. Dann ging ich zur SHP, ich sagte, ich werde Kandidatin. Nurgül, Seyrek/ I˙zmir
Für Nurgül bedeutet die Übernahme des Bürgermeisteramtes letztendlich eine Fortsetzung ihrer Arbeit als Journalistin: Sowohl als Politikerin als auch als Journalistin arbeite sie für die Menschen, für die Gesellschaft. Diese Einstellung wurde zwar in erster Linie durch die Erziehung innerhalb ihrer Familie beeinflusst, doch erlebte gerade Nurgül hierdurch die Grenzen, die einem Mädchen in der türkischen Gesellschaft gesetzt werden, und wurde durch ihre Familie ermutigt, diese zu durchbrechen. In Gülcihans „demokratischer Familie“ wurden ebenfalls die Töchter sehr gefördert. Ihr Vater, der in einer Medrese zum Imam ausgebildet worden war, war in der Politik aktiv. Doch auch Gülcihan nennt als wichtigsten Grund, der sie in die Politik stieß, die politische Situation, d. h. sie wollte sich in die Politik aufgrund der politisch schwierigen Lage ihrer Region einmischen, wollte sich wegen ihrer Erfahrungen gegen Ungerechtigkeiten einsetzen, wollte als Kurdin aktiv werden. Sie habe, ähnlich wie Nurgül, eine humanistische Lebenseinstellung entwickelt, die sie dazu bewegte, etwas für das Volk zu tun. Außerdem seien in ihrer Region „alle Menschen in der Politik“, d. h. die Politisierung aufgrund des Kurdenkonfliktes bewirkte ein gesellschaftliches Klima, das es gerade jungen Frauen ermöglichte, aktiv zu werden. Ähnlich wie Rojda führten also die familiäre Herkunft, die Unrechtserfahrungen aufgrund des Kurdenkonflikts, die daraus resultierende politisierte Situation innerhalb der Gesellschaft sowie die ideologische Orientierung zur aktiven Politikerin. Wie Rojda entscheidet sich auch Gülcihan für einen der ärmsten und vernachlässigten Stadtteile, der Auffangbecken der Bürgerkriegsflüchtlinge ist. Während Rojda allerdings neu in der institutionellen Politik ist, arbeitete Gülcihan jahrelang in der Kommune von Van, arbeitete sich gewissermaßen als Parteifunktionärin hoch, war aber gleichzeitig aktiv in Frauen-NGOs und in der Frauenbewegung. Sie bewegte sich also gleichzeitig in der institutionellen als auch der informellen Kommunalpolitik und nahm hierbei wahr, wie sehr den Frauen in der Politik weiterhin die Ausdrucksmöglichkeiten fehlen. Nuran wiederum wurde auf Wunsch ihres Vaters Kandidatin: Er habe die Entscheidung gefällt, dass sie in der DEHAP kandidieren solle, und die Partei habe ihr
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dann mit ihrer Nominierung eine Überraschung gemacht. Sie ist nicht nur die jüngste Bürgermeisterin der Türkei, sondern auch die erste im Rathaus von Mazidagˇı, die nicht einem Stamm angehöre. Vielmehr sei ihre Familie sehr arm und habe kaum ihr Studium bezahlen können. Nach dessen Beendigung arbeitete sie als Lehrerin in ihrer Heimatgemeinde, eine Tätigkeit, die sie auch jetzt noch weiter ausüben möchte. Cihan und S¸ükran lebten bis zur Ermordung ihrer Ehemänner als Hausfrauen und Mütter, ohne in der Öffentlichkeit politisch aktiv zu sein. Beide Ehemänner waren bekannte kurdische Politiker. Wie S¸ükran es ausdrückt, war sie damals aber „mit dem Volk zusammen“, d. h. sie engagierte sich im Sozialen, unterstützte wohl ihren Mann, ohne in der Öffentlichkeit sichtbar zu sein. Den Prozess, wie sie als Mutter dreier Kinder und Witwe sich entschloss, in die Politik zu gehen, beschreibt Cihan in anschaulicher Weise: Wie habe ich mich entschieden, in die Politik zu gehen – 1993 habe ich meinen Mann verloren. Ich war Mutter von drei Kindern und ich war jung, 32 Jahre war ich alt, ich setzte mich hin, was sollte ich also machen? Ich wollte etwas machen. In dieser Zeit gab es eine Partei, die HEP. HEP – DEP gab es. Ich ging damals nach Ankara – Cankaya und wurde Funktionärin. Zunächst Parteimitglied, dann Funktionärin. Ich arbeitete einfach in der Partei. 5–6 Jahre arbeitete ich in der Provinz, im Kreis, in der Parteizentrale. Ich wurde Mitglied der Parteiversammlung. D. h. ich wurde in der Partei ein aktiver Mensch. Das Vertrauen in mich selbst stieg. Ich merkte meine Kraft. Ich sah mich selbst dort, es war für mich ein Spiegel. Was soll ich machen mit drei Kindern in dieser Stunde? Deshalb sah ich mich selbst und je mehr ich mich selbst sah, umso besser fing ich an, Entschlüsse zu fassen. 6 Jahre lang war ich auf verschiedenen Ebenen in der Parteizentrale Funktionärin. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
Sicher hängt das politische Interesse von Cihan und S¸ükran auch in höchsten Maße mit den Aktivitäten ihrer Ehemänner zusammen, sicher profitierten sie auch von deren Ansehen, gerade auch nach ihrer Ermordung, gleichzeitig aber spielen das kurdische Bewusstsein, der Bürgerkrieg, zahlreiche frauendiskriminierende Erlebnisse eine große Rolle. Während Cihan und S¸ükran nach dem Tod ihrer Ehemänner aktiv wurden, „beerbten“ Lina und Hilal ihre Männer in ihrer Funktion als Bürgermeister. Beide Frauen lebten nach der frühen Heirat als Ehefrau, Hausfrau und Mutter an der Seite ihres Mannes. Lina hatte ihren Beruf als Erzieherin auf Geheiß ihres Mannes aufgeben müssen. Hilal bedauert, dass sie nach der Grundschule nicht weiter zur Schule gehen konnte. Nach der Wahl ihrer Männer konnten beide Frauen in ihrer sozialen Funktion als Frau des Bürgermeisters innerhalb der Gemeinde an Ansehen gewinnen und beide erzählen, „das Volk“ habe sie als Bürgermeisterin gewünscht:
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Könnten Sie erzählen, wie Sie begannen, sich für Politik zu interessieren? Wir sind vor 15 Jahren in die Politik gegangen. Das hier ist eine ganz kleine Gemeinde, sie bekam vor 17 Jahren eine Kommunalverwaltung. Zuvor war mein Mann hier Bürgermeister, aus verschiedenen Gründen konnte er nicht wieder Kandidat werden, aber die Menschen hatten Respekt vor seiner Arbeit. Deshalb wollten sie, dass einer aus unserer Familie Kandidat wird. Hilal, I˙nkis¸la/ Sivas
Mukaddes und Meliha wiederum lebten nach der Heirat als berufstätige Mütter und Ehefrauen. Während Meliha in ihrer Heimatgemeinde als Bankangestellte arbeitete und in der CHP Mitglied war, lebte Mukaddes, in Dogˇubayazıt aufgewachsen, nach ihrer Heirat in Izmir, hatte ihren eigenen Schreibwarenhandel und engagierte sich in linken Frauenorganisationen. Auch vor der Gründung der kurdischen Parteien war Mukaddes in der SHP, d. h. einer linken Partei, aktiv. Dass sie dann in den kurdischen Parteien sich engagierte, erklärt sie mit den Problemen, die sie als Kurdin erlebte. Während sie zunächst also in der Zivilgesellschaft und der Frauenbewegung arbeitete, stieg sie mit dem Aufkommen der kurdischen Bewegung in die Parteipolitik ein. Beide Frauen betonen, dass sie sich glücklich schätzen können, einen Mann zu haben, der sie unterstützt – ohne die Unterstützung des Ehemannes wäre ihr politisches Engagement nicht möglich gewesen. Außerdem sind beide Frauen beeinflusst durch die Frauenbewegung. Mukaddes erklärt den Kampf gegen das Patriarchat zum wichtigsten Politisierungsgrund: Mein Mann unterstützt mich bei diesem Thema sehr. Außerdem meine Kinder. Vor allem meine Tochter Helin ermutigte mich sehr in diesem Thema, zusammen mit ihrem Vater gab sie mir während der Kandidatur sehr viel Unterstützung und Moral. Aber zuvor wurde unser Wunsch in diesem Kampf geweckt, als wir das Thema Frauen sahen, als wir ihre Verantwortung sahen. Eigentlich nahmen wir dadurch Kraft. Wirklich, durch den Kampf, den die Frauen in der Vergangenheit führten, der Kampf, der sowohl gegen das System als auch gegen das Patriarchat geführt wurde, die Struktur(en) der Frau(en) und ihre Bemühungen, das gab uns Kraft, das gab uns Moral, wir nahmen uns daran ein Beispiel. Deshalb entstand auch bei mir der Gedanke, was ich machen könnte, aber wie ich sagte, ich hatte die Unterstützung meines Mannes und meiner Tochter, diese Kraft nahm ich von ihnen. Mukaddes, Dogˇubeyazıt/ Agˇrı
In ihrer Darstellung scheint sie Beruf, Familie und politisches Engagement auf harmonische Weise verwirklicht zu haben. Nachdem sie jahrelang in Izmir gelebt und gearbeitet hatte, ließ sie ihr Haus, ihr Geschäft, Kinder und Enkelkinder zurück, um im äußersten Osten, in dem Ort ihrer Herkunft, das Bürgermeisteramt zu übernehmen. Nachdem dort stets Angehörige mächtiger Familien und Stämme die politische Herrschaft innehatten, wurde nun zum ersten Mal eine Frau Bürgermeisterin, die zudem schon in Izmir sich in der Frauenbewegung und in kurdischorientierten Parteien engagiert hatte.
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Es gab damals große Probleme in der Stadt, Konflikte und Spannungen. Als einzige Kandidatin wurde sie gewählt, und auch 2004 wurde sie wiedergewählt. Dass sie Bürgermeisterin geworden war, sei Resultat des Kampfes, den die Frauen ausfochten. Sie sieht sich also anscheinend in der Tradition der Frauenbewegung. Es ist interessant, wie sie zunächst sich im Lokalen innerhalb der Zivilgesellschaft engagierte, und dann mit dem Aufkommen der kurdischen Bewegung in die Parteipolitik einstieg. Zeyniyes Interesse an der Politik entsprang ihrer erlebten Situation als Frau in einem abgelegenen Dorf in einer peripheren Provinz: Ich beschäftige mich schon seit langem mit der Politik. Aktivitäten für die Bevölkerung, innerhalb der Bevölkerung. Das heißt, so machen wir das. Und zwar wollte ich die politische Teilhabe der Frauen in der Politik. Auch unsere Frauen sollen politisch teilhaben. Sie sollen die Politik ein wenig verstehen. Die Hausfrauen, die im Innern sind, haben überhaupt keine Möglichkeit, nach draußen zu kommen. Sie können nicht einmal allein zum Markt gehen, nicht auf die Straße, nicht in die Städte. Deshalb möchte ich partizipieren. Ich sagte zu einigen anderen Frauen: lasst uns eine Politik unter Frauen schaffen. Auf diese Weise. Zeyniye, Sürgücü/ Mardin
Zeyniye lebte bis zu ihrer Wahl als Mutter von elf Kindern, Hausfrau und Bäuerin. In ihrer Darstellung entschied sie sich für die DEHAP nicht wegen der kurdischen Ausrichtung der Partei, sondern wegen der Frauenquote.265 Yurdusev bewegte sich schon während des Studiums in Istanbul in politischen Kreisen und erlebte als Journalistin und Gewerkschafterin, was es bedeutet, in einem Land mit begrenzter demokratischer Strukturen politisch aktiv zu sein. Als Aktivistin der Frauenbewegung hatte sie Kontakt zur Frauenkommission der DEHAP. Dass sie sich entschied, in der lokalen Verwaltung zu arbeiten, hatte mit der Frage zu tun, wie Frauenanliegen in der lokalen Verwaltung umgesetzt werden könnten. Als Türkin in die DEHAP zu gehen, ist an für sich recht ungewöhnlich – mir gegenüber erwähnte sie nicht, dass ihr Mann bei der PKK war und getötet wurde, was innerhalb der aktiven kurdischen Kreise allgemein bekannt zu sein scheint. Vielmehr präsentierte sie sich als linke türkische Frauenaktivistin, die um das Zusammenleben zwischen TürkInnen und KurdInnen in einer demokratischen Partei bemüht ist: Das war eine Partei, die gegen die Zwänge in der Türkei, speziell gegen die Zwänge bzgl. des kurdischen Volkes kämpfte. Das ist eine Partei, die sich bemüht, damit die Demokratie erweitert wird und damit die Menschen aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen geschwisterlich zusammenleben, deshalb habe ich sie bevorzugt. Yurdusev, Bagˇlar/ Diyarbakır
265
Eine ausführliche Darstellung Zeyniyes vgl. Taxer 2007.
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Dass die Familie auch „im negativen Sinne“ das politische Engagement bewirken kann, zeigt das Beispiel Leylas: Als Sechzehnjährige wurde sie verheiratet, lebte einige Zeit in Deutschland, ließ sich scheiden, musste um ihre Kinder kämpfen. Sie lebte als alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kindern in Konya, arbeitete zunächst als Umfragerin und begann, sich parteipolitisch zu engagieren. Zunächst ist ihre kurdische Identität ausschlagend für ihr politisches Interesse. Sie erlebte in Konya diskriminierende Situationen wegen ihrer kurdischen Herkunft und wurde so von der kurdischen Bewegung angezogen. Schließlich nennt sie als großes Ziel den Wunsch nach der Demokratisierung der Türkei. Innerhalb der Partei wiederum erlebte sie, dass sie auch hier als Frau unterdrückt wurde, weshalb ihr klar wurde, dass sie an zwei Fronten zu kämpfen hatte. Sie betont sehr stark die Verzahnung der Unterdrückung der Kurden mit der der Frauen: Ich bin als kurdische Frau in die Politik gegangen in Folge der gesellschaftlichen Probleme, die die Kurden erleben. Denn in der Türkei können vor allem die Kurden nicht unter Bedingungen leben, auf die sie ein Recht haben (???). Wir können weder unsere Sprache frei benutzen noch unsere Identität leben. Noch sind wir im Besitz der Dinge, auf die wir ein Recht haben. Ich wurde davon beeinflusst, als kurdische Frau. Und ich will auch innerhalb der Politik Raum einnehmen. Damit die Türkei demokratisiert wird, damit die Kurden einen Platz finden, auf den sie ein Recht haben, sagte ich: ich will auch darin Raum einnehmen. Vor allem deshalb bin ich in die Politik gegangen. Aber nachdem ich eingetreten war, bemerkte ich, dass ich auch als Frau einige Dinge machen kann. Ich wurde sowohl als Kurdin als auch als Frau unterdrückt. Ich führte aus diesem Grund innerhalb der Partei mehr Frauenaktivitäten durch. Das heißt, der wichtigste Grund, dass ich in die Politik ging, war mein nationaler Charakter. Leyla, Küçükdikili/ Adana
Wie in den Schilderungen der derzeitigen Bürgermeisterinnen der Türkei deutlich wird, gibt es kein einheitliches Muster, nach dem Frauen zu Kommunalpolitikerinnen werden 266. Bei den meisten der von mir interviewten Politikerinnen lassen sich mehrere Politisierungsgründe auffinden. Der Einfluss der Familie, insbesondere männlicher Verwandter, ist zwar sehr wichtig, jedoch wirkt er sich in unterschiedlicher Weise auf die Entscheidung, politisch aktiv zu werden, aus267. Immer ist er mit 266
Im Gegensatz dazu stellte Hayat Kabasakal für die Gruppe der Topmanagerinnen in der Türkei fest, dass diese alle aus Familien mit einem hohen sozioökonomischen Status stammten, verheiratet waren mit einem Mann aus ähnlichen Familienverhältnissen, hochqualifiziert und ehrgeizig waren. Vgl. Kabasakal 1998. Dies ist insofern interessant zu erwähnen, da der Anteil von Frauen im Management etwa so groß ist wie in Bürgermeisterämtern. 267 Es wäre sicher eine Untersuchung wert, inwiefern die Töchter von Politikerinnen politisch aktiv werden bzw. sind. Bspw. ist Gül Önür, die Tochter der ersten Bürgermeisterin Müfide I˙lhan, Vorsitzende der Çagˇ das¸ Yas¸ amı Destekleme Dernegˇi in Bodrum, d. h. sie ist lokalpolitisch und zivilgesellschaftlich tätig. Vgl. „Türkiye’nin ilk kadın belediye bas¸ kanının öyküsü“, Hürriyet 11. 3. 2004.
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anderen Gründen verbunden, so dass sich ein heterogenes Spektrum ergibt: Ideologische Orientierungen, Unzufriedenheit mit der Lokalpolitik und -politikern, Heimatverbundenheit, der Wunsch, für die Gemeinschaft, die Gesellschaft oder den Staat aktiv zu werden, sind ebenfalls wichtige Motive, die miteinander verschränkt wurden. Allen Frauen ist jedoch gemeinsam, dass ihr Frausein in irgendeiner Weise eine Rolle spielte, frauenspezifische Gründe aber gleichfalls vielfältig sind: Einige der Bürgermeisterinnen schilderten, wie dargestellt, persönliche Erfahrungen, die dazu beitrugen, dass sie sich in der Politik engagieren wollten. Kurdinnen wie Leyla und Gülcihan fühlten sich aufgrund ihrer ethnischen Identität diskriminiert, gleichzeitig erzählen sie frauendiskriminierende Erfahrungen. Rojda erlebte als Kind den Verlust der Heimat im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg und litt unter dem Dasein als (weiblicher) Flüchtling, weshalb sie gerade für die benachteiligte Lage der Frauen in ihrem Umfeld sensibilisiert wurde. Sezgin, die eigentlich zuvor keine Unterschiede zwischen Männer- und Frauenseite für sich selbst wahrgenommen hatte, fühlte sich als Frau diskriminiert. Nurgül erlebte schon in ihrer Kindheit die klare traditionelle Geschlechtertrennung im Dorf und die Bemühungen ihrer Eltern, eine gleichberechtigende Erziehung dem entgegenzusetzen. Neben den persönlichen Erfahrungen, die häufig wie gesehen durch politische bzw. gesellschaftliche Entwicklungen beeinflusst wurden, spielten für einige der Bürgermeisterinnen einschneidende politische Ereignisse, die die gesamttürkische Politik erschütterten, eine Rolle für die Entscheidung, Politikerin zu werden bzw. das politische Engagement zu vertiefen bzw. zu verändern: Yurdusev und Mukaddes begannen schon in den siebziger Jahren, sich jenseits der politischen Institutionen zu engagieren. Den Militärputsch 1980 nennen sowohl Yurdusev als auch Mukaddes als prägende Erfahrung. Beide waren zunächst in türkischen linken Gruppierungen aktiv und arbeiteten nach dem Putsch in frauenpolitischen Gruppen, d. h. sie nutzten die Zeit der politischen Verbote für die erlaubte Organisation im Dienste frauenpolitischer Interessen. Der Kurdenkonflikt der 90er Jahre beeinflusste gerade junge Kurdinnen wie Rojda, Gülcihan, Leyla, d. h. die Zuspitzung des Kurdenkonfliktes zu Beginn der neunziger Jahre bewirkte für viele Kurdinnen einen Politisierungsschub. Gerade unter den DEHAP-Frauen spielt die Politisierung sowohl aufgrund politischer Ereignisse als auch persönlicher Erfahrungen eine wichtige Rolle, wie bspw. für Cihan und S¸ükran, die nach der Ermordung der Ehemänner in Zusammenhang mit dem kurdisch-türkischen Konflikt zu Politikerinnen wurden. Gleichzeitig kann dieser Zusammenhang auch als „Witwenrecht“ interpretiert werden: Dies bezeichnet ein Phänomen in der türkischen Geschichte, das sich auf Frauen bezieht, „die sich für ihre Männer engagiert haben, wenn diesen eigene politische Aktivitäten verboten waren oder wenn sie deren Namen weiterführen wollten“268. Die Thematisie268
Günes¸ -Ayata 1991, S. 195.
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rung von frauendiskriminierenden kulturellen Praktiken in den kurdischen Gebieten der letzten Jahre bewirkte des weiteren, dass kurdische Frauen begannen, sich für politische und gesellschaftliche Möglichkeiten zur Veränderung dieser Missstände zu interessieren, wie bspw. Zeyniye. Die Bürgermeisterinnen der Westtürkei nennen weit weniger politische Ereignisse, die sie politisierten. Hier scheinen persönliche und familiäre Gründe bedeutender zu sein. Des weiteren kann die Entscheidung, politisch aktiv zu werden, aus pragmatischen oder ideologischen Gründen erfolgen: Während Fatma als zentrales Motiv für ihr politisches Engagement den Wunsch nennt, für ihr Heimatdorf etwas zu bewirken, und hierfür in der AKP die beste Unterstützung zu finden meinte, nicht zuletzt, da diese gut ausgebildete Frauen unterstütze, wählte Zeyniye die DEHAP nicht wegen ihres Kurdischseins, sondern wegen der Frauenquote der DEHAP. Andere DEHAP-Politikerinnen wiederum identifizieren sich sehr stark mit der kurdischen Ausrichtung der Partei und bezeichnen sie als demokratiefördernde und somit auch frauenfördernde Partei. Auch CHP-Politikerinnen wie I˙nci, Sezgin und Aynur identifizieren sich stark mit der kemalistischen Ausrichtung ihrer Partei, wozu nicht zuletzt auch gehört, sich auf frauenpolitische Errungenschaften der Republikgründung durch Atatürk zu berufen. Gerade für junge Frauen kann die Wahl in ein kommunalpolitisches Amt eine Karriere- bzw. Berufsperspektive bedeuten, bspw. für Gülcihan, Rojda, Fatma, I˙nci, Songül und Aynur. Neben diesen „jungen Karrierefrauen“ können Frauen wie Cihan, S¸ükran und Leyla als „lebensläuferisch empowerte Frauen“ bezeichnet werden: Nach einem Schicksalsschlag gaben diese Frauen ihr traditionelles Dasein als Ehefrau und (Nur-)Mutter auf und begannen, durch Berufstätigkeit bzw. durch die Politik sich zu unabhängigen, selbstbewussten Politikerinnen zu entwickeln. Schließlich können Bürgermeisterinnen wie Lina und Hilal als „Ehefrauen des Ex-Bürgermeisters“ bezeichnet werden: Weiterhin sind über sie ihre Ehemänner an der politischen Macht beteiligt und vertreten dieses „Modell“ auch nach außen.269 Sicher kann man unter den derzeitigen Bürgermeisterinnen für Yes¸ ims „Muster“ einige Beispiele finden – bspw. passt I˙nci in das erste Muster (Männliche Verwandte als Rollenmodell), „Frauen des Ehemanns“ sind neben Lina und Hilal auch Cihan und S¸ükran – ich denke jedoch, dass dadurch die Heterogenität an Politisierungsbio269
Ein Bericht in der Hürriyet vom 10. 3. 2004 schildert einen ähnlichen Fall: Müyesser Sarıs¸ ın wurde anstelle ihres Mannes Kandidatin der SHP in Konak/ I˙zmir, nachdem dieser 10 Jahre lang Bürgermeister gewesen war, nun aber von der CHP nicht wieder aufgestellt wurde. „In Konak steckt die zehnjährige Arbeit meines Mannes. Wenn ich gewählt werde, wird auch mein Mann gewählt. Ahmet Sarıs¸ ın ist ein Zeichen in Izmir. Aus diesem Grund war ich einverstanden, Kandidatin zu werden“, erklärte sie. Vgl. „SHP’den ko-casının yerine aday oldu“, Hürriyet 10. 3. 2004.
6.5 Steinige und ebene Wege bis zur Kandidatur
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graphien nicht angemessen berücksichtigt wird. Auch Ays¸ e Günes¸ -Ayatas „Muster“ sind hierzu schlichtweg ungenügend. Es gibt bezogen auf die derzeitigen Bürgermeisterinnen keine eindeutigen „Muster“, es gibt vielmehr tendenziell „Typen“, wie etwa die „jungen Karrierefrauen“, die „lebensläuferisch empowerten Frauen“, die „Frauenbewegerinnen“ und die „Ehefrauen des Ex-Bürgermeisters“, die jedoch alle unterschiedliche Politisierungsgründe vereinen. Dennoch gibt es einige „Themen“, die in den Aussagen der Politikerinnen immer wieder angesprochen werden: Neben der Bedeutung der ethnischen Identität, die von fast allen Kurdinnen genannt wird, zeigt sich die erlebte geschlechtsspezifische Ungleichheit als „sozial verursachter Konflikt“ (Geißel) und wichtiger Politisierungsfaktor, aus dem einige der Bürgermeisterinnen politische Forderungen entwickelten.
6.5
Steinige und ebene Wege bis zur Kandidatur „Tas¸ ıma suyla degˇirmen dönmez“ „Die Wassermühle dreht sich nicht mit Wasser, das zu ihr getragen wurde.“
Der Entschluss, Politikerin zu werden, bedeutet nicht automatisch, dass Frauen auch für eine Wahl kandidieren wollen: Yes¸ im Arats Interviewpartnerinnen erklärten mehrheitlich, sie hätten nicht die Absicht gehabt, ein Amt zu übernehmen, vielmehr sei dies von ihnen erwartet worden. Sie seien gar stolz darauf: „I can proudly say that I never worked to be elected“, zitiert sie aus einem ihrer Interviews. Normalerweise habe ein politischer Aktivist die Bestrebung, in ein Amt gewählt zu werden und dem Weg der Rekrutierung zu folgen, er plane seine Karriere mit diesem Ziel. Die von Arat interviewten Frauen planten keine Karriere im voraus und kultivierten keine politischen Netzwerke, die nötig sind, um gewählt zu werden. Auf die Frage, warum sie ein Amt wollten, sagten sie, dass sie dieses nicht wollten, sondern, dass es von ihnen erwartet worden war. Arat kommentiert diese Sichtweise mit einem türkischen Sprichwort: „die Wassermühle dreht sich nicht mit Wasser, das zu ihr getragen wurde“: „tas¸ ıma suyla degˇirmen dönmez“. Eine interessante Perspektive ergibt sich für die vorliegende Arbeit, wenn wir unterscheiden, welche Personen auf die Entscheidung, politisch aktiv zu werden bzw. auf die Entscheidung, Kandidatin werden, Einfluss ausübten. Cihan beispielsweise erzählt, wie zuvor dargestellt, wie sie nach dem Tod ihres Mannes sich in den kurdischen Parteien engagierte – dies war ihre persönliche Entscheidung. Kandidatin aber wurde sie durch die Anwerbung ihrer Parteifreunde. Cihan als Witwe Mehmet Sincars versprach der Partei ein gutes Wahlergebnis: Der ehemalige Parlamentsabgeordnete hatte nicht nur eine einflussreiche Familie hinterlassen, auch innerhalb
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der Bevölkerung genoss er sehr viel Respekt. Hinter Cihans Worten verbirgt sich jedoch auch eine bestimmte Rhetorik, die gern in kurdischen und linken Kreisen verwendet wird: Die eigene Entwicklung von einer unmündigen, ungebildeten Person hin zu einer politisierten, gesellschaftlich aktiven Frau, die durch die praktische Arbeit sich bildet und auf diese Weise politische Verantwortung übernehmen kann. Wichtig erscheint mir, sich darüber klar zu werden, dass nicht nur der ermordete Ehemann, die einflussreiche Familie oder die am Erfolg interessierte Partei die Kandidatur ermöglichten, sondern dass die verschiedenen Komponenten ineinander spielten und nicht zuletzt Cihan auch ihre Persönlichkeit und ihre Aktivitäten als Grund angibt. Ebenso schildert, wie erwähnt, Zeyniye, wie sie zunächst selbst darüber nachdachte, dass man die Lage der Frauen durch eine „Frauenpolitik“ ändern müsste. Während sie also zunächst „aus sich selbst heraus“ sich für Politik interessierte, stellt sie die Entscheidung zur Kandidatur als Vorschlag anderer dar. Ich vermute, dass dies auch eine gewisse rhetorische Figur ist, dass die Kandidatin selbst durchaus auch dieses Ziel im Kopf hatte, auf diese Weise aber die Kandidatur zusätzlich demokratisch legitimiertes Gewicht erhält: „Das Volk“ wollte schon vor der Wahl diese Kandidatin, d. h. die „Liebe des Volkes“ ist in dem Moment viel entscheidender als das Geschlecht, die Partei oder die Familie: Für eine Frau Kandidatin werden – eigentlich, wäre ich eine andere Kandidatin gewesen, wäre es viel schwerer gewesen. Weil die Bevölkerung von Sürgücü mich so sehr liebt, haben sie mich vorgeschickt. Geh, werde Kandidatin, wir wählen dich, dir geben wir unsere Stimme, sagten sie. Zeyniye, Sürgücü/ Mardin
Sie betont, dass sie die Angelegenheit mit ihrem Mann und ihren Kindern besprach, d. h. sowohl „das Volk“ als auch „die Familie“ unterstützten ihren Wunsch. Auch Mukaddes, die schon vor 1980 angefangen hatte, politisch sich zu engagieren, wurde von anderen vorgeschlagen: sie wurde gerade als politisch aktive Frau für die Kandidatur nach langen Jahren in Izmir zurück nach Dogˇubeyazıt geholt – durch wen, bleibt unklar, vermutlich wurde sie durch die Partei oder politische Aktivistinnen als „politische Frau“ (Arat) angeworben. Wegen der Unterstützung ihres Mannes und ihrer Tochter fühlte sie sich bestärkt, diese Aufgabe zu übernehmen, doch ihre Motivation ging in erster Linie aus ihrer Wahrnehmung der Diskriminierung von Frauen und Kurden hervor. Fatma erklärt, dass „das Volk“ ihre Kandidatur vorgeschlagen habe, jedoch zeigen ihre vorherigen Aktivitäten – das technische Studium, die Rückkehr in ihr Heimatdorf, die Arbeit in der Kommunalverwaltung, die Gründung einer eigenen Firma – dass sie ein hohes Maß an Eigeninitiative besitzt – schließlich betont sie, dass sie selbst etwas für ihre Heimat unternehmen wollte, zu ihrer Entwicklung beitragen wollte. Das Bürgermeisteramt ist dabei nur eine Möglichkeit, zu der aber die Legiti-
6.5 Steinige und ebene Wege bis zur Kandidatur
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mation durch „das Volk“ nötig ist – und dieser sollte die Kandidatin sich schon vor der offiziellen Kandidatur sicher sein270: Das geschah von selbst. Fatma solle Kandidatin werden, wurde gesagt, ich sei fleißig, erfolgreich, das bewirkte im Volk diesen Wunsch. Fatma, Yes¸ ilköy/ Hatay
Nurgül war, ähnlich wie Fatma, beruflich in und für die Gesellschaft aktiv – als eine der wenigen, die studiert hatte und sich nun mit der Politik auskannte, erschien sie den Menschen als geeignete Kandidatin. Wieder kam es in diesem Fall zu einer gemeinsamen „Front“ von „Volk“ und „Familie“, als die Einwohner Seyreks Nurgüls Familie zu besuchen begannen und Nurgüls potentielle Kandidatur in den Raum stellten. Ihre Mutter war dann, wie erwähnt, diejenige, die Nurgül ans Herz legte, zu kandidieren – Nurgül aber betonte, dass für sie es keinen Unterschied mache, ob sie als Bürgermeisterin oder Journalistin „dem Volk diene“: Lina, die ihren Mann im Amt ablöste, erklärt gleichfalls, „das Volk“ habe sie und ihren Mann im Amt gewollt – als ihr Mann von der Partei keine Unterstützung erhielt, hatte sie keine andere Wahl als dem Wunsch „des Volkes“ zu genügen – ähnlich wie Hilal: Früher war mein Mann zweimal Bürgermeister, d.h. zehn Jahre lang arbeitete er als Bürgermeister, dann ließ die CHP ihn fallen von der Kandidatur, sie machten ein Spiel, nachdem er fallengelassen worden war, wollte das Volk mich als Kandidatin, d.h. sie wollten sich nicht von uns trennen, das Volk mochte uns sehr, wenn es nicht Recep Bey wird, soll seine Frau es werden, sagten sie, sie sagten, die zwei sollen zusammen weitermachen, und so habe ich ja gesagt. Ich konnte nicht mein Volk enttäuschen, ich liebe sie auch sehr. Ich willigte ein, dann kam der Wahltag und ich habe gewonnen. Lina, Küçükdalyan/ Hatay
Den Prozess, wie eine politisierte Frau, die sich gern in die Lokalpolitik einmischen will, vorgeht, schildert in anschaulicher Weise I˙nci: Als sie sich entschied, Kandidatin werden zu wollen, begann sie darüber nachzudenken, wie ihr Frausein ihren Wunsch, Bürgermeisterin zu werden, beeinflussen würde. Da Kavaklı eine sehr kleine Kommune ist, in der Frauen bislang niemals in der Politik aktiv geworden waren, rechnete sie damit, sehr sorgfältig vorgehen zu müssen und begann ein Jahr vor der offiziellen Kandidatur damit, diese vorzubereiten. Zunächst ging sie von Tür zu Tür, um eine Art Umfrage zu machen, wie die Leute überhaupt reagieren würden. Als sie überwiegend positive Reaktionen erhielt, entschied sie sich für die Kandidatur, d. h. sie wurde ebenfalls Kandidatin, „weil das Volk dies wünschte“, jedoch stand vor diesem Wunsch die Idee I˙ncis, in der Politik aktiv zu werden. Leyla, Gülcihan, Aynur, Sezgin und Rojda wiederum betonen, dass die Kandidatur ihre eigene Idee war, in unterschiedlicher Gewichtung erwähnen doch auch sie 270
Vor den Parlamentswahlen 2007 war Fatma als Kandidatin für das Hatay im Gespräch.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
die Bedeutung der Unterstützung innerhalb ihres Wahlkreises, wie bspw. Leyla: Um die Frauenquote bei den Wahlen durchzusetzen, wurden durch die Partei einige Kommunen bestimmt, in denen eine Frau aufgestellt werden sollte. Dazu gehörte Küçükdikili. Zunächst sollte aus der Kommune selbst eine Kandidatin gefunden werden, wenn aber keine Frau sich hierzu bereit erklärte, sollte die Parteizentrale eine geeignete Kandidatin finden. Als auf einer Versammlung in Küçükdikili keine Frau Kandidatin werden wollte, schlugen die Frauen aus Küçükdikili Leyla vor, die sie von früheren Aktivitäten her kannten: Sie schlugen mich vor. Sie sagten, es sollte Leyla Güven sein, wir lieben sie sehr. Sie könnte das machen, sagten sie. Darüber hinaus gab es niemanden aus Kücükdikili, die sagte, dass sie das machen könnte. Sie wissen, die Frauen bleiben weit entfernt von der Politik. Das heißt, es gibt in Kücükdikili Frauen, die das besser als ich machen würden. Aber ihnen wurde diese Möglichkeit nicht gegeben, sie wurden nicht in die Schule geschickt, sie nahmen nicht an den Parteiaktivitäten teil. Deshalb wurde es niemand. Die Partei gab mir dieses Amt. Sie sagte: Geh du und übernehme das Amt. Anscheinend will dich das Volk. So kam ich und wurde Kandidatin. Leyla, Küçükdikili/ Adana
Leyla hatte also als Frau und Funktionärin in der Kommune Eindruck machen können, so dass diese sie sich zur Bürgermeisterin wünschte. Dass andere Frauen die Arbeit besser als sie machen könnten, weist auf die Einstellung hin, dass lokale Frauen, Frauen, die die Probleme vor Ort aufgrund ihres eigenen Lebens kennen, ihrer Meinung nach besser geeignet wären – sie habe jedoch den Vorteil, im Gegensatz zu den dort ansässigen Frauen, sich aus den traditionellen Lebensumständen befreit zu haben. Leyla war zwar als „Dorfkind“, als Leidtragende schwieriger frauendiskriminierender Lebensumstände „eine der ihren“, d. h. die Küçükdikililis und sie verstanden einander, wegen ihres Befreiungsprozesses und ihrer Parteikarriere konnte sie nun auch das Bürgermeisterinnenamt übernehmen. „Kandidatinnen werden nur in Regionen aufgestellt, in denen ihre Partei nicht gewinnen kann“271 – Diese Worte der ehemaligen KADER-Vorsitzenden lassen erahnen, dass die 18 Bürgermeisterinnen mit großen Schwierigkeiten innerhalb ihrer Parteien zu kämpfen hatten und einige Hürden überwinden mussten, um in der eigenen Partei nominiert zu werden. Einige der interviewten Bürgermeisterinnen berichten detailliert, wie sie zunächst innerhalb ihrer Parteien gegen den Widerstand ihrer männlichen Kollegen ankämpfen mussten. Einige mussten eine innerparteiliche Kandidatenwahl passieren: Zeyniye bspw. trat in dieser Wahl gegen 13 Männer an. Dabei erlebte sie von Seite der Männer Anfeindungen, jedoch habe die Parteizentrale sich hinter sie gestellt. 271
Ays¸ e Bilge Dicleli, KADER, in „23 kadın bas¸ kan adayından 6’sı kazandı“, BI˙A Haber Merkezi, 29. 3. 2004, www.bianet.org.
6.5 Steinige und ebene Wege bis zur Kandidatur
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Rojda jedoch berichtet, dass es in Bagˇlar 350–400 Bewerber gab, von denen lediglich 37 kandidieren konnten. So nennt sie die Frauenquote der DEHAP, die, wie gesagt, so schwierig durchzusetzen war, auch als Grund für die erfolgreiche Kandidatur: Nun, zu den Gründen gehört, dass ich in der Kommunalversammlung bin. Außerdem bin ich Universitätsabsolventin, ich bin Architektin – vor allem auch die Themen, die meinen Beruf betreffen – ich glaubte, dass ich bei der Stadtplanung etwas machen kann. Der größte Faktor, glaube ich, war, dass ich eine Frau bin, denn wegen der Frauenquote bin ich hereingekommen, unter den Frauen war der Grund, dass ich gewählt wurde, dass ich Hochschulabsolventin bin. Rojda, Bagˇlar/ Diyarbakır
Trotzdem – wie Fatma Nevin Vargün (KADER) es ausdrückt, wurde in dieser Wahl „den Frauen der Weg abgeschnitten“. Vor allem in der AKP, in der sehr viele Frauen aktiv sind und vor allem auch Frauenprojekte initiieren, wollten Fatma Nevin Vargün zufolge sehr viel mehr Frauen kandidieren, jedoch wurden Frauen, die Türban272 tragen, von vornherein von der Kandidatur ausgeschlossen. Während in Yes¸ ilköy mir berichtet wurde, dass Ministerpräsident Erdogˇan die Kandidatin sehr unterstützt habe, hält Fatma Nevin Vargün dies für nicht realistisch: Es gab eine Schulung (von KADER) vor der Wahl, alle machten das in ihrer Umgebung, die größte Teilnahme gab es in der AKP. Sie machten sehr große Treffen. Es gab viele, die Kandidatin werden wollten. Natürlich hatten sie Probleme wegen des Türbans, es gibt Hindernisse für Frauen mit Türban, Kandidatin zu werden. Deshalb müssen sie Frauen wählen, die keinen Türban tragen. Sie bemühten sich, aber ihnen wurde der Weg abgeschnitten. Nach der Wahl unterstützte sie (d. h. Fatma und Nazmiye) Tayyip Erdogˇan, aber ich glaube nicht, dass er sie vor der Wahl unterstützte. Wenn es so wäre, wären es nicht nur zwei. Es gab so einen Spruch vom Ministerpräsidenten, es habe keine Kandidatin gegeben, wir sind da aber nicht einer Meinung, es gab Kandidatinnen, sie wollten auch, aber ihnen wurde der Weg versperrt. Denn es ist nicht leicht in der AKP, Frauenpolitik zu initiieren, es gibt dort starke Frauenaktivitäten, aber es gibt noch kein Gewicht in den Entscheidungsmechanismen. Sie wurden gebrochen, sie bemühten sich wirklich, sie wollten sehr. Aber ihnen wurde der Weg abgeschnitten. Fatma Nevin Vargün, KADER/ Ankara
Fatma als einzige interviewte AKP-Bürgermeisterin erklärt, innerhalb ihrer Partei wolle man „qualitative Frauen“ voranbringen und deshalb keine Quote einführen, da es lediglich um numerische Präsenz von Frauen gehe.273 272
Mit Türban wird die Art des Kopftuchs bezeichnet, das Frauen tragen, die in islamistischen Kreisen aktiv sind bzw. die islamorientierten Kreisen nahe stehen. 273 Inzwischen scheint sich allerdings in der AKP diesbezüglich die Situation für Frauen geändert zu haben: Bei den nationalen Wahlen 2007 konnten im Vergleich zu früheren Wahlen sehr viele AKP-Frauen kandidieren. Auch wenn Fatma und Nazmiye im Zeitraum der Feldforschung sich gegen eine Quotenregelung aussprachen, wird darüber in der Partei weiter diskutiert.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
Auch in der DEHAP musste die Frauenquote von 35% erst einmal hart erkämpft werden. Doch auch nach ihrer Einführung hatte für viele Männer die Quote lediglich Bedeutung auf dem Papier. Die wenigen Kandidatinnen mussten sich also auch gegen ihre männlichen Kollegen durchsetzen: Es gab in der DEHAP genügend Frauenaktivitäten, aber als es zur Kandidatur kam, setzten die Männer der Demokratie eine Grenze, sie führten wegen der Frau eine sehr schlimme Kampagne durch. Auch deshalb blieben dort wiederum Frauen zurück. Fatma Nevin Vargün, KADER/ Ankara
Als Parteipolitikerinnen werden die Bürgermeisterinnen über dieses Thema nicht alles gesagt haben – schließlich waren die meisten darum bemüht, stets im Namen ihrer Partei zu sprechen. Mittlerweile jedoch wird anscheinend in allen Parteien über Quotenregelungen diskutiert – d. h. es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, dass sich innerhalb der Parteien die Position von Frauen ändern wird.
6.6
Der Wahlkampf „Elinin hamuruyla erkek is¸ine karıs¸ma!“ 274 „Misch dich nicht mit Teig an den Händen in Männerarbeit ein!“ „S¸er s¸er e, ci jin e, ci mer e“ „Löwe ist Löwe, egal, ob männlich oder weiblich.“ 275 Ich war die einzige Frau. Wir können sagen: Die List der Frauen hat über die Männer gewonnen. Ich habe gegen 6 Männer-Kandidaten gewonnen und ich habe den Wahlkampf gewonnen. Und ich habe die Frauen in die Politik gezogen. I˙nci, Kavaklı/ Kırklareli
Aus I˙ncis Kommentar zu ihrem eigenen Wahlerfolg werden drei zentrale Faktoren deutlich, die charakteristisch sind für die Kandidatur von Frauen in der peripheren Türkei: Sie war in ihrer Kommune in Thrakien die erste und einzige Frau, die es wagte, politisch aktiv zu werden; sie musste als Frau in erster Linie klug („listig“) vorgehen, um erfolgreich zu werden; und sie beeinflusste die Frauen der Kommune soweit, dass diese begannen, sich für Politik zu interessieren.
274
Reaktion auf die Kandidatur Müfide Ilhans 1950, vgl. „Türkiye’nin ilk kadın belediye bas¸ kanının öyküsü“, Hürriyet 11. 3. 2004. 275 Kurdisches Sprichwort, Kommentar Mukaddes Kubilays zum Wahlkampf in Dogˇubeyazıt.
6.6 Der Wahlkampf
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I˙nci war sich im Klaren darüber, dass sie als Frau wesentlich mehr im Wahlkampf tun müsste, um die Leute von sich zu überzeugen, immerhin trat sie gegen sechs Männer an. Zunächst einmal suchte sie ihre potentiellen WählerInnen zwei bis dreimal in ihren Häusern auf, um persönlich mit ihnen Kontakt aufzunehmen, d. h. auch wenn sie es nicht direkt sagt, wird sie auch auf diese Weise in erster Linie im Kopf gehabt haben, gerade die Frauen anzusprechen. Das gegenseitige Besuchen in den Häusern ist die wichtigste Freizeitbeschäftigung in der ländlichen Türkei. Während Männer sich im Kahve treffen, ist das Haus Treffpunkt der Frauen und dient der Pflege der sozialen Beziehungen untereinander276. I˙nci benutzt also eine Tradition der dörflichen Gemeinschaft, um ihr unorthodoxes Ziel, Bürgermeisterin zu werden, zu erreichen. Als sie vor dem Wahltermin ein Wahlbüro mietete, stellte sie sehr bald fest, dass nur Männer vorbeikamen, die Frauen jedoch nicht. Sie hielt sich daraufhin aber nicht an diese Gewohnheit, sondern überlegte, wie sie auch die Frauen in ihr Büro holen könnte. Da dienstags zum Markt gerade auch Frauen auf die Straße gehen, erklärte sie den Dienstag zum Frauentag in ihrem Büro: Nur Frauen sollten an diesen Tagen Zutritt in ihr Büro haben. Die Frauen, die zum Markt kamen, besuchten sie dann auch in ihrem Büro, tranken Tee und Kaffee und unterhielten sich mit ihr über die Wahlen. I˙nci lud sie dann auch für den Abend ein – da traditionell Frauen abends nicht mehr auf die Straße gehen, ist dies eine bemerkenswerte Idee der Kandidatin. Am ersten Abend kamen 20–30 Frauen, die I˙nci fragte, in welcher Weise sie als Frau für Frauen Politik machen könnte. Sie hatte anscheinend zunächst die Schwierigkeit, den Frauen überhaupt etwas über Wahlen und Kommunalpolitik zu erklären, da diese wegen ihres bisherigen Ausgeschlossenseins aus der Politik nur wenig wussten. Doch hatte sie Erfolg mit dieser Strategie: Jede Woche kamen abends mehr Frauen in ihr Büro, bis schließlich, als 450–500 Frauen zu ihr kamen, diese nicht mehr ins Büro passten und draußen im Regen herumstanden. I˙nci organisierte daraufhin eine neue Unterkunft für die anwesenden Frauen: Sie gingen kurzerhand in ein Kahve, das sie „von den Männern nahmen“, um dort ihre Wahlkampfveranstaltung durchzuführen. An I˙ncis Erzählung wird zunächst einmal deutlich, wie wichtig es ist, als Kandidatin in der Türkei den Wahlkampf nicht nur sorgfältig, sondern vor allem auch geschlechtersensibel zu planen. Sie ist sich bewusst, dass gerade die Frauen für sie das größte Wählerpotential stellen, und spricht sie deshalb direkt an, schafft für sie Räume der Begegnung und der Information. Es wird erkennbar, dass die Aufrechterhaltung der Geschlechtertrennung sowohl in den öffentlichen als auch privaten Räumen grundlegend ist für die Mobilisierung der Frauen: Zunächst stellt I˙nci den Kontakt 276
Vgl. Straube 2002, Strasser 1995, Stirling 1965.
