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Geschichte · Archäologie · Kultur
1/2008 Euro 7,90 sFr 15,40
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Rommels Schatz Der Nazi-Raubzug in Nordafrika Britanniens Aufstieg zur Seemacht Wie Admiral Nelson Napoleons Flotte vernichtete Monteverdis Geniestreich Die Geburt der Oper vor 400 Jahren Mit gro ss Monument der Superlative Im Bann der Chinesischen Mauer Preisr ä em tsel Gewinne n eine Rei Sie se
nach Chi na!
Geschichte · Archäologie · Kultur
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EXKLUSIV!
Totenkult, Zauberei und rituale im Land der pharaonen
Jörg Steinmetz / S. Fischer Verlag
Mein Held der Geschichte
Roger Willemsen, TV-Moderator und Autor
Wer wäre unwilliger gewesen, Held zu sein, irgendjemandes Held, als
Samuel Beckett? Corbis
D
ieser abgewandte Mann, geboren am 13.
glied der Résistance, der seine Verdienste marginal
April 1906 bei Dublin, gestorben am 22. De
nennt und später seine Orden verschweigt; als No
zember 1989 in einer Art Altersheim in Paris, war
belpreisträger, der erst einmal untertaucht und
weit gehend desinteressiert am eigenen Leben, an
keine Rede hält, sein Preisgeld anonym Künstlern,
den Interpretationen seines Werks und seines Le
Regisseuren, Schriftstellern spendet und sich selbst
benslaufs, fotoscheu, niemand, der sich interview
bloß ein Telefon kauft, das nicht klingelt, sondern
en ließ, der integerste Mann, der sich nie korrum
ein rotes Birnchen aufflammen lässt; als Greis im
pierte, nie gemeinmachte, nie verriet.
trostlosen Anstaltszimmer mit Auslauf auf einer
Mit Becketts Fragen endet so vieles: Wie spricht man, da es nichts zu sagen gibt und nichts, womit
rutschfesten Matte an der Gartenmauer, »Gaza streifen« genannt.
man es sagen könnte? Was lohnt es sich, dem
Samuel Beckett
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Schweigen abzuringen? Wie trägt man dieses
Becketts Werk ist von einzigartiger Konse-
Schweigen durch das praktische Leben? Und wie
quenz. Jede neue Arbeit greift über die vorange
hat er selbst all dies Letzte, Tonlose, fast Spurlose
gangene hinaus und bewegt sich auf das Verstum
an der Erde befestigt, an einer Form, Wirklichkeit in
men zu. Der Rest ist Schweigen, Weitermachen,
Anspruch zu nehmen: als akademisch Ausgezeich
Einatmen, Ausatmen. Die »Verbindungen zwi-
neter, der die wissenschaftliche Laufbahn stor
schen Leben und Leere« durchdringen Becketts so
niert; als widerwilliger, verlegener Lehrer an der
ziale Existenz, und doch bleibt sein Verhältnis zu
Ecole Normale Supérieur in Paris; als Sekretär,
den Erniedrigten und Beleidigten, zu Armen und
Freund und Trinkgenosse von James Joyce; als ein
Delinquenten gekennzeichnet von Empathie, Güte,
samer Reisender durch Nazideutschland; als Mit
karitativer Teilhabe. Kein Held, ein Richtbild. Ÿ
inhalt
32
EXKLUSIV
24
70
TITELTHEMA MAGISCHES ÄGYPTEN 44 Totenkult, Liebestrank und Traumzauber Religion und Magie gingen im alten Ägypten Hand in Hand. Manch ein schwarzer Magier war wohl im Hauptberuf – ein ehrbarer Priester
50 Worte der Götter Ihre Schrift war den Ägyptern heilig. Sie diente religiösen Zwecken – und sicherte den wenigen Schreibkundigen die Macht
16
WEITERE THEMEN 54 Das Jenseits in Schwarz-Weiß
10 Entscheidung am Nil
Der Fotograf Harry Burton war dabei, als Howard Carter das Grab des Tutanchamun entdeckte
Am 1. August 1798 vernichtete Admiral Horatio Nelson die Flotte Napoleons – und begründete die mehr als hundertjährige englische Herrschaft über die Weltmeere
60 Verschleierte Wahrheit Alchemisten, Freimaurer, Dichter und Esoteriker halten so manchen ägyptischen Mythos bis heute wach
24 Rommels Schatz Machte der »Wüstenfuchs« gemeinsame Sache mit SS und Plünderern? Bis heute hält sich die Legende von einem 1942 vor Korsika versenkten Goldschatz
32 Im Bann der großen Mauer Kein Berg war zu steil, kein Tal zu tief für Chinas Bollwerk gegen die Barbaren der Steppen
40 Monteverdis Geniestreich TITELBILD: Goldmaske des Tutanchamun mit Einlagen aus Halbedelsteinen (um 1323 v. Chr.); Ägyptisches Museum, Kairo (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz)
Oper ist absurd: Menschen handeln singend. Und doch zieht sie das Publikum seit mehr als 400 Jahren in ihren Bann
TITELTHEMA
Magisches Ägypten
44 RUBRIKEN 3 Mein Held der Geschichte:
Carsten Könneker Chefredakteur
Roger Willemsen über Samuel Beckett
72
6 In Kürze: Zwergenstadt in Osttirol / Tempel aus der Frühzeit Roms / Grausiges Ritual der Inka / Älteste Wandmalerei / Siegel der Isebel u. a.
An alle Wissbegierigen!
Mehr als ein Vierteljahrhundert tobte der Bruderkrieg Athen gegen Sparta. Der Verlierer des Peloponnesischen Kriegs hieß – Griechenland
Die Abteikirche von Saint-Denis bei Paris
86 Geheim
Wenn Helden im Dunkeln tappen, ist Vorsicht angesagt!
Herzlich willkommen zur ersten Ausgabe von epoc! Vor Ihnen liegt eine spannende Entdeckungsreise in die Vergangenheit. Stationen sind unter anderem das »Magische Ägypten«, die Geburt der Oper im Italien des 17. Jahrhunderts sowie die Chinesische Mauer. Der besondere Charme von epoc: Wir betten jedes Thema in seinen historischen Kontext ein und verknüpfen verschiedene Wissensgebiete zu einem Ganzen. Beispielhaft verdeutlicht dies das eigens für epoc entwickelte »Zeitnetz« (S. 12/13). Wir hoffen, Ihnen gefällt epoc genauso gut wie uns. Selbstverständlich stellen wir uns gern Ihrer Kritik. Dazu haben wir auch eine Internetseite eingerichtet: www.epoc-magazin.de/umfrage.
92 Bücher und mehr
Und nun viel Spaß beim Lesen und Entdecken!
16 Bilder einer Ausstellung: All about Evil – Das Böse 72 Essay: Der Tod als Spektakel Fachleute streiten um die Zurschaustellung von Toten
78 Der Niedergang des Goldenen Zeitalters
Wer Klartext reden will, muss verschlüsseln. Eine kleine Geschichte der Geheimschrift
Auf der Suche nach den dunklen Seiten des Lebens
70 Wendepunkte: 1683, Wien Vor der österreichischen Hauptstadt wurde das Ende des Osmanischen Reichs eingeläutet
76 Epoche im Bild: Wiege der Gotik 90 Mythopolis: Im Labyrinth des Minotaurus
96 Wissen in Zahlen 98 Vorschau/Impressum
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Geschichte · Archäologie · Kultur
in kürze
Antike
In seinem Werk von 1746 beschrieb der
Tempel aus der Frühzeit Roms
Archäologe Anton Roschmann die Über reste eines römischen Gebäudes, welches im Volksmund »Zwergelgebäude« hieß.
R
oms Erde birgt noch immer un-
Auf Grund dieser Andeutungen entdeckten
geahnte Schätze. Bei Ausgrabun-
die Archäologen mehrere Räume einer
gen in der Nähe des Kolosseums wur-
1800 Jahre alten römischen Villa, die teilÖsterreich
weise mit einer Fußbodenheizung aus
den jetzt die Ruinen einer Kultstätte
Wiederentdeckung einer Zwergenstadt
gestattet waren. Diese kleinen, unter dem
aus der frühesten Stadtgeschichte
Boden liegenden Gewölbe hielten die
entdeckt.
D
Zwergen.
von dem Ort, an dem Archäologen jetzt eine
auch der Grund für den guten Zustand der
mit unzähligen Votiven und Kult
römische Villa mit ausgedehnten Fußbo-
Mosaiken. »Die aus tausenden teilweise nur
objekten angefüllte Brunnen, die
denmosaiken und Wandmalereien wieder-
fünf mal fünf Millimeter kleinen Steinchen
offenbar zu einem Tempel gehörten.
entdeckten. Sie war offenbar der Ursprung
gefertigten Böden sind in dieser Erhaltung
Wie Panella berichtete, könnten die
für eine der bekanntesten Sagen Öster-
und Dimension bisher einzigartig in ganz
Funde der Göttin Fortuna gestiftet
reichs – die von der Zwergenstadt. Auf die in
Tirol«, berichtet der Grabungsleiter Florian
worden sein und aus der Zeit des
Vergessenheit geratene Stelle bei Lienz
Müller. Die in repräsentativer Hanglage
Numa Pompilius (750 – 671 v. Chr.), des
stießen die Forscher von der Universität
erbaute Vorstadtvilla der Civitas Aguntum
zweiten Königs von Rom, stammen.
Innsbruck durch die Übersetzung einer
hatte einem reichen römischen Bürger
lateinischen Schrift.
gehört.
ass ein Zwergelkönig allda gewohnt habe«, glauben die Osttiroler seit jeher
Das Team unter der Leitung von
Bauern damals für die Behausung von
Clementina Panella von der Università Sapienza di Roma fand am Palatin zwei
Die noch intakten Unterbauten sind
Nach der mythischen Gründung durch Romulus 753 v. Chr. herrschten bis zur Ausrufung der Republik ita-
Universität Innsbruck, Florian Müller
In den Gewölben unter diesen Fußböden einer römischen Villa wähnten die Osttiroler die Wohnstatt von Zwergen.
lische Könige über die Stadt. Sie legten mit ihrer Baupolitik den Grundstein für die »ewige Stadt«. Der im Alter von vierzig Jahren als Nachfolger des Romulus auf den Thron berufene Numa Pompilius gliederte Rom nicht nur in einzelne Bezirke und organisierte Berufsgilden, er reformierte auch die Kulte und Ämter der Priester und Vestalinnen. Auch außerhalb der Stadt wurde der König für seine Weisheit geschätzt
Hitlers Kunstraub in Fotoalben
und oft als Schiedsrichter angerufen.
it der Vision des weltgrößten Mu-
M
einzelnen Kunstschätze. Aus diesem Fundus
seums befahl Adolf Hitler am 5. Juli
wollte Hitler die schönsten Stücke für das
1940 die Beschlagnahme aller Kunstob-
geplante »Führermuseum« in Linz, der
jekte von Juden in den besetzten Gebieten.
Stadt seiner Jugend, auswählen. 39 Alben
So konfiszierten der Einsatzstab unter
wurden nach dem Krieg im Schloss Neu
Reichsleiter Alfred Rosenberg und zwei
schwanstein gefunden, wo Rosenberg sein
weitere Sonderkommandos über 20 000
Hauptdepot eingerichtet hatte.
Gegenstände aus Kunstsammlungen und
Der Autor und Filmemacher Robert
katalogisierten diese in über hundert Foto-
Edsel, der die Erben jenes Soldaten zur
bänden. Jetzt wurden zwei von 61 als ver-
Rückgabe veranlasste, nannte die Entde-
schollen geltenden Alben den US National
ckung einen der bedeutendsten Funde im
Archives übergeben. Sie stammen aus dem
Zusammenhang mit Hitlers geplantem
Besitz eines amerikanischen Soldaten,
Kunstraub seit den Nürnberger Prozessen.
der bei Kriegsende in Berchtesgaden gewe-
»Es ist aufregend, dass immer noch Origi-
sen war.
naldokumente wiedergefunden werden.«
Die in Leder gebundenen Bände enthalten Fotografien und Beschreibungen der
Martin Conde / flickr.de
Nationalsozialismus
Bis heute ist der Verbleib von hunderten Kunstwerken ungewiss.
Unweit vom Titusbogen stießen Forscher auf einen frührömischen Tempel.
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Inka-Rituale
Grausiger Opfertod von Kindern
D
Museo de Arqueología de Alta Montaña
ie spanischen Eroberer berichteten immer wieder von einem grausigen Ritual der Inkas: Sie opferten ihre eigenen Kinder.
Jetzt offenbaren Haaranalysen, dass diese in ihrem letzten Lebensjahr sogar regelrecht gemästet wurden. Sie bekamen Speisen, die sonst nur der Oberschicht vorbehalten waren – getrocknetes Lamafleisch etwa. Den Todgeweihten sollte diese Kost wohl den angemessenen Status für die rituelle Opferung verleihen. Das Team um Andrew Wilson von der britischen University of Bradford hatte die Haare einiger über fünfhundert Jahre alter Kindermumien analysiert. Anhand der Verteilung stabiler Isotope vermochten die Forscher nicht nur den Speiseplan der Opfer zu rekonstruieren. Auch ihr letzter Weg ist in den Haarproben belegt – denn die Zusammensetzung der unterschiedlich schweren Atome eines Elements ist auch abhängig von Gegebenheiten wie Temperatur und Höhe. Einige Monate vor der Opferung begannen die Kinder dem- nach den Aufstieg zu dem 6700 Meter hohen Vulkan Llullaillaco – dem Ort, an dem die Götter wohnten. Wie sie letztlich starben, bleibt in vielen Fällen unklar. Ein Junge hatte sich vor seinem Tod erbrochen – wohl aus Angst vor dem, was kam. Anschließend umwickelte man ihn in so enge Bandagen, dass seine Rippen
Das Inka-Mädchen wurde nur 15 Jahre alt – dann starb es den Opfertod.
brachen und er schließlich erstickte. Rückstände von Cocablättern belegen, dass manche Kinder vor ihrem Tod betäubt wurden.
Autorin dieser Rubrik: Miriam Müller
Thema der Woche e r a b r e u Erne rgie Ene
epoc 01/2008
Zweiter Weltkrieg
Fluchttunnel aus Stalag Luft III
B
erühmt wurde das berüchtigte Kriegsgefangenenlager Stalag
Luft III durch den Hollywoodstreifen »Gesprengte Ketten« mit Steve McQueen in der Hauptrolle. Der Film bruch alliierter Gefangener aus einem
Durham University, Stuart Bedford
basierte auf dem versuchten AusIn einem gesonderten Gefäß ist dieser Schädel einst bestattet worden.
Nazilager nahe der polnischen Stadt Sagan. Jetzt sind Forscher um Jamie Pringle von der britischen Keele University in zehn Meter Tiefe tat-
Polynesien
sächlich auf den 110 Meter langen
Die ersten Siedler einer Pazifikinsel entdeckt?
Fluchttunnel »Harry« gestoßen, den die Internierten in monatelanger Ar-
D
beit geschürft hatten. Die Grabungen
er Fund von sechzig Skeletten auf Efate, einer Insel der Vanuatu-Gruppe, im Jahr
an zwei weiteren Tunneln – »Dick«
2003 war bereits eine Sensation, denn die Forscher waren damals auf die älteste
und »Tom« – waren vor Fertigstellung
Nekropole der pazifischen Inselwelt gestoßen. Jetzt vermelden die Archäologen
aufgegeben oder von den Nazis ent-
erneut Spektakuläres. Einige der Toten kamen von weit her – und waren womöglich
deckt worden.
die ersten Siedler der Region überhaupt.
»Harrys« Wände waren mit Bettge-
Alexander Bentley von der englischen Durham University und Stuart Bedford von
stellen abgestützt worden. Ineinander
der University Canberra in Australien hatten in den rund dreitausend Jahre alten
gesteckte Milchdosen sorgten für die
Gebeinen die Zusammensetzungen stabiler Isotope untersucht, die unter anderem
Luftzufuhr. In Hütte 122 von Stalag
von den Ernährungsgewohnheiten zeugen. Dabei zeigte sich, dass vier der Individuen
Luft III stießen die Wissenschaftler
viel seltener Fisch gegessen hatten als die anderen. Somit dürften sie den größten
auf den Eingang. Auch ein aus einem
Teil ihres Lebens nicht auf Efate verbracht haben. Vielmehr siedelten sie wahrschein-
Gummistiefelabsatz geschnitzter
lich relativ fern einer Küste. Bentley vermutet, dass sie ursprünglich aus Neuguinea
Stempel mit dem Wehrmachtsadler
stammten und von dort in die neue Heimat kamen.
lag noch im Schacht.
Offenbar genossen diese Menschen zeitlebens besonderen Respekt. Ihre Gräber
Von den 87 Gefangenen, die den
wurden – anders als die der lokalen Bevölkerung – präzise nach Süden ausgerichtet.
Tunnel 1944 in Richtung Freiheit
Bei einem der Toten fanden sich drei Schädel auf der Brust. Alle anderen Skelette
verließen, gelang nur drei Männern
waren hingegen kopflos. Dies spiegelt den Brauch der Lapitaleute wider, die Schädel
die endgültige Flucht. Alle anderen
der Verstorbenen zu entfernen, um sie für rituelle Zwecke zu verwenden.
wurden rasch gefasst. Israel
Das Siegel Königin Isebels
U
nd sie schrieb Briefe unter Ahabs Namen und versiegelte sie …« So steht es im 1. Buch der Könige, Kapitel 21, Vers 8. Jenes Siegel der so mächtigen wie boshaften Königin Isebel lag offenbar seit
Jahrzehnten im Israel Museum in Jerusalem. Der wahre Wert des auffälligen, 30 mal 22 Millimeter großen Objekts aus Opal war unerkannt geblieben, weil niemand wusste, wo und wie es genau gefunden worden war. Erst jetzt wurde das gute Stück – eher zufällig – von einer Theologin genauer untersucht: Marjo
Korpel von der Universiteit Utrecht studierte es im Rahmen einer Arbeit über die Rolle der Frau in der Bibel. Dabei konnte sie anhand von Form und Größe sowie der eingeprägten Symbole nicht nur das Alter bestimmen. Durch die Ergänzung fehlender Zeichen identifizierte sie schließlich die Königin Universiteit Utrecht
Isebel als einzig mögliche Besitzerin. Die phönizische Prinzessin hatte im 9. Jahrhundert v. Chr. König Ahab von Israel geheiratet. Diesen brachte sie dazu, sich von Jahwe ab- und den phönizischen Göttern zuzuwenden. Als Mutter zweier Königssöhne war sie eine mächtige Frau, besiegelte so manches Todesurteil und ließ die Priester des Vier Jahrzehnte lang erkannte niemand die Bedeutung des Siegels.
Jahwe verfolgen. Im Zuge der Ausrottung der Omridendynastie durch den israelischen König Jehu wurde sie auf grausame Art ermordet. epoc 01/2008
Neolithikum
Älteste Wandmalereien der Welt
E
s sieht beinahe aus wie ein Gemälde von Paul Klee«, schwärmte Éric Coqueugniot. Im Herbst 2007 hatte der Forscher mit
seinem Team vom Centre National de la Recherche Scientifique eine vier Quadratmeter große bemalte Wand in der neolithischen Siedlung Dja’de el Mughara bei Aleppo im heutigen Syrien frei gelegt – und die bisher älteste Wandmalerei der Welt entdeckt: schachbrettartig angeordnete rote und schwarze Quadrate auf weißem Grund. Bei der Datierung mit Hilfe der RadiokarbonmethoÉric Coqueugniot, CNRS, fouille française de Dja’de, ministère français des Affaires étrangères
de ergab sich ein Alter von rund 11 000 Jahren. Die Wand gehörte einst zu einem Rundbau, der im 9. Jahrtausend v. Chr. wahrscheinlich als öffentliches Gebäude diente und womöglich für größere Zusammenkünfte und verschiedene Kulthandlungen verwendet wurde. Ähnliche Gemeinschaftsbauten sind auch aus anderen neolithischen Siedlungen am Euphrat bekannt. Bisher konnten aber in keiner Spuren von Bildern nachgewiesen werden. Als älteste Wandmalereien galten bisher die aus Çatal Höyük in der Osttürkei. Doch sind diese 1500 Jahre jünger als die in Syrien entdeckten. Mustafa Ali, ein syrischer Künstler, berichtet, dass die gleichen geometrischen Formen überall in der Levante und in Persien populär waren – und bis heute auf vielen Webstoffen zu finden sind. Die wohl älteste Wandmalerei der Welt erinnert an Werke von Paul Klee.
bare Erneuerrgie Ene
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England gegen Frankreich
Entscheidung am Nil
Von Jann M. Witt
Im August 1798 schlug ein britischer Flotten verband unter Admiral Horatio Nelson vor Ägypten jene französische Flotte, die zuvor das Expeditionsheer Napoleons in das Land der Pyramiden gebracht hatte – die Geburtsstunde der britischen Herrschaft über die Weltmeere.
BINNEN WENIGER STUNDEN vernichtete Admiral Nelson Napoleons Flotte vor Abukir. In nur einer Nacht verloren die Franzosen 13 von 17 Schiffen.
10
epoc 01/2008
A
nfang 1793 durcheilte Europa die Nachricht
schon drangen Gerüchte nach London, dass die
von einer Bluttat: Am 21. Januar war König
Franzosen in Toulon eine große Flotte zusammen
Ludwig XVI. in Paris öffentlich enthauptet worden.
zogen. Um herauszufinden, was hinter diesen Vor
Nun musste auch England reagieren. Doch Frank
bereitungen steckte, beschloss die britische Ad
reich kam den Briten zuvor; am 1. Februar 1793 er
miralität, ein Aufklärungsgeschwader ins Mittel
klärte der Nationalkonvent England den Krieg, das
meer zu entsenden, zu dessen Befehlshaber
ein Bündnis mit Preußen und Österreich schloss,
Admiral Sir Horatio Nelson ernannt wurde. Nel-
die sich bereits seit 1792 im Krieg mit den franzö
son war am 29. September 1758 geboren worden.
sischen Revolutionsarmeen befanden. Gut fünf
Seinen raschen beruflichen Aufstieg hatte er vor
Jahre später war die Situation verfahren: Die Fran
allem seiner Tüchtigkeit zu verdanken. Bereits mit
zosen dominierten den europäischen Kontinent,
knapp 20 Jahren war der Sohn eines Landpfarrers
während die Briten die Meere beherrschten – mit
zum Kapitän zur See befördert worden. In der
Ausnahme des Mittelmeers, aus dem sie sich 1796
Seeschlacht von St. Vincent (Portugal) 1797 hatte
nach dem Kriegseintritt Spaniens zurückgezogen
sein entschlossenes Handeln entscheidend zum
hatten. Um das Patt zu überwinden, befahl die
Sieg über die spanische Flotte beigetragen. König
französische Regierung Ende 1797 General Napo
George III. (1738 – 1820) dankte es ihm, indem er
leon Bonaparte (1769 – 1821), dem Eroberer Italiens,
ihn zum Ritter schlug.
die Invasion Großbritanniens vorzubereiten.
Am 8. Mai 1798 verließ Nelson mit seinem
Doch der ehrgeizige Korse hatte weitaus Ver
Flaggschiff, der mit 74 Kanonen bewaffneten VAN
wegeneres im Sinn. Wie einst Alexander der Große
GUARD, und zwei weiteren Linienschiffen den bri
wollte er den Osten erobern. Heimlich begann er
tischen Stützpunkt Gibraltar mit Kurs auf Toulon.
mit den Planungen für eine Invasion Ägyptens.
Von Anfang an schien das Unternehmen unter
Von hier aus wollte er Indien unterwerfen, die
einem schlechten Stern zu stehen: In der Nacht
reichste Kolonie der englischen Krone, und so das
zum 20. Mai verlor die VANGUARD in einem Sturm
britische Weltreich zum Einsturz bringen. Bald
ihren Hauptmast; erst eine Woche darauf war das
Napoleon wollte den Osten erobern – wie einst Alexander der Große
AKG Berlin ( Th. Luny, Seeschlacht bei Abukir, 1798 )
Fortsetzung auf S. 14
11
Admiral Nelson und seine Zeit Horatio Nelson
1758 Horatio Nelson wird am 29. September in Burnham Thorpe, Norfolk, geboren
1764
1771
Nelson beginnt seine kurze Schullaufbahn an der Paston Grammar School in North Walsham, Norfolk
Im März beginnt Nelsons Marinekarriere unter dem Kommando seines Onkels, Maurice Suck ling, an Bord der »Raisonable« Erster Einsatz als Kommandant eines Kriegsschiffs. Im Jahr darauf wird Nelson zum Kapitän befördert. In den folgenden Jahren segelt er im Dienst der britischen Krone zwischen Ostsee, Karibik und der nordamerikanischen Küste
1767 Seine Mutter, Catherine Nelson, stirbt
1750
1760
1755 GESCHICHTE UND POLITIK
Erdbeben von Lissabon: vermutlich mehr als 30 000 Tote
1770
1762
1776
Die in Stettin geborene Sophie von AnhaltZerbst wird als Katharina II. russische Zarin
Unabhängigkeits erklärung der Ver einigten Staaten von Amerika; Erklärung der Menschenrechte. Unter dem Kommando von George Washing ton beginnt der Krieg gegen England
1765 Der Habsburger Joseph II. wird Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation (bis 1790)
1756
1769
Beginn des Siebenjährigen Kriegs
KUNST UND KULTUR
1778
Napoleone Buonaparte kommt in Ajaccio auf Korsika zur Welt
1750
1764
1770
Johann Sebastian Bach stirbt in Leipzig
Zarin Katharina II. kauft in ganz Europa Gemälde auf – und legt den Grund stein für das heutige Eremitage-Museum in Sankt Petersburg
In Bonn wird Ludwig van Beethoven, in Stuttgart Georg Wilhelm Friedrich Hegel geboren
1756 In Salzburg wird Wolfgang Amadeus Mozart geboren
1774 Johann Wolfgang Goethe veröf fentlicht »Die Leiden des jungen Werthers«
1768
1759
1777
Johann Joachim Winckelmann, der Begründer der Archäologie, wird in Triest ermordet
In London stirbt Georg Friedrich Händel
In Frankfurt erblickt Heinrich von Kleist das Licht der Welt
1776
NATURWISSENSCHAFT UND TECHNIK
PHILOSOPHIE UND RELIGION
1751
12
David Hume publiziert »An Enquiry Concerning the Principles of Morals«
1764
1752 Benjamin Franklin erfindet den Blitzableiter
1771
Erstveröffentlichung von Voltaires »Traité sur la Tolérance«
Jean Le Rond d’Alembert und Denis Diderot beginnen mit der Herausgabe ihrer 33-bändigen »Encyclopédie«
Die dreibändige Erstausgabe der »Encyclopædia Britannica« wird abgeschlossen
Tod von Voltaire und Jean-Jacques Rousseau
Joseph Priestley entdeckt den Sauerstoff
Der elsässische Mathematiker und Physiker Johann Heinrich Lambert beweist, dass die Kreiszahl Pi (π) unendlich viele Stellen hat
Dorothea Christiane Erxleben besteht als erste Frau die Doktorprüfung und wird die erste Ärztin Deutschlands
1778
1774
1766
1754
Adam Smith begründet mit »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« die klassische Volks wirtschaftslehre
1775
1769 James Cook beobachtet in Tahiti, wie die Venus über die Sonnenscheibe wandert
James Watt baut die erste Dampfmaschine
1777
Carl Wilhelm Scheele analysiert Luft als Mischung von Sauer stoff und Stickstoff
epoc 01/2008
… und nach Verlust seines rechten Arms in einer Seeschlacht 1797
1793
1801
Nelson lernt Lady Emma Hamil ton, die Gattin des Botschafters in Neapel kennen. Sie wird später seine Geliebte
Heirat mit Fanny Nisbet. Für fünf Jahre nimmt Nelson Abschied von der Seefahrt und lebt mit seiner Gattin im väterlichen Pfarrhaus in Burnham Thorpe
Lady Hamilton schenkt einer Tochter das Leben. Nelson verlässt seine Frau
1805
1797
Am 21. Oktober Sieg über die napoleonische Flotte in der Seeschlacht von Trafalgar. Nelson stirbt durch die Kugel eines Scharfschützen
Sieg über die spanische Flotte bei St. Vincent (Portugal)
1798 In der Seeschlacht von Abukir besiegt Nelson die Franzosen unter Admiral Brueys
1780
1790
1783
1800
1793
1804
»Schreckensherrschaft« in Frankreich (La Terreur): Unter der Führung von Maximilien de Robespierre durchlebt die Fran zösische Revolution ihr blutigstes Jahr
Ende des amerikanischen Frei heitskriegs: Im Frieden von Paris akzeptiert Großbritannien die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien
Napoleon Bonaparte krönt sich selbst zum Kaiser der Franzosen
1806 Franz II. legt die Kaiserkrone nieder. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation endet
1799
1789
Mit der Verfassung des Konsulats endet die Re volution in Frankreich
Am 14. Juli bricht mit dem Sturm auf die Bastille die Französische Revolution aus
1791
1805
Die »Zürcher Zeitung« erscheint erstmals; ab 1821 heißt das Blatt »Neue Zürcher Zeitung«
Wolfgang Amadeus Mozarts stirbt in Wien
Friedrich Schiller stirbt in Weimar
1797
Friedrich Schiller veröffentlicht anonym »Die Räuber«
In Düsseldorf wird Heinrich Heine, in Wien Franz Schubert (Bild) geboren
1782
Am Wiener Burgtheater wird Mozarts »Entführung aus dem Serail« uraufge führt
Heinrich von Kleists »Der zerbrochene Krug« wird in Weimar uraufgeführt
1804
1790 Adam Smith stirbt in Edinburgh
1783 Gotthold Ephraim Lessings »Nathan der Weise« wird uraufgeführt – eine Wer bung für die gegenseitige Toleranz der Religionen
1783 In Paris startet die Mont golfière, der erste be mannte Heißluftballon
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Der Religionskritiker Ludwig Feuerbach wird geboren
1796
1806
Georg Wilhelm Friedrich Hegel veröffentlicht seine ersten (theo logischen) Schriften
Max Stirner, der Philosoph des Individualismus, kommt zur Welt
1781 Friedrich Wilhelm Herschel entdeckt den Planeten Uranus, das erste neue Objekt im Sonnen system seit prähistorischer Zeit
Goethes »Faust« erscheint
v. l. n. r.: AKG Berlin, AKG Berlin
Immanuel Kant veröffentlicht die »Kritik der reinen Vernunft«
1808
1805 1791 Einführung des Urmeters
1796 Der britische Arzt Edward Jenner führt die erste Impfung durch – gegen Pocken
In Paris stellt JosephMarie Jacquard seine mit Lochkarten gesteuerte Web maschine vor und löst damit die industrielle Revolution aus
v. l. n. r.: Corbis, AKG Berlin
1781
v. l. n. r.: AKG Berlin, Public domain, AKG Berlin
1780 1781
AKG Berlin
1787
v. l. n. r.: Corbis, Akg Berlin, AKG Berlin
Nelsons Unterschrift vor …
13
ungeeignet: Zum einen war das Becken zu seicht
Tatort Abukir
für die großen Linienschiffe, zum anderen würde
Da der Hafen von Alexandria zu seicht für große Schiffe war und zudem vom Gegner leicht abgeriegelt werden konnte, bot die Bucht von Abukir die einzige Möglichkeit, in der Nähe zu ankern. Doch das wusste nicht nur der französische Admiral Bruey – sondern auch Horatio Nelson.
die französische Flotte unweigerlich in der Falle sit
M i t t e l m e e r
zen, sollten die Briten auftauchen und die Hafen einfahrt von Alexandria abriegeln. Der Admiral be schloss schließlich, mit seinen Kriegsschiffen in
Abukir
der Bucht von Abukir, etwa 20 Kilometer nordöst
Alexandria
lich von Alexandria, vor Anker zu gehen.
Nildelta
Während Bonaparte in Ägypten gelandet war,
0
100 km
Epoc / Emde-Grafik
Alexandria im Sturm genommen und den Marsch Kairo
nach Süden begonnen hatte, durchkreuzte Nel sons Geschwader weiter das östliche Mittelmeer. Am 1. August näherte sich die britische Flotte der
Linienschiff – so wurden die schwersten Kriegs
ägyptischen Küste. Diesmal hatte Nelson Glück:
schiffe jener Zeit genannt – wieder seeklar.
Der Feind war nah. Über Alexandria wehte die
Als die sturmzerzausten britischen Schiffe am
französische Flagge, der Hafen war voll von Trup
31. Mai endlich die französische Hafenstadt sichte
pentransportern – von Brueys’ Flotte aber war
ten, wartete eine weitere böse Überraschung auf
nichts zu sehen. Nelson wusste, dass es nur einen
Nelson. Bereits am 19. Mai war die gegnerische
einzigen Ort gab, wo Linienschiffe sicher vor An
Flotte mit 55 000 Elitesoldaten an Bord mit unbe
ker gehen konnten: die Bucht von Abukir. Sofort
kanntem Ziel in See gestochen.
ließ er seine Offiziere Kurs nach Osten nehmen.
Für Bonaparte war es der bisherige Höhepunkt
Am Nachmittag näherten sich die Briten aus nord
einer kometenhaften Karriere. Mit 29 Jahren be
westlicher Richtung der Bucht und entdeckten die
fehligte er die größte Flotte, die sein Heimatland je
in einer fast vier Seemeilen langen Linie hinter
aufgeboten hatte. Von dem gewaltigen, mit 120
einander verankerten feindlichen Schiffe.
Kanonen bestückten Dreidecker L’ORIENT aus kommandierte er 13 Linienschiffe, einige Fregat
Versenkt den Flegel!
ten sowie 300 Truppentransporter. In allen nau
Der französische Admiral wiegte sich in Sicher
tischen Dingen überließ er die Befehlsgewalt frei
heit. Er hielt seine Stellung für unangreifbar und
lich Vizeadmiral François Brueys (1753 – 1798).
verfügte zudem über die stärkere Artillerie, denn
Nelson konnte über Bonapartes Ziel nur speku
die britischen Zweidecker hatten höchstens 74
lieren, doch wenigstens wurde sein kleines Ge
Kanonen, während Brueys neben der mächtigen
schwader am 7. Juni durch zehn weitere Linien
L’ORIENT noch über drei 80-Kanonenschiffe ver
Die Vanguard
schiffe verstärkt, sodass er nun über eine Streit
fügte. Nelsons Taktik war einfach: Seine Schiffe
Die 1787 in der königlichen Werft in Deptford vom Stapel gelaufene Vanguard war ein hölzernes Linienschiff 3. Klasse. Sein Rumpf war 50 Meter lang und 14 Meter breit. Es hatte eine Verdrängung von 1 644 Tonnen und war mit 28 32-Pfünder-Kanonen auf dem unteren, 28 18-Pfündern auf dem oberen Batteriedeck sowie 18 9-Pfündern auf dem Oberdeck bewaffnet.
macht verfügte, die der französischen Geleitflotte
sollten neben ihren französischen Gegnern an
zumindest annähernd gewachsen war.
kern und diese dann niederkämpfen. Er wusste,
Gemälde von Ivan Berryman
Währenddessen näherten sich die Franzosen ih
14
dass seine hervorragend ausgebildeten Seeleute
rem ersten Ziel. Am 9. Juni erschienen die Segel der
schneller und besser schossen als ihre Widersa
französischen Vorhut vor der Insel Malta, die da
cher. Der Admiral hatte diesen Plan so oft mit sei
mals von den Rittern des Johanniter- beziehungs
nen Kommandanten besprochen, dass jeder Mann
weise Malteserordens beherrscht wurde. Ange
an Bord genau wusste, was er zu tun hatte.
sichts der gewaltigen französischen Übermacht ka
Inzwischen hatte sich die von Kapitän Thomas
pitulierten die Malteserritter am 11. Juni kampflos.
Foley (1757 – 1833) befehligte GOLIATH an die Spit
Der Korse blieb nur sechs Tage auf der Insel. Bereits
ze der britischen Linie gesetzt. Gegen 18.30 Uhr fie
am 19. Juni ging er wieder an Bord der L’ORIENT,
len die ersten Schüsse – die Schlacht von Abukir
um die Fahrt nach Ägypten fortzusetzen.
hatte begonnen. Jetzt zeigte Nelsons Bemühen,
Nelson aber tappte wochenlang im Dunkeln. Er
seine Offiziere zu eigenständigem Handeln zu er
ahnte zwar, dass sein Gegner im östlichen Mittel
muntern, seine Wirkung. Foley hatte beobachtet,
meer zu finden sein müsste – wo aber genau, das
dass die nur am Bug verankerten französischen
konnte er nicht wissen. Wohin er sich auch wandte:
Schiffe schwoiten – sich also unkontrolliert mit
Von den verhassten Franzosen fehlte jede Spur.
dem Wind drehten. Mit seinem Schiff lief er am
Diese sichteten ihrerseits am 30. Juni die Küste
Bug der französischen GUERRIERE vorbei und be
Ägyptens. Sechs Wochen Überfahrt lagen hinter ih
strich es mit einer fatalen Breitseite. Mehrere bri
nen. Nachdem die Soldaten an Land gebracht wor
tische Schiffe folgten Foleys Beispiel, sodass die
den waren, stellte sich die Frage, wo Brueys’ Flotte
Briten nun die gegnerische Vorhut und einen Teil
ankern sollte. Der Hafen von Alexandria war dafür
des Zentrums in die Zange nahmen, während der epoc 01/2008
Rest der französischen Flotte der Schlacht hilflos zusehen musste. Die Briten konzentrierten ihr Feuer auf die französischen Linienschiffe, doch als die Fregatte SERIEUSE unvermittelt das Feuer auf die GOLIATH eröffnete, befahl Foley wutent brannt: »Versenkt den Flegel!« Bereits kurze Zeit und wenige Breitseiten später versank die SERIEU SE im flachen Wasser. Nach und nach kamen jetzt alle britischen Schiffe ins Gefecht – bis auf die CULLODEN, die vor der kleinen Insel Abukir auf Grund gelaufen war. Mittlerweile war es Nacht geworden, und die Dun kelheit wurde nur durch das Aufblitzen des Mün dungsfeuers erhellt. Für Nelson gab es nichts mehr zu tun. Er hatte seine Schiffe in die Schlacht ge führt, doch lag der Kampf nun in den Händen sei ner Kommandanten und ihrer Männer. Er ging auf dem Achterdeck der VANGUARD auf und ab, bis er gegen 20 Uhr von einem Geschoss an der Stirn
Mit frdl. Gen. von Jann M. Witt
verwundet wurde. Es war nur ein Streifschuss. Be nommen und widerwillig ließ sich der Admiral ins
WIE AM SCHNÜRCHEN
Lazarett drängen und verbinden.
