Erinnerungen an das Raumfahrtzeitalter ∗ J. G. Ballard
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Erinnerungen an das Raumfahrtzeitalter ∗ J. G. Ballard
I Den ganzen Tag hatte dieser seltsame Pilot mit seinem altmodischen Flugzeug das verlassene Raumfahrtzentrum u ¨berflogen, eine rasende Maschine, verloren in der Stille Floridas. Bald nach Anbruch der D¨ammerung weckte der pochende Motor des alten Curtiss-Doppeldeckers Dr. Mallory, der im f¨ unften Stock des leeren Hotels in Titusville neben seiner ersch¨opften Frau schlief. Tr¨aume vom Raumfahrtzeitalter hatten die Nacht erf¨ ullt, Erinnerungen an weiße Landebahnen so still wie Gletscher, die nun durch dieses sonderbare Flugzeug, das herumkreiste wie der Gedankensplitter eines zerr¨ utteten Geistes, unterbrochen worden waren. ∗
¨ Nr.: 0001; ENG; Memories of the Space Age; 1981; Ubers.: Gridling, Maria; Hrsg.: Rottensteiner, Franz; Phantastische Tr¨aume; Suhrkamp 1983; ISBN: 3-518-37454-0; 954; PhB100; Scan: Dr. Gonzo
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Vom Balkon aus beobachtete Mallory den uralten Doppeldecker, wie er die rostigen Startrampen von Cape Kennedy umkreiste. Das Sonnenlicht blitzte auf dem Helm des Piloten und ließ das Silberdrahtgeflecht, das den offenen Rumpf mit den Tragfl¨achen verband, aufleuchten, ein Problem, dem der Pilot durch eine Reihe von Rollen und Loopings zu entgehen suchte. Ohne Mallory zu beachten, flog der Pilot u ¨ber die Baumkronen hin und zur¨ uck, und der Motorenl¨arm hallte u ¨ber die riesigen verlassenen Plattformen, als k¨onnte dieses Gespenst aus den Pioniertagen der Luftfahrt die schlafenden Titanen des Apollo-Programmes aus ihren Gr¨abern unter dem eingest¨ urzten Beton heraufbeschw¨oren. F¨ ur den Augenblick hatte der Pilot genug, die Curtiss drehte von den Startrampen ab und nahm Kurs ins Landesinnere nach Titusville. Als sie u ¨ber das Hotel ratterte, erkannte Mallory hinter der Schutzbrille des Piloten den ihm vertrauten starren Blick. Jeden Morgen tauchte derselbe Pilot auf, im¨ mer in diesen altmodischen Flugzeugen – Uberreste eines aufgelassenen Museums auf einem naheliegenden privaten Flugfeld, nahm Mallory an. Es gab eine Spad, eine Sopwith Camel, ein nachgebautes Modell des Flugzeugs der Gebr¨ uder Wright und einen Fokker-Dreidecker, der am Vortag im Tiefflug u ¨ber den NASA-Straßendamm geflogen war und Schw¨arme aufgescheuchter M¨owen und Schwalben landeinw¨arts gejagt hatte, ihnen auch nicht den kleinsten Flecken Himmels g¨onnend. Mallory stand nackt auf dem Balkon und w¨armte sich in der bernsteinklaren Luft. Er z¨ahlte die Rippen unter seinen Schulterbl¨attern und bemerkte, daß er zum ersten Mal die Nieren sp¨ uren konnte. Obwohl er jeden Tag stundenlang nach Nahrung suchte und in den verlassenen Superm¨arkten Fleischkonserven pl¨ underte, konnte er sein K¨orpergewicht nur schwer halten. Seit sie vor zwei Monaten zu der langsamen und unruhigen
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Fahrt von Vancouver zur¨ uck nach Florida aufgebrochen waren, hatte er ebenso wie Anne an die f¨ unfzehn Kilogramm verloren. Es war, als f¨ uhrten ihre K¨orper f¨ ur die kommende Welt ohne Zeit noch einmal eine Bestandsaufnahme ihrer selbst durch. Aber die Knochen u ¨berdauerten. Sein Skelett schien kr¨aftiger und schwerer zu werden und sich auf den nahrungslosen Schlaf des Grabes vorzubereiten. Da er in der feuchten Luft zu schwitzen begann, kehrte Mallory in das Schlafzimmer zur¨ uck. Anne war aufgewacht, lag aber regungslos in der Mitte des Bettes. Wie bei einem Kind hatten sich in ihrem Mund blonde Haarstr¨ahnen verfangen. Mit dem starren und leeren Ausdruck glich ihr Gesicht einer Uhr, die eben zu ticken aufgeh¨ort hatte. Mallory setzte sich nieder, legte seine Hand auf ihren Bauch und beatmete sie leicht. Jeden Morgen f¨ urchtete er, die Zeit k¨onnte f¨ ur Anne stillstehen, w¨ahrend sie schlief, und sie f¨ ur immer in einem Alptraum festbannen. Sie starrte auf Mallory, als sei sie erstaunt, in diesem sch¨abigen Ferienhotel in der Gesellschaft eines Mannes aufzuwachen, der ihr m¨oglicherweise seit Jahren vertraut war, den sie aber aus irgendeinem Grund nicht wiedererkannte. Hinton?“ ” Noch nicht“, Mallory strich ihr das Haar aus dem Mund, ” Sehe ich jetzt aus wie er?“ ” Himmel, ich werde blind.“ Anne putzte sich am Kissen die ” Nase. Sie hob die H¨ande und starrte auf die zwei Armbanduhren, die ein Paar Zeit-Handschellen bildeten. Die Warenh¨auser in Florida waren voll von Uhren und Armbanduhren, die man, f¨ ur den Fall, daß sie verseucht waren, zur¨ uckgelassen hatte, und jeden Tag w¨ahlte Anne ein neues Paar Chronometer aus. Beruhigend faßte sie nach Mallory: Alle M¨anner sehen gleich ” aus. Die Weisheit einer Straßendirne. Aber ich habe das Flug-
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zeug gemeint.“ Ich weiß es nicht genau. Es war kein Aufkl¨arungsflugzeug. ” Die Polizei macht sich verst¨andlicherweise nicht mehr die M¨ uhe, nach Cape Kennedy zu kommen.“ Ich kann es ihr nicht u ¨belnehmen. Es ist ein b¨oser Ort. ” Edward, wir sollten ihn verlassen, brechen wir doch heute auf.“ Mallory hatte ihre Schultern umfaßt und versuchte seine abgeh¨armte, aber noch immer h¨ ubsche Frau zu beruhigen. Es lag ihm daran, daß sie sich Hinton von ihrer besten Seite zeigte. Anne, wir sind erst seit einer Woche hier, lassen wir uns noch ” ein wenig Zeit.“ Zeit? Edward . . .“ In einer pl¨otzlichen Gef¨ uhlsaufwallung ” ergriff sie Mallorys Hand: Liebling, das ist etwas, was wir ” nicht mehr haben. Ich bekomme wieder diese Kopfschmerzen, dieselben wie vor f¨ unfzehn Jahren. Es ist unheimlich, ich sp¨ ure dieselben Nerven . . .“ Ich werde dir etwas geben, damit du am Nachmittag schla” fen kannst.“ Nein . . . Sie sind eine Warnung. Ich will jeden Stich sp¨ u” ren.“ Sie preßte die Armbanduhren an die Schl¨afen, als wollte sie ihr Gehirn auf den Rhythmus des Tickens abstimmen. Es war Wahnsinn, daß wir hierher gekommen sind, und noch ” wahnsinniger ist es, eine Sekunde l¨anger zu bleiben als notwendig.“ Ich weiß. Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, aber einen ” Versuch wert. Eines habe ich in all den Jahren gelernt – wenn es einen Ausweg gibt, finden wir ihn in Cape Kennedy.“ Nein! Hier ist alles vergiftet. Wir sollten nach Australien ge” hen wie die anderen NASA-Angestellten.“ Anne w¨ uhlte in ihrer Handtasche auf dem Boden und schob ein illustriertes Vogellexikon beiseite, das sie in einer Buchhandlung in Titusville entdeckt hatte. Ich habe nachgeschlagen – West-Australien ”
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ist so weit wie m¨oglich von Florida entfernt. Es liegt Florida fast genau gegen¨ uber. Edward, meine Schwester lebt in Perth. Ich wußte, es hatte seine Gr¨ unde, daß sie uns zu sich einlud.“ Mallory starrte auf die fernen Startrampen von Cape Kennedy. Es war kaum zu glauben, daß er einmal dort gearbeitet hatte. Nicht einmal Perth in Australien scheint mir weit ge” nug entfernt zu sein. Wir m¨ ussen wieder hinaus in den Weltraum . . .“ Ein Schauer u ¨berlief Anne: Edward, sag das nicht – hier ” ist ein Verbrechen geschehen, jeder weiß, daß alles damit begonnen hat.“ W¨ahrend sie dem fernen Brummen des Flugzeugs lauschten, starrte sie auf ihre breiten H¨ uften und weichen Oberschenkel. Die Herausforderung annehmend, hob sie ihr Kinn: Laut, nicht? Glaubst du, daß Hinton hier ist? Viel” leicht erinnert er sich gar nicht mehr an mich.“ Er wird sich an dich erinnern. Du warst der einzige Mensch, ” der ihn gern hatte.“ Nun, in gewisser Hinsicht, ja. Wie lange war er im Gef¨ang” nis, bevor er ausgebrochen ist? Zwanzig Jahre?“ Eine lange Zeit. Vielleicht nimmt er dich wieder auf einen ” Flug mit. Das hat dir Spaß gemacht.“ Ja . . . Er war merkw¨ urdig. Aber selbst wenn er hier ist, ” wird er helfen k¨onnen? Mit ihm hat damals alles angefangen.“ Nein, nicht mit Hinton.“ Mallory lauschte seiner eigenen ” Stimme in dem leeren Hotel. Sie schien tiefer und voller zu klingen, da die langsamer verstreichende Zeit die Frequenzen dehnte. Um genau zu sein, mit mir hat alles begonnen.“ ” Anne hatte sich von ihm abgewandt und lag auf der Seite, eine Armbanduhr ans Ohr gepreßt. Mallory erinnerte sich daran, daß er seine morgendliche Nahrungssuche antreten mußte. Lebensmittel, eine Vitaminspritze und zwei frische Laken. Er hatte gehofft, daß sie der Sex reizbar machte und wach hielt,
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statt dessen hatte er Zuneigung hervorgerufen. Angenommen, sie bekamen ein Kind, hier in Cape Kennedy, im Schatten der Startrampen. Er erinnerte sich an die mongoloiden und autistischen Kinder, die er in der Klinik von Vancouver zur¨ uckgelassen hatte, ¨ und an seine feste Uberzeugung – heftig angefochten von den Arztkollegen und den verzweifelten Eltern –, daß es sich dabei um Erkrankungen der Zeit handelte, um St¨orungen des Zeitsinnes, die diese Kinder auf kleine Inseln des Bewußtseins abdr¨angten, einige Minuten im Falle der Mongoloiden, einige Mikrosekunden im Falle der Autistiker. Ein Kind, das hier in Cape Kennedy empfangen und geboren wurde, w¨ urde in eine Welt ohne Zeit geboren werden, in eine unbegrenzte und unendliche Gegenwart, in jenes urspr¨ ungliche Paradies, an das sich der alte Geist so lebhaft erinnerte, erblickt sowohl von denen, die zum ersten Mal lebten, als auch von denen, die zum ersten Mal starben. Es war merkw¨ urdig, daß man sich unter Himmel und Paradies immer eine statische Welt vorgestellt hatte, nicht die kinetische Ewigkeit, die man eigentlich erwarten w¨ urde, die Berg- und Talbahn eines tollen Vergn¨ ugungsparkes, die grellen Lunaparks des LSD und Psilocybin. Es war ein seltsames Paradoxon, daß man im Falle der Ewigkeit, einer Unendlichkeit an Zeit, genau jenes Element ausschied, das im ¨ Uberfluß vorhanden war. Trotzdem, wenn sie noch l¨anger in Cape Kennedy blieben, w¨ urden Anne und er bald in die Welt des alten Geistes zur¨ uckkehren, wie jene ersten tragischen Astronauten, die mit seiner Hilfe in den Weltraum bef¨ordert worden waren. W¨ahrend der letzten Jahre in Vancouver waren die Anf¨alle zu h¨aufig gewesen, jene Largo-Phasen, in denen sich die Zeit zu verlangsamen schien und sich ein Abend an seinem Schreibtisch u ¨ber Tage hinzog. Seine eigenen Konzentrationsschw¨achen wurden
