Dick Francis
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Dick Francis
Fehlstart
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Als Physiklehrer weiß Jonathan Derry das verräterische Quietschen auf den Musikkassetten, die ihm sein Freund mit auf den Heimweg gegeben hat, sofort zu deuten. Statt des versprochenen BroadwayMusicals entdeckt er ein raffiniertes Computersystem, mit dem man die gesamten Pferdewetten Englands knacken – und gewinnen kann. Als nach kurzer Zeit ein gewisser Angelo bei ihm auftaucht und die Kassetten mit höchst unfeinen Methoden zurückfordert, kommen Jonathan seine Talente als Olympiascharfschütze sehr zustatten. Angelo läßt nicht locker und versucht es bei Jonathans kleinem Bruder auf die gleiche erpresserische Tour. Doch der ist ein gebranntes Kind und hat viel raffiniertere Munition auf Lager. Vor allem versteht er etwas von Pferden. ISBN: 3 257 22756 6 Original: Twice Shy Aus dem Englischen von Malte Krutzsch Verlag: Diogenes Verlag AG Zürich Erscheinungsjahr: 1995 Umschlagzeichnung von Tomi Ungerer
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
In Liebe und Dank für meinen Sohn FELIX Ein hervorragender Schütze, der Physik unterrichtet
TEIL EINS: JONATHAN
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1 Ich sagte den Jungs, sie sollten sich ruhig verhalten, während ich mein Gewehr holen ging. Normalerweise klappte es. Für die fünf Minuten, die ich brauchte, um zu dem Spind im Lehrerzimmer und wieder zurück ins Klassenzimmer zu kommen, konnte man darauf zählen, daß dreißig vierzehnjährige, halbunterdrückte Rowdys einen Zustand brüchigen guten Benehmens durchhielten, gezügelt nur durch die Verheißung einer Unterrichtsstunde, auf die sie sich wirklich gefreut hatten. Physik im allgemeinen erachteten sie für unannehmbar schwere Geistesarbeit, aber was geschah, wenn ein Gewehr eine Kugel ausspuckte … das war interessant. Jenkins hielt mich im Lehrerzimmer einen Augenblick auf: Jenkins mit der sauren Miene und dem schlechtgelaunten Schnurrbart, der mir sagte, Impuls könne man mit Kreide auf einer Tafel besser erklären, und eine richtige Schußwaffe sei einfach zügellose Selbstdarstellung meinerseits. »Sie haben ohne Zweifel recht«, sagte ich kühl und drückte mich an ihm vorbei. Er sah mich wie üblich mit frustrierter Gehässigkeit an. Er haßte meine Taktik, ihm immer beizupflichten, was freilich der Grund war, weshalb ich es tat. »Entschuldigen Sie«, sagte ich im Weitergehen. »Die 4A wartet.« Die 4A jedoch wartete nicht in dem erhofften Zustand leise siedender Erregung. Sie war statt dessen ein kollektives Gekicher, das sich rasch einem leichten hysterischen Anfall näherte. 5
»Hört mal«, sagte ich rundheraus, denn schon beim ersten Schritt durch die Tür spürte ich die Stimmung, »beruhigt euch, oder ihr schreibt Notizen ab.« Diese schrecklichste aller Drohungen zeigte keine Wirkung. Das Gekicher war nicht abzustellen. Die Blicke der Klasse schossen zwischen mir und meinem Gewehr und der Tafel, die für mich hinter der offenen Tür noch außer Sicht war, hin und her, und auf jedem der jungen Gesichter lag die ausgelassenste Vorfreude. »Okay«, sagte ich und schloß die Tür, »was steht denn wieder Schönes …« Ich hielt inne. Es stand nichts an der Tafel. Einer der Jungen stand davor, kerzengerade und still: Paul Arcady, der Witzbold der Klasse. Er stand kerzengerade und still, weil auf seinem Kopf ein Apfel balancierte. Das Gekicher rings um mich explodierte in Gelächter, und ich selbst konnte auch kein ernstes Gesicht bewahren. »Können Sie ihn runterschießen, Sir?« Die Stimmen übertönten ein allgemeines Geschrei. »Wilhelm Teil hat es gekonnt, Sir.« »Sollen wir ’n Krankenwagen rufen, Sir, für alle Fälle?« »Wie lange braucht eine Kugel, um Pauls Schädel zu durchqueren, Sir?« »Sehr lustig«, sagte ich repressiv, aber natürlich war es sehr lustig, und sie wußten es. Nur, wenn ich zuviel lachte, würde ich die Kontrolle über sie verlieren, und die Kontrolle über solch eine launische Masse war immer prekär. »Wirklich geistreich, Paul«, sagte ich. »Geh und setz dich hin.« 6
Er war zufrieden. Er hatte sich vollendet in Szene gesetzt. Er nahm den Apfel mit angeborener Eleganz vom Kopf, kehrte ordentlich auf seinen Platz zurück und nahm die bewundernden Scherze und die neidischen Pfiffe als gebührenden Lohn entgegen. »Also schön«, sagte ich und pflanzte mich entschlossen dort auf, wo er gestanden hatte. »Am Ende dieser Stunde werdet ihr alle wissen, wie lange eine Kugel brauchen würde, um bei einem bestimmten Tempo eine bestimmte Entfernung zu durchmessen …« Das Gewehr, das ich in die Stunde mitgebracht hatte, war ein simples Luftgewehr, doch ich erzählte ihnen auch, wie eine Büchse funktionierte und wieso eine Kugel oder ein Bleikorn jeweils schnell heraustrat. Ich ließ sie das glatte Metall anfassen: Für viele von ihnen das erste Mal, daß sie ein richtiges Gewehr, sei es auch nur ein Luftgewehr, aus nächster Nähe sahen. Ich erklärte, wie Kugeln gemacht wurden und wie sie sich von den Bleikörnern, die ich dabeihatte, unterschieden. Wie Lademechanismen funktionierten. Wie die Rillen in einem Gewehrlauf die Kugel rotieren ließen, um sie schnell drehend auszustoßen. Ich erzählte ihnen von Luftwiderstand und Hitze. Sie hörten konzentriert zu und stellten die Fragen, die sie immer stellten. »Können Sie uns sagen, wie eine Bombe funktioniert, Sir?« »Eines Tages«, sagte ich. »Eine Atombombe?« »Eines Tages.« »Eine Wasserstoff- … Kobalt- … Neutronenbombe?« »Eines Tages.« 7
Sie fragten niemals, wie Radiowellen den Äther durchquerten, was für mich das größere Rätsel war. Sie fragten nach Zerstörung, nicht Schöpfung, nach Macht, nicht Symmetrie. Die Saat der Gewalt, die jedes männliche Kind in sich trägt, schaute aus jedem Gesicht, und ich wußte, wie sie dachten, weil ich selbst dort gewesen war. Warum sonst hatte ich in ihrem Alter zahllose Stunden hindurch mit einem 22er Kadettengewehr auf einem Schießstand geübt, meine Kunst verbessert, bis ich auf fünfzig Meter ein Ziel von der Größe eines Daumennagels neun von zehn Malen treffen konnte. Eine seltsame, sinnlose, sublimierte Kunst, die ich nie auf ein lebendes Wesen anzuwenden gedacht, aber seither nicht verlernt hatte. »Stimmt es, Sir«, sagte einer von ihnen, »daß Sie eine olympische Medaille im Gewehrschießen gewonnen haben?« »Nein, es stimmt nicht.« »Was denn, Sir?« »Ich möchte, daß ihr alle mal die Geschwindigkeit einer Kugel im Vergleich zur Geschwindigkeit eines anderen Gegenstandes, den ihr alle kennt, betrachtet. Glaubt ihr nun, ihr könntet in einem Flugzeug nebenher fliegen und aus dem Fenster schauen und eine Kugel sehen, die Schritt hält mit euch, so daß es scheint, als ob sie da vor dem Fenster stillsteht?« Die Stunde lief weiter. Sie würden sich ihr Leben lang daran erinnern, wegen des Gewehrs. Ohne das Gewehr, was immer Jenkins auch glauben mochte, wäre sie in dem allgemeinen Staub untergegangen, den sie jeden Nachmittag um vier von ihren Schuhen schüttelten. Unterrichten, so schien es mir oft, war ebensosehr eine Sache des Bilderbeschwörens wie des Mitteilens 8
wirklicher Information. Die in Späße gekleideten Fakten waren diejenigen, die sie in Prüfungen richtig hinkriegten. Ich unterrichtete gerne. Besonders gern unterrichtete ich Physik, ein Fach, dem ich mit Leidenschaft und Freude anhing, wobei ich durchaus wußte, daß die meisten Leute entsetzt davor zurückscheuten. Physik war nur die Wissenschaft der unsichtbaren Welt, wie Geographie die der sichtbaren. Physik war die Wissenschaft von all den ungeheuer mächtigen Unsichtbarkeiten – Magnetismus, Elektrizität, Schwerkraft, Licht, Schall, kosmische Strahlen … Physik war die Wissenschaft von den Rätseln des Universums. Wie konnte irgend jemand sie für langweilig halten? Ich war seit drei Jahren Leiter der Physikabteilung der Gesamtschule von East Middlesex und hatte vier Lehrer und zwei technische Fachkräfte unter mir. Da ich jetzt dreiunddreißig war, hatte ich für die Zukunft noch Aussicht auf ein Konrektorat, höchstwahrscheinlich in Verbindung mit einem Ortswechsel, und vielleicht sogar auf ein Rektorat, obwohl ich das, wenn ich es mit vierzig nicht erreicht hatte, vergessen konnte. Schulleiter wurden Jahr für Jahr jünger; vor allem, wie Zyniker munkelten, weil die Behörden den Mann, den sie ernannten, um so mehr herumkommandieren konnten, je jünger er war. Ich war alles in allem zufrieden mit meiner Stellung und glaubte an meine Zukunft. Nur zu Hause standen die Dinge nicht so gut. Die 4A lernte vom Impuls, und Arcady aß seinen Apfel, als er dachte, ich sähe nicht hin. Mein Blickfeld aber war nach zehn Jahren Lehrberuf derart scharf erweitert, daß sie zuweilen glaubten, ich könne buchstäblich mit dem Hinterkopf sehen. Es schadete nichts: Es machte die Kontrolle leichter. 9
»Laß die Kitsche nicht auf den Boden fallen, Paul«, sagte ich mild. Es war eine Sache, ihn den Apfel essen zu lassen – er hatte es sich verdient –, aber eine ganz andere, ihn glauben zu lassen, ich hätte es nicht gesehen. Die Monster im Griff zu behalten, war ein immerwährendes psychologisches Spiel, aber auch die erste Priorität. Ich hatte erlebt, wie Stärkere als ich durch den Jagdrudelinstinkt von Kindern bis zum Nervenzusammenbruch erschöpft wurden. Als die Schlußklingel kam, erwiesen sie mir die größte aller Höflichkeiten und ließen mich ausreden, ehe sie in wilder Flucht heimwärts stürmten. Schließlich war es Freitag, die letzte Stunde – und Gott sei gedankt für die Wochenenden. Ich machte langsam die Runde durch die vier Physiklabors und die zwei Apparateräume und prüfte, ob alles in Ordnung war. Die beiden Techniker, Louisa und David, waren dabei, alle Geräte auseinanderzunehmen und wegzuräumen, die am Montag nicht gebraucht wurden. Sie pflückten die Bemühungen der 5E um Radioschallsysteme in Stücke und legten die Batterien, Klammern, Grundplatten und Transistoren wieder in die zahllosen Ständer und Fächer in den Apparateräumen. »Jemand Bestimmtes auf der Abschußliste?« sagte Louisa mit Blick auf das Gewehr, das ich bei mir hatte. »Wollte es nicht unbeaufsichtigt lassen.« »Ist es geladen?« Ihre Stimme klang beinahe hoffnungsvoll. Freitags gegen Ende war sie stets in der Verfassung, wo man sie besser nicht um eine Gefälligkeit bat – es sei denn, man war gewillt, weinerliche zehn Minuten à la »Sie ahnen ja nicht, wie dieser Job einen fordert« über sich ergehen zu lassen, und darauf konnte ich gut verzichten. Louisas Koller gründeten vermutlich 10