Napoleons Flotte (hell dargestellt) ankerte in einer Linie – leichte Beute für die von
Gegen 21 Uhr war die französische Vorhut »voll
Norden herannahenden Briten (dunkel).
ständig bezwungen«, wie Kapitän Miller von der THESEUS feststellte. Das nächste Ziel der Briten war das gegnerische Zentrum mit dem feindlichen
als 200 Engländer hatten ihr Leben verloren. Der
Flaggschiff. Admiral Brueys und die Besatzung der
Blutzoll auf französischer Seite war ungleich hö
L’ORIENT kämpften mit dem Mut der Verzweif
her: 5225 Mann hatten die Schlacht nicht überlebt.
lung. Bereits kurz nach Beginn der Schlacht hatte
Zufrieden bemerkte Nelson beim Anblick der kläg
der französische Oberbefehlshaber Brueys beide
lichen Reste der französischen Flotte: »Sieg ist
Beine verloren. Doch anstatt sich ins Lazarett brin
nicht der richtige Ausdruck für ein solches Bild.«
gen zu lassen, befehligte er die Schlacht in einem
Mit einem Schlag hatten die Briten die Seeherr
Stuhl sitzend weiter, bis ihn eine Kanonenkugel
schaft über das Mittelmeer zurückgewonnen. Na
fast auseinanderriss. Er weigerte sich abermals,
poleons grandioser Plan, das englische Weltreich
unter Deck gebracht zu werden: »Ein französischer
in Indien zu besiegen, war in der Bucht von Abukir
Admiral muss auf seinem Achterdeck sterben.«
gescheitert.
Das konzentrierte Feuer der britischen Schiffe
Für Nelson folgte auf den militärischen Erfolg
zeigte Wirkung. Auf der L’ORIENT brach ein Brand
der gesellschaftliche Aufstieg: Zur Belohnung für
aus, der sich rasch ausbreitete. Als Nelson davon
seinen grandiosen Sieg wurde er in den erblichen
erfuhr, hielt es ihn trotz seiner Verwundung nicht
Adelsstand erhoben. Noch ein zweites Mal sollte
mehr unter Deck. Sämtliche Löschversuche blie
Nelson die Pläne Napoleons durchkreuzen und da
ben vergeblich; die L’ORIENT war dem Untergang
bei das Werk vollenden, das er in der Bucht von
geweiht. Kurz nach 22 Uhr erreichten die Flammen
Abukir begonnen hatte. Um den Preis seines Le
die Pulverkammer des mächtigen Dreideckers, der
bens gelang es ihm 1805 in der Schlacht von Tra
in einem gewaltigen Feuerball zerbarst. Schlagar
falgar, Napoleons Invasionspläne ein für alle Mal
tig verstummten alle Kanonen; brennende Trüm
zu vereiteln und der britischen Flotte für ein Jahr
mer fielen auf die Schiffe herab; Briten und Fran
hundert die uneingeschränkte Herrschaft über die
zosen schienen wie gelähmt zu sein. Doch nach
Weltmeere zu sichern. Es war der Anfang vom
wenigen Minuten begannen die Geschütze wieder
Ende der Herrschaft Napoleons. Ÿ
Die L’Orient Die L’Orient war 1791 unter dem Namen Le Dauphin-Royale in Toulon vom Stapel gelaufen. Das aus Holz erbaute Schiff war 65 Meter lang, 16 Meter breit und verdrängte 2700 Tonnen. Als Linienschiff 1. Klasse besaß die L’Orient drei Batteriedecks. Das untere Kanonendeck war mit 32 36-Pfünder-Kanonen, das mittlere mit 34 24-Pfündern und das obere 34 12-Pfündern bestückt. Hinzu kamen 18 8-Pfünder-Kanonen und sechs 36-pfündige Karronaden, großkalibrige Nahkampfgeschütze. Doch alle Bewaffnung half nicht: Am 1. August 1798, kurz nach 22.00 Uhr, explodierte die Pulverkammer. Der Stolz der französischen Flotte war dahin.
Jann M. Witt ist Historiker. Er lehrt an der
Das Licht der aufgehenden Sonne fiel auf ein
Nordsee Akademie in Leck und ist als Beratender
Bild der Vernichtung. Auf dem Wasser trieben
Historiker für den Deutschen Marinebund tätig.
manövrierunfähige Schiffe und die Leichen von
Von ihm erschien in Koehlers Verlagsgesell-
Gefallenen. »Die ganze Bucht war von toten Kör
schaft »Horatio Nelson 1758 – 1805. Triumph und
pern bedeckt«, berichtete ein Augenzeuge. Mehr
Tragik eines Seehelden«.
epoc-magazin.de
Gemälde von Arnald George (1763-1841)
zu feuern; erst im Morgengrauen verstummte der Donner der letzten Kanonen.
15
en, Grabriele Überseemuseum Brem
Warnke
Bilder ???einer Ausstellung
16
epoc 01/2008
Die Hexe Rangda Calong Arang gilt auf Bali als Inkarnation der Todesgöttin Rangda und steht im Mittelpunkt vieler mitter nächtlicher Theateraufführungen. Dabei siegt am Ende weder das Gute noch das Böse. Die Indonesier glauben, dass sich diese Kräfte letztendlich im Gleichgewicht befinden (Holzmaske um 1920).
das Überseemuseum in Bremen zeigt die Gesichter des Bösen epoc-magazin.de
17
Der Teufel kam mit den Spaniern nach Mexiko. Anders als im Christentum vereinten die Götter in vorkolumbischer Zeit gute und schlechte Kräfte in sich. Erst nach und nach setzten Missionare dort den »bösen Teufel« durch. Hier reitet er als Skelett auf einem Papp mascheepferd, das zu Allerheiligen und Allerseelen die Gräber der Toten ziert (Mexiko, um 1985).
18
epoc 01/2008
W
as ist das Böse? Seit jeher haben die Menschen aller Kulturen und Religionen eigene Vorstellungen
davon. Für gläubige Christen, Muslime und Juden ist die Sache einfach, für sie liegt die Wurzel allen Übels im Sündenfall beziehungsweise im Engelssturz. Buddhisten und Hinduisten, aber auch Anhänger vieler anderer Religionen haben diese Vorstellungen nicht. Für sie sind Gut und Böse in jeder Kreatur untrennbar miteinander verbunden. Das Ziel im Leben ist es, die richtige Balance zu finden. In Zeiten der Kolonialisierung trafen diese unterschiedlichen Vorstellungen vielerorts aufeinander. Häufig kam dann zwar der Teufel der neuen Herren ins Land – wurde aber bald in den heimischen Pantheon aufgenommen und dabei nicht selten zum Gott erklärt.
In Mexiko ist der Satan der Christen nicht grundsätzlich böse. Im Gegenteil: Manche verehren Luzifer sogar als Schutzgottheit (hölzerne Maske,
Überseemuseum Bremen, Gabriele Warnke
epoc-magazin.de
Tropenmuseum Amsterdam, Irene de Groot
20. Jahrhundert).
19
Der Dämon »Kala Sungsang« steht immer auf dem Kopf. Er hängt auf Bali über vielen Türen, Tropenmuseum Amsterdam, Irene de Groot
um die Bewohner vor dem Bösen
20
zu beschützen (Wasserfarbe auf Papier, um 1940).
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Die Balinesen fürchten die Rache von Yama, dem Gott der Unterwelt. Er straft die Sünder, indem er sie kocht, aufspießt oder von Skorpionen beißen lässt (Malerei, Anfang 20. Jahrhun
Tropenmuseum Amsterdam, Irene de Groot
dert).
epoc-magazin.de
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Der griechische Gott Pan konnte sehr ungehalten werden und versetzte bei Störung seiner Mittags ruhe die Tierherden in Angst und Schrecken. Deshalb sprechen wir auch heute noch von »Panik« oder »panischer Angst«. Die Christen übernahmen die Gestalt Pans – halb Mensch, halb Ziegenbock – für ihren Teufel (Marmorstatue aus dem 1. oder
Kestner-Museum Hannover, Christian Tepper
2. Jahrhundert n. Chr.).
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Überseemuseum Bremen Bahnhofsplatz 13 28195 Bremen Tel.: 0421 16038101 17. 11. 2007 – 18. 05. 2008 Internet www.uebersee-museum.de
Öffnungszeiten Dienstag bis Freitag von 9.00 bis 18.00 Uhr Samstag und Sonntag von 10.00 bis 18.00 Uhr Montag geschlossen
Ausstellungskatalog All about Evil – Das Böse. Von Silke Seybold (Hg.). Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2007
epoc-magazin.de
23
Zweiter Weltkrieg
Von Jean-Christoph Caron
S
pätsommer 1943. In einem abgelegenen Klos-
ter auf Korsika schuften deutsche Soldaten.
Tonnen von Gold, Silber und Juwelen verpacken sie in Munitionskisten, Kriegsbeute aus Afrika.
Dann werden die Kisten wasserdicht versiegelt
E x k lu s i v i n epoc
Rommels Schatz
Gold und Silber liegen vor Korsika auf dem Meeresgrund, so das Gerücht, Kriegsbeute aus Nordafrika. Wer der Legende auf den Grund geht, findet sich unversehens im dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte wieder: dem Holocaust.
und auf einen Frachter geladen, Kurs Deutschland. Dort aber kommt der »Rommel-Schatz« niemals an. Er wurde versenkt. Eine Variante der Geschichte lautet: Weil einige Soldaten ihn dann in ruhigeren Zeiten für sich bergen wollten. Eine andere: Weil Jagdbomber angriffen, bot ein gezieltes Versenken mehr Sicherheit für die Kisten. Übereinstimmend sind die Varianten der bei Schatz suchern beliebten Legende nur in einem: Rommels Schatz stammt aus Nordafrika. Nun ist es aber mit einer Kriegsbeute so eine Sache – man erhält sie nicht ohne Raubzüge und Plünderungen, das aber passt kaum ins Bild des deutschen Afrikakrieges (1941 – 1943). General Erwin Rommel (1891 – 1944) gilt noch heute vielen als untadeliger Befehlshaber. Ein Image, an dem schon die NS-Propaganda arbeitete, die den »Wüstenfuchs« zum bravurösen Militärstrategen auf einem exotischen Kriegsschauplatz stilisierte. Doch das Ringen um die Herrschaft in Nordafrika war eines sicher nicht: ein »sauberer« Krieg, ein Kampf in menschenleerer Wüste, ohne Opfer unter der Zivilbevölkerung. So starben bei mehr als dreitausend Bombardements tausende libyscher Zivilisten, zumeist in den bevölkerungsreichen Küstenstädten, betont der Historiker Ahmed Gallal von der Universität in Bengasi. Die schwersten Luftangriffe gingen auf Rommels Befehl von April bis Juni 1942 auf das zur Festung ausgebaute Tobruk nieder, das seinen Vormarsch nach Ägypten und Palästina blockierte. Doch auch abseits der Städte lauerte der Tod. Da insbesondere die weiten Ebenen Ostlibyens kaum zu kontrollieren waren, legten beide Kriegsparteien Minen aus, Gallal zufolge mehr als zwei Millionen. »Das war das größte Minenfeld weltweit. Ganze Landstriche im Umland von Tobruk sind allein durch Öle und Sprengstoffreste bis heute vergiftet.« War das deutsche Afrikakorps aber auch an Plünderungen beteiligt? Gerüchte, die im Internet kursieren, scheinen die Wehrmacht zu entlasten. Demnach bezöge sich die Legende vom Schatz auf
OHNE FEHL UND TADEL?
jene rund 211 Tonnen Feingold, die belgische,
Schickte General Erwin
luxemburgische und französische Banken im Juni
Rommel sein Afrikakorps für
1940 von Paris nach Französisch-Westafrika (dem
Führer und Vaterland auf
heutigen Senegal) gesandt hatten, um sie vor den
Beutezug?
anrückenden Deutschen in Sicherheit zu bringen. 1997 schon wurden aber Mikrofilme von Akten der
24 Ul
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epoc 01/2008
Bundesarchiv Koblenz
TUNIS IM DEZEMBER 1942: Unterstützt von Soldaten der Wehrmacht trieb die SS tunesische Juden in Arbeitslager.
deutschen Reichsbank wiederentdeckt, die zeigen:
tung stehende Ägypten. Vernichtend geschlagen,
Binnen Monatsfrist nach dem Einzug in Paris hat-
mussten sich die Faschisten zurückziehen und
te Hitler dem Vichy-Regime (siehe Kasten S. 74)
suchten die Unterstützung Deutschlands. Und der
den Rücktransport des Edelmetalls befohlen; ab
»Führer« ließ den Duce nicht hängen: Erwin Rom-
September 1940 ging das Gold in insgesamt 4944
mel erhielt 1941 den Oberbefehl über die deut-
Kisten für mehr als anderthalb Jahre auf eine aben-
schen Truppen. Er hatte sich bereits in zahlreichen
teuerliche Reise von Dakar nach Berlin, wo es am
Schlachten ausgezeichnet, vor allem durch seinen
26. Mai 1942 eintraf.
Mut, Angriffe persönlich zu leiten – »Wo Rommel ist, ist vorn«, lautete ein geflügeltes Wort.
Geschenke unter Faschisten
Bald nach Kriegseintritt des Afrikakorps strit-
Woher könnte Rommels Schatz sonst stammen?
ten sich Italien und die NS-Führung um die zu er-
Es gibt weitere Erklärungsversuche. Nordafrika
wartende Beute. Hitler stellte die Bedingung, sie
war in der Antike ein blühender Landstrich gewe-
solle dem zukommen, der sie gemacht habe. Er
sen. Hermann Göring fand Geschmack an den
hatte offenbar auch schon konkrete Pläne für die
Kunstschätzen Libyens, als er 1939 der Hauptstadt
Verwendung. Der britische Journalist Peter Hai-
Tripolis und bei dieser Gelegenheit auch Leptis
ning fand kürzlich heraus, dass NS-Außenminister
Magna einen Besuch abstattete, einst eine der
Joachim von Ribbentrop im Juni 1941 ein SS-Kom-
reichsten Metropolen des Römischen Reichs (sie-
mando nach Libyen schickte, um Juden dort Ge-
he Foto S. 73). Im Libyen der Kriegszeit herrschte
mälde, Kunstobjekte, Silber- und Goldmünzen zu
das mit Deutschland verbündete Italien, und we-
rauben. Die blühende Gemeinde mit etwa 38000
nige Monate nach der Visite erhielt der Reichsluft-
Mitgliedern unterhielt allein in Tripolis 44 Syna-
fahrtminister eine lebensgroße römische Venus
gogen.
skulptur als Geschenk.
Hermann Göring, 1942
Haining entdeckte Dokumente, die belegen:
Doch mit solch wertvollen Gaben sollte bald
Die Raubgüter aus Afrika sollten das »Führermu-
Schluss sein. Im September 1940 attackierte Ita-
seum« füllen, das Hitler im österreichischen Linz,
lien von Libyen aus das unter britischer Verwal-
der Stadt seiner Jugend, errichten wollte. Ein über-
epoc-magazin.de
»Wir werden die Juden an den Dattelpalmen aufhängen«
25
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China Bliblablub Hitlers krieg
in Nordafrika
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11. April – Dezember 1941 Nach achtmonatiger Belagerung der alliierten Festung Tobruk in Libyen muss sich Rommel vorerst zurückziehen.
8. November 1942 Amerikaner und Briten landen in Marokko und Algerien und nehmen das Afrikakorps in die Zange. 11. November 1942 Die deutsche Wehrmacht besetzt Tunesien. 9. Dezember 1942 Die ersten 1700 jüdischen Zwangsarbeiter werden dort von SS und Wehrmacht in Internierungslager getrieben – darunter Alte, Kranke und Kinder. 14. – 25. Februar.1943 Im südtunesischen Bergland kämpft Rommel seine letzte Schlacht im Schutze der Mareth-Linie, muss sich aber weiter zurückziehen. 13. Mai 1943 Das Afrikakorps kapituliert bei der tunesischen Halbinsel Cap Bon.
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raschender Befund, dachten Historiker doch bis-
Wenn aber der legendäre Goldschatz nicht von
lang, Raubzüge für Hitlers Museum hätten sich
den jüdischen Libyern stammt, könnte er der ara-
auf Europa beschränkt. Dennoch führt auch dieses
bischen Bevölkerung gestohlen worden sein? Fest
Vorhaben nicht zum Rommel-Schatz: Ein leiten-
steht nur, dass sie ihrer Lebensgrundlage beraubt
der Mitarbeiter des »Sonderauftrags Linz« no-
wurde. Dazu der Zeitzeuge Aisa Bu Graiem, im
tierte, Ribbentrops SS-Beute habe Berlin erreicht.
Krieg Vorarbeiter und Koch in einem deutschen
Indizien für weitere deutsche Verbrechen in Li-
Luftwaffenerholungsheim: »Viele Tiere wurden
byen präsentierte bereits 1995 Maurice Roumani,
den Bauern genommen. Als sich einige bei Gene-
Professor für Geschichte an der Ben Gurion Uni-
ral Rommel beschwerten, antwortete dieser höf-
versity in Israel. Als die faschistischen Streitkräfte
lich, die deutschen Soldaten hätten nicht genug zu
im Januar 1942 die libysche Hafenstadt Bengasi
essen. Aber nach dem Krieg würden die Libyer ent-
von den Briten zurückeroberten, plünderten deut-
schädigt.«
sche Soldaten gemeinsam mit arabischen Kollaborateuren das örtliche Judenviertel, so Zeitzeugen. Dabei dürften die Eindringlinge allerdings nur
Geburtstagspäckchen von der Front
mäßigen Erfolg gehabt haben, denn Ahmed Gallal
Es existiert nur ein einziges Dokument, das den
hört oft folgende Geschichte: »Die Juden im Nord-
General in Zusammenhang mit Wertgegenstän-
osten Libyens haben Gold und Silber auf ihren
den aus Nordafrika bringt: ein Eintrag im Kalender
Friedhöfen vergraben, sei es mit den Toten oder in
von Albert Böttcher, Rommels Schreiber. Er habe
leeren Särgen.« Nach dem Sieg der Alliierten sol-
am 13. Juli 1942 für seinen General Pakete per Flug-
len die Überlebenden ihre Reichtümer wieder aus
zeug nach Deutschland überbracht. Doch diese
den Gräbern zurückgeholt haben. Viele hatten
enthielten lediglich Geburtstagsgeschenke für
allerdings nicht mehr dieses Glück: Anfang 1942
Rommels Frau Lucie. Peter Haining, der den Kalen-
begannen die Italiener, knapp fünftausend liby
dereintrag entdeckte, fand in Archiven auch den
sche Juden in Internierungs- und Arbeitslager um-
Antwortbrief, in dem sich die Gattin wenige Tage
zusiedeln. Allein in einem Lager unweit von Tri
später »für die allerliebsten arabischen Armbän-
polis starben über 560 Menschen binnen weniger
der, Ohrgehänge und Schmuckstücke« bedankte.
als drei Monaten an Entkräftung, Hunger und Epidemien. 26
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4. November 1942 Die deutsche Niederlage an der ägyptischen Bahnstation El-Alamein markiert den Wendepunkt des Afrikakriegs.
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Epoc / Emde-Grafik
27. Mai 1942 – 21. Juni 1942 Erneut greift Rommel Tobruk an und siegt. Nun plant er den Vorstoß bis zum Sueskanal.
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Am 11. Februar 1941 landen Wehrmachttruppen im von den Italienern besetzten Tripolis. In den Folgemonaten rückte Rommel in Richtung Osten vor.
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Vermutlich war Rommel guter Stimmung gewesen, als er das Präsent zusammenstellte, denn epoc 01/2008
es war ihm wenige Wochen zuvor im zweiten An-
führer als Geiseln genommen werden, ordnet Ge-
lauf gelungen, Tobruk einzunehmen und auch
neral Walther Nehring (1892 – 1983) an, Befehlsha-
beim ersten Vorstoß auf El-Alamain hatte er die
ber der Wehrmacht in Tunesien.
Briten das Fürchten gelehrt. Doch Ende August
Das Pariser Dokumentationszentrum für jü-
musste der General die deutsch-italienische Groß-
dische Zeitgeschichte hält weitere Berichte über
offensive dort abbrechen, denn der Treibstoff-
die Verbrechen Deutscher in Nordafrika bereit: La-
nachschub durch die Wüste brach zusammen. Am
gerwärter pressen inhaftierten Juden Geld und Ju-
23. Oktober ging General Bernard L. Montgomery
welen ab, Wehrmachtssoldaten ziehen nachts
(1887 – 1976) zum Gegenangriff über; bald durch-
plündernd durch das jüdische Viertel von Tunis.
brachen Briten die deutschen Stellungen. Zehn-
Im Januar 1943 haben diese Übergriffe solche Aus-
tausende gerieten in Gefangenschaft. Gegen den
maße angenommen, dass die jüdische Gemeinde
Willen Hitlers befahl Rommel den Rückzug nach
ausgerechnet Rauff um Schutz anfleht. Und tat-
Tunesien (siehe Karte). In einem erst vor wenigen
sächlich werden – zumindest für eine kurze Zeit –
Jahren aufgefundenen Taschenkalender notierte
deutsche Patrouillen zur Sicherung für die jüdi-
SS-Chef Heinrich Himmler am 10. Dezember 1942
schen Quartiere abgestellt.
ungeachtet der Niederlage in El-Alamain: »Juden
Wie verzweifelt müssen die Menschen gewesen
in Frankreich 600 bis 700 000 abschaffen.« In
sein, um denjenigen um Hilfe zu bitten, der Juden
diese hohen Zahlen hatte er auch die Juden in
in die Lager schickt und unter Androhung von Er-
ORTSTERMIN
Frankreichs Afrikakolonien Algerien, Marokko
schießungen Geld erpresst – bis Kriegsende waren
MIT »REICHSMARSCHALL«
und Tu-nesien eingerechnet.
es insgesamt knapp neunzig Millionen Francs. Ge-
Hermann Göring 1939 beim
Der Kalendereintrag wirft möglicherweise auch
neraloberst Hans-Jürgen von Arnim (1889 – 1962),
Besuch der römischen
ein neues Licht auf die Ankunft eines hundert
Nehrings Nachfolger in Tunesien, deckt die Erpres-
Ruinen in Leptis Magna
Mann starken SS-Kommandos unter der Leitung von Obersturmbannführer Walther Rauff (1906 – 1984) in Tunis im November desselben Jahres. Rauff war einer jener NS-Schergen, die den Hol ocaust auch als technische Herausforderung sahen. Er hatte Lkws als Vergasungswagen für die SS-Mordkommandos in Osteuropa umrüsten lassen. Und auch seine Männer schienen »handverlesen« – und von ihrer »Mission« überzeugt zu sein. »Rauffs Trupp war sehr jung, die meisten waren schon auffällig früh NS-Organisationen beigetreten. Das waren alles hartgesottene Nazis«, befand der Historiker Klaus-Michael Mallmann von der Universität Stuttgart. Advent 1942. In der Avenue de Paris, einer der Prachtstraßen von Tunis, requiriert der SS-Kommandeur eine jüdische Villa als Hauptquartier. Dort errichtet er sein Schreckensregime. Als die Gemeindeführer nicht innerhalb von drei Tagen 3000 Zwangsarbeiter stellen, droht er ihnen mit gezogener Pistole: «Ich bin mit den Juden in Polen und Russland fertig geworden, ich werde euch hier zeigen, wie das geht!« Noch am selben Tag, dem 9. Dezember, lässt er die Große Synagoge stürmen und die Gläubigen verhaften. Etwa 5000 Menschen, darunter Kinder, Alte und Kranke, werden auf zwanzig Internierungs- und Arbeitslager aufgeteilt (siehe Karte). Die aber unterstehen der Wehrmacht, nicht der SS. Es sind einfache deutsche Soldaten, die den jüZwangsarbeit an den Frontlinien zuweisen. Wenn die Häftlinge Befehle verweigern, sollten ihre Anepoc-magazin.de
Ullstein bild
dischen Gefangenen die harte und gefährliche
27
Das Vichy-Regime
sungen, indem er auf Plakaten verkünden lässt:
burg und beim Auswärtigen Amt. Er fand keinen
nationalen Judentum.« Die jüdischen Tunesier
Beleg für einen Befehl Rommels, der Rauffs Kom-
hätten also für die Schäden der alliierten Bomben-
mando in irgendeiner Weise unterstützt hätte.
angriffe aufzukommen.
Der berühmte Spielfilm »Casablanca« thematisierte 1942 das dramatische Geschehen in der marokkanischen Hafenstadt, einer Zwischenstation vieler Verfolgter auf der Flucht vor den Nazis. Doch Casablanca gehörte zum französischen Protektorat und fiel damit wie Tunesien und Algerien ab 1940 unter die Herrschaft des nazitreuen Vichy-Regimes. Als die deutsche Wehrmacht den größten Teil Frankreichs besetzte, gestattete Hitler dem Marschall Henri Pétain (1856 – 1951), von der Stadt Vichy in der Auvergne aus Frankreichs Süden und die Kolonien zu kontrollieren. Als »Casablanca« 1952 erstmals in deutschen Kinos lief, waren alle Hinweise auf Nazis herausgeschnitten worden. Erst 1975 wurde im deutschen Fernsehen die synchronisierte Originalfassung gezeigt.
mann recherchierte Akten im Militärarchiv Frei-
»Der Krieg war gewollt und vorbereitet vom inter-
»Wahrscheinlich haben sich die beiden nie getrof-
Anfang 1943 deutet sich die deutsche Nieder
fen.« Als General Nehring und Walther Rauff An-
lage in Tunesien bereits an. Am 13. Februar er-
fang Dezember 1942 die Arbeitslager in Tunis or-
scheint ein SS-Kommando mit zwei Militärlastern
ganisierten, befand sich der »Wüstenfuchs« im-
auf der Insel Djerba, die mit einer über 2500 Jahre
mer noch auf dem Rückzug von El-Alamein. Die
alten jüdischen Gemeinde als das »Jerusalem Afri-
kläglichen Reste seines Afrikakorps mussten im-
kas« gilt. Der damals 21-jährige Rabbiner Bouguid
merhin mehr als 3200 Kilometer zurücklegen. Erst
Mamou erinnert sich: »Die Deutschen kamen am
im Januar 1943 erreichte Rommel die Grenze und
Sabbat, während unseres Gebets. Sie forderten
verschanzte sich einen Monat später hinter der so
fünfzig Kilo Gold, sonst würden sie alles zerstö-
genannten Mareth-Linie, einen mit Bunkeranla-
ren.« Zeitdokumente aus dem genannten Pariser
gen gespickten Verteidigungsgürtel im Süden des
Archiv führen aus, dass die SS den Juden nur zwei
Landes. Anfang März beorderte Hitler seinen Ge-
Stunden gibt und mit der Erschießung der Ge-
neral zurück, damit dessen Siegerimage nicht un-
meindeführer sowie der Bombardierung der Sied-
ter der absehbaren Niederlage Schaden nähme.
lungen droht. Der Großrabbiner handelt rasch: »Je-
Gerade noch rechtzeitig: Am 13. Mai 1943 ergab
der Jude, der nur etwas Gold am Leibe trug, musste
sich das deutsche Afrikakorps.
es abgeben: Halsketten, Ringe, Armbänder – einfach alles.« Auch vor der Ghriba-Synagoge, dem ältesten jüdischen Gotteshaus Nordafrikas, machen
Leere Kisten im Kapuzinerkloster
die Nazis nicht Halt. Sie rauben goldene Gedenk-
Ist also der Rommel- in Wirklichkeit ein Rauff-
plaketten, persönliche Stiftungen im Gedenken an
Schatz? Dokumente des US-Geheimdienstes aus
Verstorbene. Doch laut Augenzeugenberichten aus
der unmittelbaren Nachkriegszeit liefern Hinwei-
dem Pariser Archiv kommen nur 43 Kilogramm
se, dass das von tunesischen Juden geraubte Gold
zusammen. Die SS verlängert ihr Ultimatum daher
in der Tat nie in Deutschland ankam, tasächlich
bis zum folgenden Tag, doch sie kehrt nicht zurück.
aber nach Korsika gelangte. Bislang hieß es zu-
48 Stunden später besetzen die Alliierten die Insel.
meist, Rauff sei kurz vor der Kapitulation nach Ita-
Auch in die jüdischen Viertel von Sfax, Gabès,
lien geflogen und Anfang September zum Kom-
Sousse und Tunis schickt Rauff seine Männer. Die
mandeur der SS-Sicherheitspolizei über »Oberita-
örtlichen Wehrmachtskommandanten erleichtern
lien-West« nach Mailand berufen worden. Was
ihnen die Raubzüge durch Ausgangssperren. Auf
geschah in den vier Monaten dazwischen? Im
diese Weise erbeutet das Kommando mehr als
November 2006 wurde ein Geheimdokument aus
hundert Kilogramm Gold von Privatleuten, Gold-
dem Archiv der CIA für die Öffentlichkeit frei-
schmieden, Juwelieren und Bankiers. Allein der
gegeben, das belegt: Rauff leitete von Juli bis zum
Materialwert entspräche heute etwa 1,7 Millionen
8. September 1943 einen Trupp der SS-Sicherheits-
Euro. Ist das vielleicht der Rommel-Schatz?
polizei auf Korsika, darunter dreißig seiner Män-
Nach allem, was Historiker heute wissen, trug
ner aus Afrika. Ein Zeuge berichtete dem ame- rikanischen Geheimdienst nach dem Krieg jedoch, der Obersturmbannführer sei in Zivil und mit
Privatarchiv Jean-Christoph Caron
der General keine direkte Mitverantwortung am Goldraub der SS in Tunesien. Klaus-Michael Mall-
28
epoc 01/2008
BPK
Angriff auf die Festung Tobruk
einem gefälschten französischen Pass eingereist.
als tschechischer Geschäftsmann aus. Als die Poli-
Ein offizieller Kommandoantritt sieht anders aus –
zisten seine SS-Blutgruppentätowierung entdeck-
Rauff kam in geheimer Mission. Nach dem Krieg vermutete der Abt des Kapuzinerklosters St. Antoine, dass die SS den Goldschatz
ten, gab er zu Protokoll, um den 10. September 1943 für die SS Gold aus Afrika in sechs Metallkisten verschweißt und vor der Insel versenkt zu haben.
zeitweise in seinem Kloster versteckt habe, denn
Kirner präsentierte eine Art Karte, die auf ver-
die Mönche hatten nach Abzug der Nazis einige
gilbtem Millimeterpapier den Küstenverlauf mit
leere Kisten entdeckt. St. Antoine liegt oberhalb
Zahlenangaben zeigte. Französische Regierungs-
der korsischen Hafenstadt Bastia und hätte zahl-
stellen finanzierten noch im gleichen Jahr eine
reiche Versteckmöglichkeiten geboten. Ein wei-
Tauchexpedition, bei der ihr Informant als Tau-
teres Indiz, aber noch kein schlagender Beweis.
cher zwangsverpflichtet wurde. Doch die Suche
Anfang September 1943 verstärkten die Alliier-
blieb ergebnislos. Ein deutscher Journalist wies
ten ihre Fliegerangriffe auf die Insel, am 20. des
Anfang der 1960er Jahre nach, dass Kirner im Spät-
Monats begannen die deutschen Truppen mit der
sommer 1943 gar nicht auf Korsika gewesen sein
Evakuierung. In der Hafenstadt La Spezia, die Kor-
konnte – er hatte verletzt in einem Lazarett in der
sika auf dem italienischen Festland gegenüber-
Sowjetunion gelegen. Kirner hatte offenbar gelo-
liegt, fiel einem britischen Sonderkommando
gen, waren seine Karten also falsch? Doch warum
beim Sturm auf das deutsche Hauptquartier ein
nahm er dann nach dem Krieg Tauchunterricht?
Dokument in die Hände, dessen Bedeutung erst
Möglicherweise hatte der SS-Mann die Unterlagen
Peter Haining erkannte: Es berichtet von sechs
von einem anderen erhalten, als einfacher Stra-
Metallkisten voller Gold und Silber, die verloren
ßenarbeiter vermochte er die Skizzen und Zahlen-
gingen und nun vor der korsischen Küste liegen.
angaben darauf aber nicht zu deuten.
Die Schatzlegende hat also einen wahren Kern.
Jahrzehntelang um immer neue Geldgeber be-
In die Welt setzte sie der mittlerweile verstorbene
müht, streute Kirner Gerüchte: »Schmuck, Edel-
SS-Mann Walter Kirner, der sich zeitweise den
steine, religiöse Objekte und Gold – etwa vier Ton-
Decknamen Peter Fleig gab. Am 3. Juni 1948 nah-
nen schwer.« Immerhin decken sich die Angaben
men ihn französische Grenzgendarmen bei der
über die Art der Schätze mit denen jüdischer Do-
Einreise in die Militärzone Korsikas fest. Er gab sich
kumente. Die Halbwahrheiten machten seit den
Bei seinem Sturm auf Tobruk erwartete Rommel ein System aus Bunkern und weithin sichtbaren Stahlpanzerkuppeln, doch die Lage vor Ort war anders: Ein Panzergraben zog sich gut fünfzig Kilometer um die Stadt herum, Stacheldrahtverhaue und Minenfelder bildeten eine mittlere Verteidigungslinie. Vor allem aber mussten 130, in zwei Reihen gestaffelte und auf der Hochebene verteilte Kampfstellungen eingenommen werden, die tief in die Geröllwüste hineingesprengt waren. Äußerlich waren sie dem offenen Gelände völlig angeglichen, sodass sie nicht einmal auf Luftaufnahmen auffielen. Rommel war das Ausmaß dieser »unsichtbaren Festung« unbekannt. Der steinharte Boden der Geröllwüste ließ seinem Afrikakorps zudem keine Chance, sich einzugraben. Allein in den ersten beiden Angriffstagen im April 1941 verlor der General 1200 Mann, bis zum 16. Dezember betrugen die Gesamtverluste der deutschitalienischen Armee 38 000 Soldaten – gegenüber 18 000 auf Seiten der Alliierten.
