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Roy Palmer 1.
Ein geschnitzter Drachenkopf ragte vom Bug des schlanken hölzernen Schiffes auf. Das Maul...
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Seewölfe 189 1
Roy Palmer 1.
Ein geschnitzter Drachenkopf ragte vom Bug des schlanken hölzernen Schiffes auf. Das Maul des Ungeheuers war weit geöffnet und schien jeden Augenblick einen Feuerhauch in die weiße Uferlandschaft speien zu wollen, der Eis und Schnee zum Schmelzen brachte. Fast lautlos glitt das Schiff dahin und drang in die Bucht ein. Nur seine Langen Riemen verursachten leise, klatschende Geräusche, wenn sie in die eisigen Fluten tauchten und sich wieder daraus hoben. Vereinzelte Eisteppiche dümpelten noch auf den flachen Wellen, doch der harte Panzer, der während der kältesten Monate die gesamte Bucht verschloß, hatte sich jetzt, in der wärmeren Jahreszeit, fast völlig aufgelöst — der Weg zum schneeüberwachsenen Ufer hin war frei. Rauhe Gestalten mit langem Haar und zottigen Bärten hockten auf den Ruderbänken des Schiffes und bewegten die Riemen im Takt, Kerle in dicker Kleidung aus Bärenund Moschusochsenfell mit schweren Helmen aus Bronze und aus Kupfer auf den Häuptern. Sie waren blond, rot- und braunhaarig, und in ihren überwiegend hellen Augen nisteten wilder Mut und Grausamkeit. Ihre Münder waren hart und verkniffen. Sie wechselten kein Wort miteinander. Wild auch die Männer, die vom Bug des Schiffes aus die Uferregion beobachteten: hochgewachsen und verwegen, pelzvermummt, die Gesichter von unzähligen Kämpfen, Abenteuern und Entbehrungen gezeichnet. Ihre groben, schwieligen Fäuste hatten sich an die Waffengurte gelegt, in deren Scheiden große Schwerter und Messer steckten. An ihrer Spitze stand die wohl unheilvollste und furchterregendste Gestalt an Bord dieses rätselhaften Schiffes, ein Mann mit schwarzem, strähnigem Haar und dem kalten Blick tödlicher Entschlossenheit in den dunklen Augen. Er überragte seine wilden Gesellen um gut einen halben Kopf, und diese körperliche
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Überlegenheit und seine Kampfkraft und Gnadenlosigkeit waren die Eigenschaften, die ihn dereinst zum Führer dieses Schiffes und dieser Mannschaft hatten werden lassen. Vierzig bärtige, wildmähnige Männer auf einem Schiff, das nur einen Mast führte und aus sehr weit entfernten Gefilden zu stammen schien — an diesem Morgen unter der Mitternachtssonne. die den Tag nie verblassen ließ, durchquerte es die Bucht in ihrer ganzen Länge und steuerte genau auf die Siedlung aus halbkugelförmigen weißen Schneehäusern zu, die an ihrem Ende lag — ein Igludorf der Eskimos von Thule. * Bilonga, das Eskimomädchen, sah überrascht von ihrer Arbeit auf, als sie den Ruf des Postens vernahm. Er verhieß nichts Gutes, dieser Ruf, und ebenso beunruhigend war der Klang der anderen Männerstimmen, die jetzt draußen, vor den Iglus, ertönten. Bilonga legte ihre Handarbeit weg, eine reich verzierte Fingermaske mit einer prächtigen weißen Mähne, die Nanoq, der Eisbär, geliefert hatte. Bilonga hatte diese Mähne selbst in die Lederumrandung der Maske genäht und war damit beschäftigt gewesen, die weißen Haare mit einem aus Karibuknochen geschnitzten Kamm zu frisieren. Viele Masken wurden um diese Zeit im Igludorf angefertigt, denn wenn die Männer, die am Vortag mit ihren Hundeschlitten zur Jagd aufgebrochen waren, zurückkehrten, sollte das Sommerfest der Schamanen gefeiert werden. Okvik, Häuptling des Stammes und Bilongas Vater, war als Anführer des Jägertrupps mit seinem Hundegespann an der Spitze des zwanzig Schlitten zählenden Zuges unterwegs. Eisbären und Robben wollte er erlegen, um die Fleischvorräte für die Wintermonate zu ergänzen und Felle für neue Kleidung zu besorgen. Nur wenige Männer waren im Dorf zurückgeblieben, um es zu bewachen und
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die Frauen, Kinder und Greise vor jeder Gefahr zu beschützen. Bilonga wußte, daß eine solche Gefahr jetzt in unmittelbarem Verzug war, und deshalb kroch sie durch die Zugangspassage des Iglus ins Freie, um nach dem Rechten zu sehen. Im Windfang der Passage saß die Großmutter. Sie hatte auf enthaarter Robbenhaut gekaut, um sie weich und geschmeidig zu machen, damit aus dem so entstehenden Rohleder Stiefelsohlen zurechtgeschnitten werden konnten. Jetzt aber reckte auch sie ihren Hals, schlug den Fellvorhang des Iglus ein Stück beiseite und spähte halb neugierig, halb ängstlich ins Freie. Bilonga schob sich an ihr vorbei, strebte nach draußen und richtete sich vor dem Eingang auf. Sie erstarrte, als sie sah, warum der Posten den Warnruf ausgestoßen hatte. Ein Schiff, hoch aus dem Wasser aufragend und von einem rot und weiß gestreiften Segel gekrönt, bewegte sich durch die langgestreckte Bucht direkt auf das Dorf zu. Es schob eine Bugwelle vor sich her, und seine Riemen wirkten wie die langen Beine 'eines urweltlichen Ungeheuers. Dieser Eindruck wurde durch den Drachenkopf am Bug noch verstärkt – eine Höllenkreatur, kein Schiff, schien über das Wasser auf die Siedlung zuzukriechen. Am Ufer liefen die jüngeren Männer des Stammes zusammen. Sie riefen durcheinander, gestikulierten und schienen erregt zu beratschlagen, wie sie sich verhalten sollten. Bilonga sah Ipiutak, ihre Mutter, und zwei andere Frauen vom Iglu der Schamanen aus zu den Männern hasten. „Das ist das Schiff des Todes“, sagte die Großmutter hinter Bilongas Rücken. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie aus dem Iglueingang. „Ich habe davon gehört, daß es die südlicheren Küsten heimsucht, es gehen die schaurigsten Geschichten über seine Besatzung und seinen mörderischen Führer um. Ja, das ist das Schiff des Todes.“
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Bilonga spürte, wie die Angst von ihr Besitz ergriff und ihr die Kehle zuschnürte. „Sprich doch nicht so“, stieß sie entsetzt hervor. „Die Männer mit den Bärten“, fuhr die Alte dessen ungeachtet fort. „Sie werden über uns herfallen. Sie werden euch jungen Mädchen Gewalt antun und die Alten töten.“ „Nein!“ „Und doch ist es so. Du wirst es sehen.“ „Aber dann müssen wir etwas tun!“ rief Bilonga aus. „Es gibt nichts zu tun. Wir sind nicht stark genug, um uns zur Wehr zu setzen“, sagte die Alte. „Wir können auch nicht fliehen. Wir können nur geduldig unser Schicksal abwarten.“ „Vielleicht sind sie nur neugierig, diese Männer mit den Bärten“, sagte das Mädchen. „Vielleicht schauen sie sich unser Dorf an und fahren dann wieder fort. Vielleicht wollen sie auch etwas zu essen eintauschen.“ „Sie nehmen sich, was sie brauchen“, murmelte die Alte. Bilonga hätte sie am liebsten angeschrien, sie solle endlich schweigen, doch der Respekt vor dem Alter verbot es ihr. So stand sie nur mit fest geballten Händen da und beobachtete einerseits das Schiff, das immer näher heranglitt, und andererseits ihre Mutter Ipiutak und die anderen Frauen, die bei den Männern angelangt waren und mit ihnen zu debattieren schienen. Ipiutak wandte sich schließlich als erste von den Männern ab und hielt im Laufschritt auf ihre Tochter zu. Die anderen Frauen folgten ihrem Beispiel und kehrten zu den Iglus zurück. „Bilonga!“ rief Ipiutak heftig atmend. „Die Fremden von dem Schiff scheinen nichts Gutes im Schilde zu führen. Wahrscheinlich sind sie Seeräuber.“ „Ich habe es ja gesagt“, murmelte die Großmutter. „Sie sind die Teufel und Dämonen der großen Wasser, die sich das, was sie haben wollen, einfach nehmen.“ „Die Männer versuchen, das Schiff aufzuhalten“, sagte Ipiutak, die jetzt dicht
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vor ihrer Tochter verharrte. „Es ist der einzige Versuch, den sie unternehmen können, um Unheil von unserem Dorf abzuwenden.“ „Sie werden scheitern“, ließ sich die Alte vernehmen. Bilonga legte ihre rechte Hand auf den Arm der Mutter. „Bitte sag ihr, sie soll nicht so reden — bitte.“ „Wir sind zum Sterben verdammt“, sagte die Großmutter. Ipiutak kniete sich neben sie hin und sprach eine Weile auf sie ein. Die Alte beruhigte sich daraufhin ein wenig und beschränkte sich darauf, Unverständliches zu murmeln. Ipiutak berührte kurz das zerknitterte, ledrig wirkende Gesicht mit den Fingern, lächelte der Alten aufmunternd zu und richtete sich wieder auf. Die Greisin war Okviks, nicht ihre Mutter, und doch hatte Ipiutak dank ihrer freundlichen, umgänglichen Wesensart ein sehr gutes Verhältnis zu ihr. Ipiutak trat wieder zu ihrer Tochter Bilonga, und sie verfolgten beide, wie die Männer über die schmalen, wackeligen Anleger in ihre Kajaks kletterten, die Leinen lösten, sich abstießen und zu den Paddeln griffen. Rasch nahmen sie Fahrt auf und hielten mutig auf das große Drachenboot zu. * Die Männer in den insgesamt acht Kajaks hatten nicht einmal Zeit, den bärtigen Fremden etwas zuzurufen und sich nach deren Absichten zu erkundigen. Kaum hatte sie die Distanz, die das Schiff noch von dem Ufer der Bucht trennte, auf etwas mehr als die Hälfte überbrückt, da wurden sie auch schon von einem Pfeilhagel empfangen. Die Pfeile rasten von den Sehnen der Bogenschützen, die auf der vorderen und achteren Plattform des Drachenbootes standen, und fanden mit erschreckender Präzision ihr Ziel. Ihre scharfen Spitzen durchdrangen die Fellkleidung der Eskimos, bohrten sich in die Leiber der aufschreienden Männer und löschten ihr
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Leben mit einem Schlag aus. Vier Krieger ließen die Paddel los, rissen die Arme hoch, sackten auf die Seite und gingen mit ihren kippenden Kajaks unter. Im Dorf gellten die Schreie der Frauen. Die vier anderen, nicht von Pfeilen getroffenen Eskimos hoben mit Wutgebrüll ihre Harpunen und zielten auf das Drachenboot. Für einen Augenblick schienen die Angreifer fasziniert zu sein von der Kunst, mit der die Eskimos, die Harpune in der einen, das Paddel in der anderen Faust, in ihren wackligen Kajaks balancierten. Der Pfeilbeschuß ebbte ab. Die Eskimos schleuderten ihre Harpunen. Es schien dabei ein Wunder zu sein, daß sie mit ihren Kajaks nicht kenterten. Zwei Harpunen bohrten sich mit dumpfem Laut in die Bordwand des fremden Schiffes und blieben darin stecken. Die beiden anderen huschten flach über das Schanzkleid und rissen zwei der Ruderer von ihren Bänken. Die bärtigen Kerle heulten vor Wut auf, als sie ihre Kumpane blutüberströmt zusammenbrechen sahen. Sie schossen Pfeile und Speere auf die vier mutigen Eskimos ab. Der Abstand zwischen den feindlichen Parteien verringerte sich mehr und mehr, und damit wuchs die Chance, den jeweiligen Gegner zu treffen. Ein fünfter Eskimo brach mit gurgelndem Todeslaut in seinem Kajak zusammen. Der Kajak schlug um, sein Besitzer tauchte in die eisigen Fluten der Bucht und ertrank darin. Die drei restlichen Krieger warfen die Reserve-Harpunen; die sie in ihren Kajaks mitführten. Wieder hatten sie zwei Treffer zu verzeichnen: Ein Ruderer des Drachenbootes stürzte, schwer am Hals verletzt, von seinem Sitzplatz. Ein anderer, der auf der vorderen Plattform stand und sich gerade anschickte, einen weiteren Pfeil mit seinem Bogen abzuschießen, sank aufstöhnend neben seinem schwarzhaarigen Anführer zusammen. Die Harpune steckte mitten in seiner Brust und wippte leicht hin und her, als er leblos auf dem Rücken liegen blieb.
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Der Schwarzhaarige schleuderte einen Speer, den er gerade hatte werfen wollen, von sich, griff statt dessen zu einer Muskete, die einer seiner Gefährten ihm reichte, spannte den Hahn, legte auf einen der Kajakfahrer an und drückte ab. Schwer brach der Schuß. Eine weiße Qualmwolke löste sich, stieg in den Himmel und trieb zu den Iglus hinüber. Der Eskimo, dessen Harpune den Bogenschützen getroffen hatte, reckte die Arme auf groteske Weise und verlor die Balance. Er tauchte unter, wie auch die fünf Stammesbrüder vor ihm untergegangen waren, aber er war schon tot, als das kalte, klare Wasser ihn aufnahm, denn die Musketenkugel hatte sein Herz getroffen. Zwei Kajakkrieger waren jetzt noch geblieben. Sie griffen zu Pfeil und Bogen, um die Invasion der stark überlegenen bärtigen Kerle doch noch aufzuhalten - ein ebenso beherztes wie aussichtsloses Unterfangen. Der Schwarzhaarige vertauschte die leergeschossene Muskete mit einer zweiten, frisch geladenen. „Wir hätten ihnen gleich mit Kugeln einheizen sollen“, stieß er mit verzerrter Miene aus. „Es kann mir doch verdammt egal sein, ob die Schüsse weithin zu hören sind! Wer 'w l uns aufhalten?“ „Keiner, Jor!“ rief einer der Männer an seiner Seite. Jor, der schwarze Pirat, richtete die Muskete auf den einen Kajakmann, der nun längsseits des Drachenbootes glitt, drückte wieder ab und quittierte den furchtbaren Aufschrei des Eskimos mit einem grimmigen Laut der Zufriedenheit. Auch dieser Krieger der Eskimos war somit ins Jenseits befördert worden sieben gekenterte Kajaks trieben wie große, behauene Baumstämme in dem klaren Wasser, während das unheimliche Schiff sich weiter schob. Sie blieben hinter dem Heck des Einmasters in der Bucht zurück - als grausige Gräber für die in ihren Mannlöchern stecken gebliebenen Toten.
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Der achte Kajakfahrer hatte hastig gewendet und paddelte in panischem Entsetzen zurück zu den Anlegern. Jeder neue Versuch, die Angreifer doch noch zu stoppen, war ein reines Selbstmordunternehmen. Er kehrte zu seinem Stamm zurück, um zu retten, was noch zu retten war. Jor, der schwarze Pirat, feuerte die Ladung einer dritten Muskete auf den Rücken dieses Eskimos ab, doch diesmal traf er nicht. Um gut zwei Handspannen raste die Kugel an der linken Schulter des Mannes vorbei. Mit seinem leichten Kajak war der Eskimo sehr schnell und beweglich, schneller und gewandter als das Schiff. Er hatte einige Entfernung zwischen sich und die Feinde zu legen vermocht, und dieser Abstand vergrößerte sich jetzt noch ein wenig, bevor er die Anleger des Dorfes erreicht hatte. Bilonga, die das Sterben der sieben Eskimos fassungslos beobachtet hatte, stammelte: „Wir müssen etwas tun- wir können doch nicht einfach dastehen und zusehen wie ...“ „Wir fliehen“, sagte ihre Mutter. Sie blickte zu den älteren Männern des Dorfes, die soeben Anstalten trafen, die letzten Kajaks und Umiaks des Stammes zu bemannen. Der Überlebende des Kampfes paddelte jedoch mit seinem Kajak direkt auf sie zu und rief: „Nicht! Es hat keinen Sinn! Wir können uns nur noch zurückziehen!“ „Ins Landesinnere“, sagte Ipiutak, Bilongas Mutter. „Dort liegt unsere letzte Chance. Beeilen wir uns. Wir müssen fort sein, ehe diese Teufel landen.“ Bilongas Finger hatten sich um den Arm ihrer Mutter verkrampft. Sie stand stocksteif da und fühlte sich wie gelähmt. Sie hatte in diesem entsetzlichen Moment den Eindruck, sich nie wieder bewegen zu können, sondern wie eine Statue aus Eis ausharren zu müssen, bis die grausamen Kerle mit den zottigen Bärten und den Helmen auf den Häuptern heran waren und wie die reißenden Bestien über sie herfielen.
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„Deck ho!“ schrie Bill, der Moses, aus dem Großmars der „Isabella VIII.“ „Treibendes Objekt Steuerbord voraus! Eine Eisscholle mit einem Lebewesen darauf!“ „Mit einem Lebewesen?“ wiederholte der Seewolf. Er stand auf dem Quarterdeck, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und spähte zu seinem Ausguck hinauf. „Scheint mir ein Tier zu sein, Sir!“ „Etwa wieder ein Eisbär?“ „Nein, etwas Dunkleres und Fetteres als ein Eisbär!“ „Ich komme selbst 'rauf!“ rief Hasard. Er sprang die Stufen des Niederganges zur Kuhl hinunter, lief an Carberry, Ferris Tucker, Batuti und den anderen, die noch mit dem Ausweiden des Eisbären beschäftigt waren, vorbei und stieg auf die Rüsten der Luvhauptwanten. Rasch enterte er die Webeleinen hoch und kletterte oben, am Großmars, über die Segeltuchumrandung. Er stand nun neben Bill, der gerade wieder durch seinen Kieker geblickt hatte, und fragte ihn: „Na, hast du etwas Genaueres herausgefunden, Bill?“ „Ja, Sir. Es ist ein Walroß.“ „Sehr gut.“ „Ich soll mich präzise ausdrücken, hat der Profos gesagt, aber das kann ich nur, wenn ich genügend Einzelheiten erkenne. Daran habe ich mich gehalten — sonst hätte ich vorher kein ,treibendes Objekt' gemeldet.“ Hasard mußte lachen. „Ist ja auch richtig so, Bill.“ „Danke, Sir.“ Der Seewolf hatte inzwischen selbst ein Spektiv aus der Tasche seiner dick gefütterten Renfelljacke gezogen und hob es ans Auge. Er vermochte durch die Optik ebenfalls ziemlich gut die Konturen des mächtigen Meeressäugers zu erkennen. Mit erhobenem Kopf hockte das Walroß da und erinnerte in seiner Bewegungslosigkeit an eine Statue aus grauschwarzem Stein. Als scharfer Kontrast zu dieser Masse aus Speck und Fleisch ragten die weißen Stoßzähne aus dem Oberkiefer.
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Im Juni brach in Nordgrönland das Meereseis auf, wie Hasard von Hendrik Laas, dem Dänen, den sie bei Plymouth getroffen hatten, wußte. Wenn die riesigen Packeisschollen mit dem Strom nach Süden trieben, dann zogen die Walroßherden nach Norden, zu den reichen Muschelbänken in den Fjorden von Thule. Zum Schlafen schoben sich die massigen Tiere auf die Meereseiskante oder auf Treibeisschollen, und dabei konnte es passieren, daß das eine oder andere im Schlummer etliche Meilen nach Süden befördert wurde. Wachte das Walroß auf, schob es sich in die Fluten und schwamm wieder nach Norden hinauf. Dieser Einzelgänger hier schien ans Fortschwimmen jedoch vorläufig nicht zu denken — oder er döste mit erhobenem Haupt vor sich hin und nahm gar nicht wahr, was um ihn herum geschah. „Wir sind nach meiner Schätzung noch gut fünf Meilen von ihm entfernt, Sir“, sagte Bill. „Ja“, entgegnete der Seewolf. „Die Scholle bewegt sich aber nicht genau auf uns zu, sondern scheint von einer Abdrift erfaßt worden zu sein, die sie weiter nach Osten befördert, also auf die Westküste von Grönland zu.“ „Ja, das fällt mir jetzt auch auf, Sir.“ „Mit anderen Worten, wenn wir das Walroß haben wollen, dann können wir nicht darauf warten, daß es uns sozusagen in die offenen Arme treibt.“ „Sie wollen diesen Burschen dort erlegen?“ „Das habe ich vor, Bill.“ „Ist Walroßfleisch denn genießbar?“ „Bestimmt genießbarer als Walspeck und Tran, unsere einzigen wirklichen Reserven“, sagte Hasard. „Wir heften uns dem Kameraden also an die Fersen und versuchen ihn zu jagen. Du läßt ihn nicht aus den Augen, klar?“ „Aye, Sir!“ Hasard verließ den Großmars und enterte zur Kuhl ab. Steif gefroren waren die Webeleinen der Großwanten. Hier und da brach das Eis unter Hasards Stiefeln weg wie dürres Reisig, aber er konnte sich nicht
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immer darauf verlassen. Ständig mußte er damit rechnen, abzugleiten und den Halt zu verlieren. An Deck war die Gefahr des Ausrutschens weitgehend durch den Sand und die Asche gebannt, die der Kutscher auf die Anweisung seines Kapitäns hin ausgestreut hatte. Hier konnte man sich bewegen, ohne das Gefühl zu haben, über rohe Eier zu laufen und jeden Augenblick auszurutschen. Nanoq, den toten Eisbären, hatten Carberry und die anderen auf die Kuhlgräting gebettet, damit sein schönes weißes Fell durch den Sand und die Asche nicht verunziert wurde. Sie waren derart damit beschäftigt, ihr Werk zu vollenden, daß sie es kaum bemerkten, wie der Seewolf zu ihnen trat. Hasard sah dem Kutscher zu, wie dieser das Fleisch des Bären sorgsam mit einem scharfen Messer zerlegte. „Also gibt es doch Eisbärensteaks, Kutscher“, sagte er. „Und dabei warst du anfangs so überzeugt davon, daß man nur das Fell von Nanoq verwenden könne.“ Der Kutscher schaute auf und lächelte. „Ich hoffe, einer Täuschung erlegen zu sein. Womöglich habe ich Hendrik Laas' Worte falsch interpretiert ...“ „Kutscher, du sollst keine Reden halten, sondern arbeiten“, polterte der Profos los. „Komm zu Pott, Bursche, wir wollen heute mittag was Kräftiges in den Magen kriegen.“ „Ed, du vergißt, daß ich den Kutscher angesprochen habe“, sagte Hasard. „Hast du daran etwas auszusetzen?“ Carberry wurde fast rot in seinem wüsten Narbengesicht. „Natürlich nicht, Sir. Äh, Verzeihung, aber — Himmel, Arsch, ich hab's ja immer gesagt, an unserem Kutscher ist ein Bordkaplan verloren gegangen. Hölle, ich verlange ja nur, daß er sich klar und deutlich ausdrückt. Kutscher, du Himmelhund, kann man das Fleisch nun essen oder nicht?“ „Das muß ich erst ausprobieren.“ „Zum Donnerwetter noch mal ...“ „So, wie das Fleisch aussieht, wie es sich anfühlt und wie es riecht, müßte es
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eigentlich ganz gut schmecken“, fuhr der Kutscher rasch fort, ehe der Profos eine seiner Wortkanonaden loslassen konnte. „Aber um ganz sicher zu sein, müssen wir es eben mal ausprobieren.“ „Dann heiz deine Kombüse an-, brummte Ed Carberry. „Fang an zu braten, Mensch und vergiß nicht, uns Salz zu bringen, damit wir das Fell an der Fleischseite damit einreiben können.“ „Sonst noch was?“ erwiderte der Kutscher gallig. „Hasard und Philip!“ rief der Seewolf über Deck. „Helft dem Kutscher, das Bärenfleisch in die Kombüse zu schaffen!“ „Aye, aye. Sir!“ Die Zwillinge meldeten sich von der Back, wo sie gerade mit SiriTong und den beiden O'Flynns gestanden hatten, um nach dem Walroß Ausschau zu halten. Sie wandten sich um, setzten sich in Marsch und hasteten den Niedergang hinunter, um die Order ihres Vaters zu befolgen. „Kutscher“, sagte der Seewolf. „Angenommen, das Bärenfleisch ist tatsächlich genießbar - wie viele Tage kannst du die Crew damit verpflegen?“ „Nicht mehr als drei.“ „Und danach?“ „Danach stehen uns praktisch nur noch unsere Wal-Reserven zur Verfügung.“ „Wir brauchen Fleisch, dringender denn je“, sagte der Seewolf. Er drehte sich nach achtern um, während Philip und Hasard junior herbeiliefen und mit dem Kutscher zusammen das Bärenfleisch in die Kombüse schleppten, und rief Ben Brighton und Pete Ballie, dem Rudergänger, zu: „Wir nehmen Kurs auf das Walroß und folgen ihm!“ „Aye, Sir!“ Pete Ballie bewegte das Ruderrad und hielt mehr Steuerbord. Carberry, von dem Ruf des Seewolfs ebenfalls angetrieben, ließ von der Arbeit an der Jagdbeute ab, erhob sich und trieb die Crew mit den üblichen freundlichen Worten an. Sein Gebrüll hallte über Deck. Die „Isabella“ fiel etwas ab. Der Wind aus Südwesten drückte sie zügig auf die Eisscholle mit dem Walroß zu.