auf ihrer Überzeugung, daß das Leben sie betrogen hatte, da sie mit vierzig eine Art Lagerverwalterin war (tüchtig, sorgfältig und hilfsbereit), aber keine große Wissenschaftlerin. »Wenn ich aufs College gegangen wäre …«, sagte sie gerne und hinterließ dabei den Eindruck, wenn sie es getan hätte, wäre Einstein in den Schatten gestellt worden. Ich bewältigte Louisa, indem ich mich bei den ersten Anzeichen von Verdruß zurückzog, was vielleicht schwach war, aber ich mußte berufsmäßig mit ihr leben, und Anfälle von Düsterkeit drückten auf ihr Arbeitstempo. »Meine Liste für Montag!« sagte ich und gab sie ihr. Verächtlich warf sie einen Blick darauf. »Martin hat die Oszilloskope für die dritte Stunde bestellt.« Die Oszilloskopenknappheit der Schule war eine beständige Quelle von Reibungen. »Sehen Sie mal, was Sie drehen können.« »Kämen Sie vielleicht mit zwei aus?« Ich sagte, das ginge wohl, lächelte, hoffte, es würde schön bleiben für ihre Gartenarbeit, und machte mich auf den Heimweg. Ich fuhr langsam, während das bleierne Gefühl der Resignation sich einstellte, sich festfraß wie immer auf der Rückfahrt. Zwischen Sarah und mir gab es keine Freude mehr, keine sich erneuernde Liebe. Acht Jahre verheiratet und keine Empfindung außer wachsende Langeweile. Wir hatten keine Kinder bekommen können. Sarah hatte auf sie gehofft, sich nach ihnen gesehnt, nach ihnen verzehrt. Wir waren bei allen erdenklichen Spezialisten gewesen, und Sarah hatte unzählige Injektionen und Pillen bekommen und zwei Operationen hinter sich. Meine eigene Enttäuschung war erträglich, wenn auch nichtsdestoweniger tief. Ihre hatte sich als widerspenstig 11
und schließlich als lähmend erwiesen insofern, als sie einem Zustand dauernder Depression verfallen war, aus dem anscheinend nichts sie retten konnte. Ermutigende Therapeuten hatten uns gesagt, daß viele kinderlose Ehen sehr erfolgreich seien, in denen Mann und Frau durch ihr Unglück ungemein starke Bande schmiedeten, doch bei uns hatte es umgekehrt gewirkt. Wo einmal Leidenschaft gewesen war, war jetzt Höflichkeit, wo Pläne und Lachen, jetzt eine quälende Hoffnungslosigkeit, wo Tränen und Herzenskummer, Schweigen. Ich genügte ihr nicht, sie wollte Babys. Ich hatte der Tatsache ins Auge sehen müssen, daß Mutterschaft ihr am meisten bedeutete, daß Heirat nur der Weg dahin gewesen war, daß so mancher Mann dem Zweck entsprochen haben würde. Hin und wieder fragte ich mich unglücklich, wie schnell sie sich von mir hätte scheiden lassen, wäre ich es gewesen, der sich als unfruchtbar erwiesen hätte: und anzunehmen, wir wären auf immer ganz zufrieden gewesen, wenn sie Erfüllung gefunden hätte, brachte auch nichts ein. Ich möchte behaupten, es war eine Ehe wie viele andere. Wir zankten nie. Widersprachen uns selten. Gleichgültigkeit gab den Ton an, und als eine ausschließliche, andauernde Lebensweise war das unendlich niederdrückend. Es war ein Nachhausekommen wie tausend andere. Ich parkte vor dem geschlossenen Garagentor und ging mit Luftgewehr und Schulheften beladen ins Haus. Sarah, wie gewohnt von ihrem Halbtagsjob als Zahnarzthelferin zurück, saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und las eine Illustrierte. »Hallo«, sagte ich. 12
»Hallo. War’s gut heute?« »Nicht schlecht.« Sie hatte nicht von ihren Seiten aufgeschaut. Ich hatte sie nicht geküßt. Vielleicht war es für uns beide besser als völlige Einsamkeit, aber nicht viel. »Es gibt Schinken zu Abend«, sagte sie. »Und Kohlsalat. In Ordnung?« »Schön.« Sie las weiter; eine schlanke blonde Frau, immer noch beeindruckend hübsch, doch jetzt mit einem ständigen reizbaren Gesichtsausdruck. Ich war daran gewöhnt, litt aber unerträgliche Sehnsucht, wenn die Erinnerung an die lachende Lebendigkeit der ersten Zeit hochkam. Manchmal fragte ich mich, ob sie wahrnahm, daß auch mir die Freude ausgegangen war, obwohl ich sie zuweilen noch tief in meinem Innern sprudeln fühlen konnte. An diesem speziellen Abend unternahm ich (was immer seltener vorkam) eine Anstrengung, uns aus unserem Trübsinn aufzurütteln. »Hör mal, laß uns einfach alles hinschmeißen und essen gehen. Vielleicht zu Florestan, wo auch Tanz ist.« Sie schaute nicht auf. »Sei nicht albern.« »Gehen wir doch einfach mal.« »Ich mag nicht.« Eine Pause. »Ich würde lieber fernsehen.« Sie blätterte um und setzte gleichgültig hinzu: »Und die Preise im Florestan können wir uns nicht leisten.« »Wir könnten, wenn du Freude daran hättest.« »Nein, hätte ich nicht.« »Tja«, seufzte ich, »dann fange ich mal mit den Heften an.« 13
Sie nickte leicht. »Abendbrot um sieben.« »Ist gut.« Ich wandte mich zum Gehen. »Es ist ein Brief für dich von William gekommen«, sagte sie in gelangweiltem Ton. »Ich hab’ ihn raufgelegt.« »Ja? Gut, danke.« Sie las weiter, und ich ging mit meinem Zeug hinauf ins dritte und kleinste unserer drei Schlafzimmer, das ich als eine Art Arbeitszimmer plus Büro benutzte. Der Grundstücksmakler, der uns das Haus zeigte, hatte den Raum munter als »gerade richtig für das Kinderzimmer« bezeichnet und sich beinah um den Verkauf gebracht. Ich hatte ihn für mich annektiert und ihn so maskulin wie möglich gestaltet, aber ich wußte, daß für Sarah dort immer noch der Geist ungeborener Kinder schwebte. Sie ging selten hinein. Es war schon etwas ungewöhnlich, daß sie mir den Brief meines Bruders auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er lautete: Lieber Jonathan, kann ich bitte dreißig Pfund haben? Die brauche ich, um in den Ferien auf die Farm zu gehen. Ich hab’ Mrs. Porter geschrieben, und sie nimmt mich. Sie sagt, ihre Preise sind wegen der Inflation gestiegen. Wegen dem, was ich futtere, kann es nicht sein, da sie mir hauptsächlich Brot und Honig verabreicht. (Keine Klagen.) Außerdem brauche ich eigentlich etwas Geld zum Reiten, für den Fall, daß sie mich im Stall keine Ritte mehr mit Ausmisten verdienen lassen. Da waren sie im letzten Jahr etwas komisch, hängt irgendwie mit dem Gesetz und der Ausbeutung Jugendlicher 14
zusammen, ich bitte Dich! Geh scharf auf die sechzehn. Jedenfalls, wenn Du einen glatten Fünfziger draus machen könntest, wär das prima. Falls ich meine Reitstunden verdienen kann, schicke ich Dir den Extrazwanziger zurück, wenn man sich nämlich in dieser Nobelpenne die dicken Kohlen nicht klauen lassen will, muß man sie schon einbetonieren. Die Ferien sind Freitag in einer Woche, früher dieses Jahr, könntest Du es also schnell schicken, wenn’s geht? Hast Du mitgekriegt, daß Clinker das Wrap-upHindernis in Stratford echt gewonnen hat? Wenn Du nicht willst, daß ein Jockey aus mir wird, wie wär’s dann mit einem Wettberater? Hoffe, es geht Dir gut. Und Sarah auch. William. P.S. Kannst Du zum Sportfest oder zum Blabla-Tag kommen? Ich hab’ einen Preis für zwei und zwei gekriegt, was Dich gewißlich wundert. Blabla-Tag war die Jahresschlußfeier, bei der die Schulpreise übergeben wurden. Aus dem einen oder anderen Grund hatte ich die von William alle verpaßt. Diesmal würde ich hinfahren, dachte ich. Selbst William mochte sich manchmal allein fühlen, wenn keiner, der ihm nahestand, je zusah, wie er seine Preise einheimste, und das tat er mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Dank eines reichen Paten, der ihm eine Menge Geld zu treuen Händen »für seine Erziehung und Berufsausbildung, und viel Glück dem kleinen Racker« hinterlassen hatte, ging William auf eine höhere Privatschule. Williams Treuhänder zahlten regelmäßig seine Gebühren an die Schule und an mich den Unterhalt 15
für Kleidung und sonstige Ausgaben, und ich gab nach Bedarf an William Bares weiter. Es war eine Regelung, die in vieler Hinsicht ausgezeichnet klappte, unter anderem, weil es auch hieß, daß William nicht bei mir und Sarah wohnen mußte. Der laute und unabhängig eingestellte Bruder ihres Mannes war nicht das Kind, das sie wollte. William verbrachte seine Ferien auf Bauernhöfen, und Sarah meinte gelegentlich, es sei höchst unfair, daß William mehr Geld hätte als ich, und William sei restlos verzogen worden von dem Tag an, als meine Mutter feststellte, daß sie mit sechsundvierzig noch einmal schwanger war. Sarah und William übten sich, wann immer sie einander begegneten, in vorsichtiger Zurückhaltung und nur gelegentlich in ehrlicher Direktheit. William hatte sehr schnell gelernt, sie nicht aufzuziehen, wie es seiner natürlichen Neigung entsprach, und Sarah hatte sich damit abgefunden, daß sarkastisch erteilte Kritik zu einem beißenden Konter einlud. Als Folge davon umkreisten sie sich gegenseitig wie zwei genau gleichstarke Gegenspieler, die nicht den offenen Krieg erklären wollten. Solange er sich erinnern konnte, hatte William sich unwiderstehlich zu Pferden hingezogen gefühlt, und längst hatte er seine Absicht erklärt, Jockey zu werden, was von Sarah stark und von mir leicht mißbilligt wurde. Sicherheit, meinte William, sei ein schmutziges Wort. Es gäbe Besseres im Leben als einen sicheren Beruf. Sarah und ich waren wohl glücklicher mit Ordnung und Gewohnheit und Leistung. William schien mit seinen dreizehn, vierzehn und jetzt fünfzehn Jahren zunehmend nach Luft und Tempo und Unsicherheit zu dürsten. Es war typisch für ihn, daß er plante, die Woche Ferien mit Reiten zu verbringen, anstatt für die acht Mittlere-Reife16
Prüfungen zu arbeiten, die unmittelbar darauf bevorstanden. Ich ließ seinen Brief auf dem Schreibtisch, damit ich nicht vergaß, ihm einen Scheck zu schicken, und schloß den Schrank auf, in dem ich meine Gewehre verwahrte. Das Luftgewehr, das ich mit in die Schule genommen hatte, war kaum mehr als ein Spielzeug und brauchte weder Waffenschein noch sichere Lagerung, aber ich besaß zwei 7.62er Mauser, eine 7.62er Enfield Nr. 4 und zwei Anschütz.22, die von allen möglichen Vorschriften umwuchert waren, und ebenso eine alte Lee Enfield.303 aus meinen Anfangszeiten, die so tödlich war wie eh und je, wenn man die Munition dafür auftreiben konnte. Das bißchen, das ich hatte, hortete ich, hauptsächlich aus Nostalgie..303-Patronen wurden nicht mehr hergestellt, seit die Armee in den sechziger Jahren auf 7,62 mm umgestiegen war. Ich stellte das Luftgewehr wieder in seinen Ständer, prüfte nach, daß alles so war, wie es sein sollte, und verschloß die Tür vor dem vertrauten Ölgeruch. Das Telefon klingelte unten, und Sarah ging dran. Ich sah auf den Stapel Schulhefte, die alle gelesen und korrigiert und den Jungs am Montag zurückgegeben werden mußten, und fragte mich, warum ich bloß keinen Job mit festen Stunden hatte, den man nicht mit heim zu nehmen brauchte. Nicht nur für die Schüler war Hausarbeit eine Mühsal. Ich konnte Sarahs Telefonannahmestimme hören, laut und klar. »Oh. Hallo, Peter. Wie nett …« Eine lange Pause folgte, während Peter sprach, und dann ein Aufheulen von Sarah. »O nein! O mein Gott! O nein, Peter …« Entsetzen, 17
