JEAN GRONDlN
EINFÜHRUNG IN DIE PHILOSOPHISCHE HERMENEUTIK
WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT
JEAN GRONDIN EINFÜHRUNG IN DIE PHILOSOPHISCHE HERMENEUTIK
Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart.
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ISBN 3-534-15076-7
Für Paul-Matthieu und Emmanuel
INHALT "Vorwörtliches
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Einleitung . . . Anmerkungen 1. Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen 1. Sprachliche Vorverständigung .. . . 2. Zum Wortfeld um EQl-lllVEUELV . . . . 3. Motive der allegorischen Mythendeutung 4. Philo: Die Universalität des Allegorischen 5. Origenes: Die Universalität des Typologischen 6. Augustin: Die Universalität des inneren Logos 7. Luther: sola scriptura? . . . . . . . . . . . . . 8. Melanchthon: Die Universalität des Rhetorischen 9. Flacius: Die Universalität des Grammatischen Anmerkungen 11. Hermeneutik zwischen Grammatik und Kritik 1. Dannhauer: Hermeneutische und sachliche Wahrheit. 2. Chladenius: Die Universalität des Pädagogischen 3. Meier: Die Universalität des Zeichenhaften 4. Pietismus: Die Universalität des Affektiven Anmerkungen IH. Die romantische Hermeneutik und Schleiermacher 1. Der nachkantische Übergang von der Aufklärung zur Romantik: Ast und Schlegel . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schleiermachers Universalisierung des MißverständnIsses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Psychologistische Einschränkung der Hermeneutik? 4. Der dialektische Boden der Hermeneutik Anmerkungen IV. Einstieg in die Probleme des Historismus 1. Boeckh und das Aufdämmern der geschichtlichen Bewußtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 13 29 33 33 36 40
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Inhalt
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2. Droysens Universalhistorik: Verstehen als Erforschung der sittlichen Welt . . . . . . . . 3. Diltheys Weg zur Hermeneutik Anmerkungen . . . . . . . . . . . V. Heidegger: Hermeneutik als Selbstaufklärung der Existenzialen Ausgelegtheit . . . . . . . . . . . . 1. Das sorgende Voraus des Verstehens 2. Dessen Durchsichtigkeit in der Auslegung 3. Die Idee einer philosophischen Hermeneutik der Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abkünftiger Status der Aussage? 5. Die Hermeneutik aus der Kehre Anmerkungen VI. Gadamers Universalhermeneutik . . . . . . . . . . . 1. Zurück zu den Geisteswissenschaften . . . . . . . 2. Hermeneutische Selbstaufhebung des Historismus 3. Wirkungsgeschichte als Prinzip 4. Anwendendes weil fragendes Verstehen 5. Sprache aus dem Gespräch . . . . . . . 6. Die Universalität des hermeneutischen Universums Anmerkungen
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133 134 138 140 142 144 148 152 152 156 159 161 164 167 170
VII. Die Hermeneutik im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bettis epistemologischer Rückgang zum inneren Geist 2. Habermas' Kritik der Verständigung im Namen der Verständigung . . . . . . . . . 3. Postmoderne Dekonstruktion Anmerkungen . . . . . . . . . .
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Schlußwort Anmerkungen
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Personenregister
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178 186 190
"VORWÖRTLICHES" Spätestens in einem Vorwort darf ein Verfasser von sich oder seinem Verhältnis zum Verfaßten sprechen. Abseits vom eigentlichen Text kann damit der rein zufällige Anstoß, der ihn motivierte, deutlichet hervortreten. Als ich im Spätherbst 1988 an dieser Einführung arbeitete, geriet ich in einige Schwierigkeiten bei der begrifflichen Fassung des hermeneutischen Universalitätsanspruchs. So vieles schien darunter verstanden und kritisiert worden zu sein, daß ich nicht mehr durchblickte. Gemäß Wittgensteins Diktum: "ein philosophisches Problem hat die Form: ich kenne mich nicht aus", tröstete ich mich zunächst damit, daß meine Situation etwas Philosophisches hatte. Etwas später traf ich Hans-Georg Gadamer in einem Heidelberger Lokal, um u. a. die Sache mit ihm zu besprechen. Formelhaft und ungeschickt fragte ich ihn, worin denn der universale Aspekt der Hermeneutik genauer bestehe. Nach all dem, was ich gelesen hatte, war ich auf eine lange und etwas vage Antwort gefaßt. Er überlegte sich die Sache und antwortete, kurz und bündig: "Im verbum interius." Ich rieb mir die Augen. Das steht doch nirgends in >Wahrheit und Methode<, geschweige denn in der Sekundärliteratur. Im "inneren Wort", von dem Augustin traktierte und dem Gadamer ein wenig beachtetes Kapitel seines Hauptwerkes gewidmet hatte, sollte der Universalitätsanspruch der Hermeneutik zu finden sein? Etwas verblüfft, fragte ich weiter, was damit gemeint sei. "Die Universalität", fuhr er fort, "liegt in der inneren Sprache, darin, daß man nicht alles sagen kann. Man kann nicht alles ausdrücken, was in der Seele ist, den )...oyor; EVC>Lu1'tE1:0r;. Das kommt mir von Augustin, vom >De trinitate< her. Diese Erfahrung ist universal: der actus signatus deckt sich nie mit dem actus exercitus." Verblüfft war ich zunächst, weil dies einem Grundtenor der Gadamerschen Philosophie zuwiderzulaufen schien. Es wird ja gemeinhin angenommen, daß ihre Universalität in der Sprache liegt, darin, daß man in der wirklichen Sprache alles ausdrücken kann. Die Sprache könne alle Einreden gegen ihre Universalität einholen, weil sie alle sprachlich formuliert werden müssen. Alles soll Sprache sein bei Gadamer: "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache",
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"Vorwörtliches"
lautet das am häufigsten angeführte Wort, um diese Universalität anzudeuten. Was hat der Wink auf das verbum interius damit zu tun? Handelt es sich um eine späte Selbstinterpretation, eine Selbstkorrektur oder nur um eine nur in die Luft gesagte Gelegenheitsauskunft, der keine grundlegendere Bedeutung beizumessen sei? Ich blieb einige Monate etwas ratlos in dieser Hinsicht, bis ich das Buch> Wahrheit und Methode< sowie dessen in der Heidelberger Universitätsbibliothek aufbewahrte U rfassung durchlas. Da ging mir auf, daß sich in der Tat der Universalitätsanspruch der Hermeneutik nur aus der Lehre vom verbum interius angemessen nachvollziehen läßt, jener von einem durch Heidegger hindurch gelesenen Augustin herstammenden Einsicht, daß die gesprochene Rede stets hinter dem Auszusagenden, dem inneren Wort zurückbleibt und daß man ein Gesprochenes nur verstehen kann, wenn man die hinter ihm lauernde innere Sprache nachvollzieht. Das klingt altmodisch und sehr metaphysisch: neben der Sprache gäbe es die hintere oder die innere Welt des verbum interius. Wie wir aber sehen werden, ist diese Einsicht allein imstande, den metaphysischen und logischen Vorrang der Aussage zu erschüttern. Nach der klassischen Logik, von der die Substanzmetaphysik zehrt, steht alles in der propositionalen Aussage. Das Ausgesagte ist selbstsuffizient und ist auf seine innere Schlüssigkeit hin zu prüfen. Für die Hermeneutik hingegen ist die Aussage, um es in der überzogenen Sprache von >Sein und Zeit< auszudrücken, etwas Sekundäres, Abkünftiges. Das Festhalten an der Aussage und ihrer Verfügbarkeit verbirgt das Ringen um Sprache, das das verbum interius, das hermeneutische Wort, ausmacht. Unter dem inneren Wort, dies sei ein für allemal klargestellt, ist aber keine private oder psychologische Hinterwelt, die bereits vor dem sprachlichen Ausdruck feststünde, gemeint. Es ist dasjenige, was danach strebt, sich in der ausgesprochenen Sprache zu äußern. Die geäußerste Sprache ist das Depositum eines Ringens, das als solches zu hören ist. Es gibt keine" vorsprachliehe" Welt, sondern nur eine auf Sprache ausgerichtete Welt, die das Auszusprechende zum Wort zu bringen versucht, ohne daß es ihr ganz gelänge. Diese hermeneutische Dimension der Sprache ist die einzig universale. Diese Einführung ist der Versuch, die philosophische Hermeneutik von diesem Gesichtspunkt aus darzustellen. Der Hinweis auf das Gespräch mit Gadamer hat nicht die überhebliche Funktion, unsere Deutung als die "authentische" Sicht Gadamers auszuzeichnen. Solche Hinweise sind höchst problematisch, und so haben wir lange ge-
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zögert, im hiesigen Zusammenhang darauf hinzu-weisen. Uns hat in dieser Hinsicht schließlich das Beispiel von Walter Schulz ermuntert, der selber auf Unterredungen mit Heidegger ver-wies, -weil sie zur Ausrichtung seiner Heidegger-Auslegung wesentlich beigetragen haben.! So mag es uns mit Gadamer ergangen sein. Es versteht sich aber, daß die auf diese Weise angeregte Interpretationsrichtung auf eigene Kosten und Risiken erfolgen muß. Unser spezifisches Anliegen wird es also sein, unabhängig von Gadamer, somit in eigener Verantwortung und nach dem jetzigen Stand des philosophischen Gesprächs eine Einführung in die philosophischen Dimensionen (folglich unter Absehung ihrer einzel-wissenschaftlichen Anwendungen, etwa in der Philologie, der Theologie, der Historie und der Sozialwissenschaften) der Hermeneutik zu vermitteln, die ihre geschichtliche Problemlage so getreu wie möglich - also anhand ihrer heute selten gelesenen Zeugnisse - nach diesem Gesichtspunkt des verbum interius zu rekonstruieren versucht. Uns obliegt es freilich, zu zeigen, daß dieser Blickpunkt tatsächlich zentral ist. Der Alexander-von-Humboldt-Stiftung so-wie dem Conseil de recherches en sciences humaines du Canada ist diese von ihnen geförderte Arbeit zu großem Dank verpflichtet. Begegnungen mit Kollegen haben ferner den vorliegenden Untersuchungen entscheidende Anstöße gegeben. Sehr herzlich danke ich dafür Ernst Behler, Otto Friedrich Bollnow, Luc Brisson, Rüdiger Bubner, Hans-Georg Gadamer (der den Fingerzeig auf unser Gespräch gestattete), Hans-Ulrich Lessing, Manfred Riedel, Frithjof Rodi, Josef Simon und Alberto Viciano. Ich ergreife die Gelegenheit, um diesen Dank durch den Ausdruck der Bewunderung, die ich seit langem für ihre philosophische Arbeit hege, zu vervollständigen. Philosophie mag sich noch so kritisch und argumentativ ausnehmen, ohne ituUf.-tat;€LV vor dem, -was sie zum Denken hintreibt, würde sie gar nicht anheben.
Anmerkung 1 Vgl. W. Schulz, Die Aufhebung der Metaphysik in Heideggers Denken, in: Heideggers These vom Ende der Philosophie. Verhandlungen des Leidener Heidegger-Symposiums April 1984, Bann 1989, S. 33.
EINLEITUNG Unter Hermeneutik versteht man seit dem ersten Auftauchen des Wortes im 17.Jahrhundert die Wissenschaft bzw. die Kunst der Auslegung. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts nahm sie gewöhnlich die Form einer Lehre an, die Regeln des kunstgemäßen Deutens anzugeben versprach. Ihre Absicht war vorwiegend normativer, ja technischer Art. Sie beschränkte sich darauf, den ausgesprochen interpretativen Wissenschaften methodische Anweisungen an die Hand zu geben, um der Willkür im Feld der Interpretation möglichst vorzubeugen. Sie fristete ein nach außen weitgehend unsichtbares Dasein als "Hilfsdisziplin" innerhalb der etablierten Wissenszweige, die es offenkundig mit der Interpretation von Texten oder Zeichen zu tun hatten. So bildeten sich seit der Renaissance eine theologische (hermeneutica sacra), eine philosophische (hermeneutica profana) sowie eine juristische Hermeneutik heraus. Die Idee einer Kunst der Auslegung reicht aber weiter zurück, sicherlich bis zur Patristik, wenn nicht schon bis zur stoischen Philosophie, die eine allegorische Mythendeutung entwickelte, und zur Rhapsodentradition bei den Griechen. Überall, wo halbwegs methodische Interpretationsanweisungen angeboten wurden, kann man im weiteren Sinne von Hermeneutik sprechen. Die philosophische Hermeneutik hingegen ist viel jüngeren Datums. Im engeren und gebräuchlichen Sinne bezeichnet sie die philosophische Position Hans-Georg Gadamers, gelegentlich auch die Paul Ricceurs. Gewiß, anspruchsvolle Formen der Hermeneutik hat es vorher gegeben, aber sie haben sich kaum als ausgearbeitete philosophische Konzeptionen ausgegeben. Selbst wenn sie einen entscheidenden Beitrag zur Entfaltung eines hermeneutischen Problembewußtseins in der Philosophie beigesteuert haben, haben weder Schleiermacher noch Droysen oder Dilthey - die Großväter der zeitgenössischen Hermeneutik - ihre Ansätze öffentlich und primär unter dem Titel einer philosophischen Hermeneutik zur Entfaltung gebracht. Auch wenn das philosophische Unternehmen eines Gadamer ohne Heidegger unmöglich gewesen wäre, konnte der späte Heidegger nicht umhin, festzustellen: "Die ,hermeneutische Philosophie' ist die Sache von Gadamer."! Seit Gadamer sind ferner, obwohl seine
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Philosophie zahlreiche Diskussionen, insbesondere mit der Ideologiekritik von Habermas und mit der Dekonstruktion von Derrida, auslöste, keine wirklich umstürzenden Neuansätze innerhalb der Hermeneutik zu verzeichnen. 2 Trotz des horizontbestimmenden Charakters ihrer Gadamerschen Gestalt empfiehlt es sich, im Rahmen der vorliegenden Einführung die philosophische Hermeneutik etwas weiter zu fassen. Schon ihre ausgesprochene Heideggersche Herkunft weist darauf hin, daß der Denkversuch Heideggers sehr wohl zum Umkreis der philosophisch motivierten Hermeneutik gehören muß. Gadamer empfing aus Heideggers Denken wegbestimmende Anstöße, sowohl aus dem Gedankenkreis seiner späten Philosophie der Kehre als auch aus den frühen, bis vor kurzem noch unpublizierten Vorlesungen. In seinem sehr bedeutenden Aufsatz über >Die Universalität des hermeneutischen Problems< (1966) - der ja die Debatte mit Habermas in Gang brachtenotierte Gadamer, daß er seine Perspektive "unter Anknüpfung an eine von Heidegger in seiner Frühzeit entwickelte Sprechweise" ,hermeneutisch' genannt habe. 3 Es ist inzwischen fraglich, ob man Heideggers "Hermeneutik" allein aus >Sein und Zeit< zureichend verstehen kann. Es wurde nicht zu Unrecht suggeriert, daß Gadamers Hermeneutik weit mehr von den früheren Vorlesungen als von >Sein und Zeit< angeregt worden sei, hatte doch Gadamer nach eigener Auskunft das Werk von 1927 als eine "schnelle Improvisation aus äußerem Anlaß", wenn nicht schon als "Abfall" angesehen. 4 Ohne in die Übertreibung einer herabsetzenden Einordnung des philosophischen Hauptwerkes von Heidegger zu fallen, könnte dies implizieren, daß eine angemessene Würdigung der philosophischen Hermeneutik Heideggers und ihrer Fortsetzung durch Gadamer erst jetzt versucht werden kann. Um diese neue Hermeneutik einzuordnen, muß freilich auf die ältere Tradition der (wenn man will: noch nicht philosophischen) Hermeneutik zurückgegriffen werden, zumal sich Gadamer ständig auf sie bezieht und profilierend von ihr absetzt. Die traditions reiche und -freudige Hermeneutik muß auch zum Teil aus ihrer eigenen Herkunft erschlossen werden. So werden in unserem Zusammenhang die klassischen Ansätze von Schleiermacher, Droysen und Dilthey, aber auch die oft unterschätzte Hermeneutik der Aufklärung, die anfänglichen Auslegungslehren innerhalb der frühprotestantischen Theologie und die hermeneutischen Pionierarbeiten der Patristik zur Sprache kommen. Indes soll es hier vermieden werden, die Geschichte der Hermeneutik als einen teleologischen Prozeß darzustellen, der
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sich, von der Antike ausgehend, über die Reformation und die Romantik erst in der philosophischen Hermeneutik vollendet habe. So wurde tatsächlich, angefangen mit Diltheys bahnbrechendem Aufsatz über >Die Entstehung der Hermeneutik< (1900), dann radikaler bei Gadamer und in den ihm folgenden Gesamtdarstellungen, die Geschichte der Hermeneutik (im Singular!) präsentiert. Etwa nach dem folgenden Muster: In der Antike und in der Patristik gab es zunächst nur bruchstückhafte hermeneutische Regeln, bis die Reformation Luthers die Entwicklung einer systematischen Hermeneutik hervorrief, die aber erst bei Schleiermacher als allgemeine Kunstlehre des Verstehens universal geworden sei; Dilthey habe dann diese Hermeneutik zu einer allgemeinen Methodologie der Geisteswissenschaften ausgeweitet, und Heidegger habe alsdann die hermeneutische Fragestellung auf dem noch fundamentaleren Boden der menschlichen Faktizität angesiedelt; deren universale Hermeneutik in Gestalt einer Theorie der durchgängigen Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit unserer Erfahrung sei schließlich erst von Gadamer ausgearbeitet worden. Von dieser universal verstandenen Hermeneutik aus seien endlich kritische Weiterführungen in der Ideologiekritik, der Theologie, den Literaturwissenschaften, der Wissenschaftstheorie und der praktischen Philosophie erfolgt. Dieser sich selbst quasiteleologisch verstehenden U niversalgeschichte der Hermeneutik wurde inzwischen, vor allem aus literaturwissenschaftlicher Sicht,S Skepsis entgegengebracht. Beanstandet wurde die von Dilthey und Gadamer initiierte, dann von den kompendienartigen Gesamtdarstellungen nachgesprochene Vorstellung einer Geschichte »der" Hermeneutik, die sich »in mehreren teleologisch aufeinander bezogenen Stufen oder Phasen" vollzogen haben sol1. 6 Wahr an der klassischen Selbstdarstellung der Hermeneutik ist die Idee, daß die frühere Hermeneutik eher einer technischen Kunstlehre ähnelte, die in der Regel viel weniger universal angelegt war, als es die heutige philosophische Hermeneutik sein möchte. Richtig an der Skepsis bezüglich der Hermeneutikgeschichte ist, daß beide Vorhaben wenig miteinander zu tun haben und daß sich diese Geschichte alles andere als teleologisch entfaltet hat. Die heutige Geschichte der Hermeneutik ist, wie wohl jede Geschichte, eine Geschichtsschreibung aus dem Nachher, also eine Konstruktion. Diese Geschichte hat sich weitgehend vollzogen, ohne um sich selbst zu wissen. Bis zum 17.Jahrhundert hatte sie noch keinen N~men. Was früher ars interpretandi hieß, wurde von Wissenschaftszweigen wie der Kritik, der Exegese oder der Philologie wiederaufge-