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Wenig später rief Bill aus dem Ausguck: .,Deck ! Sir! Land in Sicht! Wir haben die Küste Steuerbord voraus!“ Hasard nickte. Es war so, wie er es sich gedacht hatte - eine Strömung, die nicht mit der Drift der Fluten nach Süden zur Davis-Straße konform ging, dirigierte den dicken Eisteppich mit dem Walroß darauf auf Grönland zu. So kehrten die Seewölfe zu der riesigen Insel zurück, auf der sie vor zweieinhalb Tagen ein wenig erfreuliches Abenteuer durchgestanden hatten. Sie hatten Nanoq, den Eisbären, gejagt und dabei gehofft, auch auf andere Beute zu stoßen, da sie unbedingt Fleisch brauchten, aber dann war ein Blizzard mit Urgewalten über sie hergefallen und hatte ihren Landtrupp versprengt. Carberry, Ferris Tucker und Batuti waren verschollen gewesen. Sie hatten auf einem Eisberg festgesessen, der sich im Blizzard vom Festland gelöst hatte — ein tragisches Ereignis, das die drei Männer für immer von ihren Kameraden hätte trennen können. Doch dann hatte sich alles zum Guten gewendet: Hasard und seine Crew hatten die Vermißten wieder gefunden. Dem Profos, dem Schiffszimmermann und dem schwarzen Herkules aus Gambia war es indes gelungen, den „Nanohuaq“, den sehr großen Eisbären, zur Strecke zu bringen. Sie hatten dies fast ohne Schußwaffen fertig bringen müssen, und Batuti hatte eine Blessur am Arm davongetragen. Inzwischen befand er sich jedoch auf dem besten Weg zur Genesung, konnte den Arm schon wieder bewegen und auch kräftig mit zupacken. Die Dämonen von Grönland, die er so sehr fürchtete, hatten ihn wohl doch nicht bei sich in den Schlünden der Finsternis haben wollen. Carberry hatte sich sehr schuldbewußt gezeigt, da er ja schließlich zur Jagd auf Nanoq gedrängt hatte, aber Hasard hatte ihm seine Selbstvorwürfe ausgeredet. Immerhin waren e aus Notwendigkeit, nicht aus reiner Abenteuerlust und Eitelkeit auf Jagd
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gegangen, und er, der Kapitän, hatte sein Einverständnis gegeben. Auf dem Eisberg hatten sie noch eine Weile umhergeforscht und auf diese Weise Nanoqs Höhle entdeckt. Und wirklich, der Bär hatte den SchnapphahnRevolverstutzen und die Muskete, die Carberry und seine beiden Begleiter im Kampf gegen das Tier verloren hatten, in seinen Schlupfwinkel geschleppt. Schlau war er gewesen, das mußte man ihm lassen. Kein anderes Wild hatte es auf dem Eisberg gegeben. Deshalb hatte der Seewolf den Riesenblock so schnell wie möglich wieder verlassen und war etwas weiter nördlich erneut an Land gegangen. Aber auch hier war die Suche nach jagdbarem Wild ergebnislos verlaufen. So hatte er beschlossen, zwei Tage lang nach Norden hinaufzusegeln, dem legendären Thule näher — und hoffentlich auch jenen Tieren näher, die ihnen das Überleben in der arktischen Kälte und Trostlosigkeit garantierten. Zu den Narwalen, den Robben, Walrossen, Polarfüchsen und Schneehühnern wollte der Seewolf, denn die Proviantvorräte der „Isabella“ waren bedenklich zusammengeschrumpft. Wenn sie nicht bald etwas erlegten, nagten sie am Hungertuch. Das Auftauchen des Walrosses schien jedoch eine Wende anzukündigen. Wenn das Fleisch eines solchen Tieres auch alles andere als eine Delikatesse war — es war immer noch besser, fettige, tranig schmeckende Braten zu kauen als überhaupt nichts. Mit dem fachgerechten Ausweiden des Bären war man nun endlich fertig, aber die Rationen, die der Kutscher aus dem Fleisch für die zweiundzwanzigköpfige Crew zubereiten würde, hielten auch nicht mehr als drei oder höchstens vier Tage vor, und danach mußte Nachschub vorhanden sein. Die „Isabella“ glitt dahin und holte rasch auf. Das Walroß auf der Eisscholle war inzwischen deutlich mit bloßem Auge zu erkennen — und auch die Küste sah man von der Back aus, eine weiße, öde,
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entmutigende Küste, der auch der größte Optimist dieser Welt nichts Einladendes abgewinnen konnte. Durch das Spektiv gewahrte Hasard, daß das Walroß ihnen den Rücken zugekehrt hielt und unausgesetzt zur Küste zu blicken schien. Das bedeutete, daß sie sich von achtern an den Koloß heranpirschen konnten. Hasard holte eine besonders weittragende Muskete mit sehr langem Lauf aus dem Waffenschrank seiner Kapitänskammer, stieg damit auf die Back und trat zu Siri-Tong und den O'Flynns. „Haltet auch ihr eure Waffen bereit“, sagte er. „Gleich ist es soweit. Wir sind fast auf Schußweite an dem Kameraden dran.“ Old Donegal Daniel O'Flynn klopfte mit der Hand gegen das Bodenstück der an der Backbordseite des Vordecks montierten Drehbasse. „Wie wäre es, wenn wir ihm hiermit ein Ding verpassen? Das Geschütz hat eine größere Reichweite als jede Handfeuerwaffe. Außerdem können wir völlig sicher sein, daß ein einziger Schuß dem Walroß sofort den Garaus bereitet— was bei Musketenkugeln nicht unbedingt gewährleistet ist.“ „Die Drehbassenkugel würde das Tier zerreißen“, erwiderte Hasard. „Damit ist uns nicht gedient. Außerdem ist es nicht gerade weidmännisch, mit Kanonen auf Tiere zu schießen.“ „Na ja, das sehe ich ein“, brummelte der Alte. Er ließ sich von seinem Sohn, der inzwischen Waffen geholt hatte, eine Muskete geben, prüfte die Ladung und die sachgerechte Anbringung des Flints, legte dann probeweise an und visierte über den Lauf weg den breiten Rücken des Walrosses an. Siri-Tong und Dan O'Flynn verfuhren ähnlich. Dann traten auch Smoky, Al Conroy, Ferris Tucker und Big Old Shane hinzu und bereiteten sich auf die Jagd vor. Hasard hätte sich mit dem RadschloßDrehling oder dem SchnapphahnRevolverstutzen bewaffnen können, zwei hervorragenden Waffen, die über Trommeln mit jeweils sechs Schuß verfügten. Doch für diesen Einsatz hatten beide Waffen einen erheblichen Nachteil -
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ihre Läufe waren zu kurz. Sie waren für das rasche Abfeuern einer Serie von Ladungen im Kampf vorzüglich geeignet, nicht aber für das Präzisionsschießen über die relativ große Distanz von fast hundert Yards. Die Rote Korsarin und die Männer standen abwartend an der vorderen Querbalustrade der Back und warteten, daß der Abstand zur Eisscholle noch mehr zusammenschrumpfte. Carberry hatte sich, nachdem die Crew unter seinen barschen Befehlen die Segel neu getrimmt hatte, an das Backbordschanzkleid der Kuhl begeben, lehnte sich ein wenig außenbords und blickte zu dem Walroß, das man auch von diesem Platz aus sehr gut erkennen konnte. Plötzlich ertönte ein lang gezogener Laut eine höchst verdächtige Geräuschmischung, die nur eine einzige Deutung zuließ: Irgendjemand mußte seine Verdauungswege ein bißchen zu laut erleichtert haben. Carberry fuhr herum und sah zu der grinsenden Crew. Matt Davies grinste besonders breit und gab ein -unterdrücktes Glucksen von sich. Er konnte sein Lachen kaum zurückhalten. „Matt Davies, du altes Ferkel“, sagte der Profos. „Hast du vergessen, daß wir eine Lady an Bord haben?“ Das Grinsen verschwand von Matts Zügen. „Mister Carberry“, antwortete er. „Ich war das nicht. O nein, das kannst du mir diesmal nicht in die Stiefel schieben.“ Carberry stemmte die Fäuste in die Seiten und sah mit einemmal sehr angriffslustig aus. „So? Welcher Himmelhund hat denn sonst diese Schweinerei verzapft? Wollt ihr wohl mit der Sprache 'rausrücken? Batuti, gib zu, daß du es warst!“ Der schwarze Mann aus Gambia schüttelte wild den Kopf. „Kann. ich nicht, Profos. Mich trifft keine Schuld.“ „Mich trifft keine Schuld“, ahmte Carberry ihn nach. „Fein hast du diesen Satz einstudiert. Aber mich kannst du nicht täuschen, ich ...“ Wieder erklang das fürchterliche Grunzen. Die Männer prusteten los und konnten sich
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nicht mehr beherrschen. Philip und Hasard, die Zwillinge, steckten ihre Köpfe aus dem Kombüsenschott und kicherten. Carberry wandte den Kopf, weil er die Richtung geortet hatte, aus der die Laute herüberdrangen. Jawohl, sie kamen von vorn, und deshalb heftete der Profos seinen Blick jetzt auf die Back. „Hölle und Teufel“, stammelte er, während er zu Hasard, Siri-Tong, den O'Flynns und den anderen sah, die mit ihren Musketen an der Balustrade standen. „Das kann doch nicht sein. Sollte wirklich einer von ihnen ...“ „Ed“, sagte Blacky, der sich dem Profos von der Gräting aus genähert hatte. „Es ist das Walroß, das da so rülpst und bläst.“ „Ach?“ „Die Biester sollen das so an sich haben, hab ich mir erzählen lassen.“ „Von wem? Von Hendrik Laas?“ „Ja, Ed.“ „Mist“, sagte der Profos. „Da war ich seinerzeit wohl gerade geistig weggetreten, sonst hätte ich's doch auch vernommen. Mann, wenn man nicht überall einen glasklaren Durchblick hat, kann's einem wirklich passieren, daß man Unschuldige verdächtigt.“ Der Seewolf hatte unterdessen seine Muskete angelegt und zielte auf die Kopfpartie des Walrosses. „Nur ein paar Yards noch“, sagte er. „Neun, zehn Yards, und ich kann einen sicheren Schuß anbringen.“ Das Walroß, aus seinem Halbschlaf erwacht, wandte jedoch unvermittelt den Kopf und entdeckte die Dreimast-Galeone, die mit schäumender Bugwelle auf die Eisscholle zulief. Mit einem beleidigten Grunzen schob sich das Tier ins Wasser und schwamm davon — auf die Küste von Grönland zu. 3. In aller Hast hatten die Frauen des Eskimodorfes die wichtigsten Habseligkeiten zusammengerafft und auf die zwei Fellschlitten gepackt, die dem
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Stamm nach dem Abrücken der Jäger am Vortag noch geblieben waren. Die Männer spannten die Hunde ins Geschirr und blickten immer wieder in zunehmendem Entsetzen zu den Anlegern. Neben die Umiaks und Kajaks hatte sich jetzt das Schiff gedrängt. Leinen wurden geworfen, dann sprangen einige Piraten auf die primitiven Piers und vertäuten das Schiff. Sie grölten, schüttelten die Fäuste zum Dorf hinüber und gaben ein paar Schüsse ab. „Fort!“ rief der junge Eskimo-Krieger, der als einziger den Angriff auf die Kajaks überlebt hatte. „Fort! Wir müssen hier weg und dürfen keine Zeit mehr verlieren!“ Die Kinder und die Greise wurden auf die beiden Schlitten gesetzt, und schon knallte eine Peitsche. Der erste Schlitten ruckte an. Ein kleines Mädchen hatte heftig zu weinen begonnen, weil es begriffen hatte, daß sein Vater mit bei den sieben Kajakfahrern gewesen war, die ihr Leben im Kampf gegen die bärtigen Seeräuber gelassen hatten. Bilonga hatte sich aus ihrer Erstarrung gelöst und zerrte nun gemeinsam mit ihrer Mutter Ipiutak die Großmutter vom Iglu zu den Schlitten. Die alte Frau sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, auf den Schlitten verfrachtet zu werden. Sie lebte in der alten Mentalität, daß die Greise und die Schwachen, die Kranken und die Nutzlosen sterben mußten, wenn sie ein Ballast für die Jüngeren wurden. In der Generation, in der sie aufgewachsen war, war es noch üblich gewesen, kleine Kinder auszusetzen und dem Kältetod zu überlassen, wenn eine Hungersnot den Stamm bedrohte. Alte Männer und Frauen hatten sich seinerzeit davongestohlen, um in der Einsamkeit, fern vom Dorf, auf das Sterben zu warten. „Sei doch vernünftig!“ rief Ipiutak der alten Frau zu. „So komm doch schon!“ schrie Bilonga. „Ich will nicht“, gab die Alte zurück. „Laßt mich hier zurück. Das Schicksal läßt sich nicht aufhalten.“ Bilonga glaubte, vor Verzweiflung zusammenbrechen zu müssen, und sie
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begriff nicht, woher ihre Mutter all den Mut und die Entschlußkraft nahm, die sie auch jetzt noch aufrechterhielten. Sie ließ sich von der Panik nicht übermannen. Nie hatte Bilonga ihre Mutter so bewundert wie in diesen schrecklichen Augenblicken. Ipiutak gelang es, die Großmutter auf den zweiten Schlitten zu befördern, bevor auch dieser abfuhr. Akviks Mutter schrie und schimpfte, aber zum Glück waren nun die hilfreichen Hände der anderen Greise da und hinderten sie daran, daß sie sich wieder von dem Schlitten warf. Sie behielten sie fest und redeten beschwichtigend auf sie ein. „Haq, haq!“ erklang das anfeuernde Geschrei des Schlittenführers, und das Gefährt ruckte an. Für Ipiutak und Bilonga war auf dem Schlitten kein Platz, sie hasteten wie die anderen Frauen, die größeren Kinder und die gesunden Männer auf ihren Stiefeln hinter den Gespannen her. Die Schneedecke war hart genug gefroren, daß sie nicht einbrachen, und die winzigen Knochennägel, die in geschickter Arbeit unter ihren Stiefelsohlen angebracht worden waren, verhinderten, daß sie ausrutschten. So gelangten sie rasch voran und legten genug Abstand zwischen sich und das Dorf, daß die Piraten sie mit ihren Musketenkugeln nicht mehr treffen konnten. Der schwarzmähnige Jor und seine Kumpane stürmten das Dorf. Sie stießen ein wildes Kampfgeheul aus und schossen mit Musketen, Arkebusen und Tromblons, die sie in früheren Kämpfen zur See von gekaperten Schiffen erbeutet hatten, auf die Flüchtenden. Wirkungslos schlugen die Kugeln k den Schnee. Die Eskimos flohen nach Süden, zu dem Gebirgszug, der sie von dem nächsten größeren Fjord trennte – und von Okvik und den anderen Männern, deren Hilfe sie so bitter wuchten. Jor, der schwarze Pirat, blieb in der Mitte der Iglusiedlung stehen.
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„Durchsucht die Schneehütten!“ nie er seinen Kumpanen in der akzentuierten, eigentümlichen e der Nordmänner zu. „Holt Eßbare und alle Felle heraus!“ Sofort leisteten sie seinem Befehl Folge und durchstöberten die Iglus. Aber sehr schnell erschienen sie wieder im Freien und riefen: „Jor - sie haben ihren Proviant und ihre Felle mitgenommen!“ „Verflucht“, sagte der Piratenführer. Er hatte dieses Dorf überfallen, weil er und seine Mannschaft dringend Fleisch und Fett brauchten - das Fleisch zum Essen, Tran und Talg zum Entfachen und Unterhalten von Feuern in ihrem Schlupfwinkel. Auf der Jagd nach Narwalen und Robben hatten sie am Vortag beispielloses Pech gehabt, und so hatte Jor den Entschluß gefaßt, das Dorf anzugreifen, die Bewohner niederzumetzeln und alles an sich zu reißen, was ihm irgendwie von Nutzen war. „Sie haben nur das Nötigste mitgeschleppt, alles andere lagert in den Verstecken, die die Eskimos einzurichten pflegen“, sagte Jor mit verbissener Miene. „Wir müssen ihnen ihre Habseligkeiten abnehmen und es aus ihnen herauspressen, wo wir ihre Vorräte finden können.“ Wild blickte er sich im Kreis seiner Gefährten um. „Versteht ihr? Wir müssen ihnen nach. Zwanzig Mann gehen mit mir. Wir werden dieses Lumpengesindel schon packen, ehe es das Gebirge erreicht. Ingbert!“ „Jor?“ „Du bleibst mit dem Resthaufen hier, bewachst das Schiff und zerstörst im übrigen das verdammte Dorf.“ Ingbert, Jors Unterführer, ein rotblonder Riese mit rauschendem Bart und kleinen, geröteten Augen, nickte und erwiderte: „Wenn wir hier fertig sind, wird kein Mensch mehr glauben, daß es an dieser Stelle jemals Iglus gegeben hat.“ Jor wählte die Männer aus, die ihn begleiten sollten, dann setzte er sich an die Spitze der Gruppe und folgte den flüchtenden Eskimos im Laufschritt. Er war ein guter Läufer, und die Fußlappen
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aus weichem Leder, die er sich zusätzlich um seine Stiefel gewickelt hatte, verhinderten, dass er auf dem glatten Harsch ausrutschte und hinschlug. Seine Kumpane waren ähnlich ausgerüstet und hatten kaum Mühe, bei dem Tempo, das Jor vorlegte, mitzuhalten. Nur drei Männer blieben etwas zurück, weil sie auf dem Untergrund ins Schlittern gerieten, aber um diese Nachzügler kümmerte der Schwarzhaarige sich nicht. Mit etwas mehr als einem Dutzend Kerlen blieb Ingbert im Dorf zurück und begann das Zerstörungswerk. Er warf den Davonstürmenden einen fast neidischen Blick nach. Gern wäre er mit dabei gewesen, wenn sie die Eskimos einholten und gefangen nahmen, denn er wußte genau, daß sich Jor zuerst mit den Frauen und Mädchen des Stammes beschäftigen würde. Sie würden sich die hübschesten von ihnen vornehmen, eine nach der anderen. Ingbert ließ sich eine Axt geben und hieb zornig auf die größte Schneehütte des Dorfes ein, auf den Iglu des Schamanen. * Der Seewolf gab nicht auf. Er behielt den Kurs bei, ließ die „Isabella“ an der Eisscholle vorbeisegeln und blieb dem schwimmenden Walroß auf den Fersen. Es bewegte sich rasch voran, so schnell wie die Galeone oder vielleicht noch ein bißchen flinker. Offenbar war es bestrebt, das Ufer zu erreichen. „Deck!“ rief Bill aus dem Großmars. „Wir laufen auf eine große Bucht zu, deren Einfahrt ich jetzt erkennen kann! Es ist ein richtiger Fjord!“ Ja – im Näherkommen erkannten nun auch Siri-Tong und die Männer auf der Back, daß der Küstenstrich, den die „Isabella“ anlief, nicht flach, sondern felsig war, und daß im diesigen Hintergrund die schneebedeckten, bizarren Hänge eines größeren Höhenzuges himmelan strebten. Majestätisch und furchteinflößend zugleich wirkte diese Landschaft.
