Dick Francis
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Dick Francis
Fehlstart
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Als Physiklehrer weiß Jonathan Derry das verräterische Quietschen auf den Musikkassetten, die ihm sein Freund mit auf den Heimweg gegeben hat, sofort zu deuten. Statt des versprochenen BroadwayMusicals entdeckt er ein raffiniertes Computersystem, mit dem man die gesamten Pferdewetten Englands knacken – und gewinnen kann. Als nach kurzer Zeit ein gewisser Angelo bei ihm auftaucht und die Kassetten mit höchst unfeinen Methoden zurückfordert, kommen Jonathan seine Talente als Olympiascharfschütze sehr zustatten. Angelo läßt nicht locker und versucht es bei Jonathans kleinem Bruder auf die gleiche erpresserische Tour. Doch der ist ein gebranntes Kind und hat viel raffiniertere Munition auf Lager. Vor allem versteht er etwas von Pferden. ISBN: 3 257 22756 6 Original: Twice Shy Aus dem Englischen von Malte Krutzsch Verlag: Diogenes Verlag AG Zürich Erscheinungsjahr: 1995 Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
In Liebe und Dank für meinen Sohn FELIX Ein hervorragender Schütze, der Physik unterrichtet
TEIL EINS: JONATHAN
1 Ich sagte den Jungs, sie sollten sich ruhig verhalten, während ich mein Gewehr holen ging. Normalerweise klappte es. Für die fünf Minuten, die ich brauchte, um zu dem Spind im Lehrerzimmer und wieder zurück ins Klassenzimmer zu kommen, konnte man darauf zählen, daß dreißig vierzehnjährige, halbunterdrückte Rowdys einen Zustand brüchigen guten Benehmens durchhielten, gezügelt nur durch die Verheißung einer Unterrichtsstunde, auf die sie sich wirklich gefreut hatten. Physik im allgemeinen erachteten sie für unannehmbar schwere Geistesarbeit, aber was geschah, wenn ein Gewehr eine Kugel ausspuckte … das war interessant. Jenkins hielt mich im Lehrerzimmer einen Augenblick auf: Jenkins mit der sauren Miene und dem schlechtgelaunten Schnurrbart, der mir sagte, Impuls könne man mit Kreide auf einer Tafel besser erklären, und eine richtige Schußwaffe sei einfach zügellose Selbstdarstellung meinerseits. »Sie haben ohne Zweifel recht«, sagte ich kühl und drückte mich an ihm vorbei. Er sah mich wie üblich mit frustrierter Gehässigkeit an. Er haßte meine Taktik, ihm immer beizupflichten, was freilich der Grund war, weshalb ich es tat. »Entschuldigen Sie«, sagte ich im Weitergehen. »Die 4A wartet.« Die 4A jedoch wartete nicht in dem erhofften Zustand leise siedender Erregung. Sie war statt dessen ein kollektives Gekicher, das sich rasch einem leichten hysterischen Anfall näherte. 5
»Hört mal«, sagte ich rundheraus, denn schon beim ersten Schritt durch die Tür spürte ich die Stimmung, »beruhigt euch, oder ihr schreibt Notizen ab.« Diese schrecklichste aller Drohungen zeigte keine Wirkung. Das Gekicher war nicht abzustellen. Die Blicke der Klasse schossen zwischen mir und meinem Gewehr und der Tafel, die für mich hinter der offenen Tür noch außer Sicht war, hin und her, und auf jedem der jungen Gesichter lag die ausgelassenste Vorfreude. »Okay«, sagte ich und schloß die Tür, »was steht denn wieder Schönes …« Ich hielt inne. Es stand nichts an der Tafel. Einer der Jungen stand davor, kerzengerade und still: Paul Arcady, der Witzbold der Klasse. Er stand kerzengerade und still, weil auf seinem Kopf ein Apfel balancierte. Das Gekicher rings um mich explodierte in Gelächter, und ich selbst konnte auch kein ernstes Gesicht bewahren. »Können Sie ihn runterschießen, Sir?« Die Stimmen übertönten ein allgemeines Geschrei. »Wilhelm Teil hat es gekonnt, Sir.« »Sollen wir ’n Krankenwagen rufen, Sir, für alle Fälle?« »Wie lange braucht eine Kugel, um Pauls Schädel zu durchqueren, Sir?« »Sehr lustig«, sagte ich repressiv, aber natürlich war es sehr lustig, und sie wußten es. Nur, wenn ich zuviel lachte, würde ich die Kontrolle über sie verlieren, und die Kontrolle über solch eine launische Masse war immer prekär. »Wirklich geistreich, Paul«, sagte ich. »Geh und setz dich hin.« 6
Er war zufrieden. Er hatte sich vollendet in Szene gesetzt. Er nahm den Apfel mit angeborener Eleganz vom Kopf, kehrte ordentlich auf seinen Platz zurück und nahm die bewundernden Scherze und die neidischen Pfiffe als gebührenden Lohn entgegen. »Also schön«, sagte ich und pflanzte mich entschlossen dort auf, wo er gestanden hatte. »Am Ende dieser Stunde werdet ihr alle wissen, wie lange eine Kugel brauchen würde, um bei einem bestimmten Tempo eine bestimmte Entfernung zu durchmessen …« Das Gewehr, das ich in die Stunde mitgebracht hatte, war ein simples Luftgewehr, doch ich erzählte ihnen auch, wie eine Büchse funktionierte und wieso eine Kugel oder ein Bleikorn jeweils schnell heraustrat. Ich ließ sie das glatte Metall anfassen: Für viele von ihnen das erste Mal, daß sie ein richtiges Gewehr, sei es auch nur ein Luftgewehr, aus nächster Nähe sahen. Ich erklärte, wie Kugeln gemacht wurden und wie sie sich von den Bleikörnern, die ich dabeihatte, unterschieden. Wie Lademechanismen funktionierten. Wie die Rillen in einem Gewehrlauf die Kugel rotieren ließen, um sie schnell drehend auszustoßen. Ich erzählte ihnen von Luftwiderstand und Hitze. Sie hörten konzentriert zu und stellten die Fragen, die sie immer stellten. »Können Sie uns sagen, wie eine Bombe funktioniert, Sir?« »Eines Tages«, sagte ich. »Eine Atombombe?« »Eines Tages.« »Eine Wasserstoff- … Kobalt- … Neutronenbombe?« »Eines Tages.« 7
Sie fragten niemals, wie Radiowellen den Äther durchquerten, was für mich das größere Rätsel war. Sie fragten nach Zerstörung, nicht Schöpfung, nach Macht, nicht Symmetrie. Die Saat der Gewalt, die jedes männliche Kind in sich trägt, schaute aus jedem Gesicht, und ich wußte, wie sie dachten, weil ich selbst dort gewesen war. Warum sonst hatte ich in ihrem Alter zahllose Stunden hindurch mit einem 22er Kadettengewehr auf einem Schießstand geübt, meine Kunst verbessert, bis ich auf fünfzig Meter ein Ziel von der Größe eines Daumennagels neun von zehn Malen treffen konnte. Eine seltsame, sinnlose, sublimierte Kunst, die ich nie auf ein lebendes Wesen anzuwenden gedacht, aber seither nicht verlernt hatte. »Stimmt es, Sir«, sagte einer von ihnen, »daß Sie eine olympische Medaille im Gewehrschießen gewonnen haben?« »Nein, es stimmt nicht.« »Was denn, Sir?« »Ich möchte, daß ihr alle mal die Geschwindigkeit einer Kugel im Vergleich zur Geschwindigkeit eines anderen Gegenstandes, den ihr alle kennt, betrachtet. Glaubt ihr nun, ihr könntet in einem Flugzeug nebenher fliegen und aus dem Fenster schauen und eine Kugel sehen, die Schritt hält mit euch, so daß es scheint, als ob sie da vor dem Fenster stillsteht?« Die Stunde lief weiter. Sie würden sich ihr Leben lang daran erinnern, wegen des Gewehrs. Ohne das Gewehr, was immer Jenkins auch glauben mochte, wäre sie in dem allgemeinen Staub untergegangen, den sie jeden Nachmittag um vier von ihren Schuhen schüttelten. Unterrichten, so schien es mir oft, war ebensosehr eine Sache des Bilderbeschwörens wie des Mitteilens 8
wirklicher Information. Die in Späße gekleideten Fakten waren diejenigen, die sie in Prüfungen richtig hinkriegten. Ich unterrichtete gerne. Besonders gern unterrichtete ich Physik, ein Fach, dem ich mit Leidenschaft und Freude anhing, wobei ich durchaus wußte, daß die meisten Leute entsetzt davor zurückscheuten. Physik war nur die Wissenschaft der unsichtbaren Welt, wie Geographie die der sichtbaren. Physik war die Wissenschaft von all den ungeheuer mächtigen Unsichtbarkeiten – Magnetismus, Elektrizität, Schwerkraft, Licht, Schall, kosmische Strahlen … Physik war die Wissenschaft von den Rätseln des Universums. Wie konnte irgend jemand sie für langweilig halten? Ich war seit drei Jahren Leiter der Physikabteilung der Gesamtschule von East Middlesex und hatte vier Lehrer und zwei technische Fachkräfte unter mir. Da ich jetzt dreiunddreißig war, hatte ich für die Zukunft noch Aussicht auf ein Konrektorat, höchstwahrscheinlich in Verbindung mit einem Ortswechsel, und vielleicht sogar auf ein Rektorat, obwohl ich das, wenn ich es mit vierzig nicht erreicht hatte, vergessen konnte. Schulleiter wurden Jahr für Jahr jünger; vor allem, wie Zyniker munkelten, weil die Behörden den Mann, den sie ernannten, um so mehr herumkommandieren konnten, je jünger er war. Ich war alles in allem zufrieden mit meiner Stellung und glaubte an meine Zukunft. Nur zu Hause standen die Dinge nicht so gut. Die 4A lernte vom Impuls, und Arcady aß seinen Apfel, als er dachte, ich sähe nicht hin. Mein Blickfeld aber war nach zehn Jahren Lehrberuf derart scharf erweitert, daß sie zuweilen glaubten, ich könne buchstäblich mit dem Hinterkopf sehen. Es schadete nichts: Es machte die Kontrolle leichter. 9
»Laß die Kitsche nicht auf den Boden fallen, Paul«, sagte ich mild. Es war eine Sache, ihn den Apfel essen zu lassen – er hatte es sich verdient –, aber eine ganz andere, ihn glauben zu lassen, ich hätte es nicht gesehen. Die Monster im Griff zu behalten, war ein immerwährendes psychologisches Spiel, aber auch die erste Priorität. Ich hatte erlebt, wie Stärkere als ich durch den Jagdrudelinstinkt von Kindern bis zum Nervenzusammenbruch erschöpft wurden. Als die Schlußklingel kam, erwiesen sie mir die größte aller Höflichkeiten und ließen mich ausreden, ehe sie in wilder Flucht heimwärts stürmten. Schließlich war es Freitag, die letzte Stunde – und Gott sei gedankt für die Wochenenden. Ich machte langsam die Runde durch die vier Physiklabors und die zwei Apparateräume und prüfte, ob alles in Ordnung war. Die beiden Techniker, Louisa und David, waren dabei, alle Geräte auseinanderzunehmen und wegzuräumen, die am Montag nicht gebraucht wurden. Sie pflückten die Bemühungen der 5E um Radioschallsysteme in Stücke und legten die Batterien, Klammern, Grundplatten und Transistoren wieder in die zahllosen Ständer und Fächer in den Apparateräumen. »Jemand Bestimmtes auf der Abschußliste?« sagte Louisa mit Blick auf das Gewehr, das ich bei mir hatte. »Wollte es nicht unbeaufsichtigt lassen.« »Ist es geladen?« Ihre Stimme klang beinahe hoffnungsvoll. Freitags gegen Ende war sie stets in der Verfassung, wo man sie besser nicht um eine Gefälligkeit bat – es sei denn, man war gewillt, weinerliche zehn Minuten à la »Sie ahnen ja nicht, wie dieser Job einen fordert« über sich ergehen zu lassen, und darauf konnte ich gut verzichten. Louisas Koller gründeten vermutlich 10
auf ihrer Überzeugung, daß das Leben sie betrogen hatte, da sie mit vierzig eine Art Lagerverwalterin war (tüchtig, sorgfältig und hilfsbereit), aber keine große Wissenschaftlerin. »Wenn ich aufs College gegangen wäre …«, sagte sie gerne und hinterließ dabei den Eindruck, wenn sie es getan hätte, wäre Einstein in den Schatten gestellt worden. Ich bewältigte Louisa, indem ich mich bei den ersten Anzeichen von Verdruß zurückzog, was vielleicht schwach war, aber ich mußte berufsmäßig mit ihr leben, und Anfälle von Düsterkeit drückten auf ihr Arbeitstempo. »Meine Liste für Montag!« sagte ich und gab sie ihr. Verächtlich warf sie einen Blick darauf. »Martin hat die Oszilloskope für die dritte Stunde bestellt.« Die Oszilloskopenknappheit der Schule war eine beständige Quelle von Reibungen. »Sehen Sie mal, was Sie drehen können.« »Kämen Sie vielleicht mit zwei aus?« Ich sagte, das ginge wohl, lächelte, hoffte, es würde schön bleiben für ihre Gartenarbeit, und machte mich auf den Heimweg. Ich fuhr langsam, während das bleierne Gefühl der Resignation sich einstellte, sich festfraß wie immer auf der Rückfahrt. Zwischen Sarah und mir gab es keine Freude mehr, keine sich erneuernde Liebe. Acht Jahre verheiratet und keine Empfindung außer wachsende Langeweile. Wir hatten keine Kinder bekommen können. Sarah hatte auf sie gehofft, sich nach ihnen gesehnt, nach ihnen verzehrt. Wir waren bei allen erdenklichen Spezialisten gewesen, und Sarah hatte unzählige Injektionen und Pillen bekommen und zwei Operationen hinter sich. Meine eigene Enttäuschung war erträglich, wenn auch nichtsdestoweniger tief. Ihre hatte sich als widerspenstig 11
und schließlich als lähmend erwiesen insofern, als sie einem Zustand dauernder Depression verfallen war, aus dem anscheinend nichts sie retten konnte. Ermutigende Therapeuten hatten uns gesagt, daß viele kinderlose Ehen sehr erfolgreich seien, in denen Mann und Frau durch ihr Unglück ungemein starke Bande schmiedeten, doch bei uns hatte es umgekehrt gewirkt. Wo einmal Leidenschaft gewesen war, war jetzt Höflichkeit, wo Pläne und Lachen, jetzt eine quälende Hoffnungslosigkeit, wo Tränen und Herzenskummer, Schweigen. Ich genügte ihr nicht, sie wollte Babys. Ich hatte der Tatsache ins Auge sehen müssen, daß Mutterschaft ihr am meisten bedeutete, daß Heirat nur der Weg dahin gewesen war, daß so mancher Mann dem Zweck entsprochen haben würde. Hin und wieder fragte ich mich unglücklich, wie schnell sie sich von mir hätte scheiden lassen, wäre ich es gewesen, der sich als unfruchtbar erwiesen hätte: und anzunehmen, wir wären auf immer ganz zufrieden gewesen, wenn sie Erfüllung gefunden hätte, brachte auch nichts ein. Ich möchte behaupten, es war eine Ehe wie viele andere. Wir zankten nie. Widersprachen uns selten. Gleichgültigkeit gab den Ton an, und als eine ausschließliche, andauernde Lebensweise war das unendlich niederdrückend. Es war ein Nachhausekommen wie tausend andere. Ich parkte vor dem geschlossenen Garagentor und ging mit Luftgewehr und Schulheften beladen ins Haus. Sarah, wie gewohnt von ihrem Halbtagsjob als Zahnarzthelferin zurück, saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und las eine Illustrierte. »Hallo«, sagte ich. »Hallo. War’s gut heute?« »Nicht schlecht.« 12
Sie hatte nicht von ihren Seiten aufgeschaut. Ich hatte sie nicht geküßt. Vielleicht war es für uns beide besser als völlige Einsamkeit, aber nicht viel. »Es gibt Schinken zu Abend«, sagte sie. »Und Kohlsalat. In Ordnung?« »Schön.« Sie las weiter; eine schlanke blonde Frau, immer noch beeindruckend hübsch, doch jetzt mit einem ständigen reizbaren Gesichtsausdruck. Ich war daran gewöhnt, litt aber unerträgliche Sehnsucht, wenn die Erinnerung an die lachende Lebendigkeit der ersten Zeit hochkam. Manchmal fragte ich mich, ob sie wahrnahm, daß auch mir die Freude ausgegangen war, obwohl ich sie zuweilen noch tief in meinem Innern sprudeln fühlen konnte. An diesem speziellen Abend unternahm ich (was immer seltener vorkam) eine Anstrengung, uns aus unserem Trübsinn aufzurütteln. »Hör mal, laß uns einfach alles hinschmeißen und essen gehen. Vielleicht zu Florestan, wo auch Tanz ist.« Sie schaute nicht auf. »Sei nicht albern.« »Gehen wir doch einfach mal.« »Ich mag nicht.« Eine Pause. »Ich würde lieber fernsehen.« Sie blätterte um und setzte gleichgültig hinzu: »Und die Preise im Florestan können wir uns nicht leisten.« »Wir könnten, wenn du Freude daran hättest.« »Nein, hätte ich nicht.« »Tja«, seufzte ich, »dann fange ich mal mit den Heften an.« Sie nickte leicht. »Abendbrot um sieben.« »Ist gut.« 13
Ich wandte mich zum Gehen. »Es ist ein Brief für dich von William gekommen«, sagte sie in gelangweiltem Ton. »Ich hab’ ihn raufgelegt.« »Ja? Gut, danke.« Sie las weiter, und ich ging mit meinem Zeug hinauf ins dritte und kleinste unserer drei Schlafzimmer, das ich als eine Art Arbeitszimmer plus Büro benutzte. Der Grundstücksmakler, der uns das Haus zeigte, hatte den Raum munter als »gerade richtig für das Kinderzimmer« bezeichnet und sich beinah um den Verkauf gebracht. Ich hatte ihn für mich annektiert und ihn so maskulin wie möglich gestaltet, aber ich wußte, daß für Sarah dort immer noch der Geist ungeborener Kinder schwebte. Sie ging selten hinein. Es war schon etwas ungewöhnlich, daß sie mir den Brief meines Bruders auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er lautete: Lieber Jonathan, kann ich bitte dreißig Pfund haben? Die brauche ich, um in den Ferien auf die Farm zu gehen. Ich hab’ Mrs. Porter geschrieben, und sie nimmt mich. Sie sagt, ihre Preise sind wegen der Inflation gestiegen. Wegen dem, was ich futtere, kann es nicht sein, da sie mir hauptsächlich Brot und Honig verabreicht. (Keine Klagen.) Außerdem brauche ich eigentlich etwas Geld zum Reiten, für den Fall, daß sie mich im Stall keine Ritte mehr mit Ausmisten verdienen lassen. Da waren sie im letzten Jahr etwas komisch, hängt irgendwie mit dem Gesetz und der Ausbeutung Jugendlicher zusammen, ich bitte Dich! Geh scharf auf die sechzehn. Jedenfalls, wenn Du einen glatten Fünfziger draus machen könntest, wär das prima. Falls ich meine 14
Reitstunden verdienen kann, schicke ich Dir den Extrazwanziger zurück, wenn man sich nämlich in dieser Nobelpenne die dicken Kohlen nicht klauen lassen will, muß man sie schon einbetonieren. Die Ferien sind Freitag in einer Woche, früher dieses Jahr, könntest Du es also schnell schicken, wenn’s geht? Hast Du mitgekriegt, daß Clinker das Wrap-upHindernis in Stratford echt gewonnen hat? Wenn Du nicht willst, daß ein Jockey aus mir wird, wie wär’s dann mit einem Wettberater? Hoffe, es geht Dir gut. Und Sarah auch. William. P.S. Kannst Du zum Sportfest oder zum Blabla-Tag kommen? Ich hab’ einen Preis für zwei und zwei gekriegt, was Dich gewißlich wundert. Blabla-Tag war die Jahresschlußfeier, bei der die Schulpreise übergeben wurden. Aus dem einen oder anderen Grund hatte ich die von William alle verpaßt. Diesmal würde ich hinfahren, dachte ich. Selbst William mochte sich manchmal allein fühlen, wenn keiner, der ihm nahestand, je zusah, wie er seine Preise einheimste, und das tat er mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Dank eines reichen Paten, der ihm eine Menge Geld zu treuen Händen »für seine Erziehung und Berufsausbildung, und viel Glück dem kleinen Racker« hinterlassen hatte, ging William auf eine höhere Privatschule. Williams Treuhänder zahlten regelmäßig seine Gebühren an die Schule und an mich den Unterhalt für Kleidung und sonstige Ausgaben, und ich gab nach Bedarf an William Bares weiter. Es war eine Regelung, die in vieler Hinsicht ausgezeichnet klappte, unter anderem, weil es auch hieß, 15
daß William nicht bei mir und Sarah wohnen mußte. Der laute und unabhängig eingestellte Bruder ihres Mannes war nicht das Kind, das sie wollte. William verbrachte seine Ferien auf Bauernhöfen, und Sarah meinte gelegentlich, es sei höchst unfair, daß William mehr Geld hätte als ich, und William sei restlos verzogen worden von dem Tag an, als meine Mutter feststellte, daß sie mit sechsundvierzig noch einmal schwanger war. Sarah und William übten sich, wann immer sie einander begegneten, in vorsichtiger Zurückhaltung und nur gelegentlich in ehrlicher Direktheit. William hatte sehr schnell gelernt, sie nicht aufzuziehen, wie es seiner natürlichen Neigung entsprach, und Sarah hatte sich damit abgefunden, daß sarkastisch erteilte Kritik zu einem beißenden Konter einlud. Als Folge davon umkreisten sie sich gegenseitig wie zwei genau gleichstarke Gegenspieler, die nicht den offenen Krieg erklären wollten. Solange er sich erinnern konnte, hatte William sich unwiderstehlich zu Pferden hingezogen gefühlt, und längst hatte er seine Absicht erklärt, Jockey zu werden, was von Sarah stark und von mir leicht mißbilligt wurde. Sicherheit, meinte William, sei ein schmutziges Wort. Es gäbe Besseres im Leben als einen sicheren Beruf. Sarah und ich waren wohl glücklicher mit Ordnung und Gewohnheit und Leistung. William schien mit seinen dreizehn, vierzehn und jetzt fünfzehn Jahren zunehmend nach Luft und Tempo und Unsicherheit zu dürsten. Es war typisch für ihn, daß er plante, die Woche Ferien mit Reiten zu verbringen, anstatt für die acht Mittlere-ReifePrüfungen zu arbeiten, die unmittelbar darauf bevorstanden. Ich ließ seinen Brief auf dem Schreibtisch, damit ich nicht vergaß, ihm einen Scheck zu schicken, und schloß den Schrank auf, in dem ich meine Gewehre verwahrte. 16
Das Luftgewehr, das ich mit in die Schule genommen hatte, war kaum mehr als ein Spielzeug und brauchte weder Waffenschein noch sichere Lagerung, aber ich besaß zwei 7.62er Mauser, eine 7.62er Enfield Nr. 4 und zwei Anschütz.22, die von allen möglichen Vorschriften umwuchert waren, und ebenso eine alte Lee Enfield.303 aus meinen Anfangszeiten, die so tödlich war wie eh und je, wenn man die Munition dafür auftreiben konnte. Das bißchen, das ich hatte, hortete ich, hauptsächlich aus Nostalgie. .303-Patronen wurden nicht mehr hergestellt, seit die Armee in den sechziger Jahren auf 7,62 mm umgestiegen war. Ich stellte das Luftgewehr wieder in seinen Ständer, prüfte nach, daß alles so war, wie es sein sollte, und verschloß die Tür vor dem vertrauten Ölgeruch. Das Telefon klingelte unten, und Sarah ging dran. Ich sah auf den Stapel Schulhefte, die alle gelesen und korrigiert und den Jungs am Montag zurückgegeben werden mußten, und fragte mich, warum ich bloß keinen Job mit festen Stunden hatte, den man nicht mit heim zu nehmen brauchte. Nicht nur für die Schüler war Hausarbeit eine Mühsal. Ich konnte Sarahs Telefonannahmestimme hören, laut und klar. »Oh. Hallo, Peter. Wie nett …« Eine lange Pause folgte, während Peter sprach, und dann ein Aufheulen von Sarah. »O nein! O mein Gott! O nein, Peter …« Entsetzen, Unglauben, große Sorge. Ein Klang jedenfalls, der mich geradewegs nach unten brachte. Sarah saß stocksteif auf dem Sofa und hielt das Telefon am Ende seiner langen Schnur. »O nein«, sagte sie heftig. »Das kann doch nicht wahr sein. £5 kann einfach nicht.« 17
Sie starrte mich blicklos an, mit hochgerecktem Hals, sogar mit den Augen zuhörend. »Ach, natürlich … natürlich werden wir … Ach, Peter, ja natürlich … Ja, auf der Stelle. Ja … doch … wir kommen …« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »So gegen neun. Reicht das? … Also gut … und Peter, grüß sie lieb von mir …« Sie legte klappernd mit zitternden Händen den Hörer auf. »Wir müssen hin«, sagte sie. »Peter und Donna –« »Nicht heute abend«, protestierte ich. »Was immer es ist, nicht heute abend. Ich bin verdammt müde, und ich hab’ die ganzen Hefte …« »Doch, sofort, wir müssen sofort hin.« »Es sind hundert Meilen.« »Ist mir gleich, wie weit es ist. Wir müssen jetzt fahren. Jetzt!« Sie stand auf und lief praktisch in Richtung Treppe. »Pack einen Koffer«, sagte sie. »Komm schon.« Ich ging ihr langsamer nach, halb verärgert, halb bewegt von ihrer Eindringlichkeit. »Sarah, nun warte doch mal. Was ist denn eigentlich Peter und Donna passiert?« Sie hielt auf der vierten Stufe an und sah über das Geländer zu mir runter. Sie weinte, ihr ganzes Gesicht in gequältem Durcheinander verzerrt. »Donna.« Die Worte waren undeutlich. »Donna …« »Hat sie einen Unfall gehabt?« »Nein … keinen …« »Was denn?« Die Frage löste nur vermehrte Tränen aus. »Sie … braucht … mich.« 18
»Dann fahr du«, sagte ich, erleichtert über die Lösung. »Ich komme ein paar Tage ohne den Wagen zurecht. Bis Dienstag jedenfalls. Montag kann ich den Bus nehmen.« »Nein. Peter möchte dich auch haben. Er bat mich … uns beide.« »Weshalb?« sagte ich, aber sie lief bereits die Treppe hoch und gab keine Antwort. Es wird mir nicht gefallen, dachte ich unvermittelt. Was immer auch passiert war, sie wußte, daß es mir nicht zusagen würde und daß meine Instinkte ganz auf der Seite der Nichteinmischung stehen würden. Ich folgte ihr widerstrebend nach oben, wo sie schon Kleider und Zahnkrem auf dem Bett zusammenwarf. »Donna hat doch Eltern, oder nicht?« sagte ich. »Und Peter doch auch. Wenn also etwas Schreckliches passiert ist, was brauchen sie in Gottes Namen uns?« »Es sind unsere Freunde.« Sie raste herum, weinte und schluckte und ließ Sachen fallen. Es war viel, viel mehr als gewöhnliches Mitgefühl für irgendein Übel, das Donna widerfahren sein mochte: Da war ein Übermaß, das zugleich beunruhigte und reizte. »Es übersteigt die Freundschaft«, sagte ich, »müde und mit knurrendem Magen nach Norfolk loszustürmen, ohne zu wissen warum. Und ich fahre nicht mit.« Sarah schien nicht zu hören. Das wahllose Packen ging ohne Pause weiter, und die Tränen entwickelten sich zu einem leisen, anhaltenden Wimmern. Hatten wir früher einmal viele Freunde gehabt, so hatten wir jetzt nur noch Donna und Peter, wenngleich sie nicht mehr fünf Meilen entfernt wohnten und dienstags mit uns Squash spielten. Alle anderen Freunde waren uns entweder aus den Augen gekommen oder hatten geheiratet und Familien gegründet; und nur Donna und Peter hatten 19
wie wir keine Kinder hervorgebracht. Nur die Gesellschaft von Donna und Peter, die nie von Kindern sprachen, konnte Sarah ertragen. Sie und Donna hatten einmal lange zusammengewohnt. Peter und ich hatten uns erst als ihre späteren Ehemänner kennengelernt und waren gut genug miteinander ausgekommen, daß die Freundschaft den Umzug nach Norfolk überstand, wenn sie jetzt auch eher eine Sache von Geburtstagskarten und Anrufen war als von häufigen Besuchen zu Hause. Einmal hatten wir zusammen einen Bootsurlaub auf dem Kanal verbracht. »Das machen wir nächstes Jahr wieder«, hatten wir alle gesagt; es aber nicht getan. »Ist Donna krank?« fragte ich. »Nein …« »Ich fahre nicht«, sagte ich. Das wehklagende Wimmern hörte auf. Sarah sah gräßlich aus, wie sie dastand mit abwesenden, geröteten Augen und einem unförmig zusammengelegten Nachthemd. Sie starrte nieder auf den hellgrünen wattierten Stoff, den sie gegen die Kälte getrennter Betten trug, und schließlich brach die verhängnisvolle Neuigkeit aus ihr hervor. »Man hat sie verhaftet«, sagte sie. »Donna … verhaftet?« Ich war erstaunt. Donna war ein Häschen. Ordentlich. Sanft. Schüchtern. Alles andere als wahrscheinlich, daß sie Ärger mit der Polizei bekam. »Jetzt ist sie zu Hause«, sagte Sarah. »Sie ist … Peter meint, sie ist … na … dem Selbstmord nahe. Er sagt, er wird nicht damit fertig.« Ihre Stimme hob sich. »Er sagt, er braucht uns … jetzt … sofort. Er weiß nicht, was er tun soll. Er meint, wir sind die einzigen, die helfen können.« 20
Sie weinte erneut. Was immer es war, es war zuviel. »Was«, sagte ich langsam, »hat Donna getan?« »Sie ging einkaufen«, sagte Sarah, endlich bemüht, verständlich zu reden. »Und da stahl sie … Sie stahl …« »Ja, um Himmels willen«, sagte ich, »klar, es ist schlimm für sie, aber Tausende von Leuten klauen beim Einkaufen. Also warum dieses übertriebene Theater?« »Du hörst ja nicht zu«, schrie Sarah. »Warum hörst du nicht zu?« »Ich –« »Sie hat ein Baby gestohlen.«
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2 Wir fuhren nach Norwich. Sarah hatte recht gehabt. Der Grund für unsere Reise gefiel mir nicht. Ich fühlte einen heftigen Widerwillen, in eine stark emotional geladene Situation hineingezogen zu werden, in der wahrscheinlich nichts Konstruktives zu unternehmen war. Meine freundschaftlichen Gefühle für Peter und Donna waren längst nicht stark genug. Für Peter vielleicht. Für Donna bestimmt nicht. Trotzdem, als ich an die ungeheuren Kräfte dachte, die auf dieses arme Mädchen eingewirkt haben mußten, um sie zu einer solchen Tat zu treiben, kam mir der Gedanke, daß vielleicht das unsichtbare Universum nicht bei der Art von Elektromagnetismus aufhörte, die ich unterrichtete. Jede lebende Zelle erzeugte schließlich elektrische Ladungen: besonders Gehirnzellen. Wenn ich Kindesraub einer elektrischen Entladung gleichsetzte, konnte ich eher damit froh werden. Sarah saß den größten Teil des Weges schweigend neben mir, erholte sich, stellte sich um und bereitete sich vor. Nur einmal sagte sie, was uns beiden durch den Kopf gegangen sein muß. »Das hätte ich sein können.« »Nein«, sagte ich. »Du weißt ja nicht … wie es ist.« Es gab keine Antwort. Wenn man nicht weiblich und unfruchtbar geboren war, konnte man es unmöglich wissen. Ich hatte über die Jahre um die fünfhundert Mal in einem Ton, der von Qual bis Gehässigkeit variierte, zu hören bekommen, daß ich nicht wußte, wie es war, und 22
darauf gab es jetzt so wenig eine Antwort wie beim ersten Mal. Der lang sich hinziehende Maiabend machte das Fahren leichter als gewöhnlich, obwohl die Strecke von London nach Norden im Freitagabend-Exodus immer eine schauderhafte Reise war. An ihrem fernen, fernen Ende lag das hübsche neue, kastenähnliche Haus mit seinen großen gesichtslosen, storeverhängten Fenstern und dem gepflegten Rasenrechteck. Ein schmuckes Haus in einer Straße von anderen, ziemlich ähnlichen. Ein stolzer Beweis, daß Peter eine bestimmte Gehaltsstufe erreicht hatte und noch künftige Verbesserung anstrebte. Ein Ort und eine Lebensweise, die ich verstand und harmlos fand: wo William erstickt wäre. Der Aufruhr hinter den nichtssagenden Netzgardinen war in mancher Hinsicht ziemlich wie erwartet und in anderer viel schlimmer. Das üblicherweise peinlich saubere Innere war in großer Unordnung, mit ungespülten Bechern und Tassen, die auf sämtlichen Ablagen feuchte Ringe bildeten, und umhergestreuten Kleidungsstücken und Papieren. Die Spur, die, wie mir klarwerden sollte, vom Kommen und Gehen der Obrigkeit während der letzten beiden Tage zurückgeblieben war. Peter begrüßte uns mit hohlen Augen und der gedämpften Stimme eines trauernden Angehörigen, und wahrscheinlich war das Geschehene für ihn und Donna buchstäblich schmerzlicher als ein Todesfall. Donna selbst saß stumm zusammengekauert am einen Ende des großen grünen Sofas in ihrem Wohnzimmer und machte keinen Versuch, auf Sarah einzugehen, als sie zu ihr eilte und in beinah rasender Zuneigung die Arme um sie schlang. Peter sagte hilflos: »Sie will nicht reden … oder essen.« 23
»Oder zur Toilette gehen?« »Was?« Sarah warf mir einen wütend vorwurfsvollen Blick zu, aber ich sagte mild: »Wenn sie zur Toilette geht, wenn sie das Bedürfnis verspürt, ist das doch ein gutes Zeichen. Es ist so eine normale Handlung.« »Ja schon«, sagte Peter matt. »Sie geht.« »In Ordnung.« Sarah fand offensichtlich, dies sei wieder mal ein Klassebeispiel für das, was sie meine allgemeine Herzlosigkeit nannte, doch ich hatte nur beruhigen wollen. Ich fragte Peter, was sich eigentlich abgespielt hätte, und da er es mir vor Donna selbst nicht sagen wollte, zogen wir uns in die Küche zurück. Auch dort hatten die Polizei, die Mediziner und Gerichtsbeamten und Sozialarbeiter ihren Kaffee gemacht und das Geschirr stehen lassen. Peter schien das Durcheinander nicht zu sehen, das in früheren Zeiten ihn und Donna in Putzwut versetzt hätte. Wir nahmen am Tisch Platz, während die letzten Spuren des Tages in der Dämmerung untergingen, und in diesem sanften Licht offenbarte er vorsichtig die Greuel. Am vorhergehenden Morgen, sagte er, hatte Donna das Baby aus seinem Kinderwagen genommen und war mit ihm in ihrem Wagen davongefahren. Sie war über siebzig Meilen nordöstlich zur Küste gefahren und hatte an irgendeiner Stelle den Wagen mit dem Baby dann stehen lassen, um über den Strand davonzuwandern. Der Wagen und das Baby waren innerhalb von Stunden aufgespürt und gefunden worden, und Donna selbst hatte man entdeckt, wie sie in strömendem Regen im Sand saß, sprachlos und wie betäubt. 24
Die Polizei hatte sie festgenommen, sie für eine Nacht in der Zelle aufs Revier gebracht und sie am nächsten Morgen einem Polizeirichter vorgeführt. Das Gericht hatte psychiatrische Gutachten verlangt, ein Datum für eine Vernehmung in einer Woche festgesetzt und trotz Protesten von Seiten der Mutter des Babys Donna freigelassen. Alle hatten Peter versichert, Donna würde nur Bewährung bekommen, dennoch schauderte es ihn vor der beängstigenden Zukunft mit ihren Schmähungen durch die Presse und die Nachbarschaft. Nach einer Pause, im Gedanken an Donnas tranceähnlichen Zustand, sagte ich: »Du hast Sarah erzählt, sie sei dem Selbstmord nah.« Er nickte unglücklich. »Heute nachmittag wollte ich sie aufwärmen. Um sie ins Bett zu stecken. Ich ließ ihr ein Bad ein.« Es dauerte einige Zeit, bis er weiterreden konnte. Es schien, daß der Selbstmordversuch tödlich ernst gewesen war: Er hatte sie im letzten Augenblick aufgehalten, als sie sich mit dem eingeschalteten Fön ins Wasser stürzen wollte. »Und sie hatte noch alle Kleider an«, sagte er. Mir schien, was Donna dringend brauchte, war eine erfahrene und kontinuierliche Pflege in einer komfortablen Privatklinik, und das alles würde sie wahrscheinlich nicht bekommen. »Komm mit raus auf einen Drink«, sagte ich. »Aber ich kann doch nicht.« Er zitterte die ganze Zeit kaum merklich, als würden seine Grundfesten von einem fernen Erdbeben erschüttert. »Donna ist bei Sarah gut aufgehoben.« »Aber sie könnte versuchen …« »Sarah kümmert sich schon um sie.« »Aber ich kann nicht unter …« 25
»Nein«, sagte ich. »Wir kaufen eine Flasche.« Ich kaufte einen Scotch mit zwei Gläsern bei einem philosophischen Gastwirt unmittelbar vor Lokalschluß, und wir saßen in meinem Wagen und tranken in einer ruhigen, baumgesäumten Straße drei Meilen weg von Peters Wohnung. Sterne und Straßenlaternen zwischen dem dunklen Laub. »Was sollen wir machen?« sagte er verzweifelt. »Die Zeit wird vergehen.« »Wir kommen nie darüber weg. Wie könnten wir? Es ist verflucht … unmöglich.« Er schluckte beim letzten Wort und fing an zu weinen wie ein Junge. Ein Ausbruch unerträglichen, angestauten, halb zornigen Kummers. Ich nahm ihm das wackelnde Glas aus der Hand. Saß da und wartete, gab vage mitfühlende Laute von mir und fragte mich, was bei Gott ich getan hätte, wenn es wirklich Sarah gewesen wäre. »Und daß es jetzt passiert«, sagte er schließlich, während er nach einem Taschentuch kramte, um sich zu schneuzen. »Ausgerechnet jetzt.« »Ähm … wie?« sagte ich. Er schniefte krampfartig und wischte sich die Wangen. »Es tut mir leid.« »Nicht doch.« Er seufzte. »Du bist immer so ruhig.« »Mir ist so etwas noch nicht passiert.« »Ich bin in der Klemme«, sagte er. »Das wird auch wieder besser.« »Nein, ich meine abgesehen von Donna. Ich wußte vorher schon nicht … was ich tun sollte … und jetzt, danach, kann ich nicht mal mehr denken.« 26
»Was für eine Klemme? Finanziell?« »Nein. Also, nicht direkt.« Er zögerte unsicher, brauchte einen Anstoß. »Was denn?« Ich gab ihm sein Glas zurück. Er betrachtete es abwesend, dann trank er den größten Teil des Inhalts auf einen Schluck. »Es macht dir nichts, wenn ich dir was aufbürde?« »Selbstverständlich nicht.« Er war ein paar Jahre jünger als ich, im selben Alter wie Donna und Sarah, und alle drei, so kam es mir mitunter vor, sahen mich nicht nur als Williams älteren Bruder, sondern auch als ihren. Jedenfalls war es für mich genauso natürlich wie für Peter, daß er mir seine Sorgen erzählte. Er war mittelgroß und dünn und hatte sich neuerdings einen längeren Schnurrbart zugelegt, der ihm nicht die überwältigende Macho-Erscheinung verlieh, die er vielleicht angestrebt hatte. Er sah immer noch wie ein harmloser, kompetenter Durchschnittsmensch aus, der werktags durch die Gegend fuhr, um kleinen Firmen sein technisches Computerwissen zu verkaufen, und sonntags an seinem Boot herumbastelte. Er tupfte sich wieder die Augen ab und atmete einige Minuten in tiefen, beruhigenden Zügen durch. »Ich bin in etwas hineingeraten, was ich mir lieber aus der Welt wünschen würde«, sagte er. »In was denn?« »Es fing mehr oder weniger als ein Scherz an.« Er trank den letzten Fingerbreit Whisky, und ich beugte mich rüber und schenkte ihm nach. »Da war so ein Kerl. Ungefähr unser Alter. Er war von Newmarket heraufgekommen, und 27
in der Kneipe, wo du den Whisky gekauft hast, kamen wir ins Gespräch. Er meinte, es wäre doch toll, wenn man Rennergebnisse aus dem Computer kriegen könnte. Und wir haben beide gelacht.« Ein Schweigen trat ein. »Wußte er, daß du mit Computern arbeitest?« sagte ich. »Ich hatte es ihm erzählt. Du weißt, wie das so geht.« »Und wie ging es weiter?« »Eine Woche drauf bekam ich einen Brief. Von diesem Typ. Weiß nicht, woher er meine Adresse hatte. Aus der Kneipe vermutlich. Der Barmann weiß, wo ich wohne.« Er nahm einen Schluck aus dem Glas und war eine Zeitlang still, dann redete er weiter. »Der Brief war eine Anfrage, ob ich gern jemand helfen würde, der ein Computerprogramm zur Ausrechnung von Pferden schrieb. Also dachte ich, warum nicht? Bei Pferderennen wird der Ausgleich, das Handikap, immer von Computern errechnet, und der Brief klang ziemlich amtlich.« »Aber er war’s nicht?« Er schüttelte den Kopf. »Ein kleines Privatunterfangen. Aber ich dachte immer noch, warum nicht? Jeder hat das Recht, sein eigenes Programm auszuarbeiten. So was wie richtig gibt es beim Ausgleichen nicht, außer wenn die Pferde genau entsprechend dem Gewicht einlaufen, das der Computer ihnen gegeben hat, aber das tun sie nie.« »Du weißt ja eine Menge darüber.« »Hab’ ich gelernt in den letzten Wochen.« Der Gedanke munterte ihn nicht auf. »Ich merkte nicht mal, daß ich Donna vernachlässigte, aber sie sagt, ich habe seit einer Ewigkeit kaum mit ihr geredet.« Seine Kehle zog sich zusammen, und er schluckte hörbar. »Vielleicht, wenn ich nicht so beschäftigt gewesen wäre …« 28
»Hör auf mit den Schuldgefühlen«, sagte ich. »Erzähl weiter von den Handikaps.« Nach einer Weile war er imstande dazu. »Er gab mir seitenweise Papierkram. Ganze Bündel. Alles handgeschrieben mit einer tierischen Klaue. Er wollte es zu Programmen geordnet haben, die jeder Depp durch einen Computer laufen lassen könnte.« Er zögerte. »Du kennst dich ja aus mit den Computern.« »Eher mit Mikrochips als mit Programmieren, so gut also auch wieder nicht.« »Bei den meisten Leuten ist es eher umgekehrt.« »Mag sein«, sagte ich. »Jedenfalls, ich habe die Programme gemacht. Eine ganze Menge. Es stellte sich raus, daß sie alle ziemlich die gleiche Chose waren. Besonders schwierig waren sie eigentlich nicht, als ich erst mal dahinterkam, was die ganzen Notizen zu bedeuten hatten. Die zu verstehen war am schwersten. Also jedenfalls, ich schrieb die Programme und wurde bar dafür bezahlt.« Er hielt inne und rutschte unruhig auf seinem Sitz herum, finster und stirnrunzelnd. »Was ist denn nun faul?« fragte ich. »Na, ich erklärte, es sei am besten, wenn ich die Programme ein paarmal auf dem Computer laufen ließe, den er benutzen wollte, weil Computer doch oft so unterschiedlich sind, und obwohl er mir gesagt hatte, welchen Computertyp er nehmen würde und ich Spielraum gelassen hatte, weiß man doch nie genau, ob keine Mucken drin sind, bis man die Sache tatsächlich auf dem richtigen Maschinentyp ausprobiert. Aber er ließ mich nicht. Ich sagte ihm, er wäre unvernünftig, und er sagte mir, ich solle mich gefälligst um meine Angelegenheiten kümmern. Also pfiff ich grad auf ihn und 29
dachte, wenn er so blöd sein wollte, wäre das sein Bier. Und dann tauchten die zwei anderen Männer auf.« »Was für zwei andere?« »Ich weiß es nicht. Sie feixten nur, als ich nach ihren Namen fragte. Sie wollten die kompletten, von mir geschriebenen Pferdeprogramme haben. Ich sagte, die hätte ich schon abgegeben. Sie sagten, sie hätten nichts mit dem zu tun, der für den Auftrag bezahlt hatte, ich sollte ihnen aber die Programme trotzdem geben.« »Und hast du?« »Na, schon – in gewisser Weise.« »Aber Peter –«, sagte ich. Er unterbrach. »Ja, ich weiß, aber sie waren so verdammt zum Fürchten. Sie kamen vorgestern – es scheint Jahre her –, vorgestern abend. Donna war spazieren gegangen. Es war noch hell. Gegen acht Uhr, möchte ich meinen. Sie geht oft spazieren …« Er verlor sich wieder, und ich stubste mit der Flasche sein Glas an. »Was?« sagte er. »Ach nein, nichts mehr, danke. Jedenfalls, sie kamen, und sie waren so arrogant, und sie sagten, es würde mir leid tun, wenn ich ihnen nicht die Programme gäbe. Sie meinten, Donna sei doch ein hübsches kleines Frauchen, und ich wolle doch sicher, daß sie das auch bliebe.« Er schluckte. »Ich hätte nie geglaubt … Ich meine, so etwas passiert doch nicht …« Es schien allerdings passiert zu sein. »Tja«, sagte er, wieder gefaßter, »ich gab denen zwar alles, was ich im Haus hatte, aber eigentlich waren das nur sozusagen erste Entwürfe. Ziemlich grob. Ich hatte drei oder vier Versuchsprogramme von Hand vorgeschrieben, wie ich’s oft mache. Ich weiß, daß eine Menge Leute mit Schreibmaschinen arbeiten oder sogar direkt mit einem 30
Computer, aber ich komme besser mit Stift und Radiergummi klar; was ich ihnen also gab, sah zwar gut aus, besonders wenn man keine Ahnung hat vom Programmieren, was auf sie wohl zutraf, aber viel war es nicht, wenn man es so nahm, wie es dastand. Und ich hatte keine Dateinamen dazugeschrieben, keine REMS oder dergleichen – die wüßten also, selbst wenn sie die Mucken aus den Programmen entfernten, noch nicht, worauf sie sich beziehen.« Befreite man die Fakten vom Jargon, dann hatte er offenbar im vollen Bewußtsein dessen, was er tat, möglicherweise gefährlichen Männern einen Haufen Schrott angedreht. »Ich verstehe«, sagte ich langsam, »was du mit der Klemme meintest.« »Ich hatte beschlossen, mit Donna für ein paar Tage wegzufahren, nur um in Sicherheit zu sein. Das wollte ich ihr gestern, wenn ich von der Arbeit heimkam, als nette Überraschung eröffnen, und dann erschien die Polizei bei mir im Büro und sagte, sie hätte ein Kind … ein Kind … O Gott, wie konnte sie bloß?« Ich schraubte den Verschluß auf die Flasche und sah auf meine Uhr. »Es geht auf Mitternacht«, sagte ich. »Wir kehren besser mal um.« »Wahrscheinlich.« Ich zögerte mit der Hand am Zündschlüssel. »Hast du der Polizei nichts von deinen zwei unliebsamen Besuchern gesagt?« fragte ich. »Nein. Ich meine, wie konnte ich denn? Sie gingen rein, raus, rein, raus bei mir, auch eine Polizistin, aber es drehte sich alles um Donna. Sie hätten nicht zugehört, und ohnehin …« »Ohnehin was?« 31
Er zuckte unbehaglich die Achseln. »Ich habe Bargeld dafür gekriegt. Ziemlich viel. Das will ich nicht versteuern. Wenn ich’s der Polizei sagte … tja, ich wäre mehr oder weniger dazu gezwungen.« »Es könnte besser sein«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf. »Es würde ein teurer Spaß für mich, die Polizei zu informieren, und was hätte ich davon? Sie würden sich aufschreiben, was ich sage, und abwarten, bis Donna eins auf die Nase kriegt, ehe sie etwas unternehmen. Ich meine, die können ja nicht rumlaufen und Tag und Nacht jeden beschützen, der irgendwie bedroht worden ist, oder? Und was Schutz für Donna angeht – na weißt du, die waren nicht sehr nett zu ihr. Die meisten waren richtig eklig. Die haben sich ihren Tee gekocht und über ihren Kopf weg geredet, als ob sie ein Holzklotz wäre. Man könnte meinen, sie hätte dem Baby die Augen ausgestochen, so wie die sie behandelt haben.« Es schien mir nicht unbegreiflich, daß die Behördensympathie vornehmlich auf der Seite der aufbrachten Mutter des Babys gewesen war, aber ich sprach es nicht aus. »Dann wäre es vielleicht schon am besten«, sagte ich, »wenn du mit Donna ein bißchen wegfahren würdest, gleich nach der Vernehmung. Kannst du Urlaub bekommen?« Er nickte. »Aber was sie eigentlich braucht, ist angemessene psychiatrische Pflege. Womöglich eine kurze Zeit in einer Nervenklinik.« »Nein«, sagte er. »Heutzutage ist die Erfolgsrate bei seelischen Erkrankungen hoch«, sagte ich. »Moderne Medikamente und Hormone und all das.« 32
»Aber sie ist doch nicht –« Er brach ab. Die alten Tabus starben schwer. »Das Gehirn gehört zum Körper«, sagte ich. »Es ist nicht davon getrennt. Und manchmal versagt es, genau wie alles andere. Wie die Leber. Oder die Nieren. Du würdest nicht zögern, wenn es ihre Nieren wären.« Er schüttelte jedoch den Kopf, und ich bestand nicht auf meiner Ansicht. Entscheiden mußte jeder selbst. Ich ließ den Wagen an und kutschierte uns zurück zum Haus, und Peter sagte, als wir auf die kurze Betonzufahrt bogen, Donna fühle sich auf ihrem Boot immer ungewöhnlich wohl und er werde mit ihr eine Bootsreise machen. Das Wochenende schleppte sich dahin. Ich versuchte hin und wieder verstohlen, die unerbittlichen Schulhefte zu korrigieren, doch das Telefon klingelte mehr oder minder in einem fort, und da die Gesprächsannahme die häusliche Aufgabe zu sein schien, für die ich am besten geeignet war, rutschte ich in routinemäßiges Geplapper ab. Verwandte, Freunde, Presse, Amtsvertreter, Gschaftlhuber, Spinner und Stänkerer, ich sprach mit ihnen allen. Sarah kümmerte sich mit extremer Zärtlichkeit und Hingabe um Donna und wurde zunächst mit abwesendem Lächeln und allmählich dann gedämpfter Rede dafür belohnt. Danach kamen hysterische Tränen, ein Haarekämmen, ein zaghaftes Essen, einen Kleiderwechsel und ein Mehr an kränklichem Verhalten. Wenn Peter mit Donna redete, geschah es in einer unglücklichen Mischung aus Liebe, Schuld und Vorwurf, und er fand so manche Gelegenheit, in den Garten zu flüchten. Am Sonntagmorgen fuhr er mit seinem Wagen fort, als die Lokale öffneten, und kam zu spät zum 33
Mittagessen wieder, und am Sonntagnachmittag sagte ich mit heimlicher Erleichterung, daß ich jetzt wegen der Schule am Montag wieder nach Hause müsse. »Ich bleibe hier«, sagte Sarah. »Donna braucht mich. Ich rufe meinen Chef an und erkläre es ihm. Er schuldet mir sowieso noch eine Woche Urlaub.« Donna ließ das inzwischen ultrahilflose Lächeln sehen, das sie in den vergangenen zwei Tagen kultiviert hatte, und Peter nickte eifrig Zustimmung. »Okay«, sagte ich langsam, »aber paß auf.« »Auf was?« sagte Sarah. Ich warf einen Blick zu Peter, der aufgeregt den Kopf schüttelte. Trotzdem schien es angebracht, einfache Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. »Laß Donna nicht alleine weggehen«, sagte ich. Donna wurde rot vor Zorn und Sarah war sofort verärgert, und ich sagte verlegen: »Ich wollte nicht … ich meinte, um sie zu schützen … vor Leuten, die vielleicht gehässig zu ihr sein wollen.« Sarah sah den Sinn darin und beruhigte sich, und wenig später war ich abfahrbereit. Ich sagte ihnen im Haus auf Wiedersehen, da anscheinend ständig Leute auf der Straße waren, die mit gierendem Blick auf die Fenster starrten, und noch in letzter Minute drückte Peter mir drei Kassetten in die Hand, die ich im Wagen spielen könnte, falls ich mich auf dem Nachhauseweg langweilen sollte. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf: The King and I, Oklahoma und West Side Story. Kaum der letzte Schrei, aber ich dankte ihm trotzdem, küßte Sarah, um den Schein zu wahren, küßte Donna ebenso und hob mich in beklagenswert aufstrebender Laune hinweg. 34
Erst auf dem letzten Drittel des Heimwegs, als ich Oklahoma zur Untermalung ausprobierte, stellte ich fest, daß, was Peter mir gegeben hatte, gar keine Musik war, sondern ganz etwas anderes. Anstatt Oh What a Beautiful Morning bekam ich ein laut vibrierendes, verkratztes Winseln, durchsetzt mit kurzen Einlagen von eintönigem reinem Winseln. Achselzuckend spulte ich das Band ein Stück vor und probierte es noch mal. Das gleiche. Ich holte das Band raus, drehte es um und probierte es wieder. Das gleiche. Probierte The King and I und West Side Story. Alles das gleiche. Ich wußte von Anfang an, was es für ein Geräusch war. Man vergaß es nicht, wenn man es einmal kannte. Das verkratzte Winseln entstand durch zwei Töne, die in sehr rascher Folge wechselten, so daß das Ohr kaum den höheren vom tieferen unterscheiden konnte. Und das reine Winseln wies schlicht auf eine Zwischenpause hin, wo nichts geschah. Auf Oklahoma dauerten die Zweitonspannen recht typisch etwa zwischen zehn Sekunden und drei Minuten. Ich hörte das Geräusch, das ein Computer erzeugt, wenn seine Programme auf normaler Bandkassette aufgenommen werden. Kassetten waren praktisch und viel in Gebrauch, besonders bei kleineren Computern. Man konnte einen ganzen Berg verschiedener Programme auf Tonbandkassetten speichern und einfach das jeweils Nötige herausgreifen und es benutzen: Aber die Kassetten waren trotzdem nach wie vor ganz gewöhnliche Kassetten, und wenn man das Band ganz normal auf einem Kassettenrecorder spielte, wie ich es getan hatte, hörte man das vibrierende Winseln. 35
Peter hatte mir drei 60-Minuten-Bänder von Computerprogrammen gegeben: Und es war nicht so besonders schwer zu erraten, um was für Programme es sich handelte. Ich fragte mich, warum er sie mir so hintenherum gegeben hatte. Ich fragte mich, genau gesagt, warum er sie mir überhaupt gegeben hatte. Na, wenn schon. Ich warf die Bänder und ihre irreführenden Hüllen ins Handschuhfach und drehte statt dessen das Radio an. Die Schule am Montag war eine Erholung nach den Treibhausemotionen in Norfolk, und die Probleme von Louisa-der-Technikerin erschienen wie Mottenflügelschlag neben denen von Donna. Am Montagabend, während ich mir im Fernsehen ein Programm meiner Wahl anschaute und mit den Füßen auf dem Couchtisch Cornflakes und Sahne aß, rief Peter an. »Wie geht’s Donna?« sagte ich. »Ich weiß nicht, was ohne Sarah aus ihr würde.« »Und dir?« »Ach, ganz gut. Hör zu, Jonathan, hast du mal eins von den Bändern gespielt?« »Ein bißchen von allen«, sagte ich. »Aha. Tja, ich nehme an, du weißt, was drauf ist?« »Deine Pferde-Handikap-Programme?« »Ja … ähm … Hebst du die vorläufig mal auf für mich?« Er gab mir keine Gelegenheit zu antworten und hastete weiter: »Wir hoffen nämlich, daß wir direkt nach der Vernehmung am Freitag aufs Boot können. Na ja, man muß schon annehmen, daß Donna Bewährung kriegt, selbst die fiesesten Beamten hier meinten, in einem solchen Fall wäre das so, aber es ist klar, daß sie furchtbar 36
durcheinander sein wird, wenn sie vor Gericht muß und alles, deshalb fahren wir weg, so schnell es geht, und mir gefiel der Gedanke nicht, diese Kassetten im Büro herumliegen zu lassen, da waren die nämlich, also bin ich gestern morgen rüber und hab’ sie geholt, damit ich sie dir geben konnte. Ich meine, das war nicht voll durchdacht. Ich hätte sie auf die Bank bringen können oder sonstwohin. Im Grunde wollte ich wohl, daß die Kassetten schnurstracks aus meinem Leben verschwinden, damit ich den beiden Rohlingen, wenn sie wiederkämen und nach den Programmen fragten, sagen könnte, ich hätte sie nicht und sie müßten sie sich von der Person holen, für die ich sie gemacht habe.« Mir kam nicht zum ersten Mal der Gedanke, daß Peter für einen Computer-Programmierer nicht gerade ein umwerfend logischer Denker war, aber vielleicht blockierten die Umstände die Leitungen. »Hast du von diesen Männern wieder gehört?« fragte ich. »Gott sei Dank nicht.« »Sie sind wahrscheinlich noch nicht dahintergekommen.« »Herzlichen Dank«, sagte er bitter. »Ich hebe die Bänder sicher auf«, sagte ich. »So lange du willst.« »Wahrscheinlich passiert gar nichts mehr. Schließlich habe ich nichts Ungesetzliches getan. Oder etwas auch nur entfernt Verkehrtes.« Das ›Wenn-wir-nicht-auf-das-Monster-gucken-geht-esweg‹-Syndrom, dachte ich. Aber vielleicht hatte er recht. »Warum hast du mir nicht gesagt, was du mir gibst?« erkundigte ich mich. »Weshalb die King and I-Maskerade und das alles?« 37
»Wie?« Seine Stimme klang beinahe verwirrt und klärte sich dann begreifend. »Ach, das war nur, weil ihr alle am Mittagstisch saßt, als ich aus dem Büro heimkam, und ich fand keine Gelegenheit, dich ohne die Mädchen zu erwischen, und ich wollte es nicht groß vor ihnen erklären müssen, da steckte ich sie einfach in die Hüllen, um sie dir zu geben.« Ein ganz leises Unbehagen flackerte in mir auf, doch ich unterdrückte es. Peters Welt, seit Donna das Baby entführte, war schwerlich eine Welt des gesunden Menschenverstandes und des Normalverhaltens gewesen. Er hatte sich alles in allem recht gut gehalten für jemand, der aus allen Richtungen gleichzeitig bedrängt wurde, und über das Wochenende hatte ich zunehmend Achtung vor ihm empfunden, ganz abgesehen von Sympathie. »Wenn du diese Programme laufen lassen willst«, sagte er, »brauchst du einen Grantley Computer.« »Ich glaube nicht …«, setzte ich an. »Sie wären vielleicht für William amüsant. Er ist doch verrückt auf Rennen, oder?« »Allerdings.« »Ich habe soviel Zeit darauf verwandt. Ich wüßte wirklich gerne, wie sie sich in der Praxis bewähren. Ich meine, von jemand, der sich mit Pferden auskennt.« »In Ordnung«, sagte ich. Aber Grantley Computer wurden nicht gratis in der Landschaft verstreut, und William hatte seine Prüfungen vor sich, und die Aussicht, die Programme tatsächlich zu benutzen, lag, wie es schien, in weiter Ferne. »Ich wollte, du wärst noch hier«, sagte er. »Dauernd die Telefonanrufe, die ziehen mich wirklich runter. Kamen bei dir auch so gemeine Giftspuckereien, so haßerfüllte Tiraden gegen Donna, als du die Gespräche angenommen hast?« 38
»Ja, mehrere.« »Aber die kennen sie doch überhaupt nicht.« »Sie sind gestört. Hör einfach nicht hin.« »Was hast du ihnen geantwortet?« »Ich riet ihnen, mit ihren Problemen zum Arzt zu gehen.« Eine etwas peinliche Stille entstand, dann sagte er aufbrausend: »Ich wünschte bei Gott, Donna wäre zum Arzt gegangen.« Ein Schlucken. »Ich hab’ nicht einmal gewußt … Ich meine, ich wußte zwar, daß sie Kinder gewollt hatte, aber ich dachte, na, wir konnten eben nicht und damit basta. Ich hätte nicht im Traum … Ich meine, sie ist doch so still immer und würde keiner Fliege was zuleide tun. Man hat ihr nie angemerkt … Wir haben uns ziemlich gern, weißt du. Oder wenigstens dachte ich …« »Peter, hör auf damit.« »Ja …« Eine Pause. »Natürlich, du hast recht. Aber es ist schwer, an irgend etwas anderes zu denken.« Wir unterhielten uns noch ein wenig, zogen aber nur dieselben alten Kreise, und als wir uns trennten, tat ich es mit dem Gefühl, ich hätte irgendwie mehr für ihn tun können, als ich getan hatte. Zwei Abende später fuhr er zum Fluß hinunter, um an seinem zwei Liegeplätze einnehmenden Kabinenkreuzer zu arbeiten, füllte die Tanks mit Wasser und Treibstoff, installierte neue Kochgasflaschen und prüfte nach, ob alles in betriebsfähigem Zustand war für seine Reise mit Donna. Er hatte mir vorher gesagt, daß er befürchtete, die Schiffsbatterie ging zu Ende, und wenn er keine neue besorgte, würden sie sie bei Nacht mit dem Licht ganz 39
aufbrauchen und am Morgen den Motor nicht mehr starten können. Es sei schon mal passiert, sagte er. Er wollte prüfen, ob die Batterie noch genug Kraft hätte. Sie hatte. Als er den ersten Funken zündete, flog die hintere Hälfte des Bootes in die Luft.
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3 Sarah teilte es mir mit. Sarah am Telefon mit der nüchternen, überkontrollierten Stimme der Erschöpfung. »Sie glauben, es war Gas oder Benzindampf. Sie wissen es noch nicht.« »Peter …« »Er ist tot«, sagte sie. »Es waren Leute in der Nähe. Sie sahen, wie er sich bewegte … die Kleider in Flammen. Er fiel über die Seite ins Wasser … aber als sie ihn rausholten …« Ein jähes Schweigen, dann langsam: »Wir waren nicht da. Gott sei Dank waren Donna und ich nicht da.« Ich war zittrig, und mir war ein wenig übel. »Möchtest du, daß ich komme?« sagte ich. »Nein. Wieviel Uhr ist es?« »Elf.« Ich hatte mich schon ausgezogen, um ins Bett zu gehen. »Donna schläft. Beruhigungstropfen.« »Und wie … wie geht es ihr?« »Gott, was glaubst du denn?« Sarah sprach selten so: ein wahrer Maßstab für die Schrecklichkeit der Lage. »Und Freitag«, sagte sie, »– übermorgen – soll sie vor Gericht.« »Man wird freundlich zu ihr sein.« »Ein Anruf kam schon gerade eben, von irgendeiner ekelhaften Frau, die mir sagte, es geschähe ihr recht.« »Ich komme doch besser«, sagte ich. »Kannst du doch nicht. Die Schule. Nein, mach dir keine Gedanken. Ich komm’ schon klar. Der Arzt sagte zumindest, er würde Donna noch mehrere Tage stark unter Beruhigungsmittel setzen.« 41
»Dann gib mir Bescheid, wenn ich helfen kann.« »Ja«, sagte sie. »Gute Nacht jetzt. Ich leg’ mich schlafen. Morgen gibt es allerhand zu tun. Gute Nacht.« Ich lag lange im Bett wach und dachte an Peter und die Ungerechtigkeit des Todes: Und am Morgen fuhr ich in die Schule, wo er mir den ganzen Tag immer wieder durch den Kopf ging. Auf der Heimfahrt sah ich, daß seine Kassetten noch im Handschuhfach auf einem Haufen lagen. Ich steckte die Bänder in ihre Hüllen, als der Wagen in der Garage stand, ließ sie in meine Jackentasche gleiten und brachte meine übliche Ladung Hefte ins Haus. Das Telefon klingelte fast sofort, doch es war nicht Sarah, wie ich als erstes dachte, sondern William. »Hast du meinen Scheck abgeschickt?« sagte er. »Teufel, hab’ ich vergessen.« Ich erklärte ihm wieso, und er räumte ein, daß man unter solchen Umständen über das Versäumnis hinwegsehen könne. »Ich schreib’ ihn jetzt gleich und schick’ ihn direkt auf die Farm.« »Okay. Also, das mit Peter tut mir leid. Er schien ein netter Kerl zu sein, als wir uns damals trafen.« »Ja.« Ich erzählte William von den Computerbändern und daß Peter seine Meinung dazu gewünscht hatte. »Bißchen spät jetzt.« »Aber interessant finden könntest du sie trotzdem.« »Mhm«, sagte er ohne große Begeisterung. »Wahrscheinlich irgend so ’n spinnertes Wettsystem. Ein Computer ist hier irgendwo in der Matheabteilung. Ich werd’ fragen, was für ’ne Sorte. Und hör mal, wie fändest du es, wenn ich nicht studieren würde?« »Schlimm.« 42
»Mhm. Hab’ ich befürchtet. Trotzdem, arbeite dran, großer Bruder. Da war dieses Jahr eine Masse Gerede, von wegen Berufswahl, aber ich schätze, es ist der Beruf, der dich wählt. Ich werde Jockey. Ich kann nicht anders.« Wir sagten Wiedersehen, und ich legte den Hörer auf mit dem Gedanken, daß es wenig Zweck hatte, jemand umstimmen zu wollen, der schon mit fünfzehn spürte, daß ein Beruf ihn am Schlafittchen hatte. Er war schlank und leicht: über die Pubertät hinaus, aber noch immer körperlich ein Junge, dem das Heranreifen zu männlicher Statur gerade bevorstand. Vielleicht, dachte ich hoffnungsvoll, brachte ihn die Natur auf meine einsachtzig und brach ihm das Herz. Sarah rief fast unmittelbar darauf an, in knappem Ton mit ihrer Zahnarzthelferinnenstimme. Der Schock war vorbei und die Erschöpfung auch. Sie sprach rechthaberisch-gereizt zu mir, der Nachhall, nahm ich an, eines sehr schwierigen Tages. »Anscheinend hätte Peter vorsichtiger sein müssen«, sagte sie. »Jedem, der ein Boot mit Innenbordmotor hat, wird eingeschärft, er soll erst starten, wenn er sicher ist, daß kein Gas, Benzin oder Benzindampf sich im Kielraum angesammelt hat. Jedes Jahr gehen Boote in die Luft. Er muß es gewußt haben. Man sollte nicht meinen, daß er so dumm gewesen ist.« Ich sagte mild: »Er hatte eine ganze Menge anderes im Kopf.« »Das stimmt wohl, aber trotzdem meinen alle …« Wenn man einen Menschen für seinen Tod selbst verantwortlich machen konnte, dachte ich, dann brauchte man weniger Mitgefühl aufzubringen. »Es war seine eigene Schuld …« Ich hörte förmlich die scharfe Stimme 43
meiner Tante beim Tod ihres Nachbarn … »Er hätte mit dieser Erkältung nicht rausgehen sollen.« »Die Versicherungsgesellschaft«, sagte ich zu Sarah, »versucht vielleicht, sich um die volle Summe zu drücken, die sie zahlen müßte.« »Bitte?« »Die Schuld dem Opfer zuschieben ist ein altbekannter Trick.« »Aber er hätte besser aufpassen sollen.« »Ja, schon. Aber Donna zuliebe würde ich das nicht herumerzählen.« Hierauf ein Schweigen, das als ärgerlich rüberkam. Dann sagte sie: »Von Donna soll ich dir ausrichten … Es wäre ihr lieber, wenn du dieses Wochenende nicht herkämst. Sie meint, sie könnte alles besser ertragen, wenn sie mit mir allem ist.« »Und du bist auch der Meinung?« »Tja, offen gesagt schon.« »Ist okay.« »Es macht dir nichts?« Sie hörte sich überrascht an. »Nein. Bestimmt hat sie recht. Sie zählt auf dich.« Und zu sehr, dachte ich. »Ist sie noch betäubt?« »Sediert.« Das Wort war eine Rüge. »Sediert also?« »Ja, natürlich.« »Und bei der Vernehmung morgen?« »Tranquilizer«, sagte Sarah entschieden. »Danach Schlaftabletten.« »Viel Glück damit.« »Ja«, sagte sie. 44
Sie legte beinahe brüsk auf und ließ mich mit der Erleichterung zurück, um eine unerfreuliche Aufgabe herumgekommen zu sein. Früher, nahm ich an, hätten wir fest zusammengehalten, um Donna zu helfen. Am Anfang wären unsere Reaktionen echter gewesen, weniger kompliziert, weniger verzerrt von unseren eigenen Depressionen. Ich trauerte um die alten Zeiten, aber ganz zweifellos war ich froh, daß ich das Wochenende nicht mit meiner Frau verbringen würde. Am Freitag fuhr ich immer noch mit den Computerbändern in der Jackentasche zur Schule, und da ich fand, daß ich Peter wenigstens einen Versuch schuldig war, sie laufen zu lassen, wandte ich mich an einen der Mathematiklehrer im Lehrerzimmer. Ted Pitts, kurzsichtig, klardenkend, zweisprachig in Englisch und Algebra. »Dieser Computer, den Sie da in irgendeinem Kabuff in der Matheabteilung versteckt haben«, sagte ich, »das ist doch Ihr besonderer Schützling, nicht?« »Wir benützen ihn alle. Wir unterrichten die Kinder damit.« »Aber Sie sind der, der auf ihm spielt wie Beethoven, während der Rest noch mit Eßstäbchen übt?« Er genoß das Kompliment auf seine ruhige Art. »Na ja«, sagte er. »Können Sie mir sagen, was für ein Fabrikat es ist?« fragte ich. »Klar. Ein Harris.« »Und ein Band«, sagte ich mutlos, »das auf einem Grantley aufgenommen wurde, läßt sich damit wohl nicht abspielen?« »Kommt darauf an«, meinte er. Er war ernst und nachdenklich, sechsundzwanzig, arm an Humor, aber voll von 45
guten Absichten und Idealen sportlicher Fairneß. Er litt gewaltig unter dem abscheulichen Sauertopf Jenkins, der das Mathematikressort leitete und seinen Mitarbeitern die ehrfurchtsvolle Haltung abrang, die er von mir nie bekam. »Der Harris hat keine eingebaute Sprache«, sagte Ted. »Sie können ihm jede Computersprache eingeben, Fortran, Cobol, Algol, Z-80, Basic, was Ihnen beliebt, der Harris nimmt es. Dann können Sie jedes in diesen Sprachen abgefaßte Programm spielen. Aber der Grantley ist eine kleinere Sache, der wird fix und fertig vorprogrammiert mit seiner eigenen Form von Basic geliefert. Wenn Sie ein Grantley-Basic-Sprachband hätten, könnten Sie das dem Memory unseres Harris eingeben, und dann auch Grantley-Basic-Programme darauf laufen lassen.« Er unterbrach sich. »Äh, ist das klar?« »Ungefähr.« Ich überlegte. »Wäre es sehr schwierig, an ein Grantley-Basic-Sprachband ranzukommen?« »Weiß nicht. Am besten schreiben Sie direkt an die Fabrik. Die könnten Ihnen eins schicken. Und vielleicht auch nicht.« »Wieso vielleicht auch nicht?« Er zuckte die Achseln. »Die könnten der Meinung sein, da müßten Sie erst mal einen ihrer Computer kaufen.« »Um Himmels willen«, sagte ich. »Doch, doch. Diese Computerfirmen, wissen Sie, sind sehr komisch. Die kleineren Bürocomputer verwenden durchweg Basic, weil es die einfachste Sprache ist und zudem eine der besten. Aber die Herstellerfirmen bauen alle ihre eigenen Varianten ein, damit man, wenn man seine Programme mit ihren Maschinen aufnimmt, sie nicht auf irgendeiner anderen laufen lassen kann. So bleiben Sie ihnen in Zukunft treu, wenn Sie nämlich das Fabrikat wechseln, werden alle Ihre Bänder unbrauchbar.« 46
»Was für ein Schmarren«, sagte ich. Er nickte. »Profite siegen über die Vernunft.« »Wie der Ärger mit den ganzen Videorecordern, die nicht zusammenpassen.« »Genau. Aber man sollte denken, die Computerfirmen hätten mehr Verstand. Die halten vielleicht gewaltsam ihre Kunden fest, aber sonst überreden sie todsicher niemanden zum Wechsel.« »Danke jedenfalls«, sagte ich. »Gern geschehen.« Er zögerte. »Haben Sie tatsächlich ein Band, das Sie benutzen wollen?« »Ja.« Ich kramte in meiner Tasche und brachte Oklahoma zum Vorschein. »Das hier und noch zwei. Lassen Sie sich von der Verpackung nicht irreführen, da ist schon Computerrauschen drauf.« »Hat sie ein Fachmann oder ein Amateur aufgenommen?« »Ein Fachmann. Ist das von Bedeutung?« »Manchmal.« Ich erklärte, daß Peter die Bänder für einen Kunden angefertigt hatte, der einen Grantley besaß, und setzte hinzu, daß der Kunde Peter nicht erlaubt hatte, die Programme auf der Maschine, für die sie bestimmt waren, auszuprobieren. »Ach ja?« Ted Pitts schien sich über die Nachricht zu freuen. »In dem Fall – wenn er gewissenhaft und vorsichtig war – wäre es immerhin möglich, daß er die Maschinensprache selbst auf das erste Band mit aufgenommen hat. AFIS können sehr empfindlich sein. Er mag sich gedacht haben, es wäre sicherer.« »Anschluß verpaßt«, warf ich ein. »Was sind AFIS?« 47
»Computer.« Er grinste. »Steht für Absolut Folgsamer Idiot.« »Sie haben einen Witz gemacht«, sagte ich ungläubig. »Stammt allerdings nicht von mir.« »Also, weshalb wäre das sicherer?« Er sah mich vorwurfsvoll an. »Anscheinend wissen Sie nicht so viel über Computer, wie ich dachte.« »Vor zehn Jahren wußte ich mal mehr. Ich hab’s vergessen, und sie haben sich verändert.« »Es wäre sicherer«, sagte er geduldig, »weil Ihr Freund, wenn der Kunde anriefe und sich beschwerte, das Programm würde nicht laufen, ihm sagen könnte, wie man den Computer mit einer brandneuen Version seiner eigenen Sprache füttert, und damit würden die Programme Ihres Freundes dann laufen. Wohlgemerkt«, fügte er weise hinzu, »Sie würden eine Unmenge Computerraum mit dem Eingeben der Sprache verbrauchen. Für die eigentlichen Programme hätten Sie vielleicht nicht mehr viel Platz.« Er betrachtete meinen Gesichtsausdruck und seufzte. »Na schön«, sagte er. »Nehmen wir an, ein Grantley hat einen 32K-Speicher, was eine ziemlich normale Größe ist. Das bedeutet, er hat rund neunundvierzigtausend Speicherzellen, wovon wahrscheinlich die ersten siebzehntausend gebraucht werden, um die richtigen Schaltungen für die Funktion des Basic herzustellen. Dann hätten Sie noch etwa zweiunddreißigtausend Zellen zum Einstanzen Ihrer Programme übrig. Stimmt’s?« Ich nickte. »Ich nehme Ihr Wort dafür.« »Aber wenn Sie die Sprache erst noch mal ganz reingeben, nimmt das weitere siebzehntausend Speicherzellen in Anspruch, womit Ihnen weniger als fünfzehn48
tausend Speicherzellen für die Arbeit bleiben. Und da Sie eine Speicherzelle brauchen für jeden Buchstaben, den Sie tippen, und eine für jede Zahl und eine für jeden Zwischenraum, jedes Komma und jede Klammer, würden Sie nicht sehr viel machen können, ehe sämtliche Speicherzellen besetzt und das ganze Ding voll wäre. Und in dem Moment würde der Computer aufhören zu arbeiten.« Er lächelte. »So viele Leute meinen, Computer wären bodenlose Abgründe. Eher sind sie wie Futtersäcke. Wenn sie einmal voll sind, muß man das Futter erst ausschütten, bevor man sie wieder von neuem füllen kann.« »Bringen Sie das den Kindern bei?« Er sah etwas verwirrt drein. »Äh … ja. Dieselben Worte. Man verfällt in einen Trott.« Die Klingel rief zur Anmeldung für den Nachmittag, und er streckte die Hand nach der Kassette aus. »Ich könnte die mal probieren«, sagte er, »wenn Sie wollen.« »Ja. Wenn es keine fürchterliche Mühe ist.« Er schüttelte ermutigend den Kopf, und ich gab ihm The King and I und West Side Story obendrein. »Kann nicht versprechen, daß es heute geht«, sagte er. »Ich habe den ganzen Nachmittag Unterricht, und um vier will Jenkins mich sprechen.« Er schnitt ein Gesicht. »Jenkins. Warum können wir nicht Ralph zu ihm sagen und basta?« »Es eilt nicht«, sagte ich, »mit den Kassetten.« Donna erhielt ihre Bewährung. Sarah berichtete, wieder in müdem Ton, selbst die Mutter des Babys sei wegen Peters Tod ruhiger geworden, und Donna hätte im Gerichtssaal leise geweint, und sogar einige der Polizeibeamten seien väterlich zu ihr gewesen. 49
»Wie geht es ihr?« sagte ich. »Elend. Es wird ihr, glaube ich, gerade erst mal klar, daß Peter wirklich fort ist.« Ihre Stimme klang schwesterlich, mütterlich, schützend. »Keine Selbstmordgedanken?« fragte ich. »Ich glaube nicht, aber der arme Schatz ist so verwundbar. So schnell verletzt. Sie sagt, es ist als ob man ohne Haut lebt.« »Hast du genug Geld?« sagte ich. »Das sieht dir ähnlich!« rief sie aus. »Immer so verdammt praktisch.« »Aber …« »Ich habe meine Scheckkarte.« Ich hatte mich nicht zu lange in Donnas Gefühlen suhlen wollen, und es hatte sie gereizt. Wir wußten es beide. Wir kannten einander zu gut. »Laß dich nicht schlauchen von ihr«, sagte ich. Ihre Stimme kam unverändert scharf zurück. »Es geht mir bestens. Von Schlauchen kann keine Rede sein. Ich bleibe noch mindestens eine oder zwei Wochen hier. Bis nach der gerichtlichen Untersuchung und der Beerdigung. Und auch länger, wenn Donna mich braucht. Ich habe es meinem Chef erklärt, und er hat Verständnis.« Ich fragte mich flüchtig, ob mir das Alleinleben nicht zu gut gefallen könnte, wenn sie einen ganzen Monat weg blieb. Ich sagte: »Zur Beerdigung wäre ich gerne dort.« »Ja. Ja, ich laß es dich wissen.« Ich bekam ein schroffes und unzartes »gute Nacht«, aber andererseits war meines für sie auch nicht liebevoll gewesen. Wir würden nicht weitermachen können, dachte ich, wenn jemals die Höflichkeit abbröckelte. 50
Das Gebäude war seit langem unbewohnt, und nur ein kleiner Schritt trennte uns vom Abriß. Am Samstag packte ich die beiden Mauser und die Enfield Nr. 4 ins Auto, fuhr nach Bisley und ließ über den Schießständen von Surrey eine Menge Kugeln los. Während der letzten Monate waren meine Besuche dort seltener geworden, teils natürlich, weil es im Winter kein Vergnügen war, den Bauch auf die kalte Erde zu pressen, vor allem aber, weil meine leidenschaftliche Liebe zu dem Sport nachzulassen schien. Ich war seit mehreren Jahren Mitglied der Nationalmannschaft des britischen Schützenverbandes, trug aber jetzt keine Abzeichen mehr, um es zu beweisen. Ich saß nach dem Schießen still in der Bar und hörte zu, wie andere ihre Leistungen analysierten und laut ihre Erregung loswurden. Ich sprach nicht gern von meinen eigenen Ergebnissen, weder vergangenen noch aktuellen. Vor ein paar Jahren hatte ich den Seitensprung gewagt, mich zur Olympiade zu melden, was ein Wettkampf für einzelne war und sich von meiner normalen Beschäftigung ziemlich unterschied. Sogar die Gewehre waren anders (nur Kleinkaliber damals) und alle Distanzen gleich (300 Meter). Es war eine von den Schweizern beherrschte Welt, aber ich hatte dann doch gut und mit Glück geschossen und für einen Briten einen hohen Platz im Feld erreicht, und es war fantastisch gewesen. Ein einmaliger Tag, aber er war zur Erinnerung verblaßt und nebelhaft geworden mit der Zeit. In der Nationalmannschaft, die hauptsächlich gegen die alten Commonwealthländer antrat und oft gewann, schoß man mit 7.62-mm-Gewehren über unterschiedliche Distanzen – 300, 500, 600, 900 und 1000 Yards. Ich hatte 51
immer eine enorme Freude an Präzision gehabt, am Abschätzen der Windgeschwindigkeit und Lufttemperatur, um die klimatischen Variablen genau richtig abzusehen. Aber jetzt verblaßte innerlich wie äußerlich der Sinn eines solchen Könnens. Die schwungvollen, eleganten Mauser, die ich schätzte, waren schon bald überholt. Nur Fernstreckenattentäter schienen heutzutage noch absolut präzise Gewehre zu brauchen, und sie benutzten Zielfernrohre, die für Sportschützen verboten und ein Greuel waren. Moderne Streitkräfte neigten dazu, Kugeln bedenkenlos zu verstreuen. Keines der Armeegewehre schoß vollkommen gerade, und außerdem war jeder Gewinn an effektiver Tötungskraft ein Verlust an Ästhetik. Der gegenwärtige Standard-Selbstlader mit seiner gasgetriebenen Ladung von zwanzig Schuß pro Magazin und seiner Fähigkeit zum Dauerfeuer war bereits eine unordentliche, knorrige Affäre, die der Leichtigkeit wegen zur Hälfte aus Plastik bestand. Am Horizont winkte ein Gewehr ohne Schaft, unzweideutig dazu konstruiert, wenn nötig aus Hüfthöhe abgefeuert zu werden, ohne echten Anspruch auf genaues Ziel: ein Gewehr mit Infrarotvisier zum Nachtgebrauch, nichts als eckige Protuberanzen. Und jenseits von Kordit und Blei, was? Von Raketenwerfern abgefeuerte Neutronengeschosse, die ein einfallendes Panzerheer buchstäblich ausbrennen würden. Eine neue Art Batterie, die von Hand bediente Strahlengewehre ermöglichen würde. Das besondere Geschick des Scharfschützen geriet zum Sport, wie schon das Bogenschießen, wie der Schwertkampf, wie der Speer- und Hammerwurf; die Gebrauchswaffe des einen Zeitalters wurde zur olympischen Medaille des nächsten. Ich schoß nicht sehr gut an diesem speziellen Nachmittag und fand hinterher wenig Geschmack an der Kameraderie 52
im Klubhaus. Das Bild Peters, wie er in Flammen über die Seite seines Bootes taumelte und starb, ließ zu viele Dinge belanglos erscheinen. Ich wurde verpflichtet, im Juli beim Queen’s Prize und im August bei einem Wettkampf in Kanada zu schießen, und auf der Heimfahrt sinnierte ich, daß ich, wenn ich nicht ein bißchen mehr Übung einbrachte, mich mit Schande bedecken würde. Die Überseereisen ergaben sich in recht regelmäßigen Abständen, und wegen der Schwierigkeiten, die es mit sich brachte, Schußwaffen von einem Land in ein anderes zu befördern, hatte ich mir einen Tragekasten nach eigenem Entwurf gebaut. Ungefähr einszwanzig lang und nach außen wie ein gewöhnlicher übergroßer Koffer anzusehen, war er innen mit Aluminium verkleidet und in gepolsterte, stoßdämpfende Fächer unterteilt. Er enthielt alles, was ich für Wettkämpfe brauchte, nicht nur drei Gewehre, sondern alles sonstige Zubehör: Schießbuch, Ohrenschützer, Beobachtungsfernrohr, Schießriemen, Schießhandschuh, Waffenöl, Putzstock, Flanelläppchen, Reinigungsbürste, Werg zum Ölen des Laufs, Munition, dicker wärmender Jersey, zwei dünne olivgrüne Overalls zum Schutz und eine zusätzliche Jacke aus Segeltuch und Leder. Im Gegensatz zu vielen Leuten transportierte ich die Gewehre normalerweise fertig montiert und einsatzbereit, seitdem ich einmal wegen stockenden Verkehrs, eines nicht zusammengesetzten Gewehrs und vor Hast zitternden Fingern meinen Start verpaßt hatte. Eigentlich hätte ich sie nicht schußbereit lassen sollen, aber oft tat ich es. Nur wenn der Spezialgewehrkoffer auf Flugzeuge kam, beugte ich mich streng den Vorschriften, und dann wurde er in einem heißen Papierkrieg umkämpft, belagert und hermetisch abgeriegelt; und vielleicht war er mir auch, weil er nicht nach dem aussah, was er war, nie abhanden gekommen. 53
Sarah, die anfangs begeistert gewesen war und oft mit mir nach Bisley fuhr, hatte mit der Zeit das Peng Peng sattbekommen wie die meisten Ehefrauen. Sie war es auch müde geworden, daß ich soviel Geld und Zeit dafür hergab, und die Olympiade hatte sie nur zum Teil besänftigt. Alle Stellen, um die ich mich bewarb, so hatte sie mürrisch betont, hielten uns südlich von London fest, in der Nähe der Schießstände. »Aber wenn ich Ski laufen könnte«, hatte ich gesagt, »wäre es doch albern, in die Tropen zu ziehen.« In einem hatte sie allerdings recht. Schießen war nicht billig, und ohne die Unterstützung von indirekten Sponsoren hätte ich nicht so viel tun können, wie ich tat. Die Sponsoren erwarteten dafür, daß ich nicht nur an internationalen Konkurrenzen teilnahm, sondern trainiert und fit an ihnen teilnahm: Bedingungen, die ich bis in die jüngste Zeit gerne erfüllt hatte. Ich wurde alt, dachte ich. In drei Monaten würde ich vierunddreißig sein. Ich fuhr ohne Eile heim und betrat das ruhige Haus, das nicht mehr von stummen Spannungen pulsierte. Lud meinen Koffer auf dem Couchtisch im Wohnzimmer ab, da niemand mir nahelegte, ihn gleich nach oben zu schaffen. Schnippte das Schloß auf und dachte, wie angenehm es sei, zur Abwechslung die Prozedur des Reinigens und Ölens einmal ohne schmallippige Mißbilligung vor dem Fernseher erledigen zu können. Beschloß, das Saubermachen aufzuschieben, bis ich entschieden hätte, was ich zu Abend essen würde, und goß mir einen erfrischenden Scotch ein. Entschied mich für eine tiefgekühlte Pizza. Kippte den Scotch. In dem Moment klingelte es an der Haustür, und ich ging hin. Zwei Männer, dunkelhaarig, mit olivfarbener Haut, standen vor der Tür: Und einer von ihnen hatte eine Pistole in der Hand. 54
Ich blickte mit einer Art verspäteter Reaktion darauf, nicht sofort schaltend, weil ich den ganzen Tag friedliche Schußwaffen gesehen hatte. Ich brauchte mindestens eine volle Sekunde, um zu begreifen, daß diese hier in durchaus unfreundlicher Weise auf mein Zwerchfell gerichtet war. Eine 22er Walther, dachte ich: als ob es eine Rolle spielte. Mein Mund, darf ich wohl sagen, klappte auf und zu. Auf so etwas war man in einer Vorstadt mit geringer Verbrechensrate nicht gefaßt. »Zurück«, sagte er. »Was wollen Sie?« »Rein mit Ihnen.« Er stieß mit dem langen Schalldämpfer der Automatik nach mir, und da ich sicherlich die Wegblaskraft von Handfeuerwaffen respektierte, gehorchte ich ihm. Er und sein Freund rückten durch die Haustür ein und schlossen sie hinter sich. »Die Hände hoch«, sagte der Bewaffnete. Ich hob sie. Er warf einen Blick zur offenen Tür des Wohnzimmers und bewegte ruckartig den Kopf. »Gehen Sie da rein.« Ich ging langsam, hielt an, drehte mich um und sagte erneut: »Was wollen Sie?« »Abwarten«, sagte er. Er blickte zu seinem Genossen und ruckte wieder mit dem Kopf, diesmal nach den Fenstern. Der Genosse schaltete das Licht an, dann ging er rüber und schloß die Vorhänge. Es war noch nicht dunkel draußen. Ein Strahl Abendsonne drang durch, wo die Vorhänge sich trafen. Ich dachte: Warum hab’ ich nicht schreckliche Angst? Sie sahen so zielbewußt, so entschlossen aus. Trotzdem 55
dachte ich immer noch, sie hätten sich auf irgendeine verrückte Art vertan und könnten sich verziehen, wenn man nett mit ihnen redete. Sie wirkten jünger als ich, obwohl es schwer war, das genau zu beurteilen. Italiener vielleicht, südländisch. Sie hatten die lange gerade Nase, das schmale Kinn, die schwarzbraunen Augen. Die Art Gesicht, das im Alter Fett ansetzte, einen Schnurrbart bekam und Pate wurde. Dieser letzte Gedanke schoß mir aus dem Nichts durch den Kopf und schien genauso unsinnig wie eine Pistole. »Was wollen Sie?« sagte ich nochmals. »Drei Computerbänder.« Mein Mund zog zweifellos noch einmal die Fischnummer ab. Ich hörte mir den ausgesprochen englischen, schludrigen Akzent an und dachte bei mir, daß er zu dem Körper, von dem er kam, gar nicht schlechter hätte passen können. »Was … was für Computerbänder?« sagte ich und mimte Verwirrung. »Keinen Heckmeck machen. Wir wissen, daß Sie sie haben. Ihre Frau hat es gesagt.« Jesses, dachte ich. Diesmal brauchte ich die Verwirrung nicht zu spielen. Er bewegte ein Stück die Pistole. »Holen Sie sie«, sagte er. Seine Augen waren kalt. Seine Miene zeigte, daß er mich verachtete. Ich sagte mit plötzlich trockenem Mund: »Ist mir unverständlich, wieso meine Frau gesagt … wieso sie dachte …« »Die Zeit läuft«, sagte er scharf. »Aber –« »The King and I und West Side Story«, sagte er ungeduldig. »und Okla-Scheiß-homa.« 56
»Ich habe sie nicht.« »Das ist dann aber Pech, Kumpel«, sagte er, und augenblicklich war eine zusätzliche Dimension der Bedrohung an ihm. Davor hatte er im zweiten Gang herumgespielt, zweifellos in dem Glauben, eine Pistole wäre genug. Aber jetzt merkte ich unangenehm, daß ich es nicht mit jemand Sicherem und Vernünftigem zu tun hatte. Wenn das die beiden waren, die Peter besucht hatten, dann verstand ich, was er mit zum Fürchten gemeint hatte. Da war etwas Unbeständiges, ein Fehlen normaler Hemmungen, ein starker Eindruck von Rücksichtslosigkeit. Das Bremsen-ade-Syndrom, das keine gesetzlichen Abschreckungsmittel abschreckten. Ich hatte es zuweilen bei Jungen, die ich unterrichtete, gespürt, aber noch nie in solchem Ausmaß. »Sie haben was, das Ihnen nicht zusteht«, sagte er. »Und das geben Sie uns.« Er bewegte die Mündung der Pistole ein oder zwei Fingerbreit seitlich und drückte ab. Ich hörte die Kugel dicht an meinem Ohr vorbeipfeifen. Hinter mir zerschellte krachend Glas. Eine von Sarahs Erinnerungen an Venedig, zärtlich geliebt. »Das war eine Vase«, sagte er. »Ihr Fernseher ist das nächste. Anschließend Sie. Knöchel und so. Müssen Sie Ihr Leben lang humpeln. Die Bänder sind das nicht wert.« Er hatte recht. Das Dumme war, daß ich bezweifelte, ob er mir glauben würde, daß ich sie wirklich nicht hatte. Er schwenkte die Pistole zum Fernseher herum. »Okay«, sagte ich. Er grinste etwas höhnisch. »Also her damit.« Nach meiner Kapitulation entspannte er sich zufrieden, und ebenso sein gehorsamer und sprachloser Genosse, der 57
ein Stück hinter ihm stand. Ich ging die paar Schritte zum Couchtisch und ließ die noch erhobenen Hände sinken. »Sie sind hier im Koffer«, sagte ich. »Holen Sie sie raus.« Ich hob den Deckel des Koffers leicht an, zog den Jersey heraus und ließ ihn auf den Boden fallen. »Tempo«, sagte er. Er war nicht im mindesten darauf vorbereitet, sich einem Gewehr gegenüberzusehen; nicht in diesem Zimmer, in dieser Umgebung, in den Händen des Mannes, für den er mich hielt. Mit völligem Unglauben blickte er auf die lange, tödliche Form und hörte das doppelte Klicken, als ich durchlud. Die Möglichkeit bestand, daß ihm aufginge, daß ich eine solche Waffe niemals mit einer Patrone im Schnabel transportieren würde, aber andererseits, wenn er selbst mit einem geladenen Schießeisen herumlief, kam er vielleicht nicht darauf. »Lassen Sie die Pistole fallen«, sagte ich. »Ein Schuß auf mich, und ich erschieße Sie beide, das sollten Sie mir besser glauben. Ich bin ein Meisterschütze.« Auch fürs Angeben gibt es vielleicht eine Zeit, und die war jetzt. Er zauderte. Der Gehilfe sah erschrocken aus. Das Gewehr war eine ungemein erschreckende Waffe. Der Schalldämpfer richtete sich langsam nach unten, und die Automatik schlug dumpf auf dem Teppich auf. Der Ärger war spürbar. »Kicken Sie sie rüber«, sagte ich. »Und zwar sachte.« Er versetzte der Waffe einen wütenden Stoß mit dem Fuß. Sie war nicht nahe genug, daß ich sie aufheben konnte, für ihn aber auch zu weit. »Gut«, sagte ich. »Jetzt hören Sie mir zu. Ich habe diese 58
Kassetten nicht. Ich habe sie an jemand verliehen, weil ich dachte, es wäre Musik. Wie, zum Teufel, sollte ich wissen, daß es Computerbänder waren? Wenn Sie sie haben wollen, müssen Sie schon warten, bis ich wieder drankomme. Die Person, der ich sie geliehen habe, ist übers Wochenende weggefahren, und ich habe keine Möglichkeit festzustellen wohin. Sie können sie ohne das ganze Theater kriegen, aber Sie müssen warten. Geben Sie mir eine Adresse, und ich schicke sie Ihnen. Ich möchte Sie, offen gesagt, los sein. Die Bänder und was Sie damit wollen, das ist mir völlig schnuppe. Ich möchte nur nicht, daß Sie mich belästigen … oder meine Frau. Verstanden?« »Ja.« »Wohin soll ich sie schicken?« Seine Augen wurden schmal. »Und es kostet Sie zwei Piepen«, sagte ich, »für Porto und Verpackung.« Das sachliche Detail schien sie zu überzeugen. Mit einer verärgerten Geste nahm er zwei Pfund aus der Tasche und ließ sie vor seinen Füßen fallen. »Hauptpost Cambridge«, sagte er. »Postlagernd.« »Auf welchen Namen?« Nach einem Zögern sagte er: »Derry.« Ich nickte. »Gut«, sagte ich. Trotzdem schade, daß er meinen eigenen Namen genannt hatte. Alles andere wäre vielleicht aufschlußreich gewesen. »Sie können jetzt gehen.« Beide Augenpaare blickten nieder zu der Automatik auf dem Teppich. »Warten Sie auf der Straße«, sagte ich. »Ich werfe sie Ihnen durchs Fenster. Und kommen Sie nicht zurück.« 59
Sie schlichen zur Tür, immer ein Auge auf dem schlanken stählernen Lauf, der ihnen folgte, und ich trat hinter ihnen auf den Flur. Ich kam in den Genuß zweier bösartig frustrierter Mienen, ehe sie die Haustür öffneten, hinausgingen und sie wieder hinter sich schlossen. Zurück im Wohnzimmer legte ich das Gewehr aufs Sofa und hob die Walther auf, um sie aufzuklappen und ihr Magazin in einen Aschenbecher zu leeren. Dann schraubte ich den Schalldämpfer vom Lauf ab und öffnete das Fenster. Die beiden Männer standen auf dem Gehsteig, starrten unheilvoll über die sechs Meter Gras. Ich warf die Pistole so, daß sie in einem Rosenstrauch nicht weit von ihren Füßen landete. Als der Gehilfe sie herausgeangelt und sich an den Dornen gekratzt hatte, warf ich den Schalldämpfer an dieselbe Stelle. Der Revolverheld sah, daß er keine Kugeln hatte, und feuerte einen verbalen Abschiedsschuß. »Schicken Sie die Bänder, sonst kommen wir wieder.« »Sie kriegen sie nächste Woche. Und bleiben Sie mir aus dem Weg.« Ich schloß entschieden das Fenster und beobachtete, wie sie fortgingen, jede Linie ihrer Körper starr vor Enttäuschung. Was in aller Welt, rätselte ich, hatte Peter bloß auf diese Kassetten programmiert.
