Evelien van Leuween
Dies Buch ist nicht zum Verkauf bestimmt, sondern dient privaten Forschungszwecken
Späte Erinnerun...
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Evelien van Leuween
Dies Buch ist nicht zum Verkauf bestimmt, sondern dient privaten Forschungszwecken
Späte Erinnerungen an ein jüdisches Mädchen
Scan: jojox
©éditions trèves, Trier 1984
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Evelien van Leeuwen
Späte Erinnerungen An ein jüdisches Mädchen Autobiographische Erzählung
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CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Leeuwen, Evelien van: Späte Erinnerungen an ein jüdisches Mädchen: autobiograph. Erzählung / Evelien van Leeuwen. (Obers. aus d. Holländ. von Rosy Wiegmann). – Trier: éditions trèves, 1984. Einheitssacht.: Klein in memoriam (dt.) ISBN 3-88081-149-0
Titelgestaltung: e.t., unter Verwendung der Fotomontage „Selbstbildnis 1935" von Marta Hoepffner.
Übersetzung: Rosy WIEGMANN Auflage: 4. 3. 2. Jahr: 87 86 (die jeweils letzte Zahl gibt Auflage bzw. Erscheinungsjahr an)
Originalausgabe Copyright 1983: Evelien van Leeuwen, s' Gravenhage, u.d.T.: Klein in memoriam, first published by BZZToH. Für die deutschsprachigen Ausgaben:
© und Gesamtproduktion: 1984 by editions treves Nachdruck und Vervielfältigung jeder Art, auch auf Bild/Ton/Daten- und andere Träger nur nach vorheriger schriftlicher Absprache mit dem Verlag. Hrsg. mit Unterstützung des Vereins zur Förderung der künstlerischen Tätigkeiten – éditions trèves e.V.
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INHALT Späte Erinnerungen …………………………………………..5 Warum…………………………………………………………6 Schicksal……………………………………………………….7 Wie ein Dieb in der Nacht………………………………….....9 Das lila Briefpapier…………………………………………..11 Zwischenspiel………………………………………………...13 Unterwegs…………………………………………………….17 Transportnacht………………………………………………22 Bergen-Belsen………………………………………………...24 Wieder unterwegs……………………………………………34 Ein Dorfaufenthalt…………………………………………...40 Rückkehr in ein leeres Zuhause…………………………….45 Abschied………………………………………………………50 Ein Versprechen (Brief an A.)………………………………56 Maria oder die Geschichte eines Päckchens……………….64
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Späte Erinnerungen Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Christa Wolf, Kindheitsmuster
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Warum Eines Tages - ich sitze im Zug, fahre in die DDR und sehe die deutsche Landschaft an mir vorüberziehen - überfällt mich der Gedanke, dass es jetzt Zeit sei, die Erinnerungen jenes Kindes aufzuschreiben, das ich einmal gewesen bin: des Kindes E., das zusammen mit seiner Mutter zwei Jahre in deutschen Lagern verbracht hat. Diese Episode hat tief in mein Leben eingegriffen; sie hat es dreigeteilt. Seither gibt es für mich ein „vor dem Krieg", ein „im Krieg" und ein „nach dem Krieg". Jäh und grausam wurde die wohlbehütete Kindheit eines jüdischen Mädchens aus einer wohlhabenden und glücklichen, einem kultivierten Milieu angehörenden Familie abgebrochen. Jetzt - vierzig Jahre später - will ich versuchen, diese sicher unvollständigen und durch den Filter der Zeit gelaufenen Erinnerungen zu einem Bild zu verdichten, das ich meinen Kindern zugedacht habe. Damit sie etwas von meiner Welt von damals erfahren, ja vielleicht sogar nachvollziehen können, wie ich sie erlebt und als einige der wenigen überlebt habe. Mein Überleben hat mir die Möglichkeit gegeben, mit diesen späten Erinnerungen jener vielen Namenlosen zu gedenken, denen diese Gunst nicht zuteil wurde, - ich will aber auch derer gedenken, die mit ihrem unermesslichen Leid und manchmal unbeschreiblichen Mut weiter gelebt haben: sie sind hier einerseits in Gestalt des Vaters, des Bruders J. und der Schwester F., andererseits in Gestalt der Mutter vertreten. Denn dass ich als Einzelexemplar einer Gruppe, die größtenteils ums Leben gebracht wurde, „übrig" geblieben bin, verpflichtet mich dazu, die anderen in ehrfurchtsvoller Erinnerung zu bewahren - auch wenn ich diese Pflicht erst spät erfülle. Sie waren keine Helden, sondern gewöhnliche Menschen, die andere liebten und von anderen geliebt wurden. Menschen mit ihrem Kummer, ihren Träumen, ihren Sorgen und ihren Hoffnungen. . Auf die Frage, warum erst jetzt die Zeit meiner Erinnerung gekommen ist, muss ich die Antwort allerdings schuldig bleiben. 6
Schicksal Warum ist die Familie nicht nach Amerika gegangen? 1938 bekommt der Vater, der Direktor einer kleinen internationalen Bank in Amsterdam ist, von seinen Pariser Vorgesetzten das Angebot, mit der Familie nach New York zu ziehen, um dort eine neue Filiale zu übernehmen. Über Europa ballen sich drohende Wolken zusammen, das Klima wird immer grimmiger; E.s Vater bekommt die unheilvolle Atmosphäre in Deutschland selbst zu spüren, als er im Jahre 1934 einen jüdischen Neffen in Königsberg abholt, der dann ein paar Jahre lang in E.s Familie lebt, denn in deutschen Schulen werden jüdische Kinder schon damals geärgert und gequält. Und doch hat er auf die Frage seines Direktors (Willst du nach Amerika?) ablehnend geantwortet. Warum? Seine eigene Begründung hat etwa so gelautet: Ich bin Holländer und werde, wenn Gefahr droht, wenn es Krieg gibt, zur Stelle sein und mein Land verteidigen, genau wie alle anderen Niederländer, statt zu fliehen wie ein feiger Jude, mich und meine Familie in Sicherheit zu bringen, nur, weil ich zufällig die Gelegenheit dazu habe. So ungefähr hat er argumentiert und ist dageblieben, und E. vermutet, dass die Eltern in diesem Punkt ganz und gar einer Meinung gewesen sind. Übrigens klingt das alles viel nationalistischer als es gemeint war. Zweifellos hat dabei die Solidarität mit der niederländischen Bevölkerung, insbesondere mit deren jüdischem Teil, der in der Mehrheit - genau wie die Masse der nichtjüdischen Bevölkerung auch - einen ziemlich harten Existenzkampf führen musste und an Emigration gar nicht denken konnte, eine viel größere Rolle gespielt als der Nationalismus. Freilich, wenn sie in die Zukunft hätten sehen können, wenn sie gewusst hätten, was für ein entsetzliches Los ihnen beschieden war, ja dann ..., aber hinterher ist man immer klüger. Niemand hat im Jahre 1938 schon wissen können, was 1945 klar war, und außerdem hätte niemand dem Volk der Dichter und Denker, dem man - mal abgesehen vom Gegröle Hitlers 7
Achtung entgegenbrachte, ein solches Ausmaß an Barbarei je zugetraut. So sind sie also dageblieben, und nur E. und ihre Mutter haben, eher „sadder" als „wiser" geworden, das Ende des Krieges erlebt. E. ist noch jung und fängt mit der Vitalität der Jugend wieder zu leben an, geht wieder zur Schule, obwohl sie der Meinung ist, dass sie nicht mehr ins Klassenzimmer und in die Schulbank gehört. Auch der Mutter, die physisch gebrochen ist und eine bleischwere psychische Last zu tragen hat, gelingt es mit der ihr eigenen Energie, noch ein paar Jahre weiterzuleben - mit ihrem großen Leid, aber ohne Hass und Verbitterung. Das Leid hat sie in den ihr noch verbleibenden zehn Jahren keinen Tag mehr verlassen. Ihr widme ich unser beider Geschichte, die ich für ihre Enkelkinder geschrieben habe, im besonderen.
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Wie ein Dieb in der Nacht 18. August 1942 Sie liegen im Bett, E. und ihre zwei Jahre ältere Schwester F., in ihren lustigen englischen Bettgestellen, die solche Kupferknöpfe haben, die man immer wieder ab- und anschrauben kann. Es ist ein schöner Sommerabend, sie schlafen noch nicht - meist schwatzen sie noch lange miteinander, bis eine von ihnen, es ist meist die ältere Schwester, plötzlich einschläft. An diesem Abend klingelt es schrill und viel zu laut, - drohend, denn es ist mitten im Krieg, und für Juden ist alles noch viel beängstigender und bedrohlicher als für die anderen. Unmerklich ist die Trennung entstanden: es gibt Juden und normale Menschen. Von unten dringen ungewöhnliche Geräusche herauf, dann sind da Schritte auf der Treppe und im Schlafzimmer der Eltern, das mit dem ihrigen durch eine Zwischentür verbunden ist, - sie hören Gepolter und unbekannte Männerstimmen. Mucksmäuschenstill und voller Angst liegen die Mädchen da und warten ab, bis nach einer Viertelstunde die Kinderzimmertür aufgeht und der Vater hereinkommt, um auf Wiedersehen zu sagen: die Polizei sei da und hole ihn ab, wegen angeblicher kommunistischer Sympathien. Auf der Suche nach den Werken von Marx und Lenin habe man gerade den Bücherschrank durchwühlt. Das sei sicher alles ein Irrtum, er werde morgen wieder zu Hause sein. „Seid tapfer, und seid lieb zu eurer Mutter!" Das sind die letzten Worte, die sie je von ihm gehört hat. Denn natürlich ist er nicht wiedergekommen. Ins Gefängnis von Scheveningen ist er gekommen, dann nach Westerbork, dann nach Auschwitz. „Wenn er doch bloß seinen Wintermantel, seinen Wintermantel mitgenommen hätte!" jammerte die Mutter später.
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In jener Nacht hat J., der Bruder, in Vaters Bett geschlafen, damit sich die Mutter nicht gar so alleingelassen vorkommen sollte. Er ist siebzehn Jahre alt und gerade in die sechste Klasse des Gymnasiums versetzt worden.
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Das lila Briefpapier Wieder klingelt es durchdringend, diesmal am späten Nachmittag. Deutsche kommen, in Uniform, und schleppen alles weg, was ihnen zupass kommt. Die Musikinstrumente - eine kostbare Amati-Geige, die einer früh verstorbenen Tante gehört hat, einer begabten Violinistin, deren Todesjahr, 1928, zugleich E.s Geburtsjahr ist, und auch E.s Geige, ein böhmisches Instrument, dessen Schnecke aus einem geschnitzten Köpfchen besteht, sowie J.s Cello. Voller Stolz und mit eiskalter Verachtung sieht die Mutter zu, wie all die Dinge, an denen der Mensch nun einmal hängt, solange er in normalen Verhältnissen lebt, aus dem Hausgeschleppt und auf einen Karren geladen werden. Bis sich einer der Uniformierten an ihrem Briefpapier vergreift, an ihrem lila Briefpapier mit Monogramm. Da verliert die Mutter plötzlich die Beherrschung. „Dieses Briefpapier, das kriegen Sie nicht, das rühren Sie nicht an", kreischt sie und tobt derart, dass der Deutsche es völlig verblüfft liegen lässt. Es ist unbegreiflich: diese kleine zarte Frau, alles erträgt sie, entschlossen lehnt sie es ab, mit ihren drei Kindern unterzutauchen, denn „ich will nicht, dass jemand anders meinetwegen in Gefahr gerät", wenn jedoch irgendein x-beliebiger Polizist mit Eifer oder Widerwillen seine Aufgabe erfüllt und dabei an ihr höchstpersönliches Briefpapier kommt, hält sie es plötzlich nicht mehr aus und fängt - unbeherrscht und jähzornig - an zu schluchzen. Jähzornig ist sie immer schon gewesen. Noch wohnen sie in ihrem alten Haus, in dem E. zur Welt gekommen ist, aber nicht mehr lange. Das Haus ist ausgeraubt, ein Zimmer versiegelt. Im Oktober 1942 werden sie abgeholt, wieder in der Nacht, und ins Scheveninger Gefängnis gebracht, wo sie bis zum frühen Morgen bleiben. Sie sitzen, zusammen mit anderen, die man auch diese Nacht abgeholt hat, nicht in Zellen, sondern in einem langen Gang auf dem Fußboden. Am Morgen kommt 11
Fischer* und richtet persönlich das Wort an sie. Sie sollen sich keine Sorgen machen, keine Angst haben, „morgen früh trinkt ihr alle gemütlich Kaffee in Auschwitz." Noch am selben Morgen werden sie jedoch alle vier wieder freigelassen (E. hat nie erfahren, warum, aber Willkür und Unrechtmäßigkeit sind ja die typischen Merkmale eines Terrorregimes), und so stehen sie um sechs Uhr früh vor dem Gefängnistor. Sie gehen zu Fuß zu Bekannten, die in der Nähe wohnen. Es ist ein nebliger Herbsttag, auf der Straße ist es ganz still.
