Es dämmert über Thule Von Axel Nord
Brita Hansen sieht auf ihre Uhr. Es ist genau 2.03 Uhr an diesem 19. August 2007. ...
56 downloads
776 Views
5MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Es dämmert über Thule Von Axel Nord
Brita Hansen sieht auf ihre Uhr. Es ist genau 2.03 Uhr an diesem 19. August 2007. Vor einer halben Stunde ist sie mit dem kleinen Helicopter ihres Schefs im nahen König Christian Park gelandet. Sie waren vier Tage in Berlin – studienhalber – 2.03 Uhr. In dieser Sekunde stößt im hohen Norden die AX-Bombe auf die vereiste Versuchsinsel 17 und radiert sie aus. Davon weiß Brita Hansen nichts. Millionen wissen davon nichts. Es ist gut, daß ihnen die vermessene Waghalsigkeit solcher Versuche noch verborgen bleibt. Drückend und beklemmend ist diese Nacht. Das Gewitter über dem Öresund will sich nicht entladen. Wie ein drohendes Untier hockt es über Kopenhagen. Die Klimaanlagen der Hochhäuser filtern die Schwüle, können sie aber nicht völlig verdrängen. Brita Hansen kämpft tapfer gegen das unheimliche Gefühl einer untergründigen Furcht an, die sie seit Berlin nicht mehr loslassen will. Rasch drückt sie die Taste des Flutlichts ein und geht an den Lesetisch. Leise summt eine Nummernscheibe. „Guten Tag! Ist dort die Flugleitung Kastrup? Ich hätte gern Herrn Holm gesprochen – er muß sich doch noch im Flughafen aufhalten …“ 3
Der Wandspiegel wirft ihr Bild zurück. Brita Hansen ist nicht eigentlich schön, aber sie hat eine herrlich durchtrainierte Figur, und ihre großen grauen Augen beleben weich und gefühlvoll das etwas strenge Gesicht. „Ich bedauere, Fräulein Hansen! Herr Holm ist nicht mehr anwesend!“ Die Antwort kommt etwas unsicher. Brita merkt, daß man ihr ausweicht. Wieder schleicht aus der schwülen Nacht die heimliche Angst auf sie zu. „Das ist doch nicht möglich! Er hat doch bis übermorgen keinen Flugdienst!“ „Rufen Sie bitte gegen Mittag wieder an.“ Aus. Drüben im Flughafen Kastrup wird der Hörer aufgelegt. Draußen fährt endlich der erste Blitz über die Stadt. Vom Tivoli herüber dröhnt noch immer der heiße, stampfende Rhythmus der mächtigen Orgeln. In einigen Tagen ist Weltfeiertag, und der Däne kann mit dem Feiern nicht früh genug anfangen. Ganz langsam legt auch Brita auf. Warum ist Olaf Holm nicht im Flughafen? Das ist kein Grund, etwas Schlimmes zu befürchten, aber sie hätte ihn gern gesprochen. Er ist der einzige Mensch, zu dem sie volles Vertrauen hat. Wem sonst hätte sie wohl anvertrauen können, daß Redakteur Jürgensen vom „Dansk Avis“ in der deutschen Hauptstadt seltsame Wege ging … Vorgestern war es. Sie waren eben von einem Abstecher nach Amsterdam zurückgekehrt, da hatte er schon Helsinki angerufen und mit dem finnischen Staatssekretär Ritola gesprochen. Er hatte sich sogar eingeschlossen dabei. Dann war ei weggegangen, um ein Mitglied der Panafrikanischen Botschaft aufzusuchen. Mit diesem dunkelhäutigen Gentlemen war er in ihr Hotel zurückgekehrt, Brita hatte dann nicht ganz aus Versehen die Tür bis auf einen 4
Spalt zugeschoben, als er sie bat, ihn mit dem überaus höflichen Herrn aus Niamey allein zu lassen. Sie hatte eifrig auf ihrer Maschine geschrieben, aber noch eifriger gelauscht. „Hüten Sie sich vor solchen Spekulationen, Herr Dr. Ugando! Sie haben von diesem Dr. Aalson noch nichts zu befürchten.“ Ein Glas wurde hart auf den Tisch gestellt. „Dann weichen unsere Informationen voneinander ab, Herr Jörgensen. Meine Regierung hat Beweise dafür, daß Dr. Aalson von Nordisland aus sein sogenanntes ‚Thule-Projekt’ verwirklichen will. Eine derartige Umwälzung der gesamten Natur der nördlichen Erdhälfte aber würde auch den Norden Afrikas gefährden.“ „Legen Sie die Beweise in Melbourne dem Weltpräsidenten vor!“ Ein ironisches Hüsteln. „Lieber nicht, Herr Jörgensen! Aber Ihnen will ich sie nicht vorenthalten. Ich hoffe doch, daß wir gemeinsame Interessen verfolgen?“ „Wenn es gegen Aalsons Hintermänner geht, immer!“ Dann raschelte ein Papier. Zwischendurch klickte Jörgensens Feuerzeug. Nach einer guten Stunde geleitete er seinen schwarzen Gast hinaus, und als er dann mit Brita allein war, blieb er breitbeinig vor ihr stehen und schob die Hände in die Hosentaschen. „Sagen Sie mal, Brita – trauen Sie diesen Afrikanern?“ „Ich kenne sie nicht, Herr Jörgensen!“ Brummend wandte er sich ab. * „Versuch 28 läuft, Präsident!“ Weltpräsident van Kleffers nickt seinem persönlichen Referenten zu. Er ist noch nicht fünfzig und sieht aus wie ein berühmter Tennisstar. Aber das etwas gewollt sportliche Äußere 5
täuscht: van Kleffers ist tatsächlich der beste Politiker, den die fünf Kontinente um die Jahrtausendwende stellen können. Durch Zufall ist er nicht in den Palast des Weltpräsidenten zu Melbourne eingezogen. Er steht auf und sieht den anderen an. „Wissen Sie, was der Afrikaner wollte?“ Der persönliche Referent – Nielsen-Bor heißt er und stammt aus Dänemark – kennt den drahtigen Präsidenten schon seit vielen Jahren. Er kann es sich leisten, fragend die Schultern zu heben. Van Kleffers zeigt auf die kostbare Edelholztür, die sich eben hinter dem panafrikanischen Botschafter geschlossen hat. „Er wollte wissen, was in Nordisland vor sich geht.“ „Ach!“ Nielsen-Bor ist selten so überrascht gewesen. „Das ist nicht gut, Präsident! Haben die auf Island ihre Leute sitzen?“ Sie verlassen das Arbeitszimmer und gehen einen Korridor entlang. „Vielleicht! Die Weltpolizei wird jedenfalls noch mißtrauischer sein müssen. Das heißt …“ Van Kleffers schnippt mit den Fingern. „In einigen Tagen werden sie sowieso alles wissen. Wir müssen uns jetzt entscheiden!“ „Haben Sie neue Nachrichten von der Venus?“ fragt der Däne rasch. „Ja! Schlechte!“ „Wir müssen sie räumen?“ Diese Worte sind leise gesprochen, und doch stehen sie plastisch und unheildrohend im hohen, vom Filterlicht durchfluteten Korridor. Der Weltpräsident sieht starr geradeaus. „In drei Jahren!“ Sie sprechen nicht mehr darüber, aber sie wissen, was das bedeutet. Nur Nielsen-Bor sagt gedankenvoll in seinem breiten Englisch: „Die Frage ist nur, ob die Afrikaner mitmachen!“ „Sie werden es müssen!“ Vor einer unauffälligen Tür im Korridor steht ein weißuniformierter Posten der Weltpolizei. Er salutiert und läßt die Tür 6
vor ihnen aufgleiten. Dann gehen sie einen kurzen Seitengang entlang in eine andere Welt. In einem Rundraum ist diese Welt aufgebaut. Klein nur und unter einem mächtigen Fernsehschirm und doch so unwirklich, daß der Däne, wieder den Kopf schütteln möchte, wie immer, wenn er sie sieht. Grönland unter Palmen! Spitzbergen mit zwei Großstädten! Die Arktis ohne Eis und dichtbesiedelt! Nielsen-Bor sieht über diese Wunderwelt hinweg, die dort wie ein modellierter schlechter Scherz auf einer großen Platte ruht. Auch der Weltpräsident geht an der Modellplatte vorbei, ohne sie groß zu beachten. Für ihn ist sie nichts als die Darstellung einer kommenden Realität. Mit wenigen Handgriffen überbrückt er Tausende von Meilen. Auf dem Bildschirm erscheint ein feines, schmales Antlitz, über dem wirr und unordentlich graues Haar wuchert. Wann hätte Dr. Peer Aalson je an sein Äußeres gedacht! Er denkt auch jetzt nur an den Versuch 28, da er in seinem Kommandostand in der geheimnisvollen Forschungsstadt Nordislands steht. „Hallo, Dr. Aalson!“ Im Gelehrtenantlitz blitzt Erkennen auf. „Sie rufen zu früh an, Präsident! Ich kann Ihnen noch nichts über die Resultate sagen.“ „Die Bombe ist aber doch detoniert?“ Aalson lächelt wie immer, wenn einer sich ohne genügende Fachkenntnisse an Dinge heranwagt, die doch nur er und Professor Konstantin und vielleicht noch fünf seiner engsten Mitarbeiter ganz verstehen – etwas verkniffen, mißtrauisch … „Wunderschön ist sie detoniert! Von der Insel dürfte nicht mehr viel übrigbleiben!“ „Verläuft der Versuch denn nun erfolgreich?“ drängt van Kleffers ungeduldig wie ein kleiner Junge. Nur Nielsen-Bor weiß, warum er so ungeduldig ist. Aalson hebt die Augenbrauen. „Sie fragen wirklich zu früh, Präsident! In vier, fünf Stunden vielleicht!“ 7
Der Weltpräsident fragt nicht weiter. Er blickt sich nicht um, weil er Nielsen-Bors gutmütigen Spott fürchtet. Ein Weltpräsident blitzte ab! Doch der Däne spottet nicht. Er wartet, bis van Kleffers durch einen Tastendruck das schauerliche Inferno des Versuches selbst auf dem Schirm heranzaubert, und sagt gepreßt: „Er wirkt wie ein Besessener!“ „Sie dürfen an ihn nicht die üblichen Maßstäbe legen“, erwidert der Weltpräsident abweisend. „Sehen Sie das an …“ Der Däne schüttelt sich. „Ich wünsche wahrhaftig mit heißem Herzen, daß aus dem ewigen Eis ein Paradies erwachsen möge, aber heißt es nicht die Götter versuchen?“ „Es muß sein, Nielsen-Bor – es muß sein!“ Sie blicken auf den Bildschirm, der nichts zeigt als ein Glühen über der fernen Einsamkeit der Arktis. Ein Todesglühen, in dem tief unten eine hundert Quadratmeilen große Insel unter dem Ansturm atomarer Energien zerschmilzt. Eine kleine Insel nur. Vielleicht gehen in diesen Stunden einige tausend Vögel zugrunde. Was sind einige tausend Vögel für die Wissenschaftler, wenn es um die Gestaltung des nächsten Jahrtausends geht? Nielsen-Bor drängt sich plötzlich am Weltpräsidenten vorbei, um es noch deutlicher sehen zu können. Er wird aber sehr bleich und zeigt auf einen kleinen Punkt, der sich taumelnd über diesem Todesglühen bewegt. „Präsident – ein Flugzeug!“ Van Kleffers fährt zusammen. „Unmöglich! Das ist doch Sperrgebiet!“ „Sehen Sie doch!“ * Die Maschine stürzt ab. Es ist eine kleine, wendige Sportkiste. Sie hält sich noch, während sie wie ein geblendetes Insekt kehrt und über Kap 8
Nord zurück will. Sie kommt aber nicht weiter als eben über den Skalfandar. Dann ist es aus. Der Führer kann nicht mehr. Diese schauerlich heranrückende, durch die Atmosphäre geisternde Todesfront hat ihn blind und taub und fast verrückt werden lassen. Über der nächtlichen Tundra läßt er den Knüppel los und steigt aus. Das Grauen schüttelt ihn oder das Fieber. Er weiß es nicht. Er weiß auch nicht, daß er am Schirm den Namen einer Frau in die fernaufglühende Nacht ruft. „Brita! Brita!“ Irgendwo stößt er auf. * Im Norden stirbt eine Insel. Als um 4.00 Uhr die ersten Auswertungen vorliegen, erschrecken selbst Dr. Aalson und seine engsten Mitarbeiter vor der Gewalt ihrer Bombe. Können sie das verantworten? Weltpräsident van Kleffers erhält sofort die ersten Werte. Dr. Aalson läßt sein U-Boot „Thule I“ zum Auslaufen in das verseuchte Gebiet klarmachen. Das sind Dinge, die der großen Öffentlichkeit verborgen bleiben. Aber in dieser Nacht auf den 19. August geschieht noch mehr. Was geschieht, scheint ohne Bedeutung für das „ThuleProjekt“ zu sein. Erst später werden die Schicksalsfäden sichtbar, die in dieser Sommernacht gesponnen werden. Am Himmel und auf Erden. Auf der Raumstation „Terra III“, die mit 3000 Meilen Erdabstand der eigentliche Vorposten des Planeten ist, sichtet der Ausguck mit seiner Elektronenoptik zwei Raumschiffe, die von der internationalen Kontrolle nicht gemeldet sind. Die Raumstation ruft sie an. 9
Sie antworten nicht. Ein Patrouillenschiff wird angesetzt. Als es die angegebene Position erreicht, sind die fremden Schiffe verschwunden. Es gibt einen ziemlichen Wirbel in der Raumstation. Der Ausguckmann wird verhört. Gerüchte gehen um, alte Sagen sind es, nach denen die Erde von außerirdischen Intelligenzwesen kontrolliert wird, eine irdische Großmacht ihnen Untertan ist und ihre Befehle ausführt. Man lacht darüber, aber man lacht nur, weil es auch die anderen tun. Gegen Morgen wird bekannt, daß in unmittelbarer Erdnähe ein kleines Raumschiff gesichtet wurde, das mit den arktischen Gebieten Signale austauschte. Man lacht nicht mehr. Die Raumauswertung in London arbeitet mit Hochdruck. Sie wird aber Tage brauchen, um aus den recht vagen Angaben ein klares Bild zu formen. Seltsam ist diese Nacht. Seltsam und rätselvoll Da verläßt in Berlin gegen 3 Uhr der Afrikaner Dr. Ugando – elegant, mit schneeweißen Zähnen lächelnd und ziemlich aufgeräumt – die exklusive „Atlantis-Bar“. Die Luft ist weich und einschmeichelnd mild nach dem Gewitter, das auch hier getobt hat. Dr. Ugando läßt sich viel Zeit. Er schlendert ganz gemächlich seinem Hotel zu. Unterwegs läßt er sich in einer Blitz-Bar die Weltgeschehnisse der letzten zehn Stunden zeigen – einen Fußballkampf in Paris, eine wissenschaftliche Tagung in San Franzisko – Als er schließlich in seinem Hotel ankommt, kauft er sich noch Zigaretten und geht in sein Zimmer. Zwei Stunden später schreit ein Zimmermädchen entsetzt auf. Dr. Ugando ist tot. Er kauert in einem Sessel. Unter dem schlaff herunterhängenden linken Arm liegt auf dem grünen Teppich eine noch nicht entzündete Zigarette. Über seinen Nacken läuft ein schmaler Streifen verbrannten Fleisches. Für die Polizei ein klarer Fall: Mord durch Strahlenpistole. 10
Man durchsucht das Zimmer. Findet zwei Hinweise. Einen unentwickelten 8-mm-Filmstreifen in einem Geheimfach seines Schreibtisches und – unter einer Konferenzmappe auf diesem Schreibtisch – ein aufgeschlagenes Notizbuch mit einem flüchtig hingeworfenen Bleistiftgekritzel: „… mit Ritola nur über Kopenhagen.“ Sonst nichts. * „Hallo, Präsident!“ In Nordisland ist es Mittag geworden. Die Sonne steht hoch über „Thule“. „Thule.“ Das ist ein technisches Wunderwerk in einer Einsamkeit, in der nur der dünne, scharfe Wind des Nordens über die weite Tundra singt und den Ruf der Goldregenpfeifer aufnimmt und fortträgt, die sie in Scharen bevölkern. „Thule“: Ein 90 Meter hoher Kommandoturm ist das, schlank und rassig emporgewachsen aus dieser herben Weite. In seiner Kuppel laufen – in einem gläsernen Kommandostand – die Nervenstränge eines Forschungsapparates zusammen, der sich von Nordisland aus nordwestwärts über Grönland bis zur Victoria-Insel und nordostwärts über Spitzbergen bis zum Franz-Josef-Land hinauf erstreckt. „Thule“ ist das Hirn dieser geheimen Organisation der Wissenschaftler und Politiker. Es mag erhebend sein für die dreihundert Männer der Forschungsstadt, hier arbeiten zu dürfen, ein Vergnügen ist es gewiß nicht. Wer einmal „Thule“ betreten hat, darf das Sperrgebiet nicht verlassen, solange noch im Norden das ewige Eis droht. Weltpräsident van Kleffers hat es vor vier Jahren so angeordnet. Seine erste Frage in dieser Stunde, da über Island die 11
Mittagssonne steht und sich über seinem. Palast in Melbourne der Sternenhimmel breitet, ist denn auch: „Was ist mit dem unbekannten Flugzeug?“ Aalson fährt sich mit dem Handrücken über die zergrübelte Stirn, als müsse er die Antwort weither holen. „Ich habe mich darum nicht viel kümmern können, Präsident! Die Maschine ist aber im Sperrgebiet niedergegangen, und den Flieger hat man leichtverletzt bergen können.“ „Er wird Ihre Einsamkeit teilen müssen!“ „Das wird sich nicht vermeiden lassen, Präsident“, nickt der Doktor, und unvermittelt und schroff fügt er hinzu: „Ich fürchte – für lange Jahre …“ Der Weltpräsident versteht und wird weiß um den harten Mund. „Heißt das, der Versuch sei mißlungen?“ „Aber im Gegenteil“, lacht der Gelehrte verzweifelt. „Er ist zu gut gelungen! Die Energie, die die AX-Bombe ausgelöst hat, reicht aus, fast ein Viertel des Nordmeers auf Wochen hinaus radioaktiv zu verseuchen. Eine AX-Bombe, Präsident!“ „Und Ihre X-Filterung?“ „Meine X-Filterung war unsere große Hoffnung“, fährt Dr. Aalson sachlicher fort und achtet nicht auf den großen, schlanken Mann, der neben ihn tritt, die Hände auf die Tischplatte stützt und aufmerksam zuhört. „Das Strahlenfilter war in die Bombe eingebaut worden und sollte die schädlichen Auswirkungen der Detonation um 90 Prozent reduzieren. Was ich jedoch seit Monaten insgeheim befürchtete, hat dieser Versuch endgültig gezeigt: durch den Abwurf wird die Filterung in hohem Maße aufgehoben.“ „Mit anderen Worten – man kann das Eis nicht bombardieren?“ „Man kann es schon, aber man würde Europa und Nordamerika und wahrscheinlich auch noch Nordafrika verseuchen.“ „Es müßte aber doch möglich sein, die Filterung trotz des Abwurfs wirksam werden zu lassen.“ 12
„Ich gebe mich keinen Illusionen mehr hin – es wird Jahre dauern, bis wir soweit sind!“ Weltpräsident van Kleffers stürzen diese Worte in einen Abgrund. Er weiß, was kommen wird, wenn nicht in spätestens vier Jahren Grönland zur Besiedlung durch Millionen freigegeben werden kann. Er weiß es, und er weiß auch, daß er den Völkern nichts mehr verbergen darf, wenn Ende August der Weltfeiertag begangen wird, und darum sagt er leise und flehend: „Herr Doktor, auf der Venus leben gegenwärtig 16 Millionen, die wir in zwei Jahrzehnten dort angesiedelt haben oder die in dieser Zeit dort geboren wurden. Wir hofften, dem Überschuß unserer Völker dort eine neue Heimat zu schaffen. Die Venus sollte unser Ventil werden. Jetzt müssen wir sie in den nächsten Jahren räumen. Eine Seuche geht dort um, die uns von dem Planeten vertreibt, die so furchtbar ist, daß unsere Mediziner sie nur eindämmen, aber nicht überwinden können. Bis auf einen kleinen Forschungsstab werden wir die Venus räumen müssen. Wohin sollen wir mit den 16 Millionen?“ Dr. Aalson empfindet diese Frage als Vorwurf und wehrt sie mit einer Handbewegung ab. Über Tausende von Meilen hinweg sieht ihm der Weltpräsident unerbittlich in die Augen – er darf ihn jetzt nicht loslassen. „Es sind fast ausschließlich Weiße! Aus ihnen ist inzwischen ein neues Volk entstanden, das wir geschlossen ansiedeln müssen. Es gibt aber keinen anderen Siedlungsraum mehr als Grönland, Herr Doktor – als Ihr Thule!“ „In fünfzehn Jahren, Präsident!“ „Nein, Doktor – in vier Jahren müssen wir Thule haben!“ „Haben Sie den Zauberschlüssel?“ „Dr. Aalson“, preßt der Weltpräsident hervor, und er weiß, daß noch in diesen Minuten die weltweite Entscheidung fallen wird, „Sie deuteten vor längerer Zeit eine zweite Möglichkeit an.“ 13