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4 »Wer«, sagte ich zu Sarah, »hat dich nach Computerbändern gefragt?« »Was?« Sie klang abwesend, hundert Meilen entfernt auf diesem Planeten, aber in einer anderen Welt. »Irgend jemand«, sagte ich geduldig, »muß dich nach Bändern gefragt haben.« »Ach, du meinst Kassetten?« »Ja, genau.« Ich suchte jeden Grimm aus meiner Stimme herauszuhalten, nur im Plauderton zu reden. »Aber du kannst doch seinen Brief nicht schon gekriegt haben«, sagte sie verwundert. »Er kam doch heute morgen erst.« »Wer war er?« sagte ich. »Ah!« rief sie aus. »Er hat wohl angerufen. Er könnte unsere Nummer von der Auskunft gekriegt haben.« »Sarah …« »Wer es war? Ich habe keine Ahnung. Irgend jemand, der mit Peters Arbeit zu tun hatte.« »Was für ein Typ?« fragte ich. »Wie meinst du? Ein Mann eben. Mittleres Alter, grauhaarig, ein bißchen dick.« Sarah selbst betrachtete wie viele von Natur aus schlanke Leute Beleibtheit als eine moralische Schwäche. »Sag mir, was er gesagt hat«, drängte ich. »Wenn du darauf bestehst. Er sagte, es täte ihm ja so leid wegen Peter. Er sagte, Peter hätte ein Projekt mit heimgenommen, an dem er für seine Firma arbeitete, vielleicht in Form von handgeschriebenen Notizen, 61
vielleicht in Form von Kassetten. Er sagte, die Firma wäre dankbar, wenn sie das alles zurückbekäme, denn sie müßten die Aufgabe jemand anderem neu zuteilen.« Das klang wesentlich kultivierter als Angstmacher, die Pistolen schwenkten. »Und dann?« half ich nach. »Tja, Donna meinte, sie wüßte nicht, was Peter alles im Haus hätte, obwohl sie natürlich schon wüßte, daß er an irgend etwas gearbeitet hätte. Jedenfalls schaute sie in einen Haufen Schränke und Schubladen, und sie fand diese drei losen Kassetten ohne ihre Hülle zwischen dem Gin und dem Cinzano nebeneinander im Barschrank. Langweile ich dich?« Sie hörte sich übertrieben höflich an und als wäre Langweilen ihre Absicht gewesen, aber ich antwortete inbrünstig: »Nein, tust du nicht. Bitte sprich weiter.« Das Achselzucken reiste beinahe sichtbar durch die Leitung. »Donna gab sie dem Mann. Er war entzückt, bis er sie sich genau anschaute. Da meinte er, es seien Tonbänder von Musicals, nicht das, was er wollte, und würden wir bitte noch mal nachsehen.« »Und da fiel dir oder Donna ein –« »Mir«, bestätigte sie. »Wir sahen ja beide, wie Peter sie dir gab, aber er muß sie durcheinandergebracht haben. Er hat dir aus Versehen die Kassetten seiner Firma gegeben.« Peters Firma … »Hat der Mann dir seinen Namen genannt?« fragte ich. »Ja«, sagte Sarah. »Er stellte sich vor, als er kam. Aber du weißt, wie das ist. Er hat ihn ein bißchen genuschelt, und ich hab’ ihn vergessen. Warum? Hat er ihn dir denn nicht gesagt, als er anrief?« 62
»Keine Visitenkarte?« »Sag mir bloß«, antwortete sie gereizt, »du hast dir nicht seine Adresse geben lassen. Wart einen Moment, ich frag’ Donna.« Sie legte den Hörer auf den Tisch, und ich konnte hören, wie sie Donna rief. Ich fragte mich, wieso ich ihr nichts von der Art meiner Besucher erzählt hatte, und kam zu dem Schluß, es sei wahrscheinlich deswegen, weil sie sonst versucht hätte, mich zu überreden, zur Polizei zu gehen. Das wollte ich keinesfalls, denn sie würden es wohl sehr unfreundlich aufnehmen, daß ich an einem solchen Ort mit einem Gewehr herumgefuchtelt hatte. Ich konnte ihnen nicht beweisen, daß es ungeladen gewesen war, und es fiel nicht unter die Kategorie der Dinge, die ein Hausherr vernünftigerweise benutzen konnte, um seinen Besitz zu verteidigen. Aus einer Mauser 7.62 mm abgefeuerte Kugeln zerschmetterten nicht auf zehn Schritte Vasen und gruben sich in den Putz – sie bohrten sich geradewegs durch die Mauer selbst und brachten Leute um, die draußen ihre Hunde spazierenführten. Waffenscheine konnten schneller entzogen werden als ausgestellt. »Jonathan?« sagte Sarah, wieder am Apparat. »Ja.« Sie las die volle Adresse von Peters Firma in Norwich vor und setzte die Telefonnummer hinzu. »Ist das alles?« sagte sie. »Außer … euch geht es beiden noch gut?« »Mir schon, danke. Donna ist sehr gedrückt. Aber ich packe es.« Wir sagten unser übliches auf Wiedersehen: nahezu steif, ohne Wärme, tödlich höflich. 63
Die Pflicht führte mich am nächsten Tag wieder nach Bisley: Pflicht und Rastlosigkeit und furchtbare Aussichten auf der Box. Ich schoß besser und dachte weniger an Peter, und als das Licht schwach wurde, fuhr ich heim und korrigierte die immer wiederkehrenden Schulhefte: Und am Montag sagte mir Ted Pitts, er sei zu meinen Computerbändern zwar noch nicht gekommen, wenn ich aber Lust hätte, nach vier Uhr noch zu bleiben, könnten wir beide runter in den Computerraum gehn und mal sehen, was es da zu sehen gab. Als ich zu ihm stieß, war er bereits in dem kleinen Nebenzimmer zugange, das mit seinen matt cremefarbenen Wänden und seinem blankgekratzten Boden das Flair hatte, jedermanns armer Verwandter zu sein. Eine einzige Lampe hing ohne Schirm von der Decke, und die beiden Holzstühle stammten aus arg mitgenommenen Schulbeständen. Zwei nicht klassifizierbare Tische nahmen den größten Teil der Bodenfläche ein, und auf ihnen standen die wenig anregend wirkenden Maschinen, die ein kleines Vermögen gekostet hatten. Ich fragte Ted freundlich, wieso er sich mit einem so engen, deprimierenden Quartier abfände. Er sah mich zerstreut an, in Gedanken bei seiner Aufgabe. »Sie wissen, wie es ist. Sie müssen die Jungens einzeln an dem Baby unterrichten, um gute Ergebnisse zu bekommen. Klassenzimmer gibt es nicht genug. Nur das hier ist verfügbar. Es ist nicht so übel. Und ich achte sowieso nie drauf.« Ich konnte es glauben. Er war ein Wanderer, früher Mitglied im Jugendherbergsverband, ein bereitwilliger Freund ernster Entbehrungen. Er hockte sich auf die Kante des harten Stuhls und wandte seinen eigenen computerähnlichen Verstand dem auf den Tischen zu. 64
Es waren vier getrennte Geräte. Ein Kasten wie ein kleiner Fernseher mit einer Schreibmaschinentastatur, die unter dem Rand des Bildschirms hervorstand. Ein Kassettenrecorder. Ein großer, hoher, nichtssagender Kasten mit der schlichten Bezeichnung »Harris«, und etwas, das auf den ersten Blick aussah wie eine Schreibmaschine, genau besehen aber keine Tasten hatte. Alle vier waren durch schwarze Elektrokabel aneinander und jeweils an eine eigene Steckdose angeschlossen. Ted Pitts legte Oklahoma in den Kassettenrecorder ein und tippte CLOAD ›BASIC‹ auf dem Tastenfeld. CLOAD ›BASIC‹ erschien in kleinen weißen Großbuchstaben ganz oben auf der linken Seite des Fernsehschirms, und zwei Sternchen, von denen eins schnell blinkte, erschienen oben rechts. Auf dem Kassettenrecorder drehten sich rasch die Räder der Bandspulen. »Wieviel haben Sie noch im Kopf?« sagte Ted. »Gerade genug, um zu wissen, daß Sie das Band nach der Sprache absuchen und daß CLOAD bedeutet, von der Kassette laden.« Er nickte und zeigte kurz auf den großen hochformatigen Kasten. »Der Computer hat schon sein eigenes BASIC da drin gespeichert. Steckte ich in der Mittagspause rein. Wollen doch mal sehen …« Er kauerte sich über die Tastatur, drückte Tasten, schaltete den Kassettenrecorder an und aus und interpunktierte seine Tätigkeit mit Grunzern. »Nichts Brauchbares«, murmelte er, drehte das Band um und wiederholte das Verfahren. »Mal probieren …« Eine geraume Zeit verging. Er schüttelte hin und wieder den Kopf und sagte schließlich: »Geben Sie mir die beiden anderen Bänder. Es muß logischerweise am Anfang einer Seite sein – es sei denn natürlich, er hätte es hinten 65
angehängt, einfach weil noch Platz frei war … vielleicht hat er es auch gar nicht gemacht …« »Würden die Programme nicht mit Ihrer Version von BASIC laufen?« Er schüttelte den Kopf. »Hab’ ich versucht, bevor Sie kamen. Die einzige Reaktion, die man kriegt, ist ERROR IN LINE 10. Was bedeutet, daß die beiden Versionen nicht vereinbar sind.« Er grunzte wieder und probierte West Side Story, und gegen Ende der ersten Seite richtete er sich steil auf und meinte: »Aha.« »Ist es da drauf?« »Kann ich noch nicht sagen. Aber unter ›Z‹ ist was gespeichert. Könnten’s immerhin mal versuchen.« Er warf noch ein paar Schalter an und lehnte sich strahlend zurück. »Jetzt warten wir bloß ein paar Minuten, während der« – er zeigte auf den großen, hochformatigen Kasten – »alles in sich reinfrißt, was unter ›Z‹ auf dem Band ist, und wenn es zufällig Grantley Basic sein sollte, sind wir im Geschäft.« »Warum macht ›Z‹ Ihnen Hoffnung?« »Instinkt. Könnte hundert Prozent daneben sein. Aber die Aufnahme ist viel länger als alles, was ich sonst bis jetzt auf den Bändern gefunden habe, und dem Gefühl nach stimmt die Länge. Viereinviertel Minuten. Ich habe schon tausendmal BASIC in den Harris gegeben.« Sein Instinkt erwies sich als zuverlässig. Das Wort READY erschien plötzlich auf dem Bildschirm, weiß und leuchtend und verheißungsvoll. Ted seufzte tief vor Befriedigung und nickte dreimal. »Vernünftiger Bursche, Ihr Freund«, sagte er. »Dann können wir jetzt mal sehen, was Sie da haben.« Als er Oklahoma erneut einlegte, kamen die Dateinamen deutlich neben dem blitzenden Sternchen oben rechts auf 66
den Bildschirm, und obwohl einige davon mir rätselhaft waren, waren andere es definitiv nicht. DONCA EDINB EPSOM FOLKE FONTW GOODW HAMIL HAYDK HEREF HEXHM »Namen von Städten«, sagte ich. »Städte mit Rennbahnen.« Ted nickte. »Mit welcher würden Sie es gern probieren.?« »Epsom.« »Okay«, sagte er. Er spulte das Band mit behenden Fingern zurück und tippte CLOAD ›EPSOM‹ auf der Tastatur. »So kommt das Programm, das unter EPSOM gespeichert ist, in den Computer, aber das wissen Sie natürlich, vergeß ich immer.« Das ermutigende Wort READY tauchte wieder auf, und Ted sagte: »Wollen Sie es laufen lassen oder sich das Ganze ansehen?« »Laufen lassen«, sagte ich. Er nickte und tippte RUN auf dem Tastenfeld, und in leuchtenden kleinen Lettern erkundigte sich der Schirm: WELCHES RENNEN IN EPSOM? TIPPEN SIE DEN NAMEN DES RENNENS UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹. »Mein Gott«, sagte ich. »Versuchen wir das Derby.« »Ist doch wohl klar«, meinte Ted und tippte DERBY. Der Schirm reagierte prompt mit TIPPEN SIE DEN NAMEN DES PFERDES UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹. Ted tippte JONATHAN DERRY und drückte wieder die doppelt große Taste ›ENTER‹ auf der Tastatur, und der Schirm erfreute mit:
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EPSOM: DAS DERBY PFERD: JONATHAN DERRY BEANTWORTEN SIE ALLE FRAGEN MIT JA ODER NEIN UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹. Fünf Zentimeter weiter unten kam eine Frage: SIEGTE PFERD IN EINEM RENNEN? Ted tippte JA und drückte ›ENTER‹. Die einführenden Zeilen blieben, doch die Frage wurde durch eine andere ersetzt. SIEGTE PFERD IN DIESEM JAHR? Ted tippte NEIN. Der Schirm erwiderte: SIEGTE PFERD AUF BAHN? Ted tippte JA. Es folgten Fragen über den Vater des Pferdes, seine Mutter, seinen Jockey, seinen Trainer, die Anzahl der Tage seit seinem letzten Start und seinen Ertrag an Geldpreisen; und eine abschließende Frage: IST PFERD VOR DEM START MIT 25:1 ODER WENIGER GESETZT? Ted tippte JA, und der Schirm sagte lediglich: SONST NOCH PFERDE? Ted tippte erneut JA, und wir fanden uns wieder bei: TIPPEN SIE NAMEN DES PFERDES UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹. »Das ist kein Handikapen«, sagte ich. »Sollte es das sein?« Ted schüttelte den Kopf. »Eher so was wie statistische Wahrscheinlichkeiten, hätte ich gedacht. Gehen wir es noch mal durch und antworten NEIN auf SONST NOCH PFERDE?« 68
Er tippte TED PITTS als den Namen des Pferdes und variierte die Antworten. Sofort nach seinem abschließenden NEIN bekamen wir den Schirm gelöscht und einen neuen Text: NAME DES PERDES SIEGFAKTOR JONATHAN DERRY 27 TED PITTS 12 »Sie haben keine Chance«, sagte ich. »Sie könnten genausogut im Stall bleiben.« Er sah ein bißchen bestürzt drein und lachte dann. »Ja. Das ist es. Ein Leitfaden für Spieler.« Er tippte LIST statt RUN, und augenblicklich erschien das Gerüst des Programms, fuhr aber zu schnell nach oben weg, um lesbar zu sein, wie wechselnde Fluginformation auf Flughäfen. Ted summte nur leise und tippte LIST 10140, und nach einigem unentbehrlichen Geflimmer erfüllte der Schirm die Erwartungen. LIST 10-140, 10 PRINT ›WELCHES RENNEN IN EPSOM? TIPPEN SIE DEN NAMEN DES RENNENS UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹ 20 INPUT A$ 30 IF A$ = ›DERBY‹ THEN 330 40 IF A$ = ›OAKS‹ THEN 340 50 IF A$ = ›CORONATION CUP‹ THEN 350 60 IF A$ = ›BLUE RIBAND STAKES‹ THEN 360 Die Liste zog sich in dieser Weise den ganzen Bildschirm runter, und Ted warf einen abschätzenden Blick darauf und sagte: »Todeinfach.« Das Dollarzeichen, wenn ich mich recht entsann, bedeutete, daß die Eingabe in Form von Buchstaben erfolgen mußte. Input A, ohne das Dollarzeichen, hätte Zahlen verlangt. 69
Ted schien vollkommen selig. Er tippte LIST 300-380 und erhielt einen weiteren Satz Anweisungen. Bei 330 lautete das Programm: LET A = 10: B = 8: c = 6: D = 2: DI = 2 Die Zeilen 332, 334 und 336 sahen ähnlich aus, mit Zahlen, die Buchstaben zugeschrieben waren. »Das ist die Gewichtung«, sagte Ted. »Der Wert, der den einzelnen Antworten beigemessen wird. Zehn Punkte für die erste Frage, nämlich … ähm … hat das Pferd in einem Rennen gesiegt. Und so weiter. Ich sehe, daß es auch für die letzte Frage 10 Punkte gibt, in bezug auf … äh … die Vorwetten, nicht wahr?« Ich nickte. »Na, da hätten Sie’s«, sagte er. »Ich möchte behaupten, daß die Gewichtung für jedes Rennen verschieden ist. Natürlich könnte es auch verschiedene Fragen für jedes Rennen geben. Hm, hm. Schauen wir nach?« »Wenn Sie Zeit dazu haben.« »Aber klar. Ich hab’ immer Zeit für AFIS. Hab’ ein Herz dafür, wissen Sie.« Er tippte weiter LIST, gefolgt von diversen Zahlen, und förderte Juwelen zutage wie: 52O IF N$ = ›NEIN‹ THEN GOTO 560: X = X + B 530 INPUT N$: AB = AB + l 540 IF N$ = ›NEIN‹ THEN GOTO 560: X = X + M 550 T = T + G2 560 GOSUB 4000 »Was soll das alles bedeuten?« fragte ich. »Hm … tja. Es ist viel leichter, ein Programm zu schreiben, als das von jemand anderem zu lesen und zu verstehen. Programme sind wahnsinnig individuell. Sie 70
können die gleichen Ergebnisse auf allen möglichen verschiedenen Wegen erzielen. Ich meine, wenn Sie von London nach Bristol wollen, fahren Sie die M4, und sie heißt durchweg M4, aber auf einem Computer können Sie die Straße nennen wie Sie lustig sind, an jedem Punkt der Strecke, und Sie wissen dann vielleicht, daß in verschiedenen Momenten L2 beispielsweise oder RQ3 oder B7 (2) gleich M4 ist, aber sonst keiner.« »War das auch, wie Sie’s den Kindern beibringen?« »Äh ja. Entschuldigung, ist eine Gewohnheit.« Er blickte auf den Schirm. »Ich würde annehmen, die oberen Zeilen haben damit zu tun, daß man einige Fragen auslassen kann, wenn vorhergehende Antworten sie überflüssig machen. Vorspringen zu späteren Programmabschnitten. Wenn ich die ganze Sache auf Papier ausdrucken würde, könnte ich die exakte Bedeutung rausarbeiten.« Ich schüttelte den Kopf. »Bemühen Sie sich nicht. Versuchen wir mal eine andere Rennbahn.« »Klar.« Er spulte das Band zurück zum Anfang und tippte CLOAD ›DONCA‹ und als der Bildschirm READY sagte, tippte er RUN. Sofort wurden wir gefragt WELCHES RENNEN IN DONCASTER? TIPPEN SIE DEN NAMEN DES RENNENS UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹. »Okay«, sagte Ted und betätigte Schalter. »Wie wär's mit weiter unten im Band? Beispielsweise GOODW?« Wir bekamen WELCHES RENNEN IN GOODWOOD? TIPPEN SIE DEN NAMEN DES RENNENS UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹. 71
»Ich kenne keine Rennen in Goodwood«, sagte ich. Ted sagte: »Das ist leicht« und tippte LIST 10-140. Als die paar Sekunden Geflimmer aufhörten, hatten wir: LIST 10-140 10 PRINT ›WELCHES RENNEN IN GOODWOOD? ‹ TIPPEN SIE DEN NAMEN DES RENNENS UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹ 20 INPUT A$ 30 IF A$ = ›GOODWOOD STAKES‹ THEN 330 40 IF A$ = ›GOODWOOD CUP‹ THEN 340 Insgesamt waren fünfzehn Rennen aufgeführt. »Was passiert, wenn Sie den Namen eines Rennens tippen, für das es kein Programm gibt?« fragte ich. »Schauen wir mal«, sagte er. Er tippte RUN, und wir waren wieder bei WELCHES RENNEN IN GOODWOOD? Er tippte DERBY, und der Schirm informierte uns zu DIESEM RENNEN LIEGEN KEINE INFORMATIONEN VOR. »Kurz und bündig«, sagte Ted. Wir machten Stichproben von allen Seiten der drei Bänder, doch die Programme waren alle ähnlich. WELCHES RENNEN IN REDCAR? WELCHES RENNEN IN ASCOT? WELCHES RENNEN IN NEWMARKET? Es gab Programme für etwa fünfzig Rennbahnen, mit unterschiedlich langen Listen darunter aufgeführter Rennen. Mehrere Listen enthielten nicht direkt Namen von Rennen, sondern allgemeine Kategorien wie 7 ACHTELMEILEN FLACH FUER 3-JAEHRIGE UND AUFWAERTS oder 3 MEILEN ALTERSGEWICHTSJAGDRENNEN; und erst ziemlich spät ging mir mit 72
einiger Belustigung auf, daß nicht eines der Rennen ein Handikap war. Es gab überhaupt keine Fragen darüber, mit wieviel Längen ein Pferd bei der und der Gewichtsbelastung gewonnen hatte. Alles in allem wurde hier die Bewertung jeder beliebigen Anzahl von Pferden in mehr als achthundert genannten Rennen und in einer unbekannten Menge nicht namentlich genannter Rennen möglich. Jedes Rennen hatte seinen eigenen Wertungsmaßstab und sehr oft seinen eigenen Satz von Fragen. Es war eine ziemlich monumentale Leistung gewesen. »Er muß Tage dafür gebraucht haben«, sagte Ted. »Wochen, nehme ich an. Er mußte es in seiner Freizeit machen.« »Es sind natürlich keine komplizierten Programme«, erklärte Ted. »Nichts, was wirklich einen Fachmann erfordert. Es ist mehr Organisation als sonst was. Trotzdem, er hat nicht viel Platz verschwendet. Amateure schreiben sehr lange Programme. Experten kommen dreimal so schnell auf den Kern. Es ist einfach Übungssache.« »Wir sollten besser mal notieren, welche Seite von welchem Band das Grantley Basic enthält«, sagte ich. Ted nickte. »Es kommt am Schluß. Nach York. Unter ›Z‹ gespeichert.« Er überzeugte sich, daß er das richtige Band hatte und bezeichnete mit einem Stift das Etikett. Aus keinem besonderen Grund hob ich die zwei anderen Tonbänder auf und sah kurz auf die Worte, die mir vorher nur halb bewußt gewesen waren: die wenigen Worte, die Peter mit Bleistift auf eines der Etikette geschrieben hatte. »Programme erstellt für C. Norwood.« 73
Ted blickte herüber und sagte: »Das ist die erste Seite, die Sie da vor sich haben. Ascot und so weiter:« Er zögerte. »Genausogut können wir die Seiten durchnumerieren, von eins bis sechs. Bringt Ordnung rein.« Ordnung war für ihn wie auch für mich eine Gewohnheit. Als er mit dem Numerieren fertig war, steckte er die Kassetten wieder in ihre knalligen Hüllen und gab sie mir. Ich dankte ihm vielmals für seine Geduld und ging ein paar Bier mit ihm trinken; über seinem halben Liter sagte er dann: »Wollen Sie sie ausprobieren?« »Wen ausprobieren?« »Diese Rennen natürlich. Irgendwann nächsten Monat ist doch das Derby. Wenn Sie möchten, können wir für alle Derbypferde die Werte ausrechnen und mal sehen, ob das Programm den Sieger präsentiert. Ich würde das eigentlich recht gern machen. Sie nicht?« »Ich wüßte ja nicht einmal die Antworten auf diese ganzen Fragen.« »Nein.« Er seufzte. »Schade. Irgendwo muß es die Information zwar geben, aber die auszugraben wäre vielleicht mühsam.« »Ich frage meinen Bruder mal«, sagte ich und klärte ihn über William auf. »Er redet öfter von Rennberichten. Ich könnte mir denken, daß da die Antworten drinstehen.« Ted schien der Gedanke zu gefallen, und ich fragte ihn nicht direkt, auf was er schärfer wäre, die Programme zu testen oder einen Gewinn herauszuholen. Er verriet es mir aber. Er sagte zögernd: »Würde es Ihnen sehr viel ausmachen … ich meine … hätten Sie was dagegen, wenn ich mir die Bänder kopieren würde?« 74
Ich sah ihn etwas überrascht an, und er lächelte verlegen. »Tatsache ist, Jonathan, ich könnte eine Spritze für die Finanzen gebrauchen. Ich meine, wenn es diese Bänder wirklich bringen, warum sollte man sie nicht verwenden?« Er wand sich ein wenig auf seinem Sitz, und als ich mich mit der Antwort nicht beeilte, fuhr er fort: »Sie wissen doch, wie kümmerlich unsere Gehälter sind. Das ist kein Spaß, wenn man drei Kinder zu füttern hat und ihre Kleider, ihre Schuhe ein Vermögen kosten und die kleinen Teufel praktisch aus ihnen rausgewachsen sind, ehe man fertig bezahlt hat. Ich komme nie unter das Limit auf meinen Kreditkarten. Nie.« »Trinken Sie noch ein Bier«, sagte ich. »Sie sind besser dran«, meinte er düster, nachdem er mein Angebot akzeptiert hatte. »Sie haben keine Kinder. Für Sie ist es nicht so schwer, mit einem Hungerlohn auszukommen. Und Sie verdienen ohnehin mehr, da Sie Oberlehrer sind.« Ich sagte nachdenklich: »Ich sehe keinen Grund, weshalb Sie sich keine Kopien machen sollten, wenn Sie wollen.« »Jonathan!« Er war offensichtlich hocherfreut. »Aber ich würde sie nicht benutzen«, sagte ich, »ohne festzustellen, ob sie etwas taugen. Sie könnten gutes Geld verlieren.« »Ich paß’ schon auf«, sagte er, doch seine Augen glitzerten hinter der schwarzgerahmten Brille, und ich fragte mich unruhig, ob ich die Geburt eines unwiderstehlichen Dranges mit ansah. Ted hatte immer einen leichten Zug ins Fanatische. »Können Sie Ihren Bruder fragen, wie man an Rennberichte rankommt?« sagte er. »Na ja …« 75
Er suchte mein Gesicht ab. »Sie bereuen, daß Sie mir erlaubt haben, die Bänder zu kopieren. Wollen Sie sie für sich haben auf einmal, ist es das?« »Nein. Ich dachte nur … Spielen ist wie Rauschgift. Man kann süchtig danach werden und vor die Hunde gehen.« »Aber ich möchte doch bloß –« Er hielt inne und zuckte die Achseln. Er sah enttäuscht aus, aber weiter nichts. Ich seufzte und sagte: »Okay. Aber seien Sie um Gottes willen vernünftig.« »Bestimmt«, versicherte er glühend. Er sah mich erwartungsvoll an, und ich nahm die Bänder aus meiner Tasche und gab sie ihm zurück. »Geben Sie gut darauf acht«, sagte ich. »Mit meinem Leben.« »So wieder nicht.« Ich dachte flüchtig an waffentragende Besucher und an vieles, was ich nicht verstand, und fügte langsam hinzu: »Wenn Sie dabei sind, machen Sie doch für mich auch Kopien.« Er war verdutzt. »Ja, Sie haben doch die Originale dann.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie gehören jemand anderem. Ich muß sie zurückgeben. Aber wenn Kopien möglich sind, weiß ich nicht, wieso ich nicht auch behalten sollte, was ich zurückgebe.« »Kopien sind todeinfach«, sagte er. »Außerdem sind sie vernünftig. Man bringt lediglich das Programm aus der Kassette in den Computer, wie wir es getan haben, legt dann eine frische Kassette ein und lädt das Programm vom Computer auf das neue Band. Sie können zig Kopien machen, wenn Sie wollen. Jedesmal, wenn ich ein Programm schreibe, das mir auf keinen Fall verlorengehen 76
soll, nehme ich es auf mehrere Bänder auf. So haben Sie, falls ein Band wegkommt oder irgendein Idiot Ihre Aufnahme überspielt, immer noch was in der Hinterhand.« »Ich kaufe also ein paar Bänder«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf. »Geben Sie mir das Geld, und ich kaufe sie. Normale Tonbänder gehen zwar, wenn man in Druck ist, aber speziell für Computerarbeit gemachte Digitalkassetten sind besser.« Ich gab ihm etwas Geld, und er sagte, er würde die Kopien am nächsten Tag anlegen, entweder in der Mittagspause oder nach der Schule. »Und besorgen Sie die Rennberichte«, erinnerte er mich, »tun Sie das?« »Ja«, sagte ich; und später, von zu Hause, rief ich die Farm an und sprach mit William. »Wie steht’s?« »Was würdest du sagen, wenn ich mir im Sommer einen Rennstall suchen ginge?« »Ich würde sagen, bleib doch bei Farmen«, sagte ich. »Logo. Aber die Jagdpferde sind alle auf der Weide im Juli und August, und die Reitschule hier geht ein, die haben ihre besten Pferde verkauft. Mit Reiten ist da nicht viel, und dafür strotzt alles vor Mist und Unkraut. Mr. Askwith hat zu trinken angefangen. Morgens kommt er grölend raus, die Pulle Super in der Kralle, und beschimpft die Mädchen. Jetzt sind nur noch zwei da, die sich um vierzehn Ponys kümmern sollen. Es ist das Letzte.« »So hört es sich an.« »Ich war gezwungen, mich noch mal hinter die Bücher für die beknackten Prüfungen zu hängen.« »Muß wirklich schlimm stehen«, sagte ich. »Danke für den Scheck.« 77
»Tut mir leid, daß er so spät kam. Hör mal, ich hab’ einen Bekannten, der Rennberichte sucht. Wo kriegt er die her?« William, so stellte sich heraus, kannte etwa sechs verschiedene Arten von Rennberichten. Was für welche wollte mein Bekannter? Solche, die ihm den Werdegang eines Pferdes verrieten, wann es zuletzt gestartet war und ob seine Eventualquoten unter 25 zu 1 lagen. Außerdem die Vorgeschichte seines Vaters und seiner Mutter, seines Jockeys und seines Trainers, und wieviel es an Rennpreisen gewonnen hatte. Als Anfang. »Ach du Schreck«, sagte mein Bruder. »Ihr braucht eine Kombination von Rennberichten und Sporting Live.« »Ja, aber was für Rennberichte?« »Die gesammelten«, sagte er. »Raceform und Chaseform. Chaseform sind die Hindernispferde. Will er Hindernispferde auch?« »Ich denke.« »Dann sag ihm, er soll an Turf Newspapers schreiben. Das Formbuch erscheint in Fortsetzungen. Eine neue, auf den letzten Stand gebrachte Folge jede Woche. Das beste auf der Welt. Ich giere immer mehr danach, es kostet aber ein Heidengeld. Meinst du, die Treuhänder würden das als Berufsausbildung ansehen?« Er fragte allerdings ohne viel Hoffnung. Ich dachte an Ted Pitts’ Finanzlage und erkundigte mich nach etwas Billigerem. »Hm«, sagte William verständnisvoll. »Er könnte es mit der wöchentlichen Sporting Record mal versuchen.« Ein Gedanke kam ihm. »Das hat doch wohl nichts mit deinem Freund Peter und seinem Wettsystem zu tun, oder? Du sagtest, er sei tot.« 78
»Selbes System, anderer Freund.« »Es ist noch kein System geboren«, erklärte William, »das wirklich funktioniert.« »Sonst wüßtest du’s natürlich«, sagte ich trocken. »Ich lese echt.« Wir redeten noch ein bißchen und verabschiedeten uns in guter Laune, und nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, bedauerte ich, daß ich ihn nicht eingeladen hatte, die Woche, wenn er wollte, lieber bei mir zu verbringen statt auf der Farm. Aber ich glaubte nicht, daß er es angenommen hätte. Selbst der betrunkene Mr. Askwith würde ihm mehr zugesagt haben als das Dekorum von Twickenham. Sarah rief eine Stunde später an, sie klang angespannt und schroff. »Kennst du jemand namens Chris Norwood?« fragte sie. »Nein, ich glaube nicht.« In dem Moment, wo ich es gesagt hatte, fiel mir Peters Handschrift auf der Kassette ein. »Programm erstellt für C. Norwood.« Ich öffnete den Mund, um es ihr mitzuteilen, doch sie kam mir zuvor. »Peter kannte ihn. Die Polizei war wieder hier und hat Fragen gestellt.« »Aber was –«, begann ich in Verwirrung. »Ich weiß nicht, was das alles soll, falls du fragen willst. Aber irgend jemand namens Chris Norwood ist erschossen worden.«
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5 Unwissenheit schien mich zu umgeben wie ein Nebel. »Ich dachte, Peter hätte ihn vielleicht dir gegenüber erwähnt«, sagte Sarah. »Du hast immer mehr mit ihm geredet als mit Donna und mir.« »Kennt denn Donna diesen Norwood nicht?« fragte ich ohne den bitteren kleinen Hieb zu beachten. »Nein. Sie steht immer noch unter Schock. Es ist alles zuviel.« Nebel konnten gefährlich sein, dachte ich. Alle möglichen Fallen, unsichtbare Fallen, konnten lauern. »Was hat die Polizei denn eigentlich gesagt?« fragte ich. »Nicht viel. Nur, daß sie in einem Todesfall ermittelten und jede Hilfe brauchten, die Peter geben könnte.« »Peter!« »Ja, Peter. Sie wußten nicht, daß er tot ist. Es waren nicht dieselben, die vorher kamen. Ich glaube, sie sagten, sie wären aus Suffolk. Was spielt’s für eine Rolle?« Sie klang ungeduldig. »Sie hatten Peters Namen und Anschrift auf einem Block neben dem Telefon gefunden. Dem Telefon dieses Norwood. Sie sagten, in einer Morduntersuchung müßten sie auch dem kleinsten Hinweis nachgehen.« »Mord …« »Das waren ihre Worte.« Ich runzelte die Stirn und fragte: »Wann wurde er umgebracht?« »Woher soll ich das wissen? Irgendwann letzte Woche. Donnerstag. Freitag. Ich kann mich nicht erinnern. Sie 80
sprachen eigentlich mit Donna, nicht mit mir. Ich sagte ihnen dauernd, sie wäre nicht aufnahmefähig, aber sie wollten nicht hören. Sie haben eine Ewigkeit nicht begriffen, daß die Ärmste zu verstört ist, um Interesse für einen völlig Fremden zu haben, egal wie er gestorben ist. Und um allem die Krone aufzusetzen, als sie es schließlich doch merkten, sagten sie, sie kämen vielleicht wieder, wenn es ihr besser ginge.« Nach einer Pause sagte ich: »Wann ist die gerichtliche Untersuchung?« »Wie in aller Welt soll ich das wissen.« »Ich meine von Peter.« »Ach.« Sie klang irritiert. »Am Freitag. Wir müssen nicht hin. Peters Vater bezeugt seine Identität. Mit Donna redet er nicht. Er meint irgendwie, es sei ihre Schuld, daß Peter unvorsichtig mit dem Boot war. Er ist einfach ekelhaft gewesen.« »Mm«, sagte ich unverfänglich. »Ein Mann von der Versicherungsgesellschaft kam, der fragte, ob Peter jemals Ärger mit undichten Benzinzuleitungen gehabt hätte und wollte wissen, ob er die Maschine immer anwarf, ohne sie auf Benzindampf zu prüfen.« Peter war nicht leichtsinnig gewesen, dachte ich. Ich erinnerte mich, daß er auf dem Kanal immer ziemlich vorsichtig gewesen war, jeden Morgen den Motorraum geöffnet hatte, damit angestaute Dämpfe entweichen konnten. Und das war Diesel gewesen, kein Benzin: rundum weniger feuergefährlich. »Donna sagte, sie wüßte es nicht. Die Maschine war Peters Sache. Sie packte in der Kajüte immer schon die Lebensmittel aus und so weiter, während er alles startklar machte. Und überhaupt«, sagte Sarah, »wozu das ganze 81
Theater um Dämpfe? Da ist ja doch kein wirkliches Benzin rumgeschwappt. Das sagen sie selbst.« »Es ist der Dampf, der explodiert«, sagte ich. »Flüssiges Benzin entzündet sich nicht, wenn es nicht mit Luft vermischt wird.« »Ist das dein Ernst?« »Vollkommen.« »Oh.« Es folgte eine Pause: ein Schweigen. Ein paar spätherbstliche Abschiedsworte. Nicht mit einem Knall, dachte ich, sondern mit einem Gähnen. Am Dienstag sagte Ted Pitts, er hätte noch keine Gelegenheit gehabt, die Bänder für die Kopien zu kaufen, und am Mittwoch beschwätzte ich einen Kollegen, mir die Sportaufsicht für den Nachmittag abzunehmen und brach gleich nach dem Morgenunterricht auf nach Norwich. Nicht um meine Frau zu sehen, sondern um die Firma aufzusuchen, bei der Peter gearbeitet hatte. Sie entpuppte sich als eine Drei-Zimmer-zwei-Mannund-ein-Mädchen-Affäre, versteckt in einer Büroetage in einem Bau auf einem Industriegrundstück; ein bescheidener Bestandteil unter etwa zwanzig anderen, die auf der Hinweistafel in der Halle verzeichnet waren: MASON MILES & PARTNER, EDV-BERATUNG Schulter an Schulter mit VEREINIGTE DIREKTAUSLIEFERUNG und SEEZAUBER, ZIERMUSCHELIMPORT. Mason Miles und seine Partner ließen zwar keine Anzeichen von Überarbeitung erkennen, doch die düstere Stimmung, die über einem absteigenden Geschäft liegt, fehlte auch. Die Untätigkeit, spürte man, war normal. Das Mädchen saß an einem Schreibtisch und las eine 82
Illustrierte. Der jüngere Mann spielte mit den Innereien eines kleineren Computers und summte dabei in der Art von Ted Pitts. Der ältere Mann, hinter einer weit offenen Tür mit der Aufschrift Mason Miles, lümmelte sich mit Armen voller Zeitung in einem bequemen Sessel herum. Alle drei blickten etwa fünf Sekunden, nachdem ich die ungeschützten Grenzen ihres Territoriums durchschritten hatte, ohne Eile auf. »Hallo«, sagte das Mädchen. »Kommen Sie wegen der Stelle?« »Welcher Stelle?« »Also nicht. Sie sind nicht Robinson, D. F.?« »Leider nein.« »Er ist überfällig. Möchte behaupten, er kommt nicht.« Sie zuckte die Achseln. »Geht doch immer so.« »Wäre das vielleicht die Stelle von Peter Keithly?« fragte ich. Die Aufmerksamkeit des jungen Mannes kehrte zu seiner ausgeweideten Maschine zurück. »Bestimmt sogar«, sagte das Mädchen. »Wenn Sie nicht wegen seiner Stelle da sind, äh, was können wir für Sie tun?« Ich erklärte, daß meine Frau, die sich in Peters Haus aufhalte, den Eindruck habe, irgend jemand von der Firma habe Peters Witwe aufgesucht und nach ein paar Kassetten gefragt, an denen er gearbeitet hatte. Das Mädchen sah verständnislos drein. Mason Miles bedachte mich mit einem längeren Stirnrunzeln aus der Ferne. Der junge Mann ließ einen Schraubenzieher fallen und fluchte verhalten. Das Mädchen sagte: »Niemand von uns war bei Peter daheim. Auch nicht vor den Schwierigkeiten.« 83
Mason Miles räusperte sich und erhob seine Stimme. »Von was für Kassetten sprechen Sie? Kommen Sie besser mal rein hier.« Er legte die Zeitung hin und stand widerwillig auf, als wäre die Anstrengung zuviel für einen Werktagsnachmittag. Er entsprach nicht im geringsten Sarahs Beschreibung von einem dicken grauhaarigen Durchschnittsmenschen in mittleren Jahren. Da war ein krauser roter Haarwald über einem langen weißen Gesicht, eine breite eigensinnige Oberlippe und Wangenknochen von skandinavischer Ausgeprägtheit; der ganze überlange Körper, soweit ich es beurteilen konnte, noch unter vierzig. »Lassen Sie sich nicht durch mich stören«, sagte ich ohne Ironie. »Sie stören nicht.« »Könnte sonst jemand von Ihrer Firma«, fragte ich, »zu Peter nach Hause gefahren sein und in Ihrem Namen nach den Bändern gefragt haben, an denen er arbeitete?« »Was waren denn das für Bänder?« »Kassetten mit Programmen zur Einschätzung von Rennpferden.« »An einem solchen Projekt hat er nicht gearbeitet.« »Aber in seiner Freizeit?« regte ich an. Mason Miles zuckte die Achseln und setzte sich mit der Erleichterung eines Reisenden nach beschwerlicher Fahrt wieder hin. »Möglich. Was er in seiner Freizeit getan hat, war seine Angelegenheit.« »Und haben Sie einen grauhaarigen Mann mittleren Alters in Ihrer Belegschaft?« Er starrte mich nachdenklich an und sagte dann bloß: »Eine solche Person beschäftigen wir nicht. Wenn eine 84
solche Person Mrs. Keithly aufgesucht und vorgegeben hat, von hier zu kommen, ist das beunruhigend.« Ich sah mir seine seelenruhige Haltung an und stimmte zu. »Peter schrieb die Programme für einen gewissen Chris Norwood. Sie haben nicht schon mal von ihm gehört, nehme ich an?« Ich formulierte es als Frage, aber ohne viel Hoffnung, und er schüttelte den Kopf und schlug mir vor, seine Partner im Vorzimmer zu interviewen. Die Partner zeigten ebenfalls keine Reaktion auf den Namen Chris Norwood, doch der junge Mann unterbrach seine Spielerei mit den Mikrochips lange genug, um mir zu sagen, daß er alles, was Peter arbeitsmäßig zurückgelassen hatte, in einem Schuhkarton in einen Schrank gesteckt hätte, und es würde wohl nicht schaden, wenn ich mal nachsehen wollte. Ich fand die Schachtel, holte sie heraus und fing an, die handgeschriebenen Notizzettel zu sichten, die sie enthielt. Nahezu alle betrafen seine Arbeit und hatten die Gestalt mysteriöser Nachrichten an ihn selbst. ›Denk dran RT über PET-Abänderung zu informieren.‹ – ›Disketten für LMP abholen.‹ – ›ISCO informieren über Ls Softwarepaket.‹ – ›Die Mucke in Rs Programm muß ein Syntaxfehler im Unterprogramm sein.‹ Noch vieles in derselben Art und nichts davon zu gebrauchen. Eine plötzliche Unruhe erhob sich vor der Außentür, und ein wild blickender, atemberaubter, hochroter Jüngling erschien mitsamt einem Koffer, Reisetasche, Mantel und Tennisschläger. »Entschuldigen Sie«, keuchte er. »Der Zug hatte Verspätung.« »Robinson?« sagte das Mädchen gelassen. »D. F.?« »Bitte? Ach so. Ja. Ist die Stelle noch frei?« 85
Ich sah mir eine weitere Notiz an, die Schrift so sauber wie auf allen anderen: ›Grantley Basic Band von GF leihen.‹ Drehte das Stück Papier um. Auf die Rückseite hatte er geschrieben: ›C. Norwood, Angel Kitchens, Newmarket.‹ Ich hielt durch bis zum Boden der Schachtel, aber es gab sonst nichts, was ich verstand. Ich legte die bruchstückhaften Notizen alle wieder zurück und dankte den Partnern für ihre Mühe. Sie hörten es kaum. Die Aufmerksamkeit der ganzen Firma war eifrig konzentriert auf D. F. Robinson, der unter den bohrenden Fragen einging. Miles, der sie alle in das innere Büro gewunken hatte, sagte gerade: »Wie würden Sie einen Kunden anfassen, der hartnäckig die gleichen dummen Fehler macht, aber Sie beschuldigt, Sie würden ihm sein System nicht gründlich erklären?« Ich deutete ein Lebewohl an, das niemand bemerkte, und ging. Newmarket liegt fünfzig Meilen südlich von Norwich, und ich fuhr hinunter durch den sonnigen Nachmittag und dachte bei mir, daß der Nebel so dicht wie nur je um mich lag. Radar hätte vielleicht genützt. Oder ein Sturm. Oder irgendeine gute, klärende Information. Bleib dran, dachte ich, bleib dran. Die Angel Kitchens befanden sich, wie im Telefonbuch auf der Post verzeichnet, in der Angel Lane, zu der verschiedene Einheimische mir mit einer zwischen ungefähr und nicht vorhanden schwankenden Genauigkeit den Weg beschrieben und die sich als eine chaussierte Sackgasse im Osten der Stadt erwies, fern dem Hauptverkehr der High Street. Die Kitchens waren genau, was der Name besagte: die 86
Küchen eines Nahrungsmittelproduzenten, der tiefgefrorene Feinschmeckergerichte, als Einzelportionen in Folie gepackt, für das obere Ende des Marktes herstellte. »Superfein«, hatte einer meiner Wegweiser gesagt. »Delikateßklebe«, meinte ein anderer. »Das Zeug gibt’s hier zu kaufen, aber mir ist ein Hamburger allemal lieber«, kam es von einem dritten, und »wirklich schmackhaft« vom letzten. Das Produkt hatten sie alle gekannt, wenn auch nicht den Standort. Dem Anschein nach waren die Küchen aus der hinteren Hälfte und den Nebengebäuden eines ehemaligen Gutshauses entstanden; sie hatten ein wenig das Flair des Willkürlichen und waren umgeben von reifen Bäumen und den Überresten eines Landschaftsgartens. Ich parkte auf dem großen, aber gutbesetzten planierten Platz vor einem neu aussehenden, einstöckigen weißen Bau mit der Aufschrift Büro und trat durch die verglaste zweiflügelige Eingangstür. Innen, im Großraum, war der Kontrast zu Mason Miles & Partnern vollständig. Das Leben wurde im Laufschritt genommen, wenn nicht im Sturmlauf. Die vorliegende Arbeit, so schien es, würde die Insassen überwältigen, wenn sie sich einen Augenblick entspannten. Meine zaghafte Erkundigung nach jemandem, der ein Freund von Chris Norwood gewesen war, brachte mir eine unerwartet heftige Erwiderung ein. »Dieser Scheißkerl? Wenn der irgendwelche Freunde hatte, müssen die hinten in der Gemüsezubereitung sein.« »Ähm, Gemüsezubereitung?« »Zweistöckiger grauer Steinbau hinter den Kühlhäusern.« Ich ging hinaus auf den Parkplatz, wanderte umher und fragte noch mal. 87
»Wo die ihre Möhren da ausladen.« Ihre Möhren kamen säckeweise in einen zweistöckigen grauen Steinbau, auf einem Gabelstapler, dessen Fahrer mich stumm auf einen weniger höhlenartigen Eingang um eine Ecke verwies. Durch ihn gelangte man in ein kleines Vestibül neben einem großen Umkleideraum, wo reihenweise Straßenkleidung an Haken hing. Als nächstes kam ein weißgekachelter Waschraum, der roch wie ein Krankenhaus, gefolgt von einer Schwingtür in einen langen schmalen Raum, der in blendender Elektrizität erstrahlte und erfüllt war von glänzendem rostfreiem Stahl, geräuschvoll surrenden Maschinen und weißgekleideten Menschen. Als er mich dort in Straßenkleidung erblickte, kam ein dicker Mann, der etwas, das wie ein Baumwollunterhemd aussah, über einem schwellenden Schmierbauch trug, mit fuchtelnden Armen herbei und scheuchte mich raus. »Jesses, Kamerad. Sie kosten mich meinen Job«, sagte er, während die Schwingtür hinter uns schwang. »Man hat mich hergeschickt«, sagte ich freundlich. »Was wollen Sie?« Mit weniger Zuversicht als vorher erkundigte ich mich nach einem etwaigen Freund von Chris Norwood. Die klugen Augen oberhalb des Bierbauchs schätzten mich ab. Der Mund spitzte sich. Die Kochmütze saß bequem über starken dunklen Augenbrauen. »Er ist umgebracht worden«, sagte er. »Sind Sie von der Presse?« Ich schüttelte den Kopf. »Er kannte einen Freund von mir, und er hat uns beiden ein bißchen Ärger eingebrockt.« »Sieht ihm ganz ähnlich.« Er zog ein großes weißes 88
Taschentuch aus seiner weißen Hose und putzte sich die Nase. »Was wollen Sie genau?« »Ich glaube, einfach mal mit jemand reden, der ihn gekannt hat. Ich möchte wissen, wie er war. Wen er kannte. Alles. Ich möchte wissen, wie und warum er uns Ärger eingebrockt hat.« »Ich kannte ihn«, sagte er. Er zögerte nachdenklich. »Was ist es wert?« Ich seufzte. »Ich bin Lehrer. Es ist wert, was ich mir leisten kann. Und es kommt darauf an, was Sie wissen.« »Also gut«, sagte er verständnisvoll. »Ich bin um sechs hier fertig. Wir treffen uns im Purpurdrachen, ja? Die Straße hoch, dann links, ’ne Viertelmeile. Sie geben mir ein paar Halbe aus, und dann sehen wir weiter. Okay?« »Ja«, sagte ich. »Mein Name ist Jonathan Derry.« »Akkerton.« Er nickte kurz, wie um einen Vertrag zu besiegeln. »Vince«, fügte er nachträglich hinzu. Er unterzog mich einer letzten, nicht vielversprechenden Musterung und trottete zurück durch die Schwingtür. Ich hörte die ersten Worte, die er in den langen geschäftigen Raum warf: »Du, mach dich wieder an die Arbeit. Kaum laß’ ich dich aus den Augen …« Diskret schloß sich die Tür hinter ihm. Ich wartete an einem Tisch im Purpurdrachen auf ihn, einer Kneipe von weit weniger Couleur als ihr Name, und um Viertel nach sechs erschien er, jetzt angetan mit einer grauen Hose und blauweißem Hemd, das um die Knöpfe spannte. Teilansichten behaarter Brust tauchten auf, als er sich setzte, was er mit einem Schniefen und einem Belecken seiner Lippen tat. Das erste Halbe, das ich ihm ausgab, verschwand auf einen Zug, dicht gefolgt von der Hälfte des zweiten. 89
»Macht Durst, Gemüse schnippeln«, sagte er. »Schneiden Sie es mit der Hand?« Ich war überrascht und klang danach. »’türlich nicht. Waschen, pellen, schneiden, alles automatisch. Aber nix hoppt von selbst in die Maschinen rein. Oder raus, was das betrifft.« »Was für … äh … Gemüse?« sagte ich. »Kommt drauf an, was sie wollen. Heute hauptsächlich Möhren, Sellerie, Zwiebeln, Pilze. Das ist jeden Tag dabei, regelmäßig. Wird für Burgunderbeef gebraucht. Unser Spitzenreiter, Burgunderbeef. Chablishühnchen, Portweinpork gleich hinterher. Schon mal gegessen?« »Weiß ich ehrlich nicht.« Er trank voller Befriedigung. »Es ist gutes Essen«, sagte er ernst und wischte sich den Mund ab. »Lauter frische Zutaten. Keine Schluderei. Teuer, wohlgemerkt, aber sein Geld wert.« »Sie mögen den Job?« fragte ich. Er nickte. »Klar. Mein Leben lang in Küchen gearbeitet. In einigen konnte man den Schaben guten Tag sagen. Dick wie Ratten. Hier ist’s so sauber, Sie würden eine Fruchtfliege auf eine Meile sehen. Ich bin jetzt drei Monate beim Gemüse. Ein Jahr war ich beim Fisch, aber nach ’ner Weile klebt Ihnen der Geruch in der Nase.« »Hat Chris Norwood«, sagte ich, »Gemüse geschnitten?« »Wenn wir in Druck waren. Sonst hat er saubergemacht, die Zuführung kontrolliert, Botengänge erledigt.« Seine Stimme war selbstbewußt und sicher; ein Mann, der seine Zunge nicht zu hüten brauchte. »Äh, die Zuführung kontrolliert?« sagte ich. »Die Gemüsesäcke bei der Lieferung gezählt. Wenn 90
zwanzig Sack Zwiebeln auf dem Lieferschein vom Tag standen, hatte er darauf zu sehen, daß zwanzig Sack ankamen.« Er inspizierte den Inhalt des Halbliterglases. »War wohl Irrsinn, ihm den Job zu geben. Wohlgemerkt, es ist kein Millionending, Säcke mit Mohrrüben und Zwiebeln zu stehlen, aber es scheint, er hat eine ganze Latte von zahlenden Tante-Emma-Läden mit Hilfe der Lastwagenfahrer versorgt. Der Fahrer ließ die Säcke auf dem Weg hierher vom Wagen fallen, verstehen Sie, und Chris Norwood zählte zwanzig, wo es bloß sechzehn waren. Den Gewinn teilten sie sich. Läuft überall, so was, in allen Küchen, wo ich je gearbeitet hab’. Fleisch genauso. Frische Rindfleischseiten. Kaviar. Was Sie nennen, es wird geklaut. Aber Chris war nicht einfach der übliche Opportunist. Er konnte von nichts die Finger lassen.« »Wovon hat er denn die Finger nicht gelassen?« fragte ich. Vince Akkerton putzte die flüssigen Reste weg und stellte mit suggestiver Lautstärke sein Glas hin. Gehorsam ging ich zum Tresen, um Nachschub zu holen, und nachdem der neue Schaum angemessen inspiziert und die ersten fünf Zentimeter probehalber abgetrunken waren, erfuhr ich, was Chris Norwood gestohlen hatte. »Die Mädchen im Büro sagten, er hätte ihnen ihr Bargeld geklaut. Sie kamen da eine Ewigkeit nicht drauf. Sie dachten, es wäre eine von den Frauen dort, die sie nicht mochten. Chris ging die ganze Zeit ein und aus, brachte ihnen die Tagesbögen rüber und schwätzte mit ihnen. Er hielt große Stücke auf sich. Dreister Hund.« Ich sah in das gutgenährte, weltkluge Gesicht und dachte an Obermaate und Maschinisten. Die gleiche mühelose Kommandoübernahme: die Fähigkeit, Menschen einzuschätzen und sie zum Arbeiten zu bringen. Leute wie 91
Vince Akkerton waren die unentbehrlichen Schaffer und Vorantreiber. »Wie alt«, sagte ich, »war Chris Norwood?« »Um die Dreißig. So wie Sie. Schwer, das genau zu sagen.« Er trank. »Was für Ärger hat er Ihnen eingebrockt?« »Zwei Schläger kamen in mein Haus und suchten etwas von ihm.« Nebel, dachte ich. »Was denn?« sagte Akkerton. »Computerbänder.« Wenn ich hintermongolisch gesprochen hätte, könnte es ihm nicht weniger gesagt haben. Er überspielte seine Verwirrung mit Bier, und enttäuscht trank ich etwas von meinem. »Klar«, sagte Akkerton, gestärkt, »es gibt einen Computer oder so was vorne im Büro. Den benutzen sie, um sich darüber auf dem laufenden zu halten, wieviel Tonnen Burgunderbeef und so weiter sie in Bestellung haben, wieviel in der Kühlung und solches Zeug. Rechnet aus, wieviel tausend Enten sie brauchen. Hummern. Sogar Korianderkerne.« Er hielt inne und sagte mit einem ersten Schimmer von Humor: »Wohlgemerkt, die Ergebnisse sind wegen stiller Nebentätigkeit immer falsch. Einmal fehlte eine ganze Lieferung von Truthähnen. Computerirrtum, hieß es.« Er grunzte. »Chris Norwood mit seinen Mohrrüben und Zwiebeln war ein kleiner Fisch.« »Diese Computerbänder hatten mit Pferderennen zu tun«, sagte ich. Die dunklen Augenbrauen stiegen. »Das gibt schon eher Sinn. Alles und jedes in dieser Stadt hat praktisch mit Pferderennen zu tun. Die glauben hier, hab’ ich gehört, 92
daß der Pferdeschlachthof einen direkten Draht zu unserem Burgunderbeef hat. Es ist eine Verleumdung.« »Hat Chris Norwood gewettet?« »Jeder in der Firma wettet. Gottchen, Sie könnten nicht wohnen in der Stadt, ohne zu wetten. Es liegt in der Luft. Ansteckend, wie die Pocken.« Ich schien nicht voranzukommen, und ich wußte nicht, was ich noch fragen sollte, fand schließlich aber doch noch etwas. »Wo hat man Chris Norwood umgebracht?« »Wo? In seinem Zimmer. Er hatte ein Zimmer in einem stadteigenen Haus bei einer verwitweten alten Rentnerin gemietet, die morgens putzen geht. Verstehen Sie, die durfte keine Untermieter nehmen, die Stadt erlaubt das nicht, und sie hat dem Sozialamt, das kostenlose Mahlzeiten stellt, nie gesagt, daß sie verdient, da macht sie der Wirbel, der jetzt los ist, ganz irre.« Er schüttelte den Kopf. »Nur eine Straße von mir daheim ist das alles passiert.« »Was ist denn eigentlich passiert?« Er erzählte es nicht ungern. Eher mit Wonne. »Sie fand Chris tot in seinem Zimmer, als sie reinging, um es sauberzumachen. Denn sie dachte, er wäre arbeiten gegangen; sie ging morgens immer vor ihm aus dem Haus. Jedenfalls, da lag er. Eine Menge Blut, habe ich gehört. Man weiß zwar nicht, was wahr ist und was nicht, aber es heißt, er hätte Kugeln in seinen Füßen gehabt. Er sei verblutet.« Allmächtiger Gott … »Konnte nicht gehen, verstehen Sie«, sagte Akkerton. »Kein Telefon. Hinterzimmer. Niemand sah ihn.« Mit trockenem Mund fragte ich: »Was ist mit … seinen Habseligkeiten?« 93
»Keine Ahnung eigentlich. Nichts gestohlen, soweit ich gehört habe. Scheint nur, daß ein paar Sachen kaputt waren. Und seine Stereoanlage war regelrecht zusammengeschossen, wie er auch.« Was mach’ ich jetzt, dachte ich. Gehe ich zur Polizei, die wegen Chris Norwood ermittelt, und sage ihr, daß ich Besuch von zwei Männern hatte, die mir drohten, auf meinen Fernseher und meine Knöchel zu schießen? Ja, dachte ich, diesmal gehe ich wahrscheinlich. »Wann …« Meine Stimme klang belegt. Ich räusperte mich und versuchte es noch mal. »An welchem Tag ist es passiert?« »Vorige Woche. Am Freitag morgen kreuzte er nicht auf, und das war verdammt lästig, weil wir an dem Tag Rüben hatten und es sein Job war, die Spitzen und Wurzeln zu kappen und sie in den Wascher zu stecken.« Ich fühlte mich benommen. Chris Norwood war am Freitag morgen tot gewesen. Am Samstag nachmittag hatte ich die Walther meiner Besucher raus in den Rosenstrauch geworfen. Sie hatten am Samstag noch nach den Bändern gesucht, was bedeutete … guter Gott … daß sie sie von Chris Norwood nicht bekommen hatten. Sie hatten ihn angeschossen und ihn liegen lassen, und die Bänder hatten sie immer noch nicht. Er hätte sie ihnen gegeben, wenn er sie gehabt hätte: um nicht von ihnen erschossen zu werden; um sein Leben zu retten. Die Bänder waren nicht das eigene Leben wert: wahrhaftig nicht. Ich erinnerte mich an die Sorglosigkeit, mit der ich dieser Pistole gegenübertrat und war im nachhinein entsetzt. Vince Akkerton gab zu erkennen, daß es seinem Gefühl nach Zeit sei, ihn für seine Bemühungen zu entlohnen. Ich knobelte im Geiste zwischen dem, was ich mir leisten 94
konnte und dem, was er erwarten mochte und beschloß, es mit dem Mindesteinsatz zu versuchen. Ehe ich den jedoch offerieren konnte, kamen zwei Mädchen in die Bar und schickten sich an, am Nebentisch Platz zu nehmen. Eine von ihnen sah Akkerton, änderte plötzlich den Kurs und trat an seine Seite. »Hallo, Vince«, sagte sie. »Tun Sie uns einen Gefallen. Spendieren Sie uns eine Cola mit Rum, und morgen halte ich Sie frei.« »Den Spruch kenne ich doch«, sagte er nachsichtig, »aber mein Bekannter hier zahlt.« Ärmer um zwei Cola mit Rum, einen weiteren halben Liter und noch ein Viertel (für mich), saß ich da und ließ mir von Akkerton erklären, daß die Mädchen im Büro von Angel Kitchens arbeiteten. Carol und Janet. Jung, mittelschlau, putzmunter und geschwätzig, erwarteten sie jede Minute die Ankunft ihrer Freunde. Carols Meinung von Chris Norwood war ehrliche Entrüstung. »Wir kamen alle dahinter, daß er es sein mußte, der an unsere Handtaschen ging, aber wir konnten’s nicht beweisen, ne? Wir wollten ihm gerade eine Falle stellen, als er umgebracht wurde, und vermutlich sollte er mir leid tun, aber tut er nicht. Er konnte nirgends die Finger davonlassen. Ich meine, nirgends. Der griff sich Ihr letztes Brötchen, wenn Sie nicht hinsahen, und lachte Sie aus, während er’s aß.« »Er fand nichts verkehrt daran, Sachen zu klauen«, warf Janet em. »Hier«, sagte Akkerton und beugte sich zur Betonung vor, »die junge Janet hier arbeitet am Computer. Fragen Sie sie mal wegen der Bänder.« 95
Janets Reaktion waren nachdenklich gewölbte Augenbrauen. »Ich wußte nicht, daß er wirklich Bänder hatte«, sagte sie. »Aber natürlich war er immer da. Er hatte den Job, wissen Sie, die Tagesbögen aus allen Abteilungen abzuholen und sie zu mir zu bringen. Er hing dann immer ein bißchen herum, besonders in den letzten Wochen, fragte mich, wie der Computer funktionierte, ne? Ich zeigte ihm, wie er die ganzen Posten errechnet, wieviel Salz und dergleichen, verstehen Sie, in jede Abteilung gebracht werden muß, und wie all die Bestellungen durchlaufen, gemischte Containerladungen nach Bournemouth oder Birmingham, ne? Die ganze Firma, wissen Sie, wäre ja aufgeschmissen ohne den Computer.« »Was für eine Marke ist es?« »Was für eine Marke?« Sie fanden die Frage alle komisch, aber auf die Antwort hätte ich gewettet. »Ein Grantley«, sagte Jane. Ich lächelte sie so friedfertig an, wie ich konnte, und fragte sie, ob sie Chris Norwood erlaubt haben würde, seine Bänder auf ihrem Grantley laufen zu lassen, wenn er sie nett darum gebeten hätte, und nach einem schuldbewußten Zögern und ein paar verschämten Blicken in ihre Cola mit Rum meinte sie, möglich wäre es schon gewesen, wissen Sie, früher mal, bevor sie entdeckten, verstehen Sie, daß es Chris war, der ihnen das Bargeld stahl. »Wir hätten längst darauf kommen müssen«, sagte Carol, »aber andererseits, die Sachen, die er sich holte, wie unsere Brötchen und so, und Zeug aus dem Büro, Heftklammern, Briefumschläge, Kleberollen, na, wir sahen eben, wie er das kassierte, wir waren dran gewöhnt.« »Hat sich denn nie jemand beschwert?« fragte ich. 96
Nicht offiziell, sagten die Mädchen. Was nutzte es schon? Die Firma entließ keine Leute fürs Klauen; wenn sie das täte, gäbe es einen Streik. »Außer einmal, Janet, weißt du noch?« sagte Carol. »Als diese arme alte Dame ankam und Krach schlug, weil Chris Sachen aus ihrer Wohnung gestohlen hätte. Sie hat sich wohl beschwert. Dreimal kam sie wieder und machte Tamtam.« »Ja, schon«, nickte Jane. »Dabei stellte sich raus, daß es nur ein paar Zettel waren, um die es ihr ging, wissen Sie, keineswegs Geld oder Wertsachen, und jedenfalls sagte Chris, sie wäre doch nicht mehr ganz dicht und hätte sie wahrscheinlich weggeschmissen, und so ging’s dann vorbei, wissen Sie.« Ich sagte: »Wie hieß die alte Dame?« Die Mädchen schauten sich an und schüttelten die Köpfe. Es sei Wochen her, meinten sie. Akkerton sagte, davon hätte er nichts gewußt, er hätte nie was von der alten Dame gehört, nicht hinten bei seinem Gemüse. Die Freunde der Mädchen erschienen in diesem Moment, und ein allgemeines Geschiebe entstand um den Tisch herum. Ich sagte, ich müsse gehen, und durch eine jener unausgesprochenen Botschaften gab Akkerton zu verstehen, ich solle mit ihm rauskommen. »O’Rorke«, sagte Carol plötzlich. »Bitte?« »Der Name der alten Frau«, erklärte sie. »Ich hab’ mich erinnert. Sie hieß Mrs. O’Rorke. Eine Irin. Ihr Mann war gerade gestorben, und sie bezahlte Chris dafür, daß er Holz für ihren Kamin reinbrachte und dergleichen, womit sie nicht zurechtkam.« 97
»Wo sie gewohnt hat, wissen Sie wohl nicht mehr?« »Ist das wichtig? Es war doch nur viel Theater wegen nichts.« »Trotzdem …« Sie krauste leicht die Stirn in entgegenkommender Konzentration, obwohl der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit ihrem Freund galt, der Neigung zeigte, mit Janet zu flirten. »Stetchworth«, rief sie aus. »Sie beklagte sich über den Taxipreis.« Sie warf mir einen raschen Blick zu. »Ehrlich gesagt, am Schluß waren wir froh, sie wieder los zu sein. Sie war eine furchtbare alte Nervensäge, aber zu unfreundlich konnten wir auch nicht sein, wo doch ihr alter Herr gestorben war und so.« »Herzlichen Dank«, sagte ich. »Gern geschehen.« Sie rückte von mir weg und setzte sich entschieden zwischen ihren Freund und Janet, und Akkerton und ich gingen hinaus, um unsere Geschäfte zu regeln. Er betrachtete gleichmütig, was ich ihm gab, nickte und bat mich, ihm meinen Namen samt Adresse auf einen Zettel zu schreiben für den Fall, daß ihm noch etwas einfiele, was er mir sagen könnte. Ich riß eine Seite aus meinem Terminkalender, schrieb, gab sie ihm und dachte, unsere Transaktion wäre vorbei, doch als ich ihm die Hand geschüttelt, auf Wiedersehn gesagt hatte und wegging, rief er hinter mir her. »Warten Sie, Junge.« Ich drehte mich um. »Haben Sie auch was gekriegt für Ihr Geld?« fragte er. Mehr als ich erwartet hatte, dachte ich. Ich sagte: »Ja, ich denke schon. Kann es noch nicht genau sagen.« 98
Er nickte und schürzte die Lippen. Dann hielt er mir mit einer atypisch unbeholfenen Geste die Hälfte des Geldes hin. »Hier«, sagte er. »Nehmen Sie. Ich habe in der Kneipe Ihre Brieftasche gesehen. Sie sind fast blank. Was genug ist, ist genug.« Er drückte mir sein Geschenk in die Hand, und ich nahm es dankbar zurück. »Lehrer«, sagte er und stieß die Kneipentür auf. »Unterbezahltes, getretenes Pack. Hab’ selber nie viel von der Schule gehalten.« Er wischte meinen Versuch, ihm zu danken, beiseite und hielt Kurs auf das Bier.