* Fischer sitzt 1984, im Jahr der ersten deutschsprachigen Ausgabe, noch im Gefängnis von Breda. 12
Zwischenspiel In ihr altes Haus können sie nun nicht mehr. Man hat es ihnen weggenommen, wie man ihnen nach und nach alles weggenommen hat. Für Juden verboten ist die Straßenbahn, das Kino, die Schule, das Fahrrad, der Besitz. Noch eine Weile - nicht mehr lange - sind sie vogelfrei. Sie ziehen zu einem Onkel und einer Tante in der Nachbarschaft, die drei Kinder haben und bei denen eine jüdische Großmutter im Haus lebt. Mit dieser Familie sind sie schon immer gut befreundet gewesen, die Kinder sind zusammen aufgewachsen. Sie hatten oft zusammen Urlaub gemacht, die Kinder besuchten dieselbe Schule. In diesen Wochen des Herbstes 1942 verläuft ihr Leben - in der vertrauten Umgebung dieses großen Hauses, in dem drei Generationen, sechs Kinder und vier Erwachsene, zusammenleben - ziemlich ruhig und normal. Die Mütter besorgen den Haushalt, wobei sie immer mehr Zeit in die Beschaffung der warmen Mahlzeiten stecken müssen, denn Schlangestehen gehört jetzt zum Alltag. Die Kinder gehen zur Schule, jetzt aber getrennt, die einen in die normale, die anderen in die jüdische. J., F. und E. legen jeden Tag einen Fußweg von sechs Kilometern hin und sechs Kilometern her zurück, in der Tasche haben sie jeder ein Marmeladenglas mit Resten der warmen Mahlzeit vom Vortag, denn das Brot ist knapp und reicht nicht mehr aus, um den Hunger zu stillen. In der Schule werden dann all die Gläser in einem Wasserkessel aufgewärmt. In keiner Schule sind Kinder je so fleißig gewesen wie in dieser, obwohl sie doch keinerlei Zukunftsaussichten haben. Tag für Tag fehlen mehr Kinder in der Klasse, Tag für Tag fehlen mehr Lehrer. Sie haben keine Perspektive, aber sie machen 13
weiter, sie lesen Vondel1 und Ovid bis zum bitteren Ende. Und das Wort „bitter" ist in dieser Geschichte kein Klischee. Wenn der Tunnel verschüttet ist, wenn es keinen Lichtblick mehr gibt, dann fällt der Mensch offenbar auf die geistigen Dinge zurück, jedenfalls solange, wie die materiellen Lebensumstände erträglich sind. Das sind sie damals: man lebt nicht gerade im Überfluss, aber der quälende Hunger des letzten Kriegswinters bestimmt das Leben auch noch nicht. Später, in den Lagern, bleiben nur noch das Gebet, die Apathie oder der Wille zum überleben. Die Zukunft sieht düster aus, aber sie gehen wieder in den Dingen des Alltags auf: im Haushalt, in der Schule, in den Schularbeiten. Und wieder wird die Stille der Nacht von Unheil verkündendem Klingeln zerrissen: Uniformierte in schwarzen Stiefeln kommen sie zum zweiten Mal abholen: J., F., E., die Mutter und die alte Großmutter. Und dann geschieht ein Wunder: als die Soldatenstiefel in das Kämmerchen der Großmutter poltern, liegt die alte Dame plötzlich im Koma. Sie wollen sie trotzdem mitnehmen - diese Frau soll weg, aber ihr Sohn, der Arzt ist, kann sie dann doch noch dazu bewegen, sie liegen zu lassen. Sie geben nach, da sie nicht der Mühe wert ist. Ihr Holzbein im schwarzen Strumpf und hohen Stiefel steht, an einen Stuhl gelehnt, daneben. So hat E. den Tod erstmals ganz aus der Nähe gesehen. Später, im Lager, von so vielen Toten umgeben, hat die Erinnerung an diese Szene ihr oft Trost gespendet: die sterbende Frau, die friedlich röchelnd und ruhig daliegt, als ob sie angesichts dieser Unmenschlichkeit nur noch Verachtung zeigen könne ... Liebevoll aufgebahrt liegt sie in ihrem weißen Bett, in einem lila Nachthemd, das weiße Haar fällt ihr in Wellen ums Gesicht. Noch gelegener hätte der Tod gar nicht kommen können. So hat E. die Großmutter am nächsten Morgen wieder gesehen, nachdem man sie, die Mutter, den Bruder und die Schwester zum zweiten Mal freigelassen hatte. 14
Die Polizei hat sie an jenem Morgen in aller Frühe mit der Straßenbahn - die ihnen doch verboten ist - zu einem neueingerichteten Polizeiposten in der Paviloensgracht geschafft. Sie dürfen nicht wieder zu der befreundeten Familie. Sie bekommen eine Adresse zugewiesen, zwei Zimmer in der VanReestraat bei einer jüdischen Familie - einem jungen Ehepaar mit einem Baby (die alle den Krieg nicht überlebt haben). Diese zwei Zimmer sind die letzte Station vor dem Lager, in ihnen wohnen sie noch ein paar Monate. Noch gehen sie in die jüdische Schule, noch kommen Freunde zu Besuch, was nicht mehr erlaubt ist und was manche auch nicht mehr tun. Eines Tages, als E. nach Hause kommt, ist ein alter Freund der Familie da. Er hat ihrer Mutter, die weinend in der Küche steht, einen Blumentopf als Abschiedsgeschenk mitgebracht, denn er wagt es von nun an nicht mehr, sich den Befehlen der Besatzer zu widersetzen. Weihnachten 1942 schreiben sie noch - vergeblich - Briefe. an den Mann und den Vater, in Deutsch (die Mutter hilft den Kindern dabei), an eine Adresse, die sie vom jüdischen Rat bekommen haben. Der Dichter Joannes Reddingius, ein angeheirateter Verwandter, liest das Lied vom Knaben Friede aus Thomas More2 vor: ... denn ich weiß, er lebt auf dieser Erden und ist kein Traum nur, ich trug ihn in diesem Schoße ..., und sie hören still zu, gerührt und betrübt, in der Hoffnung, dass im nächsten Jahr alles wieder gut werden möge. Dieser Abend spendet so viel Wärme, dass er für E. zu einer Erinnerung fürs Leben werden wird. In jenem Winter des Jahres 1943 hat E.s Mutter dann beschlossen, sich taufen zu lassen und in die niederländische reformierte Kirchengemeinschaft einzutreten. Weil ihr der jüdische Glaube nichts mehr bedeutet, weil sie mittlerweile durch einen befreundeten Pfarrer mit den frei15
sinnig Reformierten in Kontakt gekommen ist, darum tut sie diesen Schritt, den die damals vierzehnjährige E. eigentlich nie völlig verstanden hat. Dass ihr Bruder j. in der letzten Periode seines Lebens aus der Religion Kraft geschöpft hat, steht dagegen außer Zweifel; als er auf Transport geht, ist er fest entschlossen, nach seiner Rückkehr ein Theologiestudium aufzunehmen, während vordem immer Geschichte sein Lieblingsfach gewesen war. Auch sein Abschiedsbrief aus Westerbork bezeugt das. So lassen sie sich alle vier in Ryswyk taufen. E. und ihre Schwester wohl vor allem aus einer Art Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Predigt in der Kirche, der Gottesdienst verschafft ihnen das vage Gefühl, dass alles, was jetzt geschieht, nicht für ewig ist, dass es noch etwas anderes geben muss - durchaus ein Halt für die Kinder, die keinerlei religiöse Erziehung erhalten hatten. Im Lager hat die Frau des Rotterdamer Oberrabbiners David dann einmal zu E. gesagt: „Warum schafft man sich einen Stiefvater an, wenn man einen eigenen, wahren Vater hat?" Diese Worte haben sie damals sehr getroffen und zutiefst im Innersten auch überzeugt. Der Kreis hat sich schon fast geschlossen. Wer nicht fliehen und nicht untertauchen wollte, leistete logischerweise dem Internierungsbefehl Folge und landete im Lager Vught.
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Joost van den Vondel (1587 - 1679), größter holländischer Renaissancedichter - d.ü. Trauerspiel in Versen von Henriette Roland-Holst (1860 - 1952)
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Unterwegs Am 23. April 1943 beginnt ihre Reise durch die Lager. Sie treffen kaum Vorbereitungen, nehmen nur ein paar Sachen in einem Köfferchen, eine aufgerollte Decke, Toilettengegenstände mit. Sie lassen sich die Haare abschneiden; E. hatte bis dahin immer Zöpfe getragen. Die Mutter hat für jedes der drei Kinder ein Notizbuch mit Versen und geflügelten Worten angelegt, ein Zitatenbüchlein, wie sie sagt. Von der Zeit in den Lagern hat E. später viel leichter reden können als von der vorhergehenden Periode: der Zeit der Erniedrigung, des Sterns, der Desintegration, der Isolation, der Unsicherheit. Inmitten von tausenden Schicksalsgefährten lässt es sich leichter mit erhobenem Haupt umhergehen. Angesichts des Stacheldrahts und der Wachttürme gibt es nur eine einzige Aufgabe: überleben, durchkommen, das andere Ende des Tunnels erreichen. Vielleicht schaffen es die anderen auch, so dass es nach dem Krieg ein Wiedersehen gibt. Denn dann wäre es unverzeihlich, wenn man zu schnell aufgegeben hätte. Dem übergroßen Teil wird das Überleben nicht vergönnt sein ..., aber das wissen sie zu der Zeit noch nicht. Ihre Reise wird genau zwei Jahre dauern. Sie beginnt auf dem Staatsbahnhof (dem heutigen Hauptbahnhof) von Den Haag, von dem der Zug nach Vught abfährt, und sie endet am 23. April 1945 in Deutschland, in der Nähe des Dorfes Tröbitz, irgendwo zwischen Leipzig und Dresden, wo ihr Zug stecken bleibt, als er auf die russische Armee trifft, die nach Berlin marschiert. In Vught sind sie noch zu viert: F., E. und die Mutter in derselben Frauenbaracke, J. in einer Männerbaracke. In den Baracken herrscht Überfüllung, Privatsphäre ist ein Luxus, den es fortan nicht mehr gibt; alles ist gemeinschaftlich: das Schlafen, Waschen, Essen, Kacken. Das warme Essen ist so schlecht gewaschen, dass es einem zwischen den Zähnen knirscht, und außerdem ist es schlecht zubereitet. Im Nu brechen Krankhei17
ten aus - Krätze, Durchfall, Angina, und innerhalb von kurzer Zeit wird E. mit hohem Fieber in die Krankenbaracke eingeliefert, an die sie nur eine Erinnerung bewahrt hat, nämlich die ans „Strammliegen" - wenn die Wache hereinkam, hatte man mit auf der Decke ausgestreckten Armen kerzengerade dazuliegen. Schon nach wenigen Wochen werden F. und J. nach Westerbork verlegt. E. hat sie nicht mehr sprechen, nur noch kurz sehen können. Etwas später kommt sie mit ihrer Mutter auch nach Westerbork. Nachts im Zug sitzen sie neben Bekannten aus Den Haag, E. hat eine Mitschülerin getroffen. Bei der Ankunft werden alle erst einmal registriert, und gleich danach wird E. auf einer Trage ins Krankenhaus gebracht, denn sie hat Scharlach, wie inzwischen deutlich geworden ist. Die Anmeldungsformalitäten in Westerbork: endlose Reihen von müden und blassen Menschen schieben sich im Schritttempo an Tischen entlang, hinter denen jüdische Stenotypistinnen die Personalien in Formulare eintragen. Leute aus Amsterdam, aus Vught, Untergetauchte, die man gefasst hat, alte Leute, junge Leute, Kinder, Babys: ein riesiger grauer Strom, aus dem alle Farbe gewichen zu sein scheint. Jeder bekommt einen Barackenplatz zugewiesen und erhält einen Lagerausweis. Die Anmeldung läuft wie geschmiert, die Juden haben alles selbst organisiert. Das Westerborker Krankenhaus ist nach der Krankenbaracke von Vught geradezu eine Erholung. Es gibt hier nette Schwestern und freundliche Ärzte, es ist sauber, und man bekommt Medikamente. Man fürchtet sich hier auch nicht so sehr vor den Transporten, da die entsprechenden Berufe einen gewissen Schutz bieten. Das Durchgangslager Westerbork, wie der offizielle Name lautet, weist alle Merkmale einer vom Wahnsinn erfassten Gesellschaft auf. Man lebt hier von einer Woche zur anderen. Denn der Zug nach Polen - wo sich, wie jeder weiß, die Arbeitslager befinden - fährt einmal in der Woche, am Diens18
tagmorgen. Wenn er gegen elf Uhr abgefahren ist, atmet das ganze Lager erleichtert auf und die Welt dreht sich wieder um eine ganze Woche weiter; insgeheim denken alle, dass vielleicht ein Wunder geschieht, dass der Krieg aufhört oder die Welt auseinander kracht ... bis dann der nächste Montag kommt, an dem das ganze Lager wieder den Atem anhält und alles und jeder von würgender Angst erfasst wird. Wer ein Gesuch um eine Verlängerung des Westerborker Aufenthalts eingereicht hat, hofft bis zum allerletzten Moment auf positiven Bescheid. In Westerbork ist eine Woche eine Ewigkeit. Sie dauert lebenslänglich. Vom Krankenhausbett aus hat E. dem Bruder und der Schwester, die draußen vor dem Barackenfenster stehen, noch einmal zugewinkt. Sie hat nicht ahnen können, dass es ein Abschied für immer sein würde. Ihr liebes fröhliches Schwesterchen, die Freundin ihrer Kindheit, durfte nicht am Leben bleiben; noch lange nach dem Krieg hat E. sich nicht damit abfinden können. Der Verlust der Schwester ist für sie persönlich schlimmer als der Tod des Vaters und des Bruders gewesen. Dabei hat sie auch diese beiden sehr geliebt. Den Vater hat sie fröhlich und optimistisch, hilfsbereit, nachsichtig und voller Späße in Erinnerung behalten, als einen Mann, der das Leben von der heiteren Seite zu nehmen verstand. Auch als mutigen Mann, - wie er damals in der Nacht verschwand und auf einer letzten, einfachen Postkarte aus Westerbork noch ein Bekenntnis seiner Liebe zu seiner Familie ablegte - vor allem zu der tapferen Frau, die nun allein mit den Kindern dastand. J., der vier Jahre ältere Bruder E.s, ist ein begabter Junge, nervös, meist still, manchmal auffahrend. Wie zwei Kampfhähne können Mutter und Sohn aufeinander losgehen und sich hitzige Gefechte liefern, aber im Grunde verstehen sie einander besonders gut, weil sie sich so ähneln. Im letzten Jahr seines Lebens (1943) hat sich aus dem schwierigen Jungen blitzschnell ein erwachsener junger Mann entwickelt1. Später hat E. häufig 19
das Gefühl gehabt, die Mutter trauere um ihn am meisten wohl, weil sie glaubte, sie habe an ihm das meiste wieder gutzumachen. J. und F. werden im Juni 1943 abtransportiert, nach Sobibor, wo es, wie das Rote Kreuz nach dem Krieg mitteilen wird, kein Lager, sondern nur die Gaskammer gibt. Die Mutter und E. dürfen dableiben: da E. mit Scharlach im Krankenhaus liegt und noch nicht sechzehn ist, braucht auch die Mutter nicht auf Transport. Die Willkür hat angeordnet, dass diese Woche die Kranken nicht abtransportiert werden. Eine Woche später werden namentlich alle Kranken weggebracht, aber inzwischen hat ihnen die Familie in Den Haag einen PuttkammerStempel2) besorgt, der vorübergehend eine „gewisse" Garantie gibt, dass sie nicht auf Transport müssen. Sie arbeiten beide. E., die gesund aus dem Krankenhaus gekommen ist, wird zum Ordonnanzdienst eingeteilt und trägt den ganzen Tag Verwaltungspost im Lager aus, die Mutter arbeitet bei der Fürsorge als Krankenpflegerin in den Baracken. E. hat ein Paar Holzschuhe aus dem Magazin bekommen, was kein übertriebener Luxus ist, denn wenn es regnet, verwandelt sich ganz Westerbork in einen großen Sumpf. Die Baracken sind überfüllt, aber jeder hat ein Bett für sich allein und einen Tischplatz. Jeweils zwischen zwei eisernen dreistöckigen Bettgestellen steht ein Holztisch mit zwei Bänken, so dass immer die sechs Inhaber der gegenüberliegenden Betten zusammen essen. Sie nehmen also ihre Mahlzeiten, die in Westerbork nicht schlecht sind, vor allem im Vergleich zu Vught, mit vier anderen Frauen ein. Durch die allwöchentlichen Transporte haben sie in den siebeneinhalb Monaten viele wechselnde Tischnachbarinnen gehabt. Mit einer von ihnen, Dr. Rosalie Wijnberg, haben sie sich angefreundet. Ihre Wege trennten sich in Westerbork, da jeder in ein anderes Lager musste. Nach dem Krieg haben sie sich wie20
der gefunden; diese ihre einzige Lagerfreundschaft hat bis zum Tode von Frau Dr. Wijnberg zu Beginn der siebziger Jahre (im Amersfoorter Sinaizentrum, wo E. sie regelmäßig besucht hat) gehalten.