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„Ich habe nicht vor, den Fjord anzulaufen“, sagte der Seewolf. „Ich will das Walroß vorher erlegen.“ Er zielte wieder auf den Kopf des Meeressäugers. Dabei sah er jetzt auch jenen Einschnitt in den Felsen der Küstenlandschaft. der die Öffnung des Fjordes kennzeichnete. Aus größerer Entfernung war es unmöglich, die Einfahrt zu entdecken, denn auf Distanz betrachtet vermittelte das wuchtig aufragende Ufer in perfekter optischer Täuschung den Eindruck einer einheitlich und ununterbrochen von Norden nach Süden verlaufenden Barriere. „Ich versuche es“. sagte Hasard. „Warte“, meinte Siri-Tong, die rechts von ihm stand...Bist du sicher, daß das Walroß nicht untergeht, wenn du es tödlich triffst?“ „Speck schwimmt doch oben, oder?“ „Das mag für einen Wal gelten“, wandte sie ein. „Wenn das Walroß taucht, sehen wir es nicht wieder“, ließ sich jetzt auch Big Old Shane vernehmen. Hasard nickte. „Und wenn schon, ich lasse es auf den Versuch ankommen.“ Er visierte seine Beute noch einmal an, krümmte dann den Finger um den Abzug der Muskete und fing den Rückstoß der loskrachenden Waffe mit der rechten Schulter ab. Durch den hochpuffenden Pulverqualm konnte er nicht sehen, ob er getroffen hatte, aber seine Männer verfolgten das Einschlagen der Kugel dafür umso besser. „Hölle!“ rief der alte O'Flynn. „Haarscharf am Schädel des Tiers vorbei. Zu weit links, etwa einen halben Yard.“ Deutlich war die kleine Wasserfontäne zu sehen, die neben dem Kopf des Walrosses hochgesprüht war und nun wieder in sich zusammenfiel. Hasard ließ die Muskete sinken und nahm aus der Hand von Dan O'Flynn eine andere, frisch geladene Waffe entgegen. Seine Miene war unbewegt. Ein halber Yard auf die große Distanz - das konnte auch dem besten Schützen passieren. Siri-Tong wollte nun ebenfalls feuern, ehe der Seewolf den nächsten Schuß abgab, aber unvermittelt ließ sie die Muskete
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sinken. „Er taucht“, sagte sie. „Er hat die Nase endgültig voll von uns.“ In der Tat, der Kopf des Walrosses verschwand in den Fluten, und nur für Sekunden hob sich noch ein Wasserbuckel aus der flachen Dünung ab, der dann auch zerfloß. „Feierabend“, sagte Old O'Flynn. .Damit wäre das Biest uns endgültig entwischt. Jetzt ist guter Rat teuer.“ „Zum Walroßjäger muß man nicht unbedingt geboren sein“, versetzte Hasard. „Aber es gehört doch einiges Talent und Fingerspitzengefühl dazu. Die Frage ist, wie hätten wir uns anders an den Burschen heranpirschen können? Mit den Booten vielleicht? Das Knarren der Riemen in den Dollen hätte er doch garantiert gehört.“ „Deshalb benutzen die Eskimos für ihre Kajaks ja auch Paddel“, warf Dan O'Flynn ein. „Schlauberger“, sagte sein Vater säuerlicher Miene. „Allein wären wir nicht darauf gekommen, wirklich nicht.“ „Deck!“ schrie Bill plötzlich. „In der Bucht regt sich was! O Mann, so was gibt's doch wohl nicht ...“ „Der Teufel soll dich holen!“ brüllte Carberry von der Kuhl zum Hauptmars hoch. „Und ich ziehe dir die Haut in Streifen ab, wenn du dich nicht sofort klar ...“ „Sir, Deck - da ist eine ganze Herde von Walrossen!“ rief Bill aufgeregt. „Sie hocken auf den Eisschollen, die im Fjord treiben! Ich glaube, es sind hundert, nein, mehr als hundert!“ Hasard grinste plötzlich. „Ich glaube, wir steuern diesen Fjord doch an“, sagte er. * Das Stundenglas auf dem Achterdeck der „Isabella“ war einmal mehr umgedreht worden, als die Galeone nahe der Südseite der Durchfahrt in den Fjord mit aufgegeiten Segeln verhielt und die beiden mit je sechs Crewmitgliedern bemannten Jollen durch die Passage in die lang gezogene, von zerklüfteten Felsen umsäumte Bucht glitten. Hasard versuchte,
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sich an die Herde Walrosse heranzuschleichen. Er selbst hatte die Führung der ersten Jolle übernommen, die zweite wurde von Ben Brighton kommandiert. Ferris Tucker war diesmal als Befehlshaber mit den restlichen zehn Mann, den Zwillingen, dem Affen Arwenack und dem Papagei Sir John an Bord der „Isabella“ zurückgeblieben. Ihm paßte das natürlich gar nicht, denn er hätte für sein Leben gern an der nun beginnenden Jagd teilgenommen, aber gegen den Befehl des Kapitäns gab es keine Einwände. So stand Ferris am Schanzkleid der Galeone und blickte den davonpullenden Kameraden entsagungsvoll nach — und mit ihm lehnten die anderen zum Borddienst Verdonnerten an der Verschanzung und warteten die weitere Entwicklung gespannt ab. In Hasards Boot saßen Siri-Tong, die beiden O'Flynns, Big Old Shane und Smoky. Ben Brighton hatte Carberry, Batuti, Blacky, Bob Grey und Will Thorne als seine Begleiter ausgewählt. Schweigend, mit angespannten Mienen pullten sie in den Fjord, und es war ihnen beinah so zumute, als öffne sich eine neue, fremde Welt vor ihnen. Weißgrau war das Licht in dieser mit eisigem Wasser ausgefüllten Schlucht, auch die Treibeisschollen schienen hier eine andere Farbe zu haben als draußen auf offener See. Ein seltsamer, herber, aber irgendwie doch nicht abstoßender Geruch hing in der Luft. Er konnte nur von den Tieren stammen, die sie jetzt mit ihren deftigen Geräuschen begrüßten. Unentdeckt blieben die Seewölfe nur, bis sie den Fjord etwa zu einem Drittel seiner Gesamtlänge durchquert hatten. Dann war es plötzlich so, als hätte irgendjemand ein lautloses Signal, ein Zeichen des Alarms gegeben. Die Walrosse setzten sich schnaufend und grunzend in Bewegung und schoben sich von den Eisplatten, auf denen sie friedlich gedöst hatten. Hasard stand in diesem Moment bereits im Bug seiner Jolle und bedeutete seinen Gefährten durch eine Gebärde, daß sie das
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Feuer eröffnen sollten — bevor die ganze Herde tauchte und auf Nimmerwiedersehen verschwand. Das Krachen der Musketenschüsse erfüllte die Luft. Hasard setzte nun auch seinen Radschloß-Drehling ein, und Siri-Tong bediente den SchnapphahnRevolverstutzen, mit dem man auf diese geringere Distanz jetzt etwas ausrichten konnte. Das Belfern der schnell hintereinander abgefeuerten Ladungen erfolgte im Stakkato. Einige der massigen Tiergestalten fielen in sich zusammen und schafften den Weg zum rettenden Wasser nicht mehr. Sie blieben auf den Schollen liegen, schwer, ungeschlacht, scheinbar ohne jede Kontur. Von Bord der „Isabella“ ertönte ein mehrstimmiger Arwenack-Ruf und einige Pfiffe. Die Kameraden drückten so ihre Anerkennung aus und schienen richtig aus dem Häuschen zu sein. Hasard konnte auch stolz auf die Beute sein: Acht Tiere hatten sie erlegt, wie seine schnelle Zählung ergab. Er wies auf die Eisscholle, auf der er einen großen Walroßbullen erlegt hatte und die ihnen am nächsten trieb. „Pullt an“, sagte er. „Wir können auf die Scholle umsteigen und das Tier gleich dort schlachten und ausnehmen. Siri-Tong, gib Ferris und den anderen bitte ein Zeichen, daß sie mit der ,Isabella' in den Fjord manövrieren sollen. Die Wassertiefe scheint mir dafür ausreichend zu sein. Wir wollen die fertig zerlegten Tiere so schnell wie möglich an Bord unseres Schiffes hieven. Das geht am reibungslosesten, wenn die Übernahme direkt erfolgt.“ Siri-Tong hob den Schnapphahnstutzen, den sie inzwischen wieder nachgeladen hatte, und gab zwei Schüsse in die Luft ab. Dies war das vereinbarte Zeichen. Drüben auf der „Isabella VIII.“ wurden schleunigst wieder die Segel gesetzt. * Zur selben Zeit kreuzte rund zwanzig Meilen nördlich von der Einfahrt des Fjords ein Schiff gegen den Wind — eine
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Galeone mit drei Masten und dunkel gelohten Segeln, nicht so groß und imposant wie die „Isabella“, aber ebenso massiv wie diese aus englischer Eiche gebaut. Viel Zeit ging bei jedem Kreuzschlag verloren. Das dauernde Überstaggehen vom einen auf den anderen Bug schien die Galeone zurückzuwerfen, statt sie voranzubefördern. Geradezu verbissen stemmte sich das Schiff gegen den Wind. Stumm hantierte die Crew, schweigend stand der Kapitän an der Querbalustrade des Achterdecks und überwachte die Manöver. Vor nicht mehr als einer Stunde hatte er den Befehl zum Auslaufen erteilt, denn er hatte Schüsse vernommen, Schüsse, die aus südlicher Richtung herangeweht waren. Flintenschüsse in Thule — das hatte nichts Gutes zu bedeuten. Kein Eskimo hatte eine Schußwaffe. Mehr noch, Inuk, der Eskimo, haßte die „Feuerrohre“, verachtete sie und qualifizierte sie als unweidmännisch und unheil bringend ab. Und tatsächlich: Das Peitschen von Schüssen in Thule verhieß stets furchtbares Unglück. Es waren jedoch nicht die Schüsse aus dem Fjord gewesen, die den Kapitän dieser Galeone aufgeschreckt und in Alarm versetzt hatten. Ein Gebirgsmassiv wuchs erhaben zwischen dem Fjord und der Position des Dreimasters in den Himmel, und seine Hänge blockten jeden Laut ab. Vielmehr hatte der Wind aus Südwesten jene Schüsse, die Jor und seine Spießgesellen auf die Eskimos des Igludorfes abgegeben hatten, bis an das Ohr dieses Mannes getragen. Noch wußte er nicht, welche Tragödie sich mit dem Krachen der Musketen verband, aber er ahnte bereits etwas, denn seine Stirn war von Sorgenfalten gefurcht und in seiner Miene waren die schlimmsten Befürchtungen zu lesen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Küste abzuforschen und herauszufinden, welche Ursache das Abfeuern der Schüsse gehabt hatte.
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Wieder drehte die Galeone auf den anderen Bug, wieder fuhr sie einen Kreuzschlag, diesmal nach Süden. Hoch am Wind und hart nach Backbord krängend pflügte sie die graue See. Zu beiden Seiten ihres Bugs und auch am Heck stand ihr Name in verschnörkelten Lettern zu lesen. „Sparrow“. 4. Natürlich waren die beiden Hundeschlitten, jeder von zwölf weißen, struppigen Tieren gezogen, viel schneller als die zu Fuß voranhastenden Frauen, Mädchen, Männer und größeren Kinder des EskimoStammes. So schien es, daß Jor, der schwarze Pirat, und seine Kumpane die beiden Gespanne zwar aus den Augen verlieren und nie mehr wiederfinden würden, sobald diese das Bergland erreicht hatten, aber zumindest die Flüchtlinge ohne Gefährt drohten sie einzuholen, ehe auch diese sich zwischen den zerklüfteten Felsen verstecken konnten. Bilonga lief schwer atmend neben ihrer Mutter. Sie wagte nicht mehr, sich nach den grausamen bärtigen Kerlen umzudrehen, allein deren Anblick versetzte sie in helle Panik. Sie wußte auch so, wie nah die Piraten waren — immer wieder ertönte das Grölen und Lachen der Schurken, und jedesmal lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. „Schneller“, drängte ihre Mutter. _Streng dich doch nur noch ein bißchen mehr an, und wir schaffen es.“ „Ich kann nicht schneller!“ „Du mußt dich selbst überwinden!“ „Ich spüre Stiche in meinen Seiten“, klagte das Mädchen. Sie fielen innerhalb der Gruppe etwas zurück und befanden sich schließlich an deren Ende. Bilonga keuchte, schloß die Augen, versuchte, noch mehr Energien zu entwickeln, aber es war zwecklos. Ihr Körper wollte nicht so, wie ihr Geist wollte, und schon drohten auch ihre Beine den Dienst zu versagen. Fast knickte sie in den Knien ein und stürzte.
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Ipiutak griff nach dem Arm ihrer Tochter. „Weiter, ich helfe dir!“ rief ihr zu. „Nein ...“ „Zu zweit schaffen wir es schon, vertraue mir nur!“ „Du mußt dich retten, Mutter“, stieß Bilonga schluchzend aus. „Du mußt dich in Sicherheit bringen. Laß mich hier zurück, laß mich, bitte, ich dich an!“ Hinter ihrem Rücken war das triumphierende Geschrei der wilden Horde, und schon glaubte sie das Knirschen ihrer Stiefel im Schnee zu vernehmen, ganz dicht hinter sich. „Okvik, mein Vater“, jammerte Bilonga. „Warum ist er nicht hier? Warum beschützt er uns nicht?“ „Reiß dich zusammen!“ fuhr Ipiutak sie an. „Ich sterbe ...“ „Reiß dich zusammen, oder ich schlage dich!“ „Es nutzt nichts ... Ipiutaks Hand zuckte hoch und traf tatsächlich Bilongas Gesicht — die schallende Ohrfeige schien Wirkung zu haben, denn das Mädchen stolperte jetzt doch um einiges schneller voran. Bilonga keuchte, Ipiutak zerrte sie am Arm mit sich fort und redete unausgesetzt auf sie ein. Sie versuchte, ihrer Tochter Mut und Hoffnung einzuflößen, und dabei wußte auch sie mit tödlicher Sicherheit, daß sie ihrem Ende nahe waren. Lange hielten sie beide nicht mehr durch. Nie hatte Bilonga einen Schneesturm herbeigesehnt, aber jetzt wünschte sie es sich inständig, daß die Naturgewalten losbrüllten und tobend über die Piraten herfielen. Der wirbelnde Schnee würde beide Parteien voneinander trennen, jegliche Orientierung verhindern, die Rettung bringen, so paradox es klang, aber es würde keinen Schneesturm geben. Kein Anzeichen am Himmel deutete auf das plötzliche, unerwartete Losheulen eines Blizzards hin. Und es würde auch keine schützende Dunkelheit geben. Im ewigen Tag der Mitternachtssonne war ein Gejagter hoffnungslos verloren, und der Jäger triumphierte.
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Okvik, dachte Bilonga verzweifelt, mein Vater... Es ist das Ende, schoß es Ipiutak durch den Kopf, wirklich das Ende, sie haben uns gleich und fallen über uns her und tun uns alles an, all das Schreckliche, ehe sie uns umbringen. Die Gruppe eilte Ipiutak und Bilonga voraus, der Abstand vergrößerte sich. Keiner blieb zurück, um den beiden Frauen beizustehen. Der Selbsterhaltungstrieb siegte in diesem Moment über jedes andere, höhere Gefühl. Grenzenlose Panik trieb die Eskimos voran. Plötzlich aber war das herrische „Haq, haq“ der Schlittenführer in der Luft. Ipiutak sah auf und entdeckte die beiden Gespanne, die in rasender Fahrt vom Bergland zurückkehrten. Sie hatten ihre Fracht abgeladen, offenbar in einer der vielen versteckten Schluchten, die nur der Stamm kannte: Greise, Kinder, Frauen, Proviant, Felle und einige andere Habseligkeiten, Jetzt rasten die Schlitten heran, um die Nachzügler zu holen. Je zwei ältere Krieger standen auf ihrer Plattform: einer, der das Gespann führte und antrieb, und einer, der mit Pfeil und Bogen bereit war, auf die Feinde zu schießen. „Haq, haq“ - in einem weitgeschwungenen Bogen glitten die Schlitten rasch näher. Die Laufenden hatten jetzt alle erkannt, daß die Rettung nahe war, und ein Aufatmen, ein befreiendes Auflachen ging durch die Gruppe. Bilonga weinte vor Glückseligkeit. Ipiutak, ihre Mutter, glaubte ihren Augen fast nicht zu trauen. Soviel Schneid hatte sie von den älteren Kriegern des Stammes nun doch nicht mehr erwartet. Aber da fegten sie mit hoch erhobenen Köpfen auf ihren Schlitten heran, dick in ihren Fellanoraks vermummt, mit Sonnenblenden gegen die Schneeblindheit vor den Augen, zu allem entschlossen, drohend in ihrer Erscheinung. „Haq, haq!“ schrien sie immer wieder. Jor und seine Piratenbande begannen mörderisch zu fluchen. Jor selbst blieb plötzlich stehen, riß seine Muskete hoch
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und zielte auf den ersten Schlitten, der die Gruppe der Flüchtenden fast erreicht hatte. Er drückte ab. Die Waffe donnerte, ruckte, entließ einen Feuerblitz und eine dicke Wolke Schmauch, ein Aufschrei ging durch die Reihen der Eskimos - doch die Kugel pfiff an dem Schlittenführer, für den sie bestimmt gewesen war, vorbei. „Springt auf!“ schrie der Eskimo der erschöpften Gruppe zu. „Beeilt euch! Wir können nicht anhalten! Springt auf!“ Er verringerte die Fahrt des Gespanns ein wenig. Die größeren Kinder - gut ein Dutzend Jungen und Mädchen - waren, von ihren Müttern angespornt, die ersten, die geduckt losrannten und sich auf den Schlitten warfen. Die Frauen folgten ihnen, und zuletzt kamen die Männer, die inzwischen ebenfalls ihre Waffen gezückt hatten, um den Feinden Paroli zu bieten. Dann war auch der zweite Schlitten heran. Er beschrieb eine enge und richtete sich mit seiner einen Kufe im Herumschwenken so bedenklich auf, daß es aussah, als würde er jeden Augenblick umkippen, fiel dann aber doch wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. Ipiutak, Bilonga und einige andere Frauen schafften es, auf das Gefährt zu springen, solange es langsam dahinglitt. Sie umarmten sich, keuchten, lachten fast hysterisch, während die Männer ihre Pfeile auf die Piraten abschossen. Ein Freibeuter wurde getroffen, er sank mit einem schwachen Laut zusammen. Jor und die anderen Kerle antworteten darauf mit einem Wutgeheul. Dann hatten sie auch schon ihre Feuerwaffen in Anschlag gebracht und feuerten schreiend und fluchend zu den Eskimos hinüber. Die letzten Pfeile verließen die Bogensehnen der Eskimos, dann sprangen auch die Männer auf die Schlitten, die die Fußtruppe vorn Dorf aus begleitet hatten. Die älteren Krieger, die sich bereits auf den Schlitten befanden, schleuderten — sozusagen zum Abschied — noch je eine Harpune zu den Piraten. Erneutes Zorngeschrei drang zurück, und ein Hagel von Pfeilen schwirrte den Hundeschlitten nach. Vereinzelt krachten noch Musketenschüsse, aber keine der
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Kugeln und keiner der Pfeile schien die beweglichen Ziele zu treffen. Ipiutak kniete neben Bilonga, die sich erschöpft ganz auf den Fellschlitten hatte sinken lassen und heftig Atem holte. Ipiutak lächelte. Alles schien durchgestanden zu sein, der Rest des Fluchtweges in die nahen Berge war ein Kinderspiel geworden. So hatten sich ihre bösesten Ahnungen doch nicht bestätigt. Plötzlich zuckte sie zusammen. Bilonga fuhr hoch und sah gerade noch, wie ihre Mutter die Augen seltsam verdrehte. „Mutter!“ rief das Mädchen. Ipiutak lächelte immer noch schwach, aber ihre Züge hatten jetzt etwas maskenhaft Starres. „Mutter, Mutter!“ schrie Bilonga außer sich vor Entsetzen, als die Frau neben sie sank und sich nicht mehr rührte. Ipiutak lag auf dem Gesicht, und deutlich war das Einschußloch in ihrer Fellkleidung zu erkennen. Eine der Musketenkugeln hatte doch getroffen und sich in ihren Rücken gebohrt. „Nein!“ schrie Bilonga. „Nein, es darf nicht sein!“ Frauen griffen nach ihr und hielten sie fest, denn sie wollte sich vom Schlitten werfen und sich den Piraten entgegenstellen, um ihnen mit den Fäusten in die Gesichter zu schlagen, sie zu treten und zu bespucken. Bilonga war wie von Sinnen. „Sie haben sie umgebracht!“ schrie sie immer wieder. „Sie haben sie totgeschossen, umgebracht!“ * Ein kleiner weißer Federbusch erhob sich aus der blendend hellen Schneelandschaft zwischen den Felsen. Er schwirrte fast senkrecht in die Höhe, aber nur zwei, drei Yards, dann krachte die Muskete und brachte ihn zum Absturz. Mit dumpfem Aufschlag landete er auf dem Harsch. Hasard schritt vor, bückte sich und hob das Tier auf. Es war eins der Schneehühner, die Bill vorn Großmars aus gesichtet hatte, als die „Isabella“ mitten im
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Fjord geankert hatte, um die erlegten Walrosse zu übernehmen. Hasard, Ben Brighton und Siri-Tong hatten sich daraufhin wieder auf die Jagd begeben, während die Crew mit dem Schlachten und Ausnehmen der Wassertiere voll beschäftigt war. Der Kutscher hatte inzwischen verkündet, daß auch das Bärenfleisch durchaus genießbar, ja, sogar recht schmackhaft sei, und so durften die Seewölfe, wenn sie ihren Bordspeisezettel auch noch durch Geflügel etwas anreichern konnten, wieder recht zuversichtlich in die nahe Zukunft schauen. Das Proviantproblem schien in Kürze bewältigt zu sein. Vielleicht gelang es ihnen auch noch, ein paar Robben zu stellen und zu schießen — dann hatten sie für die nächsten Wochen vorgesorgt, vielleicht für zwei, vielleicht sogar für drei. Das Trinkwasserproblem gab es in diesen Breiten nicht, denn die Eisberge bestanden ganz aus Süßwasser, und man brauchte nur an Land zu gehen, Schnee in Kübel und Putzen zu schöpfen und den Schnee an Bord der Galeone zu schmelzen, um Wasser zur Verfügung zu haben. Hasard prüfte, ob das Schneehuhn auch wirklich tot war, dann steckte er es in einen mitgebrachten Beutel aus Segeltuch. Ben Brighton und Siri-Tong, die auch schon jeder ein Tier erlegt hatten, näherten sich ihm von hinten, traten neben ihn und sahen ihm zu, wie er seine Muskete mit Pulver und Schrot nachlud. Schrot war genau das richtige für die Jagd auf die Schneehühner. Die Tiere waren knapp so groß wie die Fasanen, die man in England und auch anderswo in Europa und der übrigen Welt antraf. Eine Kugel war ideal für größere Ziele. Schrot indes bot wegen seiner breiten Streuung die besseren Treffmöglichkeiten bei Kleinwild, und die kleinen Bleikörner konnte die Hühner auch nicht zerfetzen, wie es bei Musketenkugeln der Fall gewesen wäre. „Jagen wir weiter?“ fragte die Rote Korsarin. „Der Hauptschwarm scheint sich dort drüben, in der nächsten Schlucht, niedergelassen zu haben.“
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„Wir haben auf jeden Fall noch Zeit genug, ihm nachzustellen“, sagte Hasard. „Ehe die anderen mit dem Zerlegen der Walrosse fertig sind, haben wir — mit ein wenig Glück natürlich — vielleicht ein Dutzend Hühner geschossen.“ „Zwanzig oder zwei Dutzend wäre noch besser“, meinte Ben Brighton lächelnd. „Dann hätten wir ein Huhn pro Kopf der Crew — aber soviel mag man sich ja nicht erhoffen.“ „Nein“, sagte Hasard. „Aber vielleicht haben wir Glück und stöbern den großen Schwarm noch auf. Alles hängt davon ab, wie nah wir uns an ihn heranpirschen können. Ich schlage vor, wir trennen uns und versuchen, die Hühner zu umzingeln. Sobald sie auffliegen, schießen wir. Drückt nicht auf die Tiere ab, solange sie noch am Boden sind. Durch Schüsse in den Schnee gefährden wir uns nur gegenseitig.“ Sie schritten weiter und erreichten etwas später einen Hang, der zu einem kerbenförmigen Einschnitt hinaufführte, durch den sie in die Nachbarschlucht zu gelangen hofften. Um in dem weicheren Schnee am Hang nicht einzusinken, legten sie jetzt die Schneeschuhe an, die Ferris Tucker und Will Thorne in hervorragender Zusammenarbeit hergestellt hatten. Ferris hatte ovale Holzgestelle gezimmert, Will, der Segelmacher der „Isabella“, hatte aus Tuchfetzen und Garn Netze zwischen den Gestellen gespannt. Mit Lederriemen ließen sich diese eigentümlich anmutenden Hilfsmittel an den Stiefeln festschnallen, und, tatsächlich, man lief darauf, ohne im tiefen Schnee steckenzubleiben. Je größer eine Auflagefläche wie diese war, desto besser verteilte sie das menschliche Gewicht auf den trügerischen Untergrund, über den er sich bewegte. Im Einschnitt der Felsen duckten sie sich und spähten in die Schlucht, die sich unter ihnen ausdehnte. Kaum erkennbar hoben sich die Umrisse der Federtiere von der weißen Umgebung ab, ihre Tarnung war fast perfekt. Nur ihre Bewegungen, ihr Auf- und Abstolzieren und Rucken mit den Hälsen verrieten sie
