Die Rückkehr der Geschichte
Joschka Fischer
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Die Rückkehr der Geschichte
Joschka Fischer
Die Rückkehr der Geschichte Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens
Kiepenheuer & Witsch 3
1. Auflage 2005 © 2005 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung: Linn-Design, Köln Gesetzt aus der Stempel Garamond Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Bindearbeiten: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 3-462-03035-3
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»Es war viel die Rede davon, daß sich hier das >Ende der Geschichte< ankündige. Ich halte das nicht für zutreffend. Das Ende der Geschichte, wie es einmal bei Hegel gemeint war, bestand in der Schaffung einer universellen Gesellschaft. Wir werden aber nicht Zeugen, wie die Geschichte zu Ende geht, sondern wie sie neu beginnt.« DANIEL BELL1
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Inhalt
I. »Willkommen in der Wüste des Realen« Das Ende der Nachkriegszeit und der neue Totalitarismus
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II. Bruchlinien der globalen Desintegration
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III. Zwischen Souveränität und Integration
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IV. Hobbes versus Kant »The Irony of American History«
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V. Europa, Amerika und die Zukunft des Transatlantismus
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VI. »The Great Transformation« und der Nahe und Mittlere Osten
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VII. Zwischen Gleichgewicht und globaler Kooperation das Entstehen einer neuen Weltordnung 234 Anmerkungen
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Literaturverzeichnis
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I. »Willkommen in der Wüste des Realen«2 Das Ende der Nachkriegszeit und der neue Totalitarismus »Welteroberung ist ein alter Traum, und jeder Glaube will die Welt erobern - auf die Gefahr hin, daß er dabei zum bloßen Mittel der Welteroberung wird.« THOMAS MANN3
Am Morgen des n. September 2001 ging jene neue Nachkriegszeit zu Ende, die mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 ihren Anfang genommen hatte. Das 21. Jahrhundert, so Timothy Garton Ash, hatte mit einem gewaltigen Terrorschlag, der die Welt erschütterte, politisch begonnen: »Wenn der Fall der Mauer das eigentliche Ende eines kurzen Jahrhunderts darstellte, gibt es gute Gründe, die Zerstörung des World Trade Centers als den wahren Anfang des 21. Jahrhunderts zu betrachten. Welcome to another brave new world.«4 Die Welt als globales Mediendorf war via CNN live dabei, als an jenem Tag Dschihad-Terroristen durch einen beispiellosen öffentlichen Massenmord Geschichte machten, und entsprechend weltweit war auch die Wirkung der Schockwellen dieses gleichsam militärischen Angriffs auf die USA, der letzten verbliebenen globalen Macht in der heutigen Welt. »Der Angriff auf Amerika wird wohl vor allem deshalb den Lauf der Geschichte ändern, weil alle Ereignisse der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr denn je von den Entscheidungen eines einzigen Landes, den Vereinigten Staaten, abhängen - und weil dieser Angriff darum höchstwahrscheinlich unberechenbare Auswirkungen auf die Psychologie dieses Landes hat.«5 Der Gang der Geschichte entscheidet sich bisweilen an einem Tag oder auch nur innerhalb weniger Stunden. An solch ganz besonderen Tagen wird Geschichte sichtbar und erlebbar für jeder-
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mann. Hochkomplexe strukturelle Entwicklungen werden auf ein Ereignis, auf eine einzige große Erschütterung konzentriert und damit aus dem Augenblick heraus erfahrbar, nachvollziehbar und verstehbar. Die Geschicke der Welt nehmen nach einem solchen Tag einen anderen Verlauf. Die Zeitgenossen spüren diese außergewöhnliche Dramatik sofort, denn die politischen Ereignisse verdichten sich zu einer sonst seltenen emotionalen Intensität. Es sind dies die Tage einer epochalen Weichenstellung, der Beginn eines neuen historischen Zeitabschnitts. Dies galt für den 28. Juni 1914, der Tag, an dem der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie in Sarajewo ermordet wurden, ebenso wie für den 9. November 1989, der Nacht des Mauerfalls, und auch für den 21. Dezember 1991, der Tag des endgültigen Endes der Sowjetunion und damit auch des Kalten Krieges und der bipolaren Welt. Zwischen diesen epochemachenden Ereignissen und Tagen spannte das kurze und brutale 20. Jahrhundert seinen Bogen, jenes »Zeitalter der Extreme«, wie es der große britische Historiker Eric Hobsbawm6 zu Recht benannt hat. Es gab in der gesamten Menschheitsgeschichte bisher keine andere Zeit, die soviel an Irrsinn, Gewalt, Mord und Totschlag, Diktatur, Krieg und Völkermord hervorgebracht hat, wie eben jenes extreme 20. Jahrhundert. Kein anderes Jahrhundert brachte aber auch zugleich mehr an wissenschaftlich-technischem, an sozialem und politischem Fortschritt hervor.7 In den Ersten Weltkrieg ritten die Armeen noch hoch zu Pferde hinein, und aus dem Zweiten Weltkrieg kam die Menschheit mit der Atombombe heraus. Dazwischen lagen gerade einunddreißig Jahre und zwei Weltkriege.8 Dieser tiefen Ambivalenz des 20. Jahrhunderts wird man auch anhand eines zweiten Faktums gewahr: 1914 entschieden noch überwiegend gekrönte Häupter über den Krieg. Seit 1945 hat sich zuerst nur im westlichen Teil und seit 1989 iast überall in Europa die Demokratie als Herrschaftsform durchgesetzt. Heute kann man Europa zu Recht als den Kontinent der Demokratie und des Rechts bezeichnen - welch ein Fortschritt in nur 60 Jahren! Die Menschheit schien sich nach dem Fall der Berliner Mauer
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einer neuen langen Friedenszeit erfreuen zu dürfen. Gewiß gab es unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges, ganz entgegen der hochgespannten Friedenserwartungen, die heißen Konflikte am Persischen Golf, in Ostafrika und auf dem Balkan, aber das waren - aus westlicher Perspektive gesehen - Kriege und Völkermorde an der Peripherie, auch wenn die blutigen Kriege auf dem Balkan den Europäern bereits bedrohlich nahe gerückt waren. Dennoch konnten all diese Schrecken die meisten Menschen in Europa und den USA nicht davon abhalten, die Friedensdividende nach dem Ende von Hochrüstung und Kaltem Krieg in vollen Zügen genießen zu wollen. Nach fünf Jahrzehnten globaler kalter Konfrontation war der Zeitgeist im Westen auf Rückzug eingestimmt, auf Rückzug von der Politik, auf Rückzug von den Krisen und Konflikten der Welt und auf die Dominanz des Privaten über das Politische. >Bereichert euch!< hieß es während der neunziger Jahre des ausgehenden Jahrhunderts in den Industrieländern des Westens. >Vergeßt die Krisen, vergeßt all die Konflikte und vergeßt diese ganze verfluchte Politik! Senkt die Steuern, verkleinert die Bürokratie, verringert den Staatsanteil und gebt den Bürgern ihr Geld und ihre Freiheit zurück !< So oder ähnlich scholl es einem überall aus den Medien, aus den Parlamenten und aus den Wahlkämpfen entgegen. Der Staat, seine Bürokratie und seine Finanzen waren unter schweren Legitimationsdruck geraten, die Börse dominierte, gewaltige Vermögen wurden, oft nur auf dem Papier, teilweise aber auch real, gemacht und wieder verloren. Das ausgehende 20. Jahrhundert stand in den Metropolen der Weltwirtschaft ganz im Zeichen einer epochalen technischen Innovation, dem Durchbruch der Informationstechnologie, und damit einhergehend auch im Zeichen einer nicht minder gewaltigen Finanzspekulation, die sich keß das Signum der »New Economy« oder des »Neuen Marktes« verpaßte. Das Jahrzehnt hatte mit der kühnen These von Francis Fukuyama über »Das Ende der Geschichte«9 begonnen. Und angesichts eines lang anhaltenden Aufschwungs der US-Wirtschaft verkündeten verwegene Ökonomen gar das Ende der Konjunkturzyklen und das Entstehen eines krisenfreien Kapitalismus. Nun, dies alles sollte
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sich als nichtig, eitel und schlicht falsch erweisen. 10 Die Spekulationsblase platzte, und am n. September des Jahres 2001 schlug die Geschichte erneut zu - blitzartig, brutal, zerstörend. Die Welt veränderte an diesem Tag ihren Lauf, und nicht mehr die Börse, sondern die Politik sollte fortan wieder die Kurszettel der Geschichte schreiben. All jene verheißungsvollen Träume von einer friedlicheren Welt nach dem Ende des Kalten Krieges, all die Hoffnungen auf eine wirkliche Friedensdividende und all jene schönen Illusionen vom Ende der Politik, vom Rückzug des Staates und der scheinbaren Dominanz der Ökonomie über die Politik - »It's the economy, stupid!« - wurden am 11. September unter den Trümmern der einstürzenden Zwillingstürme in New York City begraben, gemeinsam mit Tausenden unschuldiger Menschen." Die Politik und mit ihr jene angeblich beendete Geschichte hatten sich in der blutigen Fratze des Terrors zurückgemeldet. Heraklit, jener vorsokratische Philosoph im alten Griechenland, der bereits im 5. Jahrhundert vor Christus vermeldet hatte, daß der Krieg der Vater aller Dinge sei, war plötzlich wieder weitaus moderner geworden als all die vielen Investmentbanken und Börsenkurse. Dieser neue Krieg begann nicht an der Peripherie des internationalen politischen Systems, sondern mitten im Zentrum des wichtigsten Finanzplatzes der Welt, an der Südspitze von Manhattan. Der ominöse >Ground Zero< dieses Krieges, den der Dschihad-Terrorismus gegen die USA und die westliche Welt führte, lag eben nicht mehr im Fulda Gap, sondern direkt neben der Wall Street. Diesmal traf der internationale Terrorismus das ökonomische und politische Herz der mächtigsten Nation der Gegenwart, und diese ruchlose Tat sollte ein globales machtpolitisches Beben auslösen. Die Welt erschrak zutiefst angesichts der Ungeheuerlichkeit des 11. September, und die Bilder, die Gefühle und Stimmungen von Pearl Harbor 1941 und Sarajewo 1914 traten plötzlich wieder aus dem Dunkel der fast vergessenen Geschichte hervor. »Am 11. September starben mehr als dreimal so viele Amerikaner wie durch sämtliche terroristische Anschläge der vorhergehenden dreißig Jahre. Der Verlust an
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Menschenleben war rund zwanzigmal höher als der, den Timothy McVeigh, ein einheimischer Attentäter, 1995 durch den Anschlag von Oklahoma City verursacht hatte, und mindestens ebenso hoch wie 1941 nach dem Angriff von dreihundert japanischen Bombern auf Pearl Harbor. Kommentatoren beschworen diesen anderen Blitz aus heiterem Himmel, der Amerika vor sechzig Jahren getroffen hatte, als eine Art Präzedenzfall, aber in Wirklichkeit gab es keine Parallele. Der 11. September brachte etwas völlig Neues.«12 Freilich war es diesmal keine große, feindliche Territorialmacht wie das japanische Kaiserreich, welche die USA attackiert hatte, sondern der Angriff ging von einer Bedrohung neuen Typs aus, einer asymmetrischen Macht<. Asymmetrisch deshalb, weil es sich um den Angriff auf eine staatliche Macht durch nichtstaatliche Akteure handelt, die weder über das strategische Potential noch über die souveräne Kontrolle über ein Territorium verfügen. Eine asymmetrische Macht agiert verdeckt. Sie verfügt weder über eine Volkswirtschaft noch über Militär. Gleichwohl ist ihr ideologisches Potential so stark, daß sie mit dem Einsatz asymmetrischer Mittel kriegsähnliche Verluste und Schäden herbeiführen kann und die Stabilität eines Landes, einer ganzen Region oder auch des gesamten internationalen Staatensystems zu erschüttern und vielleicht sogar zu gefährden vermag, wenn auch nur auf indirekte Weise. In seinem bereits 1991 in New York erschienenen Werk >Die Zukunft des Krieges< analysiert Martin van Creveld diese neue Realität des Zusammenpralls zwischen symmetrischer (staatlicher) und asymmetrischer (nichtstaatlicher) Macht: »Künftig werden keine Streitkräfte Krieg führen, sondern Gruppierungen, die wir heute Terroristen, Guerillas, Banditen und Räuber nennen. [...] Sie stützen sich vermutlich stärker auf das Charisma eines Anführers als auf eine Institution, und ihr Ansporn ist weniger eine >Professionalität< als eine fanatische, ideologisch untermauerte Loyalität. Die Organisation wird zwar sicherlich einer Führerschaft unterstehen, die über Zwangsmittel verfügt, aber die Führerschaft selbst wird sich kaum von der Organisation insgesamt abheben. Sie wird folglich eher dem >Alten vom
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Berge< nach der von Marco Polo überlieferten Sage ähneln als einer institutionalisierten Regierung im Sinne der modernen Welt. Die Organisation wird zwar in gewisser Weise >im Volk< verwurzelt sein, aber dieses Volk läßt sich vermutlich nicht eindeutig trennen von den harmlosen unmittelbaren Nachbarn oder von der kleinen Minderheit, die den größten Teil der Kämpfe übernimmt. Jede kriegführende Einheit von einer beliebigen Größe wird immer eine gewisse territoriale Basis >kontrollieren< müssen. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, daß diese Basis von Dauer, uneinnehmbar oder sehr groß ist. Vermutlich werden ihre Grenzen (ebenfalls ein moderner Begriff) auf keiner Karte durch eine eindeutige Linie eingezeichnet sein.«13 Martin van Crevelds Prognose sollte sich bewahrheiten. Die Welt erlebte mit dem n. September auch die politische Wiedergeburt der Assassinen. Dies ist die Bezeichnung für eine islamistische Sekte des Mittelalters, die, als Geheimbund organisiert, im damaligen Nahen und Mittleren Osten den öffentlichen politischen Mord (allerdings nicht den öffentlichen Massenmord) als Mittel ihrer Herrschaft fast bis zur Perfektion entwickelt hatte. Sie stützte sich dabei auf zum Tod und Selbstmord entschlossene Attentäter, die niemanden verschonten und so Angst und Schrecken unter den Mächten und Mächtigen der damaligen Zeit verbreiteten.14 Und in der Tat, zwei Tage vor dem Terrorschlag gegen die USA hatten zwei als Fernsehjournalisten getarnte arabische Selbstmordattentäter, vermutlich im Auftrag der Terrororganisation Al-Qaida des Osama bin Laden, den charismatischen Führer der afghanischen Nordallianz, Achmed Schah Massud, mit einer Sprengladung tödlich verletzt. Massud starb wenig später an seinen Verletzungen.15 Man ahnte an dem Tag allerdings noch nicht, daß sich dieser politische Mord in den fernen Bergen des Hindukusch als das Präludium zum Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika erweisen sollte. Am Morgen des n. September entführten Terrorkommandos der Al-Qaida vier Verkehrsflugzeuge an der Ostküste der Vereinigten Staaten, die, randvoll getankt mit Tonnen von Kerosin, zum Flug an die Westküste des Landes gestartet waren. Die terroristischen Selbstmordkommandos hatten nur ein Ziel, nämlich
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aus den Verkehrsflugzeugen tödliche Lenkwaffen zu machen, welche die Zentralen der politischen und ökonomischen Macht der USA zerstören sollten: die Zwillingstürme des World Trade Centers in Downtown Manhattan und das US-Verteidigungsministerium in Arlington/VA. Die vierte Maschine, der Flug United Airlines 93, stürzte, dank des todesverachtenden Mutes der Passagiere, die von ihrem drohenden Schicksal noch während ihres Fluges per Telefon erfahren hatten, auf freiem Feld in Pennsylvania ab, bevor die Maschine ihr bis heute unbekanntes Ziel erreichen konnte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte der Flug UA 93, so zumindest der mittlerweile veröffentlichte Kenntnisstand der Ermittlungsbehörden, das Weiße Haus oder das amerikanische Parlament auf dem Capitol Hill, inmitten der Hauptstadt Washington, zum Ziel.16 Der planvoll vorbereitete Terrorangriff der Al-Qaida auf die USA war in seinen unmittelbaren Folgen durchaus mit einem kriegerischen Angriff einer fremden Macht zu vergleichen. Niemals zuvor in ihrer Geschichte hatten die USA an einem Tag so viele Zivilisten durch einen kriegerischen oder kriegsähnlichen Angriff verloren. Niemals zuvor seit dem amerikanisch-britischen Krieg zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Regierung der Vereinigten Staaten, waren die Machtzentren der USA einer solchen Bedrohung ausgesetzt gewesen. Der Angriff Japans auf Pearl Harbor hatte eine weit entfernte Marinebasis auf den Hawaii-Inseln im Pazifik getroffen, nicht aber das Kernland der USA, geschweige denn die Hauptstadt oder gar die wichtigste Finanzmetropole der Welt. Entsprechend groß war der Schock in den USA und weltweit. Mitten im tiefsten Frieden, urplötzlich - »out of the blue« - schlug an jenem Morgen und mit einer nicht für möglich gehaltenen Todes- und Menschenverachtung ein neuer Terrorismus in den Metropolen der USA zu und tötete lausende unschuldiger Menschen - Amerikaner wie Ausländer, Muslime, Juden, Christen, Buddhisten, Hindus und Atheisten, Frauen und Männer, Reiche und Arme, Alte und Junge, eine wahrhafte Ökumene unschuldiger Opfer. Dieser Terrorangriff bediente sich der zivilen Technologien der offenen westlichen Gesellschaften - Flugausbildung, Verkehrsflugzeuge, weltwei-
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te Live-Übertragung - und funktionierte diese mit geringstem Aufwand17 und selbstmörderischer Entschlossenheit zu tödlichen Waffen und zu einer furchterregenden »Propaganda der Tat« um.18 Die zerstörerische Wirkung der vollgetankten Verkehrsflugzeuge übertraf nach ihrem Einschlag in die Gebäude fast noch die Wirkung konventioneller Marschflugkörper, und entsprechend groß war die symbolische Wirkung dieses Terrorschlags und das Entsetzen, das dieses Attentat weltweit auslöste. Dennoch handelte es sich beim 11. September um einen terroristischen Angriff, es war kein kriegerischer Akt im klassischen Sinne, nämlich der Angriff eines Staates auf einen anderen, wenn man von der Verwicklung des Taliban-Regimes in Afghanistan in die Vorbereitung und Unterstützung der Al-Qaida-Organisation einmal absieht. Jenseits der zu beklagenden Opfer und des politischen Schocks bestanden ganz gravierende qualitative Unterschiede zu einem symmetrischen Krieg, wie es etwa 1941 der Angriff Japans auf Pearl Harbor gewesen war. Damals standen Staat gegen Staat, strategisches Potential gegen strategisches Potential. Im Zweiten Weltkrieg kämpften die USA mit Nazideutschland und dem japanischen Kaiserreich einen Hegemonialkonflikt unter Aufbietung all ihrer strategischen Kräfte auf den Kriegsschauplätzen in Europa, in Ostasien und im Pazifik aus. Ganz anders war die Lage am 11. September. Trotz der tausendfachen Verluste an Menschenleben, des weltweiten Entsetzens und der negativen Folgewirkungen für die Weltwirtschaft waren die militärischen und strategischen Effekte auf das Machtpotential der USA gleich null, strategisch gesehen nicht mehr als ein Nadelstich. Aber dieser Terrorschlag zielte nicht auf die strategischen Potentiale der alleinigen Weltmacht, sondern er sollte die Angreifbarkeit der Supermacht demonstrieren und diese zu einer politisch-militärischen Uberreaktion provozieren. Eine militärische Schwächung des strategischen Potentials der USA hat, weil angesichts der real existierenden Kräfteverhältnisse völlig irreal, wohl niemals in der Absicht der Terrorplaner der Al-Qaida gelegen, ihr Ziel war zuerst und vor allem ein politisch-symbolisches. Die größte Militär- und Wirtschaftsmacht
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der Geschichte, die alleinige globale Supermacht, sollte als angreifbar, verletzbar, schwach und besiegbar entlarvt werden. Todesmutige, zum Selbstmord entschlossene Glaubenskrieger konnten der größten Militärmaschine und Macht des 21. Jahrhunderts furchtbare Schläge mit geringstem Aufwand versetzen, so sollte die Botschaft lauten. Und diese Botschaft beinhaltete auch eine hegemoniale Herausforderung an die Adresse der USA. Paul Kennedy beschreibt die Vereinigten Staaten als einen nie dagewesenen militärisch-ökonomisch-politisch-kulturellen Koloss, der »extrem verwundbar [ist]. Seine Erfindung des Internets und seine Rolle bei der Entwicklung von Finanzhandelsplätzen, die rund um die Uhr geöffnet sind, machen ihn ungeheuer reich und zugleich ungeheuer anfällig für Sabotage. Seine - im Verhältnis zu Europa jedenfalls - liberalen Einwanderungsbestimmungen und die Öffnung seiner Universitäten für Studenten aus Übersee bedeuten, daß es zu einem ungeheuren Schmelztiegel von Menschen aus Übersee geworden ist, unter denen sich Individuen befinden, die für terroristische Akte rekrutiert werden könnten. Das ist keine >Festung Amerikas Im Gegenteil.«19 Diesem Befund folgend rüsteten die USA und andere offene Gesellschaften des Westens nach der Erfahrung des 11. September zum Schutz ihrer inneren Sicherheit ganz erheblich auf. Und auch dies darf man wohl als ein weiteres Ziel der terroristischen Planung unterstellen, nämlich die innere Aufrüstung und zugleich Abschottung der offenen Gesellschaften des Westens. Vor allem aber sollte der Schlag vom 11. September die USA in ihrem Entsetzen und in ihrer Wut zu einer Gegenreaktion treiben, die das eigentliche Ziel der Terrorplaner befördern würde, nämlich den Zusammenstoß zwischen islamisch-arabischer Welt und dem Westen, der »Clash ot Civilizations«, den der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington20 seit Mitte der neunziger Jahre prophezeit hatte. Zum Verständnis der politischen Strategie greift man am besten auf das Bild von der Mücke und dem Elefanten zurück. Der Dickhäuter soll durch gezielte, äußerst schmerzhafte Stiche dermaßen gereizt werden, daß er in
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blinder Wut attackiert und wild um sich tritt, so daß dort, wo er hintritt, kein Gras mehr wächst. Der terroristische Angriff auf die USA soll mittels deren blindwütiger Reaktion die Machtverhältnisse im islamisch-arabischen Raum verändern, soll dort über eine Phase des Chaos zu einem Aufstand der rechtgläubigen Massen führen, die korrupten nationalistischen Regime hinwegfegen und auf lange Sicht das Kalifat, den Gottesstaat der Rechtgläubigen, hervorbringen.21 Die USA sind in den Augen des neuen Terrorismus lediglich die entscheidende Schutzmacht, der »große Satan«, dessen Präsenz in der Region für die Unterdrückung der Rechtgläubigen verantwortlich ist. Das eigentliche Ziel liegt nicht in den USA, sondern in Saudi-Arabien, in Jerusalem, am Arabischen Golf, im gesamten Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien, ja in dem ganzen, sich weit ausdehnenden Krisengürtel zwischen Marokko und Indonesien, der entscheidend vom Islam geprägt wird. Es ist dies nichts weniger als ein revolutionärer strategischer Neuordnungsplan für den arabischen Raum und weite Teile der islamischen Welt, der mit rücksichtslosester Gewalt und mit Terror langfristig ins Werk gesetzt werden soll. Die Ereignisse des 11.September lehren uns noch etwas Weiteres, sehr Wichtiges: Seit dem Einsturz der Twin Towers in New York muß sich die westliche Welt darüber im klaren sein, daß sie vor einer neuen totalitären Herausforderung steht - »der dritte Totalitarismus«, wie ihn Yehuda Bauer völlig zu Recht klassifiziert hat -,22 die den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts durchaus vergleichbar ist.23 Wie immer ging und geht es bei den großen totalitären Ideologien, seien sie nun faschistisch oder kommunistisch gewesen oder in der Gegenwart eben islamistisch, um eine scheinbar große, ja sogar göttliche Idee, deren Durchsetzung in den Augen ihrer Anhänger noch die inhumanSLC Barbarei zu einem Akt der Gnade zu erheben scheint. 24 Totalitär ist diese Herausforderung sowohl in ihren Zielen als auch in ihren Methoden, denn der Dschihad-Terrorismus möchte einen »Gottesstaat«25 nach dem Vorbild des Taliban-Staates in Afghanistan errichten, der keine Toleranz gegenüber Andersgläubigen kennt, allein nur eine sehr verengte und radikalisierte Form des
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sunnitischen Islam akzeptiert und alle Abweichungen davon brutal unterdrückt. Ein Staat, der die extreme Intoleranz zum Programm erhebt, der Frauen und Mädchen ihrer Menschenrechte beraubt und entwürdigt, Andersgläubige, Abweichler und Minderheiten unterdrückt und verfolgt und der sich zur Durchsetzung seiner Ziele barbarischster Gewalt zu bedienen bereit ist - Terror sowohl im Inneren als auch nach außen. Dabei gibt es grundsätzlich keine moralische Schranke beim Einsatz terroristischer Mittel, da noch die verbrecherischste Tat als gut erklärt wird und allein ihre terroristische Wirkung im Kampf - dem Dschihad - gegen die Ungläubigen und abtrünnigen Verräter des wahren Glaubens zählt.26 Je zerstörerischer, desto wirkungsvoller, und je wirkungsvoller, desto besser, weil schrecklicher in ihrer furchteinflößenden Wirkung, so lautet die Formel des neuen Totalitarismus. Diese Logik macht nicht nur das Militär, die Regierungsapparate und ökonomischen Interessen der Feindstaaten zu Zielen, sondern wird vor allem versuchen, die Wirkung des terroristischen Schreckens durch einen direkten Angriff auf die Zivilgesellschaften des jeweiligen Feindes zu erhöhen. Und dies gilt ganz besonders gegenüber den westlichen Demokratien und ihren Bürgern. Je wahlloser die Opfer unter der Zivilbevölkerung, desto größer die Wirkung des Schreckens. Diese Logik weitergedacht führt unmittelbar zu einer äußerst beängstigenden und deshalb sehr ernstzunehmenden neuen Bedrohung, nämlich daß dieser Terrorismus versuchen könnte, sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bis hin zu einer Nuklearwaffe zu bringen und diese dann auch einzusetzen (oder auf die mögliche nukleare Wirkung eines konventionellen Terroranschlags),27 zu setzen da er keine moralische Schranke anerkennt und grundsätzlich nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten zu unterscheiden
bereit ist.
Vergleicht man diese neue totalitäre Herausforderung mit den beiden großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, so fallen sofort zwei wesentliche Unterschiede auf. Erstens ist dieser dritte Totalitarismus diesmal nicht aus den Alpträumen der europäischen Aufklärung und den Modernisierungskrisen
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des Westens heraus entstanden, sondern entwickelte sich in der Welt des Islam als die radikalste Antwort auf deren Modernisierungskrise.28 Der utopisch-ideologische Gehalt dieses neuen Totalitarismus zielt nicht auf die Radikalisierung der westlichen Modernisierung, wie es bei der kommunistischen Bewegung der Fall gewesen war, sondern ist ganz im Gegenteil rückwärtsgewandt und damit in der historisch-ideologischen Regression eher dem Faschismus/Nationalsozialismus ähnlich, eine scheinbar radikale Ablehnung der Moderne im Namen des Islam und die Rückkehr zu dessen unverfälschter, ursprünglicher »Reinheit«. Dennoch sollte man sich weder durch die Ideologie noch durch die Kostümierung täuschen lassen, denn der islamistische Terrorismus ist Ausdruck einer Modernisierungskrise29 und nicht die Rückkehr zu einer verlorenen Ursprünglichkeit. Dies galt auch für die totalitäre Bewegung des Faschismus/Nationalsozialismus.30 Insofern scheint der 11. September Huntington recht zu geben, nach dem sich die Welt auf einen Krieg der Zivilisationen und Kulturen hinbewegt. Freilich wird diese These Huntingtons vor allem vom Dschihad-Terrorismus geteilt, der genau an diesem »Kampf der Kulturen« ein strategisches Interesse hat. Aber weder kann eine vernünftige Politik des Westens noch die große Mehrheit der gemäßigten Muslime allen Ernstes diese These akzeptieren. Denn dies würde im 21. Jahrhundert den Alptraum schlechthin bedeuten. Die Alternative dazu sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, sie liegt in der politischen Gestaltung der Globalisierung.31 Der zweite wesentliche Unterschied zwischen den alten Totalitarismen und dem Dschihad-Totalitarismus besteht in der substantiellen Differenz ihrer jeweiligen Größe und des Charakters ihrer jeweiligen Macht und damit auch ihres Bedrohungspotentials. Hitler und Stalin nannten eine gewaltige staatliche Machtbasis ihr eigen, Osama bin Laden ist lediglich das Oberhaupt eines internationalen Terrornetzwerkes. Die europäischen Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts verfügten entweder über eine gefestigte Territorialmacht in entwickelten Industriestaaten mit einem enormen modernen Militärpotential, wie
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Deutschland, oder vermochten diese Macht aus dem fast unerschöpflichen Potential eines riesigen Landes heraus zu entwikkeln, wie in Rußland nach 1917. Nationalsozialismus und Bolschewismus stellten mit ihrer territorialen, ökonomischen und militärischen Machtbasis eine globale hegemoniale Bedrohung dar und mußten entweder in einem Weltkrieg niedergekämpft (Deutschland) oder in einer jahrzehntelangen Systemkonfrontation (Rußland) erschöpft werden - im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg. Beides waren Kriege um die globale Vorherrschaft gewesen, und in beiden großen Kriegen hieß der entscheidende strategische Gegenspieler USA, der schließlich die hegemonialen Absichten Nazideutschlands und Sowjetrußlands erfolgreich durchkreuzen sollte. Hierin findet sich dann allerdings trotz aller sonstigen tiefgreifenden Unterschiede eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der gegenwärtigen und den früheren totalitären Herausforderungen. Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus standen durch die Kriege, die gegen sie geführt werden mußten, im Zentrum politischer Zentralkonflikte, die das internationale Staatensystem gleichermaßen bedrohen wie ordnen sollten. Im Falle des Nationalsozialismus war es noch ein überwiegend europäischer Zentralkonflikt, der zum Zweiten Weltkrieg führte und der sich erst im Verlauf dieses Krieges ab 1941 zu einem Weltkonflikt ausdehnte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 stand nicht nur die völlige Niederlage Hitlerdeutschlands, sondern zugleich auch die Zweiteilung Europas und der Welt unter den Hauptsiegermächten USA und Sowjetunion. Diese Zweiteilung des Staatensystems war zwischen den Alliierten in Jalta vereinbart worden, und dieses System von Jalta führte binnen weniger Jahre nach der totalen Niederlage Nazideutschlands in den Kalten Krieg, der aufgrund der gegenseitigen thermonuklearen Vernichtungsandrohung allerdings nicht mehr ausgeschossen werden konnte. Der Zentralkonflikt mit der Sowjetunion wurde nicht mehr in einem heißen Krieg aufgelöst, sondern endete nach fünf Jahrzehnten kalter Konfrontation und Wettrüstens schließlich mit der Erschöpfung und dem Verschwinden der Sowjetunion.
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Während dieser Zeit bestimmte dieser globale Zentralkonflikt die gesamte Ordnung der Welt. Im gegenwärtigen internationalen System haben wir es aber kaum mit einem neuen Zentralkonflikt zu tun, weil dazu schlicht die Kontrahenten fehlen. Die Vereinigten Staaten sind auf der Ebene des strategischen Potentials und der symmetrischen militärischen Macht (Staat gegen Staat) in einer einzigartigen, von keiner anderen Macht oder denkbaren Mächtekoalition zu gefährdenden Rolle der alleinigen Weltmacht. Der Dschihad-Terrorismus ist weit davon entfernt, diese Macht auch nur in Ansätzen erschüttern zu können. Die wirklich relevante Frage wird sein, wie hoch die allgemeinen politischen, ökonomischen und kulturellen Kosten seiner Bekämpfung und eines langfristigen Engagements der USA (und damit auch Europas) im Nahen Osten sein werden und ob diese Kosten auf Dauer zu einem Akzeptanzproblem in der Mehrheit der amerikanischen und europäischen Öffentlichkeit führen werden. Die Beantwortung dieser Frage wird ganz entscheidend von der Weitsicht und dem Mut der strategischen Entscheidungen des Westens bestimmt werden. Für die zukünftige internationale Ordnung und den Frieden im 21. Jahrhundert wird es andererseits von entscheidender Bedeutung sein, als wie stark, wie tief in der islamischen Welt verwurzelt und als wie geistig und politisch mächtig sich dieser neue Totalitarismus jenseits seiner einzelnen Protagonisten und Organisationen erweisen wird. Gelingt es dem Westen und gelingt es vor allem den Staaten und Gesellschaften des Islam, diese totalitäre Herausforderung einzudämmen und zu isolieren, so wird sich aus dem 11. September keine dauerhafte Gefährdung der regionalen und internationalen Ordnung ergeben. Scheitert hingegen der Versuch der Isolierung und schnellen Eliminierung dieser Gefahr und ihrer tieferliegenden Wurzeln, dann allerdings kann der Dschihad-Totalitarismus zu einer anhalenden terroristischen Gefahr für den regionalen und den Weltfrieden werden, auch wenn daraus kaum ein neuer, weltweiter Zentralkonflikt im klassischen Sinne entstehen kann. Welche Entwicklung dieser Konflikt nimmt, wird aber ganz entscheidend davon abhängen, wie die Strategie des Westens im
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Kampf gegen den neuen Totalitarismus aussehen wird. Die Folge einer kurzsichtigen und unklaren Strategie wäre eine ungewollte Eskalation des Konflikts und damit einhergehend eine Verbreiterung der Unterstützungsbasis für diesen neuen Totalitarismus in der muslimischen Welt. Und dies würde wiederum die Regenerationsfähigkeit der terroristischen Netzwerke verstärken und damit die Dauer des Konflikts wohl erheblich verlängern. Die entscheidende Frage lautet, ob es nicht nur gelingen wird, diesen Terrorismus militärisch und polizeilich niederzukämpfen, sondern ob es darüber hinaus gelingen wird, tatsächlich auch seine kulturell-gesellschaftlichen Wurzeln mittels positiver Alternativen auszutrocknen. Dies wiederum ist eine politische Herausforderung von hoher Komplexität und sehr langer Zeitdauer, die durchaus mit der positiven Beantwortung der Systemfrage während des Kalten Krieges vergleichbar ist. Gegenwärtig sind die Kraft und das Durchhaltevermögen des neuen Terrorismus tatsächlich nur schwer abschätzbar. Insofern muß man wohl von zwei Zukunftsszenarien ausgehen: einem optimistischen und einem pessimistischen. Das optimistische Szenario legt die Annahme zugrunde, daß der Dschihad-Terrorismus bereits Ende der neunziger Jahre im Niedergang begriffen war und definitiv mit dem Anschlag vom 11. September seinen Höhepunkt erreicht und überschritten hat. Ja, in dieser Interpretation wird der 11. September dem Versuch zugeordnet, durch dieses Fanal den Prozeß des Niedergangs aufzuhalten und umzudrehen. Diese These vertritt vor allem Gilles Kepel in seinem >Schwarzbuch des Dschihads Es bleibe abzuwarten, so Kepel, »inwieweit die Katastrophe vom 11. September 2001, so wie es ihre Urheber hoffen, den Prozeß des Niedergangs umdrehen kann, der die islamistische Bewegung am Ende des vergangenen Jahrzehnts erfaßt und eine Eroberung der Macht verhindert hat«.32 Der direkte Angriff auf die USA hat eine machtvolle Gegenreaktion ausgelöst, die dem totalitären Islamismus binnen kurzer Zeit seine territoriale Grundlage in Afghanistan entzogen, den internationalen Verfolgungsdruck auf die Kader der Al-Qai-
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da weltweit dramatisch verschärft und durch die schnelle militärische Niederlage in Afghanistan seine Legitimationsbasis in der arabisch-islamischen Welt erheblich geschwächt hat. Zudem haben die westlichen Gesellschaften ihre geheimdienstlichen und polizeilichen Apparate erheblich verbessert, und zahlreiche Regime in der arabisch-muslimischen Welt kooperieren freiwillig oder unter amerikanischem Druck, beidesmal aber aus Selbsterhaltungsgründen, mit der internationalen Koalition gegen den Terrorismus. Das optimistische Zukunftsszenario unterstellt dabei keineswegs ein schnelles Ende des Terrorismus, aber bereits die Zeit seit dem 11. September habe gezeigt, daß, trotz der hohen Zahl zu beklagender Opfer, die Terroristen nur noch die Kraft zum Angriff auf sogenannte »weiche« Ziele an der Peripherie hätten. Der Terror werde also noch einige Zeit eine Herausforderung bleiben, gleichwohl werde er sich nicht mehr verstärken können und insofern auf mittlere Sicht als Bedrohung durch eine offensive Politik der Stärke zumindest erheblich eingedämmt, wenn nicht gar besiegt werden. Ein Erreichen seiner totalitären und verbrecherischen strategischen Ziele kann nach diesem optimistischen Szenario bereits heute ausgeschlossen werden, denn zu mehr, als schmerzhafte und gleichwohl begrenzte Verluste an unschuldigen Zivilisten zu produzieren, ist der Dschihad-Terrorismus aus diesem Blickwinkel betrachtet nicht mehr in der Lage. Zur gegenteiligen Schlußfolgerung gelangt das pessimistische Szenario, und die Auswirkungen des Krieges der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak und die anhaltende Besetzung des Landes könnten die Entwicklung in Richtung des pessimistischen Szenarios stärken. An erster Stelle stehe dabei die Gefahr, daß es dem neuen Terrorismus auf mittlere Sicht tatsächlich gelingen könnte, die Golfregion und Saudi-Arabien zu destabilisiereni, und zwar mit tatkräftiger Hilfe des Westens. Denn der Irakkrieg und seine Folgen beseitigten Schritt für Schritt die regionale Hauptkonkurrenz der radikalen Dschihadis, nämlich die abgewirtschafteten nationalistischen Diktaturen und autoritären Regime. Und darüber hinaus würden die Demokratisierungsstrategie sowie die Realität der als »Fremdherrschaft« empfundenen
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Anwesenheit amerikanischer und westlicher Truppen einen Islamisierungsschock in der arabischen und islamischen Welt auslösen. Freie Wahlen, siehe das Beispiel Algeriens oder auch das Erstarken der Hamas in den palästinensischen Gebieten, könnten so durchaus zum Instrument der Islamisierung werden. Zudem drohe, analog zu der Islamisierung des Widerstandes gegen die israelische Besatzung in den palästinensischen Gebieten, durch den Irakkrieg und die westliche Militärpräsenz im Zweistromland eine Verschmelzung von arabischem Nationalismus und Islamismus. Sollten sich die USA und ihre westlichen Alliierten im Irak in einen militärisch wie politisch nicht zu gewinnenden Kleinkrieg verstricken, so werde dieser aus sich heraus zu einer Radikalisierung in der muslimisch-arabischen Welt führen, moderate Regierungen in der Region destabilisieren und den Westen in ein aussichtsloses Patt zwischen High-Tech-Warfare und Selbstmordterrorismus verstricken. Ein solches Patt existiere bereits heute zwischen Israel und den Palästinensern, allerdings mit einer entscheidenden Differenz: Israel kämpfe alternativlos um seine Existenz. Die USA hätten dagegen die Option Rückzug, und wenn sie sich irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, unter dem Druck anhaltender Verluste zu einem Rückzug entschlössen, der bei den Nationalisten wie den Dschihadis als ein Sieg über die USA und den Westen insgesamt verstanden würde, so hätte dies für die Stabilität der gesamten Region schwerwiegendste negative Folgen. Auch die Sicherheitsinteressen des Westens und vor allem Europas als direktem regionalen Nachbarn würden davon wohl erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden. Insofern bestünde für Europa, anders als für die USA und andere außereuropäische Alliierte, diese Option Rückzug nur sehr eingeschränkt. Aber auch die möglichen Konsequenzen für die Weltwirtschaft seien von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Gerade die Stabilität der gesamten Region bleibe auf mittlere Sicht eine gewaltige Herausforderung. Im Zweistromland, am arabischen Golf und auf der arabischen Halbinsel befände sich der größte Teil der Weltölproduktion und -reserven, und eine Destabilisierung dieser Region hätte erhebliche ökonomische Konsequen-
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zen für die gesamte Weltwirtschaft. Aber auch die indirekten Folgen des n. September könnten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der globalen Ökonomie führen. Wenn sich die offenen Gesellschaften des Westens, an erster Stelle die USA, in Zukunft gegen vielleicht noch gefährlichere Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen schützen müßten, so könnte dies zuerst und vor allem die Offenheit dieser Gesellschaften und damit auch des freien Güteraustauschs erheblich einschränken. Der permanente Ausnahmezustand würde dann den offenen Charakter der westlichen liberalen Gesellschaften grundsätzlich verändern, bis hin zu dauerhaften Verschiebungen des innenpolitischen Spektrums. Walter Laqueur spricht bereits heute angesichts der Erfolge bei der Terrorismusbekämpfung von einem »trügerischen Sieg«.33 Der Terrorismus vermöge zwar nicht die strategische Stärke der westlichen Gesellschaften oder gar der USA zu erschüttern, gleichwohl könne er ihre Offenheit und Liberalität durch MegaAttentate grundlegend in Frage stellen und statt dessen »Sicherheitsgesellschaften« herbeizwingen.34 Und eine solche »innere Aufrüstung« würde nicht nur zu gravierenden Konsequenzen in der Innenpolitik der westlichen Gesellschaften führen. Vielmehr könnte eine solche durch den Terrorismus erzwungene Abschottung der offenen Gesellschaften des Westens vor den notwendigen Einschränkungen beim Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Informationen und Menschen nicht haltmachen. Diese Entwicklung würde notwendigerweise zu erheblichen Einschränkungen des Welthandels und damit zu erheblichen Wachstumsverlusten führen, wie sie sich bereits seit dem 11. September anhand der tiefen Krise des internationalen Luftverkehrs haben beobachten lassen. Gerade das starke Wachstum des Welthandels sei aber eine der zentralen Voraussetzungen der Wohlstandsvermehrung der vergangenen Jahrzehnte in der westlichen Welt gewesen. Nicht auszudenken also, welche Konsequenzen eine sicherheitsbedingte längere Einschränkung des freien Welthandels tatsächlich nach sich ziehen würde. So oder ähnlich lauten also die beiden Grundmuster an aktuellen Zukunftsszenarien, und die kommende politische und wirt-
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schaftliche Realität wird sich wohl irgendwo dazwischen abspielen, abhängig nicht zuletzt von den politischen Entscheidungen der wichtigsten internationalen Akteure und davon, ob es den betroffenen Gesellschaften mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft gelingen wird, Demokratie und arabisch-islamische Staaten, marktwirtschaftliche Moderne und Islam in einer erfolgreichen Entwicklung zu verbinden. Damit könnte man die anhaltende Modernisierungsblockade in diesen Gesellschaften auflösen, ohne daß dies als äußerer Zwang, als Fremdherrschaft und kultureller Imperialismus oder gar neuer Kreuzzug verstanden würde. Dazu gehört ganz gewiß auch die Lösung des nahöstlichen Regionalkonflikts zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn in Richtung einer selbsttragenden Friedensordnung. Der Nahostkonflikt ist mitnichten die Quelle allen Übels in dieser Region. Ganz im Gegenteil diente und dient Israel seit seiner Gründung vielen Machthabern und Regimen in der arabischen Welt als willkommene Ablenkung von den eigenen gravierenden Unzulänglichkeiten und Versäumnissen. Und ebenso gewiß trägt Israel keinerlei Schuld an den großen Modernisierungsproblemen in der muslimisch-arabischen Welt.35 Dennoch ist für eine zukünftige Friedensordnung im Nahen Osten die Lösung dieses Konflikts zwischen Israel, den Palästinensern und den arabischen Staaten von zentraler Bedeutung, da seine Fortdauer die Instabilität in der gesamten Region aufrechterhalten wird. Eine Friedenslösung im Nahen Osten muß sowohl Israels Interesse an einem Leben ohne Terror und an seiner dauerhaften Existenzsicherung als jüdischer Staat als auch den legitimen Interessen der Palästinenser nach einem eigenen demokratischen Staat in den Grenzen von 1967 gerecht werden. Gelingt mittels einer langfristigen und auf Kooperation gründenden internationalen Anstrengung die Modernisierung und damit einhergehend der Aufbau einer belastbaren Friedensordnung im Nahen Osten, so wird die Wahrscheinlichkeit einer friedlicheren Zukunft um vieles größer sein. Wenn nicht, dann wird die Konsequenz aus dem 11. September keinesfalls zurück zum Status quo ante lauten. Vielmehr rückt dann mit hoher
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Wahrscheinlichkeit die Option einer lang anhaltenden, sehr gefährlichen Krise und Auseinandersetzung im Nahen Osten in den Vordergrund, und zwar unter Einschluß all der großen Risiken und Gefahren, die eine solche Option nach sich ziehen wird. Für Europa wäre dies eine höchst bedrückende und dauerhaft gefährliche Perspektive, denn der Nahe Osten ist seine unmittelbare Nachbarregion. Hier also, im weiteren nahöstlichen Krisengürtel, wird in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts vor allem über Europas Sicherheit entschieden werden, und deswegen wird für die europäischen Interessen diese Region an der Spitze ihrer sicherheitspolitischen Agenda zu stehen haben.
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II. Bruchlinien der globalen Desintegration »Die technologischen und sozialen Umwälzungen, die sich um uns herum vollziehen, sind ein historisches Phänomen von großer Komplexität und Tragweite, von dem jeder profitieren kann und das niemand zu beherrschen vermag — nicht einmal die Vereinigten Staaten! Die Globalisierung ist nicht das Instrument einer >neuen Ordnung<, die bestimmte Kreise< über die Welt herrschen lassen wollen; ich würde sie eher mit einer riesigen, nach allen Seiten offenen Arena vergleichen, in der sich zahllose Turniere und Wettkämpfe gleichzeitig abspielen und in deren kakophonisches Getöse sich jeder mit seinem eigenen Schlachtruf, seiner eigenen Ausrüstung hineinstürzen kann.« AMIN MAALOUF36
Die globale Neuordnung der Weltwirtschaft und damit auch des internationalen Staatensystems wurde bereits lange vor dem 11. September von langfristig wirkenden Kräften vorangetrieben: Fortschritte auf dem Gebiet des Wissens und der Technologie, soziale und kulturelle Umbrüche, die allgemeine wirtschaftliche Dynamik und die unterschiedlichsten politischen Konflikte. Diese Kräfte lösten einen kaum aufzuhaltenden globalen und regionalen Wandel aus, der entlang der kurz-, mittel- und langfristigen Zeitachsen mächtigen und teilweise sehr komplexen Trends folgte und folgt, die nur sehr eingeschränkt politisch gesteuert, geschweige denn geplant werden können. In den Bruchzonen der "Weltwirtschaft und der Weitpoiitik sind es nun genau jene Trends, angereichert durch politische Fehler oder Unterlassungen nationaler und internationaler Akteure, die zu einer politischen Aufladung führen können, an deren Ende dann die Herausbildung einer neuen terroristischen oder gar totalitären Gefahr für den Weltfrieden stehen kann.
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Der religiöse Fanatismus und seine terroristischen Konsequenzen stellen die langfristigen Trends der Welt keineswegs in Frage, wohl aber dynamisieren sie deren politische Neuordnung. Anthony Barber hat für diese sich scheinbar ausschließenden und in Wirklichkeit bedingenden politisch-kulturellen Reaktionen die griffige Formulierung »Dschihad versus McWorld« gefunden: »unsere Lebenswelt [ist] zwischen die antagonistischen Entwicklungen eines neuen >Stammesbewußtseins< und einer globalen Integration geraten. Wir ziehen uns in eine fragmentierte Vergangenheit zurück und bewegen uns doch gleichzeitig auf die Zukunft einer grenzenlosen Kultur zu. Die Orientierung an der Vergangenheit bietet den düsteren Ausblick auf eine Rückentwicklung großer Teile der Menschheit durch Krieg und Blutvergießen: eine drohende Balkanisierung der Nationalstaaten, in deren Verlauf sich Kultur gegen Kultur, Volk gegen Volk, Stamm gegen Stamm stellt. Dieser >Dschihad<, dieser Heilige Krieg gegen jede Art der Abhängigkeit, trifft auf über uns hereinbrechende zukunftsorientierte ökonomische, technologische und ökologische Kräfte, die nach Integration und Vereinheitlichung verlangen und die Völker überall durch schnelle Musik, schnelle Computer und schnelles Essen in ihren Bann schlagen MTV, Mclntosh und McDonald's. Die Nationen werden in die Form einer homogenen globalen Kultur gepreßt, zusammengehalten durch Kommunikation, Information, Unterhaltung und Handel. Unser Planet befindet sich im Spannungsverhältnis zwischen Disneyland und Babel; er fällt jäh auseinander und wächst doch gleichzeitig zögernd zusammen: Dschihad versus McWorld.«37 Und der britische Historiker Niall Ferguson stellt in diesem Zusammenhang die richtige Frage: »Warum kommt es parallel zur wirtschaftlichen Globalisierung zu dieser gegenläufigen politischen Zersplitterung?« Ferguson gelangt zu dem Befund, daß "die globalen Marktkräfte regionale Ungleichheiten in den traditionellen Nationalstaaten verstärken«. Und auch »die Homogenisierung der Massenkultur [zieht] als eine Art Trotzreaktion die Betonung lokaler Identitäten nach sich. Doch die zutreffendste Antwort dürfte die sein, daß mit einer wachsenden Zahl von Staaten, die (mit amerikanischer Unterstützung)
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die Kombination aus freier Marktwirtschaft und politischer Demokratie übernehmen, die logische Grundlage vieler multiethnischer Staaten wegfällt. Die Zentralregierungen verlieren ihre Legitimität als Wirtschaftsplaner, und die einzelnen ethnischen Gruppen wählen separatistische Parteien. Dieser Prozeß der politischen Spaltung steht historisch erst am Anfang.«38 Die Globalisierung, die Kommunikationsrevolution und die gentechnische Revolution sind Basisfaktoren, deren gestaltende, ja die Gesellschaften weltweit radikal verändernde Wirkung durch politische Krisen - wenn überhaupt - lediglich überlagert, keineswegs aber abgebrochen oder auch nur unterbrochen werden können. Andererseits stellt sich die Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts bei genauerer Betrachtung als zunehmend zerklüftet und von wachsenden Spannungen bestimmt dar, auch und gerade auf der Ebene der hier angeführten Basisfaktoren des globalen gesellschaftlichen Wandels. Die gefährlichste Kluft tut sich dabei auch im 21. Jahrhundert nach wie vor entlang der weltweiten Einkommensverteilung auf. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter, und dieser Trend hält unvermindert an: »Die Einkommenslücke zwischen dem reichsten Fünftel der Weltbevölkerung und dem ärmsten Fünftel lag 1997 bei 74:1, während sie 1990 nur 60:1 und 1930 gar nur 30:1 betragen hatte.«39 Wissensgestützte Hoch- und Höchstproduktivitätsgesellschaften einerseits und atavistische Subsistenzwirtschaften andererseits. Globalisierung versus Ethnisierung, Wasserstoffbombe und Selbstmordattentate, Stabilität hier und Bürgerkriege dort, aufstrebende Weltmächte und zerfallende Staaten. Die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln und Trägersystemen und Minen, Kleinwaffen und die Massaker der Macheten. Überalterung und Bevölkerungsexplosion. Gentechnologische und informationstechnoiogische Revolution neben AIDS, Malaria, dramatisch hoher Kindersterblichkeit und Analphabetismus. Menschenrechte, demokratischer Verfassungsstaat und Herrschaft des Rechts und gleichzeitig die barbarische Realität von Folter, ethnischen Kriegen bis hin zum Völkermord, Terrorismus und totalitärem Fundamentalismus, schwersten Menschen-
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rechtsverletzungen, anhaltender Unterdrückung und Diktatur. Bitterste Armut, soziale Entrechtung und Unterentwicklung neben unbeschreiblichem Überfluß, Wohlstand und Bildung für alle in demokratischen Sozialstaaten. In all diesen Brüchen und größer werdenden Klüften, die eine weiter wachsende Menschheit von demnächst sieben Milliarden Menschen in arm und reich, entwickelt und unterentwickelt, wissend und unwissend aufteilen, verbirgt sich allerdings nicht nur ein immer größer werdendes moralisches Legitimationsproblem, sondern darüber hinaus auch ein kommendes Sicherheitsrisiko für das globale Staatensystem. Wachsende Weltbevölkerung, sich verschärfende Verteilungsungerechtigkeit und zunehmende Ressourcenknappheit, so lautet die sicherheitspolitische Basisformel der kommenden Konflikte im 21. Jahrhundert. Die Qualität der strategischen Antworten auf diese globalen und regionalen Spannungen, auf diese vielfältigen Konflikte und ihre Ursachen, wird ganz entscheidend über Frieden, Stabilität, Gerechtigkeit und Freiheit in vielen Gesellschaften und im internationalen Staatensystem in den vor uns liegenden Jahrzehnten entscheiden. Und diese Antworten werden von den Akteuren, vor allem den politischen Akteuren zu geben sein. Das sind an erster Stelle immer noch die Staaten, denn diese sind nach wie vor die entscheidenden Akteure auf der internationalen Bühne, vor allem die großen und größten unter ihnen. Ihre Interessen, ihre Macht und deshalb auch die Machtverteilung zwischen ihnen werden ihre Entscheidungen entlang der oben angeführten Trends und Bruchlinien bestimmen. Robert Cooper sieht mit dem Ende des Kalten Krieges nicht nur eine formale Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa erreicht, sondern darüber hinaus eine sehr viel tiefer reichende Zäsur, die die beiden tradierten europäischen Staatensysteme des Imperiums und des Gleichgewichtssystems zur Geschichte wer den läßt: »Was in Europa zu Ende ging (aber vielleicht nur dort), waren die beiden politischen Systeme dreier Jahrhunderte: das Mächtegleichgewicht und das Großmachtstreben. Der Kalte Krieg verknüpfte das System von Gleichgewicht und Imperium und machte die Welt zu einem einzigen Ganzen, das durch den
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Kampf um die Vorherrschaft vereint wurde und in einem einzigen Gleichgewicht des Schreckens gefangen war. Aber sowohl Gleichgewicht als auch Imperium haben heute aufgehört, die vorherrschenden Konzepte in Europa zu sein, und infolgedessen bildet die Welt nicht länger ein einheitliches politisches System.«40 Die globale Ordnung des Ost-West-Konflikts wurde nicht durch eine erkennbare neue Ordnung abgelöst, wie das zuvor bei vergleichbaren Epochenbrüchen der Fall gewesen war. Wien, Versailles und Jalta standen im 19. und im 20. Jahrhundert für die jeweiligen Nachkriegsordnungen. Ganz anders verhielt sich die Sache nach 1989/90. Die Lage war völlig atypisch, und nicht einmal eine für solche Nachkriegszeiten durchaus übliche Phase der Wirren war zu verzeichnen. Statt dessen folgte eine diffuse Parallelität zwischen westlich konservativem Status quo und revolutionären Umbrüchen. Nirgendwo ließ sich diese psychologische Ambivalenz sinnfälliger und fast mit den Händen greifen als im vereinigten Deutschland der neunziger Jahre, das in der Tat diese Doppelstruktur von konservativem Status quo und revolutionärem Umbruch in ein und derselben Gesellschaft verarbeiten mußte (und auch heute noch muß). Und genau in dieser diffusen Parallelität zwischen dem Festhalten am Status quo ante und der Wahrnehmungsverweigerung gegenüber einer tatsächlich stattfindenden Revolution, einer Mischung aus Erleichterung, Kurzsichtigkeit und Ignoranz, fand der Terrorismus der Al-Qaida im fernen Afghanistan und in anderen Ländern des islamischen Krisengürtels gedeihliche Wachstumsbedingungen. Der Westen reagierte auf die Größe der Herausforderung nach dem Epochenbruch im wesentlichen entlang jenes bekannten »Vogel-Strauß-Effekts«, d.h., er steckte zu weiten Teilen den Kopf vor der wieder hereinbrechenden Geschichte in den Sand der postmodernen Illusionen. Die Fortdauer dieser Situation im Westen war und ist überwiegend allerdings bloßer Schein, denn die Grundlagen der politischen Ordnung, selbst wo sie fortexistieren, haben sich dennoch fundamental verändert. Gerade Europa befand sich in einer paradoxen historischen Situation. Es erlebte nämlich eine Revolution in der Form konservativer Kon-
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tinuität. Diese reale Dialektik des Endes des Kalten Krieges und ihrer Folgen überforderte Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen, zumal die politischen Bedingungen zwischen der Zeit des Kalten Krieges und der sich daran anschließenden Nachkriegszeit kaum gegensätzlicher hätten sein können. Der Kalte Krieg wurde zwischen den beiden größten und stärksten Mächten des 20. Jahrhunderts ausgetragen, die mit ihrem zentralen Konflikt um die Dominanz der Welt - welches System ist besser, mächtiger und wird sich demnach global durchsetzen? - nahezu das gesamte internationale Staatensystem dominierten und mit eisernem Griff und noch nie dagewesener militärischer Macht global ordneten. Hitlers verbrecherischer Größenwahn hatte Deutschland die Weltherrschaft anstreben lassen, und die totale Niederlage des Deutschen Reiches 1945 hatte die beiden globalen Supermächte hervorgebracht, die die Welt unter sich aufteilten und im Kalten Krieg weltweit gegeneinander rüsteten und kämpften. Europäische Weltmächte gab es seit dem 16.Jahrhundert - Portugal, Niederlande, Frankreich und vor allem Spanien und Großbritannien -, aber ihre globalen Rollen waren durch ihre zu geringen strategischen Potentiale, durch ihre geopolitischen Begrenzungen und mangelnden technologischen Möglichkeiten eingeschränkt. Die Sowjetunion und die USA verkörperten nach 1945 eine neue Qualität von globaler Macht, und tatsächlich kann man den Kalten Krieg auch als die erste wirkliche politische Globalisierung der Weltgeschichte bezeichnen. Über fast fünf Jahrzehnte hinweg gestaltete die Konfrontation der beiden Supermächte das machtpolitische, das ideologische und das ökonomische Ordnungssystem beinahe der gesamten Welt. Mit der Implosion eines der beiden Antipoden entstand ein Vakuum und kein neues Freund-Feind-Verhältnis, wie es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Fall gewesen war. Statt dessen erfolgte diesmal in weiten Teilen der Staatenwelt ein dramatischer Ordnungsverlust. Es war, als wenn man einen starken Elektromagneten abgeschaltet hätte, dessen Magnetfeld bis dahin alle Metallpartikel unter seine Ordnung gezwungen hatte. Bis heute gibt es keine neue globale Ordnungsstruktur, auch wenn sich ihre Umrisse langsam aus den
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jüngeren Krisen herauskonturieren. Und spätestens der 11. September hat die Notwendigkeit einer neuen Weltordnung wieder ganz oben auf die Tagesordnung der internationalen Politik gesetzt.41 Wie bereits erwähnt, brachte das Ende des Kalten Krieges einerseits große Fortschritte und damit Ordnungsgewinne in der internationalen Politik und führte in der Folge zu historischen Veränderungen und zu Lösungen von Konflikten, die lange ersehnt und fast nicht mehr für möglich gehalten worden waren: die Befreiung Ost- und Ostmitteleuropas von der sowjetischen Unterdrückung, der Fall der Berliner Mauer und die deutsche Einheit. Das Ende des Apartheidregimes in Südafrika, positive Veränderungen im Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern, die im Friedensprozeß von Oslo und im historischen Händedruck zwischen Rabin, Peres und Arafat im Rosengarten des Weißen Hauses in Washington gipfelten, und hoffnungsvolle Entwicklungen in zahlreichen anderen Regionalkonflikten in Asien, Afrika und Lateinamerika. Die beginnende Demokratisierung Rußlands und anderer GUS-Staaten und das Ende zahlreicher Diktaturen und blutiger Bürgerkriege in vielen Staaten Süd- und Mittelamerikas. In Europa und weltweit wurden beeindruckende nukleare, chemische, biologische und konventionelle Abrüstungserfolge erzielt. Aber fast ebenso schnell wurden auch die Ordnungsverluste nach dem Ende des Kalten Krieges sichtbar. Mit dem brutalen Überfall Saddam Husseins auf den kleinen Nachbarstaat Kuwait kam es bereits im Jahre 1991 zum Golfkrieg zwischen dem Irak und den USA und ihren Verbündeten. Nahezu gleichzeitig wurde Europa mit der Wiederkehr des Krieges auf dem Gebiet des auseinanderbrechenden Jugoslawiens konfrontiert, mit Massenmord bis hin zum versuchten Völkermord an der muslimischen Bevölkerung in Bosnien, mit ethnischen Säuberungen, Flüchtlingselend und einem längst vergangen geglaubten brutalen Nationalismus, wie er vor allem (aber nicht nur!) in der großserbischen Politik des Slobodan Milosevic verkörpert wurde. Die anhaltende Tragödie Afghanistans, kollabierende Staaten in Afrika, der Völkermord an den Tutsis in Ruanda, grauenhafte
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Massaker an der Zivilbevölkerung in zahlreichen anderen Staaten und scheinbar endlose Kriege um Öl und Diamanten seien hier ebenfalls angeführt. Diesen Katastrophen auf dem afrikanischen Kontinent standen andererseits auch dort beeindruckende Fortschritte gegenüber, wie die Beendigung des Apartheid-Regimes in Südafrika und Friedensschlüsse in lange währenden Bürgerkriegen, wie z.B. in Mosambik. Und auch Demokratisierungserfolge bei der Überwindung von Militärdiktaturen, wie etwa in Nigeria, kennzeichneten die positiven Entwicklungen dieser Jahre in Afrika. Dennoch, betrachtet man mit einigem Abstand und aus der Perspektive des 11. September das abgelaufene Jahrzehnt, so fällt bei all den vielen historischen Fortschritten als herausragendes negatives Merkmal sofort auf, daß es für die Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts kein übergreifendes Ordnungsprinzip mehr gab, ja vermutlich auch gar nicht mehr geben konnte. Die bipolare Mächtekonstellation, die mit ihrer Zentralisierung von Macht und Konflikten eine klare und umfassende Ordnungsstruktur durchgesetzt hatte, existierte nicht mehr, und kein neues umfassendes Ordnungsprinzip trat an ihre Stelle. Der Kalte Krieg war von beiden Supermächten mit einem beispiellosen Ressourceneinsatz geführt worden, und nahezu alle Regionalkonflikte waren diesem Zentralkonflikt untergeordnet oder durch ihn instrumentalisiert worden. Auch und gerade die negativen Energien im internationalen System wurden während des Kalten Krieges durch diesen globalen Zentralkonflikt gebunden, und die Osama bin Ladens der damaligen Welt wurden entweder von der CIA oder vom KGB kontrolliert. Mit dem Ende des Kalten Krieges war es auch damit vorbei. Es bildeten sich in den Bruchzonen der postglazialen Ordnung politisch »freie Radikale« mit fatalen Konsequenzen, wie wir heute wissen. Dieser Verlust eines ordnenden Zentralkonflikts bestimmt das internationale System bis auf den heutigen Tag. »Die Terroranschläge vom 11. September haben uns auf tragische Weise vor Augen geführt, wie stark die einzelnen Teile der Welt miteininder verflochten sind und wie wichtig die Frage, welche Bedingungen in anderen Ländern herrschen, für unsere Sicherheit ist -
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ohne seine Zufluchtsstätte in Afghanistan hätte bin Laden seinen Angriff gegen die USA nie führen können. Doch grundsätzlich galt das auch schon vor dem 11. September: Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden die meisten Krisen, die zu Blutvergießen führten, nicht durch Auseinandersetzungen zwischen Staaten, sondern durch interne Konflikte ausgelöst. Früher nutzten die Supermächte solche Konflikte aus, hielten sie aber auch unter Kontrolle. Das änderte sich mit dem Ende des Kalten Krieges: Nun mußten die Feindseligkeiten erst eskalieren, bevor Interventionen von außen in Erwägung gezogen wurden.«42 Eine »Neue Weltordnung« wurde zwar bereits anfangs der neunziger Jahre vom damaligen amerikanischen Präsidenten George Bush43 gefordert, kam aber seitdem über den bloßen Forderungscharakter kaum hinaus. Die Bedrohung des Weltfriedens durch den internationalen Terrorismus könnte hier eine grundsätzliche Wende hin zu einem globalen kooperativen Ordnungssystem einleiten, denn eine der wichtigsten politischen Entstehungsbedingungen für die neue totalitäre Bedrohung im Nahen und Mittleren Osten lag und liegt genau in diesem regionalen und globalen Ordnungsverlust. Während des Ost-West-Konflikts lauteten die beiden zentralen politischen Fragen: Gegen wen? Für wen? Die meisten Staaten fanden darauf sehr rasch eine Antwort, freiwillig oder unter direktem oder indirektem militärischen Druck. Auf diese »Klarheit« eines globalen zentralistischen Ordnungsprinzips der bipolaren Systemfeindschaft folgte nach 1989/90 eine machtpolitische, ideologische, regionale und auch historische Unübersichtlichkeit, mit der von der Mehrheitsbildung abhängige Demokratien im politischen Alltag alles andere als einfach umzugehen vermögen. Es mangelte in dieser »neuen Unübersichtlichkeit« (Jürgen Habermas)44 keineswegs an Gefahren, wohl aber an überzeugenden Feinden und Feindbildern. Risiken gab und gibt es genug, weniger häufig jedoch einfache und überzeugende Antworten, die zur Mobilisierung von Mehrheiten und Ressourcen taugen, um diesen neuen Herausforderungen wirksam entgegentreten zu können. Ganz im Gegenteil sind diese Antworten meist hochkomplex und deshalb nur sehr schwer in
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demokratischen Öffentlichkeiten, unter dem Gesichtspunkt ihrer Mehrheitsfähigkeit, zu kommunizieren. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Unübersichtlichkeit ist neben dem Verlust des Zentralkonflikts eine Pluralität der Zeitachsen. Blickt man auf das 20. Jahrhundert, so war die jeweilige historisch-politische Zuordnung für die einzelnen Zeitabschnitte meist sehr klar und bewegte sich nahezu immer entlang derselben politisch-kulturellen Zeitachse: die Zeit der großen europäischen Mächte und ihrer Selbstzerstörung im Ersten Weltkrieg, das Zeitalter der großen totalitären Ideologien von Bolschewismus und Faschismus und des Zweiten Weltkriegs und schließlich die Epoche des Kalten Krieges. Die Kraft der verschiedenen, von Europa ausgehenden Zentralkonflikte und der sie tragenden Mächte bis hin zum Kalten Krieg war so zwingend gewesen, daß alle anderen Konflikte mit ihren höchst unterschiedlichen, politisch-historischen und kulturellen Zeitachsen von dieser einen Zeitachse dominiert wurden. Zum besseren Verständnis nehme man als ein europäisches Beispiel Jugoslawien. Titos Staat trug über all die Jahrzehnte seiner Existenz hinweg bereits sämtliche seiner Nationalitätenkonflikte in sich, die nach 1991 in diesem Land explodieren sollten, aber Jugoslawien war damals ein ideologischer und politischer Bestandteil der Ordnung des Kalten Krieges in Europa, wenn auch in einer ganz besonderen Rolle. Diese übergreifende kontinentale Ordnung ließ Nationalitätenkonflikte nur sehr eingeschränkt zu oder unterdrückte sie meistens ganz unmittelbar, denn ein ausbrechender Nationalitätenkonflikt hätte eine Veränderung der strategischen Gewichte in Europa verursachen und dadurch eine akute Kriegsgefahr im Europa des Ost-West-Konflikts auslösen können. All dies durfte es in den Zeiten des Kalten Krieges aber nicht geben, und gab es folglich auch nicht. Heute ingegen gilt die Pluralität der Zeitachsen in den verschiedenen politischen Konflikten, denn mit dem Verlust der Ordnung des Zentralkonflikts ist auch die Einheitlichkeit der Zeitachse im internationalen Staatensystem verlorengegangen. Es ist, als hätte sich auch im internationalen Staatensystem das »everything goes« der Postmoderne durchgesetzt. Man nehme
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erneut als Beispiel die politische Gegenwart des Kontinents Europa. Im Kalten Krieg waren alle Europäer gezwungen, in zwei verschiedenen historischen Zeitzonen zu leben, der westlichen und der östlichen Zeit. Und heute? In wie vielen Zeiten und Zeitzonen lebt das gegenwärtige Europa, und in wie vielen Epochen denken und handeln seine Menschen, seine Völker und Staaten eigentlich, obwohl sie sich doch alle in ein und derselben Gegenwart zu befinden scheinen? EU-Europa, die neuen Mitgliedsstaaten und Kandidaten in Ostmittel- und Südosteuropa, der Balkan, Weißrußland, die Ukraine, Moldawien, Rußland selbst - denken, fühlen und handeln alle entlang derselben Zeitachse? Wohl kaum, auch wenn die Europäische Union mehr und mehr eine neue Vereinheitlichung der europäischen Zeitachse herbeiführt. Und über wie viele Zeitachsen müssen wir erst reden, wenn wir über Europa hinausblicken? Diese Auflösung der gemeinsamen Zeitachse führt zu einer oft nur schwer zu verstehenden Ungleichzeitigkeit, und diese trägt ebenfalls ganz wesentlich zum Eindruck der Unübersichtlichkeit bei, denn das Verständnis von Konfliktursachen und der tragenden Motive der Akteure, die Transparenz eines politischen Konflikts also, wird erheblich eingeschränkt, wenn sie unterschiedlichen politischen Zeiten zuzuordnen sind. Die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges war bis zum 11. September 2001 weniger durch große Konfrontationen bestimmt, da die strategischen Potentiale jenseits der USA für einen Zentralkonflikt nicht mehr vorhanden waren. Das wichtigste Konfliktrisiko lag vielmehr im geraden Gegenteil einer großen Konfrontation, nämlich in einem regionalen oder nationalen Machtvakuum, das als Folge eines Ordnungsverlustes eingetreten war. Desintegration prägt die heutige Konfliktstruktur weitaus stärker als Konfrontation, und in der Tat kennzeichnen zerfallende internationale Strukturen, zerfallende Staaten, auch zerfallende Normensysteme und das durch diesen Zerfall freigesetzte Gewaltpotential vor allem gegenüber der Zivilbevölkerung oder ethnischen Gruppen die Geographie der Konflikte des vergangenen Jahrzehnts: Jugoslawien, der südliche Kaukasus, Zentralasien, Afghanistan, Somalia, Ruanda, Burundi, Liberia,
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Sierra Leone, Kongo, um nur einige dieser Konflikte zu erwähnen. Zahlreiche dieser Länder sind nach dem 11. September auch in den Fokus der Terrorbekämpfung geraten, seitdem die USA aus einer solchen Zone des Zerfalls heraus angegriffen worden sind. Hinzu kommen noch die aus der Epoche des Kalten Krieges oder gar der Dekolonisierung ererbten Konflikte wie auf der koreanischen Halbinsel, im Nahen und Mittleren Osten und in Kaschmir. Oder lang anhaltende Bürger- oder Sezessionskriege wie im Sudan, im Kongo, in Staaten Westafrikas und der Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea, der sich aus einem jahrzehntelangen Sezessionskrieg zu einem Krieg zwischen Staaten entwikkelt hat. Aus all diesen unterschiedlichen lokalen und regionalen Krisen speist sich eine zunehmend auch global wirkende Desintegration mit nicht zu unterschätzenden internationalen Sicherheitsrisiken. Das internationale politische System bildet heute in sich also keine Ordnung mehr, sondern vielmehr eine Art Patchwork, ein Gemisch von Zonen der Ordnung und der Desintegration, von Stabilität und Konflikt entlang der unterschiedlichsten politischkulturellen Zeitachsen. Mit dem Ende des Kalten Krieges kam es zwar zu dramatischen Umwälzungen, vor allem in Ostmittelund Südosteuropa sowie der ehemaligen Sowjetunion, ansonsten aber bestanden die verschiedenen Teile dieses untergegangenen Ordnungssystems eben mehr oder weniger stabil in ihrem jeweiligen politischen Zustand fort, allerdings ohne daß es noch eine wirksame Vermittlungsstruktur zwischen den verschiedenen politischen Räumen und Zeitachsen gegeben hätte, wenn man von der Universalisierung des Weltmarktes und den internationalen Kapital- und Finanzmärkten einmal absieht. Weder die USA noch gar Europa oder andere große Mächte und auch nicht die internationalen Organisationen, an erster Stelle die UN, haben sich auf diese neue Weltlage bisher tatsächlich eingestellt und versucht, die Neuordnung der verschiedenen Teile im internationalen System voranzubringen. Betrachtet man die Struktur des postglazialen Staatensystems wie es sich nach dem großen Epochenbruch formiert hat, so fällt als erstes auf, daß ein binäres, ein eindimensionales System,
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gründend auf dem globalen Zentralkonflikt zweier Supermächte, durch ein dreidimensionales System ohne Zentralkonflikt abgelöst wurde. »Wir leben heute in einer geteilten Welt«, stellt Cooper dazu lakonisch fest, »aber in einer ganz anders geteilten als zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation.« Cooper unterscheidet im heutigen Staatensystem drei unterschiedliche Welten: »Erstens gibt es die vormoderne Welt: das vorstaatliche, postimperiale Chaos. Beispiele dafür sind Somalia, Afghanistan und Liberia.«45 »Der zweite Teil der Welt ist der moderne. Hier bleibt das klassische Staatensystem intakt. Die Staaten behaupten das Gewaltmonopol und mögen darauf vorbereitet sein, es gegeneinander einzusetzen.«46 »Den dritten Teil des internationalen Systems könnte man das postmoderne Element nennen. Hier bricht das Staatensystem der modernen Welt ebenfalls zusammen, aber anders als in der vormodernen löst es sich in größere Ordnung und nicht in Unordnung auf.«47 Dieses dreidimensionale Modell des Staatensystems läßt sich zum besseren Verständnis auch hierarchisieren. Die oberste Etage wird von der postmodernen Welt bewohnt: ganz oben die amerikanische Supermacht, gefolgt von ihren Allianzen in Europa und Ostasien. In dieser Welt dominiert die strategische Macht, und diese stützt sich auf Hochtechnologie, in letzter Konsequenz auf die modernsten Nuklearwaffen. Die mittlere Etage wird von der modernen Welt bevölkert. Aufstrebende oder absteigende Weltmächte und regionale Mächte suchen hier regional nach dem Gleichgewicht. Krieg zwischen den Staaten ist nach wie vor eine reale Option, und auf dieser Ebene drohen noch hochgefährliche Regionalkonflikte in die militärische Konfrontation zu führen. Diese Konflikte können durchaus die nukleare Schwelle tangieren. Die Regionalkonflikte in Ostasien und auf der koreanischen Halbinsel, der Kaschmir- und der Nahost-Konflikt sind dafür die gefährlichsten und zugleich bekanntesten Beispiele. In der untersten Etage findet sich die prämoderne Welt. Diese bildet gewissermaßen das Kellergeschoß des gegenwärtigen Staatensystems und wird von den Gefahren und Risiken zusammenbrechender oder bereits zusammengebrochener Staaten bestimmt. Private Gewalt, Krieg, Terrorismus und Massaker bis hin zur Ge-
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fahr eines Völkermordes definieren dort die Realität; Hunger, Analphabetismus und himmelschreiende Menschenrechtsverletzungen bestimmen den Alltag in dieser Welt. Freilich handelt es sich bei diesem dreidimensionalen Staatensystem nicht um voneinander abgeschottete Welten; die Globalisierung führt, ganz im Unterschied zu früheren Jahrhunderten, zu einer hohen Durchlässigkeit von Informationen, Ideologien und Menschen. Und entsprechend hoch ist die Vernetzung der Konfliktstrukturen aller drei Ebenen. Die Interaktion zwischen der postmodernen und der modernen Welt ist ein allgemein anerkannter Faktor, ebenso die Interaktion zwischen moderner und prämoderner Welt. Die Interaktion zwischen postmoderner und prämoderner Welt hingegen wurde bis zum 11. September sträflich unterschätzt. Der Angriff auf die postmoderne Welt schlechthin, nämlich auf die Vereinigten Staaten von Amerika, sollte genau aus diesem Kellergeschoß des gegenwärtigen Staatensystems heraus erfolgen. Auch die Struktur der Bedrohung hat sich im dreidimensionalen Staatensystem ohne Zentralkonflikt grundsätzlich verändert. In der Eindimensionalität des Ost-West-Konflikts dominierte der Kampf der beiden Weltmächte und ihrer Bündnissysteme um die globale Hegemonie, ideologisch die Feindschaft zweier Systeme. Von diesem Zentralkonflikt ging die alleinige strategische Bedrohung aus. Diese war symmetrisch, d.h., zwei Weltmächte mobilisierten auf höchstem technologischen Niveau und unter Aufbietung aller ihrer Möglichkeiten ihr gesamtes militärisches Potential: konventionell, chemisch, biologisch und atomar. Alles, was die Balance des Schreckens im globalen Hegemonialkonflikt gefährden konnte, war demnach eine strategische Bedrohung, alles andere war nachrangig. Regionale und lokale Konflikte waren dem Zentralkonflikt weitgehend untergeordnet, und das gesamte Spektrum thermonuklearer, konventioneller und terroristischer Bedrohungen wurde durch ihn domestiziert. Das dreidimensionale Staatensystem der Gegenwart verfügt dagegen nicht mehr über diese Fokussierung der verschiedensten Konflikte und Bedrohungen auf einen einzigen strategischen Punkt und Ort hin.