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¨ sowohl von ihm wie auch von seinen Kollegen auf Uberspanntheit zur¨ uckgef¨ uhrt, aber Annes wachsende Verwirrtheit konnte man unm¨oglich ignorieren. Es waren die ersten deutlichen Anzeichen der Weltraum-Krankheit, die allm¨ahlich die Uhren verlangsamte, zuerst f¨ ur die Astronauten und dann f¨ ur das u ¨brige in Florida stationierte NASA-Personal. W¨ahrend der letzten Monate waren die Anf¨alle f¨ unf, sechs Mal am Tage gekommen. Perioden, in denen sich alles verlangsamte, so daß er anscheinend einen ganzen Tag zum Rasieren oder zur Unterzeichnung eines Schecks ben¨otigte. Die Zeit bewegte sich in Spr¨ ungen, wie eine Filmrolle, die in einem defekten Projektor abgespult wurde, staute sich momentan und kam fast zum Stillstand und raste dann wieder dahin. Bald w¨ urde der Tag kommen, an dem sie innehielt, f¨ ur immer zu einem Bild erstarrt. Hatten sie wirklich zwei Monate gebraucht, um von Vancouver herzufahren, Wochen allein f¨ ur die Strecke von Jacksonville nach Cape Kennedy? Er dachte an die lange Fahrt entlang der K¨ uste Floridas, an diese Welt der riesigen leeren Hotels und der klebrigen Zeit, an die seltsamen Begegnungen mit Anne in menschenleeren Korridoren und an die sexuellen Aktivit¨aten, die Tage zu dauern schienen. Ab und zu trafen sie in einsamen Schlafzimmern auf andere Paare, die es nach Florida verschlagen hatte, in die ewige Gegenwart einer zeitleeren Zone, Paolo und Francesca in immerw¨ahrender Umarmung im Fontainebleau-Hotel. Aus manchen Augen hatte ihnen Entsetzen entgegengeblickt . . . Was Anne und ihn selbst betraf, so war die Zeit seit f¨ unfzehn Jahren aus ihrer Ehe gewichen, vertrieben durch die Phantome der Weltraumfahrt und die Erinnerungen an Hinton. Sie waren hierhergekommen wie Adam und Eva, die mit einer verh¨angnisvollen Geschlechtskrankheit in den Garten Eden zur¨ uckkehrten. Gott sei Dank verfl¨ uchtigte sich die Erinnerung
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ebenso wie die Zeit. Er blickte auf seine wenigen, nun beinahe bedeutungslosen Besitzt¨ umer – einen Kassettenrecorder, auf dem er seinen stetigen Niedergang aufzeichnete, ein Album ¨ mit Polaroid-Nacktfotos einer Arztin, die er in Vancouver gekannt hatte, die Anatomie von Gray aus seinen Studententagen, ein einzigartiges dichterisches Werk, dessen Bl¨atter noch Formalinflecken von den Leichen im Seziersaal trugen, eine Taschenbuch-Auswahl von Muybridges Filmstreifen und eine psychoanalytische Studie u ¨ber Simon Magus. Anne . . . ?“ Das Licht im Badezimmer war heller gewor” den, merkw¨ urdig gl¨anzend wie die weißen Landebahnen seiner Tr¨aume. Nichts bewegte sich, und einen Moment lang hatte Mallory das Gef¨ uhl, als seien sie Figuren einer Wachsplastik aus dem Museum oder das m¨ ude Paar in einem KleinstadtHotel in einem Gem¨alde von Edward Hopper. Die Traumzeit n¨aherte sich unversehens und begann ihn zu umh¨ ullen. Wie immer empfand er dabei keine Angst, sein Puls ging ruhiger . . . Draußen ert¨onte ein schmetternder L¨arm, ein Schatten huschte u ¨ber den Balkon. Der Curtiss-Doppeldecker donnerte durch die Luft und raste dann im Tiefflug u ¨ber die D¨acher von Titusville. Aufgeschreckt durch die pl¨otzliche Bewegung, erhob sich Mallory, sch¨ uttelte sich und schlug sich auf die Schenkel, um den Kreistauf anzuregen. Das Flugzeug hatte ihn genau zur rechten Zeit u ¨berrascht. Anne, ich glaube, das war Hinton . . .“ ” Sie lag auf der Seite, die Uhren an die Ohren gepreßt. Mallory streichelte ihre Wangen, aber ihre Augen glitten von ihm ab. Sie atmete ruhig und flach, ihr Puls ging so langsam wie der eines S¨augetiers w¨ahrend des Winterschlafes. Er zog das Laken u urde sie erwa¨ber ihre Schultern. In einer Stunde w¨ chen, ein einziges Bild lebhaft in Erinnerung, als Probe f¨ ur jene letzten Sekunden, bevor die Zeit endg¨ ultig erstarrte.
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II Die Arzttasche in der Hand, trat Mallory durch die zerbrochene Schaufensterscheibe des Supermarktes auf die Straße hinaus. Das verlassene Warenhaus war zu seiner Hauptversorgungsquelle geworden. Hohe Palmen teilten die Gehsteige vor den mit Brettern vernagelten L¨aden und Bars und bildeten eine schattige Promenade durch die leere Stadt. Mehrmals war er im Freien von einem Anfall u ¨berrascht worden, aber die Palmen hatten ihn vor der Sonne Floridas abgeschirmt. Aus einem Grund, der ihm bis jetzt verborgen geblieben war, liebte er es, nackt durch die stillen Straßen zu gehen, beobachtet von den Sittichen und Pirolen. Der nackte Arzt, ein Vogeldoktor . . . vielleicht w¨ urden sie ihn in Federn entlohnen; vielleicht waren die mitternachtsblauen Schwanzgefieder der Keilschwanzsittiche, die goldenen Fl¨ ugel der Pirole ausreichender Lohn, um sich daraus eine Flugmaschine zu bauen? Die Arzttasche war schwer, beladen mit Reis-Paketen, Zukker und Spaghetti-Kartons. Er w¨ urde auf irgendeinem anderen Balkon ein kleines Feuer entz¨ unden und ein kr¨aftiges Essen bereiten, mit sorgf¨altig abgekochtem brackigem Wasser aus dem Dachbeh¨alter. Auf dem Hotelparkplatz blieb Mallory stehen und sammelte Kr¨afte f¨ ur den Aufstieg in das f¨ unfte Stockwerk, das u uchenschaben-Grenze ¨ber der Ratten- und K¨ lag. Er ruhte sich auf dem Vordersitz des Polizeiautos aus, das sie in einem verlassenen Vorort von Jacksonville requiriert hatten. Anne hatte ihren bew¨ahrten Toyota nur ungern zur¨ uckgelassen, aber der Tausch war vern¨ unftig gewesen. Nicht nur w¨ urde der unerwartete Anblick des Streifenwagens jedes Milit¨ar-Aufkl¨arungsflugzeug verwirren, sondern der warmgelaufene Dodge war auch schneller als die meisten Leichtflugzeuge.
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Mallory vertraute darauf, daß das Auto den mysteri¨osen Piloten, der jeden Morgen in seinen altert¨ umlichen Flugzeugen erschien, einholen konnte. Er hatte bemerkt, daß es sich bei diesen Flugzeugveteranen jeden Tag um ein ¨alteres Modell handelte. Fr¨ uher oder sp¨ater w¨ urde sich der Pilot in bequemer Reichweite Mallorys befinden und den verfolgenden Dodge nicht mehr absch¨ utteln k¨onnen, bevor er zur Landung auf einem geheimen Flugfeld gezwungen wurde. Mallory hatte den Polizeifunk eingeschaltet, ein mißt¨onendes St¨orger¨ausch, das die riesige Leere u ¨ber Florida reflektierte. Im Gegensatz dazu bildete der Frequenzbereich des Luftverkehrs, sowohl der Großflugzeuge, die in Mobile, Atlanta und Savannah landeten, wie auch der Milit¨armaschinen, die die Bahamas u ¨berflogen, ein Sprachenbabel an BordfunkGeschnatter. Florida wurde von allen gemieden. N¨ordlich des 31. Breitengrades ging das Leben in den Vereinigten Staaten weiter wie zuvor, aber s¨ udlich dieser nicht markierten und kaum bewachten Grenzlinie breitete sich eine ungeheure Stille u ¨ber menschenleeren Str¨anden und Einkaufsstraßen, verlassenen Zitrus-Farmen und rudiment¨aren Anwesen, schweigenden Ghettos und Flugpl¨atzen aus. Die V¨ogel, die ihr Interesse an Mallory verloren hatten, erhoben sich in die Luft. Ein gefleckter Schatten u ¨berquerte den Parkplatz, und als Mallory hochschaute, glitt ein zierliches Flugzeug mit schlanken Tragfl¨achen langsam u ¨ber das Hoteldach. Der Doppelfl¨ ugel des Propellers sauste wie ein Kinderpaddel durch die Luft, gem¨achlich angetrieben durch den Piloten, der im durchsichtigen Rumpf rittlings u ¨ber den Pedalen saß. Der durch Menschenkraft angetriebene Segler moderner Bauart schwebte ruhig u ¨ber die Hausd¨acher, getragen von den Aufwinden, die von der leeren Stadt emporstiegen. Hinton!“ Mallory war jetzt sicher, daß er den ehemaligen ”
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Astronauten erwischen konnte, ließ seine Lebensmittel liegen und warf sich hinter das Steuer des Polizeiautos. Als er den Motor endlich starten konnte, hatte er das Flugzeug aus den Augen verloren. Die zarten Tragfl¨achen, fast ebenso lang wie die eines Verkehrsflugzeuges, waren u ¨ber den Wald dahingeglitten, begleitet von den Schwalbenschw¨armen, die aufflogen, um diesen scheuen Eindringling in ihren Luftraum n¨aher zu betrachten. Mallory fuhr aus dem Parkplatz hinaus, schl¨angelte sich zwischen den Palmen, die mitten in der Straße emporwuchsen, hindurch und nahm die Verfolgung des Segelflugzeuges auf. Er rief sich zur Ruhe, warf pr¨ ufende Blicke auf die Seitenstraßen und entdeckte das Flugzeug, das das Jai-alai-Stadium am s¨ udlichen Stadtrand umkreiste. Eine Wolke aus M¨owen umschw¨armte es, einige fielen u ¨ber den tr¨agen Propeller her, andere ließen sich auf die Spitzen der Tragfl¨achen nieder. Es schien, als dr¨angte sie der Pilot, ihm zu folgen und lockte sie mit sanften Rollen und Scherungen zur¨ uck zum Meer und den waldges¨aumten Straßend¨ammen der Raumfahrt-Anlagen. Mit gedrosselter Geschwindigkeit folgte Mallory dem Segler in einem Abstand von dreihundert Metern. Sie u ¨berquerten die Br¨ ucke u ¨ber den Banana-Fluß und strebten dem NASAStraßendamm und den heruntergekommenen Bars und Motels von Cocoa Beach zu. Die nahegelegene Startrampe befand sich immer noch fast zwei Kilometer n¨ordlich von ihnen, aber Mallory wußte, daß er sich bereits im Außenbezirk des Raumfahrt-Gel¨andes befand. Etwas Bedrohliches ging von den alten Startrampen aus, die auf ihre Weise ebenso alt waren wie die ber¨ uhmten Tempels¨aulen von Karnak, diese Tr¨ager einer anderen kosmischen Ordnung, Symbole f¨ ur eine Sicht des Universums, die gleichzeitig mit dem Staate Florida, der sie ins Leben gerufen hatte, in Vergessenheit geraten waren.