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nommen und fortgeführt. Auch in der Neuzeit hat sich die Hermeneutik nicht gradlinig auf ein teleologisches, philosophisches Ziel hin entwickelt. Auf Luther geht gewöhnlich das Verdienst einer Erfindung oder Wiederbelebung der Hermeneutik zurück. Dies ist auch die für Gaclamer bestimmende Sicht des protestantischen Dilthey sowie des Luther-Forschers Gerhard EbelingJ Gewiß mußte das Schriftprinzip der sola scriptura eine ausgearbeitete Hermeneutik auf den Plan rufen, aber sie wurde nicht von Luther konzipiert, der sich ohne spezifische hermeneutische Theorie mit exegetischen Arbeiten und Vorlesungen abgab, sondern von seinen Mitarbeitern Melanchthon und Flacius Illyricus, die wohl die erste neuzeitliche hermeneutische Theorie der Heiligen Schrift verfaßten. Sie galten bis zum späten 18.Jahrhundert als grundlegende Werke auf dem Gebiet der Exegese. Im 17.Jahrhundert wurde inzwischen die hermeneutica als allgemeine Auslegungskunst, also im Keim als Universalhermeneutik im Geist des Rationalismus, durch Autoren wie J. Dannhauer, G. F. Meier und J. M. Chladenius ausgearbeitet. 8 Diese allgemeinen Auslegungslehren sprengten den Rahmen der Spezialhermeneutiken, also der Kunstlehren, die spezifisch auf die Heilige Schrift oder auf die klassischen Autoren gemünzt waren. Es ist folglich unrichtig, Schleiermacher die Entwicklung der ersten, über die Spezialhermeneutiken hinausgehenden Kunst der Auslegung zuzusprechen. Die Einordnung der hermeneutischen Theorie Schleiermachers ist wiederum alles andere als univok. Dies liegt zunächst daran, daß der sich primär als Theologe verstehende Schleiermacher seine Hermeneutik nie selber zum Druck brachte. Seine einzige druckfertige hermeneutische Schrift >Über den Begriff der Hermeneutik<, die Akademiereden von 1829, bietet viel eher eine Diskussion der Ansätze von Wolff und Ast als eine hermeneutische Gesamtkonzeption. Seine Hermeneutik, die in den Horizont einer Dialektik eingegliedert werden sollte, traktierte er in Vorlesungen, die F. Lücke erstmals 1838 unter dem Titel >Hermeneutik und Kritik< herausgab. Außerhalb des engen Rahmens der theologisch-philologischen Hermeneutik erfreuten sich aber die fragmentarischen Entwürfe Schleiermachers anfangs geringer Aufmerksamkeit. 9 August Boeckh wurde vor allem als Hörer seiner Vorlesungen von Schleiermachers Hermeneutik stark beeinflußt, die er seinen seit 1816 (also vor ihrer Veröffentlichung durch Lücke) gehaltenen Vorlesungen zur >Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften< zugrunde legte, ohne sie selber, nahezu dem Schleiermacherschen Exempel folgend, zu publizieren. Erst 1877 wurden sie von Boeckhs Schüler Bratuscheck herausgegeben. lc Auf
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der Grundlage der Verstehenshermeneutik Schleiermachers wollte Boeckh eine Methodologie der philologischen Wissenschaften vorlegen. Dadurch verband er die Hermeneutik mit dem Bedürfnis nach einer Methodologie der nichtexakten Wissenschaften - ein Ansinnen, das Schleiermacher noch fernlag und das von Autoren wie Droysen und Dilthey fortgesetzt wurde. Droysen bemühte sich auch um eine Methodologie der Geschichte, die er ebenfalls nur in Vorlesungen vortrug, ohne sie ganz zu veröffentlichen. 1868 brachte er einen >Grundriß der Historik< zum Druck, dem allerdings breite Wirksamkeit beschieden wurde. Erst 1936 wurden aber die Vorlesungen zur >Historik< von Rudolf Hübner herausgegeben. Indessen: weder der >Grundriß< noch die >Historik< erwähnen ein einziges Mal den Namen Schleiermacher oder den Titel >Hermeneutik<. Die Bedeutung Schleiermachers für die Hermeneutik und ihrer erst jetzt sichtbaren "Geschichte" wurde vor allem von Wilhelm Dilthey herausgestellt. Als Schüler Boeckhs wurde er früh auf Schleiermacher aufmerksam gemacht. Er erhielt 1860, mit 27 Jahren, einen Preis der Schleiermacher-Stiftung für eine Arbeit über >Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik<, wohl die gewichtigste und im Grunde erste Geschichte der Hermeneutik, die Dilthey aber nicht veröffentlichte. Die Beschäftigung mit Schleiermacher wurde aber intensiviert: 1864 schrieb er bei Trendelenburg eine lateinische Dissertation über die Ethik Schleiermachers; 1867 folgte der erste Band seiner Schleiermacher-Biographie. Den zweiten Band, in dem Schleiermachers System, unter Einbeziehung seiner Hermeneutik, als Philosophie und Theologie dargestellt werden sollte, wohl unter Verwendung des Materials aus der Preisschrift von 1860, publizierte er aber nie. Die Arbeiten dazu wurden erst 1966 aus dem Nachlaß von M. Redeker herausgegeben. Dilthey wandte sich in den folgenden Jahrzehnten seinem Lebensprojekt zu, einer Methodologie der Geisteswissenschaften, die den anspruchsvollen Titel einer >Kritik der historischen Vernunft< tragen sollte. Von ihr erschien auch nur der erste, überwiegend historische Teil im Jahre 1883 unter dem Titel >Einleitung in die Geisteswissenschaften<. In diesem Werk sind die Hermeneutik und Schleiermacher merkwürdigerweise absent. Ob sie im 2. Band zum Tragen kommen sollten, eventuell als Stützen bei der "Grundlegung" der Geisteswissenschaften, ist fraglich. Dilthey schien die Grundlage der historischen Wissenschaften vom Menschen damals eher in einer beschreibenden Psychologie zu erblicken. Zeit seines Lebens scheint er - obgleicJ: dies in der Dilthey-Forschung
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umstritten ist - an dieser grundlegenden Stellung der Psychologie festgehalten zu haben. Gewiß lassen sich wichtige »hermeneutisch« zu nennende Einsichten bei Dilthey überall aufspüren, etwa in der Abhandlung von 1895 >Über erklärende und beschreibende Psychologie<, aber die Hermeneutik tritt namentlich erst 1900 in der kurzen Studie über deren Entstehung wieder in den Vordergrund. Mit ihr entsteht auch die Geschichte der Hermeneutik. Dilthey greift 1900, auch weitgehend wörtlich, auf seine längere Arbeit von 1860 zurück, um die Entstehung der Hermeneutik darzulegen, als ob in den vierzig dazwischenliegenden Jahren nichts geschehen wäre. Dort findet sich erstmals die Idee, daß die Hermeneutik allgemeine Auslegungsregeln enthalten soll, die allen Geisteswissenschaften, die ja sämtlich auf Auslegungswissen fußen, zugrunde liegen könnten. Damit könnte die Hermeneutik, als Garant ihres Allgemeingültigkeitsanspruchs, so etwas - Dilthey deutet es nur an - wie eine grundlegende Funktion für die verstehenden Wissenschaften einnehmen. Es ist jedoch auch hier zu verzeichnen, daß sich diese Intuition vor allem in handschriftlichen Zusätzen zum Hermeneutikessay von 1900 befinden, die bis zur Herausgabe des 5. Bandes der Gesammelten Schriften im Jahre 1924 unpubliziert blieben. Die üblich gewordene Auffassung, daß die Diltheysche Hermeneutik so etwas wie die methodologische Grundlage der Geisteswissenschaften liefern sollte, ist, wie wir sehen werden, weniger diltheyisch als gemeinhin angenommen wird, und insofern revisions bedürftig. Das Gewicht der so groß angelegten Hermeneutik wurde vor allem von seinem Schüler und Schwiegersohn Georg Misch hervorgekehrt. Im Vorwort des von ihm herausgegebenen 5. Bandes der Schriften skizzierte er die konsequent erscheinende Entwicklungslinie des Diltheyschen Denkweges, der vom frühen Entwurf einer positivistischen und psychologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften ausgehend in die unvollendete Ausarbeitung einer allgemeinen Philosophie des geschichtlichen Lebens mündete, in der die Hermeneutik eine entscheidende Rolle spielen oder die gar Hermeneutik heißen sollte. Misch leistete dabei große Hilfe bei der Herausstellung eines klaren Konzepts dessen, worauf der späte Dilthey hinauswollte. Hermeneutik wurde dann plötzlich zum Modewort für eine philosophische Generation, die von den erkenntnistheoretischen Engpässen des herrschenden Neukantianismus abzukommen begann und in Dilthey gern einen Wegbereiter für eine nichtpositivistische, der geschichtlichen Faktizität des Lebens sich öffnende Philosophie aufnehmen wollte. Man verbarg sich dabei den noch positivistischen Ausgangs-
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punkt Diltheys und die Sekundärstellung, die die Hermeneutik de facta in seinen Texten innehatte. Der systemtheoretische Ansatz, der Dilthey in Atem hielt,ll trat unter dem Einfluß der lebensphilosophischen Perspektive von Misch hinter dem hermeneutischen Motiv zurück, das schließlich die methodologischen Ambitionen Diltheys der Tendenz nach verabschiedete. O. F. Bollnows verdienstvolle Monographie von 1936 festigte für lange Zeit das kohärente Bild einer Denkbewegung, die, dem Zeitgeist vorausgehend, in der Abkehr von einer noch erkenntnistheoretisch beladenen Psychologie am Ende den Horizont einer hermeneutischen Fundierung der Geisteswissenschaften eröffnete. 1z In ihrer eigenen Emanzipation vom Neukantianismus fanden der frühe Heidegger und wohl auch der junge Gadamer in Dilthey sofort einen Gewährsmann für ihre Suche nach einer existentialeren oder hermeneutischen Neubestimmung der Philosophie. Seine revolutionären Intuitionen entfaltete Heidegger unter dem Leittitel einer Hermeneutik der Faktizität. Aus welchen Gründen auch immer 13 verzichtete aber Heidegger auf die Publikation seiner hermeneutischen Ansätze, die seine damaligen Hörer so sehr faszinierten. In >Sein und Zeit< gelangte immerhin seine Konzeption mit massivem Widerhall zu ihrem ersten öffentlichen Ausdruck. Seine Einsichten über die ontologische Zirkelhaftigkeit und Vorstruktur des Verstehens wiesen seinen Ansatz als hermeneutischen Neubeginn aus. Nichtsdestoweniger blieb es angesichts der in >Sein und Zeit< spärlichen Angaben zu diesem Thema schwer, ein richtiges Verständnis dessen zu gewinnen, was Heidegger unter Hermeneutik (des Daseins) genau verstanden wissen wollte. In der Tat: Die systematische Definition und Ortsbestimmung der Hermeneutik als philosophischer Programmanzeige vollzog sich auf einer knappen halben Seite von >Sein und Zeit<14 am Ende des ansonsten beredsamen Paragraphen 7 zur Phänomenologie. Dort erfährt man lediglich, daß Hermeneutik von EQf.!T]VcUELV herstammt und dementsprechend von Heidegger "in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet", genommen wird. Nachdem andere Bedeutungen von Hermeneutik für sekundär erklärt wurden, fügte Heidegger noch hinzu, daß Hermeneutik bei ihm den primären Sinn einer "Analytik der Existenzialität der Existenz" erhalten würde, ohne indes das Verhältnis von Hermeneutik und Analytik einer genaueren Klärung zu unterziehen. Im Laufe der Zeit konnten so Analytik der Existenz, Hermeneutik der Faktizität und Ontologie des Daseins als vage Synonyma fungieren für das, was >Sein und Zeit<
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zu bieten hatte. Ob dabei Hermeneutik einen spezifischen Sinn aufweisen sollte und inwiefern sie sich etwa in die damals außerhalb des Dilthey-Kreises und der Theologie wenig bekannte Tradition der Hermeneutik einreihen wollte, war für viele nicht unmittelbar auszumachen. Der rein "hermeneutische« Charakter von Heideggers Denkversuch blieb auf weiten Strecken unterbelichtet. Das hermeneutische Anliegen, so schien es von den Vorlesungen her, wich ein bißchen vor dem ontologischen und dem nahezu transzendental philosophischen Anspruch des Ganzen zurück. So mag es Gadamer empfunden haben, als er, wie bereits angemerkt, >Sein und Zeit< als eine "sehr schnell zusammenmontierte Publikation« ansah, "in der Heidegger gegen seine tiefsten Intentionen sich noch einmal der transzendentalen Selbstauffassung Husserls angepaßt hat« .15 Darin spricht sich, bei aller anderswo bekundeten Hochachtung für die gedankliche Leistung von 1927, Enttäuschung aus, als ob Heidegger seinen genuinen und ursprünglicheren Einsichten untreu geworden sei. Auch andere Hörer haben es bekanntlich so wahrgenommen, etwa O. Becker, K. Löwith und später O. Pöggeler. 16 Inwiefern Heidegger in >Sein und Zeit< Züge seiner früheren Hermeneutik der Faktizität wirklich verdeckt oder hinter sich gelassen hat, wird erst nach der vollständigen Veröffentlichung der frühen Vorlesungen und unpubliziert gebliebenen Manuskripte zu ermitteln sein. Für uns kann nur feststehen, daß ein Nachvollzug der Hermeneutik Heideggers bei dem frühen Programm einer Hermeneutik der Faktizität anzusetzen hat, zumal Gadamer das Wort "hermeneutisch« in Anlehnung an die dortige Sprechweise verwendet und seine eigene Hermeneutik in >Wahrheit und Methode< weit mehr an die Faktizitätshermeneutik als an >Sein und Zeit< selbst anschließtY Die mit >Sein und Zeit< ansetzende Distanzierung vom Programm einer als Hermeneutik verstandenen Philosophie vollzog sich auf eine andere Weise beim späten Heidegger, der den Begriff der Hermeneutik so gut wie nicht mehr verwendete. Sein späteres, seins geschichtliches Denken wimmelte jedoch von hermeneutischen Einsichten, etwa um die metaphysische Abhängigkeit der bisherigen Philosophie und die Geschichte überhaupt, die sich aber weigerten, "hermeneutisch« genannt zu werden. In diesem Denken der Kehre erkannte aber Gadamer kühn und richtig nichts anderes als eine Rückkehr zu den früheren hermeneutischen Ideen seines Lehrers.1 8 Geschichtlich gesehen ist es das Verdienst Gadamers gewesen, die herm.eneutischen Einblicke der Kehre, von denen >Wahrheit und Me-
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thode< ausgeht, mit der hermeneutischen Fragestellung des frühen Heidegger in Verbindung gebracht zu haben.t 9 Damit dachte er, der klassischen Formel gemäß, mit Heidegger gegen Heidegger, nämlich gegen die scheinbare Verabschiedung des hermeneutischen Denkens, aber für die konsequente Durchführung des brachliegenden Programms einer Hermeneutik unserer geschichtlichen Faktizität. Gadamers Leistung wurde es, aus der Konzeption der Seins geschichte Konsequenzen für das Selbstverständnis des geschichtlich situierten Bewußtseins und die es ausdrückenden Geisteswissenschaften zu ziehen. Um die Entfaltung und die Aussichten dieser von Heidegger und der älteren Tradition her verstandenen Hermeneutik soll es in der vorliegenden Einführung gehen. Es ist immer schwer, sich im unübersichtlichen Feld des gegenwärtigen Philosophierens zu orientieren. Gerade deshalb muß es aber immer wieder versucht werden. Vor mehr als 30 Jahren ging K.-O. Apel davon aus, daß es drei Grundrichtungen der Philosophie gab: den Marxismus, die analytische Philosophie sowie das phänomenologisch-existentialistisch-hermeneutische Denken. 20 Von diesen drei "Schulen" hat sicherlich der philosophische Marxismus einiges an Aktualität eingebüßt. Das Erbe einer an Marx und Lukacs anschließenden kritischen Gesellschaftstheorie wird kaum noch als Marxismus oder als historischer Materialismus vertreten. In den sechziger Jahren, als Apel seine Dreiteilung vorschlug, noch ein unumgänglicher Bezugspunkt, ist die Berufung auf Marx in den für die kontinentale Philosophie tonangebenden deutschen und französischen Traditionen aus zeitgeschichtlichen Gründen, die uns hier nicht zu beschäftigen haben, suspekt geworden. Ein Autor wie Habermas, dem noch in den siebziger Jahren an einer Rekonstruktion des historischen Materialismus lag, zieht es heute beispielsweise vor, seine kritische Theorie, sieht man von ihren soziologischen Aspekten ab, mit Argumenten aus der Hermeneutik und der analytischen Sprachpragmatik auszuarbeiten. Auch K.-O. Apel trägt heute seine normative Theorie unter den Titeln einer Transzendentalhermeneutik oder Transzendentalpragmatik vor. In Wirklichkeit verbleiben nur noch die analytische sowie die phänomenologisch-existentialistisch-hermeneutische Tradition. Die dreistellige Charakteristik der letzteren ist im Sinne einer geschichtlichen Fortentwicklung zu begreifen. Erkannte sich zunächst die kontinentale Philosophie in der breit verstandenen Phänomenologie (Husserl, Scheler, Lipps, Heidegger und der Sache nach N. Hartmann), wurde sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit eher unter dem Titel des Exi-
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stentialismus Gaspers, Heidegger, Merleau-Ponty, Sartre) vertreten, der sich jeweils als Konkretisierung des phänomenologischen Gesichtspunktes ausnahm. Mittlerweile in den Ruf, eine Mode gewesen zu sein, geraten, hat der Existentialismus der hermeneutischen Philosophie (abermals Heidegger, Gadamer und im weiten Sinne: Transzendentalhermeneutik bei Habermas und Apel sowie Postmodernismus) Platz gemacht. Unter Hermeneutik werden so verschiedene Ansätze zusammengefaßt wie die Gadamersche Philosophie selbst, die unter ihrem Einfluß zustandegekommene Rehabilitierung der praktischen Philosophie (H. Arendt, J. Ritter, M. Riedel' R. Bubner u. a.)21, die oft als "Neoaristotelismus« von sich reden machte,22 der geschichtlich relativierende Zug innerhalb der Wissenschaftstheorie (Kuhn, Feyerabend) und der Sprachphilosophie (Rorty, Davidson), aber auch der Nietzsche nahe Postmodernismus der neostrukturalistischen AvantgardeP All das gilt heutzutage als "hermeneutisches« Gedankengut. Wir werden in der vorliegenden Arbeit die hermeneutische Philosophie enger zu bestimmen und zu umgrenzen Veranlassung haben. Neben der kontinental-hermeneutischen herrscht die vor allem in den angelsächsischen Ländern vertretene analytische Philosophie. Diese durchlebt zur Zeit grundsätzliche Umwandlungen, die ihr eigenes Selbstverständnis angehen. In der Nachfolge des späten Wittgenstein und unter den Auspizien einer Reaktivierung ihrer älteren pragmatischen Tradition (Peirce, James, Dewey) durch Quine, Goodman, Rorty und Davidson hat sie sich allmählich von ihrem frühen Programm einer logischen Sprachkritik gelöst, um sich den allgemeinen Fragen etwa nach der Möglichkeit einer verbindlichen Wahrheit, eines verantwortlichen Handelns und Wissens angesichts der perspektivistischen Kulturrelativität zuzuwenden, die dem kontinentalen Philosophieren seit dem Historismus vertraut sind. Heute scheint die analytische Philosophie - ein Novum in ihrer Geschichte - für kein genau angebbares Programm zu stehen. Meist unter institutioneller Fortführung ihrer eigenen Tradition wurde sie vom geschichtlichen Bewußtsein ereilt, das sie vor dieselben Herausforderungen wie das kontinentale, transzendentalhermeneutische Denken stellt. Beide bewegen sich auf das Programm einer pragmatischen Philosophie der Endlichkeit zu, die ihre Chancen und Risiken abzuwägen hat. 50 konnte man von einer 5elbstauflösung des analytischen Lagers, jedenfalls von einer Konvergenz von analytischer und hermeneutischer Philosophie sprechen. 24 Mit solchen Konverßenzanzeichen läßt sich freilich noch keine