1950er Jahren Schlagzeilen. Im März 1956 brachte eine deutsch-italienische Produktion sogar einen HITLERS SCHERGE VOR ORT Das einzige bekannte Foto, das SS-Kommandeur Walther Rauff (links außen) in Tunesien zeigt.
epoc-magazin.de
Spielfilm über den Rommel-Schatz in die Kinos. Doch trotz aller Anstrengungen liegen die Kisten wohl noch heute vor Korsikas Küste auf dem 29
BRISANTES FAMILIENFOTO Auf der Rückseite dieses Fotos des SS-Soldaten Walter Kirner befindet sich die mutmaßliche Schatzkarte.
zeugt, die originale Schatzkarte in den Händen zu halten – während Kirners Skizze auf Millimeterpapier nur eine fehlerhafte Kopie war. Nach seinen Berechnungen verweist die Zeichnung entweder auf ein Gebiet südlich der Hafenstadt Bastia an der Mündung des Flusses Golo oder auf eines weiter nördlich am Cap Corse (siehe Karte S. 72). Tatsächlich entdeckte sein Team bei der diesjährigen Kampagne nicht nur Wracks amerikanischer Jagdbomber und eines deutschen Torpedobootes, düstere Zeugnisse der heftigen Luftangriffe auf die deutPrivatarchiv Jean-Christoph Caron
schen Stellungen Korsikas. Das Magnetometer meldete auch mehrere größere Metallobjekte im Meeresboden. Doch bevor die Taucher dem nachgehen konnten, zwangen stürmische Winde das Schiff in den sicheren Hafen. Auch in den Folgetagen blieb die See meist rau, Keppler musste das Unternehmen abbrechen. Für dieses Jahr. Meeresgrund. Deutschlands wohl erfolgreichster Profi-Schatzsucher Klaus Keppler ist sicher: »Wenn
»In der Lage, in jemand dort mehrere schwere Schatzkisten bergen würde, dann wäre das kaum zu verheimlider Sie sich befinchen.« Damit meint er nicht nur wachsame korden, kann es keinen sische Zöllner. Der amerikanische Millionär Edwin und der irische Lord Kilbracken gerieten auf anderen Gedanken Link ihrer Expedition 1963 wohl ins Visier der damals berüchtigten korsischen Mafia. Sie sandte einen geben, als auszuDrohbrief: »Der Schatz gehört uns! Halten Sie sich harren, keinen von Korsika fern!« Schritt zu weichen Auf Tauchfahrt am Cap Corse und jede Waffe und Klaus Keppler schreckt das nicht. Seit mehr als jeden Kämpfer, die dreißig Jahren forscht er nach dem Rauff-Schatz, zuletzt, aber nicht zum letzten Mal, im Februar noch freigemacht 2007. Der Schatztaucher sammelte bereits Erfahwerden können, in rung im südchinesischen Meer. Dort barg er Porzellan, Silber und Gold aus einer vor Jahrhunderten die Schlacht zu wer- versunkenen Dschunke. Er entdeckte auch ein Schiffswrack des legendären Piraten Henry Morfen. Ihrer Truppe gan vor Haiti. Dazu investierte Keppler in moderne aber können Sie Technik, etwa ein Side-Scan-Sonar, das den Meeresboden mit Ultraschallimpulsen nach ungewöhn- keinen anderen lichen Strukturen abtastet, sowie ein Cäsium-MaWeg zeigen, als den gnetometer, mit dem sich Metallobjekte selbst unter einer dicken Sandschicht finden lassen. zum Siege oder Vor allem aber erwarb er ein Familienfoto aus dem Nachlass Walter Kirners. Es war in ein Album zum Tode« Hitlers Fernschreiben an General Rommel in El-Alamein am 3. 11. 1942 30
Erwin Rommel setzte seinem Leben im Oktober 1944 mit einer Giftkapsel ein Ende, denn ansonsten hätte er sich wegen einer angeblichen Beteiligung am Stauffenberg-Attentat vor dem Volksgerichtshof verantworten müssen. Ein letztes Mal bediente sich die Nazi-Propaganda seiner Person und verklärte den Suizid zum tragischen Tod des Helden bei einem Tieffliegerangriff. Mehr Glück hatte Walther Rauff. Im Mai 1945 in Mailand verhaftet, gelang ihm doch wenig später die Flucht nach Chile. Dort starb er 1984, ohne jemals zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Rauff war williger Teil eines Unternehmens, dessen Ziele und Unmenschlichkeit noch immer nicht im vollen Ausmaß begriffen werden – die Vernichtung der jüdischen Gemeinden, nicht allein in Deutschland oder Europa, sondern auch auf fernen Kriegsschauplätzen. Dass jetzt Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter aus Nordafrika auf den Wiedergutmachungsfond der Bundesregierung akzeptiert wurden – nicht zuletzt gestützt auf die jüngsten Forschungsergebnisse von Journalisten und Historikern – hat angesichts der wenigen noch lebenden Betroffenen eher eine symbolische Bedeutung: Erstmals offiziell anzuerkennen, dass Deutsche auch in Afrika Verbrechen gegen die Menschlichkeit begingen. Ÿ Der Historiker Jean-Christoph Caron ist Autor
eingeklebt, sodass jahrzehntelang niemand die
und Redakteur zahlreicher Fernsehdokumen
Skizze auf der Rückseite bemerkt hatte: ein drei
tationen, unter anderem auch eines ZDF-Berichts
eckiges Areal mit Peilzahlen. Keppler ist über-
zu »Rommels Schatz«. epoc 01/2008
China
Im Bann der
Großen Mauer Nur wenige kennen Chinas berühmtes Bauwerk so gut wie der amerikanische Privatgelehrte David Spindler. Die Mauer der Ming-Dynastie zu erforschen ist ihm Lebensaufgabe – und Fluch. 32
epoc 01/2008
Die Grosse Mauer faszinierte schon die europäischen Abenteurer des 18. Jahrhunderts. Doch das Unesco-Weltkulturerbe trägt seinen Namen zu Unrecht – eine einzige Grenzmauer in Chinas Norden hat es
Transit / Zhou Wanping
nie gegeben.
epoc-magazin.de
33
Mauermythen
Von Peter Hessler
rungen einer Türverriegelung im Stein oder Rah-
Die größten Irrtümer über Chinas berühmtes Bauwerk
anchmal, wenn ich meiner sieben Millio-
M
gebracht waren. Etwa alle hundert Meter erheben
nen Nachbarn überdrüssig bin, setze ich
sich die Ruinen eines weiteren Wachturms. »Tür-
mich ins Auto und fahre nach Norden. Nur einein-
me und Mauer waren verschiedene Baustellen.
1
halb Stunden von Peking entfernt und doch schon
Die einen hat man aus gebrannten Ziegeln errich-
Die Chinesische Mauer ist eine Mauer. In Wahrheit
besteht sie aus einer Vielzahl von Verteidigungsanlagen.
2
men aus Ziegeln, in denen einst Schrifttafeln an-
am Ende der Welt liegt Sancha, ein ruhiges Dorf,
tet, die andere aus dem jeweils vor Ort vorkom-
in dem ich ein Bauernhaus gemietet habe. Ein
menden Stein.« Im Weitergehen entdeckt er eine
schmaler Pfad führt hinauf in die Berge, gesäumt
Zinnenreihe, die unsinnigerweise mitten in einem
von Eichen und Walnussbäumen und endet ab-
Turmfenster endet. Spindlers Erklärung: Dort wa-
Die Chinesische Mauer
rupt an einem der eindrucksvollsten Monumente
ren vermutlich verschiedene Bautrupps am Werk.
ist vom Mond aus zu
der Weltgeschichte: der Großen Mauer.
Fast andächtig höre ich zu. Ich bin dort oben wohl
sehen. Ein Gerücht, das 1923
Das Bauwerk aus Stein, Ziegel und Mörtel, ver-
in die Welt kam. Tatsächlich
sehen mit Zinnen und Schießscharten, steht auf
lässt sich aus mehr als
dem Grat eines Bergrückens. Manche Wachtürme
350 000 Kilometer Entfer-
ragen noch über sieben Meter hoch auf. Eine Mar-
nung kein Bauwerk erkennen.
mortafel, eine von zehn in dieser Region an der
3
Mauer erhaltenen Bauinschriften, berichtet, dass
Für mich war dieser Steinwall immer ein zeitloses
1615 ein Trupp von 2400 Soldaten dort einen Ab-
Monument. Nicht so für den Forscher. Er sieht dar-
schnitt der Anlage fertig gestellt hatte, der 58
in ein Werk, dessen Bau in Abschnitten und Jahres-
zhang und 5 cun lang war, also mehr als zweihun-
zeiten einzuteilen ist. Die Trupps rückten immer
Aneinandergereiht ergeben die Steine der
Chinesischen Mauer einen Wall um die Erde. Falsch! Schätzungen dieser Art extrapolieren die Mauer bei Peking auf eine Gesamtlänge von 6000 Kilometern. Das wirkliche Maß ist unbekannt.
schon an die fünfzigmal gewandert, ohne dergleichen zu bemerken.
Heisser Herbst in Chinas Norden
dert Meter. Die Genauigkeit dieser Angabe kon-
im Frühling an, wenn das Wetter gut war und mon-
trastiert mit der Wildnis an diesem abgelegenen
golische Reiterhorden fernblieben. »Nach den
Fleckchen Erde.
strengen Wintern mussten deren Pferde erst ein-
Als ich im November 2005 wieder einmal dort
mal wieder Kraft tanken. Dann kam der Sommer
oben unterwegs war, fiel mein Blick auf einen un-
mit Hitze, Insekten und Schwüle. Die mongo-
gewöhnlich hellen Stein. Er war zu weiß für einen
lischen Bogen waren hervorragende Waffen, doch
Ziegel und zu groß für ein Stück Mörtel. Ich grub
Feuchtigkeit nahm ihnen die Elastizität. Aus all
ihn aus und hielt bald das Fragment einer wei-
diesen Gründen starteten sie ihre Überfälle stets
teren Marmortafel in Händen. Nur wenige Schrift-
erst im Herbst.«
zeichen vermochte ich zu entziffern, ich brauchte
Wir kommen an die Stelle, an der »meine« Mar-
einen Spezialisten. Also bedeckte ich das Artefakt
mortafel liegt. Spindler datiert sie sofort auf das
mit Erde und kehrte einen Monat später zurück.
Jahr 1614. Er wusste: Sie war schon 1988 vom Anti-
An meiner Seite David Spindler.
kendienst der Region katalogisiert worden, doch hatte man ihren Fundort nicht notiert. Die Um-
»Ich erwartete einen dicken Wälzer über die Mauer, doch da war nichts«
stände der Wiederentdeckung lassen vermuten, dass ein Raubgräber inzwischen versucht hatte, sie aus der Mauer zu lösen und das gute Stück dabei zerbrach. Doch was berichtet der kaum noch zu erkennende Text? »Er gibt die Höhe vom Boden zu den Zinnen an. Außerdem werden diverse Beamte aufgelistet.«
Privatgelehrter zu sein erscheint heutzutage ir-
Spindler vermisst das Fragment, bestimmt die
gendwie altmodisch. Zudem fließen solchen For-
Abstände zwischen den Zeilen und schließt daraus
schern keine üppigen Fördermittel zu. Wer nicht
auf die ursprüngliche Größe. Dann geht er lang-
einer Hochschule angehört und dennoch sein Le-
sam die Mauer entlang, bis er eine Lücke zwischen
ben der Forschung widmen möchte, sollte also ein
Ziegeln entdeckt hat, die genau die richtige Größe
entsprechendes Vermögen mitbringen. Oder be-
hat. An jener Stelle also wurde 1614 an der Mauer
reit sein, seine persönlichen Ansprüche auf ein
gebaut und – wie schon bekannt – im Jahr danach
Minimum zu beschränken. Genau diesen Weg be-
wieder, bis zum Rand einer kleinen Klippe.
schreitet der amerikanische Sinologe Spindler. An einem kalten Morgen im Dezember folgen
34
Begonnen aber hat alles fast zwei Jahrtausende zuvor, im Jahr 221 v. Chr. Der Fürst Qin Shihuangdi
wir der Mauer Richtung Osten. Von Zeit zu Zeit
eroberte die Länder seiner Nachbarn, eines nach
weist Spindler auf Details hin wie die Ausspa-
dem anderen, und erklärte sich schließlich selbst epoc 01/2008
zum Kaiser. Zum Schutz der Nordgrenze seines
Die Mauer der Ming
Reichs ließ er fast 5000 Kilometer Erdwälle auf-
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schütten. Unter den Qin hieß sie changcheng, zu
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Deutsch »lange Mauer«. Immer wieder fielen Mongolen und Turkvölker
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aus den weiten offenen Ebenen des Nordens in
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China ein, in manchen Epochen häufiger, in manchen seltener. Jede Kaiserdynastie entwickelte ihre setzten vor allem auf Diplomatie. Das bot sich an, D_d]n_W
denn sie waren mit einigen Turkherrschern verwandt. Die Ming (1368 – 1644) hingegen bauten
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heute Touristen als beliebtes Fotomotiv dienen.
Selbstmord. Ein Offizier der Wachtruppen öffnete
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m [ i j b _ Y ^ [ = h [ d p[ Z
1644 fiel Peking, und der letzte Ming-Kaiser beging
Epoc / Emde-Grafik
stände das Kaiserreich im Innern erschütterten.
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den Kriegern der im Nordosten lebenden Nach-
All diese Missverständnisse gelangten vom
barn, den Mandschuren, ein Tor. Er hoffte, sie wür-
Westen zurück in den Osten. Die Revolutionsfüh-
den die kaiserliche Familie unterstützen, doch die
rer Sun Yat-sen und Mao Zedong erkannten den
Mandschus installierten ihre eigene Dynastie. Als
propagandistischen Wert einer ganz China abgren-
Qing-Kaiser regierten sie das Reich bis zur Xinhai-
zenden Mauer. Von da an subsummierte chang-
Revolution im Oktober 1911. Für das Bollwerk hatte
cheng alle Teile der Anlage, gleich wo und gleich
die im Jahr darauf gegründete Republik China we-
von welcher Dynastie erbaut. Auch heute noch
nig Verwendung, das Monument wurde dem Ver-
gibt es keine klare Definition, in Artikeln der Ta-
fall preisgegeben.
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Doch das Bollwerk nutzte wenig, als Bauernauf-
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hintereinander gestaffelte Verteidigungslinien umfassen konnte.
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Netzwerk, das in manchen Gegenden bis zu vier
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jene endlos scheinenden Befestigungsanlagen, die Tatsächlich bildeten die Ming-Mauern eher ein
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eigene Strategie dagegen. Die Tang (618 – 907)
NkWd\k :Wjed]
Ein netzwerk aus stein Zur Zeit der Ming-Dynastie (1368 – 1644) erreichte die Verteidigungsanlage im Norden des Reichs ihre größte Ausdehnung. Erstmals verwendeten die Bauherrn vor allem Stein. Aus Mauern, Bastionen, Toren und Türmen schufen sie ein Bollwerk für die Ewigkeit.
geszeitung »China Daily« von 2006 ist die Große Mauer mal 6000, mal 50 000 Kilometer lang.
6 000 Kilometer? Oder 50 000? In den Ruf einer »Großen Mauer« kam es durch
Das Chaos rührt nicht zuletzt auch daher, dass sich an keiner Hochschule der Welt auch nur ein
westliche Abenteurer und Missionare, die im 18.
einziger Wissenschaftler auf die monumentale
Jahrhundert nach China reisten. Sie ließen sich
Anlage spezialisiert hätte. Als sich in den 1980er
david spindler
vom Anblick der gewaltigen Ruinen ebenso wie
Jahren der Harvard-Doktorant Arthur Waldron für
Seit 1994 erkundet der Sinolo-
von Legenden täuschen und glaubten an eine
die Beziehungen zwischen Chinesen und Noma-
ge David Spindler die Große
durchgehende Verteidigungsanlage. Die Erdwälle
den interessierte, suchte er die Universitätsbiblio-
Mauer in der Region von
in Chinas Westen hatten nur wenige von ihnen je
thek auf. »Ich erwartete einen dicken Wälzer: Alles
Peking. Sein Ziel ist es, den
zu Gesicht bekommen. Der Engländer Sir John Bar-
über die Chinesische Mauer. Doch da war nichts.
während der Ming-Dynastie
row trug das seine zum Mythos bei, als er 1793 an-
Also suchte ich alles zusammen, was ich finden
errichteten Teil der Verteidi-
hand eines Abschnitts bei Peking berechnete, dass
konnte. Und allmählich merkte ich, dass unser
gungsanlage als Erster voll-
die Mauer aus genug Steinen bestanden habe, um
Bild von der Mauer wohl nicht stimmt.«
ständig und im Detail zu
zwei kleinere rund um den Äquator zu bauen. Aus-
Im Jahr 1990 veröffentlichte Waldron die Früch-
länder sprachen als Erste von der Chinesischen
te seiner Arbeit unter dem Titel »Die Große Mauer
und dann von der Großen Mauer.
Chinas: Geschichte und Mythos«. Anhand von
Eine weitere Legende setzte das Magazin »Nati-
Ming-Texten – Waldron betrieb kaum Feldfor-
onal Geographic« 1923 in die Welt: »Nach Ansicht
schung – beschrieb er Charakteristika des Mauer-
von Astronomen dürfte das einzige Werk von Men-
baus jener Dynastie und erläuterte moderne Miss-
schen Hand, das mit bloßem Auge vom Mond aus
verständnisse.
zu sehen ist, die Große Mauer Chinas sein.« Die-
Man sollte annehmen, dass dieses grundle-
sem Irrtum erlag 1969 sogar der Astronaut Neill
gende Lehrwerk die Forschung in Gang gebracht
Armstrong bei einem Mondspaziergang. Tatsäch-
hätte, doch weit gefehlt. Eine chinesische Arbeits-
lich erblickte er wohl eine Wolkenformation.
gruppe publizierte noch über eine knapp tausend
epoc-magazin.de
erfassen.
35
Zeitgleich in Europa Während die Ming im 14. Jahrhundert mit dem Bau ihrer Mauer beginnen … … streiten Frankreich und England im Hundertjährigen Krieg (1337 – 1454) um den französischen Thron … spaltet die Wahl zweier Päpste 1378 die Kirche (Abendländisches Schisma)
Kilometer lange Abfolge von Ming-Befestigungen
Nach dem Studium blieb Spindler noch bis
im Osten des Reichs, das war’s. Das 2006 im Origi-
1997 in China und arbeitete für amerikanische
nal und 2007 in deutscher Übersetzung erschie-
Fernsehsender, dann kehrte er zur Promotion in
nene Buch »Die große Mauer« der Cambridge-Wis-
die USA zurück. Doch schon der erste Urlaub führt
senschaftlerin Julia Lovell betrachtet das Bauwerk
ihn in das Reich der Mitte zurück. Damals ent-
vor allem als Symbol für das Verhältnis der Chine-
stand die Idee, ein Buch über die Große Mauer der
sen zur Außenwelt.
Ming zu schreiben. Mit dem Doktortitel und einem
Einer der wenigen Experten ist kein Akademi-
Anstellungsvertrag als Unternehmensberater in
ker, sondern ein Fotograf im Ruhestand. Seit über
der Tasche machte er sich wieder auf nach Peking.
zwanzig Jahren fotografiert Cheng Dalin die Mau-
An jedem Wochenende suchte Spindler die Ruinen
er für den »Xinhua News Service«. In seiner raren
auf oder studierte alte Schriften. Zwei Jahre später
Freizeit las er viel über die Geschichte und veröf-
wagte er den nächsten Schritt und kündigte die
fentlichte insgesamt acht Bücher, in denen er Fo-
gut dotierte Festanstellung, um sich ganz den Stu-
tografien und eigene Recherchen kombinierte. Er
dien widmen zu können. Sein Ziel war ambitio-
… unterliegt Serbien am 28. Juni 1389 auf dem Amselfeld den Osmanen
erklärte mir einmal: »Die Große Mauer berührt so
niert: Er wollte jeden Abschnitt der Großen Mauer
viele Wissensgebiete – Politik, militärische Strate-
in der Peking-Region in Augenschein genommen
gien, Architektur, Archäologie, Geschichte. Man
und jedes Wort darüber gelesen haben. Dennoch
… erlebt die Hanse ihre Blüte
findet in diversen Büchern kleine Informations-
hoffte er, für die Feldforschung nicht länger als
happen, doch niemals alles an einem Platz. Und
zwei Jahre zu benötigen, denn immerhin lebte er
keiner würde dafür bezahlen, dass jemand zehn
von seinen Ersparnissen.
… plündern die »Vitalienbrüder« um Klaus Störtebeker 1393 die norwegische Stadt Bergen.
Jahre seines Lebens damit verbringt, alles zusammenzutragen.«
Entdeckung auf Entdeckung
Doch es gibt einen, der sich von diesem Pro-
Doch je öfter er von der Mauer aus seinen Blick
blem nicht abschrecken läst. David Spindler wan-
schweifen ließ, desto mehr Ruinen entdeckte der
derte erstmals 1994 an der Mauer, aus rein sport-
Privatgelehrte in der Ferne und seine To-do-Liste
lichen Gründen. Damals strebte er als einziger
wurde länger und länger. Wie sollte er jemals alles
Amerikaner einen Master-Abschluss der Universi-
erforschen, was es zu erforschen gibt? Per Satelli-
tät Peking an. Er befasste sich mit Dong Zhongshu,
tenfernbeobachtung war die Gesamtlänge der An-
einem Philosophen des 2. Jahrhundert v. Chr.
lagenabschnitte allein 1985 in der Region Peking
Wie eine Himmelsleiter ziehen sich die Ruinen der einst von den Ming errichteten Verteidigungsanlage im Abschnitt »Dajiaoyu« steil
Sinopictures / Readfoto
den Berg hinauf.
36
epoc 01/2008
auf rund dreihundert Kilometer geschätzt wor-
ihre Familien gründen. Später gingen die Männer
den, doch Spindler hält diese Zahl inzwischen für
als Spione wieder in ihre Heimat – die zurückblei-
deutlich zu gering.
benden Frauen und Kinder dienten als Geiseln.
In der Chinesischen Nationalbibliothek ist er
Besonders lebhafte Beschreibungen der Mon-
ein Dauergast; mitunter reist er quer durchs Land
golen hinterließen Offiziere, die an der Grenze
oder fliegt nach Japan, um alte Schriften einzuse-
stationiert waren. Yin Geng, dessen Buch Spindler
hen. Er liest die Aufzeichnungen kaiserlicher Chro-
in Tokio entdeckte, betrieb im 16. Jahrhundert of-
nisten und entdeckte dabei mehrmals heute kaum
fensichtliche Propaganda: »Sie lieben es, herum-
noch bekannte Werke antiker Experten für Verteidigungsanlagen. Eines davon war seit 1688 nicht mehr zitiert worden! Als wir uns zum ersten Mal begegneten, waren aus den veranschlagten zwei bereits neun Jahre
»Die Barbaren lieben das Huren und Saufen wie das Vieh«
Feldforschung geworden, und noch immer war kein Ende abzusehen. Spindler lebte von Gelegenzuhuren, egal ob es Tag ist oder Nacht, ob jemand
Bewerbungen um das Stipendium einer Stiftung,
zusieht oder nicht.« Natürlich nennt er sie lu, das
die Privatgelehrte unterstützt, blieben erfolglos –
heißt Barbar: »Jede Familie der Barbaren braut
die zeitlichen Perspektiven waren den Gutachtern
Alkohol und jeder trinkt; sie saufen wie das Vieh,
zu unklar. Vor allen Dingen: Spindler hat bislang
ohne innezuhalten, um Luft zu holen.« Und
keinen einzigen Aufsatz über seine Arbeit in Fach-
schlimmer noch: »Die Barbaren spießen Babys
zeitschriften publiziert – zu viel steht noch auf der
auf, einfach so als Sport.«
To-do-Liste.
Wie sollte man sich solcher Wilden erwehren?
Im Oktober 2006 begleitete ich ihn auf seiner
Arthur Waldron hatte drei grundlegende Strate-
insgesamt 331. »Expedition«. Per Bus und Minivan
gien der Ming im Umgang mit den Mongolen aus-
fuhren wir in das abgelegene Dorf Shuitou. Der
gemacht. Anfangs gaben sich die Chinesen ent
Amerikaner hatte dort schon vor ein paar Jahren
weder offensiv und vertrieben Siedler aus dem
eine Schrifttafel untersucht, die von der Ming-
Grenzgebiet oder sie versuchten, Clanführer durch
Mauer stammt und jetzt das Haus eines Bauern
Geschenke, offizielle Titel oder Handelsabkom-
ziert. Erst seit 2005 gibt es ein Gesetz zum Schutz
men zu kaufen. Doch einige Kaiser lehnten Ge-
des Bauwerks, und obwohl der Kauf und Verkauf
schäfte mit den »Wilden« grundsätzlich als ehren-
von Ming-Artefakten verboten ist, wurde uns die
rührig ab. Zu schwach für eine aggressive Strate-
Tafel sogleich zum Kauf angeboten. Doch wir hat-
gie ließen vor allem die späten Ming die Grenze
ten ein anderes Ziel: Von der Mauer aus waren
befestigen.
Spindler ein paar hohe Bergrücken aufgefallen, auf denen er weitere Ruinen vermutete.
Spindler hält diese Drei-Stufen-These für zu einfach, glaubt, dass auch die Kaiser der späten
Wind raschelte in den abgeernteten Getreide-
Ming-Zeit differenzierter operierten. Die Taktik sei
feldern, als wir uns an den steilen Anstieg machten.
örtlichen Gegebenheiten angepasst worden, Mau-
An diesem Abschnitt der Mauer hatten sich 1555
erbau konnte mit militärischen Offensiven oder fi-
Tausende von Mongolen versucht. Die chinesische
nanziellen Anreizen kombiniert werden.
Verteidigung, wie sie sich Spindler inzwischen darstellt, beruhte vor allem auf einfachen Kanonen,
Eine Frage der Ehre
Pfeil und Bogen, Keulen und Steinen. »Es gab sogar
Doch ein Grundproblem der Nordgrenze ver-
Vorschriften, wie viele Steine jeder Soldat auf Vor-
mochten die Kaiser mit keiner Strategie zu lösen:
rat haben musste und wie sie im Fall eines Angriffs
Das Ansehen eines Mongolenanführers beruhte
in den zweiten Stock eines Wachturms zu bringen
auf seinen Verdiensten für den Stamm. Einzige
waren.« Später kamen wir an einem Haufen Stein-
Ausnahme: Der Erstgeborene der direkten Nach-
brocken auf der Mauer vorbei. Ich hätte ihn ver-
kommen Dschinghis Khans genoss von Geburt an
mutlich ohne Spindlers Hinweis übersehen.
ein Recht auf Führerschaft.
Die Mongolen griffen in der Nacht an, meist in
In den 1540er Jahren bemühte sich deshalb Al-
kleinen Gruppen. Erobern wollten sie das Land des
tan Khan, Angehöriger einer Nebenlinie, um ein
Kaisers nicht. Angriff, Plündern und Rückzug lau-
lukratives Handelsabkommen mit China. Doch
tete die Devise. Sie raubten Menschen und Vieh,
der regierende Ming-Kaiser Jia-jing lehnte ab. In
Wertgegenstände und Haushaltsutensilien. Ver-
der Nacht des 26. September 1550 überwand Altan
schleppt in die Steppe mussten die Chinesen dort
Khan mit zehntausenden Kriegern überraschend
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Qiang Ba Dan Zhen / Fotolia
heitsjobs als Dozent oder Unternehmensberater.
Tönerne Wächter Mehr als 7000 Soldaten aus Terrakotta sollten die Grabanlage des ersten Kaisers von China bewachen – Qin Shihuangdi (259 – 210 v. Chr.). Nachdem dieser alle Rivalen ausgeschaltet und das Reich gefestigt hatte, befahl er 215 v. Chr. den Bau der ersten »Langen Mauer«.
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LITERATURTIPP Julia Lovell Die Grosse Mauer China gegen den Rest der Welt 1000 v. Chr. – 2000 n. Chr. Geschichten um Chinas Bollwerk im Norden, Karten zu den Bauphasen und eine detaillierte Zeittafel vertiefen das Thema. [Theiss, Stuttgart 2007, 344 S., € 22,90]
die Grenze. Die Mongolen wüteten zwei Wochen
immer geschehen können, geht Spindler selten al-
lang, tausende Chinesen wurden verschleppt. Den
lein auf Tour und erzählt Freunden auch immer,
kaiserlichen Ingenieuren war dies eine Lehre: Fort-
wo er unterwegs sein wird. Doch auch das nutzte
an verwendeten sie Mörtel, um den Festungen
wenig, als er und eine Freundin sich 2003 völlig
mehr Stabilität zu verleihen. Ein weiterer Durch-
verstiegen. Erst nach fünf Tagen, davon zwei ohne
bruch 1576 brachte die nächste Innovation: Mit ge-
Nahrung und nur mit Regenwasser aus Felsmul-
brannten Ziegeln ließ sich auch auf schwierigstem
den als Getränk, entdeckten die beiden einen Pfad,
Terrain noch bauen.
der sie aus der Wildnis direkt in die Arme eines
Während die meisten Historiker die Große
Suchtrupps führte. Doch bei aller Sorge, die mir
Mauer als Verschwendung von Ressourcen be-
solche Berichte bereiten – der Blick von der Mauer
trachten, sieht Spindler darin einen Erfolg: Das
in die Weite ist einfach fantastisch. Von einem Fort
Kaiserreich nutzte alle Optionen, die Nordgrenze
aus erkennen wir in der Ferne die Umrisse eines
zu sichern. Es gab ja nicht nur Fehlschläge, son-
weiteren, und mein Begleiter spekuliert, dass bei-
dern auch erfolgreich abgewehrte Angriffe wie der
de Teil einer Signalkette waren (die Chinesen lie-
in Shuitou, wo Spindler und ich gemeinsam un-
ßen zu diesem Zweck Schießpulver explodieren,
terwegs waren.
während sich die Mongolen über Rauchsignale
Feldforschung zur Chinesischen Mauer ist an-
verständigten). Leider dürfte diese Beobachtung
strengend und auch gefährlich. Spindler folgt Tier-
Spindlers To-do-Liste um einen weiteren Punkt
pfaden, und manchmal nutzt er die Mauerkrone
verlängern.
selbst, da sie weniger dicht bewachsen ist. Als ich
www.science-shop.de/epoc
ihn begleite, lerne ich rasch das Dornengestrüpp
»Ich müsste Japanisch lernen«
fürchten. Ich kann bald gut nachvollziehen, dass
Es gibt noch andere wie Spindler, eine Gemein-
er in einem wollenen Jagdhemd und schweren
schaft von Fans der Großen Mauer. Sie versam-
Bergschuhen unterwegs ist, die Hände geschützt
meln sich auf speziellen Seiten im Internet. Zu ih-
durch elchlederne Arbeitshandschuhe. Dabei erle-
nen gehört Hong Feng, Polizist im Revier an der
be ich eigentlich nur einen harmlosen Ausflug.
Universität Peking. Auch er hat noch nie mit einem
Unterwegs erzählt mir Spindler, dass ein Freund
Historiker gesprochen, etwa über seine These zu
von ihm einmal von einem Turm stürzte und sich
einer kilometerbreiten Lücke in der Verteidigungs-
das Handgelenk brach. Weil es schon dämmerte,
anlage im Nordwesten von Peking. Das Gelände
erschien der Abstieg von der Mauer zu gefährlich
dort sei zu anspruchsvoll, schrieben Wissenschaft-
und sie verbrachten die Nacht auf der Ruine. »Hat-
ler. Doch Feng kennt weitaus steilere Abschnitte,
te er Schmerzen?«, wollte ich wissen. Die Antwort
die dennoch stark befestigt waren. Er forschte des-
war nicht geeignet, mich zu beruhigen: »Oh ja, er
halb selbst in alten Schriften nach und fand her-
hatte sehr, sehr starke Schmerzen!« Weil Unfälle
aus, dass auf jenem Kamm nach Ansicht der Ming eine Energiebahn, eine so genannte »Drachenader« verlief, die nach den Regeln des Feng Shui
Schnee und Eis bescheren der Großen Mauer
nicht durch Bauwerke gestört werden durfte. Auch Spindler ist auf jenen Webseiten vertre-
heute ein wenig Ruhe vom
ten. Unter einem chinesischen Pseudonym – Ah
Touristenrummel. Einst brach-
Lun – veröffentlichte er vor Kurzem einige von der
te der Winter Erholung von
verschworenen Gemeinschaft hoch gelobte Bei-
den Mongolenangriffen.
träge in der Landessprache. Nun möchte er ein Buch schreiben, erklärt er bei unserem letzten Treffen, spätestens 2008. Anschließend wird er sich bei einer Hochschule bewerben. Oder weiter unabhängig bleiben, denn es gebe noch viel zu tun. »Ich müsste eigentlich noch Japanisch lernen und Mongolisch, um weitere Textquellen zu erschließen. Auch Russisch und Deutsch wären hilfreich. Und Tibetisch.« Ÿ
Cheng Dalin
Dieser Beitrag basiert auf dem Artikel »Walking
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the Wall« von David Hessler, erschienen im »New Yorker« vom 21. Mai 2007. Übersetzung und Bearbeitung: Klaus-Dieter Linsmeier. epoc 01/2008
Gewinnen Sie eine
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谜
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Sieht aus wie eine Fahrgestellnummer. Ist aber keine. Hinter diesen Ziffern verbirgt sich unser Lösungswort. Wie es zu entschlüsseln ist, lesen Sie auf den Seiten 86 – 89. Schicken Sie den Begriff auf einer Postkarte an: epoc, Preisrätsel, Postfach 104840, 69038 Heidelberg. Oder als E-Mail an:
[email protected]. Einsendeschluss: 31. Januar 2008.
musik geschichte
Monteverdis Geniestreich Menschen handeln singend – so absurd das Geschehen auf einer Opernbühne wirken mag, so wahr können die Empfindungen und Begierden sein, die dort zum Ausdruck kommen. Seit den Anfängen des Musiktheaters hat sich daran nichts geändert.
Von Jürgen Kesting
Erste Opern Seit der Uraufführung der ersten erhaltenen Oper sind 410 Jahre vergangen. Der wahre Protagonist in Jacopo Peris »Euridice« ist der thrakische Sänger Orpheus, Sohn des Musikgottes Apoll. Die epochale Leistung des Werks liegt in der Erhebung des Gesangs zur Tonsprache. Das erste Meisterwerk der neuen musikalischen Gattung aber gelang Claudio Monteverdi, der schon von seinen Zeitgenossen als Divino Claudio bewundert wurde, mit seinem »L’Orfeo« von 1607. Wegweisend für Generationen von Komponisten und Librettisten war aber seine »L’Incoronazione di Poppea« aus dem Jahr 1642. So treten in diesem Werk bereits Archetypen auf, die über Jahrhunderte zum Personal des Musiktheaters gehören sollten: etwa das adelige Paar, dem eines von niederem Stand gegenübersteht, die »komische Alte« oder der »verliebte Diener«.
D
ie Oper ist ein Kind des Irrtums. Eigentlich
Darstellungsform zu erleben sind. Der singende
sollte die antike Tragödie in der neuen Kunst
Mensch, scheinbar der Wirklichkeit fern, wird zur
form wiederauferstehen. Jedenfalls nach Ansicht
Chiffre für den Wahrheitsanspruch der neuen
ihrer Väter, Mitglieder der Künstlergruppe Came
Kunstform.
rata im Umkreis des Florentiner Grafen Giovanni
Die Entstehung der Oper fällt in eine Zeit epo
Maria de’ Bardi (1534 – 1612). Nach ihrer Ansicht
chaler Wandlungen. Mit der Renaissance begann
hatte es in den Dramen der Griechen den einstim
die Entdeckung der Welt und des Menschen. Das
migen Gesang gegeben. Viel wichtiger war den
theozentrische Weltbild wurde von einem anthro
Dichtern wie den Komponisten indes etwas ganz
pozentrischen abgelöst. Anders als in der poly
Neues. Dass es mit der Berufung auf die antike Tra
phonen, der vielstimmigen Musik, in welcher der
gödie nicht wirklich ernst gemeint war, offenbart
Text gleichsam überwuchert wurde, konnte der
sich schon am Beispiel der Bearbeitung des My
Sänger in der »monodischen« Musik – der ein
thos um Orpheus in der ersten erhaltenen Oper –
stimmigen – »ich« sagen, konnte er seine Affekte
»Euridice« von Jacopo Peri (1561 – 1633). Der Libret
zum Ausdruck bringen und solche im Publikum
tist Ottavio Rinuccini raubte der Sage den tra
auslösen. In einer Zeit fundamentaler wissen
gischen Charakter. Bei ihm verliert Orpheus seine
schaftlicher Entdeckungen durch Galileo Galilei
Frau Eurydike nicht, als er sich beim gemeinsamen
oder Johannes Keppler bedeutet also auch die
Weg aus dem Totenreich nach ihr umsieht. Rinuc
Oper eine Wende – die des menschlichen (Selbst-)
cini verlegt die Handlung in eine arkadische Welt –
Bewusstseins. Die Wirkung, welche von den Fi
und beschert der Tragödie ein lieto fine, ein glück
guren ausging, die »ich« sagen und ihre Empfin
liches Ende.
dungen singend äußern konnten, traf in das Emp
Durch diese Verlagerung in ein stilisiertes,
findungszentrum der Epoche wie etwa der Gesang
künstliches Umfeld sollte ein seit jeher festge
von Claudio Monteverdis (1567 – 1643) »L’Orfeo«,
stellter, beklagter, belächelter Widerspruch der
der eben seine geliebte Frau verloren hat.
»unmöglichen Kunstform Oper« – so der Theater schriftsteller Oscar Bie (1864 – 1938) in seiner Ge schichte der Gattung – aufgehoben werden: dass das Reden und Handeln der Figuren als Gesang vorgeführt wurde. Anders als eine realistische
40
Tragödie stellt sich die Oper als Form dar, in der tatsächliche Vorgänge in einer unrealistischen
Tu se’ morta mia vita, ed io respiro … (Du bist tot, mein Leben, und ich atme noch) epoc 01/2008
weil er mit dem Verlust Eurydikes sein Leben ver loren hat, und so ist er selbst zum Sterben bereit.
Bridgeman Giraudon
Orpheus atmet zwar noch, aber er lebt nicht mehr,
Was ihn retten wird, ist – der Gesang. Der vox humana ist in der Kunst das Wissen um den Tod an vertraut – davon berichten fast alle Gründungs mythen der Musik. Über die Macht des orphischen Gesangs heißt es in Ovids Metamorphosen:
Während er so sang und zu seinen Worten rührte die Saiten, Weinten die blutlosen Seelen, … Tantalos schnappte nicht nach dem entweichenden Wasser, Ixions Rad stand still, an des Tityos Leib hackten nicht mehr die Geier … Damals benetzten zum ersten Male der vom Liede besiegten Furien Wangen, so sagt man, die Tränen So schildert Ovid die Macht, mit welcher der thra kische Sänger Orpheus die Kräfte der Unterwelt überwindet. Das Lamento der Arianna aus der gleichnamigen Oper von Monteverdi – die bis auf eben diesen Klagegesang nicht erhalten ist – löste eine Flut von Lamentationen aus. Die erste Zeile dieses Gesangs ist zu einem Topos der Oper gewor den: Lasciatemi morire – »Lasst mich sterben«. Es ist der Todeswunsch nach dem Verlust eines ge liebten Menschen oder auch nach einem Liebes verrat. Henry Purcells (1659 – 1695) von Aeneas verlassene Dido erbittet, bevor sie ins Grab gelegt wird, Remember me, but forget my fate. In Mozarts (1756 – 1791) »Zauberflöte« ersehnt Pamina, die sich von Tamino verlassen wähnt, in einer herzbe wegenden Arie die Ruh’ im Tode. Richard Wagners (1813 – 1883) Isolde findet die Selbstverwirklichung in der Selbstauflösung im Weltall. Aida und Radamès hauchen ihre Seelen mit einem verklärten – und verklärenden – al ciel (»zum Himmel«) aus. Der Gesang in der Oper, die in Monteverdi ih ren ersten großen Vertreter fand, ist in doppelter Weise die Sprache der Leidenschaften: in der Selbstaussprache des singenden Menschen auf der Bühne sowie in der Wirkung auf den Hörer. Der Gesang ist Abbild der Gefühle und zugleich der Stimulus, der Gefühle auslöst. Das geht aus einem Brief vom 4. Februar 1628 hervor, den Mon teverdi schrieb, als er zur Hochzeit des Herzogs von Gonzaga eine Meeresfabel – »Le Nozze di Teti e Peleo« – von Scipione Agnelli vertonen sollte.