„Sie meinen die direkten Sprengungen auf der Eisoberfläche?“ „Ja!“ „Dazu wäre es unumgänglich, die Gebiete, die wir vom Eis befreien wollen, in hundert Quadratmeilen große Sprengbezirke einzuteilen“, doziert der Doktor, während vor seinen Augen alles verschwimmt und das Herz zu hämmern beginnt, dumpf und schmerzhaft und atembeklemmend. „Diese Sprengbezirke müßten alle vor Beginn der Sprengungen angelegt werden, die dann von hier aus ferngesteuert in zwei bis drei Serien zu je etwa fünf Monaten erfolgen würden.“ „Die X-Filterung?“ „Würde in diesem Falle unbedingt wirksam sein.“ „Worin sehen Sie dann überhaupt noch Schwierigkeiten?“ jubelt van Kleffers in unsagbarer Erlösung auf, die aber gleich wieder gedämpft wird. „Schwierigkeiten?“ lacht der Doktor trocken. „Ich sagte schon, daß die Sprengbezirke vor Beginn der Sprengungen angelegt werden müßten. Ich könnte auch so sagen: sie müßten ‚geladen’ werden! Mit AX! Eine falsche Zündung nur würde unseren Planeten auseinanderreißen wie nichts! Bei Bombardierungen haben wir immer noch die Möglichkeit, auch noch während der laufenden Aktion Korrekturen vorzunehmen und Fehler auszubügeln. Bei direkten Sprengungen würde ein Fehler eine Kettenreaktion auslösen, die nicht einzudämmen wäre.“ „Dann darf eben kein Fehler unterlaufen!“ „Danke, Präsident!“ „Ich wollte Sie nicht treffen“, beteuert der Weltpräsident hastig. „Aber begreifen Sie doch …“ „Ich begreife schon!“ „Könnten Sie das durchführen?“ „Nein!“ sagte Dr. Aalson schroff, und der große, schlanke Mann, der neben ihm so am Tisch steht, daß der Fernseher ihn 14
nicht erfaßt, nickt fast unmerklich. Aalson schließt die Augen. Das Herz – was will nur sein Herz? „Muß es sein, Präsident?“ „Es muß sein, Doktor“, sagt der Mann in Melbourne sehr ernst und sehr ruhig. „Mit Gottes Hilfe müssen wir es wagen. Wir können nicht mehr warten.“ „Wir könnten im nächsten Frühjahr mit den Sprengungen beginnen.“ „Und in einigen Jahren werden wir Thule haben!“ Ich werde es nicht erleben, denkt Dr. Aalson, während er den Fernseher abschaltet. Er taumelt in seinen Sessel. Der andere springt hinzu, besorgt, mit schmalen, festen Händen, die wissen, wie sie den herzkranken Gelehrten halten sollen. Dr. Aalson atmet tief durch. „Das Herz, Konstantin! Es geht schon wieder!“ * Der Flieger erwacht. Da tobte eine gespenstische Höllenglut durch seine tiefe Ohnmacht, doch als er zu sich kommt und die Augen aufschlägt, fällt durch weiße Vorhänge das helle Tageslicht auf sein Bett, und neben ihm sitzt ein freundlich grinsender Kerl, der Sommersprossen hat und rote Haare. „Teddy Brown heiße ich, wenn Sie nichts dagegen haben!“ Der Flieger schüttelt den Kopf. „Wie komme ich denn hierher?“ „Die Jungen von der Sani haben Sie in der Tundra aufgesammelt. Ihre Kiste ist ziemlich hin. Aber Ihnen geht es schon wieder gut, sagt Dr. Henderson, und der muß es ja wissen.“ „Ich fühle mich ganz gut“, bestätigt der Flieger und sieht sich mit großen Augen um. „Holm heiße ich …“ „Freut mich! Deutscher?“ 15
„Ja! Olaf Holm genau.“ Und plötzlich fährt er hoch und sieht den unschuldigen Knaben böse an. „Heute haben wir doch Sonnabend, nicht? Und Brita wartet! Brita Hansen, Mensch! Das ist ja eine schöne Schweinerei!“ Wieder sieht er sich um. „Wo bin ich hier denn überhaupt?“ „Nordisland!“ „Geht ja noch. Sie müssen mir unverzüglich eine Maschine besorgen!“ „In fünf Jahren vielleicht“, sagt Teddy Brown sanft und nicht ohne Mitgefühl. Er wartet nicht, bis der Deutsche die Sprache wiedergefunden hat, sondern schenkt Holm mit drei, vier Sätzen reinen Wein ein. Man wird schon aufpassen, daß dieser Flieger nicht wieder auskneift! Holm will aufspringen, läßt aber nur die Unterarme auf die Decke klatschen und starrt den anderen mißmutig an. „Ich nehme an, Sie verwechseln Jahre mit Tagen?“ „Durchaus nicht! Ich bin selber schon länger als drei Jahre hier nicht ’rausgekommen. Ich stamme aus Chicago. Meine Eltern haben dort am Michigan-See ein nettes Häuschen. Mein alter Herr ist im April siebzig geworden, und eigentlich hätte ein braver Sohn dabei sein müssen. Aber es ging nicht. Es gibt nicht mal Reiseurlaub bei Sterbefällen in der Familie. Erst müssen wir das Eis knacken!“ „Aber das ist doch Unsinn!“ „Blutiger Ernst, mein Junge!“ „Sie können mich doch nicht jahrelang hier festhalten“, stößt der Flieger atemlos hervor. „Nur, weil ihr dem lieben Gott ein bißchen helfen wollt! Kennen Sie Brita Hansen? Die läßt man doch nicht warten!“ „Sorry!“ hebt der Rotfuchs bedauernd die Schultern. „Ich kann es nicht ändern, Holm! Hier kommen Sie vorerst nicht heraus! Sie könnten sich höchstens Ihre Brita nachkommen lassen …“ 16
„Die wird sich bedanken! – Was glotzen Sie mich so dumm an?“ Die Blicke der Männer ruhen ineinander. Alles andere als dumm. Gedankenvoll. Abtastend. Und als Brown endlich etwas sagt, ist es so gut wie eine Sympathieerklärung. „Was sind Sie eigentlich?“ „Flieger! Versuchsflieger bei der E.F.Z.! Auch für Testaufgaben! Ansonsten noch Spezialist für Treibsätze. Vorher einige Semester Chemie – neben dem anderen natürlich …“ „Nicht schlecht! Hätten Sie nicht Lust, hier mitzumachen?“ „Zurück nach Kopenhagen will ich, sonst nichts“, wehrt Olaf Holm unfreundlich ab, aber dann läßt er sich plötzlich zurückfallen und schließt die Augen. Der Draufgänger und Abenteurer in ihm spielt bereits mit dem Gedanken, den der Amerikaner ihm zugeworfen hat. Brown erhebt sich, klopft ihm kameradschaftlich auf die Schulter und geht hinaus. Im Wartezimmer des Werkspitals kommt ihm bereits einer vom Arbeitsstab entgegen. Angelo, der unentwegt zigarettenqualmende Italiener, der immer vor Nervosität über sich selbst zu stolpern droht. Er sagt kein Wort, rudert nur mit den Armen wie ein übergeschnappter Schauspieler und zieht Teddy Brown zum Lift, mit dem sie den Kommandoturm hinaufgleiten. Im großen Kartensaal wartet Dr. Aalson auf sie. Fünf, sechs andere sind noch da. Der hypermoderne Zeitmesser über der beleuchteten Karte des neuen Erdteils zeigt 13.47 Uhr an. Teddy Brown prägt sich, ohne daß er es will, diese Uhrzeit ein, und er muß später immer an sie denken. Dr. Aalson ist nicht anzumerken, daß er vor einer halben Stunde noch gegen eine seiner nicht ungefährlichen Herzschwächen ankämpfen mußte. Er steht neben Konstantin und lacht Brown freundlich entgegen. „Wie geht es unserem unfreiwilligen Gast, Teddy?“ „Holm ist in Ordnung“, berichtete der Amerikaner. „Gesundheitlich wieder und auch sonst.“ 17
Der Doktor hebt die Augenbrauen. „Wie heißt der Mann?“ „Holm! Er ist Versuchsflieger bei der E.F.Z. Hat auf eigene Faust mit seiner Privatkiste einen Rekordversuch unternommen und ist dabei in unseren großen Zauber hineingeraten.“ „Deutscher?“ Als Teddy Brown verwundert nickt, wendet er sich schroff ab und tritt vor die große Karte, Im Halbrund gruppieren sich seine Mitarbeiter um ihn. Sein Zeigefinger hämmert auf die Tasten los, daß die Leuchtröhren verlöschen, die hin und her über die Arktis laufen. Brown und die anderen sehen sich an und begreifen nichts. Aalsons Gesicht ist im Dunkeln. Niemand kann sehen, wie es darin arbeitet. Nur Konstantin, der unmittelbar neben ihm steht, fällt es auf. Doch dann ist alles wieder hell um sie, und eine befehlsgewohnte Stimme sagt ruhig: „Meine Herren, wir müssen das Eis von seiner Oberfläche aus sprengen. Der Herr Weltpräsident duldet keinen Aufschub. Wir müssen es wagen.“ Sie fragen nicht weiter. * „Ich will Sie nicht auch noch gefährden, aber …“ Redakteur Jörgensen macht eine abwehrende Handbewegung. Es ist am 22. August. In der dänischen Hauptstadt fällt nur auf, daß aus den Depots der Armee zusammenlegbare Baukastenhäuser in die Außenbezirke gebracht und dort in großen Baracken gelagert werden. Das fällt auf, aber die Regierung spricht von einer bevorstehenden Großübung der Truppen. Keiner beunruhigt sich. Auch im Gebäude von „Dansk Avis“ ist man ahnungslos. „Hat man Sie verhört, Ritola?“ Der finnische Staatssekretär zieht das Schnapsglas heran und 18
nickt düster. „Zweimal bereits. Natürlich war es dumm von Ugando, in seinen Notizen volle Namen zu schreiben …“ „Skaal!“ sagt Jörgensen laut mit seinem gemütlichen Baß und blinzelt dem Finnen über sein Glas zu. Der Finne versteht. Brita Hansen tritt in das Privatbüro ihres Schefs. Sie ist sehr aufgeregt, geht geradewegs auf den Klubtisch zu, an dem die beiden sitzen, und sagt zu Jörgensen: „Ich muß Sie bitten, mich bis auf weiteres zu beurlauben.“ Jörgensen kippt den scharfen Schottischen hinunter, stellt sein Glas zurück und greift nach dem Schreiben, das sie in ihrer Hand trägt. Willenlos gibt sie es ab. Es ist vom Innenministerium, das ihr in höflichen Worten mitteilt, Herr Olaf Holm habe eine Arbeit übernommen, die ihn für lange Zeit vom Kontinent fernhalte. Er bitte sie, nach seinem neuen Arbeitsplatz überzusiedeln, wenn es ihr nichts ausmache, sich eventuell für einige Jahre von Kopenhagen zu trennen. „Holm ist ein netter Kerl“, sagt er wohlwollend. „Sie werden ihm den Wunsch erfüllen?“ „Ich muß doch zu ihm“, drängt sie ratlos. „Ich weiß ja nicht einmal, was das alles bedeutet. Vielleicht geht es ihm nicht gut. Vor fünf Tagen habe ich noch mit ihm gesprochen, und er hat mir nichts gesagt …“ Jörgensen atmet tief. Ein Gedanke erfaßt ihn, ein verwegener Gedanke! Seine breite Rechte legt sich väterlich auf ihre Schulter. Brita hat sehr viel Vertrauen zu dem massigen, schweren Mann. „Ich kann Ihnen da auch nicht helfen, Kind! Aber hin müssen Sie! Und sollten Sie nach Thule kommen, was ich fast annehme …“ „Thule?“ fragt sie angstvoll. „Was ist das?“ „Eine geheime Forschungsstadt im Norden Islands. Wirklich, es kann nur Thule sein! Wahrscheinlich hat er notlanden müssen und ist über dem Sperrgebiet heruntergekommen, und nun 19
lassen sie ihn nicht wieder heraus. Sollten Sie wirklich nach Thule kommen, so werden Sie dort einen Mann kennenlernen, der Konstantin heißt – Donald Konstantin –“ „Ich verstehe das alles nicht.“ „Hören Sie gut zu, Mädel“, sagt er eindringlich. „Mir ist es jetzt verdammt ernst. Vielleicht meint es das Schicksal noch gut mit den Menschen. Dieser Konstantin ist ein bekannter Wissenschaftler, und er spielt dort eine große Rolle! Ich möchte aber gern wissen, welche Rolle …“ „Ja?“ „Von Thule aus soll der Norden vom Eis befreit werden. Solange Konstantin dabei ist, bin ich dagegen, ich und einige Männer mehr in Skandinavien. Die Weltregierung hält Konstantin für einen tugendsamen Idealisten. Vielleicht ist er einer! Wahrscheinlich aber ist er der Teufel in persona oder ein Bedauernswerter, der sich aus den Klauen unbekannter Mächte nicht befreien kann. Kann ich auch Vertrauen zu Ihnen haben?“ Sie zittert sehr, als sie leise sagt: „Das ist doch selbstverständlich …“ * Am Abend wird Staatssekretär Ritola abermals verhört. Die dänische Sektion der Weltpolizei ist dabei von außerordentlicher Höflichkeit. Man faßt den bekannten Politiker mit Handschuhen an. Aber mit Handschuhen, die er spürt. Was ist das für eine Organisation? Die Spur führt nach Niamey. Dr. Ugando stand immerhin im Dienste des panafrikanischen Außenministeriums. In Niamey heben unnahbare schwarze Gentlemen kühl die Schultern. Man bedauert, man weiß von nichts. Von Beziehungen Dr. Ugandos zu dem Finnen Ritola ist hier nichts bekannt. Auch der Staatssekretär bedauert. 20
Selbstverständlich weiß auch er nichts von Beziehungen zwischen ihm und dem Ermordeten. Immerhin muß er im Verlauf der Vernehmung zugeben, vor einigen Monaten in London mit Panafrikanern zusammengetroffen zu sein, allerdings – Ritola lächelt verbindlich – nur aus privaten und sportlichen Gründen. Noch vor Mitternacht fliegt er nach Helsinki ab. Man muß ihn mit einem höflichen Dank für seine Bemühungen ziehen lassen, obwohl weder der dänische WP-Schef noch sein Kriminalrat von der Wahrhaftigkeit seiner Aussagen sonderlich überzeugt sind. Zwischen Kopenhagen und der Londoner WP-Zentrale gehen vertrauliche Gespräche hin und her, dann zwischen London und Melbourne. Irgend etwas stimmt nicht! Die Spur nach Niamey ist ebensowenig ein Hirngespinst wie die zu Ritola. Für die Weltpolizei aber ist vor allem wesentlich, daß der unentwickelte Film, den man in Ugandos Schreibtisch fand, eine Luftaufnahme der arktischen Gewässer zeigt. Wer aber hat Ugando ermordet? Seine eigene Organisation? Man will klar sehen. Von London fliegt ein harmloser Kaufmann nach Panafrika ab. Er ist einer der besten WP-Agenten. Er ist dafür bekannt, daß er rücksichtsloser sein kann als zehn Gangster, wenn es darauf ankommt. Er trifft erst gegen Morgen in Niamey ein. * Noch vor Mitternacht aber lüftet sich ein Geheimnis. „Thule“ wird der Öffentlichkeit vorgestellt. In Kopenhagen ist man böse. Man hat im Fernsehen Einzelheiten über den Geburtstag einer dänischen Prinzessin miterleben können. Wer je in Dänemark war, der weiß, wie wichtig solche Geburtstage sind. Rücksichtslos wird diese Sendung unterbrochen. Dafür erblickt man den großen ovalen Plenarsaal des Weltra21
tes in Melbourne. Man hat die Delegierten der Mächte und Mächtegruppen innerhalb weniger Stunden nach Australien rufen lassen. Aus Nordisland ist eine Sondermaschine mit Dr. Aalson eingetroffen. Dr. Aalson würde viel dafür geben, wenn er jetzt in seinem einsamen Kommandostand in Thule stehen könnte. Aber die Objektive der Blitztagesschauen und Fernsehkameras fressen ihn, wie sie alles fressen, was neu und sensationell ist. Tapfer geht er durch die Bankreihen. Spontan erheben sich die Delegierten und klatschen. Aber auch Pfiffe werden laut. Dann spricht van Kleffers. Schon bei seinen ersten Worten gehen die Schauer einer der großen Sternstunden der Menschheit um die Welt. „… wir werden das Antlitz der Erde ändern. Aus Eis und lebensfeindlicher Einsamkeit soll ein neuer Erdteil erblühen …“ Schlagen die Herzen nicht höher? „. ., in unseren Händen liegt jetzt die Entscheidung über Paradies oder Hölle …“ Schlagen die Herzen nicht bang? „… bereits in den nächsten Tagen werden wir in Zusammenarbeit mit den dänischen Behörden auf Grönland die Evakuierung der gesamten Bevölkerung vorbereiten. Professor Konstantin, der engste Mitarbeiter unseres Dr. Aalson, wird sich nach Grönland begeben. In einigen Jahren werden die Grönländer, die Bewohner Spitzbergens und der anderen arktischen Länder, so wir uns nicht selber verraten und der Herrgott uns seinen Segen zu diesem gigantischen Werke gibt, in ein großes aufblühendes Thule heimkehren …“ Nach dem Weltpräsidenten spricht Dr. Aalson. Auch die Gegner des Projekts beugen sich vor dem Idealismus dieses aufrechten Mannes, der heute wieder sichtlich unter seinem kranken Herzen zu leiden hat. Nach einer kurzen Pause folgt dann die Abstimmung. Die Völker der Kontinente geben durch 22
ihre Delegierten insgesamt 718 Stimmen ab. 126 Stimmen werden gegen die Durchführung des Projekts abgegeben, darunter sämtliche Stimmen der sechs afrikanischen Mächte. Aber 592 stimmen für Thule. * Paul Egede flucht. Er ist der Bürgermeister der grönländischen Hauptstadt. Godthaab hat es glücklich auf reichlich 2000 Einwohner gebracht, die jetzt zuerst evakuiert werden sollen. Paul Egede ist mit 30 Jahren noch recht jung, und er ist elastisch und weitblickend genug, um sich von dem großen Plan begeistern zu lassen. Er flucht auch nur, weil sein Freund Stern diese Begeisterung nicht teilt. „Hast du nicht gehört, Stern? In einigen Jahren kehren wir zurück, und dann machen wir was aus Grönland! Dann werden wir Grönland zu einer wirtschaftlichen Macht ausbauen, daß gewissen Leuten …“ Stern, der sonst immer fidele Tranfabrikant, schüttelt nur trübe den Kopf. „Alles Unsinn, Paul! In einigen Jahren werden die Grönland in Atome zerfetzt haben und uns dazu.“ „Wetten?“ „Um hundert Flaschen von der besten Sorte.“ Stern ist ein Riese mit breitem, gutmütigem Gesicht und einer ewig qualmenden Shagpfeife, und als er in die dargebotene Rechte einschlagt, knallt es, daß das halbe Büro wackelt. „Um hundert Flaschen!“ „Vom Besten!“ Es ist nicht die einzige verrückte Wette dieser Tage. Dieser Tage vor dem großen Abenteuer. – Dann begrüßt Paul Egede den Professor. Konstantin sieht sich bei seiner Landung in Godthaab einer Front von eifrig knipsenden Reportern gegenüber. Er tut ihnen 23
aber nicht den Gefallen und ignoriert sie auf eine Weise, die ihn sogleich um alle Sympathien bringt. Als er auf der Plattform sieht, daß man ihn hier in Godthaab aus der Anonymität des „Dr.-Aalson-Stabes“ herausreißen und ins Schlaglicht der Öffentlichkeit zerren will, wendet er sich schnell ab und verschwindet wieder in der Maschine. Mit wenigen Worten läßt er den Bürgermeister mehr an Bord kommandieren als bitten. Die Motoren laufen weiter. Mit gemischten Gefühlen steigt der Grönländer über die Treppe. „Ich kann mich in Ihrer Stadt nicht lange aufhalten“, sagt Konstantin mit knapper Höflichkeit, als Paul Egede ihm übereifrig die Hand schüttelt. „Wir freuen uns alle, daß Sie gekommen sind, Herr Professor“, ruft der Bürgermeister strahlend aus. „Vor allem wir Jungen glauben, daß wir Thule schaffen werden. Wir, wir …“ Er fühlt, wie er durch scharfe Brillengläser abschätzend gemustert wird, wird rot und unsicher und weiß nicht mehr, wie er seine Begrüßungsworte anbringen soll. Er kommt auch nicht mehr dazu. Vor den Bullaugen weichen die Anlagen des kleinen Flugplatzes zurück, die enttäuschten Reporter, die vielen Neugierigen mit dem mißtrauischen Trankocher Stern an ihrer Spitze. Paul Egede blinzelt überrascht. „Professor, was …?“ „Ich muß gleich zum Kap York weiter“, sagt der engste Mitarbeiter Dr. Aalsons ruhig. „Die Arbeiten sind bereits angelaufen. Wir können uns hier an Bord unterhalten. Ich hoffe, es ist Ihnen recht?“ „Mir schon“, nickt Egede. „Aber in Godthaab möchte man Sie ganz offiziell empfangen!“ „Ich bin doch kein Wundertier“, lacht der Professor. Sie gehen in eine Kabine, die durch einen Kunstglasboden eine weite Sicht über das ewige Eis erlaubt, das sich aus der langen Bucht heraus zu gewaltigen Gletschern erhebt; die sich 24