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spezifische philosophische Problematik identifizieren. Just desw-egen soll es sich hier darum handeln, eine besondere Form der hermeneutischen Philosophie herauszuarbeiten, die imstande sein könnte, den klassischen Universalitäts anspruch der Philosophie unter den heutigen Bedingungen, nämlich unter dem Zeichen eines sich geschichtlich erfahrenen Bew-ußtseins einzulösen. Nur so läßt sich von einem Beitrag der Hermeneutik zur heutigen Philosophie reden. Was ist aber unter Universalität zu erw-arten? Obwohl in aller Munde, kann nicht behauptet werden, daß der Begriff eines »Universalitätsanspruchs" (der Hermeneutik oder der Philosophie i. a.) sonnenklar sei. Weder der Gadamersche Anspruch auf Universalitätdenn bei ihm scheint sie sowohl für die Sprache, die Geschichtlichkeit als auch die eigene Philosophie zu gelten - noch die Habermassche oder Derridasche Bestreitung desselben haben hier letzte Klarheit geschaffen. Es lag nahe, zu vermuten, daß mit Universalität ein Anspruch auf die Allgemeingültigkeit der eigenen Aussagen beabsichtigt war. Dabei war es ein leichtes, die Hermeneutik in einen logischen oder pragmatischen Widerspruch zu verwickeln. Man hat den hermeneutischen Universalitätsanspruch so zu rekonstruieren versucht, daß er in der allgemeingültig sein wollenden These gipfeln mußte, alles sei geschichtlich bedingt. Sollte diese These allgemein gelten, so müßte sie folgerichtig für den eigenen Anspruch gelten, der sich folglich als geschichtlich begrenzt und nicht als universal gültig erweisen müsse. Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik soll am Selbstwiderspruch ersticken. Diese Argumentationsstrategie muß den Eindruck erwecken, daß man dem geschichtlichen Bew-ußtsein dadurch entrinnen könnte, daß dessen Verallgemeinerung einen unhaltbaren Widerspruch enthalte. So wird eine scheinbar heile Welt des Logischen wiedererrichtet: Es ist doch nicht alles geschichtlich, weil ja ein geschichtlicher Universalismus in sich widersprüchlich sei. Wie Heidegger früh bemerkte, wirken solche formallogischen Argumentationen wie» Überrumpelungsversuche" ,25 die die eigene Geschichtlichkeit mithilfe der Logik überlisten wollen. Heideggers Gedanken fortführend diagnostizierte hier Gadamer einen »formalen Schein", der an der sachlichen Wahrheit vorbeigeht: »Daß die These der Skepsis oder des Relativismus selber wahr sein will und sich insofern selber aufhebt, ist ein unw-iderlegliches Argument. Aber wird damit etwas geleistet? Das Reflexionsargument, das sich derart als siegreich erweist, schlägt vielmehr auf den Argumentierenden zurück, indem es den Wahrheitswert der Reflexion suspekt macht. Nicht die Realität der Skepsis oder des alle
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Wahrheit auflösenden Relativismus wird dadurch getroffen, sondern der Wahrheitsanspruch des formalen Argurnentierens überhaupt. "26 Wie die philosophische Hermeneutik wird zeigen können, bleibt die Berufung auf die logische Widersprüchlichkeit der universalen Geschichtlichkeit auf den Gleisen des Historismus. Es läßt sich verteidigen, daß der Historismus das zentrale und wohl lähmendste Problem der Philosophie seit Hegel gewesen ist. Sein Problem ist die Frage nach der Möglichkeit einer verbindlichen Wahrheit und damit einer schlüssigen Philosophie im Horizont einer sich geschichtlich wissenden Welt. Sind alle Wahrheiten oder Handlungsmaximen von ihrem historischen Kontext abhängig? Wenn dem so wäre, lauerte das Gespenst des Relativismus oder des Nihilismus. Die Grundfrage des historischen Nihilismus ist ohne Zweifel ernst zu nehmen. Wenn der kulturelle Horizont letztbestimmend sein soll, wie läßt sich etwa eine perverse Lebenskonstellation (und für die deutsche Nachkriegsphilosophie wurde das Extrembeispiel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft maßgeblich) von einer anderen abheben oder kritisieren? Die metaphysische Fragestellung des Historismus legt es aber nahe, die Lösung dieses Problems in einer proklamatorischen Transzendierung der Geschichtlichkeit zu suchen. Dies geschieht etwa durch die Berufung auf eine überzeitliche Autorität, säkularer oder sakraler Art, die die Geltung von ungeschichtlich sein sollenden Normen gewährleisten soll, oder durch den Rekurs auf die Unhintergehbarkeit des Logischen, gelegentlich durch die Versicherung der eigenen Letztbegründetheit. Was diese Lösungsversuche mit dem Historismus teilen, ist die Gemeinsamkeit der metaphysischen Frontaufrichtung, nämlich die Idee, daß alles heillos relativ ist, wenn man keine absolute Wahrheit besitzt. Schließlich werden aber die Lösungen selbst durch den Historismus eingeholt: auch von ihnen läßt sich alsbald zeigen, daß sie geschichtlich bedingt bleiben, werden sie doch ständig überholt und ihrer jeweiligen Perspektivität überführt. Die philosophische Leistung der Hermeneutik liegt vielleicht weniger in einer Lösung seines Problems als in einem Abschied vom Historismus. Bei Heidegger und Gadamer wird der Historismus sozusagen auf sich selbst angewendet und damit in seiner eigenen Geschichtlichkeit, nämlich in seiner geheimen Metaphysikabhängigkeit sichtbar gemacht. Denn die dogmatische These, alles sei relativ, kann nur vor dem Horizont einer unrelativen, absoluten, überzeitlichen, metaphysischen Wahrheit Sinn geben. Nur am Maßstab einer für möglich gehaltenen absoluten Wahrheit kann eine Meinung als bloß relativ gelten. Wie sieht aber diese absolute Wahrheit positiv aus?
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Eine allgemeinbefriedigende, also von allen anerkannte Antwort wurde nie gegeben. Woher entstammt aber der Anspruch auf eine solche? Die philosophische Hermeneutik vermutet, daß die Prätention auf eine überzeitliche Wahrheit gerade einer Verleugnung der eigenen Zeitlichkeit entspringt. Die absolut gedachte Wahrheit wird auffallenderweise bloß negativ besetzt: als das Nichtendliche, das Nichtzeitliche usw. Es spricht sich hier die Selbstnegierung der menschlichen Zeitlichkeit aus. Die Jagd nach absoluten Normen, Maßstäben oder Kriterien zeugt von der metaphysischen Ausgangssituation des Historismus, der der Logik eines die Zeit verdrängenden Denkens gehorcht. Die philosophische Hermeneutik läßt zunächst die metaphysische Obsession des Überzeitlichen, deren stillschweigende Geschichtlichkeit aufgewiesen wurde, auf sich beruhen, um sich dem in eminentem Sinne grundsätzlichen Problem der Zeitlichkeit unter dem Arbeitstitel einer Hermeneutik der Faktizität zu stellen. Wie sich dieser Rückgang philosophisch artikuliert, wird zu zeigen sein. Es zeichnet sich aber schon hier ab, daß ein solches Denken der Endlichkeit alles andere als kritiklos gegenübersteht. Es ist eine Vermessenheit, zu meinen, ein in der Zeit versenktes Wesen verfüge über keinerlei Mittel der Kritik. Der Kurzschluß liegt in der metaphysisch-historistischen Erwartung, glaubhafte Kritik könne nur aus einer überzeitlichen Instanz oder Norm her stammen. Das Gegenteil trifft zu. Die Menschen sind von Hause aus kritisch, weil sie der Zeit unterstehen und gegen das Unheil nur im Namen ihrer Hoffnungen und Aspirationen, die man sich ja nur als zeitlich denken kann, angehen können. Man braucht keine überzeitlichen Maßstäbe, um die Hitler-Diktatur oder weniger unheilvolle Ungereimtheiten anzuprangern. Kritik geschieht doch immer und primär im Namen des Leides, das durch solchen Unsinn zugefügt wurde. Diese Kritik braucht nicht die Stützung von unzeitlichen Prinzipien, die nach dem Muster von naturwissenschaftlichen »Gesetzen" gedacht werden. Das zugefügte oder befürchtete Leiden, auf großer und kleiner Ebene, bietet nach wie vor die besten Argumente der Kritik. Dafür kann die Hermeneutik das Bewußtsein schärfen. Man wird vielleicht entgegnen, daß damit das Unheil nicht für immer verhindert werden kann. Richtig, aber ließen sich Prinzipien ausfindig machen, die allein imstande wären, die Ungerechtigkeit abzuwenden, bräuchte über das Gute und die Bedingungen eines gerechten Zusammenlebens gar keine Diskussion stattzufinden.27 Ein Appell an die Wachsamkeit und die Kritikfähigkeit der Menschen, gekoppelt mit einer Warnung vor metaphysischen
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Utopien, ist der nicht geringfügige Beitrag der Hermeneutik zu dieser notwendigen Diskussion. Damit bleibt aber der Universalitäts anspruch der Hermeneutik ungeklärt. Was für einen Sinn hat es für sie, einen solchen Anspruch aufrechtzuerhalten? Dieser Frage wollen wir in der vorliegenden Untersuchung nachgehen. In der gerade in dieser Hinsicht nicht einheitlichen Geschichte der Hermeneutik hat sich dieser Anspruch sehr verschieden ausgenommen. Deshalb lohnt es, diese Geschichte auf die sie konstituierenden Universalitätsansprüche hin zu befragen. Damit ist die Leitfrage unserer Einführung gewonnen: Welche Universalität beanspruchte die jeweils untersuchte Gestalt der Hermeneutik und was für eine Universalität darf oder kann die heutige in Anspruch nehmen? Diese Frage wird ans Ganze der nun einmal konstituierten "Geschichte" hermeneutischen Denkens zu richten sein. Dieser Anspruch muß de facto schon immens gewesen sein für eine Wissenschaft wie die frühmittelalterliche, die ihr ganzes Wissen aus der Interpretation einer einzigen (Heiligen) Schrift bezog, desgleichen für das aufklärerische Zeitalter, das im Geiste Leibniz' alles Wissen als Erklärung von Zeichen ansah, wie die universal angelegten Hermeneutiken von Chladenius und Meier beweisen. In diesen Ansprüchen wurden sehr wohl modernere Formen der Hermeneutik (etwa die semiotische) vorweggenommen. Als erste Anzeige empfiehlt es sich, die Universalität der Hermeneutik als die eines universalen Problems vor Augen zu haben. Was die Hermeneutik zum Status einer prima philosophia unserer Zeit zu befördern vermag, ist wohl die virtuelle Allgegenwart des interpretatorischen Phänomens, die spätestens seit Nietzsches Einblick in den universellen Perspektivismus ("es gibt gar keine Fakten, sondern nur Interpretationen") auf der Tagesordnung der Philosophie steht. Nietzsche ist wohl der erste moderne Autor, der den fundamental interpretativen Charakter unserer Welterfahrung ins Bewußtsein gehoben hat. Weit davon entfernt, sich auf die rein interpretativen Wissenschaften wie die Exegese, die Philologie oder das Recht zu beschränken, erstreckt sich der Horizont der Interpretation auf alle Wissenschaften und Orientierungshinsichten des Lebens. Die wissenschaftstheoretische Revidierung des empiristisch-induktivistischen Selbstverständnisses der Wissenschaft leistete dem Vorschub und zog damit hermeneutische Konsequenzen aus Kants Unterscheidung zwischen Phänomenen und Dingen an sich: Das Wissen ist nicht eine Widerspiegelung der Dinge, wie sie unabhängig von uns sind, sondern stets Schematisierung und motivierte Bearbeitung der Phänome-
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neo Für Kant bedeutete dies insofern keine Gefährdung der Objektivität, als alle Menschen prinzipiell mit denselben Verstandeskategorien ausgestattet sind. Ein philosophisches, somit universales Problem wird es aber, sobald man mit Nietzsche gewahr wird, daß diese Kategorien, d.h. die Vernunft und ihre sprachlichen Verkörperungen einem geschichtlichen, kulturellen und gar individuellen Perspektivismus unterzogen sein könnten. Der Perspektivismus ist aber keine letzte Gegebenheit für einen Nietzsche. Er ist zuletzt in einem Willen zur Macht fundiert. Jede Perspektive steht unter dem Verdacht, nichts als ein Sichzurechtlegen der Welt im Sinne eines Willens zur Macht zu sein. Der Panhermeneutismus Nietzsches mündet in einen gewissen Pragmatismus, der auf die Erneuerung des pragmatischen Denkens in der analytischen sowie in der kontinental-hermeneutischen Philosophie vorausdeutet, ein. Was für das jeweilige Recht einer Perspektive spricht, ist schlechterdings ihr Wert für das Leben, ihr Beitrag zur Förderung oder zur Stabilisierung des jeweiligen Willens zur Macht. Dies führt nicht unbedingt zum Defätismus oder zur nihilistischen Orientierungslosigkeit. Die Perspektiven sind ja nicht gleichberechtigt, denn einige erweisen sich als fruchtbarer als andere. Der Kurzschluß läge nach Nietzsche nur darin, die eine fruchtbarere Perspektive mit irgendeinem Ansichsein der Sache selbst gleichzusetzen. 28 Ein so universal angelegter Perspektivismus mag extrem erscheinen. Nichtsdestoweniger rührt damit Nietzsche an ein wesentliches Merkmal unseres modernen Weltbildes. Das moderne Weltverständnis zeichnet sich, wie zuletzt Habermas 29 geschildert hat, durch seine "Reflexivität" aus, nämlich dadurch, daß es sich reflexiv als Weltdeutung bewußt werden kann. Unser Wissen weiß um sich als Wissen, somit als Interpretation der Welt. Es identifiziert sich nicht mit der Welt selbst oder deren einfacher Widerspiegelung. Das mythische Weltverständnis hingegen ist sich nicht seiner selbst als Weltinterpretation bewußt. Es setzt sich sozusagen mit dem Ansich der Welt gleich. Diesen Reflexionsmangel drückt Habermas durch die glückliche Formel einer "Reifikation des Weltbildes"30 aus. Erst bei dem modernen, entzauberten Weltbild treten die Wirklichkeitsdeutungen als Interpretation auf, die sich als solche zur Diskussion stellen und der Kritik aussetzen. Habermas und Nietzsche sind sich also über den prinzipiell hermeneutischen, d. h. interpretatorischen und leJ;ztlich pragmatischen Horizont unseres Weltbildes einig. Beide zeugen von der Universalität des hermeneutischen Problems, ohne freilich dieselben Schlußfolgerungen zu ziehen. Angesichts des durchgehen-
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den Perspektivismus hält es Habermas für angebracht, über unsere als Perspektiven gewußten Weltansichten zu diskutieren und die Ansichten für (pragmatisch) legitimiert zu erachten, die auf einen Konsens stoßen können. Da jedoch der faktische Konsens künstlich - etwa durch Macht - herbeigeführt werden kann, scheut Habermas davor zurück, den wirklichen Konsens für den wahren zu halten. Er muß sich mit der Behauptung begnügen, daß die Idee der Wahrheit an die kontrafaktische Antizipation eines idealen Konsensus gebunden ist. Diese kontrafaktische Idealisierung fungiert aber bestenfalls als kritischer Stachel,3! so daß letzten Endes doch problematisch bleibt, was in der wirklichen Welt als wahr oder legitimiert gelten darf. Nietzsche verzichtet auf metaphysische Idealisierungen und verbleibt bei der Agonistik der prinzipiell heterogenen, weil auf Macht ausgerichteten Perspektiven. Wie kann man aber sicher sein, daß alles so perspektivistisch ist? Ist der Perspektivismus nicht auch nur eine Perspektive unter anderen? Darauf ist zunächst zu antworten, daß der Verdacht des Perspektivismus sehr wohl universalisiert werden kann. Der Argwohn, eine Ansicht der Welt sei nur eine von Machtinteressen bedingte Perspektive neben anderen, läßt sich jeder Konzeption gegenüber kritisch hegen. 32 Es liegt an der jeweils unter Perspektivismusverdacht stehenden Position, zu zeigen, daß sie keine einseitige Perspektive ist, wenn sie es kann. Die Perspektive des Perspektivismus führt also nicht unbedingt zur Resignation des "anything goes", sie ist die einer kritischen und hermeneutischen Philosophie, deren Aufgabe es ist, unerweisliche Erkenntnisansprüche abzuwehren. 33 Im heutigen Spektrum gilt also Nietzsche als Repräsentant einer "Hermeneutik des Verdachts". Der Terminus wurde von Paul Ricreur 34 geprägt, um eine Interpretationsstrategie zu charakterisieren, die dem unmittelbaren Sinn mit Mißtrauen begegnet und ihn auf einen unbewußten Willen zur Macht zurückführt. Neben Nietzsche nennt Ricreur auch Freud, der den Sinn auf unbewußte Triebe reduziert, und Marx, der ihn an Klasseninteressen zurückkoppelt, als Vertreter einer Verdachtshermeneutik. Ihr stellt er eine Hermeneutik des Vertrauens entgegen, die Sinnhaftes, wie es sich gibt, phänomenologisch nimmt, um dessen Dimensionen auszuschöpfen. Während die Hermeneutik des Verdachts rückwärts blickt, um Sinnansprüche reduktionistisch auf eine hinter ihnen funktionierende Energetik oder Ökonomik (Pulsionen, Klasseninteressen, Willen zur Macht) zurückzubringen, richtet sich die Vertrauenshermeneutik nach vorne, nach der Welt, die uns der zu deutende Sinn auftut. Diese Hermeneutik liefert sich aber nicht in naiver Weise der Verführung des immediaten
Anmerkungen
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Sinnes aus. Sie läßt sich zunächst von der Hermeneutik des Verdachts belehren und übernimmt, sofern sie nachweisbar ist, ihre Destruktion der Illusionen des falschen Bewußtseins. Aber diese Zerstörung läßt die Sinnfrage völlig offen. Das von seinen Illusionen befreite Bewußtsein strebt nach wie vor nach Orientierung. Im kritischen Vertrauen wendet es sich also den sinnerschließenden Möglichkeiten der Wahrheitsanspruche, folglich dem verbum interius hinter jedem geäußerten Sinn, zu. Dieses Sinnvertrauen, ohne das Sprache bedeutungslos bliebe, darf seinerseits Anspruch auf Universalität erheben. Die Verdachtshermeneutik ist ihm insofern untergeordnet, als ihre Destruktion stets im Hinblick auf ein "wahres" Bewußtsein, mag es nun als regulative Idee fungieren, erfolgen muß. Eine Dekonstruktion ohne Aussicht auf ein zumindest weniger falsches Bewußtsein wäre witzlos. So manifestiert sich schon auf der Ebene des Problemhorizontes die universale Dimension der hermeneutischen Besinnung. Die Reflexion auf die Interpretation erlaubt es der heutigen Philosophie, ein Universales erneut in den Blick zu bringen. Indem sie den grundlegend hermeneutischen Charakter unseres Weltbezugs thematisiert, verabschiedet die Hermeneutik mitnichten den philosophischen Universalismus, sie realisiert ihn.