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6 Mit Straßenkarte und trotz Fehlleitungen fand ich schließlich das O’Rorke-Haus in Stetchworth. Bog in die Auffahrt. Stellte den Motor ab. Kletterte aus dem Wagen, schaute, was ich vor mir hatte. Ein großer, verschachtelter, unordentlicher Bau; viel Holz, viele Giebel, ungezähmter Efeu, der Fühler auf das Schieferdach streckte, und Schiebefensterrahmen, die vor langem einmal weiß gestrichen waren. Der Garten schien im sanften Abendlicht eine Angelegenheit von Gräsern und Büschen, die wuchsen, wo immer es ihnen gefiel, und ein großer Fliederstrauch, weiß und süßduftend, verdeckte nahezu die Eingangstür. Die Klingel mag infolge meines auf den Knopf drückenden Fingers irgendwo tief drinnen geläutet haben, doch hören konnte ich sie nicht. Ich klingelte nochmals, versuchte ein paar Klapse mit dem unzulänglichen Türklopfer, und als die leeren Sekunden zu Minuten anwuchsen, trat ich ein paar Schritte zurück und suchte in den Fenstern oben nach Lebenszeichen. Ich sah zwar nicht direkt, wie sich die Tür hinter dem Fliederbusch öffnete, aber eine scharfe Stimme sprach zu mir zwischen den Blüten hindurch. »Sind Sie der heilige Antonius?« sagte sie. »Äh, nein.« Ich trat zurück in die Sichtlinie und sah im dunklen, halboffenen Eingang eine kleine weißhaarige Frau mit gelblicher Haut und wild dreinschauenden Augen stehen. »Wegen der Feier?« »Welcher Feier?« fragte ich verdutzt. 100
»Das Kirchenfest natürlich.« »Ach so«, sagte ich. »Natürlich.« Sie sah mich an, als wäre ich vollkommen blöd, was ich von ihrem Standpunkt aus zweifellos war. »Wenn Sie die Pfingstrosen heute abend schneiden«, sagte sie, »sind sie bis Samstag welk.« Ihre Stimme war erkennbar irisch, jedoch mit den reinen Vokalen der Gebildeten und ihre Worte waren bereits eine Entlassung. Sie hatte die eine Hand an der Tür und die andere am Rahmen und stand im Begriff, beides endgültig wieder zusammenzubringen. »Bitte«, sagte ich hastig, »zeigen Sie mir die Pfingstrosen, damit ich die richtigen pflücke … am Samstag.« Die halbbegonnene Bewegung setzte aus. Die alte Frau überlegte einen Moment und trat dann an dem Flieder vorbei ganz in Sicht, eine wespendünne Gestalt in rostbraunem Jersey, enger marineblauer Hose und grünrosa karierten Pantoffeln. »Auf der Rückseite«, sagte sie. Sie musterte mich von oben bis unten, sah aber anscheinend nichts Zweifelhaftes. »Hier lang.« Sie führte mich ums Haus über einen Fußweg, dessen flache, eingesunkene Pflastersteine an den Rändern mit dem unkrautartigen Wildwuchs dessen verschmolzen, was einmal Blumenbeete gewesen sein mochten. Vorbei an einem schulterhohen Stapel gesägter Baumstämme, kontrastierend ordentlich. Vorbei an einer geschlossenen Seitentür. Vorbei an einem Treibhaus voller dürrer Stengel vieler verwelkter Geranien. Vorbei an einer Schubkarre voller Schlacke, deren Zweck man gerade noch ahnen konnte. Um eine unverhoffte Ecke herum, durch einen zu schmalen Spalt in einer energisch wachsenden Hecke und schließlich in das zügellose Durcheinander des hinteren Gartens. 101
»Pfingstrosen«, sagte sie und zeigte hin, obwohl es wirklich nicht nötig war. Hinter einem verwilderten Rasen erhoben sich mächtige Schwaden der dicken, üppigen, zerzausten Köpfe, rosa, weiß gekräuselt, rot, aus einem wahren Meer glänzender dunkler Blätter in alle Richtungen, von der untergehenden Sonne golden angehaucht. Die Zukunft mochte den Verfall bringen, doch die Gegenwart war ein triumphierender Schrei in das Gesicht des Todes. »Sie sind großartig«, staunte ich. »Es müssen Tausende sein.« Die alte Frau sah sich ohne Interesse um. »Sie wachsen jedes Jahr. Liam konnte nicht genug kriegen. Sie können mitnehmen, so viel Sie wollen.« »Ähm.« Ich räusperte mich. »Ich sollte Ihnen besser sagen, daß ich nicht von der Kirche bin.« Sie schaute mich mit der gleichen Verwirrung an, die ich unlängst ihr entgegengebracht hatte. »Wozu wollten Sie dann die Pfingstrosen sehen?« »Ich wollte mit Ihnen sprechen. Nicht, daß Sie reingehen und die Tür zumachen, wenn Sie hören, worüber ich sprechen möchte.« »Junger Mann«, sagte sie streng, »ich kaufe nichts. Ich gebe keine Spenden. Ich mag keine Politiker. Was wollen Sie?« »Ich möchte etwas wissen«, sagte ich langsam, »über die Papiere, die Ihnen Chris Norwood gestohlen hat.« Ihr Mund ging auf. Die wilden Augen suchten mein Gesicht ab wie große wässerige Scheinwerfer. Der dünne Körper bebte vor starker, aber nicht spezifizierter Erregung. »Bitte seien Sie unbesorgt«, sagte ich rasch. »Ich will 102
Ihnen nichts. Sie brauchen überhaupt keine Angst zu haben.« »Ich habe keine Angst. Ich bin böse.« »Sie hatten doch Papiere, nicht wahr, die Chris Norwood gestohlen hat?« »Liams Papiere. Ja.« »Und Sie waren bei Angel Kitchens, um sich zu beschweren?« »Die Polizei unternahm nichts. Absolut nichts. Ich fuhr zu Angel Kitchens, um diesen gemeinen Menschen zu zwingen, daß er sie herausgibt. Sie sagten, er wäre nicht da. Das war gelogen. Ich weiß es genau.« Ihre Aufregung war zu stark, als daß ich daran schuld sein wollte. Ich sagte ruhig: »Bitte, könnten wir uns mal hinsetzen …« Ich schaute mich nach einer Gartenbank um, sah aber nichts Geeignetes. »Ich möchte Sie nicht durcheinanderbringen. Ich könnte vielleicht sogar helfen.« »Ich kenne Sie nicht. Das ist mir zu gefährlich.« Sie musterte mich noch ein paar entnervende Sekunden mit voller Brennstärke, dann drehte sie sich um und schlug den Weg ein, den wir gekommen waren. Ich folgte zögernd, denn ich wußte wohl, daß ich ungeschickt gewesen war, aber immer noch nicht, was ich sonst hätte tun können. Ich habe es verscherzt, dachte ich. Sie würde hinter dem Flieder reingehen und mich aussperren. Zurück durch die Hecke, vorbei an der Schlacke, vorbei an dem Friedhof im Gewächshaus: aber nicht vorbei an der geschlossenen Seitentür. Zu meiner etwas überraschenden Erleichterung hielt sie dort an und drehte den Knauf. »Hier lang«, sagte sie im Hineingehen. »Kommen Sie mit. Ich denke, ich vertraue Ihnen mal. Sie sehen anständig aus. Ich nehme das Risiko auf mich.« 103
Das Haus war dunkel innen und roch nach Nichtbenutzung. Wir schienen in einem schmalen Gang zu sein, durch den sie vor mir herschwebte, lautlos in ihren Pantoffeln, leicht wie ein Spatz. »Alleinlebende Frauen«, sagte sie, »sollten niemals Männer, die sie nicht kennen, in ihr Haus lassen.« Da sie die Luft vor sich ansprach, galt die Zurechtweisung offenbar ihr selbst. Wir gingen weiter an mehreren dunkel gestrichenen, geschlossenen Türen vorbei, bis der Gang sich auf einen zentralen Flur öffnete, wo das Licht, soweit vorhanden, durch hochliegende Fenster aus bemaltem Glas eindrang. »Zeit König Edwards«, sagte sie, meinem Blick nach oben folgend. »Hier lang.« Ich folgte ihr in ein geräumiges Zimmer, dessen kunstvoll gearbeitetes Erkerfenster auf die Pracht des Gartens hinausging. Drinnen gab es, eher gedämpft, dunkelblaue Samtvorhänge, gutaussehende große Läufer über dem silbergrauen Teppich, blausamtene Sofas und Sessel – und dutzendweise, dutzendweise Seestücke, die sich an den Wänden drängten. Vom Boden bis zur Decke. Schwellende Segel. Viermaster. Stürme und Möwen und salzige Gischt. »Von Liam«, bemerkte sie knapp, als sie sah, wie ich den Kopf danach verdrehte. Wenn Liam O’Rorke etwas gern hatte, dachte ich flüchtig, dann hatte er gern eine Menge davon. »Setzen Sie sich«, sagte sie und wies auf einen Sessel. »Sagen Sie mir, wer Sie sind und weshalb Sie hergekommen sind.« Sie ging zu einem Sofa, wo sie, nach dem Buch und dem Glas auf dem kleinen angrenzenden Tisch zu urteilen, gesessen hatte, bevor ich erschienen war, und drückte ihr Leichtgewicht auf die Kante wie in Fluchtbereitschaft. 104
Ich erläuterte Peters Verbindung zu Chris Norwood, nämlich daß Chris Norwood, wie ich glaubte, Peter die Papiere ihres Mannes gegeben hatte, damit er sie zu Computerprogrammen zusammenstellte. Ich sagte, Peter habe den Auftrag ausgeführt und die Programme auf Band aufgenommen. Sie wischte die schwierigen technischen Einzelheiten beiseite und kam direkt zu dem einfachen Kern. »Heißt das«, fragte sie, »daß Ihr Freund Peter meine Unterlagen hat?« Die Hoffnung in ihrem Gesicht war wie ein Leuchten. »Leider nein. Ich weiß nicht, wo die Papiere sind.« »Fragen Sie Ihren Freund.« »Er ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.« »Oh.« Sie starrte mich an, zutiefst enttäuscht. »Aber die Bänder«, sagte ich. »Wo die sind, weiß ich – oder zumindest, wo Kopien davon sind. Wenn das Wissen, das darauf ist, Ihnen gehört, könnte ich sie Ihnen beschaffen.« Sie war ein Durcheinander von wiederbelebter Hoffnung und Verwirrung. »Es wäre wunderbar. Aber diese Tonbänder, wo immer sie sind, haben Sie die denn nicht mitgebracht?« Ich schüttelte den Kopf. »Bis vor einer Stunde wußte ich nicht, daß es Sie gibt. Ein Mädchen namens Carol hat mir von Ihnen erzählt. Sie arbeitet im Büro von Angel Kitchens.« »Ah ja.« Mrs. O’Rorke machte eine kleine Geste der Verlegenheit. »Ich hab’ sie angeschrien. Ich war so böse. Die wollten mir nicht sagen, wo in den ganzen Schuppen und Gebäuden Chris Norwood steckte. Ich hatte gesagt, ich würde ihm die Augen auskratzen. Ich habe ein irisches Temperament, wissen Sie. Das kann ich nicht immer beherrschen.« 105
Ich dachte an das Bild, das sie den Mädchen geboten haben mußte, und nahm an, daß deren Schilderung, sie hätte ›ein Tamtam gemacht‹, noch milde ausgedrückt war. »Das Schlimme ist«, sagte ich langsam, »daß noch jemand anders diese Bänder sucht.« Ich erzählte ihr eine abgeschwächte Version von dem Besuch der Pistolenhelden in meinem Haus, der sie aufmerksam mit offenem Mund zuhörte. »Ich weiß nicht, wer sie sind«, sagte ich, »oder woher sie kommen. Ich bin zu dem Schluß gelangt, daß soviel Unkenntnis gefährlich sein könnte. Also versuche ich herauszufinden, was los ist.« »Und wenn Sie es wissen?« »Dann werde ich wissen, was ich nicht zu tun habe. Ich meine, man kann so dumme Sachen machen, mit vielleicht furchtbaren Konsequenzen, bloß weil man eine simple Tatsache nicht kennt.« Sie betrachtete mich ruhig mit dem ersten Anflug eines Lächelns. »Alles was Sie begehren, junger Mann, ist das Geheimnis, das sich dem Homo sapiens seit dem ersten Tag entzieht.« Mich verblüffte weniger der Gedanke, als vielmehr die Worte, in die sie ihn kleidete, und als hätte sie meine Überraschung gespürt, sagte sie trocken: »Man wird nicht dumm mit dem Alter. Wenn man in der Jugend dumm war, ist man vielleicht im Alter dumm. War man in der Jugend bei wachem Verstand, weshalb sollte der Verstand einschlafen?« »Ich habe Ihnen«, sagte ich langsam, »unrecht getan.« »Tun alle«, meinte sie gleichgültig. »Ich gucke in meinen Spiegel. Ich sehe ein altes Gesicht. Runzeln. Gelbe Haut. So wie die Gesellschaft heute beschaffen ist, heißt dieses Äußere zu präsentieren, in eine Schublade gesteckt 106
zu werden. Alte Frau, daher dumm, lästig, kann herumgeschubst werden.« »Nein«, sagte ich. »Das stimmt nicht.« »Es sei denn natürlich«, fügte sie hinzu, als hätte ich nicht gesprochen, »man hat was erreicht. Etwas erreicht zu haben ist die Rettung der ganz alten Leute.« »Und Sie haben … nichts erreicht?« Sie machte eine kleine bedauernde Geste mit Händen und Kopf. »Ich wollte, ich hätte. Ich bin durchschnittlich intelligent, aber das ist auch alles. Es bringt einem nichts. Es bewahrt einen nicht vor Zorn. Ich entschuldige mich für meine Reaktion im Garten.« »Nicht doch«, sagte ich. »Diebstahl ist eine Beleidigung. Natürlich muß es Sie ärgern.« Sie entspannte sich so weit, daß sie sich auf dem Sofa zurücklehnte, wo die Kissen unter ihrem Gewicht kaum nachgaben. »Ich will Ihnen soviel davon erzählen, was passiert ist, wie ich kann. Wenn es Sie davor bewahrt, Moses über das Rote Meer zu verfolgen, um so besser.« Wissen, was man nicht tun sollte … Ich grinste sie an. Sie zuckte mit den Lippen und sagte: »Was wissen Sie vom Rennsport?« »Nicht allzuviel.« »Anders als Liam. Mein Mann. Liam hat sein ganzes Leben für die Pferde gelebt. In Irland natürlich, als wir Kinder waren. Dann hier. Newmarket, Epsom, Cheltenham, da haben wir gewohnt. Dann wieder hier in Newmarket. Immer die Pferde.« 107
»War es sein Beruf?« »In gewisser Hinsicht. Er war ein Spieler.« Sie schaute mich ruhig an. »Ich meine, ein Profiwetter. Er lebte von seinen Gewinnen. Ich lebe noch von dem, was übrig ist.« »Ich dachte, das wäre nicht möglich«, sagte ich. »Die Quoten zu schlagen?« Die Worte klangen verkehrt zu ihrem Äußeren. Es traf zu, dachte ich, was sie über Schubladen gesagt hatte. Man erwartet nicht, daß alte Frauen vom Wetten sprachen, aber diese tat es. »In den alten Zeiten war es durchaus möglich, gut davon zu leben. Zig Leute haben es gemacht. Man arbeitete mit einer Gewinnaussicht von zehn Prozent zum Umsatz, und wenn man auch nur ein gewisses Urteilsvermögen hatte, schaffte man es. Dann führten sie die Wettsteuer ein. Sie kappte ein Stück von den ganzen Gewinnen, drückte die Gewinnspanne auf fast Null, putzte im Nu die ganzen alten Profis weg. Die zehn Prozent wanderten alle in die Staatskasse, verstehen Sie?« »Ja«, sagte ich. »Liam hatte immer mehr als zehn Prozent gemacht. Er war stolz darauf. Er kalkulierte mit einem Gewinn auf drei Rennen. Das heißt, im Durchschnitt jede dritte Wette zu gewinnen. Das ist ein sehr hoher Prozentsatz, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Und er besiegte die Steuer. Er versuchte neue Wege, nahm neue Faktoren hinzu. Mit seiner Statistik, sagte er, könnte man auf lange Sicht immer gewinnen. Keiner von den Buchmachern nahm seine Wetten an.« »Äh, bitte?« »Wußten Sie das nicht?« Sie klang überrascht. »Buchmacher nehmen keine Wetten von Leuten an, die wiederholt gewinnen.« »Aber ich dachte, dazu wären sie im Geschäft. Ich meine, um die Wetten der Leute anzunehmen.« 108
»Wetten von normalen kleinen Sonntagswettern, ja«, sagte sie. »Die Sorte, die vielleicht hin und wieder mal gewinnt, aber am Ende nie. Aber wenn Sie bei fast jedem Buchmacher ein Konto haben und andauernd gewinnen, schließt der Ihr Konto.« »Ach herrje«, sagte ich lahm. »Auf den Rennplätzen«, erklärte sie, »kannten alle Buchmacher Liam. Wenn sie ihn nicht näher gekannt haben, kannten sie ihn vom Sehen. Sie ließen ihn nur gegen bar zum Startkurs wetten, und sowie er dann sein Geld gesetzt hatte, flüsterten sie’s in die Runde, und alle drückten sie den Kurs dieses Pferdes auf lächerlich kleine Quoten, so daß der Startkurs sehr gering ausfiel, damit er selbst nicht viel gewann und damit die anderen Rennbahnbesucher von dem Pferd abgeschreckt wurden und ihr Geld auf was anderes setzten.« Eine längere Pause entstand, während ich sortierte und verdaute, was sie gesagt hatte. »Und wie«, fragte ich, »ist es mit dem Toto?« »Das Toto ist unberechenbar. Liam mochte es nicht. Außerdem zahlt das Toto im allgemeinen schlechtere Quoten als die Buchmacher. Nein, Liam wettete gern bei den Buchmachern. Es war eine Art Krieg. Liam gewann immer, wenn die Buchmacher das auch meistens nicht wußten.« »Äh«, sagte ich, »wie meinen Sie das?« Sie seufzte. »Es war ein Haufen Arbeit. Wir hatten einen Gärtner. Ein Freund eigentlich. Er wohnte hier im Haus. Am Ende des Gangs, durch den wir eben reingekommen sind, das waren seine Zimmer. Er ist immer gern übers Land gefahren, also nahm er Liams Geld und fuhr damit los in die eine oder andere Stadt und setzte es nach und 109
nach bei den lokalen Wettannahmen, und wenn das Pferd gewann, was es normalerweise tat, machte er die Runde, kassierte und kam heim. Er und Liam rechneten alles aus. Soviel für Dan – das war unser Freund – und soviel als Arbeitskapital, und der Rest für uns. Natürlich keine Steuern mehr zu zahlen. Keine Einkommenssteuer. Wir machten das Jahre auf die Art. Jahrelang. Wir kamen so gut miteinander aus, wirklich.« Sie verstummte, während sie mit diesen unpassend wilden Augen in die freundliche Vergangenheit sah. »Und Liam starb«, sagte ich. »Dan starb. Vor anderthalb Jahren, kurz vor Weihnachten. Er war nur einen Monat krank. Es ging so rasch.« Eine Pause. »Und Liam und ich, wir begriffen erst nach – Wir wußten gar nicht, wie sehr wir von Dan abhängig waren, bis er nicht mehr da war. Er war so stark. Er konnte Sachen heben … und im Garten … Liam war sechsundachtzig, verstehen Sie, und ich bin achtundachtzig, aber Dan war jünger, noch keine siebzig. Er war ein Schmied aus Wexford, der alten Heimat. Und voller Späße. Wir haben ihn so vermißt.« Die goldene Glut der Sonne draußen war von den Pfingstrosen gewichen, die starken pulsierenden Farben verblaßten in der nahenden Dämmerung zu Grautönen. Ich lauschte der jungen Stimme der alten Frau, wie sie die dunkleren Seiten ihres Lebens erzählte und den Nebel in meinem durchbrach. »Wir dachten, wir müßten uns jemand anderen suchen, der die Wetten einzahlt«, sagte sie. »Aber wem konnten wir vertrauen? Letztes Jahr versuchte Liam es eine Zeitlang selbst zu machen, er fuhr zu Wettbüros in Orten wie Ipswich und Colchester, Orten, wo man ihn nicht kennen würde, aber er war zu alt, es erschöpfte ihn 110
furchtbar. Er mußte damit aufhören, es war zuviel. Wir hatten ziemlich was gespart, sehen Sie, und wir überlegten uns, daß wir davon leben müßten. Und dieses Jahr kam dann ein Mann, von dem wir schon gehört hatten, den wir aber sonst nicht kannten, zu uns und machte das Angebot, Liams Methode zu kaufen. Er sagte, Liam solle aufschreiben, wie er so beständig gewann, und er würde ihm abkaufen, was er geschrieben hätte.« »Und diese Notizen«, sagte ich erleuchtet, »waren es, die Chris Norwood gestohlen hat?« »Nicht direkt«, sagte sie seufzend. »Sehen Sie, es war nicht notwendig, daß Liam seine Methode aufschrieb. Er hatte sie vor Jahren schon aufgeschrieben. Alles auf Statistik gegründet. Ziemlich kompliziert. Er hat sie regelmäßig überarbeitet und natürlich neue Rennen hinzugefügt. Nach so vielen Jahren konnte er mit einer Erfolgschance von dreiunddreißig Prozent in jährlich fast tausend verschiedenen Rennen wetten.« Sie hustete plötzlich, ihr blasses dünnes Gesicht zitterte in der Muskelverkrampfung. Eine zerbrechliche Hand streckte sich nach dem Glas auf dem Tisch, und sie trank ein paar winzige Schlucke von der gelblichen Flüssigkeit. »Entschuldigen Sie«, sagte ich reuig. »Daß ich Sie so reden lasse.« Sie schüttelte stumm den Kopf, trank wieder in kleinen Schlucken, stellte dann das Glas vorsichtig hin und sagte: »Es ist schön zu reden. Ich bin froh, daß Sie hier sind, mir die Gelegenheit geben. Ich habe so wenig Leute, mit denen ich reden kann. An manchen Tagen spreche ich überhaupt nicht. Liam fehlt mir wirklich, wissen Sie. Wir schwätzten die ganze Zeit. Der Mann war ein schrecklicher Lebensgefährte. Besessen, Sie verstehn? Wenn er etwas im Kopf hatte, dann hörte und hörte er 111
nicht auf damit. Diese ganzen Seebilder, es machte mich verrückt, daß er immer noch mehr davon kaufte, aber jetzt, wo er gegangen ist, also, da scheinen sie ihn mir wieder nahe zu bringen, und ich hänge sie nicht ab, jetzt nicht.« »Es ist nicht so sehr lange her, daß er gestorben ist?« sagte ich. »Am ersten März«, sagte sie. Sie stockte, aber es gab keine Tränen, keinen aufsteigenden Schmerz. »Nur wenige Tage, nachdem Mr. Gilbert kam. Liam saß dort …« Sie deutete auf einen der blauen Sessel, den einzigen, der aufgeriebene dunkle Stellen an den Armlehnen und einen Schatten an der hohen Rückenlehne aufwies. »… ich ging uns etwas Tee machen. Nur eine Tasse. Wir hatten Durst. Und als ich zurückkam, war er am Schlafen.« Wieder stockte sie. »Ich dachte, er wäre am Schlafen.« »Es tut mir leid«, sagte ich. Sie schüttelte mit dem Kopf. »Es war die beste Art zu sterben. Ich bin froh für ihn. Wir hatten beide den Gedanken verabscheut, im Krankenhaus zu sterben, vollgesteckt mit Röhren. Wenn ich Glück habe und es bewerkstelligen kann, sterbe ich auch demnächst hier, einfach so. Ich wäre froh drum. Es ist tröstlich, verstehen Sie?« Ich verstand in gewisser Hinsicht, obschon ich noch nie an den Tod als einen willkommenen Gast gedacht hatte, den man geduldig erwartete in der Hoffnung, daß er leise käme, während man schlief. »Wenn Sie etwas zu trinken möchten«, sagte sie in genau demselben nüchternen Ton, »im Schrank steht eine Flasche und ein paar Gläser.« »Ich muß noch fahren …« Sie beharrte nicht. Sie sagte: »Wollen Sie von Mr. Gilbert hören? Mr. Harry Gilbert?« 112
»Ja, bitte. Wenn ich Sie nicht ermüde.« »Ich sagte es Ihnen doch. Reden ist ein Vergnügen.« Sie überlegte, den Kopf schräg geneigt, das weiße Haar abstehend wie ein flaumiger Heiligenschein um das kleine runzlige Gesicht. »Er besitzt Bingo-Hallen«, sagte sie, und zum ersten Mal schwang in ihrer Stimme eine ganz leise Verachtung mit. »Sie heißen Bingo nicht gut?« »Es ist ein Spiel für Gimpel.« Sie hob die Schultern. »Kein Geschick dabei.« »Aber viele Leute haben Spaß daran.« »Und zahlen dafür. Wie Sonntagswetter. Die Gewinne halten sie bei der Stange, aber letzten Endes verlieren sie.« Überall auf der Welt gleich, dachte ich amüsiert: das pessimistische Urteil des Profis über den Amateur. An Mr. Gilbert indessen war nichts Amateurhaftes. »Bingo hat ihn reich gemacht«, sagte die alte Frau. »Eines Tages kam er her, um mit Liam zu reden, er fuhr aus heiterem Himmel mit einem Rolls vor und sagte, er plane eine Kette von Wettbüros aufzukaufen. Er wollte Liams System erwerben, damit er den Gimpeln immer um sechs Längen voraus wäre.« Ich sagte neugierig: »Betrachten Sie einen Spieler immer als Gimpel?« »Mr. Gilbert tut es. Er ist kalt. Liam meinte, es hängt davon ab, was sie wollen. Wenn sie Aufregung wollen, okay, dann sind es Gimpel, die aber was kriegen für ihr Geld. Wenn sie verdienen wollen und setzen trotzdem noch auf den Instinkt, sind es schlicht Gimpel.« Sie hustete erneut, trank erneut, und nach einer Weile lächelte sie mich ein wenig an und redete weiter. »Mr. Gilbert bot Liam eine Menge Geld. Genug um es 113
anzulegen und bequem für den Rest unserer Tage davon zu leben. Also stimmte Liam zu. Es war das klügste. Sie stritten sich natürlich ein bißchen um den Preis. Fast eine Woche lang riefen sie sich gegenseitig mit Angeboten an. Aber schließlich einigte man sich.« Sie hielt inne. »Dann, bevor Mr. Gilbert noch das Geld bezahlt und bevor Liam ihm die ganzen Unterlagen übergeben hatte, starb Liam. Mr. Gilbert rief mich an, es tue ihm so leid, aber ob das Geschäft noch gelte, und ich sagte ja, gewiß. Es galt natürlich noch. Ich war sehr froh, ohne Geldsorgen sein zu können, verstehen Sie?« Ich nickte. »Und dann«, sagte sie, und diesmal voller Ärger, »stahl dieser abscheuliche Chris Norwood die Unterlagen aus Liams Büro … Stahl sein ganzes Lebenswerk.« Ihr Körper bebte. Es war eher die Tatsache, was gestohlen wurde, die sie erzürnte, begriff ich, als das verlorene Vermögen. »Wir waren beide froh gewesen, daß er hierher kam, daß er Kohlen und Holz holte und die Fenster putzte, und dann hatte ich angefangen, mich zu wundern, ob er an meine Handtasche ging … aber ich weiß nie so genau, was ich da drin habe … und dann starb Liam.« Sie unterbrach sich, kämpfte gegen Erschütterung an, preßte eine dünne Hand auf ihre schmale Brust, kniff diese starrenden Augen zu. »Reden Sie nicht weiter«, sagte ich, dabei wollte ich es dringend. »Doch, doch«, sagte sie und öffnete die Augen wieder. »Mr. Gilbert kam, um die Papiere abzuholen. Er brachte das ganze Geld in bar mit. Er zeigte es mir, in einer Aktenmappe. Bündel von Banknoten. Er meinte, Ausgeben sei besser als Investieren. Da gäbe es kein Theater mit der Steuer. Er sagte, er würde mir noch mehr geben, wenn ich’s jemals brauchte, aber es war genug für Jahre, für viele Jahre, wenn man so lebt wie ich … Und 114
dann ging er in Liams Büro, und die Unterlagen waren nicht da. Nirgends. Verschwunden. Denn sehen Sie, ich hatte alles am Tag vorher bereitgelegt, in einem großen Ordner. Es war ja so viel. Eine Unmenge Seiten, und alle in Liams spitzer Handschrift. Er hat nie Tippen gelernt. Schrieb immer mit der Hand. Und die einzige Person, die da drin gewesen war außer Mrs. Urquart, war Chris Norwood. Die einzige.« »Wer«, sagte ich, »ist Mrs. Urquart?« »Bitte? Ach, Mrs. Urquart kommt zu mir saubermachen. Beziehungsweise kam. Drei Tage die Woche. Jetzt kann sie nicht, sagt sie. Sie hat Scherereien mit dem Sozialamt, die arme Haut.« Akkertons Stimme aus der Kneipe kehrte wieder: ›… sie hat dem Sozialamt nie gesagt, daß sie verdient …‹ Ich fragte: »Hat Chris Norwood im Haus von Mrs. Urquart gewohnt?« »Ja, richtig.« Sie runzelte die Stirn. »Woher wußten Sie?« »Irgend jemand erwähnte so was.« Ich sortierte, was ich ihr anfangs gesagt hatte, um meinen Besuch zu erklären, und erkannte verspätet, daß ich als gegeben angenommen hatte, sie wüßte etwas, das sie, wie mir jetzt schien, vielleicht gar nicht wußte. »Chris Norwood …« begann ich langsam. »Ich könnte ihn erwürgen.« »Hat Ihre Mrs. Urquart Ihnen nicht gesagt … was passiert war?« »Sie rief ganz aufgeregt an. Sagte, sie würde nicht mehr kommen. Sie klang sehr durcheinander. Samstag früh, vorige Woche.« »Und sonst hat sie nichts gesagt, nur, daß sie nicht mehr kommen würde?« 115
»Wir standen in letzter Zeit nicht mehr gut miteinander, wo Chris Norwood doch Liams Unterlagen gestohlen hatte. Ich wollte nicht mit ihr zanken. Ich brauchte sie ja zum Putzen. Aber seit dieser abscheuliche Mensch uns bestohlen hatte, war sie sehr auf Distanz, fast unhöflich. Doch sie brauchte das Geld, genau wie ich sie brauchte, und sie wußte, ich würde sie nicht aufgeben.« Ich blickte hinaus auf die Pfingstrosen, wo die Grautöne zu Nacht verdunkelten, und überlegte, ob ich ihr sagen sollte, was Chris Norwood zugestoßen war oder nicht. Entschied mich dagegen, denn von der Ermordung eines Menschen zu hören, den man kannte, auch eines, den man nicht mochte, konnte unabsehbar verstörend wirken. Eine alte Dame, die allein in einem großen Haus wohnte, in Angst und Schrecken zu versetzen, konnte unmöglich zu etwas gut sein. »Lesen Sie Zeitung?« sagte ich. Sie hob die Brauen wegen der seltsamen Frage, aber antwortete ganz einfach. »Nicht oft. Die Schrift ist so klein. Ich habe gute Augen, aber ich mag lieber großgedruckte Bücher.« Sie zeigte auf den dicken rotweißen Band auf ihrem Tisch. »Sonst lese ich jetzt nichts mehr.« Sie schaute sich abwesend in dem dämmerigen Zimmer um. »Nicht mal die Rennsportseiten. Damit hab’ ich auch aufgehört. Ich seh’ mir nur die Ergebnisse im Fernsehen an.« »Nur die Ergebnisse? Nicht die Rennen?« »Liam meinte, sich die Rennen anzuschauen, das wäre, wie die Gimpel wetten. Sieh dir die Ergebnisse an, sagte er, und nimm sie zu den statistischen Wahrscheinlichkeiten. Ich guckte auch Rennen, aber die Ergebnisse sind schon eher Gewohnheit.« Sie streckte einen knochendünnen Arm aus und schaltete 116
die Tischlampe neben sich an, wodurch die Pfingstrosen sofort in Schwärze gesperrt waren und die anderen Ecken des Zimmers in tiefes Dunkel verbannt. Bei ihr selbst hatte es die unmittelbare Wirkung, daß der körperliche Verfall stärker hervorgehoben wurde; Hautfalten kehrten brutal zurück, wo die Dämmerung sie geglättet hatte, und verankerte den zeitlosen Verstand in dem alten, alten Körper. Ich betrachtete das dünne, schrumplige gelbe Gesicht, die riesengroßen Augen, die einmal schön gewesen sein mochten, das weiße unfrisierte Haar von Liam O’Rorkes Witwe, und ich regte an, daß sie vielleicht, wenn ich ihr die Computerbänder gab, das Wissen, das darin enthalten war, noch ihrem Bekannten Mr. Gilbert verkaufen könne. »Der Gedanke kam mir«, antwortete sie nickend, »als Sie sagten, Sie hätten sie. Ich verstehe aber eigentlich nicht, um was es sich handelt. Ich habe keine Ahnung von Computern.« Sie war in gewisser Hinsicht mit einem verheiratet gewesen. Ich sagte: »Es sind einfach Kassetten – wie für einen Kassettenrecorder.« Sie überlegte eine Zeitlang, den Blick auf ihren Händen. Dann sagte sie: »Wenn ich Ihnen eine Provision zahle, würden Sie das Geschäft für mich abschließen? Ich bin nicht so gut im Verhandeln wie Liam, verstehen Sie? Und ich glaube nicht, daß ich die Energie zum Feilschen habe.« »Aber würde denn Mr. Gilbert nicht den vereinbarten Preis zahlen?« Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht. Das Abkommen ist vor drei Monaten getroffen worden, und jetzt sind es nicht die Unterlagen selbst, die ich verkaufen will, sondern was anderes. Ich weiß es nicht. Ich denke, er könnte mich in die Enge treiben. Aber Sie wissen Bescheid 117
über diese Bänder oder was es damit auf sich hat. Sie könnten besser mit ihm reden als ich.« Sie lächelte ein wenig. »Eine angemessene Provision, junger Mann. Zehn Prozent.« Es brauchte etwa fünf Sekunden, bis ich zustimmte. Sie gab mir Harry Gilberts Adresse und Rufnummer und sagte, sie würde alles mir überlassen. Ich könnte wiederkommen und ihr Bescheid sagen, wenn es erledigt wäre. Ich könnte ihr das Geld bringen, sagte sie, und sie würde mir einen Anteil auszahlen, und alles wäre in Ordnung. »Sie vertrauen mir?« sagte ich. »Wenn Sie mich bestehlen, bin ich nicht schlimmer dran als jetzt.« Sie kam mit mir zu der in Flieder gehüllten Haustür, um mich hinauszulassen, und ich schüttelte ihre federleichte Hand und fuhr davon. Das Rote Meer teilte sich für Moses, und er schritt hindurch.
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7 Am Donnerstag trudelte ich triefäugig in der Schule herum, zu nichts zu gebrauchen aus Mangel an dem Schlaf, den ich mir verwehrt hatte, um die Haushefte der Obersekunda zu korrigieren. Sie hatte genau wie William entscheidende Prüfungen vor sich. Mit das Gräßlichste an mir, hatte ich festgestellt, war dieses Gefühl, den Kindern verpflichtet zu sein. Ted Pitts erschien nicht. Auf meine direkte Frage hin meinte Jenkins reizbar, daß Pitts eine Kehlkopfentzündung hätte, was schimpflich sei, da es den gesamten Stundenplan der Mathematikabteilung außer Funktion setzte. »Wann wird er wieder da sein?« Jenkins bedachte mich mit einem säuerlich-höhnischen Lächeln, nicht aus einem bestimmten Grund, sondern weil es ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. »Seine Frau rief an«, sagte er. »Pitts hat die Stimme verloren. Wenn sie sich einfindet, kommt er zweifellos wieder.« »Könnten Sie mir seine Nummer geben?« »Er hat kein Telefon«, sagte Jenkins repressiv. »Er behauptet, er kann sich keins leisten.« »Seine Anschrift denn?« »Sollten Sie im Büro erfragen«, sagte Jenkins. »Man kann nicht von mir verlangen, daß ich mir merke, wo meine Lehrkräfte wohnen.« Der Schulsekretär war nicht in seinem Büro, als ich in der Morgenpause zu ihm wollte, und ich verbrachte die beiden letzten Stunden vor Mittag (5C, Magnetismus; 4D, 119
Elektrizität) in der klaren Erkenntnis, daß, wenn ich nicht am selben Tag noch Computerbänder nach Cambridge abschickte, sie bis Samstag nicht ankommen würden: Und wenn bis Samstag in der Hauptpost Cambridge keine Computerbänder ankamen, konnte ich auf einen weiteren und viel garstigeren Besuch von dem Mann hinter der Walther gefaßt sein. In der Mittagspause stand Essen unten auf der Dringlichkeitsliste. Statt dessen ging ich zuerst von der Schule zur nächsten Ladenstraße und kaufte drei unbespielte 60-Minuten-Kassetten. Sie hatten nicht die von Ted Pitts geschätzte Qualität, aber für meinen Zweck genügten sie. Dann suchte ich mir einen von Ted Pitts’ Kollegen und bettelte um ein wenig Hilfe an dem Computer. »Tja«, meinte er zögernd. »In Ordnung, wenn es bloß für zehn Minuten ist. Direkt nach dem Unterricht. Und kein Wort zu Jenkins, ja?« »Niemals.« Sein Lachen driftete hinter mir her, als ich durch den Gang zum Münztelefon in der Eingangshalle eilte. Ich rief (via Auskunft) das Polizeirevier Newmarket an und fragte nach dem leitenden Ermittlungsbeamten im Mordfall Chris Norwood. Das wäre Detective Chief Superintendent Irestone, sagte man mir. Er sei nicht da. Ob ich mit Detective Sergeant Smith reden möchte? Ich sagte, das ginge auch, und nach ein paar Klicks und Ruhepausen fragte mich eine angenehme Suffolk-Stimme, was er für mich tun könne. Ich hatte im Geiste geprobt, was ich sagen wollte, aber der Anfang war immer noch schwer. Zögernd sagte ich: »Es könnte sein, daß ich etwas darüber weiß, weshalb Chris Norwood ermordet worden ist, und daß ich 120
Hinweise auf die Täter habe, aber es könnte auch sein, daß ich mich irre, die Sache ist nur …« »Name, Sir«, unterbrach er. »Adresse? Sind Sie dort zu erreichen, Sir? Um welche Zeit sind Sie dort zu erreichen, Sir? Detective Chief Superintendent Irestone wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen, Sir. Danke für Ihren Anruf.« Ich hängte den Hörer ein und wußte nicht, hatte er besonders schnell erfaßt, was ich sagte, oder mir bloß die Routineantwort für jedweden Spinner verpaßt, der mit seiner/ihrer Lieblingstheorie anklingelte. In jedem Fall blieb mir so gerade noch Zeit genug, den letzten Hamburger in der Schulkantine zu ergattern und pünktlich zurück in die Klasse zu kommen. Um vier wurde ich von Louisas neuestem Groll aufgehalten (lauter Apparate, die auf den Bänken liegengeblieben waren – bei Martin käme das nie vor), und während ich durch die Gänge raste, auf denen die Jungen nicht laufen durften, und mit beiden Händen am Geländer die Treppe hinunterrutschte, so daß meine Füße nur etwa jede sechste Stufe berührten (ein Trick, den ich in meiner weit zurückliegenden Jugend gelernt hatte), befürchtete ich, daß Ted Pitts’ Kollege das Warten leid geworden und nach Hause gefahren sei. Zu meiner Erleichterung war er es nicht. Er saß vor dem vertrauten Schirm und schoß mit der Begeisterung eines Siebenjährigen kleine unkontrollierbare Zielscheiben an. »Was ist das denn?« fragte ich, auf das Spiel zeigend. »›Sternenbomber‹. Mal probieren?« »Stammt es von Ihnen?« »Eine Erfindung von Ted, um die Kinder zu unterhalten und belehren.« »Ist es in BASIC?« fragte ich. 121
»Sicher. BASIC mit Sonderzeichen und graphischer Darstellung.« »Kann man es listen?« »Muß ja gehen. Er würde es niemals in ROM packen, wenn er damit unterrichten will.« »Und was, bitte«, sagte ich frustriert, »ist ROM?« »Read only memory. Nur-Lese-Speicher. Wenn ein Programm in ROM ist, kann man es nur benutzen, nicht einsehen.« Er tippte LIST, und Teds Spiel rollte in scheinbar endlosen flimmernden Zeilen auf dem Bildschirm ab. »Da hätten wir’s«, sagte Teds Kollege. Ich sah mir einen Teil des letzten Programmabschnitts an, der jetzt auf dem Schirm stillstand. 410 RESET (RX, RY): RX = RX-RA: RY: RY-8 420 IF RY ›2‹ SET (RX? RY): GOTO 200 430 IF ABS (l* 8-RX) ›4‹ THEN 150 460 FOR Q = 1 TO 6: PRINT @ 64+4* V, »****«; Ein echter Haufen Kauderwelsch für mich, wenn auch Poesie für Ted Pitts. Zu seinem Kollegen sagte ich: »Ich bin hier runtergekommen, weil ich Sie bitten wollte, für mich etwas … irgend etwas … auf den Kassetten hier aufzunehmen.« Ich holte sie heraus. »Nur damit Computerrauschen drauf ist, und ein lesbares Programm. Sie sollen, äh, zur Veranschaulichung sein.« Er zog es nicht in Zweifel. Ich sagte: »Meinen Sie, Ted hätte was dagegen, wenn ich sein Spiel verwende?« Er zuckte die Achseln. »Glaube ich nicht. Zwei oder drei von den Jungs haben Bänder davon. Es ist kein Geheimnis.« 122
Er nahm mir die Kassetten aus den Händen und sagte: »Einmal auf jedes Band?« »Äh, nein. Mehrmals auf jede Seite.« Er machte große Augen. »Wozu, um Himmels willen?« »Hm.« Ich dachte in Zirkeln. »Um vorzuführen, wie man sich anhand von Dateinamen orientiert.« »Ach so. Gut.« Er sah auf seine Uhr. »Ich würde es ja Ihnen überlassen, aber Jenkins dreht durch, wenn nicht einer von der Abteilung danach sieht, daß der Computer abgeschaltet ist, und den Türschlüssel ins Lehrerzimmer hängt. Lange kann ich jedenfalls nicht, das muß klar sein.« Er legte aber das erste Band entgegenkommend in den Recorder ein, tippte CSAVE ›A‹ und drückte ›ENTER‹. Als der Schirm READY anzeigte, tippte er CSAVE ›B‹ und danach CSAVE ›c‹ und so fort, bis die erste Seite des Bandes voll mit Wiederholungen von ›Sternenbomber‹ war. »Das dauert ja ewig«, murmelte er. »Könnten Sie denn eine Seite von jedem Band machen?« fragte ich. »Okay.« Er füllte eine Seite vom zweiten Band und annähernd eine halbe Seite auf dem dritten, ehe seine wachsende Unruhe ihn übermannte. »Hören Sie, Jonathan, das reicht. Es hat schon eher eine Stunde gedauert als zehn Minuten.« »Sie sind ein guter Kumpel.« »Keine Bange. Ich hau’ Sie demnächst wegen meiner Sportaufsicht an.« Ich las die Kassetten auf und nickte zustimmend. Jemand anderem die Sportaufsicht anzudrehen, war nicht nur die gängige Methode, sich einen freien Mittwochnachmittag 123
zu ergaunern, sondern auch die Münze, in der man Gefälligkeiten bezahlte. »Besten Dank«, sagte ich. »Keine Ursache.« Er begann, den Computer ins Bett zu stecken, und ich nahm die Kassetten mit hinaus zu meinem Wagen, um sie in einen gefütterten Umschlag zu packen und sie nach Cambridge zu schicken, jede bespielte Seite mit der Aufschrift ›Diese Seite zuerst spielen‹. Da an dem Tag Elternabend war, ging ich auf eine Schweinefleischpastete und ein wenig Bier in eine Kneipe, korrigierte Hefte im Lehrerzimmer, und von acht bis zehn, zusammen mit fast dem ganzen übrigen Kollegium (denn diese Anlässe waren verbunden mit der Aufforderung, unbedingt zu erscheinen), versicherte ich den Eltern sämtlicher vierter Klassen, daß ihre kleinen Scheusale prächtig vorankämen. Die Eltern von Paul Apfel-auf-demKopf Arcady fragten, ob er einen Forscher abgeben würde. »Sein Witz und sein Stil werden ihn weit bringen«, sagte ich unverbindlich, und sie sagten: »Er mag Ihre Stunden«, was sich angenehm abhob von dem nächsten Elternteil, mit dem ich sprach und der kampflustig erklärte: »Mein Junge verplempert seine Zeit in Ihrem Unterricht.« Besänftigen, beipflichten, empfehlen, lächeln: über allem, Interesse zeigen. Ich nahm an, daß diese Abende eine gute Sache waren, aber nach einem langen Schultag waren sie erschöpfend. Ich fuhr heim in der Absicht, mich gleich ins Bett zu hauen, doch als ich die Haustür öffnete, lief drinnen das Telefon heiß. »Wo bist du gewesen?« sagte Sarah in ärgerlichem Ton. »Elterntreffen.« »Ich laß es klingeln und klingeln. Gestern schon.« 124
»Tut mir leid.« Mit unverminderter Gereiztheit sagte sie: »Hast du daran gedacht, meine Zimmerpflanzen zu gießen?« Verdammt, dachte ich. »Nein.« »Du bist so gedankenlos.« »Ja. Nun, es tut mir leid.« »Gieß sie jetzt. Schieb es nicht auf.« Ich sagte pflichtbewußt: »Wie fühlt sich Donna?« »Deprimiert.« Das einzelne Wort war schroff und abweisend. »Denk möglichst auch«, sagte sie säuerlich, »an den Kroton im Gästezimmer.« Ich legte den Hörer auf und dachte bei mir, daß ich sie entschieden nicht zurückhaben wollte. Es war ein unbequemer, kläglicher Gedanke. Wie hatte ich sie einmal geliebt. Ich wäre gestorben für sie, buchstäblich. Ich dachte entschlossen zum ersten Mal über Scheidung nach und fand in dem Gedankengang weder Bedauern noch Schuld, sondern Erleichterung. Um acht in der Früh, als ich mit Kaffee und Toast jonglierte, klingelte erneut das Telefon, und diesmal war es die Polizei. Ein Londoner Akzent, sehr höflich. »Sie riefen mit einer Theorie an, Sir, wegen Christopher Norwood.« »Es ist eigentlich keine Theorie. Es ist … zumindest mal … ein auffälliges Zusammentreffen.« Ich hatte Zeit gehabt, meine Worte auf das Wesentliche einzuschränken. Ich sagte: »Christopher Norwood beauftragte einen Freund von mir, Peter Keithly, einige Computerprogramme zu schreiben. Peter Keithly schrieb sie und nahm sie auf Bandkassetten auf, die er mir gab. Vorigen Samstag kamen zwei Männer zu mir, richteten eine Pistole auf 125
mich und verlangten die Kassetten. Sie drohten mir, auf meinen Fernseher und in meine Knöchel zu schießen, wenn ich sie nicht herausgäbe. Sind Sie, äh, interessiert?« Eine Pause entstand, dann sagte die gleiche Stimme: »Einen Augenblick bitte, Sir.« Ich trank etwas Kaffee und wartete, und schließlich sprach eine andere Stimme mir ins Ohr, eine Baßstimme, langsamer, weniger gestelzt, und bat mich zu wiederholen, was ich dem Inspektor gesagt hätte. »M-hm«, machte er, als ich geendigt hatte. »Ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten. Wann haben Sie Zeit?« Die Schule, gab er zu, sei unumgänglich. Er würde um halb fünf zu mir nach Twickenham kommen. Er war vor mir dort, nicht in einem markierten und lichtblitzenden Polizeiwagen, sondern in einem schnellen viertürigen Salon. Als ich vor der Garage gebremst hatte, war er auch schon ausgestiegen, und ich ertappte mich dabei, wie ich einen stämmigen Mann mit knorrigem, jungaltem Gesicht, graumeliertem schwarzem Haar, standhaften hellbraunen Augen und skeptischem Mund taxierte. Kein Mann, dachte ich, der Zeit für Narren erübrigte. »Mr. Deny?« »Ja.« »Detective Chief Superintendent Irestone.« Er klappte kurz eine Brieftasche auf und zeigte mir seinen Ausweis. »Und Detective Inspector Robson.« Er wies auf einen zweiten Mann, der aus dem Wagen hervorkam, salopp gekleidet wie er selbst in grauer Hose und Sportsakko. »Können wir ins Haus gehen, Sir?« »Natürlich.« Ich führte sie hinein. »Möchten Sie Kaffee – oder Tee?« 126
Sie schüttelten die Köpfe, und Irestone stürzte sich geradewegs in die vorliegende Angelegenheit. Es hatte den Anschein, als ob sie das, was ich ihnen bisher erzählt hatte, in der Tat stark interessierte. Sie begrüßten, wie es schien, meinen Bericht von dem, was ich auf meinem Ausflug via Angel Kitchens zu Mrs. O’Rorke erfahren hatte. Irestone stellte viele Fragen, darunter auch, wie ich denn die Pistolenhelden dazu bewegt hatte, mit leeren Händen fortzugehen. Ich sagte leichthin: »Ich hatte die Bänder nicht hier, weil ich sie einem Freund geliehen hatte. Ich erklärte, ich würde sie mir wieder holen und sie ihnen zuschicken, und glücklicherweise waren sie damit einverstanden.« Er hob die Augenbrauen, machte aber keine Bemerkung. Es muß ihm vorgekommen sein, als hätte ich lediglich Glück gehabt. »Und sie haben keine Ahnung, wer sie waren?« sagte er. »Überhaupt keine.« »Sie wissen wohl nicht, was für eine Pistole es war?« Er sprach ohne Erwartung, und einen Augenblick dauerte es, ehe ich antwortete: »Eine Walther.22 … glaube ich. Ich hatte schon mal eine gesehen.« Er fragte eindringlich: »Wie sicher sind Sie da?« »Ziemlich sicher.« Er überlegte. »Wir hätten gerne, daß Sie zur hiesigen Polizeistation gehen und mal versuchen, ob Sie IdentikitBilder zusammengesetzt kriegen.« »Das geht natürlich«, sagte ich, »aber Sie könnten die Männer vielleicht sehen, wenn Sie Glück haben.« »Wie meinen Sie das?« »Ich habe ihnen ein paar Kassetten geschickt, aber erst gestern. Sie wollten sie auf der Hauptpost Cambridge 127
abholen, und ich nehme an, es besteht die Möglichkeit, daß sie da morgen hinkommen.« »Das hilft uns.« Er klang unbeeindruckt, schrieb jedoch alles, auf. »Sonst noch etwas?« »Es sind nicht die Kassetten, die sie wollten. Die habe ich noch nicht wieder. Ich habe ihnen andere Bänder geschickt, wo ein Computerspiel drauf ist.« Er schürzte die Lippen. »Das war nicht sehr klug.« »Aber die richtigen gehören vom moralischen Standpunkt aus Mrs. O’Rorke. Und diese Revolvermänner werden mir nicht noch mal ins Haus fallen, solange sie glauben, sie hätten das Richtige.« »Und wie schnell werden sie den Schwindel merken?« »Ich weiß nicht. Aber wenn es dieselben beiden sind, die Peter bedroht haben, könnte es einige Zeit dauern. Er meinte, sie schienen von Computern nicht viel zu verstehen.« Irestone dachte laut. »Peter Keithly hat Ihnen erzählt, daß ihn an dem Mittwochabend zwei Männer aufsuchten, stimmt das?« Ich nickte. »Christopher Norwood wurde letzten Freitagmorgen umgebracht. Achteinhalb Tage später.« Er rieb sich das Kinn. »Es könnte unklug sein, davon auszugehen, daß sie wiederum achteinhalb Tage brauchen, um herauszufinden, was Sie getan haben.« »Ich könnte immer noch schwören, das seien die Bänder, die Peter mir gegeben hat.« »Und ich denke nicht«, sagte er rundheraus, »daß sie Ihnen diesmal glauben würden.« Er hielt inne. »Die Verhandlung zur Feststeilung der Todesursache von Peter Keithly war doch heute, nicht wahr?« Ich nickte. 128
»Wir haben die Polizei von Norwich konsultiert. Es steht außer Zweifel, daß der Tod Ihres Freundes ein Unfall war. Die Frage hat Sie sicher beschäftigt?« »Ja, allerdings.« »Braucht es nicht. Das Gutachten des Versicherungsinspektors besagt, die Explosion war typisch. Nirgends Vorrichtungen zur Brandstiftung. Kein Dynamit oder Plastikstoffe. Einfach, Zerstreutheit und ein verdammtes Pech.« Ich blickte zu Boden. »Ihre Revolvermänner haben es nicht getan«, sagte er. Ich dachte, daß er vielleicht jeden etwaigen Haß, den ich nährte, entschärfen wollte, damit meine Zeugenaussage unparteiischer ausfiele, aber eigentlich gewährte er mir eine Art Trost, und ich war dankbar dafür. »Wenn Peter nicht gestorben wäre«, sagte ich und sah auf, »wären sie vielleicht noch mal zu ihm gekommen, als sie merkten, daß das, was er ihnen gegeben hatte, unbrauchbar war.« »Genau«, sagte Irestone trocken. »Haben Sie Freunde, bei denen Sie eine Zeitlang wohnen können?« Am Samstag morgen fuhr ich, wie ich fürchte, getrieben von Mrs. O’Rorkes Zehn-Prozent-Versprechen, nach Welwyn Garden City, um ihre Bandaufnahmen Mr. Harry Gilbert anzubieten. Nicht, daß ich die Bänder direkt bei mir gehabt hätte, da sie immer noch mit Ted Pitts’ Kehlkopfentzündung unter Verschluß waren, doch zumindest wußte ich von ihrer Existenz und ihrem Inhalt, und das, hoffte ich, würde zur Eröffnung reichen. Von Twickenham nach Welwyn waren es zwanzig 129
Meilen in der Luftlinie, aber weit mehr in der Praxis und ermüdend außerdem, rund um die Umgehungsstraße Nord und durch enge Einkaufsstraßen. Im Gegensatz dazu war die Traumstadt der Architekten, als ich hinkam, grün und wohlgeordnet, und ich fand die Gilbert-Residenz in einer wohlhabenden Sackgasse. Bingo hatte offenbar die Armut weit von seiner Schwelle ferngehalten, die dem Georgianischen nachgebildet war, flankiert von zwei Säulen und umgeben von einem regelrechten Regiment von Fenstern. Ein Haus in Rot, Weiß und Hochglanz auf einem Teppich in Grün. Ich drückte auf die blanke Messingklingel und dachte bei mir, daß es Mist wäre, wenn die Bewohner dieser Edelvilla außer Haus wären. Mr. Gilbert war indessen daheim. Gerade noch. Er öffnete seine Haustür auf mein Läuten und sagte, was immer ich wünschte, ich müsse später wiederkommen, da er gerade zum Golfspielen wolle. Schläger und ein Karren zu ihrem Transport standen gleich neben der Tür, und Mr. Gilberts massige Gestalt war zweckmäßig gekleidet in karierter Hose, Hemd mit offenem Kragen und Blazer. »Es handelt sich um Liam O’Rorkes Wettsystem«, sagte ich. »Was?« fragte er scharf. »Mrs. O’Rorke bat mich hierherzufahren. Sie meint, sie könnte es Ihnen vielleicht doch noch verkaufen.« Er sah auf seine Uhr; ein Mann um die Fünfzig, von wenig eindrucksvoller Erscheinung, mehr wie ein kleiner Beamter als ein Verhökerer von Talmiträumen. »Kommen Sie rein«, sagte er. »Hier lang.« Seine Stimme war mittelständisch nüchtern, näher an der Bingohalle als an Eton. Er führte mich in ein unerwartet funktionales Zimmer mit Schreibtisch, Schreibmaschine, Wandkarten, die mit farbigen Reißnägeln gesprenkelt 130
waren, zwei Drehstühlen, einem Getränketablett und fünf Telefonen. »Fünfzehn Minuten«, sagte er. »Also, kommen Sie zur Sache.« Er machte keine Anstalten, sich hinzusetzen oder mir einen Platz anzubieten, doch er war weniger rüde als vielmehr gleichgültig. Ich sah, was Mrs. O’Rorke damit gemeint hatte, er sei ein kalter Mensch. Er bemühte sich nicht, das Gerüst seiner Gedanken gefällig herauszuputzen. Er hätte einen erbärmlichen Lehrer abgegeben, dachte ich. »Liam O’Rorkes Unterlagen wurden gestohlen«, begann ich. »Das ist mir bekannt«, sagte er ungeduldig. »Sind sie wieder aufgetaucht?« »Seine Notizen nicht, nein. Aber nach ihnen angefertigte Computerprogramme, ja.« Er runzelte die Stirn. »Mrs. O’Rorke hat diese Programme?« »Nein. Ich habe sie. In ihrem Auftrag. Um sie Ihnen anzubieten?« »Und Ihr Name?« Ich zuckte die Achseln. »Jonathan Derry. Sie können bei ihr rückfragen, wenn Sie wollen.« Ich winkte nach der Phalanx von Telefonen. »Sie wird für mich bürgen.« »Haben Sie diese … Programme mitgebracht?« »Nein«, sagte ich. »Ich fand, wir sollten erst ein Abkommen treffen.« »Hm!« Hinter dem unbewegten Gesicht schien eine gewaltige Portion Überlegung abzulaufen, und schließlich hatte ich das starke Gefühl, daß er sich nicht entscheiden konnte. Ich sagte: »Ich würde nicht erwarten, daß Sie sie ohne 131
eine Vorführung kaufen. Aber ich versichere Ihnen, daß sie echt sind.« Es rief keine erkennbare Wirkung hervor. Der innere Streit ging weiter, und er wurde nicht von Gilbert oder mir aufgelöst, sondern von der Ankunft eines Dritten. Eine Wagentür flog draußen zu, und Schritte erklangen auf dem blanken Parkett in der Halle. Gilbert hob lauschend den Kopf, und eine Stimme vor der offenen Tür rief: »Dad?« »Hier bin ich«, sagte Gilbert. Gilberts Sohn kam herein. Gilberts Sohn, der mit seiner Pistole in mein Haus gekommen war. Ich muß so starr vor Schreck ausgesehen haben, wie ich mich fühlte: aber andererseits, er wohl auch. Ich warf einen Blick zu seinem Vater, und zu spät ging mir auf, daß dies der von Sarah beschriebene Mann war – mittleres Alter, normal dick –, der zu Peters Haus kam und nach den Bändern gefragt hatte. Der, dem sie gesagt hatte: »Mein Mann hat sie.« Es schien mir den Atem verschlagen zu haben. Es war, als hätte es das Leben aus mir herausgeboxt. Zu wissen, was man nicht tun sollte … Trotz meines Instinktes, daß Unwissenheit gefährlich war, hatte ich nicht genug in Erfahrung gebracht. Ich hatte nicht die simple Tatsache erfahren, die mich davon abgehalten hätte, dieses Haus zu betreten: daß Mr. Bingo Gilbert einen marodierenden, italienisch wirkenden Sohn hatte. Es war nie eine gute Idee gewesen, Moses durch das Rote Meer zu verfolgen … »Mein Sohn Angelo«, sagte Gilbert. Angelo machte eine instinktive Bewegung mit der 132
rechten Hand zu seiner linken Achsel, als griffe er nach seiner Pistole, aber er trug eine enge Wildlederweste über seinen Jeans und war unbewaffnet. Gott sei Dank, dachte ich, für kleine Gnaden. In der linken Hand trug er das Päckchen, das ich nach Cambridge geschickt hatte. Es war geöffnet, und er hielt es sorgfältig nach oben, damit die Kassetten nicht herausfielen. Er fand seine Stimme schneller wieder als ich. Seine Stimme, seine Arroganz und sein höhnisches Lächeln. »Was macht denn die Pfeife hier?« sagte er. »Er ist gekommen, um mir die Computerbänder zu verkaufen.« Angelo lachte spöttisch. »Ich hab’ dir ja gesagt, wir würden sie umsonst kriegen. Der Gimpel hier hat sie geschickt. Ich hab’ dir ja gesagt, er schickt sie.« Er hob höhnisch das Päckchen. »Ich hab’ dir ja gesagt, du wärst ein alter Narr, dieser irischen Hexe Bares anzubieten. Hättest es besser mir überlassen, ihr das Zeug abzuknöpfen, sowie ihr Alter gestorben war. Du hast keinen Schimmer, Dad. Du hättest mich vor Monaten einschalten sollen, anstatt es mir zu sagen, wenn alles schon verbaut ist.« Sein Benehmen, dachte ich, war eine fortgeschrittene Sohn-Vater-Rebellion: der junge Stier im Angriff auf den alten. Und zum Teil, vermutete ich, war es mir zuliebe. Er spielte sich auf. Wollte beweisen, daß auch, wenn ich ihn bei unserer letzten Begegnung ausgestochen hatte, er, Angelo, das überlegene Wesen war. »Wie kommt die Mißgeburt hierhin?« fragte er. Entweder beachtete Gilbert die Großtuerei nicht, oder er ließ sie durchgehen. »Mrs. O’Rorke hat ihn geschickt«, sagte er. 133
Keiner von beiden dachte daran, die sehr peinliche Frage zu stellen, woher ich Mrs. O’Rorke kannte. Ich hätte meiner Gesundheit wenig Chancen eingeräumt, wenn sie darauf gekommen wären. Ich war der Meinung, daß in diesem Ausnahmefall Unwissenheit unbedingt der sicherste Kurs sei und daß ich in bezug auf Leben und Tod des Chris Norwood vollkommen ahnungslos sein sollte. »Wieso hat er denn noch die Bänder zu verkaufen«, fragte Angelo listig, »wenn er sie schon an mich geschickt hat?« Gilberts Augen wurden schmal, und sein Hals straffte sich, und ich sah, daß sein unscheinbares Aussehen irreführend war: daß es wirklich ein zäher Stier war, den Angelo herausforderte, ein Stier, der noch sein Territorium beherrschte. »Nun?« sagte er zu mir. Angelo wartete voller Berechnung und Siegesgewißheit, die seine Augen und sein ganzes Gesicht ergriffen wie eine Vergiftung; das erschreckend Hemmungslose wucherte so schnell wie zuvor. Es war diese völlige Rücksichtslosigkeit, dachte ich, die man vor allem fürchten mußte. »Ich habe eine Kopie geschickt«, sagte ich. Ich zeigte auf das Paket in seiner Hand. »Das sind Kopien.« »Kopien?« Es bremste Angelo für einen Moment. Dann sagte er mißtrauisch: »Wieso haben Sie Kopien geschickt?« »Die Originale gehören Mrs. O’Rorke. Sie konnte ich Ihnen nicht geben. Aber keinesfalls wollte ich, daß Sie und Ihr Freund noch mal zurückkämen und mir mit Ihrer Waffe vor der Nase herumfuchtelten, also habe ich Ihnen Bänder geschickt. Ich hatte keine Ahnung, daß ich Sie je wiedersehen würde. Ich wollte nichts als Sie los sein. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie Mr. Gilberts Sohn waren.« 134
»Waffe?« sagte Gilbert scharf. »Waffe?« »Seine Pistole.« »Angelo –« Der Ärger in der Stimme des Vaters war nicht zu verkennen. »Ich habe dir verboten – dir verboten, hörst du, diese Pistole zu tragen. Du solltest um die Bänder bitten. Um sie bitten. Sie kaufen.« »Drohungen sind billiger«, sagte Angelo. »Und ich bin kein Kind mehr. Die Zeiten, wo ich Befehle von dir angenommen habe, sind vorbei.« Sie standen sich in entfesselter Feindseligkeit gegenüber. »Die Pistole dient zum Schutz«, sagte Gilbert heftig. »Und es ist meine. Du hast keine Leute damit zu bedrohen. Du hast sie nicht aus diesem Haus mitzunehmen. Du bist immer noch finanziell von mir abhängig, und solange du für mich arbeitest und in diesem Haus wohnst, wirst du tun, was ich sage. Du läßt von dieser Waffe die Hände weg.« Gott im Himmel, dachte ich: Er weiß nichts von Chris Norwood. »Du hast mir doch das Schießen beigebracht«, sagte Angelo trotzig. »Aber als einen Sport«, erwiderte Gilbert und begriff nicht, daß für seinen Sohn eine lebende Zielscheibe Sport war. Ich unterbrach den Generationenkampf und fragte Gilbert: »Die Bänder haben Sie ja nun. Werden Sie Mrs. O’Rorke bezahlen?« »Du bist wohl besengt«, sagte Angelo. Ich ignorierte ihn. Zu seinem Vater sagte ich: »Sie waren schon einmal großzügig. Seien Sie auch jetzt großzügig.« Ich erwartete es nicht von ihm. Ich wollte ihn nur 135
ablenken, seinen Verstand mit etwas Banalem beschäftigen, damit er nicht denken konnte. »Hör nicht auf ihn«, sagte Angelo. »Er ist bloß ein Gimpel.« Gilberts Gesicht spiegelte die Worte seines Sohnes wider. Er musterte mich mit der gleichen inneren Überzeugung der Überlegenheit von oben bis unten, in dem Glauben, daß jeder außer ihm selbst ein Gimpel sei. Wenn Gilbert so empfand, dachte ich, war es leicht einzusehen, warum Angelo es tat. Elterliches Vorbild. In der Schule kannte ich oft den Vater vom Verhalten seines Sohnes her. Ich zuckte die Achseln. Ich sah geschlagen drein. Ich ließ ihnen ihren bösen Willen. Ich wollte vor allem aus diesem Haus heraus, ehe sie anfingen, Puzzlesteine zusammenzusetzen, und ein Bild von mir bekamen als eine wirklich drohende Gefahr für Angelos Freiheit. Ich wußte nicht, ob Gilbert seinen Sohn aufhalten würde – oder ihn aufhalten konnte – wenn Angelo mich tot sehen wollte: Und eine Menge belaubtes Welwyn Garden City lag verschwiegen im Garten hinter dem Haus. »Mrs. O’Rorke erwartet mich«, sagte ich, »um zu hören, wie ich vorangekommen bin.« »Sagen Sie ihr, nichts zu machen«, empfahl Angelo. Gilbert nickte. Ich schob mich an Angelo vorbei zur Tür und sah unter seinem ätzenden Hohnlächeln ganz angemessen demütig aus. »Tja«, sagte ich schwach, »dann fahr’ ich mal.« Ich ging ruckartig durch die Halle, vorbei an den bereitstehenden Golfschlägern und zur offenen Haustür hinaus, wobei ich einen letzten Blick auf Gilbert im 136
psychologischen Clinch mit dem Scheusal mitnahm, das ihn eines Tages niederwerfen würde. Ich schwitzte. Ich wischte mir die Handflächen an der Hose ab, fingerte ungeschickt die Wagentür auf, legte eine leicht zitternde Hand an den Zündschlüssel und ließ den Motor an. Wenn sie nicht so damit beschäftigt gewesen wären, miteinander zu streiten … Als ich von der Auffahrt in die Sackgasse bog, sah ich flüchtig noch, wie sie beide raus auf die Treppe kamen, um hinter mir her zu starren, und mein Mund war unbehaglich trocken, bis ich sicher war, daß Angelo nicht in seinen Wagen gesprungen war, um die Verfolgung aufzunehmen. Noch nie hatte ich mein Herz so flattern gefühlt. Ich hatte vermutlich noch nie wirklich Angst empfunden. Ich konnte sie nicht unterdrücken. Ich fühlte mich zittrig, rastlos, kurzatmig, mir war fast schlecht. Reaktion zweifellos.
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8 Irgendwo zwischen Welwyn und Twickenham hielt ich auf einem Parkstreifen, um auszuknobeln, wohin ich sollte. Ich konnte nach Hause, meine Waffen einladen und nach Bisley fahren. Ich sah auf meine Hände herunter. In der gegenwärtigen Form würde ich die Scheibe um einen Meter verfehlen. Sinnlos, Geld für die Munition zu verschwenden. Es mußte eine ganze Weile dauern, bis die Gilberts entdeckten, daß sie ›Sternenbomber‹ hatten anstatt Rennprogramme, aber nicht so lange, bis ihnen klar wurde, daß sie, wenn ich die Originalbänder noch hatte, nicht die alleinige Kontrolle über Liams System besaßen. Ich brauchte etwas, wo sie mich nicht finden würden, wenn sie suchen kamen. Schade, dachte ich, daß Sarah und ich so wenig Freunde hatten. Ich ging über die Straße zu einer öffentlichen Telefonzelle und rief Williams Farm an. »Natürlich, Jonathan«, sagte Mrs. Porter. »Klar würde ich Sie aufnehmen. Aber William ist weg. Er hatte es satt, daß es hier keine Pferde zum Reiten gab, und heute morgen hat er gepackt und ist nach Lambourn. Er hätte da einen Freund, sagte er, und morgen abend fährt er von dort direkt wieder zur Schule.« »Ging es ihm gut?« »So viel Energie!« sagte sie. »Aber er ißt einfach nichts. Sagt, er will sein Gewicht unten halten, damit er Jockey werden kann.« Ich seufzte. »Jedenfalls vielen Dank.« 138
»Es ist eine Freude, ihn hier zu haben«, sagte sie. »Er bringt mich zum Lachen.« Ich hängte ein und zählte den kleinen Münzvorrat, den ich noch hatte, und verwandte ihn öffentlichkeitsfreundlich auf die Polizei in Newmarket. »Chief Superintendent Irestone ist nicht hier, Sir«, sage sie. »Möchten Sie eine Nachricht für ihn hinterlassen?« Ich zögerte, aber schließlich sagte ich nur: »Richten Sie ihm aus, daß Jonathan Derry angerufen hat. Ich habe einen Namen für ihn. Ich setze mich später mit ihm in Verbindung.« »Ist gut, Sir.« Ich stieg wieder ins Auto, zog ein Stück Papier in meiner Brieftasche zu Rate und fuhr nach Northolt, um Ted Pitts aufzusuchen, obwohl ich wußte, daß er wahrscheinlich nicht erfreut sein würde, mich zu sehen. Als ich den Schulsekretär endlich aufgespürt hatte, war er nur widerstrebend mit der gewünschten Auskunft herausgerückt, denn die Anschriften der Lehrer, sagte er, seien zum Schutz vor übereifrigen Eltern unantastbar. Ted Pitts habe ihm ausdrücklich das Versprechen abgenommen, die seine nicht preiszugeben. »Aber ich bin keine Eltern.« »Nein, das schon.« Ich hatte ihn überreden müssen, doch ich bekam sie. Und man konnte verstehen, dachte ich, weshalb Ted seine Ruhe haben wollte, denn seine Wohnung, stellte ich fest, war ein Wohnwagen auf einem Campingplatz. Hübsch genug, aber nicht darauf angelegt, bei etlichen der gesellschaftlichen Aufsteiger im Elternbeirat Eindruck zu machen. Teds Frau, die auf mein Klopfen hm die Tür öffnete, sah 139
überrascht, aber nicht abweisend aus. Sie war so ernst wie Ted auch, klein, klarblickend, eine gelegentliche Zuschauerin bei Schulfußballspielen, wo Ted als rasender Schiedsrichter fungierte. Ich suchte nach einem Namen und dachte ›Jane‹, war mir aber nicht sicher. Dafür lächelte ich hoffnungsvoll. »Wie geht es Ted?« sagte ich. »Schon viel besser. Seine Stimme kommt wieder.« Sie machte die Tür weiter auf. »Er würde Sie auch gern sehen, doch, kommen Sie nur rein.« Sie winkte in das Innere des Wohnwagens, wo ich noch nicht hinschauen konnte, und sagte: »Ist ein ziemliches Chaos hier. Wir hatten keinen Besuch erwartet.« »Wenn’s Ihnen lieber wäre, ich –« »Nein. Ted wird Sie sehen wollen.« Ich kletterte in den Wagen und sah, was sie meinte. In alle Richtungen breitete sich ein unordentliches Gewirr von Büchern und Zeitungen, Kleidern und Spielsachen aus, das ganze normale Durcheinander einer großen Familie, aber verdichtet auf sehr engen Raum. Ted war mit seinen drei kleinen Töchtern in dem winzigen Wohnzimmer, saß auf dem Sofa und schaute zu, während sie auf dem Boden spielten. Als er mich sah, sprang er erstaunt auf die Füße und öffnete den Mund, aber alles, was herauskam, war ein piepsiges Krächzen. »Reden Sie nicht«, sagte ich. »Ich wollte nur mal sehen, wie es Ihnen geht.« Jeder Gedanke daran, ein Bett von ihm zu erbetteln, war verschwunden. Es schien sogar albern, es zu erwähnen. »Wird besser.« Die Worte waren erkennbar, aber fast ein Flüstern, und er winkte mir, mich hinzusetzen. Seine Frau bot Kaffee an, und ich sagte ja. Als die Kinder sich kabbelten, stieß er sie sanft mit seinem Zeh an. 140
»Jane bringt sie bald raus«, sagte er heiser. »Ich bin Ihnen lästig.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Gut, daß Sie gekommen sind.« Er wies auf ein hohes Sims, das entlang der einen Wand verlief, und sagte: »Ich habe Ihnen die neuen Bänder gekauft. Sie liegen da oben bei Ihren Kassetten, außer Reichweite. Die Kinder klettern so. Kopiert hab’ ich sie allerdings noch nicht. Tut mir leid.« Er rieb sich die Kehle, als ob Massage helfen würde, und schnitt ein frustriertes Gesicht. »Reden Sie nicht«, sagte ich nochmals und gab Williams Auskunft über die Rennberichte weiter. Er wirkte zwar erfreut, aber doch in Grenzen, als interessierte das Wissen nicht mehr. Jane kam mit einem Becher Kaffee wieder und bot Zucker dazu an. Ich schüttelte den Kopf und nahm einen kleinen Schluck von der Flüssigkeit, die dunkelbraun aussah, aber lasch schmeckte. Ich sagte, mehr um Konversation zu machen als sonst etwas: »Sie wissen wohl beide nicht, wo ich für ein, zwei Nächte mal unterkommen könnte. Wo es nicht zu teuer ist. Ich meine, kein Hotel.« Ich lächelte schief. »Ich habe so viel für Benzin und anderen Kram ausgegeben, daß ich diese Woche etwas knapp bin.« »Monatsende«, meinte Ted nickend. »Immer dasselbe.« »Aber Ihr Haus!« sagte Jane. »Ted sagt, daß Sie ein Haus haben.« »Äh … hm … äh … Ich komme mit Sarah nicht allzu gut aus.« Die bequeme Halbwahrheit kam gerade noch zurecht, 141
und sie murmelten traurig ihr mitfühlendes Verständnis. Trotzdem schüttelte Ted den Kopf und bedauerte, nicht helfen zu können. »Ich weiß nichts«, sagte er. Jane, die stand, drückte die Ellbogen an die Seiten, faltete fest die Hände und sagte: »Sie könnten hierbleiben. Auf dem Sofa.« Ted sah maßlos erstaunt drein, aber seine Frau sagte sehr angespannt: »Würden Sie uns bezahlen?« »Jane!« kam es von Ted verzweifelt; doch ich nickte. »Im voraus?« sagte sie steif, und wieder stimmte ich zu. Ich gab ihr zwei von den Scheinen, die ich am Tag vorher von der Bank abgehoben hatte, und fragte, ob es genug sei. Sie sagte mit rotem Gesicht ja und schob die drei Kinder aus dem Zimmer, aus dem Wohnwagen und in Richtung Straße. Ted, hoffnungslos verlegen und verwirrt, stammelte eine asthmatische Entschuldigung. »Wir hatten einen bösen Monat … sie haben die Platzmiete hier erhöht … und ich mußte Geld für neue Reifen hinlegen, für den Fahrzeugschein. Ich muß den Wagen haben, und er fällt auseinander – und ich habe überzogen …« »Hören Sie auf, Ted«, sagte ich. »Ich weiß, was blank sein heißt. Nicht so, daß man verhungert. Aber ohne einen Pfennig.« Er lächelte schwach. »Die Gerichtsvollzieher hatten wir noch nie da … aber diese Woche haben wir hauptsächlich von Brot gelebt. Macht es Ihnen auch bestimmt nichts aus?« »Absolut nicht.« Und so blieb ich bei den Pitts’. Sah fern, baute bunte 142
Bauklotztürme für die Kinder, aß das Abendbrot mit Ei, das mein Geld ermöglicht hatte, nahm Ted mit auf ein Bier. Das Reden kann seinem Hals nicht sehr gutgetan haben, aber zwischen Schaum und Bodensatz erfuhr ich eine ganze Menge über die Pitts’. Er hatte Jane eines Sommers in einer Jugendherberge im Lake District kennengelernt, und sie hatten geheiratet, während er noch aufs College ging, weil das älteste von den kleinen Mädchen unterwegs war. Sie waren glücklich, sagte er, aber sie hatten nie für ein Haus sparen können. Noch Schwein, daß sie einen Wohnwagen hatten. Natürlich gepachtet. In den Ferien kümmerte er sich um die Kinder, während Jane vorübergehend Büroarbeiten annahm. Besser für das Familieneinkommen. Besser für Jane. Eine Woche im Jahr ging er allerdings immer noch allein auf Tour. Rucksack auf dem Rücken. Schlafen im Zelt, in bergigem Gelände; Schottland oder Wales. Er warf mir einen scheuen Blick durch die schwarzgerahmte Brille zu. »Es bringt mich ins reine. Hält mich gesund.« Nicht jeder, dachte ich, war sein eigener Psychotherapeut. Als wir zurückkamen, war der Wohnwagen aufgeräumt und die Kinder im Bett. Man müsse leise sein, sagte Ted im Hineingehen: Sie wachten leicht auf. Die Mädchen schliefen offenbar alle in dem größeren der beiden Schlafzimmer, ihre Eltern im kleineren. Ein Kissen, eine Reisedecke und ein frisches Laken warteten auf mich, und obwohl das Sofa ein bißchen zu kurz war, um bequem zu sein, war es einnehmend weich. Erst an der Grenze zum Einschlafen, viel zu spät, um mich noch zu bekümmern, fiel mir ein, daß ich Irestone nicht noch mal angerufen hatte. Ach ja, dachte ich gähnend, morgen wäre früh genug.