in verblauender Höhe mit dem klaren Polarhimmel vermählen. Paul Egede schließt geblendet die Augen, findet sich dann aber in einem Sessel neben zwei hohen dänischen Regierungsbeamten wieder, die er nicht kennt, und dem grönländischen Landessekretär, den er sehr gut kennt und der ihm freundlich zulacht. Unter ihnen dreht sich die Westküste aus dem Sichtkreis. „Werden Sie uns die Vorarbeiten im Umanak-Gebiet zeigen?“ fragt einer der Dänen neugierig. Der Professor reicht Zigaretten und Schnäpse und lächelt. Die Schnäpse sind gut, und schon nach einer knappen Stunde hat Paul Egede den mißtrauischen Stern und seine anderen Mitbürger fast vergessen. Sie stehen über dem Umanak-Gebiet. Sie stehen über der ersten Atomwerferbatterie, die vom Rand eines Gletschers aus einen Kanal in das gläsern und unerträglich hell aufleuchtende Eismassiv brennt. 300 Meter tief und über 100 Meter breit. Die Maschine überfliegt die Batterie mit ihren Hubschraubern, ihren großen Transportflugzeugen und den winzigen Punkten, die zwischen den Werfern hin und her eilen und Menschen sind. Unaufhaltsam frißt sich das mächtige Strahlenbündel ins Eis. „Ein phantastischer Anblick“, ruft der rundliche Landessekretär mehr beklommen als begeistert aus. „Zerschmelzen Sie bereits die Eismassen?“ „So einfach geht es nicht“, erwidert der Professor höflich. „Was Sie dort unten erkennen, ist die erste Sprengrille.“ „Sie soll das AX aufnehmen?“ fragt Paul sachlich. „Ganz recht! Die Rille wird von hier aus in einem mächtigen Rechteck einen Sprengbezirk von genau 100 Quadratmeilen einschließen, an den sich andere anfügen werden.“ Fahl fällt das grüne Licht der Strahlenbündel über ihre Gesichter. „Arbeiten bereits mehrere Batterien auf Grönland, oder ist dies die einzige?“ 25
„Seit einigen Tagen arbeiten neben dieser noch zwei – oben am Kap York und an der Ostküste im König-Wilhelm-Land.“ „Warum soweit auseinandergezogen?“ „Wir dringen zunächst von diesen drei Punkten aus in das Eismassiv vor. Bis Mitte September werden 40 weitere Batterien eingesetzt.“ „Wohin soll diese Sprengrille führen?“ Der Professor gibt eine Anweisung über sein Handmikrophon nach vorn. Die Maschine geht auf 1000 Meter herunter und umkreist die Batterie dreimal. Dann rutscht die Küste weg, und eine lange Bergkette nimmt sie auf, der sie Hunderte von Meilen ins Innere folgen. Ein Romantiker könnte bei dem Gedanken tiefsinnig werden, daß sich der unaufhaltsame Strahl der Atomwerfer auch bald durch diese herrliche Unberührtheit fressen wird, aber keiner von ihnen ist gefühlvoll genug, um auf solche Gedanken zu kommen. Vielleicht nur der Landessekretär, der mit seiner Filmkamera eifrig die Landschaft aufnimmt, als müsse er wenigstens ihr Abbild bewahren. Paul Egede richtet seinen Blick in den tiefblauen Himmel. Ihm fällt ein Vogel auf, der hoch über ihnen seine Kreise zieht. Egede wundert sich darüber, denn sie sind inzwischen wieder auf 8000 m geklettert. Er stößt den Professor an und zeigt nach oben und wundert sich noch mehr, als Konstantin zusammenfährt und hastig sagt: „Da ist doch nichts!“ „Da fliegt was, Professor!“ Professor, Professor, natürlich fliegt dort oben was, aber es kann auch etwas anderes sein als ein Vogel. Ein Flugkörper vielleicht? Der Professor tut aber so, als sei hoch über ihnen nichts, absolut nichts, und als Egede wieder hinsieht, ist der Vogel oder Flugkörper auch wirklich verschwunden. Dafür schaltet der Professor an seinem Handmikrophon und ruft Thule. Thule antwortet nicht. Sie sehen, wie Konstantin darüber beunruhigt ist. In dieser singenden Einsamkeit packt sie 26
plötzlich alle eine unerklärliche Unruhe. Wieder schenkt Konstantin ein. „Wollen Sie mit dem Doktor sprechen?“ „Ich weiß nicht, warum die nicht antworten“, murmelt der Professor ratlos. „Hoffentlich …“ Sie fliegen weiter. Die Bergkette entlang. Ins Innere. Nach 20 Minuten meldet sich Thule. Über Funk. Der Funker bringt den Streifen selber in die Kabine. Er kann sich nur mühsam beherrschen. Was Thule meldet, ist furchtbar. Es trifft den Professor und sie alle wie ein Keulenschlag. „Unverzüglich zurückkehren. Dr. Aalson zusammengebrochen. Ärzte geben keine Hoffnung.“ Professor Konstantin springt stöhnend auf. * Zwei Stunden zuvor – Brita Hansen landet in Thule. Sie sieht so rassig und scharmant aus, daß alle den blonden Deutschen beneiden, als er sie in seine Arme nimmt und küßt. „Daß du gekommen bist, Brita!“ „Ich konnte dich doch nicht allein lassen“, lächelt sie. Langsam gleiten seine Hände ihre Arme hinunter. Sie hätten sich soviel zu sagen in diesen Minuten. Sie sehen sich in einer neuen Welt wieder. Faszinierend ist diese Welt und mitreißend, und vor einigen Tagen wußten sie noch nichts von ihr. Sie hätten sich soviel zu sagen, aber sie suchen vergeblich nach Worten, und Brita fragt nur: „Willst du wirklich hierbleiben?“ „Ich habe auf Brown gehört“, lacht er etwas verlegen „Brown mußt du kennenlernen. Er ist der verrückteste Bursche, der mir je über meinen Lebensweg lief, aber ich glaube, einen besseren Menschen gibt es nicht …“ 27
Sie gehen die breite Betonstraße entlang, die vom Flugfeld zur Kontrolle führt. Brita war nicht der einzige Passagier der dänischen Sondermaschine. Zwei Norweger und ein Engländer schlendern vor ihnen. Noch wissen sie nicht, daß ein unergründliches Geschick dem großen Unternehmen in den nächsten Stunden den ersten Schlag versetzen wird. Sie nehmen mit großen Augen auf, was sich ihnen bietet. Thule ist erwacht. Der harte Rhythmus termingebundener Arbeiten hat die Stille der jahrelangen Forschungen und geheimen Erkundungsflüge verdrängt. Stille wird es hier nie wieder geben. Die Kontrolle ist unerhört scharf. Brita muß sich von zwei weiblichen WP-Angehörigen auf Waffen und Aufnahmegeräte für Bild und Ton untersuchen lassen. Das dauert eine halbe Stunde. Dann kann Brita ihre neue Heimat übersehen. Der schlanke Kommandoturm ist der Mittelpunkt eines riesigen Kreises aus großen Rundgebäuden, die untereinander und mit dem Turm durch Gänge verbunden sind. Das ist Thule! Das ist der gigantische Motor, der den ganzen Apparat bis zur Victoria-Insel und zum Franz-Josef-Land hinauf antreibt. Die breite Betonstraße aber führt an diesem Komplex der Strenge und der pausenlosen Arbeit vorbei in die Tundren. Nur schemenhaft können sie von hier aus eine Wohnsiedlung erkennen. „Dort wirst du wohnen, Brita!“ „Was ist das?“ „Die erste Siedlung von Thule. Wir dürfen hier ja vorerst nicht wieder ’raus. Darum haben viele ihre Familien nachkommen lassen.“ „Also meine Leidensgenossen!“ „Du wirst dich hier schon einleben!“
28
* Sie gehen durch einen der Verbindungsgänge. Brita muß sich in der Verwaltung anmelden. Aber alles erscheint ihr hier so fremd und feindselig, daß sie sich immer eng neben Olaf Holm hält. Ein Professor Konstantin soll hier arbeiten. Jörgensen und der finnische Staatssekretär hegen einen fürchterlichen Verdacht gegen ihn. Brita soll ihn beobachten und Holm einweihen, wenn es soweit sein wird … Jörgensen und Ritola haben keinen anderen Weg in das hermetisch abgeriegelte Thule. Olaf Holm spürt ihre Unsicherheit und hält ihren Arm fester. „Du wirst dich hier schon einleben“, wiederholt er etwas unbeholfen. „Wie lange werden die Arbeiten dauern?“ „Zwei bis drei Jahre“, zwinkert er, und als er ihr Erschrecken bemerkt, fügt er rasch hinzu: „Ich glaube, ich habe hier bei den Herren einen Stein im Brett. Warum, weiß ich selber nicht. Vorläufig bin ich noch ein ganz nebensächlicher Hilfsarbeiter im Chemie-Institut, aber im nächsten Jahr werde ich vielleicht in die Zentrale kommen können. Der Doktor deutete mal so etwas an. Er ist ein großartiger Mensch. Dort drüben steht er übrigens …“ Er zeigt verstohlen auf Dr. Aalson, der mit dem Italiener vor einer statischen Darstellung steht und irgend etwas bespricht. Dr. Aalson ist müde, grenzenlos müde, und wer ihn genau ansieht, muß erschrecken. Olaf Holm grüßt höflich und will mit Brita vorbeigehen, als der Doktor sich umwendet und ihn an der Schulter festhält. „Hallo, Holm – wer eine so reizende junge Dame im Arm hält, sollte sie seinen Mitmenschen nicht vorenthalten.“ Holm stellt Brita vor. Der Doktor verneigt sich. Er atmet flach und gequält. Sein 29
Blick geht an dem Mädchen vorbei zu Holm. Der Italiener frißt hastig den Rauch seiner starken Zigarette. Hat der Doktor an diesem deutschen Flieger einen Narren gefressen? Immer hält er Holm fest, wenn er ihn sieht. Hält ihn fest und stellt seltsame Fragen. So wie jetzt: „Sagen Sie, Holm – Ihr Vater war auch schon bei der E.F.Z.?“ „Er war Direktor der technischen Abteilung.“ „Danke.“ Sie können weitergehen. „Das ist Dr. Aalson?“ fragt sie atemlos. „Der berühmte Dr. Aalson? Weißt du auch, daß du ihm ähnlich siehst?“ „Nein“, lacht er laut auf. „Auf einen solchen Gedanken kann auch nur eine Frau kommen.“ „Im Ernst, Olaf – ich mußte euch immer wieder ansehen.“ „Ich werde es ihm erzählen, wenn ich ihn wieder treffe“, grinst er. „Vielleicht freut er sich darüber.“ Er trifft ihn nicht mehr. Sie erledigen in der Verwaltung die Formalitäten und besuchen anschließend den verrückten Teddy. Teddy macht nicht ganz stubenreine Bemerkungen, was er sich nicht abgewöhnen kann, tischt ihnen ein verwegenes Gericht aus selbstgeschossenen Wildvögeln auf und himmelt Brita nach allen Regeln der Kunst an. Dabei rückt der Uhrzeiger um zwei volle Stunden vor. Niemand ahnt Böses. Auf Grönland pfeifen die Atomwerfer. Halbstündlich treffen die Meldungen von den Batterien ein. Um 17.10 Uhr aber erklingt eine vor Entsetzen versagende Stimme aus allen Lautsprechern: „Der Schef ist einem Herzanfall erlegen.“ Olaf und Teddy rennen los. Als sie in der großen Halle des Kommandoturms ankommen, erfahren sie von den ratlos Umherstehenden, wie es sich zugetragen hat. Gemeinsam mit Angelo und einem Holländer ist er im Lift zum Kommandostand hinaufgefahren, um die Werte zu 30
prüfen, die selbsttätig auf der großen Karte erscheinen, wenn die Batterien die Brennergebnisse durchgeben. Dabei hat er plötzlich laut aufgeschrien, die Linke gegen das Herz gepreßt und ist zusammengebrochen. Er atmet noch, als sich die Ärzte über ihn beugen, aber dann nur noch vier Minuten lang … Gegen 18.00 Uhr tragen sie ihn durch die Halle. Dr. Aalson erlebt sein Thule nicht mehr. * Aber die Welt läßt nicht nach! Nun nicht mehr! Die Männer an den Atomwerfern nehmen ihre Kappen ab und denken eine stille Minute lang an ihren Doktor, den sie alle schon einmal gesprochen oder wenigstens gesehen haben, doch sie schalten dabei nicht einmal ihre bulligen Werfer ab. Im Melbourner Palast verläßt van Kleffers eine Sitzung, um mit sich allein zu sein. Er ist erschüttert. Diese Nachricht trifft ihn noch dazu in entscheidungsvoller Stunde. Vielleicht macht Panafrika doch mit! Panafrika! Das ist mehr als ein Drittel des schwarzen Kontinents, das sind 85 Millionen Afrikaner aller Schattierungen, die sich in der Millionenstadt Niamey – der Hauptstadt der früheren französischen Negerkolonie – ein neues Zentrum gaben. Panafrika: das ist eine der großen Weltmächte. Die acht übrigen afrikanischen Staaten, die im Süden und Osten des Kontinents liegen, sind von minderer Bedeutung. Niamey hat für heute eine Entscheidung versprochen. Wie aber wird man dort auf das Ableben Dr. Aalsons reagieren? Niamey schweigt. Dafür trifft in den Abendstunden aus Nordisland die Nachricht ein, daß Dr. Aalson ein Schreiben hinterlassen hat, in dem er seine Nachfolger nennt und den 31
Weltpräsidenten bittet, darüber zu entscheiden, ob diese sich eignen, das große Werk zu vollenden. Als van Kleffers sie liest, geht er nachdenklich in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Dann zündet er sich eine Zigarette an und taucht plötzlich in einem Raum auf, in dem zwei Männer an großen, gläsernen Schränken hantieren, in denen einige zehntausend Mikrofilmkassetten untergebracht sind. Van Kleffers läßt sich eine Kassette geben. „Donald Konstantin“ steht auf dem kleinen weißen Schildchen. Van Kleffers läßt ihn durchlaufen. Drückt seine Zigarette aus und sieht einen der beiden Männer an. „Professor Konstantin gehört dem ‚Weltrat für Forschung’ an. Sind noch weitere Unterlagen über ihn vorhanden?“ „In der 3. Abteilung, Präsident. Wünschen Sie …?“ „Bitte!“ * Paul Egede hat sich nicht geirrt. Hoch über ihrer Maschine bewegte sich tatsächlich etwas, und es ist auch wieder über der wildzerklüfteten Bergkette, als sie nach Nordisland abfliegen. Ein langgestreckter Flugkörper. Als das fahle Zwielicht der spätsommerlichen Nordlandnacht hereinbricht, schwebt er geisterhaft westwärts, bis der Himmel mit dem Widerschein des grünen Atomfeuers zu spielen beginnt, das sich pausenlos in das Eis frißt. Die Batterie kennt keine Ruhe. 40 Meilen sollen an einem Tag geschafft werden. 38 haben sie heute mit flammenden Werfern zurückgelegt. Schwitzend unter den engen Schutzhauben. Innerlich geschüttelt von dem Gedanken, daß sie kleine Menschen gegen die Eisgiganten an32
gehen, die kalt und feindselig vor ihnen liegen. 38 Meilen. Die Differenz hat man in Thule vorsorglich einkalkuliert, und doch flucht Batterieschef Kenneth Frank, als gelte es, Weltrekorde zu brechen. Er weiß nicht, daß 10 000 m über ihnen ein Flugkörper steht. Nur eine Viertelstunde lang. In dieser kurzen Zeit aber registriert er Werte, die sehr viel bedeuten – „Teilausschlag 19 / 00 / T 11.“ „Mächtigkeit B. Pluswertung a, c, e …“ Nach einer Viertelstunde schwebt der Flugkörper weiter und landet unterhalb der Batterie. Unbeobachtet. Von den Warngeräten nicht wahrgenommen. Eine menschliche Gestalt steigt aus. Der Flugkörper erhebt sich wieder. * „… Pluswertung a, c, e … .“ Der Mann, der in Niamey am Empfänger sitzt und schwitzt und nicht weniger flucht als Batteriechef Frank, trägt die Uniform eines Oberst der panafrikanischen Luftwaffe. Er ist ein Unikum an bullenhafter Häßlichkeit. Nachtlokale pflegt er einfach leerzuboxen, wenn ihm der Rummel nicht mehr paßt. Sein raubtierhaftes Zähnefletschen ist furchtbar, macht aber die schönsten Frauen zu sanften Schmeichelkätzchen. Dieser liebreizende Bursche – Narro heißt er – ist der Nachrichtenschef der Luftwaffe. „Für den Anfang nicht schlecht, Leutnant“, knurrt er grinsend zu seinem Gehilfen hin. „Die Werte sind einfach toll. Damit kann man aus der Erde vier neue Planeten machen. Wär ’n Spaß, was?“ Der junge Leutnant lächelt höflich. „Gewiß, Oberst! Sollen wir diese Werte täglich registrieren?“ 33
„Stichproben genügen.“ Ein Summzeichen brummt dazwischen. Dreimal. Der Oberst steht auf und verläßt den Raum. Draußen vor dem Hochhaus der Luftwaffe braust der Verkehr über den riesigen weißen Platz. In der flirrenden Hitze des hohen Nachmittags. Der Oberst wirft kaum einen Blick durch die hohen Fenster, als er den Gang entlang geht. In einem kleineren Zimmer, das sehr elegant eingerichtet ist und doch den urhaften Geschmack dieses Negervolkes verrät, erwartet ihn ein älterer Zivilist. „Ich wurde schon langsam unruhig, Herr Minister.“ „Die Kabinettssitzung dauerte länger als vorgesehen.“ „Und?“ Der Oberst bietet dem anderen Zigaretten an, schiebt sich dann selber die Tabaksdose heran und beginnt, seine englische Pfeife zu stopfen. „Dr. Aalson ist ja nun tot.“ „Panafrika sollte eich bei ihm noch nachträglich für sein plötzliches Ableben bedanken“, lacht der Minister kalt. „Das Kabinett kann nun die weitere Entwicklung im Gehirn-Trust des Thule-Projekts abwarten und seine eigene Entscheidung hinauszögern.“ „Wir beteiligen uns also nicht?“ „Das Außenministerium hat van Kleffers wissen lassen, daß wir zunächst einmal einen ausreichenden Schutz gegen alle klimatischen und sonstigen Auswirkungen der Eissprengungen verlangen. Den wird man uns nicht zusichern können, da die abgesprengten Eismassen ins Meer hinaustreiben und eine vorübergehende große Abkühlung hervorrufen werden. Der Weltpräsident wird erbost sein und uns der Überängstlichkeit zeihen.“ „Soll er ruhig! Panafrika braucht seinen Spott nicht zu fürchten. Übrigens – liegen bereits Nachrichten aus Thule vor?“ „Konstantin soll Aalsons Nachfolger werden – und ein gewisser Holm dürfte stark in den Vordergrund treten.“ „Holm? Mir unbekannt! Wer ist dieser Holm?“ 34