Unglauben, große Sorge. Ein Klang jedenfalls, der mich geradewegs nach unten brachte. Sarah saß stocksteif auf dem Sofa und hielt das Telefon am Ende seiner langen Schnur. »O nein«, sagte sie heftig. »Das kann doch nicht wahr sein. £5 kann einfach nicht.« Sie starrte mich blicklos an, mit hochgerecktem Hals, sogar mit den Augen zuhörend. »Ach, natürlich … natürlich werden wir … Ach, Peter, ja natürlich … Ja, auf der Stelle. Ja … doch … wir kommen …« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »So gegen neun. Reicht das? … Also gut … und Peter, grüß sie lieb von mir …« Sie legte klappernd mit zitternden Händen den Hörer auf. »Wir müssen hin«, sagte sie. »Peter und Donna –« »Nicht heute abend«, protestierte ich. »Was immer es ist, nicht heute abend. Ich bin verdammt müde, und ich hab’ die ganzen Hefte …« »Doch, sofort, wir müssen sofort hin.« »Es sind hundert Meilen.« »Ist mir gleich, wie weit es ist. Wir müssen jetzt fahren. Jetzt!« Sie stand auf und lief praktisch in Richtung Treppe. »Pack einen Koffer«, sagte sie. »Komm schon.« Ich ging ihr langsamer nach, halb verärgert, halb bewegt von ihrer Eindringlichkeit. »Sarah, nun warte doch mal. Was ist denn eigentlich Peter und Donna passiert?« Sie hielt auf der vierten Stufe an und sah über das Geländer zu mir runter. Sie weinte, ihr ganzes Gesicht in gequältem Durcheinander verzerrt. »Donna.« Die Worte waren undeutlich. »Donna …« 18
»Hat sie einen Unfall gehabt?« »Nein … keinen …« »Was denn?« Die Frage löste nur vermehrte Tränen aus. »Sie … braucht … mich.« »Dann fahr du«, sagte ich, erleichtert über die Lösung. »Ich komme ein paar Tage ohne den Wagen zurecht. Bis Dienstag jedenfalls. Montag kann ich den Bus nehmen.« »Nein. Peter möchte dich auch haben. Er bat mich … uns beide.« »Weshalb?« sagte ich, aber sie lief bereits die Treppe hoch und gab keine Antwort. Es wird mir nicht gefallen, dachte ich unvermittelt. Was immer auch passiert war, sie wußte, daß es mir nicht zusagen würde und daß meine Instinkte ganz auf der Seite der Nichteinmischung stehen würden. Ich folgte ihr widerstrebend nach oben, wo sie schon Kleider und Zahnkrem auf dem Bett zusammenwarf. »Donna hat doch Eltern, oder nicht?« sagte ich. »Und Peter doch auch. Wenn also etwas Schreckliches passiert ist, was brauchen sie in Gottes Namen uns?« »Es sind unsere Freunde.« Sie raste herum, weinte und schluckte und ließ Sachen fallen. Es war viel, viel mehr als gewöhnliches Mitgefühl für irgendein Übel, das Donna widerfahren sein mochte: Da war ein Übermaß, das zugleich beunruhigte und reizte. »Es übersteigt die Freundschaft«, sagte ich, »müde und mit knurrendem Magen nach Norfolk loszustürmen, ohne zu wissen warum. Und ich fahre nicht mit.« Sarah schien nicht zu hören. Das wahllose Packen ging ohne Pause weiter, und die Tränen entwickelten sich zu einem leisen, anhaltenden Wimmern. 19
Hatten wir früher einmal viele Freunde gehabt, so hatten wir jetzt nur noch Donna und Peter, wenngleich sie nicht mehr fünf Meilen entfernt wohnten und dienstags mit uns Squash spielten. Alle anderen Freunde waren uns entweder aus den Augen gekommen oder hatten geheiratet und Familien gegründet; und nur Donna und Peter hatten wie wir keine Kinder hervorgebracht. Nur die Gesellschaft von Donna und Peter, die nie von Kindern sprachen, konnte Sarah ertragen. Sie und Donna hatten einmal lange zusammengewohnt. Peter und ich hatten uns erst als ihre späteren Ehemänner kennengelernt und waren gut genug miteinander ausgekommen, daß die Freundschaft den Umzug nach Norfolk überstand, wenn sie jetzt auch eher eine Sache von Geburtstagskarten und Anrufen war als von häufigen Besuchen zu Hause. Einmal hatten wir zusammen einen Bootsurlaub auf dem Kanal verbracht. »Das machen wir nächstes Jahr wieder«, hatten wir alle gesagt; es aber nicht getan. »Ist Donna krank?« fragte ich. »Nein …« »Ich fahre nicht«, sagte ich. Das wehklagende Wimmern hörte auf. Sarah sah gräßlich aus, wie sie dastand mit abwesenden, geröteten Augen und einem unförmig zusammengelegten Nachthemd. Sie starrte nieder auf den hellgrünen wattierten Stoff, den sie gegen die Kälte getrennter Betten trug, und schließlich brach die verhängnisvolle Neuigkeit aus ihr hervor. »Man hat sie verhaftet«, sagte sie. »Donna … verhaftet?« Ich war erstaunt. Donna war ein Häschen. Ordentlich. Sanft. Schüchtern. Alles andere als wahrscheinlich, daß sie Ärger mit der Polizei bekam. 20
»Jetzt ist sie zu Hause«, sagte Sarah. »Sie ist … Peter meint, sie ist … na … dem Selbstmord nahe. Er sagt, er wird nicht damit fertig.« Ihre Stimme hob sich. »Er sagt, er braucht uns … jetzt … sofort. Er weiß nicht, was er tun soll. Er meint, wir sind die einzigen, die helfen können.« Sie weinte erneut. Was immer es war, es war zuviel. »Was«, sagte ich langsam, »hat Donna getan?« »Sie ging einkaufen«, sagte Sarah, endlich bemüht, verständlich zu reden. »Und da stahl sie … Sie stahl …« »Ja, um Himmels willen«, sagte ich, »klar, es ist schlimm für sie, aber Tausende von Leuten klauen beim Einkaufen. Also warum dieses übertriebene Theater?« »Du hörst ja nicht zu«, schrie Sarah. »Warum hörst du nicht zu?« »Ich –« »Sie hat ein Baby gestohlen.«
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2 Wir fuhren nach Norwich. Sarah hatte recht gehabt. Der Grund für unsere Reise gefiel mir nicht. Ich fühlte einen heftigen Widerwillen, in eine stark emotional geladene Situation hineingezogen zu werden, in der wahrscheinlich nichts Konstruktives zu unternehmen war. Meine freundschaftlichen Gefühle für Peter und Donna waren längst nicht stark genug. Für Peter vielleicht. Für Donna bestimmt nicht. Trotzdem, als ich an die ungeheuren Kräfte dachte, die auf dieses arme Mädchen eingewirkt haben mußten, um sie zu einer solchen Tat zu treiben, kam mir der Gedanke, daß vielleicht das unsichtbare Universum nicht bei der Art von Elektromagnetismus aufhörte, die ich unterrichtete. Jede lebende Zelle erzeugte schließlich elektrische Ladungen: besonders Gehirnzellen. Wenn ich Kindesraub einer elektrischen Entladung gleichsetzte, konnte ich eher damit froh werden. Sarah saß den größten Teil des Weges schweigend neben mir, erholte sich, stellte sich um und bereitete sich vor. Nur einmal sagte sie, was uns beiden durch den Kopf gegangen sein muß. »Das hätte ich sein können.« »Nein«, sagte ich. »Du weißt ja nicht … wie es ist.« Es gab keine Antwort. Wenn man nicht weiblich und unfruchtbar geboren war, konnte man es unmöglich wissen. Ich hatte über die Jahre um die fünfhundert Mal in einem Ton, der von Qual bis Gehässigkeit variierte, zu hören bekommen, daß ich nicht wußte, wie es war, und 22
darauf gab es jetzt so wenig eine Antwort wie beim ersten Mal. Der lang sich hinziehende Maiabend machte das Fahren leichter als gewöhnlich, obwohl die Strecke von London nach Norden im Freitagabend-Exodus immer eine schauderhafte Reise war. An ihrem fernen, fernen Ende lag das hübsche neue, kastenähnliche Haus mit seinen großen gesichtslosen, storeverhängten Fenstern und dem gepflegten Rasenrechteck. Ein schmuckes Haus in einer Straße von anderen, ziemlich ähnlichen. Ein stolzer Beweis, daß Peter eine bestimmte Gehaltsstufe erreicht hatte und noch künftige Verbesserung anstrebte. Ein Ort und eine Lebensweise, die ich verstand und harmlos fand: wo William erstickt wäre. Der Aufruhr hinter den nichtssagenden Netzgardinen war in mancher Hinsicht ziemlich wie erwartet und in anderer viel schlimmer. Das üblicherweise peinlich saubere Innere war in großer Unordnung, mit ungespülten Bechern und Tassen, die auf sämtlichen Ablagen feuchte Ringe bildeten, und umhergestreuten Kleidungsstücken und Papieren. Die Spur, die, wie mir klarwerden sollte, vom Kommen und Gehen der Obrigkeit während der letzten beiden Tage zurückgeblieben war. Peter begrüßte uns mit hohlen Augen und der gedämpften Stimme eines trauernden Angehörigen, und wahrscheinlich war das Geschehene für ihn und Donna buchstäblich schmerzlicher als ein Todesfall. Donna selbst saß stumm zusammengekauert am einen Ende des großen grünen Sofas in ihrem Wohnzimmer und machte keinen Versuch, auf Sarah einzugehen, als sie zu ihr eilte und in beinah rasender Zuneigung die Arme um sie schlang. 23
Peter sagte hilflos: »Sie will nicht reden … oder essen.« »Oder zur Toilette gehen?« »Was?« Sarah warf mir einen wütend vorwurfsvollen Blick zu, aber ich sagte mild: »Wenn sie zur Toilette geht, wenn sie das Bedürfnis verspürt, ist das doch ein gutes Zeichen. Es ist so eine normale Handlung.« »Ja schon«, sagte Peter matt. »Sie geht.« »In Ordnung.« Sarah fand offensichtlich, dies sei wieder mal ein Klassebeispiel für das, was sie meine allgemeine Herzlosigkeit nannte, doch ich hatte nur beruhigen wollen. Ich fragte Peter, was sich eigentlich abgespielt hätte, und da er es mir vor Donna selbst nicht sagen wollte, zogen wir uns in die Küche zurück. Auch dort hatten die Polizei, die Mediziner und Gerichtsbeamten und Sozialarbeiter ihren Kaffee gemacht und das Geschirr stehen lassen. Peter schien das Durcheinander nicht zu sehen, das in früheren Zeiten ihn und Donna in Putzwut versetzt hätte. Wir nahmen am Tisch Platz, während die letzten Spuren des Tages in der Dämmerung untergingen, und in diesem sanften Licht offenbarte er vorsichtig die Greuel. Am vorhergehenden Morgen, sagte er, hatte Donna das Baby aus seinem Kinderwagen genommen und war mit ihm in ihrem Wagen davongefahren. Sie war über siebzig Meilen nordöstlich zur Küste gefahren und hatte an irgendeiner Stelle den Wagen mit dem Baby dann stehen lassen, um über den Strand davonzuwandern. Der Wagen und das Baby waren innerhalb von Stunden aufgespürt und gefunden worden, und Donna selbst hatte man entdeckt, wie sie in strömendem Regen im Sand saß, 24
sprachlos und wie betäubt. Die Polizei hatte sie festgenommen, sie für eine Nacht in der Zelle aufs Revier gebracht und sie am nächsten Morgen einem Polizeirichter vorgeführt. Das Gericht hatte psychiatrische Gutachten verlangt, ein Datum für eine Vernehmung in einer Woche festgesetzt und trotz Protesten von Seiten der Mutter des Babys Donna freigelassen. Alle hatten Peter versichert, Donna würde nur Bewährung bekommen, dennoch schauderte es ihn vor der beängstigenden Zukunft mit ihren Schmähungen durch die Presse und die Nachbarschaft. Nach einer Pause, im Gedanken an Donnas tranceähnlichen Zustand, sagte ich: »Du hast Sarah erzählt, sie sei dem Selbstmord nah.« Er nickte unglücklich. »Heute nachmittag wollte ich sie aufwärmen. Um sie ins Bett zu stecken. Ich ließ ihr ein Bad ein.« Es dauerte einige Zeit, bis er weiterreden konnte. Es schien, daß der Selbstmordversuch tödlich ernst gewesen war: Er hatte sie im letzten Augenblick aufgehalten, als sie sich mit dem eingeschalteten Fön ins Wasser stürzen wollte. »Und sie hatte noch alle Kleider an«, sagte er. Mir schien, was Donna dringend brauchte, war eine erfahrene und kontinuierliche Pflege in einer komfortablen Privatklinik, und das alles würde sie wahrscheinlich nicht bekommen. »Komm mit raus auf einen Drink«, sagte ich. »Aber ich kann doch nicht.« Er zitterte die ganze Zeit kaum merklich, als würden seine Grundfesten von einem fernen Erdbeben erschüttert. »Donna ist bei Sarah gut aufgehoben.« »Aber sie könnte versuchen …« 25