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Als er auf das nun klare Wasser des Banana schaute, erkannte er, daß er den d¨ usteren Wald, der die Straßend¨amme und Betonplattformen des Raumfahrt-Komplexes einschloß und die Schilder und Absperrungen, die Kamera-T¨ urme und Beobachtungs-Bunker erstickte, vermied. Hier war die Zeit anders als in Alamagordo und Eniwetok, eine Aufspaltung im Bewußtsein hatte Zeit und Raum auseinandergerissen und sich tief in die Psyche der Menschen, die hier arbeiteten, eingegraben. Durch diese frische Naht in seinem Sch¨adel tropfte die Zeit in das stille Wasser unter dem Auto. Die Eichen des Waldes warteten darauf, daß er ihren Wurzeln Nahrung gab, diese reglosen B¨aume waren so wahnsinnig wie die Bildvisionen eines Max Ernst. Es waren dieselben uners¨attlichen V¨ogel, die sich von der Vegetation n¨ahrten, die aus den Kadavern der gefangenen Flugzeuge sproß . . . Erschreckt kreisten die M¨owen u ¨ber dem Straßendamm, und ihre Schreie gellten in den Himmel. Das Segelflugzeug rutschte seitlich aus der Luft ab, zog einen Kreis und segelte die Br¨ ucke entlang, sein winziges Fahrwerk nur drei Meter u ¨ber dem Polizeiauto. Der Pilot trat wild in die Pedale, der Propeller blitzte in die aufgeschreckte Sonne, und im durchsichtigen Cockpit erblickte Mallory eine blonde Frau. Ein roter Seidenschal wehte von ihrem Hals. Hinton!“ Als Mallory in den L¨arm hineinschrie, lehnte sich ” der Pilot aus dem Cockpit und zeigte auf einen Seitenweg, der durch den Wald nach Cocoa Beach f¨ uhrte, drehte dann hinter den B¨aumen ab und verschwand. Hinton? Aus irgendeinem absurden Grund verkleidete sich der ehemalige Astronaut nun als Frau mit blonder Per¨ ucke, die ihn wieder in den Raumfahrt-Komplex zur¨ ucklockte. Die V¨ogel hatten sich mit ihm verb¨ undet . . . Der Himmel war leer, die M¨owen waren u ¨ber den Fluß gezogen und im Wald verschwunden. Mallory hielt an. Er wollte
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gerade aussteigen, als er Motorengebrumm h¨orte. Der FokkerDreidecker war vom Raumfahrt-Zentrum aufgestiegen. Er flog eine Platzrunde u ¨ber die Startrampe und kam u ¨ber das Meer heran. F¨ unfzehn Meter u ¨ber dem Strand fegte er u ¨ber die Zwergpalmen und das Riedgras, seine zwei Maschinengewehre genau auf das Polizeiauto gerichtet. Als Mallory den Motor wieder startete, er¨offneten die Maschinengewehre u ¨ber der Windschutzscheibe das Feuer auf ihn. Er nahm an, daß der Pilot nur mit Platzpatronen schoß, die von irgendeinem Schaufliegen u ¨briggeblieben waren. Dann schlugen die ersten Kugeln dreißig Meter vor ihm in der Schotterstraße ein. Der zweite Feuerstoß warf das Auto mit einem Ruck auf die geplatzten Vorderreifen, zerfetzte den T¨ urrahmen neben dem Beifahrersitz und f¨ ullte das Wageninnere mit umherfliegenden Glassplittern. W¨ahrend das Flugzeug steil aufstieg, um ihn zum zweiten Mal anzugreifen, wischte sich Mallory das blutige Glas von Brust und Oberschenkeln. Er sprang aus dem Auto und u ¨ber das Metallgel¨ander in den flachen Abwasserkanal neben der Br¨ ucke, und sein Blut mischte sich mit dem Wasser, das dem wartenden Wald auf dem Gel¨ande des Raumfahrtzentrums entgegenfloß.
III Von seiner Deckung im Abwasserkanal aus sah Mallory, wie das Polizeiauto auf der Br¨ ucke in Flammen aufging. Die Rauchs¨aule stieg dreihundert Meter in den leeren Himmel, ein Lichtsignal, das im Umkreis von f¨ unfzehn Kilometern von Cape Kennedy sichtbar war. Die M¨owenschw¨arme waren verschwunden. Der Motorsegler war mit seiner Pilotin – er erinnerte sich, daß sie ihn vor der Fokker gewarnt hatte – in seinen Schlupf-
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winkel irgendwo an der K¨ uste im S¨ uden entwischt. Mallory, zu u ¨berw¨altigt, um sich ausruhen zu k¨onnen, starrte auf den kilometerlangen Straßendamm. Er w¨ urde eine halbe Stunde ben¨otigen, um zur¨ uck zum Festland zu gelangen, und Hinton, der u ¨ber den Wolken in seiner Fokker wartete, eine bequeme Zielscheibe bieten. Hatte der ehemalige Astronaut Mallory erkannt und sofort erraten, weshalb ihn der fr¨ uhere NASA-Arzt suchte? Zu ersch¨opft, um den Banana hinaufschwimmen zu k¨onnen, watete Mallory ans Ufer und machte sich zwischen den B¨aumen davon. Er beschloß, den Nachmittag in einem der verlassenen Motels in Cocoa Beach zu verbringen und nach Einbruch der Dunkelheit nach Titusville zur¨ uckzugehen. Er sp¨ urte den Boden des Waldes k¨ uhl unter den bloßen F¨ ußen, aber ein schwaches Licht fiel durch die Baumkronen und w¨armte seine Haut. Das Blut auf Brust und Schultern war bereits getrocknet und bildete ein lebendiges Netzwerk wie die T¨atowierung eines Eingeborenen, was in diesem von Gewalt gepr¨agten und unsicheren Gebiet eine passendere Bekleidung war als die Kleider, die er im Hotel zur¨ uckgelassen hatte. Er ging an einem rostenden Airstream-Anh¨anger vorbei, dessen Stahlh¨ ulle von Lianen und Gundermann u ¨berwuchert war, als h¨atten die B¨aume in die H¨ohe gelangt, um ein vorbeifliegendes Raumschiff zu ergreifen und ins Unterholz herunterzuzie¨ hen. Verlassene Autos standen herum und die Uberreste einer Camping-Ausr¨ ustung, moosbedeckte St¨ uhle und Tische um alte Barbecue-Spieße, die hier vor zwanzig Jahren von den Urlaubern zur¨ uckgelassen worden waren, als sie hastig den Bundesstaat ger¨aumt hatten. Mallory stapfte u ¨ber diese Endmor¨ane, diese von einem Abbruch-Trupp zusammengetragenen St¨ ucke eines vergessenen Vergn¨ ugungsparkes. Ihm schien es bereits, als geh¨ore er
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zu einer ¨alteren Welt inmitten des Waldes, einem Bereich der Dunkelheit, der Geduld und des unsichtbaren Lebens. Das Meerufer war hundert Meter entfernt, die Brecher des Atlantiks sp¨ ulten an den leeren Strand. Auf ihrem Weg nach dem S¨ uden, zum Golf, tummelte sich eine Schar Delphine gewandt im Wasser. Die V¨ogel waren fort, aber die Fische schickten sich an, ihren Platz in der Luft einzunehmen. Mallory begr¨ ußte sie. Er wußte, daß er erst seit knapp u ¨ber einer halben Stunde diese Sandbank hinunterging, aber gleichzeitig kam es ihm vor, als sei er schon Tage hier, m¨oglicherweise sogar Wochen und Monate. Etwas in seinem Bewußtsein war schon immer hier gewesen. Die Minuten begannen sich in die L¨ange zu ziehen, weitergetrieben durch dieses ereignislose Universum ohne V¨ogel und Flugzeuge. Seine Erinnerung wurde sprunghaft, er vergaß seine Vergangenheit, die Klinik in Vancouver und die verletzten Kinder, seine Frau, die in einem Hotel in Titusville schlief, er vergaß sogar die eigene Identit¨at. Ein einziger Augenblick war eine kleine Rate der Ewigkeit – er pfl¨ uckte ein Farnblatt und beobachtete es einige Minuten lang, w¨ahrend es langsam zu Boden fiel, auf anmutigste Weise der Schwerkraft gehorchend. Im Bewußtsein, nun in die Traumzeit einzugehen, lief Mallory zwischen den B¨aumen dahin. Er bewegte sich in Zeitlupe, seine schwachen Beine trugen ihn mit der Grazie eines olympischen Athleten u ubers¨aten Boden. Er hob die Hand, ¨ber den bl¨atter¨ um einen Schmetterling zu ber¨ uhren, der anscheinend im Fluge schlief, und schickte damit die ausgestreckte Hand auf eine endlose Reise. Der Wald, der die Sandbank bedeckte, lichtete sich und machte den Strandh¨ausern und Motels von Cocoa Beach Platz. Ein verkommenes Hotel stand zwischen den B¨aumen, von den
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Toren br¨ockelte das Mauerwerk auf die Einfahrt, Floridamoos hing von einem Plakat, das einen Zoo und einen Vergn¨ ugungspark, der dem Raumfahrt-Zeitalter gewidmet war, zeigte. Die Chrom- und Neonraketen ragten zwischen den h¨ ufthohen Zwergpalmen von ihren Unters¨atzen auf wie Karussellfiguren. Mallory l¨achelte vor sich hin, sprang u ¨ber die Tore und rannte an den rostenden Raumschiffen vorbei. Hinter dem Vergn¨ ugungspark befanden sich verwilderte Tennispl¨atze, ein ¨ Schwimmbad und die Uberreste eines kleinen Zoos, ein Alligator-Becken, S¨augetierk¨afige und ein Vogelhaus. Voll Freude sah Mallory, daß die Bewohner in ihre Heime zur¨ uckgekehrt waren. Ein u ¨bergewichtiges Zebra d¨oste in seiner Betonumfriedung, ein gelangweilter Tiger starrte schielend auf seine eigene Schnauze, und ein a¨ltlicher Kaiman nahm auf dem Gras neben dem Alligator-Becken ein Sonnenbad. Die Zeit verstrich nun langsamer und kam beinahe zum Stillstand. Mallory schwebte mitten im Schritt u ¨ber dem Boden. Ein riesiger durchsichtiger Dragonfly parkte auf dem verfliesten Pfad neben dem Schwimmbecken, der Motorsegler, den er an diesem Morgen gejagt hatte. Zwei verhutzelte Geparden saßen im Schatten unter den Tragfl¨achen und beobachteten Mallory mit festem Blick. Einer erhob sich und setzte sich langsam in seine Richtung in Bewegung, aber er war sechzig Meter entfernt, und Mallory wußte, daß er ihn nie erreichen w¨ urde. Sein zerschlissenes Fell, wie aus einer alten Reisetasche umgearbeitet, streckte sich in einem langsamen Bogen, der mitten in der Entstehung f¨ ur immer zu erstarren schien. Mallory wartete darauf, daß die Zeit stehenblieb. Die Wellen rollten nicht mehr an den Strand, sondern bildeten steife Krausen wie Zuckerglasur. Die Fische hingen in der Luft, die
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weisen Delphine waren gl¨ ucklich, in ihrem neuen Element zu sein und streckten die l¨achelnden Gesichter der Sonne entgegen. Das Wasser, das der Springbrunnen am seichten Ende des Beckens verspr¨ uhte, glich nun einem gl¨asernen Sonnenschirm. Nur der Gepard bewegte sich, immer noch f¨ahig, die Zeit hinter sich zu lassen. Nun war er drei Meter von Mallory entfernt und setzte mit geneigtem Kopf, die gelben Krallen zielsicherer als Hintons Kugeln, zum Sprung auf Mallorys Kehle an. Aber Mallory empfand keine Furcht vor dieser Wildkatze. Ohne die Zeit konnte sie ihn nie erreichen, ohne die Zeit konnte sich der L¨owe endlich neben dem Lamm lagern, der Adler neben der Feldmaus. Er blickte hinauf in das helle Licht und sah die Gestalt einer jungen Frau, die mit ausgebreiteten Armen u ¨ber dem Sprungbrett in der Luft hing. Ihr K¨orper schwebte, in einem Kopfsprung verharrend, so heiter u ¨ber dem Wasser wie die Delphine u ¨ber dem Meer. Das unbewegte Gesicht starrte auf den gl¨asernen Boden drei Meter unter den kleinen ausgestreckten H¨anden. Gebannt vom Mysterium ihres eigenen Fluges, schien sie Mallory nicht wahrzunehmen, und er bemerkte auf ihren Schultern deutlich die roten Striemen, die die Gurte des Segelflugzeugs hinterlassen hatten und den Silberpfeil der Blinddarmnarbe, der auf ihr kindliches Schambein zeigte. Der Gepard war jetzt n¨ahergekommen, seine Krallen zupften an den F¨aden getrockneten Blutes, die Mallorys Schultern bedeckten, seine gefletschten Lippen ließen das vereiterte Zahnfleisch und die fleckigen Z¨ahne erkennen. Wenn Mallory die Arme ausstreckte, konnte er ihn umarmen, all die Erinnerungen an Afrika hinwegtr¨osten, die Grausamkeit aus seinem alten Fell streicheln.