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Am Morgen rief ich denn auch aus einer Telefonzelle in der Nähe des öffentlichen Parks an, wo Ted und ich mit den Kindern hingingen, damit sie an den Schaukeln und der Wippe spielen konnten. Irestone war wie üblich nicht da. Ob er denn nie da sei, fragte ich. Eine repressive Stimme sagte mir, der Chief Superintendent sei gegenwärtig nicht im Dienst, und ob ich bitte eine Nachricht hinterlassen würde. Ich sagte pervers, nein, das würde ich nicht tun, ich wollte den Chief Superintendent persönlich sprechen. Wenn ich eine Nummer hinterlassen würde, hieß es, würde er mich zu gegebener Zeit anrufen. Sackgasse, dachte ich: Ted Pitts hatte kein Telefon. »Wenn ich Sie morgen früh um neun anrufe«, sagte ich, »ist dann Chief Superintendent Irestone dort? Wenn ich um zehn anrufe? Um elf? Um Mittag?« Man bat mich zu warten, und ich konnte undeutliche Unterhaltungen im Hintergrund hören, und so lange Unterhaltungen, daß ich Münzen nachwerfen mußte, was meine Geduld nicht eben förderte. Schließlich aber kam die sture Stimme wieder: »Detective Chief Superintendent Irestone wird morgen früh ab zehn Uhr im Bereitschaftsraum sein. Sie können ihn unter folgender Nummer erreichen.« »Einen Moment bitte.« Ich zückte meinen Kuli und kramte den Fetzen Papier hervor, auf dem Teds Adresse stand. »Okay.« Er gab mir die Nummer, und ich dankte ihm recht kühl, und damit war das erledigt. Ted schob gerade seine jüngste Tochter behutsam auf einer Art Drehscheibe herum, dabei hielt er sie dicht an sich und lachte mit ihr. Ich wünschte mir überraschend heftig, ich hätte auch so ein Kind haben können, hätte es 144
auch Sonntagmorgens mitnehmen können in den sonnigen Park, seinen kleinen Körper umarmen und es wachsen sehen können. Sarah, dachte ich. Sarah – so magst du es ersehnt haben; das Baby, das du liebhaben, und die junge Frau, die du heiraten sehen würdest. Dies ist der Verlust. Dies, was Ted Pitts hat. Ich beobachtete seine Freude an dem Kind, und ich beneidete ihn von ganzem Herzen. Ein wenig später, als die Mädchen in einem Sandkasten spielten, setzten wir uns auf eine Bank, und um etwas zu sagen, fragte ich ihn, wieso er sein anfänglich starkes Interesse an den Rennberichten verloren hätte. Er zuckte die Achseln, während er seine Kinder betrachtete, und sagte mit der belegten Stimme, die allmählich wieder normal wurde: »Sie sehen ja, wie es ist. Ich kann’s mir nicht leisten, die Rennberichte zu kaufen. Ich konnte diese Woche nicht mal einen Satz Bänder für mich selber kaufen, um die Programme zu kopieren. Für Sie hab’ ich welche gekauft, von Ihrem Geld, aber ich hatte einfach nicht genug … Wie schon gesagt, wir mußten Pennies fürs Essen zusammenkratzen, und morgen wird zwar das nächste Monatsgehalt auf der Bank sein, aber ich habe den Strom noch nicht bezahlt.« »Bald ist das Derby«, sagte ich. Er nickte verdrießlich. »Glauben Sie nicht, ich hätte daran nicht gedacht. Ich sehe die Bänder auf dem Regal liegen, und ich denke, soll ich oder soll ich nicht? Aber ich mußte mich entscheiden, es zu lassen. Ich kann es nicht riskieren. Wie sollte ich es Jane erklären, wenn ich verlieren würde? Wir brauchen jedes Pfund, wahrhaftig. Das sehen Sie ja.« Es war eine Ironie, dachte ich. Auf der einen Seite stand Angelo Gilbert, der zu töten bereit war, um an die Bänder 145
zu kommen, und auf der anderen Ted Pitts, der sie hatte und sie niedriger einstufte als einen Krach mit seiner Frau. »Die Programme gehören einer alten Dame namens O’Rorke«, sagte ich. »Mrs. Maureen O’Rorke. Ich war diese Woche bei ihr.« Ted zeigte nur geringe Anzeichen von Interesse. »Sie sagte einiges, wo ich dachte, das würden Sie ganz amüsant finden.« »Was denn?« fragte Ted. Ich erzählte ihm von den Buchmachern, die regelmäßigen Gewinnern das Konto auflösten, und von dem System, das die O’Rorkes mit Gärtner Dan angewandt hatten, der Wettbüros abklapperte und ihr Geld anonym setzte. »Du lieber Himmel«, meinte Ted. »Was für ein Zinnober.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Jonathan. Das vergißt man doch am besten.« »Mrs. O’Rorke sagte, ihr Mann hätte insgesamt mit einer Sicherheit von einem Gewinn bei drei Einsätzen wetten können. Welchen Eindruck macht das statistisch auf Sie?« Er lächelte. »Ich brauchte eine hundertprozentige Sicherheit, um beim Derby zu wetten.« Eins von den Kindern warf einem anderen Sand in die Augen, und er stand hastig auf, um zu schimpfen, Trost zu spenden und gewissenhaft mit einem Zipfel seines Taschentuchs herumzubohren. »Übrigens«, sagte ich, als die Ordnung wiederhergestellt war, »ich habe ein paar Kopien von Ihrem Spiel ›Sternenbomber‹ gemacht. Sie haben hoffentlich nichts dagegen.« »Ich bitte Sie«, sagte er. »Haben Sie’s mal gespielt? Man muß beim ersten Fragezeichen F oder S reintippen. Ich hab’ 146
die Gebrauchsanleitung noch nicht ausgedruckt, aber ich geb’ sie Ihnen, wenn ich’s tue. Die Schüler«, er sah erfreut und eine Spur selbstzufrieden drein, »finden es Klasse.« »Ist es Ihr bestes?« »Mein bestes?« Er lächelte ein wenig und zuckte die Achseln. »Ich unterrichte damit. Ich mußte es so schreiben, daß die Jungs das Programm und die Art, wie es funktioniert, verstehen konnten. Klar, ich könnte ein viel ausgeklügelteres schreiben, aber was hätte das für einen Sinn?« Ein Pragmatiker, Ted Pitts, kein Träumer. Wir sammelten die Kinder ein, und nachdem Ted sie abgebürstet und ihre Schuhe vom Sand befreit hatte, fuhren wir heim zum Wohnwagen, um hausgemachte Hamburger zu Mittag zu essen. Am Nachmittag korrigierte ich unter Teds mitleidigen Augen die Ladung Schulhefte, die ich am Freitag abend zufällig nicht in mein Haus geschleppt hatte. Dafür konnte die 5B sich bei Irestone bedanken. Und am Montag morgen, als Ted fand, daß seine Stimme gut genug in Schuß sei, um die Ungeheuer in der dritten Klasse zu bezwingen, fuhren wir beide in die Schule. Wir nahmen jeder den eigenen Wagen. Ich hatte das Gefühl, die Gastfreundschaft genügend strapaziert zu haben, und obwohl Jane sagte, ich könne bleiben, wenn ich wolle, sah ich doch, daß ich kein Geschenk des Himmels mehr war. Der neue Gehaltsscheck würde auf der Bank sein. Diese Woche würde es mehr geben als Brot, und ich würde mir eine neue Bleibe suchen müssen. Ted streckte sich noch in den letzten Minuten, bevor wir aufbrachen, und angelte die sechs Kassetten von dem hohen Bord. 147
»Heute in der Mittagspause könnte ich sie machen«, sagte er, »wenn Sie wollen.« »Das wäre großartig«, sagte ich. »Sie können einen Satz dann behalten, und die anderen bekommt Mrs. O’Rorke.« »Wollen Sie für sich denn keine?« »Vielleicht könnte ich ja später mal Kopien von Ihren aufnehmen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ich für den Rest meines Lebens von Wettbüro zu Wettbüro hetze.« Er lachte. »Ich auch nicht. Obwohl ich gegen eine kleine Spekulation nichts gehabt hätte …« Etwas wie Sehnsucht schimmerte erneut in seinen Augen auf und wurde schnell gelöscht. »Nun ja«, sagte er, »auf in den Kampf.« Er küßte Jane und die kleinen Mädchen, und wir fuhren los. In der Vormittagspause versuchte ich einmal mehr, Chief Superintendent Irestone zu erreichen, diesmal von dem Münzfernsprecher im Lehrerzimmer aus. Auch mit der neuen Nummer wurde ich nicht froh. Chief Superintendent Irestone war gerade nicht anwesend. o »Das ist langweilig«, sagte ich. »Es hieß, er wäre jetzt erreichbar.« »Er wurde weggerufen, Sir. Würden Sie eine Nachricht hinterlassen?« Mir war danach zumute, ein paar saftige Flüche zu hinterlassen. Ich sagte: »Richten Sie ihm aus, daß Jonathan Derry angerufen hat.« »Ist gut, Sir. Zeitpunkt Ihres Anrufs 10 Uhr 33.« Zum Teufel damit, dachte ich. Ich hatte etwa fünf Schritte durch den Raum in Richtung der Kaffeemaschine gemacht, als hinter mir das Telefon klingelte. Es war die Tageszeit, wo gern die Frauen der 148
Lehrer anriefen, um ihren Lieben Botengänge für den Heimweg aufzutragen, und derjenige, der dem Apparat am nächsten war, nahm üblicherweise das Gespräch an. Meine Frau zumindest, dachte ich, würde nicht anrufen, aber irgend jemand rief: »Jonathan, es ist für Sie.« Überrascht machte ich kehrt und ergriff den Hörer. »Hallo«, sagte ich. »Jonathan«, sagte Sarah. »Wo warst du denn? Wo, in Gottes Namen, bist du gewesen?« Es klang hysterisch. Ihre Stimme war schrill, bebend vor Nervosität, angespannter, als ich sie je gehört hatte. Dem Zerreißen nah. Beängstigend. »Was ist passiert?« fragte ich. Ich wußte, daß meine Stimme zu ruhig klang, aber ich konnte nichts dafür. Sie kam anscheinend immer so heraus, wenn innerlich ein wirrer Aufruhr herrschte. »Ogottogott!« Sie hatte noch Zeit, sich über mich aufzuregen, doch nicht die Zeit, mehr zu sagen. Nach einer ganz kurzen Pause sprach eine andere Stimme, und diesmal sträubte sich jedes Haar meines Körpers im Protest. »Jetzt hör zu, du Mißgeburt …« Angelo Gilbert. »Hör mir zu«, sagte er. »Dein kleines Frauchen sitzt hier ganz urgemütlich. Wir haben sie an einen Stuhl gebunden, um ihr nicht weh zu tun.« Er lachte spöttisch. »Ihre Freundin auch, das Heulsuschen. Also hör zu, Gimpel, denn du wirst genau tun, was ich dir sage. Hörst du mich?« »Ja«, sagte ich. Ich hörte tatsächlich mit ganzer Kraft zu und hielt das andere Ohr wegen des Geplappers und der Kaffeetassen um mich her mit einer Hand umschlossen. Es 149
war makaber. Es schien mir außerdem jedes Gefühl in den Füßen genommen zu haben. »Das war dem letzter Streich jetzt«, sagte Angelo, »diese falschen Bänder zu schicken. Diesmal gibst du uns die richtigen, kapiert?« »Ja«, sagte ich leise. »Du hättest doch dein kleines Frauchen nicht gern mit völlig eingeschlagenem Gesicht zurück, oder?« »Nein.« »Du brauchst uns nur die Bänder zu geben.« »In Ordnung«, sagte ich. »Und kein dämliches Hin und Her.« Er schien enttäuscht, daß ich so wenig Reaktion auf seine Schau gezeigt hatte, aber selbst in diesem gräßlichen Moment wandte ich ohne zu überlegen auf ihn die Technik an, die ich unbewußt in den Jahren des Unterrichtens entwickelt hatte: die Herausforderung ins Leere laufen lassen, vom Muskelspiel der Gegenseite gelangweilt sein, die Schadenfreude durch scheinbaren Gleichmut auffangen. Es wirkte bei den Jungs, es wirkte wundervoll bei Jenkins und es hatte bereits zweimal bei Angelo gewirkt. Inzwischen hätte ihm klarsein müssen, dachte ich, daß ich auf Hohn oder Arroganz nicht ansprach: jedenfalls nicht sichtbar. Er war zu sehr von sich überzeugt, um zu glauben, daß irgend jemand nicht die Angst zeigen könnte, die einzuflößen er sich gedrängt fühlte. Er mochte nicht übermäßig schlau sein, doch er war unberechenbar gefährlich. Er hielt den Hörer an Sarahs Mund, und gegen sie hatte ich weniger Verteidigungsmittel. »Jonathan …« Es war halb Ärger, halb Furcht … schrill und vehement. »Sie kamen gestern. Gestern. Donna und 150
ich waren die ganze Nacht hier gefesselt. Wo bist du, verdammt noch mal, gewesen?« »Seid ihr in Donnas Haus?« fragte ich besorgt. »Was? Ja, natürlich. Natürlich sind wir da. Stell doch nicht so saublöde Fragen.« Angelo übernahm wieder den Hörer. »Jetzt hör zu, Gimpel. Hör gut zu. Diesmal gibt es keine Spielchen. Diesmal wollen wir den wahren Jakob, und ich sag’ dir, es ist deine letzte Chance.« Ich antwortete nicht. »Bist du noch da?« sagte er scharf. »Sicher«, sagte ich. »Bring die Bänder zu meinem Vater nach Welwyn. Hast du das verstanden?« »Ja. Aber ich habe die Bänder nicht.« »Dann hol sie dir.« Seine Stimme war beinahe ein Kreischen. »Hörst du mich?« fragte er. »Hol sie dir.« »Es wird einige Zeit dauern.« »Du hast keine Zeit, Mißgeburt.« Ich holte tief Luft. Er war nicht harmlos. Er war nicht vernünftig. Er war kein Schulkind. Ich durfte es einfach nicht zu weit mit ihm treiben. »Ich kann die Bänder heute noch bekommen«, sagte ich. »Ich bringe sie zu Ihrem Vater, wenn ich sie habe. Es könnte spät werden.« »Früher«, sagte er. »Kann ich nicht. Es ist unmöglich.« Ich wußte nicht genau, wieso ich verzögern wollte. Es war ein Instinkt. Um die Sache zu durchdenken; nicht in 151
sie hineinzuschlittern. Diesmal würden die Ägypter mehr Verstand aufbringen. »Wenn du hinkommst«, sagte er, indem er es anscheinend akzeptierte, »wird mein Vater die Bänder testen. Auf einem Computer. Einem Grantley Computer. Begriffen, Kasper? Mein Vater hat einen Grantley Computer gekauft, weil das die Computersorte ist, für die die Bänder geschrieben wurden. Also keine komischen Tricks wie letztes Mal. Er wird die Bänder ausprobieren, klar? Und es ist besser, sie taugen was.« »In Ordnung«, sagte ich wieder. »Wenn mein Vater sich überzeugt hat«, sagte er, »ruft er mich hier an. Dann lasse ich dein Frauchen und die Heulsuse hier oben mit ihren Fesseln allein, und du kannst kommen und sie befreien wie ein richtiger kleiner Ritter Lobesam. Kapiert?« »Ja«, sagte ich. »Denk dran, Mißgeburt, irgendwelche komischen Sachen, und dein kleines Frauchen wird die plastische Chirurgie noch über Jahre beschäftigen. Angefangen mit ihren hübschen weißen Zähnen, Kasper.« Offenbar hielt er erneut den Hörer Sarah hin, denn es war ihre Stimme, die als nächstes kam. Immer noch verärgert, noch erschreckt, noch schrill. »Besorg, um Gottes willen, diese Bänder.« »Ja, mache ich«, sagte ich. »Hat Angelo eine Pistole?« »Ja. Jonathan, tu, was er sagt. Bitte tu, was er sagt. Spiel nicht herum.« Es war ebensosehr ein Befehl wie ein Gebet. »Die Bänder«, sagte ich in einem Versuch, zu beruhigen, »sind keinen Zahn wert. Halt ihn in Schach, wenn du kannst. Sag ihm, ich tue, was er will. Sag ihm, ich habe es dir versprochen.« 152
Sie antwortete nicht. Es war Angelo, der sagte. »Das ist alles, Mißgeburt. Das langt. Hol die Bänder. Klar?« »In Ordnung«, sagte ich, und sofort brach die Verbindung ab. Ich fühlte mich selbst ziemlich abgehängt. Das Lehrerzimmer hatte sich geleert, und ich war bereits zu spät dran für die Unterprima. Ich las die notwendigen Bücher mechanisch zusammen und ballonte mich auf gefühllosen Füßen durch die Gänge zum Laborraum. Hol die Bänder … Ich konnte sie nicht holen, ehe ich Ted Pitts fand, wahrscheinlich also erst in der Mittagspause um Viertel nach zwölf. Ich hatte noch anderthalb Stunden Zeit, um zu entscheiden, was zu tun war. Die Unterprima nahm Radioaktivität durch. Ich wies sie an, die Experimente mit Alphateilchen fortzuführen, die sie in der Vorwoche begonnen hatten, und ich saß auf meinem hohen Hocker an der Tafel, von dem aus ich oft unterrichtete, und beobachtete die zählenden Geigerzähler, während meine Gedanken bei Angelo Gilbert waren. Alternativen, dachte ich. Ich konnte noch einmal mehr die Polizei anrufen. Ich konnte sagen, ein labiler Mann, der eine Pistole hat, hält meine Frau als Geisel fest. Ich konnte sagen, daß vermutlich er es war, der Christopher Norwood umgebracht hatte. Wenn ich es sagte, würden sie vielleicht zum Haus der Keithlys jagen und versuchen, Angelo zur Aufgabe zu zwingen – und dann konnte Sarah, statt einer Geisel für drei kleine Kassetten, eine Geisel für Angelos persönliche Freiheit sein. Eine Eskalation, die nicht auszudenken war. Keine Polizei. Was also? Harry Gilbert die Kassetten geben. Darauf 153
vertrauen, daß Angelo Sarah und Donna unversehrt verlassen würde. Tatsächlich genau das tun, was mir gesagt worden war, und daran glauben, daß Angelo nicht in Donnas Haus warten würde, bis ich hineinmarschiert kam, und dann drei Leichen hinterließ. Logisch war es nicht zu erwarten, doch es war möglich. Es wäre besser gewesen, wenn ich mir einen guten, triftigen, logischen Grund für die Ermordung Chris Norwoods hätte denken können. Er hatte Angelo die fertigen Computerprogramme nicht gegeben, denn sonst hätte es Angelo nicht nötig gehabt, zu mir zu kommen. Ich hatte – nicht zum ersten Mal – darüber spekuliert, was eigentlich mit Liam O’Rorkes Originalunterlagen passiert war und was mit den Bändern passiert war, die Peter doch nach eigenen Worten an die Person geschickt hatte, die sie in Auftrag gab. An C. Norwood, Angel Kitchens, Newmarket. An Chris Norwood, Dieb in allen Gassen. Dreister kleiner Hund, hatte Akkerton gesagt, Gemüsechef Akkerton, der seinen Schmierbauch in der Kneipe nährte. Ich vermutete, daß Chris Norwood, als er Angelo zum ersten Mal gegenüberstand, einfach gesagt hatte, Peter Keithly sei dabei, die Programme zu schreiben, und habe die ganzen Unterlangen, und Angelo solle sie sich von ihm holen. Angelo war daraufhin zu Peter gekommen, der ihm in seiner Angst Programme gegeben hatte, von denen er wußte, daß sie unvollständig waren. Zu dem Zeitpunkt, als die Gilberts entdeckten, daß die Programme nichts taugten, war Peter bereits tot. Postwendend mußte Angelo wieder zu Chris Norwood gekommen sein, diesmal mit vorgehaltener Pistole. Und wieder mußte Chris Norwood gesagt haben, Peter Keithly hätte die Programme auf Kassetten. Die, wenn er tot sei, sich in seinem Haus befänden. Das würde er ihm gesagt haben, dachte ich, 154
nachdem Angelo die Stereoanlage zerschossen hatte. Ihm mußte es wirklich mulmig gewesen sein: Aber immer noch mußte er sich gewünscht haben, die Programme, wenn es ging, für sich zu behalten, denn er wußte, sie waren eine Essensmarke auf Lebenszeit. Chris Norwood, vermutete ich, hatte Angelo zweimal nicht gegeben, was er wollte: und Chris Norwood war tot. Ich hatte Angelo auch zweimal genarrt und mich ihm widersetzt, und ich konnte nicht sicher sein, ob ich nicht deshalb noch lebte, weil ich ein Gewehr zur Hand gehabt hatte. Wenn sein Vater nicht da war, um ihn zurückzuhalten, konnte Angelo immer noch so launisch sein wie der Benzindampf, der Peter getötet hatte, selbst wenn er glaubte, endlich den Schatz in der Hand zu haben, hinter dem er so lange schon her war. Einige der Unterprimaner kamen mit ihren Atomkernen durcheinander. Automatisch stieg ich von den Höhen meines Hockers herab und erinnerte sie, daß Nebelkammern sich nicht mit Nebel füllten, wenn man versäumte, Trockeneis hineinzugeben. Kein Hin und Her mehr, hatte Angelo gesagt. Tja … Welche Hilfsmittel hatte ich? Welche Fähigkeiten, die ich benutzen konnte? Ich konnte schießen. Ich konnte andererseits nicht auf Angelo schießen. Nicht solange er eine Waffe an Sarahs Kopf hielt. Nicht ohne mich zumindest wegen Totschlags ins Gefängnis zu bringen. Angelo erschießen schied aus. Ich hatte das Wissen, das die Physik mir gebracht hatte. Ich konnte ein Radio konstruieren, einen Fernseher, ein 155
Thermostat, eine Digitaluhr, eine Satelliten-Nachführung und, die richtigen Bauteile vorausgesetzt, einen Laserstrahl, einen Linearbeschleuniger und eine Atombombe. Ich konnte nicht gerade vor dem Mittagessen eine Atombombe bauen. Die beiden Jungen, die das Alphastrahlen-Analogon anwandten, debattierten über das Gerät, das aus einem großen Magneten, bombardiert von einem Heer kleiner, bestand. Der eine Junge behauptete, daß die Kraft von Dauermagneten mit der Zeit verfiele, und der andere meinte, das sei Kokolores, Dauer hieße Dauer. »Wer hat recht, Sir?« fragten sie. »Dauer ist relativ«, sagte ich. »Nicht absolut.« In dem Moment ging ein Blitz kaum dauernder elektrischer Aktivität durch mein Gehirn. Das verwendbare Wissen war zur Hand. Gott segne alle Schüler, dachte ich.
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9 Ted Pitts kauerte die ganze Mittagspause hindurch über dem Harris, fertigte die Kopien an und testete die neuen Bänder. »Das war’s«, sagte er schließlich und rieb sich das Genick. »Soweit ich sehen kann, sind sie perfekt.« »Welchen Satz möchten Sie?« sagte ich. Ernsthaft linste er mich durch das schwarze Brillengestell an. »Sie haben nichts dagegen?« »Wählen Sie, welche Sie wollen«, sagte ich. »Ich nehme die anderen.« Er zögerte, entschied sich aber für die Originale. »Sind Sie auch sicher?« »Völlig«, sagte ich. »Nur lassen Sie mir die Originalkästen, Oklahoma und so weiter. Es könnte besser sein, wenn ich sie in der richtigen Verpackung übergebe.« Ich schob die Kopien in die knallbunten Hüllen, dankte Ted, kehrte zurück ins Lehrerzimmer und sagte meinen vier langmütigen Stellvertretern, ich hätte fürchterlich elende, lähmende Kopfschmerzen bekommen; ob sie bitte meinen Nachmittagsunterricht unter sich aufteilen könnten. Stöhnen blieb nicht aus, doch es war ein Dienst, den wir einander regelmäßig erwiesen, wenn es unvermeidlich war. Ich würde nach Hause fahren, sagte ich. Mit etwas Glück wäre ich am Morgen wieder da. Bevor ich ging, machte ich einen Umweg zum Vorbereitungsraum, wo Louisa Federn und Gewichte für den 157
Nachmittagsunterricht der zweiten Klasse abzählte. Ich erzählte ihr von dem Kopfweh und fand wenig Mitgefühl, was ja nur recht und billig war. Während sie den Stoß Batterien in einen der Laborräume brachte, um sie über die Bänke zu verteilen, öffnete ich einen ihrer aufgeräumten Schränke und griff mir drei kleine Gegenstände, die ich elegant in meiner Tasche verschwinden ließ. »Was suchen Sie denn?« fragte Louisa, als sie zurückkam und mich vor der noch offenen Schranktür stehen sah. »Nichts Bestimmtes«, sagte ich vage. »Ich weiß nicht so recht.« »Legen Sie sich daheim ins Bett«, sagte sie seufzend und schlüpfte in die Märtyrerrolle. »Ich werde schon fertig mit der Mehrarbeit.« Meine Abwesenheit bedeutete in Wirklichkeit weniger Arbeit für sie, nicht mehr, aber darauf hinzuweisen hätte zu nichts geführt. Ich dankte ihr überschwenglich, damit sie für die anderen bei Laune blieb, und ging hinaus zum Wagen, um heimzufahren. Kein Grund zu befürchten, daß Angelo dort sein könnte: Er war im Haus der Keithlys, hundert Meilen weg in Norfolk. Alles mutete unwirklich an. Ich dachte an die beiden Frauen, an Stühle gefesselt, unbehaglich, verängstigt, erschöpft. Spiel nicht herum, hatte Sarah gesagt. Tu, was Angelo will. Irgendwo in einer der Büfettschubladen hatten wir ein Fotoalbum, ad acta gelegt, seit uns die Lust vergangen war, unser freudloses Leben festzuhalten. Ich grub es aus und blätterte es auf der Suche nach dem Foto durch, das ich einmal von Peter, Donna und Sarah geknipst hatte, während sie auf dem Bürgersteig vor Peters Haus standen. 158
Die Sonne hatte geschienen, stellte ich fest. Alle drei lächelten und sahen glücklich aus. Schmerzlich, das Gesicht von Peter zu sehen, ohne Schnurrbart, so jung und mit sich selbst zufrieden. Nichts Besonderes an der Aufnahme: nur Menschen, ein Haus, eine Straße. Für mich in diesem Augenblick jedoch beruhigend. Ich ging nach oben in mein kleines Zimmer, schloß den Waffenschrank auf und nahm eine der 7.62er Mauser sowie eins der olympiamäßigen Gewehre, die Anschütz.22 heraus. Packte sie beide in den Spezialkoffer, mit etwas Munition dazu in beiden Kalibern. Trug den Koffer hinunter zum Wagen und sperrte ihn in den Kofferraum. Überlegte und ging nach oben, um ein großes braunes Badetuch aus dem Wäscheschrank zu holen. Verschloß auch dies im Kofferraum. Schloß das Haus ab. Danach saß ich drei oder vier Minuten lang im Wagen und dachte alles durch, mit dem Ergebnis, daß ich noch einmal zurück ins Haus ging, diesmal wegen einer Tube extrastarken Klebstoffs. Das einzige, woran es mir fehlte, dachte ich, war Zeit. Ich ließ den Motor an und fuhr nicht nach Welwyn los, sondern nach Norwich. Von Dämonen getrieben, machte ich die Fahrt in kürzerer Zeit als gewöhnlich, aber es war dennoch halb fünf, als ich den Stadtrand erreichte. Sechs Stunden, seit Angelo telefoniert hatte. Sechs lange Stunden für seine Geiseln. Ich hielt neben einer Telefonzelle in einer Einkaufsstraße nicht weit von Donnas Haus und wählte ihre Nummer. 159
Betete, glaube ich, daß Angelo sich melden würde: daß alles zumindest nicht schlimmer wäre, als es am Morgen gewesen war. »Hallo«, sagte er. Gespannt, schien mir. In Erwartung seines Vaters. »Hier ist Jonathan Deny«, sagte ich. »Ich habe die Bänder.« »Gib mir meinen Vater.« »Ich bin nicht bei Ihrem Vater. Da bin ich noch nicht hingefahren. Ich habe den ganzen Tag gebraucht, um die Bänder zu holen.« »Jetzt hör zu, Mißgeburt …« Er war heftig, gefährlich verärgert. »Ich hab’ dich gewarnt.« »Es hat den ganzen Tag gedauert, aber ich habe sie«, unterbrach ich eindringlich. »Ich habe ja die Bänder. Ich habe die Bänder.« »Na schön!« sagte er gepreßt. »Jetzt bring sie zu meinem Vater. Bring sie hin, hörst du?« »Ja«, sagte ich. »Ich fahre sofort hm, aber es wird einige Zeit dauern. Es ist ein langer Weg.« Angelo murmelte vor sich hin und sagte dann: »Wie lange? Wo bist du? Wir warten die ganze Scheißnacht schon und den ganzen Scheißtag.« »Ich bin in der Nähe von Bristol.« »Wo?« Es war ein Wutschrei. »Ich werde fünf Stunden brauchen«, sagte ich, »um zu Ihrem Vater zu kommen.« Eine kurze Stille folgte. Dann die Stimme Sarahs, zu müde zum Weinen, hohl von zuviel Angst. »Wo bist du?« sagte sie. »In der Nähe von Bristol.« 160
»O mein Gott.« Sie klang nicht mehr verärgert, sondern hoffnungslos. »Viel länger halten wir das hier nicht aus …« Der Hörer wurde ihr mitten im Satz abgenommen, und Angelos Stimme kam wieder in die Leitung. »Mach hm, Mißgeburt«, sagte er und hängte ein. Atempause, dachte ich. Vier Stunden, bis Angelo Nachricht von seinem Vater erwartete. Statt unerbittlich, gefährlich ansteigendem Druck würde dort im Haus schlimmstenfalls, so hoffte ich, eine noch erträgliche Gereiztheit herrschen und bestenfalls entschärfte Spannung. Sie würden nicht weitere vier Stunden in ständiger Erwartung aufgeladen sein. Ehe ich wieder ins Auto stieg, öffnete ich den Kofferraum, nahm das Fernrohr und die beiden Gewehre aus ihren stoßsicheren Fächern im Koffer und schlug sie in das weniger Schutz bietende braune Handtuch ein. Legte sie in den Wagen auf die braune Polsterung des Rücksitzes. Legte die Patronenschachteln daneben, auch sie verborgen durch das Handtuch. Sah dann auf meine Finger. Kein Zittern. Anders als in meinem Herzen. Ich fuhr hinüber in die Straße, wo das Haus der Keithlys stand, und hielt am Bordstein, knapp außer Sicht des storeverhangenen Fensters. Ich konnte das Dach sehen, einen Teil der Wand, den größten Teil des Vorgartens – und Angelos Wagen in der Auffahrt. Es waren nicht viele Leute auf der Straße. Die Kinder mußten aus der Schule zurück sein, drinnen beim Tee sitzen. Die Ehemänner waren noch nicht von der Arbeit daheim: Es gab mehr freien Parkraum vor den Häusern als Autos. Eine friedliche Vorstadtszene. Wohnstraße neueren Datums, für Leute mit gesichertem mittlerem Einkommen. Eine übersichtliche Straße ohne große Bäume und ohne Wälder von Elektrizität und Telegraphenmasten: Neu 161
verlegte Kabel verliefen für den größten Teil der Strecke eher unterirdisch und traten nur hier und da ans Tageslicht. In der Aufnahme von Peters Haus war ein einziger Telegraphenmast in der Nähe gewesen, von dem sich Drähte nach den einzelnen Häusern ringsum erstreckten, doch wenig mehr. Keine Hindernisse. Saubere flache Asphaltgehsteige, weiße Bordsteine, Fahrweg aus Teer und Splitt. Ein paar gepflegte kleine Hecken säumten einige der Gärten. Viele sauber rechteckige grüne Flecken aus gestutztem Gras. Weite Flächen von Netzgardinen, die darauf warteten, zurückgezupft zu werden. Ich kann raussehen, aber du kannst nicht reinsehen. Die erste Voraussetzung für gezieltes Schießen hieß zu wissen, wie weit man vom Ziel entfernt war. Auf Schießständen waren die Entfernungen festgelegt und immer gleich. Ich war an exakt drei-, vier- und fünfhundert Meter gewöhnt. An neunhundert und tausend Meter, beides mehr als eine halbe Meile. Die Entfernung wirkte sich auf den Zielwinkel aus: je größer die Distanz, desto höher über das Ziel mußte man halten, um es zu treffen. Olympisches Schießen ging nur über glatte dreihundert Meter, aber aus verschiedenen Körperstellungen: stehend, kniend und auf dem Bauch liegend. Beim olympischen Schießen erhielt man außerdem zehn Anschüsse in jeder Position – zehn Chancen, seine Visiere einzustellen, ehe man zu den vierzig Schuß kam, die für die Punktwertung zählten. Auf dieser Straße in Norwich würde ich keine zehn Anschüsse bekommen. Ich konnte mir kaum auch nur einen leisten. Keine regelmäßige Reihe von Telegraphenmasten hieß, keine bequeme Hilfe beim Messen der Entfernung. Die Vorgärten jedoch, schätzte ich, hatten alle mehr oder 162
weniger dieselbe Breite, da die Häuser sich alle gleich waren, deshalb schlüpfte ich so unauffällig und leger wie möglich aus dem Wagen und schritt bedächtig die Straße entlang, weg von Peters Haus. Vierzehn Schritte pro Garten. Ich rechnete kurz im Kopf und brachte heraus, daß dreihundert Meter zweiundzwanzig Häuser bedeutete. Ich zählte sorgfältig. Es lagen nur zwölf Häuser zwischen mir und meinem Ziel – etwa einhundertundsiebzig Meter. Die kürzere Distanz würde ein Vorteil für mich sein. Ich konnte im allgemeinen damit rechnen, ein Ziel auf eine Bogenminute genau zu treffen: oder in anderen Worten, ein rundes Ziel von zweieinhalb Zentimeter Breite auf hundert Meter, fünf Zentimeter breit auf zweihundert, siebeneinhalb Zentimeter auf dreihundert, und so fort bis zu einem fündundzwanzig Zentimeter großen Eßteller auf tausend. Mein Ziel an diesem Abend war ungefähr rechtwinklig und etwa zehn mal fünfzehn Zentimeter, das hieß, ich durfte nicht mehr als vierhundert Meter von ihm entfernt sein. Das Hauptproblem war, daß ich es von dort, wo ich stand, selbst wenn ich das Fernrohr gebrauchte, nicht sehen konnte. Ein alter Mann kam aus dem Haus, an dessen Bordstein ich parkte, und fragte mich, ob ich irgend etwas wollte. »Äh, nein«, sagte ich. »Warte auf wen. Vertrete mir nur die Beine.« »Mein Sohn möchte hier parken«, sagte er und wies auf den Standort meines Wagens. »Er kommt bald heim.« Ich sah in das sture alte Gesicht und wußte, wenn ich nicht abzog, würde er durch die Vorhänge zu mir herstarren und mich bei allem beobachten, was ich tat. Ich nickte und lächelte, stieg in den Wagen, wendete in der 163
benachbarten Auffahrt und verließ die Straße auf dem Weg, den ich gekommen war. Na schön, dachte ich, rundfahren. Ich muß von der anderen Seite in die Straße kommen. Ich muß den Wagen so parken, daß ich das Ziel sehen kann. Ich parke, wenn möglich, nicht vor jemandes Haus, wo ich einem dieser nichtssagenden Einbahn-Bildschirme voll ausgesetzt bin. Ich parke nicht, wo Angelo mich sehen kann. Ich zähle sorgfältig die Häuser, damit die Entfernung stimmt, und vor allem lasse ich mir nicht viel Zeit. Es ist ein Kinoklischee, daß wenn ein Attentäter durch das Zielfernrohr blickt, das Fadenkreuz auf sein Ziel ausrichtet und den Hahn durchzieht, das Opfer tot umfällt. Ziemlich oft vollbringt der Attentäter diese Leistung aus dem Stand und fast immer mit dem ersten Schuß: Und über all das kann ein ernsthafter Scharfschütze nur lachen oder das Gesicht verziehen, oder beides. Der einzige Film, in dem ich es je richtig dargestellt sah, war Der Schakal, wo der Schütze in einen Wald ging, um die Entfernung abzuschreiten, sein Gewehr der Stütze wegen an einen Baum schnallte, seine Visiere einstellte und zwei oder drei Testschüsse auf eine kopfgroße Melone abgab, ehe er das Ganze auf den Ort der Hinrichtung übertrug. Selbst dabei war der Wind nicht eingeplant – aber man kann nicht alles haben. Ich fuhr in das obere Ende von Peters Straße, das ich weniger kannte, und stieß zwischen zweien der Häuser auf das breite Eingangstor zu dem alten Besitz, dem man die neue Siedlung vorgebaut hatte. Das Flügeltor selbst, schmiedeeisern, halb offen, ging auf eine schmale Straße, die im Parkland verschwand, und es stand nicht in gleicher Höhe mit der Fahrbahn oder auch nur den Häuserfronten, sondern etwas weiter zurückgesetzt. Zwischen dem Tor und der Straße befand sich ein Streifen mittelprächtigen 164
Schotters und ein stark verwitterter Hinweis, daß alle Besucher des Instituts für Paranormale Forschung durchfahren und den Pfeilen zum Empfang folgen sollten. Ich bog ohne Zögern auf den Schotterstreifen und hielt an. Es war ideal. Von dort hatte ich sogar mit dem bloßen Auge klare Sicht auf das Ziel. Eine etwas seitlich verschobene Sicht zweifellos, aber gut genug. Ich stieg aus dem Wagen und zählte die Häuser, die sich gleichförmig längs der Straße erstreckten: Das der Keithlys war das vierzehnte auf der anderen Straßenseite, und mein Ziel war ein Haus näher. Die Straße beschrieb rechts von mir eine leichte Kurve. Von links kam ein leichter Wind. Ich nahm die Einschätzungen fast automatisch vor und ließ mich auf den Rücksitz des Wagens sinken. Ich hatte lange hin und her überlegt, welches Gewehr ich benutzen sollte. Die 7.62er-Patronen waren weitaus vernichtender, aber wenn ich das Ziel mit dem ersten Schuß ganz und gar verfehlte, konnte ich Sachen und Menschen, dir mir nicht sichtbar waren, schrecklichen Schaden zufügen. Leuten, die eine halbe Meile oder weiter fort waren. Die 22er war viel leichter: immer noch potentiell tödlich, wenn ich das Ziel verfehlte, doch nicht auf eine so große Entfernung. Im Auto konnte ich mich offensichtlich nicht flach auf den Boden legen, wie ich normalerweise mit der Mauser schoß. Ich konnte knien, und knien war ich eher mit der 22er gewohnt. Aber wenn ich im Wagen kniete, brauchte ich das Gewicht des Gewehrs nicht zu halten … ich konnte es auf die Tür stützen und durch das offene Fenster schießen. Wohl oder übel wählte ich die Mauser. Die Durchschlagskraft war soviel stärker, und wenn ich die 165
Sache machen wollte, machte ich sie am besten richtig. Außerdem konnte ich das Ziel deutlich sehen, und es war nahe genug, um es mit dem zweiten Schuß sicher treffen zu können. Der erste Schuß war es, der Grund zur Besorgnis gab. Ein Bild von Paul Arcady trat mir vor Augen. ›Könnten Sie ihm den Apfel vom Kopf schießen, Sir?‹ Was ich vorhatte, war ziemlich dasselbe. Ein geringfügiger Fehler konnte unausdenkbare Folgen haben. Ich hatte mich festgelegt. Ich drehte das Rückfenster herunter und schob das glatte 7.62-mm-Geschoß in der Verschluß der Mauser. Ich warf durch das Beobachtungsfernrohr, das ich ebenfalls aufs Fenstersims stützte, einen Blick auf das Ziel, und was mir ins Auge sprang, war die volle, klare, etwas schräge Nahaufnahme eines glatten, flachen Kastens hoch oben auf der einen Seite des Telegraphenmastes: grau, im Prinzip rechtwinklig, umsäumt von Drähten, die zu sämtlichen Häusern in der Nähe führten. Die Abzweigdose. Es tat mir leid um all die Leute, die für den Rest des Tages ohne Telefon sein würden, doch nicht allzu leid, sie außer Betrieb zu setzen. Ich ließ das Fernrohr sinken, faltete das braune Handtuch und legte es über den Türrahmen, damit ich eine rutschfeste Auflage hatte. Keilte mich zwischen Vorderund Rücksitz so fest wie möglich ein und stützte den Lauf der Mauser auf das Handtuch. Ich dachte, daß ich die Abzweigdose wahrscheinlich zwei- oder dreimal treffen müßte, um Sicherheit zu haben. 7.62-mm-Geschosse neigten dazu, glatt durch Dinge hindurchzugehen und richteten den meisten Schaden beim Austritt an. Wenn ich das Risiko hätte auf mich nehmen 166
wollen, durch den Mast auf die Anschlußdose zu schießen, hätte eine placierte Kugel sie wahrscheinlich zerfetzt, aber dafür hätte ich direkt hinter ihr sein müssen, und unbeobachtet kam ich da nicht hin. Ich stellte die Visierung so ein, wie es mir für die Distanz geboten schien, senkte meinen Körper auf einen Winkel, der dem Gefühl nach stimmte, korrigierte um einen Bruchteil wegen des Windes und zog den Hahn durch. Triff den Mast, betete ich. Hoch oder tief, triff den Mast. Die Kugel konnte ihn zwar durchschlagen, aber dann war ihre Stoßkraft zum größten Teil verbraucht. 7.62-mm-Gewehre machen einen fürchterlichen Lärm. Draußen auf der Straße muß es gekracht haben wie ein Ochsenziemer. Im Wagen betäubte es mich wie in den alten Zeiten vor den Ohrenschützern. Ich lud nach. Blickte durch das Fernrohr. Sah den Einschuß, rund und sauber, ganz oben an der grauen Fassung der Abzweigdose. Halleluja, dachte ich dankbar und atmete vor Erleichterung auf. Senkte das Visier ein Stückchen, ließ meine Körperhaltung unverändert. Schoß erneut. Lud nach. Schoß erneut. Blickte durch das Fernrohr. Der zweite und dritte Einschuß überlappten sich, tiefer als der erste, und das ganze Gehäuse schien – vielleicht, weil ich nicht direkt frontal, sondern etwas von der Seite darauf schoß – zerplatzt zu sein. Es mußte reichen. Es war alles zu laut. Ich legte die Gewehre und das Fernrohr auf den Boden, darüber das Handtuch, und zwängte mich durch auf den Fahrersitz. Ließ den Motor an, setzte langsam zurück auf die Straße 167
und fuhr in einem normalen Tempo davon, während ich im Rückspiegel ein paar Anwohner neugierig raus auf die Straße kommen sah. Die Netzgardinen müssen alle am Zucken gewesen sein, aber niemand schrie mir nach, niemand zeigte mit dem Finger und sagte: »Das ist der Mann.« Und Angelo – was würde er denken? Und Sarah – die den Klang eines Gewehrs besser kannte als Kirchenglocken? Ich hoffte zu Gott, sie würde den Mund halten. Außerhalb von Norwich hielt ich zum Tanken und benutzte das Telefon dort, um Donnas Nummer anzurufen. Nichts. Ein fernes Summgeräusch, wie Wind in den Leitungen. Ich stieß eine Lunge voll Luft aus und fragte mich mit einem Lächeln, was die Fernmeldetechniker sagen würden, wenn sie am Morgen auf den Mast stiegen. Nicht druckfähig, höchstwahrscheinlich. Es gab vielleicht Mittel und Wege, ankommende Telefongespräche durch technisches Jonglieren auszuschalten, indem man eine Nummer wählte, wartete, bis jemand abnahm, nichts sagte, wartete, bis der Hörer aufgelegt wurde, und dann den eigenen Hörer nicht auflegte, so daß die Leitung offen blieb und die Nummer nicht noch mal angeklingelt werden konnte. Ich hätte dieser Methode vielleicht für kurze Zeit getraut, aber nicht für Stunden: Und bei einigen Anschlüssen funktionierte sie nicht. Ein Stück weiter auf der Strecke hielt ich erneut an, diesmal, um den Wagen auf- und umzuräumen. Ich legte die Mauser und das Fernrohr wieder in ihre Kofferfächer im Kofferraum, zusammen mit der 7.62-mm-Munition; 168
dann brach ich alle meine Regeln und die Regeln aller anderen und lud einen scharfen 21er Schuß in den Verschluß der Anschütz. Ich legte das Handtuch auf den Rücksitz und rollte das Olympiagewehr längs darin ein, worauf ich es flach hinter den Vordersitzen am Boden verstaute. Das Handtuch verschmolz recht gut mit dem braunen Teppich, und ich schätzte, wenn ich nicht zu schnell Gas gab, bremste oder in die Kurve ging, würde das Gewehr die Fahrt ohne Bewegung überstehen. Als nächstes steckte ich vier Ersatzpatronen in meine rechte Tasche, denn die Anschütz hatte kein Magazin, und jeder Schuß mußte einzeln geladen werden. Nach so vielen Jahren der Übung konnte ich innerhalb von zwei Sekunden die verbrauchte Hülse ausstoßen und eine neue Patrone laden, und schneller noch, wenn ich die frische Patrone im rechten Handteller hielt. Die beiden Gewehre hatten äußerlich das gleiche Format, und ich hätte die Mauser mit ihrem verfügbaren Magazin genommen, wäre nicht ihre verheerende Wirkung in einem häuslichen Rahmen gewesen. Die 21er würde töten, aber nicht die Leute im nächsten Haus. Danach jonglierte ich ein bißchen mit den Kassetten und ihren Hüllen, dem Klebstoff und den Kleinigkeiten, die ich in der Schule geklaut hatte, herum und fuhr schließlich wieder weiter, diesmal nach Welwyn. Harry Gilbert erwartete mich. Der Art und Weise nach, wie er aus seinem Haus geprescht kam in dem Moment, wo ich in seine Auffahrt bog, hatte er mich seit langem erwartet und es gründlich satt bekommen. »Wo waren Sie denn?« sagte er. »Haben Sie die Bänder mit?« Er war schon dicht bei mir, als ich aus dem Wagen stieg, 169
und schob streitlustig, überzeugt von seiner Macht über einen Mann, der im Nachteil war, sein Kinn vor. »Ich dachte, Sie würden es nicht billigen, daß Angelo Leute mit Ihrer Pistole bedroht«, sagte ich. Irgend etwas zuckte in einem Muskel seines Gesichts. »Manchmal helfen nur Drohungen«, erwiderte er. »Geben Sie mir die Bänder.« Ich nahm die drei Tonbänder aus meiner Tasche und zeigte sie ihm; die drei Bänder selbst, außerhalb ihrer Hüllen. Ich sagte: »Jetzt rufen Sie Angelo an, daß er meine Frau losbinden soll.« Gilbert schüttelte den Kopf. »Erst teste ich die Bänder. Dann rufe ich Angelo an. Und Angelo läßt Ihre Frau gefesselt, bis Sie selbst hinfahren und sie befreien. So ist es abgesprochen. Es ist einfach. Kommen Sie ins Haus.« Wir gingen wieder in sein funktionales Büro, das diesmal einen Zuwachs in Gestalt eines Grantley Computers hatte, der auf dem Schreibtisch stand. »Die Bänder.« Er streckte die Hand nach ihnen aus, und ich gab sie ihm. Er steckte das erste in den Recorder neben dem Computer und begann, höchst unsachgemäß an der schreibmaschinenähnlichen Computertaste herumzufummeln. »Seit wann haben Sie diesen Computer?« sagte ich. »Halten Sie den Mund.« Er tippte RUN, und kein Wunder, daß nichts geschah, denn er hatte das Programm aus der Kassette nicht eingegeben. Ich sah zu, wie er sich die Gebrauchsanweisung griff und anfing, sie durchzublättern, und hätten wir alle Zeit der Welt gehabt, so hätte ich ihn ruhig länger schmoren lassen. Aber jede Minute, die ich verlor, 170
bedeutete eine schleppende Minute mehr für Donna und Sarah, deshalb sagte ich: »Sie sollten besser Nachhilfeunterricht nehmen.« »Halten Sie den Mund!« Er warf mir einen entschieden stierähnlichen Blick zu und tippte nochmals RUN. »Ich will Angelo da aus dem Haus haben«, sagte ich. »Deshalb werde ich Ihnen zeigen, wie man die Bänder spielt. Sonst sind wir noch die ganze Nacht hier.« Er hätte viel darum gegeben, mir den Vorteil nicht einzuräumen, doch dann hätte er zuerst seine Hausaufgaben machen sollen. Ich stieß das Band aus, um zu sehen, welche Seite wir hatten, schob es wieder ein und tippte CLOAD ›EPSOM‹. Die Sternchen blinkten in der oberen rechten Ecke auf, während der Computer das Band absuchte, aber schließlich fand er ›EPSOM‹, lud das Epsom-Programm und verkündete READY. »Jetzt tippen Sie RUN und drücken Sie ›ENTER‹«, sagte ich. Gilbert tat es, und sofort fragte der Schirm. WELCHES RENNEN IN EPSOM? TIPPEN SIE DEN NAMEN DES RENNENS UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹. Gilbert tippte DERBY, und der Schirm bat ihn um den getippten Namen des Pferdes. Er tippte ›ANGELO‹ hinein und gab die gleiche Art von Phantasieantworten wie vorher schon Ted Pitts und ich. Angelos Gewinnfaktor war 46, was ein Höchstwert gewesen sein muß. Es verriet außerdem ziemlich viel über Gilberts Einschätzung seines Sohnes. »Wie kriegt man Ascot?« sagte er. Ich stieß das Band aus und legte die erste Seite von allen ein. Tippte CLOAD ›Ascot‹, drückte ›ENTER‹ und wartete auf READY. 171
»Tippen Sie RUN, drücken Sie ›ENTER‹«, sagte ich. Er machte es und bekam augenblicklich WELCHES RENNEN IN ASCOT? TIPPEN SIE DEN NAMEN DES RENNENS UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹. Er tippte gold cup und sah ganz bezaubert von den darauf folgenden Fragen aus; und ich fand, er hatte lange genug damit gespielt. »Rufen Sie Angelo an«, sagte ich. »Sie müssen doch überzeugt sein, daß jetzt alles seine Richtigkeit hat.« »Warten Sie«, sagte er mit schwerer Stimme. »Ich probiere alle Bänder aus. Ich traue Ihnen nicht. Angelo bestand darauf, daß ich Ihnen nicht trauen sollte.« Ich zuckte die Achseln. »Testen Sie, was Sie wollen.« Er probierte ein oder zwei Programme auf jeder Seite und begriff nach und nach, daß CLOAD plus die ersten fünf Buchstaben der gewünschten Rennbahn, in Anführungszeichen gesetzt, den Sesam öffnete. »Na schön«, sagte ich schließlich. »Jetzt rufen Sie Angelo an. Sie können die Programme spielen, so oft Sie wollen, wenn ich weg bin.« Er fand keinen Grund mehr, es hinauszuschieben. Mit einem starren Blick, in den seine angeborene Arroganz schon wieder zurückkehrte, ergriff er einen Telefonhörer, konsultierte einen Notizblock daneben und wählte die Nummer. Wenig überraschend kam er nicht durch. Er wählte erneut. Dann ungeduldig noch einmal. Dann versuchte er leise fluchend ein anderes Telefon mit dem gleichen negativen Ergebnis. »Was ist denn?« sagte ich. »Da kommt kein Klingelzeichen.« 172
»Sie müssen sich verwählt haben«, sagte ich. »Ich hab’ die Nummer hier.« Ich kramte in der Jackentasche nach meinem Adreßbuch und zog eine Schau mit dem Durchblättern der Seiten ab. Kam zu der Nummer. Las sie vor. »Die habe ich gewählt«, sagte Gilbert. »Kann doch nicht sein. Versuchen Sie’s noch mal.« Ich hatte mich nie als einen Schauspieler gesehen, aber es fiel mir ziemlich leicht, mich zu verstellen. Gilbert wählte erneut, stirnrunzelnd, und ich fand es an der Zeit, erregt und besorgt zu sein. »Sie müssen durchkommen«, sagte ich. »Ich habe mich den ganzen Tag geplagt und abgehetzt, um die Bänder herzubringen, und jetzt müssen Sie Angelo anrufen, er muß von meiner Frau weg.« An Befehlserfahrung besaß er harte Jahre Vorsprung, aber andererseits war ich auch daran gewöhnt, über listige Gegner gebieten zu müssen, und als ich einen Schritt auf ihn zu machte, war uns beiden ersichtlich, daß ich körperlich größer und besser in Form und ganz entschieden stärker war. Er sagte hastig: »Ich versuch’s über das Amt«, und ich zappelte und wütete in gespielter Besorgnis um ihn herum, während die Telefonistin sich vergebens bemühte und durchgab, der Anschluß sei gestört. »Aber das geht doch nicht«, schrie ich. »Sie müssen Angelo anrufen.« Harry Gilbert starrte mich nur an; er wußte, es war unmöglich. Ich dämpfte die Lautstärke ein wenig, sah jedoch so zornig drein wie ich konnte und sagte: »Wir müssen hinfahren.« »Aber Angelo wollte …« 173
»Mir ist völlig wurscht, was Angelo gewollt hat«, sagte ich mit Nachdruck. »Er wird das Haus nicht verlassen, ehe er weiß, daß Sie die Bänder haben, und das können Sie ihm doch scheinbar jetzt nicht sagen. Also müssen wir, verdammt noch mal, zu ihm. Und ich habe diese ganze Trödelei restlos satt.« »Sie können fahren«, sagte Gilbert. »Ich komme nicht mit.« »Und ob Sie das tun. Ich marschiere doch nicht allein zu dem Haus, wenn Angelo mit der Pistole drin ist. Er wollte, daß ich Ihnen die Bänder gebe, und das habe ich getan, und Sie müssen mit mir kommen und es ihm sagen. Und ich verspreche Ihnen«, sagte ich drohend, langsam heimisch in der Rolle, »daß ich Sie mitnehme, so oder so. Bewußtlos oder gefesselt oder einfach ruhig vorne im Wagen neben mir. Denn Sie sind der einzige, auf den Angelo hören wird.« Ich schnappte mir die neben dem Computer liegenden Kassetten. »Wenn Sie diese Bänder zurückhaben wollen, fahren Sie mit.« Er erklärte sich zum Mitkommen bereit. Er hatte keine große Wahl. Ich zog die Kassettenhüllen aus meiner Tasche und zeigte ihm die Etiketts, Oklahoma, The King and I, West Side Story. Dann stieß ich die Kassette aus, die noch im Recorder war, und steckte alle drei Bänder in ihre Hüllen. »Und die nehmen wir mit«, sagte ich, »als Beweis für Angelo, daß Sie sie haben.« Auch damit war er einverstanden. Er ging mit mir hinaus zu meinem Wagen, wobei er die Haustür hinter sich zuschlug, und setzte sich auf den Beifahrersitz. »Die Bänder nehme ich«, sagte er. Ich legte sie indessen außerhalb seiner direkten Reichweite auf das Handschuhfach und erklärte ihm, er könne sie haben, wenn wir nach Norwich kämen. 174
Es war eine seltsame Reise. Er war ein viel zu starker Mensch, als daß ich normalerweise daran gedacht hätte, mich gegen ihn zu stellen, doch ich machte die Entdeckung, daß ich mich selbst wahrscheinlich immer für viel schwächer gehalten hatte, als ich war. Mein ganzes Leben lang hatte ich gewaltigen Respekt vor Oberen gehabt; als Schüler, als Student, als Lehrer. Selbst wenn ich anderer Meinung war, Verachtung empfand oder mich auflehnte, hatte ich nie jemanden zu besiegen versucht. Man konnte mit Leichtigkeit aus der Schule und aus dem College und aus den besseren Jobs in der Physik hinausgeworfen werden. Harry Gilbert konnte mich aus nichts hinauswerfen, und vielleicht war das der Unterschied. Ich konnte seinem Überlegenheitsgefühl entgegentreten, ohne davon eingeschüchtert zu sein. Ich konnte meinen Grips und meine Muskeln gebrauchen, um ihn dahin zu bringen, das zu tun, was ich wollte. Es war ein starker Tobak. Muß aufpassen, überlegte ich, daß ich selber keinen Größenwahn entwickelte. Angelo, dachte ich plötzlich, fühlt sich genau wie ich. Fühlt das Öffnen der Flügel innerer Kraft. Denkt, daß er mehr erreichen kann, als ihm klar war. Sieht, daß seine Welt nicht so beengend ist, wie er geglaubt hat. Auch Angelo war dabei, zu einer neuen Auffassung seiner Fähigkeiten zu gelangen … aber in ihm gab es keine Bremsen. »Da ist noch jemand bei Angelo«, sagte ich. »Meine Frau hat ›sie‹ gesagt.« Ich sprach neutral, ohne Aggression. Gilbert schwieg dumpf. »Als Angelo in mein Haus kam«, sagte ich, »war auch jemand bei ihm. Angelo im Aussehen sehr ähnlich. Tat, was Angelo ihm befahl.« 175
Nach einer Pause zuckte Gilbert die Achseln und sagte: »Eddy. Angelos Cousin. Ihre Mütter waren Zwillinge.« »Italienerinnen?« fragte ich. Wieder eine Pause. Dann: »Wir sind alle italienischer Abstammung.« »Aber in England geboren?« »Ja. Warum fragen Sie?« Ich seufzte. »Bloß um uns die Zeit zu vertreiben.« Er grunzte, aber nach und nach legte sich ein gut Teil seines Unmuts über mein Verhalten. Ich hatte keine Ahnung, ob er es für gerechtfertigt hielt oder nicht. Besorgnis meinerseits brauchte nicht gespielt zu werden. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte, wenn rote Ampeln uns aufhielten, und lange Transporter verfluchte, die mein Fortkommen verzögerten. Bis wir nach Norwich kamen, würden die vier Stunden überschritten sein, auf die ich Angelo vorbereitet hatte, und wenn ich eins nicht wollte, dann, daß Angelo vorzeitig in Wut geriet. »Werden Sie Mrs. O’Rorke irgend etwas über diese Bänder bezahlen?« sagte ich. Eine Pause. »Nein.« »Auch nicht, ohne daß Angelo es weiß?« Er warf mir einen funkelnden Seitenblick zu. »Angelo tut, was ich ihm sage. Ob ich Mrs. O’Rorke bezahle oder nicht, hat nichts mit ihm zu tun.« Wenn er das alles glaubte, dachte ich, gab er sich Illusionen hin. Oder vielleicht wollte er weiterhin glauben, was bisher gestimmt hatte. Vielleicht sah er wirklich nicht, daß die Zeit seiner Herrschaft über Angelo sich rasch dem Ende näherte. Schon gut, dachte ich, wenn sie noch zwei Stunden dauert. 176
10 Der lange Nachmittag wurde zum Abend, bis wir Norwich erreichten, wenn es auch noch eine weitere Stunde nicht völlig dunkel sein würde. Ich fuhr in die Straße der Keithlys aus der Richtung, die Gilbert dem Haus am nächsten bringen würde, wenn ich am Bordstein hielt: Angelo hatte meinen Wagen am Haus seines Vaters gesehen, wie ich seinen gesehen hatte, und der Anblick würde ihn alarmieren. »Steigen Sie bitte aus, sowie ich anhalte«, sagte ich zu Gilbert. »Damit Angelo Sie sehen kann.« Er grunzte zwar, doch als ich vorfuhr, öffnete er die Tür, wie ich angeregt hatte, und gewährte jedem etwaigen Beobachter hinter den Gardinen volle Sicht auf seinen schwerfälligen Ausstieg aus dem Wagen. »Warten Sie«, sagte ich, trat auf meiner Seite heraus und redete mit ihm über das Wagendach hinweg. »Nehmen Sie die Bänder.« Ich langte über das Wagendach und gab sie ihm. »Halten Sie sie hoch«, sagte ich, »damit Angelo sie sehen kann.« »Sie geben zu viele Befehle.« »Ich traue Ihrem Sohn nicht mehr, als er mir traut.« Er starrte mich dickköpfig mit voll wiederhergestelltem Selbstbewußtsein an, drehte sich aber tatsächlich um und zeigte die Kassetten, indem er sie hob, zum Haus hm. Hinter seinem Rücken beugte ich mich runter und ergriff das handtuchumwickelte Gewehr. Ich hielt es längs, mit dem Schaft an meiner Brust und so, daß die Vorderseite meiner Jacke darüber fiel. 177
Angelo öffnete die Tür und blieb hinter ihr in Deckung. »Gehen Sie rein«, sagte ich zu Gilben. »Die Straße ist voller Leute, die durch die Gardinen gaffen.« Er warf einen unwillkürlich bestürzten Blick um sich, wer ihn bespitzeln könnte, und ging auf seinen Sohn zu. Ich glitt rasch um den Wagen herum und blieb so dicht hinter ihm, daß ich ihm fast in die Hacken trat. »Erklären Sie«, sagte ich drängend. Sein Kopf hob sich unheilvoll, aber er sagte laut zu Angelo: »Euer Telefon ist gestört.« »Was?« rief Angelo und öffnete die Tür ein Stück weiter. »Das kann nicht sein.« Gilbert sagte ungeduldig: »Es ist so. Sei kein Idiot. Weshalb würde ich sonst extra herkommen?« Angelo wandte sich von der Tür weg und stelzte ins Wohnzimmer, wo sich das Telefon befand. Ich hörte, wie er den Hörer abnahm, an der Gabel rüttelte und ihn wieder hinknallte. »Er hat aber die Bänder gebracht«, sagte Gilbert, indem er zur Wohnzimmertür trat und die bunten Hüllen vorwies. »Ich habe sie ausprobiert. Allesamt. Diesmal sind es die richtigen.« »Komm du hier rein, Mißgeburt«, rief Angelo. Ich lehnte das umwickelte Gewehr mit dem Lauf nach unten zum Teppich an eine kleine Kommode, die in Reichweite neben der Wohnzimmertür stand, und zeigte mich am Eingang. Die Wohnzimmermöbel waren alle schief gerückt. Sarah und Donna saßen Rücken an Rücken in der Raummitte, die Handgelenke und Knöchel an die Armlehnen und Beine zweier Stühle aus dem Eßzimmer geschnallt. Auf 178
der einen Seite stand Angelo, mit der Walther in der Hand, und hinter den beiden Frauen sein Ebenbild Eddie. Gläser und Teller waren verstreut, und es roch nach langen Stunden voller Zigarettenrauch. Sarah saß mit dem Gesicht zu mir. Wir sahen uns mit einem merkwürdigen Mangel an Gefühl an, wobei ich fast abwesend die dunklen Ränder unter ihren Augen wahrnahm, das erschöpfte Durchhängen ihres Körpers, die Anspannung und Qual um ihren Mund. Sie sagte nichts. Zweifellos ging ihr durch den Kopf, daß ich zu wenig Sorge zeigte und wie üblich zu ruhig war: Die Botschaft in ihrem Gesicht war nicht Liebe und Erleichterung, sondern Erleichterung und Abscheu. »Fahren Sie nach Hause«, sagte ich müde zu Angelo. »Sie haben, was Sie wollten.« Ich betete, daß er fuhr. Daß er zufrieden war, vernünftig war, sich von seinem Vater lenken ließ, annähernd normal war. Harry Gilbert drehte sich von seinem Sohn langsam wieder zu mir um und sagte: »Das war’s dann, Angelo. Wir hauen am besten ab.« »Nein«, sagte Angelo. Gilbert stockte. »Was hast du gesagt?« »Ich sagte nein«, versetzte Angelo. »Diese Mißgeburt wird bezahlen für den ganzen Ärger, den er mir aufgehalst hat. Komm her, Mißgeburt.« Gilbert sagte: »Nein, Angelo.« Er winkte nach den Frauen. »Das hier ist genug.« Angelo richtete seine Pistole mit ihrem bauchigen Schalldämpfer direkt auf Donnas Kopf. »Die da«, sagte er 179
bösartig, »hat mir stundenlang die Ohren vollgeschrien, daß sie mich anzeigen würden, das dumme kleine Stück.« »Sie werden’s nicht tun«, sagte ich rasch. »Allerdings nicht.« Selbst für Gilbert war die Bedeutung klar. Gilbert machte Gebärden äußerster Mißbilligung und erwachter Furcht und sagte: »Leg die Waffe hin, Angelo, leg sie hin.« Seine Stimme donnerte im elterlichen Befehl, und aus langer Gewohnheit schickte Angelo sich zu gehorchen an. Noch in derselben Sekunde änderte er sichtlich seinen Entschluß; und für mich, wußte ich, hieß es jetzt oder nie. Ich streckte den rechten Arm aus, stieß meine Hand in das Handtuch und umklammert den Schaft des Gewehrs. Schwenkte das Handtuch vom Lauf und stand in der gleichen fließenden Bewegung im Eingang, den Lauf direkt auf Angelo gerichtet und mit einem Klicken das Gewehr entsichernd. »Lassen Sie sie fallen«, sagte ich. Sie waren alle baß erstaunt, aber Angelo vielleicht am meisten, weil ich ihm zweimal den gleichen Streich gespielt hatte. Die drei Männer standen wie erstarrt, und ich schaute Sarah nicht an, nicht direkt. »Lassen Sie die Pistole fallen«, sagte ich. Er zielte immer noch damit auf Donna. Er konnte sie nicht fallen lassen. Nicht so viel Gesicht verlieren. »Ich erschieße Sie«, sagte ich. Selbst darauf zögerte er. Ich schwenkte den Lauf zur Decke und zog den Hahn durch. Der Lärm krachte in dem kleinen Raum. Putzbrocken fielen von der Decke. Der scharfe Geruch von Kordit gewann die Oberhand 180
über alte Zigaretten, und alle Münder klafften, fischähnlich. Das Gewehr zielte wieder auf sein Herz, den nächsten Schuß schon im Verschluß, bevor er sich nur einen Fingerbreit gerührt hatte, und er blickte es ungläubig entgeistert an. »Werfen Sie die Pistole hin«, sagte ich. »Weg damit.« Er war immer noch unschlüssig. Ich werde ihn erschießen müssen, dachte ich verzweifelt. Ich will es nicht. Warum wirft er das verdammte Ding nicht hin, er kann doch nichts gewinnen. Die Luft schien noch vom Nachhall der Explosion zu schwirren, aber Sarah sprach ins Stille hinein. Mit einer Art mürrischer Wildheit, die anscheinend ebensosehr auf mich ging wie auf Angelo, sagte sie laut: »Er hat bei den Olympischen Spielen geschossen.« In Angelos Augen schimmerte Zweifel auf. »Werfen Sie die Pistole hin«, sagte ich ruhig, »oder ich schieße Ihnen in die Hand.« Angelo ließ sie fallen. Sein Gesicht war voller Zorn und Haß, und ich hielt ihn für fähig, sich ungeachtet der Konsequenzen auf mich zu stürzen. Ich sah ihn gleichmütig an, ohne Triumph, ohne irgend etwas zu zeigen, das eine Explosion auslösen konnte. »Sie haben die Kassetten«, sagte ich. »Steigen Sie ins Auto, alle drei, und verschwinden Sie aus meinem Leben. Ich kann Ihre Gesichter nicht mehr sehen.« Ich trat einen Schritt zurück in die Halle und nickte mit dem Kopf zur Haustür. »Raus hier«, sagte ich. »Einer nach dem anderen. Angelo zuerst.« Er kam auf mich zu mit seinen dunklen Augen, wie Gruben in dem olivfarbenen Gesicht, das Licht zu 181
schwach jetzt, um ihnen tückisches Leben zu verleihen. Ich stellte mich einige Schritte weiter zurück und verfolgte seinen Gang zur Vordertür, wie schon in meinem Haus, mit dem schwarzen Gewehrlauf. »Ich erwische dich«, sagte er. Ich antwortete nicht. Er riß die Tür mit der Gewalt der Wut auf und trat hinaus. »Jetzt Sie«, sagte ich zu Harry Gilbert. Er war fast so ärgerlich wie sein Sohn, aber falls ich es mir nicht nur einbildete, schien ihm doch auch klar zu sein, daß ich seinen Sohn gestoppt hatte, als er es nicht konnte, und daß das gut gewesen war. Er folgte Angelo hinaus auf die Einfahrt, und ich sah, wie beide die Türen von Angelos Wagen öffneten. »Jetzt Sie«, sagte ich zu Eddy. »Heben Sie Angelos Waffe auf. Fassen Sie sie am Schalldämpfer an. Wissen Sie, wie man sie entlädt?« Eddy, das Doppel, nickte unglücklich. »Dann tun Sie’s«, sagte ich. »Ganz, ganz vorsichtig.« Er blickte auf das Gewehr, auf Angelo, der ins Auto stieg, und kippte die Patronen aus dem Ladestreifen und ließ sie auf den Boden kullern. »Gut«, sagte ich. »Nehmen Sie die Pistole mit.« Ich fuchtelte mit dem Gewehrlauf und schwenkte den Kopf nach der offenen Haustür, und von den dreien war es Eddy, der am wenigsten widerstrebend und am schnellsten fortging. Vom Fenster aus beobachtete ich, wie Angelo den Wagen anließ, den Rückwärtsgang einwarf und unsanft auf die Straße setzte. Dort rammte er absichtlich meinen Wagen, wobei er den eigenen hinteren Kotflügel 182
beschädigte, und gab die Straße hinunter Gas, als wollte er seine überlegene Männlichkeit unter Beweis stellen. Mit einem Gefühl entsetzlicher Anspannung schloß ich die Haustür und ging ins Wohnzimmer. Trat zu Sarah, blickte auf die Gummiriemen, die ihre Handgelenke festhielten, und schnallte sie auf. Löste die Riemen um ihre Knöchel. Dann die von Donna. Donna fing an zu weinen. Sarah schob sich steif von dem Stuhl herunter und kippte auf die weicheren Konturen des Sofas. »Bist du dir darüber klar, wie lange wir hier gesessen haben?« fragte sie bitter. »Und ehe du, verdammt noch mal, fragst, ja, sie haben uns ab und zu losgebunden, damit wir ins Bad konnten.« »Und essen auch?« »Ich hasse dich«, sagte sie. »Ich wollte es wirklich wissen.« »Ja, essen auch. Zweimal. Er zwang mich zu kochen.« Donna sagte unter Schluchzen: »Es war furchtbar. Furchtbar. Du hast keine Ahnung.« »Sie haben doch nicht …?« setzte ich besorgt an. »Sie haben nicht«, sagte Sarah rundheraus. »Sie haben nur gespottet.« »Abscheulich«, sagte Donna. »Trullen haben sie uns genannt.« Sie humpelte über den Teppich und ließ sich behutsam in einen Sessel sinken. »Mir tut alles weh.« Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich dachte an Angelos Bezeichnung ›Heulsuse‹ und verscheuchte sie schnell. »Hört zu«, sagte ich, »ich weiß, daß euch nicht danach zumute ist, aber mir wäre sehr viel wohler, wenn ihr ein 183
paar Sachen in einen Koffer packen würdet und wir alle dieses Haus verließen.« Donna schüttelte hilflos den Kopf, und Sarah sagte meuternd: »Weshalb?« »Angelo wollte nicht weg. Ihr habt ihn gesehen. Angenommen, er käme zurück? Wenn er glaubt, wir seien nicht auf der Hut … könnte er.« Der Gedanke erschreckte sie so sehr wie mich, und außerdem ärgerte er Sarah. »Warum hast du ihnen die Pistole gegeben?« wollte sie wissen. »Das war doch beschränkt. Du bist ein solcher Dummkopf.« »Kommt ihr mit?« »Du kannst doch nicht erwarten, daß wir …« wimmerte Donna. Ich sagte zu Sarah: »Ich muß ein Telefongespräch führen. Von hier aus geht es nicht.« Ich deutete auf das stumme Telefon. »Deshalb fahre ich jetzt weg. Wollt ihr mitkommen oder nicht?« Sarah schätzte das rasch ab und sagte ja, sie käme mit, und ungeachtet der Proteste Donnas drängte sie sie stur nach oben. Sie kamen wenige Minuten später beide mit einer Reisetasche herunter, und mir fiel auf, daß Sarah etwas Lippenstift aufgelegt hatte. Ich lächelte sie an, weil etwas von der alten Freude an ihrem Anblick wieder hochkam, und sie blickte erstaunt und verwirrt drein. »Also kommt«, sagte ich und nahm ihnen die Reisetaschen ab, um sie in den Kofferraum zu stellen. »Nichts wie weg.« Ich holte das Gewehr, wiederum lose ins Handtuch gewickelt, um die Nachbarn nicht durcheinanderzubringen, und verstaute es im Koffer. 184
Überzeugte mich, daß Donna die Türschlüssel eingesteckt hatte; schloß die Haustür; fuhr davon. »Wo wollen wir hm?« sagte Sarah. »Wohin möchtet ihr?« »Was ist denn mit Geld?« »Kreditkarten«, sagte ich. Wir fuhren ein kurzes Stück in eine Stille, die nur unterbrochen wurde von Donnas gelegentlichem Schnüffeln und Schluchzen, während überall jetzt Lichter brannten und die Dunkelheit sich endgültig herabsenkte. Ich hielt neben einer Telefonzelle und ließ mich auf Empfängerkosten mit der Polizei Suffolk verbinden. »Ist Detective Chief Superintendent Irestone da?« sagte ich. Aussichtslose Frage, aber mußte gestellt werden. »Ihr Name, Sir?« »Jonathan Derry.« »Einen Moment.« Ich wartete das übliche Gemurmel und Geklicke ab, und dann sagte eine Stimme, die immer noch nicht Irestone gehörte: »Mr. Derry, Chief Superintendent Irestone hinterließ die Weisung, falls Sie noch mal anriefen, sollte Ihre Nachricht vollständig notiert und direkt an ihn weitergeleitet werden. Chief Superintendent Irestone bat mich zu erklären, daß er infolge von … äh … Verständigungsschwierigkeiten nicht wußte, daß Sie ihn so oft zu erreichen versucht haben, nicht bis heute nachmittag. Ich bin Detective Inspector Robson. Ich war zusammen mit dem Chief Superintendent bei Ihnen, wenn Sie sich vielleicht erinnern.« »Ja«, sagte ich. Ein Mann von knapp vierzig, blond, mit rötlicher Haut. »Würden Sie mir bitte sagen, weshalb Sie anrufen, Sir?« 185
»Machen Sie Notizen?« »Ja, Sir. Und eine Bandaufnahme.« »Gut. Also – der Mann, der mit einer Pistole in mein Haus kam, heißt Angelo Gilbert. Sein Vater ist Harry Gilbert, der in ganz Essex und in Nordost-London Bingohallen betreibt. Der Mann, der bei Angelo war, ist sein Cousin Eddy – seinen Nachnamen weiß ich nicht. Er tut, was Angelo ihm sagt.« Ich hielt inne, und Inspector Robson fragte: »Ist das alles gewesen, Sir?« »Nein, war es nicht. In diesem Moment sind die drei zusammen in Angelos Wagen aus Richtung Norwich unterwegs.« Ich sagte ihm die Marke, die Farbe, die Nummer und daß er einen eingedellten linken hinteren Kotflügel hatte. »Sie fahren wahrscheinlich zu Harry Gilberts Haus in Welwyn Garden City. Ich glaube, daß Angelo da auch wohnt, aber vielleicht nicht Eddy.« Ich nannte ihm die Anschrift. »Sie müßten in etwa eineinviertel bis anderthalb Stunden dort ankommen. In dem Wagen befindet sich eine Walther.22-Pistole mit Schalldämpfer. Sie mag geladen sein oder auch nicht. Es könnte die Pistole sein, mit der Angelo mich bedroht hat, oder auch nicht, aber sie sieht genauso aus. Es könnte die Pistole sein, die Christopher Norwood getötet hat.« »Das ist sehr nützlich, Sir«, sagte Robson. »Eine Sache noch …« »Ja?« »Ich glaube nicht, daß Harry Gilbert irgend etwas über Chris Norwoods Tod weiß. Ich meine, er weiß, glaube ich, nicht einmal, daß der Mann tot ist. Wenn Sie Angelo verhaften wollen, wird Harry Gilbert nicht wissen, warum.« 186
»Danke, Sir.« »Das ist alles«, sagte ich. »Ähm«, sagte er, »der Chief Superintendent wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.« »In Ordnung, aber –« Ich zögerte. »Ja, Sir?« »Ich hätte gern gewußt …« »Augenblick mal, Sir«, unterbrach er und ließ mich während eines langwierigen, unverständlichen Hintergrundgesprächs an der Strippe warten. »Entschuldigen Sie, Sir. Was sagten Sie?« »Erinnern Sie sich, daß ich Angelo ein paar Kassetten mit Computerspielen drauf geschickt hatte?« »Ja. Wir fuhren nach Cambridge zum Hauptpostamt und informierten den Mann, der dafür zuständig war, postlagernde Briefe auszugeben, aber leider ging er in seine Teepause, ohne irgend jemand was davon zu sagen, und in diesem kurzen Zeitraum wurde Ihr Päckchen abgeholt. Ein Lehrling übergab es. Wir kamen erst dahinter, als es zu spät war. Es war … zum Auswachsen.« »Mm«, sagte ich. »Nun, Angelo hat mich noch einmal bedroht und die echten Kassetten verlangt, und ich habe sie ihm gerade gegeben. Nur …« »Nur was, Sir?« »Nur werden sie sie auf ihrem Computer nicht zum Laufen kriegen. Ich denke mir, wenn sie heimkommen, probieren sie vielleicht die Kassetten gleich, und wenn sie merken, daß es nicht klappt, könnten sie … na, sie könnten losziehen, um mich zu suchen. Ich meine –« »Ich weiß genau, was Sie meinen«, sagte er trocken. »Deshalb, äh, hätte ich gern gewußt, ob Sie vorhaben, noch heute abend etwas wegen Angelo zu unternehmen. 187
Und ob Sie denken, daß genug vorliegt, um ihn festzuhalten.« »Die Weisung ist schon raus«, sagte er. »Er wird heute abend festgenommen sowie er das Haus in Welwyn erreicht. Wir haben einige Fingerabdrücke zum Vergleich … und ein paar Mädchen, die zwei Männer in Norwood ankommen sahen. Also keine Sorge, wenn wir ihn erst haben, lassen wir ihn nicht weg.« »Könnte ich anrufen, um mich zu vergewissern?« »Ja.« Er gab mir eine neue Nummer. »Wenden Sie sich dahin. Ich hinterlasse eine Nachricht. Sie werden sie sofort bekommen.« »Danke«, sagte ich herzlich, »danke sehr.« »Mr. Derry?« »Ja?« »Was stimmt denn diesmal mit den Kassetten nicht?« »Ach, ich habe Magnete in die Hüllen geklebt.« Er lachte. »Wir sehen uns vielleicht später noch«, sagte er. »Und danke. Besten Dank.« Ich legte lächelnd den Hörer auf, als ich an die drei starken Magnadur-Magneten dachte, die die Programme auf den Kassetten verzerren würden. Die drei Dauermagneten, die schwarz und flach waren; fünf Zentimeter lang, zwei Zentimeter breit, einen halben Zentimeter tief. Ich hatte einen in die Innenseite jeder Kassettenhülle geklebt, flach auf den Boden, schwarz wie der Kunststoff, als wären sie ein Teil der Hülle selbst. Ich hatte die Kassetten und die Hüllen getrennt zu Harry Gilbert gebracht – die Kassetten in der einen Tasche, die Hüllen in einer anderen – und sie erst, nachdem er die 188
Aufnahme gespielt hatte, miteinander vermählt. Magnetbänder zwischen solchen Magneten einzuklemmen war, als ob man eine Tafel grob mit einem nassen Schwamm abwischte: Spuren von dem, was aufgezeichnet war, würden bleiben, aber nicht genug, das einen Sinn ergab. Es konnte sein, daß Angelo erst zu Hause merkte, was ich getan hatte, da die Magneten aussahen, als gehörten sie dazu. Es konnte aber auch nicht sein. Ich fuhr müde in Richtung Heimat. Ich schien seit einer Ewigkeit zu fahren. Es war ein sehr langer Tag gewesen. Merkwürdiger Gedanke, daß ich an diesem Morgen erst bei Ted Pitts aufgebrochen war. Die Frauen schliefen beide ein, während die Meilen abrollten, hielten den tiefen Schlaf der Befreiung und Erschöpfung. Ich fragte mich flüchtig, was in der Zukunft aus uns werden würde, doch hauptsächlich dachte ich ans Fahren und daran, meine Augen offenzuhalten. Wir stiegen in einem Motel am Stadtrand von London ab und schliefen wie tot. Der Weckruf, um den ich gebeten hatte, riß mich um sieben Uhr früh aus der Vorhölle, und gähnend wie ein großer weißer Hai ließ ich mich mit der Nummer verbinden, die Inspector Robson mir gegeben hatte. »Jonathan Derry«, sagte ich. »Bin ich zu früh?« Es war eine Mädchenstimme, die antwortete, frisch und nichtamtlich. »Nein, es ist nicht zu früh«, sagte sie. »John Robson bat mich, Ihnen mitzuteilen, daß Angelo Gilbert und sein Cousin Eddy in Gewahrsam sind.« »Haben Sie vielen Dank.« 189
»Keine Ursache.« Ich legte mit zusehends leichter werdendem Herzen den Hörer auf und rüttelte Sarah im Nebenbett wach. »Entschuldige«, sagte ich, »aber ich muß um neun in der Schule sein.«
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11 Es kam eine Zeit, in der Sarah wieder arbeiten ging und Donna mit hängendem Kopf bei uns versuchte, die Bedingungen ihres verwüsteten Lebens anzunehmen. Sarahs Umgang mit ihr wurde allmählich weniger beschützerisch und eher normal, und als Donna feststellte, daß sie nicht mehr jede wache Minute verhätschelt und verwöhnt wurde, bekam sie einen Schmollmund anstelle des leidenden Lächelns und fuhr heim. Heim, um ihr Haus zu verkaufen, Peters Versicherungssumme zu beziehen und ihre Bewährungshelferin zu überreden, daß sie Sarahs psychologischen Platz einnahm. An der Oberfläche lief es zwischen mir und Sarah ziemlich so weiter wie bisher: die Höflichkeit, der Mangel an Gefühlskontakt, die täglichen Begegnungen mit Fremden. Sie erwiderte selten meinen Blick und sprach anscheinend nur, wenn es unumgänglich war, doch langsam kam mir zum Bewußtsein, daß der tief verbitterte Zug um ihren Mund, der so auffällig gewesen war vor dem Tag, als wir nach Norwich fuhren, fast verschwunden war. Sie sah sanfter aus, eher so, wie sie einmal gewesen war, und obwohl es ihr Benehmen mir gegenüber nicht verändert zu haben schien, war es doch weniger bedrückend anzusehen. In meinem Inneren hatte sich viel geändert. Ich schien aus einem Käfig herausgetreten zu sein. Ich machte alles mit mehr Selbstvertrauen und größerer Befriedigung. Ich schoß besser. Ich unterrichtete mit Schwung. Ich fand sogar die verdammten Schulhefte weniger mühsam. Ich spürte, daß ich eines gar nicht fernen Tages die sich öffnenden Flügel ausbreiten und fliegen würde. 191
Eines Nachts, als wir im Dunkeln lagen, jeder in seinem frostig separaten Kokon, sagte ich zu Sarah: »Bist du wach?« »Ja.« »Weißt du, daß ich Ende des Schuljahres mit dem Schützenteam nach Kanada gehe?« »Ja.« »Ich komme nicht mit ihnen zurück.« »Wieso nicht?« »Ich fahre in die Vereinigten Staaten. Wahrscheinlich für den Rest der Ferien.« »Aber wozu denn das?« »Um sie zu sehen. Weil ich vielleicht da mal leben möchte.« Sie schwieg eine Zeitlang: Und was sie am Ende sagte, schien nur dunkel irgend etwas mit meinen Plänen zu tun zu haben. »Donna hat viel mit mir geredet, weißt du. Sie hat mir alles von dem Tag erzählt, als sie das Baby entführte.« »Hat sie das?« sagte ich unverbindlich. »Ja. Sie sagte, als sie es da in seinem Kinderwagen liegen sah, befiel sie ein übermächtiger Drang, es aufzunehmen und an sich zu drücken. Und so tat sie es. Sie tat es einfach. Als sie es dann in den Armen hielt, hatte sie ein Gefühl, als ob es ihr gehörte, als ob es ihres sei. Da nahm sie es mit zu ihrem Wagen, der stand da gleich, nur ein paar Schritte weit. Sie legte das Baby neben sich auf den Vordersitz und fuhr davon. Sie wußte nicht, wo sie hin wollte. Sie sagte, es war eine Art Traum, in dem sie endlich das Baby bekommen hatte, nach dem sie sich so lange schon sehnte.« Sie hielt inne. Ich dachte an Ted Pitt’s kleine Töchter 192
und an die schützende Rundung seines Körpers, als er sein Jüngstes umfangen hielt. Ich hätte weinen können für Sarah, für Donna, für alle unfreiwillig unfruchtbaren Eltern. »Sie fuhr eine weite Strecke«, sagte Sarah. »Sie kam ans Meer und hielt dort an. Sie setzte sich mit dem Baby hinten in den Wagen und es war ideal. Sie war vollkommen selig. Es war immer noch wie ein Traum. Und dann wachte das Baby auf.« Sie zögerte. »Ich nehme an, es war hungrig. Zeit für das nächste Stillen. Jedenfalls fing es zu weinen an, und es wollte nicht aufhören. Es weinte und weinte und weinte. Sie sagte, es hat eine Stunde lang geschrien. Der Lärm machte sie verrückt. Sie legte ihm die Hand auf den Mund, und es schrie lauter. Sie versuchte, sein Gesicht an ihre Schulter zu kuscheln, damit es aufhörte, aber es hörte nicht auf. Und dann sah sie, daß seine Windeln schmutzig waren und das braune Zeug war dem Baby am Bein runtergelaufen und hing an ihrem Kleid.« Wieder eine lange Pause, dann Sarahs Stimme: »Sie sagte, sie hätte nicht gewußt, daß Babys so wären. Verheult und schlechtriechend. Sie hätte sich vorgestellt, sie seien süß und würden sie immerzu anlächeln. Sie fing an, das Baby zu hassen statt es zu lieben. Sie sagte, sie hätte es irgendwie voller Wut auf den Rücksitz geworfen, und dann stieg sie aus und ließ es einfach allein. Ging weg. Sie sagte, sie hätte das Baby auf dem ganzen Weg zum Strand schreien hören.« Diesmal dauerte das Schweigen viel länger. »Bist du noch wach?« sagte Sarah. »Ja.« »Ich habe mich jetzt damit abgefunden, daß ich kein Kind bekomme. Es schmerzt mich … aber es ist nicht zu 193
ändern.« Sie zögerte und sagte dann: »Ich habe in den letzten Wochen sehr viel über mich selbst gelernt, durch Donna.« Und ich, dachte ich, durch Angelo. Nach einer weiteren Stille sagte sie: »Bist du immer noch wach?« »Ja.« »Ich verstehe eigentlich nicht, weißt du, was da alles passiert ist. Ich meine, ich weiß zwar, daß dieser abscheuliche Angelo wegen Mordes verhaftet worden ist, das schon, und daß du bei der Polizei gewesen bist, aber du hast mir nie erzählt, worum es eigentlich ging?« »Willst du es ernsthaft wissen?« »Natürlich, sonst hätte ich doch nicht gefragt.« Der vertraute Ton der Ungeduld klang heraus. Sie mußte ihn selbst gehört haben, denn sofort sagte sie leiser: »Ich würde es gern von dir hören. Wirklich gerne.« »Ist gut«, sagte ich, und ich erzählte ihr so ziemlich alles, angefangen von dem Tag, an dem Chris Norwood das Ganze in Gang setzte, indem er Liam O’Rorkes Unterlagen stahl. Ich erzählte ihr die Ereignisse in chronologischer Folge, nicht in der wirren Art und Weise, wie ich sie erfahren hatte, so daß ein klares Muster von Angelos Irrwegen auf der Suche nach den Kassetten zutage trat. Als ich geendigt hatte, sagte sie langsam: »Du hast den ganzen Tag, an dem er uns gefangen hielt, gewußt, daß er ein Mörder war.« »Mm.« »Mein Gott.« Sie zögerte. »Dachtest du nicht, daß er uns umbringen könnte? Donna und mich?« »Ich dachte, er könnte es. Ich dachte, er könnte es 194
jederzeit tun, wenn er erst wußte, daß sein Vater die Kassetten hatte. Ich dachte, er könnte uns alle drei umbringen, wenn ihm danach war. Ich wußte es nicht genau … konnte aber nichts riskieren.« Ein langes Schweigen. Dann sagte sie: »Wenn ich zurückschaue, glaube ich, er hatte es vor. Dinge, die er sagte …« Sie unterbrach sich. »Ich war froh, dich zu sehen.« »Und böse.« »Ja, böse. Du hattest so lange gebraucht … und Angelo war so verdammt beängstigend.« »Ich weiß.« »Ich hörte die Gewehrschüsse. Ich war gerade in der Küche beim Kochen.« »Ich hatte Angst, du würdest Angelo sagen, daß du sie gehört hattest.« »Ich redete mit ihm nur, wenn ich’s unbedingt mußte. Ich verabscheute ihn. Er war so arrogant.« »Du hast ihn erschüttert«, erinnerte ich, »als du ihm sagtest, daß ich bei den Spielen geschossen habe. Damit war die Sache entschieden.« »Ich wollte nur … seinem Ego einen Tritt versetzen.« Ich lächelte in der Dunkelheit. Angelos Ego hatte ziemliche Prügel bezogen von den Derrys. »Ist dir bewußt«, sagte ich, »daß wir uns seit Monaten nicht so unterhalten haben?« »Es ist so viel passiert. Und ich empfinde … anders.« Geht nichts über einen Mörder, dachte ich, zur Veränderung des eigenen Weltbildes. Er hatte uns beiden etwas Gutes getan. »Möchtest du denn mitkommen«, sagte ich, »… nach Amerika?« 195
Nach Amerika. Um zusammen weiterzumachen. Es ein wenig länger zu versuchen. Ich wußte eigentlich nicht, was ich nun wollte: ausbrechen, mich lösen, neu anfangen, wieder heiraten, Kinder haben, oder aus der alten erloschenen Liebe das Bestmögliche machen, Engagement in die wackligen Grundmauern gießen, sie fest wiederaufbauen. Es war Sarah, dachte ich, die es würde entscheiden müssen. »Möchtest du, daß wir zusammenbleiben?« fragte ich. »Du hast an Scheidung gedacht?« »Du denn nicht?« »Doch.« Ich hörte ihr Seufzen. »Oft in letzter Zeit.« »Geschieden sein ist ziemlich endgültig«, sagte ich. »Was sonst?« »Ein wenig warten«, sagte ich langsam. »Sehen, wie es geht. Sehen, was wir beide wirklich wollen. Weiter miteinander reden.« »In Ordnung«, sagte sie. »Das genügt.«
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ZWISCHENAKT Brief von Vince Akkerton an Jonathan Derry Angel Kitchens, Newmarket. 12. Juli Lieber Mr. Derry, erinnern Sie sich, wie Sie an dem Tag im Mai nach Chris Norwood gefragt haben? Ich weiß nicht, ob Sie an den Computerbändern, von denen Sie sprachen, noch interessiert sind, aber sie sind hier in der Firma aufgetaucht. Wir hatten den Raum zu leeren, in dem wir uns umziehen, weil er neu gestrichen werden sollte, verstehen Sie, und da fand sich diese Tasche, die partout keinem gehörte. Also sah ich mal rein, und da war ein Haufen alter Zettel und drei Kassetten. Ich dachte, die spiele ich mal auf meinem Bandgerät, denn auf den Etiketts stand nicht, was drauf war, aber alles, was sie von sich gaben, war ein quieksendes Geräusch. Nun ja, ein Kumpel von mir, der es hörte, meinte entgegen meinem Vorsatz, ich solle sie nicht wegschmeißen. Das ist Computerrauschen, sagte er. Also brachte ich die Bänder zu Janet rein, um zu sehen, was denn sie damit anfangen könnte, aber sie sagte, die Firma hat ihren alten Computer abgestoßen, weil er nicht groß genug war für seine ganzen Aufgaben, und jetzt haben sie ein Rechenzentrum oder so was mit Magnetplattensystem, sagte sie, und das arbeitet nicht mit Kassetten. Jedenfalls, da fielen Sie mir aus heiterem Himmel ein, und da ich sah, daß ich noch Ihre Adresse hatte, dachte 197
ich, ich frage Sie mal, ob das wohl die Sachen sind, von denen Sie gesprochen haben. Die Zettel habe ich auf den Müll geworfen und damit basta, sie sind weg, aber wenn Sie diese Kassetten wollen, schicken Sie mir einen Zehner für meine Mühe, und Sie können sie haben. Ihr ergebener Vince Akkerton Schreiben der Nachlaßverwalter O’Rorke an Jonathan Derry.