1
Ein paar Zeilen seines Abschiedsbriefes, den E. in Westerbork abgeschrieben hat, - das Original ist verloren gegangen: „Ich habe auch nie bereut, dass wir nichts anderes unternommen haben. Das solltest du auch nicht tun, wir haben alles nach bestem Wissen und Gewissen gemacht ..." (Nichts anderes ist eine Anspielung auf das Untertauchen.) 2
Der Stempel hieß so, weil der Beamte, der diesen blauen Stempel austeilte, ein Herr Puttkammer war.
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Transportnacht Nie ist es richtig still in der Baracke, tagsüber nicht, und nachts auch nicht. Wenn mehrere hundert Menschen in einem Raum schlafen, ist es immer viel zu laut. Sie schnarchen, reden im Traum, stolpern auf dem Weg zur Toilette, die sich im hinteren Barackenteil, in der Waschecke befindet, sie verirren sich im Dunkeln, fluchen, heulen oder trösten ihre weinenden Kinder. Aber einmal in der Woche herrscht in der Baracke mit den dreihundert Insassen Totenstille. In der Nacht vom Montag zum Dienstag, zwischen zwei und drei Uhr morgens, wird dem Barackenältesten die Liste mit den Namen derjenigen ausgehändigt, die am nächsten Tag abtransportiert werden. Und wenn er dann anfängt, die Namen zu verlesen, steht die Stille der Angst greifbar im Raum. Wenn alle Namen vorgelesen sind, das Urteil gefällt ist, hebt ein Jammern und Klagen an, das an Schreie der Todesnot erinnert. Sofort beginnt auch wieder die Betriebsamkeit, - die Verdammten packen ihre Sachen, und außer den kleinen Kindern, die auch der größte Lärm nicht am Schlafen hindern kann, macht in dieser Nacht niemand mehr ein Auge zu. Morgens in der Frühe trotten sie in langen, grauen Reihen zum Zug, der schon seit dem vorigen Nachmittag dasteht und in den man inzwischen die Tonnen eingeladen hat, die in einer bestimmten Anordnung auf dem Bahnsteig bereit standen. Der endlos lange Zug besteht aus zweiundfünfzig Viehwagen. Die trostlose, schweigende Schar - die meisten sind mit Koffern, aufgerollten Decken und Rucksäcken bepackt - verschwindet langsam in den Waggons, und Woche für Woche verabschiedet man sich mit den Worten Wir werden schon durchkommen, wir sehen uns wieder und die Kinder singen dasselbe 22
entsetzliche Lied Wir ziehn nach Polen auf kaputten Sohlen. Jedes Mal kommt auch Kommandant Gemmicke persönlich an den Zug oder läuft in seinen schwarzen Stiefeln wichtigtuerisch auf dem Bahnsteig hin und her, der ansonsten, wenn kein Zug dasteht, der Boulevard von Westerbork ist, die einzige geplasterte Straße des Lagers. Manchmal wird er von Aus der Fünten begleitet1). Transportbegleitpersonal in Uniform verriegelt die Waggons, und gegen halb elf setzt sich die Lokomotive mit schrillen Pfiffen in Bewegung. Der Bahnsteig liegt da wie Ausgestorben. Langsam fängt im Lager das Leben wieder an - und damit auch die irre Hoffnung, dass diese Woche ein Wunder geschehen möge. So manches Mal hat E. im entlegensten Winkel des Lagerterrains, auf einem kleinen Stück der Drenter Heide gestanden und - unheimlich traurig oder auch heulend vor ohnmächtiger Wut - dem Zug nachgesehen, bis er in einer Kurve verschwand. Noch heute sieht sie es vor sich: wie die vierzehnjährige E. dort steht und die furchtbare Vorahnung, dass dies alles vielleicht doch nicht so gut ausgehen wird, wie alle einander einzureden versuchen, nicht mehr unterdrücken kann, - eine Vorahnung, die wohl viele mit ihr geteilt haben dürften. Noch Jahre später ruft der in der Ferne erklingende Pfiff einer Lokomotive bei ihr die Erinnerung an die wöchentlich wiederkehrende Abfahrt jenes vollgepfropften Zuges wach, dessen Passagiere, nur weil sie Juden sind, zu einer Reise gezwungen werden, einer Reise ohne Rückfahrtkarte von Drente nach Polen.
1
Auch Aus der Fünten sitzt 1984 noch im Gefängnis von Breda. 23
Bergen-Belsen Am 15. Februar 1944 bricht auch für E. und ihre Mutter der Tag des Transports an. In der vorhergehenden Nacht sind auch ihre Namen aufgerufen worden; ihre Reise geht jedoch nicht nach Polen, sondern in eins der so genannten Vorzugslager, in denen die Gefangenen etwas besser behandelt werden. Das sieht man schon am Zug, der statt aus Viehwagen aus Personenwagen besteht, durch deren Fenster man hinausschauen kann. Einen Tag und eine Nacht lang sitzen sie im Zug nach Bergen-Belsen auf der Lüneburger Heide, bis sie am frühen Morgen auf einem kleinen Bahnhof in der Nähe von Celle, einer Kleinstadt in der norddeutschen Tiefebene, zwischen Hamburg und Hannover, ankommen. Die Fahrt ist erträglich, die Stimmung gedrückt, an irgendwelchen Proviant kann E. sich später nicht erinnern. Auf dem Bahnhof werden sie von Soldaten mit Hunden in Empfang genommen und ins Lager geführt. Es ist ein herrlicher, kalter Wintertag, Bauernhäuser mit leuchtend roten Dächern liegen verstreut in der stillen Landschaft. Der Fußmarsch vom Bahnhof zum Lager dauert eine gute halbe Stunde, dann schließt sich das Tor hinter ihnen. Auch hier werden sie erst wieder registriert, denn die Deutschen sind ein ordnungsliebendes Volk, aber so reibungslos wie in Westerbork verlaufen die Formalitäten hier nicht. Lange sitzen sie in der eisigen Kälte auf der Erde und warten, bis sie an der Reihe sind und einen Barackenplatz zugewiesen bekommen. Ihre ersten Fragen an die Lagerinsassen sind: „Wie ist das Essen?" und „Gehen von hier Transporte ab?" Die Antworten klingen ziemlich beruhigend: Transporte gehen nicht ab, und das Essen reicht zum Leben. Am Anfang, ungefähr die ersten fünf Monate lang, ist es in Bergen-Belsen tatsächlich auszuhalten, aber dann verschlechtern sich die Lebensbedingungen ganz rapide. Da immer neue Transporte ankommen, sind die Baracken bald überfüllt, und Hygiene, me24
dizinische Versorgung und Ernährung sinken auf den Nullpunkt. Wenn die Umstände unerträglich werden, ist normaler menschlicher Verkehr kaum noch möglich. Bei der Essensausgabe wird buchstäblich gekämpft. Wenn schon einmal Milch verteilt wird, bildet sich ein derartig drängelndes, stoßendes und um sich tretendes Menschenknäuel, dass schließlich die ganze Milch über die Dielen läuft. Aber in den ersten Monaten geht es noch. Die Baracken in Bergen-Belsen sind anders eingeteilt als die in Westerbork: die eine Hälfte, in der zwei und dreistöckige Holzbetten stehen, ist zum Schlafen da, die andere Hälfte, die mit Holztischen und -bänken ausgestattet ist, dient zum Essen. Toiletten gibt es nicht, - nachts wird ein großer Kübel in die Eßabteilung gestellt, in den alle ihre Notdurft verrichten. Diesen Kübel müssen jeden Morgen zwei Leute zur Latrine bringen, die sich in einer Entfernung von ein paar hundert Metern befindet und die man nachts nicht aufsuchen darf. In der Baracke steht ein Ofen, aber Feuerholz gibt es im ersten Winter nur selten, im zweiten Winter überhaupt nicht mehr. In den seltenen Fällen, da es Holz gibt, geht natürlich sofort der Kampf um ein Plätzchen auf dem Ofen los, - jeder will einen Blechnapf oder ein Töpfchen Wasser warm machen oder Windeln trocknen. Die Mütter kämpfen wie Löwinnen um das Leben ihrer Kinder, von denen die meisten nicht überleben werden. Schon in den ersten Monaten fallen E. die infolge der schlechten Ernährung durchgelegenen oder wund gewordenen Babypopos auf, und sie sieht, wie die nervösen Mütter, die bei jeder Kleinigkeit in die Luft gehen, verzweifelte Versuche unternehmen, ihre Kinder auch unter Umständen, in denen es an den elementarsten Dingen fehlt, gut zu versorgen. Es ist selten einmal still in der Baracke, immerzu streiten sich Leute oder weinen Kinder wie Erwachsene. E.s Mutter versucht mit unglaublicher Energie, ihrer beider Moral so lange wie irgend möglich hochzuhalten. In den we25
nigen freien Stunden, die ihnen bleiben - meist sonntags, wenn nicht gerade Strafappell ist, oder abends, falls das Licht brennt und kein Fliegeralarm gegeben wird - lesen sie gemeinsam Vergil. Einen Text und ein Wörterbuch haben sie bei sich, und wenn sie in einer schwierigen Passage stecken bleiben, greift ihnen ein Häftling, der Altphilologe Jaap Melkman, unter die Arme. Sie haben nicht bis zum Schluss durchgehalten: das Wörterbuch ist Seite für Seite in der Latrine gelandet, obwohl das harte glatte Papier für diesen Zweck eigentlich gar nicht taugte. Toilettenpapier ist in den Augen der Deutschen offenbar ein Artikel, den Lagerinsassen nicht brauchen. Solange der Hunger gerade noch erträglich ist - ungefähr bis zum Sommer des Jahres 1944 - machen sie jeden Morgen, bevor die Arbeit anfängt, in aller Frühe einen Rundgang durchs Lagergelände: Bewegung kann 'nicht schaden, sagt E.s Mutter. Die Arbeitstage sind lang und eintönig: sie müssen alte Schuhe, die sich draußen zu hohen Bergen aufstapeln, mit einem kleinen Trennmesser zerlegen. Bei der Arbeit sitzen sie an langen Holztischen, auf die eine Art Schneidemaschine montiert worden ist, mit der jeweils eine Person einen Schuh zerschneidet. Meist unterhalten sie sich bei der Arbeit, aber manchmal herrscht Redeverbot, und oftmals werden sie bestraft. In einem Verschlag in einer Ecke des Saals dient eine Tonne als Toilette, Wasser gibt es nicht. Die meisten Gefangenen arbeiten „bei den Schuhen", wie der Betrieb gewöhnlich genannt wird. Im Sommer stehen sie um fünf Uhr auf, im Winter um sechs. Die erste Epidemie, die ausbricht, ist eine Lungenentzündung, an der vor allem viele junge Männer sterben. Sie dauert aber nicht lange. Anfangs gehen sie ab und zu noch barackenweise duschen, immer mitten in der Nacht, so dass sie nicht zum Schlafen kommen. Alle müssen ihre Sachen abgeben. Im Duschraum stehen alle Frauen gemeinsam unter der Dusche, sie werden dabei von einem SS-Mann bewacht, den man den Roten Müller nennt, einem groben Mann mit einem roten Gesicht und einem roten Schal, den er sich um den Hals gewickelt und in den Uniformkragen gesteckt hat. Das Wasser ist zwar ange26
nehm warm, aber dann müssen sie sehr lange nackt in der Kälte stehen und auf ihre Sachen warten, die offenbar chemisch gereinigt werden. Nach ein paar Monaten hört das nächtliche Duschen auf. Die Bewohner von Bergen-Belsen werden von drei Plagen heimgesucht: vom Hunger, von den Läusen und vom Appellstehen. Daneben gibt es noch die kleineren Übel - dass man z.B. dauernd von einer Baracke in die andere umziehen muss, wobei man jedes Mal Gefahr läuft, seine wenigen Habseligkeiten zu verlieren; dass es kein Wasser gibt; dass einen die langen Stöcke der Kapos treffen (der eine Stockschlag, den E. bekommt, regt sie fürchterlich auf); dass einem die grauen Mäuse (die Lageraufseherinnen) bei der Bettenkontrolle, wenn sie finden, dass das Bett nicht vorschriftsmäßig gemacht ist, alle Sachen durch die Baracke schleudern (wieder die Gefahr, dass etwas verloren geht), und dass regelmäßig die Namen von Leuten vorgelesen werden, die nach Palästina ausgetauscht werden sollen, dann aber meist doch nicht weg dürfen. Das Lager Bergen-Belsen erstreckt sich über ein großes Gelände, das in der Mitte von einer Hauptstraße durchzogen wird. Auf beiden Seiten der Hauptstraße befinden sich kleine, mit Stacheldraht umzäunte Lager, in denen die Häftlinge untergebracht sind und die man nur unter Leitung der SS verlassen darf, um arbeiten zu gehen. So gibt es ein Lager für die Juden aus Westerbork, deren Nachbarn auf der einen Seite ungarische Juden und auf der anderen Seite Sträflinge in grau-blauweiß-gestreiften Uniformen mit Käppis sind. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befinden sich russische Kriegsgefangene, die offenbar etwas besser behandelt werden - im Sommer liegen sie manchmal in der Sonne und winken den zur Arbeit trottenden Juden zu. Das ganze Gelände ist von einem meterhohen Drahtzaun mit lauter kleinen Wachttürmen umgeben. Von dort oben aus ge27