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dem Beobachter. Hasard, die Rote Korsarin und Ben Brighton zählten mehr als zwei Dutzend Schneehühner. Siri-Tong lächelte, denn sie war in gewisser Weise stolz darauf, daß sich ihre Annahme als richtig erwiesen hatte. Hasard wandte sich ihr und Ben zu und gab ihnen durch Gesten zu verstehen, wie sie sich verhalten sollten. Siri-Tong sollte sich nach Osten wenden und nach einem Durchlaß Nischen den Felsen und einem Abstieg suchen, der sie schließlich bis zum östlichen Ausgang der Schlucht hinunterführte. Ben würde sich vom Einschnitt über den ziemlich steil zur Schlucht hin abfallenden Hang nach unten arbeiten, wobei er immer bemüht sein mußte, nicht von den Schneehühnern entdeckt zu werden, die sofort aufflattern würden, wenn sie eine Gefahr bemerkten. Hasard wandte sich nach Westen, um den Tieren den Fluchtweg nach dort zu verbauen. Somit hatten sie den Schwarm von Westen, Süden und Osten in der Zange. Nach Norden würden sich die Schneehühner aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wenden, denn das Bergland ragte zu steil auf, und Hasard vermutete, daß sich ein Schneehuhn letztlich ähnlich wie ein Fasan oder Birkhuhn verhielt. Fasan beispielsweise flog nie an, sondern immer bergab, um sich schwebend ins Dickicht zu retten, sobald Gefahr im Verzug war. Stieg er hingegen auf, war er. viel mehr dem Scharfblick seines Verfolgers ausgesetzt. Mit Sir John, dem alten Killigrew, war Hasard in seiner Jugendzeit öfter auf Jagd gewesen und hatte fast alle Tricks erlernt, die ein guter Weidmann wissen mußte. Der alte Killigrew war eben nicht nur ein salzgewässertes Raubein, dessen Metier die Seefahrt und das Kapern fremder Schiffe war, nein, er wußte auch hervorragend zu reiten und kannte alle Spielarten der Jagd. Was solche Erfahrungen betraf, so mußte Hasard ihm eigentlich dankbar sein. Er wäre es auch gewesen – wenn da nicht all die anderen
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üblen Begebenheiten mit der Sippe der Killigrews gewesen wären. Hasard kletterte durch die Felsen und riskierte einige Male, sich die Schneeschuhe zu zerbrechen oder abzustürzen. Man mußte fast wie eine Gemse oder wie ein Steinbock klettern können, um sich in dieser schroffen, zerklüfteten, gefährlich glatten Gebirgsregion nicht den Hals und sämtliche Knochen im Leib zu brechen. Hasard hoffte, daß auch Siri-Tong und Ben Brighton das Abstiegsmanöver in die Schlucht glimpflich überstanden hatten, als er am westlichen Ausgang anlangte. Eine Sturzpartie wegen dieser zwei Dutzend Federtiere lohnte sich denn doch nicht. Er war jetzt wieder froh darüber, die Schneeschuhe anbehalten zu haben. Die weiße Masse auf dem Grund der Schlucht war weich, als wäre sie vor ein paar Stunden gefallen. Ohne die Zusatzgeräte unter den Stiefeln wäre er zweifellos bis zu den Hüften eingesunken. Diesmal nahm er den Radschloß-Drehling von der Schulter. Er hatte ihn zusätzlich zu der Muskete mitgenommen, als sie an Land gegangen waren, um den Schneehühnern nachzuspüren. In weiser Voraussicht hatte er auch ihn mit Schrot geladen. Desgleichen die Rote Korsarin: Sie führte den SchnapphahnRevolverstutzen bei sich und hatte ihn — vorausgesetzt, es war alles gut gegangen — jetzt sicher bereits im Anschlag. Die Pirsch begann. Hasard schlich nach Osten, hart am steil aufragenden Felsen der Schlucht entlang. Bis nach hier unten drang das fahle Sonnenlicht nicht, und er war froh darüber, sich im Halbdunkel des Schattens bewegen zu können. Eine bessere Tarnung hätte er sich nicht wünschen können. Die Schlucht beschrieb eine Biegung nach Nordosten. Als Hasard sie hinter sich gebracht hatte, hatte er die Schneehühner wieder vor sich im Blickfeld. Sie hatten sich von ihrem Platz nicht fortgerührt und schienen sich sicher zu fühlen. Hier hatten sie Schutz vor den Zweibeinern gesucht, die vorher auf ihre versprengten
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Artgenossen gefeuert hatten. Sie rechneten wohl nicht damit, daß die Menschen jemals bis hierher vordringen würden. Hasard schritt langsam voran und war bestrebt, kein Geräusch auf dem Schnee zu verursachen. Als der Untergrund jedoch etwas härter wurde, ließ sich das Knirschen und Schurren nicht mehr ganz vermeiden. Er ging schneller. Die Schneehühner reckten die Hälse, hörten mit dem Herumstolzieren auf und schienen plötzlich wie gelähmt zu sein. Hasard wußte jetzt, daß sie ihn erblickt hatten. Ihr jähes Entsetzen war die Phase unmittelbar vor dem Abflug. Er hielt den Kolben des Drehlings bereits gegen die rechte Schulter gepreßt und zielte. Wenn er schnell war, sehr schnell, dann konnte er vielleicht sogar sechs Tiere erlegen, mehr aber auf keinen Fall. Es war ein Irrtum zu glauben, daß man mit einem einzigen Schuß aus einer Schrotflinte gleich mehrere Hühner zur Strecke bringen konnte. Trotz der Streuung der Bleikörner war das unmöglich. Nicht einmal zwei Spatzen oder Stare vermochte man mit einer Ladung vom Himmel zu holen. Die Schneehühner lösten sich aus ihrer Lähmung. Hasard wartete auf ihren Start. Wo waren Ben Brighton und Siri-Tong? Waren sie dicht genug heran, um ebenfalls feuern zu können? Verständigen konnte er sich mit ihnen nicht mehr. Die Situation verlangte ihm seine volle Konzentration ab, außerdem hätte ein Ruf die Schneehühner derart in Panik versetzt, daß sie in alle Himmelsrichtungen auseinander gestoben wären. So aber flatterten sie in dichtem Verband auf und bildeten einen quirligen Schwarm vor der südlichen Schluchtwand. Hasard ließ ihnen ein wenig Vorsprung, bis sich ihre Fluglage stabilisiert hatte. Dann drückte er ruhig ab. Er traf, transportierte die Trommel weiter, gab den nächsten Schuß ab, brachte die dritte Kammer des Zylinders in die Stellung vor dem Lauf — und dann ertönte
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auch das Wummern von Ben Brightons Muskete, und wieder fiel ein Schneehuhn auf den Grund der Schlucht zurück. Ben Brighton hatte zwei Musketen mitgenommen, hatte jetzt also noch einen weiteren Schuß zur Verfügung. Hasard feuerte zum drittenmal, erwischte auch diesmal ein Tier des Schwarmes, der nun entsetzt immer höher aufstieg, drehte die Trommel weiter und wartete auf das Krachen des SchnapphahnRevolverstutzens von Siri-Tong. Noch konnte auch die Rote Korsarin einige Schneehühner erlegen, bevor der Schwarm jenseits des südlichen Grats verschwand und über den Fjord davonflog. Aber der Stutzen schwieg. Siri-Tong war nirgends zu sehen. 5. Siri-Tong wäre beim Abstieg in die Schlucht um ein Haar abgerutscht, wenn sie nicht sehr geistesgegenwärtig mit beiden Händen zugepackt und einen schroffen Vorsprung im Felsen umklammert hätte. So glitt sie zwar mit ihren Schneeschuhen von dem Sims, auf dem sie sich vorwärtsgetastet hatte, stürzte aber nicht ab. Sekundenlang hing sie über dem Abgrund, und ihre Beine bewegten sich über der gähnenden Tiefe. „ Dann fand sie wieder Halt auf dem Sims, ließ den Vorsprung versuchsweise los und stellte zu ihrer Erleichterung fest, daß sie das Gleichgewicht zu halten vermochte. Sie arbeitete sich weiter voran und fand etwas später den Abstieg zum östlichen Ausgang der Schlucht, eine Art steilen Hohlweg, der wie eine Rampe in die Tiefe führte. Mit einem Schlitten hätte man sich auf der glatten Schneefläche, die ihn ausfüllte, auf eine rasante Fahrt begeben können. Siri-Tong wagte sich auf diese glatte, spiegelnde Fläche aus Eis und Schnee hinaus und bewältigte den Abstieg auf einem Zickzack-Pfad, den sie sich in Gedanken selbst zurechtlegte. Es war dies die einzige Möglichkeit, nicht auszugleiten
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und auf dem Hosenboden nach unten zu sausen. Unten hatte sie jetzt linker Hand die hohe, dunkel gähnende Schlucht vor sich. Nach rechts hin öffnete sich der Ausgang zu einer Art großem weißem Feld, das hier und da durch Felsgruppen unterbrochen war. Im nördlichen Hintergrund ragten die weiß und grau schimmernden Berge wie stumme, uralte, alles dominierende Giganten auf. Die Felsen, die den abschüssigen Hohlweg säumten, verliefen nach Osten hin wie eine Barriere, die das Schneefeld zum Fjord hin abschirmte. Siri-Tong wollte sich der Schlucht zuwenden, da vernahm sie rechts von sich ein merkwürdiges knurrendes Geräusch. Sie fuhr herum, brachte ihren Schnapphahnstutzen in Anschlag und spannte mit dem Daumen der rechten Hand den Hahn. Das verhaltene metallische Knacken schien den Laut zu unterbrechen, er war jetzt fort, wie vom säuselnden Wind weggewischt. Zweifellos hatte ihn ein Tier verursacht. Siri-Tong bewegte sich etwas nach rechts, kniff die Augen zusammen und versuchte, in dem weißen, glänzenden Feld etwas zu erkennen. Wölfe – gab es die hier? Nach Hasards Auskünften über die Polarwelt existierten sie in diesen Breiten nicht. Aber Hasard hatte sein Wissen auch nur von Hendrik Laas übernommen, in den meisten Punkten war es also theoretischer Art, wenn auch inzwischen einige neue Erfahrungen gesammelt worden waren. Siri-Tong schlich auf einen Vorsprung der Felsenbarriere zu, der das dahinterliegende Gebiet ihrem Blick entzog. Der drohende Laut - war er nicht von dort zu ihr gedrungen? Polarfüchse gab es auf Grönland, aber konnte ein Polarfuchs so knurren? Und überhaupt, würde ein solcher Fuchs einen Menschen nicht eher meiden, statt im Schutz der Felsen auf ihn zuzuschleichen? Siri-Tong mochte sich nicht der Schlucht zuwenden, ehe sie keine Gewißheit über den Urheber des Geräusches hatte. Es war
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eine unangenehme Sache, mit einem unheimlichen Schatten hinter dem Rücken in so eine dunkle Schlucht zu pirschen. Sie war dem Vorsprung jetzt sehr nah. Sie brauchte nur die Hand auszustrecken und konnte den Felsen berühren. Aber sie ließ ihre beiden Hände lieber am Schaft und am Abzug des Stutzens. Täuschte sie sich - oder waren da jetzt wirklich hechelnde Atemzüge? Fast konnte sie sich eines kalten Schauers nicht erwehren. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihrem Rücken. Was, in aller Welt, ging hier vor? Ehe sie um den Vorsprung herum war, erhielt sie die Antwort auf alle Fragen - auf jähe, überraschende, brutale Weise. Die Gestalt zuckte um den Vorsprung herum und auf sie zu, ein behaartes Wesen mit vier Beinen und einem zahnbewehrten, weit aufgerissenen Rachen, der jetzt mörderisch auf ihre Kehle zuschoß. Nur noch aus einem einzigen, riesigen Zahnmaul schien das Tier zu bestehen, als es sie erreichte und mit sich zu Boden riß. Der Überraschungsmoment hatte Siri-Tong einen bösen Streich gespielt. Sie hatte es nicht mehr geschafft, den Stutzen ganz hochzureißen und auf das Tier abzudrücken, und jetzt war ihre Chance verspielt, denn die Zähne schnappten nach ihren Armen und ihrer Kehle, und der Stutzen lag plötzlich so unglücklich verkeilt, daß sie sich selbst gefährdete, wenn sie abdrückte. Sie konnte nicht mehr anders und mußte den Stutzen loslassen. Sie schützte sich vor dem tödlichen Biß in ihren Hals, indem sie mit beiden Händen zupackte und sich die Bestie vom Leib hielt. Sie hätte vor Schmerz und Entsetzen am liebsten aufgeschrien, aber sie preßte die Zähne zusammen, bezwang ihre aufkeimende Panik und suchte krampfhaft nach einem Weg, sich Erleichterung zu verschaffen. An ihr Messer konnte sie nicht heran, solange jedenfalls nicht, wie sie gezwungen war, den Killer mit ausgestreckten Armen von sich zu stemmen und obendrein darauf zu achten, daß er ihr nicht in die Arme biß.
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Sie zog in einer eher instinktiven Abwehrhandlung die Beine an den Leib, brachte ihre Füße mit den Schneeschuhen unter den Bauch des Vierbeiners und wollte ihn fortkatapultieren. Er warf seinen Kopf wild hin und her. Seine Zähne waren wie Messer, die ihre Kleidung aufschlitzten. Ihre ledernen Handschuhe waren zerfetzt, und sie konnte das Blut sehen, ihr eigenes Blut, das ihr von den Händen lief. * Die Gräting war von der Luke auf dem Hauptdeck gehoben worden. Mit vereinten Kräften hievten die Männer der „Isabella“ die zerlegten Walrosse zunächst außenbords von den Eisschollen aus hoch und fierten sie dann in den mittleren Frachtraum ihres Schiffes ab. Das Ganze lief natürlich nicht ohne das mörderische Fluchen des Profos’ ab, der inzwischen wieder an Bord der Galeone aufgeentert war. Der Kutscher hatte derweil ein dampfendes Gericht aufs Quarterdeck getragen, um Ferris Tucker, dem derzeitigen Kapitän der „Isabella“, seine Kochkünste anschaulich zu demonstrieren. Ferris blickte zunächst etwas skeptisch auf die gabelgerecht zerteilten Fleischbrocken, die da in einer Soße schwammen. „Was zum Teufel, ist das, Kutscher?“ erkundigte er sich argwöhnisch. „Bärengulasch, Sir“, erwiderte der Kutscher stolz. „Und das soll schmecken?“ „Ich schwör’s dir, Ferris.“ „Wie war das – wolltest du nicht Eisbärensteaks brutzeln? Wäre das nicht besser gewesen?“ „Das Filet soll ich für den nächsten Sonntag aufbewahren, hat Hasard gesagt.“ „Ach so. Na, dann laß mich mal kosten“, sagte der rothaarige Schiffszimmermann. Er griff zum Löffel, den der Kutsche ihm hinhielt, und beschloß, die Sache mit Todesverachtung und der erforderlichen Haltung zu meistern.
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Als er dann aber die erste Löffelladung Gulasch in seinen Mund schob und kaute, staunte er nicht schlecht. Er schluckte, schnaufte, wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab und meinte: „He, Kutscher, du Teufelskerl, das schmeckt ja wirklich!“ „Habe ich dir doch gesagt. Meinst du, ich will meinen Kopf riskieren und von euch Kerlen gekielholt werden?“ Ferris schaufelte den Essennapf mit dem Löffel leer, nickte noch einmal anerkennend und sagte dann: „Sehr gut. Ganz ausgezeichnet sogar, Kutscher, wenn wir mit den Walrossen fertig sind, lasse ich gleich zum Backen und Banken antreten und ...“ „Deck!“ schrie in diesem. Augenblick Bill, der Moses. Ferris legte den Kopf in den Nakken, schirmte die Augen mit der rechten Hand gegen die Sonne ab und spähte zu Bill hoch. Der rief jetzt: „Deck, Eisscholle! Sie hat sich vor die Ausfahrt des Fjords geschoben!“ „Hölle und Teufel“, sagte Ferris. „Mußt du deswegen einen solchen Spektakel veranstalten?“ „Du solltest dir die Eisscholle vielleicht mal genauer durch den Kieker ansehen“, sagte Big Old Shane, der auf dem Achterdeck stand und das Fernrohr auf Bills Meldung hin sofort auf den Eingang der Felsenbucht gerichtet hatte. „Na schön, dann gucken wir uns das Ding mal an“, sagte Ferris ärgerlich. Er stieg die fünf Stufen des Niederganges hoch, und in diesem Augenblick erklang vom Nordufer das Krachen der Flinten. Hasards, Bens und Siri-Tongs Jagd auf die Schneehühner schien vom Erfolg gekrönt zu sein. Verdammt, und ausgerechnet jetzt, da alles so glatt und zur allgemeinen Zufriedenheit verlief, sollte ihnen ausgerechnet eine Eisscholle Verdruß bringen? „Diese idiotische Scholle hacken wir notfalls kaputt“, sagte Ferris. „Oder wir zerteilen sie mit dem Bug der ,Isabella`. Es schwimmen doch schon einige Schollen hier im Fjord, wieso sollen wir uns wegen einer weiteren den Kopf zerbrechen?“
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Shane erwiderte darauf nichts, er reichte dem rothaarigen Riesen nur den Kieker. Ferris äugte durch die Optik - und dann ließ er einen ellenlangen Fluch los. Eine so riesenhafte Scholle hatte er wirklich noch nicht gesehen, nicht einmal südlich des Kaps der Stürme, wo sie vor Jahren einmal ein scheußliches Erlebnis mit solchen gewaltigen Eisteppichen gehabt hatten. Diese Scholle hier schien so groß wie eine jener Palmeninseln zu sein, die man haufenweise in der Südsee antraf und sie preßte sich mit bedrohlichem Schaben, Bohren und Krachen in die Passage des Fjords. „Also, das ist doch vielleicht ein Ding“, entfuhr es Ferris. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber dann schwieg er doch, denn ihm fehlten die Worte. Mit allem hatte er gerechnet - nur damit nicht. „Das ist Packeis“, sagte Shane. Old O'Flynn, der inzwischen auch das Achterdeck geentert hatte, sagte mit verdrossener Miene: „Die verfluchte Abdrift, die das erste Walroß, das wir gesehen haben, hierher befördert hat, drückt das von Norden treibende Eis unseligerweise ausgerechnet in unseren Fjord. Wenn noch weitere Schollen folgen, werden wir vollständig blockiert.“ Ferris fuhr zu ihm herum. „Hör auf, Donegal, mal den Teufel nicht an die Wand. Das darf uns einfach nicht passieren.“ „Wir müssen uns mit dem Verfrachten der Jagdbeute beeilen“, sagte Big Old Shane. „Solange wir nicht ganz eingeschlossen werden und mit unsrer alten Lady noch manövrieren können, gelingt es uns vielleicht, uns freizuboxen.“ „Sehen wir zu, daß wir hier so schnell wie möglich verschwinden“, ließ sich nun auch der Rothaarige vernehmen. „Wenn Hasard, Ben und Siri-Tong nur bald zurückkehren würden.“ „Wir könnten ihnen ein Zeichen geben“, meinte der alte O'Flynn. „Worauf du dich verlassen kannst“, sagte Ferris grimmig. Er schritt zum Schanzkleid, beugte sich etwas hinüber und rief den Männern unten auf den
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Treibeisschollen und in den Jollen zu: „Strengt euch an, Kerls, wir müssen hier weg! Wir kriegen Ärger mit dem Packeis!“ „Aye, aye!“ riefen die Männer zurück. Carberry, der Ferris' Worte gehört hatte, brüllte auf der Kuhl auf den Rest der Crew ein: „Willig, ihr müden Schnarchsäcke, bewegt euch, oder ich ziehe euch die Hammelbeine lang. Kutscher, bist du bald mit dem Herumwirtschaften in der Kombüse fertig, was, wie? Wir brauchen dich doch hier auf Deck. Philip, Hasard, ihr Lausebengel, wo steckt ihr bloß? Paßt auf, daß ihr heute nicht in der Vorpiek landet, ihr Kanaillen! Mann, Jeff Bowie, du Stint, nimm deinen Quadratschädel aus der Luke, oder du kriegst eine Ladung Walroß auf die Birne. Bist du blind, oder hast du Schlick auf den Augen - oder was ist los?“ Jeff zog den Kopf zurück und murmelte: „Wer stopft diesem Brüllaffen bloß mal das Maul?“ „Mister Bowie, hast du was zu meckern?“ dröhnte Carberrys mächtiges Organ in seinen Ohren. „Nein.“ „Was hast du dann zu brummeln?“ „Ich meinte nur, daß ich keinen Schlick auf den Augen habe, Mister Carberry“, entgegnete Jeff nicht ohne Ironie. Der Profos verzog das Gesicht. „Aus dir soll einer schlau werden, du Tränentier“, sagte er, während er beobachtete, wie die nächste Ladung Fleisch in den Frachtraum abgefiert wurde. Ferris Tucker war auf das Quarterdeck zurückgekehrt, trat ganz nach vorn an die Schmuckbalustrade und rief Carberry zu: „Laß schon mal die Flaschenbomben bereitlegen, Ed. Es könnte sein, daß wir sie bald brauchen.“ „Um uns den Weg in die offene See freizusprengen?“ „Ja. So wie damals, am Südpol.“ „Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen würden“, sagte der Profos, aber so richtig überzeugt war er davon selbst nicht. Mit Unbehagen dachte er an die Zeit zurück, in der sie mitten im Packeis festgesessen hatten, und er konnte sich
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eines leichten Zusammenschauderns nicht erwehren. Das Packeis war tückisch und steckte voller Kraft. Es arbeitete ständig und konnte ein Schiff wie die „Isabella“ mühelos zerquetschen, wenn es sich erst einmal richtig um den Rumpf geschlossen hatte. Es hatte die Einfahrt des Fjordes zugerammt und trieb jetzt behäbig auf die Galeone zu. Eine neue Riesenscholle näherte sich unterdessen mit derselben Drift von Nordwesten dem Fjord, aber Bill, der Ausguck, hatte sie noch nicht entdeckt, weil die Felsen der Bucht die Sicht einengten. * Die Iglus, einst so kunstfertig und voll Akribie von den Eskimos errichtet, waren fast alle der Zerstörungswut der Piraten zum Opfer gefallen. Ingbert hob gerade wieder die Axt, um ihren Keil in die fast nahtlos aufeinander geschichteten Schneeblöcke einer Behausung zu hacken, da stoppte ihn der Ruf eines seiner Kumpane. „Halt ein – da nähert sich ein Schiff!“ Ingbert ließ die Axt sinken und drehte sich verwundert um. Ein anderes Schiff, hier oben, in diesen Breiten? Das war fast zu unwahrscheinlich, denn Jor und er und alle anderen Kerle von dem Drachenboot waren bislang davon überzeugt gewesen, es bei Thule lediglich mit den Kajaks der Eskimos zu tun zu haben. Absichtlich hatte sich Jor, der sonst mit seinem Schiff vor den Küsten Südgrönlands umherstreifte und fremde Segler überfiel, in den wärmeren Sommermonaten nach Thule zurückgezogen. Von schweren Kämpfen gegen mit Kanonen bestückte Galeonen, Karavellen und Karacken hatte er vorläufig die Nase voll, sie hatten ihm große Verluste und wenig Beute eingebracht. Jetzt wollte er den Eskimos, von denen er kaum Widerstand erwartete, zu Leibe rücken und ihnen ihre Felle abnehmen. Er gedachte, sie später in Neufundland gegen
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gutes Geld an die Kabeljaufischer zu verhökern. Jetzt aber segelte ein stolzes Schiff mit drei Masten dreist durch die Einfahrt der langgestreckten Bucht und hielt auf das Dorf der Eskimos zu. Ingbert war für einen Moment fassungslos. „Bei Odin“, sagte er dann. „Wer in aller Welt ist das?“ „Vielleicht der Kahn, den wir vor zwei Tagen gesichtet haben“, meinte ein blondbärtiger Bronzehelmträger, der soeben neben ihn getreten war. „Erinnerst du dich nicht?“ „Natürlich erinnere ich mich. Aber Jor hat gesagt, der Dreimaster sei ein verdammtes Trugbild, das uns die Dämonen vorgegaukelt haben. Es gäbe keine Galeonen in diesen Gefilden.“ „Ingbert, das dort — ist das auch ein Trugbild?“ „Nein. Verflucht, nein.“ Ingbert kaute auf der Unterlippe herum. Was hatte das Auftauchen der Galeone zu bedeuten? War es ein reiner Zufall — oder Absicht? Hatte die Besatzung die Musketenschüsse gehört, die sie, die Wikinger-Piraten, auf die Eskimos abgegeben hatten? Und wenn schon — Verbündete der Eskimos konnten die Männer des Dreimasters auf keinen Fall sein. Dies sagte sich der rotblonde Riese zumindest, und gleichzeitig sann er nach, was die Fremden auf dem Schiff, wer immer sie auch sein mochten, wohl im Schilde führten. „Schnapphähne“, murmelte er. „Sie sind aus dem gleichen Grund hier wie wir. Sie haben Hunger. Und sie wollen Pelze. Zum Plündern sind sie gekommen, ja, genau so ist es.“ „Sie haben unser Drachenboot entdeckt“, sagte der Blonde. „Ja. Aber uns noch nicht.“ „Was hast du vor?“ „Wir verstecken uns hinter den letzten Iglus“, sagte Ingbert mit einem dünnen, grausamen Lächeln, das jetzt um seine Mundwinkel spielte. „Wir lassen sie ruhig heran, gestatten es ihnen, daß sie unser verlassenes Drachenboot inspizieren,
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lassen sie an Land gehen — und dann fallen wir über sie her. Selbst wenn sie keine Reichtümer auf ihrem Segler haben: Jor wird sich über ein so schmuckes Schiff freuen.“ „Gut“, sagte der Blonde. „Und was tun wir mit diesen Fremden?“ „Das fragst du noch? Wir töten sie — alle.“ Ingbert gab den Kumpanen ein Handzeichen, und binnen weniger Augenblicke hatten sie sich hinter die Iglus gekauert, hielten ihre Waffen bereit und warteten das Landen der Männer des fremden Schiffes ab. Auf dem Bug des heranrauschenden Seglers konnten sie jetzt dessen Namen entziffern: „Sparrow“. 6.