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in den privaten Häusern her, dann verschafft sie Frauen Zutritt in ihr Büro, schließlich „erobern“ Frauen die Männerdomäne des Kahves. Dieser ursprüngliche Ort, an dem Politik verhandelt wurde und wird, wird also zur Frauendomäne in dem Moment, da Politik auch von Frauen verhandelt wird. Als die anderen Parteien und Kandidaten in Kavaklı sahen, wie eine Kandidatin gerade die Frauen aufgrund ihres Geschlechts mobilisieren konnte, vereinigten sie sich zu einem Bündnis mit dem Ziel, „die Frauen“ nicht an die Macht zu lassen. I˙nci gewann zwar nur mit geringem Vorsprung, aber sie gewann. Dies habe sie in erster Linie den Frauen zu verdanken, diese hätten großen Einfluss gehabt. Indem die Frauen der Gemeinde sich hinter ihrer Kandidatin sammeln konnten, weil für sie der Wahlkampf klar geschlechtsspezifisch interessant war, gelang es den Männern nicht, sich ebenfalls wirkungsvoll dagegen zu verbünden: „Die List der Frauen hat über die Männer gewonnen.“ Damit nicht genug, schildert I˙nci, wie die Frauen auch ihre Männer überzeugten – sie habe „die Frauen in die Politik gezogen“: Während früher die Männer den Frauen vorgeschrieben hätten, wen sie wählen sollten, habe Inci ihnen nun bewusst gemacht, dass sie auch Individuen seien, die in diesem Land das Recht erhalten hätten zu reden, d. h. sich in der Öffentlichkeit zu äußern, und dieses Recht müssten sie nun in Anspruch nehmen. Während trotz der geschlechterspezifischen Reaktionen auf diese für Kavaklı ungewöhnliche Wahlkampfsituation I˙nci als Kandidatin respektiert wurde, entwickelte sich durch die erste Kandidatur Mukaddes’ in Dogˇubeyazıt 1999 eine geradezu bedrohliche Situation: Ich möchte erst einmal über die Probleme beim Wahlkampf 1999, über die damaligen Schwierigkeiten erzählen. 1999 war ich die erste Bürgermeisterkandidatin. Das wurde hier in der Gegend etwas seltsam gefunden. Denn in all den Jahren waren immer nur Männer Leiter und Bürgermeister. Man dachte, dass Frauen nicht erfolgreich sein könnten. In unserer Region ist das Agˇasystem, das Stammessystem sehr verbreitet. Dieses vom Staat unterstützte Agˇasystem ist ein großes Hindernis für die Entwicklung der Menschen, dafür, dass sie sich selbst ausdrücken (dass sie selbst bestimmen). Und deshalb könne eine Frau das Bürgermeisteramt nicht leiten, wir können zu einer Frau nicht „Chef“ sagen. Sie machen daraus ein Problem des Stolzes. Es gab so ein Misstrauen, wie eine Frau leiten könnte, wie sie das Bürgermeisteramt ausführen könnte. Auch unter den Frauen gab es eine große Verunsicherung. Eine Verunsicherung: Hoffentlich wird die Chefin erfolgreich sein, es soll keine Schande über uns kommen (unsere Gesichter sollen nicht schwarz werden). Natürlich bekamen wir viele Bedrohungen. Das heißt, unsere Kandidatur war sowohl durch das System als auch durch die Stämme unter Druck. Sie bedrohten uns per Telefon. Wir werden euch festnehmen, wir werden euch foltern. .. Dies alles wurde damals gelebt. Unsere Freunde wurden festgenommen, unsere Freundinnen waren Vergewaltigungen ausgesetzt. Gewalt wurde ausgeübt. Traditionelle Verbrechen (Ehrenmorde, Mord unter dem Deckmantel der Ehre) gab es gegenüber den Frauen. Trotzdem, diejenigen die dachten, dass wir nicht erfolgreich werden wür-
6.6 Der Wahlkampf
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den – es gab auf der anderen Seite die Auffassung unter den Frauen, hoffentlich wird sie erfolgreich, es soll keine Schande über uns kommen. (…) Es gibt ein Sprichwort im Kurdischen: „ser ser e, ci jin e, ci mer e“. Es heißt, im Streit macht es keinen Unterschied, ob Mann oder Frau. Das heißt, im Streit kann auch die Frau erfolgreich sein. Unter diesem Blickwinkel begegneten wir den Schwierigkeiten. Aber im Ergebnis zeigten wir eine gute Herangehensweise. Mit der Unterstützung des Volkes und der Frau strengten wir uns sehr an. Denn die Frauen fochten mit ihren Männern auch zu Hause Kämpfe aus. Aber trotz dessen, indem die Frauen nicht unter dem Einfluß der Männer blieben, gaben sie ihre Stimme mit ihrem eigenen Willen. Mukaddes, Dogˇubeyazıt/ Agˇrı
Zunächst einmal ist die Ausgangssituation ähnlich wie bei I˙nci: In einem abgelegenen, ländlich geprägten Ort ist die Kandidatur einer Frau etwas Unerhörtes, bis dahin hatte keine Frau es gewagt, in die männliche Herrschaftssphäre der Politik einzudringen. Während I˙nci aber in einer konservativen Dorfgemeinschaft der Westtürkei kandidiert, erklärt Mukaddes das bestehende feudale System in Ostanatolien, in dem Notable weiterhin lokale Macht ausüben, zu einem entscheidenden Hindernis während des Wahlkampfes. In den ländlichen Regionen der Türkei scheinen also zunächst einmal die unterschiedlichen lokalpolitischen und lokalgesellschaftlichen Systeme, innerhalb derer die Politikerinnen agieren, auf sie auf unterschiedliche Weise Einfluss zu nehmen. Dennoch zeigen sich Parallelen in den Darstellungen der politischen Prozesse infolge der Kandidatur von Frauen. Infolge der Ablehnung der Kandidatur einer Frau durch die Männer der herrschenden Stämme politisieren sich entlang der sozial konstruierten Geschlechtersegregation die Gruppen der „Geschlechtsgenossen“: Die Männer sehen ihren Stolz verletzt durch die Kandidatin und erst recht durch eine gewählte Bürgermeisterin; das As¸ iretsystem trage dazu bei, dass die Männer eine Frau nicht als Chefin anerkennen können. die Frauen hingegen fürchten, dass durch ein Scheitern der Kandidatur ihrer „Geschlechtsgenossin“ sie als Gruppe eine Niederlage erleiden würden. Auch wenn wir abermals eine Parallele zu I˙ncis Darstellung erkennen können bzgl. der geschlechtertrennenden Entwicklungen im Wahlkampf, bewirkt der Konflikt zwischen den Geschlechtern eine weit angespanntere Situation. In Kavaklı gewannen die Frauen an Stärke durch die Aneignung der männlich und politisch konnotierten Räume. Während in Kavaklı die Männer nicht „kampflos“ das Feld räumen, sondern versuchen, ihren Machtanspruch ebenfalls durch Bündnisbildung zu festigen, wird in Dogˇubeyazıt die Auseinandersetzung zwischen den Gruppen der Frauen und Männer weit konfrontativer geführt. Mukaddes benennt des weiteren das Bündnis zwischen Staat und As¸ iretsystem als Grund für die Problematik ihrer Kandidatur. Das feudale System werde vom Staat unterstützt – sie konstruiert hier also und auch an anderen Stellen immer wieder eine Allianz zwischen Staat und lokalen Eliten, gegen die sie, die Frauen, die DEHAP und „das Volk“ sich stellten und gegen die
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sie ankämpfen müssten. Dieses System verhindere, dass „das Volk“ „sich selbst ausdrücke“, d. h. es verhindere demokratische Strukturen. „Volk“ wird immer wieder dann benutzt, wenn die Interessen von Marginalisierten und Frauen, von Kurden und Zivilgesellschaft verhandelt werden.277 Wenngleich die Frauen in Dogˇubeyazıt sich über „ihre“ Kandidatin freuten, fürchteten sie auch eine mögliche Schande – wem gegenüber, bleibt ungesagt: den Ehemännern gegenüber? Den Männern als Block? Weiter erzählt Mukaddes, wie sie bedroht worden seien, sowohl von Seiten „des Systems“ als auch durch die Stämme278. Der Wahlkampf sei durch Gewalt geprägt gewesen, es habe Ehrenmorde an Frauen gegeben. Man darf allerdings nicht vergessen, dass 1999 im Osten die politische Lage sehr angespannt und Gewalt an der Tagesordnung war. Der Bürgerkrieg, d. h. das aufgeheizte Klima verschärfte jedoch die geschlechtsbezogene Konfliktkonstellation. Doch auch die Frauen „auf der anderen Seite“, d. h. wohl, Angehörige der as¸ iretler, hätten gehofft, Mukaddes werde erfolgreich sein, damit nicht Schande über sie käme. D. h. sie scheint hierbei ausdrücken zu wollen, dass es eine lagerübergreifende Solidarisierung unter den Frauen gegeben habe. Auch dabei zeigt sich eine ähnliche Lagerbildung wie in Kavaklı: Frauen unterstützen auch über Parteigrenzen hinweg und gegen den Willen der Männer ihrer Familie die „Geschlechtsgenossin“. Schließlich beschreibt Mukaddes wie auch I˙nci, dass die Frauen durch die Möglichkeit, eine „Geschlechtsgenossin“ wählen zu können, sich von ihren Männern bzgl. ihrer Wahlentscheidung emanzipieren und gegen sie Stellung beziehen. In den beiden Schilderungen über die Wahlkämpfe wird deutlich, wie sehr die Partizipation der Frauen mit der Geschlechtersegregation und den geschlechtsspezifischen Räumlichkeiten zusammenhängt. Dies möchte ich nachfolgend vertiefend darstellen anhand der Themen Orte der Politik, Aktivierung der Frauen im Wahlkampf und geschlechtsbezogene Reaktionen. 6.6.1
Orte der Politik
Wie wir zuvor schon sahen, sind Räume ein entscheidender Faktor für die Entwicklung von politischer Partizipation. Das Kahve avancierte zum Sinnbild der Geschlechtersegration in der Türkei. Die Bedeutung des Kahves für den Wahlkampf und die Konsequenzen, die sich daraus für die politische Informiertheit von Frauen ergeben, beschrieb Heidi Wedel bzgl. 277
Es darf natürlich nicht vergessen werden, dass Mukaddes als linke kurdische frauenbewegte Politikerin hier spricht – jedoch bestätigten informelle Gespräche ihre Darstellung. 278 Auch die erste Bürgermeisterin der Türkei hatte, Berichten ihrer Tochter zufolge, Drohbriefe erhalten, in denen sie als Frau angegriffen wurde. „Türkiye’nin ilk kadın belediye bas¸ kanının öyküsü“, Hürriyet 11. 3. 2004.
6.6 Der Wahlkampf
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der Kommunalwahlen im Istanbuler Gecekondu 1994: Da Wahlkampfveranstaltungen meist im Kahve stattfinden, sind Frauen praktisch von ihnen ausgeschlossen, da sie keinen Zugang zu diesen reinen Männerorten haben. Sie beobachtete verwirrtes, diskriminierendes bis aggressives Verhalten der Männer, um die Frauen aus ihrer „monopolisierten Öffentlichkeit“ zu verweisen, wenn es trotzdem einige Frauen wagten, an den Veranstaltungen teilzunehmen: „Frauen sind also meist von dieser wichtigsten Möglichkeit zur Information über die Kandidaten einerseits und des Vortragens der eigenen Forderungen andererseits ausgeschlossen. Das heißt, dass sie ihr aktives Wahlrecht, das ihnen seit 1930 nach dem Gesetz genauso zusteht wie den Männern, nur eingeschränkt als informierte Bürgerinnen wahrnehmen können. Insofern liegt hier ein Beispiel dafür vor, dass die Gewährung von Rechten (entitlement) auch um die Möglichkeit ihrer Inanspruchnahme (endowment) ergänzt werden muss. Nach der ersten Überwindung der den Frauen informell gesetzten Grenzen klagen sie jedoch dieses Recht offensiver ein.“279
Die Frage ist also berechtigt, wie Kandidatinnen, zumal im ländlichen Raum, es schaffen, mit dieser Hürde des Kahves umzugehen und ihr Recht, als Kandidatin die Wählerschaft zu informieren, durchsetzen können. Wie wichtig das Kaffeehaus für das lokalpolitische Handeln im Dorf ist, zeigt das Beispiels Aynurs: Als ich Kandidatin war, das ist hier ja eine ganz kleine Kommune, sagten sie, wie kann sie denn ins Kaffeehaus gehen, wie kann sie denn unter Männer gehen. Ich wusste das, denn ich war ja Kandidatin geworden. Ich gehe ins Kaffeehaus, wenn wir eine Versammlung haben, dann kommen wir dort zusammen. Über das, was in Hasköy zu tun ist, entscheiden wir gemeinsam. Ich erlebe keine Probleme, es ist für mich kein Problem. Zunächst lehnten die Menschen sie als Kandidatin also deshalb ab, weil sie als Frau ja nicht ins Kaffeehaus gehen könne, sie könne doch als anständige Frau nicht unter Männer gehen, d. h. eine für Frauen nicht schickliche, für den Wahlkampf aber nötige Räumlichkeit betreten. Das Kaffeehaus steht also für politische Versammlungen, welche nicht per se für Frauen verboten sind, sondern wegen der Räumlichkeit, in welcher sie stattfinden, wird den Frauen der Zutritt verwehrt. Gleichzeitig führt die erfolgreiche Wahl für Aynur über die Aneignung dieses männlichen Refugiums. Wie es Aynur gelang, diese Hürde des Kahves trotz des Klatsches zu überwinden, lässt sich nur spekulieren: Ich vermute, dass sie als „Dorfkind“ genügend Reputation besaß, um den Einwänden aus dem traditionell- konservativen Lager, das in einem Dorf wie Hasköy sicher sehr dominierend ist, etwas entgegen zu setzen. Insofern ist zu vermuten, dass in einem Dorf mitunter eine Frau es leichter haben könnte, die geschlechtsbezogenen materiellen Grenzen zu überwinden, als Frauen in einem Gecekondu, das letztendlich größere Anonymität bedeutet, da eine Dorfgemeinschaft 279
Wedel 1994, S. 197.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
eine bekannte „Dorftochter“ eher akzeptieren könnte – vorausgesetzt, es findet sich eine passende Kandidatin280. Vergleichbar hierzu könnten wir Nurgül und I˙nci sehen: Beide wurden als berufstätige „Dorftöchter“ Kandidatin und konnten im Dorf mit nachbarschaftlicher und gemeinschaftlicher Unterstützung rechnen; beide schildern aber auch die Problematik der geschlechtsspezifischen Sphären für die Durchführung des Wahlkampfes: I˙nci, wie zuvor geschildert, nahm für eine Wahlkampfveranstaltung mit 450 Frauen zusammen ein Kahve ein, Nurgül ging zunächst als einzige Frau in Seyrek über den Platz im Zentrum des Dorfes, infolge ihrer Kandidatur begannen auch andere Frauen, dies zu tun. Während Aynur allerdings sich nicht mit dem Gedanken befasste, der weiblichen Wählerschaft Zutritt zu ihren Wahlkampfveranstaltungen zu gewähren, gehörte dieser Aspekt zur Strategie Nurgüls und I˙ncis. Dass es bezüglich der geschlechtsspezifischen Strukturierung der Öffentlichkeit in einer Gemeinde durchaus regionale oder auch ortsabhängige Unterschiede gibt, zeigt das Beispiel Karaçay: In dem freundlichen Bergdorf beteiligten sich Frauen, Männer und Kinder an dem Wahlkampf Sezgins: Es war ganz ruhig gewesen. Mit meinen Wählern zusammen waren wir abends zusammen in meinem Büro, Frauen Männer, Kinder, ohne Trennung, wir saßen zusammen und tranken zusammen Tee und Kaffee, wie müssen wir uns verhalten, wie uns bewegen, wo müssen wir hingehen, immer mit Familie, Frauen, Männer, Kinder haben wir das zusammen gemacht. Sezgin, Karaçay/ Denizli
Dass sie ja, wie erwähnt, gehörig unterschätzt wurde von ihren Gegnern, wird zu dem ruhigen Ablauf beigetragen haben. Eine weitere Erklärung für eine weniger klare Trennung geschlechtsspezifischer Sphären ist, dass in kleinen Kommunen durch die Verwandtschaftsbeziehungen der Einwohner diese sozial „enger“ zusammenleben: So erzählt Hilal, dass in I˙nkis¸ la Männer und Frauen zusammen in den Häusern sitzen und sich unterhalten; jeder kenne jeden – auch im Wahlkampf habe sich nichts an dieser Gewohnheit geändert. In ihrem Fall scheint es allerdings auch wenig Opposition zu ihrer Kandidatur gegeben zu haben – sicher war allen klar, dass es in erster Linie darum ging, dass das Bürgermeisteramt in der Familie Hilals bliebe, so dass es keinen „harten“ Wahlkampf gab. 6.6.2
Aktivierung der Frauen im Wahlkampf
Ein grundlegender Faktor für den Weg zum Erfolg einer Frau im Wahlkampf ist der Grad der gelungenen Aktivierung für eine „geschlechtsgenossenschaftliche“ Wahl. 280
So wurde bspw. auch S¸ükran im Dorf Kas¸ pinar im Kreis Agˇın in der Provinz Elazıgˇ Gemeindevorsteherin.
6.6 Der Wahlkampf
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Eine in allen Gegenden verbreitete Technik des „Frauenwahlkampfes“ ist der „Tür-zu-Tür-Wahlkampf“. Sowohl I˙nci in Thrakien als auch Fatma im Hatay als auch Zeyniye in Südostanatolien praktizierten ihn, und es gelang ihnen auf diese Weise, gerade die Frauen in der häuslichen Sphäre anzusprechen und zu politisieren. Diese Wahlkampftechnik ist keine neue Erfindung dieser Kommunalpolitikerinnen: Horst Unbehaun bspw. zitiert den Bericht eines linken Kommunalpolitikers in Datça, der über die Frauenorganisation der CHP erzählt: „Die Vertreterinnen der Frauenorganisation besuchten die Frauen zu Hause, machten ihnen klar, was die CHP alles für sie bringen würde, die waren sehr aktiv. Sie mobilisierten die Hausfrauen, von denen etliche aktive Mitglieder wurden. Diese Hilfsorganisationen waren im Grunde viel durchschlagender als es die offizielle Kreisorganisation der Partei sein konnte.“281
Dabei liegt allerdings die Betonung auf Hilfsorganisationen: Frauen „dürfen“ als „aktive Mitglieder“ „helfen“, jedoch weder entscheiden noch kandidieren. Auch Günes¸ -Ayata verweist auf die wichtige Aufgabe für Frauen in den Parteien, andere Frauen als Wählerinnen zu gewinnen: „Weibliche Politiker stellen den direkten Kontakt zu Frauen her. Sie können mit ,frauenspezifischen` Gesprächsthemen die Hausfrauen erreichen und sie in ihren Wohnungen aufsuchen und, was noch wichtiger ist, sie können das Frauenkommunikationsnetz in Anspruch nehmen. Politikerinnen sind unentbehrlich, um die Frauen für die Kommunalpolitik, auch in der Provinz, zu interessieren. Für alle Parteien sind Politikerinnen sehr wichtige Werkzeuge bei der Beschaffung von Wählerinnenstimmen. Bei genauer Betrachtung stellt sich heraus, dass sich deren Aktivitäten schwerpunktmäßig auf Frauen beschränken, so dass Konkurrenz und Zusammenarbeit mit Männern auf ein Minimum reduziert werden. Grob gesagt: Männer werden gewählt, und Frauen leisten nur Beihilfe.“282
Auch zum Wahlsieg der Refah Partisi, der islamorientierten Wohlfahrtspartei, trugen 1994 gerade die weiblichen Parteimitglieder durch ihre „Tür-zu-Tür-Technik“ bei.283 Beim Tür-zu-Tür-Wahlkampf treffen die Kandidatinnen eben in der Regel die Frauen an. Während Männer das Kaffeehaus nutzen können, d. h. hier ihre Öffentlichkeit herstellen, entsteht durch einen solchen Frauenwahlkampf eine „politische Frauen-Öffentlichkeit“284: Das Haus wird geöffnet hin zu einem solch öffentlichen 281
Unbehaun 1994, S. 254. Günes¸ -Ayata 1991, S. 189. 283 Vgl. Tekeli 1997. 284 Wie bereits zuvor dargelegt, entsteht im Haus traditionell eine öffentliche Sphäre für Frauen, da diese die Häuser für gegenseitige Besuche und den Austausch von Neuigkeiten nutzen. Vgl. Strasser 1995, Straube 2002, Wedel 1999, Sirman 1991. Der springende Punkt ist jedoch, wann diese als politisch bezeichnet werden kann. 282
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Anliegen wie dem Problem der weiteren Machtkonstellationen in der Gemeinde. Im Haus, im Privaten, durch die marginalisierte Frau wird dabei letztlich entschieden, wie die Politik weiter gestaltet werden wird. Selbst in Bagˇlar, wo ein Tür-Tür-Wahlkampf nicht durchführbar ist angesichts der Größe und Unübersichtlichkeit, unternahmen die Wahlkämpferinnen in den einzelnen Vierteln, d. h. in den nächst größeren sozialen Räumen mit einem gewissen privaten Charakter285, Aktionen, die in erster Linie die Frauen ansprachen und sie zur Wahl bringen sollten: Auch hier sind wir herumgegangen, in den Vierteln. Wie in kleinen Kommunen, nicht von Haus zu Haus, aber in den Vierteln sind wir herumgegangen, wir haben immer auf den Straßen mit den Frauen geredet. Wir versuchten sie zu überzeugen. Hier haben die Frauen zweifellos sich unserer von selbst/ automatisch angenommen. Es gab keine Frau, die negativ reagiert hätte. Immer, wenn wir unterwegs waren, freuten sie sich sehr, alle wollten sehr, denn sie sagten: Wir wollen, dass ihr uns repräsentiert. Deshalb hatten wir keine großen Probleme. Sie machten sich uns für sich selbst zu eigen. Um sie zu überzeugen, mussten wir uns nicht sonderlich bemühen. Sie versuchten, die Menschen in ihrer Umgebung für uns zu überzeugen. Sie arbeiteten mit uns zusammen. Das war überall dort so, wo wir hingingen. Rojda, Bagˇlar/ Diyarbakır
Auch Leyla ging von Tür zu Tür, d. h. sie machte ebenfalls „Frauenwahlkampf“. Als alleinstehende „fremde“ Frau wurde sie auch häufig zum Essen und Übernachten in die Häuser Küçükdikilis eingeladen. Durch den ausdauernden Wahlkampf in den Häusern konnte Leyla mit allen sprechen, sowohl mit den Männern als auch mit den Frauen, und man habe so einen entspannten Dialog entwickelt. Leyla erklärt das Vertrauen der Menschen mit der Bedeutung der DEHAP: Weil man die Partei so sehr schätze, habe man auch sie geschätzt. Dass sie jedoch in erster Linie als FRAU erfolgreich war, ist offensichtlich – Leyla war siegessicher am Wahltag, die Frauen hätten ihr soviel Herzlichkeit gezeigt, sie habe „in ihren Augen gesehen, dass sie gewinnen werde“. Für die Frauen scheint die Wahl auch gewissermaßen symbolischen Charakter gehabt zu haben: Zum ersten Mal würde ganz oben, auf dem Sessel im Rathaus, eine der Ihren sitzen.
6.6.3
Geschlechtsspezifische Reaktionen während des Wahlkampfes
Während die meisten gewählten Politikerinnen die Unterstützung der Frauen für wichtig bis ausschlaggebend bezeichnen für die erfolgreiche Wahl, reagierten in den verschiedenen Regionen die Männer recht unterschiedlich auf die neue weibliche 285
Zu der Bedeutung der Wohnviertel, der mahalle, vgl. Wedel 1999, Strasser 1995.
6.6 Der Wahlkampf
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Herausforderin. Wie ich schon darlegte, reagierten Männer auf die Kandidatin mit Bündnisbildung (Kavaklı) und mit Gewalt (Dogˇubeyazıt). Einige Kandidatinnen erhielten jedoch auch von den Männern der Kommune Unterstützung: So habe „ganz Kızıltepe“ Cihan Sincar unterstützt, die dann von mehr als 70% gewählt wurde, wobei in ihrem Fall sicher ihre Parteizugehörigkeit, ihre Familie und ihre Bekanntheit eine zentrale Rolle spielten. Leyla wiederum trat bei der Wahl gegen acht Männer an. Während die DEHAP im Wahlkampf anscheinend gerade auf das positive Image einer Frau als Bürgermeisterin abzielte, d. h. auf ihre sozialen Fähigkeiten, propagierten die anderen Parteien gegen sie, WEIL sie eine Frau ist: Das heißt, die Menschen der DEHAP, die Mitglieder, sagten: „wir vertrauen den Frauen, wir glauben, dass Frauen transparenter, friedlicher, demokratischer, gleichberechtigender sind“. Aber die anderen Kandidaten machten Propaganda vor allem in Form wie: „sie ist eine Frau, sie kann das nicht. Sie ist von außen gekommen, sie kann Kücükdikili nicht kennen“, in dieser Form sprachen sie. Leyla, Küçükdikili/ Adana
Es sollte hinzugefügt werden, dass auch in der DEHAP sie zwei Gegenkandidaten hatte, einer von ihnen war der vorherige Bürgermeister. Während in ihrer Darstellung dennoch auch die Männer der DEHAP sie vorbehaltlos unterstützten, erhielt sie von allen Frauen, d. h. auch von nichtkurdischen und Frauen von anderen Parteien Unterstützung. Auch hier gibt es wieder einen Hinweis auf den expliziten Bezug im Wahlkampf auf die Kandidatin: Die DEHAP-Männer scheinen akzeptiert zu haben, dass Leyla in ihrem Sinne die kurdische Sache verkörpert, d. h. sie wählten gemäß ihrer nationalen Identität. Die Frauen aber wählten in erster Linie gemäß der Geschlechtszugehörigkeit, d. h. sie sahen in Leyla in erster Linie die FRAU: Die Frauen gaben sehr viel Unterstützung. Das heißt, auch die Männer der Partei unterstützten mich, aber auch die Frauen, die nicht zur Partei gehörten, und nichtkurdische Frauen unterstützten mich. Die Frauen pflegten zu sagen: Bis heute haben wir unsere Stimme allen Männern gegeben. Aber wenn jetzt eine Frau Bürgermeisterin wird, werden wir in ihr Zimmer gehen, wir werden unseren Tee trinken, wir werden unsere Sorgen ihr erzählen. Das sagten sie sehr oft. Die Frauen, ich bin immer von Tür zu Tür gegangen, die Frauen pflegten zu sagen: Mein Mann sagt, er werde seine Stimme einer anderen Partei geben, aber ich werde dir meine geben. Leyla, Küçükdikili/ Adana
Die Erzählung zeigt, dass die Kandidatur einer Frau eine völlig neue Situation für die Frauen in deren Wahlkreis schafft: Ihnen war bislang das Rathaus verwehrt, nun aber erhoffen sie sich durch die Möglichkeit, mit der Bürgermeisterin zu kommunizieren, auch von ihr beachtet zu werden. Auch wenn sicher in allen Gemeinden, in denen eine Frau gewählt wurde, über das Für und Wider der Wahl einer Frau gesprochen wurde und daraus mitunter ein geschlechtersensibler Wahlkampf wurde, in dem Sinne, dass die Geschlechtertren-
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nung in der Gemeinde für den Wahlkampf eine Rolle spielte und Frauen als spezifische Wählergruppe ihn prägten, gibt es eine Reihe von geschlechtsunabhängigen Gründen, die das Wahlverhalten beeinflussen. Dazu gehört an erster Stelle die Parteizugehörigkeit der KandidatInnen und die Chancen der Parteien, in bestimmten Regionen und Orten gewählt zu werden. Des Weiteren spielen Beruf und Bekanntheit der KandidatInnen in der Gemeinde sowie das Vertrauen, das ihnen gegeben wird, eine Rolle. Außerdem erklären einige Bürgermeisterinnen, sie seien „mit der Liebe des Volkes“ gewählt worden. Dies ist nicht weiter bemerkenswert, sondern rhetorisch zu verstehen. Interessant ist jedoch, in welchem Zusammenhang diese „Volkes Liebe“ gebracht wird: Das Volk von Yes¸ ilköy setzte große Hoffnungen in mich. Fatma wird unsere Straßen reparieren, sie wird uns Wasser bringen, sie wird zuhören, was wir sagen, sie ist nicht anders als wir, sie ist eine von uns, dachten sie und wählten mich. Fatma, Yes¸ ilköy/ Hatay
An erster Stelle nennt Fatma hier die Infrastrukturprobleme der Gemeinde, für die die Einwohner Yes¸ ilköys sich eine Lösung erhoffen. Sie wurde also als technische Expertin und als „Tochter Yes¸ ilköys“ gewählt und konnte auf das Vertrauen der Menschen aufbauen, die sie für besonders fleißig halten. Des Weiteren konnte die AKP landesweit wegen ihrer Regierungserfolge auf nationaler Ebene mit Wählerzustimmung rechnen. Schließlich wurde in Yes¸ ilköy insgesamt eher konservativ gewählt. Ähnliches gilt für Dogˇankent: Neben der AKP konnte die nationalistische MHP hier große Erfolge verzeichnen. Nazmiye war allerdings bis zur Wahl hier quasi unbekannt. Schließlich fällt auf, dass die CHP-Bürgermeisterinnen im äußeren Westen erfolgreich waren, d. h. in Regionen, in denen die CHP traditionell recht stark ist. Ebenso sind die Erfolge der DEHAP in den kurdischen Regionen zu erklären – wenngleich dort auch die AKP zu einer ernsten Konkurrentin wurde. Insofern sollte Yurdusevs Behauptung, sie sei in Bagˇlar gewählt worden, da sie Türkin sei und somit „die türkisch-kurdische Geschwisterlichkeit konkret aufgebaut“ werden könne, in ihrer Person diese symbolisiert werde, eher als Parteipropaganda interpretiert werden: Ich möchte behaupten, dass den Einwohnern Bagˇlars die Herkunft Yurdusevs recht egal war – sie wählten die DEHAP, da sie in Diyarbakır sehr populär ist und Erfolge vorweisen konnte. Außerdem konnten, wie erwähnt, gerade die Frauen aktiviert werden. Jedoch könnte Yurdusev als Türkin ein wichtiges Aushängeschild für die DEHAP sein, ein Symbol dafür, dass die Partei eine Identität jenseits der kurdischen anstrebt, dass sie den gesellschaftlichen Graben zwischen Türken und Kurden zu überwinden versucht. Unter den Bewohnern Diyarbakırs scheint allerdings eher Unverständnis zu bestehen, warum ausgerechnet Yurdusev Kandidatin gewor-
6.6 Der Wahlkampf
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den war, was allerdings eher mit ihrem Auftreten zusammenhängt286. Schließlich kandidierten neben Yurdusev eine Reihe von Frauen für die Kommunalversammlung, so dass der Wahlkampf gerade die Frauen ansprach, wie Rojda erzählt: Die Frauenkommission zeigte sehr aktive Anstrengungen bei diesem Thema. Sie erzählten den Frauen, die in Bagˇlar leben, dass sie dieses Mal für sich selbst ihre Stimme geben müssten. Sie sagten, dass wir hier Frauenprojekte verwirklichen würden. deshalb gaben uns die Frauen große Unterstützung. Rojda, Bagˇlar/ Diyarbakır
In Kızıltepe287 konnte Cihan neben der Popularität der DEHAP auch mit weiteren persönlichen Eigenschaften punkten: Es gab sehr viel Unterstützung. Das heißt, es gab auch durch uns ein wenig Anstrengung, Vor allem die Parteiaktivitäten, dann, dass ich meinen Mann verloren hatte, dass ich kurdisch bin, dass ich eine Frau bin, das hat mir alles sehr geholfen. (…) Viele Leute hier vertrauen der Partei. Wenn das alles zusammenkommt, Frausein, Muttersein, Parteimitglied, als Frau, die sehr viel geleistet hat, dann vertrauen wir so jemandem, dann geben wir so jemandem unsere Stimme. Auf diese Weise kommt alles zusammen. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
Neben den türkeiweit bzw. regional erfolgreichen Parteien können andere Parteien in Orten gewählt werden, in denen beliebte und erfolgreiche Persönlichkeiten diesen Parteien angehören. In diesem Fall spielt das Parteiprogramm kaum eine Rolle, die Wahl wird zur Persönlichkeitswahl. Insofern kann die Wahl Hilals als DYP-Kandidatin erklärt werden sowie die Wahl Linas als SHP-Angehörige, d. h. die beiden „Ehefrauen des Exbürgermeisters“ kandidierten für Parteien, die türkeiweit kaum Erfolge verbuchen konnten. Es ist nicht wichtig, egal, welche Partei, das ist nicht wichtig, Persönlichkeiten sind wichtig, die Persönlichkeiten, die in die Politik gegangen sind, das kommt an erster Stelle, nicht die Partei. Hier in unserer Gemeinde kann man sagen, dass die AKP und die DYP auf gleichem Niveau sind, als große Parteien, die DYP ist allerdings kleiner, aber wieder weil ich in der DYP bin, wählten sie mich. Sie geben der Persönlichkeit ihre Stimme, nicht der Partei. Und warum, denken Sie, wurden Sie gewählt? Der erste Grund, warum ich gewählt wurde, ist die wegen der Arbeit meines Mannes, zweitens gibt es in unserer Gemeinde nicht so einen Unterschied zwischen Mann und
286
In informellen Gesprächen äußerten sich Diyarbakırlıs in diesem Sinne: „Ich verstehe nicht, warum sie (die DEHAP) ausgerechnet DIE aufgestellt haben.“ „Rojda Hanım ist eine sehr gute Frau – aber die Bürgermeisterin …!“. 287 In Kızıltepe zeigten sich in informellen Gesprächen gerade auch junge Männer voller Stolz auf ihre Bürgermeisterin: „Wir alle haben ihr unsere Stimme gegeben, wir stehen alle hinter ihr!“. Inwieweit sie lediglich die Ausländerin beeindrucken wollten, sei dahingestellt.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
Frau und drittens denken sie, dass ich erfolgreich sein werde. Wir kennen schließlich die Probleme der Gemeinde, wir wissen, was in der Gemeinde getan werden muss. Hilal, I˙nkis¸ la/ Sivas
Dass es „keinen Unterschied zwischen Mann und Frau“ in I˙nkis¸ la gibt, ist im Zusammenhang mit der Vorstellung zu verstehen, dass ein Ehepaar als Einheit agiere – aus dieser Perspektive mag es tatsächlich „egal“ sein, wer formal Amtsinhaberin ist – politische Entscheidungen habe sowieso der Mann zu fällen. Linas Mann allerdings betonte immer wieder, dass seine Frau nun „hinter dem Tisch“ auf dem Bürgermeistersessel sitze – auch wenn Lina meist ihre Zusammenarbeit bekräftigt. Sezgin erklärt zunächst ihre eigene Stärke zur Ursache ihres Erfolges – schließlich sei sie keine geborene „Karaçaylı“: Es gab drei Kandidaten, einen von der AKP, der ist jetzt auch in der Kommunalversammlung, ich habe sie auf den Boden geworfen. Obwohl ich keine von hier bin, und der andere von Geburt an hier wohnt, und ich habe ihn besiegt. Sezgin, Karaçay/ Denizli
Des Weiteren sieht sie in ihrem beruflichen Engagement und schließlich in ihrem guten Verhältnis zu den Frauen den Grund für ihre Wahl: Warum ich gewählt worden bin – dies kann ich so beantworten – ich habe 17 Jahre lang hier als Krankenschwester gearbeitet, mit den Frauen hatten ich guten Kontakt, schon 13 Jahre bin ich Rentnerin, aber ich lebe nicht als Rentnerin: weil ich weiterhin Blutdruck messe, Fieber messe, Spritzen gebe, nur bei Geburten helfe ich nicht. Es sind 2 Risiken, weil es so risikoreich ist, man ist für 2 Leben verantwortlich, dieses Risiko bin ich nicht eingegangen, Und mit meinem eigenen Auto nach Denizli ins Krankenhaus habe ich sie selbst gebracht, die Kranken. Ich lebte also überhaupt nicht als Rentnerin. Ich arbeite immer noch. D. h. von den Frauen habe ich viele Anhängerinnen. Sezgin, Karaçay/ Denizli
Trotz der möglichen unterschiedlichen Gründe für die Wahl einer Frau möchte ich dennoch betonen, dass einige Bürgermeisterinnen ihr Frausein als Haupt- oder einzigen Grund angeben. Bspw. Mukaddes gibt an, vor allem deshalb gewählt worden zu sein, weil sie eine Frau ist. „Das Volk“ habe bemerkt, dass eine Frau sehr viel ehrenhafter, gerecht, gewissenhaft sei. „Das Volk“ habe gewusst, dass Frauen besser verwalten können und die Menschen gleich behandeln könnten. Da sie ja an anderer Stelle ausführt, dass die Männer gegen ihre Wahl waren, stellt sich die Frage, wer in ihrer Rhetorik mit „dem Volk“ gemeint ist. „Das Volk“ könnte sich in erster Linie auf „die Frauen“ beziehen, oder als eine Art Metapher zu verstehen sein: „Das Volk“ steht dafür, dass Mukaddes aus ihrer Sicht bzw. aus Sicht ihrer Partei die eigentliche demokratisch legitimierte Person ist, gegenüber den vorherigen Bürgermeistern, die nur durch ihre As¸ iretzugehörigkeit legitimiert waren, d. h. aufgrund der feudalen, autokratischen Strukturen.
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6.7 Politischer Alltag in den Kommunalverwaltungen
Küçükdikili – Bagˇlar – Bostanıçı – wie Gülihan es ausdrückt, wollten die Parteifunktionärinnen der DEHAP „die schwierigsten und ärmsten Kommunen“, wollten gerade hier etwas für die Frauen initiieren. Dennoch wird unter politisch Interessierten in der Türkei die Meinung vertreten, dass Frauen nur aufgrund ihrer Familie überhaupt Kandidatin werden konnten, gerade im Osten und Südosten seien Kandidatinnen Angehörige bedeutender Stämme. Fatma Nevin Vargün weist dies scharf zurück: Es stimmt schon, es gibt im Osten und Südosten solch ein As¸ iretsystem. Dieses As¸ iretsystem wollte das (politische) System nicht brechen, das ist nicht die Schuld dieser Region eigentlich. Sowohl die politischen Parteien als auch die Staatsmechanismen trugen die Köpfe dieser as¸ iretler, die Anführer der as¸ irets in die Versammlung und in die Politik. Aber in der letzten Zeit begann ein Prozess, um diese As¸ iretkonstruktion ein wenig zu zerbrechen. Das sind Dinge, die Zeit brauchen. Z. B. ist Tunceli ein sehr konkretes Beispiel. Tunceli ist ein Ort, an dem die As¸ irets sehr verbreitet sind, aber die Menschen sind sich dessen nicht bewusst. In Tunceli hat das Machtbündnis gewonnen. D. h. durch die Aktion von sechs politische Parteien haben sie gewonnen. Und dort haben wirklich die As¸ iretler verloren. Die Kandidatin war eine aus Dersim288, eine zivile, sie kam aus der Zivilgesellschaft, sie vereinten alles Politische, und das Volk gab ihnen wirklich die Stimme und die Asirets wurden besiegt. Das gilt für einige Freunde. Keine der Kolleginnen, die von der DEHAP gewählt wurden, ist eine As¸ irettochter oder so, aber alle glauben das. Es gibt natürlich die Auffassung, die dies aufrechterhalten will. Fatma Nevin Vargün, KADER/ Ankara
In diesem Sinne wäre also ein weiterer Grund für die Wahl einiger Kandidatinnen im Osten, dass die Menschen sich durch die Wahl mehr lokale Demokratie erhofften, dass sie als Gegengewicht zu den alten Eliten verstanden wurden.
6.7
Politischer Alltag in den Kommunalverwaltungen „Belediyeler erkeklerin degˇ il!“289 „Die Kommunalverwaltungen gehören nicht den Männern!“ Das Personal akzeptierte das (d. h. die Wahl einer Frau) nicht, sie waren nicht so bewusst, zum Beispiel hatten wir ein Treffen – bei unserem ersten Treffen, um das Personal kennenzulernen, gab es eine Umfrage, die wir machten, einer vom Personal, mit dem wir sprachen, sagte, als ich fragte, ob sie zufrieden mit der Bürgermeisterin seien, „Ja, der Mann der Bürgermeisterin leitet uns sehr gut“, da sage ich: „die Bür-
288 289
Die Einwohner Tuncelis bezeichnen ihre Region selbst als Dersim. Makbule Çatın/ Gemeindeversammlungsmitglied in Çermik/ Diyarbakır in „Belediyeler erkeklerin degˇil!“, Ülkede Özgür Gündem, 28. 7. 2004, auch in www.ucansupurge.org.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
germeisterin hat keinen Mann, sie ist nicht verheiratet“, da fragte er: „wie geht das denn? Leitet uns jetzt nicht der Mann der Bürgermeisterin? Ich dachte, dass immer der Mann leitet, dass die Bürgermeisterin da nur eine Formalität ist.“ Dann sagte er: „Aber sind Sie denn wohl nicht so? Interveniert Ihr Mann denn nicht?“ „Nein“, sagte ich, „das ist hier meine Arbeit, er mischt sich in keiner Weise ein“. So wunderten sie sich des öfteren. Und sie schauten ganz anders drein. Weil sie denken, dass wir emotional sein können, weil wir Frauen sind, versuchen sie, einige Dinge zu missbrauchen. Aber langsam gewöhnen sie sich daran, jetzt akzeptieren sie es. Rojda, Bagˇlar/ Diyarbakır
Das Zitat verdeutlicht, dass in der Wahrnehmung der Menschen ein deutlicher Unterschied besteht zwischen der gesellschaftlichen Geschlechterordnung und dem, was der Gesellschaft durch den Staat und das politische System „zugemutet“ wird: Auch wenn letztere „aus formalen Gründen“ ein paar Frauen in die Institutionen lassen, sollten dennoch deren zugehörige Männer die Entscheidungen treffen. Das „patriarchale Paradox“ ist also fest in den Köpfen der Menschen verankert; Frauen können zwar in den politischen Kreisen als Namen auftauchen, jedoch wird es für selbstverständlich erachtet, dass sie keine Macht ausüben, sondern lediglich ausführende Hand eines Mannes sind. Gleichzeitig aber macht Rojda deutlich, dass die in Bagˇlar gewählten Frauen nicht gewillt sind, sich auf dieses Modell einzulassen: Sie erklärt, dass sowohl sie als auch die Bürgermeisterin beabsichtigen, eigenständig Politik zu machen, und verteidigt diese Einstellung gegenüber den „Nicht-Bewussten“. Inwieweit Frauen „eigene Politik“ im Rahmen der Alltagspflichten der Kommunalverwaltung gelingen kann, ob ihr Frausein im politischen Alltag weiterhin thematisiert wird, ist Thema des folgenden Abschnitts. 6.7.1
Pflichten und Herausforderungen „Bir göreve geldikten sonra kadın ya da erkek olmanızın farkı kalmıyor.“290 „Wenn Sie es in ein Amt geschafft haben, macht es keinen Unterschied, ob Sie Mann oder Frau sind.“
Nachdem wir gesehen haben, dass im Wahlkampf dem Geschlecht der Kandidatinnen eine wesentliche Bedeutung beigemessen wurde und frauenspezifische Problembereiche häufig thematisiert wurden, stellt sich nun die Frage, inwieweit nach der Wahl im politischen Alltagsleben das Frausein der Bürgermeisterinnen weiterhin eine Rolle spielt. Schließlich sind nach der Wahl in erster Linie die Pflichtaufgaben der Kommunalverwaltung zu lösen, wie etwa die Sorge für die Infrastruktur und die 290
Nazmiye Kabadayı, in: „Kavga olsa ayırabilir mi?“, SABAH 19. 12. 2006.