ben die Wachtposten gegen Ende des Krieges den Lagerhäftlingen die neuesten Nachrichten durch. Jeden Morgen müssen sämtliche Lagerbewohner gezählt werden, dazu dient der Appell. Nur kleine Kinder und Schwerkranke sind davon befreit, sie müssen von den Barackenältesten gezählt und über ihre Anzahl muss der Lagerleitung schriftlich Meldung gemacht werden. Alle anderen Gefangenen müssen jeden Morgen barackenweise in Fünferreihen auf dem Appellplatz antreten, um sich erst von ihren Ältesten und dann von der SS zählen zu lassen. Stimmt das Ergebnis nicht mit den offiziellen Angaben überein, dann wird noch einmal gezählt, und diese Prozedur kann sich ewig hinziehen. Von vier Stunden Stehen über sechs und zwölf Stunden Stehen bis zu der traurigen Rekordziffer von vierzehn Stunden, - ohne Essen, in der Kälte, im Regen, in der Sonne, von einem Bein aufs andere tretend, auf der Stelle hüpfend. überraschend erscheint die SS zu einer neuen Zählung, stellt fest, dass die Leute nicht ordentlich ausgerichtet dastehen, und weg ist sie wieder, rechtsumkehrt. Dieses Spielchen kann sich den ganzen Tag lang wiederholen. Im Winter erfrieren sich die Menschen die Glieder, sie fallen um, sterben. Einmal wäre E.s Mutter beinahe in Ohnmacht gefallen, sie wird ganz blass, kann sich aber gerade noch auf den Beinen halten. Am Himmel erscheint ein mächtiger Regenbogen, ein Zeichen der Verbundenheit Gottes mit seinem Volk! Da ja aber vor allem gearbeitet werden soll - die Parole lautet: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht fressen - nimmt der Appell gewöhnlich nicht mehr als eine halbe Stunde in Anspruch, und anschließend marschieren alle arbeitsfähigen Gefangenen unter SS-Bewachung gruppenweise durch das innere Tor zur Hauptstraße, auf dem Weg zur täglichen Arbeit. Man befindet sich also noch immer hinter Stacheldraht, aber außerhalb des eigenen Terrains. Die meisten Leute arbeiten „bei den Schuhen", auch E. hat dort die meiste Zeit gearbeitet. Später arbei28
tet sie im Sommer in der Kartoffelmiete und auch noch kurz in der Schälküche, wo die Arbeit noch früher als bei den Schuhen anfängt, wo man aber morgens eine Tasse Brühe bekommt und beim Schälen rohen Kohlrabi essen kann. Kohlrabi in einer brüheähnlichen Flüssigkeit ist die tägliche Mahlzeit, - in der ersten Zeit gibt es das wirklich jeden Tag, in den letzten Monaten nur noch gelegentlich. Außerdem bekommt jeder ein Stück Brot für etwa fünf Tage, dazu ein winziges bisschen Margarine und ab und zu etwas Marmelade oder Käse. Als der Hunger immer quälender wird, muss man entweder das Brot für die restlichen Tage gut verstecken oder alles auf einmal aufessen, denn sonst wird es gestohlen. Niemand hat das Recht, dem anderen deswegen Vorwürfe zu machen, denn der Hunger kann einen Menschen wirklich verrückt machen. Jeden Tag verlassen große Gruppen von Gefangenen unter Bewachung der SS und ihrer Hunde das innere Lagergelände, wenn sie zum Arbeitsdienst bei den Schuhen, in der Schälküche oder in den Stubbenkommandos ausrücken ( die Männer, die in diesen Holzfällerabteilungen arbeiten, bekommen viel Prügel), um es allabendlich wieder zu betreten. Nur das Stubbenkommando passiert auch das äußere Tor, da es zum Holzhacken in den Wald muss. Einmal ist auch E. mit draußen gewesen, um Feuerholz für den Ofen zu sammeln, dabei war sie ständig von Schäferhunden umringt, kein Wunder, dass ihr diese Tiere für immer verhasst geblieben sind. Die SS sieht grinsend vom Tor herüber und zählt wieder einmal. An die Männer ergeht das Kommando „Mützen ab!", und der Befehl „Ohne Mäntel!" kommt manchmal auch, wenn es friert. E. trägt ihr altes, verschlissenes Wintermäntelchen unter dem blauen Overall. Dreimal ist E. schwer krank gewesen: im Herbst 1944 bekommt sie die Gelbsucht, und im Februar 45 den so genannten Lagertyphus, eine Art Paratyphus mit hohem Fieber und Diarrhöe. Den Durchfall wird sie nicht mehr los, aber das Fieber 29
sinkt, sie rappelt sich wieder auf, und am 21. März, dem ersten Tag des Frühlings, geht sie, noch ziemlich wacklig auf den Beinen, zum ersten Mal wieder hinaus, in die Sonne. Im Lauf dieses letzten Kriegswinters verschlechtern sich die Lebensumstände fürchterlich, und Hunger bzw. Unterernährung fordern immer mehr Opfer. Gearbeitet wird nicht mehr, in den Baracken wird nicht mehr kontrolliert, - man sagt, die SS fürchte sich vor der Ansteckungsgefahr. Die Läuse sind zu einer wahren Heimsuchung geworden, vor allem nachts ist der Juckreiz kaum auszuhalten. Einzelne orthodoxe Familien bringen es fertig, bis zum allerletzten Moment an ihrer Sabbatfeier festzuhalten. Am Freitagabend legt die Mutter ein weißes Laken auf den Holztisch, und die ganze Familie singt und betet miteinander. Diese Szene erfüllt E. mit tiefer Ehrfurcht: hier ist klar, dass die Tradition weder leere Form noch bloße Gewohnheit ist. Die altvertrauten Worte und die strenge Disziplin verleihen dem unbeirrbaren Glauben Inhalt und Kraft. Keinem frommen Juden kommt die Frage nach Gott („Wo ist Gott, da unsere Not so hoch ist?") über die Lippen. Bei ihnen ist das Bewusstsein, dass Auserwähltheit und Leiden Hand in Hand gehen, stark ausgeprägt, das ist E. aus vielen Gesprächen deutlich geworden. Aber als vom Glauben Abgefallene, ja schlimmer noch, als getaufte Juden, sind sie und ihre Mutter recht isoliert. Aus dem Osten kommen scharenweise Gefangene und überschwemmen das Lager. Ein schmales Bett muss für zwei reichen. Nachts dröhnen die Bomber über ihre Köpfe hinweg; sie schlafen wenig, liegen, von Hunger und Juckreiz geplagt, wie zwei Eisklümpchen nebeneinander und stellen sich mehr als einmal die Frage, wer wohl diesen Kampf gewinnen wird: die Befreiung oder der Tod.
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Sie dürfen Karten mit einem vorformulierten Text verschicken, in dem sie um Pakete bitten, aber private Postsendungen kommen im Lager nicht an.1 Manchmal essen sie ein Stück Würfelzucker mit einem Klecks Butter, - wenn ihnen der siebte Teil eines Fresspakets vom schwedischen Roten Kreuz an einen bereits gestorbenen Häftling zufällt. Aber das hilft nicht gegen den Hunger, sondern verschlimmert die Übelkeit im Magen nur. Oft hat E. in diesen Sommernächten in der Barackentür gestanden und in Richtung der rötlichen Glut am Himmel über Hamburg oder Hannover geschaut, je nachdem, wo die Bomben fielen. Mit den polnischen Frauen, die in einem Zeltlager untergebracht sind, kommen auch die ersten Berichte über die Gaskammern: E., die davon hört, ohne wirklich zu begreifen, wird von etwas Grauenhaftem, Unheilvollem beschlichen und erzählt der Mutter nichts. Kurze Zeit hat E. für das keine Mädchen Tamar gesorgt. Wenn E. sich morgens ihre Sachen vornimmt, sagt das Kind sieh mal, da ist noch ein Flaus und zeigt mit dem Fingerchen auf eine Laus, die E. übersehen hat. Eine direkte Folge der Läuse ist der Flecktyphus, der am Ende des letzten Kriegswinters die ersten Opfer fordert und sich dann schnell ausbreitet. Jeden Morgen muss man zuallererst sich selbst und seine Sachen entlausen, das ist so normal wie das Waschen. Wenn man aufhört, darauf zu achten, so ist das ein Zeichen des nahenden Endes: dann ist alles nur noch eine Frage von Tagen. Richtig waschen kann man sich freilich kaum noch. Die meisten haben die Seife schon lange bei den Bevorzugten, die in der Küche und im Magazin arbeiten oder sich mit den Kapos einlassen, für Brot eingetauscht. 31
Außerdem gibt es nur selten Wasser. Die Waschgelegenheiten sind samt den beiden dazugehörigen Toiletten voller Kacke, denn der Durchfall ist beinahe jedermanns ständiger Begleiter. Eines Tages trifft E. auf einen blinden Klassenkameraden aus dem Lyzeum Heyman, der untergetaucht war, um nicht in den Arbeitsdienst zu müssen, aber gefasst worden ist. Siebringen den Erschöpften ins so genannte Altersheim wo E. ihn ab und zu besucht. Das letzte, was sie von ihm sieht, sind zwei verdreckte Füße an dürren Stangen, die unter einer Pferdedecke hervorkommen, mit der man ihn zugedeckt hat. Er ist tot. Es kommt der Moment, dass auch E. und ihre Mutter den Kampf ums Überleben aufgeben und das Bett nicht mehr verlassen. Aber irgendwie gelingt es einer alten Freundin aus Amsterdam, Caroline W., doch, sie wieder auf die Beine zu kriegen. Sie hat ihnen damit zweifellos das Leben gerettet, während sie selbst kurz nach der Befreiung und kurz vor der Repatriierung in Tröbitz am Flecktyphus stirbt. Noch im Lager war sie von dem alten griechischen Chirurgen Dr. Alalouf an Brustkrebs operiert worden. Am Tag vor ihrem Tode hat E. sie noch im Dorf getroffen, als sie gerade triumphierend und guten Mutes einen Kinderwagen mit erbeuteten Lebensmitteln vor sich herschob. E. ist so schwach geworden, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Ganz verzagt vor Hunger geht sie mit einem Töpfchen Vaseline und ein bisschen Tee an den Zaun, wo ein ziemlich florierender Tauschhandel mit dem Nachbarlager getrieben wird, da die Ungarn etwas besser zu essen bekommen, und versucht, diese Dinge gegen etwas Essbares einzutauschen; vier gekochte Kartoffeln bringt ihr diese Aktion ein. Alles und jeder befinden sich in einem unbeschreiblich verdreckten und verlausten Zustand; in der Baracke liegt eine Frau im Sterben und verbreitet einen so fürchterlichen Gestank, dass sich E. bei der bloßen Erinnerung daran nach all 32
den Jahren immer noch der Magen umdreht. Farblos und grau gehen die Tage vorüber, schleppen sich die Menschen dahin, krank, verlaust, am Verhungern. Wenn E. sich nachts im Bett bewegt, läuft die stinkende Kacke wie Wasser unter ihr weg und beschmutzt die Bettunterlage - was begreiflicherweise Scheltkanonaden zur Folge hat. Eine sterbende Frau ruft die ganze Nacht lang ich habe alles falsch gemacht; als die Rufe am Morgen ausbleiben, ist sie tot. Aus der Ferne klingt unaufhörlich Geschützdonner herüber. Den ganzen Tag werden Stöße nackter Leichen in großen Wagen von einem achtköpfigen Trupp Gefangener auf der Hauptstraße zum Krematorium geschoben. „Was sind das bloß für Wagen?" fragt E.s Mutter, die nicht fassen kann, was sie sieht. „Sieh nicht hin", sagt E. In einem der Nachbarlager liegen die Leichen reihenweise neben den Baracken, mit den Köpfen zur Wand und den Beinen nach vorn. In dem Versuch, sich ein bisschen zusätzliche Wärme zu verschaffen, ziehen ihnen die Lebenden die Sachen vom Leib. Ab und zu werden die Toten von einem Räumungskommando mit einem Karren abgeholt. Der Krieg kann nicht mehr lange dauern, aber auch der Tod ist schon sehr nahe. Am achten April kommt der Befehl „Fertigmachen zum Transport!"; das Lager wird geräumt. Sie haben ernsthaft erwogen, zusammen da zu bleiben, sie können nicht mehr. Einfach in der Baracke im Bett liegen bleiben und sehen, was passiert. Sie haben es nicht getan, sie gehen mit, packen ihre paar Sachen in einen Kissenbezug, der neben einem braunen Leinenkoffer ihr ganzes Gepäck darstellt. 1