»Sarah kümmert sich schon um sie.« »Aber ich kann nicht unter …« »Nein«, sagte ich. »Wir kaufen eine Flasche.« Ich kaufte einen Scotch mit zwei Gläsern bei einem philosophischen Gastwirt unmittelbar vor Lokalschluß, und wir saßen in meinem Wagen und tranken in einer ruhigen, baumgesäumten Straße drei Meilen weg von Peters Wohnung. Sterne und Straßenlaternen zwischen dem dunklen Laub. »Was sollen wir machen?« sagte er verzweifelt. »Die Zeit wird vergehen.« »Wir kommen nie darüber weg. Wie könnten wir? Es ist verflucht … unmöglich.« Er schluckte beim letzten Wort und fing an zu weinen wie ein Junge. Ein Ausbruch unerträglichen, angestauten, halb zornigen Kummers. Ich nahm ihm das wackelnde Glas aus der Hand. Saß da und wartete, gab vage mitfühlende Laute von mir und fragte mich, was bei Gott ich getan hätte, wenn es wirklich Sarah gewesen wäre. »Und daß es jetzt passiert«, sagte er schließlich, während er nach einem Taschentuch kramte, um sich zu schneuzen. »Ausgerechnet jetzt.« »Ähm … wie?« sagte ich. Er schniefte krampfartig und wischte sich die Wangen. »Es tut mir leid.« »Nicht doch.« Er seufzte. »Du bist immer so ruhig.« »Mir ist so etwas noch nicht passiert.« »Ich bin in der Klemme«, sagte er. »Das wird auch wieder besser.« »Nein, ich meine abgesehen von Donna. Ich wußte 26
vorher schon nicht … was ich tun sollte … und jetzt, danach, kann ich nicht mal mehr denken.« »Was für eine Klemme? Finanziell?« »Nein. Also, nicht direkt.« Er zögerte unsicher, brauchte einen Anstoß. »Was denn?« Ich gab ihm sein Glas zurück. Er betrachtete es abwesend, dann trank er den größten Teil des Inhalts auf einen Schluck. »Es macht dir nichts, wenn ich dir was aufbürde?« »Selbstverständlich nicht.« Er war ein paar Jahre jünger als ich, im selben Alter wie Donna und Sarah, und alle drei, so kam es mir mitunter vor, sahen mich nicht nur als Williams älteren Bruder, sondern auch als ihren. Jedenfalls war es für mich genauso natürlich wie für Peter, daß er mir seine Sorgen erzählte. Er war mittelgroß und dünn und hatte sich neuerdings einen längeren Schnurrbart zugelegt, der ihm nicht die überwältigende Macho-Erscheinung verlieh, die er vielleicht angestrebt hatte. Er sah immer noch wie ein harmloser, kompetenter Durchschnittsmensch aus, der werktags durch die Gegend fuhr, um kleinen Firmen sein technisches Computerwissen zu verkaufen, und sonntags an seinem Boot herumbastelte. Er tupfte sich wieder die Augen ab und atmete einige Minuten in tiefen, beruhigenden Zügen durch. »Ich bin in etwas hineingeraten, was ich mir lieber aus der Welt wünschen würde«, sagte er. »In was denn?« »Es fing mehr oder weniger als ein Scherz an.« Er trank den letzten Fingerbreit Whisky, und ich beugte mich rüber und schenkte ihm nach. »Da war so ein Kerl. Ungefähr 27
unser Alter. Er war von Newmarket heraufgekommen, und in der Kneipe, wo du den Whisky gekauft hast, kamen wir ins Gespräch. Er meinte, es wäre doch toll, wenn man Rennergebnisse aus dem Computer kriegen könnte. Und wir haben beide gelacht.« Ein Schweigen trat ein. »Wußte er, daß du mit Computern arbeitest?« sagte ich. »Ich hatte es ihm erzählt. Du weißt, wie das so geht.« »Und wie ging es weiter?« »Eine Woche drauf bekam ich einen Brief. Von diesem Typ. Weiß nicht, woher er meine Adresse hatte. Aus der Kneipe vermutlich. Der Barmann weiß, wo ich wohne.« Er nahm einen Schluck aus dem Glas und war eine Zeitlang still, dann redete er weiter. »Der Brief war eine Anfrage, ob ich gern jemand helfen würde, der ein Computerprogramm zur Ausrechnung von Pferden schrieb. Also dachte ich, warum nicht? Bei Pferderennen wird der Ausgleich, das Handikap, immer von Computern errechnet, und der Brief klang ziemlich amtlich.« »Aber er war’s nicht?« Er schüttelte den Kopf. »Ein kleines Privatunterfangen. Aber ich dachte immer noch, warum nicht? Jeder hat das Recht, sein eigenes Programm auszuarbeiten. So was wie richtig gibt es beim Ausgleichen nicht, außer wenn die Pferde genau entsprechend dem Gewicht einlaufen, das der Computer ihnen gegeben hat, aber das tun sie nie.« »Du weißt ja eine Menge darüber.« »Hab’ ich gelernt in den letzten Wochen.« Der Gedanke munterte ihn nicht auf. »Ich merkte nicht mal, daß ich Donna vernachlässigte, aber sie sagt, ich habe seit einer Ewigkeit kaum mit ihr geredet.« Seine Kehle zog sich zusammen, und er schluckte hörbar. »Vielleicht, wenn ich 28
nicht so beschäftigt gewesen wäre …« »Hör auf mit den Schuldgefühlen«, sagte ich. »Erzähl weiter von den Handikaps.« Nach einer Weile war er imstande dazu. »Er gab mir seitenweise Papierkram. Ganze Bündel. Alles handgeschrieben mit einer tierischen Klaue. Er wollte es zu Programmen geordnet haben, die jeder Depp durch einen Computer laufen lassen könnte.« Er zögerte. »Du kennst dich ja aus mit den Computern.« »Eher mit Mikrochips als mit Programmieren, so gut also auch wieder nicht.« »Bei den meisten Leuten ist es eher umgekehrt.« »Mag sein«, sagte ich. »Jedenfalls, ich habe die Programme gemacht. Eine ganze Menge. Es stellte sich raus, daß sie alle ziemlich die gleiche Chose waren. Besonders schwierig waren sie eigentlich nicht, als ich erst mal dahinterkam, was die ganzen Notizen zu bedeuten hatten. Die zu verstehen war am schwersten. Also jedenfalls, ich schrieb die Programme und wurde bar dafür bezahlt.« Er hielt inne und rutschte unruhig auf seinem Sitz herum, finster und stirnrunzelnd. »Was ist denn nun faul?« fragte ich. »Na, ich erklärte, es sei am besten, wenn ich die Programme ein paarmal auf dem Computer laufen ließe, den er benutzen wollte, weil Computer doch oft so unterschiedlich sind, und obwohl er mir gesagt hatte, welchen Computertyp er nehmen würde und ich Spielraum gelassen hatte, weiß man doch nie genau, ob keine Mucken drin sind, bis man die Sache tatsächlich auf dem richtigen Maschinentyp ausprobiert. Aber er ließ mich nicht. Ich sagte ihm, er wäre unvernünftig, und er 29
sagte mir, ich solle mich gefälligst um meine Angelegenheiten kümmern. Also pfiff ich grad auf ihn und dachte, wenn er so blöd sein wollte, wäre das sein Bier. Und dann tauchten die zwei anderen Männer auf.« »Was für zwei andere?« »Ich weiß es nicht. Sie feixten nur, als ich nach ihren Namen fragte. Sie wollten die kompletten, von mir geschriebenen Pferdeprogramme haben. Ich sagte, die hätte ich schon abgegeben. Sie sagten, sie hätten nichts mit dem zu tun, der für den Auftrag bezahlt hatte, ich sollte ihnen aber die Programme trotzdem geben.« »Und hast du?« »Na, schon – in gewisser Weise.« »Aber Peter –«, sagte ich. Er unterbrach. »Ja, ich weiß, aber sie waren so verdammt zum Fürchten. Sie kamen vorgestern – es scheint Jahre her –, vorgestern abend. Donna war spazieren gegangen. Es war noch hell. Gegen acht Uhr, möchte ich meinen. Sie geht oft spazieren …« Er verlor sich wieder, und ich stubste mit der Flasche sein Glas an. »Was?« sagte er. »Ach nein, nichts mehr, danke. Jedenfalls, sie kamen, und sie waren so arrogant, und sie sagten, es würde mir leid tun, wenn ich ihnen nicht die Programme gäbe. Sie meinten, Donna sei doch ein hübsches kleines Frauchen, und ich wolle doch sicher, daß sie das auch bliebe.« Er schluckte. »Ich hätte nie geglaubt … Ich meine, so etwas passiert doch nicht …« Es schien allerdings passiert zu sein. »Tja«, sagte er, wieder gefaßter, »ich gab denen zwar alles, was ich im Haus hatte, aber eigentlich waren das nur sozusagen erste Entwürfe. Ziemlich grob. Ich hatte drei oder vier Versuchsprogramme von Hand vorgeschrieben, 30
wie ich’s oft mache. Ich weiß, daß eine Menge Leute mit Schreibmaschinen arbeiten oder sogar direkt mit einem Computer, aber ich komme besser mit Stift und Radiergummi klar; was ich ihnen also gab, sah zwar gut aus, besonders wenn man keine Ahnung hat vom Programmieren, was auf sie wohl zutraf, aber viel war es nicht, wenn man es so nahm, wie es dastand. Und ich hatte keine Dateinamen dazugeschrieben, keine REMS oder dergleichen – die wüßten also, selbst wenn sie die Mucken aus den Programmen entfernten, noch nicht, worauf sie sich beziehen.« Befreite man die Fakten vom Jargon, dann hatte er offenbar im vollen Bewußtsein dessen, was er tat, möglicherweise gefährlichen Männern einen Haufen Schrott angedreht. »Ich verstehe«, sagte ich langsam, »was du mit der Klemme meintest.« »Ich hatte beschlossen, mit Donna für ein paar Tage wegzufahren, nur um in Sicherheit zu sein. Das wollte ich ihr gestern, wenn ich von der Arbeit heimkam, als nette Überraschung eröffnen, und dann erschien die Polizei bei mir im Büro und sagte, sie hätte ein Kind … ein Kind … O Gott, wie konnte sie bloß?« Ich schraubte den Verschluß auf die Flasche und sah auf meine Uhr. »Es geht auf Mitternacht«, sagte ich. »Wir kehren besser mal um.« »Wahrscheinlich.« Ich zögerte mit der Hand am Zündschlüssel. »Hast du der Polizei nichts von deinen zwei unliebsamen Besuchern gesagt?« fragte ich. »Nein. Ich meine, wie konnte ich denn? Sie gingen rein, raus, rein, raus bei mir, auch eine Polizistin, aber es drehte sich alles um Donna. Sie hätten nicht zugehört, und 31
ohnehin …« »Ohnehin was?« Er zuckte unbehaglich die Achseln. »Ich habe Bargeld dafür gekriegt. Ziemlich viel. Das will ich nicht versteuern. Wenn ich’s der Polizei sagte … tja, ich wäre mehr oder weniger dazu gezwungen.« »Es könnte besser sein«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf. »Es würde ein teurer Spaß für mich, die Polizei zu informieren, und was hätte ich davon? Sie würden sich aufschreiben, was ich sage, und abwarten, bis Donna eins auf die Nase kriegt, ehe sie etwas unternehmen. Ich meine, die können ja nicht rumlaufen und Tag und Nacht jeden beschützen, der irgendwie bedroht worden ist, oder? Und was Schutz für Donna angeht – na weißt du, die waren nicht sehr nett zu ihr. Die meisten waren richtig eklig. Die haben sich ihren Tee gekocht und über ihren Kopf weg geredet, als ob sie ein Holzklotz wäre. Man könnte meinen, sie hätte dem Baby die Augen ausgestochen, so wie die sie behandelt haben.« Es schien mir nicht unbegreiflich, daß die Behördensympathie vornehmlich auf der Seite der aufbrachten Mutter des Babys gewesen war, aber ich sprach es nicht aus. »Dann wäre es vielleicht schon am besten«, sagte ich, »wenn du mit Donna ein bißchen wegfahren würdest, gleich nach der Vernehmung. Kannst du Urlaub bekommen?« Er nickte. »Aber was sie eigentlich braucht, ist angemessene psychiatrische Pflege. Womöglich eine kurze Zeit in einer Nervenklinik.« »Nein«, sagte er. 32