6.7 Politischer Alltag in den Kommunalverwaltungen
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Grunddienstleistungen. Ich möchte zunächst zwischen einem allgemeinen Aufgabenbereich der Kommunalverwaltung und einem auf Frauen gerichteten Projektfeld unterscheiden: Bzgl. des ersteren stellt sich die Frage, ob hier die Geschlechtszugehörigkeit der Bürgermeisterin überhaupt in der alltäglichen Kommunalpolitik thematisiert wird. Nazmiye verneint im Eingangszitat diese Frage – auf den ersten Blick. Doch wie sich zeigen wird, handelt sie auch in der Alltagspolitik geschlechtersensibel. Bzgl. der Arbeiten, die explizit Frauen ansprechen sollen, ist zu überlegen, ob diese unter der Schirmherrschaft einer Bürgermeisterin besonders bedeutsam im Rahmen der kommunalen Gemeinschaft werden. In fast allen Gemeinden müssen die Bürgermeisterinnen ähnliche Probleme bewältigen: Die meisten übernahmen hoch verschuldete Verwaltungen291, die durch Korruption, zu hohe Personalkosten und mangelnde Effizienz gekennzeichnet waren. Gleichzeitig fehlte grundlegende Infrastruktur wie asphaltierte Straßen, Kanalisation, Wasserversorgung, Elektrizität. Viele der Bürgermeisterinnen betonen, dass es nötig sei, die Gemeinde „zu verstädtern“: Eine 36-jährige Kommune, können Sie sehen, wie ein Dorf. D. h. 36 Jahre später müsste eine Kommune nicht so sein. Und ich habe in der Wahlkampfrede das immer gesagt. Ich bin hier geboren, groß geworden, aber es hat sich noch nicht von dem Dorfstatus entfernt. Mein Ziel ist, die Gemeinde zu verstädtern. Vom Dorfstatus weg Stadtluft schaffen. Unsere Straßen sind Staub und Erde, es gab keinen Asphalt und keinen Stein. Es gibt nicht einmal einen Kinderspielplatz. D. h. wir haben 4 Viertel und nicht einen einzigen Kinderspielplatz. Ich wurde hier geboren, ich bin hier groß geworden, aber ich hatte nicht einmal einen Spielplatz zum Spielen. I˙nci, Kavaklı/ Kırklareli
Andere haben zunächst das Problem zu bewältigen, dass in den letzten Jahren durch Binnenmigration ihre Kommune „verdörflicht“ wurde, wie Cihan es ausdrückt: Eine ungeplante, konfuse Ordnung infolge der schnell sich entwickelnden Leerung der Dörfer in unserer Region und der plötzlichen und verbreiteten Flucht. Unsere Stadt erinnert richtiggehend an ein großes Dorf nachdem innerhalb von 4–5 Jahren die Einwohnerzahl von 30 000 auf 130 000 anwuchs. 291
Ein großes Problem, das viele beklagen, ist, dass die Einwohner häufig keine Wasser- und Grundsteuer zahlen – diese sind jedoch die hauptsächlichen Einnahmequellen der Kommunalverwaltung. Dies führt mitunter zu Konflikten zwischen Verwaltung und Bevölkerung: Sezgin beispielsweise drohte mit rechtlichen Schritten gegenüber denen, die die Steuer nicht zahlten. Die Einwohner reagierten größtenteils mit Unverständnis gegenüber diesem Ansinnen, schließlich hätten sie noch nie diese Steuern gezahlt. Leyla beklagt zwar auch, dass die Bevölkerung keine Steuern zahle, nahm sie aber insofern in Schutz, da sie nun mal zu arm sei, um zu zahlen. I˙nci drückt die Problematik mit einem Sprichwort aus: Wir braten uns in unserem eigenen Fett. Durch die fehlenden finanziellen Mittel der Kommune können wiederum gemeinschaftliche Anliegen nicht bezahlt werden.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
Das Ergebnis dieser plötzlichen und erheblichen Fluchtbewegung ist: ein großes ökonomisches Problem ist aufgetaucht, weil die Flüchtlinge ihre Tiere nicht mehr halten können. Man erlebt Arbeitslosigkeit in größter Dimension. Die Kanalisation unserer so plötzlich anwachsenden Kommune war völlig ungenügend. Wir standen vor der Aufgabe, dringend die ungenügende Kanalisation und das Wasserproblem zu lösen. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
Viele Bürgermeisterinnen versuchen, die Haltung von Tieren zu reduzieren, um den städtischen Charakter der Kommune zu fördern und um die Verbreitung von Krankheiten auf dem engen Raum zu vermeiden. Gleichzeitig ist auch den Politikerinnen klar, dass die Menschen wegen der Armut wenig Möglichkeiten haben, auf die ländliche Lebensweise in der Stadt zu verzichten. Im Südosten und Osten Wahlen zu gewinnen bedeutet deshalb, in erster Linie das massive Elend der Bevölkerung verwalten zu müssen, mit wenigen finanziellen Mitteln und mit Schulden der Vorgängerverwaltung. In allen Kommunen in dieser Region, die eine Bürgermeisterin haben, gehört deshalb die Bereitstellung der nötigsten Dienste zu den Hauptaufgaben. Keine Gemeinde ist jedoch in einem solch desolaten Zustand wie Sürgücü: Zum Zeitpunkt des Besuches gab es keine geteerten Straßen, keine Kanalisation, keine Wasserversorgung, keine Gesundheitsstation, kein Gymnasium. Das Wasser holen die Frauen und Mädchen von den Brunnen, an der Wasserstelle waschen sie die Wäsche, die meisten Felder werden mit Maultieren und Pferden bearbeitet. Es sollte jedoch betont werden, dass auch in der Westtürkei bzw. in Gebieten mit türkischer Bevölkerung die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sowie der Straßenbau unzureichend ist. Unter den Gemeinden in dieser Studie geben lediglich Hilal und Nurgül an, dass diesbezüglich die Kommune keine Probleme habe. Schließlich nimmt die regionale Lage einer Gemeinde Einfluss auf den Entwicklungsgrad: Die Gemeinden, die günstig liegen, konnten bisher ihre Lage gut nutzen. So gründete Nurgül das „Villakentprojekt“: Auf einem Hügel außerhalb des Dorfes Seyreks wurde eine Villen- und Einfamilienhaussiedlung mit Blick bis zum Meer gebaut, das vor allem Izmirlis hinaus aus der Großstadt in ihr Eigenheim holen soll. Auch in Yes¸ ilköy konnten schon einige Industrieprojekte angesiedelt werden, schließlich liegt die Gemeinde in unmittelbarer Nähe der Hafenstadt Iskenderun. Durch die Eröffnung einer eigenen Brotfabrik wurden sowohl Arbeitsplätze geschaffen als auch die Versorgung mit „Volksbrot“ erreicht, d. h. mit billigem Brot für die Bevölkerung. I˙nci erzählt, dass sie wegen der fehlenden Mittel Kavaklıs mit den umliegenden Kommunen zusammenarbeitet und außerdem von Firmen Unterstützung erhält. Schließlich liegt Kavaklı in unmittelbarer Nähe zur Provinzhauptstadt Kırklareli, zu deren Universität und einigen Fabriken. Die Gründung von Universitäten in den Provinzen ermöglicht, dass gerade auch die junge Bevölkerung einen Anreiz hat, in der Herkunftsregion zu bleiben. So bietet die Universität von Denizli vor al-
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lem Studiengänge im Bereich der Textilproduktion an, welche wiederum ein wichtiger Produktionsbereich in der Provinz Denizli ist. Jugendliche aus den umliegenden Dörfern, wie auch Karaçay, haben so einen Anreiz, in ihrer Heimatregion zu bleiben. Im Gegensatz dazu beklagen die jungen Frauen in Dogˇubeyazıt, dass wegen der fehlenden Universitäten im Osten die jungen Männer in den Westen abwandern292: Damit die Frauen sich entwickeln können, bräuchten wir Arbeitsplätze. Wir brauchen Textilfabriken. Die Jugend bleibt nicht hier. Sie gehen alle in die Metropolen. Denn es gibt hier keine Arbeit. Weil sie arbeitslos sind, müssen sie schlechte Arbeiten machen. Eigentlich kann man andere Projekte machen, aber das Alphabetisierungsniveau ist sehr niedrig, es gibt keine qualifizierte Fachkraft hier. Wenn es hier eine Universität gäbe, könnte der Ort hier sich gut entwickeln. Es gibt hier z. B. kein Kino, keine sozialen Aktivitäten. Das reicht halt manchmal nicht. Denn die Bürgermeisterin kann nicht auf allen Gebieten etwas machen. Wenn es eine qualifizierte Fachkraft gäbe, die sie unterstützte, könnte vieles getan werden. Azad, Lehrerin in Dogˇubeyazıt
Wegen der Schulden und der peripheren Lage bleiben den meisten Kommunen jedoch umfassende Projekte verwehrt, Viele Gemeinden müssen mit einer hohen Arbeitslosigkeit umgehen und haben gleichzeitig nicht die Möglichkeit, ausreichend Ökonomie aufzubauen. Alltagspolitik in ländlichen Gemeinden wird also durch zwei große Arbeitsbereiche geprägt: Die Sorge für fehlende Infrastruktur und die Sorge für Soziales. Beide Bereiche beeinflusst der Faktor Migration in hohem Maße, so dass ich hierauf zunächst eingehen werde. Nachfolgend möchte ich zeigen, inwieweit innerhalb dieser beiden Bereiche das Frausein der Bürgermeisterin thematisiert werden kann. 6.7.2
Migration
Migration ist ein Phänomen, das fast alle Gemeinden in unterschiedlicher Weise betrifft. Arbeitsmigration ins Ausland und in die Großstädte betraf und betrifft alle Gemeinden, abgesehen von den neu entstandenen Flüchtlingssiedlungen. Aus einigen Dörfern, wie beispielsweise I˙nkis¸ la293, Hasköy294 und Kozcagˇız, immigrierten in den sechziger und siebziger Jahren große Teile der Bevölkerung nach Europa, vor allem 292
Die nächstgelegenen Universitäten sind in Van und Erzurum, die unbeliebteste Universitätsstadt unter den Studierenden. In der Provinz Agˇrı gibt es keine Hochschulen. 293 ˙ Inkis¸ la wurde infolgedessen von den Migranten besonders herausgeputzt, es gibt kaum mehr ein altes Dorfhaus, sondern fast nur moderne Steinhäuser, selbst Feldwege sind gepflastert und zur Aufgabe der Bürgermeisterin gehört, für die RückkehrerInnen aus Europa und die Urlaubs-I˙nkis¸ lalıs Freizeitangebote zu schaffen. 294 Auch Aynur lebte einige Jahre als Kind in Deutschland.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
natürlich nach Deutschland. Die Problematik der Binnenmigration, vor allem die Abwanderung der Jungen in die Provinzstädte und Metropolen sowie Migration mit dem Ziel, bessere Arbeitsbedingungen zu finden als in der Landwirtschaft, hat zur Folge, dass viele Dörfer in erster Linie von Alten bewohnt werden, die wenigen Jungen mangelnde soziale Aktivitäten beklagen und ebenfalls überlegen, in die Städte zu ziehen. In Hasköy zum Beispiel befürchten viele, dass ihre Gemeinde bald ausgestorben sein wird – auch wenn im Sommer die Migranten des Dorfes ihrer Heimat treu bleiben und dort übersommern. Die Felder und Obstgärten werden auch von den Stadtmigranten weiterhin gepflegt und geerntet. Es entsteht also eine Art transsoziale und -ökonomische Gemeinschaft, in der die Menschen in unterschiedlichen regionalen und sozialen Zusammenhängen verwurzelt sind und sich verwurzeln, in der Prozesse der Verdörflichung der Städte und Verstädterung der Dörfer sichtbar werden: Alle haben Land hier. Deshalb ist Arbeitslosigkeit hier eigentlich kein Thema. Es gibt zwar nicht viel. Aber um ein normales Leben zu führen, gibt es das Land. Trotzdem sind bei uns hier die jungen Leute oft arbeitslos. Sie wollen nicht in der Landwirtschaft arbeiten. Wenn sie vom Militär kommen, heiraten sie und ziehen nach Us¸ ak. Sie wollen nicht auf den Feldern und in den Gärten arbeiten. Wenn sie hier blieben, würden sie vielleicht ruhiger leben als in Us¸ ak. Denn alle hier haben ihr eigenes Land und einen Traktor. Aber sie wollen nicht Bauer sein. Aynur, Hasköy/ Us¸ ak
Schlüsselwörter in diesem Zitat sind „hier“ und „bei uns“: „Hier“ gibt es keine Arbeitslosigkeit, auch wenn „bei uns“ viele Junge arbeitslos sind. Ob die Menschen in Hasköy oder in Us¸ ak wohnen – sie gehören zur Gemeinschaft der Hasköylüs und damit zur Klientel Aynurs. Aynur selbst wohnt in Us¸ ak und pendelt jeden Tag ins 50 km weit entfernte Dorf zur Arbeit. Während also ihre Familie in einer bequemen Stadtwohnung ansässig ist, die Kinder nicht zuletzt die Ausbildungsangebote der Stadt nutzen können, bietet das Dorf ihr eine Arbeitsperspektive in der Verwaltung, das Land wiederum wird weiterhin genutzt. Es gibt mittlerweile Dörfer in der Türkei, die nur im Sommer bewohnt werden, während des Winters bleiben die Einwohner in den Städten. Ein Beispiel hierfür ist das Dorf Kas¸ pınar im Kreis Agˇın am Ufer des Kebanstausees in der Provinz Elazıgˇ. Die Wahlbevölkerung besteht aus lediglich 39 Personen. Im ganzen Dorf gibt es nur noch eine Kuh. Den Sommer über bleiben die älteren Menschen im Dorf, bauen Gemüse an und bereiten Vorräte für den Winter vor, leben miteinander in der – reduzierten – Dorfgemeinschaft wie früher. Die Jungen, die nun in Elazıgˇ leben, kommen gelegentlich zu Besuch, machen quasi „Urlaub auf dem Lande“. Im Winter wird Kas¸ pınar nur noch vom Imam und seiner Familie, die eigentlich aus der Westtürkei stammt, und der Muhtarin S¸ükran bewohnt. Für die junge S¸ükran bot die Wahl eine berufliche Perspektive: In der türkischen Verwaltung Arbeit zu finden ist sehr
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begehrt unter den jungen Türken und dementsprechend ist die Konkurrenz sehr hoch. S¸ükran kam es da zugute, dass die Menschen in Kas¸ pınar auf die Idee kamen, dass sie doch kandidieren könnte, außerdem unterstützte der Landrat sie mit der Begründung, dass mehr Frauen kandidieren sollten. Nun verbringt S¸ükran die Woche in Kas¸ pınar und pendelt am Wochenende zu ihrem Mann nach Elazıgˇ – auch sie profitiert also vom lückenlosen Verwaltungsnetz in der Türkei, das auch in Dörfern, die sich zu einer türkischen Version des „Feriendorfes“ entwickelt haben, zumindest für weltliche und religiöse Ordnung sorgt, verkörpert durch Muhtar und Imam.295 Herausforderungen ganz anderer Art entstehen in den Kommunen im Osten und Südosten, die Auffangbecken der MigrantInnen aus den Dörfern wurden. Sowohl die Migration in die Städte aufgrund der wirtschaftlichen Lage, wegen Streitigkeiten oder auch Blutrache296, wegen der Staudammprojekte im Rahmen des GAP297 als auch gezielte Vertreibungen aus den Dörfern298 veränderten die demographischen Verhältnisse in der gesamten Türkei, doch insbesondere im Südosten und Osten des Landes änderten sich grundlegend die Siedlungsweisen auf dem Land und in der Stadt. Dabei gibt es in den kurdischen Gebieten im Vergleich zur Westtürkei einige Besonderheiten299: In den südostanatolischen Städten entstehen schwere Arbeitsmarktkrisen, da für die große Anzahl an Arbeitssuchenden nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Lokale Eliten wandern meist in den Westen weiter, so dass potentielles Kapital nicht im Südosten investiert wird. Schließlich muss betont werden, dass sich Migration infolge von Vertreibung grundlegend von freiwilliger Migration unterscheidet300: Während die „klassische“ Land-Stadt-Migration in die Gecekondus der Großstädte sich „langsam“ vollzieht, indem zunächst ein Familienmitglied in der Stadt versucht, sich mit Hilfe von Verwandten und Nachbarn zu etablieren, bevor seine Familie hinterherkommt, erleben 295
Tane Alper berichtet als „Lokalreporterin“ über die arbeitslose Universitätsabsolventin Hülya Arıkan, die in Samsun Muhtar-Kandidatin wurde, nachdem sie jahrelang arbeitslos war. Vgl. „Muhtarlık ,son çare‘“ , von Tane Alper/ Samsun, 8. 3. 2004, www.ucansupurge.org. 296 Vgl. Strohmeier/ Yalçın-Heckmann 2003, S. 183. 297 Gülen Elmas zufolge zogen die meisten Einwohner der überfluteten Dörfer in die Städte und siedelten nicht in neu errichteten Dörfern. Vgl. Elmas 2004, S. 8. 298 Ays¸ e Betül Çelik nennt drei Ursachen für Vertreibungen von Kurden aus ihren Dörfern während der neunziger Jahre: Die Evakuierung von Dörfern durch die türkische Armee gemäß des Notstandgesetzes von 1987; der Druck der PKK gegenüber Dorfbewohnern, die sie nicht unterstützen wollten, damit diese ihre Dörfer verlassen; die unsichere Lage des Dorfes zwischen den Fronten. Es wird geschätzt, dass 2–3 Millionen Menschen vertrieben wurden, 820 Dörfer und 2345 Weiler wurden evakuiert. Mittlerweile kehren in einigen Provinzen die Dorfbewohner zurück in ihre Dörfer. Vgl. Çelik 2005. 299 Vgl. Strohmeier/ Yalçın-Heckmann 2003, S. 183. 300 Vgl. Çelik 2005 S. 981f.
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
kurdische Vertriebene an den Rändern der Großstädte ökonomische Marginalisierung und soziale Isolation – unter ihnen ist die Arbeitslosigkeit am höchsten, gerade kurdische Frauen bleiben wegen der fehlenden Türkischkenntnisse von ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt. Die meisten der Bürgermeisterinnen sind in Gemeinden tätig, die unmittelbar Schauplatz des Bürgerkrieges waren und sind. Cihan Sincar führt aus, wie die Bewohner der umliegenden Dörfer während des Bürgerkrieges gezwungen wurden, entweder als Dorfschützer gegen die PKK zu kämpfen oder aber ihre Häuser zu verlassen. Die Menschen gerieten zwischen die Fronten, viele strandeten, wie erwähnt, in den Kleinstädten wie Kızıltepe: Die Menschen kamen aus sehr schwierigen Verhältnissen. Sie sagten, ihr werdet Dorfhüter, oder ihr werdet auf das hier verzichten. Sie zündeten alles an, die Felder, Häuser. Einige willigten ein, Dorfschützer zu werden, einige sagten, wir wollen das nicht werden. Wir wollen auf niemanden mit der Waffe feuern. Weder auf die Armee, noch auf die Guerilla. Die hierher kamen, lebten unter sehr schweren Bedingungen. Sie vermissen ihr Dorf, ihre Felder, ihre Heimat. Hier gibt es keine Arbeit. Da es keine Arbeit gibt, leiden die Menschen sehr miteinander, sie sagen: wir taugen nicht zur Arbeit. Dort z. B. gingen Mann und Frau gemeinsam arbeiten. Aber hier arbeitet eine Person, die anderen sitzen zu Hause. Z. B. kann die Frau nicht einmal selbst einen Hausschuh kaufen. Denn sie arbeitet nicht. Deshalb geht ihre Psychologie kaputt. Sie ist in einer sehr schwierigen Situation. Die Frauen z. B. partizipierten an der Arbeit. Sie verkauften Weizen, Linsen, Walnüsse, Tiere. Sie sagte: Ich mache auch diese Arbeit, ich habe auch ein Recht darauf. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
Doch entstanden in der Kommune ganz dramatische Probleme durch die Aufnahme der Flüchtlinge aus den umliegenden Dörfern. Die Kleinstadt Kızıltepe war auf eine solche Situation nicht vorbereitet und stellte die Kommunalverwaltung vor das Problem, in kürzester Zeit für die neuen Einwohner Kanalisation, Wasserversorgung und Wohnungsraum zu beschaffen. 6.7.3
Sorge für Infrastruktur
Einige Bürgermeisterinnen erzählen, dass sie gerade als Expertin für technische bzw. Frauenangelegenheiten gewählt wurden. Fatma als Landkarteningenieurin bzw. Rojda als Architektin wurden als passende Expertinnen für die kommunale Verwaltung gesehen, gerade in den Dörfern galten die Kandidatinnen als Anwältinnen der Wasserprobleme, so wie Zeyniye in Sürgücü 301. 301
Im Dorf Kurbanlı in der Provinz Mersin wurde Aysuna Yılmaz zur Gemeindevorsteherin wegen ihres Versprechens gewählt, dem Dorf Wasser zu bringen, da dies das größte Problem der Frauen sei und ihre männlichen Vorgänger dies nicht zustande gebracht hätten. „Tarsus’un tek kadın muhtarı“, Zaman, 9. 4. 2004. (Fortsetzung auf S. 157)
6.7 Politischer Alltag in den Kommunalverwaltungen
157
Die fehlende Wasserversorgung war deshalb in einigen Gemeinden und Dörfern ein wichtiger Motivierungsgrund der Frauen, eine Frau zu wählen: Wasser gilt als Frauenangelegenheit, Frauen sind zuständig für die Versorgung des Haushaltes, für Sauberkeit im Haus, für die Mahlzeiten. Ebenso betreffen schlammige Straßen in erster Linie den Aufgabenbereich der Frauen, da sie die verdreckten Kleider der Familie waschen müssen und die Kinder gegebenenfalls nicht auf die Straße zum Spielen schicken können, wenn diese nur aus Dreck und Schlamm besteht. So argumentieren türkeiweit Frauen mit der Bedeutung von Wasser und asphaltierten Straßen für die Wahl einer Bürgermeisterin.302 Dem gemäß wird Seyrek als positives Beispiel für die Arbeit einer erfolgreichen Bürgermeisterin herangezogen: Das Wasser- und Kanalisationsproblem in Seyrek ist gelöst, die Straßen sind asphaltiert, die grundlegenden kommunalen Dienste gesichert. Fatma Nevin Vargün erklärt den anhaltenden Erfolg Nurgüls nicht zuletzt damit, dass sie in Seyrek zuerst diese infrastrukturellen Probleme löste und somit die Lebensqualität der Gemeinde erhöhte.303 Dass diese Sorge um die Infrastruktur einen sehr hohen Stellenwert für das Ansehen der Bürgermeisterin hat, zeigt das Beispiel Yes¸ ilköy: Fatma betont, dass sie deshalb gewählt wurde, da die Menschen ihr zutrauten, dass sie für Straßen und Wasser sorgen werde – nicht zuletzt, da sie die einzige Absolventin einer technischen Universität im Dorf ist. Auf der Homepage der Kommune sowie in der Broschüre über ihre Erfolge nach einem Jahr wurden auch insbesondere diese Aktionen hervorgehoben und mit vielen Bildern der Straßenarbeiten dokumentiert.304 Dabei wird Fatma jedoch weniger als Frau, sondern als Absolventin der Technischen Uni301
(Fortsetzung von S. 156) Im Dorf Oyuklu in der Provinz Diyarbakır wurde Naime Baları zur Gemeindevorsteherin gewählt, die versprach, als erstes für Wasserleitungen zu sorgen, da im Dorf die Frauen das Wasser bisher von der Dorfquelle holen müssten. „7 çocuklu ilk kadın muhtar“, Hürriyet, 14. 4. 2004. Auch in Adıyaman in Esentepe wurde Emine Kendir zur Gemeindevorsteherin gewählt, deren Hauptanliegen war, für Wasserleitungen und Kanalisation zu sorgen. Vgl. „Esentepeliler su ve kanalizasyona kavus¸ tu.“ 9. 12. 2004, www.kenthaber.com. „Kadın dayanıs¸ ması.“ Interview mit Emine Kendir von Sevim Kılınç, 8. 10. 2004, www.ucansupurge.org. 302 Interview mit Ilknur Üstün/ KADER, von Aysel Zümrüt, „Es¸ itlik için örgütlü güç gerek“, in Özgür Politika, 27. 1. 2005. Vgl. auch „Kadınların temsil edilmemesi utanç verici“, Özgür Politika, 30. 5. 2004. Vgl. auch Alkan 2003. 303 Es sei dahingestellt, inwieweit die Lage Seyreks unweit der Metropole Izmir eine Rolle spielte bzgl. der Dorfentwicklung. Inkis¸ la wird zwar „Perle von Sivas“ wegen der geteerten Dorfstraßen und den modernen Häusern genannt, jedoch ist dies weniger Resultat der Arbeit der derzeitigen Bürgermeisterin Hilal als vielmehr der finanziellen Unterstützung der MigrantInnen in Europa. 304 www.yesilkoy.bel.tr
158
6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
versität Istanbul und tatkräftiger Mensch dargestellt. Es zeigt sich hier vielleicht auch, in welcher Weise hochqualifizierte Frauen in ihrer peripher – ländlichen Heimat Vorteile haben, um eine erfolgreiche Karriere machen zu können: Sie ist die einzige Absolventin einer technischen Universität im Dorf und wird damit als qualifiziert gesehen für einen Job, der viel Organisation und technische Anforderungen verlangt. Es ist also interessant, sich zu vergegenwärtigen, in welcher Weise aufgrund ihrer technischen Fähigkeiten Frauen als fähig gesehen werden, Bürgermeisterin zu werden. Allerdings stellt Fatma selbst ihre berufliche Qualifikation in den Vordergrund und vernachlässigt in ihrer Selbstdarstellung gewisse soziale Komponenten. In Dogˇankent als Streusiedlung ist die Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen deshalb so schwierig, da die Häuser und Höfe sehr weit auseinander in den Bergen liegen. Doch argumentierte Nazmiye für die Bereitstellung von Straßen und Wegen, da bislang gerade die Frauen die Lasten tragen mussten, da es keine ausreichenden Straßen für den Transport gab.305 Die Verschönerung der Gemeinde ist ebenfalls für viele ein wichtiges Ziel: Die Einrichtung von Parks und Plätzen, Blumen und Bäumen wird von vielen als unverzichtbares Ziel genannt, das wiederum gerade von einer Frau gut realisiert werden könne, da Frauen eher Sinn für Ästhetik und für die Bedeutung einer gesunden, grünen Stadt hätten. So argumentiert Lina als „Frau des Exbürgermeisters“, nachdem sie zunächst betont hatte, dass sie und ihr Mann „zusammen“ die Arbeit machten und sie die Arbeit ihres Mannes fortsetze, dass sie nun als Frau erst die Gemeinde Küçükdalyan verschönern werde. Meliha plante die umfassende Verschönerung des Stadtzentrums von Kozcagˇız: Bislang kommt die eigentlich vorteilhafte Lage zwischen Hügeln und am Fluss kaum zur Geltung, weshalb die Uferpromenade ausgebaut und Parks mit Rosen und seltenen Pflanzen angelegt werden. Cihan ließ einen „Frauenpark“ anlegen, da gerade Frauen Grünflächen mit Spielplätzen bräuchten, um aus den Häusern herauskommen zu können. So könnten sich die Kinder austoben und die Frauen könnten sich entspannen und hätten draußen einen Treffpunkt. Es zeigt sich, dass im Bereich der Infrastrukturmaßnahmen immer wieder auch soziale Bedingungen eine Rolle spielen, in deren Rahmen geschlechtsspezifisch argumentiert wird, bspw. bei Themen wie Wasserversorgung, Straßenbau, Anlegung von Parks.
305
Vgl. „Dogˇankent’li bayanlara yol müjdesi“, www.giresungazete.net.
6.7 Politischer Alltag in den Kommunalverwaltungen
6.7.4
159
Sorge für Soziales
Projekte, die sich an Kinder und Jugendliche richten, gehören in jedem Falle zum Repertoire einer geschlechtersensiblen Kommunalpolitik. Gerade für die Kinder und Jugendlichen sollen Sportplätze gebaut und Sportprojekte initiiert werden. Dies wird in der Regel in Verbindung gebracht mit dem Ziel, sie von schlechten Einflüssen wie Alkohol und Drogen abzuhalten und ihnen sinnvolle Freizeitbeschäftigungen zu ermöglichen. In Bagˇlar und Bostanıçı gehören Projekte für Kinder und Jugendliche zu den wichtigsten Anliegen der Kommunalverwaltung, da diese Hauptleidtragende und Opfer der Armut sind: Viele Kinder leben und arbeiten auf der Straße, tragen zum kargen Familieneinkommen bei als Straßenverkäufer, Schuhputzer, Hilfsarbeiter. Wegen der beengten Wohnverhältnisse – z. B. lebt nicht selten eine 5–10-köpfige Familie in einem Zimmer – gründete die Verwaltung in Bagˇlar ein „Haus zur Ausbildungsunterstützung“306. In den kleinen Kommunen gehören kulturelle Aktivitäten wie die Gründung von Büchereien, Theatergruppen und Festen zu wichtigen Bestandteilen der Kommunalpolitik. Büchereien sollen in den ländlichen Gebieten die Kinder ermutigen zu lesen und so zum weiteren Schulbesuch vorbereiten. Wettbewerbe und Hausaufgabenbetreuung wie z.B. in Küçükdalyan sind neue Entwicklungen, die dazu beitragen, dass die Kinder auch außerhalb ihres Zuhauses betreut und angeleitet werden. Gerade in den kleinsten Gemeinden steht auch der Bau eines Hochzeitssalons auf dem Programm: Der Hochzeitssalon ist in der Türkei ein wichtiger Bestandteil einer Gemeinde, der nicht nur für Hochzeiten, sondern auch für andere Versammlungen und Feste genutzt werden kann. Wegen der hohen Bedeutung der Hochzeit im Leben und in der Gesellschaft steht der Hochzeitssalon aber auch symbolisch für Modernität und Verstädterung.307 In vielen Gemeinden wurden Festivals eingeführt: Sie sollen dazu beitragen, die kommunale Gemeinschaft zu stärken, lokale Traditionen, Folklore, Musik und Tänze zu pflegen, Besucher und Touristen anzuziehen und die Wirtschaft zu unterstüt306
380 Kinder werden hier betreut, erhalten Hausaufgabenhilfe, 80 bereiten sich auf die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium vor. Dieses Angebot ist kostenlos für die Familien. Auch die Kinder, die auf der Straße arbeiten, wurden mit einem speziellen Projekt bedacht: Sie werden von Lehrern von der Straße geholt und unterrichtet, damit sie eine Ausbildung erhalten, außerdem machen sie gemeinsam soziale Aktivitäten wie Kino- und Theaterbesuche. 307 So unterscheiden sich eigentlich in allen Regionen traditionelle Dorfhochzeiten sehr von städtischen Hochzeiten im Hochzeitssalon: Während die Dorfhochzeit in der Regel mehrere Tage andauert, große Essen umfasst, entweder draußen im Freien oder in einer Scheune sich vollzieht, vor allem aber die Geschlechtertrennung vorsieht, wird im Hochzeitssaal zusammen gefeiert, es gibt meist moderne Musik, nur Getränke und Kekse und umfasst nur die Hennanacht und die eigentliche Hochzeitsfeier.
160
6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
zen.308 In zwei Gemeinden wurden „Frauenfeste“ gefeiert: Kızıltepe veranstaltete im September 2005 ein Frauenkulturfest. Cihan lud hierzu sogar alle Bürgermeisterinnen der Türkei ein. Fatma Nevin Vargün berichtet, dass Nazmiye Kabadayi aus Giresun der Einladung folgte und so zum ersten Mal in den Südosten kam. Auch wenn sie zunächst unsicher gewesen sei, habe ihr die Veranstaltung sehr gut gefallen.309 In Yes¸ ilköy wurde ein Frauenfest gefeiert, das die Frauen aus dem Alphabetisierungskurs unterstützen sollte. Soziale Fürsorge gehört zu einem wichtigen Bereich der Kommunalverwaltung: Die meisten Bürgermeisterinnen berichten, dass sie Nahrungsmittelpakete für die ärmsten Familien organisiert hätten. Gerade während des Fastenmonats Ramadan werden Nahrungsmittel verteilt, gemeinsame Tafeln für das Fastenbrechen werden von den Kommunen organisiert.310 In Yes¸ ilköy wird eine kommunale Sünnetfeier organisiert, außerdem gehört die Zeremonie zum Ende des Korankurses zu den alljährlichen feierlichen Anlässen, bei denen die Bürgermeisterin nicht fehlen darf, in kleinen Gemeinden nimmt sie außerdem an Hochzeiten und Beerdigungen teil. Auch wenn viele Aufgaben der Kommunalverwaltung als technische bzw. allgemeine Arbeiten anzusehen sind, wird einer Bürgermeisterin häufig eine besondere bzw. mangelnde Kompetenz zugesprochen, inwieweit sie aufgrund ihres Geschlechts bestimmte Aufgaben zu lösen vermag. Dabei bedeuten technische Anforderungen nicht unbedingt fehlendes Vertrauen in die Frau an der Spitze: Gerade die Lösung der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sowie der Straßenbau werden gern als Frauenanliegen diskutiert. Auch wenn dann die technische Ausführung wiederum Männerarbeit ist, gehört die Entscheidung zur Durchführung in den Bereich einer EntscheidungsträgerIN. Wie dargelegt, konnten einige Bürgermeisterinnen gerade als technische Expertinnen erfolgreich sein. Auch Aktionen, die der Verschönerung der Gemeinde dienen, werden als Aufgabe der Frauen behandelt, da diese mehr Sinn für Ästhetik hätten und auch zu Hause für ein ordentliches, schönes Heim sorgten. Dem gegenüber sind soziale Aktivitäten 308
In Kozcagˇız führte Meliha ein großes Kulturfest ein. In Kavaklı wurde das Hidrellez-Fest groß gefeiert: 20 000 Gäste aus ganz Thrakien konnte die kleine Gemeinde zählen, bekannte Popmusiker waren eingeladen worden, verschiedene Wettbewerbe und eine Fahrradtour wurden veranstaltet, außerdem wurden Firmen, die Landwirtschaftsgeräte herstellen, eingeladen, die ihre Produkte den Bauern der Gemeinde vorstellten. In Dogˇubeyazıt wurde das „Dogˇubeyazıt Kultur- und Kunstfestival“ kreiert, um Artisten, Intellektuelle und Gäste nach Dogˇubeyazıt zu holen, eine Atmosphäre für den kulturellen Austausch zu schaffen und um den Tourismus zu revitalisieren. 309 Andere westtürkische Bürgermeisterinnen erzählten mir, dass Cihan sie eingeladen habe, sie hätten jedoch Angst, in den Südosten zu reisen. 310 Leyla beispielsweise erzählt, dass sie zweimal für 400 Familien Pakete vorbereiten ließ im Wert von 4 Milliarden Lira, d. h. etwa 2500 Euro.
6.8 Frauenspezifische Projekte
161
wie etwa Projekte für Kinder, Bibliotheken, kulturelle Feste Aufgaben, bei denen das Geschlecht der Bürgermeisterin nicht weiter betont wird.
6.8
Frauenspezifische Projekte
Die Forderung an die Kommunalverwaltungen, Projekte zu fördern, die insbesondere auf die Arbeitserleichterung und Organisation der Frauen abzielen, ist in der Türkei nicht neu. Heidi Wedel berichtet bspw., dass Kandidatinnen in den Istanbuler Gecekondus sich für Kindergärten und Kinderkrippen, moderne Gemeinschaftswaschhäuser, Arbeitsplätze für Frauen, Stadtteilzentren und Frauenkulturzentren eingesetzt hätten311. Frauen-NGOs unterstützen vielerorts derartige Projekte, im ganzen Land bieten die Kommunen mittlerweile spezielle Projekte für Frauen an312. Auch Gemeinden mit männlichem Bürgermeister unterstützen solche Initiativen, jedoch entfaltet sich unter der Schirmherrschaft einer Bürgermeisterin eine spezielle Dynamik, schließlich ist die öffentliche Finanzierung und somit der Zugang zu politischen Ämtern eine notwendige Voraussetzung, um Projekte zu verwirklichen.313 Ein Beispiel, dass auch autonome Feministinnen zu allererst von einer Frau in einer Entscheidungsposition Unterstützung erwarten, schildert Yes¸ im Arat: Als die Initiatorinnen des Mor-Çatı-Projektes auf der Suche nach einem Haus waren, das als Frauenhaus genutzt werden könnte, wandten sie sich zunächst an die damalige Bürgermeisterin des Istanbuler Stadtteils S¸is¸ li, da sie sich von ihr am ehesten Unterstützung erhofften.314 Die überall in der Türkei entstehenden Projekte, Basisgruppen, Kooperativen von Frauen lassen sich grob in solche einteilen, die eher traditionelle Geschlechterrollen unterstützen, und solche, die die Position von Frauen in der Gesellschaft verändern sollen – die Übergänge sind freilich fließend. Zu ersteren gehören bspw. Handarbeitskurse für Mädchen und Gesundheitskurse; auf letztere gehe ich nachfolgend ein. 311
Wedel 1994, S. 210, 221f. Die Veröffentlichungen von Uçan Süpürge berichten durch die „Lokalreporterinnen“ über Initiativen in den Regionen. Vgl. Uçan Haber (Zeitschrift der NGO); www.ucansupurge.org, bspw. „Kadın sıgˇınma evi açılmalı“ von Ays¸ e Döner/ Gaziantep, 24. 9. 2004; „Güneydogˇu’ˇI daki kadın giris¸ imciler için“ von Nas¸ ide Buluttekin/ Diyarbakır, 23. 7. 2004; „UMUT IS¸IG Kadın Kooperatifi“ von Nas¸ ide Buluttekin/ Diyarbakır, 2. 7. 2004; „Kadın Dayanıs¸ ması“ von Nas¸ ide Buluttekin/ Diyarbakır, 30. 7. 2004 313 Wedel 1999, S. 229. 314 Arat 1998. 312
162 6.8.1
6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
Ökonomische Kooperativen
Eine verbreitete Projektidee ist die Schaffung von Kooperativen, in denen traditionelle handwerkliche und Handarbeitsprodukte hergestellt werden. Frauen sollen auf diese Weise ein eigenes Einkommen erwirtschaften und ökonomische Stärke innerhalb der Familie erlangen. Handarbeiten und Handwerk haben in der Türkei weiterhin eine sehr hohe Bedeutung, so gehört bspw. zur Aussteuer einer Braut eine immense Anzahl an handgearbeiteter Bettwäsche, Handtüchern, Kopftüchern, Tischdecken, Häkeldeckchen usw. Im obersten Stockwerk des Rathauses von Kozcagˇız ist eine Frauenkooperative untergebracht, in der Teppiche, typische Schwarzmeertücher und andere Handarbeiten hergestellt werden. Wichtiger Bestandteil in Melihas Projekt der Stadtverschönerung und -umgestaltung ist ein Frauenmarkt, der an zentraler Stelle im Zentrum, nicht weit vom Rathaus entfernt, eingerichtet wird und wo Frauen ihre eigenen Produkte verkaufen können. In Dogˇubeyazıt wurden zwei Frauenprojekte initiiert: In einer Frauenkooperative werden Teppiche, Kilims und Geschenkartikel hergestellt und in einem eigenen Laden verkauft. In einem Gasthaus kochen Frauen lokale Spezialitäten. Innerhalb eines Jahres nach Beginn ihrer Amtszeit gründete Gülcihan eine Kooperative in Bostanıçı, in der Teppiche und Kilims hergestellt werden. Allen Initiativen ist gemeinsam, dass Frauen ermöglicht werden soll, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften, außerdem sollen in der Regel die regionalen Handwerkskünste aufrechterhalten werden. Inwieweit allerdings ihr möglicher Erfolg beurteilt werden kann, ist schwierig: In Dogˇubeyazıt bspw. begannen über dreißig Frauen, in der Teppich- und Kilimkooperative zu arbeiten, zum Zeitpunkt des Besuches arbeiteten nur noch vier junge Frauen dort. Ein Problem ist, durch eine solche Kooperative finanziellen Gewinn für die Frauen zu erwirtschaften, da es mitunter schwierig ist, die Produkte zu vermarkten. Außerdem erschweren die konservativen Werte innerhalb der Gesellschaft die Arbeit der Frauen. Ein Mädchen in der Kooperative erzählte, dass sie von ihrer Familie unter Druck gesetzt werde, mit der Kilimweberei aufzuhören, da sie nichts dabei verdiene: Es gib natürlich materielle Probleme. Unser Einkommen ist sehr gering, sie geben uns soviel, wie wir produzieren, aber es ist sehr wenig, es reicht nicht. Ich will das hier auch nicht aufgeben. Ich sage, wenn wir so etwas für die Frauen machen, lasst es uns auch zum Ende bringen. Aber wir sind natürlich auch erschöpft … mal sehen …. Was denkt deine Familie? Meine Familie ist dabei, mich abzulehnen. Sie sagen: „du gehst dahin, deshalb bist du nicht mehr unsere Tochter“. Sie setzen uns unter Druck, weil wir sie finanziell nicht unterstützen können. Sie haben mir noch einen Monat gegeben, „lass es und komm einen Monat später“, sagen sie. Ich kämpfe weiter, mal sehen, wie lange noch.
6.8 Frauenspezifische Projekte
163
Schließlich wird nach der Heirat in der Regel der Arbeit der Frauen ein Ende gesetzt. Dass überhaupt Frauen in den Projekten arbeiten konnten, lag wohl an der Autorität der Bürgermeisterin: Dies ist ein feudaler Platz, Die Frau kann nicht auf dem Markt spazieren. Die Frau erhält nicht die Erlaubnis: „sitz zu hause und pass auf die Kinder auf!“, wird gesagt. Aber im Resultat sind wir auch Menschen. Wir brauchen auch einige Freiheiten. Sowohl das System als auch der Mann unterdrückt uns. Die Frauen haben kein Rederecht, deshalb wird sie unterdrückt. Es gibt Frauen, die zuhause Gewalt erleben, Frauen, die in Bedrängnis geraten, Frauen, die Opfer von Ehrenmord werden, Frauen, die nicht ökonomisch tätig werden können. Einige Probleme gibt es also. Aber mit Hilfe der Bürgermeisterin können einige Dinge getan werden. Es gibt das Lokal, wo lokale Gerichte gekocht werden, dort arbeiten auch einige Frauen. D. h. Arbeitsplätze wurden geschaffen. Es gibt wenigstens 50 Personen, die arbeiten. Das sind überwiegend Frauen. Das ist auch eine Entwicklung für uns, wir fühlen, dass uns Wert gegeben wird. Die Männer sind total dagegen, gegen die Sicht der Frauen. Sie sind zum Beispiel gegen die Kooperative und das Lokal. Denn so gleitet ihnen die Herrschaft aus den Händen. Denn sie halten sich selbst für die Größten. Zu Hause sind sie der Chef. Sie wollen das Bürgermeisteramt auch auf diese Weise leiten. Deshalb werden so Probleme gelebt. Azad, Lehrerin in der Teppichkooperative in Dogˇubeyazıt
Eine Frau, die in der Küche des Lokals in Dogˇubeyazıt arbeitete, erzählte strahlend, dass ihr Mann ihr eigentlich verboten habe, wegen ihrer Kinder außerhalb des Hauses zu arbeiten, die Bürgermeisterin habe sich aber für sie eingesetzt und mit dem Mann gesprochen. Es ist also immer wieder in Einzelfällen die Überzeugungskraft der Bürgermeisterin notwendig. Mukaddes wiederum berichtete, dass, während es zu ihrem Programm gehört, gerade für Frauen Arbeitsplätze zu schaffen, viele Frauen darum bitten, doch lieber die Männer arbeiten zu lassen, da diese sonst in den Westen gingen, um zu arbeiten. Hier gerät die „Empowermentpolitik“ unter Druck: Einerseits ist es wichtig, durch Arbeitsplätze die Frauen sowohl finanziell als auch strategisch zu unterstützen, doch gleichzeitig ist die ökonomische Situation so schlecht, dass die Männer ebenso Arbeit in Dogubayazit bräuchten, da sie sonst gezwungen sind, im Westen zu arbeiten. Auch die Arbeitsstellen, die geschaffen werden, reichen nicht aus: sie geben nur wenigen Frauen eine Arbeit. Dabei seien laut Mukaddes „Tausende von Frauen“ ohne Arbeit und wollten gern arbeiten, um ökonomisch unabhängig zu werden – doch können sie letztendlich innerhalb der traditionellen Gesellschaftsstrukturen nur sich durchsetzen, wenn die Arbeit außerhalb des Hauses ihnen finanzielle Gewinne einbringt. Im Südosten wird nicht zuletzt auch eine psychologische Perspektive aufgezeigt bzgl. der Relevanz von Kooperativen. Die Erfahrung der Vertriebenen während des Krieges, der Verlust ihres Hauses, ihres Besitzes, die Bedrohung durch die Kämpfe schaffe ebenfalls eine Reihe von Problemen. Da es keine Arbeit für die Flüchtlinge
164
6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
gebe, reagierten die Männer mit Gewalt in den Familien, wie die Bürgermeisterinnen in den Kommunen mit hohen Flüchtlingszahlen berichten. Frauen, die im Dorf gemeinsam mit dem Mann arbeiten konnten, verlören nun in der Stadt diese Möglichkeit, gesellschaftliches Ansehen zu erhalten: Während sie im Dorf über eigene Produktion und Einkommen verfügen konnten, sitzen sie nun in den Städten nur im Haus. Sie könnten nun wegen der traditionellen Ordnung nicht mehr das Haus verlassen, psychische Probleme seien die Folge. Viele hätten Cihan zufolge Selbstmord begangen.315 Deshalb sei die Arbeit der Kooperative so wichtig, da sie hier Fertigkeiten wie Handarbeiten und Teppichweben ausüben und das Haus verlassen können. Dennoch ist sich Cihan bewusst, dass auf diese Weise nur einige wenige ihre Lage verbessern können, während die meisten perspektivlos bleiben.
6.8.2
Frauenversammlungen
In einigen Kommunen werden Versammlungen speziell für Frauen organisiert. Wie wir schon im vorherigen Kapitel sahen, wurde diese Form der Organisierung insbesondere auch schon im Wahlkampf praktiziert. Für die weitere Durchführung von frauengerechter Politik nutzen einige der Bürgermeisterinnen Frauenversammlungen, um die Einstellungen und Wünsche der Einwohnerinnen in Erfahrung zu bringen: Z. B. geht hier die Frau nicht ins Frauenhaus. Aber es gibt hier das Bedürfnis nach einem Ort, der zusammen mit den Frauen die Sache löst, und das ist zweifellos die Kommune. Wenn wir uns im Rathaus alle 15 Tage versammeln, dann gebe ich eigentlich Unterstützung. Man kann sagen, das hier ist auch ein Haus der Frauenunterstützung. Es ist wichtig, dass die Menschen zusammen Zeit verbringen, einander zuhören, zusammen lernen, sich zu sozialisieren. Meiner Meinung nach haben wir das ein wenig geschafft. Nurgül, Seyrek/ Izmir
Diese Versammlungen bieten die Möglichkeit, praktische Geschlechterinteressen in strategische Interessen umzuwandeln: durch das Arrangement, dass Frauen im Rathaus mit der Bürgermeisterin über ihre Probleme und Wünsche reden können, ist an sich schon ein Moment des Empowerments. Durch die Aufmerksamkeit und das Re-
315
Gülen Elmas erwähnt eine Studie von Aytekin Sır, die die geistige Verfassung von Flüchtlingen aus den umliegenden Dörfern Diyarbakırs wonach die Migration Frauen weit mehr negativ stresste als Männer. Des Weiteren zieht sie eine Untersuchung über die hohe Suizidrate in Diyarbakır heran, wonach gerade unter Migrantinnen diese sehr hoch sei. Eine Studie in Batman zeigt, dass dort in den letzten Jahren die Suizidrate unter jungen Mädchen sprunghaft anstieg und viermal so hoch wie in der Gesamttürkei war. Vgl. Elmas 2004, S. 11.
6.8 Frauenspezifische Projekte
165
den der Bürgermeisterin für praktische Bedürfnisse der Frauen können letzteren wiederum strategische Perspektiven vermittelt werden.
6.8.3
Erhöhung des Frauenanteils in der Kommunalverwaltung
Nicht nur Frauen an der obersten Spitze sind wichtig für die Erhöhung der Partizipation von Frauen – auch die Teilnahme von Frauen in der Kommunalversammlung gehört zu den zentralen Zielen der politischen Aktivistinnen. Selbst wenn lediglich eine Frau in der Kommunalverwaltung arbeitet, wird sie von den Frauen der Kommune als Ansprechpartnerin wahrgenommen316 und kann zur frauenpolitischen Sprecherin der Gemeinde werden: Makbule Çakın, die als erste Frau in Çermik in der Provinz Diyarbakır gewählt wurde und in ihrer konservativen feudal geprägten Umgebung einen harten Wahlkampf erlebte, erklärt nun, für die „Freiheit der Frauen“ kämpfen zu wollen.317 In Gemeinden, in denen die Bürgermeisterin zum zweiten Mal gewählt wurde, konnte auch die Zahl der weiblichen Versammlungsmitglieder erhöht werden. Cihan erklärt dies als wichtiges Ziel ihrer Amtszeit. Nach Aussage mehrerer Kızıltepeliler318 war sie auch treibende Kraft zur Mobilisierung von Kandidatinnen für die Kommunalversammlung: 2004 erhöhte sich die Anzahl der Frauen von einer auf sieben. In Dogˇubeyazıt sind seit der letzten Wahl zwei Frauen in der Kommunalversammlung. Rojda bezeichnet wegen der hohen Anzahl an Frauen in der Bagˇlarer Kommunalversammlung diese als „Frauen-Verwaltung“. In den meisten Kommunen sind allerdings die Bürgermeisterinnen die einzigen Frauen in der lokalen Politik. Ein weiteres Phänomen ist jedoch, dass, gerade, wenn sich keine weiteren Frauen in der Kommunalversammlung befinden, Frauen angestellt werden, die sich um Frauenprojekte kümmern sollen: in Kozcagˇız ist eine junge Landschaftsarchitektin eingestellt worden, um sowohl die Verschönerungsideen von Meliha auszuführen, als auch, um Frauenprojekte zu entwickeln. Leyla holte sich eine Parteifreundin zur Seite, die nun in Küçükdikili Frauenprojekte initiieren soll, was sie mir gegenüber in etwa folgendermaßen kommentierte: Wenn die Leute keine weiteren Frauen zu meiner Unterstützung wählen, dann hole ich sie mir halt auf diese Weise. 316
Vgl. Interview mit Füsun/ Gemeindeversammlung Alanya. „Belediyeler erkeklerin degˇil!“, Ülkede Özgür Gündem, 28. 7. 2004, auch in www.ucan supurge.org. 318 Darunter war eine junge Frau, die Mitglied in der Gemeindeversammlung war: Vor einer Gruppe von Kollegen erklärte sie mir voller Stolz, dass durch die Bürgermeisterin die Frauen nun immer weiter in die Politik vordringen würden. 317
166 6.8.4
6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
Vorteile für Gemeinden mit einer Frau an der Spitze „Wenn wir ein Haufen Dornen sind, so ist eine Rose zwischen uns.“ 319
Einige Bürgermeisterinnen erzählen, dass sie als Frau unter Männern häufig bevorzugt werden, sie aber ihr Paradiesvogeldasein auch mitunter für die eigenen Zwecke zu nutzen wissen. Dass ich eine Frau bin, hat mein Engagement in der Politik überhaupt nicht beeinflusst. Weil in Denizli es 100 Kommunen gibt, weil ich die einzige Bürgermeisterin bin, respektieren alle anderen Bürgermeister mich, sie nennen mich unsere Rose, unsere Blume. So nennen sie mich. Sezgin, Karaçay/ Denizli
Hilal erzählt, dass früher ihr Mann als Bürgermeister mehrmals bei den verantwortlichen Stellen vorsprechen musste, sie nun aber als Frau bevorzugt behandelt wird. Wenngleich Männer zunächst in der Regel eine Frau als Kandidatin ablehnen, behandeln sie meist die gewählte Bürgermeisterin sehr zuvorkommend – die „Machomentalität“ vieler Männer wird dabei auch von den Frauen für die eigenen Zwecke genutzt, wie Leylas Beispiel zeigt: Es gibt sehr viele Vorteile als Frau. Denn als Frau, wenn ich etwas brauche, die Gesellschaft ist ja eine etwas feudale/ konservative Gesellschaft, und wenn ich sage: „Meine Kommune braucht Wasser“, dann sagen sie: „schau, die Frau ist Bürgermeisterin, die einzige Frau, deshalb lasst uns machen, was die Chefin sagt“. Sie sagen dann: „In Ordnung, Chefin, wir schicken es sofort“. Wir können alle Türen öffnen. Wir können ganz bequem überall eintreten. Wir können Termine vereinbaren, wie es uns passt. Sofort sagen alle: „Meine Chefin, wenn wir ein Haufen Dornen sind, so ist eine Rose zwischen uns, wir müssen sehr gut Sie umsorgen“. Leyla, Kücükdikili/ Adana
In Kızıltepe wird auch innerhalb der Bevölkerung verstanden, dass ihre Bürgermeisterin gerade als Frau sehr viel erreichen kann. So erzählen einige Frauen in den Außenbezirken, dass Cihan Bas¸ kan trotz der schwierigen Lage es immer irgendwie geschafft habe, finanzielle Unterstützung zu erhalten, obwohl ihre Kommune eigentlich am Rande liege. Cihan habe auf diese Weise für Wasser, Kanalisation usw. gesorgt. In der Darstellung der Kızıltepelis erscheint Cihan wie eine Heldin, die sich unermüdlich für sie einsetzt.