von
Mrs. Maureen
1. September Sehr geehrter Herr, wir senden Ihnen den Brief zurück, den Sie an Mrs. O’Rorke geschrieben haben, einschließlich der von Ihnen beigelegten drei Kassetten. Leider war Mrs. O’Rorke, drei Tage bevor Ihr Geschenk abgeschickt wurde, friedlich in ihrem Heim entschlafen. Nach unserer Meinung sollte daher der Inhalt des Päckchens als Ihr Eigentum betrachtet werden, und wir senden es hiermit zurück. Wir verbleiben mit vorzüglicher Hochachtung, Jones, Pearce und Block, Rechtsanwälte. Brief vom Planungsausschuß Ostkalifornien an Jonathan Derry.
der
Universität
London 20. Oktober Lieber Mr. Derry, im Anschluß an unsere Unterredung in London vergangene Woche haben wir die Freude, Ihnen ein 198
dreijähriges Lehramt im Fachbereich Physik anbieten zu können. Ihr Gehalt für das erste Jahr wird Stufe B sein (anliegend) und danach überprüft werden. Die Kündigungsfrist beträgt ein volles Semester auf beiden Seiten. Wir gehen davon aus, daß Sie die Stelle am 1. Januar nächsten Jahres übernehmen können, und wir erwarten Ihre Bestätigung, daß Sie das Angebot annehmen. Weitere Einzelheiten und Weisungen werden Ihnen nach Empfang Ihrer Zusage zugeschickt. Willkommen an der Universität! Lance K. Barowska, D. Sc. Planungsdirektor, Naturw. Fakultät, Universität Ostkalifornien Brief von Harry Gilbert an Marty Goldman Ltd., Buchmacher 15. Oktober Lieber Marty, in Anbetracht dessen, was geschehen ist, bitte ich Sie, mich von der Übertragung zu entbinden, die wir vereinbart hatten. Ich habe nicht den Mut, alter Freund, noch mehr Königreiche zu gründen. Jetzt, wo Angelo lebenslang im Gefängnis sitzt, hat es keinen Zweck, daß ich Ihre ganzen Wettbüros kaufe. Es ist Ihnen natürlich nicht neu, daß sie für ihn waren – daß er sie jedenfalls leiten sollte. Ich weiß, daß Sie einige andere Offerten hatten, darum hoffe ich, daß Sie keinen Schadenersatz von mir verlangen. Ihr alter Freund, Harry
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Auszug aus einem Privatschreiben vom Direktor des Albany-Gefängnisses, Parkhurst, Isle of Wight, an seinen Freund, den Direktor des Gefängnisses Wakefield in Yorkshire. Nun ja, Frank, wir lassen Angelo Gilben diese Woche auf Bewährung raus, und unter uns gesagt wünschte ich, ich hätte dabei ein besseres Gefühl. Ich hätte gern davon abgeraten, aber er hat vierzehn Jahre verbüßt, und es gab eine Menge Druck von Seiten der Reformisten im Innenministerium, ihn freizulassen. Nicht, daß Gilbert aktiv gewalttätig oder auch nur feindselig wäre, nein, er hat sich alle Mühe gegeben, diese Bewährung zu kriegen, und so gab es in den letzten beiden Jahren nicht einen Hauch von Schwierigkeiten. Aber wie Du weißt, sind einige von ihnen niemals gefestigt, ganz gleich, wie sanft sie wirken, und ich habe das Gefühl, daß es bei Gilbert so ist. Du weißt noch, als Du ihn vor fünf Jahren hattest, dachtest Du ganz genauso. Es ist wohl nicht drin, ihn auf Lebenszeit unter Verschluß zu halten, aber ich hoffe einfach bei Gott, daß er nicht geradewegs rausgeht und die erste Person erschießt, die ihm in die Quere kommt. Bis demnächst, Frank Donald
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TEIL ZWEI: WILLIAM
12 Ich legte meine Hand auf Cassies Brust, und sie sagte: »Nein, William. Nein.« »Warum nicht?« sagte ich. »Weil zweimal für mich nie gut ist. Das weißt du.« »Na, komm schon«, sagte ich. »Nein.« »Du bist faul«, sagte ich. »Und du bist gierig.« Sie klaubte meine Hand weg und gab sie mir wieder. Ich legte sie zurück. »Laß mich dich wenigstens halten«, sagte ich. »Nein.« Sie warf meine Hand wieder runter. »Bei dir führt eins zum andern. Ich mach’ etwas Orangensaft und laß das Bad ein, und wenn du nicht acht gibst, verspätest du dich.« Ich rollte mich auf den Rücken und sah zu, wie sie im Schlafzimmer umherwanderte, ein großes dünnes Mädchen mit zu wenig Kurven und sehr langen Füßen. So gesehen, in ihrer ganzen eckigen Nacktheit, war an ihr die gleiche beherrschte Zurückhaltung, die mich zu Beginn angezogen hatte: ein natürliches Fürsichsein, ein fehlendes Klammern. Ihre Selbstzweifel, wenn sie so etwas kannte, waren auch vor mir wohl verborgen. Sie ging nach unten und kam mit zwei Gläsern Orangensaft zurück. »William«, sagte sie, »unterlaß das Starren.« »Ich tu’s gerne.« Sie ging ins Bad, um die Hähne aufzudrehen, und kam zähnebürstend wieder. 202
»Es ist sieben Uhr«, sagte sie. »Das habe ich bemerkt.« »Du wirst deinen angenehmen Job verlieren, wenn du nicht in zehn Minuten auf dem Trainingsgelände bist.« »Zwanzig genügen.« Ich stand indessen auf und schnappte ihr das Bad weg; den Orangensaft trank ich auf dem Weg dahin. Sei dankbar für alles, was dir beschert wurde, dachte ich beim Einseifen. Sei dankbar für Cassandra Morris, ein besseres Mädchen, als ich jemals gehabt hatte; sieben Monate geteiltes Bett, unentbehrlicher mit jedem Tag. Sei dankbar für einen solchen Job, den niemand mit neunundzwanzig erwarten konnte. Sei dankbar für genügend Geld, um endlich mal einen Wagen zu kaufen, der nicht schon durch zig Hände gegangen war, zusammengehalten von Rost und Glück. Die alte Sehnsucht, ein Jockey zu sein, war so ziemlich gestorben, aber ein Bedauern würde wohl immer bleiben. Nicht, daß ich nie an Rennen teilgenommen hätte, von meinem sechzehnten bis zum zwanzigsten Lebensjahr hatte ich zuerst als Amateur, dann als Profi Erfahrungen gesammelt, eine Zeit, in der ich vierundachtzig Jagd- und zweiundzwanzig Hürdenrennen gewann und unglücklich meinen unaufhaltsam länger werdenden Körper verfluchte. Mit einsachtzig hatte ich mir bei einem Sturz im Rennen das Bein gebrochen, drei Monate im Streckverband gefangengelegen und war im Bett noch fünf Zentimeter gewachsen. Das war praktisch das Ende. Es hatte zwar in der Vergangenheit sehr große Hindernisjockeys gegeben, aber ich stellte zunehmend fest, daß ich, selbst wenn ich bis zur Entkräftigung hungerte, mein Gewicht nicht verläßlich unter siebzig Kilo halten konnte. Die Trainer meinten 203
immer häufiger, ich sei zu groß, zu schwer, ach schade, Junge, und engagierten jemand anders. Also holte ich mir mit zwanzig einen Job als Assistenztrainer, und mit dreiundzwanzig hatte ich für eine Vollblutagentur gearbeitet und mit sechsundzwanzig auf einem Gestüt, was mich zu sehr von den Rennplätzen fernhielt. Mit siebenundzwanzig war ich in einer Art Klinik für kranke Rennpferde beschäftigt, die dichtmachte, weil zu viele Besitzer ihre Verbindlichkeiten lieber erschossen, und danach kam eine Zeit, wo ich Pferdeboxen verkaufte und danach ein paar Monate im Büro eines VollblutAuktionators, die gut bezahlt wurden, mich aber zu Tode langweilten; und jedesmal zwischen den Jobs hatte ich die Erträge des letzten dazu benutzt, um durch die Welt zu wandern und heimwärts zu streben, wenn das Geld ausging, um mir ein neues Pöstchen zu suchen. In einem dieser aussichtslosen Momente hatte Jonathan das Kabel geschickt. »Nimm den nächsten Flug. Gute Stellung im englischen Rennsport möglich, wenn du sofort hier vorsprichst, Jonathan.« Ich hatte sechzehn Stunden später in Kalifornien vor seiner Tür gestanden, und früh am nächsten Morgen hatte er mich losgeschickt zu einem »Mann, den ich auf einer Party kennengelernt habe«. Ein Mann, stellte sich heraus, von mittlerer Größe, mittlerem Alter und mit mittelgrauen Haaren; ein Mann, den ich sofort kannte, als ich ihn sah. Jeder im Rennsport, weltweit, kannte ihn vom Sehen. Er betrieb seinen Rennsport als großes Geschäft, schöpfte seine Gewinne in Gestalt von Vollblutpferden, verkaufte seine Hengste für bis zu hundertmal mehr, als sie auf der Bahn verdient hatten. »Luke Houston«, sagte er neutral und streckte die Hand aus. 204
»Ja, Sir«, sagte ich, wieder etwas zu Atem gekommen. »Äh … William Derry.« Er bot mir ein Frühstück auf einem Balkon mit Blick auf den Pazifik an, aß Ananas und gekochte Eier und bedachte mich mit freundlich lächelnden Blicken, die im Grunde so flüchtig waren wie Röntgenstrahlen. »Warrington Marsh, mein Turfmanager in England, hatte vor vier Tagen einen Schlaganfall«, sagte er. »Armer Bursche, er macht sich gut – ich kriege jeden Morgen den Krankenbericht –, aber es wird einige Zeit dauern, lange Zeit, fürchte ich, bis er wieder aktiv werden kann.« Er deutete auf mein unangerührtes Frühstück. »Essen Sie Ihren Toast.« »Ja, Sir.« »Sagen Sie mir, warum ich Ihnen seinen Job geben sollte. Vorübergehend natürlich.« Ach du Schreck, dachte ich. Ich hatte weder die Erfahrung noch die Beziehungen des vom Schlag getroffenen, geehrten Meisters. »Ich würde hart arbeiten«, sagte ich. »Sie wissen, was dranhängt?« »Ich habe Warrington Marsh überall gesehen, auf der Rennbahn, bei den Verkäufen. Ich weiß, was er tut, aber nicht, wie weit seine Befugnisse reichen.« Er knackte sein zweites Ei. »Ihr Bruder sagt, Sie haben viel allgemeines Know-how. Erzählen Sie mir davon.« Ich zählte die Jobs auf, von denen keiner imposanter klang, als er tatsächlich gewesen war. Freundlich sagte er: »College-Grade?« »Nein, ich bin mit siebzehn von der Schule abgegangen und habe nicht studiert.« »Privateinkünfte?« sagte er. »Irgendwelche?« 205
»Mein Pate hat mir etwas Geld für meine Ausbildung hinterlassen. Es ist immer noch genug für Essen und Kleidung. Nicht genug zum Leben.« Er trank etwas Kaffee und schenkte mir eine zweite Tasse ein. »Wissen Sie, bei welchen Trainern auf den Britischen Inseln ich Pferde habe?« »Ja, Sir. Shell, Thompson, Miller und Sandlache in England und Donovan in Irland.« »Nennen Sie mich Luke«, sagte er. »Ziehe ich vor.« »Luke«, sagte ich. Er rührte Süßstoff in seinen Kaffee. »Könnten Sie die Finanzen handhaben?« sagte er. »Warrington trägt immer volle Verantwortung. Machen Millionen Ihnen angst?« Ich sah hinaus auf das weite blaue Meer und sagte die Wahrheit. »Ich glaube, in gewisser Hinsicht tun sie es, ja. In den oberen Regionen glaubt man zu leicht, auf eine Null mehr oder weniger käme es nicht an.« »Sie müssen Geld ausgeben, um gute Pferde zu kaufen«, sagte er. »Könnten Sie das?« »Ja.« »Erzählen Sie«, sagte er milde. »Potentiell gute Pferde zu kaufen, ist nicht das Problem. Sich einen tollen Jährling anzuschauen, zu sehen, wie er sich bewegt, zu wissen, daß er sehr wahrscheinlich hält, was seine Abstammung verspricht, und ihn sich leisten zu können, das ist alles beinahe leicht. Die Überragenden aus der zweiten Garnitur und aus den Unbekannten herauszugreifen, dafür erst wird Urteilskraft notwendig.« »Könnten Sie garantieren, daß jedes Pferd, das Sie für mich kaufen oder zu dessen Kauf Sie meinen Trainern 206
raten, gewinnen wird?« »Das könnte ich nicht«, sagte ich. »Sie würden nicht alle gewinnen.« »Welchen Prozentsatz von Siegern würden Sie erwarten?« »Etwa fünfzig Prozent. Manche würden nie Rennen laufen, andere würden enttäuschen.« Unaggressiv, ruhig, langsam und ohne Drängen stellte er mir fast eine Stunde lang Fragen und sondierte, was ich bisher getan, was ich gelernt hatte, wie ich darüber dachte, das letzte Wort gegenüber Trainern zu haben, die älter waren als ich, wie ich mir den Umgang mit den Rennsportbehörden vorstellte, was ich über Buchführung, Bankwesen und Börsen wußte, ob ich tierärztlichen und ernährungsbezogenen Rat auswerten konnte. Gegen Ende fühlte ich mich auf den Kopf gestellt, als sei keine Windung meines Verstandes unerforscht geblieben. Er wird sich jemand älteren suchen, dachte ich. »Wie stehen Sie«, sagte er schließlich, »zu einer festen Anstellung, von neun bis fünf, die Wochenenden frei, mit einer Rente, wenn’s gelaufen ist?« Ich schüttelte den Kopf aus tiefstem Instinkt, ohne es durchzudenken. »Nein«, sagte ich. »Das kam von Herzen, Junge«, bemerkte er. »Tja …« »Ich gebe Ihnen ein Jahr und eine Ausgabenhöchstgrenze, die Sie nicht überschreiten dürfen. Ich werde Ihnen über die Schulter sehen, mich aber nicht einmischen, es sei denn, Sie fahren sich fest. Wollen Sie annehmen?« Ich zog tief die Luft ein und sagte: »Ja.« Er beugte sich lächelnd vor und schüttelte mir die Hand. 207
»Ich schicke Ihnen einen Vertrag«, sagte er, »aber fliegen Sie gleich nach Hause und übernehmen Sie. Ohne einen Verantwortlichen können die Dinge zu schnell auseinanderfallen. Also fahren Sie sofort zu Warrington und reden mit seiner Frau Nonie, die ich verständige, daß Sie kommen, und Sie arbeiten dort von seinem Büro aus, bis Sie sich selbst einen Platz gesucht haben. Ihr Bruder sagte mir, Sie seien ein Wanderer, aber das stört mich nicht.« Er lächelte wieder. »Zahme Katzen hab’ ich nie gemocht.« Wie so vieles andere im amerikanischen Leben stand der Vertrag, als er mir flugs über den großen Teich folgte, in völligem Gegensatz zu der entspannten Haltung des Mannes, der ihn angeboten hatte. Er legte in präzisen Worten fest, was ich tun mußte, was zu tun mir freistand, was ich nicht durfte. Er führte Bezugspunkte auf, an die ich niemals gedacht hätte. Houston hatte mir in mancher Hinsicht eine Menge Freiheiten gelassen und in anderer überhaupt keine; aber das, nahm ich an, war nur recht und billig. Er wollte nicht ohne wirksame Vorsichtsmaßnahmen seine ganze britische Unternehmung einer unbekannten Größe anvertrauen. Ich brachte den Vertrag zu einem Rechtsanwalt, der ihn las und durch die Zähne pfiff und meinte, er sei von Firmenanwälten abgefaßt, die es gewohnt waren, Manager zwischendurch zu verspeisen. »Aber ich unterschreibe ihn?« »Wenn Sie den Job wollen, ja. Er ist happig, aber soweit ich sehen kann, fair.« Das lag acht Monate zurück. Ich war daheim auf breit gestreuten und verständlichen Unglauben gestoßen, daß ein solcher Juwel mir ins den Schoß gefallen sein sollte. Ich hatte Nonie Marshs Ressentiments ebenso überstanden wie Warringtons schwerzüngige Unfähigkeit zu helfen; 208
hatte mehrere von Lukes ziemlich aussichtslosen Zweijährigen ohne großen Verlust verkauft, hatte die Trainer dazu gekriegt, daß sie mich einstweilig akzeptierten und mir nichts schweißtreibend Katastrophales geleistet. Trotz all der Entscheidungen und der Verantwortung hatte ich jede Minute genossen. Cassie erschien an der Tür. »Willst du nicht irgendwann raus aus dem Bad?« fragte sie. »Sitzt da und lächelt.« »Das Leben ist schön.« »Und du wirst zu spät kommen.« Ich stand in der Wanne auf, und als sie sah, wie ich mich streckte, sagte sie automatisch: »Nimm deinen Kopf in acht.« Ich stieg aus dem Wasser und küßte sie, naß wie ich war, auf den Hals. »Zieh dich um Himmels willen an«, sagte sie. »Außerdem mußt du dich rasieren.« Sie gab mir ein Handtuch. »Der Kaffee ist heiß, und wir haben keine Milch mehr.« Ich warf mir ein paar Kleider über und ging hinunter, wobei ich unterwegs Balken und niedrigen Türen auswich. Das kleine Cottage, das wir im Dorf Six Mile Bottom (rund sechs Meilen südlich von Newmarket) gemietet hatten, war für Menschen des siebzehnten Jahrhunderts bestimmt gewesen, die nicht vom diätetischen Gewußtwie des zwanzigsten beleckt waren. Und würden zwei Meter zehn, überlegte ich beim Eintauchen in die Küche, im fünfundzwanzigsten als normal betrachtet werden? Wir hatten den ganzen Sommer im Cottage gelebt, und trotz seiner niedrigen Decken gefiel es uns großartig. Jetzt 209
waren Äpfel im Garten und morgens Nebel, und verschlafene Wespen versuchten warme Ritzen im Dachüberhang zu finden. Mit roten Fliesen und Teppichen ausgelegte Böden unten, Eßzimmer dem Büro geopfert, Wohnzimmer gemütlich rund um einen noch nicht ausprobierten Kamin; rotkarierte Vorhänge, Schaukelstühle, Strohpüppchen und gedämpftes Licht. Ein Landspielzeug von Städtern, aber genug, dachte ich manchmal, einem den Wunsch einzugeben, Wurzeln zu schlagen. Bananas Frisby hatte es für uns gefunden. Bananas, langjähriger Freund, der im Dorf eine Kneipe betrieb. Ich hatte eines Tages auf dem Rückweg von Newmarket dort hereingeschaut und ihm gesagt, ich wüßte kein Plätzchen zum Leben. »Was ist denn mit deinem alten Boot?« »Da bin ich rausgewachsen.« Er warf mir einen verdächtigen Blick zu. »Geistig?« »Klar. Ich habe es verkauft. Und ich habe ein Mädchen kennengelernt.« »Und die«, dachte er mit, »ist nicht so versessen darauf, alten Lack abzukratzen?« »Weit entfernt davon.« »Ich behalte es im Kopf«, sagte er, und tatsächlich rief er mich eine Woche später in Warringtons Haus an und sagte, es gäbe weiter unten in seiner Straße ein aufgemotztes Häuschen, das ich mir mal ansehen könne: Die Londoner Besitzer wollten es nicht verkaufen, aber könnten etwas Bargeld gebrauchen, und sie wären bereit, es jemandem zu überlassen, der nicht für immer bleiben wollte. »Ich erzählte ihnen, du hättest die Wanderlust eines Albatros«, sagte er. »Ich kenne sie, es sind nette Leute; enttäusch mich nicht.« 210
Bananas selbst war Besitzer seiner fast genauso alten Kneipe, die unter seiner Politik der Vernachlässigung ganz langsam verfiel. Bananas hatte keine Familie, keine Erben, keinen Antrieb, seine weltlichen Güter zu erhalten; daher kaufte er jedesmal, wenn ein neuer Feuchtigkeitsfleck innerhalb seiner Wände erschien, eine üppige grüne Topfpflanze und versteckte ihn dahinter. Seit ich ihn kannte, hatte sich die blankblättrige Tarnung von drei auf acht vermehrt, und Efeu kletterte jetzt durch die Fenster. Wenn sich einmal jemand zu den dunklen Flecken an den Wänden äußerte, sagte Bananas, die Pflanzen hätten sie verursacht, und Fremden ging nie auf, daß es umgekehrt war. Bananas’ ganzer Stolz war sein kleines Restaurant, neben dem Schankraum, wo er Cuisine minceur von solcher Vollendung auftrug, daß die Hälfte aller durchreisenden englischen Jockeys treu und brav bei ihm speisten. Durch seine gedörrte, knusprige, unbeschreibliche Bratente hatte ich ihn kennengelernt und war wie ein wohlumgarnter Tropf zum Süchtigen geworden. Konnte die Delikatessen nicht zählen, für die ich seither gezahlt hatte. Er war schon auf wie üblich, als ich ihm auf meinem Weg zum Trainingsgelände zuwinkte: fegte aus, räumte auf, öffnete weit die Fenster, um den muffigen Geruch der Nacht loszuwerden. Ein fetter Mann zwar, hatte er dennoch unendliche Energie und betrieb den ganzen Laden mit der Hilfe von zwei Frauen, einer in der Bar und einer in der Küche, die er beide herumkommandierte wie ein Lehnsherr. Betty in der Küche kochte mit unerschütterlichem Gleichmut unter seinem Adlerauge, und Bessie in der Bar servierte Drinks in einem Tempo, das an Taschenspielerei grenzte. Bananas war Oberkellner und jede andere Art von Kellner, nahm Bestellungen auf, 211
brachte Essen, präsentierte Rechnungen, säuberte Tische und deckte sie neu, alles mit dem trügerischen Anschein, den ganzen Tag Zeit zum Plaudern zu haben. Ich hatte ihn so oft dabei beobachtet, daß ich sein System kannte; er verschwendete praktisch nie Zeit damit, in die Küche zu gehen. Das Essen erschien via Betty durch eine große, dem öffentlichen Blick verborgene Durchreiche, und schmutziges Geschirr verschwand über eine sanft geneigte Rutsche. »Wer wäscht ab?« hatte ich einmal verwundert gefragt. »Ich«, sagte Bananas. »Nach Ladenschluß jage ich alles durch die Spülmaschine.« »Schläfst du denn nie?« »Schlaf ist langweilig.« Er brauchte, scheint’s, nur vier Stunden pro Nacht. »Und weshalb die harte Arbeit? Warum nicht mehr Hilfen?« Er sah mich mitleidig an. »Personal macht genausoviel Arbeit, wie es erledigt«, sagte er. Und später hatte ich herausgefunden, daß er das Restaurant jedes Jahr gegen Ende November schloß und auf die Westindischen Inseln flog, dann Ende März zurückkam, wenn die Flachrennen wieder zum Leben erwachten. Er haßte die Kälte, sagte er: arbeitete acht Monate im Galopp für vier Monate Palmen und Sonne. An diesem Morgen arbeitete Simpson Shell mit seinem aussichtsreichsten Jungpferd auf den kühlen Limekilns und sah selbstzufrieden drein. Als der älteste von den fünf Trainern Luke Houstons hatte er sich am wenigsten mit mir abgefunden, tagein, tagaus sah man ihm an, wie schwer er sich noch damit tat. »Morgen, William«, sagte er stirnrunzelnd. 212
»Morgen, Sim.« Ich beobachtete ihn mit dem schlaksigen Hengst, auf dem entfernt die HoustonHoffnungen für eine klassische nächste Saison ruhten. »Er bewegt sich gut«, sagte ich. »Tut er immer.« Die Stimme war abschätzig und gereizt. Ich lächelte im stillen. Weder Komplimente noch Schönrederei, sollte es heißen, würden seine Meinung von dem Emporkömmling ändern, der sich beim Verkauf von zwei Zweijährigen über seine Empfehlung hinweggesetzt hatte. Er hatte mir gesagt, er sei strikt gegen meine Aussonderungspolitik, obwohl ich sie ihm im voraus erklärt und jede einzelne Niete besprochen hatte, die ausrangiert werden sollte. »Warrington hat das nie gemacht«, hatte er getobt und mir angekündigt, er werde Luke einen Beschwerdebrief schreiben. Ich hörte nie von dem Ergebnis. Entweder hatte er nicht geschrieben, oder Luke hatte mich unterstützt; seine Derryfeindlichkeit jedenfalls war verstärkt worden, nicht zuletzt, weil ich zwar Luke Houston einen Haufen sinnloser Trainingsgebühren erspart, damit aber gleichzeitig Simpson Shell geschädigt hatte. Ich wußte, er wartete darauf, daß die Nieten für ihre neuen Besitzer siegen würden, damit er auftrumpfen konnte, und es war mein Glück, daß sie bislang nicht gesiegt hatten. Wie alle Trainer Lukes trainierte er noch für viele andere Besitzer. Lukes Pferde machten im Moment etwa ein Sechstel seiner Koppel aus, ein zu hoher Prozentsatz, als daß er hätte riskieren können, sie allesamt zu verlieren; also war er höflich zu mir, aber nur so gerade noch. Ich fragte ihn nach einem Füllen, das am Vorabend etwas Wärme im Bein gehabt hatte, und er sagte mürrisch, es ginge ihm besser. Er haßte es, daß ich an seinen acht Houston-Pferden engen Anteil nahm, mir schwante aber, wenn ich es nicht tat, würde ein weiterer Brief nach 213
Kalifornien segeln mit der Beschwerde, daß ich meine Pflichten vernachlässigte. Sim Shell, dachte ich kläglich, konnte man es nicht recht machen. Drüben in der Bury Road erzählte mir Mort Miller, jünger, neurotisch, mit Fingern, die schnippten wie Knallfrösche, daß Lukes zehn Lieblinge gut fraßen und vor lauter Eifer, die Konkurrenz niederzumähen, die Wände hochstiegen. Mort hatte den Verkauf dreier Nichtsnutze als Erleichterung betrachtet und gesagt, er hasse faule Tiere und gönne ihnen ihren Hafer nicht. Morts Pferde waren immer so überdreht wie er selbst, aber sie siegten zuverlässig, wenn es darauf ankam. Bei Mort sah ich an den meisten Tagen vorbei, denn trotz seiner selbtbewußten Sprüche war eigentlich er es, der am meisten nach meiner Meinung fragte. Einmal die Woche, für gewöhnlich zusammentreffend mit Renntagen, suchte ich die beiden anderen Trainer auf, Thompson und Sandlache, die dreißig Meilen voneinander entfernt in den Berkshire Downs lebten, und etwa einmal im Monat verbrachte ich ein paar Tage bei Donovan in Irland. Mit ihnen allen war die Zusammenarbeit befriedigend geregelt; ich hatte ihr Eingeständnis, daß die Zweijährigen, die ich losgeworden war, ihnen selbst nichts genutzt hätten, und sie mein Versprechen, das an Trainingsgebühren eingesparte Geld im Oktober für zusätzliche Jährlinge auszugeben. Es würde mir leid tun, dachte ich, wenn mein Jahr vorbei war. Auf dem Heimweg von Mort hielt ich in der Stadt, um ein Radio abzuholen, das ich in Reparatur gegeben hatte, und nochmals, um Benzin zu tanken, und nochmals an Bananas’ Kneipe, um Bier mitzunehmen. Bananas stach in der Küche mariniertes Kalbfleisch an. 214
In einer Stunde würde er aufmachen. Alles im Lokal war blank und frisch, und die Pflanzen wuchsen feucht in ihren Pötten. »Ein Kerl hat dich gesucht«, sagte Bananas. »Was für ein Kerl?« »Groß und dick. Kannte ihn nicht. Ich habe ihm gesagt, wo du wohnst.« Er warf einen finsteren Blick auf Betty, die vergaß, ihre Trauben zu pellen. »Ich sagte ihm, daß du nicht da wärst.« »Hat er gesagt, was er wollte?« »Nee.« Er warf eine Schürze ab und verfügte seine Leibesfülle in die Bar. »Zu früh für dich?« sagte er, während er sich vorsichtig hinter die Theke schob. »Eigentlich ja.« Er nickte und stellte methodisch sein gewohntes Frühstück zusammen; ein Drittel Wasserglas Brandy, gekrönt von zwei Bällchen Vanille-Nuß-Eiskrem. »Cassie ist weg zur Arbeit«, sagte er und griff nach einem Löffel. »Dir entgeht nicht viel.« Er zuckte die Achseln. »Diesen gelben Wagen kann man auf eine Meile sehen, und ich putzte gerade draußen die Fenster.« Er rührte die Eiskrem in den Brandy und schaufelte sich mit feinschmeckerischem Vergnügen die erste Rate in den Mund. »So muß das sein«, meinte er. »Kein Wunder, daß du fett bist.« Er nickte nur. Es war ihm gleich. Einmal hatte er mir gesagt, daß sein Umfang seinen dicken Kunden ein besseres Gefühl gäbe und sie anregte, mehr auszugeben, und daß seine dicken Kunden auf der Suche nach einem Wunder den dünnen an Zahl überlegen seien. 215
Er war von Natur aus Exzentriker, der selbst nichts Ungewöhnliches an seinem Tun und Treiben sah. In verschiedenen mitternächtlichen Sitzungen hatte er ein wenig von seinem inneren Selbst aufgeknöpft, und unter der herzlichen Oberfläche war ein tiefer Pessimismus mir sichtbar geworden, eine verdrossen-verzweifelte Haltung gegenüber dem Unvermögen der menschlichen Rasse, harmonisch auf der schönen Erde zu leben. Er hatte keine Politik, keinen Gott, keinen Drang zu agitieren. Menschen, sagte er, verhungerten bekanntlich auf reichem, fruchtbarem tropischen Boden; Menschen stahlen das Land ihrer Nachbarn; Menschen mordeten Menschen aus Rassenhaß; Menschen folterten und mordeten im Namen der Freiheit. Es mache ihn krank, sagte er. Es ginge schon seit der Vorgeschichte so, und es werde weitergehen, bis der rachsüchtige Affe ausgelöscht sei. »Aber du selbst scheinst mir ganz glücklich«, hatte ich einmal gesagt. Er hatte mich düster angesehen. »Du bist ein Vogel. Immer auf Reisen. Ein Sperber, wenn du nicht so lange Beine hättest.« »Und du?« »Die einzige Alternative ist Selbstmord«, sagte er. »Aber im Moment ist das nicht nötig.« Er hatte sich flink den nächsten Brandy eingeschüttet und hob das Glas in einer Art Ehrenbezeigung. »Auf die Zivilisation, verdammt.« Seine wirklichen Vornamen, über den Eingang der Kneipe geschrieben, waren John James, aber sein Spitzname war ein Pudding. »Bananas Frisby«, eine heiße, flockige Mischung aus Eiern, Rum, Bananen und Orange, stand fast immer auf seiner Karte, und zu »Bananas« war er selbst geworden. Zu seiner äußeren Person paßte es gut, zu seiner inneren überhaupt nicht. 216
»Weißt du was?« sagte er. »Was denn?« »Ich lasse mir einen Bart wachsen.« Ich betrachtete den leisen Schatten auf dem dunklen Kinn. »Er braucht Dünger«, sagte ich. »Sehr lustig. Die Tage des großen dicken Fettwanstes sind vorbei. Was du siehst, ist der Anfang des großen dicken distinguierten Gastwirts.« Er nahm einen gehäuften Löffel voll Eiskrem und trank etwas von der Flüssigkeit zum Nachspülen; wischte sich den so entstandenen weißen Schnurrbart mit dem Handrücken ab. Er trug seine übliche Arbeitskleidung: Hemd mit offenem Kragen, ungebügelte graue Flanellhose, alte Tennisschuhe. Schütteres dunkles Haar verbreitete sich wahllos über seinen Schädel, eine stramme Locke fiel über ein Ohr, und da Frisby am Abend nicht grad so verschieden war von Frisby am Morgen, konnte ich mir nicht vorstellen, daß ein Bart das Bild verwandeln würde. Besonders nicht, dachte ich interessiert, während er sproß. »Kannst du eine oder zwei Tomaten entbehren?« sagte ich. »Die italienischen?« »Für dein Mittagessen?« »Ja.« »Cassie versorgt dich nicht.« »Es ist nicht ihre Aufgabe.« Er schüttelte den Kopf über unsere eigenwilligen häuslichen Arrangements, aber ich fragte mich, wer gekocht haben würde, wenn er eine Frau gehabt hätte. Ich zahlte für das Bier und die Tomaten, versprach, mit Cassie vorbeizukommen, damit sie die Barthaare bewundern konnte, und fuhr nach Hause. 217
Das Leben war schön für mich, wie ich Cassie gesagt hatte. Das Leben war in dem Moment weit weg von Bananas’ Welt der Schrecken. Ich parkte vor dem Cottage und ging den Weg hinauf, jonglierte Radio, Bier und Tomaten in der einen Hand und fischte mit der anderen nach dem Schlüssel. Man ist nicht auf Leute gefaßt, die aus dem Nichts springen und Baseballschläger schwingen. Ich erhaschte nur einen Blick auf ihn, als ich den Kopf nach dem Geräusch seines Anlaufs wandte, sah die massige Gestalt, die Wildheit, den erhobenen Arm. Ich hatte nicht mal Zeit, mich darüber zu wundern, daß er mich schlagen wollte, bevor er es tat. Der krachende Hieb auf meinen sich drehenden Kopf ließ mich benommen der Länge nach hinstürzen, wobei ich das Radio, Bierdosen und Tomaten unterwegs verstreute. Ich fiel halb auf den Weg und halb auf ein Beet Stiefmütterchen und blieb in einem pulsierenden Halbbewußtsein liegen, in dem ich die Erde riechen, aber nicht denken konnte. Grobe Finger schlangen sich in mein Haar und zogen meinen Kopf aus seiner Gesicht-am-Boden-Lage hoch. Wie aus einer großen Entfernung sprach eine rauhe, tiefe Stimme vor meinen geschlossenen Augen unsinnige Worte. »Du bist nicht –« sagte er. »Scheißdreck.« Er ließ meinen Kopf plötzlich fallen, und der zweite kleine Schlag beendete die Sache. Ich merkte es nicht. In meinem bewußten Verstand geschah einfach nichts mehr. Das nächste, was durchdrang, war, daß jemand versuchte, mich hochzuheben, und daß ich versuchte, ihn daran zu hindern. »Na schön, bleib liegen«, sagte eine Stimme. »Wenn du dich danach fühlst.« 218
Wonach ich mich fühlte, war ein gestaltloses Etwas, das im weiten Weltraum kreiselte. Er versuchte erneut, mich aufzuheben, und in meinem Schädel rückten die Dinge plötzlich wieder zurecht. »Bananas«, sagte ich schwach, ihn erkennend. »Wer sonst? Was ist passiert?« Ich versuchte aufzustehen, taumelte etwas und zertrat noch ein paar leidgeplagte Stiefmütterchen. »Hierher«, Bananas packte mich am Arm, »komm ins Haus.« Er stützte mich halb und stieß auf die abgeschlossene Tür. »Schlüssel«, murmelte ich. »Wo sind sie?« Ich wedelte vage mit dem Arm, und er ließ mich los, um nach ihnen zu suchen. Ich lehnte mich an den Türpfosten, hämmernde Schmerzen im Kopf. Bananas fand die Schlüssel, kam auf mich zu und sagte besorgt: »Du bist voller Blut.« Ich sah auf mein rotgeflecktes Hemd nieder. Befühlte den Stoff. »In dem Blut sind aber Kerne«, sagte ich. Bananas linste auf meine Brust. »Dein Mittagessen.« Er klang erleichtert. »Komm.« Wir gingen ins Haus, wo ich mich in einen Sessel fallen ließ und anfing, mit Migränekranken zu sympathisieren. Bananas suchte aufs Geratewohl Schränke nach Brandy ab. »Kannst du nicht warten, bis du heimkommst?« sagte ich ohne Kritik. »Er soll für dich sein.« »Keiner mehr da.« Er beharrte nicht weiter. Vielleicht fiel ihm ein, daß er es 219
gewesen war, der vor einer Woche die Flasche leergetrunken hatte. »Kannst du Tee machen?« fragte ich. Er sagte resigniert: »Ich denke schon« und tat es. Während ich den daraus resultierenden Nektar trank, erzählte er mir, daß er aus der Richtung des Cottages einen Wagen mit etwa achtzig Meilen über die Landstraße hatte davonfahren sehen. Es war der Wagen, sagte er, des Mannes, der vorher nach mir gefragt hatte. Er sei erst verwirrt und dann beunruhigt gewesen und habe sich schließlich aufgerafft, mal herzukommen und nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. »Und da lagst du«, sagte er, »wie eine gefällte Giraffe.« »Er hat mir eins übergezogen«, sagte ich. »Mach Sachen.« »Mit dem Baseballschläger.« »Also hast du ihn gesehen«, sagte Bananas. »Ja. Gerade für eine Sekunde.« »Wer war er?« »Keine Ahnung.« Ich trank etwas Tee. »Ganove.« »Wieviel hat er mitgenommen?« Ich stellte den Tee hin und klopfte die Hüfttasche ab, in der ich eine kleine Brieftasche trug. Sie war noch da. Ich zog sie raus und sah hinein. Nicht viel drin zwar, aber es fehlte auch nichts. »Sinnlos«, sagte ich. »Was wollte der?« »Er hat nach dir gefragt«, sagte Bananas. »Mag ja sein.« Ich schüttelte den Kopf, was keine gute Idee war, da es kleine Dolche in alle Schädelrichtungen entsandte. »Was hat er denn eigentlich gesagt?« 220
Bananas überlegte es eine Weile. »Soweit ich mich erinnern kann, sagte er: ›Wo wohnt Derry?‹« »Würdest du ihn wiedererkennen?« fragte ich. Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Glaube ich nicht. Ich meine, ich habe einen allgemeinen Eindruck – nicht jung, nicht alt, ziemlich derbe Aussprache, – aber ich war beschäftigt, und ich habe nicht weiter auf ihn geachtet.« Seltsamerweise hatte ich, obwohl ich ihn nur für einen Bruchteil der Zeit wie Bananas gesehen hatte, eine viel deutlichere Erinnerung an meinen Angreifer. Ein unbewegtes Bild, wie ein Schnappschuß, der mir gerahmt vor Augen stand. Ein stämmiger Mann mit gelblicher Haut, grau um den Kopf, aufmerksame, dunkel verschattete Augen. Die verwischte Stelle am Rand des Schnappschusses war das Niedersausen seines Armes. Ob die Erinnerung verläßlich war oder ob ich ihn wiedererkennen würde, wußte ich nicht. Bananas sagte: »Kann man dich alleine lassen?« »Sicher.« »Betty wird mit den Trauben fertig sein und in die Luft starren«, sagte er. »Die alte Ziege macht Dienst nach Vorschrift. Das ist ihr Spruch. Dienst nach Vorschrift, ich bitte dich. Sie ist in keiner Gewerkschaft. Sie schüttelt ihre verdammten Vorschriften aus dem Ärmel. Im Moment ist Vorschrift Nummer eins, daß sie nichts tut, was ich ihr nicht ausdrücklich sage.« »Wieso denn nicht?« »Mehr Lohn. Sie will sich ein Pony kaufen, um durch die Heide zu reiten. Sie kann gar nicht reiten, und sie ist doch fast sechzig.« »Geh wieder zurück«, sagte ich lächelnd. »Mir geht’s gut.« 221
Er peilte halb entschuldigend die Tür an. »Es gibt immer noch den Arzt, wenn’s drängt.« »Meine ich auch.« Er öffnete die Tür und spähte hinaus in den Garten. »In deinen Stiefmütterchen liegen Bierdosen.« Er ging ohne zu sagen, er würde sie aufraffen, und ich hievte mich aus dem Sessel und folgte ihm. Als ich zur Tür kam, stand er mit drei Bierdosen und einer Tomate in der Hand auf dem Weg und starrte angestrengt in die purpurnen und gelben Blumen. »Was ist denn?« sagte ich. »Dein Radio.« »Ich hab’s gerade flicken lassen.« Er sah zu mir hoch. »Zu schade.« Etwas in seinem Ton ließ mich den Weg hinuntertorkeln, um es mir anzusehen. Und richtig, da lag mein Radio in den Stiefmütterchen: das, was von ihm übrig war. Gehäuse, Skalen, Schaltungen, Lautsprecher, alles war total zerschmettert. »Das ist fies«, sagte Bananas. »Bosheit«, stimmte ich zu, »und ein Baseballschläger.« »Aber warum?« »Ich glaube«, sagte ich langsam, »er hat vielleicht gedacht, ich wäre jemand anders. Nachdem er mich erwischt hatte, schien er überrascht zu sein. Ich entsinne mich, daß er geflucht hat.« »Rabiate Ader«, meinte Bananas mit Blick auf das Radio. »Mm.« »Verständige die Polizei«, sagte er. »Ja, klar.« 222
Ich nahm ihm das Bier ab und deutete ein Winken an, als er mit flotten Schritten die Straße hinaufging. Dann starrte ich eine Zeitlang auf das zertrümmerte Radio und dachte leicht beunruhigende Gedanken: zum Beispiel, wie würde mein Kopf ausgesehen haben, wenn er nicht nach einem Hieb aufgehört hätte? Mit einem innerlichen Frösteln ging ich wieder ins Haus und verwandte meine Gehirnerschütterung darauf, meinen Wochenbericht für Luke Houston zusammenzuschreiben.
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13 Ich konnte mich nicht entschließen, zum Arzt zu gehen oder die Polizei anzurufen. Wie ich es sah, wäre nichts Produktives herausgekommen bei dem Zeitaufwand. Cassie nahm die ganze Angelegenheit philosophisch, meinte aber, mein Schädel müsse zersprungen sein, wenn ich nicht lieben wollte. »Morgen die doppelte Ration«, sagte ich. »Du wirst Glück haben.« Ich funktionierte den ganzen nächsten Tag auf zwei Zylindern, und am Abend rief Jonathan an, wie er es manchmal machte, um seinem kleinen Bruder ferngesprächsweise den Puls zu fühlen. Er hatte sich den ›elterlichen Stellvertreter‹ nie abgewöhnt, und um ehrlich zu sein, wollte ich das auch nicht. Jonathan, sechstausend Meilen entfernt, war immer noch mein Anker, mein vertrautester Freund. Das mit Sarah war natürlich ein Jammer. Ich hätte mehr von Jonathan gesehen, wenn ich besser mit Sarah ausgekommen wäre. Sie irritierte mich wie ein allergischer Ausschlag mit ihrer Rechthaberei und ihrem Sarkasmus, und ich hatte sie nie zufriedenstellen können. Einmal hatte ich gedacht, ihre Ehe sei auf dem Weg zum Friedhof und hätte nicht groß darum getrauert, doch auf die eine oder andere Art hatten sie sich vor dem Abgrund gefangen. Gegenüber Jonathan schien sie jetzt eindeutig sanfter, aber wenn ich in der Nähe war, stieg noch die alte Ätze in ihrer Stimme auf, und ich blieb nie lange bei ihnen im Haus. Daß ich niemals lang an einem Fleck blieb, war Sarah zufolge sogar einer meiner unentschuldbarsten Fehler. Ich müßte zur Besinnung kommen, fand sie, und einen 224
richtigen Beruf ergreifen. Sie sah blendend aus dieser Tage, mädchenhaft schlank und sonnengebräunt. So mancher, nahm ich an, der das blonde Haar, den guten Wuchs, die noch straffe Kinnpartie, die Anmut der Bewegungen sah, hätte Jonathan um seine mit fünfundvierzig junge Frau beneidet. Und alles, soviel ich wußte, ohne das Messer eines Schönheitschirurgen. »Wie geht’s Sarah?« fragte ich automatisch. Ich hatte gewissenhaft den größten Teil meines Lebens nach ihr gefragt und keinen Deut darauf gegeben. Die Waffenruhe, die sie und ich Jonathan zuliebe einhielten, war zerbrechlich, eine Sache der Umgangsform, der leeren Höflichkeit, des aufgesetzten Lächelns, des Erkundigens nach dem Befinden. »Ihr geht’s prima«, sagte er. »Ganz prima.« Seine Stimme hatte sich nach all den Jahren leicht verändert und viele von den Spracheigentümlichkeiten seiner Wahlheimat angenommen. »Sie läßt dich lieb grüßen.« »Danke.« »Und dir?« sagte er. »Noch gut, wenn man bedenkt, daß mich irgendein Spinner auf den Kopf gehauen hat.« »Was für ein Spinner?« »Irgendein Typ, der herkam, sich auf die Lauer legte und mir eins überbriet.« »Bist du in Ordnung?« »Ja. Nicht schlimmer als ein Sturz beim Rennen.« »Wer war er denn?« fragte er. »Keine Ahnung. Er fragte in der Kneipe nach dem Weg, aber er hat den falschen Mann erwischt. Vielleicht hat er nach Terry gefragt … es klingt ja ganz ähnlich. Jedenfalls 225
brauste er davon, als er merkte, daß ihm ein kleiner Irrtum unterlaufen war, und damit hat sich das.« »Und Schlimmes ist nichts passiert?« fragte er hartnäckig. »Mir nicht, aber du müßtest mal mein Radio sehen.« »Was?« »Als er merkte, daß ich der Falsche war, ließ er es an meinem Radio aus. Wohlverstanden, zu dem Zeitpunkt war ich nicht wach. Aber als ich zu mir kam, war es zerdonnert.« Am anderen Ende trat eine Stille ein, und ich sagte: »Jonathan? Bist du noch da?« »Ja«, sagte er. »Hast du den Mann gesehen? Wie sah er aus?« Ich beschrieb es ihm: ziemlich um die Vierzig, ziemlich grau, ziemlich gelb. »Wie ein Stier«, schloß ich. »Hat er irgendwas gesagt?« »So in etwa, daß ich nicht der sei, den er meinte, und Scheißdreck.« »Wie hast du ihn hören können, wenn du bewußtlos warst?« Ich erklärte es. »Aber alles, was geblieben ist, ist eine wunde Stelle für die Haarbürste«, sagte ich, »also denk nicht mehr dran.« Wir redeten für den Rest unserer üblichen sechs Minuten über dies und das, und schließlich sagte er: »Bist du morgen abend zu Hause?« »Ja, ich denke schon.« »Es könnte sein, daß ich noch mal anrufe.« »Okay.« Ich fragte gar nicht erst, warum. Er hatte die Angewohnheit, auf direkte Fragen nicht direkt zu ant226
worten, wenn es ihm nicht paßte, und seine unverbindliche Ankündigung verriet mir, daß dies so ein Fall war. Wir sagten uns freundschaftlich Wiedersehn, und Cassie und ich gingen ins Bett und nahmen unsere normale Beschäftigung wieder auf. »Glaubst du, wir werden es jemals leid?« sagte sie. »Frag mich, wenn wir achtzig sind.« »Achtzig ist unmöglich«, sagte sie, und tatsächlich erschien es uns beiden so. Cassie fuhr jeden Tag mit ihrem kleinen gelben Auto nach Cambridge, um acht Stunden hinter dem Schreibtisch einer Bausparkasse Hypotheken zu besprechen. Cassies Kopf steckte voller Begriffe wie zinstragende Versicherungsprämie und Zwischenkredit, und ich fand es mitunter bemerkenswert, daß sie noch nie einen 25-JahresMühlstein um meinen eigenen Hals vorgeschlagen hatte. Ich hatte vorher schon einmal mit jemandem zusammenzuleben versucht: fast ein Jahr mit einer schnuckeligen Blondine, die eine Ehe und Nachwuchs wollte. Ich hatte mich erstickt gefühlt und war nach Südamerika abgewandert, ein abscheuliches Betragen nach Meinung ihrer Eltern. Aber Cassie war nicht so: Falls sie die gleichen Dinge wollte, sagte sie es nicht, und vielleicht war ihr genauso klar wie mir, daß ich immer nach England zurückkam, daß der Heimatinstinkt ziemlich stark war. Eines Tages, dachte ich, eines fernen Tages … und vielleicht mit Cassie … würde ich mir, unter Offenhaltung aller anderen Möglichkeiten, eventuell ein Haus kaufen. Man konnte es schließlich immer weiterverkaufen. Jonathan rief tatsächlich am nächsten Abend wieder an und kam direkt zur Sache. »Erinnerst du dich«, sagte er, »an den Sommer, als Peter Keithly auf seinem Boot ums Leben kam?« 227
»Natürlich. Man vergißt doch nicht gerade, wenn der eigene Bruder in einen Mordfall verstrickt war.« »Es sind vierzehn Jahre her«, sagte er zweifelnd. »Sachen, die passieren, wenn man fünfzehn ist, behält man für immer genau im Kopf.« »Du magst recht haben. Jedenfalls weißt du, wen ich mit Angelo Gilbert meine?« »Den Kaltmacher.« »Ganz richtig. Ich glaube, der Mann, der dich auf den Kopf geschlagen hat, könnte Angelo Gilbert sein.« Ein As, mein Bruder, im Atemberauben. Entschieden kurzatmig sagte ich: »Das kommt dir ja sehr ruhig über die Lippen.« Aber eigentlich verstand sich das von selbst. Er war immer ruhig. In der kritischsten Angstsituation würde es Jonathan sein, der redete und handelte, als sei nichts Ungewöhnliches im Gange. Er hatte mich einmal als kleines Kind aus einer brennenden Wohnung herausgetragen, und ich hatte geglaubt, irgendwie sei gar nichts los, nichts sei wirklich verkehrt mit den Flammen und dem Dröhnen und Krachen rings um uns, weil er auf mich heruntergeschaut und gelächelt hatte. »Ich habe nachgefragt«, sagte er. »Angelo Gilbert ist vor siebzehn Tagen auf Bewährung aus der Haft entlassen worden.« »Ent –« »Er muß eine Weile gebraucht haben, sich zu orientieren und dich zu finden. Ich meine, wenn er es war, wird er gedacht haben, du wärst ich.« Ich wuselte mich da hindurch und sagte: »Wie kommst du darauf, daß er es war?« »Durch dein Radio eigentlich. Er schien gern solche 228
Sachen kaputtzumachen. Fernseher. Stereos. Und er wäre jetzt vierzig, und sein Vater erinnerte mich an einen Stier. Was du mir gesagt hast, brachte mich wieder ganz dahin.« »Ach du Schreck.« »Ja.« »Du glaubst wirklich, er war es?« »Es wäre leider möglich.« »Na ja«, sagte ich, »jetzt, wo er weiß, daß er den Falschen hatte, wird er mich vielleicht nicht noch mal behelligen.« »Monster verschwinden nicht, wenn man nicht hinguckt.« »Bitte?« »Er kann wiederkommen.« »Herzlichen Dank.« »William, nimm es ernst. Angelo war in seinen Zwanzigern gefährlich, und es scheint, als sei er es immer noch. Er hat die Computerprogramme, für die er gemordet hat, nie gekriegt, und er hat sie wegen mir nicht gekriegt. Also paß auf.« »Vielleicht war er es ja nicht.« »Handle, als ob er es war.« »Jawohl«, sagte ich. »Bis dann, Professor.« Das Sarkastische in meinem Ton mußte für ihn offensichtlich gewesen sein. »Bleib von den Pferden runter«, sagte er. Ich legte kläglich den Hörer auf. Pferde bedeuteten für ihn ein extremes Risiko. »Was ist los?« fragte Cassie. »Was hat er gesagt?« »Das ist alles eine ganz lange Geschichte.« »Erzähl sie.« 229
Ich erzählte sie mit Unterbrechungen während der nächsten Stunden, erinnerte mich stückchenweise an die Dinge und nicht immer in der Reihenfolge, in der sie geschehen waren, ziemlich so, wie Jonathan vor all den Jahren mir davon erzählt hatte. Bevor er zum Schießen nach Kanada flog, hatte er mich am Ende des Sommerhalbjahres direkt von der Schule abgeholt, und wir waren nach Cornwall gefahren, nur zu zweit, um ein paar Tage zu segeln. Wir hatten schon zwei- oder dreimal dort tolle Ferien verbracht, aber in dem Jahr stürmte und schüttete es am laufenden Band, und zu meiner Unterhaltung, während wir durch die triefenden Yachtclubfenster starrten und auf die Besserung warteten, die niemals kam, hatte er mir von Mrs. O’Rorke und Ted Pitts und den Gilberts erzählt und wie er Magneten in die Kassetten geklebt hatte. Ich war so fasziniert gewesen, es machte mir gar nichts mehr aus, daß mir das Segeln entging. Ich war mir nicht sicher, daß ich jedes Gäßchen des Labyrinths zu sehen bekommen hatte: mein stiller, schulmeisterlicher Bruder war stellenweise zurückhaltend gewesen, und ich hatte als Grund immer vermutet, daß er wahrscheinlich in irgendeiner Form seine Gewehre benutzt hatte. Mir erlaubte er nie, sie anzurühren, und das einzige überhaupt, wovor ich wußte, daß er Angst hatte, war, daß man ihm seinen kostbaren Waffenschein wegnahm. »Das war’s also«, sagte ich schließlich. »Jonathan hat Angelo ins Kittchen gebracht. Und jetzt ist er wieder draußen.« Cassie hatte mit abwechselnder Bestürzung und Belustigung zugehört, doch es war Zweifel, der am Ende blieb. »Ja, und nun?« sagte sie. »Und nun werden, wenn Angelo tobt, die Feindseligkeiten vielleicht wieder aufgenommen.« 230
»O nein.« »Und da sind gewisse Nachteile, mit denen Derry Nummer zwei zu kämpfen hat.« Ich zählte sie an meinen Fingern ab. »Einmal, ich kann nicht schießen. Zweitens, ich verstehe so gut wie nichts von Computern. Und drittens, wenn Angelo mit der Absicht aus dem Knast gestürmt kam, seinen verlorenen Topf Gold aufzuspüren, habe ich keinen Schimmer, wo der ist oder ob er überhaupt noch existiert.« Sie runzelte die Stirn. »Meinst du, darauf ist er aus?« »Wärst du das nicht?« sagte ich düster. »Du verbringst vierzehn Jahre in einer Zelle und brütest darüber, was dir entgangen ist, und träumst von Rache, und ja, du wirst dir beides holen, wenn du rauskommst, und eine Winzigkeit, wie daß du den falschen Mann angefallen hast, bringt dich davon nicht ab.« »Komm ins Bett«, sagte Cassie. »Ich wüßte gerne, ob er noch so denkt wie früher.« Ich sah in ihr zunehmend geliebtes Gesicht. »Ich will doch nicht, daß er hier hereinplatzt und dich als Geisel nimmt.« »Ohne einen Jonathan, der die Telefonleitungen kappt und ein Aufgebot ruft? Komm ins Bett.« »Wie er das wohl gemacht hat?« »Was?« »Die Leitungen gekappt. Es ist ja nicht so einfach.« »Ist mit einer Schere den Mast hochgeklettert«, sagte sie. »Die Masten kann man nicht hochklettern. Sie bieten keinen Halt außer oben.« »Warum überlegst du dir das nach all den Jahren? Komm ins Bett.« »Wegen eines Schlages auf den Kopf.« 231
Sie sagte: »Bist du wirklich besorgt?« »Unruhig.« »Mußt du sein. Ich habe dreimal vom Bett gesprochen, und du sitzt immer noch da.« Ich grinste sie an und stand auf – und in dem Moment brach mit einem mächtigen Krachen von zersplitterndem Holz die Haustür aus dem Schloß. Angelo stand in der Öffnung. Stand noch keine Sekunde, um nach dem Tritt, der ihn hereingebracht hatte, die Balance wiederzufinden, stand da mit schwingendem Baseballschläger, das Gesicht erstarrt in bösem Vorsatz. Weder Cassie noch ich hatten Zeit, zu protestieren oder zu schreien. Er walzte geradewegs herein, wild um sich schlagend, alles zerschmetternd, was ihm nahe kam, eine Lampe, ein paar Strohpuppen, eine Vase, ein Bild … den Fernseher. Wie ein verrückter Wirbelwind verwüstete er die hübsche Einrichtung, und als ich ihn ansprang, traf mich eine Faust ins Gesicht und ein schnelles Knie, das meine Leiste verpaßte, und ich roch seinen Schweiß und hörte seinen Atem schnarren vor Anstrengung und erfaßte auch, was er grimmig dahersagte: Es war nichts als Jonathans und mein Name, wieder und wieder. »Derry – Derry – Scheiß, Scheiß, Derry.« Cassie versuchte mir zu helfen, und er haute mit dem schweren Holzschläger nach ihr und erwischte ihren Arm. Ich sah sie taumeln unter dem Schmerz, und wütend schlang ich einen Arm um seinen Hals, wollte seinen Kopf nach hinten reißen, um ihm so weh zu tun, daß er die Waffe fallen ließ, und wenn es um die Wahrheit geht, wahrscheinlich, um ihn zu erdrosseln. Aber er verstand mehr von dreckigem Kämpfen, als ich je gelernt hatte, und er brauchte gerade mal zwei Ellbogenhiebe und einen knirschenden Ruck an meinen Fingern, um die Schraube 232
zu lösen. Er schüttelte mich mit solcher Kraft ab, daß ich halb stürzte, mich aber noch mit Krakenarmen an seine Kleider klammerte, denn ich wollte nicht, daß ich ganz abgeworfen würde und er noch mal mit diesem Schläger ausholen könnte. Wir polterten in dem demolierten Zimmer herum, während ich mit einer Wildheit, die der seinen mindestens ebenbürtig war, an ihm klebte und er sich freizukämpfen suchte; und es war Cassie, die es schließlich beendete. Cassie, die den messingnen Kohlenkasten vom Kamin an seinem glänzenden Griff gepackt hatte und ihn auf Armlänge im Bogen schwang, gezielt auf Angelos Kopf. Ich sah das Blitzen der schimmernden Oberfläche und spürte den harten Schlag durch Angelos Körper: Und ich ließ ihn los, als er lang auf den Teppich fiel. »O Gott«, sagte Cassie. »O Gott.« Sie hatte Tränen im Gesicht, und sie hielt den linken Arm in einer Weise von ihrem Körper ab, die ich nur zu gut kannte. Angelo atmete sichtbar. Nur betäubt. Bis zum baldigen Erwachen. »Müssen ihn fesseln«, sagte ich atemlos. »Was haben wir da?« Cassie sagte mühsam: »Wäscheleine«, und ehe ich sie aufhalten konnte, war sie in der Küche verschwunden und kam sofort mit einer neuen, noch verpackten Schnur wieder. Kunststoff mit Stahl, besagte das leuchtende Etikett. Wahrhaftig, stark genug für einen Stier. Während ich sie noch mit unsicheren Fingern aufrollte, ertönten Schritte draußen auf dem Weg und ich hatte ein Gefühl der völligen Verzweiflung, ehe ich sah, wer es war. Bananas kam plötzlich an den dunklen Eingang und blieb stocksteif erst einmal stehen, um das wüste Bild in sich aufzunehmen. 233
»Ich sah seinen Wagen wiederkommen. Ich machte gerade dicht …« »Hilf mir ihn fesseln«, sagte ich und nickte zu Angelo, der sich bedenklich rührte. »Er hat das alles angerichtet. Er kommt wieder zu sich.« Bananas drehte Angelo auf das Gesicht und hielt ihm die Hände hinter dem Rücken zusammen, während ich Knoten um die Handgelenke schlang, und führte selbst die Sache weiter, indem er die Schnur von den Handgelenken nach unten zog und sie mit zwei weiteren Knoten um die Knöchel verband. »Er hat Cassie den Arm gebrochen«, sagte ich. Bananas sah auf sie und auf mich und auf Angelo und ging zielbewußt zu dem kleinen Tisch, auf dem wie durch ein Wunder unbeschädigt das Telefon stand. »Warte«, sagte ich. »Warte.« »Aber Cassie braucht einen Arzt. Und ich hol’ die Polizei …« »Nein«, sagte ich, »noch nicht.« »Aber du mußt.« Ich wischte mir die Nase am Handrücken ab und sah zerstreut auf den daraus resultierenden Blutfleck. »Im Bad ist etwas Pethedin und eine Spritze«, sagte ich. »Das hilft schon sehr gegen Cassies Schmerzen.« Er nickte verstehend und sagte, er würde es holen. »Bring den Kasten mit der Aufschrift ›Unfall‹. Er steht auf dem Bord über der Wanne.« Während er in seinem immer wieder erstaunlichen Tempo ging und zurückkam, half ich Cassie auf einen Stuhl und ließ sie ihren linken Arm auf ein Kissen lehnen, das ich auf den Telefontisch legte. Es war der Unterarm, stellte ich fest, der gebrochen war: vermutlich beide 234
Knochen, nach der starren Unbrauchbarkeit ihrer Hand. »William«, sagte sie bleich, »nicht. Es tut weh. Nicht.« »Liebling … Liebling … Er braucht eine Stütze. Laß ihn einfach da liegen. Sträub dich nicht.« Sie tat stumm, was ich sagte, und sah blasser aus denn je. »Ich hab’ es nicht gespürt«, sagte sie. »So nicht … nicht am Anfang.« Bananas brachte den Erste-Hilfe-Kasten und klappte ihn auf. Ich riß die Spritze aus ihrer sterilen Verpackung und zog das Pethedin aus der Ampulle auf. Streifte Cassies Rock über den sonnengebräunten Beinen hoch und injizierte das muskelentspannende Schmerzmittel in den langen Muskel ihres Beins. »Zehn Minuten«, sagte ich, zog die Nadel heraus und rieb die Stelle mit den Knöcheln. »Der Schmerz wird zum großen Teil weggehen. Dann können wir dich zur Unfallstation im Krankenhaus Cambridge bringen und den Arm richten lassen. Näher ist um diese Zeit nichts mehr offen.« Sie nickte leicht, mit dem ersten Aufflackern eines Lächelns, und am Boden begann Angelo mit den Füßen zu zucken. Bananas ging wieder zum Telefon, und wieder hielt ich ihn auf. »Aber William –« Ich blickte um mich auf die krassen Beweise eines leidenschaftlichen Rachebedürfnisses, den Ausbruch eines vierzehn Jahre aufgestauten Hasses. Ich sagte: »Er hat das getan, weil mein Bruder ihn wegen Mordes ins Gefängnis brachte. Er ist auf Bewährung draußen. Wenn wir die Polizei rufen, sitzt er wieder drin.« 235
»Dann erst recht«, sagte Bananas und ergriff den Hörer. »Nein«, sagte ich. »Leg auf.« Er sah verblüfft drein. Angelo am Boden fing an zu brummeln wie im Delirium; eine Mischung aus scheußlichen Schimpfwörtern und lauten, unverständlichunfertigen Sätzen. »Das ist Knast-Paranoia«, sagte Bananas lauschend. »Du hast es schon mal gehört?« »Irgendwann hört man alles in meiner Branche.« »Sieh mal«, sagte ich. »Was passiert, wenn ich ihn wieder ins Gefängnis bringe? Es würde nicht so lange dauern, bis er das nächste Mal draußen wäre, und er hätte für einen ganz neuen, wilden Groll abzurechnen. Und bis dahin könnte er etwas Vernunft angenommen haben und käme vielleicht nicht mit einem Stück Holz angeschwirrt, um nach halbgetaner Arbeit abzuziehen, sondern würde warten, bis er sich eine Pistole beschaffen kann und mir eines Tages, in drei, vier Jahren, damit auflauern und mir den Garaus machen. Das …«, ich winkte mit der Hand, »ist kein Akt der Vernunft. Ich bin nur Jonathans Bruder. Ich selbst habe ihm keinen Schaden zugefügt. Das ist Zorn auf das Leben. Blinde, maßlose, unbändige Wut. Ich kann darauf verzichten, daß er sie in Zukunft auf mich persönlich konzentriert.« Ich zögerte. »Ich muß eine bessere … eine endgültigere Lösung finden. Wenn ich kann.« »Du meinst doch nicht …«, sagte Bananas vorsichtig. »Was?« »Ihn … ihn … Nein, das kann nicht sein.« »Nicht diese Endlösung, nein. Obwohl der Gedanke nicht schlecht ist. Zementgamaschen und eine Talfahrt in die Nordsee.« 236
»Tank voller Piranhas«, meinte Cassie. Bananas sah sie mit Erleichterung an und lachte beinahe, und schließlich legte er den Hörer zurück auf die Gabel. Angelo hörte auf zu brummeln und wachte ganz auf. Als er begriff, wo er war und in welchem Zustand, überzog sich seine Haut, die bis dahin blaß gewesen war, mit Rot: das Gesicht, der Hals, sogar die Hände. Er wälzte sich halb auf den Rücken herum und erfüllte das Zimmer mit der Intensität seiner Wut. »Wenn Sie anfangen zu fluchen«, sagte ich, »kneble ich Sie.« Mit Mühe verbiß er es sich, und ich betrachtete zum ersten Mal voll und ganz sein Gesicht. Es war nicht sehr viel geblieben von dem Mann, dessen Bild ich einst in einer Zeitung studiert hatte; keine Jugend, kein schwarzes Haar, kein schmales Kinn, keine lange dünne Nase. Alter, Erbanlagen, Gefängnisnahrung, alles hatte ihn mit Fettpolstern ausgestattet, die die Umrisse des Kopfes und den Umfang des Körpers entstellten. Durchschnittsverstand, hatte Jonathan gesagt. Nicht clever. Verläßt sich auf seine Angstmache und hat damit Erfolg. Verachtet alle und jeden. Nennt sie Mißgeburt und Gimpel. »Angelo Gilben«, sagte ich. Er zuckte zusammen und sah überrascht aus, als hätte er gedacht, ich würde ihn nicht kennen: Und so wäre es ja auch gewesen, wenn Jonathan nicht angerufen hätte. »Damit wir klarsehen«, sagte ich. »Es war nicht mein Bruder, der Sie ins Gefängnis gebracht hat. Das haben Sie sich selbst angetan.« Cassie murmelte: »Inhaftierte Verbrecher sind freiwillig in Haft.« 237
Bananas staunte sie an. »Meinem Arm geht’s, besser«, sagte sie. Ich starrte herunter auf Angelo. »Sie wählten das Gefängnis, als Sie Chris Norwood erschossen haben. Diese vierzehn Jahre waren Ihre eigene Schuld, also warum sie an mir auslassen?« Es machte keinen Eindruck. Das hatte ich auch nicht wirklich erwartet. Anderen die Schuld an den eigenen Schwierigkeiten zu geben, war gängige Münze. Angelo sagte: »Dein Scheißbruder hat mich reingelegt. Er hat mich um mein Eigentum betrogen.« »Er hat Sie um nichts betrogen.« »Er hat.« Die Worte waren ein tiefer Baß, grimmig und bestimmt, ein Knurren in der Kehle. Cassie zitterte vor der Bedrohung, die Angelo sogar schmählich auf einem Fußboden gefesselt erzeugen konnte. Der Topf voll Gold, dachte ich plötzlich, mochte seine Verwendung haben. Angelo schien innerlich zu kämpfen, doch schließlich brachen die Worte aus ihm heraus, wütend, frustriert, immer noch berstend vor einem Zorn, der nicht wußte, wohin. »Wo ist er?« sagte er. »Wo ist dein Scheißbruder? Ich kann ihn nicht finden.« Bei allen Heiligen … »Er ist tot«, sagte ich kalt. Angelo verschwieg, ob er mir glaubte oder nicht, doch die Neuigkeit änderte nichts an seiner allgemeinen Laune. Bananas und Cassie offenbarten eine gewisse Steifheit, hielten aber zum Glück den Mund. Ich sagte zu Bananas: »Könntest du einen Moment auf ihn acht geben, während ich ein Telefongespräch führe?« »Stunden, wenn du willst.« 238
»Geht es dir gut?« fragte ich Cassie. »Dieses Zeug ist unglaublich.« »Dauert nicht lange.« Ich nahm das ganze Telefon vom Tisch neben ihr und brachte es ins Büro, dessen Tür ich im Hineingehen schloß. Ich rief Kalifornien an, dachte, Jonathan würde überall sein, nur nicht daheim, ich würde Sarah erwischen, es wäre Siestazeit unter der goldenen Sonne. Aber Jonathan war da, und er meldete sich. »Mir kam gerade ein Gedanke«, sagte ich. »Diese Kassetten, die Angelo Gilbert hatte, hast du die noch?« »Ach du Schreck«, sagte er. »Wüßte ich nicht.« Eine Pause, während er überlegte. »Nein, wir haben alles ausgeräumt, als wir von Twickenham weg sind. Du erinnerst dich, wir haben die Möbel verschachert und hier neue gekauft. Ich wollte so ziemlich alles los sein. Außer den Gewehren natürlich.« »Hast du die Bänder weggeworfen?« »Hm«, sagte er. »Das war ein Satz, den ich Mrs. O’Rorke schickte und wieder zurückbekam. Ach ja, ich habe sie Ted Pitts gegeben. Wenn irgend jemand sie noch hat, müßte es Ted sein. Aber ich kann mir nicht denken, daß sie nach all den Jahren noch viel wert sind.« »Die Bänder selbst oder das Wettsystem?« »Das System. Es muß längst überholt sein.« Es würde nicht allzuviel ausmachen, dachte ich. »Hier drüben gibt es jetzt eine Menge Computerprogramme für bessere Pferdewetten«, sagte Jonathan. »Manche funktionieren, heißt es.« »Du hast sie nicht ausprobiert?« »Ich bin kein Glücksspieler.« 239
»Ach nein?« »Wofür willst du denn die Bänder?« sagte er. »Um Angelo noch mal lahmzulegen.« »Sei vorsichtig.« »Natürlich. Wo könnte ich Ted Pitts finden?« Er riet mir zweifelnd, es bei der East-MiddlesexGesamtschule zu versuchen, wo sie beide unterrichtet hatten, meinte aber, es sei unwahrscheinlich, daß er noch dort wäre. Sie hätten überhaupt keinen Kontakt miteinander gehabt, seit er ausgewandert sei. Vielleicht könnte ich Ted über die Lehrergewerkschaft aufspüren, die womöglich seine Adresse hätte. Ich dankte ihm und legte auf und ging zurück ins Wohnzimmer, wo alle noch ziemlich so aussahen, wie ich sie verlassen hatte. »Ich habe ein Problem«, sagte ich zu Bananas. »Bloß eins?« »Zeit.« »Ah. Das Grundübel.« »Mm.« Ich starrte auf Angelo. »Unter dem kleinen Haus hier ist ein Keller.« Angelo hatte keine Angst, das mußte man ihm lassen. Ich konnte ganz deutlich sehen, daß er begriff, daß ich nicht vorhatte, ihn laufenzulassen, doch seine einzige Reaktion war Angriffslust, so daß er heftig gegen die Wäscheschnur ankämpfte. »Gib auf ihn acht«, sagte ich zu Bananas. »Da ist Zeug im Keller. Ich räume ihn leer. Wenn es aussieht, als würde er sich befreien, zieh ihm noch eins über den Kopf.« Bananas blickte mich an, als hätte er mich noch nie gesehen; und vielleicht hatte er auch nicht. Ich legte kurz 240
eine entschuldigende Hand auf Cassies Schulter, als ich ging, und öffnete in der Küche die eingeklinkte Tür, die zur Treppe in den Keller führte. Unten war es kühl und trocken: ein ziegelverkleideter Raum mit Betonboden und einer einsam von der Decke hängenden Glühbirne. Als wir in das Cottage gekommen waren, hatten wir hier die Gartenstühle gestapelt gefunden, aber sie waren jetzt draußen im Gras, so daß nur Krimskrams übrigblieb wie ein Ölofen, etliche Dosen Farbe, eine Trittleiter und ein Stoß Angelzeug. Ich trug alles in Stationen die Treppe hinauf und lud es in der Küche ab. Als ich fertig war, enthielt der Keller nichts, was einem Gefangenen helfen konnte, doch wegen der Beschaffenheit der schloßlosen Tür würde ich ihn trotzdem gefesselt lassen müssen. Sie bestand einfach aus senkrechten Brettern mit Querstreben oben, unten und in der Mitte, das Ganze zusammengeschraubt, glücklicherweise mit den Schraubköpfen auf der Küchenseite. Nahe der Oberkante verliefen sechs daumendicke Löcher, vermutlich zur Entlüftung. Eine hinreichende Schranke gegen die meisten Eventualitäten, aber einem Tritt wie dem, mit dem der Feind sich Einlaß verschafft hatte, würde sie nicht unbedingt standhalten. »Gut«, sagte ich, als ich wieder ins Wohnzimmer kam. »Jetzt kommen Sie, Angelo, in den Keller. Ihre einzige Alternative ist eine sofortige Rückkehr ins Zuchthaus, denn all dies …«, ich deutete auf das Zimmer, »… und das …«, Cassies Arm, »… würde Ihre Bewährung aufheben und Sie geradewegs wieder hinter Gitter bringen.« »Das kannst du verdammt nicht«, sagte er wütend. »Ich kann verdammt. Sie haben damit angefangen. Sie tragen bitteschön die Konsequenzen.« »Ich mach dich alle.« 241
»Klar. Versuchen Sie es nur. Sie liegen falsch, Angelo. Ich bin nicht mein Bruder. Er war schlau und gerissen und hat Sie nach Belieben ausgetrickst, aber er hatte nie körperliche Gewalt angewendet; und ich tue das, Sie Gimpel, ich tue das.« Angelo gebrauchte Worte, bei denen Bananas zusammenzuckte und besorgt zu Cassie sah. »Ich hab’ so was schon mal gehört«, sagte sie. »Sie haben die Wahl, Angelo«, sagte ich. »Entweder Sie lassen sich von meinem Freund und mir ohne Gegenwehr vorsichtig die Treppe runter tragen, oder Sie wehren sich und ich zerre Sie an den Beinen runter.« Der Gesichtsverlust der kampflosen Aufgabe erwies sich als zuviel. Er versuchte mich zu beißen, als ich mich herunterbeugte, um meine Arme unter seine Achseln zu schieben, also tat ich, was ich gesagt hatte; packte die Leine, die seine Knöchel umschloß und schleifte ihn mit den Füßen voran aus dem Wohnzimmer, durch die Küche und die Kellertreppe herunter, während er auf dem ganzen Weg schrie und fluchte.