„Wir werden sehen, Oberst“, sagt der Minister gelassen und wechselt plötzlich das Thema. „Ich halte es aber nicht für zweckmäßig, noch lange zu warten. Wer kann wissen, wie lange noch die Transporte von der Venus durchkommen! Kommt die Weltpolizei erst einmal dahinter, daß wir mit der Seuche auf der Venus unsere …“ „Sprechen wir nicht davon“, unterbricht ihn der Oberst und schüttelt sich. „Wir müssen jedenfalls den richtigen Zeitpunkt abwarten! Die Bereitstellung der Seestreitkräfte übernehme ich.“ „Besorgen Sie das bei der Marine, aber seien Sie vorsichtig – die Weltpolizei läßt uns nicht unbeobachtet!“ „Keine Sorge, Herr Minister“, fletscht der Nachrichtenschef unternehmungslustig die Zähne. „Die Leute werden in diesen Stunden bereits den zweiten Schock erhalten! Ich lasse ‚T 7’ landen.“ Der Minister will aufbegehren, aber der Oberst hält ihn zurück. „Was glauben Sie, wie das wirkt, Herr Minister!“ * „Morgen schaffen wir die vierzig, Boß!“ Batterieschef Kenneth Frank streicht sich über die schweißnasse Stirn und sieht unter dem Arm durch in die verständnisvollen Gesichter seiner Männer. Er läßt den Arm fallen und atmet tief auf. „Werden wir schon, Jungen! In vier Stunden könnt ihr mich wecken! – Gute Nacht!“ „Gute Nacht!“ Kenneth Frank wendet sich von dem Kontrollgerät ab, an dem jetzt sein Erster Ingenieur steht. Er beeilt sich, aus der Nähe des Atomfeuers zu kommen. Die Schutzhaube hat er bereits abgelegt. 35
Vor ihm geht es abwärts. Eine Bodenwanne, die einige Meilen lang ist und in der sie ihre Transportmaschinen untergebracht haben. Keine zwanzig Minuten hat er bis zu ihnen zu gehen, aber in diesen zwanzig Minuten geht ihm das Grauen zur Seite. Es ist plötzlich neben ihm in der Unwirklichkeit des Zwielichts, das durch diese Nacht webt und das durchdringende Pfeifen der Werfer unendlich fern erscheinen läßt. Kenneth Frank ist kein zarter Knabe. Er sieht nicht gleich auf, als irgend jemand neben ihm atmet und fast im gleichen Schritt mit ihm durch den knirschenden Schnee geht, der die Mulde ausbettet. Wird einer der Jungen sein, denkt er und macht irgendeinen faulen Witz. Der andere lacht nicht und antwortet nicht einmal, auch nicht, als er ihn wiederholt. Er ist auch keiner von den Jungen – er ist groß und sehr schmächtig und geht vornübergeneigt – mit einer Unbeholfenheit, die etwas Unheimliches an sich hat. „Hallo, Mister“, sagt Frank laut, „mit wem habe ich die Ehre?“ Keine Antwort. Nur der dünne Schnee knirscht, und der Schatten eines Nachtvogels geistert vor ihnen her. Immer weiter zurück bleiben Atomwerfer und die Jungen. Der Fremde schweigt. In Franks Schädel jagen sich die Gedanken. Das ist kein wandernder Eskimo und keiner, der sich vielleicht verirrt hat; das ist einer, der irgend etwas von ihm will. Kenneth Frank langt mit einer jähen Bewegung in die Tasche, in der sein Atomrevolver sitzt. Der Fremde reagiert nicht auf die Bewegung. „Hallo, Mister“, wiederholt er etwas zu gewollt schneidig, „Sie kommen wohl vom Mond, wie?“ Da bleibt sein unheimlicher Begleiter stehen, und er wendet sich ruckartig so, daß Frank ihm ins Gesicht sehen kann. Frank hat bereits allerhand durchgemacht, in dieser Sekunde aber packt ihn die eisige Faust des nackten Grauens. 36
Das Gesicht lebt nicht. Es ist eine Maske, in der nur zwei in tiefe Schatten eingebettete Augen leuchten, fanatisch leuchten, voller Feindseligkeit – Frank kann kaum noch atmen. Aber dieser Geistermensch unternimmt nichts, er hebt nicht einmal die Arme, die ihm lang und dünn herunterhängen. Er sagt auch jetzt nichts. Seine Lippen öffnen sich nicht. Nur die Augen sprechen. Sie sprechen fürchterlich und drohend. Dann geht er plötzlich am Batterieschef vorbei. Frank könnte ihn jetzt bequem abschießen, bevor das trübe Zwielicht ihn völlig verschluckt. Er tut es nicht. Er schüttelt nur den Kopf, und in seiner Maschine, in der ihm später das Essen vorgesetzt wird, verlangt er Schnaps in jeder Menge und. sieht den Koch lange an. „Glauben Sie an Wachträume?“ „Oh, doch“, nickt der dicke Koch und macht ein Gesicht wie ein dozierender Oberschullehrer. „Solche Erscheinungen lassen sich psychologisch sehr gut ergründen.“ „Dann ist es ja gut“, atmet Frank auf. Er macht keine Meldung. * Am nächsten Tag schaffen sie 40 Meilen. Kenneth Frank ist so robust und selbstsicher wie immer. Als er nach Thule die Tagesmeldung durchgibt, hat seine Stimme ihre gewohnte rauhbeinige Sachlichkeit. „40,7 Meilen. Wertung in der Reihe C–E …“ Professor Konstantin nimmt sie selber entgegen. Er steht mit Olaf Holm, Brown und einigen anderen im Kommandostand. Es ist der zweite Tag, an dem sie ohne den Doktor fertig werden müssen. Es war nicht leicht, aber sie haben es geschafft. Am Nachmittag haben sie aus Melbourne die Weisung erhalten, nach Möglichkeit auch Spitzbergen einzubeziehen. Konstantin 37
sollte darüber entscheiden. Er hat zugestimmt. Es ist sogar vorteilhafter, Spitzbergen in die erste Sprengserie zu nehmen. Olaf Holm hat diesen Tag in der Nähe des Professors verbracht, der ihn sonst nur wenig beachtete. Olaf Holm wundert es, daß er heute im Zentrum des gewaltigen Unternehmens steht, ist aber ahnungslos – auch dann noch, als der Professor ihn nach der Tageskontrolle in das große, strenge Bibliothekszimmer des Verstorbenen bittet. Nielsen-Bor wartet auf sie. Van Kleffers hat seinen zuverlässigsten Mann geschickt, um den Jungen von der Fliegerei in Augenschein zu nehmen. Nielsen-Bor ist für einen Dänen erstaunlich kurz angebunden – er schießt gleich auf das Ziel los. „Professor Konstantin wird in den nächsten Tagen offiziell zum Nachfolger Dr. Aalsons ernannt werden. Darüber hinaus hat der Doktor kurz vor seinem Tode den Wunsch geäußert, Sie, Herr Holm, möchten später einmal in leitender Position für das Werk mitverantwortlich sein.“ Olaf Holm erfaßt diese Worte nicht. Er blinzelt nur etwas und macht eine unbeschreiblich dumme Handbewegung. Der Professor zündet sich eine Zigarette an. Nielsen-Bor verzieht keine Miene. „Nun – Herr Holm?“ „Ich – verstehe das nicht …“ „Ich auch nicht“, gibt Nielsen-Bor trocken, aber nicht unfreundlich zurück. „Aber es muß doch so sein, daß ein guter Engel Sie ausgerechnet über Thule abstürzen ließ und Ihnen die Bedeutung dieses Wunderwerks vor Augen führte – wenige Tage vor dem Ableben Ihres Onkels!“ „Meines Onkels?“ Draußen fliegen gerade zwei supermoderne Atomjäger zu ihrer Streife über der Dänemark-Straße aus. Amerikanische Transporter landen mit Material für das AX. In den Labors experimentieren Wissenschaftler immer noch mit diesem AX, 38
dem geheimnisvollen, gefährlichen, lebenspendenden AX. Und in der weißen Verlorenheit Grönlands stehen die Männer hinter ihren Atom-Werfern. Alles läuft so, wie von Dr. Aalson in vielen einsamen Nächten ausgearbeitet und vorbestimmt. Hier aber duckt sich ein blutjunger Versuchsflieger, den niemand kennt, und sagt leise: „Meines Onkels?“ „Wundert Sie das?“ Olaf Holm sieht dem Dänen fest in die Augen. Er ist sehr blaß. „Ich habe nie gewußt, daß ich einen Onkel hatte!“ „Fühlen Sie sich einer solchen Aufgabe gewachsen?“ „Ich kann es Ihnen nicht sagen“, erwidert der Fassungslose. „Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen.“ Der Schweiß bricht ihm aus, und er muß entsetzlich würgen, um den kleinen Teufel niederzuhalten, der ihm immerzu in die Magengrube hämmert. Ist das Angst? Oder Rührung? Müßte er nicht eigentlich schluchzen? Irgend etwas Erhebendes sagen? Doch er stößt nur hervor: „Dr. Aalson kann sich auch geirrt haben.“ „Er wird den Sohn seiner einzigen Schwester schon wiedererkannt haben.“ Der Professor geht auf den Jungen zu und legt ihm kameradschaftlich die Hand auf die Schulter. „Herr Nielsen-Bor stellt seine große Frage zu früh. Sie werden sich erst einmal einarbeiten müssen.“ „Ich will es versuchen.“ „Sie dürfen sich aber nicht als Kronprinz fühlen“, warnt der Beauftragte aus Melbourne. „Thule ist nicht ein Privatunternehmen! Thule ist ein Projekt der Weltregierung! Dr. Aalson konnte – bei aller Hochachtung muß ich es sagen – nur einen Wunsch aussprechen. Es liegt nun an Ihnen, den Weltpräsidenten in die Lage zu versetzen, eines Tages diesem Wunsche entsprechen zu können.“ „Ich nehme den Auftrag meines Onkels an!“ Ruckartig erhebt sich Olaf Holm. Die Worte waren stärker 39
als das Hämmern des kleinen Angstteufels. Traut dieser dickliche Politiker ihm nichts zu? Nimmt er den Wunsch des Doktors nicht ernst? „Was habe ich jetzt zu tun?“ „Machen Sie sich zunächst einmal mit dem Projekt vertraut.“ Der Däne lächelt. * Dr. Aalson hatte sich den Jungen gründlich angesehen. Er wußte, was in seiner Familie steckte an Unternehmungsgeist und guten Kräften. Und er liebte diese Familie, obwohl er bei ihr als vollendeter Narr galt und alle sich von ihm losgesagt hatten. Auch seine Schwester, die diesem blonden Olaf vor 25 Jahren das Leben schenkte. Dr. Aalson war kein Träumer, doch daß eine wundersame Schicksalsfügung und nicht die zufällige Verknüpfung zusammenhangloser Geschehnisse den Jungen über Thule abstürzen ließ, stand für ihn fest. Vielleicht würde der Junge auch die Schatten vertreiben können, von denen nur er wußte und die doch eines Tages die ganze Menschheit gefährden könnten, diese Schatten, die immer hinter ihm standen. Olaf Holm, mach es gut! Er gibt sich alle Mühe. Am nächsten Vormittag steht er mit Teddy Brown vor dem mächtigen Bildschirm „N II“ im Kommandostand und beobachtet eine Batterie, deren grüne Strahlenbündel die Sprengrille schmelzen. Brown ist schweigsamer als sonst. Schließlich kann er sich nicht mehr halten und führt Olaf abseits. „Sagen Sie mal, Holm – sind Sie etwa mit Absicht über Thule abgesprungen?“ Olaf erwidert seinen Blick gelassen. „Wenn Sie das glauben, Brown, haben wir beide das letzte Wort miteinander gesprochen. Ich habe nicht einmal gewußt, daß ich einen Onkel hatte.“ 40
„Das beruhigt mich.“ Er streckt ihm die Rechte hin. „Entschuldigen Sie, Holm, aber man macht sich oft so seine Gedanken. Bei einem solchen Projekt muß man immer die Augen offenhalten. Immer! Sollten Sie mal einen zuverlässigen Mann brauchen – ich bin immer für Sie da!“ „Ich danke dir, Teddy!“ „Okay, Olaf!“ * Olaf Holm fährt zur Wohnsiedlung hinaus. Die Luft ist heute härter und hat einen eigenen Geschmack, wenn man sie langsam durch die Lippen zieht. Nach Spätsommer schmeckt sie. Nach der ersten Ahnung von Schnee und klirrenden Frostnächten. Der letzte Winter der Arktis! Olaf Holm hofft zuversichtlich, daß es der letzte Winter sein wird. Dann soll das Land aufblühen, dann soll das Klima nicht mehr durch die riesigen Eisflächen der Arktis bestimmt werden, dann wird der Golfstrom auch Nordeuropa tropische Großwetterlagen bescheren. Und aus Grönland und Spitzbergen wird Thule entstehen, das Land der goldenen Zukunft. Der Gedanke daran ergreift ihn so, daß alle Furcht vor der großen Aufgabe von ihm weicht. So frei hat er sich noch nie gefühlt, so der Weite des blauen Himmels gewachsen und der Unendlichkeit der nordischen Länder. Brita wartet auf ihn. Sie hält eine Postkarte in der Hand und steht neben dem niedrigen Klubtisch, der mit Blumen übersät ist. Er schließt sorgfältig die Tür und schüttelt verwundert den Kopf. „Hast du Geburtstag?“ „Ach wo“, lacht sie und legt ihren Arm um ihn. „Von meinen neuen Nachbarn, weil sie wissen, was für ein großes Tier mein 41
künftiger Mann einmal sein wird. Die Nelken dort sind von der kleinen Miß Carter, die roten Schneegewächse von Schefingenieur Ellström …“ „Das ist gut und schön“, sagt er ziemlich gedankenlos. „Und die Karte hast du auch bekommen, weil ich jetzt – sozusagen – na, wie sagt man am besten …“ „Sag lieber nichts! Die Karte ist von Tage! Ja, von meinem Bruder!“ Sie hält die Karte hoch und sieht für einen Augenblick recht traurig aus. „Sie wurde mir nachgeschickt. Über das Innenministerium. Tage hat in diesen Tagen Urlaub und will mich besuchen. Nun steht er vor der geschlossenen Tür, und niemand kann ihm sagen, wo ich bin. Armer Tage, er hat sonst niemand …“ „Hol ihn doch rüber!“ „Tage auch noch?“ meint sie skeptisch. „Tüchtige Kerle können wir gebrauchen!“ „Ich glaube nicht, daß Tage kommen würde.“ Sie nimmt eine Vase mit kostbaren Rosen vom Tisch. „Die hat Professor Konstantin geschickt.“ Und dann unvermittelt und ihn dabei gespannt ansehend, als wolle sie endlich die Frage anbringen, die ihr schon lange auf der Seele brennt: „Sag mal, was hältst du von ihm?“ Olaf Holm versteht nichts von Blumen. Von Rosen ebensowenig wie von allen anderen. Er nimmt die Frage auch nicht sehr ernst, „Vom Professor? Der ist hier unentbehrlich! Ohne ihn hätte Onkel Peer das nicht alles schaffen können.“ „Ist er Engländer?“ „Ich glaube – Grieche.“ Sie stellt die Rosen zurück. *
42
„Eissprengungen auf Spitzbergen!“ Die Schlagzeile knallt am 29. August den Kopenhagenern entgegen. Heute und morgen ist Weltfeiertag, aber die festesfreudigen Dänen kommen um die Würze des friedlichen Behagens. Sie sind schockiert, und die amtliche Beruhigungspille, daß zwar die Bewohner der Nordküste mit ihrer vorübergehenden Evakuierung ins Landesinnere rechnen müßten, sonst aber nichts zu befürchten sei, wirkt wie eine falsch verordnete Medizin. So leicht kann man Kopenhagener nicht beruhigen. Der blutjunge Schiffsoffizier mit dem ernsten Gesicht sieht sich erstaunt um in der Menschenmenge, die um ihn herum vor einem Kiosk steht. „Sie scheinen nicht sehr begeistert zu sein.“ „Oh, das schon“, meint ein älterer Herr. „Einen warmen, eisfreien Norden könnten wir schon brauchen, aber nicht das, was vorher kommt.“ „Und es kommt allerhand vorher, Steuermann. Die radioaktive Verseuchung des Nordatlantiks! Ich bin Hochseefischer, Steuermann, und ich kann Ihnen allerhand verraten! Die vernichten uns alle Fanggründe! Wir spüren es bereits jetzt! Die Stimmung ist nicht gut in den Hafenstädten …“ „Das kommt von der Hetzpropaganda!“ ruft eine Halbwüchsige dazwischen und macht dem Steuermann schöne Augen. „Die panafrikanische Regierung hetzt gegen das ThuleProjekt.“ „Was sagen Sie, Steuermann?“ drängt der Hochseefischer gespannt, und in seinen hellen Augen wetterleuchtet es. „Sie sind doch von den Überseelinien! Ich möchte jedenfalls mal wissen, wie die Herren in Nordisland sich das gedacht haben. Die Natur ändern, aus der Arktis ein Südseeparadies machen mit nackten Bauchtänzerinnen und so …“ Der ältere Herr wendet sich schroff ab und geht würdevoll davon. Die Halbwüchsige kichert überlaut und sieht den Steuer43
mann herausfordernd an. Der klopft dem Fischer auf die Schulter und schiebt sich an ihm vorbei aus der Menge heraus. „Du hast recht, Kamerad! Mir gefällt der ganze Atomzauber auch nicht!“ Er winkt ein Taxi heran und läßt sich durch die Innenstadt zum Presse-Viertel fahren. Vor dem pompösen Kasten von „Dansk Avis“ läßt er halten, sieht auf die Uhr und fährt weiter durch eine ruhige Gartenstraße. Gleich darauf steht er einer mütterlich aussehenden Frau gegenüber, die unendlich bedauert, daß ihre Wohnungsnachbarin Fräulein Hansen nicht zu Hause ist. Nein, sie habe auch niemand gesagt, wohin sie verreise und wie lange sie fortbleibe. Im schmalen Gesicht des jungen Seemanns zuckt die Enttäuschung. Schade, denkt Tage Hansen, verdammt schade, da hat man nur noch seine Schwester … Langsam bummelt er wieder die Straße entlang, kauft sich irgendwo eine Zeitung und setzt sich mißmutig auf eine Bank. Über ihm kreist langsam ein mächtiger Verkehrshubschrauber zur Innenstadt, und auf einem nahen Platz klingt Militärmusik auf. Tage Hansen aber liest mit spöttisch verzogenen Lippen, was auf der ersten Seite steht. Thule, nichts als Thule! Tage Hansen glaubt nicht daran. Er hat eine sehr große Ehrfurcht vor der Natur. Bei einem Foto stutzt er. „Olaf Holm, der Neffe eines großen Mannes.“ Olaf Holm? denkt er und schließt die Augen. Den kenne ich doch! Die Militärkapelle marschiert vorbei. * Spitzbergen. Olaf Holm, der Professor und, Teddy Brown landen in dichtem Nebel bei Longyearbyen. Olaf Holm hegt gegen diese öde Welt an der Grenze des schweren Packeises eine unerklärliche Abneigung. 44
Aber auch hier Musik. Ein paar Leute stehen auf der einzigen Straße des kleinen Ortes. Unter den Fahnen Norwegens und des Weltbundes. Sie klatschen, als die Männer zum Verwaltungsgebäude hinübergehen. Der Verantwortliche für die Inselgruppe ist der hünenhafte Konteradmiral Lind von der norwegischen Flotte. Er kommt dem unverhofften Besuch freudestrahlend entgegen und schüttelt ihnen überschwenglich die Hände. „Auf Sie warte ich schon seit Jahren, meine Herren!“ „Auf uns?“ fragt der Professor erstaunt. „Aber ich hatte …“ „Ich hatte leider auch noch nicht die Ehre“, lacht der Riese dröhnend. „Ich warte aber schon lange auf die Männer, die endlich einmal mit dieser verfluchten Trostlosigkeit hier aufräumen können. Meine Herren, was läßt sich aus Spitzbergen machen! Wir haben Mineralien und Erze, wir haben unzählige Möglichkeiten. Überwinden wir doch endlich das ewige Eis! Auf mich können Sie rechnen, meine Herren, auf mich …“ Der Mann ist förmlich besessen von der Idee. Der Professor rollt eine Karte über den Tisch aus und sieht ihn an. „Die erste Sprengung wird voraussichtlich am 15. April im KönigWilhelm-Land erfolgen. Morgen beginnen wir auch hier mit dem Anlegen von Sprengrillen. Die Inselgruppe muß kurzfristig geräumt werden.“ „Damit rechnen wir hier alle!“ * „Damit rechnen wir hier alle!“ Diese Worte und der feste Händedruck des norwegischen Konteradmirals, der nichts will als Licht und Leben und den großen Frühling für seine nebel-umdrohte Inselgruppe, lassen Olaf Holm nicht los. Sie wirken in seinem Herzen nach durch Wochen und Monate. 45
