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HISTORISCHE E INFÜHRUNGEN Herausgegeben von Andreas Gestrich Inge Marszolek Barbara Potthast Hedwig Röckelein Gerd Schwerhoff Beate Wagner-Hasel
Band
II
Jürgen
�artschukat /Olaf Stieglitz
»Es ist ein Junge!« Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit
edition diskord
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Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://www.dnb.ddb.de abrufbar.
© 2005 edition diskord, Tübingen www.edition-diskord.de Satz: psb, Berlin Druck: Stückle, Ettenheim ISBN 3-89295-760-6
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Inhalt 1 . Einleitung
7
2. Frauen- und Geschlechtergeschichte
13
3 . »Men's Studies«: Entwicklung, Schwerpunkte und Probleme
43
4. Theoretische Leitlinien für eine Geschichte der Männlichkeiten
67
5 . Männer und Männlichkeiten in der Historiografie: ein erster Überblick
94
6. Die vielen Facetten des »Broterwerbs«: Männer zwischen Familie und Arbeitsleben
105
7 . Von Brüdern, Kameraden und Staatsbürgern: Formen männlicher Sozialität
141
8. Geschichten männlicher Sexualitäten
1 73
9. Quellen
203
1 0. Bibliografie
23 5
1.
Einleitung
» Es ist ein Junge! «, ruft die Hebamme aus, als das Kind das Licht der Welt erblickt. Erfreut über die geglückte Geburt, teilt sie den erschöpften Eltern das Geschlecht des Neugeborenen mit, das sie durch einen raschen Blick festgestellt hat. Doch der Ausruf ist mehr als eine Feststellung. Denn er ordnet das neugeborene Kind einer bestimmten Gruppe von Menschen zu, und er ist zugleich eine An weisung: »Sei ein Junge! «, erfülle die entsprechenden Bedingungen und Erwartungen in größtmöglicher Vollkommenheit. Die Blicke der Freunde und Verwandten, die Geschenke, die Reaktionen auf ein Schreien des Kindes, die Hoffnungen für die Zukunft - das alles gehorcht dem »Wissen«, dass dieses Kind ein Junge ist. Spezifische Lebensumstände, Freuden und Enttäuschungen sind an den Ausruf der Hebamme gebunden, und zahlreiche weitere Definitionen und Zuschreibungen, Einteilungen und Kategorisierungen werden im Leben dieses Menschen folgen. Die Begrüßung auf der Welt durch den Ausruf: »es ist ein Junge«, oder auch die Eintragung im Ausweisdokument: »Geschlecht M«, sind nur scheinbar simple Feststellungen, und sie sind außerdem uneindeutig. Denn es ist mitnichten über alle Zeiten und Orte hin weg festgelegt, was man tun muss, um sich als (»echter«) Junge zu generieren, oder was es bedeutet, »männlich« zu sein. Die Anforde rungen variieren kulturell und in der Geschichte, sind etwa an das soziale Lebensumfeld gebunden, an Bildung, Alter, Region, Eth nizität und andere Strukturmerkmale. Fragen, die darauf abzielen, diese Anforderungen zu verstehen, deren Schnittmengen zu be stimmen und somit zu klären, wann denn ein Mann ein Mann ist, und wann ein Mann zu anderen Zeiten ein Mann war, haben seit einigen Jahren Konjunktur - und zwar in Populärkultur, Popmusik, Film und Fernsehen gleichermaßen wie in Zeitschriften und Jour nalen. Von »Amico« über »Men's Health« bis zur ZEIT widmen sie sich dem Mann als »unbekanntes Wesen«, um hier eine Formu lierung Oswald Kolles, des deutschen Sexualaufklärers der 1 960er und 1 9 70er Jahre, ins Spiel zu bringen. Weiterhin ist Männern und Männlichkeiten auch in den Sozial- und Kulturwissenschaf ten der letzten Jahre vermehrte Aufmerksamkeit widerfahren. Das Forschungsfeld ist so dynamisch und in zunehmendem Maße un überschaubar, dass es immer schwieriger wird, über die Inhalte =
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wie über theoretisch-methodische Fragen den Überblick zu be halten. Hier soll das vorliegende Buch Hilfestellungen bieten. Es setzt sich zum Ziel, auf verschiedenen Ebenen die Geschichte und Ge schichtsschreibung der Männlichkeiten so zu strukturieren, dass es erstens eine Orientierungshilfe für den Einstieg in das Feld bietet, zweitens den Stand der Forschung zusammenfasst und drittens An regungen zur Weiterarbeit formuliert. Viertens wären wir erfreut, wenn das Buch nicht zuletzt durch seinen Quellenteil auch für die Lehre hilfreich wäre. Nun ist die historische Literatur, die sich dem Thema Männ lichkeiten und Männer widmet, mittlerweile so vielfältig, dass ein Band, der das Feld von der Antike bis zur Gegenwart und über alle sechs Kontinente hinweg abzudecken versuchte, weder der Breite noch der Tiefe der Forschung gerecht werden könnte. Wir haben unsere Ausführungen daher in mehrfacher Hinsicht beschränkt, nämlich auf die Neuzeit sowie auf den deutschen und englischen Sprachraum. Hierdurch hoffen wir, sowohl einen Überblick als auch präzise Analysen bieten zu können. Durch den Akzent auf die deutsche Geschichte soll ein möglichst breites deutschsprachiges Publikum von Studierenden und Lehrenden angesprochen werden. Da die Forschung zur Geschichte der Männlichkeiten jedoch lange aus dem angloamerikanischen Raum vorangetrieben wurde, set zen wir einen weiteren Schwerpunkt in der US-amerikanischen Ge schichte. Ferner werden wir wegweisende Arbeiten zur britischen Geschichte einbeziehen. Letztlich lässt sich durch einen solcherart breiteren Zugriff die Vielfalt möglicher Männlichkeitsentwürfe und deren kulturelle Situiertheit noch deutlicher konturieren. Nichtsdestoweniger sollte das Buch auch denjenigen eine ge winnbringende Lektüre bieten, die sich mit zeitlichen, räumlichen oder kulturellen Bereichen der Geschichte befassen, die nicht im Zentrum unserer inhaltlichen Ausführungen stehen. Erstens liegt ein wesentlicher Akzent auf konzeptionellen und methodischen Aspekten. Zweitens zielt auch die Auseinandersetzung mit der kon kreten Forschung weniger darauf ab, historische Inhalte zu erarbei ten, als vielmehr Forschungsfragen aufzuwerfen und zu diskutieren, die über die deutsche bzw. angloamerikanische Geschichte hinaus weIsen. Gleichermaßen ist es unser Ziel, mit diesem Buch auch diejenigen Historikerinnen und Historiker anzusprechen, deren Interesse in8
nerhalb der Geschlechtergeschichte eher den Weiblichkeiten denn den Männlichkeiten gilt. Denn das vorliegende Buch plädiert mit Nachdruck dafür, Geschichten der Männlichkeit als mehrfach rela tionale Geschlechtergeschichten zu konzipieren und zu schreiben. Das bedeutet, dass sich ein spezifischer Männlichkeitsentwurf so wohl in Bezug zu anderen Männlichkeitsentwürfen als auch zu Weiblichkeiten konstituiert. Demnach werden wir auf den folgen den Seiten viele Texte und Forschungsfragen diskutieren, die eher einer breiter konzipierten Geschlechtergeschichte als einer eng ge führten »Männergeschichte« zuzuordnen sind. Aus der mehdach relationalen Perspektive erklärt sich auch, wa rum der Titel dieses Buches nicht » die Männer« akzentuiert, son dern eine » Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten« an kündigt. Es geht uns schlechterdings weniger um eine Geschichte von »Männern«, denn Geschichten von Männern sind seit Jahrhun derten massenhaft geschrieben worden. Es geht vielmehr um eine Geschichte von »Männlichkeiten«, also von Geschlechtsentwüden, die historisch-kulturell variabel sind, die in ihren Ausprägungen (mit)bestimmen, wer wie handelt und welchen Zugriff auf gesell schaftliche Ressourcen hat. Dabei sind männliche Attribute nicht notwendig an Männer gebunden, sondern sie können auch Frauen zu Eigen sein oder Institutionen charakterisieren. Sowohl die Ausführungen in den einzelnen Kapiteln als auch die Anlage des gesamten Buches orientieren sich an dieser Prämisse, Männlichkeitengeschichte als Teil einer relationalen Geschlechter geschichte zu schreiben. Die beiden ersten inhaltlichen Kapitel be trachten die gesellschaftspolitischen und akademischen Felder, aus denen die Geschichte der Männlichkeiten hergeleitet werden kann. Hier ist erstens die Frauen- und Geschlechtergeschichte zu nennen, die sich seit den 1 960er Jahren als ein wesentlicher Zweig der Histo rie herausgebildet hat. Wir werden in diesem Kapitel die Entwick lung der entsprechenden Forschungsfragen nachzeichnen, wobei wir diese zur Geschichte von Männern und Männlichkeiten in Bezug setzen werden. Als zweites Feld werden wir die interdisziplinäre Männedorschung darstellen. Die so genannten »Men's Studies« haben sich vornehmlich seit den 1970er Jahren in den unterschied lichsten Spielarten entwickelt und einige zentrale Anstöße für die Geschichte der Männlichkeiten gegeben. Das darauf folgende vierte Kapitel stellt gewissermaßen das » Herzstück« des Buches dar. Dort werden wir die konzeptionellen 9
Ausführungen der vorangehenden Kapitel bündeln und zudem Leit fragen formulieren, die sich aus der derzeitigen Forschung heraus kristallisieren lassen und uns für eine Geschichte der Männlich keiten zentral erscheinen. Wir werden dort vor allem Mechanismen und Bedeutung von Identitätskonzepten und Identitätsbildung, die mehrfache Relationalität von Geschlechtern, das Verhältnis von Dis kursen und Erfahrungen sowie die in der Forschung zu Männern und Männlichkeiten besonders prägnanten Konzepte der Krise und Hegemonie skizzieren. In diesem Kapitel werden wir auch An regungen geben, wie die Leitfragen in Historiografie umzusetzen sind und Forschungsdesideraten nachgekommen werden kann. In den Kapiteln fünf bis acht werden wir dann die entsprechende Historiografie vorstellen. Wie bereits erwähnt, ist die Forschung vielfältig, verstreut und seit einigen Jahren äußerst dynamisch. Wir haben uns bemüht, für einen Einführungsband wie diesen eine Syn these zu finden und einen möglichst breiten Überblick zu geben, und trotzdem an vielen Stellen auch in die Tiefe zu gehen. Dennoch bleibt es leider unmöglich, alle existierenden Untersuchungen zu er fassen und zu erwähnen, und dabei zugleich einen strukturierten Eindruck von der Forschungslage zu vermitteln. Auch wenn wir also auf den folgenden Seiten niemals sämtliche Literatur erwähnen, die zu einem bestimmten Thema verfügbar ist, sollte es den Leserin nen und Lesern unseres Buches doch möglich sein, mit Hilfe un serer Ausführungen zielgerichtet weiterzuarbeiten und sich die ge samte Forschung zu erschließen. Was werden diese einzelnen Forschungskapitel konkret behan deln? Zunächst wird das fünfte Kapitel in der gebotenen Kürze solche Arbeiten präsentieren, die als »Meilensteine« der bisherigen Forschung zu Männern und Männlichkeiten gelten können. Die drei nächsten Kapitel folgen in ihrer Einteilung Leitkonzepten, die uns für männliche I dentitätsbildungen und Lebenswelten in der Neuzeit zentral erscheinen. Im ersten ausführlichen Forschungs kapitel bietet der Vater den Fluchtpunkt. Dort diskutieren wir die Literatur, die Männer zwischen Familie und Arbeitsplatz beleuch tet. Kapitel sieben kreist um die Frage der Sozialität außerhalb der Familie. Es stellt ein breites Literaturspektrum vor, das von der Figur des » einsamen Helden« über verschiedene Formen homo sozialer Bindungen bis zum modernen Staat als Männerbund reicht. Hierbei erweist sich das Konzept des männlichen Staatsbürgers als zumindest für moderne Gesellschaften zentral. Kapitel acht stellt 10
die bisherige Forschung zur Geschichte männlicher Sexualitäten vor. Auch hier wird ein großer Bereich abgedeckt, der deutlich machen wird, wie sehr Sexualitäts geschichte und die Geschichte von Politik, Kultur und Gesellschaft aneinander gekoppelt sind. Es liegt auf der Hand, dass die Einteilung der Kapitel keine scharfe Trennung unterschiedlicher Forschungsbereiche widerspie gelt. Dass etwa sexualitätshistorische Fragestellungen wesentlich mit Familienaspekten verknüpft sein können und zudem darüber mit entscheiden, wer als Staatsbürger legitimiert ist und wer nicht, ist leicht nachvollziehbar. Dies ist nur eines von zahlreichen Beispielen für die Überlagerungen, die zwischen den Forschungsfeldern be stehen. Der neunte Abschnitt gibt eine Auswahl von Quellen wieder. Erstens zeigt die breite Palette von Quellenarten, die sich von verschiedenen Ego-Dokumenten über Wissenschaftstexte und Re gierungsberichte bis zu Fotografien erstreckt, dass Männlichkeit gewissermaßen »überall« verhandelt wird. Damit signalisiert sie zweitens nicht nur eine Vielzahl an Zugriffs möglichkeiten auf die Geschichte, sondern drittens auch die Breite der Forschungsfragen. Um den Zugang zu erleichtern, wird jede Quelle kurz inhaltlich eingeleitet. Zudem verweisen wir dort auf einige Forschungsarbei ten, die eine vertiefende Auseinandersetzung mit und Nutzung der entsprechenden Quelle vorführen können. Eine ausführliche Bi bliografie schließt den Band ab. Insgesamt will das Buch also von der Theorie und Methode über die bestehende Forschung und entsprechende Forschungsdesiderate bis zu Quellenbeispielen und einem ausführlichen Literaturverzeich nis Anregungen geben, die Geschichte der Männlichkeiten weiter zutreiben. Denn nur durch weitere dezidierte Forschungsarbeiten können wir genauer bestimmen, was der Ausruf der Hebamme: »Es ist ein Junge!« zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte impli zierte. Die Arbeit an dem Manuskript hat uns (fast) immer große Freude bereitet. Unterstützt wurden wir in unseren Bemühungen durch die Herausgeberinnen und Herausgeber der Reihe »Historische Ein führungen« , wobei vor allem Inge Marszolek und Barbara Potthast zu nennen sind. Besonders inspirierend und hilfreich waren die Ge spräche und Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen, Freun dinnen und Freunden, die uns immer wieder ermutigt und nicht zuletzt mit ihrer konstruktiven Kritik in unserem Vorhaben bestärkt II
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haben. Dafür gebührt unser ganz besonderer Dank Claudia Bruns, Katharina Dahl, Angelika Epple, Uta Fenske, Norbert Finzsch, Ulf Heidel, Kirsten Heinsohn, Jens Jäger, Julia Kramer, Claudia Lenz, Maren Möhring, Christiane Munder, Massimo Perinelli, Heiko Stoff und Klaus Weinhauer. Ohne ihre Hilfe wäre es uns kaum möglich gewesen, das Projekt in dieser Form zu vollenden. Wenn unser Buch dazu beiträgt, auch in anderen Arbeitskreisen ähnlich nette, anregende und stimulierende Gespräche zu initiieren, würde uns das sehr erfreuen.
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2.
Frauen- und Geschlechtergeschichte
»L'Homme«, also »der Mensch« ebenso wie »der Mann« - dieser Titel könne doch nicht angemessen ein Forum für feministische Ge schichtsschreibung bezeichnen, kritisierte im Jahr 1 9 9 1 eine Leserin die Namensgebung einer neuen Zeitschrift, die sich ausdrücklich der Frauen- und Geschlechtergeschichte widmete. Allerhöchstens »als Ergebnis eines Frauenstammtisch-Witzes« sei der Titel »ganz passabel«, ansonsten aber eher »der Sache« schädlich. »Haben die feministischen Historikerinnen das begehrte Ziel bereits erreicht« , heißt e s weiter in dem Kommentar, »und können wir uns es schon wieder leisten, eine >allgemeine Menschheitsgeschichte< anzuvisie ren?« [24 5 : LANGER-OSTRAWSKY, 1 3 0] Die Antwort, die die Herausgeberinnen von »L'Homme« auf diese kritischen Bemerkungen gaben, vermag in wenigen Sätzen zu signalisieren, wie komplex und vielschichtig das Projekt der Frauen und Geschlechtergeschichte zu diesem Zeitpunkt geworden war. Sie erläuterten, durch die in einem Wort vereinte Doppelbedeutung »Mensch« und »Mann« verweise » L'Homme« als Titel gerade auf die fatale, aber immer noch weithin übliche Gleichsetzung des Männlichen mit dem allgemein Menschlichen und somit gerade auf die elementare Leerstelle in der bislang etablierten Historiografie: nämlich das Weibliche in der Geschichte. Eine solche Lesart werde auch durch das Logo der Zeitschrift bekräftigt: Leonardo da Vincis »Mensch: Maß aller Dinge« ziere das Cover von »L'Homme«, sei allerdings des Mannes, der die Welt in ihrem Zentrum zusammenhält, entledigt. Diese nunmehr gar doppelte Leerstelle gel,te es zu füllen. Es bedürfe dafür einer gänzlich neuen »Menschheits geschichte«, bei der es sich »nur um eine Männer- und Frauengeschichte han deln kann« [ 1 97: HERAUSGEBERINNEN VON L'HoMME, 1 3 1 ; 290: NAGL-DO CEKAL, 2 3 6; 1 5 0: FREIST, I OSf.]. An diesen Disput um den Titel einer neuen Fachzeitschrift lässt sich trefflich anknüpfen, um auf den folgenden Seiten die chan gierenden Grundzüge und Entwicklungen der Frauen- und Ge schlechtergeschichte von den späten 1 960er Jahren bis zu unserer Gegenwart zu umreißen.! Dies ist unerlässlich, wenn man die Ge1
Es ist eine Selbstverständlichkeit, wir wollen aber dennoch ausdrücklich darauf hinweisen, um Missverständnissen vorzubeugen: Ein solches Ka-
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schichte von Männern und Männlichkeiten betrachten und verstehen will, denn deren konzeptionelle wie methodische Grundzüge sind der Frauen- und Geschlechtergeschichte entlehnt; mehr noch: wer wie wir Männlichkeitengeschichte als Teil einer relationalen Ge schlechtergeschichte versteht, kommt freilich nicht umhin, sich de ren Anfänge anzuschauen. Also werden wir als Erstes skizzieren, wie denn »das begehrte Ziel" der Historikerinnen, von dem die Leserin Gertrude Langer-Ostrawsky in ihrem Brief an die Heraus geberinnen von »L'Homme« schreibt, zunächst aussah, als im Zuge der Frauenbewegung der 1 9 60er Jahre die Forderung nach einer Frauengeschichte lauter artikuliert und auch in die Praxis umgesetzt wurde. Was meint die Briefschreiberin, wenn sie von »der Sache«, die man zu erreichen trachte, spricht? Weiterhin deutet ihre Frage, ob es sich die feministischen Historikerinnen »schon wieder leis ten« könnten, eine allgemeine Menschheitsgeschichte anzustreben, darauf hin, dass sich zu dieser Zeit offenbar eine weiträumige Ver änderung in der Frauengeschichte vollzog. Diese Veränderung, die weniger einem abrupten Umbruch entsprach als vielmehr einer schrittweisen Verschiebung der historiografischen Perspektive von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte seit den 1970er Jahren, wer den wir in einem zweiten Unterkapitel nachzeichnen. Ferner wer den wir über den Zeitpunkt des Briefwechsels (also das Jahr 199I) hinausgehen und in einem dritten Unterkapitel zeigen, wie in den 1 990er Jahren die so hart erarbeitete Kategorie des »Geschlechts« (verstanden als Ensemble zugeschriebener Eigenschaften und sozia ler Kategorisierungen) wieder in Frage gestellt wurde. Vor allem die Arbeiten der US-amerikanischen feministischen Theoretikerin Judith Butler erschütterten die Unterscheidung zwischen kulturel lem Geschlecht (»gender«) und biologischem Geschlecht (»sex«) nachhaltig [92: BUTLER; 94: BUTLER; vgl. 1 7 3 : GRIESEBNER als Forschungsüberblick] . Doch kehren wir noch einmal zurück zur Diskussion über die Namensgebung »L'Homme«. Denn auch die Antwort der Heraus geberinnen ist für unser Thema hochinteressant, verweist sie doch pitel kann sich freilich immer nur auf einen Ausschnitt der Literatur stüt zen, deren Volumen gerade im Bereich der Geschlechtergeschichte kaum mehr erfassbare Ausmaße angenommen hat. Dies wiederum kann als Indiz für die Produktivität, Dynamik und nachhaltige Offenheit ge schlechterhistorischen Denkens gelten.
auf eine Verschiebung im Denken über die Geschlechter. Ohne da rauf verzichten zu wollen und zu können, Geschichten über Frauen zu verfassen, beharren sie doch darauf, eine neue Menschheits geschichte als »Männer- und Frauengeschichte« zu schreiben. In diesem Sinne betonte zur selben Zeit etwa die Frühneuzeit-Histori kerin Claudia Ulbrich, »es wird eine Aufgabe künftiger Forschung sein, die verschiedenen Arten von Männlichkeit und Weiblichkeit auf allen Ebenen der Gesellschaft [ . . . ] zu untersuchen«, und sie fügte zur Absicherung noch hinzu: » Die Erforschung von Männlichkeit ist freilich nicht mit Männergeschichte im [ . . . traditionellen] Sinn zu verwechseln« C3 5 8 : ULBRICH, 1 3], also mit einer klassischen Geschichte von Staat und Politik, die von Männern - und nur von Männern - geprägt ist.2 Diese Arbeit an einer »neuen Menschheits geschichte« sowie die damit verbundenen Debatten über das Ver hältnis von Geschlechtergeschichte und so genannter »Allgemeiner Geschichte« werden wir in einem abschließenden vierten Unter abschnitt dieses Kapitels nachzeichnen. Dabei werden wir uns vor allem auf die Bedeutung konzentrieren, die die veränderte Ge schichte von Männern und Männlichkeiten für eine neue »Allgemei ne Geschichte« hat. Die vielen Anstöße zu einer solchen Historie, die im Zuge der Debatten über Frauen- und Geschlechtergeschichte immer wieder formuliert wurden, werden im gesamten Kapitel auf gegriffen und einen zentralen Bezugspunkt unserer folgenden Be trachtungen bilden. Insgesamt wird sich eine gewisse Kreisförmig keit der Denkbewegungen seit den 1 970er Jahren abzeichnen. Dies soll heißen, dass viele Fragen und Aspekte im Hinblick auf Weib lichkeiten und Männlichkeiten im Laufe der letzten Dekaden wie derholt aufgeworfen wurden. Da diese Fragen aber innerhalb von unterschiedlichen politischen Kontexten sowie sich wandelnden Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften standen, änderten sich auch die Reaktionen und Antworten.
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Eine solche Perspektive ließe sich wohl in der formelhaften Wendung des preußischen Staatswissenschaftlers und Historikers Heinrich von Treitschke fassen, der im Jahr 1 879 in seiner »Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert« postulierte, nur »Männer machen die Ge schichte« [3 5 5 : TREITSCHKE, 28]. Vgl. auch 3 56: TREITSCHKE, 63 f., wo es heißt, »Staatsmänner und Feldherren sind die historischen Helden«, sowie Quelle 3 im Quellenteil.
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Frauengeschichte der 1960er und frühen 1970er Jahre
Als ein wesentlicher Bestandteil der starken gesellschaftlichen Ver änderungen in Westeuropa und Nordamerika entfaltete sich in den I 960er Jahren eine dynamische neue Frauenbewegung, die auch im Kontext anderer Bürgerbewegungen dieser Zeit stand. Im Rahmen der Kämpfe gegen das bestehende gesellschaftliche Ordnungssystem prangerten Frauen lautstark geschlechtsspezifische Diskriminierun gen in der »großen« Politik und im B erufsleben an, und darüber hinaus rückten sie Bereiche ihres Lebens in das Blickfeld der Öf fentlichkeit, die bis dahin noch weniger Beachtung gefunden hatten. Denn nicht nur die vermeintlich »große« Politik, sondern auch das Persönliche ist politisch, lautete die Maxime. Hier sei beispielsweise die Gesundheitssituation von Frauen genannt, Sexualität, Gewalt gegen Frauen, Pornografie oder die Stellung von Frauen in der Kul tur und im Bildungssystem. Zur Durchsetzung ihrer Ziele ent standen vielerorts Gruppen und Projekte, an deren nationaler wie internationaler Vernetzung rasch gearbeitet wurde [ 1 5 3 : FREVERT, 272-287; 1 6 5 : GERHARD; 292: NAVE-HERZ; 207: HOLLAND CUNZ; vgl. zu den USA z. B. 28 I: MILLER, 307-3 26J. Ein wesentliches Ziel der Frauenbewegung und zahlreicher ein zelner Frauengruppen war, unter Frauen zunächst ein Bewusstsein für die gesellschaftlichen Benachteiligungen und ihre Wirkungs mechanismen zu wecken. Dieser Prozess des »consciousness-raising« wurde dadurch eklatant erschwert, dass Frauen scheinbar keine Ver gangenheit hatten. Die Geschichte, die bis dahin aufgeschrieben worden war, war im Wesentlichen die Geschichte der traditionell Mächtigen und somit die Geschichte von Männern gewesen. So betonte im Jahr 1 969 die US-amerikanische Historikerin Gerda Lerner, die eine der treibenden Kräfte der frühen Frauengeschichte war, » am allerwichtigsten ist: Frauen als solche haben das gleiche Recht wie Minderheitsgruppen darauf, daß >ihre< Geschichte genau aufgezeichnet wird«. Die Historisierung der eigenen Position war zwingend notwendig, um sie durchdringen und verändern zu kön nen. Eine andere Geschichte als die bisher bekannte sollte die Herr schaft des Mannes in Frage stellen, indem sie weibliche Identifi kationsfiguren hervorbrachte [2 5 3 : LERNER, 4 1 ; 248 : LERNER, 69, 74 ff.; 1 71 : GORDON/BuHLE/SCHROM, 3; 154: FREVERT> I I 3 ff.]. Es fällt auf, dass Frauen zwar die Mehrheit der Menschheit waren, sich aber strukturell in einer ähnlichen Position befanden wie poli16
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tisch und gesellschaftlich ausgegrenzte Minderheiten, wie auch Gerda Lerner 1 976 bemerkte: Mit den Frauen sei die Mehrheit der Menschheit auf der Suche nach ihrer Vergangenheit3 [2 50: LERNER; 2 5 5 : LERNER]. Zahlreiche Werke der Frauengeschichte der ersten oder zweiten Stunde signalisierten dementsprechend schon im Titel, dass es eine bis dahin verborgene Geschichte zu befreien galt: »Hid den From History«, »Becoming Visible« oder »Liberating Women's History«, um nur die sprechendsten zu erwähnen [3 1 9: Row BOTHAM; 1 00: CARROLL; 84: BRIDENTHAL/KoONZ; 3 39: SCOTT; 3 3 3 : SCOTT, 1 7; 3 3 8 : SCOTT]. Die frühe Frauengeschichte vor allem der 1960er Jahre nahm die Mehrheit der Menschheit und auch die Mehrheit der Frauen aller dings nicht wirklich in den Blick. Historikerinnen konzentrierten sich zunächst vielmehr auf eine Minderheit, indem sie nach den Frauen spürten, die in der männlich geprägten Gesellschafts- und Leistungsordnung hatten auffallen können. So genannte »women worthies« [vgl. 1 14: DAVIS, z. B. 90] oder auch » große Frauen« galt es nun aufzuzeigen. Zwar hatte vor allem die europäische Ge schichtsschreibung seit der Frühen Neuzeit auch andere und viel fältige Wege eröffnet, die Geschichte von Frauen in verschiedenen Lebenslagen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Historikerinnen wie Natalie Zemon Davis oder Bonnie Smith wie sen darauf hin [ 1 14: DAVIS, 83 ff.; I I 2 : DAVIS; 3 4 1 : SMITH; 73: BO CK, 365; 1 70: GORD ON; 1 78: HABERMAS, 486 ff.; 3 49: STOLL BERG-RILINGER; 342: SMITH; 1 27: EPPLE]. Bis zu den 1 970er Jah ren wurden »Frauen als Antriebskraft der Geschichte« [67: BEARD; vgl. 340: SMITH zu Beard] allerdings eher dann wahrgenommen, wenn sie sich als Frauengestalten den namhaften Helden der Histo rie hinzufügen ließen. Dies waren Frauen, die sich in der Männer welt bewährt und dort Einfluss gewonnen hatten, durch ihre Bio grafie, durch ihre Eheschließung oder auch durch Aktivitäten in entsprechenden Institutionen und Lebensbereichen. Als Frauen stellten sie häufig Ausnahmen von der Regel dar. Diese additive Ge schichtsschreibung brachte zwar eine gewisse Revision bestehender Geschichtsbilder mit sich, vernachlässigte aber eben die Mehrheit der Frauen und die Spezifika weiblicher Historie [ 1 7 1 : GORDONI 3
Mit dieser Feststellung bleibt das Recht auf eine erinnerte Vergangenheit für alle gesellschaftlichen Gruppen freilich unbestritten - also auch für solche, die tatsächlich quantitativ in der Minderheit sind.
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BUHLE/SCHROM, 1 1-16; 2 5 4: LERNER, 2 f.; 72: B O CK, I II f.; 26 1 : LUNDT, 5 8 I] . Eine andere Sicht auf die Geschichte von Frauen lieferten i n die sen ersten Jahren solche Erzählungen, die weniger die Erfolge, son dern vielmehr die Kämpfe und die Unterdrückung von Frauen in einer männlich geprägten und dominierten Gesellschaftsordnung herausarbeiteten.4 Die Forschung konzentrierte sich hier vornehm lich auf das 1 9. Jahrhundert, wo sie nach den Wurzeln des Patriar chats suchte, das Frauen im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert noch immer unterwarf. In diesen Geschichten wurden Frauen in der Regel als Opfer in einem System patriarchalischer Herrschaft ge zeichnet, und nicht als handelnde Akteurinnen. Daher trug diese Geschichtsschreibung paradoxerweise dazu bei, letztlich Vorstel lungen weiblicher Passivität zu reproduzieren, die insbesondere die Anthropologie des kritisierten 1 9. Jahrhunderts als »natürlich« für das »Wesen« der Frau behauptet hatte [69: BERKIN, I I f.; zur Geschichte der Anthropologie und der Konstruktion des »weib lichen Wesens« vgl. etwa 363: WELTER; 1 8 5 : HAUSEN; 209: Ho NEGGER] . Trotz dieser kritischen Einwände gegen die Konzepte einer frü hen Frauengeschichte sind deren Verdienste unstrittig. Zunächst ein mal verwies sie mit Nachdruck darauf, dass die damals bestehende Geschichtsschreibung lückenhaft war. Diese Lücken begannen die Historikerinnen nun zu füllen. Zweitens zeigte die historische Betrachtung von Frauen, dass die Geschichte von unterschiedlichen Erfahrungen geprägt war, die geschlechtsabhängig waren. Daher warf diese neue Geschichte Fragen auf, die die bisherige Historie, ihre Kategorisierungen, Epochen oder Denkmodelle in ihren Gel tungsansprüchen in Frage stellten. Die Vorstellung beispielsweise, Technisierung sei grundsätzlich und für alle Menschen eine Kraft des Fortschritts und der Lebensverbesserung, wurde durch die Betrachtung von Frauenarbeit mehr als fragwürdig [3 3 7: SCOTT]. Auch die traditionellen Periodisierungen der Geschichte wurden als unzulässige Verallgemeinerungen thematisiert. Hatte das Zeitalter der demokratischen Revolutionen tatsächlich eine politische Be freiung aller Menschen bedeutet? Haben Menschenrechte ein Ge schlecht? [20 5 : HOFF-WILSON; 1 64: GERHARD; 3 3 6: SCOTT] Und: 4
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Als Pionierstudie gilt hier 68: BEAUVOIR von 1 949; vgl. insgesamt 1 76: HABERMAS.
Gab es die Renaissance auch für Frauen, wie Joan Kelly-Gadol 1 977 im Titel eines Aufsatzes fragte: »Did women have a Renaissance?« Nein, lautete ihre Antwort, denn die Zeit vom 14. bis zum 1 6. Jahr hundert habe Frauen in Italien eben keine erweiterten Möglichkei ten zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit geboten. Die Herausbildung einer humanistischen Kultur sowie die verstärkte Konturierung von Staatsgebilden und einer kapitalistischen Wirtschaftsform seien mit einer zunehmenden Ausprägung eines privaten Lebens auf der einen und eines öffentlichen Lebens auf der anderen Seite verbunden gewesen. Außerdem hätten sich veränderte Vorstellungen von Liebe und Sitte verfestigt. Dadurch, so Kelly-Gadol, seien die weiblichen Möglichkeiten zur eigenen Lebensgestaltung eher eingeschränkt denn befördert worden. Frauen hätten in der Renaissance eine Beschneidung ihres persönlichen und gesellschaftlichen Spielraumes erfahren, und sie seien »in ein dekoratives, keusches und von ihrem Mann wie auch vom Fürsten, also doppelt abhängiges Objekt« transformiert worden. Als »Renaissance« habe diese Zeit für Frauen somit nicht existiert [226: KELLY-GADOL, 63].
»Gender« - die 1970er und 1980er Jahre
In den frühen 1 970er Jahren zeigten sich die Vertreterinnen der Frauengeschichte mit dem Erreichten nicht zufrieden. Die Frauen geschichte schritt dabei gemeinsam mit weiträumigeren histo riografischen Veränderungen voran, die sich in Westeuropa, in Deutschland wie in den USA in Form einer neuen Sozialgeschichte vollzogen. Diese stellte die bis dahin gültigen Prämissen der Ge schichtsschreibung auch jenseits der Geschlechterproblematik nach haltig in Frage. Zwar schrieb die neue Sozialgeschichte zunächst nur wenig über Frauen, doch sie trieb eine Geschichte voran, die nicht mehr nur von den politisch Mächtigen und gesellschaftlich Herr schenden berichtete, nicht mehr nur von den weißen Männern der Mittel- und Oberklasse [2 1 6: IGGERS; 3 4 5 : STEARNS, 2 3 7-25°; 3 3 3 : SCOTT, 2 1 f.; 1 84: HAUSEN, 30t]. Damit wurde auch das additive Verfahren der frühen Frauen geschichte in Frage gestellt, denn dieses hatte Frauen lediglich zu der bestehenden »Männergeschichte« hinzugefügt, aber die Ge schichte selbst in ihrer bis dahin bekannten Form unberührt be lassen. Sowohl die Geschichten großer Frauen als auch die Viktimi-
sierungsgeschichten erhielten den Mann als Maßstab und fügten Frauen in ein männlich geprägtes Raster ein. Ihr subalterner Status würde so letztlich reproduziert und das Ende ihrer Unterdrückung verzögert werden, lautete die Kritik. 5 Der Anspruch dieses männ lichen Geschichtskonzepts auf Allgemeingültigkeit sollte nicht wei ter hingenommen werden, da es schlechterdings nicht adäquat war, um die Erfahrungen weiter Teile der Menschheit zu erfassen. In die sem Sinne hatte Gerda Lerner schon seit 1 9 69 kontinuierlich ge fordert, neue Begriffe für die Geschichte zu entwickeln. Nur auf diesem Wege sei »auf einen erweiterten Bezugsrahmen und auf eine genauere Tiefenschärfe zu hoffen - das Aufgeben veralteter Katego rien und eine sorgfältige Durchleuchtung bekannter Quellen nach unbekannten Bedeutungen« [2 5 3 : LERNER, 49; vgl. auch 248: LER NER, 74J. In der Mitte der I 970er Jahre fügte sie hinzu, das bisher Erreichte in der Frauengeschichte sei nicht mehr als eine »unver meidliche Stufe für die Entwicklung neuer Kriterien und Konzepte« [2 5 2: LERNER, 145]. Das Forschen nach neuen Kategorien und größerer Tiefenschärfe bezeichnete Lerner als geschlechterübergrei fende Aufgabe, mit der sich nicht nur Frauen, sondern auch Männer befassen sollten.6 Eine wesentliche Veränderung war, dass statt einer HeIdinnenge schichte nun eine Geschichte geschlechtsspezifisch weiblicher Er fahrung und weiblicher Identitätsbildung (auch und insbesondere jenseits des Opferseins) in den Vordergrund drängte, und zwar auf der Folie von geschlechtlicher Normierung. Nur so könne ein Blick auf die Geschichte geschärft werden, der den »weiblichen und den männlichen Aspekt« der Menschheit erfasst [2 5 0: LERNER, 1 5 6; 1 8 5: HAUSEN; 343: SMITH-ROSENBERG, 1 87; 1 49: FOX-GENOVESE, 1 5; 5
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227: KELLY-GADOL, 22, spricht von einer »Minderheitenpsychologie«, mit der es zu brechen gelte. Vgl. 2 5 3 : LERNER, 49, wo es heißt: »Dies ist ein Vorhaben, dem sich die Begabtesten in der Geschichtswissenschaft widmen sollten, und end lich nicht mehr nur Frauen.« 1 979 erklärte Gerda Lerner dazu, sie habe zehn Jahre zuvor noch geglaubt, Frauen bräuchten die Unterstützung und die Begabung der Männer, um dieses Projekt bewältigen zu können. Nun, also 1979, wisse sie allerdings, dass Frauen dies auch alleine be werkstelligen könnten [2 5 1 : LERNER, 49). Derzeit bietet die Geschlech tergeschichte immer deutlicher eine historiografische Perspektive, die Frauen wie Männer einnehmen, deren Zusammenarbeit »über das je weils auszuhandelnde politische Ziel und nicht über Geschlecht« [173: GRIESEBNER, 49] bestimmt wird.
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1 5 4: FREVERT, 1 2 1 ; 2 1 5: HUNT, 63; 1 76: HABERMAS, 234 f.]. Hier bei kreisten die Erwägungen vor allem um die Frage, wie denn Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Erfahrungen und I dentitäten und deren Beziehungen zueinander erklärt werden könnten. Auf einem angenommenen biologischen Unterschied zwi schen den Geschlechtern, der damals noch einen gleichsam unver rückbaren Sockel darstellte ( »sex«), baute sich offenbar in einer ko�plexen Konstruktionsleistung eine soziokulturelle D ifferenz zwischen Männern und Frauen auf ( » gender«). Dies bedeutete, dass eine biologische Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen (noch) nicht hinterfragt wurde. Zugleich aber galten die gesell schaftlichen Differenzen nicht mehr als » natürlich«, sondern sie sollten vielmehr als Folgen historischer gesellschaftlicher Prozesse analysiert werden. »Die zuvor angenommenen >natürlichen< Bedin gungen [menschlicher Existenz warenJ in Wirklichkeit von Men schen geschaffen«, skizzierte Joan Kelly-Gadol im Jahr 1 976 in ihrem wegweisenden Aufsatz über » soziale Beziehungen der Ge schlechter« die neue und faszinierende Grundidee der Historiogra fie [227: KELLY-GADOL, 1 7, 22; vgl. auch 299: OAKLEY, 1 5 8; 249: LERNER, 1 66J. Aus der Perspektive einer Männlichkeitengeschichte ist vor allem bemerkenswert, dass bereits in der Mitte der 1 9 70er Jahre die Be tonung auf der Historizität der Differenz zwischen beiden Ge schlechtern, also zwischen Frauen und Männern, lag. Niemand hat dies wohl pointierter herausgestellt als Natalie Zemon Davis 1 976 in ihrem Aufsatz über »>Women's History< in Transition«: =
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»But it seems to me that we should be interested in the history of both women and men, that we should not be working only on the subjected sex any more than a historian of dass can focus exdusive1y on pea sants. Our goal is to· understand the significance of the sexes [I], of gender groups in the historical past. Our goal is to discover the range in sex roles and in sexual symbolism in different societies and periods, to find out what meaning they had and how they functioned to main tain the social order or to promote its change. Our goal is to explain why sex roles were sometimes tighrly prescribed and sometimes fluid, sometimes markedly asyrnmetrical and sometirnes more even. Unlike the compilation of Wornen Worthies, this is a relative1y new goal for historians. Thus it should make some changes in the practice of the fie1d at large« [II4: DAVIS, 90; vgl. auch II3: DAVIS].
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Davis spricht ausschließlich im Plural, von »sex roles«, von »sexes« und von » gender groups«, und sie hebt diesen Plural noch einmal eigens durch eine kursive Schreibweise hervor. Gleichwohl lag das Interesse dieser neuartigen Geschlechtergeschichte weiterhin bei einer hauptsächlich von Frauen und über Frauen betriebenen Frauen geschichte. »Männergeschichte« erschien immer noch als Gegen spieler - eine »Männergeschichte«, die » traditionell von Historikern aufgezeichnet und interpretiert worden ist, [und] zweifellos eine Geschichte der Aktivitäten von Männern [ist], geordnet nach den Wertvorstellungen der Männer« [249: LERNER, 163]. Der Gedanke, »Männlichkeit« und somit männliche Wertordnungen, I dentitäten und Handlungsweisen als Ergebnis einer historischen Konstruk tionsleistung und somit als geschlechtlich codiert zu betrachten, war in diesen Erwägungen über das soziale Geschlecht zwar bereits angelegt. Er wurde aber nicht wirklich ausgeführt und in die Praxis umgesetzt. Auch die mehrfach eingeforderte Analyse des » Ge schlechterverhältnisses« wurde noch weitgehend als Angelegenheit von Frauen über Frauen gesehen. Die Herausforderung war in der Mitte der 1 9 70er Jahre formu liert: »Das soziale Geschlecht (gender) muß der Geschichte als ana lytische Kategorie hinzugefügt werden« [249: LERNER, 1 66]. Es ging nicht mehr darum, Informationen über Frauen zu sammeln und sie in eine bestehende Historiografie patriarchalischer Ordnung einzufügen. Vielmehr ging es um eine gänzlich neue Sichtweise auf die gesamte Geschichte, die der Reformulierung unter dem Brenn glas » Geschlecht« bedurfte. »Wenn wir die Geschlechtszugehärig keit als eine soziale Kategorie verstehen, bedeutet das, daß unser Konzept des geschichtlichen und des sozialen Wandels um die Ver änderungen in den Beziehungen der Geschlechter erweitert werden muß«, betonte Kelly-Gadol [227: KELLY-GADOL, 23]. Es müsse zur »zweiten Natur« der Historikerinnen und Historiker werden, jede historische Fragestellung unabhängig ihres Inhalts und ihrer Zielrichtung auch aus der Geschlechterperspektive zu beleuchten, fügte Natalie Davis hinzu [ 1 14: DAVIS, 90]. Dies bedingte, den Mann als einzigen Maßstab zu verwerfen, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen und neue Fragen zu stellen. Das erklärte Ziel war nicht mehr und nicht weniger als eine gänzlich neue Geschichte, die sich auf veränderte Grundüberzeugungen stützt und sich mit neuer Methodologie dem historisch wandelbaren Verhältnis von Männern und Frauen und der »vergeschlechteten« Gesellschafts22
ordnung widmet. In dieser »umfassende[n] ganzheitliche[n] Ge schichte, [ . . . müssen] die historischen Erfahrungen der Männer mit denen der Frauen verglichen werden, wobei die Wechselbeziehun gen ebenso zu untersuchen sind wie die Unterschiede und Gegen sätze« [249: LERNER, 1 74]. Derart konzipiert stellte Geschlecht einen Schlüssel zu Macht, Sozialstruktur, Eigentumsverhältnissen, symbolischer Ordnung und historischer Periodisierung dar, und eine entsprechende Geschichte ging weit über die bis dahin »typischen« Felder der Frauengeschichte hinaus [ 1 1 4 : DAVIS, 90]. Diese neue Geschichte versuchte die Ge sellschaft zu verstehen, indem sie, wie Lerner explizit betonte, »Männer und Frauen [zum] Maß der Bewertung« erhob und die auf ihren biologischen Geschlechtern (»sex«) aufgebauten soziokultu rellen Unterschiede (»gender«) zueinander in Beziehung setzte. Die Relationalität von Geschlecht (hier verstanden als Beziehungs abhängigkeit zwischen Geschlechtern) war ein zentrales Element dieses neuen Denkens [249: LERNER, 1 74 - Betonung im Original]. In den darauf folgenden Jahren wurde die Kategorie » Geschlecht« weiter erörtert, untersucht und ausgefeilt, und die US-Historikerin Joan Scott mutmaßte, dass vielleicht tatsächlich eine kritische Revi sion der bestehenden Geschichte bevorstünde und eine Geschichte entstünde, die die wirkmächtigen Operationen vergeschlechteter Strukturen aufzeigte [3 3 3 : Seo'T'T, 27] . Hierbei spielte sicherlich auch die voranschreitende institutionelle Verankerung eine wichtige Rolle. In den USA hatten sich »Women's Studies« zügig an den Uni versitäten, in Forschungseinrichtungen und Verbünden etabliert, und sie waren auf den entsprechenden Fachtagungen repräsentiert. Erste entsprechende Strukturen waren in den USA sogar bereits in den I 9 3 0er Jahren entstanden, und mit den 1 970er Jahren begann dort für Historikerinnen eine neue Ära [ 1 8 3 : HARZIG, 1 28 ff.; 3 3 3 : SeOIT, 1 9 1 ff.; 2 54: LERNER, 446 ff.]. I n Deutschland hingegen haperte es lange an der entsprechenden Einbindung in die Hoch schul- und Forschungslandschaft. Später wurde Frauen- und Ge schlechtergeschichte zumindest zu einer »schmückenden Arabeske«, wie Karin Hausen und Heide Wunder Anfang der I 990er Jahre resümierten [ r 8 8 : HAUSEN/WUNDER, 1 0; vgl. 2 1 5 : HUN'T, 60 ff.]. 1 984 war erstmals auf einem deutschen Historikertag überhaupt eine Sektion zur Frauen- und Geschlechtergeschichte vertreten. Sie befasste sich mit » Frauenräumen« und thematisierte somit die ge schlechtsspezifische Zuweisung von Lebensbereichen [ r 8 8 : HAu-
SEN/WUNDER, 1 4; 1 86: HAUSEN, 2 1 ff. F Zu dieser Zeit lagen auch erste umfassende Standortbestimmungen in Deutschland vor [ 1 87: HAUSEN; 74: BO CK], die betonten, dass, so Bock, »Frauengeschich te [ . . . ] nicht nur die Geschichte der halben, sondern die der ganzen Menschheit [betrifft]«. Und selbst wenn der Akzent der For schungsdiskussion auf » den Frauen« lag, so wurden doch der Plural »die Geschlechter« und die Breite des Konzepts hervorgehoben: » Geschlecht muß als grundlegende Kategorie sozialer und histo rischer Realität, Wahrnehmung und Forschung eingeführt werden. Die Bedeutung der Geschlechter muß integraler Bestandteil des his torischen Erkenntnisinteresses sein« [72: B OCK, 1 1 2, 1 IsJ. Wer wollte in der Mitte der 1980er Jahre noch bezweifeln, dass » Geschlecht eine nützliche Kategorie historischer Analyse« war? Dies verdeutlichte schließlich der gleichnamige Aufsatz Joan Scotts aus dem Jahr 1986 mit Nachdruck [334: SCOTT; 3 3 3 : SCOTT, 2 8-50]. Dieser Aufsatz ist ein »Meilenstein« der Geschlechtergeschichte, um eine Formulierung von Claudia Opitz zu übernehmen [300: OPITZ, 9sJ. Scott verankerte mit ihren Erwägungen »Geschlecht« endgültig in der historischen Forschungslandschaft. »Gender«, so Scott, sei eine relationale Kategorie, die auf soziale Beziehungen zwischen Frauen und Männern und deren wechselseitige Definition ziele. Die historiografische wie die politische Dimension eines solchen Ge schlechterbegriffs sei umfassend, betonte Scott: Denn erstens struk turiere Geschlecht als derart verstandene Kategorie Geschichte und Gesellschaft über die vermeintlich »typischen Frauenfelder« wie Sexualität, Reproduktion oder Erziehung hinaus; zweitens wirke Geschlecht auf die und in den persönlichen Erfahrungen von Men schen, die sie dann erst wiederum als Subjekte mit einer bestimmten geschlechtlichen Identität konstituierten [332: S COTT; 3 34: SCOTT; vgl. auch 1 1 0: DANIEL; 300: OPITZ]. Nun befand sich die Geschichtswissenschaft in einer Phase neuer licher Verschiebungen, als Scotts Aufsatz in der Mitte der 1 980er Jahre erschien. Die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, die auf die Analyse langfristiger und weiträumiger Strukturen ausgerichtet war, hatte Konkurrenz von einer Alltagsgeschichte erhalten, die indivi7
Die erste Sektion, die sich auf einer Jahrestagung der »American Histo rical Association« ausdrücklich mit »women in history« befasste, fand 1 940 statt. 1 943 wurde mit Nellie Neilson erstmals eine Frau zur Vorsit zenden der AHA gewählt; 3 3 3 : Scorr, 185.
duelle Erfahrungen der historischen Akteure in ihr Zentrum rückte [260: LÜDTKE]. Geschlecht im Sinne Scotts versprach, diese bei den, zunächst dichotom erscheinenden Felder verbinden zu können, wurde es doch als eine historiografische Kategorie sowohl gesell schaftlicher Strukturbildung als auch individuell-historischer Erfah rung bestimmt. Das heißt, eine wahrgenommene Differenz zwi schen den Geschlechtern strukturiert die sozialen Beziehungen in einer Gesellschaft. Sie trägt dazu bei, Machtbeziehungen mit Bedeu tung auszustatten, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sinnvoll erscheinen zu lassen und derart Erfahrungen von Men schen zu gestalten und zu prägen [3 34: SCOTT, I067 ff.]. Ein solcher Blick lässt auch diejenigen Ordnungs- und Beziehungsentwürfe als historisch geprägt erscheinen und somit hinterfragbar werden, die bis dahin selbstverständlich waren. Um sich diesem Machtgeflecht anzunähern, schlägt Joan Scott den Historikerinnen und Historikern vier Ebenen der Analyse vor: Erstens gilt es, die historisch-spezifische Bedeutung kultureller Sym bole aufzuschlüsseln, also etwa zu schauen, wie technische Inno vationen repräsentiert werden und dabei geschlechtliche Denk muster reproduzieren, um hier ein Beispiel anzuführen. Zweitens sollten wir nach den Inhalten normativer Konzepte spüren und zei gen, dass auch Ratgeber oder Wissenschaftstexte bestimmten histo rischen Bedingungen gehorchen. Drittens sollten wir untersuchen, wie sich solche Konzepte in Politik und Alltag niederschlagen und vervielfältigen, und viertens gilt es aufzuschlüsseln, wie sie die Selbstentwürfe von einzelnen Menschen oder Kollektiven prägen. Joan Scott betont, dass diese vier Ebenen niemals voneinander ge trennt existieren, sondern sich im Gegenteil durchkreuzen, über lagern und wechselseitig tragen. Inspiriert von den Arbeiten des französischen Philosophen Michel Foucault,8 hebt Scott den Bruch hervor, den dieses historiografische Konzept mit monokausalen Erklärungen vornimmt. Sie fordert dazu auf, stattdessen in Kau8
Scott bezieht sich in 3 34: Scorr auf den ersten Band von Foucaults Stu dien über die Geschichte der Sexualität [ 146: FOUCAULT] sowie auf weitere Ausführungen zur Macht in verschiedenen Interviews [ 1 4 5 : FOUCAULT]. Auch i n der Einleitung z u 3 3 3 : Scorr bezieht sie sich maßgeblich auf Foucault und erwähnt außerdem dessen Arbeiten über die Konstitution von Wissensfeldern [ 1 4 3 : FOUCAULT] und über das Gefängnis [ 1 48: FOUCAULT] als wegweisend für ihr eigenes Verständnis von Geschichte und Gesellschaft.
salnetzen, Kräftefeldern und vielfältigen Machtbeziehungen und -verknüpfungen zu denken. Hierbei ist wichtig, dass »gender« als gesellschaftlich strukturierende Kategorie niemals alleine wirkt, sondern sich in die Trias der US-amerikanischen Sozialgeschichts schreibung »race - dass - gender« einbringt. Dies haben auch His torikerinnen vor und nach Joan Scott betont, und wir werden in einem späteren Abschnitt dieses Kapitels darauf zurückkommen. An dieser Stelle sei noch einmal hervorgehoben, dass Joan Scott » gender« als Kategorie nicht erfunden hat. Seit den frühen 1 970er Jahren schon war an diesem Konzept gefeilt worden. Scott schließ lich hat »gender« in einer Form systematisiert, die es als einen Schlüssel erkennbar werden ließ, die reziproken Beziehungen zwi schen Mensch, Gesellschaft und Macht in ihrer Geschichtlichkeit denken zu können. Ohnehin schien in der zweiten Hälfte der 1 9 80er Jahre die Zeit für Systematisierungen gekommen. Ähnlich wie Joan Scott betonte Gisela Bock 1 9 8 8 in ihrem Aufsatz über » Geschichte, Frauen geschichte, Geschlechtergeschichte«, dass Geschlecht einerseits eine gesellschaftlich strukturierende Kategorie sei, die aber zugleich »nicht als ein fixes, universales oder ursprungsmythisches Modell zur Erklärung der Fülle historischen Geschehens verstanden wer den« dürfe [73: BOCK, 3 74J . Vielmehr sei diese Kategorie flexibel, interdependent mit anderen Kategorien wie Ethnizität, Klasse oder Religion und also historisierbar. Weiterhin, so betonte Bock ähn lich wie Scott, sei Geschlecht eine soziale, kulturelle, historische Realität, die in vielfältige Beziehungen verwoben sei und das Leben von Menschen maßgeblich bestimme. Folglich müsse Geschlechter geschichte auch Männergeschichte in ihr Programm einbeziehen eine Männergeschichte allerdings, die Männer nicht als geschlechts lose Norm und außerhalb, sondern innerhalb des Geschlechterver hältnisses denke [73 : BOCK, 3 8 1 H.]. Bocks Aufsatz erschien im darauf folgenden Jahr in englischer Sprache im EröHnungsheft einer neuen historischen Zeitschrift. » Gender and History« setzte sich zum Ziel, darüber aufzuklären, wie sich Gesellschaften durch die Machtbeziehungen zwischen Frauen und Männern formieren [ 1 96: HERAUSGEBERINNEN VON GENDER AND HISTORY, I; 7 5 : BO CK]. Die britisch-amerikanische Zeitschrift war nur einer von mehreren Bausteinen in der Institu tionalisierungsphase der Geschlechtergeschichte um 1 990 herum. Im selben Zeitraum wurden nämlich mit der bereits erwähnten
»L'Homme« in Österreich, mit »metis« in Deutschland, mit dem »Journal of Women's History« in den USA und mit der »Women's History Review« in Großbritannien ausdrücklich historische Fach organe ins Leben gerufen, die den Anspruch verfolgen, die Historie in ihrer Gesamtheit aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive neu zu erfassen. Diese eigenen Publikationsorgane sollten Ergebnisse der Geschlechterhistorie leichter zugänglich (und auch leichter publizierbar) machen, als sie dies in den »allgemeinhistorischen« Fachzeitschriften oder auch in den interdisziplinären feministischen Journalen, wie beispielsweise » Signs« (seit 1975), »Feminist Studies« (seit 1 972) oder den » Feministischen Studien« (seit 1 982), waren [1 50: FREIST, 97-101). Auch die bis dahin recht vehemente »Ab wehrfront« der Historikerzunft gegen die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte begann in diesen Jahren zu »bröckeln«, wie Ute Frevert 1 992 betonte [1 54: FREVERT, 1 14 f.; vgl. auch 1 5 I: FREVERT]. Mit Erfolg rückte die Frauen- und Geschlech tergeschichte die gesellschaftliche Differenzierung und Hierarchisie rung entlang des Kriteriums Geschlecht in das Bewusstsein wachsen der Teile der Geschichtsforschenden, -lehrenden und -lernenden.
»Gender? Sex?« - die 1990er Jahre
Kaum hatte sich die Geschlechtergeschichte darauf verständigt, nach den soziokulturellen Zuschreibungen auf der Basis biologischer Geschlechter zu forschen, da zeichnete sich im Denken über Frauen und Männer eine neuerliche Verschiebung ab. Eine angeregte Dis kussion über die Beziehung von soziokulturellem und biologischem Geschlecht sollte die 1 990er Jahre dominieren, und die Geschlech tergeschichte zeigte abermals, wie prägend sie auf die gesamte Ge schichtsschreibung und ihre Debatten wirkte. Schon 1 98 6 hatte Joan Scott in ihrem »Meilenstein«-Aufsatz Skepsis gegenüber Denkmodellen geäußert, die existierende bio logische Differenzen zwischen Männern und Frauen zu ihrem Aus gangspunkt machten, auf denen dann angeblich wiederum eine soziokulturelle Unterdrückung von Frauen basierte. »Any physical difference takes on a universal or unchanging aspect«, mahnte Scott, und sie schreibe Differenzen als unveränderlich, ontologisch fest. Eine solche Grundlegung biologischer Unterschiede positioniere nicht nur den menschlichen Körper außerhalb soziokultureller Kon27
struktionsleistungen, sondern sie mache in letzter Instanz auch »gender« zu einem ahistorischen Konzept. Denn aus einer solchen Perspektive gründete das soziale Geschlecht letztlich auf angeblich stabilen biologischen Entitäten: » History becomes, in a sense, epi phenomenal, providing endless variations on the unending theme of a fixed gender equality« [3 34: SCOTT, I 0 5 9J . Ähnlich warnte Gisela Bock vor scheinbar selbstevidenten Biologisierungen, die vor allem das, was als »weiblich« gilt, konnotieren, ausgrenzen und als min derwertig markieren - so etwa Schwangerschaft, Erziehungs- und Hausarbeit. Daher, mahnte Bock, müsse auch die Biologie selbst als Teil des gesellschaftlichen Wahrnehmungsrasters verstanden werden, sie sei » eine genuin soziale Kategorie mit einem genuin sozialen Sinnzusammenhang« [73: BOCK, 3 7 5 ; 107: CONRADJ. Die Vorstellung einer zeitlosen und natürlichen, also jeder kultu rellen Leistung vorgängigen biologischen Stabilität löste auch bei der Philosophin Judith Butler ein gewisses Unbehagen aus. » Gender Trouble« nannte sie bezeichnenderweise ihr 1 990 erstmals erschie nenes Buch im englischen Original, und vom »Unbehagen der Ge schlechter« war im Titel der deutschen Übersetzung die Rede [92: B UTLER; 93: B UTLERJ. In einem bald darauf erschienenen nächsten Buch über » Körper von Gewicht« nahm Butler noch einmal er läuternd zu den erhitzten Debatten Stellung, die ihre erste Studie ausgelöst hatte [94: B UTLER; vgl. für einen Überblick 309: RAAB, 68-73; 2 5 9: LORENZ, 9 8-102; 90: B UBLITZJ. Dort betonte Butler, sie wolle genau diejenigen Kategorien kenntlich machen, die als selbstverständlich erschienen und als Grundlagen unseres Denkens zumeist unhinterfragt hingenommen würden. Doch Butler ging noch weiter, als dies bis dahin in der Geschlechtergeschichte üblich war, denn sie zielte nicht darauf ab, das soziale Geschlecht als histo risch geworden und soziokulturell formbar aufzuzeigen. Sie ver kündete vielmehr die Geschichtlichkeit und Konstruiertheit des biologischen Geschlechts. Somit wurde die vermeintlich stabile Ka tegorie des »sex« aufgeweicht. Das Metainteresse Butlers zielte da bei auf eine Kritik des »heterosexuellen Imperativs«, d. h. auf die an die Entwürfe des biologischen Geschlechts zwangsweise gekoppelte heterosexuelle Präferenz als Norm. Wie ist das nun vorstellbar? Was bedeutet » Konstruktion«, wenn es um Körper und biologisches Geschlecht geht, um die ganz basale Frage nach »männlich« oder »weiblich«, um die Eintragung im Reisepass oder die Feststellung der Hebamme bei der Geburt: » Es
ist ein Mädchen! « ? Dazu ist zunächst eines in aller Deutlichkeit her vorzuheben: Ausdrücklich weist Butler die Vorstellung zurück, alles sei ausnahmslos sprachlich konstituiert. Sie leugnet niemals die Existenz von Stofflichkeit. Nirgendwo streitet sie ab, dass es Tat sachen und körperliche Erfahrungen gibt wie Krankheit, Leid, Schmerz oder Genuss, und nicht nur die Sprache, sondern vor allem das Handeln spielt in ihrer Theorie eine zentrale Rolle. Aber: auch wenn es unleugbare Körperlichkeiten gibt, so sei es doch erst die beständig wiederholte, kulturell-geschlechtsspezifische Imprägnie rung und Präsentation dieser Körperlichkeiten, die deren Erfahrung und Wahrnehmung bestimmt und somit letztlich auch den Körper selbst erst »konstruiert«. Insofern ist sprechen immer auch handeln [vgl. ausführlicher 2 8 5 : MÖHRING]. Solche Konstruktionen seien in dem Sinne konstitutiv, als dass ein Mensch ohne sie nicht gedacht werden könne und als dass ein Mensch auch sich selber ohne sie nicht denken könne [96: B UTLER]. Mithin bedeutet »Konstruktion« nicht die Überwindung von totaler Nichtexistenz. Es geht nicht um das Erschaffen von Materie in einer Art Schöpfungsakt. Vielmehr wird ein Körper (z. B. als weiblich und heterosexuell) »konstruiert«, indem er sich so verhält, wie er sich verhält und wie es den sozio kulturellen Erwartungen und Anforderungen entspricht. »Wir kön nen versuchen, zur Materie als etwas dem Diskurs Vorgängigen zurückzukehren«, schlägt Butler in »Körper von Gewicht« vor, »wir können dann allerdings entdecken, daß Materie vollständig erfüllt ist mit abgelagerten Diskursen um das biologische Geschlecht und Sexualität, die die Gebrauchsweisen, für die der Begriff verwendbar ist, präfigurieren und beschränken« [94: BUTLER, 5 3] . Mit anderen Worten: Körper bzw. Menschen werden normiert und mit einem derart dichten Gewebe verschiedenster Texte, Verordnungen, Hand lungs- und Wahrnehmungsweisen als biologische Geschlechter, als Frauen oder Männer markiert, dass sie ohne diese Zuschreibungen gar nicht wahrgenommen werden können - weder von anderen, noch von sich selbst. Die Materialität der Körper und die regulie renden Normen sind aus dieser Perspektive nicht voneinander zu trennen. Das biologische Geschlecht »entsteht« nach Butler durch eine sich »ständig wiederholende und zitierende Praxis [geschlechts spezifischen Daseins], durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt« [94: BUTLER, 22]. Damit ist dem soziokulturellen Geschlecht die angeblich natürliche Basis abhanden gekommen. »Sex« und »gender« verschmelzen in eins.
Hervorheben möchten wir an dieser Stelle insbesondere, dass derart nicht nur '>weibliche« und »männliche«, sondern auch »gute« und »schlechte«, »richtige« und »falsche« Körper und mit ihnen Persönlichkeiten erzeugt werden, die umso »besser« erscheinen, j e näher sie a n ein regulierendes Ideal heranreichen. Dieses Ideal, diese Norm, ist scheinbar »natürlich« gegeben, de facto aber eine »sedi mentierte Wirkung einer andauernd wiederholenden oder rituellen Praxis« [94: B UTLER, 3 2]. Um dies noch einmal deutlicher zu machen und auch in seiner Wirkungsmacht auf das menschliche (Selbst-)Verständnis darzustellen, wollen wir hier eine Anekdote wiedergeben, die der Historiker Michael Kimmel in der Einleitung seines Buches über »Manhood in America« erzählt. Während eines Seminars habe er eine Diskussion einer weißen und einer schwarzen Seminarteilnehmerin über die vereinende, gemeinsame Erfahrung aller Frauen als Frauen verfolgt. Wie selbstverständlich betonte die weiße Frau, wenn sie morgens in den Spiegel schaue, dann sehe sie natürlich eine »Frau«. Darauf antwortete die schwarze Frau, das sei der Unterschied, denn sie sehe eben eine »schwarze Frau«: »Race is invisible to you, because it's how you are privileged.« Kimmel kom mentiert, für ihn als weißen, männlichen Zuhörer sei diese Unter haltung verwirrend und erhellend zugleich gewesen. »>When I look in the mirror, I see a human being«<, habe er eingeworfen. »I am universally generalizable. As a middle-dass white man, I have no dass, no race, no gender. I'm the generic person! « [3 1 : KIMMEL, 3 f.] Gesellschaftliche Denkweisen und Praktiken schaffen solche Nor men, ein » Gattungsideal« und die zu ihnen gehörenden Abwei chungen. Sie bringen »männliche« und »weibliche«, »schwarze« und »weiße«, »kranke« und »gesunde«, »normale« und »unnormale« Menschen hervor. Folglich richtet sich die Frage, die Butler aufwirft, nicht auf die Existenz physischer Unterschiede zwischen Menschen als solche - die werden nicht geleugnet. Die Physis der drei Dis kutierenden variiert. Die Frage ist vielmehr, warum, wie und mit welchen Wirkungen ganz bestimmte Arten von Differenzen (z. B. diejenigen, welche » Geschlecht« oder auch »Rasse« bestimmen) solch gravierende Bedeutungen annehmen können - und wie die se Bedeutungen historisch so geworden sind, wie sie sind [94: B UTLER, 59]. Butlers Analysen hatten nachhaltigen Einfluss auf die Geschich ten der Körper und der Sexualitäten, die in den 1 990er Jahren in eine Phase der Konjunktur eintraten.9 Auch die teilweise vehemente 3°
Kritik an der angeblichen » Entkörperung« der Frau [ 1 22: DUDEN] durch Butlers Schriften konnte deren Niederschlag in der Körper und Geschlechtergeschichte rucht wirklich aufhalten, auch wenn eine explizite Bezugnahme auf ihre Texte immer noch vergleichs weise selten ist. Dabei ist insgesamt zu betonen, dass auch die hier skizzierten neuerlichen Verschiebungen der Theorien und Methoden der Frauen und Geschlechtergeschichte, der Sexualitäts- und Körpergeschichte im Kontext weiträumiger Veränderungen in den Sozial- und Kultur wissenschaften standen. In dieser Zeit begannen sich diskurstheore tisch angeleitete Kultur- und Gesellschaftsentwürfe zu etablieren, und sie hielten mit etwas Verspätung auch in der Geschichtsschrei bung Einzug.lO Ein Leitgedanke dieser Perspektive ist, weniger nach den »Dingen an sich« zu fragen, sondern vielmehr nach den Bedeu tungen, die diese Dinge erhalten, die sie tragen und reproduzieren und sie somit letztlich erst wahrnehmbar machen (und zwar in der Art, wie man sie zu einer bestimmten Zeit wahrgenommen hat). In einem solchen Denkzusammenhang verliert eine Abgrenzung des biologischen Geschlechts von kultureller Imprägnierung und somit eine Unterscheidung von »sex« und »gender« ihren Sinn. Denn, wie gesagt, »sex« existiert als zentrale Einheit des Denkens und Katego risierens letztlich nur deshalb, weil es mit entsprechender Bedeutung angereichert ist - aufgrund von welchen Zusammenhängen auch im mer. Die Denkmodelle des doppelten Geschlechts (als »sex« und »gender«) sowie der Zweigeschlechtlichkeit (als »Frauen« und »Männer«) wurden nun in der Historiographie kritisch hinterfragt und aufgebrochen [232: KNAPP/WETTERER; 29 5 : NICHOLSON; 1 94: HEINSOHN, 49 ff.; 203: HIRSCHAUER; vgl. auch 202: HEY,
9
10
Auf die Entwicklung der Körpergeschichte und die Debatte über Essenz und/oder Konstruktion wollen wir hier nicht weiter eingehen. Dies kann an anderer Stelle nachgelesen werden, so in 2 5 9: Maren LORENZ, Leib haftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000, oder bei 3 2 1 : SARASIN und 348: STOFF. Vgl. als Einführung in einen Bereich der Sexualitätsgeschichte auch den Band von Bernd-Ulrich HERGEMÖLLER, Einführung in die Historiographie der Homosexuali täten, Tübingen 1 999. Vgl. hierzu 244: Achim LANDWEHR, Geschichte des Sagbaren. Ein führung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001 , sowie 268: MARTSCHUKAT oder für die Sozial- und Kulturwissenschaften insg. 2 2 5 : KELLER u. a.
31
3 5 ff.].1l Zur Jahrtausendwende forderte Joan Scott dann, das Kon zept » gender« gänzlich aufzugeben. Scott kritisierte, die »sex-gen der«-Unterscheidung sei in den Analysen der 1 980er und 1 990er Jahre nicht in der nötigen Trennschärfe durchgehalten worden. Immer habe hinter »gender« die biologische Entität »sex« gestan den, so dass letztlich soziale Differenzen auf die Biologie zurück geführt würden. Dadurch würden diese soziokulturellen, histo risch-spezifischen Unterschiede aber letztlich als natürlich und biologisch fundiert markiert [3 3 5 : SCOTT, 23; vgl. auch 3 3 1 : SCHWARZKOPFlvoN SALDERN/LESEMANN, 4 86J. Es sei, s o Scott, ein »nightmare scenario«, wenn derart der biologische Determinis mus zurückkehre und die Wahrnehmung wie die Existenzweisen von Geschlecht reguliere [3 3 5 : SCOTT, 1 9]. Ähnlich wie Judith Butler formuliert Joan Scott hier ein eindringliches Plädoyer für die Historisierung der B iologie, der daran gebundenen Wissenssysteme, Denk- und Handlungsmuster. » Sex« und »gender« müssen als in einander verwobene Wissenssysteme verstanden werden, und nicht nur »gender«, sondern auch »sex« müsse innerhalb der Kulturgren zen angesiedelt werden [33 5 : SCOTT, 2 6J . Möglicherweise hat durch diese veränderte Fokussierung »nur« eine Verschiebung der B etrachtungsebenen stattgefunden, nämlich in den Körper hinein. Andererseits ist es ein elementarer konzeptio neller Unterschied, wenn die Fragen, die nun gestellt wurden (und immer noch werden), nicht mehr auf die soziokulturelle Ausgestal tung einer biologischen Essenz, sondern auf diese (nun nur noch: vermeintliche) »Essenz« selber zielten. Stabile Entitäten verlieren sich, vermeintlich ontologische Gewissheiten lösen sich auf. Und erst dann, wenn » die menschliche Tätigkeit des Erklärens und Ein ordnens aus einem >übernatürlichen< Zusammenhang gelöst wird, können Werte hinterfragt, umgedreht oder enthierarchisiert wer den«, wie die Historikerin Kirsten Heinsohn betont hat [194: HEIN SOHN, 60J. Nun interessierte vor allem die Art und Weise, wie Geschlechter in der Geschichte diskursiv produziert wurden und in den gesell schaftlichen Machtverhältnissen verankert waren. »Doing gender« sowie »perceiving and performing gender« [364: WEST/ZIMMER MANN; 303: PASERO; 1 3 5 : FENSTERMAKERIWESTJ rückten in das 11
Vgl. auch den Band 1 1,2 ( 1 993) der »Feministischen Studien«: » Kritik der Kategorie >Geschlecht«<.