Die beiden Familien, die Pakete an E. und die Mutter abgeschickt haben, bekamen diese mit folgendem Vermerk zurück: Zur Zeit nicht zu bestellen. Annahme vom Adressaten verweigert. 33
Wieder unterwegs 9. - 23. April 1945 Am Morgen der Abreise hat E. hohes Fieber, sie bekommt den Flecktyphus. Zu Fuß gehen die Menschen zum Tor hinaus - zu Fuß waren sie auch zum Tor hineingegangen, nur für die Todkranken fahren ein paar Lastwagen hin und her, und E. und die Mutter erobern auf einem von ihnen ein Plätzchen. So verlassen sie das Lager, diesen Ort des Hungers und des Elends, der Krankheit und des Todes, der Erniedrigung und Qual; obwohl es hier keine Gaskammern gab und die Menschen in ihren Betten starben, kamen dennoch auf hundert Bewohner achtzig Tote. Bei ihrer Ausfahrt in der Frühe sitzt E., vom Fieber geschüttelt, in ihrem alten verschlissenen Trainingsanzug auf der Ladefläche. Dann beginnt eine Zugfahrt, die quer durch Deutschland führt, eine Reise, die vierzehn Tage dauern und mit der Befreiung enden wird. Zu Hunderten fahren bei Kriegsende Züge mit ausgemergelten Gefangenen durchs Land, und diese Massenverfrachtung hat noch zahlreiche Opfer gefordert. Wie viele hätten noch gerettet werden können, wenn man sie in jenen letzten vierzehn Tagen in Ruhe gelassen hätte. Auf dem kleinen Bahnhof in Bergen-Belsen stehen Gefangene in gestreiften KZ-Anzügen, es sind Häftlinge aus anderen Lagern, die sich auf dem Weg in das Lager befinden, das die Westerborker Juden gerade verlassen haben. Die Musikanten gehen voran, sie sind in der besten Verfassung, ganz hinten kommen die lebendigen Leichen angewankt, Arm in Arm in Fünferreihen, mit aschgrauen Köpfen und leeren Augen, in denen kein Funken Leben mehr ist. Hin und wieder fällt einer
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von ihnen am Wegesrand um, stöhnend, sterbend oder tot, und wird von einem schwarzen Stiefel beiseite gestoßen. Der Zug steht auf dem Bahnsteig bereit, und da E. und die Mutter mit dem Lastwagen gekommen sind, also ein wenig früher als die meisten anderen da sind, finden sie noch Platz in einem Personenwagen. Ihr Reiseproviant besteht aus einem Stück Brot auf unbestimmte Zeit. Auf dem Bahnhof gibt es einen Wasserhahn, und so versuchen alle, Blechdosen und Essensbehälter mit Wasser zu füllen. Auch E. hat es geschafft, ihre zwei emaillierten Essnäpfe, die sie auch regelmäßig als Nachttöpfe benutzen, voll Wasser laufen zu lassen, aber auf dem Rückweg zum Zug fällt sie hin, und das kostbare Wasser läuft in den Sand. Weinend und verzweifelt erreicht sie ihren Sitzplatz. Wasser ist lebensnotwendig. Sie ist todkrank, hat nicht einmal mehr Hunger, nur noch Durst. Die beiden Male, die man ihr während der vierzehntägigen Reise ein Fieberthermometer reicht, misst sie weit über 400. Das Sitzen erweist sich als weniger angenehm, als sie zu Anfang gedacht haben. Beine und Füße schwellen besorgniserregend an, so dass sie sich abwechselnd zwischen den Bänken oder im Gang auf den Fußboden legen. Ab und zu fährt der Zug eine kurze Strecke, aber meistens hält er, und dann steigt alles aus, was sich noch auf den Beinen halten kann. Ein paar alte Soldaten bewachen sie, passen jedoch überhaupt nicht mehr auf und sehen einfach zu, wie die Leute zu den Bauern der Umgebung laufen, um etwas Essbares aufzutreiben. Dazu ist E. nicht mehr imstande. Sie ist völlig verlaust und verdreckt, hat quälenden Durst, die Kopfschmerzen pressen ihr wie ein eiserner Ring den Schädel zusammen - so liegt sie in dem halbleeren Wagen. Ein paar Mal steigt sie aber doch aus, als der Zug in einem herrlichen Wald steht. Es ist ein wunderschönes Frühjahr, und die Natur ist eine Pracht. Es riecht so gut im Wald, durch den ein klares Bäch35
lein strömt, in dem sich gleich viele Leute waschen. Als ob dieser Frühlingswald Heilkräfte hätte, als ob die grünen Triebe ihre Lebensgeister auf die ausgehungerte und erschöpfte Schar übertragen hätten, so hängt gleich eine Vorahnung von Frieden und Freiheit in der Luft. Die Menschen fangen wieder an, sich freundlicher und menschlicher zueinander zu verhalten. Irgendjemand kocht aus Wasser und Kartoffelmehl einen Brei für E. Man kocht in leeren Blechdosen auf ein paar Steinen über einem kleinen Holzfeuer. Ein Streichholz ist ein kostbarer Besitz. Manche verstehen etwas von Kräutern und pflücken essbare Blättchen, die das Kochwasser lila färben. Wenn dann die Dampflok zur Weiterfahrt pfeift, die zwei Wachsoldaten „Einsteigen, Einsteigen" rufen, steigen alle wieder ein, denn wo sollen sie sonst hin? Die Mutter ist nicht mehr imstande, mit zu den Bauern auf Nahrungssuche zu gehen - ein paar Mal bringt sie E. lauwarmes Wasser aus der Lokomotive, aber einmal gelingt es auch ihr, bei einem Bauern in der Umgebung etwas aufzutreiben, und damit hat sie E. zweifellos das Leben gerettet: sie bringt eine Flasche Heidelbeersaft mit, die E. in einem Zuge austrinkt und die sofort den fürchterlichen Durchfall bremst, und außerdem ein bisschen Kunsthonig. So reisen sie durch Deutschland, von unaufhörlichem Kanonendonner begleitet. In der Ferne sehen sie die Silhouette des zerstörten Berlin. Bei einem plötzlichen Angriff auf den Zug steigen sie aus und suchen genau wie alle anderen Deckung in einem Graben. Dabei haben sie nur noch den einen Gedanken: bloß nicht jetzt, zuallerallerletzt noch, sterben. Sogar das Leinenköfferchen hat E. mitgenommen. Jeden Morgen werden die über Nacht Gestorbenen entlang des Zuges begraben, die meisten sind dem Flecktyphus zum Opfer gefallen. E. hört jetzt sehr schwer und fragt sich ängstlich, ob es nur eine vorübergehende Taubheit ist. 36
Am frühen Morgen des 23. April, gegen fünf Uhr, hört E., die gerade ein bisschen eingeschlummert ist, die Mutter sagen „Aufwachen, E., die Russen sind da!" „Lass mich in Ruhe, ich bin gerade eingeschlafen", antwortet sie brummig. „Nein, du musst aufwachen, das musst du einfach sehen, die Russen sind da!" E. richtet sich mühsam auf, schaut zu dem kleinen Fenster auf der gegenüberliegenden Seite hinaus und sieht, wie ein Soldat in einer unbekannten Uniform ihren beiden alten Wachsoldaten die Gewehre abnimmt, jedem eine Zigarette gibt und sie abführt. In dem Moment beginnt der große Auszug. Wer noch laufen kann, steigt aus, um sich irgendwo etwas zu essen zu suchen. Der Zug bleibt jetzt ja endgültig stehen. Auch E.s Mutter will ihr Glück versuchen und steigt aus. E. bleibt mit den anderen Kranken zurück und legt sich wieder auf die Bank. Sie schläft ein, erwacht wieder und geht - ein bisschen besorgt, weil die Mutter so lange wegbleibt - auf die Plattform, die die ganze Zeit als Klo gedient hat, um nach der Mutter Ausschau zu halten. Da wird sie Zeuge eines sonderbaren Schauspiels: entlang der Schienen sitzt eine große Menschenmasse und rupft Hühner, die Gleise sind mit einem riesigen weißen Federteppich bedeckt. Da kommt auch schon die Mutter. Weil der Zug auf freier Strecke steht und kein Bahnsteig da ist, sieht E. von erhöhter Position auf sie herab, und sogleich fällt ihr Blick auf die alten, verschlissenen Schuhe, die, mit den Schnürsenkeln aneinander gebunden, der Mutter um den Hals baumeln. Unwillkürlich sieht sie weiter an ihr herunter und entdeckt an Mutters Füßen ein Paar nagelneue, robuste Stiefel. Außerdem hat sie auch Brot von den Russen bekommen. Sie essen Brot mit Kunsthonig, und dann will die Mutter sie unbedingt mit ins Dorf schleppen: „Das musst du sehen, wie die Russen ins Dorf einmarschieren, das kriegst du nur einmal im Leben zu sehen!". Ihre ganze Energie und Vitalität scheint mit einem Schlage wieder da zu sein. Sie gehen los, laufen zwischen den Eisenbahnschwellen entlang, fallen der Länge nach hin und 37
weinen vor Schmerz und Erschöpfung. Aber sie stehen irgendwie wieder auf und setzen den Weg ins Dorf fort. Auf einer Wegkreuzung hält ein Motorradfahrer vor ihnen an, nimmt seine Pelzmütze ab, holt einen Leinensack voll Zucker aus ihr hervor, hebt die Hand zum Gruß und braust davon. Im Dorf bekommen sie wieder dieses steinharte russische Brot, das sie Knabberbrot nennen. In einem leeren Lebensmittelladen steht eine warme Kanne Kaffee. Sie gießen sich welchen ein, in einen Messbecher aus Aluminium, den sie mitnehmen (auch später nach Holland). Außer den Russen und den Gefangenen aus dem Zug ist niemand auf der Straße, die Bevölkerung ist entweder auf der Flucht oder bleibt in ihren Häusern. An einer Straßenecke brennt eine Villa - wohl die einzige im Dorf, und das überwältigende, goldene Flammenmeer kommt E., die noch gar nicht ganz zu sich gekommen, an diesem Morgen erstmals auf Essenssuche durch das deutsche Dorf läuft, fast wie eine Läuterung vor. Sie gehen noch einmal zum Zug zurück, um das Leinenköfferchen und den karierten Kissenbezug zu holen, und dabei wird ihnen mitgeteilt, dass sie sich alle bis zum Abend eine Unterkunft im Dorf suchen sollen. An den Gleisen ist noch immer ziemlich viel Betrieb - die weißen Federn müssen noch nach Monaten dagelegen haben. Der Dorfbevölkerung wird mitgeteilt, dass jeder verpflichtet ist, den ehemaligen Gefangenen Unterkunft zu gewähren. Zusammen mit drei anderen Frauen ziehen sie in ein Zimmer auf einem einfachen Bauernhof. In dem geräumigen Zimmer zu ebener Erde, an der Straßenseite, stehen zwei Betten, die groß genug für vier Personen sind, und E. legt sich davor, auf ihren alten braunen Wintermantel. Die Russen richten eine zentrale Stelle ein, an der man Stroh zum Matratzenfüllen holen kann. Sie geben sich alle Mühe, die Russen, aber viel Zeit haben sie nicht, der Krieg ist noch nicht aus, sie sind noch auf dem Vormarsch nach Berlin. 38
Am nächsten Tag geht E. noch einmal zum Zug zurück, weil sie nachsehen will, ob sie irgendwelche brauchbaren Dinge liegengelassen haben. Den Flecktyphus, der vierzehn Tage dauert und mit hohem Fieber einhergeht, hat sie überstanden; Gelegenheit und Zeit, um sich zu erholen, hat sie nicht, aber das Fieber ist vorbei, es gibt Trink- und Waschwasser, auch wenn die Seife noch fehlt, und es gibt zu essen, auch wenn sie sich das selbst besorgen müssen. Jetzt ist alles ruhig am Zug, die Leute sind weg. E. sucht ihren früheren Platz auf und sieht voller Verwunderung die fahle braungraue Strickjacke der Mutter auf der Bank liegen und Wellen schlagen. Das sind die Läuse, die sich, plötzlich ihrer Nahrungsquelle beraubt, wild in der Jacke bewegen. Sie lässt es liegen, dieses Geschenk von Frau Dr. Wijnberg aus Westerbork, aber die Erinnerung an die Wellen schlagende Jacke ist in ihr lebendig geblieben. Danach ist E. nicht mehr zurück zum Zug gegangen; die Russen haben ihn später wegtransportiert.