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Die ideologische Systemfeindschaft zwischen Kapitalismus und Kommunismus ist seit dem Ende des Kalten Krieges marginalisiert worden oder völlig verschwunden, eine Systemalternative zum westlichen Marktsystem gibt es nicht mehr. Das dadurch entstandene ideologische Vakuum wurde entweder positiv durch Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft oder negativ durch religiösen Haß und Nationalismus gefüllt. Verbunden mit Massenvernichtungswaffen und Terrorismus formt sich im dreidimensionalen Staatensystem das heraus, was man die neue strategische Gefahr nennen kann. Schon drei dieser Bedrohungen - religiöser Haß, Nationalismus und Terrorismus - können aus sich heraus zu schweren Konflikten und Konfrontationen bis hin zum Krieg führen. Aber nur in Verbindung mit der vierten Bedrohung, den Massenvernichtungswaffen, kann daraus eine strategische Gefahr erwachsen. Diese neue strategische Bedrohung stellt die Kumulation der Bedrohungen aus verschiedenen Epochen der europäisch-westlichen Geschichte dar: Der religiöse Haß dominierte das Zeitalter der europäischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts; der Nationalismus das 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts; die Nuklearwaffe als die gefährlichste Massenvernichtungswaffe den Kalten Krieg; und schließlich droht der Terrorismus, wie er am 11. September zugeschlagen hat, den Beginn des 21. Jahrhunderts zu dominieren. Verbinden sich diese vier Elemente, so liegt in der Tat eine strategische Bedrohung neuen Typs vor. Mit der Gefährlichkeit dieser Verbindung von religiöser und nationalistischer Konfrontation in einem Regionalkonflikt mit Nuklearwaffen und dem Auslösefaktor Terrorismus wurde die Welt vor nicht allzu langer Zeit auf dem indischen Subkontinent konfrontiert. Im Jahre 2002 kamen all diese vier Elemente in einer erneuten Zuspitzung des indisch-pakistanischen Konflikts zusammen und drohten eine Katastrophe auszulösen. Religiöser Haß und nationalistische Konfrontation bilden die Grundlage des seit Jahrzehnten währenden Konflikts um Kaschmir. Beide Kontrahenten sind Atommächte, und der Terrorismus diente als Zünder. Der Angriff islamistischer Terroristen, die ihre Basis in
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Pakistan hatten (so der Vorwurf der indischen Regierung), auf das Parlament der Indischen Union in Neu-Delhi sollte beide Staaten an den Rand einer bewaffneten Konfrontation mit auch nuklear kaum absehbaren Konsequenzen führen. Gewiß, diese Krise fand in der Welt der Moderne statt, in der der Krieg noch eine Option ist. Ganz anders wird diese neue strategische Bedrohung in der Welt der Postmoderne wirken, denn dort wird die Bedrohung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von einem Staat ausgehen, da dieser dadurch Selbstmord begehen würde; der Terrorismus selbst wird vermutlich einen strategischen Schlag versuchen. Und strategisch heißt in diesem Falle nicht die tatsächliche Schwächung des strategischen Potentials einer großen Macht, sondern die strategische Wirkung des Schreckens und der Angst. Denn ein Terroranschlag auf eine offene Gesellschaft mit Massenvernichtungswaffen (oder auch nur die glaubhafte Drohung damit) würde diese mit hoher Wahrscheinlichkeit zur grundlegenden Umgestaltung in Richtung einer Hochsicherheitsgesellschaft zwingen. Die Bedrohung wäre damit eine strategische. Doch zurück zur Gegenwart des dreidimensionalen Staatensystems. Deskriptiv lassen sich dieses System und seine wichtigsten Akteure wie folgt zusammenfassen: Die USA als alleinige Weltmacht, mit ihrer umfassenden politisch-ökonomisch-technologisch-kulturellen Dominanz, ihrer einzigartigen Fähigkeit zur globalen Machtprojektion und ihren verschiedenen Bündnissystemen im atlantischen und pazifischen Raum sowie in der westlichen Hemisphäre, halten nach wie vor wesentliche Ordnungsfunktionen und -Strukturen aufrecht, auch wenn die alleinige Supermacht die Ordnungsfunktion des alten bipolaren Zentralkonflikts bisher nicht durch eine globale Pax Americana ersetzen konnte oder nicht ersetzen wollte. Ob die Vereinigten Staaten mit der Entscheidung zum Krieg im Irak zugleich diese sehr viel weiter reichende Entscheidung zu einer globalen Pax Americana getroffen haben, wird erst die Zukunft zeigen. Und dies gilt auch für die Frage, ob eine unilaterale Weltordnung nicht sehr schnell in einem »imperial overstretch« der USA, in einer Überdehnung der Kräfte enden würde.
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Die Europäische Union dagegen ist bisher erst eine Macht im Werden, von der sich gegenwärtig allerdings kaum verläßlich abschätzen läßt, wie lange sie für den doppelten Prozeß der europäischen Integration - der räumlichen Erweiterung nach Osten und der institutionellen Integration durch die Vollendung der politischen Union - noch brauchen und wie viele Krisen sie dabei noch zu durchlaufen haben wird. Sowohl die Erweiterung als auch die Vollendung der politischen Integration sind überaus ambitionierte und politisch wie ökonomisch fordernde Aufgaben von historischer Dimension. Deren positive Lösung könnte allerdings nur um den Preis der Gefahr der Stagnation und des Rückschritts der EU verzögert oder vertagt werden, denn diese beiden großen Herausforderungen sind nicht das Ergebnis abstrakter oder gar ideologischer Überlegungen, sondern beides wurde den Europäern durch das Ende des Ost-West-Konflikts und damit durch den Fortgang der Geschichte aufgezwungen. Parallel zur Vollendung der Integration Europas dominiert die EU allerdings bereits heute, gemeinsam mit den USA mittels der NATO, die Ordnungsperspektive des europäischen Kontinents und wird dessen Zukunft und darüber hinaus auch die Zukunft der angrenzenden Regionen - des Nahen und Mittleren Ostens, des Mittelmeerraums und weiter Teile Afrikas - zunehmend mitgestalten müssen. Europa hat mit dem Ende des Kalten Krieges, spätestens aber mit dem 11. September eine neue, eine strategische Dimension bekommen. Angeführt von den größeren Mitgliedsstaaten engagieren sich die Europäer nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch militärisch langfristig auf dem Balkan und in Afghanistan, einige zudem im Irak und an anderen Orten der Welt. Gleichwohl öffnet sich immer mehr eine ernstzunehmende Lücke zwischen den militärischen Fähigkeiten Europas und der USA. Die Europaer werden sehr nachdrücklich große Anstrengungen unternehmen müssen, angetrieben von den internationalen Krisen und vor allem durch die Erfahrungen seit dem 11. September bis hin zum Irakkrieg, um ihre militärischen Fähigkeiten und politischen Handlungsmöglichkeiten erheblich zu verbessern. Aber selbst wenn man hypothetisch die positivste Option für die
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nächste Zukunft Europas unterstellt, so wäre es angesichts der politischen und wirtschaftlichen Agenda der EU gleichwohl illusorisch anzunehmen, daß die Europäer die Rollenverteilung mit der alleinigen Weltmacht USA auf absehbare Zeit ändern könnten. Vor der Vollendung der europäischen Integration werden die Europäer, jenseits des Sektors der Wirtschaft, weder als EU noch gar als einzelne Nationalstaaten eine wirklich globale Rolle an der Seite der USA spielen können. Gewiß, die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dynamisch weiterentwickeln wird, ist angesichts des anhaltenden Drucks der Realität sehr groß. Ebenso wird dies in Zukunft auch für eine verstärkte Rolle der EU im internationalen Krisen- und Konfliktmanagement mittels der europäischen Diplomatie und militärischer und ziviler Kriseneinsätze der EU gelten. Solange aber die EU ihre Osterweiterung und ihre politische Integration nicht vollendet und entsprechend institutionell wie materiell verarbeitet hat, müssen und werden die europäische Binnensicht und die anhaltenden internen Reibungsverluste ihre Agenda, trotz allen Außendrucks, letztendlich dominieren. Die politischen Prioritäten und die tatsächliche Leistungsfähigkeit der EU werden deshalb noch für einige längere Jahre von diesen historischen Herausforderungen im Innern Europas begrenzt werden. Rußland, die ehemalige zweite Supermacht, bildet wiederum ein ganz eigenes Gemisch im großen globalen Patchwork. Dieser - auch nach der Auflösung des großrussischen Imperiums namens Sowjetunion — nach wie vor mit weitem Abstand größte Flächenstaat der Erde gibt ein verwirrendes Bild ab: eine immer noch existente nukleare Weltmacht, mühselige Fortschritte oder gar Stagnation in der wirtschaftlichen und demokratischen Transformation, anhaltende Integrationsprobleme des riesigen Landes, dramatische regionale Ungleichgewichte und Nationalitätenkonflikte bis hin zum nicht enden wollenden Krieg im nördlichen Kaukasus und der damit einhergehenden Bedrohung durch den tschetschenischen Terrorismus. Wie lange Rußland für seine Modernisierung brauchen wird, wie lange sein
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Abstieg als Weltmacht anhalten wird und unter welchen Bedingungen dieser revidiert werden kann, dies bleiben zentrale Fragen der internationalen und auch europäischen Politik des 21. Jahrhunderts. Die beiden großen strategischen Ziele Rußlands sind erstens die erfolgreiche und umfassende Modernisierung seiner Wirtschaft und Gesellschaft und zweitens die Erneuerung der staatlichen Macht und sein Wiederaufstieg als Weltmacht im 21. Jahrhundert. Die Erfahrung der Gleichrangigkeit mit den USA in den Jahrzehnten des Kalten Krieges wird noch auf lange Zeit nicht vergessen werden und die Richtung des Landes bestimmen. Außenpolitisch hat Rußland unter Präsident Putin weitreichende strategische Weichenstellungen vorgenommen: Einerseits eine dauerhafte politische und ökonomische Westöffnung gegenüber den USA und Europa sowie eine neue strategische Allianz mit den USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Und andererseits den Versuch, die Modernisierung des Landes nachhaltig auf die Rolle eines der größten Energieproduzenten und -exporteure im 21. Jahrhundert zu gründen.48 Ob die Konstellation, die der Irakkrieg hervorgebracht hat, in der Rußland gemeinsam mit Frankreich, China und Deutschland zu den Kritikern des Krieges gehörte, dauerhaft negative Auswirkungen auf die russisch-amerikanischen Beziehungen haben wird, darf bezweifelt werden, da sich durch die Irakkrise weder an der strategischen Westöffnung der russischen Politik etwas ändern wird, noch die USA es sich werden erlauben können, Rußland einfach links liegen zu lassen. Dazu ist Rußland viel zu groß, immer noch zu mächtig und damit auch zu wichtig für die amerikanische Außenpolitik. Freilich besteht die Gefahr eines regionalen Dissenses zwischen Rußland und den USA in den Staaten des südlichen Kaukasus und in Zentraiasien. Strategische Oi- und Erdgasinteressen, seien es Lagerstätten und ihre Ausbeutung oder die Durchleitung mittels Pipelines zu den weit entfernten Seehäfen - das sogenannte »New Great Game« -, und ihre Sicherung durch Bündnisse, militärische Stützpunkte und Allianzen, können dabei, verstärkt durch russische Einkreisungsängste, zu regionalen
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Verhärtungen zwischen den beiden großen Mächten und damit zur Intensivierung regionaler Spannungen führen. Mit ebenso guten Gründen kann allerdings auch ein entsprechender regionaler Ausgleich zwischen den beiden großen Mächten und ihren strategischen Interessen angenommen werden, angetrieben von überragenden globalen Interessen, die einen solchen Ausgleich notwendig machen. Europas Interesse ist es, daß sich die Option eines Interessenausgleichs zwischen Rußland und den USA in Zentralasien und dem südlichen Kaukasus durchsetzt. Freilich bleibt die zentrale offene Frage der russischen Modernisierung nicht das Wann, sondern vielmehr das Wie. Wie demokratisch, wie rechtsstaatlich wird diese Modernisierung Rußlands verlaufen? Oder wird es einen erneuten »autoritären« Modernisierungsversuch geben? Etwas »gelenkte« Demokratie? Etwas »gesteuerte« Marktwirtschaft? Etwas großrussische »Einflußzone«? Oder werden sich am Ende all diese Phänomene nur als notwendige Zwischenphasen einer gelungenen Modernisierung Rußlands erweisen, hin zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft? Vermutlich liegen im Falle Rußlands Optimisten wie Pessimisten im Realitätsgehalt ihrer Zukunftserwartungen sehr nahe beieinander. Für Europa sind die Antworten auf diese Fragen allerdings von entscheidender Bedeutung. Dabei wird es vor allem darum gehen, ob die erweiterte Union dauerhafte neue strategische Beziehungen mit Rußland wird herstellen können, d. h. ob die Prinzipien des neuen Europa von Rußland akzeptiert werden oder nicht. Auf jeden Fall hat Europa jedes Interesse, eine erneute hegemoniale Bedrohung von jenseits seiner Grenzen für immer auszuschließen, und dieses Interesse ist mit einer Rückkehr zu einer Politik, die sich in den Kategorien von »Einflußzonen« etc. im Verhältnis zwischen Rußland und Europa definiert, nicht in Übereinstimmung zu bringen. In Ostasien und Südasien befinden sich neben Japan große Mächte, wie China und Indien mit den weltweit größten Bevölkerungen, ökonomisch und politisch-militärisch im Aufstieg. Die Region entwickelt sich in einer dramatischen Geschwindigkeit, und dies gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern fast mehr
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noch für die Politik.49 An erster Stelle wird die Volksrepublik China alles daransetzen, um eine der dominanten Mächte des 21. Jahrhunderts zu werden,50 und dieser strategischen Priorität ordnet die Führung des Landes alle anderen Ziele unter. Die chinesischen Wachstumszahlen des vergangenen Jahrzehnts sind beeindruckend, ebenso die Technologieentwicklung und der Aufbau der Humanintelligenz.51 Vor allem Chinas Handel mit den USA stützt sich auf hohe Zuwachsraten, so daß China heute bereits nach Japan zu den wichtigsten Gläubigern der USA gehört.52 Die Volksrepublik China wird als einer der möglichen Rivalen der USA im 21. Jahrhundert angesehen, da das Land angesichts seiner riesigen Bevölkerung, seines großen Territoriums, seines beeindruckenden Wirtschaftswachstums, seiner technologischen Aufholjagd und seines politischen Status als Nuklearmacht und ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der UN dazu alle Voraussetzungen zu haben scheint. »Wenn China in seinem Inneren stabil bleibt«, so Henry Kissinger, »ist es zur Großmacht prädestiniert und wird als solche eher in der Lage sein, die Vereinigten Staaten herauszufordern. Aber es wird nicht die einzige sein: Indien, Brasilien und Rußland verfügen über ähnliche Optionen und haben dabei in mancherlei Hinsicht weniger Hindernisse zu überwinden.«53 Freilich bleibt bis heute eine der ganz zentralen Zukunftsfragen der Volksrepublik China unbeantwortet, nämlich wie dieses große Land mit dem täglich zunehmenden Widerspruch zwischen seiner ökonomischen Basis eines fast schrankenlosen Kapitalismus und der nach wie vor existierenden Diktatur der Kommunistischen Partei auf Dauer wird leben können. Ähnlich wie Rußland hat die VR China ein dramatisches Modernisierungsproblem, auch wenn es in der Sache anders strukturiert ist. Und wie in Rußland wird sich die Frage nach der Zukunft von Demokratie und Rechtsstaat als die entscheidende Modernisierungsfrage erweisen.54 Dennoch überwiegt bei den meisten Experten angesichts der großen chinesischen Entwicklungsdynamik und des kaum zu überschätzenden Potentials des Landes eindeutig eine optimistische Perspektive: »Wer sich nur die Pro-
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bleme Chinas vor Augen hält, kann kaum anders als pessimistisch sein. Doch den gewaltigen Problemen stehen gewaltige Gegenkräfte gegenüber. China steht am Anfang seiner Entwicklung und hat enorme Expansionsmöglichkeiten. Es wird diese Möglichkeiten nutzen, so wie es sie in den letzten zwanzig Jahren genutzt hat.«55 China schickt sich an, Japan in nicht allzu ferner Zukunft als Führungsmacht in Ostasien abzulösen. Wird dies ohne große Rivalitäten und Friktionen geschehen können? Japan wird seine strukturellen Probleme lösen und die ökonomische Stagnation hinter sich lassen. Schon heute wird dadurch die Frage aufgeworfen, wie sich Japan als Macht regional und global definieren und in welcher Form der sino-japanische Widerspruch ausgetragen oder besser noch ausgeglichen werden wird. Auf jeden Fall wird Japan, angesichts der heraufziehenden globalen Rivalität zwischen China und den USA, zukünftig für die Interessen Amerikas in Ostasien eine noch größere Bedeutung bekommen, als dies heute bereits der Fall ist. Das Staatensystem Ostasiens erinnert in der Gegenwart an das Europa des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Henry Kissinger bezeichnet in seiner politischen Analyse des Staatensystems der Gegenwart Asien nicht von ungefähr als »die Welt des Gleichgewichts«56 im Gegensatz zur westlichen »Welt der Demokratien«. Dort setzt sich global wohl die stärkste gesellschaftliche und ökonomische Modernisierungsdynamik durch, einhergehend mit tiefen gesellschaftlichen Widersprüchen und politischen Systemen, deren Reform- und Transformationsfähigkeit noch keineswegs bewiesen ist. Hinzu kommt eine nahezu ausschließliche Orientierung an nationaler Interessenpolitik bis hin zum Denken in den Kategorien regionaler Hegemonie und neuer globaler Positionierungen. Nationale Rivalitäten mit hegemonialen Ansprüchen, Rüstungswettläufe, die Instabilität nach sich ziehen können, eine zunehmende Dominanz nationalistischer Ideologien und anhaltende Regionalkonflikte mit großen nuklearen Risiken auf der koreanischen Halbinsel und um Taiwan sind die konkreten machtpolitischen Realitäten in diesem Weltteil, der auch deshalb keineswegs eine nachhaltige Stabilität verheißt. Zudem denken die aufsteigenden Großmächte
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Asiens nahezu alle in thermonuklearen Macht-, ja sogar Weltmachtkategorien, verfügen andererseits aber zum Ausgleich ihrer Interessen, Rivalitäten und Ängste kaum über Strukturen und Traditionen kollektiver und kooperativer regionaler Sicherheit. Wenn wir heute über die Gefahren klassischer regionaler Rüstungswettläufe bis hin zum nuklearen Bereich sprechen müssen, dann betrifft dies nicht von ungefähr vor allem Ost- und Südasien.57 Jenseits der Rivalität der großen asiatischen Mächte reicht auf diesem Kontinent ein Krisengürtel vom Pazifik bis zum Mittelmeer - von den Philippinen und Indonesien über Sri Lanka, den indisch-pakistanischen Konflikt um Kaschmir, Afghanistan und Zentralasien, den Kaukasus hin zu den Konflikten des Mittleren und Nahen Ostens und des Maghreb. In den Krisen dieser weiten Region verbinden sich regionale Rivalitäten zwischen Staaten, ethnische Konflikte, religiöser Fundamentalismus, Terrorismus, Drogen- und Waffenhandel und anhaltende Versuche, Trägertechnologien und Massenvernichtungsmittel bis hin zu Nuklearwaffen zu erwerben, zu einer riskanten politischen und gesellschaftlichen Mischung. Europas zukünftige Sicherheit und Stabilität wird durch die Konflikte in diesem Teil Asiens ganz entscheidend mitdefiniert werden. Eine realistische strategische Bedrohungsanalyse der europäischen Sicherheit wird sich in den kommenden Jahren, ja vielleicht sogar Jahrzehnten vor allem mit diesem Raum zu beschäftigen haben, denn hier stehen die wesentlichen Fragen für Europas Sicherheit zur Entscheidung an. In dieser Region befinden sich auch wesentliche Teile der weltweiten Erdöl- und Erdgasproduktion und die größten, heute bereits bekannten Öl- und Gasreserven. Und ebenso werden regionale thermonukleare Rüstungswettläufe unter den aufstrebenden asiatischen Großmächten - vor allem, wenn sie den Nahen und Mittieren Osten erreichen - die europäischen Sicherheitsinteressen direkt tangieren, da sie nicht nur negative Auswirkungen auf die globale nukleare Stabilität und das gesamte System der Rüstungskontrolle haben können, sondern auch eine direkte Bedrohung der europäischen Sicherheit sein werden. Nordafrika und der Maghreb, obgleich zu Afrika und nicht
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zu Asien gehörend, sind Teil dieses Krisengürtels, und damit haben wir es mit einer weltpolitischen Bruchzone zu tun, die vom Pazifik bis zum Atlantik reicht, überwiegend dem islamischen Kulturraum angehört und gegenwärtig die gefährlichsten Konflikte der Weltpolitik umfaßt. Es kommt daher nicht von ungefähr, daß in diesem Raum auch die Entstehung und die Basis des islamistischen Terrorismus zu verorten ist. Afrika südlich der Sahara droht das Schicksal eines vergessenen Kontinents im 21. Jahrhundert, dessen innere Krisen, Kriege und Konflikte seine Abkoppelung von der globalen Entwicklung noch weiter vertiefen könnten. Trotz eines furchtbaren Blutzolls durch Bürgerkriege und Seuchen bleibt die Geburtenrate hoch (ca. 2,5 Prozent; zwischen 1995 und 1999 hat die Bevölkerung insgesamt von 578,5 Mio. auf 642,8 Mio. zugenommen) und das Wirtschaftswachstum niedrig, in vielen der ärmsten, von Bürgerkriegen zerrissenen Staaten sogar negativ.58 Der Zuwachs an armen Menschen, die mit weniger als einem USDollar oder maximal zwei Dollar täglich auskommen müssen, ist zwischen 1987-1998 ebenfalls in Afrika am höchsten gewesen. Von den zehn ärmsten Staaten der Gegenwart liegen neun in Afrika (unter den zehn reichsten Staaten sind bis auf die USA und Japan nur europäische Staaten vertreten, wohingegen unter den zehn ersten Staaten, bezogen auf die Größe des Bruttosozialprodukts, neben den USA und Japan noch Kanada, China und Mexiko zu finden sind).59 Von den weltweit 34,4 Mio. AIDSKranken leben 24,5 Mio. in Afrika südlich der Sahara, und nur dort (vor allem wegen AIDS) und in Teilen der ehemaligen Sowjetunion ist die Lebenserwartung zwischen 1990-98 zurückgegangen, ansonsten aber weltweit gestiegen.60 Diese Zahlen und Fakten zeigen, daß weite Teile des afrikanischen Kontinents zunehmend verarmen und deshalb dort in Zukunft eher mit einer erhöhten Krisen- und Konfliktanfälligkeit zu rechnen sein wird. Für Europa ist dies, jenseits aller humanitären Erwägungen, alles andere als eine beruhigende Nachricht. Denn vieles spricht dafür, daß der afrikanische Kontinent im 21. Jahrhundert für die europäische Sicherheit von wachsender Bedeutung sein wird, da auch Afrika zur strategischen Nachbarschaft Europas gehört.
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Die Staatenwelt Subsahara-Afrikas ist - trotz der New-Partnership-for-Africa's-Development (NEPAD)-Initiative führender afrikanischer Staatsmänner und der Gründung der African Union (AU) - mehr denn je mit ihren eigenen internen wie zwischenstaatlichen Konflikten beschäftigt, anstatt gemeinsam an einer Überwindung des Entwicklungsrückstandes des Kontinents zu arbeiten und Afrika politisch, ökonomisch, kulturell und sozial eine aktive Rolle in der sich globalisierenden Welt zu sichern. Allerdings wäre es fatal kurzsichtig, historisch verantwortungslos und sicherheitspolitisch sträflich leichtsinnig, wenn Europa diesen Nachbarkontinent politisch und ökonomisch abschreiben oder gar als irrelevant für die Politik im 21. Jahrhundert vergessen würde. Gerade seitens der Europäer wäre eine solche Haltung, den afrikanischen Kontinent mehr oder weniger sich selbst zu überlassen, nicht nur moralisch verwerflich, denn Europa kann und darf sich seiner historischen Verantwortung für die Konflikte und Katastrophen in Afrika nicht entziehen. Aber auch aus geopolitischen Gründen wäre eine solche verantwortungslose Haltung äußerst töricht, denn Europa und Afrika sind Nachbarkontinente, und die Krisen und Konflikte im Afrika südlich der Sahara werden die Staatenwelt des nördlichen Nachbarkontinents auf Dauer nicht unbeeinflußt lassen. Der 11. September hat unmißverständlich klargemacht, daß die räumliche Distanz in einer globalisierten Welt nur noch sehr eingeschränkt gilt.61 Diesen riesigen Kontinent mit all seinen gewaltigen Problemen einfach abzuschreiben und zu vergessen, wäre deshalb eine hochgefährliche Hypothek für die europäische Sicherheit im 21. Jahrhundert, denn wenig rechtfertigt die Annahme, daß die Krisen und Katastrophen Afrikas nicht eines Tages in die erste Welt und hier vor allem nach Europa ausgreifen werden.62 Mit dem Ende des weißen Apartheidregimes in Sudafrika 1992 kann man die Epoche eines revolutionären Antikolonialismus und der nationalen Befreiung in Afrika als abgeschlossen betrachten. Zahlreiche afrikanische Staaten leiden aber bis heute darunter, daß es sich nicht um historisch gewachsene Nationalstaaten handelt, sondern daß sie von den Kolonialmächten ent-
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lang deren Interessen und ohne viel Rücksichtnahme auf historisch gewachsene Realitäten, auf ethnische Grenzen und Konflikte innerhalb weniger Jahre gegen Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen wurden. »Im 19. Jahrhundert hatten einige wenige Staaten, die zumeist an den Nordatlantik grenzten, den Rest der nichteuropäischen Welt auf geradezu lachhaft leichte Weise erobert«, stellte Eric Hobsbawm zu Recht fest.63 Damals, in der Phase des »Hochimperialismus« zwischen 1885 und 1914, »erfolgte die Aufteilung Afrikas als rücksichtsloser Akt der politischen Einschmelzung Hunderter staatenähnlicher Gebiete und Stammesherrschaften auf bloße vierzig unter willkürlicher Grenzziehung«/4 Manche afrikanische Staaten werden heute von einer zweiten, sehr gewaltsamen »inneren« Dekolonisierung erschüttert, welche die Widersprüche in den von den Kolonialmächten geschaffenen Staaten in Bürgerkriegen explodieren läßt. Diese Konflikte können im Extremfall selbst den territorialen Zusammenhalt und damit die territoriale Integrität oder gar die Existenz eines Staates gefährden. Postkoloniale Rohstoffinteressen westlicher Firmen und Staaten spielen dabei in vielen dieser inneren Kriege und Konflikte bis heute eine fatale Rolle, vor allem, wenn es dabei um Öl, Diamanten und strategische Metalle geht. Ökonomisch haben die meisten afrikanischen Staaten mit einem anhaltenden Niedergang zu kämpfen, zumal wichtige Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte Afrikas (Kaffee, Baumwolle etc.) seit Jahren auf den Weltmärkten mit einem anhaltenden Preisverfall zu kämpfen haben, während die zyklisch drohenden Ölpreiserhöhungen gerade die schwächsten afrikanischen Volkswirtschaften ganz erheblich belasten. Nahezu der gesamte Kontinent droht, jenseits der bloßen Rohstofflieferungen und einiger Agrarprodukte, völlig vom Weltmarkt und der für die Zukunft entscheidenden Entwicklung der Informationstechnologie abgekoppelt zu werden. Zudem sind in Afrika südlich der Sahara autoritäre und ineffiziente Regime eher die Regel als die Ausnahme, die Korruption ist weit verbreitet, die wirtschaftliche Produktivität bleibt gering, das Bildungsniveau niedrig, der Analphabetismus hoch, und endemische Krankheiten
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wie AIDS gefährden die innere Sozialstruktur ganzer afrikanischer Gesellschaften. Gleichwohl gibt es in Afrika auch Zonen beeindruckender Stabilität, ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum, Fortschritte in Bildung und Alphabetisierung, erfolgreiche Beispiele der Überwindung verheerender Bürgerkriege und der wirksamen Bekämpfung von AIDS. Analysiert man die Ursachen dieser Erfolge, so stößt man immer wieder auf dieselben vier Faktoren, nämlich erstens eine »gute« Regierung und Administration, demokratisch, effizient, mit geringer Korruption und einer funktionstüchtigen unabhängigen Justiz. Zweitens ein wirksamer Einsatz von internationaler Finanzhilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Drittens keine Einmischung internationaler Rohstoffinteressen in die inneren Angelegenheiten dieser Länder. Und viertens das Fehlen innerer Kriege und Konflikte, d. h. ein belastbarer nationaler Konsens. Diese positiven Trends erfolgreicher nationaler Konsensbildung, des Aufbaus demokratischer Institutionen und wirtschaftlicher Gesundung beweisen, daß es sich bei Afrika keineswegs um einen Kontinent ohne Hoffnung handelt, sondern daß positive Entwicklungsalternativen ganz im Gegenteil machbar sind. Innere Stabilität, regionale Kooperation in Wirtschaft und Politik und ein verbesserter Marktzugang der afrikanischen Agrarexporte zu den entwickelten Märkten des Nordens werden dabei neben der »guten« Regierungsführung, dem Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen, von Bildung und Ausbildung sowie der wirksamen Aufklärung und Prävention gegen AIDS/HIV von entscheidender Bedeutung sein. Eine solche positive Entwicklung zu fördern muß gerade angesichts der jüngsten Erfahrungen mit dem Terrorismus und seinen Ursachen auch ein fester Bestandteil einer vorausschauenden und vorbeugenden Sicherheitspolitik sein. Investitionen in Sicherheit sind im 21. Jahrhundert eben nicht nur und vor allem die Ausgaben für das Militär und seine Fähigkeiten. Zentral- und Südamerika, der südliche Teil der westlichen Hemisphäre und nach Henry Kissinger ebenfalls der »Welt der Demokratien« zugehörig, vermitteln in der Gegenwart ein gespal-
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tenes Bild. Greifbare politische und wirtschaftliche Fortschritte in Teilen des Kontinents gehen vor allem in der Wirtschaft mit einer großen Krisenanfälligkeit einher. Das Ende des Kalten Krieges hat in den meisten der lateinamerikanischen Länder zweifellos zu großen, durchaus historisch zu nennenden Demokratisierungserfolgen geführt (so erlebte z.B. Mexiko seinen ersten demokratischen Machtwechsel im Präsidentenamt seit 71 Jahren!). Jahrelange, bisweilen sogar jahrzehntelange Bürgerkriege und Diktaturen wurden, mit Ausnahme Kubas und dem ganz anders gelagerten Fall von Kolumbien, beendet. In zahlreichen lateinamerikanischen Ländern ist ein nationaler Konsens an die Stelle fortdauernder Bürgerkriege getreten. Demokratische Regierungswechsel als Ergebnis freier und geheimer Wahlen sind in der Gegenwart eher zur Regel als zur Ausnahme geworden, und auch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ist, regional zwar differenziert, über eine längere Zeit hinweg durchaus positiv verlaufen. Das große Problem Lateinamerikas bleibt die Verläßlichkeit und Funktionalität der demokratischen Institutionen und eine nachhaltige wirtschaftliche Stabilität. Die soziale Lage eines großen Teils der Bevölkerung bleibt nach wie vor prekär und wird von Armut, Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Analphabetismus und mangelnder Bildung bestimmt. 1994 ereignete sich in Mexiko die sogenannte »Tequilakrise« des Peso, im Januar 1999 war dann Brasilien mit seiner Währung Real an der Reihe, und im Herbst 2001 kam es zur Währungs- und Bankenkrise in Argentinien, eines der potentiell reichsten Länder des Kontinents. Diese kurze währungspolitische und ökonomische Krisengeschichte verdeutlicht die Problemlage der drei wichtigsten Volkswirtschaften Lateinamerikas auf dramatische Art und Weise. Es mangelt dem Kontinent vor allem an wirtschaftspolitischer Nachhaltigkeit und an finanzpolitischem Vertrauen. Chile hat eine ganz eigene wirtschaftliche Entwicklung eingeschlagen, die in der Tat wesentlich nachhaltiger und stabiler ist als die seiner Nachbarn, aber das Land gehört nicht zu den großen Volkswirtschaften Lateinamerikas. Mexiko hat durch seine Teilnahme an der Nordamerikanischen
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Freihandelszone (NAFTA) gemeinsam mit den USA und Kanada erheblich an Stabilität und wirtschaftlicher Dynamik gewonnen, und sollte die Schaffung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA, Free Trade Association of the Americas) tatsächlich erfolgreich sein (wobei man an dem Zieldatum 2005 berechtigte Zweifel haben kann), dann wird der gesamte Kontinent erheblich an wirtschaftlicher Dynamik und politischer Stabilität zulegen. Eine solche gesamtamerikanische Freihandelszone wird einen riesigen Binnenmarkt in der gesamten westlichen Hemisphäre schaffen und damit die Gewichte in der Weltwirtschaft von morgen nicht unerheblich verändern. Gerade Europa wird diese Entwicklung nicht ignorieren dürfen. Trotz aller anhaltenden Schwierigkeiten und auch in Zukunft noch zu erwartender Rückschläge werden zumindest die entwickeltsten und größten Länder Lateinamerikas ihren Platz in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts einnehmen. Das südliche Amerika wird daher nicht von der Globalisierung und den wichtigsten technologischen Entwicklungen abgeschnitten werden. Gelingt die Stabilisierung der demokratischen Institutionen und der Aufbau moderner, wissensgestützter Volkswirtschaften, so wird der Kontinent in Verbindung mit der amerikanischen Freihandelszone sogar ein sehr wichtiger Wachstumsfaktor der Zukunft werden können. Brasilien verfügt kraft seiner Größe und seines Potentials über die objektiven Qualitäten einer zukünftigen Weltmacht, hat aber noch große interne Probleme zu bewältigen. Der aktuelle Krisendreiklang Argentinien, Venezuela und Kolumbien verdeutlicht zudem die nach wie vor vorhandenen Risiken in der Entwicklung des Kontinents, auch wenn die jeweils spezifischen Krisenursachen in diesen Ländern unterschiedlicher Natur sind. Endemisch bleibt in Teilen des Kontinents die Verbindung von polnischem Terrorismus und Drogeinmafia.. Der polnische Terrorismus in Lateinamerika finanziert sich vor allem durch den Drogenhandel, der neben dem allgemeinen Schmuggel, Waffenhandel und Prostitution die höchsten Profite verheißt. Zwischen dem Bereich der politischen und der gewöhnlichen Kriminalität sind die Grenzen fließend, und solange nicht andere und
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erfolgversprechende ökonomische Alternativen für diese Länder eröffnet werden und zugleich in den reichen Ländern des Nordens die Nachfrage nach Drogen anhält und damit exorbitante Gewinne ermöglicht, wird das Risiko der Instabilität durch das organisierte Verbrechen in manchen lateinamerikanischen Staaten fortdauern. Freilich ist diese Herausforderung durch die organisierte Kriminalität kein isoliertes Problem einiger Regionen und Länder Lateinamerikas. Auch auf dem Balkan, im Nahen und Mittleren Osten, in Afghanistan, Zentralasien, Südostasien und in Afrika stößt man auf dasselbe Stabilitätsrisiko, das sich aus den fließenden Übergängen von organisierter Kriminalität und politischem Radikalismus oder gar Terrorismus ergibt. Schwache oder zusammengebrochene Staaten erweisen sich dabei als gefährliche Brutstätten für diese Bedrohung, die nicht nur zur Korruption der legalen Wirtschaft und des politischen Systems in den jeweiligen Ländern und in der gesamten Region führt, sondern die sich auch internationalisiert und auf die reichen Länder des Nordens übergreift. Während Ost- und Südasien noch überwiegend im Denken des späten 19. Jahrhunderts mit seiner Rivalität der großen Mächte verharren, gewinnt eine andere Tradition aus der Zeit des Kalten Krieges für eine zukünftige Ordnung des internationalen Systems zunehmend an Bedeutung, nämlich die Tradition der kollektiven Sicherheit und des Interessenausgleichs mittels regionaler Kooperation souveräner Staaten bis hin zu deren teilweiser oder vollständiger Integration. Es sind dies mehr oder weniger stark entwickelte Versuche der ökonomischen, politischen und militärischen Neuordnung in stabilen Regionalsystemen: in Europa mit der Erweiterung von EU und NATO, in Lateinamerika mit MERCOSUR und der Gemeinschaft der Andenstaaten, in Nordamerika mit NAFTA und in beiden Amerikas, mit dem Versuch der Bildung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone FTAA, in Südostasien mit ASEAN, in Afrika mit der African Union (AU), in Westafrika mit ECOWAS und . im südlichen Afrika mit SADC. Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die Nachfolgerepubliken der ehemaligen Sowjetunion, hat hingegen eine ganz eigene Rolle. Ihre Zukunft
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wird davon abhängen, welchen Weg Rußland einschlagen wird die Restauration des Imperiums oder eine echte Interessenkooperation mit wirklich unabhängigen Staaten. All diese regionalen Ansätze, so unterschiedlich sie im einzelnen auch sind, versuchen, den Handel, die Wirtschaft, politische Konflikte und Sicherheitsfragen bis hin zur kollektiven Sicherheit und Konfliktlösung teilweise oder auch umfassend konfliktfrei und in gemeinsamer Interessenwahrnehmung zu organisieren. Dies kann von einer lockeren politischen Organisation von Staaten über eine Freihandelszone oder einen gemeinsamen Markt bis hin zu einem gemeinsamen Sicherheits- oder gar Verteidigungssystem gehen oder auch, wie die OSZE, ein System kollektiver Sicherheit der Mitgliedsstaaten bilden, beruhend auf Verträgen, Regeln, Verifikationen und gemeinsamen Institutionen. Die entwickeltste Form eines solchen regionalen Ordnungsmodells ist die dauerhafte Integration souveräner Staaten in einen gemeinsamen Markt mit gemeinsamen politischen Institutionen, die voll handlungsfähig, d. h. souverän sind. Tatsächlich handelt es sich bei diesen regionalen Zusammenschlüssen souveräner Staaten um die Fortentwicklung der klassischen Koalitionsbildung zwischen Staaten, die allerdings verstetigt und institutionell ausgeformt wird, im äußersten Falle bis zur Herausbildung von vergemeinschafteten Politiken und Institutionen, d. h. einer gemeinsamen Souveränität. Parallel zur Tendenz der Desintegration und zur Rivalität großer Mächte gewinnt weltweit dieser regionale Ordnungsansatz von Kooperation bis hin zur Integration eine immer größere Bedeutung. Allerdings sind all diese Ansätze zu einer regionalen Neuordnung von unterschiedlicher politischer und ökonomischer Kraft und, wohl mit Ausnahme der Neuordnung Europas durch den Integrationsprozeß der EU und die sicherheitspoliusche Erweiterung des nordauanuschen Bündnisses, meistens noch nicht allzuweit gediehen. Dennoch wird hier ein sich entwickelndes neues Ordnungsmuster sichtbar, das für die Zukunft des Staatensystems nicht unterschätzt werden darf, zumal das europäische Beispiel eine internationale Leit- und Vorbildfunktion haben kann, so es weiter erfolgreich verläuft. Denn wenn
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die europäische Integration erfolgreich zum Abschluß gebracht werden kann, so wird die EU, weit über die unmittelbaren machtpolitischen und ökonomischen Folgen dieses Einigungsprozesses hinaus, als positives Beispiel, als Ordnungsmodell für andere Regionen in der Welt des 21. Jahrhunderts wirken. Andererseits aber ist die Fähigkeit zur ordnenden Kohäsion bei den meisten heute bestehenden Regionalorganisationen noch nicht so weit entwickelt (wiederum mit der Ausnahme Europas), daß sich daraus bereits tragende Elemente einer neuen Ordnung des internationalen Staatensystems unterhalb der dominierenden Weltmacht USA ergeben könnten. Diese Momentaufnahme des internationalen Systems wäre allerdings nicht vollständig, wenn man außer acht ließe, daß, trotz der Parallelität dieser verschiedenen Tendenzen, die globale Ordnung zuerst und vor allem durch das strategische Gewicht, die Interessen und die Politik der USA bestimmt wird. Die unterschiedliche Macht- und Ressourcenverteilung setzt sich, beginnend mit der einzigen Weltmacht USA, in einer entsprechenden globalen Hierarchie der Mächte durch. Der Krieg in Afghanistan und im Irak hat dieses bereits vorher gültige Faktum lediglich einer breiteren Öffentlichkeit ins Bewußtsein gerufen. Die USA sind aus den drei großen Kriegen des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg, als Sieger hervorgegangen, und ihre globale Machtstellung ist einzigartig in aller bisherigen Geschichte. Nach dem Untergang der Sowjetunion verfügen nur noch die USA über die Macht und damit auch die Verantwortung zur globalen Machtprojektion. Allerdings entwickeln sich neue Mächte von ökonomischer, technologischer, militärischer und geopolitischer Größenordnung wie China, Indien, Brasilien, die zumindest potentiell einen globalen Mitgestaltungsanspruch als strategisch langfristiges Ziel ihrer Politik verfolgen. Rußland gehört ebenfalls zu diesem Kreis der großen Mächte, auch wenn es sich, wie bereits angeführt, in einer prekären Situation befindet, die keineswegs von kurzer Dauer sein wird. Bei diesen Weltmächten von morgen handelt es sich um kontinentale oder subkontinentale Mächte, welche die durchschnitt-
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liehe nationalstaatliche Größenordnung mit ihrem strategischen Potential, ihrer Bevölkerungsgröße, ihrer territorialen Ausdehnung und ihrem volkswirtschaftlichen Gewicht bei weitem übersteigen oder die zumindest in den nächsten Jahrzehnten versuchen werden, ihr überdurchschnittliches Potential voll zu entwickeln. Die Ansprüche dieser aufsteigenden Mächte werden, wenn es schlecht kommt, eine nicht unerhebliche Unruhe in das globale Staatensystem bringen, da sie - regional wie global - ein beständiger Quell gefährlicher Rivalitäten und Instabilitäten sein werden. Dies wird vor allem im Verhältnis der Ambitionen dieser Mächte zu den Interessen der alleinigen globalen Macht USA entschieden werden. Deshalb ist es von grundsätzlicher Bedeutung, ob diese sich abzeichnende neue strategische Rivalität der globalen und kontinentalen Mächte innerhalb akzeptierter multilateraler Strukturen aufgefangen und ausgeglichen werden kann oder ob diese neuen Mächte mit ihrer Rivalität unmittelbar auf eine nur ihren eigenen Interessen und Entscheidungen folgende, d. h. unilateral agierende alleinige Supermacht treffen werden. Sollte das letztere der Fall sein, so kann aus dieser Konfiguration ein hohes Konflikt- und Instabilitätspotential für das gesamte Staatensystem entstehen. Europa dürfen deshalb diese Alternativen innerhalb des zukünftigen Staatensystems nicht gleichgültig lassen. Die Welt wird und muß sich im 21. Jahrhundert also neu ordnen, bewegt durch Krisen und Konflikte, Rivalitäten, Bündnisse, Interessen und Prinzipien der beteiligten Mächte. Die grundsätzliche Frage nach der definitiven Form dieser Ordnung und danach, welchem Prinzip diese neue Ordnung folgen wird multilateral kooperativ oder unilateral konfrontativ —, wird die internationale Politik der kommenden Jahrzehnte maßgeblich beeinflussen. Und selbstverständlich auch die Frage nach den dauci anfallenden menschlichen, polnischen und ökonomischen Opfern und Kosten. Die Bipolarität des Kalten Krieges hat sich in eine diffuse Multipolarität hinein aufgelöst, die allerdings nicht wirklich strukturierend wirkt, sondern eher ein merkwürdiges Amalgam von neuen chaotischen Elementen und übernommenen alten Ordnungselementen ausdrückt, überragt durch
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die Alleinstellung der USA und deren globale Interessen und Verantwortung. Objektiv existiert seit dem Ende des Kalten Krieges eine unilaterale Struktur in der Weltpolitik mit immer manifester werdenden Auswirkungen. Angesichts der Einzelstellung der USA und der relativen Schwäche der anderen großen Mächte in der internationalen Politik entwickeln die Innenpolitik der amerikanischen Weltmacht und die dort wirkenden Interessen, Ideen und Gruppen einen wachsenden Einfluß auf deren Außenpolitik, der immer weniger und seltener durch von außen einwirkende Interessen und Konstellationen ausbalanciert wird. Diese Verschiebung der Balance zwischen Innen- und Außenpolitik, die zweifellos den objektiven Gegebenheiten der internationalen Machtverteilung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entspricht, kann allerdings zunehmend zu nationalen Entscheidungen führen, die dann in der Folge im internationalen Raum Mißverständnisse und Friktionen oder gar Konflikte nach sich ziehen können. Allerdings wäre es völlig verfehlt, aus dieser objektiven Gegebenheit der internationalen Machtverteilung gegenüber den USA einen subjektiven Vorwurf zu erheben, denn die Vereinigten Staaten sind für die relative Schwäche ihrer Partner und Rivalen keineswegs verantwortlich zu machen. Die objektiven Folgen dieser machtpolitischen Asymmetrie im Staatensystem sind gleichwohl ganz erheblich. Das internationale System wird also durch diesen ihm immanenten Widerspruch zwischen Multilateralität und Unilateralität bestimmt werden, zwischen der herausragenden globalen Einzelstellung einer einzigen Macht und dem Anspruch der gemeinsamen Gestaltung der internationalen Ordnung. Das Ende des Kalten Krieges hat die damals entstandene Hoffnung auf eine neue, gerechtere und zugleich friedlichere Ordnung der Welt nicht erfüllt. Völlig unterschiedlich hingegen verlief die wirtschaftliche Entwicklung, denn in der Weltwirtschaft setzte sich, anders als in der Politik, eine neue globale Ordnung durch. Der Ost-West-Konflikt wurde nicht nur auf dem Gebiet des Wettrüstens und der militärischen Stärke ausgetragen, sondern auch auf dem Schlachtfeld der konkurrierenden
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Gesellschaftssysteme. Im Kalten Krieg ging es immer auch um das bessere Gesellschafts-, Wirtschafts- und Konsummodell, die sogenannte »kitchen debate«.65 Schien diese Kontroverse bis in die sechziger Jahre hinein noch unentschieden zu sein, so war die Entscheidung dann spätestens in den siebziger Jahren zugunsten Amerikas und des Westens gefallen. Der Sowjetismus war zur Reform und zur technologischen, ökonomischen wie sozialen Modernisierung nicht fähig und trieb auf den faktischen Bankrott zu. Das westliche Marktmodell, gründend auf individueller Freiheit, Demokratie und Verfassungsstaat, erwies seine Anpassungs- und Innovationsfähigkeit, trotz Ölpreiskrisen und wirtschaftlichen Rezessionen, und mit der informationstechnologischen Revolution und dem damit einhergehenden Einbruch von Computer und Internet in den Alltag von Wirtschaft und Gesellschaft entwickelte sich ein lang anhaltender Aufschwung bis hinein in eine heftig überhitzte Spekulationsblase, der die globale Wirtschaft dramatisch verändern sollte.66 Die Polarität von Kapitalismus und Kommunismus, von Freiheit und Gleichheit, Demokratie und Diktatur, Markt und Plan, Individualismus und Kollektivismus, Herrschaft des Rechts und Herrschaft der Macht formten neben der machtpolitischen Rivalität von USA und Sowjetunion die ideologische und kulturelle Struktur des Ost-West-Konflikts. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwand auch diese ideologische Konfrontation aus den Köpfen. Der Sozialismus/Kommunismus hatte über mehr als einhundertfünfzig Jahre lang nicht nur die Funktion einer revolutionären Alternative zum Kapitalismus ausgefüllt, sondern war für seine Anhänger auch eine diesseitige Religion, eine politische Glaubensalternative gewesen. Mochte diese durch die Realität des stalinistischen Sowjetismus auch noch so korrumpiert und widerlegt worden sein, so dauerte es doch bis zum Ende der siebziger Jahre, bis sich das Glaubenspotential dieser revolutionären Ideologie offensichtlich aufgebraucht hatte. In das sich nunmehr auftuende Vakuum, das die erschöpfte Ideologie des revolutionären Sozialismus/Kommunismus hinterließ, stieß, zumindest in der islamischen Welt, eine radikale und revolutionäre Form der Religion.
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»Das zwanzigste Jahrhundert hat zwei überraschende ideologische Entwicklungen erlebt, den starken, eigenwilligen und gegenüber Säkularisierungstendenzen resistenten Charakter des Islam einerseits und den plötzlichen totalen Zusammenbruch des Marxismus andererseits.«67 Mit der iranischen Revolution 1979 und dem Sieg Chomeinis und seiner islamischen Republik über den Schah im Iran wurde auch ideologisch eine Wasserscheide sichtbar. Die Niederlage der Roten Armee in Afghanistan, die mit dem Abzug der letzten sowjetischen Truppen 1989 besiegelt wurde und durch eine amerikanisch-islamistische Koalition herbeigeführt worden war,68 sollte dann den definitiven Wendepunkt in dieser gleichermaßen machtpolitischen wie ideologischen Transformation markieren. Der Marktkapitalismus hatte sich gegenüber dem sowjetischen System der Planwirtschaft eindeutig als das überlegene Modell erwiesen, zumal die Wunschwelten und utopischen Dimensionen des Alltagskonsums von der Warenwelt und den Dienstleistungen der westlichen Marktwirtschaften in einem Umfang, in einer Qualität und zu Preisen befriedigt werden konnten, die schlicht alternativlos waren und sind. Für den Durchbruch der Globalisierung war allerdings die informationstechnologische Revolution in Verbindung mit dem Wegfall der Systemgrenzen, war die neue politische Geographie nach dem Ende des Kalten Krieges entscheidend. Durch den Epochenbruch von 1989/90 wurden damit definitiv die technologischen und politischen Weichen für die wirtschaftliche Globalisierung gestellt. Kapital ließ sich mit der globalen informationstechnologischen Vernetzung nunmehr als Information an jedem Ort der Erde in Sekundenbruchteilen zu minimalen Transaktionskosten investieren oder abziehen. Und Kapital ist im Überfluß vorhanden, es mangelt eher an rentierlichen Anlagemöglichkeiten. Etwa 1 Billion US-Dollar werden weltweit börsentäglich gehandelt, und nicht zuletzt die Teilhabe an diesen Investitions- und Kapitalströmen bestimmt, neben einigen weiteren Faktoren, die ausreichende und kostengünstige Kapitalversorgung und damit die ökonomische Zukunft eines Landes in der globalen Ökonomie.