Blickfeld, denn Geschlecht, so lautete die Losung, » ist nicht et was, was wir >haben< oder >sind<, sondern etwas, was wir tun« [179: HAGEMANN-WHITE, 68; vgl. auch 289: MÜHLEN ACHS, 76: BON TRUP, 1 73 : GRIESEBNER, 45 ff.] . Im Zentrum des neuen Blickfeldes stand die Konstitution geschlechtlich bestimmbarer Körper, an sie gebundener menschlicher Erfahrungen und Identitäten und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Freilich muss nun nicht jede Ge schlechtergeschichte eine Körpergeschichte und/oder eine Sexuali tätsgeschichte sein, und die Auflösung körperlicher Einheiten hat auch aus der feministischen Forschung teilweise vehemente Kritik erfahren. Gleichwohl sind Sexualitätsgeschichte, Körpergeschichte und Geschlechtergeschichte aus einer solchen Perspektive nur schwerlich sinnvoll voneinander zu trennen [3°9: RAAB, 65 f.; vgl. zur Diskussion 6o: AEGERTER; 1°7: CONRAD; vgl. zu Performanz Konzept und Geschichte 283, 284, 2 8 5 : MÖHRING; 269: MART SCHUKAT/PATZOLD). Eine solche Rekonzeptionalisierung, wie sie in den I990er Jahren vollzogen wurde, führte auch dazu, dass neben »Geschlecht« die weitere zentrale Kategorie der Frauen- und Geschlechtergeschichte überdacht werden musste, nämlich »die Frau«. Dass es sich bei »den Frauen« (und damit freilich auch »den Männern«) keineswegs um monolithische Gruppen handeln konnte, lag auf der Hand. Bereits eine solch simple Geschichte wie diejenige, welche Michael Kimmel über den morgendlichen Blick in den Spiegel erzählt, weist darauf hin, dass unterschiedliche Wahrnehmungsweisen und Normen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Geschlechter existieren. Eine universell gesetzte weibliche Erfahrung und Kollektividentität, über Ethnizitäts-, Klassen-, Religions- oder andere Kategorien hin weg, erschien spätestens seit den I 990er Jahren definitiv als Irr glaube. Die Fragen, die nun gestellt wurden, richteten sich ja gerade darauf, wie sich ein Subjekt in den vielfältigen gesellschaftlichen Machtverhältnissen konstituiert bzw. wie es konstituiert wird. Nur wenn man den Blick also streute, offener hielt und auf multiple und historisch variable Differenzen zu Vertretern und Vertreterinnen des anderen wie auch des eigenen Geschlechts richtete, ergab sich über haupt die Möglichkeit, Frauen und Männer, Weiblichkeiten und Männlichkeiten sinnvoll in ihrer Vielfalt beschreiben zu können [3°9: RAAB, 63 ff.; 1 3 8: FINZSCH/HAMPF, 47). Freilich haben Historikerinnen nicht erst in den I990er Jahren angefangen, über die Reichweite, die Grenzen, die Bestimmungs33
faktoren und die Aussagekraft der Kategorie » Frau« nachzudenken. Schon 1 969 hatte Gerda Lerner beklagt, wie schwer »Frauen« als Gegenstand historischer Forschung zu greifen seien. Schließlich teilten sie nicht einen spezifischen sozialen Status, sondern sie ge hörten vielmehr allen gesellschaftlichen Gruppen an. Aussagen über Frauen in der Geschichte bedurften also der weiteren Spezifizierung [2 5 3 : LERNER, 42 ff.; 1 7 1 : GORDON/BuHLE/SCHROM, 6 ff., 1 7; 3 4 3 : SMITH-RoSENBERG, 1 90J. Diese Erkenntnis über die Unein heitlichkeit des Frau-Seins rieb sich einerseits mit dem politischen Anliegen der frühen Frauengeschichte, ein kollektives weibliches Bewusstsein herzustellen. Andererseits machte die Heterogenität der Kategorie »Frau« aber auch deutlich, dass die Geschichte der Frauen die Geschichte in all ihren Facetten betraf. Die Geschlech tergeschichte lenkte das Augenmerk nun ausdrücklich auf die His torizität der Kategorie »Frau« und ihrer variablen Bedeutungs zuschreibungen [2 5 2 : LERNER, 1 5 3; 73: BOCK; 3 14: RILEY; 2 1 5 : HUNT, 6 5 ; 3 0 1 : PARR]. Schon die frühe Frauen- und Geschlechtergeschichte wies also auf die Verschränkung verschiedener Kategorien im Prozess gesell schaftlicher Machtentfaltung hin. In den 1 980er und 1 990er Jahren setzte sich die Forderung nach differenzierten und differenzieren den B licken, nach Interdependenz und Interaktion weiter durch, und sie sollte zu einer Vervielfältigung der Perspektiven führen. Weiterhin war es nicht nur geboten, die vielfältigen Facetten der Frauen- und Geschlechtergeschichte durch den Einbezug von Kate gorien wie Ethnizität und Klasse herauszuarbeiten. Anders herum gewannen auch die anderen gesellschaftlichen Strukturkategorien durch die B erücksichtigung von Geschlecht an weiterer Aussage kraft, und Gisela B ock stellte heraus, » Rassismus ist nicht zu be greifen, wird nicht seine geschlechtergeschichtliche Dimension, die ihn mitkonstituiert, begriffen« [73 : B OCK, 3 90]. »Interaktion« in einem mehrfach relationalen B eziehungsgeflecht lautete nun die Formel, mit der eine Geschichte geschrieben werden sollte, die, so Gerda Lerner, » die Art und Weise berücksichtigt, in der Faktoren von Rasse, Klasse, Ethnizität und Geschlecht in Hinblick auf die Männer und Frauen der zu untersuchenden Gruppen ausgedrückt werden« [2 5 6: LERNER, 1 8 8; ähnlich 1 49: FOX-GENOVESE, 29; 3 34: SCOTT, 1 0 5 4 f.; 73 : B O CK, 3 76 f.; 1 8 8: HAUSEN/WUNDER, I I ; 1 94: HEINSOHN; 202: HEY, 1 6 f.; 1 7 5 : GRIESEBNERILuTTER]. Eine derart vielschichtige Betrachtungsweise, die die Verschachte34
lungen und wechselseitigen Wirkungen von Geschlecht mit anderen Strukturkategorien hervorhob, schützte auch davor, Geschlecht zu einem, abermals in den Worten Gisela Bocks, »fixen, universalen oder ursprungs mythischen Modell zur Erklärung der Fülle histo rischen Geschehens« zu erheben und derart zu einer ontologischen Größe zu erklären. Vielmehr müsse, so forderte unter anderem Kirsten Heinsohn vor dem Hintergrund der Diskussionen der 1 990er Jahre, Geschlecht als eine prozessuale Kategorie verstanden werden. Das Streben nach einer stabilen Gewissheit darüber, was Männer und Frauen denn nun eigentlich seien, habe folglich der Einsicht weichen müssen, dass Geschlecht etwas Fließendes und In terdependentes sei, das sich in einem permanenten Konstruktions prozess befinde [ 1 94: HEINSOHN, 61 f.; 1 2 5 : EIFERT u. a., 7-I I].
Geschlechtergeschichte - Frauengeschichte, Männergeschichte, »Allgemeine Geschichte« ?
Ein Diskussionsstrang, der die Frauen- und Geschlechtergeschichte seit den 1960er Jahren geprägt hat, war derjenige über das Verhältnis zur so genannten »Allgemeinen Geschichte« . Diese Debatte wollen wir zum Abschluss dieses Kapitels noch einmal bündeln und dabei das Augenmerk vor allem auf das Verhältnis von Frauen- und Män nergeschichte richten. Die Beziehung war zunächst weniger von einem »Miteinander« geprägt, wie es sich in den letzten Jahren ent wickelt hat, sondern vielmehr von einem » Gegeneinander«. Als sich die Frauengeschichte herauszubilden begann, handelte die »All gemeine Geschichte« im Wesentlichen von Männern. Angeblich » allgemeine« Feststellungen waren in aller Regel Feststellungen über Männer (und hier wiederum über weiße Männer der Mittel und Oberklasse). Eine andere Geschichte, die Frauen sichtbar wer den ließ, war gefordert, und sie war Teil eines gesellschaftlich weit greifenden emanzipatorischen Projekts. Diese Konstellation machte es freilich schwierig und in der Anfangsphase der Frauengeschichte geradezu zu einem »politischen Tabu«, eine Geschichte zu entwer fen, in der Männer und Frauen als aufeinander bezogen gedacht wa ren [202: HEY, 1 0; 3 1 7: ROSENHAFT]. Gleichwohl waren in der Frauengeschichte von Anfang an Stim men zu vernehmen, die hervorhoben, dieses Projekt ginge nicht nur Frauen etwas an. Schließlich erforderte dessen Bearbeitung die Ent35
wicklung gänzlich neuer Begriffe und Kategorien für die Geschichte als solche, wie Gerda Lerner ja schon 1 969 angemerkt hatte [2 5 3 : LERNER, 49]. Wollte man tatsächlich eine neue Gesellschaftsord nung entwerfen, so setzte dies voraus, gleichermaßen » der Defini tion von Männlichkeit und Weiblichkeit in der amerikanischen Kul tur kritisch gegenüber [zu stehen}< [248: LERNER, 78 f.]. Aus diesem Blickwinkel musste das Interesse also den Verhältnis sen zwischen Männern und Frauen und deren aufeinander bezo genen Positionen innerhalb der Gesellschaft gelten. Dabei, so Joan Kelly-Gadol, seien die Erfahrungen von Frauen und von Männern in Geschichte und Gesellschaft zwar unterschiedlich, aber nicht voneinander unabhängig. Sollte tatsächlich eine neue »Allgemeine Geschichte« geschrieben werden können, dann müsse man sich für die Geschichte der Frauen ebenso wie für die Geschichte der Män ner interessieren, betonten etwa Kelly-Gadol oder Natalie Zemon Davis Mitte der 1970er Jahre [227: KELLY-GADOL, 20, 24; 1 1 4: DAVIS, 90]. Gerda Lerner fasste dies bereits 1 977 in einer Vorlesung wie folgt zusammen: »Die Zivilisation besteht aus eng aufeinander bezogenen und mit einander verknüpften Aktivitäten von Männern und Frauen [ . . . ]. Ver änderungen [ . . . ] im Geschlechterverhältnis sind als solche historische Phänomene und müssen auch als solche behandelt werden. Wir brau chen eine neue Universalgeschichte, eine umfassende ganzheitliche Geschichte, die eine Synthese der traditionellen Geschichte und der Frauengeschichte darstellen sollte. Sie wird sich auf sorgfältig verglei chende Studien für bestimmte Zeiträume stützen, in denen die histo rischen Erfahrungen der Männer mit denen der Frauen verglichen werden, wobei die Wechselbeziehungen ebenso zu untersuchen sind wie die Unterschiede und Gegensätze. Erst nach einer Reihe solcher detaillierter Untersuchungen und dem Eingehen der so gewonnenen Erkenntnisse und Begriffe in die allgemeine Kultur können wir hof fen, die Grundbegriffe zu finden, mit deren Hilfe sich die neue Uni versalgeschichte definieren läßt. Aber schon jetzt läßt sich sagen: Nur eine Geschichte, die davon ausgeht, daß Frauen zu allen Zeiten für die Geschichte von entscheidender Bedeutung gewesen und daß Männer und Frauen das Maß der Bewertung sind, wird wahrlich Universal geschichte sein« [249: Lerner, 1 74; Betonung im Original].
Der Historikerin Barbara Hey ist zuzustimmen, wenn sie hervor hebt, dass viele Fragen, die in den 1980er Jahren diskutiert wurden, schon in den 1 970er Jahren zumindest aufgeworfen worden waren. Hierzu gehört auch die Relationalität und das Postulat, den Plural
in der Geschlechtergeschichte ernst zu nehmen und auf diesem Wege die Geschichte insgesamt neu zu denken [202: HEY, 64]. Zu mindest in den theoretischen Ausführungen der 1 980er Jahre bestand kein Zweifel mehr daran, dass sich Geschichtsschreibende Frauen wie Männern, Weiblichkeiten wie Männlichkeiten gleicher maßen widmen müssten, wenn sie Gesellschaft, deren Ordnung, Machtverhältnisse und Wirkungsmechanismen tiefergehend verste hen wollten [149: FOX-GENOVESE, 1 4; 3 5 1 : STUDER, 9 8 ff., 1 1 2]. Ein » Hinzudenken« von Frauen als Sonderproblem der Geschichte wür de nicht zuletzt die alten gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen reproduzieren. Eine Geschichte, die die Geschlechter als aufeinan der bezogen aufschlüsselte, würde im Gegensatz dazu diese Mecha nismen dechiffrieren, erklärte etwa Joan Scott [334: SCOTT, I 0 5 4J . I n der zweiten Hälfte der 1 980er Jahre konnte kaum noch eine programmatische Darlegung zur Geschlechtergeschichte darauf ver zichten, auch die Geschichte des »anderen Geschlechts« einzu fordern (welches in diesem Fall das männliche war). Eine solche Interdependenz anzuerkennen, bedeutete freilich nicht, dass Frauen nur und ausschließlich in Beziehung zu Männern (und Kindern) gedacht und verstanden werden könnten, wie Lawrence Stone be hauptete [3 50: STONE, 2 1]. Denn Frauen definieren und konstituie ren sich und ihre Weiblichkeit auch gegenüber anderen Frauen und anderen Weiblichkeiten, ebenso wie Männer sich auch gegenüber anderen Männern und anderen Männlichkeiten definieren [73 : B O CK, 3 80; 3 1 : KIMMEL, 7 f.]. Die Berücksichtigung eines sol chen multiplen B eziehungs- und Definitionsgeflechts kristallisierte sich immer deutlicher als wesentliches Moment einer Geschlechter geschichte mit weit greifendem Anspruch heraus. Und dafür brauch te es eben auch eine neue Geschichte von Männern, die innerhalb der umfassenden historiografischen Transformationen der Sozial und Kulturgeschichte stand, sich von der althergebrachten Männer geschichte als Geschichte von Haupt- und Staatsaktion löste und Männergeschichte als Geschichte von Männlichkeiten innerhalb einer vielschichtigen Geschlechterordnung neu schrieb [3 5 8: UL BRICH, 1 3; 1 8 8: HAUSEN/WUNDER, I I; 5 3 : TOSH; I I9: DINGES, 8]. Es gelte, die vorhandenen Forschungslücken zu schließen und zu zeigen, »daß Männer als Männer auf eine besondere und von der der Frauen deutlich unterscheidbare Weise an Geschichte teilhat ten«, hoben etwa Karin Hausen und Heide Wunder hervor [ 1 8 8 : HAUSEN/WUNDER, I I f.]. Nur durch einen solchen konzeptionell 37
konsequenten Schritt würde es schließlich möglich werden, Ge schlechtergeschichte tatsächlich als neuen Entwurf einer »Allgemei nen Geschichte« platzieren zu können. Am deutlichsten hat dies wohl die britische Historikerin Leonore Davidoff als eine der He rausgeberinnen der Zeitschrift »Gender and History« formuliert. Sie sah die Herausbildung einer Männlichkeitengeschichte auch als notwendig an, um die politische Aufgabe der Frauen- und Ge schlechtergeschichte zu erfüllen, nämlich eine hierarchische Gesell schaftsordnung und ihre geschlechtlich definierten Strukturen auf zuzeigen: »Unless you take on the construction of masculinity you fight only half the battle« [nach 1 50: FREIST, 1 0 5 ; 1 9 5 : HERAUS GEBERINNEN VON GENDER AND HISTORY, 1 3 3 f.] . Überhaupt hatte sich » Gender and History« als eine der neuen Zeitschriften der 1 980er und 1 990er Jahre ausdrücklich der Er forschung einer mehrfach relationalen Geschlechtergeschichte ver schrieben. Nur wenn man männliches Verhalten und männliche Identitäten auch als männlich kennzeichnete, würden sie ihrem nor mativen Status enthoben werden. So könne auch herausgefiltert werden, wie Hierarchien qua Geschlecht konstituiert werden [ 1 96: HERAUSGEBERINNEN VON GENDER AND HISTORY, 1 H.]. Ent sprechend widmete sich die Zeitschrift auch gleich in ihrem ersten Themenheft den »Formations of Masculinity« über das Vehikel »Arbeit« in Großbritannien, den USA und Schweden im späteren 1 9. und frühen 20. Jahrhundert [ 1 02: COCKB URN, 1 5 9-63; 273: MCCLELLAND; 6 5 : BARON; 2 2 1 : JOHANNSON] . Ähnliche kon zeptionelle Äußerungen waren in diesen Jahren breit gestreut. So betonten auch die Herausgeberinnen des »Journal of Women's His tory«, um nur ein weiteres Beispiel anzuführen, eine Geschlechter geschichte könne nur dann eine substanzielle Alternative zur alther gebrachten »Allgemeinen Geschichte« sein, wenn sie Weiblichkeiten und Männlichkeiten in ihrer Interdependenz, ihrer Vielfalt und ihrer Veränderlichkeit in Raum> Zeit und allen Lebensbereichen auf zeige [ 1 3 1 : FARNHAM/HoFF-WILSON; 202: HEY> 6 f.]. Dass dies dann eine andere Art von »Allgemeiner Geschichte« sein würde, die weniger die Einheit, als vielmehr die Vielfalt menschlichen Daseins herausstellt, liegt auf der Hand [J 1 7: ROSENHAFT, 266 f.; 1 84: HAUSEN]. Insgesamt nahmen in den Anfangsjahren einer neuen Männer geschichte sicherlich die USA und Großbritannien avantgardistische Positionen ein [vgl. 46: SCHISSLER; 5 3 : TOSH]. Im deutschen
Sprachraum waren die entsprechenden theoretischen Positionen zwar formuliert, und man verkündete zumindest, den Plural ernst nehmen zu wollen. Männer als Wesen mit Geschlecht zu dechiffrie ren, würde »manche alte Frage in ein neues Licht rücken«, hatte Gisela Bock schon I984 angeregt [72: B O C K, I I 6, I I 9]. Nur durch eine Männergeschichte als Geschlechtergeschichte könne die nor mative Konstruktion des Männlichen als Maßstab des Menschlichen aufgehoben werden, ließ Hannah Schissler I 992 ihre Leserinnen und Leser wissen [46: SCHISSLER, 220]. Zugleich jedoch war die praktische Umsetzung dieser Postulate in Deutschland noch weithin Zukunftsmusik. Das veranlasste die Historikerin Ute Frevert, die in Deutschland als eine der Ersten den Zugang zum Geschlechterverhältnis und zu einer vergangenen Kul tur und ihren Weltbildern tatsächlich über die Männlichkeitsent würfe suchte [2 I : FREVERT, 9-I 8], zu äußerst pointierter Kritik. Ohne jeden Zweifel sei die Frauengeschichte als Ergebnis politischen Engagements gut und wichtig gewesen, stellte Frevert fest. Letztlich aber sei die Auseinandersetzung mit der Geschlechterproblematik als Frauenthema markiert, und dies habe die althergebrachte Vor stellung der Sonderanthropologie des Weibes (Männer sind » nor mal« und Mensch, Frauen sind etwas Besonderes) reproduziert [I 54: FREVERT, 1 2 2 ff.]. Auch die Bezeichnung » Geschlechtergeschichte« sei häufig nicht mehr als ein anderes Etikett auf einer kaum ver änderten Frauengeschichte und somit eine »Mogelpackung« gewe sen. Erst wenn tatsächlich auch Männer als Geschlecht erkannt und markiert würden, wenn Männer und Frauen, Männlichkeiten und Weiblichkeiten als komplementäre Elemente eines Systems und zudem auf einem ausdifferenzierten sozialhistorischen Fundament konsequent historisiert würden, könne die Geschlechtergeschichte ihr Potenzial vollständig entfalten. Dann könne sie tatsächlich zu einer neuen Art von Geschichte werden, hoffte Frevert, die auch im Hinblick auf Kolonialismus, Bürokratisierung, Industrialisierung oder Sozialstaatsentwicklung nicht nur neue Fragen aufwerfe, son dern auch bessere Antworten gebe. Die Tatsache, dass sie dann auch »die Träger und Verfahren männlicher Macht ins Visier nimmt«, und zwar aus der Genderperspektive, könne für eine breitere Akzeptanz der Geschlechtergeschichte nur von Vorteil sein [I 5 7: FREVERT, 3 4 ff.; I 56: FREVERT; I 5 2: FREVERT; vgl. auch 73: B O CK, 3 72, 3 8 I ff.; 78: B O UKRIF u. a., I-12]. Jetzt, am Anfang des 2 1 . Jahrhunderts, scheint die allgemeine 39
Anerkennung einer solchen Geschlechtergeschichte weiter gedie hen. Sie sei von der »Nische in den Mainstream« gerückt, bilanzier ten kürzlich Jutta Schwarzkopf, Adelheid von Saldern und Silke Lesemann [3 3 I]. Ähnlich hatte Lynn Hunt schon 1 998 plakativ for muliert, »Gender history is here to stay« [2 1 5 : HUNT, 5 9] . Und Rebekka Habermas ist sicherlich beizupflichten, wenn sie im Juni 2002 die Tagung »Neue Perspektiven: Geschlechtergeschichte nach dem linguistic turn« mit der Bemerkung einleitete, die Geschlech tergeschichte sei eine (wenn nicht gar: die) Erfolgsgeschichte der letzten Jahrzehnte. Möglicherweise ist mittlerweile wirklich eine neue »Allgemeine Geschichte« im Begriff zu entstehen, möglicher weise sind die Historikerinnen und Historiker mittlerweile wirklich so weit, besagte gänzlich neue »Menschheitsgeschichte« schreiben zu wollen und zu können, um noch einmal auf die eingangs dieses Kapitels nachgezeichnete Diskussion über den Titel der Zeitschrift » L'Homme« zurückzukommen. Eine solche Geschichte würde der Vielfalt menschlichen Daseins Rechnung tragen, das Postulat der Multiperspektivität ernst nehmen und tatsächlich auf Hierarchien der Bedeutung einzelner Geschichten verzichten. Dies wäre ein Entwurf »Allgemeiner Geschichte«, der Heterogenität zum Pro gramm erhebt.12 Dann würden einer bestehenden Geschichte nicht bloß Ergänzungen hinzufügt, deren vermeintliche »Nachrangig keit« durch ihren Status als » Ergänzung« (und nicht als »Substanz«) letztlich doch nur betont und erst geschaffen wird. Wenn also eine Geschlechtergeschichte irgendwann nicht mehr hervorzuheben braucht, dass sie Geschlechtergeschichte ist, dann wäre sie tatsäch lich »Allgemeine Geschichte«. Und in einer solchen Geschichte würde eben .auch die Geschichte von Männlichkeiten in ihren viel schichtigen soziokulturellen Beziehungen eine wichtige Rolle spie len [ 1 84: HAUSEN, 5 1 H.]. Demnach scheint es so, als wäre die Geschlechtergeschichte am Anfang des 2 1 . Jahrhunderts zum wiederholten Male an einem neuen Punkt in ihren vielfältigen Wandlungen angelangt. Abermals zeigt sie sich als ein kontroverses, spannungsreiches und dyna misches Forschungs- und Diskussionsfeld, wie auch Hans Medick und Anne-Charlott Trepp in dem Vorwort zu ihrem Band über » Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte« betonen [277: 12
Vgl. zu den Diskussionen um Geschlechtergeschichte und neue »große Erzählungen« insb. 2 1 5 : HUNT, 74 ff., und r 84 : HAUSEN.
MEDICKITREPP, 1 2 f.]. Daran ist die Geschichte der Männlichkei ten nicht ganz unbeteiligt, und der Band von Medick und Trepp verschreibt sich explizit dem Zusammendenken von Männlichkeiten und Weiblichkeiten. Die Geschichte der Männlichkeiten scheint nun also auch im deutschsprachigen Raum auf dem besten Weg zu sein, zu einem festen Bestandteil der Geschlechtergeschichte zu werden. Dies sig nalisiert nicht zuletzt eine wahre Flut von Zeitschriftenheften und Büchern sowie die Gründung eines beständig wachsenden »Arbeits kreises für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung in den Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften« im Jahr 200 1 .13 Es gibt jedenfalls immer mehr Frauen und Männer, die sich mit Männern, Männlichkeiten und ihrer Geschichte befassen, und es gibt immer mehr Männer, die Geschlechtergeschichte schreiben. Das mag ein Ergebnis der wissenschaftshistorischen Verschiebun gen der letzten drei Jahrzehnte sein, ähnlich wie es ein Ergebnis » historischer Prozesse« war, dass zunächst » mehr Frauen als Män ner dazu neig[t]en, Geschlecht als soziale und historische Kategorie ernst zu nehmen und daraus mannigfaltige Erkenntnisse zu bezie hen«, wie Gisela Bock hervorhob [72: B OCK, 1 2 5J. Interessant ist, dass die Frauen- und Geschlechtergeschichte diese abermaligen his torischen Verschiebungen und also das neuartige Interesse an Män nern und Männlichkeiten selbst generiert hat. In der Ablehnung der » alten« Männergeschichte war konzeptionell die Entwicklung einer » neuen« Männergeschichte als Geschichte der Männlichkeiten an gelegt. Das sollte dieses Kapitel zeigen. Neben (oder vielleicht bes ser: in Verbindung mit) der Frauen- und Geschlechtergeschichte gibt es einen weiteren Faktor, der die Herausbildung einer solchen neuen Männergeschichte geprägt und beeinflusst hat: die inter disziplinären Männerstudien. Sie sollen im folgenden Kapitel ein gehender beleuchtet und erklärt werden. 13
Vgl. WerkstattGeschichte Heft 6 (1993) und Heft 29 (2001 ); 34: KÜHNE; 1 5 : ERHART/HERRMANN; 9: DINGES; 3 26: SCHMALE; Amerikastu dien/American Studies 43,4 ( 1 998); Die Philosophin 1 1, 22 (2000); Pots damer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung 4, 1 +2 (2000); Feministische Studien 1 1 ,2 (2000); Österreichische Zeitschrift für Ge schichtswissenschaften 1 1 , 3 (2000), Geschichte und Gesellschaft 29,2 (2003) (zum »Krieger«), 47: SCHMALE, um hier nur eine Auswahl zu nennen. Vgl. die Homepage des Arbeitskreises http://www.ruendal.de/ aim/gender.html [20. Mai 2004J.
3.
»Men's Studies«: Entwicklung, Schwerpunkte und Probleme
Im September 1 9 8 8 wagte die Theoriesektion der »British Socio logical Association« ein Experiment. Ihre Tagung mit dem Titel »Men, Masculinities and Social Theory« markierte einen Aufbruch, der sich in den B eiträgen des Konferenzbandes in vielfacher Weise widerspiegelt: Überraschung darüber, dass sich zu diesem Zeit punkt bereits eine ansehnlich große Gruppe von Interessierten zu sammenfand; Optimismus angesichts eines sich rasch und positiv entwickelnden Forschungsfelds Männerstudien; aber auch tief sit zende Skepsis und Befürchtungen über gesellschafts- wie wissen schaftspolitische Implikationen, die mit dem seinerzeit noch jungen Themenkomplex verbunden schienen [ 1 92: HEARN/MORGAN) . Kein zweiter Aufsatz in diesem Band artikuliert diese Probleme mit dem Begriff »Men's Studies« und dessen Forschungsdesign deut licher als derjenige von Joyce Canaan und Christine Griffin. In ihrer provokanten Frage »The new men's studies: part of the problem or part of the solution?« sind sowohl Ansprüche wie Probleme hin sichtlich der verschiedenen Ausformungen der Männerstudien for muliert. Diese finden sich in der Entwicklung, Ausdifferenzierung und inhaltlichen wie institutionellen Verortung der Männerstudien, und ihr Fluchtpunkt ist stets das Verhältnis zum Feminismus: »We think that those doing work on men and masculinity need to state how they view their perspective relative to feminism« [97: CANAAN/GRIFFIN, 2 r r ] . Dieses Kapitel wird sich mit den gegenwarts orientierten Män nerstudien auseinander setzen, wobei der Rückbezug auf die Ge schlechtergeschichte stets mitgedacht ist.1 Hier allgemein als die kri tische, sozial- und kulturwissenschaftliche Analyse von Männern und Männlichkeiten verstanden, entwickelten sich die »Men's Stu1
Die hier zu verwendenden Begriffe bedürfen der Erläuterung, denn sie werfen vielfältige Probleme auf und boten bereits oft Anlass zu kontro versen Debatten; siehe dazu weiter unten in diesem Kapitel. Hier werden die Begriffe »Männerstudien« und "Men's Studies« synonym verwandt. Sie stehen in Abgrenzung einerseits zu traditionellen Wissenschafts modellen, die zwar »Mensch« sagten, aber »Mann« meinten, sowie an dererseits zu Schriften aus eher semi-wissenschaftlichen, »männerbeweg ten« Zusammenhängen.
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dies« zunächst in den angelsächsischen Ländern, inzwischen aber durchaus auch hierzulande zu einem wahrgenommenen und an erkannten Feld innerhalb der akademischen Landschaft. Letzteres wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass mit den soziolo gischen Arbeiten Michael Meusers sowie den sozialpädagogischen Beiträgen Constance Engelfrieds und Holger Brandes' nun auch von deutscher Seite wissenschaftstheoretische Hinführungen und Erläuterungen zur Verfügung stehen, die weit über das hier Dar stellbare hinausgehen und auf die wir uns im Folgenden auch immer wieder beziehen werden [8 3 : BRANDES; 1 26: ENGELFRIED; 279: MEUSER; 280: MEUSER]. Der » neue Dialog zwischen Frauen- und Männerforschung« hat mithin auch die Bundesrepublik erreicht [220: JANSHEN, 1 1-2 1 ; zu diesem Dialog in den USA siehe die Bei träge in 1 60: GARDINER]. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels soll die Disziplinentwicklung nachgezeichnet werden. Dabei werden wir zunächst die Ausbildung und den Entstehungszusammenhang entsprechender Forschungen in den USA und in Großbritannien skizzieren, um schließlich auf die zeitlich verschobene Rezeption und Übernahme von »Men's Studies« im deutschsprachigen Raum einzugehen. Diese Diszi plinentwicklung durchlief, ähnlich wie die der Frauen- und Ge schlechtergeschichte, deutlich markierbare Phasen, deren Charak teristika in diesem Teil ebenso vorgestellt werden sollen wie die zahlreichen Vorläufer und Vorbilder aus unterschiedlichen Tradi tionen und Fächern, an denen sich die »Men's Studies« orientier ten. Im Anschluss daran werden einige wichtige Zugänge und Theo rien präsentiert, die sich in den letzten Jahren als besonders be deutsam etabliert haben und - auch darauf wurde bei der Auswahl geachtet - die in engem Verhältnis zu denjenigen Themen der Ge schlechter- und Männlichkeitengeschichte stehen, die wir in den nächsten Kapiteln eingehender betrachten werden. So soll dort etwa die Ablösung der traditionellen soziologischen Rollentheorie zu Gunsten konstruktivistischer und - wenn auch bislang erst in ge ringem Umfang - diskurstheoretischer Gedankenmodelle disku tiert und die Frage nach unterschiedlichen Konzeptionalisierungen männlicher Macht gestellt werden. Gerade dieser zuletzt genannte Aspekt wird einen Leitfaden unserer Darstellung abgeben. Ein anderer Schwerpunkt wird auf der zunehmenden inhaltlichen Aus differenzierung der »Men's Studies« liegen, die sich in einer inzwi44
schen schier unüberschaubaren Anzahl von Beiträgen zu unter schiedlichsten Aspekten von Männlichkeit dokumentiert. Zum Abschluss dieses Kapitels werden wir uns mit einigen der Kontroversen und Problemfragen beschäftigen, die von innen wie von außen vielfach an die Männerstudien herangetragen worden sind. Damit sind unter anderem das Verhältnis der akademischen Disziplinen zu » männerbewegten« Projekten, die Frage nach der disziplinären und institutionellen Verortung dieser Forschungen sowie nicht zuletzt die gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Zusammenhänge angesprochen, in denen sich die »Men's Studies« notwendig bewegen und mit denen sie in permanenten, wechsel seitigen Austauschbeziehungen stehen. Hier geht es mithin um die Relevanz dieser Forschungsrichtung oder, wie Canaan und Griffin dies pointiert formulieren, um die Frage: » If the role of women's studies is the liberation of women, what might be the potential con tribution of a >men's studies« [97: CANAAN/GRIFFIN, 2 1 2]
Die Entwicklung der akademischen »Men 's Studies«
Ohne »Women's Studies« keine » Men's Studies«. Schon ein erster flüchtiger Blick auf die Entwicklung des Forschungsfelds der Män nerstudien macht deutlich, wie richtig und wichtig dieser Hinweis ist. Sowohl die gegenwartsorientierte feministische Forschung als auch die Frauen- und Geschlechtergeschichte haben Fragestellungen, Theoriekonzepte und begriffliche Kategorien entwickelt, mit denen sie wesentliche neue Erkenntnisse über Geschlechterverhältnisse sowie über spezifisch vergeschlechtete Erfahrungs- und Wahrneh niungshorizonte herausgearbeitet haben und, später, eine dekon struktivistische Kritik an ihnen formulierten. Viele dieser Ansätze und Theorien sind auch für Männerstudien bzw. für eine Geschichte der Männlichkeiten leitend [ 1 26: ENGELFRIED, 4o ff.]. Die Neue Frauenbewegung seit den 1960er Jahren hat darüber hinaus einen umfangreichen Kanon gesellschafts- und wissenschaftspolitischer I Themen - z. B. berufliche Diskriminierung und geschlechtsspezi fische Arbeitsteilung, Sexualität, Gewalt gegen Frauen, Pornogra . fie - fest auf den Tagesordnungen verschiedenster Diskussions foren etabliert. Auch diese politische Bindung war zentral sowohl für das Entstehen als auch für die Entwicklung von Forschungen, in denen Männer als explizit geschlechtlich geprägte, kulturell wie 45
historisch varüerende Wesen thematisiert werden [279: MEUSER, 89 ff.] . In den Vereinigten Staaten von Amerika tauchten »Men's Stu dies« erstmals in den späten 1 960er und in den 1 970er Jahren auf, teilweise als direkte Antwort oder Reaktion auf die Neue Frauenbewegung, wie beispielsweise Joseph Pleck und Jack Saywer in der Einleitung ihres Sammelbandes aus dem Jahr 1 974 deutlich machten. Dieser Text kann heute beinahe als Gründungsdokument einer wissenschaftlich angeleiteten Selbstvergewisserung von Männern als Männer angesehen werden [307: PLECKlSAYWER, 2]. Aus dieser Zeit stammen sowohl die solidarische Nähe der überwiegenden Menge von » Männerforschern« zum Feminismus und zum Projekt »Women's Studies« als auch die nicht selten spannungs geladenen und konfliktträchtigen Auseinandersetzungen mit dieser scheinbaren » Komplementärdisziplin«. Zeitgleich entwickeln sich die viel schichtigen und mitunter auch komplizierten Beziehungen zu anti sexistischen, »männerbewegten« Projekten. Diesen ging und geht es weniger um eine wissenschaftliche, als um eine nach Identität suchende Auseinandersetzung mit Mann-Sein und Männlichkeiten.2 Sicherlich für diese Anfangsphase, aber auch noch bis in die frühen 1 990er Jahre hinein ist Willi Walters Einschätzung zuzustimmen, dass diese antisexistische Männerbewegung als »politische Basis« der Männerstudien zu begreifen ist; ein Umstand, der sich nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass sich hier wie dort die selben Personen aktiv beteiligten und ihr Wirken als politisches Engagement verstanden wissen wollten [362: WALTER, 1 5; 8 3 : B RANDES, Bd. I]. Weitere wichtige Einflüsse gingen von der Bewegung gegen den Vietnamkrieg aus. Der Krieg in Südostasien löste eine verbreitete Desillusionierung aus, die Anlass gab, über traditionelle Männer ideale und die mit ihr einhergehenden gesellschaftlichen Implikatio nen zu reflektieren. Aus diesem Impetus entstanden neben den ersten »Männergruppen« auch (sozial-)wissenschaftliche Diskus sionszusammenhänge sowie Zeitungsprojekte, wie z. B. »Brother: A Forum for Men Against Sexism« in der San Francisco Bay Area, 2
Gerade für die Anfangsjahre ist die genaue Trennung zwischen wissen schaftlicher Literatur im engeren Sinne und subjektiv-orientierenden Texten problematisch; in einzelnen Fällen trifft dies auch heute noch zu. Trotzdem versuchen wir hier, zwischen Literatur für eher wissenschaft liche Diskussionszusammenhänge und solcher für eine breitere Rezep tion zu unterscheiden.
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in denen sich erste akademische Reflexionen finden lassen. Etwa Mitte der 1 970er Jahre wurden an einigen liberaleren US-Hoch schulen erstmals Seminare, die sich den Fragen nach Männern und Männlichkeiten, nach ihrer Machtposition, ihrem Verhalten und ihrer Sexualität widmeten, abgehalten. Dabei konnte noch nicht von einer eindeutig identifizierbaren Disziplin gesprochen werden. Stattdessen realisierten sich diese ersten akademischen Anfänge auf Initiative Einzelner, die ihre Veranstaltungen zwar in allgemeiner Perspektive abhielten, sie zugleich aber doch in erster Linie in ihr spezifisches Fach verorteten, welches etwa Soziologie, Politikwis senschaft, Literaturwissenschaft, Film- & Medienwissenschaften oder Psychologie sein konnte. Bezeichnenderweise tat sich die aka demische Disziplin Geschichtswissenschaft in diesem Rahmen nicht nennenswert hervor, ein erster Kurs wurde Anfang der 1 990er Jahre entwickelt [10: DORSEYJ - ein Umstand, der auch den Grad und den Umfang historisierender Analysen innerhalb der Männerforschung lange Zeit auffallend niedrig hielt. Erstmals wurde schließlich 1976 an der Universität in Berkeley die wissenschaftliche Beschäftigung mit Männern als Männer in das Curriculum integriert [228: Km DER]. Zeitlich etwas später setzte dieses Interesse auch in Groß britannien ein, wobei hier im Unterschied zu den USA eine betont enge Anlehnung an eine sozialistische Theorietradition gesucht wurde, in der beständig die materielle Basis von Männlichkeits vorstellungen im Zusammenhang von Klassenlage und unter Bedin gungen entfremdeter Lohnarbeit betont wurde [3 5 2 : TOLSON; 262: MAC AN GHAIL; vgl. auch 1 90, 1 9 1 , 1 92 : HEARN; eine kritische Auseinandersetzung bietet 1 0 1 : CLATTERBAUGH, 1 1 7- 1 3 6J . Seitdem durchliefen die »Men's Studies« zwei deutlich unter schiedene Phasen. Die erste, von Mitte der 1 970er Jahre bis zu Be ginn der 1 990er Jahre, zeichnete sich durch verschiedene Charakte ristika aus. Zum einen fand in diesen Jahren eine ausgeprägte Suche nach Vorbildern und Vorläufern statt. Es hatte in den unterschied lichen Fächern immer wieder Studien gegeben, die explizit oder implizit Aspekte des Mann-Seins thematisiert hatten oder aber theoretische Entwürfe boten, die als Orientierung denkbar waren. Namentlich für das Fach Soziologie seien hier die empirischen Arbeiten Mirra Komarovskys [2 3 5 : KOMAROVSKY; 234: KOMA ROVSKY] oder aber die Konzeptionalisierungen des Männlichen in »Klassikern« des soziologischen Denkens wie Ferdinand Tönnies, Georg Simmel oder Emile Durkheim genannt [279: MEUSER, 2 1-49]. 47
I m gleichen Sinne sind beispielsweise auch Sigmund Freuds Essays zur Theorie der Sexualität als konstant wiederkehrende Bezugs punkte heutiger Männlichkeitsforschung auszumachen, zumal mit der Frage nach männlichen Sexualitäten ein zentrales Thema der em pirischen Forschung angesprochen ist [59: ADAMS/SAVRAN, 9-1 3] . Ein weiteres signifikantes Merkmal dieser ersten Phase der »Men's Studies« war ihre inhaltliche Konzentration auf Fragestellungen, die sich hauptsächlich mit der Lebenswelt von Männern aus der weißen Mittelklasse befassten, also Männern mit gesichertem sozialem, ökonomischem und kulturellem Kapital. In dieser Phase entstanden wichtige und richtungsweisende Forschungsbeiträge, etwa Joseph PIecks »The Myth of Masculinity« [306: PLECK] oder Peter Filenes »Him/Her/Self: Sex Roles in Modern America« [ 1 6: FILENE], das auch erstmals eine ernst zu nehmende Historisierung anbot. Das stetige Wachstum dieses Forschungsfelds wurde nicht zuletzt mit der Veröffentlichung von Eugene Augusts annotierter Bibliografie dokumentiert. 1 9 8 5 erstmals mit zunächst etwa 600 Einträgen publiziert, verzeichnete sie bei ihrer Wiederauflage nicht einmal zehn Jahre später bereits über eintausend Titel [63 : AUGUST; 64: AUGUST]. In dieser Phase standen die »Men's Studies« in einem sehr engen und eminent politischen Wechselverhältnis zu den »Women's Studies« und feministischem Denken allgemein, was unter anderem in den Auseinandersetzungen mit den Theorien und Beobachtungen so ausgewiesener Feministinnen wie etwa Barbara Ehrenreich und Carol Gilligan - die beide gleichfalls bedeutende Beiträge zu den »Men's Studies« verfassten - belegt ist [ 1 66: GILLI GAN; 1 4: EHRENREICH]. Mit E. Anthony Rotundos »American Manhood: Transforma tions in Masculinity from the Revolution to the Modern Era« ent stand zu Beginn der 1 990er Jahre nun auch eine ausführliche Ge schichte amerikanischer Männlichkeit [4 5 : ROTUNDO]. Die Kritik an diesem Buch machte einen zuvor eingeleiteten Wandel in den »Men's Studies« transparent. Gerade wegen seines engen Fokus auf die Erfahrungen weißer Männer der Mittelklassen inspirierte »American Manhood« angeregte Diskussionen sowie differenzie rende Studien. Rotundos Arbeit steht somit am Übergang zu einer zweiten, deutlich abzuhebenden Phase innerhalb der Männer studien. Vorangetrieben durch Forscher wie Harry Brod, Michael Kimmel und Kenneth Clatterbaugh und unter dem Label der »newer Men's Studies« wurden Männlichkeiten - der Plural ersetzt
nun immer öfter den Singular - seit dieser Zeit verstärkt als multipel und dynamisch untersucht, wurden Differenzkriterien wie » Race«, Sexualität, sozioökonomische Verhältnisse und andere bewusst in die Betrachtungen integriert [86: BROD; 229: KIMMEL; 1 0 1 : CLAT TERBAUGH]. Der Titel eines Sammelbands von Harry Brod und Michael Kaufman bringt den Forschungswandel auf den Punkt: »Theorizing Masculinities« [87: BROD/KAUFMANJ. Erstens stellten sich theoretische Debatten an die Seite empirischer Studien. Vielen Arbeiten dieser Jahre ist gemein, dass sie ihre Methoden und An sätze reflektierter als bislang üblich präsentierten, wobei vor allem Fragen der verwandten Machtkonzepte sowie das Verhältnis zu feministischer Theorie angesprochen wurden. Hier sind einige be sonders markante Einflüsse sichtbar, die den » Gay-« sowie später auch den »Queer Studies« entstammen.3 Auch Theorien des Post kolonialismus wirkten inspirierend [zusammenfassend 228: Km DER, für Beispiele vgl. 2 3 8 : KRISHNASWAMY; 1 80: HALBERSTAMJ, und insbesondere die Schriften Frantz Fanons trafen in einer inten sivierten Forschung von und zu rassistisch marginalisierten Män nern auf neues Interesse [ 5 9: ADAMS/SAVRAN, 227-23 IJ. Zweitens wandelte sich die Perspektive und somit das Vokabular: aus der homogenen und stabilen »Männlichkeit« wurden die »Männ lichkeiten«, in den Vordergrund drängten »plurality and diversity of men's experiences, attitudes, beliefs, situations, practices, and in stitutions, along lines of race, dass, sexual orientation, religion, eth nicity, age, region, physical appearance, able-bodiedness, mental ability, and various other categories with which we describe our lives and experiences« [87: BRoD/KAUFMAN, 4-5J . Die bisher ver gleichsweise eindimensionale Perspektive auf eine normative Kern gruppe weißer Mittelklassemänner war somit passe; Alterität und Differenz wurden betont. Begleitet wurde diese zweite Welle der Männerstudien von einem zunehmenden Grad der Institutionalisierung, der sich zwar weniger in Universitätsprogrammen und eigenen Professuren, dafür aber in der Gründung von Netzwerken wie der »American Men's Studies Association« ( 1 99 1 ) oder in Zeitschriftenprojekten wie dem »Jour nal of Men's Studies« (1 992) oder »Men and Masculinities« ( 1 998) manifestierte. 3
Siehe zu den »Queer Studies« den Abschnitt in Kapitel 8 über Sexuali tätsgeschichte. 49
Im deutschsprachigen Raum konnte sich eine kritische Män nerforschung - trotz einer starken Verbreitung von Männerbewe gungsliteratur, die zum Teil durchaus auf hohem Niveau war [304: PILGRIM; 208: HOLLSTEIN; 3 66: WIECK; kritisch vgl. 1 26: ENGEL FRIED, 48 ff.] - erst vergleichsweise spät etablieren [362: WALTER, 1 6] . Als herausragend ist dabei sicherlich die Arbeit Klaus Thewe leits anzusprechen, die trotz oder gerade wegen der von ihr aus gehenden Kontroversen nach wie vor einflussreich ist und heute als Klassiker zum Zusammenhang von Sexualität, Geschlechterverhält nissen und Faschismus zu bezeichnen ist [5 1 : THEWELEIT]. The weleit nahm Ende der 1 9 70er Jahre bereits viele Anregungen aus Psychoanalyse und Poststrukturalismus auf und wurde danach in der feministischen Forschung sowie in der Männerforschung breit rezipiert [88: BRÜNS]. Theweleits psychoanalytische Herangehensweise orientierte sich allerdings weniger an Sigmund Freuds klassischen Ausführungen. Vielmehr rezipierte er die Kritik der neuen Frauenbewegung an Freuds Kennzeichnung des Weiblichen als defizitär sowie die struk turalistische Psychoanalyse Jacques Lacans. Derlei Ansätze haben seitdem nur selten Eingang in die Geschichtswissenschaft gefunden, spielen aber in anderen Kulturwissenschaften eine durchaus promi nente Rolle. Beispielhaft seien hier die breit diskutierten semio tischen Arbeiten Luce Irigarays oder Julia Kristevas genannt oder auch die feministisch-psychoanalytisch argumentierende Filmwis senschaft etwa einer Teresa de Lauretis, die auch den Blick für männliche Fantasien, Wünsche und Ängste öffnete [für Überblicke siehe 1 3 9a: FLAAKE; 300a: PAGELJ . Generell ist festzuhalten, dass eine angebliche anatomische Grun dierung von Geschlecht mit all ihren Implikationen in Anlehnung an Freud nach wie vor vergleichsweise unkritisch in vielen popu lären Arbeiten zu Männern und Männlichkeiten diskutiert wird. Innerhalb der »Men's Studies« jedoch ist die klassische Freud'sche Psychoanalyse entthront. Als zu eng ist deren Verwobenheit mit der bürgerlich-patriarchalischen Kultur ihrer Entstehenszeit erkannt. Psychoanalytische Herangehensweisen sind modifiziert worden. Wolfgang Mertens oder Holger Brandes etwa dokumentieren und kommentieren die unterschiedlichen Ansätze, die sowohl in der praktischen »Männerarbeit« als auch in Theoriedebatten von Be deutung sind [8 3 : BRANDES; 3 8 : MERTENS]. Allgemein gilt für die gegenwartsorientierte Männerforschung in
der Bundesrepublik, dass ein hohes Maß an Übereinkunft zwischen politischen und akademischen Arbeitskontexten existiert. Diese in haltliche, konzeptionelle, organisatorische und personelle Nähe lässt sich beispielsweise an der Zusammensetzung des 1 9 8 5 gegründeten und bis 1993 existierenden »Arbeitskreises Antisexistischer Männer studien« zeigen, in dem beinahe ausschließlich Männer mitwirkten, die auch in der pro-feministischen Männerbewegung aktiv waren. Inzwischen ist auch hierzulande diese enge Verbindung verloren gegangen, ohne dass eine insgesamt gesellschaftskritische, selbst reflexive Position aufgegeben wurde. In gleichem Maße ist festzu halten, dass Männerstudien nun mehr an verschiedenen Fachberei chen betrieben und unterrichtet werden. Dabei ist der Grad der formellen Institutionalisierung nach wie vor vergleichsweise gering, trotzdem existieren zumindest punktuell institutionelle Zusam menhänge, die zumeist an die Etablierung einer Disziplin » Gender Studies« angelehnt sind. Die große Stärke der deutschen, auf die Gegenwart hin orientierten Männerforschung sei, so betont Bran des, dass sie auf umfangreiche empirische Datenerhebungen zurück greifen könne. Dies erlaube inzwischen stärker differenzierende Aussagen über Männer und Männlichkeiten und habe in jüngster Zeit einige Forschungen angeleitet [ 8 3 : BRANDES, Bd. 2, 2 3-26]. Als wichtige Untersuchungsfelder lassen sich benennen: Das Kon zept der Homosozialität, Männlichkeit und Militär, Sozialisations forschung, männliche Gewalt, Arbeit, Männergesundheit, Vaterschaft [für einen Überblick siehe 3 6 1 : WALTER]. Solche sozialwissen schaftlichen Studien werden auch in der praktischen psychologischen und pädagogischen Arbeit wahrgenommen, während von kultur wissenschaftlich orientierten Forschungen im deutschen Sprach raum noch eher wenig Wirkung ausgeht.
Die Theorieentwicklung innerhalb der »Men 's Studies«
Die Darstellung relevanter Theoriemodelle und vielfach angewand ter Zugänge innerhalb der »Men's Studies« kann im Rahmen einer solchen Einführung nur skizzenhaft ausfallen. Wir haben uns bei der Auswahl auf Aspekte konzentriert, denen wir uns auch bei der nachfolgenden Charakterisierung einer Geschichte der Männlich keiten widmen wollen. Bei der Frage nach den Theoriedebatten innerhalb der Männer51
studien sind vor allem zwei unterschiedliche Stränge zu betrachten. Zum einen gilt es, den Paradigmenwechsel nachzuzeichnen, der mit der Ablösung des Geschlechterrollenmodells durch das Konzept einer sozialen Konstruktion von Geschlecht einherging, und zum anderen müssen die unterschiedlichen Machtmodelle angesprochen werden, die zur Skizzierung männlicher Positionen in der Gesell schaft verwendet werden. Mit dem Hinweis auf das Geschlechterrollenmodell ist so etwas wie die »Vorgeschichte« der heutigen »Men's Studies« angespro chen. Der aus der Soziologie stammende Begriff der Geschlechter rolle »bezeichnet die Summe der von einem Individuum erwarteten Verhaltensweisen als Frau bzw. als Mann und damit ein überindivi duelles, relativ stabiles und insofern vorhersagbares geschlechts spezifisches Verhaltensmuster« [ I 3 3 : FELDMANN/HABERMANN, I 5 8]. Der Beginn des wissenschaftlichen Interesses an einer männ lichen Rollenidentität lässt sich in der Weltwirtschaftskrise der I930er Jahre festmachen; die schon angesprochenen ersten Arbeiten Mirra Komarovskys sind ein gutes Beispiel dafür. Die ökonomische Krise, so die These, hatte zugleich drastische Auswirkungen auf das tradi tionelle Rollenverständnis des Mannes als Ernährer seiner Familie; den resultierenden Spannungen und Verschiebungen galt es nach zuspüren, um sie soziologisch erklären zu können [30 5 : PLECK]. Danach hat das Konzept der Geschlechterrolle vor allem durch die Arbeiten des US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons an Gewicht gewonnen [302: PARSONS]. Innerhalb eines familiensozio logischen Rahmens und durch die Verknüpfung mit psychoanaly tischer Entwicklungstheorie wird dort das Erlernen und Internali sieren solcher Rollen als ein notwendiger Prozess zur Ausbildung »gelungener« Geschlechteridentität beschrieben. Dabei erfuhren Fragen »der Aneignung der männlichen Geschlechtsrolle . . . eine besondere Aufmerksamkeit« [279: MEUSER, 5 2]. Die wesentlichen Aussagen der Theorie einer männlichen Geschlechterrolle lassen sich, hier sehr verkürzt, mit Meuser etwa so kennzeichnen: »Die Geschlechtsrolle wird als psychologische Entsprechung des biolo gischen Geschlechts verstanden; eine angemessene Geschlechtsrollen identität manifestiert sich in Erwerb und Besitz derjenigen Eigen schaften und Attitüden, die im psychologischen Sinne das biologische Geschlecht bestätigen. [ . . . ] Dieser Fundierung in der Anatomie kor respondiert eine implizite Normativität des Konzepts der Geschlech terrolle. Eine heterosexuelle Orientierung als - statistischen und
moralischen - Normalfall voraussetzend, wird nach den Charakter zügen gefragt, die eine >gesunde< männliche Geschlechtsidentität aus machen« [ausführlich dazu 279: MEUSER, 5 0 ff., hier 5 1 ; 305: PLECK] .
Insgesamt lässt sich sagen, dass ein durch dieses Modell angeleiteter Blick auf Männer und Männlichkeiten noch bis heute in populären Debatten über den » neuen Mann« einen großen Einfluss behält.4 In wissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen dominierte er bis weit in die 1 970er Jahre hinein, seitdem ist er allerdings einer um fassenden Kritik unterzogen worden, die sich in den Worten Harry Brods vor allem so ausdrückt: »Not only does the male sex role paradigm ignore historical and cross-cultural dimensions to the social construction of masculinity, but it ignores how much of mas culinity is a product of the interaction between men and women« [86: BROD, 4J. Das Konzept wurde aufgrund seines latenten Bio logismus (stabile Zweigeschlechtlichkeit aufgrund primärer phy sischer Unterschiede), seiner Unfähigkeit, Machtverhältnisse zu analysieren (die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Rollen trägern blieb wenig berücksichtigt), sowie seiner funktionalistischen Normativität (es gibt einen deutlich erkennbaren und akzeptierten Maßstab, Abweichungen sind »problematisch«) angegangen. Der Rollenbegriff hat mithin an analytischer Überzeugungskraft ver loren, seine Verwendung wird in der neueren konstruktivistischen Forschung als diskursive Strategie begriffen, »die Männlichkeit und Weiblichkeit erst konstituieren und körperliche Geschlechtlichkeit im nachhinein auf der Basis heterosexueller - sowie >weißer< und >westlicher< - Normen naturalisieren« [ 1 3 3 : FELD MANN/HABER MANN, 1 59]· Demgegenüber fordern Frauenforschung - und an dieser Stelle ist erneut auf die immense Bedeutung feministischer Einflüsse hin zuweisen - wie »Men's Studies«, dass eine Theorie zu Männlichkei ten eben genau diejenigen Machtkonstellationen in das Zentrum ihrer Betrachtung zu stellen habe, die in der Rollentheorie vernach4
So heißt es etwa in dem gegenwärtig vielleicht bekanntesten unter den populären deutschen »Männerbüchern« von Dietrich Schwanitz: »Soziale Rollen kann man wechseln. [ . . . ] Doch für eine Rolle gilt das nicht: die Rolle des Mannes oder der Frau. Sie kann man nicht an- und ausziehen wie ein Kostüm. Eine Frau oder ein Mann ist man mit Haut und Haaren. Geschlechterrollen gehören zur Identität eines Menschen. [ . ] Der Geschlechterunterschied bleibt die Stelle, an der Natur und Kultur sich verbinden« [330: SCHWANITZ, 23]. . .
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lässigt werden [39: CARRIGAN/CONNELL/LEE]. Dies spricht so wohl Konstellationen zwischen den Geschlechtern als auch Binnen verhältnisse an. Damit ist der Übergang zu den uns heute geläufigen Spielarten einer sozial-konstruktivistischen Gender-Theorie mar kiert [279: MEUSER, 62 ff.; 8 3 : BRANDES, Bd. 2, I 9 f.]. Die sich hieran orientierenden verschiedenen Theorieentwürfe innerhalb der Männerstudien sind auf die machttheoretische Ana lyse der Position von Männern im Geschlechterverhältnis gerichtet; über diese Fokussierung, so Meuser, seien » sich alle Vertreter einer kritischen Männerforschung einig« [279: MEUSER; vgl. 1 0 3 : CON NELL; 1 9 1 : HEARN, 8 5 : BRITTAN]. Zumeist wird dabei männliche Macht in zweierlei Richtungen untersucht: erstens wird die syste matische Unterdrückung von Frauen durch Männer thematisiert, zweitens widmet man sich den Dominanzverhältnissen unter Män nern. Diese beiden Dimensionen sind aber keineswegs gleichrangig: die partiellen Ohnmachtserfahrungen von Männern sind nicht mit der systematischen Unterdrückung von Frauen durch Männer gleichzusetzen. Es lassen sich zwei Theoriemodelle unterscheiden, mit deren Hilfe versucht wird, dieses doppelte, aber abgestufte Machtverhältnis konzeptionell zu fassen. Zunächst führten erstens der hohe Grad an offener Politisierung zu Beginn der wissenschaftlichen Auseinan dersetzung mit Männern und Männlichkeit sowie die große Nähe zur Frauenbewegung zu einer deutlichen Anlehnung an Patriarchats kritiken, namentlich im britischen Kontext. Damit ist nicht nur die empirische Seite bei der Betrachtung des Männerverhaltens gegen über Frauen gemeint, sondern diese Aussage bezieht sich auch auf die Selbstpositionierung der neuen Disziplin gegenüber der Frauen forschung. Sie forderte ausdrücklich, solidarisch und keinesfalls dominierend aufzutreten. Der sehr häufig verwendete Zusatz »kri tisch« sollte dies unterstreichen [287. MO RGAN, 6-23]. Wichtigster Vertreter von »Men's Studies« als Patriarchatsanalyse ist der britische Soziologe Jeff Hearn, dessen Arbeiten in einem engen Austauschverhältnis mit Beiträgen marxistisch-feministischer Provenienz stehen. Er begreift Kapitalismus und Patriarchat als ineinander verwobene, jedoch nicht aufeinander reduzierbare Sys teme der Unterdrückung, wobei er sich auf Ergebnisse marxistisch inspirierter feministischer Forschung stützt: »Capitalism operates by conversion of wage labour to value and profit; patriarchy by the appropriation of the unwaged labour and energy of women to pro54
duce male power. Both are connected with the control and accu mulation of creativity, labour and energy of women by men« [19 1 : HEARN, 1 2 1]. Männliche Macht speist sich mithin durch die syste matische Aneignung weiblicher Reproduktionskapazitäten, was Hearn entlang von vier institutionellen Achsen festmacht: Zwangs heterosexualität und Vaterschaft in einem eher privaten, wissen schaftliche und staatliche Reproduktionskontrolle in einem öffent lichen Rahmen. Das Unterdrückungspotenzial des Patriarchats richtet sich aber, und hier setzt sich Hearn von feministischen Posi tionen ab, eben auch gegen Mitglieder des eigenen Geschlechts. Damit sind zum einen Ausgrenzungs- und Diskriminierungsten denzen gegenüber zahlreichen Männern und Männlichkeiten ge meint. Hearn nimmt aber auch Phänomene wie Stressanfälligkeit oder spezifische Gesundheitsrisiken bei Männern in machtvollen Positionen in den Blick, die als Ausdruck inner- wie zwischen geschlechtlichen Positionierungsdrucks verstanden werden. Als feministisches Konzept zur Analyse gesellschaftlicher und symbolischer Ordnungen, die die Unterdrückung von Frauen kon stituieren und immer wieder neu stabilisieren, bleibt das Patriar chatsmodell nach wie vor enorm wichtig. Die Kritik der neueren Geschlechterforschung an der Konzeptionalisierung von Männlich keit als » gender of oppression« - so Hearns Formulierung - zielt vor allem auf die Unflexibilität des Konzepts hinsichtlich der Bezie hungen unter Männern. Für die Männerforschung warf dies kon kret die Frage auf, ob sich die vielfältigen, unterschiedlichen Positio nen von Männern im Kräftefeld der Macht entlang dieses Musters angemessen beschreiben und analysieren lassen. Als Antwort auf diese Frage ist das Konzept der hegemonialen Männlichkeit zu verstehen, das der australische Soziologe und Er ziehungswissenschaftler Robert W. Connell in die Debatte ein geführt hat und mit dem das zweite relevante Theoriemodell zur Analyse männlicher Macht genannt ist [103: CONNELL; 104: CON NELL; vgl. auch 99: CARRIGAN/CONNELL/LEE]. Dieses weder Starre noch Beliebigkeit postulierende Konzept unterstreicht ein dringlich die Notwendigkeit einer eingehenden Machtanalyse von Männlichkeiten, die Connell allerdings in unterschiedlichen Formen von Hierarchie und Ausgrenzung ansiedelt und die sich wesentlich in sozialer Interaktion herstellen. Männlichkeit verbindet sich nach Connell mit Autorität, die sich indes nicht allein gegenüber Frauen, sondern auch in Relation zu differenten Männlichkeiten äußert, 55
welche aufgrund von ökonomischen, sozialen, kulturellen oder sexuellen Konstellationen marginalisiert oder ausgegrenzt werden. Dies ist mit dem Begriff der hegemonialen Männlichkeit ausge drückt, einem Konstrukt, das das »doing gender«5 in Gesellschaften maßgeblich beeinflusst. Hegemoniale Männlichkeit in diesem Sinne ist also keine stabile Größe, sondern ein kulturelles Ideal, ein kulturell dominantes Deu tungsmuster. Es muss keineswegs von einer Mehrheit von Männern gelebt werden, um von sehr vielen als - möglicherweise unhinter fragtes - Orientierungsmuster anerkannt zu werden. Aufgrund sei ner Nähe zu gesellschaftlicher Macht und Verfügungsgewalt über Ressourcen können mit Hilfe dieses Ideals andere Männer sowie Frauen marginalisiert bzw. ausgegrenzt werden; es erlaubt aber auch, sich in bewusster Opposition dazu zu positionieren. Auch bei Connell ist diese doppelte Machtentfaltung hierarchisch, für ihn bleibt eine »patriarchale Dividende durch Komplizenschaft« beste hen, durch die die Vorrangstellung von Männern gegenüber Frauen insgesamt stabil bleibt [104: CONNELL, 1 00 der dt. Ausg.]. Hege moniale Männlichkeit ist mithin ein Konstrukt von enormer Reich weite, weil es interaktiv ausgehandelte Relationen flexibel in den Blick nimmt: »>Hegemonie masculinity< is always constructed in relation to various subordinated masculinities as well as in relation to women« [103: C ONNELL, 1 8 3; 1 04: CONNELL, 97 ff. der dt. Ausg.; vgl. ausführlich 279: MEUSER, 97 ff.]. Zentrale Merkmale moderner hegemonialer Männlichkeit sind etwa die Biologisierung von Geschlechterunterschieden sowie die heterosexuelle Dominanz, entscheidende Stützen des Konzepts sind neben der Fortschreibung der Institution der Ehe in erster Linie homosoziale, »männerbündi sehe« Zusammenschlüsse. Um eben diese Stichworte gruppiert sich auch eine Vielzahl gegenwärtiger Forschungsarbeiten. Der von Connell inspirierten Männerforschung liegt daran, einer seits dem Determinismus der Patriarchatsvorstellung und anderer seits der Realitätsferne des Rollenmodells produktiv zu begegnen. Mit der Konzeption von Hegemonie einerseits und Marginalität andererseits lassen sich Männlichkeiten als kollektive Handlungs-, Denk- und Gefühlsmuster analysieren. Connells Überlegungen ha ben in den letzten Jahren viele Studien angeleitet; sie sind gegen5
Vgl. im Kap. 2: " Frauen- und Geschlechtergeschichte«, den Abschnitt über: }},Gender? Sex?< - die I 990er Jahre«.
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wärtig sicher die einflussreichste Theorievariante in den » Men's Studies« [3 5 3 : TOSH]. Aus historiografischer Perspektive ist anzumerken, dass es histo rische Männlichkeitsstudien gibt, die das Erklärungspotenzial des Connell'schen Konzepts auf bürgerliche Gesellschaft und Moderne beschränken wollen. Wolfgang Schmale etwa argumentiert, dass sich hegemoniale Männlichkeit eben genau über die oben beschriebenen inhaltlichen Merkmale bestimmen ließe, was für die Vormoderne wie auch für die »polymorphen Männlichkeiten« der Gegenwart noch nicht bzw. nicht mehr zutreffe [47: SCHMALE]. Hier wäre kritisch zu fragen, ob es nicht heuristisch sinnvoller ist, das Kon zept hegemonialer Männlichkeit zunächst inhaltlich unbestimmt zu lassen, um mit seiner Hilfe historisch spezifische Aushandlungs prozesse von Männlichkeit in ihrer Verschränkung mit weiteren sozio-kulturellen Machtstrukturen erst zu erfassen und transparent zu machen ? Und: Gab und gibt es nicht auch in vor- und post modernen Gesellschaften hegemoniale Männlichkeitsentwürfe in dem Sinne, dass sie einen höheren Zugriff auf gesellschaftliche Res sourcen versprechen? Einen sehr verwandten Ansatz, in gewissem Sinne eine theore tische Präzisierung der Vorstellungen Connells, stellen die kultur soziologischen Überlegungen Pierre Bourdieus dar [79: BOUR DIEU; 80: BOURDIEU]. Holger Brandes, neben Michael Meuser ein wichtiger Vertreter dieser Richtung, die sich namentlich in der deutschen Männerforschung zu etablieren beginnt, beschreibt Bour dieus Position im Theoriefeld so: » Im Unterschied zum rollen theoretischen Konzept geht Bourdieu [ . . ] von einer grundlegenden Entsprechung subjektiv körperlicher und objektiv sozialer Struk turen aus, einem wechselseitigen Durchdringungsprozess, der dazu führt, dass es keine körperliche Geste oder Haltung gibt, die nicht fundamental auf den Körper und seine Struktur rückbezogen ist« [83: BRANDES, Bd. 2, 20 f.]. Scharnier zwischen Körper und Gesell schaft, zwischen Handlung und Struktur, ist der Habitus. Dieser Schlüsselbegriff B ourdieu'scher Soziologie meint ein durch Soziali sation erworbenes Verhaltensmuster, das die je unterschiedlichen Lebensstile von Individuen und Gruppen strukturiert. Mit Hilfe dieses Begriffs, so Meuser und Brandes, ließen sich einige theore tische Unschärfen des Konzepts hegemonialer Männlichkeit beseiti gen. Die konkreten Übergänge zwischen kulturellem Ideal, tatsäch licher Praxis und institutioneller Macht könnten besser als bislang .
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in den Blick genommen werden. Im Zusammenhang mit histo rischen Arbeiten hat Thomas Kühne auf die Nützlichkeit der An regungen Bourdieus hingewiesen [240: KÜHNEJ. Noch nicht recht » angekommen« im Mainstream der deutschen Männerforschung ist die zugespitzt konstruktivistische Variante der Gender-Theorie, wie sie namentlich von Judith Butler in die femi nistischen Debatten eingeführt wurde6 [92: BUTLER; 94: BUTLER]. Hierfür sind unserer Ansicht nach drei Gründe verantwortlich. Ers tens zeigt sich an diesem Umstand, dass die gegenwarts orientierte Männerforschung international und gerade auch in der Bundes republik sozialwissenschaftlich orientiert, um nicht zu sagen domi niert wird. Die von Butler und anderen postulierte Aufhebung der Trennung von »sex« und » gender«, von biologischem und sozialem Geschlecht, muss sich aus der Perspektive empirisch arbeitender Sozialwissenschaftlerlnnen notwendig als sperrig erweisen. Zwei tens werden Butlers Thesen offenbar noch oftmals als sprachlicher Determinismus und Entkörperlichung missverstanden, also als etwas, das nur schwerlich mit den etablierten Konzepten Connells oder Bourdieus zusammen zu denken ist, die ja nach wie vor von einer vergleichsweise stabilen »sex«l»gender« Dichotomie aus gehen. Holger Brandes etwa billigt Butler erstens nur einen äl,lßerst knappen Raum in seiner theoretischen Einführung in die Män nerforschung zu und beharrt dabei zweitens darauf, im Denken Butlers löse sich das Körperliche als »reines Diskursprodukt« auf [ 8 3 : BRANDES, Bd. 2, 20 ff.]. Drittens drückt sich in dieser Distanz zu stärker konstruktivistischen Gedankenmodellen offenbar ein gewisses Unbehagen gegenüber kulturwissenschaftlichen Positio nen mit explizit formulierten politischen Implikationen aus, wie sie nicht zuletzt aus den Bereichen des Postkolonialismus und der » Queer Theory« heraus formuliert werden7 [ 1 6 3 : GEDEN/MoES, 1 7, 2 1J. Der Literaturwissenschaftler Bryce Traister hat diese intel lektuellen Spannungen angesprochen, denen wir uns im folgenden Abschnitt ausführlicher zuwenden wollen. Mit ihnen ist auch eine Kritik an den Positionen Butlers verbunden.
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Vgl. im Kap. 2: »Frauen- und Geschlechtergeschichte«, den Abschnitt über: »>Gender? Sex?< - die 1 990er Jahre«. Siehe zur »Queer Theory« den Abschnitt in Kapitel 8 über Sexualitäts geschichte.
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»Men 's Studies«: »Academic Viagra« ?
In diesem letzten Abschnitt sollen nun einige Kontroversen und Probleme aufgegriffen und thematisiert werden, die wiederholt von innen wie außen an die » Men's Studies« herangetragen wurden. An der umstrittenen Positionierung der Disziplin » Men's Studies« innerhalb der akademischen Landschaft, so wird sich zeigen, ent zündeten sich nicht unerhebliche Auseinandersetzungen. Darüber hinaus stellt sich hier aber auch die bereits häufiger angedeutete Fra ge, in welchem Verhältnis die Männerstudien zu den anwachsenden populärkulturellen Interpretationen »neuer« Männlichkeit stehen. Betrachtet man die bloße Anzahl der in den letzten Jahren publi zierten Titel oder der auf Tagungen und Konferenzen präsentierten Beiträge, kann man tatsächlich, wie der kanadische Literaturwis senschaftler Bryce Traister in seinem viel beachteten und für die sen Abschnitt namengebenden Aufsatz, zu der Einsicht gelangen: » Masculinity, one might say without irony, is everywhere« [3 54: TRAISTER, 274; vgl. auch die kritischen Ausführungen bei 294: NEWTON]. Diese voranschreitende wissenschaftliche Thematisie rung von Männlichkeiten war und ist ohne Zweifel sinnvoll und produktiv, sie ist indes aber auch Anlass ernst zu nehmender Be sorgnis. Diese setzt nicht zuletzt schon an den Begriffen » Men's Studies« bzw. Männerstudien an. Derlei Namensgebungen sind kei neswegs marginal oder unschuldig, vielmehr verkörpern sie stets auch so etwas wie das Setzen oder zumindest die Suche nach einer spezifischen Identität bzw. einer Standortbestimmung. Betrachtet vor dem Hintergrund westlicher Wissenschaftsgeschichte mit ihrer vielfältigen Privilegierung von Männern auf allen Ebenen, erweisen sich die Termini » Men's Studies« wie Männerstudien als hochgradig problematisch, denn mit ihnen lassen sich auch Inhalte fassen, die bestenfalls als »alter Wein in neuen Schläuchen« zu bezeichnen sind. Traister und mit ihm einige weitere Autorinnen und Autoren be fürchten gar, das gegenwärtige Interesse an Männern und Männlich keiten entspreche einer »restoration of the representations of men produced by men and analyzed for the most part by men - to the center of academic cultural critism« [3 54: TRAISTER, 276; siehe auch 1 23 : DUDINK] . Mit der »Entdeckung« einer dynamischen multiperspektivischen Männlichkeitskonzeption wurden auch For schungsbereiche wieder interessant, die durch die Konzentration auf nicht-hegemoniale Männlichkeiten schon passe erschienen wa59
ren. Neubetrachtungen etwa des klassischen literarischen Kanons führten zu zahlreichen neuen Studien über »tote weiße Männer« [ 1 2 8 : ERHART]. Dieser akademische Trend stimulierte Befürchtun gen, auch die »Men's Studies« und somit die sich in diesem Feld platzierenden männlichen Wissenschaftler beteiligten sich an einem antifeministischen Gegenschlag innerhalb der Gesellschaft, bei dem die begrüßenswerte thematische Erweiterung und Ausdifferen zierung des Curriculums wieder zurückgenommen werde [228: KIDDER]. So fragen Rachel Adams und David Savran in ihrem »Masculinity Studies Reader« ganz bewusst in Anlehnung an kri tische Stimmen aus den Anfangsjahren der Männerforschung: »Does masculinity studies represent a beneficial extension of femi nist analysis or does it represent a hijacking of feminism?« [59: ADAMS/SAVRAN 7] Solche Warnungen oder besorgte Nachfragen sind keinesfalls un berechtigt. Zu bedenken ist allerdings, dass sie sich nicht allein im Zusammenhang mit einem spürbar rauer werdenden, antifeminis tischen gesellschaftlichen Umfeld abspielen, wie es Susan Faludi bereits 1991 in ihrem Buch »Backlash« skizzierte [1 30: FALUDI]. Sie diagnostizierte darin, vor allem mit Blick auf die Vereinigten Staa ten, eine konservative Gegenreaktion, die den Feminismus als Wur zel einer angeblichen gesellschaftlichen Erosion ausmachte; eine Tendenz, die auch für die Bundesrepublik, etwa im Zusammenhang mit den populistischen Kampagnen der neuen Rechten, zu konsta tieren ist [198: HERDusER]. Darüber hinaus werden sie auch in einem wissenschaftspoliti schen Klima artikuliert, in dem wieder eher für eine »Rückkehr« zu den angeblich wichtigeren »Kernthemen« der Sozial- und Kultur wissenschaften plädiert wird, wozu die » Gender Studies« insgesamt und die Männerforschung im Besonderen gemeinhin nicht gezählt werden. Ferner sind die überall stetig anwachsenden Kontroversen um akademische und finanzielle Ressourcen an Hochschulen und anderen Einrichtungen anzusprechen. So ist beispielsweise das in tellektuelle wie strukturelle Verhältnis von »Men's-« zu »Women's Studies« nach wie vor ungeklärt und erscheint gerade angesichts des augenblicklichen Booms in den Männerstudien auch eher proble matischer zu werden. Die Einrichtung von »Gender Studies«-Stu diengängen an vielen US-Universitäten stellt in diesem Zusammen hang auch nur scheinbar eine Lösung dar. Denn nicht selten waren es weniger inhaltlich-methodische Überlegungen oder eine wach,
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sende Bereitschaft, die Kategorien »Weiblichkeit« und »Männlich keit« neu zu überdenken, die zu ihrer Etablierung führten, sondern vielmehr finanzielle bzw. administrative Vorgaben [22 8: KIDDER]. So wurden aus solchen Studiengängen oftmals konfliktträchtige Orte im Kampf um Gelder und Stellen, und dies umso mehr, als damit noch längst nicht alle für die Verteilung des Kuchens in Frage kommenden Gruppen genannt sind. Denn im sich ausdifferenzie renden Feld der » Gender Studies« verorten sich auch die » Gay-«, »Lesbian-« und » Queer Studies« [3 5 7: TURNER; 2 1 9: ]AGOSE]. Ge rade das Verhältnis zwischen Männerforschung zu diesen zuletzt genannten Forschungsbereichen ist prekär. Das liegt zum einen an der lange Zeit dominierenden inhaltlichen Konzentration auf As pekte hegemonialer Männlichkeiten und zum anderen, beinahe paradoxerweise, an der » Entpolitisierung«, die mit der inhaltlichen und methodischen Verbreiterung des Feldes einhergeht. Heute steht, wie auch Traister beobachtet, der Begriff der Männerstudien ein deutig für »heterosexual masculinity studies«, und er beschreibt das Verhältnis dieser Forschungsrichtung zur Gay- und Queer-For schung als abgrenzend. Der Umgang miteinander sei ein »awkward waltz in which [they] are now somewhat clumsily engaged« [3 54: TRAISTER, 276]. Wie so oft in Prozessen akademischer Disziplinentwicklung sind es seltsame Rituale von Aufnahme und Abgrenzung, die bestimmte Fragestellungen und Blickwinkel strukturieren. In diesem Zusam menhang äußert Traister auch eine Kritik an einer Geschlechter forschung a la ]udith Butler - allerdings weniger an deren gedank licher Kohärenz als vielmehr an ihren wissenschaftspolitischen Implikationen. Das konstruktivistische Insistieren auf Instabilität und Performativität von Geschlecht allgemein und Männlichkeit im Besonderen führe dazu, eine Normativität durch die Hintertür wie der einzuführen - und sei es nur eine Normativität der Differenz. Um es anders zu formulieren: Die Erkenntnis, dass auch die Identi tät des weißen heterosexuellen Mannes der Mittelklasse konstruiert und instabil ist, könnte, so Traister, Analysen sozialer und poli tischer Machtungleichgewichte, die an Geschlechtsidentitäten ge koppelt sind, in den Hintergrund drängen C3 54: TRAISTER, 293 ff.; 1 34: FELSKI]. Auch wenn wir in einer Zuspitzung der »Gender Stu dies« im Sinne Butlers eher Chancen sehen, wird sich eine Ge schichte der Männlichkeiten mit dieser Kritik auseinander zu setzen haben.