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IV Wie aus dem Raumfahrtzentrum war auch aus Florida die Zeit hinausgeflossen. Nach einer kurzen Pause rauschte sie wieder heran, und rief, wie eine blockierte Filmrolle, die wieder ungehindert abl¨auft, eine kinetische Welt wach. Mallory saß in einem Liegestuhl neben dem Becken und beobachtete die Geparden, die im Schatten unter dem Segelflugzeug ruhten. Sie legten ihre Pfoten abwechselnd u ¨ber- und nebeneinander wie Kartenspieler, die ein As in den H¨anden verbergen und hoben ab und zu die Schnauze, um jenen fremden Mann und sein Blut zu wittern. Trotz ihrer scharfen Z¨ahne f¨ uhlte sich Mallory neben ihnen entspannt und ausgeruht wie ein Schl¨afer, der aus einem komplizierten, aber begl¨ uckenden Traum erwacht. Er war froh, von diesem kleinen Zoo und den lustigen Raketen im Hintergrund, unschuldig wie die Illustrationen eines Kinderbuches, umgeben zu sein. Die junge Frau stand neben Mallory und beobachtete ihn besorgt. W¨ahrend sich Mallory von seinem Zusammenstoß mit dem Geparden erholte, hatte sie sich angekleidet. Nachdem sie die ungest¨ ume Bestie weggezerrt hatte, setzte sie Mallory in einen Liegestuhl und zog eine geflickte Fliegermontur aus Leder u ¨ber. Hatte sie nie andere Kleidung getragen? Ein wahres Kind der L¨ ufte, im Flug geboren und im Fluge schlafend. Mit ihrer grellen Maskara und dem blonden Haar, das wie eine auffallende Per¨ ucke wirkte, glich sie einem ledergekleideten Papagei, einer Punk-Madonna der Flugstrecken. Die verblichenen NASA-Abzeichen auf den Schultern verliehen ihr das protzende Aussehen eines Rockers. Auf dem Namensschild u ¨ber ihrer rechten Brust stand: Nightingale. ¨ Sie Armster – sind Sie wieder zur¨ uck? Sie waren sehr weit ”
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fort.“ Trotz der kindlichen Z¨ uge, dem weichen Mund und der unscheinbaren Nase, waren die Augen, die ihn vorsichtig musterten, die eines Erwachsenen. He – was ist mit Ihrer Uniform ” passiert? Sind Sie bei der Polizei?“ Als Mallory ihre Hand ergriff, ber¨ uhrte er den schweren Apollo-Siegelring, den sie statt eines Eheringes trug. Aus irgendeinem Grund tauchte in ihm der absurde Gedanke auf, daß sie mit Hinton verheiratet sei. Dann bemerkte er ihre geweiteten Pupillen, ein Anzeichen von Fieber. Machen Sie sich keine Sorgen – ich bin Arzt. Edward Mal” lory. Ich mache mit meiner Frau hier Urlaub.“ Urlaub?“ Das M¨adchen sch¨ uttelte den Kopf, erleichtert, ” aber verbl¨ ufft. Dieses Polizeiauto – ich dachte, jemand h¨atte ” Ihre Uniform gestohlen, w¨ahrend Sie . . . draußen . . . waren. Doktor, niemand macht mehr in Florida Urlaub. Wenn Sie nicht bald wegfahren, k¨onnte dies ein Urlaub f¨ ur immer werden.“ Ich weiß . . .“ Mallory blickte auf den Zoo mit dem d¨o” senden Tiger, dem munteren Springbrunnen und den lustigen Raketen. Das war die liebensw¨ urdige Welt eines Bildes vom Z¨ollner Rousseau. Er nahm die Jeans und das Hemd entgegen, die ihm das M¨adchen reichte. Er hatte die Nacktheit als angenehm empfunden, nicht aus einem exhibitionistischen Drang, sondern weil sie zu der versunkenen Zone geh¨orte, die er gerade besucht hatte. Der ruhige Tiger mit seinem flammenden Fell geh¨orte zu dieser Welt des Lichtes. Vielleicht bin ich doch ” an den richtigen Ort gekommen – ich m¨ochte immer hier bleiben. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe eben einen kleinen Vorgeschmack dessen gehabt, wie dieses F¨ ur-Immer aussehen wird.“ Nein, danke“. Das M¨adchen, neugierig gemacht durch die ” Person Mallorys, kauerte sich neben ihm ins Gras. Sagen Sie, ”
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wie oft haben Sie diese Anf¨alle?“ Jeden Tag. Vielleicht ¨ofter, als mir bewußt ist. Und ” Sie . . . ?“ Als sie den Kopf ein wenig zu heftig sch¨ uttelte, f¨ ugte Mallory hinzu: Sie sind nicht besonders schlimm, wissen Sie. ” Irgendwie will man zur¨ uck.“ Ich verstehe. Doktor, das sollte Sie eigentlich beunruhigen. ” Nehmen Sie Ihre Frau und fahren Sie weg – jeden Moment werden alle Uhren stillstehen.“ Deshalb sind wir hier – es ist unsere einzige Chance. Meiner ” Frau bleibt sogar noch weniger Zeit als mir. Wir m¨ochten mit allem einig werden – was auch immer das heißen mag. Jetzt jedenfalls nicht mehr viel.“ Doktor . . . Das wirkliche Cape Kennedy ist in Ihrem Kopf, ” nicht hier draußen.“ Durch die Anwesenheit dieses herumirrenden Arztes offensichtlich verunsichert, setzte das M¨adchen den Helm auf. Sie pr¨ ufte den Himmel, wo sich die M¨owen und Schwalben wieder sammelten, in die Luft gelockt durch das ferne Gebrumm eines Flugzeuges. H¨oren Sie, vor einer Stun” de w¨aren Sie beinahe get¨otet worden. Ich habe versucht, Sie zu warnen. Unser Kunstflugpilot mag die Polizei nicht.“ Das habe ich bemerkt. Ich bin froh, daß er Sie nicht getrof” fen hat. Ich war der Meinung, er steuere Ihren Segler.“ Hinton? Er m¨ochte nicht einmal darin begraben sein. Er ” braucht Geschwindigkeit. Hinton versucht den V¨ogeln zu folgen.“ Hinton . . .“ Als er den Namen wiederholte, empfand Mal” lory eine Woge der Furcht und Erleichterung, und er wußte, daß er nun verpflichtet war, jenen Plan auszuf¨ uhren, den er vor Monaten, als er die Klinik von Vancouver verließ, gefaßt hatte. Hinton ist also hier.“ ” Er ist hier.“ Das M¨adchen nickte Mallory zu, immer noch ” nicht sicher, ob er wirklich kein Polizist war. Nicht viele Leute ”
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erinnern sich an Hinton.“ Ich schon.“ Als sie mit dem Apollo-Siegelring spielte, fragte ” er: Sind Sie etwa mit ihm verheiratet?“ ” Mit Hinton? Doktor, Sie haben seltsame Ideen. Was haben ” Sie f¨ ur Patienten?“ Das frage ich mich oft. Aber Sie kennen Hinton?“ ” Wer kennt ihn nicht? Er hat anderes im Kopf. Er hat das ” Becken hier gemauert und mir das Segelflugzeug aus dem Museum von Orlando gebracht.“ Schelmisch f¨ ugte sie hinzu: Dis” neyland Ost – so hat man Cape Kennedy fr¨ uher genannt.“ Ich erinnere mich daran – vor zwanzig Jahren habe ich f¨ ur ” die NASA gearbeitet.“ Mein Vater auch.“ Ihre Stimme klang hart, erz¨ urnt durch ” die Erw¨ahnung der Raumfahrtbeh¨orde. Er war der letzte ” Astronaut – Alan Shepley – der einzige, der nicht zur¨ uckgekommen ist. Und der einzige, auf den sie nicht gewartet haben.“ Shepley war Ihr Vater?“ Mallory war stutzig geworden und ” wandte den Blick zu den fernen Ger¨ ustt¨ urmen des Startgel¨andes. Er ist in dem Shuttle gestorben. Dann wissen Sie, daß ” Hinton . . . ?“ Doktor, ich glaube nicht, daß wirklich Hinton meinen Vater ” get¨otet hat.“ Bevor Mallory noch etwas sagen konnte, setzte sie die Schutzbrille auf. Egal, es ist jetzt gleichg¨ ultig. Wichtig ” ist, daß jemand hier ist, wenn er herunterkommt.“ Sie warten auf ihn?“ ” Sollte ich nicht, Doktor?“ ” Doch . . . aber es ist schon lange her. Außerdem ist die M¨og” lichkeit, daß er hier herunterkommt, verschwindend gering.“ Das stimmt nicht. Nach Hinton k¨onnte Vater mit gr¨oßter ” Wahrscheinlichkeit hier irgendwo an der K¨ uste herunterkommen. Hinton behauptet, die Umlaufbahnen zerfallen langsam.