Anmerkungen 1 Brief von M. Heidegger an o. Pöggeler vom 5. 1. 1973, zitiert in O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg/München 1983, S. 395. 2 Vgl. C. von Bormann, Hermeneutik, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XV, Berlin/New York 1986, S. 130: "In Gadamers Werk hat die Hermeneutik wohl ihre letzte große Ausprägung erhalten. Seitdem wurden keine Neuansätze mehr entwickelt - Ricceurs Versuche einer ,philosophischen Hermeneutik' führen auf ältere Formen des Sinnverstehens zurück.« J Vgl. H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke (fortan: GW), Bd. II, Tübingen 1986, S. 219. 4 Vgl. C. F. Gethmann, Philosophie als Vollzug und als Begriff. Heideggers Identitätsphilosophie des Lebens in der Vorlesung vom WS 1921/22 und ihr Verhältnis zu ,Sein und Zeit<, in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986--87), S. 29ff. 5 Vgl. schon P. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1975, und neuerdings: J. Hörisch, Die Wut des Verstehens, Frankfurt a. M. 1988 sowie E. Behler, Friedrich Schlegels Theorie des Verstehens: Hermeneutik oder Destruktion?, in: Die Aktualität der Frühromantik, hrsg. von E. Behler und J. Hörisch, Paderborn/München/Wien/Zürich 1988,
S. 141-160.
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Vgl. E. Behler, a.a.O., S. 145. 7 V gl. W. Dilthey, Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik (1860 verfaßt), in seinen Gesammelten Schriften (künftig: GS), Bd. XIV/Erster Halbband, Göttingen 1966, S. 595-787; G. Ebeling, Hermeneutik, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. III, 1959, S. 243-262. 8 Vgl. H.-E. Hasso Jaeger, Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974), S. 35-84 sowie die erhellenden Einleitungen von L. Geldsetzer zu seinen Editionen von J. M. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742, Düsseldorf 1969 und G. F. Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Halle 1757, Düsseldorf 1965. 9 Vgl. z.B. F. Blass, Hermeneutik und Kritik (im Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft in systematischer Darstellung), München 1892, S. 148 ff. 10 Nachdruck der 2. Auflage von 1886: Darmstadt 1966. 11 Vgl. F. Rodi, Diltheys Kritik der historischen Vernunft - Programm oder System, in: Dilthey-Jahrbuch 3 (1985), S. 140-165. 12 o. F. Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie, Schaffhausen 41980. 13 Th. Kisiel, Why the First Draft of Being and Time Was Never Published, in: The Journal for the British Society for Phenomenology 20 (1989), S. 3-22, hat auf die möglicherweise rein kontingenten Umstände der Veröffentlichungsverzögerung von Heideggers Hauptwerk, das ursprünglich für die Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte bestimmt war und wegen der Manierismen der Diktion abgelehnt wurde, hingewiesen. 14 M. Heidegger, Sein und Zeit (von nun an: SZ), Tübingen 14 1977, S. 37f. 15 H.-G. Gadamer, Erinnerungen an Heideggers Anfänge, in: DiltheyJahrbuch 4 (1986-7), S. 16. 16 Vgl. C. F. Gethmann, a.a.O., S. 28ff. 17 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (künftig: WM), Tübingen 1960. 4 1975, S. 240 (= GW I, 1986, S. 259) und C. F. Gethmann, a.a.O. 18 So spricht Gadamer (GW III, 423 u.ö.) von der "Kehre vor der Kehre". 19 Vgl. H.-G. Gadamer, WM, S. XXIV (= GW II, S. 446ff.); Kleine Schriften IV, Tübingen 1977, S. 259; Das Erbe Hegels, Frankfurt a. M. 1979, S. 45 (= GW IV, S. 467); Einführung zum Seminar: Philosophische Hermeneutik, hrsg. von H.-G. Gadamer und G. Boehm, Frankfurt a.M. 1976, S. 39-40. Vgl. dazu unsere Monographie: Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheits begriff Hans-Georg Gadamers, Königstein 1982, S. 83 H. 20 K.-O. Apel, Einführung zu C. S. Peirce, Schriften zur Entstehung des Pragmatismus, Bd. I, Frankfurt a. M. 1967, S. 13. Dieser Dreiteilung folgt noch R. Bubner, Modern German Philosophy, Cambridge 1981. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M. 1988, S. 12, nennt neben den drei angeführten Strömungen den Strukturalismus als vierte Gestalt des Geistes des 20. Jh. 6
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21 Repräsentativ dafür: M. Riedel (Hrsg.), Die Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Freiburg/München 1974. 22 Vgl. H. Schnädelbach, Was ist Neoaristotelismus?, in: W. Kuhlmann (Hrsg.), Moralität und Sittlichkeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 38-f>3. 23 S. Rosen (Hermeneutics as Politics, Oxford 1987) versteht z. B. unter "hermeneutics" die gegenwärtige französische Philosophie um Derrida, Foucault, Deleuze und Lyotard, ein Titel, unter dem sie sich selbst kaum wird erkennen können. Gleichwohl sprach M. Foucault in seinem Nietzsehe, Freud und Marx (Cahiers de Royaumont, Philosophie, no 6, Paris 1967, S. 183-192) gewidmeten Text von diesen drei Autoren als den Wegbereitern der "modernen Hermeneutik" (S. 189ff.). 24 Vgl. R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979; J. Grondin, Hermeneutical Truth and its Historical resuppositions. A possible Bridge between Analysis and Hermeneutics, in: Anti-Foundationalism and Practical Reasoning, ed. by E. Simpson, Edmonton 1987, S. 45-58; Continental or Hermeneutical Philosophy: The Tragedies of Understanding in the Continental and Hermeneutical Perspectives, in: J. SallislC. Scott (Hrsg.), Interrogating the Tradition: Hermeneutics and the History of Philosophy, Albany 2000,75-83; R. Bubner, Wohin tendiert die analytische Philosophie?, in: Philosophische Rundschau 34 (1987), S. 257-281. 25 SZ, S. 229. 26 WM, S. 327 (= GW I, S. 350). 27 Vgl. H.-G. Gadamer, Das Erbe Europas, Frankfurt a.M. 1989, S. 123: "Mißbrauch von Macht ist das Urproblem des menschlichen Zusammenlebens überhaupt und völlige Verhinderung dieses Mißbrauchs nur in Utopia möglich." 28 Zum universalen Perspektivismus Nietzsches vgl. W. Müller-Lauter, Nietzsehe. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971; ders., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1-60; J. Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin/N ew York 1982; V. Gerhardt, Die Perspektive des Perspektivismus, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 260-281; am ergiebigsten scheint mir die vorzügliche Arbeit von Alan D. Schrift: Nietzsehe and the Question of Interpretation. Between Hermeneutics and Deconstruction, RoutIedge/New York/London 1990 zu sein, weil sie Nietzsehe mit der Hermeneutik und der Dekonstruktion konfrontiert. 29 J. Habermas, Theorie des kommunikativen HandeIns, Bd. I, Frankfurt a.M. 1981, S. 72ff. 30 Ebd., S. 82. 31 Vgl. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, S. 55. Kein Wunder also, daß Habermas trotz seiner seit langem vorgelegten Diskurstheorie der Wahrheit die Ausarbeitung einer Wahrheitstheorie als ein Desiderat seiner Arbeiten empfindet (vgl. seine Entgegnung in: Kommunikatives Handeln, hrsg. von A. Honneth und H. J oas, Frankfurt a. M. 1986, S. 327). Die Korre-
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spondenztheorie gilt ihm nach wie vor als unhaltbar (vgl. Nachmetaphysisches Denken, S. 149). Vgl. neuerdings den Band: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1999. 32 Auch die etwa von K.-O. Apel urgierte Überholung des hermeneutischen Universalismus durch die transzendentalhermeneutische Reflexion auf die unhinterfragbaren Bedingungen der Argumentation muß sich vorhalten lassen, daß sie ihrerseits bloß eine Interpretation der für fundamental ausgegebenen Argumentation darstellt. 33 Vgl. V. Gerhardt, a.a.O., S. 271. 34 P. Ricceur, De l'interpretation. Essai sur Freud, Paris 1965 (dt.: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a.M. 1969); Le conflit des interpretations, Paris 1969 (dt.: Der Konflikt der Interpretation, I: München 1973, II: München 1974). Vgl. dazu die positive Wiederaufnahme der Hermeneutik des Verdachts in dem schon angeführten Aufsatz von Foucault über Nietzsche, Freud und Marx.
1. ZUR VORGESCHICHTE DES HERMENEUTISCHEN
1. Sprachliche Vorverständigung Die Entwicklung einer ausgesprochen hermeneutischen Reflexion trägt die Signatur der Moderne. Wie im vorigen mit Hilfe von Nietzsche und Habermas ausgeführt wurde, zeichnet sich das moderne Weltbild durch sein perspektivistisches Selbstbewußtsein aus. Erst wenn feststeht, daß Weltansichten keine schlechthinnigen Verdoppelungen der Realität, wie sie an sich ist, sondern pragmatische, d. h. in unseren sprechenden Weltbezug einbegriffene Interpretationen darstellen, kann Hermeneutik entstehen. Das geschieht erst in der Moderne. Es ist in diesem Sinne kein Zufall, wenn das Wort hermeneutica erst im 17. Jahrhundert auftaucht. Einsichten der Moderne lassen sich aber in die Antike zurückverfolgen, deren Kosmos viel weniger eintönig war, als es das übliche Klischee will, das nicht zuletzt von den Liebhabern der "Alten" konstruiert wurde. Neben den rationalistischen Eleaten und Platonikern gab es eine Reihe von relativistischen Sophisten, die bestens um die machtbedingte Perspektivität menschlichen Ermessens Bescheid wußten. Es ist somit fraglich, wie weit die Geschichte der Hermeneutik zurückreichen muß. Die Antwort hängt natürlich davon ab, was man unter Hermeneutik verstehen will. Zur Eingrenzung unseres Themas sind also sprachliche Wegmarken erforderlich. Das Wort Hermeneutik ist im heutigen Sprachgebrauch von einer enormen Verschwommenheit heimgesucht, die, wie es von fast allen Philosophemen gilt, zu seiner Hochkonjunktur beigetragen haben mag. Begriffe wie Hermeneutik, Deutung, Auslegung, Exegese, Interpretation werden oft als Synonyma verwendet. Eine Interpretation von Hegel z. B. kann sich heute umstandslos für eine Hermeneutik Hegels ausgeben.! "Hermeneutische Vorüberlegungen" sind gleichbedeutend mit Vorklärungen zum jeweiligen Interpretationshebel. Der terminologischen Eingrenzung halber empfiehlt es sich, den Begriff der Hermeneutik enger zu fassen und darunter zuallererst eine Theorie der Interpretation zu verstehen. Dabei kann unbestimmt bleiben, was Theorie besagen soll, denn jede Hermeneutik hatte auch eine verschiedene Auffassung dessen, was von einer hermeneutischen
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Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen
Theorie zu erwarten sei. Für die einen sollte diese Theorie eine Kunstlehre (Schleiermacher) sein, d.h. eine methodische Regelanweisung für den Umgang mit Texten, deren Aufgabe vorwiegend technisch-normativer Natur war. Sie wollte lehren, wie man interpretieren soll, um die Beliebigkeit im Universum der Interpretation auszumerzen. Für die anderen soll die Hermeneutik auf diese technische Aufgabe Verzicht leisten, um die umfassendere Gestalt einer philosophischen oder phänomenologischen Analyse des ursprünglichen Phänomens der Interpretation bzw. des Verstehens anzunehmen. In ihrer phänomenologischen Spielart lehrt die Hermeneutik anscheinend nicht mehr, wie man interpretieren soll, sondern wie de facto interpretiert wird. Grundsätzlich kann man es entweder mit einer normativ-methodischen oder mit einer phänomenologischen Hermeneutik zu tun haben. Die Reichweite des Interpretationsbegriffs ist auch variabel. Behauptet man etwa, Sprache sei als solche immer schon Interpretation, so wäre eine Theorie der Interpretation eine allgemeine Theorie der Sprache oder des Wissens. Selbst wenn Sprache unabdingbar Interpretation mit einschließt, würde dies aber kaum einen Gegenstand für eine geschichtliche Einführung in die Hermeneutik hergeben (in diesem Zusammenhang werden wir gleichwohl vom hermeneutischen Beitrag zur Sprachphilosophie handeln). Auch hier erscheint es geboten, einen engeren Interpretationsbegriff heuristisch zu gebrauchen. Demgemäß tritt Interpretation erst dann in Erscheinung, wenn ein fremder oder als fremd empfundener Sinn verständlich gemacht werden soll. Das Interpretieren ist somit ein Verständlichmachen oder ein Übersetzen von fremdem Sinn in Verständliches (nicht notgedrungen in Vertrauliches, weil Unvertrautes als solches dem Verständnis erschlossen werden kann). Mit diesem Vorgang der Interpretation hat es die hermeneutische Theorie zu tun. Er erscheint als sekundär, wenn man ihn für einen winzigen Ausschnitt der menschlichen Erfahrung hält, nimmt aber universale Relevanz an, sobald man gewahr wird, daß alle menschlichen Tätigkeiten einen gewissen Prozeß des Verständlichmachens, sei es nur als fernen Telos, zur Grundlage haben. Davon wird schließlich der Universalitätsanpruch der Hermeneutik Zeugnis ablegen. Erst im 20. Jahrhundert ist diese Universalität dem philosophischen Bewußtsein aufgegangen. Früher wurde der Vorgang der Interpretation bis auf wenige Ausnahmen als ein spezielles Problem behandelt, dessen eine normative Hilfsdisziplin innerhalb der auslegenden Wissenschaften Herr werden wollte. Eine konsequente Geschichte der Hermeneutik muß ihrer Selbst-
Sprachliche Vorverständigung
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vergewisserung wegen auf ihre »provinziellen" Ursprünge zurückkommen. Interessant für die Erschließung ihrer Archäologie ist der Umstand, daß es gewisse Achsenzeiten der Hermeneutik, sozusagen Schaltepochen, in denen das Problem der Interpretation etwas brennender wurde, gegeben hat. Selbst wenn sie des öfteren aus dem Nachher, nämlich von der Warte der heutigen Geschichtsschreibung aus, festgestellt wurden, waren es vor allem Erfahrungen des Traditionsbruches, die das Problem der Interpretation und ihrer hermeneutischen Theorie zu erneuter Brisanz gedeihen ließen. So wurde beispielsweise in der nacharistotelischen Philosophie eine Theorie der allegorischen Mythendeutung entwickelt, um die unvertraut und anstößig gewordenen Mythen einer rationalisierenden Auswertung zu unterwerfen, die fremden Sinn in neue Aktualität verwandelte. Die Ausglättung des Traditionsbruches geschah dabei oft genug um den Preis auslegender Gewaltsamkeit. Ebenso mußte die Verkündigung J esu, die die jüdische Überlieferung hintanzustellen schien, eine besondere Besinnung auf die Prinzipien der Interpretation hervorrufen. Für das frühe Mittelalter überhaupt mußte die Interpretation einen bevorzugten Platz einnehmen, beruhte doch sein ganzes Wissen auf der Exegese der Heiligen Schrift und der Schriftsteller der Antike. Die Umwandlung der mittelalterlichen Hermeneutik durch die Norm der sola scriptura in der Reformation wurde zu einem neuen Antrieb der hermeneutischen Reflexion. So wird in ihr oft, so z. E. bei Dilthey, der Beginn der Hermeneutik gefeiert. Es muß aber auffallen, daß die hermeneutischen Traktate, die die Reformation in ihrer Auseinandersetzung mit der katholischen Orthodoxie produzierte, von Regeln wimmelten, die der Rhetorik und den Kirchenvätern entnommen waren, so daß sich diese Achsenzeit oder Geburtsstunde der Hermeneutik weit weniger umstürzlerisch ausnimmt, als in der klassischen, der protestantischen Theologie verpflichteten Geschichtsschreibung der Hermeneutik angenommen wird. Im 17. Jahrhundert, angefangen mit J. C. Dannhauer, sprossen viele, heute fast vergessene Hermeneutiken oder allgemeine Auslegungslehren hervor, mit dem Ziel, im Geist des Rationalismus methodische Regeln für die Herausstellung des wahren Sinnes von Textstellen vermitteln zu wollen. Angeregt durch die kopernikanische Revolution Kants, die der Subjektivität eine neue, konstitutive Rolle im Erkenntnisprozeß einräumte, erfolgte in der Romantik ein neuer Umbruch, der sich auf den Vollzug des "Verstehens" konzentrierte, aber auch hier unter weitgehender Umwandlung älteren Materials aus der Tradition der Rhetorik. Der Subjektivierungsstoß der Kanti-