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14 Ich zerrte ihn ein ganzes Stück weg von den Stufen, ließ seine Beine los und ging zurück in die Küche. Er brüllte gotteslästerlich hinter mir her, und ich konnte ihn noch hören, als die Tür geschlossen war. Soll er nur brüllen, dachte ich gleichgültig, doch ich ließ das eine Licht an, dessen Schalter draußen an der Küchenwand war. Ich blockierte die Klinke, indem ich einen Messergriff in den Schlitz schob, und obendrein stapelte ich die Trittleiter, den Tisch und ein paar Stühle zu einer geschlossenen Linie zwischen den Kühlschrank und der Kellertür, so daß sie unmöglich normal zur Küche hin zu öffnen war. Im Wohnzimmer sagte ich ohne Hast: »Okay, Zeit für Entscheidungen, Freunde.« Ich sah Bananas an. »Es ist nicht deine Auseinandersetzung. Wenn du es vorziehst, kannst du dich wieder deinem Geschirrspülen widmen und vergessen, daß die Sache hier je passiert ist.« Er schaute sich resigniert im Zimmer um. »Ich habe versprochen, daß ihr das Haus verlassen würdet, wie ihr es vorgefunden habt. Praktisch meine Seele verpfändet.« »Ich werde ersetzen, was ich kann. Für den Rest bezahlen. Und am Boden kriechen. Genügt das?« »Mit dem Vieh werdet ihr allein nicht fertig.« Er schüttelte den Kopf. »Wie lange willst du ihn denn festhalten?« »Bis ich einen Mann namens Pitts finde.« Ich erklärte ihm und Cassie, was ich vorhatte und warum, und Bananas seufzte und meinte, unter den Umständen erscheine es ganz vernünftig, und er werde helfen, wo er könne. 243
Wir bugsierten Cassie behutsam in meinen Wagen, und ich fuhr sie nach Cambridge, während Bananas in seiner effektiven Art sich daran gab, das Wohnzimmer aufzuräumen. An der zersplitterten und unverschließbaren Haustür war zu diesem Zeitpunkt nicht sonderlich viel zu machen, und er versprach, im Cottage zu bleiben, bis wir zurückkamen. Schließlich war dann nur ich es, der zurückkehrte. Ich saß mit Cassie die lange Wartezeit in dem stillen Krankenhaus ab, während sie jemanden aufzutreiben suchten, der ihren Arm röntgen würde, aber es schien, daß nach Mitternacht die Röntgenabteilung fest geschlossen war, da alle Radiologen daheim schliefen, und daß nur die dringendste chirurgische Notwendigkeit sie zurückrufen konnte. Cassie erhielt eine sorgfältige Schiene von der Schulter zu den Fingernägeln sowie ein weiteres Schmerzmittel und ein Bett, und als ich sie zum Abschied küßte, sagte sie: »Vergiß nicht, den Stier zu füttern«, was die Krankenschwestern auf medikamentös bedingte Benommenheit zurückführten. Bananas schlief, als ich wiederkam, lang auf dem Sofa und träumte, möchte ich behaupten, von Palmen. Das Durcheinander, das ich hinter mir gelassen hatte, war wunderbar behoben und jegliche Scherbe außer Sicht. Viele Dinge fehlten, doch insgesamt sah es eher wie ein Raum aus, den die Besitzer wiedererkennen würden. Dankbar ging ich leise in die Küche und fand meine Barrikade verändert und verstärkt durch vier Planken, die in der Garage gelegen hatten, die Tür jetzt von oben bis unten verkeilt. Der Lichtschalter war hoch. Abgesehen von den schwachen Strahlen, die durch die Lüftungslöcher dringen mochten, lag Angelo im Dunkeln. 244
Obwohl ich leise war, hatte ich Bananas aufgeweckt, der sich aufrichtete, sich in den Nasenrücken kniff und die schweren Augenlider blinzelnd öffnete und schloß. »Die Einzelteile sind alle in der Garage«, sagte er. »Nicht im Mülleimer. Ich dachte mir, du könntest sie auf die eine oder andere Art noch brauchen.« »Du bist großartig«, sagte ich. »Hat Angelo versucht, herauszukommen?« Bananas schnitt ein Gesicht. »Ein entsetzlicher Mensch ist das.« »Du hast mit ihm geredet?« »Er brüllte durch die Tür, ihm würden die Hände absterben, weil du ihn zu straff gefesselt hättest. Ich ging nachsehen, aber es stimmte nicht, seine Finger waren durchblutet. Er war halb die Treppe hoch und hat versucht, mich umzuwerfen. Wollte mir die Beine wegfegen, damit ich hinfiel. Weiß Gott, was er sich davon versprochen hat.« »Wahrscheinlich, daß mir angst wird und ich ihn laufen lasse.« Bananas kratzte sich um die Rippen. »Ich ging rauf in die Küche, schlug ihm die Tür vor der Nase zu und schaltete das Licht aus, und er schrie noch eine Ewigkeit, was er mit dir anstellen würde, wenn er rauskäme.« Hält seinen Mut beisammen, dachte ich. Ich blickte auf meine Uhr. Fünf. Bald schon wieder hell. Bald schon Freitag mit all seinen Problemen. »Ich schätze«, sagte ich gähnend, »daß ein Auge voll Schlaf nichts schaden kann.« »Und der da?« Er ruckte den Kopf nach der Küche. »Er wird schon nicht ersticken.« »Du bist eine Offenbarung für mich«, sagte Bananas. 245
Ich grinste ihn an, und ich glaubte, er fand mich genauso skrupellos wie unseren Besucher. Aber er irrte sich. Ich war ziemlich sicher, daß Angelo an diesem Abend wiedergekommen war, um zu töten, zu Ende zu bringen, was er vorher angefangen hatte, da er inzwischen wußte, wer ich war und nicht mit einer Cassie rechnete. Ich war sanft im Vergleich zu ihm. Bananas ging heim zu seiner Geschirrspülmaschine, und ich nahm seinen Platz auf dem Sofa ein, da mir das Schlafzimmer zu sehr außer Reichweite schien. Trotz der hektischen Nacht schlief ich sofort ein und erwachte gegen massiven inneren Widerstand um sieben Uhr, um den Wecker abzustellen. Die Pferde würden auf der Heide arbeiten, Simpson Shell hatte eine Prüfung für zwei Spätentwickler unter den Dreijährigen angesetzt, und wenn ich nicht dort war und zuschaute, würde er an Luke Houston schreiben, ich sei ein Drückeberger … und ob Angelo oder nicht, ich wollte auf jeden Fall sehen, wie diese Pferde gingen. Ich liebte die Heide am frühen Morgen, wenn die Mähnen unter dem weiten Himmel flogen. Meine Zuneigung für Pferde reichte so weit zurück, daß ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte. Sie waren ein freundliches fremdes Volk, das in unserem Land lebte, sich von den menschlichen Nachbarn pflegen und füttern ließ, sie ebensosehr als Diener wie als Herren akzeptierte. Schnell, bezaubernd, im wesentlichen ungezähmt, waren sie meine Leidenschaft, meine alten Schuhe, der Ort, an den mein Herz zurückfand, für mich so notwendig wie für Seeleute das Meer. Selbst an diesem Morgen hoben sie meine Laune, und ich beobachtete den Probegalopp mit einer Konzentration, die Angelo nicht durchbrechen konnte. Einer der Dreijährigen endete hervorragend und Simpson sagte, auf 246
Höflichkeit bedacht, er hoffe, daß ich Luke berichten würde, wie gut der Hengst aussah. »Ich werde Luke sagen, daß Sie Wunder an ihm vollbracht haben. Wissen Sie noch, wie unausgeglichen er im Mai aussah? Der siegt nächste Woche, meinen Sie nicht?« Er starrte mich gewohnt vieldeutig an, da er meinen Beifall zwar brauchte, ihn aber haßte. Ich lächelte innerlich und ließ ihn allein, um die kurze Strecke dahin zu fahren, wo Mort seine Koppel dirigierte. »Alles in Ordnung?« fragte ich. »Na ja, ja«, sagte Mort. »Genotti macht sich immer noch raus für das Leger.« Er schnippte sechsmal rasch mit den Fingern. »Können Sie zum Frühstück mit ins Haus kommen? Die Bungay-Stute frißt immer noch nicht richtig, und ich dachte, wir besprechen vielleicht mal, was da zu machen ist. Sie haben mitunter Ideen. Und da ist die Rechnung für Luke. Ich will ein oder zwei Posten klären, ehe Sie danach fragen.« »Mort«, unterbrach ich ihn bedauernd, »könnten wir es ein, zwei Tage aufschieben? Es ist etwas dazwischengekommen, was ich erst erledigen muß.« »So? Ah.« Er klang enttäuscht, denn ich hatte ihm noch nie etwas abgeschlagen. »Nichts drin?« »Tut mir wirklich leid«, sagte ich. »Ich könnte heute nachmittag mit Ihnen reden«, schlug er arg zappelnd vor. »Ähm, ja. Natürlich.« Er nickte zufrieden und ließ mich bereitwillig ziehen, und ich hatte Zweifel, ob ich tatsächlich zu den Veranstaltungen an diesem Tag auf der Rennbahn in 247
Newmarket erscheinen würde, auch wenn drei von Lukes Pferden starteten. Auf meinem Rückweg durch die Stadt hielt ich an einigen Läden, die früh geöffnet waren, und kaufte für meinen Gefangenen Lebensmittel und ein paar Gebrauchsartikel. Dann rumpelte ich die sechs Meilen zum Dorf und hielt erst noch an der Kneipe. Bananas, der ganz wie immer aussah, hatte sein Geschirr gewaschen, die Bar geputzt und Betty mit der Bemerkung auf die Palme gebracht, daß sie zu alt sei, um noch Reiten zu lernen. »Die alte Ziege weigert sich, die Selleriecreme zum Lunch zu machen. Arbeitet nach ihren blöden Vorschriften.« Angewidert stellte er sein Frühstück zusammen, gab zerhackten Ingwer als Garnierung auf das Eis und überschüttete das Ganze mit reichlich Brandy. »Ich war noch mal unten im Cottage. Kein Pieps von deinem Freund.« Er rührte sein Gebräu in freudiger Erwartung um. »Von draußen kann man nichts hören, egal, wie laut er schreit. Das habe ich gestern abend schon festgestellt. Im Garten kannst du ruhig Besuch empfangen.« »Danke.« »Wenn ich hiermit fertig bin, komme ich und helfe dir.« »Großartig.« Ich hatte ihn nicht fragen wollen, aber ich war äußerst dankbar für sein Angebot. Ich fuhr weiter zum Cottage und verfrachtete alles Eingekaufte in die Küche, und Bananas erschien in seinen Tennisschuhen, als ich gerade Essen in eine Tragetüte packte. Er sah auf den kleinen Stapel Sachen, die ich an der Tür bereitgestellt hatte. »Bringen wir es hinter uns«, sagte er. »Ich trag das da.« 248
Ich nickte. »Er wird erst vom Licht geblendet sein, wir müßten also, auch wenn er sich befreit hat, im Vorteil sein.« Wir entfernten ein Teil der Barrikade vor der Tür, und als sie genügend zu öffnen war, zog ich das Messer unter der Klinke heraus, nahm die Tragetüte, knipste das Kellerlicht an und trat in den Käfig. Angelo lag mit dem Gesicht nach unten mitten auf dem Boden, noch so verschnürt, wie wir ihn zurückgelassen hatten: die Arme hinterm Rücken, weiße Wäscheleine, die locker zwischen gefesselten Handgelenken und gefesselten Knöcheln verlief. »Es ist Morgen«, sagte ich fröhlich. Angelo bewegte sich kaum. Er sagte ein paar leise Worte, von denen »Scheißer« das einzig unterscheidbare war. »Ich habe Ihnen etwas zu essen gebracht.« Ich lud in einer Ecke die Tragetüte ab, die genaugenommen zwei geschnittene Brote enthielt, mehrere Tüten Milch, etwas Wasser in einer Plastikflasche, zwei große gekochte Hühnchen, einige Äpfel und eine Menge verschiedene Schokoriegel und Schokoladen. Bananas stellte schweigend seine eigene Last ab, die aus einer Decke, einem billigen Kissen, einigen Taschenbüchern und zwei Polystrol-Nachttöpfen mit Deckel bestand. »Ich lasse Sie zwar nicht raus«, sagte ich zu Angelo, »aber ich binde Sie los.« »Leck mich«, sagte er. »Hier ist Ihre Uhr.« Ich hatte sie ihm am Abend vorher vom Handgelenk gestreift, um das Fesseln zu erleichtern. Ich nahm sie aus meiner Tasche und legte sie nahe seinem Kopf auf den Boden. »Licht geht um elf heute abend aus«, sagte ich. 249
Es erschien ratsam, an diesem Punkt Angelos Taschen zu durchsuchen, aber das einzige, was er bei sich hatte, war Geld. Kein Messer, kein Streichholz, keine Schlüssel: Nichts, was ihm zur Flucht verhelfen konnte. Ich nickte Bananas zu, und beide fingen wir an, die Knoten zu lösen, ich an den Handgelenken, Bananas an den Knöcheln, aber Angelos Befreiungsversuche hatten unser ursprüngliches Werk derart gestrafft, daß es zeitraubend und mühsam war, es auseinanderzubringen. Sobald Angelo frei war, wickelten wir die Leine auf und zogen uns auf die Treppe zurück, von wo ich beobachtete, wie er sich steif in eine kniende Stellung hob, während seine Arme baumelten und noch nicht richtig mitmachten. Die Luft im Keller hatte ziemlich frisch gewirkt. Ich schloß die Tür und blockierte den Riegel, und Bananas errichtete mit methodischer Gründlichkeit die Barrikade wieder. »Wieviel Essen hast du ihm gegeben?« fragte er. »Genug für zwei bis vier Tage. Kommt darauf an, wie schnell er es ißt.« »Er ist ans Eingesperrtsein ja gewöhnt, das steht fest.« Bananas, dachte ich, war damit beschäftigt, restliche Zweifel zu unterdrücken. Er rückte die vier Planken an ihren Platz zwischen der Kellertür und dem Kühlschrank und bemerkte nebenbei, daß er das Holz in der Nacht zurechtgesägt hätte. »Ist sicherer so«, sagte er. »Er kommt nicht raus.« »Hoffentlich hast du recht.« Bananas trat zurück, die Hände auf den Hüften, um seine Arbeit zu begutachten, und tatsächlich war ich so überzeugt, wie man nur sein konnte, daß Angelo sich nicht würde heraushauen können, besonders, da er es ja versuchen müßte, während er auf der Treppe stand. 250
»Irgendwo muß hier sein Wagen sein«, sagte ich. »Den such’ ich mal, wenn ich das Krankenhaus angerufen habe.« »Ruf du an, ich suche«, sagte Bananas und machte sich auch schon auf den Weg. Cassie, sagte man mir, bekomme im Laufe des Vormittags unter Narkose den Arm gerichtet. Ich könne sie am Abend um sechs abholen, wenn alles glattginge. »Kann ich sie sprechen?« »Einen Moment.« Ihre Stimme kam langsam und schläfrig in die Leitung. »Ich bin angesäuselt von der Vorbehandlung«, sagte sie. »Wie geht’s unserm Gast?« »Munter wie ein Känguruh mit Blasen an den Füßen.« »Auf … hundertachtzig?« »Diese Vorbehandlung wirkt nicht«, sagte ich. »Klar doch. Mein Körper schwimmt, aber mein Gehirn sprüht weiter in Billionen Funken. Es ist verrückt.« »Sie sagen, ich kann dich um sechs holen.« »Laß mich … nicht warten.« »Muß ich vielleicht«, sagte ich. »Du liebst mich nicht.« »Ha.« »Süßer William«, sagte sie. »Ein hübsches Blümchen.« »Cassie, schlaf mal.« »Mm.« Sie klang unendlich schlaftrunken. »Tschüs«, sagte ich, aber ich glaube nicht, daß sie es hörte. Als nächstes telefonierte ich mit ihrem Büro, erklärte ihrem Boss, sie sei die Kellertreppe hinuntergefallen und 251
hätte sich dabei den Arm gebrochen, und wahrscheinlich käme sie irgendwann nächste Woche wieder zur Arbeit. »Wie ärgerlich«, meinte er. »Äh … für sie natürlich.« »Natürlich.« Bananas kam zurück, als ich den Hörer auflegte, und sagte, Angelos Wagen sei harmlos am Ende der Straße geparkt, wo der harte Belag in den schlammigen Feldweg auslief. Angelo hatte die Schlüssel in der Zündung stecken lassen. Bananas warf sie auf den Tisch. »Ruf, wenn du was willst«, sagte er. Ich nickte dankbar, und er trottete davon, ein Kraftwerk in einem Kostüm aus Speck. Ich machte mich an die Aufgabe, Ted Pitts zu finden und rief als erstes in Jonathans alter Schule an, der Gesamtschule East Middlesex. Eine weibliche Stimme dort sagte mir forsch, daß gegenwärtig niemand dieses Namens zum Kollegium gehörte und daß niemand vom gegenwärtigen Kollegium mir helfen könne, da niemand dort sei: das neue Halbjahr fange erst in einer Woche an. Der einzige Lehrer, der wohl schon vor vierzehn Jahren an der Schule unterrichtet habe, könne sie sich vorstellen, sei Mr. Ralph Jenkins, aber er sei Ende des Sommerhalbjahres in Pension gegangen, und auf jeden Fall wäre es unwahrscheinlich, daß irgendeiner seiner früheren Mitarbeiter mit ihm Kontakt gehalten hätte. »Wieso das?« fragte ich neugierig. Nach einem ganz winzigen Zögern sagte die Stimme ungerührt: »Mr. Jenkins selbst hätte es mißbilligt.« Oder in anderen Worten, dachte ich, Mr. Jenkins war ein giftiger alter Bastard gewesen. Ich dankte ihr für das wenige, das ich realistischerweise erwartet hatte, und fragte, ob sie die Adresse der Lehrergewerkschaft nennen könne. 252
»Möchten Sie auch die Telefonnummer?« »Ja, bitte.« Sie nannte mir beides, und ich ließ mich mit dem Gewerkschaftsbüro verbinden. Ted Pitts? Edward? Anzunehmen, sagte ich. Ob ich warten könne. Ja, ich konnte. Die Stimme am anderen Ende, ein Mann diesmal, sagte mir kurz darauf, daß Edward Farley Pitts kein Mitglied mehr sei. Er habe seine Mitgliedschaft fünf Jahre zuvor gekündigt. Seine zuletzt bekannte Anschrift sei noch in Middlesex. Ob ich sie haben wolle. Ja, bitte, sagte ich. Wieder erhielt ich eine Telefonnummer zusammen mit der Anschrift. Dort meldete sich erneut eine weibliche Stimme, diesmal mit Musik und Kinderstimmen laut im Hintergrund. »Was?« sagte sie. »Ich kann Sie nicht verstehen.« »Ted Pitts«, rief ich. »Können Sie mir sagen, wo er wohnt?« »Sie sind falsch verbunden.« »Er hat früher in Ihrem Haus gewohnt.« »Was? Einen Moment mal … still jetzt, ihr Lauser. Was haben Sie gesagt?« »Ted Pitts …« »Terry, schalt das verdammte Radio aus. Versteh ja meine eigenen Gedanken nicht. Schalt es aus. Los, schalt es aus.« Die Musik endete plötzlich. »Was haben Sie gesagt?« fragte sie nochmals. Ich erklärte, daß ich meinen verschollenen Freund Ted Pitts finden wolle. »Mann mit drei Töchtern?« 253
»Das ist richtig.« »Von ihm haben wir das Haus hier gekauft. Terry, knall noch einmal Michelles Kopf an die Wand und ich schlag’ dir die Zähne ein. Wo war ich? Ah, ja, Ted Pitts. Er gab uns seine Adresse zum Nachsenden, aber das ist Jahre her, und ich weiß nicht, wo mein Mann sie hingetan hat.« Es sei wirklich wichtig, sagte ich. »Na, wenn Sie dranbleiben, guck’ ich mal. Terry. Terry!« Eine Ohrfeige ertönte, dann ein kindliches Heulen. Die Freuden der Mutterschaft, dachte ich. Ich blieb eine Ewigkeit dran und lauschte dem verzerrten Lärm der zankenden Geschwister, blieb so lange dran, daß ich schon dachte, sie hätte mich völlig vergessen und ließe mich einfach versauern, aber schließlich kam sie doch noch. »Entschuldigen Sie, daß es so lange gedauert hat, aber in diesem Haus findet man gar nichts. Jedenfalls hab’ ich raus, wo er hingezogen ist.« »Sie sind ein Goldstück«, sagte ich und schrieb es auf. Sie lachte erfreut. »Wollen Sie mal vorbeikommen? Diese verdammten Bälger hab’ ich satt bis zu den Ohren.« »Nächste Woche fängt die Schule an.« »Gott sei Dank.« Ich legte auf und probierte die Nummer, die sie mir gegeben hatte, aber da meldete sich niemand. Zehn Minuten später, wieder niemand. Ich ging in die Küche. Vom Keller her war es ruhig. Ich aß ein paar Cornflakes, trottete unruhig herum und versuchte die Nummer erneut. Nichts. Es gab doch etwas, dachte ich, als ich daraufblickte, was ich sofort mit der Haustür unternehmen könnte. Im 254
Moment paßte sie nicht mal in den Rahmen, aber mit einem Stemmeisen und Sandpapier … Ich holte beides aus dem Werkzeugregal in der Garage, ebnete die scharf gesplitterten Stellen zu glatten Kanten und schloß zu guter Letzt die Tür, indem ich das kaputte Schloß vollends entfernte. Von außen sah sie intakt aus, schwang aber bei bloßer Berührung nach innen: Und wir hatten liebe, aber neugierige Nachbarn, die manchmal anklopften, um uns Honig zu verkaufen. Wieder wählte ich Ted Pitts’ mögliche Nummer. Keine Antwort. Achselzuckend rückte ich eine kleine Kommode quer vor die Eingangstür und kletterte durch das Eßzimmerfenster hinaus. Fuhr runter zur Kneipe, sagte Bananas, wie man hineinkam. »Erwartest du, daß ich -?« »Eigentlich nicht. Nur für alle Fälle.« »Wo fährst du denn hin?« fragte er. Ich zeigte ihm die Adresse. »Es ist eine Möglichkeit.« Die Adresse war in Mill Hill, am nördlichen Stadtrand von London. Auf der Fahrt dorthin konzentrierte ich mich entschlossen auf den Verkehr und nicht auf Cassie, die Bewußtlose, und Angelo, den Gefangenen. An diesem Punkt den Wagen kaputtzufahren, konnte die absolute Katastrophe sein. Als ich das Haus fand, erwies es sich als ein mittelgroßer, alleinstehender Kasten in einer Straße voller Bäume und Schläfrigkeit, und es stand leer. Ich ging die Auffahrt hoch und sah durch die Fenster. Nackte Wand, nackte Fußböden, keine Gardinen. Mit nachlassendem Schwung klingelte ich am nächsten Haus, und obwohl es sichtlich bewohnt wurde, war da 255
ebenfalls niemand. Ich versuchte es bei mehreren weiteren Häusern, aber keiner, mit dem ich sprach, wußte irgend etwas mehr von Ted Pitts als ja, vielleicht hatte man ein paar Mädchen ein und aus gehen sehen, aber durch all die Bäume und Sträucher war man freilich von den Nachbarn abgeschirmt, was natürlich bedeutete, daß man sie auch nicht sehen konnte. In einem der schräg gegenüberliegenden Häuser, von wo nur eine Ecke des Vorgartens der Pitts’ sichtbar war, fand ich schließlich einige Hilfe. Die Haustür wurde einen Fußbreit von einer beleibten Frau mit rosa Lockenwicklern geöffnet, um deren Beine eine Meute diverser kleiner Hunde strich. »Wenn Sie was zu verkaufen haben, will ich es nicht«, sagte sie. Ich setzte ihr die Geschichte vor, die ich mittlerweile ersonnen hatte, nämlich daß Ted Pitts mein Bruder sei, mir seine neue Adresse geschickt, ich sie aber verloren hätte und daß ich dringend mit ihm in Verbindung treten wolle. Nach sechsmaligem Wiederholen glaubte ich sie fast schon. »Ich habe ihn nicht gekannt«, sagte sie, ohne die Tür irgend weiter zu öffnen. »Er hat hier nicht lange gewohnt. Ich glaube sogar, ich habe ihn nie gesehen.« »Aber, äh, Sie haben mitgekriegt, daß sie eingezogen sind … und wieder aus.« »Beim Spazierengehen mit den Hunden halt.« Sie schaute liebevoll auf ihre Meute nieder. »Ich komme jeden Tag da vorbei.« »Wissen Sie noch, wann sie weg sind?« »Eine Ewigkeit muß das her sein. Komisch, daß Ihr Bruder Sie nicht benachrichtigt hat. Das Haus stand wochenlang zum Verkauf, nachdem sie weg waren. 256
Tatsächlich ist es gerade erst an den Mann gekommen. Erst vorige Woche sah ich, wie die Makler das Schild weggeholt haben.« »Sie erinnern sich nicht zufällig«, sagte ich behutsam, »an den Namen des Maklers?« »Himmel«, antwortete sie. »Ich muß hundertmal dran vorbeigelaufen sein. Lassen Sie mich mal überlegen.« Sie starrte auf ihre Tiere, die Stirn gefältelt vor Konzentration. Ich konnte immer noch nur die Hälfte ihres Körpers sehen, aber ich wußte nicht, ob der defensive Winkel dazu gedacht war, die Hunde drin zu halten oder mich draußen. »Huntbleach«, rief sie aus. »Bitte?« »Hunt Komma BLEACH.« Sie buchstabierte es. »Die Namen der Makler. Ein gelbes Schild mit schwarzer Schrift. Das sehen Sie hier überall, wenn Sie sich umgucken.« Ich sagte inbrünstig: »Haben Sie vielen Dank.« Sie nickte mit den rosa Lockenwicklern und schloß sich ein, und ich fuhr umher, bis ich ein gelbes Schild mit der hiesigen Adresse von Hunt, Bleach fand: Broadway, Mill Hill. Die Brudergeschichte brachte ihren inzwischen vertrauten Ertrag an mitfühlenden und/oder mitleidigen Blicken, führte schließlich aber zu Ergebnissen. Ein etwas mürrisch aussehendes Mädchen sagte, das Haus sei, wenn sie nicht irre, von Mr. Jackman betreut worden, der jetzt in Urlaub sei. »Könnten Sie in den Akten nachsehen?« Sie beriet sich mit verschiedenen Kollegen, die, von mir gedrängt, zaghaft bejahten, daß sie es unter den Umstän257
den vielleicht mal dürfe. Sie ging in ein inneres Büro, und ich hörte Schrankschubladen auf- und zugehen. »Bitte sehr, Mr. Pitts«, sagte sie, als sie wiederkam, und ich brauchte ein Momentchen, bis ich begriff, daß ich natürlich auch ein Pitts war. »Ridge View, Oaklands Road.« Sie nannte mir keine Stadt. Ich dachte: Er ist noch hier. »Könnten Sie mir sagen, wie ich dahin komme?« Sie schüttelte ungefällig den Kopf, aber einer der Kollegen sagte: »Sie fahren den Broadway wieder hoch, ganz um den Platz herum, bis Sie die Nase Richtung London haben, dann die erste links, den Berg rauf und rechts ab, das ist die Oaklands Road.« »Großartig.« Ich sprach mit tiefempfundener Erleichterung, die sie für angemessen hielten, und ich folgte gewissenhaft der Wegbeschreibung und fand das Haus. Es sah nach einer kleinen braunen Affäre aus; bräunlicher Backstein, braun gedecktes Dach, ein schmales Fenster zu beiden Seiten, einer Eingangstür aus Eiche, fast alles andere verdeckt durch Sträucher. Ich parkte in einer übergroß erscheinenden Auffahrt vor einer geschlossenen Doppelgarage und klingelte zweifelnd an der Tür. Aus dem Hausinnern war nichts zu hören. Ich lauschte dem fernen Summen des Verkehrs und dem näheren Summen von Bienen um ein Faß mit dunkelroten Blumen und klingelte noch mal. Keine Wirkung. Hätte ich Ted Pitts nicht so dringend finden wollen, ich hätte an diesem Punkt aufgesteckt und wäre gefahren. Es war nicht einmal eine Straße, wo man sich bei Nachbarn erkundigen konnte: Nur auf einer Seite standen Häuser, auf der anderen erhob sich ein steiler bewaldeter Hang, und die Häuser selbst waren in großen 258
Zwischenräumen angeordnet und einsiedlerisch den Blicken der Allgemeinheit entrückt. Ich klingelte ein drittes Mal aus Unentschiedenheit, mit dem Gedanken, daß ich warten konnte oder wiederkommen oder eine Nachricht für Pitts hinterlassen, er möchte mich anrufen. Die Tür ging auf. Eine anziehende, mädchenhafte Frau stand da, nicht jung, noch nicht im mittleren Alter, sie trug ein weich fließendes grünes Strandkleid mit breiten Trägern über sonnengebräunten Schultern. »Ja?« fragte sie. Dunkelgelocktes Haar, blaue Augen, das braun glänzende Gesicht der Sommerfrische. »Ich suche nach Ted Pitts«, sagte ich. »Dann sind Sie hier richtig.« »Es war nicht leicht, ihn ausfindig zu machen. Ich bin der Bruder eines alten Bekannten von ihm. Eines Bekannten, den er vor Jahren hatte, meine ich. Ginge es, daß ich ihn mal spreche?« »Er ist im Augenblick nicht hier.« Sie sah mich zweifelnd an. »Wie heißt Ihr Bruder?« »Jonathan Derry.« Nach der allerkleinsten Pause wandelte sich ihr Gesicht von Wachsamkeit zu Willkommen; ein Lächeln in der Erinnerung an die Vergangenheit. »Jonathan! Wir haben seit Jahren nichts von ihm gehört.« »Sind Sie … Mrs. Pitts?« Sie nickte. »Jane.« Sie öffnete die Tür weit und trat zur Seite. »Kommen Sie rein.« 259
»Ich heiße William«, sagte ich. »Waren Sie nicht …«, sie krauste die Stirn, »auf einem Internat?« »Man wächst eben schon.« Sie sah zu mir hoch. »Ich hatte vergessen, wie lange es her war.« Sie führte mich durch eine kühle, dunkle Halle. »Hier entlang.« Wir kamen zu einer breiten Treppe mit flachen, grün ausgelegten Stufen, die abwärts führten, und ich sah vor mir, was von der höheren Straße aus vollkommen unsichtbar gewesen war – daß es sich um ein weitläufiges, ultramodernes Haus handelte, seitlich in den Hang eingebaut und absolut umwerfend. Die Treppe ging direkt in einen riesigen Raum hinunter, dessen Decke zum Himmel hm halb offen und dessen Boden teils grüner Teppich, teils Swimmingpool war. Sofas und Kaffeetische standen am nächsten zur Treppe, und Liegestühle – Bambus mit rosa, weißen und grünen Kissen – sprenkelten die andere Seite des Schwimmbeckens unter der Sonne; und zu beiden Seiten erstreckten sich schützend die Flügel des Hauses, versprachen Schlafzimmer, Komfort, ein Leben in Freuden. Ich sah mir den spektakulären und hübschen Raum an und dachte, daß kein Lehrer auf Erden ihn sich leisten könne. »Ich saß da drüben«, sagte Jane Pitts und wies auf die Sonnenseite. »Fast hätte ich es klingeln lassen. Ich mach’ mir nicht immer die Mühe.« Wir gingen dorthin, vorbei an vergitterten weißen Nischen voller Pflanzen und gepolsterten Bambussofas mit nachlässig darübergeworfenen Badetüchern. Das Wasser im Becken sah meergrün und friedlich aus, schimmernd und einladend nach meiner mühsamen Suche. 260
»Zwei von den Mädchen sind hier irgendwo herum«, sagte Jane. »Melanie, unsere Älteste, ist natürlich verheiratet. Ted und ich werden schon bald Großeltern sein.« »Unglaublich.« Sie lächelte. »Wir haben während des Studiums geheiratet.« Sie winkte nach den Stühlen, und ich setzte mich auf den Rand einer der Liegen, während sie sich wollüstig auf einer anderen ausstreckte. Hinter dem Haus fiel der Rasen grasig ab zu einer weiten, mitreißenden Aussicht über Nordwest-London, der Horizont verloren in nebelhaftem Purpur und Blau. »Es ist phantastisch hier«, sagte ich. Sie nickte. »Wir hatten solches Glück damit. Wir sind erst drei Monate hier, aber ich glaube, wir bleiben für immer.« Sie zeigte auf das offene Dach. »Das läßt sich ganz schließen, wissen Sie. Ein Schiebedach mit Sonnenkollektoren. Das Haus soll den ganzen Winter über warm sein.« Ich bewunderte alles aufrichtig und fragte, ob Ted noch unterrichte. Sie sagte ungezwungen, daß er manchmal Universitätskurse in Programmieren gäbe und daß er unglücklicherweise erst spät am nächsten Abend wieder nach Hause komme. Es werde ihm sehr leid tun, mich verpaßt zu haben, sagte sie. »Ich würde ihn unbedingt gerne sprechen.« Sie schüttelte sanft den Kopf. »Ich weiß ehrlich nicht, wo er ist, außer in der Nähe von Manchester. Er ist heute morgen gefahren, aber er wußte nicht, wo er übernachtet. In einem Motel irgendwo, meinte er.« »Um welche Zeit wäre er denn morgen zurück?« 261
»Spät. Ich weiß nicht.« Sie sah die Besorgnis, die sich offen auf meinem Gesicht gezeigt haben muß, und sagte entschuldigend: »Sie könnten Sonntag früh kommen, wenn es so wichtig ist.«
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15 Der Samstag schleppte sich. Cassie wanderte mit ihrem eingegipsten Arm in einer Schlinge herum, und Bananas kam drei- oder viermal herunter zum Cottage getrottet, beide bestürzt über den Aufschub, ohne es aber zu sagen. Am Donnerstag abend, als seine Handarbeit im Wohnzimmer uns noch entsetzte und Cassie Schmerzen litt, war es vertretbar erschienen, Angelo einzusperren, doch bis Samstag abend waren sie und Bananas über Vorbehalte und Unbehagen hinaus deutlich fortgeschritten zu hundertprozentiger Angst. »Laß ihn laufen«, sagte Bananas, als er spät nach Lokalschluß kam. »Du sitzt wirklich in der Tinte, wenn es jemand herausfindet. Er weiß jetzt, daß mit dir nicht zu spaßen ist. Er hätte zuviel Angst, um wiederzukommen.« Ich schüttelte den Kopf. »Er ist zu arrogant, um Angst zu haben. Er würde seine Rache wollen, und er käme deshalb wieder.« Sie starrten sich unglücklich an. »Kopf hoch«, sagte ich. »Ich war darauf eingestellt, ihn eine Woche festzuhalten – zwei Wochen –, solange es eben brauchte.« »Mir ist einfach schleierhaft, wie du beruhigt zu den Rennen gehen konntest.« Ich war unruhig zu den Rennen gegangen. Auch zu den Galopps am Morgen und zu Mort zum Frühstück, aber niemand, den ich sprach, hätte erraten können, was zu Hause vorging. Hinter einer öffentlichen Fassade, merkte ich, war es ziemlich leicht, ein kriminelles Treiben zu verbergen: Schließlich machten es Hunderte von Leuten so. 263
»Am Leben wird er ja schließlich noch sein«, meinte Cassie. »Um vier hat er oben an der Tür geflucht.« Bananas sah auf seine Uhr. »Vor neuneinhalb Stunden. Ich schrie ihm zu, er solle das Maul halten.« »Und hat er?« »Lediglich zurückgeschimpft.« Ich lächelte. »Er ist nicht tot.« Wie zum Beweis fing Angelo an, gegen die Tür zu treten und ließ seine zunehmend vertrauten Obszönitäten los. Ich ging in die Küche und trat dicht an die Barrikade, und als er Atem holte für den nächsten verbalen Angriff, sagte ich laut: »Angelo.« Eine kurze Stille folgte, dann ein wilder, grimmiger, grollender Schrei: »Scheißkerl.« »Das Licht geht in fünf Minuten aus«, sagte ich. »Ich bring’ dich um.« Vielleicht hätte die bitterböse Drohung mir eine Gänsehaut machen sollen, aber sie tat es nicht. Er war schon zu lange mordlustig, war mörderisch von Natur aus, und ich wußte es bereits. Ich lauschte seiner fortrasenden Wut und empfand nichts. »Fünf Minuten«, sagte ich nochmals und ließ ihn allein. Im Wohnzimmer wirkte Bananas leicht piratenhaft mit seinem offenen Hemdkragen und seinen Laufschuhen und dem vier Tage alten rauhen schwarzen Bartwuchs, aber er selbst hätte niemals jemanden über die Planke laufen lassen. Das Schwarze und Abgründige seines Gemüts mißbilligte, was ich tat, noch während er es verzieh, und ich spürte fast, wie er aufs neue mit der alten Anomalie rang, daß man, um Aggression zu besiegen, sie womöglich anwenden mußte. Er saß auf dem Sofa und trank kurz 264
hintereinander zwei starke Brandys, den Arm um Cassie, die sich nicht daran stieß. Er sei es leid, hatte er gesagt, daß wir nie sein Lieblingsgesöff hätten: Er hatte die Flasche selbst mitgebracht. »Etwas Eiskrem dazu?« hatte Cassie angeregt, und er hatte ernsthaft gefragt: »Welcher Geschmack?« Ich gab Angelo seine fünf Minuten und schaltete das Licht aus, und ein unheilvolles Schweigen kam aus dem Keller. Bananas gab Cassie einen stacheligen Kuß, sagte, sie sähe müde aus, meinte, sämtliche Teller in der Kneipe müßten gespült werden, sagte »Barbados!« als Trinkspruch und kippte sein Glas hinunter. »Gott schenke allen Gefangenen Frieden. Gute Nacht.« Cassie und ich beobachteten seinen entschwindenden Rücken. »Fast tut ihm Angelo leid«, sagte sie. »Mm. Immer ein Trugschluß zu glauben, der Tiger im Zoo würde dich, weil er dir leid tut, nicht fressen, wenn er die Gelegenheit bekommt. Angelo versteht kein Mitgefühl. Nicht das anderer Leute für ihn. Selbst empfindet er keins. Bei anderen sieht er es als Schwäche. Also, mein Schatz, sei nie freundlich zu Angelo, weil du Freundlichkeit dafür erwartest.« Sie sah mich an. »Du meinst das als Warnung, nicht?« »Du hast ein weiches Herz.« Sie überlegte einen Moment, suchte dann einen Bleistift und schrieb eine Botschaft an sich selbst in großen Lettern auf den weißen Gips. DENK AN TIGER »Genügt das?« Ich nickte. »Und wenn er sagt, sein Blinddarm ist am 265
Platzen, oder er leidet an Beulenpest, steck ihm ein paar Aspirin durch die Lüftungslöcher zu, und zwar in einer Papierrolle, nicht mit den Fingern.« »Darauf ist er noch nicht gekommen.« »Laß ihm Zeit.« Wir gingen nach oben ins Bett, aber wie in der vorhergehenden Nacht schlief ich nur für kurze, unruhige Augenblicke, immerzu eingestellt auf irgendein Geräusch aus dem Keller. Cassie schlief friedlicher als zuvor, da der Gips mit der Gewöhnung weniger problematisch wurde. Ihr Arm tue ihr nicht mehr weh, sagte sie; sie fühle sich einfach müde. Gespielt würde wieder, wenn sich das Klima bessere. Ich beobachtete, wie der dunkle Himmel sich zu Streifen marineblauer Wolken über einer düsteren orangenen Glut aufhellte, eine seltsam brütende Dämmerung wie die Aura des Mannes unten. Noch nie, dachte ich, hatte ich mich auf einen vergleichbaren Machtkampf eingelassen, niemals so ernsthaft meinen Führungswillen erprobt. Ich hatte mich nie als einen Führer betrachtet, und doch hatte ich in der Rückschau noch nie viel Nerv gehabt, geführt zu werden. In den letzten Monaten war es mir leichter gefallen als erwartet, mit Lukes fünf Trainern umzugehen, wobei die Kraft anscheinend aus der Notwendigkeit erwuchs. Die Kraft, Angelo im Keller festzuhalten, hatte sich ebenso eingestellt, nicht nur körperlich, sondern auch im Geiste. Vielleicht erweiterten sich die eigenen Fähigkeiten immer, um der Not zu steuern: Doch was fing man an, wenn die Not behoben war? Was fingen Generäle mit ihrer vollentwickelten Hybris an, wenn der Krieg vorbei war? Wenn nicht mehr die ganze Welt auf ihr Kommando hörte? 266
Ich dachte: Wenn man seine Machtgefühle nicht immer neu der gegebenen Notwendigkeit, den Wechselfällen des Lebens, anpassen konnte, bestand die Gefahr, daß man in chronische Unzufriedenheit verfiel. Man konnte bitter, machthungrig, despotisch werden. Ich würde auf das richtige Maß zusammenschrumpfen, dachte ich, wenn der Fall Angelo geklärt war, wenn Lukes Jahr erst vorbei war. Wenn man einsah, daß man es mußte, schaffte man es vielleicht. Der grimmige Himmel klarte langsam auf zu lilagrauen Wolken über einem Meer von Gold und zögernd dann zu zartem Weiß über ganz hellem Blau, und ich stand auf, um mich anzuziehen, und dachte, daß die Botschaft des Himmels trog: Sonnenschein löste keine Probleme. Cassies Augen, als ich ging, sagten alles, was ihre Zunge nicht sagte. Beeil dich. Komm wieder. Ich fühle mich nicht sicher hier mit Angelo. »Setz dich ans Telefon«, sagte ich. »Bananas wird spurten.« Sie schluckte. Ich küßte sie und fuhr, drosch über die frühen Sonntagmorgenstraßen nach Mill Hill. Es war noch erst halb neun, als ich in die Oaklands Road einbog, der früheste Zeitpunkt, den Jane Pitts mir für mein Kommen genannt hatte, doch sie war bereits auf und in einem nassen Badeanzug, als ich klingelte. »Kommen Sie herein«, sagte sie. »Wir schwimmen gerade.« ›Wir‹ waren zwei geschmeidig schöne Teenagermädchen und ein drahtiger, angehend kahler Mann, der schwamm, ohne zu spritzen, wie ein Seehund. Das Dach war offen gegen den klaren Himmel, und ein Frühstück aus Körnern und Obst stand auf einem der niedrigen Bambustische bereit, und keiner der Pitts’ schien sich 267
daran zu stoßen oder zu bemerken, daß der neue Tag noch kühl war. Der drahtige Mann glitt in einer eleganten, sparsamen Bewegung heraus auf den Beckenrand, schlenkerte im Stehen das Wasser von seinem Kopf und sah ungefähr in meine Richtung. »Ich bin Ted Pitts«, er streckte eine nasse Hand aus. »Ohne meine Brille sehe ich rein überhaupt nichts.« Ich schüttelte die Hand und lächelte in die verschwommenen Augen. Jane kam mit einem schweren schwarzen Brillengestell herüber, das den braunen Fisch in einen gewöhnlichen kurzsichtigen Sterblichen verwandelte, und er tröpfelte neben mir um das Becken herum zu dem Liegestuhl, auf dem sein Handtuch lag. »William Derry?« sagte er und schnetzte sich das Wasser aus den Ohren. »Ganz richtig.« »Wie geht es Jonathan?« »Läßt grüßen.« Ted Pitts nickte, frottierte sich kräftig die Brust, dann hielt er abrupt inne und sagte: »Sie waren es, der mir verriet, wie ich an die Rennberichte käme.« Vor so vielen Jahren … eine so beiläufig erteilte Auskunft. Ich blickte mich in dem unglaublichen Haus um und stellte die Frage, die sich aufdrängte: »Das Wettsystem auf diesen Bändern«, sagte ich. »Hat es wirklich funktioniert?« Ted Pitts’ Lächeln war von umfassender Zufriedenheit. »Was meinen Sie wohl?« sagte er. »Dies alles –« »All dies.« 268
»Ich hätte nie daran geglaubt«, sagte ich, »bis ich vorgestern herkam.« Er frottierte sich den Rücken. »Es ist natürlich ziemlich harte Arbeit. Ich kutschiere eine Menge herum. Aber mit so einem Heimathafen … ausgesprochen lohnend.« »Wie lange …« sagte ich langsam. »Wie lange ich schon spiele? Seit Jonathan mir die Kassetten gegeben hat. Dieses erste Derby … ich borgte mir hundert Pfund mit meinem Wagen als Sicherheit, um etwas Geld setzen zu können, zu verlieren. Wir hatten manchmal kaum genug zum Essen damals. Es war praktisch Verzweiflung, die mich dazu brachte, aber freilich sah das System mathematisch okay aus, und es hatte schon Jahre für den Mann funktioniert, der es erfand.« »Und Sie haben gewonnen?« Er nickte. »Fünfhundert. Ein Vermögen. Ich werde den Tag nie vergessen, niemals. Mir war so schlecht.« Er lächelte lebhaft, die Siegesfreude noch kindlich in ihrer Einfachheit. »Ich erzählte es niemand. Nicht Jonathan. Nicht einmal Jane. Ich hatte nicht vor, es noch mal zu machen, verstehen Sie? Ich war so dankbar, daß es gutgegangen war, aber die Anspannung …« Er ließ das feuchte Handtuch auf die Lehne eines Sessels fallen. »Und dann, wissen Sie, dann dachte ich, warum nicht?« Er sah seinen Töchtern zu, wie sie, jede die Arme um die Hüfte der anderen, in das Becken tauchten. »Ich unterrichtete nur noch ein Halbjahr«, sagte er ruhig. »Ich konnte den Leiter der Mathematikabteilung nicht ausstehen. Jenkins hieß er.« Er lächelte. »Es erscheint jetzt drollig, aber ich fühlte mich unterdrückt von diesem Mann. Jedenfalls versprach ich mir, wenn ich in den Sommerferien genug gewann, um einen Computer zu kaufen, würde ich zu 269
Weihnachten abgehen, und wenn nicht, würde ich bleiben und weiterhin den Schulcomputer benutzen und mit einer Wette dann und wann zufrieden sein.« Jane kam mit einer Kanne Kaffee zu uns. »Erzählt er Ihnen, wie er mit dem Wetten anfing? Ich dachte, er wäre verrückt.« »Aber nicht lange.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Als wir aus unserem Wohnwagen in ein Haus umzogen – das wir ganz und gar von Teds Gewinnen kauften – da glaubte ich allmählich, daß es anhalten würde, daß es sicher war. Und jetzt sind wir hier, so wohlhabend, daß es schon peinlich ist, und das alles dank Ihrem lieben Bruder Jonathan.« Die Mädchen kletterten pitschnaß aus dem Becken und wurden vorgestellt als Emma und Lucy, hungrig aufs Frühstück. Ich bekam Kleieflocken angeboten, Naturjoghurt, Weizenkeime und frische Pfirsiche, was sie alle sparsam, aber mit Genuß, verzehrten. Ich aß ebensogut, dachte aber unweigerlich an Angelo und an Cassie, allein mit ihm in dem kleinen Haus. Diese Planken würden halten … sie hatten ihm zwei Tage widerstanden. Kein Grund anzunehmen, daß sie heute morgen versagen würden … kein Grund, einfach das starke Gefühl, daß ich sie hätte überreden sollen, bei Bananas zu warten. Über dem Kaffee, als die Mädchen wieder schwammen und Jane ins Haus verschwunden war, sagte Ted: »Wie haben Sie mich gefunden?« Ich sah ihn an. »Meinen Sie nicht, wieso gesucht?« »Wahrscheinlich. Ja.« »Ich bin gekommen, weil ich Sie bitten wollte, mir eine Kopie von diesen Bändern zu überlassen.« Er atmete tief und nickte. »Das dachte ich mir.« 270
»Und würden Sie?« Er blickte eine Zeitlang auf das schimmernde Becken und sagte dann: »Weiß Jonathan, daß Sie sie wollen?« »Klar. Ich fragte ihn, wo die Kassetten jetzt wären, und er sagte, wenn es irgend jemand wüßte, wären Sie es. Sie und Sie allein, sagte er.« Ted Pitts nickte wieder und faßte einen Entschluß. »Es ist fair. Sie gehören ja eigentlich ihm. Aber ich habe keine freien Bänder.« »Ich habe welche mitgebracht«, sagte ich. »Sie sind draußen im Wagen. Kann ich sie holen?« »In Ordnung.« Er nickte entschieden. »Ich zieh mir derweil trockene Sachen an.« Ich ging die Magnetkassetten holen, die ich zu dem Zweck mitgebracht hatte, und er sagte: »Sechs? Sie brauchen doch nur drei.« »Zwei Sätze?« schlug ich vor. »Oh. Nun ja, warum nicht?« Er wandte sich ab. »Der Computer ist unten. Möchten Sie ihn mal sehen?« »Sehr gern.« Er führte mich in das Innere des Hauses, und wir gingen eine mit einem Teppich belegte Treppe hinab in ein unteres Stockwerk. »Büro«, sagte er knapp und ging voran in ein normal großes Zimmer, von dem aus man die gleiche weite Aussicht auf London hatte wie oben. »Eigentlich ist es ein Schlafzimmer. Bad da drüben«, zeigte er. »Dahinter ein Gästezimmer.« Das Büro war genaugenommen ein Salon mit Sesseln, Fernseher, Bücherregalen und Kiefernholztäfelung. Auf einem Stuhl an der einen Wand stand ein Paar wohlerprobter Bergstiefel, daneben am Boden lag das neueste Modell eines Thermoschlafsacks noch halb in seinem 271
Karton. Ted folgte meinem Blick. »In ein, zwei Wochen fahr ich in die Schweiz. Klettern Sie auch?« Ich schüttelte den Kopf. »An den Gipfeln versuche ich mich nicht«, sagte er ernst. »Ich wandere lieber, in der Hauptsache.« Er schob einen Teil der Kiefernholztäfelung zurück, und zum Vorschein kam ein langes Pult, auf dem eine Unzahl elektronischer Apparate stand. »Ich brauche das nicht alles für die Rennprogramme«, sagte er, »aber ich habe Freude an Computern …«, und er ließ die Finger zärtlich wie ein Liebhaber über die Metallflächen gleiten. »Ich habe diese Rennprogramme noch nie gesehen«, sagte ich. »Möchten Sie?« »Bitte.« »Ist gut.« Mit routinierter Geschwindigkeit legte er eine Kassette in ein Laufwerk und erklärte, er werde die Maschinen nach der Datei ›EPSOM‹ suchen lassen. »Wieviel verstehen Sie von Computern?« fragte er. »Wir hatten einen in der Schule damals. Wir spielten damit ›Invasion aus dem All‹.« Er warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Jeder sollte heutzutage in der Lage sein, ein einfaches Programm zu schreiben. Programmiersprache ist die Universalsprache der neuen Welt, wie Latein die der alten war.« »Erzählten Sie das Ihren Studenten?« »Äh … ja.« Der kleine Bildschirm zeigte plötzlich an: ›READY‹? Ted drückte einige Tasten auf der Tastatur, und der Schirm fragte: ›WELCHES RENNEN IN EPSOM?‹ Ted tippte DERBY, und im Nu präsentierte der Schirm: 272
EPSOM: DAS DERBY NAME DES PFERDES? Er setzte seinen eigenen Namen ein und beantwortete willkürlich die darauffolgenden Fragen, mit dem Ergebnis: TED PITTS GEWINNFAKTOR: 24 »Simpel«, sagte ich. Er nickte. »Das Geheimnis besteht darin, zu wissen, welche Fragen man stellt, und in der Gewichtung, die den Antworten zukommt. Es ist nichts Mysteriöses daran. Jeder könnte ein solches System entwickeln, die Zeit vorausgesetzt.« »Jonathan sagt, in den Vereinigten Staaten gibt es etliche.« Ted nickte. »Ich habe eins davon.« Er öffnete eine Schublade und holte etwas hervor, das wie ein Taschenrechner aussah. »Es ist ein Babycomputer mit ganz eleganten Programmen«, sagte er. »Ich habe ihn aus Neugier gekauft. Er geht freilich nur für amerikanische Rennen, denn eine seiner Grundlagen ist, daß alle Bahnen identisch in der Form sind, Ovale mit Linkskurs. Er ist hauptsächlich auf Geldpreise abgestimmt. Ich nehme an, daß man, wenn man sich gewissenhaft an die Gebrauchsanleitung hält, zwar sicherlich gewinnen kann, aber natürlich muß man, wie bei Liam O’Rokes System auch, daran arbeiten, wenn’s Erfolg bringen soll.« »Und niemals auf ein Gefühl setzen?« »Auf keinen Fall«, sagte er ernsthaft. »Gefühle sind hoffnungslos unwissenschaftlich.« Ich sah ihn neugierig an. »Wie oft gehen Sie zu den Rennen?« »Zu den Rennen selbst? Praktisch nie. Ich verfolge sie natürlich manchmal im Fernsehen. Aber um zu gewinnen, muß man das nicht. Alles, was man braucht, sind die 273
Rennberichte und Objektivität.« Es schien mir eine trockene Ansicht der Welt, in der ich mein Leben zubrachte. Diese schönen Kreaturen, ihr Tempo, ihr Mut, ihre Entschlossenheit, alles reduziert auf statistische Wahrscheinlichkeiten und Mikrochips. »Ihre Kopien«, sagte er, »wollen Sie die offen, so daß jeder sie benutzen kann?« »Wie meinen Sie?« »Wenn Sie möchten, können Sie sie mit Kennwörtern haben, so daß sie nicht funktionierten, wenn sie jemand stehlen würde.« »Ist das Ihr Ernst?« »Natürlich«, sagte er, als gäbe es nur Ernst für ihn. »Ich habe alle meine Sachen mit Kennwörtern belegt.« »Ähem, wie geht das denn?« »Das Einfachste von der Welt. Ich zeige es Ihnen.« Er drückte ein paar Tasten, und der Schirm zeigte plötzlich an: ›READY?‹ »Sie sehen das Fragezeichen«, sagte Ted. »Ein Fragezeichen heißt immer, daß der Bediener des Computers darauf antworten muß, indem er etwas tippt. In diesem Fall hört das Programm, wenn Sie nicht die korrekte Buchstabenfolge eingeben, auf der Stelle auf. Versuchen Sie es. Sehen Sie, was passiert.« Gehorsam tippte ich EPSOM. Ted drückte die Taste mit der Aufschrift ›Enter‹. Der Schirm flackerte kurz auf und ging sofort zurück zu ›READY?‹ Ted lächelte. »Das Kennwort auf diesem Band ist FIX. Jedenfalls im Moment. Das Kennwort läßt sich mühelos ändern.« Er tippte FIX und drückte die ›Enter‹-Taste, und der Schirm glänzte mit WELCHES RENNEN IN EPSOM? »Sehen Sie das Fragezeichen?« sagte Ted. »Es bedarf immer einer Antwort.« 274
Ich dachte über Fragezeichen nach und sagte, ich hätte lieber keine Kennworte, wenn es ihm recht sei. »Ganz wie Sie wünschen.« Er tippte BREAK und LIST 10-80, und der Schirm zeigte plötzlich ein völlig anders aussehendes Format. »Das ist das Programm selbst«, sagte Ted. »Sehen Sie die Zeile 10?« Zeile 10 lautete INPUT AS: IF A$ ›FIX‹ THEN 20 ELSE PRINT ›READY?‹ Zeile 20 lautete PRINT ›WELCHES RENNEN IN EPSOM?‹ »Wenn Sie nicht FIX tippen«, sagte Ted, »kommen Sie nie zu Zeile 20.« »Sauber«, gab ich zu. »Aber was hindert einen, sich das Programm anzuschauen, wie wir jetzt, und zu sehen, daß man FIX eingeben muß?« »Es ist ziemlich leicht auszuschließen, daß irgend jemand das Programm listet. Wenn Sie die Programme anderer Leute kaufen, können Sie die praktisch nie listen. Denn wenn Sie sie nicht listen können, können Sie davon keine Kopien machen, und niemand möchte, daß man ihm auf diese Art sein Werk klaut.« »Hm«, sagte ich. »Ich hätte aber gerne Bänder, die man listen kann, und ohne Kennworte.« »Okay.« »Wie wird man denn das Kennwort los?« Er lächelte leise, tippte 10 und drückte ›Enter‹. Dann tippte er wieder LIST 10-80, doch als diesmal das Programm auf dem Schirm erschien, war eine Zeile 10 gar nicht drauf. Zeile 20 war die erste. »Elementar, wie Sie sehen«, sagte er. »Allerdings.« 275
»Ich werde eine Weile brauchen, um die Kennwörter zu löschen und die Kopien herzustellen«, sagte er. »Gehen Sie doch rauf und setzen Sie sich ans Becken. Um ehrlich zu sein, ich käme allein schneller voran.« Ganz froh und einverstanden kehrte ich zu den faulen Bambusliegen zurück und hörte Jane zu, die von ihren Töchtern erzählte. Eine Stunde kroch dahin, ehe Ted mit den Kassetten in der Hand erschien, und selbst dann kam ich an einer belehrenden Lektion nicht vorbei. »Um diese Bänder laufen zu lassen, brauchen Sie entweder einen alten Grantley Personal Computer, und davon gibt es heutzutage nicht mehr viele, sie sind überholt, oder einen Großrechner irgendwelcher Art, sofern er von einem Kassettenrecorder zu laden ist.« Er bemerkte mein Unverständnis und wiederholte, was er gesagt hatte. »Gut«, sagte ich. Er erklärte mir, wie man Grantley BASIC, den ersten Punkt auf Seite i der Kassetten, in einen Großrechner lud, der keine eigene Sprache eingebaut hatte. Wieder sagte er es mir zweimal. »Gut.« »Viel Glück dabei«, sagte er. Ich dankte ihm von ganzem Herzen und ebenso auch Jane und machte mich, so schnell es mit Anstand möglich war, auf den Heimweg. Eine halbe Meile weiter unten in der Straße, getrieben von einem Gefühl der Gefahr, hielt ich an einer Telefonzelle und rief Cassie an. Sie meldete sich beim allerersten Klingeln und hörte sich untypisch zittrig an. »Ich bin so froh, daß du es bist«, sagte sie. »Wie lange brauchst du?« 276
»Etwa eine Stunde.« »Beeil dich aber.« »Ist Angelo …« »Er bummert herum, seit du weg bist, und reißt an der Tür. Ich bin in der Küche gewesen. Er rüttelt an den Bohlen, der kriegt noch die Tür aus den Angeln, wenn er so weitermacht. Ich kann die Barrikade nicht verstärken. Ich hab’s versucht, aber mit einem Arm –« »Cassie«, sagte ich. »Geh in die Kneipe.« »Aber –« »Liebling, geh. Bitte.« »Und wenn er herauskommt?« »Wenn er herauskommt, möchte ich, daß du oben bei Bananas in Sicherheit bist.« »Ist gut.« »Wir sehen uns«, sagte ich und hängte ein. Raste wie die Furien heimwärts, riskierte hier und da etwas und kam damit durch. Über Royston Heath wie der Blitz, im Zickzack durch den trödligen Sonntagsausflugsverkehr. Durch die Stadt selbst; zähnefletschend das letzte Stück, das die Schnellstraße M 11 kreuzt, und schließlich ab von der Hauptstraße und hinein nach Six Mile Bottom Village. Auf dem ganzen Weg fragte ich mich, was Angelo tun würde, wenn er wirklich freikam. Das Haus zertrümmern? Es in Brand setzen? Irgendwo auf der Lauer liegen bis zu meiner Rückkehr? Das eine, was er nicht tun würde, war, demütig davongehen.