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Ich suche jeden Tag den Strand ab.“ Mallory l¨achelte ihr ermutigend zu, voller Bewunderung f¨ ur dieses unerschrockene, aber traurige Kind. Er erinnerte sich an die Photos, die von der Tochter des Astronauten in der Presse erschienen waren: Gale Shepley, ein kleines Kind, das nach dem Urteilsspruch draußen vor dem Gerichtssaal von der Witwe heftig in den Armen gewiegt wurde. Ich hoffe, daß er ” kommt. Und Ihr kleiner Zoo, Gale?“ Nightingale“, korrigierte sie. Der Zoo ist f¨ ur Vater. Ich ” ” m¨ochte, daß die Welt ein ganz besonderer Ort f¨ ur uns ist, wenn wir gehen.“ Ihr geht also beide?“ ” In irgendeiner Weise ja – wie Sie, Doktor, und jeder hier.“ ” Sie haben also auch diese Anf¨alle?“ ” Nicht oft – deshalb bleibe ich in Bewegung. Die V¨ogel leh” ren mich, wie man fliegt. Haben Sie das gewußt? Die V¨ogel versuchen aus der Zeit hinauszugelangen.“ Sie war bereits durch den windstillen Himmel und die sich sammelnden V¨ogel abgelenkt. Nachdem sie die Geparden angekettet hatte, ging sie schnell zum Segelflugzeug. Ich muß ” Sie verlassen, Doktor. K¨onnen Sie Motorrad fahren? In der Hotelhalle steht eine Yamaha, die Sie sich ausborgen k¨onnen.“ Aber bevor sie sich entfernte, gestand sie Mallory noch: Nichts als Wunschdenken, Doktor. Auch bei Hinton. Wenn ” Vater zur¨ uckkommt, wird es keine Rolle mehr spielen.“ Mallory versuchte, ihr beim Starten des Segelflugzeugs zu helfen, aber die leichte Maschine hob sofort ab. Mit schnellen Tritten in die Pedale trieb sie den Segler hoch hinauf u ¨ber die Chrom-Raketen des Vergn¨ ugungsparkes. Das Flugzeug umkreiste das Hotel, pendelte dann die langen, spitz zulaufenden Tragfl¨achen ein und strebte den leeren Stranden im Norden
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zu. Der Tiger, den ihre Abwesenheit unruhig machte, begann mit dem Lastwagen-Reifen, der von der Deckplatte seines K¨afigs hing, zu raufen. Einen Moment lang war Mallory versucht, die T¨ ur zu ¨offnen und es dem Tiger gleichzutun. Er ging in einem Bogen um die Geparden herum, betrat das leere Hotel und stieg die Treppe zum Dach hinauf. Von der Leiter des Fahrstuhlgeh¨auses aus beobachtete er das Segelflugzeug, das sich in Richtung Raumfahrtzentrum bewegte. Alan Shepley – der erste Mensch, der im Weltraum umgekommen war. Mallory erinnerte sich nur zu gut an den jungen Piloten des Shuttles, einen der letzten Astronauten, die von Cape Kennedy aus starteten, bevor der Vorhang f¨ ur das Raumfahrtzeitalter fiel. Ein ehemaliger Apollo-Pilot, war Shepley ein in seinem Beruf v¨ollig aufgehender, aber liebenswerter junger Mann gewesen, ebenso ehrgeizig wie die anderen Astronauten, aber doch merkw¨ urdig naiv. Mallory hatte ihn, wie jeder andere, dem Copiloten des Shuttle bei weitem vorgezogen, einem Physiker, der damals der Alibi-Zivilist unter den Astronauten war. Mallory erinnerte sich, wie er Hinton bei ihrem ersten Zusammentreffen in ¨ der Arzte-Zentrale instinktiv abgelehnt hatte. Aber er war sofort von der Ungeschicklichkeit und Reizbarkeit des Mannes fasziniert gewesen. In seiner letzten Phase hatte das Raumfahrtprogramm Leute angezogen, die leicht labil waren, und er erkannte, daß Hinton zu dieser zweiten Generation von Astronauten geh¨orte, Einzelg¨anger mit vielschichtigen inneren Motiven, ganz anders als die disziplinierten Berufs-Astronauten, aus denen sich die Mannschaften von Merkur und Apollo zusammengesetzt hatten. Hinton besaß das heftige und bizarre Temperament eines Cortez, Pizarro oder Drake, deren heißes
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Blut und kaltes Herz. Hinton war es, der so viele der latenten R¨atsel im Kern des Raumfahrtprogrammes aufgedeckt hatte, jene psychologischen Dimensionen, die von Beginn an ignoriert worden waren, und sie allm¨ahlich, zu sp¨at, in den Zusammenbr¨ uchen der fr¨ uhen Astronauten, ihrem Abgleiten in Mystizismus und Melancholie bloßlegte. Die besten Astronauten tr¨aumen nie“, hatte Russell ” Schweickart einmal gesagt. Hinton tr¨aumte nicht nur, er hatte auch das ganze Gewebe von Zeit und Raum zerrissen, das Stundenglas zerbrochen, aus dem nun die Zeit herausrann. Mallory war sich seiner eigenen Mitschuld bewußt. In erster Linie war er daf¨ ur verantwortlich gewesen, daß man Shepley und Hinton zusammengebracht hatte, da er der Meinung war, daß der beherrschte und ernste Shepley Anstoß f¨ ur ein psychologisches Experiment von besonderer Art sein k¨onnte. Jedenfalls war Shepleys Tod der erste Mord im Weltall gewesen, ein Wendepunkt, den er sowohl in Szene gesetzt wie auch unbewußt begr¨ ußt hatte. Der Mord an dem Astronauten und das ¨offentliche Unbehagen, das darauf folgte, markierten das Ende des Raumfahrtzeitalters. Man wurde sich dessen bewußt, daß der Mensch ein Verbrechen gegen die Evolution ver¨ ubt hatte, indem er in den Weltraum geflogen war, daß er damit eine Ver¨anderung seiner eigenen Bewußtseinsstruktur herbeif¨ uhrte. Der Bruch dieses empfindlichen Kontinuums, das von der menschlichen Psyche u ¨ber Jahrmillionen errichtet worden war, wurde offenkundig im gest¨orten Zeitsinn der Astronauten sowie des NASA-Personals und im folgenden der Bewohner der St¨adte in der N¨ahe des Raumfahrtzentrums. Cape Kennedy und das ganze Gebiet von Florida wurden zu einem vergifteten Land, f¨ ur immer gemieden wie die nuklearen Testgel¨ande von Nevada und Utah. Aber vielleicht war Hinton im Weltraum nicht verr¨ uckt ge-
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worden, vielleicht war er der erste Mensch, der im Weltraum gesund“ wurde. W¨ahrend des Prozesses beteuerte er seine Un” schuld und lehnte es ab, sich zu verteidigen, wobei er den internationalen Medien-Zirkus mit einem Stoizismus ertrug, der manchmal schon ans Absurde grenzte. Dieses Schweigen hatte jeden aufgebracht – wie konnte sich Hinton f¨ ur unschuldig an einem Mord halten (er hatte Shepley in den Andock-Modul gesperrt, die Luftzufuhr ge¨offnet, und ihn dann in seinem Sarg ausgesetzt, w¨ahrend er die ganze Zeit u ¨ber alles mit seinem n¨ uchternen Kommentar begleitete), den er vor tausend Millionen Fernsehzuschauern ver¨ ubt hatte? Man hatte f¨ ur Hinton Alcatraz wieder in Verwendung genommen, damit dieser einsame, auf einer kalten Insel isolierte Gefangene nicht auch noch die u ¨brige menschliche Rasse verseuchte. Nach zwanzig Jahren war er gl¨ ucklich vergessen, und auch seine Flucht wurde nur kurz erw¨ahnt. Nachdem er mit einem kleinen, heimlich gebauten Flugzeug in das eisige Wasser der Bay gest¨ urzt war, hielt man ihn f¨ ur tot. Mallory war nach San Francisco hinuntergefahren, um das mit Wasser vollgesogene Flugzeug zu sehen, einen merkw¨ urdigen Ornithopter, erbaut aus den Eiben, die Hinton in der steinigen Erde der Gef¨angnisinsel ziehen durfte, angetrieben durch einen selbsthergestellten Raketenmotor, der mit einem auf Naturd¨ ungerbasis entwickelten Treibstoff in Gang gesetzt wurde. Zwanzig Jahre lang hatte er darauf gewartet, daß die langsam wachsenden immergr¨ unen Pflanzen groß genug waren, um ihn in die Freiheit zu tragen. Dann, nur sechs Monate nach Hintons Tod, hatte ein alter NASA-Kollege Mallory von dem seltsamen Kunstflugpiloten erz¨ahlt, den man in seinem altert¨ umlichen Flugzeug in der N¨ahe von Cape Kennedy gesehen hatte, ein Eingeborener der L¨ ufte, der bis zu diesem Zeitpunkt allen halbherzigen Ver-
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suchen, ihn am Aufsteigen zu hindern, entkommen war. Die Beschreibungen der vogelk¨afig¨ahnlichen Flugzeuge erinnerten Mallory an den abgest¨ urzten Ornithopter, der auf den winterlichen Strand gezogen worden war. Hinton war also nach Cape Kennedy zur¨ uckgekehrt. Als Mallory mit der Yamaha die K¨ ustenstraße entlangfuhr, vorbei an den verlassenen Motels und Bars von Cocoa Beach, schaute er hinaus auf den hellen Sand des Atlantik-Strandes, der so anders war als das felsige Ufer der Gef¨angnisinsel. Aber handelte es sich bei dem Ornithopter und bei den anderen altert¨ umlichen Flugzeugen, die Hinton u ¨ber das Raumfahrtzentrum steuerte, vielleicht um Lockv¨ogel, um Maschinen, die irgendeinen anderen Zweck verbargen? Eine andere Flucht.
V F¨ unfzehn Minuten sp¨ater, als Mallory u ¨ber den NASAStraßendamm nach Titusville raste, wurde er von einem alten Wright-Doppeldecker u ¨berholt. W¨ahrend er den Banana u ¨berquerte, bemerkte er, daß der L¨arm einer zweiten Maschine das Motorenger¨ausch der Yamaha verschluckte. Die ehrw¨ urdige Flugmaschine tauchte u ber den B¨ a umen auf, im offenen ¨ Cockpit saß der vertraute Pilot mit dem hohlwangigen Gesicht. Mit ziemlicher M¨ uhe u ¨berholte der Pilot die Yamaha, ging dann auf dreißig Meter H¨ohe nieder und bedeutete Mallory anzuhalten. Die Maschine wendete und landete auf einer unkraut¨ uberwucherten Betondecke. Mallory, ich habe Sie gesucht! Kommen Sie, Doktor!“ ” Mallory z¨ogerte, der Sand, den der Propellerstrahl aufwirbelte, brannte auf den offenen Wunden unter seinem Hemd.
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Als er zwischen der Verstrebung durchschaute, ergriff Hinton seinen Arm und zerrte ihn auf den Beifahrersitz. Mallory, ja . . . immer noch der Alte!“ Hinton schob die ” Schutzbrille auf die markante Stirn und entbl¨oßte ein Paar blutunterlaufene Augen. Er starrte Mallory mit unverh¨ ulltem Erstaunen an, als wundere er sich, daß dieser in den letzten zwanzig Jahren u ¨berhaupt gealtert war, zugleich aber hocherfreut, daß er irgendwie u ¨berlebt hatte. Nightingale hat mir ” eben erz¨ahlt, daß Sie hier waren, Doktor Mysterium . . . Ich h¨atte Sie beinahe get¨otet!“ Sie versuchen es schon wieder . . .“ Als Hinton das Dros” selventil ¨offnete, klammerte sich Mallory an die verschlissenen Sitzgurte. Der Doppeldecker stieg gazellengleich in die Luft. ¨ Uber der exponierten Dammstraße flog er in einer Windb¨o zun¨achst einige Sekunden lang zur¨ uck, stieg dann senkrecht in die H¨ohe, drehte u ¨ber den B¨aumen ab und nahm Kurs auf die fernen Startrampen. Die Schwalbenschw¨arme, die das Flugzeug von allen Seiten u ¨berholten, beachteten es gar nicht, als seien sie an diesen herumirrenden Piloten und seine grotesken Maschinen nur allzu gew¨ohnt. Als Hinton das Seitenruder bet¨atigte, betrachtete Mallory diesen nerv¨osen und unterern¨ahrten Mann. Die Jahre im Gef¨angnis und in der rauschenden Luft u ¨ber Cape Kennedy hatten alle Spuren von Eisensalzen aus seiner blassen Haut gelaugt. Seine entz¨ undeten Lider, die von den N¨ageln wundgekratzte Scheidewand der kr¨aftigen Nase und die narbigen Lippen waren vom Wind fast silbern gebleicht. Er hatte das Stadium der Ersch¨opfung und Unterern¨ahrung schon u ¨berschritten und einen Nervenzustand erreicht, in dem die rivalisierenden Elemente seines zerrissenen Geistes zusammengepfercht waren wie die R¨adchen einer u ¨berdrehten Uhr. Als er mit der Faust auf Mallorys Arm schlug, war bereits klar, daß er die Jahre