6.9
Fazit
Die Feststellung, dass nicht nur die Biographien der derzeitigen Bürgermeisterinnen der Türkei unterschiedlich sind, sondern auch die Kommunen, in denen sie gewählt 319
Leylas Kollegen zu Leyla.
6.9 Fazit
167
wurden, mag zunächst banal erscheinen. Ein ägäisches Dorf sieht anders aus als eine südostanatolische Flüchtlingssiedlung, die Arbeitssituation, das soziale Leben, die Einkommensmöglichkeiten, Wohnverhältnisse, die Sprache und die politischen Einstellungen unterscheiden sich. Dennoch praktizieren Politikerinnen in diesen Siedlungen ähnliche Handlungsstrategien bis zur Wahl, indem sie sie sich auf die Gruppe der „Geschlechtsgenossinnen“ als Wählerinnenklientel stützen und die räumliche Geschlechtertrennung in ihre Wahlkampfplanung mit einbeziehen. Nach der Wahl spielt die Geschlechtszugehörigkeit nicht mehr eine solch zentrale Rolle, jedoch wird auch in der Alltagspolitik ihr Bedeutung beigemessen, gerade, wenn es um Themen geht, die traditionell „weibliche“ Bereiche betreffen. Schließlich versucht die Mehrheit der Bürgermeisterinnen, durch frauenspezifische Projekte die Frauen ihrer Kommune zu fördern und zu unterstützen. Ein Phänomen, das sich durch fast alle Interviews zieht, ist die verbale Grenzziehung zwischen „dem Westen“ und „dem (Süd-)Osten“. Dass diese Grenzziehung im Grunde genommen nicht statisch ist, zeigt schon die Tatsache, dass es schwierig ist, die beiden dichotomen Gebiete festzulegen: Mal wird zwischen Ost und West unterschieden, mal zwischen Südost und West – gleichzeitig sind einige „westliche“ Gebiete geographisch östlicher als der „Südosten“ und „östliche“ Kommunen geographisch westlicher als der „Westen“: So rechnet Leyla sich und ihre Kommune zum „Osten“, wenngleich sie selbst aus der Provinz Konya stammt und nun Adana wohl von kaum einem Türken zum Südosten gerechnet werden würde. Ist also vom „Osten“ bzw. „Südosten“ die Rede, wird eigentlich die türkisch-kurdische Problematik angesprochen: Egal ob „Osten“ oder „Südosten“ – man versteht hierunter die kurdisch besiedelten Gebiete, in denen der türkisch-kurdische Konflikt immer wieder das Tagesgeschehen bestimmt. So kann der „Südosten“ eben auch in den geographisch westlichen Metropolen sich sichtbar machen, wie auch Kurdischstämmige sich als türkisch- assimilierte Kurden als dem „Westen“ zugehörig fühlen. Die interviewten Politikerinnen äußern sich ebenfalls immer wieder entlang dieser Trennlinie – überschreiten sie aber immer wieder gerade dann, wenn sie ihre Gemeinsamkeiten als Frauen ausdrücken wollen. Neben wirtschaftlichen und konfliktbedingten Gründen sind auch einige kulturelle und soziale Unterschiede zwischen den westlichen und östlichen Regionen bedeutend für unterschiedliche gesellschaftliche Situationen, die Einfluss haben auf die politischen Prozesse. So ist im Südosten und Osten der Einfluss des Feudalismus sehr stark und somit eine wichtige Größe in der Politik. Gleichzeitig sollte man betonen, dass auch im Westen feudale Strukturen, lokale Eliten, Klientelismus aufzufinden sind, dies also keine exklusiv kurdischen Phänomene sind. Man kann sagen, dass es zwar bestimmte Tendenzen gibt, die eine Grenzziehung zwischen Ost und West im Diskurs erlauben, gleichzeitig aber innerhalb der Regio-
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6 Selbstdarstellung und Handlungsstrategien von Politikerinnen
nen, Siedlungsformen, kulturellen Traditionen, religiösen Unterschieden differenziertere Beschreibungen möglich sind. Charakteristisch für „den Westen“ jenseits der Metropolen in den Dörfern und Kleinstädten ist eine gesellschaftlich konservative, traditionell und religiös geprägte Lebenseinstellung, die nur bedingt eine Infragestellung der Geschlechtertrennung zulässt. Es wird ein enges Zusammenleben der Familien und der Dorfgemeinschaft praktiziert, wodurch der soziale Zusammenhalt unterstützt wird und Gewalt reglementiert werden kann. Trotz der Migration in die Städte können diese engen Beziehungen aufrecht erhalten werden, in der Regel werden weiterhin enge Kontakte zwischen Dorf- und StadtbewohnerInnen gepflegt, vor allem, wenn Migration in die nächstgelegenen Städte stattfindet. Gerade Kemalismus und Patriotismus unterstützen die traditionelle gesellschaftliche Ordnung, d. h. die „türkisch-islamische Synthese“ wird sowohl durch die Bedeutung islamischer Bräuche als auch durch türkisch-republikanische Rituale (bspw. die Bedeutung des Militärdienstes, der staatlichen Einrichtungen oder der türkischen Flagge) im Alltagsleben verwirklicht. „Der Osten“ jedoch erlebte in den letzten Jahren eine weit reichende Umbruchsphase infolge des Bürgerkrieges. Durch die eng gesteckten Grenzen für Frauen in der Gesellschaft und die verbreitete Gewalt, die kurdische Bewegung und die linke Ideologie entwickelten sich vermehrt frauenspezifische Aktivitäten, die auf eine Änderung der gesellschaftlichen und politischen Situation abzielen; weil die „Östlerinnen“ mit vielfältigen Unrechts- und Gewalterfahrungen konfrontiert wurden und werden, konnte und kann unter ihnen der Wunsch nach Änderung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft stark werden.
7
Gesellschaftlicher Wandel
7.1
Veränderungen der Öffentlichkeit
7.1.1
Erweiterungen des für Frauen öffentlichen Raumes
Im ersten Kapitel habe ich kurz dargelegt, wie türkische Anthropologinnen jenseits einer Öffentlichkeits-Privatheits-Dichotomie das soziale Leben in ländlichen Gemeinden beschreiben: Demnach hätten Frauen trotz der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung die Möglichkeit, am öffentlichen Leben zu partizipieren und seien über politische Geschehnisse gut informiert. Ich möchte anhand meiner Feldforschungsergebnisse diese These relativieren und mit Bezug auf die politischen Verhältnisse in der kommunalen Gemeinde zeigen, wie die Trennung in eine öffentliche und eine private Sphäre in ländlich geprägten weiterhin Realität ist und wie Frauen diese Realität verändern. Zunächst möchte ich noch einmal darlegen, in welcher Weise Geschlechtersegregation in der Türkei in öffentlichen und privaten Räumen institutionalisiert ist. Geschlechtersegregation lässt sich in allen ländlichen Regionen der Türkei und in Teilen der Großstädte entlang einer extremen räumlichen Trennung zwischen männlich und weiblich konnotierten Sphären beschreiben. So erklärt Sabine Strasser die Geschlechtertrennung in einem Schwarzmeerdorf: „In Yes¸ ilköy320 ist die Trennung der Geschlechter ein sichtbares Zeichen der Strenggläubigkeit und der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Das Haus, das Land um das Haus und das umliegende Land der Verwandten bilden jeweils Grenzen für die Bewegungsfreiheit der Frauen. Verlassen Frauen das Haus, wissen die anderen Haushaltsmitglieder, wo sie sind, verlassen sie das Land ihrer Verwandten und wollen die Nachbarn besuchen, benötigen sie die Erlaubnis (izin) von einem Mann und wollen sie den Bereich des mahalle oder gar des Dorfes verlassen, brauchen sie einen männlichen Begleiter (coban bedeutet Hirte) und setzen ein kesan auf (traditionelles Kopftuch der Schwarzmeerfrauen) auf. Wenn ein fremder Mann vorbeikommt, drängen sich die Frauen auf den Wegen im Dorf an den Rand und drehen sich weg, tauchen in ihren Gärten unter oder ziehen sich ins Haus zurück.“321
„Geschlechtertrennung“ bedeutet also nicht, dass sich Männer und Frauen nicht auch begegnen können: 320
Dies ist nicht das Yesilköy im Hatay, dessen Bürgermeisterin Fatma Görgen ist. Yes¸ ilköy bedeutet schlicht „grünes Dorf“. 321 Strasser 1995, S. 36. A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/ 978-3-531-93113-5_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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7 Gesellschaftlicher Wandel
„Die Trennung der Geschlechter prägt auch das Bild des Alltags. Frauen bewegen sich sehr wohl auf männerdominierten Plätzen, sind aber vorsichtig, von verwandten Männern beschützt, ordentlich (den Vorschriften entsprechend) gekleidet und nur in Gruppen anzutreffen.“322
Konsequenz ist jedoch, dass letztendlich kaum Frauen auf öffentlichen Plätzen anzutreffen sind. Auf ähnliche Weise beschreibt Hanne Straube das Leben in einem ägäischen Dorf: „Für Frauen und Männer hat das Haus unterschiedliche Bedeutung. Es ist das Zentrum der weiblichen Tätigkeiten Ordnen und Säubern, Nahrungsmittelverarbeitung, Versorgen der Kinder. (…) Während der Mann sich häufig im männlich dominierten öffentlichen Raum aufhält, obliegt der Frau der häusliche Bereich, sie verleiht dem Haus seine Seele.“323
Auch wenn Frauen durch ihre Netzwerke, durch ihre Arbeit, durch emotionale familiäre Beziehungen dennoch auch in einer konservativen traditionellen Gemeinde Macht und Einfluss gewinnen können, bleibt ihnen, wie schon zuvor ausgeführt, die institutionell politische Sphäre verwehrt, die sich in der Lokalpolitik, in den Kahves manifestiert. In diesem Rahmen ist es sehr schwierig, die Bedingungen für politische Partizipation zu verändern, da Frauen, sobald sie männlich bestimmte öffentliche Räume betreten, Klatsch und Anmache riskieren. Auch wenn Frauen und Männer also bereit sind, politisch zusammenzuarbeiten, riskieren sie ihren Ruf (das gilt gleichermaßen für Männer und Frauen). Die Einbeziehung von Frauen in einer Partei kann zur öffentlichen Degradierung der Partei führen. Gleichzeitig ist die Missachtung der öffentlichen traditionellen Moralvorstellungen Voraussetzung für die Veränderung. Je nach Region, je nach Ortschaft kann der Gradmesser dessen, was gesellschaftlich toleriert wird, verschieden sein. Selbst in vielen Vierteln der westlichen Metropolen und in den Provinzhauptstädten können weiterhin die traditionellen Einstellungen das Zusammenleben bzw. das Getrenntleben bestimmen und verhindern deshalb die Möglichkeiten von Frauen, sich an politischen Prozessen zu beteiligen. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, wenn Zeyniye zunächst einmal die für Frauen zugängliche Öffentlichkeit ändern will: Ich wollte die politische Teilhabe der Frauen in der Politik. Auch unsere Frauen sollen politisch teilhaben. Sie sollen die Politik ein wenig verstehen. Die Hausfrauen, die im Innern (des Hauses) sind, haben überhaupt keine Möglichkeit, nach draußen (in die Öffentlichkeit) zu kommen. Sie können nicht einmal allein zum Markt gehen, nicht auf die Straße, nicht in die Städte. Deshalb möchte ich partizipieren. Zeyniye, Sürgücü/ Mardin 322 323
Strasser 1995, S. 65. Straube 2002.
7.1 Veränderungen der Öffentlichkeit
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Hier wird deutlich, denke ich, wie „Privatheit“ und „Öffentlichkeit“ räumlich begriffen werden. Die fehlende Mobilität, die Frauen aufgrund der Geschlechtersegregation erfahren, und somit auch das fehlende Wissen über öffentliche Strukturen, selbst in der Heimatgemeinde, sowie die traditionsgebundenen Wertungen für angemessenes Verhalten von Frauen bewirken die apolitische Haltung der Frauen. Der Weg in die Politik führt dabei über die Überwindung dieser geschlechtsspezifischen Sphären, die Frauen ein Leben im Haus und im Privatbereich der Familie vorschreiben. Dabei erklärt Zeyniye wiederum als Bedingung für eine solche Entwicklung hin zur Teilhabe an gesellschaftlich öffentlichen Orten wie Markt, Straßen und Städte, dass Frauen sich für „Politik“ interessieren. Ich denke, es ist wichtig zu betonen, dass Zeyniye hier eine Art Gegenargumentation zu der häufig verteidigten Komplementarität der Aufgaben- und Verantwortlichkeitenverteilung zwischen den Geschlechtern324 ausführt: Ihr zufolge haben Frauen den Wunsch, sich allein in der Öffentlichkeit zu bewegen und sich politisch zu engagieren. Eine weitere Dimension des Öffentlichen stellt „die (institutionelle) Politik“ dar, die sich wiederum räumlich-materiell begreifen lässt als „das Kahve“ oder „das Rathaus“. Das Rathaus war und ist ein Raum, zu dem Frauen keinen Zugang haben und hatten, solange es als Raum der Männer gilt. Befindet sich eine Frau als Bürgermeisterin in diesem Rathaus, kann sie durch dieses Amt es für die anderen Frauen öffnen, d. h. sie kann in ihrer Funktion das Rathaus zu einem Raum machen, in dem Frauen das Recht haben sich aufzuhalten: Dies ist eine Region, die vor allem Probleme mit den Straßen, der Kanalisation hat. Und die Menschen sind arbeitslos. Wenn wegen der Arbeitslosigkeit am Tag 10 Menschen hierher kommen, kommen 9, weil sie Arbeit möchten. Bei diesem Thema sind wir im Nachteil (weil die Kommunalverwaltung den Menschen auch keine Arbeit bieten kann). Aber zu den Vorteilen gehört, vor allem, weil ich eine Frau bin, haben wir Projekte, die Frauen und Kinder betreffen. Wenn wir mit den Frauen zusammenkommen, wenn wir mit ihnen zusammen sind, gibt es sehr sehr viele Probleme (die uns die Frauen mitteilen). Denn, wissen Sie, im Kern der Familie ist die Frau sehr wichtig. Die Frau schafft wirklich in allen Aspekten die Familie, sie macht sie (aus). Deshalb sind wir in einer vorteiligen Situation. Denn durch diese Tür können endlich die Frauen kommen, sie können ihre Probleme erzählen, wir können zu ihnen gehen. Dies sind die vorteiligen Zustände. Natürlich gibt es ein reaktionäres System hier. Innerhalb dieses traditionellen Systems ist es nicht einfach, Harmonie zu erreichen. Und die Forderungen können sehr unterschiedlich sein. Gülcihan, Bostaniçi/ Van
Während Gülcihan zwar mit der Situation konfrontiert ist, dass es eigentlich keine Auswege gibt aus der desolaten Situation Bostanicis, dass die Menschen keine Möglichkeit haben, der Armut zu entkommen, bewertet sie jedoch ihre Möglichkeiten als 324
Vgl. bspw. I˙ncirliogˇlu 1998.
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Frau positiv, sich gerade um die Frauen kümmern zu können: Diese könnten nun ins Rathaus kommen, um mit der Bürgermeisterin zu sprechen. Schließlich bildeten die Frauen den Kern325 der Familie, d. h. Entwicklung durch die Stärkung der Frau könne aus den Familien heraus erfolgen. Nun durch eine Bürgermeisterin entstünde eine Allianz zwischen ihr und den Frauen, d. h. den „Kernen der Familie“. Durch die traditionelle Geschlechterordnung entsteht also die entwicklungsmotivierende Konstellation, dass die öffentliche Machtinhaberin sich mit den „Zentrumspersonen“ der Familien kurzschließen könne, mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verändern. Die traditionelle Geschlechterordnung wird aufrechterhalten, wird als zukunftsweisend, als gesellschaftschaffend wahrgenommen: Frauen haben ihre Aufgabe innerhalb der Familie, übernehmen dort Verantwortung, gleichzeitig aber brauchen sie Kommunikation mit den Institutionen: es müssten Machtbündnisse zwischen den Familien und dem Rathaus entstehen, um für Frauen Politik machen zu können. Auf ähnliche Weise wird der zuvor geschilderte „Tür-zu-Tür-Wahlkampf“ als Mittel gesehen, um im privaten Bereich der Wohnhäuser eine politische Sphäre zu schaffen: „Politik“ wird dabei über die geschlechtertrennenden Grenzen hinweg in die private Sphäre gebracht, indem die Kandidatin ihre potentiellen Wählerinnen zu Hause aufsucht und sie für die Wahl zu mobilisieren versucht. Auch dieses Phänomen baut auf dem System der Geschlechtersolidarität auf: Kandidatinnen erkennen die Wählerinnen ihres Wahlkreises als größte potentielle WählerInnengruppe, die es zu gewinnen gilt. Durch dieses Modell geschlechtsspezifischer Allianzbildung wird die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen weiblicher häuslicher Sphäre und männlicher politischer Sphäre aufgebrochen: Öffentlichkeit und Privatheit, Männerund Frauensphäre werden zu den „Eckpunkten eines Kontinuums“ (Wischermann), d. h. sie beschreiben praktisch zunächst die reale Lebenssituation in der ländlichen Türkei, verlieren nun aber durch diese Veränderungen an Dominanz, vielmehr werden sie durch neue geschlechtsspezifisch inszenierte politische Prozesse infolge des Eindringens einer Frau in die politische Sphäre abgeschwächt: Das „Kontinuum“ von Öffentlichkeits-Privatheitskontruktionen entsteht.
325
Paul Stirling bezeichnet im Gegensatz dazu die Männer als „Kern des Haushalts“: “Men form the permanent core of any normal household. The senior man, father or father’s of the other male members, owns the fabric of the house, and usually owns most or all of the land. (…) The men are the owners and the core of the household, yet they work and talk and amuse themselves as far as possible out-side it.” (Stirling, Chapter 6.) Das Interessante hieran ist, denke ich, wie der Ausdruck „Kern der Familie“ auf die gegensätzlichen Geschlechterrollen bezogen werden kann: Während Stirling mit „Kern“ diejenigen Haushaltsangehörigen meint, die besitzend sind, d. h. über die ökonomische Macht verfügen, versteht Gülcihan diejenigen als „Kern“, die den sozialen Zusammenhalt der Familie bewirken.
7.1 Veränderungen der Öffentlichkeit
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Eine Politikerin kann sich dabei auf frauenspezifische Teilöffentlichkeiten stützen, die in den Häusern durch gegenseitige Besuche und Gespräche von Frauen entstehen: Nicht nur der direkte Kontakt zu den Wählerinnen im Haus, sondern auch die dadurch sich in Bewegung setzende Aktivierung der Frauennetzwerke innerhalb dieser Teilöffentlichkeiten können die Wahl einer Frau bewirken. Diese Teilöffentlichkeiten der Frauen können dadurch zu einer „Gegenöffentlichkeit“ (Fraser) werden: Sie können mitunter als „herausfordernder, konkurrierender, kritisierender Gegenpol“ zur politischen Öffentlichkeit der Kommune während des Wahlkampfes fungieren, wenn, wie geschildert, Frauen aufgrund der Geschlechtsgenossenschaft und der Thematisierung geschlechtsspezifischer Probleme durch die Wahl sich als politisch relevante Gruppe verstehen. Es ist wichtig, denke ich, das Fortbestehen traditioneller Geschlechterarrangements als mögliche Stütze dieser lokalen Transformationen der Öffentlichkeitsverhältnisse anzuerkennen. In diesem Zusammenhang wird das Verhältnis von gesellschaftlicher Struktur und politischem System bedeutend; wenngleich aufgrund der Geschlechtersegregation Frauen zunächst von der allgemeinen Öffentlichkeit ausgeschlossen sind und somit eigentlich weniger Chancen haben, gewählt zu werden, können sie gerade deshalb Alternativen entwickeln, um gewählt zu werden, und dies unter dem Schutz der formalen Gleichheit im Staat erreichen. Dies würde bedeuten, dass die gesellschaftliche Geschlechtertrennung unterstützend auf die Partizipationsbestrebungen von Frauen im Rahmen der traditionellen Öffentlichkeitsstruktur wirken kann. Durch eine Frau im Bürgermeisteramt wird also der für Frauen zugängliche Raum auf das Rathaus erweitert, die institutionelle politische Sphäre wird nicht nur für die gewählte Frau, sondern für Frauen als gesellschaftliche Gruppe zugänglich. Dabei wird einerseits die Bürgermeisterin als gesellschaftliche Vertreterin der Frauen und somit als ihre Verbündete dargestellt; die Frauenöffentlichkeiten, die durch die gesellschaftliche geschlechtsspezifischen Strukturierungen bedingt sind, können sich somit auf die institutionell politische Sphäre ausweiten. Die Frage stellt sich, ob in diesem Zusammenhang von einer „starken Öffentlichkeit“ im Sinne Frasers gesprochen werden kann: Auch wenn grundsätzlich in der türkischen Lokalpolitik der direkte Kontakt zwischen Wählern und Gewählten sehr wichtig ist, kommt im Falle der Bürgermeisterin, die zu den Wählerinnen direkten Kontakt haben kann, hinzu, dass letztere so überhaupt erst Zugang zur politischen Öffentlichkeit erlangen. Institutionen wie die Kommunalverwaltung könnten demnach als Teil der lokalpolitischen „starken“ Öffentlichkeit interpretiert werden, wenn diese einer benachteiligten gesellschaftlichen Gruppe ermöglicht, politisch zu handeln oder sogar politische Macht zu erlangen, indem sie die öffentliche Sphäre nutzen. Eine Bürgermeisterin agiert im Rahmen der lokalen Öffentlichkeit, wenn diese mit neuen Themen das traditionelle System in Frage stellt. Das Rathaus wird
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so als öffentlicher Raum für diesen Veränderungsprozess genutzt. Ist dieses institutionell verfasste lokalpolitische Leben innerhalb der Kommunalverwaltung Teil einer kritischen Öffentlichkeit, die von marginalisierten Gruppen gebildet wird, erlangen diese im lokalen Bereich eine Machtbasis, die sie für eine mögliche Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse benötigen. Eine solche institutionell verfasste Kommunalverwaltung schafft dabei mitunter erst die Voraussetzung für eine „allgemeine Öffentlichkeit“ bzw. „Gegenöffentlichkeit“, an der auch marginalisierte Gruppen teilhaben können und zum politischen Handeln aufgerufen werden, wenn Angehörige dieser Gruppen in politische Ämter gewählt werden. 7.1.2
„Private“ Öffentlichkeiten Ich habe hier etwas für die Gesundheit von Mutter und Kind getan, unsere Frauen sollen (ins Gesundheitszentrum) kommen und behandelt werden. Z. B. gibt es viele Flüchtlinge hier, die Frauen schämen sich, sie erzählen nicht einmal ihrem Mann über ihre Krankheit. Sie erzählen nicht über Frauenkrankheiten. Deshalb haben wir diese Stelle (das Gesundheitszentrum) eröffnet. Sie sollen kommen und in Ruhe über ihre Probleme erzählen können. Sie sollen ein wenig Mut bekommen, wegen all dieser Sachen. Wir haben auch für sie eine Kooperative eröffnet. In dieser Kooperative gibt es eine Organisation, sie können sowohl etwas verdienen als auch Hausarbeiten machen. Sie weben z. B. Teppiche, sie machen viele Dinge. Deshalb versuchen wir, diese sozialen Orte zu eröffnen. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
An Cihans Aussage wird deutlich, wie sie zunächst einmal versuchte, praktische Geschlechterinteressen der Frauen zu erfüllen: Da in der patriarchalen Gesellschaft und aufgrund ihrer unterdrückten Position sich die Frauen schämen, mit ihren Männern über Krankheiten zu sprechen, richtete sie ein Gesundheitszentrum für Frauen ein. Gleichzeitig wird dadurch aber auch die gesellschaftliche Position der Frauen verändert, da für sie ein Projekt finanziert wurde, das wiederum in der Öffentlichkeit als Erfolgsprojekt der frauenorientierten Politik der Bürgermeisterin bekannt gemacht wird. Cihan hofft, dass die Frauen so auch ermutigt werden, Selbstvertrauen gewinnen.326 Das gleiche gilt für die gegründete Kooperative: sie soll den Frauen ermög326
In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Familiengesundheitsprojekte in Ost- und Südostanatolien immer wieder unter dem Verdacht standen, wegen der hohen Geburtenrate in den kurdischen Gebieten als staatliche antikurdische bevölkerungspolitische Maßnahme geplant zu sein. Vgl. Wedel 2000, S. 115. Andererseits werden durch kurdische politische Aktivistinnen Frauengesundheitsprojekte als Möglichkeit zur Erfüllung praktischer Geschlechterinteressen armer Frauen gesehen: Die Senkung der Geburten und Kinderzahl pro Frau würde ihre Gesundheit verbessern und ihre tägliche Arbeitsbelastung reduzieren. In diesem Sinne äußerten sich die jungen Angestellten im Frauengesundheitszentrum von Dogˇubeyazıt.
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lichen, etwas zu verdienen. Des Weiteren steht die Gründung von Waschhäusern und Frauenparks auf dem Programm der Kommunalverwaltung. Diese sozialen Orte sollen für Frauen „eröffnet“ werden, d. h. auch hier wieder können wir die Aktivitäten der Bürgermeisterin räumlich begreifen: Soziale Orte werden in der Öffentlichkeit der Kommune eröffnet, um Frauen aus den Häusern zu holen, gleichzeitig bleibt ihre Integrität innerhalb der patriarchalen Gesellschaftsstruktur bewahrt, da sie an dem öffentlichen Ort der Kooperative oder des Gesundheitszentrums unter Frauen bleiben. Dies schafft eine spezifisch „private Öffentlichkeit“ für Frauen: der Ort ist „öffentlich“, da er den Frauen die Möglichkeit bietet, das Reduziertsein auf die familiäre Privatsphäre zu überwinden, sie gesellschaftlich aufwertet, ihnen die Möglichkeit zu Austausch und Diskussion bietet, ihnen eine gewisse Autonomie gewährt. Er bleibt aber „privat“, da er innerhalb der patriarchalen Gesellschaftsstruktur, die auf der Geschlechtersegregation aufbaut, verankert ist, d. h. die private häusliche Frauengemeinschaft findet zwar Raum im Öffentlichen, ist aber gleichzeitig von der allgemeinen Öffentlichkeit der Kommune abgegrenzt, schließlich manifestiert sich hierin die traditionelle Geschlechtertrennung. Projekte, die als „private Öffentlichkeit“ bezeichnet werden können, sind insofern „öffentlicher“ als die Halböffentlichkeiten, die durch Besuche von Nachbarinnen und Verwandten in den Häusern entstehen: Während letztere sich jeweils auf bestimmte Personenkreise beschränken, nämlich auf solche, die durch Nachbarschaft und Verwandtschaft Kontakt miteinander haben, können sich in solchen Kooperativen und Frauenzentren Frauen aus unterschiedlichen Vierteln, Familien, Nachbarschaften treffen, kennenlernen und austauschen. Des Weiteren sind diese Kontakte aus der informellen Sphäre der Haushalte in einen Ort der kommunalen Gemeinschaft verlegt, in die Nähe der Kommunalverwaltung, deren Chefin, die Bürgermeisterin, Zutritt zu ihnen haben kann. „Private“ Öffentlichkeiten können als spezifische Form von „kleinen“ Öffentlichkeiten verstanden werden: Sie sind „Sphären des kommunikativen Austausches“, Sozialräume, die quasi geographisch aus der kommunalen Öffentlichkeit abgegrenzt, jedoch zwischen jener und der häuslichen Sphäre eingerichtet sind – wobei in diesem Falle „geographisch“ sich auf die „Geographie der Geschlechtertrennung in der Kommune“ bezieht. Das „Private“ zielt auf die Situierung dieser Form der Öffentlichkeit im Rahmen des traditionellen Geschlechterverhältnisses. Gleichzeitig aber fungiert sie als „selbstbestimmter, intimer Raum“ im Sinne Cohens, da Frauen hier die Möglichkeit gegeben wird, über familiäre und nachbarschaftliche Grenzen hinaus zu kommunizieren und sich zu bewegen. Sichtbar werden diese Formen lokaler privater Öffentlichkeit durch ihre Verbindung zur Kommunalverwaltung: Die Bürgermeisterinnen stellen sie als Teil ihres Programms dar, sowohl im lokalen Zusammenhang in den lokalen Medien als auch durch ihre Bekanntmachung in weiter reichenden Kontexten.
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Während zunächst solch frauenspezifische Projekte auf die Lösung praktischer Geschlechterinteressen abzielen, können sie gerade durch die Einbettung des Prozesses ihrer Gründung in das politische Programm und die Organisationsweise der Kommunalverwaltung als strategische Geschlechterinteressen diskutiert werden: Das Wäschewaschen ist das größte Problem der Frauen, die damit am meisten beschäftigt sind und in den Außenbezirken sozial und ökonomisch schwach bleiben. Wir werden Waschhäuser gründen. Jetzt ist die Frau gezwungen, mit der Hand die Wäsche zu waschen, was ihnen die meiste Zeit und Energie nimmt, denn die Mehrheit hat zu Hause keine Waschmaschine. Dies sowohl gesundheitlich riskant – das Wasser erreicht nicht die nötige Hitze –, und nimmt sehr viel Zeit in Anspruch, indem sie von dieser Beschäftigung befreit wird, erhält sie die Möglichkeit, mehr Zeit für sich selbst und ihre Kinder zu haben. Wir diskutieren weitere ähnliche Gemeinschaftsdienste und denken daran, darin zu investieren, natürlich sind die Bedürfnisse unterschiedlich, dies wird in den Frauenplattformen diskutiert und nach den Diskussionen entwickeln wir Projekte und verwirklichen sie. Cihan, Kizıltepe/ Mardin
Cihan beschreibt hier die Tätigkeit des Wäschewaschens in Zusammenhang mit der schwachen gesellschaftlichen Stellung der Frauen – es ist sehr zeitaufwendig und nimmt Frauen die Möglichkeit, sich mit sich selbst und ihren Kindern zu beschäftigen. Dabei präsentiert sich Cihan als Expertin für die Hausarbeit, die wiederum durch die Diskussion in der politischen Sphäre – auf Frauenplattformen – zum Problem von öffentlichem Interesse wird. Die zuvor erwähnten Themen Frauenpark und Umweltschutzgruppen als frauenspezifische Angelegenheit in Kızıltepe bzw. Dogˇubeyazıt und Seyrek sowie die Frauenversammlungen können als private Öffentlichkeiten verstanden werden, die wiederum strategischen Geschlechterinteressen tangieren bzw. bewirken: Die Aktivierung von Frauen ist innerhalb der Geschlechterordnung eher möglich, wenn sie in frauenspezifischen Teilöffentlichkeiten sich austauschen, diskutieren können. Damit jedoch es nicht bei Diskussionen bleibt, brauchen sie das Interesse und die Unterstützung der Kommunalverwaltung. 7.1.3
Das Überschreiten der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit
Wie bereits dargestellt, werden von den Politikerinnen bestimmte Räume wie die Straße, der Platz oder das Kahve als die öffentlichen Bereiche bezeichnet, die für das Erreichen politischer Partizipation von essentieller Bedeutung sind, die jedoch für Frauen aufgrund der traditionellen Geschlechtertrennung nicht zugänglich sind. So betont Nurgül die Bedeutung „des Platzes“ für den Grad der Geschlechtersegregation und dessen Überwindung infolge der Wahl einer Frau: Als sie 1992 Bürgermeisterin wurde, konnten die Frauen nicht „auf den Platz“ hinausgehen, es war „verboten“. Gemeint ist hiermit, dass der Platz in der Mitte des Dorfes, an dem die Kahves
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und Moscheen liegen, traditionell zur männlichen Sphäre gehören, über den deshalb Frauen nur im Notfall laufen und möglichst versuchen, nicht aufzufallen. Nurgül aber war von ihrem Vater ermuntert worden, immer über den Platz in Seyrek zu laufen, dieses ungeschriebene traditionelle Verbot also zu durchbrechen. Infolge ihrer Kandidatur hätten sich auch die anderen Frauen hinaus zu ihr auf den Platz gewagt, er wurde also quasi wegen ihres Beispiels zu einem Ort für alle. Diese Grenzen zwischen männlicher und weiblicher Sphäre können also auch im traditionellen System überschritten werden, ohne eine unhaltbar unschickliche Situation zu erzeugen; beispielsweise nahm Aynur als Kandidatin an Versammlungen im Kahve teil, was zwar zunächst kritisiert, schließlich aber toleriert wurde, ohne große Aufregung zu verursachen. Aynur erlebte dabei keine Hindernisse, die ihr den Zugang zur öffentlichen Sphäre im Kahve verweigert hätten.327 Während die drei westtürkische „Dorftöchter“ (Aynur, I˙nci und Nurgül, vgl. vorheriges Kapitel) im Verlauf des Wahlkampfes das Kahve bzw. den Dorfplatz einnahmen, scheint Gülcihan als von außen in eine Flüchtlingssiedlung kommende Kandidatin das Kahve als Tabuzone zu respektieren: Manchmal sind die Männer, manchmal die Frauen passender (für das Bürgermeisteramt). Zum Beispiel als Bürgermeisterin kann ich in aller Ruhe überall (in die Häuser) eintreten. Der Mann aber kann das nicht. Denn das ist von einer Sache abhängig: vom Niveau der Ausbildung, dem kulturellen System, den Traditionen. Es kann nicht überall gleich sein. Zum Beispiel in Izmir … die Bürgermeisterin kann ganz in Ruhe ins Kahve gehen, sich setzen, Okey spielen, und andere Dinge machen. Aber hier kann sie das nicht machen. Es gibt hier in der Region einige Unterschiede. Gülcihan, Bostaniçi
Wenngleich Gülcihan verkennt, dass bspw. Nurgül in der Provinz Izmir früher auch nicht so einfach im Kahve Okey spielen konnte, sondern sie in Seyrek in ihren Worten die öffentliche Ordnung „revolutionierte“, scheint Gülcihan in Van bestimmte traditionelle Regeln, die die materiellen Grenzen der Geschlechtersegregation bestimmen, zu akzeptieren. Gleichzeitig aber verwendet sie durchaus eine für ostanatolische Verhältnisse radikale Sprache, was die Forderungen nach Geschlechtergerechtigkeit betrifft: Meiner Meinung nach, wenn immer mehr Frauen in der Türkei an der Politik teilhaben, so kann aus ihrer Sicht das männliche Herrschaftssystem verändert werden, denke ich. Denn die Natur der Frau ist nötig. weil sie ein bisschen mehr Liebe, Frieden, Geschwisterlichkeit wollen, können die Frauen der Politik ein schöne Farbe geben. Gülcihan, Bostaniçi 327
Auch Nazmiye sucht in Dogˇankent einerseits die Kahves auf, um mit den Männern über ihre Arbeit zu sprechen, andererseits spricht sie mit den Frauen auf der Straße. „Bayan Bas¸ kanından Kahvehane Ziyaretleri.“ In: Giresunajans.com, 28. 9. 2006.
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Während Privatheit und Öffentlichkeit zunächst einmal wie gesagt als räumliche Sphären zu begreifen sind, beinhaltet die Formulierung des „Auf-die-Straßegehens“ auch eine diskursive Dimension: Sie kann als Inbegriff des Überschreitens der Grenze zwischen den diskursiv hergestellten Sphären, des Überschreitens von traditionellen kulturellen Scham- und Schicklichkeitsgrenzen aufgefasst werden. Es existieren also einerseits gesellschaftliche räumliche Grenzen, die aber gleichzeitig diskursiv konstruiert werden – und sowohl diskursiv als auch materiell dekonstruiert werden sollen. Während die Beispiele der westtürkischen „Dorftöchter“ für diese „physische Dekonstruktion“ stehen, sollen die immer gleichen Formulierungen des „Auf-Straße-gehens“ oder „Platz-einehmens“, „der Politik-eine-andere-Farbegebens“ meinungsverändernd wirken: Sie werden in den allgemeinen Öffentlichkeiten artikuliert und stellen in ihr die Forderung nach Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik. 7.1.4
Die Bürgermeisterin als öffentliche und private Person
Gerade in kleinen Gemeinden sind die Übergänge zwischen privatem Umfeld und politischer Arbeit für die Bürgermeisterin fließend. Während bspw. Bürgermeisterinnen in der politischen Öffentlichkeit der Gemeinde als Chefin auftreten, werden sie in privaten und halböffentlichen Räumen zwar als Bürgermeisterin respektiert, nehmen gleichzeitig innerhalb der Gemeinschaft der Frauen ihren Platz ein. So besucht beispielsweise I˙nci als Bürgermeisterin sämtliche Hochzeiten und Beerdigungen Kavaklıs, verhält sich während der Feierlichkeiten aber als Frau gemäß der traditionellen bzw. religiösen Regeln: Bevor wir zur Beerdigung gehen, besuchen wir Incis Mutter, von der sie sich zwei Oyatücher328 ausleiht. Mit knielangem Rock, kurzem T-Shirt und einem locker gebundenen Kopftuch sucht die Bürgermeisterin die Trauergemeinschaft auf: sie tröstet die Angehörigen, nimmt Abschied von der Toten, an der eigentlichen Beerdigungszeremonie nimmt sie als Frau gemäß der islamischen Tradition nicht teil.329 Meliha beschließt, als Abendprogramm mit ihrem deutschen Gast, der schließlich Islamwissenschaft studiert habe, eine Mevlüt-Zeremonie zu besuchen. Mevlüt sind religiöse Veranstaltungen, die zum Gedenken der Verstorbenen durchgeführt werden, und die Koranlesungen, Bittgebete (dua) und natürlich ein großes Essen umfassen. Bevor wir die Wohnung der Angehörigen aufsuchen, gehen wir bei Melihas Nachbarinnen vorbei, von denen sie zwei Oyatücher ausleiht. Mit viel Sorgfalt und Sorge um ihr Aussehen bindet sie sich das eine Tuch um. Die Wohnung, in der die Mevlütfeier stattfindet, ist voll mit Besucherinnen, die Meliha sehr respektvoll begrüßen.330 328
Oyatücher sind ländliche Kopftücher aus dünner Baumwolle, die mit Spitze (Oya) umrandet werden. 329 Auszug aus dem Forschungstagebuch, September 2005. 330 Auszug aus dem Forschungstagebuch, April 2005.
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Inwieweit gerade religiöse Zeremonien als private oder öffentlich-repräsentative Angelegenheit angesehen werden, wird unterschiedlich aufgefasst: Während I˙nci und Meliha in bestimmten Rahmen Kopftücher tragen, nehmen Nazmiye und Nurgül als Amtsinhaberin an der Feier zum Abschluss des Korankurses der jungen Mädchen in Hemd und Hose teil, sie sehen also keinen Anlass, sich für die religiöse Feier (ansatzweise) islamisch zu kleiden. Ein Phänomen, das die Bedeutung der Bürgermeisterinnen als Privatpersonen andeutet, ist, das junge Politikerinnen wie Fatma und Nazmiye sich einen männlichen Verwandten in die Kommunalverwaltung holen, die dann als Vertraute und männliche Begleiter der Bürgermeisterin zur Seite stehen. Fatma gab ihrem Cousin eine Stelle als Sekretär in der Kommunalverwaltung, Nazmiye erklärt die Arbeitsbeschaffung für ihren großen Bruder in der Kommunalverwaltung mit den Worten: „Weil ich ledig bin und in der Politik beschäftigt, nahm ich meinen Bruder mit zur Arbeit.“331 Das Überschreiten der Grenzen zwischen öffentlicher und privater Sphäre kann durch die Bürgermeisterin erfolgen, ohne dass sich grundlegend die Geschlechtersegregation ändert: Die Bürgermeisterin kann als Amtsperson zwischen beiden Bereichen hin- und herwechseln, ohne dass ihre Geschlechtszugehörigkeit tieferen Einfluss auf die soziale Ordnung hat. Einerseits ist sie eben „Bürgermeister(in)“ und somit quasi „neutral“, andererseits ist sie im privaten Bereich, unter Frauen einfach „Frau“. So werden Frauen wie Aynur, Sezgin oder Nazmiye als Politiker(in) in den Kahves toleriert, „für unsere Frauen“, d. h. für die Frauen in den Kommunen können Projekte in die Wege geleitet werden, jedoch bedeutet dies nicht, dass eine grundlegende Änderung der sozialen Ordnung angestrebt wird. Des Weiteren lassen Inszenierungen in den Medien darauf schließen, wie Politikerinnen zwischen den verschiedenen Sphären hin- und herwechseln: Nach einem Jahr Amtszeit der ersten Bürgermeisterin in Yes¸ ilköy bringt die Kommunalverwaltung eine kleine Broschüre heraus, die die Einwohner des Dorfes über die Arbeit der Verwaltung informieren soll. Der Titel der Broschüre ist wenig spektakulär: „Alles für Yes¸ ilköy“ in Anlehnung an den allgemeinen Werbeslogan der AKP „Alles für die Türkei“. Das nationale Programm der Partei soll also auch in die Kommunalpolitik getragen werden. Auf der zweiten Seite ist ein Bild der Bürgermeisterin zu sehen, wie sie in Bluse und Hose einen Baum pflanzt. Darüber die Überschrift: „Schaut mal: In allem Guten steckt die Frau und die Arbeit der Frau“. 331
Zum Zeitpunkt des Besuches in Van war Gülcihans älterer Bruder auch sehr aktiv in kommunalpolitischen Angelegenheiten Bostaniçis eingebunden – allerdings wurde gerade das Newroz-Fest vorbereitet und ausländische Gäste mussten betreut werden. Inwieweit er also regelmäßig seiner Schwester zur Seite steht, ist unklar. Schließlich sind Gülcihan zufolge in der Region „alle in der Politik tätig“.
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Dann informiert die Broschüre über die unternommenen Straßenarbeiten, die Eröffnung der kommunalen Brotfabrik und die kommunale Beschneidungsfeier. Die Projekte, die für Frauen initiiert wurden, werden nicht erwähnt. Auf der Homepage des Dorfes jedoch werden eine Reihe von Photos gezeigt, die das gemeinschaftliche Leben im Dorf und das Eingebundensein der Kommunalverwaltung hierin dokumentieren. Zunächst einmal scheinen sie zwei klar von einander getrennte Welten zu zeigen: Die „Männerwelt“ mit dem öffentlich geschlachteten Opfer beim Opferfest, den Straßenarbeiten; die „Frauenwelt“ mit dem Alphabetisierungskurs und dem Fest anlässlich der sozialen Aktivitäten für Frauen in Yes¸ ilköy. Die Bürgermeisterin passt sich sowohl der einen als auch der anderen Welt an: Unter den Männern fällt sie kaum auf – im schwarzen Anzug gekleidet, aufgereiht –, unter den Frauen zeigt sie sich bescheiden (im Klassenzimmer des Alphabetisierungskurses auf einer hinteren Schulbank), auf anderen Bildern entspannt und gelöst (beim Tanz des Frauenfestes). Das eigentlich Interessante ist aber, denke ich, dass alle Fotos an einem öffentlichen Ort, nämlich auf der Homepage, zu finden sind. Die „private Öffentlichkeit“ der Frauen, die eigentlich durch den Alphabetisierungskurs und das Frauenfest entsteht, wird auf diese Weise veröffentlicht. Die Kompetenz der Bürgermeisterin als volksnahe Politikerin wird gerade durch ihre Fähigkeit des Sich-Anpassens an die beiden Welten vermittelt. 7.1.5
Nutzung von Medien als lokale Öffentlichkeit
Die Präsenz einer Bürgermeisterin wird in den lokalen Medien gern thematisiert, schließlich sind Bürgermeisterinnen immer noch etwas Ungewöhnliches, Paradiesvogelähnliches und somit für die Berichterstattung geeignet. Lokale Medien können auch genutzt werden, um zu zeigen, dass eine Frau im Bürgermeisteramt keine Bedrohung für das traditionelle gemeinschaftliche Leben darstellt. So zeigte ein Zeitungsartikel, den Hilal in ihrer Wohnung hängen hat, folgende Bilder: Auf dem einen Bild ist Hilal an ihrem Schreibtisch im Rathaus zu sehen, in ein dunkles Kostüm gekleidet; auf dem zweiten Bild bedient sie ihren Mann zu Hause, häuslich gekleidet mit einer Strickweste und weißem Baumwollkopftuch. Der Text des Artikels hebt hervor, dass Hilal trotz ihres Arbeitsplatzes in der Kommunalverwaltung weiterhin eine gute Hausfrau und Ehefrau sei und ihren Mann bediene.332 Der öffentliche Meinungsaustausch innerhalb einer Gemeinde, wie er z.B. in Lokalzeitungen und lokalen Veröffentlichungen oder auch in öffentlichen Veranstaltungen der Kommune geführt wird, kann aber mitunter dazu verwendet werden, um das 332
„Evde bas¸ ka makamda bas¸ ka“, Eraydin Aytekin, DHA.
7.2 Veränderungen der politischen Partizipation
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Thema „Frauen in der Politik“ vorzustellen, zu diskutieren und positiv darzustellen, mit der Absicht, das Interesse der Frauen zu wecken und ihre aktive Partizipation zu initiieren. So berichtet die Homepage der Dogˇankent-Kommunalverwaltung über die Einrichtung eines „Frauencafés“ in Dogˇankent: Dieses Frauencafé habe eine sehr große Bedeutung für Dogˇankent, da es bislang keine Möglichkeit für soziale Aktivitäten „unserer“ Frauen gegeben habe. In dem Café gebe es einen Internetraum, einen „Salon“, einen Raum im orientalischen Stil und einen Ruheraum.333 In diesem Rahmen können auch die schon erwähnten Frauenversammlungen und Veranstaltungen, die sich lediglich an Frauen wenden, genannt werden. In einer Lokalzeitung wurde bspw. die Versammlung der Seyreker Frauen im Rathaus einschließlich eines Bildes dargestellt.334 Am 8. März wird von politisch aktiven Frauen in der Türkei in der Regel durch medienwirksame Aktionen und Demonstrationen auf die gesellschaftliche Lage von Frauen aufmerksam gemacht. Im Kızıltepe Bülteni, der Lokalzeitung in Kızıltepe, schreibt die Bürgermeisterin zum 8. 3. einen kämpferischen Artikel zum Weltfrauentag. In den kurdischen Gebieten nutzen Frauenorganisationen und Politikerinnen das Newroz-Fest, um über frauenspezifische Themen zu informieren. Bspw. verteilte die Kooperative der Frauen in Bostanıcı auf dem Newroz-Fest in Van eine Broschüre, die über ihre Arbeit berichtet. Auf diese Weise wird versucht, allmählich eine Veränderung der lokalpolitischen und gesellschaftlichen Diskussionen zu erreichen: Autorität und Handlungsspielraum der Bürgermeisterinnen werden genutzt, um neue Diskurse in die Öffentlichkeit zu tragen, Themen wie die geschlechtsspezifische Arbeits- und Sphärenteilung, Gewalt gegen Frauen usw. werden enttabuisiert.