Siri-Tong vernahm die Schüsse, die in der Schlucht krachten. Es waren der Radschloß-Drehling des Seewolfs und die Musketen Ben Brightons, die da sprachen, und unwillkürlich durchfuhr sie der Gedanke, daß sie vielleicht besorgt zu ihr herübergelaufen waren und nun über den Rücken des Tieres hinwegfeuerten, um sie zu retten. Aber es war eine reine Illusion. Sie war auf sich allein gestellt und mußte erbittert kämpfen, wenn sie nicht sterben wollte. Sie spannte alle Muskeln an, und dann schnellten ihre Beine schräg nach oben, bevor die Bestie ihre Hände und Unterarme ganz zerbeißen konnte. Die Schneeschuhe beförderten das knurrende Tier durch die Luft. Siri-Tong war frei, wenigstens für einen Moment, konnte sich aufrichten und nach ihren Waffen greifen. Ihre Hände bluteten und schmerzten, aber sie biß wieder die Zähne zusammen, riß den Schnapphahn-Revolverstutzen an sich und legte auf den vierbeinigen Gegner an. Weder ein Wolf noch ein Fuchs war das, wie sie erst jetzt feststellte. Nein — ein Hund hatte sie angegriffen, ein nicht sonderlich großer, weißlich-gelb gefärbter, struppiger Hund, der vor nichts zurückzuschrecken schien.
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Ein Schlittenhund. Er war auf dem Rücken gelandet, hatte sich jetzt jedoch wieder aufgerappelt, stand mit abgespreizten Beinen da, knurrte, duckte sich dann, schob sich langsam auf sie zu und fletschte mörderisch die Zähne. „Fasse einen Schlittenhund nur mit der linken Hand an, wenn du Rechtshänder bist“, riet eine alte Jägerweisheit der Eskimos. Dieser Spruch — auch er war dem Seewolf von dem Dänen Hendrik Laas erzählt worden — vermittelte einen Eindruck davon, wie gefährlich die zähen kleinen Hunde der Arktis werden konnten. Siri-Tong hätte dies niemals für möglich gehalten. Jetzt aber sagte sie sich, daß diese Tiere, zumindest der zähnefletschende Bursche, der es auf sie abgesehen hatte, in direkter Linie von den Wölfen abstammen mußten. „Komm“, sagte sie. Sie zielte auf seinen Kopf, zögerte aber doch noch, abzudrücken. Trotz der Wunden, die er zugefügt hatte, verspürte sie mehr Respekt als Haß für ihn. Ein kurzer, zischender Laut erklang von rechts, und plötzlich wandte sich der Schlittenhund von ihr ab. Jaulend zog er auf die Felsenbarriere zu, Siri-Tong verfolgte seinen Weg mit dem Blick — und dann stand sie wie erstarrt da. Hinter mehreren Vorsprüngen des Gesteins, aus Nischen und Winkeln, waren Gestalten aufgetaucht. Sie trugen Pelzanoraks mit Kapuzen, einfache Schirmblenden gegen die Schneeblindheit, Eisbärhosen und dicke Stiefel aus Seehundleder. Ihre Gesichter waren düster, hart, verkniffen, und in den Fäusten hielten sie Harpunen und Pfeil und Bogen. Es waren mindestens zehn, wie sie rasch zählte. In unmißverständlicher Absicht hielten sie ihre Waffen auf sie gerichtet. Sie konnte vielleicht zwei, drei von ihnen töten, aber dann wurde sie zweifellos von einer Harpune oder einem Pfeil getroffen. Sie, die Rote Korsarin, war der unerwünschte Eindringling. Die Freundlichkeit der Eskimos von Thule schien eine Legende zu sein — Hendrik Laas hatte sich, als er den Seewölfen seine
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Geschichte erzählt hatte, zumindest in diesem Punkt gewaltig geirrt. Oder er hatte maßlos übertrieben. Oder sie akzeptierten nur einen einzigen weißen Mann in ihrem Land, nämlich ihn, den Dänen. Oder? Konnte ihre Feindseligkeit nicht auch andere Gründe haben? Während sie dastanden und sich gegenseitig mit Blicken abtasteten, überlegte Siri-Tong fieberhaft. Mußten die Eskimos nicht die Schüsse gehört haben, die im Fjord gefallen waren? Mußten sie nicht denken, jemand wolle sie überfallen oder ihnen das Wild wegnehmen, das sie so dringend zum Leben brauchten? War es das, was sie so zornig stimmte? Ja, nur so konnte es sein. Sie hatten das Peitschen der Schüsse vernommen und hatten einen ihrer Schlittenhunde vorgeschickt, die Spur der Eindringlinge aufzunehmen. Vielleicht war er ein Bas, ein Leithund eines Schlittengespanns, ein besonders kundiges und mutiges Tier also. Nun, dieser Bas hätte sie beinah umgebracht. Hatte sie nicht allen Grund, ihn dafür durch einen Schuß zu töten? Sicherlich, aber es wäre mehr als töricht gewesen. Wenn sie die Feindseligkeit der Eskimos abbauen wollte, dann mußte sie ganz anders vorgehen und absolute Überlegenheit beweisen. Siri-Tong ließ den Stutzen langsam sinken. Ihre Finger lösten sich vom Schaft und Kolben, die Waffe fiel in den Schnee. SiriTong zog ihr Messer und warf es ebenfalls auf den Boden. So hatte sie es von Ajataq, dem Eskimo, gesehen, den sie in Labrador getroffen hatten. Zum Zeichen seiner Friedfertigkeit hatte er sich dieser Geste bedient. Siri-Tong entsann sich der Worte der Eskimo-Sprache, die Cyril Auger, der Kapitän der „Ulysses“, ihnen beigebracht hatte, bevor sie Labrador wieder verlassen hatten. Sie tippte sich mit dem Finger gegen die Brust und sagte in der hart akzentuierten und gutturalen Sprache Inuks: „Sie Freund.“
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Die Mienen der Eskimos schienen sich ein wenig zu entspannen. Der etwas gedrungene, sehr kräftig gebaute Mann, der vor den anderen stand und auch den Schlittenhund zurückgerufen hatte, senkte die Spitze seiner Harpune, trat zwei Schritte vor und stand nun neben dem Bas, der mit dem Schwanz zu wedeln begann. Der Mann schlug sich mit der freien Hand gegen die Brust und sagte: „Er - Okvik.“ Es gehörte zu den wichtigsten Formen der Verständigung der Eskimo-Völker, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen, vor allen Dingen, wenn man Fremden gegen- überstand. „Sie heißt Siri-Tong“, sagte die Korsarin. „Okvik fragt, was tut sie hier?“ „Sie versteht nicht ...“ „Was - sie - will?“ Siri-Tong wies zum Fjord. „Walrosse“, sagte sie. „Viele?“ „Acht.“ Sie hob beide Hände und zeigte ihm acht Finger vor. Er bückte sich und hob die Mütze aus Eisbärfell auf, die sie bei dem Kampf mit dem Hund verloren hatte. „Nanoq“, sagte er, und es klang wie eine Anerkennung. „Naohuaq“, korrigierte sie. „Ein sehr großer Eisbär.“ Okvik, der Eskimo, trat dicht vor sie hin und musterte sie aus dunklen, forschenden Augen und mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie hielt seinem Blick stand. Er sah auf ihre blutenden, zerkratzten Hände, und etwas in ihm schien sich grundlegend zu verändern. War es wirklich Mitleid, das jetzt aus seinen Augen sprach? Er bückte sich wieder, klaubte eine Handvoll Schnee auf und begann, das Blut von ihren Händen abzuwaschen. Siri-Tong preßte die Lippen zusammen, weil der Schmerz sofort wieder stark zunahm. Dann aber wich das brennende, kaum erträgliche Gefühl einer angenehmen Erfrischung. Okvik nickte, als er sie lächeln sah. Er beugte sich wieder hinunter, schöpfte mit der Hand Schnee und bearbeitete damit fürsorglich ihre Hände. Je mehr Schnee er
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auf ihrer Haut zerdrückte und zerrieb, desto wohler wurde ihr zumute. Sie lachte erleichtert auf. Er lachte ebenfalls, und seine Begleiter fielen im Chor mit ein. Ihre schwarzen Augen leuchteten mit einemmal sehr vergnügt, und ihre Mienen drückten ehrliche Heiterkeit aus. „O großer Konfuzius“, sagte die Rote Korsarin in ihrer Muttersprache. „In was für einer Gesellschaft bin ich denn hier bloß gelandet?“ Die Eskimos schienen sich vor Lachen ausschütten zu wollen, als sie diese feine, singende Sprache vernahmen. Sie rückten alle näher, betrachteten und betasteten die schöne Frau, ohne dabei jedoch zu aufdringlich zu sein. Sie hatte ihre Herzen erobert. * Bilonga wollte das Ulo, das wiegenförmige Weibermesser, aus ihrem Gurt zerren und sich damit die Adern der Unterarme auftrennen, denn ihre Verzweiflung kannte keine Grenzen und trieb sie an den Rand des Wahnsinns. Wenn die Frauen nicht gewesen wären, die bei, ihr und ihrer Mutter Ipiutak auf dem dahinhinrasenden Schlitten saßen, wäre es ihr vielleicht sogar gelungen. Die Frauen aber entwanden ihr das scharfgeschliffene Messer. Sie hielten Bilonga an den Armen und Beinen fest und redeten ununterbrochen auf sie ein. Aber es schien alles nichts zu nutzen. Das Mädchen war wie von Sinnen. Die Hundeschlitten jagten durch eine Schlucht, stoppten etwa in ihrer Mitte etwas ab und bogen nach rechts in eine dunkle Seitengasse des Felsenlandes ein. Nur ein Eingeweihter, der die Gebirgsregion gut kannte, würde diese winzige Schlucht wiederfinden, statt an ihr vorbeizufahren. Am Ende der Seitenschlucht hatte eine Laune der Natur drei große Höhlenlöcher in das Gestein gegraben. Hier warteten die Greise und die kleinen Kinder auf die Nachzügler, hierher hatten die Eskimos
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auch ihren Fleischproviant, ihre Felle und die Geräte und Waffen geschafft, die sie bei der Flucht aus dem Dorf hatten mitnehmen können. Die drei Schamanen des Stammes, uralte Männer in ganz aus Eisbärfell gefertigter Kleidung, traten aus dem mittleren Höhlenloch, als die Schlitten stoppten und jedermann sehen konnte, wie es um das Mädchen Bilonga bestellt war. Die Schamanen erkannten die zusammengesunkene, reglose Gestalt von Bilongas Mutter erst, als sie ganz dicht an den Schlitten herantraten. Ein düsterer bläulicher Schimmer erfüllte den Grund der schmalen Schlucht und behinderte die Sicht. Einer der Dorfpriester beugte sich zu Bilonga nieder und sprach ruhig und besänftigend mit ihr. Die beiden anderen unterzogen die von der Musketenkugel getroffene Frau einer raschen, aber sehr eingehenden Untersuchung. „Du mußt stark sein“, raunte der erste Schamane dem Mädchen zu. „Du bist Oviks Tochter.“ „Ich will nicht mehr leben ...“ „Ipiutak lebt“, sagte einer der beiden anderen Alten plötzlich. „Sie liegt in tiefer Ohnmacht, aber ihr Herz schlägt regelmäßig, und sie hat auch nicht viel Blut verloren. Wir müssen sie behandeln und die guten Geister anrufen, daß sie ihr beistehen.“ „Ich will mich für Mutter opfern“, stieß Bilonga hastig hervor. „Wenn ich sterbe, wird sie leben.“ „Nein“, sagte der erste Schamane. „Nur die Kraft unserer Götter und Geister kann ihr zur Genesung verhelfen.“ „Aber ich ...“ „Du mußt schweigen und nicht dumm daherreden“,; erklärte der Schamane barsch. „Ipiutak wird dich, gerade dich, mehr denn je brauchen, wenn sie wieder zu sich kommt. Nur du wirst ihr allein durch deine Anwesenheit die Hoffnung verleihen, die ihre Lebensflamme nährt. Was aber, wenn du dann nicht mehr unter uns weilst? Dein Tod würde auch deine Mutter umbringen.“
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„Verzeiht“, flüsterte Bilonga. „Wirst du jetzt vernünftig sein?“ „Ja.“ „Wir tragen Ipiutak vorsichtig in die größte Höhle. Wir betten sie auf Felle, versorgen sie, so gut es geht, und flehen die Götter und Geister um Gnade an, während wir uns hier vor den Teufeln verbergen, die über uns hergefallen sind“, sagte der Schamane. „Ja“, murmelte Bilonga. „Du darfst keinen Augenblick von der Seite deiner Mutter weichen.“ „Ich werde es nicht tun.“ „Du mußt die erste sein, die sich um sie kümmert, wenn sie aus ihrer Ohnmacht erwacht.“ „Ja. Ich tue alles, was ihr mir sagt.“ Bilonga hätte den Schamanen gern gefragt, was denn eigentlich war, wenn ihre Mutter nicht wieder erwachte, sondern in ihrer Besinnungslosigkeit verharrte. Sie traute sich aber nicht, diese Frage zu stellen. * „Ben!“ hatte Hasard seinem Bootsmann und ersten Offizier zugerufen. „Sammle du die sechs Schneehühner ein, die wir erlegt haben. Ich laufe los und sehe nach, ob SiriTong etwas zugestoßen ist. Himmel, da stimmt doch etwas nicht!“ „Ich komme sofort nach!“ rief Ben zurück. Er bückte sich und sammelte die Jagdbeute auf. Er stopfte die toten Hühner in den Beutel aus Segeltuch, der an seinem Gurt baumelte, wandte sich dann nach Osten und stapfte seinem Kapitän auf den Schneeschuhen nach, so schnell er konnte. Hasard hetzte zum östlichen Ausgang der Schlucht und hielt nach der Roten Korsarin Ausschau. Sie schien vom Erdboden verschwunden zu sein. Er wagte nicht daran zu denken, was war, wenn sie während ihres Abstiegs irgendwo in eine Felsspalte gestürzt war. Seine Phantasie gaukelte ihm die übelsten Bilder vor, aber er verdrängte sie wütend. „Siri-Tong!“ rief er. Er erhielt keine Antwort, und seine schlimmsten Ahnungen schienen sich zu bewahrheiten. Er blickte nach rechts und
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suchte nach einer Möglichkeit, in den Felsen aufzusteigen. Verzweiflung stieg in ihm auf und bemächtigte sich seines Geistes. „Siri-Tong!“ brüllte er. „Hasard!“ ertönte plötzlich ihre Stimme gar nicht weit entfernt. „Hier bin ich!“ Er beschleunigte sein Lauftempo, stolperte mit den Schneeschuhen, fing sich wieder und umrundete endlich die letzte Biegung der Schlucht. Er tat noch drei, vier Schritte, dann blieb er jäh stehen, denn das, was sich seinem Auge bot, war zu ungeheuerlich, zu überwältigend, um mit Gelassenheit aufgenommen zu werden. Da stand die Rote Korsarin, aber sie war nicht allein. Gut ein Dutzend Eskimos befanden sich in ihrer Gesellschaft, und ein struppiger Schlittenhund strich um ihre Beine herum. Damit nicht genug: Aus östlicher Richtung glitt über ein Eis- und Schneefeld, das nur von einzelnen Quadersteinen unterbrochen war, eine Karawane von Hundeschlitten heran. Zwanzig Schlitten, jeder mit einem Dutzend Hunde davor, die an ihren Zugleinen zerrten. Die scharfen, anfeuernden Rufe der Führer drangen herüber. Man hätte an einen Angriff denken können, wenn Siri-Tong und die bei ihr stehenden Männer nicht belustigt gestikuliert und gelacht hätten. „Hasard!“ schrie die Korsarin. „Nun komm doch schon. Wir haben neue Freunde gewonnen.“ Ben Brighton nahte mit seinen Schneehühnern im Segeltuchsack. Er blieb genauso verblüfft wie Hasard stehen und mußte die Szene erst geistig verarbeiten. Siri-Tong inmitten einer Schar wilder Eskimos – das schlug doch wirklich dem Faß den Boden aus und ging auf keine Walhaut! Hasard schritt auf die Eskimos zu und spürte etwas wie Ergriffenheit. „Das sind sie also“, sagte er. „Die wer von Thule ...“ Ben schloß sich seinem Kapitän an. Sein Blick fiel plötzlich auf Siri-Tongs Hände, und er konnte sich einer verdutzten Frage
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nicht enthalten: „Madam - haben diese Burschen Ihnen vor lauter Freundlichkeit etwa die Hände zerkratzt?“ „Nein, das war der Hund.“ „Siri-Tong, willst du uns endlich erklären, was vorgefallen ist?“ sagte der Seewolf. Sie berichtete. Hasard nahm ihre Hände zwischen die Finger und betrachtete die Wunden noch einmal ganz genau. Die Eskimos umringten ihn, die Korsarin und Ben Brighton, dem nach wie vor recht mulmig zumute war. Okvik und seine Männer verfolgten neugierig jede Geste des Seewolfs. „Da hast du noch einmal Glück gehabt“, sagte Hasard. „Die Wunden sind nicht sehr tief. Gefahr besteht wohl nicht, aber du läßt dich nachher doch besser gründlich vom Kutscher verarzten - wegen der Infektionsgefahr.“ „Ja, das tue ich auf jeden Fall“, erwiderte sie. „Wir haben im Grunde aber selbst Schuld, daß die Eskimos mit einem Hund auf uns losgerückt sind. Sie scheinen etwas gegen Schüsse zu haben, und ich kann das auch verstehen. Dies ist ihr Territorium und Jagdrevier, und wir sind hier einfach eingedrungen.“ „Ben“, sagte Hasard. „Gib mal deinen Segeltuchbeutel her.“ Ben Brighton nahm den Beutel vom Gurt, reichte ihn Hasard, und Hasard öffnete ihn und schüttelte die toten Schneehühner, die sie aus der Schlucht mitgebracht hatten, in den Schnee. Okvik nickte, bückte sich, begutachtete die Tiere, nickte wieder, und seine Kameraden stießen beifällige Laute aus. „Gut“, sagte Okvik. „Gutes Fleisch.“ Hasard wies mit dem Finger auf ihn. „Für dich.“ „Für ihn?“ fragte Okvik überrascht. „Jetzt geht das wieder los“, stöhnte Ben. „Wen meint er denn nun eigentlich, sich oder jemand anders?“ Hasard sah Okvik, der der Anführer der Eskimoherde zu sein schien, unbeirrt an. „Ja. Das ist ein Geschenk. Nicht viel, aber es soll ein Zeichen der Freundschaft sein. Freundschaft, verstehst du?“ „Er versteht“, sagte Okvik.
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Die Schlitten waren eingetroffen und hielten mit knirschenden Kufen. Die Jäger sprangen ab, traten zu den Stehenden und blickten ihren Stammesbrüdern über die Schultern. Die Hunde setzten sich in den Schnee, betrachteten die eifrig debattierenden und gestikulierenden Zweibeiner und legten die Köpfe ein wenig schief. Ein solches Kauderwelsch, wie es die Fremden hervorbrachten, schien selbst sie zu verwundern. Okvik rief: „Er kann es nicht annehmen.“ Hasard begriff diese Wort nicht sofort, aber als der Eskimo seine Rede wiederholte, durch entsprechende Gesten unterstützte und dabei immer wieder auf die Schneehühner wies, wurde ihm klar, was Okvik ihm auseinandersetzen wollte. Hasard lächelte. „Siri-Tong, sag du es ihm.“ „Ein Geschenk für Okvik“, erklärte sie. Okvik wehrte aber wieder ab. So konnte das noch eine ganze Weile weitergehen, aber der Seewolf ergriff jetzt die Initiative, nahm die Schneehühner vom verharschten Boden auf und trug sie zu einem der Hundeschlitten. Er bettete sie auf die Felle, die die Eskimos bereits erjagt hatten, drehte sich wieder zu Okvik um und sagte: „In Ordnung. Gut so.“ Weil ihm die Worte in der Eskimosprache fehlten, fügte er auf englisch hinzu: „Und keine Widerrede, klar?“ Die Eskimos stießen sich untereinander an und lachten glucksend. Sie schienen diese fremden Laute höchst amüsant zu finden. Okvik grinste, nickte und deutete etwas, das eine Verbeugung sein mochte, zu SiriTong und zu Hasard hin an. Alle horchten plötzlich auf, denn es waren zwei Schüsse gefallen. „Die kommen vom Fjord“, sagte der Seewolf. „Ferris ruft uns. Irgendetwas scheint nicht in Ordnung zu sein.“ 7. Der junge Eskimokrieger, der als einziger die Niederlage der Kajakfahrer beim Kampf gegen das Drachenboot überlebt hatte, fungierte als Bewacher des Stammes.
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Er hatte den Posten eines Spähers übernommen und war die Felsen hinaufgeklettert, um von einem Platz aus, von dem aus er über die ganze Schlucht fast bis zur Bucht blicken konnte, das Bergvorland im Auge zu behalten. Nicht sehr viel Zeit war verstrichen, seit die schwer verletzte Ipiutak, Bilonga und die anderen Frauen, Mädchen und Kinder bei den Höhlen eingetroffen waren. Jetzt kehrte der junge Krieger unerwartet in die Seitenschlucht zurück. Er hastete auf die Höhlen zu, und aus seinem ganzen Benehmen konnte man schließen, daß er keine guten Nachrichten brachte. Schwer atmend blieb er vor den Höhleneingängen stehen. Er mußte in größter Eile den Abstieg von seinem Aussichtspunkt in die Schlucht hinab vollzogen haben. „Sie kommen“, sagte er. „Sie geben nicht auf. Sie schwärmen aus, sind jetzt schon zwischen den Felsen und werden, wenn sie so weitersuchen, die Schlucht finden.“ „Wir müssen fort“, sagte daraufhin einer der drei Schamanen. „Hier sind wir auf die Dauer nicht sicher. Wir können uns nicht darauf verlassen, daß die Teufel unsere Nebenschlucht übersehen.“ „Brechen wir also sofort wieder auf, und ziehen wir uns tiefer in die Berge zurück“, erklärte einer der älteren Männer. Unruhe entstand, Fragen wurden gestellt. Ein paar kleine Kinder begannen zu weinen. Bilonga schaute sich in der düsteren Höhle um und konstatierte, daß die meisten Gestalten, die eben noch auf dem Boden gehockt hatten, sich erhoben hatten. „Ja, wir können nicht länger hier bleiben“, murmelte einer der Schlittenführer. „In den Höhlen sitzen wir wie in einer Falle, wenn die Kerle erst in die Schlucht eindringen.“ „Es gibt einen geheimen Weg, der tausend und noch mehr Schritte tiefer in die Berge führt. Wir können ihn benutzen, ohne die Schlitten aufgeben zu müssen“, meinte ein anderer „Und an seinem Ende treffen wir wieder auf Höhlen, die uns Schutz bieten.“ „Auf was warten wir?“ sagte eine der Frauen.