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Ein Dorfaufenthalt Sieben Wochen bleiben sie in Tröbitz, in der Schildaer Straße bei Frau Schirm. In ihrem Zimmer steht ein großer Spiegel, in dem E. sich zum ersten Mal seit zwei Jahren erblickt: ein schockierendes Spiegelbild, diese hervorstehenden Rippenknochen. Die Diarrhöe wird eher schlimmer statt besser. Sobald sie etwas gegessen hat, kommt alles wieder heraus, und der Weg zur Toilette auf dem Hof ist so manches Mal zu weit. In den ersten paar Tagen versuchen die Mutter und sie, bei den Bauern etwas zum Essen oder zum Anziehen aufzutreiben. In ihrer Straße befindet sich ein Schuhladen, dessen Besitzer geflohen ist. Unter den vielen leeren Kartons entdecken sie beide ein paar neue Schuhe, die ihnen gut passen. Als E. ein paar Tage später zum Schuhmacher geht, der inzwischen mit seiner Familie wieder zurückgekehrt ist, um einen Nagel aus ihrem Schuh entfernen zu lassen - was der Mann übrigens auch macht, nachdem er erst einem russischen Soldaten die Stiefel repariert hat, - entwickelt sich zwischen ihr und ihm folgender Dialog: Wissen Sie, dass Sie nicht in den Himmel kommen? Wieso nicht? Weil Sie diese Schuhe gestohlen haben! Ihr habt uns viel mehr als ein paar Schuhe gestohlen, alles habt ihr uns weggenommen. Aus Not habe ich mir etwas wieder genommen. So ähnlich hat sie geantwortet. Er wird wohl nicht verstanden haben, was sie meinte, denn die Deutschen haben ja damals „noch nichts gewusst". Auf einer ihrer Suchtouren nach Essen schenkt ihnen ein Russe - vermutlich haben sie derart Mitleid erregend ausgesehen zwei riesige Schinken, die sie in ihrem Zimmer an die Decke hängen. Jeden Morgen schneidet E. ein paar Scheiben davon ab, als Frühstück, bis der Schinken zuletzt von Maden wim40
melt. Da haben sie den Rest weggeworfen! Von einem Bauern bekommen sie neunzehn Eier, ein unvorstellbarer Reichtum, aber die Mutter, die kaum noch kann, stolpert, kurz bevor sie die Schildaer Straße erreicht haben. Sie haben nur zwei Eier zerbrochen, aber viele Tränen vergossen. Von einem freundlichen Bauern bekommen sie frischen Rhabarber, und eine Bäuerin sagt, sie sollen in einer Stunde wiederkommen, dann bekämen sie eine Mahlzeit. Wirklich steht, als sie eine Stunde später wieder vorbeikommen, inmitten des hübschen niedersächsischen Bauernhofes ein für zwei Personen gedeckter Tisch: sie bekommen Pellkartoffeln mit Quark serviert - ein göttliches Mahl. E. hat einen Bauern gefunden, bei dem sie jeden Morgen beim Melken ein Eimerchen unter die Kuh halten darf. Eimerweise hat sie die Milch getrunken, auch, wenn sie sauer geworden war, was bei den vielen Gewittern damals oft passierte. Nach zwei Tagen stirbt Herr Schirm, in dessen Haus sie einquartiert sind, am Flecktyphus. Er hatte wacker geholfen, die Kranken in ein von den Russen eilends eingerichtetes Nothospital zu transportieren. Jetzt hat es ihn wie einen Baum gefällt, während die fünf bei ihm untergebrachten Frauen aus dem Lager alle die Krankheit überleben. Seine Frau und seine Tochter, die, ganz in Schwarz, in der Wohnküche sitzen und weinen, werden von sämtlichen vorübergehenden Bewohnern des Hauses völlig negiert. Man denkt gar nicht daran, ihnen Beileid zu bezeugen, warum auch, schließlich hat man ja selbst so viele teure Angehörige verloren. (Außer E. und den vier anderen Frauen aus Holland wohnt hier im oberen Stockwerk noch eine albanische Familie in einem Nebenzimmer und eine Mutter mit ihrem Sohn - die beiden sind deutsche Emigranten, die ihnen im Zug gegenüber gesessen haben.) Frau Schirm geht mit ihnen eisig, aber korrekt um. Sie nehmen sich alles, was sie brauchen, aus einem kleinen Kämmerchen, das von ihrem Zimmer aus zu betreten 41
ist; Frau Schirm ist ihnen nicht behilflich und borgt auch nichts. Ihre Tochter, eine Kriegerwitwe, die mit ihrem kleinen Sohn aus ihrem Wohnort zu ihrer Mutter geflüchtet ist, ist den Nazis treu ergeben - der Sohn, ein Dreikäsehoch von etwa acht Jahren, beschimpft die zerlumpten Lagerhäftlinge als schmutzige Saujuden. Nach dem Aufbruch der Juden wird so einiges aus ihrer Aussteuer, die ordentlich in jenem Kämmerchen aufgestapelt liegt, fehlen! E.s Mutter stellt trocken fest: dieses Dorf hat jetzt zum ersten Mal mit Juden zu tun gehabt und wird wohl nun erst richtig antisemitisch werden. (Diese Bemerkung bezog sich auch auf Bekannte, die in alle Kochtöpfe Löcher gebohrt hatten, bevor sie Tröbitz verließen, - ein Verhalten, das E.s Mutter ohne weiteres verurteilt, denn es liegt weit unter ihrem moralischen Niveau.) Als sie etwa vier Tage in Tröbitz sind, werden alle anderen krank, und nun ist es E.s Aufgabe, für sie zu sorgen: frühmorgens in der Küche auf der anderen Seite des Hofs ein Holzfeuer zu machen, die Kranken zu waschen und Essen zu organisieren. Sie unternimmt zusammen mit Frau Z. viele Touren in die Umgebung, um Essen aufzutreiben. Auf der russischen Kommandantur in der Drasdoer Dorfschule essen sie mehrere Teller gelber Erbssuppe, wonach E. sich sofort hinter einen dicken Baum auf dem Schulplatz hocken muß; einmal bekommen sie auf einem Bauernhof Eierkuchen zu essen, auf einem anderen jagt man sie mit den Worten Bettler seid ihr! davon. Indessen versuchen die Russen, die Läuseplage und die Typhusepidemie zu bekämpfen, aber das beschränkt sich aufs Kahlscheren und aufs Reinigen der Sachen. Es ist noch Krieg, endlose Armeekolonnen ziehen gen Berlin. Als die Sachen vom Reinigen zurückkommen, erlebt E. eine traurige Überraschung: vor dem Haus liegt ein Häuflein eingelaufener Kleidungsstücke, mit denen sie nichts mehr anfangen kann. Freunde, die einen verlassenen Bauernhof bezogen ha42
ben, dessen Bewohner auf der Flucht vor den Russen sind, geben ihr einen grün karierten wollenen Hosenrock und eine Bluse. Besser gelungen ist den Russen die Einführung von Bezugsscheinen, auf die man Lebensmittel bekommen kann. Ansonsten verbringt E. die Zeit mit der Beschaffung von Essbarem: Kartoffeln, Milch, Brot und manchmal Gemüse. Sie versorgt die vier Patienten, wäscht und macht das Essen. Ihre Beine sind so angeschwollen, dass der jüdische Arzt, der ab und zu vorbeikommt, ihr dringend empfiehlt, die Beine hochzulegen, aber dazu hat sie, jedenfalls tagsüber, gar keine Zeit. Eines Tages kommen auch zwei russische Ärzte zu ihnen, das schließen sie wenigstens aus dem Stethoskop, das die beiden ein langer blonder Mann und eine kleine Frau mit dunklem Borstenhaar - bei sich tragen, um die Kranken zu untersuchen. E.s Mutter versucht sie auf Französisch, Deutsch oder Englisch anzusprechen, erzielt aber keine Reaktion. Die beiden unterhalten sich kurz, heben die Hand zum Gruß, und weg sind sie. E. hat im Kämmerchen ein Fahrrad gefunden, das ihr gute Dienste bei den Hamstertouren leistet, obwohl das Radfahren noch mehr anstrengt als das Laufen. Einmal kommt sie mit dem Hosenbein ihrer alten, dreckigen Trainingshose in die Fahrradkette und zerrt wie besessen, um den Stoff, der natürlich zerreißt, frei zu bekommen. Jeden Abend fällt sie erschöpft auf ihren Strohsack. Und dennoch hat der Aufenthalt in der freien Natur ihr wieder ein bisschen Lebenskraft gegeben. Es ist ein herrliches Frühjahr, die Landschaft ist hüglig und waldreich. Ganz in der Nähe ihrer Unterkunft, am Ende der Straße, fangen die Felder an, und manchmal legt E. sich bei der Rückkehr von einer Tour erst einmal im Wald hin und schläft, um sich beim Erwachen erstaunt zu fragen, wo sie ist.
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Den Kranken geht es allmählich besser, die Taubheit, die zum Flecktyphus gehört, verschwindet, und eine nach der anderen kann plötzlich wieder die Kirchturmuhr schlagen hören. Am achten Mai sind die Motorhauben aller russischen Armeefahrzeuge mit grünen Zweigen geschmückt: der Krieg ist zu Ende. In Tröbitz wird nicht gefeiert. Sie hatten sich das Kriegsende anders vorgestellt. Eine Gruppe ehemaliger Gefangener - in der es immer noch jeden Tag Todesfälle gibt - ist in einem kleinen Dorf im Osten Deutschlands von Gott und der Welt verlassen: wie soll man hier je wegkommen, wie soll man je wieder nach Hause kommen?
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Rückkehr in ein leeres Zuhause Eines Morgens - es muss um den 20. Mai herum gewesen sein - läuft E. die Dorfstraße entlang und sieht vor dem Cafe Starke, in dem sich die russische Kommandantur befindet, ein kleines, uniformgrünes Auto mit einem weißen Stern stehen, dessen Marke ihr unbekannt ist. Es ist von einem Menschenauflauf umringt, jemand unterhält sich mit dem Fahrer. E. hört, dass Englisch gesprochen wird, muss aber zu ihrer Wut und Enttäuschung feststellen, dass sie kein Wort verstehen kann. Am Nachmittag verkündet der Dorfbote, dass alle um vier Uhr ins Cafe Starke kommen sollen, wegen einer wichtigen Bekanntmachung: Die Russen werden - drei Wochen nach dem letzten Auftreten des Flecktyphus - die ganze Gruppe ehemaliger Gefangener den Amerikanern übergeben. Sie sind also endlich entdeckt worden, und zwar von einem in Leipzig stationierten niederländischen Offizier, der von der in Tröbitz gestrandeten Gruppe gehört und diese Information an die Amerikaner weitergegeben hatte, die nun gekommen waren, um sie zu überprüfen. Mitte Juni kommen die Amerikaner wieder und holen sie mit großen Armeelastwagen ab. E. geht zu Fuß zum Marktplatz. Von Frau Schirm verabschieden sie sich nicht. E.s Mutter, die zwar den Flecktyphus überstanden hat, aber nicht mehr laufen kann, wird von einer französischen Rot-Kreuz-Mannschaft mit einer Trage abgeholt. Den Krankentransport per Flugzeug, von Halle aus, lehnt sie aber ab, da sie beide zusammen zurückkehren und nicht noch im letzten Moment getrennt werden wollen. Ein paar starke Kerle heben die Mutter auf den Lastwagen, und so verlassen sie das Dorf, nach einem ziemlich unwirklichen Aufenthalt von reichlich sieben Wochen, der E. aber doch schon auf den Weg der Gesundung geführt hat.
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Unterwegs treffen sie überall auf Flüchtlinge, die mit Karren, Kinderwagen und Rucksäcken in Scharen herumziehen, sowie auf zerstörte Städte und Dörfer, aber der Schaden ruft bei ihnen mehr Schadenfreude als Mitleid hervor, - sie haben das Gefühl, dass hier die ausgleichende Gerechtigkeit am Werk ist. Sie überschreiten die Demarkationslinie bei Torgau, an der Stelle, wo die Russen auf die Amerikaner gestoßen waren und wo man überlebensgroße Bilder der drei obersten Kriegsherren Churchill, Roosevelt und Stalin aufgestellt hat. Bei einem kurzen Aufenthalt in einer alten Kaserne in Leipzig, das damals noch in den Händen der Amerikaner war, werden sie mit Wolken von DDT entlaust und anschließend beköstigt - E. bekommt von einem amerikanischen Soldaten ihre erste Schachtel Camel - und zwei Tage später an den Zug gebracht. E.s Mutter, die nun völlig gelähmt ist, wird immer auf einer Trage transportiert. Ein dicker Negerchauffeur fährt sie durch die zerstörte Stadt zum Bahnhof, auf dem sie von einem mit roten Kreuzen versehenen Sanitätszug erwartet werden. Der Zug ist tatsächlich ein fahrendes Krankenhaus; am Fenster stehen Doppelstockbetten, und in der Mitte ist ein breiter Gang. Ein Soldat will E. behilflich sein und ihr den kleinen Leinenkoffer in den Zug heben, aber E. lässt ihn nicht los. Vier Tage und vier Nächte dauert die Reise quer durch Deutschland; abwechselnd ziehen herrliche Landschaften und kaputte Orte und Brücken an ihr vorüber. E. liegt im oberen Bett und sieht den ganzen Tag aus dem Fenster. Jetzt wird sie endlich auch selbst versorgt. Wenn sie in der Nacht aufwacht und sich neu zudecken will, kommt ein freundlicher Soldat gerannt und wickelt sie in die Decke. Morgens bekommt man eine Schüssel warmes Wasser zum Waschen und dann ein fürstliches Frühstück, bestehend aus Haferbrei und Weißbrot. Oftmals hält der Zug lange. Die Rheinbrücke bei Köln hängt in zwei Stücken über den Fluss, das Ruhrgebiet ist dem Erdboden gleichgemacht. 46
Am letzten Morgen kommen Rot-Kreuz-Soldaten an die Betten und verteilen Konservendosen aus einem großen Korb, als Abschiedsgeschenk. Brüssel ist ihre Endstation, dort biwakieren sie zwei Nächte in einer Schule, bevor sie wieder mit Armeelastwagen nach Maastricht gebracht werden. „Hast du die Schwelle bemerkt?" sagt Jaap G. zu ihr, als sie die Grenze passieren. In Maastricht zerfällt auch das noch, was von ihrer Gruppe übrig geblieben war. E. und die Mutter kommen in ein irisches Nothospital, das die Lady of Antrim, eine irische Gräfin, in einer Grundschule im Kapuzinergang hat einrichten lassen. Während der sieben Wochen, die sie dort verbringen, kommt E. wieder ganz hübsch zu Kräften, nur den hartnäckigen Durchfall wird sie nicht los; mit der Mutter wissen sich die Ärzte keinen Rat, sie kann nicht mehr laufen und hat ein Ekzem an den Füßen bekommen. Die Versorgung ist bestens die Schwestern, von denen E. ihre ersten Worte Englisch lernt, sind lieb, das Essen, das sie in solch unglaublichen Mengen vertilgen, dass die Schwestern ganz verwundert fragen, ob sie immer soviel essen, ist ausgezeichnet. Sie haben ein richtiges Waschbecken, warmes Wasser, Seife und saubere Handtücher, so dass die Morgenwäsche jedes Mal ein Vergnügen ist. Aus Amerika kommen Sachen (getragene), ein freundlicher Pater bringt ihnen Bücher mit. Dann steht eines Tages Tante T. vor ihrer Nase, die per Autostop aus Den Haag gekommen ist. Was muss bloß in dem Augenblick in ihr vorgegangen sein, da sie sie beide in ihren Betten liegen sah - nicht wieder zu erkennen, kahl geschoren, klapperdürr immer noch, obwohl sie das Schlimmste schon hinter sich haben? Sie bringt E. mit einer Maastrichter Familie in Kontakt, die sehr zur Aufheiterung ihres Krankenhausaufenthaltes beigetragen hat. Während der ganzen Zeit ist sie fast täglich in dieser großen Familie zu Gast. Und wenn sie nachmittags zum Krankenhaus in der Innenstadt zurückläuft, stellt sie sich jedes Mal beim Betreten der Maasbrücke vor, dass ihr von der anderen Seite der Brücke her die Schwester entgegenkommen wird ... 47
Die allerletzte Etappe des Heimwegs nach Den Haag legen sie in einem Krankenwagen des Roten Kreuzes zurück. Als sie zu sechst frühmorgens den Kapuzinergang verlassen, winken ihnen die irischen Schwestern nach. Ein Patient muss ins Krankenhaus von Gouda gebracht werden. Er stöhnt ununterbrochen - auf dem Rückweg von Deutschland nach Hause hat er bei einem Unglück beide Beine verloren. Drei andere müssen nach Amsterdam. Auf dem Weg von Amsterdam nach Den Haag gerät der Fahrer - vielleicht ist er übermüdet? - auf die verkehrte Straßenseite, da aber kaum Verkehr ist, passiert nichts. Am frühen Abend kommen sie in der Frederikstraat in Den Haag an, bei ihrer ersten, vorläufigen Adresse. In der Aufregung vergisst E. das Leinenköfferchen, das sie nie aus den Händen gegeben hatte, aber ihr Gastgeber holt es noch am selben Abend für sie ab. Im September sitzt E. wieder in einem Klassenzimmer, in der Va. Es gefällt ihr nicht. Sie fühlt sich, vor allem während des ersten Jahres, unter Gleichaltrigen nicht wohl, denn die kommen ihr kindisch vor, und mit ihren Erlebnissen können sie überhaupt nichts anfangen. Diese zwei Jahre bis zum Abitur haben bestimmt nicht zu E.s besten Jahren gehört. Sie müssen lernen, sich mit der endgültigen Bilanz abzufinden: die anderen, der Vater, Jules, Fanny, sind tot, ermordet in einer Weise, dass man es einfach verdrängen muss, obwohl es einen natürlich doch nicht loslässt. E.s Mutter muss mit einem Körper leben, der nicht mehr kann: aber trotz alledem, trotz allem, was geschehen ist, trotz ihrer gelegentlichen Unausgeglichenheit, trotz ihrem unvorstellbaren Leid, ist sie in der ganzen, ihr noch verbleibenden Zeit im Geiste ungebrochen, frei von Hass und Verbitterung. Sie ist immer in Schwarz; den Konzertsaal, das Theater oder das Kino hat sie nie wieder betreten. In den ersten Nachkriegsjahren haben E. und die Mutter es nicht immer leicht gehabt miteinander, aber das hat ange48
sichts jener Jahre, die sie miteinander erlebt, die sie zusammen durchlebt hatten, nicht gezählt. Den Haag, im Oktober 1982