Bis es am 16. März soweit ist. Am 16. März 2008. An einem Sonntag, der noch einmal einen scharfen Nordwind mit dichtem Schneetreiben um Thule toben läßt. Als wehre sich die Natur gegen die Gewalt der Menschen. Aber diese Menschen lassen sich nicht mehr durch Schnee und heranjagende Sturmwolken beeindrucken. Der Winter war hart. In Nordeuropa gab es Schneemengen, wie seit über fünfzig Jahren nicht mehr. Als im Oktober Spitzbergens Bevölkerung nach Norwegen gebracht wurde, folgte ihr der Winter, und wenige Wochen später regierte er über den ganzen Norden, und die großen dänischen und deutschen Zeitungen ergingen sich in sorgenvollen und ironisierenden Betrachtungen. Mitten im strengen Winter wurden die Rillen um die Sprengbezirke geschmolzen. Pausenlos. Im November waren über 800 Atomwerferbatterien eingesetzt, die über 11 000 Sprengbezirke anlegten. Über 11000! Sie mußten in 22 große Sprenggruppen zusammengefaßt werden. Am 8. Dezember begann man bereits mit der „Ladung“ der Rillen. In Abständen von 10 Meilen wurden in den Rillen in vorbereiteten Kammern AX-Ladungen untergebracht. Fast ein Vierteljahr dauerte die gigantische Aktion, von der die Öffentlichkeit nichts erfuhr, um sie nicht zu beunruhigen. Aber noch ist das AX harmlos. Im Mittelpunkt eines jeden Sprengbezirks ragen Gerüste auf, so hoch wie der Kommandoturm von Thule. Es sind Stahlgerüste, die nichts tragen als eine grüne Kugel. Von diesen grünen Kugeln aus soll sich am 16. März durch eine Fernzündung ein unsichtbarer Strahlenschleier über das gesamte Gebiet der „Sprenggruppe I“ ausbreiten und das AX in den Kammern aktivieren. Das ist das Geheimnis von Thule! Das wird die Entscheidung bringen über Leben oder Unter46
gang. Denn fast 30 Tage nur wird es dauern, bis die AXMassen explodieren werden. Am 15. April, in den frühen Morgenstunden, wenn sich noch die Nacht über Island und Nordeuropa breitet, wird es soweit sein. Vom Augenblick der Fernzündung an ist diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Es kommt dann nur darauf an, in dem Augenblick, in dem die AXMassen der „Sprenggruppe I“ sich entladen, durch genauestens berechnete „Sperrschaltungen“ die übrigen „Sprenggruppen“ gegen diese Explosion abzuschirmen. Diese Schaltungen werden genau 4 Minuten dauern. Auf diese 4 Minuten kommt es an! * Am 15. März noch fliegt Konteradmiral Lind zum Süd-Kap. Er ist mit drei seiner besten Leute allein auf den Inseln geblieben. Es ist das erstemal, daß er das Sperrgebiet um das Kap betreten darf. Teddy Brown sitzt neben ihm in der Maschine. „Fällt Ihnen was auf?“ grinst er. Der Admiral schnappt nach Luft. „Du lieber Gott, wie hast du dich verändert.“ Aus der zerklüfteten Bergwildnis ragt ein Turm auf. Ein Kommandoturm wie der von Thule. Lind kommt aus dem Staunen nicht heraus. Brown und der Leiter des Spitzbergen-Stabes fahren mit ihm hinauf in die Kuppel. „Ich denke, die Sprengungen werden von Thule aus ferngesteuert?“ „Die der ersten Sprenggruppen.“ „Wieso?“ „Es ist möglich, daß wir später von hier aus besser steuern können. Für alle Fälle haben wir uns mit diesem Kommandoturm eine zweite Zentrale geschaffen. Sollte Thule einmal ausfallen, können wir von hier aus weiterarbeiten.“ 47
Der Norweger kneift das rechte Auge zu. „Hm! Rechnen Sie mit einer solchen Möglichkeit?“ „Im Augenblick nicht!“ „Und Spitzbergen, sagten Sie …“ „Die Inselgruppe gehört zur Sprenggruppe 17.“ „Danke!“ * 16. März. Olaf Holm begrüßt den Professor, der ihm wortlos die Hand schüttelt und zu ihm in den Wagen steigt. Sie fahren in dichtem Schneetreiben über die breite Betonstraße ins Werk. Durch die von der zürnenden Natur herangefegten Schneeschleier können sie die hellerleuchtete Kuppel des Kommandoturms erkennen. Olaf Holm wirft einen Blick darauf. Der harte, arbeitsdurchtobte Winter hat seine Spuren in das sonst so offene Jungengesicht gegraben. Er ist älter geworden und reifer. Die Schwere der kommenden Wochen lastet bereits auf ihm. „Es ist jetzt alles soweit klar“, sagt er zu dem Professor, während sie weiterfahren. „Vor zwei Stunden ist das letzte der Kontrollkommandos aus dem König-Wilhelm-Land zurückgekehrt. An uns liegt es nun nicht mehr.“ Der Professor schweigt. „Ich meine, Professor“, wiederholt der Deutsche hastig und neigt sich zu Konstantin, der sehr bleich ist und mit unruhigen Fingern seine Pfeife hält, „an uns liegt es nun nicht mehr.“ „Nein, Olaf – nicht mehr an uns!“ Der Junge atmet auf. „Wenn wir am 15. April vier Minuten lang nicht versagen, kippt uns wenigstens die erste Sprenggruppe nicht um. Wir wissen aber immer noch nicht, wie die Panafrikaner sich verhalten werden.“ „Das soll nicht unsere Sorge sein.“ 48
Es schneit immer stärker. Vor dem Kommandoturm arbeitet eine große Schleuder, um den Platz freizuhalten. Olaf fährt den Wagen vor den großen Südeingang des Turms, neben zwei bullige Hubschrauber, die trotz Schnee und Unwetter vom Festland herübergekommen sind und hohe Mitarbeiter der Weltregierung und berühmte Wissenschaftler gebracht haben. Die Herren warten in der Halle auf die beiden. Nur eine Fernsehkamera schnurrt. Die Stimmung ist seltsam; als Olaf und der Professor die Halle betreten, empfangen sie Lächeln und die frohe Atmosphäre einer bedeutungsvollen Stunde. Doch der Professor bleibt ernst und wortkarg und spricht nur kurz mit dem persönlichen Vertreter van Kleffers. Dann gehen Olaf und er allein weiter. Der Professor duldet keine Zeugen. Es ist genau 13.02 Uhr. Sie fahren mit dem Lift in die Kuppel und durchschreiten den Kommandoraum, in dem Teddy Brown auf sie wartet. „Ich habe die Einstellung überprüft, Professor!“ Auch er ist ernst, als er das meldet. An der Stirnwand mit ihrer großen Kontrolltafel ist eine Schiebetür aufgezogen und gibt einen kleinen Raum frei. Es ist ein unscheinbarer Raum, in dem man sich nicht einmal setzen kann. Nur vier Männer dürfen gleichzeitig wissen, daß es diesen Raum überhaupt gibt, so schreibt es der Wille des Mannes vor, der das alles schuf. Vor einer riesigen Projektionstafel, die das Gebiet der Sprenggruppe I zeigt, steht eine kleine Säule mit einem Schaltbrett, das harmloser aussieht als das eines Sportflugzeuges. Der Professor tritt vor die Säule. Dann geht alles sehr schnell. Der Professor tut, was sonst Dr. Aalson sich vorbehalten hätte, und in Olaf steigt eine grenzenlose Ergriffenheit auf, als er das sieht. Er zündet das AX. Auf der großen Karte geistern in derselben Sekunde, da der 49
Professor ein kleines Rädchen einstellt, von vielen Punkten aus rote Strahlenbündel auf. Der Professor wartet regungslos, bis sie sich über das ganze Gebiet ausgebreitet haben, und wendet sich dann schroff um. „Nun gibt es kein Zurück mehr, Jungen!“ * Das AX ist gezündet. Die nördlichen Küstengebiete von Dänemark und Norwegen werden evakuiert. Am späten Nachmittag trifft in Kopenhagen der erste Transport ein. Auch hier dichtes Schneetreiben. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Die Kopenhagener machen mit. Wo sind die schweren Gedanken des Herbstes geblieben? Mit lautem Beifall und voller Hilfsbereitschaft begrüßen sie die großen Transportmaschinen, die wie Fabelwesen aus dem niedrigen Schneehimmel auftauchen. Nicht einmal das Winterwetter kann sie erschüttern. Die Evakuierten werden in Siedlungen untergebracht, die man eigens für sie errichtet hat. Der Witz des Tages ist ein Einfall des dänischen Rundfunks: er läßt einen riesigen Kühlschrank mit Schnee beladen, um der Nachwelt diesen bald so seltenen Stoff zu überliefern. Kopenhagen brüllt vor Lachen. Am späten Abend die große Sensation: van Kleffers spricht im Weltfernsehen. Er hat aus Niamey die Zusicherung erhalten, daß Panafrika gegen die Eissprengungen nichts unternehmen wird. Die Menschheit jubelt. Sie jubelt zu früh – *
50
„Wie heißen Sie?“ „Hansen“, meldet der Fallschirmspringer. „Tage Hansen!“ Der Major der panafrikanischen Luftwaffe, der seltsamerweise ein Weißer ist wie die meisten der Freiwilligengruppe, überfliegt die Eintragungen in seiner Liste und zieht die Augenbrauen hoch. „Hier steht, daß Sie Seeoffizier sind.“ „Ich habe als Schüler eine fliegerische Ausbildung erhalten.“ „Warum wollen Sie sich an dem Unternehmen beteiligen?“ Tage Hansen strafft sich. „Ich bin davon überzeugt, daß die Eissprengungen nur Elend und Untergang über meine Heimat bringen werden. Darum, Herr Major, habe ich mich gemeldet! Von den europäischen Staaten bringt leider keiner den Mut zu einem Angriff auf Thule auf.“ „Haben Sie sich wissenschaftlich mit dem Problem auseinandergesetzt?“ „Nein“, gesteht Tage Hansen ohne weiteres. „Wenigstens nicht von mir aus. Ich traf aber in Kopenhagen meinen alten Physiklehrer, der mich über diese furchtbare Schändung der von Gott gegebenen Natur aufklärte. Ich traf noch andere, die das nicht dulden …“ Er zeigt auf seinen Nebenmann. Es ist der blonde Hochseefischer, den er in Kopenhagen vor dem Kiosk kennenlernte. Sie stehen sehr ernst und entschlossen da, diese Jungen aus Dänemark und Norwegen, aus Deutschland und Holland. Die meisten kommen von der nordischen See, die sie lieben, so wie sie ist und immer war. „Ich kann euch verstehen“, sagt der Major. Er verbirgt ein Lächeln, während er die Front abschreitet. Er verbirgt es nicht mehr, als er dann mit Oberst Narro allein unter dem Abendhimmel ist und mit ihm in die leise sirrende Wüste el Djouf hinausgeht. „Es ist gut, daß es noch Träumer und Idealisten gibt.“ 51
„Sehr gut ist das“, fletscht der bullige Nachrichtenhäuptling die Zähne. „Sie werden ihren Idealismus in den nächsten Stunden unter Beweis stellen können.“ „Ist alles startklar?“ „Alles! Der Kommandoturm von Thule verschwindet! Spitzbergen wird von uns besetzt.“ „Macht die Marine mit?“ „Ich habe meine Leute!“ * „Das ist eine gute Nachricht.“ Olaf Holm schaltet den Fernsehempfänger ab, auf dessen Schirm eben der Weltpräsident zu sehen war, wie er der Welt das überraschende Einschwenken Panafrikas bekanntgab. Olaf Holm ist glücklich, denn dieser Entschluß Niameys beseitigt eine Spannung, die große Gefahren in sich barg. Er ist aber auch müde. Es läuft nun alles, Man kann nicht viel tun vor dem Morgen des 15. April … Er trinkt seinen Grog aus. Niemand kann ihn so zubereiten wie dieses fabelhafte Mädchen Brita. Genußvoll schlürft er das heiße Zeug und meint so nebenbei: „Konstantin wird bereits in Melbourne sein.“ Sie fährt zusammen und läßt das Buch fallen, in dem sie lag. Ihre Hände liegen hilflos in ihrem Schoß. Entsetzt sieht sie ihn an. „Dar Professor ist nach Melbourne geflogen?“ „Aber ja“, lächelt er. „Er hat allerhand mit dem Weltpräsidenten zu besprechen. Schließlich ist er ja der Kopf des Ganzen.“ „Und – wenn man ihn dort festnimmt?“ „Festnimmt?“ Sein Glas wird hart zurückgestellt. „Brita, erlaube bitte mal …“ „Olaf!“ weint sie plötzlich laut auf, die sonst so überlegene 52
Brita Hansen. „Ich fürchte, man wird ihn dort nicht – man wird ihn dort …“ Olaf Holm ist nicht mehr müde. Er ist aber auch nicht mehr glücklich. Das Herz hämmert ahnungsschwer, als er um den Tisch herumgeht und sich neben Brita auf den Sessel hockt. Sie fliegt am ganzen Körper. „Ich habe ihn doch immer beobachtet, und dann habe ich versucht, in meinen Briefen Herrn Jörgensen mitzuteilen, was ich …“ „Bist du verrückt?“ unterbricht er sie atemlos. „Du hast hinter unserem Professor her spioniert? Darf man vielleicht einmal fragen, warum?“ „Der Professor will doch der Herr über Thule werden.“ „Wer sagt das?“ „Jörgensen! Und er sagte mir auch, wenn bis kurz vor Beginn der Sprengungen keine positiven Anhaltspunkte seinen Verdacht bestätigten, müsse er trotzdem die Weltregierung davon unterrichten …“ Sie läßt sich vornüberfallen. Er muß sie halten. „Und davon erfahre ich erst heute etwas?“ „Ich wußte nicht, was ich tun sollte.“ „Da ist eine Schweinerei im Gange!“ brüllt er sie an und packt sie, als wolle er sie umbringen, und schüttelt sie hin und her. „Eine Schweinerei gegen den Professor! Und du hast sie mitgemacht!“ „Olaf – ich will dir alles sagen …“ „Los! Los doch!“ * Brita Hansen verschweigt nichts. Was Olaf Holm hören muß, ist furchtbar. In Melbourne schütteln van Kleffers und der Professor sich 53
vor den Fernsehkameras und den Blitztagesschauen lachend die Hände, und alles scheint dort in schönster Ordnung zu sein. Für die Öffentlichkeit. Aber auch nur für die Öffentlichkeit. Als der Professor mit dem Weltpräsidenten und Nielsen-Bor allein ist, merkt er sehr rasch, daß die Stimmung viel von ihrem offiziellen Optimismus verliert. Sie wird nicht gerade frostig, aber sehr förmlich. Van Kleffers scheint mehr verlegen als absichtlich unfreundlich zu sein. „Ich freue mich, daß die Zündung der Sprenggruppe I so reibungslos erfolgen konnte“, beginnt er sehr konventionell. Der Professor, der noch den Augenblick in sich spürt, da er das Werk seines Freundes vollenden durfte, lächelt mit nicht ganz verborgenem Spott. „Das war nicht weiter schlimm, Präsident – die winzige Drehung eines kleinen Kunststoffrades …“ „Ein entscheidungsvoller Augenblick in der Geschichte der Menschheit“, sagt der Däne im Zeitungsstil. Was ist nur los? Konstantin hat sich diesen Empfang beim Weltpräsidenten doch etwas farbiger vorgestellt. „Haben Sie nun Ihrerseits alle erforderlichen Maßnahmen getroffen, Präsident?“ „Herr Nielsen-Bor, berichten Sie bitte!“ Nielsen-Bor stellt mit wenigen Worten die Tagessituation dar: Die europäischen Nordküsten werden geräumt. Für die europäischen Großstädte besteht ab 5. April Evakuierungsbereitschaft. Für alle Fälle! Sämtliche Ärzte dürfen nicht ihre Arbeitsplätze verlassen. Die gesamte Fischerei im Nordatlantik wurde bis auf weiteres eingestellt. Die betroffenen Fischer werden großzügig entschädigt. Trotzdem sind sie unzufrieden, und es besteht die Gefahr von Unruhen. Panafrika hat endlich seine Renitenz aufgegeben. Die pan54
afrikanische Zentralregierung hat eine loyale Haltung zugesichert. Als äußeres Zeichen dafür wurden die panafrikanischen Kriegsschiffe in ihre Stützpunkte zurückbeordert. „Das ist die heutige Situation, Herr Professor!“ * „Dann darf ich mich verabschieden!“ Professor Konstantin will sich erheben, doch eine Handbewegung des Weltpräsidenten hält ihn zurück. In van Kleffers’ straffen Gesichtszügen zeigt sich zum erstenmal eine Unsicherheit. Er steht auf und geht durch das große Arbeitszimmer zu seinem Schreibtisch hinüber. Die Schritte klingen gedämpft. Konstantin überkommt ein ungutes Gefühl. Draußen jagen sie die strahlende Begrüßung in die Welt, und hier ist nichts als kühle Korrektheit. Vom Schreibtisch her tönt van Kleffers’ Stimme: „Herr Professor, man erhebt schwere Anschuldigungen gegen Sie!“ Konstantin rührt sich nicht. Wieder spielt der Spott in seinen überwachen Augen. „Darum also diese trockene Freundlichkeit! Sie nehmen mir meine Bemerkung nicht übel, meine Herren! Darf man Näheres erfahren?“ „Sie sollen sich mit dem Problem des synthetischen Lebens befassen.“ „Ach – wer behauptet das?“ „Eine Gruppe um den finnischen Staatssekretär Ritola.“ „Ritola! So! Ritola war ein guter Freund Dr. Aalsons, als wir beide noch auf meinem Landsitz in der Nähe Stockholms wohnten und arbeiteten. Es ist zum Teil wahr, was Herr Ritola behauptet.“ Nielsen-Bor zündet sich eine Zigarette an, aber er weiß es 55
selber nicht. Der Weltpräsident nimmt ein Schriftstück vom Schreibtisch und kommt damit zurück. „Herr Professor, fassen Sie bitte meine Worte nicht als eine voreilige Parteinahme gegen Sie auf, wenn ich sage, daß mich Ihre Antwort überrascht.“ „Ist es verboten, nach dem Homunculus zu suchen?“ „Verboten ist es natürlich nicht, doch haben Sie uns eine solche Tätigkeit bisher unterschlagen.“ „Meine Herren“, sagt der Professor langsam und sieht erst den Weltpräsidenten und dann Nielsen-Bor gelassen an. „Ich habe diese Versuche, synthetisches Leben zu schaffen, aufgegeben, weil ich eingesehen habe, daß sie zu nichts führen. Man müßte schon einen anderen Weg gehen, wollte man Menschen nach seinem Willen formen. Ich verstehe trotzdem nicht, wie Ritola daraus eine Anzeige formulieren konnte.“ „Er sprach den Verdacht aus, daß Sie mit Hilfe solcher Lebewesen die Herrschaft im Norden an sich reißen wollten.“ Professor Konstantin erhebt sich nun doch. „Darf ich mich nun verabschieden?“ „Einen Augenblick noch, Herr Professor“, bittet van Kleffers höflich, aber bestimmt. „Es hat sich etwas ereignet, was mich zwingt, noch bei diesem Thema zu bleiben. Unsere Betreuungsoffiziere haben sich von Eskimos, die aus Grönland evakuiert wurden, erzählen lassen, ihnen sei dort ein sonderbares Wesen über den Weg gelaufen.“ „Unter den Eskimos ist der Geisterglaube noch weit verbreitet.“ „Das weiß ich, Professor! Aber es kommt noch etwas hinzu. Von der Venus trafen bereits vor Monaten Meldungen ein, die so verabscheuungswürdig klingen, daß ich sie zunächst nicht glauben wollte …“ „Sie machen mich neugierig.“ „Die dort grassierende Seuche lähmt bekanntlich den 56
menschlichen Willen. Die Betroffenen werden zu willenlosen Kreaturen, die zwar organisch keine Schäden davontragen, jedoch unbedingt als Schwerleidende zu bezeichnen sind. Diese Seuche hat auch vor den Strafanstalten der Venuskolonien nicht haltgemacht, so daß man für Häftlinge ein eigenes großes Spital anlegte. Aus diesem Spital sind 28 Kranke verschwunden.“ „Unglaublich!“ „Man hat sie monatelang auf der Venus gesucht, bis man vor kurzem entdeckte, daß drei Schiffe der Venusraumflotte zwischen August und November zu Fernflügen benutzt wurden, ohne daß diese von den dortigen Behörden angeordnet noch genehmigt worden waren. Die Schuldigen wurden festgenommen, verweigern aber jede Aussage über das Ziel ihrer illegalen Fernflüge.“ Der Professor sieht van Kleffers interessiert an. „Sie vermuten da irgendwelche Zusammenhänge?“ Der Weltpräsident nickt. „Im August wurde in Erdnähe ein kleines Raumschiff gesichtet, das Signale mit den arktischen Gebieten austauschte, auf Anruf nicht antwortete und wieder verschwand.“ „Ich verstehe noch nicht …“, setzt der Professor an, stutzt dann aber und läßt die Rechte hart auf eine Sessellehne fallen, während sich sein Gesicht verfinstert. „Doch – ich verstehe! Sehr gut sogar! Sie nehmen an, man hätte diese Seuchekranken zur Erde gebracht. Aber – zu welchem Zweck?“ „Man könnte mit ihnen – experimentieren!“ Der Professor wird sehr blaß und taumelt zurück. Seine Augen weiten sich, und die geballte Rechte fliegt hoch – wie zur Abwehr. „Präsident, war das auf mich gemünzt?“ „Ich werde die Angelegenheit untersuchen lassen.“ „Also doch ein Verdacht!“ „Er richtet sich nicht gegen Sie, Professor“, antwortet der Weltpräsident und versucht dabei, den alten herzlichen Ton 57