Doch nicht nur das akademische Feld, in dem sich die »Men's Studies« zu platzieren haben, ist umkämpft. Gleiches gilt auch für den Bereich der weiteren gesellschaftlichen Wahrnehmung. Mag man sich in der Bundesrepublik über die öffentlichkeitswirksame Inszenierung des »neuen Mannes« - in Form plakativer Serien in auflagenstarken Nachrichtenmagazinen, in einem Boom neuer »an derer« Männermagazine, in kostspieligen Motivationsworkshops und vielem mehr - schlicht wundern, ärgern oder belustigen, so nehmen solche Phänomene andernorts einen weitaus wirkungsmächtigeren Stellenwert ein. Gegen Ende der 1980er Jahre entwickelten sich in den angelsächsischen Ländern verschiedene hochgradig organisierte und einflussreiche »menz movements« [sic], die sich signifikant von der pro-feministischen Männerbewegung unterschieden, welche die Anfänge der »Men's Studies« begleitet hatte. Die drei wichtigsten Gruppierungen innerhalb dieser, in Großbritannien »laddisrn« (von eng!. »lad« junger Kerl, Bursche) genannten Bewegung sollen hier kurz erwähnt werden: das » Men's Rights Movement«, die »Promise Keepers« sowie die so genannten »Mythopoetics« . Gemeinsam sind ihnen ihre vergleichsweise homogene Mitglied schaft aus Angehörigen der weißen Mittelklasse - wodurch sie sich freilich nicht von den Betreibern der »Men's Studies«, oder zUInin dest ihrer ersten Generation, unterscheiden. Auf der inhaltlichen Ebene j edoch lehnen sie das feministische Projekt ab und propa gieren eine » Männlichkeitskrise«, mitunter sogar einen männlichen Opferstatus [1 26: ENGELFRIED, 48 ff.]. Ihre Positionen weisen aber auch einige nennenswerte Unterschiede auf: das »Men's Rights Movement«, das in den USA vor allem mit dem Namen Warren Far rell und dessen umfangreicher Publikationstätigkeit verbunden ist, betont in erster Linie eine angebliche Diskriminierung von Män nern in der Öffentlichkeit und insbesondere in der Berufswelt. Da mit wird ein weiter Bereich von Quotenregelungen über unvorteil hafte Scheidungsbestimmungen bis hin zu angeblich mangelhafter Wehrgerechtigkeit in den Streitkräften angesprochen [132: FARRELL, siehe auch 1 3 0: FALUDI, 302 ff.; 1 0 1 : CLATTERBAUGH, 69-94J. Kurz: die neue Frauenbewegung habe aus den Männern unterprivi legierte Abhängige gemacht, was zumeist mit Hilfe obskurer Statis tiken untermauert wird. Die grundlegenden Standpunkte des Femi nismus in Hinsicht auf männliche Privilegierung, männliche Macht und männliche Gewalt werden dabei schlicht ignoriert. Interessant ist dabei weiterhin, dass innerhalb dieser Gruppe auch Stimmen =
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wahrnehmbar sind, die auch die Begünstigungen bislang benach teiligter Gruppen kritisieren, etwa afroamerikanischer Männer. Mit hin machen sie deutlich, dass ihre Version von Männlichkeit eben auch Mitglieder des eigenen Geschlechts ausgrenzt. Dabei darf frei lich nicht unerwähnt bleiben, dass auch Afroamerikaner bisweilen konservativen und sexistischen Männlichkeitsentwürfen anhängen, wie dies gerade schwarze Feministinnen wie Michelle Wallace oder bell hooks immer wieder herausgestellt haben [360: WALLACE; 2 12: HO OKS; 2 1 3 : HOOKS; vgl. historisierend 1 3 7: FINZSCH]. Eine weitere sehr bedeutende Männergruppe stellen die »Promise Keepers« dar, deren Hintergrund die konservative christlich-fun damentalistische Erweckungsbewegung ist. Der politische und ge sellschaftliche Einfluss dieser religiösen Strömung ist in den USA generell seit geraumer Zeit nicht zu unterschätzen. Die Geschlech tervorstellungen der christlichen Rechten speisen sich traditionell aus dem Wortlaut der Bibel, sie verteidigen Ehe und Familie als fundamental für ihr Weltbild und verurteilen etwa außereheliche sexuelle Aktivitäten oder Homosexualität auf das Schärfste. Die »Pro mise Keepers« repräsentieren so etwas wie die Männerbewe gung innerhalb dieser christlichen Rechten. 1 99 1 gegründet, appel lieren sie an ihre Mitglieder, sich ihrer Verantwortung als Ehe männer und Väter bewusst und ihrer Rollenvorgabe dauerhaft und im biblischen Sinne gerecht zu werden [ 1 0 1 : CLATTERBAUGH, I 77-193J. Besonders interessant ist eine dritte Variante der nicht-akade mischen Männerbewegung, die in den angelsächsischen Ländern » mythopoetic« genannt wird. Sie erscheint noch am ehesten mit den auch in der Bundesrepublik bekannten Inszenierungen »neuer Männlichkeit« verwandt. Zentraler Bezugspunkt ist Robert Bly und dessen 1 990 erstmals erschienenes Buch » Iron John«, das auch in Europa schnell Popularität erlangte [7 1 : BLY]. Ausgehend vom Grimm' schen Märchen des »Eisenhans« entwirft der Autor darin die Vorstellung einer introspektiven, naturhaften, essenziellen Männ lichkeit, die im Verlauf von Industrialisierung und Modernisierung sowie schließlich durch die Neue Frauenbewegung unterdrückt und verschüttet worden sei [ 1 30: FALUDI, 306 f.; 230: KIMMEL/KAUF MANN; 329: SCHWABE]. Bly und die »Mythopoetics« bemühen sich darum, diesen angeblich vorhandenen archaischen Kern des männ lichen Wesens wieder hervortreten zu lassen und ihn produktiv für Individuum und Gesellschaft nutzbar zu machen. Schon vor Er-
scheinen von » Iron John« und erst recht danach sprach diese Bot schaft sehr viele - und sehr zahlungskräftige - Männer an, zumal sie sich auch leicht mit etlichen Anforderungen der post-industriellen Arbeitswelt wie Eigenmotivation, Teamfähigkeit oder Einfühlsam keit verknüpfen ließ [ 1 0 1 : CLATTERBAUGH, 9 5-1 1 6]. Von Bly'schen oder verwandten Ideen gespeiste Workshops oder Buchratgeber stellen heute in vielen Ländern einen florierenden Wirtschaftssektor dar und üben darüber hinaus einen nachhaltigen Einfluss aus, der auch in antisexistischen Gruppen nicht durchweg negativ bewertet wird [83: BRANDES, Bd. 2, 1 9 1-2 1 4J . Mit der Präsenz und den »Erfolgen« derlei Gruppierungen wuchs das Interesse der breiteren Öffentlichkeit an Männerthemen, was sich jedoch für die akademischen »Men's Studies« zu einem ernst haften Problem entwickelte. Wissenschaftliche Untersuchungen zu Männern und Männlichkeiten entstanden und entstehen zumeist aus einer pro-feministischen, antisexistischen Perspektive heraus. Demgegenüber verorteten sich »populäre« Bücher und Beiträge zur Thematik eher an den Ansichten der »Mythopoetics« bzw. des »Men's Rights Movement«, woraus eine gewisse Fehleinschätzung der akademischen Disziplin in der öffentlichen Wahrnehmung resultierte. Die New Age Verbindungen der »Mythopoetics« etwa spielen in den »Men's Studies« an den Universitäten kaum eine Rolle, beeinflussen indes deren Image nachhaltig [22 8 : KIDDER]. Oliver Geden und Johannes Moes äußern sogar die Befürchtung, dass sich unkritische, populäre, medial vermittelte Themensetzun gen in Zukunft noch sehr viel direkter als bislang als Orientierungs rahmen für Forschungsprogramme wiederfinden werden, zumal wenn es um die Finanzierung solcher Vorhaben geht, die dann mit dem öffentlichen Interesse begründet werden können [163: GEDEN/ MOES, 24J. Aus dem hier ausgebreiteten Tableau der gegenwartsorientierten Männerforschung generieren sich zweifelsohne Fragen für die his torische Erforschung von Männlichkeiten. Die inzwischen weit aus differenzierten Ergebnisse sowie die internen und externen Debatten dieser Disziplin sollten wahrgenommen und verarbeitet werden. Viele der angesprochenen Gedankenmodelle sind auch für eine Männlichkeitengeschichte von Nutzen, viele der aufgeworfenen kri tischen Fragen und Probleme gelten in gewisser Weise auch für das historiografische Feld. Umgekehrt scheinen aus unserer Perspektive heraus der große Mangel an Historisierung sowie die weitgehende
Ablehnung neuerer, kulturwissenschaftlicher Gedankenanstöge vor allem innerhalb der deutschsprachigen Männerforschung Aspekte zu sein, die durch die Geschlechtergeschichte produktiv ergänzt werden können. Zudem sollte die Geschichtsschreibung versuchen, viele der Fallstricke, in die die Männerforschung bisweilen tappt, zu umgehen. Bei dem nun folgenden Versuch, eine Konzeption von Männlichkeitengeschichte als Geschlechtergeschichte zu entwerfen, sind eine Vielzahl von Anregungen sowohl aus der Frauen- und Ge schlechtergeschichte als auch aus den »Men's Studies« eingeflossen.
4.
Theoretische Leitlinien für eine Geschichte der Männlichkeiten
In dem folgenden Kapitel sollen nun Leitlinien der Männlichkeiten geschichte skizziert werden. Es soll hier nicht primär um inhaltliche, sondern vor allem um konzeptionelle Aspekte gehen, obgleich diese beiden Seiten nicht klar voneinander getrennt werden können. Dabei werden wir auf die vorangehenden Darlegungen zur Frauen und Geschlechtergeschichte sowie zu den interdisziplinären Män nerstudien zurückgreifen und versuchen, die dort bereits aufge fächerten Fragen und Problemstellungen zu bündeln. Bei der Lek türe der folgenden Seiten sollte immer bedacht werden, dass wir hier Erwägungen zur Konzeption von Männlichkeitengeschichte zusammenfassen, die zum Teil auf mehreren, unterschiedlichen Ebenen argumentieren. Dies bedeutet für praktische Forschungs arbeiten, die sich von den folgenden Darlegungen möglicherweise anregen lassen, dass sie deren Spannweite je nach Fragestellung, Erkenntnisinteresse und forschungspragmatischen Erwägungen auf ein operationalisierbares Maß reduzieren sollten. Kurzum: In einer einzelnen historischen Untersuchung wäre es unmöglich und wohl sogar kontraproduktiv, sämtlichen konzeptionellen Leitlinien nach gehen zu wollen. Weiterhin möchten wir betonen, dass die folgen den Erwägungen auch als Forschungsdesiderate zu verstehen sind. Auch wenn also die Literatur zur Geschichte der Männlichkeiten seit einigen Jahren beständig wächst, haben sich manche der im Fol genden zu erörternden theoretisch-methodischen Erwägungen bis lang nur in geringem Maße in der konkreten historischen Forschung niedergeschlagen. Nicht zuletzt daher haben unsere Ausführungen stellenweise auch einen programmatischen Charakter. In den folgenden Absätzen wollen wir zunächst die Frage der Identitätsbildung über die Herstellung von Differenz erörtern. Da ran eng gebunden ist die mehrfache Relationalität von Geschlecht, die wir in einem zweiten Abschnitt dieses Kapitels noch einmal herausstellen werden. Drittens sollen dann die Orte der Identitäts bildung und hier wiederum genauer das in den letzten Jahren so viel diskutierte Verhältnis von Diskursen und Erfahrungen beleuchtet werden. In einem vierten Abschnitt werden wir schließlich die Kri senmetapher in den Vordergrund rücken und deren Probleme wie Erkenntnischancen ausloten. Dabei werden wir auch das Konzept
der » Hegemonie« aufgreifen, das für die Geschichte der Männlich keiten ebenso zentral ist wie für die interdisziplinären Männer studien. I nsgesamt wollen wir in diesem Kapitel Leitfragen formu lieren, Forschungsdesiderate und Problemfelder benennen und auf weiterführende .Literatur verweisen.
Identität und Differenz
Die Herstellung von Identität und Alterität stellt seit Anbeginn der Frauen- und Geschlechtergeschichte eine zentrale Forschungsfrage dar. Grundsätzlich haben Fragen der geschlechtlichen sowie auch der ethnischen, regionalen und anderen, individuellen wie kollekti ven I dentitätsbildung mittlerweile ein kaum mehr überschaubares Forschungsfeld hervorgebracht. In Zeiten poststrukturalistischer und insbesondere postkolonialer Kritik haben diese Fragen zusätz lich an Konjunktur und Differenzierung gewonnen, das Identitäts konzept wird nun auch grundsätzlich problematisiert. Denn die Diagnose fragmentierter und dezentrierter Gesellschaften bedeutet zugleich, von der Vorstellung stabiler und homogener I dentitäten Abschied zu nehmen. Der Prozess der subjektiven wie kulturellen Identifikation wird dabei letztlich so instabil, variabel und historisch gedacht, dass I dentitäten jegliche Essenzialität abhanden kommt. Durch die Historisierung und kulturelle Verortung des Identitäts konzepts ist auch deutlich herausgearbeitet worden, dass Entwürfe kollektiver wie subjektiver Identitäten grundsätzlich »ideologisch« sind, da sie notwendig über die Positionierung in einem soziokultu rellen Feld, über Ein- und Ausschlüsse, Hegemonialisierung und Marginalisierung funktionieren. Folglich drängt sich die Frage auf, inwieweit ein solches problematisiertes I dentitätskonzept, das we der Ursprung noch Tradition, Kontinuität oder gar Zeitlosigkeit behauptet, überhaupt noch als Identitätskonzept funktioniert. Was bleibt noch von »nationaler Identität«, wenn diese ihres »Ursprungs mythos« und ihrer »Homogenität« beraubt ist? Eine derart grundsätzliche Problematisierung ändert freilich nichts daran, dass die verschiedenen Prozesse der Identitätsbildung sowie deren Folgen ungeheuer wirkungsmächtig waren und sind. Sie konstituieren ein historisch zentrales Themenfeld, das zahlreiche kritische Fragen über die Positionierung von Individuen und Kol lektiven in Denk- und Handlungsräumen herausfordert [vgI. für 68
einen Überblick 3 5 9: WAGNER; 62: ASSMANN/FRIESE; 1 82: HALL; 297: NIETHAMMER; 3 67: WIEVIORKA]. Der Kategorie Geschlecht kommt in kollektiven wie subjektiven Identifikationen eine zentrale Bedeutung zu. Vorausschicken wollen wir hier, dass Geschlechtsidentitäten weithin als stabil gedacht wur den. Lange ging man davon aus, dass eine eindeutige Geschlechter ordnung und eine »adäquate« Positionierung darin für »gelungene« Identitätsbildungen von wesentlicher Bedeutung seien. Dabei war Identität in Rückbindung an körperliche Ausstattung konzipiert, wodurch geschlechtliche Identität ein zumindest gewisses Maß kul turübergreifender Stabilität zu haben schien. Diese Vorstellung einer biologischen Letztinstanz ist auch heute noch nicht ad acta gelegt, und häufig verbirgt sie sich auch hinter Entwürfen eines kulturell konstruierten (sozialen) Geschlechts - eine Konstellation, die Linda Nicholson mit dem Begriff des »biological foundationalism« be schreibt [29 5 : NICHOLSON). Die Erwägungen der letzten Jahre über die Instabilität und die Performativität von Geschlechtern (und von Identitäten) haben eine solche biologische Letztin1!tanz und ihre deterministischen Quali täten deutlich hinterfragt. Weiterhin ist zu bedenken, dass die Struk turen der gesellschaftlichen und der geschlechtlichen Ordnung Machtstrukturen sind, die das Leben von Menschen wesentlich prä gen [146: FOUCAULT]. Werden nun Geschlecht und Identität biolo gisiert, so werden diese Strukturen mit ihren Implikationen letztlich als »natürlich« gekennzeichnet. Eine solche Bindung geschlecht licher Identität an stabile biologische Grundlagen ist folglich nicht zuletzt auch ein strategisches Argument im Konflikt um Ressour cen, dem schon allein aus diesem Grunde kritisch begegnet wer den sollte [I 28a: ERHART/HERRMANN, 1 4 f.; 3 3 5 : SCOTT, 1 9; 9 5 : BUTLER] . An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob denn in einem Kon zept performativer Geschlechter, das j eglichen »biological founda tionalism« zurückweist, entsprechende Identitäten an- und abgelegt werden können wie ein Kleidungsstück? Das ist freilich nicht der Fall. Denn schließlich sind Geschlechter als sedimentierte und hart näckige Effekte von Wahrnehmungsmustern und Machtstrukturen, von Diskursen und Praktiken zu verstehen, die sich bis in die menschlichen Körper einlagern. Damit sind sie ein Teil historisch spezifischer kultureller Konfigurationen und nicht einfach aus tauschbar. Folglich sind Geschlechterzuweisungen und -erfahrungen
in einer gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Ordnung ver ankert und von außerordentlicher Trägheit. Zugleich aber sind sie eben nicht statisch, sondern in der Geschichte flexibel und offen für Verschiebungen, die dann wiederum auch die Möglichkeiten ver ändern, qua Geschlechtszuschreibungen auf gesellschaftliche Res sourcen zugreifen zu können [vgl. hierzu u. a. 1 0 5 : CONNELL; 3 1 3 : REICHARDT/SIELKE sowie die Erörterungen z u »Diskursen und Erfahrungen« in diesem Kapitel]. Betonen möchten wir bereits an dieser Stelle, dass insbesondere jene Momente, in denen solche Ver schiebungen in der Geschichte aufscheinen und die Brüchigkeit von Identitäten erkennbar wird, interessante Untersuchungsbereiche er öffnen. Geschlechtsidentitäten bilden sich also innerhalb von Macht beziehungen heraus, die über die Möglichkeiten des oder der Ein zelnen zur gesellschaftlichen Gestaltung und Partizipation (mit)ent scheiden; und zugleich tragen sie dazu bei, diese Machtbeziehungen zu prägen. Wichtig ist, dass Identitätsbildungen vor allem über den Bezug auf und die Herstellung von Differenz zu anderen Ge schlechtsentwürfen funktionieren und somit grundsätzlich konflikt geladen sind. Dabei konturiert sich männliche Identität nicht nur durch die Abgrenzung gegenüber dem Weiblichen. Eine solche Denkart würde letztlich von dem einen Männlichen und dem einen Weiblichen ausgehen. Vielmehr konstituieren sich Männer auch ge genüber anderen Männern, wie Robert Connell und andere deutlich gemacht haben. Folglich können die Dimensionen der Kategorie Geschlecht ohne Einbeziehung anderer Kategorien, wie beispiels weise Ethnizität oder Sexualität, gar nicht vollends erfasst werden. Diesen Gedanken wollen wir im Abschnitt über »mehrfache Rela tionaliät« genauer ausführen [73 : BO CK; 3 1 : KIMMEL, I-10; r r 8 : DIE MACHT DER KATEGORIEN; 1 7 3 : GRIESEBNER]. Die Anerkennung von Hybridität und Differenz hat in den histo riografischen und kulturwissenschaftlichen Diskussionen der letz ten Jahre einen durchaus programmatisch zu nennenden Status angenommen. Das gilt auch für die Debatten über die Geschlechter. Diese Entwicklung mündet letztlich in der Verabschiedung einer »Allgemeinen Geschichte«, die in Abgrenzung von }>Partikular geschichten« konzipiert ist [3 1 7: ROSENHAFT; 282: MODOODI WERBNER; 1 84 : HAUSEN]. Stattdessen wird die konsequente An erkennung von Alterität, Vielfalt und Uneindeutigkeit eingefordert. Das ist zuvorderst sehr zu begrüßen, birgt aber doch auch Fall7°
stricke. Wie wir in den vorangehenden Kapiteln gezeigt haben, ist ein wesentliches Erkenntnisinteresse der Geschlechtergeschichte von Männern und Männlichkeiten, gerade auch den Konstruktcharakter hegemonialer Geschlechtsidentität herauszuarbeiten. Das ist ein konsequenter Schritt, denn nur auf diesem Wege kann auch die soziokulturelle Position des Hegemons ihrer vermeintlichen Selbst verständlichkeit enthoben werden. Vorstellungen von Allgemeinheit und Partikularität, Vorstellungen vom weißen Mann als »generic person« werden derart dekonstruiert [3 I: KIMMEL, 3 f.]. Geschlecht ist eben nicht nur etwas, das Frauen und bestenfalls noch marginali sierten Männern eignet. Auch weiße heterosexuelle Mittelklasse männer haben eine Geschlechtsidentität, die nicht natürlich, son dern kulturell geprägt ist. Mit den »Whiteness Studies« und den »Heterosexuality Studies« haben sich in der US-amerikanischen Historiografie zur Geschichte von Ethnizität und Sexualität struk turell ähnliche Ansätze herausgebildet [3 6 5 : WHITE; 224: KATZ; 1 8 1 : HALE; 2 3 3 : KOLCHIN]. So weit, so gut - wo liegt nun das Problem? Es ist die - überspitzt formuliert - »Essenzialisierung« von Differenz und von Kon struiertheit, die problematische Implikationen birgt. Trägt das Pos tulat vollständiger und unhintergehbarer Konstruiertheit, gültig für Hegemonialisierte ebenso wie für Marginalisierte, nicht dazu bei, erstens den hegemonialen Geschlechtsentwurf mit all seinen Im plikationen wieder im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses zu verankern - wenn auch in neuem, kritischem Gewande? Anders for muliert: Befassen wir uns nicht wieder vorwiegend mit toten weißen Männern der Mittelklasse ? B eteiligen wir uns nicht trotz unseres Vorsatzes, die »De-Naturalisierung« bzw. »Ent-Selbstverständ lichung« der hegemonialen Kategorien voranzutreiben, an ihrer machtvollen Fortschreibung in Diskurs und Lebenswelt? [siehe z . B . 1 2 3 : D UDINK, 42 1 ] Tragen Analysen nach dem Motto »wir sind alle konstruiert! « nicht zweitens dazu bei, elementare politische und soziokulturelle Differenzen zu nivellieren? Denn schließlich bedeuten unterschied liche Geschlechtsentwürfe unterschiedliche Möglichkeiten, auf ge sellschaftliche und kulturelle Ressourcen zuzugreifen. Gerade die ses zu verdeutlichen, war und ist ja eines der wesentlichen Anliegen von Frauen- und Geschlechtergeschichte. Diese Unterschiede ge raten möglicherweise aus dem Blick, wenn die Konstruiertheit jeg licher Geschlechtsidentität derart in den Vordergrund rückt. Aus 71
diesen Einsichten eindeutige forschungspraktische und -politische Konsequenzen zu ziehen, ist nicht einfach. Eine Konsequenz wäre jedoch, die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten niemals ohne Bezug zu anderen, eben differenten Entwürfen zu betrachten und immer im Blick zu behalten, welche soziokulturellen Optionen wel che vergeschlechtete Identität letztlich eröffnete. Identitätsbildungs prozesse, zumal wenn sie aktiv die Formulierung einer kollektiven Zugehörigkeit artikulieren wollen, verweisen in diesem Sinne stets auf gesellschaftliche Machtverhältnisse [3 54: TRAISTER, 296 ff.].
Zur Relationalität von Geschlecht
Das Zusammenspiel von Identität und Differenz verdeutlicht, dass Geschlecht eine relationale Kategorie ist, die sich in Beziehung zum Anderen herausbildet. Wie die Forschung bereits seit vielen Jahren hervorhebt, wird Identität folglich nicht nur über die Kategorie » Geschlecht«, sondern über mehrere Strukturelemente hergestellt. Die klassische Trias US-amerikanischer Sozialgeschichtsschreibung bildet »Gender« gemeinsam mit den Kategorien »Race« und »Class«, die sich mittlerweile auch hierzulande als solche etabliert haben. Darüber hinaus prägen weitere Strukturfaktoren wie Sexua lität, Religion, Region, Alter und viele mehr die Identitätsbildung und beeinflussen Handlungsräume und Möglichkeiten des Ressour cenzugriffs. Fest steht, und dies kann nicht oft genug betont werden: Geschlecht ist niemals allein wirksam [73 : BOCK; 2 5 6: LERNER, 1 8 8; 1 5 2: FREVERT, 29; 322: SCHEIN/STRASSER, 1 0; 1 7 5 : GRIES EBNERILuTTER). Nun ist diese Erkenntnis sicherlich nicht neu, doch gleichwohl wird sie in der konkreten deutschsprachigen His toriografie noch immer viel zu selten umgesetzt [ 1 5 5 : FREVERT; 1 74: GRIESEBNER; 1 3 8 : FINZSCH/HAMPF; 3 47: STIEGLITZ; I I 8 : D I E MACHT DER KATEGORIEN). Ein Grund dafür könnte sein, dass es für die in den USA so drängende Forschung zur afro-ameri kanischen Geschichte hierzulande kein Pendant gibt, das einen ver gleichbaren politischen Impetus und eine entsprechend starke öf fentliche Präsenz hätte [ I : BEDERMAN; 204: HODES; 29: HINEI JENKINS). Freilich verkompliziert sich das Projekt einer Geschlechter geschichte, wenn sie die mehrfache Relationalität ernst nimmt. Denn nicht nur die Kategorie » Geschlecht« ist instabil, sondern alle an-
deren Kategorien sind dies auch. Damit bewegen wir uns mit einer solchen Analyse innerhalb einer Konfiguration, die grundsätzlich in alle Richtungen flexibel ist und in der sich auch das Gewicht der Kategorien im Prozess der Identitäts- und Subjektbildung perma nent verändert. Um es konkreter zu fassen: In welchem Maße nun die Kategorien Ethnizität oder Geschlecht oder Sexualität oder Re gion oder welche auch immer die Identitätsbildung und die Macht ausübung prägen, hängt sowohl von der untersuchten historischen Einheit als auch von der konkreten Fragestellung ab, die ein histo riografisches Projekt verfolgt. Und: die Kategorien beeinflussen sich in ihren Inhalten und ihrer Bedeutung wechselseitig. Die Akzentuierung der Kategorie »Geschlecht«, die wir hier vor nehmen, ist folglich nicht a priori gesetzt, sondern durch das Er kenntnisinteresse unserer Arbeit bestimmt. Die Frage allerdings, ob nicht doch ein qualitativer Unterschied der Kategorie Geschlecht existiert, da sie im Gegensatz etwa zu »Klasse« auf eine Leiblichkeit rückführbar sei, wird in der Forschung diskutiert [vgl. etwa 300: OPITZ, 1 02]. Auch wenn hier also Verschiebungen in der Gewich tung sichtbar werden, so bleibt doch unbestritten, dass die Bedeu tung einer einzelnen Kategorie ohne Einbeziehung anderer Kate gorien nicht zu erfassen ist. Entsprechend sollte das Verhältnis der Kategorien zueinander auch nicht als konkurrierend verstanden werden, sondern vielmehr als ineinander verschränkt. Wie sich die verschiedenen Kategorien zueinander verhalten, wie sie sich stüt zen, bestärken oder unterminieren, gilt es herauszuarbeiten. Und auch dieses »Zueinander-Verhalten« darf nicht statisch gedacht wer den. Denn sowohl in der Fremd- wie in der Eigenwahrnehmung sind die Implikationen und Bedeutungen der einen Kategorie (also z. B. »Geschlecht« bzw. »Männlichkeit«) eben von ihrem Zusam menwirken mit anderen Kategorien (also z. B. »Klasse« und »Ethni zität«) abhängig. Ein Beispiel: Im Hinblick auf afroamerikanische Männer hat Geschlecht zumindest partiell andere Bedeutungen, Implikationen und Konnotationen als im Hinblick auf euroameri kanische Männer, im Hinblick auf Arbeiter hat Geschlecht zumin dest partiell andere Konnotationen als im Hinblick auf Mitglieder des Bürgertums. Auch wenn es Überschneidungen gibt, gerade auch bezüglich der Wirkungsmacht hegemonialer Entwürfe, so ist die Bedeutung der einen Kategorie von ihren Beziehungen zu anderen Kategorien abhängig. Und dies gilt nicht nur für » Ethnizität« und » Klasse«, sondern auch für »Region«, »Religion« und alle anderen 73
[29 5 : NICHOLSON, 83, 94; 1 72 : GRIESEBNER, 1 3 3 f.; 1 7 5 : GRIES EBNER/LuTTER]. An dieser Stelle sei auch hervorgehoben, dass sich das Erkennt nisinteresse einer Geschlechtergeschichte von Männern ja nicht (nur) auf Männer richtet - denn Geschichten von Männern sind wahrlich schon genug geschrieben worden. Vielmehr gilt es historisch zu zei gen, was wann Männer zu Männern gemacht hat [3 3 : KÜHNE, 22 ff.; 1 5 : ERHART/HERRMANN; 3 2 5 : SCHMALE, 9]. Es geht also um »Männlichkeit«, und weniger um Männer. Bereits ein nur etwas genauerer Blick vermag darüber hinaus die Uneindeutigkeit des Mann-Seins vor Augen zu führen, die historische Eingebundenheit verschiedener Formen des Mann-Seins in ganze Ensembles von Zuschreibungen. Diese sind in vielerlei Kategorien verankert und dienen der einen Männlichkeit zur Abgrenzung von anderen Männ lichkeiten - also etwa bürgerlicher von proletarischer oder »nobler« von »unehrenhafter« Männlichkeit. Präzise formuliert geht es folg lich auch nicht um »Männlichkeit«, sondern um »Männlichkeiten«, da eben aufgrund der Einbindung in vielerlei Kategorien eine ein zige monolithische Männlichkeit nicht existiert. Wird der Fokus weniger auf Männer als solche, sondern vielmehr auf Männlichkeiten, also auf Geschlechtsentwürfe, ihre Entstehung, Veränderung und Wirkungsweise gerichtet, so können die Männer aus Fleisch und Blut unter Umständen sogar gänzlich aus einer sol chen Geschichte verschwinden. In einer Männlichkeitengeschichte muss von Männern selbst als historischen Akteuren gar nicht expli zit die Rede sein. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Geschichte nicht deshalb zur Geschlechter- und Männlichkeitengeschichte wird, weil sie von Männern handelt - dann wäre ja beinahe die gesamte bisherige Geschichtsschreibung Geschlechtergeschichte gewesen. Vielmehr werden Geschlechtergeschichten häufig dann besonders interessant, wenn sie sich auf die Codierung bestimmter gesell schaftlich-kultureller Denkweisen oder Institutionen oder kollek tiver Identitäten als »gendered« und in diesem Fall als »männlich« konzentrieren. So ist beispielsweise eine historiografische Annähe rung an zeitgenössische Ausformungen von Konzepten wie Ge meinschaft, Demokratie, Staatsbürgerschaft, Nation oder Kolonia lismus über den Schlüssel Geschlecht möglich. Auf diesem Wege kann ein tief greifendes Verständnis derartiger historischer Konzepte oder Prozesse sowie ihrer Prägekräfte herausgearbeitet werden [ 1 5 8: FREVERT; 274: MCCLINTOCK; 24 1 : KUNDRUS; 372: YUVAL74
DAVIS; 293 : NELSON; 2 1 4: HÜCHTKER; 3 44 : SNYDER; 1 9 3 : HE I DEL; 78: BOUKRIF u. a.; 246: LENz]. Es ist also festzuhalten, dass sich Mann- und Männlich-Sein in einer Art mehrdimensionalem Raum entfalten, der durch viele Strukturkategorien konstituiert wird. Doch dies ist kein klar geglie derter Raum, der etwa durch stabile Felder oder Achsen konstituiert würde, auf denen sich Einheiten abmessen und somit feste Identi tätspunkte für einen jeden Menschen wie für Kollektive bestimmen ließen. Dieser Raum hat erstens mehr als drei Dimensionen, denn Identitäten werden durch mehr als drei Kategorien definiert. Zu dem lässt sich ein Maß von Vergeschlechtung nicht einfach auf einer Achse ab- oder in einem Feld eintragen. Denn die Gewichtung und die Implikationen der Kategorien variieren ja, und zwar nicht nur diachron, sondern auch synchron, nämlich je nachdem, zu welchen anderen Kategorien sie in Beziehung gesetzt werden. Die Achsen oder die Felder dieses Raumes und deren Grenzen sind mithin nie mals statisch, sondern in permanenter Veränderung, und sie unter liegen dabei Wertungen und Zuschreibungen. Demnach ist ein sol ches System immer in Bewegung [8 1 : B OURDIEU; 82: BOURDIEu/ WACQUANT; 1 6 3 : GEDEN/MoEs, I 9 f.; 1 3 8 : FINZSCH/HAMPF].
Diskurse und Erfahrungen
Kollektive wie individuelle Identitäten bilden sich demnach in einem Gewebe von Zuschreibungen und mehrfach relationalen Katego rien. Offen geblieben ist bislang die Frage nach den Orten solcher Identifikationsprozesse, soll heißen: Wo und wie werden die eben diskutierten Kategorien überhaupt mit Bedeutung angereichert? Und: Wie werden diese Bedeutungen von Menschen erfahren und mitgeteilt? Um uns diesen Fragen anzunähern, müssen wir un sere Beobachtungen verlagern und das Verhältnis von Mikro- und Makroebenen in den Blick nehmen. Im Zuge der kulturwissenschaft lichen Wende der letzten Jahre ist dieses Verhältnis zunehmend in der Frage gefasst worden, ob das angeblich so engmaschige Netz der Diskurse überhaupt noch Erfahrungen zulasse, die als individuell zu verstehen sind - und wenn ja, wie diese Erfahrungen historiogra fisch erfasst werden können. Diese Diskussion ist in ihren Grund elementen sicherlich nicht neu und beispielsweise der nach dem Ver hältnis von Struktur und Handlung konzeptionell ähnlich. Doch 75
obschon die Zahl der Beiträge, die sich in dieser Debatte engagiert haben, groß ist, bleibt das Problem ewig jung, und es konkurrieren verschiedenste Lösungsvorschläge [vgl. etwa 2 7 5 : MEDI CK; 1 20: DINGES; 278: MERGEL/WELLSKOPP; 2 7 1 : MASET]. In der Geschlechtergeschichte ist dieser Diskussionspunkt von besonderer Brisanz. Hier wäre nicht nur auf die zentrale Stellung des Identitätskonzepts zu verweisen, sondern auch auf die Bedeu tung des Erfahrungsbegriffs, der als Teil eines politischen Anliegens seit jeher im Zentrum der Debatten um die Geschlechter stand und noch immer steht, wie etwa Rebekka Habermas betont hat [ 1 76: HABERMAS; vgl. auch 77: Bos/VINCENZ/WIRz]. Gibt es »typisch« weibliche Erfahrungen, und wie lassen sich solche fassen, lautete eine zentrale Frage der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Die analoge Frage einer Geschichte von Männern und Männlichkeiten würde die nach möglicherweise »typisch« männlichen Erfahrungen sein. Was würde, was könnte »typisch« in verschiedenen historischen Einheiten bedeuten? Wie konstituieren sich solche Erfahrungen (abgesehen davon, dass sie sich in einem mehrfach relationalen Gebilde ausbilden) ? Wodurch sind sie geprägt? Und: Wie sehr sind sie abhängig von ihrem historisch-kulturell-sozialen Kontext? Wie »authentisch« sind diese Erfahrungen also innerhalb eines diskur siven Netzes, wie unabhängig von sprachlicher Verfasstheit? Offenbar erfordert eine Annäherung an das Verhältnis von Dis kursen und Erfahrungen zunächst eine Darlegung des Diskurs konzepts, das wir hier in aller Kürze einbringen wollen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass in der Geschichtswissenschaft nach wie vor kein Konsens darüber besteht, was ein »Diskurs« ist. Auf der einen Seite kursiert ein Konzept vom Diskurs als rationalem Gespräch unter Fachleuten, in dem die besseren Argumente ent scheiden. Als solcher beschreibt er ein kommunikatives Ideal und ist als Instrument historischer Analyse vergleichsweise ungeeignet. Auf der anderen Seite hat sich vor allem in Kulturgeschichte und Geschlechterforschung ein Diskursbegriff etabliert, der in eine gänzlich andere Richtung weist. Diese andere Art von Diskurs hat sich vor allem in Anlehnung an die Schriften des französischen Phi losophen Michel Foucault herausgebildet, und er hebt die konstitu tive Kraft des kulturell etablierten Denkens und Redens hervor. Ein solcher Diskurs ist produktiv, denn er prägt die Wahrnehmungs weIten von Menschen und Kulturen zu bestimmten Zeiten an be stimmten Orten. Letztlich, so heißt es, diskutiert ein solcher Diskurs
nicht über Dinge, sondern bei einer entsprechenden »Dichte« seiner Aussagen bringt er die Dinge erst hervor, die er verhandelt. Wichtig ist weiterhin, dass nicht nur das Reden und somit die Worte derartige Aussagen mit konstitutiver Kraft formieren können, sondern auch Institutionen, Handlungsweisen und vieles mehr. Es existiert ein ganzes Ensemble kultureller Sinnproduktion, das ein komplexes Feld von Denk- und Wahrnehmungsweisen hervorbringt. Es ist leicht nachvollziehbar, dass es erst diese Denk- und Wahrnehmungs weisen sind, die bestimmte Handlungsweisen ermöglichen, da sie in einem historisch-spezifischen Kontext erst denk-möglich werden. Dabei können sich dann auch die menschlichen Handlungen wie derum als Aussagen in den Diskurs einschreiben. Die Worte und die Dinge, das Sagbare und das Sichtbare sind letztlich so eng ineinan der verschränkt, dass sie kaum sinnvoll voneinander zu trennen sind. Die neuere Forschung geht daher auch dazu über, weniger von »Diskursen«, sondern vielmehr von »Dispositiven« zu sprechen denn Dispositive umfassen »Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes« [144: FOUCAULT; 1 1 7: DELEUZE; r r 6: DELEUZE, 9-36; 237: KRAS MANN; 3 27: SCHÖTTLER; 89: BUBLITZ, 8 5, 90; 3 20: SARASIN; 2 1 8: JÄGER; 267, 269: MARTSCHUKAT; 2 7 1 : MASET].! Versteht man Diskurse und Handlungsweisen als ineinander ver schränkt, so vermag dies dabei zu helfen, den Beziehungen von dis kursiver, normativer Ebene und individueller Erfahrung auf die Spur zu kommen. Diese Beziehungen werden in der Geschlechter geschichte seit Jahrzehnten heftig diskutiert. Werfen wir zur Ver deutlichung einen kurzen Blick auf die Geschlechterforschung zur Geschichte des Bürgertums im 1 9 . Jahrhundert. Zunächst hatten Historikerinnen in den 1960er und 1 970er Jahren dies- wie jenseits des Atlantiks ein Modell separater männlicher ( öffentlicher) und weiblicher ( privater) Sphären entwickelt. Dabei geriet die Fein differenzierung von normativer Ebene auf der einen und Lebens wirklichkeits-, Handlungs- und Erfahrungsebene auf der anderen Seite bisweilen etwas aus dem Blick [vgl. als Anstoß gebende Arbei ten 363: WELTER und 1 8 5 : HAUSEN]. Offen muss hier bleiben, ob es dem »separate-spheres« -Ansatz tatsächlich an Differenziertheit mangelte, oder ob ihm dieser Mangel nicht vielmehr erst von seinen Kritikerinnen und Kritikern zugeschrieben wurde. Jedenfalls haben =
=
1 Vgl. insgesamt 244: Achim LANDWEHR: Geschichte des Sagbaren. Ein führung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 200 1 .
77
sich in den letzten Jahren viele Arbeiten der historischen Geschlech terforschung von diesem Modell gelöst und gerade die Uneindeutig keiten von Normen und Lebenswirklichkeiten und somit die Über schneidungen von privaten und öffentlichen Sphären akzentuiert [vgl. etwa 5 6: TREPP; 1 77: HABERMAS; 3 1 0: RAHDEN]. Historike rinnen und Historiker betrachteten die Wirkungsweise von ver meintlich »eindeutigen« normativen Entwürfen des Weiblichen wie des Männlichen zunehmend kritisch, und sie arbeiteten zumindest gewisse Unterschiede zwischen wirklichem Leben und normativen Entwürfen heraus. Weiterhin vermochten genauere Betrachtungen zu zeigen, dass diese normativen Entwürfe gar nicht so eindeutig waren, wie es zunächst vielleicht den Anschein gehabt hatte [209: HONEGGERJ. Andere neue Arbeiten wiederum verweisen auf Möglichkeiten, die Bereiche von Norm und Lebenswirklichkeit nicht auseinander zu dividieren, sondern auf neue Art und Weise als ineinander ver schränkte Bereiche von Diskursen/Dispositiven und Erfahrungen deutlicher und zugleich differenzierter zusammen zu denken. Hier bei erweist sich Geschlecht abermals als Schlüsselkategorie. Denn Geschlechter sind sowohl diskursiv erzeugt als auch gesellschaftlich strukturbildend als auch identitätsbildend. Daher zeichnen sie maß geblich für die Möglichkeiten und die Art individueller Erfahrun gen verantwortlich. Geschlecht, so John Tosh, »is both a psychic and a social identity« [ 5 3 : TOSH, 1 94, 1 98J, und als solches steht es in den Fluchtlinien von Kollektivität und Individualität - es ver schränkt die Makro- und Mikroebenen ineinander. Mithin sind die Bereiche des Normativen auf der einen Seite und der Lebenswirk lichkeiten sowie der Erfahrungen auf der anderen Seite, der norma tiv definierten »Männlichkeit« und des tatsächlichen »Mann-Seins« nur schwerlich zu scheiden [ 3 3 : KÜHNE]. Eine Trennung der Be reiche oder gar eine Dichotomisierung führt unseres Erachtens in die Irre, und ihnen liegt eine starke Vereinfachung der Komplexi täten und Wirkweisen von Diskursen zu Grunde [vgl. etwa 3 1 5 : ROPERJ. Denn wenn man, wie Joan Scott und Judith Butler es ein fordern [94: B UTLER; 3 3 5 : SCOTTJ, vorführt, wie sich Geschlechts identität nicht nur in einem auf Sprache reduzierten Diskurs, son dern im gesamten Ensemble kultureller Sinnproduktion formiert, so bilden eben Normen und Lebenswirklichkeiten, Handlungs weisen wie Erfahrungen eine Melange. Allerdings ist weiterhin zu beachten, dass diese Beziehung von
Normen und Lebenswirklichkeiten nicht einfach einseitig deter minierend gedacht werden darf, wie es bisweilen geschehen ist: also in der Art, dass diskursiv erzeugte Geschlechternormen die Erfah rungen und Handlungsweisen von diskursiv vergeschlechteten Men schen bestimmen. Vielmehr sollte diese Beziehung reflexiv gedacht werden: Einerseits machen historische Subjekte ihre Erfahrungen und vollziehen ihre Handlungen in historisch-spezifischen Disposi tiven; die Möglichkeiten, zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten bestimmte Erfahrungen machen und bestimmte Handlungen vollziehen zu können, sind dispositivisch determiniert. Andererseits konstituieren aber auch diese Erfahrungen, Empfindungen und Handlungsweisen der Subjekte diese Dispositive erst. Sie fügen sich zu diesem Ensemble kultureller Sinnproduktion zusammen, zumin dest sobald sie irgendwie mitgeteilt und somit wahrnehmbar wer den: Erfahrungen werden zu Aussagen innerhalb der Dispositive und können (sobald sie entäußert wurden) von anderen Zeitgenos sen und Zeitgenossinnen »zitiert« werden. Diese Erfahrungen wer den von den Subjekten durchaus als »authentisch« wahrgenommen und auch als solche dargestellt, auch wenn sie nur innerhalb der Wirkkräfte eines bestimmten Dispositivs möglich sind. »Authen tizität« erhält in dieser Lesart also eine veränderte Bedeutung: Eine Erfahrung ist deshalb » authentisch«, weil sie vom Subjekt als »authentisch« empfunden wird und als Erfahrung an andere Sub jekte vermittelbar ist, die sie zumindest »kennenlernen und nach vollziehen können« [1 42: FOUCAULT, 3 3] . Auch die Frage, ob die Hervorbringungen des Diskurses real oder imaginär, wirklich oder konstruiert sind, rückt aus dieser Per spektive in den Hintergrund. Denn das Prekäre eines Diskurses ist ja gerade, dass seine Hervorbringungen für die historischen Sub jekte »wirklich« sind und die Qualität des Realen haben, wie auch Andrea Maihofer in ihrer Arbeit über »Geschlecht als Existenz weise« ausgeführt hat [263: MAIHOFER; 264: MAIHOFER; vgl. auch 1 67: GLEIXNER]. Das Dispositiv ermöglicht nicht nur historisch spezifische Erfahrungen vergeschlechteter Subjekte, vielmehr ist es selbst wiederum durch die Summe der Erfahrungen der Subjekte getragen und geprägt. Das Subjekt darf folglich nicht als Ausgangs punkt der Betrachtung gesetzt werden, sondern es muss vielmehr dessen historische Entstehung und Entfaltung innerhalb eines Dis positivs herausgearbeitet werden [1 47: FOUCAULT, 7-4 5 ; 96: BUT LER; vgl. auch 260: LÜDTKE]. 79
Befürchtungen, eine solche Geschichte bringe den Verlust des Sub j ekts mit sich, sind folglich völlig unbegründet. Das Subjekt existiert nach wie vor, nur wird es an kulturelle und gesellschaftliche Ver schiebungen in der Geschichte angekoppelt und somit als historisch wandelbar gekennzeichnet. Auch sollte deutlich geworden sein, dass menschliche Erfahrungen in einer solchen Geschichte keineswegs aus dem Blick geraten. Sie werden nur anders konzipiert [vgl. zur Debatte der letzen Jahre etwa 3 3 2: SCOTT; 3 I 5 : ROPER; IIO: DANIEL; 3 3 5 : SCOTT; 1 76: HABERMAS; 77: B osIVINCENZ/WIRZ]. Eine derart inspirierte Geschichte versucht die Ebene der Erfahrun gen und Handlungsweisen gerade dadurch zu erfassen, dass sie sie mit der Ebene der Denk- und Wahrnehmungsweisen verschränkt. Auf diesem Wege können Erfahrungen in der Geschichte als zu gleich dispositivisch vermittelt und authentisch empfunden aufge zeigt werden. Dichotomien brechen auf, und die Vorstellung, das Gegenteil von Gebundenheit wäre notwendigerweise die unein geschränkte Authentizität, wird relativiert [3 1 6: ROSE; 2 3 6: KRAS MANN]. Gleichermaßen werden Dispositive, Subjekte und Erfah rungen historisiert. Ein Subjekt ist dann nicht mehr Ausgangspunkt von Geschichte, sondern das Subjekt und seine Konstitution wie seine lebensweltliche Verankerung werden zu dem erhoben, was historisch erklärt werden muss - wie auch der Historiker Michael Maset in Anlehnung an Michel Foucault betont: »Subjekt und Er fahrung sind nicht die Grundlage historischer Erklärungen, son dern das historisch zu erklärende. Der vieldiskutierte >Tod des Sub j ekts< erweist sich als seine Wiedergeburt als historisches Wesen« [27 1 : MASET, 93; 1 4 1 : FOUCAULT, 701 f.; 142: FOUCAULT]. »Ge schlecht« , um dies noch einmal herauszustellen, ist in diesem Pro zess der Subjektbildung eine zentrale Kategorie, die wie kaum eine andere gesellschaftliche Strukturierung, dispositivische Prägung und als » authentisch« empfundene Erfahrung aneinander zu koppeln ermöglicht [ 5 3 : ToSH; 3 34: SCOTT]. Für die praktische historiografische Arbeit bedeutet dies, vor allem nach den Verbindungen und der wechselseitigen Prägung von Makro- und Mikroebenen zu spüren: Weitwinkelperspektive und Nahaufnahme müssen ausdrücklich ineinander greifen [308: Po MATA]. Dann kann z. B . eine Geschichte »individueller« Erfahrung geschrieben werden, die zum Indikator und Spiegel einer Ge sellschaft und ihrer Weltbilder wird. Unter den Quellengattungen rücken dadurch vor allem die Selbstzeugnisse historischer Subjekte 80
(also Briefe, Autobiografien, Memoiren, Tagebücher, aber auch Aus sagen vor Gericht etc.) in den Vordergrund. Die Begrenzungen, aber auch die Möglichkeiten, die in diesen Ego-Dokumenten stecken, sind in den letzten Jahren umfassend diskutiert worden [vgl. etwa 2 8 8 : MORGAN; 328: SCHULZE; 296: NIETHAMMER]. Es muss nun kaum mehr betont werden, dass derartige Selbstzeugnisse immer in ihren gesellschaftlich-strukturellen wie auch individuellen Denk und Entstehungszusammenhängen gelesen werden müssen. Da rüber hinaus können sie aber auch in der kombinierten Lektüre mit ausdrücklich normativen Quellen (wie zeitgenössischen Wissen schaftstexten oder Ratgebern) bearbeitet und daraufhin überprüft werden, inwiefern vermeintlich authentische Erfahrungen von his torischen Individuen im Kontext eines zeitgenössisch gefestigten, diskursiv geprägten Feldes von Erfahrungsmöglichkeiten standen [vgl. etwa 266: MARTSCHUKATj 3 47: STIEGLITZ]. Gleichermaßen kann in historischen Untersuchungen gezeigt werden, wie die histo rischen Subjekte die "Konstruktion« von Wahrheit (z. B. vor Ge richt) als Fakt und somit als "wirklich wahr« empfanden. Auch hier verflüssigen sich also Vorstellungen von "Konstruktion« und "Wirk lichkeit«, von "Imagination« und "Realität« [ 1 67: GLEIXNERj 1 6 8 : GLEIXNERj vgl. auch 2 8 6 : MOMMERTZj 27 1 : MASET]. Wenn es also gelingt zu zeigen, wie Subjektbildung und "indi viduelle« Erfahrungen der historischen Akteure in zeitgenössische Dispositive verwoben sind, wird die wechselseitige Durchdringung dieser Ebenen deutlich. Die Konzepte des Diskurses, der Erfahrung und des Subjekts erhalten so noch größere Entfaltungsmöglich keiten in der historischen Arbeit. Dass in spezifischen Forschungen der eine oder der andere Aspekt stärker akzentuiert werden kann und auch muss, versteht sich von selbst.
Krise und Hegemonie
Fragen nach Identitätsbildung, Relationalität und dem Verhältnis von Diskursen und Erfahrungen beschäftigen die Geschlechter geschichte generell. Sie sind keineswegs spezifisch für die Geschichte von Männern und Männlichkeiten, allenfalls die inhaltlichen Aus kleidungen sind andere. Ein Konzept, dem insbesondere in der Männlichkeitengeschichte Aufmerksamkeit zukommt, ist jedoch das der "Krise« . Freilich steht auch das Krisenkonzept im Kontext der 81
weiträumigeren konzeptionellen Darlegungen, denn es kann auch als inhaltliche Zuspitzung von männlicher, mehrfach relationaler Identi tätsbildung durch Diskurse und Erfahrungen aufgefasst werden. Jedenfalls ist in der Geschichte in schöner Regelmäßigkeit von einer »Krise der Männlichkeit« die Rede, so in der US-Geschichte für die r 8 3 oer, die 1 890er, die 1 930er, die 1 9 5 0er oder die 1 970er Jahre und dies ist nur eine Auswahl. Ähnliches kann für die deutsche Geschichte konstatiert werden, exemplarisch sei hier nur auf die Zeit nach den beiden Weltkriegen verwiesen. Folgendes sei vorweg geschickt: Das Konzept der Krise ist einerseits äußerst problema tisch, andererseits aber auch sehr hilfreich, um Verschiebungen von Männlichkeitsentwürfen und Geschlechterbeziehungen in den Griff zu kriegen. Folglich bedarf es einer eingehenden Erläuterung seiner Probleme wie seiner Erkenntnischancen. Wir wollen mit einem Aufriss der Probleme beginnen. Schon die Aneinanderreihung der Krisen lässt ein Hauptproblem deutlich erkennen: Die Vielzahl der Bedrängnisse und Dilemmata wirft die Frage auf, wo denn überhaupt noch Entspannung und Normalität zu markieren sind. Man ist geneigt zu fragen, ob die Männlichkeit nicht vielmehr in einer Dauerkrise ist? Und über haupt: Wenn von der Männlichkeit die Rede ist, die in eine Krise gerät, bildet dann nicht eine stabile und gewissermaßen essenziell zu denkende Männlichkeit, die diese Krise durchlebt, den Ausgangs punkt des Denkens über Geschlecht ? Der Begriff der Krise, be tonen beispielsweise Bryce Traister und Robert Connell, impliziere ein kohärentes System, das zunächst einmal positiv besetzt und von einer » authentischen«, wünschenswerten Form von Männlichkeit getragen ist und das dann durch diese Krise zer- bzw. gestört wird [r04: CONNELL, 1 0 5 der dt. Ausg.; 3 5 4: TRAISTER]. Wie wir wis sen, existieren ein solches kohärentes System und eine derart essen ziell gedachte Männlichkeit in dem Konzept performativer Ge schlechter nicht, vielmehr wird »das vergeschlechtlichte Subjekt nicht durch einen dauerhaften Status quo, sondern durch die per manente Veränderung bestimmt« [22 3 : KALTENECKER, 42; vgl. auch die Problematisierungen bei 6 r : ALLEN und 1 2 r : DITz]. Betrachtet man die Rede von der Krise genauer, so fällt weiterhin auf, dass sich krisenhafte Vorstellungen von der Männlichkeit in aller Regel auf weiße, christliche, heterosexuelle Männer der Mittel klasse beziehen - also auf eine in neuzeitlichen westlichen Ge sellschaften hegemoniale Männlichkeit, die in Relation zu anderen, 82
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ökonomisch, sozial, kulturell, ethnisch, sexuell oder anderweitig marginalisierten Männlichkeiten dominant ist und in Zeiten ihrer Stabilität den stärksten Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen er laubt. Die hegemoniale Männlichkeit steht offensichtlich im Zen trum dieses vermeintlich kohärenten Systems, das durch die Rede von der Krise suggeriert wird. Bisweilen bezieht sich die Rede von der Krise aber auch auf sub ordinierte Männlichkeiten, die in den zeitgenössischen Dispositiven als grundsätzlich männlich defizitär gekennzeichnet sind. Hier mar kiert der Krisenbegriff kein vorübergehendes Abweichen von einer Norm, sondern er formuliert eine strukturelle Dauerkrise. Objekte einer solchen Kennzeichnung sind beispielsweise afroamerikanische Männer in der US-amerikanischen oder jüdische Männer in der deutschen Geschichte. Bemerkenswert ist wiederum, dass die ver meintliche Dauerkrise dieser Männer über Defizite in Relation zu dem hegemonialen Modell von Männlichkeit konzipiert ist. Die Frage, die beispielsweise in Perspektive auf schwarze Männer in der Geschichte der USA immer wieder gestellt wurde, lautete also etwa: Inwieweit können sie dem hegemonialen Entwurf weißer Männ lichkeit entsprechen? Erstens wird somit dieser Entwurf als Ideal postuliert. Zweitens können derart marginalisierte Männer aufgrund der Barrieren des herrschenden Rassenkonzepts und eines daran gebundenen gesellschaftlich-kulturell diskriminierenden Systems diesem Entwurf häufig gar nicht entsprechen (z. B. war es für ver sklavte oder auch in Segregation lebende afroamerikanische Män ner schwerlich möglich, die Anforderungen des »Beschützers« und »Versorgers« zu erfüllen), und somit befanden sie sich, gemessen am hegemonialen Modell, in einer Dauerkrise. Diese wird dann ver mutlich so lange anhalten, wie das besagte rassistische System Bestand hat. Dabei ist scheinbar paradoxerweise zu beobachten, dass margi nalisierte Männer nicht selten den hegemonialen Entwurf von Männ lichkeit für sich als Leitvorstellung annehmen. Durch ihr Streben, die Marginalisierung zu überwinden, indem sie die Kriterien der Hegemonie erfüllen, bestätigen sie dann das hegemoniale Konzept selbst, und auf diesem Wege bestärken sie wiederum einen wesent lichen Faktor für ihre eigene Kennzeichnung als defizitär. Möglicher weise führt das Streben marginalisierter Männer nach einem Dasein als » echte« Männer zu einer Akzentuierung von Differenz gegen über Frauen. Hier kann also deutlich werden, wie sehr sich die
Geschlechterordnung und die Entwürfe, auf denen sie gründet, in die Subjekte einschreiben. Ein solches Perpetuieren der eigenen Un terwerfungsmechanismen und der Unterwerfung anderer kann ein treffendes Beispiel für das Zusammenwirken von Dispositiven, Er fahrungen und Subjektbildung sein [vgl. dazu etwa 2 1 2: HOOKS].2 Als Versuch einer Beschreibung historischer Realität sollte der Krisenbegriff verworfen werden. Denn wenn dieses Konzept zur »objektiven Diagnose« eingesetzt wird, treten zwei Hauptproblerne zu Tage. Als Erstes ist die bereits angesprochene vermeintliche Kohärenz und sogar Essenzialität von Männlichkeit zu problema tisieren, die durch den Krisenbegriff suggeriert wird. Eine solche Essenzialität wie auch die implizite Annahme, eine » gelungene« Identitätsbildung bedinge ein vollends stabiles Geschlecht, verträgt sich in keiner Weise mit dem Konzept des » doing gender« und der Performativität, wie es der neueren Geschlechterforschung zu Grunde liegt und wie wir es weiter oben mehrfach skizziert haben. Wenn Geschlecht ein kontingentes Ergebnis von Praktiken und also etwas ist, das sich in einem permanenten Herstellungsprozess be findet, dann kann es keine essenzielle Männlichkeit geben, die in eine Krise gerät. Bestenfalls könnte man von einer vermehrten Be wegung innerhalb der Geschlechterkonfiguration und des Norm systems reden, wodurch die performativ erzeugte (und damit immer unsichere) Stabilität dieses Systems erschüttert wird. Wird nun aber eine Krise als objektiv gegeben diagnostiziert, so impliziert dies den Gedanken, das System bedürfe der Restabilisierung entlang seiner vermeintlich »natürlichen« Achsen. Um es von einer anderen Seite zu beleuchten: könnte man nicht, anstatt die Perspektive des Hege mons einzunehmen und über eine »Krise« zu lamentieren, auch von den Rändern der Geschlechterordnung her denken und eine solche Erschütterung als »Chance« verstehen? Daran knüpft zweitens die Frage an, welche Funktion die regel mäßige Anrufung einer Krise in der Geschichte wie in der gegen wärtigen Forschung zu Männern und Männlichkeiten eigentlich erfüllt. Wird durch diese Rede von der Krise nicht ganz wesentlich dazu beigetragen, den Anspruch einer bestimmten Form von Männ lichkeit auf eine hegemoniale Stellung zu bestärken? Wird mit dem 2
Den ambivalenten Status afroamerikanischer Männer in der US-Kultur und Gesellschaft, die einerseits als defizitär gekennzeichnet sind und an dererseits als Ikonen der Populärkultur fungieren, diskutiert 3 1 8: Ross.
Bemühen der Krisentrope nicht permanent an einem Narrativ ge strickt, das die Hegemonie der angeblich kriselnden Männlichkeit stabilisiert bzw. erst herstellt? Siegfried Kaltenecker hat derlei Stra tegien bei der Verwendung des Krisenbegriffs herausgearbeitet, wenn auch eher im Hinblick auf gegenwärtige Debatten [22 3 : KALTENECKER]. Letztlich allerdings muss diese Stabilisierung der Geschlechter- und Gesellschaftsordnung durch die Rede von der Krise gar nicht notwendig von den entsprechenden Autoren und Autorinnen kalkuliert sein. Häufig erscheint die Krisenmetapher ganz einfach als ein dankbares Darstellungselement gesellschafts politischen wie geschichtswissenschaftlichen Denkens und Schrei bens über Männlichkeiten, dessen Rolle, Funktion und Bedeutung innerhalb des narrativen Verfahrens unbestimmt bleibt. Weiterhin fällt auf, dass als Ursachen für »Männlichkeitskrisen« zumeist poli tische, ökonomische, soziale oder kulturelle Phänomene genannt werden, die angeblich von außen auf das Geschlechtersystem ein wirken und namentlich gegenüber Männern und Männlichkeiten wirkungs mächtig werden. Die Fragen danach, wie ein solches Zu sammenspiel eines angeblichen Äußeren und eines angeblichen Inneren genau zu konzeptionalisieren wäre und ob die krisenhafte Dynamik von »Gender« allgemein und Männlichkeit im Besonde ren nicht auch aus diesem System heraus entstehen kann, bleiben nicht selten unbeantwortet. Grundsätzlich sollte man dem Krisenbegriff also skeptisch ent gegentreten, die essenzialisierenden Untertöne mitdenken und ihn zurückweisen, wenn er als objektive Diagnose einer historischen Realität daherkommt. Dem stehen nun allerdings Erkenntnischancen des Krisenkonzepts gegenüber, wenn es als heuristisches Instrumen tarium eingesetzt wird. Hierzu sei zunächst noch einmal heraus gestellt, dass die »Krise« nicht nur ein Forschungskonzept, sondern auch ein Quellenbegriff ist: Historische Akteure beklagten zu ver schiedenen Zeiten »Krisen der Männlichkeit«. Folglich kann die Skepsis gegenüber Forschungsstrategien, die mit Krisenbegriffen operieren, in ergiebige Fragen an die Geschichte gewendet werden. Denn das historiografische Erkenntnisinteresse kann auf eine Krise als Erfahrung der Zeitgenossen in der betrachteten historischen Einheit gerichtet werden - als eine Erfahrung, die freilich in der historisch-spezifischen kulturellen Konfiguration verankert ist. Die Frage wäre dann nicht, ob es zu bestimmten Zeiten unter bestimm ten Bedingungen tatsächlich eine Krise gegeben hat, sondern in-
wieweit bestimmte historische Verschiebungen Effekte mit sich brachten, die mit Blick auf Männlichkeitsentwürfe als krisenhaft artikuliert bzw. ,empJunden wurden. Eine Betrachtung von » Kri sen«, also eine Betrachtung der Verwendung der Krisenmetapher in der Geschichte, müsste dann freilich mehrfach relational angelegt sein. Sie müsste also andere soziokulturelle Strukturkategorien einbeziehen und zeigen, welche Gruppen welche Männlichkeits entwürfe als krisenhaft empfanden und wie ein spezifischer Ent wurf von Männlichkeit Verschiebungen durchlief, die seine Hege monie offensichtlich gefährdeten. Dabei hat die US-Historikerin Gail Bederman zu Recht darauf hingewiesen, dass keineswegs sämt liche Träger hegemonialer Männlichkeit eine solche Situation als Krise empfinden müssen [ I : BEDERMAN, I I]. In einer solchen Lesart könnten der Krisenbegriff und seine Ver wendung in der Geschichte einen Weg eröffnen, das wechselhafte Spiel der Stabilisierung und Destabilisierung von performativen Männlichkeiten und ihre Stellungen in dem Spektrum marginal hegemonial schärfer zu fassen. Weiterhin vermag ein solcher Zugang die Frage zu fokussieren, wie die Anrufung einer Krise in der Ge . schichte wieder zur Stabilisierung des hegemonialen Entwurfs beigetragen hat. Wird die »Krise« also als heuristisches Instrument genutzt, so kann vorgeführt werden, wie Vorstellungen von Essen zialität historisch entstehen und welche kulturellen Praktiken und Mechanismen diese Vorstellungen ermöglichen bzw. legitimieren [ 1 96: HERAUSGEBERINNEN VON GENDER AND HISTORY, 2; I 28a: ERHART/HERRMANN, I 6 f.; 3 5 4: TRAISTER, insb. 284]. Folglich kann der Krisenbegriff helfen, Geschlechterordnungen sowie die Verschränkung hegemonialer und marginaler M ännlich keiten in der Geschichte präziser zu bestimmen. Zu alledem ist auch das Konzept von Hegemonie und Marginalität nicht statisch, sondern beweglich zu denken. Operationalisiert man die Krisen metapher innerhalb eines Konzepts performativer Geschlechter, so kann mit ihrer Hilfe eruiert werden, wann und unter welchen Be dingungen in der Geschichte die Geschlechterordnung in welchem Maße umkämpft war. Aus dieser Perspektive »markiert der Begriff der Krise nicht den Ausnahme-, sondern den Normalzustand der Bedeutungsgebung«, stellt etwa Siegfried Kaltenecker heraus - den pointierten Normalzustand des verstärkten » doing gender«, möch ten wir hinzufügen [223 : KALTENECKER, 42]. Hierbei ist es von besonderem Interesse zu ergründen, in welchen historischen Kon86
stellationen eine Krise welcher Männlichkeit beklagt wird und wie dadurch (und durch die (Selbst-)Viktimisierung von Männern) möglicherweise in der Geschichte wie auch durch die Geschichts schreibung eine Wiederherstellung der Hegemonie vorangetrieben und legitimiert wurde und wird - gegenüber Frauen und gegenüber marginalisierten Männern. So kann der wunde, kranke, geschwäch te, der Heilung bedürfende Mann beinahe als eine Standardinsze nierung gelten, die eine potenzielle oder konkrete Schwächung hegemonialer Männlichkeit in der Geschichte begleitet. Das Reden von der Krise erscheint somit als ein performatives RituaP, das zur Überwindung empfundener Schwäche beiträgt [22 3 : KALTEN ECKER, 39; 370: WULF/ZIRFAS, 97]. Vor diesem Hintergrund kann es keineswegs verwundern, dass bei Krisendiagnosen in der moder nen Geschichte nicht immer, aber doch häufig eine Besinnung auf eine körperbetonte, naturverbundene, homosoziale und als »authen tisch« konzipierte Form von Männlichkeit propagiert wurde [vgl. etwa 1 : BEDERMAN; 1 1 5 : DEAN]. Offen ist noch, in welchem Verhältnis das Reden von einer Krise zu historischen Ereignissen wie Naturkatastrophen, Wirtschafts krisen oder Kriegen steht. Stellen solche Ereignisse externe Anstöße für die Geschlechterordnung dar? Wenn dem so ist, dann drängt sich die Frage auf, wie diese externen Anstöße in Beziehung zu Männ lichkeitsentwürfen und individuellen wie kollektiven Erfahrungen treten. Wie verschieben sich die Dispositionen des Mann-Seins z. B. durch einen Krieg, oder inwiefern kann eine solche Krise der hegemonialen Männlichkeit eine Bestärkung von marginalisierter Männlichkeit bedeuten? Wie wäre eine Bestärkung marginalisierter Männlichkeit eigentlich zu denken, und welcher Männlichkeits entwurf würde hier eigentlich durch wen bestärkt? Hier sei zur Verdeutlichung dieser Verwicklungen abermals ein Beispiel angeführt. Im Verlaufe des amerikanischen Bürgerkrieges traten ehemalige Sklaven in die Armee der Union ein und kämpften mit der Waffe für das Ende ihrer Unterdrückung und Entmänn lichung. So perpetuierten sie nicht zuletzt den hegemonialen Ent wurf von Männlichkeit, der wesentlich an Vorstellungen von Wehr haftigkeit gebunden war: »This was the biggest thing that ever happened in my life«, erklärte zum Beispiel einer der afroamerika3
Vgl. zur Erläuterung eines performativen Ritualbegriffs etwa 1 3 9: FI SCHER-LICHTE.
nischen Soldaten seine »Erfahrung«, »I feel like a man with a uni form on and a gun in my hand« [109: CULLEN, 496]. Ein anderes Beispiel wären deutsch-jüdische Frontsoldaten während des Ersten Weltkrieges. Greg Caplan hat gezeigt, wie sie hofften, durch den Einsatz ihrer Körper den rassistischen und als defizitär konzi pierten Entwürfen jüdischer Männlichkeit entgegentreten und ihr »Deutsch-« und »Maskulinsein« beweisen zu können. Die For schung betont dabei vor allem die Hoffnung der jüdischen Soldaten, dass der Krieg ihnen die vollständige Gleichberechtigung und An erkennung als deutsche Männer bringen würde. Caplan zitiert einen jüdischen Frontsoldaten: »Der Umstand [dieses schrecklichen Krie ges] erfüllt mich mit froher Genugtuung, daß uns in Folge dieser weltgeschichtlichen Notwendigkeit Gelegenheit gegeben ist, die Bluttaufe zum Deutschtum an uns zu vollziehen« [98 : CAPLAN, 9 1] .4 Beide Beispiele verdeutlichen, wie wichtig es ist, verschiedene Gruppen von Männern, ihre häufig uneindeutigen Beziehungen zueinander und zu Männlichkeitsentwürfen in den Blick zu bekom men. Und diese Verwirrungen und Verschiebungen sind häufig in Zeiten intensiver gesellschaftlicher Transformation besonders groß. Freilich ist zu bezweifeln, ob es überhaupt Sinn macht und ob es überhaupt möglich ist, eindeutig von externen Anstößen für solche gesellschaftlichen Transformationen zu reden. Die diesbezüglichen Erwägungen sind strukturell denen über die Reflexivität von Dis kursen und Erfahrungen ähnlich. Denn so, wie die Vielzahl der Erfahrungen und deren Mitteilung erst ein Dispositiv konstituieren, so kann auch die Blickrichtung auf viele dieser vermeintlich exter nen Ereignisse umgedreht werden. Die Frage würde dann nicht auf die Erschütterung der Geschlechterverhältnisse z. B. durch Kriege abzielen, sondern etwa lauten: Inwieweit haben historisch-spezi fische Geschlechterkonzepte solche Ereignisse, wie z. B. Kriege, bedingt, getragen und mit Sinn aufgeladen? Steht nicht j edes Er eignis in Interdependenzkonstellationen, weshalb die Trennung in »innen« und »außen« allenfalls als analytische Trennung denkbar und sinnvoll ist?5 So war es, um hier eine These der Forschung als 4
5
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Vgl. zu deutsch-jüdischer Männlichkeit im Ersten Weltkrieg auch Quelle 4 im Quellenteil. Eine Diskussion des Ereignisbegriffs bietet der Band von 200: HETT LING/SUTER; vgl. für eine Erfahrungsgeschichte des Krieges insb. 9 1 : BUSCHMANN/eARL.
illustrierendes Beispiel anzuführen, nicht zuletzt auch die als » kri senhaft« empfundene Männlichkeit der 1 890er Jahre, die in den Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1 898 hineinführte. Die USA, so meinten viele Zeitgenossen, seien wieder reif für einen Krieg, damit ihre Männer ihren Mut und ihre Tatkraft beweisen und erproben könnten, die für ein erfolgreiches Bestreiten des sozial darwinistischen »struggle for existence« als notwendig galten. Ein soldatisches Ideal von Männlichkeit wurde beschworen, um ihrer »Krise« begegnen zu können [4 5 : ROTUNDO, 232 ff.; 206: HOGAN SON]. Mit Blick auf die deutsche Geschichte sei an dieser Stelle auf die ständig wachsende Forschung hingewiesen, die das Ineinandergrei fen von Männlichkeit, Nation und Gewalt(bereitschaft) seit dem frü hen 1 9. Jahrhundert [2 5 : HAGEMANN] und insbesondere seit dem Kaiserreich untersucht. Hier ist auf die Forschungen von Claudia Bruns, Marcus Funck, Karen Hagemann, Thomas Kühne oder Sven Reichardt zu verweisen. Reichardt etwa hat gezeigt, wie in faschis tischen Kampfbünden in Deutschland und Italien ein Kult des Wil lens und der Gewalt gepflegt wurde, der in Vorstellungen von Dynamik, Energie und Männlichkeit gründete. Die Bünde beför derten durch Fahnensymbolik, Uniformen und Märtyrerkult eine gleichsam religiöse Identifikation mit der Nation. Diese ging mit einer männlich konnotierten Gewaltbereitschaft gegenüber Feind entwürfen einher, arbeitete sich an Vorstellungen einer effeminier ten, krisenhaften Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg ab und trug so dazu bei, in den Zweiten Weltkrieg hinein zu führen [3 1 1 : REICHARDT]. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Anrufung der Krisen metapher als Indiz dafür gelten kann, dass es zu bestimmten Zeiten zu verstärkten Verschiebungen in der Geschlechterkonstellation ge kommen ist, die einen sehr genauen Blick lohnen und einen wich tigen Zugang zu Hegemonie und Marginalität eröffnen können. Zugleich sollte man jedoch im Hinterkopf behalten, dass die »Krise« zu einer Art Leitmotiv für die Konzipierung von Männlichkeit in der Geschichte der Neuzeit wie der Geschichtsschreibung gewor den ist. Dieses Leitmotiv strukturiert das historische und das histo riografische Narrativ, und daher trägt es nicht zuletzt auch dazu bei, Beziehungen von Hegemonie und Marginalität zu stabilisieren und den Blick möglicherweise zu verengen. Daher sollte das Kon zept der »Krise« trotz aller Problematisierung und trotz seiner Be-
schränkung auf ein heuristisches Instrument immer behutsam ver wendet und mit Vorsicht operationalisiert werden [3 54: TRAISTER, 287 H.].