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Abschied
Erde, du liebe, ich will... Immer warst du im Recht, und dein heiliger Einfall ist der vertrauliche Tod Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, 9. Elegie
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So weiß wie das Bettlaken, wie die Wände des hohen und hohlen Zimmers, hast du dagelegen, durchsichtig, dünn, kaum noch Materie, nur noch Geist. Ungetrübten Geistes bis zum Schluss, bis dich kurz vor deinem Tode ein unruhiger Schlaf umfing. Das passte zu dir: ein perfekt funktionierender Kopf, obwohl der Körper schon besiegt was. Verläuft denn wirklich eine Scheidelinie zwischen Körper und Geist? In den letzten Tagen hast du mit mir gesprochen. Was denkst du, wie lange dauert es noch? Ich habe ehrlich geantwortet, dass ich es nicht wüsste, das weiß kein Mensch genau. Aber uns war beiden klar, dass die Frist nicht mehr lang war. Das war dir recht, du hattest ja so furchtbar viel gelitten und verloren. Diesen einen letzten Gang der beiden Kinder und des Mannes in die Gaskammer - du hattest ihn wohl hundertmal gemacht mit ihnen. Das jüngste Kind, das dir geblieben war, hast du glücklich gewusst, als Mutter einer neuen Familie, in einer Welt, die wieder Sicherheit versprach. Es fällt mir überhaupt nicht schwer zu sterben, hast du noch zu mir gesagt, die anderen sind auch tot, und du bist nicht allein. Dann bist du wieder in unruhigen Schlaf versunken. Stundenlang habe ich an deinem Bett gesessen. Manchmal, wenn du aufgewacht bist, habe ich dir vorgelesen, bis du wieder einschliefst. Die monotonen Laute hatten eine beruhigende Wirkung, denn öfters bist du wach geworden, wenn ich mit Lesen aufhörte. Das Blut, dieser unentbehrliche Saft des Lebens, schwand Tropfen um Tropfen aus deinen Adern, und das verlieh dir ein ganz ätherisches Aussehen, du wirktest so zart, als wärst du nicht mehr ganz von dieser Welt. Wochenlang hatte man das Blut ersetzt, hatten die immer neuen dunkelroten Glaskolben für kurze Zeit wieder Farbe in dein Gesicht gebracht. Bis schließlich die Hohlnadel auf deinem wunden Arm keinen Einstichpunkt mehr finden konnte und die Transfusion, erst so hilfreich, zur Folter geworden war. Ich hatte schon den 51
Arzt gefragt: Ist es nicht Zeit, das Ringen aufzugeben, sie ruhig sterben zu lassen? Der Tod kann sie nicht schrecken. Dann, eines morgens hat er an deinem Bett gestanden: heute sollen Sie Ruhe haben, nur Ruhe, keine Bluttransfusion, schlafen Sie ruhig. Das waren die letzten Worte, die er zu dir gesprochen hat, danach ist er nicht mehr gekommen. Am Tag darauf hast du dann noch nach ihm gefragt, warum er nicht mehr käme. Du hattest nicht verstanden, dass er nicht stören wollte, nicht Abschied zu nehmen wagte, wo der Tod dir doch so vertraut war. Ich saß an deinem Bett und las, während du schliefst, und wenn du hin und wieder die Augen aufschlugst, sahst du mich sitzen und warst zufrieden. Denn ich, ich war ja die einzige der Deinigen, die dir geblieben war, das hatte mir eine große Verantwortung auferlegt. Der Gedanke, dass mir unter gar keinen Umständen etwas passieren dürfe, denn sonst wäre dir überhaupt niemand geblieben, hatte all die Jahre schwer auf mir gelastet. Das konnte und durfte ich dir einfach nicht antun. Ab und zu kam eine Schwester herein, fühlte dir den Puls, gab dir den Schieber oder einen Schluck Wasser, strich dir freundlich mit der Hand über die feuchte weiße Stirn, sagte ein paar orte' und ging wieder hinaus. In deinem unruhigen Schlaf - gabst du leise Klagetöne von dir, und ich fragte mich, ob du den ganzen Weg, den du gegangen warst, noch einmal zurücklegen musstest. Du bist als einziges Kind in einem vornehmen Elternhaus an einer Amsterdamer Gracht aufgewachsen: du hattest ein französisches Kindermädchen ganz für dich allein und eine alte Dienerin, die dir alles hinterher räumte. Und als die Grundschule aufhörte, sagtest du - zum Erstaunen aller - plötzlich, ich will aufs Gymnasium. Wie kam das Kind denn darauf, ein Gymnasium, das schickte sich doch eigentlich nicht für Mädchen? 52
Dein Vater, ein Notar, starb, als du fünfzehn warst, und ihr seid aus dem großen Haus in eine neue Wohnung in der Nähe des Concertgebouws gezogen, dieses Gebäudes, das eine wichtige Rolle in deinem Leben spielen sollte. Du machtest das Abitur, und es war nur logisch, dass du auch anfingst zu studieren. Du hattest einen klaren, schnell zupackenden Verstand, und mit diesem analytischen Geist vertrug sich das Jurastudium gut. Immer bist du eine merkwürdige Mischung aus verwöhntem Kind auf der einen und diszipliniertem Verstand auf der anderen Seite gewesen, wobei letzteren noch die Erziehung einer sehr prinzipienfesten Mutter geformt hatte. Ein Kind, das, aufgewachsen unter lauter Erwachsenen, ein wenig einsam und recht eigensinnig dazu geworden war. Du bist dann auch selbst eine strenge Frau geworden, du verlangtest viel, vor allem von dir selbst, du wolltest immer deinen eigenen hohen Ehrlichkeits- und Rechtsnormen genügen. Du hattest Angst, du könntest deine Kinder zu sehr verwöhnen - diese Furcht hattest du von deiner Mutter geerbt, hast dich aber immerzu mit großer Selbstaufopferung und viel Liebe um sie gekümmert. Du hast gern organisiert, das konntest du gut, und so hast du, zuweilen etwas herrisch, jedermanns alltägliche Abläufe geregelt. In den Vorkriegsjahren ging es dir recht gut, aber damals hattest du immer Schuldgefühle, weil du ein Leben in Wohlstand führen durftest, während du um dich herum viel Not und Elend sahst. So hast du dich mit großer Energie um deine weniger begüterten Mitmenschen gekümmert: Wohltätigkeit nannte man das damals. Die Kriegsjahre, die einem Teil deiner früheren Schützlinge einen gewissen Wohlstand verschafften, haben dich nicht verschont. Ganz im Gegenteil, jetzt warst du ganz unten. Und die Schicksalsschläge, die dich trafen, waren sehr viel härter als 53
das, was die schlechten ökonomischen Verhältnisse jenen angetan hatten. Du bist als Invalide mit mir aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt, ohne je wieder ganz zum Leben zurückzufinden. Du hast dir kaum noch irgendwelche Vergnügungen gegönnt. Die schwarzen Trauerkleider hast du nie mehr abgelegt, du trugst sie zum Zeichen deines unauslöschlichen Kummers und deiner Treue zur Vergangenheit. Die Zeit, von der es heißt, sie heile alle Wunden, war zu kurz, um deine zu genesen, die wohl auch viel zu tief waren. Da war zu vieles amputiert. Doch bist du nie verbittert, hasserfüllt geworden. Ständig waren Freunde um dich, und manchmal hattest du auch Spaß, vor allem mit den Enkeln. Das war ein Höhepunkt, die neue Generation: neues Leben am beschnittenen Baum. Und diesen Enkeln werde ich einmal - wenn sie dann groß geworden sind - erzählen müssen, was für Gewalt einst über uns gekommen ist. Ich werd' versuchen, ihnen zu erklären, warum so viel gelitten worden ist, in wessen Namen. Und weiß schon jetzt, es wird mir doch nicht ganz gelingen. Was hat uns denn das Judentum bedeutet? Was dir, die du es erst verlassen wolltest und es dann doch nicht tatst, weil du zu sehr damit verbunden warst; was mir, die ich zur alten Tradition zurück nicht konnte und nicht wollte - ich war ja nicht in ihr erzogen - und sie doch lieben lernte, so dass das Jüdische dann doch in meinem Leben seinen festen Platz erhielt. Zwei Tage habe ich an deinem Bett gesessen, in der Nacht schlief ich in dem leeren, für einen zweiten Patienten bestimmten Bett neben dir. Die Schwestern brachten mir Kaffee und Suppe, und ab und zu ging ich auf den Gang oder auf den Balkon hinaus. Gegen Abend jammertest und klagtest du immer weniger, lagst länger still. Ganz allmählich hast du das Bewusstsein verloren.
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Ich entschloss mich zu gehen. Du reagiertest nicht mehr auf meine Anwesenheit, und ich hatte das Gefühl, ich könnte nun zu deiner inneren Ruhe nichts mehr beitragen. Du hattest die Welt schon verlassen, nur noch dein Leib war hier. Wir sind in jener Nacht im kalten Herbstwind durch die Straßen gelaufen, das Wetter harmonierte gut mit meiner Stimmung. Frühmorgens weckte mich das Telefon. Ein Taxi brachte mich ins Krankenhaus. Du warst für immer von der Last, die auf deinen schmalen Schultern gelegen hatte, befreit. Es ist besser, den Verlust kennen gelernt als nie geliebt zu haben, hast du einmal gesagt, und du konntest ja nun wirklich mitreden.
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Ein Versprechen
Brief an A.
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Den Haag, den 28. Januar 1982 Lieber Anton, als du letztens nach Hause kamst, um die Wäsche zu bringen, und mich zwischen Tür und Angel fragtest, wie ich über den Antisemitismus dächte, geradeso, als würdest du fragen, wie mir dein neuer Pullover gefiele, habe ich mich zunächst einmal um die Antwort gedrückt. Denn ich habe für dieses Problem noch keine Lösung parat. Natürlich habe ich schon viel darüber nachgedacht, gelesen und geredet. Jetzt habe ich mich entschlossen, meine Gedanken zu Papier zu bringen und dir mit einem Brief zu antworten. Ich habe deine Frage in zwei Teile zerlegt, denn mir scheint, unser Gespräch hat sich um zwei Aspekte gedreht: welchen Sinn, welche Bedeutung hat die Zugehörigkeit zum Judentum für mich persönlich; und muss ich mich als Jude (was immer das auch bei jemandem, der nicht dem jüdischen Glauben anhängt, noch sein möge) besser, ehrlicher, unauffälliger als die anderen verhalten, damit niemand im negativen Sinne des Wortes sagen kann „ein typischer Jude". Dieser letzte Gedanke hat mich sehr erstaunt, er kommt mir sehr bekannt vor. Deine Großmutter hat genau das gleiche behauptet, und ich habe ihr immer heftig widersprochen. Die erste Frage ist meines Erachtens sehr viel wichtiger, und ich werde versuchen, darauf zu antworten, aber dazu muss ich auf die Vorgeschichte eingehen. Auf den zweiten Punkt werde ich zum Schluss noch einmal kurz zurückkommen. Wir waren eine jüdische Familie, und wenn ich sage, dass das in meiner Jugend überhaupt keine Rolle gespielt hat - was ich 57
früher wirklich angenommen habe, so ist das nicht ganz richtig. Von Kindesbeinen an habe ich gehört, dass mein Großvater ein jüdischer Notar und meine Großmutter die Vorsteherin eines jüdischen Waisenhauses in Amsterdam gewesen ist (ich habe die beiden nicht mehr kennen gelernt). Als Großvater starb, sind ein paar Jungen aus dem Waisenhaus gekommen und haben ihm Kaddish gesagt, weil er selbst keinen Sohn hatte, der das für ihn hätte tun können. Diese Geschichte erzählte meine Mutter. Außerdem erzählte sie später, dass sie sich als Kind in der Schule immer ein bisschen geschämt hat, weil sie jüdisch war, und aus diesem Gefühl heraus hat sie wohl auch später das Wachslicht, das sie immer am Sterbetag des Großvaters anzündete, nicht unten ins Wohnzimmer, sondern oben ins Schlafzimmer gestellt. Ich erinnere mich auch noch gut daran, dass uns die Mutter einer Freundin fragte, ob wir uns überhaupt den Weihnachtsbaum - der übrigens später auch bei uns zu Hause stand - ansehen kommen dürften. Meine Eltern hatten noch in der Synagoge geheiratet, und mein Bruder war beschnitten, obgleich das auch schon das letzte Mal gewesen sein dürfte, dass bei uns der Rabbiner ins Haus kam. Aus Deutschland kam jüdische Verwandtschaft und ließ ihren Sohn Wilhelm bei uns (im Jahre 1934), weil es jüdische Kinder in Deutschland damals schon in der Schule sehr schwer hatten. Für uns liberal erzogene Kinder war die Zugehörigkeit zum Judentum nichts Greifbares, und als etwas Bedrohliches empfanden wir sie erst ab 1938, als die deutsche Verwandtschaft zum zweiten Mal, und nun endgültig, nach Holland kam und wir uns ihre Berichte anhörten. Meine Mutter, die in dieser Hinsicht viel aktiver als mein Vater war, dem der Abschied vom Judentum wohl doch nicht leicht gefallen ist, suchte nach einer neuen religiösen Heimat. „Wir leben nun einmal in einer christlichen Umwelt und soll58
ten uns anpassen." Assimilation hieß das Zauberwort, mit dem man die jüdische Herkunft, der man ja längst entfremdet war, loswerden könnte. Das war kein Opportunismus - wie ja wohl später deutlich geworden ist, es war der Versuch, sich vom Stigma des Jüdischen zu befreien. Sartre1 hat Recht, wenn er sagt, dass es die anderen sind, die es einem anheften. Denn auch wenn man es loswerden will, bleibt man für seine Umgebung ein Jude, sie akzeptiert die Loslösung nicht. Mich persönlich stört das viel weniger als es meine Mutter gestört hat. Sie hat dann eine neue Heimat im freisinnigen Protestantismus gefunden. Dann kam der Krieg, und es geschah etwas ganz Irrationales. Der jüdischen Gemeinschaft, von der sie sich abgewandt hatte - wobei sie sich sogar mit Freunden entzweit hatte - dieser Gruppe fühlte sie sich jetzt solidarisch verbunden: wir gehören dazu. Später haben wir oft darüber gesprochen: warum verkündet man erst, wenn alles nur Theorie ist, dass man nicht mehr dazugehört, und schließt sich dann, wenn es buchstäblich um Leben oder Tod geht, der verfolgten Gruppe wieder an, fühlt sich doch zugehörig. Wir haben dieses Rätsel niemals lösen können. Das Leben nahm seinen Lauf, und du weißt, was geschah. Mein Vater kam in Auschwitz um, Fanny und Jules in Sobibor. Mutter und ich landeten in Bergen-Belsen, bis man uns kurz vor Kriegsende noch wegbrachte, so dass uns die Befreiung im Osten Deutschlands überfiel. Und bei Befreiung solltest du vor allem nicht an solche Szenen denken, wie man sie hier im Fernsehen zu sehen bekommt, an jubelnde und winkende Menschenmengen. Die ersten Nachkriegsjahre waren für mich trist und schwer, für meine Mutter kaum erträglich. 59
Zurück zum Ausgangspunkt. Die erste Frage beantwortet sich eigentlich selbst. Dass ich Jüdin bin, ist mein Leben, mein Los, vor allem während jener schrecklichen und traurigen Phase gewesen, die sich so überbelichtet in den Vordergrund drängt. Der von mir - wie du weißt - so bewunderte Abel Herzberg hat kurz nach dem Krieg das Büchlein „Amor Fati" geschrieben, die Liebe zum Los. Ich denke, manche Menschen lernen ihr Los lieben, weil es zu ihnen gehört. Das Leben und das Los gehen ineinander über. Ohne mein Judentum ist mein Leben für mich nicht mehr denkbar, und darum liebe ich es auch. Und noch etwas kommt hinzu: die vielen Millionen Toten, unter denen auch ich gewesen wäre, wenn nicht der Zufall oder das Los anders entschieden hätten. Nach allem, was passiert ist, kann ich doch gar nicht mehr sagen: ich bin nicht jüdisch, das Judentum bedeutet mir nichts. Das wäre, als wollte ich sagen: eigentlich habe ich nicht ins KZ gehört. Natürlich nicht, niemand hat da hingehört! All das Unrecht, dass man uns allen zusammen angetan hat, hat mich dazu gebracht, auf die Suche nach meinem Ursprung zu gehen. Und dabei habe ich entdeckt, dass man sich dem kollektiven Los, der Solidarität im Leiden nicht entziehen kann und darf. Wenn ich jetzt noch behaupten würde, dass mir das Judentum nichts bedeute, dann käme das einer Distanzierung von meinem Leben gleich, dann wäre ich erst richtig „identitätslos" geworden: ohne seine Vergangenheit kann niemand wirklich existieren. Mit Religion oder mit Mystik hat das alles nichts zu tun. Noch kurz zur zweiten Frage. Juden sind Menschen wie alle anderen Bewohner der Erdkugel auch. Die Forderung eines Noblesse-oblige-Verhaltens würde unterstellen, dass man als Jude in irgendeinem Sinne edler sei, und das scheint mir eine unsinnige Annahme. Was man ist, das ist man als Mensch; Mann oder Frau, Jude oder Christ, solche Fakten spielen eine 60
Rolle, aber zuallererst ist man doch Mensch, ein Geschöpf Gottes oder ein Staubkorn im Weltall, und muss also mit all den Möglichkeiten und Grenzen, die diesem Erdentier gesetzt sind, durchs Leben gehen. Vielleicht habe ich hiermit einen selbst gestellten Auftrag und ein stillschweigendes Versprechen an deine Großmutter - die Teilhaberin meiner damaligen Erlebnisse - erfüllt: die Erinnerungen nicht verloren gehen lassen, den Versuch unternehmen, der neuen Generation das Unvorstellbare ein wenig näher' zu bringen. Ich kann nur hoffen, daß mir das gelungen ist. E.