Der aus Cremona stammende Claudio Monteverdi
»Ich habe gesehen, dass die handelnden Figuren
führte die noch junge Gattung der Oper 1607 mit
Winde sind, Amoretten, Frühlingswinde und Sire
»L’Orfeo« zu ihrem ersten Höhepunkt.
epoc-magazin.de
41
nen, weshalb viele Soprane nötig sein würden, und
lische, als die Sphäre menschlicher Gemeinheit
außerdem sollen die Winde singen. Wie also, lieber
und Niedertracht.«
Herr, kann ich die Sprache der Winde imitieren,
Ein Prolog über den Lauf der Welt eröffnet das
wenn sie nicht sprechen?« Sein Ziel war, um eine
Werk. Die Tugend sei, sagt Fortuna voller Hohn,
Metapher von Oscar Bie zu übernehmen, eine »Fo
zur »Gottheit ohne Tempel« geworden. Der auf die
tografie der Seele«. Es waren die Seelen realistischer, handelnder
ewigen Gebote sich berufenden Virtù hält Amor entgegen:
Menschen. Der Politologe Udo Bermbach hat in einem Essay über Claudio Monteverdis »L’Orfeo«
Man kann »Poppea« als Anfang und Ende der Oper ansehen und »L’Incoronazione di Poppea« die Geburt der Oper aus der Krise der Gesellschaft beschrieben. Mit der Entdeckung und Emanzipation des Sub jekts beginnt zwar dessen Freiheit, aber in dieser Freiheit liegt zugleich seine Gefährdung. Das wird in der größten Oper des 17. Jahrhunderts verhan
Wie könnt Ihr glauben, Göttinnen, dass die Weltherrschaft unter Euch aufgeteilt werden kann ohne Amor, einen Gott, der um vieles größer ist als Ihr beide. Noch heute, wenn Ihr in einem einzigen Wettkampf von mir überwunden sein werdet, müsst ihr zugeben, dass sich auf eine bloße Laune von mir die ganze Welt verändert »Die Krönung der Poppea« ist nicht nur die Ge
delt. Mit der »Incoronazione«, komponiert 1642,
schichte einer Verführung, sondern zugleich die
griff Monteverdi zum ersten Mal in der Geschichte
einer politischen Verblendung. Kaiser Nerone, der
der jungen Gattung einen historischen Stoff auf:
Kurtisane verfallen, verstößt seine Gemahlin Otta
die Inthronisierung der Kurtisane Poppea durch
via und befiehlt seinem Lehrer Seneca, der die Bin
Kaiser Nero. Mit dem historischen aber wählte er
dung der Macht ans Gesetz verlangt, den Suizid.
auch einen damals hochaktuellen Stoff: das poli
Die Oper beginnt nach einer langen Liebesnacht
tische Handeln. Es ist das Thema von Niccolò Ma
im Haus der Poppea. Die draußen harrenden
chiavellis (1469 – 1527) berühmtem Traktat »Il Prin
Wächter beklagen als vox populi den Verfall der
cipe« – »Der Fürst«. Nicht mehr Gott, so heißt es
Sitten: dass der Kaiser sich mit einer Hure vergnü
dort, lenkt das Leben: dessen beherrschende Kräf
ge und sein Ohr nur dem Seneca leihe, dem
CD-TIPP
te sind Fortuna, Virtù und Necessità – Glück, Tu
»schlauen Fuchs«, dem »schuftigen Schmeichler«.
Claudio Monteverdi L‘ Incoronazione di Poppea Mit Daniela Dessi, Adelisa Tabiadon, Josella Ligi u. a. Dir.: Alberto Zedda
gend und Notwendigkeit. Sie sind Chiffren für das
Poppea tritt aus dem Haus und bittet den Kaiser,
Zufällige und Sinnlose, für das zielbewusste und
sie nicht zu verlassen. Was im Klang ihrer Stimme
planvolle Handeln sowie für die Notwendigkeit
nachhallt, sind die Wonnen der Liebesnacht und
eines ethischen Handelns.
das neue Erwachen der Lust. Im Verlauf des Duetts
Aktuelle Aufnahme von Claudio Monteverdis bedeutendster Oper – produziert fast vier Jahrhunderte nach ihrem Entstehen. [Grosser & Stein; Membran Music, 2006, 3 Audio-CDs, € 24,95, ISBN: 9783865626752]
www.science-shop.de/epoc
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Diese drei abstrakten politischen Kräfte (oder
wird das Bitten und Locken der Poppea – Tornerai?,
Prinzipien) werden im Prolog der Oper durch alle
»Wirst du zurückkommen?« – zur körperlichen
gorische Figuren verkörpert – mit einer Variation.
Berührung. Wie wollüstige Liebkosungen träufeln
Neben Fortuna und Virtù tritt Amor – die Liebe
die Worte von ihren Lippen – auch dies ein Topos.
oder besser: die Verführung. Die im Rom des Jah
Thema der Oper wird, auf Jahrhunderte hin, die
res 62 n. Chr. spielende Geschichte dient als Spie
Verführung sein.
gel ihrer eigenen Zeit: der Renaissance. Nicht län
Der Sänger muss mit seiner Stimme alles kön
ger verankert im festen Glauben an die göttliche
nen: sprechen, deklamieren, flehen und flüstern,
Ordnung, ist der Mensch zwar in seine subjektive
kosen und singen. Jeder Affekt schafft sich seine
Freiheit entlassen, zugleich aber in eine tiefe Ver
eigene Geste, seinen eigenen Klang – und damit
unsicherung. Die Oper behandelt, so Bermbach,
seine Wahrhaftigkeit. Weil Monteverdi die Figuren
»die Frage der Politik im Medium der Kunst. Die
weder positiv noch negativ zeigt und selbst die
drei Göttinnen nehmen eine Diskussion auf, die
Verführung als ein Glück jenseits von Gut und
den zeitgenössischen Diskurs der Intellektuellen
Böse besingen lässt, ist das Werk dem Vorwurf aus
beherrschte. Ein Spiel wird angekündigt, in dem
gesetzt gewesen, es handle sich um eine unmora
die entfesselte Subjektivität der moralisch freige
lische Oper. Tatsächlich zeigt die »Poppea« – ob
stellten Herrschenden, die ihren privaten Gelüs
jektiv wie die Dramen Shakespeares – mit bestür
ten folgen, den Gang der Handlung bestimmt. Die
zender Radikalität das Doppelgesicht des Poli
Politik erscheint als das schlechthin Unmora
tischen: im Handeln wie im Fühlen. Selbst die von epoc 01/2008
auch sie sich nur mit unmoralischen Mitteln weh ren. Den Vorschlag ihrer Amme Arnalta, Neros Un treue ihrerseits mit Ehebruch zu vergelten, ver
Mein Schicksal wird nicht länger vom Himmel bestimmt, sondern von deinen Lippen, so schön wie Rubine
wirft sie – nicht um ihrer Ehre willen, sondern sie
Später, nachdem Nerone, veranlasst durch Pop
wahrt die »Moral« aus Kalkül.
pea, den Philosophen hat ermorden lassen, sagt er:
Auch Seneca wird zunächst ins Zwielicht des
»Poppea, sei guten Mutes, noch heute wirst du
politischen Opportunisten gestellt, bis die Kon
sehen, was Amor vermag.« Es ist der Offenba
frontation mit Nerone zeigt, dass er kein Tritt
rungseid eines Herrschers, der von seinen Trieben
brettfahrer der Macht ist. Der Kaiser teilt seinem
gesteuert wird. Der Gipfel der Pervertierung wird
Lehrer mit, er wolle Ottavia von ihrem Platz ent
erreicht, als Nerone und sein Hofdichter Lucan
fernen und Poppea heiraten. Der Philosoph ver
mit einem Lied der Lust den Selbstmord Senecas
langt die Bindung der Macht an Gesetze. Gesetze,
besingen. Darauf entlockt das Antlitz der Poppea
erwidert der Kaiser, seien nur für die Diener. Er
dem Kaiser und dem Hofdichter jauchzende, ja
könne jedes Gesetz nach Gusto ändern: »Ich tue,
orgiastische Koloraturen der Lust – auf den la
was ich will.« Durch den Widerspruch des Philo
chenden, lüsternen, lasziven, rubinglänzenden
sophen gerät der Herrscher außer sich.
Frauenmund, die allgegenwärtige erotische Chi
Nel mondo terren lo scetro è mio –
brechens kann keiner der Beteiligten sich lösen.
Trarrò la lingua a chi vorrà bis marmi
Die Oper endet mit einer schrecklich-grandiosen
märe. Aus den Verstrickungen im System des Ver
(Auf Erden herrsche ich allein – ich reiße jedem, der mich tadelt, die Zunge heraus)
Apotheose: der »Incoronazione«. Indem Nero sei ne Leidenschaft, sein Vergnügen inthronisiert, hat er, mit den Worten Senecas, eine plebejische Untat begangen. Man kann Monteverdis »Poppea« mit Fug und Recht als Anfang und Ende aller Opern ansehen.
Zwischen Nerone und Seneca wird eine bis heute
Eine politische Oper, ein Stück ihrer Zeit und doch
aktuelle Grundsatzfrage der Politik diskutiert: Ob
aktuell, ohne dass sie angestrengt aktualisiert wer
der Monarch nach den Regeln der allgemeinen
den müsse. Zugleich ist sie ein Gesamtkunstwerk
Vernunft handeln müsse oder ob er, über das Ge
mit einer dramatisch und psychologisch stim
setz sich erhebend, absolutistisch entscheiden
migen, ausdifferenzierten Tonsprache, in welcher
kann. Der Kaiser insistiert: »Der Mächtige hat im
der singende Mensch sich in seiner Wahrhaftigkeit
mer Recht.« Seneca resigniert: »Immer gewinnt
beglaubigt.
die falsche Seite, wenn die Gewalt und die Ver nunft einander widersprechen.«
Meilensteine des Musiktheaters Singspiel: »Entführung aus dem Serail« von Wolfgang Amadeus Mozart (1782)
Musikdrama: »Der Ring des Nibelungen« von Richard Wagner (1851 – 1874) Oper: »Aida« von Giuseppe Verdi (1871) Operette: »Die Fledermaus« von Johann Strauß (1874)
Kammeroper: »Geschichte vom Soldaten« von Igor Strawinsky (1917)
Schauspiel mit Musik: »Die Dreigroschenoper« von Bertolt Brecht und Kurt Weill (1928)
Musical: »West Side Story« von Leonard Bernstein (1957)
Darin, dass Sterbende singen, hat der gesunde Menschenverstand – oft nur ein anderes Wort für
Die politische Unvernunft ist das Kind der Ver
jedermanns Dummheit – die große Paradoxie der
führten. Das wird am Morgen nach der Liebes
Oper gesehen. Die Frage hätte zu lauten: Warum
nacht des Kaisers und der Kurtisane deutlich:
Akg Berlin
Nerone verlassene Kaiserin Ottavia erscheint nicht nur als Opfer. In einer entsittlichten Welt kann
soll, warum muss er singen? In einem enigma tischen Poem des russischen Symbolisten Velimir
Wie süß und wie schön, o Herr, fandest du in der vergangenen Nacht die Küsse meines Mundes Sie fragt weiter, wie er die Äpfel ihrer Brüste be wundert habe. Sie fragt es mit der Geste gespielter Scham, stockend ansetzend: I … I … I pomi – »die … die … die Äpfel«. Fragt endlich, wie er sich in den süßen Umarmungen gefühlt habe. In seiner Ver zauberung erwidert Nerone:
Je süßer die Küsse waren, desto beißender, und desto mehr habe ich sie ge nossen epoc-magazin.de
Chlebnikow (1885 – 1922) heißt es:
Wenn sie am Sterben sind – schnauben die Pferd, Wenn sie am Sterben sind – welken die Gräser, Wenn sie am Sterben sind – er löschen die Sonnen, Wenn sie am Sterben sind – singen die Menschen Jürgen Kesting ist Journalist, Kritiker, Buch autor und einer der bedeutendsten zeit genössischen Experten auf dem gebiet der Gesangskunst. 43
titelth ??? ema
Magisches Ägypten Die richtigen Worte, in der richtigen Weise gesprochen, halfen den Toten im Jenseits, schützten die Lebenden – oder unterwarfen sie einem fremden Willen.
Von Klaus-Dieter Linsmeier
G
44
te die Grenzen aller ägyptischen Magie ab: Mit Hilfe der Götter war ewiges Leben zu haben, doch eben
eheimnisvolle Schriftzeichen, eine Mu-
nicht im Diesseits. Die gute Nachricht: Wer als Kö-
mie, das sind wichtige Zutaten wohlig-schau-
nig unter der Sonne herrschte, sollte dies nach dem
rigen Gruselns vom Stummfilm »The Mummy«
Ableben auch im Jenseits tun – als Osiris. Dazu aber
(1932) bis zu »Belphegor – das Phantom des Louv-
bedurfte er professioneller Hilfe.
re« (2001). Mal erweckt das laute Lesen des Hiero-
Die Wiederbelebung Verstorbener gehörte des-
glyphentextes den Toten zu neuem Leben, mal
halb zu den vornehmsten Aufgaben der Priester,
verhilft es einem Untoten endlich zu ewiger Ruhe.
war gleichermaßen Religion und Magie. Zwischen
Beides kostet freilich diverse Tote, bis schließlich
diesen wurde noch nicht unterschieden, beide ge-
die Ordnung von Leben und Tod wiederhergestellt
hörten zum Alltag von Arm und Reich, sicherten das
ist. Und hinter beiden Konstellationen steht ein
Wohlergehen des Staates ebenso wie das eines Ein-
jahrtausendealtes Klischee: Ägyptische Priester
zelnen. Lediglich weiße Magie, die nur Gutes im
verfügten über geheimes magisches Wissen (siehe
Sinn hat, und schwarze, die Schaden zufügt, wusste
auch den Beitrag S. 60), das Rätsel des ewigen Le-
man gegeneinander abzugrenzen. Denn das Allge-
bens inklusive.
meinwohl galt viel im alten Ägypten.
Doch selbst die Göttin Isis vermochte ihren er-
Magie vollzieht sich im Ritual, im Ausführen
mordeten Gemahl Osiris nicht wieder zu den Le-
von Handlungen und im Sprechen von Formeln.
benden zurückzubringen. Aberwitzig daher der
Das reine Vorlesen von Hieroglyphen (siehe auch
Versuch, sie zu übertreffen. Immerhin schlug ihr
den folgenden Beitrag) hätte demnach wohl keine
Vorhaben nicht gänzlich fehl – Osiris lebte und
Mumie zum Leben erweckt. Ein bisschen mehr
herrschte, doch im Jenseits. Dieser Teilerfolg steck-
musste es schon sein. »Auch wir modernen, aufge-
epoc 01/2008
BPK
tutanchamuns Totenmaske sollte dem im Jenseits wieder zum Leben erweckten Pharao sein Gesicht zurückgeben, freilich mit idealisierten Zügen. Weil das Fleisch der Götter aus Gold war, bestand auch die Maske daraus.
epoc-magazin.de
Glossar Heka, die göttliche Schöpfungskraft hinter dem gesprochenen rituellen Wort, war eng mit dem Gott Thot, dem Herrn der Schrift und der Rezitation, verbunden.
Ka bezeichnete das Prinzip der väterlichen Fürsorge mit den Aspekten Schutz und Versorgung. Der Tod trennte Leib und »Seele«. Der Ka musste deshalb rituell wieder mit dem Toten verbunden werden, um diesen im Jenseits zu unterstützen.
Maat nannte man die Weltordnung, personifiziert durch eine Göttin, eine Tochter des Sonnengotts Re. Durch Rituale und das Befolgen von Regeln wurde die Ordnung aufrechterhalten und das Chaos vermieden.
klärten Menschen benutzen rituelle Wendun-
Wie aber sollten die Lebenden mit dem Toten
gen«, erläutert Hubert Roeder, Leiter der Ägyptolo-
Kontakt aufnehmen, wie ihm die Speiseopfer zu-
gischen Forschungsstätte für Kulturwissenschaft
kommen lassen? Als Schnittstelle zwischen Dies-
in Heidelberg. »Da verkündet ein Richter sein Ur-
seits und Jenseits diente seine rituell belebte Sta-
teil im Namen des Volkes, der Standesbeamte er-
tue. Mehr noch: Der Thronfolger verband diese
klärt kraft seines Amtes ein Paar zu Mann und Frau.
Darstellung in einem nächtlichen Ritual mit dem
Wir billigen derartigen Formeln eine Wirkung, eine
»Ka« des Herrschers, ein weiterer zentraler Begriff
Macht zu, basierend auf der Verfassung oder dem
der altägyptischen Kultur (siehe Glossar).
Gesetzbuch. Für die alten Ägypter wirkte solch ein Sprechakt durch den Einfluss der Götter und auf
Freispruch von allen Sünden
Basis von Heka.«
Der Ka stand insbesondere für die Fähigkeit des
Heka bezeichnete eine Kraft, die durch das ritu-
Pharaos, sein Volk zu schützen und ihm alles zu ge-
elle Aussprechen formelhafter Wendungen auto-
ben, was es benötigte. Der Tod trennte Ka und Kö-
matisch Wirkung entfaltete (siehe Glossar). Betete
nig, doch dank der Anbindung an die Statue konn-
ein Priester für die Heilung eines Patienten, rief er
te der Ka nun den Toten im Jenseits versorgen. Vor
beispielsweise den Gott Horus an:
allem aber: Durch diesen fürsorglichen Akt erwies sich der Sohn als »Schützer des Vaters« und erhielt
»Rezitiere für mich mittels deiner Heka,
nun selbst einen Ka. Und das war: sein zum Osiris
beschwöre für mich mittels deiner Worte,
verwandelter Vater. Diese raffinierte Konstruktion
die dein Herz geschaffen hat,
legitimierte nun die Herrschaftsübernahme, denn
um die Menschen am Leben zu erhalten,
der alte Herrscher lebte im Sohn weiter.
um die Götter zufrieden zu stellen«
Ob Pharao oder Staatsbeamter: Die Magie war auf das Jenseits gerichtet – nicht auf Wiederer
Horus, Sohn von Isis und Osiris, Herrscher über
weckung im Diesseits zielten all die geheimnis-
Ägypten – der Pharao gilt als seine Verkörperung –,
vollen Formeln in ägyptischen Grabkammern! Das
war auch Ansprechpartner bei einem zentralen Ri-
galt auch für die als »Ägyptisches Totenbuch« be-
tual im Totenkult: der Mundöffnung, die es einem
kannte Sammlung von Zaubersprüchen und Be-
Das Totengericht
verstorbenen König ermöglichen sollte, im Jenseits
schwörungsformeln, die dem Verstorbenen zu
beurteilte die Schuldfreiheit eines
zu sprechen und Nahrung zu sich zu nehmen:
einem guten Leben im Jenseits verhelfen sollte. Es
Verstorbenen. Dazu wog der
überliefert als Schlüsselszene das »negative Sün-
schakalköpfige Anubis dessen Herz
»Horus hat seinen Mund geöffnet mit dem,
denbekenntnis« (siehe Bild unten). Darin beteuert
gegen die Wahrheit auf, symbo-
womit er den Mund seines Vaters geöffnet hat,
der Tote einem Göttergericht beispielsweise: »Ich
lisiert durch die Feder der Göttin
mit dem, womit er den Mund des Osiris geöffnet hat,
habe kein Unrecht gegen Menschen begangen, und
Maat. Thot, hier ibisköpfig, notiert
mit dem Erz, das aus Seth kam, dem Beil aus Erz,
ich habe keine Tiere misshandelt.«
das Ergebnis. Den Vorsitz führte
womit der Mund der Götter geöffnet wurde.
Osiris, Herrscher im Jenseits; Isis
Mögest du seinen Mund damit öffnen,
galt, lag dabei auf einer Waagschale, auf der ande-
und Nephtys (rechts) betrauer-
sodass er geht und leiblich bei der großen Neunheit
ren nicht weniger als die Wahrheit selbst in Gestalt
ten den Toten. Sprungbereit und
spricht im großen Fürstenhaus, das in Heliopolis ist.
einer Feder. Bei bestandener Prüfung erlangte der
drohend: die »Große Fresserin«, der
Möge er dort die Krone von Horus empfangen,
Tote Zutritt zum Gefolge des Osiris sowie zu Op-
die Sünder anheimfielen.
dem Herrn des Volkes«
fern – Brot, Bier, Fleisch und anderes mehr – als
Das Herz des Toten, das als Sitz der Vernunft
BPK
46
epoc 01/2008
Grundversorgung. Im Fall einer Lüge aber musste
die sofortige Hinrichtung. Mitunter stellte man
sich die Waage unweigerlich neigen und das Herz
sich vor, der Verstorbene vollziehe das Urteil selbst:
fiel in den Rachen der »Großen Fresserin«, eines
»Der Feind war gegen dich gekommen, er hatte ge-
Monsters. Was Christen an die Beichte erinnern
sagt, dass er dich töten will. Aber er hat dich nicht
mag, war tatsächlich ein magisches Reinigungs
getötet, du bist es vielmehr, der ihn tötet!« Mit an-
ritual (Ägyptologen scheuen übrigens auch den
deren Worten: Der »Zustand« des Königs ließ sich
christlich geprägten Begriff der Seele im Zusam-
durch den Tod des Urhebers aufheben, der Pharao
menhang mit den Jenseitsvorstellungen Altägyp-
erwachte und trat seine Herrschaft im Jenseits an.
tens; sie ziehen eine Umschreibung als »immateri-
Wahrscheinlich richteten die Priester zu Beginn
1
elle Form des Verstorbenen« vor ). Die Rezitation
des 3. Jahrtausends v. Chr. einen Gefangenen an-
des Sündenbekenntnisses durch einen Priester al-
stelle Seths, später dann ein Rind.
Unheil.
lein reinigte den Toten schon von Schuld, sofern er
Letztlich erfuhr der Pharao also das Schicksal
es verabsäumt hatte, die Götter bereits zu Lebzei-
des Osiris: von Seth getötet, vom schakalköpfigen
ten darum zu ersuchen. Allerdings nicht im Sinn
Totengott Anubis mumifiziert, von Isis wiederbe-
eines reuigen Sünders, der um Vergebung bittet,
lebt. Analogien zwischen Götter- und Menschen-
sondern nach den Regeln der Magie: im Ritual, das
schicksalen nutzten »weiße Magier«, um Hilfe für
automatisch Wirkung zeigt.
die Lebenden zu erbitten. Zum Beispiel hatten die
Die Drei Farben der Magie Im alten Ägypten sollten Zauber zu einem besseren Leben verhelfen Weiße Magie diente dem Allgemeinwohl. Sie heilte
Krankheiten und schützte vor
2
Graue Magie war weniger altruistisch, schade-
te anderen aber kaum. Hierzu gehörten Zukunftsvisionen und Liebeszauber.
3
Schwarze Magie ver-
Die abgeprüften Lebens- und Verhaltensweisen
Götter den falkenköpfigen Horus, Sohn des Osiris,
waren Teil der irdischen Ordnung, der »Maat« (sie-
in seinen jungen Jahren vor zahllosen Gefahren be-
he Glossar). Der bekannte Ägyptologe Jan Assmann
wahrt. Galt es einen Kranken zu heilen, argumen-
Versenden von Träumen mit
beschreibt sie so: »Der erste Grundsatz der ägyp-
tierten die Magier: Erleidet dieser arme Mensch
fingierten Botschaften oder
tischen Anthropologie besagt: Der Mensch kann
nicht das gleiche Schicksal wie einst Horus? Bitte
Verwünschungen. Häufig
ohne Maat nicht leben. Der Grund ist seine Ange-
helft ihm, ihr Götter! Das illustriert ein Zauber-
wurden dabei Darstellungen
wiesenheit auf Gemeinschaft.« Um in dieser er-
spruch gegen Schlangenbiss: »Lasst das Gift aus
des Opfers (Bild), Leichenteile
folgreich zu bestehen, folgte man den Lebensre-
diesem Menschen herauskommen, um ihn geheilt
und Blut verwendet.
geln, Nichtbeachtung hätte bereits im Diesseits
zu seiner Mutter zurückgehen zu lassen, wie Horus
Strafen wie Krankheit oder Unglück zur Folge ge-
geheilt zu seiner Mutter Isis zurückgegangen ist.«
habt. Assmann weiter: »Der zweite Grundsatz lau-
Auch der Weisheitsgott Thot, der mal die Gestalt
tet: Der Mensch kann ohne Staat nicht leben. Der
eines Pavians annahm, mal die eines Ibis, gehörte
Grund ist: Er bedarf einer übergeordneten Instanz,
zu den Adressaten manchen Heilzaubers, bewahrte
die die Maat realisiert und garantiert.«
seine Magie doch den Sonnengott Re auf dessen
Wie der Sonnengott Re im Kosmos für Ordnung
täglicher Fahrt über den Himmel vor Gefahren. Um
sorgte, garantierte der Pharao sie auf Erden. Das er-
davon zu profitieren, verstärkte man die mytholo-
klärt, warum ein verstorbener König im Allgemei-
gische Analogie durch die Technik der Ȇbertra-
nen kein »negatives Sündenbekenntnis« ablegte:
gungsmagie«: Ein Pavianhaar als Ingredienz einer
Das hätte letztlich impliziert, die Maat sei manipu-
magischen Rezeptur sollte den Patienten mit Thot
lierbar. Die wenigen Ausnahmen bestätigen die Re-
in Kontakt bringen. Diese Zutat verdeutlicht zudem
gel. So musste sich Ramses IV. (regierte 1151 – 1145 v.
die Macht, die man Namen zumaß: Verwendet wur-
Chr.) dem überlieferten Ritual nach nicht gegen
de eine als »Pavianhaar« bezeichnete Pflanze.
den generellen Vorwurf des Tötens verteidigen,
Die meisten der fragmentarisch erhaltenen Heil-
sondern lediglich gegen die Unterstellung, dies sei
zauber sollten Menschen retten, die von Schlangen
unrechtmäßig gewesen – ein König tötete nicht
gebissen oder von Skorpionen gestochen worden
aus Willkür, sondern stets als gerechte Strafe im
waren. Meist koppelten die Magier ihre Beschwö-
Rahmen der Maat.
rungen mit der Gabe eines »Gegenmittels« wie der
schaffte Vorteile zu
Lasten anderer, etwa durch
AKG Berlin
Zwiebel, deren Inhaltsstoffe blutdrucksenkend und
Ein Pharao stirbt nie
antiallergisch wirken. Ein Gutteil der heilsamen
Der verstorbene Potentat stand deshalb normaler-
Wirkung freilich dürfte der Interaktion zwischen
weise nicht als »Schuldverdächtiger« vor einem
Heiler und Patient zuzuschreiben sein, glaubt Hu-
Göttergericht, sondern als Zeuge. Auf diese Weise
bert Roeder. Und einer pragmatischen Selektion
lösten die Ägypter ein theologisches Problem: Ein
der Patienten: »Ob ein Magier nach einem Schlan-
Gott altert nicht, wie also war der Tod des Pharaos
genbiss überhaupt einschritt, entschied er anhand
zu erklären? Die Lösung: Ein Feind hatte ihn heim-
einer Klassifikation der Tiere: Waren sie ungiftig
tückisch ermordet – der böse Gott Seth. Natürlich
oder ihr Biss im Gegenteil mit Sicherheit tödlich,
würde dieser leugnen, doch die Fakten lagen auf
lohnte der Aufwand nicht.«
der Hand – der König war tot. Priester simulierten
Schutzzauber sollten Unheil schon im Vorfeld
eine Gerichtsprozess. Auf den Schuldspruch folgte
abwenden, ob Schlangenbisse, Angriffe von Kroko-
epoc-magazin.de
47
»Ich rufe dich an, den Mächtigen Seth, den Gott der Götter, den Verderben bringenden, der ein wohl eingerichtetes Haus hasst, der alles niederwirft und nicht besiegt werden
komm zu mir und schlage meinen Gegner mit Fieberschauer und Hitzewallungen!« kann. Ich rufe dich an, Seth,
Beschwörung aus dem »Großen demotischen magischen Papyrus von London und Leiden«, 3. Jh. n. Chr.
3 + 1 Götter Isis: Inbegriff der Mutter und Magierin. Sie sammelte die Teile ihres ermordeten und zerstückelten Gatten Osiris wieder ein und belebte ihn durch Zauber für eine Existenz im Jenseits. Deshalb galt sie als Beschützerin der Mütter, Kinder und Verstorbenen.
Osiris: Als Herrscher über die Erde geboren, brachte er den Menschen Gesetz und Ordnung. Von seinem Bruder Seth ermordet, von seiner Gemahlin Isis wiederbelebt, wurde er zum Herrscher über das Totenreich.
Horus: Der Falkengott war der Sohn der Isis und des wiederbelebten Osiris. Stets auf der Flucht vor Seth, musste er allerlei Gefahren überstehen. Er war Schutzpatron der Pharaonen und Vertreter der Götter auf Erden.
Seth: Verkörperung des Bösen. Er tötete Osiris und bedrohte Horus, brachte Gewitter, zettelte Unruhen an und herrschte über die lebensfeindliche Wüste. Und doch hatte Seth auch seine guten Seiten: Am Bug der Sonnenbarke stehend, verteidigte er den Gott Re Tag für Tag gegen den Angriff einer Riesenschlange. Gemeinsam mit Horus vereinigte er auch Ober- und Unterägypten.
Corbis
48
dilen, Staatskrisen oder Hungersnöte. Dazu wurde
dem Vorbild der antiken Mittelmeerkulturen fol-
dem Schutzbedürftigen meist ein Amulett unter-
gend. War die begehrte Person bereits verheiratet,
Aufsagen magischer Formeln umgehängt. Für den
ergänzte der Schwarzmagier den Liebes- noch um
König gab es noch einen besonderen Zauber: Sein
einen Trennzauber. Er schrieb Beschwörungen auf
Bett wurde in die Pupille eines Udjat-Auges gestellt
Metall- oder Steintafeln, oft mit speziell zubereite
– das Auge des Gottes Horus, auf den Boden ge-
ten Tinten. Enthielt sie das Blut der Fledermaus,
malt, sollte den Pharao im Schlaf beschützen.
sollte sie vielleicht ein »flatterhaftes« Wesen an-
Offenbar verfügten weiße Magier über gute
sprechen. Wie bei den Heilzaubern wurden wieder
Kenntnisse in der Naturheilkunde, darüber hinaus
Götter vermittels Analogieschluss bemüht: Geb
aber auch in religiösen Dingen. Waren sie mögli-
und Nut, die Personifizierungen von Himmel und
cherweise Priester? Das lässt jedenfalls eine Text-
Erde, waren in der ägyptischen Kosmologie zwar
stelle im »Buch vom Tempel« vermuten, einer Art
seit Anbeginn der Zeit liiert, lagen aber wie häufig
Handbuch für den geordneten Betrieb eines Got-
bei alten Ehepaaren im Dauerstreit. Sie waren die
teshauses. Joachim Friedrich Quack, Direktor des
geeigneten Adressaten, Zwietracht unter dem zu
Ägyptologischen Instituts der Universität Heidel-
trennenden Paar zu säen.
berg, hat es aus tausenden Fragmenten rekonstruiert, die zu 45 verschiedenen Abschriften gehören
Ein Wolf im Widderfell
und in 14 Museen weltweit aufbewahrt werden –
Das Objekt der Begierde ließ sich aber vielleicht
eine rechte Kärrnerarbeit. In diesem Dokument
auch auf weitaus raffiniertere Weise überzeugen:
steht unter anderem zu lesen, dass zu einem Tem-
durch einen Traumzauber. Davon berichtet der so
pel auch Experten für die Heilbeschwörung von
genannte Alexanderroman, eine fiktive Biografie
Skorpionstichen gehörten. Religion und Magie –
Alexanders des Großen aus dem 3. Jahrhundert n.
im alten Ägypten kaum zu trennen.
Chr., die im europäischen Mittelalter zu den meist-
Wer die Zukunft zu ergründen suchte, um Ge-
gelesenen Schriften gehörte. Vermutlich verarbei-
fahren abzuwenden oder sich Vorteile zu verschaf-
tete der unbekannte Autor Legenden, die den Pha-
fen, bemühte sich um Visionen. Ein kleiner, dunk-
raonenstatus des Welteroberers in altägyptischen
ler Raum und die meist siebenmalige Rezitation
Traditionen zu verankern suchten.
eines komplexen Textes schalteten äußere Sinnes-
Demnach floh der letzte ägyptische Pharao Nek-
reize aus. Weihrauch schuf die nötige Atmosphä-
tanebos vor den persischen Eroberern im 4. Jahr-
re – und setzte, in großen Mengen verbrannt, psy-
hundert v. Chr. nach Norden, an den Hof des make-
choaktive Substanzen frei. Das Streben, die Zu-
donischen Königs Philipp II. Doch er nutzte dessen
kunft durch Visionen zu erkunden, kam aber erst
Gastfreundschaft schamlos aus. Denn durch das
im 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr. auf, also im Ägyp-
Senden eines Traums überzeugte er die Königin,
ten unter römischer Herrschaft.
Ägyptens Reichsgott, der widderköpfige Amun,
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Während weiße
wünsche sie zu beschlafen. Dann schlich er mit
Magie Schaden von Menschen abzuwenden suchte,
einem Widderfell verkleidet zu ihr – und zeugte
waren Schwarzmagier nur auf Vorteile erpicht. Lie-
Alexander. Doch nun hatte er ein Problem, denn
beszauber waren keine romantische Angelegen-
König Philipp befand sich auf einem Kriegszug,
heit, sondern sollten Menschen einem fremden
konnte seine Frau also unmöglich selbst geschwän-
Willen unterwerfen. Auch diese Technik wurde erst
gert haben. Also sandte er auch ihm eine Traum
in griechisch-römischer Zeit populär, erkennbar an
botschaft: Amun habe ihm einen Sohn gezeugt.
der deutlich größeren Zahl entsprechender Schrift-
Tatsächlich oblag dem Reichsgott in der ägyp-
stücke. Joachim Quack sieht darin den Ausdruck ei-
tischen Theologie die Aufgabe, den nächsten Pha-
ner veränderten Gesellschaft: Im alten Ägypten
rao in die Welt zu bringen.
trafen sich Frauen und Männer am Dorfbrunnen,
»Wir verstehen Träume heute als Botschaften,
durften miteinander sprechen und umeinander
die über die Dramen unserer persönlichen Vergan-
werben, während die Frau in griechisch-römischer
genheit Aufschluss geben. In der Antike aber galten
Zeit für gewöhnlich das Haus nur selten verließ –
sie als von Göttern gesandt, voller Hinweise auf Geepoc 01/2008
genwart oder Zukunft«, erläutert Joachim Quack. Wer jemandem einen Traum zu senden verstand,
Rezept für einen Liebestrank
konnte diesen beispielsweise veranlassen, ihm Geld zu geben. Doch die nötigen Rituale waren aufwändig.
»Nehme ein wenig Abgeschabtes vom Kopf eines
Überbrächte ein Mensch die Botschaft, würde das
gewaltsam Verstorbenen und
Opfer sie kaum glauben, es musste schon ein Gott
sieben Gerstenkörner, die im
sein. Mit einer so unehrenhaften Angelegenheit
Grab eines Toten vergraben
aber durfte man die Götter nicht direkt behelligen.
wurden. Dazu Blut eines
Stattdessen beschworen die Magier den Geist eines
schwarzen Hundes, ein wenig
Toten, er möge sich dem zu Täuschenden im Traum
Blut vom zweiten äußeren
in Gestalt eines vertrauenswürdigen Gotts zeigen.