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Diese informationstechnologische Globalisierung der Finanzmärkte und Börsen ist der eigentliche Kern dessen, was man Globalisierung nennt, weil die Renditeerwartungen der Finanzwelt die Investitionsbedingungen und damit die nationale Investitionspolitik, die Arbeitsmärkte und die staatlichen Finanz- und Sozialpolitiken rund um den Erdball definieren. Der globale Finanzmarkt setzt alle beteiligten ökonomischen Akteure und vor allem die nationalen Regierungen unter einen uniformen Wettbewerbs- und Handlungsdruck. Die Kreditwürdigkeit der Staaten bei den internationalen Finanzmärkten entscheidet heute oftmals mehr über die Zukunft eines Landes als deren nationale Regierungen und Wahlen, und auch insofern wird das Kapitel der staatlichen Souveränität im Zeitalter der Globalisierung völlig neu zu schreiben sein. Der Begriff der Globalisierung meint, im Klartext gesagt, nichts anderes als die alternativlose und globale Durchsetzung des westlichen Wirtschafts- und Konsummodells. Das ist zugleich eine ökonomische wie kulturelle Frage mit nicht zu unterschätzenden machtpolitischen Folgen, positiven wie negativen gleichermaßen. Denn nicht nur die harten ökonomischen Fakten werden durch den Prozeß der Globalisierung definiert, sondern vor allem auch die Träume und Wunschwelten von Milliarden von Menschen, die an dieser Globalisierung teilhaben und - viel wichtiger noch! - die, so sie nicht daran teilhaben, um jeden Preis ihre Teilhabe erreichen wollen. Die Konsumwelt des Westens universalisiert sich, einhergehend mit der Globalisierung und der Fähigkeit, die Wünsche von Milliarden von Konsumenten nicht nur zu befriedigen, sondern diese Bedürfnisse vor allem auch zu erzeugen. Dies führt zu einer Homogenisierung der höchst unterschiedlichen Alltagskulturen und damit auch zu einer Nivellierung vorhandener kultureller Differenzen einerseits und zu einem Aufbegehren traditioneller Kulturen und Subkulturen andererseits. Die informationstechnologische Revolution verändert darüber hinaus die Basisfaktoren des gesamten Wirtschaftsprozesses und transformiert vor allem auch die Bildungssysteme, die Medien und die jeweiligen Öffentlichkeiten und mit ihnen die Alltagskultur. Die Gewinner werden im
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Zeitalter der Globalisierung diejenigen Volkswirtschaften sein, die Wissen, Information, Kommunikation und Kreativität als entscheidende Produktivitätsfaktoren mobilisieren und im globalen Wettbewerb erfolgreich einsetzen können. Und auch der nächste technologische Sprung beginnt in der Gegenwart bereits konkrete Gestalt anzunehmen, nämlich die biotechnologische Revolution. Sie wird unsere Welt noch weitaus radikaler verändern, als dies die informationstechnische Revolution getan hat. Aber auch die Unterentwicklung wird in diesem Prozeß der weltweiten Umgestaltung neu definiert. Wer nicht an den globalen Finanzmärkten partizipiert, wer von der IT-Revolution abgeschnitten und ausgeschlossen wird, wer nicht an der internationalen Arbeitsteilung teilzunehmen in der Lage ist, der hat in dieser sich globalisierenden Weltwirtschaft kaum noch eine Chance. In einer wissensgetriebenen Volkswirtschaft ist Bildung alles, Analphabetismus und Bildungsmangel sind demnach eine schlichte Katastrophe, weil sie den Zugang zur Weltwirtschaft dauerhaft verhindern. Und insofern werden wir gegenwärtig auch Zeuge einer neuen Teilung der Welt, die allerdings nicht nur die Staaten und Gesellschaften umfaßt, sondern die auch quer durch die jeweiligen nationalen Gesellschaften hindurchschneidet. Diese neue unsichtbare Grenze zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung wird durch nichts Geringeres als durch Bildung, Wissen und Qualifikation definiert. Die Teilung der Welt entlang dieser Grenze wird auch einen wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung des internationalen politischen Systems ausüben. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, daß es vor allem die aufstrebenden Mächte sind, die als ökonomische Schwellenländer enorme Anstrengungen unternehmen, um die Wissens- und Qualifikationslücke zu den USA und Europa zu schließen, ja den Westen eines nicht allzu fernen Tages sogar zu überholen. All diese Faktoren nennt man in der strategischen Diskussion »soft power«, also die Faktoren »sanfter Macht«, wie sie der amerikanische Politologe Joseph S. Nye definiert hat.69 Und auch bei den »soft power«-Faktoren sind die USA von überragender Dominanz, sie setzen die meisten Standards in den Zu-
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kunftstechnologien und verfügen auch hier in vielen Fällen über eine globale Einzelstellung. Die international geltenden Regeln der Finanzmärkte werden in New York und Washington definiert, die USA sind global der wichtigste Importmarkt, bevorzugt von den internationalen Anlegern, der Dollar ist die globale Leitwährung, und technologisch definieren die USA ebenfalls sehr weitgehend die Entwicklung.70 Die USA bringen zudem mit großem Abstand die meisten Nobelpreisträger hervor, ihre Universitäten bilden die Weltspitze. Die Film-, Fernseh- und Musikindustrie, die Ernährungsindustrie, die Definition von Massengeschmack und Modetrends, überall sind die USA führend und damit prägend für die Alltagskultur von »McWorld«. Die Abhängigkeit nahezu der gesamten PC-Welt von einer einzigen amerikanischen Softwarefirma (wobei die mit weitem Abstand nächsten Konkurrenten ebenfalls in den USA zu Hause sind) steht hier gewissermaßen als Symbol für die Dominanz der USA auch im Bereich der »sanften Macht«. Das alles klingt wie der Stoff, aus dem sich die Schreckensvisionen eines hochideologisierten Antiamerikanismus zusammenbrauen lassen, aber das Gegenteil ist der Fall. Es sind dies allein die nackten Tatsachen, der Realismus von Zahlen und Fakten, die Asymmetrie der Machtverteilung in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges. Davor die Augen zu verschließen führt in die Irre, denn diese Dominanz oder gar Einzelstellung der USA in den »soft power«- und »hard power«-Faktoren entspringt nicht einem finsteren strategischen Masterplan zur Beherrschung der Welt. Ganz im Gegenteil ist diese Asymmetrie der globalen Machtverteilung einerseits das Ergebnis der Stärke, der Dynamik, der Kreativität, der Offenheit und der Anpassungsfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft und Wirtschaft, andererseits die Folge der relativen Schwäche ihrer Partner und möglichen Konkurrenten und Rivalen. Als dritter Faktor, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, kommen nicht zuletzt die Zufälle der Geschichte hinzu. Und daß darüber hinaus die Attraktivität der sich globalisierenden Massenkultur à l'americaine für Milliarden von Konsumenten ungebrochen ist und daß sich damit auch ein überaus wirksames Glücks- und Frei-
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demokratischen Institutionen, der Herrschaft des Rechts und der Kreativität und Leistungsbereitschaft ihrer freien Bürger. Eine solche selektive Übernahme des westlichen Modells - Technologie und Marktwirtschaft ja, Demokratie und Rechtsstaat nein - wird nicht nachhaltig funktionieren. Das westliche Modernisierungsmodell läßt sich auf Dauer erfolgreich nur ganz oder gar nicht übernehmen, und insofern verfügt es durchaus über ein stark subversives Element. Gewiß muß es in die jeweiligen historischen und kulturellen Traditionen eingepaßt und diesen gemäß modifiziert werden, und ebenso wird es beim Übergang von autoritären bis diktatorischen Modellen hin zu Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat unterschiedlich langer und krisenträchtiger Transformationsperioden bedürfen. Aber genau darin, daß man nachhaltige Investitionssicherheit nur in einem Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz bekommen kann, daß Gewaltenteilung und eine funktionierende Administration eben nicht ohne Menschenrechte, Verfassung, Demokratie, unabhängige Justiz und freie Medien zu haben sind, besteht die positive Dialektik der Globalisierung.73 Neben der wirtschaftlichen Chance für zahlreiche Schwellenländer ist es vor allem die 'List der Vernunft', 74 daß mit der Übernahme des westlichen Wirtschaftsmodells die gesellschaftliche Modernisierung und die Demokratisierung und Verrechtlichung der jeweiligen Machtverhältnisse auf Dauer nicht aufzuhalten sein werden. Diese Dialektik der Globalisierung wird daher die Gesellschaften und damit auch die innere Verfassung wichtiger Staaten nach und nach verändern und dadurch auch ihre Außenpolitik beeinflussen. Deshalb sind die politischen, rechtlichen und kulturellen Konsequenzen dieser Entwicklung in zentralen Schwellenländern ein weiterer wichtiger Faktor, der die internationale Politik im 21. Jahrhundert formen wird. Demokratie und Rechtsstaat werden, gemeinsam mit Wissen und Information, die neue Trennlinie zwischen Entwicklung und Unterentwicklung markieren und folglich die entscheidenden Faktoren für dieglobale Verteilung von Macht und Bruttosozialprodukt sein. Die Globalisierung der Weltwirtschaft wird vor allem in Asien, aber auch in Lateinamerika und damit in den größtenund
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bevölkerungsreichsten Staaten der Erde zu einem anhaltenden starken Wirtschaftswachstum führen. Hinzu kommt der ungebrochene Trend der Weltbevölkerung zu weiterem quantitativen Wachstum, so daß sich sowohl die absolute Zahl der Menschen weiter erhöhen als auch das qualitative Wachstum ihrer Bedürfnisse ungebrochen anhalten wird. Diese an sich erfreuliche Konsequenz eines wachsenden Wohlstands für eine nach wie vor wachsende Weltbevölkerung findet in einer Realität statt, in der dem globalen Ökosystem Erde wie auch regionalen Ökosystemen bereits heute die Überlastung droht. Die Kerze der globalen Entwicklung wird also von zwei Seiten her abgebrannt: der quantitativen Steigerung der Weltbevölkerung und der qualitativen Steigerung ihrer Bedürfnisse. Regional ist die Überlastung entscheidender Ökosysteme bereits eingetreten, etwa mit der Luftbelastung in den Megastädten der Schwellenländer und der dritten Welt und auch mit der Überlastung der Wasserkreisläufe, der Bodenerosion, der Wüstenbildung und der anhaltenden Entwaldung. Ebenso ist bereits heute der wachsende Energiebedarf der Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert absehbar, der nicht nur zu erheblichen Verteilungskonflikten mit gefährlichen Auswirkungen für das Staatensystem und Frieden und Stabilität führen kann, sondern der die weitere Destabilisierung des Weltklimas oder die dramatische Eskalation nuklearer Risiken fast zwangsläufig nach sich ziehen wird, so man auch für die Zukunft die Dominanz der fossilen und nuklearen Energieerzeugung voraussetzt. Nach Angaben der Zwischenstaatlichen Kommission für Klimaveränderungen (IPPC) der Vereinten Nationen »wird die anhaltende Erwärmung der Atmosphäre schwerwiegende und unumkehrbare Folgen für die landwirtschaftliche Produktion, die Artenvielfalt, Trinkwasserreserven, menschliche Siedlungen und die Ausbreitung von Krankheiten wie Malaria und Cholera haben. Von den Auswirkungen werden am stärksten die Entwicklungsländer und Inselstaaten betroffen sein.«75 Weiterhin rechnet die Internationale Energieagentur (IEA) »aufgrund des wachsenden Energiebedarfs mit einem Anstieg der globalen CO 2-Emissionen um weitere 36% bis 2010 und bis 2030 um
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III. Zwischen Souveränität und Integration »Gott, gib uns die Gnade, mit Gelassenheit Dinge hinzunehmen, die sich nicht ändern lassen, den Mut, Dinge zu ändern, die geändert werden sollten, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« REINHOLD NIEBUHR79
Das Wesen der modernen Staaten, wie sie aus den Religionskriegen in der Frühzeit der europäischen Moderne heraus entstanden sind, ist ihr Machtegoismus, d. h. die Sicherung der eigenen Existenz. Sicherheit steht an oberster Stelle ihrer Interessen, im Inneren wie in den auswärtigen Beziehungen. Das zentrale Instrument zur Garantie der Sicherheit eines Staates ist seine Macht, und d.h., je mächtiger, desto sicherer fühlt sich ein Staatswesen. »Internationale Politik ist, wie alle Politik, ein Kampf um die Macht. Wo immer die letzten Ziele der internationalen Politik liegen mögen, das unmittelbare Ziel ist stets die Macht. Das höchste Ziel der Staatsmänner und Völker mag Freiheit, Sicherheit, Wohlstand oder die Macht selbst sein. Dieses Streben kann als religiöses, philosophisches, wirtschaftliches oder soziales Ideal zum Ausdruck kommen. Sie mögen hoffen, daß die Verwirklichung dieses Ideals durch die ihm innewohnende Kraft, durch das Eingreifen göttlicher Mächte oder durch die natürlicheEntwicklung der menschlichen Gesellschaft kommen wird. Sie mögen auch versuchen, ihrem Ideal durch die Verwendung nichtpolitischer Mittel, wie etwa technische Zusammenarbeit mit anderen Nationen, oder durch internationale Organisationen näherzukommen. Streben sie die Erreichung ihrer Ziele aber mit den Mitteln internationaler Politik an, dann durch Kampf um Macht.«80 Die Sicherheitspolitik ist gewiß nicht alles in den auswärtigen Beziehungen der Staaten, denn deren Außenpolitik umfaßt
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neben der Sicherheitspolitik noch die ganze Bandbreite diplomatischer, wirtschaftlicher, entwicklungspolitischer, rechtlicher, kultureller, wissenschaftlicher und zunehmend auch direkter gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher (»people to people«) Beziehungen. Dennoch ist ohne eine Antwort auf das zentrale Problem der Sicherheit alle Außenpolitik nichts. Es gibt eben (noch) keine über den Staaten stehende Macht, die gewissermaßen als neutraler Schiedsrichter zwischen den Staaten fungieren könnte, einen Weltstaat gar. Auf der Ebene der Staaten definiert sich Sicherheit machtpolitisch von gleich zu gleich. Alle Staaten sind von Menschen geschaffene politische Organisationen, die mehr oder weniger erfolgreich das Gewaltmonopol einer Gesellschaft ausüben und verwalten. Staaten können also entstehen und vergehen. Die Geschichte erzählt sowohl von Eroberungen als auch von der Befreiung vom äußeren Joch, von Staaten, ja von großen Reichen, die entstanden und sehr viel später wieder vergingen. Die Schockwellen ihres Untergangs wirken bisweilen noch lange nach ihrem Verschwinden fort, wie dies Europa zum letzten Mal in den neunziger Jahren, während der jugoslawischen Erbfolgekriege, erleben mußte. Zahlreiche Konfliktursachen waren und sind im ehemaligen Jugoslawien das Erbe von drei untergegangenen Großreichen: dem Habsburger Reich, dem Osmanischen Reich und dem Russischen Reich und seiner Fortführung in Gestalt der Sowjetunion. Auch die Schockwellen der überraschenden Implosion des Sowjetimperiums werden politisch noch lange Zeit zu spüren sein. Und man findet in diesem Konflikt auf dem Balkan sogar noch weiter zurückliegende Hintergrundgeräusche aus der Tiefe der Geschichte, denn dort wirkt bis heute auch die Teilung des Römischen Reiches in Ost- und Westrom und die analoge Spaltung des Christentums fort. Die Staaten als Inhaber des Gewaltmonopols über ein bestimmtes Territorium finden in der Regel ihre Begrenzung durch andere Staaten. Sie verhalten sich selten neutral zueinander, befinden sich meist in Bündnissen mit anderen Staaten, konkurrieren untereinander anhaltend um Macht, Einfluß, Reichtum und Territorium und können darüber allzuleicht in Konflikte geraten
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bis hin zur offenen Feindschaft, die dann zum Krieg zwischen zwei souveränen Staaten eskalieren kann. Der Krieg zwischen Staaten ist die gewaltsame Beantwortung der Machtfrage zwischen ihnen. Allerdings ist der zwischenstaatliche Krieg keineswegs die ausschließliche Form des Krieges,81 denn der Krieg als die bewaffnete Entscheidung der Machtfrage zwischen größeren sozialen Gruppen und Verbänden ist weitaus älter als der Staat als politische Organisationsform. In der Neuzeit hat sich das staatliche Gewaltmonopol durchgesetzt, und seit Staaten über das Gewaltmonopol verfügen, gibt es zunehmend erfolgreichere Versuche, rechtliche Regelungen des Umgangs der Staaten miteinander durchzusetzen, vor allem in Gestalt des Völkerrechts. Es existiert aber bis auf den heutigen Tag keine übergeordnete transnationale Instanz, die den gewaltfreien Verkehr der Staaten untereinander wirklich erzwingen könnte. Denn »der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenngleich nicht immer ein Ausbruch von Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden; denn die Unterlassung der letzteren ist noch nicht Sicherheit dafür, und, ohne daß sie einem Nachbar von dem anderen geleistet wird (welches aber nur in einem gesetzlichen Zustande geschehen kann), kann jener diesen, welchen er dazu aufgefordert hat, als einen Feind behandeln.«82 Diese Sätze Immanuel Kants aus seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« von 1795, gedacht und niedergeschrieben vor mehr als zweihundert Jahren, umreißen gerade angesichts der gegenwärtigen Weltlage sehr genau die entscheidende politische Herausforderung für die sich globalisierende Welt des 21. Jahrhunderts, nämlich die Aufgabe der Friedensstiftung auf der Grundlage des Rechts. Wohl gibt es Instanzen wie den »Internationalen Gerichtshof« (IGH), dessen Richterspruch sich die Staaten unterwerfen können, aber dies auch nur, so sie dies wollen. Der Unterwerfung unter den Richterspruch geht also die souveräne politische Willensentscheidung der betroffenen Staaten voraus. Allein der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) verfügt mit seinen
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Kompetenzen aus der UN-Charta über die rechtliche Legitimation, in die oberste Entscheidungskompetenz unabhängiger Staaten einzugreifen, und deshalb setzt der Sicherheitsrat mit seinen Resolutionen auch neues Völkerrecht. Freilich sind die Machtmittel des Sicherheitsrates äußerst begrenzt, es sei denn, er kann auf die Machtmittel eines starken Staates oder eines Staatenbündnisses zurückgreifen. Zudem verfügen die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates über ein nationales Vetorecht, das sie entlang ihrer staatlichen Interessen jederzeit zur Blockade des Sicherheitsrates einsetzen können. Insofern bleibt auch das UN-System letztendlich nicht auf das Recht, sondern auf die Macht gestützt und dem politischen Willen der fünf mächtigsten Einzelstaaten verpflichtet, gegen deren souveräne nationale Interessen im Sicherheitsrat so gut wie nichts geht. Dennoch setzt sich im internationalen System nach und nach eine Verschiebung durch, weg von der Macht und hin zur Bindung der Macht an das Recht. Die Verantwortung einzelner Staaten und ihrer politischen Führungen wird immer mehr einem international kodifizierten Rechtssystem unterworfen, das seinen vorläufigen Höhepunkt mit der Schaffung des »Internationalen Strafgerichtshofes« (IStGH) erreicht hat. Das Recht wird also mittels dieses »Internationalen Strafgerichtshofes« und im Rahmen seiner Zuständigkeiten fortan vor Macht gehen, und die im Namen der souveränen Macht verübten Verbrechen und deren Verantwortliche werden entlang eines international von mehr als sechzig Staaten ratifizierten Kodexes geahndet werden. Dennoch wird, trotz all dieser Entwicklungen und Fortschritte bei der Durchsetzung der Herrschaft des Rechts, das Staatensystem noch immer überwiegend von der Macht bestimmt. Die Staaten bleiben bis auf weiteres die letzte politische Instanz und sind deshalb souverän, weil sie die oberste Gewalt besitzen und ausüben. Die Staaten einer Region, eines Kontinents oder gar der gesamten Welt verkehren theoretisch von gleich zu gleich als Souveräne, unterschieden nur durch ihre Größe, ihr Potential und damit durch ihre Macht. Diese Machtdominanz des Staatensystems, in dem lauter oberste Gewaltinhaber und damit »letzte Instanzen« untereinander verkehren und rivalisieren, trägt auf
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Grund dieses Gleichheitsgrundsatzes die beständige Gefahr einer systemimmanenten Anarchie in sich,83 da der Mächtigere droht, das Recht und die Regeln zu setzen. In dieser durch Macht gestalteten Welt der Staaten mit ihrer permanenten Gefahr einer systembedingten Anarchie ist demnach die Sicherheit des Schwachen vor dem Starken, des Starken vor dem noch Stärkeren, der vielen vor dem nach der Vorherrschaft strebenden einen von alles entscheidender Bedeutung. Sicherheit als die Grundlage des elementaren Interesses eines jeden Staates, nämlich das Interesse an der Selbsterhaltung, bildet zugleich die Grundlage für die Beziehungen zu anderen Staaten, die ebenfalls diesem Interesse dienen. Ein Staat definiert sich also in seinen Beziehungen über seine Interessen, nicht über emotionale Kategorien wie Freundschaften, Loyalitäten, Dankbarkeit oder Feindschaft, Rachsucht und Haß, oder gar über Glaubensfragen. So zumindest lautete die klassische europäische Staatsdefinition. »Wir haben keine immerwährenden Verbündeten, und wir haben keine dauerhaften Feinde. Unsere Interessen sind immerwährend, und diese Interessen zu verfolgen ist unsere Pflicht.« Diese klassische Definition der Interessen moderner Staaten formulierte der britische Premierminister Palmerston in einer Rede im Unterhaus am 1. März 1848.84 Das Gleichgewicht der Mächte ist der Traum in diesem anarchischen System, die Hegemonie einer Macht hingegen der Alptraum, weil sie das gesamte System aus den Angeln zu heben droht. Freilich setzt diese ausschließliche Begründung der Staaten und ihrer Politik auf Interessen ein mehr oder weniger geschlossenes Staatensystem voraus, in welchem alle Akteure in demselben politischen System und seinen normativen Begründungen, in derselben Logik der Interessen also, denken und handeln. Ein Systemwechsel aber, gar eine revolutionäre Veränderung dieses geschlossenen Staatensystems, mußte die selbstverständliche Interessenorientierung der Politik der Staaten erschüttern. Aus all diesen Gründen hat es die Außenpolitik also vor allem mit der Sicherheit der Staaten voreinander zu tun, und von der Beantwortung ihrer jeweiligen Sicherheitsfrage hängen meistens
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auch deren politische Optionen in den Beziehungen mit anderen Staaten ab. Wenn aber die Sicherheit eines Staates systembedingt eine solch zentrale Rolle einnimmt, so drängt sich ganz unmittelbar die Frage auf, was denn dann unter »Sicherheit« eigentlich zu verstehen ist und ob es dabei tatsächlich eine eindeutige oder gar zwingende Definition gibt, die alle Beteiligten in den jeweiligen Innen- wie auch Außenpolitiken von derselben Sache sprechen läßt. »Der einzige Weg, solch eine gemeinsame Macht zu errichten, die fähig ist, die Menschen vor den Angriffen Fremder und vor gegenseitigem Unrecht zu schützen und sie damit so weit zu sichern, daß sie sich durch eigenen Fleiß und die Früchte der Erde ernähren und zufrieden leben können, besteht darin, all ihre Macht und Stärke einem Menschen oder einer Versammlung von Menschen zu übertragen, die den Willen eines jedes einzelnen durch Stimmenmehrheit zu einem einzigen Willen machen [...] Das ist mehr als Zustimmung oder Eintracht; es ist die wirkliche Einheit von ihnen allen in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem so geschaffen wird [...] Wenn dies getan ist, nennt man die so in eine Person vereinigte Menge Gemeinwesen, lateinisch civitas. Das ist die Entstehung jenes großen Leviathan oder besser (um ehrerbietiger zu sprechen) jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und unsere Sicherheit verdanken. Denn durch diese Ermächtigung, die er von jedem einzelnen im Gemeinwesen erhält, steht ihm so viel verliehene Macht und Stärke zur Verfügung, daß er durch den Schrecken vor ihr befähigt, den Willen aller auf den Frieden daheim und auf gegenseitige Hilfe gegen ihre auswärtigen Feinde zu lenken [...] Und wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und hat, wie man sagt, die souveräne Macht; und jeder andere ist sein Untertan.« So Thomas Hobbes in seinem »Leviathan«. Diese klassische Staatsdefinition der Moderne, wie sie in Europa aus dem blutigen Chaos der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts heraus entstanden war,86 gründet also auf einer einzigen zentralen Gewalt, die ein Territorium und die dort lebende Bevölkerung kontrolliert, und auf das Interesse dieser
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Gewalt zur Selbsterhaltung und zur Ausdehnung ihrer Macht.87 Entsprechend muß jeder Sicherheitsbegriff von diesen Basisfaktoren ausgehen, d. h. der Sicherung der Kontrolle über das jeweils eigene Territorium. Deswegen sind auch Grenzfragen der heikelste und zugleich gefährlichste Gegenstand der internationalen Politik,88 denn an der Grenze der Staaten beginnt und endet in der Regel ihre Macht. Diese Grenze muß überschreiten, wer militärisch angreifen will, und diese Grenze muß verschieben, wer die zwischenstaatlichen Machtverhältnisse verändern oder gar gänzlich kippen will. Vor allem an der Grenze zwischen zwei Souveränen wird auch die Machtwährung der Staaten getauscht. Diese Währung drückt sich in Machtverlust und Machtgewinn aus, und deshalb waren und sind die Grenzen zwischen Staaten von so großer politischer Brisanz. Auch der Verfall und Untergang einer Macht werden meistens sofort an der Grenze spürbar. Fast fünf Jahrzehnte war die Grenze zwischen Ost und West in Deutschland und Berlin eine lebensgefährliche Realität, bis diese Grenze und ihr ganzer Schrecken mit dem Zerfall der Macht der DDR und der Sowjetunion quasi in einer Nacht dahingesunken sind. Auch im israelisch-palästinensischen Konflikt geht es vor allem um Territorium und damit um Grenzfragen, ebenso in Kaschmir, im südlichen und nördlichen Kaukasus, in der Westsahara und in vielen anderen Konflikten der Gegenwart. An der Grenze zwischen souveränen Staaten entscheidet sich nach außen die Wirksamkeit der zentralen Macht, d. h. ihre Kontrollfähigkeit, und folglich richtet sich die klassische Definition staatlicher Sicherheit auf die Garantie oder Verschiebung von Grenzen zum eigenen Vorteil. Alles, was die Kontrollfähigkeit der Zentralgewalt eines Staates über das eigene Territorium garantiert, wird als Sicherheit definiert, und alles, was sie gefährdet, demnach als deren Bedrohung. So weit also die klassische Staatsdefinition, die allerdings zur Beschreibung der komplexen Realität des Staatensystems im 21. Jahrhundert nur noch sehr eingeschränkt taugt. Der moderne Staat und das Staatensystem der Neuzeit sind beide Kinder Europas. Hier, in Europa, wurden sie in der
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Menschheitsgeschichte zum ersten Mal gedacht und verwirklicht, und in Europa erlebte dieses System auch seine Höhepunkte und seine schwersten Krisen bis hin zu den beiden großen europäischen Hegemonialkriegen des 20. Jahrhunderts, die sich zu Weltkriegen auswuchsen und die Machtverteilung im internationalen Staatensystem fundamental verändern sollten. Parallel zur Durchsetzung des europäischen Nationalstaates bestanden in der Neuzeit die großen, in der Vormoderne wurzelnden transnationalen Reiche fort, wie das Habsburger Reich, das Osmanische Reich und das Heilige Deutsche Reich, aber gerade das Schicksal des alten Deutschen Reiches, bis zu seiner endgültigen Auflösung im Jahre 1806, zeigte, daß spätestens im 18. Jahrhundert die Territorialstaaten in Europa mit der Zentralisierung aller Macht im souveränen Staat zum dominanten und aufstrebenden Faktor geworden waren. Das europäische Staatensystem, wie es sich auf der Grundlage von Territorialstaaten aus dem Dreißigjährigen Krieg und dem Westfälischen Frieden von 1648 heraus entwickelt hatte,89 gründete auf einzelnen souveränen Staatssubjekten, welche die Zentralisierung aller vorstaatlichen und privaten Macht im Absolutismus des territorialen Fürstenstaates aufgehoben hatten. Zweck des Systems war es, auf dem europäischen Kontinent die Alleinherrschaft einer Macht durch wechselnde Allianzen zu verhindern und im Idealfall ein Gleichgewicht der Mächte im europäischen Staatensystem herzustellen, das diese Hegemonie einer einzigen Macht verunmöglichen sollte. »Gegen den Anwachs der Macht und des politischen Übergewichtes konnten die Mindermächtigen sich vereinigen. Sie schlössen Bündnisse, Assoziationen. Dahin bildete sich der Begriff des europäischen Gleichgewichts aus, daß die Vereinigung vieler andern dienen müsse, die Anmaßungen [...] zurückzudrängen«, schrieb im Jahr 1833 der deutsche Historiker Leopold von Ranke. »»In großen Gefahrren kann man wohl getrost dem Genius vertrauen, der Europa noch immer von der Herrschaft jeder einseitigen und gewaltsamen Richtung beschützt, jedem Druck von der einen Seite noch immer Widerstand von der anderen entgegengesetzt, und bei einer Verbindung der Gesamtheit, die von Jahrzehnd zu Jahr-
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zehnd enger und enger geworden, die allgemeine Freiheit und Sonderung glücklich gerettet hat.«9° Dieses klassische europäische Staatensystem funktionierte bis zum Einbruch von vier großen säkularen Veränderungen in der Geschichte der politischen Moderne. Es waren dies die demokratische Revolution, die Industrialisierung, die Entstehung des Nationalismus91 und die Globalisierung der Nationalstaatsidee durch die Dekolonisierung. Mit der Französischen Revolution von 1789 begann der definitive Niedergang des alten, zu Recht »Ancien regime« genannten europäischen Staatensystems. Der dritte Stand, das Bürgertum, und mit ihm die Volksmassen betraten die Bühne der Geschichte und damit auch des Staatensystems. Bis zu den beiden großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, war die Außenpolitik (mit Ausnahme Großbritanniens, wo damals bereits das Parlament souverän war) das ausschließliche Vorrecht der souveränen Fürsten gewesen, die dazu ihre Diplomaten und vor allem ihre stehenden Heere aus geworbenen und gepreßten Söldnern einsetzten. Das Volk spielte in Europa bis dahin in der auswärtigen Politik der Staaten so gut wie keine Rolle. Erst das revolutionäre Frankreich mobilisierte das Volk und rief es, im Namen der Verteidigung der Nation, zu den Waffen (am 23. August 1793 wurde die allgemeine Wehrpflicht - »Levee en masse« - eingeführt), um sich der royalistischen Interventionsarmeen zu erwehren, und zwar mit durchschlagendem Erfolg.92 Zugleich war mit dem Sieg dieser Revolution im Namen der Nation eine neue revolutionäre Ideologie entstanden, der Nationalismus. Auch die Befreiungskriege der europäischen Völker von der Herrschaft Napoleons fanden im Zeichen eines revolutionären Nationalismus statt, der Europas Staatenwelt und politische Realitäten in den darauffolgenden einhundertfünfzig Jahren radikal umstürzen sollte. Nach der Großen Französischen Revolution veränderte die in Europa und Nordamerika um sich greifende industrielle Revolution mit ihrer gewaltigen technisch-wissenschaftlichen Dynamik dann auch den ökonomischen, technologischen und sozialen Unterbau der Macht.93
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Die neuen Massenheere, die Ideologie des revolutionären Nationalismus, die technologisch-industrielle Revolution der Militärtechnik und eine bisher in der gesamten Menschheitsgeschichte nicht gekannte Vervielfachung ihrer Zerstörungskraft schufen eine neue machtpolitische Realität, die das alte europäische Staatensystem erschüttern und schließlich zerstören sollte. Der Erste Weltkrieg mit dem entsetzlichen Grauen seiner jahrelangen Materialschlachten zertrümmerte endgültig die letzten, übriggebliebenen Reste und Illusionen der alten europäischen Staatenwelt und ihrer außenpolitischen Ordnung. Kein Geringerer als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson analysierte in beeindruckender Weise das Scheitern des europäischen Gleichgewichtssystems während des Ersten Weltkrieges: »Früher pflegten Kriege eine Art Nationalausflug zu sein, bei dem glänzende Schlachten gewonnen oder verloren, Nationalhelden ausgezeichnet wurden und alle teilhatten an dem Ruhm, der dem Staat zufiel [...] Aber kann dieser gewaltige, grauenhafte Wettstreit systematischer Vernichtung in diesem Licht gesehen werden, wo doch die große, auffällige Tatsache, auf die die Vorstellungskraft reagieren muß, unsagbares menschliches Leid ist? [...] Kann es noch einen Ruhm geben, der in Einklang stünde mit dem Opfern von Millionen von Männern, das bei der modernen Kriegsführung erforderlich ist, um Verdun zu erobern und zu verteidigen?«94 Mit dem Auftauchen der Volkssouveränität durch die Amerikanische Revolution und wenig später auch durch die Französische Revolution trat also ein neuer, revolutionärer Faktor in die Beziehungen der Staaten in der Moderne ein. Die bis dahin geltende nahezu ausschließliche Orientierung der modernen europäischen Territorialstaaten an Interessen wurde durch diesen revolutionären Faktor der Volkssouveränität aufgebrochen und hm zu politisch-moralischen Idealen, auch zu säkularisierten Glaubensinhalten, verschoben. »Der Nationalkonvent erklärt im Namen der französischen Nation, daß er allen Völkern, die ihre Freiheit wiederzugewinnen bestrebt sind, Brüderlichkeit und Schutz gewährt, und beauftragt die vollziehende Gewalt, den Generalen die notwendigen Befehle zu erteilen, um diesen
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Völkern zur Hilfe zu kommen und die Bürger zu beschützen, die wegen ihrer freiheitlichen Gesinnung bedrückt werden oder werden könnten.«95 So lautete die feierliche Erklärung des revolutionären Konvents in Paris aus dem Jahr 1792. Die Kabinettskriege des Absolutismus waren der tatsächlichen oder vermeintlichen Interessen der Staaten und herrschenden Dynastien wegen geführt worden, die Kriege im Namen der Volkssouveränität und der Nation bedurften dagegen anderer und zusätzlicher Begründungen. Diese mußten sich eher auf eine höhere Moral oder emotional mitreißende Ideologien gründen denn auf nüchternen machtpolitischen Interessenkalkülen, damit sich die Völker zum Krieg und zum Sterben mobilisieren ließen. Bereits mit den ersten militärischen Erfolgen der Revolutionsarmeen jenseits der Grenzen Frankreichs wurde allerdings dieser Widerspruch zwischen Moral und Interessen sichtbar.96 Die Entgrenzungen und die zerstörerische Gewalt der Religionskriege, die durch den souveränen Staat seit dem 17. Jahrhundert domestiziert zu sein schienen, setzten sich damit, wenn auch in säkularisierter Form, erneut und, wie es sich erweisen sollte, noch furchtbarer in den Kriegen der europäischen Staatenwelt durch. Das Zeitalter des Totalitarismus begann seine ersten dunklen Schatten zu werfen. Für Cosimo de' Medici erwies sich die Sache mit der Macht noch recht einfach: »mit Paternostern halte man das Ruder nicht in der Hand«.97 Spätestens seit den beiden großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts gestaltete sich diese »Sache« aber wesentlich vertrackter. Denn Volksherrschaft, Freiheit, Republik, das waren revolutionäre Grundsätze, welche die bis dahin geltende ausschließliche Orientierung der Staaten an Interessen erschütterten. Fortan sollten sich die Beziehungen der Staaten erheblich komplizieren, zumindest dort, wo es sich um Staaten handelte, die auf die Ideale der großen Revolutionen gründeten, und es sollte sich als keineswegs einfach erweisen, zwischen den neuen Idealen und den fortbestehenden alten Interessen in der Politik der Staaten einen vermittelnden Ausgleich zu finden. Bis heute besteht dieses Spannungsverhältnis in der Außenpolitik der westlichen Demokratien fort: Ideale wie die Menschen-
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rechte einerseits stehen gegen Interessen wie Sicherheit und Handel andererseits.98 Freilich tritt dieses Problem nahezu ausschließlich in den Beziehungen zwischen Demokratien und autoritären oder gar diktatorischen Regimen auf. Der Widerspruch zwischen Idealen und Interessen ist in den Beziehungen zwischen demokratischen Rechtsstaaten deshalb von geringerer Bedeutung, weil dieser Widerspruch zumeist innenpolitisch in den Institutionen und in den demokratisch verfaßten Öffentlichkeiten ausgetragen wird. Mit dem 11. September und seinen Folgen wurde die Frage aufgeworfen, ob in Zukunft für den Umgang von Demokratien mit Diktaturen oder sogenannten »Schurkenstaaten (rouge states)« fortan präemptive Maßnahmen bis hin zum Präventionskrieg die bisherigen völkerrechtlichen Regeln ablösen sollten.99 Das europäische Ideal vom Gleichgewicht der Mächte im Staatensystem wurde also im späten 19. Jahrhundert durch die Realität überholt, angesichts der Systemveränderungen durch die großen politischen und sozialen Revolutionen, durch die Massenheere und die industrielle und technisch-wissenschaftliche Revolution. An seine Stelle trat ein gefährliches Gemisch, bestehend aus Ängsten, Rivalitäten und Hegemonialstreben, das über das Wettrüsten in den Präventivkrieg und schließlich in den Automatismus militärstrategischer Großplanungen und ihrer Umsetzung führte und dadurch den großen Krieg unter den europäischen Mächten auslösen sollte. Das klassische europäische Staatensystem des Westfälischen Friedens leitete im August 1914 seine Selbstzerstörung ein und in der Folge davon auch die historische Abdankung der großen europäischen Mächte als Weltmächte. Europas globalen Platz nahmen fortan zwei außereuropäische Mächte ein, die 1945 als die Sieger aus der Selbstzerstörung des cuiupäisclicii Suiaiensysiems hervorgingen, nämlich die USA und die Sowjetunion. »Vor dem Zweiten Weltkrieg befanden sich achtzig Prozent der Landmasse und achtzig Prozent der Weltbevölkerung unter der Vorherrschaft der [europäischen] Westmächte. Der westliche Imperialismus - die britischen, französischen, holländischen und portugiesischen Reiche - brach [nach
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1945] mit einer Geschwindigkeit zusammen, die noch die Historiker des 21. Jahrhunderts erstaunen wird, und es entstanden mehr als 120 neue Staaten als souveräne Nationen. Ein völlig neues Schauspielensemble erschien auf der Weltbühne. Der Imperialismus war vorbei, doch wurde er durch Einflußzonen ersetzt, um die sich die >Großmächte< stritten. Als einziges Imperium hatte das sowjetische Bestand, ja, es vermochte seine Rolle sogar noch auszubauen, geographisch sowohl wie politisch.«100 Der Zweite Weltkrieg sollte diesen Prozeß der europäischen Abdankung vollenden und zugleich die Auflösung der großen europäischen Kolonialreiche nach sich ziehen.101 Die europäischen Kolonialmächte gaben in den Jahren nach 1945 zwar ihre Kolonien auf - oft durch verlustreiche Guerillakriege dazu gezwungen —, aber sie hinterließen diesen neuen unabhängigen Staaten meist willkürlich zusammengesetzte Territorien mit von Kolonialbeamten gezogenen Grenzen. Und damit überantworteten sie ein vergiftetes Erbe in Gestalt zahlreicher Konflikte innerhalb und zwischen den jungen Staaten. Und sie hinterließen auch ihr staatsphilosophisches und staatsrechtliches Erbe, nämlich das europäische Staats- und Souveränitätsmodell und damit auch den Nationalismus als revolutionäre Idee.102 Die übrige Welt hat diese Konstruktion von Europa übernommen, während sie zugleich in Europa beginnt ihre Geltung zu verlieren.103 Dieses Erbteil des untergegangenen europäischen Kolonialismus sollte ebenfalls weitreichende Konsequenzen haben. Denn dadurch wurde mit der Dekolonisierung und der Herausbildung zahlreicher neuer souveräner Staaten auf allen Kontinenten das europäische Staatsmodell globalisiert, und dieses Modell wie das damit einhergehende Verständnis von staatlicher Souveränität ist deshalb bis heute für das internationale Staatensystem der entscheidende Ordnungsfaktor geblieben. Auch die Vereinten Nationen wurden dadurch ganz entscheidend geformt. Aus dieser Perspektive betrachtet, handelt es sich tatsächlich um eine der Ironien der Geschichte, daß sich der alte Kontinent Europa gegenwärtig anschickt, dieses Staats- und Souveränitätsmodell durch seine ökonomische und politische Integration zu überwinden und das Recht vor die Macht zu setzen, während ge-
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rade zahlreiche Staaten der dritten Welt, ehemalige europäische Kolonien also, dieses klassische europäische Souveränitätsmodell energisch verteidigen. Von nicht minderer Ironie ist es allerdings, wenn nun ausgerechnet neokonservative Intellektuelle auf der anderen Seite des Atlantiks die vormoderne Idee des Imperiums wieder entdecken, um damit die Rolle der USA als alleiniger Supermacht im 21. Jahrhundert zu definieren. Zumindest im luftigen Himmel der politischen Ideenwelt scheint Europas hegemoniale Kraft ungebrochen. Da also der Krieg den Naturzustand des Menschen ausgemacht hat und der Frieden erst gestiftet werden mußte,104 so ist es demnach schon immer eine Grundtatsache des modernen Staatensystems gewesen, daß die prekäre Sicherheit der einzelnen Staaten sie beständig in Rivalitäten und Konflikte mit ihren Nachbarn führen mußte: »Der Staat, so wird häufig gesagt, geht als einer unter anderen Staaten seinen Angelegenheiten im drükkenden Schatten der Gewalt nach. Da einige Staaten jederzeit Gewalt einsetzen könnten, müssen alle Staaten darauf vorbereitet sein, dies ebenfalls zu tun - oder von der Gnade ihrer militärisch leistungsfähigeren Nachbarn leben. Unter Staaten ist der Naturzustand ein Kriegszustand. Das ist nicht in dem Sinne gemeint, daß Krieg permanent stattfindet, sondern dahingehend, daß wenn jeder Staat für sich selbst entscheidet, ob er Gewalt anwendet oder nicht, Krieg zu jeder Zeit ausbrechen kann.«105 Aus dieser systembedingten Instabilität der Sicherheit der Staaten erwuchs (und erwächst) die beständige Gefahr von Rivalitäten und damit von Kriegen. Hier stößt man auf ein Element des Staatensystems, das ein destabilisierendes, ja bisweilen sogar hochgefährliches Potential darstellt und in der Politikwissenschaft als »Sicherheitsdilemma« bezeichnet wird. Die Anarchie des Systems zwingt alle Staaten zur Vorsorge, zur Rüstung und zu Allianzen. Und je mehr sie sich rüsten und militärische und diplomatische Vorsorge betreiben, desto mehr steigern sie die Ängste ihrer Nachbarn, die entsprechend reagieren müssen.106 Die permanente, von Angst getriebene Suche nach Sicherheit und Stabilität führt also in mehr Unsicherheit und Instabilität. Das Staatensystem war aus diesem Grund schon immer von gro-
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ßer Instabilität gekennzeichnet. Über seine gesamte Geschichte hinweg wurden Territorien gewonnen und verloren. Diese strukturell immer offene und deshalb existentielle Sicherheitsfrage der Staaten ließ dem Grunde nach nur zwei Möglichkeiten an Antworten zu, nämlich eine offensive (Expansion) oder eine defensive (Abwehr von Expansion). Die Geschichte lehrt, daß in der Regel die offensive Antwort die erfolgreichere war. Diese Tatsache sollte sich erst mit der Entwicklung der Atombombe und dem auf ihr gründenden Gleichgewicht des Schreckens ändern. Mit dem Beginn des Atomzeitalters wurde die strategische Defensive wegen der Gewißheit der gegenseitigen Vernichtung alternativlos. Der Krieg zwischen den Atommächten konnte nicht mehr geführt werden. Der Aufstieg Roms zur alleinigen Weltmacht der Antike im Mittelmeerraum und den angrenzenden Gebieten hatte mit den drei Kriegen gegen Karthago das große und zugleich erfolgreiche Beispiel gesetzt, das über die gesamte europäische Geschichte hinweg die Phantasie der Staaten und Reiche beflügelte. Die Akkumulation von Macht und eine Politik der Stärke und der Expansion wird bis in unsere Zeit hinein als die wirksamste Form staatlicher Sicherheitspolitik nach außen angesehen. Und so wie in der Marktwirtschaft der Wettbewerb das allseits akzeptierte Grundprinzip darstellt, gleichwohl aber aller wirtschaftlichen Konkurrenz die fast zwingende Tendenz zum Monopol und d. h. zur Aufhebung des Wettbewerbs - innewohnt, wenn man den Wettbewerb nicht entsprechend reguliert, so gilt dies auch für die souveränen Staaten, die durch ihren Selbsterhaltungsdrang zur Machtakkumulation und dadurch zur Reichsbildung, zum Imperium, getrieben wurden und werden. Auch in dieser Hinsicht war es wieder Rom, das ein weiteres Mal das große Vorbild für die nachfolgenden Jahrhunderte bis in die europäische Neuzeit hinein abgeben sollte. Diese expansive Tendenz, die im Selbsterhaltungsinteresse der Staaten angelegt ist, wirkt selbstverständlich auch im Staatensystem der Moderne fort. An den Rändern der europäischen Staatenwelt und ihrer Kolonialreiche entstanden Territorialstaaten ganz eigenen Charakters und anderer Größenordnung, Rußland und die USA. Die
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USA waren selbst Teil des britischen Kolonialreiches gewesen. Sie gewannen aber bereits sehr früh auf revolutionärem Wege ihre Unabhängigkeit und schlugen dann eine atypische und recht eigene Entwicklung ein. Der Unabhängigkeitskrieg gegen die britische Krone und das Parlament von Westminster, die Amerikanische Revolution von 1776, war zugleich das Präludium der Großen Französischen Revolution von 1789 und gründete auf denselben universellen Ideen der Aufklärung wie ihre jüngere französische Schwester. Bis heute definieren diese gemeinsamen Wurzeln der beiden großen Revolutionen der Aufklärung die ganz eigene Qualität der Beziehungen zwischen den USA und Frankreich. Sowohl Rußland als auch die USA entwickelten sich zu Staaten eines völlig neuen Typs, nämlich zu Kontinentalstaaten. Dies war eine Größenordnung, die das europäische Staatensystem nicht kannte. Die USA dehnten sich innerhalb eines langen Jahrhunderts zu einer kontinentalen Macht aus, die alle in Nordamerika vorhandenen Staaten (mit Ausnahme Kanadas und Mexikos) in einer einzigen kontinentalen Demokratie von Küste zu Küste vereinigte, in einem einzigen Bundesstaat »from coast to coast«, mit einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen Währung. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen worden, daß sich die USA innerhalb von etwas mehr als einem Jahrhundert seit ihrer Gründung sowohl zu einer pazifischen als auch atlantischen Macht entwickeln konnten. Rußland dehnte sich, von seinem osteuropäischen Kernland um Moskau ausgehend, ebenfalls nach allen Seiten hin aus. Die Eroberung Sibiriens, Zentralasiens und des Kaukasus machte es zu einer asiatischen Macht, und durch die Westöffnung Peter des Großen und seine Siege in den Nordischen Kriegen gegen Schweden wurde es zugleich zur europäischen Großmacht und zum nicht mehr zu ignorierenden Faktor der europäischen Staatenwelt bis in die Gegenwart hinein. Nach Süden führte die russische Ausdehnung in beständige Kriege mit den Türken, und nach Osten öffnete sich der scheinbar endlose asiatische Kontinent bis nach Zentralasien, an die Grenzen Indiens und Chinas und schließlich bis an den fernen Pazifik.
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Europa konnte schon damals mit dieser neuen Qualität von kontinentalem Staat und potentieller Weltmacht nicht mehr mithalten, allerdings nahm man dies auf dem alten Kontinent mit seinen globalen Kolonialreichen und seinen Hegemonialkonflikten damals kaum wahr. Allein durch ihre schiere räumliche Ausdehnung sprengten beide Kontinentalstaaten alle bisher gekannten Größenordnungen, sieht man von den großen überseeischen Kolonialreichen der europäischen Mächte seit dem 16. Jahrhundert einmal ab. Aber diese verfügten niemals über eine auch nur annähernd vergleichbare territoriale und zugleich kontinentale Homogenität, wie es mit dem russischen Zarenreich und der großen Demokratie USA der Fall war. Beide Kontinentalstaaten wurden und werden kulturell und politisch durch ihre europäischen Wurzeln, durch die europäische Herkunft großer und dominanter Teile ihrer Bevölkerung und durch sehr enge Bindungen an Europa geprägt. Und beide Staaten wurden in die Hegemonialkriege des europäischen Staatensystems hineingezogen und entwickelten sich dabei parallel zu Mächten mit globalem Hegemonialanspruch. Der Eintritt Rußlands und der USA in die europäische Politik erfolgte zwar zu unterschiedlichen Zeiten und entlang differierender Absichten und Interessen, aber seit 1941 kämpften beide Staaten dann gemeinsam in der Koalition gegen Hitlerdeutschland. Dieser Krieg gegen das Dritte Reich war ein Kampf aufLeben und Tod im furchtbarsten Sinne des Wortes und zugleich der gefährlichste und blutigste europäische Hegemonialkrieg in der neueren Geschichte des Kontinents. Die totale Niederlage des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945, seine anschließende Auflösung durch die Hauptsiegermächte und die Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen machten Rußland und die USA dann zwar zu den hegemonialen Mächten in ihrer jeweiligen Hälfte des geteilten alten Kontinents, aber dadurch waren sie keineswegs zu europäischen Mächten geworden. Europa wurde zwischen den beiden nichteuropäischen Weltmächten in Ost und West geteilt, und das alte europäische Staatensystem hatte damit endgültig abgedankt. »Es scheint uns heute so«, schrieb Ludwig Dehio im Jahr 1948, »das große Spiel sei ausgespielt,das
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in der Neuzeit Europa in Atem gehalten hat und schließlich die Welt. Es leuchtet erst recht ein, wenn wir neben dem Schicksale der hegemonialen Vormacht auch das des säkularen Gegners der jeweiligen Vormacht ins Auge fassen, des europäischen Staatensystems. Wohl erlebte es einen letzten Triumph, als es noch einmal verhindern half, daß eine Macht aus seinem Kreise die Freiheit der anderen unterdrücke. Aber es bezahlte diesen Triumph ebenso mit seinem Leben, wie das anstürmende Deutschland seine Niederlage. Es ist, als ob sich Duellanten wechselweise durchbohrt hätten.«107 Die beiden neuen Hegemonialmächte nach 1945 hätten in ihrer Geschichte und Verfassung nicht unterschiedlicher sein können. Zwei gelehrte Reisende, beide Franzosen, vermittelten bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den europäischen Lesern ein extrem gegensätzliches Bild von diesen beiden aufsteigenden Kontinentalstaaten. »Es gibt in der Welt ein Land«, schrieb Alexis de Tocqueville im Jahre 1835 über die USA, »wo die große soziale Revolution, von der ich spreche, ihre natürlichen Grenzen einigermaßen erreicht zu haben scheint; sie ist auf eine einfache und leichte Art vor sich gegangen; oder eher kann man sagen, daß dieses Land sich der Früchte der bei uns geschehenen demokratischen Revolution erfreut, ohne daß es diese Revolution durchgemacht hat. Die Auswanderer, die sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Amerika ansiedelten, befreiten gewissermaßen den Grundsatz der Demokratie von sämtlichen Lehren, gegen die er in der alten Gesellschaft Europas kämpfte, und sie verpflanzten ihn gereinigt an die Gestade der Neuen Welt. Da konnte er nun in Freiheit gedeihen und sich im Verein mit den Lebensgewohnheiten friedlich in den Gesetzen entfalten.«108 Waren die USA eine kontinentale Demokratie, die in ihrer Verfassung auf der Freiheit des einzelnen, auf dem Mißtrauen gegen staatliche Institutionen und staatliche Macht und dem utopischen Versprechen des Strebens nach Glück (»pursuit of happiness«) gründete, so war das Russische Reich das genaue Gegenteil von alledem. Die Staatsform des Russischen Reiches war eine zentralistische Despotie, in welcher der Wille des Herrschers alles und der einzelne oft weniger als nichts war. »In Ruß-
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land liegt überall und allem Gewalttätigkeit und Willkür zugrunde, wie die Sachen auch scheinen mögen. Man hat dort die Tyrannei durch den Schrecken ruhig gemacht, und das ist, bis auf den heutigen Tag, die einzige Art Glück, welches diese Regierung ihren Völkern zu geben verstanden hat«, stellte der französische Rußlandreisende Astolphe de Custine in seinen »Dunkle Schatten« überschriebenen Reisebeschreibungen aus dem Jahre 1839 fest.109 Und an anderer Stelle heißt es: »So unbeschränkt die Gewalt in Rußland ist, so fürchtet sie sich doch außerordentlich vor dem Tadel, ja schon vor dem Freimute. Ein Bedrücker fürchtet von allen Menschen die Wahrheit am meisten; er entgeht dem Lächerlichen nur durch den Schrecken und das Geheimniß.«110 Autokratie statt Demokratie, Knute statt Recht, Unterwerfung statt Streben nach Glück, so ließen sich wesentliche Differenzen in der inneren Verfassung zwischen dem Russischen Reich und den USA zusammenfassen. Ein weiterer Unterschied lag auch darin, daß Rußland in seiner europäischen Ausdehnung, in Zentralasien und diesseits und jenseits des Kaukasus auf Völker mit teilweise sehr alten Kulturen und einer langen eigenstaatlichen Tradition stieß. Insofern war das Russische Reich niemals von vergleichbarer kontinentaler Homogenität wie Staat und Gesellschaft in den USA und verband innerhalb seiner Grenzen immer die beiden Elemente von Kontinentalstaat und Kolonialreich. Dieser Widerspruch belastete das zaristische Rußland ebenso wie die Sowjetunion, und genau wegen dieses unlösbaren Strukturwiderspruchs sollte sich die kollabierende Sowjetunion 1992 schließlich auflösen. Auch die der Sowjetunion nachfolgende Russische Föderation ist keineswegs frei von diesem Widerspruch, wie gerade der anhaltende Krieg in Tschetschenien verdeutlicht. Die sogenannte »Nationalitätenfrage« hatte das Russische Reich seit dem Beginn seiner erfolgreichen Expansion über die Revolution von 1917 hinweg111 bis zum Ende des Sowjetimperiums niemals zu lösen vermocht. Das Russische Reich wurde von den unterjochten Nationen, spätestens seit der Aufklärung und der Französischen Revolution, als Völkergefängnis denunziert, während die USA den Entrechteten und Beleidigten aller Natio-
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nen, vor allem aber den Europäern, als eine wahrhaft Neue Welt, als eine bessere Welt erschienen. Die USA gründeten auf einem revolutionären Gleichheitsversprechen, waren eine utopische Neugründung, 'während Rußland als machtpolitischer Garant des Fortbestandes der alten Unterdrückung galt, als die mißratene Verbindung des asiatischen Despotismus mit dem europäischen Absolutismus. So sahen das auch und vor allem zu ihrer Zeit die beiden Herren Karl Marx und Friedrich Engels!112 Die Russische Revolution von 1917, die bolschewistische Oktoberrevolution, schien für die Zeitgenossen die letzte der großen Revolutionen der abendländischen Aufklärung zu sein, gewissermaßen ihre Vollendung. Sie versprach nicht nur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern sie wollte als kommunistisch-sozialistische Revolution diese bürgerlichen Werte durch die Überwindung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Abschaffung der Klassengesellschaft universalisieren. Die bürgerliche Epoche mit ihren fatalen zyklischen Wirtschaftskrisen, mit ihrer Klassengesellschaft, ihrer Ausbeutung der Unterklassen und ihren Kriegen sollte jetzt definitiv überwunden werden. Die Revolution Lenins formulierte also ebenfalls ein utopisches Versprechen, nämlich die kommunistische Gleichheit aller in der Massen- und eigentumslosen Gesellschaft. Rußland wurde durch die bolschewistische Revolution zur Sowjetunion, den Arbeitern und Bauern sollte der Staat, die Wirtschaft, die Kultur und die Wissenschaft gehören (in der Realität gehörte all dies dem Staat und entsprach somit völlig der russischen Staatstradition minus Zar), der Fortschritt des Menschengeschlechtes sollte nach Plan geschehen, und aus der kommunistischen Gesellschaft ein »Neuer Mensch« hervorgehen, der Egoismus und Eigennutz endgültig hinter sich gelassen hatte. Dieses in der Geschichte bisher größte Experiment am lebenden Menschen mißriet vollständig. Stalins terroristische Modernisierung und das Lagersystem des GULAG sollten Hekatomben unschuldiger Opfer verschlingen. Anders als die Utopie des »Strebens nach Glück« der Amerikanischen Revolution, die auf den »checks and balances« eines demokratischen Verfassungsstaates gründete, war das sowjet-
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russische Glücksversprechen totalitär. Alle Macht wurde beim Staat, bei einer Partei und schließlich bei einer Person konzentriert. Unter Lenins Nachfolger Stalin wurde die Restauration der Despotie der Zaren vollendet und durch Massenterror in bisher nicht gekannte Dimensionen von staatlicher Barbarei gesteigert. Der Bolschewismus, der die revolutionäre Überwindung der tradierten Despotie der Zaren und die Weltrevolution der Unterdrückten aller Völker für sich behauptete, hatte die Despotie lediglich zu neuen Höhepunkten der Grausamkeit, der Menschenverachtung und des Massenmordes geführt, nicht aber zu dem versprochenen Reich der Freiheit und der klassenlosen Gesellschaft. Trotz dieser diametralen Gegensätze zwischen den USA und Rußland zeigten sich in der Geschichte dieser beiden Mächte auch bedeutsame Gemeinsamkeiten oder zumindest erstaunliche Parallelitäten. Die USA und Rußland/Sowjetunion waren beides außereuropäische Kontinentalstaaten, und ihre jeweilige Macht erreichte im Laufe ihrer Geschichte eine globale Dimension. Beide verfügten zwar über starke europäische Wurzeln, griffen aber zugleich weit über das europäische Staatensystem hinaus. Beide gründeten auf großen Revolutionen und ihre staatliche Legitimität auf ein utopisch-revolutionäres Fortschrittsund Freiheitsversprechen. Beide Staaten wurden durch den Zweiten Weltkrieg und den Kampf gegen Hitlers Anspruch auf die Weltherrschaft zu europäischen und globalen Hegemonialmächten. Beide Staaten beeinflussen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein ganz entscheidend den Gang der Weltpolitik und vor allem auch die Angelegenheiten der europäischen Staatenwelt. Und beide Mächte wurden die Erben des europäischen Staatensystems, auch wenn die USA mit dem Ende des Kalten Krieges zum Alleinerben geworden sind. Der Untergan des klassischen europäischen Staatensystems im Zweiten Weltkrieg und der dadurch eingeleitete Rückzug Europas auf sich selbst durch die Dekolonialisierung ging einher mit einer Neuordnung Europas und der Welt, die auf ganz anderen, gewissermaßen transeuropäischen Größenordnungen von Staaten und staatlicher Macht gründete, wie sie nur noch die
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russische Glücksversprechen totalitär. Alle Macht wurde beim Staat, bei einer Partei und schließlich bei einer Person konzentriert. Unter Lenins Nachfolger Stalin wurde die Restauration der Despotie der Zaren vollendet und durch Massenterror in bisher nicht gekannte Dimensionen von staatlicher Barbarei gesteigert. Der Bolschewismus, der die revolutionäre Überwindung der tradierten Despotie der Zaren und die Weltrevolution der Unterdrückten aller Völker für sich behauptete, hatte die Despotie lediglich zu neuen Höhepunkten der Grausamkeit, der Menschenverachtung und des Massenmordes geführt, nicht aber zu dem versprochenen Reich der Freiheit und der klassenlosen Gesellschaft. Trotz dieser diametralen Gegensätze zwischen den USA und Rußland zeigten sich in der Geschichte dieser beiden Mächte auch bedeutsame Gemeinsamkeiten oder zumindest erstaunliche Parallelitäten. Die USA und Rußland/Sowjetunion waren beides außereuropäische Kontinentalstaaten, und ihre jeweilige Macht erreichte im Laufe ihrer Geschichte eine globale Dimension. Beide verfügten zwar über starke europäische Wurzeln, griffen aber zugleich weit über das europäische Staatensystem hinaus. Beide gründeten auf großen Revolutionen und ihre staatliche Legitimität auf ein utopisch-revolutionäres Fortschrittsund Freiheitsversprechen. Beide Staaten wurden durch den Zweiten Weltkrieg und den Kampf gegen Hitlers Anspruch auf die Weltherrschaft zu europäischen und globalen Hegemonialmächten. Beide Staaten beeinflussen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein ganz entscheidend den Gang der Weltpolitik und vor allem auch die Angelegenheiten der europäischen Staatenwelt. Und beide Mächte wurden die Erben des europäischen Staatensystems, auch wenn die USA mit dem Ende des Kalten Krieges zum Alleinerben geworden sind. Der Untergan des klassischen europäischen Staatensystems im Zweiten Weltkrieg und der dadurch eingeleitete Rückzug Europas auf sich selbst durch die Dekolonialisierung ging einher mit einer Neuordnung Europas und der Welt, die auf ganz anderen, gewissermaßen transeuropäischen Größenordnungen von Staaten und staatlicher Macht gründete, wie sie nur noch die
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le der Systemanarchie und der individuellen Sicherheitsvorsorge der Staaten war ein System »gemeinsamer Sicherheit« getreten, das auf vertraglichen Garantien, Transparenz, Verifikation und Kontrolle gründete. Last but not least begrenzte dieses kollektive Sicherheitssystem auch die Rüstungsausgaben und schuf so die Möglichkeit eines stärker zivil ausgerichteten Ressourceneinsatzes. Wir haben weiter oben die vier wesentlichen Faktoren benannt, die das klassische europäische Staatensystem und sein Gleichgewicht der Mächte im Innersten erschütterten und gefährdeten: Demokratie, Industrialisierung, Nationalismus und Dekolonisierung. Vor allem die beiden ersten Verschiebungen kumulierten im Ersten Weltkrieg in einer bis dahin ungekannten Katastrophe, die sowohl geistig-ideologische als auch materiellpolitische Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Der Erste Weltkrieg war sowohl die Geburtsstunde des europäischen Totalitarismus als auch der Idee des »totalen Krieges«, d. h. der völligen Enthegung und Entgrenzung des Krieges. Gewiß existierte das totalitäre Denken bereits vor 1914, aber als Massenbewegung und als politisches Herrschaftssystem war der Totalitarismus auf das engste mit der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« verbunden, nämlich dem Ersten Weltkrieg. Durch den Ersten Weltkrieg wurde zwar der deutsche Hegemonialanspruch in Europa erfolgreich abgewehrt, gleichwohl zogen die Sieger nicht entschlossen genug die notwendigen Konsequenzen aus der deutschen Niederlage. Das bolschewistische Rußland schied nach 1918 aus dem europäischen System aus definitiv nach dem Scheitern diverser kommunistischer Umsturzversuche in Mitteleuropa Anfang der zwanziger Jahre -, und Deutschland lag am Boden. Aber beide Befunde sollten sich in etwas mehr als einem Jahrzehnt als trügerisch erweisen. Die USA zogen sich nach dem Ende des Weltkrieges militärisch aus Europa wieder zurück, und der Vertrag von Versailles und all die anderen Vorortverträge von Paris bildeten nach 1919 ein europäisches System, das vor allem Deutschland, den großen Risikofaktor dieses Systems, weder erneut und dauerhaft in das europäische Staatensystem integrierte noch wirklich entmachtete.