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„Brechen wir auf“, drängte ein älterer Krieger. Der erste Schamane, der schon Bilonga ins Gewissen geredet hatte und nun mit ihr bei der bewußtlosen Ipiutak kauerte, hob den Kopf. „Ipiutak darf nicht weitertransportiert werden“, sagte er. „Ihr Leben hängt an einem Faden, sie würde durch jede Erschütterung, durch jeden Stoß nur noch mehr gefährdet. Ich werde hier bei ihr bleiben.“ „Ich bleibe auch“, sagte Bilonga. Der Schamane blickte sie an und zog drohend die Augenbrauen zusammen. „Du willst doch nicht, daß ich zornig werde, oder?“ „Nein. Aber ihr könnt es mir nicht verbieten, bei meiner Mutter zu wachen. Ich bitte euch, schickt mich nicht fort.“ „Du mußt gehorchen!“ „Ihr selbst habt mir gesagt, daß ich die erste sein muß, die an Ipiutaks Seite ist, wenn sie wieder aufwacht.“ Bilonga sah den alten Mann so flehend und eindringlich an, daß dieser wankelmütig wurde. Das Mädchen bemerkte es, wiederholte ihr Bitten - und schließlich gab er nach. „Also gut, bleib und leiste mir Gesellschaft“, sagte er leise. „Wir ziehen uns ganz in den hinteren Teil der Höhle zurück und richten es uns dort so gut wie eben möglich ein.“ Er fixierte sie mit seinem ernsten Blick. „Okvik wird mich töten, wenn dir etwas zustößt.“ „Sie werden uns hier nicht entdecken“, raunte Bilonga. „Uns drei nicht.“ „Ich hoffe, daß die Götter dich erhören“, sagte der Schamane. Er sah auf und wandte sich an die älteren Krieger. „Ihr Männer, schafft Felle nach hinten und helft mir, Ipiutak daraufzubetten. Beeilt euch.“ Die nächsten Minuten waren von hastiger Betriebsamkeit erfüllt. Während Bilonga, der Schamane und ein paar Helfer sehr vorsichtig die immer noch besinnungslose Ipiutak ganz nach hinten zum Ende der Höhle trügen, packten die Männer, Frauen und Kinder des Stammes draußen vor den
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Grotten die Habseligkeiten wieder auf die beiden Schlitten. Ihr Abschied von Bilonga und dem Schamanen fiel kurz aus, nur drei, vier Worte wurden gewechselt. Dann glitten die Fellschlitten aus der Nebenschlucht, bogen nach rechts ab und entfernten sich auf verschlungenen, ansteigenden Wegen, die zwischen den zerklüfteten Felsen hindurchführten, nach Süden. Bilonga und der Schamane saßen stumm neben Ipiutak, die wie schlafend auf. zwei dicken Eisbärfellen ausgestreckt lag. Sie saßen da und waren ihrem Schicksal ausgeliefert. In der Ferne hörten sie jetzt das Grölen und Fluchen der wilden bärtigen Männer. Jor, der schwarze Pirat, forschte mit verbissenem Eifer nach den Flüchtigen, mehr denn je war er darauf versessen, sie zu fassen. „Sie suchen die Spuren unserer Füße und die Abdrücke der Schlittenkufen“, murmelte der Schamane. „Aber unsere Krieger schleppen Robbenfelle hinter den Schlitten her, die alles verwischen.“ „Die Teufel finden uns nicht“, sagte Bilonga. „Niemals stöbern sie uns auf.“ „Und wenn sie es doch tun, töte ich sie, einen nach dem anderen“, flüsterte das Mädchen. Ihre Hand ruhte auf dem Bogen und dem Fellköcher mit den Pfeilen, die der junge Krieger bei ihr zurückgelassen hatte. * Okvik gab Hasard, Ben und Siri-Tong durch Gesten zu verstehen, sie sollten sich zu ihm auf den Fellschlitten setzen. Er selbst schwang sich auf die hintere Plattform, wartete, bis sie Platz genommen hatten, ließ die Peitsche knallen und schrie: „Haq, haq!“ Das Gespann zerrte am Geschirr. Der Schlitten ruckte an, fuhr los und gewann rasch an Geschwindigkeit. Der Bas, der über Siri-Tong hergefallen war, war wieder an seine Zugleine geklinkt
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worden und befand sich in der Mitte des Hundedutzends. Er lief mit erhobenem Kopf und gab das Tempo an - er war der Führer des Gespanns. Okvik ließ den Schlitten in einer halbkreisförmigen Schleife wenden und lenkte ihn nach Osten. Hasard drehte sich zu ihm um und wollte ihm erklären, daß sie nach Süden mußten, zum Fjord und zur „Isabella“, aber der Eskimo winkte ihm nur zu und lachte, als wolle er ausdrücken, daß er schon verstanden habe und sie sich nicht zu sorgen brauchten. Die Schneedecke schien unter dem Schlitten dahinzufließen, und die Berge zur Linken und die Felsenbarriere zur Rechten schienen in Bewegung geraten zu sein. Siri-Tong drehte sich um und blickte über die Schulter zurück. Sie sah, daß die anderen Schlitten ihnen folgten. In breit auseinander gefächerter Formation schlossen sie sich Okvik, dem Anführer, an. So ging es eine Weile über das breite Schnee- und Eisfeld dahin, aber dann bog Okvik plötzlich nach rechts ab. Hasard sah, was der Grund für den Richtungswechsel war, und wies Ben und Siri-Tong ebenfalls darauf hin. In der Felsenbarriere klaffte ein Durchlaß, breit genug, um den Schlitten die Passage zu gestatten. Rasch glitt die Öffnung näher, die Felsen türmten sich höher auf, und dann waren sie mitten zwischen ihnen und stießen über den knirschenden Schnee hinweg zur anderen Seite hinüber. Auf der anderen Seite breitete sich das Wasser des Fjords aus, mit glitzernden Eisschollen darauf. Für einen Moment sah es so aus, als wolle Okvik mit seinem Schlitten geradewegs in das eisige Wasser fahren. Er stoppte jedoch ab, lenkte wieder nach rechts und schickte sein Gespann auf dem schmalen, schneebedeckten Uferstreifen entlang, der den Felsen des Fjords an dieser Stelle vorgelagert war. Die anderen Schlitten schlossen dicht auf und folgten genau dem Verlauf der Spur, die die Knochenkufen von Okviks Schlitten im Schnee hinterließen.
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Vom Großmars der „Isabella“ aus mußte es jetzt so aussehen, als winde sich eine Riesenschlange aus zwanzig Gliedern am schmalen Uferstreifen des Fjords entlang. Okvik stieß helle Laute der Begeisterung aus. Er hatte den majestätisch daliegenden Dreimaster entdeckt. Wie gigantisches Schnitzwerk hob sich die „Isabella“ aus dem Wasser des Fjordes ab, ein Bild von erlesener Schönheit unter dem fahlen, unwirklichen Licht der Mitternachtssonne. „Laas!“ rief Okvik. „Hendrik Laas!“ Hasard drehte sich um, schaute zunächst ihn und dann Siri-Tong und Ben Brighton verblüfft an. „Hat der Mensch noch Töne“, sagte Ben. „Er kennt Hendrik Laas.“ „Wieso bringt er ausgerechnet die Isabella` mit dem Dänen in Verbindung?“ wollte Hasard von ihm wissen. „Nun, Laas ist doch hier oben gewesen, lange Zeit sogar.“ „Aber nicht mit einem Segelschiff, Ben.“ „Richtig, er sagte uns in Plymouth, saß er seinerzeit irgendwo im Süden Grönlands gelandet sei und dann einen langen Marsch nach Norden begonnen habe“, erwiderte Ben Brighton. „Und später hatte er sich mal eines Schlittens, mal eines Kajaks bedient, stimmt's?“ „Ja, so hat er es uns jedenfalls berichtet.“ „Dann verstehe auch ich nicht, warum der Anblick der ,Isabella' ihm Laas' Namen ins Gedächtnis ruft“, sagte die Rote Korsarin. Sie wandte sich zu dem Eskimo um und fragte ihn: „Was meinst du denn? Die ,Isabella' — sein Schiff.“ Sie wies auf Hasard. „Kein Hendrik Laas!“ Okvik schien verstanden zu haben und hob überrascht die Augenbrauen. Er schüttelte den Kopf und hörte nicht auf, sich zu wundern, ehe 'sie sich nicht auf einer Höhe mit der Galeone befanden. Dann schien ihm irgendetwas einzuleuchten. Seine Miene hellte sich auf. Er wandte sich nach hinten um und rief seinen Gefährten etwas zu. Der Schlitten stoppte, und auch sein Gefolge zügelte die Hundegespanne. Hasard, Ben und die Korsarin schoben sich von den Fellen, traten ans Ufer und
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blickten zur „Isabella“. Der Seewolf hob die Hand zum Zeichen, daß bei ihnen alles in Ordnung sei. „Ho!“ schrie Ferris Tucker vom Achterdeck. „Wir schicken euch eine Jolle!“ „Beide Jollen!“ rief Hasard zurück. „Aye, Sir!“ Während sie auf die Boote warteten, die nun von der Bordwand der Galeone ablegten und zu ihnen herüberglitten, wandte sich Hasard wieder dem Eskimoführer zu. „Hendrik Laas“, sagte er. Okvik klopfte sich mit der Faust gegen die Brust und lachte rauh. „Hendrik — sein Freund.“ „Dein Freund?“ fragte Ben. „Sein Freund“, wiederholte Okvik. „Guter Freund. Freund von Inuid, Eskimos.“ Ben seufzte. „Ich werde es schon noch lernen, diese Ausdrucksweise zu verstehen.“ „Seht doch mal“, sagte Siri-Tong plötzlich. „Jetzt wird mir klar, warum Ferris Tucker uns durch die zwei Schüsse zurückgerufen hat. Himmel, so ein Pech aber auch!“ Hasard und Ben richteten ihre Blicke nach Westen, dorthin, wohin der ausgestreckte Finger der Korsarin jetzt wies. Die Eskimos grinsten und lachten wieder, denn sie schienen nichts ergötzlicher zu finden als die seltsame Sprache, in der sich ihre neuen Freunde unterhielten. Hasard kniff die Augen zusammen, seine Miene wurde hart und verdrossen. „Packeis in der Passage“, sagte er. „Die Schollen scheinen sich immer mehr zusammenzupressen. Sie schieben sich in den Fjord und blockieren die Ausfahrt. Verdammt.“ „Was jetzt?“ Siri-Tong war stockernst geworden. Sie bemerkte auch, daß Okvik und ein paar andere Eskimos, die inzwischen von ihren Schlitten gestiegen waren, sie deshalb betroffen anstarrten. „Wie kommen wir wieder 'raus?“ sagte sie. „Wir können doch nicht tatenlos zuschauen, wie das Packeis die ,Isabella` einkeilt und ihre Bordwände ramponiert.“
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„Wir schießen und bomben uns den Weg frei“, erwiderte der Seewolf. „Wozu haben wir denn die Höllenflaschen? Ich wette, auch Ferris hat an diese Möglichkeit bereits gedacht, aber er wartet meine Bestätigung ab.“ Die Jollen, von je vier Männern der „Isabella“ gepullt, schoben sich zügig auf das Nordufer des Fjords und die wartenden Männer zu. Ein paar Eisteppiche behinderten sie, und Matt Davies und Blacky, die Bootsführer, mußten durch geschicktes Herumdrücken der Ruderpinnen an ihnen vorbeisteuern. Auch die Treibeisschollen in der Felsenbucht wurden allmählich zu einer ernsten Gefahr, denn durch das unaufhaltsame Näherrücken des Packeises wurden sie dichter zusammengeschoben. Schon schien die „Isabella“ von einem Zusammenschluß aus mehreren großen Teppichen umgeben zu sein. Hasard konnte Okvik durch Worte und Gesten zu verstehen geben, daß er ihn und eine Delegation seiner Männer gern an Bord willkommen heißen würde. Der Eskimo war darüber hocherfreut. Er wählte rasch sechs Männer aus, die ihn begleiten sollten, dann kletterte er mit dem Seewolf, der Roten Korsarin und Ben Brighton in die Jollen, die jetzt am Ufer eintrafen. Die Überfahrt war rasch bewältigt. Die Boote schoren längsseits der Galeone und verhielten. Hasard führte den Eskimos vor, wie man die Jakobsleiter hinaufstieg. Sie nickten eifrig und schienen auch dies großartig zu finden. Höflich ließ der Seewolf Okvik und seinen sechs Stammesbrüdern den Vortritt, danach enterte auch er auf. Siri-Tong, Ben und die anderen folgten. Auf der Kuhl fand die Begrüßung zwischen den Eskimos und der Crew statt, und Hasard berichtete, was sich ereignet hatte, während Okvik und seine Männer nicht damit aufhörten, alles staunend zu betrachten. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt natürlich dem Eisbärfell, das jetzt mit der Fleischseite nach oben auf der Kuhlgräting gespannt worden war. Die Zwillinge Philip und
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Hasard hatten es auf Carberrys Geheiß hin an der haarlosen Seite mit Salz eingerieben. Noch einige andere Prozeduren waren erforderlich, um das Fell zu gerben und für die Ewigkeit zu konservieren. „Nanohuaq“, sagte Okvik immer wieder voll Hochachtung. „Nanohuaq.“ Er blieb auch vor den Zwillingen stehen, die ihn mit großen Augen ansahen, maß sie mit einem langen Blick und murmelte wieder dasselbe Wort. Diesmal bezog es sich auf die Fellkleidung, die die beiden trugen. Will Thorne hatte die Anzüge auf Carberrys Genehmigung hin aus dem Eisbärfell geschneidert, das Hendrik Laas dem Profos in Plymouth geschenkt hatte. Hasard hatte kurz mit Ferris Tucker, Ben Brighton, Shane, Smoky, den beiden O'Flynns und Siri-Tong beratschlagt und war jetzt überzeugt davon, daß sie sich den Weg in die offene See nur freisprengen konnten. Die Flaschenbomben lagen bereits auf dem Vordeck bereit. Es waren dreißig Stück und Al Conroy, Gary Andrews und Stenmark waren emsig damit beschäftigt, neue Handbomben anzufertigen. Die acht Walrosse, die sie im Fjord erlegt hatten, waren fix und fertig zerlegt und im Laderaum verstaut. Hasard wollte aber auch von dieser Jagdbeute den Eskimos etwas abgeben. „Ben“, sagte er. „Hievt die Jollen noch nicht an Bord. Wir beladen sie mit Walroßfleisch und Speck, und nach einem kleinen Umtrunk mit unseren neuen Freunden hier pullen wir die Eskimos zurück zum Ufer.“ „In Ordnung.“ . „Kutscher, hast du Siri-Tongs Bißwunden verarztet?“ „Ja, Sir“, antwortete der Kutscher. „Und ich kann dir versichern, daß ich sie gründlich mit Wundbalsam bepinselt habe. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn Madam noch unter irgendwelchen Folgen zu leiden hätte.“ „Sicher nicht“, sagte die Korsarin. „Ich vertraue voll und ganz auf dein großes Können, Kutscher.“
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Der Kutscher lief vor Stolz ein wenig rot an und hätte wohl auch etwas Unbeholfenes gestammelt, wenn Hasard ihm jetzt nicht befohlen hätte: „Hol Rund und Whisky. Am besten wärmst du ihn ein bißchen auf. Ich will den Eskimos einen zünftigen Begrüßungsschluck kredenzen.“ „Aye, Sir“, sagte der Kutscher, drehte sich zackig um und marschierte in Richtung auf das Kombüsenschott davon. Dein großes Können, wiederholte er in Gedanken, so ein dickes Lob! Endlich mal jemand, der den Dingen den richtigen Wert beizumessen wußte. Okvik strich mit der Hand über Philip juniors weiße Felljacke, nickte anerkennend und sagte noch einmal: „Nanoq. Gut.“ Carberry wandte ihm sein häßliches Narbengesicht zu und grinste - was ihn noch monströser aussehen ließ. „Gut, was? Das ist von Hendrik Laas. Das andere Fell hier auf der Gräting haben wir selbst erbeutet. Verstehst du mich?“ „Er kann dich nicht verstehen, Ed“, sagte Dan O'Flynn geduldig. „Solange du englisch mit ihm sprichst, kapiert er nicht ein einziges Wort.“ Carberry drehte sich halb herum und sah Dan so freundlich an wie ein hungriger Hai. „Soll ich spanisch mit ihm reden?“ „Versuch's doch.“ „Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich, Mister O'Flynn?“ „O, ich habe nie an Ihrer Intelligenz gezweifelt, Mister Carberry.“ „Wirklich nicht?“ „Ich schwör's - bei meinen Erzeugern.“ „Schlecht“, sagte Carberry grunzend. „Ich habe dir ja immer versichert, daß du der Sohn einer verlausten Hafenhu ...“ Er blickte zu Siri-Tong und verbesserte sich rasch: „... daß du der Abkömmling einer Lady eines höchst verrufenen und zweifelhaften, jedoch recht einträglichen Gewerbes bist!“ „Paß auf, was du sagst; Profos!“ rief Old O'Flynn drohend herüber. „Ich spreche englisch, ihr Makrelen“, sagte Carberry. „Und dabei bleibt's.“
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Okvik hatte von alledem nur die Worte „Hendrik Laas“ verstanden. Er trat jetzt wieder zum Seewolf, hob die Hand und wies nach Norden. „Hendrik Laas — gut Freund“, sagte er. Hasard warf ihm einen überraschten Seitenblick zu. „Willst du etwa sagen, daß Laas hier oben ist?“ Unwillkürlich hatte er sich seiner Muttersprache bedient, aber jetzt versuchte er sofort, das Gesagte in die Eskimolaute zu übersetzen: „Laas — hier, in Thule?“ Okvik nickte. „Ben!“ rief Hasard so laut, daß der Kutscher, der inzwischen mit Rum und Whisky anrückte, erschrocken zusammenfuhr. „Ben, bring bitte Papier und einen Federkiel! Ich möchte, daß Okvik uns anhand einer Skizze, die ich ihm anfertige, zeigt, wo wir Hendrik Laas finden. Das wäre doch ein Fest, wenn wir den rauhbeinigen Dänen ausgerechnet hier wiedertreffen würden, was?“ 8. Die steilen Wände der großen Schlucht gaben das Fluchen der Pi und alles andere, was sie sich zu riefen, deutlich wieder. „Ja, fast glaubte Bilonga auch schon, das Knirschen ihrer Stiefel im verharschten Schnee zu vernehmen. „Okvik“, flüsterte sie. „Okvik, mein lieber Vater, warum kommst du nicht, um uns zu helfen? O, ihr Götter, warum erlöst ihr uns nicht von unserem Leiden? Aber nein, wir brauchen keine Hilfe, sie finden uns nicht, niemals.“ Der Schamane legte ihr besänftigend die Hand auf den Arm. Er wollte ihr etwas zuraunen, aber er wußte nicht mehr, mit welchen Worten er sie beschwichtigen sollte. Die Höhle war ein nahezu geradlinig in den Fels verlaufender Stollen. Ihr Eingangsloch lag tief genug, daß man die kleine Seitenschlucht in ihrer ganzen Länge einsehen konnte. Bilonga und der Schamane kauerten also neben der immer noch ohnmächtigen, reglosen Ipiutak, blickten mit angespannten Mienen ins
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Freie und warteten darauf, drüben, an der Stelle, wo die Schlucht in den großen Canyon überging, dunkle Gestalten erscheinen zu sehen. Plötzlich waren die Gestalten da. Sie -bewegten sich schwerfällig, stapften hin und her, blieben immer wieder stehen und blickten sich nach allen Seiten um, wie in dem bläulichen Lichtschimmer auf dem Grund der Schlucht deutlich genug zu erkennen war. Bilonga stockte der Atem. Der Schamane rief im Geist alle Götter und guten Geister der Eskimowelt an, sie mögen das drohende Unheil von ihnen abwenden. Ipiutak regte sich plötzlich, griff mit der linken Hand ins Leere, stöhnte und murmelte die Namen ihres Mannes und ihrer Tochter. Bilonga wandte den Kopf, beugte sich über ihre Mutter und flüsterte: „Mutter, meine gute Mutter, sei ganz ruhig, ich bin ja bei dir. Es wird alles wieder gut.“ „Schmerzen — ich habe große Schmerzen im Rücken“, wisperte die Frau. Der Schamane blickte unverwandt in die Schlucht, und seine Augen weiteten sich. Seine Gestalt erstarrte. Die Piraten - drei, vier von ihnen, und allen voran Jor, der Schwarze - hatten das Stöhnen der verletzten Frau vernommen. Sie waren stehen geblieben und hatten ihre Gesichter in die Richtung gedreht, aus der der Laut gedrungen war. Jetzt, genau in diesem Moment, entdeckten sie die kleine Nebenschlucht! Sie näherten sich mit langen, schweren Schritten und hielten Musketen und Schwerter vor sich hingestreckt. Der Schamane wagte nicht, seine Beobachtung dem Mädchen mitzuteilen. Bilonga spürte aber doch etwas, denn der Griff der Hand des Schamanen um ihren Arm war fester geworden. Bilonga richtete sich langsam auf, richtete ihren Blick zum Höhlenausgang - und entdeckte Jor, den schwarzen Piraten, der sich jetzt vor den drei Grottenlöchern bewegte. Ipiutak war wieder besinnungslos geworden.