Finger deiner linken Hand
Doch wie einen solchen Geist unter Kontrolle be-
und deinen Samen. Daraus
kommen? Indem man sich der Hilfe eines Toten-
stampfe eine Masse, gebe sie
gotts versicherte. Alles in allem also ein komplexes
in einen Becher Wein, rezitiere
Unterfangen, zu dem ein Verstorbener vonnöten
den Zauberspruch siebenmal
war und eine so genannte Chojak-Figur, eine Statue
und gib den Trunk der Frau,
des angerufenen Gotts aus Getreide, Sand, heili-
die dich lieben soll.«
gem Wasser und – bei Anubis – dem Blut eines schwarzen Hundes. »Priester setzten Chojak-Figuren bei den jährlichen Feiern zu Ehren des Osiris ein, wobei sie durch rituelle Mundöffnung auch belebt werden AK
G
Be
rl
in
mussten. Diese Statuen waren sieben Hand breit groß. Solche für die Traumsendung hingegen maßen nur sieben Finger, es waren sozusagen Miniaturausgaben«, erklärt Joachim Quack und schließt daraus, »dass auch die schwarzen Magier Priester waren, die einer einträglichen Nebentätigkeit nachgingen.« Angesehen war das sicher nicht, ihre Arbeit diente ja nicht dem Wohl der Allgemeinheit, sondern schadete Einzelnen. Es gibt aber nur einen ägyptischen Bericht, in dem explizit eine Verurteilung von Schwarzmagiern erwähnt wird: Sie hatten mit Zauberei und Gift die Wachen des Pharaos Ramses III. im 12. Jahrhundert v. Chr. eingeschläfert und den Herrscher getötet. Allerdings differenzierte das Urteil nicht zwischen einer Strafe für die schwarze Magie und einer für das Attentat. Dass sich die erwähnten Verschwörer nicht auf Zaubersprüche allein verließen, sondern den Wachen ein Schlafmittel verabreichten, ist bezeich-
LITERATURTIPP Altägyptische Zaubersprüche Einleitung, Übersetzung und Kommentierung: Hans-Werner Elfert, mit Beiträgen von Tonio Sebastian Richter [Philipp Reclam, Stuttgart 2006, 188 S., € 5,–]
nend: Bei den übelsten Verbrechen, dem Senden von Schlaflosigkeit, Krankheit oder gar Tod halfen
Götter kaum, es verstieß gegen die Maat. Selbst den Täter als Opfer, die geplante Tat als gerechte Sache darzustellen, schien wenig aussichtsreich. Allenfalls mochte man noch Unterstützung vom bösen Seth erhalten. Wohl deshalb finden sich für solch finstere Zwecke nur wenige Zauberformeln unter den erhaltenen Texten. Stattdessen beschreiben sie Rezepturen für Schlafmittel und für Gifte – Pragmatismus benötigte, wer im Schatten der Tempel gegen die Gesetze der Götter verstieß. Ÿ www.science-shop.de/epoc
Klaus-Dieter Linsmeier ist Redakteur bei epoc. epoc-magazin.de
BPK
Hieroglyphen
Worte der Götter Die »heiligen Schriftzeichen« der alten Ägypter dienten vor allem religiösen Zwecken. Den wenigen, die sie beherrschten, sicherten sie aber auch die Macht. Von Martin Kuckenburg
wenig Erhellendes darüber – weshalb die Hieroglyphen lange Zeit ein Mysterium blieben und zu-
A
ls Napoleon 1798 zu seiner Expedition nach
meist als reine Bilderschrift oder als Sammelsuri-
Ägypten aufbrach, waren unter den 35 000
um magischer Symbole gedeutet wurden – und
Soldaten auch mehr als 150 Wissenschaftler. Wäh-
rend der Feldherr Krieg führte, mehrten sie den
Glossar Das Wort Hieroglyphen hat seinen Ursprung im Griechischen hieros glyphein, was so viel bedeutet wie heilige Gravierungen. Die Ägypter nannten ihre Schrift medu netscher: Worte der Götter.
50
damit als nicht entzifferbar galten. Dabei war der Schlüssel längst gefunden. Im
Ruhm der Republik auf ihre Weise: Sie erkundeten
Sommer 1799 hatte ein Offizier Napoleons bei
die Ruinen einer längst vergangenen Zivilisation.
Rosette im Niltal einen knapp 800 Kilogramm
Fasziniert waren sie vor allem von den allgegen-
schweren, beschrifteten Stein entdeckt. Erst 1823,
wärtigen seltsamen Schriftzeichen. Sorgsam in
lange nach Napoleons Feldzug, konnte der fran
Tempel- und Palastfassaden eingemeißelt oder zu-
zösische Forscher Jean-François Champollion
sammen mit prachtvollen Bildern vielfarbig auf
(1790 – 1832) mit Hilfe dieses Steins von Rosette,
Grabwände und sakrale Gegenstände gemalt,
der einen gleich lautenden Text in Hieroglyphen,
regten die Hieroglyphen die Fantasie an – und
Griechisch und spätpharaonischem Demotisch
machten zugleich ratlos. Denn niemand vermoch-
enthielt, die Schrift der alten Ägypter enträtseln.
te die über 3000 Jahre alten Symbole zu entzif-
Demnach standen die Zeichen trotz ihrer Bildhaf-
fern. Auch in der antiken Literatur fand sich nur
tigkeit vorwiegend für bestimmte Lautfolgen, teilepoc 01/2008
Im Grab des Königs Rahotep in Meidum waren die Wände prunkvoll mit »Heiligen Schriftzeichen« bemalt (um 1620 v. Chr.).
weise aber auch für ganze Worte und Begriffe.
oder drei Zeichen bezeugten die Herkunft von Ob-
Sie bildeten ein vollständig durchstrukturiertes
jekten. Auf einem einst mit Pflanzenöl gefüllten
Schriftsystem (siehe dazu auch Abenteuer Archäo-
Gefäß aus der Zeit um 3200 v. Chr. fand sich bei-
logie 4/2005, S. 86).
spielsweise ein Skorpion neben einen Baum
Und doch bedeuteten die Zeichen den alten Ägyptern wesentlich mehr als uns das Alphabet, denn sie dienten nicht nur der Vermittlung von
.
Es enthielt demnach Öl von den »Plantagen« des Königs »Skorpion«. Schon wenig später wurden in den Texten auch
Texten, sondern sprachen die Betrachter auch un-
wichtige historische Ereignisse dokumentiert –
mittelbar durch ihre Motive an. Sie waren also
und auf diese Weise en passant die ersten Könige
ebenso gut Kunst wie Schrift. Darüber hinaus gal-
gepriesen. Im Horustempel von Hierakonpolis,
ten die Hieroglyphen aber als wahrhafte Götter-
der prähistorischen Hauptstadt Oberägyptens,
zeichen, geschaffen von dem ibis- oder pavian
fanden Archäologen eine ganze Reihe beschrifte-
gestaltigen Thot, dem Gott der Weisheit und der
ter Kultgegenstände aus der Zeit um 3000 v. Chr.
Magie (siehe Bild S. 53).
So zeigt eine Schiefertafel sieben ummauerte Städte, eine jede mit einer Namenshieroglyphe verse-
Am Anfang die Beamten
hen. Diese stehen ihrerseits mit unterschiedlichen
Ursprünglich scheinen die Hieroglyphen, wie viele
Tieren – unter anderem einem Falken, einem Lö-
andere antike Schriften auch, aus eher nüchternen
wen und einem Skorpion – in Verbindung. Offen-
Bestrebungen zur Registrierung von Wirtschafts-
bar hatten Könige, die die Namen jener Tiere tru-
gütern und zur Aufzeichnung von Verwaltungs-
gen, einst jene Städte gegründet. Ein steinerner
vorgängen entstanden zu sein. Die ältesten be-
Keulenkopf wiederum zeigt einen durch eine
kannten Zeugnisse finden sich jedenfalls auf über
Herrscherrosette und einen Skorpion
als
5000 Jahre alten Tongefäßen und Warenetiketten
»König Skorpion« gekennzeichneten Herrscher
aus Knochen und Elfenbein – zum Beispiel in Grä-
bei der Einweihung eines Kanals.
bern des oberägyptischen Königsfriedhofs von
Das sicherlich berühmteste frühe Schriftzeug-
Abydos. Diese Beschriftungen aus jeweils nur zwei
nis ist aber die über sechzig Zentimeter große
epoc-magazin.de
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Narmer-Palette aus Schiefer. Sie zeigt einen durch die Schriftzeichen eines Welses nar – und eines Meißels
Gerade in sakralen Zusammenhängen sahen
– altägyptisch:
die alten Ägypter in ihren Hieroglyphen nämlich
– altägyptisch: mer –
mehr als nur Symbole für Laute und Worte. Dies
symbolisierten oberägyptischen Herrscher mit
offenbart sich besonders an bedeutungsvollen Hi-
dem lautschriftlichen Namen Narmer bei der Nie-
eroglyphen wie dem Henkelkreuz. Dieses Zeichen
derschlagung eines Reichs im Nildelta, des Papy-
stand für das Wort anch – Leben – und lag häufig in
ruslands
– und seinen anschließenden Tri-
der Hand von Göttern und Pharaonen. Mitunter
umphzug. Nach Auffassung vieler Ägyptologen
wurde das Symbol sogar mit Händen und Füßen
könnte dieses frühe Zeugnis die Geburtsurkunde
versehen und marschierte durchs Bild wie ein
des altägyptischen Einheitsstaats gewesen sein,
lebendiges Wesen.
denn ihrer Ansicht nach war Narmer ein unmittel-
Versprach man sich von diesem Schriftzeichen
barer Vorgänger des in einigen antiken Schriften
offenbar eine besondere heilbringende Wirkung,
als Reichsgründer bezeichneten Königs Menes
so gab es andere, vor denen sich die Ägypter gera-
(Abenteuer Archäologie 3/2004, S. 44).
dezu fürchteten. In den Pyramidentexten des Al-
Im frühen 3. Jahrtausend v. Chr. gab es also pro-
ten Reichs (3. Jahrtausend v. Chr.) wurden gefähr-
fane Alltagsnotizen genauso wie die sehr viel sorg-
liche Tiere wie Schlangen oder Skorpione prinzi
fältiger ausgeführten, repräsentativen Schrift-
piell nur unvollständig gemeißelt. Auch bei
zeugnisse an Tempelwänden und in Gräbern. Und
menschenähnlichen Darstellungen ließen die
dieses Nebeneinander blieb auch in der nachfol-
Steinmetze bisweilen einen Teil des Körpers
genden Zeit bestehen. Einerseits entstand aus den
weg. Niemand weiß, welches Tabu diesen Verstüm-
Hieroglyphen schon früh eine sehr viel abstrakte-
melungen zu Grunde lag. Sie zeugen aber genauso
re und weniger bildhafte, daher deutlich schneller
von der magischen Bedeutung der Hieroglyphen
und leichter zu schreibende Kursivschrift – das Hi-
wie ihre absichtliche Verschlüsselung, über deren
eratische. Mit ihr produzierten die altägyptischen
Zweck gleichfalls nur spekuliert werden kann. So
Bürokraten eine riesige Menge von Akten, Ge-
wurden in einem Text mitunter scheinbar willkür-
schäftsberichten und Briefen, die man in der Regel
lich bestimmte Symbole gegen andere, unver-
mit Pinsel und Tinte auf dem massenhaft er-
ständliche, ausgetauscht. Tat dies der Schreiber
zeugten Papyrus niederschrieb.
vielleicht, um auf diese Weise bestimmte religiöse Rituale zu verbergen?
Botschaften für die Ewigkeit
52
Weil es galt, einige hundert Schriftzeichen mit
Auf der anderen Seite standen die künstlerisch
ihren nicht selten mehrfachen Sinn- und Laut-
weitaus anspruchsvolleren Hieroglyphen, die mit
werten zu beherrschen, waren im alten Ägypten
großer Sorgfalt ausgeführt werden mussten. Aus
nur sehr wenige Menschen lese- und schreibkun-
ihnen entwickelte sich mehr und mehr eine Sa-
dig. Vermutlich lebten über 98 Prozent nach wie
kral- und Repräsentationsschrift. Wo immer Texte
vor in einer ausschließlich mündlich geprägten
Heiligkeit ausstrahlen sollten, wann immer sie für
Welt. Nur eine Minderheit – vorwiegend Beamte –
die Ewigkeit bestimmt waren, meißelten und mal-
musste für ihre administrativen Aufgaben in den
ten eigens geschulte Schreiber diese Zeichen zum
Amtsstuben, Heiligtümern und Königspalästen
Beispiel an die Fassaden der großen Tempel und
schreiben können. Diese intellektuelle Elite wurde
Paläste, aber auch in die prächtigen Gräber der
in einer langen und harten Ausbildung auf ihre zu-
Pharaonen und ihrer führenden Beamten. So ver
künftigen Aufgaben vorbereitet. In der ägyptischen
ewigte man die Verdienste der Verstorbenen und
Frühzeit war es dabei üblich, beim eigenen Vater
gab ihnen Gebete für ihre Reise ins Jenseits mit auf
oder einem erfahrenen Meister in die Lehre zu
den Weg (Bild S. 51/52).
gehen, später wurden dann für die ausgewählte
Auch für Objekte wie Sarkophage blieben Hie-
Klientel Schulen gegründet. In deren Überresten
roglyphen während der ganzen Pharaonenzeit der
entdeckten Archäologen Tausende von Unter-
bevorzugte Schrifttypus – vor allem aber auch für
richtstexten und Schreibübungen auf Keramik-
die berühmten Totenbücher des Neuen Reichs
scherben, Kalksteinsplittern und Papyri. Die Do-
(siehe S. 44): Spruchsammlungen auf Papyrus, die
kumente zeugen davon, wie trocken und langwei-
die wohlhabenderen Verstorbenen mit ins Grab
lig der Unterricht gewesen sein muss. Er bestand
bekamen. Die göttlichen Bildzeichen mit ihrer rei-
zum großen Teil aus dem schier endlosen Ab-
chen visuellen Symbolik und ihrer altehrwürdigen
schreiben und Auswendiglernen von immer glei-
Tradition passten ganz einfach besser zum Inhalt
chen Texten.
solch heiliger Texte als die auf nüchterne Funktio-
Um die Disziplin unter den Knaben zu gewähr-
nalität zugeschnittene hieratische Schreibschrift
leisten – Mädchen waren in der Regel zum Unter-
der Geschäftswelt.
richt nicht zugelassen –, machten die Lehrer reichepoc 01/2008
lich Gebrauch vom Rohrstock: »Der Jüngling hat
Chr. die Sichtweise seiner Zeitgenossen am Nil
einen Rücken; er hört, wenn man ihn schlägt«, lau-
wieder, und daher dürften auch in den Symbolen,
tet eine der pädagogischen Grundweisheiten jener
die das Heilige vergegenwärtigten, keinerlei Ver-
Zeit. Auf diese Weise sollte den Schülern wohl auch
änderungen zugelassen werden. Die Hieroglyphen
die oberste bürokratische Tugend anerzogen wer-
wären sonst entweiht und womöglich für die Göt-
den. »Krümme deinen Rücken vor deinem Ober-
ter selbst unlesbar geworden. Die Schrift der alten
haupt, deinem Vorgesetzten. Es ist übel, wenn man
Ägypter blieb daher äußerst aufwändig und kom-
dem Vorgesetzten widerstrebt. Man lebt so lange,
plex – auch als in den Regionen ringsum längst
als er milde ist.«
sehr viel einfachere und leichter zu handhabende
Der Schreiber befiehlt
Erst als im 4. Jahrhundert n. Chr. christliche Missi-
Hatten die Schüler diese mehrjährige Ausbildung
onare das Land bekehrten, war das Ende der heili-
erfolgreich absolviert, winkte ihnen aber auch eine
gen Zeichen gekommen. Ÿ
Silben- und Alphabetschriften in Gebrauch waren.
privilegierte berufliche und soziale Stellung. Selbst einfache Tempel- oder Palastschreiber durften ge-
Martin Kuckenburg studierte Vor- und
genüber der übrigen Bevölkerung als Repräsentan-
Frühgeschichte und arbeitet als Sachbuch-
ten der Staatsmacht auftreten – etwa beim Eintrei-
autor in Tübingen. Von ihm erschien 2004
ben von Steuern.
im Konrad Theiss Verlag Stuttgart » Wer
Um die Schüler bei der Stange zu halten, motivierte man sie mit der Aussicht auf den sozialen
sprach das erste Wort? Die Entstehung von Sprache und Schrift«.
Aufstieg. »Du sollst dich um die Schriften kümmern«, predigt in einem Lehrtext aus dem Mitt leren Reich im frühen 2. Jahrtausend v. Chr. beispielsweise ein Vater namens Cheti seinem Sohn
thot, Der Gott der Schreibkunst,
Pepi. Denn »es gibt nichts, das über die Bücher
hatte die Gestalt eines Pavians. Diese
ginge«. Nacheinander schildert Cheti seinem
Skulptur aus der Zeit um 1340 v. Chr.
Sprössling dann die verschiedenen Handwerke
zeigt ihn mit einem Schreiber.
und Berufe und beschreibt in markigen Worten ihre Mühsal und ihr Elend: »Ich habe den Erzarbeiter über seiner Arbeit beobachtet, an der Öffnung seines Schmelzofens. Seine Finger sind krokodilartig, er stinkt mehr als Fischlaich.« »Der Steinmetz graviert mit dem Meißel in allerlei harten Steinen. Wenn er seine Arbeit vollendet hat, so versagen ihm seine Arme, und er ist müde.« Der Beruf des Schreibers aber, so der Vater weiter zum Sohn, »wird dir nützlicher sein als alle Berufe, die ich dir vorgetragen habe«, denn »es gibt keinen Schrei-
nicht befohlen wird, außer dem des Beamten,
AKG Berlin
ber, der ohne Nahrung wäre, ohne die Dinge des Palasts«. Und »es gibt keinen Beruf, in dem einem denn er ist es, der selbst befiehlt«. Die Kenntnis der Schrift hatte im Alten Ägypten also viel mit Macht und Privilegien zu tun und verschaffte der Elite ansehnliche Vorteile. Allein dieser Umstand mag die Kundigen wenig motiviert haben, das Schriftsystem zu vereinfachen und für einen größeren Teil der Bevölkerung erlernbar zu machen. Gerade das Komplizierte sicherte ihre Monopolstellung – die natürlich auch von dem sakralen Charakter der heiligen Zeichen profitierte. Denn diese waren schließlich gottgegeben und durften schon allein deshalb nicht angetastet werden. Das Heilige selbst verändere sich nicht, gab der griechische Philosoph Iamblichos noch um 300 n. epoc-magazin.de
53
alle Bilder dieses Artikels: Griffith Institute, Oxford / Harry Burton
???
Das Jenseits in Schwarz-Weiss
54
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Am 4. November 1922 entdeckte der britische Ägyptologe Howard Carter das unberührte Grab des Pharaos Tutanchamun. Hautnah dabei: der Fotograf Harry Burton
Das Siegel an der Tür zum Schrein des Tutanchamun war unversehrt. epoc-magazin.de
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In der Vorkammer lagerten verschiedene Möbel, darunter eine Liege der kuhköpfigen Göttin Mehetweret. Die hellen Holzboxen waren mit Fleisch gefüllt – für das Leben im Jenseits.
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epoc 01/2008
Neben dem Raum mit dem Sarkophag wachte Anubis – der Gott der Toten – über Tutanchamun. Im Hintergrund ist der vergoldete Kanopenschrein zu sehen. Er enthielt die Eingeweide des Königs.
epoc-magazin.de
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Mit dem Pinsel entfernte Howard Carter noch in der Grabkammer die Leinentücher, die den zweiten Sarg umgaben. 58
epoc 01/2008
Die Leinentücher im zweiten Sarkophag waren mit Blumengirlanden verziert. Darunter kam die berühmte Totenmaske zum Vorschein.
epoc-magazin.de
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Esoteri k
Verschleierte Wahrheit Dank aufgeschlossener Römer, wissbegieriger Alchemisten, verschworener Freimaurer und verschrobener Esoteriker ist so mancher altägyptische Mythos bis heute überliefert.
Von Hakan Baykal und Sebastian Hollstein
der Wahrheit im Gedächtnis der Menschen verankert ist?
E
in junger Mann schleicht im fahlen Licht des
Sie stellt sich selbst in einer Inschrift vor: »Ich
mitternächtlichen Monds zum Tempel der
bin Isis, ich wache! Ich bin die Mutter des Horus,
großen zaubermächtigen Göttin. Er klettert über
ich bin die Schwester des Osiris, ich bin die Zauber-
die Mauer, springt mutig in das Innere des Heilig-
kräftige, ich bin die große Jungfrau. Siehe, ich bin
tums und steht vor der Kultstatue. Nur noch ein
an deiner Seite, ich bin es, die dein Herz liebt.« An-
Handgriff trennt ihn von der Weisheit der Welt.
fang des 3. vorchristlichen Jahrtausends erscheint
Denn das Standbild verbirgt sich hinter einem
sie zusammen mit ihrem Bruder und Ehemann
Schleier. Wer unter ihn blickt, dem verkündet
Osiris im ägyptischen Pantheon. Ein Mythos, eine
die Gottheit selbst die Wahrheit über das, was die
himmlische Tragödie steht im Zentrum ihrer Ver-
Welt im Innersten zusammenhält. Doch die Sta-
ehrung: Die göttlichen Geschwister sind Kinder
tue spricht zu ihm und warnt: »Kein Sterblicher
von Nut und Geb, den Gottheiten von Himmel
rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.« Von
und Erde. Osiris macht die Ägypter als König zu
unbändiger Neugier getrieben ignoriert der Jüng-
einem kultivierten Volk, indem er sie Ackerbau
ling die Mahnung und schaut entschlossen unter das Tuch.
lehrt, ihnen Gesetze gibt und ihnen die Verehrung der Götter empfiehlt.
Am nächsten Morgen finden ihn die Priester – verschreckt und kreidebleich. Er wird nie über
Ein drittes Kind aus göttlichem Schoß, der Bruder
er wird nie mehr lachen und stirbt früh. Nur einen
der beiden, Seth, der vor allem das Böse in der
einzigen Satz sagt er über die Nacht im Tempel:
ägyptischen Mythologie verkörpert, ist jedoch nei-
»Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld,
disch auf diese Leistungen und die Vormachtstel-
sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.« BPK
Die Geschichte kennen wir aus dem Gedicht
Isis lactans Als »säugende Isis« wurde die Göttin in spätägyptischer und ptolemäischer Zeit verehrt (etwa ab dem 4. Jahrhundert v. Chr.). Die Kirche, die sich auch sonst gerne heidnischer Vorbilder bediente, übernahm in diesem Fall besonders auffällig die antike Form bei Darstellungen der Madonna mit dem Kind.
60
Zauberkräftige heilerin
das sprechen, was er gesehen hat in dieser Nacht,
lung des Osiris. Er stellt dem Gemahl der Isis eine Falle. Während eines Gastmahls lässt er eine Truhe
»Das verschleierte Bild zu Sais« von Friedrich
aufstellen und verspricht sie demjenigen, der ganz
Schiller, geschrieben 1795. »In der Morgenröte der
hineinpasst. Osiris geht darauf ein und besiegelt
modernen Wissenschaft warnt die Ballade vor ei-
damit sein Schicksal: Kaum liegt er in der Kiste,
ner rücksichtslosen und übereilten Aufdeckung
schlägt der Deckel über ihm zu und Seths Helfer
der Naturgeheimnisse, bevor der Mensch die nö
vernageln ihn. Der gefangene Gott wird in den Nil
tige Reife erworben hat, von seinen Erkenntnissen
geworfen und treibt Richtung Mittelmeer. Die
einen verantwortlichen, die Folgen abschätzenden
Schwester und Gattin macht sich, nachdem sie er-
Gebrauch zu machen«, erklärt der Heidelberger
fahren hat, was geschehen war, auf die Suche nach
Ägyptologe Jan Assmann.
ihrem Mann. Sie findet ihn schließlich nahe der
Wer aber ist diese schreckliche Göttin, die seit
Stadt Byblos, nördlich dem heutigen Beirut im Li-
mehr als 4000 Jahren sinnbildlich als Hüterin
banon; Seth funkt jedoch auch bei der Rettung daepoc 01/2008
??? nach Athen zu tragen ??? von Bundesgenossen ver langte, Tribut in Form von zu entrichten, beschleunigte er den Geldfluss in die Stadt.
Skulptur der isis aus hellenisti scher Zeit: Die ägyptische Göttin war auch bei Griechen und Römern
Brid
gem
an G
irau
don
hoch angesehen.
zwischen. Vor den Augen der Göttin zerreißt er
Sohn Horus war Isis zudem auch Mutter des Pha-
den leblosen Körper des Osiris und verstreut die
raos, denn dieser stellte die symbolische Reinkar-
Teile über das ganze Land. Isis findet aber fast alle
nation des Gottes dar. Sie selbst war die Mutter des
wieder und setzt den Leib ihres Gatten mit Hilfe
Throns.
ihrer Zauberkräfte und ihres treuen Begleiters Anubis erneut zusammen. Das wiedervereinte Ge-
sorgten dafür, dass Isis nach und nach immer grö-
schwisterpaar zeugt noch gemeinsam den Sohn
ßere Bedeutung erlangte. Spätestens im helleni-
Horus, doch dann muss Osiris sich in die Unter-
sierten Ägypten unter den Ptolemäern (3. bis 1.
welt zurückziehen – als Herrscher zwar, aber eben
Jahrhundert v. Chr.) war sie die wichtigste Göttin;
im Reich der Schatten. Isis jedoch, die ab diesem
andere Gottheiten verschmolzen mit ihr und tra-
Zeitpunkt auf der Erde allein regiert, widmet sich
ten ihr dadurch Aufgabenbereiche ab. Bereits kur-
ganz ihrer Mutterrolle. Sie muss Horus vor den
ze Zeit vorher gelang der ägyptischen Göttin der
Angriffen des Seth beschützen, bis schließlich ihr
Sprung über das Mittelmeer: 333 v. Chr. wurde in
erwachsener Sohn seinen Vater rächt. Von diesem Mythos ausgehend, erklären sich
Helena Petrovna Blavatsky (1831 – 1891) Die Begründerin der Theoso phie veröffentlichte 1871 ihr Werk »Isis entschleiert«. Darin verkündete sie aber weniger die verborgenen Weisheiten der großen Göttin, sondern vielmehr die Grundlagen ihrer esoterischen Geheimlehre. Immerhin hatte und hat diese beträchtlichen Einfluss auf an dere Bewegungen – von Rudolf Steiners (1861 – 1921) Anthropo sophie über so manche rassis tische und antisemitische Sekte der Zwischenkriegszeit bis hin zu den New-Age-Jüngern und Esoterikern der Gegenwart.
Piräus – dem Hafen von Athen – der erste Tempel für Isis auf europäischem Festland eingeweiht.
alle Mächte und Zuständigkeitsbereiche der Isis. Sie war es zum Beispiel, die dem ägyptischen Volk
Hüterin der Wahrheit
die Lebensgrundlage bot, denn ihre Tränen wäh-
Die Griechen und Römer verehrten Isis sowohl in
rend der Trauer um Osiris ließen den Nil über sei-
täglichen Gottesdiensten und während verschie-
ne Ufer treten – ein Phänomen, das sich jährlich
dener Feste – wie beispielsweise der Isia, bei der
wiederholte und Ägypten fruchtbares Ackerland
die Auffindung des Osiris gefeiert wurde – als auch
bescherte. Zwar gelang es ihr, den toten Bruder
durch einen Mysterienkult, der in ganz Griechen-
durch Magie wiederzubeleben, zugleich musste
land und in weiten Teilen des Römischen Reichs,
sie doch von ihm lassen. Sie bereitete ihn sogar auf
sogar bis nach Britannien, verbreitet war. Solche
den Gang in die Unterwelt vor. Deshalb nahm sie
geheimen Kulte waren in der Antike populär, bo-
bei den Ägyptern auch eine wichtige Rolle im To-
ten sie doch eine besonders persönliche Gottes erfahrung. Über ihren Ablauf indes ist heute nur
tenkult ein. Außerdem machten ihre magischen Fähig-
noch wenig bekannt, da es den Teilnehmern streng
keiten sie zu einer großen Heilerin, was in einem
verboten war, Einzelheiten an nicht Eingeweihte
anderen Mythos aufgegriffen wird, in dem sie mit
weiterzugeben.
einer Zauberformel ein Kleinkind rettet, das von
Die Verehrung der mächtigen Göttin hielt sich
einem Skorpion gestochen worden war. Solche Le-
selbst nach der Christianisierung noch lange Zeit
genden bereicherten den Alltag der Ägypter. Auf
im Römischen Reich. Erst im Jahr 535 ließ der from-
Papyri oder Stelen, die in Heiligtümern der Göttin
me Eiferer Kaiser Justinian (er regierte von 527 bis
gefunden wurden, finden sich sowohl Sprüche ge-
565) den Haupttempel der Isis auf der Nilinsel
gen Vergiftungen wie zur Heilung von alltäglichen
Philae schließen. Ihre Mütterlichkeit und ihre Auf-
Beschwerden wie Kopf- oder Magenschmerzen.
gabe als Hüterin der Wahrheit, die sie in den Mys-
Auch in Liebesdingen suchten die Ägypter Hilfe
terien übernommen hatte, sicherten der Göttin
bei der großen Magierin: Die einen wünschten
jedoch das Fortleben. Der Statuentypus der Isis
sich, von einem bestimmten Menschen so geliebt
lactans beispielsweise, bei dem sie ihren Sohn Ho-
zu werden, wie Osiris von Isis. Andere allerdings
rus auf dem Arm hält und ihm die Brust gibt, gilt
hofften darauf, dass zwei Bekannte einander so
als Vorbild für die künstlerischen Darstellungen
sehr hassten, wie Seth seinen Bruder. Durch ihren
der Maria mit dem Jesuskind. Vor allem aber war
1. Jh. v. Chr.
Der römische Philosoph, Jurist und Staatsmann Cicero (106 – 43 v. Chr.) erwähnt in seinem Werk »De natura Deorum« (Über die Natur der Götter) fünf Götter und Heroen namens Hermes. Der letzte in der Reihe sei der legendäre Ägypter Hermes Trismegistos.
62
All diese Eigenschaften und noch einige mehr
3. Jh. n. Chr.
Die Kirchenväter Clemens von Alexan dria (150 – 215) und Tertullian (150 – 230) erwähnen Hermes Trismegistos lobend. Ersterer berichtet von 42 philosophischen und medizinischen Schriften des Ägypters, Letzterer nennt ihn den Lehrmeister aller Naturforscher.
4. Jh.
Ein weiterer Kirchenvater, Laktanz (250 – 325), betont die Übereinstimmungen der hermetischen Theologie mit den Lehren des Christentums. Im Jahrhundert darauf verdammt allerdings Augustinus von Hippo (354 – 430) Hermes und seine Lehren als heidnisch.
epoc 01/2008
mente, der Isis ihr langes Leben über die Antike hinaus verdankte. Sie wurde als Inbegriff für gött-
Bridgeman Giraudon
es ihre Funktion als Herrin der Natur und der Ele-
liche Erkenntnis erachtet. Von den mittelalterlichen Alchemisten, die den Ursprung ihrer Wissenschaft im alten Ägypten verorteten, über den Rosenkreuzer-Orden bis zu den Freimaurern stand Isis neben anderen mystischen Figuren im Zentrum geheimer Lehren. Ihren populärsten Ausdruck fand deren Ägyptenbild in der »Zauberflöte« des Freimaurers Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791). Und noch heute gibt es Logen mit dem Namen »Isis und Osiris«. Diese mögen sich zumeist der Vernunft im Sinn der Aufklärung verschrieben haben: Die Struktur ihrer Logen orientiert sich dennoch an antiken Mysterien. So müssen neue Mitglieder immer noch an traditionellen Einführungsritualen teilnehmen. Als Göttin der Vernunft wurde Isis während der Französischen Revolution gefeiert. Selbst den Namen der Stadt Paris wollte man von ihrem ableiten, während andere schwärmerische Geister unter der Kathedrale Notre Dame die Fundamente eines Tempels der ägyptischen Göttin vermuteten. Nur wenig später hatten es die Zauberkräfte der Überirdischen den deutschen Romantikern angetan. Dichter wie Novalis (1772 – 1801), Ludwig Tieck (1773 – 1853) oder Joseph von Eichendorff (1788 – 1857) schickten in ihren Werken junge Helden nach Ägypten. Dort begegnete ihnen eine Welt aus geheimen Kulten und magischen Wesen. Eine bei Plutarch (45 – 125) überlieferte Inschrift prägte dabei das Bild der verschleierten Isis. Schiller ließ sich von ihm zu seinem eingangs genannten GeHermes Trismegistos
dicht inspirieren, Ludwig van Beethoven hatte es
Hinter einem noch undurchlässigeren Schleier
eingerahmt auf seinem Schreibtisch stehen. Und
sind die Lehren eines anderen Ägypters versteckt:
Der legendäre Magier gilt auch als
selbst der sonst so abgeklärte Immanuel Kant
Der legendäre Weise und Magier Hermes Trisme-
Vater der Alchemie und der Stern
äußerte sich schwärmerisch über die Worte: »Viel-
gistos, der »dreimal größte Hermes«, gilt seit der
deutung (Darstellung aus dem Jahr
leicht ist nie ein Gedanke erhabener ausgedrückt
Antike als Urheber diverser mystisch-magischer
1615).
worden als in jener Aufschrift über dem Tempel
Schriften (siehe Zeitleiste unten). Er beweist ein er-
der Isis: ›Ich bin alles, was da ist, was da war und
staunliches Stehvermögen im Bewusstsein seiner
was da sein wird, und mein Schleier hat kein Sterb-
Anhänger, obwohl er nie gelebt hat – umso mehr
licher aufgedeckt.‹«
aber scheint ihnen sein Werk von einer Aura gött-
8. Jh.
Der arabische Gelehrte und Astronom Albuzar (787 – 886) erzählt die Legende vom ersten Hermes, der noch vor der Sintflut das Urwissen der Menschheit niedergeschrieben, vom zweiten, der es nach der Flut wiederbelebt und dem dritten, der alchemistische Werke verfasst habe.
epoc-magazin.de
12. Jh.
Der zum Christentum konvertierte jüdische Gelehrte Johannes von Sevilla übersetzt neben anderen arabischen Schriften auch die »Tabula Smaragdina« ins Lateinische.
15. Jh.
Der Florentiner Humanist Marsilio Ficino (1433 – 1499) veröffentlicht 1463 »Mercurii Trismegisti liber de potestate et sapientia dei« (Das Buch des Hermes Trismegistos über die Macht und Weisheit Gottes), die Übersetzung des »Corpus Hermeticum« ins Lateinische.
16. Jh.
Der deutsche Mystiker Sebastian Franck (1499 – 1542) betrachtet die hermetischen Schriften als den biblischen ebenbürtig. Später wirbt der französische Staatsmann und Theologe Philippe de Mornay (1549 – 1623), ein Anhänger der Reformation, mit den Lehren des Hermes für religiöse Toleranz.
In der dem Mediziner, Alchemisten und Philosophen Paracelsus (Theopratus Bombastus von Hohenheim, 1493 – 1541) zugeschriebenen »Aurora Philosophorum« (Morgenrot der Weisen) wird die arabische Hermeslegende aufgenommen.
63
Bridgeman Giraudon
Im Labor eines Alchemisten
licher Weisheit beseelt. Zumindest der Ursprung
Aus der Verschmelzung dieser beiden überir-
fachsimpeln Anhänger des
dieser Gestalt ist nicht von dieser Welt – er liegt in
dischen Wesen entstand also Hermes Trismegis-
Hermes Trismegistos (aus dem
der Verschmelzung zweier Gottheiten des Alter-
tos. Die Legende berichtet von über 30 000 mys
tums: Thot und Hermes. Der erste, ursprünglich
tischen, magischen und astrologischen Büchern,
»Museum Hermeticum«, 1625).
ägyptischer Gott der Schrift und Erfinder der Hie-
die der sagenhafte Weise geschrieben haben soll.
roglyphen, entwickelt sich in der Folge zur Gott-
Für die jahrhundertelange Geschichte des Herme-
heit der Wissenschaft, der Astrologie sowie der
tismus, der Geheimlehre des Hermes, sind aber
Magie.
zwei Werke besonders bedeutend, die bis heute
Der andere, der griechische Götterbote Her-
im Umlauf sind und mehr oder weniger regelmä-
mes, ist zuständig für den Schutz der Wege und all
ßig neu aufgelegt werden: das »Corpus Hermeti-
jener, die sie benutzen – der Wanderer und Kauf-
cum« und die »Tabula Smaragdina« (siehe Kasten
leute, aber etwa auch der Diebe. Zudem ist der
rechts).
Olympier der psychopompos, der Seelenführer,
Der Heidelberger Ägyptologe Florian Ebeling,
Begleiter der Toten auf ihrem Weg in die Unter-
führender Experte der Materie, unterscheidet zwei
welt. Somit steht er den Menschen näher als ande-
Traditionen in der Anhängerschaft des Hermes
re Götter. Er kennt ihre Unzulänglichkeit und vor
Trismegistos. Die eine folgt den Traktaten des Cor-
allem ihr Leid.
pus und verbreitete sich während der Renaissance
17. Jh.
Die Anhänger des Pa racelsus erklären ihn zum »zweiten (oder: deutschen) Hermes«, der die Urweisheit wiederbelebt habe. Im seinem Todesjahr veröffentlicht der Philologe Isaac Casaubon (1559 – 1614) sein Werk »De Rebus Sacris et Ecclesiaticis« (Von den heiligen und
64
kirchlichen Dingen). Darin beweist er unter anderem, dass die Traktate des »Corpus Hermeticum« christliche und platonische Vorstellungen vereine, also keine authentischen altägyptische Weisheiten, geschweige denn vorsintflutliches Urwissen beinhalten könne.