Zusammenfassende Thesen zur Geschichte von Männlichkeiten in der Moderne
Abschließend möchten wir einige Anregungen formulieren, die dabei helfen sollen, die oben skizzierten Forschungsdesiderate und Leitfragen in Historiografie umzusetzen. Das wird hier thesenhaft geschehen. Danach soll im Forschungsüberblick anhand verschiede ner Forschungsfelder genauer skizziert werden, in welchem Maße dies in der Geschichtsschreibung bereits geschehen ist. Weiterhin möchten wir auch hier noch einmal betonen, dass freilich nicht jede historische Arbeit alle konzeptionellen Aspekte und Fragen berück sichtigen kann und sollte. Vielmehr wird häufig nur eine entspre chende Beschränkung der Perspektiven brauchbare Ergebnisse her vorbringen - man sollte sich dieser Beschränkung aber bewusst sein und sie entsprechend transparent machen. Zuvorderst ist mit Blick auf die Geschichte der Männlichkeiten hervorzuheben, dass das Ziel nicht sein kann, eine Art von Sonder geschichte zu etablieren. Vielmehr sollten die vorangehenden Seiten deutlich gezeigt haben, dass die Leitaspekte in der Geschlechter geschichte verankert sind und für eine Geschichte von Männlichkei ten kaum neu erfunden werden müssen. So sind beispielsweise die Forschungsfragen, die Joan Scott 1 9 8 6 am Ende ihres Aufsatzes über » Gender as a Useful Category for Historical Analysis« for mulierte, nach wie vor aktuell, und zwar auch für eine Geschichte von Männern und Männlichkeiten: Erstens forderte Scott dort, die historische Spezifik von Bedeutungen und ihrer Konstitution in denk- und handlungsleitenden, normativen Konzepten aufzuspü ren. Zweitens müsse gezeigt werden, wie und in welchen Kontexten sich diese Bedeutungen manifestieren und in Form von gesellschaft licher Organisation und politischem Handeln niederschlagen. Drit tens gelte es herauszuarbeiten, wie in dieser Gesellschaftsordnung sowie in kulturellen Symbolen wiederum » Gender« reproduziert, konstruiert und etabliert werde. Und »last but not least« müsse vier tens gezeigt werden, wie diese Mechanismen auf die Ausprägungen von Identitäten wirken. Und vor allem: Wie greifen diese vier Ebenen
ineinander? Inwieweit wirken sie jederzeit und in jeder Dimension reflexiv? b 34: SCOTT, 1 067 ff.; 3 2 5 : SCHMALE, 1 0] Spätestens an dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob eine Geschichte von Männern und Männlichkeiten, die so eindeutig als Geschlechtergeschichte gefasst werden kann und sollte, überhaupt eine »eigene« Problematisierung und Konzeptionalisierung braucht? Freilich beantworten wir diese Frage mit »ja«. Denn erstens muss sich eine Geschichte der Männlichkeiten zu dem politischen Projekt wie zu der wissenschaftlichen Disziplin der Frauen- und Geschlech tergeschichte verhalten. Darauf haben wir vor allem in den Kapiteln über die interdisziplinären Männerstudien, aber auch über Frauen und Geschlechtergeschichte verwiesen. Zweitens wirft ein Blick auf die Geschichte aus der »Männlichkeitenperspektive« bisweilen ver änderte historische wie historiografische Fragen auf und lässt ver meintlich bekannte Phänomene in neuem Licht erscheinen. Ohne nun jeden kleinen Schritt gleich zu einer großen Bewegung hoch dichten zu wollen [22 3 : KALTENECKER, 4 5], kann der Blickwinkel der Männlichkeitengeschichte doch dahin führen, dass sich Kon zepte herausbilden, die sich zwar nicht auf gänzlich neue Methodo logie oder Theorie stützen, die aber zusätzliche Akzente innerhalb der Geschichte im Allgemeinen und der Geschlechtergeschichte im Besonderen setzen und die der Erörterung bedürfen - hier sei vor allem auf die Konzepte von » Krise« und » Hegemonie« verwiesen. Gleichermaßen gewinnen z. B. historisch-inhaltliche Fragen wie die nach Vergemeinschaftung aus männergeschichtlicher Perspektive eine veränderte Dimension. Dies werden wir in den folgenden Ka piteln anhand der bestehenden Forschung eingehender erläutern. Insgesamt erscheint es uns jed
denken. Bei der Identitätsbildung und Ausdifferenzierung bestimm ter Gruppen von Männern muss die Kategorie » Geschlecht« in Relation zu anderen Kategorien wie »Klasse« oder »Ethnizität« be stimmt und dabei auf die historische Spezifik der jeweiligen kultu rellen Konfiguration geachtet werden. Anders herum wäre es auch möglich, die Zielrichtung der Frage umzudrehen: Man muss nicht unbedingt nach der Definition von Männlichkeit innerhalb einer bestimmten Konfiguration fragen, sondern man kann auch ver suchen, über das Vehikel Männlichkeit die historische Spezifik einer solchen Konfiguration herauszuarbeiten - beispielsweise das Ent stehen der westlichen p olitischen Kultur durch eine Verschiebung von Männlichkeitsidealen. Letztlich werden die eine und die andere Untersuchung vieles gemein haben, doch die Zielrichtung ist unter schiedlich. Wie weit eine solche Untersuchung, die nach der mehr fachen Relationalität von Geschlecht und geschlechtlicher Iden titätsbildung fragt, aufgefächert werden kann und sollte, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Dazu gehören ganz forschungs pragmatisch auch der Platz und die Zeit, die für die Untersuchung zur Verfügung stehen. Es sei hier auch betont, dass eine solche, mehrfach relationale Betrachtung ja nicht notwendigerweise nur Differenzen zu Tage fördert, sondern bisweilen auch überraschende Überschneidungen - und dies gilt nicht nur für verschiedene Grup pen von Männern, sondern auch für Männlichkeiten und Weiblich keiten [vgl. insgesamt auch die Anregungen bei 1 5 2 : FREVERT, 3 4 ff.]. Zweitens sind die Kopplungen von Identitätskonstruktionen an die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ein zentraler Unter suchungsgegenstand, der im Bereich der Männer- und Männlich keitenforschung eng an das Konzept von Hegemonie gebunden ist. Welcher Entwurf von Männlichkeit eröffnet welche Handlungs spielräume und erlaubt welchen Zugriff auf welche gesellschaft lichen Ressourcen - ökonomisch, sozial, kulturell oder symbolisch? Auf Kosten welcher anderen Geschlechtsentwürfe wird dieser Zu griff möglich, und: Wie werden Geschlechtsentwürfe nicht zuletzt in dem Ressourcenzugriff reproduziert? Erläuternd sei hier darauf verwiesen, dass bekanntermaßen nur bestimmte Gruppen von Män nern Zugriff auf bestimmte politische Ämter hatten, und dass die Bekleidung bestimmter politischer Ämter durch bestimmte Männer die Vorstellung einer überlegenen, rationaleren, verantwortlicheren Wesensart dieser Männer bestärkte. Das hat so weit geführt, dass
solche Eigenschaften, die zur politischen Tätigkeit befähigten, als z. B . bürgerlich, weiß, männlich konzipiert wurden und sich diese Konzeption auch in der Wahrnehmung und Deutung des Politischen selbst niederschlug [78: B O UKRIF u. a.] . Insofern kann drittens danach gefragt werden, inwieweit bestimmte Prozesse und Institu tionen geschlechtlich codiert sind und spezifisch männlich gedacht wurden und werden - Männlichkeitengeschichte wäre dann nur noch mittelbar an Männer gebunden. So könnte beispielsweise eine Geschichte von Frauen im Militär zugleich eine Geschichte der Männlichkeiten sein. Viertens wäre nicht nur darauf zu schauen, wie sich eine ge schlechtliche Konnotation im Diskurs vollzieht, sondern auch, wie sie erfahren wird. Hierbei könnte man nicht nur versuchen, »tat sächliche« Erfahrungen von Männern zu markieren (z. B. über Selbstzeugnisse), sondern auch zu bestimmen, welche Erfahrungen zu welcher Zeit als »typisch« und/oder »notwendig« für bestimmte Gruppen von Männern galten und inwieweit solche (z. B. bün dischen oder kriegerischen oder sexuellen) Erfahrungen für Männer dann tatsächlich erstrebenswert wurden. Die »Authentizität« von Erfahrungen würde so historisiert werden, und die Verschränkung von historisch-spezifischen Dispositiven und Subjektbildung wäre ein zentraler Untersuchungsbereich. Fünftens wäre danach zu fragen, wie sich Zeitgenossen und Zeit genossinnen selbst zu Entwürfen von Männlichkeit positioniert haben. Hier wäre nicht nur darauf zu schauen, welche Entwürfe unter welchen Bedingungen in eine hegemoniale Position gelangen konnten und wie sie sich gegenüber marginalisierten Geschlechter entwürfen konstituierten. Darüber hinausgehend kann gefragt wer den, wie stabil diese Männlichkeitsentwürfe und die Konstellationen von Hegemonialität und Marginalität waren. Hier ist bemerkens wert, wie hegemoniale Männlichkeitsentwürfe über die dominanten Gruppen von Männern hinausreichen. Insgesamt wäre zwischen Phasen der Verdichtung und Stabilisierung und Phasen der Destabi lisierung zu unterscheiden, die für die hegemonialen Gruppen als krisenhaft empfunden wurden oder in denen möglicherweise auch der hegemoniale Männlichkeitsentwurf in Frage gestellt wurde. Solche Momente des Umbruchs von dispositivisch vermittelten »Wahrheiten« sind von besonderem Interesse, da hier genauer mar kiert werden kann, wie sich historischer Wandel vollzieht [320: SARASIN, 74 f.]. 93
5.
Männer und Männlichkeiten in der Historiografie: ein erster Überblick
Bevor wir uns den Forschungsentwicklungen in drei zentralen Fel dern der Geschlechtergeschichte von Männern und Männlichkeiten genauer zuwenden, nämlich den Aspekten Familie und Arbeit, männlicher Sozialität sowie Formen männlicher Sexualität, sollen hier nun zunächst einige wesentliche Beiträge kurz präsentiert wer den, die Eckpunkte der bisherigen Forschung markieren. Ihre Be deutung liegt zumeist auf zwei Ebenen: Viele von ihnen sind tat sächlich so etwas wie »Meilensteine« der neuen Geschichte der Männlichkeiten, weil sie erstmalig - oder erstmalig in ihrer Deut lichkeit - bestimmte Aspekte historischer Männlichkeiten heraus arbeiteten und damit einen neuen Blick eröffneten. Wir werden sehen, dass sie damit vielfach genau die Arbeiten stimulierten und ermöglichten, die in den nachfolgenden Kapiteln in ihrem spezi fischen thematischen Zusammenhang diskutiert werden. Darüber hinaus gilt für zahlreiche der hier angesprochenen Monografien, Anthologien und Aufsätze, dass sie den Forschungsstand ihrer je weiligen Entstehenszeit prägnant bündeln und somit die Debatten der Historiografieentwicklung abbilden. Schließlich haben wir in diesen Abschnitt auch die wenigen bislang vorliegenden Überblicks werke integriert, zumal diese gerade einen ersten Zugang sowohl zu inhaltlichen wie methodischen Fragen eröffnen. Obwohl diese wichtigen Referenzen zur Geschichte der Männ lichkeiten in vielfältige Austauschbeziehungen untereinander und mit der weiteren sozial- und kulturhistorischen Forschung ein gebunden sind, haben wir uns hier aus Gründen der Übersichtlich keit für eine analytische Trennung in die beiden großen Bereiche englisch- und deutschsprachiger Literatur entschieden; wir werden auf markante Wege von Rezeption und Wirkung an den gegebenen ' Stellen eingehen. Schließlich sei noch angemerkt, dass eine solch kurze Präsentation von »Standardwerken« natürlich einer Auswahl unterliegt, die zumindest teilweise subjektiv bleiben muss. Dies gilt gerade dort, wo wir uns von Überblicksdarstellungen ab- und thematisch engeren Studien zuwenden. Dabei werden wir die For schungsfelder prononcieren, die wir im gesamten Verlauf dieses Buchs in den Vordergrund stellen.
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Überblicks- und Standardwerke zur Geschichte der Männlichkeiten aus Großbritannien und den USA
Wie wir bereits im Verlauf des Kapitels zu den »Men's Studies« geschildert haben, waren auch einige wenige Historikerinnen und Historiker unter denjenigen, die im Anschluss und unter unmittel barem Bezug auf Frauenbewegung und Feminismus an einer Erfor schung von Männern als >,gendered beings« arbeiteten. Peter Filenes Monografie »Him/Her/Self« aus dem Jahr 1 974 ist ein wichtiges frühes Beispiel, das sich ausführlich mit Konstruktionen geschlecht licher Identität in der US-Geschichte auseinander setzt [ 1 6: FILENE, 3. Aufl. 1 998]. Dabei liegt der Schwerpunkt des Autors vor allem auf Aspekten einer Sexualitätsgeschichte der Moderne, die er 1 890 beginnen lässt. Filene behandelt Männlichkeiten und Weiblichkeiten bereits explizit in einem ausdrücklich relationalen Rahmen, ohne den im Zentrum stehenden Rollenbegriff zu hinterfragen. Einen vielfältigen und noch heute nützlichen Überblick über viele dieser frühen »Pionierstudien« zur Geschichte von Männlichkeiten in den USA finden sich in der von Elizabeth und Joseph Pleck 1 980 heraus gegebenen Anthologie »The American Man« . Einer chronologischen Grobgliederung folgend, eröffnen die hier vorgestellten Aufsätze, unter anderen von Mary Beth Norton, Eugene Genovese und Mirra Komarovsky, jene Felder, welche die weitere Entwicklung der Männlichkeitengeschichte ausmachen sollten: Ehe und Vaterschaft, bonding in Militär und Vereinen, Sexualität [4 1 : PLECK/PLECK]. Im weiteren Verlauf der Forschungsentwicklung trat der direkte Impuls des Feminismus in den Hintergrund, ohne freilich zu ver schwinden. Wichtiger wurde in den 1 980er Jahren der paradigma tische Einfluss der neuen Sozialgeschichte, die ja ebenfalls nicht ohne die Sozialrevolten der 1960er Jahre zu denken ist. Auf diesen Zusammenhang weist bereits die Einleitung von »The American Man« hin, aber insbesondere Peter Stearns in seinem erstmals 1979 erschienenen Buch »Be A Man!« macht diesen Aspekt stark [48 : STEARNS]. Die Einleitung zur zweiten Auflage dieses Werks enthält eine deutliche Kritik an »männerorientierten« Arbeiten der 1 970er Jahre, denen Stearns ihre mangelnde historische Tiefenschärfe vor wirft. Er bettet seine eigene Darstellung - die nicht allein die Ver einigten Staaten, sondern darüber hinaus auch Westeuropa umfasst ausdrücklich eher in ein sozialhistorisches Paradigma ein und wertet entsprechende Literatur aus! [49: STEARNS] . Tatsächlich ist es so,
und das wird bei der Lektüre der folgenden Abschnitte zu den drei Forschungsfeldern deutlich werden, dass eine große Anzahl sozial historischer Beiträge durchaus vielschichtige Aspekte von histo rischer Geschlechtlichkeit und dabei eben auch Männlichkeiten thematisiert haben - nur eben ohne diese Ergebnisse in einen aus drücklich geschlechterhistorischen Rahmen einzubinden. Die US-amerikanische Detailforschung der I 980erJahre mit ihrem deutlichen Fokus auf weiße, bürgerliche Männlichkeit des I 9. Jahr hunderts spiegelt sich anschaulich in einem von Mark C. Carnes und Clyde Griffin editierten Sammelband wider. Dieser widmet sich in drei großen Abschnitten erstens dem Übergang vom Jungen zum erwachsenen Mann, zweitens Aspekten von Freundschaft und Ehe und drittens der Konstruktion von Männlichkeit am Arbeitsplatz [ 5 : CARNES/GRIFFEN]. Einen wichtigen inhaltlichen wie konzep tionellen Sprung erfuhr die Forschung zu historischen Männlich keiten in den USA Mitte der I 990er Jahre durch das Erscheinen der beiden ersten textbooks von E. Anthony Rotundo einerseits und Michael Kimmel andererseits [4 5 : R OTUNDO ; 3 I : KIMMEL]. Neben ihrer wichtigen Funktion als erste historische Überblicke liegt ihre Relevanz vor allem in den methodischen und theoretischen Debat ten, die sie auslösten und die dem Forschungsfeld insgesamt wich tige Impulse gaben.2 Die Charakterisierung von Rotundos »Ameri can Manhood« als Überblicksdarstellung ist auf den ersten Blick problematisch, denn im Wesentlichen handelt es sich um eine Stu die weißer, protestantischer Männer der Mittelklasse im Norden der USA während des I9. Jahrhunderts. Doch schon der Untertitel »Transformations in Masculinity from the Revolution to the Mo dern Era« sowie die Breite von Rotundos Ausführungen fordern dazu auf, das Buch als allgemeinhistorische Studie zu rezipieren. Darüber hinaus charakterisierte eben genau dieser Fokus den Stand der Forschung bis zu diesem Zeitpunkt. Kimmels »Manhood in America« ist von seiner chronologischen Breite deutlich umfassen der und deckt insbesondere die Geschichte des 20. Jahrhunderts gut ab. Die koloniale Periode bleibt allerdings auch hier außen vor, 1
2
Überhaupt ist es eine interessante Aufgabe, Änderungen und Ergänzun gen in den Folgeauflagen dieser frühen Texte nachzuvollziehen; hier wer den die hohe Dynamik des Forschungsfeldes wie die » Lernfähigkeit« der Autoren augenscheinlich. Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 3 dieses Buches.
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Kimmel beginnt seine Darstellung mit der Amerikanischen Revolu tion. Die große Stärke dieses Buches ist seine dichte Argumentation aus unterschiedlichsten Quellen heraus, und trotz aller berechtigten Kritik an der theoretischen wie inhaltlichen Engführung markiert »Manhood in America« nach wie vor einen zentralen Ausgangs punkt für weitere Forschungen zur Geschichte von Männlichkeiten in Nordamerika. Etwa zeitgleich entwickelte Bruce Dorsey erstmals eine Unterrichtseinheit zum Thema Männlichkeiten in der nord amerikanischen Geschichte, die er in »Radical History Review« publizierte und in stets aktualisierter Form auf seiner Homepage zur Verfügung stellt [ I O, r r : DORSEY]. Neben diesen Überblicksdarstellungen sind einige wichtige Mo nografien herauszuheben, die die Entwicklung der historischen Männlichkeitenforschung in den USA nachhaltig beeinflussten und die heute als Einstieg in die Auseinandersetzung mit spezifischen Themen zu dienen vermögen. Sie können an dieser Stelle nur kurz genannt werden, ihre Relevanz wird indes bei der Lektüre der fol genden Kapitel offenbar werden. Zu denken ist etwa an Barbara Ehrenreichs »Hearts of Men« aus dem Jahr 1983 - keine Geschichts schreibung im engeren Sinne, sondern eine soziologisch-zeitgenös sische Analyse, aber heute ohne Frage ein »Klassiker«, der das Interesse zahlreicher Historikerinnen und Historiker an geschlech terhistorischen Fragestellungen zur US-Geschichte nach I94 5 stimu1ierte [ I 4: EHRENREICH]. Standardwerk zur Geschichte der Sexua lität ist nach wie vor das im Jahr 1 9 8 8 erstmals von John D'Emilio und Estelle B. Freedman publizierte »Intimate Matters« [8 : D 'EMI LIo/FREEDMAN], dem eine beispielhafte Verknüpfung von Sexuali täts- und Gesellschaftsgeschichte gelingt. Gleiches gilt für die Studie George Chaunceys über »Gay New York«, die die Vielfalt homo sexuellen Lebens im urbanen Amerika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysiert [7: CHAUNCEY]. Als Ausgangspunkt zu Forschungen zu Vaterschaft und Vaterfigur in der US-Geschichte sind die Arbeiten Robert Griswolds anzusprechen, hier in erster Linie sein 1993 veröffentlichtes Überblickswerk [24: GRISWOLD]. Nach wie vor schwierig ist es, sich rasch und umfassend zu Männ lichkeitsentwürfen während der nordamerikanischen Kolonialzeit zu informieren; am ehesten kann man hier an Mary Beth Nortons »Founding Mothers and Fathers« denken [40: NORTON]. Der Ein stieg in die Geschichte afroamerikanischer Männer gelingt einerseits mit Christopher B . Bookers Handbuch oder aber mit den Auf-
satzsammlungen von Darlene Clark Hine und Ernestine Jenkins [2: B OOKER; 29: HINE/JENKINS). Eine konsequente Diskussion des Zusammenhangs von »gender« und »race« mit Blick auf die Wende vom 1 9. zum 20. Jahrhundert bietet Gail Bedermann in »Manliness and Civilization« [ I : BEDERMAN]. Schließlich sei darauf verwiesen, dass die Geschichte der Männ lichkeiten in den USA in den letzten Jahren in eine neue Phase der Synthese eingetreten ist, die nun in Gestalt von lexikalischen Über blicken Form annimmt - eine Darstellungsform mithin, die Zusam menhang und Differenz zugleich transparent machen möchte. Über 2 5 0 unterschiedliche Beiträge machen die »Historical Encyclopedia of American Masculinities« aus, die Bret E. Carroll vorgelegt hat [6: CARROLL]. Sie umfassen Stichwörter zu Politik und Sozialem, zu Kunst und Populärkultur, zu Körper und Sexualität, zu Familie und Vaterschaft, zu Arbeit und Freizeit, zu Individualismus und Formen des »bonding«. Die Qualität der einzelnen Einträge mag - wie stets bei solchen Unternehmen - unterschiedlich ausfallen, alle demons trieren jedoch ein hohes Maß an Sensibilität für die notwendige relationale Einbindung weiterer Strukturkategorien wie Klasse, Ethnizität, Alter oder Region. Ein vergleichbares Projekt hat jetzt auch Michael Kimmel vorgelegt. Seine Enzyklopädie ist j edoch stärker in die gegenwartsorientierten »Men's Studies« integriert, ob wohl auch sie ausführliche Beiträge mit historischer Perspektive bie tet [32: KIMMEL]. Außerdem sei hier auch auf die »Encyclopedia of Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender History in America« ver wiesen [50: STEIN]. Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die britische Forschungs landschaft, die zwar in einem regen Austauschverhältnis zur eng lischsprachigen Literatur in Nordamerika steht, sich aber trotzdem durch einige eigenständige Merkmale auszeichnet und nennenswerte Beiträge eben zur britischen Geschichte aufzuweisen hat. Dabei sind hier vor allem die Rolle und der Einfluss John Toshs zu unter streichen. Sein 1 994 im »History Workshop Journal« publizierter programmatischer Aufsatz »What Should Historians Do with Mas culinity« hat ohne Frage die jüngere Forschung enorm inspiriert und liegt auch in deutscher Sprache vor [ 5 3 : TOSH; dt. in 1 06: CON RAD/KESSEL, 1 60-206]. Seine Studie zu Männern der Mittelklasse im viktorianischen England bietet eine umfassende Diskussion über männliche Häuslichkeit und Vaterschaft für die britische Gesell schaft dieser Zeit [ 5 2: TOSH]. Darüber hinaus hat er durch seine 99
Herausgebertätigkeit die Entwicklung der Männlichkeitengeschichte mit angeschoben [42: ROPERITosH]. Doch natürlich gibt es eine Geschlechtergeschichte der Männlich keiten in Großbritannien auch jenseits ihres bekanntesten Autors. Bedeutsamster Beitrag für eine Diskussion männlichen Lebens in der Frühen Neuzeit ist Anthony Fletehers »Gender, Sex, and Sub ordination in England« [ 1 7: FLETCHER]. Die Frage nach geschlecht lichen Identitäten der britischen Mittelklasse steht im Zentrum zweier Sammelbände: James Mangan und James Walvin gehen dabei komparatistisch vor und beziehen die Vereinigten Staaten mit ein, die Beiträge in der von Alan Kidd und David Nichols herausgege benen Anthologie »Gender, Civic Culture and Consumerisms« the matisieren vor allem Aspekte des Wandels im Selbstverständnis männlicher Akteure im öffentlichen Raum [3 5 : MANGAN/WALVIN; 30: KIDD/NICHOLS]. Dagegen nehmen die Texte in Margaret Walshs Kompilation den Stellenwert von Arbeit für Entwürfe von Männlichkeit in den Blick und berücksichtigen dabei - und dies ist im Rahmen einer ansonsten sehr stark auf das 1 9. Jahrhundert und die Mittelklasse konzentrierten Forschung wichtig - durchaus auch unterbürgerliche Schichten [ 5 7: WALSH]. Gleiches gilt für die Ar beiten Joanna Bourkes, vor allem ihr breit rezipiertes »Dismember ing the Male« [J, 4: B ouRKE], in dem die Autorin eine Diskurs geschichte des männlichen Körpers während und nach dem Ersten Weltkrieg verhandelt. Fragen nach vergeschlechteten Definitionen von Staatsbürgerschaft werden in den Darstellungen von Sonya O. Rose aufgeworfen [43 , 44: ROSE]. Zusammengenommen kreieren diese Beiträge einen bemerkenswerten Schwerpunkt der britischen Männlichkeitengeschichte auf die Dekaden zwischen den Welt kriegen, der in der Literatur zu den USA so fehlt. Wertvolle erste Hinweise zum Themenfeld männlicher Sexualitä ten in der britischen Geschichte finden sich in Jeffrey Weeks grund legendem Werk aus dem Jahr 198 I sowie in der von John C. Fout unter dem Titel »Forbidden History« publizierten Sammlung von Essays, die ursprünglich im »Journal for the History of Sexuality« erschienen waren. Der Band ist zwar allgemein auf Europa ausge richtet, eine große Anzahl von Beiträgen thematisiert indes Groß britannien [ 5 8 : WEEKS; 1 8 : FOUT]. Ferner sei noch auf Angus McLarens Arbeiten zur Geschichte der Sexualitäten verwiesen, die ebenfalls einen sichtbaren Schwerpunkt auf britische Beispiele legen [J6, 3 7: McLAREN]. 1 00
Etwas quer zu der hier vorgenommenen Einteilung zwischen angloamerikanischer und deutscher Forschung steht George L. Mosse mit seiner Überblicksdarstellung »The Image of Man«. Der US-Autor thematisiert darin europäische Männlichkeitsentwürfe, wobei Mosse in erster Linie Verläufe in Deutschland betont [39: MüSSE]. Dies erklärt auch den Umstand, dass die Rezeption dieses Beitrags auf unserer Seite des Atlantiks deutlich breiter ausfiel als in den USA, wo »The Image of Man« weniger bekannt ist.
Die wichtigste deutschsprachige Forschung zu historischen Männlichkeiten im Überblick
Wenden wir uns der deutschsprachigen Forschung zu, so ist zu nächst ein Hinweis auf die Bedeutung der »Männerphantasien« Klaus Theweleits unerlässlich [5 1 : THEWELEIT]. Diese ursprüng lich in zwei Bänden publizierte Psychogeschichte des faschistischen Kriegers hatte zwar seinerzeit wenig Einfluss auf die etablierte Ge schichtswissenschaft, die sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einer Untersuchung von Männlichkeiten verschrieben hatte, und wirkte eher in die Männerbewegung sowie in die politische Linke hinein. Die Bedeutung des Werks für die jüngere historische Männer forschung seit Mitte der 1 990er Jahre hierzulande ist jedoch sehr groß. Obwohl sperrig und in seiner Betonung psychoanalytischer Theoriebildung sicher oftmals quer zu den von HistorikerInnen gemeinh{n verwandten Ansätzen, nahm »Männerphantasien« je doch konzeptionell viel von dem vorweg, was jetzt aktuell ist und unter den Stichworten »Poststrukturalismus« und »kulturalistische Wende« verhandelt wird. Theweleits über I ooo-seitiges Buch wurde indes auch immer wieder kontrovers diskutiert, so beispielsweise in einigen Beiträgen des von Walter Erhart und Britta Herrmann he rausgegebenen Sammelbandes »Wann ist der Mann ein Mann«, der ohnehin einen deutlichen Schwerpunkt auf historisch-psycho logische Perspektiven auf Männlichkeiten aufweist [ 1 5 : ERHART/ HERRMANN, siehe darin v. a. 3 8 : MERTENS]. Wichtigster Eckpunkt zum Einstieg in die deutschen Debatten um eine Geschichte der Männlichkeiten und ein erster deutlich wahrgenommener Bündelungspunkt für sie ist die 1 996 von Thomas Kühne herausgegebene Aufsatzsammlung »Männergeschichte - Ge schlechtergeschichte« [34: KÜHNE]. Kühne selbst steuerte hierzu 101
einen ausführlichen, kenntnis reichen und programmatischen Ein führungstext bei, der auch heute noch zusammen mit Hannah Schisslers Aufsatz aus » Geschichte und Gesellschaft«, in dem sie die US-Männlichkeitengeschichte erstmals beim hiesigen Publikum be kannt machte, zu den am meisten konsultierten Referenzen zu zäh len ist [33: KÜHNE; 46: SCHISSLER]. Kühne arbeitet darin Nutzen, Ziele und Probleme einer noch zu schreibenden Männlichkeiten geschichte heraus. Die weiteren Beiträge fächern punktgenau die jenigen Felder auf, die sich als Zentren der Forschung etablieren sollten: bürgerliche Männlichkeiten im 1 9. Jahrhundert, Konstruk tionen von Mann-Sein im Zusammenhang mit Militär und Staats vorstellungen, Männlichkeiten in homosozialen Bünden und Ver emen. Wie in den USA und in Großbritannien stellen auch im deutsch sprachigen Raum Forschungen zum Bürgertum des 19. Jahrhunderts den am besten erforschten Bereich der Männlichkeitengeschichte dar. Die wichtigsten Darstellungen stammen hierbei aus den Federn Anne-Charlott Trepps, Ute Freverts sowie Karen Hagemanns und demonstrieren somit quasi nebenbei, dass die akademische histo rische Männlichkeitenforschung zunächst von Autorinnen mit ge schlechterhistorischem »background« geprägt wurde - die in Nord amerika so wichtige Phase einer sich aus der pro-feministischen Männerbewegung heraus entwickelnden historischen Forschung spielt in der bundesdeutschen akademischen Geschichtswissenschaft kaum eine Rolle. Anne-Charlott Trepps Arbeiten sind insbesondere für eine Be handlung von Vätern und Familien zentral [54, 5 5, 5 6: TREPP]. Ute Frevert, deren Bedeutung in den Theoriedebatten der Geschlechter geschichte wir oben schon skizziert haben, widmet sich in ihren thematisch ausgerichteten Monografien und Aufsätzen unter an derem den Konzepten von Ehre und Gewalt und stellt diese in den Kontext bürgerlicher Männlichkeit im 1 9. Jahrhundert [ 1 9, 2 1 : FRE VERT]. Namentlich ihre Texte in »>Mann und Weib, und Weib und Mann<<< erzielten einen enormen Einfluss [22: FREVERT]. Sie dis kutiert darin die » Geschlechter-Differenzen in der Moderne« - so der Untertitel - und eröffnet mit ihrem Abschnitt zur »politischen Topographie der Geschlechter« eine erweiterte Perspektive hin zu einer Geschlechtergeschichte des Politischen. Hierbei rücken unter anderem auch die zusammenhängenden Bereiche von Militär und Bürgergesellschaft in den Blick, derer sich neben Frevert [20, 2 3 : 102
FREVERT] auch Karen Hagemann besonders intensiv annahm. Hagemann beleuchtet die antinapoleonischen Kriege Preußens und untersucht, wie sich Vorstellungen von nationaler Identität und wehrhaftem Patriotismus auf Konzepte von Männlichkeit, Weiblich keit und Familie abbildeten [2 5 : HAGEMANN]. In zwei wichtigen, von ihr mitherausgegebenen Sammelbänden hat sie darüber hinaus Plattformen geboten, diese Konstellationen von Militär, Gesellschaft und Geschlechterverhältnissen vertiefend zu erörtern [26: HAGE MANN/PRÖVE; 27: HAGEMANN/SCHÜLER-SPRINGORUM]. Wer sich auf die Suche nach einem Einstieg in die deutschsprachige Männlichkeitengeschichte zur Frühen Neuzeit begibt, wird rasch auf den von Martin Dinges herausgegebenen Band » Hausväter, Priester, Kastraten« stoßen [9: DINGES]. Neben einer sehr lesenswerten Ein führung in eine Geschlechtergeschichte der Männlichkeiten insge samt sind hier neun wegweisende Aufsätze vereint, welche die vor herrschende Forschungsperspektive auf das 1 9. Jahrhundert sinnvoll ausweiten und ergänzen. Dabei werden so unterschiedliche Zugänge wie über Leichenpredigten, bildliche Darstellungen oder Ego-Do kumente vorgestellt. Für eine erste Orientierung über männliche Sexualitäten in der Geschichte sei zunächst auf die Beiträge Franz X. Eders verwie sen, dessen enzyklopädische Bibliografie zum Thema im Internet recherchierbar zur Verfügung steht; [ 1 2 : EDER] und seine 2002 publizierte Geschichte der Sexualität kann ohne Frage als sehr gut zugänglicher Standard zum Thema für die Geschichte des deutschen Sprachraums empfohlen werden [1 3 : EDER]. In der Reihe » Histo rische Einführungen« ist der umfassende Band von Bernd-Ulrich Hergemöller erschienen, worin der Forschungsstand zu den Homo sexualitäten breit elaboriert wird [2 8: HERGEMÖLLER] . Schließlich ist noch die jüngst von Wolfgang Schmale verfasste »Geschichte der Männlichkeit in Europa, 1 4 50-2000« zu erwähnen, womit erstmalig eine Überblicksdarstellung zur neuzeitlichen Männ lichkeitengeschichte in deutscher Sprache vorliegt [47: SCHMALE]. Gegliedert in fünf Epochenkapitel (drei für die Frühe Neuzeit und zwei für die Moderne), entwickelt Schmale hier vor allem den Wan del idealtypischer Modelle von Männlichkeit, die er in erster Linie aus als repräsentativ angesehenen Autobiografien entwickelt. Diese Synthese stellt ohne Frage eine wichtige Leistung dar, die als Refe renz zur Geschichte der Männlichkeiten bedeutsam werden wird. Deutlich wird aber auch, dass bislang noch fehlende Detailforschung 103
zu sozialen, regionalen und anderen Unterschieden des Mann-Seins Schmales auf Idealtypen basierenden Ansatz in Frage stellen könn ten.
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Die vielen Facetten des »Broterwerbs« : Männer zwischen Familie und Arbeitsleben 6.
Vaterlose Familien und Cyborgs ,>[As I was] watehing [my son] John with the machine, it was suddenly so clear. The Terminator would never stop, and it would never leave hirn, hurt hirn, or shout at hirn, or get drunk and hit hirn, or say it was too busy to spend time with hirn. It would always be there and it would die to protect hirn. Of all the would-be fathers who came and went over the years, this thing, this machine, was the only one who measured up. In an insane world, it was the sanest choice.«1
Messerscharf erkennt die Mutter Sarah Connor die Qualitäten des reprogrammierten T800-Terminators. Er ist ihrem Jungen ein Vater, wie Männer aus echtem Fleisch und Blut es am Ende des 20. Jahr hunderts offenbar nicht mehr sein konnten: aufmerksam, immer präsent, wenn er gebraucht wird, und bereit, bis zur Selbstzerstö rung zu gehen, um ihren Sohn John und auch sie selbst, die allein erziehende Mutter, am Leben zu halten. Diese Vaterersatzmaschine ist männlich-handlungsfähig und im wahrsten Sinne des Wortes schlagkräftig. Zugleich beschränkt sie sich in ihren Äußerungen auf das Wesentliche - wie »trust me« oder »come with me if you want to live«. In »Terminator I I - Judgement Day« ( 1 99 1 ) lässt uns der muskel bepackte Arnold Schwarzenegger glauben, dass in der angeblich zerrütteten Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts mit all den dysfunktionalen Familien der ideale Vater aus der Zukunft zu uns zurückkommen muss, damit die Jungen der Gegenwart zu ech ten Männern reifen können. Diese werden dann ihrerseits, so wie John Connor a. c. Jesus Christus), die Menschheit vor dem Un tergang erretten und die Geschichte zu einem besseren Ende brin gen. Ein Cyborg wie der Terminator ist zwar geschlechtslos, doch letztlich repräsentiert diese Maschine alles andere als Donna Hara ways berühmte Kreatur nach der Auflösung der Geschlechtergren zen. Der Terminator verkörpert vielmehr den starken und steuern=
1 Sarah Connor (Linda Hamilton) über den Terminator (Arnold Schwar zenegger) in »Terminator 2 Judgement Day« Games Cameron, USA 1991). -
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den Vater besser, als »echte Männer« dies zu tun vermögen [42 8: HARAWAY; 388: BRUNOTTE]. Im folgenden Kapitel werden wir uns anschauen, was Mütter vor Sarah Connor, Väter vor dem T800-Terminator und Gesellschaften vor den USA der 1 990er Jahre mit der Vaterfigur verbanden. Dass auch Väter eine Geschichte haben, ist mittlerweile unumstritten.2 Wir werden zunächst einen Blick auf die entsprechende Historio grafie zur Frühen Neuzeit und den amerikanischen Kolonien wer fen. Wenn wir uns dem 19. und 20. Jahrhundert zuwenden, wird vor allem zu sehen sein, wie sehr sich Vaterfunktionen und Er werbstätigkeit ineinander verschränkten. Eine der Leitfragen in Ge schichtsschreibung und Geschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert war, inwieweit ein Vater in der kapitalistischen Gesellschafts- und Arbeitsordnung überhaupt für seine Familie »da sein« konnte, wenn er zugleich außer Haus das Brot verdienen musste? Und »bread winning«, so der US-Historiker Robert Griswold, »was the great organizing principle of men's lives« [24: GRISWOLD, 5J. Diese Prio rität des Broterwerbs im männlichen Leben signalisiert, dass sich männliche Identitäten in der Moderne wesentlich aus der Arbeit und der Arbeitswelt generierten. Dementsprechend werden wir im letzten Teil dieses Kapitels diejenige historische Literatur in Augen schein nehmen, welche sich der Profilierung des Mann-Seins am Arbeitsplatz zuwendet, die also eher dem Bereich der »Labor His tory« und weniger der Familiengeschichte zuzuordnen ist. Das breite historiografische Interesse an Familien, Vaterfunktio nen und Arbeitswelt korrespondiert mit drängenden Diskussionen unserer Zeit. Der Film »Terminator II« ist nur eine unter vielen Stimmen, die seit den 1 9 80er Jahren dies- wie jenseits des Atlantiks beklagen, der »gute, richtige« Vater sei eine aussterbende Spezies. Auch wenn einerseits mehr »neue Väter« als »Miterzieher« aktiv seien [5 1 7: SIEDER], ließen andererseits mehr Männer denn je ihre Familien entweder im Stich, oder sie seien ob der vielen Arbeit zu Hause nicht präsent [479: MITSCHERLICH; 423: FTHENAKIS; 498: PETRI; bilanzierend 3 76: BAADER; vgl. zu den USA 3 74: AMNEUS; 3 8 5 : BLANKENHORN; 400: DANIELs; 408: DowD]. Allein er ziehende Mütter mit »Schlüsselkindern« ohne rechte männliche Orientierungsstütze seien nicht bloß Ausdruck dysfunktionaler Fa2
1987 betonte 450: KNIBIEHLER dies noch im Titel ihrer historisch über greifenden Vatergeschichte: »Les peres aussi om une histoire«.
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milien, sondern auch einer tief greifenden Gesellschaftskrise, ist da zu vernehmen. Zudem stehen homosexuelle Paare zunehmend offen siv für ein Recht auf offiziell anerkannte Eheschließung, Adoption und künstliche Befruchtung ein. Konservative Kritiker meinen, einen vehementen Kampf um die »family values« und gegen eine angeblich orientierungslose Gesellschaft fechten zu müssen. Dieser hat mit der Zeit eine solche gesellschaftliche und politische Kraft entfaltet, der sich auch Liberale kaum mehr entziehen können. Dies gilt für die USA unter dem Einfluss christlicher Fundamentalisten noch deutlicher als auf dieser Seite des Atlantiks. So betonte auch der liberale Ex-Präsident Bill Clinton bei jeder sich bietenden Ge legenheit, die Familie sei der Sockel von Nation und Gesellschaft, und nur starke Familien bedeuteten ein starkes Amerika. Dabei bestand kein Zweifel, dass auch Clintons »Familienkonzept« nicht etwa ein weites Spektrum möglicher Lebensgemeinschaften meinte, sondern heterosexuelle, verheiratete Paarbeziehungen, in denen Frauen sich vor allem um Heim und Kinder kümmerten und Män ner sich wieder »ihrer« Verantwortung als Väter, Beschützer und »breadwinner« stellten [5 24: WARNER; 448 : KIMMEL, I I I-49; 3 9 5 : COTT, 2 1 8-2 3; 470: MAY; 3 7 3 : ADAM; vgl. zur konservativen Per spektive 5 1 9: SMITH II]. Eine solche Familie erscheint in den publizistischen Diskussionen weithin als das anzustrebende Ideal, das angeblich den »natürlichen« und somit zeitlos gedachten » Geschlechterrollen« von Frauen und Männern entspreche. In romantisierender Verklärung der Geschichte werden die gesellschaftlichen Veränderungen nach 1 968 für den vo rübergehenden Verlust einer angeblich universell gültigen Familien-, Geschlechter- und Gesellschaftsordnung gebrandmarkt. Nun hat sich aber seit den 1 970er Jahren auch eine historische Familien forschung entfaltet, die nicht nur diesem, sondern auch vielen ande ren Zerrbildern und nostalgischen Verklärungen vergangenen Fami lienlebens historische Relativierungen entgegengestellt hat. Michael Mitterauer etwa entlarvte die Vorstellung der vorindustriellen Großfamilie als »Mythos« [476: MITTERAUER], Claudia Opitz hat das Konzept des »ganzen Hauses« als etablierter Lebensform früh neuzeitlicher Gesellschaften mehr als in Frage gestellt [3 87: BRUN NER; 49 5 : OPITZ], und Stephanie Coontz konnte zeigen, dass das bürgerliche Ideal der Kernfamilie mit entsprechender Geschlechter zuweisung in der historischen Realität kaum jemals existierte. »The Way We Never Were« lautet der Titel eines ihrer Bücher, in dessen
Zentrum die Diskrepanzen zwischen Norm und sozialer Realität stehen [393 : COONTZ; vgl. auch 489: NrcHoLsoN; 470: MAY]. Die Geschichte der Männlichkeiten kann sich auf die Ergebnisse dieser historischen Familienforschung stützen, wenn sie sich des Vaters annimmt.3 Einen zweiten Sockel der historischen Väterforschung bilden die Ergebnisse einer Geschlechtergeschichte, die Weiblichkeiten und Frauenpositionen innerhalb von Familien und Sozialzusammen hängen thematisiert [vgl. etwa 396: COTT; 404: DEGLER; r 8 5 : HAUSEN; 5 0 5 : ROPER]. Die entsprechende Forschung der r 9 80er und r 990er Jahre relativierte unter anderem die Vorstellung, seit dem ausgehenden r 8 . Jahrhundert hätten Frauen und Männer in strikt voneinander getrennten gesellschaftlichen Segmenten des »Privaten« und des »Öffentlichen« gelebt. Trotz unterschiedlicher Möglichkeiten für Männer und Frauen, auf gesellschaftliche Res sourcen zuzugreifen und an der politischen Gestaltung der Gesell schaft teilzuhaben, waren die Grenzen zwischen privat und öffent lich durchlässig und Frauen sehr wohl in diversen Öffentlichkeiten präsent. Sie arbeiteten für Lohn, führten bisweilen Geschäfte, arti kulierten sich in Zeitschriften oder engagierten sich in sozialen, reli giösen, karitativen und politischen B ewegungen [444: KERBER u. a.; r 89: HAUSENIWUNDER; 40r : DAVIDOFF; 5 2 5, 5 26: WECKEL; 44 5 : KESSEL]. Dieses Aufbrechen dichotomischen Sphärendenkens hat dazu beigetragen, nicht nur die weibliche Position in der Öffentlichkeit, sondern auch die männliche Position im Privaten stärker zu re flektieren sowie Interdependenzen und relationale Bezüge genauer in den Blick zu nehmen. Eine historische Männlichkeiten- und Väterforschung, die sich in die Geschlechtergeschichte einbettet und auch auf die differenzierten Erkenntnisse der Familienhistoriografie stützt, muss beinahe zwangsläufig von Pauschalurteilen und banali sierenden Vergröberungen absehen. Aufsätzen oder schlanken Bü chern, die in beinahe einem Atemzug die Geschichte der Vaterschaft J
Diese wenigen Hinweise auf die historische Familienforschung müssen hier genügen. Wer sich weiter informieren mächte, greife auf Überblicke zum Thema zurück, etwa 477: MITTERAUER, 430: HAREVEN, 4 1 I: EH MER/HAREVEN/WALL; 1 28 : ERHART, 2 5-3 1 , oder konsultiere das seit 1 976 erscheinende »Journal of Family History«. Dort finden sich regel mäßig Artikel, die den Stand und die Entwicklung der internationalen Forschung zusammenfassen, etwa 460: LASLETT oder 429: HAREVEN.
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vom Paläolithikum (!) bis zur Gegenwart beschreiben, die in einer angeblichen >Näterliquidation« münden und beklagen, dass für den Vater in modernen Gesellschaften bestenfalls »die Zeugungsfunk tion und die alimentatorische [Funktion}< bleibe, sollte man mit der entsprechenden Skepsis begegnen [462, 463 : LENZEN).
Väter in der Frühen Neuzeit
Zentrale Ausgangspunkte für diejenigen, die sich mit Haushaltun gen, Familien, Paarbeziehungen und Geschlechterkonstellationen in reformierten Gesellschaften der Frühen Neuzeit befassen wollen, sind sicherlich die wegweisenden Studien Steven Ozments, Lyndal Ropers und Susanna Burghartz' [496: OZMENT; 5 0 5 : ROPER; 3 89: BURGHARTZ; vgl. auch 43 1 : HARRINGTON, und mit Blick auf Frankreich und die katholische Perspektive 49 1 : NOLDE). Das Leit motiv für den frühneuzeitlichen Mann war lange der so genannte »Hausvater«, den Julius Hoffmann schon 1 9 5 9 unter Bezugnahme auf die »Hausväterliteratur« skizzierte. Dies waren umfassende Rat gebertexte, die den Patriarchen in der Führung des Haushalts an leiteten [43 3 : HOFFMANN; 5 04: RICHARZ). Ein solcher Haushalt umfasste dabei nicht nur die leibliche Familie, sondern vielmehr die gesamte Haushaltung mit Knechten, Mägden, Einwohnern etc. Da bei galt die Haushaltung unter der göttlich begründeten Herrschaft und Führung des patriarchalischen »Hausvaters« als Grundmodell der ständischen Ordnung [ 5 04: RICHARZ, 1 42). Der »pater fami lias« hatte eine Position umfassender Macht inne, war zugleich aber auch verpflichtet, für das Wohlergehen der ihm Beigeordneten Sorge zu tragen [ 5 2 3 : STONE). Entsprechend war der Patriarch auch Re präsentant des Hauses in der Gemeinde. Folgt man den normativen Texten, so war »die Frau« zu Hörigkeit und Unterwerfung ver pflichtet, hatte zugleich aber auch ihre spezifischen Bereiche und Funktionen innerhalb der Haushaltung. So hatte die »Hausmutter« eine gewisse Eigenverantwortlichkeit, ohne auf eine Sphäre reduziert zu sein, wie dies später im Bürgertum zumindest vorgesehen war. Seit den 1 990er Jahren haben neuere Forschungen diesen etwas holzschnittartigen, im Wesentlichen aus normativen Quellen gene rierten Entwurf ergänzt und erweitert. Heide Wunder etwa hat betont, dass erstens viele Paare aus den unterbäuerlichen und unter bürgerlichen Schichten gar keine eigene Haushaltung hatten und die 1 °9
wenigsten Männer Hausväter waren. Zweitens waren die vormoder nen Beziehungen in der Lebenspraxis zwar nicht egalitär, aber doch egalitärer, als die Konzepte dies vorsahen. Nicht unbedeutend war in dieser Hinsicht die Gemeinsamkeit des »Hausens«, weshalb die Frau auch zum zählbaren Familieneinkommen beitrug. Außerdem war es durchaus üblich, dass Frauen die Funktionen ihrer Männer übernahmen, wenn diese für längere Zeit abwesend waren oder ver starben. Auch wenn der Topos der Frau, die »die Hosen anhatte«, unter den zeitgenössischen Männern für Aufregung und die früh neuzeitliche Geschlechterordnung zu kippen drohte, so war diese doch durch viele Uneindeutigkeiten geprägt. Wolfgang Schmale hat deshalb in seiner » Geschichte der Männlichkeit in Europa« an geregt, für die Vormoderne weniger von scharfen »Trennlinien« zwischen den Geschlechtern zu sprechen, sondern vielmehr von »Trennpunkten« [ 5 3 7, 5 3 8 : WUNDER; 4T SCHMALE, 98; 49 I : NOLDE] . Inwieweit Hausväter im Lebensalltag tatsächlich die normativ gesetzte patriarchale Position ausfüllten, diskutieren auch Arbeiten, die von der historischen Kriminalitätsforschung inspiriert sind.4 Sie greifen vornehmlich auf Justizakten aus Eheprozessen zurück, die zeigen, dass Frauen keineswegs immer so hörig waren, wie sie es theoretisch hätten sein sollen. Zudem verdeutlichen viele der Ge richtsverfahren, dass männliche Dominanz mit einem hohen Maß an Gewalt durchgesetzt werden musste, die allerdings jenseits der gesellschaftlich tolerierten Schwelle lag. Neben Aufsätzen von Re bekka Habermas und Rainer Beck ist hier vor allem ein Text Hein rich R. Schmidts von 1 99 8 zu erwähnen [426: HABERMAS; 3 8 1 : BECK; 5 1 2: SCHMIDT; vgl. auch 480: MÖHLE und 5 1 3 : SCHMIDT mit ausfühlicher LiteraturdiskussionJ. Sein Aufsatz über » Hausväter vor Gericht« ist 1 99 8 in dem von Martin Dinges herausgegebenen Sammelband über »Priester, Hausväter und Kastraten« erschienen, der ja ohnehin einen wichtigen Ausgangspunkt für die Beschäfti gung mit Männlichkeiten in Spätmittelalter und Frühneuzeit bietet. In diesem Band diskutiert auch Michael Frank die »Gefährdung von Geschlechterrollen durch Alkohol« [42 1 : FRANK] . Häufig klagten Frauen vor Gericht nicht bloß über männliche Gewalt oder Impo4
Vgl. hierzu 5 1 6: Gerd SCHWERHOFF: Aktenkundig und gerichtsnoto risch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999 ·
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tenz (als Unfähigkeit, die Ehe zu vollziehen, war Impotenz ein an erkannter Scheidungsgrund), sondern auch über das Trinkverhalten ihrer Männer. Alkohol war schon im 1 6. Jahrhundert als spezifisch männliches Problem, als permanente Herausforderung männlicher Selbstkontrolle, als Ursache des Müßiggangs und als Gefahr für Haushaltung, Kirchenzucht und Gesundheit kritisiert. Wer so viel trank, dass er seine hausväterlichen und ehelichen Pflichten ver nachlässigte, hatte als Mann versagt. Wer allerdings viel trinken und trotzdem die Kontrolle über sich und sein Leben bewahren konnte, der gab ein Zeichen wahrer Mannhaftigkeit.5 Eine solche Untersuchung von Ehekonflikten schärft das Wissen über die Erwartungen wie die konkreten Lebenswelten von Män nern und Frauen in Partnerschaften. Sie zeigt außerdem, dass sich Ehegattinnen nicht immer in das Raster der unterdrückten Frau ein passten, sondern sich im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten auch wehrten und auf ihre Rechte pochten. Während Frauen mit Hilfe der Justiz also sowohl gegen männliche Gewalt als auch um ökono mische Sicherheit kämpften, beschuldigten Männer ihre Frauen vor Gericht vor allem des schlechten »Hausens« - also verschwende risch zu wirtschaften. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass bereits vom 1 7. Jahrhun dert an vor Gericht vermehrt das Argument auftauchte, die Liebe innerhalb einer Beziehung müsse geschützt werden [3 8 1 : BECK]. Auch standen Männer und Frauen immer wieder vor der Justiz, weil sie gegen den Willen der Eltern eine Beziehung eingegangen waren. Die Anklage lautete in solchen Fällen auf »Frauenraub«, tatsächlich wurde aber über die Kraft der Liebe und den Widerstand gegen die herrschende Gesellschaftsordnung verhandelt [47: SCHMALE, 143J. Gleichwohl zog die Liebesehe als Topos erst im späten 1 8 . Jahr hundert in die Literatur ein. Wie ist es nun um die Historiografie zu Vätern in den britischen Kolonien in Nordamerika beschaffen? Eine erste Antwort auf diese Frage gibt ein Artikel über »Gender Roles and Relations« in dem Abschnitt »Family History« einer einschlägigen und umfassenden sozialhistorischen Enzyklopädie [ 500: PLECK]. In der Literaturliste des Artikels aus dem Jahr 1 993 sind zahlreiche weiterführende Auf5
Zur Bedeutung von Alkohol in der Arbeitswelt und für männliches Gruppenverhalten siehe auch die Ausführungen weiter unten in diesem Kapitel sowie das folgende Kapitel über männliche Sozialisation. 1II
sätze und Monografien zur Geschichte von Frauen in kolonialen Familien verzeichnet, aber nicht ein einziger B eitrag, der ausdrück lich auch Männer und Väter behandelt. Seit den frühen 1 990er Jah ren hat sich dies j edoch geändert. Schauen wir zur Illustration auf zwei Arbeiten der Historikerin Mary Beth Norton, die 1 980 ein Buch über Frauen in der amerikanischen Revolution publizierte. Für ihre zweite große Arbeit verlagerte Norton bewusst die histo riografische Perspektive, erweiterte die Konzeption und schrieb eine Geschichte von Frauen und Männern, von Weiblichkeiten und Männlichkeiten im Neuengland des 1 7. Jahrhunderts [493: NOR TON; 40: NORTON]. Norton betont, es habe zwar bereits in den 1 9 80er Jahren eine umfangreiche Literatur zur Analogie von Haus halt und Staat, von Vater und König vorgelegen, die das Bild des kolonialen Patriarchen aus den puritanischen Glaubens- und Rechts lehren herleitete und ihn als Verbindungsglied zwischen Familie, Gemeinde, Staat und Gott markierte [etwa 4 8 5 : MORGAN]. Ein sol cher kolonialer Hausvater war sowohl für das Wohlergehen der ihm Angegliederten zuständig als auch für die Überwachung ihrer Ar beitsleistung und ihres guten Glaubens, was in den Neuengland Kolonien von besonderer Bedeutung war. Doch diese Geschichten ignorierten, so Norton, die geschlechterhistorische Dimension die ser Konstellation. Die patriarchale Gesellschaft, das Geschlechter system sowie dessen Rückkopplungen im Gesellschaftssystem und im Alltagsleben waren nicht analysiert worden. Wie in der euro päischen Frühneuzeitforschung arbeitete ein solcher genauerer Blick Diskrepanzen zwischen Normen und Lebenswirklichkeiten heraus. So war beispielsweise vorehelicher Sex auch in der purita nischen Gesellschaft nicht ungewöhnlich [4°, 492: NORTON]. Folglich stand in den Neuengland-Kolonien zwar der Mann als Patriarch dem Ganzen der Haushaltung vor, doch ähnlich wie in Europa lief das Zusammenleben auch dort deutlich kooperativer ab, als ein erster Eindruck dies vermuten ließ. Auch in der Beziehung zum Nachwuchs hat das Bild des unnachgiebigen Patriarchen in den letzten Jahren feinere Schattierungen erhalten. So hat das »Journal of Family History« 1 999 ein Schwerpunktheft zum Thema »Father hood« publiziert, in dem die Historikerin Lisa Wilson den purita nischen Vater seiner angeblichen Hartherzigkeit beraubt und väter liche Zuneigung als ein Leitmotiv seiner Erziehung bestimmt. Dieser Aufsatz zeigt einen Ausschnitt aus ihrer im selben Jahr pu blizierten Monografie, in der Wilson ein breiteres Spektrum männ1 12
lieh-väterlicher Aktivitäten entfaltet, so etwa auch die Welt der Arbeit. Zentrale Aussage des Buches ist jedoch, dass das in der For schung so lange vorherrschende Bild des strengen Patriarchen durch das liebender, mitfühlender, unsicherer und verletzlicher Männer ergänzt werden muss [ 5 3 4, 5 3 5 : WILSON; vgl. zum Spektrum kolo nialer Männlichkeit 465: LOMBARD]. Als südliches Pendant zu Nortons und Wilsons Untersuchungen über Neuengland mag Kathleen Browns Buch über » Good Wives, Nasty Wenches and Anxious Patriarchs« herangezogen werden. Brown zeigt, wie im 1 7. Jahrhundert Geschlechterkonzepte aus dem englischen Mutterland nach Virginia kamen, sie zugleich aber in dem anderen geografischen und politischen »Setting« modifiziert wurden. Diese veränderten sich mit der Herausbildung des süd lichen Sklavensystems im späteren 1 7. Jahrhundert noch deutlicher. »Race« wurde immer wichtiger in der Kategorisierung von Frauen und Männern. Deutlich stand der weiße Patriarch im Süden an der Spitze der Gesellschaft, und dies erschien bei zunehmender Stabi lität der Ordnung als » natürlich«. Gleichwohl musste der Patriarch seine Position permanent gegenüber Dienern und Dienerinnen, Sklavinnen und Sklaven, Ehefrauen und Kindern bestätigen und da durch festigen. Insgesamt zeichnet Brown ein komplexes Geflecht von Beziehungen in einem mehrdimensionalen Raum, der von den Achsen »race, dass, and gender« definiert wird [3 8 6: BROWN]. Trotz der Stabilität war das Geschlechter- und Gesellschaftssystem des Südens grundsätzlich dynamisch, und Frauen konnten etwa im Todesfall des Gatten dessen Funktionen ausfüllen [37 5 : ANZILOTII]. Eine weitere zentrale Figur in der Geschichte des Südens ist der afroamerikanische Vater. Bis in die 1970er Jahre vertraten weite Teile der Forschung die Ansicht, in den Lebensverbänden der Sklavinnen und Sklaven hätte es de facto keine Familien gegeben und das Ma triarchat vorgeherrscht. Da Sklavenväter die hegemonialen Männ lichkeitsideale des Beschützers und des Versorgers niemals vollkom men ausfüllen konnten, seien sie somit grundsätzlich als defizitär markiert gewesen. Diese These beeinflusst die politische und gesell schaftliche Diskussion über afroamerikanische Familien und deren vermeintliche Dysfunktionalität, allein erziehende Mütter, schwarze Sozialhilfeempfängerinnen und Jugendkriminalität bis heute [vgl. dazu 4 1 6: FINZSCH]. In der historischen Forschung hat allerdings in den 1970er Jahren die Studie Herbert Gutmans zu einer Verschie bung der Perspektive geführt [42 5 : GUTMAN; 4 1 4 : ENGERMAN). I r3
Erstens wurde nun das bürgerliche Familienideal, nach dem die For schung die Sklavenfamilie bis dahin bemessen hatte, als von außen herangetragene Kategorie in Frage gestellt. Zweitens rückten die Anstrengungen und Erfolge der Sklavinnen und Sklaven in den Vor dergrund der Betrachtung, trotz der mehr als schwierigen Bedin gungen ihres Lebens eine funktionierende Sozialstruktur zu errich ten und zu erhalten. Ohne diese Sozial- und Familienstrukturen wäre das Leben und Überleben in der Sklaverei unmöglich gewesen. Bindungen zwischen Erwachsenen und auch von Vätern zu ihren Kindern waren für Sklavinnen und Sklaven von großer Bedeutung und wurden auch über verschiedene Plantagen hinweg aufrecht zuerhalten versucht. Dies hat etwa Emily West in ihren Arbeiten gezeigt [ 5 30, 5 3 I: WEST] . Auch war die erzwungene Trennung von einem Lebenspartner durch Verkauf einer der häufigsten Gründe für Fluchtversuche. Diese wurden in der Mehrheit von Männern unter nommen, die allerdings auch häufiger von den Plantagen wegver kauft wurden als Frauen [442: KAY/CARY; vgl. insg. 4 5 4: KOLCHIN; 5 20: STEVENSON]. Auch das Bild von Familien und Vätern in der Sklaverei ist also im Begriff, feinere Schattierungen zu erhalten.
Väter im I9. Jahrhundert
Dieser erste kurze Überblick über »den« Vater in der Frühen Neu zeit hat verdeutlicht, dass pauschale Charakterisierungen proble matisch sind, zu schemenhaft bleiben und es ihnen an Plausibilität mangelt. Mittlerweile lässt sich der Zeitraum von 1 600 bis 1 800 jedenfalls kaum mehr pauschal als »patriarchalische« Epoche typi sieren, wie dies Anthony Rotundo noch 198 5 getan hat. Differen zierung tut Not. Auch für die Phase von 1 800 bis zu den 1980er Jahren wird sich kein einheitlicher Typus »moderner Vater« im Sin ne Rotundos ausmachen lassen [507: ROTUNDO]. Die Probleme der Typenbildung beginnen bereits damit, dass in Europa wie in den entstehenden USA der Wandel väterlicher Iden tität und Funktionen um 1 800 gar nicht so rapide vonstatten ging, wie eine klare Einteilung in »patriarchalische« und »moderne« Vä ter suggeriert. Denn die Figur des »modernen Vaters«, von dem es heißt, er habe sich mit der Verbürgerlichung der Gesellschaft seit dem späten 1 8. Jahrhundert entwickelt, sei generell abwesend und beobachte die Familie aus räumlicher wie emotionaler Distanz, ist
von der jüngeren Forschung relativiert worden. Für den deutschen Sprachraum sind hier zuvorderst die Monografien von Anne-Char lott Trepp und Rebekka Habermas zu nennen. Sie relativieren die These der Sphären- und Geschlechterdichotomie, die sich um 1 800 zwar als Norm etabliert hat, in der Lebenswirklichkeit von Frauen und Männern aber häufig durchbrochen worden ist. Während Trepp die »sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit« im Ham burger Bürgertum untersucht, schaut Habermas auf »Frauen und Männer des Bürgertums« in Nürnberg und München [ 5 6: TREPP; 1 77: HABERMAS; vgl. auch 5 1 4: SCHÜTZE]. Bei durchaus unter schiedlicher Nuancierung haben beide Studien doch wesentliche Elemente gemein. Sie untersuchen explizit Männer und Frauen, set zen Männlichkeiten und Weiblichkeiten zueinander in Beziehung, leiten sie voneinander her und grenzen sie voneinander ab. Dabei stützen sich beide Autorinnen weniger auf normative Quellen, also zeitgenössische Ratgeber und Anthropologien, sondern in erster Linie auf Ego-Dokumente wie Tagebücher oder Briefwechsel, die bei aller Vorsicht in der Interpretation und aller auch ihnen inne wohnenden Normativität - doch einen Einblick in Lebensalltag wie Subjektbildung ermöglichen. Das Ergebnis ist deutlich: Frauen wie Männer lebten und dachten in realiter häufig anders, als ihr »Ge schlechtscharakter« dies vorgab. Bürgerliche Männlichkeit konnte eben auch »sanft« sein, bürgerliche Weiblichkeit auch »selbstständig« [ 5 4: TREPP; vgl. auch 5 5 : TREPP]. Die Vorstellungen einer scharf getrennten Erwerbs- und Hausarbeit sowie der damit verbundenen Ausgrenzung des Mannes und Vaters verschwimmen. Zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts arbeiteten bürgerliche Männer noch viel daheim, und sie waren emotional überaus engagiert, und zwar sowohl in der Paarbeziehung als auch gegenüber den Spröss lingen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückte die Berufsarbeit deutlicher in das Zentrum männlicher Existenz und Identität, bis dahin erforderte die Selbst- und Fremdidentifikation als »ganzer Mann« eine Verschmelzung vielfältiger sozialer, sexuel ler und politischer Facetten, wie auch Martina Kessel ausgeführt hat [446: KESSEL]. Weiterhin konnte Pia Schmid zeigen, wie sehr die Väter um 1 800 an der frühkindlichen Entwicklung interessiert und an der Erziehung beteiligt waren. Zugleich verbanden sie ihr En gagement aber mit einer männlich-rationalen Subjektbildung, in dem sie ihre Kinder beinahe wissenschaftlich beobachteten und akribisch Buch über deren Entwicklung führten [5 I I: SCHMID].
Insgesamt prägt die neuere Forschung mehr das Bild eines Mit einanders von bürgerlichen Frauen und Männern in der Bewältigung ihres Alltags denn einer Polarisierung der Lebenswelten. Dabei stand das gemeinschaftlich zu erringende irdische Glück des Paares und der nun immer deutlicher biologisch definierten Kernfamilie im Vordergrund [vgl. zu Glücksvorstellungen 447: KESSEL]. Bei aller Überlagerung männlicher und weiblicher Betätigungsfelder waren die Gewichte geschlechtsspezifisch gesetzt. Gestaltungsfähigkeit, Führungsqualität und Selbstbestimmung waren als Konzepte männ lich konnotiert und galten als im natürlichen Wesen des Mannes verankert. Freilich haben deshalb nicht in sämtlichen Familien die Väter den Weg gewiesen, und dass nicht von einer glatten Eins-zu eins-Übertragung von Ratgebern und Anthropologien in die Le benswirklichkeit die Rede sein kann, ist mittlerweile unumstritten. Aus einer derart verschobenen Ausgangsposition heraus hat die Forschung in letzter Zeit auch normative Texte und deren Effekte wieder stärker berücksichtigt. So ist etwa zu sehen, wie der äußerst dichte normative Diskurs um I 800 in der väterlichen Identitätsbil dung wirkte, wie er in einem Extremfall sogar in einen aus Schutz wahn begangenen Familienmord münden konnte, wodurch sich die Figur des väterlichen Beschützers wiederum selbst ad absurdum führte [266: MARTSCHUKAT] .6 Bärbel Kuhn hat in ihrer Mono grafie über "ehelose Frauen und Männer im Bürgertum« die Bedeu tung der Geschlechtscharakterisierungen aus ganz anderer Perspek tive bestätigt. Sie hat auf unverheiratete bürgerliche Frauen und Männer geschaut. Insbesondere ehelose Frauen nahmen sich häufig als defizitär wahr und beklagten, beide " Geschlechterrollen« aus füllen zu müssen. Ehelose Männer schienen eine derart problemati sierende Selbstwahrnehmung seltener an den Tag zu legen, was entsprechende Rückschlüsse auf männliche Subjektbildung zulässt. Zumindest ab der Mitte des I9. Jahrhunderts, auf diesen Zeitraum bezieht sich Kuhns Untersuchung im Wesentlichen, hatten Männer größere Spielräume und waren offenbar in ihrer Biografie, ihrem Selbstentwurf und ihrer sozialen Akzeptanz in geringerem Maße von Familie und Partnerschaft abhängig als Frauen [4 5 6: KUHN]. Till van Rahden hat die Entwicklungen der Väterhistoriografie im 6
Die Probleme eines Vaters, mit den wechselnden Anforderungen durch sich im 1 9 . Jahrhundert wandelnde Familienkonzepte und Vaterideale umzugehen, skizziert auch 390: CARROLL.
II6
19. Jahrhundert bilanziert C3 1 0: RAHDEN). Zu Recht weist er auf die internationale Breite der Forschungstrends der letzten Jahre hin, die Häuslichkeit und Familie als Facette moderner Männlichkeits entwürfe akzentuieren. So hat auch der britische Historiker John Tosh, der ja bereits in den frühen 1 990er Jahren mit Nachdruck die Bedeutung von Männlichkeitsstudien für die neuere Geschichts schreibung betonte, eine Geschichte von Vätern im viktorianischen England vorgelegt, die die Vorstellungen eingefahrener Geschlech terdichotomien aufbricht. Neben Männergemeinschaften und Er werbsarbeit sei vor allem das Heim »A Man's Place« gewesen - so der Titel seines Buches [ 5 3 : TosH; 5 2: TosH].l Wie in der neueren Forschung üblich, verschränkt auch Tosh die Analyse von kultureller Norm, Lebenspraxis und subjektiver Erfahrung, indem er sowohl auf explizit normative Quellen als auch auf zahlreiche Tagebücher, Briefe und andere Selbstzeugnisse zurückgreift. Ein zentrales Ergebnis seiner Studie ist, dass bis zu den 1 8 80er Jahren die Häus lichkeit sogar der wesentliche Baustein männlicher Identitätsbildung in Großbritanniens Bürgertum gewesen sei. Erst gegen Ende des 1 9 . Jahrhunderts hätten solche Männlichkeitskonzepte an Bedeu tung gewonnen, die eine heroische, körperbetonte Maskulinität und homosoziale Bindungen in den Vordergrund rückten.8 Wer sich über die weiträumigeren Entwicklungen in der britischen Historio grafie zu Männern und Männlichkeiten in der Neueren Geschichte informieren möchte, sei auf die überaus hilfreichen Literaturberichte von Ute Planert und Martin Francis verwiesen. Beide betonen die Bedeutung männlicher Häuslichkeit und Familienorientierung in der neueren Forschung. Sie stellen aber zugleich die Vielfalt männ licher Lebenswelten heraus, die im 19. Jahrhundert auch von Arbeit und Politik geprägt waren. Zudem warnen Planert und Francis davor, die familiäre wie soziale Harmonie zu überschätzen. An Stu dien, die sich dezidiert des Themas Männlichkeit und Gewalt auch in bürgerlichen Haushalten des 1 8. und 19. Jahrhunderts annehmen, mangelt es allerdings bislang weithin. Sie könnten hier ein Korrektiv bilden [499: PLANERT; 420: FRANCIS; vgl. auch 403 : DAVIN). Für die US-amerikanische Geschichte sei als Ausgangspukt zum Thema 7
S
Grundlagenwerk für die britische Geschichte ist hier sicherlich 402: DAVIDOPp/HALL; die normative Ebene akzentuiert 487: NELSON. Vgl . zu dieser Verschiebung in den USA vor allem 1 : B EDERMAN; 44 1 : KASSON. II7
häusliche Gewalt auf den Sammelband von Christine Daniels und Michael V. Kennedy verwiesen sowie auf einen Artikel von Sean T. Moore [399: DANIELs/KENNEDY; 484: MOORE]. Schauen wir genauer auf die US-amerikanische Geschichte von Vätern ab dem 1 9. Jahrhundert. Die entsprechende Forschung trat schon in den 1 9 80er Jahren in eine erste Konjunkturphase ein und wird von Aufsätzen John Demos' und Anthony Rotundos reprä sentiert [40 5 : DEMOS; 5 07: ROTUNDO]. Doch im Kontext einer ausgefeilteren Männlichkeitsgeschichte haben sich auch jenseits des Atlantiks die Fragen und Akzente verschoben. Aus der neueren Forschungsgeneration sind insbesondere die Monografien Stephen Franks und Shawn Johansens hervorzuheben [422: FRANK; 437: J 0 HANSEN]. Sie sind nicht zuletzt von aktuellen Diskussionen über abwesende Väter inspiriert, die in den USA eine besondere Virulenz entfaltet haben. Sowohl Frank als auch Johansen revidieren dabei die ältere Forschungsthese, mit dem Entstehen der Republik und der ersten industriellen Revolution sei das Heim vollständig in die Hände der » republican mothers« [443 : KERBER] übergegangen, j a sogar z u einem »mütterlichen Imperium« geworden [ 5 09: RYAN]. Frank wie Johansen zeigen, wie bürgerliche Männer im Norden und Mittelwesten der USA trotz der wachsenden Anforderungen eines zunehmend außerhäusigen Berufslebens den Ansprüchen an den Mann als Vater gerecht zu werden versuchten. Auch sie greifen pri mär auf Ego-Dokumente zurück, um beispielsweise zu zeigen, wie sich Männer bemühten, eine beruflich bedingte Abwesenheit zu kompensieren, indem sie ausgiebige Briefwechsel mit der Ehepart nerin pflegten und auf diesem Wege auch Erziehungsfragen disku tierten [zu Ehekonflikten und Ego-Dokumenten vgL 5 1 8: SIEVENS]. Zudem wurde das Familienleben in solchen Momenten intensiviert, in denen der Vater daheim war: Das gemeinsame Mahl am Ende eines Tages sowie die Wochenenden oder Feiertage wurden als fami liäre »events« emotional aufgeladen, wie auch John Gillis gezeigt hat [424: GILLIS]. Zweifelsohne sind die neueren Forschungen ergiebig, doch na mentlich die Untersuchung von Stephen Frank ist nicht gänzlich unproblematisch. Bisweilen wird dort nicht nur die Geschlechter polarisierung aufgebrochen, sondern auch eine neue, andere Vikti misierungsgeschichte erzählt. In dieser Geschichte erscheinen Män ner als Opfer, die angeblich von den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen und den Frauen aus dem Heim gedrängt und der II8
Möglichkeiten beraubt wurden, eine (»ihre«) väterliche Identität zu entfalten. So wichtig und richtig eine vielschichtige Betrachtung von Machtstrukturen innerhalb von Geschlechter- und Familienverhält nissen auch ist, so historiografisch überholt und historisch-politisch unangemessen ist eine solche männliche Opfergeschichte [vgl. auch 499: PLANERT, 3 1 2]. Schauen wir nun in den Süden vor dem US-amerikanischen Bür gerkrieg, so muss das Vaterbild noch recht unscharf bleiben. In den historischen Untersuchungen, die zum Thema weiße Männlichkeit im Süden der USA bisher Auskunft geben konnten (häufig ohne sich deshalb ausdrücklich als Männlichkeitsforschung zu definie ren), standen Ehre und Gewalt im Vordergrund.9 Dabei können Ge walthandlungen als performative Akte verstanden werden, die die Position des männlichen weißen Patriarchen re-stabilisierten. Der Historiker Peter W. Bardaglio weist in seinem Buch über Familien im Süden des 1 9. Jahrhunderts darauf hin, dass in der Sklavenhalter und Plantagengesellschaft eine vormoderne Version des Patriarchen länger überlebte als im Norden, auch wenn der Süden an der kapita listischen Dynamisierung der USA in der ersten Hälfte des 19. Jahr hunderts durchaus teilhatte. Bardaglio zieht Rechtskodizes und Jus tizfälle heran, um diese These zu stützen [3 80: BARDAGLIO]. Dass eine solche patriarchalische Position nicht mit einem Mangel an Emotionalität und Fürsorge gegenüber den Sprösslingen einher gehen muss, zeigen die B riefe südstaatlicher Vätersoldaten an ihre Familien, wie sie James Marten untersucht hat [467: MARTEN]. Mit der Niederlage des Südens im Bürgerkrieg und der Abschaf fung der Sklaverei brach die südliche Geschlechter- und Gesell schaftsordnung auseinander, die durch die Positionierung weißer und schwarzer Männer und Frauen über die Kategorie »race« be stimmt gewesen war. Für die ehemaligen Sklaven war es überaus wichtig, nun zumindest theoretisch dem hegemonialen männlichen Ideal entsprechen zu können. Neben politischer Partizipation und dem B esitz von Eigentum war die Fähigkeit, eine Familie versorgen und beschützen zu können, von großer Bedeutung. Gleiches galt auch für die offizielle Anerkennung von Beziehungen als Ehen. Zahlreiche Paare leiteten dies sofort in die Wege [2: BOOKER, 1 0 1-1 °7]. 9
Eine Zusammenfassung der Diskussion und der Literaturlage bieten I 3 8 : FINZSCH/HAMPF, 5O-5 3 ·
Die "white Southern manhood« kämpfte nach 1 86 5 bzw. nach dem Ende der "Reconstruction« 1 877 um die Wiederherstellung ihrer patriarchalischen Position, die sich ja traditionell auch in Ab grenzung von schwarzen Männern definiert hatte. Segregation, eine strikte Trennung der Lebenswelten insbesondere weißer Frauen und schwarzer Männer, war die Strategie. Weiterhin verfestigte sich ein rassistisch motivierter Kult der Gewalt, der ab den 1 8 80er Jah ren mehrere tausend schwarze Männer zu Opfern von Lynchmobs machte, die sich zumeist aus weißen Männern zusammensetzten. Stereotype Begründung dieser Lynchmorde waren angebliche Ver gewaltigungen weißer Frauen. Wir werden auf diese Konstellation und ihre Rückkopplungen in der Staats- und Gesellschaftsordnung im Abschnitt über Sexualitäts geschichte genauer eingehen [hier sei auf 475: MICHEL; 5 3 6: WOOD verwiesen]. Wir können an dieser Stelle vorerst festhalten, dass die Forschung zur Geschichte von Vätern und Vaterschaft im 1 9. Jahrhundert auf beiden Seiten des Atlantiks bereits ein recht breites Spektrum umfasst. Zugleich werfen die vorliegenden Studien neue Fragen auf. Grundsätzlich ist nun eine deutlichere Differenzierung entlang weiterer Kategorien wie Ethnizität, Klasse, Geschlecht, Region, Alter, etc. gefragt. Außerdem ist die bisherige Forschung zur väter lichen Subjektbildung doch noch recht deutlich auf das Bürger tum beschränkt. Dies mag an den Vorbildern aus der Frauen und Geschlechtergeschichte liegen, dies liegt mit Sicherheit auch an dem verfügbaren Quellenmaterial. Die vermehrt herangezogenen Selbstzeugnisse sind Quellen, die in der Regel aus bürgerlichen Kontexten überliefert sind - Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Nicht-bürgerliche Väter geraten zumeist dann in den Blick, wenn Gewalt in der Familie zum Thema erhoben wird. Ein Quel lenvorteil der Kriminalakten, nämlich dass sie den eigentlich Stimm losen zumindest einen gewissen Raum zur Artikulation geben, gereicht hier möglicherweise zum Nachteil, denn in Sachen Gewalt schweigen die eigentlich Stimmhaften vor Gericht eher. Bislang könnte man den Eindruck gewinnen, als sei Gewalt in bürgerlichen Lebensumständen seltener vorgekommen. Hier ist j edoch Skep sis geboten. Denn womöglich fühlten sich bürgerliche Frauen den kulturellen Konventionen deutlicher verpflichtet. Sie könnten da her eher geneigt gewesen sein, häusliche Gewalt nicht zur Anzeige zu bringen, um den Anschein eines gewaltfreien Haushalts und einer glücklichen Familie zu wahren. Dies kann bei dem derzeitigen 120
Kenntnisstand allerdings nicht mehr als eine Annahme sein [392: COLE]. l0 Bevor wir uns dem 20. Jahrhundert zuwenden, seien noch zwei Arbeiten zur US-Geschichte des späten 1 8 . und frühen 19. Jahrhun derts erwähnt, die zwar nicht die Geschichte von Vätern als Väter schreiben, die aber die Relevanz der Vaterfigur in der politischen, sozialen und kulturellen Konstitution der Republik eruieren. Mark E. Kann verdeutlicht, wie eine » Grammatik der Männlichkeit« die Genese der jungen USA lenkte. Vorstellungen » richtiger« Ge schlechtsidentität hätten sowohl die Konzeption der Republik ge prägt als auch - in einem reflexiven Prozess - bestimmt, welche Männer geeignet schienen, politisches Gestaltungspotenzial zu ent falten. Hier kommt der »family man« ins Spiel, denn dieser war Kann zufolge der hegemoniale Typus Mann, der die »männlichen« Qualitäten der Selbstkontrolle, Besonnenheit und Führungsfähig keit in Vollkommenheit repräsentierte [439, 44°: KANN]. Die sehr differenzierte Studie Bruce Dorseys demonstriert, dass die Vaterfigur als Ideal mit all den ihr zugeschriebenen Kompeten zen und Fähigkeiten auch in der Republik über die unmittelbaren Familien hinaus wirkte. Dorsey führt dies im Rahmen einer Ge schichte Philadelphias zwischen Revolution und Bürgerkrieg vor. Dabei zeigt er, wie Unabhängigkeit, Selbstkontrolle und (erarbei tete) Tugendhaftigkeit männlich definiert und für politisch-repu blikanisches Handeln als notwendig markiert wurden. Als weitere Differenzkriterien kommen in seiner Untersuchung »dass« und »race« zum Tragen: Afroamerikanischen Männern wurde weithin die Fähigkeit abgesprochen, die entsprechenden Anforderungen erfüllen zu können. Es hieß, ihnen mangele es grundsätzlich an republikanischer Kompetenz. Gleiches galt für die »Pauperisierten« und das wachsende Segment armer Menschen innerhalb der städti schen Bevölkerung. Insbesondere vaterlose Familien rückten in das Blickfeld der Reformer. Vom städtischen Bürgertum getragene In stitutionen griffen dort ein, wo es am Vater und somit angeblich an der rechten Führung mangelte, sie kopierten in ihren Fürsorge- und Erziehungsinstitutionen die »ideale« Familienstruktur und versuch10
Auf einen glücklichen Quellenfund kann sich 4 1 0: EDWARDS stützen. Hier haben die Opfer den prügelnden Patriarchen 1 846 getötet, weshalb die häusliche Gewalt vor Gericht zur Sprache kam. Dass die Ehefrau des Getöteten und ein Sklave gemeinschaftlich zu Werke gegangen waren und die Urteile unterschiedlich ausfielen, macht den Fall umso brisanter.