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seit ihrem letzten Treffen vergessen hatte. In dem Bed¨ urfnis, sich mit seinem Herrschaftsbereich zu br¨ usten, zeigte er auf den Wald, die Viadukte, Betonplattformen und Blockh¨auser unter ihnen. Sie hatten das Zentrum des Raumfahrtkomplexes erreicht, wo die Startrampen wie Galgen, die zur Vermietung ausgestellt waren, aufragten. In der Mitte stand der riesige Raupenschlepper, und der letzte der Shuttles war aufrecht auf der Abschußplattform verankert. Die rostenden Raupenketten hingen an ihm herunter wie Fesseln eines befreiten Kolosses. Hier in Cape Kennedy war die Zeit nicht stillgestanden, sondern zur¨ uckgeflossen. Der riesige Treibstofftank und die Hilfsmotoren des Shuttle ¨ahnelten den Kuppeln und Minaretts einer Nachbildung des Taj Mahal. Auf der Landebahn unter dem Raupenschlepper standen mehrere altert¨ umliche Flugzeuge – ein Lilienthal-Segler lag auf der Seite wie ein gef¨achertes Fenster, eine Mignet Flying Flea, die Fokker, eine Spad und eine Sopwith Camel sowie ein Wright-Segelflugzeug aus den ersten Tagen der Luftfahrt. Als sie die Abschußplattform umkreisten, erwartete Mallory fast, eine Gruppe von Piloten aus der Zeit K¨onig Edwards zu sehen, die sich um diese zur Schau gestellten altert¨ umlichen Maschinen scharten. Piloten in Gamaschen ¨ und Uberziehern und weibliche Passagiere, die H¨ ute mit Lederriemchen trugen. Bei Tageslicht spukten andere Gespenster in Cape Kennedy herum. Nach der Landung trat Mallory in den Schatten der Abschußplattform, die einer riesigen Kathedrale glich, die an den Himmel stieß. Eine beunruhigende Stille drang aus dem dichten Wald, der die einst offenen Plattformen des Raumfahrtzentrums u ¨berwucherte, und aus den ¨offnungslosen Bunkern und Kamera-T¨ urmen. Mallory, ich bin froh, daß Sie gekommen sind!“ Hinton legte ”
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seinen Fliegerhelm ab und entbl¨oßte einen unf¨ormigen Sch¨adel mit kurzgeschorenem Haar – Mallory erinnerte sich daran, daß er einmal von einem w¨ utenden W¨arter angegriffen worden war. Ich konnte es nicht glauben, daß Sie es waren. Und Anne? ” Geht es ihr gut?“ Sie ist hier, im Hotel in Titusville.“ ” Ich weiß, ich habe sie eben auf dem Dach gesehen. Sie hat ” ausgesehen . . .“ Hintons Stimme wurde schw¨acher. In seiner Besorgnis vergaß er, was er tat. Er begann, im Kreis zu gehen, nahm sich dann aber zusammen. Trotzdem, es ist sch¨on, Sie ” zu sehen. Es ist mehr, als ich gehofft hatte – Sie waren der einzige, der gewußt hat, was hier vor sich geht.“ Wirklich?“ Mallory suchte die Sonne, die hinter dem kalten ” Schatten der Abschußplattform verborgen war. Cape Kennedy war sogar noch finsterer, als er erwartet hatte. Es glich einem uralten Todeslager. Ich glaube nicht, daß ich –“ ” Nat¨ urlich haben Sie es gewußt! Irgendwie waren wir Kol” laborateure – glauben Sie mir, Mallory, wir werden es wieder sein. Ich habe Ihnen viel zu erz¨ahlen.“ Gl¨ ucklich, Mallory getroffen zu haben, aber besorgt um den zitternden Arzt, umarmte ihn Hinton mit seinen ruhelosen Armen. Als Mallory beim Versuch, seine Schultern zu sch¨ utzen, zur¨ uckwich, stieß Hinton einen Pfiff aus und schaute bek¨ ummert unter sein Hemd. Mallory, es tut mir leid – dieses Polizeiauto hat mich ver” wirrt. Sie werden mich bald holen kommen, wir m¨ ussen schnell sein. Aber Sie sehen nicht gerade blendend aus, Doktor. Die Zeit geht zu Ende, nehme ich an. Es ist zuerst schwer zu verstehen . . .“ Ich fange langsam an. Was ist mit Ihnen, Hinton? Ich muß ” mit Ihnen u ¨ber alles reden. Sie sehen –“ Hinton schnitt eine Grimasse. Er schlug sich auf die H¨ uf-
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te, ungehalten u ¨ber seinen unterern¨ahrten K¨orper, dieses verk¨ ummerte Werkzeug, das er bald abstreifen w¨ urde. Ich muß” te selbst hungern. Die Tragfl¨achenlast dieser Maschine war so gering. Es bedurfte vieler Jahre, oder sie h¨atten etwas gemerkt. Diese endlosen medizinischen Untersuchungen, weil sie bef¨ urchteten, in mir k¨onnte sich eine noch gr¨oßere Psychose zusammenbrauen – sie konnten nicht begreifen, daß ich die T¨ ur zu einer anderen Welt ¨offnete.“ Er blickte u ¨ber das Raumfahrtzentrum, in den leeren Wind. Wir mußten aus der Zeit ” hinaustreten – das war der Zweck des ganzen Raumfahrtprogrammes . . .“ Er winkte Mallory zu einer Metalltreppe, die zur Montageplattform sechs Stock u uhrte. Wir werden nach ¨ber ihnen f¨ ” oben gehen. Ich lebe im Shuttle – eine Raumkapsel der Marsstation befindet sich immer noch im Laderaum, um einiges bequemer als die meisten Hotels in Florida.“ Mit ironischem Grinsen f¨ ugte er hinzu: Ich glaube, hier werden sie mich zu” allerletzt suchen.“ Mallory begann, die Treppe hochzuklettern. Er versuchte, die Ber¨ uhrung mit den ¨oligen Nieten und dem feuchten Gel¨ander zu vermeiden und wandte den Blick von der mit Keramikplatten verkleideten Oberfl¨ache des Shuttle, die u ¨ber der Montageplattform aufragte. Obwohl er sich viele Jahre lang u ¨ber Cape Kennedy Gedanken gemacht hatte, war er immer noch u ¨berw¨altigt von der Fremdartigkeit dieser riesigen Reduktionsmaschine, einem Moloch, der von seinen Anbetern um den Planeten geschickt werden konnte und Jahre, Stunden und Sekunden verschlang. Sogar Hinton schien beeindruckt. Pr¨ ufend schweifte sein Blick u ¨ber den Himmel, als erwarte er, daß Shepley auftauchte. Er war darauf bedacht, Mallory nicht den R¨ ucken zuzuwenden, ganz offensichtlich, weil er den Verdacht hegte, daß der ehema-
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lige NASA-Arzt ausgeschickt worden war, um ihn zu stellen. Das Fliegen und die Zeit, Mallory, diese beiden geh¨oren ” zusammen. Die V¨ogel haben das immer gewußt. Um aus der Zeit hinausgelangen zu k¨onnen, m¨ ussen wir zuerst fliegen lernen. Deshalb bin ich hier. Ich bringe mir das Fliegen bei, indem ich die Reihe dieser alten Flugzeuge zur¨ uckverfolge bis an den Anfang. Ich m¨ochte ohne Fl¨ ugel fliegen . . .“ Als sich der Deltafl¨ ugel des Shuttle u ¨ber ihnen ausf¨acherte, lehnte sich Mallory an das Gel¨ander. Ersch¨opft vom Aufstieg, versuchte er richtig durchzuatmen. Das Schweigen war zu groß, diese Stille im Herzen der abgelaufenen Weltuhr. Er suchte den reglosen Wald und die Landebahnen nach irgendeiner Bewegung ab. Er mußte eine von Hintons Maschinen nehmen, um damit u ¨ber den Himmel dahinzul¨armen. Mallory, Sie gehen . . . ? Keine Angst, ich helfe Ihnen, dies ” alles durchzustehen.“ Hinton hatte seinen Ellbogen gepackt und ihn wieder fest auf die Beine gestellt. Mallory bemerkte pl¨otzlich, wie das Licht steiler einfiel und sich zu diesem intensiven Glanz verdichtete, den er das letzte Mal gesehen hatte, als ihn der Gepard angesprungen war. Die Zeit zog sich aus der Luft zur¨ uck, zauderte kurz, als er sich bem¨ uhte, in den fliehenden Sekunden seinen Halt zu bewahren. Ein Schwalbenschwarm rauschte u ¨ber die Montageplattform und wirbelte wie explodierender Ruß um den Shuttle. Wollten sie ihn warnen? Mallory, den das kurze Gest¨ober aufr¨ uttelte, f¨ uhlte, wie sich sein Blick kl¨arte. Er hatte den Anfall absch¨ utteln k¨onnen, aber er w¨ urde wiederkommen. Doktor –? Sie werden wieder gesund sein.“ Hinton war ” offensichtlich entt¨auscht, als er beobachtete, wie sich Mallory am Gel¨ander abst¨ utzte und sein Gleichgewicht wiedergewann. Versuchen Sie nicht, dagegen anzuk¨ampfen, Doktor, je”
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der macht diesen Fehler.“ Es wird . . .“ Mallory stieß ihn von sich. Hinton stand zu ” nahe am Gel¨ander, die manischen Bewegungen des Mannes konnten ihn u ¨ber den Rand dr¨angen. Die V¨ogel . . .“ ” Nat¨ urlich, wir werden den V¨ogeln folgen! Mallory, wir k¨on” nen alle fliegen, jeder einzelne von uns. Stellen Sie sich das vor, Doktor, der wirkliche Flug. Wir werden f¨ ur immer in der Luft leben!“ Hinton . . .“ Mallory wich auf der Plattform zur¨ uck, als Hin” ton das o¨lige Gel¨ander ergriff und sich in den Wind schwingen wollte. Er mußte von diesem Verr¨ uckten und seinen Wahnideen loskommen. Hinton winkte zum Flugzeug hinunter, gr¨ ußte die Gespenster in ihren Cockpits. Lilienthal und die Wrights, Curtiss ” und Bleriot, sogar der alte Mignet – sie sind da, Doktor. Deshalb bin ich nach Cape Kennedy gekommen. Ich mußte an den Anfang zur¨ uck, lange bevor die Luftfahrt uns alle auf einen falschen Weg f¨ uhrte. Wenn die Zeit stillsteht, Mallory, werden wir uns von dieser Plattform aufschwingen und der Sonne entgegenfliegen. Sie und ich, Doktor, und Anne . . .“ Hintons Stimme wurde tiefer, ein hohles Brummen. Die weiße Flanke des Shuttle war eine Laterne aus durchscheinendem Gebein, die ein gespenstisches Licht auf den d¨ usteren Wald warf. Mallory taumelte nach vorn, aus irgendeinem halbbewußten Impuls heraus wollte er, daß Hinton u ¨ber das Gel¨ander sprang, in die Luft hinausglitt und sich mit den V¨ogeln maß. Wenn er ihn an den Schultern stieß . . . Doktor –“ ” Mallory hob die H¨ande, aber er war nicht imstande, Hinton n¨aherzukommen. Wie der Gepard mußte er f¨ ur immer einige Zentimeter entfernt bleiben. Hinton hatte mit tr¨ostender Geste seinen Arm ergriffen und
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dr¨angte ihn gegen das Gel¨ander. Fliegen Sie, Doktor . . .“ ” Mallory stand am Rande. Seine Haut wurde ein Teil der Luft, durchdrungen von Licht. Er mußte die ungeheure Last von Zeit und Raum absch¨ utteln, diese rostende Plattform und das grob verankerte Fahrzeug. Er konnte frei schweben, f¨ ur immer u ¨ber dem Wald h¨angen, ein Herr u ¨ber Zeit und Licht. Er w¨ urde fliegen . . . Ein wirbelnder Luftstrom ber¨ uhrte sein Gesicht. Bruchlinien erschienen im Wind um ihn. Die durchsichtigen Tragfl¨achen eines Motorseglers glitten vorbei, sein Propeller zerhackte das Sonnenlicht. Hinton packte seine Schultern und dr¨angte ihn ungeduldig u ¨ber das Gel¨ander. Der Segler drehte ab, wendete und flog wieder auf sie zu. Das Sonnenlicht blitzte in seinem Propeller, ein Photonenstrom trieb Zeit in Mallorys Augen zur¨ uck. Als Mallory sich von Hinton losriß und auf die Knie fiel, rauschte die junge Frau in ihrem Segelflieger an ihnen vorbei. Er sah ihr ¨angstliches Gesicht unter der Schutzbrille und h¨orte ihre warnende Stimme, die Hinton etwas zurief. Aber Hinton war schon fort. Seine Tritte hallten auf der Metalltreppe. Als er sich in seiner Fokker davonmachte, schrie er Mallory zornig und entt¨auscht etwas zu. Mallory kniete am Rande der Plattform und wartete, daß die Zeit in sein Gehirn zur¨ uckfloß. Seine H¨ande klammerten sich mit der Kraft eines Neugeborenen an das ¨olige Gel¨ander.