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schen Kritik beschwor im späteren 19. Jh. die Herausforderung des Historismus herauf, die die hermeneutische Theorie radikal vor das relativ neue, weil vom Aufschwung der Naturwissenschaften nahegelegte Problem der Objektivität der Geisteswissenschaften stellte. Bei Autoren wie Boeckh, Dilthey und Droysen wurde das Kantische Desiderat einer Kritik der historischen Vernunft laut. Die Zukunft der Hermeneutik schien nunmehr in der Methodologie der Geisteswissenschaften aufgehoben zu sein. Just der Entfremdungsprozeß, den die Obsession mit der Methodologie und der Erkenntnistheorie in der Philosophie verursachte, führte bei Heidegger zur philosophischen U niversalisierung und Radikalisierung der Hermeneutik. Das "Verständlichmachen", das die hermeneutische Bemühung von Anfang an in Atem hielt, wurde nicht mehr ein Epiphänomen am Rande der textverbundenen Wissenschaften, sondern zum grundlegenden Existential für ein der Zeit unterstehendes Wesen, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Bis hin zu Gadamer und Habermas ist dies der Horizont der unwiderruflich philosophisch gewordenen Hermeneutik geblieben. Bis dahin war die Geschichte der Hermeneutik vielleicht bloß eine "Vorgeschichte" gewesen. Ihre wichtigsten Stationen sollen uns jetzt beschäftigen. Wir setzen bei einer etymologischen Rückbesinnung an. 2. Zum Wortfeld um
eQ~tllvEUElV
Die Idee, daß die Hermeneutik die Verständlichmachung von Sinn zum Gegenstand hat, findet einen ersten Anhalt in der Etymologie. Seit G. Ebeling 2 pflegt man drei Bedeutungsrichtungen von eQ~llvEUElV zu unterscheiden: ausdrücken (aussagen, sprechen), auslegen (interpretieren, erklären) und übersetzen (dolmetschen). Daß sich die beiden letzten Funktionen durch dasselbe Verb wiedergeben lassen, ist nicht schwer einzusehen, denn das Übersetzen, die Übertragung von fremd vorkommenden Lauten in vertrauliche Rede, ist in gewissem Sinne ein Interpretieren. Der Übersetzer hat ja zu erklären oder verständlich zu machen, was ein fremder Sinn sagen will. So bleiben zwei Grundbedeutungen von eQ~llvEuELv übrig: ausdrucken und interpretieren. Auch hier läßt sich ein gemeinsamer Nenner fassen, denn man hat es im Grunde in beiden Fällen mit einer ähnlichen, auf Verständnis zielenden Bewegung des Geistes zu tun, nur daß sie, wie es J. Pepin3 formuliert hat, einmal nach außen, das andere Mal nach innen gerichtet ist. Beim "Ausdrücken" gibt der Geist sozusa-
Zum Wortfeld um EQl-ll1vEUELV
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gen seine inneren Gehalte nach außen hin zur Kenntnis, während das "Interpretieren" den geäußerten Ausdruck auf seinen inneren Gehalt hin zu durchschauen strebt. In beiden Richtungen gehe es also um eine Verständlichmachung oder Sinnvermittlung. Das Aussagen gibt ein "Inneres" kund, während das Interpretieren den inneren Sinn hinter dem ausgedrückten (zurück)sucht. Es empfiehlt sich also, zwischen einer rhetorischen und einer ausgesprochen hermeneutischen Sinnvermittlung zu unterscheiden: Während die erste ad extra geht, verläuft die andere umgekehrt vom Ausdruck auf seinen "inneren" Gehalt hin oder - um psychologistische Verengung zu vermeiden auf das, was ein Ausdruck zu sagen hat (Gehaltsinn). So verstand die gesamte Tradition das Interpretieren als die Umkehrung des Aktes des Redens, bis hin zu Schleiermacher. 4 Dies erklärt auch, warum die meisten hermeneutischen Regeln direkt der Rhetorik entnommen wurden, u. a. die Tropenlehre und der sog. hermeneutische Zirkel, wonach das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen sei. Die wichtigsten Vermittler waren dabei, wie wir sehen werden, die Rhetoriklehrer Augustin und Melanchthon, die die Auslegekunst nach dem Vorbild des viel reicheren Rhetorikcorpus ausrichteten. Die Griechen verstanden aber offenbar das Aussagen selber als ein "Interpretieren", ein EQf.l.TJVEUELV. Die ausgesagte Rede ist lediglich die Übertragung von Gedanken in Worten. So konnte Aristoteies' logisch-semantische Schrift >Peri hermeneias<, die vom wahr oder falsch sein könnenden Aussagesatz (dem ,,-ayo<:;, cmocpaytLxa<:;,5) handelt, durchweg durch >De interpretatione< auf Latein wiedergegeben werden. Die Aussage (EQf.l.TJvda) ist stets die Übertragung von Gedanken in der Seele (von Innerem also) in äußere Sprache. Der Satz ist insofern der Mittler zwischen den Gedanken und dem Adressaten. Diese griechische Auffassung der Rede gipfelt in der stoischen Unterscheidung zwischen dem ,,-ayo<:;, JtQocpoQLxa<:;, und dem ,,-ayo<:;, EVÖLU{re-W<:;, (dem ausgesprochenen und dem inneren ,,-ayo<:;,). Der erste bezieht sich nur auf den Ausdruck (EQf.l.TJVEla), während der letztere dessen Inneres, das Gedachte (öLavola)6 anvisiert. Die EQf.l.TJVEla ist nichts als der in Worte gefaßte Logos, seine Ausstrahlung ad extra. Wer hinwiederum das gesprochene Wort auslegen will, muß den umgekehrten Weg nach innen, zum ,,-ayo<:;, EVÖLU{re-tO<:;, zu gehen versuchen. Das EQf.l.l1VEUELV erweist sich also durchaus als ein Vorgang der Sinnvermittlung, die vom Äußeren auf ein Inneres von Sinn zurückgeht. Der Begriff der Hermeneutik gilt gewöhnlich als eine Schöpfung der Neuzeit. Dies ist wohl richtig, sofern man nur die lateinische hermeneutica im Auge hat. Dieser Terminus ist aber nichts anderes als
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Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen
die latinisierte Übertragung des Wortes EQ!lflVE'U'tLXy), das sich schon bei den Griechen findet. Es begegnet erstmals im platonischen Corpus (Politikos 260d 11, Epinomis 975c 6, Definitiones 414d 4). Die Funktion der EQ!lflVE'U'tLXY) im Politikos ist sakraler oder religiöser Art. Die Epinomis stellt die EQ!lflVE'U'tLXY) neben die !luv'tLxy), oder Wahrsagekunst, als zwei Wissensarten, die nicht zur aOqJtu führen können, weil der Hermeneut nur das Ausgesagte ('to AEYO!lEVOV) verstehen kann, ohne aber zu wissen, ob es zugleich wahr (aAfl1'tec;) ist. Er erfaßt einen Sinn, ein Ausgesagtes, ohne jedoch dessen Wahrheit ausmachen zu können - ein Geschäft, das zuvörderst der aOqJLu obliegt. Läßt sich ein Unterschied zwischen der !lUV'tLXY) (Wahrsagekunst) und der EQ!lflvE'U'tLXY) (versuchsweise: Divination) ermitteln? Weder die Epinomis- noch die Politikosstelle (denn auch diese führt lediglich die EQ!lflVE'U'tLxY) in einer Wissenschaftsliste an) verschaffen darüber ausreichende Klarheit. Sicher ist, aus welchem Grund die !lUVtLXy) allein zu keinerlei aOqJtu oder Wahrheit hinführen kann. Ihr wohnt nämlich ein Wahnsinn (von !lUV tu) inne. So bemerkt Platon im Timaios (71 a-72 b), daß dem vom Wahnsinn Ergriffenen die Besonnenheit mangelt, die Wahrheit des so Gesehenen, mag es auch göttlichen Ursprungs sein, zu beurteilen. Der Wahnsinnige ist so außer sich, daß er seine eigene Erfahrung nicht mehr rational deuten kann.! Wem gebührt aber diese rationale Kompetenz? Dem Timaios zufolge fällt sie dem Propheten (JtQOqJY)'tflC;) zu. Er allein ist imstande, die Wahrheit in der Vision des in Raserei versetzten Menschen zu ermitteln. Die EQ!lflVE'U'tLXYt wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Ist ihre Tätigkeit auf die Seite des Wahnsinns, der die !lUVtLxYt beflügelt, oder auf die des Prophetischen zu schlagen? Diese Frage läßt sich anhand der Platonischen Texte nicht zwingend beantworten. Im übrigen griechischen Schrifttum blieb die Bedeutung von JtQOqJYt'tflC; auch etwas zweideutig: mal wurde damit der direkt von der Gottheit inspirierte Verkünder der Göttlichen bezeichnet, mal der Erklärer der Worte einer von der Gottheit inspirierten Person. 8 So oder so war ihm eine vermittelnde Funktion zugeeignet, der anzusehen ist, daß sie auf zwei Ebenen erfolgen konnte. Einmal ging es um die Vermittlung zwischen den Göttern und den Menschen durch den in Raserei Versetzten (oder Propheten), einmal um die Vermittlung zwischen den Menschen und dem Mittler selbst. Diese vermittelnden Aufgaben gelten genauso vom EQ!lflVEUC;. In einer oft zitierten Stelle bezeichnet Platon die Dichter als die EQ!lflvfjC; n'i)v 1'tEwv (Ion 534 e). Im selben Dialog werden aber die Rhapsoden,
Zum Wortfeld um EQI.A.fJVEUELV
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die die Werke der Dichter vortrugen, als die Interpreten der Interpreten (€Q!-l1']veWV €Q!-l1']vfj~, Ion 535a) geschildert. Ebenso wie der Prophetes scheint also der EQ!1.1']veu~ sowohl der Mittler zwischen Göttern und Menschen als auch der Mittler zwischen den Menschen und dem (wahnsinnigen) Mittler zu sein. Der Hermeneut ist somit der Mittler eines Mittleren, der Mittler einer €Q!-l1']veLa - eine Funktion, die sich ins Unendliche ausweiten läßt, denn es ist stets mehr zu sagen und zu vermitteln, als sich gerade in Worte fassen läßt. Der vermittelnde Dienst des Hermeneutischen hat schon im Altertum dazu geführt, die Wortfamilie um €Q!-l1']VEU~ und €Q!-l1']vEUnx.Tj mit dem Vermittlergott Hermes etymologisch in Verbindung zu bringen. Der Zusammenhang ist wohl zu offensichtlich, um auch wahr zu sein. So wurde er in der neueren Philologie fast allenthalben mit überlegener Skepsis betrachtet. 9 Indessen hat es noch keine bessere etymologische Deutung vermocht, sich allgemein durchzusetzen, so daß die Frage um die Herkunft des Wortfeldes €Q!-l1']VEUELV hier offenbleiben muß. Auf dem Niveau der Wortbedeutung hat uns bislang vor allem der sakrale Horizont von €Q!1.1']VEULLX.Tj aufgehalten. Eine weit profanere, aber verwandte Sinnschicht begegnet uns schon in den pseudoplatonischen Definitiones (414 d 1), wo das Adjektiv €Q!1.1']VEULLX.Tj soviel wie "etwas bedeutend" sagen will. Diese semantische Lesart findet sich durchgehend im Wort €Q!1.1']vda. Es bedeutet nicht nur Aussage, sondern ebenso Sprache überhaupt,10 Übersetzung, Auslegung, aber auch Stil oder Vortrags art (elocutio).1 1 Der JtEQt EQ!1.1']vdac; (lat.: De elocutione!) von Demetrius etwa ist ein Traktat über Stilistik. 12 Auch hier muß die einheitliche Funktion der €Q!1.1']vda in die Augen springen. Immer geht es bei ihr um die verständlich machende Wiedergabe von schon Gedachtem. Denn was ist "Stil" anderes als die gekonnte Weitergabe von Sinn? Die~er Zusammenhang blieb weiterhin im frühen lateinischen Schrifttum sowie in der Patristik leitend, als €Q!-l1']veuELv mit interpretari und €Q!1.1']vda, auch wenn sie bloß als Aussage gemeint war, durchweg mit interpretatio wiedergegeben wurden. Sehr schön ist die Definition bei Boethius (480-525): interpretatio est vox articulata per se ipsam significans.!3 Philo von Alexandrien (etwa 13-54) wird auch unter €Q!1.1']vda den ausgesprochenen Logos verstehen. 14 Der Kirchenvater Clemens von Alexandrien (150-215) denkt ebenso Tj Lfj~ öLavoi.a~ €Q!1.1']vda als die Manifestation des Gedankens durch die Sprache.1 5 Wichtig für eine philosophische Hermeneutik ist hier die Weite, die keine Verschwommenheit impliziert (denn sie ist zuhöchst konsi-
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stent), des Bezugs, den die Antike zwischen Sprache, als Wiedergabe oder interpretatio der Gedanken, und EQf..t'llVEUELV erblickt. Denn die Auslegung oder die Übersetzung, die man auch weitgehend EQf..t'llvEi.a nennt, besagt nichts als die Umkehrung dieses Prozesses der Verständlichmachung, der die Sprache von Hause aus auszeichnet. Der Universalitäts anspruch der zeitgenössischen Hermeneutik wird diese Einsicht lediglich wiederzuerobern haben.
3. Motive der allegorischen Mythendeutung Mit dieser sprachlichen Selbstverständlichkeit, die Sprache von Grund aus als interpretatio erörtert, werden aber nur die Anfänge einer expliziten Theorie der Interpretation gegeben. Sie bildet noch keine Hermeneutik in irgend einem systematischen Sinne. Das Problem der Verständlichmachung wird erst dann für sich selbst akut werden, wenn sie nicht mehr gelingen will. Die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Besinnung auf die Auslegung, auf das Urgeschehen von Sprache als interpretatio, als Wiedergabe der Gedanken, verdankt sich - und nichts ist menschlicher - der Erfahrung der Unverständlichkeit. Diese Besinnung tauchte erst dann auf, als das Verstehen vor die Herausforderung von anstößig gewordenen Stellen aus der religiösmythischen Überlieferung gestellt wurde. Zumal in der hellenistischen Zeit, als das Göttliche zunehmend - so weit hatte es die Philosophie gebracht - mit dem rationalen Logos gleichgesetzt wurde, erschien es nicht mehr gott- oder vernunftgemäß, von allzu menschlichen Vorkommnissten wie Betrügerei und Eifersucht im göttlichen Olymp zu sprechen, wie dies im Epos der Fall war. Die mythische Sprache ließ sich jetzt nicht mehr wörtlich oder ihrem literalen Sinn nach auffassen. Sie erforderte eine "allegorische" Umdeutung. Die Anfänge derselben werden meist in der stoischen Philosophie aufgespürt, die eine systematische, rationalisierende, mithin allegorische Mythendeutung ausarbeitete. Sofern sie dem Zweck diente, altes Gedankengut dem Zeitgeist späterer Epochen anzupassen, ist die Praxis der Allegorie sicherlich älter, hatten doch Platon und Aristoteles rationale Mythendeutungen vorgebracht. Selbst die Rhapsoden haben gewiß, und sei es nur im Vortragsstil (EQf.1.'Y]vEi.a!), dem Zeitgeschmack ihres Publikums Rechnung getragen. Auch in der frührabbinischen Schriftauslegung gab es Abweichungen vom Literalsinn,16 der gelegentlich Anstoß erregte.