»Heutzutage ist die Erfolgsrate bei seelischen Erkrankungen hoch«, sagte ich. »Moderne Medikamente und Hormone und all das.« »Aber sie ist doch nicht –« Er brach ab. Die alten Tabus starben schwer. »Das Gehirn gehört zum Körper«, sagte ich. »Es ist nicht davon getrennt. Und manchmal versagt es, genau wie alles andere. Wie die Leber. Oder die Nieren. Du würdest nicht zögern, wenn es ihre Nieren wären.« Er schüttelte jedoch den Kopf, und ich bestand nicht auf meiner Ansicht. Entscheiden mußte jeder selbst. Ich ließ den Wagen an und kutschierte uns zurück zum Haus, und Peter sagte, als wir auf die kurze Betonzufahrt bogen, Donna fühle sich auf ihrem Boot immer ungewöhnlich wohl und er werde mit ihr eine Bootsreise machen. Das Wochenende schleppte sich dahin. Ich versuchte hin und wieder verstohlen, die unerbittlichen Schulhefte zu korrigieren, doch das Telefon klingelte mehr oder minder in einem fort, und da die Gesprächsannahme die häusliche Aufgabe zu sein schien, für die ich am besten geeignet war, rutschte ich in routinemäßiges Geplapper ab. Verwandte, Freunde, Presse, Amtsvertreter, Gschaftlhuber, Spinner und Stänkerer, ich sprach mit ihnen allen. Sarah kümmerte sich mit extremer Zärtlichkeit und Hingabe um Donna und wurde zunächst mit abwesendem Lächeln und allmählich dann gedämpfter Rede dafür belohnt. Danach kamen hysterische Tränen, ein Haarekämmen, ein zaghaftes Essen, einen Kleiderwechsel und ein Mehr an kränklichem Verhalten. Wenn Peter mit Donna redete, geschah es in einer unglücklichen Mischung aus Liebe, Schuld und Vorwurf, 33
und er fand so manche Gelegenheit, in den Garten zu flüchten. Am Sonntagmorgen fuhr er mit seinem Wagen fort, als die Lokale öffneten, und kam zu spät zum Mittagessen wieder, und am Sonntagnachmittag sagte ich mit heimlicher Erleichterung, daß ich jetzt wegen der Schule am Montag wieder nach Hause müsse. »Ich bleibe hier«, sagte Sarah. »Donna braucht mich. Ich rufe meinen Chef an und erkläre es ihm. Er schuldet mir sowieso noch eine Woche Urlaub.« Donna ließ das inzwischen ultrahilflose Lächeln sehen, das sie in den vergangenen zwei Tagen kultiviert hatte, und Peter nickte eifrig Zustimmung. »Okay«, sagte ich langsam, »aber paß auf.« »Auf was?« sagte Sarah. Ich warf einen Blick zu Peter, der aufgeregt den Kopf schüttelte. Trotzdem schien es angebracht, einfache Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. »Laß Donna nicht alleine weggehen«, sagte ich. Donna wurde rot vor Zorn und Sarah war sofort verärgert, und ich sagte verlegen: »Ich wollte nicht … ich meinte, um sie zu schützen … vor Leuten, die vielleicht gehässig zu ihr sein wollen.« Sarah sah den Sinn darin und beruhigte sich, und wenig später war ich abfahrbereit. Ich sagte ihnen im Haus auf Wiedersehen, da anscheinend ständig Leute auf der Straße waren, die mit gierendem Blick auf die Fenster starrten, und noch in letzter Minute drückte Peter mir drei Kassetten in die Hand, die ich im Wagen spielen könnte, falls ich mich auf dem Nachhauseweg langweilen sollte. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf: The King and I, Oklahoma und West Side Story. Kaum der letzte Schrei, aber ich dankte 34
ihm trotzdem, küßte Sarah, um den Schein zu wahren, küßte Donna ebenso und hob mich in beklagenswert aufstrebender Laune hinweg. Erst auf dem letzten Drittel des Heimwegs, als ich Oklahoma zur Untermalung ausprobierte, stellte ich fest, daß, was Peter mir gegeben hatte, gar keine Musik war, sondern ganz etwas anderes. Anstatt Oh What a Beautiful Morning bekam ich ein laut vibrierendes, verkratztes Winseln, durchsetzt mit kurzen Einlagen von eintönigem reinem Winseln. Achselzuckend spulte ich das Band ein Stück vor und probierte es noch mal. Das gleiche. Ich holte das Band raus, drehte es um und probierte es wieder. Das gleiche. Probierte The King and I und West Side Story. Alles das gleiche. Ich wußte von Anfang an, was es für ein Geräusch war. Man vergaß es nicht, wenn man es einmal kannte. Das verkratzte Winseln entstand durch zwei Töne, die in sehr rascher Folge wechselten, so daß das Ohr kaum den höheren vom tieferen unterscheiden konnte. Und das reine Winseln wies schlicht auf eine Zwischenpause hin, wo nichts geschah. Auf Oklahoma dauerten die Zweitonspannen recht typisch etwa zwischen zehn Sekunden und drei Minuten. Ich hörte das Geräusch, das ein Computer erzeugt, wenn seine Programme auf normaler Bandkassette aufgenommen werden. Kassetten waren praktisch und viel in Gebrauch, besonders bei kleineren Computern. Man konnte einen ganzen Berg verschiedener Programme auf Tonbandkassetten speichern und einfach das jeweils Nötige herausgreifen und es benutzen: Aber die Kassetten 35
waren trotzdem nach wie vor ganz gewöhnliche Kassetten, und wenn man das Band ganz normal auf einem Kassettenrecorder spielte, wie ich es getan hatte, hörte man das vibrierende Winseln. Peter hatte mir drei 60-Minuten-Bänder von Computerprogrammen gegeben: Und es war nicht so besonders schwer zu erraten, um was für Programme es sich handelte. Ich fragte mich, warum er sie mir so hintenherum gegeben hatte. Ich fragte mich, genau gesagt, warum er sie mir überhaupt gegeben hatte. Na, wenn schon. Ich warf die Bänder und ihre irreführenden Hüllen ins Handschuhfach und drehte statt dessen das Radio an. Die Schule am Montag war eine Erholung nach den Treibhausemotionen in Norfolk, und die Probleme von Louisa-der-Technikerin erschienen wie Mottenflügelschlag neben denen von Donna. Am Montagabend, während ich mir im Fernsehen ein Programm meiner Wahl anschaute und mit den Füßen auf dem Couchtisch Cornflakes und Sahne aß, rief Peter an. »Wie geht’s Donna?« sagte ich. »Ich weiß nicht, was ohne Sarah aus ihr würde.« »Und dir?« »Ach, ganz gut. Hör zu, Jonathan, hast du mal eins von den Bändern gespielt?« »Ein bißchen von allen«, sagte ich. »Aha. Tja, ich nehme an, du weißt, was drauf ist?« »Deine Pferde-Handikap-Programme?« »Ja … ähm … Hebst du die vorläufig mal auf für mich?« Er gab mir keine Gelegenheit zu antworten und hastete weiter: »Wir hoffen nämlich, daß wir direkt nach der 36
Vernehmung am Freitag aufs Boot können. Na ja, man muß schon annehmen, daß Donna Bewährung kriegt, selbst die fiesesten Beamten hier meinten, in einem solchen Fall wäre das so, aber es ist klar, daß sie furchtbar durcheinander sein wird, wenn sie vor Gericht muß und alles, deshalb fahren wir weg, so schnell es geht, und mir gefiel der Gedanke nicht, diese Kassetten im Büro herumliegen zu lassen, da ’waren die nämlich, also bin ich gestern morgen rüber und hab’ sie geholt, damit ich sie dir geben konnte. Ich meine, das war nicht voll durchdacht. Ich hätte sie auf die Bank bringen können oder sonstwohin. Im Grunde wollte ich wohl, daß die Kassetten schnurstracks aus meinem Leben verschwinden, damit ich den beiden Rohlingen, wenn sie wiederkämen und nach den Programmen fragten, sagen könnte, ich hätte sie nicht und sie müßten sie sich von der Person holen, für die ich sie gemacht habe.« Mir kam nicht zum ersten Mal der Gedanke, daß Peter für einen Computer-Programmierer nicht gerade ein umwerfend logischer Denker war, aber vielleicht blockierten die Umstände die Leitungen. »Hast du von diesen Männern wieder gehört?« fragte ich. »Gott sei Dank nicht.« »Sie sind wahrscheinlich noch nicht dahintergekommen.« »Herzlichen Dank«, sagte er bitter. »Ich hebe die Bänder sicher auf«, sagte ich. »So lange du willst.« »Wahrscheinlich passiert gar nichts mehr. Schließlich habe ich nichts Ungesetzliches getan. Oder etwas auch nur entfernt Verkehrtes.« Das ›Wenn-wir-nicht-auf-das-Monster-gucken-geht-es37
weg‹-Syndrom, dachte ich. Aber vielleicht hatte er recht. »Warum hast du mir nicht gesagt, was du mir gibst?« erkundigte ich mich. »Weshalb die King and I-Maskerade und das alles?« »Wie?« Seine Stimme klang beinahe verwirrt und klärte sich dann begreifend. »Ach, das war nur, weil ihr alle am Mittagstisch saßt, als ich aus dem Büro heimkam, und ich fand keine Gelegenheit, dich ohne die Mädchen zu erwischen, und ich wollte es nicht groß vor ihnen erklären müssen, da steckte ich sie einfach in die Hüllen, um sie dir zu geben.« Ein ganz leises Unbehagen flackerte in mir auf, doch ich unterdrückte es. Peters Welt, seit Donna das Baby entführte, war schwerlich eine Welt des gesunden Menschenverstandes und des Normalverhaltens gewesen. Er hatte sich alles in allem recht gut gehalten für jemand, der aus allen Richtungen gleichzeitig bedrängt wurde, und über das Wochenende hatte ich zunehmend Achtung vor ihm empfunden, ganz abgesehen von Sympathie. »Wenn du diese Programme laufen lassen willst«, sagte er, »brauchst du einen Grantley Computer.« »Ich glaube nicht …«, setzte ich an. »Sie wären vielleicht für William amüsant. Er ist doch verrückt auf Rennen, oder?« »Allerdings.« »Ich habe soviel Zeit darauf verwandt. Ich wüßte wirklich gerne, wie sie sich in der Praxis bewähren. Ich meine, von jemand, der sich mit Pferden auskennt.« »In Ordnung«, sagte ich. Aber Grantley Computer wurden nicht gratis in der Landschaft verstreut, und William hatte seine Prüfungen vor sich, und die Aussicht, die Programme tatsächlich zu benutzen, lag, wie es schien, 38
in weiter Ferne. »Ich wollte, du wärst noch hier«, sagte er. »Dauernd die Telefonanrufe, die ziehen mich wirklich runter. Kamen bei dir auch so gemeine Giftspuckereien, so haßerfüllte Tiraden gegen Donna, als du die Gespräche angenommen hast?« »Ja, mehrere.« »Aber die kennen sie doch überhaupt nicht.« »Sie sind gestört. Hör einfach nicht hin.« »Was hast du ihnen geantwortet?« »Ich riet ihnen, mit ihren Problemen zum Arzt zu gehen.« Eine etwas peinliche Stille entstand, dann sagte er aufbrausend: »Ich wünschte bei Gott, Donna wäre zum Arzt gegangen.« Ein Schlucken. »Ich hab’ nicht einmal gewußt … Ich meine, ich wußte zwar, daß sie Kinder gewollt hatte, aber ich dachte, na, wir konnten eben nicht und damit basta. Ich hätte nicht im Traum … Ich meine, sie ist doch so still immer und würde keiner Fliege was zuleide tun. Man hat ihr nie angemerkt … Wir haben uns ziemlich gern, weißt du. Oder wenigstens dachte ich …« »Peter, hör auf damit.« »Ja …« Eine Pause. »Natürlich, du hast recht. Aber es ist schwer, an irgend etwas anderes zu denken.« Wir unterhielten uns noch ein wenig, zogen aber nur dieselben alten Kreise, und als wir uns trennten, tat ich es mit dem Gefühl, ich hätte irgendwie mehr für ihn tun können, als ich getan hatte. Zwei Abende später fuhr er zum Fluß hinunter, um an seinem zwei Liegeplätze einnehmenden Kabinenkreuzer zu arbeiten, füllte die Tanks mit Wasser und Treibstoff, 39
installierte neue Kochgasflaschen und prüfte nach, ob alles in betriebsfähigem Zustand war für seine Reise mit Donna. Er hatte mir vorher gesagt, daß er befürchtete, die Schiffsbatterie ging zu Ende, und wenn er keine neue besorgte, würden sie sie bei Nacht mit dem Licht ganz aufbrauchen und am Morgen den Motor nicht mehr starten können. Es sei schon mal passiert, sagte er. Er wollte prüfen, ob die Batterie noch genug Kraft hätte. Sie hatte. Als er den ersten Funken zündete, flog die hintere Hälfte des Bootes in die Luft.