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Der Vertrag von Versailles war ein unzureichender Friedensvertrag, weil er die deutsche Macht mit untauglichen Mitteln lediglich begrenzen wollte. Weder formulierte er für die legitimen Interessen Deutschlands eine europäische Perspektive durch Einbindung, noch reduzierte er die deutsche Macht dauerhaft. Das Deutsche Reich wurde nach dem Ersten Weltkrieg militärisch und ökonomisch lediglich auf Zeit geschwächt und vor allem gedemütigt, was sich in den folgenden Jahren als ein fruchtbarer Nährboden für den ultranationalistischen Revanchismus der deutschen Rechten erweisen sollte. Die totalitäre Bewegung des Nationalsozialismus agitierte erfolgreich mit diesem extremen Nationalismus, der in einem gleichermaßen mörderischen wie verbrecherischen Antisemitismus gipfelte, und fand in den Widersprüchen und Unzulänglichkeiten einer fragilen Nachkriegsordnung zahlreiche Möglichkeiten, entscheidend an Stärke zu gewinnen. In den wichtigsten Verliererstaaten des Ersten Weltkrieges, in Rußland und Deutschland, folgte nach der Niederlage nicht eine erfolgreiche Epoche der Demokratie, sondern vielmehr eine extreme Radikalisierung, die sich in Revolutionen, Aufständen, Putschversuchen, allgemeiner Instabilität und den totalitären Bewegungen und Systemen des Bolschewismus und des Faschismus/Nationalsozialismus ausdrückte. Die Totalisierung allen Denkens und Handelns - der »totale Krieg« von Ludendorff war in weiten Teilen Europas auch ideologisch und innenpolitisch eine der entscheidenden Konsequenzen des Weltkrieges. Die Epoche des europäischen Faschismus hatte begonnen. Die Kategorie des »totalen Krieges« sollte sich tatsächlich als die eigentlich revolutionäre machtpolitische Idee in der Zwischenkriegszeit erweisen, da sie die totale geistige, moralische, politische und ökonomische Mobilisierung ganzer Gesellschaften durch eine revolutionäre und zugleich totalitäre Ideologie zürn Ziel hatte, um im Zeichen dieser Ideologie zum großen Hegemonialkampf um Europa und, mehr noch, um die Weltherrschaft anzutreten. Der totale Krieg als Konsequenz aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde zum totalitären Denken und zur totalitären Gesellschaft, die nichts weniger als die völlige Mi-
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litarisierung der Gesellschaft zum praktischen Programm erklärte, um so die Kräfte zur ganz großen Revanche mobilisieren und konzentrieren zu können. Hitler und die nationalsozialistische Bewegung folgten diesem Programm. Und dies hieß erneut Krieg, diesmal allerdings nicht mehr nur um die europäische Hegemonie, sondern das nationalsozialistische Deutschland trat an zum Kampf um die Weltherrschaft. Das Ende ist bekannt. Was wurde nach 1945 unter diesen neuen und völlig veränderten Bedingungen aus Europa und seinen Mächten, die seit dem 16. Jahrhundert die Geschicke der Welt bestimmt hatten? Anders als 1918/19 blieben die USA diesmal in Europa militärisch präsent, da Stalin mitnichten daran dachte, die sowjetischen Truppen aus den besetzten europäischen Ländern und vor allem aus Ostdeutschland abzuziehen. Das europäische Staatensystem war zwar untergegangen, dies galt aber keineswegs für das machtpolitische Risiko, das eine neue europäische Hegemonialmacht für die angelsächsischen Seemächte diesseits und jenseits des Atlantiks bedeuten würde. Das Vereinigte Königreich war zwar die einzige europäische Macht, die durch Hitler militärisch nicht besiegt worden war, und gehörte sowohl auf dem asiatisch-pazifischen als auch auf dem europäischen Kriegsschauplatz zu den Siegermächten, aber der Preis für Großbritannien war extrem hoch, nämlich der definitive Verlust der alten Weltmachtrolle und die schrittweise Aufgabe seines Kolonialreiches östlich von Suez und in Afrika. Die USA hatten nach 1941 Großbritannien in seiner doppelten Rolle als westlicher Führungsmacht und globaler Seemacht endgültig abgelöst. Und nach dem Vorstoß von Stalins Rußland in die Mitte Deutschlands und damit des europäischen Kontinents war der westliche Teil Europas nahezu ausschließlich von der Sicherheitsgarantie der Vereinigten Staaten abhängig. Die europäischen Staaten konnten zur Abwehr der sowjetischen Hegemonie nach 1947 nur noch nachrangige Beiträge leisten. Freilich galt einer der Kernsätze des alten europäischen Staatensystems auch nach 1945 uneingeschränkt fort: Wer Deutschland besaß, kontrollierte das Zentrum Europas und damit den gesamten Kontinent. Und die Herrschaft über Europa hätte
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dann in der Folge über die globale Hegemonie entschieden. Genau diese Gefahr drohte nun seit 1945 von der weit nach Westen vorgedrungenen Roten Armee. Der europäische Hegemonialkonflikt hatte also den Untergang des alten europäischen Staatensystems überdauert und war jetzt zur entscheidenden Machtfrage des neuen globalen Hegemonialkonflikts zwischen den USA und der Sowjetunion geworden. Dieser Konflikt führte folglich recht schnell in eine neue Phase der Konfrontation, die in Europa allerdings nicht ein weiteres Mal als »heißer« Krieg ausgetragen werden konnte. Der Kalte Krieg fror die Spaltung Europas statt dessen dauerhaft ein, und den Beteiligten war während all der Jahrzehnte dieses seltsamen Krieges immer klar, daß jeder Versuch einer gewaltsamen Verschiebung der Grenze zwischen den beiden Systemen in Europa den großen Krieg, ja den Atomkrieg zwischen Ost und West, zwischen den USA und der Sowjetunion auslösen würde. Beide Seiten ließen einen innenpolitisch herbeigeführten Systemwechsel in ihrer jeweiligen Einflußzone nicht zu. Die alte Formel des Augsburger Religionsfriedens von 1555 zwischen Katholiken und Protestanten — cuius regio, eius religio - galt in modernisierter Form auch während des kalten Krieges, und entsprechend der Systemvorgaben der Hauptsiegermächte wurde Ostmitteleuropa sowjetisiert, Westeuropa hingegen demokratisiert. Allerdings gab es dabei einen sehr wichtigen Unterschied in der Qualität: Die Sowjetisierung beruhte auf Gewalt, Unterdrückung und Fremdherrschaft, die Demokratisierung auf Freiheit, Verfassung und Selbstbestimmung. Die Analyse von Friedrich Engels über Rußland fast einhundert Jahre zuvor sollte sich eben als völlig richtig erweisen, auch wenn eben dieser Friedrich Engels in Stalins Imperium als Kirchenvater der großrussischen Unterdrückungspolitik der Völker Ostund Mitteleuropas herhalten mußte! Die Sicherheitsgarantie durch die anhaltende militärische Präsenz der Vereinigten Staaten ermöglichte den Westeuropäern unter Einschluß der Westdeutschen nicht nur einen beeindrukkenden ökonomischen Wiederaufbau und einen anhaltenden Prozeß der demokratischen Stabilisierung, sondern die alten
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und in der Vergangenheit so hochgefährlichen Mächterivalitäten zwischen den europäischen Staaten wurden in einem transatlantischen Sicherheitssystem, im Nordatlantikpakt (NATO), mit den Sicherheitsinteressen der USA dauerhaft verbunden. Mehr noch, unter dem Druck des gemeinsamen Feindes in der östlichen Hälfte des europäischen Kontinents und durch die konkurrenzlose Übermacht der USA wurden diese alten Rivalitäten nicht nur neutralisiert, sondern in einem gemeinsamen transnationalen Sicherheitsinteresse mit integrierter politischer und militärischer Organisation zusammengeführt. Angesichts der Bedrohung durch die Sowjetunion und unter dem militärischen Schutzschirm der USA sollte so ein grundsätzlicher Prinzipienwechsel in den Beziehungen der westeuropäischen Staaten zueinander stattfinden: An die Stelle von Rivalität und Konfrontation traten Kooperation und Integration. Zugleich bot dieses neue Prinzip der Integration eine bisher nicht gekannte Einbindungsmöglichkeit für das besiegte Deutschland, das, anders als mit dem Versailler Friedensvertrag, jetzt eine transatlantische und europäische Integrationsperspektive erhielt und damit seine Rolle als »loose cannon« des europäischen Staatensystems dauerhaft hinter sich lassen konnte. Der französische Außenminister Robert Schumann schlug 1950 die Bildung einer westeuropäischen Montanunion vor, die dann 1951 als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet wurde. Die Wirtschaftsinteressen — und dabei ganz besonders die Interessen der Schwerindustrie - hatten sich seit der Industrialisierung Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allzuoft als machtpolitisch hochgefährlich erwiesen, da sie die strategische Rivalität zwischen den europäischen Mächten, vor allem zwischen Frankreich und Deutschland, erheblich verstärkten. Die Montanindustrie galt zu Recht als ein ganz wesentlicher Faktor der modernen europäioschen Machtrivalität denn die Produktionsziffern von Kohle und Stahl wie auch die Verfügbarkeit der dazu benötigten Lagerstätten waren strategische Faktoren erster Güte. Diese Konfliktursache galt es gerade deshalb zum Ausgangspunkt für eine nachhaltige Überwindung der Mächterivalität zu nehmen, so die Idee Robert Schumanns
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und seines Staatssekretärs Jean Monnet, wenn man einen der wichtigsten Gründe für die europäische Selbstzerstörung im 20. Jahrhundert dauerhaft hinter sich lassen wollte. Die Vergemeinschaftung der Montanindustrie implizierte demnach nichts Geringeres, als die zentrale strategische Machtfrage zwischen den beiden Erbfeinden Deutschland und Frankreich im Herzen Europas nicht mehr konfrontativ, sondern kooperativ lösen zu wollen. Was sich so überaus pragmatisch anhörte, war in Wirklichkeit eine stille Revolution im europäischen Staatensystem, nämlich der Beginn des Europas der Integration. Und es war zugleich die Antwort auf die Frage, was nach dem Untergang des alten Systems des Westfälischen Friedens und nach einem nicht absehbaren Ende des Kalten Krieges an dessen Stelle treten sollte. Die Montanunion war folglich der Ausgangspunkt für die noch sehr viel weiter gehenden Pläne von Schumann und Monnet zur Durchsetzung der wirtschaftlichen Integration Westeuropas in Gestalt eines gemeinsamen Marktes. Mit den Römischen Verträgen von 1957, die zur Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zwischen Frankreich, Deutschland, Italien und den Beneluxstaaten führten, wurde in der Wirtschaft Westeuropas das Zeitalter der Integration eingeläutet. Dies sollte sich als der Beginn einer tiefgreifenden und heute noch fortdauernden Veränderung des gesamten westeuropäischen und seit 1989 gesamteuropäischen Staatensystems erweisen. War die NATO ein angloamerikanisches Projekt, so handelte es sich bei der Gründung der EWG um ein französisches Projekt, das die keineswegs unbeabsichtigte Nebenwirkung hatte, von französischer Seite der angelsächsischen transatlantischen Perspektive für Westeuropa eine eigene kontinentaleuropäische Perspektive entgegenzusetzen. Frankreich wollte mit der Montanunion und mit der EWG Europa entlang seiner eigenen Interessen politisch gestalten, und das ging, anders als bei der zeitlich früher erfolgten Gründung der NATO, nicht mehr ohne, sondern nur noch gemeinsam mit Deutschland. Und das hieß für die französische Politik nichts Geringeres, als die Überwindung
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der alten und bitteren Erbfeindschaft zwischen Frankreich und (West-)Deutschland anzustreben. Die NATO konnte noch ohne, ja sogar gegen die Bundesrepublik gegründet werden, die Montanunion und die EWG schon nicht mehr. Tatsächlich trat Westdeutschland erst 195 5 der NATO bei, nachdem zuvor die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) an der ablehnenden Haltung des französischen Parlaments gescheitert war. Wenn Frankreich seine durchaus global definierte Rolle nur noch mit und durch Europa spielen konnte und wollte, dann brauchte es dazu den deutschfranzösischen Ausgleich. Zudem hatten sich die historischen Bedingungen überaus günstig entwickelt, denn Westdeutschland war durch die totale Niederlage des Deutschen Reiches und seine Teilung faktisch zum Juniorpartner in dieser Verbindung geworden. Diese neue europäische Politik Frankreichs entsprach damals auch weitgehend den (west-)deutschen Interessen, denn damit verfügte Westdeutschland im Rahmen seiner Westbindung über zwei Optionen - die transatlantische und die europäisch-integrative. Im Windschatten des großen globalen Hegemonialkonflikts zwischen den beiden Weltmächten und abgeschirmt durch die Sicherheitsgarantie der USA vollzog sich seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in dem neu entstehenden (westeuropäischen Staatensystem eine stille und zugleich dramatische Revolution, wie sie sich zuvor in der Geschichte kaum ereignet hatte. Europa, die Geburtsstätte des modernen Staates und der Idee der staatlichen Souveränität, jener Kontinent also, der wegen der Pervertierung dieser Idee zweimal im 20. Jahrhundert die ganze Welt in katastrophale Kriege gestürzt hatte, schickte sich nunmehr an, in seinem westlichen Teil das Zeitalter des souveränen Nationalstaates hinter sich zu lassen. Souveräne Staaten überwanden ihre Rivalität, indem sie begannen, wesentliche Teile ihrer Souveränität zusammenzuführen und in neuen Gemeinschaftsinstitutionen zu integrieren. Sicherheit durch gemeinsamen Souveränitätsverzicht, hieß die neue Formel, und sie funktionierte! Die westeuropäische Staatenwelt löste damit die grundsätzliche Rivalität ihrer Mitglieder dauerhaft auf, indem
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sie fortan die nationalen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen in integrierten Institutionen gemeinsam verfolgte. Der klassische Souveränitätsbegriff wurde damit praktisch in Frage gestellt, und etwas völlig Neues trat an seine Stelle. Der Sicherheitsegoismus der Staaten wurde dadurch nicht nur in Richtung einer Sicherheitszusammenarbeit, hin zu kooperativer Sicherheit fortentwickelt, wie das durch die NATO der Fall war, sondern viel weiter gehender noch zu einer neuen Qualität transformiert, nämlich in eine gemeinsame Sicherheit durch Integration und Souveränitätsverzicht. Sicherheit wurde in der westlichen Hälfte Europas fortan völlig anders definiert, nämlich als Sicherheitsintegration der beteiligten Staaten in einem dynamischen, immer mehr Teile staatlicher Souveränität einschließenden Modell. Für Westeuropa (und seit 1989/90 für fast das gesamte Europa) sollte mit dieser stillen Revolution seines Staatensystems die Epoche eines in seiner Geschichte niemals zuvor gekannten, beispiellosen und dauerhaften Friedens eröffnet werden. Die Bildung von Nationalstaaten, vor allem im Westen des europäischen Kontinents, begann zwar bereits im späten Mittelalter, aber das eigentliche Jahrhundert der Nationalstaatsbildung in Europa sollte, ausgelöst durch die Französische Revolution, das 19. Jahrhundert werden. »Am Anfang war Napoleon«: Mit dieser wohl mit Bedacht dem Buch Genesis der Bibel entlehnten Schöpfungsformel beginnt Thomas Nipperdey sein großes Werk über die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert.113 Und in der Tat sollte sich der große Korse auf dem französischen Kaiserthron sowohl als Erbe wie auch als Exporteur der großen Revolution von 1789 erweisen, als der gesamteuropäische Revolutionär, der durch seine Eroberungskriege überall in Europa den Nationalbewegungen den entscheidenden Anstoß versetzte. Wo die französischen Armeen hinkamen, verbreiteten sie die Ideenund Werte der Französischen Revolution und erzwangen zu-gleich bürgerliche Reformen, an erster Stelledie Militärreform, aber ebenso die Reform des Rechts und die Verabschiedung einer Verfassung. Durch die napoleonischen Kriege wurde fast überall in Europa ein revolutionärer Modernisierungsschub ausgelöst, den auch
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die royalistische Restauration nach 1814 und die Heilige Allianz des Fürsten Metternich gegen die bürgerliche Revolution und die Nationalbewegungen nicht mehr einfangen und unterdrükken konnte. Napoleon war zwar bei nahezu allen Patrioten jenseits der Grenzen Frankreichs verhaßt, und doch bewunderten sie ihn zugleich fast noch mehr, als daß sie ihn haßten. Napoleon und Frankreich wollten es die Nationalbewegungen der meisten europäischen Völker fortan gleichtun, und so wurde das 19. Jahrhundert zum Jahrhundert der europäischen Nationalstaatsbildung und ihrer Ideologie, des Nationalismus. Das Europa der Integration hat gegenwärtig, neben all den Widrigkeiten der unterschiedlichen Interessen seiner alten und neuen Mitgliedsstaaten und den Herausforderungen der internationalen Lage, vor allem mit dem gewaltigen Schwergewicht der Traditionen des Nationalstaates zu kämpfen, wie er sich im wesentlichen seit dem 19. Jahrhundert in ganz Europa durchgesetzt hat. Gerade östlich des Rheins, in Deutschland, in Italien, an Donau und Weichsel und auf dem Balkan begann die Nationalstaatsbildung sehr spät. Und anders als in den älteren westlichen Nationalstaaten des Kontinents spielte von Anfang an eine ethnische Selbstbegründung der sich findenden Nationen und Nationalstaaten eine wesentlich größere Rolle. Vor allem dort, wo die großen Reiche über ein buntes Völkergemisch geherrscht hatten, erwies sich die sogenannte »nationale Frage«, zumal sie sich sehr schnell sprachlich, religiös und ethnisch auflud, als hochbrisant für den Zusammenhalt und den Fortbestand dieser »vormodernen« multinationalen Imperien. Und da die Nationalitäten und Religionsgemeinschaften nicht in klar unterschiedenen Gebieten lebten, sondern überall zahlreiche Minderheiten existierten, die andernorts durchaus die Mehrheit bilden konnten, war im Falle einer Nationalstaatsbildung eine sprachlich-ethnisch-religiöse Grenzziehung ohne furchtbare Tragödien, wie Massaker, Massenterror und Vertreibungen, kaum durchzusetzen. Dies galt (und gilt) vor allem für den Balkan, aber nicht nur. Die hier angesprochene abgründige Nachtseite der europäischen Nationalstaatsbildung findet sich in unterschiedlicher Intensität und Ausformung in der Ge-
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schichte zahlreicher Nationalstaaten fast überall in Europa. Vielleicht gerade deshalb sollte der Balkan - und hier an erster Stelle der Vielvölkerstaat Jugoslawien - bereits unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges für die weitere Entwicklung des neuen, auf Integration beruhenden europäischen Staatensystems eine ganz besondere Bedeutung erhalten."4 Das Ende des Ost-West-Konflikts brachte für weite Teile Europas einen erheblichen Stabilitäts- und Freiheitsgewinn. Am meisten hat wohl das geteilte Deutschland durch diese historische Zäsur an Frieden und Sicherheit gewonnen. Das Gegenteil galt jedoch für die Entwicklung auf dem Balkan. Jugoslawien und hier vor allem die größte und dominante Teilrepublik Serbien - war, gemeinsam mit Weißrußland, das einzige europäische Land, in dem nach 1989/90 die Einparteienherrschaft der Kommunistischen Partei und die von ihr mit Zwang aufrechterhaltene Planwirtschaft nicht durch Demokratisierung und Marktwirtschaft abgelöst wurden, sondern durch einen Rückfall in den Nationalismus und ein autoritäres Regime. Die politischen Eliten aller beteiligten Völker Jugoslawiens setzten nahezu ausnahmslos auf die Karte des Nationalismus und damit auf die Sezession der einzelnen Teilrepubliken. Dies mußte in der Konsequenz auf neue interne Grenzziehungen hinauslaufen. Neue Grenzziehungen konnte man nun friedlich und auf dem Verhandlungswege beschließen oder aber durch Krieg und die damit einhergehende Ermordung oder Vertreibung von Minderheiten durchsetzen (und die gab es in Jugoslawien überall und meist jeweils in mehrfacher Gestalt). Auch die Tschechen und Slowaken wollten nach 1990 nicht mehr zusammen in einem gemeinsamen Staat leben, aber sie lösten ihre nationale Scheidungsfrage völlig anders, nämlich auf »moderne« Weise, dem Europa der Integration entsprechend mittels Verhandlungen. Die Elite Serbiens entschied sich für Gewalt und Krieg, und damit für die Vergangenheit, die seit 1945 untergegangen war, für das Europa der Epoche des Nationalismus. Im Süden Jugoslawiens, in der serbischen Provinz Kosovo und in der Teilrepublik Mazedonien, drohte aber noch ein weitaus gefährlicheres Problem als das hochriskante Unterfangen ei-
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ner gewaltsamen neuen Grenzziehung im Inneren Jugoslawiens. Über neunzig Prozent der Einwohner des Kosovos waren und sind Albaner, deren nationale Ambitionen in einem auseinanderbrechenden Jugoslawien über die Grenzen Jugoslawiens hinaus zu greifen drohten. Sollte diese albanische Minderheit im Süden Jugoslawiens eines Tages ihre Zukunft nicht mehr innerhalb der Grenzen des Landes sehen, sondern den Zusammenschluß mit Albanien und den Teilen Mazedoniens mit albanischer Mehrheit zu einem »Großalbanien« suchen, so würde die sogenannte »albanische Frage« potentiell nicht nur den internen Zusammenhalt Jugoslawiens in Frage stellen, wie es auch andere »interne« jugoslawische Nationalismen taten - Serben, Slowenen, Kroaten, Mazedonier und muslimische Bosnier —, sondern der albanische Nationalismus drohte damit die internationalen Grenzen in dieser Region insgesamt in Frage zu stellen. Die von der albanischen Frage ausgehende Gefahr war also von einer anderen Qualität für die Stabilität der gesamten Region des westlichen Balkans als die anderen internen nationalen Fragen und barg deshalb von Anfang an die Gefahr der Internationalisierung in sich. Albanien, Bulgarien, die Türkei und Griechenland würden sich aus einem solchen Konflikt nicht heraushalten können. Wegen ihrer vitalen Interessen, aber auch wegen starker, historisch tief wurzelnder Emotionen in allen beteiligten Staaten hätten sie einer möglichen Änderung der internationalen Grenzen im Süden Jugoslawiens nicht tatenlos zugesehen. Zudem sei nicht vergessen, daß es sich bei der Türkei um einen Mitgliedsstaat der NATO handelte und Griechenland sowohl Mitglied der EU als auch der NATO war. Damit wäre der Konflikt regional nicht mehr begrenzbar gewesen, ganz zu schweigen von anderen internationalen Weiterungen und den Risiken für Frieden und Stabilität in ganz Südosteuropa, sollte es zu einem großen internationalen Konflikt zwischen den dortigen Staaten um eine neue Grenzziehung kommen. Der Balkan hätte sich dann achtzig Jahre später erneut in der Konfrontationslage der beiden Balkankriege von 1912/13115 wiedergefunden, und es hätte ein dritter großer Balkankrieg gedroht.116 Titos kommunistisches Jugoslawien hatte die Nationalitäten-
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konflikte nicht gelöst, sondern lediglich mit Gewalt unterdrückt. »So entstand ein autoritäres System, das auf einer föderalen Ordnung basierte. Ein Widerspruch in sich. Jugoslawien hielt so lange zusammen, solange der Staatsgründer Tito als starke Symbolfigur lebte und der Einfluß von außen stark genug war.«"7 Der Nationalismus spielte in allen Teilrepubliken des damaligen Jugoslawien nach Titos Tod in den achtziger Jahren eine immer stärker werdende politische Rolle. Aber die große Krise sollte von der größten und bevölkerungsreichsten Teilrepublik des damaligen Jugoslawien ausgelöst werden, von Serbien und dessen Staatschef Slobodan Milosevic, der den Tiger des großserbischen Nationalismus118 aus Gründen der persönlichen Machtsicherung entfesselte. Milosevic war keineswegs ein großserbischer Nationalist, sondern vielmehr ein kommunistischer Apparatschik, der allerdings in den aufbrechenden Nationalismen im Jugoslawien der späten achtziger Jahre die Chance erkannte, seinen ganz persönlichen Machtanspruch durchzusetzen, indem er auf die großserbische Karte setzte. Ganz offensichtlich war er von der Zukunft des gemeinsamen Bundesstaates Jugoslawien nicht mehr überzeugt und zog daraus die Konsequenz, daß alle Serben in einem Staat leben und damit deren Siedlungsgebiete mit Serbien zusammengeführt werden sollten. Dies hieß aber, die Grenzen Serbiens neu zu ziehen. Die mehrheitlich von Serben besiedelten Gebiete in Kroatien und Bosnien mit einigen zusätzlichen Arrondierungen sollten gewaltsam Serbien zugeschlagen werden. Von Beginn an spielte dabei der Kosovo im Süden Serbiens eine ganz besondere Rolle. Die serbische Kirche und die serbische Nation sahen dort ihre historische Wiege, auch wenn in der Neuzeit die Albaner im Kosovo die übergroße Mehrheit der Bevölkerung stellten. Unter Tito hatte die serbische Provinz Kosowo weitgehende Autonomierechte im Verfassungsrahmen der serbischen Teilrepublik erhalten, die dann von Serbien nach einer gewaltsamen Konfrontation zwischen serbischen Nationalisten und den autonomen, albanisch dominierten Behörden in der Provinz aufgehoben wurden. Mit seiner mittlerweile berühmt-berüchtigten und gleichwohl historischen Rede anläß-
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lieh eines Besuches im Kosovo im April 1987 (damals noch als stellvertretender Parteivorsitzender des serbischen Bundes der Kommunisten)"9 verbündete sich Slobodan Milosevic definitiv mit dem großserbischen Nationalismus. Die Autonomie der Provinz wurde aufgehoben, eine Art serbisches Apartheid-Regime im Kosovo mit eiserner Faust durchgesetzt und die albanische Mehrheit über ein Jahrzehnt hinweg kulturell und politisch brutal unterdrückt. Der Krieg um den Kosovo hatte damit faktisch begonnen, einschließlich der damit zusammenhängenden Internationalisierung der kommenden jugoslawischen Erbfolgekriege.120 Der Rückfall Jugoslawiens in brutale, sich bis auf das Messer bekämpfende Nationalismen mit Sezessionskriegen, Vertreibungen und in Europa nicht mehr für möglich gehaltenen Grausamkeiten war nun keineswegs allein eine moralische und humanitäre Herausforderung für Europa und den Westen insgesamt, sondern sollte auch höchst realpolitische Gefahren für die europäische Ordnung nach sich ziehen. Allerdings zeigte die Reaktion der wichtigsten westeuropäischen Staaten auf den Ausbruch der jugoslawischen Erbfolgekriege, wie stark diese noch in dem überkommenen Denken der scheinbar untergegangenen alten Machtpolitik und ihren tradierten Frontstellungen gefangen waren, entlang der Logik des alteuropäischen Gleichgewichts der Mächte. Man konnte im Jahr 1991 sehr leicht zu der Auffassung gelangen, daß nicht das Europa der Integration mit seiner über dreißigjährigen Erfolgsgeschichte, mit gemeinsamen Interessen und einer zunehmend integrierten Politik in Jugoslawien agierte, sondern vielmehr die Bündnisse und Rivalitäten der Mächte des untergegangenen alten Staatensystems Europas. Bonn/Berlin und Wien standen auf der Seite Kroatiens, Paris und London auf der Seite Belgrads, und damit schienen die seit langem untergegangenen Konstellationen der europäischen Politik aus der Zeit vor 1914 wiederauferstanden zu sein. Diese historische Regression in der Haltung der wichtigsten europäischen Mächte gegenüber den explodierenden jugoslawischen Nationalismen sollte fatale Folgen haben, da sie eine konsistente westliche oder europäische Jugoslawienpolitik lange
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Zeit verhinderte. Eine weitsichtige und kluge westliche Politik hätte entweder ein Zusammenleben in Jugoslawien zu neuen Bedingungen, einer neuen Verfassung und mit internationalen Garantien oder eine geregelte »Scheidung« unter internationaler Aufsicht und unter Verzicht auf Gewalt anstreben müssen. Und für beide Optionen hätte - unter der Androhung militärischen Eingreifens! - zugleich der Weg nach Brüssel für Jugoslawien oder, im Scheidungsfalle, seine Nachfolgestaaten mit klaren Verpflichtungen und Zusagen eröffnet werden müssen. Statt dessen blieb die Politik des Westens - und hier vor allem der Europäer - in historischen Widersprüchen verfangen und deshalb unklar, halbherzig und bisweilen sogar den Konflikt verschärfend. Diese unentschiedene und schwankende Politik sollte furchtbare Konsequenzen für Millionen von Menschen in Jugoslawien haben, vor allem aber in Bosnien, und sollte zugleich zur Rückkehr des Krieges nach Europa führen. Sowohl die Anerkennungspolitik gegenüber Kroatien und Bosnien, die vor allem von Deutschland121 und Österreich vorangetrieben wurde, als auch das Festhalten an der Einheit Jugoslawiens, wie es vor allem die Politik von Paris und London bestimmte, führten in eine politische Sackgasse, die in Bosnien über eine Million Menschen ihren Besitz, ihre Heimat und über 200 000 Menschen ihr Leben kosten sollte. Nicht zu reden von den Massenvergewaltigungen und den barbarischen Greueln an unschuldigen Menschen. Schon nach der Zerstörung der kroatischen Stadt Vukovar in Ostslawonien durch die Serben, spätestens aber nach der Beschießung von Dubrovnik durch die Miliz der bosnischen Serben war klar, daß Milosevic und seine jeweiligen Statthalter in der Krajina, in Ostslawonien und in BosnienHerzegowina finster entschlossen waren, die Ziele des großserbischen Nationalismus mit brutalster Gewalt, mit Krieg und Vertreibung durchzusetzen. Spätestens jetzt hätte der Westen eine entschlossene, militärisch gestützte, robuste Interventionspolitik betreiben müssen,122 wie er es Jahre später in Bosnien, nach dem Massenmord von Srebrenica, dann schließlich doch getan hat. Damals, nach der Zerstörung von Vukovar, wären allerdings die Risiken und vor allem die Zahl der unschuldigen
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Opfer noch erheblich geringer gewesen, da sich der Krieg erst in seiner Anfangsphase befand. Es war absehbar, daß wenn Milosevics großserbische Kriege sich als erfolgreich erweisen würden, dies nicht nur in Europa zu nicht mehr für möglich gehaltenen politischen Verbrechen bis hin zu einem erneuten Völkermordversuch führen, sondern daß darüber hinaus die Zukunftsperspektive der gesamten Region durch einen kriegerischen Nationalismus definiert werden würde. Die großserbische Kriegspolitik Milosevics forderte die fundamentalsten Prinzipien der neuen europäischen Staatenordnung, wie sie nach 1945 entstanden war, brutal heraus und stellte ihr die Machtfrage: Wer würde die Zukunft des Balkans definieren - der Nationalismus oder das Europa der Integration? Exakt um diese Frage ging es bei den jugoslawischen Erbfolgekriegen. Die Frage konnte, wie die Ereignisse zeigten, leider nur durch zwei Interventionskriege beantwortet werden. De facto war die Politik Milosevics also eine Kriegserklärung an das Europa der Integration gewesen, an NATO und EU. Dieses neue Europa hatte sich genau gegen diesen kriegerischen Nationalismus gebildet, der in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts den ganzen Kontinent zerstört hatte. Der Westen (einschließlich des westlichen Pazifismus)123 schien aber lange Zeit diese Kriegserklärung nicht zu begreifen oder einfach nicht wahrnehmen zu wollen. Europa versuchte statt dessen den Weg der Überzeugung zu gehen, der diplomatischen Verhandlungen, der politischen Lösungen, der niemals eingehaltenen Waffenstillstandsvereinbarungen und des Einsatzes leichtbewaffneter UN-Blauhelmsoldaten, die weder über ein robustes Mandat noch über schwere Waffen verfügten und deshalb kaum etwas auszurichten vermochten. Im Gegenteil, der Höhepunkt dieser falschen, das Faktum und die Konsequenzen der nationalistischen Kriege in Jugoslawien nicht wahrhaben wollenden Appeasementpolitik war erreicht, als die von der Politik allein gelassenen UN-Soldaten von Angehörigen der bosnisch-serbischen Armee zu Geiseln genommen wurden. Erst der Massenmord an mehreren Tausend Männern nach der Einnahme der UN-Schutzzone Srebrenica,
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allesamt bosnische Muslime vom Knaben bis zum Greis, durch die bosnisch-serbische Soldateska von Mladic124 führte zu einem Umdenken des Westens, zur robusten militärischen Intervention und schließlich zum Vertrag von Dayton, der den Krieg in Bosnien beenden und zugleich die Spur in den Kosovo legen sollte. In Bosnien und in Kroatien wurden die Kriege von regionalen serbischen Stellvertretern geführt. Deshalb konnte sich Milosevic bei den Verhandlungen in Dayton noch als Partner des Westens, als Garant der »vernünftigen« serbischen Interessen darstellen, der radikalere Kräfte zur Vernunft und zu einer vertraglichen Vereinbarung zu bringen vermochte. Dabei war Belgrad von Beginn an nicht nur die politisch treibende, sondern auch die militärisch operativ organisierende und deshalb verantwortliche Kraft für die großserbischen Kriege gewesen. Weitsichtigeren Beobachtern war bereits unmittelbar nach dem Abschluß des Vertrages von Dayton, der den Krieg in Bosnien dauerhaft beenden sollte, klar, daß sich nun der Kriegsschauplatz sehr schnell in den Kosovo verlagern würde, denn das Schicksal der albanischen Mehrheit im Kosovo war in Dayton ausgeklammert worden. Die bis dahin auf Gewaltfreiheit setzende Politik der albanischen Mehrheit in der Provinz sollte sich nun sehr schnell ändern, denn Dayton vermittelte eine klare Botschaft: Erstens hatte das alte Jugoslawien aufgehört zu existieren, und zweitens waren die eigenen nationalen Ambitionen nicht mit gewaltfreien Mitteln zu erreichen, sondern nur durch den Einsatz von Gewalt. Im Kosovo ging es dann nicht mehr um einen serbischen Stellvertreterkrieg im auseinanderbrechenden Bundesstaat Jugoslawien, die Provinz war vielmehr ein international und völkerrechtlich anerkannter Bestandteil Serbiens. Hier handelte die jugoslawisch-serbische Führung in sichtbarer und unmittelbarer Veraiuworiung selbst durch den Einsatz der Armee, der Sonderpolizei, des Geheimdienstes und paramilitärischer Gruppen. Die Methoden unterschieden sich allerdings nicht von denen, die in Kroatien oder Bosnien zur Anwendung gekommen waren: Durch den Einsatz barbarischen Terrors sollte die nichtserbische Bevölkerung zur Flucht veranlaßt, ihr Besitz übernommen und
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ihre kulturell-religiösen Institutionen und Symbole geschleift werden. Damit sollte die demographische Realität dauerhaft verändert werden. Dieselbe Strategie wurde nun von Milosevic im Kosovo gegenüber der albanischen Bevölkerungsmehrheit verfolgt, nachdem diese zu den Waffen gegriffen hatte, um die serbische Unterdrückung abzuschütteln und sich von Serbien zu lösen. All die zahllosen Verhandlungen von Vertretern der USA und der europäischen Staaten, von NATO und EU mit Belgrad scheiterten letztendlich an der Tatsache, daß Milosevic keine politische Lösung wollte, da die Unterbrechung des Zyklus von Krise und Krieg seine Macht und die seiner Kamarilla in Serbien unmittelbar zu gefährden drohte. Denn nach einem wirklichen Friedensschluß wären die katastrophalen Konsequenzen und Kosten von Milosevics nationalistischer Gewaltpolitik für Serbien sofort sichtbar geworden, und einen solchen Offenbarungseid hätte er politisch nicht allzulange überlebt. Er setzte statt dessen im Kosovo auf die anhaltende Unterdrückung der albanischen Mehrheit mit brutalen Methoden. Sollten die Kosovaren beginnen, sich militärisch zu erheben, so war er zu ihrer Vertreibung bereit. Man muß sich die Konsequenzen dieser Politik vor Augen führen: Zehntausende von Toten, furchtbare Exzesse und Hunderttausende von Flüchtlingen, die zudem die Nachbarstaaten belasten und Mazedonien mit seiner fragilen ethnischen Balance mit hoher Wahrscheinlichkeit destabilisieren würden. Die Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo nach Albanien und Mazedonien würde zudem zu einem hochgefährlichen Potential von jungen Flüchtlingen in den dortigen Lagern führen, die ein lohnendes Ziel für alle Arten des Radikalismus, vor allem des islamistischen, und der organisierten Kriminalität gebildet hätten. Gerade im Lichte des u. September, der Erfahrungen von Afghanistan, Kaschmir, Tschetschenien und des Terrorismus der Al-Qaida wird rückblickend klar, welche Gefahr für Europa in diesen Flüchtlingslagern mit den jungen albanischen Muslimen herangewachsen wäre. Mit der erfolgreichen Intervention der NATO im Kosovo wurde so zugleich die Ankoppelung Süd-
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Osteuropas an den arabisch-islamischen Krisengürtel unterbunden, was zumindest seit dem Herbst 2001 für Europa von überragender Bedeutung war. Es ging bei den militärischen Interventionen des Westens auf dem Balkan vorrangig um humanitäre Anliegen, um die Unterbindung weiterer Massaker und furchtbarer Grausamkeiten, um die Verhinderung von Flüchtlingsströmen durch Bekämpfung der Fluchtursachen. Gewiß spielte auch die direkte visuelle Teilnahme von -zig Millionen westlichen Fernsehzuschauern Abend für Abend an diesen Kriegen - der sogenannte »CNN-Effekt« eine nicht zu unterschätzende politische Rolle. Mit Sicherheit ging es aber niemals um eine neue Doktrin der humanitären Intervention, denn dazu wurde viel zu lange auf eine fatale Appeasementpolitik gegenüber Milosevic gesetzt. Vielmehr war während der zehn Jahre dauernden jugoslawischen Erbfolgekriege die grundsätzliche politische Frage aufgeworfen worden, ob Europa am Ende des 20. Jahrhunderts das Risiko und die Konsequenzen einer blutigen nationalistischen Staatenbildung und einer gewaltsamen Grenzziehung eingehen und daher diesen Kriegen im ehemaligen Jugoslawien tatenlos zusehen konnte. Diese Frage war und ist eindeutig mit Nein zu beantworten. Kriege lösen keine Probleme, wenn sie nicht von der Kraft zu einer neuen Friedensordnung bestimmt werden, die meist weitaus mehr an Zeit und Engagement verlangt als der Krieg selbst. Die Interventionen des Westens in die jugoslawischen Erbfolgekriege beendeten diese dauerhaft, allerdings um den Preis der westlichen Verantwortung für die langfristige Neuordnung und damit auch der langfristigen Sicherheitspräsenz des Westens in der gesamten Region. Man mag den Kosovo und Bosnien durchaus als europäisch-westliche Protektorate bezeichnen, aber es besteht eine wesentliche Differenz zu früheren Protektoraten. Weder Brüssel (EU/NATO) noch New York (UN) verfolgen in diesen Protektoraten eigene Territorial- und Machtinteressen, sondern sind einer Stabilisierungspolitik verpflichtet, die diese Protektorate in die bestehende europäische Friedensordnung integrieren und damit in das Europa der Integration überführen will.
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Nur mit einer langfristigen militärischen und zivilen Präsenz des Westens war es im Jahr 2001 möglich, einen weiteren verheerenden Krieg in einer der Nachfolgerepubliken Jugoslawiens präventiv zu verhindern, nämlich in Mazedonien, und statt dessen eine politische Lösung zu erzwingen. Exakt diese Politik hätte man bereits zehn Jahre zuvor, in den Jahren 1991/92, verfolgen müssen. Freilich war dieser präventive Erfolg nur möglich, weil der militärischen Intervention des Westens drei Elemente für eine neue regionale Ordnung zugrunde lagen: eine strategische Alternative, die militärische Entschlossenheit und die Bereitschaft zu einem langfristigen Engagement. Die strategische Alternative bestand in der Perspektive für die gesamte Balkanregion hin zum Europa der Integration, zu EU und NATO. Mit Slowenien ist die erste ehemalige Teilrepublik Jugoslawiens Mitglied in EU und NATO geworden, und später werden weitere folgen. Die militärische Entschlossenheit des Westens wird durch die anhaltende Truppenpräsenz unter Beweis gestellt, die für die Sicherheit und Stabilität der gesamten Region unverzichtbar ist, und das umfassende politische, administrative, ökonomische und zivile Engagement der westlichen und vor allem der EU-Mitgliedsstaaten ermöglichte bereits erhebliche Aufbauerfolge und Stabilisierungsfortschritte, trotz all der Fehler, Unzulänglichkeiten und Rückschläge, die ebenfalls zu verzeichnen sind. Der Balkan des Jahres 2004 unterscheidet sich doch in wesentlichen Punkten positiv von den Verhältnissen in derselben Region während des zurückliegenden Jahrzehnts. Heute geht es um die ökonomische, soziale und politische Modernisierung, um zur EU aufzuschließen, nicht mehr um gewaltsame Staatenbildung, Grenzziehung und Nationalitätenkriege. Das organisierte Verbrechen ist heute ein ernstzunehmenderes Risiko als die Rückkehr eines gewaltbereiten Nationalismus, ungeachtet aller noch offenen und schwierig zu lösenden Statusfragen im Kosovo und der ungelösten Probleme in Bosnien. Auch Mazedonien ruht, trotz aller beeindruckenden Fortschritte, nach wie vor auf einer ethnisch fragilen Balance. In den neunziger Jahren aktualisierte sich auf dem Balkan im kleineren Maßstab eine ähnliche politisch-strategische Heraus-
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forderung, wie sie die Westmächte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Westeuropa insgesamt zu meistern hatten: Es galt, nach der militärisch erzwungenen Niederlage eines menschenverachtenden Nationalismus und auf der Grundlage einer stabilen Sicherheitsgarantie den langfristigen Wiederaufbau der zerstörten und beschädigten Gesellschaften und Volkswirtschaften zu ermöglichen und damit eine Ordnung zu schaffen, die auf Freiheit, Gewaltverzicht, Toleranz, Demokratie, Herrschaft des Rechts und sozialer Marktwirtschaft gründete. Einfacher und billiger war und ist ein dauerhafter Friede in Europa für freie und demokratische Gesellschaften nicht zu haben, dies ist die gleichlautende Lektion des Krieges gegen die Hitlerbarbarei, des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion und der jugoslawischen Erbfolgekriege. Soll der Frieden unter Demokratien und ihren offenen Gesellschaften von Dauer sein, so setzt dies eine belastbare Ordnung der Freiheit voraus, die auf der Zustimmung aller Beteiligten gründet, ihre Interessen zum gegenseitigen Vorteil ausgleicht und sich gegen Angriffe auf diese Friedensordnung zu verteidigen weiß. Am Ende stößt uns die Dialektik der Geschichte nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Schock des 11. September erneut auf die Tatsache, daß die strategische Antwort auf die totalitären und nationalistischen Herausforderungen in Europa im 21. Jahrhundert auch global gilt. Der islamistische Terrorismus ist zuerst und vor allem keine militärische, sondern eine politische, eine gesellschaftliche und eine kulturell-moralische Bedrohung. Dieser global agierende Terrorismus zielt zuerst und vor allem auf die offene, auf die tolerante und freie Gesellschaftsform der westlichen Demokratie. Er will, wie jeder Terrorismus, Angst und Schrecken auslösen und damit überlegene und zugleich blinde Gewalt als Antwort provozieren, um so über eine Ketie von einzelnen taktischen Niederlagen seine strategischen Ziele in einem terroristischen Abnutzungskrieg dank größerer Brutalität und menschenverachtender Skrupellosigkeit zu erreichen. Der Kampf gegen diesen Terrorismus, wie gegen jegliche Form von Totalitarismus, wird deshalb nicht nur durch die militärische Überlegenheit, sondern vor allem durch die stärkere
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Moral, durch die überzeugenderen Werte und die bessere gesellschaftliche Alternative entschieden werden. Auch deshalb ist in diesem Kampf die unerschütterliche Selbstbindung des Westens an die eigenen Grundwerte die erste Voraussetzung eines erfolgreichen Widerstandes gegen den islamistischen Terrorismus. Das zweite Element ist eine internationale Ordnung, die auf gemeinsamen Werten, auf Zustimmung, auf Kooperation und Mitgestaltung gründet. Keine Ordnung des Zwangs oder gar eines globalen Imperiums, sondern eine Ordnung, die möglichst vielen Staaten und deren Bürgern eine politische, ökonomische, soziale und kulturelle Teilhabe an der Gestaltung der globalisierten Welt ermöglicht. Und das dritte Element besteht aus der politischen Entschlossenheit und militärischen Stärke, diese neue totalitäre Gefahr des islamistischen Terrorismus niederzukämpfen, seine Netzwerke und seine Ideologie dauerhaft zu zerstören. In der Verbindung aller drei Elemente zu einer strategischen Antwort wird auch diesmal das Geheimnis des Erfolges der westlichen Demokratien liegen, so wie dies schon gegen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erfolgreich war. Wer aber angesichts der neuen totalitären Herausforderung durch den islamistischen Terrorismus einen Strategiewechsel fordert, der eigentlich nur ein historischer Rückgriff auf die klassische europäische Machtpolitik und ihr System unter den globalisierten Bedingungen des 21. Jahrhunderts ist, der schickt sich an, diese Erfahrungen zu vergessen. Ob sich dies als klug und weitsichtig erweisen und am Ende gar dauerhaften Erfolg versprechen wird, daran darf zu Recht gezweifelt werden.
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IV. Hobbes versus Kant »The Irony of American History«125 »Amerika ist somit das Land der Zukunft, in welchem sich in vor uns liegenden Zeiten, [...] die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll; es ist ein Land der Sehnsucht für alle die, welche die historische Rüstkammer des alten Europa tangweilt. Napoleon soll gesagt haben: Cette vieille Europe m'ennuie.« G.W. F. HEGEL126
Der 11. September 2001 hat die Frage der neuen Ordnung der Welt ganz oben auf die Tagesordnung der internationalen Politik im 21. Jahrhundert gesetzt. Auch unter den Bedingungen der Globalisierung heißt dies nichts anderes, als erneut die alten Fragen von Krieg und Frieden, von regionaler und globaler Sicherheit, von Stabilität und Konflikt aufzuwerfen. Eine ernsthafte und zugleich praktisch wirksame Beantwortung dieser Fragen, die man für nahezu eineinhalb Jahrzehnte vertagt hat, ist nicht mehr länger aufschiebbar, es sei denn, die führenden internationalen Mächte wären bereit, weiterhin ein kaum zu verantwortendes Sicherheitsrisiko für ihre Bürger und für ihre demokratischen Gesellschaften hinzunehmen. Freilich geht es bei der Beantwortung dieser zentralen Frage nach der zukünftigen Gestalt des internationalen Staatensystems keineswegs um eine Kleinigkeit, die Antwort auf die Frage nach der kommenden politischen Ordnung der Welt ist hochkomplex. Wir reden hier über eine histori6uic I Iciausforderung, die selbst im besten alier Fälle nicht ohne schwere Konflikte und Krisen zu bestehen sein wird. Die Frage nach der entstehenden neuen Ordnung umfaßt sowohl die unterschiedlichsten politischen Mächte und Akteure als auch die großen regionalen und globalen Entwicklungstrends im Staatensystem und in der Weltwirtschaft und zudem sehr un-
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terschiedliche historische Zeitachsen, die oft Jahrhunderte auseinanderliegen. Darüber hinaus rechnet sich die Zeitdauer, die die Antwort auf die Frage nach der neuen Ordnung in der politischen Wirklichkeit erfordern wird, eher in Jahrzehnten als in Jahren, auch deshalb wird die Lösung dieser Aufgabe einer großen strategischen Weitsicht und politischer Durchhaltefähigkeit bedürfen. Womit also beginnen bei einer solch schwierigen, komplexen und weitreichenden Frage wie der nach einer neuen Weltordnung? Es empfiehlt sich, von der Spitze des Staatensystems auszugehen, weil wir es vor allem mit der Macht und ihrer Umsetzung in eine internationale politische Ordnung zu tun haben werden. Und damit ist die Frage nach der zukünftigen Ordnung der Welt zuerst und vor allem die Frage nach der Rolle der einzigen Weltmacht im internationalen System der Gegenwart, nämlich der Vereinigten Staaten von Amerika. Gewiß ist die Frage nach der Rolle der einzigen Weltmacht nicht die alleinige und ausschließliche Frage, aus deren Beantwortung sich die Ordnung des Staatensystems im 21. Jahrhundert herleiten läßt. Sie ist aber gewiß eine der ganz entscheidenden Fragen, denn die Macht der USA ist von einer in der bisherigen Geschichte der Menschheit ungekannten Größenordnung. Von großer Bedeutung wird dabei vor allem sein, wie die alleinige Supermacht ihre zukünftige Rolle im internationalen Staatensystem selbst definieren wird gegenüber den ganz unterschiedlichen Konflikten und Bedrohungen, Machtansprüchen, Interessen, Allianzen, ideologischen und politischen Feindschaften, Institutionen und Verträgen, die das Staatensystem beeinflussen und zugleich formen. Die grundsätzliche Alternative steht dabei klar vor aller Augen: Werden sich die USA multilateral definieren, und das heißt: werden sie sich selbst zwar als die alleinige globale Macht im gegenwärtigen internationalen politischen System begreifen, zugleich aber als Teil dieses Systems und seiner Regeln? Der Ordnung dieses Systems unterworfen, wie alle anderen Staaten auch, und damit, trotz ihrer herausragenden Einzelstellung und Führungsrolle, in dieses System und dessen Regelwerk eingebunden und somit von diesem System auch abhängig? Werden die USA
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also in die Ordnung dieses Systems investieren und sich zugleich als dessen integraler Bestandteil begreifen? Oder werden sich die Vereinigten Staaten unilateral definieren, das heißt als außerhalb des Regelwerks des internationalen Systems stehend? Sehen sich die USA aufgrund ihrer strategischen Stärke, ihrer Werte und ihrer »historischen Berufung« als eine andere, als die wahrhaft »Neue Welt«, als die älteste Demokratie der Neuzeit und damit als die verläßlichste Bastion der Freiheit, die nach ihren eigenen inneren Regeln lebt und entlang dieser innenpolitischen Interessen und Entscheidungen auch ihre Außenpolitik ausschließlich gestaltet? Als eine Macht also, die nicht wirklich im internationalen Staatensystem lebt und als dessen Teil agiert, sondern sich als außen- oder zumindest daneben stehend begreift und je nach ihrem jeweiligen machtpragmatischen Nutzen und Vorteil davon Gebrauch macht? Wird es demnach de facto zu einer erneuten Zweiteilung der Welt kommen? Hier die Alte Welt des UN-Systems, hinter dessen Festhalten an der Unantastbarkeit des Grundsatzes der staatlichen Souveränität sich in weiten Teilen aus amerikanischer Perspektive nichts anderes als Diktatur, Unterdrückung, Haß, Krieg, Terrorismus, Appeasemcnt und himmelschreiende Unfähigkeit, Unterdrückung und Korruption verbergen? Und dort jene Neue Welt, in welcher seit mehr als zweihundert Jahren alle Einzelstaaten ihre Souveränität an die Union abgetreten haben und sich politisch, wirtschaftlich und kulturell zu den Vereinigten Staaten von Amerika vereint haben. Jene Nation von Einwanderern aus allen anderen Nationen und Völkern der Erde, jene souveräne Vereinigung von 50 Staaten auf dem nordamerikanischen Kontinent, die alle nur einem politischen Willen gehorchen, formuliert von einem frei gewählten Präsidenten und einem frei gewählten Kongreß, gründend allein auf ihrer Unabhängigkeitserklärung und ihrer Verfassung, auf Gruindsätzen und Prinzipien und nicht auf Tradition und Geschichte? Folgt diese Neue Welt nicht seit ihren frühesten Tagen diesen Grundsätzen von Freiheit und Recht, von Demokratie, Privateigentum und dem Streben nach Glück, und gründet nicht genau darauf ihr atemberaubender Aufstieg und ihre einmalige Macht?
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Darf sich daher diese Neue Welt von den Regeln und Gesetzen der Alten Welt überhaupt abhängig machen oder sich diesen gar unterwerfen? Könnte sie dadurch nicht ihre Handlungsfreiheit und vielleicht sogar auch ihre Freiheit als solche gefährden und schließlich ganz verlieren? Und würde damit am Ende gar die in der Geschichte immer wieder erfolgreich unter Beweis gestellte Rolle der USA als globale Bastion von Demokratie und Freiheit gefährdet werden? Sind daher nicht die meisten dieser internationalen Verträge, Kontrollen, Selbstbeschränkungen der eigenen Macht der USA und sogar weite Teile des Völkerrechts und des UN-Systems, jenes gesamte multilaterale Regelwerk also, letztlich nichts anderes als zahllose Fäden, mit denen die Zwerge des alten verrotteten Systems der internationalen Politik versuchen, jenen Gulliver der Weltgeschichte namens USA zu fesseln und niederzuhalten? Und hat nicht auch und gerade dies der 11. September bewiesen? Die hier dargelegten Alternativen mögen überspitzt sein und reichlich übertrieben klingen. Dennoch sind die politischen Reden, die Leitartikel und Kommentare, die Strategieseminare und Publikationen diesseits und jenseits des Atlantiks voll von solchen in aller Ernsthaftigkeit angestellten Überlegungen. Gewiß gab es all diese Gedanken bereits vor dem September 2001, aber damals wurden solche Analysen lediglich an den neokonservativen und fundamentalistischen Rändern des pragmatisch konservativen Mainstreams der USA angestellt, mit geringer Wirkung auf die offizielle Politik des Landes. In der Zeit nach dem 11. September 2001 hat sich die Lage völlig verändert, denn die intellektuellen Ränder wurden zum Mainstream. Die USA waren in ihren eigenen Zentren durch den neuen Terrorismus angegriffen worden, und damit wurde nicht nur die strategische Reflexion und Selbstreflexion der politischen Elite des Landes völlig umgestürzt, sondern wichtiger noch, dies gilt ebenfalls für die politisch-kulturelle Gefühlslage der amerikanischen Nation. Denn zum Gründungsmythos der Vereinigten Staaten gehört auch der religiös-utopische Begriff des »promised land«. Der Begriff reflektiert jene fast traumhafte Erfahrung von -zig Millionen Einwanderern aus der Alten Welt, die mit dem Betreten
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amerikanischen Bodens alle Unterdrückung und Kriege, all das Elend und den Hunger aus ihren Herkunftsländern für immer hinter sich gelassen hatten.127 Zudem waren für Generationen politisch Verfolgter und Flüchtlinge die USA das Gelobte Land, das Schutz, Freiheit, Frieden und Wohlstand verhieß. Diese utopische Erfahrung symbolisiert sich in der Freiheitsstatue im Hafen von New York. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein galt diese »amerikanische Erfahrung« fort, nämlich daß der riesige, immer noch dünn besiedelte nordamerikanische Kontinent, behütet von zwei Ozeanen und der Arktis, jenseits der Händel der übrigen Welt lag. Die Kriege der USA waren, von den Grenzkriegen im 19. Jahrhundert abgesehen, seit dem Ende des Bürgerkrieges 1865 alle jenseits der eigenen Landesgrenzen und meist jenseits der beiden großen Ozeane geführt worden. Für die Vereinigten Staaten ist es daher eine außergewöhnliche, das subjektive Sicherheitsgefühl der gesamten Nation bis in die Tiefenschichten des kollektiven Gedächtnisses hinein erschütternde Erfahrung, daß eine neue Form des Krieges, der asymmetrische Krieg des Terrorismus, nunmehr die beiden großen Ozeane überwinden kann und nicht mehr vor ihren Grenzen haltmacht, sondern ganz im Gegenteil die Zentren des Landes und seine Bürger zu bevorzugten Zielen erklärt hat. Die alleinige globale Supermacht, die es militärisch mit jedem anderen Staat, ja selbst mit jeder denkbaren feindlichen Koalition von Staaten angesichts ihres nahezu unerschöpflichen strategischen Potentials und ihrer technologischen Überlegenheit leicht aufnehmen könnte, diese mächtigste Nation der Gegenwart und Geschichte wird auf ihrem eigenen Territorium von Terroristen mit einfachsten und zugleich massenmörderischen Mitteln attackiert! Aus dem »promised land« jenseits der Händel und des Haders der Welt war damit ein Schlachtfeld geworden, wie dies in vielen anderen Ländern rund um den Erdball auch zuvor bereits der Fall gewesen war, und diese Tatsache löste einen emotional-strategischen Schock aus, der die Sicht des Landes (und d.h. der Mehrheit seiner Eliten und seiner Bevölkerung) auf die Bedrohungen und Krisen der Welt grundsätzlich verändert hat. Die Supermacht unter Feuer mußte sich gegenüber dieser
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neuen und zugleich höchst realen Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit aus dem Halbdunkel der terroristischen Kleinkriege heraus zur Wehr setzen, und zwar offensiv und nicht nur defensiv.128 Offensiv hieß aber angreifen. Wen angreifen? Wo angreifen? Wer war der Feind, und gegen wen mußte sich dieser Angriff richten? Wo würden die Schlachtfelder dieses Krieges liegen? Worin bestanden die Kriegsziele? Mit welcher Strategie und Taktik, mit welchen Waffen würde dieser Krieg auszufechten sein? Und welche räumlichen und zeitlichen Dimensionen würde dieser »Krieg gegen den Terror« wohl eröffnen?129 Klar war zumindest sehr schnell eines, nämlich daß in Zukunft keine Regierung der USA auch nur die abstrakte Gefahr noch würde hinnehmen können, daß etwa noch einmal Flugzeuge zum Zweck des terroristischen Massenmordes in die Hochhäuser amerikanischer Metropolen geflogen würden oder gar noch schlimmere terroristische Verbrechen mit Massenvernichtungswaffen geschehen könnten. In der Konsequenz hieß all das aber nichts Geringeres, als daß die USA die Ursachen der terroristischen Bedrohung direkt angehen mußten, um dieses Risiko unter Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, an erster Stelle ihrer überwältigenden militärischen Macht, dauerhaft auszuschalten. Die räumliche Zuordnung dieser Bedrohung war eindeutig: Ihre Ursachen lagen im Nahen und Mittleren Osten, im islamisch-arabischen Krisengürtel. Es war somit klar, daß die USA nach dem n. September den für sie so überaus gefährlichen Status quo im Nahen Osten nicht mehr akzeptieren konnten und wollten, und das hieß, daß sie ihr gesamtes strategisches Potential einsetzen würden, um diesen Status quo zu verändern. Die zwingende politisch-strategische Konsequenz der amerikanischen Politik, die da schlicht hieß: »Kein zweiter n. September!«, lautete im Klartext, daß die alleinige Supermacht USA von einer am Erhalt des Status quo orientierten Stabilitätspolitik definitiv zu einer auf die grundsätzliche Veränderung jenes Status quo abzielenden revolutionären Außenpolitik umschaltete. »Wir können die Vereinigten Staaten und unsere Freunde nicht verteidigen, indem wir auf das Beste hoffen. Wir können dem
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Wort von Tyrannen, die feierlich Nichtverbreitungsverträge unterzeichnen und dann systematisch gegen sie verstoßen, keinen Glauben schenken. Wenn wir warten, bis Bedrohungen voll und ganz Gestalt annehmen, werden wir zu lange gewartet haben. Die Verteidigung des Heimatlandes und die Raketenabwehr sind Teil einer größeren Sicherheit, und sie sind entscheidende Prioritäten für die Vereinigten Staaten. Der Krieg gegen den Terror wird jedoch nicht aus einer Defensivhaltung heraus gewonnen. Wir müssen die Schlacht zum Feind bringen, seine Pläne durchkreuzen und den schlimmsten Bedrohungen begegnen, bevor sie auftreten. In der Welt, in der wir leben, ist der einzige Weg zur Sicherheit der Weg des Handelns. Und dieses Land wird handeln.« So Präsident George W. Bush in seiner Rede in Westpoint aus dem Frühsommer des Jahres 2002. 13° Angesichts dieser klaren Worte des amerikanischen Präsidenten ist es wohl keine Übertreibung, wenn man feststellt, daß durch den n. September außenpolitisch aus einer konservativen Weltmacht eine revolutionäre wurde. 131 Dies war und ist ein Schritt von sehr weitreichenden Konsequenzen nicht nur für die USA, sondern für das gesamte Staatensystem und dessen Zukunft im 21. Jahrhundert. Der Übergang von einer konservativen zu einer revolutionären Außenpolitik ist nun keineswegs ein Novum in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Ganz im Gegenteil, dieses Land gründet auf den ungebrochenen und bis heute äußerst vitalen Traditionen der ersten demokratischen Revolution der Neuzeit, ihren fortgeltenden Werten und ihrem politischen Glücksversprechen. Die amerikanische Nation hat sowohl im Innern als auch in ihrer auswärtigen Politik einen aus europäischer Sicht idealistisch, ja sogar utopisch erscheinenden Anspruch niemals aufgegeben. »Wenn überhaupt irgend etwas Amerika je anspornte, dann war es der Glaube, daß die Geschichte überwunden werden könne und die Welt, falls sie wirklich Frieden wollte, nur die moralischen Grundsätze der Vereinigten Staaten anzuwenden brauchte. [...] Amerikas Weg durch die internationale Politik war ein Triumph des Glaubens über die Erfahrung.«132 Es war und ist eines der typisch europäischen Mißverständnisse, in
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den USA seit ihrem Aufstieg zur Weltmacht die Erbin von Metternichs reaktionärer »Heiliger Allianz« aus der ersten Hälfte des europäischen 19. Jahrhunderts zu sehen. Das Gegenteil war und ist der Fall. Gewiß, Amerika erwies sich, einmal zur Weltmacht geworden, oft als saturiert und den Status quo mit allen Mitteln verteidigend. Aber diese Sicht auf die Außenpolitik der USA traf und trifft höchstens die halbe Wahrheit. In der politischen, kulturellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Praxis agierten und agieren die USA mindestens ebensooft gegen den Status quo. Mit der Monroe-Doktrin gegen die damaligen europäischen Kolonialmächte, in der Konfrontation mit Hitler, mit dem imperialen Japan, in der Ablehnung des europäischen Kolonialismus und auch in weiten Abschnitten des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion hat das Land eine den Status quo verändernde Außenpolitik betrieben. Trotz aller Interessenpolitik z. B. in Lateinamerika und trotz des großen Fehlers Vietnam, trotz aller Entspannungs- und »Detentepolitik« während der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts gegenüber der Sowjetunion, das Umschalten auf eine den Status quo umwälzende Außenpolitik war immer eine reale außenpolitische Option der USA.133 Die vollen Konsequenzen dieser weitreichenden Veränderungen in der strategischen Ausrichtung der USA nach dem 11. September werden aber erst dann wirklich überschaubar werden, wenn beantwortet werden kann, in welchem Maße sich die »basics« der amerikanischen Demokratie insgesamt verschoben haben. Anders gefragt: Hat die Tatsache, daß der neue Krieg des 21. Jahrhunderts die USA auf ihrem eigenen Territorium erreicht hat und damit die insulare Lage der USA für alle erlebbar in Frage gestellt wurde, nur einen vorübergehenden Schock ausgelöst? Oder hat diese Erfahrung am Ende doch für die amerikanische Gesellschaft und ihren politischen Überbau eine dauerhafteverändernde Wirkung, die den Charakter der Vereinigten Staaten und ihrer Demokratie und damit auch deren Selbstdefinition und Sicht auf die Welt nachhaltig verschieben wird? In welche Richtung werden sich die Vereinigten Staaten von Amerika also bewegen? Von der Beantwortung dieser beiden Fragen hängt
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ganz gewiß auch die weitere Entwicklung dessen ab, was man bis heute den »Westen« nennt. Und nicht nur für Europa und die Zukunft des Transatlantismus sind diese Antworten von überragender Bedeutung, sondern darüber hinaus auch für alle anderen Verbündeten der USA, für die zukünftige Weltordnung und damit für die gesamte Staatenwelt. Die Beantwortung dieser Fragen wird zudem noch durch die Tatsache erschwert, daß der außenpolitische Konsens, der die verschiedenen Traditionen der US-Außenpolitik134 während der Jahrzehnte des Kalten Krieges zusammengehalten hatte, sich mit dessen Ende aufgelöst hat und bisher kein neuer Konsens an seine Stelle getreten ist. Die Außenpolitik der USA entwickelte sich von Beginn an im Widerspruch zwischen einer ausschließlichen Binnenorientierung, einem isolationistischen Rückzug auf sich selbst, auf die unermeßliche Weite des nordamerikanischen Kontinents, und einem moralisch begründeten Interventionismus, der die Außenpolitik des Landes niemals allein auf Interessen, sondern immer auch auf Werte, Moral und das Sendungsbewußtsein der amerikanischen Revolution gegründet hat. Zwischen diesen beiden Polen - Isolationismus und Interventionismus - bewegte und bewegt sich der Pendelschwung der US-amerikanischen Außenpolitik bis heute. »Die Einzigartigkeit, die die Vereinigten Staaten im Laufe ihrer Geschichte für sich in Anspruch genommen haben, führte zu zwei widersprüchlichen außenpolitischen Maximen: Erstens könne Amerika seinen Werten am besten Rechnung tragen, indem es die Demokratie im eigenen Land vervollkommne und dadurch dem Rest der Menschheit als Leitstern diene; zweitens komme ihm aufgrund dieser Wertvorstellungen die Verpflichtung zu, diese im Kreuzzug um die Welt zu tragen. Hin und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach einer intakten Vergangenheit und dem Streben nach einer perfekten Zukunft, schwankte Amerikas Denken zwischen Isolationismus und Pflichtgefühl.«135 In der Dialektik dieses Widerspruchs zwischen Isolationismus und Interventionismus entwickelte sich seit dem Ersten Weltkrieg die Weltmachtrolle der USA, die jedoch durch die Dominanz der Innenpolitik immer über ein starkes Widerlager gegen-
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über ihrer Außenpolitik verfügte. Weder das amerikanische Volk noch die gesamte demokratische Kultur und Tradition des Landes sind imperial gestimmt oder gar ausgerichtet, und bis heute blickt das Land, trotz seiner historisch einmaligen Weltmachtrolle, mit der großen Mehrheit seiner Bürger vor allem nach innen. Gerade diese spezifisch amerikanische Dialektik in der außenpolitischen Tradition hat es verhindert, daß der enorme Machtzuwachs der USA jemals zu einem wirklichen Imperium mittels direkter Herrschaftsausübung geführt hat. Statt dessen wurde die globale Macht der USA auf eine kluge Hegemonie, auf eine geschickte Bündnispolitik gegründet, die trotz aller Robustheit versuchte, die eigenen Interessen über die Einbindung der Interessen kleinerer und schwächerer Partner auf kooperativer Grundlage zu erreichen.136 Gewiß war und ist den USA die direkte, robuste Interessendurchsetzung alles andere als fremd, aber dennoch gilt, daß dort, wo die US-amerikanische Außenpolitik von dem Grundsatz der klugen Hegemonialpolitik abwich und versuchte, direkte Herrschaftsansprüche militärisch durchzusetzen, dies meist recht schnell zu großen Problemen bis hin zu schweren Niederlagen geführt hat. Die amerikanische Öffentlichkeit war bis heute zu einer nachhaltigen imperialen Orientierung trotz der wachsenden Macht des Landes einfach nicht bereit. Man kann die amerikanische Demokratie mit einigem Recht als »imperiale Republik«137 bezeichnen, denn die USA sind eine globale Supermacht, unangefochten in ihrer Macht und in ihrer Einzelstellung. »Hegemonial« wäre aber gleichwohl der zutreffendere Begriff, denn bis auf wenige Ausnahmen setzen die USA außerhalb des nordamerikanischen Kontinents keineswegs auf direkte Herrschaft, sondern auf Einfluß durch Macht.138 Aber anders als in den Fällen der klassischen Imperien folgte die Gründung und Durchsetzung jener kontinentalen Demokratie namens USA nicht den imperialen Herrschaftsgesetzen einer sich ausdehnenden Zentralmacht, sondern vielmehr den Gesetzen eines demokratischen Bundes freier und gleicher Republiken, die sich zu einem Bundesstaat auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien und Institutionen und einer für alle Mitgliedsstaaten gel-
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tenden Verfassung zusammengeschlossen haben. Ganz gewiß war und ist die kontinentale Ausdehnung und die Kraftentfaltung der Vereinigten Staaten »imperial« zu nennen, aber die Grundsätze, die sich diese demokratische Republik gegeben hat, sind seit ihrer Gründung nachgerade antiimperial.139 »Wir Amerikaner werden ganz im Sinne einer antiimperialistischen, antimilitaristischen Tradition erzogen. Unsere Vorväter kamen in dieses Land auf der Flucht vor Unterdrückung, Korruption und Machtpolitik der europäischen Monarchien und Imperien. [...] Weltreich bedeutet seit eh und je für Amerikaner die Eroberung und Unterwerfung fremder Völker gegen deren Willen. Es ist die Antithese all der Ideale, auf denen Amerika gegründet wurde, und der Inbegriff der Schlechtigkeit der alten Welt, von der die Amerikaner gehofft hatten, daß sie im Licht unseres guten Beispiels verpuffen würde.«140 Und genau deswegen kommt auch niemand ernsthaft auf die Idee, ganz anders als im Falle Rußlands oder Chinas, von einem amerikanischen »Reich« zu sprechen, wohl aber von der amerikanischen »Union«. »Die Vereinigten Staaten bilden nicht nur eine Republik, sondern auch einen Bundesstaat«, stellte schon Alexis de Tocqueville lapidar fest.141 Die überdurchschnittliche territoriale Größe und die überproportionale Konzentration von Macht sind gemeinsam mit ihrem multinationalen Charakter gewiß drei der wesentlichen Merkmale von Imperien, aber das entscheidende Merkmal liegt in ihrem Herrschaftsprinzip, nämlich in einem imperialen Zentralismus der direkten Machtausübung.142 Und exakt in dieser Kernfrage des Herrschaftsprinzips sind die USA völlig gegensätzlich konstruiert. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt nur einige der bedeutendsten Reichsbildungen in der Geschichte, so wird der Preis des Imperiums sehr schnell klar: Er heißt Eroberung und Unterwerfung. In der Antike scheiterte Athen im Peleponnesisehen Krieg an der hegemonialen Versuchung, den Griechen seine Alleinherrschaft aufzuzwingen, was dann einige Jahrzehnte später Makedonien unter Phillip II. und seinem Sohn Alexander gelingen sollte. Alexander der Große besiegte wenige Jahre danach das Reich der persischen Großkönige und schuf auf dessen
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Fundamenten ein kurzlebiges makedonisch-hellenisches Imperium, das von Hellas bis zum Indus und nach Ägypten reichen sollte. Parallel dazu vollzog sich der Aufstieg der Stadt Rom im Westen der antiken Welt, die zuerst Italien und dann den gesamten Mittelmeerraum und Westeuropa unterwarf und für Jahrhunderte im Imperium Romanum vereinigte. Dasselbe gilt für das chinesische Imperium unter dem ersten Kaiser der Chin-Dynastie, der im Jahre 221 v. Chr. alle sechs bestehenden Reiche Chinas mit unerhörter Brutalität unterwarf und in einem einzigen Reich vereinigte, wie für alle anderen Reichsbildungen in der Menschheitsgeschichte. Gewiß mag man hier auch Reichsbildungen anführen, die sich eher auf eine dynastische Heiratspolitik und weniger auf Eroberung und Unterwerfung gründeten wie das Habsburger Reich, das sich durchaus als von langer Dauer erweisen sollte. Freilich vermochte eine geschickte Heiratspolitik die imperiale Strategie von Eroberung und Unterwerfung lediglich zu ergänzen und mit geringeren machtpolitischen Kosten abzustützen, keineswegs aber diese zu ersetzen. Imperium hieß und heißt immer Eroberung und Unterwerfung, bedeutet die Herstellung eines politischen Großraums, einer Einheit unter Zwang und mit Gewalt. Niemals aber ließ und läßt sich ein Imperium mit den Gedanken der Freiheit und der Gleichheit verbinden, denn diese stehen in einem fundamentalen Widerspruch zu den machtpolitischen Imperativen eines Imperiums. Napoleon hat diesen Wiederspruch in neuerer Zeit zu überwinden versucht und ist dabei grandios gescheitert. Freiheit, Gleichheit und die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses zu einer größeren Einheit auf verfassungsmäßiger Grundlage sind antiimperiale Grundsätze, und genau darauf gründen die USA. Man kann das ganze Ausmaß des Schocks nach dem 11. September wohl auch daran erkennen, daß im Zusammenhang um dieser Zäsur in der Geschichte der USA neokonservative Intellektuelle143 das amerikanische Imperium als strategische Konsequenz der Entwicklung US-amerikanischer Macht betrachteten und in das Zentrum ihrer Analysen stellten. Wer jedoch die amerikanische Geschichte kennt, der weiß um den ganzen Widersinn dieser Idee von einem Imperium der USA. Selbst
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wenn man die gewaltige räumliche und machtpolitische Dimension dieses Imperiums einmal beiseite läßt, die nichts Geringeres beinhalten würde als annähernd sechs Milliarden Menschen und nahezu zweihundert Staaten, so setzte eine solche Entwicklung doch zuerst und vor allem einen radikalen Bruch mit den heiligsten Grundsätzen der amerikanischen Demokratie voraus. Einerseits - so die Realisten - übersteigt allein der Gedanke eines solchen Bruches mit den demokratischen Fundamenten der Vereinigten Staaten selbst die abgründigsten politischen Phantasien und liegt damit weit jenseits aller erkennbaren Realität. Aber andererseits - so die Skeptiker - hat auch das große Vorbild Rom einen solchen Bruch in seiner Geschichte durchlebt, bevor sich das Imperium Romanum endgültig herausbildete. Folgen wir also für einen Augenblick noch weiter der Idee des amerikanischen Imperiums, denn auch Rom begann ja seine imperiale Karriere als Republik. Seine äußeren Eroberungen führten die römische Republik zu fundamentalen inneren Erschütterungen. Die gewachsenen Institutionen der Republik gerieten zunehmend in eine bedrohliche Krise, die sich schließlich in mehreren Bürgerkriegen entlud. Diese Bürgerkriege zerstörten schlußendlich die Republik und brachten die neue politische Herrschaftsform Roms hervor, das Imperium der Kaiser. Nicht mehr die Bürger und die althergebrachten Institutionen der Republik bestimmten fortan das Schicksal Roms, sondern die siegreichen Legionen der Armee und deren Feldherrn. Die römische Republik transformierte sich in blutigen Auseinandersetzungen zu einem Militärkaisertum. Der erfolgreichste Feldherr übernahm schließlich als »Imperator«, als Alleinherrscher, das »Imperium«, das die Armee nach außen sicherte und ausdehnte. Hier enden spätestens die historischen Gemeinsamkeiten der heutigen Machtstellung Amerikas mit dem damaligen Imperium Romanum im politischen Nirgendwo. »Amerika hat nun die erste Stufe der Weltmacht erreicht«, schreibt Peter Bender in seinem faszinierenden Vergleich der Geschichte des antiken Roms und der USA. »Es kann gegen den Protest der halben Welt so ziemlich alles tun, was es will; auch Großstaaten sind außerstande, es zu hindern. Die zweite Stufe
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der Weltmacht, auf der Rom stand, bleibt für Amerika unerreichbar: Es kann nicht alle zwingen zu tun, was es will. Ein Imperium wie das römische können die Vereinigten Staaten nicht schaffen, die Pax Americana hat nicht Aussicht auf jahrhundertelangen Bestand wie die Pax Romana. Ob man die ungeheure Macht, über die Amerika verfügt, ein Empire nennt oder nur Superpower, hängt davon ab, wie die Amerikaner sich selbst verstehen und wie sie sich in Zukunft verhalten werden, mehr als Imperialisten oder mehr als Ordnungsmacht.«144 Aber selbst andere erfolgreiche und zugleich moderatere imperiale Modelle aus der Geschichte der Neuzeit wie das British Empire wären ohne radikale Veränderungen der Grundlagen der amerikanischen Demokratie niemals auch nur denkbar, geschweige denn praktisch umsetzbar. Die USA unterscheiden sich grundsätzlich von allen anderen Großstaaten oder Großreichen in ihren politisch-gesellschaftlichen Fundamenten. Diese Nation gründet nicht auf einer historisch gewachsenen, aus dem Dunkel der Geschichte mit dem Fortgang der Jahrhunderte herüberreichenden Legitimität, sondern sie entstand aus einem politisch-religiösen Gründungsakt, der Glauben und Vernunft, Puritanismus und Aufklärung verband. Mehr noch, die USA wurden bewußt gegen das Grundprinzip der Alten Welt, gegen die Legitimation durch Geschichte, gegen die historische Legitimität europäischer Herrschaft gegründet. Deshalb hängen die USA als eine Nation von Einwanderern aus aller Welt viel mehr als andere Staaten, die sich historisch begründen, von der Integrationskraft ihres moralischreligiösen Gründungsanspruchs ab. Die amerikanische Republik ist ein Vernunftstaat, der auf zwei Säulen ruht, nämlich auf den demokratischen Werten der Aufklärung (Freiheit)145 und auf den Grundsätzen der protestantischen Religion (Christentum),146 nicht aber auf der Legitimation durch Geschichte. Deswegen ist im politischen Denken der USA die Orientierung an den Werten und an der Berufung der Nation weitaus stärker ausgeprägt als das Denken in der Geschichte. Genau aus diesem Gründungsakt aus Glauben und Vernunft zieht auch das amerikanische Bewußtsein, anders zu sein als andere Nationen,