7.2
Veränderungen der politischen Partizipation Obwohl die Frauen seit den Gründungsjahren der Republik das aktive und passive Wahlrecht haben, gab es immer nur sehr wenige Frauen in der Politik. Das heißt, die Frau ist innerhalb der Familie mit ihrem Ehemann in der Politik. Denn die Frau hat ihren besonderen Platz in der türkischen Gesellschaft. Nuran
Nuran erklärt an dieser Stelle die traditionelle Partizipationsstruktur in der Gesellschaft der Türkei: Frauen partizipierten zwar nicht aktiv und persönlich in der formalen Politik, sondern ihre Stimme wurde durch den Ehemann vertreten, der zum 333 334
Vgl. www.dogankent.bel.tr Vgl. „Seyrekli Kadınlar her yerde!“ In: Bagˇımsız siyasi kadın Gazetesi, Temmuz/ Agˇustos 2005.
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Wohle der Familie entscheide. Dies bedeute keine Benachteiligung für Frauen, denn schließlich würden sie in der Gesellschaft „ihren besonderen Platz“ haben, d. h. wegen der komplementären Aufgabenverteilung innerhalb der Familie würden Frauen eben formalpolitische Entscheidungen ihren Männern überlassen. Beispielhaft für diese Art des gemeinsamen politischen Aktivseins sind die Ausführungen Hilals: Obwohl sie früher nicht aktiv in der Politik war, partizipierte sie als Frau des Bürgermeisters: Aber früher haben Sie als Hausfrau gearbeitet, nicht wahr? Ich arbeitete als Hausfrau zu Hause, gleichzeitig, wie sagt man, hinter jedem Erfolgreichen steht eine Frau, hinter jeder erfolgreichen Frau steht ein Mann. Auch wenn ich, als ich zu Hause war, sehr weit von der Politik entfernt war, war ich gleichzeitig in ihr. Während der Amtszeit meines Mannes war ich natürlich auch fünf Jahre lang in der Politik. (…) Und arbeiten Sie jetzt auch noch gleichzeitig als Hausfrau? Ja, gleichzeitig, das ist nichts für Männer. Während mein Mann Bürgermeister war, war ich zu Hause, machte meine Arbeiten, aber jetzt habe ich zu Hause und draußen zu tun. …. Hilal, I˙nkis¸ la/ Sivas
Auch wenn diese Praxis der komplementären Verantwortungsbereiche im Rahmen der Geschlechtertrennung sicher weite Akzeptanz und Verteidigung findet, zeigen Beispiele aus einigen Bürgermeisterinnenkommunen, dass Frauen eigene Ansprüche geltend machen wollen, die nicht durch ihre Männer vertreten werden, und für ihre eigenen Anliegen – die (auch oder weit mehr) auf das Wohl der Familie abzielen – politische Verantwortung übernehmen wollen.
7.2.1
Erweiterung der politischen Partizipation von Frauen Die Frauen sagten: Ich kann auch Bürgermeisterin werden.
Cihan
Aus Frauensicht gibt es viele Vorteile, denn wenn die Frauen (in das Rathaus) kommen, können sie mit uns viel entspannter sprechen, sie können in Ruhe ihre Sorgen erzählen. Solch einen Vorteil haben wir, wir kennen ihre Probleme besser. Denn wir leben als Frauen die gleichen Probleme, weil wir die gleichen Probleme leben, können wir sie besser verstehen und wir können deshalb eine angemessene Lösung finden. Solche Vorteile gibt es. (…) Die Frauen freuen sich sehr (über die Wahl einer Frau). D. h. die Frauen haben sich dieser Sache angenommen. D. h. die Frauen wollten das sehr. Während des Wahlkampfes waren die Frauen immer bei unseren Aktivitäten an unserer Seite. Wenn wir in die Viertel gingen, wenn wir herumgingen, nahmen sie immer daran teil. Sie unterstützten uns. Am Wahltag gingen sie hinaus, um Stimmen zu sammeln, sie versuchten diejenigen, die nicht wählen wollten, zu überzeugen. Sie können jetzt ganz be-
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quem kommen, sie kommen und sprechen, sie erzählen ihre Sorgen, und sie sagen: „Früher konnten wir nicht zu einem Mann kommen und unsere Sorgen erzählen. Denn er verstand unsere Sorgen nicht. Aber jetzt können wir kommen und mit Ihnen ganz in Ruhe sprechen.“ Sie sind jetzt ruhiger, sie akzeptieren uns sehr schön. Rojda, Bagˇlar/ Diyarbakır
Die Vorteile und Veränderungen durch die Wahl von Kommunalpolitikerinnen, die Rojda hier aufzählt, werden von fast allen Interviewten genannt: Frauen können nur im Rathaus entspannt über ihre Probleme sprechen, wenn sie Frauen als Ansprechpartnerinnen dort vorfinden. Als Grund dafür wird eine sehr starke Verbundenheit unter Frauen im Allgemeinen angenommen: Sie verstünden die Probleme der Frauen, da sie die gleichen Probleme lebten. Im Falle Bagˇlars lässt sich nun konkret hinterfragen, inwieweit dies zutreffen kann. Die Bürgermeisterin Yurdusev als Türkin, Akademikerin, Istanbulerin – kann sie als Frau für die kurdischen Flüchtlingsfrauen aus den südostanatolischen Dörfern sprechen? Ihre Stellvertreterin Rojda als Bürgermeistertochter und Akademikerin – kann sie als Frau, als Kurdin und/ oder als Flüchtling für diese Frauen sprechen? Teilen sie als Frauen wirklich die gleichen Probleme? Der zweite Teil des Zitats mag eine (Teil-)Antwort auf diese Fragen geben: Wie auch in all den anderen Kommunen, in denen Frauen gewählt wurden, nahm die weibliche Bevölkerung die Kandidatin als eine der Ihren wahr und unterstützte sie wegen ihres Geschlechts. Sie wurden als Möglichkeit wahrgenommen, um einen Fuß in die politische Sphäre zu bekommen. Frauen nahmen also sehr wohl wahr, dass ihnen wegen der Geschlechtersegregation der Zugang zu bestimmten Räumen und Ressourcen, zu öffentlicher Unterstützung und zu Entscheidungsprozessen verwehrt war.335 Eine Frau in der öffentlichen Verwaltung der Kommune bietet nun die Gelegenheit, durch diese Repräsentantin der „Geschlechtsgenossinnen der Gemeinde“ politisch zu partizipieren. Durch geschlechtsspezifische Repräsentation in der politischen Sphäre wird also gewissermaßen diese für eine erweiterte politische Partizipation geöffnet. 335
Für die von Heidi Wedel interviewten sunnitischen Gecekondufrauen gehörte die Zugänglichkeit einer Frau im Muhtaramt zu den Vorzügen einer solchen, während alevitische Kurdinnen weniger Probleme äußerten, auch einen männlichen Muhtar anzusprechen – nicht jedoch im Falle eines türkischen Muhtars, d. h. im Falle des Überschreitens der ethnischen Grenzen (Wedel 1999, S. 214f.). Da 17 der 18 Bürgermeisterinnen in sunnitisch geprägten Regionen gewählt wurden, lassen sich keine vergleichbaren Aussagen machen. Lediglich zwei Gemeinden sind offensichtlich ethnisch gemischt, d. h. in zwei Gemeinden wurde die ethnische (bzw. religiöse) Heterogenität thematisiert, nämlich in Küçükdikili und Küçükdalyan. Leyla zufolge waren in Küçükdikili die nichtkurdischen Frauen bereit, über die ethnischen Grenze hinweg eine (kurdische) Frau zu wählen. Lina betonte den kulturellen Reichtum im Hatay wegen der religiös und ethnisch gemischten Bevölkerung.
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7 Gesellschaftlicher Wandel
Durch die Möglichkeit einer Bürgermeisterin, Frauen zu Hause aufzusuchen und somit diese private Sphäre zu politisieren, ändern sich des weiteren die Bedingungen politischer Partizipation in Hinblick auf ihre Verwurzelung innerhalb der Familie. Die in der Lokalpolitik üblichen face-to-face-Beziehungen zwischen PolitikerInnen und Wählerschaft verhindern das Einbezogensein von Frauen in politische Angelegenheiten, solange diese durch Männer innerhalb der männlich dominierten öffentlichen Sphären verhandelt werden. Eine Bürgermeisterin wiederum kann durch die persönlichen Beziehungen, die nun im Haus, beim gemeinsamen Essen gepflegt werden, die Frauen ansprechen und ihr Interesse an der Politik wecken: Es gibt sehr viele Vorteile als Frau. Ich kann mit den Familien viel besser einen Dialog entwickeln. Ich treffe mich nicht nur mit einem Familienmitglied. Wenn ich ein Haus betrat, wenn ich zum Essen eingeladen wurde, durften in diesem Haus die Schwiegertöchter nicht am Tisch sitzen, d.h. sie dürfen nicht bei den Großen essen. Wenn ich jetzt in einem Haus bin, dann kommen auch die Schwiegertöchter, die Mädchen kommen, die Frauen kommen, alle zusammen. D. h. es gibt so viele Vorteile. Leyla, Küçükdikili/ Adana
Die Wahl einer Frau zur Bürgermeisterin wird gern als Beginn zunehmender Macht der Frauen der Kommune gesehen, als geöffnetes Tor in die Politik gewissermaßen für Frauen der Kommune. So behauptet auch Linas Mann, der ja zuvor Bürgermeister in Küçükdalyan gewesen war, dass durch die Wahl seiner Frau die Frauen der Gemeinde an Einfluss gewonnen hätten und nun selbst politisch aktiv werden wollen: Und in der Politik gibt es normalerweise keine Frauen? Sehr wenig. nach der Kandidatur meiner Frau wurden es mehr, sie kamen und unterstützten uns, sie veranstalteten Reden. Nachdem eine Frau Bürgermeisterin wurde, gewannen die Frauen an Einfluss, sie wurden mutig, sie möchten auch mitmachen. Früher wurden solche Gefühle unterdrückt. Recep Maruf (Linas Ehemann), Küçükdalyan/ Hatay
Lina bestätigt die Einschätzung ihres Mannes: Sie wollen auch mitmachen, wir möchten auch Bürgermeisterin werden, sagen sie. D. h. ich war wie ein Vorbild, ich habe einen Anfang gemacht. Sie werden auch weitermachen, das würde mich freuen, ich habe den Weg geöffnet, sie werden auch weitermachen. D. h. ich habe ihnen ein Beispiel geboten. Lina, Küçükdalyan/ Hatay
Während also zunächst Lina als „Repräsentantin ihres Mannes“ Kandidatin wurde, wurde sie wegen ihrer guten Beziehungen zu den Frauen aufgrund ihres sozialen Engagements zur Repräsentantin der Küçükdalyaner Frauen. Durch die Kandidatur bzw. die Wahl einer Frau zur Bürgermeisterin wurden also gemäß dieser Aussagen andere Frauen ermutigt, am Wahlkampf zu partizipieren oder sogar sich vorzustellen, selbst zu kandidieren. Sicher waren solche Aussagen nicht unbedingt ernst ge-
7.2 Veränderungen der politischen Partizipation
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meint – jedoch zeigt sich darin, welch ein Wert die Frauen diesem Wahlergebnis geben. Das Interesse an Politik ändert sich also durch die als Verbündete wahrgenommene Bürgermeisterin, von der erwartet wird, dass sie die Gruppe der Frauen in der Gemeinde vertritt. Die Beziehung zwischen Bürgermeisterin und Frauen ihrer Kommune gewinnt dabei Züge von „geschlechtsspezifischem Klientelismus“: Die Bürgermeisterin fungiert als Vermittlerin zwischen verschiedenen politischen Sphären, d. h. zwischen der institutionell politischen Sphäre der Kommunalpolitik und der informell politischen privaten Sphäre der Frauen. Die „Kommunikation und Ressourcenverteilung zwischen Zentrum und Peripherie“(Unbehaun) rückt dabei gewissermaßen in den Mittelpunkt der Handlungsfähigkeit der Bürgermeisterin: Wegen deren Geschlechtszugehörigkeit hat die weibliche „Peripherie“ der politischen Sphäre der Gemeinde die Möglichkeit, mit dem politischen lokalen Zentrum zu kommunizieren und Einfluss auf die Ressourcenverteilung infolge dieser potentiellen Interessenvertretung zu nehmen. 7.2.2
Einbeziehung anderer Partizipationsformen Es gibt viele Probleme. Das größte Problem in Bagˇlar ist die Arbeitslosigkeit. Wie ich schon sagte, leben in Bagˇlar Menschen, die Opfer der Flucht sind, und das größte Problem von Flüchtlingen ist die Armut. Denn die meisten sind Flüchtlinge, arme Menschen, und das Resultat der Armut ist, das viele Frauen und Jugendliche Selbstmord machen, viele Kinder leben auf der Straße, es gibt viele Ehrenmorde, leider. Die Gewalt, die Frauen erfahren, ist sehr hoch. Gleichzeitig haben wir das Problem mit der Stadt(entwicklung) als Folge der Flucht, es gibt nur unzureichend Wasserversorgung und Kanalisation, denn es gibt das nicht, es gab eine schnelle (Stadt)-Entwicklung, und das Resultat dieser schnellen Entwicklung ist, dass das unzureichend blieb, auch abgesehen davon gab es eine unkontrollierte Stadtentwicklung. Wenn Sie nach Bagˇlar kommen, sehen Sie das gleich, d. h. wir haben drei, vier Viertel, in diesen gibt es sehr merkwürdige Gecekondus, die Gebäude sind ganz aneinander gedrängt. Die Menschen haben nicht einmal Platz zum Atmen. Die Anzahl an Grünflächen ist sehr gering. Solche Probleme haben wir. D. h. das sind alles große Probleme. Welche Lösungen gibt es für diese Probleme? Ich habe ja schon über die Kinderprojekte erzählt, das Ausbildungsunterstützungszentrum und das Gebäude für die Kinder, die auf der Straße arbeiten. (….) Für die Frauen gibt es auch das Kardelen-Frauenzentrum, das von der Kommunalverwaltung finanziert wird. Vielleicht waren Sie dort, ich weiß nicht. Wir haben es im letzten Jahr eröffnet, vor fast einem Jahr. Wir haben dort verschiedene Kurse, vier Stück. Für junge Mädchen haben wir einen Computerkurs, einen Handarbeitskurs, die Frauen machen Holzmalereien, Schmuckstücke und so. Sie machen Handarbeiten. Und wenn die Frauen das gelernt haben, wenn sie in ihrem eigenen Rahmen etwas verkaufen, wenn es auch noch so klein ist, Ausgaben haben, so erhalten sie ein Einkommen in die Hände, wir haben eine Alphabetisierungskurs, vor allem in dieser Region ist der Anteil an Analphabeten sehr hoch, vor allem unter Frauen. Z. B. haben wir eine 75-jährige Tante, mit ihren 75 Jahren kommt sie, um Lesen und Schreiben zu lernen. Sie hat einen Sohn im Gefängnis. Sie kommt, um ihm Briefe schreiben zu können. Und so hat sie es gelernt. Außerdem gibt es soziale In-
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7 Gesellschaftlicher Wandel
formationsdienste für Frauen. Persönliche Beratung wird gegeben. Vor allem Frauen, die Gewalt erfahren, unsere Kolleginnen erzählen ihnen, was auf juristischem Gebiet getan werden kann. Sie beraten auch psychologisch. Außerdem machen die Frauen verschiedene soziale Aktivitäten. Z. B. haben unsere Kolleginnen im Kardelen die Frauen zum ersten Mal ins Theater gebracht. Auch ins Kino, sie nahmen an verschiedenen Aktivitäten teil. Auf diese Weise solidarisieren sich die Frauen gegenseitig, sie teilen miteinander ihre Probleme, sie können Freundschaften schließen, sie verbinden sich sehr schön, und sie nehmen sich dem sehr schön an. Abgesehen vom Kardelen Haus planen wir Kardelen Frauenzentren in anderen Vierteln. Wir machten diese Dinge alle in den ärmsten Vierteln. Sowohl das Ausbildungshaus als auch das Frauenzentrum. Wir planen, das auch auf andere Viertel auszudehnen. Wir planen auch ein Frauengesundheitszentrum und für soziale Dienste, wir bauen ein Gebäude. Wir werden ein großes Gebäude machen. Ein Geburtshaus wird entstehen, denn hier ist leider der Anteil an Hausgeburten sehr hoch und deshalb ist die Säuglings- und Muttersterblichkeit sehr hoch. Wir machen ein Geburtshaus, um das zu verhindern. Wir begannen damit in den ärmsten Stadtteilen. Das Gebäude ist jetzt fast fertig. Im letzten Jahr am 8. März wurde der Grundstein gelegt, dieses Jahr am 8. März werden wir es eröffnen. Wir haben diese Vorstellung. Es wird 3 Stockwerke haben, in den beiden unteren wird es das Gesundheitszentrum geben, im obersten die soziale Dienste. Unsere Kollegen, die Soziologen, werden dort arbeiten. Sie werden über das Profil der Frauen in Bagˇlar forschen, sie werden verschiedene Projekte für Frauen initiieren. Außerdem werden wir verschiedene Kurse für Frauen machen. Im obersten Stockwerk wird es auch ein Gästehaus für Frauen geben. Bevor Frauen, die Gewalt erfahren, ins Frauenhaus geschickt werden, gibt es einen Ort, wo sie vorübergehend übernachten können. Wir haben diese Vorstellung. Wir haben auch einiges bzgl. der Stadt. Ich sollte das jetzt nicht ganz ausführlich erzählen, wir haben Parks, Parks werden gemacht, außerdem werden die Straßen asphaltiert, unsere Wege werden gemacht, die Bürgersteige werden angelegt. Rojda, Bagˇlar/ Diyarbakır
Das Programm der Kommunalverwaltung von Bagˇlar, das Rojda hier erläutert, wird in ähnlicher Weise gerade in den größeren Kommunen des Ostens und Südostens versucht zu verwirklichen. Die Projekte, die Rojda hier erwähnt, werden außerdem von NGOs wie bspw. KADER für die kommunale Arbeit empfohlen und in Broschüren erklärt336: Gesundheitszentren für Frauen, Berufsausbildungszentren, ökonomische Kooperativen, kulturelle Projekte gehören quasi mittlerweile zur „Grundausstattung“ einer frauenfreundlichen Verwaltung. Eine Bürgermeisterin gibt dieser jedoch noch eine spezielle Bedeutung, soziale und wirtschaftliche Partizipation von Frauen in Kooperativen und Frauenzentren wird dabei in den verschiedenen Orten durch die Nähe zum politischen Zentrum der Gemeinde aufgewertet. Arbeiten und soziale Anliegen von Frauen werden zum allgemeinen Interesse der Kommune gemacht und durch die Thematisierung in der politischen Sphäre politisiert. Wegen der engen Bindung an die Kommunalverwaltung entsteht ein enges Verhältnis zwischen verschiedenen Partizipationsformen – nicht zuletzt auch räumlich: In Kozcagˇız be336
Vgl. Alkan 2003.
7.3 Empowerment-Prozesse
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findet sich die Frauenkooperative im obersten Stockwerk des Rathauses. Direkt neben dem Rathaus ließ die Bürgermeisterin Meliha einen Frauenmarkt bauen, wo Frauen ihre eigenen Produkte verkaufen können. Auch in Dogˇubeyazıt ist die Frauenkooperative im Wohnhaus der Bürgermeisterin untergebracht, der Laden der Kooperative befindet sich im Erdgeschoss des Rathauses. Im neuen Rathaus in Küçükdikili soll neben einer Bibliothek auch das geplante Ausbildungsprojekt für junge Mädchen unterkommen. Praktische Hilfe, wie etwa die Eröffnung von Waschhäusern, Gemeinschaftsöfen, Frauenkooperativen erhalten zusätzliches Gewicht, wenn die politischen Verantwortlichen dahinterstehen und Frauenarbeit und Frauenanliegen öffentliches Gewicht erhalten. Werden die Handarbeiten und alltäglichen Pflichten der Frauen durch die Kommune, die ja sowieso nur wenig finanzielle Möglichkeiten hat, auf diese Weise bewertet, so steigt auch das gesellschaftliche Ansehen derer, die diese Aufgaben durchführen.
7.3
Empowerment-Prozesse „Kadının özgürles¸ mesi erkegˇin özgürles¸ mesidir. Toplumun özgürles¸ mesi kadından geçer“. Mukaddes337 Das gab den Frauen ein anderes Vertrauen, d. h. das hiesige Bürgermeisteramt. Ich habe mich selbst gerettet von einigen Dingen, ich kann mich auf allen Gebieten ausdrücken, ich versuche, gegen das Falsche zu sein. Deshalb ist das alles eine Aufgabe der Erfahrung. Das heißt, bei dieser Arbeit gewinnt der Mensch Erfahrung. Deshalb müssen alle hier, müssen alle Frauen, die in der Türkei leben, aktiv an der Politik partizipieren. Und ich denke, solch eine Förderung müssen alle machen. Das ist ein sehr großer Mangel. Das heißt, auf einem Gebiet, auf dem es keine Frauen gibt, gibt es keine Demokratie. Es gibt sie formal. D. h. es gibt den Namen „Demokratie“, aber in Wirklichkeit ist das nicht so. Deshalb, wenn die Frau mit dem Mann etwas teilt, wenn es zum Beispiel in einem Haus Mann und Frau gibt, und wie sie zur Ruhe kommt, so ist das genau in der Welt. (…) D. h. im Haus, oder wenn es in der Welt keine Gleichheit von Mann und Frau gibt, ist das natürlich für uns alle viel schwerer. Und das ist in der Türkei noch viel stärker. Das heißt, in dem Land, in dem wir leben, ist das noch viel stärker. Das heißt, es gibt fast überhaupt keine Repräsentation der Frauen. Und die, die es gibt, sind im Schatten der Männer. Das ist nicht richtig. Wir alle stellen uns diesem Streit. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
337
„Kubilay: Kadının adaletine inaniyorum“, Interview mit Mukaddes Kubilay, von Sevim Kılınç/ Adıyaman, Uçan Süpürge haber merkezi, 22. 4. 2005.
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7 Gesellschaftlicher Wandel
Wie schon im vorherigen Kapitel dargelegt, erlebten einige der Bürgermeisterinnen aufgrund ihrer Biographie ihren eigenen Empowermentprozess – nachfolgend möchte ich zeigen, in welcher Weise sie ihre eigene Erfahrung dabei für ihre politische Arbeit nutzen. Besonders deutlich äußert sich Cihan zu dieser Thematik: Sie beschreibt sich selbst als eine Frau, die sich „selbst gerettet“ habe „von einigen Dingen“ und sich nun „auf allen Gebieten selbst ausdrücken“ könne. Diese Ausdrucksweise ist sehr verbreitet unter politisch und gesellschaftlich aktiven Frauen in Südostanatolien338. Sie beziehen sich dabei auf die gemeinsam geteilte Erfahrung, sich aus einem traditionellen Leben gelöst und einen eigenen Weg eingeschlagen zu haben. So erklärt auch Cihan ihr Engagement mit ihren Erfahrungen: Sie durchlebte selbst durch ihre Politisierung einen Selbstverwirklichungsprozess, durch den sie schließlich an die Spitze von Kızıltepe gelangen konnte, und möchte, dass auch andere Frauen diese Erfahrung machen, um aktiv die Politik zu gestalten. Wenn Frauen also einen Selbstverwirklichungsprozess und die politische Arbeit erfahren, sei dies eine Art der Demokratisierung, die in der Privatsphäre, in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen verwurzelt sein müsse. Cihan fasst hier gewissermaßen die verschiedenen Ebenen, auf denen Empowerment sich vollziehen sollte, zusammen: die individuelle Entwicklung, die familiäre Ebene, der kollektive Prozess und schließlich Empowerment im nationalen und sogar globalen Kontext. Eine erste entscheidende Veränderung sei den interviewten Politikerinnen und Aktivistinnen zufolge die Entwicklung von erhöhtem Selbstvertrauen, ein erster Schritt „durch die Tür des Hauses nach draußen“. Der Gegensatz „innen“ und „außen“ für die Unterscheidung von privater Abgeschiedenheit im Haus und öffentlicher Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben in der Gemeinde bezeichnet dabei die Bedeutung der sich verändernden Situation. Folgende Episode aus dem ägäischen Dorf Seyrek beschreibt, wie die Seyreker Frauen sich mit ihrer Bürgermeisterin veränderten: Am 8. 3. 2005, am Frauentag, schlugen die Frauen Seyreks ihrer Bürgermeisterin vor, zusammen auszugehen. Nurgül ging daraufhin mit 260 Frauen zum Essen in den Ferienort Foça, wo sie sich einen Abend lang amüsierten, während die Männer auf die Kinder aufpassten. Sie bezeichnet dies als „eine sehr ernste Entwicklung“, als eine „Revolution“: Vor 12 Jahren gab es keine Frau, die auf die Straße ging, jetzt lassen sie ihre Kinder zu Hause, ihre Männer lassen das zu und passen auf die Kinder auf. Das ist eine sehr ernste Revolution. Jetzt haben sie Selbstvertrauen. In der folgenden Periode werden 338
Bspw. beschreiben die KAMER-Frauen sich selbst in einer Broschüre, die über ihre Arbeit informiert, folgendermaßen: „Wir sind Frauen, die die Gewalt, die wir erleben, und unseren traditionellen Status realisiert haben, ihn in Frage stellen und verändern wollen. Wir teilen unsere Bewusstwerdung mit anderen Frauen, um die Rhetorik zu brechen und unsere Rollen neu zu definieren.“
7.3 Empowerment-Prozesse
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sie Muhtar oder Mitglied der Gemeindeversammlung. (…) Sie werden fröhlichere Familien. D. h. bei der Auffassung, dass die Frau nicht existiert, kann keine sympathische Familie gegründet werden. Aber wenn die Bedingungen gleich sind, wenn jeder die Grenzen des anderen kennt, wenn in der Familie gesprochen werden kann, wird es alles fröhlicher. Sie wird eine erträglichere Familie Aber wird haben das hier überwunden. Ich interpretiere das als Revolution. Denn der Mann passt jetzt auf das Kind auf und die Frau geht sich amüsieren. Ein sehr schönes Ergebnis. Nurgül, Seyrek/ Izmir
Sowohl Nurgüls Beispiel als auch die Ausführungen Cihans lassen erkennen, dass die beiden Politikerinnen eine enge Verbindung zwischen Veränderungen innerhalb der Familien und auf politischer Ebene sehen: politische Partizipation von Frauen beginne mit wachsendem Selbstvertrauen im familiären Umfeld, mit veränderten Rollen innerhalb der Privatsphäre; gelingt die „Revolution“ (Nurgül) im Geschlechterverhältnis, die Entwicklung von familiärer Demokratie durch das „Teilen“ (Cihan), können Frauen auch in der Lokalpolitik Ämter übernehmen. Die Kommunalverwaltung, verkörpert durch die Bürgermeisterin, kann gewissermaßen als „Patin“ der Frauen und ihrer Probleme fungieren, wenn etwa die Seyreker Frauen mit ihrer Bürgermeisterin Essen gehen wollen oder sich bei Problemen an die Bürgermeisterin wenden: Es gibt hier auch Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind. Aber ich denke, wir haben das überwunden. Wir haben wenigstens dieses Selbstvertrauenproblem überwunden. In diesem Sinn haben wir eine ernste wir haben einen Vorteil, die Frauen hier können sich ein wenig selbst ausdrücken. Und sie gewann Selbstvertrauen. Damit zusammen hat sie es überwunden. Diese 12 Jahre haben diese Entwicklung gebracht. Z. B. geht hier die Frau nicht ins Frauenhaus. Aber es gibt hier das Bedürfnis nach einem Ort, der zusammen mit den Frauen die Sache löst, und das ist zweifellos die Kommune. Wenn wir uns im Rathaus alle 15 Tage versammeln, dann gebe ich eigentlich Unterstützung. Man kann sagen, das hier ist auch ein Haus der Frauenunterstützung. Nurgül, Seyrek/ Izmir
Auch Leyla schildert, wie die Kommunalverwaltung in Küçükdikili Verantwortung für benachteiligte Frauen übernahm, indem sie eine Hochzeitsfeier für Paare organisierte, die lediglich religiös verheiratet waren. Diese sogenannte „Imam-Ehe“ ist vor allem in den kurdischen Gebieten sehr verbreitet. Die Frauen haben in einer solchen Verbindung keinerlei Möglichkeiten, dem Staat gegenüber ihre Rechte einzufordern, im Fall einer Scheidung kann sie weder Unterhalt noch Eigentumsrechte einklagen. Für die Frauen machten wir eine gemeinsame Hochzeitsfeier. D.h. für die offizielle Heirat. Wir machten die amtliche Heirat. Wir übergaben die Heiratsurkunden. Und wir machten das umsonst. Und die Männer akzeptierten das?
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7 Gesellschaftlicher Wandel
Ja. Sie mussten das machen. Wir erklärten es ihnen. Ich sagte, dass wir ihre Kinder nicht in die Schule schicken können. Wenn wir sie schicken, gibt es Probleme.339 Wer ist der Vater, die Mutter von dem Kind, es ist nicht klar. Schaut, als Bürgermeisterin bitte ich euch darum, ihr müsst das akzeptieren, sagte ich, und sie machten es. Sie sagten, wir haben kein Geld, ich sagte, das Geld kommt von mir. Ich bereitete ihnen eine Hochzeitsfeier vor: ich brachte Musik, Folklore, auch Geschenke gab ich. Auf diese Weise überredete ich sie und wir machten die Hochzeit. Leyla, Küçükdikili/ Adana
Auch Leyla wirkt hier nicht als „Frau“, sondern als Autoritätsperson, als ChefIn der Kommune, als „Patin“, „Patronin“, ähnlich wie im Beispiel Seyrek Nurgül. Des weiteren schildert sie, wie sich aus ihrer Sicht die Situation der Frauen geändert habe in den Familien: Die Frauen hier erleben sehr viel Gewalt, die Ehemänner schlagen, sie verachten sie, sind wütend, sie schreien. Innerhalb der Familie waren die Frauen in einer sehr schlechten Situation. Wenn ich in die Häuser ging, sagten sie: oh, die Bürgermeisterin! Bitte sehr, Bürgermeisterin! sie sagten zu ihren Frauen: Du, geh raus. Ich sagte: nein, sie wird im Zimmer bleiben. Die Frau freute sich sehr. Ich sagte: Wenn du mir Respekt zeigen willst, so wirst du erst gegenüber deiner Frau Respekt fühlen!. Jetzt sagen sie in der Kommune: Wir fürchten unsere Bürgermeisterin, wir werden mit unseren Frauen schimpfen, aber dann wird die Bürgermeisterin mit uns schimpfen. Ihre Frauen und Töchter wenn sie ihnen etwas sagen, so sagen sie auch: das erzählen wir der Bürgermeisterin! Die Männer können nichts sagen aus Angst. Deshalb hat die Gewalt in den Familien abgenommen. Das ist ein erfreulicher Zustand. Leyla, Küçükdikili/ Adana
Leyla nutzte also ihre Position, um die Männer „zu erziehen“, um sie zu einem respektvollen Umgang mit ihrer Frau zu bringen. Dabei machte sie aufmerksam auf das gleiche Geschlecht der Bürgermeisterin und der Ehefrau. Schließlich mussten die Männer die neue Bürgermeisterin nach der Wahl unabhängig von ihrem Geschlecht als Amtsinhaber(in) wahrnehmen, die neue Person im Bürgermeisteramt als solche respektieren. Gleichzeitig ist sie nun als Frau gewissermaßen die Verbündete für Frauen, die von ihren Männern unrechtmäßig behandelt werden. Besonderes Gewicht geben Politikerinnen der Funktion der geschlechtersensiblen Lokalpolitik: Mukaddes bspw. bezeichnet ihr Amt als Chance, gerade im Lokalen, gegenüber den Metropolen als Frauen aktiv zu sein und ihr Selbstverständnis als Frauen zu verändern. Nun, in der Peripherie, trüge die Frau an der Spitze dazu bei, dass die Frauen ihre Identität finden könnten, und diese als Instrument für das eigene Empowerment zu entwickeln. Gleichzeitig verbindet sie die Identitätsfindung als 339
Zwischen 20 und 25% der Kinder im Grundschulalter in kurdischen Dörfern sind nicht standesamtlich gemeldet, ebenso wie in polygamer Ehe lebende Frauen. Diese Kinder können kein Abschlusszeugnis der Grundschule erhalten. Vgl. Wedel 2000, S. 111.
7.3 Empowerment-Prozesse
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Frau mit dem Kampf der Kurden, der ja ebenfalls ein Kampf um nationale Identität ist. Ihr Leben für die kurdische Sache hinzugeben, sei auch Pflicht der Frauen. Die Frau müsse auch sehen, dass sie für die kurdische Sache kämpfen könne. Auf diese Weise könne die Frau ebenfalls eine Identität entwickeln, wohl als kurdische Frau. Ihr zufolge unterscheidet sich der Kampf der kurdischen Frauen von dem der europäischen Frauen, da sie zusammen mit den Männern die Entwicklung anstreben: Eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Frauenpolitik sei, dass die Männer miteinbezogen werden. Mukaddes beispielsweise betont zunächst, dass „in unserer Region“ – d. h. in Ostanatolien – „das ein bisschen anders“ sei. Dies ist eine häufige Formulierung, mit der dem europäischen Gast vermittelt werden soll, dass in ihrem Umfeld Frauenpolitik wie in Europa nicht möglich sei – d. h. ebenso, wie mancherorts durch die Erklärung unterschiedlicher Gesellschaftsstrukturen und Kulturen in Europa und der Türkei der Status quo legitimiert wird, wird auch die unterschiedliche Strategie zur Aktivierung von Frauen in der Politik verteidigt. Sie müssten den Mann mit einbeziehen, da in ihrer Gegend die Verhältnisse nur diese Strategie zuließen: Die Frauen dürfen ohne die Erlaubnis des Mannes nur wenig machen. Deshalb werden Frauen von den „aufgeklärten“ Frauen insofern aufgefordert, zunächst sich selbst zu reflektieren, dann sich selbst zu befreien, und dann die Familie in gleicher Weise zu fördern. Die eigene Entwicklung der Frauen dürfe also nicht dahin gehen, sich aus der Familie zu lösen, sondern sie müsse im Rahmen der Familie agieren und diese verändern. Es sei kontraproduktiv, dem Mann offensiv gegenüber zu treten und zu sagen: Ich bin frei, kümmere dich nicht um meine Angelegenheiten! Denn so steige die Gewalt, der Mann müsste dann gewalttätig reagieren. Da das traditionelle System weiterhin tief verwurzelt sei, es Ungebildetheit und Unwissenheit gebe, könne ein „offener“ Kampf einen schlechten Ausgang nehmen, d. h. noch seien die Männer stärker, die traditionellen Gesetze würden den Ausgang bestimmen. So müsse die „Befreiung der Gesellschaft“ durch die „Befreiung der Frau“, dann durch die „Befreiung des Mannes“ verlaufen. Schließlich sei auch der Mann gefangen in der dominanten gesellschaftlichen feudalen Struktur. Ays¸ e Günes¸ -Ayata zufolge wird „im allgemeinen …. unter Politikerinnen in der Türkei ein harmoniebetonter Standpunkt vertreten, eine Ansicht, die als Perspektive des menschlichen Vorteils (Hedlund 1987) oder als humanistischer Feminismus (Odorisio 1988) bezeichnet wird, und die besagt, dass Vorteile für Frauen als Vorteile für die Menschheit an sich anzusehen sind, und die auf die Zusammenarbeit von Männern und Frauen abzielt.“340 Auf den ersten Blick scheinen die Bürgermeisterinnen, die sich zu dieser Problematik äußern, die gleiche Sichtweise einzunehmen, jedoch schreibt Günes¸ -Ayata weiter: „Es gibt zwar einige wenige Politikerinnen, die einen 340
Günes¸ -Ayata 1991, S. 184.
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7 Gesellschaftlicher Wandel
spezifischen Frauenstandpunkt einbringen und vorhandene Widersprüche systemkonform lösen wollen, aber es gibt keine Politikerinnen, die einen Widerspruch zwischen weiblichen und männlichen Interessen sehen und aus diesem Grund radikal gegen das bestehende System kämpfen.“ Im Gegensatz hierzu vertreten einige der heutigen Bürgermeisterinnen einen radikalen Standpunkt und betonen die unterschiedlichen Interessen von Männern und Frauen im patriarchalen System, sehen jedoch als Strategie zur Lösung der nachteiligen Situation der Frauen, die Männer in die Veränderungen miteinzubeziehen. Während dabei einerseits mitunter sehr negativ über Männer im Allgemeinen oder über „Männer in unserer Region“ gesprochen wird, wird über die eigenen Verwandten nicht schlecht gesprochen.341 „Bewusste Männer“ könnten eben auch „Politik aus Frauensicht“ praktizieren.
341
Eine Ausnahme stellt folgender Bericht dar: Im Dorf Güzeldere im Kreis Varto in der Provinz Mus¸ , in dem nur sieben Familien leben, d. h. 37 Wahlberechtigte, kandierte Ayten Fırat neben 6 Kandidaten für das Amt des Gemeindevorstehers. Bedriye Fırat, die Frau eines Kandidaten erklärte, sie werde Ayten unterstützen, da ihr Mann sowieso nicht lesen und schreiben könne, Ayten besser gebildet sei als ihr Mann. Deshalb sei sie passender für das Dorf. Auch wenn vermutlich die beiden Frauen eng miteinander verwandt sind, ist es dennoch ungewöhnlich, wenn eine Frau in der Öffentlichkeit verkündet, dass ihr Mann weniger geeignet für ein politisches Amt als eine Frau sei.
8
Politischer Wandel
8.1
Repräsentation und Partizipation Kadınlar için …. kadınca bir bakıs¸ la …. kadınlarla ….342 „Kadın gözüyle belediyecilik, kadın bakıs¸ açısıyla siyaset.“ 343
Nachdem ich bereits vom Blickwinkel der erweiterten Partizipation aus das Verhältnis zwischen Repräsentantinnen und Repräsentierten angesprochen habe, möchte ich nun noch einmal den Blick auf die Problematik der Repräsentation von Frauen durch Frauen richten; diese ist in der Türkei so alt wie das Frauenwahlrecht: Yes¸ im Arat stellt dar, wie seit den dreißiger Jahren Politikerinnen unterschiedliche Anforderungen in ihrer Rolle als potentielle Repräsentantinnen erfüllen sollten: Während der Einparteienära von 1934 bis 1945 sprachen weibliche Abgeordnete für die türkischen Frauen, um „weibliche Perspektiven“ auf die Themen darzustellen. Dabei waren sie in erster Linie für die „traditionellen Frauenangelegenheiten“ wie Familienpolitik und Kindererziehung zuständig. Sie polisierten jedoch nicht Interessen von Frauen, sondern repräsentierten vielmehr die Regierungspolitik344. Als die Rivalität zwischen CHP und DP zwischen 1945 und 1960 die politischen Verhältnisse prägte, wurde den Anliegen von Frauen angesichts anderer Kämpfe immer weniger Bedeutung beigemessen. Yes¸ im Arat arbeitete heraus, dass, während die Mehrheit der von ihr interviewten weiblichen Parlamentsabgeordneten ablehnt, dass der Anteil an Frauen im Parlament wegen ihres Frauseins höher sein sollte, fast alle Kommunalversammlungsmitglieder sowie die Mehrheit der Männer befürworten, dass Frauen wegen ihres Geschlechts Politik machen sollten.345 Auch wenn also in der Geschichte der türkischen Republik Politikerinnen Distanz zu „Frauenthemen“, der feministischen Bewegung und zu einer eigenen weiblichen Persönlichkeitsinszenierung hielten, 342
Für Frauen …. mit einer weiblichen Sicht …. mit den Frauen …. aus: Uçan Haber. Uçan Süpürge Kadın Dergisi. Sayı 22, 2004, Ankara. 343 Wahlslogan in Bagˇlar: „Ein Kommunalverwaltungsstil mit dem Auge der Frau, Politik mit der Sichtweise der Frau.“ 344 Vgl. Yaraman 1999, Günes¸ -Ayata/ Aslan 2004. 345 Allerdings stellt Yes¸ im Arat fest, dass „the women politicians thought it was because women were strong, whereas the men said it was because the women were soft“ (Arat 1989, S. 82). A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/ 978-3-531-93113-5_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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nehmen Frauen eine Bürgermeisterin als „Geschlechtsgenossin“ wahr und fühlen ihr gegenüber eine gewisse Nähe und Vertrautheit. In informellen Gesprächen346 äußern Frauen häufig, dass sie zu „ihrer“ Bürgermeisterin einen weit besseren Kontakt hätten als zu Männern in diesem Amt, d. h. sie bestätigen die Aussagen der Bürgermeisterinnen; allerdings sehen sie nicht nur Vorteile für Frauen, sondern erklären positive Auswirkungen für die gesamte Gesellschaft aufgrund der „weiblichen Eigenschaften“ der Bürgermeisterin. Die folgenden Aussagen zweier Frauen in Dogˇubeyazıt sind hierfür bezeichnend347: Eine Bürgermeisterin bringt der Gesellschaft sehr viel Positives, meiner Ansicht nach. Warum? Es gibt hier in der Gegend zu viele im kulturellen Sinne rückständische Menschen. Wenn es eine Bürgermeisterin gibt, verhält sie sich gegenüber der Bevölkerung sensibler. Ich denke, sie ist sensibler gegenüber den Bedürfnissen der Bevölkerung. Zweifellos wird ihr Einfluss hier in Dogˇubayazit wahrgenommen. Zum Beispiel konnten früher die Frauen auf der Straße nicht in Ruhe spazieren gehen. Sie konnten sich nicht in Ruhe selbst ausdrücken. Jetzt zum Beispiel die Bürgermeisterin, sie ist von allem die Vorkämpferin. Das heißt, sie äußert ganz in Ruhe ihre Gedanken. Und das gesellschaftliche Verhalten ist sehr entspannt. Deshalb passen sie sich an viele Beispiele an. D.h. sie ist eine Vorkämpferin und zum Bespiel konnten die Frauen nicht in Ruhe an Versammlungen teilnehmen. Jetzt können sie teilnehmen. Jetzt können sich alle in Ruhe selbst ausdrücken. Jetzt sind die Frauen dabei, sich die Bürgermeisterin als Vorbild zu nehmen. Sie leistete auch einen Beitrag für die Ausbildung. Vor allem für die Frauen. Bei den lokalen Aktivitäten gehen die Frauen zur Bürgermeisterin und hören ihr zu. Weil wir eine matriarchale Gesellschaft sind, lieben wir zum Beispiel die Mutter viel zu viel. Wenn der Bürgermeister eine Frau ist, können die Frauen sich ihr besser öffnen. D. h. eine Person kann sich freier ausdrücken. Der Mann zeigt sich ein bisschen grob/ ungebildet. Er erscheint unfreundlicher. Weil wir eine matriarchale Gesellschaft sind, können wir uns ruhiger öffnen. Und die Frauen ergreifen die Initiative. Sevim/ Hebamme im Gesundheitszentrum von Dogˇubeyazıt Wenn man sich in der Türkei umschaut, so sind dort, wo es Bürgermeisterinnen gibt, sie sehr erfolgreich. Das ist etwas, was sofort ins Auge springt. Die Frauen sind viel sensibler. Während die Männer materiellen Themen Bedeutung geben, ist die Frau für geistige, moralische Themen viel sensibler. Dadurch sind die Gewinne für die Gesellschaft sehr viel höher. Einerseits, wenn eine Frau da ist, ist sie ihrem Geschlecht 346
Auch wenn es hierzu keine repräsentativen Daten gibt, war es für mich verblüffend, dass in verschiedenen Orten sich Frauen sehr ähnlich äußerten und sich der BürgermeisterIN aufgrund des Ge-schlechts sehr verbunden fühlten. So verwendeten sie unabhängig voneinander das gleiche Vokabular, um die Bedeutung einer Frau in diesem Amt zu erklären. 347 Beide Frauen sind durch ihre Aktivitäten in den Frauenprojekten in soziale und politische Projekte miteingebunden. Azad ist im Übri-gen die jüngere Schwester von Gülcihan S¸ims¸ek. Sevim stammt aus Diyarbakır und kam für die Arbeit im Frauengesundheitszentrum nach Dogˇubeyazıt. Beide Frauen wohnen in einer Frauen-WG im Haus der Bürgermeisterin Mukaddes.