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16 Ich ging vorsichtig den Weg hoch zu der schloßlosen Haustür, die wir jetzt nicht mehr mit der Kommode sicherten, weil es Cassie zu schwer fiel, durch das Fenster zu klettern. Die Vögel sangen im Garten. Würden sie singen, wenn Angelo zwischen ihnen wäre, im Gebüsch versteckt? Nein. Ich erreichte die Tür und stieß sie auf. Das Haus lag still wie lang verlassen, und mit sinkendem Mut ging ich durch die Küche. Angelo hatte eines der Längsbretter der Tür weggefetzt und zwei der zusätzlichen Planken heruntergeholt, die sie verkeilen sollten. Die Tür war zwar noch geschlossen, doch das Messer stak nicht mehr unter der Klinke. Das Loch in der Tür war groß genug, um einen Arm hindurchzuschieben, aber ein ausgewachsener Mann paßte nicht durch. Der Tisch, die Stühle und die beiden unteren Planken hatten sich nicht bewegt, aber bei dem Fortschritt, den er gemacht hatte, war ihre Bremskraft nur noch vorübergehend. Ich war keine Minute zu früh gekommen. »Angelo«, sagte ich. Er erschien fast sofort an dem Loch in der Tür, quittierte meine Rückkehr mit einem wütenden, finsteren Blick. Er steckte beide Hände durch den Spalt und versuchte, das Holz nach beiden Seiten wegzureißen, und ich sah, daß er von seinen Anstrengungen bereits geblutet hatte. »Ich will Sie rauslassen«, sagte ich. »Sie können Ihre Kräfte sparen.« »Dich krieg ich.« Das tiefe Knurren wieder. Die Absichtserklärung. 278
»Ja«, sagte ich. »Kann sein. Jetzt hören Sie zu, denn Sie werden es hören wollen.« Er wartete, die Augen wurden schwarz vor Wildheit in dem Dunkel. Ich sagte: »Sie glauben, daß mein Bruder Sie um irgendwelche Computerbänder betrogen hat. Es waren überhaupt nicht Ihre, aber darüber wollen wir nicht streiten. In diesem Moment habe ich die Bänder. Ich brauchte eine ganze Zeit, um sie zu beschaffen, deswegen sind Sie auch so lange hier im Keller geblieben. Ich gebe Ihnen diese Bänder. Hören Sie zu?« Er mochte es nicht sagen, aber seine Aufmerksamkeit war gebannt. »Sie haben vierzehn Jahre hindurch über das Vermögen gebrütet, das Ihnen entgangen ist. Ich gebe es Ihnen. Vierzehn Jahre lang haben Sie sich geschworen, meinen Bruder umzubringen. Er ist tot. Sie kamen hierher, um schweren Schaden anzurichten, und dafür könnten Sie Ihre Bewährung einbüßen. Ich bin bereit, Sie nicht anzuzeigen. Als Gegenleistung für die Computerbänder und für Ihre fortgesetzte Freiheit können Sie hier verschwinden und mich von jetzt an vollkommen in Ruhe lassen.« Er starrte mit wenig verändertem Ausdruck durch die Tür; ganz sicher ohne Freude. Ich sagte: »Sie haben vielleicht so viele Jahre über ihre Rache gebrütet, daß Sie sich nicht damit abfinden können, daß Sie die Aussicht darauf nicht mehr haben, die Sie in Gang gehalten hat. Wer weiß, vielleicht brechen Sie ohne so ein Ziel auseinander.« Ich zuckte die Achseln. »Aber wenn ich Ihnen Freiheit gebe und die Schätze, die Sie wollen, dann erwarte ich, daß zwischen Ihnen und mir reiner Tisch ist.« Ich hielt inne. »Haben Sie verstanden?« 279
Er sagte immer noch absolut nichts. »Wenn Sie mein Angebot okay finden«, sagte ich, »können Sie das Messer, das Sie vom Türgriff weggeholt haben, herauswerfen, und ich gebe Ihnen die drei Bänder und die Schlüssel zu Ihrem Wagen, der noch da steht, wo Sie ihn abgestellt haben.« Schweigen. »Wenn Sie es vorziehen, das Angebot nicht anzunehmen«, sagte ich, »werde ich die Polizei anrufen, sie soll kommen und Sie holen, und sie wird alles darüber erfahren, wie Sie meiner Freundin den Arm gebrochen haben.« »Die kriegen dich dran, weil du mich hier festgehalten hast.« »Vielleicht. Aber wenn sie es tun, bekommen Sie nie die Kassetten. Und das ist mein Ernst. Me. Ich werde sie sofort vernichten.« Er ging hinter der Tür weg, aber nach einer langen Minute tauchte er wieder auf. »Du wirst mich linken«, sagte er. »Wie dem Bruder.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht wert. Ich möchte Sie ganz und gar für immer aus meinem Leben heraushaben.« Er machte eine grimmig ruckende Bewegung mit dem unrasierten Kinn, eine Geste, die man als Zustimmung nehmen konnte. »Na schön«, sagte er. »Gib sie rüber.« Ich nickte. Wandte mich von ihm ab. Ging ins Wohnzimmer und suchte von jedem Band eine Kopie heraus, die drei übrigen verschloß ich in einer Kommodenschublade. Als ich zurückkam, stand Angelo noch an der Tür; immer noch argwöhnisch, immer noch mißtrauisch. 280
»Bänder?« Ich zeigte sie ihm. »Wagenschlüssel?« Ich hielt sie hoch. »Wo ist das Messer?« Er hob die Hand und ließ es mich sehen: ein Tafelmesser, nicht sehr scharf, aber doch eine mögliche Waffe. Ich legte die drei Kassetten auf ein kleines Tablett und hielt es ihm hin, und er streckte den Arm durch das Loch, um sie aufzuraffen. »Jetzt das Messer«, sagte ich. Er warf es auf das Tablett. Ich ließ es in meine Tasche gleiten und ersetzte es durch die Schlüssel. »Also gut«, sagte ich. »Gehen Sie die Treppe runter. Ich räume die Barrikade weg. Dann können Sie heraufkommen und rausgehen. Und falls Sie irgendwie mit dem Gedanken spielen, mich anzugreifen, denken Sie an Ihre Bewährung.« Er nickte mürrisch. »Besitzen Sie noch den Computer, den Sie vor vierzehn Jahren gekauft haben?« »Dad hat ihn zertrümmert. Als ich in den Bunker kam. Aus Wut.« Wie der Sohn, so der Vater … »Die Bänder sind noch in der gleichen Programmiersprache«, sagte ich. »Grantley Basic. Die Sprache ist selbst mit drauf, auf Seite i. Das müssen Sie wissen.« Er blickte finster. Ausgeschlossen für ihn, besänftigt zu sein, geschweige denn erfreut. »Gehen Sie«, sagte ich. »Ich räume die Tür frei.« Er verschwand von dem improvisierten Fenster, und ich zog die guten alten Planken weg, rückte den Tisch und die Stühle von ihrem Platz und stellte mich schließlich außer seiner Reichweite dahinter. 281
»Kommen Sie hoch«, rief ich. »Klinken Sie die Tür auf und empfehlen Sie sich.« Er kam rasch heraus, die Kassetten mit der einen, blutverschmierten Hand umklammernd und die Schlüssel in der anderen; warf mir einen kurzen, stieren Blick zu, der dennoch wenig von der früheren Bedrohung enthielt, und verschwand durch das Wohnzimmer in Richtung Haustür. Ich folgte ihm und sah zu, wie er den Weg hinabging, erst seine Schritte beschleunigte und beinahe lief, als er auf die Straße bog, und dann praktisch außer Sicht zu seinem abgestellten Wagen sprintete. Kurz darauf kam er angeschossen, in einem Tempo, als fürchtete er, ich könne ihn immer noch irgendwie aufhalten, doch in Wahrheit wollte ich nichts als ihn ein für allemal los sein. Der leere Keller stank wie die Höhle eines Tiers. Ich entschied, daß es ein Fall für Schaufel, Schlauch und ein starkes Desinfektionsmittel war, und während ich diese Sachen zusammensuchte, kamen Bananas und Cassie besorgt von der Kneipe herüber. »Wir haben dich kommen sehen«, sagte sie, »und ihn fahren sehen. Ich wollte hier sein, aber Bananas meinte, es könnte die Dinge verwickeln.« »Er hatte recht.« Ich küßte sie gehörig, aus Liebe wie auch aus gelöster Spannung. »Angelo verliert ungern das Gesicht.« »Du hast ihm die Bänder gegeben?« fragte Bananas. »Ja.« »Und dran ersticken soll er«, sagte Cassie. Ich lächelte. »Tut er vielleicht nicht. Ich könnte mir denken, daß Ted Pitts eine Million schwer ist.« 282
»Wirklich?« Ihre Augenbrauen schnellten hoch. »Warum gehen wir dann nicht –« »Es kostet Zeit und Arbeit. Ted Pitts lebt direkt am Londoner Ende der M1, eine halbe Meile von der größten Verkehrsader des Landes. Ich wette, er verbringt unzählige Tage damit, über diese Straße nach Städten im Norden zu donnern, um in Wettbüros herumzulatschen, seinen Honig einzuheimsen. Jedenfalls glaube ich, daß er das macht. Gestern war er in der Nähe von Manchester, sagte seine Frau. Jeden Tag eine andere Stadt, damit er niemandem bekannt wird.« »Was würde das denn ändern?« Ich erklärte, wie es ständigen Gewinnern erging. »Ich wette, es gibt nicht einen einzigen Buchmacher, der Ted Pitts vom Sehen kennt.« »Wenn du es machtest«, sagte Bananas nachdenklich, »würden sie dich wohl auf Anhieb erkennen.« Ich schüttelte den Kopf. »Nur auf der Rennbahn. Für die kleinen Wettannahmen in irgendeiner großen Stadt wäre ich bloß ein Gimpel mehr.« Beide sahen mich erwartungsvoll an. »Ja, ja«, sagte ich. »Das fehlt noch, daß ich so mein Leben zubringe.« »Denk doch an den Zaster«, sagte Bananas. »Und ohne Steuern«, sagte Cassie. Ich dachte an das großartige Haus von Ted Pitts und meinen eigenen Mangel an angehäuften Gütern. Dachte an ihn, wie er die oberen Hänge der Schweizer Berge erstieg und seine Lebensgeister auffrischte, wie er wanderte, aber nach Hause kam. Dachte an meinen nicht vorhandenen geregelten Lebensplan und meinem Abscheu davor, gebunden zu sein. Dachte daran, wie ich die letzten 283
Monate genossen hatte, Entscheidungen getroffen, ein Geschäft geführt hatte, immer in dem Wissen, daß es nur für ein Jahr war, nicht auf Lebenszeit, und beruhigt von solcher Unbeständigkeit. Dachte an heiße Sommernachmittage und nasse Winternachmittage, zugebracht in Wettbüros, an das freudlose Jonglieren mit Prozenten, um methodisch eine Million zu machen. »Na?« sagte Bananas. »Eines Tages vielleicht, wenn ich Hunger habe.« »Du bist unvernünftig.« »Dann tu du es doch«, sagte ich. »Gib die Kneipe auf. Gib das Kochen auf. Wähl die Landstraße.« Er starrte mich an, während er darüber nachdachte, verzog dann das Gesicht und sagte: »Das Leben ist mehr als Geldverdienen. Nicht viel, aber etwas.« »Eines schönen Tages«, sagte Cassie mit süßer Gewißheit, »werdet ihr es beide machen. Nicht mal ein Heiliger könnte auf einer Goldmine sitzen und zu faul sein, die Nuggets aufzuraffen.« »Du glaubst, es ist bloß Faulheit -?« »Und ob. Wo ist denn dein Freibeuterherz? Wo ist der Funken Piraterie? Hast du kein Ohr für den Schlachtruf der alten Unternehmer aus dem Norden – wo Dreck ist, ist auch Kohle?« Sie strahlte vor Begeisterung, ein Enthusiasmus, das mir ebensosehr von Angelos Abwesenheit herzurühren schien wie von dem Gedanken an ein erreichbares Vermögen. »Falls du noch so denkst, wenn ich Luke Houston hinter mir habe«, sagte ich, »mache ich einen Versuch damit. Mal eine Zeitlang.« »Wählerisch«, sagte sie. »Das bist du, damit du es weißt.« 284
Trotzdem war ich in bester Stimmung, als ich mich daran machte, den Keller zu säubern und ihn so wiederherstellte, daß Angelzeug dann leben konnte; und am späten Nachmittag saßen wir alle drei auf dem Rasen, wobei Cassie und Bananas besprachen, wie sie den Zaster, dem ich nach ihrer Ansicht unweigerlich nachjagen würde, verbraten wollten. Sie dachten bereits wie ich, daß Angelos Rachgier endlich zerstreut worden sei, und sie fanden, er hätte uns sogar einen Gefallen getan, da ich ohne seinen brutalen Überfall niemals Ted Pitts aufgesucht hätte. »Aus Bösem kann doch Gutes kommen«, sagte Cassie mit Genugtuung. Und aus Gutem Böses, dachte ich. Jonathans Taschenspielertricks hatten Angelo gründlich matt gesetzt und erreicht, daß er mit leeren Händen verurteilt wurde. Hatten dafür gesorgt, daß Angelo vierzehn Jahre lang außerstande gewesen war, noch jemanden umzubringen. Doch gerade dieser gute Handlungsablauf, der damals so endgültig erschien, hatte sich nur als Pfropfen für einen siedenden Vulkan erwiesen. Der psychopathische junge Mann war schließlich ausgebrochen als ein ausgewachsener, verrohter Schläger, nicht mehr, wie ihn Jonathan geschildert hatte, dann und wann berauscht von der Droge der Skrupellosigkeit, sondern einfacher, umfassender gewalttätig. Die Zeit änderte Perspektiven. Aus Unglücken konnten Erfolge entstehen, und aus Erfolgen Unglücke. Ein Jammer, dachte ich, daß man beim konkreten Ereignis nie erkannte, ob man weinen oder hurra rufen sollte. Unser Leben normalisierte sich nach und nach. Cassie ging mit Armschlinge wieder zur Arbeit, Bananas erfand eine neue Leckerei, die Rindfleischextrakt enthielt – und 285
ich begann eine Serie von Überfällen auf Gestüte, um mir heimlich schon einmal die Jährlinge anzuschauen, die bald zur Versteigerung kommen würden, denn nur zu gut wußte ich, daß der Höhepunkt meines Jahres nahte, die Prüfung, nach der Luke mich beurteilen würde, wenn er zurücksah. Jungtiere zu kaufen, die siegten, wäre befriedigend; ein Fohlen zu kaufen, das eine Dynastie begründete, wäre Glück. Irgendwo zwischen den beiden lag eine Zone, in der Urteilsvermögen sich als gut, mäßig oder fehlend herausstellen würde, und hier hoffte ich so wenig Fehler zu machen wie möglich. Etwa eine Woche lang kurvte ich überall in der Gegend herum, machte Abstecher zu Rennveranstaltungen und zu Lukes beiden Trainern in Berkshire, und verbrachte jede freie, wache Minute mit dem Stutbuch. Sim Shell erklärte streng, er wünsche präsent zu sein und um Rat gefragt zu werden, wann immer ich etwas kaufte, das er persönlich trainieren solle, und Mort bat mit sämtlichen Wimpern zuckend um Sir Ivor, Nijinsky und Northern Dancer, alle auf einmal und zum allermindesten. Cassie kam mit mir zu der Abendsitzung am ersten Verkaufstag, streifte herum auf den Endlosbeinen und lauschte andächtig dem Klatsch. Jedes Jahr sah der Auktionsring von Newmarket Vermögen schneller dahingehen als ein Börsenkrach, doch die Gespräche drehten sich um nichts als Hoffnung und Erwartung. Mordstempo und Zuchtpotential, waren ganz Ersttagseuphorie und noch nicht ausgegebene Schecks. »Was für eine Aufregung«, sagte Cassie. »Man sieht sie in jedem Gesicht.« »Die Freude des Erwerbs. Die Ernüchterung kommt erst nächste Woche. Dann optimistischer Trübsinn. Dann, wenn man Glück hat, selbstzufriedene Erleichterung.« 286
»Aber heute …« »Heute«, nickte ich, »besteht noch die Chance, den Sieger des Derbys zu kaufen.« Ich kaufte an diesem Abend zwei Hengst- und ein Stutfohlen für schwindelerregende Summen, beruhigt zu einem gewissen Grad dadurch, daß ich gegen die erste Garnitur der Vollblutagenten geboten hatte, jedoch verfolgt von der schlauchenden Angst, daß ich es war, der es zu weit vorangetrieben, nicht sie, die zu früh aufgehört hatten. Wir blieben bis zum Ende der Veranstaltung, teils wegen Cassies Faszination für eine neue Welt, aber auch, weil sich manchmal erst, wenn die großen Käufer heimgegangen waren, ein günstiges Geschäft ergab, und tatsächlich kaufte ich das letzte Objekt des Tages, ein dünn wirkendes ponyhaftes Geschöpf, weil ich seine strahlenden Augen mochte. Der Züchter dankte mir. »Ist es wirklich für Luke Houston?« »Ja«, sagte ich. »Er wird es nicht bereuen. Ein intelligenter Bursche, dieser kleine Hengst.« »Er sieht so aus.« »Er wächst noch, wissen Sie«, sagte er mir ernsthaft. »In der Familie seiner Mutter wachsen sie alle spät. Gehen Sie mit mir was trinken. Ich verkaufe nicht alle Tage eins an Luke Houston.« Wir fuhren jedoch zurück, um bei Bananas zu essen und zu trinken, und von dort zum Cottage, wo ich per Fernschreiber einen Bericht an Luke abschickte, für den unsere Mitternacht drei Uhr nachmittags war. Luke mochte Fernschreiben. Wenn er besprechen wollte, 287
was ich geschickt hatte, würde er mich nach seinem Abendessen anrufen, also mich um sechs Uhr früh erwischen, bevor ich zum Training aufbrach, wahrscheinlicher aber würde er per Fernschreiben antworten oder gar nicht. Das Eßzimmer war voll von Geräten, die Luke gestellt hatte: ein Videoplattenrecorder zum Ansehen und Analysieren vergangener Rennen, eine Rechenmaschine, Fotokopierer, eine Reihe Aktenschränke, eine elektrische Schreibmaschine, der Fernschreiber und ein komplizierter Apparat, der das Telefon beantwortete, Nachrichten annahm, Nachrichten ausgab und jedes Wort, das er hörte, aufzeichnete, einschließlich meiner Live-Unterhaltungen. Er arbeitete getrennt von dem Telefon im Wohnzimmer; eine gute Regelung, die höchst einfach unsere Privatanrufe und Lukes Geschäft auseinanderhielt, so daß ich für das eine oder er für das andere bezahlen konnte. Das einzige, was er mir nicht gegeben hatte – oder was ich nicht bei einem unwilligen Warrington Marsh hatte abholen können – war ein Computer. Als ich am nächsten Morgen nach unten kam, sah ich, daß der Fernschreiber während der Nacht getickt hatte. »Warum haben Sie den Fisher-Hengst nicht gekauft? Warum haben Sie den billigen Hengst gekauft? Meine besten Grüße an Cassie.« Er kannte Cassie eigentlich gar nicht, sondern hatte nur einige Male mit ihr am Telefon gesprochen. Die Höflichkeit war seine Art, mir zu sagen, daß seine Fragen einfach Fragen waren, keine Vorwürfe. Alle Fernschreiben, die ohne »beste Grüße an Cassie« kamen, waren Sachen zum Rangehen. Ich telegrafierte zurück. »Zwei befeindete Privatbesitzer, Schubman und Mrs. Crickington, peitschten sich gegenseitig auf dreihundertundvierzigtausend für den Fisher288
Hengst hoch, weit über seinem mutmaßlichen Wert. Der billige Hengst könnte Sie noch mal überraschen. Grüße, William.« Cassie wurde an diesen Tagen von einem etwas zu freundlichen Mann abgeholt und zurückgebracht, der nahe der Kneipe wohnte und eine Straße von Cassie entfernt in Cambridge arbeitete. Sie sagte, er würde immer häufiger die Hand auf ihr Knie legen statt aufs Lenkrad, und sie wäre ungemein froh, ihn und den Gips wieder loszuwerden. Vom Autofahren abgesehen hatte der Gipsverband seinen Platz gefunden, und unsere nächtlichen Aktivitäten waren ganz die alte Freude. Tagsüber reparierten oder ersetzten wir langsam alles, was zertrümmert worden war, wobei wir uns von den Scherben leiten ließen, die Bananas in der Garage verstaut hatte. Fernseher, Vasen, Lampen, alles so nah wie möglich dem Original. Sogar sechs Strohpuppen hingen wieder als Mobile vereint, Püppchen aus den glänzenden Halmen der neuen Ernte, frisch und fein geflochten von einer Dame im Trachtenkleid, die sagte, man müsse das Korn dafür heute eigens mit der Hand schneiden, da Mähdrescher das Stroh zu kurz hackten. Bananas fand, die Strohpüppchen zu ersetzen ginge womöglich zu weit, doch Cassie sagte dunkel, daß sie heidnische Gottheiten verkörperten, die besänftigt werden sollten – und auf dem flachen Land wisse man nie. Ich zimmerte neue Teile in die beiden beschädigten Türen und setzte ein neues Schloß an die vordere. Alle Spuren von Angelo verschwanden nach und nach, alle außer seinem Baseballschläger, der auf dem Sims des Fensters lag, das auf die Straße hinausging. Wir hatten ihn zunächst bewußt als leicht erreichbare Waffe da verwahrt für den Fall, daß er wiederkäme, aber auch als Tag um friedlicher Tag uns ein wachsendes Gefühl der Erleich289
terung gab, ließen wir ihn liegen: vielleicht noch ein Unterpfand für den bösen Blick. An einem Abend rief mich Jonathan an, und obwohl ich sicher war, daß er nicht billigen würde, was ich getan hatte, erzählte ich ihm alles, was passiert war. »Du hast ihn im Keller festgehalten?« »Ja.« »Guter Gott.« »Es scheint wirklich gewirkt zu haben.« »Mm. Ich kann nur bedauern, daß Angelo dieses System nun doch hat.« »Ich weiß. Mir tut es auch leid, nach allem, was du getan hast, damit er es nicht kriegt. Ich habe es ihm wirklich ungern gegeben. Aber du hattest recht, er ist gefährlich, und ich möchte nicht nach Kalifornien verschwinden. Das Leben, das ich will, ist grad hier auf dem englischen Turf. Und wegen des Systems … Vergiß nicht, daß man es besitzt, ist nicht genug; man muß es diskret handhaben. Angelo versteht so ziemlich nichts vom Rennsport, und er ist hitzig und undiszipliniert, nicht schlau und still.« »Außerdem«, sagte Jonathan, »könnte er meinen, daß das System jedesmal einen Gewinn bringt, was nicht der Fall ist. Die alte Mrs. O’Rorke sagte, er würde gleichmäßig einen Durchschnitt von einem Gewinn unter dreien bringen.« »Angelo gegen die Buchmacher, das dürfte passen wie die Faust aufs Auge. Und übrigens, ich habe ihm gesagt, du wärst tot.« »Herzlichen Dank.« »Na, du wolltest doch nicht, daß er eines Tages auf deiner sonnigen Matte steht, oder?« »Er bekäme nie ein Visum.« 290
»Man kann über die kanadische Grenze wandern«, sagte ich, »ohne daß jemand es merkt.« »Und die mexikanische«, stimmte er zu. Ich erzählte ihm eingehend von Ted Pitts’ Haus, und er klang ehrlich erfreut. »Und die kleinen Mädchen? Wie machen die sich?« »Sind groß und hübsch.« »Ich habe ihn um diese Kinder beneidet.« »Tatsächlich?« sagte ich. »Ja. Nun … da siehst du mal. So geht’s im Leben.« Ich hörte das Bedauern in seiner Stimme und begriff, wie sehr er sich selbst eine Tochter, einen Sohn gewünscht hatte … und ich dachte, daß auch ich es eines Tages bedauern würde, wenn ich nicht … und daß es vielleicht ein toller Spaß wäre, wenn Cassie … »Bist du noch da?« sagte er. »Klar. Falls ich heirate, kommst du dann rüber zur Hochzeit?« »Ich glaub’ dir nicht.« »Man kann nie wissen. Ich habe sie noch nicht gefragt. Sie würde vielleicht nicht wollen.« »Schreib mir einen Brief.« Es klang belustigt. »Ja, ja. Wie geht’s Sarah?« »Prima, danke.« »Bis dann«, sagte ich, und er sagte: »Bis dann«, und ich legte den Hörer auf mit dem üblichen Gefühl von Dankbarkeit dafür, daß ich einen Bruder hatte und besonders dafür, daß es Jonathan war. Weitere Tage vergingen. Am Ende der ersten Auktionswoche hatte ich zwölf Jährlinge für Luke gekauft und noch fünf an Höherbietende verloren, und ich hatte Sim um Rat 291
gefragt, bis es ihn ankotzte, und Mort eine Stute gegeben, die, wenn nicht tatsächlich eine Tänzerin, so doch immer auf dem Sprung war, und zwei Abende im Bedford Arms mit dem irischen Trainer Donovan verbracht, mir seine Klagen angehört und zugesehen, wie er blau wurde. »In Irland gibt’s mehr gute Pferde, als jemals hier landen«, sagte er und fuchtelte mir mit einem unsteten Finger unter der Nase herum. »Da bin ich sicher.« »Sie sollten gleich mal rüberkommen. Sie sollten in den Ställen da mal rumschnüffeln, bevor Sie zur Versteigerung gehen.« »Ich komme auch bald«, sagte ich. »Vor der nächsten Auktion in vierzehn Tagen.« »Das tun Sie man.« Er nickte weise. »Da ist ein Hengst, auf den ich ein Auge habe, ganz im Süden bei Wexford. Also, den Hengst würde ich gern trainieren. Ich hätte gerne, daß sie den kleinen Burschen für Luke kaufen, wenn Sie’s wissen wollen.« In diesem Jahr hatte die erste Jährlingsversteigerung in Newmarket probeweise früh stattgefunden, Anfang September. Die Superauktion, bei der die meisten der blaublütigsten Jungtiere unter den Hammer kommen würden, war wie üblich am Monatsende. Der Hengst, den Donovan im Auge hatte, war in vierzehn Tagen, doch unglücklicherweise hatte ihn nicht nur Donovan im Auge. Ganz Irland und der größte Teil von England schien seine Sehwerkzeuge in diese Richtung geschwenkt zu haben. Selbst wenn man den irischen Hang zur Übertreibung berücksichtigte, war dieser Hengst anscheinend die beste Neuigkeit der Saison. »Also, Luke würde den Burschen haben wollen«, sagte Donovan. 292
»Ich werde für ihn bieten«, sagte ich mild. Er linste mir besudelt ins Gesicht. »Also, Sie müssen jetzt Luke dazu bringen, daß er sagt, es gibt keine Höchstgrenze. Keine Grenze, darauf kommt’s an.« »Ich werde bis zu Lukes Limit gehen.« »Sie sind ein Prachtkerl, echt. Und dabei, geb’ ich ja zu, hab’ ich an Luke geschrieben. Sie wären noch nicht trocken hinter den Ohren und weder gut für Mensch noch Pferd, nicht in der Stellung, die er Ihnen gegeben hat.« »Tatsächlich?« »Na ja, nun, wenn Sie mir den kleinen Hengst holen, schreib’ ich noch mal und sag’ ihm, ich hätte mich getäuscht.« Er nickte schwer und fiel halb von dem Barhocker. Er war nie beim Training oder bei den Rennen betrunken und auch am Auktionstag selbst nicht, aber zu allen anderen Zeiten – wahrscheinlich. Die Besitzer störte es offenbar nicht und ebensowenig die Pferde: Blau oder nüchtern, Donovan brachte Jahr um Jahr so viele Sieger hervor wie nur irgendwer in Irland. Ich hatte nichts für oder gegen ihn. Ich regelte Geschäfte mit ihm vor zehn Uhr morgens und hörte ihm aufmerksam zu an den Abenden, wenn er durch Wolken von Whisky die Wahrheit sagte. Viele fanden ihn ungehobelt und er war es. Viele dachten, Luke wäre ein eleganterer Mann mit feineren Manieren lieber gewesen, aber vielleicht hatte Luke, so wie ich jetzt, Donovans vertrauten Umgang mit Pferden erlebt und die unschätzbaren Güter für wichtiger gehalten als eine schicke Verpackung. Ich hatte Donovan achten gelernt. Zwei volle Tage in seiner Gesellschaft reichten erst mal. Als die Flut einkaufender Trainer, Agenten und alleinseliger Besitzer vorübergehend aus der Stadt verschwunden war, gab Sim einer braunen kurznackigen Stute einen Schlußgalopp und meinte hinterher ziemlich 293
herausfordernd, sie sei so fit, daß sie das letzte Rennen am St. Leger-Tag, dem Samstag, allemal gewinnen würde. »Sie sieht toll aus«, sagte ich. »Ein Lob auf Ihre Pflege.« Sim guckte halb finster. »Sie fahren doch nach Doncaster, was?« Ich nickte. »Bleibe über Freitag nacht da. Mort läßt Genotti im Saint Leger starten.« »Helfen Sie mir, meins zu satteln?« Ich versuchte, mein Erstaunen über diesen gewaltigen Olivenzweig zu verbergen. Normalerweise war er bemüht, mich von den Tieren so weit fernzuhalten wie nur möglich. »Sehr gern«, sagte ich. Er nickte mit gewohnter Schroffheit. »Dann sehen wir uns da.« »Viel Glück.« Er würde am Mittwoch für die ganzen vier Renntage hochfahren, aber ich hatte keine besondere Lust, nicht zuletzt, weil es Cassie mit dem steifen Arm immer noch schwerfiel, alleine zurechtzukommen. Am Freitag jedoch ließ ich sie allein und fuhr nach Doncaster, und beinahe die erste Person, die ich erblickte, als ich durch das Tor der Rennbahn ging, war Angelo. Ich hielt jäh und wandte mich seitwärts, denn ich wollte nicht von ihm entdeckt werden, nicht mit ihm reden. Er kaufte zwei Rennprogramme an einer der Buden nahe dem Eingang und hielt die Warteschlange auf, während er Kleingeld heraussuchte. Ich nahm an, es war unvermeidlich, daß ich ihn eines Tages sehen würde, wenn er sich darauf verlegte, auch nur einigermaßen oft Rennen zu besuchen, aber irgendwie war es trotzdem ein Schock. Ich war froh, als er von der Bude 294
aus in die mir entgegengesetzte Richtung zog: Es mochte ein Waffenstillstand zwischen uns bestehen, doch er war bestenfalls zerbrechlich. Ich beobachtete, wie er sich mit Ellbogen wie Rammböcken und Beinen wie Fels einen Weg durch die wachsende Menge bahnte: Er steuerte nicht etwa dorthin, wo man Wetten abschließen konnte, sondern auf den weniger bevölkerten Bereich an der Umzäunung des Geläufs zu, wo noch keine Fans hineingeströmt waren, um das erste Rennen zu sehen. An der Umzäunung – den Rails – angelangt, hielt er neben einem älteren Mann in einem Rollstuhl und drückte ihm grob eines der Rennprogramme in die Hand. Dann machte er sofort auf dem Absatz kehrt und stieß zielbewußt zu den dichten Reihen der Buchmacher innerhalb der Tribüne vor, wo ich ihn erfreulicherweise für den Rest des Tages aus den Augen verlor. Am Samstag indessen war er wieder da. Obwohl ich mich selten mit Wetten abgab, hatte ich beschlossen, einen kleinen Betrag auf Genotti im Saint Leger zu setzen, zweifellos angesteckt von Morts fanatischem Eifer, und während ich bei einem kleinen walisischen Buchmacher stand, den ich seit langem kannte, sah ich Angelo zehn Meter entfernt, wie er über einem kleinen Notizbuch die Stirn in Falten legte. »Genotti«, sagte mein Buchmacherfreund zu seinem Angestellten, der alle Transaktionen (im Buch) festhielt, »drei Zehner à fünf, William Derry.« »Danke, Taff«, sagte ich. Weiter unten begann Angelo, sich wegen eines angebotenen Kurses zu streiten, der offenbar geringer war, als er für fair hielt. »Alle anderen geben fünf zu eins.« Seine Stimme war ein Knurren, das ich nur zu gut kannte. 295
»Dann gehen Sie doch zu jemand anders. Für Sie heißt es vier, Mister Gilbert.« Halb war ich befriedigt darüber, daß Angelo tatsächlich stumpf mit dem System in die Fallen tapste, die Liam O’Rorke und Ted Pitts behutsam gemieden hatten, doch ich war auch beunruhigt, daß er so schnell Widerstand wachrief. Ich war unbedingt darauf angewiesen, daß er eine Zeitlang gewann. Zwar hatte ich mir nie vorgestellt, daß er sich an die anonyme Plackerei halten würde, die für langfristigen Erfolg vonnöten war, aber die Flitterwochenperiode hätte nicht schon vorbei sein dürfen. Taff, der Buchmacher, sah über seine Schulter auf das Geplänkel und warf seinem Angestellten einen himmelwärts rollenden Blick zu. »Was soll denn das Theater?« fragte ich. »Das ist ein echter Witz, der Mann.« Taff teilte seinen Kommentar unparteiisch zwischen sich, seinem Schreiber und der Welt im allgemeinen. »Angelo Gilbert.« Taffs Blick landete scharf auf mir. »Sie kennen ihn, ja?« »Jemand wies mich auf ihn hin … er hat jemand umgebracht, vor Jahren.« »Stimmt auffallend. Ist gerade erst raus aus dem Kittchen. Und dumm – man glaubt es kaum.« »Was hat er denn gemacht?« »Er kam vorige Woche mit einer Handvoll Banknoten nach York, mit denen er um sich warf, als gäbe es kein Morgen, und von uns wußte da noch keiner, wer er war. Wir denken also, wir nehmen einem Säugling seine Lutscher weg, als peng! dieser Außenseiter, in den er rund sechs Riesen investiert hat, aus dem Nichts herein296
gekantert kommt und wir alle Mann mit langem Gesicht löhnen und uns die Köpfe darüber zerbrechen, wie er an die Informationen kommt, weil der Trainer nicht mal ein Pfund gesetzt hatte, soweit wir wußten. Also fragt Lancer, der Kerl da drüben, der sich mit Gilbert in der Wolle hat, er fragt diesen Wunderknaben gradheraus, wer ihn auf das Siegpferd gebracht hat, und der Stiesel grinst blöd und sagt, Liam O’Rorke.« Taff linste mir ins Gesicht, das meinem Gefühl nach meinen inneren Schock gespiegelt haben mußte, doch anscheinend sah es nur verständnislos aus, denn Taff, der gut über die Sechzig war, machte ein schnalzendes Geräusch mit dem Mund und sagte: »Vor Ihrer Zeit wahrscheinlich.« »Was denn?« Taffs Aufmerksamkeit wurde durch mehrere Kunden losgerissen, die herandrängten, um Wetten zu schließen, und er schien irgendwie überrascht, mich zu sehen, als sie fort waren. »Sind Sie so interessiert?« fragte er. »Habe sonst nichts zu tun.« Taff warf einen Blick hinüber, wo Angelo gestanden hatte, aber Angelo war weg. »Vor dreißig Jahren. Fünfunddreißig. Die Zeit vergeht schnell. Da war dieser alte Ire, Liam O’Rorke, der hatte das einzige System erfunden, das ich je kannte, mit dem man garantiert gewann. Freilich, als wir ihm auf die Schliche kamen, waren wir nicht mehr so scharf drauf, seine Wetten anzunehmen. Ich meine, ist doch klar, nicht, wo wir wußten, daß er uns irgendwie über war. Jedenfalls ist er mit seinem Geheimnis nie rausgerückt, wie er das anstellte, und es wanderte mit ihm ins Grab, und schön, daß wir den los waren, unter uns gesagt.« 297
»Und jetzt?« »Und jetzt kommt dieser Wunderknabe, der uns erst aus den Pantinen wirft mit seinen Riesengewinnen in York, und dann verhöhnt er uns und schimpft uns Gimpel und sagt, wir wissen noch gar nicht, was uns blüht und daß er uns mit Liam O’Rorkes wiederauferstandenem System ausnimmt, und jetzt ist er ganz zerknirscht und beklagt sich, daß wir ihm keinen guten Kurs geben. Böse, beleidigte Leberwurst.« Taff lachte verächtlich. »Ich meine, wie blöd kann einer sein?«
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17 Genotti gewann das Saint Leger mit lockeren vier Längen. Mort schien vor Aufregung vom Boden abzuheben, man meinte die Luft um ihn in der trockenen Septembersonne knistern zu hören. Er quetschte mir die Hand mit knochenknackender Begeisterung und führte einen verzückt auf alle Gratulanten eingehenden Tanz um den Absattelplatz auf, ja, reagierte mit einer so unkomplizierten Freude auf seinen Sieg, daß er die ganze Gesellschaft zum Lächeln brachte. Es war leicht, sinnierte ich, Mort für ein durch und durch einfaches Gemüt zu halten, während er, wie ich allmählich gemerkt hatte, geistige Labyrinthe aus vielfach gewundenen Pfaden durchquerte, in denen sich Pros und Kontras bekriegten wie Züge auf einem Schachbrett, und die Pläne und Lösungen, die so naheliegend erschienen, wenn sie sich erst als richtig erwiesen hatten, waren die Früchte dieser Irrgärten. Ich holte meinen Gewinn bei Taff ab, der düster meinte, er hätte niemals irgendwem fünf zu eins gegeben, wenn er vorher gewußt hätte, daß Genotti Angelo Gilberts Maskottchen war. »Hat Angelo gewonnen?« fragte ich. »Natürlich hat er. Er muß einen Tausender drauf gehabt haben. Nachher wollte keiner von uns sein Geld nehmen.« »Also hat er keine fünf gekriegt?« »Eher gleichen Einsatz«, sagte er säuerlich. Bei gleichem Einsatz mußte Angelo sein Geld immer noch verdoppelt haben, aber für Angelo mochte das nicht genug sein. Groll, sah ich, konnte ganz häßlich wieder hochkommen. 299
»Kein System könnte jedes einzelne Mal gewinnen«, sagte ich. »Angelo wird es auch nicht.« »Allerdings nicht«, erwiderte Taff halsstarrig. »Aber lassen Sie sich von mir gesagt sein, daß künftig kein Buchmacher auf der Rennbahn diesem arroganten Hund viel mehr als gleichen Einsatz gibt, selbst wenn er auf etwas setzt, das auf drei Beinen lahmt, zwölf Kilo Übergewicht schleppt und von meinem alten Paps geritten wird.« »Bei gleichem Einsatz würde er doch alles in allem nicht gewinnen.« »Ja, und wer weint da? Wir sind kein Wohltätigkeitsverein, wissen Sie.« »Die Gimpel schröpfen?« »Sie haben es erfaßt.« Er begann mit der Schnelligkeit langer Übung andere erfolgreiche Wetter auszuzahlen, aber es kam selten vor, daß er von einem Rennplatz mit weniger Bargeld nach Hause fuhr, als er mitgebracht hatte. Die wenigsten Buchmacher waren Spieler im Herzen, und nur die guten Mathematiker überlebten. Ich driftete von ihm weg und trank etwas Champagner mit dem sprudelnden Mort, und ein bißchen später half ich Sim, die Stute zu satteln, die mit einer knappen Kopflänge Vorsprung Houston noch einmal hochleben ließ. Sim nahm es gefaßter hin als Mort, aber mit mindestens ebenso tiefer Befriedigung, und er schien endlich zuzugeben und anzuerkennen, daß ich kein ahnungsloser, rechthaberischer Emporkömmling war, sondern ein wohlmeinender Kollege, und daß alle Erfolge Lukes uns gemeinsam zugute kamen. Ich wußte nicht genau, wie oder warum sich seine Einstellung geändert hatte, ich wußte nur, daß einen Monat früher ein freundschaftlicher gemeinsamer 300
Drink in einer Rennplatzbar zur Feier eines HoustonSieges undenkbar gewesen wäre. Mehr in Gedanken an Mort, Sim und die Pferde als an den noch spukenden Geist Angelos fuhr ich von Doncaster zurück, um Cassie abzuholen, und von dort zu einem späten Abendessen mit Bananas. Auch er hatte offenbar auf Genotti gesetzt und meinen Gewinn um mehr als das Doppelte übertroffen. »Ich hatte einen Hunderter drauf«, sagte er. »Ich wußte nicht, daß du überhaupt wettest.« »Im stillen, hin und wieder. Wie könnte ich auch nicht, wo ich so viel höre.« »Was hast du denn über Genotti gehört?« Er sah mich mitleidig an. »Jedesmal, wenn du diesen Hengst beim Training gesehen hast, bist du wiedergekommen wie ein Kind mit Freikarten für den Cup Final.« »Mal konkreter«, sagte Cassie, »wenn ihr Liam O’Rorkes System benutzt hättet – hätte es euch Genotti präsentiert?« »Ah.« Ich las Bananas’ neue Speisekarte und fragte mich, was er wohl mit Gefangenen-Hühnchen meinte. Sagte beiläufig: »Angelo Gilbert hat auf ihn gesetzt.« »Was?« Ich erklärte das mit Angelo, den Buchmachern und der Dummheit im allgemeinen. »Er hat es verpatzt«, sagte Cassie, nicht ohne Befriedigung. Ich nickte. »Patziger ging’s nicht.« Bananas sah mich nachdenklich an. »Wie wird sich das auf die Laune des guten Mannes auswirken?« 301
»Es ist doch nicht Williams Schuld«, sagte Cassie. »Die Kleinigkeit hat ihn schon mal nicht aufgehalten.« Cassie schaute finster, beunruhigt drein. »Was ist Gefangenen-Hühnchen?« fragte ich. Bananas grinste affektiert. »Hühnerbrust mariniert in Zitronensaft und gebacken unter streichholzdünnen Stäben aus Kräuterteig.« »Hört sich trocken an«, sagte ich zynisch. »Brot und Wasser gibt’s auf Wunsch dazu.« Cassie lachte, und Angelo wich ein wenig zurück. Wir aßen das Gefangenen-Hühnchen, das wie vorauszusehen eine Köstlichkeit voller Saft und Aroma war und uns überhaupt nicht an seine Inspiration erinnerte. »Ich fahre morgen nach Irland«, sagte ich zu Cassie. »Möchtest du mitkommen?« »Irland? Hin und zurück?« Ich nickte. »Um mit einem Mann über ein Pferd zu sprechen.« »Was sonst?« Also gaben wir einen Teil meines Gewinnes für ihre Flugkarte aus und fuhren südlich von Wexford, um den Hengst zu sehen, den alle Welt haben wollte: Und die halbe Welt, schien es, war in der gleichen Mission dort, stand um einen unsauberen Stallhof herum mit leeren Mienen, die alle sorgfältig vermieden, identische innere Gedanken auszudrücken. Cassie beobachtete, wie der schön aufgezäumte braune Jährling unter den beruhigenden Händen des Pflegers herumtänzelte und nannte ihn unfachmännisch »süß«. »Eine Geldmaschine auf Hufen«, sagte ich. »Sieh nur die Gier in all den verschlossenen Gesichtern.« 302
»Mir kommen sie nur uninteressiert vor.« »Begeisterung treibt den Preis hoch.« Einer oder zwei der gelangweilt wirkenden Zuschauer marschierten vor, um mit forschenden Händen über die straffen jungen Knochen zu fahren und traten mit pokerspielend nichtssagendem Blick zurück, die ganze Prozedur so still wie in der Kirche. »Willst du seine Beine nicht fühlen?« fragte Cassie. »Spricht nichts dagegen.« Ich beteiligte mich an dem Ritual und fand wie alle anderen, daß die jungen Gliedmaßen kühl und fest waren, mit Sehnen wie Fiedelsaiten überall an den richtigen Stellen. Dazu kam ein guter starker Hals, eine wohlgeformte Kruppe und vor allem eine gute Brusttiefe. Ganz abgesehen von seinem Stammbaum, der von klassischen Siegern widerhallte, konnte man sich ein besser aussehendes Tier, dachte ich, nicht einmal vorstellen: was bedeutete, daß die Gebote bei der Auktion am Mittwoch schneller steigen würden als Bananas Frisby morgens aufstand. Wir flogen gedankenverloren nach England zurück, und ich schickte ein Fernschreiben an Luke. »Die Gebote für den Hansel-Hengst werden ungeheuer sein. Ich habe ihn gesehen. Er ist fehlerlos. Wie hoch soll ich gehen?« Worauf ich während der Nacht eine Antwort erhielt: »Es ist Ihr Job, Junge. Sie entscheiden.« Autsch, dachte ich. Wo ist die Grenze? Wie hoch ist eine Katastrophe? Newmarket füllte sich wieder für die neue Verkaufswoche, die wichtigste Serie von Jährlingsauktionen in der ganzen Saison. Jeder im Rennsport, der Geld übrig hatte, brachte Entschlossenheit und Träume mit, und 303
die vierbeinigen Babys kamen in Pferdetransportern aus der nächsten Straße, aus Kent und den Cotswolds, aus Devon und Schottland, von jenseits der irischen See. Der Hansel-Hengst aus Wexford sollte zur Hauptzeit um halb acht am Mittwoch abend versteigert werden, und gegen sieben waren die hoch hinaufragenden Sitzbänke des Auktionsrings unsichtbar unter einem Meer von Leibern, Cassie irgendwo mittendrin. Unten in Bodennähe, in dem für wahrscheinliche Bieter reservierten Verschlag, atmete Donovan schwer wie schon den ganzen Nachmittag an meinem Ellbogen, entschlossen nüchtern und dafür um so düsterer. »Also, jetzt holen Sie den kleinen Hengst, ja, holen Sie’n für mich.« Hatte er es einmal gesagt, hatte er es hundertmal gesagt, als könnte der wiederholte Wunsch den Kauf irgendwie zur Gewißheit machen. Sie brachten das Fohlen in den Ring, in der plötzlichen Stille einer Unzahl von Lungen, die alle gleichzeitig die Luft anhielten, und das Licht schimmerte auf dem wandelnden Edelstein, und er sah wahrhaftig wie ein Prinz aus, der eine Dynastie zeugen konnte. Die Gebote für ihn fingen nicht in Tausenden, sondern in Zehntausenden an, sprangen binnen Sekunden auf die Viertelmillion und schnellten darüber hinaus. Ich wartete bis zur ersten kleinen Pause und hob den Preis um gewaltige fünfundzwanzigtausend, nur um sofort von dem entschiedenen Nicken eines Agenten weiter rechts von mir übertrumpft zu werden. Ich erhöhte um weitere fünfundzwanzig und verlor sie ebensoschnell, und nochmals, und nochmals: und ich konnte weiternicken, dachte ich, bis mir der Kopf abfiel. Nichts auf der Welt leichter als anderer Leute Geld auszugeben, so fix wie die Nullen durch den Zähler einer Tanksäule liefen. 304
Bei achthunderttausend Guineen hörte ich einfach auf. Der Auktionator sah mich forschend an. Ich zuckte mit keiner Wimper. »Gegen Sie, Sir«, sagte er. »Machen Sie weiter«, sagte Donovan, der dachte, ich hätte nur übersehen, daß die Reihe an mir war. »Weitermachen, weiter.« Ich schüttelte den Kopf. Donovan drehte sich um und boxte mich buchstäblich auf den Arm in der quälenden Furcht, daß meine Begriffsstutzigkeit ihn um das Fohlen bringen würde. »Weiter, Sie sind dran. Biet doch, du Trottel, biete.« »Ihr Gebot, Sir?« sagte der Auktionator. Ich schüttelte nochmals den Kopf. Donovan trat mich ans Bein. Der Auktionator blickte sich in dem stillen Verkaufsring um. »Abgemacht also?« sagte er: und nach einer lebenslangen Pause fuhr sein Hammer scharf herab, war die Gelegenheit mit einem Schlag vorbei. »Verkauft an Mr. O’Flaherty. Das nächste Objekt bitte.« Unter dem Raunen der Kommentare, die das Superfohlen aus dem Ring begleiteten, drängte mir Donovan ein zornig rotes Gesicht entgegen und schrie hemmungslos: »Sie dämlicher Bastard. Wissen Sie, wer diesen Hengst gekauft hat?« »Ja, ich weiß.« »Ich bring’ Sie um, das sag’ ich Ihnen.« Schatten von Angelo … »Es gibt keinen Grund«, sagte ich, »weshalb Luke für Ihre Fehde mit Mick O’Flaherty bezahlen sollte.« »Dieser Hengst wird das Derby gewinnen.« Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben nur Angst, daß er gewinnt.« »Ich schreibe an Luke, Sie. Ich sage ihm schon, Sie, wer 305
hier Angst hat. Verfluchte Engländer. Ich würde euch alle umbringen.« Er stakte davon, aus jeder Pore sichtlich Wut verströmend, und ich beobachtete ihn mit Bedauern, denn ich hätte ihm tatsächlich gern seinen kleinen Burschen gekauft und gesehen, wie er ihn umhegte, um ihn zum Champion zu machen. »Warum hast du aufgehört?« fragte Cassie und nahm mich am Arm. »Gibt es dir zu denken?« Sie blinzelte. »Weißt du, was die Leute sagen?« »Daß ich nicht den Mumm hatte weiterzumachen?« »Es ist nur, daß ich gehört habe …« Ich lächelte schief. »Meine erste große Schlacht, und ich hab’ gekniffen. Irgend so etwas?« »So ähnlich.« »O’Flaherty und Donovan hassen sich derart, daß es ihre Urteilskraft verkleistert. Ich hatte vor, bis siebenhundertfünfzigtausend Guineen zu gehen, und ich dachte, ich bekäme den Hengst, dachte ich wirklich, denn das ist ein extremer Preis für jeden Jährling. Ich ging noch ein Gebot höher, aber es war nicht genug. O’Flaherty stand hinter seinem Agenten und bearbeitete ihm den Rücken, damit er weitermachte. Ich konnte ihn sehen. O’Flaherty war absolut entschlossen, den Hengst zu kaufen. Um Donovan eins auszuwischen, denke ich. Es hat keinen Sinn, immer weiter gegen jemanden zu bieten, der von primitiven Gefühlen getrieben wird, also habe ich aufgehört.« »Aber was, wenn er wirklich das Derby gewinnt?« »Etwa zehntausend Vollblutfohlen sind im letzten Jahr allein auf den Britischen Inseln geboren worden. Dazu 306
kommen Frankreich und Amerika. Ein Fohlen aus diesem Riesenertrag wird im übernächsten Jahr das Derby gewinnen, wenn sie drei sind. Die Chancen stehen dagegen, daß es dieses sein wird.« »Du bist so kühl.« »Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Gekränkt und verärgert.« Wir fuhren heim, und ich schickte das Fernschreiben an Luke. »Bedauere. Mindergebot von 840000 Pfund zuzüglich Steuer für den Hansel-Hengst. Donovans tödlicher Rivale Mick O’Flaherty mit 866 250 erfolgreich. Donovan wütend. Feuern Sie mich, wenn Sie wollen. Grüße, William.« Die Antwortnachricht kam innerhalb einer Stunde. »Wenn der Hengst im Derby siegt, schulden Sie mir zehn Millionen Pfund, im übrigen sind Sie noch eingestellt. Cassie alles Gute.« »Gott sei Dank dafür«, sagte ich. »Laß uns ins Bett gehen.« Zwei ereignisreiche Tage später setzte ich sie bei ihrer Arbeit ab und fuhr weiter südwestlich nach Berkshire, um Lukes andere Trainer im Laufe des Morgens zu besuchen und anschließend drei ihrer Pferde am Nachmittag in Newbury starten zu sehen; und dort auf der Rennbahn war wieder Angelo. Diesmal sah er mich sofort, ehe ich Zeit hatte auszuweichen; kam über einen Grasstreifen gestürmt, packte mich grob am Revers und sagte mir, das Wettsystem würde nicht funktionieren. »Du hast mir was angedreht. Es wird dir leid tun.« Er 307
blickte sich rasch um, als hoffe er, uns beide auf verlassenem Moorland zu finden, da aber nur gut bevölkerter Beton zu sehen war, unterdrückte er seinen deutlichen Wunsch, mich auf der Stelle abzuschlachten. Er war körperlich härter, dachte ich. Weniger blaß, weniger aufgedunsen; die Wirkungen langer Gefangenschaft wichen einer gesunden Bräune und strafferen Muskeln, die stierhafte Eigenart des Körpers verstärkte sich. Die schwarzen Augen … kalt wie nur je. Ich sah mir seine wiederauftauchende Feindseligkeit an, und sie gefiel mir kein bißchen. Ich zog seine Hand von meinem Revers und ließ sie fallen. »An dem System ist nichts faul«, sagte ich. »Es ist nicht meine Schuld, daß Sie darüber weg getrampelt sind wie eine Herde Elefanten.« Seine Stimme kam in der vertrauten Baßtonlage zurück. »Wenn ich morgen gegen fünf immer noch verliere, weiß ich, daß du mich reingelegt hast. Und rück dir auf den Pelz. Verlaß dich drauf.« Er wandte sich jäh ab und schritt in Richtung Tribüne davon, und wenig später suchte ich mir Taff unter den Buchmachern. »Das Neueste über Angelo Gilben?« Er sah von seinem erhöhten Standort, einem umgedrehten Bierkasten, auf mich herunter. »Er spinnt.« »Bieten Sie ihm immer noch miese Quoten an?« »Hören Sie, Mr. Derry, ich bin jetzt zu beschäftigt, um zu reden.« Er war tatsächlich von eifrigen Kunden umringt, die mit Bargeld winkten. »Wenn Sie Auskunft wollen, spendieren Sie mir nach dem letzten Rennen ein Halbes.« 308
»Gut«, sagte ich, »abgemacht.« Und am Ende des Nachmittags kam er mit mir in die überfüllte Bar und schrie mir die unerwartete Neuigkeit ins aufmerksame Ohr. »Dieser Angelo ist übergeschnappt. Er hat massig Geld in York gewonnen, das sagte ich ja schon, und ganz hübsch auch in Doncaster, aber vor York hat er scheint’s in Epsom einen Batzen verloren und letzten Montag in Goodwood einem Vermögen adieu gesagt, und heute ist er auf zwei Gäule verfallen, die beim Einlauf überhaupt nicht in Sicht waren. Also geben wir ihm alle wieder reguläre Quoten. Der olle Lancer – er arbeitet für Joe Glickstein, den Ehrlichen Joe, Stände auf allen Bahnen, hamse sicher schon gesehen?« Ich nickte. »Na, der olle Lancer hat heute nachmittag diesem Angelo Tausend in bar für Pocket Handbook abgeknöpft, der nicht mal siegen könnte, wenn er gestern losgelaufen wär’. Ich meine, der Mann ist meschugge. Der spielt Liam O’Rorkes System, so wahr ich ein fleischgewordener Elf bin.« Ich sah zu, wie er sein Bier trank, und empfand große Bestürzung darüber, daß Angelo mit dem System nicht einmal soweit zurechtkam, daß es die richtigen Pferde für ihn finden ließ. Offenbar riet er einen Teil der Antwort auf die vielfältigen Fragen, statt sie genau in den Rennberichten nachzuschlagen; drückte sich aus Faulheit vor der harten Arbeit und vertraute den Resultaten, die der Computer ausgab, trotzdem. Doch ein Computer konnte ihm keinen Rat erteilen, konnte ihm nicht sagen, daß eine ausgelassene Antwort hier und da und dort die fein ausbalancierten Wertungen alle durcheinanderbringen und die allesentscheidenden Siegfaktoren unweigerlich verzerren würde. Angelo war dumm, schwerfällig, blöde. Angelo würde denken, es sei meine Schuld. 309
»Es heißt, sein Vater hat die Nase langsam voll«, sagte Taff. »Wer?« »Der Vater dieses Angelo. Der alte Harry Gilbert. Machte einen Haufen Geld mit Bingohallen, erzählt man, ehe es ihn umgeworfen hat.« »Äh, umgeworfen?« Taff hob ein faltiges braunes Frischluftgesicht über dem Bierkrug. »Von der Gicht geschlagen, glaube ich. Er kann jedenfalls kaum gehen. Kommt manchmal im Rollstuhl zu den Rennen, und er ist es, der die Flöhe hat.« Erleuchtet dachte ich zurück an die vorhergehende Woche in Doncaster, sah im Gedächtnis, wie Angelo einem älteren, an den Rollstuhl gefesselten Mann ein Rennprogramm gab. Angelos Vater, immer noch nachsichtig, immer noch der Unterstützer, der Geldgeber für seinen tödlichen Sohn mittleren Alters. Ich dankte Taff für seine Information. »Was haben Sie mit diesem Angelo?« sagte er. »Ein alter Intimfeind meines Bruders.« Er machte eine quittierende Bewegung mit dem Kopf, sah auf seine Uhr und trank in einem Zug sein Bier aus, da sein Angestellter, wie er sagte, mit der Tageskasse allein sei und es ihm lieber wäre, wenn sie durch seine eigenen Flossen ginge. »Wir hatten alle einen guten Tag«, sagte er fröhlich, »wo die zwei haushohen Favoriten die Hucke vollgekriegt haben.« Ich fuhr heimwärts und holte Cassie ab, die nach einer sogenannten Verlaufskontrolle im Krankenhaus wartete. »Gips nächste Woche runter«, beklagte sie sich. »Ich wollte ihn heute nachmittag weghaben, aber sie weigerten sich.« 310
Der Gips juckte inzwischen arg, das ›DENK AN TIGER‹ verblaßte, Cassie bestand darauf, daß ihr Arm sich geheilt anfühlte, und der Rest war Ungeduld. Wir fuhren nochmals zu den Auktionen: Ich schien ein halbes Leben an diesem Verkaufsring verbracht zu haben, und Luke besaß jetzt achtundzwanzig Jährlinge, die er noch nicht gesehen hatte. Ich hatte Schecks für nahezu zwei Millionen Pfund auf seinen Namen ausgestellt und neigte dazu, nachts davon zu träumen. Nur der Samstagmorgen blieb jetzt noch, ein unwesentliches Programm laut Katalog, der Ausklang nach den anhaltenden Aufregungen der Woche. Ich fuhr aus Gewohnheit früh hin und kaufte nach nur kurzem Vorbedacht sehr billig das erste Objekt des Tages, einen unscheinbaren Dunkelfuchs, dessen Blutlinie der Inspektion eher standhielt als seine spindeldürren Beine. Man hätte nicht voraussagen können, daß dies der Prinz war, der eine Dynastie zeugen würde, aber so kam es am Ende. Meine Gedanken, als ich für ihn unterschrieb und dafür sorgte, daß er die Straße hinunter zu Morts Stall gebracht wurde, waren mehr bei dem Gespräch, das ich den Abend vorher mit Jonathan am Telefon geführt hatte. »Ich möchte mit Angelos Vater reden«, sagte ich. »Weißt du noch, wo er gewohnt hat?« »Natürlich. Welwyn Garden City. Wenn du mir einen Moment Zeit gibst, finde ich auch die Straße und die Nummer.« Eine Pause trat ein, während er suchte. »Hier bitte. Pumperton Close, siebzehn. Er kann natürlich umgezogen sein, und vergiß nicht, William, freundlich sein wird er nicht im mindesten. Ich hörte, er hätte geschworen, sich grausam an mir zu rächen nach Angelos Verurteilung, aber ich blieb nicht so lange vor Ort, daß er loslegen konnte.« 311
»Angelo scheint finanziell von ihm abhängig zu sein«, sagte ich. »Das paßt.« »Angelo macht einen regelrechten Murks mit dem Wettsystem. Er verspielt das Geld seines Vaters, und mir gibt er die Schuld daran und heizt auf zum nächsten Vulkanausbruch, mit mir als anvisiertem Ziel für den Lavastrom.« »Er ist eine absolute Plage.« »Aber wirklich. Wie wird man ein Monster los, das nicht verschwinden will? Antworte da nicht drauf. Angelo für immer zurück ins Gefängnis zu befördern, ist das einzige, was mir einfällt, und selbst dann müßte ich es so machen, daß er nicht wüßte, wer es getan hat, und wäre es alles in allem überhaupt fair?« »Provokation? Ihm ein Verbrechen in den Weg legen und ihn einladen, es zu begehen?« »Du sagst es.« »Nein, das wäre nicht gerade fair.« »Ich hatte Angst, du würdest anders denken«, sagte ich. »Es müßte schon Mord sein, wenn er für den Rest seiner Tage brummen soll. Drunter geht’s nicht, sonst kommt er feuerspeiend wieder raus, sagst du ja selber. Und wie wolltest du jemals ein lebendes Opfer organisieren?« »Mm«, sagte ich, »es ist unmöglich. Ich denke immer noch, die einzig dauerhafte Lösung ist, Angelo zum Erfolg zu verhelfen, also werde ich sehen, daß ich seinen alten Pa dahingehend überreden kann.« »Sein alter Pa ist eine alte Klapperschlange, vergiß das nicht.« »Sein alter Pa sitzt im Rollstuhl.« »Tatsächlich?« Jonathan schien überrascht. »Trotzdem, denk dran, daß Klapperschlangen keine Beine haben.« 312
Ich dachte mir, daß Angelo am Samstag nachmittag noch bei den Buchmachern auf der Newbury-Rennbahn herumwursteln würde und daß sein Vater vielleicht zu Hause geblieben war, also fuhr ich dann nach Welwyn Garden City und ließ Cassie allein mit einem Staubtuch und einem ungewohnt häuslichen Gesichtsausdruck im Cottage umherwandern. Das Haus Nummer 17 im Pemberton Close erwies sich als nicht von Harry Gilbert bewohnt, sondern von einem Börsenmakler, seiner geschwätzigen Frau und vier lauten Kindern auf Rollschuhen, allesamt draußen im Garten. »Harry Gilbert?« sagte die Frau, einen Korb welker Rosen im Arm. »Er konnte mit seiner Krankheit die Treppen nicht bewältigen. Er hat sich einen Bungalow voller Rampen gebaut.« »Wissen Sie, wo?« »Ja, sicher. Am Golfplatz. Früher hat er gespielt, der arme Mann. Jetzt sitzt er am Fenster und sieht zu, wie die Vierer übers vierzehnte Grün gehen. Wir winken ihm oft, wenn wir spielen.« »Hat er die Gicht?« fragte ich. »Lieber Gott, nein.« Sie verzog mitfühlend das Gesicht. »Multiple Sklerose. Seit Jahren. Wir haben gesehen, wie es langsam schlimmer wurde … wir wohnten vier Türen weiter, aber dieses Haus gefiel uns immer schon. Als er es zum Verkauf annoncierte, haben wir zugegriffen.« »Könnten Sie mir sagen, wo ich ihn finde?« »Sicher.« Sie beschrieb mir kurz den Weg. »Daß Sie über seinen Sohn nicht sprechen sollten, wissen Sie doch, ja?« »Sohn?« sagte ich vage. »Sein einziger Sohn sitzt wegen Mordes im Gefängnis. 313
So traurig für den armen Mann. Sprechen Sie nicht davon, es bedrückt ihn.« »Danke für den Hinweis«, sagte ich. Sie nickte und lächelte aus einem eher gütigen als scharfsichtigen Herzen und wandte sich wieder dem Säubern ihres hübschen Gartens zu. Gewiß werden Güte und Gnade euch euer Lebtag folgen, dachte ich lästerlich, und keine Monstren, die nicht weggehen, werden euch verschlingen. Ich verließ die Tugendhaften und begab mich auf die Suche nach dem Sünder und fand ihn, wie sie gesagt hatte, in einem Rollstuhl an einem großen Erkerfenster, wo er saß und die eifrigen Putter draußen auf dem Grün beobachtete. Die breite Flügeltür des großen und noch neu wirkenden einstöckigen Hauses wurde mir von einem Mann geöffnet, der auf den ersten Blick Angelo so ähnlich sah, daß ich einen furchtsamen Moment lang dachte, er sei doch nicht zu den Rennen gefahren; aber nur die allgemeine Form und Farbe war gleich, die olive Haut, ergrauendes Haar, unfreundliche dunkle Augen, Neigung zu einem alles bedeckenden Fettpolster. »Eddy«, rief eine Stimme. »Wer ist es? Kommt hier rein.« Die Stimme war so tief und rauh wie die von Angelo, die Worte selbst ein wenig genuschelt. Ich ging über das polierte Holz der Eingangshalle und dann durch das üppige Wohnzimmer mit seinem Panoramablick, und erst als ich keine zwei Meter mehr von Harry Gilbert entfernt war, hielt ich an und sagte, ich sei William Derry. Man konnte die Schwingungen fast spüren. Eddy hinter mir zischte hörbar von der Luft, die seinen Lungen entwich. Die viel ältere Version von Angelos Gesicht, die aus dem Rollstuhl hochsah, straffte sich vor starken, doch 314
unlesbaren Gefühlen, vermutlich Ärger und Entrüstung, aber möglicherweise auch nicht. Er hatte schütteres graues Haar, einen grauen Schnurrbart, einen massigen Körper in einem förmlichen grauen Anzug mit Weste. Nur an den schlaffen Händen war die Krankheit zu erkennen, und nur, wenn er sie bewegte; und von seinen gewichsten Schuhen bis zu dem sauber gezogenen Scheitel schien es mir, daß er seine Schwäche leugnete, daß er eine intakte Fassade vorwies, um der Welt zu verkünden, daß im Inneren noch Autorität lebte. »Sie sind in meinem Haus nicht willkommen«, sagte er. »Wenn Ihr Sohn aufhören würde, mich zu bedrohen, wäre ich nicht hier.« »Er sagt, Sie haben uns reingelegt wie Ihr Bruder.« »Nein.« »Das Wettsystem funktioniert nicht.« »Es hat für Liam O’Rorke funktioniert«, sagte ich. »Liam O’Rorke war still, klug, vorsichtig und ein Statistiker. Ist Angelo eines dieser Dinge?« Er starrte mich kalt an. »Ein System sollte für jeden gleich funktionieren.« »Ein Pferd läuft nicht bei jedem Jockey gleich«, sagte ich. »Da besteht keine Ähnlichkeit.« »Motoren laufen bei einigen Fahrern glatt und brechen bei anderen zusammen. Ungeschick ist immer destruktiv. Angelo tritt das System mit Füßen. Kein Wunder, daß es keine Resultate bringt.« »Das System ist faul«, sagte er störrisch. »Es könnte«, sagte ich langsam, »etwas veraltet sein.« Für Ted Pitts jedoch klappt es noch wie am Schnürchen, aber andererseits war auch Ted Pitts still, klug; ein Statistiker. 315
Es schien, daß ich den ersten Eindruck auf Harry Gilbert gemacht hatte. Er sagte mit einem leisen Unterton von Zweifel: »Es sollte sich mit den Jahren nicht geändert haben. Wieso denn?« »Ich weiß es nicht. Was spricht dagegen? Es gibt vielleicht ein paar Faktoren, die Liam O’Rorke nicht berücksichtigen konnte, weil sie zu seiner Zeit nicht existiert haben.« Eine gedrückte Unnachgiebigkeit hüllte ihn ein. Ich sagte: »Und wenn Angelo die Programme flüchtig durchgegangen ist, manche Fragen überschlagen oder sie ungenau beantwortet hat, kommen auch die Wertungen falsch raus. Einige Antworten hatte er ja richtig. Sie haben sehr viel in York gewonnen, erzählte man mir. Und Sie würden auch mehr im Saint Leger gewonnen haben, wenn Angelo nicht die Buchmacher mit seiner Prahlerei verschreckt hätte.« »Ich verstehe Sie nicht.« Seine undeutliche, die Wörter verwischende Sprechweise, begriff ich, war eine Folge seiner Krankheit. Die Aussprache mochte defekt sein, doch die kalte Bewußtheit in seinen Augen verriet ganz deutlich, daß seine Intelligenz es nicht war. »Angelo hat sämtlichen Buchmachern in York erzählt, daß er sie künftig am laufenden Band schröpfen würde, da er nämlich Liam O’Rorkes unfehlbares System besäße.« Harry Gilbert schloß die Augen. Sein Gesicht blieb unbewegt. Eddy sagte streitlustig: »Was ist denn dabei? Man muß den Leuten zeigen, wer der Boss ist.« »Eddy«, sagte Harry Gilbert, »du hast von nichts eine Ahnung und wirst nie eine haben.« Er schlug langsam die Augen auf. »Das ändert die Sache«, sagte er. 316
»Sie gaben ihm den gleichen Einsatz auf den SamtLeger-Sieger. Der richtige Kurs war fünf zu eins.« Harry Gilbert würde mir nie danken: selbst wenn ich ihm einen lebenswichtigen Rat gäbe, selbst wenn ich ihm helfen würde, ein Vermögen zu gewinnen, selbst wenn ich seinen kostbaren Sohn vor dem Gefängnis bewahrte. Dennoch war ihm klar, was ich sagte. Ein zu großer Realist, ein zu alter Geschäftsmann, als daß er es nicht gewußt hätte. Angelo war in zu vieler Hinsicht ein Dummkopf, und es machte ihn gefährlicher, nicht ungefährlicher. »Was erwarten Sie?« fragte er. »Was soll ich tun?« »Ich erwarte, daß Sie Ihrem Sohn sagen, wenn er sich noch einmal an mir vergreift oder an einem meiner Bekannten oder an meinem Eigentum, sitzt er so schnell wieder hinter Gittern, daß er gar nicht weiß, wie ihm geschieht. Sie sollen dafür sorgen, daß er das Wettsystem still und sorgfältig anwendet, damit er gewinnt. Sie sollen ihn darauf aufmerksam machen, daß das System nur einen Gewinner auf drei Wetten garantiert, nicht jedes einzelne Mal einen Sieger. Die erfolgreiche Arbeit mit dem System ist eine Sache der strikten Anwendung und behutsamen Ausdauer, nicht des Auffallens und Tobens.« Er starrte mich ausdruckslos an. »Angelos Charakter«, sagte ich, »ist so verschieden von dem Liam O’Rorkes, wie er überhaupt sein kann. Ich erwarte, daß Sie das Angelo bewußt machen.« All das waren Erwartungen, sah ich, die sich wohl kaum erfüllen würden. Harry Gilberts körperliche Schwäche, wenn er sie auch tarnte, war fortschreitend, und seine unvollkommene Kontrolle über Angelo würde wahrscheinlich nur gerade so lange dauern, wie sein Sohn finanzielle Unterstützung brauchte. 317
Ein Zittern durchlief seinen Körper, doch im Gesicht zeigte sich keine Regung. Er sagte indessen mit einer Art unterdrücktem Zorn: »Unsere ganzen Probleme sind das Verschulden Ihres Bruders.« Die Nutzlosigkeit meines Besuches überwältigte mich. Harry Gilbert war letztlich doch ein alter Mann, der blind wie sein Sohn an einer alten Zwangsvorstellung festhielt. Harry Gilbert war kein vernünftiger Mann mehr, sollte er es je gewesen sein. Ich versuchte es trotzdem noch einmal. Ich sagte: »Wenn Sie Mrs. O’Rorke damals bezahlt hätten, wenn Sie ihr, wie zugesagt, Liams System abgekauft hätten, wären Sie rechtmäßig in seinen Besitz gekommen und hätten seither daran verdienen können. Weil Sie sich weigerten, Mrs. O’Rorke zu bezahlen, deshalb nur sorgte mein Bruder dafür, daß Sie das System nicht bekamen.« »Sie war doch zu alt«, sagte er kalt. Ich starrte ihn an. »Wollen Sie damit andeuten, daß ihr Alter ein Grund war, sie nicht zu bezahlen?« Er antwortete nicht. »Wenn ich Ihnen Ihren Wagen klaute«, sagte ich, »würden Sie das für gerechtfertigt halten mit der Begründung, daß Sie zu alt seien, um ihn zu fahren?« »Sie schwafeln«, sagte er. »Sie sind eine Null.« »Gimpel«, sagte Eddy nickend. Harry Gilbert sagte müde: »Eddy, du kannst gut Rollstühle schieben und kochst gut. Zu allen anderen Themen halt die Klappe.« Eddy bedachte ihn mit einem Blick, der halb trotzig, halb ängstlich war, und ich sah, daß auch er für Essen und Unterkunft von Harry Gilben abhängig war, daß es in der großen zynischen Welt draußen gar nicht so leicht sein 318
konnte für Mordgehilfen, einen bequemen Lebensunterhalt zu verdienen, daß Pflegefall Harry kein Job war, den man locker hinwarf. Zu Harry Gilbert sagte ich: »Warum tun Sie nicht, was Sie einst vorhatten? Warum kaufen Sie Angelo nicht ein Wettbüro und lassen das System dort für ihn gewinnen?« Ich bekam wieder ein stummes, unbewegtes Starren. Dann sagte er: »Geschäft ist eine Begabung. Ich habe sie. Sie ist aber selten.« Ich nickte. Eine weitergehende Antwort würde er sich nicht gestatten. Sicher wollte er nicht ausgerechnet mir bekennen, daß er dachte, Angelo würde jedes sinnvolle Geschäft innerhalb von Wochen ruinieren. »Halten Sie Ihren Sohn von mir fern«, sagte ich. »Ich habe, indem ich Ihnen das System beschaffte, mehr für Sie getan als Sie verdienen. Sie haben kein Anrecht darauf. Sie haben kein Recht zu verlangen, daß es Ihnen in fünf Minuten ein Vermögen bringt. Sie haben kein Recht, mich verantwortlich zu machen, wenn es das nicht tut. Halten Sie mir Ihren Sohn vom Leib. Ich kann genauso hart rangehen wie er. Sich selbst und ihm zuliebe, halten Sie ihn mir fern.« Ich kehrte ihm den Rücken, ohne auf irgendeine Antwort zu warten und ging ohne Hast aus dem Zimmer und durch die Halle. Schritte trappelten hinter mir auf dem gebohnerten Holz. Eddy. Ich sah mich nicht um. Er holte mich ein, als ich die Tür öffnete und hinaustrat, und er legte mir die Hand auf den Arm, damit ich stehenblieb. Er blickte schuldbewußt über seine Schulter in die Richtung, wo sein Onkel stumm an dem prächtigen Fenster saß, wußte, daß der alte Mann nicht billigen würde, was er tat. Dann, als er sah, daß 319
Harry wieder unverwandt hinaus auf den Golfplatz schaute, kehrte er mir ein häßliches, selbstzufriedenes Grinsen zu. »Gimpel«, sagte er mit vorsichtig gedämpfter Stimme. »Angelo wird’s nicht gefallen, daß Sie hergekommen sind.« »Zu schade.« Ich schüttelte mir seine Hand vom Ärmel. Er feixte mich in einer giftigen Mischung aus Verschlagenheit, Tücke und Triumph an und flüsterte halb seine genußreichen Abschlußworte. »Angelo hat eine Pistole gekauft«, sagte er.
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18 »Weshalb bist du so nachdenklich?« sagte Cassie. »Unruhig.« Wir saßen wie so oft an einem Tisch in Bananas’ Gastzimmer, während er in seinen Turnschuhen leichtfüßig umherzog, anscheinend ganz ohne Eile, aber doch jedermann versorgte. Die Pflanzen gediehen mit schimmernden gesunden Blättern, im üppigen Dämmer seiner bewußt intimen Beleuchtung, Gläser und Tafelsilber blinkten im Kerzenschein, und Moder breitete sich langsam in den Schatten aus. »Es ist nicht deine Art«, sagte Cassie. Ich lächelte in ihr dünnes, sonnengebräuntes, unkompliziertes Gesicht und sagte, daß ich vor allem keinen neuerlichen Besuch von Angelo wollte. »Meinst du wirklich, er würde kommen?« »Ich weiß es nicht.« »Noch mehr Strohpüppchen bekämen wir nie«, sagte sie. »Jetzt ist es zu spät für anständiges Stroh.« Ihr Arm in seinem Gipsverband lag ungelenk auf dem Tisch. Ich berührte die geschlossen hervorlugenden Fingerspitzen. »Würdest du in Erwägung ziehen, mich für eine Weile zu verlassen?« fragte ich. »Nein, würde ich nicht.« »Und wenn ich nun sagte, ich hätte dich satt.« »Hast du nicht.« »Bist du so sicher?« 321
»Völlig«, sagte sie zufrieden. »Und überhaupt, für wie lange denn?« Ich trank einen Schluck Wein. Für wie lange, war ein absolutes Rätsel. »Bis ich Angelo ins Lot gebracht habe«, sagte ich. »Und frag mich nicht, wie lang das dauert, denn ich weiß es nicht. Aber als erstes, glaube ich, muß ich Luke überreden, daß er gerade hier in England einen Computer braucht.« »Wäre das schwierig?« »Könnte schon sein. Er hat einen in Kalifornien … er könnte sagen, er braucht keine zwei.« »Wofür willst du ihn – das Wettsystem?« Ich nickte. »Ich glaube«, sagte ich, »daß ich mal versuche, einen zu mieten. Oder Computerzeit zu mieten. Ich möchte feststellen, wer laut O’Rorke die Sieger sein sollten und was Angelo verkehrt macht. Und wenn ich seine Fehler korrigieren kann, gibt er vielleicht Ruhe.« »Man sollte meinen, ihm die Bänder zu geben war schon genug.« »Ja, sollte man.« »Er ist wie eine Distel«, sagte sie. »Du glaubst fest, du bist sie losgeworden, und zack wächst sie wieder neu.« Disteln, dachte ich, zogen nicht los, um Pistolen zu kaufen. Bananas trug ehrfürchtig sein namengebendes Soufflé zu den Leuten am Nebentisch, die luftigen Gipfel strahlten leicht und lecker und hellbraun. Die alte Ziege, deren Kunst es hervorgebracht hatte, mußte aufgehört haben, streng nach Vorschrift zu arbeiten: Bananas selbst, der sich später zum Kaffee zu uns setzte, gestand es düster ein. »Sie brauchte eine Stunde zum Karottenschneiden. Zehn 322
Sekunden im Mixer. Sie meinte, Mixer wären gefährliche Maschinen, und sie müßte einen neuen Tarif für alle Leistungen an Maschinen aushandeln.« Bananas’ neuer Bart war kraus gewachsen, was angesichts der glatten geraden Strähnen weiter oben zwar erstaunte, mir aber im Einklang mit der Zwiespältigkeit seines Wesens zu stehen schien. »Historisch gesehen«, sagte er, »ist es selten eine gute Idee, einen Tyrannen zu beschwichtigen.« »Die alte Ziege?« »Nein. Angelo Gilbert.« »Was schlägst du denn vor?« fragte ich. »Totaler Krieg?« »Man muß völlig sicher sein, daß man gewinnt. Historisch gesehen ist totaler Krieg völlig offen.« »Die alte Ziege könnte gehen«, sagte Cassie lächelnd. Bananas nickte. »Tyrannen wollen beim nächsten Mal immer noch mehr. Ich möchte behaupten, daß sie nächstes Jahr auf Autorennen verfällt.« »Du kennst wohl keinen, der einen Computer hat, in den man alle Sprachen geben kann?« sagte ich. »Türkisch? Indochinesisch? Die Richtung?« »Ja. Kauderwelsch, Geflügeltes, Jargon und Anglerlatein.« »Versuch es bei den Soziologen.« Ich versuchte es indessen bei Ted Pitts, früh am nächsten Morgen, und erreichte Jane statt seiner. »Ted ist nicht hier«, sagte sie. »Er ist leider noch in der Schweiz. Kann ich helfen?« Ich erklärte, daß ich einen guten Computer für eine Überprüfung der Rennprogramme ausleihen wolle, und sie 323
sagte bedauernd, daß sie mir den von Ted eigentlich nicht überlassen könne, nicht in seiner Abwesenheit; sie wisse, daß er an einem Spezialprogramm für seine Kurse arbeite, und wenn im Moment irgend jemand den Computer anrühre, könnte seine Arbeit hin sein, und das dürfe sie nicht riskieren. »Nein«, stimmte ich zu. Wußte sie sonst noch jemand, dessen Computer ich benutzen konnte? Sie dachte darüber nach. »Da ist Ruth«, sagte sie zweifelnd. »Ruth Quigley.« »Wer?« »Sie war eine Schülerin von Ted. Eigentlich, sagt er, gibt es nichts, was er ihr noch beibringen kann, und wenn sie herkommt, verstehe ich kein Wort von dem, was sie miteinander reden, es ist, als ob man Wesen aus dem Weltraum zuhört.« »Hat sie denn einen eigenen Computer?« »Sie hat alles«, sagte Jane ohne Neid. »Reich geboren. Einziges Kind. Braucht nur zu fragen, und es gehört ihr. Und obendrein ist sie gescheit. Beinahe schon unfair, was?« »Auch noch schön?« »Oh.« Sie zögerte. »Gute Frage. Ich weiß nicht recht. Darauf achtet man bei Ruth nicht.« »Tja, hm, wo könnte ich sie denn finden?« »In Cambridge. Deswegen fiel sie mir ein, weil sie in Ihrer Ecke wohnt. Sie schreibt Programme für Lehrautomaten. Möchten Sie, daß ich sie anrufe? Wann wollen Sie hin?« Ich sagte »Heute«, und eine halbe Stunde später hatte ich meine Anmeldung und war unterwegs, um eine Wohnung 324
in einem modernen Hochhaus am Rand der Stadt ausfindig zu machen. Ruth Quigley erwies sich als jung: ganz Anfang der Zwanzig, nahm ich an. Ich sah auch, was Jane damit meinte, daß ihr Aussehen einem nicht auffiel, denn der erste, überwältigende und bleibende Eindruck, den sie vermittelte, war der vom Tempo ihres Verstandes. Da waren helle Augen, hellbraune, besonders lockige Haare und ein langer, schlanker Hals, doch vor allem war da ein ungeduldiges Rucken des Kopfes und eine sich überschlagend geschwinde Diktion, als könnte zu ihrem größten Abscheu ihre Zunge nicht schnell genug ihre Gedanken aussprechen. »Ja. Kommen Sie rein. Haben Sie Ihre Bänder mitgebracht?« Sie verschwendete keine kostbaren Worte für irgendeine andere Begrüßung. »Hier lang. Alte Grantley Basic, sagte Jane. Sie haben die Sprache bei sich. Wollen Sie laden oder soll ich?« »Ich wäre froh, wenn –« »Dann geben Sie mal her. Welche Seite?« »Äh, erstes Programm auf Seite i.« »Gut. Kommen Sie mit.« Sie bewegte sich mit der gleichen angeborenen Schnelligkeit, so daß sie durch einen kurzen Flur in einer Tür verschwand, ehe ich auch nur einen Schritt geschafft hatte. Es mußte ihr immer vorkommen, dachte ich, als ob der Rest der Welt in einem unausstehlichen Zeitlupentempo dahinschlich. Der Raum, in den ich ihr schließlich folgte, mußte ursprünglich als Schlafzimmer gedacht gewesen sein, aber davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Er hatte einen 325
beruhigend hellgrünen, filzähnlichen Bodenbelag, Stromschienen mit Strahlern, ein Rouleau am Fenster, mattweiße Wände – und lange Maschinenbänke, mehr oder minder wie Ted Pitts, nur doppelt so viele. »Arbeitsraum«, sagte Ruth Quigley. »Ah, ja.« Es war kühler hier als draußen auf der Straße. Ich identifizierte ein schwaches Summen im Hintergrund als Klimaanlage und machte eine Bemerkung darüber. Sie nickte ohne aufzusehen, während sie schon fast damit fertig war, Grantley Basic in einen Automaten zu laden, der die Sprache annahm. »Staub ist wie Grobsand für Computer. Hitze, Feuchtigkeit, alles macht sie launisch. Es sind natürlich Vollblüter.« Rennsportprogramme … Vollblutcomputer. Vorzüglichkeit siegte. Sorgfalt brachte einem Vorteile. Ich fing schon an, wie sie zu denken, sinnierte ich. »Ich stehle Ihnen die Zeit«, sagte ich entschuldigend. »Helf doch gern. Für Jane und Ted tue ich jederzeit alles. Sie wissen das. Haben Sie die Rennberichte mitgebracht? Sie werden sie brauchen. Simple Programme, aber die Fakten müssen stimmen. Bei den Lehrautomaten ist es meistens genauso. Die langweilen mich ziemlich oft. Fragen mit mehreren Antwortmöglichkeiten. Dann braucht das Kind eine halbe Stunde, bis es das Richtige trifft, und ich schiebe einen flotten Kommentar ein wie: ›Na bravo, bist du nicht schlau?‹ Nichts dergleichen. Ermutigung, sagt man, ist alles. Was meinen Sie denn?« »Sind es begabte Kinder?« Sie warf mir einen blitzschnellen Blick zu. »Alle Kinder sind begabt. Einige begabter. Sie brauchen den besten 326
Unterricht. Den kriegen sie oft nicht. Lehrer sind neidisch, wußten Sie das?« »Mein Bruder meinte immer, es sei höchst aufregend, einen sehr hellen Jungen in der Klasse zu haben.« »Wie Ted, großherzig. Das hätten wir, legen Sie los. Ich geh’ hier rein und raus, lassen Sie sich dadurch nicht stören. Ich arbeite an einem Sortierprogramm für Felder von Zeichenketten. Die sagten, sie brauchten achtzehn Minuten dafür, ich bitte Sie. Ich habe die Laufzeit auf fünf Sekunden gebracht, allerdings nur für eindimensionale Felder. Ich brauche aber eine Lösung für zwei Dimensionen, wenn ich die Daten nicht ständig durcheinanderwerfen will. Das Programm entwerfe ich erst mal in BASIC und übertrage es dann in effizienten Maschinen-Code. Langweile ich Sie?« »Nein«, sagte ich. »Ich verstehe bloß kein Wort davon.« »Entschuldigung. Vergesse, daß Sie nicht wie Ted sind. Na, machen Sie weiter.« Ich hatte in einer dicken Aktentasche die Kassetten, die Rennberichte, alle möglichen Leistungsaufstellungen und sämtliche neueren Ausgaben einer gute Rennzeitung mitgebracht, und mit dem Gefühl, daß ich nach Ruth Quigleys Maßstäben sehr, sehr lange brauchen würde, machte ich mich daran, festzustellen, welche Pferde Liam O’Rorke zufolge wahrscheinliche Gewinner waren und sie mit denen zu vergleichen, die tatsächlich als erste das Ziel erreicht hatten. Mir fehlte noch eine Liste der Pferde, auf die Angelo gesetzt hatte, aber ich dachte, die könnte ich mir von Taff und Lancer am nächsten Tag holen: und dann gelänge es mir vielleicht, dahinterzukommen, wo Angelo alles vermasselt hatte. NAME DER DATEI? CLOAD DONCA, tippte ich. Drückte die ›ENTER‹327
Taste und beobachtete die Sternchen. Wartete auf READY. Drückte erneut ›ENTER‹ und erhielt meine Belohnung. WELCHES RENNEN IN DONCASTER? SAINT LEGER, tippte ich. DONCASTER: SAINT LEGER. TIPPEN SIE DEN NAMEN DES PFERDES UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹. GENOTTI, tippte ich. Drückte ›ENTER‹. DONCASTER: SAINT LEGER GENOTTI BEANTWORTEN SIE ALLE FRAGEN MIT JA ODER NEIN ODER MIT EINER ZAHL UND DRUECKEN SIE ›ENTER‹. HAT PFERD ALS ZWEIJAEHRIGES GESIEGT? JA, tippte ich. Der Schirm strahlte eine neue Frage aus, ließ aber die Titelzellen intakt. HAT PFERD ALS DREIJAEHRIGES GESIEGT? JA, tippte ich. VOR WIE VIELEN TAGEN IST PFERD ZULETZT GESTARTET? Ich zog die Tageszeitung zu Rate, die darüber immer präzise Auskunft gab und tippte die Zahl, die dort am Saint-Leger-Tag erschienen war: 23. HAT PFERD GESIEGT UEBER DISTANZ: EINDREIVIERTEL MEILEN? NEIN, tippte ich. IST PFERD GESTARTET UEBER DISTANZ: EINDREIVIERTEL MEILEN? NEIN. TIPPEN SIE DIE LAENGSTE DISTANZ IN MEILEN, UEBER DIE PFERD GESIEGT HAT. 328
EINEINHALB. IST PFERD AUF BAHN GESTARTET? NEIN. TIPPEN SIE DIE SUMME DER IN DER LAUFENDEN SAISON GEWONNENEN GELDPREISE. Ich konsultierte die Rennberichte und gab Genottis Gewinne ein, die recht gut gewesen waren, aber nicht umwerfend. HAT VATER DES PFERDES SIEGER UEBER DIE DISTANZ GEZEUGT? Ich schlug es in den Zuchtregistern nach, was sehr viel länger dauerte, doch die Antwort war JA. MUTTER DESGLEICHEN? JA. IST PFERD VOR DEM START MIT ZWOELF ZU EINS ODER WENIGER NOTIERT? JA. HAT JOCKEY ZUVOR EIN KLASSISCHES RENNEN GEWONNEN? JA. HAT TRAINER ZUVOR EIN KLASSISCHES RENNEN GEWONNEN? JA. SONST NOCH PFERDE? JA. Ich fand mich wieder ganz am Anfang und wiederholte das Programm für jedes Pferd, das an dem Rennen teilgenommen hatte. Die Fragen waren nicht immer genau die gleichen, da unterschiedliche Antworten zu Alternativfragen führten, und für manche Pferde gab es weit mehr Fragen als für andere. Ich brauchte eine gute Stunde, um alles nachzuschlagen, und ich dachte bei mir, wenn ich jemals anfinge, das Ganze ernsthaft zu betreiben, würde ich mir einen wahren Berg von leichter zugänglichen Tabellen machen als die in den Registern aufgestellten. Als ich schließlich NEIN auf die letzte 329
Frage SONST NOCH PFERDE? erwidert hatte, bekam ich die klare Antwort, die keinen Zweifel daran ließ am Genie Liam O’Rorkes. Genotti führte die Gewinnfaktorenliste an. Ein Außenseiter erschien darauf an zweiter Stelle, an dritter dann das als Favorit angetretene Pferd: und das Ergebnis des Saint Leger waren diese drei Pferde in genau dieser Reihenfolge gewesen. Ich konnte es kaum glauben. Ruth Quigley sagte unvermittelt: »Falsches Ergebnis gekriegt? Sie sehen verwirrt aus.« »Nein – das richtige.« »Beunruhigend.« Sie grinste hurtig. »Wenn ich die Resultate kriege, die ich erwarte, prüf ich sie nach und noch mal nach und noch mal. Bringt nichts, wenn man selbstzufrieden ist. Möchten Sie Kaffee?« Ich sagte ja, und sie machte ihn so schnell wie alles andere auch. »Wie alt sind Sie?« fragte ich. »Zweiundzwanzig. Warum?« »Ich hätte gedacht, Sie wären noch auf der Universität?« »Graduiert mit zwanzig plus einem Monat. Nichts Ungewöhnliches. Hab’ mich reingemogelt, klar. Alles geht so langsam heutzutage. Vor vierzig Jahren waren Grade mit neunzehn oder drunter möglich. Jetzt pochen sie auf die Hochschulordnung. Warum? Warum die Leute aufhalten? Das Leben ist doch so schön schrecklich kurz. Magister mit zwanzigeinhalb. Hab’ die beiden Kurse gleichzeitig gemacht. Das wußte keiner. Erzählen Sie’s nicht rum. Jetzt mach’ ich meinen Doktor. Interessiert es Sie?« »Ja«, sagte ich wahrheitsgemäß. 330
Sie lächelte wie ein Sommertag, im Vorübergehen. »Mein Vater sagt, ich bin ein Bummler.« »Das meint er nicht ernst.« »Er ist Chirurg«, sagte sie, als ob das viel erklärte. »Und meine Mutter auch. Schuldkomplexe, alle beide. Der Menschheit mehr geben als man nimmt. Solche Sachen. Sie können nichts dafür.« »Und Sie?« »Ich weiß noch nicht. Ich kann nicht viel geben. Ich komme nicht an Jobs heran, die ich drin habe. Da sieht man auf die Jahre, die ich erst lebe, und urteilt. Ziemlich fatal. Die Zeit hat so gut wie nichts mit irgendwas zu tun. Wenn ich dreißig bin, wird man mir die Jobs geben, die ich besser jetzt ausfüllen könnte. Dichter und Mathematiker sind am besten vor fünfundzwanzig. Welche Chancen haben sie?« »Allein zu arbeiten«, sagte ich. »Mein Gott. Begreifen Sie? Sie verschwenden Zeit, machen Sie voran mit Ihren Programmen. Mir ist nicht zu helfen. Ich habe ein Forschungsstipendium. Wofür suche ich? Was gibt es zu suchen? Wo ist das Unbekannte, was kennt man nicht, wie heißt die Frage?« Ich schüttelte hilflos den Kopf. »Warten Sie, bis Ihnen der Apfel aufs Haupt fällt.« »Ist ja wahr. Ich kann nicht meditieren. Unter Apfelbäumen sitzen. Ich hab’s versucht. Machen Sie mit Ihren Gäulen weiter.« Gelassen lud ich YORK und ging die drei Rennen durch, für die Programme vorhanden waren, und sah, daß in zweien davon das höchstbewertete Pferd gewonnen hatte. Drei Sieger in den vier Rennen, die ich durchgegangen war. Unglaublich. 331
Mit einem Gefühl wie in Trance lud ich EPSOM und arbeitete peinlich genau die vier Rennen durch, für die es Programme gab: und diesmal brachte es mir überhaupt keinen Sieger. Etwas stirnrunzelnd lud ich NEWBU für Newbury und erhielt nach einer ganzen Menge harter präziser Arbeit die Gewinnfaktoren für das Rennen, in dem Angelo auf den absolut hoffnungslosen Fall Pocket Handbook gesetzt hatte. Pocket Handbook, der erschöpft und um mindestens dreißig Längen abgehängt durchs Ziel gegangen war, stand auf der Gewinnfaktorenliste mit klarem Abstand oben. Ich starrte mißtrauisch auf die übrigen Wertungen, die den tatsächlichen Sieger des Rennens mit minimaler Punktzahl auf den zweiten Platz von unten setzten. »Was ist los?« fragte Ruth Quigley, an ihrer eigenen Maschine beschäftigt und ohne auch nur in meine Richtung zu sehen. »Teile des Systems sind durcheinander.« »Wirklich?« Ich lud GOODW und ackerte fünf Rennen durch. Sämtliche Punkthöchsten waren Pferde, die in der Veranstaltung allenfalls Zweiter geworden wären. »Haben Sie Hunger?« sagte Ruth. »Halb vier. Ein Sandwich?« Ich dankte ihr und ging mit ihr in die kleine Küche, wo ich mit Interesse sah, daß ihr Tempo beim Tomatenschneiden nicht an Zauberei grenzte. Sie machte ziemlich langsam, für ihre Verhältnisse, dicke saftige Dinger aus Käse, Chutney, Tomaten und Corned beef, die gefährlich auf dem Teller wackelten und mit beiden Händen festgehalten werden wollten, damit man sie essen konnte. »Es gibt logische Erklärungen«, sagte sie, indem sie 332