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seine ganze Kraft. Und in der Tat ist diese Selbstdefinition der amerikanischen Nation, »auserwählt« zu sein, in diesem Gründungsakt empirisch begründet.147 Gäben daher die USA ihre Grundwerte zugunsten eines machtpolitischen Imperiums auf, was in diesem Falle zwingend notwendig wäre, so müßten sie sich dabei zuerst selbst aufgeben und damit ihre Integrationsfähigkeit im Innern und ihre Führungsfähigkeit nach außen ernsthaft in Frage stellen.148 Von Anfang an waren sich deshalb die Gründungsväter der amerikanischen Nation dieser Gefahr bewußt, die in einer Abkehr von den politisch-religiösen Gründungsprinzipien dieser jungen Nation lag. John Winthrop149 der erste Gouverneur der englischen Kolonie Massachusetts, hat nicht nur die »Stadt auf einem Hügel«150 zum amerikanischen Gründungsmythos gemacht und damit auch die Grundlagen für das Gefühl der Auserwähltheit, »the manifest destiny«,151 nach dem biblischen Vorbild geschaffen, sondern zugleich auch schon damals, in den allerersten Anfängen der späteren USA, auf die Unverzichtbarkeit der sich daraus ergebenden Verpflichtungen für diese besondere »neue Nation« hingewiesen: »... nach gegenseitigem Einverständnis geschieht es durch eine besondere übermächtige Vorsehung und damit durch mehr als eine gewöhnliche Billigung von Christus' Kirchen, einen Ort des Zusammenlebens und der Geselligkeit unter einer gebührenden sowohl weltlichen als auch kirchlichen Regierungsform aufzuspüren. In Fällen wie diesem muß die Sorge für die Allgemeinheit alle privaten Rücksichten überwiegen [...]. Wenn Gott einen besonderen Auftrag erteilt, achtet Er darauf, daß dieser in jedem Artikel streng befolgt wird. Solchermaßen steht die Sache zwischen Gott und uns. Für dieses Werk sind wir den Bund mit Ihm eingegangen. [...] Aber wenn wir die Befolgung dieser Artikel vernachlassigen sollten, welche die Ziele sind, die wir vorgeschlagen haben, und - indem wir unseren Gott verleugnen - so tief sinken sollten, uns dieser diesseitigen Welt zuzuwenden und unseren fleischlichen Gelüsten nachzugehen, auf der Suche nach großen Dingen für uns selbst und unsere Nachkommen, wird der Herr gewißlich in Zorn gegen uns
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ausbrechen, wird Rache nehmen an solch meineidigem Volk und uns den Preis für den Bruch solch eines Bundes wissen lassen. Nun ist der einzige Weg, einen solchen Schiffbruch zu vermeiden und für unsere Nachkommenschaft zu sorgen, dem Rat Michas zu folgen, recht zu tun, die Barmherzigkeit zu lieben und demütig mit unserem Gott zu wandeln. Wir müssen bei diesem Werk zusammenwirken wie ein Mann. [...] So werden wir die Einheit des Geistes in der Bande des Friedens erhalten. Der Herr wird unser Gott sein und entzückt sein, unter uns zu weilen, so daß wir noch viel mehr von Seiner Weisheit, Kraft, Güte und Wahrheit sehen werden, als wir ehedem kennengelernt haben. Wir werden herausfinden, daß der Gott Israels unter uns ist, wenn zehn von uns in der Lage sein werden, tausend von unseren Feinden zu widerstehen, wenn Er uns lobpreisen und frohlocken läßt, so daß die Männer über nachfolgende Kolonien sagen werden: Der Herr erschaffe sie wie die von Neuengland. Denn wir müssen bedenken, daß wir wie eine Stadt auf einem Hügel sein werden, aller Menschen Augen ruhen auf uns, so daß, wenn wir unseren Gott treulos behandeln bei diesem Werk, das wir auf uns genommen haben, und Ihn auf diese Weise dazu bringen, uns Seine gegenwärtige Hilfe zu entziehen, man uns auf der ganzen Welt zu einer Fabel und einem Beiwort machen wird. Wir werden die Münder von Feinden dazu öffnen, Böses über die Wege des Herrn zu reden und über alle, die sich zu Ihm bekennen; wir werden die Antlitze vieler von Gottes ehrenwerten Dienern beschämen und ihre Gebete dazu bringen, sich in Flüche auf uns zu verwandeln, bis wir des guten Landes verlustig gehen, auf das wir uns zubewegen.«152 Wie stark die Gründungsmythen der USA bis heute fortwirken, kann man gerade auch daran erkennen, wie aktuell diese längst vergangene Botschaft von John Winthrop gerade heute klingt, angesichts der doppelten Herausforderung der USA durch ihre unilaterale Lage und die terroristische Bedrohung. All die Theorien eines sogenannten »liberalen Imperialismus«153 sind beeindruckt von der gewaltigen Macht der USA und ihrer unangefochtenen Einzelstellung, und sie überspringen in der Regel sehr schnell die historischen Ursachen für den Nie-
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dergang des europäischen Imperialismus: Überdehnung und die Globalisierung des europäischen Nationalismus, der sich gegenüber den Imperien als die stärkere historische Kraft erwiesen hat. Der europäische Imperialismus scheiterte an seiner immanenten Dialektik von Herrschaft und Selbstbestimmung. Europa hat in seiner imperialistischen Epoche ja keineswegs nur seine Macht exportiert, sondern zugleich auch seine Ideen und Ideale von Volkssouveränität und Selbstbestimmung. Dieser immanente Widerspruch des modernen europäischen Imperialismus zwischen ausbeuterischer Realität und seinen demokratischen und aufklärerischen Idealen führte zum Export eines revolutionären Nationalismus, wie er sich fast überall in Europa, beginnend mit der großen Französischen Revolution, durchgesetzt hatte. Nach 1917 übernahmen die antiimperialen Befreiungsbewegungen dann mehr und mehr sozialistisch-kommunistische Ideen, ja schlössen sich sogar der kommunistischen Dritten Internationale an, weil sich der revolutionäre Sozialismus auch und vor allem gegen den europäischen Imperialismus wenden ließ. Im Kern blieben diese antiimperialen Bewegungen, die für das Selbstbestimmungsrecht und die Souveränität ihrer Völker kämpften und auch siegten, aber nationalrevolutionär. Diese Dialektik des europäischen Imperialismus führte vor allem dort, wo eine ausgeprägte eigenstaatliche Tradition bestand, nämlich in Asien, zu den ersten erfolgreichen nationalrevolutionären Befreiungsbewegungen. Hinzu kam die militärische Niederlage der europäischen Imperialismen im Zweiten Weltkrieg gegen Japan, die den von ihnen beherrschten Völkern in den Kolonien ihre militärische Schwäche, ja Besiegbarkeit augenfällig demonstrierte. Ein amerikanischer »liberaler« Imperialismus heute würde sich deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit überall dort, wo er auf die direkte Durchsetzung seines Herrschaftsanspruches mittels militärischer Intervention setzen würde, einen kämpfenden revolutionären Nationalismus gegenübersehen, und das Risiko einer Niederlage wäre dabei selbst für eine Supermacht extrem hoch. Die Globalisierung des revolutionären Nationalismus ist ein Ergebnis des europäischen Erbes der Moderne, die Globalisierung demokratischer Werte geht allerdings überwiegend - mit
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der Ausnahme Indiens - auf die amerikanische Tradition zurück. Anders als die europäischen Imperien des 19. und 20. Jahrhunderts ist deshalb Amerika heute im Einsatz seiner überwältigenden militärischen Macht extrem eingeschränkt, da in der Gegenwart ihr Gebrauch ganz anderen legitimatorischen Zwängen unterliegt. Dies wird durch die Echtzeit globaler Berichterstattung und Kommunikation und vor allem durch die subversive Kraft des Internets noch dramatisch verstärkt. Die Unterwerfung fremder Völker durch den rücksichtslosen Einsatz der eigenen überlegenen militärischen Macht ist einfach keine realpolitische Option mehr, da sie durch die globalisierten westlichen Werte grundsätzlich delegitimiert wurde. Der dafür zu entrichtende Preis, der Legitimationsverlust, wäre extrem hoch und deshalb kaum vertretbar. Es müßten in Zukunft schon alptraumhafte Szenarien Wirklichkeit werden, um diese normativen Begrenzungen aufzulösen. Die USA sind bis heute in ihrem ganz spezifischen Grundwiderspruch zwischen imperialer Macht und amerikanischer Identität, zwischen einer objektiv gegebenen unilateralen Position und dem subjektiven Antiimperialismus der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Fundamente gefangen. Und hinzu kommt noch die zu große Komplexität der Aufgabe, denn es erwiese sich selbst für die alleinige Supermacht USA als eine gefährliche Überforderung, unilateral (oder nur begleitet von einer »Koalition der Willigen«) eine globale imperiale Kontrolle durchsetzen zu müssen. Zudem müßten sie diese Kontrolle gegenüber asymmetrischen nationalrevolutionär-religiösen Widerstandsbewegungen aufrechterhalten, was sich realistisch gesehen ebenfalls als eine Unmöglichkeit erweisen dürfte. Freilich sind diese Debatten in der amerikanischen Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges keineswegs neu, denn damals begann die Rolle Amerikas als globale Supermacht. Gräbt man nur tief genug in den Bücherschränken, so stößt man nicht nur auf die Debatte um ein amerikanisches Imperium aus den fünfziger und sechziger Jahren, sondern auch auf prophetische Worte, die schon damals, zu Beginn des Kalten Krieges, die grundsätzliche amerikanische Geistesverfassung ebenso wie die politischen Wi-
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dersprüche dieser Nation in beeindruckender Art und Weise zum Ausdruck gebracht haben: »Inzwischen werden wir in eine historische Situation hineingezogen, in der das Paradies unserer inneren Sicherheit aufgehoben ist in der Hölle globaler Unsicherheit; und unsere Überzeugung von der perfekten Vereinbarkeit von Tugend und Wohlstand, die wir sowohl von unseren calvinistischen als auch von unseren Jeffersonschen Vorfahren geerbt haben, wird durch die grausamen Fakten der Geschichte in Frage gestellt. Denn unser Verantwortungsgefühl gegenüber einer Weltgemeinschaft jenseits unserer eigenen Grenzen ist eine Tugend, auch wenn es in Teilen von einem wohlüberlegten Verständnis unserer Interessen herrührt. Aber diese Tugend stellt weder unsere Ruhe noch unsere Behaglichkeit und unseren Wohlstand sicher. Wir sind um so ärmer wegen der weltweiten Verantwortung, die wir tragen. Und die Erfüllung unserer Wünsche vermischt sich mit Enttäuschungen und Ärgernissen.« Dies war die weitsichtige Analyse des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr aus dem Jahre 1953,154 der Text klingt geradewegs so, als wäre er in der jüngsten Gegenwart verfaßt worden. Damals standen die USA am Beginn einer fünf Jahrzehnte währenden globalen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion, und diese Debatten führten bereits damals weder zu einem amerikanischen Imperium noch zu einem isolationistischen Rückzug. Das Gegenteil war vielmehr der Fall, nämlich ein langfristiges und schließlich erfolgreiches globales Engagement der Vereinigten Staaten. Zudem spricht gegenwärtig vieles dafür, daß sich im 21. Jahrhundert das internationale politische System grundsätzlich verändern wird: durch die großen Megatrends der Globalisierung, die wachsenden Interdependenzen von Wirtschaft, Technologie und Information und durch die damit einhergehende Globalisieung nahezu aller Konflikte. Gewiß, die Menschen verändern sich im Laufe der Evolution in ihrer anthropologischen Grundausstattung nur sehr langsam - ihre Fähigkeiten, ihre Produktivkräfte und damit auch der darauf ruhende politische Überbau hingegen unterliegen einem wesentlich rascheren Wandel. Und genau solche Veränderungen finden in der Gegenwart auf eine
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tiefgreifende Weise statt. Der aktuelle Prozeß der Transformation der Weltgesellschaft wird mit hoher Wahrscheinlichkeit alles andere als krisen- und konfliktfrei verlaufen, ja es sind sogar durchaus größere politische Katastrophen und Kriege innerhalb eines realistischen Erwartungshorizontes abzusehen. Gerade deshalb sollte man auch zukünftig versuchen, aus der Geschichte zu lernen, nicht aber sich zu ihrem Gefangenen machen zu lassen, denn die Geschichte wiederholt sich nicht. Und schon gar nicht werden wir in der Vergangenheit unsere Zukunft entdekken können. Weder wird in der muslimisch-arabischen Welt ein neues Kalifat entstehen, noch befinden wir uns am Vorabend eines neuen liberalen Imperialismus der Vereinigten Staaten. Würde sich die politische Zukunft in den nächsten Jahrzehnten zwischen diesen beiden Alternativen entscheiden, so hätte der Westen bereits heute verloren. Es ist auch und gerade unter diesem Gesichtspunkt erstaunlich, wie weit sich das neokonservative Denken in den USA von den geistigen Wurzeln und Grundlagen der amerikanischen Republik entfernt hat, ja wie unbedenklich diese Denker und Intellektuellen an die vordemokratischen, ja absolutistischen Traditionen Europas anzuknüpfen bereit sind, um die neue Rolle Amerikas in der Welt des 21. Jahrhunderts zu definieren. Fast könnte man versucht sein, dieses Denken nicht mehr als konservativ einzuordnen, da es ja gerade dabei ist, die ehernen Grundlagen des amerikanischen Konservatismus ad acta zu legen.1" Einer der außenpolitischen Vordenker des amerikanischen Neokonservatismus, Robert Kagan, teilt in seinem Buch >Macht und Ohnmacht 156 die gegenwärtige Welt politisch in zwei höchst unterschiedliche Sphären auf: Die erste Sphäre sei die des Friedens, der Diplomatie, des Rechts, der Gültigkeit von Verträgen und des Wohlstandes. Behütet werde dieses »posthistorische Paradies«, so Kagan, von der militärischen Stärke Amerikas, und genossen werde es von einem machtpolitisch schwachen EUEuropa, das sich der Illusion hingebe, die Welt bestünde im wesentlichen aus Lämmern und nicht aus Wölfen, Hyänen und Schakalen.157 Theoretisch gründe diese behütete Welt auf Immanuel Kant und seine Schrift >Vom Ewigen Frieden< (1795), in
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der dieser entgegen allen politischen Erfahrungen seiner Zeit versuchte, eine philosophische Begründung für die Bedingungen eines anhaltenden Friedens zwischen souveränen Staaten zu formulieren. Zusammengefaßt lasse sich diese Welt als die Sphäre der machtpolitischen Illusion definieren. In der zweiten Sphäre von Kagans neuer Welt gelten hingegen ganz andere Bedingungen und Regeln: Hier herrscht die nackte Gewalt und damit das Recht des Stärkeren, und hier lebt die klassische marxistisch-leninistische Tradition ungebrochen fort, in der die Macht über das Recht gestellt wurde. In ihr wurden Rechtsfragen ausschließlich als Machtfragen gesehen, und für die Macht traf der berühmte Satz von Mao Tse-tung zu: »Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.«158 In dieser Sphäre müßten Recht und Vertrag sich der Gewalt beugen, entscheide allein die militärische Stärke und sei äußerste Wachsamkeit und Härte angesagt, denn hier seien solche Schurken wie Saddam Hussein, Osama bin Laden und Kim Jong II zu Hause, tobe der Kampf gegen die Achsen des Bösen, gehe es um Krieg und Unterwerfung, Massenvernichtungswaffen und Terror, Sieg oder Untergang. Und hier, in dieser wirklichen Welt der Politik und deshalb fernab der europäischen Illusionen vom Ewigen Frieden, finde ebenfalls das machtpolitische Würfelspiel der großen Mächte und ihrer imperialen Interessen um die globale und regionale Machtverteilung im 21. Jahrhundert statt. Dies sei die Sphäre der machtpolitischen Realität.159 In dieser Sphäre eines eisigen Realismus von Macht und Gewalt gibt es keinen Platz für die schönen Ideen eines Immanuel Kant und seines aufgeklärten Philosophierens, sondern hier gilt allein Thomas Hobbes, der Denker des großen Leviathan, des absoluten Staates, der keine anderen Götter neben sich duldet, sondern diese statt dessen alle vernichtet: »Wir sollten nicht länger so tun, als hätten Europäer und Amerikaner die gleiche Weltsicht oder als würden sie auch nur in der gleichen Welt leben. In der alles entscheidenden Frage der Macht [sic!] - in der Frage nach der Wirksamkeit, der Ethik, der Erwünschtheit von Macht - gehen die amerikanischen und europäischen Ansichten auseinander. Europa wendet sich ab von der Macht, oder es bewegt
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sich, anders gesagt, über diese hinaus. Es betritt eine in sich geschlossene Welt von Gesetzen und Regeln, transnationalen Verhandlungen und internationaler Kooperation, ein posthistorisches Paradies von Frieden und relativem Wohlstand, das der Verwirklichung von Kants >Ewigem Frieden< gleichkommt. Dagegen bleiben die Vereinigten Staaten der Geschichte verhaftet und üben Macht in einer anarchischen Hobbesschen Welt aus, in der auf internationale Regelungen und Völkerrecht kein Verlaß ist und in der wahre Sicherheit sowie die Verteidigung und Förderung einer freiheitlichen Ordnung nach wie vor von Besitz und Einsatz militärischer Macht abhängen.«160 Und genau in dieser Differenz zwischen der machtpolitischen Illusion in Gestalt eines »posthistorischen Paradieses« und der Wirklichkeit der Macht in der Geschichte liege, so Robert Kagan, die Ursache für den sich immer weiter öffnenden strategischen Graben zwischen den USA und Europa: »In zentralen strategischen und internationalen Fragen sind heute die Amerikaner vom Mars und die Europäer von der Venus: Sie sind sich nur noch in wenigen Punkten einig und verstehen sich gegenseitig immer weniger.«161 Kagan folgt in seiner Analyse des gegenwärtigen internationalen Systems einem historischen Relativismus der Werte, der die schwachen Staaten als die Verteidiger des internationalen Rechts sieht, des Multilateralismus und seiner machtpolitisch wenig gewichtigen Institutionen und einer verhandelten, bisweilen erhandelten oder sogar gekauften Sicherheit. In früheren Zeiten wären die USA schwach gewesen und deshalb den sanften Imperativen in ihrer Außenpolitik gefolgt, während die europäischen Mächte stark waren und folgerichtig imperial oder zumindest hegemonial agierten und ihr eigenes Recht durch ihre Macht zu setzen versuchten. Heute sei dies eben umgekehrt, 162 und deshalb lebe man diesseits und jenseits des Atlantiks seit dem Ende des Kalten Krieges und definitiv seit dem 11. September 2001 in ganz unterschiedlichen Welten der internationalen Politik. Kagan irrt. Auch er kann sich der historischen Tatsache nicht verschließen, daß es doch vor allem die Außenpolitik der USA gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen ist - als die Verei-
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nigten Staaten über eine bis dahin niemals zuvor gekannte militärisch-politische, technologische und ökonomische Dominanz verfügten -, die die multilateralen Institutionen, an erster Stelle die Vereinten Nationen, und auch Sicherheitsbündnisse von großer historischer Belastbarkeit und Tragweite, wie die NATO, geschaffen hat. Und darüber hinaus war es ein Wesensmerkmal der damaligen Außenpolitik der USA und ihrer visionären, auf Normen und Interessen gründenden Weltsicht, das bis dahin überwiegend auf der Machtpolitik souveräner Staaten gründende internationale System zunehmend zu verrechtlichen. Die UN-Charta und die verschiedenen internationalen Konventionen, die heute ganz selbstverständlich zum Kernbestand des geltenden Völkerrechts und der multilateralen Institutionen gehören, legen davon ein beeindruckendes Zeugnis ab. Gewiß hat der Kalte Krieg und die Zweiteilung der Welt das UN-System niemals wirklich funktionieren lassen, und die fünf Jahrzehnte währende Systemkonfrontation zwischen Ost und West wurde nicht durch die UN oder das internationale Recht entschieden, ebensowenig allerdings allein durch die überwältigende militärische Macht Amerikas. Macht und Werte bildeten die Grundlage des »Westens« nach 1947, und nur diese Verbindung hat den Sieg über die Sowjetunion möglich gemacht. Trotz aller Kritik und aller Einwände hat sich das System der UN als wesentlich leistungsfähiger und belastbarer erwiesen als das ihres Vorgängers, des Völkerbundes. Gemeinsam mit dem europäischen Einigungsprozeß, mit der erfolgreichen Rekonstruktion und Reintegration von Deutschland und Japan und mit der Gründung des transatlantischen Bündnisses gehört die Schaffung der Vereinten Nationen zu den absoluten Glanzleistungen der amerikanischen Außenpolitik und ihrer »Great Generation«. Kagan stimmt diesem Befund sogar zu: »Und natürlich stand ›der Westen‹ während des Kalten Krieges für etwas.Er repräsentierte die freiheitliche, demokratische Option eines großen Teils der Menschheit, die im Gegensatz stand zu der alternativen Option, die jenseits der Berliner Mauer existierte. Diese starke strategische, ideologische und psychologische Notwendigkeit, zu beweisen, daß es tatsächlich einen geschlossenen, einheitlichen
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Westen gab, verschwand mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Sturz der Lenin-Statuen in Moskau.«163 Aber genau hier, wo Kagan dann die entscheidende Antwort auf die Zukunft des Westens zu geben hätte, verweigert er die Antwort oder flüchtet in das Raunen eines amerikanischen Unilateralismus, ohne diesen jedoch in seinen Konsequenzen für die USA und das internationale politische System des 21. Jahrhunderts wirklich auszubuchstabieren. Aber selbst die ideengeschichtliche Gegenüberstellung von Hobbes und Kant trägt nicht als theoretische Begründung für die in der Gegenwart angeblich entscheidende Differenz im außenpolitischen Grundverständnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Diese beiden Staatsphilosophen standen in unterschiedlichen Jahrhunderten vor sehr unterschiedlichen Herausforderungen, und der Jüngere, Kant, gründete auf den Ideen des Älteren. Hobbes war durch die Erfahrung der innerstaatlichen Religionskriege im damaligen England, d.h. durch die Schrecken des Bürgerkrieges, geprägt. Sein Denken kreiste vor allem und fast ausschließlich um die Frage, wie sich der religiöse Bürgerkrieg dauerhaft überwinden ließe, nämlich eben durch den absoluten Staat, den Hobbesschen Leviathan. »Der Staat ist nach Hobbes nur der mit großer Macht fortwährend verhinderte Bürgerkrieg.«l64 Kant hingegen hatte es mit den nicht enden wollenden Kriegen zwischen souveränen Staaten zu tun, und seine Frage war, ob und wenn ja wie sich diese zwischenstaatlichen Kriege in einer Weltordnung dauerhaften Friedens überwinden ließen. »Wiewohl Hobbes, wenn er vom Krieg spricht, stets Bürgerund Staatenkriege im Auge hat, behandelt er doch ausführlich nur die Umwandlung des Bürgerkrieges in einen Bürgerfrieden, nicht aber die der Staatenkriege in einen Staatenfrieden. Frieden im Lande, im angelsächsischen, war das Lebensprobiem, das zu lösen er sich vorgenommen hatte, an den Frieden zwischen den Ländern wagte er sich nicht heran, die Leviathane unter sich duldeten keinen Überleviathan. [...] Es war vor allem dann Immanuel Kant, der, ausdrücklich an Hobbes anknüpfend, den bellum omnium contra omnes vor allem als zwischenstaatlichen Natur-
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und Kriegszustand deutete, aus dem herauszufinden dann zum zentralen Anliegen seiner Friedensphilosophie wurde. - Wie man sieht, ist Kant ein Zu-Ende-Denker von Hobbes, ein Konsequenzzieher (auch) aus Hobbes. Hatte der große antifeudale Hobbes das von Spätscholastikern entwickelte universalistische Völkerrecht einer >civitas orbis<, einer Weltgesellschaft unter letztendlich einem Oberhaupt zertrümmert, so hat der große Weltbürger, Kant, die Vernunftlinie seines Vorgängers fortsetzend, den Weg in einen globalen Friedenszustand vorausgedacht, in dem Völkerrecht, Weltbürgerrecht und Menschenrechte ineinander übergehen.«165 Und daß Kant seiner Idee vom »Ewigen Frieden« vor dem Hintergrund der Realität der zwischenstaatlichen Kriege in seiner Zeit zugleich einen finsteren satirischen Doppelsinn unterlegte, zeigt sein Verweis auf die Herkunft des Begriffs vom »Ewigen Frieden« im ersten Satz seiner berühmten Abhandlung: »Ob diese satirische Überschrift auf dem Schilde jenes holländischen Gastwirts, worauf ein Kirchhof gemalt war, die Menschen überhaupt, oder besonders die Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können, oder wohl gar nur den Philosophen gelte, die jenen süßen Traum träumen, mag dahingestellt sein.«166 Für Immanuel Kant hatte der Begriff des »Ewigen Friedens« also durchaus einen bitterbösen und zugleich hochpolitischen Doppelsinn: Entweder finden die souveränen Staaten zu einer dauerhaften Friedensordnung, oder die Friedhofsordnung wird an deren Stelle treten. Er erwies sich hier als ein mindestens ebenso großer Realist, wie es Thomas Hobbes gewesen war, auch wenn Kant die schaurige Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts nur schwerlich ahnen konnte. Die scheinbar endlosen Gräberreihen in Verdun und auf den zahllosen anderen Schlachtfeldern der europäischen Weltkriege und das Grauen von Auschwitz haben wohl selbst die schlimmsten Alpträume des Königsberger Philosophieprofessors an Entsetzlichkeiten um Lichtjahre übertroffen. Sollte aber am Ende Robert Kagan mit seinem Bild von der Zweiteilung des Westens in eine hobbesianische Welt (USA) und eine kantianische Welt (Europa) tatsächlich mehr beabsichtigt
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haben, als lediglich ein griffiges Bild für ganz aktuelle politische Differenzen im transatlantischen Verhältnis zu entwerfen, so legte er allerdings eine höchst vielversprechende Spur. Denn Thomas Hobbes suchte die Antwort auf die Verheerungen und das Chaos des religiösen Bürgerkrieges. Wenn man diese Grundtatsache von der Notwendigkeit der Überwindung des innerstaatlichen Chaos und Krieges durch eine einzige übergeordnete Macht konsequent weiterdenkt, so folgt daraus der zwingende Schluß, daß wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts das alte Staatensystem hinter uns lassen müssen, da wir in ein Zeitalter des globalen religiösen Bürgerkrieges eingetreten sind. Die weitreichende Konsequenz wäre, sich in die Richtung einer Weltinnenpolitik zu bewegen, einer neuen Qualität des Staatensystems also und seiner zwingenden multilateralen Ausgestaltung, nicht aber in die Richtung traditioneller Machtpolitik, imperialer Träume und des zur Strategie erklärten Unilateralismus einer überragenden Macht. Kagan weist gleichwohl völlig zu Recht auf jenen wesentlichen Unterschied zwischen Europa und Amerika hin, den man als die machtpolitische Differenz bezeichnen kann.167 Worin besteht diese Differenz genau? Sie besteht in der Antwort auf die Urfrage alles Politischen: Was bedeutet Macht? Begründet sich die Macht nur aus sich selbst heraus, weil man sie hat, weil sie da ist und eingesetzt werden kann? Oder ist selbst die stärkste Macht neben ihrer Selbstbegründung unter den Bedingungen der Freiheit auch und gerade an normative Grundsätze, ethische Prinzipien und Legitimation durch Zustimmung gebunden? Denn weder haben sich die Europäer zu machtvergessenen Idealisten entwickelt noch gar die Amerikaner zu machtversessenen Machiavellisten. Auf beiden Seiten des Atlantiks werden nach wie vor dieselben Grundsätze von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Zivilgesellschaft geteilt, und auch die Weltsicht ist keineswegs eine grundsätzlich andere. Dennoch gibt es eine beiderseitige Perspektivenverschiebung. Und das hat durchaus die von Robert Kagan angeführten Gründe: Europa ist nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts in seinem außenpolitischen Denken »amerikanischer« geworden, und die USA
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nach dem Ende des Kalten Krieges »europäischer«. Europa denkt heute in der Außenpolitik normativer, die USA machtpolitischer. Gewiß spielen dabei Stärke und Schwäche, Aufstieg und Niedergang, Macht und Machtlosigkeit keine unwesentliche Rolle, aber eben nicht nur. Und hier irrt Kagan erneut. Europa hat sich nicht nur auf Grund seines machtpolitischen Niedergangs in seinem außenpolitischen Denken verändert, sondern vor allem auch durch die Erfahrung der säkularen Katastrophen der beiden Weltkriege im vorigen Jahrhundert und die verheerende, selbstzerstörende Wirkung des Nationalismus in Verbindung mit einem ausschließlich machtgestützten Staatensystem. Europa und vor allem Deutschland haben im 20. Jahrhundert das genaue Gegenteil von machtpolitischer Schwäche durchlitten, nämlich die völlige Entfesselung der Macht von allen normativen und ethischen Bindungen und ihre Übersteigerung bis hin zum absoluten Schrecken. Insofern ist es ziemlich abwegig, die Europäer politisch auf der »Venus« zu verorten. Wenn überhaupt, so ließen sich die Europäer als die »Überlebenden des Mars« charakterisieren. Nein, Europas eigentlich prägende Erfahrung mit seiner machtpolitischen Selbstzerstörung war nicht seine machtpolitische, sondern vielmehr seine normative Schwäche. Was Amerika an normativer Bindung seiner Macht fast im Übermaß besaß und immer noch besitzt, war in Europa (und hier vor allem wieder in Deutschland) nur unzureichend ausgeprägt. Gleichgewicht und Hegemonie definierten das europäische Staatensystem und nicht Normen und Prinzipien. Exakt aus diesen Gründen hatte sich die Außenpolitik der USA seit ihren ersten Anfängen mit aller Macht gegen die Übertragung des europäischen Gleichgewichtssystems rivalisierender Mächte auf den nordamerikanischen Kontinent gewehrt und statt dessen auf die kontinentale Union gesetzt.168 Kagan unterstreicht nun diese normative Verkehrung zwischen Europa und Amerika gerade durch seine positive Bezugnahme auf Hobbes und seine Ablehnung Kants. Kant war der Philosoph der aufklärerischen Vernunft, dessen Philosophie unter Einschluß seiner Schrift >Zum Ewigen Frieden< den Gründervätern der amerikanischen Verfassung um Faktoren näherstand
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als der Prophet des Leviathan, des absoluten Staates. Bei genauerer Betrachtung der Geschichte der USA und ihrer geistesgeschichtlichen Traditionen, die bis heute fortgelten, ist es sehr gewagt, ausgerechnet Thomas Hobbes zum Propheten der neokonservativen Weltsicht auf das 21. Jahrhundert zu machen. Immanuel Kant läßt sich ohne weiteres in die amerikanische politische Tradition integrieren, Thomas Hobbes hingegen würde deren völlige Aufgabe und Verkehrung voraussetzen. Denn nach wie vor bilden das Begriffspaar Freiheit und Demokratie jenes normative Zentralgestirn, um das sich sowohl das politische Denken als auch die Verfassungsrealität der Vereinigten Staaten drehen. Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor auf einem System der Begrenzung von Macht und nicht auf deren Verabsolutierung aufgebaut, und auch die historisch beispiellose Macht dieser unvergleichlichen Nation beruht bis heute auf der Einzigartigkeit ihrer Grundsätze. Dazu paßt Hobbes genausowenig wie die Idee eines amerikanischen Imperiums. Die Vereinigten Staaten waren vor mehr als zweihundert Jahren gerade gegen die Realität der europäischen Leviathane, der absoluten Fürstenstaaten des 17. und 18. Jahrhunderts, gegründet, ihre Grundsätze und ihre politische Verfassung gegen diese Hobbesschen Realitäten in Europa entwickelt worden. »Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.«169 Diese in der damaligen Zeit revolutionäre und zugleich hochprovokante Präambel der amerikanischen Verfassung war nichts weniger gewesen als eine Kampfansage des amerikanischen Volkssouveräns an die unfreien absolutistischen Staaten in Europa und demnach auch eine grundsätzliche Absage an die Staatenwelt des Thomas Hobbes. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten mußte Europa nach 1945 sein Staatensystem fundamental ändern und seine geistigen Grundlagen nahezu revolutionär erneuern, wenn es jenseits des
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bellum omnium contra omnes eine Zukunft in Frieden und Freiheit haben wollte. Denn anders als die USA lebte Europa seit dem Westfälischen Frieden im hobbesianischen System souveräner Leviathane, und die Französische Revolution, das Zeitalter des Nationalismus, die bolschewistische Russische Revolution und die nationalsozialistische Deutsche Revolution luden zudem dieses europäische System noch totalitär auf bis hin zur terroristischen Absolutheit der Macht. Diese europäische Welt des Thomas Hobbes zerstörte sich schließlich selbst. Und deshalb mußte das europäische Staatensystem, dieser beständige Quell von Gleichgewichtsversuchen, Hegemonialansprüchen und Kriegen, völlig neu erfunden werden - die Europäische Union und auf ein radikal anderes Prinzip gegründet werden - das Prinzip der Integration. Genau hierin liegt ein weiterer wesentlicher Unterschied zu den USA, die sich nicht neu erfinden mußten und müssen, sondern die vielmehr vor dem Problem stehen, sich mit ihrer in der bisherigen Geschichte nicht gekannten machtpolitischen Alleinstellung in der Welt arrangieren zu müssen. Anders gesagt: Europa muß sich selbst neu ordnen, während von den USA verlangt wird, die Welt neu zu ordnen - und das sind gewiß sehr unterschiedliche Ausgangslagen. Die Europäer wissen um die Unverzichtbarkeit der amerikanischen Macht für Frieden und Stabilität, global, regional und auch in und für Europa. Und sie wissen um die Unverzichtbarkeit militärischer Macht, um die Gefährlichkeit der Welt im 21. Jahrhundert und daß diese Welt keineswegs nur von Lämmern bewohnt wird. Gleichwohl wirft das erst wenige Jahre alte Jahrhundert mit seinen neuen Bedrohungen und Konflikten jene alte Grundsatzfrage aller Außenpolitik erneut auf: Was heißt Sicherheit? Und wie läßt sie sich herstellen? Schon der Kalte Krieg war ein Bruch mit aller bisherigen Geschichte gewesen, da er nur noch »virtuell« geführt und dann schließlich auch so beendet wurde.170 Die wesentliche Ursache dieser Transformation des Krieges zu einem »Als-ob-Krieg« lag in der Unführbarkeit des nuklearen Krieges und seiner unkalkulierbaren Zerstörungskraft und den noch weniger kalkulierbaren Folgewirkungen begründet. Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt hatte ge-
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gen Ende des Zweiten Weltkrieges eine neue politische Qualität geschaffen, die das Kosten-Nutzen-Verhältnis eines möglichen bewaffneten Konflikts zwischen den beiden weltweiten Atommächten ins Jenseits des Politischen verlagert. Damit wurde durch das militärische Wettrüsten einerseits der bisherige Höhepunkt in der Geschichte der Staaten an militärischer Sicherheitsvorsorge erreicht, diese andererseits aber zugleich auch grundsätzlich transformiert. Militärische Sicherheit reichte während des Kalten Krieges und unter der Logik der Abschreckung immer nur so weit, wie sie nicht realisiert, sondern lediglich angedroht werden mußte. Der Ernstfall des Krieges hätte unter diesen Bedingungen zugleich das Ende aller Sicherheit im gemeinsamen Untergang der Kombattanten in der thermonuklearen Katastrophe bedeutet. Eine vergleichbare Transformation der Realität und des Begriffs der Sicherheit zeichnet sich nunmehr auch durch die ökonomische und technologische Entwicklung ab. Sofern man nicht von der zu schlichten These ausgeht, daß es sich bei der wirtschaftlichen Globalisierung um eine amerikanische oder westliche Verschwörung handelt, sondern vielmehr um einen historischen Prozeß, in dem sich objektive Notwendigkeiten der makroökonomischen und historischen Entwicklung ausdrücken, wird man sehr schnell erkennen, daß auch die gegenseitige Abhängigkeit voneinander im internationalen politischen System dramatisch zunehmen wird. Die großen Mächte werden im 21. Jahrhundert die Option eines bewaffneten Konflikts untereinander nicht nur wegen der verheerenden Wirkungen der Nuklearwaffen nicht mehr nutzen können. Auch die wirtschaftliche und technologische Verflechtung der globalisierten Weltwirtschaft und das politisch-wirtschaftliche Zerstörungspotential einer möglichen erneuten wirtschaftlichen Desintegration werden zwischen den großen Mächten den Preis der militärischen Option in nicht mehr vertretbare Größenordnungen hochtreiben. Die sich gegenwärtig vollziehende Entwicklung des Eintritts der beiden asiatischen Megastaaten China und Indien mit ihren gewaltigen Bevölkerungen in das westliche Markt- und Kon-
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sumsystem und damit in die Weltwirtschaft wird diesen Trend dramatisch verstärken und eine neue Qualität in der globalen Wirtschaft und Politik hervorbringen. Bisher war das westliche Wirtschafts- und Konsummodell mit seiner extremen Wachstumsabhängigkeit ein Minderheitenprogramm von zwanzig Prozent der Menschheit. Mit dem Eintritt Chinas und Indiens in die globale Marktwirtschaft wird aber diese neue Quantität auch in eine neue Qualität umschlagen, und aus dem Minderheitenprogramm wird, bezogen auf die gesamte Menschheit, ein ökonomisches und kulturelles Mehrheitsprogramm werden. Ob angesichts der begrenzten globalen Ressourcen und der manifesten Irrationalitäten des westlichen Konsummodells diese neue Qualität der globalen Wirtschaft tatsächlich funktionieren kann oder ob das westliche Markt- und Konsummodell nicht vielmehr an seine »Grenzen des Wachstums« stoßen wird und deshalb sich selbst qualitativ transformieren muß, ist aus heutiger Sicht noch nicht wirklich empirisch zu beantworten. Die Zahlen und Prognosen sprechen allerdings eindeutig für die zweite Option. Auf jeden Fall werden die ökonomische Globalisierung und ihre Folgen auch die Realitäten und Begriffe von Sicherheit und Souveränität im 21. Jahrhundert dramatisch transformieren. Es ist schwer vorstellbar, daß ausgerechnet die Struktur und die Kategorien des untergegangenen europäischen Staatensystems von 1648 mit seinem Souveränitätsbegriff, seinem Gleichgewichtssystem und seiner Dominanz der militärischen Sicherheit zur Gestaltung dieser neuen globalen Realität in dem vor uns liegenden Jahrhundert taugen werden. Allein die Vorstellung, daß die Überlastung des begrenzten Ökosystems Erde durch die quantitativ und qualitativ völlig veränderte Weltwirtschaft in einen neuen politisch-militärischen Kampf um Einflußzonen und die immer knapper und teurer werdenden Ressourcen einmünden könnte, ist grotesk rückwärtsgewandt. Denn jeder mögliche Sieger in einer solchen Auseinandersetzung wird in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts mit den möglichen Verlierern so auf das engste verflochten sein, daß die Negativeffekte eines Sieges diesen innerhalb kürzester Zeit eliminieren und sogar in sein Gegenteil verkehren würden.
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Wie also wird Sicherheit im 21. Jahrhundert definiert werden? Sie wird politisch, ökonomisch und institutionell vor allem auf Kooperation und Konsens aufgebaut werden müssen, weil die Optionen Konfrontation oder gar Krieg zunehmend zu teuer und deshalb zu Nicht-Optionen (Loose-Loose-Optionen) werden, die dann nur noch Verlierer hervorbringen. Die Menschheit, ihre Staaten, ihre Volkswirtschaften, ihre Technologien, ihre Bedürfnisse sind einfach so sehr gewachsen, daß sie zu einer neuen Dimension von gegenseitiger Abhängigkeit geführt haben und damit Kooperation erzwingen. Und auch die Risiken und Gefahren im internationalen politischen System des 21. Jahrhunderts sind jenseits effizienter internationaler Kooperation und Kontrolle und wirksam arbeitender multilateraler Institutionen und Regeln kaum beherrschbar. Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Umweltkatastrophen, Epidemien, zusammengebrochene Staaten, Flüchtlingsströme, Genozide - all diese Herausforderungen der nationalen und globalen Sicherheit werden einen vornehmlich militärisch definierten Sicherheitsbegriff und einen staatlich fixierten Souveränitätsbegriff hinter sich lassen müssen. Aus all diesen Gründen werden deshalb weder »Mars« noch »Venus« weiterhelfen, wenn es um die grundsätzliche Neuordnung des gesamten Systems geht. Auch im 21. Jahrhundert wird die klassische strategisch-militärische Macht nicht verschwinden, aber ihre Lösungskompetenz zur Sicherung nationaler Interessen und zur Stabilisierung des internationalen Systems wird sich immer mehr als unzureichend erweisen. Das internationale politische System steht vor der Notwendigkeit seiner Anpassung an die wirtschaftliche, technologische und ökologische Globalisierung, und diese notwendige Neuordnung der Welt wird nicht im Zeichen einer globalen Wiedergeburt des alten europäischen Gleichgewichtssystems und seiner hegemonialen und antihegemonialen Reflexe geschehen. Alles deutet vielmehr auf eine tiefgreifende Veränderung des internationalen Systems und seiner Institutionen hin. Eine Art »kopernikanische Wende«171 im Staatensystem kündigt sich zu Beginn dieses Jahrhunderts an, die die alte, auf dem europäischen Staatensystem des Westfälischen Friedens gründende Weltordnung hinter sich lassen wird.
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Die entscheidende Frage wird dabei sein, wie friedlich oder wie gewaltsam sich diese Transformation des internationalen Systems vollziehen wird. Und die Antwort auf diese Frage wird vom Westen, also zuerst und vor allem von den Vereinigten Staaten und Europa, zu geben sein, denn nicht nur die Globalisierung, sondern auch das existierende ökonomische System und das Staatensystem sind Kinder der westlichen Moderne. Weder die globale Macht USA allein noch gar Europa allein werden dies leisten können, sondern eine solche Aufgabe wird sich nur schultern lassen, wenn sich der Westen als solcher über eine gemeinsame strategische Perspektive unter den Bedingungen dieses Jahrhunderts definiert und damit auch erneuert.172 Wenn die USA und die EU weder die Kraft noch den Willen zu einem strategischen Konsens über die Gestaltung des 21. Jahrhunderts haben, wird diese Entwicklung wesentlich krisenhafter und gewalttätiger verlaufen, als wenn diese beiden Teile des Westens die Kraft, den Willen und die Weitsicht zu einem solchen Konsens aufbringen. Das schließt andere Regionen und Mächte keineswegs aus, im Gegenteil. Wenn sich der riesige Kontinent Afrika, trotz all seiner fast unlösbar erscheinenden Krisen und Konflikte, mittels der Afrikanischen Union (AU) auf den Weg in ein System kollektiver und kooperativer Sicherheit der Zukunft gemacht hat, so ist diese Entwicklung von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Dasselbe gilt für Lateinamerika, für Südostasien und auch für Rußland, wenn es seine strategische Westöffnung nicht nur als eine ökonomische begreift, sondern vielmehr auch als eine demokratische, normative und gesellschaftliche. Gewiß werden sich im 21. Jahrhundert weder die Staaten zugunsten einer Weltregierung auflösen noch wird gar die Bedeutung der militärischen Sicherheit verschwinden. All diese Elemente des internationalen Systems werden fortexistieren, aber ihre Bedeutung wird sich verändern, und andere Elemente werden neu entstehen und an Bedeutung gewinnen. Denn wenn sich die klassischen Begriffe von Sicherheit und Souveränität qualitativ transformieren, dann wird sich auch die gesamte Ordnung des internationalen politischen Systems, die davon abhängt, qualitativ verändern, und eine solche Veränderung wird auch die
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Herausbildung neuer Institutionen oder die Umdefinition bestehender Institutionen unverzichtbar machen. Und wenn diese Grundannahme richtig ist, daß das globale Staaten- und Wirtschaftssystem auf Grund objektiver Zwänge zu einer immer enger werdenden Zusammenarbeit getrieben wird - Kooperation also objektiv die zentrale Kategorie der Rationalität dieses neuen Systems sein wird -, dann werden sich auch die beiden davon abgeleiteten Kategorien Sicherheit und Souveränität in Richtung kooperativer Institutionen und kooperativer Souveränität transformieren. Die Integration von Institutionen und Souveränität ist die fortgeschrittenste Form dieser Entwicklung im 21. Jahrhundert, die auf dem Zwang zur Kooperation beruht. Eine weitere qualitative Veränderung des internationalen Systems hat ebenfalls dramatische Folgewirkungen, nämlich seine Demokratisierung. Mit dem Ende des Kalten Krieges sind zwar nicht überall die Diktaturen und autoritären Regime verschwunden, gleichwohl gibt es heute weltweit mehr liberale Demokratien und offene Gesellschaften als jemals zuvor in der Geschichte. Mit der globalen Durchsetzung der liberalen Demokratie hat sich der Begriff der Macht in seinem Wesensgehalt verändert. Im alten Staatensystem definierte sich die Macht überwiegend aus sich selbst: Die Macht kam aus den Gewehrläufen. Wer die Macht hatte, setzte sich durch und damit auch die Regeln. Heute begründet sich die Macht nicht mehr allein oder gar wesentlich aus sich selbst. Die Anerkennung der Macht durch Konsens, und d. h. die Legitimation der Macht durch Zustimmung, ist in einem sich zunehmend demokratisierenden internationalen System zu einem wesentlichen Teil von Macht geworden. Diese Entwicklung ist historisch ganz wesentlich der normativ gebundenen Außenpolitik der USA zu verdanken, für die die Demokratisierung und Verrechtlichung des Staatensystems immer von entscheidender Bedeutung war. Auch mit dieser Entwicklung hin zur Demokratisierung kündigt sich bereits die tiefgehende Transformation von Macht, Sicherheit und Souveränität und damit des gesamten Systems selbst an, wie es weiter oben beschrieben wurde. Der objektive Zwang zu Kooperation und Konsens im Jahrhundert der Globalisierung dringt in die tradier-
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ten Kategorien des internationalen politischen Systems und damit auch in seine Realitäten ein und treibt deren Transformation voran. Wenn auf diesen Druck, der aus den sich in den politischen Tiefenschichten des Staatensystems vollziehenden Verschiebungen entsteht, nicht angemessen mit der Transformation der Strukturen und der Institutionen des internationalen Systems reagiert wird, so werden die Energien dieses Veränderungsdrucks zu einer zunehmenden Dysfunktionalität des gesamten Systems führen, und dessen Handlungsrationalität und Handlungsfähigkeit wird nach und nach verlorengehen. Exakt diese Entwicklung kann man gegenwärtig im internationalen System beobachten.
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V. Europa, Amerika und die Zukunft des Transatlantismus »Europa hat allerdings das Problem, in zwei Welten gleichzeitig zu leben: der der alltäglichen Realpolitik und der des Traums von einer besseren Zukunft. An letzterem festzuhalten und dabei die sehr realen Gefahren der Gegenwart nicht aus dem Blick zu verlieren, ist die schwierige Aufgabe. Und die größte Herausforderung dabei ist, eine gemeinsame Außenpolitik zu entwickeln.« JEREMY RIFKIN
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Kann man aus der Geschichte wirklich lernen? Diese alte und von der Politik wie der Geschichtswissenschaft bis heute niemals wirklich zufriedenstellend beantwortete Frage wurde, bedingt durch die fragwürdigen politischen Begründungen für den Irakkrieg und dessen Verlauf, erst jüngst wieder von dem amerikanischen Historiker Arthur M. Schlesinger Jr. aufgeworfen. Bis heute wirkt das Versagen der westlichen Demokratien gegenüber Hitler in den dreißiger Jahren in den aktuellen Auseinandersetzungen um die Frage von Krieg und Frieden nach. Gerade anhand dieser konstitutiven Erfahrung der gescheiterten Politik des Appeasements von München 1938 weist Schlesinger auf die kaum auflösbare Ambivalenz historischer Analogien hin. Er zitiert dazu aus der Autobiographie Winston Churchills aus dem Kapitel über das Münchener Abkommen: »Es dürfte hier angebracht sein, einige Grundsätze der Moral und des Handelns niederzulegen, die künftig als Orientierung dienen mögen. Kein Fall dieser Art kann losgelöst von seinen Zusammenhängen beurteilt werden.« Schlesinger schildert dann, welche Erfahrungen man in den fünfziger Jahren mit der Übertragung des Beispiels von München gemacht hat: »Sechzehn Jahre nach München, als Präsident Eisenhower die Analogie zu München heranzog, um
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die Briten davon zu überzeugen, gemeinsam mit den Amerikanern die Franzosen in Indochina zu unterstützen, zeigte sich Churchill unbeeindruckt. Er wies Eisenhowers Analogie zurück, was Churchills Nachfolger als Premierminister zwei Jahre danach natürlich nicht davon abhielt, Gamal Abdel Nasser und den Nahen Osten unter den Bedingungen von 1938 zu sehen und sein Land in das Suez-Abenteuer zu stürzen. Dieses Mal war es Eisenhower, der die Analogie zu München zurückwies. Solche Vorfälle veranschaulichen die bedrückende Beharrlichkeit einer Mentalität, die Politik anhand von Stereotypen und historischen Verallgemeinerungen betreibt, die der Vergangenheit auf unzulässige Weise entwunden und mechanisch auf die Zukunft übertragen werden.«174 Letztlich kommt Schlesinger zu dem wenig verheißungsvollen Befund, daß man am Ende »zu dem Schluß kommen wird, daß die Masse der Irrtümer, die im Namen >Münchens< begangen wurden, über den ursprünglichen Irrtum von 1938 hinausgehen dürfte«.175 Man muß nun keineswegs diese pessimistische Schlußfolgerung teilen, um dennoch zu der Überzeugung zu gelangen, daß es für die alte Frage nach den Lehren aus der Geschichte keine verallgemeinerbaren Antworten gibt. Ob eine politische Entscheidung auf einer erfolgreichen Geschichtslektion gründet oder ob dieselbe Entscheidung die Lehren aus der Geschichte gründlich mißverstanden oder gar für falsche Zwecke ideologisch mißbraucht hat, weiß man leider immer erst im nachhinein. Denn alle politischen Entscheidungen sind interessegeleitet und deshalb meistens hochkontrovers. Zudem blickt die historische Erkenntnis immer zurück und niemals voraus. Die Wirkung einer jeden politischen Entscheidung ist von ihrem Ergebnis her immer zukunftsoffen und beruht folglich niemals auf Erkenntnis, sondern immer auf mehr oder weniger schlüssigen Annahmen. Die Frage nach der Möglichkeit, aus der Geschichte Lehren zu ziehen, wurde gegenwärtig ganz unmittelbar durch den Krieg gegen den Irak aufgeworfen, durch seine invaliden Begründungen und die politischen Spaltungen, die er im Westen verursacht hat. Churchill, Appeasement und München wurden dabei seitens
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der Befürworter gegen die Gegner des Krieges im Zweistromland in Stellung gebracht. Diese historisierenden Bezüge haben sich jedoch im Lichte der Ereignisse als Fehlgriffe erwiesen. In der aktuellen außenpolitischen Debatte diesseits und jenseits des Atlantiks wird mangels einer konsistenten strategischen Perspektive des Westens nur allzu gerne auf die Geschichte zurückgegriffen, wie etwa zur Erklärung der historisch präzedenzlosen Alleinstellung der USA als globaler Macht, des Krieges gegen den Dschihad-Terrorismus, der zukünftigen Weltordnung und der Kontroversen um die Gründe des Krieges gegen den Irak. Hinter diesem mit historischen Bezügen arbeitenden Legitimations- und Erklärungsanspruch stößt man jedoch zugleich auch auf eine tiefe Verunsicherung aller Akteure im Westen angesichts der gegenwärtigen unüberschaubaren Lage und einer bedrohlich erscheinenden Zukunft. Zwar leistet man sich auf beiden Seiten des Atlantiks bei der Suche nach neuen strategischen Antworten für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts den Luxus, so zu tun, als ob man auf die jeweils andere Seite verzichten könne, weil sie entweder zu machtlos (Europa) oder zu übermächtig (USA) sei. Zugleich aber ahnen beide Seiten ganz genau, daß sie sich ein Ende des Westens keineswegs erlauben dürfen, da beide Seiten, Europa und Amerika, dabei nur verlieren würden. Ein stabiler Transatlantismus, ein befriedeter, demokratisch verfaßter und marktwirtschaftlich organisierter Raum bildet sowohl für die Nordamerikaner als auch für die Europäer das Rückgrat ihrer Sicherheit. Würde man tatsächlich versuchen, diese Errungenschaft der Geschichte, bezahlt mit sehr vielen Opfern, in Frage zu stellen, oder sie auch nur langsam durch Desinteresse oder falsche Prioritätensetzung erodieren lassen, so wäre dies ein strategischer Fehler, ja mehr noch, eine historische Dummheit. Freilich werden diese Beziehungen keineswegs dadurch besser, daß man sich in ritualisierte Bekenntnisse flüchtet und sich so der unabweisbaren Notwendigkeit einer durchaus grundsätzlichen Neubestimmung entzieht. Denn ohne eine Erneuerung des Transatlantismus, getragen von den Akteuren auf beiden Seiten des Atlantiks und ruhend auf einem umfassend erneuerten stra-
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tegischen Konsens, wird der transatlantische Graben sich verbreitern und die Erosion zunehmen. Eine solche Entwicklung liegt weder im Interesse Nordamerikas noch Europas, und deshalb darf es dazu nicht kommen. Amerikaner und Europäer verfügen über wesentliche Gemeinsamkeiten, gründen in ihrem kollektiven Bewußtsein jedoch auch auf höchst unterschiedlichen historischen Erfahrungen. Deshalb reagieren sie auf dieselben Bedrohungen und Gefahren bisweilen sehr verschieden, ja sogar gegensätzlich. Dies kann auf beiden Seiten zu mangelndem Verständnis (bis hin zur Ablehnung) der Reaktionen der jeweils anderen Seite führen, und daraus entsteht dann ein ganzes Knäuel von politischer und emotionaler Fehlkommunikation. Bei all den Animositäten zwischen beiden Seiten des Atlantiks handelt es sich aber letztendlich um Ärger, um Verdruß und schlechte Gefühle innerhalb derselben politisch-kulturellen Familie, die, wie alle Familien, letztendlich aufeinander angewiesen bleibt, wenn man nicht großen Schaden für alle Beteiligten anrichten will. Und diese transatlantische Familie teilt auch die Sorgen und Ängste, die eine bedrückende Chaosperspektive angesichts der Unübersichtlichkeit der heutigen politischen Welt auslöst. Auch deshalb sucht man bisweilen seinen Halt dort, wo man sich nach wie vor sicher meint, nämlich in einer verklärten Vergangenheit, in den glanzvollen Momenten der Geschichte des Westens und in den daraus zu ziehenden tatsächlichen oder vermeintlichen Lehren. Für diese negative politische Gefühlslage in den westlichen Gesellschaften gibt es vor allem zwei objektive Gründe: die Radikalität des Bruchs von 1989/90 und die geschichtliche Unvergleichbarkeit der gegenwärtigen Lage des internationalen Systems. Bei einer Analyse des gegenwärtigen Staatensystems stößt man ganz unmittelbar auf das herausragende Charakteristikum der Unvergleichbarkeit. Etwas völlig Neues, Einmaliges scheint sich seit dem Epochenbruch von 1989/90 entwickelt zu haben, das sich in einer so bisher niemals dagewesenen globalen technologisch-ökonomischen Integration, in der weltweiten Einzelstellung einer Macht ohne Gegengewicht und in einer bisher kaum gekannten machtpolitischen Asymmetrie zwischen staat-
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liehen und nichtstaatlichen Akteuren ausdrückt, um nur einige der neuen Faktoren und Veränderungen zu benennen. Gewiß überwiegen rein quantitativ nach wie vor die Kontinuitäten im internationalen politischen System, aber es sind gerade die neuen Faktoren, die den begründeten Verdacht nahelegen, daß wir gegenwärtig Zeugen sehr tiefgreifender Verschiebungen und Veränderungen im internationalen System sind. Diese Veränderungen sind von einer Grundsätzlichkeit und Radikalität, die im Bewußtsein aller Beteiligten kaum angekommen ist, weil sie eben in der bisherigen Geschichte der Staaten so präzedenzlos sind. Nirgendwo wird diese Tatsache sinnfälliger als in den transatlantischen Beziehungen zwischen den USA und Europa. Betrachtet man entlang einer langen, mehr als dreieinhalb Jahrhunderte dauernden Linie das internationale System der Gegenwart, so wird sehr schnell sichtbar, daß sich dieses System aus der Globalisierung des europäischen Staatensystems im 20. Jahrhundert mittels zweier Weltkriege, durch die Dekolonisierung und durch das Ende des Kalten Krieges ergeben hat. Zwei Mächte haben diese Globalisierung nach 1945 in ihrem Kampf um die weltweite Vorherrschaft ganz besonders vorangetrieben, nämlich die USA und die Sowjetunion, die in diesem Zweikampf unterlegen und untergegangen ist. Gleichwohl scheint sich mit dem Ende dieses bipolaren Systems nicht einfach die globale Hegemonie der USA (und schon gar nicht ein amerikanisches Imperium) durchgesetzt zu haben, d. h. die Fortsetzung des bisherigen Systems zu den machtpolitischen Bedingungen des Siegers. Vielmehr scheint das System als solches in seinem Innersten einen fundamentalen Bruch erlitten zu haben, der alle Beteiligten — und hier an erster Stelle die USA und Europa - vor große Orientierungsschwierigkeiten stellt. Das moderne Staatensystem ist im wesentlichen von Europa geschaffen worden. Das globale Ausgreifen der europäischen Mächte bestimmte und strukturierte die Welt der Neuzeit. Obwohl die USA von Anfang an eine expansive, auf den ganzen nordamerikanischen Kontinent bezogene Außenpolitik betrieben haben, traten sie doch erst sehr viel später, nach der Sicherung ihrer Rolle als quasi alleinige nordamerikanische Kontinen-
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talmacht, in die Weltpolitik ein. Dieser Eintritt der Vereinigten Staaten in die Weltpolitik vollzog sich aber entlang der vom europäischen System vorgegebenen Linien. Um das gegenwärtige Problem der USA und die aktuellen Schwierigkeiten im amerikanisch-europäischen Verhältnis besser zu verstehen, sei hier das Bild eines großen Stromes verwandt, den das sich mehr und mehr global ausweitende europäische Staatensystem verkörperte. Die Vereinigten Staaten begannen ihren Einstieg in die Weltpolitik, indem sie sich in diesen von Europa und seinen Konflikten vorgegebenen Strom der Geschichte Ende des 19. Jahrhunderts und definitiv 1917 mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg hineinbegaben. Sie setzten diesem System nicht eine eigene Alternative entgegen, obwohl sie diesen Anspruch, bedingt durch den ganz besonderen Charakter ihrer Gründung, in ihrer Außenpolitik durchaus immer aufscheinen ließen. Dieser mächtige europäische Geschichtsstrom bestimmte seit dem Beginn der Neuzeit das sich entwickelnde Staatensystem, und er folgte klar konturierten Strukturen und Interessen. Die Vereinigten Staaten agierten während des gesamten 20. Jahrhunderts höchst erfolgreich innerhalb dieses Stromes der europäischen Geschichte und bestimmten mehr und mehr seinen weiteren Verlauf, aber dieser europäische Strom endete abrupt mit dem Untergang der Sowjetunion. Die »Goldenen« neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts konnten im Westen noch für einige Zeit das ganze Ausmaß dieses revolutionären Bruchs im Staatensystem überdecken. Doch heute ist es offensichtlich, daß sich dieser mächtige Strom des europäisch-globalen Staatensystems in einer sumpfigen Diffusion der Weltgeschichte verloren hat, gewissermaßen in einem Pantanal der Staatengeschichte, in dem es von gefährlichen Vipern, Moskitos und wilden Bestien nur so wimmelt. Dieses Sumpfgebiet scheint keinen Anfang und kein Ende zu nehmen, und der Lauf der Gewässer läßt sich in den aufsteigenden Nebeln nur noch schwer enträtseln. So setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß mit der Zeitenwende von 1989/90 eben nicht nur die bipolare Weltordnung von Jalta ihr Ende gefunden hat, sondern daß
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diese Zäsur weitaus tiefer reicht. Auch die dreihundertfünfzig Jahre währende Geschichte des europäischen Staatensystems hat mit dem Fall der Mauer und dem Untergang der Sowjetunion ihr Ende gefunden. In der Tat erklärt diese These vom Ende des alten europäischen Systems in den Jahren nach 1989/90 viele der gegenwärtigen Anpassungsprobleme im transatlantischen Verhältnis. Denn sowohl die USA als auch Europa reagierten, entsprechend ihrer unterschiedlichen Verfaßtheit und objektiven Lage, höchst unterschiedlich auf diesen Bruch in der Geschichte des Staatensystems: Die USA als souveräne und einzige Weltmacht fanden sich auf Grund ihrer präzedenzlosen Stärke in einer objektiv unilateralen Lage wieder, die Europäer hingegen in einer ihre Souveränität neu definierenden transnationalen Transformation, die sich in der Europäischen Union materialisiert. Nun aber wird immer offensichtlicher, welche Bedeutung es hatte und hat, daß die USA bisher, trotz ihrer einmaligen Stärke, doch im wesentlichen immer entlang der Vorgaben und damit innerhalb der Logik des europäischen Staatensystems agiert haben. Sie waren zwar in der Zeit von 1945 bis 1989 zu den Erben des europäischen Staatensystems geworden, aber das überkommene System als solches bestand in seinem Kern unverändert fort. Die wirkliche Revolution des Staatensystems ereignete sich erst mit dem Kollaps der Sowjetunion. Denn dadurch wurde die globale hegemoniale Bipolarität durch einen unilateralen Zentralismus abgelöst. Eine solche Konstellation aber hat die bisherige Geschichte des internationalen Systems bis dato noch niemals gesehen. Folgte man daher allein der objektiven Logik dieser Revolution des gegenwärtigen Staatensystems, so stünden die USA fortan allein vor der Aufgabe, ein völlig neues globales System zu entwerfen und durchzusetzen, das auf eben diesem globalen Zentralismus einer einzigen Macht beruhen müßte. Freilich gilt dies nur für die objektive Lage des internationalen Systems. Im vorangegangenen Kapitel haben wir bereits die Unmöglichkeit eines amerikanischen Imperiums erörtert, und selbstverständlich gelten all die dort angeführten Gründe auch hier. Die Herausforderungen eines globalen unilateralen Zentra-
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lismus wären zu groß, seine Legitimation zu gering, und die subjektive Verfaßtheit der Mehrheit des amerikanischen Volkes wie auch seine Traditionen und Prinzipien ließen ein solches Unterfangen kaum erfolgreich zu. Objektive Notwendigkeit und subjektive Unmöglichkeit begründen also einen kaum auflösbaren Widerspruch in der gegenwärtigen strategischen Lage der alleinigen Weltmacht USA, und das hat schwerwiegende Konsequenzen für die Ordnung bzw. Unordnung im globalen Staatensystem. Freilich ist die Beschreibung eines Widerspruchs keineswegs schon eine Antwort auf die drängende Frage nach der neuen Ordnung der Welt, die nur die USA als einzige globale Macht geben kann, sonst bleibt es bei der gegenwärtigen Widersprüchlichkeit in der Realität des Staatensystems, was die Konfliktpotentiale, Krisen und Instabilitäten erheblich vergrößern und gefährlich aufladen wird. Dreimal haben die USA im 20. Jahrhundert auf eine Gefährdung des Staatensystems mit einem großen, institutionell, politisch, wirtschaftlich und normativ unterlegten Ordnungsentwurf (»Grand Strategy«) reagiert, zweimal davon recht erfolgreich. Präsident Woodrow Wilson schuf den Völkerbund als Antwort auf die Gefährdung des europäischen Staatensystems durch den Ersten Weltkrieg; Franklin D. Roosevelt entwickelte das System der Vereinten Nationen als Antwort auf den Krieg um die Weltherrschaft durch Nazi-Deutschland und das imperiale Japan im Zweiten Weltkrieg; und Präsident Harry S. Truman und sein Außenminister George C. Marshall entwarfen zu Beginn des Kalten Krieges gegen die sowjetische Bedrohung Westeuropas und anderer Regionen eine politisch-militärische Bündnisstruktur, in ihrem Zentrum die NATO und der Marshall-Plan. Eine vielleicht noch größere Anstrengung ist jetzt, als Antwort auf den neuen Totalitarismus und die Globalisierung, von den USA als führender Weltmacht zu leisten, wenn die strategische Bedrohung ihrer Sicherheit erfolgreich abgewehrt werden soll. Angesichts der Größe der Aufgabe, eine neue Weltordnung zu schaffen, darf allerdings mit guten Gründen die Frage aufgeworfen werden, ob selbst ein Staat von der präzedenzlosen Machtfülle der Vereinigten Staaten dazu allein in der Lage sein wird,
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d. h. ob dessen Ressourcen an Macht und Legitimation für diese Herausforderung ausreichen werden. Daran bestehen ernsthafte Zweifel, denn genau hier macht sich das Verschwinden des europäischen Geschichtsstromes negativ bemerkbar. Rußland, China, Indien, Japan, Brasilien - all diese und viele andere Mächte werden bei dem Entwurf einer neuen Ordnung wichtige, vielleicht sogar zentrale Akteure oder schlimmstenfalls Opponenten sein, aber nur Europa - und d. h. ein einiges und damit starkes Europa, mit seinem Instinkt und tieferen Sinn für Geschichte und seiner engen Werte- und Interessenbindung über den Atlantik hinweg - kann dabei die Rolle eines echten Partners ausfüllen. Herausgefordert ist also der Westen, angeführt von den Vereinigten Staaten von Amerika. Handelt es sich bei der unilateralen Position der USA am Ende nur um einen »Zufall« der Geschichte? Die Lage selbst, so eine verbreitete These, sei eben atypisch und systemwidrig und würde durch den Verlauf der weiteren Geschichte wieder korrigiert werden. Spätestens Mitte des Jahrhunderts werde es dann wieder ein Mächtegleichgewicht zwischen der VR China und den USA und vielleicht sogar noch mit anderen Weltmächten geben. All das mag zutreffen, jedoch sprechen andererseits gewichtige Faktoren dafür, daß es sich bei den aktuellen Entwicklungen im Staatensystem keineswegs nur um ein zufälliges Zwischenspiel handelt. Denn nicht nur die USA, sondern auch die Europäer befinden sich in einer Situation historischer Einmaligkeit, ja vielleicht gilt dies für Europa mit seinem ebenfalls präzedenzlosen Einigungsprozeß souveräner Nationalstaaten in einer Union sogar noch sehr viel mehr. Die Europäische Union hat sich während des letzten Jahrzehnts grundlegend verändert. Dies war sowohl das Ergebnis eigener Entscheidungen als auch neuer Herausforderungen. Aus dem Europa der 15 ist seit dem 1. Mai 2004 das Europa der 25 Mitgliedsstaaten geworden. Europa hat damit definitiv die Teilung des Kontinents überwunden, die über fünf Jahrzehnte während der gesamten Zeit des Ost-West-Konflikts bestanden hatte. Damit einhergehend wurde ein Binnenmarkt mit über 450 Millionen Menschen geschaffen. Die gemeinsame Währung
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Euro, der Binnenmarkt mit der Freizügigkeit von Personen, Waren, finanziellen Leistungen und Dienstleistungen, der Abbau der inneren Grenzen, die Unionsbürgerschaft, auch eine gemeinsame, zumindest zunehmend besser und intensiver koordinierte Außen- und Sicherheitspolitik und schließlich ein europäischer Verfassungsentwurf mit Grundrechten und demokratisch legitimierten europäischen Institutionen - all das sind die sichtbaren Veränderungen, welche die EU innerhalb weniger Jahre durchlaufen hat. Heute kann man von Wien bis Lissabon mit dem Auto fahren, ohne auch nur einmal an einer Grenze seinen Paß zeigen zu müssen, und darüber hinaus kann man immer mit demselben Geld bezahlen. Nach dem Ablauf eines weiteren Jahrzehnts oder weniger wird dies auch für eine Reise mit dem Auto von Estland bis Portugal gelten. Wer Europas Geschichte kennt, der weiß, welche Revolution im europäischen Staatensystem sich in diesen Veränderungen des europäischen Alltags zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausdrückt, und dabei ist es gerade erst sechs Jahrzehnte her, daß der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen war und Europa zu weiten Teilen zerstört und geteilt daniederlag. Die wichtigste Veränderung brachte allerdings die letzte Erweiterungsrunde der EU vom 1. Mai 2004 mit sich. Denn durch diesen Schritt über den früheren Eisernen Vorhang hinweg wurde die Europäische Union, die bis dahin, bedingt durch die Realität des Kalten Krieges und die damit einhergehende europäische Teilung, de facto lediglich eine (west-)europäische Union gewesen war, erst wirklich zu einer (gesamt-)europäischen Union. Es erwies sich sehr schnell, daß diese scheinbar nur quantitative Erweiterung der Union der 15 um weitere zehn neue Mitgliedsstaaten auch sehr weitgehende qualitative Konsequenzen nach sich ziehen sollte, denn durch diese große Erweiterungsrunde wuchs die EU definitiv in eine strategische Verantwortung hinein, die dem europäischen Einigungsprozeß eine völlig neue Dimension aufzwang. Zu Beginn schien die Union nur eine Wirtschaftsgemeinschaft zu sein, aber dies betraf lediglich ihre äußere Erscheinungsform. Ihr Ziel war bereits damals ein politisches, nämlich
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die Durchsetzung eines neuen Ordnungsprinzips unter ihren Mitgliedern - das Prinzip der Integration. Die Souveränität der Mitgliedsstaaten sollte zumindest in Teilen zusammengeführt werden, und diese integrierten Teile der bisherigen nationalstaatlichen Souveränität sollten mittels gemeinschaftlicher Institutionen fortan gemeinsam, entlang ausgehandelter Regeln, ausgeübt werden. Die Montanindustrie machte den Anfang, und der gemeinsame Markt und Agrarmarkt folgten. Die Integration der ökonomischen Interessen diente also vom ersten Augenblick an einem hochpolitischen Zweck, nämlich der dauerhaften Sicherung des Friedens zwischen den Mitgliedsstaaten, und das hieß vor allem zwischen den beiden alten Erbfeinden Deutschland und Frankreich. Aus heutiger Sicht wirkt es fast schon wie eine Ironie der Geschichte, daß hinter der Idee der europäischen Integration nichts Geringeres stand als die Vision der Vereinigten Staaten von Europa und damit die ursprünglich amerikanische Vision von Transnationalität, wie sie vor mehr als zweihundert Jahren auf dem nordamerikanischen Kontinent mit der Gründung und der Expansion der USA zu einer machtvollen Realität geworden war. Und wie um diese Ironie noch zu steigern, waren es ausgerechnet zwei große französische Staatsmänner, die über den Mut, die Stärke und die Weitsicht verfügten, um nach den Verheerungen der Epoche des europäischen Nationalismus und der fast gelungenen Selbstzerstörung Europas in zwei Weltkriegen, nach der totalen Niederlage von Hitlers Großdeutschem Reich und angesichts der Bedrohung durch Stalins großrussisches Imperium diese Vision von den Vereinigten Staaten von Europa konkret anzupacken. Wer nach einer die Zeiten überdauernden, normativ-philosophischen und zugleich machtpolitisch-visionären Begründung für einen sich erneuernden Westen im 21. Jahrhundert sucht, der kann genau hier fündig werden. Die EU und die USA als die beiden Eckpfeiler des Transatlantismus gründen nicht nur auf denselben Werten und Normen der abendländisch-christlichen Aufklärung, sondern sie folgen in ihrer jeweiligen Antwort auf die politische Krise der Moderne auch derselben Vision,
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nämlich der transnationalen Integration von Souveränität. Die Ungleichzeitigkeit dieser beiden politisch-kulturellen Prozesse führt allerdings in der transatlantischen Gegenwart, gemeinsam mit historischen Erfahrungsdifferenzen und einem bedeutenden machtpolitischen Gefälle, zu politischen Problemen und Verwerfungen, die nicht nur in der Irakkrise aufbrachen. Gleichwohl war es vor allem diese Krise, welche die transatlantischen Differenzen voll sichtbar gemacht hat. Die Verfolgung derselben Vision festzustellen heißt aber keineswegs, die real existierenden kulturellen, sozialen und historischen Unterschiede, die zwischen Europa und den USA existieren, zu übergehen. Die USA wurden auf einer fernen, kontinentalen Insel in einem nahezu geschichtsfreien Raum vor über zweihundert Jahren gegründet, von dreizehn Staaten mit etwa 2,5 Millionen aus Europa zugewanderten Einwohnern.176 Europa hingegen ist übersatt an Geschichte, verfügt über stolze und alte Nationalstaaten, eine noch stolzere und ältere Vielfalt an Sprachen und Kulturen, umfaßt heute 450 Millionen Menschen, und sein komplizierter und mühseliger Einigungsprozeß findet unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts statt. Und dennoch, trotz all dieser gravierenden Unterschiede teilen die USA und die EU im Grundsatz dieselbe Vision. Diese Tatsache wird sich in Zukunft noch als bedeutsam erweisen. Es gibt darüber hinaus weitere bedeutsame Differenzen mit weitreichenden Konsequenzen zwischen der europäischen und der amerikanischen Einigungsvision. Die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika erfolgte faktisch als Abkehr von der damaligen europäischen Welt und war deshalb zuerst und vor allem eine Trennung, ein Akt der Isolation. Die jungen USA wandten der damaligen europäischen Welt den Rücken zu und blickten in Richtung auf die offenen Grenzen ihres unermeßlich erscheinenden Westens. Europas schwieriger Einigungsprozeß hingegen ist das genaue Gegenteil eines isolationistischen Aktes, sondern vielmehr der Versuch, sein nationalistisches Fieber dauerhaft zu überwinden und damit unter völlig neuen Bedingungen als Akteur auf die Weltbühne zurückkehren zu können. Darüber hinaus vollzieht sich dieser Einigungsprozeß fast aller
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souveränen Staaten des europäischen Kontinents im Zeitalter der Globalisierung, in dem sich die Herausbildung neuer staatlicher Größenordnungen nicht nur in Europa, sondern auch in vielen anderen Regionen der Welt als Herausforderung stellt. Für die Staaten und Regionen jenseits des europäischen Kontinents lautet daher die politische Botschaft Europas, anders als beim Gründungsprozeß der USA, nicht Abkehr, sondern mögliches Vorbild. Dabei wird dieser Beispielcharakter der europäischen Einigung noch durch die Tatsache verstärkt, daß Europa für die außereuropäische Welt der Kontinent der Souveränität par excellence war und ist. Hier ist der moderne Staat erfunden worden, hier hat er seine Höhe- und seine Tiefpunkte erreicht, und auf diesem Kontinent hat sich der Nationalismus wie nirgendwo sonst ausgetobt. Wenn sich daher dieses Europa heute anschickt, eine transnationale integrative Vision in eine völlig neue politische, wirtschaftliche und soziale Realität umzusetzen, so wird sich dieser Prozeß für die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts als von weitaus größerer Bedeutung erweisen, als es für den nordamerikanischen Einigungsprozeß vor mehr als 200 Jahren gegolten hat. Wer allerdings den Alltag der EU kennt, wer um die Schwierigkeiten des europäischen Interessenausgleichs mittels einer scheinbar unersättlich regelungswütigen Euro-Bürokratie weiß, wer die furchtbare Trägheit der Brüsseler Entscheidungsprozesse erlebt und zugleich das große Akzeptanzproblem der europäischen Institutionen in den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten erfahren hat, der mag sich zu Recht fragen, ob die politische Union denn angesichts der Größe der Widerstände und des Schwergewichts des nationalstaatlichen Eigensinns und der Vielfalt der ererbten Kulturen, Sprachen und Traditionen jemals Wirklichkeit werden kann. Wenn man aber diese Negativbilanz mit den erstaunlichen Leistungen und Fortschritten der EU seit ihrem Beginn saldiert - eine dauerhafte Friedensordnung, Sicherheit, Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie, Toleranz, Schutz der Minderheiten, Überwindung der Grenzen, ein bisher nie dagewesener wirtschaftlicher Wohlstand, technisch-wissenschaftlicher Fortschritt, soziale Sicherheit, Umwelterhaltung und die
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wachsende außenpolitische Stärke der Europäischen Union -, dann überwiegt eindeutig die positive Bilanz. Die Europäische Union war und ist das historische Projekt zur dauerhaften Überwindung der europäischen Kriege. Dabei hat das Europa der Integration bereits drei Etappen durchlaufen: beginnend mit der Wirtschaftsgemeinschaft über den Staatenverbund hin zu einer wirklichen Union der europäischen Staaten. Im ersten Artikel des europäischen Verfassungsvertrages heißt es: »(i) Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union, der die Mitgliedsstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen. Die Union koordiniert die diesen Zielen dienende Politik der Mitgliedsstaaten und übt die von den Mitgliedsstaaten übertragenen Zuständigkeiten in gemeinschaftlicher Weise aus. (2) Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen.«177 Diese Union gründet demnach nicht auf der Hegemonie eines einzelnen Staates oder einiger weniger großer Staaten über alle anderen, sondern sie beruht auf dem Kompromiß als Prinzip und der »Gleichheit der Mitgliedsstaaten vor der Verfassung«,178 seien sie nun groß oder klein, reich oder arm, alte oder junge Mitglieder. Dies gilt auch für die Gleichheit der Unionsbürger vor der Verfassung. Dieser Grundsatz nivelliert aber keineswegs die fortbestehenden realen Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten. Denn erstaunlicherweise gründet exakt dieser Gleichheitsgrundsatz der europäischen Verfassung auf einem Element der Ungleichheit, das bewußt eingeführt wurde, um durch eine gewisse proportionale Ungleichheit zu Lasten der großen Mitgliedsstaaten im Europäischen Parlament und im Rat die Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes innerhalb der EU überhaupt erst zu ermöglichen. Diese Ungleichheit gilt auch bei der Stimmengewichtung der Unionsbürger bei der Wahl zum Europäischen Parlament, da bei der nationalen Sitzverteilung im Parlament die großen und bevölkerungsreichen Mitgliedsstaaten gegenüber den kleinen und kleinsten unterrepräsentiert sind.