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gegenüber viel sensibler. Wenn in einer Gesellschaft, in der wie bei uns das Ausbildungsniveau sehr niedrig ist, eine Frau Bürgermeisterin wird, macht sie die Frauen viel aktiver. Sie kann das Volk viel bequemer erreichen. Eine Frau kann ganz bequem in die Häuser gehen, dort eintreten, ihr kann Vertrauen geschenkt werden. Weil das so ist, kann sie bequem mit dem Volk kommunizieren. Hier konnten die Frauen früher nicht zur Sprache kommen. Sie sagten, dass früher die Ehemänner keine Erlaubnis gaben, hinauszugehen. Aber jetzt können sie selbst einkaufen gehen. Die Bürgermeisterin hat bei ihnen eine gewisse Ruhe bewirkt. Azad, Lehrerin in der Teppichkooperative/ Dogˇubeyazıt
Hier wird deutlich, dass die jungen Frauen die Bürgermeisterin als Repräsentantin ihrer „Geschlechtsgenossinnen“ im Zusammenhang mit der veränderten Partizipation von Frauen sehen: Sie ist die Vorkämpferin, die die Partizipation der anderen Frauen ermöglicht; sie ist das Vorbild, das die anderen Frauen ermuntert, sich zu öffnen und selbst auszudrücken. Dass einer Bürgermeisterin für die Gesellschaft bzw. die lokale Gemeinschaft positiver Einfluss insgesamt zugetraut wird, würde bedeuten, dass sie nicht nur als Stellvertreterin der einen Hälfte der Bevölkerung angesehen wird, sondern dass sie als Frau für passender in dem Amt gehalten wird. Die Frage stellt sich, wie eine Bürgermeisterin als potentielle Repräsentantin der gesellschaftlichen Gruppe der Frauen diese angemessen vertreten kann: Die Amtsübernahme einer Frau lässt sich einerseits als ihre individuelle Partizipationsmöglichkeit deuten, d. h. als ihre persönliche Chance zur politischen Einflussnahme; wenn wir aber die bisherigen Ausführungen zur Beziehung zwischen Bürgermeisterin und WählerInnen und den daraus entstehenden Prozessen mitberücksichtigen, stellt sich die Frage, ob nicht eine grundlegende Folge darin besteht, dass Frauen sowohl an der Entscheidungsbildung als auch an anderen politischen Aktivitäten beteiligt werden können, d. h. für sie die Partizipationsmöglichkeiten vervielfacht werden. Es scheint, dass es zunächst weniger darum geht, Partizipation von Frauen horizontal auszudehnen, sondern vertikal: Frauen partizipieren nicht mehr nur in ihren Netzwerken und durch die Abgabe ihrer Stimmzettel, sondern gelangen auf eine andere Politikebene durch die Übernahme eines formalpolitischen Amtes durch „eine von ihnen“. In Verbindung mit einem „partizipatorischen Politikstil“ kann Repräsentation so als Form von Partizipation verstanden werden: Frauen, die nicht über die nötigen Ressourcen verfügen, um politisch aktiv zu werden, werden durch eine Frau vertreten, die dies kann. Partizipation entsteht durch eine Vertreterin, deren Interessengleichheit aufgrund der Gemeinsamkeit Geschlecht angenommen wird. Gleichzeitig kann der Repräsentationsaspekt durch partizipatorische Politikformen abgeschwächt werden, wenn die Partizipation aller Einwohner zum Ziel genannt wird. Cihan als „potentielle Repräsentantin“ äußert diese Strategie der „Partizipation durch Repräsentation“ als Programm:
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Diese Arbeit, wie kann ich sie für meine Geschlechtsgenossinnen öffnen, wie kann ich helfen, das ist meine einzige Sorge. D. h. wie kann ich diesen Frauen helfen, wie kann ich sie aus den Häusern herausholen, wie kann ich sie in die Politik holen, an die Orte, auf die sie ein Recht haben. Wie ich das machen soll, ist mein einziges Ziel, als Frau streite ich dafür. Das ist wirklich ein sehr großes Defizit. Wir können das nicht so lassen. Sie muss für alle geöffnet werden. Das können bestimmte Leute machen. Sie können das machen, ich kann das machen, er kann das machen. Wie ich schon sagte, meine Aufgabe (nach der ersten Amtszeit) war nur halb erfüllt. Hier gibt es Feudalismus, As¸ iretçilik gibt es, es gibt vieles, d. h. das ist kein Ort der Frauenrechte. Ich sage, in meiner Person, vielleicht studierte junge Frauen – wenn wir Mut zusammensammeln – jetzt gibt es in der Gemeindeversammlung sieben Frauen, wie können wir diese Frauen auf den vor uns liegenden Prozess vorbereiten, d. h. können wir erreichen, dass die Hälfte der 30 Personen zählenden Gemeindeversammlung Frauen werden. Beim ersten Mal gab es eine Frau, jetzt gibt es sieben. Langsam ändert sich das, wir sehen das. Wir machen das alles zusammen, ich freue mich sehr. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
Cihan sieht sich selbst als Repräsentantin der Frauen in der Politik von Kızıltepe, wobei ihr erklärtes Ziel ist, mehr Frauen den Weg in die Institutionen zu ermöglichen. Sie rechtfertigt dieses Ziel mit dem Postulat der Gleichberechtigung: Schließlich sollten alle Menschen die Möglichkeit haben, in politische Ämter zu gelangen. Dabei geht sie von einer sehr starken Solidarität unter der „Hälfte der Bevölkerung“ aus: Die Hälfte der Einwohner dieser Welt sind Frauen. Warum wird dieser Hälfte der Weltbewohner nicht ihr Recht zuerkannt, man muss das den Frauen einräumen. Natürlich den Frauen, die Frauen, die ein Recht darauf haben. Dann werde ich sagen, in dem Land, in dem ich lebe, gibt es Demokratie, Frieden, Freiheit. Es gibt das jetzt nicht, aber wir begreifen das, unsere Freunde, die uns an diese Orte gebracht haben, leben jetzt zum Teil nicht mehr, manche leben noch, z. B. mein Mann, gedankt sei ihm, er auch, ich habe drei Söhne, wir wollten beim dritten Kind, dass das ein Mädchen wird. Mein Mann sagte: wir sind zu dritt, du bist allein, wenn es ein Mädchen wird, haben wir Gleichberechtigung. Aber das ist nicht passiert. In Ordnung, alle Mädchen, Frauen, die hier leben, sind meine Töchter, meine Geschlechtsgenossinnen. So, wie ich meine Schwester liebe, so liebe ich auch alle, und was immer ich tun kann, so versuche ich zu helfen. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
Ein wichtiger Punkt, den Cihan hier anspricht, ist des weiteren die quantitative Repräsentation von Frauen in der Kommunalverwaltung. Sowohl Cihan als auch Mukaddes als wiedergewählte Bürgermeisterinnen betonen, dass infolge ihrer Amtszeit sich die Zahl weiblicher Gemeindeversammlungsmitglieder erhöht habe. Beide erklären des weiteren, dass sie sich eine Nachfolgerin wünschen, dass sie sich selbst „nur“ als eine von vielen potentiellen Frauen im Amt sehen. Hierbei wird deutlich, dass sie sich als Gruppe Frauen betrachten:
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Wir haben diese Frauen aus den Häusern geholt, in die Politik, Schritt für Schritt, alles auf einmal klappt nicht, zuerst kommen sie und arbeiten in der Kommunalversammlung, sie lernen das kennen, wie ist die Arbeit, wie wird gearbeitet, wie vertrauen sie sich selbst, d.h. wenn sie ihre Taten sieht, wird sie stark. Deshalb möchte ich meinen Platz einer Frau überlassen. Ich möchte mich mit einer anderen Aufgabe befassen, aber ich sage, dass ich möchte, dass eine andere Frau sich um meinen Platz kümmert. Unsere Frauen haben schon seit langem ein Recht auf viele Dinge. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
Der häufig verwendete Begriff der „Geschlechtsgenossinnen“ zeigt die stark vertretene Auffassung an, „Frauen“ als gesellschaftliche Gruppe zu betrachten, die die gleichen Interessen haben. Teilhabe von Frauen an den Macht- und Entscheidungsstrukturen wird als Recht der Frauen interpretiert. Auffällig ist also, dass die interviewten Politikerinnen überwiegend es als selbstverständlich betrachten, dass sie als Frauen gemeinsame Interessen der Frauen vertreten und sich als deren Repräsentantinnen darstellen348. In der Literatur über Politikerinnen in Europa jedoch wird eine solche Auffassung in der Regel abgelehnt.349 „Frauen“ als Interessengruppe im Kontext ländliche Türkei lassen sich dabei aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rolle und der gelebten Benachteilung, gesellschaftliche Stellung, Ausschluss aus politischer Öffentlichkeit verstehen. Es ist deshalb in den Augen dieser Politikerinnen ein Interesse der weiblichen Bevölkerung, Repräsentantinnen in der Verwaltung zu haben, da sie so „aus Frauensicht“ Entscheidungen treffen könnten, die zum Wohle der Frauen – und somit der ganzen Gesellschaft seien. Vielleicht erhält die Wahrnehmung, als Frauen eine soziale Gruppe zu sein, noch eine andere Bedeutung, wenn man mit einbezieht, dass, wie schon kurz dargestellt, im sozialen Leben in der ländlichen Türkei Frauen zwar durch die Geschlechtersegregation eng sozial zusammenleben, jedoch in Hinblick auf institutionelle Politik die Familie entscheidet, d. h. Frauen sich den Entscheidungen der Männer anschließen, da diese wüssten, was für ihre Familien das beste sei.350 Wie zuvor dargestellt, verfolgen die Bürgermeisterinnen trotz unterschiedlicher biographischer Hintergründe ähnliche Handlungsstrategien, die in Verbindung mit 348
Als Interessenvertreterin der Frauen der Gemeinde sehen sich Bürgermeisterinnen unabhängig von Region, Partei, Alter, Bildung. 349 Vgl. Phillips 1995, S. 148. 350 So erklärten mir Frauen in einem Dorf der Westtürkei, dass sie sich nicht um die Kommunalwahlen kümmern müssten, da dies Aufgabe des Mannes sei und sie dann gemeinsam mit dem Mann den Kandidaten zum Gemeindevorsteher wählen würden, der für ihre Familie der Beste sei. Sie zogen nicht in Betracht, als individuelle Wählerin andere Interessen als ihr Mann zu haben oder gar als Gruppe der Frauen andere Bedürfnisse als die Männer im Dorf zu haben. Vgl. auch Günes¸ -Ayata 1991.
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ihrer Geschlechtszugehörigkeit stehen. Selbst in Gemeinden, in denen eine Bürgermeisterin nicht aufgrund frauenpolitischer Programmatik gewählt wurde, reagieren, wie zuvor dargestellt, Frauen in der Gemeinde begeistert: Lina bspw. wurde eher als Repräsentantin ihres Mannes Kandidatin, bewirkte dann aber unter den Frauen in Kücükdalyan einen Politisierungseffekt. Auch wenn, wie zuvor bzgl. Bagˇlar erwähnt, Elitefrauen351 in politischen Ämtern trotz sozialer Unterschiede als Repräsentantin armer, marginalisierter Frauen insofern agieren können, da sie aufgrund der Geschlechtersegregation das Verhältnis zwischen lokaler Administration und Wählerinnen neu bestimmen können, ist es dennoch ein Unterschied, ob Politikerinnen ähnliche Lebensumstände wie ihre Wählerinnen erlebt haben, oder ob sie aus einem anderen sozialen Umfeld kommen. Eine „Mutter-Hausfrau-Bürgermeisterin“ hat einen anderen Zugang zu bestimmten Problematiken als eine Hochschulabsolventin aus der Oberschicht. Fatma Nevin Vargün erklärt diese Problematik ausgehend vom Beispiel Gewalt, das alle Frauen in allen Gegenden aus allen sozialen Schichten betreffe: Es gibt überall in der Türkei Gewalt, zweifellos ist die Armut ein großes Problem, aber es wird nicht gesehen, die Frau unterdrückt das, sie merken nicht, dass das Problem existiert. Damit es wahrgenommen wird, ist es sehr wichtig, dass Frauen in der Lokalpolitik sind. D. h. wenn sie dort ist, beginnt die Frau etwas wahrzunehmen. Es wird ein gutes Modell. Sie können ein Beispiel sein für diejenigen, die (im lokalen Umfeld) Politik machen wollen, aber es nicht machen können. Denn Zentrumspolitik zu machen ist noch viel schwieriger. Stellen Sie sich vor, Sie verlassen Ihren Ort und müssen nach Ankara kommen, das braucht ein gewisses Ausbildungsniveau, eine ökonomische Grundlage. Aber im (jeweiligen lokalen Umfeld) – Sie haben ja zum Beispiel die Bürgermeisterin von Sürgücü kennengelernt, eine Frau mit elf Kindern, mit Grundschulabschluss, aber sie ist eine Frau, die das Leben in ihrer Region kennt, wenn Sie dort eine supertolle Hochschulabsolventin hinschicken würden, könnte sie nicht so viel machen wie Zeyniye, es ist wichtig, selbst aus dem (lokalen Umfeld) kommen. Fatma Nevin Vargün, KADER/ Ankara
Die Tatsache, dass weiterhin die Anzahl von Politikerinnen in den formalpolitischen Institutionen in der Türkei verschwindend gering ist, wirft das Problem auf, ob diese wenigen dennoch etwas erreichen können – schließlich dominiert die Vorstellung, dass erst eine hohe quantitative Repräsentation von Frauen überhaupt Änderungen der Politiken erreichen könne: “Don’t expect us to make much difference as long as we are only a few women in politics. It takes a critical mass of women to make a fundamental change in politics.”352 So hält auch Beate Hoecker die Reihenfolge „erst Gleichberechtigung, dann Feminisierung der Politik“ für sinnvoller: 351 352
Für Bagˇlar kann die Bürgermeisterin Yurdusev durchaus als Elitefrau bezeichnet werden. Drude Dahlerup, zitiert in Karl 1995, S. 63.
8.2 Politikverständnis der Politikerinnen
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„So wünschenswert eine Feminisierung der politischen Sphäre auch ist: Die Frage, was Frauen in der Politik anders machen (würden) als Männer, kann letztlich erst dann beantwortet werden, wenn das Ziel einer gleichberechtigten politischen Teilnahme und Teilhabe erreicht worden ist. Die Hindernisse auf diesem Weg zur Verwirklichung der Gleichberechtigung zu erkennen und zu beseitigen, das dürfte zunächst die vorrangige Aufgabe sein.“353
Im Gegensatz dazu scheint unter Politikerinnen, Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen in der Türkei eine gegensätzliche Position verbreitet zu sein, die folgendes Zitat zum Ausdruck bringt: “As important as women’s inclusion in processes of political decision-making, the feminization of politics necessitates much more comprehensive arrangements, going beyond ‘number of heads’. The feminization of politics and at present, debates around the representation crisis of democracy, construction of a public sphere open to differences, etc., are nourished substantially by the critical approach of feminist theory. Consequently, gains towards equality between men and women in political life are gains not only for women but also for democracy.”354
Ich denke, aus I˙nci Özkan Keresteciogˇlus Aussage wird eine generelle Tendenz deutlich, die unter Frauen verbreitet ist, die der Frauenbewegung nahe stehen: Der „Feminisierung der Politik“ wird letztendlich mehr Bedeutung beigemessen als der quantitativen Erhöhung von Frauen in politischen Ämtern; der „substantiellen Repräsentation“ wird im Grunde genommen mehr Gewicht gegeben als der „deskriptiven Repräsentation“. Vielleicht, weil im Laufe der Geschichte Frauen, die in der Frauenbewegung aktiv waren, die Erfahrung machten, dass formalpolitisch aktive Frauen Distanz zu ihnen hielten, wird angenommen, dass durch „substantielle Bewusstmachung der Wichtigkeit von Repräsentation“ unter Frauen letztendlich sich auch die „deskriptive Repräsentation“ verändern könnte. Anhand der geäußerten Ausführung über ihr Politikverständnis und konkreten politischen Programmen und Prozessen möchte ich versuchen, die Vorstellungen der Politikerinnen über eine „Feminisierung der Politik“ zu rekonstruieren.
8.2
Politikverständnis der Politikerinnen
In der Literatur über Politikerinnen spielt(e) stets die Frage eine Rolle, inwieweit die Geschlechtszugehörigkeit für das Politikverständnis und den Politikstil von Bedeutung ist – auch bezogen auf Politikerinnen in Deutschland: ob Frauen sich hier „fremd“ fühlen (Schöler-Macher), ob sie ein „anderes Politikverständnis“ haben 353 354
Hoecker 1999, S. 153. Keresteciogˇlu 2004, S. 47.
200
8 Politischer Wandel
(Meyer), ob frauenspezifische Lebenskontexte eine Rolle spielen (Geißel). Birgit Meyer sieht ein solches „anderes“ Politikverständnis im Zusammenhang mit Einstellungen zu einem „anderen“ Politik- oder Führungsstil und zu einem möglichen frauenpolitischen Selbstverständnis, d. h. inwieweit eine spezielle Frauenpolitik notwendig sei355. In ihrer Studie kann sie dies nicht belegen: Die von ihr befragten Abgeordneten bestreiten die Existenz einer solchen Differenz, jedoch beschreiben sie spezifische Kommunikationsmuster: „Im kommunikativen Umgang (…) wird von Politikerinnen bei sich selber und bei anderen Frauen ein weniger karriereorientierter, ein sachlicherer, engagierter, ein toleranterer und ausdauernderer kommunikativer Stil wahrgenommen als bei männlichen Kollegen.“356 Die Existenz einer speziellen Frauenpolitik wird bestritten, „es hat den Anschein, als ob eine unserer Gesellschaft inhärente und tradierte Abwertung der spezifischen Interessen und Problemlagen von Frauen und die damit zusammenhängende Degradierung von Frauenpolitik hier – in unterschiedlicher Ausprägung – in den Selbstbildern von Politikerinnen präsent und wirksam sind.“357 Dennoch wird deutlich, dass die Befragten annehmen, dass die politische Sphäre durch die Präsenz von Frauen positiv verändert wird, dass sie feminisiert und menschlicher werde358. Beate Hoecker kommt zu dem Schluss, dass es durchaus Anzeichen für ein unterschiedliches Politikverständnis von Frauen und Männern gebe, weist aber darauf hin, dass das Selbstbild der Politikerinnen nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen muss und dass der Politikstil, den Frauen für sich entwerfen, nicht auch tatsächlich praktiziert wird359. Sie nennt als relevante Indikatoren für das unterstellte andere Politikverständnis von Frauen den Politikstil, das Selbstverständnis über die Rolle als Politikerin und die Unterstützung politischer Ziele.360 Schließlich wird auch in den Texten türkischer Wissenschaftlerinnen über Politikerinnen auf mögliche spezifische Verhaltenweisen dieser Frauen eingegangen. So unterscheidet Günes¸ -Ayata zwei Verhaltensmuster: Zum einen die Mutterrolle, zum anderen „männliches Verhalten“361. 355
Meyer 1997, S. 345. Meyer 1997, S. 348. 357 Meyer 1997, S. 351. 358 Hoecker 1999, S. 148. Auch rund ein Drittel der von Brigitte Geißel interviewten Kommunalpolitikerinnen nennt frauenspezifische Politikstile, die sie folgendermaßen zusammenfasst: Sachorientierung statt Machtorientierung, Ehrlichkeit statt Profilierungsneurose, Altruismus statt Egoismus, Pragmatik statt Hierarchiedenken, Emotionalität statt Rationalität, Freundlichkeit statt Arroganz. 359 Hoecker 1999, S. 152. 360 Hoecker 1999, S. 149. 361 Günes¸ -Ayata 1991, S. 197. 356
8.2 Politikverständnis der Politikerinnen
201
Da jede Frau, die sich in der Türkei in die Politik wagt, sich damit auseinandersetzen muss, dass sie aufgrund ihres Geschlechts eine Ausnahmeerscheinung darstellt, nehmen Überlegungen und Meinungen hierüber in den Interviews sehr viel Raum ein. Die meisten sehen hierin einen Bezug zu den Politiken, an denen sie beteiligt sind.
8.2.1
Maskuline Frauen In der türkischen Gesellschaft wird eine Frau in der Politik immer wie ein Mann angesehen. Aber ich bin eine Frau und Politikerin. Es ist nicht nötig für mich, (wie) ein Mann zu sein. Ich bin eine Frau mit meiner eigenen Identität und meiner eigenen Herkunft, ich denke nicht, dass ich Politik machen muss, indem ich wie ein Mann mich verhalte. Jedoch wurden in der Türkei Frauen, die innerhalb der Politik in der Gesellschaft Raum einnahmen, mit der Vorstellung gewählt, sie seien „eine Frau wie ein Mann“. Nuran, Mazidagˇı/ Mardin
Die meisten der derzeitigen Bürgermeisterinnen wie auch Nuran empfinden es als Problem, dass sie in der Gesellschaft als „Frauen wie Männer“ bezeichnet werden und betonen deshalb ihre weibliche Identität. Davon ausgehend entwickeln sie ein politisches „weibliches“ Programm, das sowohl Politikstil als auch politische Ziele umfasst. Dieser „weibliche“ Politikstil wird nicht nur von Politikerinnen in den Institutionen propagiert, sondern auch von einigen Frauen-NGOs. Wesentlicher Bestandteil hiervon ist die Ablehnung von „maskulinen Frauen“, die zunächst in der Geschichte der türkischen Republik die Vorstellung von Frauen in der Politik prägten. Frauen, die dem Typ „maskuline Frau“ entsprachen und entsprechen, waren und sind meist unverheiratet, kommen aus der oberen Mittel- bzw. Oberschicht und lehnen das politische Handeln gemäß einer „weiblichen Identität“ ab. Deshalb halten sie die Durchsetzung der juristischen Gleichstellung von Frauen für ausreichend und sind nicht bereit, als Lobbyistinnen gemäß ihres Geschlechts zu fungieren. Sie lehnen eine Verbindung zum Feminismus ab und „handeln in der Politik nach den gleichen Regeln wie Männer“.362 Ays¸ e Durakbas¸ a führt dieses Phänomen auf die Betonung der beruflichen Identität hochqualifizierter Frauen durch den Kemalismus in den Anfangsjahren der Republik zurück, wodurch deren private Beziehungen wie Heirat und Mutterschaft im öffentlichen Diskurs vernachlässigt wurden: kemalistische Frauen sollten „männliche“ Charaktereigenschaften haben, auch wenn die Privatsphäre weiterhin als „Frauensphäre“ galt.363
362 363
Vgl. Günes¸ -Ayata 1991, S. 197f. Vgl. Durakbas¸ a 1999, S. 143.
202
8 Politischer Wandel
Ein wichtiger Grund für die Versuche politisch aktiver Frauen, eine andere Vorstellung von „femininen Politikerinnen“ zu entwickeln, ist die Hoffnung, auf diese Weise das Interesse der Frauen für Politik zu erhöhen, nach dem Motto: „Auch die Politik kann von uns Frauen nach unseren Vorstellungen gestaltet werden“. Dazu gehört auch, dass Frauen für frauenspezifische Probleme und deren mögliche Beseitigung durch politische Prozesse sensibilisiert werden sollen. Sie sollen als Frauen „bewusst“ werden: Jede Frau ist nämlich auch nicht eine Frau. Als Geschlecht kann sie eine Frau sein, aber es gibt auch Frauen, die männlich sind mit ihren Gedanken, in ihrem Stil. Deshalb ist es nötig, dass bewusste Frauen entstehen. Leyla, Küçükdikili/ Adana
„Maskuline Frauen“ sind demnach blind für die Bedürfnisse „weiblicher Frauen“, die zur Zeit nicht in der „maskulinen Politik“ berücksichtigt wurden. Durch die negative Thematisierung „maskuliner Frauen“ wird das Ideal der „femininen Politikerin“ entworfen, die sich der benachteiligten gesellschaftlichen Position von Frauen bewusst ist. Bürgermeisterinnen, die diese Einstellung vertreten, sind in erster Linie die kurdischen DEHAP-Politikerinnen, doch auch diejenigen der türkischen Bürgermeisterinnen, die der Frauenbewegung nahe stehen, können hierzu gerechnet werden. Auch KADER fordert in seinen Veröffentlichungen eine „weibliche Politik“ und „feminine Politikerinnen“, die sich ihres Frauseins bewusst seien. Hayriye As¸ çıogˇlu von KAMER spricht ebenfalls von der Bedeutung solcher „bewusster“ Frauen, die feminine Politik praktizieren. Die Argumentation von linksorientierten Parteipolitikerinnen und Zivilgesellschafterinnen ist also sehr ähnlich. Doch auch Bürgermeisterinnen, die eher „individuell“ agieren, d. h. ohne Kontakt mit der Frauenbewegung, betonen ihre weibliche Identität als wichtigen Bestandteil ihrer Berufsauffassung, wie bspw. Lina und Aynur. Des Weiteren ist es gerade den Bürgermeisterinnen, die vor ihrem Politikerinnendasein als (nur-) Hausfrau und Mutter lebten, wichtig zu zeigen, dass sie weiterhin ihre Aufgabe im Haus und als Mutter erfüllen: Lina präsentierte stolz ihre Villa, die sie weiterhin allein putze, und ihre selbst gemachten Marmeladen und traditionelle Käsesorten, um klarzustellen, dass sie diese Arbeiten nicht vernachlässige. Hilal betonte gleichfalls, dass sie weiterhin die Hausarbeit angemessen erledige. Zeyniye zeigte ebenfalls voller Stolz ihr Haus und betonte, dass sie weiterhin gerade für die jüngsten Kinder sorge. Sezgin wiederum ist stolz darauf, „wie ein Mann“ sich zu verhalten: Ich sehe weder Vor- noch Nachteile (als Bürgermeisterin). Ich fühle mich wie ein Mann. D.h. ich fühle überhaupt keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Z. B. gehen die Männer ins Kahve, die Frauen können das nicht – so ein Problem habe ich nicht. Wenn ich will, wo ich will, zur Stunde, zu der ich will, gehe ich ins Kahve, trinke meinen Tee und unterhalte mich mit den Leuten. Egal, ob es Nacht ist, ob es nach 12 ist, ich mache mich auf den Weg ins Kahve. Ein Bürger hatte mich eingela-
8.2 Politikverständnis der Politikerinnen
203
den in den Garten zum Picknick, in der Nacht um 12, er macht ’ne Party für Männer, da gehe ich auch hin. Wenn er auch „Party machen“ sagt, da muss ich sagen, ich habe in meinem Leben noch keinen Alkohol getrunken. Ich unterhalte mich und lache. Deshalb habe ich keine Vor- und Nachteile gesehen. Ich habe mich überhaupt nicht zurückgezogen. Ich gehe überall hin. Sezgin, Karaçay/ Denizli
Ich vermute, dass sich auch „Typen maskuliner Politikerinnen“ unterscheiden lassen, da Sezgin nicht in das verbreitete Modell der „maskulinen Politikerin“ passt, das ich zuvor beschrieben habe; dass es gerade in der ländlichen Türkei Frauen wie Sezgin gibt, die zwar durch ihr Umfeld „weiblich sozialisiert“ wurden und dadurch Sensibilität für die Lebensrealität der Frauen entwickelt haben, sich aber als (ältere) Erwachsene eher zur „Männerwelt“ des Dorfes hingezogen fühlen364. In ähnlicher Weise wie Sezgin äußert Nurgül ihr Wissen um geschlechtsspezifische Diskriminierung – das in ihrem Fall auch noch reflektierter ist; wenn jedoch andere Bürgermeisterinnen über sie urteilen, „Sie ist doch wie ein Mann!“, lässt sich dies aufgrund ihres Äußeren nachvollziehen. Geschlechtersensible Politik und ein „maskuliner Politikstil“, der sich (in erster Linie) am äußerlichen Erscheinungsbild festmachen lässt, müssen also sich nicht ausschließen. Dennoch fällt auf, dass die Mehrheit der Bürgermeisterinnen eine weibliche Identität beschreibt und unterschiedliche Faktoren einer „femininen Politikerin“ betont, d. h. sie füllen den Begriff mit Vorstellungen aus ihren eigenen Erfahrungen und Umgebungen. 8.2.2
Das Ideal der Hausfrau und Mutter Sobald die Frau aufsteht, so ordnet sie alle Stellen, die nicht in Ordnung sind. Sobald der Mann aufsteht, so wirft er das eine hierhin, das andere dorthin, er wirft seine Kleider herum, er macht kaputt, er zerbricht. Die Frau aber sagt, sobald sie aufwacht, wo kann ich Ordnung schaffen? Sowohl in unserem Land als auch in der Welt braucht man den Verstand der Frau, den Geist der Frau, die Maßnahmen der Frau. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
Trotz der unterschiedlichen Biographien der Bürgermeisterinnen taucht immer wieder die Auffassung auf, dass Frauen bessere Bürgermeisterinnen wegen ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter innerhalb der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung seien. In dem obigen Zitat bringt Cihan nun zum Ausdruck, warum ihrer Meinung nach (Haus-)frauen politische Verantwortung übernehmen sollten: Weil sie aufgrund ihrer 364
Über die Gemeindevorsteherin Mediha Güngör von Dere Köyü im Kreis Fethiye wird berichtet, wie sie mit den männlichen Dorfbewohnern auf Wildschweinjagd ging. Dabei sei sie mit drei getöteten Wildschwein genauso erfolgreich wie die männlichen Jäger gewesen. Vgl. Hürriyet, 7. 2. 2000.
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8 Politischer Wandel
Rolle (ob der gesellschaftlichen oder natürlichen, bleibt hier unklar) für Ordnung sorgten im Gegensatz zum Mann, sollten Frauen auch die politischen Verhältnisse ordnen. Auch Aynur vertritt diesen Gedanken, bringt ihn in Zusammenhang mit der Idee weiblicher Selbstverwirklichung: Ich bin dagegen, dass eine Frau zu Hause sitzt. Eine Frau muss ihr Leben in die Hand nehmen, d. h. Bürgermeister kann auch eine Frau sein. Frauen können das auch viel besser machen. Denn im Haus machen die Frauen die ganze Arbeit. Aynur, Hasköy/ Us¸ ak
Einerseits wird so der kommunalpolitische Aufgabenbereich in Fortsetzung der geschlechtsbezogenen Arbeitsteilung definiert: die Kommune wird als Haus gesehen, für das die Frauen verantwortlich sind, so dass sie sogar bessere Kommunalpolitikerinnen seien, da sie Arbeiten in der lokalen Verwaltung als Fortsetzung des häuslichen Bereiches übernehmen. Andererseits betont Aynur die Bedeutung der Gestaltung des eigenen Lebens für Frauen und somit auch der Berufstätigkeit. Heidi Wedel bestätigt den Stellenwert der Hausarbeit aus Frauensicht im kommunalpolitischen Zusammenhang: So äußerten Gecekondufrauen die Erwartung an Muhtarkandidatinnen, dass diese gerade Qualitäten mitbringen, die aus ihren Erfahrungen als Hausfrauen abgeleitet werden können, wie Sparsamkeit beim Wirtschaften und sorgfältiges Arbeiten. Dies zeige, „dass Frauen auf ihre Ausfüllung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung stolz sind und diese zumindest hinsichtlich des Muhtaramtes nicht als minderwertig, sondern im Gegenteil als Qualifikation ansehen“365. Auch über die erste Bürgermeisterin der Türkei wird berichtet, sie habe selbst die Kanaldeckel in Mersins Straßen eigenhändig geputzt und für die Verstädterung Mersins gesorgt.366 Schließlich dient das Argument, dass Frauen für die Lokalpolitik aufgrund ihrer Fähigkeiten als Hausfrau geeignet seien, dazu, die häufig vertretene Sichtweise in Frage zu stellen, dass Frauen nicht politisch aktiv sein sollten, da die Politik ein schmutziges Geschäft sei, das in erster Linie der eigenen Bereicherung diene und von Korruption geprägt sei367 – dem gegenüber sei das Engagement als Frau in der Politik eine neue, saubere Aktion. Neben der Bedeutung der Hausfrauentätigkeit wird die Mutterrolle bei fast allen Bürgermeisterinnen herangezogen, um ihr Dasein als Bürgermeisterin zu legitimieren: 365
Wedel 1999, S. 213. „Türkiye’nin ilk kadın belediye bas¸ kanının öyküsü“, Hürriyet 11. 3. 2004. Müfide Ilhans Verbot an Mersins Küsten Gebäude mit mehr als drei Stockwerken zu bauen, wurde leider nicht beibehalten: „Wenn sie heute die Küste sehen könnte, würde es ihr Herz zerreißen“, kommentiert ihre Tochter Gül Önür. 367 Abadan-Ünat/ Tokgöz 1994. 366
8.2 Politikverständnis der Politikerinnen
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Der Mann denkt immer an sich selbst. Aber weil die Frau ein Mensch ist, der immer an ihre Familie, ihre Kinder, ihren Mann denkt, spreche ich über den Unterschied zwischen uns. Wenn (hier) ein Mann wäre, würde er nicht so sehr an die Bevölkerung denken. Aber weil ich Mutter bin, sehe ich immer die Bevölkerung von Sürgücü wie meine eigenen Kinder an. Zeyniye, Sürgücü/ Mardin
Die Bevölkerung der Gemeinde wird hier quasi zur Familie erklärt, die eine Frau als Bürgermeisterin brauche, die wie eine Mutter für die Gemeinde sorgen könne. Zeyniye als elffache Mutter zieht hier also als Begründung heran, was für ihr Leben nahe liegend ist: Wenngleich sie über keine formale Berufsausbildung und -erfahrung verfügt, kann sie durch ihre Erfahrung als Mutter (und auch als Hausfrau und Bäuerin) punkten: Als Frau denke ich so: Z. B. die Männer machen immer das Gleiche. Aber die Frauen wollen etwas für die Frauen machen. Immer so, wie die Mutter ihre Familie, ihr Kind schützt: wenn sie ihr Kind nicht schützt, weint dann nicht das Kind: Wenn das Kind eine Träne verschüttet, verschüttet die Mutter 1000 Tränen für das Kind. Ich schätze auch das Volk wie meine Familie. Ich zähle auch das Volk zu meiner Familie. Die Frauen, die Jugendlichen sind auch meine Kinder, d. h. sowohl die Mädchen als auch die Jungen. Sie sind beide meine Kinder. Das heißt, das Volk ist meine Familie. Wir sind wie ein fleischiger Finger. Wir können nicht so leicht voneinander abreißen. Deshalb kann ich sagen: Der Mann denkt immer an sich selbst, aber weil die Frau immer an ihre Kinder, ihre Familie, ihren Ehemann denkt, sehe ich auch diesen Unterschied zwischen uns. Wäre ein Mann hier, so würde er nicht in dieser Weise an das Volk denken. Aber weil ich eine Mutter bin, schätze ich das Volk von Sürgücü wie meine eigenen Kinder. Zeyniye, Sürgücü/ Mardin
Diese Strategie, die eigenen Qualitäten als Hausfrau und Mutter für die Lokalpolitik in den Vordergrund zu stellen, sollte vor dem Hintergrund einer konservativen, feudal geprägten Umgebung verstanden werden: Im öffentlichen Raum der kommunalen Politik müssen Frauen sich weiterhin in ihrer Rolle als Frau beweisen, die in der Gesellschaft integriert ist, d. h. in den Rollen, die Frauen in der privaten Sphäre leben können. Einige der Bürgermeisterinnen betonen ihre Fähigkeiten als gute Hausfrau innerhalb ihrer Familie und präsentieren sich als solche in der Öffentlichkeit der Kommune, d. h. sie rechtfertigen gewissermaßen ihre Präsenz als Frau in der Politik. Wenngleich die Selbstbezeichnung von Politikerinnen in der Türkei als „Mutter“ von Feministinnen scharf kritisiert wird368, denke ich, dass diese Handlungsweise nachvollziehbar ist, wenn wir sowohl die Biographien der Bürgemeisterinnen als auch ihre sozialen Umfelder im ländlichen Raum beachten: Die Bezeichnung als „Mutter der Gemeinde“ entspricht dem Selbstverständnis und dem vorherigen Leben vieler dieser gewählten Frauen, bspw. Cihans, Zeyniyes oder Linas. Des Weite368
Yes¸ ilyurt Gündüz 2002, S. 68.
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ren ist die traditionelle Rolle der Mutter in der ländlichen Türkei sehr positiv besetzt als „beziehungsstiftender, ausgleichender, erhaltender und stabilisierender (heimlicher) Mittelpunkt der Familie“369, eine Ausdrucksweise, wie sie im vorherigen Kapitel auch bspw. Gülcihan benutzte („Kern der Familie“). Durch die Legitimierung als „gute Frau“ durch die Verwendung des „Mutter“-Stereotyps können die Bürgermeisterinnen mitunter überhaupt erst frauendiskriminierenden Phänomene in der politischen Öffentlichkeit der Kommune thematisieren. Cihan erklärt jedoch auch ihr Selbstverständnis als „Mutter“ in Abgrenzung zu der Art und Weise, wie Männer bzw. Väter in der Gesellschaft sich verhalten – nämlich ohne Verantwortungsgefühl gegenüber ihren Familien und Kindern. Das nachfolgende Zitat verdeutlicht, wie die alltägliche Erfahrung mit den Unzulänglichkeiten der Männer die politische Einstellung als weiblicher Politikerin prägen: Sie (Die Männer in Kızıltepe/ in der Türkei?) akzeptieren das langsam, sie sehen und sagen, eine Frau ist besser als wir, sie ist selbstlos (opferbereit). Z. B. stirbt der Mann einer Frau, damit die Kinder keinen Schaden nehmen, heiratet sie nicht noch einmal. Sie geht, sie soll machen, was sie macht, sie sagt, ein (anderer) Mann kann meine Kinder nicht lieben. Ich will meinen Kindern das nicht antun. Wenn ein Mann zehn Kinder hat, nachdem er seine Frau weggejagt hat, vergehen nicht einmal sechs Monate, bis er eine neue Frau heiratet, aber diese Frau kann die Kinder nicht lieben. D. h. solche konkreten Sachen gibt es. Wir sagen: schaut, eine Frau ist so. Eine Frau ist so selbstlos, ihr seid so. sie akzeptieren das, es stimmt, sagen sie. Sowohl innerhalb des Hauses, z. B. wenn ein Kind krank ist, kann die Frau 24 Stunden bei dem Kind bleiben, aber der Mann geht nach draußen, ins Kahve, geht spazieren, er passt nicht auf das Kind auf. Er sagt: ich habe den Doktor geholt, das reicht, meine Aufgabe ist erledigt. Aber die Frau ist nicht so, sie teilt mit den anderen. Er akzeptiert das, okay, es stimmt, die Frau macht diese Aufgaben besser. D. h. das wird nicht nur gesagt, sondern so wird gehandelt. Wir sagen auch, wenn wir in der Verwaltung sind, werden wir Gerechtigkeit, Liebe, Teilen bringen. Unser Ziel ist, dass niemandem Schaden zugefügt wird. Jedem in gleicher Weise sein Recht einräumen. (…) Die Frauen teilen alles, mit ihrem Kind, ihrem Mann, ihren Freunden teilen sie. Sie lieben es sehr zu teilen. Z. B. wenn sie arm ist, geht sie und isst nicht, sie gibt es ihrem Kind. Sie zieht sich nicht (warm) an, sie friert, sie zieht dem Kind etwas an. Sie kauft keine Schuhe für sich selbst, sie kauft welche für ihr Kind, wir bezeugen das, wir gehen in ihre Häuser. Aber sie ist nicht wie der Mann, er sagt: ich kaufe mir erst Zigaretten, dann setz ich mich ins Kahve. Deshalb brauchen wir die Seele der Frau, wir alle. D. h. wir sollten „eine Frau“ sagen, nicht eine, die dem Mann ähnelt, so eine Frau will ich auch nicht. Aber eine Frau wie eine Frau möchte ich. D. h. nicht eine Frau wie ein Mann. Manche sagen doch, es gibt ein altes Sprichwort, sie sagen, so ist eine Frau wie ein Mann. Sie sagen, Cihan ist eine Frau wie ein Mann, ich sage dann: beleidige mich nicht. Ich möchte eine Frau sein wie eine Frau. Cihan, Kızıltepe/ Mardin 369
Herwartz-Emden 1995, S. 73; Sirman 1991.
8.2 Politikverständnis der Politikerinnen
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Cihan vertritt hier sehr anschaulich das Ideal der sich aufopfernden Mutter, deren hauptsächliche Tugenden, nämlich Teilen, Gerechtigkeit und Liebe ihrer Kinder und Familie die beste Voraussetzung sind, um eine bessere Verwaltung zu organisieren. Das gemeinsame Handeln müsse in der Kommunalpolitik durchgesetzt werden. Es sollte erwähnt werden, dass ihre Ausführungen nicht von natürlichen Geschlechtercharakteren ausgehen: Auch Männer könnten durchaus „weiblich“ sein, sie bezieht sich hier auf ihre Erfahrungen mit Männern ihrer Umgebung, d. h. den gesellschaftlich geprägten Rollen. Sowohl Männer als auch Frauen könnten also „weiblich“ bzw. „männlich“ sein. Ein „Weiblicher Politikstil“ entstehe zwar durch die Erfahrungen der Frauen, die im traditionellen Sinn ein „Frauenleben“ leben (d. h. für die Familienarbeit zuständig sind). Sowohl Männer als auch Frauen, die im herkömmlichen Sinn Politik, d. h. „männliche Politik“ machen, werden abgelehnt. In der Türkei wurden traditionell lediglich Nichtmütter Politikerinnen. Ich vermute deshalb, dass die Betonung des Mutterseins heutzutage einerseits strategisch ist, da auf diese Weise überhaupt erst Mutterschaft und ein Leben als Politikerin vereinbar wird. Diese Strategie würde die Inklusion der Mehrheit der Frauen in die Gesellschaft bedeuten durch eine Rolle, die zentral für ihre Anerkennung in der Gesellschaft ist. Wenngleich die Betonung der Mutterschaft häufig jedoch darin resultierte, dass Frauen auf häusliche und soziale Themen fokussiert bleiben, so zeigt sich bei den Kommunalpolitikerinnen, dass die Herausforderung darin liegt, in beiden Bereichen, d. h. auf „weiblichen“ und „männlichen“ Gebieten erfolgreich zu sein. Auch wenn rhetorisch die Bürgermeisterinnen ihre sozialen und familiären Rollen betonen, agieren sie gleichzeitig in „männlichen“ Feldern. Dennoch – was Nikki Craske in Bezug auf Frauen und Politik in Lateinamerika feststellt, ist sicher auch für die Türkei richtig: Obwohl Mutterschaft bestimmte Formen der politischen Aktion von Frauen unterstreichen kann, gibt es keine direkte Verbindung zwischen Mutterschaft und einer bestimmten politischen Agenda, politischen Aktionen und Ideologien: Mutterschaft determiniert nicht Fraueninteressen innerhalb traditioneller politischer Diskurse wie links-rechts, progressiv-reaktionär. Ähnlich wie in Lateinamerika praktizieren Parteien und Regime aller politischer Richtungen die Idealisierung der Mutterschaft. Diese Idealisierung der Mutterschaft tendiert jedoch dazu, die Erfahrung der Mutterschaft zu essentialisieren, sie als „Schicksal“ der Frauen zu sehen, und verstärkt wieder die Verbindungen von Frausein und sozialer Reproduktion.370 Gleichzeitig argumentieren gerade auch Vertreterinnen der Frauenbewegung mit der Bedeutung der Mutterschaft in der für Frauen spezifischen Lebenswelt und folgern daraus ein anderes Politikverständnis von Frauen. 370
Craske 1999, S. 5f.
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8 Politischer Wandel
Auch die jungen, meist unverheirateten Bürgermeisterinnen erwähnen zwar in der Regel die Bedeutung der Mutter- und Hausfrauenrolle der Politikerinnen für die Kommunalpolitik, unterstreichen dies aber nicht mit der Vehemenz der „erfahrenen“ Mütter und Hausfrauen. Schließlich haben Gülcihan oder Fatma, die weiterhin bei ihren Familien leben, (weibliche) Verwandte, die sich um den Haushalt kümmern. Rojda als jung verheiratete schwangere Politikerin wiederum lässt sich ausgiebig darüber aus, dass Männer nicht zur Kinderbetreuung taugten: Sie würden höchstens mal mit den Kindern spielen, wollten aber nicht für die kontinuierliche Sorge verantwortlich sein. Dieses Thema, das ihr also gerade wichtig ist, überträgt sie ihrerseits auf einen „weiblichen Politikstil“. Doch auch „Karrierefrauen“ wie Gülcihan und Fatma bekennen sich zu „weiblichen Tugenden“, die sie für die (Kommunal-)politik geeigneter machten als Männer: Frauen sind natürlich viel emotionaler, von Natur aus. Wenn jemand kommt und seine Sorgen erzählt, können wir demgegenüber nicht unberührt bleiben. Wenn ich nach Hause gehe oder im Bett bin, kommt mir das wieder in den Sinn. Was soll ich da nur machen, denke ich. Eine Sache, die von Natur aus kommt, es liegt in der Natur der Frauen. Ich finde, daß Frauen für das Bürgermeisteramt passender sind. Frauen verstehen sich besser durchzusetzen. Sie sind erfolgreicher. Und sie halten eher ihr Wort. Fatma, Yes¸ ilköy/ Hatay
Die Frage stellt sich, wie diese „natürlichen“ Charakteristiken, die Fatma Frauen zuweist, zu erklären sind. Während Emotionalität meist Frauen zugerechnet wird, mögen die Merkmale Durchsetzungsvermögen und Worttreue zunächst erstaunen. Ich vermute, dass Fatma hier im Kopf hat, wie sie selbst versucht, ihre Arbeit und ihre Pflichten zu erfüllen: Die Probleme, die die Menschen in Yes¸ ilköy ihr gegenüber äußern, lassen sie nicht kalt, aufgrund ihres Wunsches, die soziale Lage der Menschen zu verbessern, denkt sie hierüber selbst „im Bett“ noch nach. Dann setzt sie alles daran, die Probleme zu lösen und will den Menschen gegenüber, die zu ihr kamen, nicht wortbrüchig werden. Dass sie diesen „Fatma-Stil“ nun als „weiblich“ bezeichnet, könnte damit zu tun haben, dass zuvor die Bürgermeister eher auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren – ein Vorwurf, der häufig zu hören ist, sowohl von derzeitigen PolitikerInnen als auch von „einfachen“ Menschen. Neben weiblichen Tugenden wie Ehrenhaftigkeit, Gerechtigkeitssinn, Gewissenhaftigkeit, Verantwortlichkeit, ökologisches Bewusstsein wird gerade von den kurdischen Politikerinnen auch Friedfertigkeit genannt: Ich sagte ja, die Demokratie im Land, die Bewahrung der Menschenrechte, die Bemühungen, den Krieg zu verhindern, die Frauen können dies besser entwickeln, Frauen sind sensibler. In den Kriegen haben die Frauen viel mehr getrauert, sie haben viel mehr gelitten. Mukaddes, Dogˇubeyazıt/ Agˇrı
8.2 Politikverständnis der Politikerinnen
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NGO-Frauen äußern wiederum Skepsis gegenüber dem „Frauenbewusstsein“ der Bürgermeisterinnen: In die Kommunalverwaltung und ins Parlament sollten mehr Frauen gewählt werden. Z. B., wenn es 500 oder 600 Abgeordnete gibt, sollte davon die Hälfte Frauen sein. Aber diese Frauen sollten die Frauensicht haben, nicht wieder wie Männer, nicht schlimmer als die Männer. Frauenbewusste Frauen, mit weiblichem Stil, die drin sind in den Frauenproblemen. Gibt es jetzt solche Frauen? Bislang sehe ich solche nicht. Es gab eine Ministerpräsidentin. Damals haben wir uns überlegt, ob etwas passieren könnte, aber es ist gar nichts passiert. Wenn man in der Türkei auf die Frauen in der Kommunalpolitik blickt – das ist schon sehr wichtig, aber sie bleiben nur Namen. Im Parlament gibt es Frauen, aber sie bleiben nur Namen. Aber wenn sie keine Frauensicht haben, wenn sie nicht mit Frauenproblemen beschäftigt sind, dann ist es für uns unwichtig, ob sie da sind oder nicht. Wenn sie richtig für Frauenmenschenrechte und sensibel für Frauenprobleme wären, so wäre das sehr wichtig. Aber die Bürgermeisterinnen sagen das gleiche. Ja, das haben wir auch gehört. Aber wenn man so schaut, dann bleibt das Sprache und Stil. Wir hoffen halt, das es noch wird. (lacht) Hayriye, KAMER/ Diyarbakır
Hayriye als Repräsentantin eines Frauenzentrums, das Unabhängigkeit und Aktivitäten für unterdrückte Frauen zu seinen Grundsätzen erklärt hat, äußert hier also große Skepsis gegenüber den Frauen, die sich in der institutionellen Politik etabliert haben. Dabei muss allerdings in Betracht gezogen werden, dass das Frauenzentrum KAMER im seinem lokalen Umfeld wegen seiner Absicht, sich nicht für kurdische Angelegenheiten, sondern einzig allein für frauenspezifische Ziele einzusetzen, großer Kritik ausgesetzt ist. Insofern distanziert sich Hayriye also von Politikerinnen, die durch Parteien in Ämter gelangen konnten, fordert aber gleichzeitig auch geschlechtersensible Politiken in den Institutionen, durch Frauen, die frauenspezifische Lebenserfahrung haben, d. h. die aufgrund von Unterdrückungserfahrungen sensibilisiert sind für die Problembereiche, die Frauen in der Gesellschaft der Türkei benachteiligen. Fatma Nevin Vargün als KADER-Aktivistin und DEHAP-Aktivistin äußert sich insofern verhaltener: Das gilt nicht für alle (d. h. die Praktizierung eines weiblichen Politikstils). Ich sage ja, wenn du in eine politische Einrichtung mit Frauengedanken und Frauenaktivitäten kommst, dann denkst du so. Im Grunde genommen sind die Frauen nicht alle friedlich. Aber wenn du eine Philosophie, eine Ideologie hast, wenn es das innerhalb deiner Ideologie gibt, kannst du so denken. Ein wenig ein feministischer Blickwinkel ist sehr wichtig. D. h. in der Türkei ist ein feministischer Blickwinkel nichts, was in jeder entwickelt ist. In den politischen Parteien werden maskuline Frauen eher akzep-
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8 Politischer Wandel
tiert. (…) Jedoch erleben die Frauen in der Türkei sehr viel Unterdrückung. Deshalb ist ein feministischer Blickwinkel sehr wichtig, um das zu ordnen. ….. natürlich haben die Frauen nicht diese Erfahrung, sie kamen nicht an die Macht. Nachdem das so war, wollen wir nun aber nicht die Macht wie die Männer. D. h. nachdem das so war, gibt es heute keinen Sinn zur Kritik. Um als Frau eine umfassende, die Frau betreffende neue Politik und Sprache zu begründen, sind Menschen nötig, die das behaupten. In der DEHAP gibt es das ein wenig, aber du kannst nicht sagen, dass das in allen Parteien existiert. Aber zweifellos sind die Frauen aus gesellschaftlichen Gründen gemessen an den Männern wirklich viel gerechter. Zum Beispiel am einfachsten, im alltäglichen Leben, lösen andere Bürgermeister einige Arbeiten am Stammtisch. In der Türkei wird so die Politik gemacht. Auch wenn die Frauen das wollten, könnten sie es nicht machen. Sie versucht, zu Hause den Haushalt auf ökonomische Weise zu managen, in der Türkei sind die Frauen so. Das wird dann in die Kommunen reflektiert. D. h. die Ausgaben sind geringer, transparenter, sie schrecken vor Korruption zurück. Bei diesen Punkten ist es wirklich nötig, dass Frauen da sind, um gute Zustände zu schaffen. Fatma Nevin Vargün, KADER/ Ankara
Hier wird deutlich, wie unter den „feministischen Blickwinkel“ auch ein spezifisch weiblicher Politikstil gefasst wird, der aus den gesellschaftlichen Realitäten sich entwickelt habe: Fatma bestätigt hier die „Hausfrauenfähigkeiten“ für das kommunale Management mit dem Ziel, „bessere Politik“ zu praktizieren.