VI Band 24: 17. August
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Auch heute wieder kein Zeichen von Hinton. Anne schl¨aft. Als ich vor einer Stunde aus dem Warenhaus zur¨ uckkam, richtete sich ihr Blick zum ersten Mal seit einer Woche wieder konzentriert auf mich. Mit einiger M¨ uhe gelang es mir, sie in den wenigen Minuten, die sie v¨ollig wach war, zu f¨ uttern. F¨ ur sie ist die Zeit praktisch stehengeblieben. Es gibt lange Perioden, in denen sie sich offensichtlich in einer fast station¨aren Welt, einer Abfolge von gelegentlich sich ver¨andernden Bildern befindet. Erwacht sie kurz, dann spricht sie u ¨ber Hinton und einen Flug nach Miami, den sie mit ihm in seiner Cessna machen will. Trotzdem scheint sie von diesen Reisen ins Licht erfrischt zur¨ uckzukommen, als n¨ahre sich ihr Geist f¨ormlich von der Tatsache, daß keine Zeit vergeht. Auch mir geht es so, trotz der entz¨ undeten Wunde auf meiner Schulter – Hintons schmutzige N¨agel. Die Anf¨alle kommen ein dutzendmal pro Tag, alles verlangsamt sich zu einem kaum wahrnehmbaren Str¨omen. Das Licht nimmt an Intensit¨at zu, Photonen stauen sich hinauf bis zur Sonne. Als ich das Warenhaus verließ, beobachtete ich einen Sittich, der u ¨ber die Straße flog und zwei Stunden f¨ ur eine Strecke von drei Metern zu ben¨otigen schien. Vielleicht bleibt Anne noch eine Woche, bevor die Zeit f¨ ur sie stillsteht. Und f¨ ur mich drei Wochen? Es ist ein merkw¨ urdiger Gedanke, daß, sagen wir, genau am 8. September um 15 Uhr 47 nachmittags, die Zeit f¨ ur immer stillstehen wird. Eine einzelne Mikrosekunde, die, unbemerkt von jedem anderen, vorbeihuscht, wird f¨ ur mich eine Ewigkeit dauern. Ich sollte mir u berlegen, wie ich sie zu verbringen gedenke! ¨ Band 25: 19. August Zwei hektische Tage. Anne hat gestern nachmittag einen R¨ uck-
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fall erlitten, ein Gef¨aßschock, hervorgerufen dadurch, daß sie genau zu dem Zeitpunkt, als Hinton mit den Bordwaffen seines Wright-Flugzeugs das Hotel beschoß, erwachte. Ich konnte ihren Herzschlag kaum noch wahrnehmen und massierte stundenlang ihre Waden und Schenkel. (Ich w¨are gl¨ ucklich, k¨onnte ich, w¨ahrend ich meine Frau liebkose, in die Ewigkeit eingehen.) Ich konnte sie aufrichten und ging mit ihr auf dem Balkon auf und ab, in der Hoffnung, daß der L¨arm von Hintons Flugzeug ihr seelisches Gleichgewicht wiederherstellen w¨ urde. Tats¨achlich hat sie heute morgen vollkommen verst¨andig mit mir gesprochen und war offensichtlich erschrocken, daß ich so heruntergekommen aussah. F¨ ur sie ist es einer jener ruhigen Nachmittage vor drei Wochen. Wir k¨onnten immer noch wegfahren, eines der verlassenen Autos starten und die Grenze bei Jacksonville erreichen, bevor die letzten Minuten verstrichen sind. Ich muß mir st¨andig ins Ged¨achtnis rufen, aus welchem Grund wir eigentlich zuerst hierhergekommen sind. Nach Norden zu fl¨ uchten, h¨atte gar keinen Sinn. Wenn es eine L¨osung gibt, so liegt sie hier, irgendwo zwischen Hintons Besessenheit und Shepleys kreisendem Sarg, zwischen dem Raumfahrtzentrum und jenen hellen, gespenstischen Starts, die w¨ahrend der Nacht nur allzu deutlich sichtbar sind. Ich hoffe, daß ich nicht gerade in dem Augenblick hinaustrete, wenn er ankommt, und meine Ewigkeit damit verbringe, den sich aufl¨osenden Leichnam des Mannes zu betrachten, an dessen Tod im Weltraum ich mitschuldig bin. Ich denke an jenen Tiger. Irgendwie kann ich ihn bes¨anftigen. Band 26: 25. August 15 Uhr 30 nachmittags. Seit Tagen die erste volle Stunde, in der ich die Zeit ohne Unterbrechung bewußt wahrgenommen
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habe. Als ich vor f¨ unfzehn Minuten erwachte, hatte Hinton gerade aufgeh¨ort, das Hotel zu beschießen – die Palmen sch¨ uttelten Staub und Insekten auf den Balkon. Hinton versucht offenbar, uns wach zu halten und das Ende so lange hinauszuz¨ogern, bis er seine letzte Karte ausspielen kann, oder vielleicht, bis ich aus dem Weg bin, und er mit Anne Zusammensein kann. ¨ Uber seine Motive bin ich mir immer noch nicht im klaren. Er scheint den Zerfall der Zeit begr¨ ußt zu haben, als sei dieses ganze Unbehagen eine Chance, die wir nutzen sollten, der n¨achste Schritt der menschlichen Evolution. Er hat mich an den Rand der Montageplattform gedr¨angt, und wenn Gale Shepley nicht in ihrem Segler erschienen w¨are, w¨are ich u ¨ber das Gel¨ander gest¨ urzt. Er hat mir auf merkw¨ urdige Weise geholfen, mich in diese neue Welt ohne Zeit gef¨ uhrt. Als er Shepley vom Shuttle abkoppelte, tat er es nicht mit dem Gedanken, ihn zu t¨oten, sondern im Glauben, ihn zu befreien. Die immer primitiveren Flugzeuge – Hintons Suche nach einer Form des reinen Fluges, zu dem er im letzten Moment ansetzen will. Gestern flog eine Santos-Dumont vorbei, ein plumper Kastendrachen, denn von den Maschinen des Ersten Weltkrieges ist er abgekommen. Er steuert absichtlich schlecht konstruierte Flugzeuge, alles Teil seines Versuchs, von der mittelbaren Luftfahrt zum reinen Flug zu gelangen, zu poetischen eher als aeronautischen Gebilden. Die Wurzeln des Schamanentums und der Levitation wie auch der erotische Gef¨ uhlswert des Fluges – kann man darunter den Versuch verstehen, der Zeit zu entkommen? Die dem Schamanentum zugesprochene F¨ahigkeit, die physische Gestalt zu verlassen und mit dem geistigen K¨orper zu fliegen, der Psychopomp, der die Seelen der Gestorbenen geleitet und imstande ist, Herrschaft u ¨ber das Feuer zu erlangen, beide zusammen scheinen mit jenen Defekten des Vestibularapparats
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in Verbindung zu stehen, die durch den langanhaltenden Zustand der Schwerelosigkeit w¨ahrend der Weltraumfl¨ uge ausgel¨ost werden. Wir h¨atten sie begr¨ ußen sollen. Dieser Tiger – ich bin allm¨ahlich besessen von dem Gedanken, daß er in Flammen steht. Band 27: 28. August Ein ungeheures Schweigen heute, nicht ein Murmeln u ¨ber dem weichen gr¨ unen Boden Floridas. Hinton hat sich vielleicht umgebracht. Vielleicht ist dieses Fliegen so etwas wie ein S¨ uhneritual, so daß sein Tod den Fluch des Schamanen brechen w¨ urde. Aber will ich u uck? Im Ge¨berhaupt in die Zeit zur¨ genteil, diese statische Welt hellen Lichts zieht die Seele an wie eine Vision vom Garten Eden. Wenn die Zeit eine primitive geistige Form ist, lehnen wir sie mit Recht ab. In gewisser Hinsicht versucht nicht nur das Schamanentum, sondern jede mystische und religi¨ose Anschauung, eine Welt ohne Zeit zu konstituieren. Weshalb besaß der primitive Mensch, dem ein Gehirn gen¨ ugt h¨atte, das nur ein wenig gr¨oßer ist als dasjenige des Tigers in Gales Zoo, in Wahrheit einen Geist, der dem Freuds und Leonardos fast ebenb¨ urtig war? Sollte ihn all die¨ ser Uberschuß an neuraler Kapazit¨at etwa von der Zeit erl¨osen, und bedurfte es des Raumfahrtzeitalters und des Opfers des ersten Astronauten, um dieses Ziel zu erreichen? Hinton t¨oten . . . Aber wie? Band 28: 3. September Ganze Tage fehlen mir. Ich nehme den Fluß der Zeit kaum noch wahr. Anne liegt auf dem Bett, erwacht f¨ ur einige Minuten und macht einen vergeblichen Versuch, das Dach zu erreichen, als k¨onnte der Himmel einen Ausweg bieten. Ich habe sie gerade
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von der Treppe heruntergeholt. Nach Nahrungsmitteln zu suchen, ist zu anstrengend. Als ich heute morgen zum Warenhaus ging, war das Licht so hell, daß ich die Augen schließen mußte und mich mit den H¨anden durch die Straßen tastete wie ein blinder Bettler. Ich schien auf dem Boden eines riesigen Hochofens zu stehen. Anne wird immer ruheloser, murmelt in irgendeiner ungew¨ohnlichen Sprache vor sich hin, als bereite sie sich auf eine Reise vor. Ich habe einen ihrer langen Monologe, der wie ein g¨alisches Liebesgedicht klingt, aufgenommen und dann in normaler Geschwindigkeit abgespielt. Ein gequ¨altes Hinton . . . ” Hinton . . .“ Sie hat zwanzig Jahre gebraucht, um es zu erlernen. Band 29: 6. September Es k¨onnen nur noch wenige Tage sein. Die Traumzeit kommt jeden Tag ein dutzendmal, alles verlangsamt sich bis zum Stillstand. Vom Balkon aus habe ich gerade einen Schwarm Pirole die Straße u ¨berfliegen sehen.Sie schienen Stunden zu brauchen und, von ihren unbewegten Fl¨ ugeln unterst¨ utzt, u ¨ber den B¨aumen zu h¨angen. Die V¨ogel haben endlich das Fliegen gelernt. Anne ist wach . . . Anne: Wer hat das Fliegen gelernt? E. M.: Schon gut – die V¨ogel. Anne: Hast du es ihnen beigebracht? Wovon spreche ich? Wie lange war ich fort? E. M.: Seit der Morgend¨ammerung. Erz¨ahl mir, was du getr¨aumt hast. Anne: Ist das ein Traum? Hilf mir hoch. Gott, ist es dunkel auf der Straße. Hier bleibt keine Zeit mehr, Edward, du mußt
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Hinton finden. Tu alles, was er sagt.
VII T¨ote Hinton . . . Als der Motor der Yamaha lief, setzte sich Mallory rittlings auf den Sitz und schaute zum Hotel zur¨ uck. Jeden Moment w¨ urde Anne das Schlafzimmer verlassen, als m¨ usse sie die letzten ihr verbleibenden Minuten ausn¨ utzen, um das Dach zu erreichen. Die stehengebliebenen Uhren von Titusville zeigten ihr die richtige Zeit an, die Ewigkeit w¨ urde f¨ ur diese verlorene Frau ein Treppenaufgang um einen leeren Aufzugsschacht sein. T¨ote Hinton . . . Er wußte nicht, wie. Er fuhr in den ¨ostlichen Teil von Titusville. Unsicher schl¨angelte er sich zwischen den verlassenen Autos durch. Die Yamaha war wegen des schwer zu schaltenden Getriebes und des unzuverl¨assigen Gashebels nur mit M¨ uhe zu lenken. Er fuhr durch einen ihm unbekannten Vorort der Stadt, eine Gegend mit Reihenh¨ausern, Gesch¨aftsstraßen und Parkpl¨atzen, die w¨ahrend des Baubooms der sechziger Jahre f¨ ur die NASA-Angestellten errichtet worden waren. Er passierte einen umgest¨ urzten Lastwagen, dessen Fracht von Fernsehapparaten u ber die Straße verstreut war, und den Lie¨ ferwagen einer W¨ascherei, der durch das Schaufenster einer Spirituosenhandlung gekracht war. F¨ unf Kilometer ¨ostlich befanden sich die Startrampen des Raumfahrtzentrums. In der Luft u ¨ber ihnen hing ein Flugzeug, ein primitiver Hubschrauber mit Schraubfl¨ ugeln. Die spitz zulaufenden Propellerfl¨ ugel ruhten, als h¨atte es Hinton doch noch geschafft, ohne Fl¨ ugel auszukommen. Mallory hetzte mit H¨ochstgeschwindigkeit weiter in Rich-
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tung Cape Kennedy. Die Reihen der Vorstadth¨auser breiteten sich vor ihm aus, eine endlose Wiederholung ihrer selbst, dieselben Einkaufsstraßen, dieselben Bars und Motels, dieselben L¨aden und Gebrauchtwagen-Pl¨atze, die er und Anne auf ihrer Reise durch den Kontinent gesehen hatten. Fast entstand in ihm der Eindruck, er fahre wieder durch Florida, durch die hundert kleinen St¨adte, die ineinander u ¨bergingen, durch ein Vorstadt-Universum, in dem die identischen SpirituosenHandlungen, Parkpl¨atze und Einkaufsstraßen die Molek¨ ule einer St¨adte-DNS bildeten, die vom Zellkern des RaumfahrtZentrums erzeugt wurde. Nicht Minuten oder Stunden, sondern Jahre und Jahrzehnte war er durch diese Straße gefahren, u ¨ber diese stillen Kreuzungen. Der sich dahinziehende Strand bedeckte die ganze Oberfl¨ache der Erde und schwang sich dann in den Raum hinaus, um die W¨ande des Universums zu bedecken, bevor er sich in sich selbst zur¨ uckbog, um wieder seinen Ausgangspunkt hier im Raumfahrt-Zentrum zu erreichen. Neuerlich fuhr er an dem umgest¨ urzten Lastwagen und den verstreuten Fernsehapparaten vorbei, wieder der Lieferwagen der W¨ascherei im Schaufenster der Spirituosen-Handlung. Er w¨ urde immer wieder an ihnen vorbeifahren, immer wieder u ¨ber dieselbe Kreuzung, immer wieder dasselbe Schild u ¨ber demselben Appartement-Haus sehen . . . Doktor . . . !“ ” Der Geruch brennenden Fleisches drang immer deutlicher in Mallorys Nase. Seine rechte Wade war gegen den Auspuff der leerlaufenden Yamaha gepreßt. Verkohlte Fetzen seiner Baumwollhose klebten in der offenen Wunde. Als die junge Frau im schwarzen Fliegeranzug u ¨ber die Straße rannte, stieß sich Mallory von der schweren Maschine ab, taumelte u ¨ber die sich drehenden R¨ader und fiel auf die Knie.