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Ohne diesen freiwilligen Verzicht der großen Mitgliedsstaaten auf formale Gleichheit wäre allerdings eine faire Repräsentanz innerhalb der gesamten europäischen Bandbreite, die von Deutschland bis Malta, von Frankreich bis Zypern und von Polen bis Estland reicht, kaum möglich. Auch hieran kann man den in der bisherigen Geschichte beispiellos neuen Charakter der Europäischen Union erkennen, denn das repräsentative Gleichheitsprinzip wird in der EU erst durch eine konstruktive Disproportionalität sowohl zwischen den Mitgliedsstaaten als auch zwischen den Unionsbürgern ermöglicht. Anders gesagt: Die großen Mitgliedsstaaten und Bevölkerungen akzeptieren bewußt ihre Schwächung zugunsten der kleinen Staaten und Bevölkerungen. Darin besteht das eigentliche Erfolgsgeheimnis der europäischen Integration. Mehr noch, hier wird auch der Kern des fundamentalen Bruchs in der Entwicklung des europäischen Staatensystems sichtbar, den der europäische Integrationsprozeß bedeutet. Die Europäische Union war von Beginn an als ein antihegemoniales Projekt entworfen worden. Sie entwickelte durch den europäischen Integrationsprozeß deshalb das Gegenteil von hegemonialer Dominanz, nämlich einen Mechanismus zum internen Machtausgleich, der die kleinen Staaten begünstigt und damit die Unterschiede im machtpolitischen Gewicht gegenüber den großen Mitgliedsstaaten austariert. Dem entspricht auch das neue Abstimmungsverfahren in der EU-Verfassung.179 Wie bereits oben erwähnt wurde, war das Wesen der europäischen Einigungsidee vom ersten Augenblick an ein politisches, nämlich die gemeinsame Souveränität aller europäischen Staaten in der Europäischen Union. Gäbe die Union diesen Anspruch sowohl seiner geographischen Ausdehnung als auch seinem Wesen nach ganz oder auch nur teilweise auf, so würde sie sich dadurch selbst in Frage stellen. Als bloßer großer Binnenmarkt, politisch auf intergouvernemental zusammenarbeitenden nationalen Regierungen gründend und ohne die politische Integration durch starke europäische Institutionen, hätte die Union keine Perspektive. Sie würde zu einer gehobenen EFTA (European Free Trade Zone) denaturieren und sich dadurch selbst in ihrem
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Bestand gefährden. In dieser Vorstellung liegt der große Irrtum der Euroskeptiker. Dies gilt ebenfalls für alle Überlegungen eines Europa ä la carte, d. h. der Idee, daß sich die einzelnen Mitgliedsstaaten aussuchen können, an welchen Integrationsstufen sie teilnehmen und an welchen nicht. In der Konsequenz würde dies auf einen Zerfall Europas in unterschiedliche Gruppen hinauslaufen, welche die alten Rivalitäten im europäischen System unter neuen Vorzeichen und mit großen Reibungsverlusten nach innen wieder aufleben ließen. Die Irakkrise und die damit einhergegangene innereuropäische Spaltung haben von der Wirkung solch möglicher Reibungsverluste und der damit einhergehenden Selbstschwächung der EU mehr als eine Ahnung vermittelt. Andererseits aber wird die Europäische Union für die heute überschaubare Zeit nicht den Charakter eines Bundesstaates annehmen, weil dies weder dem Mehrheitswillen der Mitgliedsstaaten und ihrer Bevölkerungen noch den historisch-kulturellen Realitäten Europas entspricht. »Europa ist von seiner Geschichte her - und wird es gewiß bleiben - trotz allen Gemeinsamkeiten primär das Europa der Nationen. Eintausendfünfhundert Jahre Geschichte und Differenzierung in Nationen und Sprachen können durch bürokratische Akte >von oben< oder >von außen< nicht ausgelöscht werden und sollen es ja wohl auch nicht.« 180 Dieser Traum vom europäischen Bundesstaat wiederum ist der Irrtum der Integrationisten, denn gegen die gewachsene Staatenstruktur und ihre kulturell-historischen Unterschiede läßt sich in der politischen Wirklichkeit Europas keine weitergehende politische Integration durchsetzen. Nur wenn der europäische Einigungsprozeß diese Traditionen berücksichtigt und in die europäische Integration mit hineinnimmt, kann er auch weiterhin erfolgreich verlaufen. Die Akzeptanz der Breite dieses Prozesses ist die Voraussetzung für seine Tiefe und nicht umgekehrt. Genau diese Aufgabe ist dem Konvent mit dem europäischen Verfassungsvertrag gelungen, und darin besteht seine große historische Leistung. Die politische Integration Europas wird wohl von der geschichtlichen Entwicklung weiter vorangetrieben werden, und
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diese Prognose schließt temporäre und vielleicht sogar sehr heftige Integrationskrisen keineswegs aus, wie sie etwa durch ein Scheitern des Verfassungsvertrages ausgelöst werden könnten. Denn die Geschichte, und d. h. der sich aufbauende Druck der globalen und regionalen Herausforderungen und der politischökonomischen Entwicklung, wird diese Integration, die auch im Interesse der Union und der Mitgliedsstaaten liegt, von der EU erzwingen. Der Eigensinn, die politische Widerständigkeit der Einzelstaaten und das Beharrungsvermögen ihrer jeweiligen historisch-kulturellen Identitäten haben spätestens mit dem Verfassungsvertrag definitiv zu einer politischen Integrationsform geführt, die auf einer parallelen Verfassungsstruktur von europäischen Institutionen und selbstbewußten Mitgliedsstaaten beruht. Bereits die Zusammensetzung des Verfassungskonvents hat dieser Struktur entsprochen, denn zum ersten Mal wurde ein europäischer Grundvertrag von den Vertretern der nationalen Parlamente und der nationalen Regierungen sowie des Europaparlaments und der Europäischen Kommission ausgearbeitet. Dieses institutionelle Viereck der EU entspricht genau der parallelen Verfassungsstruktur, die sich auch im Vertrag wiederfindet. Deshalb verwundert es nicht, daß der europäische Verfassungsvertrag - neben der die Individualrechte der Unionsbürger definierenden Grundrechtecharta - im wesentlichen das Verhältnis von Union und Mitgliedsstaaten auszutarieren versucht, denn darin besteht die verfassungsrechtliche Hauptaufgabe. Auch deshalb wird die europäische Realität noch auf lange Zeit durch parallele Identitäten — nationale und europäische Identitäten - bestimmt werden. Diese Form des europäischen Verfassungsparallelismus spiegelt die Wirklichkeit der europäischen Integration wider, die auf der Zusammenführung von nationalen Souveränitäten bei fortbestehenden starken Mitgliedsstaaten als selbstbewußten Akteuren im Verfassungsgefüge der EU beruht: Europa und Mitgliedsstaat, europäische und nationale Bürgerschaft, europäische und nationale Institutionen, europäische und nationale Demokratie. Insofern läßt sich feststellen, daß die Europäische Union dabei ist, historisch etwas völlig Neues hervorzubringen, nämlich eine Union sui generis, wie es
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sie in der bisherigen Geschichte der Staaten noch nicht gegeben hat. Vergleicht man die europäische Verfassungsstruktur mit der Verfassungswirklichkeit der USA, so wird offensichtlich, daß die EU immer wesentlich föderaler und damit dezentraler verfaßt sein wird, als dies für die USA galt und gilt. Selbst wenn eines Tages der Kommissionspräsident und der Präsident des Europäischen Rates in einer Person zusammengefaßt würden, was der europäische Verfassungsvertrag nicht ausschließt, so wäre ein solcher europäischer Präsident institutionell dennoch wesentlich schwächer als ein amerikanischer Präsident, da die Rolle der Mitgliedsstaaten in der EU immer eine wesentlich stärkere sein wird als die der Bundesstaaten der USA. Die USA sind ein echter Bundesstaat, die EU hingegen bleibt mit ihrer Verfassung unterhalb des Bundesstaates und wird zugleich doch mehr sein als ein Staatenverbund - sui generis eben. Die politische und wirtschaftliche Organisation der EU und die Erfahrung mit der europäischen Integration in der Lebenswirklichkeit der Europäer haben politisch zu der Herausbildung einer europäischen Identität geführt, die sich mit den jeweils nationalen Identitäten ergänzt. Diese europäische Identität hat sich allerdings nicht nur allein auf Grund pragmatischer Alltagserfahrungen und der Realität der europäischen Institutionen entwickelt, sondern sie gründet darüber hinaus auf jenen historisch unterschiedlichen Erfahrungen, die bis in die Gegenwart hinein das Verhältnis der einzelnen Nationen zu Europa bestimmen. Man kann dabei bis heute grob vier Traditionslinien unterscheiden, aus denen sich die heutige EU zusammensetzt. Deren Verflechtung, gemeinsam mit den europäischen Grundwerten181 und den gemeinsamen Interessen, macht die europäische Identität aus und hat auch ganz wesentlich den Verfassungskompromiß im Europäischen Konvent strukturiert. Die sechs Gründungsmitglieder (Frankreich, Deutschland, Italien und Benelux) bilden die erste Traditionslinie. Diese Staaten wurden geprägt durch die Katastrophen des europäischen Staatensystems und vor allem der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert. Deshalb wollten diese Staaten jene über die Jahrhunderte hinweg verhängnisvolle deutsch-französische Erbfeindschaft und
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die Schlachtfelder der fortdauernden europäischen Hegemonialkriege für immer hinter sich lassen. Man kann sie deshalb auch mit einigem Recht die »Schlachtfeldeuropäer« nennen. Sie sind die Lordsiegelbewahrer der europäischen Einigungsidee und die Garanten des europäischen Integrationsfortschritts. Sie begannen einst mit der Montanunion, sie gründeten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und stießen den Prozeß der Integration an, um einen dauerhaften deutsch-französischen Ausgleich zu erzielen. Die europäische Integration hatte und hat für die Gründungsmitglieder der EU vor allem eines zu sein, nämlich der Garant einer dauerhaften Friedensordnung in (West-)Europa. Bis heute bilden diese Staaten den Motor der europäischen Integration, was jedoch keinesfalls andere Mitgliedsstaaten ausschließt. Diese Gründungsmitglieder sind nicht nur auf allen Integrationsebenen der EU präsent, sondern haben bis in die Gegenwart hinein auch meistens neue Initiativen entwickelt und vorangetrieben. Die zweite Traditionslinie gründet auf den ganz anderen geschichtlichen Erfahrungen Großbritanniens und der skandinavischen Länder. Sie verfügen auf Grund ihrer geopolitischen Lage in der Regel über eine glücklichere Geschichte als die eigentlichen Kontinentaleuropäer oder sind, wie das Vereinigte Königreich auf Grund seiner glorreichen Geschichte, geopolitisch und kulturell anders orientiert. Alle diese Länder nennen alte und erfolgreiche Demokratien ihr eigen, sie waren auch ohne die EU-Mitgliedschaft bereits ökonomisch, sozial und wissenschaftlich-technologisch hoch entwickelt und sind daher seit ihrem Beitritt in die EU eher Nettozahler. Für diese Mitgliedsstaaten war der Beitritt zur EU vor allem eine Frage der pragmatischen Vernunft, und deshalb kann man diese Gruppe auch als »Vernunfteuropäer« bezeichnen. Bis heute findet der Euroskeptizismus in diesen Ländern aus nachvollziehbaren Gründen seinen stärksten Rückhalt, denn angesichts der nationalen Erfolgsgeschichte dieser Mitgliedsstaaten war und ist den Mehrheiten in diesen Bevölkerungen der tatsächliche politische und ökonomische Mehrwert einer Mitgliedschaft in der EU nur sehr abstrakt und deshalb meistens nur mit großen Schwierigkeiten zu
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vermitteln. In diesen Mitgliedsstaaten wird jeder weitere Integrationsfortschritt der Union (und ein damit einhergehender weiterer Souveränitätsverzicht) nur allzuoft als ein nicht notwendiger, die nationale Demokratie schwächender und deshalb abzulehnender Souveränitätsverlust zugunsten einer Brüsseler Bürokratie mit zweifelhaftem demokratischen Mandat verstanden. Nur Finnland unterscheidet sich hiervon, bedingt durch seine prekäre geopolitische Lage und die ganz andere Geschichte seiner nationalen Unabhängigkeit. So verwundert es auch nicht, daß Finnland als einziges skandinavisches Land an allen Integrationsstufen der EU unter Einschluß der Währungsunion teilnimmt. Die dritte Traditionslinie wird von den Mittelmeerländern gebildet, deren Zugang zum Europa der Integration durch die Überwindung von wirtschaftlicher Rückständigkeit, Faschismus, Bürgerkrieg und Militärdiktatur geprägt wurde. Für diese Länder verbindet sich mit der EU demokratische Stabilität, wirtschaftlicher Aufstieg und sozialer Fortschritt, d.h. die erfolgreiche Modernisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Befreiungserfahrung hat in diesen Mitgliedsstaaten zu einer tiefen emotionalen Bindung an den europäischen Integrationsprozeß und die EU geführt, deshalb kann diese Gruppe als »Freiheitseuropäer« bezeichnet werden. Die vierte und vorläufig letzte Traditionslinie entsteht gegenwärtig, bedingt durch den Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten. Sie entwickelt sich aus der Erfahrung dieser neuen Mitgliedsstaaten heraus, die Jahrzehnte unter der erzwungenen Sowjetisierung, unter dem Kalten Krieg und unter der Teilung Europas zu leiden hatten. Für eine genauere Beschreibung dieser Traditionslinie innerhalb der EU ist es noch zu früh, denn diese muß sich erst im europäischen Alltag ausformen. Gleichwohl kann man bereits heute erkennen, daß sich hier die Erfahrungen der Mittelmeerländer vermutlich wiederholen werden, verbunden mit einem starken - durch die nach wie vor als prekär empfundene geopolitische Lage und die Erfahrung der Zwangssowjetisierung bedingten — Transatlantismus. Vermutlich wird man zukünftig zwischen der Gruppe der südeuropäi-
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sehen und der osteuropäischen »Freiheitseuropäer« unterscheiden müssen. Das Schema dieser vier Traditionslinien kann selbstverständlich nur ein ungefähres Bild zeichnen, denn nicht alle Mitgliedsstaaten sind darin einzuordnen. Dennoch lassen sich mit diesem Modell sowohl die heute bestehenden Probleme und Schwierigkeiten der EU und ihres Verfassungsprozesses als auch die weiteren Chancen und Möglichkeiten der europäischen Integration recht gut analysieren. Man mag es bedauern oder gutheißen, aber die Realität der EU wird sich nur innerhalb dieser Traditionslinien abspielen und auch fortentwickeln lassen, nicht aber jenseits davon. Alles andere bleibt ein Wunschtraum und findet im europäischen Irrealis statt. Und ein Weiteres sei hier nochmals unterstrichen: Alle vier Traditionen gemeinsam bilden das, was man europäische Identität nennt, denn diese vier Traditionslinien entsprechen den historischen Erfahrungen der an der EU beteiligten Nationen, sind deren gelebte politische und kulturelle Wirklichkeit. Diese Traditionen sind alles andere als untereinander widerspruchsfrei, sie begrenzen durch ihre Widersprüchlichkeit die Möglichkeiten europäischer Kompromisse und formten und formen nicht nur die europäische Identität, sondern definieren ganz entscheidend auch den weiteren Fortgang der politischen Integration der EU. Die politische Identität der Europäischen Union artikulierte sich bisher im wesentlichen in drei Dimensionen: erstens Geschichte, zweitens pragmatischwirtschaftliche Vernunft und drittens Freiheit, Demokratie und sozialer Fortschritt. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs begann sich für die EU dann eine neue, eine vierte Dimension zu entwickeln - langsam und kaum merklich zuerst, aber in jüngster Zeit durch die internationale Lage und die Osterweiterung der EU immer wichtiger werdend -, die der Einfachheit halber die strategische Dimension Europas genannt werden soll. Diese entwickelt sich unter dem objektiven Druck der ökonomischen und zunehmend auch der Sicherheitsinteressen. Seit der Gründung von NATO und EU bis zum Ende des Kalten Krieges existierte in Westeuropa eine klare Arbeitsteilung: Die USA waren mittels der NATO für die Sicherheit und Vertei-
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digung zuständig, die EU für wirtschaftlichen Wohlstand und Fortschritt. Was in dieser Zeit zu Recht über Westdeutschland gesagt wurde, nämlich daß es sich zugleich um einen wirtschaftlichen Riesen und einen politischen Zwerg handele, galt damals auch für die Europäische Union. Noch zu Beginn der neunziger Jahre, als die Europäer gegenüber den USA die Lösungskompetenz in der Jugoslawienkrise für sich beanspruchten, scheiterten sie politisch und militärisch kläglich. Bereits damals war, wenn auch noch überwiegend negativ, diese neue strategische Herausforderung für die EU spürbar. Die USA orientierten sich nach dem Ende des Kalten Krieges grundsätzlich neu - weg von Europa - und damit auch verstärkt auf sich selbst, so daß sich die Frage nach einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nicht mehr länger ausklammern ließ. Sprach der Vertrag von Maastricht 1992 noch von einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität, so wurde im Vertrag von Amsterdam 1997 diese neue strategische Dimension zum ersten Mal, wenn auch noch in sehr allgemeiner Form, aufgenommen und zwar der wörtliche Text der Petersberg-Erklärung der WEU,182 weshalb man fortan auch von den sogenannten »Petersberg-Aufgaben« in der europäischen Sicherheitspolitik sprach.183 Das eigentliche politische Problem lag jedoch vor allem in jenem seit langer Zeit bestehenden britisch-französischen Widerspruch zwischen einerseits transatlantischer (NATO) und andererseits (west-)europäischer Orientierung (WEU) in der Sicherheitspolitik, der bis dahin jeden wirklichen Fortschritt hin zu einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik blockiert hatte. Mit dem britisch-französischen Gipfel von Saint-Malo184 vom 3-/4. Dezember 1998 wurde diese Blockade aufgebrochen. Während der deutschen EU-Präsidentschaft auf dem Europäischen Rat in Köln vom 3-/4. Juni 1999 wurde dann diese bilaterale Vereinbarung zwischen Großbritannien und Frankreich in die Politik der Gemeinschaft umgesetzt und die ESVP geschaffen. »Der Kosovo-Konflikt eröffnete den Weg zu einer schnellen Europäisierung der in Saint-Malo erzielten Vereinbarung. Der deutsche EU-Vorsitz arbeitete erfolgreich darauf hin, die bilaterale Initiative auf die europäische Ebene zu über-
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tragen und die europäische Verteidigungsidentität in eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik umzugestalten.«185 Dies geschah mit der »Erklärung des Europäischen Rates über die Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«,186 die in Köln durch die Staats- und Regierungschefs verabschiedet wurde. Der klassische Verteidigungsfall zur Landes- und Bündnisverteidigung sollte dabei weiterhin ausschließlich in der Zuständigkeit der NATO oder in der souveränen Entscheidung der nicht in die NATO integrierten Mitgliedsstaaten verbleiben. Die EU beanspruchte in der »Erklärung von Köln« dagegen die ganze Breite der Konfliktprävention und des Krisenmanagements für sich. »Wir, die Mitglieder des Europäischen Rates, wollen entschlossen dafür eintreten, daß die Europäische Union ihre Rolle auf der internationalen Bühne uneingeschränkt wahrnimmt. Hierzu beabsichtigen wir, der Europäischen Union die notwendigen Mittel und Fähigkeiten an die Hand zu geben, damit sie ihrer Verantwortung im Zusammenhang mit einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gerecht werden kann.«187 Dazu »muß die EU die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, deren Einsatz zu beschließen, um - unbeschadet von Maßnahmen der NATO auf internationale Krisensituationen zu reagieren«.188 Dies war eine völlig neue, nämlich sicherheitspolitische und militärische Handlungsebene für die EU. »Wir sind nunmehr entschlossen, einen neuen Schritt beim Aufbau der Europäischen Union einzuleiten«, heißt es dazu feierlich in der »Kölner Erklärung«.189 Auf dem Hintergrund einer veränderten geopolitischen Lage in Europa und in seiner weiteren Nachbarschaft verband sich diese Handlungsebene mit jenem historisch-strategischen Element, das zum europäischen Einigungsprozeß von seinem ersten Augenblick an gehörte, zu einer neuen Dimension. Für Europa war seit der Gründung von NATO und EWG in den 1950er Jahren Sicherheit immer sehr viel mehr gewesen als allein militärische Sicherheit. Während des Kalten Krieges und der Bedrohung durch die weit überlegene militärische Schlag-
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kraft der Sowjetunion überwog selbstverständlich die militärische Komponente der europäischen Sicherheit, aber zugleich war die begonnene transnationale Integration für die Sicherheit innerhalb des verbliebenen westlichen Teils des europäischen Staatensystems von weitaus größerem Gewicht. Diese Tatsache wurde durch die scheinbar übermächtige Bedrohung von außen nur weitgehend verdeckt. Mit dem Wegfall der sowjetischen Bedrohung sollte deshalb diese politisch-strategische Dimension der europäischen Integration in den Vordergrund treten. Erneut war es die Balkankrise, in der sich nicht nur Europas militärisch-strategische Schwäche, sondern auch seine politischstrategische Stärke zeigte. Gewiß war die militärische Aktion der NATO unter Führung der USA im Kosovo im Frühjahr 1999 die entscheidende Ursache für die Niederlage Milosevics. Aber noch während die Kampfhandlungen andauerten - und damit anders als in Bosnien -, wurde auf europäische Initiative hin eine langfristige politisch-strategische Antwort des Westens entwickelt, die, trotz aller Rückschläge und Schwierigkeiten, für die dauerhafte Abkehr der gesamten Balkanregion von einem hochgefährlichen Nationalismus und damit für ihre nachhaltige Befriedung von zentraler Bedeutung war. Diese geopolitische Entscheidung der EU und der NATO besagte aber nicht weniger, als allen Staaten dieser Region die langfristige Beitrittsperspektive zum Europa der Integration und der atlantischen Sicherheit zu eröffnen. Damit aber hatte vor allem die EU den Schritt vom Krisenmanagement zum strategischen Handeln getan. Diese neue strategische Perspektive des Wegs nach Europa und in den Westen konkretisierte sich für die Balkanländer zum ersten Mal mit dem damals beschlossenen »Stabilitätspakt Südosteuropa«. Sein Kern bestand aus der Integrationsperspektive in die EU und der Beitrittsperspektive in die NATO. Diese Parallelität von EU- und NATO-Perspektive in der Erwartungshaltung der ost- und südosteuropäischen Staaten demonstriert gerade angesichts der gegenwärtigen transatlantischen Schwierigkeiten noch ein Weiteres, nämlich daß Verwestlichung und Europäisierung keinen Widerspruch darstellen, sondern sich ganz im Gegenteil fast zwingend ergänzen. Auch dieser em-
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pirische Befund darf bei einer objektiven Analyse der Zukunft des Transatlantismus und des Westens nicht vergessen werden. Sicherheit durch Integration, so lautete und lautet die politischstrategische Formel des europäischen Einigungsprojekts. Und diese Formel eröffnete mit der Osterweiterung der EU endgültig jene neue strategische Dimension Europas, nunmehr nicht nur auf den historischen Notwendigkeiten und wirtschaftlichen Interessen der Union gründend, sondern fortan auch den geopolitischen Imperativen der europäischen Sicherheit folgend. Daraus entwickelte sich in fast notwendiger Weise eine neue außenund sicherheitspolitische Verantwortung der EU, die auch eine eigene Sicherheitsstrategie und eigene militärische Fähigkeiten einschließen muß. Sicherheit durch Integration, eigene geopolitische Interessen, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und militärische Fähigkeiten - aus diesen Elementen setzt sich seitdem die neue strategische Dimension der Union zusammen. Die Osterweiterung der Europäischen Union hat im Gefolge ihrer Umsetzung zwei zentrale Fragen an den weiteren Integrationsprozeß der EU aufgeworfen, nämlich ob sich erstens die große Erweiterung der EU mit ihrer Vertiefung überhaupt widerspruchsfrei zusammenfügen läßt, und - zweitens - wo denn die Grenzen Europas liegen. Die erste Frage ist durch das Faktum der Erweiterung selbst mit einem eindeutigen Ja beantwortet worden. Europa ist komplexer und deshalb gewiß schwieriger geworden, aber dies heißt keineswegs integrationsfeindlicher, wie die bereits jetzt vorliegende Erfahrung mit der erweiterten Union lehrt. Die alte und damit auch kleinere EU der 15 ist zweimal daran gescheitert, die Vertiefungskonsequenzen der anstehenden Osterweiterung zu beschließen, nämlich in den Jahren 1997 in Amsterdam und 2000 in Nizza. Auf beiden Regierungskonferenzen wurden die wichtigsten Fragen nicht entschieden, sondern in Gestalt von sogenannten »left overs« vertagt. Die neue EU der 25 bedurfte zwar ebenfalls zweier Anläufe, aber mit nur sechs Monaten Verzögerung ist der nach der Erweiterung sehr viel größeren EU die Verabschiedung eines Verfassungsvertrages für Europa gelungen, der keine wichtigen Fragen mehr vertagt.
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Auch ein weiteres Argument wiegt schwer: Die EU wird keine künstlichen Teilungen innerhalb des Kontinents zulassen, geschweige denn selbst betreiben dürfen, ohne nicht schwersten Schaden zu nehmen. Denn die europäische Einheitsidee läßt eine erneute Teilung nicht zu, ohne ihre »Seele« zu gefährden und damit sich selbst in Frage zu stellen. Ein Auseinanderbrechen Europas in ein Zentrum und eine Peripherie würde der EU einen hohen Preis abverlangen. Zudem haben mittlerweile alle Mitgliedsstaaten eine solch enge wirtschaftliche Verflechtung im Binnenmarkt erreicht und darüber hinaus zwölf Mitgliedsstaaten ihre Währungen in der Währungsunion zusammengeführt, so daß auch das wirtschaftliche Interesse eine Gefährdung des Binnenmarktes und der Währungsunion und damit der geltenden Vertragsgrundlage von Nizza ausschließt. Überdies würden sofort die antihegemonialen Reflexe der einzelnen Länder wieder aufbrechen und die Reibungsverluste innerhalb der Union diese nicht unwesentlich schwächen. Betrachtet man also die europäische Realität, so sind dies alles Überlegungen aus der Vergangenheit, denn mit der Osterweiterung der EU wurden unwiderruflich neue Verhältnisse geschaffen. Eine kleineuropäische Option existiert faktisch nicht mehr, denn selbst wenn die Verfassung scheitern würde, bliebe die 25er-Union auf der Grundlage des Vertrages von Nizza bestehen. Spätestens mit der Osterweiterung der EU sind alle Ideen von einem Kerneuropa oder einer Avantgarde (d.h. einer kleinen Gruppe von Mitgliedsstaaten, die auf dem Weg der politischen Integration schneller vorangeht als die Mehrheit) faktisch erledigt. Für Kerneuropa ist bereits heute nicht mehr viel außerhalb der vertraglich geregelten Politiken der EU übriggeblieben. Binnenmarkt, Währungsunion, Wegfall der Binnengrenzen sowie der Raum der Freiheit und der Sicherheit (Vertrag von Schengen), Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung - all das sind heute Politiken der EU und vertraglich ebenso geregelt wie der Binnenmarkt oder der gemeinsame Agrarmarkt. Die verbleibenden Politikfelder und politischen Fragen, die sich noch nicht innerhalb des EU-Vertragssystems befinden, sind nur noch wenige. Das Vertragssystem von Schengen war nur deshalb außerhalb
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der EU-Verträge möglich, weil dieser zentrale Bereich des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Abbaus der Binnengrenzen in den europäischen Verträgen zu jener Zeit noch überhaupt nicht durch die EU geregelt war. Deshalb konnten einige Regierungen auf dem Weg der intergouvernementalen Zusammenarbeit einen Vertrag außerhalb des Integrationsbereichs der EU schließen. Aber auch diese von der EU noch nicht besetzten Räume gehören definitiv der Vergangenheit an, denn sie wurden mittlerweile in deren Vertragssystem integriert, und ein neues Schengen außerhalb der europäischen Verträge ist deshalb wegen der Ausdehnung der vertraglichen Integration der EU wesentlich schwieriger. Eine parallele europäische Integration - einen Vertrag innerhalb der Union und einen anderen Vertrag für eine Avantgarde von Staaten außerhalb - war nur so lange eine Option, wie das EU-Vertragssystem nicht umfassend ausgebaut war. Und eine EU, die dauerhaft und nicht nur als Übergangslösung unter zwei unterschiedlichen Vertragssystemen leben müßte, befände sich in einem absurden Zustand. Ein weiterer Aspekt ist hier von Bedeutung. Die Erfahrung läßt erwarten, daß es in Zukunft fast nur noch große Mehrheiten von Mitgliedsstaaten sein werden, die bei neuen und weitergehenden Integrationsinitiativen innerhalb des Vertragssystems mitmachen wollen und mitmachen können.190 Wenn aber Mehrheiten innerhalb der Verfassung agieren können (vermutlich sogar immer sehr deutliche Mehrheiten) und diese sich darüber hinaus des vertraglich garantierten Rechts der »Verstärkten Zusammenarbeit«191 oder im militärischen Bereich der »Strukturierten Zusammenarbeit«192 bedienen können, dann macht der Begriff des Kerns oder der Avantgarde keinen Sinn mehr. Die Verhältnisse haben sich damit grundlegend verkehrt und vom Kopf auf die Füße gestellt, weil die Möglichkeit einer Avantgardebildung in der Verfassung institutionalisiert und damit zu einem mehrheitlichen Integrationsinstrument gemacht wurde. Man wird sich daher in der EU zukünftig eher Gedanken darüber machen müssen, wie die Union angesichts weiterer Integrationsfortschritte mit einer Minderheit oder auch Nachhut von Mitgliedsstaaten umzugehen gedenkt und wie dafür Mechanis-
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men und auch längerfristige Übergangslösungen gefunden werden können. Innerhalb der EU werden auch in Zukunft bis zur materiellen Vollendung der Union einzelne Mitgliedsstaaten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorangehen. Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten beschreibt die gegenwärtige Realität der Union, denn nicht alle Mitgliedsstaaten können oder wollen an allen Stufen der europäischen Integration teilnehmen. Freilich hat die Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Euro ein Faktum der Integration im Kernbereich der Souveränität geschaffen, das für die Mitglieder der Euro-Gruppe sehr schwer wiegt und das diese Gruppe durch den Druck der politischen und ökonomischen Verhältnisse in die weitere Integration vorantreiben wird. Eine Option B existiert dazu nicht, es sei denn, man wäre bereit, den Preis eines Scheiterns der europäischen Integration zu zahlen. Solange diese Gruppe auf Integrationskurs bleibt, kann die weitere Entwicklung der EU zwar schwierig und durchaus krisenhaft verlaufen, aber an ihrem letztendlichen Erfolg kann dann kein vernünftiger Zweifel bestehen. Ein Weiteres gilt es zu Bedenken. Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten kann nur so lange funktionieren, wie es sich dabei um einen Übergangsprozeß und nicht um den erklärten Endzustand handelt. Eine Union der 25, die sich dauerhaft in der Struktur unterschiedlicher Geschwindigkeiten einrichten würde, hätte es, verstärkt durch die heterogene Wirkung der großen Zahl der Mitgliedsstaaten und ihrer historisch bedingten Unterschiede, mit gewaltigen Fliehkräften zu tun. Diese würden die Union in ihrer Funktionsfähigkeit und Effizienz erheblich einschränken, sie somit für die Bürger und die Mitgliedsstaaten in ihren Strukturen und Entscheidungen immer weniger nachvollziehbar und leistungsfähig erscheinen lassen und dann auch ihre Legitimationsgrundlagen erschüttern. Nach der Ausdehnung der EU auf 25 Mitglieder und angesichts der geopolitischen Herausforderungen Europas und unter dem Druck der Globalisierung erweist sich daher die Notwendigkeit der europäischen Verfassung als unabdingbar.
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Man kann die Bedeutung der Ratifikation der europäischen Verfassung für die Zukunft Europas und all seiner Mitgliedsstaaten und Bürger gar nicht hoch genug veranschlagen. Ein Scheitern der Verfassung würde die EU zum Verharren in einem Status quo zwingen, der schon heute ihrer Wirklichkeit nicht mehr gerecht wird. Faktisch liefe es auf die Blockade der weiteren Integration der Union der 25 hinaus, und damit würden jene Fliehkräfte gestärkt, die für die große Union hochgefährlich werden können. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches ist es noch völlig ungewiß, ob der Verfassungsvertrag tatsächlich durch alle Mitgliedsstaaten ratifiziert werden wird. Aber selbst wenn dieser Vertrag im ersten Anlauf in wenigen Mitgliedsstaaten bei der Ratifikation scheitern sollte, so würde die durchaus bizarre Situation eintreten, daß sich die Mitgliedsstaaten, im engen Rahmen der heute bestehenden rechtlichen Möglichkeiten, dennoch so verhalten würden, als ob diese Verfassung in Kraft wäre. Dies gälte zumindest für einen (kürzeren oder längeren) Übergangszeitraum, solange die Verfassung noch nicht als endgültig gescheitert angesehen würde. Bereits heute läßt sich für diesen Fall absehen, daß die rechtlich unabweisbare Rückkehr zum weiterhin geltenden Vertrag von Nizza angesichts der veränderten Realitäten innerhalb und außerhalb der Union weder den Interessen der EU noch der Mitgliedsstaaten gerecht werden würde. Es bliebe allein die Frage, wie viele Anläufe und damit Zeit die Ratifikation in Anspruch nähme. Denn einen besseren Verfassungsvertrag wird es auf absehbare Zeit nicht geben, und ohne Verfassung wird die erweiterte Union nicht wirklich funktionieren. Insofern gibt es objektiv keine ernsthafte Alternative mehr zu dem europäischen Verfassungsvertrag, wenn man die Union will. Subjektiv können sich die Dinge im Ratifikationsverfahren allerdings völlig gegensätzlich entwickeln, denn selbst ein endgültiges Scheitern der Verfassung kann aus heutiger Sicht noch nicht ausgeschlossen werden. Diese Gefahr träte vor allem dann ein, wenn etwa entscheidende Gründungsmitglieder oder relevante Teile der Euro-Gruppe die Ratifikation dauerhaft verweigern würden. Dieser Fall wür-
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de wohl eine der schwersten Krisen in der Geschichte der Union auslösen, und es wäre auf mittlere Sicht die Gefahr einer schleichenden Renationalisierung mit all ihren negativen Konsequenzen innerhalb einer fatal geschwächten EU zu befürchten. Eine solche Renationalisierung würde zwar keine Rückkehr zum alten Gleichgewichtssystem bedeuten, da der Binnenmarkt, die Gemeinschaftsinstitutionen und all die anderen Integrationsfortschritte auf der Grundlage des Vertrages von Nizza und der anderen, dann weiter fortgeltenden europäischen Verträge erhalten blieben, aber es könnte auf mittlere Sicht zu internen Gruppenbildungen und damit dauerhaften internen Rivalitäten führen. Diese Gruppen würden zwar unter dem Namen von sogenannten »Avantgarden« firmieren, aber in Wirklichkeit wäre es ein Rückzug auf eine kleineuropäische Notlösung, die den Binnenmarkt mit politischen Gruppenrivalitäten verbinden würde. Das wären keine »Integrationskerne« mehr oder ein »Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten«, sondern nur noch politische »Rettungsboote« angesichts des Scheiterns der europäischen Verfassung. Europa wäre dadurch erheblich geschwächt, und dies in einer Zeit, in der die Welt außerhalb des europäischen Kontinents dramatische Veränderungen durchläuft. Man kann daher bereits heute eines mit Gewißheit prognostizieren: Angesichts eines großen Veränderungsdrucks wird die Welt gewiß nicht warten, bis die Europäer ihre internen Probleme gelöst haben. Entweder ist Europa als Gestaltungsfaktor bei diesen Veränderungen maßgeblich beteiligt, oder alle Europäer - alte und neue, reiche und arme, Befürworter und Skeptiker - werden gleichermaßen verlieren. Wenn allerdings die These richtig ist, daß auf absehbare Zeit keine bessere Verfassung zur Abstimmung gestellt werden wird und es in der erweiterten Union dazu nur Notlösungen und keine wirklichen Alternativen gibt, so sollte der Verfassungsentwurf auch in diesem äußerst negativen Fall für einen zweiten Anlauf zur Ratifikation bewahrt bleiben. Die zweite Frage, die durch die Osterweiterung aufgeworfen wurde, ist die Frage nach den Grenzen Europas, und diese Frage ist alles andere als einfach zu beantworten. Der europäische Ver-
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fassungstext formuliert für die Zugehörigkeit zur Europäischen Union drei Bedingungen: »Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu fördern.«193 Die beiden letzten Bedingungen sind in der Verfassung und in den sogenannten »Kopenhagener Kriterien«194 definiert und werden durch die Kommission im Beitrittsverfahren bzw. im Alltag der Union und ihrer Mitgliedsstaaten bereits voll angewandt. Ganz anders verhält es sich mit der Frage nach der Zugehörigkeit. Welche Staaten gehören denn überhaupt zu Europa? Indem man diese gleichermaßen berechtigte wie nur scheinbar einfach zu beantwortende Frage stellt, begibt man sich in sehr ernste und kaum enden wollende Schwierigkeiten der geographisch-politischen Abgrenzung Europas. Wo endet und wo beginnt Europa? Die Frage nach den geographisch-politischen Grenzen des Kontinents wurde noch nie befriedigend beantwortet. Diese Kalamität liegt vor allem an der unklaren geopolitischen Lage Europas selbst, denn der Kontinent Europa ist der westlichste Teil der eurasischen Landmasse und verfügt nach Osten hin über keine natürliche Grenze, vielmehr verschwimmt diese dort im Ungefähren seines Übergangs nach Asien. Der frühere französische Staatspräsident Charles de Gaulle hat vor vielen Jahrzehnten einmal die eingängige Formel geprägt, Europa reiche »vom Atlantik bis zum Ural«,195 aber auch diese Formel hilft nicht wirklich weiter. Im Westen der Atlantik, im Süden das Mittelmeer, im Norden das Polarmeer - überall dort sind Europas Grenzen durch die Geographie klar definiert. Wo aber endet Europa im Osten? Der Gebirgszug des Ural und der gleichnamige Fluß sind eine mehr oder weniger willkürlich gegriffene geographische Grenze, die zudem den Nachteil hat, mitten in Rußland zu liegen. Was also ist mit Rußland? Was mit der Ukraine? Was mit dem Bosporus und damit der Türkei? »Wer Europa geographisch zu definieren versucht, hat Europa schon verloren«, stellte Jürgen Mittelstrass196 völlig zu Recht fest. Wenn sich aber Europa nur bedingt geographisch eingrenzen läßt, wie kann man es dann definieren? Historisch? Normativ? Religiös? Kulturell? Jeder Versuch zeigt sehr schnell, daß all
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diese Möglichkeiten einer Definition Europas für sich allein genommen nicht zureichen und sich jeweils an der von Mittelstrass angeführten gleichermaßen realen wie ideellen »Zipfligkeit« des Kontinents brechen. Letztendlich bleibt nur, aus all diesen Möglichkeiten der europäischen Selbstdefinition eine gleichermaßen pragmatische wie ideelle Quersumme zu ziehen, und das heißt, bei der politischgeographischen Abgrenzung entlang seiner Interessen und bei der Idee von Europa politisch-normativ, also wertebezogen vorzugehen. Europa verfügt im Osten über keine »natürlichen Grenzen«, und deshalb wird dort seiner Begrenzung immer etwas Voluntaristisches anhaften. Letztendlich kann und wird die Festlegung der Ostgrenze Europas also nur auf einer politischen Entscheidung beruhen können, in der sich die normativen Elemente mit den geopolitischen Interessen verbinden, und sicher werden dabei auch die Faktoren Geschichte, Kultur und Religion mit einfließen. Wenn diese Annahme richtig ist, dann lassen sich aber präzisere Festlegungen nicht abstrakt treffen, sondern man wird abzuwarten haben, welche definitiven Festlegungen der weitere Verlauf des europäischen Integrationsprozesses zu gegebener Zeit nahelegen oder gar erzwingen wird. Die Unsicherheit in der Frage nach den »natürlichen« Grenzen der EU überträgt sich bereits heute, bedingt durch die Osterweiterung der Union, in den politischen Raum und spitzt sich dort kontrovers am Verhältnis der EU gegenüber Rußland und vor allem gegenüber der Türkei zu.197 Während es bei dem Verhältnis zu Rußland »nur« um die Zukunft der strategischen Beziehungen zu Europa geht, gibt es gegenüber der Türkei seit mehr als vierzig Jahren ein Beitrittsversprechen Europas. So unterschiedlich diese beiden Fälle in ihrer Bedeutung für Europa auch gelagert sind, so steht doch in beiden Fällen die offene Frage der Zugehörigkeit zum europäischen Kontinent dahinter, und diese hat für Europa eine sehr große Bedeutung. Wo also endet Europa? Rußland ist als weltgrößter Flächenstaat rein geographisch jenseits aller europäischen Dimensionen und reicht über ganz Nordasien hinweg bis an die Küsten des Pazifiks und vor die Tore
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Alaskas an der Beringstraße. Obwohl Rußland tief in der europäischen Kultur und im orthodoxen Christentum verwurzelt ist, sprengt allein seine räumliche Ausdehnung wie auch seine politische Geschichte und Gestalt jeden europäischen Rahmen. Rußland ist geographisch die größte unter den Megamächten der Gegenwart, zu denen auch die USA, China, Indien und Brasilien zu rechnen sind. Sie bilden kraft geographischer Fläche und Größe der Bevölkerung eine ganz eigene Kategorie von Staaten (Australien und Kanada verfügen zwar geographisch über eine kontinentale Größenordnung, aber die Bevölkerungsgröße ist zu gering). Insofern kann man allein aus diesem Grund die Frage einer möglichen EU-Mitgliedschaft im Falle Rußlands definitiv ad acta legen. Die Schwierigkeiten der strategischen Beziehungen Europas mit Rußland sind dadurch aber mitnichten gelöst. Rußland war seit der Zeit Peter des Großen ein entscheidender Faktor im europäischen Staatensystem. Welchen Weg dieser riesige Nachbar Europas einzuschlagen gedenkt, wird für Europas Sicherheit auch in Zukunft von überragender Bedeutung sein. Wird die wirtschaftliche, soziale und demokratisch-rechtsstaatliche Modernisierung Rußlands gelingen oder der Abstieg des Landes von der einstigen Größe einer Supermacht weiter anhalten, begleitet von autoritär-nationalistischen Restaurationsversuchen und bedroht von weiterer sozialer und territorialer Desintegration? Europas Interessen gebieten die erste, die positive Option, aber auch die zweite negative Alternative ist keineswegs jenseits aller Realität und muß daher ernst genommen werden. Eine enge »strategische« Verbindung der EU mit Rußland, mit möglichst durchlässigen Grenzen für Menschen, Güter und Ideen, vertiefter wirtschaftlicher und kulturell-sozialer Verflechtung und damit der strukturellen Überwindung einer gegenseitigen Bedrohungsmöglichkeit — all dies steht ganz oben auf der Skala der europäischen Interessen. Aber das setzt ein demokratisches, rechtsstaatliches und wirtschaftlich wie sozial erfolgreich modernisiertes Rußland voraus und auch ein Rußland, das versteht, daß diese Form von dauerhafter strategischer Partnerschaft mit der Europäischen Union nur zustande
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kommen kann und funktionieren wird, wenn dabei für immer alle hegemonialen oder gar imperialen Absichten ausgeschlossen werden. Bei dieser anzustrebenden neuen Qualität der Beziehungen zwischen der EU und Rußland handelt es sich nun keineswegs um sympathische Träume fernab der Realität, sondern durchaus um langfristig erreichbare Ziele der operativen Politik. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Zusammenarbeit zwischen der NATO und Rußland im NATO-Rußland-Rat und in der OSZE. Allerdings werden sich diese strategischen Beziehungen zwischen Europa und Rußland nur dann auf längere Sicht wirklich positiv entwickeln lassen, wenn beide Seiten die unterschiedlichen strategischen Ziele der jeweils anderen Seite ernsthaft akzeptieren: Rußland möchte seine Weltmachtrolle wiedergewinnen, und dazu braucht es zwingend eine umfassende Modernisierung. Und Europa möchte den dauerhaften Ausschluß jeder hegemonialen Bedrohung von innen wie von außen sichern, und dazu braucht es seine Einheit. Beide Seiten können dabei nur gewinnen. Rußland braucht zu seiner umfassenden ökonomischen, sozialen und politischen Modernisierung die langfristige Zusammenarbeit mit der EU, zudem wird das vereinte Europa die definitive Garantie für Rußland sein, daß von Europa nie wieder eine Gefahr für Rußlands Grenzen ausgehen wird. Europa hingegen muß jedes Interesse daran haben, daß die umfassende Modernisierung Rußlands langfristig gelingt, denn nicht ein modernes, demokratisches und dann wiedererstarktes Rußland würde eine Bedrohung für Europas Sicherheit bedeuten, sondern vielmehr ein Rußland, in dem der Stagnations- oder gar Desintegrationsprozeß weiter anhielte. Eine dauerhafte strategische Partnerschaft zwischen Europa und Rußland setzt, wie bereits erwähnt, neue Prinzipien voraus, auf denen diese Partnerschaft gründen und sich entwickeln kann. Es werden dies nicht mehr die Grundsätze des alten europäischen Staatensystems sein können. Die neue Qualität läßt sich negativ in zwei Begriffen definieren: antihegemonial und antiimperial. Positiv definiert umfaßt diese neue Qualität die Prinzipien des Gewaltverzichts, der Freiheit, der Demokratie,
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des Rechts, der Unverletzlichkeit der Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts. Das sind die wesentlichen Grundsätze, auf denen das neue transnationale Staatensystem Europas gründet, das sich mit der europäischen Integration herausgebildet hat. Dieses neue europäische System schließt hegemoniale Einflußzonen oder gar imperiale Herrschafts- und Gebietsansprüche per definitionem aus, da dies eine Rückkehr zum alten System bedeuten würde. Genau diese Prinzipien des neuen Europa wurden nun im Winter 2004 durch die Wahlen in der Ukraine und durch deren massiven Fälschungsversuch aufgerufen. Zwischen Rußland und der EU gibt es drei unabhängige Staaten - die Ukraine, Weißrußland und Moldawien -, die sowohl der untergegangenen Sowjetunion angehörten als auch heute der GUS. Moldawien leidet unter seiner inneren Spaltung, weil die Bevölkerung des Gebiets jenseits des Dnjestr (Transnistrien) mehrheitlich Rußland und der Ukraine zuneigt, Weißrußland wird von einem autoritär-diktatorischen Regime beherrscht, und die Ukraine befindet sich seit ihrer Unabhängigkeit auf einem demokratisch fragilen und ökonomisch wenig dynamischen inneren Erneuerungskurs. Die bisherige, höchst unterschiedliche Entwicklung dieser drei Länder warf zwar zahlreiche Fragen und Besorgnisse auf, aber seit dem Ende der Blockkonfrontation bestand der Konsens zwischen Europa und Rußland, daß die Zukunft dieser Länder ausschließlich durch diese selbst zu entscheiden sei, nicht durch die Imperative neu entstehender Einflußzonen, egal von welcher Seite. Mit der massiven Wahlfälschung zu Lasten des tatsächlichen Wahlsiegers Viktor Juschtschenko und damit auch der Verfälschung des demokratischen Mehrheitswillens des ukrainischen Volkes bestand zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion an der östlichen Grenze Europas die Gefahr eines Rückfalls in hegemoniale Einflußzonen und in eine politische Realität, in der die Macht das Recht und die Demokratie erneut beiseite zu schieben drohte. Dies konnte und durfte Europa nicht akzeptieren. Mit dem Sieg der orangenen Demokratiebewegung in der Ukraine und der Wiederholung der Wahlen am 26. Dezember 2004 zu freien und fairen Bedingungen haben sich die Grundsät-
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ze der Demokratie und des Rechts durchgesetzt, und dies war und ist für die zukünftige Entwicklung nicht nur der Ukraine, sondern auch der strategischen Beziehungen zwischen Rußland und Europa von entscheidender Bedeutung. In der Ukraine begegnen sich Europa und Rußland, dies machte die Krise nach den gefälschten Wahlen mehr als deutlich. Der Westen des Landes schaut nach Europa, der Süden und Osten nach Rußland. Es gibt daher, wenn man die territoriale Integrität des Landes und damit seine Souveränität nicht in Frage stellen will, keine einfachen Perspektiven für dieses Land — sei es nun eine europäische oder eine Rußland zugewandte. Das Recht, über seine Zukunft zu entscheiden, liegt allein beim ukrainischen Volk, wie dies ebenso für alle anderen Staaten im neuen Europa galt und gilt. Nur wenn alle Beteiligten in der Ukraine (was bisher selbst unter schwierigsten Umständen gelungen ist) und auch alle Nachbarn und Mächte sich bei der Verfolgung ihrer legitimen außenpolitischen Interessen an die drei Grundsätze der Unabhängigkeit, der territorialen Integrität und des demokratischen Selbstbestimmungsrechts halten, wird sich die Krise dauerhaft lösen lassen. Ob die Ukraine den Weg nach Europa einschlagen oder beabsichtigen wird, eine engere Bindung mit Rußland einzugehen, dies wird allein vom demokratischen Mehrheitswillen des ukrainischen Volkes zu entscheiden sein. Alles andere hieße, von den Grundsätzen abzuweichen, auf die das neue Europa und die Beziehungen zu seinen Nachbarn gründen. Ganz anders hingegen sind die Beziehungen der EU mit der Türkei aufgebaut. Weder von der geographischen Ausdehnung noch von der Bevölkerungsgröße her gesehen ist die Türkei mit Rußland auch nur im entferntesten vergleichbar. Zwar verfügt die Türkei über eine stark wachsende Bevölkerung und wird deshalb Deutschland als demographisch größter EU-Mitgliedsstaat auf mittlere Sicht überholen, aber dennoch sprengt die Türkei damit nicht die »europäische Größenordnung«, sondern bewegt sich an deren oberem Rand. Daher verfügt die Türkei, sofern man sie entsprechend der Definition der Verfassung als europäisches Land sieht, grundsätzlich über eine Beitrittsperspektive zur Union, vorausgesetzt, sie erfüllt die dafür notwen-
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digen Kriterien von Kopenhagen. Die Kontroverse um die Türkei innerhalb der EU macht sich deshalb primär nicht an ihrer geographischen und demographischen Größe fest, sondern vielmehr an ihrer geopolitisch-kulturellen Lage und Geschichte. Kann die EU tatsächlich gemeinsame Grenzen mit Syrien, dem Irak, Iran und den Ländern des südlichen Kaukasus haben? Ist das noch Europa? Gehört die Türkei kulturell-religiös als großes islamisches Land nicht vielmehr zum Nahen und Mittleren Osten? War die Türkei über die Jahrhunderte der Expansion der osmanischen Herrschaft hinweg nicht die imperiale Herrschermacht des Nahen und Mittleren Ostens und der Sultan in Istanbul zugleich auch der Kalif (der Nachfolger des Propheten) des Islam? Und ist das Osmanenreich nicht gerade wegen seiner europäischen Eroberungen keinesfalls eine europäische Macht, sondern ganz im Gegenteil eine mehrhundertjährige Bedrohung des Abendlandes gewesen? Paßt das Land, trotz aller Veränderungen, die es in den vergangenen acht Jahrzehnten seit Kemal Atatürks Gründung der modernen Türkei durchlaufen hat, als zu weiten Teilen orientalisches und islamisches Land mit seinen ganz anderen Traditionen tatsächlich in das neue Europa der Integration? Und wird am Ende die Türkei die politische Integration nicht endgültig blockieren, weil mit ihr Europa zu groß wird und sie kulturell, politisch und wirtschaftlich zu weit entfernt ist? Kann die EU ein Land mit den kulturell-religiösen Traditionen, der geopolitischen Lage und dem Entwicklungsbedarf der Türkei überhaupt aufnehmen, ohne sich dabei zu übernehmen und das Projekt Europa dauerhaft zu beschädigen? Droht also eine politische, kulturelle und räumliche Überdehnung der EU? Dies sind in etwa die Fragen, die von den Gegnern eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union gegenwärtig vorgebracht werden, und diese Fragen sind gewiß alle sehr berechtigt und ernst zu nehmen. Sie bedürfen daher der Beantwortung, wenn man vernünftig die dahinter stehende eigentliche Frage beantworten will, nämlich wo im Südosten des europäischen Kontinents die EU enden soll: an den Ostgrenzen von Bulgarien und Griechenland oder an den Ostgrenzen der Türkei?
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Versucht man die Vielfalt an kritischen Fragen zu ordnen, so handelt es sich um historische, kulturell-religiöse, ökonomische, integrationspolitische und geopolitische Einwände. Dabei fällt sofort auf, daß sich die Debatte um den Beitritt der Türkei erstens kaum an den Fakten, an den Interessen Europas und den tatsächlichen Optionen orientiert, sondern mehr mit historischkulturellen »Gewißheiten« operiert, die starke Negativemotionen beinhalten. Und diese Debatte geht zweitens von einer falschen Grundannahme, genauer: einem falschen Zeitfaktor aus. Beginnen wir also mit den Fakten und nicht mit den Emotionen, und Fakt ist, daß es gegenwärtig überhaupt nicht um den Beitritt der Türkei geht, sondern lediglich um deren Kandidatur und somit um die Beitrittsperspektive. Dieser Prozeß wird seitens der EU bestimmt durch das Wissen um all die großen praktischen Schwierigkeiten, vor denen die Transformation der Türkei steht, durch das Wissen um die in Europa kumulierte Skepsis, um die Notwendigkeit klarer Bedingungen und langer Zeitachsen sowie der Offenheit der abschließenden Entscheidung über den Beitritt. Der Europäische Rat hat deshalb am 16./17. Dezember der Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei unter folgenden Bedingungen zugestimmt, die die Vertreter der Türkei akzeptiert haben: Das Ziel der Verhandlungen ist der Beitritt, der Prozeß allerdings wird »ein Prozeß mit offenem Ende« sein, »dessen Ausgang sich nicht von vornherein garantieren läßt«; es gibt daher keinen Beitrittsautomatismus. Die Zeitdauer der Verhandlungen umfaßt mindestens 10-15 Jahre; die weitere Umsetzung der »Kopenhagener Kriterien« wird durch die EU-Kommission überprüft und in einem jährlichen Bericht dokumentiert; der weitere Fortschritt der Verhandlungen hängt auch von den Fortschritten bei der Umsetzung der »Kopenhagener Kriterien« ab; die Verhandlungen können durch den Europäischen Rat temporär ausgesetzt oder gar endgültig abgebrochen werden, wenn der Bericht der Kommission negativ ausfällt oder die Verhandlungen wegen des Wegfalls ihrer Grundlagen zu scheitern drohen. Zudem kann es auch zu erheblichen bis dauerhaften Einschränkungen bei der Personen-Freizügigkeit kommen, und bis zur kon-
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kreten Verhandlungsaufnahme im September 2005 muß die Türkei darüber hinaus die Ausdehnung des Zollabkommens mit der EU auf die Republik Zypern unterzeichnen.198 Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt sind die Interessen der EU. Niemand, selbst die schärfsten Kritiker eines türkischen Beitritts nicht, bezweifelt die strategische Bedeutung der Türkei und ihrer umfassenden Modernisierung für Europa. Und niemand stellt die Notwendigkeit fester Bindungen zwischen der EU und der Türkei als im europäischen Interesse liegend in Frage. Auch hier sprechen die empirischen Tatsachen eine eindeutige Sprache: Bereits die Vorbereitung der Türkei auf die Entscheidung des Europäischen Rates über eine Aufnahme von Verhandlungen hat Entwicklungen möglich gemacht, die bis dahin als fast utopisch galten: die Abschaffung der Todesstrafe und der Staatssicherheitsgerichte, eine umfassende Strafrechtsreform unter Einschluß des Verbotes der Folter, die Zurückdrängung der Rolle und des Einflusses des Militärs, die Stärkung der Minderheitenrechte, die Erlaubnis der kurdischen Sprache bis hin zu Radiosendungen etc. Zudem hat die Türkei in den von den UN geführten Verhandlungen um Zypern den dort gefundenen Kompromiß akzeptiert, was über Jahrzehnte hinweg als nahezu unmöglich gegolten hatte, weil die türkische Position der Zweistaatlichkeit von Zypern fast einem nationalen Tabu nahegekommen war. Statt dessen sind nunmehr nicht nur eine Lösung des Zypern-Konflikts, sondern auch eine dauerhafte Aussöhnung mit Griechenland und damit eine Lösung aller noch offenen Streitfragen in der Ägäis und im nordöstlichen Mittelmeerraum in den Bereich der Machbarkeit gerückt. Die europäische Perspektive wirkt also für die Türkei, für ihre Demokratie und die Entwicklung ihres Rechtsstaates, ihre politischen Institutionen, für Wirtschaft und Gesellschaft modernisierend und damit auch transformierend, und exakt dieses liegt im Interesse von Europa und der Türkei. Die Transformation der Türkei zu einem europafähigen Land ist das eigentliche strategische Ziel der EU, und erstaunlicherweise wird dieses Ziel sowohl von den Befürwortern als auch den Kritikern eines Beitritts der Türkei zur EU geteilt. Ob und wann dieses Ziel er-
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reichbar ist, wird die Zukunft zeigen - daher die Offenheit des Prozesses und die klaren Benchmarks und Safeguards, wie sie von der EU festgelegt wurden. In diesem ganzen Prozeß riskiert die Europäische Union lediglich den Erfolg, nämlich am Ende eine europafähige Türkei vor sich zu haben, die dann der EU als Vollmitglied beitreten kann und will. Allerdings bleibt bis dahin die letzte Entscheidung offen, und zwar für beide Seiten. Auch ökonomisch wird die feste Verankerung der Türkei in der EU alles andere als ein Nachteil werden. Gewiß würde ein langfristiger Beitritt der Türkei die gegenwärtigen Finanzierungsmechanismen der EU zu den heute geltenden Bedingungen überfordern, aber eine grundsätzliche Reform dieser Mechanismen steht, völlig unabhängig von der Türkei, spätestens in der ersten Hälfte des nächsten Jahrzehnts an. Die Wirtschaft der Türkei hatte niemals unter der Zwangssowjetisierung zu leiden, sie ist bereits heute sektoral auf den internationalen Märkten hoch wettbewerbsfähig und wird bei gelingender Staatsmodernisierung eher ein Kraftwerk denn eine Belastung für den europäischen Binnenmarkt sein. Zudem weiß die Türkei sehr genau, daß sie mit aller Energie den Ausgleich ihrer großen regionalen Ungleichgewichte anpacken muß, wenn sie, ebenfalls völlig unabhängig von ihrer europäischen Perspektive, im 21. Jahrhundert in der Welt der Globalisierung bestehen will. Die Türkei hat noch einen langen Weg an qualitativen Reformen und gesellschaftlichen Veränderungen vor sich, um wirklich europafähig zu werden. Dies ist kein formaler Prozeß allein des Schließens von Verhandlungskapiteln mit der EU, er wird vor allem durch die Umsetzung der Reformen in gelebte institutionelle und gesellschaftliche Realität bestimmt sein. Und der Erfolg dieser Modernisierung wird nicht allein im Westen des Landes entschieden, sondern vor allem im Osten und Südosten der Türkei. Erst zu dem geplanten Zeitpunkt also und im Lichte einer tatsächlich europafähigen Türkei wird die letzte Entscheidung von beiden Seiten zu treffen sein. Das langfristige Gelingen des Reformprozesses in der Türkei vorausgesetzt, darf man allerdings von einer positiven Entscheidung beider Seiten ausgehen. Gewichtet man dagegen nun die historisch-kulturellen Gegenar-
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gumente wie das Fehlen der Aufklärung, der christlichen Tradition etc., dann können sich diese Argumente durchaus als Gründe für ein Scheitern des Prozesses erweisen, sie müssen es aber keineswegs. Anders gesagt: Gelingt die Modernisierung und Europäisierung der Türkei, sind diese Argumente für die Zukunft irrelevant, gelingt sie aber aus eben diesen oder auch anderen Gründen nicht, dann wird es keine positive Entscheidung geben können. Etwas anderes gilt für die geopolitischen und integrationspolitischen Einwände, da diese Fragen selbst durch eine gelungene Modernisierung der Türkei noch nicht zureichend beantwortet werden. Die Kritik an der Beitrittsperspektive der Türkei, die sich auf eine mögliche integrationspolitische Überlastung der Union bezieht, unterstellt nun, daß eine mögliche Vollmitgliedschaft dieses Landes das endgültige Aus für die weitergehende politische Integration bedeuten würde, verbunden mit der Denaturierung der EU zu einer lose verbundenen Wirtschaftszone. Erstaunlicherweise begegnen sich bei diesem Argument die europäischen Integrationisten mit den Euroskeptikern, aber das macht ihre Causa keineswegs besser. Die einen fürchten diese Entwicklung, die anderen erhoffen sie nachgerade, aber beide Positionen befinden sich auf dem Irrweg. Sie arbeiten mit derselben Unterstellung, daß nämlich mit dem Beitritt der Türkei die weitere politische Integration der EU verunmöglicht würde, ohne dies weiter zu begründen. Allein der Verdacht der negativen Wirkung der schieren Größe des Landes wird zur Begründung angeführt. Dabei hängen die Steuerungsfähigkeit, die funktionale Effizienz und die demokratische Transparenz der EU nahezu ausschließlich von der Qualität ihrer Institutionen und deren Integrationsfähigkeit ab. Man kann daher fast den Eindruck gewinnen, daß die europäischen Integrationisten viele Probleme und Frustrationen auf die Frage des EU-Beitritts der Türkei projizieren, die ganz andere Ursachen haben. So dürfte dereinst der inhaltlich begründete Hauptwiderstand gegen eine weitergehende politische Integration Europas keineswegs von einer europafähigen Türkei ausgehen, die wohl eher an der Freiheits- und Modernisierungslinie
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der mediterranen Mitgliedsstaaten anknüpfen wird, sondern wie seit langem übrigens! - von den »Vernunfteuropäern« aus den nördlichen Mitgliedsstaaten, und zwar aus Gründen, die weiter oben erörtert wurden. An ihrer Zugehörigkeit zu Europa aber gibt es von keiner Seite irgendeinen ernsthaften Zweifel. Und das Problem einer möglichen Überforderung durch die kontinentale Größendimension der EU wurde ja bereits durch die historisch unabweisbare osteuropäische Erweiterungsrunde aus dem Jahr 2004 und die Perspektive der EU für den westlichen Balkan aufgeworfen. Beide Entwicklungen ergeben sich aus dem Verlauf der europäischen Geschichte und sind die Folgen der Überwindung der Teilung Europas und der jugoslawischen Erbfolgekriege. Darin - und nicht in einem möglichen Beitritt der Türkei liegt bereits heute das Rational für die europäische Verfassung, und diese beiden Entscheidungen der Union - und erneut nicht die Türkei - haben die kleineuropäische (westeuropäische) Perspektive der EU endgültig zu einer kontinentalen transformiert. Dies mag man bedauern oder auch nicht, aber zu einer westeuropäischen Perspektive führt für die EU ohne schwerste Beschädigungen des europäischen Integrationsprozesses, ganz unabhängig von der Zukunft der Türkei, kein Weg mehr zurück. Und auch das hier absehbare, weitere Argument der Kritiker, daß genau deswegen die EU zuerst all diese Herausforderungen bewältigen müsse, bevor weitere Entscheidungen getroffen werden könnten, führt lediglich in einen Zirkelschluß, denn nunmehr müßte man wieder darauf hinweisen, daß nicht jetzt über den Beitritt der Türkei zu entscheiden ist, sondern erst wesentlich später. Bleibt noch ein letzter Einwand zu erörtern, nämlich die geopolitische Lage der Türkei, deren Staatsgebiet geographisch ohne jeden Zweifel mehr in Asien als in Europa liegt, deren geostrategische Lage sie allerdings sowohl zum Mitglied in der NATO als auch im Europarat hat werden lassen. Die Gründe für die enge Einbindung der Türkei in die transatlantische Sicherheitsarchitektur waren während der Zeit des Kalten Krieges und der Konfrontation mit der Sowjetunion eindeutig geopolitischer
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und -strategischer Natur. Dies galt auch für die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens zwischen der damaligen EWG und der türkischen Republik am 12. September 1963. Damals versprach der deutsche Christdemokrat und erste Präsident der Kommission der EWG, Walter Hallstein, der Türkei, was seitdem galt und über die Jahrzehnte hinweg immer wieder erneuert wurde: »Die Türkei gehört zu Europa: das heißt nach den heute gültigen Maßstäben, daß sie ein verfassungsmäßiges Verhältnis zu der Europäischen Gemeinschaft herstellt. [...] Eines Tages soll der letzte Schritt vollzogen werden: Die Türkei soll vollberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft sein. Dieser Wunsch und die Tatsache, daß wir in ihm mit unseren türkischen Freunden einig sind, sind der stärkste Ausdruck unserer Gemeinsamkeit.«1" Die Türkei sollte also nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer geopolitischen Lage mittels dieses Abkommens und des Versprechens der späteren Vollmitgliedschaft fest an das entstehende Europa der Integration an- und irgendwann als Vollmitglied auch eingebunden werden. Und so steht Europa heute vor der Situation, daß es gegenüber der Türkei eben nicht mehr über eine beliebige Anzahl an Optionen verfügt, sondern daß über mehr als vier Jahrzehnte hinweg Europa der Türkei nichts weniger als die eines fernen Tages kommende Mitgliedschaft in der EU versprochen hat. Ein Bruch dieses Versprechens - und jede andere Entscheidung seitens der EU als die der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu den oben genannten Bedingungen - wäre genau darauf hinausgelaufen —, ohne daß dafür die Gründe in den mangelnden Fortschritten oder im fehlenden politischen Willen der Türkei lägen, hätte deshalb fatale strategische und geopolitische Konsequenzen für die EU. Angesichts der großen Anstrengungen und wesentlicher, noch vor kurzem nicht für möglich gehaltener Fortschritte der Türkei wäre eine negative Entscheidung der EU besonders töricht gewesen. Europa und die USA brauchten während des Ost-West-Konflikts die Türkei zur Sicherung der Südflanke der NATO gegen die Sowjetunion. Aus diesem geopolitischen Grund war die Türkei damals für Westeuropas Sicherheit unverzichtbar, und das ist auch der eigentliche Grund für die sehr früh gemachten Zusagen
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der EWG. Aus türkischer Sicht hieß seit den Tagen von Kemal Atatürks Revolution die europäische Perspektive zugleich das Bekenntnis zur eigenen Modernisierung. Gerade weil dieser Weg der europäischen Modernisierung im Innern bis heute keineswegs zu Ende gegangen ist, verbindet sich für die Türkei mit der EU-Mitgliedschaft der erfolgreiche Abschluß dieses vor mehr als acht Jahrzehnten eingeschlagenen Weges. Eine von Europa zurückgestoßene Türkei fände sich dann wieder in der außenpolitischen Vereinzelung und in den Widersprüchen zwischen europäischen Sehnsüchten und Enttäuschungen, zwischen pantürkischen Illusionen und islamisch-nahöstlicher Rückorientierung gefangen. Und dies geschähe ausgerechnet in einem historischen Augenblick, in dem es für die Sicherheit des Westens im allgemeinen und Europas im besonderen entscheidend darauf ankommen wird, daß mit der Türkei die Modernisierung eines großen islamischen Landes tatsächlich gelingt! So wichtig die Militärmacht der Türkei während des Kalten Krieges für die Sicherheit Westeuropas auch immer gewesen sein mag, so ist heute, nach dem n. September 2001 und angesichts der strategischen Gefahr, die potentiell von der unmittelbaren Nachbarregion des Nahen und Mittleren Ostens für Europa ausgeht, die feste Verankerung der Türkei und ihre gelungene Modernisierung für die europäischen Sicherheitsinteressen geopolitisch noch um Faktoren wichtiger. Eine europäische Türkei - im Innern wie in ihrer äußeren Einbindung - ist für Europas Sicherheit im 21. Jahrhundert von kaum zu überschätzender Bedeutung. Europas Sicherheit wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr von Rußland bedroht werden, denn die Chancen für eine nachhaltige Ausgestaltung einer europäisch-russischen Partnerschaft stehen trotz aller Widrigkeiten auf mittlere Sicht alles andere als schlecht. Europas Sicherheit wird auch kaum durch den Aufstieg Chinas und - mit einigem zeitlichen Abstand - Indiens zu Weltmächten bedroht werden. Gewiß wird eine solche Entwicklung auch für Europa massive politisch-ökonomische und auch sicherheitspolitische Konsequenzen nach sich ziehen, aber eine direkte Bedrohung ist nicht absehbar. Ganz gewiß aber wird Europas Sicherheit in der ersten Hälfte des 21. Jahr-
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hunderts ganz entscheidend durch die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten und im Mittelmeerraum beeinflußt, ja definiert werden. Die Sicherheitsfrage Europas wird sich im Mittelmeer entscheiden. Ob das Mittelmeer im 21. Jahrhundert ein Meer der Kooperation oder ein Meer der Konfrontation werden wird, ist deshalb für Europas Sicherheit die entscheidende Frage. Die Antwort wird wesentlich davon abhängen, ob in der strategischen Nachbarschaft Europas, im Nahen und Mittleren Osten und im Maghreb, gemeinsam mit der Lösung der dort bestehenden Regionalkonflikte und der Überwindung nuklearer und terroristischer Bedrohungen eine langfristige und umfassende Modernisierung dieser Region als Antwort auf den DschihadTerrorismus gelingen kann oder nicht. Dabei spielt die Europäisierung der Türkei eine herausragende Rolle. Spätestens seit dem 11. September 2001 hat Europa, wenn es seine strategischen Sicherheitsinteressen begreift, eigentlich gar keine andere Option mehr, als alles auf die Karte der Modernisierung seiner nahöstlichen Nachbarschaft zu setzen. War bis dahin die geopolitische Frage nach den Grenzen mit Iran, Irak und Syrien noch ein gewichtiger Einwand gegen die türkische Mitgliedschaft in der EU, so hat sich seitdem die Bedeutung dieses geopolitischen Faktums nachgerade in ihr Gegenteil verkehrt. Ein Rückzug der Europäer auf die bereits existierenden oder bald kommenden EU-Außengrenzen in Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Zypern als die definitive Südostgrenze der Union wäre angesichts der heute sichtbaren geopolitischen Bedrohung Europas eine sträfliche Kurzsichtigkeit und schierer Leichtsinn. Europa wird durch seine Sicherheitsinteressen und durch seine unmittelbare regionale Nachbarschaft dauerhaft geopolitisch mit der Krisenregion des Nahen Ostens verbunden bleiben. Deshalb wird sich die EU dieser Bedrohung stellen und sie erfolgreich beantworten müssen, indem sie ihr ganzes strategisches Potential und ihre reiche Erfahrung für die umfassende Modernisierung dieser Region, gründend auf echter Partnerschaft, langfristig einsetzt. Die Brücke Türkei gilt es dann aber nicht kleinmütig aufzugeben, sondern nachhaltig zu verstärken und zu sichern.