durchklingen zu lassen. Die Sache ist unangenehm! Sehr unangenehm sogar! Noch dazu in diesen Wochen! Der Professor ist jetzt nicht zu entbehren! Eine achtungsvolle Verneigung beiderseits. „Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Präsident!“ „Ich danke Ihnen, Professor!“ * „Hallo, Melbourne!“ Olaf Holm ist innerlich fertig und hat eine grenzenlose Wut auf die Kerle, die Brita in ihr Spiel ziehen wollten. Ein Glück nur, daß das Mädel nicht sonst noch Dummheiten gemacht hat. Er glaubt ihr nicht. Der Professor ist einer von denen, die man schwer durchschaut. Aber so etwas glaubt er nicht. Synthetisches Leben? „Hallo, ein Anruf aus Melbourne!“ hallt es durch den Verbindungsgang. „Ich komme schon!“ Gleich darauf steht Olaf in seinem Arbeitszimmer und hebt den Hörer ab. Auf einem kleinen Bildschirm am Apparat erscheint das lächelnde Gesicht des Professors, der eben in sein Hotel zurückgekehrt ist. „Alles in Ordnung, Olaf?“ „In bester Ordnung, Professor“, nickt Olaf und atmet hoch auf. Na also, Brita! Na also, Jörgensen und Konsorten! „Und bei Ihnen in Melbourne?“ „Oh, die Weltregierung leistet ganze Arbeit! Evakuierungen, Sicherungen für die Großstädte! Es läuft alles wie am Schnürchen!“ „Wie geht es Ihnen, Professor?“ „Mir?“ wundert sich Konstantin flüchtig, und Olaf erkennt in seinen Augen einen eigenartigen, harten Schimmer. „Mir 58
geht es sehr gut! Man war sehr freundlich beim Weltpräsidenten! Bis übermorgen habe ich hier noch zu tun. Dann fliege ich zurück.“ „Mir recht! Die Kontrollwerte aus dem König-Wilhelm-Land sind normal.“ „Das war vorauszusehen! Also bis übermorgen, Olaf!“ Olaf verabschiedet sich, legt auf und geht ans Fenster. Der Schneesturm hat ausgetobt. Hoch und klar stehen die Sterne über der fernen Hügelkette. Jetzt mußte er frische Luft haben! Brita, Brita, wie hast du dich blamiert! Er schiebt das Fenster auf! Still ist diese Nacht. Olaf sieht zum Kommandoturm hinüber, der links von ihm schlank und rassig gegen den Sternenhimmel strebt. Die unteren Sichtscheiben sind wie immer erleuchtet. In der Luftüberwachung sitzt die dritte Schicht an ihren Geräten. Olaf weiß nicht, daß dort einer seinen Kameraden herbeiruft und aufgeregt auf seinen Funkmeß-Kreis zeigt. „Wir bekommen Besuch!“ Der andere verliert die Farbe. „Mensch – angemeldet ist niemand …“ „So höflich ist nicht jeder! Sieh mal hier!“ Zwei Männer sehen sich an. Nur für die Bruchteile einer Sekunde. Doch es genügt für sie, das kalte Entsetzen in den Augen des Kameraden zu erkennen. Ein breiter Zeigefinger drückt die rote Alarmtaste. „Das ist doch nicht möglich!“ „Wie aus dem Nichts tauchen die auf! Wie aus dem Nichts!“ „Sind das Geister?“ * Geister? Da geht in derselben Minute, in der in Thule die rote Taste 59
den schicksalsschwersten Großalarm der letzten hundert Jahre auslöst, Konteradmiral Lind durch das menschenleere Longyearbyen. Geister? Der Konteradmiral steuert das einzige Haus an der Ortsstraße an, dessen Fenster nicht blind und tot in die unruhige Nacht starren. Lind ist ein Bär mit Nerven allererster Qualität. Er hat keinen Blick für das Gespenstische, das in diesen langen Winternächten in den verlassenen Häusern hockt und mit dem Nordwind um die Ecken heult. Lind hat nur Langeweile. In dem erleuchteten Haus warten seine Leute, und die sitzen jetzt nicht vor Milch und Selterswasser. Er kommt nicht hin. Als er vorsichtig einen Stein übersteigen will, huscht ein Schatten über den Ort hinweg. Ein phantastisch verzerrter Schatten. Ein Vogel? Ein Riesenvogel, der aus den Sternen herabfällt und über die Bucht auf das Meer hinausfliegt? Lind steht wie angewurzelt. Er löst sich erst wieder aus seiner Erstarrung, als in einer Nebengasse Schritte aufklingen. Er rennt hin und bleibt an der Ecke stehen. Drei Gestalten kommen auf ihn zu. Lind merkt nicht, daß auch hinter ihm die Straße plötzlich zu leben beginnt. Er ist zu überrascht und aufgeregt und will die Burschen abfangen, die einfach aus dem Himmel heraus auf seine Inseln zu springen wagen. Seltsame Gestalten sind das. Wie groteske Roboter eines verrückten Erfinders marschieren sie eckig und stur durch die kaum erhellte Nacht heran. Jetzt kann er ihre Gesichter erkennen, und jetzt … Zwei Arme legen sich von hinten um seinen Oberkörper. Lind fährt herum. *
60
„Präsident!“ Nielsen-Bor stürzt in das Arbeitszimmer. Die kostbare Edelholztür knallt gegen die Wand. Van Kleffers springt auf. „Thule wird angegriffen!“ Van Kleffers spürt sein Herz nicht mehr. Er stellt keine Fragen. Nielsen-Bor ist bereits wieder draußen. Sie rennen an ratlosen Offizieren der Weltpolizei vorbei über den Korridor. Einer will etwas sagen. Van Kleffers schiebt ihn weg, daß er fast hinschlägt. Dann stehen sie vor dem großen Bildschirm. Sehen Thule. Sehen Männer aus Maschinen abspringen, die über der Forschungsstadt kreisen, so selbstsicher kreisen, daß eine hilflose Verzweiflung sie packen will. Was sind das für Maschinen? Es sind Atomtransporter neuester Bauart. Sie tragen keine Abzeichen. Die Abwehr? Thule tobt, Thule brüllt, Thule wirft aus seinen Abwehrbatterien an den Grenzen des Sperrgebiets den tausendfachen Tod gegen die unheimlichen Angreifer. Der tausendfache Tod ist machtlos. Jämmerlich machtlos. Da springen sie aus einigen hundert Meter Höhe herab. Mit kalten Gesichtern unter grünen Helmen, mit großen Strahlwaffen in den Fäusten, die aufblitzen im Schein der tobenden Hölle. „Was sind das für Gangster?“ schreit Nielsen-Bor erbittert. „Panafrikaner?“ Van Kleffers zeigt auf einen, der mit gespreizten Beinen etwas unbeholfen hinter dem Kommandoturm heruntergeht. „Das sind doch keine Afrikaner!“ „Helles Gesicht“, murmelt der Däne blaß vor Zorn. Der Weltpräsident greift nach dem knallroten Fernsprechapparat, der neben dem Bildschirm steht. Von diesen Dingern gibt es auf der ganzen Welt drei. Einer steht in van Kleffers’ Arbeitszimmer, einer auf dem Schreibtisch des Präsidenten der Weltpolizei in London und der dritte hier in diesem Raum. 61
Über sie wird der Weltalarm ausgelöst. Seit über dreißig Jahren hat es keinen mehr gegeben. Van Kleffers zögert jedoch keine Sekunde. Was sich in Thule abspielt, ist ernst genug. In Thule befindet sich eine kleine Schalttafel, mit der man das in dreißig Tagen explodierende AX unter Kontrolle halten kann. Es ist genau 16.02 Uhr. Nielsen-Bor achtet nicht darauf, daß der Weltpräsident mit zehn Worten in fünf Kontinenten die Männer der „Vereinten Streitkräfte“ an ihre Waffen und Maschinen jagt. Er beobachtet mit atemloser Spannung, wie sich aus den Maschinen immer mehr Gestalten lösen und herunterschweben. Jetzt sind auch dunkle Gesichter dabei. Also doch Afrikaner, denkt der Däne grimmig, das sollen die falschen Bunde in Niamey büßen! Wenn nur der Kommandoturm stehenbleibt. Der Kommandoturm! * Olaf Holm rennt zum Kommandoturm. Er weiß – wenn sie im Turm sind, haben sie alles! Keine Macht der Welt würde sie bezwingen können, es sei denn, die ganze Menschheit würde von ihnen in den Tod mitgenommen. Noch ist hier alles ruhig. Draußen wehren sich vierhundert Mann gegen diesen Überfall. Und die „Vereinten Streitkräfte“ müssen unterwegs sein. Es ist noch nichts entschieden. Aber hier geht es um Sekunden. Vor ihm hämmern Schritte auf. Vom Verbindungsgang III her. Dann sind plötzlich drei Neger vor ihm und knallen los. Eine Sekunde steht Olaf Holm Zielscheibe. Geht zu Boden und feuert zurück. Einer fällt. Tut mir leid, mein Junge! Olaf ist eis62
kalt. Ein zweiter fällt hintenüber. Aber für die beiden kommen zehn neue, und noch zehn und noch … „Das darf doch nicht sein! Lieber Gott, das darf doch nicht sein!“ Sie sperren den Zugang zum Kommandoturm. Holm weiß nicht, was er tun soll. Im Turm sind Angelo und zwei Engländer und die Luftabwehrknaben, die so fabelhaft versagten. Er springt plötzlich auf und rennt zurück. Sie feuern hinter ihm her. Er kommt aber bis zum nächsten Eingang und ist schon durch. Ein Leutnant der Weltpolizei kommt ihm entgegen. Er blutet nicht, aber seine Haut ist verbrannt von den Strahlenwaffen, und er wird wohl nicht mehr lange leben. „Sie kommen, Holm – die Amerikaner und die Europäer …“ „Ich brauche einen Hubschrauber – rasch!“ „Hubschrauber?“ wiederholt der Leutnant höchst überflüssig und sieht sich um. In diesem Gebiet ist noch nichts los, aber an der Südseite ist es furchtbar. „Dort drüben steht einer!“ Sie rennen auf den Kasten zu. Es fängt wieder an zu schneien. Ganz sacht und feierlich aus einer dünnen, sanften Wolkendecke herab. Sacht und feierlich. Und im König-Wilhelm-Land sind die AX-Massen aktiviert und werden am 19. April alles mitnehmen, wenn sie explodieren! Diese Schweinehunde hier, diese Schweinehunde! Olaf Holm ist kalt. Er wundert sich selber, daß er nicht einfach durch das Werk zur Südseite rennt und dazwischenhaut. Als sie beim Hubschrauber sind, rast eine der Angreifermaschinen tief über sie hin und feuert wild drauflos. Der Leutnant rennt mit erhobenen Armen rückwärts und fällt lang hin. Rührt sich nicht mehr. Olaf Holm reißt den Schlag auf, ist schon drin und drückt auf die Tube. Zu spät, Olaf Holm! 63
Ein Pfeifen ist plötzlich da. Bricht aus dieser dünnen sanften Wolkendecke hervor und Jagt rotglühend und langgestreckt auf den Kommandoturm zu. Olaf Holm ist wie gebannt. Sieht es. Kann sich nicht rühren. Zählt. „… vier, fünf, sechs, sieben …“ Dann geschieht es. * „Sie haben den Kommandoturm zerstört!“ Keiner weiß, wie diese Schreckensnachricht Thule verlassen kann. Keine Stunde vergeht, und die Menschheit erstarrt. „Sie haben den Kommandoturm zerstört!“ Das Raketengeschoß von der allerneuesten Sorte leistete ganze Arbeit. Es zerschnitt die Rundwand und ließ den Turm mit der kleinen Schaltkammer in einer roten Wolke zusammensinken. Die Menschheit schreit auf. In Kopenhagen stürmen sie das Verteidigungsministerium. In London wird das Unterhaus zu einer Sondersitzung zusammengetrommelt. Rettet euch, heißt die Tagesparole, rettet euch … In Berlin legen Flugblätter den Verkehr lahm. Flugblätter, die von unbekannter Seite kommen und in denen die Unterwerfung Europas unter die Herrschaft Panafrikas gefordert wird, um eine Weltkatastrophe abzuwenden. Panafrika? Kann denn wenigstens Panafrika am 15. April noch das Schicksal steuern? Sie werden alle sehr kleinlaut, die Menschen, und ihre Gesichter fallen ein und werden grau, aber sie sagen: „Wenn es denn sein muß!“
64
* Die „Vereinten Streitkräfte“ sind heran. Olaf Holm lacht den spanischen General aus, der sie führt und ihn zu sprechen wünscht. „Mein Freund – wir werden jetzt aufräumen!“ „Zu freundlich von Ihnen, Herr General! Leider kommt ihr etwas zu spät! Eine kleine halbe Stunde zu spät! Sehen Sie bitte dort drüben den traurigen Trümmerberg! Dort stand ein Turm, von dem aus man das AX lenken konnte, Herr General – das AX –“ Der General begreift sofort. „Der Kommandoturm? Bei allen Heiligen, es ist nicht unsere Schuld!“ „Herr General, es gibt nur noch eine Hoffnung!“ „Spitzbergen?“ * Lind fährt herum. Blickt in eine widerlich weiße Maske mit unsagbar lebendigen Augen. Muß erst mit dem eisigen Erschrecken fertig werden, das ihn umzuwerfen droht. Dann wird er wild. Wer einen Lind reizt, muß fast immer dafür büßen. Auch dieser Geistermensch. Lind rast so überraschend los, daß der andere sich nicht auf den Beinen halten kann und mit ihm hinknallt. „Sag doch was“, keucht der wütende Seebär. „Verflucht noch mal, gib doch wenigstens mal einen Ton von dir …“ Der andere schweigt. Nicht einmal atmen kann Lind ihn hören. Es ist, als wälze er sich mit einem fleischgewordenen Roboter auf dem harten Schneeboden. Linds Faust trifft ihn dreimal so hart gegen die Schläfe, daß er sich nicht mehr rührt. Lind springt auf. Sieht sich wild um. Wo sind die anderen? Er rennt los. Eine grenzen65
lose Wut ist in ihm, die ausreicht, den halben Ort auszuräumen, wenn es sein muß. Lind wird jedoch an der nächsten Ecke von dem scharfen Strahl einer Atompistole aufgehalten, die ihn am Hals trifft. Mit einem fassungslosen Erstaunen im Gesicht fällt er vornüber. Über ihn hinweg dringen sie in die Straße ein. Spitzbergen wird besetzt. Noch halten sich die zehn Mann im Sperrgebiet um Kap Süd, aber die Hölle bricht über sie herein. Die Hölle der Geistermenschen. Sie kämpfen bis zum letzten Mann. Der letzte setzt noch einen Funkspruch ab. „Können uns nicht mehr halten.“ * „Können uns nicht mehr halten?“ Der Kommandeur des 3. Geschwaders der europäischen Luftwaffe schüttelt den Kopf. Das kann er nicht verstehen. Ihm sind nur Luftstreitkräfte unbekannter Nationalität im Raum um Island gemeldet worden. „Schneller, Männer – schneller!“ Zwanzig Kampfmaschinen modernster Bauart rasen über die Bären-Insel auf Spitzbergen zu. Sie rasen in den Tod. So geheimnisvoll wie der Gegner und seine Geistermenschen, sind seine Waffen. Die Maschine des Kommandeurs stürzt als erste ab. Neunzehn folgen ihr. Das Packeis nimmt die tapferen Männer auf, von denen keiner am Leben bleibt. Dafür meldet sich am nächsten Morgen ein neuer Großsender. Der „Sender Spitzbergen“. Er meldet sich in fünfzehn Sprachen, und was er der Welt zu sagen hat, ist unmißverständlich. 66
„In den Morgenstunden des 15. April wird das entzündete AX im Gebiet der Sprenggruppe I explodieren. Der Kommandoturm von Thule, von dem aus das AX im Augenblick seiner Explosion gesteuert und reguliert werden sollte, steht nicht mehr. Es gibt auf der ganzen Erde nur einen Punkt, von dem aus eine Kettenreaktion der AX-Explosionen verhindert werden kann. Dieser befindet sich auf Spitzbergen und ist in der Hand panafrikanischer Persönlichkeiten. Sie wollen vermeiden, daß Thule, das Land der Zukunft, in die Hände einer Kapitalistenclique um den Weltpräsidenten gerät. Sie fordern die Weltregierung auf, ihnen bis zum 14. April alle Unterlagen auszuliefern, die notwendig sind, um von Spitzbergen aus am 15. April die Schaltungen durchführen zu können. Sollte die Weltregierung dieser Forderung nicht nachkommen, wird die gesamte Menschheit die Folgen zu tragen haben.“ Wahnsinnige? Möglich! Wahnsinnige und Machtbesessene! Aber keine Phantasten! Sie wissen, was sie tun, diese Männer, die von Kap Süd aus die Welt beherrschen wollen. Oberst Narro ist ihr Führer. Sie haben gute Chancen. Spitzbergen ist unangreifbar. Kein Politiker würde zum Kampf gegen sie aufrufen, denn kein Militär, der noch einen Funken Verantwortungsbewußtsein in sich trägt, wird diesen Kampf aufnehmen. Sie können zunächst einmal abwarten, was kommen wird. Am 14. April wird die Weltregierung zu Kreuze kriechen müssen. Alle Menschen auf der Erde, die nicht sterben wollen, werden sie dazu zwingen. Oberst Narro hat alles einkalkuliert, nur eines nicht: Seine eigenen Kreaturen. Von der Venus kommend, landen erneut Raumschiffe Im Raum um Spitzbergen. Ihre Schiffsführer haben die Verwirrung der letzten Stunden geschickt ausgenutzt. Wieder bringen sie diese furchtbaren Geistermenschen, diese bedauernswerten We67
sen, die keinen eigenen Willen zu haben scheinen. Sie fallen über die Panafrikaner her. Oberst Narro ist ihr erstes Opfer. Was sollen sie der Menschheit bringen? * „Professor Konstantin!“ Weltpräsident van Kleffers geht dem Mann entgegen, den er jetzt noch weniger versteht. Konstantin ist müde. Er geht gebückt, und man könnte meinender sei am Ende, wie vor Monaten sein großer Freund Dr. Aalson. Lastet ein Fluch auf dem ungeborenen Thule? Van Kleffers unterdrückt diesen Gedanken. Er muß sich in diesen Stunden ausschließlich auf das konzentrieren, was die Situation unmittelbar berührt, will er nicht die Weltregierung ganz aus seiner Hand geben. Er begrüßt den Professor wärmer und zugänglicher als gestern. Der lächelt unsagbar traurig. „Sie halten mich jetzt für einen ausgemachten Feigling, Präsident?“ „Das fällt mir nicht ein.“ „Mein Platz wäre in Thule“, sagt der Professor ruhig, während er auch Nielsen-Bor die Hand reicht. „Aber ich habe hier eine Erklärung abzugeben. Ich habe alles verfolgt und weiß, was kommen wird …“ „Professor!“ „Ich weiß es! Zunächst eine Frage: Was sagt Niamey?“ „Die panafrikanische Zentralregierung hat auf unseren scharfen Protest vor einer Stunde erklärt, sie sei an den Angriffen auf Thule und Spitzbergen nicht beteiligt und distanziere sich von diesen Verbrechen …“ „Es waren aber panafrikanische Militärmaschinen, die die Angriffe flogen“, unterbricht ihn der Däne mit ungewohnter 68