18. Jh.
Eine erste deutschsprachige Veröffentlichung des »Corpus Hermeticum« beinhaltet auch die »Tabula Smaragdina«. Sie steht in der Tradition des Paracelsismus. Der Philologe Dieterich Tiedemann (1748 – 1803) hingegen, dem das alte Ägypten als ein Land »blindesten Aberglaubens« gilt,
gibt seiner Übersetzung des Werks einen aufklärerischen Anstrich.
In krassem Gegensatz dazu stehen die esoterischen Logen der Rosenkreuzer (im Bild die Darstellung des »Tempels vom Rosenkranz« aus dem Jhr 1604) die Hermes als uralten Weisen feiern und mit ihm gegen die moderne Wissenschaft auftreten.
epoc 01/2008
von Italien aus über ganz Europa. Sie ist eine phi-
gepflegt, der das göttliche Wissen der Menschheit
losophische Schule, die dem Neuplatonismus na-
aus der Zeit vor der Sintflut für spätere Generati-
hesteht. Die zweite basiert auf der Tabula, ist ori-
onen gerettet habe. Erkennen könne es freilich nur
entalischen Ursprungs und konzentriert sich auf
der Eingeweihte. Anfang des 19. Jahrhunderts ent-
Die wichtigsten hermetischen Schriften
die naturwissenschaftlichen, alchemistischen und
zifferte Jean-François Champollion (1790 – 1832) die
magischen Aspekte der Lehre. Sie konnte haupt-
Hieroglyphen (siehe Beitrag S. 50) Weder er noch
Corpus Hermeticum
sächlich nördlich der Alpen Fuß fassen. Die beiden
Forscher nach ihm fanden in den bis dahin so ge-
Richtungen sind weit gehend verschieden – ge-
heimnisvollen Texten der Ägypter eindeutige Hin-
meinsam ist ihnen aber die Berufung auf den
weise auf hermetisches Wissen. Die Schwärmer
ägyptischen Magier, der auch ein Religionsverkün-
blieben bei ihrem Glauben.
der war. Denn auch dies ist ein gemeinsames Merkmal
Rätselhafter Baumeister
hermetischer Schriften – sie sind Offenbarungen,
Mehr noch: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts
die aus einer höheren Quelle gespeist werden,
schossen »hermetische Bruderschaften« und an-
oder besser: aus der höchsten, nämlich von Gott
dere Geheimorden wie Pilze aus dem abendlän-
selbst. Freilich sind die Offenbarungen und Ver-
dischen Boden – viele bestehen bis zum heutigen
kündigungen des Hermes Trismegistos ganz an-
Tag. Wie ein widerlegter Mythos in modernen
ders als etwa die biblischen. Während das Alte und
Zeiten noch immer Anhänger hinter sich scharen
Neue Testament Gottes Wort recht klar und ver-
kann, wirkt nur bei flüchtigem Blick rätselhaft.
gleichsweise unmissverständlich darlegt, spricht
»Offenbar befriedigt der Hermetismus das Bedürf-
Hermes fast ausschließlich in Rätseln und Ge-
nis nach Transzendenz der Menschen«, sagt Florian Ebeling. Die Verteidigung esoterischer Lehren
heimnissen. Die Textoberfläche ist in dieser Tradition nicht
gegen alle Wissenschaft war denkbar einfach. Sie
die Wahrheit, denn diese ist immer darunter, stets
fußte auf dem Glauben an verborgene Worte hin-
hinter einem Schleier von Worten verborgen. Es
ter den Texten. Genauso gebe es ein oberirdisches
gibt also einen eigentlichen Sinn, der hinter dem
Ägypten, jenes der sichtbaren Pyramiden, Tempel
Geschriebenen und Gesprochenen liegt. Dieser
und Schriftzeichen, das sich selbst erkläre – sowie
Gedanke macht den Hermetismus ungeachtet des
ein unterirdisches, geheimes, das nur die wirklich
Offenbarungscharakters seiner grundlegenden
Wissenden erkennen könnten.
Texte zu einer Geheimlehre, die nur jenen offen-
Da war sie wieder, die Unterscheidung zwi-
steht, die eingeweiht werden und den »verbor-
schen dem profanen Augenschein und dem ver-
genen Pfad« voranschreiten. Diese (Sehn-)Sucht
borgenen, wahren Sinn dahinter. Diese Argumen-
nach verstecktem Wissen kann mitunter seltsame
tation bewies sich zwangsläufig als ziemlich kritik-
Blüten treiben. So galt manchem Hermetiker des
resistent. So kam es denn auch, dass Hermes im
18. Jahrhunderts Homers »Ilias« als eine geheime
Lauf des 20. Jahrhunderts zu einer Art Ingenieur
Anleitung zur Herstellung des Steins der Weisen,
aus Atlantis wurde, der nicht allein die Pyramiden
die es nur richtig zu lesen gelte.
und die Sphinx erbaut habe, sondern tief darunter
Dass zu jener Zeit der Gelehrte Isaac Casaubon (1559 – 1614) bereits das »Corpus Hermeticum« als
auch Labyrinthe und Bibliotheken. Gefunden hat
Die Textsammlung entstand zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 4. Jahrhundert n. Chr. Sie beinhaltet in 18 grie chischen Traktaten das Wissen um die Welt, ihre Entstehung, ihren und des Menschen Platz im Kosmos sowie in der gött lichen Ordnung. Erhalten sind byzantinische Manuskripte aus dem 14. bis 16. Jahrhundert.
Tabula Smaragdina Die »smaragdene Tafel« ist das Fundament der Alchemie sowie hermetischer Magie – und für viele Esoteriker bis in die Gegenwart die Essenz göttlicher Wahrheit. In dem Zitat aus dem heute verlorenen Werk »Geheimnis der Schöpfung« (Kitab al-Uluf) des arabischen Gelehrten Albuzar (787 – 886) sollen alle Phasen des Opus Magnum der Alchemisten enthalten sein, also ihres »Großen Werks«, das wahlweise die Herstellung von Gold oder die Entdeckung des Steins der Weisen bedeuten kann. Ihr erster Lehrsatz ist typisch für die geheimnisvolle Hermetik: »Das Untere ist wie das Obere.« Eine mögliche Interpretati on besagt, dass der Mensch als Mikrokosmos Abbild der göttlichen Schöpfung ist, des Makrokosmos.
sie keiner. Ÿ
Fälschung entlarvt hatte (siehe Zeitleiste), focht die Geheimniskrämer nicht an. Im 1756 gegründeten
Hakan Baykal ist Redakteur bei epoc,
esoterischen »Orden der Gold- und Rosenkreuzer«
Sebastian Hollstein ist Archäologe und freier
etwa wird das Bild von einem Hermes Trismegistos
Journalist in Jena.
19. Jh.
In den zahlreichen okkultistischen und esoterischen Gruppen, die in dieser Zeit entstehen, wird das Hermesbild der Anhänger des Paracelsus und der Alchemisten gepflegt – etwa in der »Hermetic Brotherhood of Luxor« (gegründet 1884) oder dem »Hermetic
Order of the Golden Dawn« (hier der Mitbegründer Samuel Lidell 1887/88). Die Ableger dieser Logen und Orden tun dies bis heute ausgesprochen kritikresistent.
20. Jh.
Der italienische Philosoph, Esoteriker und glühende Faschist Julius Evola (1898 – 1974) versteht den Hermetismus als ein Relikt der vormodernen Welt, die sich den rationalen Kriterien unserer Zeit entziehe.
(Quelle: Florian Ebeling, »Das Geheimnis des Hermes Trismegistos«)
epoc-magazin.de
65
Wendepunkte
1679
Ende einer Bedrohung
1680
I
1681
1682
n diesen stunden schlug er mit einer katholischen Streitmacht die Türken vor Wien. Die 250-jährige osmanische Expansion nach
Westeuropa war damit ein für alle Mal gestoppt. Der mächtige Sul-
tan in Istanbul wurde zum kranken Mann am Bosporus. Und er sollte sich nicht mehr erholen. Diesem Tag waren – nach einem fast zwanzig Jahre zuvor geschlossenen Frieden zwischen den beiden Mächten – zwei Monate Belagerung vorangegangen, die sowohl den 15 000 Wiener Verteidigern als auch der osmanischen Seite einiges abverlangt hatten. Seit dem 15.
Von Hakan Baykal
Immer wieder formen einzel ne Ereignisse die Geschichte. Mal dauern sie einige Wochen, mal einen Tag oder nur einen einzigen Moment. Dem polni schen König Jan Sobieski ge nügten am 12. September 1683 wenige Stunden, um die welt zu verändern.
Juli lagerte das gewaltige, etwa 200 000 Mann starke türkische Heer vor den Mauern der Stadt. Immer wieder waren die muslimischen Soldaten unter dem Oberbefehl des Großwesirs Kara Mustafa Pascha knapp davor gewesen, den »Goldenen Apfel«, wie sie die Stadt nannten, zu pflücken. Und immer wieder gelang es den Wienern unter dem Kommandanten Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg die heftigen Attacken abzuwehren. Diesseits wie jenseits der Mauern breiteten sich in diesen Wochen Seuchen aus, auf beiden Seiten ging die Nahrung zur Neige – und mit ihr auch die Kampfkraft. Die Moral war schon am Ende, als in den Morgenstunden des 12. Septembers 1683 eine christliche Streitmacht aus Venezianern, Bayern, Sachsen und Polen unter dem Kommando des polnischen Königs Jan Sobieski von den Hausbergen Wiens aus in das Lager der Türken stürmte. Über 80 000 Mann vertrieben innerhalb weniger Stunden das entkräftete Heer der Osmanen. Uneinig darüber, wie sie sich gegen den Angriff vom Kahlenberg sowie die nun auch ausfal-
Die grosse schlacht in der Darstellung von Franz Geffels (1625 –1694) fünf Jahre nach dem Ereignis. Im V0rdergrund links beritten mit Schwert und Fahne in den Händen: Wiens Befreier Jan Sobieski. 70
epoc 01/2008
1683
1684
1685
1686
1687
AKG Berlin
Wien
lenden Verteidiger Wiens organisieren sollten, ließen die tür-
angestoßen. Zwar hielt es sich noch bis 1923, doch der Mann am
kischen Kommandanten die Zügel schleifen. Die bis dahin so stol-
Bosporus war in genau dieser Zeitspanne krank geworden. Es ist
ze und gefürchtete Armee aus dem Morgenland flüchtete in Pa-
eine Ironie der Geschichte, dass das Habsburgerreich über zwei
nik. Einigermaßen sammeln konnte sie sich erst wieder im
Jahrhunderte später – im Ersten Weltkrieg – mit den nunmehr
ungarischen Györ, das damals noch mit seinem deutschen Na-
verbündeten Osmanen gemeinsam unterging. Und beide Länder
men Raab genannt wurde.
teilen bis heute die bittere Erkenntnis, dass eine Großmacht stür-
Was folgte, war ein jahrelanger Krieg, in dem das osmanische Heer weit an den Rand Europas zurückgedrängt wurde, bis die
zen und zu einem mehr oder weniger unbedeutenden Reststaat schrumpfen kann, sowie die Erinnerung an das Jahr 1683.
Hohe Pforte nach zahlreichen militärischen Misserfolgen und
Noch zum dreihundertjährigen Jubiläum der Belagerung im
Niederlagen am 26. Januar 1699 im Frieden von Karlowitz eine
Jahr 1983 beschwor eine – mittlerweile verbotene – »Ausländer-
weitere Schmach hinnehmen musste. Die Türken verloren große
Halt-Bewegung« die »Türkengefahr« herauf. Und es spricht für
Gebiete an Österreich, Polen, Russland und Venedig. In den 16
sich, dass die Ablehnung eines möglichen Beitritts der Türkei zur
Jahren, die zwischen der Schlacht am Kahlenberg und diesem
EU in Österreich sehr, sehr hoch ist – über drei Viertel der Bevöl-
Friedensvertrag lagen, wurde das Ende des Osmanischen Reichs
kerung sind Umfragen zufolge dagegen. Ÿ
epoc 01/2008
71
Essay ???
Der Tod als Spektakel Die Mumienausstellungen in Mannheim und Stuttgart feiern große Erfolge. Doch die Zurschaustellung von Toten ist umstritten. Von Josef Tutsch
U
72
Diese Zeilen haben bei vielen tausend Menschen das Interesse an Archäologie geweckt. So
nsere Kenntnis der Antike ist zum größ-
nämlich beschrieb C. W. Ceram in seinem Bestsel-
ten Teil den Gräbern und den darin enthal-
ler »Götter, Gräber und Gelehrte« die Ausgra-
tenen Grabbeigaben zu verdanken«, konstatierte
bungen des Jahres 1922 im oberägyptischen Tal
vor drei Jahrzehnten der französische Historiker
der Könige. Derart erhabene Momente sind wohl
Philippe Ariès. Ein simpler Sachverhalt, der keiner-
nur wenigen vergönnt. Doch wer immer die Über-
lei Aufregung verursachte – und dies auch heute
reste längst verstorbener Menschen ausgräbt, den
nicht tut. Obwohl Archäologen, würden sie nicht
umweht der Atem der Geschichte. Es ist nachvoll-
der Wissenschaft dienen und wären die Gräber
ziehbar, dass unter den Forschern das Bedürf-
nicht vor langer Zeit angelegt worden, der Schän-
nis aufkommt, der Öffentlichkeit in Ausstellun-
dung oder Störung der Totenruhe bezichtigt wer-
gen von dieser Atmosphäre etwas mitzugeben
den müssten.
oder umgekehrt: dass die Besucher an ausgestell-
In manchen Augenblicken wird das auch den
ten Mumien – wie zurzeit in Stuttgart und Mann-
Forschern bewusst gewesen sein. »Sie schlossen
heim – etwas von »authentischer« Archäologie zu
die Tür – so leise wie möglich. Sie fühlten sich als
erhaschen hoffen, mit unmittelbarer Nähe zu den
Eindringlinge. Sie hatten das fahle leinene Bahr-
toten Zeugen der alten Kulturen.
tuch bemerkt, das über dem inneren Sarkophag
Diese beiden großen Ausstellungen haben uns
herabhing. ›Wir fühlten, dass wir in Gegenwart des
auch gleich eine ethische Grundsatzdebatte be-
toten Königs waren und ihm Ehrfurcht erweisen
schert. »Muss das sein? Darf das sein?«, fragt die
mussten.‹ Dann wurde der Deckel des letzten Sar-
Direktorin des Staatlichen Museums Ägyptischer
kophags aufgehoben und die Mumie aufgedeckt.
Kunst in München, Sylvia Schoske. Ihr Kollege
Tutanchamun lag leibhaftig vor ihnen. ›In solchen
Dietrich Wildung vom Berliner Ägyptischen Mu-
Augenblicken‹, sagt Carter, ›versagt die Sprache!‹«
seums spricht gar von Mumienpornografie. Die epoc 01/2008
Mit frdl. Gen. vom Südtiroler Archäologiemuseum
»Ötzi« soll nicht spektakulär in Szene gesetzt werden und befindet sich deshalb in einer besonderen Kammer.
Museen wehren sich. »Es kommt darauf an«, sagt
kult – heute ist es die Wissenschaft. Zu manchen
Michael Tellenbach, stellvertretender Museums
Zeiten galten die Toten alter Kulturen lediglich als
direktor der Reiss-Engelhorn-Museen in Mann-
nützliches oder interessantes Objekt. Ethische
heim: »Geht es um die Befriedigung voyeuristi-
Bedenken gab es nicht. Im 19. Jahrhundert etwa
scher Triebe von Gaffern – oder geht es um Ein-
rühmte sich eine sizilianische Zeitung, sie sei aus
sicht in die Welt und Wirklichkeit der Menschen
den Leinentüchern der Pharaonen gemacht. Zer-
fremder und vergangener Kulturen?«
mahlene Mumien galten sogar als Heilmittel –
»Es kommt darauf an …« So etwa werden das
noch 1924 führte ein Darmstädter Unternehmen
auch die Mönche des Klosters Noyon in der Ile-de-
»Mumia vera aegyptica« im Katalog, zum Preis
France gesehen haben, als sie 809 das Grab ihres
von zwölf Goldmark das Kilogramm. 1883 legte
anderthalb Jahrhunderte zuvor verstorbenen Klos-
Hohenzollernprinz Friedrich Karl in seinem Jagd-
tergründers Eligius öffneten. Sie taten das, wird
schloss eine Mumie auf den Billardtisch, die er von
in der Chronik betont, »nicht aus ungebührlicher Frechheit, sondern frommen Sinnes«. Als sie den Leichnam wider Erwarten unverwest vorfanden, schraken sie zurück. Einer der Mönche schnitt zunächst etwas von den offenkundig nach dem Tod nachgewachsenen Nägeln und Barthaaren ab.
Befriedigung von voyeuristischen Trieben
Dann griff er doch nach dem Haupt und brach mit einer Zange einen Zahn heraus, worauf der Kiefer
einer Reise an den Nil mitgebracht hatte. Vor den
zu bluten anfing. Prompt wurden die Reliquien in
Augen einer illustren Gesellschaft ließ er den ein-
der Kirche zur Verehrung ausgestellt.
balsamierten Leichnam auswickeln. Amulette
Der gesellschaftlich anerkannte, solches Tun legitimierende Rahmen war damals der Reliquienepoc-magazin.de
oder Papyri fanden sich jedoch nicht, woraufhin die Leiche angeblich im Kamin verfeuert wurde. 73
Da sind Archäologen heute deutlich zurück
wäre um die genaue anatomische Untersuchung
haltender. Michael Tellenbach etwa berichtet, in
gebracht worden.« Erkenntnisdrang – ein beherr-
Mannheim würden Mumien inzwischen prinzi
schendes Motiv in unserem Denken.
piell nicht mehr geöffnet, »obwohl wir allzu gern
Doch gab und gibt es auch andere Bewusst
wüssten, was die eine oder andere beispielsweise
seinsebenen. So hat das Eindringen der Archäolo-
in den geschlossenen Händen hält«. Angelika Fle-
gen in die Grabkammern der ägyptischen Phara-
ckinger, Direktorin des Südtiroler Archäologiemu-
onen ganz nebenbei auch ein eigenes Genre von
seums in Bozen, macht derlei Eingriffe davon ab-
populären Büchern und Filmen hervorgebracht:
hängig, ob die Mumie dabei beschädigt wird. Eine
die Geschichten vom »Fluch des Pharao«. Es wäre
der wichtigsten Aufgaben der Museen bestehe ja
also interessant zu wissen, bei wie vielen Ausstel-
darin, ihre Mumien »möglichst unverändert für
lungsbesuchern tatsächlich wissenschaftliche Neu-
die nächsten Generationen zu konservieren«.
gierde Beweggrund ist oder doch eher das wohlige
Es sind die Lebenden, die den Maßstab setzen.
Gruseln wie bei einem Film mit Boris Karloff. Wo-
»Die Präsentation der sterblichen Überreste von
möglich nimmt der aufgeklärte Intellekt, dem Ske-
Menschen hat eine absolute Grenze bei Gefühlen
lette nichts weiter sind als eben Knochen und ehr-
und religiösen Überzeugungen der Verwandten
fürchtige Gefühle ein Restbestand von Irrationa
und Nachkommen«, betont Tellenbach. In der Re-
lität, in solchen Augenblicken sozusagen Urlaub
gel freilich – abgesehen von wenigen Fällen der
von sich selbst und den Mühen der Aufklärung.
Gegenwartsarchäologie – wird sich die Frage so
Ein wenig Erholung in den Gefilden des Irratio-
nicht stellen. Ägyptens Pharaonen haben keine
nalen.
Verwandten oder Nachkommen, allenfalls Nach-
Dass die Ausstellungsbesucher durch den Blick
folger. Immerhin wollte der damalige ägyptische
auf wirkliche Leichen – an Stelle etwa von Bil-
Präsident Anwar el-Sadat vor mehr als dreißig Jah-
dern – wissenschaftliche Erkenntnisse zum Bei-
ren Königsmumien den Blicken der Öffentlichkeit
spiel über das alte Ägypten gewinnen, darf man
entziehen und sie in einem dafür geplanten Mau-
im Fall von Mumien genauso bezweifeln wie im
soleum erneut beisetzen lassen.
Fall der Präsentation mit Kunststoff plastinierter Leichen in allen möglichen, lebensechten Stellungen. Immerhin kann eine solche Begegnung auch
Archäologie ist keine Ersatzreligion – die Museen sind keine Kirchen
»Lebensfragen« auslösen, sagt Fleckinger – quasireligiöse Fragen nach dem Sinn von Leben und Tod, wie sie im Alltag leicht untergehen. Auslösen, wohlgemerkt, nicht beantworten – Archäologie ist keine Ersatzreligion, die Museen sind keine Kirchen. Dagegen besteht Wildung darauf, die öffentliche Präsentation von Mumien verletze das Per-
74
Die Pharaonen selbst wären mit einem solchen
sönlichkeitsrecht der Verstorbenen. Die Intimität
Mausoleum, aller Grabbeigaben beraubt, sicherlich
von Sterben und Tod dem Blick der Massen aus
nicht zufrieden gewesen. Schließlich sahen sie die
zuliefern, sei obszön. Sylvia Schoske pflichtet bei:
größte Gefahr darin, Opfer habgieriger Grabräuber
»Eine Mumie bleibt immer ein verstorbener
zu werden. Ausgerechnet mit dieser Gefahr aber
Mensch, dem mit Respekt begegnet werden muss,
ließ – und lässt sich heute – die Zudringlichkeit
was gewisse Arten der Zurschaustellung schlicht-
moderner Wissenschaftler rechtfertigen. Douglas
weg ausschließen sollte.« Vor allem Werbung mit
Derry, der Leiter der wissenschaftlichen Kommis-
Mumien – Werbung um Museumsbesucher – will
sion, die in den 1920er Jahren die Mumie von Tut
Schoske vermieden sehen.
anchamun untersuchte, erklärte: »Viele nennen
In Stuttgart und Mannheim freilich bestreiten
unseren Eingriff eine Entweihung und meinen,
die Verantwortlichen, dass der Respekt verletzt
wir hätten den König ruhen lassen sollen. Aber da
würde. Somit stehen sich zwei Haltungen gegen
das Grab nun einmal gefunden war und Grabräu-
über, zwischen denen man rational schwer abwä-
bereien zu allen Zeiten vorgekommen sind, hätte
gen kann – in archäologischen Ausstellungen heu-
die Erwartung ungeheurer Reichtümer in dem Kö-
te nicht anders als im frühen Mittelalter, wo die
nigsgrab den Räubern keine Ruhe gelassen. Hätten
Mönche von Noyon zwischen ehrfürchtiger Scheu
wir die Mumie nicht ausgewickelt – die Diebe in
vor den Reliquien einerseits und dem Bedürfnis
ihrer Gier nach Kostbarkeiten wären weniger sorg-
andererseits, sie sich zur Heilsgewinnung anzu
fältig mit ihr umgegangen, und die Wissenschaft
eignen, hin- und hergerissen waren. Befragt, ob er epoc 01/2008
sich vorstellen könnte, auch Leichen aus national-
vor wenigen Jahren dazu führte, dass Pharao
sozialistischen Konzentrationslagern auszustel-
Ramses I. aus dem Museum von Atlanta nach
len, wenn sie in mumifizierter Form vorlägen, be-
Ägypten zurückkehrte – dort dann freilich nicht
jaht Tellenbach: »Es wären wirkungsvolle Eviden-
beigesetzt, sondern wiederum ausgestellt wurde.
zen der Unmenschlichkeit und Beweise gegen
Oder ganz aktuell der Umstand, dass Suzanne Mu-
deren Leugnung.«
barak, First Lady der Arabischen Republik Ägyp-
Meistens stellen sich die Fragen weniger bri-
ten, als Schirmherrin der Stuttgarter Ausstellung
sant. Zum Fall des Südtirolers »Ötzi« aus der Jung-
fungiert. Die toten Könige sind eben auch sehr ef-
steinzeit, der 1991 aus dem Alpeneis geborgen
fiziente Botschafter des Nillands in aller Welt.
wurde, erklärt Angelika Fleckinger: »Ötzi hat in dem Sinne keine Identität, wir wissen nicht, wer er
Lucys Museumstour: »Form der Prostitution«
war, wie er hieß, es gibt keine Verwandten mehr.« Anonymität als Voraussetzung für eine museale Präsentation? Auch eine solche Sicht ist keineswegs zwingend. Der kenianische Paläontologe Richard Leakey etwa bezeichnete es unlängst als eine »Form der Prostitution«, dass die Australo
Anderer Fall, andere Lage: Bis heute streiten
pithecus-Frau »Lucy« auf Ausstellungstournee
sich neuseeländische Maori mit dem Wiener Völ-
durch die USA reist. Wilhelm Rosendahl, Kurator
kerkundemuseum um die Mumie ihrer Vorfahrin,
in Mannheim, wiederum verweist zugleich auf
einer Königin aus dem 19. Jahrhundert. Im Zuge
den guten Erhaltungszustand seiner Ausstellungs-
der kolonialen Expansion Europas hat sich eine
objekte, durch den die Individualität gewahrt sei:
klare Rollenverteilung eingeschliffen – die Euro
»Bei einem mumifizierten Pharao erkennt man
päer entdeckten die Welt; die anderen, die fernen
wirklich die Person, so gut, dass man ihn an der
Völker und frühen Zeiten, wurden erobert, als
nächsten Straßenbahnhaltestelle identifizieren
Fremdes »objektiviert«. Auch die Akademisierung
könnte.«
und Musealisierung ist eine Form, sich Fremdes
Der Mensch sei das Tier, das seine Toten be
anzueignen. Die Mumien bildeten da bloß den
stattet, lautet ein altes Axiom der Anthropologie.
speziellen Fall eines allgemeineren Phänomens. Es
Sehr merkwürdig: Wie mit Leichnamen später
gibt viel drastischere Fälle. Zum Beispiel waren im
umzugehen ist, wenn die Bestattungsriten viel-
Wiener Naturhistorischen Museum um 1800
leicht vor ein paar Jahren stattgefunden haben,
mehrere Farbige ausgestopft zu sehen, und noch
scheinen sich Theologen und Philosophen nie-
im frühen 20. Jahrhundert wurden auf Jahrmärk-
mals gefragt zu haben. Und dann gar mit den
ten und in Zoologischen Gärten »Wilde« als Schau-
Leichnamen von irgendwie Nahestehenden. Die
objekte ausgestellt.
deutsche Geistesgeschichte kennt den merkwür-
Im Fall der Maori-Königin leben Menschen, die
digen Fall, dass Goethe sich den Schädel seines
sich zu Wort melden können. Im Fall Ötzi gibt es kei-
Freundes Schiller zwei Jahrzehnte nach dessen Tod
ne Verwandten und keine Nachfolger, niemanden,
ins Arbeitszimmer stellte – sicherlich nicht aus
der sich dem Mann aus dem Eis irgendwie zugehö-
Mangel an Respekt. Welchen Unterschied mag es
rig fühlen würde, niemanden also, der sich, wenn er
für Heinrich Schliemann gemacht haben, dass er
protestieren wollte, auf anderes berufen könnte als
glaubte, den Skeletten in der Burg von Mykene die
auf seine ethischen Grundsätze. Die Wissenschaft-
Namen der Helden vor Troia geben zu dürfen? Für
ler in Bozen waren mit der Frage, ob und wie die
den begeisterten Homerleser waren es sozusagen
Mumie ausgestellt werden soll, auf sich selbst ge-
Namen aus dem engsten Bekanntenkreis, nicht
stellt. Die Lösung: Ötzi befindet sich in einer beson-
weniger vertraut als die eigenen Zeitgenossen.
deren Kammer, in einer Art »Privatsphäre« (siehe
Oder, um einen anderen Vergleich zu nehmen, für
Bild S. 73); jeder Besucher kann entscheiden, ob er
Menschen des Mittelalters die Märtyrer aus den
vor die Mumie treten möchte oder nicht. Mit wel-
Heiligenlegenden.
cher Haltung freilich, darauf haben die Museums-
Ähnlich sieht die ägyptische Nation bis heute, über alle kultur- und religionshistorischen Brüche
verantwortlichen in Bozen so wenig Einfluss wie ihre Kollegen in Mannheim und Stuttgart. Ÿ
hinweg, die Wurzeln ihrer Identität in den Reichen der alten Pharaonen. Daraus lassen sich offenbar
Josef Tutsch studierte Germanistik und Philo
ganz verschiedene Folgerungen ableiten, etwa die
sophie. Er ist freier Journalist in Berlin und
bereits erwähnten Museumspläne von Anwar el-
schreibt regelmässig für das Internetportal
Sadat. Oder die große öffentliche Kampagne, die
www.scienzz.com.
epoc-magazin.de
entblösster promi Seit Kurzem können Besucher im Tal der Könige dem berühmtesten Toten Ägyptens direkt ins Gesicht schauen. Zahi Hawass, Chef der ägyptischen Antikenbehörde, hat die Mumie des Pharaos Tutanchamun nur vom Hals abwärts mit einem Leinentuch bedecken und in einen klimatisierten Sarg legen lassen. Diese Maßnahme sei nötig gewesen, weil »der Atem der Besucher die Mumie sonst zu Staub zerfallen ließe«. Der Sarg ist durchsichtig und lockt nun dreimal mehr Besucher an – weshalb sich Hawass nicht nur über den nunmehr gesicherten Erhalt der Mumie freut, sondern auch davon schwärmt, dass fortan unzählige Touristen den »Goldjungen« mit seinen »hübschen Hasenzähnen« bewundern könnten.
75
Epoche im Bild
Die Abteikirche von Saint-Denis Wiege der Gotik Das erste gotische Bauwerk der Geschichte verblüfft noch heute durch seine zart wirkende Konstruktion und sein mystisches Lichtspiel.
Von Sigrid Spies
Er musste das Rad nicht von
Sinn des Königs und wollte
Neuem erfinden, die Baumeis
dessen Ansehen erhöhen. Das
eicht und elegant er
ter der Gotik bedienten sich
lag durchaus in seinem Inte
scheinen gotische Kathe
bereits entwickelter Elemente:
resse: Suger, der aus einfachen
dralen im Vergleich zu den
Der Spitzbogen, der das Gewicht
Verhältnissen stammte, war
wuchtigen Kirchen der Roma
der Steine so elegant aufzu-
engster Vertrauter von König
nik. Kein Wunder, möchte man
nehmen versteht, stammt aus
Ludwig VI. (1081 – 1137) und
heute sagen, schließlich ent
dem Burgund, das Kreuzrippen
führte sogar die Amtsgeschäfte
L
stand die Gotik nahe – Paris,
gewölbe aus der Normandie.
für den Nachfolger, während
genauer gesagt im heutigen
Auch war es im Pariser Becken
dieser an einem Kreuzzug
Vorort Saint-Denis. Der Chor
bereits üblich, Mauern weniger
teilnahm. Erst Kardinal Richeli
umgang der dortigen Abteikir
massiv zu setzen – Stein war
eu (1585 – 1642) sollte als Berater
che war der Grundstein der neu
dort ein teures Gut. Doch diese
im absolutistischen Frankreich
en Architektur, er zeigt die
Elemente zusammenzubringen,
Suger an Bedeutung und Macht
typischen Merkmale des go
um etwas Neues, Besseres zu
fülle gleichkommen.
tischen Stils: einen hellen,
schaffen, das war das Werk des
Suger von Saint-Denis
weiten Raum, ein hohes Kreuz
Abtes.
(gestorben 1151) war Geist-
rippengewölbe und große
licher, genialer Bauherr
Fenster. Schöpfer des Epoche
zum einen, schlanke Säulen in
ganz Europa. Der Epochenbe
und Berater der Könige
prägenden Chorumgangs war
weitem Abstand aufzustellen,
griff hat seinen Ursprung aber
Frankreichs.
Abt Suger (1081 – 1151), der auch
und zum anderen, breite, fast
in Italien. Dort wurde er von
die Bauausführung in den
bis zum Boden reichende
Vertretern der auf die Gotik
Jahren 1141 bis 1144 leitete. Die
Fenster einzubauen, sodass ein
folgenden Renaissance einge
innovative Architektur vermit
großer, besonders gut beleuch
führt, jedoch zum Zweck der
76
Die Konstruktion erlaubte es
Von Saint-Denis ausgehend verbreitete sich die Gotik in
telte nicht nur Spiritualität und
teter Raum entstand. Das durch
Abgrenzung. Stolz auf die
Mystik, sie unterstrich auch die
die farbigen Fenster einfallende
Wiederentdeckung antiker
Bedeutung des französischen
Licht schuf eine verklärende
Vorbilder, bezeichneten Künst
Monarchen im 12. Jahrhundert.
Stimmung. Dies war genau
ler und Architekten diesen Stil
Denn Saint-Denis war die könig-
überlegt und zielte darauf ab,
des Mittelalters herablassend
liche Abtei par excellence,
dem Betrachter das Gefühl zu
als »maniera dei Goti« – also als
schon den Merowingern diente
geben, er steige zu Höherem
Kunst der Goten und damit als
sie im 6. Jahrhundert als letzte
auf: vom Materiellen zum
barbarisch. Ÿ
Ruhestätte. Dementsprechend
Geistigen, zu Gott – so schrieb
wirkungsvoll suchte der Abt das
Suger in seinem Rechenschafts
Sigrid Spies ist Kunsthistori
Gotteshaus in Szene zu setzen.
bericht. Er handelte stets im
kerin und lebt in Heidelberg. epoc 01/2008
Corbis
Architektur des Glaubens: der lichtdurchflutete Chorumgang von Saint-Denis
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77
Peloponnesischer krieg
Der
Niedergang
des
Goldenen Zeitalters Vom eigenen Glanz geblendet rang Athen mit dem konkurrenten Sparta. Der Verlierer dieses bruderkriegs war – ganz Griechenland. Von Theodor Kissel
M
eterhoch schlagen Flammen rings um
Athen empor, zerstören jede Vegetation.
Die Felder brennen in jenem Sommer 431 v. Chr.
78
feldern wird die wohl glänzendste Epoche der griechischen Geschichte vernichtet, das klassische goldene Zeitalter.
zum ersten, doch nicht zum letzten Mal, angezün
In jenem Sommer wähnen sich die gut 200 000
det vom Erzfeind Sparta. Der Krieg zwischen den
Einwohner Athens hinter ihren »Langen Mauern«
beiden führenden Mächten des antiken Griechen
sicher. Der seit 15 Jahren führende Politiker, Pe
lands, den man später den Peloponnesischen
rikles, hat sie bauen lassen, um die Stadt mit den
nennt, sollte 27 Jahre lang wüten. Er sucht nicht
sieben Kilometer entfernt gelegenen Häfen Piräus
nur das Mutterland heim, sondern auch viele In
und Phaleron zu verbinden. Und um nun die Be
seln des östlichen Mittelmeers, die kleinasiatische
völkerung der umliegenden Dörfer und Weiler da
Küste und sogar Sizilien. Am Ende siegte zwar
hinter in Sicherheit zu bringen. An diesem Fes
Sparta, doch um welchen Preis? Auf den Schlacht
tungsring sollen sich die Spartaner die Zähne aus epoc 01/2008
Athens Akropolis symbolisierte im 5. Jahrhundert v. Chr. gleichermaßen hohe
AKG Berlin
Kultur wie den Anspruch auf Macht.
beißen. Ausgleichende Gerechtigkeit: In der offe-
Es ist ein Kampf der Systeme und Mentalitäten:
nen Feldschlacht können Athens Truppen gegen
Auf der einen Seite Sparta, die nach Fläche bemes
die waffenstarrende Phalanx der spartanischen
sen größte griechische Polis (siehe Glossar), von ei
Hopliten (siehe Glossar S. 80) wenig ausrichten.
ner kleinen Elite und zwei Königen regiert; sie be
Fast gelangweilt beobachten die Athener aus
herrscht den Süden des Peloponnes. Mit den meis
der Ferne, wie das feindliche Heer Getreide abfa
ten Städten der Halbinsel ist sie verbündet und
ckelt und dann wieder abzieht. Doch die ver
genießt dank der überragenden Armee einerseits,
brannte Erde ist Spartas Strategie, dem Gegner die
einer dennoch maßvollen Außenpolitik anderer
Ressourcen zu nehmen, Jahr um Jahr, bis 421 v. Chr.
seits höchstes Ansehen. Die Seemacht Athen ist
Athens Flotte greift im Gegenzug die mit Sparta
der bevölkerungsreichste Stadtstaat Griechen
verbündeten Küstenstädte auf dem Peloponnes
lands, demokratisch, weltoffen, doch von hegemo
an oder blockiert deren Nachschub. Perikles’ Kal
nialen Ambitionen getrieben und oft arrogant ge
kül lautet: An Menschen und Geldmitteln Sparta
genüber anderen Stadtstaaten.