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3 Sarah teilte es mir mit. Sarah am Telefon mit der nüchternen, überkontrollierten Stimme der Erschöpfung. »Sie glauben, es war Gas oder Benzindampf. Sie wissen es noch nicht.« »Peter …« »Er ist tot«, sagte sie. »Es waren Leute in der Nähe. Sie sahen, wie er sich bewegte … die Kleider in Flammen. Er fiel über die Seite ins Wasser … aber als sie ihn rausholten …« Ein jähes Schweigen, dann langsam: »Wir waren nicht da. Gott sei Dank waren Donna und ich nicht da.« Ich war zittrig, und mir war ein wenig übel. »Möchtest du, daß ich komme?« sagte ich. »Nein. Wieviel Uhr ist es?« »Elf.« Ich hatte mich schon ausgezogen, um ins Bett zu gehen. »Donna schläft. Beruhigungstropfen.« »Und wie … wie geht es ihr?« »Gott, was glaubst du denn?« Sarah sprach selten so: ein wahrer Maßstab für die Schrecklichkeit der Lage. »Und Freitag«, sagte sie, »– übermorgen – soll sie vor Gericht.« »Man wird freundlich zu ihr sein.« »Ein Anruf kam schon gerade eben, von irgendeiner ekelhaften Frau, die mir sagte, es geschähe ihr recht.« »Ich komme doch besser«, sagte ich. »Kannst du doch nicht. Die Schule. Nein, mach dir keine Gedanken. Ich komm’ schon klar. Der Arzt sagte zumindest, er würde Donna noch mehrere Tage stark unter Beruhigungsmittel setzen.« 41
»Dann gib mir Bescheid, wenn ich helfen kann.« »Ja«, sagte sie. »Gute Nacht jetzt. Ich leg’ mich schlafen. Morgen gibt es allerhand zu tun. Gute Nacht.« Ich lag lange im Bett wach und dachte an Peter und die Ungerechtigkeit des Todes: Und am Morgen fuhr ich in die Schule, wo er mir den ganzen Tag immer wieder durch den Kopf ging. Auf der Heimfahrt sah ich, daß seine Kassetten noch im Handschuhfach auf einem Haufen lagen. Ich steckte die Bänder in ihre Hüllen, als der Wagen in der Garage stand, ließ sie in meine Jackentasche gleiten und brachte meine übliche Ladung Hefte ins Haus. Das Telefon klingelte fast sofort, doch es war nicht Sarah, wie ich als erstes dachte, sondern William. »Hast du meinen Scheck abgeschickt?« sagte er. »Teufel, hab’ ich vergessen.« Ich erklärte ihm wieso, und er räumte ein, daß man unter solchen Umständen über das Versäumnis hinwegsehen könne. »Ich schreib’ ihn jetzt gleich und schick’ ihn direkt auf die Farm.« »Okay. Also, das mit Peter tut mir leid. Er schien ein netter Kerl zu sein, als wir uns damals trafen.« »Ja.« Ich erzählte William von den Computerbändern und daß Peter seine Meinung dazu gewünscht hatte. »Bißchen spät jetzt.« »Aber interessant finden könntest du sie trotzdem.« »Mhm«, sagte er ohne große Begeisterung. »Wahrscheinlich irgend so ’n spinnertes Wettsystem. Ein Computer ist hier irgendwo in der Matheabteilung. Ich werd’ fragen, was für ’ne Sorte. Und hör mal, wie fändest du es, wenn ich nicht studieren würde?« »Schlimm.« 42
»Mhm. Hab’ ich befürchtet. Trotzdem, arbeite dran, großer Bruder. Da war dieses Jahr eine Masse Gerede, von wegen Berufswahl, aber ich schätze, es ist der Beruf, der dich wählt. Ich werde Jockey. Ich kann nicht anders.« Wir sagten Wiedersehen, und ich legte den Hörer auf mit dem Gedanken, daß es wenig Zweck hatte, jemand umstimmen zu wollen, der schon mit fünfzehn spürte, daß ein Beruf ihn am Schlafittchen hatte. Er war schlank und leicht: über die Pubertät hinaus, aber noch immer körperlich ein Junge, dem das Heranreifen zu männlicher Statur gerade bevorstand. Vielleicht, dachte ich hoffnungsvoll, brachte ihn die Natur auf meine einsachtzig und brach ihm das Herz. Sarah rief fast unmittelbar darauf an, in knappem Ton mit ihrer Zahnarzthelferinnenstimme. Der Schock war vorbei und die Erschöpfung auch. Sie sprach rechthaberisch-gereizt zu mir, der Nachhall, nahm ich an, eines sehr schwierigen Tages. »Anscheinend hätte Peter vorsichtiger sein müssen«, sagte sie. »Jedem, der ein Boot mit Innenbordmotor hat, wird eingeschärft, er soll erst starten, wenn er sicher ist, daß kein Gas, Benzin oder Benzindampf sich im Kielraum angesammelt hat. Jedes Jahr gehen Boote in die Luft. Er muß es gewußt haben. Man sollte nicht meinen, daß er so dumm gewesen ist.« Ich sagte mild: »Er hatte eine ganze Menge anderes im Kopf.« »Das stimmt wohl, aber trotzdem meinen alle …« Wenn man einen Menschen für seinen Tod selbst verantwortlich machen konnte, dachte ich, dann brauchte man weniger Mitgefühl aufzubringen. »Es war seine eigene Schuld …« Ich hörte förmlich die scharfe Stimme 43
meiner Tante beim Tod ihres Nachbarn … »Er hätte mit dieser Erkältung nicht rausgehen sollen.« »Die Versicherungsgesellschaft«, sagte ich zu Sarah, »versucht vielleicht, sich um die volle Summe zu drücken, die sie zahlen müßte.« »Bitte?« »Die Schuld dem Opfer zuschieben ist ein altbekannter Trick.« »Aber er hätte besser aufpassen sollen.« »Ja, schon. Aber Donna zuliebe würde ich das nicht herumerzählen.« Hierauf ein Schweigen, das als ärgerlich rüberkam. Dann sagte sie: »Von Donna soll ich dir ausrichten … Es wäre ihr lieber, wenn du dieses Wochenende nicht herkämst. Sie meint, sie könnte alles besser ertragen, wenn sie mit mir allem ist.« »Und du bist auch der Meinung?« »Tja, offen gesagt schon.« »Ist okay.« »Es macht dir nichts?« Sie hörte sich überrascht an. »Nein. Bestimmt hat sie recht. Sie zählt auf dich.« Und zu sehr, dachte ich. »Ist sie noch betäubt?« »Sediert.« Das Wort war eine Rüge. »Sediert also?« »Ja, natürlich.« »Und bei der Vernehmung morgen?« »Tranquilizer«, sagte Sarah entschieden. »Danach Schlaftabletten.« »Viel Glück damit.« »Ja«, sagte sie. 44
Sie legte beinahe brüsk auf und ließ mich mit der Erleichterung zurück, um eine unerfreuliche Aufgabe herumgekommen zu sein. Früher, nahm ich an, hätten wir fest zusammengehalten, um Donna zu helfen. Am Anfang wären unsere Reaktionen echter gewesen, weniger kompliziert, weniger verzerrt von unseren eigenen Depressionen. Ich trauerte um die alten Zeiten, aber ganz zweifellos war ich froh, daß ich das Wochenende nicht mit meiner Frau verbringen würde. Am Freitag fuhr ich immer noch mit den Computerbändern in der Jackentasche zur Schule, und da ich fand, daß ich Peter wenigstens einen Versuch schuldig war, sie laufen zu lassen, wandte ich mich an einen der Mathematiklehrer im Lehrerzimmer. Ted Pitts, kurzsichtig, klardenkend, zweisprachig in Englisch und Algebra. »Dieser Computer, den Sie da in irgendeinem Kabuff in der Matheabteilung versteckt haben«, sagte ich, »das ist doch Ihr besonderer Schützling, nicht?« »Wir benützen ihn alle. Wir unterrichten die Kinder damit.« »Aber Sie sind der, der auf ihm spielt wie Beethoven, während der Rest noch mit Eßstäbchen übt?« Er genoß das Kompliment auf seine ruhige Art. »Na ja«, sagte er. »Können Sie mir sagen, was für ein Fabrikat es ist?« fragte ich. »Klar. Ein Harris.« »Und ein Band«, sagte ich mutlos, »das auf einem Grantley aufgenommen wurde, läßt sich damit wohl nicht abspielen?« »Kommt darauf an«, meinte er. Er war ernst und 45
nachdenklich, sechsundzwanzig, arm an Humor, aber voll von guten Absichten und Idealen sportlicher Fairneß. Er litt gewaltig unter dem abscheulichen Sauertopf Jenkins, der das Mathematikressort leitete und seinen Mitarbeitern die ehrfurchtsvolle Haltung abrang, die er von mir nie bekam. »Der Harris hat keine eingebaute Sprache«, sagte Ted. »Sie können ihm jede Computersprache eingeben, Fortran, Cobol, Algol, Z-80, Basic, was Ihnen beliebt, der Harris nimmt es. Dann können Sie jedes in diesen Sprachen abgefaßte Programm spielen. Aber der Grantley ist eine kleinere Sache, der wird fix und fertig vorprogrammiert mit seiner eigenen Form von Basic geliefert. Wenn Sie ein Grantley-Basic-Sprachband hätten, könnten Sie das dem Memory unseres Harris eingeben, und dann auch Grantley-Basic-Programme darauf laufen lassen.« Er unterbrach sich. »Äh, ist das klar?« »Ungefähr.« Ich überlegte. »Wäre es sehr schwierig, an ein Grantley-Basic-Sprachband ranzukommen?« »Weiß nicht. Am besten schreiben Sie direkt an die Fabrik. Die könnten Ihnen eins schicken. Und vielleicht auch nicht.« »Wieso vielleicht auch nicht?« Er zuckte die Achseln. »Die könnten der Meinung sein, da müßten Sie erst mal einen ihrer Computer kaufen.« »Um Himmels willen«, sagte ich. »Doch, doch. Diese Computerfirmen, wissen Sie, sind sehr komisch. Die kleineren Bürocomputer verwenden durchweg Basic, weil es die einfachste Sprache ist und zudem eine der besten. Aber die Herstellerfirmen bauen alle ihre eigenen Varianten ein, damit man, wenn man seine Programme mit ihren Maschinen aufnimmt, sie nicht auf irgendeiner anderen laufen lassen kann. So bleiben Sie 46
ihnen in Zukunft treu, wenn Sie nämlich das Fabrikat wechseln, werden alle Ihre Bänder unbrauchbar.« »Was für ein Schmarren«, sagte ich. Er nickte. »Profite siegen über die Vernunft.« »Wie der Ärger mit den ganzen Videorecordern, die nicht zusammenpassen.« »Genau. Aber man sollte denken, die Computerfirmen hätten mehr Verstand. Die halten vielleicht gewaltsam ihre Kunden fest, aber sonst überreden sie todsicher niemanden zum Wechsel.« »Danke jedenfalls«, sagte ich. »Gern geschehen.« Er zögerte. »Haben Sie tatsächlich ein Band, das Sie benutzen wollen?« »Ja.« Ich kramte in meiner Tasche und brachte Oklahoma zum Vorschein. »Das hier und noch zwei. Lassen Sie sich von der Verpackung nicht irreführen, da ist schon Computerrauschen drauf.« »Hat sie ein Fachmann oder ein Amateur aufgenommen?« »Ein Fachmann. Ist das von Bedeutung?« »Manchmal.« Ich erklärte, daß Peter die Bänder für einen Kunden angefertigt hatte, der einen Grantley besaß, und setzte hinzu, daß der Kunde Peter nicht erlaubt hatte, die Programme auf der Maschine, für die sie bestimmt waren, auszuprobieren. »Ach ja?« Ted Pitts schien sich über die Nachricht zu freuen. »In dem Fall – wenn er gewissenhaft und vorsichtig war – wäre es immerhin möglich, daß er die Maschinensprache selbst auf das erste Band mit aufgenommen hat. AFIS können sehr empfindlich sein. Er mag sich gedacht haben, 47
es wäre sicherer.« »Anschluß verpaßt«, warf ich ein. »Was sind AFIS?« »Computer.« Er grinste. »Steht für Absolut Folgsamer Idiot.« »Sie haben einen Witz gemacht«, sagte ich ungläubig. »Stammt allerdings nicht von mir.« »Also, weshalb wäre das sicherer?« Er sah mich vorwurfsvoll an. »Anscheinend wissen Sie nicht so viel über Computer, wie ich dachte.« »Vor zehn Jahren wußte ich mal mehr. Ich hab’s vergessen, und sie haben sich verändert.« »Es wäre sicherer«, sagte er geduldig, »weil Ihr Freund, wenn der Kunde anriefe und sich beschwerte, das Programm würde nicht laufen, ihm sagen könnte, wie man den Computer mit einer brandneuen Version seiner eigenen Sprache füttert, und damit würden die Programme Ihres Freundes dann laufen. Wohlgemerkt«, fügte er weise hinzu, »Sie würden eine Unmenge Computerraum mit dem Eingeben der Sprache verbrauchen. Für die eigentlichen Programme hätten Sie vielleicht nicht mehr viel Platz.« Er betrachtete meinen Gesichtsausdruck und seufzte. »Na schön«, sagte er. »Nehmen wir an, ein Grantley hat einen 32K-Speicher, was eine ziemlich normale Größe ist. Das bedeutet, er hat rund neunundvierzigtausend Speicherzellen, wovon wahrscheinlich die ersten siebzehntausend gebraucht werden, um die richtigen Schaltungen für die Funktion des Basic herzustellen. Dann hätten Sie noch etwa zweiunddreißigtausend Zellen zum Einstanzen Ihrer Programme übrig. Stimmt’s?« Ich nickte. »Ich nehme Ihr Wort dafür.« »Aber wenn Sie die Sprache erst noch mal ganz 48
reingeben, nimmt das weitere siebzehntausend Speicherzellen in Anspruch, womit Ihnen weniger als fünfzehntausend Speicherzellen für die Arbeit bleiben. Und da Sie eine Speicherzelle brauchen für jeden Buchstaben, den Sie tippen, und eine für jede Zahl und eine für jeden Zwischenraum, jedes Komma und jede Klammer, würden Sie nicht sehr viel machen können, ehe sämtliche Speicherzellen besetzt und das ganze Ding voll wäre. Und in dem Moment würde der Computer aufhören zu arbeiten.« Er lächelte. »So viele Leute meinen, Computer wären bodenlose Abgründe. Eher sind sie wie Futtersäcke. Wenn sie einmal voll sind, muß man das Futter erst ausschütten, bevor man sie wieder von neuem füllen kann.« »Bringen Sie das den Kindern bei?« Er sah etwas verwirrt drein. »Äh … ja. Dieselben Worte. Man verfällt in einen Trott.« Die Klingel rief zur Anmeldung für den Nachmittag, und er streckte die Hand nach der Kassette aus. »Ich könnte die mal probieren«, sagte er, »wenn Sie wollen.« »Ja. Wenn es keine fürchterliche Mühe ist.« Er schüttelte ermutigend den Kopf, und ich gab ihm The King and I und West Side Story obendrein. »Kann nicht versprechen, daß es heute geht«, sagte er. »Ich habe den ganzen Nachmittag Unterricht, und um vier will Jenkins mich sprechen.« Er schnitt ein Gesicht. »Jenkins. Warum können wir nicht Ralph zu ihm sagen und basta?« »Es eilt nicht«, sagte ich, »mit den Kassetten.« Donna erhielt ihre Bewährung. Sarah berichtete, wieder in müdem Ton, selbst die Mutter des Babys sei wegen Peters Tod ruhiger geworden, 49