Motive der allegorischen Mythendeutung
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Diese Praxis liegt sozusagen dem Wesen der EQf..I:rlveLu als rhetorischer
Sinnververmittlung zugrunde. Vom vollen Begriff des EmU1VEUELV her leuchtet es ein, daß hinter dem buchstäblich Ausgesagten etwas anderes, etwas mehr steckt, das um so mehr einer hermeneutischen Anstrengung bedarf, als der unmittelbare Sinn, der wörtliche, unverständlich ist. Systematisiert und zu methodischem Bewußtsein gehoben wurde diese Praxis erst in der Stoa. Es ist aber fraglich und angesichts des lückenhaften Charakters der Überlieferung (der Nachwelt ist kein einziges vollständiges Traktat von den Stoikern erhalten geblieben) schwer auszumachen, ob die Stoa auch zu einer Theorie der Allegorie vorgedrungen ist. Schon der Ausdruck UAAT]YOQLU fehlt bei den StoikernY In Umlauf war aber der wohl gleichbedeutende Terminus lm:ovmu, den schon Xenophon und Platon in allegori.schem Verstand verwendeten. Die un:ovmu ist eine Form indirekter Mitteilung, die etwas sagt, um etwas anderes zu verstehen zu geben - ein Vorgang, den das Verb UAAT]YOQELV auf den Begriff bringen wird, das wörtlich etwas anderes (&.AAO<;) aussagen (UYOQEUELV), und zwar öffentlich (uyoQu kann man hier mithören) aussagen, bedeutet. Hinter dem Sinn für die Agora gibt es ein Anderes, ein Tieferes, das der Agora, der öffentlichen Ausgelegtheit zunächst fremd anmutet. Die Praxis allegorisierender Mythenauslegung bestand also darin, hinter dem schockierenden Literalsinn ein Profunderes ausfindig zu machen. Die Anstößigkeit oder Absurdität des unmittelbaren Sinnes ist gerade ein Wink dahin, daß ein allegorischer Sinn gemeint war, den der kundige Leser oder Hörer zu erschließen hat. Worin liegt aber dieser andersartige Sinn? Stürzt man sich nicht in die Willkürlichkeit hinein, wenn man den Literalsinn verabschiedet? Selbst wenn diese Gefahr nicht zu umgehen war und die Allegorese schon in der Antike in Mißkredit brachte, betonten die allegorischen Deuter, daß stets vom Literalsinn auszugehen war, um ihn richtig einzuordnen. Beliebtestes Mittel dafür war die Etymologie. Die Stoiker waren nämlich der Ansicht, daß die ältesten Menschen den Logos noch unverfälscht in sich trugen und darum in das Wesen der Dinge eindringen konnten. 18 Diese Praxis ist besonders anschaulich im 2. Buch von Ciceros >De natura deorum<, wo von einer dem Stoiker Balbus zugeschriebenen Rede berichtet wird. Balbus will beweisen, daß die Griechen moralische Eigenschaften oder wohlwollende Naturkräfte zu Göttern gemacht hatten. Unter Saturn sei etwa die Zeit zu verstehen, denn Saturn meint ja »von Jahren gesättigt" (quod saturetur annis 19 ). So konnte die Etymologie Aufschluß über die ver-
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steckte Bedeutungsrichtung, die über den Literalsinn hinausgeht, verschaffen. Der Ausdruck a.A,A,'YJyoQia. stammt aus der Rhetorik und wurde von einem Grammatiker, dem Pseudo-Herakleitos (1.Jh. n.Chr.), geprägt. Er definierte die Allegorie als einen rhetorischen Tropos, der es ermöglicht, etwas zu sagen und gleichzeitig auf etwas anderes anzuspielen. 20 Die Allegorie bezeichnet also nicht zuerst den intellektuellen Vorgang der Auslegung, sie ist schon in der Sprache beheimatet. Sie wohnt gleichsam der Aussagefunktion der Sprache, ihrem Vermögen, durch Ausgesagtes Anderes mit anklingen zu lassen, inne. Es liegt auf der Hand, daß die stoische Unterscheidung zwischen einem A,oyoC; ltQO
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nicht mehr leisten. Sie brauchte die Stütze der Tradition, um ihr trotz der brüchig gewordenen Beziehung zur älteren griechischen Welt geschlossenes Weltbild zu erhalten. Je problematischer und entfernter die Tradition geworden ist, desto dringender wird es, sie, allenfalls künstlich - vermöge der Allegorese -, zu retten. Keines dieser drei Motive ist im Grunde veraltet. Auch heute wird hie und da eine allegorische Deutung mobilisiert, um moralisch verwerfliche Stellen umzudeuten, um die Vernunft mit der Dichtung in Einklang zu bringen oder um die Autorität eines Klassikers zu retten. Sofern sie dieser Motivation entsprang, hat die stoische Konkretion der Lehre vom inneren und äußeren Logos in der allegorischen Mythenerklärung einen wesentlichen Anstoß zur Entwicklung der Hermeneutik gegeben.
4. Philo: Die Universalität des Allegorischen Aus Vorsicht haben wir es aber unterlassen, von einer hermeneutischen Theorie, von einer Hermeneutik also, bei der Stoa zu sprechen. Umrisse einer solchen finden sich frühestens bei einem von der Stoa stark beeinflußten Autor aus der jüdischen Tradition, Philo von Alexandrien (etwa 13-54). Er gilt allgemein als der Vater der AllegorieP Gleichwohl definiert er nirgends seine allegorische Methode. 28 Auch er ist vor allem ein Praktiker der nun auf die Schriften des Alten Testamentes angewendeten Allegorese, der selten über die Grundsätze seines Vorgehens reflektiert. Die Allegorese bleibt bei ihm apologetisch motiviert. Sie ist dann in Ansatz zu bringen, wenn eine wörtliche Auslegung die Gefahr des mythischen Mißverständnisses in sich birgt. Wie läßt sich aber auskundschaften, ob ein biblischer Text literal oder allegorisch zu deuten sei? Nach Philo sorgt der Autor, gegebenenfalls Gott, dafür, daß sein Text allegorisch verstanden wird, indem er objektive Zeichen oder Stützen der Allegorie in seiner Schrift ausstreut. 29 Das erste Buch Mose z. B. spricht von Bäumen im Paradies, Bäumen des Lebens und der Erkenntnis (Gen 2,9), die so verschieden von den unseren sind, daß eine wörtliche Auslegung unplausibel erscheint. So gibt es in der Schrift selbst Sprungbretter der Allegorese, etwa die Aporie, die Absurdität, die Fremdheit oder den Irrtum des Buchstabens, die beim Verfasser der Heiligen Schrift nur beabsichtigt gewesen sein können, denn die göttliche Offenbarung darf keine Unwahrheit enthalten. 3o Sie will zumal unkörperliche und göttliche Mysterien offenbaren, für
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die der "körperliche" Sinn prinzipiell untauglich ist. Vom Inhalt her ist also der allegorische Weg geboten. Philo vergleicht das Verhältnis zwischen dem wörtlichen und dem allegorischen Sinne mit dem zwischen Körper und Seele - eine Metapher, die ob ihrer enormen Wirkungs geschichte ein längeres Zitat des entscheidenden Passus rechtfertigt: "Die Auslegung (E1;'YJYrlaEL~) der heiligen Schriften geschieht auf die Weise, daß die in Allegorien verborgene Bedeutung erörtert wird. Denn die gesamten Gesetzesbücher gleichen nach Ansicht dieser Männer einem Lebewesen, das als Körper die wörtlichen Anordnungen hat, als Seele aber die in den Worten verborgene unsichtbare Bedeutung besitzt. Hierin besonders beginnt die vernunftbegabte Seele das ihr Verwandte zu schauen. Sie erblickt durch die Worte wie durch einen Spiegel die übermäßige Schönheit der in ihnen sich zeigenden Gedanken 3 !; sie faltet die allegorischen Symbole auseinander und entfernt sie und führt die Bedeutungen der Worte nackt ans Licht für diejenigen, die imstande sind, durch kleine Indizien das Unsichtbare durch das Sichtbare zu erblicken." 32 Der Umstand, daß die Allegorese ein Unsichtbares und Höheres erreichen will, bringt es mit sich, daß dieser Sinn nicht allen Lesern sofort zugänglich werden kann. Nur der Eingeweihte, der berufene und erfahrene Deuter kann zu diesem höheren Sinn, den Gott vor dem gemeinen Leser, der am Buchstäblichen haften bleibt, bewahren wollte, vordringen. Wie Philo ausführt, sind es nur diejenigen, die aufgrund von kleinen Anzeichen das Unsichtbare durch das Sichtbare hindurch CtoL~ ÖUva[.lEvoL~ EX [.lLXQä.~ UJto~lVrlaEW~ La. aqmvfj ÖLa. LWV cpaVEQWV 1'tEWQeLV) erfassen können, die den tieferen Sinn der Schrift zu ergreifen in der Lage sind. So hat sich Philo mehrfach der orphischen Mystagogensprache bedient, um die Erhebung zum allegorischen Sinn zu schildern. Sie-ist nicht für die vielen (JtQo~ LOu~ JtOA.A.ou~), sondern für die wenigen (JtQo~ 6A.LYOU~), die sich für die Seele und nicht für den Buchstaben interessieren. 33 Der Schlüssel der Schrift erschließt sich nur dem esoterischen Kreis derjenigen, die des Unsichtbaren würdig sind. Eigentlich liegt es auf der Hand, daß religiöse Rede ein allegorisches Verständnis ihrer selbst suggeriert, will sie doch mittels einer durch und durch irdischen Sprache vom Unirdischen handeln. Daß der ausgesprochene Logos, der A.6yo~ JtQOcpoQLx6~, immer schon Zeichen eines anderen, unsichtbaren Logos sein will, konnte dem nur Vorschub leisten. Überhaupt war es in der damaligen Epoche, nämlich von der Stoa bis zur Patristik, eine weitverbreitete Überzeugung, daß allem Reli-
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giösen etwas Symbolisches, Indirektes, Geheimnisvolles eignen mußte. 34 Das Religiöse handelt vom Geist, also von einem Esoterischen, den erst die Allegorie, der geistige oder der pneumatische Sinn, erschließt. Langsam setzte sich die Auffassung durch, das Religiöse bestünde allein aus Mysterien, was von der Sache (dem Göttlichen) und dem menschlichen Adressaten (der am Körperlichen hängt) her vollkommen in Ordnung erschien. Selbst wenn er gelegentlich die U nabdingbarkeit des wörtlichen Sinnes unterstreicht und vor der Gefahr radikaler Allegorisierungen warnte, ist Philo selber dieser Gefahr nicht entgangen. Bei ihm finden sich Äußerungen, denen zufolge alles in der Schrift aus Mysterien bestünde. Jede Stelle sei geheimnisvoll und der Allegorese bedürftig. Die erste handgreifliche Theorie der Allegorie, die die Antike zu bieten hat, gipfelt somit in der Intuition des universalen Charakters des Allegorischen. Was sich hier erstmals auf theoretischem Terrain (denn im Wortverständnis von E(>!!l]VELa war es schon angelegt) meldet, ist eine ferne Vorstufe des Universalitäts anspruchs der Hermeneutik. Was sie zu denken gibt, ist, daß alles Wörtliche auf ein Vorwörtliches verweisen muß, um voll erfaßt zu werden. Die Schrift genügt sich nicht selbst,35 sie bedarf der Hilfe oder des Lichtes eines Anderen ein Bedürfnis, dem das Allegorische nachzukommen trachtet. Dessen Universalisierung ist ein Hinweis auf die Notwendigkeit eines Rückgangs vom A,oyor; Jt(>OepO(>LXOr; her auf den ihn belebenden Geist. Auf ihn allein kommt es dem Interpreten an. Die Universalität des Allegorischen - die an sich nicht zu beanstanden wäre, weil kein geschriebenes Wort sich selbst genug sein kann kann aber zur Vernachlässigung des wörtlichen Logos, des sich in ihm und nur in ihm bekundenden Aussagewillen, verleiten, die der interpretatorischen Willkür Tür und Tor öffnen kann. So geriet schon in der Antike die phiionische Allegoriefreudigkeit in Verruf. Philo entfernte sich dadurch allzu gewaltsam vom Primat der wörtlichen Gesetzesauslegung, die die jüdischen, vom orphischen Griechentum weniger angesteckten Ausleger der Thora kennzeichnete. Wohl deshalb blieb sein Einfluß auf die palästinensische Exegese gering, so daß er vom rabbinischen Judentum stillschweigend aus dem Kanon jüdischer Überlieferung ausgeklammert wurde.3 6
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5. Origenes: Die Universalität des Typologischen Um so erheblicher wurde aber die Wirksamkeit der phiionischen Allegorese in der frühen Christenheit. Diese war ja von Anfang an der besonderen Herausforderung gegenübergestellt, die die VerkündigungJesu und deren implizite Relativierung des jüdischen Gesetzes zeitigte. Von seiner Lehre aus ließ sich das mosaische Gesetz und insbesondere seine prophetische Messiaserwartung nicht mehr wörtlich verstehen. Da sich aber J esus explizit auf seine Autorität berief, ließ sich die jüdische Überlieferung auch nicht einfach hintanstellen. So empfahl es sich, sie allegorisch zu deuten und gänzlich auf die Person J esu zu beziehen. J esus wurde zum Geist, aus dem her der Buchstabe des Alten Testaments zu deuten war. Dazu leiteten schon J esu Worte selbst hin, zumindest nach dem Zeugnis des späteren Evangeliums: "Durchforscht die Schriften ( ... ) sie sind es, die Zeugnis von mir geben" aoh 5,39). "Wenn ihr dem Mose glauben würdet, würdet ihr auch mir glauben, denn von m~r hat jener geschrieben" (5,46). Daß dies der Fall gewesen sei, war alles andere als evident, ließ doch der jüdische Messianismus eher einen mächtigen Herrscher erwarten, der das Reich der Juden in seiner alten Herrlichkeit wiederherstellen würde, jedenfalls nicht einer, der sich über das Gesetz hinwegsetzen und eines Kreuzestodes als Gotteslästerer sterben würde. Am wörtlichen Sinn der Schrift war hier nicht zu deuteln. So mußte eine allegorische Deutung mit Hilfe des hermeneutischen Schlüssels, den J esu Person lieferte, aufgeboten werden. Diese allegorisierende Auslegung des auf Jesus bezogenen Alten Testamentes erhielt späterund erst im 19.Jh. - den Namen der "Typologie". Ihre Zielrichtung ging dahin, im Alten Testament "Typoi", d.h. Vorprägungen der Gestalt Christi ausfindig zu machen, welche vor der Erscheinung Christi als solche unkenntlich bleiben mußten. Diese typologische Lesart der Bibel, die J esus selbst empfohlen hatte, nannte sich damals mangels eines Besseren, aber dem Zeitgeist entsprechend, "allegorisch". Lange hat man in der kirchlichen Apologetik versucht,37 Typologie und Allegorie auseinanderzuhalten. Diese galt nämlich als paganischer Irrweg, der zu auslegender Willkür und Frivolität verführe, während die Typologie den anscheinend ganz anders gearteten Zweck hatte, im Alten Testament realgeschichtliche Vorankündigungen und Entsprechungen der Person Jesu aufzufinden. Die Opferung Isaaks durch Abraham sollte den Opfertod Christi durch seinen Vater, die drei von J ona im Fisch verbrachten Tage sollten den Zeitraum zwischen Tod und Auferstehung Christi voraus spiegeln usw.
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Gewiß war dies eine ganz besondere Konkretion der allegorischen Deutungsrichtung gewesen, aber sie nannte sich damals schon Allegorie. Der erste, der hier expressis verbis von Allegorie sprach, war kein Geringerer als der Apostel Paulus, im Brief an die Galater (4,21-24). Dort erarbeitet Paulus eine "typologische" Interpretation der Geschichte von den zwei Söhnen Abrahams, des einen von der Sklavin (Hagar) und des anderen von der Freien (Sara). Dies, gibt Paulus kund, ist allegorisch gesagt worden (UAAfJYOQoU!lEva). Denn der von der Sklavin geborene Sohn meint das jetzige J erusalem, das sich in der Sklaverei, d. h. unter dem Gesetz befindet. Der von der Freien geborene hingegen ist nicht Sklave des Gesetzes (oder des Fleisches), sondern frei, weil er Erbe des Geistes ist. Allegorie war also der Name, den die alte Kirche ihrer typologischen Deutungsmethode gab 38 : so wurde das ganze Alte Testament zu einer Allegorie des Neuen. Das Neue offenbarte den Geist, aus dem her der Buchstabe des Alten zu verstehen sei. Der gewichtigste Theoretiker dieser Praxis der Allegorie ist der Kirchenvater Origenes (etwa 185-254) gewesen. Im vierten Buch seines Traktates >Über die Prinzipien< hat er "die erste systematische Erörterung des hermeneutischen Problems"39 des Abendlandes vorgelegt. Dort entwickelt er in Anlehnung an Phil0 40 seine berühmte Lehre von den drei Sinnschichten der Heiligen Schrift, die der späteren Lehre vorn vierfachen Schriftsinn den Boden bereitet hat. Origenes erblickt in einern entlegenen Spruch des Salomo (Spr 22 20), dem zufolge man die Schrift "dreimal"41 zu schreiben hat, um von ihrer Wahrheit Zeugnis ablegen zu können, einen Schlüssel zur Deutung der Schrift. Er soll besagen, daß auch der Ausleger den Sinn der Schrift in seiner Seele schreiben soll,42 einmal den körperlichen, sodann den seelischen und schließlich den spirituellen Sinn. Diese Dreiteilung entspricht der neutestamentlichen und phiionischen Dreiteilung des Menschen in Körper, Seele und Geist. 43 Origenes legt besonderen Wert auf die geistige Progression, die seine Lehre markieren will. Der körperliche, nämlich der buchstäbliche Sinn, der auch somatisch oder historisch genannt wurde, ist für die einfachen oder einfältigen Menschen bestimmt. Dafür ist er nicht zu verwerfen, denn die Menge derjenigen, die dank ihm aufrichtig glauben, zeugt von seinem Nutzen. 44 Der seelische Sinn richtet sich an die Adresse derer, die im Glauben schon fortgeschrittener sind und deren Blick durch die Seele der Schrift erweiterungsfähig ist. Nur den "Vollkommenen" erschließt sich der spirituelle Sinn, der die allerletzten Mysterien der göttlichen Weisheit, die im Buchstaben verborgen liegen, offenbaren soll.