überlegen, wird Athen länger durchhalten. Doch
Kriege werden von Menschen gemacht, nicht
die Rechnung geht so schnell nicht auf. Während
von den Göttern aufgezwungen, erkannte schon
dessen gerät Griechenlands Zivilbevölkerung all
der Athener Thukydides (460 – 395 v. Chr.). Im Amt
mählich in Not.
des Strategen (siehe Glossar) versagte er und wur
epoc-magazin.de
79
Glossar Hoplit: Schwer bewaffneter
de von der Bürgerschaft dafür mit zwanzig Jahren
Seebund war eine Seemacht geworden, Athen sein
Verbannung bestraft. Sein Exil führte ihn zu Ver
Hegemon. Das alles verdankte Athen niemand an
bündeten und Gegnern. Dabei avancierte der ge
derem als Perikles. Seit Mitte der 450er Jahre do
scheiterte Feldherr zum Chronisten des Pelopon
minierte er dort die Politik, wurde von der Volks
nesischen Kriegs, den er als »die größte Erschütte
versammlung alljährlich zum Strategen gewählt,
Infanterist, benannt nach dem hoplon, einem hölzernen Rund schild mit etwa einem Meter Durchmesser
rung für die Griechen« bezeichnete. Thukydides
was Thukydides zu dem Urteil veranlasste, Athen
unterschied Anlässe und Ursachen des Kriegs. Ers
sei nur dem Namen nach eine Demokratie, in
Phalanx: Seit Anfang des 7.
tere gab es genug, wie das Handelsembargo gegen
Wirklichkeit jedoch von einem Mann beherrscht
Jahrhunderts v. Chr. von grie chischen Heeren praktizierte Kampfformation, bei der meist acht gestaffelte Reihen von Hopliten einander schützten
Spartas Verbündeten Megara oder der Abfall der
worden.
Polis: Politische Organi
renden Furcht der Spartaner, die Athener könnten
ße. Allein der Parthenon, der Tempel der Stadtgöt
allzu mächtig werden«.
tin Pallas Athene, kostete 1500 Talente und ver
sationsform aus städtischem Siedlungskern und Umland, die sich im 8. Jahrhundert v. Chr. im griechischen Mutterland und im Ägäisraum formte. Wesentliche Merkmale waren Selbstverwaltung und -regierung durch die Bürger sowie das Streben nach Unabhängigkeit.
Sophisten: Philosophische Schule, die Mitte des 5. Jahr hunderts v. Chr. das öffentliche Leben in Athen prägte. Prag matismus sollte den Menschen helfen, mit allen Lebenssitua tionen fertig zu werden. Doch der positive Ansatz wurde miss braucht. In einer Demokratie, die über Volksversammlungen und Gerichtsprozesse funktio nierte, lehrten die Sophisten ihre Politiker die Kunst, alles plausibel zu machen – ob es nun wahr oder falsch war.
Stratege: Amtsbezeichnung für jene zehn militärischen Befehlshaber, die in Athen seit Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. jährlich von der Volksversamm lung gewählt wurden
Triere: Athenisches Schlacht schiff mit drei Ruderbänken und einem bronzebeschlagenen Rammsporn – Versenken des gegnerischen Schiffs war das Ziel des Angriffs.
Stadt Pottideia (siehe Karte S. 82/83) vom Delisch-
Perikles war auch der geistige Vater des Baupro
Attischen Seebund 432 v. Chr. Doch den wahren
gramms, das Athen in ein architektonisches
Grund entdeckte der Historiker »im unaufhörli
Schatzhaus verwandelte. Vor allem der Ausbau der
chen Wachstum Athens und der daraus resultie
Akropolis diente der Präsentation imperialer Grö
Der Konflikt begann bereits Jahrzehnte zuvor
schlang 30 000 Tonnen Marmor. »Mit sichtbaren
im gemeinsamen Abwehrkampf aller Griechen ge
Zeichen entfalten wir unsere Macht, in Gegenwart
gen die Invasion der Perser. Am Ende stand zwar
und Zukunft uns zum Ruhme«, schwadronierte
der Sieg, doch das Bündnis mündete nicht in ein
der Politiker. »Wir brauchen keinen Homer als
vereinigtes Griechenland. Sparta, Anführer der
Künder unserer Taten.«
Allianz, erteilte jeder militärischen Ambition über das Mutterland hinaus eine klare Absage. Athen
Insbesondere Sparta beobachtete das Treiben mit
Salamis 480 v. Chr. der orientalischen Supermacht
Argwohn. Bald wurden Stimmen laut, der Konkur
allein die Stirn geboten hatte, forderte, die Grie
renz Einhalt zu gebieten, bevor sie allzu mächtig
chenstädte in Kleinasien von der persischen Herr
würde. Die Forderung, die Mitglieder des See
schaft zu befreien.
bundes wieder in die Autonomie zu entlassen, ließ
Das war die Geburtsstunde des Delisch-Atti-
Athen freilich kalt. Schließlich entzündete das mit
schen Seebunds, der Athen groß machte. Jeder der
Sparta verbündete Theben (siehe Karte S. 83) im
rund 150 Bundesgenossen gab Schiffe oder Geld,
Frühjahr 431 v. Chr. die Fackel des Kriegs, als es die
die meisten Letzteres, und so flossen alljährlich
mit Athen alliierte Stadt Plataiai überfiel.
460 Talente beziehungsweise etwa zwölf Tonnen
Spartas Schlagkraft beruhte auf seiner schwe
Silber in die gemeinsame Kasse auf der Insel De-
ren Infanterie, den mit Brustpanzer, Beinschiene,
los – daher der Name der Allianz. Derart üppig aus
Helm, Lanze, Kurzschwert und Schild ausgerüste
gestattet baute Athen eine Flotte auf, die binnen
ten Hopliten, die in geschlossenen und hinterei
weniger Jahre die Griechenstädte im Westen Klein
nander gestaffelten Schlachtreihen kämpften und
asiens befreite. Und die freilich nach erfüllter Mis
den Gegner regelrecht niederwalzten. Athen hin
sion nicht aufgelöst wurde. Vielmehr nutzte Athen
gegen hatte seine Flotte: bei Kriegsausbruch laut
die Flotte nun als Machtmittel, gründete Militär
Thukydides dreihundert Trieren, jede 32 Meter
kolonien in Thrakien, kontrollierte die Durchfahrt
lang und sechs Meter breit, vorangetrieben von
zum Schwarzen Meer und damit die Getreideim
170 Ruderern, an Bord zudem dreißig Krieger, Bo
porte, expandierte und intervenierte – auf Kosten
genschützen und Offiziere. Jede Mannschaft war
der Bundesgenossen. Auf ewig hatten jene Athen
ausgebildet, aus voller Fahrt komplizierte An
geschworen, »dieselben Freunde und Feinde zu
griffsmanöver zu starten. »Es kam darauf an, mit
haben«, und zwar so lange, bis die beim Abschluss
hoher Geschwindigkeit Kurs auf das feindliche
des Vertrags ins Meer geworfenen Metallklumpen
Schiff zu nehmen, in letzter Minute die Ruder ein
»wieder aus den Wellen auftauchen«.
zuziehen und dann die Ruderreihen des feind
Doch einige Städte versuchten, den Knebelver
lichen Schiffes abzurasieren«, so der Düsseldorfer
trag zu kündigen – sie wurden hart bestraft. Um
Althistoriker Bruno Bleckmann. »Der manövrier
dergleichen schon im Ansatz zu unterbinden,
unfähige Gegner wurde nach einer Wendung mit
mischte sich Athen in die inneren Angelegen
dem zweihundert Kilogramm schweren Ramm
heiten seiner Bundesgenossen ein, setzte Regie
sporn der Triere aufgerissen.«
rungen ab und ein, ernannte Aufsichtsbeamte und
80
Die Fackel des Kriegs entflammt
indes, das mit seiner Flotte in der Schlacht von
Athen, im Sommer 430 v. Chr.: Wieder brennen
Besatzungstruppen. Das demokratische Ideal der
die Felder und wie im Vorjahr haben sich die Land
Bürgerfreiheit mochte in Athen über alles gelten,
bewohner hinter die schützenden Mauern geflüch
außerhalb Attikas trat man es mit Füßen. Aus dem
tet. Doch dann bricht eine Epidemie aus. Moderne epoc 01/2008
»Der Krieg nimmt die Sorglosigkeit des Alltags, ist ein Lehrer der Gewalt und führt bei der Menge zu einem zornigen Gemüt« (Thukydides) Historiker haben ihr alle möglichen Namen gege
ber belief, ist inzwischen nahezu leer. Deshalb er
ben, von der Lungenpest bis zu Ebola (Abenteuer
höht Kleon 425 v. Chr. die Tributforderung an die
Archäologie 4/2007, S. 70). Ob durch die schlech
Bundesgenossen um tausend Talente und stan
ten hygienischen Verhältnisse in den Notunter
dardisiert diese »Steuer«: Sie soll fortan nur noch
künften ausgelöst oder von heimkehrenden
in einer einheitlichen Währung in Athens Kasse
Schiffsmannschaften eingeschleppt, die Seuche
fließen – als mit Athenakopf und Eule verzierte
rafft mehr als 20 000 Menschen dahin, darunter
»Tetradrachme« (siehe Foto S. 85).
4500 Soldaten – mehr, als je eine Schlacht gefor dert hat.
Finanziell wieder flott, führt Kleon die Stadt ge gen Sparta. Es gelingt Athens Truppen, einen Brü
Schlimmer noch: Perikles selbst fällt 429 v. Chr.
ckenkopf an der Küste des Peloponnes zu installie
der Krankheit zum Opfer und ein Wettrennen um
ren. 424 v. Chr. nehmen sie 120 Elitekämpfer ge
die Macht setzt ein. Demagogen buhlen um die
fangen. Für Athen ein großer Prestigegewinn, denn
Gunst des Volks, darunter der Lederfabrikant
erstmals kapituliert ein spartanisches Heer, der
Kleon (422 gefallen), dessen Geschäfte dank des
Nimbus der Unbesiegbarkeit scheint gebrochen.
Kriegs florieren. Er redet einer offensiven Strategie
Tatsächlich bietet Sparta den Frieden an. Doch
gegen Sparta das Wort. Perikles’ Beschränkung auf
Athen lehnt siegesgewiss ab.
den Seekrieg hatte Athen zwar schwere Niederla
Ein folgenschwerer Fehler! Unter dem Heer
gen erspart, andererseits brachte das Taktieren der
führer Brasidas setzen sich die Spartaner in Nord
Gegner kaum Erfolge. Das solle sich nun ändern.
griechenland fest, um Athen von einem Gutteil
Doch Athen hat ein Problem: Die Unterhaltung
seiner Ressourcen für den Schiffsbau abzuschnei
Hopliten rüsten sich
der Flotte – im fünften Kriegsjahr laut Thukydides
den. Amphipolis und andere wichtige athenische
zur Schlacht. Zur typischen Ausrüs-
noch etwa 235 Schiffe stark – ist längst nicht mehr
Militärkolonien in Thrakien fallen (siehe Karte
tung gehörte der namensgebende
gewährleistet. Pro Tag verschlingen allein 15 Trie
nächste Seite ). Geblendet vom Erfolg auf dem Pe
Rundschild hoplon (Vasenmalerei
ren die Unsumme von einem Talent beziehungs
loponnes sucht Athen 421 v. Chr. die offene Feld
aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.,
weise 26 Kilogramm Silber. Die Seebundkasse, die
schlacht – und wird vernichtend geschlagen.
Antikensammlung des Kunsthisto-
Fortsetzung auf S. 84
rischen Museums Wien).
AKG Berlin
sich bei Kriegsausbruch noch auf 150 Tonnen Sil
epoc-magazin.de
81
Athen kontra Sparta Der Peloponnesische Krieg (431 – 404 v. Chr.) 490 v. Chr.:
S ieg Athens über das persische Invasionsheer in der Schlacht von Marathon
483 v. Chr.:
Athen beginnt den Bau einer Kriegsflotte und des Hafens Piräus
481 v. Chr.: Gründung des Hellenenbunds zur Abwehr der Perser 480–479 v. Chr.: Eine persische Invasion wird zurückgeschlagen 449/48 v. Chr.: Im Kallias-Frieden verzichtetPersien auf weitere Militäraktionen 431 v. Chr.:
A usbruch des Peloponnesischen Kriegs
429 v. Chr.:
Tod des Perikles
?J
425 v. Chr.: Kapitulation von 120 Spartanern auf Sphakteria, Peloponnes 424 v. Chr.: Sparta erobertdie athenische Militärkolonie Amphipolis in Nordgriechenland
7B
?A
7Zh _Wj _iY ^[i C[ [h
;H
Aoc[ D[Wfeb_i
421 v. Chr.: Nikiasfrieden zwischen Athen und Sparta 415–413 v. Chr.: Sizilische Expedition Athens 413 v. Chr.: Spartanische Besetzung Dekeleias 411 v. Chr.: Oligarchischer Umsturz in Athen 410 v. Chr.:
W iederherstellung der Athener Demokratie
407 v. Chr:
Sieg Spartas bei Notion in Kleinasien
J^kh_eb
406 v. Chr.: Sieg der Athener bei den Arginusischen Inseln in Kleinasien Niederlage der Athener bei Aigospotamoi in Kleinasien
404 v. Chr.:
K apitulation Athens
* '+
405 v. Chr.:
J o h h ^ [ d _ i Y ^ [ i C [ [ h
B_fWhW IjWZj
C[iiWdW"*(+
7j^[dkdZZ[h:[b_iY^#7jj_iY^[I[[XkdZ"*)'l$9^h$ L[hXdZ[j[7j^[di L[hXdZ[j[7j^[diWk\I_p_b_[deZ[h_d?jWb_[d
CejoW I[b_dki
E\\[di_l[d7j^[di IfWhjWkdZL[hXdZ[j["*)'l$9^h$ L[hXdZ[j[IfWhjWiWk\I_p_b_[deZ[h_d?jWb_[d I_[][Z[hIfWhjWd[h E\\[di_l[dIfWhjWi
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WdZ[h[=h_[Y^[d aWhj^W]_iY^[i=[X_[jWk\I_p_b_[d"*)'l$9^h$
413 v. Chr.:
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Alkibiades’ Griff nach Sizilien endete in einer vernichtenden Niederlage
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Auch die Hardliner Kleon und Brasidas fallen. In beiden Lagern gewinnen nun moderate Kräfte
wird gebaut, Sophokles, Euripides und Aristopha
die Oberhand, sodass im April desselben Jahres
nes schreiben ihre großen Dramen, Thukydides
der nach dem nun führenden athenischen Poli
und Xenophon ihre Geschichtswerke, Sokrates
tiker benannte »Frieden des Nikias« geschlossen
entwickelt seine Dialektik und Platon seine Philo
werden kann. AKG Berlin
kulturelle Höchstleistungen: Auf der Akropolis
sophie. Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768),
Doch die Waffen schweigen nicht. Athen
der Begründer der modernen Archäologie, sah da
schmiedet Allianzen mit Spartas Gegnern, expan
her im Peloponnesischen Krieg eine der großen
diert, attackiert. Verantwortlich dafür ist ein neuer
Ausnahmen in der Menschheitsgeschichte: »Die
Falke unter den Machtpolitikern der Stadt: Alkibi-
ser Krieg ist vielleicht der einzige, der in der Welt
ades (um 450 – 404 v. Chr.), der Neffe des Perikles.
geführt worden ist, in welchem die Kunst, welche
Er entspricht der aristokratischen Variante von
sehr empfindlich ist, nicht allein nichts gelitten,
Männern wie Kleon, ambitioniert und skrupellos,
sondern sich mehr als jemals hervorgetan hat.«
auf Eigennutz bedacht. Aus reiner Opposition ge gen seinen Rivalen Nikias hintertreibt er eine Ver
Wie ein Phoenix aus der Asche
Perikles
ständigung mit Sparta. Obendrein überzeugt der
Nach dem Siziliendebakel bröckelt der Seebund.
(um 490 – 429 v. Chr.)
von Sophisten (siehe Glossar S. 80) geschulte Po
Milet, Chios, Ephesos und Rhodos fallen ab (siehe
war einer der Väter der Athener
litiker das Volk auch noch von einem weiteren
Karte vorige Seite), andere folgen. Das wiederum
Demokratie und nutzte sie für die
Krieg, einer Militärexpedition nach Sizilien. Dort
mindert den Zufluss an Geldern, auf die Athen an
eigene Karriere. Jahr um Jahr zum
hat das mächtige Syrakus einen Verbündeten
gesichts der ungeheuren Rüstungsanstrengungen
Strategen gewählt, bestimmte
Athens, die Stadt Leontinoi, unterworfen. »Zum
mehr denn je angewiesen ist. Im Frühjahr 411 v.
er Athens Politik – und führte die
schönen Schein wollte er den Ioniern zu Hilfe kom
Chr. bemächtigt sich die spartanische Flotte der
Stadt in den Krieg gegen Sparta.
men, tatsächlich aber ging es ihm um die Erobe
Dardanellen und trifft damit den Lebensnerv
rung ganz Siziliens«, schrieb Thukydides, der die
Athens. Denn durch dieses Nadelöhr erhält es Ge
Ambitionen des Alkibiades wohl durchschaute.
treide aus dem Schwarzmeergebiet. Im Mai reißt
LITERATURTIPP Bruno Bleckmann Der Peloponnesische Krieg Klein, aber fein: Hintergründe und Phasen des Bruderkriegs in Hellas, verständlich und im Taschenbuchformat. [Verlag C.H.Beck, München 2007, 120 S., € 7,90]
Zwar haben seine innenpolitischen Gegner den
ein Regime, der »Rat der Vierhundert«, die Macht
Karrieristen noch vor Ausbruch der Kämpfe auf Si
an sich, versucht, Frieden mit Sparta oder ein
zilien kaltgestellt, doch die Militärmaschine läuft
Bündnis mit den Persern zu schließen. Doch ver
auch ohne ihn weiter. Im Jahr 413 v. Chr. endet das
geblich. So bleibt der Umsturz nur ein Intermezzo,
Abenteuer mit einer katastrophalen Niederlage.
bereits im September hält die Demokratie wieder
Athen verliert mehr als 30 000 Mann und 200 Tri
Einzug und der neue Hoffnungsträger heißt – Alki
eren. Alkibiades aber, beschuldigt, heilige Statuen
biades.
des Gottes Hermes umgestürzt zu haben, flieht
Wie ein Phoenix aus der Asche taucht er aus
von Sizilien nach – Sparta. Er verrät Insiderwissen,
dem Exil auf, lässt sich von der Flotte vor der Insel
überwirft sich aber bald mit einem der Mon
Samos zum Strategen wählen, siegt sogleich am
archen. Weiter geht seine Reise nach Kleinasien,
Hellespont über die spartanische Armada und
wo er vergeblich versucht, die Perser zu einem Mi
zieht umjubelt in Athen ein. Von allen Vorwürfen
litärschlag gegen Athen zu überreden.
freigesprochen, wird er zum Oberbefehlshaber er
Im selben Jahr tritt der Peloponnesische Krieg
möglich noch einmal herumreißen? Die Werften
frieden zur Aufrüstung genutzt – mit persischem
arbeiten mit Hochdruck und neue Kriegsschiffe
Geld und Knowhow holt die Landmacht in der See
werden vom Stapel gelassen. Und tatsächlich ge
kriegsführung nun auf. Nur zwanzig Kilometer
lingt es im Jahr darauf, die Spartaner auch bei Ky
nördlich von Athen besetzen die Spartaner die
zikos an der Nordküste Kleinasiens zu besiegen.
Festung Dekeleia (siehe Karte vorige Seite). Die
»Fort die Schiffe; Feldherr Mindaros tot; die Män
permanente Bedrohung prägt die Stimmung in
ner hungern; wir wissen nicht, was tun«, lautet
der Stadt. Auf der anderen Seite jedoch, und das ist das Sonderbare an diesem Krieg, erblüht die Kunst.
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nannt. Lässt sich das Ruder der Geschichte wo
in eine neue Phase. Denn Sparta hat den Nikias-
knapp deren Meldung nach Hause. Wieder bietet Sparta Frieden an, doch warum sollten die Sieger darauf eingehen?
»Noch in den dunkelsten Jahren des Kriegs«,
Vielleicht der hohen finanziellen Belastungen
schrieb der Tübinger Althistoriker Hermann
wegen? Eine Kriegssteuer für die oberen Schichten
Bengtson, »strahlte die unversiegbare Schöpfer
wird erlassen. Zusätzlich bittet Alkibiades die Ver
kraft des hellenischen Geistes.« Während die Werf
mögenden, durch Spenden die kriegsbedingte Not
ten und Werkstätten in der Stadt und im Hafen
der Bevölkerung zu mildern. Doch das genügt
von Piräus vom Arbeitslärm der Rüstungsindus
nicht, jede verlorene Schlacht bedeutet eine Kata
trie widerhallen, vollbringt die attische Klassik
strophe, jeder Sieg ist teuer erkauft. Die Nieder epoc 01/2008
aller Zufuhr abgeschnitten, brach dort bald eine
tet Alkibiades das Kommando, für die verlorene
Hungersnot aus, die Stadt kapitulierte.
Seeschlacht bei den Arginusischen Inseln im Jahr
Athen musste die Langen Mauern und die Be
darauf verurteilt die Volksversammlung sechs
festigung von Piräus schleifen, bis auf zwölf Schiffe
Strategen sogar zum Tod. Doch damit beraubt sich
seine gesamte Flotte ausliefern, alle auswärtigen
die Stadt erfahrener Befehlshaber.
Besitzungen räumen, alle Verbannten wieder auf
Sparta hingegen geht es glänzend. Dank per
nehmen, sich von »Dreißig Tyrannen« als verlän
sischem Geld verfügt es über zweihundert Schiffe,
gertem Arm Spartas regieren lassen – und Mit
die zum letzten Schlagabtausch bereit sind. Um
glied des Peloponnesischen Bundes werden. Aus
dagegenzuhalten, schmelzen die Athener sogar
der Großmacht wurde ein Vasall. Wäre es aller
die im Parthenon aufbewahrten Kultgegenstände
dings nach Spartas Verbündeten, allen voran Ko
AKG Berlin
lage bei Notion (siehe Karte) im Jahr 407 v. Chr. kos
ein, selbst die goldene Statue der Siegesgöttin.
rinth, gegangen, so wären die Athener versklavt
Eulen nach Athen zu tragen
Doch es kommt nicht einmal zur Schlacht. Kampf
und die Stadt in eine Viehweide verwandelt wor
erschien Kleon (422 gefallen),
los bemächtigt sich der spartanische Komman
den. Doch der Sieger wollte Athen nicht zerstören,
einem Nachfolger des Perikles,
dant Lysander 405 v. Chr. des letzten Aufgebots
sondern als Gegengewicht zu Theben erhalten, das
keineswegs sinnlos: Indem er von
des Gegners – welch eine Schmach!
Ambitionen zeigte, auf dem griechischen Festland
Bundesgenossen verlangte, Tribut
Dem Düsseldorfer Althistoriker Bruno Bleck
die Vorherrschaft anzustreben. In den kommen
in Form von Silbermünzen, den
mann zufolge hatten die Athener bei Aigospota
den sechzig Jahren sollte es keine griechische Polis
Tetradrachmen, zu entrichten,
moi am Hellespont geankert. Dort gab es zwar
schaffen, die Führungsrolle Athens zu überneh
beschleunigte er den Geldfluss in
Wasser, doch zu wenig Nahrung. Die musste jeden
men. Dies gelang schließlich auswärtigen Mäch
die Stadt.
Tag von weither besorgt werden. Nachdem Lysan
ten, von 338 bis 168 v. Chr. den Makedonen, später
der an vier Tagen seine Schiffe zum Angriff for
dann den Römern. Der deutsche Althistoriker Jo
miert hatte, dann aber scheinbar wieder mutlos
hann Gustav Droysen (1808 – 1884) konstatierte:
geworden war, gingen die Athener am fünften Tag
»Der Peloponnesische Krieg kannte keine Gewin
auf Nahrungsbeschaffung, ohne eine starke Mann
ner, sondern nur Verlierer – die Griechen.« Ÿ
schaft bei den Trieren zu belassen. Die Spartaner nahmen die Flotte fast kampflos in Besitz. Bereits
Theodor Kissel ist Althistoriker und Publizist in
im November begann die Blockade Athens. Von
Mainz.
THOT - SPUREN AUS STEIN EIN SPANNENDER THRILLER UM DAS RÄTSEL DER PYRAMIDEN
In einer geheimen Höhle werden uralte Papyrusschriften gefunden, die berichten, dass Thot die Pyramiden erbauen ließ, weil eine riesige Katastrophe die Menschen bedrohte. Doch das Archäologenteam um Sarah Kröger erkennt, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Um die ganze Geschichte zu verstehen, müssen sie in die Pyramiden einbrechen, wo das Erbe der Himmelmenschen seit Jahrtausenden auf sie wartet…
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epoc-magazin.de
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Geheimschriften
Ob es um Kriegswichtiges geht, um Botschaften aus der Gefangenschaft oder um heimliche Liebesschwüre: Geheimschriften helfen, Klartext zu reden!
Von Joachim Schüring
W
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von Salamis im September des Jahres 480 v. Chr. für die zahlenmäßig unterlegenen Spartaner wohl
enn am Hof Histiaios ein Sklave zum Bar-
nur deshalb gut ausging, weil sie vorab von dem
bier ging, geschah dies mitunter auf Geheiß
Angriff der Perser erfuhren. Ein im persischen Exil
des Diktators von Milet höchstselbst. Dann hatte
lebender Spartaner hatte eine der seinerzeit für
der Herrscher eine Botschaft zu verschicken – an
den Schriftverkehr üblichen, mit Wachs überzo-
seinen Schwiegersohn Aristagoras, mit dem er ei-
genen Holztäfelchen in die Heimat geschickt. Nur
nen Aufstand gegen den persischen König plante.
war die geheime Warnung nicht in das Wachs, son-
Weil dies natürlich im Geheimen geschehen muss-
dern unsichtbar darunter, auf das Holz, geschrie-
te, ließ Histiaios die Nachricht auf die Kopfhaut
ben – und erreichte deshalb unbehelligt ihr Ziel.
des Boten tätowieren – und wartete. Bis Haar darü-
All diese Beispiele sind steganografischer Natur
ber gewachsen war. Zwei, drei Wochen wird es ge-
(von steganos, griechisch: verdeckt, und graphein,
dauert haben, bis der Kurier unbehelligt durch
griechisch: schreiben). Dabei bleibt Brisantes un-
Feindesland reisen konnte. Am Ziel unterzog er
entdeckt, weil es in vollkommen harmlosem Ge-
sich erneut einer Rasur und überbrachte dem Ver-
wand daherkommt. Oder in unsichtbarem, wie im
bündeten so die Botschaft.
Fall der Geheimtinten, die schon der römische Na-
Diese Episode trug sich um 500 v. Chr. zu und
turforscher Plinius der Ältere schätzte. Diskretes
ist in Herodots Schriften überliefert. Und sie ist
schrieb er mit einem klaren Pflanzensaft, den der
nicht die einzige, die den Stand geheimdienstli-
Empfänger durch Erhitzen leserlich machte. Im 17.
cher Raffinesse in der Antike belegt. So berichtet
Jahrhundert kursierte dergleichen unter dem Na-
der griechische Chronist auch, dass die Seeschlacht
men sympathetische Tinte (von sympatheia, grieepoc 01/2008
Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University
Auf ewig rätselhaft? Das Voynich-Manuskript aus dem 15. oder 16. Jahrhundert konnte bis heute nicht entschlüsselt werden.
geheimzeichen der hausierer
Ruhig aufdringlich werden
Für Arbeit gibt’s was
chisch: Zuneigung), da sie sich so gut zum Schrei-
Dinge« schrieb. Was der Kaiserbiograf Sueton da-
ben von Liebesbriefen eignete. Eher fiese Gedan-
mit genau meinte, ist ungewiss. Vielleicht ging es
ken hegten in jener Zeit die Landstreicher mit
ja nicht nur um die ganz offiziellen Dinge. Jeden-
ihren Zinken: Während die ordentlichen Bürger
falls beschrieb er genau, wie Caesar dabei vorging.
darin nur belanglose Kritzeleien sahen, warnten
»Was wirklich geheim an sein Ziel kommen soll-
sich zwielichtige Gestalten damit vor bissigen
te,« so der Chronist, hat Caesar »in Chiffren ge-
Hunden, markierten die Häuser wohlhabender
schrieben, das heißt die Reihenfolge der Buchsta-
Bürger oder informierten, wie dort am besten et-
ben war stets so, dass sie kein Wort ergaben: Sollte
was zu holen war (siehe Bilder links).
jemand hinter die Nachricht kommen und sie flie-
Der Fantasie derart verborgener Botschaften
ßend lesen wollen, so muss er den drittnächsten
war und ist keine Grenze gesetzt. Zu Zeiten, als
Buchstaben des Alphabets, also D für A austau-
man noch mit der Schreibmaschine schrieb, lie-
schen, Entsprechendes gilt für den Rest des Alpha-
ßen sich geheime Botschaften versenden, die sich,
bets«. Wollte Caesar also einem Vertrauten geste-
für den unbedarften Leser völlig unsichtbar, aus
hen: »Bis zum ersten Hahnenschrei, Gelage mit
leicht verstellten, etwas dicker angeschlagenen
Kleopatra«, hätte er nicht nicht »usque ad pri-
oder mit Nadelstichen markierten Buchstaben zu-
mum galli cantum – comissatio cum Cleopatra«
sammensetzten. Einen vorläufigen Höhepunkt er-
geschrieben, sondern: »xvtxh dg sulpxp jdool
reichte der geheime Informationstransfer in den
fdqwxp – frplvvdwlr fxp Fohrsdwud«.
1940er Jahren, als Deutschland mit dem Rest der Lage, die Blaupausen feindlicher U-Boote derart
Statistiker knacken geheime Botschaften
zu verkleinern, dass sie nicht größer waren als der
Natürlich kann man das Alphabet um jede belie-
Punkt am Ende dieses Satzes. Erst als jemand den
bige Anzahl von Stellen verschieben. Oder heute
Amerikanern verriet, sie sollten in ansonsten
um drei und morgen um fünf. Ob Caesar selbst
harmlosen Briefen auf merkwürdig schimmernde
darauf kam, weiß niemand, 1500 Jahre später je-
Satzzeichen achten, war es vorbei mit dem Trick.
denfalls, im Jahr 1470, erfand der italienische Ge-
Welt im Krieg lag. So waren Spione damals in der
Krank spielen lohnt sich
Immerhin: Selbst FBI-Chef Edgar Hoover war be-
lehrte Leon Battista Alberti (1404 – 1472) eine Ma-
eindruckt und sprach vom »enemy’s masterpiece
schine, mit der sich genau das bewerkstelligen
of espionage«. Heute hat mancher in seinem
ließ. Sie war einfach und bestand aus zwei Schei-
Adressbüchlein einen gar nicht existenten Onkel,
ben, einer inneren und einer äußeren. Auf beiden
dessen Telefonnummer in Wahrheit eine Merk
war das Alphabet eingeprägt. Drehte man nun die
hilfe ist und die PIN der EC-Karte verbirgt.
eine Scheibe gegen die andere, so stand in jedem
Während bei steganografischen Texten der unbefugte Leser gar nicht merkt, dass da eine Bot-
Schritt dem Buchstaben auf der inneren ein anderer Buchstabe auf der äußeren gegenüber. Es gab eine ganze Reihe solcher Verfahren, bei
kryptografischen Nachricht offen vor ihm. Doch
denen ein Buchstabe durch einen anderen ersetzt
ist sie unlesbar, weil sie verschlüsselt ist (von kryp-
wurde. Je länger die auf diese Weise verschlüssel-
Die Skytala – ein Holzstab zum
tos, griechisch: verborgen). So hatte vielleicht
ten Nachrichten waren, desto leichter hatten es je-
Entschlüsseln einer Botschaft
nicht einmal jener Bote, der im Jahre 404 v. Chr.
doch die Dechiffrierer der Gegenseite. Sie vergli-
aus Persien kommend mit letzter Kraft das Lager
chen einfach die Häufigkeiten der einzelnen Buch-
des spartanischen Feldherrn Lysander erreichte,
staben im Geheimtext mit der in typischen Texten
eine Ahnung, warum ihm nun befohlen wurde,
des Feindes. Würde man beispielsweise die Lettern
seinen Gürtel abzunehmen. Er hatte ihn bei sei-
sämtlicher Wörter dieser epoc-Ausgabe zählen, er-
nem Aufbruch im fernen Persien bekommen – be-
gäbe sich wohl: Gut 14 Prozent aller Wörter begin-
schriftet mit scheinbar völlig sinnlos angeord-
nen mit einem D, während ungefähr 21 Prozent
neten Buchstaben. Lysander hingegen kann-
mit einem N enden. Das E dürfte mit über 17 Pro-
te das Geheimnis und wickelte den Gürtel
zent am häufigsten vorkommen. Nur jeder fünf-
spiralförmig um einen wohl gehüteten
tausendste Buchstabe ist hingegen ein Q. Wir ha-
hölzernen Stab – die skytala –, woraufhin
ben es nicht geprüft, gehen aber davon aus, dass
Epoc / Emde-Grafik
schaft durch seine Hände geht, liegt sie bei einer
sich die kryptischen Buchstaben zu der Bot-
die pi mal Daumen 250 000 Zeichen dieser Ausga-
schaft fügten, der Perserführer Pharnabasus plane
be statistisch so verteilt sind wie in einer Samm-
einen Angriff. Derart gewarnt, war Lysander ge-
lung typischer deutscher Texte. Vergleicht man
wappnet und trug den Sieg davon.
solche Häufigkeiten mit denen in chiffrierten Bot-
Gaius Iulius Caesar hingegen – nicht weniger
schaften, ist die Nuss meist rasch geknackt.
Feldherr als Lysander – verschlüsselte seine Briefe
Natürlich führte das zu einem Wettlauf zwi-
vornehmlich, wenn er Vertrauten »über häusliche
schen Ver- und Entschlüsslern. Den Statistikern epoc 01/2008
etwa kamen die Chiffrierer schon im Mittelalter bei. Das »Alphabetum Kaldeorum« bot nämlich
Ibich habibebi dibich, / Lobittebi, sobi liebib.
für häufig wiederkehrende Buchstaben gleich
Habist aubich dubi mibich / Liebib? Neibin, vebirgibib.
mehrere Zeichen. Auch gab es sinnlose Symbole,
Nabih obidebir febirn, / Gobitt seibi dibir gubit.
die das systematische Dechiffrieren zusätzlich erschwerten. Erfunden wurde das »Alphabetum«
Meibin Hebirz habit gebirn / Abin dibir gebirubiht
übrigens angeblich von Rudolf IV. von Österreich
Joachim Ringelnatz (1883 – 1934): Gedicht in Bi-Sprache
(1339 – 1365), der am Ende auch seine Grabplatte im Wiener Stephansdom mit den seltsamen Schriftzeichen verzieren ließ. Noch komplizierter wird es, wenn man gar nicht mehr den Text selbst übermittelt, sondern
Selbst für den amerikanischen Geheimdienst bleibt das Voynich-Manuskript ein Buch mit sieben Siegeln.
wo sich die einzelnen Wörter – in einem völlig
Immerhin: Die Agenten vergaloppierten sich
harmlosen Text – finden lassen. Der Empfänger
nicht wie jene Kollegen zur Zeit der k.u.k.-Monar-
bekäme dann lediglich fünf Ziffern, von denen die
chie, denen der österreichische Schriftsteller Ale
erste die Seitenzahl bezeichnet, die zweite die Spal-
xander Roda Roda (1872 – 1945) diesen Fauxpas an-
te, die dritte die Zeile, die vierte das Wort und die
dichtete: Die hätten nämlich eine geheimnisvolle
fünfte schließlich den gesuchten Buchstaben. Na-
Zahlenfolge erhalten und diese zu folgender Bot-
türlich muss der Adressat wissen, wo er zu suchen
schaft entschlüsselt: »Koreanische Kaiserfamilie
hat – also beispielsweise in einer ganz bestimmten
durch Torpedovolltreffer nahe Marburg in Steier-
Ausgabe der Bibel, eines Lexikons – oder des epoc-
mark mit Rindschmalz verlobt.« Was die Spezialis-
Magazins.
ten nicht ahnten: Jene Ziffer war versehentlich in
Ohne den Schlüssel kann man den Text nicht
ihrer Abteilung gelandet. In Wahrheit handelte es
entziffern – und man fühlt sich wie Jean-François
sich um eine belanglose Fahrgestellnummer. Ÿ
Champollion (1790 – 1832), der ein Leben lang versuchte, die rätselhaften Hieroglyphen der alten
Joachim Schüring ist Redakteur bei epoc.