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Vergleicht man das Europa von heute mit dem früheren Europa, so zeigt sich, daß das europäische Zeitalter der Kriege und Eroberungen durch ein Zeitalter der Transformationen und der Beitritte abgelöst, wurde. Die »hard power« EU-Europas ist im Verhältnis zu der »hard power« des »Westfälischen« Europas zwar deutlich zurückgegangen, seine »soft power« dagegen hat exponentiell zugenommen, und darüber sollten sich die Europäer wirklich nicht grämen, ebensowenig wie unsere transatlantischen Allianzpartner. Denn die Resultate dieser neuen »soft power« namens Europa sind, selbst in harter sicherheitspolitischer Währung ausgedrückt, hervorragend. Die EU hat nichts Geringeres als einen eigenen politischen Ordnungsmagneten geschaffen, der einen ganzen Kontinent auf der Grundlage eines realisierten »Ewigen Friedens« zusammengeführt hat und zudem dabei ist, eine neue globale Macht auf der Grundlage von Demokratie, Recht und Freiheit zu schaffen. Immanuel Kant, so er heute wiederkäme, hätte an der Europäischen Union wohl seine wirkliche Freude, aber auch ein Thomas Hobbes wäre gewiß sehr erleichtert und würde gerne in den Kantschen Beifall für die europäische Einigung einstimmen. Noch nie war soviel Sicherheit und Friede auf dem europäischen Kontinent, und die Attraktion Brüssels hält, trotz aller innereuropäischen Kritik und schlechten Stimmung, ungebrochen weiter an. Während der Krise in der Ukraine hat es sich gezeigt, worin die tatsächliche Stärke der EU besteht, nämlich in ihrer transformatorischen Kraft. Und darüber hinaus wurde bereits wenige Monate nach der Osterweiterung der Union deren Mehrwert für Europa sichtbar, denn die neuen EU-Mitglieder und Nachbarn der Ukraine, Polen und Litauen, haben gemeinsam mit der EU den entscheidenden Beitrag zur Lösung der Ukrainekrise von außen geleistet. Transformation als Politik bedeutet nichts Geringeres als den Export eines gemeinsamen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, aber nicht durch hegemoniale oder gar imperiale oder koloniale Gewalt, sondern promoviert durch die »sanften« Faktoren des Gemeinschaftsrechts, der Institutionen und des von Brüssel finanzierten und überwachten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbaus und Fort-
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Schritts. Die EU-Erweiterungspolitik überträgt die Grundsätze der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats gemeinsam mit der sogenannten »protestantischen Ethik« Max Webers auf alle ihre Mitgliedsstaaten, nicht mehr und nicht weniger. Und sie finanziert die ökonomisch-infrastrukturelle Entwicklung ärmerer Mitgliedsstaaten vor, was sich wiederum für die reicheren Volkswirtschaften der Nettozahler als unmittelbares »Return of Investment« in Form von Aufträgen, aber auch eines expandierenden Handels positiv auszahlt. Darin besteht die große, durchaus historische Modernisierungsleistung der europäischen Erweiterungspolitik. Und diese Transformation paßt sich in die jeweilige nationale Tradition ein, zerstört sie nicht, sondern stärkt sie sogar noch in den meisten Fällen. Diese letztendlich kulturelle Umgestaltung von Politik, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft der beitretenden Staaten ist die eigentliche große strategische Stärke der EU, ohne daß dabei deren Selbstverständnis, Tradition und Alltagskultur über das notwendige Maß hinaus homogenisiert wird. Man muß nun keineswegs gleich so weit gehen wie Robert Kagan, wenn er sagt: »Die eigentliche Außenpolitik Europas ist Erweiterungspolitik«,200 aber ganz von der Hand zu weisen ist diese These nicht. Freilich wird die Erweiterungspolitik der EU innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahrzehnte definitiv an ihr Ende kommen, weil dann die Außengrenzen der Europäischen Union erreicht sein werden. Das strategische Potential der Transformationspolitik ist damit aber keineswegs erschöpft, denn diese erweist sich zunehmend als die eigentliche Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung und der neuen asymmetrischen Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus. Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur entlang der Grundsätze der liberalen Demokratie, des Rechtsstaates, der individuellen Freiheit, der offenen Gesellschaft und der Marktwirtschaft, so muß die strategische Antwort des Westens auf die vielfältigen Modernisierungskrisen auch in anderen Regionen heißen, gründend auf der Autonomie regionaler Kulturen und echter Partnerschaft. Darin hat es der alte Kontinent Europa mittlerweile zu großer Meisterschaft gebracht.
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Neben der Herausforderung, seine räumliche und politische Integration zu vollenden, wird Europa in den kommenden Jahren darüber hinaus vor der Bewältigung zweier großer innenpolitischer Herausforderungen stehen: Gelingt ihm erstens eine nachhaltige Verbesserung seiner ökonomischen und technologisch-wissenschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit? Der Maßstab dafür wird durch die Entwicklung, das Tempo und die Dynamik in Nordamerika und vor allem in Ost- und Südasien gesetzt werden. Europa wird, wenn es sein Gesellschaftsmodell erhalten möchte, hierbei in der Weltspitze seine Wettbewerbsfähigkeit verteidigen oder, wo nötig, wiedererlangen müssen. Und dies wird bei einer abnehmenden und zugleich immer älter werdenden Bevölkerung eine wahre Herkulesaufgabe sein. Und genau daran hängt zweitens die Frage, wie Europa zu Beginn des nächsten Jahrzehnts die demographische Zäsur in seinen immer älter werdenden Bevölkerungen bewältigen wird. Vor allem diese Frage birgt gewaltigen gesellschaftspolitischen Sprengstoff in sich. Die Erweiterung der EU hat hier zwar einiges an Spielraum geschaffen, aber letztendlich steht Europa vor einer weiteren inneren Transformation, nämlich entgegen dem Eigensinn seiner Völker, Sprachen und Kulturen - und damit auch entgegen seinen nach wie vor vorhandenen gefährlichen nationalistischen Instinkten - zu einer Einwanderungsgesellschaft im großen Stile zu werden. Bereits heute ist absehbar, daß dies die Konsequenz der niedrigen Geburtenraten und der dadurch ausgelösten demographischen Zäsur zwischen 2010 und 2020 sein wird und sein muß, wenn Europa gegen Mitte des 21. Jahrhunderts nicht wirklich im Niedergang begriffen sein will. Mit der Erweiterungspolitik und dem großen Binnenmarkt, mit der die Erweiterungspolitik mehr und mehr ablösenden »Europäischen Nachbarschaftspolitik«,201 mit der strategischen Nachbarschaft mit Rußland, den Assoziationsabkommen im Mittelmeerraum und einem weiteren strategischen Umfeld vom Nahen und Mittleren Osten bis zum südlichen Kaukasus und Afrika, ist Europa in einer globalisierten Weltwirtschaft eigentlich recht gut aufgestellt. Als seine große innere Herausforderung aber werden sich die Demographie und damit die Einwanderungsfrage erweisen.
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Ganz im Gegensatz dazu hat Amerika diese Frage nicht nur seit langem gelöst, sondern die USA sind die Nation von Einwanderern schlechthin. Seit ihren ersten Anfängen ist die amerikanische Nation vor allem durch Zuwanderung gewachsen. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten wird durch Einwanderung bis zur Mitte des Jahrhunderts erheblich zunehmen, was nicht nur ein großes wirtschaftliches Wachstum nach sich zieht, sondern aus den Erträgen dieses Wachstums wird auch der weitere Ausbau der amerikanischen Macht auf höchstem Niveau relativ leichter finanzierbar sein und das strategische Potential der USA weiter wachsen. Europa hingegen wird mit der Gegenbewegung und den daraus resultierenden Wachstumsverlusten zu kämpfen haben. Wie gesagt, die EU löst einen Teil des Problems ihrer negativen Bevölkerungsentwicklung durch die erweiterungsbedingte Ausdehnung des Binnenmarktes, aber damit ist das Einwanderungsthema keineswegs erledigt. Noch brisanter wird dieses Thema für Europa, wenn man die Zuwanderungsoptionen konkreter durchdenkt. Das Zuwanderungspotential aus jenem Teil Osteuropas, der jenseits der EU liegt, ist angesichts auch dort abnehmender Geburtenraten und sogar Lebenserwartung begrenzt. Spanien verzeichnet jüngst eine ansteigende Zuwanderung aus Lateinamerika, aber dies scheint mehr eine historisch-kulturelle Ausnahmesituation zu sein. So geht der Blick Europas zwangsweise nach Süden und Südosten, und sofort verstärkt dies die Brisanz der Debatte, denn damit bekommen kulturell-religiöse Faktoren und ihre politischen Konsequenzen eine nur schwer zu überschätzende Bedeutung. Dennoch müssen sich Europa und seine Mitgliedsstaaten diesen demographischen Tatsachen stellen und dürfen deren politische, wirtschaftliche, kulturelle und strategische Konsequenzen nicht weiter ausblenden. Doch zurück zur Zukunft des Transatlantismus und jenen beiden ungleichen Partnern, Amerika und Europa. Ginge man lediglich nach der Papierform am grünen Tisch, so müßten die beiden transatlantischen Partner politisch eigentlich das ideale Paar sein, fast Yin und Yang, dem berühmten chinesischen Symbol für die Vollkommenheit, ähnelnd. Denn beide Partner sind
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politisch komplementär, d. h. bringen sich ergänzende Fähigkeiten und Schwächen in diese Beziehung ein — die eine Seite ist der Weltmeister der »hard power«, die andere Seite der »soft power«, und beide Male ist die Stärke einer jeden zugleich auch ihre Schwäche. Aber wie gesagt, dies ist eben bloß die Papierform. In der transatlantischen Realität erinnern die Zustände leider eher an ein Paar, das sich altersbedingt nicht mehr viel zu sagen hat, und wenn man, selten genug, wieder einmal miteinander spricht, dann endet dies meistens in quälenden Mißverständnissen. Aber muß das so bleiben? Läßt sich dieser transatlantische Kommunikationsknoten wirklich nicht mehr lösen? Gewiß, die transatlantischen Konflikte und Mißverständnisse sind nicht nur psychologischer Natur, sondern haben ihre Ursachen in den unterschiedlichen Realitäten. Die USA sind die einzige Weltmacht. Ihre Bezugsgröße ist global, ihre Bedrohungen real, und ihre kommenden globalen Rivalen beginnen am Horizont in Ost- und Südasien langsam sichtbar zu werden. Europas Bezugsgröße liegt noch immer vor allem in ihm selbst, und die EU wird strategisch noch für längere Zeit allerhöchstens zu einem erweiterten Regionalismus zwischen Indus und Atlantik, Afrika und Rußland fähig sein. Europa ist zu einer globalen Machtprojektion (noch?) nicht in der Lage, und deshalb würde seine volle Einbindung in die globale Machtprojektion der Weltmacht USA mittels des transatlantischen Bündnisses die europäische Seite sehr schnell überfordern. Die transatlantische Achse innerhalb der NATO war von Beginn an eine hängende, denn Europa war schon während des Kalten Krieges militärisch immer sehr viel schwächer als Amerika. Allerdings hat sich dieser militärische Neigungs- oder »Abhängigkeitswinkel« seit dem Ende des Kalten Krieges noch weiter geöffnet. All das sind objektive Entwicklungen, welche die transatlantische Zusammenarbeit schwerer und nicht einfacher machen. In den Beziehungen zwischen den USA und Europa hat also eine ziemlich radikale Veränderung der objektiven Faktoren und damit der »Lage« stattgefunden. Analysiert man diese gegenwärtige Lage und die möglichen Optionen des Transatlantismus, so gibt es eine schlechte und
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eine gute Nachricht. Zuerst die schlechte Nachricht: Für alle Militärbündnisse in der Geschichte galt bisher ein eherner Grundsatz, nämlich daß sich neue Lagen neue Allianzen suchen, und die Lage hat sich für die transatlantischen Partner fundamental verändert. Die gute Nachricht aber lautet: Erstaunlicherweise gilt dieser Befund nicht für das transatlantische Bündnis, das, allen Unkenrufen zum Trotz, mit dem Ende des Kalten Krieges mitnichten verschwand. Die Lage hat sich zwar radikal verändert, aber dennoch blieb das transatlantische Bündnis bestehen. Dafür muß es objektive Gründe geben - und zwar zwingende. Vielleicht findet sich eine Erklärung in dem Faktum, daß der Kalte Krieg die ganze Komplexität der europäisch-amerikanischen Beziehungen institutionell überwiegend auf ein Militärbündnis reduziert hat? Denn offensichtlich reicht die Substanz der transatlantischen Verbindung viel tiefer, als dies jemals in einem klassischen Militärbündnis der Fall gewesen ist. Am Charakter der NATO als einer politisch-militärischen Allianz kann kein vernünftiger Zweifel angemeldet werden, aber diese Allianz verdankt ihre spezifische Ausformung vor allem der militärischen Bedrohung Westeuropas durch die Sowjetunion. Vielleicht war es über die Jahrzehnte des Kalten Krieges hinweg gerade diese Dominanz des Militärischen in den transatlantischen Beziehungen, die den Blick auf den eigentlichen Kern des Transatlantismus verstellt hat, nämlich die enge normative, politisch-kulturelle und gesellschaftliche Verbindung zwischen Nordamerika und Europa, die unterhalb der ökonomischen und militärisch-strategischen Interessen das eigentliche Wesen dieser Allianz ausmachen. Gewiß sind ökonomische Interessen und strategische Sicherheitsinteressen von überragender Bedeutung, aber aus ihnen allein läßt sich die Elastizität und Fortdauer des Transatlantismus nicht begründen. Man kann daher mit hoher Plausibilität annehmen, daß das Firmenschild des politisch-militärischen Bündnisses NATO das eigentliche transatlantische Unternehmen, für das es fortgesetzt arbeitet, nämlich den transatlantischen Westen, überdeckt. Der Transatlantismus definiert in einem umfassenden Sinne, was man politisch, ökonomisch, normativ und kulturell
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den Westen nennt. Ohne den Transatlantismus, d.h. ohne diese umfassende Verbindung zwischen Amerika und Europa, gäbe es keinen Westen mehr, und damit wäre die Welt eine andere. Die europäisch-amerikanische Verbindung über den Nordatlantik hinweg definiert nicht nur eine militärische oder politische Allianz, in Wirklichkeit beruht der Transatlantismus in seinen Tiefenschichten auf einer gemeinsamen Zivilisation. Liberale Demokratie, Rechtsstaat, individuelle Freiheit, offene Gesellschaft und Marktwirtschaft beschreiben dieses Fundament, auf dem die beiden transatlantischen Pfeiler unverrückbar ruhen. Solange diese Fundamente halten, tragen die beiden Pfeiler die transatlantische Brücke auch weiterhin. Wirklich gefährlich würde es nur dann werden, wenn diese Fundamente auf einer oder gar auf beiden Seiten zu erodieren begännen. Wenn sich die These von dem gemeinsamen Zivilisationsfundament des Transatlantismus als richtig erweist, dann hat man die Diskussion über die Zukunft der NATO seit einigen Jahren in die falsche Richtung geführt. Nicht die militärischen Defizite der Europäer sind dann das Problem - wie sehr diese auch angepackt werden müssen! -, sondern die mangelnden politischen, kulturellen und zivilen Dimensionen und ihre institutionellen und operativen Ausformungen in den transatlantischen Beziehungen. Während des Kalten Krieges war Amerika, seine Demokratie, seine Wirtschaft, seine Gesellschaft und seine moderne Massenkultur Vorbild für Westeuropa. Heute wird nur allzuleicht vergessen, daß dieses zivilisatorische Fundament das politische und militärische Bündnis NATO erst wirklich stark gemacht hat. Die positive Beantwortung der sogenannten »Systemfrage« unterhalb der militärischen Abschreckung war das eigentliche Rückgrat für die Widerstandsfähigkeit Westeuropas. Heute liegen ganz andere Bedingungen in den Beziehungen zwischen Europa und Amerika vor, doch die den Transatlantismus tragenden Fundamente haben sich damit keineswegs aufgelöst, sie treiben nur nicht mehr aus sich selbst heraus die Neugestaltung der Politik auf beiden Seiten des Atlantiks voran. Warum also dann nicht einen umfassenden Ansatz bei der Neugestaltung der transatlantischen Beziehungen verfolgen und sehr viel
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mehr auf den institutionellen Ausbau dieser politischen und zivil-kulturellen Elemente in den transatlantischen Beziehungen setzen, ohne dabei den Teil der militärischen Allianz zu vernachlässigen? Die totalitären Bedrohungen innerhalb Europas sind dank des Transatlantismus und der europäischen Integration endgültig Geschichte, und auch deshalb braucht der Transatlantismus eine erweiterte Dimension, die ihn nicht allein auf das Militärische reduziert. Das Festhalten an den überkommenen Strukturen und Institutionen der Allianz und an ihrer Reduktion auf das militärische Element wird das Bündnis dauerhaft in einer schwierigen Schräglage festzurren, die den Ungleichgewichten zwischen den Interessen und den militärischen Fähigkeiten der Weltmacht USA einerseits und denen der werdenden erweiterten Regionalmacht Europa andererseits objektiv entspricht. Dies kann zur Auszehrung der NATO führen und produziert zugleich Mißverständnisse und Mißtrauen über den Atlantik hinweg. Die Europäer unterstellen den USA, daß sie die NATO mehr und mehr als sogenannten »Werkzeugkasten« begreifen, aus dem sie sich nach Bedarf mal bedienen und mal nicht. Dabei droht sich Partnerschaft in Gefolgschaft zu verändern und dadurch auf mittlere Sicht die Solidarität im Bündnis in Frage gestellt zu werden. Die Amerikaner wiederum unterstellen Europa eine preiswerte sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei und, im Windschatten davon, mittels der ESVP und eigenständigen militärischen Fähigkeiten und Stäben der EU eine Abkoppelungsstrategie von Nordamerika. Angereichert werde dies alles noch durch Gedanken über Europas Zukunft in einer multipolaren Welt. Die Konsequenz dieser Entwicklungen ist absehbar, nämlich, trotz aller transatlantischen Bekenntnisse und bemühten Rhetorik, eine weiter voranschreitende Sinnentleerung und damit Erosion des Bündnisses. Ein angesichts dieser beklagenswerten Lage des Transatlantismus notwendiger Neuanfang muß mit der ehrlichen Antwort auf zwei zentrale Fragen beginnen: Wollen die USA überhaupt noch die europäische Einigung? Und wollen die Europäer ihre Einigung mit den USA oder gegen die USA erreichen? Beide Fragen entscheiden über die Zukunft des Westens,
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und nur wenn beide Seiten die jeweils an sie gerichtete Frage positiv beantworten, kann der Westen auch im 21. Jahrhundert eine Zukunft haben. Beginnen wir mit der Antwort auf die Frage an Europa. Eine Begründung der europäischen Einheit gegen die USA hieße nicht nur, den Westen in Frage zu stellen, sondern liefe auch auf eine völlige Selbstüberschätzung der Kräfte Europas hinaus und müßte scheitern. Europa darf niemals vergessen, daß seine Einigungsidee auf das engste mit der Zivilisation des Westens verbunden ist. Der europäische Einigungsprozeß wurzelt in zwei Grundentscheidungen: die amerikanische Sicherheitsgarantie und die französische Integrationsidee. Die USA balancieren auch heute noch durch ihre bloße Präsenz in Europa die internen europäischen Ängste aus und sind damit gewissermaßen ein kaum noch sichtbares antihegemoniales Gegengewicht in der gesamten europäischen Einigungskonstruktion. Zudem ist auch für die Sicherheit eines vereinigten Europas das nordamerikanische Widerlager unverzichtbar, da Europa sich geopolitisch immer in einer exponierten Lage befinden wird. Weder gegenüber den neuen noch den traditionellen Bedrohungen wird Europa seine Sicherheit allein besser gewährleisten können, als dies gemeinsam mit den USA der Fall ist und bleiben wird. Auch die Frage der Multipolarität, ein Reizbegriff in den gegenwärtigen transatlantischen Beziehungen, muß dabei diskutiert werden. Wenn Multipolarität die Abkoppelung Europas aus dem Transatlantismus meint, erwächst daraus für Europa viel an Ungemach. Meint der Begriff hingegen die bloße Beschreibung der kommenden Weltordnung, in der ein erneuerter Westen (Amerika und Europa), ein intaktes und modernisiertes atlantisches Bündnis also, ein entscheidender Gestaltungsfaktor sein wird, dann ist dieser Begriff transatlantisch ungefährlich. Und schließlich das wichtigste Argument: Europa würde bei einem Einigungsversuch gegen die USA sein eigenes Fundament in Frage stellen, das für seine Stellung im 21. Jahrhundert unverzichtbar ist, nämlich das, was man den Westen nennt. Nun zu der Antwort auf die Frage an Amerika. Die USA haben die Macht, den europäischen Einigungsprozeß zu blockie-
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ren. Damit würde künstlich, d. h. durch den Eingriff einer politischen Macht von außen, die zugleich der wichtigste Partner für Europa ist, eine Blockadesituation herbeigeführt, die in der Folge eine erneute Spaltung Europas nach sich zöge. Ein schwacher europäischer Kern und noch schwächere Satrapien an der europäischen Peripherie wären die Folge. Dies hieße in der Konsequenz ein schwaches Europa, das eher früher als später zum Spielball außereuropäischer Interessen würde. Damit gingen die USA ein nicht unerhebliches Sicherheitsrisiko an ihrer strategischen Gegenküste im Nordatlantik ein. Die völlig unterdimensionierten Größen der europäischen Nationalstaaten würden sich im 21. Jahrhundert als hoffnungslos überfordert und daher für die Weltmacht USA als zunehmend irrelevant erweisen, als Risiko oder bestenfalls als Hemmschuh, aber nicht als Partner. Eine effiziente globale oder auch nur regionale Partnerschaft wird in Zukunft nur ein geeintes Europa zu leisten vermögen. Und auch hier sei die Multipolarität erörtert. Eine Absage der USA an die Vollendung der europäischen Integration würde genau jene Multipolarität mit allen negativen Konsequenzen fördern, die ein dadurch eingeleitetes Dahinsinken des Westens nach sich zöge. Multipolarität auf der Grundlage einer erneuerten Einheit des Westens ist hingegen nicht gegen Amerikas Interessen gestellt. Am Ende das wichtigste Argument: Es ist dasselbe, das auch für Europa gegolten hat. Amerika würde sehenden Auges seine strategische Selbstschwächung betreiben, wenn es das Fundament des Westens in Frage stellen würde. Ebenso wie Europa braucht Amerika den Westen, und d. h. nichts weniger, als daß die USA in ihrem wohlverstandenen historischen Eigeninteresse eine geeinte und starke EU brauchen. Alle Anstrengungen der EU, eine sicherheitspolitische Eigenständigkeit aufzubauen, haben bisher in den USA zu Abkoppelungsängsten geführt, aber nichts dergleichen hat sich bisher in der realen Welt bewahrheitet. Ganz im Gegenteil war und ist gerade auf dem Balkan die Zusammenarbeit zwischen NATO und EU überaus erfolgreich. Ähnliches galt für die alleinigen EUMissionen in Afrika, die alle auf einer engen Kooperation mit den USA beruhten. Eine umfassende Neugestaltung des Trans-
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atlantismus kann deshalb auch die dynamische Realität der Europäischen Union nicht länger negieren. Europa besteht heute nicht mehr nur aus souveränen Nationalstaaten, sondern auch aus einer sich immer weiter und tiefer integrierenden EU. Eine Erneuerung des Transatlantismus muß dieser ganz entscheidenden Veränderung der europäischen Seite endlich auch in der institutionellen Zusammenarbeit Rechnung tragen. Die einfachsten Tatsachen demonstrieren diese veränderten Realitäten, denn nach den letzten Erweiterungsrunden für NATO und EU ergibt sich folgendes Bild: In der NATO gehören nur noch zwei ihrer europäischen Mitgliedsstaaten, nämlich Island und Norwegen, nicht der EU an oder haben Kandidatenstatus. Und in der EU gehören lediglich sechs Mitgliedsstaaten nicht der NATO an Schweden, Finnland, Irland, Österreich, Zypern und Malta -, wobei nur die beiden letzteren nicht mit der NATO im »Partnership for Peace«-Programm assoziiert sind. Es bietet sich daher fast von selbst an, auch neue institutionelle Beziehungen zwischen den beiden Organisationen herzustellen, anstatt sich weiter in nur mühselig versteckten Eifersüchteleien und Reibereien zu vertändeln. Eine solche neue Qualität in den Beziehungen von NATO und EU wäre ohne jeden Zweifel ebenfalls ein wesentliches Element eines erneuerten und umfassenden Transatlantismus. Es sei dabei aber eine Priorität nicht vergessen, die sich ganz unmittelbar auf die mangelnde »hard power« Europas bezieht. So wichtig der erweiterte Sicherheitsbegriff Europas im 21. Jahrhundert auch immer sein wird, und so wesentlich dabei auch all die zivilen Elemente sein werden, so gilt doch gerade dann, daß ohne angemessene militärische Fähigkeiten all diese Strategien bloßes Papier bleiben müssen, weil die militärische Durchsetzung und Absicherung einer politischen Entscheidung nicht gelingen kann. Die militärischen Defizite Europas müssen daher, ganz unabhängig von dem amerikanischen Drängen, auch und gerade im eigenen europäischen Sicherheitsinteresse überwunden werden. Robert Cooper hat völlig recht, wenn er feststellt: »Die Kluft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten besteht nicht nur in den Fähigkeiten, sondern genauso im Willen.
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Es ist an der Zeit, daß Europa seine Position überdenkt. Es ist unbefriedigend, daß sich 450 Millionen Europäer so sehr auf 250 Millionen Amerikaner verlassen, um von ihnen verteidigt zu werden. Verteidigung ist niemals umsonst.«202 Das heißt aber, daß die Europäer endlich ihre nationalstaatlich altmodischen und daher überteuerten militärischen Strukturen dem Integrationsprozeß auf ihrem Kontinent anpassen, ihre militärischen Fähigkeiten auf die neuen Gefahren und Bedrohungen ausrichten und ihrer Verantwortung für die neue strategische Dimension der EU und den Erfordernissen eines umfassend erneuerten Transatlantismus entsprechend modernisieren und finanzieren müssen. Die Neugestaltung eines umfassenden Transatlantismus und die aktive Unterstützung des europäischen Einigungsprozesses durch Amerika (ja mehr noch, die energische Forderung nach einer schnelleren und entschlosseneren politischen Einigung Europas!) könnten einer politischen Rekonstruktion des Westens in der Tat den entscheidenden Anstoß geben. Die USA als Weltmacht, ein sich vereinigendes Europa als Macht im Werden, verbunden durch einen umfassenden Transatlantismus in Gestalt einer erneuerten NATO, die das transatlantische Bindeglied zwischen den USA und der EU verkörpert, politisch ausgerichtet an einem erweiterten Sicherheitsbegriff, der militärische Sicherheit und Transformation verbindet - solchermaßen wäre der Westen gut vorbereitet, um den Bedrohungen und Gefahren des 21. Jahrhunderts erfolgreich entgegentreten und zugleich die Chancen zur Gestaltung einer neuen Weltordnung auf der Grundlage seiner universellen Werte wirksam nutzen zu können.
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VI. »The Great Transformation«203 und der Nahe und Mittlere Osten »Die Hindernisse auf dem Weg, d.h. die unzulänglichen Strukturen aus der Vergangenheit, sind überwindbar. Die arabischen Völker müssen diese sozialen, wirtschaftlichen und insbesondere die politischen Strukturen beseitigen bzw. reformieren, um in der Welt des Wissens-Milleniums den Platz einnehmen zu können, den sie verdienen.« ARABISCHER BERICHT ÜBER DIE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG 2OO32°4
Der 11. September 2001 hat illusionslos klargemacht, von welcher Weltregion aktuell die größte Gefahr für die Sicherheit der USA, Europas und damit des gesamten Westens ausgeht. Es ist dies der Kernbereich jenes islamischen Krisengürtels, der selbst vom Atlantik bis zum Pazifik reicht, nämlich die Region des Nahen und Mittleren Osten. »Die wesentlichen Interessen Europas und Amerikas in Nahost liegen jedoch zu Beginn des 21. Jahrhunderts enger beieinander als je zuvor«, stellte Timothy Garton Ash zu Recht fest. »Politisch haben die Anschläge vom 11.9. auf neue Weise ein tiefes gemeinsames Interesse zutage gefördert. Zwar ist der Nahe Osten Europa so nah wie Amerika fern, und in der klassischen Geostrategie hätte ein solch räumlicher Abstand einen politischen nach sich gezogen, doch Osama bin Laden und Konsorten haben gezeigt, daß der Atlantik schmaler sein kann als das Mittelmeer, weil im Zeitalter der >Globalisierung< auch der Terrorismus global agiert.«20' Im Nahen und Mittleren Osten finden sich weltweit die größten Öl- und Gasvorkommen und zugleich ein zunehmendes Maß an politischer Instabilität und wirtschaftlich-sozialer Entwicklungsblockade. Diese Faktoren verbinden sich mit sehr jungen und schnell wachsenden Bevölkerungen, alten und ge-
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fährlichen Regionalkonflikten, religiös aufgeladenen totalitären Ideologien, Terrorismus, autoritären Regimes und nuklearen Ambitionen regionaler Mächte zu einem hochbrisanten politischen Gemisch, das entweder friedlich in einer grundsätzlichen Transformation und Modernisierung dieser Region kanalisiert werden kann oder aber zu einer revolutionären gewaltsamen Entladung führen muß. Diese negative Option würde für die betroffene Region und für den Westen fatale Konsequenzen nach sich ziehen. Eine dritte Option, nämlich die Stabilisierung des Status quo, kann den dramatisch wachsenden Veränderungsdruck nicht mehr auffangen. Spätestens seit dem n. September ist es aus westlicher Sicht zur Gewißheit geworden, daß das weitere Festhalten am Status quo in dieser Region zugleich die Akzeptanz sehr großer und kaum noch kalkulierbarer Risiken bedeuten würde. Aus dem Nahen und Mittleren Osten erwächst für den Westen eine zunehmende totalitär-revolutionäre Bedrohung, die sich rücksichtslos terroristischer Mittel bedient und auch vor dem Einsatz primitiver Massenvernichtungswaffen nicht zurückschrecken wird, so sie denn in die Hände dieser Terrororganisationen gelangen. Eine Abschreckungslogik wird gegenüber diesen Gruppen nicht funktionieren, sondern lediglich ihre erfolgreiche Bekämpfung kann eine solche Entwicklung verhindern. Freilich stoßen wir hier auf eine der ganz aktuellen strategischen Grundsatzfragen, die zwischen Europa und Amerika keineswegs ausdiskutiert ist: Meint »erfolgreiche Bekämpfung« den Einsatz von überwiegend militärischen Mitteln bis hin zum präventiven Krieg als Instrument regionaler Neuordnung?206 Oder muß man darunter nicht vielmehr einen breiten Transformationsansatz verstehen, in dem die militärische Bekämpfung auf den Terrorismus beschränkt bleibt und ansonsten Krieg, ohne Ermächtigung durch eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates, nur zum Zweck der unmittelbaren Selbstverteidigung zulässig ist, entsprechend dem Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen?207 Und was ist angesichts dieser neuen Gefahren oder angesichts eines drohenden Völkermordes zu tun, wenn sich der Sicherheitsrat als handlungsunfähig erweist, weil er durch
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eine oder mehrere Vetomächte blockiert wird? Auch über diese und einige weitere Fragen wird zu diskutieren und nach Möglichkeit ein Konsens oder wenigstens eine Annäherung der Positionen innerhalb des Westens (oder sogar innerhalb der gesamten Staatengemeinschaft) anzustreben sein, wenn man die Grundsätze einer neuen Weltordnung entwickeln will. Parallel dazu werden in der Region des weiteren Nahen und Mittleren Ostens immer noch seit Jahrzehnten währende Konflikte um Nationalstaatsbildungen und damit einhergehende Grenzfragen ausgetragen, die auf die Auflösung der großen Imperien des 19./20. Jahrhunderts zurückzuführen sind. An erster Stelle sei hier der israelisch-palästinensische Konflikt im Zentrum dieser Krisenregion genannt, aber auch die Kaukasusregion an ihrem nördlichen Rand, Kaschmir ganz im äußersten Osten dieser Region und der Westsahara-Konflikt am westlichen Ende des Krisengürtels. Die Kaukasusregion wird immer noch durch die Spätfolgen der russischen Eroberung und die Auflösung des großrussischen Imperiums namens Sowjetunion erschüttert; der Westsahara-Konflikt ist ein Ergebnis der späten spanischen Dekolonisierung und belastet bis heute die Beziehungen zwischen den maghrebinischen Nachbarstaaten Algerien und Marokko. Der Konflikt zwischen den Nachbarn Indien und Pakistan um Kaschmir ist ein Ergebnis des Rückzugs des britischen Empire vom indischen Subkontinent, und der israelisch-palästinensische Konflikt geht auf die identische Ursache zurück, nämlich auf den damals begonnenen britischen Rückzug aus der Region »östlich von Suez«. Alle diese Konflikte, so unterschiedlich sie in ihren konkreten historischen Ursachen und in ihrem Gefährdungspotential auch immer sein mögen, haben diese eine Gemeinsamkeit, nämlich daß sie in der Zeit der Dekolonisierung und der damit einhergehenden Staatenbildung entstanden und bis heute ungelöst geblieben sind. Allein die Tragödie Afghanistans ist anders gelagert, denn diese wurzelt nahezu ausschließlich im Erbe des Kalten Krieges, auch wenn es in der späteren Phase des Bürgerkrieges einen indirekten Zusammenhang mit dem Kaschmir-Konflikt gab. Gerade die tragische Geschichte Afghanistans demonstriert,
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daß ohne ein langfristiges und zugleich militärisches wie ziviles Engagement der Staatengemeinschaft und des Westens das Land nicht wirklich befriedet und wieder aufgebaut werden kann. Nur die langfristige Präsenz der Staatengemeinschaft garantiert ein erfolgreiches »Nation Building« und vermag jene regionalen und nationalen Kräfte zu neutralisieren, die das Land innerhalb kürzester Zeit erneut in den Bürgerkrieg und in jene jahrzehntelange Tragödie zurückstoßen würden. Die Fortschritte beim Aufbau der Demokratie und beim materiellen Wiederaufbau, die dabei innerhalb weniger Jahre mit Präsenz und Hilfe von außen erzielt werden konnten, sind angesichts der Lage des Landes beeindruckend: Nach dem erfolgreichen Verfassungsprozeß und nach den ersten freien Präsidentschaftswahlen wird mit den kommenden Parlamentswahlen der auf dem Petersberg bei Bonn begonnene Prozeß der demokratischen Erneuerung abgeschlossen sein. Die demokratisch voll legitimierte Zentralregierung übt mittlerweile über den größten Teil des Landes die Kontrolle aus, der Wiederaufbau kommt erfolgreich voran, und die Sicherheitslage hat sich, trotz fortbestehender terroristischer Bedrohungen, insgesamt verbessert. Die größte Herausforderung für ein demokratisches Afghanistan bleiben der massive Drogenanbau und die sich daraus ergebenden sehr ernsten Gefahren für die Stabilität des Landes und seiner Institutionen. Darüber hinaus ist das Land ein erfolgreiches Beispiel für den Einsatz der NATO und die Zusammenarbeit innerhalb des Westens geworden. Am Beispiel Afghanistan läßt sich auch nachvollziehen, daß, selbst wenn man zu Recht das Fortbestehen traditioneller geopolitischer Interessen unterstellt, das tatsächliche strategische Motiv heute - anders noch als im 20. Jahrhundert - in der Verhinderung eines zusammengebrochenen Staates und damit eines Rückzugsraumes für Terroristen liegt, in dem Ausgleich und der Eindämmung gefährlicher regionaler Rivalitäten und in der Abwehr einer humanitären Katastrophe. Doch zurück in den Kernbereich des Krisengürtels, in den Nahen Osten. Gerade am Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern kann man die Kontinuitäten in einem sich beständig verändernden weltpolitischen Umfeld sehr gut nachvollzie-
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hen. Dieser Konflikt begann definitiv mit dem Teilungsbeschluß der UN für das damalige Mandatsgebiet Palästina am 29. November 1947 und der dann am 14. Mai 1948 erfolgten Gründung des Staates Israel. An diesem Tag erlosch das britische Mandat für Palästina. Am 15. Mai 1948 eröffneten die arabischen Armeen ihren Angriff auf Israel, um diesen neu gegründeten jüdischen Nationalstaat wieder von der Landkarte zu tilgen. Der Versuch scheiterte und führte zu einer Massenflucht der arabisch-palästinensischen Zivilbevölkerung. Seit der ersten Stunde des Staates Israel wurde dessen Existenzrecht von seinen Nachbarn durch Krieg in Frage gestellt. Damals war dieser Konflikt noch Bestandteil der Spätphase des europäischen Kolonialismus. Der Konflikt dauerte an und wurde seit den fünfziger Jahren Teil der Ost-West-Konfrontation, schien sich anschließend in den Jahren der sogenannten »Friedensdividende« nach dem Ende des Kalten Krieges für einen längeren historischen Augenblick einer Friedenslösung zu nähern, um schließlich heute Teil des »Krieges gegen den Terror« geworden zu sein. Im israelisch-palästinensischen Konflikt kämpften beide Seiten vom Beginn an bis heute um dasselbe Land, standen sich zwei Nationalbewegungen in Feindschaft gegenüber. Aufgeladen wird dieser nationale Konflikt noch durch dessen israelischarabische Dimension, die ihn politisch erweitert, und durch eine religiöse Dimension, die sich vor allem an hochsymbolischen, religiösen Orten festmacht, wie dem Tempelberg in Jerusalem, aber auch an anderen Orten der Westbank. Vor allem dieser Faktor erhöht die Komplexität des Konflikts, da symbolisch aufgeladene religiöse Orte pragmatischen Kompromissen nur bedingt zugänglich sind. Der Nahostkonflikt verläuft also zeitgleich auf drei Ebenen: der nationalen, der regionalen und der religiösen, und das macht seine Lösung so überaus schwierig. Freilich ist die Beschreibung des Kerns dieses Konflikts als eine Konfrontation zweier Völker um dasselbe Land nicht zureichend, wenn man nicht hinzufügt, daß dabei die israelische Seite vom ersten Augenblick an um ihre Existenz kämpfen mußte, und zwar nicht nur um ihre staatliche, sondern auch um ihre nationale und um die individuelle Existenz ihrer Bürger. Genau dies ist der Grund
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dafür, daß Israel jenseits einer »Politik der Stärke« niemals wirklich über eine zweite Option verfügte und verfügt, sobald es um seine von Beginn an prekäre Existenz ging. Dieses zentrale Faktum des Nahostkonflikts - die vom ersten Augenblick an bestehende militärische Bedrohung der Existenz des Staates Israel und der sich daraus für Israel ergebende alternativlose Zwang zu einer »Politik der Stärke« - wurde und wird von seinen Nachbarn und in der internationalen Gemeinschaft allzuoft unterschätzt. Der Staat Israel als nationale Heimstatt für alle Juden sollte die Jahrhunderte der Unterdrückung, der Entrechtung, der Beleidigung und mörderischen Verfolgung des verstreut lebenden jüdischen Volkes endgültig beenden. Das war die Grundidee des Zionismus, wie sie Theodor Herzl angesichts eines immer aggressiver auftretenden Antisemitismus in Europa gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Es ist eine furchtbare historische Tragödie, daß für die durch das nationalsozialistische Deutsche Reich ermordeten sechs Millionen europäischen Juden die Gründung des Staates Israel um wenige Jahre zu spät kam.208 Gerade deshalb aber ist die Existenzfrage für Israel und die jüdischen Gemeinschaften außerhalb Israels keineswegs nur eine politisch-militärische oder gar akademische, sondern es geht dabei um das »Nie wieder!« schlechthin, das auf den Erfahrungen der Shoa und des mörderischen Antisemitismus der deutschen Nationalsozialisten gründet, der das jüdische Volk als Ganzes vernichten wollte. Und auch den Staat Israel gäbe es nicht, wenn er nicht von Anfang an mittels einer »Politik der Stärke«, mittels seiner militärischen, aber auch ökonomischen, technologischen, wissenschaftlichen und politischen Überlegenheit seine Existenz hätte gegenüber einer feindlichen Nachbarschaft verteidigen und sichern können. Unterlegenheit und Schwäche waren für Israel nach der Shoa niemals mehr hinnehmbar, Gleichgewicht zu wenig und deshalb eine existentielle Bedrohung. Nur die Überlegenheit gegenüber den feindlichen Nachbarn vermochte die Existenz von Staat und Nation sowie die der einzelnen Bürger zu sichern. An diesem Grundsatz aller israelischen Politik hat sich bis heute nichts geändert.
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Ebenfalls vom ersten Augenblick an hatte die Ablehnung des Existenzrechts Israels für die arabisch-palästinensische Seite fatale Folgen. Der Angriff der arabischen Armeen erfolgte einen Tag nach der Ausrufung des Staates Israel und endete mit erheblichen Gebietsverlusten. Hätten die arabischen Staaten damals den Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1948 akzeptiert, so wäre das palästinensische Territorium heute wesentlich größer, als es die Grenzen von 1967 sind, die von der palästinensischen Seite und der Staatengemeinschaft für einen palästinensischen Staat beansprucht werden. Die palästinensisch-arabische Seite ist mit ihren Versuchen, durch Kriege Israel zu besiegen und dessen Gründung ungeschehen zu machen, nicht nur mehrmals entscheidend gescheitert, sondern dies hatte auch eine jahrzehntelange Tragödie für die Palästinenser zur Folge. Der Traum von der kriegerischen Rückeroberung endete in den Flüchtlingslagern, in jahrzehntelanger Okkupation und in immer weiteren Gebietsverlusten. Denn das legitime Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat ließ und läßt sich nicht mit militärischen Mitteln gegen Israel durchsetzen, weil diese Strategie die existentielle Bedrohung schlechthin für Israel bedeutet. Nur im Ausgleich mit Israel und auf friedlichem Wege, d. h. mittels eines historischen Gebietskompromisses, ist dieses legitime nationale Ziel der Palästinenser erreichbar. Die Geschichte des Nahostkonflikts verlief jedoch anders. Die beiden arabisch-israelischen Kriege von 1948 und 1967 führten zu ganz erheblichen Territorialverlusten für die Palästinenser und die arabischen Nachbarstaaten Israels, die bisher nur zu Teilen durch den israelisch-ägyptischen Frieden auf diplomatischem Wege rückgängig gemacht werden konnten. Der israelisch-jordanische Friedensvertrag umfaßte nicht mehr die Westbank und Ostjerusalem, da diese beiden Gebiete schon früher von Jordanien zugunsten der Palästinenser aufgegeben worden waren. Während des Kalten Krieges war der Nahostkonflikt Bestandteil der globalen Ost-West-Konfrontation, und mit dessen Ende kam es zu einer strategischen Gewichtsverlagerung zugunsten Israels. Ägypten war bereits zuvor aus der arabischen Ablehnungsfront ausgeschieden, aber mit dem Untergang der
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Sowjetunion verloren auch die anderen wichtigsten arabischen Feindstaaten Israels ihren entscheidenden politisch-militärischen Rückhalt. Zudem hatte sich die PLO mit ihrer Unterstützung des irakischen Diktators Saddam Hussein nach dessen Überfall auf Kuwait auch in der arabischen Welt nahezu isoliert. Und Israel erkannte während der ersten Intifada, daß es die legitimen Interessen der Palästinenser nach einem eigenen Staat nicht dauerhaft unterdrücken konnte, ohne nicht selbst schweren Schaden als Land und Demokratie zu nehmen. All diese Entwicklungen machten schließlich den Weg frei für den Friedensprozeß von Oslo. Dieser Friedensprozeß gründete auf zwei Prämissen, nämlich erstens einer perspektivischen Zwei-Staaten-Lösung zur Beendigung des Konflikts und zweitens der Schaffung eines neuen Nahen Ostens, in dem Israel mit seinen arabischen Nachbarn auf der Grundlage eines dauerhaften regionalen Friedens zum gemeinsamen Vorteil zusammenarbeiten würde. Voraussetzung dafür aber war die Anerkennung des Existenzrechts Israels, die dauerhafte Beendigung aller Feindseligkeiten, das Ende der Besatzung, die Auflösung der Siedlungen und die Schaffung eines palästinensischen Staates. Dieser Prozeß sollte graduell verlaufen. Er scheiterte jedoch in seinem Verlauf im wesentlichen an drei Gründen: an der niemals wirklich getroffenen Entscheidung der palästinensischen Seite zwischen Staatsgründung und -aufbau einerseits und dem Festhalten am bewaffneten Kampf unter Einsatz von Terror gegenüber Israel andererseits; an der Unklarheit, ja Uneinigkeit über den Endstatus (d.h. über das Gebiet eines zukünftigen palästinensischen Staates) und damit an den anhaltenden Siedlungsaktivitäten Israels in den besetzten Gebieten; und schließlich an der mangelnden Planung des palästinensischen Staatsaufbaus und des »Nation Building« in diesem Friedensprozeß durch die Akteure beider Seiten und die Staatengemeinschaft. In der Folge kollabierte dieser in Oslo begonnene Friedensprozeß am anhaltenden Terror gegenüber Israel und führte zum endgültigen Scheitern der Verhandlungen. Die Konsequenzen dieses Kollapses waren weitere Territorialverluste für die Palästi-
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nenser durch die Fortsetzung des Siedlungsbaus, eine Verschärfung der Okkupation und mit der sogenannten »zweiten Intifada« ein eskalierender Terrorkrieg gegen Israel, der auf beiden Seiten zu großen Verlusten unter der Zivilbevölkerung führen sollte. In dieser Phase ereignete sich der Terrorschlag gegen die USA vom II. September 2001, und damit wurde dieser Konflikt erneut einem anderen strategischem Umfeld zugeordnet, nämlich dem von Amerika angeführten »Krieg gegen den Terror«. Israels strategischer Positionsgewinn durch das Ende des OstWest-Konflikts wurde damit ein weiteres Mal verstärkt, denn es war völlig klar, daß die USA fortan gegenüber allen Formen des Terrorismus eine Politik der Null-Toleranz verfolgen würden. Ganz besonders aber galt diese neue Politik der Supermacht nach dem Horror von New York und Washington für den islamisch-arabischen Raum und damit auch für ihre Haltung gegenüber dem Terrorkrieg gegen Israel. Es war bereits ein großer politischer Fehler anzunehmen, mit einer Doppelstrategie von Verhandlungen und Gewalt dem Ziel eines eigenen palästinensischen Staates näher kommen zu können. Denn für Israel ist die Perspektive, einen palästinensischen Staat als Nachbarn zu haben, von dessen Gebiet aus der Terror gegen das Land weitergehen würde, ein Alptraum und deshalb völlig unakzeptabel. Die Terrorkampagne machte Israel nicht kompromißbereiter, sondern lediglich unnachgiebiger, weil sich dadurch im Hintergrund erneut die Existenzfrage und damit das »Nie Wieder!« stellten. Damit war für die israelische Seite die Grenze jeglicher Kompromißfähigkeit erreicht, und es kam zu einem völligen Zusammenbruch des Vertrauens in die Palästinenser. Fortan zählten erneut allein Überlegenheit und Durchhaltevermögen. Ein noch weitaus schlimmerer Fehler aber war es, nach dem 11. September den grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Politik der USA zu ignorieren. Die Konsequenz war eine wachsende Isolierung und Schwächung der Palästinenser. Israel andererseits hatte sich nach dem Junikrieg 1967 mit der Okkupation der Westbank, Ostjerusalems und des Gazastreifens selbst in eine schwierige strategisch-demographische Lage
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gebracht, denn damit war der arabische Bevölkerungsteil unter israelischer Herrschaft erheblich angewachsen. Angesichts der wesentlich höheren Wachstumsrate der arabischen Bevölkerung in Israel und in den besetzten Gebieten und der begrenzten Möglichkeiten einer weiteren Zuwanderung von außen ist es rechnerisch absehbar, wann der arabische Bevölkerungsteil zwischen dem Jordangraben und dem Mittelmeer die Mehrheit stellen wird. Eine dauerhafte Okkupation - so die nicht nur in den Linksparteien und im Lager der »Tauben«, sondern zunehmend auch innerhalb der Likud-Partei um sich greifende Meinung — würde aus dem jüdischen Staat Israel letztendlich einen binationalen Staat machen, in dem dann die Minderheit die Mehrheit dauerhaft unterdrücken müßte. Damit würde aber auf mittlere Sicht nicht nur der jüdische Charakter Israels gefährdet, sondern auch die israelische Demokratie selbst. Wie läßt sich dieses Dilemma für Israel auflösen? Die Alternative kann dem Grundsatz nach nur ein palästinensischer Staat sein - die Zwei-Staaten-Lösung also. Allerdings darf von diesem Staat einerseits keine Bedrohung für Israel ausgehen, andererseits darf er aber auch kein territorial zersplittertes, schwaches und damit kaum lebensfähiges Gebilde sein, das die Palästinenser niemals akzeptieren können und akzeptieren werden. Bis heute ist diese Frage nicht gelöst, aber um einen dauerhaften Frieden zu erreichen, muß sie beantwortet werden. Im Grunde beinhaltete bereits der Teilungsplan der Vereinten Nationen vom 29. November 1947 in abstrakter Form die Lösung des Konflikts, denn nur auf der Grundlage einer Teilung des Territoriums, einer ZweiStaaten-Lösung also, können die legitimen Interessen beider Völker zu einem friedlichen Ausgleich gebracht werden. Seitdem hat sich in dieser Region viel ereignet und ist es zu großen Veränderungen gekommen, und auch die weltpolitischen Rahmenbedingungen haben sich wesentlich verändert. Die Grenzziehung des ursprünglichen Teilungsplans von 1947 ist schon längst Geschichte geworden. Die Teilungsformel der Zukunft wird anders aussehen und muß von den Konfliktparteien verhandelt werden, und dennoch bleibt dieser Ansatz grundsätzlich der einzig richtige: Die Sicherung des Existenzrechts Israels und die Sicherung
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seines jüdischen Charakters einerseits und das Recht der Palästinenser auf einen eigenen lebensfähigen demokratischen Staat andererseits lassen sich nur in einer Zwei-Staaten-Lösung friedlich in Übereinstimmung bringen. Die internationale Gemeinschaft hatte nach dem Scheitern des Friedensprozesses in Camp David versucht, den Prozeß erneut zu starten oder wenigstens Halteseile einzuziehen, mittels derer die grundsätzliche Verpflichtung der Konfliktparteien auf eine Rückkehr zum Friedensprozeß und einer Zwei-Staaten-Lösung festgehalten werden konnte. Wichtig war dabei die Einigung der entscheidenden internationalen Akteure auf das sogenannte »Nahost-Quartett«, bestehend aus den USA, der EU, dem Generalsekretär der UN und Rußland. Die USA sind auf Grund ihrer engen Verbindung mit Israel und ihrer überragenden Macht der entscheidende Akteur im Fahrersitz des Quartetts, aber zugleich wurde durch die Gründung des Quartetts der institutionelle Zwang zur Vereinheitlichung der Haltung der wichtigsten internationalen Akteure im Nahostkonflikt geschaffen. Damit konnte das Spiel der Konfliktparteien mit unterschiedlichen Karten wirksam begrenzt werden. Mit der sogenannten »Road Map« des Quartetts, einem Friedensplan in Stufen bis zur Schaffung eines unabhängigen, lebensfähigen und demokratischen palästinensischen Staates und der Reform der palästinensischen Behörde gelangen dem Quartett zwei wichtige Initiativen, die trotz des eskalierenden Terrorkrieges die Hoffnung auf einen erneuerten politischen Prozeß zwischen Israel und den Palästinensern am Leben erhielten. Israel hat auf den anhaltenden Terrorkrieg, auf die demographische Herausforderung und die Blockade des Einstiegs in die »Road Map« schließlich mit einer einseitigen Trennungs- und Abzugsinitiative reagiert. Dieser Ansatz ging von der Prämisse aus, daß Israel auf palästinensischer Seite über keinen Partner mehr verfügen würde. Mit dem Bau eines Trennungszauns in der Westbank soll der palästinensische Terror gegen Israel wirksam eingedämmt werden. Problematisch dabei ist nicht der Zaun selbst, sondern sein Verlauf, da er nicht auf israelischem Territorium verläuft, sondern tief in das palästinensische Gebiet einschnei-
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det und damit neue territoriale Realitäten zu schaffen droht, die einer Friedensregelung entgegenstehen werden. Gleichzeitig beabsichtigt Israel, sich in einem zweiten Schritt vollständig und unter der Aufgabe aller Siedlungen aus dem Gaza-Streifen und aus einigen Gebieten der nördlichen Westbank zurückzuziehen, um so einseitig seine Verpflichtungen aus der Road Map zu erfüllen, soweit dies ohne Verhandlungen mit den Palästinensern möglich scheint. Freilich konnten dabei die Befürchtungen nicht ausgeräumt werden, daß dieser Plan in einem dritten Schritt auch die einseitige Annexion von Gebieten mit großen Siedlungen auf der Westbank und in Ostjerusalem beinhalten würde und so faktisch auf das Konzept eines »Gaza first and Gaza only« hinauslaufen würde. Allerdings hat dieser Plan auch aus der Sicht israelischer Interessen einen ganz entscheidenden Nachteil. Zwar würde die demographische Herausforderung durch den vollständigen Rückzug aus Gaza entscheidend reduziert, gleichwohl entstände jenseits des Zauns auf der Westbank und in Gaza eine territoriale Realität, die tatsächlich auf eine Art palästinensischen »Staat« hinausliefe, der allerdings über alles andere als einen geordneten und friedlichen Charakter verfügen würde. Dieses palästinensische Territorium wäre aus sich heraus kaum lebensfähig, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit im Innern wie nach außen durch Gewalt dominiert, und die nationale Frage der Palästinenser würde damit mitnichten mittels eines nachhaltigen Friedens mit Israel gelöst werden. Der Konflikt würde also fortbestehen, und wieweit zumindest seine sicherheitspolitische Eindämmung auf mittlere Sicht mit diesem einseitigen Plan wirklich besser gelingen kann, bleibt angesichts der zahlreichen Einwände und offenen Fragen zweifelhaft. Denn die Konsequenz einer solchen Entwicklung könnte sehr wohl sein, daß es zwar keinen lebensfähigen, demokratischen und friedlichen palästinensischen Staat an der Seite Israels geben wird, wohl aber de facto einen »failed State« Palästina, der dauerhaft ein enormes Sicherheitsrisiko für Israel und die gesamte Region nach sich ziehen würde. Mit dem Tod Yassir Arafats und der Wahl von Mahmoud Ab-
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bas als palästinensischen Präsidenten in freien und geheimen Wahlen hat sich die Lage allerdings grundsätzlich verändert, denn Israel verfügt nunmehr erneut über einen Partner auf der palästinensischen Seite. Es besteht die Hoffnung auf ein Ende des Krieges und auf einen Verhandlungsprozeß, der in einem ersten Schritt den vollständigen Abzug Israels aus Gaza zu einer zweiseitigen Angelegenheit machen und so in die Road Map und ihre Umsetzung einbetten könnte. Damit träte die Gefahr einseitiger Annexionen und einer Beschränkung des Rückzugsprozesses auf Gaza in den Hintergrund, und die Möglichkeit eines Einstieges in eine Verhandlungslösung bis hin zu den schwierigen Endstatusverhandlungen wäre durchaus als realistisch anzusehen. Wenn sich die USA, Europa und das gesamte Quartett, gemeinsam mit den moderaten arabischen Nachbarstaaten, ernsthaft für diesen Prozeß auf Seiten beider Konfliktparteien engagieren, ein Ende von Terror und Gewalt durchsetzen und damit Sicherheit auf beiden Seiten garantieren können, wenn es gelingt, die Lebensbedingungen und die Freizügigkeit der Palästinenser zu verbessern und den palästinensischen Staatsaufbau mit internationaler Hilfe energisch voranzubringen, dann könnte sich die Lage im israelisch-palästinensischen Konflikt, in Verbindung mit dem Rückzug Israels aus Gaza und der nördlichen Westbank und einer erfolgreichen Übernahme der Verwaltung durch die palästinensischen Behörden, in der Tat dauerhaft zum Besseren wenden und einen historischen Kompromiß erreichbar machen. Die vorbehaltlose Unterstützung der Existenz des Staates Israel, der einzigen wirklichen Demokratie und modernen, auf Freiheit gründenden Zivilgesellschaft im Nahen Osten, ist für Europa nicht nur eine moralische und historische Verpflichtung, sondern ebenso von eminent politischem und sicherheitspolitischem Eigeninteresse. Und umgekehrt hat Israel mit dem Trennungsbeschluß und dem Bau des Zaunes - wenn auch vielleicht nicht intentional - eine Grundsatzentscheidung getroffen, nämlich sich dem Mittelmeerraum zuzuwenden, und dies heißt, Richtung Europa zu blicken. Die Bedeutung dieser Entscheidung wird das Land wohl erst in einiger Zeit realisieren, da die
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Hoffnung auf Europa im Israel von heute kaum existiert. Beide Seiten aber, Europa und Israel, verbindet wesentlich mehr an gemeinsamen Werten und Interessen als der gegenwärtige Zustand der Beziehungen nahelegt. Und insofern wird der Entwicklung dieser Beziehungen in Zukunft eine wesentlich größere Bedeutung zukommen, als dies in der Gegenwart der Fall ist. Diese Perspektive wäre nicht zuletzt ein wichtiger Beitrag zu einer nachhaltigen und friedlichen Lösung des Nahostkonflikts. Der Nahostkonflikt besteht keineswegs nur aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt, der freilich dessen Kern ausmacht. Daneben bestehen die Konflikte Israels mit Libanon und Syrien, hinzu kommt für Israel die Notwendigkeit, zu einer allgemeinen Regelung mit den arabischen Staaten zu gelangen. Allerdings hat sich das Umfeld des Nahostkonflikts seit den Zeiten von Camp David und erst recht seit den Zeiten von Oslo fortentwickelt. Zwar ist die entscheidende Frage nach den Grenzen Israels und eines zukünftigen lebensfähigen palästinensischen Staates keineswegs gelöst, aber mehr und mehr schieben sich neue regionale Herausforderungen neben diese ungelösten Fragen des israelisch-palästinensischen und israelisch-arabischen Konflikts. Unter anderem ist dies die Gefahr eines nuklearen Rüstungswettlaufs im Nahen Osten, ausgehend von den nuklearen Ambitionen des Iran. Ein möglicher nuklearer Rüstungswettlauf würde in einer der gefährlichsten Regionen der Weltpolitik zu einer völlig veränderten strategischen Bedrohungslage führen, und auch Europa würde davon keineswegs unberührt bleiben. Nicht nur würde sich Israel durch eine Nuklearisierung des Iran bedroht fühlen, sondern auch die strategischen Gewichte in der Region unterhalb der nuklearen Schwelle würden sich im Falle einer iranischen Nuklearisierung zuungunsten Israels verschieben. Aber auch andere wichtige regionale Akteure oder direkte Nachbarn würden auf eine solche Herausforderung mit eigenen energischen Anstrengungen reagieren, und damit würde in der gesamten Region ein weiterer hochgefährlicher Destabilisierungsfaktor mit schwer absehbaren Konsequenzen entstehen.
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Der Krieg der USA gegen den Irak Saddam Husseins hat die strategische Lage im Nahen und Mittleren Osten tiefgreifend erschüttert, und die mittel- und langfristigen Konsequenzen sind auch gegenwärtig immer noch schwer absehbar. Unbeschadet der früheren Differenzen um die Kriegsgründe und die eigentlich entscheidende Frage, ob der Krieg als Mittel zur regionalen Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens zulässig war und in seinen Folgen begrenzbar und beherrschbar bleibt, geht es angesichts der neu geschaffenen Fakten im Irak nur noch um die Option Erfolg, nämlich daß die von den USA angeführte Intervention im Irak nicht scheitern darf, sondern daß im Gegenteil eine demokratische Stabilisierung und Bewahrung der territorialen Integrität des Iraks trotz des anhaltenden Terrors gelingen wird. Denn den Preis für ein Scheitern hätte neben der Region auch der gesamte Westen, gleich ob Kriegsbefürworter oder Kriegsgegner, zu entrichten, und erneut träfe dies vor allem auf Europa als direkten regionalen Nachbarn des Krisengebiets zu. Die USA sind durch die militärische Einnahme Bagdads und den Sturz der Diktatur Saddam Husseins zur entscheidenden Macht im Zentrum des Nahen und Mittleren Ostens geworden, und sie werden aus dieser Rolle ohne eine langfristige und erfolgreiche Umgestaltung dieser gefährlichen und großen Region nur noch um einen unverhältnismäßig hohen Preis herauskommen können. Ein Vakuum im Irak — und dies kann man am Beispiel Afghanistans nach dem Abzug der Roten Armee und dem daraufhin ebenfalls erfolgten Rückzug der USA sehr genau studieren - würde das Land dauerhaft destabilisieren, seine territoriale Integrität gefährden und die regionalen Mächte zur Einflußnahme und zur Ausfüllung dieses Vakuums einladen. Die Konsequenzen wären für das Land und die gesamte Region sehr negativ, wie erneut das Beispiel Afghanistan in den neunziger Jahren beweist. Der Sturz Saddams durch die USA hat im Irak die Kurden und die Schiiten, die Opfer der Diktatur, zu den Gewinnern des von außen herbeigeführten Regimewechsels gemacht, und unter den regionalen Nachbarn waren die Gewinner des Irakkrieges vor allem Israel und der Iran. Für Israel wurde durch den Sturz Saddams die potentielle Be-
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drohung durch die irakische Armee erledigt, die arabische »Ablehnungsfront« verlor eine weitere Bastion, und der mögliche militärische Druck auf die Jordangrenze wurde dadurch verringert. Einen noch größeren Zugewinn auf der Habenseite seines strategischen Kontos konnte jedoch der Iran verbuchen. Und genau aus dieser Tatsache könnte das Risiko einer folgenschweren Fehlkalkulation für die zukünftige iranische Politik entstehen, indem sie die regionalen Kräfteverhältnisse falsch kalkuliert. Der Iran entledigte sich durch die militärische Intervention der USA in Afghanistan und im Irak ohne eigenes Zutun zweier für ihn hochgefährlicher Regime in unmittelbaren Nachbarstaaten.209 Vor allem Saddam Hussein hatte mittels eines jahrelangen Angriffskrieges in den achtziger Jahren dem Iran schwerste Verluste an Menschen und Sachwerten zugefügt. Die Todfeindschaft gegenüber Saddam und der Wunsch nach seinem Sturz waren deshalb in Teheran sogar noch weitaus stärker ausgebildet als in Washington. Mittels freier Wahlen wird zudem eine schiitische Mehrheit für eine dem Iran freundlich gesonnene Regierung im Irak sorgen, und auch die Kurden unterhalten enge Beziehungen zu Teheran. Langfristig gedacht könnte aus der Sicht des Iran dadurch sowohl in Richtung Golf als auch über Syrien bis hin zum Libanon ein schiitisch dominierter und iranisch beeinflußter strategischer Halbmond entstehen, der eines Tages dem Iran, verbunden mit der Beherrschung der Nukleartechnik und anspruchsvoller Trägersysteme, eine mehr oder weniger diskrete hegemoniale Rolle in der gesamten Region ermöglichen würde. Hinzu kommt noch ein wachsender Einfluß Teherans auf die radikalen Kräfte unter den Palästinensern, da der Iran zunehmend die Rolle der zahlenmäßig immer geringer und machtpolitisch immer schwächer werdenden arabischen »Ablehnungsfront« zu übernehmen scheint. Denkt man diese Option zu Ende, so zeichnet sich allerdings in einer nicht allzu fernen Zukunft die Gefahr eines Konflikts mit der neuen nahöstlichen Zentralmacht USA um die regionale Hegemonie ab, und diese Entwicklung, so sie nicht gebremst oder gar in eine positive Richtung umgelenkt wird, beinhaltet ganz erhebliche Risiken.