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ten so, den »abwesenden« Vater zu ersetzen. Bemerkenswert ist, dass auch in diesen Auseinandersetzungen die zerstörerische Wirkung des Alkohols ein zentrales und stark klassenfokussiertes Thema war. Dabei ist die Beziehung zwischen männlichem Individuum, Familien und politischem Ganzen deutlich erkennbar. Es hieß, der Alkohol raube den Vätern ihre männlichen Qualitäten, zerstöre so die Familien und führe letztlich zum Verfall der Republik, die ja noch mehr als andere Gesellschaftsformen funktionierender Sub jekte bedurfte [407: DORSEY].
Väter im 2 0. Jahrhundert
Das bereits 1 993 publizierte Buch Robert Griswolds verschafft einen gelungenen Überblick über die Geschichte der Vaterschaft inner halb der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Anforderun gen des 20. Jahrhunderts in den USA. Dabei liegt ein Schwerpunkt der Betrachtungen auf dem Ideal des männlichen »Versorgers« . Zwei Weltkriege, die wechselhafte Zwischenkriegszeit und die Dekaden nach 1 94 5 zwischen dem Familienfokus der 1 9 5 0er Jahre und der Hinterfragung tradierter Lebensformen und Hegemonien in den 1960er und 1 970er Jahren bieten ein wechselhaftes Panorama. Gris wold deckt in seiner Studie ein sozialhistorisch breites Spektrum ab, wendet sich ausdrücklich auch Vätern der Arbeiterklasse, Afro amerikanern und Einwanderern zu. Dies hebt ihn von der Literatur zum 1 9. Jahrhundert ab, deren Fokus doch recht deutlich auf dem Bürgertum liegt. Leider fehlt in Griswolds Studie eine historisieren de Betrachtung der psychoanalytischen Theoriebildung, die schließ lich um 1 900 eine ungeheuer wirkmächtige Deutung des Vaters her vorbrachte [24: GRISWOLD]. Die weitere Historiografie ist recht heterogen. Im späten 1 9. und frühen 20. Jahrhundert entfaltete sich auch in den USA eine deut licher nach außen gewendete und stärker auf Körperlichkeit und Aggression ausgerichtete »masculinity«. Diese neuartige Männlich keit und die damit verbundene zeitgenössische Akzentuierung des Mannes als homosoziales Wesen prägt auch die historische For schung über diese Zeit. Väter und die Bedeutung, die ihnen für die Stabilität von Individuen und Kollektiven zugeschrieben wurde, finden wenig Beachtung. Für die Zwischenkriegszeit liegt aller dings eine entsprechende Studie des Soziologen Ralph LaRossa vor. 122
LaRossa zieht eine Vielzahl von publizierten Texten sowie Brief wechseln heran, um eine »Modernisierung« der Vaterschaft im Maschinenzeitalter zu dokumentieren [4 59: LARosSA]. Kaum aller dings äußert sich LaRossa zur Großen Depression der 1930er Jahre und zu ihrer Wirkung auf Väter und deren Position in Familie und Gesellschaft. Auch über LaRossas Arbeit hinaus hat dieses Thema bislang wenig Beachtung gefunden. 11 Dies ist umso erstaunlicher, als dass im Zuge der Wirtschaftskrise und der mit ihr einhergehen den Transformation der männlichen Stellung in vielen Familien eine erste Welle zeitgenössischer soziologischer Männlichkeitsstudien entstand. Mirra Komarovsky und E. Wight Bakke fragten nach der Verbindung zwischen Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und einem männlichen »Versagen« als Versorger sowie nach den Auswirkungen auf das männliche Subjekt und dessen soziokulturelle Stellung [23 5 : KOMAROVSKY; 3 77, 378, 3 79: BAKKE]. 12 Makro- und Mikroebene, Wirtschaft und Soziales, kulturelle wie individuelle Identifizierung werden hier in ihrer Verschränkung erkennbar, harren allerdings noch der dezidierten Erforschung [ 5 2 1 : STIEGLITZ]. Ganz anders sieht dies aus, wenn man auf die Nachkriegsjahre schaut. Zumindest zum Thema Familie ist die Literatur hier so reichhaltig, wie zu kaum einer anderen Phase der US-Geschichte. Auch Väter finden dort ihren Platz. Dafür zeichnet eine Vielzahl an Faktoren verantwortlich. Zum einen wurden im Zuge des Zweiten Weltkrieges wehdähige junge Männer und somit zumindest poten zielle Väter in einem Ausmaß mobilisiert, wie dies in der Geschichte noch nicht dagewesen war. Während des Krieges war an der » horne front« deutlich erkennbar, dass Frauen durchaus die abwesenden Männer zu ersetzen und den Part des berufstätigen Familienvor stands zu füllen vermochten. Zugleich allerdings mehrten sich die stark freudianisch geprägten Diskussionen über eine vaterlose Ge sellschaft, den so genannten »Momism« und deren degenerierende Wirkungen auf Jungen, männliche Jugendliche und auf das Sozial wesen als Ganzes [540: WYLIE; 464: LINDNER]. Eine komplette Generation vaterloser Jungen würde, so die weit verbreitete Be fürchtung, entweder schwul oder kriminell werden. In der Nach11
12
Vgl. 673: PENDERGAST, der zwar die Genese des modernen Mannes der Konsumgesellschaft beschreibt, die Verbindungen zu Familienstrukturen sowie deren Erschütterung während der Depression außen vor lässt. Siehe den Auszug aus 23 5 : KOMAROVSKY im Quellenteil, Quelle 6.
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kriegs zeit vollzog sich eine Familienfokussierung von bis dahin ungekanntem Ausmaß, und sie ging mit einer »Vervorstädterung« Amerikas einher, die durch den Kalten Krieg und die nukleare Be drohung weiter vorangetrieben wurde. Diese Konstellation hat in verschiedenen Forschungsgebieten Be achtung gefunden. Die Studien der Soziologin Barbara Ehrenreich über amerikanische Männer in der Nachkriegsära und ihre »Flucht vor der Verantwortung« sowie der Historikerin Elaine Tyler May über die Relation von Familienleben und Kaltem Krieg, die sie in dem so treffenden wie eingängigen Leitsatz der » nuclear families in a nuclear age« gefasst hat, lieferten eine Initialzündung. Zuvor schon hatten die 1 9 60er Jahre und die feministische Bewegung den Familienfokus und das Geschlechtersystem der Nachkriegsära he rausgefordert [ 1 4: EHRENREICH; 47 1 : MAY]. Auf die umfangreiche Literatur können wir hier nur kursorisch und exemplarisch hinweisen. Historische Forschungen neben May und Griswold beschreiben etwa, wie die Kernfamilie unter väter licher Führung und mit klassischer Geschlechterordnung schon während des Zweiten Weltkrieges zu einem gesellschaftlichen Leit motiv wurde. In ihr konkretisierten sich so abstrakte Werte wie Freiheit und Demokratie [ 5 3 2: WESTBROOK; 503: RElss]. Nach dem August 1945 wurde in den USA nur für kurze Zeit darüber diskutiert, dass nach langen Jahren wirtschaftlicher Depression und Krieg die Rückkehr des Vaters in das familiäre Zentrum schwie rig werden würde. Bald schon erforderte der aufkommende Kalte Krieg ein Ende aller Ungereimtheiten und Mehrdeutigkeiten. Die Konflikte um die problematische Rückkehr von sozial und familiär orientierungslosen Veteranen als Familienväter und -vorstände in die Gesellschaft hat die Historikerin Sonya Michel anhand von Nachkriegsfilmen amlysiert [474: MICHEL] . Dass das Ideal des Veterans und Familienvaters in den USA auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiße Haut hatte, hat David Onkst anhand der Praxis der Veteranenunterstützung gezeigt [494: ONKST] . Für die 1 9 5 0er bis 1 9 70er Jahre hat Jessica Weiss Ehe, Babyboom und sozialen Wandel untersucht (unter anderem in dem bereits erwähnten Themenheft »Fatherhood« des »Journal of Family His tory«). Die Analyse soziologischer Langzeitstudien führt sie zu kritischen Schlussfolgerungen über die kooperative Dimension des Geschlechter- und Familienverhältnisses und über die Einbindung der Männer als Väter in die Familienarbeit [5 27, 5 28, 5 29: WEISS] . 1 24
In eine andere Richtung blickt die Historikerin K. A. Cuordileone. Zwar kann ihr Beitrag über die politische Kultur des Kalten Krie ges nicht ausdrücklich als Historiografie über Väter bezeichnet wer den. Er zeigt j edoch, wie j ede von der heterosexuellen Norm und vom Dasein des Familienvaters abweichende männliche Lebensfüh rung als Gefährdung der US-Gesellschaft und des Amerikanischen schlechthin galt. Das produktive Zusammenspiel von Männlich keits-, Familien- und Sexualitätsgeschichte sowie politischer Ge schichte wird hier einmal mehr deutlich [397: CUORDILEONE; vgl. auch 394: COSTIGLIOLAJ.13 Unser Blick auf Väter und Vaterschaft in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts wird etwas unschärfer, denn synthetisierende Arbeiten liegen für diesen Zeitraum bisher nicht vor. Gleiches gilt für die Jahre der Weimarer Republik oder den Nationalsozialismus [erste Einblicke bei 466: LUBICH; 3 9 8 : CZARNOWSKI; und neu lich 449: KLAUTKE]. Die Überblickswerke von Wolfgang Schmale oder George Mosse gewähren nur einen allerersten Einstieg [47: SCHMALE; 39: MossE]. Die bisherige Zurückhaltung der Forschung mag darin begründet sein, dass mit der Entstehung eines deutschen Nationalstaates im fortgeschrittenen 1 9. Jahrhundert ein bündisches, martialisches, soldatisches Mann-Sein unter den Zeitgenossen in den Vordergrund trat. An sozialhistorisch ausgerichteten Untersuchun gen über »Familienmänner«, wie sie für die Literaturgeschichte der langen Jahrhundertwende der Germanist Walter Erhart vorgelegt hat, fehlt es bislang [ 1 28 : ERHART]. Dabei haben einzelne Studien in den letzten Jahren darauf hin gewiesen, welch ein Potenzial gerade der genaue Blick auf die Ver bindungen und Abgrenzungen von soldatischer und väterlicher Männlichkeit birgt. Einen guten Ausgangspunkt für die Lektüre bietet der von Karen Hagemann und Stefanie Schüler-Springorum herausgegebene B and über »Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege« [27: HAGEMANN/SCHÜLER-SPRINGO RUM]. Dort ist unter anderem erkennbar, wie sich Ehe- und Fami lienverhältnisse in Kriegszeiten veränderten und wie Zeitgenossen dies auch thematisierten: »Es ist traurig aber wahr: während der männlichsten Zeit, während des Krieges, regieren >zuhause< die Wei ber«, zitiert Birthe Kundrus in ihrem Aufsatz über » Geschlechter kriege« den rechtsnationalen »Volkserzieher« von 1 9 1 8 [4 5 7: KUN13
Vgl. auch Kapitel 8 zur Sexualitätsgeschichte. :,
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DRUS, 1 74; vgl. auch 4 5 8 : KUNDRUS]. Kundrus bemerkt kritisch, dass die bisherige Forschung eine »Krise« der Männer betont habe, die sowohl durch die Niederlage im Krieg als durch die zumindest temporäre Aufgabe angestammter Positionen als Männer in der Ge sellschaft bedingt gewesen sei. Demgegenüber würden als Folgen von Krieg und Frauenbewegung weibliche Positionsgewinne ver bucht. Auch hier zeigt sich also, wie mit der Bemühung des Krisen konzepts die B eschwörung einer männlichen Opfergeschichte ver bunden ist [39: MOSSE, 1 07-201 der deutschsprachigen Ausgabe]. Seit einigen Jahren eröffnet die Feldpost Historikerinnen und His torikern neue Horizonte. Briefwechsel zwischen Soldaten, Frauen und Freundinnen dokumentieren, wie den Ehe- und Lebenspart nern daran gelegen war, ihre Kriegserfahrungen miteinander zu tei len, oder sie zumindest einander mitzuteilen. Die Annahme, männ liche und weibliche Kriegserfahrungen wären gänzlich voneinander getrennt gewesen, wird so zumindest hinterfragt [427: HÄMMERLE; 4 3 8 : JUREIT; 468: MARsZOLEK; Heft 22 von WERKSTATTGE SCHICHTE zum Thema »Feldpostbriefe«]. Die Briefwechsel weisen aber nicht nur darauf hin, welche Bedeu tung Ehe- und Liebesbeziehungen auch in Kriegszeiten und im Kon text hochgradig militarisierter Männlichkeit hatten. Anders herum lassen sie auch erkennen, wie Ehepartner ihre Beziehungen in zu nehmendem Maße in Kameradschaftsvokabular umschrieben. Tho mas Kühne weist darauf hin, dass die Erforschung des Kamerad schaftsdenkens und seiner Bedeutung für Paarbeziehungen erst am Anfang steht [4 5 5 : KÜHNE]. Dabei wurde die Familie in Kriegszei ten für viele Soldaten zur Verkörperung von Heimat, Liebe und Ge borgenheit schlechthin. Die Kameradschaft war, so Kühne, ein Weg, den Verlust von Familie zu kompensieren. Der militärische Männer bund darf demnach nicht bloß als Gegenentwurf zu Familie und Mutterliebe gedacht werden, sondern mit seinen Schutz-, Zunei gungs- und (homo)erotischen Komponenten auch als analoge Struk tur. Kühne bezeichnet die Konstruktion der Kameradengemein schaft als Familie sogar als zentrale Grundlage der symbolischen Ordnung des Krieges. Dies korrespondiert auch mit der ideolo gischen Bedeutung, die das Konzept der »Geschlechterkamerad schaft« im Nationalsozialismus entfaltete [4 5 5 : KÜHNE, 246-2 5 0].14 14
Detaillierte Ausführungen zu diesem Themenbereich folgen in Kapitel 7 über Sozialität.
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Während Untersuchungen über Männlichkeit und Familie wäh rend der Kriegsjahre den Fortbestand von Beziehungsmustern in den Blick nehmen, setzt sich die Geschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit primär mit der Erosion der Geschlechter-, Ehe- und Familienverhältnisse auseinander. Massimo Perinelli etwa betont die Frakturen der hegemonialen Geschlechterordnung der Nachkriegs jahre, die er als für kurze Zeit aufblitzende Chance zur umfassen den Neugestaltung von Paarbeziehungen liest [497: PERINELLIJ. Susanne zur Nieden und Dagmar Ellerbrock weisen darauf hin, dass nach dem Zweiten Weltkrieg zwar die Verhältnisse zwischen deut schen Frauen und deutschen Männern brüchig waren, dies die Ge schlechterordnung als solche aber nur wenig erschüttert habe, denn amerikanische GIs repräsentierten nun die hegemoniale Männlich keit [490: NIEDEN; 4 1 3 : ELLERBRO CK; siehe auch 4 I 2: ELLER BRO CKJ. 15 Die Transformation des nationalsozialistischen Kriegers in den zivilen Ehemann gestaltete sich schwierig. Robert Moeller und die anderen Autorinnen und Autoren eines Forums der Zeitschrift »Signs« haben in diesem Zusammenhang von Strategien der »Re maskulinisierung« der deutschen Nachkriegsgesellschaft gespro chen. Sie lehnen sich damit an ein Konzept an, das die Historikerin Susan Jeffords mit Blick auf die USA nach dem Vietnamkrieg ent wickelt hat [48 1 , 482, 4 8 3 : MOELLER; 4 1 5 : FEHRENBACH; 5 0 I : POIGER; 43 5 , 436: JEFFORDS]. Auch Frank Biess greift das Kon zept der »Remaskulinisierung« auf, um unterschiedliche Männlich keitsentwürfe und entsprechend differierende Strategien in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften aufzuschlüsseln. In Ost wie West wurden die Kriegsheimkehrer als defizitär wahrgenom men. In Westdeutschland stand im Vordergrund, ehemalige Soldaten wieder »familienfähig« zu gestalten. Wie auch die Lebensgeschich ten zeigen, die Johanna Meyer-Lenz ediert hat, sollte die (Wie der)Eingliederung in Ehe und Familie nicht nur die dysfunktionalen »Familienmänner«, sondern auch die westdeutsche Gesellschaft sexuell, moralisch, sozial und ideologisch stabilisieren. Und Ehe frauen, so ein B erliner Arzt im Jahr 1 9 5 7, seien häufig die einzig »effektive Medizin für die verwundete Seele des Heimkehrers« [3 82, 3 84: BIESS; 473 : MEYER-LENZ]. Zahlreiche Heimkehrer fühlten 15
Vgl. zum Verhältnis deutscher Frauen und insb. afroamerikanischer GIs in den 1 9 50er Jahren 434: HOHN.
I27
sich von den Anforderungen als Familienvater und Ernährer über fordert. Sie bestärkten die Wahrnehmung, Männer seien die wahren Opfer des Krieges und blieben dies auch in der Nachkriegsgesell schaft. Die »Normalisierung« der Geschlechterverhältnisse in der frühen Bundesrepublik nimmt auch Uta Schwarz mit ihrer Unter suchung der »Neuen Deutschen Wochenschau« in den Blick [5 1 5 : SCHWARZ]. Eine Analyse der Selbst- wie Fremdwahrnehmung ju gendlicher »halbstarker« Subkulturen als männliche Gegenentwürfe eröffnet eine weitere Perspektive, die dabei helfen kann, das Streben nach »Remaskulinisierung« besser in den Griff zu bekommen [502: POIGER]. In Ostdeutschland hingegen betonte die neue politische Füh rungsspitze vor allem die ideologischen Defizite der ehemaligen Soldaten, und die Staatsleitung fürchtete die Rückkehr von einer Million »Antibolschewisten«. Weniger der Familienvater war hier der Fluchtpunkt des männlichen Ideals, als vielmehr die Heraus bildung eines guten Produzenten und Parteiaktivisten: des »Staats vaters«, wie Dorothee Wierling ihn genannt hat. Die Familie wurde sogar als schädlich für die politische Konversion der Kriegsheim kehrer diskutiert [3 82: BIESS, 3 5 8; 5 3 3 : WIERLING; 3 8 3 : BIESS]. Je weiter wir uns nun von den unmittelbaren Nachkriegsjahren entfernen, desto deutlicher liegen die auf den Vater ausgerichteten Familienanalysen in den Händen anderer Wissenschaften, etwa der Soziologie oder der Pädagogik. Doch auch einige Geschichtsschrei bende haben hier in den letzten Jahren ihre Spuren hinterlassen. Wiebke Kolbe hat die Transformation der Vaterfigur in der Bun desrepublik Deutschland und im wohlfahrts-, gleichstellungs- und familienpolitischen Modellland Schweden miteinander verglichen. Sie verschränkt Betrachtungen der Konzepte des engagierten, akti ven Vaters, wie sie sich seit den späten 1 960er Jahren entfaltet ha ben, mit sozial- und politikgeschichtlichen Analysen, wodurch die Interdependenz verschiedener gesellschaftlicher wie historiogra fischer Felder deutlich wird [4 5 1 , 4 5 2, 4 5 3 : KOLBE] . Reinhard Sie der plädiert im Rahmen einer Wiener Fallstudie im ausgehenden 20. Jahrhundert dafür, nicht immer nur von fragmentierten und dys funtionalen Trennungsfamilien zu sprechen, sondern auch die nutz bringenden und vorteilhaften Momente von »binuklearen Fami liensystemen« und »Fortsetzungsfamilien« zu akzentuieren [ 5 1 7: SIEDER].
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Wenn wir an dieser Stelle noch einmal die Literatur zur Geschichte von Vätern und Vaterschaft in der Neuzeit Revue passieren lassen, so können wir die Suche nach der Balance zwischen dem liebevollen Vater und dem verdienenden Versorger als ein zentrales Moment erkennen. Nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichneten Väter- und Gesellschaftskritiker von Alexander Mit scherlich bis Sarah Connor den abwesenden Vater als Schreckbild für Familien und Sozialordnung. Gleiches gilt für Kneipen und Alkohol, die ebenso wie die Arbeit auch schon im 19. Jahrhundert und früher als Bedrohung für den guten Vater und die intakte Fa milie empfunden wurden [vgL 407: DORSEY; 422: FRANK; 506: ROTSKOFF]. Insgesamt bedarf Robert Griswolds Diktum, der Broterwerb sei das leitende Prinzip männlicher Existenz im 20. Jahrhundert ge wesen, einer Relativierung. Einerseits ist hier wohl eine weniger apodiktische Aussage angebracht, und man sollte eher vom Brot erwerb als einem von mehreren Leitprinzipien sprechen; auf weitere gehen wir in den Kapiteln über männliche Sozialität und Sexualität ein. Andererseits war die erfolgreiche Organisation von Broterwerb und Familien- sowie B eziehungsleben nicht nur im 20. Jahrhundert, sondern in unterschiedlicher Form auch in den Jahrhunderten zuvor von zentraler Bedeutung. Dies legt es nahe, zum Abschluss dieses Kapitels einen genaueren Blick auf das Arbeits- und Berufsleben und die Generierung von Männlichkeit zu werfen. Vorauszuschicken ist, dass die Literatur decke hier noch dünn ist - trotz der offenkundigen Bedeutung von Arbeit für Männlichkeit in der Geschichte der Neuzeit und trotz einer breiten sozialwissenschaftlichen Forschung. Die historiogra fischen Leerstellen mögen damit zusammenhängen, dass die » Labor History« seit der Entfaltung von »linguistic turn« und so genannter »Neuer Kulturgeschichte« in den 1 980er und 1 990er Jahren nicht gerade eine Phase der Hochkonjunktur durchlaufen hat - dazu spä ter mehr. Wie fruchtbar allerdings Berührungen der Geschichte von Arbeit und Männlichkeiten sein können, soll der folgende Über blick zeigen. Beginnen möchten wir ihn mit streikenden afroameri kanischen Arbeitern im Frühjahr 1 968 in Memphis, Tennessee.
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Afroamerikanische Männer, Männlichkeiten und Arbeit
1968 demonstrierten in Memphis afroamerikanische Stadtreini gungsarbeiter, indem sie Schilder mit der Aufschrift » I am a man« vor sich hertrugen. Ihr Protest richtete sich gegen Diskriminierung und eine Entlohnung, die ihnen und ihren Familien noch nicht ein mal das Nötigste zum Leben gewährte. Getragen von einer Rhetorik männlichen Auf- und Widerstehens forderten die schwarzen Arbei ter gemeinsam mit Gewerkschaften und Bürgerrechtsbewegung eine Gleichbehandlung mit ihren weißen Kollegen. Denn dann wäre es ihnen möglich, wie »echte Männer« für ihre Familien zu sorgen und ihren Frauen und Kindern ein angemessenes Leben zu garantie ren. Dies hätte endlich das Ende ihrer »Entmännlichung« bedeutet, die sich seit den Zeiten der Sklaverei fortschrieb [ 5 5 9: ESTES]. Die Verflechtungen von Männlichkeit, familiärer Verantwortlich keit und Arbeit sind in der afroamerikanischen Geschichte und Ge schichtsschreibung ein umfassend behandeltes Thema [weitere Lite raturhinweise auch bei 5 5 0: BORIS]. So war es im frühen 19. Jahr hundert für den Sklaven Frederick Douglass zunächst der physische Widerstand gegen seinen Aufseher, der ihm das Gefühl des Mann seins vermittelte. Ebenso bedeutend war dann aber die Möglichkeit, nach der Flucht aus der Sklaverei mit seiner Hände Arbeit für sich und seine Lieben sorgen und private wie politische Verantwortung übernehmen zu können [5 5 8 : DOUGLASS, 349-3 5 0] . In der Bürger rechtsbewegung des voranschreitenden 19. Jahrhunderts betonte insbesondere Booker T. Washington mit seiner Lern- und Ausbil dungsstätte in Tuskegee, Alabama, die Bedeutung von (Aus)Bildung und beruflichem Fortkommen für eine gesellschaftlich anerkannte Egalität schwarzer Männer. Seine andererseits auf Anpassung und Zurückhaltung ausgerichtete Strategie hat Washington sowohl unter Zeitgenossen als auch in der Forschung die Kritik eingebracht, zu geich die Feminisierung schwarzer Männer vorangetrieben zu haben [ 5 66: GIBSON; zusammenfassend 3 47: STIEGLITZ, 66-67]. Auf zwei Jahrhunderte der Sklavenarbeit folgte nach 1 86 5 der Ausschluss schwarzer Männer von zahlreichen Segmenten des Ar beitsmarktes und aus den meisten Gewerkschaften. Auch der ge schäftliche Aufstieg blieb ihnen weithin verschlossen, und dies in einer Gesellschaft, die dem Ideal des »self made man« vielleicht mehr als jede andere Gesellschaft anhing. Die soziale und kulturelle B enachteiligung afroamerikanischer Männer und »ihrer« Familien 1 3°
prägt bis heute einen Diskurs über das Scheitern schwarzer Männer an einem regelhaften und von Arbeit geprägten Lebensrhythmus. Nicht zuletzt diese Konstellation hat das Bewusstsein der »Black History« für den Konnex von Arbeit und Männlichkeit geschärft. Verdeutlicht wird dies unter anderem in dem von Darlene Clark Hine und Earnestine Jenkins herausgegebenen zweibändigen >,Reader« zur Geschichte schwarzer Männlichkeiten. Verschiedene Artikel des ersten Bandes [29: HINE/JENKINS, Bd. I] zeigen, wie auch Sklaven im 1 8. und 1 9. Jahrhundert an Qualifikation und In dustriearbeit eine höhere Wertschätzung koppelten, zumal diese mit größeren Spielräumen zur eigenen Lebensgestaltung, mit der Möglichkeit besserer familiärer Fürsorge sowie der Erfüllung eines männlichen Ideals einhergingen [5 5 7: DEw; 5 8 I: MARKS]. Andere Aufsätze führen vor, wie hart auch freie Schwarze im Norden um Erfolge im Arbeitssektor ringen mussten, wie sie auf bestimmte Berufszweige festgelegt wurden und wie die äußeren Bedingungen ein soziales Fortkommen afroamerikanischer Männer immer wieder behinderten [ 5 4 5 : BEDINI; 5 67: GILJE/RoCK]. Der zweite Band des »Readers«, der sich mit den Dekaden nach der Emanzipation befasst, setzt noch stärkere Akzente im Bereich »Arbeit« : fast die Hälfte der insgesamt zwanzig Artikel kreist um dieses Thema [29: HINE/JENKINS, Bd. 2]. Ein zentraler Aspekt ist der Wechsel von Afroamerikanern in die Lohnarbeit, der die be stehenden Stereotype schwarzer Männer und ihres Verhältnisses zur Arbeit herausforderte. Die landwirtschaftliche Arbeit, die die meis ten African-Americans im System des »sharecropping« nach wie vor in Abhängigkeit von weißen Landbesitzern ausübten, steht in dem Band im Hintergrund. Im Vordergrund stehen eher außergewöhn liche Arbeitserfahrungen, die allerdings die Vielfalt der Möglich keiten und des Erreichten anzeigen. So erfahren wir etwas über schwarze Polizisten im New Orleans des 1 9 . Jahrhunderts [596: ROUSEY], über afroamerikanische Cowboys im Wilden Westen [ 5 90: PORTER] sowie über selbstständige Farmer, die sich gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen vermochten [5 8o: MARABLE]. Auf der anderen Seite berichten die Artikel über Gefangenenarbeit in den » Chaingangs« [578: LICHTENSTEIN] sowie über die Weigerung der Gewerkschaften, schwarze Männer aufzunehmen [54 1 : ARNESEN]. Weitere Arbeiten befassen sich mit Afroamerikanern, die den Beruf des Arztes oder des Anwaltes ergreifen konnten [ 5 8 8: OLDFIELD; 5 99: SAVITT]. 131
Mit welcher Macht sich die weiße Gesellschaft insbesondere des Südens gegen solche Karrieren stemmte, zeigt nicht zuletzt die Geschichte des Lynching. Die stereotype und damals weithin an erkannte Anklage war die Vergewaltigung einer weißen Frau. De facto richtete sich der weiße Mob aber insbesondere gegen solche schwarzen Männer, die dem eigentlichen amerikanischen Ideal des Individualismus und der Leistung am deutlichsten entsprachen und denen der berufliche und/oder soziale Aufstieg gelang. Eine deutsch sprachige Überblicks betrachtung zur afroamerikanischen Geschich te, die Ansätzen sowohl der Geschlechtergeschichte als auch der »Labor History« folgt, bietet das Buch von Norbert Finzsch, Lois und James Horton [4I 7: FINZSCH/HoRTON/HoRTON].
» Gender« und »Labor History«
Schaut man über die afroamerikanische Geschichte hinaus, so ist die Forschung zum Zusammenspiel von männlicher Identifizierung und Arbeitswelt schwierig zu bilanzieren. Als erster Zugang zur internationalen Forschung mag ein Themenheft der Zeitschrift » In ternational Labor and Working Class History« vom Herbst 2003 dienen, das sich des Themas »Labor History After the Gender Turn« angenommen hat. Im Hinblick auf die US-Geschichte heißt es dort, lange habe die Kategorie » Klasse« die Geschichte der Arbeit dominiert. In den letzten Jahren allerdings sei sie einer Konzeption verflüssigter, vielschichtiger Identitäten gewichen: »The world of Anglo-American labor history has been turned upside down« [61 2: WINN, 1 ; vgl. auch 5 6 5 : FRADER/RoS E, 1 6-3 3 mit weiteren Lite raturhinweisen zur europäischen Geschichte]. Dies könnte einer seits eine große Innovationskraft der »Labor History« signalisieren. Andererseits könnte dies auch als Zeichen einer Krise gedeutet wer den, denn schließlich drohten sich die zentralen Gegenstände dieser Geschichte aufzulösen oder doch zumindest zu zerfasern. Von dem Arbeiter als homogener Figur und sich selbst emanzipierendem Sub jekt in einer »Geschichte von unten« oder von der Arbeiterklasse konnte nicht mehr die Rede sein. Nähert man sich außerdem von der anderen Seite und versucht die Bedeutung des Faktors Arbeit in der Geschlechtergeschichte und ganz besonders in der Historio grafie der Männlichkeiten zu bestimmen, so erhält die Begeisterung über die Vitalität der »Labor History« einen weiteren Dämpfer. 132
Denn auch in der US-Geschichtsschreibung der Männlichkeiten müssen wir einen vergleichsweise geringen Stellenwert von Arbeits analysen konstatieren.16 Dieses Defizit ist, wie Eric D. Weitz in dem Themenheft der »International Labor and Working Class History« feststellt, hinsichtlich der deutschen Geschichte noch deutlicher. Weitz betont, Geschlechtergeschichte und »labor history« seien in Deutschland immer noch »two trains passing in the night« [609: WEITZJY Dies ist angesichts des ausgeprägten sozialwissenschaftlichen und gegenwartsorientierten Interesses am Thema Arbeit und Männ lichkeit erstaunlich. Viele historische Untersuchungen konstatieren zwar, dass Arbeit für Männlichkeitskonzepte und männliche Iden tifikation bedeutsam sei, nur wenige gehen jedoch über diese Fest stellung hinaus und in die Fabrikhallen oder gar in die Büros hinein. Welche Identifizierung etwa auf welche Weise und an welchen Ar beitsplätzen vollzogen wurde, ist bislang recht selten analysiert wor den [vgl. aber neulich 60 1 : SUNJ. Wie bereits erwähnt, hängt dies auch damit zusammen, dass die eher kulturalistisch inspirierte Ge schlechtergeschichte und die klassisch sozialhistorische Arbeiter geschichte es schwer hatten, zueinander zu finden. Zu sehr schien die Idee der materiellen Basis allen Seins, des Klassenkampfes und des kämpfenden Subjekts einer Analyse von Diskursen und kultu reller Sinngebung zu widerstreben [die Diskussion skizzieren 5 73 : KESSLER-HARRIS, 1 92; 5 6 5 : FRADER/RoSE, 3; 5 9 5 : ROSE, 6J. Gleichwohl gab es in der internationalen Historiografie seit den späten 1 980er Jahren immer wieder Anstöße, die Kategorien Klasse und Geschlecht (und Ethnizität) in einer Geschichte von Arbeit zu verweben. Alice Kessler-Harris betonte im Jahr 1 989 sogar, dies sei die »neue Agenda« der »Labor History« [ 5 7 1 : KESSLER-HARRISJ. Als einschlägige Arbeiten seien hier Lenard Berlansteins Band über das Verhältnis von Diskurs- und Klassenanalyse genannt [546: BER LANSTEINJ und natürlich Ava Barons wegweisende Schrift mit dem Titel »Work Engendered«, die schon bald zum allgemein anerkann ten Ausgangspunkt für all diejenigen avancierte, die sich mit Ge16
Auch in den zum Teil heftigen US-amerikanischen Debatten sind Klagen über den Stand der Disziplin zu vernehmen, vgl. dazu 5 74: KESSLER HARRIS. 17 Dies bestätigen auch die Literaturberichte von 608: WEINHAUER und 6 1 1 : WELSKOPP.
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schlecht, Männlichkeit und Arbeit befassten [544: BARON; siehe auch 543: BARON]. Bald darauf publizierte die Zeitschrift »Labor History« ein Themenheft zu » Gender«, unter anderem mit einem weiteren Grundsatzartikel von Alice Kessler-Harris [573: KEss LER-HARRIS; siehe auch 5 60: FAUE; 5 62: FINK]. Wieder zwei Jahre später diskutierte Laura Frader in der Zeitschrift »History and Theory« das Zusammenspiel von Arbeitsgeschichte, Geschlechter geschichte und Diskursanalyse [563: FRADER] . Erwähnt sei auch das Buch von Eileen Boris und Angelique Janssen, das ausdrück lich die Interdependenz der Trias »Rasse, Klasse, Geschlecht« zum Thema hat [5 5 1 : B ORIS/JANSSEN]. Für einen entsprechenden Lite raturüberblick zur britischen Geschichte sei auf einen Beitrag Eileen Yeos sowie einen von Margaret Walsh herausgegebenen Sam melband verwiesen, der auch einige wenige Aufsätze präsentiert, die Konzepte von Arbeit und Männlichkeit zusammenbringen [61 3 : YEO; 5 7: WALSH]. Insgesamt haben diese und andere Forschungen nicht nur ver deutlicht, dass mit den Frauen die Hälfte der arbeitenden Klasse lange ignoriert worden war [wegweisende Arbeit ist hier 5 72: KEss LER-HARRIS]. Sie zeigen darüber hinaus, dass die Wahrnehmung, Kategorisierung und Wertschätzung von Arbeit und ihrer spezi fischen Ausgestaltung geschlechtsspezifisch sind. Häufig steht qualifizierte, heroische »männliche« Arbeit im Gegensatz zu »weib lichen« Tätigkeiten, die als geringer qualifiziert gelten oder im B e reich sozialer Reproduktion angesiedelt sind. Üben Männer den noch solche Arbeiten aus, so werden entweder die Männer dadurch effeminiert oder die Tätigkeiten aufgewertet: von der täglichen Essenszubereitung daheim über den in der Großküche arbeitenden Migranten zum Chefkoch eines Restaurants, um hier nur ein klas sisches Beispiel aufzuführen [60 5 : TALIBI, 1 6, mit Hinweisen auf weitere Literatur].
Verstreute Forschungen zu Arbeit und Männlichkeit
Derart ähnliche, aber unterschiedlich bewertete Tätigkeiten kön nen sehr klar verdeutlichen, auf welche Weise unterschiedliche Ge schlechtsidentitäten an Arbeitsplätzen konstituiert werden, und zwar sowohl in Abgrenzung gegenüber dem anderen Geschlecht als auch gegenüber anderen Vertretern des eigenen Geschlechts. Die ver1 34
schiedenen Ebenen geschlechtlicher Differenzierung durch Arbeit werden auch durch die Aufsätze des allerersten Themenheftes der Zeitschrift » Gender and History« aus dem Jahr 1989 verdeutlicht. Es enthält Beiträge zur männlichen Identitätsbildung im Industrie kapitalismus des späteren 1 9. Jahrhunderts in England, den USA und Schweden [273 : M CCLELLAND; 6 5 : BARON; 2 2 1 : JOHANN SON]. Auch erschienen um 1 990 erste entsprechende Monografien, etwa von Patricia Cooper, die geschlechtsgebundene Arbeitsabläufe und Identitätsbildungen in der Zigarrenproduktion im frühen 20. Jahrhundert vorstellt [ 5 5 4: COOPER]. Seitdem hat Ava Barons apodiktische Formulierung aus dem Jahr 1 99 1 , die Geschichte der »working-class masculinity« müsse noch geschrieben werden, zu mindest in der US-Geschichte einige Arbeiten nach sich gezogen [ 5 44: BARON, 30; 543: BARON]. Dennoch können wir konstatieren, dass die entsprechende Forschung bei weitem kein geschlossenes Bild über die neuere Geschichte hinweg zu zeichnen vermag. Daher ist die folgende Literaturskizze nicht chronologisch, sondern nach inhaltlichen Schwerpunkten gegliedert. Für einen ersten Überblick über das Themenspektrum zu Arbeit und (weißer) Männlichkeit ist der Band »Boys and Their Toys« überaus hilfreich, den Roger Horowitz 200 1 ganz bewusst als Bestandsaufnahme zehn Jahre nach Ava Barons »Engendering Labor« konzipiert hat [568: HORO WITZ] . 18 Als ein konstitutives Moment eines »männlichen« Arbeiters und für eine auf Männlichkeit gründende Klassensolidarität sei zunächst die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Auf- und Widerstand ge nannt. Darauf hat 1979 bereits David Montgomery in seinem Buch über »Workers' Control in America« hingewiesen, und dies bestä tigt ein Artikel Gregory Kasters aus dem Jahr 200 I über männliche Arbeiteridentität in den USA [5 8 5 : MONTGOMERY; 5 70: KASTER]. Kaster zeigt Vorstellungen von politischer und ökonomischer Stärke und Unabhängigkeit in der Arbeiterwelt des 19. Jahrhunderts, die sowohl an Geschlecht als auch an einen bestimmten Ausbildungs stand gebunden sind. Damit werden weitere Differenzierungen 18
Der Zusammenhang von Geschlecht, Arbeitswelt und Maschinen bzw. Technologie, auf den der Titel von Horowitz' Sammelband anspielt, wird in einem 2003 publizierten Reader über »Gender & Technology« ein gehender erarbeitet [5 77: LERMAN/MoHUN/OLDENZIEL; siehe auch 5 87: OLDENZIEL].
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innerhalb der männlichen Arbeiterschaft hergestellt und die so genannte »Arbeiteraristokratie« konstituiert. Ein zentrales Diffe renzmoment ist auch » Ethnizität«. David Roediger hat 1 9 9 1 darauf hingewiesen, wie »whiteness« als formativer Aspekt in die Konsti tution von »Klasse« eingreift [593, 5 94: ROEDIGER]. Ein Arbeiter, der sich gängeln ließ, galt als entmännlicht und einem (schwarzen) Sklaven gleich. Das ließ es für weiße Arbeiter beinahe unmöglich werden, mit African-Americans oder mit Frauen zu kooperieren, und zumindest Frauen drangen schon in den Jahren vor dem Bür gerkrieg vermehrt in die aufkommende Industriearbeiterschaft hinein. Dies hat Mary Blewett bereits I 9 8 8 herausgestellt [ 547, 548: BLEWETT]. Doch die meisten US-amerikanischen Gewerkschaften blieben bis weit in das 20. Jahrhundert hinein für diejenigen ver schlossen, die nicht weiß, männlich und ausgebildet waren. Ein weiteres Thema der Forschung ist der Arbeitsplatz als homo sozialer Raum. 19 Dieser kann beispielsweise durch eine bestimmte Gewerkschaftspolitik oder durch Rituale der Männlichkeit kon stituiert werden - wobei freilich auch Gewerkschaftspolitik von Männlichkeitsritualen durchzogen und getragen sein kann [597: RYON; 592: QUAM-WICKHAM]. Wie eine solche Homosozialität um I 900 auch über Alkohol erzeugt wurde, hat Paul Michel Taillon am Beispiel der US-Eisenbahner gezeigt [603, 604: TAILLON]. Einerseits war Alkoholkonsum Teil männlichen Sozialverhaltens und Ausdruck einer »rough manhood«, die Peter Way I993 als zentral für das Selbstbild amerikanischer Kanalarbeiter im frühen 1 9 . Jahr hundert vorgeführt hat [607: WAY]. Taillon zeigt aber auch die Viel schichtigkeit des männlichen Eisenbahnarbeiters. Schließlich pro pagierte die Temperenzbewegung im ausgehenden I 9. Jahrhundert gemeinsam mit den Gewerkschaften eine »respectable manhood« als Gegenentwurf. Diskursmuster tauchten auf, die uns im Hinblick auf die Wirkungen von Alkohol schon aus anderen historischen Zusammenhängen bekannt sind. Werte von Verantwortlichkeit und Zuverlässigkeit, Selbstkontrolle und Fürsorge wurden als zentral für einen guten Mann herausgestellt, und das erforderte, »trocken« zu sein: »Alcohol makes wives widows, children orphans, fathers friendless, and all at last beggars«, betonte in diesem Sinne das » Engineers' Journal« im Januar I 878. Der Arbeiter als Mann be wegte sich offenbar zwischen den Männlichkeitsentwürfen eines 19
Weitere Darlegungen dazu in Kapitel 7 über Sozialität.
»male bonding« in der Fabrikhalle, der Mine oder auf der Werft und einer bisweilen konfligierenden gesellschaftlich-familiären Ver antwortung. Das Aufeinandertreffen von Respektabilität und männlich kon notierter Härte untersucht auch Steve Meyer anhand der Auto mobilarbeiter während des Zweiten Weltkrieges. Der Glaube, Alko holkonsum, die Degradierung von Frauen in einen Obj ektstatus sowie die Bereitschaft zu körperlicher Auseinandersetzung machten einen echten Kerl aus, hielt sich über die Dekaden hartnäckig. Meyer zeigt zudem, wie Arbeiter untereinander das Maß ihrer Ehren haftigkeit in gewalttätigen Konflikten in der Fabrikhalle aushandel ten. Gewerkschafter wandten sich vorzugsweise gegen Nicht-Ge werkschafter, Widerstand gegenüber dem Vorarbeiter oder gar dem Boss erhöhte die Anerkennung unter den Kollegen ganz besonders [ 5 8 3 , 5 84: MEYER]. Stephen Norwood hat gezeigt, wie unterschied liche Männlichkeitsentwürfe bei Streiks und anderen Konflikten zwischen Belegschaften und Betriebsführungen zum Tragen kamen. Er fokussiert dabei die Rolle und Wahrnehmung von Streikbrechern und bezahlten Agenten der Unternehmer [5 86: NORWOOD]. Allerdings konnte die »respectable manhood« auch dazu auf fordern, auf eine Konfrontation mit Vorarbeitern, Betriebsführung oder Produktionsmittelbesitzer zu verzichten und viel eher nach Kooperation und einer einvernehmlichen Lösung zu streben. Vor allem seit den Zeiten des »welfare capitalism« ab den 1 9 1 0er Jahren gab es zwischen Arbeitnehmern und Gewerkschaften auf der einen sowie Arbeitgebern auf der anderen Seite bisweilen mehr Kon vergenzen als Divergenzen, was die Vorstellung verantwortlicher Männlichkeit anbelangte. Lisa Fine konnte dies am Beispiel der Automobilindustrie in Michigan zeigen [ 5 6 1 : FINE]. Dabei hat ab den 1 9 1 0er Jahren die zunehmende Automatisierung der Produk tion zugleich Vorstellungen von Selbstkontrolle und weitreichender Autonomie innerhalb einer Arbeiteraristokratie unterminiert. Andere Forschungen betonen weniger die Homosozialität des Ar beitsplatzes, sondern vielmehr die des Freizeitlebens der Arbeiter klasse. Randy McBee hat darauf verwiesen, dass unter jungen Ar beitern der 1 920er und 1 930er Jahre ein Kollege regelrecht suspekt war, wenn er die Nähe von Frauen mehr schätzte als ein Trinkgelage mit seinen »buddies«. McBee hat die Clubs und die »hangouts« weißer junger Männer der Arbeiterklasse in urbanen Zentren wie New York und Chicago untersucht, wo durch die Sexualisierung 137
von Frauen sowie durch die Abgrenzung von ethnischen Minder heiten eine von Geschlechts-, Klassen- und Ethnizitätskonzepten getragene Solidarität hergestellt wurde [ 5 82: McBEE; vgl. auch 5 9 1 : POWERS über Saloons und MännerfreundschaftenJ. Eine wieder andere Perspektive hat Olaf Stieglitz in seiner For schung über das »Civilian Conservation Corps« akzentuiert, das während der Großen Depression der 1 930er Jahre junge Männer in Arbeitscamps beschäftigte. In den CCC-Lagern sollten Jungen zu Männern geformt werden, und zwar durch Körper- und Charakter bildung in der Arbeit an der Natur. Dort verschmolzen die Kon zepte des harten Arbeiters, des guten Versorgers, des Staatsbürgers und des Soldaten ineinander, und »rough« und »respectable man hood« wurden in den Camps täglich ausgehandelt [346, 5 22: STIEG LITZ; 602: SUZIK; 5 89: PATEL]. Durch Arbeit geformte und ge stärkte Männerkörper riefen in Zeiten der ökonomischen, sozialen und männlichen » Krise« den »gospel of labor« an, und sie knüpften damit an Repräsentationstraditionen von Arbeit und Arbeitern an, wie sie sich seit dem ausgehenden 1 9 . Jahrhundert verfestigt hatten. Dies hat auch die Kunsthistorikerin Melissa Dabakis in ihrer Unter suchung über Arbeiterskulpturen zwischen 1 8 80 und 1 930 verdeut licht [5 5 5 : DABAKIS]. Insgesamt ist zu bemerken, dass der größte Teil der Forschung zum Thema Männlichkeit und Arbeit im Bereich der so genannten »blue collar workers« angesiedelt ist, also der Arbeiter im Blau mann. Männliche Identitätsbildung im Sektor Büroarbeit und somit in der so genannten »white collar work« hat bislang noch weniger Beachtung gefunden. Sicher gibt es verschiedene Untersuchungen, die sich mit dem Eindringen von Frauen in die Bürowelt um 1 900 befassen. Ein Buch wie das von Angel Kwolek-Folland allerdings, das ausdrücklich Frauen und Männer als ArbeitnehmerInnen der Finanzdienstleister zueinander in Beziehung setzt und die ge schlechtliche Struktur der Arbeitsplätze und ihrer produktiven wie räumlichen Ordnung untersucht, ist bislang noch die Ausnahme. Bei Kwolek-Folland erscheint das Büro wie eine Art Labor, in dem die Geschlechterkonstellationen der weiteren gesellschaftlichen Ord nung zugleich nachgestellt und gezüchtet werden [ 5 76: KWOLEK FOLLAND; 5 5 6: DAvIDSON]. Bevor wir dieses Kapitel über Männer zwischen Familie und Ar beitsleben schließen und zu einer Darstellung von Formen männ licher Gemeinschaften übergehen, wollen wir unseren Blick von
Arbeiteridealen und Identitätsbildungen in kapitalistischen Gesell schaften ab- und den sozialistischen Gesellschaften zuwenden. Zunächst ist hier nochmals auf die Arbeiten zu verweisen, die im Hinblick auf die Nachkriegsgesellschaften der »Remaskulinisie rungsthese« folgen und auch den Stellenwert von Arbeit in beiden deutschen Nachfolgegesellschaften diskutieren [48 3 : MOELLER; 3 8 2, 3 8 3, 3 84: BIEss]. Aus einer geografisch weiteren Perspektive führt Eric D. Weitz in einem Artikel über » Gender and Politics in European Communism, 1 9 1 7- 1 9 5 ° « das Zusammenspiel von Ar beit und Männlichkeit in sozialistischen Gesellschaften aus. Diese hätten seit ihrer Entstehung zwar die kleinbürgerliche Familienkon zeption gescholten und die Gleichheit von Frauen und Männern propagiert. Dennoch waren nicht bloß die politischen Funktions eliten männlich dominiert, sondern auch die kommunistische Iko nographie war geprägt vom Bild muskulöser und zielstrebiger Män ner, deren Arbeit scheinbar eine strahlende sozialistische Zukunft sicherte. Der Schmied, der mit der Kraft seines Körpers die sozia listische Gesellschaft formte, fungierte als das proletarische Ideal schlechthin. Weitz konstatiert, dass sich zwar durchaus auch ein emanzipatorischer Frauenentwurf entfaltete, dieser aber zugleich durch ein recht dominantes wie monolithisches Männer- und Männ lichkeitsbild unterminiert wurde [610: WEITZ]. Die DDR stützte diesen Männlichkeitsentwurf unter anderem dadurch, dass sie alljährlich ihren »Held der Arbeit« mit einem gleichnamigen Preis auszeichnete [ 5 79: LÜDTKE; 5 9 8 : SATJUKOW/ GRIES; 47: SCHMALE, 2 3 6 f.] . Zur Seite gestellt wurde ihm eine »sozialistische Frauenpersönlichkeit«, die als Heldin der Arbeit zwar gewissermaßen die männliche Dominanz der Arbeitswelt durch brach, zugleich aber an einem männlichen Heldenmuster ausgerich tet war und es somit reproduzierte. Diese spannungsgeladene Ge schlechterkonstellation im Arbeitsleben der DDR hat Gunilla Friederike Budde herausgearbeitet [5 5 2, 5 5 3 : BUDDE]. Abschließend ist noch einmal hervorzuheben, dass die historische Forschung bereits viele Schlaglichter auf die umfassenden Heraus forderungen des »Breadwinning« geworfen und dabei auch schon einige Synthesen hervorgebracht hat. Manche Anforderungen und manche Ideale haben sich über die Jahre und Jahrhunderte radikal gewandelt, andere Fragen sind regelmäßig in der Geschichte auf getaucht. So wurde etwa vom 1 6. Jahrhundert bis zur Gegenwart immer wieder das Verhältnis von Männlichkeit und Alkohol disku1 39
tiert, um hier nur einen Punkt exemplarisch aufzugreifen, den wir auf den vorangegangenen Seiten thematisiert haben. Doch auch dort, wo es Kontinuitäten gibt, ist der Denk- und Aktionsrahmen nicht unveränderlich: Denn die Formen und die Bezugspunkte männ lichen Heldentums oder Versagens, das an Alkohol und dessen Konsum gebunden war, veränderten sich. Hier wie an vielen an deren Punkten in der Geschichte sind noch viele Fragen ungeklärt, bislang überwiegen die blinden Flecken noch die Schlaglichter. Zu dem hat jeder Versuch, Antworten zu finden, wiederum neue Fragen aufgeworfen. Allerdings sollte deutlich geworden sein, dass ein zen traler Aspekt von Männlichkeits- und Männergeschichte auf dem Spannungsverhältnis von sozialer Verantwortung und vermeintlich individueller Subj ektbildung liegt. Dabei darf hier nicht von einer simplen Dichotomie dieser beiden Positionen ausgegangen werden, sondern ein männliches Subjekt generiert sich gerade auch aus der Bereitschaft und der Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Es gibt also Überlagerungen und Durchkreuzungen. Eine ähnlich komplexe Gemengelage wird sich im folgenden Abschnitt auftun, in dem wir uns der bisherigen Forschung zu männlicher Sozialität zuwenden. Diese erstreckt sich von Vorstel lungen eines männlichen Individualismus bis zum modernen Staat als männlich homosoziales Gebilde.
7.
Von Brüdern, Kameraden und Staatsbürgern: Formen männlicher Sozialität
,,1 was very proud, and John Barleycorn was proud with me. I could carry my drink. I was a man. I had drunk two men, drink for drink, into unconsciousness. And I was still on my feet, upright, making my way on deck to get air into my scorching lungs. [. ] I was no boy 0//ourteen, living the mediocre ways 0/ the sleepy . .
town called Oakland. I was a man, a god, and the very elements rendered me allegiance as I bitted them to my will. «!
1 9 1 3 , im Alter von 3 6 Jahren, veröffentlichte der Schriftsteller Jack London den autobiografischen Roman »John Barleycorn« . London schildert darin das Leben eines exzessiven Trinkers und gewährt Einblick in den Alltag der amerikanischen Arbeiterklasse. Alkohol konsum erscheint hier im Kontext von Arbeit und Freizeit als ein zutiefst soziales Verhalten: "All drinkers begin socially. [ . . . ] When I thought of alcohol, the connotation was fellowship. When I thought of fellowship, the connotation was alcohol. Fellowship and alcohol were Siamese twins.« Diese Gemeinschaft war geschlechtlich struk turiert, die von London geschilderten Saloons - »poorman's clubs« waren Orte einer homosozialen Gemeinschaft von Männern: Orte eines »male bonding«. Motor dieser .Gemeinschaft war nicht zu letzt das gemeinsame Trinken, das aus Arbeitskollegen buddies und manchmal sogar aus Vorarbeitern Freunde werden lassen konnte. Dieser gemeinschaftliche Konsum von Alkohol war eingebunden in Rituale, die das Band verstärken sollten: London beschreibt die Regeln und Funktionen des treating, des »Runden Ausgebens« , und e r erzählt von den heftigen, lauten, nicht selten handgreiflichen Streitigkeiten zwischen angetrunkenen Männern. Nicht zuletzt beschreibt er in »John Barleycorn« (s)eine Mann-Werdung durch Alkohol: Wer ihn beherrscht, so lautet die Botschaft, hat einen be deutsamen Schritt hin zu einer erwachsenen Männlichkeit getan. London schildert mithin jene » raue« Männlichkeit unterbürger1
Jack LONDON: John Barleycorn, New York 1 9 1 3 , hier nach der Taschen buchausgabe New York 200 1 . London schrieb dieses Buch auch als Streitschrift für die Verabschiedung eines Gesetzes zur Prohibition von Alkohol; vgl. zu London sowie einer Geschlechtergeschichte des Alko hols in den USA 667: MURDOCK u. 506: ROTSKOFF.
14I
licher Schichten, gegen die Generationen von Reformern und Re formerinnen, unter anderem in der Temperenzbewegung gegen den Alkoholkonsum, eine » respektable«, auf Mäßigung, »Charakter« und Verantwortung basierende Form des Mann-Sein-Sollens propa gierten. Doch Londons Männlichkeitsdarstellung rief nicht allein Reformeifer auf den Plan: viele männliche Leser der Mittelklassen verschlangen seine Romane und ihre Präsentation viriler Formen von Männlichkeit geradezu, seien es die kameradschaftlichen Trinker »John Barleycorns« oder die einsamen Helden aus »The Sea-Wolf« ( I 903)· Formen männlicher Vergemeinschaftung, homosoziale Männer gruppen in ihren vielfältigen und historisch wie kulturell variablen Gestalten, bilden seit langem Schwerpunkte sowohl der » Men's Studies« als auch der Männlichkeitengeschichte. Um Bruderschaf ten und Geheimbünde, Gewerkschaftsvereine und Sportclubs, Ban den und Cliquen, Kampfgemeinschaften und Korps soll es auf den kommenden Seiten gehen - aber auch um die sich daran anschlie ßende Frage, ob und inwieweit derlei geschlechtlich geprägte Ent würfe von Gemeinschaft Sinn stiftend für politisch verfasste Ge meinwesen waren und sind. Gerade in den letzten Jahren sind Konzepte wie das Politische, die Nation oder die Staatsbürgerschaft auf ihre symbolischen und materiellen Relationen zu Geschlechter ordnungen hin neu beleuchtet worden. Die Rede vom Militär als »Schule der Nation« mag andeuten, wie die Übergänge zwischen spezifischen Formen traditionell männlich verstandener Gemein schaften und der Gesellschaft insgesamt konstruiert werden konnten. Damit ist auch die Frage nach männlicher Subjektbildung auf geworfen, nach Prozessen der Aneignung, Verinnerlichung und Re flexion geschlechtlich konstruierter Normen, Fähigkeiten und Ver haltensweisen - nach der Konstitution von Männlichkeit und Mann-Sein. Außerdem werden im Folgenden auch Orte dieses bon ding in den Blick genommen - wie Universitäten und Studentenkneipen, Lager und Schützengräben, Werkhallen und Streikposten, ver schlossene Säle und öffentliche Plätze. Ferner sollen Handlungen und Symbole angesprochen werden, mit denen sich die maskulin konstruierten Gruppen beständig performativ selbst reproduzier ten, sei es das schon angesprochene Trinken, seien es Formen von Gewalttätigkeit oder seien es Konzepte von Ehre und Respektabili tät. Diese konnten je nach Region, Klassenlage oder anderen gesell-
schaftlichen Strukturmerkmalen ganz unterschiedlich wirkungs mächtig und handlungsleitend sein. Wie wir sehen werden, waren Vorstellungen männlicher Affinität und Solidarität oftmals verbunden mit Ideen von Freundschaft, Ka meradschaft und Brüderlichkeit. Zugleich jedoch waren sie an Stra tegien der Exklusion gekoppelt, die sich nicht allein gegen Frauen, sondern darüber hinaus auch gegen ökonomisch, sozial, »rassisch« oder sexuell »andere« Männer richteten. In Teilen der Forschung - in den »Men's Studies« ebenso wie in historiografischen Studien und vor allem in der populären Literatur werden solche Gruppen konstellationen nicht selten kurz als »Männerbünde« bezeichnet. Da »Männerbund« und »Homosozialität« für das folgende Kapitel von zentraler Bedeutung sind, sollen sie hier zunächst als Konzepte im Spiegel der teilweise kontroversen Forschung diskutiert werden. Helmut Blazek beispielsweise entwickelte einen Merkmalskata log zur Kennzeichnung eines solchen »Männerbunds«, wobei er sich selbst zum Teil an den deutschen Volkskundler Heinrich Schurtz anlehnte, der um 1 900 die »Männerbünde« in den europäischen Kolonien entdeckt zu haben glaubte. Solche Bünde zeichnen sich danach durch Aggression, räumliche und gesellschaftliche Absonde rung, Dramatisierung der Männerrolle, Frauenfeindlichkeit, hierar chische Strukturen (Führer-Prinzip), Initiationsriten, elitäres Be wusstsein, Geheimwissen, Abgrenzung gegen Homosexualität bei gleichzeitiger Homoerotik sowie durch ein konservatives Männer bild aus. Auf dieser Grundlage untersuchte Blazek Gruppen im antiken Griechenland ebenso wie christliche Bünde, die Hitler Jugend, Künstlergemeinschaften, Fußballfans und Skinheads, wobei er einzig zwischen »Männerbünden« im engeren Sinne und Grup pen mit einer »Männerbund-Mentalität« im weiteren Sinne unter scheidet [69 5 : BLAZEK; 760: SCHWEIZER; siehe auch 770: VAH SEN]. SO hilfreich ein solcher Merkmalskatalog auch bei der Identifizie rung und Kennzeichnung von Gruppen sein kann, möchten wir uns hier doch von dieser verallgemeinernden Verwendungsweise des Begriffs abgrenzen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens beschreibt das Wort »Männerbund« eine sehr spezifische, gerade für den deut schen Raum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutsame Form männlich konzeptionalisierter Gemeinschaft, mit der ganz eigene Vorstellungen und Handlungsideale verbunden waren, die sich nicht auf andere Zusammenhänge zu anderen Zeiten und in 143
unterschiedlichen Gesellschaften übertragen lassen - wir werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels ausführlich darauf eingehen. Einer Verallgemeinerung des » Männerbunds« haftet unserer Ansicht nach eine vorschnelle und unhinterfragte Annahme scheinbar stabiler kulturanthopologischer und psychologischer »Grundmuster« an. Ohne Frage können interdisziplinäre Anleihen aus anderen For schungsbereichen sehr förderlich und erhellend für viele Einzel fragen diskutiert werden, doch kann das eine konsequente Histori sierung nicht ersetzen [siehe hierzu 3 3 : KÜHNE; 767: SOMBART; 70 1 : BRUNSJ. Zweitens möchten wir männliche Sozialität nicht ausschließlich in ihren exklusiven und homosozialen Formen schildern, sondern gerade Brüche und Übergänge markieren, die aus den männlichen Vergemeinschaftungen heraus oder auch in sie hinein weisen. Die verallgemeinernde Rede vom »Männerbund« neigt dazu, eine ein zige Perspektive zu priorisieren und die Einbettung verschiedener Formen männlicher Sozialität in größere gesellschaftliche Konstella tionen zu vernachlässigen. Oftmals wird allein der systematische Ausschluss von Frauen aus » Männerbünden« konstatiert, ohne den Ort und den Stellenwert solcher Gruppen für ein Gesamtsystem von Geschlechtern und Gesellschaft zu diskutieren, ohne danach zu fragen, welche weiteren Strukturkategorien neben Männlichkeit und Weiblichkeit hier zum Tragen kommen. Und schließlich ver wischt eine exklusive Perspektive auf derlei Gruppenkonstellatio nen den prägenden Einfluss von Individualismus und Selbstbestim mung, die als handlungsleitende Vorstellungsmuster für westliche Männlichkeiten der Moderne immer auch bedeutsam waren. Statt allgemein vom »Männerbund« zu reden, verwenden wir hier den von Jean Lipman-Blumen in die Geschlechterforschung ein geführten Begriff der Homosozialität, der in der deutschsprachigen soziologischen Männerforschung vor allem durch die Arbeiten Mi chael Meusers bekannt geworden ist. Unter Homosozialität versteht Lipman-Blumen »the seeking, enjoyment, and/or preference for the company of the same sex«, also eine »wechselseitige Orientie rung der Angehörigen eines Geschlechts aneinander«, wie Meuser schreibt [65 3 : LIPMAN-BLUMEN, 1 6; 6 6 1 : MEUSER, 1 3 ; 279: MEu SERJ. Eine wichtige Bedeutungserweiterung erfuhr Homosozialität schließlich durch Eve Kosofsky Sedgwick. Sie etablierte in ihrer ein flussreichen Studie zu englischer Literatur im 19. Jahrhundert, »Bet ween Men«, den Begriff des homosozialen Begehrens, mit dem sie 1 44
»ein Kontinuum sozialer und sexueller Beziehungen zwischen Per sonen gleichen Geschlechts umschreibt« [so 662: MIESZKOWSKI; vgl. 687: SEDGWICK] . Sedgwicks Gedanken werden heute vor allem in solchen Arbeiten breit rezipiert, die den Queer Studies verbun den sind und die erotischen Dimensionen homosozialer Gruppen »gegen den Strich« analysieren wollen [65 0: KRASS]. Homosoziale Gesellungsformen sind sowohl in historischer wie in gegenwartsorientierter Forschung als Orte männlicher Selbst vergewisserung thematisiert worden, als räumliche wie symbolische Strukturen zur (Re-)Produktion gesellschaftlicher Hegemonialität. Sie grenzen sich gegen ein Äußeres ab bzw. vermitteln Geschlechts entwürfe nach außen. Solche Gruppen suggerieren Sicherheit und können somit gerade in Zeiten, in denen Geschlechtersysteme pre kär werden (oder von bestimmten Teilen so wahrgenommen oder beschrieben werden), eine besondere Bedeutung erlangen - was ge rade aus Sicht historiografischer Forschungsoptionen nicht uninte ressant ist. Doch wenden wir uns nun nach diesem konzeptionellen Vor lauf den historisch spezifischen Formen männlicher Sozialität zu. Dies soll in drei Schritten erfolgen: ein erster Abschnitt wird sich mit homosozialen Gruppen von Männern beschäftigen, deren Beziehungen eher aus persönlichen oder geschäftlichen Interessen zustande kommen und die, zumindest auf den ersten Blick, »staats fern« und »unpolitisch« auftreten - was sie freilich nicht sind, denn sie sind notwendig in gesellschaftlichen, geschlechtlich codierten Machtstrukturen verankert. Danach sollen Vergesellschaftungs formen vorgestellt werden, deren Vorstellungen deutlicher auf ihre Funktion und ihren Nutzen für das Gemeinwesen insgesamt an gelegt waren und sind, wobei hier vor allem das Militär im Vorder grund stehen wird. Abschließend sollen Staats- und Politikvorstel lungen selbst als gendered diskutiert werden, wobei in erster Linie Vorstellungen von Staatsbürgerschaft angesprochen werden. Hier wird auch zu zeigen sein, wie liberale Leitideen von individuellem Erfolg und Aufstieg Gemeinschaft konstituierend verhandelt wur den.