Ägypter zu entziffern. Erst als er auf den Stein von Rosette stieß, hatte er ein leichtes Spiel (siehe S. sonst die Zähne aus – so wie im Fall der minoischen Linear-A-Schrift oder des vielleicht berühmtesten Geheimtextes der Welt: des VoynichManuskripts (benannt nach dem Sammler Wilfrid Michael Voynich, der es im Jahr 1912 entdeckte). Die gut hundert Pergamentseiten stammen aus dem 15. oder 16. Jahrhundert, wurden von zwei Personen geschrieben – das beweisen die Merkmale der Handschriften – und reichlich illustriert. Bis heute weiß keiner, ob die einzelnen Schriftzeichen, die es sonst nirgends auf der Welt ein zweites Mal gibt, einzelne Buchstaben darstellen, oder ganze Silben. Oder auch vollständige Wörter. Die Bilder lassen vermuten, dass es sich um ein naturkundliches Werk astronomischen, botanischen und anatomischen Inhalts handelt. Einzelne Sternbilder jedenfalls lassen sich gut identifizieren. Die meisten Pflanzen hingegen konnten bis heute nicht zugeordnet werden (Bild S. 87). Statistische Untersuchungen zeigten, dass der Text nicht aus beliebig aneinandergereihten Zeichen besteht – und ergo ziemlich wahrscheinlich einen Sinn hat. Auch ergab sich dabei eine gewisse Ähnlichkeit zum Polynesischen. Als einer der Ersten hatte sich der Universalgelehrte Athanasius Kircher (1602 – 1680) an der Entschlüsselung versucht. Ohne Erfolg. Allen anderen nach ihm ging es genauso. epoc-magazin.de
Die deutsche Chiffriermaschine Enigma Mit der sagenhaften Enigma (griechisch: Rätsel) gingen auch die Zeiten der mechanischen Chiffriertechnik zu Ende. Die Maschine war 1918 von dem Ingenieur Arthur Scherbius (1878 – 1929) erfunden worden. Ihr Kernstück waren eine Tastatur, ein Feld mit elektrischen Lämpchen und – in ihrem Inneren – mehrere Walzen. Nach jeder Eingabe über die Tastatur drehte sich die erste Walze um eine Stelle weiter. Nach 26 Eingaben übertrug sie ihre Drehung – genau wie bei einem Kilometerzähler – auf die nächste. Jeder Buchstabe hatte zudem einen elektrischen Ein- und Ausgang an den Seiten eines jeden Rotors, welche allerdings nicht parallel liefen, sondern auf streng geheime Weise verknüpft waren. Über die Vorderseite konnten einzelne Buchstaben durch Steckverbindungen noch vertauscht werden. Auf diese Weise wurde jeder getippte Buchstabe individuell und mehrfach verschlüsselt. So kompliziert diese elektromechanische Maschine in ihrem Inneren arbeitete, so einfach war die Entschlüsselung – allerdings nur, wenn man am anderen Ende ebenfalls eine Enigma hatte und die Walzen in derselben Weise einstellte wie beim Sender. Die Enigma bot unvorstellbare 150 Billionen Verschlüsselungsmöglichkeiten und war lediglich dem legendä ren britischen Mathematiker Alan Turing (1912 – 1954) nicht gewachsen. Mit seinem schrankgroßen Rechengerät – der »Bombe« – vermochte er ab 1943 sämtliche deutschen Funksprüche zu lesen. Zwei Jahre vorher hatten die Alliierten den Kode erstmals geknackt – und zwar, weil die deutschen Funker zu faul gewesen waren und die Chiffrierkodes zu selten verändert hatten. So kamen zunehmend wiederkehrende, identische Textformeln über den Äther.
BSI Bonn
50). Andere blieben glücklos und bissen sich um-
89
mythopolis
Im Labyrinth des Minotaurus Tiefschwarze Dunkelheit, verwirrende Gänge und obendrein noch ein Monster – da bekommt selbst ein Held wie Theseus Muffensausen. Von Ernst F. Grillinski
E
in Geräusch, ein leises Scharren. Etwas
Gewand verbarg Theseus ein gutes Schwert.
In diesem Moment donnert Gebrüll
wartet im Dunkel des Labyrinths. Es
Doch bei dem geplanten Gemetzel wäre Ari-
durch den Gang, gefolgt von schrillen Schrei-
weiß, die Zeit ist gekommen. Bald. Das Licht einer Fackel fällt auf eine Mauer: ein weiterer Gang. Der bald in den nächs-
adne in Gefahr gewesen. Lammfromm war
en, deren Echo tausendfach an den Mauern
Theseus den Wachen zum Labyrinth ge-
widerhallt. Nein, nicht Wahnsinn, Hunger
folgt.
oder Durst bringen in diesem verdammten Labyrinth den Tod. Was immer hier lauert, es
ten münden wird. Nicht einmal Schimmel
Das Labyrinth! Davon munkelte man in
mag in dieser Finsternis wachsen, denkt
der ganzen griechischen Welt. Es galt als Art
hat sich sein erstes Opfer geholt. Und The
Theseus müde. Eine Ewigkeit scheint es dem
Kammer des Schreckens, bewohnt von
seus stochert weitab vom Geschehen wie ein
Königssohn aus Athen, dass er durch dieses
einem gefräßigen Ungetüm, das ein dunkles
Blinder im Dunkeln. Fluchend umfasst er
Labyrinth irrt, in der einen Hand die Fackel,
Schicksal mit dem Königshaus verband.
sein Schwert und hangelt sich zurück.
in der anderen das Schwert. Doch wo ist sein
Gerade schickten sich die Soldaten an, ein
Nochmal und nochmal hallen Schmer-
Gegner? Ist es am Ende nur das Dunkel, das
großes steinernes Tor zu öffnen, da trat
zensschreie durch die Gänge, mal scheinen
aus jeder Fuge kriecht? Oder der Wahnsinn,
Ariadne hervor. »Halt, mein Vater vergaß
sie ganz nah, dann wieder fern. Theseus hat
der ängstlichere Gemüter längst befallen
den speziellen Ritus für ihren Anführer. Ich
vielleicht die halbe Strecke zum Tor zurück-
hätte?
mach’ das schnell.« Dann nahm sie Theseus
gelegt, da ist es plötzlich still. Zu still!
Doch ein Held muss tun, was ein Held
beiseite.
Er lauscht. Etwas ist ganz nah, etwas ist –
eben tun muss. Und deshalb hatte er sich
»Versprich, mich zur Frau zu nehmen,
freiwillig gemeldet, als das Los unter Athens
dann werde ich dich retten.« Unauffällig
Kindern wieder einmal Opfer für Kretas Kö-
drückte sie Theseus ein Knäuel Garn in die
Theseus fährt herum und führt die Klinge
nig Minos bestimmen sollte. Alle neun Jahre
Hand. Der Held war verblüfft.
in weitem Bogen, doch sie durchschneidet
setzte ein Schiff schwarze Segel und brachte sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge zur
»Halte du nur das eine Ende des Fadens, dann wird er dich zu mir zurückführen.«
direkt hinter ihm!
nur die Dunkelheit. Dann reißt ihn ein brutaler Stoß vor die Brust von den Füßen,
fernen Insel, Sühne für den Mord an des
Und dann schob ein Soldat den schweren
schleudert Theseus in den Gang. Instinktiv
Minos’ Sohn auf attischem Gebiet. Diesem
Türriegel beiseite, ein anderer drehte an
umklammert er das Schwert, rollt sich ab
Spuk schwor Theseus ein Ende zu bereiten.
einem Rad, irgendwo rasselten Ketten und
und springt wieder auf. Verdammt, wo ist
Sein besorgter Vater, Athens König Aegeus,
dann öffnete sich das gewaltige Tor. Man gab
das Knäuel?
bat den Kapitän: »Hisse ein weißes Segel,
den Athenern ein paar Fackeln und stieß
»Es hat ein Schwert«, grollt eine Stimme
wenn Theseus glücklich zurückkehrt.«
die weinenden Kinder hastig durch die Öff-
aus dem Dunkel. »Es möchte spielen!« Was
nung.
in Zeus Namen ist das für ein Wesen?
Das Licht der Fackel zittert leicht. Ein Luft-
»Nenne mir deinen Namen, Monster«,
zug? Doch im Schein der Flamme vermag
»Alles wird gut«, versuchte Theseus seine
Theseus nicht den kleinsten Spalt im Ge-
Gefährten zu beruhigen. »Ich habe ein
mäuer zu erkennen. »Reiß dich zusammen,
Schwert und werde töten, was auch immer
deine Gefährten warten am Eingang auf
hier haust. Ihr bleibt hier!« Dann ent-
schreien und kreischen und rennen und
dich. Und vor dem Tor – Ariadne.« König
schwand er in die Finsternis.
flennen. Nenn mich Minotaurus. Und nun
fordert Theseus die Dunkelheit heraus. »Sieh an, es kann sprechen. Nicht nur
lass uns Spaß haben.«
Minos’ Tochter hatte sich auf den ersten
Doch inzwischen verlischt die letzte Fa-
Blick unsterblich in Theseus verliebt. Und
ckel, Ariadnes Faden ist abgespult und The-
auch ihn traf Amors Pfeil. Ansonsten hätte
seus blickt in das Dunkel um ihn herum.
waltige Masse Theseus von den Füßen. Dann
Kretas Herrscher die Begutachtung der Op-
Und Furcht beschleicht ihn, der schon so
durchzuckte ein brennender Schmerz seine
fer wohl nicht überlebt, denn unter seinem
viele Heldentaten vollbracht hat.
Seite. Dieses Wesen ist nicht nur unglaublich
90
Gebrüll ertönt und wieder reißt eine ge-
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rammt dem Stiermensch die Klinge tief in den Leib. Im nächsten Moment verliert er schon wieder den Boden unter den Füßen und prallt gegen eine Mauer. Ihm schwinEpoc / Alexander Jung
den die Sinne. Die Ohnmacht rettet sein Leben. Denn stöhnend vor Schmerz und vom Geruch des eigenen Bluts umnebelt, vermag Minotaurus nichts mehr zu erkennen. Das Monster taumelt an dem Liegenden vorbei, stürzt nestark und massig wie ein Fels, es hat auch
wahrscheinlich hofft er, dass ich in der Fins-
ben ihm schwer zu Boden. Tastet, fühlt aber
eine Waffe.
ternis krepiere. Doch ich habe gelernt, mit
nichts als nackten Boden.
»Haben dich meine Hörner gepikst?« Der
Ohren und Nüstern zu sehen. Jedes Ge-
»Mutter ... ich ...«
räusch, das du machst, jeder Tropfen Blut,
Ein letztes Schnauben, ein kurzes Zittern,
der aus deiner Wunde fließt, ist mir ein Licht.
dann legen sich Stille und Dunkelheit über
eingekerkert?«, keucht Theseus, um Zeit zu
Deshalb liebe ich es, wenn meine Opfer
den massigen Körper.
gewinnen.
schreien und ihnen die Angst aus allen Po-
Minotaurus lacht dröhnend. »Warum ist ein so mächtiges Wesen hier
Kein
Angriff.
Sein
Gegner
zögert,
schnaubt. »Als Minos beschloss, Kreta solle die stärkste Seemacht werden, betete er zu Poseidon: Aus dem Schaum des Meeres sende einen Stier, dem Volk zum Zeichen, dass du
ren steigt.« »Könntest du mir das nicht beibringen?«, Theseus erhebt sich und geht langsam auf die Stimme zu. »Was meinst du damit?«, grollt der Minotaurus.
meinen Plan billigst.« »Denn der Stier ist den Kretern heilig,
Als Theseus erwacht, stößt er gegen den Toten und erschrickt. Doch er merkt, dass das Glück ihm hold war. Mehr noch, auf dem Boden ertastet er – den verlorenen Faden. Der Rückweg scheint eine Ewigkeit zu dauern, doch schließlich erreicht Theseus den kläglichen Rest seiner Gefährten. Dreimal Ziehen am Garn, bald rasseln Ketten
»Neun Jahre allein in der Dunkelheit,
und das Tor beginnt sich zu öffnen. Blen-
entführte Zeus doch in dieser Gestalt die
bei Zeus, das muss sterbenslangweilig sein.
dende Helligkeit dringt in das Labyrinth, das
schöne Europa nach Kreta. Minos ist beider
Wenn du mich am Leben lässt – ich könnte
seinen Schrecken verloren hat.
Sohn.«
deine Tage mit Musik erhellen.«
Wütend unterbricht ihn der Minotaurus:
»Musik? Was ist das?«
Epilog: Auf der Flucht nach Athen fordert der Gott Dionysos ältere Rechte ein – Ariad-
»Doch Minos versprach dem Gott, das Wun-
Theseus ist dem Schnauben nun ganz nah.
ne war ihm versprochen. So muss Theseus
dertier hernach zu opfern, aber er brach den
Er schließt die Augen und spürt eine mäch-
die Frau, der er sein Leben verdankt und
Schwur. Da sandte Poseidon der Königin ei-
tige Präsenz, direkt vor sich. »Singen zum Bei-
die er liebt, auf der Insel Naxos zurücklas-
nen Zauber und sie entbrannte in frevel-
spiel. Ich bin ein berühmter Sänger.«
sen. Voll Trauer lässt er das schwarze Segel
hafter Liebe zu dem Tier. Sie legte sich in
Das entspricht nicht ganz der Wahrheit,
setzen. Als sein Vater es von Ferne sieht,
eher ist Theseus’ Organ berüchtigt – was
stürzt er sich in den Tod. So war der Sieg über
»Und dann ...«
auch dem Monster klar wird, als der Helden-
das Monster teuer erkauft.
»Ich bin ihr Sohn, halb Mensch, halb Stier.
tenor erschallt. Regelrecht geblendet hält es
eine hölzerne Kuh, und dann ...«
Ein Monster. Minos ließ dies Labyrinth bau-
sich die schmerzenden Ohren zu.
Verwinkelte Gänge, unzureichend beleuchtet, und irgendwo in der Finsternis ein
en, damit mich niemand zu sehen bekommt.
Da springt Theseus mit einem Satz vor.
unbekannter Schrecken – kein ganz norma-
Alle neun Jahre schickt er mir zu Essen und
Seinem Instinkt folgend stößt er zu – und
ler Arbeitstag, selbst für einen Helden. Ÿ
epoc-magazin.de
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bücher und mehr
e e e e e e e e e e e e e e e e
wenig empfehlenswert bedingt empfehlenswert empfehlenswert sehr empfehlenswert
e e e e
Mission to Mainz Ein tot geglaubter Erbe des französischen Throns, gefangen im Napoleon ergebenen Mainz, als Gegenspieler einige um ihre Macht fürchtende Monarchen, vor allem aber ein Trüppchen zu allem entschlossener Dichter – der Journalist und Drehbuchautor Robert Löhr entführt seine Leser in ein Deutschland, wie es abenteuerlicher nicht sein könnte.
Goethe als Sprengstoffspezialist, Schiller als Robert Löhr
Robert Löhr Das Erlkönig-Manöver [Piper, München 2007 356 S., 19,90 €]
truppe Probleme, denn die jungen Dichter von
Scharfschütze mit der Armbrust, Alexander von
Kleist und von Arnim stehen manchem Ideal
Humboldt als eine Art Lederstrumpf, dazu Waf-
Goethes und Schillers ablehnend gegenüber. Wie
fen schwingend die Herren von Kleist und von
haben Sie es geschafft, all diese Spannungsfelder
Arnim – Sie schicken Deutschlands Dichter auf
dramaturgisch zu organisieren?
eine »Mission impossible« und ich frage mich:
Durch viel, viel Planung. Ich habe Skizzen der
Was an diesem Spektakel ist historisch, was
Handlungsstränge angelegt und mir jede mög-
Fiktion?
liche Verwicklung sehr genau betrachtet.
Robert Löhr: (lacht) Das machte ja beim Schreiben den größten Spaß. Das übliche Bild von unseren
APropos Spannendes aus einem von Napoleon bedrohten Deutschland bietet auch dieser Kriminalroman:
Ihre Dialoge wirken sehr authentisch, nie
Dichtern und Denkern zu brechen. Goethe und
künstlich. Wie ist Ihnen das gelungen?
Schiller nicht in ihrer Schreibstube zu zeigen,
(lacht) Wenn Sie ein halbes Jahr lang Klassiker
sondern als Draufgänger. Dass sie diese Seiten
lesen, färbt so etwas ab. Außerdem notierte ich
wohl wirklich hatten, dass beide dem Alkohol in
mir beim Lesen Begriffe wie den »Terzerol«.
reichem Maße zusprachen, Schiller nicht ohne
Heute heißt so ein Ding »Pistole«. Zudem legte
seine Degen ins Theater ging und Goethe als
ich eine Liste mit Zitaten an, insgesamt sind etwa
Kriegsminister einen Feldzug gegen Napoleon bis
tausend im Buch verstreut. Von einem bekannten
vor die Tore von Mainz begleitet hat, das alles ist
»Heinrich, mir graut’s vor dir« bis hin zu »Ich bin
in der Tat belegt.
verliebt wie ein Käfer«. Das ist aus »Käthchen von Heilbronn«.
Wer waren Ihre »Informanten«? Einige Biografen, vor allem aber meine Helden
Gehört auch Kleists Äußerung über Hum-
selbst. Ich habe etwa ein halbes Jahr lang gelesen,
boldt in diese Reihe: »Ich habe seinen schönen
gelesen, gelesen. Alle Dramen von Schiller und
Leib mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen
Kleist, von dem enorm produktiven Goethe den
betrachtet«?
Großteil, dessen Tagebuch der Belagerung von
Ja, es gibt Briefe von ihm, die eine homoerotische
Mainz, Briefe von Humboldt.
Neigung wahrscheinlich machen. Auch für Humboldt fand ich entsprechende Hinweise. Die
Europäischen Monarchen bereitete Napoleon Michael Gregorio Königsberger Dämonen [Piper, München 2007, 480 S., 14,– €]
lität bietet ein interessantes Motiv, und das durfte
der Französischen Revolution verbreiteten.
ich mir als Autor nicht entgehen lassen.
Monarchietreue hier, revolutionäre Gesinnung da – dieser Konflikt macht auch Ihrer Eingreif-
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beiden sind sich nie begegnet, doch Homosexua-
auch deshalb Sorge, weil seine Truppen den Geist
Das Gespräch führte Klaus-Dieter Linsmeier.
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e e e e
e e e e
Biografie eines Barbaren
Es war Mord, meine Herren
Vom Pferderücken aus regierte der krummbeinige Dschingis Khan
Archäologen widersprechen der These vom schleichenden Ende des
seine blauen Reiter. Oder etwa nicht?
Römischen Reichs. Ihre Belege finden sie – im Müll der Antike.
Z
auf Experten, wenn Bianchi
ton Post 1999 den Mongolen-
kulturellen und zeitlichen
fürsten Dschingis Khan, denn er
Kontext zitiert. Ein besonders
Reiches« (1776 – 1788) ist eine
einer modernen Perspektive
verkörpere »die Doppelsinnig-
peinliches Beispiel: Zur »Regent-
große Menge Gelehrtentinte
erklären. Der archäologische
um »Mann des Jahrtausends« kürte die Washing-
historische Quellen im falschen
eit Edward Gibbons »Ge-
S
Brite, erschaffen von wissen-
schichte über den Nieder-
schaftlichen Gutmenschen, die
gang und Fall des römischen
antike Verhaltensmuster aus
keit der menschlichen Rasse,
schaft vom Pferderücken« aus
darauf verwendet worden, den
Befund spreche eine andere
das Grausame und das Zivili-
riet nicht der Uigurenfürst
Untergang der römischen
Sprache: Im Westen des Reichs
sierte«. Ein Urteil, das einem im
Tatatunga, damit sich Dschingis
Zivilisation zu ergründen.
sank der Lebensstandard zwi-
Lauf von Jahrhunderten ent-
Khan staatsmännischer gebärde.
Kreiste die Debatte zunächst
schen dem 5. und 7. Jahrhundert
standenen Mythos Rechnung
Diese berühmte Mahnung
um die Ursachen, verlagerte sie
drastisch, in Britannien sogar
trug. Barbarischer Eroberer,
stammt vielmehr aus einer
sich dann auf den Verlauf –
unter das Niveau vor der römi-
Begründer eines Weltreichs,
chinesischen Denkschrift an
Übergang oder Untergang war
schen Eroberung. Dieser »Ver-
Vater der mongolischen Eigen-
einen Nachkommen des Khans.
hier die Frage. Neue Grabungs-
lust zivilisatorischer Annehm-
staatlichkeit – einander oft
Übrigens – die in diesem Buch
befunde sprechen nun für ein
lichkeiten« zeigte sich beispiels-
widersprechende Schriftquellen
gern genutzte Bezeichnung
gewaltsames, abruptes Ende
weise im Qualitätsverfall bei
machen es niemandem leicht,
»Blaue Horde« für die Mongolen
und erschüttern damit die viel
Gebrauchsgütern. Vor allem der
Leben und Wirken Dschingis
war damals nicht gebräuchlich,
vertretene These von der
antike Müll liefert Belege :
Khans (um 1162 – 1227) zu
ebenso wenig sprach man von
allmählichen Transformation
Keramikgefäße, eine für Lage-
rekonstruieren.
Mandschuren. Und: Tungusisch
der römischen in die mittelal-
rung und Transport von Lebens-
ist keine Mundart, sondern ein
terliche Welt. Oder wie der
mitteln gefertigte Massenware
und Mittelalterhistoriker Vito
Zweig der altaischen Sprach-
französische Historiker André
wie heutzutage der Tetrapak,
Bianchi hat es versucht, doch
gruppe; Filz wird nicht aus Fell,
Piganiol (1883 – 1968) schrieb:
wurden deutlich dünner und
leider erweist er sich der Aufga-
sondern aus Wolle hergestellt;
»Die römische Zivilisation ist
damit zerbrechlicher.
be nicht gewachsen. Zwar bindet
ein Elfenbeinstab als Zeichen
nicht friedlich eingeschlafen, sie
er sachgemäß das Leben des
mongolischer Königswürde ist
wurde ermordet.«
Fürsten in den kulturgeschicht-
aus jener Zeit nicht belegt. Dazu
lichen Hintergrund der Steppen-
kommt ein wildes Durcheinan-
ker an der Universität Oxford,
Einwand wenig schlagend, der
nomaden des 12. und 13. Jahr-
der bei der Umschrift chine-
widerspricht ganz in diesem
Spaten allein fördere keine
hunderts ein; stellt auch den
sischer und mongolischer
Sinn all jenen, die germanische
höhere Wahrheit zu Tage als das
Bezug zu den zentralasiatischen
Bezeichnungen. Fazit: Dieses
Invasoren als friedliche Immig-
Studium antiker Texte. Zumal
Vorläufern der Mongolen her.
Werk bedarf der gründlichen
ranten und die Ansiedlung
mit dem Ende Westroms auch
Zwar lassen sich Klischees wie
Überarbeitung.
fremder Völker auf römischem
die literarische Kultur den Rück-
Reichsgebiet als Beweis für ein
wärtsgang einlegte.
Der italienische Archäologen
»Katzenaugen« und »Krummsä-
Bryan Ward-Perkins, Histori-
Angesichts solcher Argumente erscheint der mitunter von Althistorikern vorgebrachte
bel-Beine« mit dem populären
Veronika Veit lehrt Mongolistik
Streben nach Kooperation und
Charakter des Buchs entschuldi-
am Institut für Orient-und Asien-
Integration deuten. Dies seien
Theodor Kissel ist Althistoriker in
gen. Befremdend aber wirkt es
wissenschaften in Bonn.
»moderne Trugbilder«, so der
Mainz.
Vito Bianchi Dschingis Khan Biographie. Aus dem Italienischen übersetzt von Uwe Ludwig [Patmos, Düsseldorf 2007, 270 S., 24,90 €]
epoc-magazin.de
Bryan Ward-Perkins Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation [Theiss, Stuttgart 2007, 240 S., 29,90 €]
93
KURZ & bündig Der neue Atlas der Weltgeschichte
e e e e
Von der Antike bis zur Gegenwart [Chronik Verlag, Gütersloh/München 2007, 304 S., 19,95 €]
So macht Geschichte Spaß: Doppelseite für Doppelseite gibt es hier eine Epoche, eine Zivilisation oder eine besondere kulturelle Leistung zu entdecken. Ob »Die Welt um 200 v. Chr.«, »Das alte MayaReich« oder »Die Erforschung Nordamerikas«, jedes Kapitel umfasst eine ausführliche Karte sowie eine Zeittafel. Allerdings zwängt diese Verdichtung von Geschichte mitunter recht viele Informationen in die Karte, womit ihr Verständnis erschwert wird. Inés de Castro (Hg.):
Maya
e e e e
Könige aus dem Regenwald [Katalog zur Sonderausstellung des Ausstellungszentrums Lokschuppen Rosenheim und des Roemer- und Pelizaeus-Museums Hildesheim, Gerstenberg, Hildesheim 2007, 256 S., 19,90 €]
Aufstieg und Fall der klassischen Maya verstehen Altamerikanisten heute recht gut, sie können die Chronologie dieser Kultur sogar ziemlich genau nachzeichnen. Das Ringen der Stadtstaaten untereinander, das Aufblühen und Vergehen von Dynastien schildern ausgewiesene Fachleute in die-sem Band ebenso spannend wie verständlich. Kürzere Beiträge widmen sich speziellen Themen wie der Kosmologie der Maya, der Entwicklung ihrer Pyramidentempel oder des Ballspiels, dem Kampf um Ressourcen oder der Bedeutung der Kakaopflanze. Wer nicht nur lesen, sondern sich auch die Ausstellung ansehen möchte, hat dazu noch bis zum 13. April 2008 in Hildesheim Gelegenheit. Nick Rennison:
Sherlock Holmes
e e e e
Die unauthorisierte Biographie. Eine Produktion des Hessischen Rundfunks [Patmos Hörbuch 2007, CD, Länge etwa 60 Minuten, 16,95 €]
»Sie sind in Afghanistan gewesen, wie ich sehe«, verblüffte Sherlock Holmes einen jungen Arzt namens John H. Watson und erklärte ihm sodann, aus welchen Beobachtungen er dies erschlossen hatte. Es war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft, in deren Verlauf Dr. Watson dem Meisterhirn beim Lösen vertrackter Mordfälle assistierte, doch hilflos zusehen musste, wie der weltbeste Detektiv der Kokainsucht verfiel. Wer war dieser Sherlock Holmes? In bester Biografenmanier hat der britische Literat Nick Rennison die zur Verfügung stehenden Quellen studiert – etwa jene von einem gewissen Arthur Conan Doyle unter eigenem Namen veröffentlichten Fälle – und erzählt die wahre Geschichte eines Mannes, der vom viktorianischen Geist des 19. Jahrhunderts geprägt, doch seiner Zeit weit voraus war. Artemis & Winkler brachten das Werk in diesem Jahr in deutscher Übersetzung heraus, Patmos Hörbuch präsentiert nun die für den Hörfunk bearbeitete Fassung. Ulrich Sinn:
Die 101 wichtigsten Fragen
e e e e
Antike Kunst [Becksche Reihe, Nördlingen 2007, 160 S., 9,95 €]
Betrachtet man die römische Kopie der Aphrodite von Knidos in den Vatikanischen Museen, fragt man sich unwillkürlich, welches Aufsehen diese Darstellung einer gänzlich nackten Göttin schon in der Antike erregt haben muss. Diesem und 100 weiteren Themen an die Kunst der alten Griechen und Römer geht Ulrich Sinn auf äußerst anschauliche und leicht zu lesende Art nach und überrascht mit Fragen, die auch ein Fachmann nicht so schnell erklären könnte. Etwa: Warum waren Banausen im antiken Kunstbetrieb unverzichtbar? Wie konnte man aus einem Mosaik speisen und trinken? Die Antworten seien hier nicht verraten, nur so viel angedeutet: Die Aphrodite der Stadt Knidos war schon in der Antike derart berühmt, dass ihr Verkauf den stark verschuldeten Ort saniert hätte.
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KBR
FKHI+ J K @E KB ?FIABO?LD O BK SLK.535
Max und Moritz, Hans Huckebein und die fromme Helene – Wilhelm Buschs Figuren und Geschichten kennt jeder. Doch der große Humorist und Menschenkenner war auch ein genialischer Maler und ein eigenwilliger Philosoph. Zu seinem 100. Todestag beleuchtet die neue Ausgabe des Magazins ZEIT Geschichte das Leben und die Epoche unseres liebsten Klassikers. Nehmen Sie sich Zeit für Geschichte!
6LHP}FKWHQDOOH$XVJDEHQYRQ=(,7*(6&+,&+7(IUHL+DXVHUKDOWHQXQG VWDWW¾LP(LQ]HOYHUNDXIQXU¾³SUR+HIWEH]DKOHQ"'DQQUXIHQ6LH JOHLFKDQXQWHU7HO³ RGHUVFKUHLEHQ6LHDQDER#]HLWGH
*14 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz, Mobilfunkpreise können abweichen.
Tfiebij?rp`eÌ DbkfbabpErjlop
Wissen in Zahlen
0
Klos
habe es im Schloss von Versailles zur Zeit des Sonnenkönigs gegeben. Hinter die Vorhänge sei geschissen worden und der Gestank nur durch den gewesen. Doch wenngleich derlei selbst unter
nach Christus
Historikern kolportiert wird, handelt es sich doch nur um Gerüchte. Zwar stimmt wohl, dass es zur Zeit Ludwig
erschien in China der
XIV. im Schloss keine fest installierten Toiletten
»Kanon der Zeitalter«. Darin
gab – allerorts auf die Gänge entleerten sich die
berechnete Autor Liu Xin
Höflinge aber sicher nicht. Vielmehr standen
als Erster die Länge eines
stets ein paar hundert Leibstühle bereit: hübsche,
Jahres. Eigentlich wollte er
brokatverzierte Sessel mit Topf unter aufklapp-
die Geschichte seines
barem Polster. Mit denen konnte man sich zur Not
Landes beschreiben – doch
auch hinter einen Vorhang schlagen – wobei dann
dabei hatte Liu immer
der notorische Durchzug im Schloss wohl auch mal
wieder das Problem,
sein Gutes hatte.
wichtige Ereignisse mit
Glaubt man dem Hofchronisten, dem Herzog
genauen Datumsangaben
von Saint-Simon, dann pflegte seinerzeit mancher
zu versehen.
einen großen Teil seiner täglichen Geschäfte auf
Weil Liu Xin nicht nur
Schloss Schönbrunn KB BmobV / J. Wagner
8
exorbitanten Gebrauch von Parfüm beherrschbar
dem Thron abzuwickeln – so wie der Herzog von
Historiker, sondern auch
Vendôme, ein Vertrauter des Königs: »Er setzte sich
Astronom war, widmete
auf seinen Nachtstuhl, besorgte dort seine Briefe
er einen Teil seines Werks
und erteilte seine Befehle. Er frühstückte auch
verschiedenen Berech-
darauf und gab ebenso viel hinten von sich, sei es
nungen – und notierte
während er aß, sei es, während er zuhörte oder
unter anderem, dass
seine Befehle erteilte, und stets umgab ihn eine
zwischen einem Neumond
Menge Zuschauer.«
Leider überdauerte keiner der Kackstühle aus Versailles die Zeiten. Dieser schaut so ähnlich aus wie die französischen Modelle, stammt aber vom Wiener Hof (Mitte 19. Jahrhundert).
und dem nächsten genau 29 43/81 Tage vergehen.
Daraus berechnete er die Länge eines Monats – um nur 23 Sekunden zu lang. Zudem kalkulierte er, dass sich bei jedem 235. Neumond die Erde genau
2. Januar
1958
Im Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg wird das Verkehrszentral register, besser bekannt als Verkehrssünderdatei, eingerichtet. Gründe gab es genug, denn obwohl damals nur rund sieben Millionen Kraftfahrzeuge über deutsche Straßen rollten, fielen dem Verkehr jedes Jahr rund 12 000 Menschen zum Opfer. Zum Vergleich: Heute sind
zwischen die Sonne und
über 60 Millionen Fahrzeuge zugelassen, aber nur noch ungefähr
den Trabanten schiebt – sich
5000 Verkehrstote pro Jahr zu beklagen. Das ist zumindest teilweise
also eine Sonnenfinster-
auch den Flensburger Punkten zu verdanken. Derzeit verfügen von den rund 50 Millionen Führerscheininhabern
nis ereignet. Diese Werte erlaubten ihm schließlich
in Deutschland gut 8,4 Millionen über ein Konto in Flensburg – vier
die Berechnung der Jahres-
Fünftel davon sind Männer. Mehr als die Hälfte aller Verkehrssün-
länge auf 365 385/1539 Tage.
der ist mit Geschwindigkeitsübertretungen eingetragen. Während
Das liegt nur elf Minu-
Männer zudem wesentlich häufiger betrunken fahren, missachten
ten über dem heute gülti-
Frauen relativ oft die Vorfahrt. Wenn die Punkte nach spätestens zehn
gen Wert.
Jahren verfallen sind, werden die alten Akten übrigens fein zerschnip-
Klaus Eppele / Fotolia
selt und großteils zu Toilettenpapier verarbeitet.
96
epoc 01/2008
NMAH, Smithsonian Institution
24. Januar
1848 Es war ein klarer, kalter Wintermorgen in Coloma, unweit von
Sacramento im Norden Kaliforniens. Eine Hand voll Männer hatte am American River ein Lager aufgeschlagen. Im Auftrag von Johann August Sutter errichteten sie eine Sägemühle. Für den »Kaiser von Kalifornien«, wie der gebürtige Schweizer in der neuen Heimat genannt wurde, sollte dieser Montag ein verhängnisvoller Tag werden. In aller Stille und unter größter Verschwiegenheit zog sein Vorarbeiter James Wilson Marshall
sie beim Bau jener Mühle entdeckt. Eines davon ist links zu sehen.
Sutter bereitete der »Fund« ernste Sorgen. Er fürchtete, von Goldsuchern buchstäblich überrannt zu werden. Der Fund musste also unbedingt so lange geheim bleiben, bis er sich die Landrechte gesichert hatte. Doch dazu kam es nicht mehr. Schon am 15. März erschien in »The Californian« eine kurze Notiz über die Entdeckung. Anfang Mai begann der geschäftstüchtige Mormonenprediger und Redakteur Samuel Brennan damit, Schürfgeräte zu verkaufen. Mit einer Flasche voll des edlen Metalls rannte er durch die Straßen und rief: »Gold! Gold! Gold from the American River!« Er war es, der den Goldrausch auslöste – und mit seinem Geschäft dessen erster Millionär wurde. Sutter hingegen verlor alles. Er starb völlig verarmt – genauso wie James Wilson Marshall.
30
hatten drei Männer und/oder Frauen, die vor über
fanden sich auch die Abdrücke von Händen. Nur
325 000 Jahren die steilen Hänge des Roccamon
dort war es offenbar so rutschig, dass sich die drei
fina-Vulkans nördlich von Neapel hinaufgestiegen
abstützen mussten.
waren – und vor einigen Jahren Forscher entzückten, weil sie in der damals weichen und heute
Hier wäre wohl auch Giuseppe Rolandi von der Università di Napoli gestrauchelt – was den
steinharten Asche die ältesten bekannten Fußab-
Forscher in der Ansicht bestätigt, Homo erectus sei
drücke der menschlichen Gattung hinterließen.
mindestens so sicher auf den Beinen gewesen wie
Genau genommen stammt die Spur wohl von
Paolo Mietto und Marco Avanzini
Schuhgröße
einige Goldflitter aus seiner Hosentasche und berichtete, er habe
unsereins. Allerdings war er wesentlich kleiner. Die Fußspuren sind nämlich nicht länger als zwanzig
rechten Menschen«. Wendig und ziemlich sicher
Zentimeter. Wer so kleine Füße hatte – sie hätten
müssen sie damals den Vulkanhang hinaufgegan-
in Schuhe der Größe 30 gepasst –, kann nicht viel
gen sein. Denn nur an besonders steilen Hängen
größer als eineinhalb Meter gewesen sein. Paolo Mietto und Marco Avanzini
drei Individuen der Art Homo erectus, des »auf-
epoc-magazin.de
Über 325 000 Jahre ist es her, als drei unserer wahrscheinlich nur anderthalb Meter großen Urahnen den Hang eines Vulkans bei Neapel bestiegen.
97
Corbis-Bettmann
vorschau
epoc 2/2008 erscheint am 1. Februar 2008
60 Jahre Israel Am 14. Mai 1948 verkündete David Ben Gurion die Unabhängigkeit Israels. Nach der Katastrophe des Holocaust hatten die Juden endlich wieder eine Heimat, auf zwei Jahrtausende Vertreibung und Verfolgung folgte die Auferstehung. Seither kam das Land kaum zur Ruhe – und schrieb doch eine unglaubliche Erfolgsgeschichte
Heirat im alten Rom »Wo du bist, will auch ich sein«, schwor die Braut. Ein Aus-
SERIENSTART Die Epochen Europas
druck wahrer Liebe? Tatsächlich bedeutete der Eid: Ich unterwerfe mich deinem Willen. Eine römische Ehe war ein reines Zweckbündnis und völlig romantikfrei
Baloncici / Fotolia
TEIL 1
Griechenland: Wiege der Demokratie
Odyssee der Kaiserschätze
Das Staaten- und Völkergebilde »Europa« entstand im Lauf von Jahrtausenden, ein Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Die wichtigsten Etappen des verschlungenen Weges stellen wir in einer Serie vor. Den Anfang macht Europas erste Demokratie im antiken Athen
vergangener chinesischer Dynastien. Als die Japaner aber 1931
Seit jeher barg das Pekinger Palastmuseum die Kunstschätze die Mandschurei annektierten, wurden über 600 000 Objekte in rund 20 000 Kisten verpackt und auf abenteuerliche Reisen geschickt. Erst 1956 fanden sie in Taipeh eine neue Bleibe
Die alten Götter können abtreten Mit Feuer und Schwert brachte Karl der Große den Sachsen das Christentum
IMPRESSUM Chefredakteur: Dr. phil. Carsten Könneker (v.i.S.d.P.) Redaktion: Dr. Joachim Schüring (stv. Chefredakteur), Hakan Baykal, Dr. Klaus-Dieter Linsmeier Schlussredaktion: Christina Peiberg (stv. Ltg.), Sigrid Spies Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe Artdirector: Karsten Kramarczik Layout: Claus Schäfer Redaktionsassistenz: Eva Kahlmann, Ursula Wessels Redaktionsanschrift: Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg Tel.: 06221 9126-711, Fax: 06221 9126-869, E-Mail:
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Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg; Hausanschrift: Slevogtstraße 3 –5, 69126 Heidelberg, Tel.: 06221 9126-600, Fax: 06221 9126-751; Amtsgericht Mannheim, HRB 338114
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[email protected]
98 Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel.: 06221 9126-744
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ISSN 1865-5718 ISBN 978-3-938639-73-3 www.epoc-magazin.de
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epoc 01/2008