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Er war auf einer Kreuzung ungef¨ahr einen Kilometer vom Zentrum von Titusville entfernt zum Stehen gekommen. Die riesige planetarische Ebene von Parkpl¨atzen hatte sich zur¨ uckgezogen, war einen kosmischen Rauchfang hinuntergewirbelt und dann zu dieser kleinen vorst¨adtischen Enklave von einem einzigen sch¨abigen Motel, zwei Reihenh¨ausern und einer Bar zusammengeschmolzen. Sechzig Meter weiter starrten die leeren Bildschirme der Fernsehapparate auf ihn. Einige Schritte daneben lag der Lieferwagen im Schaufenster der SpirituosenHandlung, und das Tragfl¨achenende des Segelflugzeugs, das Gale Shepley auf der Straße gelandet hatte, beschattete die staubigen Wodka- und Bourbonflaschen. Dr. Mallory! H¨oren Sie mich? Lieber Himmel . . .“ Sie schob ” Mallorys Kopf zur¨ uck und starrte ihm in die Augen, stellte dann den immer noch laufenden Motor der Yamaha ab. Ich ” habe Sie hier sitzen sehen . . . mein Gott, Ihr Fuß! Hat Hinton . . . ?“ Nein . . . ich habe mich selbst in Brand gesetzt.“ Den Arm ” um die Schulter des M¨adchens gelegt, raffte sich Mallory hoch. Er versuchte immer noch, seine Gedanken zu ordnen. Diese riesige Vorstadtwelt hatte etwas merkw¨ urdig Verf¨ uhrerisches an sich . . . Es war ein verr¨ uckter Versuch von mir, auf dem ” Motorrad zu fahren. Ich muß Hinton treffen.“ Doktor, h¨oren Sie mir zu . . .“ Mit fieberhaft geweiteten ” Augen sch¨ uttelte das M¨adchen seine Hand. Ihre Maskara und ihre Haare waren sogar noch bizarrer als in seiner Erinnerung. Sie sind im Sterben! Ein oder zwei Tage noch, eine Stunde ” vielleicht, und Sie sind nicht mehr am Leben. Wir finden ein Auto, und ich fahre Sie nordw¨arts.“ Mit einiger M¨ uhe riß sie den Blick vom Himmel los. Ich verlasse Vater nicht gern, aber ” Sie m¨ ussen fort von hier, es sitzt jetzt in Ihrem Kopf.“ Mallory versuchte die schwere Yamaha aufzustellen. Hinton ”
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– sonst bleibt uns nichts mehr. Auch f¨ ur Anne. Irgendwie muß ich – ihn t¨oten.“ Das weiß er, Doktor –.“ Beim N¨aherkommen von Motoren” ger¨auschen verstummte sie. Ein Flugzeug schwebte in der N¨ahe u ¨ber die Straßen, sein dunkler Schatten war u ¨ber den Palmbl¨attern zu sehen, und ein Drehfl¨ ugel glitzerte in der Sonne. Sie duckten sich zwischen den Fernsehapparaten, und es flog u umliches Drehfl¨ ugelflugzeug, ¨ber ihre K¨opfe dahin. Ein altert¨ das u ¨ber den Himmel polterte wie ein Luftm¨aher und dessen freibeweglicher Rotor anscheinend von der Sonne angetrieben wurde. Der Pilot im offenen Cockpit war zu sehr mit dem Steuern besch¨aftigt, um die Straßen unter sich abzusuchen. Außerdem hatte Hinton, wie Mallory wußte, sein Opfer bereits gefunden. Auf dem Dach des Hotels, einen Schlafmantel um die Schultern, stand Anne Mallory. Getrieben durch ihren Traum vom Himmel, hatte sie es schließlich doch geschafft, die Treppe hochzusteigen. Blicklos starrte sie auf das Drehfl¨ ugelflugzeug und trat nur einen Schritt zur¨ uck, als es das Hotel umkreiste und in einem Wirbelsturm von Bl¨attern und Staub zum Landen ansetzte. Als es auf dem Dach aufsetzte, riß ihr der Luftstrom des Propellers den Mantel von den Schultern. Nackt wandte sie sich dem Drehfl¨ ugelflugzeug zu, dem Geliebten dieser seltsamen Maschine, der gekommen war, um sie aus einer der Zeit beraubten Welt zu retten.
VIII Als sie die NASA-Landebahn erreichten, stiegen riesige Rauchs¨aulen vom Raumfahrtzentrum auf. Vom Soziussitz des Motorrades schaute Mallory auf die Rauchschwaden, die in die schmutzige Luft hinaufquollen. Der Wald war rot vor Hitze,
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und das Blattwerk gl¨ uhte wie Kohlen in einem Hochofen. Hatte Hinton den Shuttle wieder aufgetankt und startklar gemacht? Er w¨ urde Anne mit sich nehmen und sie und sich selbst im Weltraum freisetzen, wie er es mit Shepley getan hatte, und auf diese Weise dem toten Astronauten in seine kreisende Bahre folgen. Vom Startplatz des Shuttles stieg Rauch zwischen den B¨aumen vor ihnen auf. Gale bremste die Yamaha und zeigte auf einen Riß in den Wolken. Der Shuttle stand noch mit ruhigen Motoren auf der Plattform, der weiße Rumpf reflektierte die Explosionsblitze von den Betonlandebahnen. Hinton hatte seine altert¨ umlichen Flugzeuge in Brand gesetzt. In dichtem Rauch loderten die Flammen von den gl¨ uhenden R¨ umpfen, die auf ihren Fahrgestellen in sich zusammensanken. Der Curtiss-Doppeldecker brannte wild. Eine rasende Feuerlohe verzehrte den Motorraum der Fokker, ließ den Treibstofftank explodieren und die Maschinengewehrmunition hochgehen. Die explodierenden Patronen zerfetzten die Tragfl¨achen, worauf diese wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen. Gale hielt die Yamaha mit ihren Beinen im Gleichgewicht und schob sie zweihundert Meter von den weißgl¨ uhenden Maschinen entfernt um die glosenden B¨aume herum. Die Explosionen blitzten in ihrer Schutzbrille auf, bleichten ihr kr¨aftiges Make-up und verliehen ihrem blonden Haar eine aschene Fahlheit. Die Hitze brannte auf Mallorys gelblichem Gesicht, als er das Flugzeug nach einem Zeichen von Hinton absuchte. Gef¨achelt von den Flammen, die in seinem Rumpf dr¨ohnten, rotierte der Propeller des Drehfl¨ ugelflugzeuges, fing Feuer und kreiste in einem letzten lodernden Festrummel. Neben ihm rasten Flammenzungen u ¨ber die Tragfl¨achen der Wright-Maschine, die sich in einem Funkenschauer in die Luft hob und zur¨ uck
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auf den rotgl¨ uhenden Rumpf der Sopwith Camel fiel. Von der großen Hitze entz¨ undet, erwachte der startbereite Motor des Flying Flea br¨ ullend zum Leben, trieb das winzige Flugzeug in einem holprigen Bogen zwischen den brennenden Wracks hinauf, so daß es den Spad und den Bleriot in die Luft jagte, bevor es sich in einem Hochofen wogender Flammen u ¨berschlug. Doktor – auf dem Montage-Deck!“ ” Mallorys Blick folgte der ausgestreckten Hand des M¨adchens. Dreihundert Meter u ¨ber ihm standen Anne und Hinton Seite an Seite auf dem Absatz der Metalltreppe. Die Flammen der brennenden Flugzeuge flackerten in ihren Gesichtern, als w¨ urden sie sich schon beide durch die Luft bewegen. Obwohl Hinton seinen Arm um Annes Taille gelegt hatte, schienen sie einander nicht wahrzunehmen, als sie ins Licht hineintraten.
IX Wie immer w¨ahrend der letzten Abende in Cocoa Beach ruhte Mallory am Schwimmbecken des verlassenen Hotels und beobachtete den hellen Segelflieger, der stetig u ¨ber den stillen Himmel von Cape Kennedy dahinzog. In dieser friedlichen Laube, umgeben von den d¨osenden Bewohnern des Zoos, lauschte er dem Springbrunnen, der seine kristallenen Perlen auf das Gras neben seinem Sessel warf. Der Wasserstrahl stand jetzt beinahe still wie das Flugzeug und der Wind und die beobachtenden Geparden, Elemente einer sinnbildlichen und gl¨ uhenden Welt. Als sich die Zeit von ihm zur¨ uckzog, stand Mallory neben dem Brunnen und sah gl¨ uckerf¨ ullt, wie er sich in einen gl¨asernen Baum verwandelte, der die schillernden Fr¨ uchte auf seine ¨ Schultern und H¨ande ausgoß. Uber dem nahen Meer flogen Delphine durch die Luft. Einmal tauchte er in das Becken,
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entz¨ uckt, in diesem riesigen Block verfl¨ ussigter Zeit eingebettet zu sein. Gl¨ ucklicherweise rettete Gale Shepley ihn, bevor er ertrank. Mallory wußte, daß sie seiner u ussig wurde. Sie hatte ¨berdr¨ nun ausschließlich die Suche nach ihrem Vater im Sinn, u ¨berzeugt davon, daß er bald aus den Flutkan¨alen des Weltalls zur¨ uckkehren w¨ urde. In der Nacht waren die Flugbahnen immer niedriger, Spuren geladener Partikeln, die u ¨ber den Wald glitten. Sie aß kaum noch etwas, und Mallory war froh, daß sie, wenn ihr Vater ankam, endlich mit dem Fliegen aufh¨oren w¨ urde. Dann w¨ urden beide gemeinsam fortgehen. Mallory hatte seine eigenen Vorbereitungen f¨ ur den Abschied getroffen. Den Schl¨ ussel zum Tigerk¨afig hielt er immer in der Hand. Nun blieb ihm nur noch wenig Zeit, die lichtdurchflossene Welt hatte sich in eine Reihe von Bildern aus einer Prozession verwandelt, die die ersten Tage der Sch¨opfung feierte. Im Finale w¨ urde jedes Element des Universums, so bescheiden es auch sein mochte, seinen Platz auf der B¨ uhne vor ihm einnehmen. Er betrachtete den Tiger, der vor ihm an den St¨aben des K¨afigs wartete. Die großen Katzen waren, wie die Reptile vor ihnen, immer teilweise außerhalb der Zeit gewesen. Die Flammen auf seinem Fell erinnerten ihn an das Feuer, das die Flugzeuge im Raumfahrtzentrum verschlungen hatte, das Feuer, durch das Anne und Hinton nun f¨ ur immer flogen. Er verließ das Becken und ging zum Tigerk¨afig. Bald w¨ urde er die T¨ ur ¨offnen, sich diesen Flammen hingeben und sich in einer Welt jenseits der Zeit neben diesem wilden Tier niederlassen.
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