Heftigkeit. „Auch waren Panafrikaner unter den Fallschirmspringern, und der Rundfunk dieser Wahnsinnigen spricht von panafrikanischen Persönlichkeiten – Verzeihung, Präsident, aber …“ „Herr Nielsen-Bor hat recht“, nickt der Weltpräsident. „In Niamey scheint allerhand faul zu sein.“ „Hatte die Weltregierung dort keine Agenten arbeiten?“ „Einen ihrer besten. Er ist verschwunden.“ „Narro war ein Narr“, sagt der Professor leise, so als ziehe er weiter für sich eine Bilanz. Keiner lächelt über das ungewollte Wortspiel. Van Kleffers’ Gesicht ist wie aus Stein. „Er beherrschte die Luftwaffe Panafrikas – er und dieser schielende Arbeitsminister. Ich hätte mich nie mit ihm einlassen sollen.“ „Professor Konstantin – was bedeutet das?“ „Rufen Sie Olaf Holm herbei!“ * Drei Stunden später steigt Olaf Holm aus der Maschine. Er kommt aus der Hölle, und man sieht es ihm an. In Thule haben sie die Gewalt wieder an sich gerissen. Der spanische General kannte keine Gnade. Er legte eine Kette um das südliche Sperrgebiet, ließ die Frauen und Kinder aus der Wohnsiedlung fortbringen und gab den Angreifern, die sich eingeigelt hatten, noch zehn Minuten. Als die zehn Minuten um waren, ließ er durch drei tieffliegende Hubschrauber einen radioaktiven Strahlenschirm über die Igelstellung legen. Eine harte Maßnahme, aber sie schonte wenigstens die noch unversehrten Anlagen der Forschungsstadt. Nur achtzehn wurden gefangengenommen. Unter ihnen vier Europäer. Sie mußten ins Spital gebracht werden. Olaf Holm sieht noch ihre grauen Gesichter, in denen die Er69
kenntnis stand, verraten und verkauft worden zu sein. Er vergißt sie aber rasch, als er über das Flugfeld zu seinem Wagen geht. Eine unübersehbare Menschenmenge erwartet ihn, eine dunkle, wogende Masse, aus der Tausende von Augenpaaren neugierig und angstvoll auf den Jungen starren, der aus Thule kommt. Sein Wagen fährt langsam durch diese untergründige Erregung, hinter der das Furchtbarste lauert, das die Weltregierung jetzt noch treffen kann: Die Panik. * „Ihre Erklärung, Professor!“ Konstantin ist der einzige, der steht. Die anderen sitzen, und es ist, als duckten sie sich vor dem, was jetzt kommen muß. Olaf Holm trinkt hastig, was vor ihm steht, und als sein Glas leer ist, schenkt ihm van Kleffers wortlos wieder ein. Brita, denkt Olaf Holm verzweifelt, Brita, wenn ihr doch recht hättet … „Ich wollte mit den Kranken von der Venus experimentieren.“ Nielsen-Bor steht auf und geht hinaus. Er kann nicht mehr. Der Professor sieht ihm mit traurigem Lächeln nach. „Sie verabscheuen mich, aber ich kann es nicht ändern. Alle werden sie mich verabscheuen – auch Olaf, und das tut weh …“ Olaf erwidert seinen Blick nicht. „Ich konnte nicht anders. Der Wunsch, Menschen nach meinem Willen zu formen und mit ihnen das Gemeinschaftsleben nach meinen Vorstellungen zu ändern, wurde zum Dämon meines Lebens. Dr. Aalson wußte davon und versuchte, es mir auszureden. Er erreichte nur, daß ich meine Versuche aufgab, doch der Wunsch blieb.“ Der Fernseher neben dem Schreibtisch summt auf. Van Kleffers stellt ihn ab und winkt dem Gelehrten zu, weiterzureden. Nichts soll sie in dieser furchtbaren Stunde stören. 70
„Der Wunsch blieb! Es gab verschiedene Leute auf der Erde, die von meiner Liebhaberei wußten. Zu ihnen gehörte Oberst Narro von der panafrikanischen Luftwaffe. Er war der Sohn eines angesehenen Wissenschaftlers, den ich von der Universität her kannte. Narro kam vor einem Jahr zu mir und schlug mir vor, Seuchenkranke von der Venus kommen zu lassen, deren Willen ausgeschaltet sei und mit denen man vielleicht erreichen könnte, was ich einst mit synthetischen Menschen anstreben wollte.“ „Kranke von der Venus?“ fragt der Weltpräsident, vom Ekel geschüttelt. Der Professor nickt. Sein Gesicht verschwimmt im Halbdunkel, das sich jenseits des Lichtkreises der Tischlampe ausbreitet. Als Olaf Holm aufsieht, erschrickt er bis ins Herz. Faust, denkt er, Faust, dem Bösen verfallen … „Kranke von der Venus! Ich konnte nicht nein sagen! Narro kannte den Schefarzt eines medizinischen Instituts der Venuskolonien, einen Dr. Levant, der mit demselben Gedanken spielte wie ich und an solchen Experimenten auf der Erde interessiert sein sollte. Im vorigen August traf ein Raumschiff mit fünf dieser bedauernswerten Geschöpfe ein. Ich brachte sie in einem einsamen Haus an der grönländischen Ostküste unter.“ „Wußte Dr. Aalson davon?“ „Er hätte mich davongejagt, Präsident!“ Olaf läßt den Kopf auf die geballten Fäuste fallen und stöhnt auf. „Ich untersuchte sie und stellte fest, daß man ihnen vielleicht helfen könnt.. Aber ich wollte ihnen ja noch nicht helfen. Ich wollte mit ihnen experimentieren. Narro war dabei. Ich haßte diesen vitalen Urmenschen bald und erkannte, daß er seine eigenen Pläne spann. Durch einen meiner Verbindungsleute erfuhr ich auch, daß Narro innerhalb der panafrikanischen Luftwaffe eine Geheimtruppe aufstellte, mit der er Thule erobern wollte. Ich stellte Narro zur Rede. Er beschwor mich, so etwas nicht zu glauben.“ 71
„Der Mann also stand hinter den Angriffen.“ „Narro stand dahinter, sonst niemand“, beteuert der Professor hastig, wird aber gleich wieder so ruhig wie zuvor. „Narro wollte die Herrschaft an sich reißen. Ich ahnte nicht, daß er weitere Transporte kommen ließ. Er verstand es, diese Kreaturen zu lenken, wie ich – und er war ein Narr, wie ich …“ „Eine Zwischenfrage!“ sagt der Weltpräsident kalt. „Stammten die Kranken aus den Strafanstalten der Venus?“ „Ja! Ausschließlich! Ich bedauere es, doch es ist so!“ Er fährt sich mit der Hand über die Stirn. „Ich weiß, ich bin schuldig, schuldig! Ich hatte Dr. Levant versprechen müssen, ihm – verzeihen Sie, meine Herren – es fällt mir schwer …“ „Die Wahrheit ist“, sagt der Professor mit selbstquälerischer Gelassenheit, „daß ich Dr. Levant die Erde ausliefern mußte.“ „Die Erde?“ fragt van Kleffers leise, und dann begreift er die ganze Tragweite dieser Worte, und sie springen auf, beide, und packen ihn und dringen in ihn. „Professor, Sie lügen, Sie lügen …“ „Meine Herren, in einer solchen Stunde lügt man nicht mehr!“ „Dr. Levant ist …“ „Er ist mit seinen kranken Verbrechern, die ihm Untertan sind, auf Spitzbergen gelandet und hat es besetzt. Wahrscheinlich wissen die Menschen nicht, was er von ihnen will. Es ist ausschließlich meine Schuld, daß einer den Weg zur Erde fand, der sie haßt und …“ Olaf Holm droht in einem Taumel von Abscheu und Mitgefühl den Verstand zu verlieren. Van Kleffers ist härter. Er weiß plötzlich, was jetzt kommen wird, und sagt rauh und überlaut: „… vernichten will?“ Der Professor atmet erleichtert auf. „Ja! Narro, der Narr, wollte sie beherrschen. Dr. Levant will sie und die Menschheit ausrotten, so oder so.“ 72
Olaf Holm wendet sich ab. Er denkt jetzt nur an Brita und an das AX, das in 28 Tagen explodieren wird und auch sie in den Untergang hineinreißen wird, sie und das ganze große Werk, das soviel Leben spenden sollte. Olaf vernimmt nur noch undeutlich und wie von weit weg, daß der Weltpräsident den Professor anschreit. „Das ist doch alles Wahnsinn! Da kann doch nicht einfach einer kommen, eine Inselgruppe am Rande der Zivilisation besetzen und von ihr aus die Erde ausrotten wollen …“ „Er sitzt am Schaltbrett, Präsident!“ „Kennen Sie Dr. Levant?“ „Er besuchte mich einmal an der grönländischen Ostküste. Einmal. Ende Oktober. Ich konnte mich nur eine Stunde mit ihm unterhalten und wurde aus ihm nicht klug. Ich erfaßte nur, daß er die Erde und die Menschheit haßt, weil man seinen Vorfahren aus politischen Gründen hier einst ein großes Unrecht zugefügt haben soll. Ich will ehrlich sein: ich nahm ihn nicht ernst, auch nicht, als er mir sagte, er werde die Erde mit dem AX vernichten, es sei denn, ich persönlich überbringe ihm die Unterwerfung der Menschheit.“ Van Kleffers’ Hände packen den Mann fester. „Dann gibt es doch noch eine Hoffnung, Professor! Sie müssen nach Spitzbergen!“ „Dr. Levant ist ein Wahnsinniger! Wollen Sie ihm die Erde ausliefern?“ „Nach dem 15. April wird man ihn überwältigen können!“ „Präsident – er will diese furchtbare Seuche gewaltsam über die ganze Menschheit bringen!“ Van Kleffers schaudert, doch seine Fäuste lassen den anderen nicht los. „Wir bekämen einen Aufschub, Konstantin – wir – die Menschheit wäre zunächst einmal gerettet.“ „So geht es nicht!“ 73
* „Kann ich Ihnen noch helfen, Doktor?“ Dr. Henderson schüttelt den Kopf und trocknet sich die Hände ab. Langsam und umständlich. Seine Augen sind auf den Bildschirm seines Empfängers gerichtet, und was er sieht, ist furchtbar genug. Panik in New York! Weshalb es ausgerechnet in dieser Riesenstadt der lebenstüchtigen Superrealisten zuerst losbricht, wird sich später nie ergründen lassen. Vielleicht macht es sogar der Superrealismus. Die New Yorker wollen leben. Sonst nichts. Sie glauben einfach nicht mehr, daß es gegen diese unheimlichen Bezwinger des Nordens noch eine Waffe gibt. Sie glauben nichts mehr. Auch nicht den schönen Worten, die ihnen ein Geistlicher mit reichlich viel Pathos und im Auftrage der Weltregierung von einem in der tobenden Menge gelandeten Hubschrauber aus entgegenschleudert. Als er davon zu sprechen beginnt, daß man sich den heidnischen Dämonen von Spitzbergen nicht unterwerfen dürfe, ist es aus. Sie reißen ihn von seiner Maschine herunter. Sie fallen über ihn her. Rücksichtsvoll schaltet der Arzt ab und wendet sich an Brita, die zitternd neben ihm steht. * Dr. Henderson fährt Brita in die Wohnsiedlung. Der Tag ist von der Ahnung des nahenden Frühlings verzaubert, und hoch über ihnen kreisen große Vögel. Sie kreisen über einem Thule, in dem die noch möglichen Arbeiten gewissenhaft und doch mit dem niederträchtigen Empfinden getan werden, daß alles umsonst sei … 74
Als Brita ihre Wohnung betritt, kommt ihr plötzlich einer von den gefangenen „Narro-Leuten“ entgegen. Einer, der völlig niedergeschmettert zu sein scheint, und den sie so gut kennt, daß sie sich an der Wand festhalten muß. „Tage!“ ruft sie fassungslos. „Tage! Woher kommst du?“ Dann liegen sie sich in den Armen. Sie kann einfach nicht begreifen, daß er die panafrikanische Uniform trägt, und sagt nur immer wieder: „Tage, Tage …“ „Wenn ich gewußt hätte, daß du hier bist, hätte ich die Finger davon gelassen! Brita, wenn ich das gewußt hätte! Ich meinte es gut …“ „Du bist doch ein Träumer!“ „Nein, Brita, nein! Sie wollen die Natur schänden!“ „Nicht schänden“, sagt sie sehr ernst und noch ganz atemlos. „Das will niemand in Thule. Höchstens deine – deine –“ „Meine Obergangster“, lächelt er bitter. „Ja, ich war in eine feine Gesellschaft geraten, ich und Gunnar und die anderen.“ „Ja, Tage.“ „Was soll ich nur tun?“ * Der Professor kehrt nach Thule zurück. Als Geächteter und Gefangener. Wer spricht noch mit ihm? Fast keiner mehr. Wer will noch etwas mit ihm zu tun haben? Nicht der kleinste Laborgehilfe. Schaudernd wenden sie sich ab, wenn er durch die Räume geht. Er geht nie allein. Zwei Offiziere der Weltpolizei begleiten ihn auf Schritt und Tritt. Er tut so gelassen wie vor seinem Geständnis und wechselt mit. ihnen freundliche Worte. Sie sind die einzigen, die noch mit ihm sprechen – sie und Olaf Holm. 75
Konstantin schließt in diesen Tagen mit allem ab. Er will nur noch eines: gutmachen. * „Sie wollen Unmögliches wagen, Herr Minister!“ Der panafrikanische Kriegsminister ist nach Melbourne gekommen. Eine rasende Menge hat ihn mit Pfiffen und Steinen empfangen. Man hat Panafrikaner am Fallschirm über Thule gesehen. Man haßt sie. Der Minister ist sehr ernst. „Geben Sie uns diese Chance, Präsident!“ „Sie gefährden nicht nur Ihre Leute.“ „Es sind Freiwillige, Präsident“, sagt der Panafrikaner ruhig und fügt rasch und etwas verlegen hinzu: „Freiwillige, die auf der richtigen Seite stehen.“ Van Kleffers sieht seinen Militärschef an. Der tritt mit den Herren an eine große Karte. „Ich wüßte wirklich nicht, wie man an Spitzbergen herankommen könnte, ohne daß Levant etwas merkt.“ „Wir haben ein amphibisches Unternehmen vorbereitet.“ „Ihr guter Wille in Ehren, Herr Minister, aber Ihre Soldaten sind keine Nordländer. Sie müßten durch Eis und immer nur durch Eis! Außerdem haben wir alles schon durchdacht. Es geht nicht.“ „Auch nicht mit Seglern, die wir vom Eis aus hochlassen?“ Der Militärschef wirft ihm einen raschen Blick zu, der eine karge Anerkennung verrät, und meint: „Es kommt schließlich nicht darauf an, daß die Erde einige Tage früher in Atome zerfetzt wird. Wenn Sie genug Selbstmordkandidaten haben, könnte man es immerhin versuchen.“ „Präsident?“ Van Kleffers schüttelt den Kopf. Es geht nicht. Levants Reaktion könnte die frühzeitige Entzündung der AX Massen sein. Dann sagt er aber doch: „Ich bin einverstanden.“ 76
* „Welch eine Unvernunft!“ Professor Konstantin fährt zusammen, als ihn die Nachricht davon erreicht. Er winkt seinen beiden Bewachern, und sie gehen zu Olaf Holm, der in seinem Arbeitszimmer mit Teddy Brown und einem blassen, stillen Mann vor einer langen Zahlenkarte steht. Teddy Brown verläßt ostentativ das Zimmer. Der Professor erduldet schweigend die Schmähung und geht auf Holm zu. „Können Sie noch Kontrollwerte aus dem König-WilhelmLand aufnehmen?“ „Unregelmäßig und nur über unseren Behelfsapparat“, sagt Holm und zwingt sich, dem Professor gegenüber Distanz zu wahren, was ihm aber nicht recht gelingt. „Es scheint alles zu verlaufen, wie es vorauszusehen war …“ Der Professor prüft flüchtig die Tafel und nickt. „Ja! Das AX wird euch vor dem 15. April – wenigstens von sich aus – keine Überraschungen bereiten. Die Werte sind normal.“ – Euch! Er selber rechnet sich nicht mehr dazu. „Bringen Sie Neuigkeiten, Professor?“ „Die Panafrikaner unternehmen einen völlig sinnlosen Versuch“, lächelt der Professor ironisch und reicht dem Blassen gedankenlos die Hand, ohne sich vorzustellen. „Mit Segelflugzeugen! Die armen Kerle! Sie wollen mit Amphibiengleitern über das Eis bis auf 100 Meilen an die Südküste herankommen und dann mit Segelflugzeugen über Levant herfallen. Sie fliegen in den Tod!“ Nun erst scheint er den Fremden richtig wahrzunehmen. „Einer von den Narro-Leuten, wie?“ „Tage Hansen“, verneigt sich der Blasse knapp. „Einer der hoffnungslosesten Träumer.“ „Ja! Ja!“ 77
Olaf Holm rennt auf und ab. „Ich halte das einfach nicht länger aus! Noch 16 Tage! Ich denke nicht daran, hier wie ein gelähmtes Kaninchen zu warten, bis es Herrn Levant gefällt …“ „Olaf – es gibt einen Ausweg!“ Der Professor legt ein paar engbeschriebene Notizzettel auf den Tisch, und sie kommen alle heran – Olaf Holm, Tage Hansen und die beiden Offiziere der Weltpolizei. Sie drängen an den Tisch, und es ist, als hielten sie den Atem an, so still wird es. Der Professor aber wendet sich nur an Olaf Holm. In dieser Geste liegt viel: die Übergabe eines großen Werkes in die Hand eines Jungen, der rein ist von jeder dämonischen Besessenheit. „Levant wird mich rufen.“ „Rechnen Sie fest damit?“ „Es wird dieser Tage geschehen. Spitzbergen wird sich wieder melden, nehme ich an, sowie Dr. Levant der Menschheit die Vernichtung der panafrikanischen Truppe vorsetzen kann.“ „Und dann?“ „Ich soll ihm die offizielle Unterwerfung der Weltregierung überbringen. Ich werde es tun!“ Olaf Holm stürzt in den Strudel einer grenzenlosen Enttäuschung. Er wendet sich scharf dem Professor zu. „Das ist der einzige Ausweg?“ „Ich denke nicht an eine Unterwerfung“, wehrt Konstantin gelassen ab. „Ich werde versuchen, Levant festzunehmen.“ „Glauben Sie, daß es gelingt?“ „Ich will Ihnen nichts vormachen, Olaf. Die Chancen sind gering! Wahrscheinlich ist, daß Dr. Levant, unterstützt von seinen willenlosen Verbrechern, schneller reagieren wird als ich. Wenn ich Glück habe, werde ich ihn in den Tod mitnehmen können, sonst …“ Das Schweigen steht schwer zwischen ihnen. „Aber man muß es wagen!“ 78
„Wie haben Sie sich die Durchführung gedacht?“ „Ich fliege mit einer unserer Maschinen und mit einem Begleiter. Das wird Levant fordern, und daran müssen wir uns halten, weil er die Maschine auf seinen Fernsehern haben wird, bevor sie die spitzbergische Küste erreicht hat. Ich werde mich dann melden …“ „Ich fliege mit!“ „Sie bleiben hier“, sagt der Professor energisch und bestimmt. „Ich werde auch dann versuchen, mich zu melden, wenn Levant mich zwingen sollte, für ihn das AX während der Explosion zu steuern. Dann werden sich die Menschen nach dem 15. April mit ihm auseinandersetzen müssen, aber es wird furchtbar für sie sein …“ „Und wenn von Ihnen keine Meldung eingeht?“ Konstantin reicht Olaf Holm die Notizzettel Keiner der beiden WP-Offiziere hindert ihn daran. „Dann müssen Sie am Abend des 14. mit einer starken Expedition starten, um Spitzbergen trotz allem noch zu besetzen. Das wird am Untergang nichts mehr ändern, aber es ist immer noch besser, als wenn die Menschheit in ihren letzten Stunden untätig bliebe. Ich werde dann nicht mehr leben. Mein Begleiter wohl auch nicht.“ „Wer soll mit?“ „Ich“, sagt Tage Hansen mit ruhiger Stimme. „Ich fliege den Professor. Man. wird mich doch aburteilen. Es kommt für mich nicht darauf an …“ Der Professor betrachtet sich ihn prüfend. „Junge, Sie werden mit größter Wahrscheinlichkeit nicht zurückkehren!“ „Ich rechne damit!“ Holms Schläfen klopfen und schmerzen. *
79