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Die drei Schichten des Bibelsinnes sind so von Gott gewollt, um den Christen einen Fortschritt vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Körperlichen zum Intelligiblen zu ermöglichen. 45 Gott wollte vermeiden, daß jedermann über die Mysterien verfügt und sie mit Füßen tritt. So hat der Heilige Geist (der als Verfasser der Schrift gilt) einen tieferen Sinn unter der Hülle einer gewöhnlichen Erzählung verborgen (IV, 2,7). Er hat gezielt Unstimmigkeiten und Diskordanzen in seiner Narration verstreut, um den Geist des aufmerksamen und würdigen Lesers aufhorchen zu lassen und ihm die Notwendigkeit einer Überschreitung des Buchstaben einzuprägen. Durch Verstehenshindernisse aufgehalten wird er aufgefordert, einen verborgenen, inneren, geistigen, moralischen, kurzum, einen gottgemäßen Sinn zu eruieren (IV, 2,9). Als Beispiel unter vielen nennt Origenes den Unsinn, daß im Schöpfungsbericht von einem ersten, zweiten und dritten Tag geredet wird, ehe Sonne und Nacht erschaffen wurden. Der Heilige Geist kann nicht irren oder eine Lehre verkünden, die Gottes unwürdig wäre. Der Schritt über den buchstäblichen Sinn hinaus entspringt also nicht irgendeiner mystischen Allegorisierungslust, sondern dem Bestreben, die Kohärenz der Schrift und somit des Buchstabens selbst zu retten46 - ein Anliegen, das Origenes mit Philo teilt, mögen auch beide durch ihre Praxis den gegenteiligen Eindruck erweckt haben. Origenes unterscheidet sich natürlich von Philo dadurch, daß seine Handhabung der Allegorie vornehmlich "typologisch" ausgerichtet ist. Das gilt zunächst für die wohl wichtigste interpretatorische Herausforderung der frühen Christenheit: die christologische Auslegung des Alten Testaments. Eingeleitet wurde sie durch die Art, durch die Christus die messianische Prophetie erfüllt haben sollte. Denn von einer Erfüllung dem Buchstaben nach konnte ja nicht die Rede sein. Gerade die Nichterfüllung des Buchstabens wurde für Origenes zum Indiz dafür, daß die Schrift spirituell zu deuten sei.47 So erschöpfte sich oft der spirituelle Sinn in der Auffindung von Korrespondenzen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, so daß es von der Sache her de facto zwei Sinnschichten der Schrift gab: den Literalsinn sowie den christologischen Sinn,48 den Origenes in einer Universalisierung des Typologischen im Alten Testament überall aufspürte. Origenes wendet aber auch die allegorisch-typologische Deutung auf das Neue Testament an, das auch sein Teil an Diskordanzen und Geheimnisvollem (man denke an die Apokalypse) enthielt. Denn auch das Neue Testament will das Vorzeichen eines Kommenden sein, nämlich der göttlichen Parusie, Ausdruck der die Fruhchristen-
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heit auszeichnenden Naherwartung eines neuen Kommens des Herrn. Ebenso wie das Alte eine Typologie des Neuen Testaments sein sollte, ist dieses wiederum als die Typologie des "ewigen Evangeliums" anzusehen, gemäß dem Wort aus der Offenbarung, das Origenes in seinem >De principiis< anführt. 49 Damit eröffnete Origenes der Christenheit den Weg in die allegorisch-symbolische Deutung des Neuen Testaments als Unterpfand eines Anderen und Höheren. Das Verdienst seiner Entdeckung verspielte Origenes aber mit seiner überzogen wirkenden These, daß alle Stellen spiritualistisch (nVE1Jf.tU1:L"ÖV) zu deuten seien. 50 Alles Schriftliche besteht aus Mysterien, rief Origenes, wobei er die Dimension des Typologischen universalisierte: Von Hause aus auf die Offenbarung des Mysteriums ausgerichtet, müsse die Schrift in all ihren Buchstaben ein Geheimnis bergen. Diese These ging der frühen Christenheit doch zu weit, zumal sich Origenes starker Anleihen bei den Heiden, nämlich bei Philo und der orphischen Mysteriensprache, schuldig machte. Seine oft genug willkürliche Überziehung des Allegorisch-Typologischen brachte seine Theologie ins Zwielicht, obwohl sie eine beispiellose Wirkung ausübte. Auf seine Theorie der drei Sinnschichten der Bibel geht letzten Endes die Lehre des vierfachen Schriftsinnes zurück, die wohl die größte Leistung der mittelalterlichen Hermeneutik darstellt. Nach dieser Lehre, deren endgültige Fassung von Johannes Cassianus (etwa 360-430/35)51 stammt, kann die Schrift einen vierfachen, von Gott gewollten Sinn aufweisen: einen literarischen (bzw. somatischen oder historischen), einen allegorischen, einen moralischen sowie einen anagogischen (der die endzeitlichen Mysterien an den Tag legen soll). Im späteren Mittelalter wurde es von Augustinus von Dakien auf den berühmten Merkvers gebracht: littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia (der wörtliche Sinn lehrt, was geschehen ist; der allegorische, was du glauben, der moralische, was du tun sollst und der anagogische, wohin du hinstrebst). Wie aus Thomas von Aquins Diskussion dieser Theorie hervorgeht,52 operierte man faktisch mit zwei Sinnmöglichkeiten, der literarischen und der spirituellen, welche ihrerseits drei Horizonte haben konnte. Der anagogische Sinn, erläutert Thomas, hat es mit der ewigen Herrlichkeit (quae sunt in aeterna gloria) und der moralische (oder tropologische) mit Handelnsanweisungen zu tun. Der allegorische Sinn drängt sich auf, wenn das mosaische Gesetz eine typologische Vorahnung des Evangeliums enthält (wo etwa Jerusalem, die heilige Stadt der Juden, die ewige Kirche versinnbildlichen soll). Die Lehre vom vier-
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Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen
fachen Schriftsinn wurde von Luther wirkungs mächtig verworfen, aber sie lebt noch in der gängigen Unterscheidung zwischen dem literalen und dem figurativen oder metaphorischen Sinn bzw. in der Spannung zwischen dem Wort und dem Auszusagenden, aus der die Notwendigkeit der Hermeneutik erwächst. Die origeneische Universalisierung des Typologischen hatte schon zu seiner Zeit die ob ihrer Willkürlichkeit und heidnischen Ursprünge getadelte Allegorese in Mißgunst gebracht. Gegen die Universalisierung des Allegorischen, die mit der »alexandrinischen Schule", da Philo und Origenes in Alexandrien wirkten, identifiziert wurde, bildete sich der Widerstand der »antiochenischen Schule", deren Hauptvertreter Diodor von Tarsos (gest. vor 394), Theodor von Mopsuestia (etwa 350-428; Theodor schrieb fünf Bücher Contra allegorieos), Johannes Chrysostomos (etwa 349-407) und Theodoret von Kyrrhos (393-etwa 466) waren. 53 Ihre Abweisung des Allegorischen oder seiner U niversalisierung brachte eine neue Beachtung des Historischen und Buchstäblichen hervor, die sich in sorgfältigen Kommentaren und Editionsarbeiten zu äußern wußte. Ihre bescheidene Wissenschaftlichkeit, die mit den spiritualistischen Höhenflügen eines Philo oder Origenes kontrastierte, läßt sie der historisch-kritischen Methode der Neuzeit sehr nahe erscheinen. So kultivierte die antiochenische Schule die Praxis der 'X.(>Lmc; im Sinne der Textkritik. Sie berief sich nicht zuletzt auf die empirisch gesinnte Methode des Arztes, aber auch Hippokrates-Exegeten Claudius Galenus (ca. 131-201). In der Renaissance wird Galen weiterhin als ein Vorfahr der wiedererweckten ars critica Anerkennung finden. 54
6. Augustin: Die Universalität des inneren Logos
Mit Augustin (354-430) treten wir erstmals in dieser Untersuchung an einen Philosophen heran, der von den Vertretern der zeitgenössischen Hermeneutik, wenngleich in einem bisher wenig beachteten Grad, stark rezipiert wurde. Das gilt ebenso von Heidegger wie von Gadamer. Der junge Heidegger, der sich der Phänomenologie der Religion widmete, bekundete sehr früh sein Interesse für Augustin. Im Sommersemester 1921 hielt er eine Vorlesung über Augustin und den Neuplatonismus 55 und noch im Jahre 1930 einen bislang ungedruckten Vortrag unter dem Titel >Augustinus: Quid est tempus? Confessiones lib. XI<. Die Bezugnahmen auf Augustin in >Sein und Zeit< sowie in den veröffentlichten Vorlesungen fallen überwiegend positiv
Augustin: Die Universalität des inneren Logos
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aus, was insofern hervorhebenswert ist, als der damalige Heidegger schon dem Programm einer kritischen Destruktion der Geschichte der abendländischen Ontologie verpflichtet war. Nach Gadamers Zeugnis begrüßte Heidegger in Augustin einen, wenn nicht den wichtigsten Eideshelfer für seine Konzeption vom Vollzugssinn der Aussage, den er gegen die metaphysisch-idealistische Tradition ausspielte. Denn auf Augustin wurde die prinzipielle Unterscheidung zwischen dem actus signatus, der prädikativen Aussage, und seinem Nachvollzug im actus exercitus zurückgeführt, einem Zauberwort, erinnert sich Gadamer, mit dem Heidegger seine damaligen Hörer in Freiburg und Marburg, und nicht zuletzt Gadamer selbst, verzaubert hat. 56 Eine tiefgreifende Augustinus-Rezeption läßt sich auch bei Gadamer nachweisen. Im Vorwort wurde bereits auf ein Gespräch verwiesen, in dem Gadamer den Universalitäts anspruch der Hermeneutik auf Augustin zurückbezog. Ihm wurde ja ein entscheidendes Kapitel im abschließenden Teil von >Wahrheit und Methode< gewidmet. Entscheidend ist nicht zuviel gesagt, denn Augustin hatte es dort Gadamer erlaubt, über die Sprachvergessenheit der griechischen Ontologie hinauszugelangen, welche sich durch ein nominalistisch-technisches Sprachverständnis charakterisierte. An Augustin konnte Gadamer zeigen - und dessen immense Bedeutung geht daraus hervor -, daß diese Sprachvergessenheit in der Tradition keine vollständige gewesen istY Allein der augustinische Gedanke vom verbum wäre in der Tradition dem Sein der Sprache gerecht geworden. In dem Verständnis des Wortes als prozessualer Inkarnation eines Geistigen, das aber im Wort voll gegenwärtig ist und dennoch auf ein Anderes verweist, zeichnet sich die Universalität des hermeneutischen Zugehens auf die Sprache ab. Soweit wir sehen, wurden Heidegger als auch Gadamer vornehmlich durch die >Konfessionen< und den >De trinitate< spekulativ angeregt. Es trifft sich aber, daß Augustin auch der Autor eines hermeneutischen Traktates, >De doctrina christiana<, gewesen ist, von dem G. Ebeling nicht zu Unrecht behautet hat, es sei "das geschichtlich wirksamste Werk der Hermeneutik"58 gewesen. Daß Heidegger auch viel von ihm hielt, wird gleich durch den leider skizzenhaften Umriß der Hermeneutikgeschichte sichtbar, den er zu Beginn seiner Vorlesung vom Sommersemester 1923 über die Hermeneutik der Faktizität zeichnet. Dort trägt er mit Enthusiasmus den Anfang des 3. Buches aus der >Doctrina christiana< sowohl lateinisch als auch deutsch vor: "Augustinus gibt die erste ,Hermeneutik' großen Stils: [es folgt der
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Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen
lateinische Text, wir geben nur die dt. Übersetzung wieder:] ,In welcher Ausstattung der Mensch an die Auslegung nichtdurchsichtiger Stellen der Schrift herantreten soll: in der Furcht Gottes, in der alleinigen Sorge, in der Schrift Gottes Willen zu suchen; durchgebildet in der Frömmigkeit, auf daß er nicht Gefallen habe an Wortzänkereien; ausgerüstet mit Sprachkenntnis, daß er nicht an unbekannten Worten und Redeweisen hängen bleibe; versehen mit der Kenntnis gewisser natürlicher Gegenstände und Begebenheiten, die zur Illustration beigezogen sind, damit er nicht ihre Beweiskraft verkenne, unterstützt durch den Wahrheitsgehalt ... "'59 Heidegger hebt deutlich diese Hermeneutik "großen Stils" von der nachherigen, seiner Ansicht nach formaleren Hermeneutik eines Schleiermacher ab: "Schleiermacher hat dann die umfassend und lebendig gesehene Idee der Hermeneutik (v gl. Augustin!) eingeschränkt auf eine ,Kunst (Kunstlehre) des Verstehens' ... "60 Inwiefern ist es angebracht, in Augustin "die umfassend und lebendig gesehene Idee der Hermeneutik" zu erkennen? Heidegger ist sicherlich beeindruckt worden von dem unmißverständlichen Zusammenhang, den Augustin im angeführten Proemium zwischen dem zu Verstehenden und der sich um die alleinige Sorge, die lebendige Wahrheit zu suchen, eifernden Haltung des Verstehenden aufstellt. Diese Verbindung verleiht der augustinischen Hermeneutik einen unverkennbar "existentiellen" Zug, der sich in all seinen Schriften wiederfindet und ihm seit langem den Ruf eines Protoexistentialisten eingebracht hat. Das Verstehenwollen der Schrift ist kein indifferenter, rein epistemischer Prozeß, der sich zwischen einem Subjekt und einem Objekt abspielt, es zeugt von der grundlegenden Beunruhigung und Seinsweise eines nach Sinn strebenden Daseins. Ferner auffallend an dem Text des Augustinus ist insbesondere für unsere Belange, daß er seine hermeneutische Untersuchung auf das Problem der "dunklen Stellen" (ad ambigua Scriptuarum) einschränkt. Denn Augustin geht von der prinzipiellen Klarheit der Schrift, die selbst den Kleinen zugänglich ist,61 aus. Merklich setzt er sich dadurch von einem Origenes ab, dem in der Schrift alles allegorisch sein konnte. Bei Augustin ist eine ausdrückliche hermeneutische Meditation erst da vonnöten, wo das Verständnis von dunklen Stellen Schwierigkeiten aufwirft. In >De doctrina christiana< (vor allem dessen 3. Buch) wird es nur darum gehen, Anweisungen (praeceptae) zu vermitteln, um mit dem Problem der obskuren Stellen fertigzuwerden. Diese Anweisungen, anhand deren sich zeigen ließe, daß Augustin nicht nur der Vater der existentialistischen, sondern in nuce auch
Augustin: Die Universalität des inneren Logos
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der regelgeleiteten Hermeneutik ist, können uns nicht in extenso beschäftigen. Ein kleines Aper~u muß hier genügen. Augustin ruft zunächst ins Gedächtnis, daß jede Wissenschaft drei Fundamente hat: den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. 62 Dem ist zu entnehmen, daß bei aller Regelbefolgung das Licht, das nötig ist, um in die dunklen Passagen der Schrift einzudringen, doch von Gott kommen muß. Alles kommt also auf die spirituelle Disposition des Interpreten, vornehmlich auf die caritas an. Wer mit Liebe und Vorsicht an die Schrift herantreten will, wird zuallererst alle kanonischen Bücher durchlesen, damit er wenigstens eine Kenntnis von ihnen erlangt, auch wenn er nicht alles versteht. 63 Auf diesem Weg wird er sich mit der Sprache der Schrift vertraut machen und wird so in den Stand gesetzt, die dunklen Stellen mit Hilfe der klaren zu beleuchten. Damit werden die Grundlagen einer immanenten Deutung der Schrift aus ihr selbst (sofa scriptura avant fa fettre) gelegt. Die Schrift will nämlich allgemeinverständlich sein. Augustin empfiehlt ferner, die Kenntnis der hebräischen und griechischen Sprache zu pflegen. Er unterstreicht auch den Nutzen, den man aus der Vielfalt der Interpretation64 und Übersetzungen für die Penetration dunkler Stellen ziehen kann. Ein historisch-kritisches Element wird auch in seine Hermeneutik eingebaut: Der kritische Christ wird stets einen gottgemäßen Sinn suchen und die abergläubischen Fabeln der Schrift nicht wortwörtlich auffassen. Der historische Kontext ist auch in Rechnung zu stellen, insbesondere im Umgang mit dem Alten Testament. Man wird etwa dafür Verständnis aufbringen, daß es Zeiten gab, wo ein Mann mit vielen Frauen keusch leben konnte (wie das Verhältnis von Abraham und Sara, das bereits Paulus zu einer allegorischen Deutung getrieben hatte), während heute einer mit einer einzigen Frau ein recht zügelloses Leben führen kann. 65 Die ganze Ambiguität der Schrift, die seine noch namenlose Hermeneutik auf den Plan ruft, liegt nach Augustin in der Verwechslung des eigentlichen und des übertragenen Sinnes. 66 Hier soll auch, außer der Caritasregel, die Augustin überall und systematisch heraufbeschwört, die allgemeine Regel helfen, daß dunkle Stellen womöglich durch klare Parallelstellen zu erhellen sind. Man soll auch nicht buchstäblich nehmen, was metaphorisch gemeint war. Um die Metaphern der Schrift auf ihren Geist hin zu durchleuchten, empfiehlt Augustin, die Kenntnis der Rhetorik zu erwerben, um die verschiedenen "Tropen" oder Redewendungen (von der Ironie bis zur Katachrese) zu beherrschen. 67 Augustin verzichtet aber willentlich auf eine ausschöpfende Darlegung der Redewendungen, die so weitgestreut sind,