Gleichheit, Brüderlichkeit? Männliche Sozialität in Logen, Clubs und Vereinen
Alkoholkonsum als Stifter einer (weißen) Arbeiterklassenmännlich keit im Sinne Jack Londons hat in der US-amerikanischen Ge schichtsschreibung breite Aufmerksamkeit gefunden. Dabei ist ein mal mehr darauf hinzuweisen, dass auch die ersten Beiträge zum Thema Alkohol und Männlichkeit bzw. Saloon-Kultur und homo soziales Verhalten nicht aus einer explizit geschlechterhistorischen Sichtweise heraus geschrieben wurden. Vielmehr haben zunächst Perspektiven der »Neuen Sozialgeschichte« wie der »Labor History« die Studien in diesem Feld angeleitet. Nichtsdestoweniger bieten einige Untersuchungen noch heute wertvolles Material, das eine Neubetrachtung aus einer Geschlechterperspektive lohnt. Gleiches kann man in diesem Zusammenhang über die sehr umfangreiche Literatur zur amerikanischen Temperenzbewegung sagen, die für das gesamte 19. und frühe 20. Jahrhundert bedeutsam war. Drei ge schlechterhistorische Aspekte kennzeichnen diese Literatur: erstens eröffnet sie einen Einblick in das öffentliche Engagement weißer Frauen der Mittelklassen als Trägerinnen dieser Reformbewegung; zweitens wird hier das Bild des verantwortungslosen und oftmals gewalttätigen Ehemanns diskutiert; und somit drittens in die Debatte um eine »respektable« Männlichkeit eingeführt, die einer »rauen«, nicht selten mit rassistischen bzw. fremdenfeindlichen Untertönen versehenen Form des Mann-Seins entgegengestellt wurde [zusam menfassend 672: PEGRAMJ. Erst in den letzten Jahren sind Studien erschienen, die einem heu tigen Verständnis von Geschlechtergeschichte folgen. Als chrono logisch aneinander anschließende Überblicke sind die Darstellungen von Catherine Gilbert Murdock, die den Zeitraum von 1 8 70 bis 1 940 behandelt, und Lori Rotskoff für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu nennen [667: MURDO CK; 5 06: ROTSKOFF]. Beide schildern den »Aufstieg« des »social drinking« als neues gesell schaftliches Ideal im Umgang mit Alkohol in den USA und die langsame Ablösung von schichtspezifischen und rassistischen Stereo typen bei der Beurteilung von Trinkern. Sie verweisen dabei auf drei interessante Aspekte: auf die Zunahme des Alkoholkonsums von Frauen seit der Prohibition, auf die anwachsende Bedeutung des Trinkens in den eigenen vier Wänden und schließlich auf die Rele vanz geschlechtlich geprägter Konzepte von Verantwortung und
Mäßigung. Rotskoffs Monografie diskutiert darüber hinaus die Ent stehungsphase der »Alcoholics Anonymous«. Sie werden hier als Männergruppe charakterisiert, der bei ihrem Bemühen, eine respek table Mittelklassenmännlichkeit zurückzugewinnen, die » Hilfs korps« der Ehefrauen zur Seite standen. Ferner liegen inzwischen einige Einzeluntersuchungen vor, die den Stellenwert des Alkoholkonsums unter Männern thematisieren und dabei zumeist auch Fragen männlicher Gewalt ansprechen. Die Kolonialzeit etwa behandelt Sharon Salinger, David Conroy widmet sich der Rolle des Trinkens während der Amerikanischen Revolu tion, und Scott Martin untersucht das frühe Connecticut [68 5 : SALINGER; 628: CONROY; 6 5 8 : MARTIN] . Mit Alkoholismus als Form der Devianz beschäftigen sich Angus McLaren für die Ge schichte des Westens sowie Elaine Parsons für den Mittleren Westen [36: McLAREN; 671 : PARSONS; siehe auch 622: BURNHAM]. Jon Kingsdale, Michael Kaplan, Randy McBee und MadeIon Powers verorten männlich-homosoziales Trinken in den bereits von Jack London geschilderten Zusammenhängen von Arbeiterkultur, was Paul TailIon um eine Diskussion von Temperenzfragen in den Ge werkschaften erweitert hat [649h: KINGSDALE; 649f: KAPLAN; 5 82: McBEE; 676: POWERS; 604: TAILLON]. Massimo Perinelli und Olaf Stieglitz schließlich lesen Alkoholbeherrschung in den 1 9 5 0er Jahren als einen Gradmesser für die (Re-)Maskulinisierung der USA (und Westdeutschlands) nach 1 94 5 [674: PERINELLI/STIEGLITZ]. Obschon homosoziales Trinken unter Männern und dessen Funktionen seit einigen Jahren vermehrt untersucht worden sind, bleiben für die Geschichte der USA auch Desiderate zu konstatie ren. So gibt es bislang noch keine Studie, welche die Bedeutung von Alkoholkonsum unter nicht-weißen Männern thematisiert. Zwar wird der verheerende Einfluss des Trinkens bei Native Americans schon längst in der soziologischen Literatur angesprochen, eine aus drücklich geschlechterhistorische Betrachtung steht aber noch aus [vgl. auch die historischen Studien von 6 5 7: MANCALL oder 69 1 : TRENK]. Schaut man auf die Beiträge zur Bedeutung von Alkoholkonsum in homosozialen Männergemeinschaften im deutschen Sprachraum, so fällt im Vergleich zur Dichte angloamerikanischer Forschung ein deutlicher Nachholbedarf auf. Hervorzuheben ist der Aufsatz Mi chael Franks, der zwar den Fokus seiner Analyse auf die »Gefähr dung von Geschlechterrollen« in der Frühen Neuzeit durch männ1 47
liches Trinken legt, indes aber auch deutlich machen kann, wie sehr die Beherrschung des Trinkens - erprobt in homosozialen Grup pen - als ein Zeichen wahrer Mannhaftigkeit gedeutet wurde [42 I : FRANK]. Eine andere Fragestellung prononciert Frank Nolte, in dem er Alkoholkonsum im Zusammenhang mit protestantischer Ethik und stadtbürgerlichen Leitbildern diskutiert. Den nordameri kanischen Debatten innerhalb der Reformbewegungen nicht unähn lich, entfaltete sich auch hier eine Diskussion um Mäßigkeit, der der trinkende Gesellschaftsmann als abschreckendes Exemplum diente [668 : NOLTE]. Darüber hinaus wird ein Zusammenhang zwischen Alkohol und Männlichkeitsentwürfen in zahlreichen weiteren Ar beiten zur deutschen Geschichte angesprochen, namentlich in Bei trägen, die sich mit studentischem Leben beschäftigen - dazu mehr etwas weiter unten in diesem Kapitel. Ferner sei hier auf die For schung zur Sozialgeschichte der Arbeit und zur Freizeit unter bürgerlicher Schichten hingewiesen, auch wenn dabei zumeist eine geschlechterhistorische Analyse homosozialer Gruppen im engeren Sinne nicht praktiziert wird. Eine Figur, an der sich Übergänge zwischen » rauer« und » res pektabler« Männlichkeit - im Zusammenspiel mit ihren jeweiligen Klassenkonnotationen - festmachen lassen, ist der Junggeselle. Der urbane, unverheiratete, junge weiße Mann setzt männliche Indi vidualität einerseits sowie die Übernahme gesellschaftlicher Verant wortung andererseits zueinander in Beziehung. Der »bachelor« außerhalb familiärer Kontrolle erregte bereits im kolonialen Nord amerika den Missmut der auf die soziale Ordnung achtenden Eliten [732: KANN]. In der ersten Hälfte des I9. Jahrhunderts steigerten sich diese Befürchtungen zu einer veritablen Hysterie, als man viele Besorgnis erregende Erscheinungen in den größeren US-Städten - wie etwa Prostitution oder das Preisboxen - mit dem Verhalten der dort lebenden Junggesellen in Verbindung brachte. Howard Chudacoff hat sich mit diesen Debatten beschäftigt, während Glenn Wallach und Mark Kann nach den Diskursen spüren, die die Sorge um das rechte Auftreten junger Männer mit Befürchtungen um die nationale Stabilität und Entwicklungsfähigkeit der jungen Nation in Verbindung brachten [704: CHUDAKOFF; 73 I : KANN; 692: WAL LACH]. Inwieweit das Aufkommen einer neuen, jungen, männlichen Subkultur in den Städten auch positiv attributiert war, zeigt die Arbeit Katherine Snyders, die sich vor allem mit der Darstellung des » bachelors« in Romanen des I 9 . Jahrhunderts auseinander setzt
[68 8 : SNYDER]. Snyder kann zeigen, dass Vorstellungen männlicher Vertrautheit und Freundschaft einen nicht zu unterschätzenden Ein fluss im bürgerlichen Denken dieser Zeit inne hatten und das Aus leben solcher Gefühle eng mit unverheirateten jungen Männern ver bunden war. Für das deutsche Bürgertum zeigt Bärbel Kuhn, dass ledige Männer größere Spielräume in ihrer Lebensgestaltung hatten als ledige Frauen [4 5 6: KUHN]. Mit der »Erfindung« der Homosexualität im ausgehenden 1 9 . und vor allem im 2 0 . Jahrhundert wurden allerdings gerade allein stehende Männer jenseits des »besten Heiratsalters« als deviant stig matisiert [7: CHAUNCEY; 36: McLAREN]. Ein hohes Maß an Ambi valenz schließlich arbeiten diejenigen Studien heraus, die sich Jung gesellen nach 1945 widmen. Markierungen als homosexuell bzw. antisozial blieben wirkmächtig, namentlich im Klima des Kalten Krieges. Ökonomische Prosperität, wachsende Konsumorientierung und beginnende sexuelle Liberalisierung führten indes auch zur Kreation einer alternativen Form weißer Mittelklassenmännlichkeit, die dem sozial angepassten »Mann im grauen Flanell« positiv ent gegengestellt wurde. Aus dem »bachelor« wurde der »playboy« [627: COHAN; 669: OSGERBY]. Eng verzahnt mit Betrachtungen über den Junggesellen sind die Arbeiten, die Geselligkeitsformen von Studenten an Hochschulen zum Inhalt haben. Dabei haben gerade die deutschen Universitäten und die dortigen studentischen Verbindungen als »Männerbünde« eine vielfältige Forschung initiiert. Biercomments und Mensur wesen der Burschenschaften übten augenscheinlich nicht allein auf deutsche Studenten des 1 9 . Jahrhunderts, sondern auch auf Histo riker und Historikerinnen eine enorme Faszination aus. Ein guter Ausgangspunkt zur Beschäftigung mit diesem Aspekt sind die Kapitel, die Helmut Blazek diesen Gruppen in seiner Überblicks darstellung »Männerbünde« widmet [69 5 : BLAZEK, 1 3 8-1 5 6] . Er konzentriert sich in erster Linie auf die Charakterisierung der Bur schenschaften als Prototypen militärisch-politischer Männlichkeit, die in Deutschland seit Beginn des Kaiserreichs hegemonial wurde. Herausgestellt werden auch das Symbolhafte und Rituelle dieser Gruppen sowie die Familienanalogien und die sie bisweilen um gebende esoterisch-geheimnisvolle Aura. Diese Interpretationen werden in der übrigen Forschung weitgehend geteilt, auch wenn spezifisch geschlechterhistorisch argumentierende Studien noch die Ausnahme sind. Dietrich Heither offeriert in seiner Geschichte der 149
deutschen Burschenschaften einen Einstieg in die Diskussion um das »Männerbündische« solcher Gruppierungen und kommt bei seinem chronologisch angelegten Überblick auch immer wieder auf diesen Aspekt zurück [646: HEITHER; siehe auch 47: SCHMALE, 1 9 5-2°3]. Ergänzend können einige Texte herangezogen werden, welche studentische Gruppen außerhalb Deutschlands beleuchten oder aber vergleichend vorgehen. Lynn Blattmann etwa beschäftigt sich mit schweizerischen Studentenverbindungen zwischen 1 8 70 und 1 9 1 4 und arbeitet dabei markante Unterschiede gegenüber den Ver hältnissen an deutschen Universitäten heraus; sie integriert ihre Er gebnisse darüber hinaus in eine Diskussion um den schweizerischen Bundesstaat als »Männerbund« [620, 694: BLATTMANN]. Sonja Levsen vergleicht die Männlichkeitskonstruktionen deutscher Stu denten mit denen ihrer englischen Kommilitonen, und Peter Burke untersucht englische Colleges als männerbündische Institutionen [6 5 2 : LEVSEN; 62 1 : BURKE]. Wichtige Ergänzungen bieten Beiträge Lisa Fetheringill Swartouts und Miriam Rürups, die Mitglieder jüdischer schlagender Verbindungen thematisieren [63 3 : FETHE RINGILL SWARTOUT; 6 8 3 : RÜRUP]. Studentische Verbindungen (/raternities) existieren auch an US amerikanischen Universitäten und Colleges, ihres unterschiedlichen Charakters wegen werden sie aber zumeist nicht mit einer militari sierten Männlichkeit in Verbindung gebracht. Einen Überblick vom ausgehenden 1 8. Jahrhundert bis in die Gegenwart bietet Helen Lef kowitz Horowitz, während Mark Carnes einen Bogen von den Stu dentenverbindungen zu anderen homosozialen Männergruppen im viktorianischen Amerika schlägt [624: CARNES; 64ge: HOROWITZ] . Bedeutsam ist die sozialhistorische Arbeit von Paula Fass, die das Collegeleben in den 1 920er Jahren untersucht und die Entstehung einer geschlechtlich strukturierten Jugendkultur an den Hochschu len beschreibt [63 2: FAss]. Bruderschaften wurden aber nicht allein an Universitäten etab liert, sondern florierten gerade im 1 9. Jahrhundert auch andernorts als exklusive Clubs einer weißen Elite. Aus der Perspektive heutiger Historikerinnen und Historiker lassen sie sich als Sphären aus machen, in denen Männlichkeit zwischen Arbeits- und Geschäfts welt einerseits und Häuslichkeit und Eheleben andererseits verhan delt wurde. Gruppen wie etwa die Freimaurer oder der »Benevolent and Protective Order of Elks«, um ein wichtiges Beispiel aus den USA anzuführen, schlossen bewusst nicht allein Frauen aus, son1 5°
dern forcierten darüber hinaus auch eine exklusiv weiße und betont klassenbewusste Bruderschaft. Diese basierte vor allem auf gegen seitiger Loyalität und ausgeprägten Ritualformen, insbesondere auf der Initiation. Aus der Perspektive historischer Männlichkeiten forschung in den Vereinigten Staaten ist die bereits erwähnte Studie von Mark Carnes wichtig [624, 62 3 : CARNES]. Inzwischen sind für das 1 8 . Jahrhundert auch antifreimaurerische Texte einer ge schlechterhistorischen Betrachtung unterzogen worden, in denen den Logenmitgliedern deviante Sexualitäten unterstellt wurden [63 5 : FOSTER] . Zudem sind i n letzter Zeit vergleichbare Organisationen afroamerikanischer Männer in den Blick der Forschung geraten. Martin Summers konnte kürzlich durch die Diskussion einer sol chen Vereinigung in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts vor führen, welche Bedeutung sie für das Selbstbewusstsein einer schwarzen Mittelklasse hatte. Er zeigt dabei, dass Männlichkeits entwürfe eben auch innerhalb der Gruppe afroamerikanischer Män ner deutlich variierten und somit die Rede von der »einen« schwar zen Männlichkeit (gegenüber einer weißen, hegemonialen) nicht trägt [689: SUMMERS; 6 5 1 : KUYK]. Auch in der deutschsprachigen Historiografie sind Freimaurer logen als homosoziale Gruppen untersucht worden. Schon in dem von Gisela Völger und Karin von Welck 1 990 für eine Kölner Aus stellung herausgegebenen Buch »Männerbünde - Männerbande« wird dieser Aspekt sowohl aus historischer als auch aus gegenwarts orientierter Perspektive angesprochen [66 5 : MÜLLER-MEES; 6 1 6 : ApPEL; siehe auch 69 5 : BLAZEK]. Seitdem sind diesbezüglich eine Reihe von Beiträgen publiziert worden, wobei an erster Stelle die Monografie von Stefan-Ludwig Hoffmann sowie einige seiner wei terführenden Aufsätze zu nennen sind [649b, 649c, 649d: H O FF MANN]. Er beschreibt dort die Logen als Erfahrungsräume männ licher Identität und zeigt, wie Geselligkeit, Brüderlichkeit und eben Männlichkeit eine Trias im Selbstverständnis ihrer Mitglieder bil deten. Deutlich wird, inwieweit Logenmitgliedschaft innerhalb eines ausdrücklich bürgerlichen Verständnisses des Mannseins ge dacht war; die Betrachtung der Geheimbünde sollte mithin wich tiger Bestandteil der geschlechterhistorischen Bürgertumsforschung insgesamt sein. Gerade für das ausgehende 19. Jahrhundert hat Mar tina Kessel die stabilisierende Funktion solcher und anderer homo sozialer Gruppen in einer sich wandelnden Geschlechterordnung betont [446: KESSEL].
Nicht selten werden das Auftreten und die Verhaltensweisen sol cher Geheimbünde und Logen herangezogen, um auch den Mecha nismen unterbürgerlicher klandestiner Männergruppen auf die Spur zu kommen. Die Parallelität etwa in Nomenklatur und Geheim ritualen zwischen Logen und solchen Gruppen wie der Mafia [648 : HESS] oder dem K u Klux Klan ist schon häufiger betont worden, auch wenn bislang für den Klan keine ausdrückliche Geschlechter geschichte vorliegt [einer solchen am nächsten kommt 6 5 6: MAc LEAN]. D i e Historikerin Sonya Michel hat indes die geschlechter historische Dimension des so genannten ersten Klans nach 1 86 5 und seine immense Relevanz für eine » Reconstruction of White Southern Manhood« hervorgehoben [47 5 : MICHEL]. Sie zeigte dabei, wie sehr Vorstellungen von weißer Vorherrschaft nicht allein über die Struktur kategorie race funktionierten, sondern eben auch Geschlechterkonzeptionen sowie sexualisierte Zuschreibungen prä gend wirkten.2 Von besonderer Bedeutung waren dabei nicht zuletzt Vorstel lungen von männlicher Ehre und ihrer Verteidigung, die vor allem im Süden der Vereinigten Staaten vor dem Bürgerkrieg das soziale Handeln mitprägten [642: GREENBERG; 636: FRIEND/GLOVER]. Männer des Südens waren häufig bereit, ihre durch Gewalt defi nierte und aufrechterhaltene Ehre im Faustkampf oder im Duell zu verteidigen3 [639: GORN]. Insgesamt hat die Auseinandersetzung mit männlichen Ehrvorstellungen, gerade auch in ihren homosozia len Artikulationsformen, ein breites inhaltliches und methodisch wie konzeptionell anregendes Echo gefunden. Neben Lyndal Ropers einflussreichem Aufsatz aus dem Jahr 1992 sind diesbezüglich vor allem Ute Freverts Ausführungen von besonderer Bedeutung [679: ROPER; 2 1 , 22: FREVERT]. Interessanterweise arbeitet Letztere ge rade die Wechselverhältnisse zwischen männlichen und weiblichen Ehrkonzepten im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts he raus, ihre Unterschiede und Berührungspunkte. Sie lotet mithin de ren geschlechterhistorisch relationale Dimension aus, denn obwohl, wie Frevert betont, »sich fast alles, was im 1 9 . Jahrhundert über Ehre gesprochen oder geschrieben wurde, implizit oder explizit auf Män2 3
Siehe ausführlicher im folgenden Kapitel dieses Buchs. Inzwischen liegen auch Arbeiten vor, die der Frage nachgehen, wie wel che Institutionen diese Ehrkonzepte im Süden Generationen übergrei fend vermittelten [63 8 : GLOVER; 720: GREEN].
ner bezog, wurde weibliche Ehre immer mitgedacht« [22: FREVERT, 168]. Auch die historischen Studien über Bandenmitglieder setzen nicht selten Ehrkonzepte als ihren Ausgangspunkt. Dabei werden unter Banden so unterschiedliche Dinge wie Jungs an Straßenecken einerseits oder komplex strukturierte Gruppen von Wirtschafts kriminellen andererseits gefasst. Bandenmitglieder, so argumentiert etwa Matthew Andrews, sähen in ihrem Tun eine Gelegenheit, Aus grenzungen und mangelnde soziale Chancen durch eine spezifisch männlich-aggressive Identität zu kompensieren [61 5 : ANDREWS]. Diese aus der gegenwartsbezogenen Literatur generierte These wur de historiografisch bislang nur punktuell getestet. Zu Jugendbanden liegen inzwischen einige Arbeiten vor, die auch aus geschlechter historischer Perspektive heraus interessant sind und die nicht allein die Sicht von Sozialreformern und Pädagogen präsentieren. Wäh rend entsprechende Männlichkeitengeschichten für die USA vor dem 20. Jahrhundert bislang fehlen [für Großbritannien siehe 63 I : DAVIES], sind namentlich die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gut erarbeitet. Dabei haben insbesondere die Funktionen und Bedeu tungen von Gangs für junge Männer mit migrantischem bzw. nicht weißem Hintergrund Berücksichtigung gefunden [686: SCHNEI DER; 6 1 4: ADAMSON; siehe auch 649i: KNUPFER].4 Darüber hinaus liegen Untersuchungen vor, die sich den männ lichen »juvenile delinquents« und ihrer Repräsentation in der Po pulärkultur widmen [637: GILBERT; 627: COHAN]. Auch deren deutsches Pendant, die »Halbstarken«, haben ein reges historiogra fisches Interesse auf sich gezogen [654, 6 5 5 : MAASE; 67 5 : POIGER]. Dabei fallen zwei Elemente im Verhalten dieser j ungen Männer besonders ins Auge, nämlich die (modifizierte) Adaption medial vermittelter amerikanischer Vorbilder sowie eine sprachliche wie körperliche Abkehr von » traditionellen« männlichen Erscheinungs formen: nicht mehr » zackig«, sondern lässig wollten die » Halb starken« sein. Darüber hinaus sind die medialen Repräsentationen des Sozial typs » Gangster« untersucht worden. Die dichte und nachhaltige Präsenz dieser Figur in den US-Medien spätestens seit den I920er Jahren und deren Wirkung auf das Geschlechtersystem sind mehr4
Eher auf Gegenwartsprobleme ausgerichtet sind 660: MESSERSCHMIDT, 643 : HAGEDORN, oder auch 626: CHESNEY-LIND/HAGEDORN.
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fach thematisiert worden. Dabei wurde danach gefragt, inwieweit die Darstellungen von »Erfolg« und »Aufstieg« eines Gangsters für an dere Geschlechtermodelle anschlussfähig waren, wie also mit Hilfe des urbanen, aggressiven, mobilen Verbrechers Konventionen eines männlichen Mittelklasseideals »modernisiert« wurden. Ein wich tiger Punkt in diesem Thema ist auch, wie ethnisch und »rassisch« different gedacht Männlichkeiten immer wieder in ein Verhältnis zu hegemonialen Entwürfen gebracht wurden. Scheinbar stabile, aber trotzdem historisch kontingente Repräsentationen des »Italian American« oder »Black Gangsters« wurden so in der Forschung be leuchtet [666: M UNBY; 684: RUTH; 4 6 1 : LEHMAN]. Ein Forschungsüberblick über homosoziale Gruppen wäre nicht komplett ohne eine Diskussion von Jugendorganisationen wie etwa der »Young Men's Christian Association« (YMCA) oder der »Boy Scouts«, die sich seit der zweiten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts die Sozialisation männlicher Jugendlicher auf ihre Fahnen geschrieben hatten. 5 Eine intensive Auseinandersetzung mit solchen Institutio nen gehört seit ihren Anfängen zu den wichtigsten Themen der US Männlichkeitengeschichte [682: ROTUNDO; 64 5 : HANTOVER]. Ihr Entstehen und ihre Funktionen sind zumeist innerhalb des Krisen szenarios weißer Mittelklassemänner thematisiert worden; YMCA oder »Boy Scouts« interpretierte man dabei als Gruppen, die durch Vermittlung von Patriotismus, Charakterstärke sowie physischer Fit ness den angenommenen Niedergang ihres Männlichkeitsentwurfs aufhalten und einer Effeminierung entgegenwirken sollten. In den letzten Jahren sind dabei zwei Aspekte besonders hervorgetreten: Körperlichkeit in Form sportlicher Betätigung und ihre Bedeu tung in einem christlich-protestantischen Wertehorizont. Mit dieser » muscular christianity« beschäftigt sich die Arbeit Clifford Putneys. Sie verbindet zwei Felder, die für die Geschichte männlicher Sozia lität auch über die Jugendorganisationen hinaus bedeutsam sind, nämlich Sport und religiöses Leben [677: PUTNEY] . Olaf Stieglitz hat zeigen können, inwieweit solche etablierten Muster in der Welt wirtschaftskrise in anderen institutionellen Zusammenhängen und im Hinblick auf ein unterbürgerliches Klientel aktualisiert werden konnten. In der von ihm betrachteten Arbeitsbeschaffungsmaß5
Für eine Diskussion über die Literatur zu deutschen Jugendorganisatio nen siehe unten in diesem Kapitel; sie soll dort in Verbindung zu bündi schen Männlichkeitskonzepten geführt werden.
nahme » Civilian Conservation Corps« verbanden sich die Ideale der bürgerlich-protestantischen Jugendorganisationen mit militä rischem Kameradschaftsgedanken und dem »social management« der Zwischenkriegsjahre, um eine sowohl ökonomisch wie mora lisch als bedroht angesehene Generation junger Männer entlang eines spezifisch geschlechtlichen Verständnisses von Staatsbürger schaft zu sozialisieren [346: STIEGLITZ]. Einen Meilenstein in der Diskussion von Sport und seiner Bedeu tung für Männer der heterogenen Arbeiterklasse hat Elliott Gorn schon 1 986 vorgelegt. Die Attraktivität unterbürgerlicher Körper lichkeit für eine sich in einer » Krise« glaubenden Mittelklasse spre chen Stephen Riess und Gail Bederman an, wobei Letztere auch die rassistischen Grundmuster der neu entdeckten Sportbegeisterung um 1 900 aufdeckt [640: GORN; 678: RIESS; I : B EDERMAN]. Gene rell hat die Ausbildung neuer Körperideale in den Mittelklassen, welche das beinahe körperlos anmutende Konzept viktorianischer Mittelklassemännlichkeit langsam ersetzte, besonderes Augenmerk erhalten. Gerade die Popularität der ersten Bodybuilder um Eugen Sandow ist in der Literatur diskutiert worden [44 1 : KASSON; 6 2 5 : CHAPMAN; 64 1 : GREEN]. Diese Besinnung auf den Körper am Ende des 19. Jahrhunderts habe bei aller Sozialkontrolle und bei allem Konformitätsdruck doch auch eine Befreiung aus »traditio nellen« viktorianischen Zwängen mit sich gebracht, ist bisweilen in der Forschung zu erfahren. Dass diese Perspektive indes höchst problematisch ist, zeigt sich spätestens dann, wenn man die Betrach tung etwa auf Afroamerikaner oder unterbürgerliche Gruppen aus weitet, wie dies Tom Pendergast in seiner Studie zur Darstellung von Männern (und ihrer Körperlichkeiten) in Zeitschriften getan hat [673: PENDERGAST] . In diese Richtung weisen auch die Arbeiten Maren Möhrings, die sich mit der deutschen Nacktkulturbewegung des frühen 20. Jahr hunderts auseinander gesetzt hat. Möhring zeigt, dass geschlechtlich codierte Körperpraktiken dieser Gruppen vor allem normalisierend wirkten und nicht zuletzt das individuell oder gemeinsam prak tizierte Bodybuilding eben auch ein Nationbuilding sein sollte [663, 664: MÖHRING]. Andere historische Studien zu Sport und homo sozialer Männlichkeit sind noch rar, hier dominieren soziologische und pädagogische Untersuchungen die Diskussionen. Eine Aus nahme stellen allerdings geschlechterhistorische Studien zur deut schen Turnerbewegung dar. In Thomas Kühnes Sammelband findet 155
sich hierzu ein Beitrag von Daniel A. McMillan, der Männlichkeit als ein Leitmotiv in Ideologie und Praxis der Turnbewegung seit ihren Anfängen hervorhebt [6 59: McMILLAN]. Es war dabei gerade die homosoziale »Turnbruderschaft«, welche die maskuline Utopie dieser Bewegung umsetzen sollte. Svenja Goltermanns Untersuchung der Turnerverbände vor und nach der Reichsgründung verweist schon durch ihren Titel »Körper der Nation« auf die geschlechter und körperhistorischen Aspekte ihrer Betrachtung [7 1 8 : GOLTER MANN]. Sie leitet den Männlichkeitsbegriff der Turner aus Konzep ten von Wehrhaftigkeit, Sittlichkeit und nationaler Eintracht her, die sie als aufeinander bezogen nachweist. Sowohl McMillans als auch Goltermanns Analysen diskutieren die Männlichkeitsvorstellungen der Turner im Kontext der deutschen Nationswerdung und heben dabei die Wirkungsmacht jener Ideen vom »männlichen Staat« her vor, denen wir uns zum Ende dieses Kapitels genauer zuwenden möchten.6 Auch religiöse Gemeinschaften, namentlich Ordensgemeinschaf ten, sind in der deutschen historischen Literatur bereits als homo soziale Gruppen beschrieben worden, so etwa von Peter de Rosa und Hermann Josef Roth [680: ROSA; 6 8 1 : ROTH]. Rainer Hering hat sich mit Männlichkeitskonstruktionen Hamburger Geistlicher beschäftigt [647: HERING]. Darüber hinaus steht eine intensivere Auseinandersetzung mit einem denkbaren Zusammenhang von Religiosität und (homosozial gelebten) Männlichkeiten für die deut sche Geschichte noch aus, zumal wenn man nach der Bedeutung von Religion für diejenigen Männer fragt, die nicht zugleich kirch liche Amts- oder Würdenträger waren. Hier ist die Forschung in den USA weiter. Bruce Dorsey hat diesen Aspekt in seiner Beschäf tigung mit den Reformern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgehoben, Susan Curtis und Gail Bederman haben sich mit der protestantisch-sozialreformerischen » social gospel«-Bewegung des ausgehenden Viktorianismus beschäftigt [407: D ORSEY; 629: C URTIS; 6 1 9: B EDERMAN]. Die beiden Letztgenannten unterstrei chen einmal mehr, inwieweit die Wahrnehmung eines scheinbaren Einflussverlusts von Männern gegenüber Frauen zu gesteigertem Engagement in religiösen Gruppen führte. Einen interessanten 6
In dieser Hinsicht sind auch Krieger-, Schützen- oder Heimatvereine des 1 9. Jahrhunderts als homosoziale Gruppen thematisiert worden; vgl. etwa 7 5 3 : ROHKRÄMER; 7 1 5 : FRIEDEBURG.
Blickwechsel bietet Ted Ownby, der eine ausführliche Studie zur Verbindung von Freizeit und Religiosität im US-Süden nach dem Bürgerkrieg vorgelegt hat und damit die oftmals dominante Beschäf tigung mit dem urbanen Nordosten durchbricht [670: OWNBY). Nach diesem Parforceritt durch die Historiografie zu unter schiedlichsten homosozialen männlichen Gemeinschaftsformen wol len wir uns nun jenem »Männerbund« zuwenden, der am häufigsten mit diesem Etikett versehen wurde, nämlich der soldatischen Ge meinschaft im Militär. Militär, männliche Homosozialität und Kameradschaft
Die »friedfertige Frau« und der »kriegerische Mann«, Venus versus Mars - kaum ein anderes Gegensatzpaar hat wirkungsmächtiger zur Verfestigung der Vorstellung einer » natürlichen« Zweigeschlechtlich keit beigetragen. Alle internationalen Diskussionen um die Integra tion von Frauen in Freiwilligen- oder Wehrpflichtarmeen hin oder her, die militärische Sphäre gilt gemeinhin noch heute als »Männer sache«, kaum eine andere, vielleicht mit Ausnahme derjenigen des Sports, verbindet sich stärker mit einer als maskulin assoziierten Sprache und Symbolik. Dies hat seinen Niederschlag auch in der Geschichtswissenschaft gefunden, wo die Militärgeschichte, wie Karen Hagemann und Ralf Pröve deutlich gemacht haben, bis vor nicht allzu langer Zeit in doppeltem Sinne »Männersache« war, Ge schichte von Männern über M änner, und dies, ohne Aspekte des Geschlechts dabei in Betracht zu ziehen7 [26: HAGEMANN/PRÖVE]. Hier ist nicht der Raum, einen umfassenden Forschungsüberblick zur neueren Geschlechtergeschichte des Krieges und des Militärs zu geben. Sie hat in den letzten Jahren international umfangreiche und vielfältige Erkenntnisse hervorgebracht, wie die Forschungsberichte unter anderem von Karen Hagemann, Ralf Pröve, Martin Dinges, Ruth Seifert und Christa Hämmerle verdeutlichen [70 5 : DINGES; 2 5 : HAGEMANN; 26: HAGEMANN/PRÖVE; 763 : SEIFERT; 727: HÄMMERLE]. Unser Augenmerk gilt ausdrücklich dem Zusam menspiel von Männlichkeit und Militär und dabei vor allem den sol datischen Formen homosozialer Vergemeinschaftung. Damit ist ein 7
Siehe hierzu auch aus dieser Reihe 746: Jutta NOWOSADTKO: Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Tübingen 2002.
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zentrales Thema genannt, in dem sich zahlreiche Historikerinnen und Historiker aus beiden Richtungen, der Geschlechter- wie der »neuen« Militärgeschichte, getroffen haben. Soldatische » Kamerad schaft« als eingefordertes Ideal wie gelebte und durchlittene Erfah rungS sind in der Forschungsliteratur ausführlich behandelt worden. Darüber hinaus wird zu fragen sein, inwiefern Vorstellungen eines »männerbündischen« Soldatenlebens auch dann relevant waren, wenn man sich im Frieden wähnte, inwieweit soldatisches Kame radschaftsdenken eine Brücke zwischen Militär und Zivilgesell schaft beschreibt. Werfen wir als Erstes einen Blick auf die Forschung zur deut schen und kontinentaleuropäischen Geschichte. Dabei gilt es zu nächst, das so selbstverständlich erscheinende Bild von Militär und Soldatenturn als exklusiv männlichen Raum in Frage zu stellen. Für die Frühe Neuzeit hat sich spätestens seit den Beiträgen Barton Hackers zu Beginn der 1 9 80er Jahre die Erkenntnis durchgesetzt, dass Soldaten keineswegs in einem homosozialen Umfeld gelebt und gekämpft haben [722: HACKER] . Hacker und andere konnten zeigen, wie wenig das Leben in den Söldnerheeren der Vormoderne Militärisches und Ziviles voneinander schied [764: SIKORA]. Solda ten waren Teil einer mehr oder weniger großen »beweglichen Stadt« aus mitreisendem Gefolge, das für Versorgung und Aufrechterhal tung ihrer Kampffähigkeit immens wichtig war. Die tatsächlich männlich-exklusiven Handlungs- und Erfahrungsräume beschränk ten sich auf die eigentlichen Kampfhandlungen, danach zogen sich die Soldaten in dieses Gefolge aus Frauen, Kindern und Alten zu rücP [737: KROENER]. Zwar verstärkten die Militärleitungen im Verlauf des 1 8 . Jahrhunderts die Bemühungen, Frauen aus dem Ein flussbereich des Militärs auszublenden, doch blieben die Erfolge eher bescheiden. Dies zeigt sich beispielsweise an den frühneuzeit lichen Kasernenbauten, die ebenfalls, wie Hacker auch erstmals zei gen konnte, noch keine Orte einer separierten Männlichkeit waren, sondern gerade auch der Unterbringung von Soldatenfamilien dien8 9
Zum Erfahrungsbegriff siehe oben Kapitel 4. Wobei männlich-exklusiv hier einzuschränken ist, denn zu den Opfern soldatischer Einsätze gehörten immer auch Zivilpersonen und somit Frauen; gerade die Dimension sexualisierter Gewalt gegen Frauen in Kriegen ist ein Aspekt, den eine relationale Geschlechtergeschichte von Militär und Krieg zu berücksichtigen hat; vgl. 748 : OPITZ; 762: SEIFERT; 768: THEIBAULT, 745 : MÜHLHÄUSERISCHWENSEN.
ten [siehe auch 747: NowosADTKo]. Außerdem fällt ins Auge, wie vielschichtig Männlichkeit im Soldatenbild der Frühen Neuzeit aus gestaltet war. Matthias Rogg hat dies auf Basis von Bildquellen de monstriert, und Martin Scheutz hat sich unter dieser Fragestellung mit Ego-Dokumenten katholischer Geistlicher beschäftigt [7 5 2 : ROGG; 7 5 5 : SCHEUTZ]. All dies wandelte sich erst im ausgehenden 1 8. und schließlich vor allem im 1 9. Jahrhundert, wobei international in Europa durch aus bedeutsame Unterschiede und in ihren Phasen verschobene Ab läufe zu berücksichtigen sind, wie einige vergleichende Studien in den letzten Jahren betont haben [vgl. vor allem die Beiträge in 709: DUDINK/HAGEMANN/ToSH]. Die kriegerische Phase der Natio nenbildung ging mit der Etablierung einer veränderten Militär ordnung einher, die in kaum zu unterschätzendem Maße Einfluss auf die Geschlechterbeziehungen nahm [7 1 4: FREVERT; 708 : Du DINKIHAGEMANN]. Kriege wurden nunmehr als Nationalkriege auf Basis einer breiten Mobilmachung geführt. Die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht, zumindest in Kriegszeiten, sorgte dafür, dass mehr Männer aus unterschiedlichen sozialen Schichten Dienst an der Waffe taten. Die Rhetoriken von »Nation« und »Vaterland« verbanden sich mit geschlechtlich aufgeladenen Vorstellungen von »Beschützern« und »Beschützten«, von » Opfern« und » Helden«. Bürgerrechte waren in den neuen Nationen zumeist an den Waffen dienst gekoppelt, der nun zu dieser exklusiv-männlichen Angele genheit wurde, die wir auch heute noch vielfach damit verbinden und auf die wir im folgenden Abschnitt des Kapitels noch genauer eingehen werden. Damit ging der Ausschluss von Frauen aus dem Bereich des Mili tärischen wie eben auch des Politischen einher, wobei allerdings deren Rollen und Aufgaben zur Aufrechterhaltung bzw. Wehrfähig keit der Nationen neu und umfassend definiert wurden [71 1 , 7 1 3 : FREVERT; 2 5 , 723, 72 5 : HAGEMANN] . Die Armeen wurden zu »Schulen der Nation« und gleichzeitig zu »Schulen der Männlich keit«, in denen Frauen kein Platz zukam [20, 7 1 2: FREVERT; 749: PRÖVE]. Das alte Gefolge wurde nun als dysfunktional zur Steige rung von Disziplin und Kampfkraft erachtet, stattdessen war eine strikte Trennung von Militär und Zivilgesellschaft angestrebt. In dieser nun zunehmend männlich-homosozialen Gruppe des Militärs avancierte die » Kameradschaft« zu einem zentralen Ele ment. Hinter diesem Begriff verbirgt sich, das hat vor allem Thomas 1 59
Kühne zu zeigen vermocht, ein vielschichtiges und bisweilen wider sprüchliches System von Normen, Verhaltens standards und Um gangsstilen [73 8, 740: KÜHNE; 744: MATTL/SOTANIEMI]. In der Militärsoziologie wurde und wird »Kameradschaft« als Zusammen gehörigkeitsgefühl kleiner, persönlich kommunizierender Einheiten beschrieben, das als entscheidende Grundlage für Moral und Effi zienz gilt. Mit dieser nüchtern-sozialwissenschaftlichen Definition lässt sich der vielschichtige Komplex allerdings kaum erfassen. Ge rade da das Militär als nationale »Schule der Männlichkeit« fungie ren sollte, nahm das Kameradschaftsideal eine enorme Bedeutung an. Dies gilt nicht allein in Kriegszeiten, denn schließlich ist schon die Stubengemeinschaft eines Wehrpflichtigen als die kameradschaft liche Primärgruppe, als Lebens- wie Arbeitsgemeinschaft anzusehen. Thomas Kühne zieht in seinen Texten sowohl normative Quellen wie Ego-Dokumente heran, um sich der Komplexität des Begriffs zu nähern. Er unterscheidet zunächst zwischen »weichen« und »harten« Konnotationen von Kameradschaft - wobei die Bedeu tungsinhalte sowohl in chronologischer als auch geografischer Hin sicht changieren. Zum Teil gilt Kameradschaft als praktisch gelebte Solidarität unter Gleichrangigen, die Drill und Disziplin von Vor gesetzten sowie die Konfrontation mit Gewalt im Krieg erträg lich machte; Kameradschaft in diesem »weichen« Verständnis kon stituiert die Einheit gleichsam als Ersatzfamilie. Dem standen (und stehen) allerdings Bedeutungsinhalte gegenüber, die Kamerad schaftsideal und -erfahrung innerhalb einer »totalen Institution« wie dem Militär instrumentell einsetzten und repressiv ausgestalte ten. Hier sind unbedingter Konformitätsdruck, Ausgrenzung, Ent individualisierung und Gruppenhaftung zu nennen. Gerade der letzte Aspekt brachte nicht selten Formen und Rituale soldatischer Selbstjustiz hervor, die zumeist auf den Körper des zu Strafenden zielten, nicht selten mit sexualisierten Implikationen. Schon Klaus Theweleit hat in seinen Büchern über »Männer phantasien« zeigen können, dass eine Trennung dieser beiden Be deutungsebenen von Kameradschaft für die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keinen Sinn macht. Vielmehr war es eben die wechselseitige Aufeinanderbezogenheit dieser Ebe nen, welche die sozialen, psychologischen und kulturellen Aspekte hegemonialer Männlichkeit in diesem Zeitraum prägte [5 I: THEWE LEIT]. Daran hat die jüngere Forschung angeschlossen. Sie hat ins besondere herausgearbeitet, wie zentral der Erste Weltkrieg für die 1 60
Ausbildung eines heroisch-martialischen Männlichkeitsideals war, welches Soldaten zum Inbegriff deutscher Männlichkeit werden ließ - ein Ideal, das schließlich den Nationalsozialismus mit Ver nichtungskrieg und Shoah begleitete. Die Schützengräbenkamerad schaft in Belgien und Nordfrankreich und ihr Niederschlag in Ego Dokumenten und Literatur der Zwischenkriegsjahre ist nicht nur für Deutschland mehrfach historiografisch thematisiert worden [4 5 7: KUNDRUS; 4 5 5 : KÜHNE]. Dort wurde sie freilich im Umfeld der »Konservativen Revolution« massiv ideologisch aufgebaut und zur » Leitidee eines antipluralistischen Geseilschaftsmodells und der geschlechterpolitischen Restauration ausgebildet« [740: KÜHNE, 5 1 0]. Mit welchem Gewaltpotenzial dies einhergehen konnte, hat Sven Reichardt in seiner vergleichenden Studie zu faschistischen Kampfbünden veranschaulichen können [3 1 I : REICHARDT]. Will man die Gesamtheit des Militärs in den Blick nehmen, so müssen diese Forschungen zum soldatischen Kameradschaftsideal erweitert werden. Eine andere bedeutsame Form männlicher Grup penkohäsion in Armeen ist der Korpsgeist, der in erster Linie das Selbstbewusstsein und die homosozialen Artikulationsformen der Offiziersränge zum Ausdruck bringt [vgl. als Überblick 769: UHLE WETTLER]. Diese rekrutierten sich in Deutschland und anderen Ländern traditionell aus dem Adel und später auch aus dem Bürger tum, womit spezifische Männlichkeitsentwürfe eben auch die Hier archie der Armeen strukturierten, bis diese im Verlauf des 20. Jahr hunderts durchlässiger wurden. Die Kadettenanstalt als derjenige Ort, an dem junge Männer zu Offizieren und somit zu » echten« Männern ausgebildet wurden, hat bereits Klaus Theweleit anhand von Ego-Dokumenten psychohistorisch untersucht [ 5 1 : THEWE LEIT, Bd. 2, r 67-r 8 3J. Entwurf und Praxis des preußisch-deutschen Offizierskorps des Kaiserreichs hat Marcus Funck betrachtet und dabei hinter die schon seinerzeit brüchige Fassade dieses tugendhaften, edelmütigen, disziplinierten und heldenhaften deutschen » Idealmanns« geschaut [ 1 59: FUNCK]. Zunehmende Spezialisierung und Rationalisierung des modernen Militärs ließen alte Vorstellungen eines »natürlichen« Führungsanspruchs verblassen und mehr und mehr dysfunktional werden. Das Offizierskorps durchlief, so Funck, eine » Krise«, die sich durch Effeminierungszuschreibungen von außen und einer >>Verhärtung« nach innen ausdrückte. Wirksam wurden auch auf brechende Konflikte innerhalb des nun sozial erweiterten Offiziersr61
korps; durch die Integration bürgerlicher Mitglieder kam es zu einer Neubewertung dessen, was als männlich zu gelten habe. Mit dieser » Krise« ließ auch die Strahlkraft des Offiziers in die Gesell schaft hinein nach, die Sabine Brändli aber in ihrer Betrachtung von Armeeuniformen und deren Wirken in zivilen Kreisen bereits für das 19. Jahrhundert als ambivalent präsentiert hat [698: BRÄNDLI]. Welche Rolle die NS-Volksgemeinschaftsideologie in der Erosion des deutschen Offizierskorps gespielt hat, hat Thomas Kühne thematisiert [73 8: KÜHNE]. Lange jedoch schienen gerade Offiziere prädestiniert, als Kriegs helden herzuhalten. Deren Leben und Kämpfe ließen sich wieder um zur Aufrechterhaltung militärischer Gruppenkohäsion instru mentalisieren. Als entsprechende Studie sei an erster Stelle die Arbeit von Rene Schilling genannt, die einen breiten Geschichts zeitraum abdeckt [7 5 7: SCHILLING; siehe auch 7 5 6: SCHILLING] . Mit den »Rittern der Lüfte« und der Männlichkeitsdarstellung deut scher Fliegeroffiziere in den Zwischenkriegsjahren hat sich Stefanie Schüler-Springorum beschäftigt [7 5 8 : SCHÜLER-SPRINGORUM]. Der Diskurs vom Kriegshelden ist aber auch eng mit demj enigen vom Kriegsopfer verbunden. Die Rolle von Invaliden in den Ar meen selbst sowie in den Nachkriegsgesellschaften ist bereits häufi ger unter geschlechterhistorischen Prämissen beleuchtet worden, so z. B. für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg von Martin Lengwiler, für die Weimarer Republik von Sabine Kienitz und für die Jahre nach 1945 von Svenja Goltermann [742: LENGWILER; 734, 73 5 : KIENITZ; 7 1 7, 7 1 9 : GOLTERMANN]. Blicken wir zum Abschluss dieses Abschnitts noch etwas genauer auf die entsprechende Forschung zur US-Geschichte, so ist eine deutliche Verschiebung von inhaltlichen Schwerpunkten zu konsta tieren. So fehlen z. B. Einträge zu Kameradschaft oder Korpsgeist in den jetzt vorliegenden Enzyklopädien zur Geschichte der Männ lichkeiten in den Vereinigten Staaten, nicht einmal »Soidier« findet sich als Stichwort. Männer als Krieger bzw. Soldaten dienen zwar häufig als zentrale Elemente in den Konstruktionsprozessen männ licher Identität, Homosozialität als Analysekategorie spielte dabei allerdings bislang nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen ist es die spezifisch diskursive Aufladung des Soldatischen in Zusammen hang mit Vorstellungen vom Mann als Beschützer und Ernährer, die hier immer wieder thematisiert worden ist und entlang der Strukturkategorien »race« und »dass« deutlicher differenziert wur-
deo Militärdienst als Initiationsphase zu vollgültiger Staatsbürger schaft avancierte so zu einem dominanten Forschungsfeld, dem wir uns im letzten Teil dieses Kapitels noch genauer zuwenden wollen. Ausnahmen bestätigen freilich die Regel. So hat die schier un überblickbare Literatur zum Amerikanischen Bürgerkrieg durchaus auch die Rolle von männlichem Zusammengehörigkeitsgefühl zur Stärkung der Kampfkraft auf beiden Seiten herausgestellt [773 : WEITZj 1 3 8 : FINZSCH/HAMPF]. Darüber hinaus bilden Studien zum Zweiten Weltkrieg einen Schwerpunkt, wie die umfassende Arbeit von Christina Jarvis unterstreicht [730: JARVIS]. In ihrer kör perhistorischen Betrachtung amerikanischer Soldaten kann Jarvis zeigen, wie sehr sich an den männlichen Soldatenkörper in diesen Jahren Begriffe sowohl von Kameradschaft als auch von Gemein schaft anhefteten. Ferner ist die mediale Darstellung kameradschaft licher Männlichkeit, vor allem in Hollywood-Filmen, untersucht worden [706: DOHERTY] . Auch die Kriegsheimkehrer- und Ver sehrtenproblematiken fanden Beachtung, so etwa bei David Gerber, Susan Jeffords oder Sonya Michel [7 1 6: GERBERj 4 3 5 : JEFFORDSj 474: MICHEL]. Bernd Greiner widmete sich vor dem Hintergrund geschlechterhistorischer Überlegungen dem veränderten Typus des »Dschungelkriegers« im Vietnamkrieg [72 1 : GREINER]. Gerade dieser letzte Aspekt ist auch für die Forschung in Großbritannien zu einem Angelpunkt geworden. Joanne Bourkes Arbeit über Män ner während und nach dem Ersten Weltkrieg ist exemplarisch für weitere Forschungen [3 : BOURKE]. Individualität versus Gemeinschaft? Staats- und Politikvorstellungen in der Männlichkeitengeschichte
Zum Abschluss unseres Überblicks über homosoziale Männergrup pen in der Geschichte soll dargelegt werden, wie Vorstellungen von Männlichkeit und von »männerbündischen« Ideen die Verfasstheit politischer Gemeinwesen entscheidend prägten. Das Politische so wie der Staat und seine Institutionen sind in der traditionellen Ideen geschichte lange nicht als geschlechtlich strukturiert analysiert wor den, wodurch de facto der Ausschluss von Frauen aus diesem Feld ausgeblendet und Männlichkeit als das Universelle und Allgemeine außerhalb des Betrachtungsrahmens gesetzt wurden. In der Politik »begegneten sich der dominanten Vorstellung zufolge gleichberech tigte, vernunftgesteuerte, zu freiem Willen und autonomen Ent-
scheidungen befähigte - ergo: männliche - Subjekte« [78: BOUKRIF u. a., 2]. Die feministische Politikwissenschaft hat dieser Engführung seit langem widersprochen. Sie hat eigene Modelle des politischen Raums entworfen, die heute den alten Konzepten entgegenstehen, und namentlich die Maxime des Feminismus, nach der auch das Pri vate politisch sei, zu einem Angelpunkt ihrer Analysen gemacht [69 3 : ApPELT/NEYER; 736: KREISKY]. Unter historischen Frage stellungen hat die Frauengeschichte seit ihren Anfängen den Aus schluss von Frauen aus dem Politischen sowie dessen männliche Prägung thematisiert. Wir haben dies im zweiten Kapitel dieses Buches bereits angesprochen. Doch inzwischen werden Begriffe wie der Staat, das Politische, die Nation und die Staatsbürgerschaft in einer Weise diskutiert, wel che die » Geschlechtergeschichte des Politischen« enorm erweitert hat. Dies haben neben anderen Kathleen Canning und Sonya Rose kürzlich noch einmal in einer Anthologie in großer Ausführlichkeit zeigen können [70 3 : CANNING/ROSE; vgl. auch 246: LENZ]. Die Grundierung der Staats- und Politikvorstellungen in männlichen Rhetoriken und Konzepten wird nun nicht mehr nur aufgedeckt und kritisiert, sondern es wird der » Einfluß von Geschlechterbildern im Sinne gedachter Ordnungen für kollektive Einheiten systema tisch« analysiert [78: BOUKRIF u. a., 4]. In diesem Sinne werden Ideen vom männlichen Staat und seinen Mechanismen, die einerseits in den Politikdiskursen omnipräsent, andererseits j edoch unsichtbar zu sein schienen, eingehenden Analysen unterzogen [240: K ÜHNE] . Damit rückt inhaltlich zunächst und vor allem das Zeitalter der demokratischen Revolutionen und der Nationalstaatenbildung in den Fokus der Betrachtungen. Die Bürger- und Menschenrechte, welche diese Prozesse seit der Französischen Revolution als uni verselles Versprechen begleiteten, entpuppten sich als männliches Projekt. Darin waren es vor allem die Vorstellungen vom Staats bürger, die in ihrem chronologischen Wandel und, in jüngster Zeit, in ihrer geografischen Vielfalt beleuchtet wurden. Dabei, und dies wurde bereits in unserem Abschnitt über Homosozialität im Militär deutlich, kam der Verknüpfung von Wehrdienst und staatsbürger lichem Status eine immense Bt:deutung zu. Die » Schule der Männ lichkeit« war eben auch eine »Schule der Nation«: an die Pflicht zum Militärdienst waren die Rechte der Staatsbürgerschaft gekoppelt, die auf zunehmend breitere Teile der männlichen Bevölkerung aus gedehnt wurden. Vor allem Ute Frevert und Karen Hagemann ha-
ben diesen Zusammenhang in der deutschsprachigen Forschung er arbeitet [20, 71 1 , 7 1 2, 7 1 3 : FREVERT; 2 5, 723: HAGEMANN). Die wichtige international vergleichende Perspektive auf Staats bürgerkonzepte ist in letzter Zeit forciert worden. Dabei zeigte sich unter anderem, wie und mit welchen nationalen Eigenheiten das so universell anmutende Ideal vom tugendhaft-republikanischen Staats bürger verankert wurde. Es war in vielen Staaten bedeutsam, eta blierte sich j edoch unterschiedlich und blieb stets in die spezifischen politischen Kulturen verwoben. In diesem Zusammenhang sind auch die imperialistischen Dimensionen des Nationsbildungsprozes ses verstärkt thematisiert worden. Die Identifizierung und Ausgren zung des kolonialen Anderen reproduzierte eben auch differente Männlichkeiten, die - wenn überhaupt - in ganz unterschiedlicher Weise in den staatsbürgerlichen Rang erhoben wurden [709: Du DINK/HAGEMANN/ToSH; darin unter anderem die Beiträge von 707: DUDINK zu den Niederlanden, 74 1 : LANDES zu Frankreich]. Mit Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte ist festzuhalten, dass schwarzen Deutschen aus Südwestafrika die Bürgerrechte verweigert wurden. Bemerkenswert ist außerdem, dass sie selber im Kampf um diese Rechte und gegen die Klassifizierung als » Eingeborene« oder »Schwarze« bisweilen damit argumentierten, an militärischen Ope rationen gegen afrikanische Aufständische teilgehabt und sich so das Bürgerrecht erstritten zu haben [7 10: EL-TAYEB, 104; siehe auch 743 : MAss). Solcherart rassistisch strukturierte Ausschlüsse existierten auch in anderen Zusammenhängen. So zeigen etwa die Geschichten jüdi scher Soldaten in Deutschland oder afroamerikanischer Soldaten in den Vereinigten Staaten, wie eng Rassenkonzepte, die Anerkennung vollwertiger Bürgerrechte und Entwürfe militärischer Männlichkeit ineinander verschränkt waren. »Echtes« Mannsein, Kampffähigkeit und bürgerliche Anerkennung waren untrennbar aneinander gekop pelt, weshalb beispielsweise in den USA nach dem Zweiten Welt krieg vor allem im Süden vielen schwarzen Soldaten die Anerken nung ihres Veteranenstatus mit allen gesellschaftlichen Vorteilen verweigert wurde [494: ONKST). Bemerkenswert ist auch, dass sich diese Koppelung von Mann-, Soldat- und Bürgersein nicht nur in der Fremd-, sondern auch in der Selbstwahrnehmung artikulierte. Wie Greg Caplan gezeigt hat, lassen etwa Briefe aus der Zeit des Ersten Weltkrieges erkennen, wie sehr jüdische Frontsoldaten die Kriegsgefahr gesucht haben, um nicht nur ihr Mannsein, sondern
auch ihr Deutschsein zu beweisen und die Anerkennung ihrer »Kameraden« zu gewinnen [9 8: CAPLAN].lO Ähnlich beschrieben ehemalige Sklaven in den USA das Gewehr und die Uniform, die manche von ihnen im Zuge des Bürgerkrieges anlegten, als Insignien ihrer Mannwerdung [ 1 09: CULLEN]. Hier zeigt sich in aller Klarheit die Bedeutung, die dem Militär als Stifter vollgültiger, mit allen Rechten ausgestatteter Mitglied schaft im Gemeinwesen zugesprochen wurde. In den USA setzte sich die enge Verbindung des Kampfes um die Bürgerrechte mit dem Kampf um das Mannsein bis zur afroamerikanischen Bürger rechtsbewegung fort [exemplarisch 5 59: ESTES]. Sie fand eine ihrer deutlichsten Artikulationen sicherlich in dem machismo, den viele Mitglieder der ,>Black Panther Party« zur Schau stellten und der nicht zuletzt an die Bereitschaft zum bewaffneten Kampf gebunden war [ 1 3 7, 634: FINZSCH]. Verweilen wir noch einen Moment in den USA und bei ge schlechtlich grundierten Staatsbürgerkonzepten, wenden unseren Blick aber in eine andere Richtung. Neben einigen konzeptionellen Entwürfen zum Thema Staatsbürgerschaft und Geschlecht [siehe vor allem 697: B O RIS u. 73 3 : KERBER] sind vor allem die entspre chenden Implikationen des amerikanischen Republikanismus in und nach der Revolutionszeit eingehend beleuchtet worden. Hier dominierte lange die Auseinandersetzung mit dem republikanischen Frauenideal [44 3 : KERBER; 696: BLOCH; 776: ZAGARRI]. Seitdem hat sich etwa der Historiker Mark Kann in verschiedenen Beiträgen damit befasst, wie die » Gründerväter« der USA eine Nation »freier und gleicher Männer« konzipierten. Allerdings schien ihnen diese »Republic of Men« - so der Titel eines seiner Bücher - ständig durch solche Männer bedroht, von denen es hieß, dass sie den Ansprüchen einer liberalen Gesellschaft nicht gewachsen seien und denen das Gedeihen und Wohlergehen des neuen Staates nicht anvertraut wer den könne. Kann beschreibt dabei die besondere Rhetorik der US Staatsgründer, mit deren Hilfe es ihnen gelang, Hierarchien zwi schen Männern und Frauen sowie auch zwischen verschiedenen Männern zu etablieren bzw. zu verfestigen. Diese Sprache koppelte damit Vorstellungen von Individualität und Charakter an soziale Aspekte von Verantwortung und Brüderlichkeit [439, 73 1 : KANN]. Die Beiträge Kanns schließen unmittelbar an andere wichtige 10
Vgl. auch Quelle 4 im Quellenteil.
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Themenfelder der Forschung an, so an die Diskussionen über Fa milienväter vs. »bachelorhood«, an die Analyse von Strategien zur Hegemonialisierung »respektabler« Männlichkeit gegenüber »rauer« Männlichkeit, an Forschungen zu Alkohol, Arbeit und Armut [vgl. 407: DORSEyJ. Sie zeigen, wie eng ein erfolgreiches »Mannsein« an den Erfolg der neuen Gesellschaftsordnung gekoppelt war, und als solche stellen sie eine elementare Erweiterung für das Verständnis des Republikanismus in der US-Geschichte dar. Andere Unter suchungen haben diese geschlechterhistorische Perspektive auf Re volution, Republikanismus und liberale Gesellschaftsordnung be reichert, so unter anderem die Arbeiten von Mary Beth Norton und Carroll Smith-Rosenberg [40: NORTON; 7 6 5 : SMITH-ROSEN BERGJ. Die Literaturwissenschaftlerin Dana Nelson hat solche Gedanken in ihrer Studie über »National Manhood« aufgegriffen und in einer erweiterten Lesart systematisiert [293: NELSON]. Sie zeigt, wie im Zuge der Amerikanischen Revolution und der Folge zeit aus lokalen und regionalen Identitäten die inklusive wie zu gleich exklusive Idee einer nationalen B ruderschaft weißer Männer erwuchs, die sich Einheit und Fortschritt des neuen Gemeinwesens auf ihre Fahnen schrieb: »It trains men, as part of their civic, frater nal grant, to internalize national imperatives for >unity< and >same ness<, recodifying national politics as individual psychology and/or responsibility« [ebd., I 5J. Die Autorin bietet mithin eine Interpreta tion der amerikanischen Nationswerdung analog zu den tatsäch lichen Bruderschaften, deren Auftreten und Funktionen wir weiter vorn in diesem Kapitel geschildert haben. Im Weiteren analysiert Nelson, wie diese fraternalistische Idee wirksam das Management des »Anderen«, nicht-Weißen und nicht-Männlichen betrieb und derart Zugänge zu sozioökonomischem Aufstieg wie politischen Rechten kanalisierte. Solche analytischen Betrachtungen zur geschlechtlichen Dimen sion von Staatsbürgerschaft und zur männlichen Fundierung von Gemeinwesen liegen nun auch für jüngere Epochen der Geschichte vor. Dabei tritt erneut die Periode der Weltkriege als weitere wich tige Zäsur in den Blick der internationalen Forschung. Für die deut sche Geschichte kommt dabei dem Männerbunddiskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine herausragende Stellung zu. In ihm wurde die homosoziale Männergemeinschaft jenseits verwandt schaftlicher Verhältnisse zur Keimzelle des Staates und zum gesell schaftlichen Idealtypus erklärt, der sich explizit gegen Moderne,
Demokratie und eine weiblich konnotierte »Masse« wandte. Die Notwendigkeit, diese Rede vom Männerbund zu historisieren und nicht als gewissermaßen zeitloses »male bonding« über alle Kul turen und Epochen hinweg zu einer Grundkonstante männlichen Daseins zu verallgemeinern, haben wir eingangs dieses Kapitels dis kutiert. Die Idee des Männerbunds wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Bremer Ethnologen Heinrich Schurtz in die deutsche Debatte eingeführt, der Material über so genannte »Naturvölker« auswertete und Thesen aufstellte, die in den folgenden Jahrzehnten großen Einfluss gewinnen sollten. Männerbünde, so Schurtz' zen trale Aussage, seien so etwas wie »Motoren« und Träger »fast aller höheren gesellschaftlichen Entwicklung« [7 59: SCHURTZ, hier nach 69 5 : BLAZEK, 1 7] . Der ethnologische und somit kolonialistische Bezugspunkt ist für die nachhaltige Verbreitung dieses Denkens von großer Bedeutung. Schurtz argumentierte mit Ritualen, mit kollek tiv empfundenem Rausch, welcher den Männerbünden Dynamik verleihe. Im deutschen Kaiserreich, im Unterschied zu vergleich baren Diskussionen im übrigen Europa, verknüpften sich diese Ansichten mit antimodernistischen, antifeministischen sowie anti semitischen Vorstellungen, und es hieß, der im Initiationsritual ent standene Männerbund konstituierte sich in dieser Lesart als poli tisches Bündnis in bewusster Abkehr von der irrationalen Masse. Im Ersten Weltkrieg vollzog sich eine enge Anbindung an militaris tische Männlichkeitsentwürfe und an das soldatische Kamerad schaftsideal. Diese Verknüpfung machte den »Männerbund spätes tens seit 1 9 1 8 zu einem diskursiven und sozialpolitischen Bollwerk gegen die Modernisierung und die moderne >gemischte< Gesell schaft« [699: BRUNOTTE, 1 3 ; zu Männerbund und Exklusion vgl. auch 70 1 : BRUNS]. Grundlegend für die historiografische Beschäftigung mit dem deutschen Männerbunddiskurs sind die bereits vielfach angeführten Beiträge von Gisela Völger und Karin von Welck einerseits und Hel mut Blazek andererseits [77 1 : VÖLGERIWELCK; 69 5 : BLAZEK]. Sowohl die beiden Ausstellungsbände als auch Blazeks Überblick widmen dem Entstehen wie den vielschichtigen Wirkungen des Bundes und des Männerbunddiskurses breiten Raum [siehe in 77 1 : VÖLGERIWELCK insbesondere die Aufsätze 7 50: REULECKE; 7 54: SALB ER; 72 8: HEINRICHS; 761: SEE]. Beide thematisieren auch das Konzept des Männerbundes in seiner Bedeutung für die historische x 68
bzw. kulturwissenschaftliche Forschung heute, wobei sie sich des sen ideologischer Aufladung bewusst sind. Auch sprechen sie den bis heute immer wieder vollzogenen Rückgriff auf die Theorien Heinrich Schurtz' an, wenn es um die Analyse homosozialer Grup pen von Männern geht. Dabei unterläuft die Konzeption der beiden Sammelbände die durchaus kritische Einleitung der zwei Heraus geberinnen, denn insgesamt vermitteln die Aufsätze doch den Ein druck, die Hypothesen aus dem frühen 20. Jahrhundert seien Zeit übergreifend und interkulturell zu testen. Blazek seinerseits hielte es sogar für »falsch, die Forschungen Heinrich Schurtz' als unwis senschaftlich und frauenfeindlich einfach abzutun« [69 5 : BLAZEK, 1 9]. Zwar verweist er zu Recht darauf, dass große Teile von Schurtz' Argumentation heute in der ethnologischen Forschung keine Er kenntnis leitende Rolle mehr spielen, trotzdem ist es sein Anliegen, dessen Beobachtungen für gegenwärtige Forschung zu »retten« . Dies geschieht mittels des bereits z u Beginn dieses Kapitels dar gelegten Merkmalskatalogs, mit dessen Hilfe sich » Männerbünde« angeblich überhistorisch und transkulturell beschreiben ließen. Im Gegensatz dazu hat Claudia Bruns unlängst herausgearbeitet, wie sehr diese Vorstellung eines zeit- und raumunabhängigen Konzepts vom » Männerbund« selbst Teil jenes Diskurses war, der sich im Anschluss an Schurtz' Publikation verfestigte [70 1 : BRUNS). Der Männerbunddiskurs wurde darüber hinaus auch in seinen verschiedenen Wirkfeldern beleuchtet. Bedeutsam war dieses Den ken bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der Jugendbewegung. Die wichtigsten Arbeiten zur bündischen Jugend im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stammen nach wie vor von Jürgen Reulecke und liegen in einer Sammlung vor [75 I: REULECKE]. Der Autor widmet sich darin immer wieder der Frage, mit welchen Leitbildern, Anfor derungen und Zwängen Jungen und junge Männer aufwuchsen und sozialisiert wurden. Dabei weist er der Männerbund-Ideologie einen zentralen Platz zu, wie dies bereits Nicolaus Sombart vor ihm tat [766: SOMBART). In jüngster Zeit rückte die Person Hans Blühers in das Blickfeld der Forschung. Er gilt als einer der wesentlichen Theoretiker und Popularisierer des Männerbundes und prägte die Wandervogelbewegung. Blühers Schriften, so zeigen besonders die Arbeiten von Claudia Bruns, bilden »eine brisante Schnittstelle von maskulinistischer Schwulen- und Jugendbewegung, Sexualwissen schaften, Männlichkeitsdiskursivierung und Antifeminismus« [702: B RUNS, I I I). Ein so konzipierter Männerbund vermochte den In-
dividualismus der Jugendbewegung mit einer Affirmation von Ge meinschaft zu koppeln, die männlich und national gedacht war und den Ausschluss von Frauen und jüdischen Menschen aus diesem Bund forderte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Blüher die Vorstellungen einer Gemeinschaft grundierender, überlegener Männlichkeit an Homosexualität band. Das haben neben Bruns auch Bernd-Ulrich Hergemöller und Ulrike Brunotte herausgearbei tet [700: BRUNS; 729: HERGEMÖLLER; 699: BRUNOTTE].l1 Die staatskonstitutive Verdichtung des Männerbundideals im National sozialismus trennte die homoerotischen Implikationen, die bei Blü her so bedeutsam waren, wieder ab. Inzwischen liegen auch Studien vor, die den konkreten Umsetzungen dieses Diskurses während des Nationalsozialismus nachgehen, so etwa im Reichsarbeitsdienst [5 89: PATEL]. Brunottes »Zwischen Eros und Krieg« ist eine der Studien, die sich der literarischen Verarbeitung bündischen Denkens widmen, wie sie sich etwa in den Werken Gottfried Benns oder Thomas Manns finden lässt. Hier ist außerdem an Bernd Widdigs »Männer bünde und Massen« zu denken [774, 77 5 : WIDDIG]. Ferner wurde der Einfluss auf verschiedene Intellektuelle untersucht, wobei vor rangig Nicolaus Sombarts Monografie über earl Schmitt zu nennen ist, oder auch ein Aufsatz Bernd Weisbrods [766: SOMBART; 772: WEISBROD]. Während dieser Bezug auf den homosozialen »Männerbund« für die historiografische Beschäftigung mit Staatsbürgerkonzepten in der deutschsprachigen Forschung tragend ist, diskutieren viele Stu dien aus dem angloamerikanischen Raum eine weitere bedeutsame Konfiguration neuzeitlicher Männlichkeit, nämlich seine Indivi dualität. So sind für die Geschichte der Vereinigten Staaten Arbeiten anzusprechen, die sich der Interdependenz von männlichem Selbst verständnis einerseits sowie den Idealen individuellen Erfolgs und Aufstiegs im Zusammenhang mit entsprechenden Gesellschafts konzeptionen andererseits widmen. Wie wir bereits gezeigt haben, ist als ein zeitlicher Schwerpunkt dieser Forschung die Periode der Amerikanischen Revolution und der jungen Republik auszumachen, in der die Verbindung von In dividualität und Mannsein in der Ideologie des » Republicanism« bedeutsam aufgeladen wurde. Um den Zusammenhang von indivi11
Siehe auch Quelle 5 im Quellenteil.
duellem und nationalem Fortkommen für den weiteren Verlauf des I9. Jahrhunderts zu untersuchen, rückten Historikerinnen und His toriker vor allem die Metapher des »Erfolgs« in den Fokus der Be trachtung. Republikanische Männlichkeit mit ihrer Betonung des Allgemeinwohls büßte im Weiteren für die männliche Subjekt bildung an Bedeutung ein. Stattdessen rückte die Formel des »self made-man«, also » the idea that a man can achieve success and fulfill the expectations of manhood through his own merit and hard work«, an eine zentrale Stelle in den hegemonialen Vorstellungen des Mann-Sein-Sollens [649: HESSINGER, 4 I 3; allg. bei 4 5 : ROTUNDO; 3 I: KIMMEL]. Für die historiografische Analyse dieser Figur sowie die Bedeu tung von Erfolgsmetaphern insgesamt werden vor allem zwei Quel lengruppen herangezogen. Zum einen liest man autobiografische Texte, wie dies beispielsweise Thomas Augst in seiner Studie »The Clerk's Tale« getan hat, um zu zeigen, wie junge Männer ihrem Weg zu beruflichem Aufstieg sowie männlichem Charakter in und durch Akte des Lesens und Schreibens Sinn gaben [6 I 7: AUGST]. Zum anderen war es die Beschäftigung mit der Ratgeberliteratur des I9. Jahrhunderts, mit deren Hilfe » Erfolg« und Aufstieg als männliche Leitmotive herausgearbeitet werden konnten. Große Verbreitung und nachhaltige Wirkung erzielten derlei Texte in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg, wie Judy Hilkey in ihrer I997 erschienenen Studie gezeigt hat. Hilkey schildert, wie moderne Druck- und Vertriebstechniken zur Verbreitung dieser Texte bei trugen, die somit sozial wie regional neue Gruppen von Männern ansprechen konnten. Dabei vollzogen viele Autoren einen Spagat zwischen den Idealen ihrer Vorgänger vor dem Bürgerkrieg und den veränderten Interessen und B edürfnissen des neuen, urbanen In dustriezeitalters [649a: HILKEY]. Eine Fortführung der Analysen von Ratgebertexten in das 20. Jahrhundert hinein steht noch aus, obgleich einige Autoren bereits auf die Zentralität von Bruce Bartons »The Man Nobody Knows« ( I 924, wo Jesus Christus als Prototyp des » self-made-man« charakterisiert wird) oder Dale Carnegies » How to Win Friends and Influence People« ( I936) hingewiesen ha ben [ 5 76: KWOLEK-FoLLAND; 346: STIEGLITZ; P I : STIEGLITZ]. Insgesamt ist also zu konstatieren, dass die historische Forschung zu Formen männlicher Individualität und Gemeinschaft vielfältige Facetten aufweist und in zahlreiche historiografische Arbeitsfelder hineinreicht. Von besonderer Bedeutung sind neben Alkohol, VerI7I
eins- und Bandenwesen für die neuere Geschichte vor allem das Militär und die Nation. Die Nation gründete in dem Phantasma des vollwertigen Bürgerdaseins als allgemein menschliches Recht. Zu gleich entsprach das Bürgerdasein allerdings einem Privileg, das vor allem innerhalb von geschlechtlichen und rassistischen Wahrneh mungsmustern und Handlungsstrukturen verliehen wurde. Uns war auf den vorangehenden Seiten vor allem daran gelegen, immer wie der auf die Verschränkungen der verschiedenen Ebenen hinzuwei sen, die bis heute gegeben sind: So ist es kein Zufall, dass der Mili tärdienst junger Männer, die Erprobung der Trinkfestigkeit und weitere männliche Initiationsriten am Übergang zum Erwachsenen und somit Bürgersein zusammenfallen. An mehreren Stellen haben wir auf die Bedeutung hingewiesen, die Sexualität in diesem Ge flecht von Zuschreibungen, Homosozialität, Mann- und Bürgersein zukommt. Diesen Punkt werden wir im folgenden Kapitel aufgrei fen, in dem wir uns der Forschung zu Sexualitäten und Männlich keiten dezidierter zuwenden.
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8.
Geschichten männlicher Sexualitäten
Von »normalen« und »perversen« Männern
Innerhalb von sechs Monaten könne jeder »normale« Mann in einen » Perversen« gewendet werden, schrieb der Arzt Eustace Chesser in einern Ehe- und Sexualratgeber, der in den USA der späten I940er und frühen I 9 5 0er Jahre ein Verkaufsschlager war. Dabei gehörten zu Chessers Repertoire der »Perversion« sämtliche sexuellen Ak tivitäten, die über heterosexuellen, ehelichen Verkehr in Missio narsstellung und den möglichst geraden Weg zum gemeinsamen Orgasmus mit Ejakulation in der Vagina hinausgingen. Chessers Vorstellungen kennzeichneten das familienfokussierte Sexualitäts dispositiv der I 9 5 0er Jahre, das Reproduktion forderte und damit familiäre sowie gesellschaftliche Stabilisierung versprach. Zahlreiche Ratgeber und Kampagnen gegen vermeintliche » Obszönitäten« mit offiziellen Untersuchungen und Maßnahmen gegen die Infiltration der Regierungen durch »sex perverts« durchdrangen die USA I Jede Überschreitung sexueller Normen und Grenzen, der effeminierte wie der hypermaskuline Mann erschienen als Gefahr für die Stabili tät und den Fortbestand der demokratisch-kapitalistischen Wert und Gesellschaftsordnung [799: CHESSER, nach 878: MELODY/ PETERSON, 1 2 5-1 3 6; 397: CUORDILEONE; 8 1 8 : FREEDMAN; 8 1 9: FRIEDMAN; 8 5 2: J OHNSON). Demnach war Chessers Erkenntnis, dass angeblich in jedem Mann ein »Perverser« schlummere, äußerst Besorgnis erregend. Zu allem Überfluss war weithin bekannt, dass hinter den Kulissen die sexuelle Vielfalt größer war, als man dies vordergründig für sozio-kulturell erwünscht hielt. War die Nachkriegszeit tatsächlich ein Zeitalter konservativen sexuellen Konsenses? Vor allem Alfred Kinsey, Zoo loge an der » Indiana University«, hatte dafür gesorgt, dass man daran zweifelte. Im Januar 1948 hatte er eine über achthundert Sei ten starke Zahlen- und Statistiksammlung über das Sexualleben US amerikanischer Männer vorgelegt, die die Nation umtrieb. Schon vor der Publikation war heiß über das Buch diskutiert worden, und obschon Kinseys Bericht äußerlich nur wenig inspirierend daher kam, waren bald 2 5 ° 000 Exemplare verkauft. Das Buch blieb für 1
Vgl. Quelle 7 im Quellenteil.