8.3
Frauenpolitik in der ländlichen Türkei „Kadın temsili arttıkça siyasetin kalitesi de artacaktır.“ 371 Je größer der Anteil an Frauen ist, umso höher steigt die Qualität der Politik.
In vielen Interviews und Dokumenten wird immer wieder als Ziel die Durchsetzung einer „Frauenpolitik“ genannt. In diesem Zusammenhang verwenden die Interviewten in der Regel drei Stichworte: Frauenbewegung und Vernetzung, frauenspezifische Themen (Gewalt gegenüber Frauen, Armut) und lokale Politisierung von Frauen. Alle drei Bereiche bedingen und ergänzen dabei einander: Es geht um die Sichtbarmachung der Themen durch eine Frauenvertretung sowohl auf lokaler als auch türkeiweiter Ebene. Einerseits wird die Aktivierung von lokalem Wissen und die Akzeptanz von regionalen Besonderheiten für eine frauengerechte Lokalpolitik verlangt, andererseits soll durch die Einbeziehung der türkeiweiten Frauenbewegung die Verbreitung feministischer Diskurse auch in die ländliche Türkei gewährt werden. 371
Özlem Müftüogˇlu (Gaziantep S ¸ ahinbey/ Kommunalversammlungsmitglied) und Adısın Karakus¸ (S ¸ ehitkamil/ Kommunalversammlungsmitglied) in „Siyasette daha çok kadın olmalı“, von Ays¸ e Döner, 17. 12. 2004, www.ucansupurge.org.
8.3 Frauenpolitik in der ländlichen Türkei
211
Während der zuvor dargestellte „weibliche Politikstil“ das „Wie“ des politischen Handelns bzw. den Anspruch der Art und Weise dessen umschreibt, beinhaltet die Erwähnung von Frauenpolitik das „Was“, das Inhaltliche: eine bestimmte Sichtweise, was in der lokalen Gemeinschaft als „frauengerechte Politik“ entfaltet werden könnte, beinhaltet konkrete Vorstellungen eines politischen Programms, das in erster Linie an Frauen adressiert ist. Hierzu gehört die Schaffung einer frauengerechten Kommune, die Thematisierung der Unterdrückungsmechanismen gegenüber Frauen sowie die Mobilisierung gegen solche Traditionen, die Vernetzung mit NGOs auf lokaler Ebene und die Politisierung von Frauen sowie die Erhöhung des Frauenanteils in der Kommunalpolitik. 8.3.1
Frauenbewegung auf dem Lande
Ein wichtiges Thema, das unter politisch aktiven Frauen diskutiert wird, ist das Problem, dass die Frauenbewegung sich auf die Städte konzentriert, insbesondere auf die Metropolen, und dass in kleineren Orten meist wenig Verständnis, geschweige denn das Bedürfnis für eine Organisation unter Frauen geäußert wird. Vielerorts wird betont, dass die soziale Organisation in der jeweiligen Region „anders“ sei, d. h. „anders“ als in Europa bzw. als in den Metropolen. Frauen betonen ihre Akzeptanz der Unterordnung gegenüber ihrem Mann, sie verteidigen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, ihre Rolle als Mutter und Hausfrau und ihr politisches Desinteresse. Politik solle dem Mann überlassen bleiben wie auch die Repräsentation in der Öffentlichkeit. Allerdings verweist Emine I˙ncirliogˇlu auf die Arbeitsbelastung von Dorffrauen, die deren politisches Engagement unmöglicht mache.372 Zehra Arat hält deshalb die Ausdehnung der Frauenbewegung in ländliche Gebiete für unmöglich: Selbst wenn einige der feministischen Aktivitäten sich dorthin ausweiteten, so sei fraglich, dass Frauen sich verbinden und miteinander kommunizieren könnten373. Gerade im Westen wird die Existenz von Gewalt gegenüber Frauen häufig geleugnet und als Problem des Ostens bezeichnet. Dies wird bspw. an dem geäußerten Unverständnis westtürkischer Politikerinnen bzgl. der Forderung nach der Einrichtung von Frauenhäusern deutlich. Die Auffassung einer nicht selten vermeintlichen fortgeschritteneren Entwicklung der westtürkischen Gesellschaft verstellt den Blick auf Defizite hinsichtlich der Situation westtürkischer Frauen. Unter kurdischen AkVgl. I˙ncirliogˇlu 1999. Sie dokumentiert den Fall einer Islamistin, die in das Dorf, in dem sie forschte, kam, um die Dorffrauen für die islamistische Bewegung zu aktivieren. Diese reagierten jedoch mit Zurückweisung angesichts ihrer Arbeitsbelastung. 373 Vgl. Z. Arat 1999, S. 30. 372
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tivistinnen wiederum kursiert die Auffassung, dass aufgrund einer traditionellen Wertschätzung der Frauen innerhalb der kurdischen Gesellschaft sie in einer weit fortschrittlicheren Position als türkische Frauen seien. Auch diese Sicht tendiert dazu, frauendiskriminierende Praktiken zu leugnen. Politische Aktivistinnen wie Fatma Nevin Vargün und Hayriye As¸ çıogˇlu beklagen dabei, dass betroffene Frauen auf diese Weise nicht merkten, dass sie unter bestimmten Problemen zu leiden hätten und dass sie Opfer der Gewalt und der männlich dominierten Diskurse würden. Deshalb müssten Frauen in der Lokalpolitik aktiv werden, die fähig sind, andere Frauen auf Missstände aufmerksam zu machen. Hier zeigt sich also gleichermaßen, dass es den politisch aktiven Frauen der Frauenbewegung nicht um eine rein quantitative Erhöhung des Frauenanteils geht, sondern um feministisch bewusste Frauen, wobei unter „feministisch bewusst“ verstanden wird, dass eine Politikerin gegen das „männliche Herrschaftssystem“ und Unterdrückungspraktiken gegenüber Frauen Gegenstrategien entwickelt. Auf diese Weise könne sie diejenigen Frauen vertreten, die eigentlich aktiv werden wollen, aber aufgrund ihrer sozialen Lage es nicht können.374 Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Organisationsweise der Frauenbewegung bzgl. der Ausdehnung in periphere Landesteile. Wenngleich die Frauenbewegung in der Türkei häufig als nicht besonders stark bezeichnet wird, ist sie insofern sehr erfolgreich, da sie sich aus sehr verschiedenen Gruppierungen zusammensetzt, die in Form von Plattformen, Tagungen, Projekten miteinander einen Dialog pflegen. Fatma Nevin Vargün erkennt gerade hierin eine Perspektive, wie ein Modell partizipativer Demokratie entwickelt werden könne. Da Frauen durch diese Vernetzung mit anderen Aktivistinnen der Pluralität der (frauenspezifischen) Gesellschaft bewusst würden, lernten sie, einander vor dem Hintergrund der geteilten Unterdrückungserfahrung als Frau füreinander Solidarität zu entwickeln. Dass dadurch „der Raum für mehr Demokratie“ geöffnet werde, bedeutet letztendlich ein Verständnis von Demokratie als Auseinandersetzung unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Sie erklärt hierbei ausdrücklich, dass gerade auch Frauen aus ländlich geprägten Landesteilen einbezogen werden müssten. Unter diesen Frauen gebe es bereits gravierende Veränderungen: Vor allem in den kleinen Ortschaften im Osten und Südosten entwickelten die Frauen Selbstvertrauen, was sich in erster Linie durch die vermehrte Präsenz der Frauen außerhalb des Hauses zeige. Der Schritt aus dem Haus hinaus auf die Straße sei der Schritt zur Überwindung des bestehenden Geschlechterverhältnis. Der zweite Schritt bestehe darin, als Frauenbewe374
Es sollte betont werden, dass gerade Frauen wie die Aktivistinnen in KAMER bzw. gerade in den kurdischen Gebieten nicht als „Mittelschichtsfeministinnen“ bezeichnet werden können, sondern meist sich aus traditionellen Lebensumständen lösen mussten.
8.3 Frauenpolitik in der ländlichen Türkei
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gung, als Frauenorganisationen diese Frauen zu unterstützen, und zwar direkt an den Orten, in den Straßen, in den Vierteln, wo Frauen die ersten Schritte unternehmen können: Frauenaktionen sollten „auf den Spuren der Frauen gehen“, d. h. sie sollten mit den jeweiligen Frauen je nach deren Situation abgestimmt werden. Schließlich ist die lokale Verwaltung gefragt, diese Entwicklungen zu begleiten und nötige Hilfestellungen zu leisten. Im Folgenden möchte ich an zwei Beispielen zeigen, wie von Seiten der Frauenbewegung versucht wird, die Zusammenarbeit zwischen Kommunalverwaltung und Frauenorganisationen aufzubauen: Im ersten Beispiel geht es darum, wie die NGO KADER Frauen in der Kommunalpolitik versucht zu unterstützen zur Schaffung einer geschlechtersensiblen Politik. Im zweiten Beispiel geht es darum, wie das Frauenzentrum KAMER versucht, durch ein Netzwerk von eigenen Gruppen, Kommunalverwaltung und Bevölkerung Frauen zu schützen, die durch Ehrenmord bedroht werden. 8.3.2
Frauen in der Lokalpolitik und die Frauenbewegung
Eine recht neue Entwicklung im Rahmen der türkeiweiten frauenpolitischen Aktionen ist das Projekt „Yarın için bugünden“ der NGO KA-DER, das zum Ziel hat, die Bürgermeisterinnen der Türkei in die Frauenbewegung mit einzubinden, sie zu organisieren, zu unterstützen und nicht zuletzt mit feministischen Zielen vertraut zu machen. Seit Dezember 2003 finden in regelmäßigen Abständen Treffen für alle Bürgermeisterinnen der Türkei statt, die von der „Arbeitsgruppe Lokalpolitik“ der NGO KADER organisiert werden375. Die „Arbeitsgruppe Lokalpolitik“ wurde auf Initiative der KADER-Abteilung in Ankara im Zusammenhang mit den nationalen Wahlen am 3. November 2002 gegründet, da die Lokalwahlen nur ein Jahr später stattfinden sollten. Sie setzt sich aus Frauen unterschiedlicher Organisationen und mit verschiedenen ideologischen Hintergründen zusammen. Vor den nationalen Wahlen am 3. 11. 2002 war eine Frauenkoalition gegründet worden, die versucht hatte, die Entscheidungsmechanismen aller politischer Parteien und ihre Parteizentralen zu beeinflussen, indem sie sich mit den Parteichefs traf, um zu erreichen, dass mehr Kandidatinnen aufgestellt würden. Dennoch konnten am 3. November weder KA-DER noch die Frauen in der Türkei an sich einen Erfolg erzielen: Es wurden lediglich 24 Frauen ins Parlament gewählt. Vor den Lokalwahlen am 28.3.2004 wurden Broschüren und Bücher hergestellt, die über die Bedeutung der Wahl von Frauen aufklären und diese zur aktiven Teil375
Vgl. Interview mit Fatma Nevin Vargün, KA-DER-Zentrale Ankara. Außerdem: Kadın Bas¸ ımıza 2005.
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nahme bewegen sollten. Die Aktion wurde in der ganzen Türkei durchgeführt und von den Frauenkommissionen der verschiedenen Parteien unterstützt. Veranstaltungen wurden durchgeführt, die sich mit Fragen beschäftigte wie: Warum muss in der Lokalpolitik die Frau vertreten sein? Warum muss die Lokalpolitik sich mehr um die Frauen kümmern? Während des Wahlkampfes wurde ein Büro eingerichtet, um Frauen, die Hilfe und Unterstützung wollten, diese zu geben. Auch wenn türkeiweit die Gruppe wenig Stärke besaß, so wandten sich in Ankara selbst eine Reihe von Muhtar-Kandidatinnen an das Büro. Wegen des kurzen Zeitraumes zwischen der Gründung der Arbeitsgruppe Lokalgruppe von KADER und den Lokalwahlen sowie wegen der mangelnden Ressourcen konnten im Wahlkampf nur einige Bürgermeisterkandidatinnen unterstützt werden. Es wurden zwar Seminare angeboten, jedoch konnten Kandidatinnen vor Ort nicht mit Unterstützung rechnen. Dies führte mitunter zu Irritationen: Eine Bürgermeisterin erzählte, sie habe KADER während des Wahlkampfes um ideelle Unterstützung gebeten, jedoch nicht erhalten. Erst nach dem Wahlkampf habe KADER sie in die Zusammenarbeit mit einbeziehen wollen. Die Wahl am 28. März wurde für die Arbeitsgruppe eine empfindliche Niederlage. Nur wenige Frauen wurden gewählt. Das Projekt „Yarın için bugünden“ sieht vor, dass sich etwa alle drei Monate Angehörige von KADER und die Bürgermeisterinnen in einer ihrer „Heimatkommunen“ treffen, um einerseits die jeweiligen Regionen, Gemeinden und deren spezifische Probleme kennen zu lernen, andererseits, um gemeinsam über Probleme, Vorhaben und Erfahrungen sich auszutauschen. Die Bürgermeisterinnen äußerten sich überwiegend positiv über die Treffen von KADER. Erstaunlicherweise meinen einige, dass eigentlich die Parteien sich nicht grundlegend unterscheiden, da alle letztendlich darum bemüht seien, sich um das Wohl der Gemeinden zu kümmern, die Identität als Frau sehr viel wichtiger sei und sie als Frauen letztendlich die Parteigrenzen überwänden: Das, was wir denken und teilen, ist gleich. Ich denke, im Grunde genommen sind die Parteien und Programme gleich. Das einzige Ziel aller Parteien ist, den Menschen zu helfen, den Menschen zu dienen, Ruhe und Wohlstand zu geben und das Land entwickeln zu lassen. Fatma, Yes¸ ilköy/ Hatay
Zeyniye bringt zum Ausdruck, dass sie gerade als Frauen sich solidarisieren, dass Grenzen vielmehr zwischen Frauen und Männern verlaufen: Wir müssen uns einander unterstützen, weil wir Frauen sind. Wir brachten dort die Partei überhaupt nicht auf die Tagesordnung. Denn wir sind alle einzelne Frauen. Alle Freunde, die kamen, waren Frauen, es gab überhaupt keine Männer. Deshalb haben wir solch einen Dialog entwickelt, wir konnten uns so einander wärmer begegnen. Zeyniye, Sürgücü/ Mardin
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Andere wiederum betonen, dass es zwar sehr wohl Unterschiede gebe, gerade auf ideologischer Ebene, dass die Treffen aber dazu dienten, durch das gegenseitige Kennenlernen die Unterschiede zu überwinden und Vorurteile zu vermeiden. Leyla drückt aus, wie trotz der regionalen Unterschiede und der unterschiedlichen Parteien die Schaffung einer gemeinsamen Frauenpolitik und geteilter Solidarität im Vordergrund steht: Natürlich gibt es Unterschiede, unterschiedliche Gedanken, es ist unmöglich, dass eine AKP-Frau wie eine DYP-Frau oder wie wir denkt. Aber wir sehen die Unterschiede in unseren Gedanken, wir brechen die Vorurteile, wenn wir uns einander kennen, aber natürlich gibt es Unterschiede. D. h. mit unserem Blickwinkel auf das Demokratieproblem unterscheiden wir uns natürlich vom Blickwinkel auf Demokratie seitens der AKP und einer Giresunlu. Aber wir müssen darauf zu sprechen kommen, um die Unterschiede zu beseitigen. Wenn wir nicht darüber sprechen, entwickeln sich unsere Unterschiede zu Vorurteilen. Deshalb sind die Treffen, die KADER organisiert, sehr wichtig. Denn dorthin kommen Frauen aus allen Parteien. Aber auf dieser Versammlung wurde deutlich: das Frauenproblem in Izmir ist anders, in Adana ist es anders, an der Schwarzmeerküste ist es anders. Wir sagen, egal, aus welcher Partei wir sind, lasst uns für die Frauen Projekte entwickeln. Lasst uns das Leben der Frauen erleichtern. Egal, welche Partei das macht, wir respektieren das. Wir müssen als Bürgermeisterinnen das als Grundlage machen. Wir haben dort unsere Aktivitäten nach einem Jahr bewertet, alle waren sehr zufrieden. Das, was ich gemacht habe, ließ die Giresuner Bürgermeisterin sagen: ah, das kann ich auch machen. Alle haben dort etwas gesehen, wir müssen mit diesen Versammlungen weitermachen. Leyla, Küçükdikili/ Adana
Nurgül schildert, wie die Treffen langsam überhaupt ermöglichten, einen Dialog zu entwickeln: Während des ersten Treffens in Ankara hätten alle noch im Rahmen ihrer Parteizugehörigkeit argumentiert, es habe dabei schwierige Diskussionen gegeben. Beim zweiten Treffen in Foça seien sie schon viel freundlicher miteinander umgegangen. Nurgül ist überzeugt, dass es ihnen gelingen wird, im Laufe der Zeit die Parteigrenzen zu überwinden und dass Frauen eher fähig sind, politische Probleme zu lösen, da sie nicht wie Männer bei informellen Treffen anhand klientelistischer Strukturen politische Entscheidungen träfen. Ein zentraler Effekt der Treffen ist nicht nur, dass sich überhaupt Politikerinnen aus unterschiedlichen Regionen treffen, sondern in erster Linie nehmen die Teilnehmerinnen diese Treffen als Ost-West-Begegnungen wahr. Ein entscheidendes Ziel der Treffen ist also, durch die Begegnungen zwischen Kurdinnen und Türkinnen, westlichen und östlichen Politikerinnen einen Schritt hin zu Frieden, zu gesellschaftlicher Aussöhnung zu erreichen. Fatma zum Beispiel äußert sich entsetzt über die Zustände von Frauen im Osten, die ihre Kolleginnen ihr schildern:
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Ich bin traurig, aber – als Frau bin ich traurig. Im Endeffekt ist es egal, ob das nun im Osten ist oder in Europa. Bei uns arbeiten die Frauen auch auf dem Feld, gehen putzen, waschen zu Hause die Wäsche ihres Mannes, machen das Essen. Aber so, wie das, was meine Freundinnen aus dem Osten erzählen, so wird hier bei uns nicht unterdrückt. In?allah wird überall alles in Ordnung gebracht werden. Fatma, Yes¸ ilköy/ Hatay
Nurgül wiederum betont, dass selbst in Izmir die Situation für Frauen bis vor kurzem nicht anders als im Osten war: Natürlich gibt es in der Türkei die Realität des Südostens. Es gibt vielleicht Rückständigkeit. Wir sind bzgl. dieser Bedeutung ein wenig im Vorteil. Aber auch in Izmir, einer modernen Stadt, konnten die Frauen vor zwölf Jahren nicht auf die Straße gehen. Das war ein ernstes Problem. In der Türkei gab es überall dieses Problem. Wir mit unserem Verhalten, unseren Anstrengungen, mit allem schufen wir ein Modell. Ich habe für meine eigene Region ein Modell geschaffen. Nurgül, Seyrek/ Izmir
Sie drückt damit aus, wie trotz der spezifischen Problematik im Südosten in der ganzen Türkei Frauen gleichermaßen von der Geschlechtertrennung betroffen sind und wie aktive Frauen es schafften, türkeiweit dies zu bearbeiten. Sie drückt damit aus, worum es letztendlich für die gewählten Frauen geht: Dass aufgrund der gemeinsam geteilten Erfahrung als Frau versucht wird, einen anderen gesellschaftlichen Konflikt, nämlich den türkisch-kurdischen Konfliktzu überwinden. Es ist ein sehr großer Schritt, dass sich Politikerinnen aller Parteien und aller Regionen zusammensetzen und dies als mögliche Lösung für diesen Konflikt interpretieren; dass sich türkische Politikerinnen mit kurdischen Politikerinnen treffen, denen immer wieder auch Zusammenarbeit mit der PKK vorgeworfen wird; dass kurdische Politikerinnen ein Stück weit die Problematik der geschlechtsspezifischen Unterdrückung über die Problematik der erlebten ethnischen Unterdrückung stellen. Gülcihan betont die Verbindung von Partizipation von Frauen, Frauenbewegung und einer fortschrittlichen Frauenpolitik: Sie erkennt einen weiteren Prozess des Sich-Organisierens, die Wandlung zur Bewegung, die darauf gerichtet sei, dass Frauen in der Politik Raum einnehmen und die Probleme, die in der Politik erlebt werden, gelöst werden – an erster Stelle natürlich der Kurdenkonflikt. Sie nennt also zwei Ziele, für die eine „neue“ Frauenbewegung sich organisieren sollte: Die politische Partizipation von Frauen und die Lösung des Kurdenkonflikts. In diesem Zusammenhang stünden die gemeinsamen KADER-Treffen. Dass die Hälfte der Bürgermeisterinnen Kurdinnen sind, sieht sie als Vorteil: Auf diese Weise gewinne die benachteiligte Gruppe mehr Gewicht, die Kurdinnen erhielten so mehr Kraft, den Türkinnen ihre Anliegen, ihre Sichtweisen, ihre Kultur zu verdeutlichen. Gülcihan sieht die KADER-Treffen als einen Anfang dafür, dass Frauen sich zusammenschließen, an Stärke in der Politik gewinnen und durch die geteilte Erfahrung als
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Frauen auch den kurdisch-türkischen Konflikt überwinden zu können. Wegen der geteilten Sensibilität für geschlechtsspezifische Diskriminierung vermutet Gülcihan eine erhöhte Sensibilität für andere Formen der Diskriminierung, wie etwa ethnische und kulturelle Diskriminierung. Trotz aller Bemühungen zeigt sich allen Beteiligten immer wieder, wie schwer es ist, die andere Seite zu verstehen und den Konflikt zu überwinden. „Frauenpolitik“ beschreibt dabei nicht zuletzt einen Diskurs, der es ermöglicht, als Frauen der bisherigen Politik der Gewalt und der Grenzziehung „etwas anderes“ entgegenzusetzen. Es geht dabei weniger um biologische Festschreibungen als vielmehr den Versuch, die ost-westliche „heimliche“ Grenzziehung zu überwinden. Die Verschiedenheit der Politikerinnen wird andererseits im Diskurs innerhalb der Vernetzungsstruktur ein Stück weit vernachlässigt, da der gemeinsame „Frauencharakter“, die „Natur der Frau“ zur treibenden Kraft für eine Veränderung des Systems erklärt wird. Des weiteren sollen dadurch Lagerbildungen aufgehoben werden. Wenngleich bis zur Parlamentswahl 2007 KA-DER quantitativ wenig Erfolg hatte und es der Organisation nicht gelang, den Anteil an Frauen in politischen Ämtern entscheidend zu erhöhen, wird ihr sowohl von den Politikerinnen als auch von wissenschaftlicher Seite her zugeschrieben, Frauen mit unterschiedlichen Hintergründen zu vereinen und somit den Grundstein für die gesellschaftliche Aussöhnung gegensätzlicher, mitunter verfeindeter Gruppen zu legen – hierzu gehören auch die Treffen der Lokalpolitikerinnen: “Perhaps the main achievement of KA-DER lies in the part it has played in the introduction of the idea that bridges could be built among women across ideological and political differences. Although this is not yet an established fact, it certainly opens up new possibilities for Turkish politics.” 376
Auf diese Weise versuchen KADER und die Lokalpolitikerinnen, die Zusammenarbeit unterschiedlicher Frauengruppen, die bzgl. anderer Themen schon existiert, bislang jedoch eher auf die Metropolen beschränkt war, für die Lokalpolitik zu entwickeln, neue Verbindungen zwischen peripherer Kommune und städtischer Frauenbewegung aufzubauen, d. h. zwischen kommunalpolitischem System und türkeiweit agierender Frauenorganisation. Indirekt äußern einige Bürgermeisterinnen Kritik an dem Projekt: Mir gefallen die Treffen von Kader. Eine sehr gute Sache. Ich war beim Treffen in Ankara. In Foca konnte ich nicht teilnehmen. Was die Bürgermeisterinnen für Probleme haben, finanzielle…. aber die im Osten haben es natürlich viel schwerer, in Van, Diyarbakır, Mardin, Dort gibt es Vorfälle … Solche Sachen gibt es hier nicht. Sie wollen z. B. Frauenhäuser eröffnen. Bei uns hier brauchen wir das nicht. Denn dort gibt es Gewalt und Terrorismus. Bei uns gibt es das nicht. Aynur 376
Berktay 2004, S. 27.
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8 Politischer Wandel
Aynur äußert sich zwar zunächst positiv über die Treffen von KADER, sie selbst drückt jedoch aus, dass sie eigentlich keinen Sinn darin sieht, an den Treffen teilzunehmen: Da sie gleich auf die Bürgermeisterinnen aus dem Osten zu sprechen kommt, zeigt, dass diese natürlich die Treffen dominieren, nicht nur zahlen-, sondern auch themenmäßig. Sie erwähnt die geforderten Frauenhäuser und kommentiert, dass sie in Hasköy dies schließlich nicht bräuchten. Das eigentliche Problem seien schließlich im Osten Gewalt und Terrorismus, die Forderung nach Frauenhäusern ist für sie also keine frauenspezifische Forderung, sondern ist Folge der südostanatolischen Situation aufgrund des Bürgerkrieges, der für sie in erster Linie ein Terrorismusproblem darstellt, und sicher auch der (wahrgenommenen) gewaltvollen Kultur im Südosten. Hinter der Thematisierung der Frauenhäuser und der Gewalt im Osten steckt jedoch sicher auch die Ansicht, dass eine solche Frauenpolitik lediglich dem Osten dienlich sei, Aynur jedoch brächten sie in Hasköy keinen Gewinn. Es ist in der Tat schwierig sich vorzustellen, auf welche Weise Gemeinden wie Hasköy oder auch I˙nkis¸ la und Karaçay solch geschlechtersensible Politikprogramme brauchen könnte. Es ist anzunehmen, dass die Bürgerkriegs- und Gewaltsituation im Osten gerade die Aktivitäten der Frauen fördert, während im Westen, d. h. im ruhigen, gemächlichen, ländlichen Westen sich die Frage nach grundlegenden Änderungen und Partizipationsformen nicht unmittelbar stellt. Andererseits sollten die frauenspezifischen Projekte, wie sie zuvor dargestellt wurden, nicht nur als Programme in den größeren Kommunen des Ostens wahrgenommen werden: Schließlich führten auch bspw. Nurgül, Nazmiye und Fatma Projekte durch, die durch die KADER-Treffen inspiriert bzw. weiterentwickelt wurden, so wie die Versammlungen der Seyreker Dorffrauen mit ihrer Bürgermeisterin, das Frauencafé in Dogˇankent oder das Frauenfest in Yes¸ ilköy. 8.3.3
Frauenpolitik als Kooperation zwischen Kommunalverwaltung und Zivilgesellschaft
Am Beispiel, wie in Südostanatolien mit der Problematik so genannter „Ehrenmorde“ umgegangen wird, möchte ich zeigen, in welcher Weise Kommunalverwaltung, staatliche Institutionen und Frauen-NGOs versuchen zusammen zu arbeiten und wie dabei zwischen privaten und öffentlichen Räumen und Aktionen gearbeitet wird. Im Jahre 2003 machte ein besonders brutales Verbrechen Schlagzeilen sowohl in der nationalen als auch internationalen Presse: In der Provinz Mardin wurde S¸emse Allak wegen der Anschuldigung einer nichtehelichen Beziehung gesteinigt. Ihr angeblicher Geliebter starb infolge der Steinigung, während sie schwer verletzt in die Klinik der Dicle Universität gebracht wurde. Das Frauenzentrum KA-MER wurde informiert, seine Mitglieder kümmerten sich um die Kranke, bis sie einige Monate
8.3 Frauenpolitik in der ländlichen Türkei
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später starb. An der Beerdigung nahmen lediglich Frauen teil, die Familie der Verstorbenen war nicht anwesend. Entgegen der islamischen Tradition, dass die Männer die Toten begraben, wurde diese Frau als Opfer eines „Mordes unter dem Deckmantel der Ehre“ bis zu ihrem Tod und nach ihrem Tod von politisch und gesellschaftlich aktiven Frauen begleitet. Der Mord infolge der Anschuldigung eines sittenwidrigen Verhaltens einer Frau ist eigentlich eine Familienangelegenheit, die gleichzeitig von der Gemeinschaft wegen der gesellschaftlichen Tradition gefordert wird. Ein solcher Mord geschieht also zwar als öffentliche Antwort innerhalb einer lokalen Gemeinschaft, wird aber gleichzeitig innerhalb der Familie oder des Stammes ausgeführt. Gemäß dieser Logik überlegten die Frauen von KA-MER, wie sie aktiv werden könnten, um etwas gegen solche „Ehrenmorde“ zu unternehmen. Als eine weitere Frau aus einem Dorf sich an KA-MER wendete, weil sie von der Familie bedroht worden war, leistete KA-MER zunächst Erste Hilfe, organisierte aber gleichzeitig eine Kampagne, um nachhaltig sich gegen diese Tradition zu wenden: Die Frau wurde zunächst in Diyarbakır versteckt, dann vermittelte KA-MER, indem seine Aktivistinnen mit dem Ehemann, mit der Familienversammlung, mit der Polizei, mit dem Provinzgouverneur und mit der Kommunalverwaltung sprachen, um eine gemeinsame Lösung für das Problem zu finden. Da der Ehemann zu seiner Frau hielt, die Bedrohung also von der Familienversammlung in Zusammenhang mit den Gesetzen der Gemeinschaft ausging, war es erst einmal wichtig, eine Möglichkeit zu finden, um sowohl den Ehemann als auch die Frau aus dem Dorf herauszuholen, bis die Anspannung nachließ. Der Gouverneur besorgte deshalb einen Arbeitsplatz für den Mann und eine Wohnung in einer weiter entfernten Stadt, wohin KA-MER dann sowohl die Frau als auch die Kinder brachte. Nach sechs Monaten war Gras über die Sache gewachsen und die Familie kehrte in ihr Dorf zurück. Dieses Beispiel zeigt, wie die Beteiligten versuchen, innerhalb der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Lösung zu finden: oberstes Ziel ist natürlich, die Frau vor der Ermordung zu bewahren. Gleichzeitig aber soll die Integrität der Familie bestehen bleiben, die Frau soll möglichst wieder zu ihrer Familie zurückkehren können. Dass ihr Mann an ihre Schuldlosigkeit glaubt, erleichtert das Finden einer Lösung, bei der auch die Frau nicht darauf angewiesen ist, allein oder im Frauenhaus zu bleiben. Mit dem Wissen, dass die Situation in dem Moment sehr emotional und angeheizt ist, geht es um eine vorübergehende Maßnahme, um den Stachel aus dem Konflikt zu entfernen. Dabei ist es für die Frauen von KA-MER wichtig, nicht allein die Verantwortung für die Konfliktschlichtung zu übernehmen, sondern sie suchen den Dialog und die Kooperation mit der Kommunalverwaltung, anderen NGOs, staatlichen Institutionen wie Provinzgouverneur und Polizei. Schließlich sei die Sache nicht nur ein Frauenproblem, sondern ein Problem der ganzen Gesellschaft:
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8 Politischer Wandel
Davon ausgehend (d. h. von dem konkreten Bedrohungsfall) haben wir gesagt: Die Frauenprobleme sind nicht nur Frauenprobleme. Wenn wir in Diyarbakir leben, gehören die Probleme allen in Diyarbakır, allen NGOs kommunalen Einrichtungen und Staat. Wir müssen zusammen eine Lösung finden. Und dann haben wir eine große Versammlung gemacht. In einem großen Saal. Und da war der Provinzgouverneur, die Provinzverwaltung, Polizei, und die NGOs, die belediye. Das haben wir organisiert. Damals haben wir über alles gesprochen. Wir haben gesagt: wenn eine Frau sich meldet, sollen alle ihre Hand unter den Stein strecken. Wenn eine Frau sich bei KAMER meldet, sollen alle das Risiko übernehmen und sich mit ihr befassen. Es ist nicht ganz ungefährlich, sich zwischen eine Frau und die Familie zu stellen. Man riskiert ebenfalls, getötet zu werden. Hayriye
Indem das Frauenzentrum einer bedrohten Frau Schutz gewährt, wird es gleichfalls zum Angriffsziel der betroffenen Familie. Dabei muss im Auge behalten werden, dass gleichwohl Familienangehörige sich häufig Sorgen um die betroffene Tochter, Schwester oder Frau machen, aufgrund der emotionalen familiären Bindung eigentlich die betreffende Angehörige nicht verlieren möchten, aufgrund des Zwanges der Tradition unter Druck geraten. Insofern ist es eine kluge Überlegung, andere Kräfte, zumal welche, die über politische und gesellschaftliche Autorität verfügen, in die Strategie miteinzubeziehen. In KA-MER selbst wurde eine Nothilfsgruppe gebildet, die sofort im Falle der Bedrohung einer Hilfesuchenden die notwendigen Maßnahmen ergreift, wie: Der Betroffenen einen sicheren Unterschlupf suchen; die Behörden informieren; zwischen den betroffenen Parteien vermitteln. Außerdem wurde eine Medienkampagne initiiert, um potentielle Opfer bzw. Menschen in ihrem Umfeld zu informieren. Eine Anlaufstelle wie KA-MER ist nicht zuletzt deshalb so wichtig, da hier Frauen Frauen helfen: In der geschlechtersegregierten Gesellschaft ist es für viele Frauen eine unüberwindliche Hürde, zur Polizei oder in die Kommunalverwaltung zu gehen. Die konkrete Hilfe für die Betroffene muss also von Frauen geleistet werden. Hayriye As¸ çıogˇlu betont, dass sie zwar keine Politikerinnen sind, aber Frauen- und Kommunalpolitik machen, indem sie regional bzw. lokal bzgl. eines Problems, das in erster Linie Frauen bedroht, mit anderen politischen und staatlichen Institutionen zusammenarbeiten: Wir sind keine Politikerinnen, aber wir machen auch Frauenpolitik, wir sind eine NGO. Wir sehen uns nur als NGO. Aber wir sind keine Politikerinnen. Aber wir machen Frauenpolitik und Kommunalpolitik. Wie machen wir das, z. B. bei diesen Ehrenmordenfällen, wir haben das analysiert, dieses Problem haben wir mit verschiedenen lokalen Organisationen geteilt und eine Lösung gefunden, das ging in die meclis sogar, mit den anderen Frauenorganisationen, mit der Frauenbewegung, wurden die Gesetze geändert. Diese Ehrenmörder dürfen nicht mehr früher entlassen werden. Und die entscheidenden Familienmitglieder bekommen auch eine Strafe. Hayriye, KAMER/ Diyarbakır
8.3 Frauenpolitik in der ländlichen Türkei
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Das Thema „Ehrenmorde“ wurde also zunächst lokal in Südostanatolien öffentlich diskutiert – alle südöstlichen und östlichen Bürgermeisterinnen kamen auf die Problematik zu sprechen – und in akuten Fällen griffen die verschiedenen Stellen ein. Infolgedessen konnte sogar eine breite Kampagne initiiert werden, die im Parlament eine Stellungnahme präsentieren konnte. Dass die betreffenden Gesetze verändert wurden, sehen viele politische Aktivistinnen als Erfolg der Frauenbewegung an. Die Forderung nach der Gründung von Frauenhäusern wird von fast allen südostanatolischen Bürgermeisterinnen gestellt. Frauenhäuser sind insofern wichtig für die Strategie der politisch aktiven Frauen, da auf diese Weise bedrohte Frauen Schutz erhalten und gleichzeitig nicht in einer unschicklichen Umgebung bleiben müssen, in der sie weiter Vertrauen ihrer Familie verlieren würden. Wie im zweiten Teil der Arbeit dargestellt, erklärt Zeyniye Öner die Schaffung einer „Frauenpolitik“ zu ihrem wichtigsten Anliegen als Bürgermeisterin. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass sie die frauendiskriminierenden Praktiken beim Namen nennt und ihre Wahl als Bestandteil des Kampfes dagegen stellt: In unserer Region haben die Frauen sehr gelitten. Sie wurden aus der Gesellschaft gestoßen, indem sie überall verächtlich angesehen wurden. Einige negative Vorfälle wurden auch erlebt, die die Öffentlichkeit auch bewegte. Vorfälle wie Steinigung, Verhaftung und Vergewaltigung, Zwangsprostitution von Minderjährigen haben dem Kampf der Frauen in Mardin mehr Bedeutung gegeben. Aus diesem Grund ist es sehr schwer, in einer Region wie Mardin und einer Gemeinde, in der die Herrschaft des feudalen Systems weiter anhält, solch ein Amt zu fordern. Aber ich sehe es als sehr wichtige Aufgabe.377
Während in Südostanatolien das Thema sehr präsent ist, nimmt es weiter gen Westen an Brisanz ab. In Küçükdikili beispielsweise, der Flüchtlingssiedlung bei Adana, wohnen zwar in erster Linie Kurden aus den südöstlichen Provinzen, in denen Ehrenmorde noch verbreitet sind, jedoch entwickeln sich Streitigkeit nur selten hin zu Mord. Eine Erklärung könnte sein, dass der soziale Druck weniger groß ist. Die Bürgermeisterin schildert einen Fall, bei dem sie sich vorwirft, nicht etwas unternommen haben: Hier gibt es auch teilweise As¸ iretcilik. Nicht viel, nicht so viel wie in der Provinz, aber das gibt es. Auch die Traditionen gibt es noch. Aber hier können wir einige Dinge schnell entthronen. D. h. du erzählst, dass etwas falsch sei, und überredest die Menschen schneller. Weil die Anzahl gering ist, nimmst du dir Zeit und kannst sie direkt treffen. D. h. seit ich ins Amt gekommen bin, wurde eine Frau durch Ehrenmord getötet. Ihr Sohn tötete sie mit dem Messer. Ich habe auch diese Familie getroffen. Wenn ich früher die Unruhe in der Familie gekannt hätte, wenn ich früher zu ihnen gegangen wäre, aber ich hatte keine Information. Erst nach dem Tod der Frau erfuhr ich es. Ich ging und traf die Mutter der Frau, ihre Geschwister, ich sagte ihnen, wie falsch es gewesen sei. Ich sprach auf unseren Versammlungen über diesen Vorfall, ich 377
Mardin – Özgür Gündem 5. 4. 2004. Vgl. auch Özgür Politika 22. 6. 2005.
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sagte: der Tod von keiner Frau, von keinem Menschen ist rechtens. Daß dies durch den Sohn verübt wurde, ist sehr bitter. Wir erklären das, aber es ist nicht so grausam wie in den Provinzen, ich denke, dass wir hier schneller es überwinden können. Leyla, Küçükdikili/ Adana
Am Beispiel des Themas Ehrenmord wurde deutlich, dass es einerseits darum geht, ein Thema, das in den Bereich Frauendiskriminierung fällt und das bislang nicht öffentlich diskutiert wurde, in die öffentliche Diskussion einzubringen, sowie nach Strategien zu suchen, wie unter Mithilfe aller Institutionen und Organisationen eine Lösung bzgl. eines konkreten Falles, aber auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Bewusstmachung gefunden werden kann. Um dies zu überwinden, müssen in der Öffentlichkeit, d.h. sowohl in der nationalen Öffentlichkeit (d. h. z. B. im Parlament), in der regionalen Öffentlichkeit (d. h. z. B. im Rahmen der gesellschaftlichen und politischen Zusammenarbeit und in den regionalen und lokalen Kommunalversammlungen) und in der lokalen Öffentlichkeit (d. h. bezogen auf ein Dorf, in der dörflichen Öffentlichkeit) die zuvor nicht thematisierten frauendiskriminierenden Strukturen diskutiert und kritisiert werden. Sowohl die Reformen des Strafrechts (vgl. erster Teil der Arbeit) als auch die derzeit diskutierten Strategien zum Umgang mit möglichen Ehrenmordfällen werden von einem Großteil der interviewten Frauen aus dem Osten als auch Südosten als Erfolg ihrer innerregionalen Zusammenarbeit dargestellt. Gleichzeitig wird die Problematik in den Zusammenhang der regionalen defizitären Lage der Frauen gestellt: Alphabetisierungskurse, frühkindliche Erziehung, Sensibilisierungskurse für Verwaltungsangestellte sollen gefördert werden, um die soziale Umgebung, in denen Ehrenmorde an Frauen geschehen können, zu verändern.378
8.4
Frauenpolitik und Demokratiefrage „Bireyi degˇil, toplumu; aileyi veya as¸ ireti degˇil, halkı esas alan bir belediyecilik.“ 379 Eine Kommunalverwaltung, die nicht den Einzelnen, sondern die Gesellschaft, nicht die Familie oder den Stamm, sondern das Volk zur Grundlage nimmt.
Sowohl von zivilgesellschaftlichen Akteurinnen als auch einigen Lokalpolitikerinnen wird die Vernetzung und Bewusstmachung von Frauen als grundlegendes Ziel genannt, wobei sowohl Netzwerke unter parteipolitisch aktiven Frauen über regiona378 379
Vgl. KAMER 2005. „Cihan Sincar yeniden!“, Nilgün Yıldırım/ Mardin, Uçan Süpürge haber merkezi, 2. 4. 2004.
8.4 Frauenpolitik und Demokratiefrage
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le Grenzen hinweg als auch die Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Kommunalpolitik auf lokaler und türkeiweiter Ebene gemeint sind. Beide Strategien sollen dazu genutzt werden, um Einfluss auf männlich dominierte institutionelle Politik durch die Vernetzung zu nehmen. Eine zentrale Frage, die dabei diskutiert wird, ist, wie mehr Frauen Bewusstsein für frauenspezifische und gendersensible Angelegenheiten entwickeln und dadurch für die Politik gewonnen werden können. Leyla hält zunächst einmal für wichtig, dass Frauen mehr Selbstvertrauen entwickeln. Diese Aufgabe müssten Frauenorganisationen und Frauenvereine übernehmen. Da in den meisten Parteien Frauen keine einflussreiche Position einnehmen könnten, müssten zunächst außerhalb der Institutionen Frauen ein geschlechtersensibles Bewusstsein entwickeln: Bei diesem Thema fällt eine sehr große Aufgabe den Frauenorganisationen und Frauenvereinen zu. Es sind sehr viele Aktivitäten nötig, damit die Frau in der Politik aktiviert wird. Wenn ich nicht die DEHAP kennengelernt hätte, wäre ich heute nicht hier. Wenn ich in einer anderen Partei gewesen wäre, hätten ich nicht (so weit) kommen können. Denn der Platz, den unsere Parteien der Frau gibt, ist nicht so groß. Auf diese Weise, – okay, ich habe mich auch sehr angestrengt, ich habe auch gearbeitet, aber in den anderen Parteien arbeiten die Frauen auch, aber sie können überhaupt keinen Raum erreichen. Deshalb ist es meiner Ansicht nach nötig, die ursprünglichen Aktivitäten zu erhöhen. Es ist nötig, dass in Adana noch viel mehr Frauenvereine eröffnet werden. Die Frauen müssen dort bewusst gemacht werden. Die Frau muss sich mit ihrem eigenen Blick in Bewegung setzen. Die Frau muss ihr Bewusstsein leiten. Leyla, Kücükdikili/ Adana
Leyla betont, dass sie selbst auch nur durch die „richtige“ Partei, die Frauen wie sie unterstützt, überhaupt erfolgreich werden konnte, d. h. auch wenn sie selbst es schaffte, durch eine Partei Karriere zu machen, hält sie den Schritt über Frauenorganisationen, in denen Frauen unter sich zunächst für die Ziele einer Frauenpolitik geschult werden, für essentiell. Die Vorstellung, durch Frauenorganisationen und Vereine Frauen „bewusst“ zu machen, wurde, wie zuvor dargelegt, bereits in den achtziger Jahren innerhalb der feministischen Bewegung praktiziert. Nun aber äußert sich hier eine Bürgermeisterin, d.h. eine kommunale Amtsinhaberin dementsprechend. Sie übernimmt also quasi den feministischen Diskurs und erklärt ihn zum politischen Weg in der Kommunalpolitik. Der Punkt ist also, dass durch die Bürgermeisterin in eine Kommune der türkischen Peripherie tatsächlich eine Organisationsweise und ein Diskurs, der innerhalb der feministischen Bewegung entstanden ist, Einzug erhalten hat. Mit ähnlichen Worten wie Leyla äußert sich Hayriye als Angehörige eines Frauenzentrums, das unabhängig von der institutionellen Politik bleiben möchte, um sich auf „Frauenpolitik“ konzentrieren zu können: Wir machen eine unabhängige Frauenarbeit. Und um richtig das Bewusstsein zu erhöhen, ist die Gruppenarbeit sehr wichtig. Wir sind auch deshalb hierhergekommen.