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Dies wird vor allem dann der Fall sein, wenn der Iran der Fehleinschätzung unterliegen sollte, daß seit dem n. September 2001 die strategischen Karten in der Region zu seinen Gunsten neu verteilt worden seien. Zwar ist der Iran mittlerweile nahezu vollständig von den USA umringt: Im Norden in Aserbaidschan und in anderen zentralasiatischen Republiken, im Osten in Afghanistan, im Westen im Irak, und im Persischen Golf liegt einsatzbereit die amerikanische Flotte. Gleichwohl könnte man in Teheran dem Irrtum unterliegen zu meinen, die USA würden im Irak, in Afghanistan und anderswo mehr vom guten Willen des Irans abhängen als umgekehrt und daß man notfalls der symmetrischen militärischen Übermacht der USA auf der asymmetrischen Ebene mehr als genug entgegenzusetzen habe. In solchen möglichen strategischen Fehlkalkulationen liegt ein brisantes Eskalationspotential, denn wenn die Entwicklung auf die hegemoniale Entscheidungsfrage hinauslaufen sollte, wer zukünftig im Nahen und Mittleren Osten das Sagen haben wird, der Iran oder die USA, dann wird der Ausgang gewiß sein. Ein Rückzug aus dem Nahen und Mittleren Osten wird für die Weltmacht USA niemals in Frage kommen. Die USA sind auch nach dem Ende des Kalten Krieges durch ihre strategischen Interessen am Golf und auf der arabischen Halbinsel sowie durch ihre Allianz mit Israel dauerhaft in der Region gebunden. Seit dem n. September 2001 und mit der Besetzung des Irak kam noch ein drittes strategisches Interesse hinzu, nämlich der Kampf gegen den Dschihad-Terrorismus und, als Konsequenz daraus, das langfristige Interesse an einer demokratischen Transformation der gesamten Region, um dadurch nachhaltig eine zukünftige terroristische Bedrohung der USA auszuschließen.210 Dem Grunde nach teilt Europa diese strategischen Interessen, auch wenn es anderen Methoden und Instrumenten den Vorzug gibt. Dennoch überwiegen gerade in der grundsätzlichen strategischen Analyse wie auch in dem langfristigen Transformationsansatz die innerwestlichen Gemeinsamkeiten. Jenseits der gemeinsamen strategischen Interessen des Westens aber bleibt aus europäischer Sicht ein wichtiger geopolitischer Unterschied, der das europäische Interesse gegen-
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über den Entwicklungen in dieser Region sogar noch verstärkt: Die EU und der Nahe und Mittlere Osten sind direkte Nachbarn, und deshalb hat Europa, anders als die USA, an den dortigen Entwicklungen ein fast schon existentiell zu nennendes sicherheitspolitisches Eigeninteresse. Eine mögliche Nuklearisierung der Region, verbunden mit weitreichenden Trägersystemen, und ein sich verstärkender Terrorismus sind Bedrohungen, die vor allem Europa als direkten Nachbarn gefährden werden, jenseits der unmittelbar betroffenen regionalen Mächte, an deren erster Stelle gewiß Israel zu nennen ist. Der Iran könnte in der Tat zu den Gewinnern eines neuen Nahen Ostens gehören, wenn er seine legitimen Interessen nach Sicherheit und Entwicklung nicht in Konfrontation mit der neuen regionalen Vormacht USA suchen würde, sondern eher im Ausbau eines kooperativen und auf Öffnung zum Westen hin bedachten Ansatzes, wie dies ja in den Einzelfällen Afghanistan und Irak seitens Teherans durchaus geschehen ist. Die Politik des Iran im Nahostkonflikt und seine Feindschaft gegenüber Israel sind hochideologisch motiviert, was diese keineswegs weniger gefährlich macht, aber sie gründen, jenseits der Nuklearoption und einer drohenden iranischen Regionalhegemonie, nicht auf unmittelbaren Interessengegensätzen. Im Iran hat sich eine starke Zivilgesellschaft entwickelt. Der Iran verfügt unter den großen und bevölkerungsreichen Staaten der Region über ein erhebliches demokratisches Potential. Das Land ist ein bedeutender Öl- und Gasexporteur, aber es kann seine wirtschaftlichen Möglichkeiten auf Grund seiner politischen Isolation und einer damit einhergehenden Autarkiepolitik nur begrenzt nutzen. Zudem steht der Iran unter dem anhaltenden demographischen Druck einer sehr jungen Bevölkerung, für die er Jahr für Jahr eine große Zahl neuer Arbeitsplätze schaffen muß, wenn er auf mittlere Sicht eine schwere soziale und politische Krise vermeiden will. Das Land braucht also die politische Öffnung und die ökonomische Integration in die Weltwirtschaft, aber dies setzt im Innern Transparenz, Reformen und die Beachtung der Menschenrechte voraus und nach außen eine Politik, die Vertrauen schafft
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und von den regionalen Partnern wie auch international als Beitrag zur Stabilität im Nahen und Mittleren Osten angesehen wird. Eine solche positive Entwicklung liegt nicht nur im Interesse des Iran selbst, sondern auch der gesamten Region und ganz gewiß des Westens. Man muß sich auch im klaren darüber sein, daß alle militärischen Eskalationsoptionen im Umgang mit dem Iran in der Konsequenz gefährliche und kaum zu begrenzende Risiken beinhalten. Deswegen wird die Politik des Westens gut beraten sein, immer von einer realistischen Analyse des Iran und nicht von Wunschdenken auszugehen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Wenn es der Politik des Westens gelingt, gegenüber dem Iran seine diplomatischen Möglichkeiten zusammenzuführen, so werden diese dadurch voll nutzbar gemacht werden können. Ziel einer gemeinsamen Strategie des Westens muß es sein, dem Iran die Öffnung zu ermöglichen, ihn dadurch mehr und mehr in die Weltwirtschaft zu integrieren und auf einen von innen kommenden, demokratischen Transformationsprozeß zu setzen. Die Alternative zu dieser Politik der Öffnung wäre ein anhaltender Prozeß der Selbstisolation des Iran, der sich aus einem Scheitern des Öffnungs- und Integrationsansatzes ergeben würde. Diese Alternative wird sich primär an der Nuklearfrage entscheiden, aber auch an der Politik des Iran gegenüber den Regionalkonflikten im Nahen Osten und an der menschenrechtlich-demokratischen Entwicklung im Innern. Trotz der brisanten Regionalkonflikte, trotz der Gefahr der Nuklearisierung und trotz der Bedrohung durch den Terrorismus besteht die eigentliche Herausforderung für die meisten Staaten und damit auch für die regionale Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten in einer anhaltenden Modernisierungsblockade in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Anders gesagt, den Volkswirtschaften in der arabischen Welt mangelt es an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, die Erlöse aus den Öl- und Gasverkäufen werden suboptimal eingesetzt, Wissen und Technologie tragen die arabischen Ökonomien nur unzureichend, und es gibt zu wenig wirtschaftliche Verflechtung, geschweige denn Integration in der Region.211 Betrachtet man das regionale
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Staatensystem, so fällt der Befund keineswegs positiver aus. Die Gesellschaften werden meistens autoritär oder gar diktatorisch regiert, Demokratie, Menschenrechte, eine unabhängige Justiz, die Gleichstellung der Geschlechter und ein modernes Bildungssystem fehlen in vielen Staaten weitgehend. Und wenn man heute über die regionale Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten spricht, so fällt auf, daß es in dieser an Gefahren reichen Region fast an jeglichem Ansatz zu einem kollektiven Sicherheitssystem mangelt. Gewiß war und ist der israelisch-arabische Konflikt dabei ein nicht zu ignorierender Hinderungsgrund, aber auch in dieser Frage dient der Konflikt, wie auch andere externe Faktoren, sehr stark dazu, um von den tatsächlichen Ursachen der Modernisierungsblockaden in der Region abzulenken.212 Das eigentliche Problem der gesamten Region liegt in einer politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungsblockade, die den Nahen und Mittleren Osten, trotz seiner gewaltigen Öl- und Gasreserven und einer sehr jungen und schnell wachsenden Bevölkerung, zu einem Krisenherd in der Weltpolitik und zu einer entwicklungsschwachen Region der Weltwirtschaft macht: »Der Widerstand der arabischen Wirtschaft, sich der Außenwelt zu öffnen und dem internationalen Wettbewerb zu stellen, gekoppelt mit zeitweise exzessivem Schutz der einheimischen Produkte durch eine Importsubstitutionspolitik, hat den Produktivitätsfortschritt und den Einsatz von Wissen verlangsamt. Der Bedarf an Wissen hat nicht nur deshalb abgenommen, weil das Wirtschaftswachstum und die Produktivität in den arabischen Ländern innerhalb der letzten 25 Jahre ins Stocken geraten sind, sondern auch, weil der Reichtum in den Händen weniger konzentriert ist. [...] Die durch die Globalisierung geförderte Öffnung der Kapitalmärkte verringerte die Möglichkeiten für lokales Wirtschaftswachstum durch Konzentration. Der enorme Kapitalbetrag arabischer Länder, der in den Industrienationen investiert wird und somit den arabischen Völkern nicht zur Verfügung steht, macht in bezug auf die menschliche Entwicklung deutlich, daß nicht der Besitz von Reichtum und Geld entscheidend ist, sondern der produktive Einsatz dieses Kapitals.« So lautet über viele weitere Seiten hinweg die nüchterne und zu-
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gleich realistische Analyse arabischer Ökonomen und Wissenschaftler über die Entwicklungsblockaden in der arabischen Welt, die diese im Auftrag des United Nations Development Programme (UNDP) verfaßt haben.213 Und auch die Antwort der Autoren für einen Ausweg aus der endemischen ökonomischen, politischen und sozialen Krise der arabischen Gesellschaften wird in diesem Bericht klar und eindeutig formuliert: »Aus einer positiven Sicht erfordert die Verwirklichung menschlicher Entwicklung in der arabischen Welt, diese Defizite zu überwinden und sie in ihr Gegenteil zu verwandeln: in Vorteile, derer sich alle Araber erfreuen, und Aktivposten, auf die sie vor dem Rest der Welt stolz sein können. Um die menschliche Entwicklung in Gang zu setzen, müssen die arabischen Länder darauf setzen, ihre Gesellschaften entlang dreier klarer Prinzipien wieder aufzubauen: Vollkommene Respektierung von Menschenrechten und Freiheit als Eckstein einer guten Regierungsweise, die zu menschlicher Entwicklung führt. Vollständige Gleichstellung der arabischen Frauen in Anerkennung ihrer Rechte auf gleichberechtigte Teilnahme an Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ebenso wie an Bildung und anderen Wegen, Fähigkeiten zu entwickeln. Aktiver Erwerb von Wissen und dessen wirksame Verwendung zum Aufbau menschlicher Fähigkeiten. Als ein Schlüsselfaktor wirtschaftlichen Fortschritts muß Wissen in allen Bereichen der Gesellschaft effizient und fruchtbar zur Anwendung gebracht werden mit dem Ziel, das menschliche Wohlergehen in der gesamten Region zu steigern. Dies ist es im Kern, was nötig sein wird, um die Krise der menschlichen Entwicklung in der arabischen Region zu überwinden.«214 Die Modernisierung der postkolonialen arabischen Welt geschah im wesentlichen entlang zweier Modelle: einem nationalistisch-militärischen und einem absolutistisch-theokratischen Modell. Das erstere wurde durch säkulare nationalistische Kräfte in den arabischen Gesellschaften vorangetrieben, die meistens aus einer Verbindung nationalistisch-säkularer Parteien und nationalistischer Militärs bestanden. Diese Modernisierungsvariante war im hohen Maße panarabisch orientiert, auf Grund seiner antikolonialen Haltung seit den fünfziger Jahren meist an-
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tiwestlich und deshalb auch mit der Sowjetunion verbündet und von deren Waffenlieferungen und finanzieller und technischer Hilfe abhängig. Diese Modernisierungsvariante wollte die Industrialisierung der Volkswirtschaft erreichen, mittels der ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierung den Bruch mit der islamischen Tradition erzwingen und dadurch die Unabhängigkeit unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts und den Wiederaufstieg der arabischen Nationen zu früherer Stärke erreichen. Sie führte in den meisten Fällen zu Einparteienherrschaften, die den politischen Mantel für faktische Militärdiktaturen abgaben, die auf stark abgeschotteten nationalen Volkswirtschaften mit staatsmonopolistischer Dominanz (arabischer Sozialismus) gründeten. Die andere Modernisierungsvariante kann man als absolutistisch-theokratisch charakterisieren. Sie versucht auf der Grundlage absoluter monarchischer Herrschaft - im Fall von SaudiArabien unter Einschluß einer Machtteilung mit der wahabitischen Ulema (Geistlichkeit) - die Herrschaftsform der absoluten Monarchie mit der machtpolitischen und wirtschaftlichen Öffnung des Landes hin zum Westen zu verbinden. Islamische Tradition und eine technologisch-konsumistische Verwestlichung sollten hier in ein machtpolitisches und kulturelles Gleichgewicht gebracht werden. Diese Modernisierungsvariante war und ist allerdings stark abhängig von dem Faktor Öl, da sie auf dem umfassenden Import der Modernisierung von außen in Gestalt von fremden Experten, Technologien und Konsumgütern beruht.21' Dies galt vor allem seit dem großen Ölpreisschock von 1973, der gewaltige Summen in die Kassen der Öl produzierenden arabischen Staaten und ihrer Herrscherhäuser fließen ließ. Freilich war und ist der normative Widerspruch zwischen westlicher Technologie und Konsumismus einerseits und den tradierten, in einer orthodoxen Form gelebten islamischen Werten andererseits kaum zu überwinden, zumal wenn das Bildungssystem seine Präferenzen eindeutig auf die traditionelle Wertevermittlung setzt. Hier mußte sich über kurz oder lang die von Anthony Barber so zutreffend beschriebene Modernisierungsfalle »Dschihad versus McWorld«216 auftun, aus der heraus sich der
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Dschihad-Terrorismus entwickeln sollte, weil die Modernisierung als ein von außen der islamischen Gesellschaft aufgezwungenes Phänomen erschien, als Fremdbestimmung und Degeneration der tradierten Gesellschaft und ihrer ewigen islamischen Werte. Beide Modernisierungsvarianten in der arabischen Welt haben sich letztendlich erschöpft und konnten keinen eigenen, erfolgreichen arabischen Weg in die Moderne eröffnen, sondern sie stagnierten oder scheiterten. Diese negative Entwicklung führte mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und angesichts einer gewaltigen Wirtschaftsdynamik durch die Globalisierung sogar zu einer erheblichen Verschärfung der Modernisierungsblockaden. Und so entwickelte sich, getragen von dem militärischen Erfolg der islamistischen Guerilla in Afghanistan gegen die Sowjetunion, gerade nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue, revolutionär-totalitäre Alternative, die das entstandene Vakuum auszufüllen begann, welches die älteren Modernisierungsmodelle zunehmend hervorbrachten. Aus dieser Mischung, hervorgegangen aus dem Scheitern der beiden traditionellen Modernisierungsmodelle, aus der Erfahrung der wachsenden relativen Schwäche der arabischen Welt, dem daraus resultierenden Gefühl kultureller Fremdbestimmung, ja Desorientierung und der intellektuellen Rückorientierung in eine glorreiche Vergangenheit des Islam und der arabischen Welt, entwickelte sich die totalitär-revolutionäre Bewegung des Dschihad-Terrorismus, den man allerdings angesichts seiner ausschließlichen Destruktivität nicht als Modernisierungsbewegung definieren kann. Vielmehr handelt es sich um eine totalitäre Gefahr, die in der Konsequenz auf Selbstzerstörung hinausläuft. Aber auch diese Erfahrung ist Europa mit seinen beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts keineswegs fremd. Die Antwort auf diese totalitär-revolutionäre Bedrohung kann in der arabischen Welt nur durch eine dritte Modernisierungsvariante, nämlich die liberale Transformation, gegeben werden, wie es die Autoren des UNDP-Reports vorgeschlagen haben, der sowohl dem EU-Mittelmeerdialog als auch der »BroaderMiddle-East-Initiative« der G8-Staaten und zahlreicher Staaten
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des Nahen und Mittleren Ostens zugrunde liegt. Allerdings gibt eine solche liberale und demokratische Modernisierung der arabischen Welt eine sehr langfristige Perspektive vor, und sie wird alles andere als einfach zu erreichen sein. Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Geschlechtergleichstellung, Bildung, soziale Gerechtigkeit und Öffnung für die Globalisierung - dieser liberale und zugleich universelle Modernisierungsansatz wird nicht nur auf den entschlossenen und brutalen Widerstand des DschihadTerrorismus stoßen, sondern auch wenig Anklang bei den unterschiedlichsten konservativen Machteliten in den Staaten der Region finden. Denn eine solche umfassende Modernisierung der Staaten im Nahen und Mittleren Osten erschüttert selbstverständlich auch die überkommenen Machtstrukturen und stellt diese durch die Reformen in Frage. Zudem muß die Rolle des Westens in dieser »Great Transformation« des Nahen und Mittleren Ostens einerseits eine partnerschaftliche und keine neoimperiale sein, da ansonsten die Kräfte eines revolutionären arabischen Nationalismus den Prozeß der liberalen Transformation blockieren oder sogar bekämpfen werden. Vor allem ein dauerhaftes Bündnis oder gar eine Verschmelzung von arabischem Nationalismus und Dschihad-Terrorismus würde eine große Bedrohung in der gesamten Region und darüber hinaus bedeuten. Anderseits muß der Westen umfassend präsent sein, um in den Staaten der Region eine erneute Stagnation verhindern und Rückschlägen begegnen zu können. Dies erfordert eine strategische Klugheit, die gleichermaßen auf Entschlossenheit und Sensibilität setzt und diese beiden Eigenschaften mit einem langfristigen Durchhaltevermögen und sehr viel Weitsicht verbindet. Die Beendigung des israelisch-arabischen Konflikts durch den historischen Kompromiß einer Zwei-Staaten-Lösung, die weitere demokratische Stabilisierung des Irak und Afghanistans, die anhaltende Bekämpfung des Dschihad-Terrorismus, die Verhinderung von Nuklearwaffen im Iran und damit der Nuklearisierung des Nahen und Mittleren Ostens, die feste Verankerung der Türkei in Europa. Hinzu kommen die Verhinderung einer schleichenden Destabilisierung oder gar Implosion auf der ara-
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bischen Halbinsel durch rechtzeitige Transformation, die Stärkung und Unterstützung der demokratisch-liberalen Kräfte in der gesamten Region, die langfristige Modernisierung durch demokratischen Wandel, wirtschaftliche Öffnung und Integration und umfassende gesellschaftliche Erneuerung sowie ein regionales Sicherheitssystem, in dem die legitimen Sicherheitsinteressen aller beteiligten regionalen Akteure (unter Einschluß Israels und der Palästinenser) genauso wie die globalen Sicherheitsinteressen in der Region gewährleistet werden. So lauten die wesentlichen Elemente der politischen Agenda des Westens für den Nahen und Mittleren Osten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Westen hat zu dieser Agenda und zu einer solchen Politik der langfristigen Modernisierungskooperation mit den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens keine ernsthafte Alternative, wenn er seine Sicherheitsinteressen im 21. Jahrhundert ernst nimmt. Die traditionellen Modernisierungsansätze in der arabischen Welt sind erschöpft und tragen nicht mehr, dasselbe gilt für eine Politik des Erhalts des Status quo in dieser Region. Den Nahen und Mittleren Osten aufzugeben oder gar zu vergessen ist angesichts seiner strategischen Bedeutung, aber auch als unmittelbare europäische Nachbarregion ebenfalls völlig undenkbar. Ein Sieg oder auch nur ein temporärer Vormarsch des totalitär-terroristischen Dschihadismus würde nicht weniger als einen Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte andauernden Krieg gegen den Terror bedeuten. Insofern bleibt zu einer partnerschaftlichen Modernisierungspolitik, trotz all der gewaltigen Hemmnisse und Schwierigkeiten und der Langfristigkeit der Herausforderungen, keine ernstzunehmende Alternative. War dies zu Beginn des Kalten Krieges in Europa eigentlich anders, und war die damalige Herausforderung für den Westen eigentlich geringer? Es ist dieselbe Qualität von strategischer Herausforderung, wie zu Beginn des Kalten Krieges in den späten vierziger Jahren, auch wenn ansonsten die Unterschiede überwiegen, und deswegen bedarf es einer ähnlich langfristigen und komplexen Antwort. Deshalb wird sich ein erneuerter Transatlantismus politisch zuerst und vor allem an dieser gemeinsamen strategischen Herausforderung der partnerschaftlichen, demokratisch-liberalen
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Transformation des Nahen und Mittleren Osten zu beweisen haben, und das wird ein langfristiges und umfassendes Engagement unverzichtbar machen.
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VII. Zwischen Gleichgewicht und globaler Kooperation - das Entstehen einer neuen Weltordnung »Wenn die nachfolgende Friedensordnung nicht anerkennt, daß die ganze Welt eine einzige Nachbarschaft ist, und der gesamten Menschheit Gerechtigkeit widerfahren läßt, werden die Keime eines weiteren Weltkriegs als anhaltende Bedrohung der Menschheit bestehenbleiben.« FRANKLIN DELANO ROOSEVELT2'7
Wie also könnte die globale Ordnung der Welt im 21. Jahrhundert aussehen? Sie wird vor allem auf zwei Säulen ruhen, nämlich auf der Macht der alleinigen Weltmacht USA und auf der Legitimationskraft des Systems der Vereinten Nationen. Unter dieser Ebene werden die kontinentalen oder subkontinentalen Regionalorganisationen zunehmend an Bedeutung gewinnen, vor allem wenn zusätzliche Legitimation für Zwangsmaßnahmen gegen einzelne Staaten oder die Bereitstellung von »harter« Macht benötigt wird. Diese Regionalorganisationen werden darüber hinaus auch für die Entwicklung kooperativer regionaler Sicherheitssysteme von zentraler Bedeutung sein. Geht man andererseits von den objektiven Faktoren und dem Druck aus, den sie ausüben werden, nämlich dem anhaltenden Bevölkerungswachstum, der quantitativen und qualitativen Erweiterung des Weltmarktes, der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie, den globalen Kommunikationsstrukturen, den globalen Finanzmärkten und den objektiven Wettbewerbszwängen der globalen Wirtschaft, so spricht alles dafür, daß sich in den vor uns liegenden Jahrzehnten die gegenseitige technologische, wirtschaftliche und politische Verflechtung verstärken wird und diese Entwicklung dann auch massiv die Ausgestal-
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tung des internationalen Systems in Richtung Kooperation und Integration beeinflussen wird. Es wird zu einer Ausdehnung der Weltwirtschaft auf sehr große Bevölkerungen kommen (dieser Prozeß vollzieht sich bereits gegenwärtig), aus der sich eine qualitativ neue Herausforderung für die Verteilung der global verfügbaren Ressourcen und Energie ergeben wird, und allein diese Tatsache wird das Ökosystem Erde auf eine bis heute nicht gekannte Weise belasten. Zur gegenteiligen, negativen Gesamteinschätzung kann man gelangen, wenn man den wachsenden sozialen Druck aufgrund der globalen Einkommens- und Chancenverteilung bedenkt. Dann könnte sich aus all diesen Faktoren nämlich ergeben, daß die Entwicklung - trotz aller Zwänge zur weiteren globalen Integration der Weltwirtschaft - ganz im Gegenteil auf einen globalen Verteilungskampf hinausläuft, der gerade nicht zu stabilen oder friedlichen Verhältnissen in der internationalen Politik führen wird. Folgt man daher dieser durchaus naheliegenden zweiten Option, so bietet sich zur Beschreibung des globalen Staatensystems des 21. Jahrhunderts das alte Westfälische System mit seinem multipolaren Wettbewerbscharakter und seinem Gleichgewichtsdenken an. Freilich wird dabei etwas sehr Wichtiges übergangen: Dieses System verfügt unter den heutigen global geltenden Bedingungen der Staatenwelt über ein entscheidendes Defizit, nämlich den Verlust der zentralen Funktion des alten Gleichgewichtssystems - und das ist der Krieg als Mittel zur Abwehr eines jeglichen Hegemonialanspruches und zum Ausgleich des Wettbewerbs der souveränen Staaten. Im Staatensystem der Gegenwart existiert die Option Krieg nur noch auf der mittleren und auf der unteren Ebene, nicht mehr jedoch auf deren oberster Ebene, dort wo sich die alleinige Weltmacht USA, die anderen Atommächte und die wichtigsten staatlichen Akteure der ersten Welt versammeln. Freilich galt dieses Faktum bereits während des Kalten Krieges im vergangenen Jahrhundert, und deshalb wurde die Auseinandersetzung zwischen Ost und West eben als ein »kalter« Krieg geführt. Im 21. Jahrhundert wird nunmehr auch die Fähigkeit zur Führung eines »kalten Krieges« zwischen den alten und den neu entstehen-
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den Weltmächten zunehmend eingeschränkt werden, da angesichts der Globalisierung und d. h. der Übernahme des westlichen Wirtschafts- und Konsummodells eine solche desintegrierende Entwicklung nur noch Verlierer ohne Gewinner produzieren würde. Die Globalisierung ist kein historischer Zufall, sondern objektive Notwendigkeit und ein Ergebnis der ökonomisch-technologischen Entwicklung der Weltwirtschaft. Aber selbstverständlich ist nichts von ewiger Dauer auf dieser Welt, und für die Geschichte bestehen immer mindestens zwei Alternativen. Insofern kann es jederzeit auch schwere Krisen und Rückschläge geben. So konnte etwa die Desintegration der Weltwirtschaft, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ausgelöst wurde, ökonomisch erst wieder in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wettgemacht werden. Aber ebenso gewiß ist es, daß die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kosten für eine ähnlich regressive Entwicklung einhundert Jahre später weitaus dramatischer ausfallen würden.218 Gleichwohl ist auch diese Option nicht grundsätzlich auszuschließen und bleibt eine reale Zukunftsalternative.219 Und deshalb sollten auch niemals die Erfahrungen mit dem »Zusammenbruch des internationalen Systems« in den späten zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vergessen werden: Damals konnte »das System des Kräftegleichgewichts den Frieden in dem Augenblick nicht mehr sichern, als die Weltwirtschaft versagte, auf der es beruhte. Dies erklärte die Plötzlichkeit des Bruchs und das unvorstellbare Tempo der Auflösung.«"° Während des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den USA gab es keinen gemeinsamen globalen ökonomischen Unterbau, sondern ganz im Gegenteil zwei völlig voneinander getrennte, parallele Systeme. West und Ost, Kapitalismus und Sozialismus, Markt und Plan - die damalige Welt war politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich entlang zweier sich ausschließender, alternativer Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle zweigeteilt. Nichts dergleichen ist im 21. Jahrhundert bisher absehbar. Freilich heißt dies nicht, daß der Aufstieg kommender Weltmächte, wie China und Indien, und ihre Integration in das
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internationale System krisenfrei verlaufen müßten. Diese Integration möglichst konfliktfrei zu erreichen, bleibt daher eine der herausragenden Gestaltungsaufgaben in diesem Jahrhundert. Genau hier setzen die Anhänger der Übertragung des alten europäischen Gleichgewichtsmodells auf das Staatensystem des 21. Jahrhunderts an. Sie ziehen die Parallele mit dem Europa vor 1914. Auch damals gab es noch keine ideologische Feindschaft oder Systemalternative zwischen den europäischen Mächten, sondern ausschließlich Mächterivalitäten und ein Deutsches Reich unter Wilhelm II., das gegenüber den alten europäischen Großmächten seinen »Platz an der Sonne« durchzusetzen versuchte. Dahinter wurde ein deutscher Hegemonialanspruch sichtbar, auf den das Westfälische System mit einer antihegemonialen Koalitionsbildung reagierte. Das Europa vor 1914 kannte noch keine Systemunterschiede, sondern nur hegemoniale Versuchungen und antihegemoniale Ängste, die zusammengenommen als Kriegsgründe völlig ausreichten. Gerade damals war zudem die globale ökonomische Rivalität der europäischen Mächte im Zeitalter des Imperialismus ein nicht unwichtiger politischer Destabilisierungsfaktor. Das Ergebnis ist bekannt, nämlich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Beginn der Selbstzerstörung der bürgerlichen Welt Europas. Unterstellt man allerdings die Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums im 21. Jahrhundert, so wird dessen machtpolitische Absicherung durch eine konfrontative, den Markt- und Ressourcenzugang für wichtige globale Akteure einschränkende oder gar unterbindende Politik völlig kontraproduktiv wirken. Denn nur durch offene globale Märkte wird sich das Wachstumsniveau aufrechterhalten lassen, das die Integration der Schwellenländer und weiterer, bisher nicht wirklich an der Weltwirtschaft teilnehmender Regionen und Staaten ermöglicht. Von der sich erfolgreich weiter ausdehnenden Globalisierung hängt aber ganz entscheidend die Sicherheit der westlichen Welt ab, ja mehr noch, auch die Zukunft des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells als solches wird davon bestimmt werden. Deshalb werden von diesem zentralen Faktum der Globalisierung auch die machtpolitischen Interessen des Westens wesent-
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lieh bestimmt werden. Kommt es hingegen analog dem Europa vor 1914 zu einer konfrontativen und desintegrativen Entwicklung, so wird im 21. Jahrhundert davon auch der Westen massiv in Mitleidenschaft gezogen werden, und zwar nicht nur wirtschaftlich und sozial, sondern auch und gerade sicherheitspolitisch. Als um so wichtiger werden sich aber angesichts einer solchen negativen Entwicklungsmöglichkeit die Vollendung des europäischen Einigungsprozesses und ein erneuerter Transatlantismus erweisen. Es fällt schwer, sich unter rationalen Annahmen vorzustellen, daß gegen Mitte dieses Jahrhunderts einerseits eine globalisierte Weltwirtschaft unter der Teilnahme einer Mehrheit der Menschheit existieren wird und andererseits ein weiterer kalter Krieg etwa zwischen der neuen Weltmacht China und der alten Weltmacht USA das internationale System bestimmt. Die ökonomisch-technologische Basis und der machtpolitische Überbau passen in dieser Zukunftsannahme schlicht nicht zusammen. Gleichwohl wird zu Recht die Frage aufgeworfen, warum sich nicht eine Entwicklung wie im Europa vor 1914 auf der globalen Ebene des 21. Jahrhunderts wiederholen sollte. Grundsätzlich ist keine einigermaßen vernünftig begründbare Option für die zukünftige politische Entwicklung auszuschließen. Aber allein die Differenz in der Waffentechnologie, nämlich die Existenz von Nuklearwaffen, definiert die Plausibilität von Optionen völlig neu. Hinzu kommen die Unterschiede in der gegenseitigen Abhängigkeit, und zwar sowohl bezogen auf die Wirtschaft, auf die verfügbaren Ressourcen, auf die Folgen für die Umwelt als auch auf die regionale und globale Sicherheit. Wie also sollte eigentlich ein kommender kalter Krieg im 21. Jahrhundert aussehen, und worum würde er zu führen sein? Die möglichen Protagonisten einer solchen Konfrontation könnten aus heutiger Sicht nur die USA und China sein, und ein weiteres Mal hieße die Aufstellung Landmacht gegen Seemacht. Insofern bliebe man der europäischen Tradition verhaftet. Aber was wäre der Gegenstand dieses Konflikts? Chinas Rolle als aufsteigende Weltmacht? China wird mit seinen mehr als 1 Milliarde Menschen und bei
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seiner weiter erfolgreich voranschreitenden Industrialisierung und umfassenden Modernisierung diesen Status ganz von selbst bekommen. Allein die entstehende ökonomische Nachfragemacht, die Exportstärke und der gewaltige Binnenmarkt der im Aufstieg begriffenen MegaÖkonomien werden sich machtpolitisch umsetzen und weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Schon gegenwärtig sind die USA für China der wichtigste Exportmarkt, und umgekehrt ist China nach Japan bereits heute der wichtigste Gläubiger der USA und wird wohl Japan in nicht allzu ferner Zukunft in dieser Spitzenposition ablösen. Neben einer späteren hegemonialen Konfrontation zwischen der aufsteigenden und der alten Weltmacht birgt vor allem die TaiwanFrage ein nicht zu unterschätzendes Eskalationspotential — und zwar nicht nur politisch, sondern auch für die Weltwirtschaft. Für alle Beteiligten geht es dabei um eherne Grundsatzfragen, nämlich territoriale Integrität versus Demokratie. Solange die Konfliktparteien sich rational verhalten werden, ist der Konflikt eingrenzbar, ja eines Tages sogar lösbar. Das Eskalationsrisiko liegt in einer Politik begründet, die mehr auf das jeweilige Prestige und nicht auf die pragmatische Vernunft setzt. Dennoch ist auch die Gefahr einer zukünftigen hegemonialen Konfrontation realistischerweise nicht auszuschließen, aber dies wird ganz entscheidend von der Ausgestaltung des globalen Staatensystems der Zukunft abhängen. Eine der für die Zukunft der globalen Sicherheit ganz entscheidenden Fragen lautet daher, wie sich die aufstrebenden Weltmächte des 21. Jahrhunderts möglichst konfliktfrei mit ihren Interessen und Ambitionen in die globale Ordnung der Staaten integrieren lassen, ohne dabei schwere Erschütterungen oder gar Schockwellen auszulösen. Sollte sich diese Entwicklung in Zukunft in einem globalen Gleichgewichtssystem mit seinem inhärenten Konkurrenzmechanismus vollziehen, dann allerdings könnte sie in der Tat in einer negativen Prophezeiung enden. Und gerade deshalb ist die eigentlich zentrale und politisch zu gestaltende Herausforderung die Frage nach der Form und dem Charakter des Staatensystems des 21. Jahrhunderts. Die Alternative dabei lautet: Zurück zum alten Westfälischen System oder voran zu einem
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globalen System der Kooperation? Genau diese Alternative verbirgt sich auch ganz wesentlich hinter der Frage nach der Zukunft der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert, denn diese verkörpern seit ihrer Gründung den Anspruch (und nur sehr eingeschränkt die Realität) auf ein globales System kollektiver Sicherheit. Und vergessen wir dabei nicht, daß die Idee einer globalen Friedensordnung, die auf einem System kollektiver Sicherheit beruht, die amerikanische Antwort auf die Selbstzerstörung des europäischen Gleichgewichtssystem in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts war. Es wäre eine Tragödie sondergleichen, wenn die Welt im 21. Jahrhundert diese furchtbare Erfahrung erst noch ein weiteres Mal machen müßte, bevor sie bereit wäre, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Die Vereinten Nationen sind ihrem Charakter nach recht eigentlich ein Unding in der kalten, machtpolitischen Staatenwelt der souveränen Leviathane und Super-Leviathane. Genauer gesagt, sie sind deren Antithese,221 denn sie versuchen, mit dem Anspruch eines globalen Systems kollektiver Sicherheit die inhärente Anarchie des Staatensystems zu zähmen und den Krieg nach Möglichkeit als Mittel der Politik wirksam einzuhegen und auf ganz wenige Fälle zu begrenzen, die zudem der völkerrechtlichen Legitimation durch die UN und ihres Sicherheitsrates bedürfen. Sie entspringen der Erfahrung zweier Weltkriege und einer idealistisch-normativen, auf die Herstellung des Weltfriedens orientierten Außenpolitik der Vereinigten Staaten222 unter deren großen Präsidenten Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt.223 Allerdings brach schon wenige Jahre nach der Gründung der UN der Kalte Krieg zwischen den Supermächten aus, und diese globale Konfrontation der mächtigsten Staaten und ihrer Bündnisse blockierte über viele Jahrzehnte hinweg die Vereinten Nationen in ihrer Kernaufgabe, nämlich als globales System kollektiver Sicherheit zu funktionieren. Mit dem Ende der Blockkonfrontation gewann dieser globale Ansatz in der Sicherheitspolitik und damit auch die Organisation der UN ihre eigentliche Bedeutung mehr und mehr zurück. Robert Cooper weist einerseits zu Recht darauf hin, »daß das Ende des Kalten Krieges die Welt in das Jahr 1945 zurückver-
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setzte. Während Institutionen, die wegen - oder vor dem Hintergrund - des Kalten Krieges entstanden waren, wie die NATO oder die Europäische Union, nun aussahen, als hätten sie eine radikale Erneuerung nötig, waren die Vereinten Nationen eine Institution aus der Zeit vor dem Kalten Krieg und mochten daher eine funktionierende Institution für die Zeit danach werden. Bis zu einem gewissen Punkt sollte sich dies bewahrheiten. Die Vereinten Nationen sind heute aktiver, als sie es während des Kalten Krieges jemals gewesen sind. [...] Jedoch sind die Vereinten Nationen aktiver bei der Friedenserhaltung und humanitären Arbeit denn als Organisation kollektiver Sicherheit.«224 Andererseits folgt Cooper aber in seiner Analyse der UN dem klassischen Sicherheitsbegriff, der sich auf Gleichgewicht und überwältigende hegemoniale Macht stützt. Er kommt daher zu dem Schluß, daß ein solches System kollektiver Sicherheit, das als Idee sowohl hinter dem Völkerbund als auch hinter der UN gestanden habe und in dem die internationale Gemeinschaft einem gegen die Regeln verstoßenden Staat das internationale Recht aufzwingen würde, noch niemals funktioniert habe, weder in der Abessinienkrise der dreißiger Jahre noch heute. Tatsächlich würde kollektive Sicherheit auch heute durch eine Kombination zweier älterer Ideen gewährleistet, nämlich Stabilität durch Gleichgewicht und Stabilität durch Hegemonie.225 Nun hieße es, das UN-System schlicht zu überfordern, wenn man von der Weltorganisation die Gewährleistung der klassischen Sicherheit durch den Einsatz militärischer Machtmittel verlangen würde, über die sie nicht verfügt und auch in Zukunft nicht verfügen wird. Diese Machtmittel bleiben bei den mächtigsten Staaten und ihren Bündnissen konzentriert. Die spannende Frage ist vielmehr, wieweit die Interessen dieser Staaten im 21. Jahrhundert mehr und mehr der Legitimation durch die UN bedürfen, wieweit also nicht ein erweiterter, transformatorischer und kooperativer Sicherheitsbegriff das nationale Interesse dieser großen Mächte zunehmend mit dem UN-System verschränken wird. Die Welt hat sich zwischen 1945 und 2005 dramatisch verändert, und die gegenseitigen Abhängigkeiten der Stärksten und der Schwächsten haben erheblich zugenommen. Sicherheit
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wird sich nicht mehr nur durch strategisches Potential plus militärische Stärke zureichend definieren lassen, und genau hier beginnen die Aufgaben der Vereinten Nationen und eines kollektiven Sicherheitssystems im 21. Jahrhundert. Insofern sind die UN auch keine Organisation aus der Zeit vor dem Kalten Krieg, sondern sie bedürfen dringend ihrer Erneuerung, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden zu können. Es bedarf nach der Epoche der Dekolonisierung, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und mit dem Eintritt in das Zeitalter der Globalisierung einer grundsätzlichen Anpassung der Weltorganisation an diese neue Zeit und ihre ganz spezifischen Herausforderungen, zumal der klassische Souveränitätsbegriff nach den schrecklichen Erfahrungen von Ruanda und Kosovo zunehmend auch von der Seite der Individualrechte her gegenüber innerstaatlicher Brutalität und Gewalt bis hin zum drohenden Genozid unter Druck gerät.216 Die Stärke der Vereinten Nationen besteht nicht in »harter« Macht, über die sie nicht verfügen, sondern vielmehr in der »weichen« Macht der Legitimation.227 In machtpolitischen Kategorien gedacht, sind die UN schwächer als irgendeine beliebige Mittelmacht, aber ihre Fähigkeit zur Legitimation von Entscheidungen in der internationalen Politik kann von keinem anderen Staat (und sei er noch so mächtig), Staatenbündnis oder multilateraler Organisation ersetzt werden. Der Unterschied zwischen legitimer Machtausübung und nicht oder nur unzureichend legitimierter Machtausübung ist der, daß Menschen einer legitimierten Entscheidung freiwillig folgen, während sie ansonsten mit hohem Aufwand und erheblichen menschlichen, moralischen, politischen und wirtschaftlichen Kosten zu einem bestimmten Verhalten gezwungen werden müssen. Legitimation gründet auf Zustimmung, und Zustimmung gründet auf Repräsentanz und Teilhabe. Die Fähigkeit der UN zur Legitimation gründet auf der Befugnis zur Völkerrechtssetzung einerseits und der Selbstbindung der Organisation an das Völkerrecht und ihre eigenen Verfahrensregeln andererseits. Und diese Verfahrensregeln gründen wiederum auf der Repräsentanz und der Zustimmung der Staaten in den Entscheidungsinstitutionen und auf der
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Akzeptanz der Charta und ihrer Verfahrensregeln durch alle Mitgliedsstaaten. Die Vereinten Nationen sind die globale, transnationale Organisation der Staaten, gründend auf einer Charta, die diese souveränen Staaten an das Völkerrecht als einer höheren Instanz zu binden versucht. Sie sind konzipiert als eine Organisation zur Überwindung des Krieges in der Staatenwelt durch ein globales System kollektiver Sicherheit, und das zielt in der Konsequenz auf die Verlagerung des Jus Bellum (jenseits des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 UN-Charta) auf den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Dieser wird dominiert von den fünf Veto-Mächten, setzt Völkerrecht und verfügt als einzige Instanz über die rechtliche Legitimation, mit Gewalt in die Souveränität der Staaten einzugreifen und, jenseits des Selbstverteidigungsrechts der Staaten, Kriege und Militärinterventionen zur Friedenserzwingung oder Friedensbewahrung mit Mehrheit zu legitimieren. Die UN sind auch die Organisation, die sich global um die Menschenrechte kümmert, Flüchtlinge versorgt, die reichen und armen Teile der Welt zusammenzuführen versucht, sich um die sozialen und ökologischen Belange auf globaler Ebene kümmert und im Falle von Natur- und von Menschen gemachten Katastrophen Hilfe organisiert und koordiniert. Zumindest sollten die Vereinten Nationen ihren Prinzipien und ihrem Anspruch nach so sein. Die Wirklichkeit der Weltorganisation läßt sich sechzig Jahre nach ihrer Gründung allerdings auch völlig anders beschreiben: Die Organisation vermag nur höchst unzureichend kollektive Sicherheit zu schaffen, wird von schweren Skandalen erschüttert, leidet unter bürokratischer Ineffizienz und unbeweglichen Strukturen. Wesentliche Institutionen der Weltorganisation funktionieren nur defizitär, der Sicherheitsrat verkörpert die Welt von 1945, der Wirtschafts- und Sozialrat fristet ein Schattendasein, und die Menschenrechtskommission wird zunehmend von Staaten dominiert, denen selbst schwere und schwerste Menschenrechtsverletzungen vorzuwerfen sind; gegen UN-Blauhelm-Soldaten werden schlimme Vorwürfe bei verschiedenen Friedensmissionen erhoben. Korruption, Mißma-
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nagement, schlichte Unfähigkeit und finanzielle Verschwendung gesellen sich zu diesen Vorwürfen noch hinzu. Deswegen wird die Zukunft der Vereinten Nationen als solcher und die Legitimität und Funktionalität ihrer Grundsätze aus neokonservativen Kreisen in Frage gestellt, denn eine Organisation, in der die Diktatoren, die Menschenrechtsverletzer und die Feinde der Demokratie in der Generalversammlung wie in der Menschenrechtskommission über die Mehrheit verfügten, könne ihrer zentralen Funktion, für eine friedlichere, gerechtere und bessere Welt zu sorgen, nicht mehr gerecht werden. Diese völlig gegensätzlichen Sichtweisen auf die Vereinten Nationen sind nur in ihrer Einseitigkeit falsch, denn beide treffen gleichermaßen die Wirklichkeit der Weltorganisation. Gerade die Irakkrise228 war der Anstoß für die Reforminitiative von Generalsekretär Kofi Annan, und diese Krise hat auch die oben beschriebene doppelte Realität der Vereinten Nationen offensichtlich werden lassen: Einerseits erwiesen sich die UN als unverzichtbar, andererseits zeigte diese Krise aber auch, wie schwach und wie reformbedürftig die Organisation und das gesamte UN-System tatsächlich sind.229 Es ist auch nicht verwunderlich, wenn eine Organisation, die auf 191 Mitgliedsstaaten gründet, darunter fünf Vetomächten, in ihrer Entscheidungsfindung oft schwerfällig wirkt. Die Bürokratie und auch die komplexen Entscheidungsverfahren einer solchen globalen Organisation sind unvermeidlicherweise meist umständlicher, langsamer und weniger effizient, als dies bei nationalen Entscheidungen und Regierungen der Fall ist. Die gesamte Organisation hängt von notwendigen und zugleich komplizierten Kompromissen zwischen den verschiedenen Vetomächten, den Regionalgruppen und den Mitgliedsstaaten ab. Man kann daher der UN-Organisation ehrlicherweise nicht vorwerfen, was andererseits gerade ihre Stärke ausmacht, nämlich ihre globale Breite. Der Widerspruch zwischen der Unverzichtbarkeit der UN einerseits und ihrer politischen und bürokratisch-organisatorischen Schwäche anderseits macht sechzig Jahre nach ihrer Gründung den großen Reformbedarf der Organisation mehr als deut-
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lieh. Es muß dies eine Reform sein, welche die Politiken der Organisation, ihre Verfahren und ihre Institutionen erneuert und die vor allem ihre Fähigkeit zur Legitimation stärkt, wenn die UN ihrer wesentlichen politischen Aufgabe in der Welt der Globalisierung gerecht werden wollen, nämlich den Weltfrieden zu erhalten. Unter der Überschrift »Effektivere Vereinte Nationen für das 21. Jahrhundert« faßte die hochrangige Arbeitsgruppe in ihrem Bericht an den Generalsekretär den Kern der Reformnotwendigkeiten, nämlich die institutionellen Reformen, zusammen: »In der Absicht ihrer Gründer waren die Vereinten Nationen nie eine utopische Vorstellung. Sie sollten vielmehr ein funktionierendes System der kollektiven Sicherheit bilden. [...] Wir haben während der gesamten Arbeit der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel nach institutionellen Schwachstellen Ausschau gehalten, die bei den gegenwärtigen Antwortmaßnahmen auf Bedrohungen bestehen. Die folgenden Probleme müssen am dringendsten behoben werden: Die Generalversammlung hat an Vitalität eingebüßt; oft gelingt es ihr nicht, sich wirksam und konzentriert mit den vordringlichsten Fragen auseinanderzusetzen. Der Sicherheitsrat wird in Zukunft proaktiver vorgehen müssen. Damit dies geschieht, sollen diejenigen, die finanziell, militärisch und auf diplomatischem Gebiet am meisten zu den Vereinten Nationen beitragen, mehr an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden, und diejenigen, die an den Entscheidungsprozessen beteiligt sind, sollten mehr zu den Vereinten Nationen beitragen. Der Sicherheitsrat braucht größere Glaubwürdigkeit, Legitimität und Repräsentativität, um alle Anforderungen erfüllen zu können, die wir an ihn stellen. Es besteht eine große institutionelle Lücke bei der Auseinandersetzung mit Problemen von besonders belasteten Staaten und Staaten, die einen Konflikt überwunden haben. Diese Länder leiden oft unter einem Defizit an Aufmerksamkeit, politischer Anleitung und Ressourcen. Der Sicherheitsrat hat die potentiellen Vorteile der Zusammenarbeit mit regionalen und subregionalen Organisationen nicht voll ausgeschöpft. Es bedarf neuer institutioneller Regelungen, um sich mit den wirtschaftlichen und sozialen Bedrohungen der interna-
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tionalen Sicherheit auseinanderzusetzen. Die Menschenrechtsorganisation leidet an einem Legitimitätsdefizit, das den Ruf der Vereinten Nationen insgesamt in Zweifel zieht. Das Sekretariat braucht höhere Professionalität und eine bessere Organisation, damit es zu einem weitaus stärker abgestimmten Vorgehen in der Lage ist.«230 Darüber hinaus macht der Bericht Vorschläge für »einen neuen Sicherheitskonsens«, zur »kollektiven Sicherheit und der Herausforderung der Prävention« und schließlich zur »kollektiven Sicherheit und dem Einsatz von Gewalt«. Das Staatensystem des 21. Jahrhunderts wird also bis auf weiteres global auf zwei Pfeilern ruhen: der Weltmacht USA und der Weltorganisation UN. Die Beziehungen beider Akteure sind alles andere als problemfrei, weil sich die USA in ihrer Weltmachtrolle und als entscheidender globaler Ordnungsfaktor nur allzuoft durch die UN gebremst oder gar konterkariert fühlen. Dabei sind es gerade die USA als Weltmacht, die von der Legitimationskraft der UN mehr abhängen als jeder andere Staat, weil die USA wegen ihrer Fähigkeit zur globalen Machtprojektion nur allzuoft in der Pflicht sind zu handeln. Sie tun dies sowohl entsprechend ihres nationalen Interesses als auch des Interesses an globaler Sicherheit.231 Dennoch erwächst aus dieser Doppelrolle der USA als Nationalstaat und globaler Ordnungsgarant, von nationalem und globalem (oder regionalem) Interesse ein Legitimationsproblem, das die USA am besten durch die Parallelität mit reformierten Vereinten Nationen lösen können. Insofern müßte gerade den USA, mehr als anderen, an einer Erneuerung der Weltorganisation gelegen sein. Das UN-System braucht die Weltmacht USA und umgekehrt, deshalb ist eine anhaltende Konfrontation gegen die Interessen beider gerichtet. Historisch sind die UN und die Idee kollektiver Sicherheit, die das alte europäische Gleichgewichtssystem hinter sich läßt, durch und durch Kinder Amerikas, seiner politischen Tradition, seiner Freiheitsutopie, seines liberalen Optimismus und seines Glaubens an das Recht.232 Es kommt nicht von ungefähr, daß die Charta der Vereinten Nationen mit dem fast identischen ersten Satz aus der amerikanischen Verfassung beginnt: »We the peoples of the United Nations ...<<233 Um so wichtiger wird es
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daher im Interesse der UN, der USA, aber auch Europas und der gesamten Staatengemeinschaft sein, die Reform der UN dafür zu nutzen, die anhaltende Konfrontation zwischen Weltmacht und Weltorganisation zu überwinden. Bleiben zwei weitere wichtige Fragen, um die sich eine Reformdebatte der UN nicht herumdrücken darf. Das ist zum einen die Frage, wie die Weltorganisation mit der Tatsache umgehen wird, daß nicht wenige Mitgliedsstaaten in ihrer inneren Verfaßtheit und in ihrer Politik in einem mehr oder weniger starken Widerspruch zu der Charta, den verschiedenen Konventionen, dem Völkerrecht und den Menschenrechten stehen. Und zum anderen: Was wird sein, wenn sich das UN-System erneut angesichts einer gefährlichen Herausforderung oder genozidalen Bedrohung als handlungsunfähig erweist, bedingt durch nationale Interessen wichtiger Staaten, die einem Beschluß im Wege stehen? Liegt hier nicht eine Quelle der Delegitimierung und damit der Schwächung der Vereinten Nationen? Die letzte Frage muß eindeutig mit Ja beantwortet werden. Als der Sicherheitsrat während der Kosovo-Krise blockiert und deshalb handlungsunfähig war, hat die NATO dennoch militärisch eingegriffen, weil erstens alle, wirklich alle diplomatischen Schritte erschöpft waren und eine große humanitäre Katastrophe nur noch mit militärischen Mitteln zu verhindern war und weil sich zweitens nahezu die gesamte europäische Staatengemeinschaft, NATO und EU, angesichts des blockierten Sicherheitsrates und beruhend auf einem regionalen Konsens, für ein militärisches Eingreifen in einem europäischen Land ausgesprochen hatten. Ein größtmöglicher regionaler Konsens kann also durchaus ein Ersatz für einen blockierten Sicherheitsrat sein, ohne daß deswegen der Grundsatz in Frage gestellt werden muß. Ähnlich verhält es sich mit der ersten Frage. Gerade der von Kofi Annan vorgeschlagene »historische Pakt« zwischen reichen und armen Staaten böte ein vorzügliches Instrument zur Verbesserung der sogenannten »Governance« in zahlreichen Staaten des Südens, wenn die reichen Länder des Nordens ihren Teil der Verpflichtung wirklich ernst nähmen. Annans Vorschlag könnte den Anteil der Demokratien und der Rechtsstaaten in den Vereinten Nationen nach-
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drücklich vergrößern. Tatsächlich schlägt Kofi Annan nichts weniger vor, als eine Umsetzung des Marshall-Plans auf der globalen Ebene unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Damit ist aber auch der Maßstab an die agierenden Staatsmänner der Gegenwart angelegt, und die Frage bleibt zu beantworten, ob sie diesem Vorbild der »Great Generation« gerecht werden oder nicht. Auch wenn die Frage der institutionellen Reform der Vereinten Nationen und hier vor allem die Erweiterung des Sicherheitsrates um neue ständige und nichtständige Mitglieder im Vordergrund steht, so baut der Reformansatz doch im wesentlichen auf einer politischen Grundsatzentscheidung auf, die für die kollektive Sicherheit und für die politische Gestaltung der Globalisierung im 21. Jahrhundert von überragender Bedeutung sein wird, nämlich auf einem globalen Interessenausgleich zwischen Arm und Reich: »Es ist der Mühe wert, sich die Bedingungen dieses historischen Paktes ins Gedächtnis zu rufen. Jedes Entwicklungsland trägt die Hauptverantwortung für seine eigene Entwicklung - indem es die Regierungsführung stärkt, die Korruption bekämpft und die erforderlichen Politiken und Investitionen umsetzt, um ein vom Privatsektor angeführtes Wachstum zu fördern und vorhandene einheimische Ressourcen optimal auszuschöpfen, um nationale Entwicklungsstrategien zu finanzieren. Die entwickelten Länder ihrerseits sagen zu, daß Entwicklungsländer, die transparente, glaubwürdige und entsprechend kalkulierte Entwicklungsstrategien beschließen, jede erforderliche Unterstützung erhalten werden, in Form höherer Entwicklungshilfe, eines stärker entwicklungsorientierten Handelssystems sowie einer breiteren und tiefer gehenden Entschuldung. All dies ist versprochen, jedoch nicht eingehalten worden.«234 Die politische und rechtliche Klärung der Legitimation des Einsatzes von Gewalt, von militärischer Prävention, einer verbindlichen Definition und Strategie zur Bekämpfung von Terrorismus und einer wirksamen Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen ist gewiß von großer Bedeutung. Dennoch handelt es sich bei diesem »historischen Pakt«
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zwischen den reichen und armen Staaten um eine der ganz entscheidenden, ja zentralen Zukunftsfragen. Sicherheit durch Kooperation, Sicherheit durch Teilhabe und Sicherheit durch Transformation, durch umfassende Modernisierung und Demokratisierung - so lautet die Sicherheitsformel, die der Reformanstrengung der Vereinten Nationen zugrunde liegt. Die Frage ist nicht mehr, ob diese Reform kommt, denn erneuerte und gestärkte Vereinte Nationen sind für den Weltfrieden unverzichtbar, sondern lediglich wann diese Reform kommen wird. Und dies ist alles andere als eine unwichtige Frage, denn daran wird sich entscheiden, ob die Weltgemeinschaft und ihre wichtigsten Akteure und Regionalgruppen jetzt, aus vernünftiger Einsicht in deren Notwendigkeit, diese Reform voranbringen werden oder ob diese Reform erst nach weiteren schlimmen Erfahrungen, Krisen und Konflikten kommen wird.235 Die Herausforderungen des neuen internationalen Systems in einer globalisierten Welt können, zumindest für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts, heute bereits benannt werden: Es sind dies erstens der Kampf gegen den neuen Totalitarismus in Gestalt des Dschihad-Terrorismus, zweitens die Lösung hochgefährlicher Regionalkonflikte. Drittens der Wiederaufbau zusammengebrochener Staaten oder gar ganzer kollabierter Regionen, die sich ansonsten zu Brutstätten des neuen Terrorismus entwikkeln können. Viertens die Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen auf zusätzliche Staaten und vor allem in die Hände terroristischer Gruppen. Und d. h. auch weitere wirksame Abrüstungsschritte für die vorhandenen Atomwaffenpotentiale und ein wirksames internationales Kontrollregime. Fünftens die friedliche Integration großer aufsteigender Mächte in das internationale System mittels regionaler und globaler Systeme kollektiver Sicherheit. Sechstens die politische und soziale Gestaltung der Globalisierung entlang der Grundsätze von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlichem und technologischem Fortschritt, Teilhabe und Partnerschaft. Der Ausgleich zwischen Arm und Reich, Entwicklung und Unterentwicklung. Und siebtens die vermutlich größte Herausforderung im Zeitalter der Globalisie-
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rung: der Übergang des westlichen Wirtschafts-, Konsum- und Sozialmodells von einem Minderheitenprogramm der Gesellschaft zu deren Mehrheitsprogramm - ohne daß dies zu einer ökologischen Überforderung der vorhandenen Ressourcen der Erde führt und damit zu schweren Schocks in der Weltwirtschaft und schließlich zu einer Destabilisierung des Staatensystems. An der global integrierten Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts werden nicht mehr, wie bisher, lediglich zwanzig Prozent der Menschheit teilnehmen, sondern zukünftig werden dies wohl eher sechzig Prozent und mehr sein, bedingt durch den Eintritt riesiger Bevölkerungen in Ost- und Südasien in den Weltmarkt, aber auch weiter Teile Lateinamerikas und hoffentlich auch der arabisch-islamischen Welt und Afrikas. Dies wird die Ressourcen- und Energieverteilung, aber auch die Gefährdung der globalen Ökologie, nicht nur in das Zentrum der Weltwirtschaft, sondern auch der Weltpolitik rücken. Den hier angeführten sieben globalen Herausforderungen wird dann positiv zu begegnen sein, wenn vor allem drei Akteure funktionieren: die USA, der Westen und die UN. Dieses breite Spektrum neuer Herausforderungen, Bedrohungen und Risiken macht aber auch deutlich, daß die klassische Sicherheitsdefinition zwischen souveränen Staaten - strategisches Potential plus militärische Macht - nicht mehr ausreichen wird, um Sicherheit im 21. Jahrhundert zu gewährleisten. Hinzu kommen eine stetig wachsende Weltbevölkerung und der sich daraus ergebende Zwang zu einer immer weiter und tiefer gehenden gegenseitigen Abhängigkeit in der Weltwirtschaft von morgen und ein (für die menschliche Zeitdimension) statisches, begrenztes Ökosystem Erde. Allein diese drei Faktoren werden im Falle konfrontativer Lösungsversuche entlang hegemonialer Interessen nur noch Verlierer produzieren, und daraus wird sich am Ende - die Frage ist: Was kommt davor? - unausweichlich der Zwang zu kooperativem Interessenausgleich und damit auch globaler kooperativer Sicherheit ergeben. Deswegen muß und wird der Sicherheitsbegriff der Zukunft erweitert werden um die Elemente der liberal-demokratischen Grundwerte, der Entwicklung, der Transformation, der Kooperation, der Partnerschaft und der
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Teilhabe. Das alte Westfälische System wird für die Lösung der großen Herausforderungen im 21. Jahrhundert keinen wirklich produktiven Beitrag mehr leisten können, da die Menschheit und ihr Staatensystem definitiv in das Zeitalter der Weltinnenpolitik eingetreten sind. Nicht nur die Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean, sondern auch die terroristische Herausforderung, die Gefahren, die von zusammengebrochenen Staaten und Regionen ausgehen, die globale Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen, neue Krankheiten und Epidemien, das Weltklima etc., all diese Bedrohungen und Risiken beweisen doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, daß es keine ökonomische Globalisierung ohne eine Globalisierung der Gefahren, Bedrohungen und Risiken gibt. Die klassische Souveränität der Staaten erweist sich bereits in der Gegenwart bis auf wenige Megastaaten und die Weltmacht USA zunehmend als Illusion. Die bereits heute bestehenden globalen Abhängigkeiten lösen diesen Begriff in der politisch-ökonomischen Praxis mehr und mehr auf. Sicherheit, umfassende Sicherheit wird es im 21. Jahrhundert nur noch miteinander, durch Kooperation, und nicht mehr gegeneinander, durch Konfrontation im Staatensystem, geben. Es ist bereits heute absehbar, daß dies die neue Qualität des Staatensystems im 21. Jahrhundert sein wird. Die entscheidende Frage aber bleibt erneut: Wann? Damit sei noch einmal die Frage nach der Möglichkeit des Lernens aus der Geschichte aufgenommen. Man kann zumindest versuchen, aus den großen Linien des abgelaufenen Jahrhunderts für die Zukunft Rückschlüsse zu ziehen. Das Gleichgewichtssystem und die erste Globalisierung bis 1914 sind im Zeitalter der Weltkriege und der diese begleitenden wirtschaftlichen Autarkie völlig zusammengebrochen. Seit Woodrow Wilsons großartiger Idee einer globalen Friedensordnung schwankt das Staatensystem zwischen Gleichgewicht und kooperativer Sicherheit. Und erst mit dem Fall der Mauer und dem Ende der Sowjetunion konnten sich fast überall in Europa die liberale Demokratie und eine freie Gesellschaft und Wirtschaft wirklich durchsetzen. Verlängert man also die großen Linien des 20. Jahrhunderts in die Gegenwart hinein, so kann es sehr gut sein, daß es auch im
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21. Jahrhundert zu ähnlich opferreichen und blutigen Umwegen der Geschichte kommt, bevor die Welt in ihren Staaten zu Freiheit, zur Demokratie, zur Herrschaft des Rechts, zu sozialer Gerechtigkeit und zu offenen Gesellschaften kommen wird und im globalen Staatensystem zu einer kooperativen Weltinnenpolitik. Wenn man das 20. Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt des Lernens von seiner Geschichte betrachtet, so hält es eine schlechte und eine gute Botschaft für uns bereit: Die schlechte Botschaft ist, daß sich dieses Jahrhundert nur durch furchtbare Katastrophen, Kriege, Völkermorde und Vertreibungen hindurch fortentwickelt hat. Und die gute Botschaft ist, daß sich am Ende schließlich doch die liberale Demokratie, gründend auf Freiheit und Recht, als die entscheidende historische Kraft durchgesetzt hat. Allerdings steht zu befürchten, daß diese Auseinandersetzung im gegenwärtigen Jahrhundert erneut aufgerufen werden wird. Und es scheint, daß man heute, in der Welt nach dem 11. September und im Zeitalter der Globalisierung, jene Bedrohungen - Krieg, Totalitarismus und Weltwirtschaftskrise - nicht mehr gleichermaßen als eine reale Bedrohung empfindet, wie das über weite Teile des 20. Jahrhunderts hinweg der Fall gewesen ist. Damals, nach 1918 und nach 1945, war dieses Bedürfnis nach einer globalen Friedensordnung fast übermächtig, so daß eine mutige und weitsichtige Generation amerikanischer Staatsmänner ihre neue Vision eines globalen Systems kollektiver Sicherheit praktisch umzusetzen begann. Die gleichzeitige Unterschätzung der Bedrohungen und der Gestaltungsaufgabe könnte sich in der Gegenwart aber als ein Irrtum sondergleichen erweisen. Denn keineswegs spricht die historische Erfahrung dagegen, daß das 21. Jahrhundert nicht den Spuren des vorangegangenen »Jahrhunderts der Extreme« folgen könnte.236 Allerdings sind die Bedingungen für eine positivere Entwicklung sehr viel besser als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wenn, ja wenn ein erneuerter Westen über genügend Weitsicht und staatsmännische Klugheit verfügt, um diesmal diese besseren Bedingungen zur politischen Gestaltung der Globalisierung erfolgreicher zu nutzen.
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»And so today, in this year of war, 1945, we have learned lessons - at a fearful cost - and we shall profit by them. We have learned that we cannot live alone, at peace; that our own wellbeing is dependent on the well-being of other nations far away. [...] We have learned to be Citizens of the world, members of the human Community. We have learned the simple truth, as Emerson said, that >The only way to have a friend is to be one<.«237
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Anmerkungen 1 Daniel Bell: Die neue Weltunordnung, in: SZ, 23./24.1.1999, S. III. 2 Slavoj 2izek: Willkommen in der Wüste des Realen, Wien 2004, S. 23: »Der Erfolgsfilm Matrix von den Brüdern Wachowski trieb diese Logik auf die Spitze. Die materielle Realität, in der wir leben, ist virtuell, generiert und gesteuert von einem gigantischen Megacomputer, an den wir alle angehängt sind; als der Held (gespielt von Keanu Reaves) in die >wirkliche Realität< vordringt, steht er in einer trostlosen Landschaft voller ausgebrannter Ruinen — die Überreste Chicagos nach einem globalen Krieg. Der Anführer des Widerstands, Morpheus, empfängt ihn mit ironischem Gruß: >Willkommen in der Wüste des Realen<. Ist nicht etwas ganz Ähnliches in New York am 11. September passiert?« 3 Thomas Mann: Meine Zeit (1950), in: Ders.: Essays Bd. 6, Frankfurt/M. 1997, S. 176. 4 Timothy Garton Ash: Amerikas Entscheidung. Beginnt jetzt das 21. Jahrhundert?, in: SZ, 14.9.2001, S. 17. 5 Ebd. 6 »Dem Katastrophenzeitalter von 1914 bis zu den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs folgten etwa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre eines außergewöhnlichen Wirtschaftswachstums und einer sozialen Transformation, die die menschlichen Gesellschaften wahrscheinlich grundlegender verändert haben als jede andere Periode vergleichbarer Kürze. Retrospektiv kann diese Periode als eine Art von Goldenem Zeitalter betrachtet werden, und sie wurde auch beinahe sofort, nachdem sie in den frühen siebziger Jahren zu Ende gegangen war, als solche empfunden. Im letzten Teil des Jahrhunderts begann dann eine neue Ära des Verfalls, der Unsicherheit und Krise und für große Teile der Welt, wie für Afrika, die ehemalige Sowjetunion und den ehemals sozialistischen Teil Europas, in der Tat eine Ära der Katastrophe [...] In der Perspektive der neunziger Jahre erschien das kurze 20. Jahrhundert auf dem Weg von einer Krise durch ein kurzes Goldenes Zeitalter in eine andere, mit Ausblick auf eine unbekannte und problematische, aber nicht notwendigerweise apokalyptische Zukunft.« Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/ Wien 1995, S. 20. 7 »Mitte des 20. Jahrhunderts schrieb Arthur Koestler einen Roman über das Sowjetregime und seine Schauprozesse, den er >Darkness at Noon< nannte (deutscher Titel: >Sonnenfinsternis<). Dieser Titel ist meine Metapher für das gesamte 20. Jahrhundert, nicht nur das Sowjetregime. Aber gleichzeitig schien in diesem Jahrhundert in vielfacher Hinsicht auch die >Helle Sonne
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um Mitternachts Ja, wie wir dieses so schwer zu beurteilende Jahrhundert sehen, hängt sehr stark von Ort und Zeitpunkt unserer Betrachtung ab.« Immanuel Wallerstein: Absturz oder Sinkflug des Adlers? Der Niedergang der amerikanischen Macht, Hamburg 2004, S. 35. 8 »Das 20. Jahrhundert begann 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die vorangegangenen eineinhalb Jahrzehnte waren eine Fortsetzung der Belle Epoque, jenes Schnitzlerschen Reigens, in dem Aristokratie und Bürgertum im Habsburgerreich, im wilhelminischen Deutschland und im edwardinischen England zu den Walzern von Johann Strauß getanzt hatten. Mit dem Ersten Weltkrieg tat sich mit einmal die Hölle auf. Die Welt erlebte in einem bisher nicht gekannten Ausmaß Gewalt und Zerstörung. Alle die optimistischen Vorstellungen von der Realität, die Idee des Fortschritts, sämtliche Werte und Grundsätze wurden mit einem Mal in Frage gestellt. Heute wird uns klar, daß diese Wirklichkeit das gesamte Jahrhundert belastet hat, bis zu den ethnischen Säuberungen in Srebrenica und dem unvorstellbaren und doch so realen Mord an einer halben Million Menschen in Ruanda.« Daniel Bell: Aufstieg und Fall der Ideologien, in: SZ, 16./ 17.1.1999, S. III. 9 »Die Vereinigten Staaten und andere liberale Demokratien müssen damit fertig werden, daß mit dem Zusammenbruch des Kommunismus die Welt, in der sie leben, immer weniger die alte Welt der Geopolitik ist und daß sich die Regeln und Methoden der historischen Welt für das Leben in der posthistorischen Welt nicht eignen. Die Staaten der posthistorischen Welt werden sich überwiegend mit wirtschaftlichen Problemen befassen müssen, mit der Steigerung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit, mit internen und externen Defiziten, mit dem Erhalt der Vollbeschäftigung, mit der kooperativen Bewältigung schwerwiegender ökologischer Probleme und ähnlichem [...] In der posthistorischen Welt steht das Streben nach bequemer Selbsterhaltung höher als das Streben, das Leben in einem Prestigekampf zu riskieren; die universale, rationale Anerkennung hat das Streben nach Herrschaft ersetzt.« Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München 1992, S.379f10 Kenichi Ohmae hat die Stimmung der damaligen Zeit treffend wiedergegeben, nämlich daß der Nationalstaat gegenüber den Kräften der globalen Ökonomie nur noch eine nachgeordnete Rolle spielen werde: »Etwas Seltsames - und für viele geradezu Alarmierendes - ist geschehen auf dem Weg zur >neuen Weltordnung< des früheren US-Präsidenten Bush: Die alte Welt ist kollabiert. Das sieht man vor allem daran, daß mit Ende des Kalten Krieges das alte System von Allianzen und Oppositionen zwischen den Industrieländern irreparable Brüche bekommen hat. Weniger klar ersichtlich, aber wohl bedeutsamer ist, daß der moderne Nationalstaat selbst - dieses Artefakt des 18. und 19. Jahrhunderts — bröckelt. [...] Es ist nun einmal so, daß Nationalstaaten innerhalb der Weltwirtschaft nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.« Kenichi Ohmae: Der neue Weltmarkt. Das Ende des
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Nationalstaates und der Aufstieg der regionalen Wirtschaftszonen, Hamburg 1996, S. 20 u. 26. Auffassungen dieser Art bestimmten die westliche Öffentlichkeit während der gesamten neunziger Jahre. 11 Diese dramatische Veränderung in der Grundhaltung der USA gegenüber der Rolle des Staates nach dem 11. September findet sich sehr klar in der Rede von Präsident George W. Bush zur Lage der Nation (State of the Union Adress), die er vor beiden Häusern des Kongresses am 29. Januar 2002 gehalten hat: »Aber nachdem Amerika angegriffen worden war, war es, als habe das ganze Land in einen Spiegel geschaut und sein besseres Selbst gesehen. Wir wurden daran erinnert, daß wir Bürger mit einer Verpflichtung dem anderen gegenüber, unserem Land gegenüber und der Geschichte gegenüber sind. Wir haben weniger an die Dinge gedacht, die wir anhäufen können, und mehr an das Gute, das wir tun können. Zu lange hat unsere Kultur gesagt: Wenn es Spaß macht, dann tu's.< Jetzt hat sich Amerika eine neue Ethik und eine neue Überzeugung zu eigen gemacht: >Laßt es uns in Angriff nehmen.< In den Opfern der Soldaten, in dem heroischen Einsatz der Feuerwehrleute für ihre Mitbürger und in dem Mut und der Großzügigkeit der Bürger gewannen wir einen flüchtigen Eindruck, wie eine neue Kultur der Verantwortung aussehen könnte. Wir möchten eine Nation sein, die ihrfen] übergeordneten Zielen dient.« Bericht zur Lage der Nation 2002. Rede von Präsident George W. Bush, unter: http://usa.usembassy.de/etexts/ docs/bush.290102d.htm 12 Strobe Talbott u. Nayan Chanda (Hrsg.): Das Zeitalter des Terrors. Amerika und die Welt nach dem 11. September, München/Berlin 2002, S. 9. 13 Martin van Creveld: Die Zukunft des Krieges, München 2001, S. 288. Siehe auch folgenden Hinweis auf derselben Seite: »Im größten Teil Afrikas gleichen die kriegführenden Einheiten Volksstämmen - tatsächlich handelt es sich um Stämme oder um das, was von ihnen nach der zersetzenden Wirkung der Zivilisation noch übriggeblieben ist. Für die Zustände in Teilen Asiens und Lateinamerikas bieten möglicherweise die Raubritter den besten Vergleich, die Europa in der frühen Neuzeit unsicher machten, oder die mächtigen Feudalherren, die sich im Japan des 16. Jahrhunderts gegenseitig bekriegten. In Nordamerika und Westeuropa werden die künftigen kriegführenden Organisationen vermutlich den Assassinen gleichen. Dieser religiös motivierte Geheimbund, der angeblich ausgiebigen Gebrauch von Drogen machte, terrorisierte den Mittleren Osten vom n. bis zum 13. Jahrhundert.« 14 »Die Assassinen, eine von Hassan ben Sabbah im Jahre 1090 gegründete Sekte, waren innerhalb von zwei Jahrhunderten ein machtvoller politischer Faktor geworden. Religiös fanatisiert durch ihre Vorstellungen vom Paradies, waren die Sektenmitglieder oftmals zielstrebige Mörder im Dienst ihres Meisters, der in den unzugänglichen Bergen hauste. Die Meister, rücksichtslos in ihrer politischen Gewaltanwendung und unfehlbar in ihrer religiösen Überzeugung, kontrollierten von ihrer Festung Alamut aus, hoch
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liyya und ihren materiellen Annehmlichkeiten angezogen würden als von seiner Sicht des Islams, jahiliyya daher über den Islam triumphieren könnte. Drittens existiert in dem, was Qutb als ein Ringen zwischen Gott und Satan begriff, kein gangbarer dritter Weg. Alle Muslime - wie er sie definierte - müßten deshalb in diesem Kampf zu den Waffen greifen. Jeder Muslim, der seine Ideen ablehnt, ist lediglich ein weiterer Ungläubiger und der Vernichtung wert. Bin Laden teilt Qutbs starre Sichtweise, die es ihm und seinen Anhängern erlaubt, sogar grundlosen Massenmord als gerechte Verteidigung eines bedrängten Glaubens zu rationalisieren.« The 9/11 Commission Report, S. 51. 26 »Etwa seit sieben Jahren hält Amerika die heiligsten Länder des Islam besetzt: die Arabische Halbinsel. Es hat ihre Ressourcen gestohlen, ihren Anführern Befehle erteilt, ihr Volk gedemütigt und ihre Nachbarn in Schrecken versetzt. Es benutzt seine Herrschaft auf der Halbinsel als Waffe zur Bekämpfung der benachbarten Völker des Islam [...] Der offenkundigste Beweis kam, als die Amerikaner in ihrer Aggression gegen das Volk des Irak zu weit gingen [...] Obwohl die amerikanischen Ziele dieser Kriege religiöser und wirtschaftlicher Art sind, sollen sie auch dem jüdischen Staat zugute kommen und von dessen Besetzung des Heiligen Landes und der Ermordung der dort lebenden Muslime ablenken [...] Alle diese Verbrechen und dieses Elend sind eine unverhüllte Kriegserklärung an Gott, seinen Propheten und die Muslime durch die Amerikaner [...] Auf Grund dieser Tatsachen und um dem Allmächtigen zu gehorchen, sprechen wir hiermit gegenüber allen Muslimen das folgende fatwa aus: Die Amerikaner und ihre Verbündeten, ob Zivilisten oder Militärs, zu töten und zu bekämpfen, ist die Pflicht eines jeden Muslims in jedem Land, der dazu in der Lage ist [...] Im Namen Gottes rufen wir jeden Muslim, der an Gott glaubt und um Vergebung bittet, auf, dem Befehl Gottes zu gehorchen, indem er Amerikaner tötet und ihr Geld stiehlt, jederzeit und wann immer es möglich ist.« Dies sind Zitate aus der Gründungserklärung der World Islamic Front for Jihad against Jews and the Crusaders vom 22. Februar 1998. Neben Osama bin Laden unterzeichneten noch die Führer zweier ägyptischer Gruppen und von militanten Islamisten in Pakistan und Bangladesh. Nach Peter L. Bergen handelte es sich bei dieser Erklärung um das zentrale Dokument, das die Terrorattacken der Al-Qaida-Gruppe vorbereiten sollte (Heiliger Krieg Inc., S. I2of.). 27 »Vor dem 11. September hielten es nur wenige für möglich, daß ein Verkehrsflugzeug in einen Kernreaktor stürzen könnte. Im Zuge einer Auseinandersetzung über eine geplante Plutoniumfabrik am Savannah River machte eine Gruppe namens Georgianer gegen Kernenergie (GANE) geltend, daß das Risiko eines feindseligen Akts< bei der Planung der Anlage nicht in Betracht gezogen worden sei. Die Atomaufsichtsbehörde (NRC) entgegnete, daß >Bundesbehörden sich lediglich mit halbwegs vorhersehbaren Umwelteinwirkungen befassen müssen< und >GANE den Beweis schuldig bleibt, daß Terroranschläge in den Bereich halbwegs vorhersehbarer
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