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27 Wochen in den Bestsellerlisten, und Alfred Kinsey gehörte von da an zu den berühmtesten US-Autoren. Vielleicht war die trockene Form statistischer Analyse der einzige Weg, in diesen Zeiten Forschungsergebnisse über Masturbation, eheliches und außereheliches Liebesleben, Hetero- und Homose xualität darzubieten. Kinsey stellte fest, dass die sexuellen Praktiken der Amerikaner2 so vielfältig waren, dass das, was als »pervers« galt, offenbar »normal« war. Er ließ außerdem vermuten, dass viele Prak tiken wohl noch üblicher wären, wenn sie nicht als »pervers« gelten würden. Weiterhin verdeutlichte das Buch, dass keine starren Gren zen zwischen Hetero- und Homosexualität existierten, die folglich offenbar keine biologisch festgesetzten Pole waren [8 5 9: KINSEY; 8: D'EMILIO, 28 5-2 8 8; 860: KISSACK; 796: CAPSHEW u. a.J. Amerika diskutierte also über geschlechtliche Uneindeutigkeiten, und die 1 9 50er Jahre waren möglicherweise sexuell flexibler, als die historische Forschung lange geglaubt hatte. Zugleich jedoch waren die gesellschaftlichen Grenzen zu eng gesetzt, als dass sich etwa eine öffentlich agierende sexuelle Reform- oder Schwulenbewegung hätte entfalten können. Homosexuellenfeindlichkeit war ausgeprägt und politisch aufgeladen, und das »gay movement«, das für dieses Kapitel über sexualitätshistorische Literatur von enormer Bedeu tung ist, gewann erst in den 1960er Jahren an Schwung und öffent licher Sichtbarkeit. Im Juni 1 969 erfuhr es mit den Aufständen gegen die politischen und polizeilichen Repressionen um das »Stone wall Inn« in der New Yorker Christopher Street einen ersten Höhe punkt, mit dem eine für die breite Öffentlichkeit sichtbare Politik begann [80 5 : D'EMILIOJ. Teil dieser Politik waren nicht nur öffent liche Aktionen, wie Protestmärsche gegen die herrschende Homo phobie, sondern auch eine zunehmende publizistische Beschäf tigung mit mann-männlicher Sexualität und ihrer Geschichte. Bald entwickelte sich international eine schwule Forschung, die einen wichtigen Anstoß sowohl für die Geschichte von Sexualitäten wie auch für die Geschichte von Männern und Männlichkeiten dar stellte. Das nun folgende Kapitel werden wir mit dieser frühen For schung der homosexuellen Emanzipationsbewegung beginnen, um 2
Obschon die » RockefeIler Foundation« Kinsey nach der Publikation des ersten Bandes ihre Unterstützung entzog, sollte er fünf Jahre später eine Studie über Frauen veröffentlichen.
von dort aus in einem ersten Teil einen Überblick über die sexuali tätshistorischen Paradigmen und ihren Wandel während der letzten drei Jahrzehnte zu skizzieren. In einem zweiten Teil wollen wir einige Schlaglichter auf die Forschung zur Sexualitätsgeschichte der Neuzeit werfen, wobei wir uns grob chronologisch von der Frühen Neuzeit und der nordamerikanischen Kolonialzeit über das 1 9. Jahr hundert bis zu den 1960er Jahren vorarbeiten werden. Es sei vor weggeschickt, dass die historische Forschung im Hinblick auf die 1960er Jahre und die »sexuelle Revolution« noch erstaunlich dünn ist. Insgesamt sind unsere Ausführungen vor allem als Anstöße zu weiterer Lektüre zu verstehen. Die Zeiten, in denen man die sexua litätshistorische Forschung auf wenigen Seiten zusammenfassen konnte, sind schon seit längerem vorüber, und auch, wenn man sich auf die Geschichte der Männlichkeiten begrenzt, ist die Literatur kaum mehr überschaubar. Zweifelsohne ist Maren Lorenz zuzustim men, wenn sie in ihrem Buch über die »Leibhaftige Vergangenheit« betont, der »Bereich der Sexualitäts geschichte verdiente eine eigene Einführung« [2 5 9: LORENZ].3
Forschungsparadigmen: Schwule Identitätspolitik Heterosexualitätsgeschichte - Queer Studies
»My participation in the gay movement soon led to my first imagin ing such a thing as homosexual history«, erinnerte sich in der Mitte der 1 990er Jahre mit Jonathan Ned Katz einer der führenden US amerikanischen Sexualitätshistoriker an die Frühphase seiner wis senschaftlichen Arbeit [224: KATZ, 5J. Bezeichnenderweise schrieb Katz diesen Satz auf den ersten Seiten seines Buches über die Erfin dung der Heterosexualität (»The Invention of Heterosexuality«). Katz' akademischer Weg bildet gewissermaßen das Rückgrat un serer Darlegungen im folgenden Abschnitt über die Entwicklung der sexualitätshistorischen Forschungsparadigmen. Als wichtiger Teil der politischen und identitätsstiftenden Arbeit innerhalb der Schwulenbewegung galt es, das Leben homosexueller Männer in der Geschichte zu verorten und aus der Geschichte heraus zu verstehen. Viele der frühen Forschungen, wie auch Katz' 3
259: Maren LORENZ: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Kör pergeschichte, Tübingen 2000.
1 75
»Gay American History« von 1 976, entstanden in diesem Kontext [8 5 6: KATZ]. Mit JeHrey Weeks' » Coming Out« erschien ein Jahr darauf eine erste Sozialgeschichte homosexueller Bewegungen in Großbritannien, und auch in Deutschland kamen erste » historische Texte und Kommentare zur Homosexualität« auf den Markt [940: WEEKSj siehe auch 9 3 7: TRUMBACHj 844: HOHMANN]. Das Feld homosexueller Geschichte wurde nun abgesteckt, historische Be standsaufnahmen, die sich über mehrere Jahrhunderte und gar Jahr tausende erstreckten, weiteten die Perspektive [78 5 : BOSWELLj zur Kritik vgl. 2 8 : HERGEMÖLLER, 40-43]. In Deutschland rückten vor allem der Nationalsozialismus und die Verfolgung Homosexu eller in das Zentrum der schwulen Forschung der 1970er und frühen 1980er Jahre, die damals hierzulande noch weithin außerhalb des akademischen Wissenschaftsbetriebes stand. Wie Stefan Micheier und Jakob Michelsen in einem Überblicksaufsatz über die Genese der Sexualitätengeschichte bemerken, habe die frühe schwule Ge schichtsschreibung wichtige Arbeiten hervorgebracht, zugleich aber bisweilen recht unkritisch eine »schwule Ahnengalerie« zusammen gestellt [882: MICHELERIMICHELSEN, 1 3 4-1 3 7]. Um das Jahr 1 9 80 herum vollzog sich in der Forschung zur Geschichte männlicher Sexualitäten ein Wandel, der ähnlich grund legend war wie die damaligen Veränderungen in der Frauenge schichte. Die Frauengeschichte durchlief die inhaltliche wie konzep tionelle Erweiterung zur Geschlechtergeschichte, die unter anderem die Erkenntnis beförderte, dass Frauen und Weiblichkeiten in ein relationales Geschlechtersystem eingebunden sind. Wie wir in den vorangehenden Kapiteln gezeigt haben, begann sich die konkrete inhaltliche Beschäftigung mit Frauen und Männern, Weiblichkeiten und Männlichkeiten innerhalb einer relationalen Geschlechterord nung allerdings nur langsam zu entfalten. In der sexualitätshisto rischen Forschung dieser Zeit zeichneten sich vergleichbare Ver schiebungen ab. Erste Stimmen wurden laut, die herausstellten, dass nicht nur die Homosexualität, sondern auch die Heterosexualität eine Geschichte habe, »which needs to be recognized and explored, rather than simply taken for granted«, um hier abermals mit Jona than Katz zu sprechen [224: KATZ, 9]. Würde dies nicht beachtet, so bleibe die Geschichte der Homosexualität immer eine Geschichte des Anderen, des Sonderfalles. Um derartige Fallstricke zu vermei den, müssen die Positionierung von Menschen innerhalb einer ver schachtelten gesellschaftlichen Matrix, die vielfältige Macht der
Definitionen und Zuschreibungen sowie deren wechselseitige Ab hängigkeit herausgearbeitet werden. In den 1 9 70er Jahren waren bereits erste wegweisende Arbeiten zur Sexualitäts geschichte erschienen, die nicht exklusiv die Ge schichte der Homosexualitäten schrieben. Hier wären zuvorderst G. J. Barker-Benfields Studien über die »spermatische Ökonomie« des 1 9. Jahrhunderts zu nennen. Barker-Benfield schrieb die Ge schichte der viktorianischen Kultur und Gesellschaft als eine Geschichte des männlichen Samens. Als ultimative Lebenskraft konzipiert, versorgte das Sperma nicht nur den männlichen Körper haushalt mit der notwendigen Kraft und Energie, sondern mit ihm die gesamte soziokulturelle und ökonomische Organisation. Folg lich musste mit dem Sperma sorgsam gehaushaltet werden, mit ihm fiel und stand die gesamte gesellschaftliche Stabilität und die abend ländische Zivilisation. Barker-Benfield zeigte also, wie Gesellschaft durch die Linse der Sexualität analysiert werden konnte [779, 778: BARKER-BENFIELDJ. So könnte auch das Projekt Michel Foucaults charakterisiert wer den, dessen Buch über Sexualität, Wahrheit und den "Willen zum Wissen« von 1 976 neue Wege wies - nicht nur der Geschichte der Sexualität, sondern der Geschichte allgemein. Der Text gilt biswei len sogar als eine Art Gründungsdokument der Sexualitätsgeschichte [ 1 46: FOUCAULT]. Foucault lenkte den Blick auf die Macht der Dis kurse und Definitionen, die spezifisch moderne Subjekte und deren Begehren konstituierten. Aus Foucaults Perspektive war die Sexua lität des 1 9. Jahrhunderts mehr als eine Summe von Restriktionen und Verboten, mehr als viktorianische Keuschheit und Verbergen. Niemals zuvor, betonte Foucault, war so viel und so ausgiebig über Sexualität gesprochen und geschrieben worden: »Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, daß sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern daß sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen« [146: FOUCAULT, 48J. Dieses Sprechen war produktiv, vor allem Anthropologie, Medizin und Psychiatrie brachten sexualisierte Subjekte hervor: hysterische Frauen, pädagogisierte kindliche Sexualität, sozialisierte Fortpflan zung und die Psychiatrisierung einer »pervers« genannten Lust. Foucault hat darauf verwiesen, dass »normal« oder »pathologisch« bzw. "pervers« Ergebnisse kultureller Verhandlungen in der Ge schichte waren [ 1 46: FOUCAULT, 1 26 f.]. Folglich sind geschlechtliche und sexuelle Kategorien nicht natur1 77
gegeben, sondern historisch geschaffen. Entsprechend betonte Fou cault, dass »der Homosexuelle« ein Produkt des 1 9. Jahrhunderts sei. »Der [vormoderne] Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homo sexuelle ist eine Spezies«, lautet der berühmte und oft zitierte Satz [ 1 46: FOUCAULT, 5 8]. In welcher Trennschärfe dieser Satz Gültig keit beanspruchen kann, inwieweit er etwa signalisiert, es hätte vor dem 19. Jahrhundert keine sexualisierten Subjekte gegeben oder es existierte ab dem 19. Jahrhundert die eine homosexuelle Identität, ist in der Forschung kontrovers und zugleich äußerst Gewinn brin gend diskutiert worden, so zwischen David Halperin und Eve Kosofsky Sedgwick [9 14: SEDGWICK, 44-48; 829: HALPERIN, 1 0-14, 1 °4-1 3 7; vgl. auch 897: PUFF, 8 3 5 : HERGEMÖLLER; 47: SCHMALE, 2 1 3-226]. Unumstritten bleibt die Bedeutung von »Se xualität und Wahrheit« für die Geschichte der Homosexualitäten wie für die gesamte sexualitätshistorische Forschung. Auch wenn der foucaultsche Text nicht so etwas wie ein »Ursprung« der Sexua litätsgeschichte ist, so hat Foucault doch das freudsche »Dampfkes sel-Modell« verabschiedet, nämlich die Vorstellung, dass Sexualität einer natürlichen Energie entspringe, die einerseits lebensspendend sei, andererseits aber nur von einer dünnen Zivilisationskruste in Schach gehalten werde, um eine Formulierung von JeHrey Weeks zu paraphrasieren. Sexualität ist vielmehr eine Summe kultureller Kon ventionen, Handlungsformen und Bedeutungszuweisungen. Sie ist Motor und Folge von Auseinandersetzungen innerhalb eines sozio kulturellen Machtgeflechts und steht somit im Zentrum von Gesell schaft und Geschichte, lautete die zentrale Aussage, die Foucault formulierte und hinter die eine sexualitätshistorische Forschung nicht mehr zurückkann. Denn eine derart verstandene Sexualitäts geschichte ist weder ein abseitiger Forschungszweig noch eine anek dotenhafte Sittengeschichte, sondern sie bringt Analysen hervor, die Gesellschaften und Kulturen durchdringen [vgl. etwa 897: PUFF; 1 3 : EDER, I 2 f.; 829: HALPERIN; 94 1 : WEEKS, 1 6 f.; 8 1 3 : FINZSCH]. Die Implikationen dieser konzeptionellen Verschiebungen wollen wir hier noch einmal zusammenfassen. Erstens waren nun sämtliche vermeintlich so scharfe Trennlinien, etwa zwischen Homosexualität und Heterosexualität, instabil und brüchig geworden und bedurften der Historisierung. Wenn Sexualität historisierbar war, so musste sie zweitens notwendig innerhalb mehrfach relationaler kultureller Konfigurationen analysiert werden, was wir auch im vierten Kapitel dieses Buches dargelegt haben. Kategorien wie Ethnizität, Klasse,
Geschlecht, Region, Alter usw. sind also in die Betrachtung ein zubeziehen. Drittens sind solche soziokulturellen Ordnungen an »Normalisierungen« und »Pathologisierungen« bestimmter Sexuali täten gekoppelt, wobei - um das hier abermals zu betonen - beide in einer Wechselwirkung zueinander stehen [224: KATZ, 1 3- 1 7]. Vier tens führte ein solches Verständnis von Sexualität als kulturell kon struiertes und zugleich äußerst wirkmächtiges (und damit sehr rea les) Ordnungssystem zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dessen Zwängen und Forderungen an die Individuen. Adrienne Rich oder Judith Butler führten nun mit Nachdruck die Auseinander setzung mit der » Zwangsheterosexualität« bzw. » Heteronormativi tät« von Gesellschaften [902: RICB; 92, 94: B UTLER]. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass ein wesentlicher Teil dieser feministischen Auseinandersetzung mit Heteronormativität eine Kritik am Phallozentrismus war. Der Phallus durchziehe als zentrale Metapher Kultur und Gesellschaft und etabliere patriarcha lische Machtverhältnisse [78 1 : BISCBOFF; 92: B UTLER]. Schon seit den späten 1 960er Jahren richtete sich die neue Frauenbewegung gegen männliche Sexualität als Ausdruck und Mittel einer solchen phallozentristischen Ordnung und als wesentliches Element patriar chalischer Herrschaft. Frauen bekämpften in der feministischen Theoriebildung, in der praktischen Politik und im alltäglichen Le ben diese aggressive und unterwerfende männliche Praxis [886: MILLETT; 788: BROWNMILLER; 902: RICB; 890: NUSSER; 9 1 8: SIELKE zur Zusammenfassung der damaligen Debatten] . Kehren wir zu einem konsequent historisierenden Blick auf Se xualitäten und ihre Geschichten im Anschluss an Foucault zurück, so gilt es, abschließend für diesen Teil zwei neuere Zweige theore tischer wie politischer Auseinandersetzung zu skizzieren. Hier sind erstens die »Queer Studies« zu nennen, deren Namengebung auf die Kulturwissenschaftlerin Teresa de Lauretis zurückgeht. Die » Queer Studies« sind bewusst darauf ausgerichtet, sich wissenschaftlich wie politisch dem heteronormativen System entgegenzustellen. » Queere« Forscherinnen und Forscher verabschieden sich von einer schwulen und lesbischen Identitätspolitik, die Anerkennung, »Toleranz« und Gleichberechtigung innerhalb der bestehenden sexuellen und kultu rellen Ordnung fordert. Denn eine solche Forderung reproduziere sowohl diese Ordnung als auch die Vorstellung klar zuweisbarer homosexueller und heterosexueller Identitäten. »Queer Theory« versucht im Gegensatz dazu, eben »quer« zu den Achsen dieser 1 79
Matrix zu liegen, deren Aussagen und Definitionen sie bewusst durchkreuzt. Sexuelle Identitäten sollen eben nicht reproduziert, sondern als solche problematisiert und destabilisiert werden. Dies kann beispielsweise dadurch gelingen, dass aufgezeigt wird, wie Vor stellungen klar abgrenzbarer Sexualitäten in der Geschichte erzeugt und als natürlich oder unnatürlich verklärt wurden. » Queer«, so be tonen Ulf Heidel, Stefan Micheler und Elisabeth Tuider, »kann als eine dezidierte Nicht-Identität verstanden werden« [ 8 3 3 : HEIDEL u. a., 1 9; vgl. insb. die Textanthologie 6 5 0: KRASS und die äußerst hilfreiche Einleitung 863: KRASS; 8 50: JACKSON; 2 19: ]AGOSE; 823: GERSDO RF/PoOLE; 782: BLASIUS; 868: LAURETIS]. Eng verwandt mit den » Queer Studies« sind die »Transgender Studien«. »Transgenders« positionieren sich außerhalb der hetero normativen Ordnung, und zwar als »Personen, deren Auffassungen, körperliche Praktiken, Selbstverhältnisse und Existenzweisen den Regeln der Aufteilung der Menschheit in exakt zwei, einander aus schließende Geschlechter widersprechen«, um die Definition der Philosophin Antke Engel zu übernehmen [8 10: ENGEL, 69]. Mithin ist das konzeptionelle Interesse der »Transgender-Studien« nicht darauf ausgerichtet, ein individuelles Hinübertreten vom einen (z. B. weiblichen) in das andere (z. B. männliche) Geschlecht zu erfassen, sondern zu erkennen, wie durch Adaptionen von kulturell spezi fischen Männlichkeits- bzw. Weiblichkeitskennzeichen neue For men von Geschlecht entworfen werden können, die mit der Vorstel lung eindeutiger Zweigeschlechtlichkeit brechen. Wie Eve Kosofsky Sedgwick betont, treiben »Transgender-Studien« also » einen Keil zwischen die Themenbereiche Männlichkeit und Männer, [deren] Verhältnis zueinander nämlich wesentlich komplizierter ist, als man es manchmal glauben möchte« [9 1 5 : SEDGWICK, 3 5 3]. So zeigen »Transgender-Studien«, wie beispielsweise Frauen männlich codierte Identitätspartikel übernehmen und damit neue geschlechtliche Identitäten begründen können. Ein solcher Blick eröffnet für eine Geschichte der Männlichkeiten erweiternde Perspektiven, lässt er doch erkennen, dass männliche Geschlechtsentwürfe nicht notwen dig Männer als Träger haben und Körper nicht unbedingt norm setzend sein müssen. Dies wiederum weist darauf hin, dass Frauen und Männer nicht die gegenüberliegenden Pole einer dichotomen Ordnung markieren. Da Geschlecht kein Nullsummenspiel ist, ist ein Mehr an Männlichsein demnach nicht notwendig durch ein weniger an Weiblichsein zu erreichen. Um es anders zu formulieren: 1 80
Während traditionell die Feststellung »weiblicher Züge« das Mann sein eines Mannes und die Feststellung »männlicher Züge« das Frausein einer Frau und somit deren jeweiligen Subjektstatus er schütterten, wirken solche Feststellungen aus der Transgender-Per spektive in eine gänzlich andere Richtung: Sie treiben die Auflösung der zweigeschlechtlichen Matrix voran. Eine entsprechende histo rische Forschung mag zur weiteren Historisierung der Geschlechter verhältnisse und der immer noch dominanten Vorstellung zeitloser Sexualitätskategorien beitragen. Die historiografische Literatur ist in diesem Bereich noch sehr spärlich und lässt letztlich nur selten erkennen, inwieweit sie konzeptionellen Anregungen, wie sie etwa Sedgwick oder Engel formulieren, folgt [vgl. etwa 8 3 8 : HIRSCH AUER; 8 7 1 : LINDEMANN; 8 5 5 : KATES; 8 69, 8 70: LEHNERT; 879: MEYEROWITZ; 894: POLYMORPH; 9 1 2: SCHRÖTER]. Zusammenfassend ist für diesen Abschnitt festzuhalten, dass die Forschungen zur Geschichte männlicher Sexualitäten seit den 1 970er Jahren ein Spektrum abdecken, das sich von männerbewegter Iden titätspolitik bis zur diskurstheoretisch angeleiteten Analyse von Kultur und Subjektbildung erstreckt. Wenn auch nicht behaup tet werden kann, Michel Foucault habe an seinem Schreibtisch im »College de France« die Sexualitätshistorie erfunden, so hat sein Denken doch maßgeblich dazu beigetragen, Sexualität als zentrale Kategorie sowohl für die Konstitution des menschlichen Subjekts als auch für die Ordnung der Gesellschaft zu fassen. Homo- wie Heterosexualität haben eine Geschichte, die beispielsweise eng mit Vorstellungen und Funktionsweisen von familiärer Ordnung, Sozia lität und politischer Praxis verwoben sind. Das Eingangsbeispiel aus der Zeit des Kalten Krieges in den USA sollte dies andeuten. Die nun folgenden Ausführungen sollen einen Eindruck von der Breite der mittlerweile vorliegenden Forschung vermitteln und zur wei teren Lektüre anregen.
Sexualität historisieren: Einführung in das Forschungsfeld
Jede Forschung zur Geschichte neuzeitlicher Sexualität, ganz gleich, ob das Ziel eine Seminararbeit oder eine Monografie ist, sollte mit einer Recherche in der »Bibliography of the History of Western Sexuality, 1 700-2000« beginnen. Die von dem Wiener Historiker Franz X. Eder zusammengestellte Datenbank umfasste im Frühjahr 181
2004 ca. 23 000 Titel zur Geschichte der Sexualitäten. Sie ist ein fach zu handhaben und frei zugänglich.4 Will man einen Überblick über den Stand der Forschung und die Aktivitäten im Bereich der Sexualitätsgeschichte gewinnen, so ist außerdem ein Blick in das entsprechende Internetforum H-Histsex zu empfehlen. 5 Auch das seit 1 990 erscheinende »Journal of the History of Sexuality« GHS), das sich der internationalen Sexualitätengeschichte von der Antike bis zur Gegenwart widmet, ist für einen solchen Überblick von Nut zen. Außerdem wartet das JHS immer wieder mit Themenheften und hilfreichen Forschungsberichten auf, etwa zu Alfred Kinsey [796: CAPSHEW u. a.], zum Stand der Theoriebildung in der Sexua litätenforschung [782: BLASIUS], zur sexuellen Gewalt gegen Frauen [907: RUCH] oder zum Thema »Men, Masculinity, and Sexuality« [876: MANGAN]. Außerdem liegt mit » Invertito« eine weitere Fach zeitschrift vor, die seit 1 999 ein Mal jährlich Schwerpunkthefte zur Geschichte weiblicher und männlicher Homosexualitäten publiziert. Der Akzent liegt dabei auf dem deutschsprachigen Raum, das Ge samtspektrum reicht aber darüber hinaus und erstreckt sich auch auf theoretische und konzeptionelle Aspekte. Ein weiteres inter disziplinäres Journal, das »queere« Perspektiven in die Wissenschaf ten einbringt, ist das seit 1 99 5 erscheinende »GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies«. Zudem bietet der beinahe enzyklopä dische Einführungsband Bernd-Ulrich Hergemöllers einen profun den Überblick über die Geschichte der Homosexualitäten und den Stand der Forschung in den späten 1 990er Jahren [2 8: HERGEMÖL LER]. Hier sei auch die kürzlich von Marc Stein herausgegebene »Encyclopedia of Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender History in America« genannt [50: STEIN]. Auch existieren bereits einige historische Gesamtdarstellungen. Franz X. Eder etwa macht in der oben erwähnten Online-Daten bank die Literatur zugänglich, die er im Rahmen seiner Forschun gen für sein 2002 publiziertes Buch über die »Kultur der Begierde« zusammengetragen hat. Dieser bislang einzige Überblick über die Geschichte der Sexualität in Deutschland und Österreich vom 1 7. bis zum 20. Jahrhundert präsentiert Sexualität als vielschichtiges Phänomen, das sich von historisierbarem Wissen über Begriffe und 4
5
1 2: EDER, .http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/sexbib1!< (Früh jahr 2004). ,http://www.h-net.org/-histsex/< (Februar 2004).
Konzepte bis hin zu Fantasien und sexuellen Praktiken erstreckt und immer in soziokulturellen Kontexten steht. Entsprechend ana lysiert Eder, auf umfangreiche eigene Vorarbeiten gestützt, nicht nur die bürgerliche Sexualität, sondern auch bäuerliche Lebenszusam menhänge und Arbeitermilieu [ 1 3 : EDER]. Einen Überblick über die Breite der neueren deutschsprachigen Forschung vom 1 6. Jahr hundert bis zur Zeitgeschichte bietet außerdem ein von Claudia Bruns und Tilmann Walter edierter Aufsatzband [792: BRUNs/ WALTER] . Als Studie aus dem amerikanischen Kontext, die mit dem Buch Franz X. Eders vergleichbar ist und die Zeit von der ersten Besiedlung im frühen 1 7. Jahrhundert bis zur beginnenden AIDS Pandemie in den 1 980er Jahre abdeckt, kommt John D 'Emilios und Estelle B. Freedmans 1 9 8 8 erstmals publizierte Sexualitätsgeschichte in den Sinn. D'Emilio und Freedman handeln die Kolonialzeit ver gleichsweise knapp ab, dafür werden dem 1 9. und dem 20. Jahrhun dert jeweils mehr Platz eingeräumt. Den Jahrzehnten um 1 900 wid men sie ein eigenes Kapitel, da sie als Wiege einer neuen sexuellen Ordnung und somit als Schlüsselzeit gelten. Der Band ist zwar mit »Intimate Matters« betitelt, wir brauchen jedoch kaum zu er wähnen, dass Friedman und D'Emilio auf jeder Seite ihres Buches zeigen, dass eine moderne Sexualitätengeschichte nicht auf die Intim sphäre beschränkt bleibt, sondern vielmehr Kultur- und Gesell schaftsgeschichte ist [8: D'EMILIO/FREEDMAN]. Weitere Ü berblicks arbeiten unterliegen stärkeren Beschränkun gen, seien diese thematischer, geographischer oder zeitlicher Art. So arbeitet Angus McLaren regional übergreifend von den USA über die britischen Inseln bis zum europäischen Kontinent, begrenzt seine Geschichte der Sexualität aber auf das 20. Jahrhundert [3 7: McLAREN].6 Leila Rupp hingegen deckt die gesamte neuere Ge schichte ab, konzentriert sich aber auf gleichgeschlechtliche Liebes und Lebensformen in Nordamerika. Sie stellt dabei die Vielfalt homosexuellen Lebens heraus. Dazu gehört etwa, dass in den Kolo nialgesellschaften »Sodomie« als Akt zwar mit drakonischer Strafe belegt war, sie aber keinesfalls konsequent verfolgt wurde. Ein wei teres Beispiel für solche Uneindeutigkeiten wäre, dass im 1 9. Jahr6
Mit seinem Buch über »Trials of Masculinity« hat McLaren I997 eine außergewöhnliche Studie vorgelegt, in der er der Konstitution männ licher Sexualität in britischen und nordamerikanischen Gerichtsverfahren um die Wende vom I9. zum 20. Jahrhundert nachgeht [36: McLAREN].
hundert einerseits die urbanen Zentren den bevorzugten Raum für die Entfaltung gleichgeschlechtlicher Lebensformen boten, dies aber auch für die männlich dominierten Grenzgebiete im Westen des amerikanischen Kontinents galt. Weitere zentrale Aspekte des Buches sind emotionale Freundschaften bürgerlicher Frauen7, die sich um 1 900 konstituierenden Sexualwissenschaften, die sexuell beweglichen 1 920er sowie die heteronormativen 1 9 5 0er Jahre, als Homosexualität » unamerikanisch« war, zugleich aber auch die Schwulenbewegung ihren Ausgang nahm [908 : Rupp]. Eine andere Form von Überblicksdarstellung über die US-ameri kanische Sexualitätsgeschichte bieten die Bände von Kathy Peiss und Christina Simmons sowie von Elizabeth Reis. Sie versammeln Aufsätze verschiedener Autorinnen und Autoren, die sich von der Kolonialzeit bis in die 1 960er Jahre erstrecken und die unterschied lichsten Themen abdecken, von Sodomie über Brautwerbung im 1 8. Jahrhundert, über Sexualität und Rassismus bis zu Abtreibung, Geschlechtskrankheiten, Pornografie> freier Liebe und Geschlechts umwandlungen. Reis ergänzt zudem jeden Artikel durch eine hilf reiche Einleitung und Quellen, auf die sich die Autorinnen und Autoren in ihren Texten in der Regel beziehen [892: PEISS/SIM MONS; 901 : REIs]. Ausdrücklich mit Blick auf die Unterrichtsge staltung ist ein von Kathleen Kennedy und Sharon Ullman heraus gegebener Band zu nennen, in dem verschiedene bereits an anderen Orten publizierte Beiträge versammelt sind [8 5 7: KENNEDY/ULL MAN].
Studien zur Vormoderne
Nehmen wir nun einige weitere, stärker fokussierte sexualitäts historische Arbeiten der letzten Jahre in den Blick und folgen dabei einem grob chronologischen Raster. Ein wichtiger Impuls für die nordamerikanische Kolonialgeschichte ging von Roger Thompsons Buch » Sex in Middlesex« aus dem Jahr 1 9 8 6 aus. Anhand von Kri minalakten über sexuelle Normverletzungen während der zweiten Hälfte des 1 7. Jahrhunderts in Middlesex, Massachusetts, relativiert Thompson das Zerrbild so gestrengen Lebens im puritanischen 7
Vgl. dazu 8 I J : FADERMAN sowie das Kapitel über »The Secret World of Love and Ritual« in 9 2 1 : SMITH-ROSENBERG.
Neuengland unter der Fuchtel harscher puritanischer Patriarchen. Thompson rückt die Flexibilität der männlichen Gesellschafts- und Haushaltsvorstände in den Vordergrund [934: THoMPsoN]. Die Wege, die die sexualitätshistorische Forschung zur amerika nischen Kolonialgeschichte seitdem zurückgelegt hat, vermittelt ein im Jahr 2003 publiziertes Schwerpunktheft der Zeitschrift »William and Mary Quarterly«. Neben der Einleitung von Sharon Block und Kathleen M. Brown ist vor allem das Diskussionsforum hilfreich, um die historiografischen Leitfragen zu erfassen. Wir erfahren dort etwas über die feste Verankerung der Sexualitätsgeschichte in der breiteren Kolonialgeschichte, über die Verschränkung von Sexuali tät mit anderen Kategorien wie Ethnizität oder über den Einfluss »queerer« Perspektiven auf die neuere Forschung [784: BLO CK/ BROWN; 794: BURGETT u. a.]. Einen monografischen Überblick über die Sexualitätsgeschichte im kolonialen Amerika hat Richard Godbeer vorgelegt [827: GOD BEER], und zur Vertiefung einzelner Aspekte wie etwa dem Verhält nis von Sexualität und patriarchalischer Macht mögen verschiedene Aufsätze in einem von Merril D. Smith herausgegebenen Band über » Sex and Sexuality in Early America« herangezogen werden [9 19: SMITH]. Godbeer seinerseits bestätigt das Diktum Foucaults, dass Sexualität in vormodernen Gesellschaften deutlicher auf Hand lungsweisen bezogen war und weniger Persönlichkeiten definierte. Nichtsdestoweniger konnten etwa im Boston des 1 8. Jahrhunderts Anspielungen auf sodomitische Praktiken zur »Entmännlichung« und somit zur politischen Diffamierung ganzer Gruppierungen, wie z. B. der Freimaurer, instrumentalisiert werden, wie Thomas Foster gezeigt hat [8 1 5 = FOSTER]. Auch hinsichtlich ihres eigenen Selbst verständnisses gerieten Männer durch gleichgeschlechtliches Begeh ren bisweilen in Nöte und Verwirrung, was Alan Bray am Beispiel eines Dozenten in Harvard im 1 7. Jahrhundert vorgeführt hat [787: BRAY; vgl. auch 798: CHERNIAVSKY]. Nichtsdestoweniger gilt auch für die britischen Kolonien in Nordamerika, dass Sodomie als todeswürdiges Vergehen klassifiziert war, ein entsprechender Vor wurf in der Regel aber nur dann juristische Konsequenzen nach sich zog, wenn die gesellschaftliche Stabilität gefährdet schien. So konn ten in einem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum wie Phi ladelphia mann-männliche Beziehungen in der zweiten Hälfte des 1 8. Jahrhunderts vergleichsweise unbehelligt gelebt werden, Wle Clare Lyons zeigt [8 28: GODBEER; 873: LYONs].
Auch im Hinblick auf mann-weibliche Beziehungen zeigt God beer, dass Sexualität und Sittenhaftigkeit in den so »puritanischen« Neuengland-Kolonien entspannter gehandhabt wurden, als man lange angenommen hat. Vorehelicher Geschlechtsverkehr und un eheliche Beziehungen waren nicht unüblich, und in der Ehe war Sex keineswegs nur auf Fortpflanzung ausgerichtet. Sexuelle Potenz war ein Indikator von Männlichkeit, und wenn ein Mann die Ehe nicht vollziehen konnte, so hieß es rasch, er könne wohl auch die anderen Geschäfte des Hauses nicht befriedigend führen [vgl. dazu 8 1 6: FOSTER] .8 Werfen wir einen Blick auf mann-männliche Beziehungen im deutschsprachigen Raum vor der »Erfindung« des Homosexuellen im späteren 1 9 . Jahrhundert, so bleibt das Bild trotz einer zuneh menden Literaturdichte noch recht diffus. Einen Überblick über die Forschung bis zu den späten 1 990er Jahren bietet ein Aufsatz Hel mut Puffs und die »Historische Einführung« Bernd-Ulrich Herge möllers [897: PUFFj 2 8 : HERGEMÖLLER]. Zur Geschichte der Re formation in Deutschland und der Schweiz liegt mittlerweile eine umfangreiche Studie Puffs vor. Er zeigt dort, wie trotz drakonischer Gesetze die Grenzen des sexuell Zulässigen flexibel und situativ wa ren, und er plädiert für die Rekonstruktion eines breiten sexuellen Spektrums in der Frühen Neuzeit. Diese Flexibilität schließt jedoch keineswegs aus, dass Reformierte mit dem Sodomievorwurf obere Kirchenkreise diskreditierten. Sex unter Männern wurde mit Ka tholizismus und Italien assoziiert, und wieder zeigt sich, wie sehr sexualitätsgeschichtliche Betrachtungen einen Zugang zu Gesell schafts-, Politik- und Religionsgeschichte eröffnen [898, 899: PUFF]. Einen Einblick in den Stand der Forschung zum 1 8 . Jahrhundert bietet ein Aufsatz Jakob Michelsens zu mann-männlichen Bezie hungen in Hamburg sowie der Überblick in Wolfgang Schmales Band. Ebenso wie Helmut Puff greift auch Michelsen auf Justiz akten zurück, um »die Lebenswirklichkeit der >gewöhnlichen So domiter<> das Verhalten der Umwelt ihnen gegenüber und die tat sächliche Verfolgungspraxis der Obrigkeiten zu erhellen« [884: MrcHELSENj vgl. auch 8 8 5 : MrCHELSENj 47: SCHMALE, 2 1 3-226j 9 1 1 : SCHMALEj 8 5 8 : KENT/HEKMAj 1 3 : EDER, 1 54-1 5 9]. Dieses 8
Dies war auch im deutschsprachigen Raum der Fall; vgl. dazu die Aus führungen in Kapitel 6 über >>väter in der Frühen Neuzeit« sowie ins besondere die Aufsätze 38 I: BECK und 5 1 2, 5 1 3 : SCHMIDT.
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Unterfangen ist schwierig, da, wie auch Martin Zürn betont, die Gerichtsprotokolle häufig eher die Perspektiven und sogar die Wort wahl der Oberschichten spiegeln denn die Wahrnehmungs- und Lebenswelten illiterater Unterschichten [948 : ZÜRN, 90]. Gleich wohl kann bei umsichtiger Analyse ein Eindruck von den Dis krepanzen zwischen Norm und Lebenswirklichkeiten gewonnen werden, auf die wir im Kontext frühneuzeitlicher Forschungen re gelmäßig stoßen [948 : ZÜRN; 47: SCHMALE, 1 3 2 ff.; vgl. zur norma tiven Ordnung in Österreich 944: WEINGANDP
Sex und »Race« am Beispiel der afroamerikanischen Geschichte
Überqueren wir noch einmal den Atlantik und kehren in die nord amerikanischen Kolonien zurück, und zwar dieses Mal weiter in den Süden. Richard Godbeer hat in seiner bereits beschriebenen Darstellung darauf hingewiesen, dass die sexuellen Vorschriften dort flexibler gehandhabt wurden als im Norden, und dies galt vor allem an der Chesapeake Bay in den Kolonien Maryland und Vir ginia. Zugleich kann ein Blick in den Süden deutlich erkennbar wer den lassen, wie Sexualitäts- und Rassekonzepte' historisch spezifisch ineinander griffen [827: GODBEER]. So waren noch im 1 7. Jahrhun dert in North Carolina Beziehungen zwischen Menschen verschie dener Ethnizität nur wenig suspekt, wie Kirsten Fischer in ihrer Studie über »Suspect Relations« gezeigt hat. Erst im I 8. Jahrhundert sind solche Beziehungen in zunehmendem Maße verdammt und auch kriminalisiert worden. Das Verbot von Eheschließungen »across the color line« in North Carolina im Jahr 1 7 1 5 kann nicht zuletzt als Indikator dafür erachtet werden, dass sich Vorstellungen verfestigten, die »Rasse« als etwas Substanzielles wahrnahmen, das an die Nachkommenschaft weitergegeben wurde. In der zeitgenös sischen Konzeption wurde die »Rasse« des Kindes über die Mutter bestimmt, weshalb sexuelle Übergriffe von weißen Sklavenbesitzern auf schwarze Sklavinnen die herrschende Gesellschaftsordnung nicht bedrohten. Die Nachkommen weißer Frauen und schwarzer Män ner durchkreuzten allerdings die rassistische Gesellschaftsordnung, 9
Die polizeiliche Profilierung durch die Sodomiterverfolgung im Paris des 1 8. Jahrhunderts stellt 9 3 3 : TAEGER dar.
und die »Reinheit« weißer Frauen avancierte zum zentralen Ele ment eines Rassismus, in dem Sexualität eine elementare Bedeutung zukam. Allerdings konfrontiert uns auch Fischer mit dem bereits vertrauten Bild, dass insbesondere Mitglieder der unteren Schichten die Normen und Konzepte häufig ignorierten und in der Lebens wirklichkeit von ihnen abwichen. Gleichwohl waren Beziehungen weißer Frauen zu schwarzen Männern zunehmend prekär. »White ness« gewann im Verlauf des 1 8. Jahrhunderts in der Definition des eigenen Status an Bedeutung. Schwarze Männer wie auch schwarze Frauen erfuhren eine zunehmende Sexualisierung, ihnen wurde eine ausgeprägte Triebhaftigkeit und Promiskuität zugeschrieben [8 1 4: FISCHER]. Sexuelle Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß sind in den letzten Jahren umfassend untersucht worden. Zwei Sammelbände über » Sex, Love, Race« bieten einen profunden Ü berblick über die Forschung am Ende der I 990er Jahre. Diese Forschung macht die Interdependenzen von Geschlechtsentwürfen, Sexualitätskonzepten und Gesellschaftsordnung in aller Deutlichkeit sichtbar [800: CUN TON/GILLESPIE; 8 3 9: HODES]. Vor allem die Arbeiten von Martha Hodes und Diane Miller Sommerville haben der Sexualisierung schwarzer Männer und ihrer Männlichkeit schärfere Konturen ver liehen. Hodes und Sommerville beschreiben schwarz-weiße Bezie hungen auch vor dem Bürgerkrieg und der Emanzipation als »pro blematisch« . Entsprechende Paare lebten am Rande der Gesellschaft und wurden häufig sanktioniert. Allerdings zeigen Hodes und Sommerville, dass die historiogra fische Vorstellung einer seit der Kolonialzeit verbreiteten panischen weißen Furcht vor dem »black superpenis« [822: GENOVESE, 461 f.] eine Rückprojektion aus den Zeiten nach der Emanzipation ist. Denn Liaisons weißer Frauen und schwarzer Männer lösten erst mit der Befreiung der Sklaven fundamentale Ängste insbesondere unter weißen Männern aus, signalisierten sie doch die Gefährdung des soziokulturellen Status quo. In der Wahrnehmung des weißen Sü dens waren die mit der Emanzipation gewachsenen politischen, wirt schaftlichen, sozialen Perspektiven schwarzer Männer untrennbar mit sexueller Potenz verbunden. Schließlich besaßen schwarze Män ner jetzt die Bürgerrechte, die »wahre« Männlichkeit signifizierten. Eine rassistisch motivierte Gewalt nahm im Süden neue Formen und Dimensionen an> ab den I 8 80er Jahren starben Tausende von Afroamerikanern durch die Hände von Lynchmobs. Diese Lynch188
morde standen in hochgradig sexualisierten Zusammenhängen. Häufig waren Kastrationen Teil der Tötungsrituale, und deren pro totypische Rechtfertigung war die angebliche Vergewaltigung einer weißen Frau. Grenzüberschreitende Beziehungen schienen der ulti mative Indikator gewachsener sozialer, politischer wie sexueller Potenz schwarzer Männer in einer Gesellschaft, deren tradierte Ord nung fragil geworden war [840: HODES; 204: HODES; 922, 923: SOMMERVILLE; 8 1 2: FINKELMAN; 94 5 : WIEGMAN; 928: STOKES; 920: SMITH und 9 1 7: SIELKE zu Vergewaltigung in der US-Ge schichte; 808: DORR und 877: MARTSCHUKAT zur Sexualisierung schwarzer Männer und Justiz].
Onanie
Wie sehr Sexualitätsgeschichte die Geschichte der politischen und soziokulturellen Ordnung ist, zeigt auch die Geschichtsschreibung zum Thema »Onanie«. Diese autoerotische Praktik rückte seit dem 1 8. Jahrhundert immer deutlicher in das Zentrum von Debatten, die sich auf die Gesellschafts- und Staatsformation bezogen [867: LAQUEUR; 780: BENNETT/RosARIOl Dass die erfolgreiche Eta blierung einer bürgerlichen Gesellschaft wesentlich von der Regu lierung sexuellen Verhaltens und Begehrens abhing, hat Isabel HuB in ihrer wegweisenden Studie über » Sexuality, State, and Civil So ciety« in Deutschland im 1 8 . Jahrhundert vorgeführt [84 8: HULL]. Thomas Laqueur hat in seiner Untersuchung über » Solitary Sex« gezeigt, dass die Masturbation vor Aufklärung und bürgerlichem Zeitalter dafür gescholten wurde, fleischliche Begierde in den Fan tasien zu verankern und ein christliches Leben unmöglich zu ma chen. Da sie nicht der Fortpflanzung diente, verstieß sie zudem gegen den göttlichen Schöpfungsplan. Auch gesundheitlich erschien den Zeitgenossen ein vermehrter Abfluss von Körperflüssigkeiten bedenklich, da der Körper als Säftehaushalt konzipiert war. Folglich war die Masturbation verpönt und strafrechtlich fixiert. Dennoch schien man sich insgesamt um die religiösen wie gesundheitlichen Einwände vergleichsweise wenig zu scheren [867: LAQUEUR; 1 3 : EDER, 9 5 f.; 946: WIESNER-HANKS, 7 3 ff·110 10
Wegweisend für die Erforschung vormoderner Körperkonzepte war 866: LAQUEUR; vgl. auch die Ausführungen bei 259: LORENZ, 91 f., lo7-I I 5 .
Erst mit dem 1 8. Jahrhundert nahmen sich Mediziner, Pädagogen und Staatswissenschaftler des Onanisten an. Durch seine auto erotischen Praktiken widersprach der Onanist dem Prinzip der staatsbildenden Geselligkeit. Gleichzeitig mehrten sich die Beden ken hinsichtlich gesundheitlich zerrüttender Effekte der Onanie, die angeblich ein degeneriertes Subjekt hervorbrachte. Ohrensausen, Seh- und Verdauungsstörungen, Brechreiz, Schwindsucht, Epilep sie, eine allgemeine körperliche Schwächung und Lebensunfähig keit sowie die Schädigung der Nachkommenschaft waren nur einige der drohenden physischen Konsequenzen, aber auch Gedächtnis störungen und extreme Reizbarkeit konnten Folgen der Onanie sein. Dies illustrierten die Zeitgenossen durch Fallgeschichten von Betroffenen, die in der medizinischen Literatur des 1 8 . Jahrhunderts ohnehin an Bedeutung gewannen und ein großes Publikum faszi nierten [904: R O H LJ E; 872: LÜTKEHAUS; 809: EDER; 1 3 : EDER, 9 1- 1 27; 786: BRAUN; 7 8 3 : BLOCH; 929, 930, 932: STOLBERG]. B riefe von Patienten an Ärzte bilden hier ein Quellengenre, das es den Geschichtsschreibenden möglich macht, sich der (männlichen) Subjektbildung in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und dem Begehren innerhalb von diskursiv geprägten Wahrneh mungswelten anzunähern [930, 93 I : STOLBERG; 806, 807: DINGES; zum Umgang mit autobiografischen Texten vgl. auch 797: CAR ROLL].ll Die Onanie schien nicht zuletzt deshalb so eminent gefährlich, weil sie erstens eine massive Vergeudung von Lebenskraft bedeutete, die die Zeitgenossen im männlichen Sperma verorteten [779: BAR KER-BENFIELD]. Zweitens indizierte Masturbation einen Mangel an Selbstkontrolle. Die Kontrolle der Triebe, die beim Mann an geblich stärker ausgebildet waren als bei der Frau, war von derart zentraler Bedeutung für das Gelingen einer bürgerlich-männlichen Subjektbildung, dass Masturbation neben Alkoholkonsum als die individuell wie sozial schädlichste Gewohnheit galt [909: SARASIN, 2 30]. Kraftverlust und Kontrolldefizite gefährdeten die Funktions fähigkeit des bürgerlichen Mannes in seinem Kern, und damit die Existenz und Fortentwicklung von Familie und Gesellschaft. Zu dem versprach nur ein gesunder Samen die Weitergabe von Potenz und Zivilisation an die Nachkommenschaft. Dies wiederum war für das Mannsein bedeutend, denn schließlich hieß es, erst im Vatersein 11
Siehe Quelle
I
im Quellenteil.
erlange der Mann ein Stadium höchster Reife und Erfüllung. Die Entdeckung auch des Mannes als Gattungskörper, die Ute Planert beschreibt, ist hier bereits angelegt [893 : PLANERT] . Alldem stand die Onanie im Wege. Auch vermag es in diesem Kontext nicht zu erstaunen, dass sich das Bild des »masturbierenden Juden« im kul turellen wie soziopolitischen Repertoire ab dem fortschreitenden 1 8 . Jahrhundert verfestigte [84 1 : HÖDL, 1 86-1 90; 842: HÖDL, 71-104J, Ausgrenzung funktioniert hier über spezifische Sexualisie rung sowie eine Stigmatisierung der Männlichkeit und ist ein immer wiederkehrendes Muster. Schließlich war der Onanist all das, was ein Mann nicht war - effeminiert und einem Jungen gleich, sich der Wolllust hingebend, ohne Kraft und Selbstkontrolle. Mit seinem Samen verschwendete er seine Männlichkeit. Im 19. Jahrhundert stand er damit im Gegensatz zu den Entwürfen des »guten« Man nes, und zwar sowohl als Familienvater, als effizienter Produzent wie auch als verlässlicher Staatsbürger [909: SARASIN, 4 1 7]. Philipp Sarasin hat in seiner Studie über bürgerliche Körper als »Reizbare Maschinen« gezeigt, dass die Kontrolle des Geschlechts lebens als Teil einer gesamtkulturellen Strategie der »Mäßigung« verstanden werden muss. Dies war zuvorderst eine männliche Stra tegie, die darauf ausgerichtet war, mit dem Vorrat an »Lebenskraft« möglichst sorgsam umzugehen [909: SARASIN, 2 1 2] . Die bevöl kerungspolitischen Konzepte der Kameralisten des 1 8 . Jahrhun derts, die der Vorstellung folgten, es gebe einen menschlichen Trieb, der in geregelte Bahnen gelenkt werden müsse, verfestigten sich im 1 9 . Jahrhundert zu einer ausgefeilten Biopolitik [848: HULL, 1 °7-1 54; 893: PLANERT] . In diesem Kontext stellt auch Sarasin heraus, dass eine Geschichte, die die Regulierung der Bevölkerung über das Sexualitätsdispositiv erfassen will, nicht bloß die »Devianz« betrachten darf. Sie muss den Blick auch auf dasjenige richten, wel ches als »Normalität« definiert wurde [vgl. 909: SARASIN; 1 3 : EDER, 1 29- 1 5 °; 82 1 : GAY]. Denn die Bestimmung der normativen bür gerlichen Geschlechtscharakterel2 vollzog sich wesentLich über eine Sexualität, die von Devianzen abgegrenzt wurde. »Normale« Männ lichkeit wurde über das Andere erzeugt. Das rechte Maß und die erfolgreiche männliche Selbstkontrolle des Begehrens dienten der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam als Leitkonzept. Als innere Stimmen, die zur Pflege und Kultivierung 12
Vgl. vor allem Kapitel 6 über Familie und Arbeit.
des Körpers und zum maßvollen Genuss sexueller Vergnügen ge mahnten sowie vor gefährlichen Extremen warnten, fungierten Lust und Schmerz. Zudem sahen sich zahlreiche »Hygieniker« dazu ver anlasst, ihre sexuellen Aktivitäten genau zu protokollieren. Man musste den Exzess unbedingt vermeiden - und der Exzess begann dort, wo die Befriedigung von Lust über die Penetration in der Ehe hinaus- und in die angebliche Verschwendung männlicher Kraft überging [909: SARASIN, 240, 41 5J.
Die Verwissenschaftlichung des Eros und die Erfindung der Sexualität
Die Erhebung einer männlichen »Normalfigur« zu einem wissen schaftlich-medizinisch bestimmten Ideal sowie die Pathologisierung alternativer Lebens- und Liebesformen zog sich durch das 1 9. Jahr hundert. Zum Fin de Siede steuerte die Transformation sexueller »Sündhaftigkeiten« in »Krankheitsbilder« ihrem Höhepunkt ent gegen. Die Sexualwissenschaften verkündeten Unterschiede zwi schen Geschlechtern und sexuellen Präferenzen als wissenschaftliche Wahrheiten. Im Zuge dieser Entwicklung behielt die Masturbation als bedrohliche Abweichung große Bedeutung, aber in das Zentrum rückte nun »der Homosexuelle«, der mit einer »conträren Sexual empfindung« versehen zum letztlich pathologisierten »Dritten Ge schlecht« wurde [83 5 : HERGEMÖLLER zur Differenzierung ver schiedener Positionen] . Laut Richard Krafft-Ebing und seiner Studie » Psychopathia Sexualis« von 1 8 86, die als Schlüsseltext der entstehenden Sexualwissenschaften gilt, seien Homosexuelle dadurch gekennzeichnet, dass ihr ganzes Sein »der abnormen Geschlechts empfindung entsprechend geartet« sei. Eine solche angebliche Ano malie des Geschlechtstriebes durchdringe das ganze Subjekt und setze freie Willensäußerung und Selbstkontrolle als maßgebliche Charakteristika männlicher Identität außer Kraft. Dies ist die »Spe zies«, die laut Foucault im ausgehenden 1 9. Jahrhundert die Figur des »gestrauchelten Sodomiters« ablöste [862: KRAFFT-EBING; 1 46: FOUCAULT, 5 8; vgl. aus der Literatur 849: HUTTER; 8 9 1 : O OSTER HUIS; 8 3 1 : HEIDEL; 1 3 : EDER, 1 5 1 - 1 69; 905: ROSARIO]. Die Geschichten männlicher Sexualität während der langen Jahr hundertwende sind vielfältig. Das ist zum einen sicherlich auf die soziokulturelle Definition sexualisierter Subjekte zurückzuführen,
die sich in diesen Jahren wesentlich vollzog. Dies rührt darüber hinaus aus dem Krisenempfinden her, das sich in der Gesellschafts und Geschlechterordnung dieser Jahre nachhaltig entfaltete und bekanntlich in der Historiografie von Männern und Männlichkeiten große Attraktivität besitzt. Da wir die Geschichtsschreibung auch an dieser Stelle nicht vollständig skizzieren können, wollen wir hier verschiedene Ansätze und Betrachtungsfacetten exemplarisch the matisieren. 13 Hier wären zunächst die Arbeiten John C. Fouts zu nennen, eines der Gründungsmitglieder des »Journal of the History o f Sexuality«. Fout hat wesentlich zur Erforschung der homosexu ellenfeindlichen Geschichte des Deutschen Kaiserreichs beigetra gen. Dabei hat er den Blick unter anderem auf die religiös geprägten Sittlichkeitsvereine und deren Einfluss auf die Reglementierung männlicher Sexualität gelenkt. [ r 8, 8 1 7: FüUT] Eine andere Facette homosexueller Geschichte beleuchtet die Historikerin Claudia Bruns. Sie untersucht im Kontext sich mili tarisierender Männlichkeit im Kaiserreich die Bedeutung von Se xuali�ät innerhalb männerbündischer Konzepte und Organisationen wie etwa der Wandervögel. So schrieben sich die so genannten »Maskulinisten«, ein Teil der homosexuellen Emanzipationsbewe gung, der die Virilität des Mannes behauptete, in die vielfältigen Diskurse über die vermeintliche Revitalisierung und Revirilisierung des Mannes ein. In den Bund- und Staatstheorien wiesen sie der mann-männlichen Erotik und Bindung einen zentralen Platz zu. Die Männerfreundschaft galt ihnen als Grundlage des Sozialen, sie rückte an Stelle der Familie in das Zentrum menschlichen Gemein wesens. Bruns betont, dass freilich auch diese Art der Bindung und Positionierung über Ausschlüsse funktionierte, nämlich vor allem von Frauen und jüdischen Männern. Getragen von nationalistischem wie rassistischem Denken, erschien die nationale Volksgemeinschaft
13
Eine Charakterisierung und Diskussion der Arbeiten Sander Gilmans würde eines eigenen Kapitels bedürfen, daher sei hier nur auf 824, 826: GILMAN verwiesen. Gleiches gilt für die Forschung und Herausgeber tätigkeit des Medizinhistorikers Roy Porter. Porter hatte seinen eigenen Arbeitsschwerpunkt zwar in der englischen Geschichte des 1 8 . Jahrhun derts, hat zugleich aber die Geschichte von Sexualität und Medizin weit darüber hinausgreifend bearbeitet. Wir möchten an dieser Stelle nur den Band 8 9 5 : PORTER/TEICH mit zahlreichen relevanten Aufsätzen nen nen. Zur weiteren Recherche verweisen wir auf 12: EDER.
1 93
als exklusiver Männerbund [700, 789, 79 1 : B RUNS; vgl. auch 939: WAHL]. 14 Auf wieder andere Zusammenhänge weist Heiko Stoff in seinen Körpergeschichten hin. Stoff wendet sich der Furcht vor Alterungs prozessen und Produktivitätsverlusten im aufkommenden fordis tischen Zeitalter des frühen 20. Jahrhunderts zu und verfolgt die zeitgenössischen Erörterungen und deren geschlechtlich-sexuelle Dimensionen bis in die Beschreibungen hormoneller Prozesse hi nein. Dabei zeigt Stoff, dass der Kampf gegen die Alterung ein durchweg geschlechtlich geprägtes Projekt war. Männliche Alterung war an Potenz- wie Produktivitätsverluste gekoppelt, und operative Verjüngungsverfahren, die zunächst hauptsächlich für den Mann entwickelt wurden, waren darauf ausgerichtet, solche Potenz und Produktivität wieder herzustellen. Während der Mann als Produk tionskörper konzipiert war, wurde die »Neue Frau« zunehmend als Konsumkörper wahrgenommen. Im Vordergrund ihrer Verjüngung sollte die Wiederherstellung jugendlicher Schönheit stehen. Zu gleich jedoch ergaben sich vielfältige Überlagerungen weiblicher wie männlicher Körpervorstellungen, und die moderne Medizin sowie Körperkonzepte, die wesentlich hormonell bestimmt waren, ließen die Geschlechter instabil und veränderlich werden. Die Möglichkeit der Geschlechtsumwandlung machte Ende der 1920er und Anfang der 1 9 3 0er Jahre Schlagzeilen [82 5 : GILMAN, 2 5 8-3 28; 9 2 5 , 926, 927: STOFF]. Dieses doppelte Spannungs- und Bedingungsverhältnis von Nor malisierung und Pathologisierung sowie von Grenzbrüchen, Un eindeutigkeiten und Destabilisierungen ist zentral in der neueren Sexualitätengeschichte. Ein wegweisendes Buch, das die Uneindeu tigkeiten sexueller Lebenswelten im frühen 20. Jahrhundert betont, ist die Studie » Gay New York« von George Chauncey. Chauncey beobachtet das vielfältige Leben schwuler urbaner Männer zwischen etwa 1 890 und dem Zweiten Weltkrieg, bevor sich der berühmte Konformitätszwang und die kürzlich von David Johnson so ein dringlich beschriebene »lavender [= Lavendel, lila] scare« der Nach kriegszeit in den USA ausbreiteten [7: CHAUNCEY; 8 5 2: JOHN S ON]. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das 14
Siehe auch unsere Ausführungen in Kapitel 6 im Abschnitt »Väter im 20. Jahrhundert«, das gesamte Kapitel 7 über Sozialität sowie im Quellen teil Quelle 5 .
1 94
schwule Leben in New York nicht ungestört und frei von Repres sion, doch eine schwule Literatur und Szene waren äußerst präsent, lebendig und aktiv. Chauncey integriert Klassen- und Ethnizitäts fragen in seine Analyse, und auch die notorische »Young Men's Christian Association« kommt darin nicht zu kurz. Ein zentraler Punkt der Studie ist, dass sie die Vielschichtigkeit homosexuellen Lebens und Persönlichkeiten herausstellt, so dass sie nicht zuletzt der Vorstellung entgegenwirkt, es habe »der« Homosexuelle exis tiert. Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Forschung auf urbanes schwules Leben konzentriert ist [vgl. etwa auch 924: STEIN]. Gleich wohl liegen mit John Howards Untersuchung über Mississippi in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Christoph Schlatters Arbeit über Selbst- und Fremdbilder in Schaffhausen vom späte ren 19. Jahrhundert bis ca. 1 970 auch solche Studien vor, die homo sexuelle Lebensformen in ländlichen Gesellschaften untersuchen und dabei nicht auf Betrachtungen von Repressionen begrenzt blei ben [847: HowARD; 9 1 0: SCHLATTER; vgl. auch 830: HEALEY]. Die heterosexuellen Pendants zu George Chaunceys schwulen New Yorkern beschreibt Kevin White in seinem Buch über »The First Sexual Revolution«. White spürt dem Freund der »Flapper«, der lebenslustigen, konsumierenden und Geschlechterkonventionen übertretenden jungen Frau der 1 920er Jahre, nach. Er beschreibt also den Lebemann, der mit den viktorianisch-kapitalistischen Stan dards der Selbstkontrolle und der männlichen Identität als Versor ger brach und sich dafür in einer zunehmend von Jugendlichkeit bestimmten Gesellschaft eher einem »konsumistischen« denn einem »produktivistischen« Ideal unterwarf. Wichtig ist, dass White seinen Blick nicht zu sehr auf den Lebemann fixiert, sondern zeitgenös sische Entwürfe von Feminismus, »new woman«, Sexualitäts forschung und Homosexualitäten zentrale Bestandteile seiner Kom position sind [3 6 5 : WHITE]. Ähnlich geht auch das eingangs dieses Kapitels bereits diskutierte Buch von Jonathan Ned Katz vor. Aller dings erstreckt sich Katz' Analyse der Erfindung der Heterosexuali tät über einen längeren Zeitraum, nämlich von den I 890er bis zu den 1 970er Jahren. Zudem macht er die Konstitution von heterosexuel lem Zentrum und homosexueller Peripherie deutlicher zum Gegen stand seiner Untersuchungen: die Konstruktion von »sexual solid citizen« und »peverted unstable alien«, von »sensual insider« und »lascivious outlaw«, von »hetero center« und »homo margin« [224: KATZ, I I 2]. 195
Nur kurz wollen wir an dieser Stelle auf den Konformitätsdruck der Nachkriegsjahre eingehen, da wir ihn bereits als Einstieg in dieses Kapitel diskutiert haben. Dies- wie jenseits des Atlantiks herrschte während der muffigen 1 9 5 0er Jahre ein sexuell konservati ves Klima - wobei zu bemerken ist, dass diese These von der neueren Forschung zur Geschichte der jungen Bundesrepublik in größerer Differenziertheit diskutiert wird [836: HERZOG]. Der Druck zu politischem, gesellschaftlichem, kulturellem und sexuellem Konsens ließ in der Zeit des Kalten Krieges nur wenig Raum für konfli gierende Lebensentwürfe und Identitäten. Die von den Nazis ver schärften Homosexuellenparagrafen 1 7 5 und 1 7 5 a wurden in das Strafgesetz der Bundesrepublik übernommen. Hier wird abermals deutlich, wie ein zeitgenössisches Krisen-, Schwäche- und Bedro hungsgefühl heteronormative Lebensentwürfe bekräftigt und das Sexuelle und das Politische ineinander greifen. Zugleich standen dem allerdings der Kinsey-Bericht mit seinen untrüglichen Hinweisen auf die Vielfalt sexueller Erfahrungen gegenüber. Gleiches gilt auch für die jugendliche B egeisterung für Rock 'n' Roll, schwingende Becken, hochgradig sexualisierte Rebellen und Halbstarke, die von Schauspielern wie James Dean, Marlon Brando oder Horst Buch holz oder Musikern wie Elvis Presley oder Peter Kraus repräsen tiert wurden [vgl. 5 0 1 : POIGER, oder 627: COHAN]. Dennoch blieb die heteronormative Ordnung recht stabil, konservativer Muff und Protest können sich ergänzen, Anreizung und Regulation Hand in Hand gehen. Auch als sich in den späten 1 960er Jahren die sexuelle Revolution entfaltete, legte der Sexualaufklärer Oswald Kolle den bundesdeutschen Ehefrauen im Film nahe, »Deinen Mann, das un bekannte Wesen« kennen zu lernen. Die sexuelle »Befreiung« war zunächst nur die » Befreiung« der Heterosexualität gewesen, und hier wiederum vor allem der männlichen Heterosexualität. Franz Josef Strauß' berühmte Äußerung aus den frühen 1 970er Jahren, es wäre besser, »ein Kalter Krieger als ein warmer Bruder« zu sein, fand weite Zustimmung und verweist auf Beziehungen von Sexuali tät und Politik, die wir schon häufiger erörtert haben [ 1 3 : EDER, 2 1 2-223; 880, 8 8 1 : MICHELER; zum § 1 7 5 vgl. 9 1 3 : SCHULZ]. In der US-amerikanischen Historiografie existiert mittlerweile ein reichhaltiger Fundus an Literatur für die verschiedensten Felder männlicher Sexualitätsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit Blick auf die Geschichte schwuler Männer seien die film- und litera turhistorischen Studien Robert Corbers genannt [801 , 802: COR-
BER] oder das bereits erwähnte Buch von David Johnson über die Veränderung der Lebens- und Arbeitswelten in der US-Hauptstadt Washington und in den Bundesbehörden nach dem Zweiten Welt krieg [8 5 2: JOHNSON; vgl. auch 79 5 : CANADAY]. Auch die Ge schichte der internationalen Beziehungen profitiert stark von der Integration sexualitäts historischer Analysen, auch wenn sich ent sprechend arbeitende Historikerinnen Anfang der 1 990er Jahre noch anhören mussten, »intellectual junk« zu produzieren [906: ROSEN BERG; 8 6 5 : KUKLICK]. Trotzdem ließen sich Forscherinnen und Forscher wie Emily Rosenberg oder Frank Costigliola nicht von ihren Projekten abbringen. Costigliola analysierte beispielsweise die geschlechtlich attributierte und sexualisierte Wahrnehmung und Repräsentation der UdSSR in der Rhetorik des frühen Kalten Krie ges [803 : COSTIGLIOLA]. In eine ähnliche Richtung gehen die Stu dien Robert Deans, der die Gewichtung von heterosexueller Männ lichkeit und Potenz vor allem während der Ära John F. Kennedys herausgearbeitet hat [ I I 5, 8°4: DEAN]. Die Arbeit von K. A. Cuor dileone, die insbesondere die Schnittstellen von internationaler und nationaler sexualisierter Ordnung beleuchtet, haben wir bereits dis kutiert [397: CUORDILEONE]. Auch die Risse in der nur auf den ersten Blick so glatten hetero normativen Fläche der langen 1 9 5 0er Jahre haben wir bereits an gesprochen. Diese Risse haben auch Schriftsteller wie Tennessee Williams, Gore Vidal oder James Baldwin erzeugt, die, so Robert Corber, der kulturellen Unsichtbarkeit des Schwulen etwas ent gegensetzten [80 1 : CORBER]. Eine deutliche Instabilität in der hete ronormativen Matrix erzeugte auch Christine Jorgensen, die erste Transsexuelle, deren Geschlechtsumwandlung in den USA große öffentliche Aufmerksamkeit widerfuhr. »Ex-GI Becomes Blonde Beauty« titelte die »New York Daily News« am I. Dezember 1 9 5 2. Nun wandelte sich Jorgensen vom Soldaten in die blondierte Sex bombe und somit vom prototypischen männlichen zum prototypi schen weiblichen Entwurf dieser Jahre. Dadurch reproduzierte sie einerseits die dominanten Geschlechterstereotypen. Andererseits signalisierte Jorgensen ihren amerikanischen Zeitgenossen, dass die vermeintliche physische Stabilität des biologischen Geschlechts in stabil war, wie die Historikerin Joanne Meyerowitz in ihrem Buch über Transsexualität in den Vereinigten Staaten gezeigt hat. Es ist bezeichnend, dass diese Botschaft in den damaligen USA wenig Widerhall fand und große Irritationen auslöste. Dass Jorgensen 197
in Dänemark operiert und behandelt worden war, spricht für sich [879: MEYEROWITZ]. 15 Von Jorgensen ausgehend, verfolgt Meyerowitz die Geschichte der Transsexualität zurück bis in das Berlin und Wien des frühen 20. Jahrhunderts, wo Mediziner wie Eugen Steinach und Magnus Hirschfeld über die so genannten Zwischenstufen räsonierten, mit operativen Eingriffen und Hormonen arbeiteten und Ende der 1 920er und Anfang der 1 930er Jahre erste Geschlechtsumwand lungen vollzogen wurden. Doch auch dort waren weite Teile der Öffentlichkeit eher verwirrt hinsichtlich der Geschlechterinstabili täten. »Wenn man früher Huhn sagte, so meinte man Huhn, und wenn man Hahn sagte, so meinte man Hahn«, war 1932 in der »Ber liner I llustrierten Zeitung« zu lesen, » aber selbst das Geschlecht besitzt heute nur noch relative Gültigkeit« [793: BULLOUGH; 927: STOFF, 28 1 zum Zitat; 92 5 : STOFF].
Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus
Nach der Machtergreifung im Jahr 1933 zerstörten die Nazis Magnus Hirschfelds Labor in Berlin. Uneindeutige Geschlechter fügten sich nicht in die Entwürfe rassenhygienisch reiner und eugenisch leis tungsstarker Kraftmänner, die wohl Kameraden sein durften, aber nicht durch erotische Kräfte zueinander hingezogen. Wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, war die Geschichte der Stigmatisierung, verschärften Kriminalisierung und Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus eines der zentralen Forschungsthemen der frühen schwulen Geschichtsschreibung in den 1970er Jahren, und sie ist es bis heute geblieben. Für die recht umfangreiche, bis zu den späten 1 990er Jahren erschienene Literatur verweisen wir abermals auf Hergemöllers » Einführung in die Geschichte der Homosexuali täten« [28: HERGEMÖLLER, 1 02- I I 5J. Einen Einblick in die jün gere Forschung gibt der im Jahr 2002 von Burkhard Jellonnek und Rüdiger Lautmann herausgegebene Sammelband über den »Natio nalsozialistischen Terror gegen Homosexuelle« sowie der im selben Jahr erschienene Schwerpunktband von »Invertito« . D i e dort ver sammelten Aufsätze unternehmen eine erste vergleichende Betrach tung der Homosexuellenverfolgung in verschiedenen deutschen 15
Siehe auch Quelle 8 im Quellenteil.
Großstädten während des Nationalsozialismus, sie befassen sich mit kriminalbiologischer Klassifizierung in Graz sowie mit der Inter nierung schwuler Männer im Konzentrationslager Dachau, mit deren Deportation oder Tod [8 5 1 : JELLONNEK/LAUTMANN; 8 8 3 : MICHELER u. a.; 943 : WEINGAND; 8 6 1 : KNoLL; siehe auch 8 8 7: MÜLLERISTERNWEILER; 843: HOFFSCHILDT]. Auch das »Journal of the History of Sexuality« publizierte 2002 ein Sonderheft zum Thema » Sexuality and German Fascism«, das einen noch breiteren Überblick über den Stand der sexualitätshistorischen Forschung zum Nationalsozialismus vermittelt [8 5 3 : JOURNAL OF THE HIS TORY OF SEXUALITY; vgl. weiterhin 8 7 5 : MAIWALD/MISCHLER]. Es sollte nicht vergessen werden, dass das Jahr 1 9 3 3 nicht den Anfang der Repression und Verfolgung gleichgeschlechtlich Begeh render markierte, denn der Paragraf 1 7 5 existierte zu diesem Zeit punkt bereits seit 62 Jahren. Gleichermaßen bedeutete das Jahr 1945 nicht das Ende der Repression oder den kompletten Neuanfang. Auch nach 1945 blieben der Paragraf 1 7 5 in Kraft und männliche Homosexualität kriminalisiert. In den Jahren der frühen Bundes republik stieg die Zahl der rechtskräftig Verurteilten an. Nach der Liberalisierung des Paragrafen 1 7 5 im Jahr 1 969 dauerte es weitere 2 5 Jahre, bis er 1 994 ersatzlos gestrichen wurde. Dass dies nicht die rechtliche Gleichstellung Homosexueller bedeutete, brauchen wir an diesem Punkt nicht weiter zu erläutern [28: HERGEMÖLLER, I I 6-1 2 5 ; 903: RIECHERS; 896: PRETZEL; 8 8 8 : NIEDEN].16 Die Langlebigkeit solcher Homosexuellenfeindlichkeit wird auch durch die Koppelung von Homosexualität und nationalsozialisti schem Staat genährt, die über das Jahr 1 94 5 hinaus in einem breiten politischen Spektrum behauptet wurde. So hat etwa Lothar Mach tans Buch über »Hitlers Geheimnis. Das Doppelleben des Dik tators« im Jahr 2001 die deutsche Presse intensiv beschäftigt. Von der »Bildzeitung« über den »SPIEGEL« bis zur »ZEIT« wurde das Denkmuster des »homosexuellen Nazis« diskutiert [874: MACH TAN]. Wie Susanne zur Nieden in ihrer Einleitung zu dem Band über » Homophobie und Staatsräson« zeigt, war es schon seit den frühen 1 9 3 0er Jahren für Vertreter unterschiedlicher politischer Strömungen äußerst funktional, eine Beziehung von Homosexuali tät, Nationalsozialismus und deutschem Staat zu behaupten. Eine 16
Vgl. auch die einleitenden Ausführungen zu Kapitel 6 über Familien, Väter und Arbeit.
1 99
solche Beziehung wurde von Seiten der Linken als diffamierender Vorwurf an die NS-Bewegung formuliert, der in der Affäre um den SA-Stabschef Ernst Röhm im Juni 1934 auch scheinbar eine Be stätigung erfuhr. Die Röhm-Ermordung markierte den Beginn einer Homosexuellenverfolgung in bis dahin unbekannter Schärfe, mit der der NS-Staat nicht zuletzt diesem angenommenen Zusammen hang entgegenwirken wollte. Die »Ausmerzung« des »homosexuel len Staatsfeindes« sei zu betreiben, propagierten dessen Organe und Vertreter. Andererseits schien schon den zeitgenössischen Kritikern des NS-Staates, wie etwa der linken Exilpresse, die Stichhaltigkeit ihrer Vorwürfe durch die Brutalität und Rücksichtslosigkeit des Vorgehens bestätigt. Weiterhin wurde diese angebliche Verbindung von Homosexualität, Faschismus und » autoritärem Charakter« im Laufe der Jahre zum Baustein einer ersten psychoanalytisch argu mentierenden Faschismustheorie, die sich bis zu Theodor Adorno, Klaus Theweleit und darüber hinaus entfaltete. Den Historikerin nen Susanne zur Nieden und Claudia Bruns ist zuzustimmen, wenn sie bemängeln, dass auf diesem Wege eine innerhalb völkischer Denkmuster entstandene Interpretation durch die Koppelung an Sexualitätskonzepte enthistorisiert und damit fortgeschrieben wurde [ 8 8 8 : NIEDEN; 792: B RUNS/WALTER; vgl. auch 8 3 7: HEWITT; 947: ZINN; 900: REICHARDT]. Zusammenfassend ist herauszustellen, dass die Geschichte der Sexualitäten ein äußerst aktives Feld der historischen Forschung beschreibt, das eng mit sämtlichen anderen Bereichen verwoben ist. Gleichermaßen können sexualitätshistorische Arbeiten häufig nur im Kontext von Fragen der Familiengeschichte und der Vergemein schaftung betrachtet werden, die wir in den anderen Abschnitten ebenfalls ausführlicher behandelt haben. Zugleich sind in der Sexualitätsgeschichte im Allgemeinen und in der Geschichte männlicher Sexualitäten im Besonderen noch viele Fragen offen. Dies gilt erstens für die Themenfelder des mann männlichen Begehrens und der Homosexualität, deren Reichweite hinsichtlich von Gesellschaftskonstitution und politischer Ordnung verschiedene Historiker und Historikerinnen gerade erst zu zeigen begonnen haben. Dies gilt zweitens für viele Bereiche, die bislang eher im Spektrum der Frauengeschichte oder der Kriminalitäts forschung verortet wurden. Hier sei nur die umfassende Historio grafie zum Kindsmord im fortgeschrittenen 1 8 . Jahrhundert he rausgegriffen, für die es unseres Wissens bislang an Betrachtungen 200
aus der Perspektive einer Sexualitäts- und Männlichkeitsgeschichte weithin mangelt. Ähnliches ist von der Forschung zur Geschichte sexueller Gewalt zu sagen. Arbeiten wie die Tanja Hommens über »Sittlichkeitsverbrechen« im Kaiserreich, die versuchen, Täter und Opfer, Männer, Frauen und Kinder, Männlichkeiten und Weiblich keiten, sexualwissenschaftliche Definitionen, deren juristische Aus deutung und subjektbildende Wirkungsmacht ineinander zu ver schränken, markieren einen Anfang, auf dem aufzubauen ist [84 5 , 846: HOMMEN; einige Impulse auch bei 8 64: KÜNZEL]. Ähnlich sieht es mit anderen Themen aus, wie etwa der Geschichte von Pros titution und Männlichkeit, in der entsprechende Arbeiten noch dünn gesät sind. Ein weiteres treffendes Beispiel ist sicher das der Ver hütung. Zwar hat die Geschichte der Verhütung mittlerweile zahl reiche Untersuchungen hervorgebracht, doch zugleich ist sie immer noch Thema einer weithin auf Frauen und Weiblichkeit beschränk ten Geschlechtergeschichte. Selbst in einer Kulturgeschichte des Penis, wie sie D avid M. Friedman jüngst publiziert hat, kommen Verhütung oder Kondome nur am Rande vor [820: FRIEDMAN]Y Am meisten verwundert j edoch, dass die sexuelle Revolution der 1960er Jahre bislang noch nicht Gegenstand tiefschürfender histo rischer Analyse geworden ist. Zu prüfen wäre beispielsweise, wie umfassend und wie schlagartig die so genannte sexuelle Revolution die Gesellschaften dies- wie jenseits des Atlantiks verändert hat. Beth Bailey hat gezeigt, dass der Wandel der Sexualitäten in der US amerikanischen Provinz in den 1960er und 1 970er Jahren nur sehr langsam vonstatten ging [777: BAILEY].