und Donna hätte im Gerichtssaal leise geweint, und sogar einige der Polizeibeamten seien väterlich zu ihr gewesen. »Wie geht es ihr?« sagte ich. »Elend. Es wird ihr, glaube ich, gerade erst mal klar, daß Peter wirklich fort ist.« Ihre Stimme klang schwesterlich, mütterlich, schützend. »Keine Selbstmordgedanken?« fragte ich. »Ich glaube nicht, aber der arme Schatz ist so verwundbar. So schnell verletzt. Sie sagt, es ist als ob man ohne Haut lebt.« »Hast du genug Geld?« sagte ich. »Das sieht dir ähnlich!« rief sie aus. »Immer so verdammt praktisch.« »Aber …« »Ich habe meine Scheckkarte.« Ich hatte mich nicht zu lange in Donnas Gefühlen suhlen wollen, und es hatte sie gereizt. Wir wußten es beide. Wir kannten einander zu gut. »Laß dich nicht schlauchen von ihr«, sagte ich. Ihre Stimme kam unverändert scharf zurück. »Es geht mir bestens. Von Schlauchen kann keine Rede sein. Ich bleibe noch mindestens eine oder zwei Wochen hier. Bis nach der gerichtlichen Untersuchung und der Beerdigung. Und auch länger, wenn Donna mich braucht. Ich habe es meinem Chef erklärt, und er hat Verständnis.« Ich fragte mich flüchtig, ob mir das Alleinleben nicht zu gut gefallen könnte, wenn sie einen ganzen Monat weg blieb. Ich sagte: »Zur Beerdigung wäre ich gerne dort.« »Ja. Ja, ich laß es dich wissen.« Ich bekam ein schroffes und unzartes »gute Nacht«, aber andererseits war meines für sie auch nicht liebevoll 50
gewesen. Wir würden nicht weitermachen können, dachte ich, wenn jemals die Höflichkeit abbröckelte. Das Gebäude war seit langem unbewohnt, und nur ein kleiner Schritt trennte uns vom Abriß. Am Samstag packte ich die beiden Mauser und die Enfield Nr. 4 ins Auto, fuhr nach Bisley und ließ über den Schießständen von Surrey eine Menge Kugeln los. Während der letzten Monate waren meine Besuche dort seltener geworden, teils natürlich, weil es im Winter kein Vergnügen war, den Bauch auf die kalte Erde zu pressen, vor allem aber, weil meine leidenschaftliche Liebe zu dem Sport nachzulassen schien. Ich war seit mehreren Jahren Mitglied der Nationalmannschaft des britischen Schützenverbandes, trug aber jetzt keine Abzeichen mehr, um es zu beweisen. Ich saß nach dem Schießen still in der Bar und hörte zu, wie andere ihre Leistungen analysierten und laut ihre Erregung loswurden. Ich sprach nicht gern von meinen eigenen Ergebnissen, weder vergangenen noch aktuellen. Vor ein paar Jahren hatte ich den Seitensprung gewagt, mich zur Olympiade zu melden, was ein Wettkampf für einzelne war und sich von meiner normalen Beschäftigung ziemlich unterschied. Sogar die Gewehre waren anders (nur Kleinkaliber damals) und alle Distanzen gleich (300 Meter). Es war eine von den Schweizern beherrschte Welt, aber ich hatte dann doch gut und mit Glück geschossen und für einen Briten einen hohen Platz im Feld erreicht, und es war fantastisch gewesen. Ein einmaliger Tag, aber er war zur Erinnerung verblaßt und nebelhaft geworden mit der Zeit. In der Nationalmannschaft, die hauptsächlich gegen die alten Commonwealthländer antrat und oft gewann, schoß 51
man mit 7.62-mm-Gewehren über unterschiedliche Distanzen – 300, 500, 6oo, 900 und 1000 Yards. Ich hatte immer eine enorme Freude an Präzision gehabt, am Abschätzen der Windgeschwindigkeit und Lufttemperatur, um die klimatischen Variablen genau richtig abzusehen. Aber jetzt verblaßte innerlich wie äußerlich der Sinn eines solchen Könnens. Die schwungvollen, eleganten Mauser, die ich schätzte, waren schon bald überholt. Nur Fernstreckenattentäter schienen heutzutage noch absolut präzise Gewehre zu brauchen, und sie benutzten Zielfernrohre, die für Sportschützen verboten und ein Greuel waren. Moderne Streitkräfte neigten dazu, Kugeln bedenkenlos zu verstreuen. Keines der Armeegewehre schoß vollkommen gerade, und außerdem war jeder Gewinn an effektiver Tötungskraft ein Verlust an Ästhetik. Der gegenwärtige Standard-Selbstlader mit seiner gasgetriebenen Ladung von zwanzig Schuß pro Magazin und seiner Fähigkeit zum Dauerfeuer war bereits eine unordentliche, knorrige Affäre, die der Leichtigkeit wegen zur Hälfte aus Plastik bestand. Am Horizont winkte ein Gewehr ohne Schaft, unzweideutig dazu konstruiert, wenn nötig aus Hüfthöhe abgefeuert zu werden, ohne echten Anspruch auf genaues Ziel: ein Gewehr mit Infrarotvisier zum Nachtgebrauch, nichts als eckige Protuberanzen. Und jenseits von Kordit und Blei, was? Von Raketenwerfern abgefeuerte Neutronengeschosse, die ein einfallendes Panzerheer buchstäblich ausbrennen würden. Eine neue Art Batterie, die von Hand bediente Strahlengewehre ermöglichen würde. Das besondere Geschick des Scharfschützen geriet zum Sport, wie schon das Bogenschießen, wie der Schwertkampf, wie der Speer- und Hammerwurf; die Gebrauchswaffe des einen Zeitalters wurde zur olympischen Medaille des nächsten. 52
Ich schoß nicht sehr gut an diesem speziellen Nachmittag und fand hinterher wenig Geschmack an der Kameraderie im Klubhaus. Das Bild Peters, wie er in Flammen über die Seite seines Bootes taumelte und starb, ließ zu viele Dinge belanglos erscheinen. Ich wurde verpflichtet, im Juli beim Queen’s Prize und im August bei einem Wettkampf in Kanada zu schießen, und auf der Heimfahrt sinnierte ich, daß ich, wenn ich nicht ein bißchen mehr Übung einbrachte, mich mit Schande bedecken würde. Die Überseereisen ergaben sich in recht regelmäßigen Abständen, und wegen der Schwierigkeiten, die es mit sich brachte, Schußwaffen von einem Land in ein anderes zu befördern, hatte ich mir einen Tragekasten nach eigenem Entwurf gebaut. Ungefähr einszwanzig lang und nach außen wie ein gewöhnlicher übergroßer Koffer anzusehen, war er innen mit Aluminium verkleidet und in gepolsterte, stoßdämpfende Fächer unterteilt. Er enthielt alles, was ich für Wettkämpfe brauchte, nicht nur drei Gewehre, sondern alles sonstige Zubehör: Schießbuch, Ohrenschützer, Beobachtungsfernrohr, Schießriemen, Schießhandschuh, Waffenöl, Putzstock, Flanelläppchen, Reinigungsbürste, Werg zum Ölen des Laufs, Munition, dicker wärmender Jersey, zwei dünne olivgrüne Overalls zum Schutz und eine zusätzliche Jacke aus Segeltuch und Leder. Im Gegensatz zu vielen Leuten transportierte ich die Gewehre normalerweise fertig montiert und einsatzbereit, seitdem ich einmal wegen stockenden Verkehrs, eines nicht zusammengesetzten Gewehrs und vor Hast zitternden Fingern meinen Start verpaßt hatte. Eigentlich hätte ich sie nicht schußbereit lassen sollen, aber oft tat ich es. Nur wenn der Spezialgewehrkoffer auf Flugzeuge kam, beugte ich mich streng den Vorschriften, und dann wurde er in einem heißen Papierkrieg umkämpft, belagert und hermetisch abgeriegelt; und vielleicht war er 53
mir auch, weil er nicht nach dem aussah, was er war, nie abhanden gekommen. Sarah, die anfangs begeistert gewesen war und oft mit mir nach Bisley fuhr, hatte mit der Zeit das Peng Peng sattbekommen wie die meisten Ehefrauen. Sie war es auch müde geworden, daß ich soviel Geld und Zeit dafür hergab, und die Olympiade hatte sie nur zum Teil besänftigt. Alle Stellen, um die ich mich bewarb, so hatte sie mürrisch betont, hielten uns südlich von London fest, in der Nähe der Schießstände. »Aber wenn ich Ski laufen könnte«, hatte ich gesagt, »wäre es doch albern, in die Tropen zu ziehen.« In einem hatte sie allerdings recht. Schießen war nicht billig, und ohne die Unterstützung von indirekten Sponsoren hätte ich nicht so viel tun können, wie ich tat. Die Sponsoren erwarteten dafür, daß ich nicht nur an internationalen Konkurrenzen teilnahm, sondern trainiert und fit an ihnen teilnahm: Bedingungen, die ich bis in die jüngste Zeit gerne erfüllt hatte. Ich wurde alt, dachte ich. In drei Monaten würde ich vierunddreißig sein. Ich fuhr ohne Eile heim und betrat das ruhige Haus, das nicht mehr von stummen Spannungen pulsierte. Lud meinen Koffer auf dem Couchtisch im Wohnzimmer ab, da niemand mir nahelegte, ihn gleich nach oben zu schaffen. Schnippte das Schloß auf und dachte, wie angenehm es sei, zur Abwechslung die Prozedur des Reinigens und Ölens einmal ohne schmallippige Mißbilligung vor dem Fernseher erledigen zu können. Beschloß, das Saubermachen aufzuschieben, bis ich entschieden hätte, was ich zu Abend essen würde, und goß mir einen erfrischenden Scotch ein. Entschied mich für eine tiefgekühlte Pizza. Kippte den Scotch. 54
In dem Moment klingelte es an der Haustür, und ich ging hin. Zwei Männer, dunkelhaarig, mit olivfarbener Haut, standen vor der Tür: Und einer von ihnen hatte eine Pistole in der Hand. Ich blickte mit einer Art verspäteter Reaktion darauf, nicht sofort schaltend, weil ich den ganzen Tag friedliche Schußwaffen gesehen hatte. Ich brauchte mindestens eine volle Sekunde, um zu begreifen, daß diese hier in durchaus unfreundlicher Weise auf mein Zwerchfell gerichtet war. Eine 22er Walther, dachte ich: als ob es eine Rolle spielte. Mein Mund, darf ich wohl sagen, klappte auf und zu. Auf so etwas war man in einer Vorstadt mit geringer Verbrechensrate nicht gefaßt. »Zurück«, sagte er. »Was wollen Sie?« »Rein mit Ihnen.« Er stieß mit dem langen Schalldämpfer der Automatik nach mir, und da ich sicherlich die Wegblaskraft von Handfeuerwaffen respektierte, gehorchte ich ihm. Er und sein Freund rückten durch die Haustür ein und schlossen sie hinter sich. »Die Hände hoch«, sagte der Bewaffnete. Ich hob sie. Er warf einen Blick zur offenen Tür des Wohnzimmers und bewegte ruckartig den Kopf. »Gehen Sie da rein.« Ich ging langsam, hielt an, drehte mich um und sagte erneut: »Was wollen Sie?« »Abwarten«, sagte er. Er blickte zu seinem Genossen und ruckte wieder mit dem Kopf, diesmal nach den 55
Fenstern. Der Genosse schaltete das Licht an, dann ging er rüber und schloß die Vorhänge. Es war noch nicht dunkel draußen. Ein Strahl Abendsonne drang durch, wo die Vorhänge sich trafen. Ich dachte: Warum hab’ ich nicht schreckliche Angst? Sie sahen so zielbewußt, so entschlossen aus. Trotzdem dachte ich immer noch, sie hätten sich auf irgendeine verrückte Art vertan und könnten sich verziehen, wenn man nett mit ihnen redete. Sie wirkten jünger als ich, obwohl es schwer war, das genau zu beurteilen. Italiener vielleicht, südländisch. Sie hatten die lange gerade Nase, das schmale Kinn, die schwarzbraunen Augen. Die Art Gesicht, das im Alter Fett ansetzte, einen Schnurrbart bekam und Pate wurde. Dieser letzte Gedanke schoß mir aus dem Nichts durch den Kopf und schien genauso unsinnig wie eine Pistole. »Was wollen Sie?« sagte ich nochmals. »Drei Computerbänder.« Mein Mund zog zweifellos noch einmal die Fischnummer ab. Ich hörte mir den ausgesprochen englischen, schludrigen Akzent an und dachte bei mir, daß er zu dem Körper, von dem er kam, gar nicht schlechter hätte passen können. »Was … was für Computerbänder?« sagte ich und mimte Verwirrung. »Keinen Heckmeck machen. Wir wissen, daß Sie sie haben. Ihre Frau hat es gesagt.« Jesses, dachte ich. Diesmal brauchte ich die Verwirrung nicht zu spielen. Er bewegte ein Stück die Pistole. »Holen Sie sie«, sagte er. Seine Augen waren kalt. Seine Miene zeigte, daß er mich verachtete. Ich sagte mit plötzlich trockenem Mund: 56