Gegen 18 Uhr meldet sich der Teufelssender. „Eine angreifende amphibische Truppe, bestehend aus Panafrikanern, wurde heute von mir vernichtet, bevor sie die Küste Spitzbergens erreichte“, teilt eine sachliche Stimme mit, die nichts Unheimliches an sich hat und so tut, als gebe sie irgendeine Tagesnachricht durch. Was sie dann aber sagt, ist fürchterlich. „Dr. Levant fordert die Weltregierung auf, derartige Aktionen zu unterlassen. Sie würden die vorzeitige Vernichtung der gesamten Menschheit zur Folge haben. Er fordert alle Völker auf, sich ihm zu unterwerfen. Er erwartet den Gelehrten Konstantin.“ Die Weltregierung ist für eine Stunde wie gelähmt. Das ist die Aufforderung zur Übergabe! Wird die Öffentlichkeit sie steinigen? Van Kleffers ist entschlossen, hart durchzugreifen, aber kann das eine Regierung noch, die selber ratlos ist und nicht mehr weiß, was sie soll? Die nur noch eines kann: Professor Konstantin nach Spitzbergen schicken. * Die Öffentlichkeit steinigt sie nicht. Sie gibt sich keinen Illusionen mehr hin. Die Panik in New York war ein Einzelfall. Sie fiebert nach einer Erlösung aus dieser wochenlangen Qual und nach einem Retter, aber sie weiß: der Mann auf Spitzbergen hält die Hand am Knopf, und wenn er niederdrückt, ist es aus. Das ist die harte Wahrheit! Sie atmet daher auf, als am 5. April die Weltregierung offiziell bekanntgibt, Professor Konstantin werde zu „Herrn Dr. Levant“ fliegen. Zu Herrn Dr. Levant! Wenn es sein muß, redet man auch den Teufel so förmlich an. Es ist eine tolle Situation … Insgeheim geschieht aber mehr: 80
Die Weltregierung ist entschlossen, wenigstens in den entscheidenden Stunden vor der großen AX-Explosion noch einmal alles zu wagen. Fünf starke Kampfgeschwader stehen in Europa und Nordamerika bereit. Sollte Konstantin den unbekannten Teufel von der Venus bezwingen, werden sie starten. Mit ihnen werden drei Staffeln der Weltgesundheitsbehörde fliegen, um sich der Geistermenschen anzunehmen, die dann hilflos sein werden. Der Einsatz soll allerdings auch erfolgen, wenn Konstantin sich nicht wieder meldet. Das Schicksal eines Planeten liegt auf der Waage. Und seine Bewohner? Sie beten! Oder sie tanzen! * Im „Tahiti“ finden keine Gottesdienste statt. Das ist schon immer so gewesen, und keinem in ganz Kopenhagen, der ein frommes Gemüt hat, wird es einfallen, diesen hocheleganten Bumsladen zu besuchen. Heute allerdings sieht man auch Gesichter, die sonst hier fremd sind. Heute – am 13. April 2008! Warum soll man nicht noch einmal in diesem Sündentempel tanzen? Oh, Herr Ministerialrat sind auch hier? Was Neues von der hohen Weltregierung, die uns in ihrer unendlichen Weisheit diese frohen Wochen bescherte? Na, die armen Kerle sind zu bedauern! Schließlich ist es nicht ihre Schuld! Wie bitte? Der Weltpräsident kommt nach Kopenhagen, um von hier aus zu verfolgen, wie Thule in seiner Geburtsstunde stirbt? Soll er kommen! Fünf tolle Musikgirls hämmern den Rhythmus des Wahnsinns. „Haben Sie sich für die historischen Stunden schon etwas vorgenommen, gnädige Frau?“ 81
„Was soll man sich noch vornehmen?“ lacht es aus schimmernden Zahnreihen. „Wir haben nur noch reichlich 24 Stunden zu leben, also …“ „Tanzen wir – oh was –?“ Der lässige Kavalier packt seine Dame, reißt sie brutal an sich und starrt mit Augen, in denen ein Meer von Entsetzen brodelt, auf die gläserne Schwenktür. Er ist nicht der einzige. Die rasenden Musikgirls sind plötzlich still und stumm, sie kommen wie gebannt von ihren Stühlen hoch und starren … Dann schreit eine auf. Die Geistermenschen sind da. Um 23 Uhr an diesem frühlingswarmen 13. April fallen sie über Kopenhagen her. Niemand weiß, woher sie kommen. Dr. Levant schlägt zu. Sie stehen an der Schwenktür, und ihre traurigen Gesichter sind ohne Leben. Minutenlang stehen sie so. Dann gehen sie langsam auf die Tanzfläche. Schweigen! Und in diesem keuchenden, stöhnenden, betenden, fluchenden Schweigen weichen sie langsam vor ihnen zurück, die Lässigen, die Angeber. Nur einer nicht. Ein Arzt. Er weiß, was es mit ihnen auf sich hat und mit Dr. Levant, und eine grenzenlose Wut schüttelt ihn so sehr, daß er auf sie zugeht und sie anschreit. „Kommt doch zu euch!“ Sie schlagen ihn nieder. * Die Maschine geht auf Kurs Nord-Ost. Aufmerksam verfolgen verschiedene Kontrollpunkte auf Island und in Norwegen ihren Flug. Als gegen 18 Uhr Weltpräsident van Kleffers in Kopenhagen eintrifft, wartet man bereits auf Konstantins erste Nachricht von Spitzbergen. Fieberhaft wartet man. 82
Der Weltpräsident empfängt sofort einen Mann, dem er die Hand besonders herzlich schütteln möchte. Redakteur Jörgensen vom „Dansk Avis“ genießt diese Auszeichnung mit Würde, macht aber doch einen recht bekümmerten Eindruck. „Kopenhagen ist ein unsicherer Boden, Präsident!“ „Hatten auch Sie eine Begegnung mit den Geistermenschen?“ „Ich nicht“, atmet Jörgensen schwer, „aber heute morgen haben sie meinen Fahrer umgebracht.“ Van Kleffers führt ihn zu einem Sessel. „Dieser Levant ist ein Teufel, der willenlose Menschen zu seinen Robotern macht und ihre kriminellen Instinkte mißbraucht.“ „Das ist entsetzlich, Präsident“, schüttelt sich der Zeitungsmann. „Die Polizei ist machtlos. Sie kann mit diesen scheußlichen Masken nur fertig werden, wenn sie sie Mann gegen Mann erledigt, und sie zieht dabei meistens den kürzeren. Gegen Strahlen und Feuerwaffen sind sie immun. Es ist entsetzlich. Vierzehn Polizisten haben bereits ihr Leben lassen müssen.“ Nielsen-Bor tritt ein. Er ist in der Stadt gewesen, die jetzt in die letzte Dämmerung vor der großen Explosion taucht. Sie wird nicht schlafen in dieser Nacht. Wer wird schon schlafen … „Noch keine Nachricht, Präsident!“ Der Weltpräsident sieht auf die Uhr. „Sie sind jetzt drei Stunden unterwegs.“ Nielsen-Bor winkt ab, schenkt ein und reicht ihnen die Gläser. Sein Herz hämmert dumpf und ahnungsschwer. Auch der Weltpräsident weiß genug. Er hebt sein Glas. „Solange noch ein Funken Leben auf unserem schönen Planeten ist, wollen wir die Hoffnung nicht völlig aufgeben, meine Herren.“ Jörgensen schluckt gierig, ohne daß er eigentlich weiß, was er trinkt. Vor seinen Augen verschwimmt alles. Das kommt nicht vom Alkohol. Das ist Angst, Jörgensen, einfach Angst! „Glauben Sie – daß wir – diese Nacht – nicht überleben werden?“ 83
„Noch ist es nicht 2 Uhr“, lächelt Nielsen-Bor. „Ich hätte gern von Ihnen eine Frage beantwortet“, sagt der Weltpräsident und stellt sein Glas hin. „Ganz unter uns: Arbeiteten Sie mit dem panafrikanischen Geheimdienst zusammen – ich meine mit dem der legalen Zentralregierung?“ „Nicht direkt, Präsident. Wir wußten nur, daß Panafrika diesem Projekt mißtrauisch gegenüberstand, und nahmen durch Dr. Ugando Verbindung mit diesem Staat auf. Zu einer Zusammenarbeit kam es jedoch nicht, da Dr. Ugando …“ „Er wurde von Narros Leuten ermordet.“ „Das habe ich mir gedacht. Und Konstantin?“ „Für ihn gibt es keine Hoffnung und keine Gnade mehr“, sagt van Kleffers hart. „Ein Mensch, der mit offenen Augen in den Abgrund der Unmenschlichkeit gerät, kommt darin um. Auch, wenn er einen Teil seiner Schuld bereits wiedergutmachen konnte.“ Jörgensen sieht gespannt auf. Nielsen-Bor steht auf und verabschiedet sich. Er findet keine Ruhe. „Konnte er das, Präsident?“ „Er hat ein Mittel gegen die Seuche gefunden.“ * Keine Nachricht! Olaf Holm will jetzt allein sein. Er weiß, was das bedeutet! Konstantin lebt nicht mehr. Tage wahrscheinlich auch nicht. Sorgfältig schließt er die Tür hinter sich. Olaf geht an ein Fenster und öffnet es. Vom Norden her, von den eisigen Gewässern der Arktis, droht eine schwarze Wetterfront, die wie der Urschlund der Hölle über die Tundra herankommt. Hier wird der Mann oft gestanden haben, dessen Blut er in seinen Adern trägt, dessen Sehnsucht nach einer großen, schönen Menschenwelt er kennenlernte … 84
„Onkel Peer!“ sagt Olaf laut und klar. Er ist jetzt allein mit ihm, mit diesem Onkel Peer. Die nächsten Stunden sollen das Wunder vollbringen, das ein neues Jahrtausend aufblühen läßt. Aber der Tod ist jetzt näher als das Leben. Olaf Holm stemmt sich mit den Armen auf und atmet tief, tief die reine Abendluft ein. Wenn alles so verliefe, wie es vorgesehen ist? Wenn in der zweiten Morgenstunde die Eisgiganten im König-Wilhelm-Land von der AX-Explosion zerfetzt und zum Kalben gebracht werden? Dann wird man durch Geschwader von Spezialhubschraubern die abgesprengten Eismassen in den Atlantik hineindirigieren und so die See um Grönland freibekommen für die Explosion der zweiten Sprenggruppe, die in zwanzig Tagen erfolgen soll. Zwei Jahre lang wird die Menschheit große Unannehmlichkeiten hinnehmen müssen. Panafrika wird einen Winter erleben wie noch nie in seiner Geschichte. Europa wird auf zwei Sommer verzichten müssen. Die Temperatur wird unter den Gefrierpunkt fallen, wenn der Golfstrom die abgesprengten Eisfelder schlucken muß. Die Unannehmlichkeiten werden sich bezahlt machen. Olaf Holm hört wieder, was sein Onkel einmal sagte: „In zwanzig Jahren wird niemand mehr an diese Zeit der Umwälzung zurückdenken. Der Mensch gewöhnt sich schnell an das Neue. Dem Europäer wird es dann schon nichts mehr Neues sein, in Skandinavien unter Palmen wandeln zu können. Auch an Thule wird er sich bereits gewöhnt haben. Auf Grönland werden wir große Städte gründen, um die das Leben eines neuen Kontinents kreisen wird. Die armen Menschen 85
von der Venus, die so viel erleiden müssen, werden hier eine neue Kultur gegründet haben …“ Olaf Holm sieht ihn noch, wie er das sagte und sich dann plötzlich umdrehte und ihm, dem kleinen, unbekannten Neuling, auf die Schulter klopfte. „Haben Sie das gehört, Holm?“ Nun versteht er seinen Onkel erst ganz. Er soll sein Werk weiterführen. Thule, du weites Land der Zukunft … Wird es diese Zukunft noch geben? In einigen Stunden soll die Menschheit nicht mehr leben. Dr. Levant, der Teufel auf Spitzbergen, will es so. Der Teufel, den ein unseliger Gelehrter rief, ohne daß er es wollte. Nicht mehr leben? Olaf Holm gibt sich keinen Träumen hin. Es besteht kaum noch eine Aussicht. Aber eine letzte Chance muß das Schicksal der Menschheit doch geben! * Sie sind unterwegs. Das letzte Aufgebot der Menschheit vor der Stunde des großen Todes. Konstantin lebt nicht mehr. Wird die Menschheit noch leben? Sie sind unterwegs. Olaf Holm mit drei schweren Atomjägern von Thule aus. Heulende Kampfverbände hinter ihm über dem Europäischen Nordmeer. Die Amerikaner noch etwas weiter zurück über der Dänemark-Straße. 22 Uhr. In einem norwegischen Kontrollpunkt aber um 22.10 Uhr ein Aufschrei. „Spitzbergen meldet sich – Spitzbergen …“ Aus dem Empfänger ein undeutliches Gewirr von Sprachfetzen. „Dr. Levant ist – ist –“ Sie rufen Holm an. 86
* In Holms Maschine hören sie es bereits. „Mein Gott“, preßt Teddy Brown hervor, „das ist Tage Hansens Stimme!“ „Dr. Levant – ist – tot –“ Zerrissen kommt diese Stimme durch, die immer wieder dieselben Worte in die Welt hinausschreit. Acht Minuten später landen sie am Kap Süd und stoßen in der Nähe des Kommandoturms auf Tage Hansen. Zwei Männer müssen ihn stützen. Er kann kaum sprechen. „… wir landeten, wie vorgesehen, am Kap Süd und wurden von einem dieser Geistermenschen in den Kommandoturm geführt und hinauf in den Kommandostand gefahren. Dort sah ich einen Menschen am Schaltbrett sitzen, den ich nicht beschreiben kann, weil sein glattes Gesicht nur lauernder Hohn war. Es ging alles sehr schnell. Professor Konstantin warf sich ohne weiteres auf den furchtbaren Menschen. Es entstand ein großes Durcheinander unter den etwa zwanzig Geistermenschen, die den Kommandostand füllten. Ich wurde zu Boden gerissen, und man trat mir ins Gesicht, bis ich ohnmächtig wurde. Ich hörte nur noch einen Schrei, und ich hörte auch, daß der Professor ihn ausstieß. Als es wieder hell um mich wurde, war ich allein im Kommandostand. Eine der großen Sichtscheiben war geöffnet. Ich sah hindurch und sah unten auf dem Felsen zwei zerschmetterte Gestalten liegen, vor denen die Geistermenschen hockten, die ohne Levant völlig hilflos waren.“ * Als um 0.30 Uhr am 15. April Weltpräsident van Kleffers auf Spitzbergen eintrifft und Tage Hansen sehr ernst und still die 87
Hand reicht, hat er sich wieder etwas erholt und kann genau verfolgen, was nun kommt. Van Kleffers überreicht Holm ein Schriftstück. „Herr Holm, die Weltregierung ernennt Sie offiziell zum Verantwortlichen für die Durchführung des Thule-Projekts und Herrn Brown zu Ihrem Stellvertreter! Meine Herren, werden Sie es in dieser Nacht schaffen?“ Olaf und Teddy sehen sich an. „Die Schaltapparatur ist intakt“, nickt Olaf Holm, und er ist wieder ganz ruhig und sachlich, als hätte es nie diese Stunden zwischen Leben und Tod gegeben. „Wir haben alles überprüft. Nach menschlichem Ermessen wird es zu schaffen sein.“ Ein Summton unterbricht ihn. Es ist 1 Uhr, und ganz langsam rücken die Minutenzahlen auf dem Zeitmesser weiter nach rechts. Jetzt hält die ganze Menschheit den Atem an. Dann ist es 1.08 Uhr. In zehn Sekunden wird Thule geboren. Teddy Brown steht neben Olaf Holm. Die beiden gehören zusammen, bis es ein großes Thule geben wird. – Ende –
88
Atomphysik für jedermann 12) Energiequellen der Zukunft Dieser kontrollierbare Verlauf des Kernspaltungsprozesses findet in den sog. Atommeilern oder Uranbrennern statt. Solch ein Meiler besteht im wesentlichen aus einem riesigen Graphitblock, der mit einer Betonwand umkleidet und von Hunderten von waagerechten Bohrungen durchzogen ist. In diese Bohrungen werden die Uranstäbe eingeführt. Der Ablauf der Kettenreaktion erfolgt nun nicht explosionsartig, wie in der Atombombe, sondern allmählich, wie eine langsame Verbrennung; denn durch das Graphit wird die Zerfallsgeschwindigkeit des Urans abgebremst. Mit Hilfe von Cadmiumstäben, die in den Meiler hineinragen, läßt sich der Kernzerfall nach Belieben regulieren. Im Uranbrenner werden nicht allein U-235-Kerne gespalten, sondern es wird auch gewöhnliches U 238 durch Neutronenbeschuß in das künstliche Element Plutonium verwandelt, das wiederum von großer Bedeutung für die Atombombenherstellung ist. Weiterhin werden durch die radioaktiven Strahlungen künstliche radioaktive Isotope verschiedener Elemente gewonnen, die für Chemie, Medizin und Technik benötigt werden. Nicht zuletzt aber werden gewaltige Wärmemengen frei. Die Ableitung der entstehenden Wärmeenergie stellte anfangs eins der schwierigsten Probleme dieses neuen Zweiges der Technik dar. Bald kam man jedoch auf die Idee, die anfallenden Wärmemengen für den Betrieb von Dampfmaschinen und Turbinen nutzbar zu machen. Man hat ausgerechnet, daß 20 Pfund Uran in eine Energiemenge umgewandelt werden könnten, die der Leistung von 26 000 Tonnen Kohle in Kraftwerken entspräche. 89
Eine Anlage, wie diejenige, welche die ersten Atombomben hergestellt hat, wäre imstande, eine Stadt von 50 000 Einwohnern mit Fernheizung zu versorgen. Darüber hinaus hat man daran gedacht, die Wärmeenergie für die Verhüttung von Erzen nutzbar zu machen. Die Erze würden dabei verdampft, und das Metall in reiner Form durch Kondensation gewonnen. In unseren Tagen sind es leider in erster Linie die kriegerischen Anwendungsmöglichkeiten der Atomenergie, die im Vordergrund des Interesses stehen und wie ein Alpdruck auf der gesamten Menschheit lasten. Doch schon zeichnen sich daneben andere, nutzbringende Möglichkeiten ab. Vielleicht wird die Kernspaltung eines Tages die zur Erhaltung der menschlichen Zivilisation nötigen Energien liefern, wenn unsere heutigen Energiespender – Kohle und Erdöl – aufgebraucht sind. – Ende –
UTOPIA-Kleinband – Jim Parkers Abenteuer im Weltraum Copyright by Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden). Mitglied des Verbandes deutscher Zeitschriftenverleger e. V. – Herausgeber und Verleger, sowie Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden). Alleinauslieferung für Österreich: Eduard Verbik, Salzburg, Gaswerkgasse 7. Gewerbsmäßige Weiterverbreitung dieses Heftes in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers zulässig. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zum Schadenersatz. – Scan by Brrazo 10/2010
90
Sie lesen im nächsten (45.) UTOPIA -Kleinband:
Roboter-Augen von Cecil V. Freed Landung auf dem Mars! Traum aller Raumschiffer – doch nur wenigen Männern in der Pionierzeit der Weltall-Eroberung möglich. Eine Forschergruppe rüstete daher das Raketenfahrzeug „Human World“ mit Super-Fernseh-Kameras aus, konstruierte Hochleistungs-Übertragungsanlagen und vermittelte die aufgenommenen Bilder durch den Raum und über eine TerraSatelliten-Station den Bewohnern der Erde. Damit nimmt die Erdbevölkerung gleichsam an der Mars-“Eroberung“ teil.
Landung auf dem Mars! Menschliches Leben auf dem Nachbarplaneten der Erde – doch was für Menschen! Nachdem die Erdbevölkerung mehrere Expeditionsschiffe samt ihren Besatzungen auf dem Mars verloren hatte, war in Kapitän DuMario ein besonders vorsichtiger Mann auf den roten Planeten geschickt worden. Und der benutzte einen TelevisionsRoboter, um ungefährlich Erkundungen einzuleiten. Was „Praesente“ (wie man diesen Roboter nannte) auf dem Mars erlebt, wie man auch ihn für einen Menschen von der Terra hält, das erleben nicht nur Millionen von Fernsehempfängern auf der Erde mit, sondern das erleben vor allem die UTOPIA-Leser in einer Unmittelbarkeit, die den Autor als Meister des Stoffes und der Sprache beweist.
91
UTOPIA-Kleinbände erscheinen vierzehntäglich SCIENCE-FICTION-Zukunftsromane, 48 Seiten, Preis 50 Pf
UTOPIA-Großbände erscheinen monatlich SCIENCE-FICTION in deutscher Sprache, 96 Seiten, 1.– DM Sämtliche bisher erschienenen UTOPIA-Kleinbände (Jim Parkers Abenteuer im Weltraum) von Nr. 1–43 und UTOPIAGroßbände SCIENCE-FICTION in deutscher Sprache Nr. 1–21 sind beim Verlag noch vorrätig. Sollten Sie die gewünschten Nummern durch Ihren Zeitschriftenhändler nicht beziehen können, dann wenden Sie sich bitte direkt (verwenden Sie hierfür bitte den umseitigen Bestellzettel) an den Verlag Erich Pabel. Rastatt (Baden).
92