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Eine Recherche in 1 2: EDER unter dem Stichwort »birth control, contra ception« bringt mehr als 200 Resultate zu Tage (der Output ist auf 200 begrenzt). Nimmt man eine Einschränkung auf »male sexuality> primarily about males« vor, so reduziert sich das Ergebnis auf drei zeitgenössische Texte. Eine Recherche (März 2004) in »America: History and Life«, der einschlägigen Literaturdatenbank zur nordamerikanischen Kultur und Geschichte, führt unter dem Stichwort »contraception« zu 84 Ergebnis sen, unter denen ein männlichkeits historischer Blickwinkel keine Rolle spielt. Eine Suche unter dem Stichwort »condom« führte zu sechs Ergeb nissen, unter denen 93 5 und vor allem 936: TONE für uns als einschlägig bezeichnet werden können. Aus der deutschsprachigen Literatur muss hier das B uch von 8 5 4: JÜTTE erwähnt werden, das Männer wie Frauen in die Untersuchung einbezieht.
201
I'
9.
Quellen
Die folgenden Quellenauszüge sollen das Spektrum möglicher Männer- und Männlichkeitsgeschichten am konkreten historischen Material illustrieren. Sie erstrecken sich vom 1 8 . bis zum 20. Jahr hundert und werfen Schlaglichter auf wesentliche Themenfelder wie Sexualität, Familie, Staat, Nation, Sozialität, Krieg, Arbeit, Liebe, Identitäts- und Subjektbildung und andere mehr. Gleichermaßen ha ben wir möglichst viele unterschiedliche Quellengattungen zusam mengetragen, um auch diesbezüglich die Vielfalt der Forschungs möglichkeiten zu signalisieren: Wissenschaftstexte, Historiografie, soziologische Studien, Regierungsberichte, politische Publizistik, Briefe und andere Selbstzeugnisse sowie Fotografien. Überdies ist jedem Quellentext eine kurze Einleitung vorangestellt, die neben einer inhaltlichen Kontextualisierung auch Hinweise auf weiterfüh rende Literatur gibt. Die genannten Forschungsarbeiten von Histo rikerinnen und Historikern können zeigen, wie die spezifischen Quellentexte in breitere Analysen eingebunden werden können. Quelle
I:
Onanie im 1 8. und 19. Jahrhundert
Im Verlauf des 1 8. Jahrhunderts wurde die Onanie als ein Problem beschrieben, das nicht auf das Individuum beschränkt blieb, son dern in die Gesellschaft hinein wirkte. Der Samen galt als bedeu tendster Träger der Lebenskraft, und es hieß, dessen " Vergeudung« bringe immense körperliche Leiden und gesundheitliche Beschwer den mit sich. Kraftverlust und Kontrolldefizite trafen die Funktions fähigkeit des bürgerlichen Mannes in seinem Kern - und zwar fami liär, ökonomisch und politisch. Damit gefährdete die Onanie auch die Existenz und Fortentwicklung von Familie und Gesellschaft. In einer bürgerlichen Kultur, die Mäßigung und Selbstkontrolle zu ihren L eitwerten erhob, repräsentierte der Onanist Kontrollverlust und Exzess, der dort begann, wo Sex nicht auf Reproduktion, sondern auf Lustgewinn ausgerichtet war: Zahlreiche medizinische Lehr bücher predigten seit dem 1 8. Jahrhundert diese vielfältigen Gefah ren der Onanie. Sehr weit verbreitet war der Text Samuel A. Tissots, der 175 8 erstmals auf Latein erschien, dann in verschiedenen Spra chen über siebzig Auflagen durchlief und bis zu seiner Überarbei tung in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als 100 ooo-mal unver203
ändert gedruckt wurde. Die letzte französische Edition erschien im jahr 1905. Wir geben im Folgenden die Einleitung der deutschspra chigen Ausgabe von 1776 wieder. Dieser Textauszug wird ergänzt durch den Brief eines Patienten an seinen Arzt aus dem jahr 1 8]], der verdeutlicht, wie sehr die männliche Subjektbildung innerhalb einer Wahrnehmungswelt stattfand, die von medizinischen Abhand lungen wie der Tissots geprägt war. Zur weiteren Einordnung der Quellen und ihrer Analyse seien folgende Texte empfohlen: Martin DINGES: Männlichkeitskonstruktion im medizinischen Diskurs um 183 0. Der Körper eines Patienten von Samuel Hahnemann, in: jür gen MARTSCHUKAT (Hg.): Geschichte schreiben mit Foucault, Frank furt/M. 2 002, 99-125 ; Michael STOLBERG: Self-Pollution, Moral Re form, and the Veneral Trade. Notes on the Sources and. Historical Context of Onania (1716), in: journal of the History of Sexuality 9 (2 000), 37-61; Thomas W. LAQUEUR: Solitary Sex. A Cultural His tory of Masturbation, Cambridge, MA, 2 003.
Samuel A. TISSO T: Von der Onanie, oder Abhandlung über die Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren, Eisenach 1776 (nach der vierten Auflage übersetzt), 1-6:
Versuch über die Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrüh ren. Einleitung [ . . . ] Der Bau unserer Maschine [ . . . ] bringt es so mit sich, daß [ . . . ] eine gewisse Menge solcher Säfte, die bereits ausgearbeitet, und, so zu sagen, naturalisiert sind, vorräthig bleiben muß. Wo dieses nicht geschieht, da bleibt die Verdauung und Kochung der Nahrungsmit tel unvollkommen, und zwar um desto mehr, je ausgearbeiteter die ermangelnde Feuchtigkeit, und je edler sie in ihrer Art ist. Zapfet einer gesunden starken Amme innerhalb vier und zwanzig Stunden etliche Pfund Blut ab, so wird sie sterben. Indessen wird eben diese Amme, ohne merkliche Beschwerde, ihrem Kinde täglich einige Pfund von ihrer Milch abgeben können, weil unter allen Säf ten die Milch am wenigsten ausgearbeitet ist; sie ist beynahe noch als ein fremder Saft anzusehen, da hingegen das Blut ein wesent licher Saft ist. Wir sind noch mit einem anderen Safte, nämlich der Saamenfeuchtigkeit, versehen, die einen so starken Einfluß auf die Kräfte des Körpers, und auf die Vollkommenheit der zum Ersatz 204
jener Kräfte erforderlichen Verdauung hat, daß die Aerzte aller Zei ten einmüthig dafür gehalten haben, der Verlust einer Unze Saamens schwäche den Körper mehr, als der Verlust von vierzig Unzen Bluts. Um sich einen Begriff zu machen, wieviel an dieser Feuchtigkeit gelegen seyn müsse, darf man nur auf die Wirkungen Acht geben, die sich zu äußern pflegen, wenn sich dieselbe zum erstenmal bey uns zu erzeugen anfängt; die Stimme, die Physionomie [siel], selbst die Gesichtszüge verändern sich; der Bart sticht hervor; oft be kommt der ganze Körper ein anderes Ansehen, weil die Muskeln eine Dicke und Festigkeit erlangen, wodurch sich der Körper eines Erwachsenen, und der Körper eines noch unmannbaren jungen Menschen, sichtbar voneinander unterscheiden. Alle diese Entwick lungen verhindert man durch die Abnehmung des Gliedes, das zur Absonderung derjenigen Feuchtigkeit dient, welche dieselben her vorbringt; und wahrhafte Beobachtungen beweisen, daß auf die Aus schneidung der Hoden das Ausfallen des Barts und eine weibische Stimme erfolgt ist. Kann man nach diesem noch zweifeln, daß der Saame einen starken Einfluß auf den Körper habe? und [sie l] sollte man nicht schon hieraus abnehmen können, wie viele schädliche Folgen die Verschwendung eines so kostbaren Safts haben müsse ? Seine Bestimmung setzt das einzige rechtmäßige Mittel fest, sich seiner zu entledigen. Krankheiten können zuweilen sein Ausfließen verursachen. Er kann uns auch, gegen unseren Willen, in wollüsti gen Träumen entgehen. [ . . . ] Wenn die gefährlichen Folgen des allzu häufigen Verlustes diese Saftes blos von seiner Menge abhiengen, oder wenn sie, bey gleicher Menge desselben, einerley wären, so würde, wenn wir die Sache physisch betrachten, wenig daran gelegen seyn, ob die Ausleerung auf diese, oder auf eine andere von den hier angezeigten Arten geschähe. Allein, hier kommt die Figur und Stellung, in der der Saame verschüttet wird, eben so sehr in Betrachtung, als die Menge des Vorraths, der dabey verlohren geht. [ . . .] Eine allzubeträchtliche Menge Saamens, die auf natürliche Art verlohren geht, zieht sehr verdriesliche Uebel nach sich; aber diese U ebel sind noch weit ärger, wenn eben dieselbe Menge durch widernatürliche Mittel ausgeleeret wird. Diese Zufälle, welche diejenigen erfahren, die sich in einer natürlichen Beywohnung erschöpfen, sind schrecklich; aber die Zu fälle, die auf die Selbstbefleckung folgen, sind weit schrecklicher. Diese letztem sind der eigentliche Gegenstand meines Werks.
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Brief vom 18. November 1 833 von Kantor Schuster aus Lagow in der Neumark bei Posen an den homöopathischen Arzt Samuel Hah nemann, aus dem Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart, Bestand Patientenbriefe, Nr. 3 1076, I f, hier nach DINGES: Männlichkeitskonstruktionen, in: MARTscHuKAT (Hg.): Geschichte schreiben mit Foucault, 106f:
Wohlgeborener Herr, Höchstverehrtester Herr Doctor, Sie werden verzeihen, wenn ein Unglücklicher sich an Sie wendet, um Ihre Güte in Anspruch zu nehmen und dadurch sich aus einer traurigen Lage zu retten. Ich bin den 1 4ten Juni 1 803 von gesunden Eltern geboren und hatte das Unglück, in einem Alter von 8 Jahren das Laster der Onanie kennen zu lernen. Ganz unbekannt mit den höchst traurigen Folgen desselben für mich übte ich es bis in mein 1 8tes Lebensjahr aus. Erst im Jahre 1 8 20 kam mir Beckers Buch »über Onanie u. s. w." in die Hände und wurde dadurch zuerst über mein Unglück belehrt, nachdem ich dis Laster 1 0 Jahre lang geübt hatte. Ich laß, erschrak und nahme meine Maßregeln danach: nur die kräftigen Bäder, welche darin empfohlen wurden, wendete ich nicht an: weil ich als Gehilfe meines Vaters nicht mehrere hunder [sic !] Thaler dafür verwenden konnte: trug aber dagegen Flanell hemden, welche dasselbe bewirken sollen und welche mir auch wirk lich den heftigen, mehrere Tage anhaltenden und wenigstens alle vier Wochen wiederkehrenden fließenden Schnupfen so weit hoben, daß ich ihn jährlich, wenn nicht eine Erkältung von Bedeutung vor kam, nur I bis 3 mal auszustehen habe. Diät lebte ich so ziemlich, brauchte auch dabei Moosschokolade und Stahlelexier; aber bei alle dem und einer nährenden Diät verspürte ich sonst keine Besserung, als Verminderung der nächtlichen Pollutionen, deren ich jetzt alle 6 bis 8 Wochen nur eine habe: Obwol ich weder zu wenig noch zu nahrlos esse. Nebenbei kaufte und laß ich über diese Krankheit und Diätetik und specielle Krankheiten mehrere Bücher, so daß ich selbst gegen 20 besitze und mit den geliehenen wol über 30 medici nische Bücher gelesen habe. Sie sehen sogleich hieraus: wie tief ich meine Krankheit fühlte und wie sehr ich gestrebt habe, mich zu hei len. Ich suchte jedes Mittel, deren ich nur zur Beförderung meiner Gesundheit benutzen zu können glaubte durch medicinische Bü cher kennen zu lernen . . .
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Quelle 2: Väter und Vaterschaft um 1 800 Aufklärung und die aufkommende bürgerliche Gesellschaft waren von einem intensiven Diskurs um die so genannten » Geschlechter charaktere« getragen. Vermeintlich »natürliche Wesensarten« von Frauen und Männern wurden bestimmt, und deren häusliches Zu sammenleben war Thema angeregter Erörterungen. Dabei wurde eine auf biologischen und emotionalen Bindungen basierende Kern familie als ideale Lebensform entworfen. Für den Vater war hier die Funktion des Familienvorstands bestimmt, der für den Schutz seiner Familie und deren Wohlergehen Sorge zu tragen hatte. Dies bezog sich nicht nur auf das finanzielle und materielle Befinden, sondern er durfte auch das liebevolle Miteinander und die »häusliche Glück seligkeit« nicht vernachlässigen. Die folgende Quelle stammt aus der Feder eines Vaters, der diesen bürgerlichen Idealen anhing. Der Hamburger Lehrer und Gewerbetreibende Johann Georg Rüsau skizziert dort seinen Lebensentwurf, und dabei stellt er als Vater und Ehegatte insbesondere das Verhältnis zu seiner Familie dar. Der Text zeigt, wie sehr Rüsaus Selbstbild und seine männliche Identität von den dominanten Diskursen, dem Streben nach materiellem Er folg und familiärem Glück gespeist waren. Prekär wird dieser Selbst entwurf insbesondere dadurch, dass sich Rüsau der Verzweiflung über seinen ökonomischen Misserfolg hingegeben und im August 1 803 seine Ehefrau und fünf Kinder ermordet hatte, da er geglaubt hatte, sie aufgrund seiner väterlichen Pflicht und Liebe vor der Ver armung bewahren zu müssen. Sein darauf folgender Selbstmord versuch war gescheitert. Das hier wiedergegebene Schriftstück hat er am 4. Oktober 1 803 im Zuge des Gerichtsverfahrens verfasst, als er aufgefordert worden war, seinen persönlichen Werde- und Bildungs gang darzustellen. Eine tiefergehende Analyse der Quelle findet sich beiJürgen MARTSCHUKAT: »Ein Mörder aus Liebe«. Über Vater schaft, Fürsorge und Verzweiflung an der Wende vom 1 8. zum 19. Jahrhundert, in: WerkstattGeschichte 29 (2 001), 8-2 6. Für eine Diskussion von Bürgertum und Geschlechtern in Hamburg siehe Anne- Charlott TREPP: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weib lichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1 840, Göttingen 1996.
Staatsarchiv Hamburg, I I I - I, Senat, Cl. VII Lit. M e Nr. 8 Vol. 13: Untersuchung gegen Johann Georg Rüsau, enthält auch Messer, 1 8°3-18°4: Selbstauskunft Rüsaus über seinen Werdegang, 4. Okt. 1 80]:
Über den Gang meiner Bildung, und die sich darauf beziehende Geistesrichtung, kann ich mich jetzt gar nicht besinnen, so viel kann ich nur sagen, daß beyde nicht den geringsten Einfluß auf mein letz tes schreckliches Verbrechen haben konnten. Ich liebte die Meinigen und suchte mit meiner geliebten Frau durch vereinigte Thätigkeit unser gemeinschaftliches Wohl zu befördern, und verzeihe mir Gott nach seiner wunderlichen Barmherzigkeit! Ich wurde der Mörder der von mir geliebten Gegenstände. Meine Grundsätze, Meinungen und Neigungen, alles widerspricht dieser Gewaltthat. Ich glaubte an Gott, [ . . .] vor Mord schauderte meine ganze Seele; je weniger ein Unrecht konnte gut gemacht werden, desto unverzeihlicher war mir dessen begehen, und so viele Sünden ich auch begangen habe, so waren sie doch nie von der Art, daß sie nicht wieder konnten gut gemacht werden. Mit Vorsatz that ich Niemandem selbst meinem Feind nie wehe und geschah es ja aus irgend einer Uebereilung, so suchte ich [es] wieder gut zu machen so gut ich konnte. Aber meine letzte schaudervolle That, wie die wieder gut machen? Gott mein Gott erbarme dich meiner. Wie ich meine Schule in vergangenen Jahren, theils wegen einiger dabey gehabten Verdrießlichkeiten, theils wegen meiner schwächlichen Gesundheitsumstände, und theils we gen Abnahme der Schulkinder, deren Anzahl sich zuletzt nur auf zehn belief, aufgab, so hatte ich dabey die einzige Absicht, daß, wenn mich Gott von der Welt abrufen sollte, das künftige Fortkom men für meine gute liebe Gattin und unversorgten guten lieben Kinder, durch eine anzulegende Handlung, die zum Vortheile der Meinigen, auch nach meine Tode könnte fortgesetzt werden, zu sichern, wenigstens zu erleichtern. Ach Gott hätte ich das doch nie gethan! Hätte ich doch nicht in deine weise gütige Regierung gegrif fen, das Unglück wäre nicht geschehen, und mein Gewißen würde mir jetzt nicht die marternden Vorwürfe machen. Bey meiner Schule hatte ich so viel, daß ich alle Bedürfnisse befriedigen konnte, ich legte noch was zurück, kurz, ich stand mich gut. Das konnte ich mir durch das neu gewählte Geschäfte und nun schon ein Jahr geführten kleinen Handlung nicht versprechen. - Ich habe mich wenigstens in meiner Vorstellung darüber schrecklich getäuscht. Meine liebe thä208
tige Frau konnte ich in diesem Jahre nicht mehr, wie ich sonst gewohnt war, unterstützen. Zudem hatte ich Schulden, die ich nicht zu tilgen wußte, dies versetzte mich in Unruhe, ich hoHte sie durch ein aufzunehmendes Capital zu heben, das schlug fehl, meine Un ruhe, meine Angst wuchs, ich fiel auf den schrecklichen Gedanken mich zu entleiben, nur der künftige Zustand der geliebten Meinin gen hielt mich davon ab; denn wie ich in meiner innigsten Ein bildung dieselben [ . . .] grenzenlos elend und jammervoll sahe, wie meine gute Frau für sich und die kleinsten Kinder Andere um Hülfe ansprechen, betteln müßte, meine beyden zärtlich geliebten älteren Töchter [ . . . ] der Verachtung und Noth - und wozu treibt nicht ziemliche Noth! - ausgesetzt; diese Vorstellung schmetterte mich zu Boden; ich hatte keinen Muth mich aufzurichten, ich glaubte mich von Gott ganz verlaßen, ohne Wunder konnte Gott mir nicht hel fen, diese - wie ich jetzt einsehe - übertriebenen Vorstellungen zer rütteten meine ganze Seele, und machten mich, an einem unglück lichen Morgen [ . . . ] zum schändlichsten Mörder meiner mich so zärtlich liebenden Gattin und fünf gut gebildeten und hoHnungs vollen Kinder, die ich so herzlich liebte, die mir so viele Freude gemacht hatten - Gott sey mir armen Sünder gnädig und erbarme dich meiner [ . . ] . Johann Georg Rüsau 4. Octob. 1 803 .
Quelle
3:
»Das Geschlecht des Staates und der Geschichte« I 9. Jahrhundert
Die akademisch-wissenschaftliche Historiografie, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausbildete, machte das Wirken von Staaten und » Großen Männern« zum Gegenstand der Geschichte. Sie wur den als die treibenden Kräfte des Weltgeschehens und somit als die einzig wirklich relevanten Gegenstände historischer Forschung skiz ziert. Auf diese Weise trug die Geschichtsschreibung zur Entfaltung von Staats- und Männlichkeitsentwürfen bei, die sich wechselseitig stützten. Sowohl der Staat als auch ein »echter Mann« wurden als willensfähig und charakterfest skizziert, als rational agierend, tat kräftig und auch jederzeit bereit, physische Kräfte zu entfalten, wenn es nötig schien. Der Staat war als männlich konzipiert, und Männer als staatstragende Wesen. »Männer machen die Geschichte«, wie der Berliner Historiker Heinrich von Treitschke 1 879 in seiner »Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert« postulierte [35 f: TREITSCHKE, 2 8]. Der auf den folgenden Seiten abgedruckte Auszug aus von Treitschkes Vorlesungen über »Politik« von 1 897 lässt erkennen, dass mit dem Staat nicht nur die Geschichte, sondern auch die damalige Geschichtsschreibung männlich gedacht war. Er bringt außerdem eine völkische und antisemitische Grundhaltung zum Ausdruck, die das Geschichtsbild weiter Teile des deutschen Bürgertums und des deutschen Nationalismus durchzog und mit den herrschenden Männlichkeitsentwürfen korrespondierte. Hinsichtlich des Geschlechts von Staat, Geschichte und Geschichtsschreibung und zur weiteren Einordnung dieser und ähnlicher Quellen können fol gende Texte hilfreich sein: Ute FREvERT: » Unser Staat ist männlichen Geschlechts«. Zur politischen Topographie der Geschlechter vom 1 8. bis frühen 2 0. Jahrhundert, in: DIES., »Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995, 61-132; Barbara STOLLBERG-RILINGER: Väter der Frauen geschichte? Das Geschlecht als historiographische Kategorie im 1 8. und 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 2 62 (1996), 3 9-71.
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Heinrich von TREITSCHKE: Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, Bd. 1, Leipzig 4 1918 (1 897), 13-75, 2 5 1-253, Auszüge:
Erstes Buch: Das Wesen des Staates Zum Wesen der Menschheit gehört der politische Trieb, der Drang der Staatsbildung ebenso unentbehrlich wie der Trieb der Sprach bildung. [ . . . D]ie politische Fähigkeit [ist] eine jener Grundgaben des Menschen, ohne welche wir überhaupt nicht Menschen wä ren. [ . . . ] Eine juristische [ . . . ] Person ist der Staat zu allen Zeiten gewesen. Noch deutlicher zeigt er sich als eine Persönlichkeit im moralisch historischen Sinne. Die Staaten sind historisch aufzufassen als die großen Gesamtpersönlichkeiten der Geschichte, sie sind der Zu rechnung und Schuld sehr wohl fähig, ja man kann von einer recht lichen Schuld des Staates reden. Vor allem aber kann man von einem Charakter des Staates reden. Ebensowie dem einzelnen Menschen gewisse Charaktereigenschaften anhaften, die er nicht ändern kann, er mag daran arbeiten soviel er will, ebenso hat ein Staat gewisse Züge, die er nicht verwischen kann. [ . . . ] Der Wille aber ist das Wesen des Staates. [ . . . ] Man soll den Willen, die köstlichste Kraft aus dem Leben des Staates nicht streichen. [. . .] Die Geschichte trägt durchaus männliche Züge, für sentimentale Naturen und für Weiber ist sie nicht. Nur tapfere Völker haben ein sicheres Dasein, eine Zukunft, eine Entwicklung; schwache und feige Völker gehen zugrunde, und von Rechts wegen. In diesem ewigen Für und Wider verschiedener Staaten liegt die Schönheit der Geschichte; diesen Wettstreit aufheben zu wollen ist einfach Unver nunft. Das hat die Menschheit zu allen Zeiten empfunden. [ . . .] Betrachten wir [ . . . ] unsere Definition: » Der Staat ist das als un abhängige Macht rechtlich geeinte Volk«, so können wir das kürzer auch so ausdrücken: der Staat ist die öffentliche Macht zu Schutz und Trutz. Der Staat ist zunächst Macht, um sich zu behaupten. [ . . . D]er Staat schützt und umfaßt das Leben des Volkes äußerlich ordnend nach allen Seiten hin. Er fragt grundsätzlich nicht nach der Gesinnung, er verlangt Gehorsam; seine Gesetze müssen gehalten werden, ob gern oder ungern. Es ist ein Fortschritt, wenn der stille Gehorsam der Bürger zu einer inneren, vernünftigen Zustimmung 211
wird, unbedingt notwendig aber ist diese Zustimmung nicht. [ . . . ] Der Staat sagt: mir ist es ganz einerlei, was ihr dabei denkt, aber gehorchen sollt ihr. Das ist der Grund, warum zarte Naturen das Staatsleben so schwer verstehen; von Frauen kann man durch schnittlich sagen, daß sie normalerweise erst durch ihre Männer Verständnis erhalten für Recht und Staat, wie der normale Mann für das Kleinleben der Wirtschaft von Natur keinen Sinn hat. Man kann das vollkommen begreifen, denn hart ist der Gedanke der Macht freilich, sich durchzusetzen ganz und unbedingt ist hier das Höchste und Erste. [ . . . ] Daraus erklärt sich, daß die Macht der Ideen im Staate nur be dingte Bedeutung hat; ganz gewiß ist sie eine sehr große, aber Ideen allein bewegen politische Mächte nicht vorwärts. Eine Idee muß erst einen praktischen Machtrückhalt haben an den Lebensinteressen eines Volkes, um als Macht auf das Staatsleben einzuwirken. [ . . . ] Ganz gewiß sind die eigentlichen Schöpfer des Deutschen Reiches Kaiser Wilhelm und Bismarck gewesen, nicht etwa Fichte, Paul Pfit zer oder andere Pfadfinder. Auch den großen politischen Denkern bleibt ihr Ruhm, aber nicht sie sind die eigentlichen historischen Helden, sondern die Männer der Tat; um gestaltend im Staatsleben zu wirken, ist vor allem nötig die Kraft des Willens. Und so sind eine große Anzahl von Staatengründern auch nicht als Genies zu bezeichnen. Genial an Kaiser Wilhelm war nicht sein Genie, es war sein ruhiger, fester Wille, eine Gabe, die viel seltener ist als man ge wöhnlich meint. Diese Kraft des Charakters war seine Stärke. [ . . . ] Der Staat ist, wie wir gesehen haben, nicht das ganze Volksleben, er urnfaßt es nur schützend und ordnend. [ . . . ] Der Staat kann nur wirken durch äußeren Zwang, er ist nur das Volk als Macht; aber damit ist unendlich Viel und Großes gesagt, denn im Staate betäti gen sich nicht nur große Grundkräfte der menschlichen Natur, er ist auch Voraussetzung für alles Volksleben. Man kann kurzweg sagen: ein Volk, das nicht imstande ist für sein Kulturleben sich eine äußere Ordnung im Staate zu schaffen und zu behaupten, verdient als Na tion zu Grunde zu gehen. Das tragischste Beispiel eines ursprüng lich sehr reich begabten Volkes, das nicht imstande war seinen Staat zu behaupten, sind die Juden, die jetzt in aller Welt zerstreut sind. Ihr Leben hat etwas krankhaftes, denn kein Mensch kann zugleich zwei Völkern angehören. Der Staat ist also nicht nur an sich selbst ein hohes sittliches Gut, sondern auch die Voraussetzung für das dauernde Dasein der Völker. Erst im Staate kann die sittliche Ent2 12
wicklung der Menschen zur Vollendung kommen. Das lebendige Staatsgefühl ist für ein Volk als Ganzes was das Pflichtgefühl für den Einzelnen ist. Darum kommt alle historische Betrachtung schließlich immer wieder zurück auf den Staat, denn zu allem Wollen gehört ein wol lendes Wesen. Wo ist das zu finden im historischen Leben? Wo sind die Gesamtpersönlichkeiten, welche in der Geschichte miteinander ringen? Nicht von einer Volksseele soll man reden, das ist eine modisch gewordene Gelehrten-Verirrung, die vergehen wird wie der Schnee vom vergangenen Jahr; wie kann man sagen, daß die Volksseele in einem bestimmten Moment etwas beschlossen hätte? Macaulay hat zuerst die Behauptung aufgestellt, die Zeit der poli tischen Geschichte sei vorüber, es komme jetzt darauf an, Kultur geschichte zu schreiben. Er war aber bedeutend genug, um selber nicht nach diesem Rezept zu handeln. Wer das ewige Werden als das Wesen der Geschichte erkennt, der wird begreifen, daß alle Ge schichte zuerst politische Geschichte ist. Die Taten eines Volkes muß man schildern; Staatsmänner und Feldherren sind die histo rischen Helden. Gelehrte und Künstler gehören auch mit zur Ge schichte, aber das geschichtliche Leben geht nicht in diesem idealen Schaffen auf. Je weiter man sich vom Staate entfernt, je mehr ent fernt man sich vom historischen Leben. [ . . . ] Wenn ein Historiker keinen politischen Sinn hat, ist alle seine philosophische Gelehrsam keit nicht imstande in den Kern der Geschichte einzudringen. Er muß den politischen Blick haben, um zu sehen, wo im Staatsleben die Ideen der Zeit richtig oder unrichtig verstanden werden. Rein kulturgeschichtliche Werke, die vom Staate und der Welt der Tat absehen, haben immer etwas Lückenhaftes. [ . . . ] Überdenkt man scharf das alles, so kommt man immer wieder zu dem Ergebnis: alle Geschichte ist vor allen Dingen eine Darstellung der res gestae und der handelnden Staatsmänner. Der Historiker muß einen freien politischen Blick besitzen, um die Begabung des Staatsmannes in ihrer ganz spezifischen Eigenart zu verstehen. Das Wesentliche an jedem großen Staatsmann ist die Kraft des Willens, der massive Ehrgeiz, die leidenschaftliche Freude am Erfolg. Wer keine Freude am Erfolg hat, ist kein Staatsmann. [ . . ] Die Helden eines Volkes sind die Gestalten, welche die jugend lichen Gemüter erfreuen und begeistern, und unter den Schrift stellern bewundern wir als Knaben und Jünglinge die am meisten, deren Worte erklingen wie Trompetengeschmetter. Wer sich hieran .
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nicht erfreut, der ist zu feig, um selbst die Waffen für das Vaterland zu führen. [ . . . ] Arisches Völkerleben verstehen die nicht, die den Unsinn vom ewigen Frieden vortragen; die arischen Völker sind vor allen Dingen tapfer. Sie sind stets Mannes genug gewesen, mit dem Schwerte zu schützen, was sie mit dem Geist errungen hatten. So hat Goethe einmal gesagt: die Norddeutschen waren immer zivi lisierter als die Süddeutschen. Jawohl, denn sehen Sie sich einmal die Geschichte der Fürsten Niedersachsens an, die haben sich im mer geschlagen und gewehrt, und darauf kommt es an in der Ge schichte. [ . . . ] Man muß sich alle diese Dinge nicht allein bei der Studierlampe betrachten. Dem Historiker, der in der Welt des Willens lebt, ist sofort klar, daß die Forderung eines ewigen Friedens reaktionär ist von Grund aus; er sieht, daß mit dem Kriege alle Bewegung, alles Werden aus der Geschichte gestrichen werden soll. Immer sind es nur die müden, geistlosen und erschlafften Zeiten gewesen, die mit dem Traum des ewigen Friedens gespielt haben. [ . ] . .
Zweites Buch: Die sozialen Grundlagen des Staates [ . . . ] Man soll nun nicht gedankenlos verfahren. Man muß sich zunächst den Unterschied klar machen zwischen männlichem und weiblichem Geist. Es ist ein gänzliches Verkennen der Natur, wenn Aristoteles und viele andere das Weib an sich tiefer stellen wollen als den Mann. In vielen Dingen steht es viel höher; eine solche Macht der Liebe wie die der Mutter gegen ihre Kinder hat kein Mann zu Gebote. Wohl aber ist gewiß, daß beiden Geschlechtern eine ver schiedene Methode des Denkens natürlich ist: beim Manne herrscht der Verstand, beim Weibe das Gefühl. Der Mann ist dermaßen Logi ker, daß man sagen kann: ein Mann, der gar keinen Verstand hat, hat auch kein feines Gefühl. Wenn ein Mann wirklich ganz dumm ist, dann kann er auch nicht mehr fein empfinden. Aber bei Frauen steht es umgekehrt, sie empfangen das Bild der Welt durch das Ge fühl. Jeder kennt Frauen, die keineswegs geistreich sind, deren Be gabung kaum mittelmäßig ist, und die doch das Glück ihrer ganzen Umgebung ausmachen durch die Kraft ihres tiefen und sicheren Gefühls. [ . . . ] Fragt man nun weiter, welche Berufe sind es, die man den Frauen zugänglich machen kann, so ist leider die Zahl gar nicht so groß. Ausgeschlossen ist zunächst jede wirkliche obrigkeitliche Tätigkeit. Obrigkeit ist männlich, das ist ein Satz, der sich eigentlich von selbst 214
versteht. Von allen menschlichen Begabungen liegt keine dem Weibe so fern wie der Rechtssinn. Fast alle Frauen lernen was Recht ist erst durch ihre Männer; sie müssen lernen, die Welt durch Männeraugen zu betrachten, bis sie begreifen, was Recht ist. Im Staate gilt es, ver standesmäßig und ohne Ansehen der Person zu handeln. Beides vermag nur der Mann. Es würde das Zweite einer Frau kaum j emals möglich sein, da sie vermöge ihrer größeren Gemütstiefe unwillkür lich sofort Partei ergreift. Dazu das rein physische Moment, das Regieren bedeutet: bewaffneten Männern gebieten, und daß bewaff nete Männer sich den Befehl eines Weibes nicht gefallen lassen. Eigentlich obrigkeitliche Ämter kann das Weib also nicht bekleiden. Man macht neuerdings in Kanada Experimente mit dem weib lichen Wahlrecht, die nur als eine Frivolität bezeichnet werden kön nen. Das wagte man nur weil man sich sagte: das ist Spiegelfechterei, um den großen Haufen zu gewinnen. Bei Ausübung dieses Rechtes durch Frauen sind doch nur zwei Fälle möglich. Entweder die Frau und etwa auch die Tochter stimmt wie der Mann und Vater, und damit ist ein unbegründetes Vorrecht der verheirateten Männer geschaffen - oder Frau und Tochter taugen nichts, dann stimmen sie gegen den Mann, und so trägt der Staat seinen Streit frivol hinein in den Frieden des Hauses, wo man gerade sich ausruhen soll vom Lärm des politischen Lebens.
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Quelle 4: Männlichkeit und jüdisch-deutsche Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg Für die jahrzehnte um 1900 ist eine Virilisierung und Militarisie rung des hegemonialen Männlichkeitsentwurfs zu diagnostizieren. Zugleich stützte sich der Antisemitismus zunehmend aufdas Stereo typ »jüdischer Feigheit« und somit auf eine angeblich inhärente Un männlichkeit jüdischer Männer, von denen es hieß, sie taugten nicht zum Soldatendasein. Deutlich ist hier zu sehen, wie sich rassistische Diskriminierung, Geschlechtsentwürfe und soziopolitische Konfigu ration wechselseitig bedingen und stützen. Der folgende Quellen auszug zeigt außerdem, inwieweit Entwürfe von »Rasse« und Ge schlecht subjektbildend wirken können. Männer wie der jüdische Frontsoldat Leo Leßmann, dessen Feldpostbrief vom 16. September 19 14 an seine Eltern hier abgedruckt ist, waren zwar durch rassis tische und geschlechtliche Zuschreibungen marginalisiert, sie be stärkten aber wiederum scheinbar paradoxerweise durch ihren Selbstentwurf und ihre Verhaltensweisen das Ideal heroischen und körperbetonten Mann- wie Deutschseins. Nichtsdestoweniger ver stärkte sich mit anhaltendem Krieg und wachsender Unzufrieden heit die Diffamierung jüdischer Soldaten als Sündenböcke und Drückeberger. Wer sich über den Umgang mit der Quelle und über die Männlichkeitsgeschichte deutscher juden in den ersten Dekaden des 2 0. jahrhunderts weiter informieren möchte, sei auf folgen den Aufsatz verwiesen: Greg CAPLAN: Militärische Männlichkeit in der deutsch-jüdischen Geschichte, in: Die Philosophin 1 1,22 (2 000), 85-100. Zu Feldpostbriefen als Quellengattung vgl. das entsprechen de Themenheft von Ulrike jUREIT (Hg.): Feldpostbriefe. WERKS TATT GESCHICHTE 8,22 (1999).
Brief des Unteroffiziers der Artillerie Leo Leßmann, Hamburg, vom 1 6. September 1914, abgedruckt in: Eugen TANNENBAUM (Hg.): Kriegsbriefe deutscher und österreichischer juden, Berlin 1915, 25-27.
Meine lieben Alten! In fliegender Hast und Eile ein paar Zeilen. Seit dem 6. d. M. befin den wir uns in einer mörderischen Schlacht, in der wir uns nunmehr jenseits der Aisne auf einer Höhe verschanzt haben, die wir lebendig 216
unseren Feinden nicht überlassen werden. Erlaßt es mir, Euch von diesem Ringen heute Einzelheiten zu schreiben; es ist zu furchtbar. Meinem Batteriechef, der sich mir gegenüber einmal äußerte, daß er sich wundere, daß ich als Jude ein so guter Soldat wäre, habe ich endlich auch den Beweis persönlichen Mutes geben können. Also hört: Am 8. d. M. mußten wir eine Stellung aufgeben und wegen Pferdemangels unsere sechs Munitionswagen auf dem Kampffeld lassen. Am nächsten Tage wurde die Batterie zusammengerufen, und auf das Kommando »Freiwillige vor« trat ich sofort als einziger Unteroffizier vor und erbot mich, die sechs Wagen wieder aus dem feindlichen Gelände zu holen. Von den Segenswünschen meiner Batterie begleitet, machte ich mich dann mit zehn erprobten Leu ten und zwei Bespannungen bei anbrechender Dämmerung auf den Weg, verständigte mich mit unserem Infanterievorposten und pirschte mich dann an die Wagen zuerst einmal allein, auf dem Bauch kriechend heran, um mich von ihrer Transportfähigkeit zu überzeugen. Dann holte ich meine Leute mit den Protzen und holte erst einmal vier Wagen, brachte die in Sicherheit und holte alsdann die übrigen zwei, sowie viele lose Munition, Geschützzubehör und unsere Toten. Zweimal riefen mich feindliche Patrouillen an, drei Schuß wurden auf uns abgegeben. Vor dem äußersten Schützengra ben empfing mich unser Regimentskommandeur, gab mir die Hand und sagte: »Das haben Sie sehr brav gemacht, Kamerad, ich danke Ihnen.« - Na, das Märchen von der »jüdischen Feigheit« habe ich wenigstens für unser Regiment wohl gründlich zerstört. Und wenn mir kein anderer Lohn wird, so ist mir dies Bewußtsein überreich lich genug. Schickt mir bitte recht oft kleine Pakete mit Schokolade, sauren Bonbons, Scheibendauerwurst und anderen Nahrungsmitteln. Ihr könnt Euch ja gar nicht vorstellen, wie sehr wir solche Sachen brau chen. Stellt Euch vor: seit zwölf Tagen haben wir trotz der stür mischen, regnerischen Nächte kein Zelt mehr über uns und kein Bund Stroh mehr unter uns gesehen, sondern stets in den Pfützen und Morästen der Stoppelfelder biwakiert. Mir geht's, das könnt Ihr mir glauben, trotz allem und allem noch immer ausgezeichnet! Ich bin guten Mutes und sehe getrost in die Zukunft! Es küßt Euch Euer Leo.
217
Quelle
5:
»Der Männerbund«
-
1919
Seit dem späteren 19. Jahrhundert waren Vorstellungen »wahrer Männlichkeit« nicht nur zunehmend militant, sondern auch bün disch geprägt. In die vielfältigen Diskurse über die vermeintliche Revitalisierung und Revirilisierung des Mannes und des Staates schrieben sich auch die so genannten »Maskulinisten« ein. Sie räum ten der Sexualität in den Männerbundtheorien einen besonderen Platz ein. Die mann-männliche Erotik galt ihnen als Grundlage des Sozialen. Zentral war außerdem, dass dem Männerbund als solchem ein Wert an sich beigemessen wurde. Die Männerfreundschaft rückte an Stelle der Familie in das Zentrum menschlichen Gemeinwesens, wie der Zoologe Benedict Friedländer als einer der wesentlichen Männerbundtheoretiker formulierte. Getragen von nationalisti schem wie rassistischem Denken, galt der Staat als vollkommener Männerbund, der als zweckfreie Gemeinschaft unter der Führung ihrer Besten seine größte Dynamik und Wirkkraft entfalten sollte. Wir geben im Folgenden Passagen aus den Schriften des Sexual wissenschaftlers und konservativ-revolutionären Chronisten der Wandervogelbewegung, Hans Blüher, wieder. Blüher popularisierte Positionen der »Maskulinisten« und machte sie einem breiteren Pu blikum zugänglich. Das Konzept des Bundes faszinierte viele junge Männer, prägte die bündische Jugend und erhielt in den 1920er und J oer Jahren ein noch expliziter politisches Profil. Ein Text, der den Vmgang mit der Quelle vorführen kann, ist: Claudia BR UNS: (Homo-)Sexualität als virile Sozialität. Sexualwissenschaftliche, antifeministische und antisemitische Strategien hegemonialer Männ lichkeit im Diskurs der Maskulinisten 1 880-1920, in: Vif HElDEL u. a. (Hg.): Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitäten, Identitä ten und Körper in Perspektiven von Queer Studies, Hamburg 2 001, 87-108. Siehe auch das Buch von Vlrike BRUNOTTE: Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2 004.
Hans BLÜHER: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Eine Theorie der menschlichen Staatenbildung nach Wesen und Art. Bd. 2: Familie und Männerbund, Jena 1919, 102-1°5, 2 17:
Die männliche Gesellschaft ersten Grades. Das Bild der männlichen Gesellschaft ersten Grades sieht folgendermaßen aus: An ihrer Spitze 218
steht ein echter Vertreter des Typus inversus, für den ich den Namen Männerheld übernommen habe. Er ist das aktive Mitglied der männlichen Gesellschaft. Nun erkennt man unter den übrigen Teil habern der männlichen Gesellschaft, die sämtlich passive Mitglieder sind, mehrere Kreise, die nach außen zu immer weiter und ver schwommener werden, gleich jenen Kreisen, die ein fallender Stein in ruhendem Wasser erzeugt. Zunächst neben dem Männerheld steht der Erste Liebling. Dieser vertritt etwa die Rolle, die beim frauen liebenden Manne die Gattin einnimmt. Auch die Tatsache, daß der Erste Liebling jene eigentümlich feste, von keinem anderen ihm streitig zu machende Bindung an den MännerheIden hat, beruht auf einem ähnlichen psychischen Mechanismus wie die Gattenwahl beim frauenliebenden Manne. - Der zweite Kreis besteht aus einer Mehrzahl anderer Jünglinge, die etwa die Stelle des Kalypsotypus einnehmen. Es sind lockerer verbundene Lieblingsfreunde; ge wöhnlich waren sie in früherer Jugend Bettgenossen des Männer heiden und blieben dann später bei ihm, ohne wieder sein Bett zu besteigen, in abgedämpfter Erotik. - Ein dritter Kreis besteht mehr aus Vertrauten und Freunden, mit denen der Männerheld nicht in sexuellem Verkehr gestanden hat. Sie wissen gewöhnlich um sein erotisches Geheimnis. Von hier aus aber lassen sich die Kreise nicht mehr genauer feststellen; sie verschwimmen nach außen zu. Je nach der Überlegenheit des aktiven Mitgliedes ist das [sic!] Bereich dieser abklingenden und in die übrige menschliche Gesellschaft hinüber gleitenden Kreise größer oder kleiner. Ich habe aber im Wander vogel männliche Gesellschaften beobachtet, in denen die Männer heiden viele Hunderte junger Menschen in ihren Bann zu ziehen verstanden haben. - Die männliche Gesellschaft ist die Lebens bedingung ihres aktiven Mitgliedes, die es vor seelischer Verelendung schützt. Man könnte, um einen Parallele zu ziehen, sagen, sie ist der Harem des Typus inversus. Dieses Bild der männlichen Gesellschaft ist trotz seiner schema tischen Abstraktheit durchaus von der Erfahrung abgelesen. Sie ist demnach keine Hilfskonstruktion, sondern eine wirkende Größe. Man muß nur verstehen, sie aus den bereits zusammengesetzten Männerbünden deutlich herauszuschälen. Ein Männerbund wie z. B. der Wandervogel ist nicht bloß eine Zusammensetzung von lauter männlichen Gesellschaften, sondern diese sind nur sein Gerippe. Man muß es verstehen, sich diejenigen Personen fortzudenken, die eine offenbar andere Funktion haben. Wenn nämlich ein Komplex 219
von männlichen Gesellschaften in den Dienst irgendeiner Idee tritt was immer schon in statu nascendi geschieht , so muss man den Unterschied zu machen verstehen zwischen denjenigen Personen, die dazu gehören würden, wenn statt dieser Idee eine andere da wäre, und denjenigen, die eben nur um dieser Idee willen, die ihnen nützlich erscheint, darin sind. Solche Personen können manchmal eine recht erhebliche Rolle spielen, sind aber niemals Mitglieder einer männlichen Gesellschaft, sondern stehen dazwischen und ver mitteln die Nützlichkeitswerte. Die Entscheidung, ob jemand als Mitglied einer männlichen Gesellschaft zu betrachten ist, geschieht allein durch die Analyse seiner Erotik. Der Charakter der männlichen Gesellschaft ist von dem der Fa milie dadurch unterschieden, daß hier die passiven Mitglieder dem aktiven, dem Männerhelden, dauernd den Widerstand ihrer männ lichen Persönlichkeit entgegensetzen, während die passiven Mit glieder der Familie, die Frauen, dem aktiven hörig sind. Aber jeder Liebling in der männlichen Gesellschaft ist ein Mann und kann sich dem Männerhelden niemals so vollständig geben und in ihm auf gehen, wie dies die Frauen in der Familie tun. Daher ist die männ liche Gesellschaft ein ungleich beweglicheres Gebilde. Sie ist für den Männerhelden stets eine aufregende Angelegenheit; er kommt im grunde niemals zur Ruhe, und ob er gleich an seinem Ersten Lieb ling genau in derselben Weise hängt wie der Ehemann an seiner Gattin, gibt es für ihn doch keinerlei Bürgschaft, daß der Liebling ihm nicht verloren gehe. [. . .] -
-
Der oberste Männerbund. Es blieb uns bis hierhin aufgehoben, das letzte Fazit des Männerbundereignisses in der menschlichen Gesell schaft zu ziehen. Zu welchem Behufe sind jene Gebilde bestimmt, wenn man ihren höchsten Spannungsgehalt bemißt? Wir haben die allerverschiedensten Formen des Männerbund wesens und der männlichen Gesellschaft kennengelernt, und wir können an ihnen einen gemeinsamen Zug feststellen: ihre Erotik verbindet sich stets mit einem Überschwang des Menschlichen. Mögen sie auch noch so bizarr geraten, irgend etwas Edles ist immer an ihnen. Sie sind niemals an begreifbaren Nützlichkeiten orientiert, sondern immer bleibt ein rauschhaftes oder weihevolles Ereignis ihr Wesentliches. In den militärischen Kameraderien verbirgt sich grobe Päderastie mit der Tapferkeit im Kampfe für ein nationales Ideal, im 220
Wandervogel alle Spielarten der Erotik mit romantischem Gemüt und dem Willen zu einer neuen Jugend, bei den Ritterorden die selbe Erotik mit frommer Gesinnung und Sucht nach sakralem Leben, bei den Freimaurern eine aufs Feinste verdünnte und trans formierte Liebesstimmung mit einem verbrüdernden Gefühl allen Männern gegenüber; und sieht man sich plumpe Kneip- und Rauch gemeinschaften an oder die jugendlichen Onaniebünde: sie sind immer noch überschwänglicher und innerlich reicher als die Zweck verbände der bürgerlichen Gesellschaft. Es staut sich in den Män nergemeinschaften etwas, was sonst nirgends vorkommt: in den Stunden der höchsten Ladung besteht ein Bund, der zwecklos ist und zugleich von tiefstem menschlichen Belang. [ . . . ] Der Staat [ . . ] ist keine verstehbar� Nützlichkeit, sondern ein schlechthin irrationales Schicksal mit unbekanntem Ende und Ziel. Ein Staat befindet sich im Stande der tiefsten Korruption, wenn die Machtbefugnisse aus den Händen des Männerbundes in die der Zweckverbände geglitten sind, vom Kern an die Schale gekommen, und wenn in ihm statt der geborenen Könige vom bürgerlichen Typus gewählte Vertreter herrschen. .
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Quelle 6: Arbeitslose Männer und ihre Position in den Familien - 1 940 Während der 1930er Jahre waren Europa wie Nordamerika hart von der Weltwirtschaftskrise getroffen. Vor allem die Arbeitslosig keit machte zu schaffen, und sie bewegte sich in den USA in einer bis dahin unvorstellbaren Größenordnung von bis zu fünfzehn Mil lionen Beschäftigungslosen. Die männlich konnotierten US-ameri kanischen Grundprinzipien des Individualismus und der Selbstver antwortlichkeit schienen prekär, und ein wesentlicher Teil des 1933 von der Bundesregierung unter Präsident Franklin D. Roosevelt ausgerufenen »New Deal« war darauf ausgerichtet, dem entgegen zutreten. Die Maßnahmen zielten nicht nur auf die wirtschaftliche Krise, sondern auch auf eine »Krise« männlichen Selbstvertrauens und männlicher Identität. Für diese Selbstzweifel waren die durch die Arbeitslosigkeit angestoßenen Verschiebungen in den tradierten Familienstrukturen von zentraler Bedeutung. Zeitgenössische sozio logische Analysen von E. Wright Bakke oder Mirra Komarovsky, die durchaus zu den ersten Männerstudien gezählt werden können, analysierten die Auswirkungen dieser »hard times« auf das männ liche Selbstverständnis. Insgesamt zeigen Depression, New Deal und der Fokus auf den arbeitslosen Mann, wie Krisenempfinden, Fami lienstrukturen, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik innerhalb einer Geschlechtermatrix miteinander verschränkt werden. Schließlich zielte die Arbeitsbeschaffungspolitik des New Deal vorrangig auf Familienmänner, um dies nur an einem Punkt etwas zu konkreti sieren. Dabei lässt der von Komarovsky beschriebene und von uns im Folgenden präsentierte Fall der Familie Pattersan erkennen, wie die Krise des einen durchaus als Chance der anderen hätte reprä sentiert werden können. Bei der weiteren Kontextualisierung hilft: John A. GARRATY, The Great Depression. An Inquiry Into the Causes, Course, and Consequences of the Worldwide Depression of the Nineteen-Thirties, As Seen by Contemporaries and in the Light of History, Garden City, NY, 1987, 100-126.
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Mirra KOMAROVSKY: The Unemployed Man and His Family, New York [973 ([940), 2 6-2 8, hier nach: Douglas B UKOWSKI u. a. (Hg.): America 's History. Documents Collection, Bd. 2., New York [997, 23 6-237:
Reaction to Unemployment and Relief. Prior to the depression Mr. Patterson was an inventory clerk earning from $ 3 5 to $ 40 a week. He lost his job in I 9 3 I . At the present time he does not earn anything, while his I 8-year-old girl gets $ I 2 . 5 0 a week working in Woolworth's, and his wife has part-time work cleaning a doctor's office. Unemployment and depression have hit Mr. Patterson much more than the rest of the family. The hardest thing ab out unemployment, Mr. Patterson says, is the humiliation within the family. It makes him feel very useless to have his wife and daughter bring in money to the family while he does not contribute a nickeL It is awful to him, because now »the tables are turned,« that is, he has to ask his daughter for a little money for tobacco, etc. He would rather walk miles than ask for carfare money. His daughter would want him to have it, but he cannot bring him self to ask for it. He had often thought that it would make it easier if he could have 2 5 cents a week that he could depend on. He feels more irritable and morose than he ever did in his life. He doesn't enjoy eating. He hasn't slept well in months. He lies awake and tos ses and tosses, wondering what he will do and what will happen to them if he doesn't ever get work any more. He feels that there is nothing to wake up for in the morning and nothing to live for. He often wonders what would happen if he put himself out of the picture, or just got out of the way of his wife. Perhaps she and the girl would get along better without hirn. He blames himself for being unemployed. While he tries all day long to find work and would take anything, he feels that he would be successful if he had taken ad vantage of his opportunities in youth and had secured an education. Mr. Patterson believes that his wife and daughter have adjusted themselves to the depression better than he has. In fact, sometimes they seem so cheerful in the evening that he cannot stand it any more. He grabs his hat and says that he is going out for a while, and walks hard for an hour before he comes horne again. That is one thing he never did before unemployment, but he is so nervous and jumpy now he has to do something like that to prevent himself from exploding. 223
Mrs. Patterson says that they have not felt the depression so ter ribly themselves, or changed their way of living so very much. Changes in Husband-Wife Relations Since Loss of Employment. The wife thinks that it is her husband's fault that he is unemployed. Not that he doesn't run around and try bis very best to get a job, but he neglected his opportunities when he was young. If he had a proper education and had a proper personality, he would not be in his present state. Besides, he has changed for the worse. He has be come irritable and very hard to get along with. He talks of nothing else, and isn't interested in anything else but his troubles. She and her daughter try to forget troubles and have a good time once in a while, but he just sits and broods. Of course that makes her im patient with hirn. She cannot sit at horne and keep hirn company, so that during the past couple of years she and her daughter just go out together without hirn. It isn't that they leave hirn out - he just isn't interested and stays at horne. Mr. Patterson insists that his cbild is as sweet as ever and always tri es to cheer hirn up, but the tenor of his conversation about his wife is different. She does go out more with the daughter, leaving hirn alone. He cannot stand it, worrying so and having them so lighthearted. »When you are not bringing in any money, you don't get as much attention. She doesn't nag all the time, the way so me wornen do,« but he knows she blames hirn for being unemployed. He intimates that they have fewer sex relations - "It's nothing that I do or don't do - no change in me - but when I tell her that I want more love, she just gets mad.« It came about gradually, he said. He cannot point definitely to any time when he noticed the difference in her. But he knows that his advances are rebuffed now when they would not have been before the hard times.
224
Quelle
7:
Homosexualität im Kalten Krieg
-
1950
Der Kalte Krieg brachte in den USA eine massive innere Mobil machung mit sich. Sie zielte nicht zuletzt auf eine stabile und ein deutig heterosexuelle Geschlechterordnung, und jedermann hatte sich deutlich und ohne Ambivalenzen zu positionieren. Die Kernfamilie war die einzig akzeptierte Lebensform, an die eine individuell moralische wie kollektiv-politische Stabilität und die Fortexistenz des demokratisch-kapitalistischen Gesellschaftssystems gekoppelt waren. Während Kapitalismus und Demokratie mit Heterosexualität gleich gesetzt wurden, erschien Homosexualität als Pendant des Kommu nismus. Die Argumentation lautete, der Kommunist wie der Homo sexuelle seien Zeichen und Agenten der Verführbarkeit, Weichheit, Unfreiheit und Weiblichkeit - beide neigten dazu, sich führen zu lassen, anstatt selber zu führen. Im Februar 1950 fiel die Klage des Senators joseph McCarthy, das Außenministerium sei von Kom munisten infiltriert, auf fruchtbaren Boden. Etwa zur selben Zeit wurden mehrere Dutzend Mitarbeiter des Außenministeriums wegen »homosexueller Umtriebe« entlassen. Rufe wurden laut, diese »sexual perverts«, die den Regierungsapparat durchdrängen, seien genauso gefährlich wie Kommunisten. Als schließlich Tausende sol cher Fälle befürchtet wurden, veranlasste der Senat im juni 1950 eine Untersuchung über die Beschäftigung von Homosexuellen in Regierungsbehörden. Der im Dezember 1950 veröffentlichte Be richt des entsprechenden Komitees illustriert plastisch, wie Männ lichkeitsentwürfe, Loyalitätskonzepte, Sexualität, Politik und Ge sellschaftsordnung ineinander griffen. Die Entlassungen aus dem Staatsdienst vervielfachten sich in den folgenden jahren, und abwei chende Sexualität war die vorrangige Begründung. Wir stellen im Folgenden einen Auszug aus dem Bericht vor. Zur weiteren Lektüre im Hinblick auf die Analyse dieser Quelle empfehlen wir: K. A. CUORDILEONE: »Politics in an Age of Anxiety«. Cold War Political Culture and the Crisis in A merican Masculinity, 1949-1960, in: journal ofAmerican History 87,2 (2 000), 5 15-545; David K. jOHN SON: The Lavender Scare. The Cold War Persecution of Gays and Lesbians in the Federal Government, Chicago 2004.
225
U.S. SENATE: Employment 0/ Homosexuals and Other Sex Perverts in Government, Senate Document No. 241, 8ISt Cong., 2nd Sess. Washington, D. C., 195°, 3 -1 0, hier nach Kathy PEISS (Hg.): Major Problems in the History 0/ American Sexuality. Documents and Essays, BostonlNew York 2 002, 376-379, leicht gekürzt:
In the opinion of this subcommittee h[oJmosexuals and other sex perverts are not proper persons to be employed in Government for two reasons; first, they are generally unsuitable, and second, they constitute security risks. Overt acts of sex perversion, including acts of homosexuality, constitute a crime under Federal, State, and municipal statutes and persons who commit such acts are law violators. Aside from crimi nality and irnmorality involved in sex perversion such behavior is so contrary to the normal accepted standards of social behavior that persons who engage in such activity are looked upon as outcasts by society generally. The social stigma attached to sex perversion is so great that many perverts go to great lengths to conceal their perverted tendencies. This situation is evidenced by the fact that perverts are frequently victimized by blackmailers who threaten to expose their sexual deviations . . . Most of the authorities agree and our investigation has shown that the presence of a sex pervert in a Government agency tends to have corrosive influence upon his fellow employees. These perverts will frequently attempt to entice normal individuals to engage in perverted practices. This is p articularly true in the case of young and impressionable people who might come under the influence of a pervert. Government officials have the responsibility of keeping this type of corrosive influence out of the agency under their con trol. Ir is particularly important that the thousands of young men and women who are brought into Federal jobs not be subjected to that type of influence while in the service of Government. One homosexual can pollute a Government office. Another point to be considered in determining whether a sex pervert is suitable for Government employment is his tendency to gather other perverts about hirn. Eminent psychiatrists have inform ed the subcommittee that the homo sexual is likely to seek his own kind because the pressures of society are such that he feels uncom fortable unless he is with his own kind. Due to this situation the homosexual tends to surround hirnself with other homosexuals, not 226
only in his social, but in his business life. Under these circumstances if a homosexual attains a position in Government where he can influence the hiring of personnel, it is almost inevitable that he will attempt to place other homosexuals in Government jobs. [ . . . ] The lack of emotional stability which is found in most sex per verts and the weakness of their moral fiber, makes them susceptible to the blandishments of the foreign espionage agent. It is the ex perience of intelligence experts that perverts are vulnerable to inter rogation by a skilled questioner and they seldom refuse to talk about themselves. Furthermore, most perverts tend to congregate at the same restaurants, night clubs, and bars, which places can be identi fied with comparative ease in any community, making it possible for a recruiting agent to develop dandestine relationships which can be used for espionage purposes . . . Other cases have been brought to the attention of the subcom mittee where Nazi and Communist agents have attempted to obtain information from employees of oUf Government by threatening to expose their abnormal sex activities. It is an accepted fact among intelligence agencies that espionage organizations the world over consider sex perverts who are in pos session of or have access to confidential material to be the prime targets where pressure can be exerted. In virtually every case despite protestations by the perverts that they would never succumb to blackmail, invariably they ex press considerable concern over the fact that their condition might become known to their friends, associates, or the public at large. [ . . . ] The subcommittee has attempted to arrive at some idea as to the extent of sex perversion among Government employees by obtain ing information from the personnel records of all Government agencies and the police records of the District of Columbia . . . An individual check of the Federal agencies revealed that since January 1, 1 947, the armed services and civilian agencies of Govern ment have handled 4,9 5 4 cases involving charges of homosexuality or other types of sex perversion. It will be noted that the bulk of these cases are in the armed services as is indicated by the fact that 4,3 80 of the known cases in Government involved military personnel and 5 74 involved civiiian employees. However, in considering these statistics it is pointed out that the incidents of homosexuality and other forms of sex perversion is usually higher in military organiza tions and other groups where large numbers of men (or women) live and work in dose confinement and are restricted in their normal 227
social contacts. [ . . . ] [O]f the total 4,380 military removals since January I, 1 947, 470 persons have been separated as the result of court martial and 3 ,9 1 0 have been separated by means other than general court martial [ . . . ] It is significant to note that it was about April I of this year that the employment of sex perverts in Government was given wide spread publicity as the result of preliminary studies by the Senate Appropriations Subcommittee. Shortly after that time records of persons arrested in the District of Columbia on charges of sex per version were made available to various Government agencies and since that time there has been a marked increase in the number of cases handled by Government departments [ . . .] Under present procedures all applicants for Government positions are screened by the Civil Service Commission soon after their ap pointment. While these applicants are not subject to a so-called full field investigation, their fingerprints are checked against the files of the FBI to determine whether they have a prior arrest record, and other name checks are also made. As a result of this screening process, the Civil Service Commission is notified in the event the applicant has a police record of sex perversion; and, if such a record does exist, further investigation is conducted to determine the com plete facts. A spot check of the records of the Civil Service Com mission indicates that between January I , 1 947, and August I , 1 9 5 0, approximately 1 ,7°° applicants for Federal positions were denied employment because they had a record of homosexuality or other sex perverSIOn. [. . . ] However, it must be borne in mind that as a practical matter even the most elaborate and costly system of investigating appli cants for Government positions will not prevent some sex perverts from finding their way into the Government service . . .
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Quelle 8: » Geschlecht/Sex/Sexe: M « ? Geschlechtsumwandlung in den 1 9 50er Jahren Im Winter 1952/5] stand Christine Jorgensen im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit in den USA: »Ex-GI Becomes Blonde Beauty«, lautete der Aufmacher der »New York Daily News« am I. Dezember 1952 über die Geschlechtsumwandlung des ehemaligen US-Soldaten George Wilhelm Jorgensen jr. Christine Jorgensen machte in den so sehr um Eindeutigkeit bemühten 1950erJahren die Instabilität geschlechtlicher Definitionen und Zuschreibungen deut lich. Andererseits rekurrierten sie und ihre öffentliche Darstellung und Rezeption auf klassische männliche wie weibliche Stereotype. Noch als George hatte sie als Soldat im Zweiten Weltkrieg gekämpft, und sie profitierte nach dem Krieg auch von Veteranenunterstüt zung durch die » G.l. Bill«, die wie kaum eine andere Maßnahme auf die Reetablierung männlicher Vormachtstellung in der US-Ge seilschaft ausgerichtet war. Nach der Geschlechtsumwandlung war die öffentliche Repräsentation Christine Jorgensens von dem ty pischen weißen, femininen Glamour der 1950er Jahre dominiert. Die reproduzierte Aufnahme vom 5. April 1953 ist eins von vielen Fotos Jorgensens, die diesen Weiblichkeitsentwurf nicht nur abbilde ten, sondern ihrerseits dazu beitrugen, ihn erst herzustellen. Aus der Literatur sei eine Arbeit empfohlen, die Christine Jorgensen in das Zentrum einer Geschichte der Transsexualität in den USA im 2 0. Jahrhundert stellt: Joanne MEYER OWITZ: How Sex Changed. A History of Transsexuality in the United States, Cambridge, MA/London 2002.
Library of Congress, Washington, D. C.: New York World-Telegram & Sun Collection - BIO G: Jorgensen, Christine: Der Pressetext zu der Fotografie lautet wie folgt: "Attired in her chic Easter outfit, Christine Jorgensen, former GI transformed into a woman after a series of operations, leaves stage of the Adelphi Thea ter in New York City April 5 after appearing on the Arthur Murray (Dumont Network) Television Show on behalf of the Damon Runyon Cancer Fund. Christine is wearing a large picture straw hat, a gray flannel suit with matching calfskin bag and open toed pumps. She wears an orchid corsage.«
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23°
Quelle 9: Afroamerikanische Männlichkeit in der radikalisierten Bürgerrechtsbewegung - 1 96 8 In der Mitte der 1960er Jahre begannen Teile der afroamerikani sehen Bürgerrechtsbewegung, radikaler für ihre Interessen einzutre ten. Immer mehr junge schwarze Männer und Frauen nahmen eine selbstbewusstere und offensivere Haltung ein. Sie definierten sich als schwarze Revolutionäre, die nicht um mehr Rechte in einer weiß dominierten kapitalistischen Gesellschaft baten, sondern durch einen auch bewaffneten Kampf diese Gesellschaft als solche abschaffen und eine gänzlich neue Ordnung errichten wollten. Folgt man den männlichen Wortführern, so sollte diese neue Gesellschaftsordnung in einer hypermaskulinen Version der heteronormativen Geschlech terordnung gründen. Schwarze Revolutionäre wie Eldridge Cleaver oder George Jackson rückten den Topos ihrer »Entmännlichung« durch Sklaverei und Segregation in den Vordergrund ihrer Ausfüh rungen. Die Wunden einer Jahrhunderte währenden symbolischen wie tatsächlichen Kastration schwarzer Männer würden nur mit Hilfe der schwarzen Frau geheilt werden können: durch deren Hul digung und Unterwerfung zugleich sowie durch die Anerkennung der patriarchalischen Position schwarzer Männer in Familie und Gesellschaft. 1968 verfasste Eldridge Cleaver, der zu einem derfüh renden Köpfe der »Black Panther Party« wurde, das Buch »Soul on lee«. Diese Sammlung autobiografischer Texte wurde zu einem Manifest der Bewegung. Es folgen Auszüge aus dem letzten Kapitel des Buches. Als weiterführende Literatur sei empfohlen: Norbert FINZSCH: »Picking Up the Gun«. Die Black Panther Party zwischen gewaltsamer Revolution und sozialer Reform, in: Amerikastudienl American Studies 44,2 (1999), 223-2 54; Norbert FINZSCH: » Gay Punk, White Lesbian, Black Biteh«. Zur Konstruktion des schwar zen männlichen Revolutionärs durch die Black Panther Party, 1966 bis 1982, in: Rainer HERINGIRainer NICOLAYSEN (Hg.): Lebendige Sozialgeschichte. Gedenkschrift für Peter Borowsky, Wiesbaden 2 003, 206-220.
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Eldridge Cleaver: Soul on lee, New York 1999 (1968), 23 6-242, leicht gekürzt:
To All Black Women, From All Black Men Queen-Mother-Daughter of Africa Sister of My Soul Black Bride of My Passion My Eternal Love I greet you, my Queen, not in the obsequious whine of a cringing Slave to which you have become accustomed, neither do I greet you in the new voice, the unctuous supplications of the sleek Black Bourgeoise, nor the bullying bellow of the rude Free Slave-but in my own voice do I greet you, the voice of a Black Man. And although I greet you anew, my greeting is not new, but as old as the Sun, Moon, and Stars. And rather than mark a new beginning, my greeting signifies only my Return. I have Returned from the dead. I speak to you now from the Here And Now. I was dead for four hundred years. For four hundred years you have been a woman alone, bereft of her man, a manless woman. For four hundred years I was neither your man nor my own man. The white stood between us, over us, around uso The white man was your man and my man. Do not pass lightly over this truth, my Queen, for even though the fact of it has burned into the marrow of our bones and diluted our blood, we must bring it to the surface of the mind, into the realm of knowing, glue our gaze upon it and stare at it as at a coiled serpent in a baby's playpen or the fresh flowers on a mother's grave. It is to be pondered and realized in the heart, for the heel of the white man's boot is our point of departure, our point of Resolve and Return-the bloodstained pivot or our future. (But I would ask you to recall, that before we could come up from slavery, we had to be pulled down from our throne.) Across the naked abyss of negated masculinity, of four hundred years minus my Balls, we face each other today, my Queen. I fee! a deep, terrifying hurt, the pain of humiliation of the vanquished warrior. The shame of the fleet-footed sprinter who stumbles at the start of the race. I fee! unjustified. I can't bear to look into your eyes. Don't you know (sure!y you must have noticed by now: four hundred years! ) that for four hundred years I have been unable to look into your eyes ? I tremble inside each time you look at me. I can fee! . . . in the ray of your eye, from a deep hiding place, a long232
kept secret you harbor. That is the unadorned truth. Not that I would have feit justified, under the circumstances, in taking such liberties with you, but I want you to know that I feared to look into your eyes because I knew I would find reflected there a merciless Indictment of my impotence and a compelling challenge to redeem my conquered manhood. My Queen, it is hard for me to tell you what is in my heart for you today-what is in the heart of all my black brothers for you and all your black sisters-and I fear I will fail unless you reach out to me, tune in on me with the antenna of your love, the sacred love in ultimate degree which you were unable to give me because I, being dead, was unworthy to receive it; that perfect, radical love of black on which our Fathers thrived. Let me drink from the river of your love at its source, let the lines of force of your love seize my soul by its core and heal the wound of my Castration, let my convex exile end its haunted Odyssey in your concave essence which re ceives that it may give. Flower of Africa, it is only through the libe rating power of your re-love that my manhood can be redeemed. For it is in your eyes, before you, that my need is to be justified. Only, only, only you and only you can condemn or set me free. [ . . . ] Black Beauty, in impotent silence I listen, as if to a sym phony of sorrows, to your screams for help, anguished pleas of ter ror that echo still throughout the Universe and through the mind, a million scattered screams across the painful years that merged into a single sound of pain to haunt and bleed the soul, a white-hot sound to char the brain and blow the fuse of thought, a sound of fangs and teeth sharp to eat the heart, a sound of moving fire, a sound of frozen heat, a sound of licking flames, a fiery-fiery sound, a sound of fire to burn the steel out of my Balls, a sound of Blue fire, a Bluesy sound, the sound of dying, the sound of my woman in pain, the sound of my woman '5 pain, THE SOUND OF MY WOMAN CALL ING ME, ME, I HEARD HER CALL FOR HELP, I HEARD THAT MOURNFUL SOUND BUT HUNG MY HEAD AND FAILED TO HEED ' IT, I HEARD MY WOMAN' S CRY, I HEARD MY WOMAN S SCREAM, I HEARD MY WOMAN BEG THE BEAST FOR MERCY, I HEARD HER BEG FOR ME, I HEARD MY WOMAN BEG THE BEAST FOR MERCY FOR ME, I HEARD MY WOMAN DIE, I HEARD THE SOUND OF HER DEATH, A SNAPPING SOUND, A BREAKING SOUND, A SOUND THAT SOUNDED FINAL, THE LAST SOUND, THE ULTIMATE SOUND, THE SOUND OF DEATH, ME, I HEARD, I HEAR IT EVERY 233
DAY, I HEAR HER NOW . . . I HEAR YOU NOW . I HEAR YOU . . . . I heard you then . . . your scream came like a searing bolt of lightning that blazed a white streak down my black back. In a cowardly stupor, with a palpitating he art and quivering knees, I watched the Slaver's lash of death slash through the opposing air and bite with teeth of fire into your delicate flesh, the black and tender flesh of African Motherhood, forcing the startled Life ultimately from your torn and outraged womb, the sacred womb that cradled primal man, the womb that incubated Ethiopia and populated Nubia and gave forth Pharaohs unto Egypt, [ . . . ] 0, My Soul! I became a sniveling craven, a funky punk, a vile, groveling bootlicker, with my will to oppose petrified by a cosmic fear of the Slavemaster. Instead of inciting the Slaves to rebellion with eloquent oratory, I soothed their hurt and eloquently sang the Blues ! Instead of hurling my life with contempt into the face of my Tormentor, I shed your precious blood! When [the rebellious slave] Nat Turner sought to free me from my Fear, my Fear delivered hirn up unto the Butcher-a martyred monument to my Emasculation. My spirit was unwilling and my flesh was weak. Ah, eternal igno miny! I, the Black Eunuch, divested of my Balls, walked the earth with my mind locked in Cold Storage. I would kill a black man or woman quicker than I'd smash a fly, while for the white man I would pick a thousand pounds of cotton a day. [ . . . ] No Slave should die a natural death. There is a point where Caution ends and Co wardice begins. Give me a bullet through the brain from the gun of the beleaguered oppressor on the night of siege. Why is there dancing and singing in the Slave Quarters ? A Slave who dies of natural causes cannot balance two dead flies in the Scales of Eter nity. Such a one deserves rather to be pitied than to be mourned. Black woman, without asking how, just say that we survived our forced march and travail through the Valley of Slavery, Suffering, and Death-there, that Valley beneath us hidden by that drifting mist. Ah, what sights and sounds and pain lie beneath that mist! And we had thought that our hard climb out of that cruel valley led to some cool, green and peaceful, sunlit place-but it's all jungle here, a wild and savage wilderness that's overrun with ruins. But put on your crown, my Queen, and we will build a New City on these ruins. . .
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