»Ist mir unverständlich, wieso meine Frau gesagt … wieso sie dachte …« »Die Zeit läuft«, sagte er scharf. »Aber –« »The King and I und West Side Story«, sagte er ungeduldig. »und Okla-Scheiß-homa.« »Ich habe sie nicht.« »Das ist dann aber Pech, Kumpel«, sagte er, und augenblicklich war eine zusätzliche Dimension der Bedrohung an ihm. Davor hatte er im zweiten Gang herumgespielt, zweifellos in dem Glauben, eine Pistole wäre genug. Aber jetzt merkte ich unangenehm, daß ich es nicht mit jemand Sicherem und Vernünftigem zu tun hatte. Wenn das die beiden waren, die Peter besucht hatten, dann verstand ich, was er mit zum Fürchten gemeint hatte. Da war etwas Unbeständiges, ein Fehlen normaler Hemmungen, ein starker Eindruck von Rücksichtslosigkeit. Das Bremsen-ade-Syndrom, das keine gesetzlichen Abschreckungsmittel abschreckten. Ich hatte es zuweilen bei Jungen, die ich unterrichtete, gespürt, aber noch nie in solchem Ausmaß. »Sie haben was, das Ihnen nicht zusteht«, sagte er. »Und das geben Sie uns.« Er bewegte die Mündung der Pistole ein oder zwei Fingerbreit seitlich und drückte ab. Ich hörte die Kugel dicht an meinem Ohr vorbeipfeifen. Hinter mir zerschellte krachend Glas. Eine von Sarahs Erinnerungen an Venedig, zärtlich geliebt. »Das war eine Vase«, sagte er. »Ihr Fernseher ist das nächste. Anschließend Sie. Knöchel und so. Müssen Sie Ihr Leben lang humpeln. Die Bänder sind das nicht wert.« Er hatte recht. Das Dumme war, daß ich bezweifelte, ob 57
er mir glauben würde, daß ich sie wirklich nicht hatte. Er schwenkte die Pistole zum Fernseher herum. »Okay«, sagte ich. Er grinste etwas höhnisch. »Also her damit.« Nach meiner Kapitulation entspannte er sich zufrieden, und ebenso sein gehorsamer und sprachloser Genosse, der ein Stück hinter ihm stand. Ich ging die paar Schritte zum Couchtisch und ließ die noch erhobenen Hände sinken. »Sie sind hier im Koffer«, sagte ich. »Holen Sie sie raus.« Ich hob den Deckel des Koffers leicht an, zog den Jersey heraus und ließ ihn auf den Boden fallen. »Tempo«, sagte er. Er war nicht im mindesten darauf vorbereitet, sich einem Gewehr gegenüberzusehen; nicht in diesem Zimmer, in dieser Umgebung, in den Händen des Mannes, für den er mich hielt. Mit völligem Unglauben blickte er auf die lange, tödliche Form und hörte das doppelte Klicken, als ich durchlud. Die Möglichkeit bestand, daß ihm aufginge, daß ich eine solche Waffe niemals mit einer Patrone im Schnabel transportieren würde, aber andererseits, wenn er selbst mit einem geladenen Schießeisen herumlief, kam er vielleicht nicht darauf. »Lassen Sie die Pistole fallen«, sagte ich. »Ein Schuß auf mich, und ich erschieße Sie beide, das sollten Sie mir besser glauben. Ich bin ein Meisterschütze.« Auch fürs Angeben gibt es vielleicht eine Zeit, und die war jetzt. Er zauderte. Der Gehilfe sah erschrocken aus. Das Gewehr war eine ungemein erschreckende Waffe. Der Schalldämpfer richtete sich langsam nach unten, und die Automatik schlug dumpf auf dem Teppich auf. Der Ärger 58
war spürbar. »Kicken Sie sie rüber«, sagte ich. »Und zwar sachte.« Er versetzte der Waffe einen wütenden Stoß mit dem Fuß. Sie war nicht nahe genug, daß ich sie aufheben konnte, für ihn aber auch zu weit. »Gut«, sagte ich. »Jetzt hören Sie mir zu. Ich habe diese Kassetten nicht. Ich habe sie an jemand verliehen, weil ich dachte, es wäre Musik. Wie, zum Teufel, sollte ich wissen, daß es Computerbänder waren? Wenn Sie sie haben wollen, müssen Sie schon warten, bis ich wieder drankomme. Die Person, der ich sie geliehen habe, ist übers Wochenende weggefahren, und ich habe keine Möglichkeit festzustellen wohin. Sie können sie ohne das ganze Theater kriegen, aber Sie müssen warten. Geben Sie mir eine Adresse, und ich schicke sie Ihnen. Ich möchte Sie, offen gesagt, los sein. Die Bänder und was Sie damit wollen, das ist mir völlig schnuppe. Ich möchte nur nicht, daß Sie mich belästigen … oder meine Frau. Verstanden?« »Ja.« »Wohin soll ich sie schicken?« Seine Augen wurden schmal. »Und es kostet Sie zwei Piepen«, sagte ich, »für Porto und Verpackung.« Das sachliche Detail schien sie zu überzeugen. Mit einer verärgerten Geste nahm er zwei Pfund aus der Tasche und ließ sie vor seinen Füßen fallen. »Hauptpost Cambridge«, sagte er. »Postlagernd.« »Auf welchen Namen?« Nach einem Zögern sagte er: »Derry.« Ich nickte. »Gut«, sagte ich. Trotzdem schade, daß er meinen eigenen Namen genannt hatte. Alles andere wäre vielleicht aufschlußreich gewesen. »Sie können jetzt 59
gehen.« Beide Augenpaare blickten nieder zu der Automatik auf dem Teppich. »Warten Sie auf der Straße«, sagte ich. »Ich werfe sie Ihnen durchs Fenster. Und kommen Sie nicht zurück.« Sie schlichen zur Tür, immer ein Auge auf dem schlanken stählernen Lauf, der ihnen folgte, und ich trat hinter ihnen auf den Flur. Ich kam in den Genuß zweier bösartig frustrierter Mienen, ehe sie die Haustür öffneten, hinausgingen und sie wieder hinter sich schlossen. Zurück im Wohnzimmer legte ich das Gewehr aufs Sofa und hob die Walther auf, um sie aufzuklappen und ihr Magazin in einen Aschenbecher zu leeren. Dann schraubte ich den Schalldämpfer vom Lauf ab und öffnete das Fenster. Die beiden Männer standen auf dem Gehsteig, starrten unheilvoll über die sechs Meter Gras. Ich warf die Pistole so, daß sie in einem Rosenstrauch nicht weit von ihren Füßen landete. Als der Gehilfe sie herausgeangelt und sich an den Dornen gekratzt hatte, warf ich den Schalldämpfer an dieselbe Stelle. Der Revolverheld sah, daß er keine Kugeln hatte, und feuerte einen verbalen Abschiedsschuß. »Schicken Sie die Bänder, sonst kommen wir wieder.« »Sie kriegen sie nächste Woche. Und bleiben Sie mir aus dem Weg.« Ich schloß entschieden das Fenster und beobachtete, wie sie fortgingen, jede Linie ihrer Körper starr vor Enttäuschung. Was in aller Welt, rätselte ich, hatte Peter bloß auf diese Kassetten programmiert.
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4 »Wer«, sagte ich zu Sarah, »hat dich nach Computerbändern gefragt?« »Was?« Sie klang abwesend, hundert Meilen entfernt auf diesem Planeten, aber in einer anderen Welt. »Irgend jemand«, sagte ich geduldig, »muß dich nach Bändern gefragt haben.« »Ach, du meinst Kassetten?« »Ja, genau.« Ich suchte jeden Grimm aus meiner Stimme herauszuhalten, nur im Plauderton zu reden. »Aber du kannst doch seinen Brief nicht schon gekriegt haben«, sagte sie verwundert. »Er kam doch heute morgen erst.« »Wer war er?« sagte ich. »Ah!« rief sie aus. »Er hat wohl angerufen. Er könnte unsere Nummer von der Auskunft gekriegt haben.« »Sarah …« »Wer es war? Ich habe keine Ahnung. Irgend jemand, der mit Peters Arbeit zu tun hatte.« »Was für ein Typ?« fragte ich. »Wie meinst du? Ein Mann eben. Mittleres Alter, grauhaarig, ein bißchen dick.« Sarah selbst betrachtete wie viele von Natur aus schlanke Leute Beleibtheit als eine moralische Schwäche. »Sag mir, was er gesagt hat«, drängte ich. »Wenn du darauf bestehst. Er sagte, es täte ihm ja so leid wegen Peter. Er sagte, Peter hätte ein Projekt mit heimgenommen, an dem er für seine Firma arbeitete, vielleicht in Form von handgeschriebenen Notizen, 61
vielleicht in Form von Kassetten. Er sagte, die Firma wäre dankbar, wenn sie das alles zurückbekäme, denn sie müßten die Aufgabe jemand anderem neu zuteilen.« Das klang wesentlich kultivierter als Angstmacher, die Pistolen schwenkten. »Und dann?« half ich nach. »Tja, Donna meinte, sie wüßte nicht, was Peter alles im Haus hätte, obwohl sie natürlich schon wüßte, daß er an irgend etwas gearbeitet hätte. Jedenfalls schaute sie in einen Haufen Schränke und Schubladen, und sie fand diese drei losen Kassetten ohne ihre Hülle zwischen dem Gin und dem Cinzano nebeneinander im Barschrank. Langweile ich dich?« Sie hörte sich übertrieben höflich an und als wäre Langweilen ihre Absicht gewesen, aber ich antwortete inbrünstig: »Nein, tust du nicht. Bitte sprich weiter.« Das Achselzucken reiste beinahe sichtbar durch die Leitung. »Donna gab sie dem Mann. Er war entzückt, bis er sie sich genau anschaute. Da meinte er, es seien Tonbänder von Musicals, nicht das, was er wollte, und würden wir bitte noch mal nachsehen.« »Und da fiel dir oder Donna ein –« »Mir«, bestätigte sie. »Wir sahen ja beide, wie Peter sie dir gab, aber er muß sie durcheinandergebracht haben. Er hat dir aus Versehen die Kassetten seiner Firma gegeben.« Peters Firma … »Hat der Mann dir seinen Namen genannt?« fragte ich. »Ja«, sagte Sarah. »Er stellte sich vor, als er kam. Aber du weißt, wie das ist. Er hat ihn ein bißchen genuschelt, und ich hab’ ihn vergessen. Warum? Hat er ihn dir denn nicht gesagt, als er anrief?« 62
»Keine Visitenkarte?« »Sag mir bloß«, antwortete sie gereizt, »du hast dir nicht seine Adresse geben lassen. Wart einen Moment, ich frag’ Donna.« Sie legte den Hörer auf den Tisch, und ich konnte hören, wie sie Donna rief. Ich fragte mich, wieso ich ihr nichts von der Art meiner Besucher erzählt hatte, und kam zu dem Schluß, es sei wahrscheinlich deswegen, weil sie sonst versucht hätte, mich zu überreden, zur Polizei zu gehen. Das wollte ich keinesfalls, denn sie würden es wohl sehr unfreundlich aufnehmen, daß ich an einem solchen Ort mit einem Gewehr herumgefuchtelt hatte. Ich konnte ihnen nicht beweisen, daß es ungeladen gewesen war, und es fiel nicht unter die Kategorie der Dinge, die ein Hausherr vernünftigerweise benutzen konnte, um seinen Besitz zu verteidigen. Aus einer Mauser 7.62 mm abgefeuerte Kugeln zerschmetterten nicht auf zehn Schritte Vasen und gruben sich in den Putz – sie bohrten sich geradewegs durch die Mauer selbst und brachten Leute um, die draußen ihre Hunde spazierenführten. Waffenscheine konnten schneller entzogen werden als ausgestellt. »Jonathan?« sagte Sarah, wieder am Apparat. »Ja.« Sie las die volle Adresse von Peters Firma in Norwich vor und setzte die Telefonnummer hinzu. »Ist das alles?« sagte sie. »Außer … euch geht es beiden noch gut?« »Mir schon, danke. Donna ist sehr gedrückt. Aber ich packe es.« Wir sagten unser übliches auf Wiedersehen: nahezu steif, ohne Wärme, tödlich höflich. 63
Die Pflicht führte mich am nächsten Tag wieder nach Bisley: Pflicht und Rastlosigkeit und furchtbare Aussichten auf der Box. Ich schoß besser und dachte weniger an Peter, und als das Licht schwach wurde, fuhr ich heim und korrigierte die immer wiederkehrenden Schulhefte: Und am Montag sagte mir Ted Pitts, er sei zu meinen Computerbändern zwar noch nicht gekommen, wenn ich aber Lust hätte, nach vier Uhr noch zu bleiben, könnten wir beide runter in den Computerraum gehn und mal sehen, was es da zu sehen gab. Als ich zu ihm stieß, war er bereits in dem kleinen Nebenzimmer zugange, das mit seinen matt cremefarbenen Wänden und seinem blankgekratzten Boden das Flair hatte, jedermanns armer Verwandter zu sein. Eine einzige Lampe hing ohne Schirm von der Decke, und die beiden Holzstühle stammten aus arg mitgenommenen Schulbeständen. Zwei nicht klassifizierbare Tische nahmen den größten Teil der Bodenfläche ein, und auf ihnen standen die wenig anregend wirkenden Maschinen, die ein kleines Vermögen gekostet hatten. Ich fragte Ted freundlich, wieso er sich mit einem so engen, deprimierenden Quartier abfände. Er sah mich zerstreut an, in Gedanken bei seiner Aufgabe. »Sie wissen, wie es ist. Sie müssen die Jungens einzeln an dem Baby unterrichten, um gute Ergebnisse zu bekommen. Klassenzimmer gibt es nicht genug. Nur das hier ist verfügbar. Es ist nicht so übel. Und ich achte sowieso nie drauf.« Ich konnte es glauben. Er war ein Wanderer, früher Mitglied im Jugendherbergsverband, ein bereitwilliger Freund ernster Entbehrungen. Er hockte sich auf die Kante 64
des harten Stuhls und wandte seinen eigenen computerähnlichen Verstand dem auf den Tischen zu. Es waren vier getrennte Geräte. Ein Kasten wie ein kleiner Fernseher mit einer Schreibmaschinentastatur, die unter dem Rand des Bildschirms hervorstand. Ein Kassettenrecorder. Ein großer, hoher, nichtssagender Kasten mit der schlichten Bezeichnung »Harris«, und etwas, das auf den ersten Blick aussah wie eine Schreibmaschine, genau besehen aber keine Tasten hatte. Alle vier waren durch schwarze Elektrokabel aneinander und jeweils an eine eigene Steckdose angeschlossen. Ted Pitts legte Oklahoma in den Kassettenrecorder ein und tippte CLOAD ›BASIC‹ auf dem Tastenfeld. CLOAD ›BASIC‹ erschien in kleinen weißen Großbuchstaben ganz oben auf der linken Seite des Fernsehschirms, und zwei Sternchen, von denen eins schnell blinkte, erschienen oben
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