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Der Schamane brachte seinen Mund an Bilongas Ohr und hauchte: „Beweg dich nicht. Wir müssen so starr wie Steine sein, dann können sie uns hier, tief im Inneren der Höhle, nicht sehen. Sie werden wieder weggehen.“ Bilonga antwortete nicht. Allmählich löste sie ihren Arm von der Hand des Schamanen und tastete nach dem Bogen und den Pfeilen. Jor, der Wikinger, stand breitbeinig vor der mittleren Höhle, jeden Augenblick darauf gefaßt, angegriffen zu werden. Er beobachtete aus schmalen Augen und zischte seinen Kumpanen zu: „Ich bin ganz sicher. Da hat jemand gestöhnt. Gebt mal einen Schuß in die Höhle hier ab.“ Ein blonder Hüne trat neben seinen Anführer, hob die Muskete, legte an und zielte in das schwarzgähnende Grottenloch. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, die Muskete zuckte in seinen Fäusten, und donnernd entlud sich die Waffe in den Hohlraum. Das Echo schien tausendfach von den schroffen Granitwänden wiederzukehren. Bilonga und der Schamane duckten sich unwillkürlich und warfen sich neben Ipiutak auf das weiche Fellager. „Da hat sich was geregt“, raunte Jor. „Ich hab's deutlich gesehen.“ Seine Kumpane versammelten sich um ihn und begannen zu grinsen. Sie hielten ihre Waffen bereit und rechneten mit einem Ausfall der Eskimos, doch es geschah nichts. Da entschloß sich der blonde Hüne, der die Muskete abgefeuert hatte, zu einer Mutprobe. Er wollte sich bei Jor Lorbeeren verdienen, denn der Schwarze pflegte Courage sehr zu würdigen und oftmals auch zu belohnen. So stieg der Hüne in die Höhle hinauf, zog sein Schwert und begann, sich in dem tiefschwarzen Dunkel voranzutasten. Bilonga glitt nach links von dem Schamanen fort, den Bogen in der Faust. Sie legte einen Pfeil an die Sehne, ehe der Schamane sie daran hindern konnte, hob den Bogen, spannte die Sehne und ließ den Pfeil auf die Gestalt des Hünen, die sich
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deutlich vor dem Grottenloch abhob, losschwirren. Der Pfeil bohrte sich in die Brust des Blonden. Es schien so, als sei der Kerl gegen eine unsichtbare Wand geprallt, denn er blieb abrupt stehen, ließ das Schwert fallen, taumelte zurück und begann grotesk mit den Armen zu rudern. Er torkelte aus der Höhle und fiel seinen Kumpanen vor die Füße. Sie begannen wütend zu brüllen und hoben die Musketen. Der Schamane fuhr hoch. Bilonga lief leichtfüßig los, ehe er sie stoppen konnte. Sie hatte einen neuen Pfeil aus dem Robbenfellköcher gezerrt und an die Sehne gelegt, sprang vor, blieb stehen und zielte auf Jor, den schwarzen Piraten. Er schien etwas bemerkt zu haben, denn als der Pfeil aus dem dunklen Oval der Grotte auf ihn zuflog, warf er sich geistesgegenwärtig zur Seite. Um etwa eine Handspanne zischte der Pfeil an seiner Schulter vorbei, raste weiter und bohrte sich in den Schnee. Die Wikinger wollten auf die Mädchengestalt, die jetzt mit einem Schrei aus der Höhle sprang, schießen, doch Jor bremste sie mit einem Ruf. Bilonga riß einen dritten Pfeil aus dem Köcher, den sie sich in aller Eile um die Schulter gehängt hatte. Jetzt bewies Jor raubtierhafte Schnelligkeit. Er schnellte hoch, federte auf das Mädchen zu und hatte sie erreicht, ehe sie einen dritten Pfeilschuß abgeben konnte. Er lachte rauh auf und entriß ihr den Bogen. Sie wollte das Ulu aus dem Gurt zerren und ihm damit zu Leibe rücken, doch er schlug sie ins Gesicht, entwand ihr auch diese Waffe, schlug sie noch einmal und packte sie mit beiden Fäusten. Sie schrie in Todesangst. Der Schamane tauchte im Höhleneingang auf und wollte sich auf Jor stürzen, aber einer der wilden Horde brachte sich durch einen Satz neben ihn und fällte ihn mit einem Hieb in den Nacken. Jor hatte durch seinen Ruf den Befehl gegeben, nicht zu schießen, weil er das Mädchen lebend
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haben wollte, und diese Order wandte man nun auch auf den Schamanen an. Andernfalls hätten die Piraten ihn durch eine Kugel oder einen Pfeil ins Jenseits befördert. „In die Höhle!“ schrie Jor seinen Kumpanen zu. „Macht jeden nieder, der euch angreifen will. Holt sie alle heraus!“ Seine Spießgesellen stürmten die Höhle, kehrten kurz darauf aber mit zuckenden Achseln zurück. Einer von ihnen meldete: „Da ist niemand mehr außer einer toten Frau. Ich glaube, es ist die, der wir eine Musketenkugel in den Rücken gejagt haben, als sie mit einem der Schlitten floh.“ „Seht auch in den anderen beiden Höhlen nach!“ fuhr Jor die Kerle an. Sie erledigten auch dies - mit dem Ergebnis und der Erkenntnis, daß alle anderen Eskimos verschwunden waren. „Teufel“, sagte Jor, während er die zitternde Bilonga wütend anstarrte. „Sie haben also rechtzeitig bemerkt, daß wir auf dem besten Weg waren, sie aufzustöbern. Hör mir gut zu, du Hure! Du wirst mir verraten, wohin sie geflüchtet sind. Oder du verrätst mir, wo die Proviantvorräte und kostbaren Felle des Dorfes versteckt sind. Ich weiß, daß ihr Höhlen und Gruben einrichtet, um diese Dinge dort einzulagern. Sprich!“ Er beherrschte die Sprache der Eskimos nur gebrochen, aber sein Wortschatz reichte doch aus, dem Mädchen mitzuteilen, was er von ihr wollte. Zunächst tat sie so, als verstünde sie nicht. Aber er schlug ihr ins Gesicht und stieß immer wieder dieselben Fragen aus. Da schüttelte sie weinend den Kopf und rief: „Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht!“ „Du weißt es. Und du wirst es ausspucken – alles“, herrschte er sie an. Er zerrte sie in den vorderen Bereich der Höhle und versuchte, ihr die Kleidung vom Leib zu reißen. Als sie sich mit Händen und Füßen wehrte, eilten zwei andere Kerle dem Schwarzhaarigen zu Hilfe. Sie hielten sie fest, während Jor mit gierigen Händen an ihrem Fellanorak herumnestelte. Sie schrie,
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aber einer von ihnen hielt ihr mit seiner Pranke den Mund zu. „Du wirst reden wie ein Wasserfall“, knurrte Jor. „Du wirst mich noch auf den Knien anflehen, mir alles sagen zu dürfen, das schwöre ich dir. Wenn ich mit dir fertig bin, kriechst du wie eine Hündin auf allen vieren.“ * Die fremde Galeone, deren Name „Sparrow“ lautete, war bei dem Drachenboot der Wikinger längsseits gegangen. Nicht mehr als zwanzig Mann Besatzung hatte Ingbert von seinem Versteck hinter einem der Iglus aus gezählt, und er rechnete sich im stillen aus, daß er, der ja gut ein Dutzend Kerle an seiner Seite hatte, mit dieser Mannschaft fertig werden konnte. Denn da war das Überraschungsmoment, ein unschätzbarer Vorteil, den Ingbert voll ausnutzen wollte. Er hielt seinen Plan ein. Zunächst ließ er die Fremden auf das Drachenboot übersteigen und unternahm nichts. Sollten sie doch alles durchsuchen! Schätze fanden sie dort nicht, Waffen auch nicht, und die Nordmänner befanden sich ausnahmslos an Land, nicht einmal einen Wachtposten hatte Jor beim Sturm aufs Dorf an Bord zurückgelassen. Die Fremden konnten also keinen Wikinger gefangen nehmen, um ihn auszuhorchen, was hier los war. Ingbert grinste zufrieden, als die Männer jetzt vom Schiff auf den einen Anleger und vom Anleger an Land stiegen. Nach allen Seiten sichernd, strebten sie langsam auf das halb zerstörte Igludorf zu. Sie trugen Musketen und Tromblons und schienen harte, kampferprobte Kerle zu sein. Ingbert konnte dies nicht im geringsten erschüttern. Er gab seinen Kumpanen ein Zeichen, noch zu warten und sich ja nicht durch eine voreilige Handlung zu verraten. Na los, ihr Narren, dachte er, kommt schon her, damit wir euch gebührend empfangen können. Woher stammten diese Männer? Sie waren groß und kräftig gebaut und hatten Bärte,
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aber sie trugen keine Helme. Ihre Gesichter waren unter den Kapuzen, die sie sich über ihre Köpfe gestülpt hatten, kaum zu erkennen, aber Ingbert war der Ansicht, daß sie auf jeden Fall aus einem Land der Alten Welt stammten. Vielleicht war England ihre Heimat, vielleicht aber auch die Sieben Provinzen, von denen Ingbert hatte berichten hören – oder aber sie gehörten zu einer Region der skandinavischen Halbinsel. Wenn letzteres der Fall war, so verdienten sie es doppelt, getötet zu werden, denn gerade die Bewohner jener neu errichteten Reiche von Schweden, Norwegen und Dänemark waren es, die die Nordmänner, die einstigen Herrscher der Welt, verdrängt und entmachtet hatten. So hausten die Wikinger heute viel weiter oben im Land der Lappen und der Rens und nährten ihren Haß gegen all die erfolgreichen Seefahrer, die sie von den Meeren verdrängt hatten. Jor und seine Meute stellten ein Überbleibsel aus der Zeit dar, in der das sagenhafte „Grünland“ noch eine Kolonie der Nordmänner gewesen war. Die Pest und Hungersnöte hatten die rüden Kerle mit ihren Drachenschiffen und Knorren dereinst, im 15. Jahrhundert, von der riesigen Insel vertrieben, und so war Jor ein lebender Widerspruch, ein Relikt einer vergangenen Epoche, der wie ein Wolf vom Reißen schwächerer Gegner lebte. Auf weniger als zwanzig Schritte waren die fremden Männer jetzt an die Iglus heran. Aber ein rotblonder Mann in ihrer Mitte, ein hochgewachsener, schlanker und dabei offenbar doch sehr robuster Typ mit dichtem Vollbart, verhielt plötzlich und hob die rechte Hand. Er sagte etwas, und Ingbert konnte es gut verstehen — sowohl von der Akustik als auch von der Sprache her, denn es waren dänische Laute, die dieser Mann von sich gab. „Halt! Wir trennen uns, bilden zwei Gruppen und gehen das Dorf von der Seite an. Ich glaube nicht daran, daß es ganz verlassen ist. Man könnte eine Falle für uns aufgebaut haben.“
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„Sheldon und ich gehen mit fünf Mann nach Osten“, erwiderte ein zweiter Mann, dessen Dänisch allerdings nicht so klang, als wäre es seine Muttersprache. „Bist du einverstanden, Hendrik?“ „Ja, Bert.“ Ingbert, der Pirat, gab seinen Spießgesellen durch eine Gebärde zu verstehen, daß sie jetzt angreifen sollten. Er selbst legte seine Muskete auf den Rotblonden an, diesen Kerl mit dem Fellanorak und den weißen Eisbärhosen, der der Anführer des Trupps zu sein schien. „Achtung!“ schrie der andere Mann, der soeben gesprochen hatte. Ingbert begriff. Einer seiner Wikinger hatte sich zu weit vorgebeugt und war hinter seiner Deckung gesehen worden. Der Überraschungsmoment war dahin. Die Männer der Galeone warfen sich hin, landeten im Schnee, dann krachten auch schon die Musketen der Wikinger-Piraten, und die Hölle brach los. Die Männer der Galeone schoben ihre Musketen und Tromblons vor und schossen aus dem Liegen heraus. Kugeln und gehacktes Blei stoben auf die Iglus zu. Auf beiden Seiten wurde gebrüllt und geflucht, und auch von Bord der Galeone ertönten jetzt Schreie. Ingbert sah, daß nicht alle Männer das Schiff verlassen hatten. Er konnte, als er die leergefeuerte Muskete in den Schnee sinken ließ und nach einer zweiten griff, sogar erkennen, daß zwei Gestalten drüben auf der Back der Galeone an einem Geschütz hantierten. Ja, sie hatten eine Drehbasse oder eine Serpentine auf dem Vordeck montiert, und sie riefen ihren Kameraden an Land etwas zu, das nicht genau zu verstehen war, jedoch wie eine Aufforderung klang. Die Dänen — oder wer immer sie waren — robbten daraufhin zu den Seiten fort, nach Westen und nach Osten, aber sie hörten dabei nicht auf, auf die Iglus zu feuern. Ingbert und seine Kerle saßen hinter den kugligen Schneehäusern fest. Ingbert sah rechts von sich einen Piraten mit blutendem, zerfetztem Gesicht zusammenbrechen, als wieder eine der
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Blunderbüchsen der Gegner krachte. So ein Tromblon oder Blunderbuss war eine schreckliche Waffe und auf kurze Distanz konnte sie wegen ihrer großen Streuung ganze Schiffsdecks freifegen. Ingbert fühlte Panik in sich aufsteigen. Täuschte er sich, oder glomm drüben, an Bord der Galeone, jetzt eine Zündschnur auf? Die Galeone lag mit dem Vorschiff zum Ufer neben dem Drachenboot der Wikinger, und daher war die Basse oder Serpentine das einzige Geschütz, das sie gegen die Piraten einzusetzen vermochte. Doch ein gut gezielter Schuß mitten zwischen die Iglus konnte Verheerendes anrichten. „Stürmt!“ brüllte Ingbert. Er fuhr hoch, sprang hinter seiner Deckung hervor, lief los, feuerte im Laufen, warf dann die Muskete weg und zückte sein Schwert. Seine Kumpane reagierten, gaben ihm durch Musketen- und Bogenschüsse die erforderliche Deckung und rafften sich nun ebenfalls auf, um über die Männer der Galeone herzufallen. Ingbert wollte sich auf den Rotblonden werfen, der Hendrik gerufen worden war. Er hatte ihn auf halbem Weg erreicht, da brannte das Vordecksgeschütz der Galeone ein feuerrotes, gezacktes Mal in die glasklare Luft, und ein Gluthauch schien die Piraten anzuspringen. Das Grollen der Kanone rollte heran, und dann war die Kugel heulend zwischen den Iglus. Die Piraten schrien in panischem Entsetzen auf, und auch Ingbert wollte brüllen, vor Angst, weil er die Kugel direkt auf sich zurasen sah. Dann aber schienen alle Iglus mit einem Knall zu zerplatzen, das Land zerbrach. Ingbert fühlte sich hochgehoben in den Himmel über Thule und sah aus seinem Flug, wie die ganze Welt unterging. Nachtschwärze löste die fahle Mitternachtssonne ab, alles versank in erlösender, totaler Finsternis. Das Grollen der Kanone lief nach Süden und konnte vom Wind aus Südwest nicht aufgehalten werden. Es rollte gegen die Berge an und darüber weg.
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Hasard war mit Siri-Tong, Ben Brighton, Ferris Tucker, den O'Flynns, Okvik und zwei anderen Eskimos in die Kapitänskammer im Achterkastell der „Isabella“ gegangen. Hier bot ihm das Eichenholzpult eine geeignete Unterlage für die Skizze, die er anfertigen wollte. Er zeichnete, wies immer wieder auf das Papier und gab Okvik zu verstehen, daß es die Umrisse des Fjordes und der Westküste von Grönland waren, die er grob skizzierte. Okvik nickte, lächelte, ließ sich schließlich den Federkiel geben und malte ziemlich ungelenk, aber doch gut erkenntlich den weiteren Verlauf der Küste nach Norden hin auf. Er zeichnete eine kleine, langgestreckte Bucht, tippte mit dem Kiel auf deren östliches Ufer und sagte: „Dorf. Okvik sein Dorf.“ „Gut“, meinte der Seewolf, während die Freunde sie interessiert umringten und ihnen über die Schultern blickten. „Und Hendrik Laas?“ Okvik kritzelte wieder auf dem Papier herum, aber er hielt plötzlich inne und zeigte eine Geste der Resignation. Das Blatt Papier schien für das, was er wiedergeben wollte, nicht auszureichen. Hasard holte rasch ein zweites Blatt aus der Schublade seines Pults hervor, schob es neben das erste und sagte: „Nur weiter, Okvik.“ Okvik drückte die Spitze des Schreibgeräts auf das weiße Material und zeichnete eine zerfaserte, von Buchten und Fjorden durchsetzte Küstenlandschaft. Schließlich langte er bei einer Bucht an, die sich groß und geschwungen ins Landesinnere schob. Er malte zwei Inseln von unterschiedlicher Größe vor ihrer Einfahrt auf, markierte durch Punkte einige Siedlungen am Ufer, hob den Kopf, schaute Hasard an und erklärte: „Thule - Hendrik.“ „Das scheint also das Zentrum von Thule zu sein“, meinte Hasard. „Und Laas ist wieder dort, wahrscheinlich mit der ,Sparrow`, die ja sein Schiff geworden war, nachdem wir es Roel van Dyck, dem
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niederländischen Freibeuter, abgenommen hatten. Was haltet ihr also von einem Abstecher dorthin?“ „Das fragst du noch?“ entgegnete Ben „Wir freuen uns doch alle auf ein Wiedersehen mit Hendrik.“ Schritte polterten durch den Mittelgang des Achterkastells heran. Carberry streckte seinen Kopf .zur offenen Tür herein und meldete: „Wir haben die Jollen mit Walroßfleisch beladen und auch noch ein paar Eisbärfilets dazugepackt, Sir. Das Packeis schiebt sich immer näher heran, und wir haben jetzt vierzig Höllenflaschen bereitliegen, um uns einen Kanal in das verfluchte Eis zu sprengen.“ „Gut. Wir gehen ankerauf und verlassen den Fjord“, sagte Hasard. Er wandte sich Okvik zu und teilte ihm dies durch Worte und Gesten mit. Am Ende fragte er: „Will Okvik mich auf der ,Isabella` nach Thule begleiten?“ Okvik erwiderte: „Er dankt Hasard und fährt mit seinen Schlitten zu Hendrik Laas hinauf. Dort trifft er sich mit neuen Freunden wieder.“ „Er zieht es also vor, den Landweg zu benutzen“, meinte Siri-Tong. „Das kann ich auch voll und ganz verstehen. Und wir finden den Weg zur Siedlung von Thule hinauf anhand der Skizze sicherlich mit Leichtigkeit.“ „Ho“, sagte der Profos. „Wenn ich richtig verstanden habe, findet da oben in Thule ein ganz großes Treffen statt. Und ich schätze, es wird dann mehr als nur einen kleinen Umtrunk geben, wie wir ihn eben auf der Kuhl veranstaltet haben. Wir müssen dann bloß aufpassen, daß die Eskimos uns nicht die Bienenwachskerzen auffressen und das Öl aus den Öllampen saufen, sonst stehen wir plötzlich im Dunkeln da.“ „Du hast vielleicht Vorurteile“, meinte Old O'Flynn. „Ich finde, du beleidigst Okvik und seine Männer.“ „Das mußt du gerade sagen, du alter Spökenkieker“, fuhr Carberry ihn an. „Haben wir denn nicht schon erlebt, wie die Burschen unsere Kerzen aufgefuttert haben?“
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„Richtig, Edwin“, sagte die Rote Korsarin lächelnd. „Aber selbst wenn es wieder geschehen sollte, wäre es für uns kein Beinbruch. Sie haben wieder mal vergessen, daß wir den Polarsommer haben. Im Dunkeln stehen, das ist hier so gut wie unmöglich.“ Carberry schwieg, weil er sich über die Bemerkung, die er hatte fallenlassen, selbst ärgerte, es der Roten Korsarin gegenüber aber nicht zeigen wollte. Dan O'Flynn wollte etwas sagen, das den Profos mächtig in Rage versetzt hätte, aber plötzlich hoben alle die Köpfe, weil dumpfer Donner über den Fjord rollte. Okvik rief seinen Begleitern etwas zu und stürmte als erster aus der Kapitänskammer. Er rannte an Oberdeck, gesellte sich zu seinen dort aufgeregt gestikulierenden und durcheinander redenden Stammesbrüdern, und dann wiesen sie alle sieben mit den Händen nach Norden. Hasard eilte Okvik nach. In seinem Gefolge befanden sich Siri-Tong, Ben, Ferris, Shane, Old und Dan O'FLynn und der Profos. Hasard hielt die Skizze, die sie angefertigt hatten, immer noch in der einen Hand. Er blieb neben Okvik stehen und blickte ihn fragend an. „Sir!“ rief Bill aus dem Großmars. „Das war Kanonendonner, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“ Okvik wandte den Kopf, blickte zu Hasard und der Roten Korsarin und stammelte etwas in seiner Sprache, das sie beim besten Willen nicht verstehen konnten. Dann wollte der Eskimo zum Schanzkleid stürzen. „Okvik!“ rief Hasard. Der Mann drehte sich zu ihm um und sagte: „Gefahr. Gefahr für das Dorf.“ Er kehrte zum Seewolf zurück, griff nach der Skizze, rollte sie auseinander und deutete erregt auf den Punkt, der das Dorf seines Stammes kennzeichnete. „Er ist überzeugt davon, daß es von dort kommt“, sagte die Rote Korsarin. „Vielleicht befürchtet er, daß man seine Leute überfallen hat. Er wird schon wissen, warum er so erregt ist.“
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„Dad!“ rief Philip junior von der Back. „Was ist denn jetzt wieder passiert? Gibt's Ärger?“ „Wir wissen es noch nicht“, erwiderte der Seewolf. „Ruhe, ihr Lauselümmel!“ brüllte der Profos die Zwillinge an. „Ihr habt nur zu reden, wenn ihr was gefragt werdet, verstanden?“ „Aye, Sir“, murmelten die Jungen. „Jawohl, Mister Carberry.“ Okvik wollte von Bord gehen, aber der Seewolf hatte einen spontanen Entschluß gefaßt und sagte zu ihm: „Okvik, Hasard begleitet dich.“ Der Eskimo schien nicht zu begreifen. Für einen Moment stand er unschlüssig und zaudernd da, aber seine Stammesbrüder drängten ihn zur Eile, und er lief wieder auf das Schanzkleid zu. „Ich komme auch mit“, sagte Siri-Tong. Hasard sah nicht ein, warum er es ihr verwehren sollte. „Ben!“ rief er seinem Ersten und Bootsmann zu. „Du übernimmst hier das Kommando. Arbeitet euch mit den Flaschenbomben aus dem Packeis heraus. Segelt nach Norden an der Küste entlang, sucht die Bucht auf, an deren Ufer Okviks Dorf liegt, und stoßt auf diese Weise wieder zu uns.“ Er reichte ihm die Handskizze. Ben nahm sie entgegen. „Philip und Hasard!“ rief Hasard seinen Söhnen zu. „Sir?“ „Bringt den Radschloß-Drehling und den Schnapphahnstutzen.“ aye, Sir.“ „Sir!“ rief Blacky. „Melde mich freiwillig dazu, mit an Land zu gehen. Ihr braucht Verstärkung, wenn der Kanonendonner wirklich Verdruß zu bedeuten hat und ihr kämpfen müßt.“ „Ich melde mich auch freiwillig“, ertönte Carberrys dröhnendes Organ. Die ganze Crew rückte plötzlich vor, rief durcheinander und reckte die Arme. Jeder wollte den Seewolf und die Rote Korsarin begleiten, und die „Isabella“ hätte bald herrenlos im Fjord gedümpelt, wenn Hasard dem Bitten der Männer nachgegeben hätte.
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„Blacky, Shane und Donegal“, sage er. „Ihr seid mit von der Partie, aber alle anderen bleiben an Bord der ,Isabella`.“ Er nahm den Radschloß-Drehling aus Philip juniors Händen entgegen, suchte gleichzeitig mit seinem Blick Al Conroys Gestalt und rief diesem zu: „Al, hol Musketen und Tromblons aus der Waffenkammer, wir nehmen gut zwei Dutzend davon mit, um auch unsere Eskimo-Freunde damit auszurüsten!“ „In Ordnung, Sir!“ Die Waffen waren schnell herbeigeholt und verteilt, Hasard gab seine letzten Anweisungen an Ben Brighton und die Crew, und dann enterten der Seewolf, SiriTong, Shane, Blacky und Old O'Flynn mit Okvik und dessen Leuten an der Jakobsleiter in die Jollen ab. Sie waren schon ziemlich schwer bepackt, diese beiden Jollen, und ihr 'Tiefgang nahm jetzt, als die schwer bewaffneten Männer auf die Duchten kletterten, natürlich noch zu. Die Seewölfe, die die Boote zum Nordufer des Fjords hinüberzupullen hatten, hatten hart zu tun sie schwitzten in ihrer Fellkleidung, als sie es geschafft hatten und die Jollen sich mit verhaltenem Knirschen an das Schneeufer legten. Hasard sprang als einer der ersten an Land und sagte den Bootsgasten noch: „Nehmt das Walroßfleisch wieder mit an Bord der ,Isabella`, wir würden jetzt zuviel Zeit mit dem Umladen auf die Schlitten verlieren. Wir können es Okvik auch später noch geben.“ Mit diesen Worten kletterte er auf Okviks Schlitten, und seine vier Kameraden folgten ihm. Okviks am Ufer wartende Männer hatten auf einen Zuruf ihres Häuptlings hin die Hundeschlitten längst gewendet und standen bereit, loszupreschen. Dann knallten die Peitschen, und die Schlittenführer ließen ihre harten „Haqhaq“-Rufe ertönen. Rasch beschleunigend glitten die Gefährte am Fjord entlang. Die „Isabella“, die nun fast ganz vom Eis eingeschlossen zu sein schien, blieb weit hinter ihnen zurück.