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J.P. Sartre: Reflexions sur la question juive. Gallimard, Paris 1946.
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Maria oder die Geschichte eines Päckchens
Sie erwartete uns in der Tür ihres kleinen Hauses, als wir am späten Nachmittag im strömenden Regen den Weg hinaufgefahren kamen, denn sie hatte uns natürlich längst schon kommen hören: eine alte, runzlige Bäuerin, das Haar im Nacken zu einem dünnen Knoten geschlungen, freundliche hellblaue Augen, aus denen einen Milde und Weisheit anblickten. Die Augen eines Menschen, der sie sein Leben lang gut zu gebrauchen gewusst hat. Aber das merkwürdigste waren ihre Hände, die mir sofort auffielen. Immer hatte sie schwer mit ihnen gearbeitet, im Haushalt, in der Gastwirtschaft, auf dem Bauernhof, beim Melken, beim Heu machen wie bei der Ernte, und dennoch waren sie nicht verarbeitet, sondern kräftig, schön und außergewöhnlich gepflegt. Vor fünfunddreißig Jahren hatten wir einander zum letzten Mal gesehen, als Maria eine junge Frau. in der Blüte ihres Lebens und ich noch ein Kind war. Kurz nach dem ersten Weltkrieg, als in Deutschland Armut, Not und Inflation herrschten, war Maria mit ihrer jüngeren Schwester Louise nach Holland gekommen, auf der Suche nach der Arbeitsstelle und dem Verdienst, die ihr das eigene Land nicht zu bieten hatten: die deutsche Dienstmagd, die Gastarbeiterin von früher. Denen wird es nicht allen so gegangen sein wie ihnen beiden, die noch fünfzig Jahre später sagten: Holland - das ist die schönste Zeit unseres Lebens gewesen. 62
Sie gingen in Stellung bei einem alten Herrn, der als Witwer ein großes Herrenhaus in Den Haag bewohnte. Er hat sich von Anfang an der beiden heimatlosen Mädchen angenommen; selbst kinderlos, fühlte er sich für sie verantwortlich und wachte wie ein Vater über sie. Ob er sehr anspruchsvoll war, weiß ich nicht, aber die zwei Schwestern werden wohl so eifrig gewesen sein, wie es deutsche Hausfrauen traditionell nun einmal zu sein haben. Jedenfalls haben die beiden immer nur respekt- und liebevoll von ihrem „Meneer" gesprochen. Aber auch das Leben von „Meneer" H. musste einmal zu Ende gehen, und so verschwand auch ihre Stelle. Louise ging in ihr Dorf zurück, in das Deutschland des Jahres 1938, in dem Hitler gerade im Zenit seiner Macht stand. Maria blieb in Holland, und da Herr H. ein Freund meines Großvaters gewesen war und wir offenbar gerade eine Hausgehilfin brauchten, zog sie bei uns ein, zusammen mit ihrem dicken Dackel Dollie, den sie nach den Dollie-Sisters genannt hatte, einer damals sehr populären Gesangsgruppe. Maria und meine Mutter waren auf den Tag genau gleichaltrig und verstanden sich schon bald ganz ausgezeichnet. Der Krieg rückte drohend näher, die deutschen Untertanen mussten auf Befehl Hitlers aus dem Ausland heimkehren ins Reich, und nach dem Mai des Jahres 1940 ging auch Maria in ihr Heimatdorf zurück. Die Lage der Juden wurde aussichtsloser und aussichtsloser, und auch uns ist es - wie den meisten unserer Schicksalsgefährten - schlimm ergangen: von unserer Familie überlebten nur meine Mutter und ich den Krieg, und nach der langen Irrfahrt durch drei Lager kehrten wir im Frühsommer 1945 aus Deutschland nach Den Haag zurück. Als wir uns im August 1944 im Lager Bergen-Belsen vor Hunger keinen Rat mehr wussten, hatten wir eine Postkarte an Maria geschrieben, der Text war von der Lagerleitung vorgeschrieben: Es geht uns gut, wir dürfen Pakete erhalten, ob63
wohl uns klar war, dass das vielleicht Probleme für Maria mit sich bringen könnte - Hunger und beißende Not überstimmten die Bedenken. Keine Reaktion. Später stellte sich heraus, dass private Paketsendungen nie im Lager ankamen, wohl aber unsere Postkarten draußen. Maria, die, wie sie selbst gesagt hat, auch unter Hitler wusste, was wirklich los war, weil sie in der Zeit des nationalsozialistischen Aufschwungs in Holland gelebt hatte, war nicht auf die Propaganda hereingefallen. Sie hatte sofort begriffen, dass sich hinter diesen albernen Worten ein Hilferuf verbarg. Während der Kriegsjahre lebte sie in einem bayrischen Dorf, wo sie zwei Bauersleuten den Haushalt besorgte, auf dem Feld und in der Gastwirtschaft half. Dieses Ehepaar - Maria hat immer von Vater und Mutter Sch. gesprochen - verkaufte die Wirtschaft kurz nach dem Krieg und zog in ein kleines Haus, das es ganz in der Nähe hatte bauen lassen. Dort sorgte Maria für die beiden bis zu deren Tod. Der erste Nachkriegswinter war für viele Deutsche härter als die Kriegswinter. Die Städter hatten zwar keine Bomben mehr zu fürchten, litten aber mehr Hunger und Not. Auf dem bayrischen Land hingegen verlief das Leben ziemlich ruhig, man lebte relativ isoliert von der Außenwelt und litt - als Bauer natürlich keinen Hunger. Im Frühjahr 1946 bekam die Bevölkerung erstmals von der amerikanischen Besatzungsmacht die die Deutschen „Amis" nannten - die Erlaubnis, ins Ausland zu schreiben. Marias Brief nach Holland lag schon einen Monat vorher bereit. Sie hatte genügend Wirklichkeitssinn, nicht an unsere alte Adresse zu schreiben, sondern an Verwandte, die zwar ausgebombt waren, aber trotzdem von der Post ausfindig gemacht werden konnten. Ihr Brief war ein einziges Schuldbekenntnis, ein Ausdruck der Herzensqual: Was haben wir Deutschen doch den Juden angetan! Lebt noch jemand von der Familie, und wollen sie überhaupt noch etwas von mir wissen? 64
Im Sommer 1944 hat sie zwei Postkarten mit der Bitte um Esswaren aus dem Lager Bergen-Belsen bekommen. Zusammen mit ihrer Schwester hat sie zwei Pakete zur Post gebracht. Der Postvorsteher wollte sie erst nicht in Empfang nehmen. Weißt du denn, was du tust, Maria, das ist doch viel zu gefährlich, wo es doch bloß um Juden geht. Aber die zwei Frauen ließen nicht locker und kriegten ihn schließlich herum. Du hast zwei Söhne gehabt, sagte Maria zu ihm. Einer ist in Russland gefallen, und wo der andere ist, weißt du nicht. Du würdest auch froh sein, wenn du wüsstest, dass ihm jemand ein Stück Brot gibt. Er ließ sich überreden, nahm die Pakete an und versprach, sich Mühe zu geben. Sechs Wochen danach wurden sie aufs Postamt bestellt, um die Päckchen wieder abzuholen. Sie waren mit einem Aufkleber versehen, auf dem stand: Annahme vom Adressaten verweigert. Drei Wochen, nachdem Maria ihren Brief abgeschickt hatte, lag ein Briefumschlag mit einer altbekannten Handschrift aus Holland in ihrem Briefkasten. Meine Mutter, die zwar physisch gebrochen, aber psychisch ungebeugt war, hatte sich mit der Antwort beeilt. Sie schrieb einen traurigen Brief: „ ... es tut mir leid, es dir mitteilen zu müssen, aber E. und ich sind als einzige übrig geblieben ... Die anderen werden bestimmt nicht mehr wiederkommen ... Es war lieb, dass du uns Päckchen geschickt hast, und es war sehr schade, dass wir sie nicht bekommen haben. Wir hatten solchen Hunger. Deine Postkarten kamen an, aber ich durfte dir nicht dafür danken. Ich tue es jetzt - für alles, was du für uns getan hast ..." Neun Jahre lang haben sie sich geschrieben, bis meine Mutter starb. Maria war ein Naturtalent im Briefschreiben. Ich beschloss, den Briefwechsel weiter zu führen; ein Anlass war leicht zu finden, denn Maria und meine Mutter hatten ja am selben Tag Geburtstag. So teilten wir einander einmal im 65
Jahr alle wichtigen Ereignisse mit und schickten uns außerdem Weihnachts- und Neujahrsgrüße. Fünfzehn Jahre waren vorübergegangen, als sie mich ganz unerwartet einlud, mit der Familie auf Besuch zu kommen. Ihr Leben hatte sich verändert: die zwei alten Leute, bei denen sie erst Dienstmagd und später Haushälterin gewesen war, waren beide gestorben. Sie hatten ihr als einziger Erbin alles hinterlassen, so dass sie nun über eine nie gekannte Unabhängigkeit und ein eigenes Haus verfügte. und ihren eigenen Besuch empfangen konnte. Nach einigem Zögern entschlossen wir uns zu diesem Wagnis. Den heiligen Eid, den ich einst geschworen hatte, nie wieder einen Fuß in dieses Land zu setzen, warf ich resolut über Bord. Wir fuhren ja zu Maria, die uns in einer Zeit, da so etwas einer Heldentat gleichkam, ein Päckchen geschickt hatte. Dabei hatte Maria ganz zu Unrecht das Gefühl, dass sie an mir noch etwas wieder gutzumachen hatte, die Rechnung noch begleichen musste - wie aus ihrem letzten Brief hervorgegangen war. Sie musste schon eine ganz besondere Frau sein! Sie erwartete uns in der Tür ihres kleinen Hauses, als wir am späten Nachmittag im strömenden Regen den Weg hinaufgefahren kamen, denn sie hatte uns natürlich längst schon kommen hören. Sie wohnte so einsam und abgelegen, dass sie jedes Auto schon von weitem hören konnte. Die Geschichte unserer neuen Freundschaft werde ich hier nicht mehr erzählen, nur noch schnell den Schluss der Geschichte des Päckchens. Kurz nach dem Krieg hielt der Postvorsteher Louise, Marias Schwester, auf der Straße an. Das Päckchen, das er erst nicht in Empfang nehmen wollte, weil es viel zu gefährlich gewesen wäre und wo es doch bloß um Juden ginge, dieses Päckchen kann ihm jetzt einen guten Dienst erweisen. Er braucht einen schriftlichen Beleg dafür, daß er 66
kein Nazi gewesen ist, denn sonst bekommt er keine Pension. Louise, bittet er, könntest du mir bescheinigen, dass ich im Krieg ein Päckchen angenommen habe, das an Juden gerichtet war ...
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