mein zerstreutes Gesicht anschaute. »Die menschliche Logik ist unvollkommen. Die absolute Logik nicht.« »Mm.« sagte ich. »Ted hat mir gezeigt, wie leicht es ist, Kennwörter einzubringen und zu löschen.« »Ja?« »Es wäre wohl ziemlich leicht, außerdem noch andere Dinge zu ändern, oder?« »Außer wenn es ROM ist. Dann wird es schwierig.« »ROM?« »Read only Memory. Nur-Lese-Speicher. Entschuldigung.« »Er zeigte mir, wie man Sachen listet.« »Dann haben Sie RAM. Direktzugriffsspeicher. Sie ändern, was Sie wollen. Kinderkram.« Wir aßen die Sandwiches auf und kehrten zurück an die Tastaturen. Ich lud die Newbury-Datei, wählte das Rennen von Pocket Handbook aus und listete das Programm Stück für Stück. LIST 1200-1240 tippte ich und versuchte vor dem Schirmvoll Buchstaben, Ziffern und Zeichen, den das zur Folge hatte, die Wurzeln des Übels zu verstehen. 1200 PRINT ›GEBEN SIE DIE GELDPREISE DER LAUFENDEN SAISON EIN‹ 1210 INPUT W: IF W ›1000‹ THEN T = T + 20 1220 IF W ›1000‹ THEN T = T: IF W ›5000‹ T = T 1230 IF W ›10000‹ THEN T = T: IF W ›15000‹ THEN T =T 1240 GOSUB 6000 Selbst für meine unkundigen, ungeschulten Augen war es Unsinn. Liam O’Rorke würde es nicht gemeint, Peter 333
Keithley würde es nicht geschrieben und Ted Pitts würde es niemals verwendet haben. Im Klartext besagte dies nichts anderes, als daß, wenn die Saisongewinne eines Pferdes unter eintausend Pfund lagen, die Siegfaktorwertung um 20 erhöht werden sollte und daß, wenn sie über tausend Pfund lagen, die Siegfaktorwertung sich überhaupt nicht erhöhte. Die am wenigsten erfolgreichen Pferde hatten daher an dieser Stelle den höchsten Punktezuwachs. Die Gewichtung war auf den Kopf gestellt, und die Antworten mußten falsch herauskommen. Mit der dumpfen Gewißheit dessen, was geschehen war, denn übersehen konnte man es nicht, lud ich die EpsomDatei und suchte die Listen der Programme nach den vier Rennen ab, bei denen Angelo verloren hatte. In zwei Fällen waren die Wertungen für die Geldpreise auf den Kopf gestellt. Probierte es mit Goodwood. In dreien der fünf aufgeführten Rennen das gleiche. Über alle Maßen deprimiert lud ich die Dateien für Leicester und Ascot, wo in der kommenden Woche die Rennen stattfinden würden. Gab die Namen aller dort vorgesehenen Rennen ein und sah, daß es für acht von ihnen Programme gab: eines in Leicester, sieben in Ascot. Listete jedes der acht Programme in Abschnitten und sah, daß in vieren davon die Bewertung für viel angesammelte Preisgelder gleich null war und die Wertung für Prämien unter tausend Pfund hinaufreichte bis 20. Es gab Programme für etliche Rennen auf den verschiedenen Bahnen, die mit Sicherheit noch keine vierzehn Jahre alt waren. Moderne Rennen, erst eingeführt seit Liam O’Rorkes Tod. Die Programme waren nicht mehr reiner O’Rorke, sondern O’Rorke nach Pitts. O’Rorke aufs Laufende 334
gebracht, erweitert, erneuert. O’Rorke, speziell auf diesen Bändern, verpfuscht, verfälscht, entstellt. Ted Pitts – damit mußte man sich abfinden – hatte das System zerstört, ehe er es mir übergab … und hatte mich wehrlos dem Zorn von Angelo Gilben ausgeliefert. Ich dankte der frustrierten und brillanten Miss Quigley für ihre taglange Geduld und fuhr nach Hause zu Cassie. »Was ist los?« sagte sie sofort. Ich sagte müde: »Die Ka A Ceka E ist am Dampfen.« »Was heißt denn das?« »Angelo Gilbert glaubt, daß ich ihn gelinkt habe. Daß das System zu viele Verluste bringt. Und das tut es auch. Normalerweise müßte es in Ordnung sein, aber auf diesen Bändern ist es abgeändert worden. Ted Pitts hat so viele von den Programmen manipuliert, daß jeder, der sie benutzt, auf seine gierige Schnauze fällt.« Und ich erklärte das mit den verdrehten Wertungen für Siege, die verrückte Resultate erzeugten. »Vielleicht hat er die Gewichtung auch woanders noch verändert, um den gleichen Effekt zu erzielen. Ich kann es unmöglich wissen.« Cassie sah so niedergeschmettert drein, wie ich mich fühlte. »Willst du damit sagen, Ted Pitts hat es absichtlich getan?« »Hat er zweifellos.« Ich dachte an die Zeit zurück, die er gebraucht hatte, um mir ›Kopien‹ herzustellen; an die Stunden, die ich an seinem Swimmingpool gesessen und mit Jane geredet hatte, um ihn, auf seine Bitte, allein arbeiten zu lassen. »Aber weshalb?« sagte Cassie. »Ich weiß es nicht.« »Du hast ihm erzählt, wofür du die Bänder wolltest, oder?« 335
»Nein.« Sie sagte zweifelnd: »Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn du ihm gesagt hättest, wie enorm wichtig sie waren.« »Und vielleicht hätte er sie mir überhaupt nicht gegeben, wenn er gewußt hätte, daß ich Angelo im Keller eingesperrt hatte. Ich meine, ich dachte mir, er würde da nicht hineingezogen werden wollen. Das möchten die meisten Leute bei so was nicht. Und andererseits, wenn er wie Jonathan war, hätte er die Wertungen dann womöglich auch geändert, damit Angelo davon nicht profitieren konnte. Man kann nie wissen. Jonathan selbst hätte Angelo noch mal irgendwie reingelegt. Da bin ich sicher.« »Du glaubst doch nicht, daß Ted Pitts Jonathan gefragt hat, was er tun soll, oder?« Ich dachte zurück und schüttelte den Kopf. »Es war noch keine neun Uhr morgens, als ich zu den Pitts’ fuhr. Das wäre gegen ein Uhr früh in Kalifornien. Selbst wenn er seine Nummer hatte, was ich bezweifle, glaube ich nicht, daß er Jonathan mitten in der Nacht angerufen haben würde … und Jonathan klang jedenfalls ehrlich enttäuscht, als ich ihm sagte, ich hätte Angelo die Bänder gegeben. Nein, Ted muß es aus eigenen Gründen und von sich aus gemacht haben.« »Was nicht sehr hilft.« Ich schüttelte den Kopf. Ich dachte an das Selbstvertrauen, mit dem ich am Tag vorher zu Harry Gilbert gefahren war. Hölle und Teufel, wie schief konnte man liegen, wie naiv konnte man sein? Wenn ich Angelo davor warnte, die Bänder in der kommenden Woche zu benutzen, würde er sicher sein, daß ich ihn betrogen hatte und Todesangst vor seiner Rache ausstand. 336
Wenn ich ihn nicht davor warnte, die Bänder zu benutzen, würde er höchstwahrscheinlich wieder verlieren und sicherer denn je sein, daß ich ihn betrogen hatte … Wenn ich Ted Pitts die richtigen Antworten abrang und sie Angelo mitteilte, würde er immer noch glauben, ich hätte ihm vorsätzlich die unbrauchbaren Bänder gegeben – durch die er schon verloren hatte. Ted Pitts war in der Schweiz und bewanderte Berge. »Hättest du Lust«, sagte ich zu Cassie, »auf eine lange, gemächliche Kreuzfahrt nach Australien?«
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19 Jane Pitts sagte am Telefon: »Nein, tut mir schrecklich leid, er streift herum und übernachtet jeden Abend woanders. Ziemlich oft schläft er in seinem Zelt. Ist es wichtig?« »Entsetzlich«, sagte ich. »O je. Könnte ich denn helfen?« »Etwas stimmt nicht mit den Bändern, die er für mich aufgenommen hat. Wäre es irgend möglich, daß Sie mir seine eigenen borgen?« »Nein, das geht einfach nicht. Es tut mir furchtbar leid, ich weiß nicht, wo er in seinem Zimmer etwas aufbewahrt, und er hat es ausgesprochen ungern, wenn man seine Sachen anrührt.« Sie überlegte einige Minuten, ratlos aber nicht unwillig, bedacht darauf zu helfen. »Also, er ruft mich bestimmt in den nächsten Tagen an, um mir zu sagen, wann er heimkommt. Soll ich ihn bitten, daß er Sie dann anruft?« »Ja, bitte«, sagte ich inbrünstig. »Oder fragen Sie ihn, wo ich ihn erreichen kann, und ich melde mich bei ihm. Erklären Sie ihm aber, daß es wirklich dringend ist, beschwören Sie ihn, ja? Sagen Sie, es ist mehr wegen Jonathan als wegen mir.« »Ich sag’s ihm«, versprach sie, »sobald er anruft.« »Du bist skrupellos«, meinte Cassie, als ich den Hörer auflegte. »Es ist doch wegen dir, nicht wegen Jonathan.« »Er würde nicht am Grab seines Bruders weinen wollen.« »William!« 338
»Ein Scherz«, sagte ich eilig. »Ein Scherz.« Cassie fröstelte trotzdem. »Was willst du machen?« »Nachdenken«, sagte ich. Der Grundgedanke war, daß sich Angelo um so mehr ärgern würde, je mehr er verlor, und die erste Zielsetzung war daher, ihn vom Wetten abzuhalten. Taff und die anderen konnte man schwerlich überreden, sich so leichte Beute entgehen zu lassen, damit blieb nur die Quelle des Kapitals, Harry Gilbert selbst. Was genau, rätselte ich, konnte ich Harry Gilbert sagen, damit kein Geld mehr in die Wetten floß, ohne daß Angelo gleich herkam, um seine Wut abzureagieren? Ich konnte ihm sagen, daß es Liam O’Rorkes System nicht mehr gäbe: daß ich die Bänder in gutem Glauben besorgt hätte, aber selbst betrogen worden sei. Ich konnte ihm einen Haufen Halbwahrheiten erzählen, doch ob er mir glauben würde und ob er Angelo zurückhalten konnte, auch wenn er selbst überzeugt war, diese Imponderabilien ließen sich nicht vorhersehen. Realistisch war sonst nichts zu machen. Ich wollte nicht unbedingt dafür sorgen, daß Angelo wieder ins Gefängnis kam: vierzehn Jahre waren genug für jeden Menschen. Ich wollte nur, wie schon die ganze Zeit, daß er mich in Ruhe ließ. Ich wollte ihn ernüchtert, entschärft … friedlich. Was für eine Hoffnung. Eine mit erfreulicheren Dingen im Herzen verbrachte Nacht brachte keinen gescheiteren Plan. Ein Kurzartikel in der Sporting Life, gelesen bei einem schnellen Frühstück nach einer Stunde mit den Pferden auf der Heide, ließ mich wünschen, daß Angelo selbst meine Probleme lösen würde, indem er einem Dritten den Schädel einschlug: etwa so unwahrscheinlich wie daß er mit dem System eine angenehme Woche hatte. Lancer, der Buchmacher, schrieb 339
die Zeitung, war am Freitag abend bei seiner Rückkehr von den Rennen in Newbury vor seiner Haustür überfallen worden. Seine Brieftasche, die ungefähr dreiundfünfzig Pfund enthielt, wurde ihm gestohlen. Lancer war unversehrt, die Polizei hatte keine Spur: armer alter Lancer, so ein Pech. Ich seufzte. Wen, fragte ich mich, konnte Angelo einmal verknüppeln? Außer mir selbst natürlich. Wegen des Kniebetasters brachte ich Cassie nach Möglichkeit immer selbst zur Arbeit, und an diesem Morgen fuhr ich, nachdem ich sie abgesetzt hatte, gleich weiter nach Welwyn Garden City, nicht begeistert von meinen Aussichten, aber was blieb mir sonst übrig? Ich hoffte, sowohl Harry Gilbert wie auch Angelo davon zu überzeugen, daß der Schaden, den die Jahre dem O’RorkeSystem beigebracht hätten, nicht zu beheben sei, daß es erledigt sei, nicht mehr existiere, nicht mehr gerettet werden könnte. Ich wollte ihnen nochmals sagen, daß jede Gewalt von Seiten Angelos ihn wieder hinter Gitter bringen würde; möglichst so, daß sie es glaubten … davor Angst bekamen. Ich war größer als Angelo und überragte erst recht den Mann im Rollstuhl. Ich hatte vor, sie ein wenig zu bedrängen, etwas einzuschüchtern, jedenfalls den körperlichen Eindruck zu hinterlassen, daß es für sie Zeit war, die Finger wegzunehmen. Selbst auf Angelo, der wahrscheinlich von Kind an wußte, wie man Angst einjagt, mochte es eine Wirkung haben. Eddy öffnete die Haustür und versuchte sie sofort wieder zu schließen, als er sah, wer gekommen war. Ich stieß ihn mit Gewalt aus dem Weg. »Harry ist noch nicht angezogen«, sagte er ängstlich, 340
doch ob die Angst mir oder Harry galt, war nicht zu erkennen. »Er wird schon mit mir reden«, sagte ich. »Nein. Das geht nicht.« Er versuchte, mir den Weg zu einer der breiten Türen an der Seite der Eingangshalle zu versperren, wodurch er mir verriet, wo ich lang mußte, und da ging ich hin, während Eddy mich abzudrängen suchte, indem er sich auf mich stürzte. Ich stieß ihn wieder beiseite, öffnete die Tür und fand mich in einem kurzen Gang, der in ein geräumiges Schlafzimmer führte, das zuerst und am auffälligsten mit einem weiteren breiten Fenster auf den Golfplatz ausgestattet war. Harry Gilbert lag in einem großen Bett gegenüber dem Fenster, krank und alternd, aber immer noch auf eine undefinierbare Art nicht wehrlos, auch nicht im Schlafanzug. »Ich hab’ versucht, ihn aufzuhalten«, sagte Eddy lahm. »Nimm das Tablett hier und geh«, antwortete ihm Harry Gilbert, und Eddy raffte von der Bettdecke das halbverzehrte Frühstück auf, das ich unterbrochen hatte. »Mach die Tür zu.« Er wartete, bis Eddy sich verzogen hatte, und sagte dann frostig zu mir: »Also?« »Ich habe festgestellt«, sagte ich eindringlich, »daß Liam O’Rorkes Wettsystem das Gegenstück zu den Pocken hat. Man sollte es behandeln wie die Pest. Es bringt allen Ärger, die es anrühren. Das alte System ist durch zu viele Hände gegangen, mit den Jahren verfälscht worden. Wenn Sie Ihr Geld retten wollen, halten Sie Angelo davon ab, daß er es benutzt, und es ist sinnlos, mir das in irgendeiner Hinsicht krummzunehmen. Ich habe Ihnen das System in gutem Glauben beschafft, und ich bin wütend darüber, daß es unbrauchbar ist. Holen Sie Angelo hier herein und lassen Sie es mich ihm sagen.« 341
Harry Gilbert starrte mich mit seiner üblichen undurchdringlichen Miene an, und ohne sichtbare Bestürzung sagte er in seiner halb nuschelnden Art: »Angelo ist nicht da. Er löst meinen Scheck bei der Bank ein. Er fährt zu den Rennen in Leicester.« »Er wird verlieren«, sagte ich. »Ich brauchte Sie nicht zu warnen. Aber ich warne Sie. Ihr Geld wird draufgehen.« Gedanken mußten das Hirn hinter den kalten Augen durchquert haben, doch es zeigte sich nur wenig. Schließlich, und es kostete ihn sicher Überwindung, sagte er: »Können Sie ihn aufhalten?« »Sperren Sie den Scheck«, sagte ich. »Rufen Sie die Bank an.« Er blickte auf die Uhr neben sich. »Zu spät.« »Ich kann nach Leicester fahren«, sagte ich. »Ich will sehen, ob ich ihn finde.« Nach einer Pause sagte er: »Na schön.« Ich nickte kurz und verließ ihn und fuhr nach Leicester mit dem Gefühl, selbst wenn es mir gelungen sein sollte, Harry zu überzeugen, bei Angelo vor einer unmöglichen Aufgabe zu stehen. Das Unmögliche mußte dennoch versucht werden; und zumindest würde er auf einem belebten Rennplatz nicht glatt über mich herfallen. Die Leicester-Rennen erwiesen sich an diesem kalten Herbsttag als so belebt wie ein gut geräucherter Bienenstock, mit nur vereinzelten Gestalten in dunklen Mänteln, die hartnäckig herumschlurften, den Kopf gesenkt vor dem schneidenden Wind. Wie es manchmal bei großstädtischen Bahnen an Wochentagen vorkam, waren die Zuschauer so dünn gesät, daß es fast peinlich war, die ganze Veranstaltung erfüllt von der Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit eines halbherzig durchgezogenen Rituals. 342
Taff stampfte neben seinem Bierkasten einher, blies sich die Finger und wehklagte, daß er ein besseres Geschäft gemacht hätte, wenn er zu dem anderen Meeting in Bath gefahren wäre. »Aber hier ist der Midlands Cup«, sagte er. »Das wird ein gutes Rennen. Ich dachte, da würden sie angelockt – und was siehste, nicht mal genug Wetter, daß sie ›Nehmt Abschied, Brüder‹ um eine Teekanne herum singen könnten.« Der walisische Akzent troff von Abscheu. »Wer ist Ihr Favorit?« sagte ich lächelnd. »Pink Flowers.« »Und wie steht’s mit Terrybow?« »Wem?« »Startet im Midlands Cup«, sagte ich geduldig. Terrybow, der Tip des Computers, die Krone der Gewinnfaktoren. Terrybow mit der Angewohnheit, als zehnter von zwölf oder siebenter von acht oder fünfzehnter von zwanzig einzulaufen: nie als der tatsächlich letzte, aber weit weg vom Erfolg. »Ach, Terrybow.« Er zog sein Notizbuch zu Rate. »Zwanzig, wenn Sie wollen.« »Zwanzig zu eins?« »Dann eben fünfundzwanzig. Günstiger als fünfundzwanzig geht es nicht. Wieviel wollen Sie?« »Wieviel würden Sie nehmen?« »Soviel Sie lustig sind«, sagte er fröhlich. »Kein Limit. Es sei denn, Sie wissen was, was ich nicht weiß, zum Beispiel, daß er bis zu den Ohrenspitzen voll mit Raketenstaub ist.« Ich schüttelte den Kopf und blickte die Reihe der frierenden, verstimmten Buchmacher entlang, die nur einen Bruchteil ihres gewohnten Umsatzes machten. Wenn Angelo unter ihnen gewesen wäre, hätte ich ihn 343
leicht gesehen, aber nirgends eine Spur von ihm. Der Midlands Cup war das vierte Rennen auf dem Programm und erst in einer Stunde, und wenn Angelo sich starr an das unheilschwangere System hielt, würde Terrybow das einzige Pferd sein, auf das er setzte. »Haben Sie Angelo Gilbert heute hier gesehen, Taff?« fragte ich. »Nein.« Er nahm die Wette von einem verstohlen blickenden Mann im Regenmantel an und gab ihm einen Schein. »Zehn à drei, Walkie-Talkie«, sagte er zu seinem Angestellten. »Wie geht’s Lancer?« fragte ich. »Kann ihn nirgends sehn.« »Verflucht die Räuber und reibt sich eine Beule.« Er nahm einen weiteren Zehner von einer entschlossenen Frau mit Brille an. »Zehn à acht, Engineer. Paar Jugendliche haben den guten Lancer vor der eigenen Haustür ausgenommen. Ich bitte Sie, der schleppt Tausende auf der Rennbahn herum, zahlt sie nach Feierabend bei seiner Firma ein, und dann läßt er sich wegen fünfzig Mäusen umhauen.« »Hat er gesehen, wer ihn beraubt hat?« »Einer von Joe Glicks anderen Leuten, der hier ist, sagt, es war eine Bande von Teenagern.« Nicht Angelo, dachte ich. Nun, war auch nicht anzunehmen. Aber würde er doch nur … Ich blickte abwägend auf Taff, der für sich arbeitete und seine Einnahmen am Ende des Tages mit heimnahm. Schade, daß man Angelo nicht in flagranti ertappen konnte bei dem Versuch, sich seinen Einsatz wiederzuholen, nachdem Terrybow verloren hatte … Schade, daß man es nicht arrangieren konnte, daß die Polizei schon bereitstand, wenn Angelo Taff auf dem Heimweg überfiel. 344
Ich habe bloß noch Hirngespinste, dachte ich: Es ist deprimierend. Die Zeit verging, und Angelo, der so allgegenwärtig gewesen war, wenn ich ihn hatte meiden wollen, war nirgends zu sehen. Ich spazierte zwischen den Buchmachern und fragte noch andere als Taff, aber keiner von ihnen hatte Angelo am Nachmittag irgendwo gesehen, und auch während des Aufrufs zum Midlands Cup fehlte noch jede Spur von ihm. Wenn er doch nach Bath gefahren war, dachte ich, vergeudete ich meine Zeit – aber das einzige Rennen dieses Tages auf den O’RorkeBändern war der Midlands Cup; sein einzig ausersehenes Pferd Terrybow. Weniger als fünf Minuten vor Beginn, als die Pferde schon zum Start kanteten, brachte ein ungeheurer Ausbruch von Winklust die Männer mit den weißen Handschuhen auf der Tribüne oben in Schwung, die Kursänderungen signalisierten. Da es keine Direktverbindung wie Telefone oder Funk gab, waren die Buchmacher auf Handzeichen angewiesen, um zu erfahren, ob man bei ihren Firmen große Summen auf ein bestimmtes Pferd gesetzt hatte, so daß sie den angebotenen Preis ändern konnten. Taff beobachtete, wie sein Mann wild Zeichen gab, wischte die 20 aus, die für Terrybow auf seiner Tafel stand, und schrieb mit seiner Kreide eine 14 dafür. Alle anderen Buchmacher in der Reihe waren ähnlich beschäftigt. Terrybow fiel erneut auf 12. »Was ist los?« fragte ich Taff eindringlich. Er warf einen zerstreuten Blick in meine Richtung. »Am Sattelplatz hat jemand einen Batzen Geld auf Terrybow gesetzt.« »Verdammt«, sagte ich bitter. Ich hatte nicht daran gedacht, Angelo irgendwo sonst als in seinen üblichen 345
Jagdgründen zu suchen: sicher nicht auf dem unbequemen, abgelegenen Areal unten an der Bahn, wo der Eintrittspreis so niedrig war, die Sicht auf die Rennen mäßig und die Aussicht der wenigen dort tätigen Buchmacher so bescheiden, daß es sich für sie kaum lohnte, den ganzen Nachmittag im Kalten zu stehen. Und selbst wenn ich daran gedacht hätte, wäre ich nicht hingegangen, denn es hätte gleichzeitig das Risiko bedeutet, Angelo am Führring zu verpassen. Verdammt noch mal, dachte ich, Angelo sei verdammt, heute und alle Tage und sein ganzes Leben lang. »Sie wußten etwas über Terrybow«, meinte Taff zu mir vorwurfsvoll. »Ich habe nicht auf ihn gesetzt«, sagte ich. »So ist es, haben Sie nicht. Also was geht dann vor?« »Angelo Gilbert«, sagte ich. »Er wettet, wo man ihn nicht kennt, für den Fall, daß Sie ihm hier oben keinen guten Kurs geben.« »Was? Tatsächlich?« Er lachte, wischte die 12 neben Terrybow wieder aus und ersetzte sie durch 20. Ein kleiner Ansturm von Wettern war die Folge, und er nahm ihr Geld mit Genuß. Ich ging höher auf die Tribüne und sah wütend zu, während Terrybow getreu seiner Form lief und als zwölfter von fünfzehn hereinzuckelte. Ted Pitts, dachte ich düster, hätte mich genausogut unter die Räder eines Lastwagens stoßen können. Ich sah Angelo doch an diesem Nachmittag, und praktisch jeder andere, der vor dem sechsten Rennen nicht gegangen war, sah ihn auch. Angelo war der ärgerlich brüllende Mittelpunkt eines 346
Spektakels, das vor dem Waageraum ablief; ein Streit unter Beteiligung mehrerer Buchmacher, eine Schar von Rennbahnbesuchern und einiger besorgt blickender Funktionäre. Dispute zwischen Buchmachern und Kunden wurden traditionell in diesem Fleck von einem bestimmten Vertreter des Jockeyclubs geschlichtet, dem Ringinspektor. Angelo hatte ihm anscheinend ins Gesicht geschlagen. Das Gewühl öffnete und verschob sich ein wenig, und ich fand mich nahe der Zuschauerfront wieder, wo ich freie Sicht auf das Schauspiel hatte. Der Ringinspektor hielt sich das Kinn und versuchte, um seine Zuckungen herum zu argumentieren, sechs Buchmacher erklärten leidenschaftlich, daß einmal verwettetes Geld für immer verloren sei, und Angelo bestand mit der hart geballten Faust fuchtelnd darauf, daß sie es zurückgaben. »Ihr habt mich reingelegt«, brüllte er. »Die ganze verdammte Bagage, ihr habt mein Geld geklaut.« »Sie haben es einwandfrei verwettet«, schrie ein Buchmacher und wedelte ungestüm mit einem Finger vor Angelos Gesicht. Angelo biß in den Finger. Der Buchmacher schrie um so lauter. Ein Mann, der neben mir stand, lachte, doch die meisten Zuschauer hatten weniger objektiv Partei ergriffen, und es schien, daß zur allgemeinen Rauferei nur noch ein Funke fehlte. In die Bedrohlichkeit und unter die ärgerlich gestikulierenden Hände und heftigen Töne marschierten zwei uniformierte Polizisten, beide sehr jung, beide schmächtig, beide äußerst schwache Gegner für den haftgeschulten energischen Angelo. Der Ringinspektor sagte einem von ihnen etwas, das für mich in dem Gewirr unhörbar war, und zu seiner sichtlich immensen Überraschung fand Angelo plötzlich die Hand, die er 347
zufällig gerade nicht in der Luft schwenkte, mit einer Handschelle versehen. Sein Wutgebrüll scheuchte die Tauben vom Dach des Wiegeraums. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht herum, und der Jungpolizist, dessen Handgelenk aus der anderen Handschelle ragte, fiel von den Beinen gerissen auf die Knie. Es erschien nicht unmöglich, daß Angelo ihn einfach packen und mit ihm davonlaufen könnte, doch der zweite Konstabler kam ihm zu Hilfe, indem er beherzt etwas zu Angelo sagte und sein Funkgerät vorn aus der Uniformjacke zog, um Verstärkung anzufordern. Angelo sah auf den Kreis der Zuschauer, den er eigentlich kaum zu durchbrechen hoffen konnte, auf seinen unerwartet geschickten Fänger, der von den Knien jetzt hochkam, auf die wütenden Buchmacher, die Genugtuung bekundeten, und schließlich direkt auf mich. Er machte mit solcher Kraft einen Schritt auf mich zu, daß der halb aufgestandene Polizist erneut die Balance verlor und auf den Rücken fiel, den in der Handschelle gestreckten Arm hilflos über dem Kopf verdreht. Eine so unerhört gesteigerte Bedrohung ging plötzlich von Angelo aus, etwas so völlig anderes als ein bloßer Streit auf der Rennbahn, daß die Leute ringsum verstummten und ihn anblickten. Die monströse Rücksichtslosigkeit schien seinen ganzen Körper aufzublähen, und auch wenn seine Worte banal waren, pulsierte seine feste Stimme von einer Düsterkeit, die geradewegs aus den Mythen kam. »Du«, sagte er überlegt, »du und dein Scheißbruder.« In seinem Gesicht lag ein Bewußtsein von der Vielzahl aufmerksamer Zeugen, und er sprach nicht aus, woran er dachte, doch ich konnte es so deutlich hören, als hätte er die schlafenden Hügel erweckt. Ich bringe dich um. Ich bringe dich um. 348
Es war nicht so sehr eine neue Aussage, als neu in ihrer Stärke. Unversöhnlicher denn je. Ein Versprechen, eine Drohung. Ich erwiderte seinen Blick, als hätte ich es nicht gehört, als hätte es mich nicht aus seinen Augen angesehen. Er nickte jedoch wie in grimmiger Befriedigung und drehte sich mit einem verächtlichen Achselzucken zu dem aufstehenden Polizisten um, den er die letzten Zentimeter noch hochriß; und danach ging er ohne Widerwehr zwischen den beiden Konstablern einem Polizeiwagen entgegen, der zum Tor hereingefahren war. Der Wagen hielt. Sie setzten ihn zwischen sich auf den Rücksitz und rollten schließlich davon, und die jetzt seltsam ruhigen Leute begannen auseinanderzustreben und sich zu zerstreuen. Eine Stimme an meinem Ohr, die walisische Stimme von Taff, sagte: »Wissen Sie, womit das Ganze angefangen hat?« »Womit?« fragte ich. »Die Buchmacher unten am Sattelplatz sagten Angelo, er wäre ein waschechter Gimpel. Sie haben ihn ausgelacht, scheint’s. Ihn aufgezogen, aber noch ganz freundlich erst. Sie sagten, sie würden ihm gern immer weiter sein Geld abnehmen, denn wenn er dächte, er hätte Liam O’Rorkes altes System gekauft, wäre er angeschmiert, eingeseift, übers Ohr gehauen, zum Narren gehalten und allgemein gelinkt worden von hier bis Weihnachten.« Guter Gott. »Dann ist dieser Angelo quasi explodiert und fing damit an, daß er seinen Einsatz zurückhaben wollte.« »Ja«, sagte ich. »Tja«, sagte Taff gutgelaunt. »Das ändert die ganze Sache, wenn ich auch finde, die Laffen da am Sattelplatz 349
hätten besser daran getan, ihren Schnabel zu halten. Dieser Angelo war doch echt eine goldene Gans, und hiernach legt der keine goldenen Eier mehr.« Ich fuhr nach Hause mit dem Gefühl, daß die Meere über meinem Kopf zusammenschlugen. Was ich auch unternahm, um mich von Angelo loszulösen, es schien, daß ich mich immer mehr in den Stricken verfing. Nach dieser Sache würde er mir niemals glauben, daß ich ihn nicht vorsätzlich betrogen hatte. Selbst wenn ich ihm schließlich das echte, richtige System beschaffen konnte, würde er mir nie die verlorenen Wetten verzeihen, den Spott der Buchmacher, das Klicken dieser Handschellen. Die Polizei hielt ihn vielleicht über Nacht fest, dachte ich, aber nicht viel länger; ich zweifelte, ob ein Faustschlag und ein wenig Gebrüll seine Bewährung umstoßen würde. Aber der Liste in seinem Kopf würde eine Nacht in den Zellen hinzugefügt, weiteres Gift nach denen in meinem Keller, und wenn er schon so zornig aus dem Gefängnis gekommen war, daß er mich nur deshalb überfallen hatte, weil ich Jonathans Bruder war, um wieviel mehr würde er jetzt erst in Fahrt kommen. Cassie war längst zu Hause, als ich endlich da eintraf, und freute sich lebhaft über die Aussicht, am nächsten Nachmittag den Gips vom Arm zu haben. Sie hatte sich den ganzen Tag freigenommen und zum letztenmal dem Taster gedankt, da sie zuversichtlich war, mehr oder minder sofort wieder fahren zu können. Sie summte in der Küche, während ich Spaghetti zum Abendessen kochte, und ich küßte sie zerstreut und dachte an Angelo und wünschte ihn von ganzem Herzen tot. Bevor wir mit dem Essen fertig waren, klingelte das 350
Telefon, und höchst unerwartet war es Ted Pitts, der aus der Schweiz anrief. Seine Stimme war alles in allem so kühl wie die Alpen. »Dachte, ich sollte mich besser entschuldigen«, sagte er. »Das ist nett von Ihnen.« »Jane ist empört über mich. Sie wollte, daß ich Sie sofort anrufe. Sie sagte, es sei dringend. Hier bin ich denn. Tut mir leid und alles.« »Ich wüßte nur gerne«, sagte ich hoffnungslos, »warum Sie es gemacht haben.« »Die Wertungen verpfuscht?« »Ja.« »Sie werden denken, ich sei gemein. Jane sagt, ich bin so gemein, daß sie sich meiner schämt. Sie ist wütend. Sie sagt, wir verdankten unser ganzes Wohlleben Jonathan, und ich hätte seinem Bruder den widerlichsten Streich gespielt. Sie redet kaum mit mir, so aufgebracht ist sie.« »Nun … warum?« sagte ich. Er schien immerhin zu wollen, daß ich ihn verstand. Er sprach ernst, erklärend, entschuldigend, sagte mir die destruktive Wahrheit. »Ich weiß nicht. Es war ein Impuls. Ich machte diese Kopien, und plötzlich dachte ich, ich will das System nicht hergeben. Ich will nicht, daß es noch irgend jemand hat. Es gehört mir. Nicht Jonathan, nur mir. Er wollte es ja nicht mal, und ich habe es die ganzen Jahre für mich gehabt, und ich habe es ergänzt und zu meinem eigenen gemacht. Es gehört mir. Es ist meins. Und da kamen Sie und verlangten gerade so, als hätten Sie ein Recht drauf, daß ich es Ihnen gebe, und ich dachte plötzlich, warum sollte ich? Also habe ich einfach rasch eine Anzahl Wertungen verändert. Zeit, sie auszutesten, hatte ich nicht. Ich mußte raten. Ich dachte, ich hätte 351
gerade genug verändert, aber anscheinend habe ich zuviel des Guten getan … Sonst hätten Sie nicht nachgeprüft … Ich wollte, daß Sie, wenn Sie das System benutzten, nicht genug gewinnen würden, um es der ganzen Arbeit für wert zu halten und daß Sie es satt bekämen.« Er hielt inne. »Ich habe es Ihnen nicht gegönnt, wenn Sie’s genau wissen wollen.« »Ich wünschte, Sie hätten mir gesagt …« »Wenn ich gesagt hätte, ich wollte es Ihnen nicht geben, hätte Jane mich gezwungen. Sie sagt, jetzt muß ich. Sie ist so aufgebracht.« »Wenn Sie’s tun würden«, sagte ich, »könnten Sie mir eine Menge Kummer ersparen.« »Ihnen Ihr Glück machen, meinen Sie.« Die Entschuldigung, schien es, war nicht von Herzen gekommen: Er klang immer noch verärgert darüber, daß ich seine Geheimnisse erfahren sollte. Ich dachte erneut daran, ihm von Angelo zu erzählen, aber mir schien immer noch, er könnte das für den denkbar besten Grund halten, mir das System nicht zu geben, deshalb sagte ich lediglich: »Es könnte doch für zwei Leute gut sein, oder? Wenn es noch jemand hätte, würde das Sie ja nicht hindern, so viel zu gewinnen wie sonst.« »Also … wann kommen Sie nach Hause?« »Übernächste Woche.« Ich war still. Entsetzt. Der Himmel wußte, was Angelo bis übernächste Woche getan haben würde. Ted Pitts sagte mit halb unterdrückter Gereiztheit: »Sie haben wohl stark auf die falschen Pferde gesetzt und zu viel verloren, und jetzt müssen Sie sehr viel früher als übernächste Woche den Karren rausziehen?« 352
Ich widersprach nicht. »Jane ist wütend. Sie fürchtet, ich habe Sie mehr gekostet, als Sie sich leisten können. Tja, tut mir leid.« Es hörte sich nicht wirklich so an. »Könnte sie die Bänder heraussuchen und mir geben?« fragte ich bescheiden. »Wie schnell brauchen Sie sie?« »Mehr oder weniger sofort. Heute abend, wenn möglich.« »Hm.« Er überlegte ein paar Augenblicke. »Na schön. Na schön. Aber Sie können sich die Fahrt sparen, wenn Sie wollen.« »Äh, wie denn?« »Haben Sie einen Kassettenrekorder?« »Ja.« »Jane kann Ihnen die Bänder übers Telefon abspielen. Das wird sich anhören wie lauter Gequietsche. Aber wenn Sie einen halbwegs anständigen Rekorder haben, werden die Programme auf einem Computer schon laufen.« »Gütiger Himmel.« »Eine Menge Computerprogramme schwirren Tag für Tag per Telefon um die Welt«, sagte er. »Und hoch zu den Satelliten und wieder runter. Nichts Ungewöhnliches daran.« Mir erschien es zwar ungewöhnlich, aber andererseits war ich nicht Ted Pitts. Ich dankte ihm leidenschaftlicher, als er ahnte, für seine Mühe, mich anzurufen. »Bedanken Sie sich bei Jane«, sagte er. Ich dankte ihr auch, aufrichtig, fünf Minuten später. »Sie kamen mir so in Not vor«, sagte sie. »Ich erzählte Ted, daß ich Sie zu Ruth geschickt hatte, weil Sie die 353
Bänder prüfen wollten, und da stöhnte er, also fragte ich ihn warum … und als er mir sagte, was er getan hatte, war ich einfach wütend. Wenn man sich vorstellt, daß Sie Ihr teures Geld verschwenden, wo alles, was wir haben, Jonathan zu verdanken ist.« Ihre Freundlichkeit ging mir ans Gewissen. Ich sagte: »Ted meint, Sie könnten mir die echten Bänder übers Telefon vorspielen – wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Oh, ja, ist gut. Ich habe Ted das schon oft machen sehen. Er und Ruth tauschen immer auf diesem Weg Programme aus. Die Bänder liegen hier neben mir. Ich habe mir von Ted erklären lassen, wo ich sie finde. Wenn Sie dranbleiben, hole ich gleich den Rekorder und überspiele sie Ihnen.« Ich hatte sie vom Büro aus angerufen, weil dort am Telefon schon das Aufnahmegerät angeschlossen war, und als sie wiederkam, nahm ich die kostbaren Programme auf Lukes Vorrat an unbespielten neuen Bändern auf, die vielleicht nicht den höchsten Computeransprüchen genügten, aber trotzdem, glaubte ich, besser waren als ein Versuch, neue Maschinensprache über alte aufzunehmen. Cassie kam in das Büro und lauschte dem kratzigen Gewinsel, das weiter und weiter und weiter lief. »Fürchterlich«, sagte sie: für mich aber süße Musik. Ein Lösegeld für die Zukunft. Schlüssel zu einer friedlichen Welt. In einem urplötzlichen Anfall von Optimismus, der ganz im Gegensatz zu der Düsterkeit meiner Nachhausefahrt von Leicester stand, überzeugte ich mich, daß diesmal, da wir nun das echte System hatten, unsere Sorgen ein Ende finden würden. Die Lösung war immer noch, wie von jeher, Angelo reich zu machen, und endlich ging es. »Ich werde Angelo die Bänder geben«, sagte ich, »und 354
wir gehen einfach eine Zeitlang weg vom Cottage, ein paar Wochen, nur bis er genug gewonnen hat, um keine Rache mehr zu wollen. Und wir werden endlich von ihm befreit sein, Gott sei Dank.« »Wo sollen wir denn hin?« »Nicht weit. Entscheiden wir morgen.« Als drei Kassetten voll waren und die Töne erstarben, schaltete ich den Rekorderteil des Apparates aus und sprach wieder mit Jane. »Ich bin sehr dankbar«, versicherte ich. »Mehr als ich sagen kann.« »Mein lieber William, es tut mir so leid …« »Nicht doch«, erwiderte ich. »Sie haben mir das Leben gerettet.« Ganz wörtlich wohl, dachte ich. »Jetzt wird alles«, sagte ich, »wieder gut.« Man sollte so etwas nicht sagen. Man sollte wirklich nicht.
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20 Cassie kam am frühen Morgen mit mir, um die Pferde auf der Heide arbeiten zu sehen, ein wenig zitternd zwar in Stiefeln, Hosen und fellbesetzter Jacke, aber froh, sagte sie, lebendig in der freien Luft und den weiten Räumen zu sein. Ihr Atem, wie meiner, wie der von allen Pferden, sprühte hervor als lungenförmiges Gefieder aus kondensierendem Dunst, gekühlt und verweht in einem Augenblick und rasch erneuert, Kälte zu Hitze verwandelt im Wunder der Körper. Wir hatten das Cottage im Ansatz bereits verlassen, Kleider und das Nötigste gepackt und die Koffer in meinem Wagen verstaut. Ich hatte auch eine Aktenmappe mitgenommen, die die kostbaren Bänder und eine Menge von Lukes Schreibarbeit enthielt, und hatte meine Telefonanrufe durch eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter umgeleitet, so daß nur noch eine kurze Rückfahrt vonnöten war, um die Post vom Tage abzuholen und dafür zu sorgen, daß künftige Sendungen in der Kneipe abgegeben wurden. Wir hatten eigentlich keinen Entschluß gefaßt, wo wir in der Nacht schlafen würden oder für viele kommende Nächte, doch wir hatten zusammengenommen eine ganze Reihe Freunde, die vielleicht zu beschwatzen waren, und wenn die traditionelle Gastlichkeit der Rennwelt uns im Stich ließ, konnten wir uns für einige Zeit ein Hotel leisten. Ich fühlte mich so frei und unbeschwert wie seit Wochen nicht. Sim war ausgesprochen wohlwollend beim Training, und Mort lud uns zum Frühstück ein. Wir bibberten dankbar in sein Haus und wärmten uns mit ihm bei Toast und Kaffee 356
auf, während er mit einem Papiermesser seine Briefe aufschnitt und Kommentare zu dem abgab, was er gleichzeitig in der Sporting Life las. Mort machte nie eine Sache für sich, wenn er drei auf einmal machen konnte. »Ich habe meine Telefonnachrichten zu Ihnen umgeleitet«, erklärte ich ihm. »Stört Sie das?« »Ach ja? Nein, natürlich nicht. Weshalb denn?« »Das Cottage«, sagte ich, »ist im Moment unbewohnbar.« »Anstreicher?« Er hörte sich mitfühlend an, und es schien das einfachste, ja zu sagen. »Viele Anrufe werden nicht kommen«, versprach ich. »Nur Lukes Geschäfte.« »Klar«, sagte er. Er schluckte mit zwei Löffelschwüngen ein gekochtes Ei herunter. »Noch Kaffee?« »Wie leben die Jährlinge sich ein?« fragte ich. »Schauen Sie sich sie an. Kommen Sie heute nachmittag, da longieren wir sie in der Koppel.« »Was ist longieren?« fragte Cassie. Mort schenkte ihr ein flugs verzeihendes Lächeln und schnippte ein paarmal mit den Fingern. »Sie in einem großen Kreis am Ende einer langen Leine herumlaufen lassen. Hält sie in Bewegung. Noch reitet sie ja keiner. Sie sind noch nie gesattelt worden. Zu jung.« »Würde mir gefallen«, sagte Cassie, während sie nachdenklich auf den Gips sah und sich offensichtlich fragte, ob der Stundenplan es zuließ. »Wo wollen Sie denn bleiben?« fragte mich Mort. »Wo kann ich Sie finden?« »Weiß ich noch nicht?« sagte ich. »Wirklich? Und wie wär's bei mir? Hier gibt’s ein Bett, 357
wenn Sie wollen.« Er grub seine Zähne in eine halbe Scheibe Toast und aß sie mit einem Biß. »Sie könnten selbst Ihre Telefonate annehmen. Klingt doch plausibel.« »Tja«, sagte ich. »Für eine Nacht oder zwei … sehr gerne.« »Abgemacht also.« Er grinste Cassie fröhlich an. »Meine Tochter wird sich freuen. Hab’ keine Frau, wissen Sie. Sie ist abgehauen. Da langweilt sich Miranda, das ist meine Tochter. Sechzehn, braucht Frauengesellschaft. Bleiben Sie ’ne Woche. Wie lange müssen Sie?« »Das wissen wir nicht«, sagte Cassie. Er nickte schneidig. »Die Dinge nehmen, wie sie kommen. Sehr vernünftig.« Locker ergriff er das Papiermesser und begann seine Nägel damit zu reinigen; es erinnerte mich lebhaft an Jonathan, der meine ganze Kindheit hindurch das gleiche mit der Spitze einer Gewehrpatrone gemacht hatte. »Ich dachte, am Wochenende könnte ich mal nach Irland fahren«, sagte ich, »und versuchen, mit Donovan Frieden zu schließen.« Morts Grinsen blendete mich. »Wie man hört, sind Sie ein Scheißhaufen und ein ahnungsloser Saubub und gehören sechsmal an den Hacken um die Curragh-Bahn geschleift. Aber mindestens.« Das Telefon, das neben seinem Ellbogen auf dem Tisch stand, klingelte nur einmal schrill, ehe Mort »Hallo?« durch den Hörer blaffte. »Oh«, sagte er. »Tag, Luke.« Er funkte mir Botschaften mit den Augenbrauen zu. »Ja, er ist gerade hier jetzt, beim Frühstück.« Er reichte mir den Hörer. »Luke hat erst bei Ihnen angerufen«, sagte er. »William«, sagte Luke, entspannt und sachlich. »Wie geht’s den neuen Jährlingen?« 358
»Gut. Keine schlechten Nachrichten.« »Dachte, ich komme mal rüber und seh’ sie mir an. Sehe mal, was Sie mir gekauft haben. Mir ist nach Reisen. Hören Sie, Junge, eine Bitte, lassen Sie mir im Bedford Arms für zwei Nächte was reservieren, den vierzehnten und fünfzehnten Oktober?« »In Ordnung«, sagte ich. »Beste Grüße an Cassie«, sagte er. »Bringen Sie sie am 14. mit ins Bedford zum Dinner, okay? Ich würde sie schon gerne kennenlernen. Und Junge, ich flieg weiter nach Irland. Haben Sie die Ballsbridge-Auktion angepeilt?« »Ja, wollte ich hin. Ralph Finnegan ist gestorben. Sie verkaufen seine ganze Koppel.« Luke schien angetan. »Was würden Sie rausgreifen, Junge? Was ist der Beste?« »Oxidise. Zwei Jahre alt, gute Zucht, schnell, ein Kandidat für das Derby nächsten Jahres und bestimmt teuer.« Luke ließ eine Art rollendes Grunzen hören. »Sie würden ihn zu Donovan schicken?« »Klar, würde ich.« Das Grunzen wurde zu einem Glucksen. »Bis dann, Junge, am vierzehnten.« Es klickte, und er war weg. Mort sagte: »Kommt er?« und ich nickte und berichtete ihm, wann. »Die meisten Jahre kommt er im Oktober«, sagte Mort. Er fragte uns, ob wir das zweite Lot beim Training sehen wollten, aber ich hätte gern das Cottage hinter mich gebracht, also fuhren Cassie und ich die sechs Meilen zurück zum Dorf und hielten erst noch an der Kneipe. Unser Herr Wirt, der sich zuvor nicht hatte blicken lassen, 359
war jetzt in Hemdsärmeln draußen und kehrte totes Laub von seiner Schwelle. »Ist dir nicht kalt?« sagte Cassie. Bananas, schwitzend im Kontrast zu unseren Felljacken, sagte, er hätte in seinem Keller Bierfässer gewälzt. Wir erklärten ihm, daß wir eine Weile fort wollten und weshalb. »Kommt rein«, sagte er, schon fertig mit dem Laub. »Möchtet ihr Kaffee?« Wir tranken welchen mit ihm in der Bar, jedoch ohne den Brandy und die Eiskrem, die er in seinen rührte. »Klar«, sagte er liebenswürdig, »eure Post nehme ich an. Auch Zeitungen, Milch, was immer ihr wollt. Sonst noch was?« »Wie absolut unheimlich großzügig fühlst du dich denn?« sagte Cassie. Er schielte sie über seinen schaumigen Krug hinweg an. »Spuck es aus«, sagte er. »Mein kleiner gelber Wagen ist heute zur Überholung und für den Straßentest angemeldet, und ich fragte mich gerade …« »Ob ich ihn für dich in die große Werkstatt fahren würde?« »William bringt dich zurück«, sagte sie überredend. »Für dich, Cassie, doch alles«, sagte er. »Auf der Stelle.« »Heute nachmittag Gips runter«, sagte sie glücklich, und ich sah in ihre klaren grauen Augen und dachte, ich liebte sie so sehr, daß es lächerlich war. Verlaß mich nie, dachte ich. Bleib immer da. Es wäre jetzt einsam ohne dich. Es wäre eine Qual. 360
Wir fuhren alle in meinem Wagen zum Cottage, und ich ließ ihn draußen auf der Straße, weil Cassie wollte, daß Bananas ihre kleine gelbe Gefahr aus der Garage auf die Einfahrt zurücksetzte. Sie und er schlenderten zum Garagentor, um es zu öffnen, und ich ging, während ich ihnen halb zusah, hinüber, um die Haustür aufzuschließen und die Briefe herauszuholen, die gleich innen auf die Fußmatte gefallen sein würden. Das Haus lag so ruhig und still, daß unsere Vorsichtsmaßnahmen unnötig erschienen, wie Zuschauerschranken auf dem Mond. Angelo ist unberechenbar, mahnte ich mich. Unbeständig wie der Mount St. Helens. Man konnte genausogut von einem Erdbeben vernünftiges Verhalten erwarten, selbst wenn man letztlich wollte, daß er Erfolg hatte. DENK AN TIGER. Ein leise schepperndes Geräusch kam draußen von der Garage her. Nichts Alarmierendes. Ich beachtete es nur wenig. Sechs Briefumschläge lagen auf der Matte. Ich bückte mich, hob sie auf, sah sie flüchtig durch. Drei Rechnungen für Luke, eine Kommunalsteueranforderung für das Haus, ein Bücherprospekt und ein Brief für Cassie von ihrer Mutter in Sydney. Gewöhnliche Alltagspost, für die es sich nicht zu sterben lohnt. Ich warf einen letzten Blick auf das hübsche Wohnzimmer, sah die rotkarierten Rüschen an den Gardinen und die im Luftzug von der Tür sich sanft wiegenden Strohpüppchen. Es würde nicht so lange dauern, dachte ich, bis wir zurück waren. Die Küchentür stand offen, das Licht vom Küchenfenster lag in einem reflektierenden Schimmer auf dem 361
weißen Anstrich; und über den Schimmer bewegte sich ein Schatten. Bananas und Cassie, dachte ich mechanisch, die zur Küchentür hereinkamen. Aber das konnten sie nicht. Sie war abgeschlossen. Es war kaum Zeit auch nur für Angst, auch nur für Urinstinkte, auch nur zum Haaresträuben. Der Schalldämpfer einer Pistole kam als erstes ins Zimmer, ein dunkler Umriß auf der weißen Farbe, und dann Angelo, schwarz gekleidet, triumphierend, überlebensgroß vor Bosheit, anzusehen wie der Teufel. Etwas sagen war sinnlos. Ich wußte endgültig, daß er mich erschießen wollte, daß ich meinen eigenen Tod vor mir sah. Eine solche Entschlossenheit zu handeln war an ihm, ein solches Abdanken aller Vernunft, eine solche Lust zu zerstören, daß nichts und niemand es ihm hätte ausreden können. Mit einem so lichtschnellen Gedanken, daß er mir nicht einmal bewußt war, griff ich nach dem Baseballschläger, der noch auf der Fensterbank lag. Packte den Griff mit der Gewandtheit der Verzweiflung, holte nach Angelo aus in einer einzigen fließenden Bewegung von drehendem Fuß durch Beine, Rumpf, Arm und Hand bis zum Schläger und brachte das Gewicht des Holzes mit aller Kraft meines Körpers in Richtung auf die Hand herunter, die die Pistole hielt. Angelo schoß aus sechs Fuß Entfernung direkt auf meine Brust. Ich fühlte einen ruckartigen Schlag und nichts weiter und war nicht einmal erstaunt, und es lenkte meinen Schwung nicht einmal ein bißchen ab. Den Bruchteil einer Sekunde später krachte der Schläger auf Angelos Handgelenk nieder und brach Gelenk und Hand, wie er Cassies Arm gebrochen hatte. 362
Ich taumelte von der Wucht dieses Anpralls und wirbelte durch das Zimmer, und Angelo ließ die Pistole fallen und drückte den rechten Arm an seinen Körper, während er den Schmerz in einem mächtigen Schrei herausbrüllte, schlug einen Haken und lief ungelenk zur Haustür heraus und den Weg hinab zur Straße. Ich beobachtete ihn durch das Fenster. Ich stand da in einer merkwürdigen Untätigkeit, wußte, daß eine Zukunft bevorstand, die noch nicht eingetreten war, eine Konsequenz, noch nicht spürbar, aber unerbittlich, die Tatsache einer durch meinen Körper gegangenen Kugel. Ich dachte: Angelo hat endgültig seinen Derry zur Strecke gebracht. Angelo hat seine versprochene Rache genommen. Angelo weiß, sein Schuß hat mich voll getroffen. Angelo wird überzeugt sein, daß er recht getan hat, selbst wenn es ihn lebenslängliches Gefängnis kostet. Für Angelo würde trotz seines zerschmetterten Handgelenks, trotz seiner Aussichten, dieser Augenblick ein überwältigender, schriller, grenzenloser Freudentaumel sein. Die Schlacht war vorbei, auch der Krieg. Angelo würde gewiß sein, daß er in jeder äußeren, sichtbaren Weise gewonnen hatte. Bananas und Cassie kamen durch die Haustür gerannt und wirkten unerhört erleichtert, mich dort stehen zu sehen, etwas gegen einen Schrank gelehnt, doch anscheinend unverletzt. »Das war Angelo!« sagte Cassie. »Ja.« Bananas blickte auf den Baseballschläger, der am Boden lag, und sagte: »Du hast ihm eins übergezogen.« »Ja.« 363
»Gut«, sagte Cassie mit Genugtuung. »Ist er mit dem gräßlichen Gips dran.« Bananas sah Angelos Pistole und beugte sich vor, um sie aufzuheben. »Faß sie nicht an«, sagte ich. Er blickte fragend auf, noch halb gebückt. »Fingerabdrücke«, sagte ich. »Bringen ihn fürs Leben ins Gefängnis.« »Aber –« »Er hat mich angeschossen«, sagte ich. Ich sah den Unglauben auf ihren Gesichtern zu Angst werden. »Wo?« sagte Cassie. Ich machte eine flatternde Bewegung mit der linken Hand nach meiner Brust. Mein rechter Arm fühlte sich schwer und matt an, und ich dachte teilnahmslos, daß es daran lag, daß einige der Muskeln, die nötig waren, um ihn zu heben, zerrissen waren. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?« sagte Bananas. »Ja.« Sie begriffen nicht, dachte ich, wie schlimm es war. Sie konnten keinen Schaden sehen, und ich war hauptsächlich darum besorgt, wie ich es ihnen sagen könnte, ohne Cassie zu Tode zu erschrecken. Nicht, daß es an diesem Punkt so furchtbar zu spüren war, aber ich wußte dennoch aus einer Distanz, daß es bald kommen würde. Eine innere Auflösung ging vor sich wie Verschiebungen im Erdreich, wie ein Abrutschen von Grundmauern. Schneller werdend, aber immer noch langsam. Ich sagte: »Ruft die Klinik in Cambridge an.« 364
Es klang alles so ruhig. Ich glitt, ohne es zu wollen, auf meine Knie nieder und sah die Angst auf ihren Gesichtern zu Schrecken werden. »Du bist wirklich verletzt«, sagte Cassie mit hervorbrechender Bestürzung. »Es ist … äh … äh …« Mir fiel nichts ein, was ich sagen konnte. Sie war plötzlich neben mir, kniend, fand mit entsetzten scharlachroten Fingern, daß die Eintrittswunde, die durch die Vorderseite meiner Felljacke nicht zu sehen war, zu einem größeren blutenden Austritt im Rücken führte. »O mein Gott«, sagte sie wie gelähmt in absolutem Schock. Bananas kam herüber, um es sich anzusehen, und ich sah an ihren beiden Gesichtern, daß sie jetzt Bescheid wußten, daß es nicht mehr nötig war, die Worte zu suchen. Er wandte sich mit grimmiger Miene ab und griff zum Telefon, blätterte hastig das Telefonbuch durch und wählte die Nummer. »Ja«, sagte er schon. »Ja, es ist ein Notfall. Ein Mann wurde niedergeschossen. Ja, ich sagte geschossen … durch die Brust … Ja, er lebt noch … Ja, er ist bei Bewußtsein … Nein, die Kugel kann nicht in ihm sein.« Er gab die Adresse des Cottage an und eine kurze Wegbeschreibung. »Nun hören Sie mit der idiotischen Fragerei auf … sagen Sie, die sollen ihren Arsch bewegen … Ja, es ist blutiger Ernst, um Himmels willen, vergeuden Sie nicht noch mehr Zeit … Mein Name? Allmächtiger Gott, John Frisby.« Er knallte den Hörer zornig auf und sagte: »Sie wollten wissen, ob wir es der Polizei gemeldet haben? Was, zum Teufel, spielt das für eine Rolle?« Ich konnte mich nicht damit abgeben, ihm zu erklären, daß alle Schußverletzungen angezeigt werden mußten. 365
Atmen wurde tatsächlich schwieriger. Nur Worte, die gesagt werden mußten, waren der Mühe wert. »Die Pistole«, sagte ich. »Steck sie nicht … in einen Plastikbeutel. Kondensation … zerstört … die Abdrücke.« Bananas sah überrascht drein, und ich dachte, er begriff nicht, daß ich es ihm sagte, weil ich schon bald vielleicht nicht mehr konnte. Ich fing an, mich ganz grauenhaft krank zu fühlen, während feuchtkalte Klebrigkeit meine Haut überzog und auf meiner Stirn als Schweiß ausbrach. Ich hüstelte nur eben und wischte mir einen roten Strich vom Mund auf den Handrücken. Eine umfassende Schwächewelle durchflutete mich, und ich merkte, wie ich ziemlich voll gegen den Schrank sackte und dann halb am Boden lag. »O William«, sagte Cassie. »O nein.« Wenn ich je daran zweifelte, ob sie mich liebte, hatte ich meine Antwort. Niemand hätte die extreme Verzweiflung in ihrer Stimme und in ihrem Körper spielen oder vortäuschen können. »Mach dir … keine Sorgen«, sagte ich. Ich versuchte ein Lächeln. Ich hustete wieder, mit schlimmerem Ergebnis. Es war ein Atmen, dachte ich, durch einen See. Einen See, der sich zunehmend füllte, gespeist aus vielen Quellen. Es ging jetzt schneller. Viel schneller. Zu schnell. Ich war nicht bereit. Wer war jemals bereit? Ich konnte Bananas etwas Dringliches sagen hören, aber ich wußte nicht recht, was. Mein Verstand kam ins Schweben. Das Dasein hörte auf, außerhalb zu sein. Ich sterbe, dachte ich, ganz real. Sterbe zu schnell. Meine Augen waren geschlossen und dann wieder offen. Das Tageslicht sah seltsam aus. Zu hell. Ich konnte Cassies Gesicht sehen, naß von Tränen. Ich wollte sagen: »Weine nicht«, aber das Atmen wurde eine klebrige Beinah-Unmöglichkeit. 366
Bananas redete immer noch, weit weg. Es kam ein Gefühl, daß alles sich in Flüssigkeit verwandelte, mein Körper sich auflöste, ein tiefer unterirdischer Fluß, der über seine Ufer trat und mich davontrug. Verschwommener, letzter Gedanke … Ich ertrinke, Gott verdammt, in meinem eigenen Blut.
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21 Cassies Gesicht war das nächste, was ich sah, aber erst nach über einem Tag, und es war nicht mehr verweint, sondern schlafend und ruhig. Sie saß an einem Bett, in dem ich lag, umgeben von weißen Sachen und Glas und Chrom und einer Menge Lampen. Intensivstation und das alles. Ich erwachte stufenweise über mehrere Stunden zu dem Schmerz, den ich nach dem Schuß nicht gespürt hatte, und zu Röhren, die Flüssigkeiten in meine irdische Hülle und von ihr weg beförderten, und zu Stimmen, die mir wieder und wieder sagten, ich hätte Glück, da zu sein; ich sei gestorben und wieder lebendig. Ich dankte ihnen allen, und es war mir ernst. Dankte Bananas, der mich offenbar aufgehoben und in meinen Wagen gesetzt und mit etwa hundert Meilen die Stunde nach Cambridge gefahren hatte, weil es schneller ging, als auf den Krankenwagen zu warten. Dankte zwei Chirurgen, die, wie es schien, den ganzen Tag gearbeitet hatten und dann nochmals die halbe Nacht, um die Fetzen meiner rechten Lunge zu stabilisieren und säubern und zu verhindern, daß aus der Drainage ebensoschnell das Blut heraustropfte wie die Transfusionen in meinen Arm strömten. Dankte den Schwestern, die mit flinken Fingern und lauten Gerätschaften herumklapperten, und dankte in Abwesenheit den Spendern der Blutgruppe ›0‹, die meine Venen wieder aufgefüllt hatten. Dankte Cassie für ihre Liebe und dafür, daß sie neben mir gesessen hatte, wann immer man sie ließ. 368
Dankte den Schicksalsmächten, daß der zerstörerische Klumpen Metall mein Herz verfehlt hatte. Dankte jedem, dem ich konnte, für alles, was mir nur einfiel, aus Dankbarkeit für mein Leben. Die langen wiederkehrenden Träume, die während der Bewußtlosigkeit gekommen waren, verblaßten, entschwanden, schienen nicht mehr lebhaftes Faktum zu sein. Ich sah nicht mehr den Teufel neben mir schreiten, still, aber unerbittlich, der Gebieter, der auf meine Seele wartete. Ich sah ihn nicht mehr, den gefallenen Engel, den Teufel mit Angelos Gesicht, das gelbe Gesicht mit bereiftem Haar und schwarzen leeren Höhlen, wo die Augen hätten sein sollen. Die Erscheinung war fort. Ich war zurück in der blöden realen, schönen Welt, wo es auf Röhren ankam, nicht auf Vorstellungen vom Bösen. Ich sagte nicht, wie nahe ich dem Tod gewesen war, weil sie es für mich sagten, rund alle fünf Minuten. Ich sagte nicht, ich hätte in die Gefilde der Ewigkeit geschaut und die immerwährende Finsternis gesehen und gewußt, daß sie einen Sinn und ein Gesicht hatte. Die Visionen der Sterbenden und der dem Tod Entrissenen waren suspekt. Angelo war ein lebender Mensch, nicht der Teufel, keine Inkarnation, kein Haus und keine Wohnstatt. Es war Delirium, die Verwirrung der Schaltkreise des Hirns, was mir den einen als den anderen gezeigt hatte, den anderen als den einen. Ich sagte nichts aus Angst, mich lächerlich zu machen, und später nichts aus dem Gefühl, daß ich mich wirklich geirrt hatte und daß die Träume in der Tat … nur Träume waren. »Wo ist Angelo?« sagte ich. »Sie sagten, wir sollen dich nicht ermüden.« Ich betrachtete den ausweichenden Ausdruck in Cassies Gesicht. »Ich liege doch«, betonte ich. »Also komm.« 369
Sie sagte widerstrebend: »Na ja … er ist hier.« »Hier? In dieser Klinik?« Sie nickte. »Im Zimmer nebenan.« Ich war verdattert. »Aber wieso denn?« »Er hat einen Unfall gebaut.« Sie musterte mich ängstlich, wohl auf Anzeichen eines Rückfalls, aber wurde anscheinend beruhigt. »Er fuhr etwa sechs Meilen von hier in einen Bus.« »Nachdem er vom Cottage weg ist?« Sie nickte. »Sie brachten ihn her. Sie brachten ihn in die Unfallstation, während Bananas und ich dort warteten. Wir konnten es nicht fassen.« Es war nicht vorbei. Ich schloß die Augen. Es würde niemals vorbei sein. Wohin ich auch ging, es schien, daß Angelo mir folgen würde, selbst ins Leichenschauhaus. »William?« sagte Cassie eindringlich. »Mm?« »Ach. Ich dachte …« »Es geht schon.« »Er war beinahe tot«, sagte sie. »Genau wie du. Er liegt noch im Koma.« »Was?« »Kopfverletzungen«, sagte sie. Ich erfuhr nach und nach über die nächsten Tage, daß die Leute in der Klinik es nicht hatten glauben wollen, als Bananas und Cassie ihnen sagten, es sei Angelo, der auf mich geschossen habe. Sie hatten so lange und hart um sein Leben gekämpft wie um das meine, und offenbar hatten wir Seite an Seite in der Intensivstation gelegen, bis Cassie ihnen sagte, ich würde einen Herzanfall bekommen, wenn ich aufwachte und ihn dort fand. 370
Die Polizei hatte sachlich darauf hingewiesen, daß Angelo, wenn er zuerst aufwachte, den Mord an mir vollenden könnte: Und Angelo schlief jetzt seinen bewußtlosen Schlaf weiter unten im Flur, Tag und Nacht bewacht von einem Konstabler. Es war extrem, sich vorzustellen, daß er dort war, so nahe bei mir lag. Zutiefst beunruhigend. Ich hätte nicht gedacht, daß es mich so arg mitnehmen würde, doch mein Puls schnellte jedesmal in die Höhe, wenn irgend jemand die Tür öffnete. Die Vernunft sagte, er würde nicht kommen. Das Unterbewußtsein befürchtete es. Körper heilen erstaunlich schnell. Binnen einer Woche war ich die Röhren los, in eine Nebenstation verlegt, konnte wieder gehen und wanderte herum: ein bißchen schleichend zwar, gewiß, und steif und ächzend, aber eindeutig, endgültig am Leben. Auch Angelo, schien es, machte Fortschritte. Kam herauf aus den Tiefen. Öffnete blicklose Augen, zeigte Reaktionen. Ich hörte es von den Schwestern, von den Putzfrauen, von der Frau, die einen Servierwagen mit Erfrischungen schob, und sie alle beobachteten mich neugierig, um zu sehen, wie ich es aufnahm. Das Pikante der Situation gelangte zuerst ins Lokalblatt, dann in die überregionalen Zeitungen, und die polizeilichen Bewacher Angelos kamen manchmal auf ein Schwätzchen vorbei. Von einem von ihnen erfuhr ich, daß Angelo die Kontrolle über seinen Wagen verloren hätte, als er um einen Platz mit Kreisverkehr fuhr; daß eine Schlange von Leuten an einer Bushaltestelle ihn auf den Bus hatte zuschleudern sehen, als könnte er das Lenkrad nicht drehen; daß er ohnehin zu schnell gefahren war und daß er anscheinend erst noch gelacht hatte. Als Bananas es hörte, meinte er treffsicher: »Er ist 371
verunglückt, weil du ihm das Handgelenk gebrochen hast.« »Ja«, sagte ich. Er seufzte tief. »Die Polizei wird’s wissen.« »Ich nehme es an.« »Sind sie auf dich los?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe ihnen erklärt, was passiert ist. Sie haben es notiert. Niemand hat viel gesagt.« »Sie haben die Pistole abgeholt.« Er lächelte. »Sie steckten sie in eine Papiertüte.« Ich verließ die Klinik nach zwölf Tagen; wanderte langsam an Angelos Zimmer vorüber, aber ging nicht hinein. Die Abwehr war zu stark, auch wenn ich wußte, daß er noch leicht bewußtlos war und mich nicht wahrnehmen würde. Der Schaden, den er in meinem Leben und dem von Cassie angerichtet hatte, mochte vorbei sein, doch mein Körper trug seine Narben, noch verfärbt und noch schmerzhaft, zu unmittelbar für inneren Abstand. Ich glaube wohl, ich habe ihn gehaßt. Vielleicht habe ich ihn gefürchtet. Gewiß wollte ich ihn nicht wiedersehen, da nicht und nie mehr. Die nächsten drei Wochen lungerte ich im Cottage herum, erledigte Schreibarbeit, erholte mich jeden Tag mehr und überredete anfangs noch Bananas, mich auf die Heide zu fahren, damit ich das Training sehen konnte. Cassie fuhr zur Arbeit, der Arm in Gips eine Erinnerung. Mein Blut war aus dem Wohnzimmerteppich fast ganz herausgegangen, und der Baseballschläger lag im Keller. Das Leben lief wieder mehr oder weniger normal. Luke kam aus Kalifornien herüber, besichtigte die 372
Jährlinge, lernte Cassie kennen, hörte Sim und Mort und den Trainern in Berkshire zu, besuchte Warrington Marsh und flog nach Irland. Er war es, nicht ich, der in Ballsbridge für Oxidise bot und den Hengst zu Donovan schickte, und er besänftigte auch einigermaßen die Gefühle des irischen Trainers. Er kam noch einmal kurz nach Newmarket vor seiner Heimreise, schaute im Cottage vorbei und trank einen mittäglichen Scotch. »Ihr Jahr ist beinahe um«, sagte er. »Ja.« »Hat es Ihnen gefallen?« »Sehr gut.« »Möchten Sie noch eins?« Ich hob den Kopf. Er beobachtete mich eine ganze schweigsame Minute hindurch. Er sagte nicht, und ebensowenig ich, daß Warrington Marsh nie mehr genug Kraft haben würde, um die Arbeit zu leisten. Das war nicht das Entscheidende: Entscheidend war die Bindung … die Gefangenschaft. »Ein Jahr«, sagte Luke. »Ist ja nicht ewig.« Nach einer weiteren Pause sagte ich: »Ein Jahr also. Eins noch.« Er nickte und trank seinen Scotch, und mir schien, daß er irgendwo lächelte. Ich hatte so eine Vorahnung, daß er im nächsten Jahr wieder herüberkam und mir das gleiche anbot. Ein Jahr. Ein Jahresvertrag nach dem andern, womit er die Käfigtür offen ließ, seinen Vogel aber gefangenhielt: Und solange ich gehen konnte, dachte ich, blieb ich vielleicht. Cassie war erfreut, als sie nach Hause kam. »Mort sagte ihm, er wäre verrückt, wenn er auf dich verzichten würde.« 373
»Ist das wahr?« »Mort mag dich.« »Dafür Donovan nicht.« »Man kann nicht alles haben«, meinte sie. Ich hatte ziemlich viel, es stimmte; und dann rief die Polizei an und bat mich, Angelo zu besuchen. »Nein«, sagte ich. »Das ist eine Instinktreaktion«, sagte eine ruhige Stimme. »Aber ich hätte gern, daß Sie zuhören.« Er redete lange auf mich ein, jedesmal in schönen Worten, wenn ich protestierte, und zerrieb meinen Widerstand, bis ich mich am Ende zögernd bereit erklärte zu tun, was er wünschte. »Gut«, sagte er schließlich. »Mittwoch nachmittag.« »Das ist ja schon übermorgen –« »Wir schicken einen Wagen. Wir erwarten nicht, daß Sie sich schon ans Steuer setzen.« Ich widersprach nicht. Zwar konnte ich kurze Strecken fahren, aber ich ermüdete leicht. In einem weiteren Monat, hatten sie gesagt, könnte ich rennen. »Wir sind dankbar«, sagte die Stimme. »Ja, ja …« Ich erzählte es Cassie und Bananas am Abend. »Wie furchtbar«, sagte Cassie. »Das geht doch zu weit.« Wir drei aßen im Gastzimmer allein zu Abend, da das Restaurant neuerdings montags offiziell nicht geöffnet war: Die alte Ziege hatte freie Montage ausgehandelt. Bananas hatte selbst gekocht und ein Soufflé aus weißem Fisch, Kräutern, Apfelsine und Nüssen erfunden, um es an Cassie und mir auszuprobieren: eine Kreation, typisch und 374
unbeschreiblich individuell, eine unbekannte Sprache, ein neuer Horizont des Geschmacks. »Du hättest sagen können, du wolltest nicht hin«, sagte Bananas, indem er seinen Teller belud wie wir die unseren. »Mit welcher Entschuldigung?« »Egoismus«, sagte Cassie. »Der beste Grund auf der Welt, um etwas nicht zu tun.« »Nie darauf gekommen.« Bananas sagte: »Ich hoffe, du hast auf einer kugelsicheren Weste, einer sechs Finger dicken Trennwand und mehreren Rollen Stacheldraht bestanden.« »Sie haben mir versichert«, sagte ich mild, »sie würden ihn mir nicht an die Kehle springen lassen.« »Zu gütig«, murmelte Cassie. Wir gossen Bananas’ vorzügliche Sauce über sein Soufflé und sagten, wenn wir aus dem Cottage ausziehen müßten, würden wir in seinem Garten kampieren. »Und werdet ihr wetten?« »Wie meinst du das?« »Mit dem System.« Ich dachte verblüfft, daß ich diese Möglichkeit völlig vergessen hatte: Aber die Bänder besaßen wir. Wir hatten die Wahl. »Wir haben keinen Computer«, sagte ich. »Wir könnten bald einen bezahlen«, meinte Cassie. Jeder sah den anderen an. Wir waren doch ganz glücklich mit unserer Arbeit; mit dem, was wir hatten. Streckte man sich immer, unausweichlich, nach mehr? Ja, man tat es. »Ihr übernehmt den Computer«, sagte Bananas, »und ich 375
schließ die Wetten. Dann und wann, wenn wir knapp sind.« »Solange man nicht erstickt.« »Ich will keine Diamanten«, sagte Cassie weise, »oder Pelze oder eine Yacht … aber wie schnell bekommen wir einen Swimmingpool in unser Wohnzimmer?« Was in aller Welt Luke meinem Bruder erzählt hatte, als er heim nach Kalifornien kam, ahnte ich nicht, aber die Folge war, daß Jonathan am gleichen Abend anrief, um mir zu sagen, er werde am Mittwoch morgen in Heathrow eintreffen. »Was ist denn mit deinen Studenten?« »Pfeif auf die Studenten. Ich habe Kehlkopfentzündung.« Seine Stimme übersprang die Entfernung stark und gesund. »Wir sehen uns.« Er kam in einem gemieteten Wagen, braun von der Sonne und besorgt darüber, was er finden würde, und obschon ich mich inzwischen wohlauf fühlte, schien er nicht beruhigt zu sein. »Ich bin am Leben«, betonte ich. »Eins nach dem anderen. Komm in einem Monat wieder.« »Was ist eigentlich passiert?« »Angelo ist passiert.« »Warum hast du mir nichts davon gesagt?« wollte er wissen. »Hätte ich schon, wenn ich gestorben wäre. Oder jemand anders eben.« Er saß in einem der Schaukelstühle und sah mich brütend an. 376
»Es war alles meine Schuld«, sagte er. »Na sicher.« Ich war ironisch. »Und deswegen wolltest du mir nichts erzählen.« »Eines Tages hätte ich es dir wahrscheinlich erzählt.« »Erzähl es mir jetzt.« Ich erzählte ihm indessen, wo ich am Nachmittag hin wollte und weshalb, und er sagte in seiner ruhigen, bestimmten Art, er würde mit mir kommen. Ich hatte es mir gedacht: war froh gewesen, daß er mitkommen würde. Die nächsten Stunden hindurch berichtete ich ihm so ziemlich alles, was zwischen Angelo und mir vorgefallen war, gerade wie er es mir vor all den Jahren in Cornwall erzählt hatte. »Es tut mir leid«, sagte er am Schluß. »Nicht doch.« »Werdet ihr das System benutzen?« Ich nickte. »Ziemlich bald.« »Ich glaube, Mrs. O’Rorke wäre froh. Sie war so stolz auf Liams Werk. Sie würde nicht wollen, daß es verkommt.« Er sann ein wenig nach und sagte dann: »Welcher Pistolentyp, weißt du das?« »Ich glaube … die Polizei sagte … eine 22er Walther.« Er lächelte leise. »Der Tradition getreu. Und sei froh. Wenn es eine 38er gewesen wäre oder so was, hättest du Praß gehabt.« »Ah«, sagte ich trocken. »Da bin ich aber froh.« Der Wagen kam wie angedroht, um uns zu holen, und brachte uns zu einem großen Haus in Buckinghamshire. Ich fand nie heraus, was es eigentlich war: eine Kreuzung zwischen Krankenhaus und Verwaltungsdienststelle, lauter lange weiße Korridore und verschlossene Türen und Ruhe. 377
»Dort entlang«, wurden wir dirigiert. »Bis ans Ende durch. Die letzte Türe rechts.« Wir gingen ohne Hast über den Parkettboden, unsere Absätze löcherten die Stille. Am anderen Ende befand sich ein hohes Fenster, vom Boden zur Decke, das doch nicht ganz genügend Tageslicht gab, und gegen das Fenster hoben sich zwei Gestalten ab ein Mann in einem Rollstuhl, den ein anderer Mann schob. Diese beiden und Jonathan und ich näherten uns einander zu gegebener Zeit, und als wir herauskamen, sah ich mit unwillkommenem Schock, daß der Mann im Rollstuhl Harry Gilbert war. Alt, grau, gebeugt, der kranke Harry Gilbert, der bewußt Mitleid immer noch zurückwies. Eddy, der ihn schob, hielt zögernd an, und auch Jonathan und ich blieben stehen, während wir über eine Spanne von wenigen Fuß hinweg Harry anstarrten und Harry uns anstarrte. Er schaute von mir zu Jonathan, den er erst nur flüchtig musterte und dann viel länger, sorgfältiger, als er sah, was er nicht glaubte. Er wandte sich mir zu. »Sie haben behauptet, er sei tot«, sagte er. Ich nickte leicht. Seine Stimme war kalt und trocken, bitter, über Leidenschaft hinaus, ohne Hoffnung, ohne die Kraft zur Vergeltung. »Sie beide«, sagte er. »Sie haben meinen Sohn vernichtet.« Weder Jonathan noch ich antworteten. Ich sann über die Genetik des Bösen nach, den Zufall, der Mord hervorbrachte, die Veranlagung, die schon bei der Geburt lebte. Die biblische Schöpfung dachte ich, war auch die Wahrheit der Evolution. Kain existierte, und in jeder Spezies gab es das Überleben der Skrupellosen. 378
Nur durch Glück war ich durchgekommen: durch Bananas’ Schnelligkeit und ärztliche Hingabe. Abel und Jahrhunderte von anderen Opfern waren tot: und in jeder Generation, in vielen Rassen, warfen die Gene immer noch den Mörder aus. Die Gilberts zeugten ihre Angelos auf ewig. Harry Gilbert warf den Kopf zurück in Eddys Richtung, zum Zeichen, daß er fort wollte, und Eddy, das Ebenbild, Eddy, der leicht zu Führende, Eddy, das Schaf aus derselben Herde, fuhr seinen Onkel still davon. »Arroganter alter Hund«, sagte Jonathan leise und schaute ihnen nach. »Die Zucht von Rennpferden«, sagte ich, »ist interessant.« Jonathans Blick kam sehr langsam zu meinem Gesicht herum. »Und bringen ›Verbrecher‹«, fragte er, »›Verbrecher‹ hervor?« »Ziemlich oft.« Er nickte, und wir gingen weiter den Flur entlang bis zu dem Fenster, zu der letzten Tür rechts. Der Raum, in den wir kamen, mußte einmal schön proportioniert gewesen sein, doch mit der Empfindungslosigkeit von Regierungsämtern war er nützlichkeitshalber entzweigehackt worden. Das Ergebnis war ein langer schmaler Raum mit einem Fenster und ein langer schmaler Raum dahinter ohne eins. In dem vorderen Zimmer, dessen Einrichtung nur aus einem schmutzfarbenen Läufer auf dem Parkett vor einem funktionalen Schreibtisch und zwei harten Stühlen bestand, waren zwei Männer anscheinend damit beschäftigt, die Zeit totzuschlagen. Der eine saß hinter 379
dem Schreibtisch, der andere auf diesem, beide um die vierzig, eher klein, gelackt, gelangweilt und mit einem Gebaren an sich, als wären sie lieber sonstwo. Sie sahen forschend hoch, als wir eintraten. »Ich bin William Derry«, sagte ich. »Aha.« Der Mann, der auf dem Schreibtisch saß, erhob sich, kam auf mich zu, schüttelte mir die Hand und blickte fragend zu Jonathan. »Mein Bruder Jonathan Derry«, sagte ich. »Aha.« Er schüttelte auch ihm die Hand. »Ich glaube nicht«, sagte er neutral, »daß wir Ihren Bruder bemühen müssen.« Ich sagte: »Angelo würde wahrscheinlich heftiger auf Jonathan reagieren als auf mich.« »Aber er hat doch Sie umzubringen versucht.« »Jonathan brachte ihn ins Gefängnis … vor vierzehn Jahren.« »Aha.« Er blickte einem zum anderen, den Kopf leicht zurückgelegt, um unserer Größe beizukommen. Wir schienen irgendwie nicht das zu sein, was er erwartet hatte, wenngleich ich auch nicht wußte, warum. Jonathan sah zweifellos ganz schön vornehm aus, besonders seit das Alter ihm ein solches Flair von Autorität verliehen hatte, und schon immer hatte er von beiden die ebeneren Züge gehabt; und ich sah vermutlich weniger wie ein Opfer aus, als ich gekonnt hätte. Ich fragte mich vage, ob er eine schlurfende kleine Gestalt im Bademantel erwartet und mit Kleidern so wie seinen nicht gerechnet hatte. »Ich glaube, ich gehe eben und erkläre das mit Ihrem Bruder«, sagte er schließlich. »Würden Sie warten?« 380
Wir nickten, und er drückte die Tür zum Nebenzimmer vorsichtig auf, schlängelte sich durch den Spalt und schloß sie hinter sich. Der Mann hinter dem Schreibtisch sah weiter gelangweilt drein und bot keinerlei Kommentar an, und schließlich kam sein Kollege durch die genauso karge Öffnung zurückgeschlüpft und sagte, drinnen sei man bereit für uns, wir möchten bitte hineingehen. Der hintere Raum war hell und ausschließlich von Elektrizität erleuchtet und enthielt vier Leute sowie eine ganze Menge elektrischer Geräte mit vielfältigen Skalen und sprießenden Kabeln. Ich sah, wie Jonathans Blick darüber hinweghuschte und nahm an, daß er das alles identifizieren konnte, und er sagte mir hinterher, es schienen durchweg Standardgeräte zur Messung von Veränderungen im Körper gewesen zu sein – Kardiograph, Enzephalograph, Anzeiger für Temperatur, Atmung und Hautfeuchtigkeit – und alle in mindestens zwei Exemplaren. Einer der vier Leute trug einen kennzeichnenden weißen Kittel und stellte sich ruhig als Tom Course, Arzt, vor. Eine Frau in entsprechendem Weiß ging zwischen den Maschinen umher und las ihre Gesichter ab. Eine dritte Person, ein Mann, schien eigens zum Beobachten dort zu sein, denn das allein tat er, ohne zu sprechen, während der nächsten seltsamen zehn Minuten. Die vierte Person, sie saß in einer Art Zahnarztstuhl mit dem Rücken zu uns, war Angelo. Wir konnten nur die Oberseite seines bandagierten Kopfes sehen, aber auch seine Arme, die an den Handgelenken auf die Stuhllehnen geschnallt waren. Von Gips war auf dem Arm, den ich gebrochen hatte, nichts zu sehen: zweifellos geheilt. Seine Arme waren entblößt und spärlich von dunklen Haaren überzogen, die 381
Hände lagen locker, ohne Spannung. Von jedem Teil seines Körpers, schien es, führten Drähte rückwärts zu den Maschinen, die sich hinter ihm reihten. Vor ihm war nichts als ein Stück leerer, erleuchteter Raum. Dr. Course, jung, drahtig, stark durch Gewißheiten, warf mir einen forschenden Blick zu und sagte in der gehabten ruhigen Art: »Sind Sie bereit?« So bereit, nahm ich an, wie ich überhaupt je sein würde. »Treten Sie einfach vor ihn hin. Sagen Sie etwas. Was Sie nur wollen. Bleiben Sie dort, bis wir Ihnen sagen, es genügt.« Ich schluckte. Ich hatte noch nichts in meinem Leben weniger gern tun wollen. Ich konnte sehen, wie sie alle warteten, höflich, entschlossen, geschäftsmäßig … und zu verdammt verständnisvoll. Sogar Jonathan, bemerkte ich, sah mich mit einer Art Mitleid an. Unerträglich. Ich ging langsam um die Geräte und den Stuhl herum, blieb vor Angelo stehen und schaute ihn an. Er war nackt bis zur Taille. Um seinen Kopf, unter einer Kappe aus hellbraunem Kreppverband, lag ein Streifen silbernes Metall wie eine Krone. Seine Haut gleißte überall vor Fett, und an seinem Gesicht, seinem Hals, seiner Brust, den Armen und dem Bauch war ein Heer von Elektroden befestigt. Niemand, stellte ich mir vor, hätte umfassender verdrahtet sein können; kein Funken von Veränderung konnte unüberwacht bleiben. Er wirkte so wohlgenährt und gesund wie je, trotz seines vorherigen zweiwöchigen Komas. Die Muskeln schienen kräftig, der Rumpf gleich panzerhaft, der Mund gleich fest. Der harte Mann. Der Angstmacher. Der Verächter von Gimpeln. Abgesehen von seiner Kopfbedeckung und den Drähten sah er genau aus wie sonst. Ich atmete tief 382
und schaute direkt in seine schwarzen Augen, und dort sah man den Unterschied. Da war nichts in den Augen, überhaupt nichts. Es war außerordentlich, als sähe man einen Fremden in einem altbekannten Gesicht. Das Haus war dasselbe … aber das Monster schlief. Es war bis auf den Tag fünf Wochen her, seit wir uns zuletzt gegenüberstanden, seit wir einander auf die eine oder andere Art in die Nähe des Todes gebracht hatten. Obwohl ich vorbereitet gewesen war, griff es mich stark an, ihn wiederzusehen. Ich hörte mein Herz pochen: konnte es tatsächlich hören in dem gespannten Raum. »Angelo«, sagte ich. Meine Zunge fühlte sich klebrig an im trockenen Mund. »Angelo, Sie haben auf mich geschossen.« In Angelo geschah nichts. Er sah mich mit vollkommener Ruhe an. Als ich einen Schritt zur Seite machte, folgte mir sein Blick. Als ich nach hinten trat, beobachtete er mich immer noch. »Ich bin … William Derry«, sagte ich. »Ich gab Ihnen … Liam O’Rorkes Wettsystem.« Ich sprach die Worte langsam, deutlich, bewußt aus, während ich versuchte, meinen unsteten Atem unter Kontrolle zu bringen. Von Angelo kam keinerlei Reaktion. »Wenn Sie nicht auf mich geschossen hätten … wären Sie jetzt frei … und reich.« Nichts. Absolut nichts. Ich merkte, daß Jonathan neben mir stand, und nach einer Pause wanderte Angelos Blick von mir zu ihm. »Hallo, Angelo«, sagte Jonathan. »Ich bin Jonathan Derry, erinnern Sie sich? William sagte Ihnen, ich sei tot. Es stimmte nicht.« Angelo sagte nichts. 383
»Erinnern Sie sich?« sagte Jonathan. »Ich habe Sie ausgetrickst.« Schweigen. Eine stumpfe Abwesenheit all dessen, was wir so lange erduldet hatten. Kein Zorn. Keine Spöttelei, keine Drohungen, kein wirbelnder Orkan von Haß. Schweigen, so schien es mir, war das einzig Angemessene. Jonathan und ich standen da gemeinsam vor der Hülse unseres Feindes, und es blieb nichts auf der Welt mehr zu sagen. »Vielen Dank«, sagte Tom Course und kam um den Stuhl herum zu uns. »Das dürfte genügen.« Angelo sah ihn an. »Wer sind Sie?« sagte er. »Dr. Course. Wir haben uns schon unterhalten, als wir die Elektroden anbrachten.« Angelo bemerkte nichts dazu, sondern sah statt dessen direkt mich an. »Sie waren am Reden«, sagte er. »Wer sind Sie?« »William Derry.« »Ich kenne Sie nicht.« »Nein.« Seine Stimme war so tief und so grimmig wie immer, die einzige Spur, schien es, von dem alten Widersacher. Dr. Course sagte herzlich: »Wir nehmen Ihnen jetzt diese ganzen Kabel ab. Sie freuen sich doch bestimmt, die wieder loszusein.« »Was sagten Sie, wer Sie sind?« fragte Angelo stirnrunzelnd. »Dr. Course.« »Wer?« »Schon gut. Ich bin hier, um die Kabel abzunehmen.« 384
»Kann ich Tee haben?« sagte Angelo. Dr. Course überließ das Abnehmen der Kabel seiner Kollegin und führte uns herum, um die Ergebnisse auf den Maschinen zu betrachten. Der Beobachter, sah ich, war ebenfalls dabei, sie unter die Lupe zu nehmen, doch Course beachtete ihn kaum. »Sehen Sie«, sagte er und hielt einen meterlangen Streifen Papier hoch. »Nicht ein Flackern. Wir hatten ihn eine Stunde stabilisiert, ehe seine Besucher kamen. Atmung, Puls, alles felsenfest. Still hier drin, verstehen Sie. Keine Störung, keine Unterbrechung, kein Lärm. Diese Markierung, das ist der Punkt, an dem er Sie erblickt hat«, nickte er mir zu, »und wie Sie sehen können, hat sich nichts verändert. Das ist die Hauttemperaturskala. Steigt immer, wenn jemand lügt. Und hier …« zu einem anderen. »Hirntätigkeit, sehr schwache Änderung. Er hätte nicht Sie, sein verhaßtes Opfer, plötzlich und unerwartet vor sich stehen sehen können, ohne dabei starke Änderungen in Körper oder Hirn zu zeigen, nicht wenn er Sie erkannt hätte. Absolut unmöglich.« Ich dachte an meine eigenen unvermessenen, aber ziemlich extremen Reaktionen und wußte, daß es stimmte. »Ist dieser Zustand dauerhaft?« fragte Jonathan. Tom Course warf ihm einen raschen Blick zu. »Ich glaube schon. Es ist meine Ansicht, ja. Sehen Sie, man hat Schädelstücke aus seinem Hirngewebe geholt. Glänzende Reparaturarbeit an der Knochenstruktur, stimmt, muß man ihnen lassen. Aber die Sache ist, Sie sehen’s ja, kein Gedächtnis. Viele Funktionen unbeeinträchtigt. Essen, sprechen, gehen, das kann er alles. Er ist kontinent. Er wird alt werden. Aber er kann nichts länger behalten als rund fünfzehn Minuten, mitunter nicht mal das. Er lebt in der absoluten Gegenwart. Verlust des Erinnerungs385
vermögens, wissen Sie, ist gar nicht so selten nach einer schweren Hirnschädigung. Aber in dem Fall hier gab es Zweifel. Nicht meine Zweifel, sondern amtliche. Es hieß, er würde schauspielern, er wüßte, daß er ins Krankenhaus, nicht ins Gefängnis käme, wenn er jedermann überzeugen könnte, daß er sein Gedächtnis verloren hätte.« Tom Course winkte mit der Hand zu den Maschinen. »Die heutigen Ergebnisse hätte er nicht vortäuschen können. Endgültig. Regeln die Debatte ein für allemal. Deshalb sind wir natürlich auch alle hier, deshalb hat man uns die Einrichtung überlassen.« Seine Kollegin hatte den Silberstreifen von Angelos Stirn und die Gurte von seinen Handgelenken entfernt und war dabei, mit Wattebauschen das Fett von seiner Haut zu wischen. »Wer sind Sie?« fragte er sie, und sie antwortete: »Nur eine Bekannte.« »Wo kommt er hin?« sagte ich. Tom Course zuckte die Achseln. »Nicht meine Entscheidung. Aber ich wäre vorsichtig. Ich bin kein Staatsbeamter. Mein Rat wird wahrscheinlich nicht angenommen.« Seine Bemerkung war klar auf den Beobachter gezielt, der sich hartnäckig heraushielt. Ich sagte langsam: »Könnte er immer noch gewalttätig sein?« Tom Course warf mir einen raschen Seitenblick zu. »Nicht zu sagen. Er könnte es sein. Ja, er könnte. Er sieht harmlos aus. Er wird nie jemanden hassen, er kann sich an niemand lange genug erinnern. Aber der plötzliche Impuls …« Er zuckte erneut die Achseln. »Sagen wir, ich würde ihm nicht den Rücken zukehren, wenn wir allein wären.« »Überhaupt nie?« 386
»Wie alt ist er? Vierzig?« Er spitzte die Lippen. »Noch zehn Jahre nicht. Vielleicht zwanzig. Man weiß es nicht.« »Ein Blitz?« sagte ich. »So ähnlich.« Die Frau hatte das Fett abgewischt und hielt Angelo ein graues Hemd zum Anziehen hin. »Haben wir schon Tee getrunken?« sagte er. »Noch nicht.« »Ich habe Durst.« »Sie kriegen bald Tee.« Ich fragte Tom Course: »Sein Vater war draußen … hat Angelo ihn gesehen?« Course nickte. »Keine Reaktion. Nichts auf den Apparaten. Endgültige Tests, alle miteinander.« Er blickte verstohlen auf den Beobachter. »Die können aufhören mit der ganzen Streiterei.« Angelo stand von dem Stuhl auf und streckte sich, er wirkte körperlich stark, von Leben erfüllt, aber er spielte täppisch mit den Knöpfen seines Hemdes, bewegte sich ohne volle Koordination, blickte sich unbestimmt um, als wüßte er nicht genau, was er als nächstes tun sollte. Sein schweifender Blick landete auf Jonathan und mir. »Hallo«, sagte er. Die Tür des vorderen Zimmers öffnete sich weit, und zwei weißbekittelte Pfleger und ein uniformierter Polizist kamen herein. »Ist er fertig?« fragte der Polizist. »Ganz der Ihre.« »Also gehen wir.« Er legte eine Handschelle um Angelos linkes Handgelenk und verklinkte ihn mit einem der Pfleger. 387
Angelo schien es nicht zu stören. Er sah sich zum letzten Mal uninteressiert mit den schwarzen Löchern, wo die Augen hätten sein sollen, um und ging wie gebeten zur Tür. Entschärft, vermindert … vielleicht sogar friedlich. »Wo ist mein Tee?« sagte er.
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