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Hasard sah noch, daß die Jollen sich wieder in Fahrt gesetzt hatten und mit zügigem Riemenschlag zum Schiff zurückgepullt wurden. Dann war die Passage in der Felsenbarriere erreicht, und die Schlittenkarawane unter Okviks Führung bog nach links ab. Zum zweiten Male wurden Hasard und SiriTong über das weitläufige Schneefeld, das den Bergen vorgelagert war, transportiert, nur ging die Reise diesmal weiter nach Osten. Das weißglitzernde Feld schien ein ehemaliger Gletscherstrom zu sein, und Hasard begriff in dem Moment, in dem er dies erkannte, auch Okviks Absicht. Diese natürliche Fahrstraße für die Hundeschlitten schien um die Berge herumzuführen; wahrscheinlich gab es irgendwo in der sich nach Osten hin abflachenden Felsenregion einen Durchbruch, der als Passage für die Schlitten zu benutzen war. Wie sonst hätte Okvik auch vom Dorf hierher, zum Fjord, gelangen können? Wieder erklang das tiefe Wummern eines Geschützes. Diesmal hatte auch der Seewolf den Eindruck, daß es aus dem Gebiet unmittelbar nördlich der Gebirgszüge herüberdrang. Okvik hatte also allen Grund, beunruhigt zu sein. Er schrie und peitschte auf die Schlittenhunde ein. „Allmächtiger!“ rief Siri-Tong Hasard zu. „Das Dorf muß weitgehend ungeschützt sein, denn Okvik scheint ja mit fast allen guten Kriegern seines Stammes aufgebrochen zu sein, um Fleisch und Felle zu erjagen. Das bedeutet...“ „Hör auf“, unterbrach er sie. „Ich mag nicht daran denken.“ Etwas später beschrieb das Schnee- und Eisfeld eine Krümmung nach links, also nach Nordosten. Die Felsen rückten näher, öffneten sich und schienen die Schlitten verschlingen und zerquetschen zu wollen. Okviks Gespann tauchte hechelnd in den Schatten einer Schlucht, und einen Augenblick später war auch der Schlitten im Halbdunkel verschwunden.
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Eine abenteuerliche, halsbrecherische Fahrt durch das Bergland begann — über Gesteinsbuckel- und Hänge hinweg, auf kleine Plateaus hinauf, haarscharf an Abgründen vorbei und dann wieder durch Hohlwege und Schluchten, die allesamt mit Schnee gefüllt waren, auf denen die Knochenkufen der Schlitten ihre Spuren zeichneten. Hasard unternahm keinen Versuch, sich auszumalen, was wohl in dem Dorf der Eskimos vorgefallen sein mochte. Er konzentrierte sich darauf, die Ladung seiner Waffen zu prüfen. Im Ernstfall hing alles vom sachgemäßen Bemessen der Ladung und vom richtigen Stopfen ab. Hasard hielt eine Muskete etwas empor und zeigte Okvik während der rasanten Fahrt auf dem wackligen Schlitten, wie man den Hahn des Steinschlosses spannte und den Abzug betätigte. Natürlich hielt er den Eisenhahn mit der Daumenkuppe fest, damit die Muskete nicht losgehen konnte. „Ja!“ schrie Okvik. „Ja!“ Er schien es begriffen zu haben, und der Seewolf war sicher, daß er nicht zögern würde, sich der Muskete zu bedienen, um seinen Stamm zu verteidigen. Sicherlich haßten die Eskimos die „Feuerrohre“, weil sie den Frieden ihrer weißen Welt zerstörten, aber wenn es ums nackte überleben ging, war man für jedes Hilfsmittel dankbar. 10. Beim Wummern des ersten Kanonenschusses hatte Jor von dem Mädchen Bilonga abgelassen. Er hatte aufgehorcht und mit argwöhnischem Blick aus der Höhle in die kleine Schlucht gespäht. „Das kam vom Dorf!“ rief einer der Wikinger, die sich inzwischen vollzählig vor den Grotten versammelt hatten, um dem „Schauspiel“ beizuwohnen und ihre schmutzigen Bemerkungen anzubringen. „Seht nach, was da los ist!“ schrie Jor sie an. „Bei Thor, steht nicht herum und glotzt mich nicht so närrisch an! Wir haben keine
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Kanonen auf unserem Schiff, aber es war eindeutig ein Geschütz, das da gekracht hat. Lauft los, seht nach dem Rechten!“ Zwei Behelmte drehten sich um, verließen die Schlucht und hasteten durch den großen Canyon. Jor wandte sich wieder Bilonga zu. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte er sie. „Ich weiß es nicht.“ „Ich werde dich für den Rest deiner Tage verunstalten, wenn du es mir nicht verrätst!“ „Ich weiß es wirklich nicht, ich könnte dich nur anlügen!“ schrie sie verzweifelt. Einer der beiden Wikinger, die als Späher losgerannt waren, kehrte wieder zurück. Man konnte seine Schritte auf dem verharschten Schnee hören, dann bog er in die Seitenschlucht ein und schrie: „Ein Schiff! Ein Überfall — auf unsere Männer! Man hat uns überrumpelt!“ „Wer?“ brüllte Jor, daß es von den Felswänden hallte. „Wer?“ „Ich habe keine Ahnung!“ rief der Späher verunsichert zurück. Er verharrte, wich sogar etwas zurück und schien in diesem Augenblick davon überzeugt zu sein, daß Jor seine Wut an ihm auslassen würde. „Zum Dorf der Eskimos“, befahl Jor. „Wir müssen Ingbert und den anderen beistehen. Wie viele Gegner sind es?“ „Mindestens zwanzig!“ rief der Melder. „Dann los. Wir können mit ihnen fertig werden, ehe sie alle Kameraden niedermachen und unser Schiff besetzen.“ Der schwarze Pirat zerrte das Mädchen mit sich von dem Absatz des Höhleneingangs. Bilonga fiel, schluchzte, wimmerte und mußte es sich gefallen lassen, daß er sie wieder auf die Beine riß und sie weiter mit sich zog. Er wollte sie, wenn nötig, als seine Geisel gegen die unversehens aufgetauchten Gegner benutzen, ganz gleich, wer sie waren. Nur wenn sie ebenso grausam und skrupellos wie die Nordmänner waren, würden sie das Leben dieses jungen Geschöpfes bedenkenlos auslöschen. Ipiutak und der Schamane, beide noch bewußtlos, blieben in der Höhle zurück.
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Als der zweite Drehbassenschuß von der Galeone „Sparrow“ losdonnerte und mitten zwischen den letzten Iglus des Dorfes einen Krater in den Schnee hieb, traten die Wikinger den Rückzug an. Sie waren nur noch zu acht — sie hatten Ingbert, Jors Unterführer, durch die erste Geschützkugel durch die Luft wirbeln und sterben sehen, sie hatten dem Tod weiterer sieben Kumpane beigewohnt. Der zweite Schuß erhöhte ihre Panik und ließ ihren Mut schrumpfen. Der Selbsterhaltungstrieb triumphierte jetzt über ihren Zorn und den Wunsch, Vergeltung zu üben. Zu ihrem Drachenboot konnten sie nicht mehr gelangen, denn das war von den Männern der „Sparrow“ besetzt worden. Es blieb nur eine Möglichkeit, nämlich die, sich zu Jor und den anderen, die nach den geflohenen Eskimos suchten, zurückzuziehen. Als sich der Schnee, der durch den zweiten Kanonenschuß hochgewirbelt worden war, wieder gelegt hatte, sahen Hendrik Laas, Bert Anderson und Sheldon Gee und alle anderen von der „Sparrow“, wie die letzten Piraten sich ins Landesinnere zu retten versuchten. „Ihnen nach!“ rief der Däne. „Wir müssen wenigstens ein paar von ihnen lebend haben. Wir müssen wissen, was mit den Eskimos, mit Okvik und seinem Stamm, geschehen ist!“ Wohl hatten er und seine Crew die sieben Kajaks kieloben im Wasser der Bucht treiben sehen, und es war ihnen auch nicht entgangen, daß die ertrunkenen und erschossenen Eskimos noch in den Mannlöchern steckten, als wären sie für die Ewigkeit mit den Kajaks verwachsen. Aber konnte denn der ganze Stamm dasselbe Schicksal gefunden haben? Hendrik Laas hatte das Drachenboot der Wikinger-Piraten erkannt, er wußte, welche Streifzüge Jor und seine Horde im südlichen Grönland Jahr für Jahr unternahmen, wie es auch die Eskimos von Thule wußten. Die haarsträubendsten Geschichten kursierten über diese
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grausamen Nordmänner, aber daß sie wirklich eines Tages hier auftauchen würden, hatte keiner so recht geglaubt. Nun waren sie wie ein Sturm über das Dorf hergefallen, und das Allerschlimmste stand zu befürchten. Hendrik, Bert, Sheldon und die zwölf anderen Männer der „Sparrow“, die mit an Land gegangen waren, hetzten den Flüchtlingen nach. Die Wikinger waren schätzungsweise zweihundert Yards vor dem zerstörten Igludorf entfernt, da quollen aus einer Bergschlucht die Leiber ihrer Kumpane hervor — ja, eine Meute von Wölfen schien sich als wimmelnde Masse aus dem Dunkel zu schälen, um nun flink und geduckt über Eis und Schnee zu den in Bedrängnis geratenen Spießgesellen zu eilen. Jor stürmte seinem Trupp von zwanzig Mann voran und zerrte Bilonga mit sich. Es kümmerte ihn nicht, daß sie stürzte und mit den Beinen über den Harschboden schleifte. Er rannte weiter, und sie mußte sich aufrappeln und mitzuhalten versuchen. Sie weinte und schluchzte, versuchte sich loszureißen, scheiterte aber immer wieder. Hendrik Laas rief seinen Freunden zu: „Männer, das Blättchen wendet sich. Die Hunde sind jetzt in der Übermacht!“ „Wir erledigen sie trotzdem!“ schrie Bert Anderson zurück. „Wir haben mehr Musketen und Tromblons als sie“, meinte Sheldon Gee. Die Wikinger, die vor ihren Bezwingern davongelaufen waren, stießen zu ihren Kumpanen, warfen sich herum und stürmten nun mit diesen auf die Männer der „Sparrow“ zu. Hendrik Laas blickte sich zu seinem Schiff um. Selbst wenn er sich aus reiner Vorsicht an Bord der Galeone hätte zurückziehen wollen — er hätte es nicht mehr geschafft. Der Abstand zum Dorf war bereits zu groß, viel größer als die Distanz zwischen seiner Gruppe und den heranstürmenden Wikingern. „Hinlegen“, befahl er. „Laßt sie heran. Schießt gezielt. Wartet auf mein Zeichen und laßt euch nicht aus der Ruhe bringen.“
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„Aye, aye“, gaben die Männer zurück, die eine gemischte Crew aus Dänen, Schweden, Holländern und Engländern waren. Sie legten sich in den Schnee, schoben ihre Waffen vor, preßten die Kolben gegen die Schultern und warteten ab. Jor verlangsamte seinen Schritt, zog Bilonga zu sich heran und hielt sie sich wie einen lebenden Schutzschild vor den Körper. „Sie verstehen unsere Sprache!“ rief ihm einer der Kumpane Ingberts, der aus dem Dorf geflohen war, zu. „Wir haben gehört, wie sie auf Dänisch geredet haben.“ Jor war auf Schußweite an die Männer der „Sparrow“ heran und blieb stehen. Hinter seinem Rücken bremsten auch die anderen Piraten ihren Lauf. Jor blickte über die Gegner weg zu dem Schiff, das neben seinem Drachenboot lag. Eine richtige Galeone mit drei Masten, verzierten Kastellen und einer Armierung, wie er, Jor, se sich immer gewünscht hatte. Nein, er wollte nicht ewig ohne Bordgeschütze über die Meere fahren. Die Zeiten, in denen man ohne Kanonen Beute schlagen konnte, waren vorbei, früher oder später mußte er einem stärkeren Gegner unterliegen. Er wollte dieses Schiff, und er spürte, daß er es kriegen würde. Es schien dies seine einzige und letzte Gelegenheit zu sein, sich einen immensen Vorteil zu verschaffen. Der Segler dort war mehr wert als alles Fleisch und alle Felle aus den geheimen Lagern der Eskimos. „Ihr da!“ schrie er. „Wagt es nicht, auf uns zu schießen. Ich habe das Mädchen hier fest in meiner Gewalt, und sie wird als erste sterben, wenn ihr auch nur einen Schuß abgebt.“ Plötzlich kam ihm ein Gedanke. „Und die anderen Eskimos!“ rief er. „Wir haben sie in den Bergen gefangen. Auch sie müssen sterben, einer nach dem andern, wenn ihr nicht sofort eure Waffen wegwerft und euch ergebt!“ Hendrik Laas spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat, trotz der Kälte, die in
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diesem Land herrschte. Etwas überlief ihn heiß und kalt. „Das Mädchen“, murmelte er. „Das ist Bilonga, die Tochter von Okvik, dem Häuptling des Stammes. Mein Gott, wir dürfen ihr Leben nicht aufs Spiel setzen ...“ „Sollen wir denn alle sterben?“ sagte Sheldon Gee verbissen. „Jor tötet uns, sobald wir die Waffen fortwerfen“, zischte auch Bert Anderson. „Und das Mädchen?“ fragte Hendrik. „Bringt ihr es übers Herz, sie leiden zu sehen?“ „Die Waffen weg!“ brüllte Jor. „Ich fange jetzt an, diese Hure mit meinem Messer zu kitzeln. Wollt ihr sie schreien hören, wollt ihr das wirklich? He, gebt Antwort!“ Hendrik Laas wollte schon kapitulieren, wenigstens zum Schein, um eine Möglichkeit zu finden, an den Piratenführer heranzugelangen, aber in diesem Augenblick wandten die Wikinger irritiert die Köpfe, weil von Süden her das rasch aufeinander folgende Grollen von Explosionen herübertoste. Der Wind aus Südwesten trug die Geräusche überdeutlich heran, es war, als würden riesige Geschütze in unmittelbarer Nähe der beiden feindlichen Parteien abgefeuert. „Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?“ sagte Jor, der schwarze Pirat. Weder er noch Hendrik Laas ahnten, daß es die Seewölfe waren, die jetzt begonnen hatten, sich die Ausfahrt aus dem Fjord anhand ihrer Flaschenbomben freizusprengen. * Plötzlich stießen zwei andere Hundeschlitten, von älteren Eskimos gelenkt, zu der Karawane. Sie schienen aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Im Dahinrasen gewahrte der Seewolf nur oberflächlich, daß sie aus einer Felsspalte hervorgeglitten waren, hinter der man sich ganz vorzüglich verstecken konnte. Okvik schrie ihnen etwas zu, und sie antworteten erregt. Was sie sich zuriefen, konnten weder der Seewolf noch seine vier Kameraden von der „Isabella“ verstehen.
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Erst etwas später sollten sie erfahren, daß die Eskimos aus dem Dorf, die sich weiter oben in den Bergen verborgen hatten, sich auf das Krachen von Musketen- und Kanonenschüssen an der Bucht hin wieder in Bewegung gesetzt hatten, um nach dem Rechten zu sehen. Bilonga, Ipiutak und der eine Schamane waren in der Höhle zurückgeblieben, und sie konnten in Lebensgefahr schweben. Längst hatten sich die Flüchtlinge schwerste Vorwürfe bereitet, daß sie die drei zurückgelassen hatten. Eine jagende Talfahrt begann, bei der der Seewolf, Siri-Tong, Shane, Blacky und Old O'Flynn sich an den Schlittengerüsten festklammern mußten, um nicht hinunterzustürzen. Über eine stark abschüssige Bahn gelangten sie in einen düsteren Canyon. Okvik rief wieder etwas, dann bremste er unerwartet sein Gespann, bog nach links in eine Seitenschlucht ab, die man leicht übersehen konnte, und hielt auf drei Höhlenlöcher zu, die schwach am Ende der Felsengasse zu erkennen waren. Der Schamane, inzwischen wieder bei Bewußtsein, stand vor der mittleren Höhle. Er hob beide Arme, spreizte die Finger und nahm somit eine fast beschwörende Haltung ein. Okvik zügelte sein Gespann wieder. In langsamer werdender Fahrt glitt der Schlitten direkt auf die Höhle zu. „Ipiutak lebt!“ rief der Schamane. „Aber Bilonga ist von den bärtigen Teufeln entführt worden. Sie alle sind zum Dorf unterwegs, wo die Kanonenschüsse gefallen sind!“ Diese Worte verstanden nur die Eskimos. Okvik stieß einen furchtbaren Schrei aus, trieb seine Hunde wieder an, zog das Gespann samt dem Schlitten herum und jagte an den anderen einundzwanzig Schlitten vorbei aus der kleinen Schlucht in die große, riß das Gespann nach links, ließ die Peitsche knallen und brachte die Tiere zur Höchstleistung. Sie schienen nicht mehr auf dem Schnee zu laufen, sondern darüber hinwegzufliegen. Ihr Hecheln übertönte das Knirschen der
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Kufen und das Hag-haq-Geschrei von Okvik. Die anderen Schlittenführer waren dem Beispiel ihres Häuptlings gefolgt, die Karawane setzte sich wieder vollzählig in Bewegung, aber Okvik lag mit seinem Gefährt am weitesten vorn, und der Abstand zu den anderen vergrößerte sich immer mehr. Hasard und Siri-Tong saßen auf Okviks Schlitten, während Blacky, Big Old Shane und Old O'Flynn Plätze auf den nachfolgenden Schlitten eingenommen hatten. Die Schlucht öffnete sieh. Der Blick auf das weiße Land, das sich zwischen den Bergen und der Bucht, an dessen Ufer die Siedlung der Eskimos lag, erstreckte, wurde frei. Hasard und Siri-Tong richteten sich gleichzeitig kerzengerade auf, weil sie die „Sparrow“ an den Anlegern des Dorfes neben dem Drachenboot der Wikinger entdeckten - und weil sie die Menschen inmitten des weißen, blendenden Schnees sahen - zwei Parteien, die sich feindselig gegenüberstanden. Vom Süden drang stakkatohaft das Wummern der FlaschenbombenExplosionen herüber, und Jor und seine Kerle waren für Sekunden abgelenkt. So gewann Okvik Zeit, wurde noch nicht von ihnen entdeckt und konnte die Distanz zu den Todfeinden verkürzen. Der Schlitten schoß auf die Menschengruppe zu. Dann erklang ein Schrei. Einer der Wikinger hatte ihn ausgestoßen, weil er den heranrasenden Schlitten entdeckt hatte. Hasard sah das Mädchen, das sich unter Jors Griff wand, er begriff, hob seinen Radschloß-Drehling und legte ihn an. „Haltet ein!“ schrie Jor. „Ich töte sie, wenn ihr es wagt, näher heranzukommen!“ Er hielt ihr ein Messer an die Kehle und traf Anstalten, seine Drohung auszuführen. Okvik stieß einen klagenden, verzweifelten Laut aus, bückte sich und schirrte den Bas, das Leittier seines Schlittenzuges, aus dem Gespann. Der Bas schoß aus der Meute hervor, man konnte seine wirbelnden Läufe kaum noch sehen. Wie ein Pfeil
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huschte er genau auf Jor, den schwarzen Piraten, zu. Ein anderer Wikinger wollte mit der Muskete auf den Hund feuern. Hasard drückte ab. Der Schuß aus dem Drehling raste krachend auf den Kerl zu, traf ihn und hieb ihn um, als wäre er eine Puppe und nicht ein Koloß von Mann aus Fleisch und harten Muskeln. Der Bas sprang Jor an die Kehle. Jor schrie auf, sein Griff um Bilongas Oberkörper lockerte sich, und das Mädchen entschlüpfte ihm geistesgegenwärtig. Sie tat das einzig Richtige und warf sich der Länge nach in den Schnee. Hendrik Laas und seine Männer feuerten über Bilongas Körper weg auf die Wikinger. Hasard und Siri-Tong schossen mit dem Drehling und mit dem Stutzen, und dann waren auch die anderen Eskimos auf ihren Schlitten heran. Shane, Blacky und der alte Donegal Daniel O'Flynn ließen ihre Waffen als erste sprechen, aber kurz darauf hatten auch die Eskimos die Musketen aus der Waffenkammer der „Isabella“ in Anschlag gehoben und zielten, so gut sie konnten, auf die verhaßten Gegner. „Arwenack!“ Hasard stieß den alten Kampfruf der Seewölfe als erster aus. „Ar-we-nack“, schrien nun auch die Rote Korsarin und die drei anderen von der „Isabella“. Aber dann fielen auch Laas, Anderson, Gee und die anderen Männer der „Sparrow“ mit ein und brüllten die Parole, als gelte es, die Piraten damit niederzuschreien. Zehn oder elf Seeräuber des Drachenbootes fielen. Die übrigen Kerle warfen ihre Waffen angesichts der übermacht fort, hoben die Hände und ergaben sich. Okvik pfiff den Bas von Jor fort, ehe das Tier dem Kerl die Kehle zerbeißen konnte. Gehorsam kehrte der Bas zu seinem Gespann zurück. „Das Tier ist Gold wert“, sagte Siri-Tong, und in ihrer Stimme schwang Achtung mit. Hasard stieg von Okviks Schlitten. Er schritt an den kapitulierenden Wikingern
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vorbei, die von den Eskimos und den Männern der „Isabella“ und der „Sparrow“ mit den Waffen in Schach gehalten wurden, lächelte Bilonga, die sich gerade wieder aufrappelte, aufmunternd zu — und war dann bei Hendrik Laas angelangt. Er lächelte, streckte die Hand aus und sagte: „Auf gut Englisch, es ist mir eine Ehre, dich wiederzusehen, Hendrik Laas.“ Der Däne grinste breit. „Also, ehrlich gesagt staune ich gar nicht darüber, hier mit dir zusammenzutreffen“, erwiderte er. „Schließlich wußte ich, daß du eines Tages bis nach Thule segeln würdest, und auch mich konnte in Dänemark nichts mehr halten, nachdem ich meinem Zuhause einen Besuch abgestattet hatte. Na, und Grönland ist eben nur ein winziges Eiland, auf dem zwei Kerle wie wir nicht aneinander vorbeilaufen können, oder?“ Sie lachten beide, aber dann würden sie wieder ernst, denn Bilonga trat zu ihnen und sagte: „Ipiutak, meine Mutter — was ist aus ihr geworden?“ „Wer ist Ipiutak, und wo steckt sie?“ wollte Hasard wissen. „Sie ist die Frau des Häuptlings Okvik“, erklärte Hendrik Laas. .,Ipiutak lebt“, verkündete Okvik hinter ihrem Rücken.
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„Aber sie hat eine Kugel in ihrem Körper stecken.“ „Wenn die ,Isabella` hier eintrifft, wird sich unser Feldscher um sie kümmern“, sagte der Seewolf. „Er ist ein Mann, der sein Fach versteht. Okvik hat bereits gesehen, wie der Kutscher Siri-Tongs Hände verarztet hat — er dürfte ihm vertrauen.“ Hendrik Laas übersetzte dies, und Okvik erwiderte: „Er, Okvik, legt Ipiutaks Leben in Hasards Hände. Sein Vertrauen hat keine Grenzen.“ „Das ist der größte Freundschaftsbeweis, den man von einem Eskimo erwarten kann“, sagte Laas. „Ich weiß dies zu schätzen“, sagte Hasard. „Wie ich überhaupt festgestellt habe, daß alles, was du mir seinerzeit über diese Menschen erzählt hast, zutrifft. Wir sollten ihnen ihre Welt erhalten und immer wieder verhindern, daß Schakale wie der Wikinger dort sie zerstören.“ Jor, der schwarze Pirat, kauerte blutend am Boden und sandte haßerfüllte Blicke zu ihnen herüber. Hasard wußte, daß er sie alle hassen und auf Rache sinnen würde, bis er sein Leben irgendwann ausgehaucht hatte...
ENDE