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8 Politischer Wandel
Wir sind auch auf diese Weise zu diesem Punkt gekommen. Wir machen die Frauen bewusst. Von einer Seite machen wir uns selbst bewusst, anderseits machen wir die Frauen bewusst. Wir sagen das nicht, aber die Frauen merken das selbst. Wir sind kein Schaf, wir haben unser eigenes Gehirn, Verstand, wir können uns ganz gut selbst ausdrücken. Wir können arbeiten, wo wir wollen. Wir können alle Plätze erreichen. Wenn (eine Politikerin) eine Frauensicht entwickelt, und wenn sie die Unterschiede selbst wahrnimmt, egal, von welcher Partei, das ist für uns nicht wichtig. Wir können solch eine Frau auch unterstützen. (lacht). Aber diese Frau, wenn sie in die Partei geht, würde sie auch nicht ruhig bleiben, sie würde Rechenschaft fordern. Wenn etwas entschieden wird, würde sie fragen: warum habe ich das nicht erfahren? Warum habt ihr nicht die Frauenseite berücksichtigt? Hayriye, KAMER/ Diyarbakır
Ein erster Schritt zur Durchführung einer „Frauenpolitik“ ist also aus dieser Sicht die parteiunabhängige Organisierung, durch welche Frauen eine selbständige frauenspezifische Sichtweise auf die Missstände in Politik und Gesellschaft sich aneignen. Erreichen dann diese Frauen Ämter in der institutionellen Politik, sollten sie im Interesse ihrer Geschlechtsgenossinnen agieren. Hayriye betont jedoch, dass trotz der möglichen Unterstützung einer „bewussten Politikerin“ sie als Frauenzentrum unabhängig bleiben wollen. Die Zusammenarbeit dürfe über ein bestimmtes Maß nicht hinausgehen: Zwischen Zivilgesellschaft und der Kommunalverwaltung sollte es Kontakt geben. Aber die Kommunalverwaltung sollte die NGOs als NGOs akzeptieren. Z. B. wenn die NGOs unabhängig sind, brauchen sie nicht uns in ihre Quote hineinzuziehen. Es gibt so bestimmte Art und Weisen, stell dir vor, du bist hier in der Kommunalverwaltung. Es ist mir bewusst, dass du das bist, aber ich bin eine NGO-Frau und will unabhängig bleiben. Was ich mit dir zusammen mache, sollte nur auf bestimmte Weise sich beschränken. Z. B. in einem Viertel gibt es Wasserprobleme. Wenn man schaut, sind die Frauen am meisten von diesem Problem beeinflusst. Wenn es ein Wasserproblem gibt, dann müssen wir das Problem mit den betroffenen Frauen zusammen bewegen, und die Kommunalverwaltung muss informiert werden. Wie wir das Problem lösen werden, können wir zusammen entscheiden. Unsere Zusammenarbeit kann bis hierher reichen. Bestimmte Probleme kann man zusammen lösen. Ja, wir müssen zusammen arbeiten, aber nur bei bestimmten Problemen und nur für eine bestimmte Zeit. Hayriye, KAMER/ Diyarbakır
Fatma Nevin Vargün erkennt in der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in der Türkei das zukünftige Demokratiemodell: Bislang sei diese Arbeitsweise zwar noch nicht so fest etabliert, aber sogar Männer, die in der Zivilgesellschaft aktiv gewesen seien, praktizierten einen anderen Politikstil als die etablierten Politiker, bspw. arbeiteten Männer, die vorher in einer Gewerkschaft oder innerhalb einer sozialen Bewegung gearbeitet hätten, als Kommunalpolitiker mit Frauenorganisationen und Jugendorganisationen zusammen. Fatma nennt dieses Phänomen „eine lautlose Bewegung“, die sich in der Türkei ausdehne:
8.4 Frauenpolitik und Demokratiefrage
225
Es gibt Männer, die wirklich wollen, dass Frauen sich entwickeln. Überall in der Türkei gibt es solch eine lautlose Bewegung. Je stärker die Frauenbewegung in der Türkei sein wird, desto eher wird sie wahrgenommen, reflektiert das Lokale, deshalb ist der feministische Blickwinkel so wichtig. D. h. mit dem Konservatismus, dem Traditionalismus kann die Frauenbewegung sich nicht entwickeln. Eine konservative Sichtweise verbirgt die Frau, eine Grenze (zwischen Öffentlichkeit und privater Sphäre) wird gezogen. Fatma Nevin Vargün, KADER/ Ankara
Dennoch sei die Solidarität der Frauen, die vor ihrer Übernahme eines politischen Amtes in sozialen Bewegungen aktiv waren, mit den Frauenorganisationen viel stärker. Dies lässt sich sicher auch tendenziell durch die derzeitigen Bürgermeisterinnen bestätigen, unter denen diejenigen, die zuvor (auch) in der Frauenbewegung aktiv waren, am deutlichsten ihre Einbindung lokaler zivilgesellschaftlicher Gruppen erklären. Des Weiteren erklärte die DEHAP die „volksnahe Kommunalverwaltung“ zur Grundlage ihres Programms. Einige der Bürgermeisterinnen, d. h. DEHAP-Politikerinnen, erläutern ihr Vorhaben, innerhalb ihrer Gemeinde ein „transparentes, partizipatorisches System“ zu etablieren: Gülcihan führt aus, dass das Programm der DEHAP beinhalte, lokale Demokratie zu erreichen, um auf diese Weise das gesamte System der Türkei zu erneuern, d. h. um „ein demokratisches, partizipatives, freies System“ zu schaffen. Dies solle auf der lokalen Ebene beginnen, sich in Versammlungen der lokalen Bevölkerung ausbreiten, und vor allem das Recht auf Repräsentation beinhalten: In der Politik solle eine Arena entstehen, die Repräsentation aller biete. Die DEHAP arbeite in den von ihr dominierten Kommunen an der praktischen Umsetzung dieses Programmes durch lokale Räte und Versammlungen innerhalb der Bevölkerung: Das gibt es auch in unserer Philosophie. Je mehr die lokale Demokratie wachsen wird, wird auch das Machtverständnis des Staates zusammenbrechen. Gülcihan, Bostaniçi/ Van
Es fällt auf, dass unter den Bürgermeisterinnen sich hauptsächlich die kurdischen Politikerinnen zu Demokratiefragen äußern, während die westtürkischen Bürgermeisterinnen eher sich als Verwaltungstechnikerinnen äußern. Lediglich Nurgül als ehemalige Journalistin äußert sich sehr ausführlich zum Zusammenhang von Demokratiefrage und Frauenpolitik: Ich bin überzeugt, dass mit der Hand der Frau die Lösung für viele verwurzelte Probleme der Türkei kommen wird. Denn in den Gebieten, in denen es eine Frau gibt, gibt es ein bisschen mehr Demokratie, ein bisschen mehr gesunden Menschenverstand. Denn im Nachtleben und an den Trinktafeln lösen wir nicht unsere Probleme. Die Frauen sind über einen andauernden Zeitraum bei Verstand. Denn beim Essen löst sich nach einem gewissen Punkt die Aufmerksamkeit auf. So werden die Lösungen nicht vollkommen. So wird auch der kurdischen Politik eine Lösung gebracht. Denn in der Türkei entstand eine unnötige Lagerbildung. Wir betrachten uns nicht mit Vor-
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urteilen. Das ist eine Feststellung, die unterstrichen werden muss. Wir betrachten einander als Menschen. Wir sagen nicht: Du - Ich, wir sagen: miteinander. Wir sagen: Vom Blickwinkel der Frau aus. Wir sagen: Die Farbe der Frau. Wir fanden eine gemeinsame Sache. Ich denke, so kann die Frau Demokratie erreichen. Vielleicht wird sie es mit dem gesunden Menschenverstand machen. Vielleicht mit dem Gefühl der Mutterschaft, das die Natur ihr gab, ist in der Frau viel mehr Gerechtigkeitsgefühl. D. h. Gleichgewicht. Wenn wir das überwunden haben, wird kein Problem bleiben. Nurgül, Seyrek/ Izmir
Die Bürgermeisterinnen probierten nun erst einmal im kleinen Kreis, wie die großen gesellschaftlichen Konflikte überwunden werden könnten. Später werde sich dieser Prozess aber auf die Gesellschaft, im ganzen Land ausbreiten. Vor allem verbindet Cihan ihr Demokratieverständnis eng mit dem Geschlechterverhältnis: Auf einem Gebiet, auf dem es keine Frauen gibt, gibt es keine Demokratie. Es gibt sie formal. D. h. es gibt den Namen „Demokratie“, aber in Wirklichkeit ist das nicht so. Deshalb, wenn die Frau mit dem Mann etwas teilt, wenn es zum Beispiel in einem Haus Mann und Frau gibt, und wie sie zur Ruhe kommt, so ist das genau in der Welt. Ich versuchte, mit allen zu teilen. Diese Arbeit muss ein wenig transparenter werden. Weil die Ökonomie im Lokalen ist, wenn man nicht offen ist, entstehen eine Menge Fragezeichen. Damit das alles möglich ist, versuchte ich, mit allen zu teilen. Mit den NGOs, den Muhtaren, dem Volk. Zum Beispiel bist du jetzt gekommen, es gab hier drin eine Menge Leute. Es gibt hier soziale Probleme, kulturelle Probleme, Probleme des Dienstes. Es hatten sich hier eine Menge Probleme angesammelt. Ich versuchte, so gut ich konnte, die Probleme mit allen zu teilen. Durch das Teilen wurde meine Schuldigkeit leichter. Cihan, Kızıltepe/ Mardin
Da in einer wirklichen Demokratie die Gleichheit von Mann und Frau zu Grunde gelegt werde, spricht sie der Türkei ab, demokratisch zu sein, da hier Frauen in Gesellschaft und Politik nicht repräsentiert seien. Jedoch müssten alle selbst in ihrer Umgebung, bei sich selbst, anfangen, für Demokratie, also auch die Gleichheit von Mann und Frau, sich zu engagieren. Insofern versteht sie sich zunächst als Protagonistin in Kızıltepe, hiervon ausgehend aber müsse in der ganzen Türkei sich die Situation der Frauen ändern. Demokratisierung beginnt im Haus, im Privaten, wenn eine Frau „mit dem Mann etwas teilt“ und sie „zur Ruhe kommt“, d. h. „Demokratie“ bedeutet „Teilen“. Gleichzeitig hält Cihan an zwei verschiedenen Geschlechtscharakteren fest, die in unterschiedlicher Weise ihren Beitrag zum Gelingen des demokratischen Systems leisten. Durch die geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung haben beide unterschiedliche Bedürfnisse, durch eine ausgeglichene Machtverteilung entsteht innerfamiliäre Demokratie, da beide Geschlechter ihre Repräsentation, ihre Vertretung einfordern. Ebenso muss in der Kommune vorgegangen werden: Durch Teilung der
8.5 „Hizmet mi, demokrasi mi?“
227
Macht und der Aufgaben kann jede/r sich am demokratischen Prozess beteiligen. Cihan fordert anstelle formaler Demokratie partizipatorische Demokratie, welche bis ins Private hineinreicht. Leyla zufolge seien die neueren Entwicklungen in der Türkei nicht zuletzt auf äußere Einflüsse, auf globale Prozesse zurückzuführen. Zur Zeit aber gebe es einen Konflikt zwischen den alten, traditionellen Kräften und Strukturen auf der einen Seite und auf der anderen Seite den modernen, reformorientierten Gruppen. Dabei leide die Türkei darunter, Teil des Nahen Ostens zu sein, der in der heutigen Zeit der „zurückgebliebenste Ort der Menschheit“ sei. Insofern sei es nun ihre Aufgabe, die demokratischen, reformorientierten Kräfte zu unterstützen. Ein grundlegendes Problem sei die tiefe Kluft zwischen lokaler und nationaler Politik. Letztere verabschiede Gesetze für die lokale Ebene, ohne mit dieser sich zunächst darüber auszutauschen, so dass letztlich die Gesetze nicht den Anforderungen der Lokalpolitik entsprächen. Sie schlägt vor, sich über die Kommunalpolitikmodelle in anderen Ländern zu informieren, um das System in der Türkei zu verändern. Ich möchte hierzu gesellschaftlich denken. Weil die Türkei zumindest das Land ist, in dem ich lebe, möchte ich, dass die Frauen in der Türkei innerhalb der Gesellschaft einen respektablen Platz einnehmen. Denn ich weiß, dass die Frau die Gesellschaft schafft, aber aus der Gesellschaft entfernt wurde/ wird. Die Tradition der männlichen Herrschaft unternimmt alles, um die Frau von der Gesellschaft zu entfernen. Deshalb bin ich hoffnungsvoll. Ich denke, dass die Entwicklungen vom Blickpunkt der Frau aus positive Entwicklungen des Prozesses sind. Noch mehr Kampf ist nötig. Um eine demokratische Gesellschaft zu schaffen, in der alle in gleicher Weise leben können. Eine friedliche, ausbeutungsfreie Gesellschaft; eine Gesellschaft, in der nicht nur Frauen, sondern alle Menschen glücklich leben können. Meine Zukunft ist davon abhängig. Leyla, Küçükdikili/ Adana
8.5
„Hizmet mi, demokrasi mi?“380 Dienst oder Demokratie?
Warum äußern sich einige Bürgermeisterinnen dermaßen eindringlich zu Demokratie, andere jedoch nicht? Ich denke, dass die Unterschiede hierbei auf unterschiedliche Verständnisse des innehabenden Amtes zurückzuführen sind: Einige Politikerinnen sehen sich als Verwalterinnen der Kommune, als Berufstätige, deren Aufgabe es ist, die kommunalen Dienste zu erfüllen; Beispiel hierfür ist Aynur, die tatkräftig und energisch die alltäglichen Aufgaben angeht:
380
Çukurçayır 2000, S. 204.
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8 Politischer Wandel
Ich mache zusammen mit dem Personal das, was für das Volk nötig ist. Wir wollen, dass das Volk das, was wir machen, unterstützt. Das, was sie unterstützen, machen wir schnell. Wenn es gegen uns ein Hindernis gibt, machen wir es nicht. Aber das ist bislang nicht passiert. Insallah erlebe ich das auch nicht. Aynur, Hasköy/ Us¸ ak
Dabei vollzieht Aynur auf ihre Weise die ständigen Rollen- und Öffentlichkeitswechsel, die so charakteristisch erscheinen für die türkischen Politikerinnen: Sie versucht, in ihrem Amt viel zu leisten, wechselt dabei zwischen männlichen Umfeldern wie dem Kaffeehaus oder politischen Versammlungen auf Kreis- und Provinzebene, vertritt gleichzeitig bestimmte weibliche Rollenmuster, schlüpft immer wieder in die Rolle der Hausfrau, Gastgeberin, beispielsweise, wenn im Rathaus gemeinsam gegessen wird: Alle Angestellten kommen zusammen, die Frauen, die in der Kommunalverwaltung arbeiten, haben gekocht, die Bürgermeisterin hilft bei der Verteilung des Essens; d. h. große Veränderungen des politischen Systems stehen hier nicht auf der Tagesordnung, sondern durch die Persönlichkeit der Amtsinhaberin entstehen „etwas andere Formen“ des kommunalpolitischen Alltags. Einige verstehen sich nicht nur als Verwalterin der Kommune, sondern (außerdem) als Vertreterinnen des Staates, die auf lokaler Ebene zum Wohle der türkischen Nation dem Staate dienen. So ist Sezgins größtes Ziel, „dem Volk zu dienen“ unter Berufung auf den Republikgründer Atatürk: Meine Ziele als Bürgermeisterin sind, den Leuten zu dienen, dienen, dienen. Das ist mein einziges Ziel. Ich habe kein anderes Ziel als Bürgermeisterin. D. h. als Bürgermeisterin hier zu sitzen oder nicht zu sitzen, ist nicht wichtig, es geht nur darum, den Menschen zu dienen. Sezgin, Karaçay/ Denizli
Einige setzen also die eigene Gemeinde an erster Stelle ihres politischen Engagements, für die sie sich einsetzen wollen, als „Vertreterinnen der Gemeinschaft“ sozusagen, wie Fatma und I˙nci. Fatma bezeichnet sich als „Vermittlerin“: Auch wenn Yes¸ ilköy keine reiche Kommune sei, versuche sie, als Vermittlerin zu fungieren, um auf diese Weise die Kommune zu entwickeln, d. h. sie „vermittelt“ zwischen lokaler politischer Sphäre und nationalstaatlicher Sphäre, um nicht zuletzt finanzielle Mittel für die eigene Kommune zu organisieren. Schließlich agieren Bürgermeisterinnen wie Hilal und Lina als „Vertreterinnen ihrer Familie (bzw. ihres Ehemannes)“, da ihre Kandidatur in erster Linie dem Erhalt familiärer Macht diente. Die Ausführung der lokalen Dienste soll dazu beitragen: Ich bin noch sehr neu, gerade mal 6 Monate sind vergangen, wir denken daran, für die kommenden Wahlen zu investieren. Es hängt davon ab, was Sie machen werden: Wenn gute Arbeit geleistet wird, wählt das Volk Sie wieder, wenn nicht, dann ändern sie es natürlich. Lina, Küçükdalyan/ Hatay
8.5 „Hizmet mi, demokrasi mi?“
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Hilal betont dabei, dass sie den Aspekt des Helfens für sehr wichtig erachtet. Auch Lina erzählte, dass sie schon als „Ehefrau des Bürgermeisters“ sich karitativ um die Menschen gekümmert habe und sie deshalb durch ihre „Nähe“ zu den Küçükdalyanlıs deren „Liebe“ gewinnen konnte. Die Übernahme eines lokalpolitischen Amtes kann sowohl mit der Absicht geschehen, für den Staat arbeiten zu wollen, als auch mit der Intention, in Opposition zum Staat zu agieren. Schließlich kann die Lokalpolitik gewissermaßen losgelöst von nationaler Politik und Staat Bedeutung beigemessen werden. Dies spiegelt sich auch in den Haltungen der Bürgermeisterinnen: Sezgin bspw. betont, wie zuvor dargestellt, ihren Wunsch, im Namen Atatürks und des Staates der Bevölkerung zu dienen, sie sieht sich also als Vertreterin des kemalistischen Staates auf der lokalen Ebene. DEHAP-Politikerinnen betonen demgegenüber mehrheitlich ihr Misstrauen gegenüber den in ihren Augen sowohl bzgl. Kurdenkonflikt als auch Positionen von Frauen in der Gesellschaft dominanten Staat und erklären ihren Politikstil als Verbindung von Zivilgesellschaft und Lokalpolitik jenseits des Einflusses des Staates. Sie stellen sich als „Vertreterinnen der Gesellschaft“ dar, die in Opposition zum Staat stehen, und propagieren Konzepte direktdemokratischen Handelns für die lokale Politik ihrer Gemeinde. Für „Gemeinschaftsvertreterinnen“ (inklusive „Staatsvertreterinnen“ und „Familienvertreterinnen“ bzw. „Verwalterinnen“ und „Vermittlerinnen“) gibt es (zunächst) keine öffentlich geäußerte Verbindung zwischen Kommunalpolitik und nationaler Politik bzw. möglichen Demokratiedefiziten in der Türkei hinsichtlich der fehlenden Partizipation von Frauen. „Gesellschaftsvertreterinnen“ handeln in erster Linie aufgrund der wahrgenommenen makropolitischen Konflikte und übertragen sie auf ihre lokale Umgebung. Schließlich sollte in Betracht gezogen werden, dass die ideologischen Orientierungen der Parteien eine Rolle spielen: Dass gerade überwiegend DEHAP-Politikerinnen sich zur Demokratisierungsproblematik in Zusammenhang mit dem Kurdenkonflikt äußern und CHP-Bürgermeisterinnen im Namen Atatürks sprechen, ist nicht weiter verwunderlich. Jedoch lässt sich nicht einfach zwischen ihnen eine Grenze ziehen: Nurgül als CHP-Bürgermeisterin präsentiert sich gleichwohl als „Gesellschaftsvertreterin“ und auch „Gemeinschaftsvertreterin“, während Nuran und Zeyniye trotz DEHAP-Mitgliedschaft als „Gemeinschaftsvertreterin“ bezeichnet werden können. Wenn wir die drei Funktionen der Kommunalverwaltung, die Ayten Alkan nennt, heranziehen, d. h. die Ausführung der lokalen öffentlichen Dienste, die Repräsentation der lokalen Bevölkerung und Partizipation an der Verwaltung, so betonen die „Gemeinschaftsvertreterinnen“ und „Staatsvertreterinnen“ das „Dienen“, das sie als „Repräsentantin“ zu erfüllen haben. Dem gegenüber erklären „Gesellschaftsvertre-
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8 Politischer Wandel
terinnen“ die Partizipation der Bevölkerung an der Verwaltung zur Lösung für die Probleme, die bei der Ausführung der lokalen Dienste entstehen. Während Akif Çukurçayır die Dienstleistung zur Grundlage der Kommunalverwaltung erklärt, auch wenn „Demokratie“ durch Partizipation an der Leitung der Kommune entwickeln werden müsse,381 betont Ayten Alkan die gleiche Gewichtung von Dienstleistung, Repräsentation und Partizipation (vgl. erster Teil der Arbeit). Doch zeigten gerade Frauen nach der Wahl einer Frau, auch wenn diese eher das „Gemeinschaftsvertreterinnenkonzept“ vertrat, Interesse an Partizipation in der Kommunalpolitik, d. h. erkannten die Möglichkeit der Politisierung innerhalb der lokalen politischen Strukturen. Des Weiteren zeigten einige der Bürgermeisterinnen, die eher die Auffassung einer „Gemeinschaftsvertreterin“ vertraten, die Bereitschaft, durch Inputs seitens der Frauenbewegung partizipative Elemente in die Organisation ihrer Kommune aufzunehmen (bspw. Nazmiye, Fatma, I˙nci). Die eingangs gestellte Frage „Dienst oder Demokratie?“ wird also von der Mehrheit der Bürgermeisterinnen nicht als Entweder-Oder aufgefasst – für die Bereitschaft, lokale Demokratie zu entwickeln, sind jedoch anscheinend Einflüsse von außen notwendig.
381
Akif Çukurçayırs These, dass im Falle der niedrigen sozioökonomischen Entwicklung es schwer sei, Partizipation der Bevölkerung an der Kommunalpolitik zu erreichen, wird durch das politische Programm der „Gesellschaftsvertreterinnen“ zumindest in Frage gestellt: Diese sind überwiegend in Gemeinden mit einem geringen sozioökonomischen Entwicklungsstand gewählt worden (d. h. in Gemeinden mit hoher Arbeitslosigkeit, geringem Bildungsstand, hoher Fertilitätsrate, wenig ökonomischen Entwicklungsperspektiven). Inwieweit in der Realität die programmatischen Ansprüche der Politikerinnen (nicht) umgesetzt werden können, könnte in einer weiteren Studie untersucht werden. Zumindest zeigt sich in Ansätzen, dass gerade Frauen sowohl kulturelle als auch sozioökonomische Barrieren durch Partizipationschancen innerhalb einer frauenfreundlichen Kommunalverwaltung überwinden können (bspw. durch Teilhabe an ökonomischen Initiativen, an Versammlungen usw.).
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Schluss
Wir sind keine Individuen – als Gesellschaft, also als Frauenanteil – wenn eine Sache gemacht werden soll, sollten wir alle zusammen das machen. Das heißt, die Zukunft der Frauen muss auf höherem Niveau sich entwickeln. Das heißt, bis heute arbeiteten die Frauen auf den unteren Stufen. Die Rolle, die den Frauen zugeschnitten wurden, war noch sehr auf unteren Niveaus. Aber nach dieser Hierarchie, dieser Rangordnung müssen die Frauen höhere Niveaus erreichen. Das heißt, ich kann selbst nicht viel erreichen, aber es gibt so einen Zustand: wenn ich in dieser Periode dieses Amt erfüllt haben werde, möchte ich ein wenig mich in mein Schneckenhaus zurückziehen, ein wenig auf mich selbst hören. Wenn sie mich lassen, möchte ich mich ein wenig ausruhen. Denn bei diesem Amt gibt es sehr viel Druck, wir sollten anderen unserer Freundinnen diese Gelegenheit geben. Sie sollen sich selbst ein wenig entwickeln, sich selbst ausbilden. Und sie sollen diese Freude spüren, die Freude am Bürgermeisteramt, als Mitglied in der Kommunalversammlung, als Abgeordnete. Wir werden ihnen dabei helfen. Deshalb, unter diesen Umständen, ist die Zukunft der Frauen gut. Wenn wir dieses Tempo halten können, wenn wir uns gegenseitig unterstützen, wenn wir uns nicht gegenseitig den Boden unter den Füßen wegziehen, dann können die Frauen eine wichtige Position erreichen. Mukaddes, Bürgermeisterin von Dogˇubeyazıt
Mukaddes’ Worte spiegeln exemplarisch wieder, welche Diskussionen derzeit Lokalpolitikerinnen in der Türkei führen: sie fordert die Solidarität unter Frauen, um in den politischen Institutionen als Frauen Fuß fassen zu können, und vertritt die Sichtweise, dass es nicht nur wichtig sei, außerhalb der etablierten Machtstrukturen zu kämpfen, sondern auch innerhalb derer Macht zu erlangen. Dabei sollten Amtsinhaberinnen in erster Linie für die gemeinsame Sache – d. h. die aktive politische Partizipation von Frauen – eintreten: Sie sind quasi austauschbar, solange sie als Frau politische Entscheidungen treffen. Während Mukaddes eindeutig hier Ideen vertritt, die in frauenpolitischen Kreisen diskutiert werden, zeigen sich in der Realität weitaus größere Unterschiede bzgl. des frauenpolitischen Verständnisses der gewählten Politikerinnen: Inwieweit frauenspezifische Themen Eingang in die alltägliche Politik finden, ist zunächst einmal abhängig von der parteipolitischen oder auch der persönlichen Einstellung. Auch wenn dabei das Selbstverständnis als Bürgermeisterin zwar unterschiedlich ist, spielt das Bewusstsein, als Frau in einem männlichen Umfeld zu agieren, stets eine Rolle. Ideologische bzw. ethnische Differenzen beeinflussen trotz allem ihre politischen Ansichten gerade auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Positionen von Frauen: Einige Politikerinnen vertreten die Idee, dass durch die Modernisierung des Landes, die noch nicht abgeschlossen sei, A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/ 978-3-531-93113-5_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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mit der Zeit auch die Frauen sich entwickeln würden. Eigentlich hätten die Frauen schon alle Möglichkeiten zur Partizipation an Gesellschaft und Politik durch den Kemalismus erhalten, jedoch bisher ihre Rechte nicht genutzt. Aynur bspw. hält deshalb Frauen in der Türkei für „zurückgeblieben“, da sie abhängig von ihrem Mann seien und sich durch ihn finanzieren ließen. Letztendlich sei das aber nicht weiter problematisch, da nun sich die Situation ändere, durch die Frauen, die nun aktiv sind, werde eine andere Vorstellung geschaffen. Aynurs Ansicht ist exemplarisch für Frauen, die der kemalistischen Ideologie verhaftet sind: In der Gesellschaft dominieren zwar noch reaktionäre Kräfte und Vorstellungen, jedoch würden diese langsam durch politische Aktivitäten von Frauen überwunden. Zunächst hätten Frauen formal ihre Rechte erhalten, dann hätten sie angefangen, sich in Frauengruppen zu organisieren, und der nächste Schritt hinein in die institutionelle Politik sei nun nur noch eine Frage der Zeit. I˙nci jedoch stellt die Frage, inwieweit Frauen überhaupt politisch aktiv werden wollen: Sie sieht ein großes Hindernis für die politische Partizipation von Frauen darin, dass Frauen nicht den Wunsch verspürten, sich politisch zu engagieren. Einige Politikerinnen wiederum thematisieren geschlechtsspezifische Benachteiligung und benennen diese zum Haupthindernis für die kaum vorhandene Partizipation von Frauen: Sie erklären, dass Frauen durch die Männer von politischer Teilhabe abgehalten wurden und dass wegen des männlichen Herrschaftssystems Frauen aus der Gesellschaft gedrängt worden seien. Sie müssten also zunächst innerhalb des männlichen Herrschaftssystems sich behaupten, dieses dann durch politische Partizipation verändern. Diese Auffassung vertreten Politikerinnen verschiedener Regionen, die häufig der Frauenbewegung nahe stehen. Leyla bspw. macht insbesondere die männlich dominierten Parteien in der Türkei für die fehlende Partizipation der Frauen verantwortlich: Während also I˙nci und Aynur die „Schuld“ bei den Frauen sehen, da diese ihre formalen Rechte nicht wahrnähmen, beschreibt Leyla informelle Grenzen, die Frauen in den Parteien ihre Partizipationsmöglichkeiten reduzieren; die Männer wollten schließlich nicht, dass die Frauen sich beteiligten, und durch ein System der männlichen Herrschaft gelinge es ihnen, Frauen nicht in ihre Machtsphäre eindringen zu lassen. Trotz der bestehenden formalen Rechte bestünde also gesellschaftlicher Widerstand gegenüber der Partizipation der Frauen, der sich in den politischen Strukturen widerspiegele. Deshalb setzt Leyla auf Aktivitäten von Frauen jenseits der männlichen Strukturen – die Frauen müssten sich selbst für veränderte Partizipationsstrukturen einsetzen. Gülcihan betont, dass das männliche Herrschaftssystem dann verändert werden könnte, wenn mehr Frauen an der Politik teilhätten, wenn mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern herrsche – schließlich – das betonen einige der Politikerinnen – wollten sie nicht ein System der weiblichen Herrschaft aufbauen. Auch in der AKP beschreiben Politikerinnen Schwierigkeiten aufgrund des „männlichen Herrschaftssystems“.
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Fatma erklärt, sie selbst habe zwar aufgrund ihrer Berufswahl, ihres Studiums und ihrer Arbeitserfahrungen keine Probleme damit, sich innerhalb der männlichen geprägten Öffentlichkeit zu bewegen und zu behaupten, es sei aber insofern schwierig, da sie eben in einer Gesellschaft der männlichen Herrschaft lebten und in der Türkei eine Politik der männlichen Herrschaft gemacht werde. Eine spezifische Sichtweise unter Kurdinnen ist, dass kurdische Frauen in der Gesellschaft immer einflussreich waren und immer in der Gesellschaft Rederecht hatten. Wiederum andere betonen die schlechte Position von Frauen in der kurdischen Gesellschaft und das Anliegen, dieses zu überwinden. Im Frühjahr 2009 fanden abermals Kommunalwahlen statt – konnten sich dabei die Bürgermeisterinnen, die im Mittelpunkt dieser Studie standen, abermals behaupten? Konnte der Anteil an Frauen an den BürgermeisterInnen der Türkei erhöht werden? Quantitativ betrachtet wurde dieses Ziel weit verfehlt – immerhin, der Anteil an Provinzzentrumsbürgermeisterinnen verdoppelte sich: Neben Tunceli wird nun auch Aydın (Ägäis) von einer Frau regiert, und zwar von der einzigen CHP-Bürgermeisterin, die diesmal gewählt wurde. Abermals sind Frauen eher in den kleinen ländlichen Gemeinden zu finden und nicht in den westlichen Metropolen. Nazmiye Kabadayı in Dogˇankent wurde wiedergewählt, ebenfalls Fatma Görgen im Hatay, d. h. die beiden AKP-Bürgermeisterinnen der letzten Wahlperiode. Eine dritte AkP-Kandidatin konnte in der westlichen Provinz Eskisehir gewählt werden. Leyla Güven wechselte von der belde Küçükdikili in der Provinz Adana in die Kreisstadt Virans¸ ehir in der Provinz Urfa, stieg also quasi auf bzgl. der Größe ihres Wahlbezirks. Sie ist die einzige DTP-Kandidatin, die wiedergewählt wurde. In Dogˇubeyazıt, Bostaniçi, Bismil, Tunceli und Bagˇlar wurden die Kandidatinnen der DTP gewählt neben neun weiteren DTP-Frauen – d. h. in diesen Gemeinden wurden abermals Frauen gewählt, jedoch andere als in der vorherigen Wahlperiode: Ein Zeichen für den Erfolg der politisch aktiven Frauen und geschlechtersensible WählerInnen in diesen Kommunen? Erfüllt sich dabei Mukaddes’ Wunsch, dass andere Frauen die Stelle der vorherigen Amtsträgerinnen im Namen frauenpolitischer Solidarität einnehmen? Oder eher ein Hinweis auf den Erfolg der kurdenorientierten Partei in Südostanatolien? Auch wenn die Politikerinnen unterschiedlich ideologisch und sozial geprägt sind, zeigen sich ähnliche Handlungsmuster in der gesamten Türkei: Ausgangspunkt für die Entwicklung von Partizipation von Frauen in der ländlich geprägten Türkei ist die Tatsache, dass im gesellschaftlichen Leben weiterhin eine strikte räumliche Trennung in eine private weibliche und eine öffentliche männliche Sphäre aufrecht erhalten wird, die Auswirkung auf die Organisation des Politischen hat: „Politik“ wird von Männern in männlichen Öffentlichkeiten, im Kahve oder auf dem Platz oder eben im Rathaus gemacht. Deshalb führt der Weg in die Politik über die Gren-
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zen dieser geschlechtsspezifischen Sphären, die Frauen den Zugang zu formalpolitischen Räumen und Entscheidungspositionen erschweren oder sogar unmöglich machen: Schließlich gehören zur männlich konnotierten „Öffentlichkeit“ gesellschaftliche Räume wie „die Straße“, „das Stadtzentrum“, da, wo „Frau gesehen wird“. „Die Politik“ wird einerseits informell in dieser männlichen Öffentlichkeit, d. h. in erster Linie im Kahve, verhandelt, andererseits in der lokalen formalpolitischen Institution, im Rathaus. Deshalb ist es für Frauen, die in dieser politischen Sphäre keine Machtbasis innehaben, sehr schwer, in ein politisches Amt zu gelangen, da sie die klientelistischen Strukturen, auf die männliche Kandidaten zurückgreifen können, nicht haben. Ein möglicher Weg jedoch besteht in der Mobilisierung der Wählerinnen auf der Grundlage von „geschlechtsspezifischen Klientelismus“: „Politik“ kann über die geschlechtertrennenden Grenzen hinweg in die private Sphäre gebracht werden, indem die Kandidatin ihre potentiellen Wählerinnen zu Hause aufsucht, wodurch in den Häusern frauenspezifische (Teil-)Öffentlichkeiten geschaffen werden können, in denen durch face-to-face-Beziehungen über Anliegen, die die formalpolitische Sphäre betreffen, verhandelt wird. Mitunter entwickelt sich diese Teilöffentlichkeit der „Wahlkämpferinnen“ durch die Dynamik des Wahlkampfes zu einer „Gegenöffentlichkeit“, die mit der „männlichen Öffentlichkeit“ um die formalpolitische Macht konkurriert. Während fast alle Bürgermeisterinnen vor der Wahl in ähnlicher Weise lokalpolitisch handelten und bestimmte Strategien nutzten, die durch die Geschlechtersegregation bedingt sind (Tür-zu-Tür-Wahlkampf, Ansprechen der Wählerinnen mit frauenspezifischen Themen), d. h. der Politikstil zu diesem Zeitpunkt ähnlich ist, da es darum geht, ein geschlechterspezifisches Wählerklientel zu mobilisieren, unterscheiden die Bürgermeisterinnen sich auf einer anderen Ebene: Voraussetzung für erweiterte Rahmenbedingungen politischer Partizipation von Frauen ist eine Veränderung der geschlechtsspezifisch konnotierten Räume innerhalb der Gemeinde. Entscheidend dabei ist, dass die für Frauen zugänglichen Räume erweitert und die politische Öffentlichkeit für Frauen geöffnet wird. Befindet sich nach erfolgreichem Wahlkampf eine Frau als Bürgermeisterin im Rathaus, kann sie als Amtsinhaberin es für die anderen Frauen zugänglich im wortwörtlichen Sinn machen. Frauen suchen nur das Rathaus auf, um ihre Probleme und Anliegen darzulegen, wenn sie Frauen als Ansprechpartnerinnen dort vorfinden. Die Begründung, Politikerinnen verstünden die Probleme von Frauen besser, da sie in den gleichen Lebensumständen seien, verdeckt die Tatsache, dass aufgrund der Geschlechtertrennung Frauen sich nicht an männliche Amtsinhaber ohne Weiteres wenden können. Bürgermeisterinnen partizipieren nicht nur in der Politik, d. h. im öffentlichen Raum, sondern sie können als Frau ohne Schwierigkeit in den Häusern Frauen der
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Gemeinde aufsuchen. Im Rahmen des traditionellen Geschlechtersystems kann so ein Machtbündnis zwischen der öffentlichen Machtinhaberin und den „Zentrumspersonen der Familien“, d. h. idealtypisch der Mütter, geschlossen werden, mit der Absicht, die Gesellschaft im lokalen Raum zu verändern. Auf diese Weise kann allmählich eine Veränderung der lokalpolitischen und gesellschaftlichen Diskussionen sich vollziehen: Autorität und Handlungsspielraum der Bürgermeisterinnen werden genutzt, um neue Diskurse in die Öffentlichkeit zu tragen, Themen, wie bspw. Kritik an der bestehenden Geschlechterordnung oder häusliche Gewalt können in der Gemeinschaft enttabuisiert werden. Durch die politische Partizipation einer Frau werden im Lokalen andere ermutigt zu partizipieren: Das Interesse an Politik von Frauen ändert sich. Frauenspezifische Projekte werden in vielen Gemeinden in der Öffentlichkeit der Kommune eröffnet, um Frauen aus den Häusern zu holen und ihnen eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz zu bieten, gleichzeitig bleibt ihre Integrität innerhalb der patriarchalen Gesellschaftsstruktur bewahrt, da sie in diesen Projekten unter Frauen bleiben. Soziale und wirtschaftliche Partizipation von Frauen in Kooperativen und Frauenzentren kann durch die Nähe zum politischen Zentrum der Gemeinde aufgewertet werden. Empowerment der Frauen in einer lokalen Gemeinschaft entwickelt sich durch die Verbindung von Bürgermeisterin und Frauengemeinschaft: Zum einen wird der häusliche Bereich aufgewertet, indem er als „teilöffentliche Arena“ für den Wahlkampf genutzt wird und durch die Hausbesuche der Bürgermeisterin zur „politischen Sphäre“ wird. Dazu gehört auch die Neubestimmung öffentlich diskutierter Themen: Durch die Problematisierung geschlechtsspezifischer Verantwortlichkeiten als Anliegen der Kommunalverwaltung wie bspw. Wasserversorgung und Straßenbau wird die Wichtigkeit geschlechtersensibler kommunalpolitischer Entscheidungen betont. Empowerment kann also durch die Repräsentation einer kollektiven Identität „Frau“ in der formalen Politik entstehen. Durch Unterstützung und Einbindung in die Frauenbewegung entwickeln sich Ansätze zur Öffentlichmachung von lokalpolitischen Handlungsweisen der Politikerinnen in der breiteren türkeiweiten Öffentlichkeit, indem eine Allianz zwischen der Frauenbewegung und den Politikerinnen entsteht. Einerseits erhalten die Bürgermeisterinnen Anstöße seitens der Frauenbewegung für ihre Arbeit, andererseits nutzen Politikerinnen in der ländlich geprägten Türkei ihr eigenes Wissen und bereichern dadurch den türkeiweiten Dialog unter politischen Aktivistinnen. Die „Feminisierung der Politik“ wird so sowohl durch die Programmatik der Frauenbewegung als auch durch die lokalen Gegebenheiten initiiert. Wenn einerseits feministische Ideen in die ländliche Türkei Eingang erhalten, werden ebenso traditionelle Arrangements genutzt, die in der Synthese eine „Frauenpolitik auf dem Lande“ ausma-
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chen. Beziehungen, wie sie schon zwischen Staat und Frauenbewegung auf nationaler Ebene gepflegt werden, stehen quasi Modell für Ansätze im Lokalen für die Zusammenarbeit zwischen Administration und Frauengruppen. Lokale Öffentlichkeiten, sowohl „private“ als auch allgemein politische Öffentlichkeiten, sollen gewissermaßen mit der Bewegungsöffentlichkeit der Frauenbewegung in Kontakt treten, beide Seiten sollen sich gegenseitig kennenlernen und „empowern“. Dabei ist jedoch notwendig, das Gleichgewicht zwischen lokalen Themen und Interessen und Themen und Interessen der Frauenbewegung zu wahren. Maxine Molyneux und Razavi halten es noch für zu früh, um von Frauen in der Politik zu erwarten, dass sie durchschlagenden Erfolg verbuchen könnten. Jedoch könnten wir den Zusatz „durchschlagend“ weglassen und feststellen, dass türkische Bürgermeisterinnen schon einige Erfolge verbuchen können, was ihre Arbeit in häufig abgelegenen Kommunen betrifft. Die Feststellung Molyneux’ und Razavis, dass sie als Neuankömmlinge im öffentlichen Amt Zeit und Unterstützung von Seiten der Frauenbewegung und von NGOs brauchen, bevor sie zu effektiven Anwältinnen von Frauenrechten werden können, bewahrheitet sich im konkreten Falle Türkei. Deskriptive Repräsentation durch Frauen in der formalen Politik muss nicht unbedingt die Grundlage sein, um Ziele und Inhalte der Frauenbewegung zu verwirklichen, sondern sie kann auch ermöglichen, dass praktische Geschlechterinteressen ihrer Wählerinnen überhaupt Gehör finden. Gleichzeitig erkennen politische Aktivistinnen gerade das Potential feministisch bewusster Frauen in kommunalpolitischen Ämtern. Dass es überhaupt Frauen in der Kommunalverwaltung gibt, die sich als Frau engagieren und die sich der Problematik bewusst sind, ist schon wichtig. Die Erwartung an die Bürgermeisterinnen, die Demokratisierung voranzubringen, kann damit zusammen hängen, dass der Frauenbewegung an sich schon seit den 80er Jahren diese Aufgabe zugeschrieben wurde. Zumindest wird in einigen Kommunen bereits lebhaft über Modelle partizipativer lokaler Demokratie diskutiert. Auch wenn vielleicht nicht unmittelbar die Interessen der unterschiedlichen Frauen einer Gemeinde durch die Bürgermeisterin repräsentiert werden, öffnet sie die Tür für Partizipation von Frauen in der Öffentlichkeit, wodurch sie überhaupt die Möglichkeit erhalten, ihre Interessen zu artikulieren, bspw. auf Frauenversammlungen. Es sollte allerdings auch bedacht werden, dass in kleinen, abgelegenen Kommunen die Kapazitäten und Ressourcen begrenzt sind, weder Einwohner noch Kommunalverwaltung also über die Mittel verfügen, um einen „anderen“ Politikstil zu verfolgen. Die Ansichten der interviewten Lokalpolitikerinnen zeigen, denke ich, dass sie sich ihrer Vorreiterinnenrolle bewusst sind und dass die meisten versuchen, sich innerhalb ihrer Gemeinde für frauenspezifische Belange einzusetzen. Wenngleich die spezifisch türkisch-kurdischen Geschlechterverhältnisse im ländlichen Raum ihr
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Handeln begrenzen und beeinflussen, gelingt es ihnen ein Stück weit, diese durch ihre Position und ihr Engagement zu verändern. Betrachten wir die Ergebnisse dieser Arbeit in Zusammenhang mit der viel diskutierten Frage nach dem Grad der Konsolidierung von Demokratie in der Türkei hinsichtlich ihrer EU-Beitrittsperspektive, wird deutlich, dass die Vernachlässigung der Partizipationsstrukturen in ländlichen Gebieten und von Frauen auf lokaler Ebene durch die Transformationsforschung zur Folge hat, dass die Grundlage für fest etablierte demokratische Strukturen in Gesellschaft und Politik, nämlich die Einbeziehung peripherer gesellschaftlicher Gruppen und ihre spezifischen Partizipationsformen, nicht berücksichtigt wird. Die ständig wiederholte Formel „Frauen auf dem Lande partizipieren nicht in der türkische Politik“, die sowohl in der türkeispezifischen Transformationsforschung als auch unter türkischen PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und AktivistInnen Konsens findet, verhindert den Blick auf die tatsächlich vorhandenen Perspektiven und Handlungsmuster, deren Berücksichtigung wiederum zeigen können, wie eine Erweiterung (basis-)demokratischer Systeme erreicht werden kann. Dass die Thematik in zivilgesellschaftlichen Kreisen und in den Medien diskutiert wird, ist ein erster Schritt. Das Ergründen der Mechanismen, die zur erweiterten Partizipation beitragen, der sich daraus ergebende zweite Schritt – um zu erkennen, wie die gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter auch im entlegensten Winkel dieses Landes als Grundlage für die Akzeptanz einer demokratischen Gesellschaft sich entwickeln könnte, wie die Vorstellung eines grassrootsProzesses zur gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung konkret aussehen kann. Insofern möchte ich anhand der Ergebnisse dieser Arbeit bekräftigen, dass die Entwicklungen der politischen Teilhabe von Frauen auf der Mikroebene der lokalen Gemeinschaft als Teil des derzeitigen Transformationsprozesses in der Türkei betrachtet werden sollten, wobei gerade Frauen der Mesoebene in lokalpolitischen Entscheidungspositionen hierzu beitragen können: Indem Geschlechterverhältnisse sich grundlegend nur im Lokalen, auf der Mikroebene der Gesellschaft ändern lassen, bedeutet die Einbeziehung der lokalen politischen Partizipationsstrukturen in durchlässigen Öffentlichkeitsverhältnissen Empowerment und Demokratie innerhalb der Familie und der lokalen Gemeinschaft.
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Glossar
Agˇa: Notabler Apartman: Türkei-typisches Hochhaus As¸ iret: Stamm As¸ iretçilik: „Tribalismus“ Belediye: Kommunalverwaltung GAP: Güneydogˇu Anadolu Projesi, das Südostanatolienprojekt, wurde in den Achtziger Jahren gegründet. Ziel ist die Entwicklung der sozial und ökonomisch benachteiligten südostanatolischen Region; hierzu gehört in erster Linie die landwirtschaftliche und industrielle Entwicklung durch den Bau mehrerer Staudämme entlang der Flüsse Euphrat und Tigris. Dieses Vorhaben sorgte in mehrfacher Hinsicht für Probleme: Viele Dörfer mussten umgesiedelt werden, Kulturstätten wie Zeugma und Hasankeyf wurden bzw. werden überschwemmt, die landwirtschaftliche Nutzung der Gegend zieht eine ökologische Katastrophe nach sich infolge der Verwendung von Pestiziden und Düngemitteln. Regionale Konflikte mit den arabischen Nachbarstaaten drohen sich zu verschärfen durch die intensive Nutzung des Wassers von Euphrat und Tigris. Gecekondu: „über Nacht gebaut“. Informelle Siedlungen, die von BinnenmigrantInnen in Eigenarbeit auf besetztem Land errichtet wurden. Der Begriff lässt sich auf ein osmanisches Gewohnheitsrecht zurückführen, nachdem ein Haus, das „über Nacht“ auf öffentlichem Boden errichtet wurde, nicht mehr abgerissen werden darf. Kahve: Kaffeehaus/ Teehaus Kemalismus: Staatsideologie der Türkei. Der Begriff bezieht sich auf die Ideen Mustafa Kemal Atatürks, des Gründers der türkischen Republik. Sechs Prinzipien kennzeichnen dabei den Kemalismus: Republikanismus, Nationalismus, Etatismus, Populismus, Revolutionismus und Laizismus. Der Kemalismus bestimmt weiterhin das politische, kulturelle und religiöse Leben in der Türkei. A. Akdeniz-Taxer, Öffentlichkeit, Partizipation, Empowerment, DOI 10.1007/ 978-3-531-93113-5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Glossar
Kopenhagener Kriterien: Die Kopenhagener Kriterien sind Kriterien, die potenzielle Beitrittsländer zur Europäischen Union erfüllen müssen. Mevlüt: religiöse Zeremonie anlässlich des Gedenkens von Toten, zur Geburt eines Kindes etc. wird zu Hause veranstaltet. Muhtar: GemeindevorsteherIn Okey: ein beliebtes Kahve-Spiel Sünnet: die Beschneidung -li, -lu, -lı, -lü: Suffix zum Ausdrücken regionaler Zugehörigkeit: I˙stanbullu -lar, -ler: Pluralsuffix: I˙stanbullular Ins¸ allah: arabisch: „Wenn Gott will“, drückt im Türkischen „hoffentlich“ aus Türkische Parteien (die in der Studie Erwähnung finden): AKP:
Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) Derzeitige Regierungspartei. Die Partei gilt als islamorientiert und konservativ, sie bietet unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen eine Plattform.
CHP:
Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei) Erste Partei der Türkei; kemalistisch orientiert, wird auch als sozialdemokratische Partei bezeichnet.
DEHAP: Demokrat Halk Partisi (Demokratische Volkspartei) Kurdischorientierte Partei, die 1997 als Nachfolgepartei der HADEP gegründet wurde. Sie wurde 2005 von der DTP abgelöst. DTP:
Demokratik Toplum Partisi (Demokratische Gesellschaftspartei) Kurdisch orientierte Partei, Nachfolgerin der DEHAP.
DYP:
Dogru Yol Partisi (Partei des rechten Weges) Konservativ ausgerichtete Partei, heute ohne türkeiweite Bedeutung
SHP:
Sosyaldemokrat Halk Partisi (Sozialdemokratische Volkspartei) Sozialdemokratische Partei, heute ohne türkeiweite Bedeutung