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daß keine Intelligenz sie alle fassen kann. So schließt Augustin das dritte Buch (eine kleine, dreißig Jahre dauernde Unterbrechung erfolgte mitten im 3. Buch) seines Traktates mit einem Aufruf zum Gebet, denn von Gott her soll der Geist des Buchstaben aufleuchten. Damit endet, so führt der letzte Absatz aus, was wir zu sagen hatten über das Verhältnis der Zeichen zum Wort oder zum Denken (de signis, quantum ad verba pertinent).68 Der Schluß des dritten Buches evoziert ein Verhältnis von Zeichen (signum) und Verbum, das man von Augustins >De trinitate< her ergänzen muß, zumal sich Gadamers Sprachhermeneutik nachdrücklich auf diese Lehre bezieht. Die Ansetzung dieses Verhältnisses ist im Kontext dieser Schrift freilich auf ein theologisches Problem gemünzt: Wie läßt sich Gottes Sohn derart als Verbum oder Logos denken, ohne das Verbum als einfache sinnliche Veräußerung Gottes aufzufassen, die einen trinitarischen Subordinationismus zur Folge hätte? Augustin rekurriert dafür im 15. und letzten Buch des >De trinitate< auf die stoische Unterscheidung zwischen einem inneren (evöuifrno<;) und einem äußeren (J'tQocpoQL%6<;) Logos oder Verbum. Das ursprüngliche Sprechen oder Denken ist ein inneres, die Sprache des Herzens,69 sagt Augustin. Dieses innere Sprechen hat noch keine sinnliche oder materielle Form, es ist rein intellektuell oder universal, d. h. hier: Es hat noch nicht die Gestalt einer besonderen, sinnlichen oder historischen Sprache angenommen. Wenn wir etwaein menschliches Wort in einer besonderen Sprache hören, ist es klar, daß wir nicht seine besondere, zufällige Gestalt zu verstehen suchen, sondern das Verbum oder die Vernunft, die sich in ihm verkörpert - auf unvollkommene Weise freilich, wie jede Inkarnation eines Geistigen bei uns Menschen. So gilt es, die sinnliche, geäußerte Sprache zu transzendieren, um zum wahrhaften menschlichen Verbum zu gelangen (sed transeunda sunt haec, ut ad illud perveniatur hominis verbum).?o Was man zu erreichen strebt, ist das Verbum, das sich in keinem Ton propherieren läßt, das nichtsdestoweniger jedem Sprechen innewohnt und allen Zeichen, in die es "übersetzt" werden kann, vorausgeht. Wenn dieses intime Wort (verbum intimum) der Seele oder des Herzens die sinnliche Gestalt einer konkreten Sprache annimmt, wird es nicht ausgesagt, wie es ist, sondern, wie es gerade durch unseren Körper gesehen werden kann (nam quando per sonum dicitur, vel per aliquod corporale signum, non dicitur sicut est, sed sicut potest videri audirive per corpus).?! Der theologische Gewinn, den Augustin aus dieser Lehre ziehen kann, ist erheblich. Auch bei Christus, dem Verbum Gottes, gilt
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per analogiam diese Unterscheidung. Das göttliche Verbum, das zu einer bestimmten Zeit in die geschichtliche Welt gekommen ist, ist nicht zu verwechseln mit dem Verbum, das bei Gott ewig ist. Diese Differenz erlaubt es Augustin, sowohl den Unterschied als auch die Gleichheit des geschichtlich offenbarten Verbum mit Gott zu denken. So wie dem menschlichen Aussprechen ein inneres Wort vorausgeht, so präexistierte bei Gott vor der Schöpfung und der irdischen Erscheinung Christi ein Verbum, das die Tradition als die sapientia oder die Selbstkenntnis Gottes verstandJ2 Auch für dieses Verbum gilt, daß es zu einer bestimmten Zeit eine sinnliche Gestalt annahm, um sich den Menschen mitzuteilen. Ebenso wie unsere Sprache keine exakte Kopie unserer inneren Gedanken vermittelt, muß auch für Gott zutreffen, daß das sinnlich erschienene Verbum seinem äußeren und kontingenten Gehalt nach von Gottes Verbum, wie es an sich ist, zu trennen ist. Dennoch - und das gibt es nur bei Gott - war diese Manifestation mit Gottes sapientia wesensgleich, so daß Gott in der Veräußerung seines Wortes voll gegenwärtig sein konnte. Diese Wesensgleichheit zwischen Denken und konkretem Wort gelingt bei uns Menschen so gut wie nie, worin Augustin die Grenze seiner Analogie mit dem menschlichen Wort markiert. Denn das Verbum Gottes meint die vollkommene Selbstkenntnis Gottes. Das menschliche Verbum verfügt nicht über einen vergleichbaren Selbstbesitz. Nur selten ist unser Verbum der Reflex einer sicheren Kenntnis. Entspringt unser Verbum, fragt Augustin, nur aus dem, was wir allein aus unserer Wissenschaft wissen?73 Ist es nicht vielmehr so, daß wir vieles sagen, ohne letzte Klarheit über das dabei verwendete Wissen zu besitzen? Im Gegensatz zu Gottes Verbum ist unserem Verbum keine letzthinnige Selbstevidenz beschieden. Das liegt daran, daß unser Sein nicht in reine und wahre Selbstkenntnis aufgeht (quia non hoc est nobis esse, quod est nosse). Unser Verbum schöpft immer aus einem impliziten Wissen, einem «je ne sais quoi» (quiddam mentis nostrae),74 um seinen Gedanken zum Ausdruck zu verhelfen. Dieses «je ne sais quoi» ist nichts fest Geformtes, da es keiner klaren Vision entspringt, sondern ein unendlich Formierbares (hoc formabile nondumque formatum). Augustin hebt hier insbesondere auf den Gegensatz zur göttlichen Selbstgegenwart, von der das Verbum des Sohnes zeugt, ab. Wir können uns aber nur für die hermeneutischen Konsequenzen dieser Einsicht interessieren, wie sie teilweise in die heutige Hermeneutik Eingang gefunden haben. Gadamer entnahm ihr zunächst eine
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Erinnerung daran, daß das Wort, das man zu verstehen sucht, nicht das bloß Ertönte meint, sondern das von diesem Zeichen Bezeichnete, somit das Gemeinte oder das Gedachte, schließlich das Wort der Vernunft selbst in seiner Universalität.75 Was bedeutet aber dieses innere Wort für das gegenwärtige Philosophieren? Ist eine mentale Vorstellung gemeint, worin ein Rückfall in Mentalismus, Psychologismus u. dgl. drohen würde? Mit Gadamer müssen wir also "die Sache befragen, was dieses ,innere Wort' sein soll".7 6 Auszugehen ist von Augustins Bemerkung, daß das Zeichenhafte, vermöge dessen wir etwas, unseren "Geist" auszudrücken streben, etwas Kontingentes oder Materielles an sich hat. Es bringt immer nur einen Aspekt des Auszusagenden, nicht den ganzen Sachverhalt zum Vorschein. Die Lehre vom verbum cordis warnt uns davor, dies sprachliche Zeichen für ein Letztes hinzunehmen. Es stellt stets nur eine unvollkommene Übersetzung (interpretatio) dar, die auf ein Weitersprechen angewiesen bleibt, will man die ganze Sache in den Blick zu bekommen versuchen: "Das innere Wort ist also gewiß nicht auf eine bestimmte Sprache bezogen, und es hat überhaupt nicht den Charakter eines Vorschwebens von Worten, die aus dem Gedächtnis hervorkommen, sondern es ist der bis zu Ende gedachte Sachverhalt (forma excogitata). Insofern es sich um ein Zuendedenken handelt, ist auch ihm ein prozessuales Moment anzuerkennen. "77 Dieses prozessuale Element ist das der Wort- und der ihr entsprechenden Verständnis suche. Jede Aussage bildet nur einen Ausschnitt aus dem Dialog, aus dem Sprache lebt. Der "zu Ende gedachte Sachverhalt", der actus exercitus oder der Nachvollzug des Sprechens, der sich nicht auf den handgreiflichen actus signatus der wirklich geäußerten Rede einsperren läßt, lebt nur in diesem Verständnis heischenden Dialog. Von Augustin hat Gadamer gelernt, daß der Sinn, den Sprache vermittelt, "nicht ein abstrahierbarer logischer Sinn der Aussage ist, sondern die Verflechtung, die in ihm geschieht"78 meint. Die Fixierung des abendländischen Denkens auf die Aussage bedeutet somit eine Verkürzung der Sprache um ihre entscheidende Dimension, d.h. um die Einbettung einer jeden Rede in einen Dialog. Die logistische Konzentrierung auf das Ausgesagte abstrahiert vom unabdingbaren Antwortcharakter des Wortes,79 von seiner Angewiesenheit auf ein Früheres, nämlich eine Frage. In dieser Dialektik von Frage und Antwort liegt die wahre Universalität der Sprache, von der der Universalitätsanspruch der sie ins Denken hebenden Hermeneutik zehrt. Sie wurde unmißverständlich, wenngleich wenig verstanden von Gadam.er in der Abhandlung, die gerade >Die Universalität des
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hermeneutischen Phänomens< (1966) betitelt ist, als das» hermeneutische Urphänomen" begriffen, "daß es keine mögliche Aussage gibt, die nicht als Antwort auf eine Frage verstanden werden kann, und daß sie nur so verstanden werden kann" . 80 Diese dialogische Sicht ist ein Echo auf die augustinische Lehre vom verbum cordis, vermittels deren Gadamer die abendländische Sprachvergessenheit, nämlich die Fixierung auf den reinen Denkprozeß unter Abstrahierung seines sprachlichen Vollzuges, überwinden will. Die Wahrheit der Aussage liegt nicht in ihr selbst, in den im jeweiligen Augenblick gewählten Zeichen, sondern im Ganzen, das sie aufschließt: "Man darf das Wort nicht nur als auf eine bestimmte Bedeutung hinzielendes Zeichen nehmen, sondern man muß zugleich all das mit vernehmen, was es mitträgt. "81 Schon in seinem bahnbrechenden Aufsatz von 1957, >Was ist Wahrheit?<, hatte Gadamer den Wahrheits anspruch der Sprache vom Boden der Aussage befreien wollen: "Es gibt keine Aussage, die man allein auf den Inhalt hin, den sie vorlegt, auffassen kann, wenn man sie in ihrer Wahrheit erfassen will. Jede Aussage ist motiviert. Jede Aussage hat Voraussetzungen, die sie nicht aussagt."82 Daraus zeichnet sich ab, daß die Universalität der Sprache nicht die der gesprochenen Sprache sein kann, sondern die des "inneren Wortes", wie man sich mit Augustin, ungeschickt selbstverständlich, ausdrücken mag. Dies impliziert alles andere als eine Vernachlässigung der konkreten Sprache. Es gilt nur, diese Sprache in ihren rechten hermeneutischen Horizont zu rücken. Ein Wort des "Geistes" können wir nicht vernehmen, sehr wohl aber anvisieren, wenn wir Sprachliches zu verstehen haben. Die Pointe von Gadamers Augustin-Interpretation in >Wahrheit und Methode< ist die, daß sich dieses Jenseits der gegebenen Aussage wiederum nur sprachlich suchen und denken läßt, auch wenn es sich nie ausschöpfen läßt. Es weist nämlich nicht auf eine rein noetische Sphäre des Denkens, wo das Denken endlich von den Schranken der Sprache befreit wäre. Es gibt für uns Menschen kein Denken ohne dieses Element der Sprachlichkeit. Denken heißt Wortesuchen für das zu Sagende. Die Erfahrung der Grenzen der Sprache, besser: der Aussage setzt nach >Wahrheit und Methode< das Element der Sprachlichkeit voraus. Eine Aussage ist nur begrenzt im Lichte all dessen, was auszusagen wäre. Sie bleibt also auf weitere Worte angewiesen, aber gerade wegen ihrer Grenzen. In ihrer Anlehnung an Augustin betont also die Hermeneutik zwei Aspekte, die widersprüchlich erscheinen können, die sich aber in der Sache ergänzen: Erstens geht es um die Identität zwischen dem Den-
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ken und seiner sprachlichen Erscheinungsform, da es für uns kein denkbares Denken ohne das Element der Sprachlichkeit geben kann. Zweitens muß man sich jedoch davor hüten, in der jeweils geäußerten Sprache, in den Aussagen des logos prophorikos, die volle und restlose Manifestation des Denkens (des logos endiathetos) festzunageln, d.h. den vollen Ausdruck all dessen zu erblicken, was gesagt werden müßte, um angemessen verstanden zu werden. Wenn ich recht sehe, hat Hans-Georg Gadamer in >Wahrheit und Methode< eher den ersten Punkt, nämlich die essentielle Sprachlichkeit allen Denkens betont, als er etwa die "Universalität der Hermeneutik" darin sah, daß "Sprache alle Einreden gegen ihre Zuständigkeit" überholen und damit "mit der Universalität der Vernunft Schritt" halten könne. 83 In seinen letzten Arbeiten indes war es eher die Unaussagbarkeit des inneren Wortes, die er unmißverständlich ins Zentrum rückte. So widmete er viele Aufsätze der Erfahrung der "Grenzen der Sprache" (so der Titel eines Aufsatzes aus dem Jahre 1985), die ihn in einem Text von 1993 endlich dazu brachte, den "oberste[n] Grundsatz der philosophischen Hermeneutik" darin zu erblicken, "daß wir nie ganz sagen können, was wir sagen möchten" .84 Darin darf man gewiß eine Akzentverschiebung, wenn nicht eine Entwicklung bei Gadamer sehen, aber es ist wichtiger zu sehen, daß beide Aspekte der hermeneutischen Universalität zusammengehören, nämlich die Sprachangewiesenheit des menschlichen Denkens und die Einsicht in die Grenzen einer jeden sprachlichen Aussage. Es ist aber Augustin, der es erlaubt, diese Solidarität zu fassen, weil er anhand der Fleischwerdung Gottes beides zu denken versuchte, nämlich die Wesensgleichheit, aber auch die Differenz zwischen Gott und seiner irdischen Manifestation. 85 Die Universalität der Hermeneutik wird gar nicht tangiert, wenn man, etwa mit J. Habermas, auf vorsprachliche Erfahrung oder Grenzen der Sprache verweist. Ja, die Hermeneutik ist geradezu ein Zuendedenken der Grenzen der Sprache. Denn "das Versagen der Sprache bezeugt ihr Vermögen, für alles Ausdruck zu suchen" .86 Eine von Augustin herkommende Hermeneutik braucht nicht über die Grenzen der ausgesprochenen Sprache belehrt zu werden. Die Universalität, die sie meint, ist die der Verstehenssuche, des Versuchs oder des Vermögens, für alles Ausdrücke zu finden. Es ist ja Gadamers Hauptthese, daß die Aussage prinzipiell Grenzen hat, die von unserer geschichtlichen Endlichkeit und unserer Angewiesenheit auf die Dichte einer schon bestehenden, aber offenen Sprache herrühren. "Wir sehen
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an den Beispielen, welche prinzipielle Grenze eine Aussage hat. Sie kann nie alles sagen, was zu sagen ist. ( ... ) Plato hat das Denken das innere Gespräch der Seele mit sich selbst genannt. Hier wird die Struktur der Sache ganz offenkundig. Es heißt Gespräch, weil es Frage und Antwort ist, weil man sich so fragt, wie man einen anderen fragt und sich so sagt, wie einem ein anderer etwas sagt. Schon Augustin hat auf diese Redeweise hingewiesen. Jeder ist gleichsam ein Gespräch mit sich selber. Auch wenn er im Gespräch mit anderen ist, muß er im Gespräch mit sich selbst bleiben, soweit er denkt. Die Sprache vollzieht sich also nicht in Aussagen, sondern als Gespräch, als die Einheit von Sinn, die sich aus Wort und Antwort aufbaut. Erst darin gewinnt Sprache ihre volle Rundheit. "87 Mit dieser augustinisch-gadamerischen Einsicht in die Universalität des inneren Logos können wir unseren kurzen Überblick über die vorreformatorische Geschichte der Hermeneutik beschließen. Vom Höhepunkt dieser Universalität können wir uns gewiß Ebelings Urteil über das restliche Mittelalter nur anschließen: "In hermeneutischer Hinsicht sind auf die Dauer von ca. einem Jahrtausend nach Augustin keine grundlegend neuen Fragestellungen und Gesichtspunkte aufgekommen. "88 Es wäre jedoch sicherlich ungerecht, das übliche abschätzende Urteil über das "dunkle" Millennium des Mittelalters neu aufzulegen.8 9 Um diesem gängigen, der Unkenntnis entstammenden Vorurteil zu entgehen, tut man gut daran, das exzellente, leidenschaftliche vierbändige Werk von Henri de Lubac zur mittelalterlichern Hermeneutik sowie Brinkmanns Gesamtdarstellung zu Rate zu ziehen. 90 7. Luther: sofa scriptura?
Vermutlich gibt es mehr Sekundärliteratur über Luthers "Hermeneutik" als zu irgendeinem anderen Klassiker der Hermeneutik. Das liegt mit Sicherheit an der gewaltigen geistes- und kirchengeschichtlichen Bedeutung Luthers, möglicherweise aber auch an dem Umstand, daß die Tradition der Hermeneutik vor allem im Protestantismus gepflegt wurde, von Flacius bis hin zu Schleiermacher, Dilthey, Bultmann, Ebeling und vielleicht auch Gadamer. 91 Für den ersten Historiker der Hermeneutik, Dilthey, stand fest, daß die hermeneutische Wissenschaft erst mit dem Protestantismus anhob. 92 Gewiß hat die reformatorische Tat Luthers die Prämissen einer hermeneutischen Revolution gesät, aber man muß sich nüchtern fragen, ob Luther selber wirklich eine hermeneutische Theorie entwickelt hat. Seine "Her-
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meneutik" geht vollends in seiner Schriftauslegung auf. Als Professor hielt er nur exegetische Vorlesungen, was für die damalige Zeit etwas Neues bedeutete. 93 Auf die Schrift und ihr Wort derart konzentriert, war Luther bekanntlich der Philosophie oder der Theoretisierung abhold, die er mit leerer Scholastik gleichzusetzen geneigt war. Seine hermeneutische Konzeption muß sich allein aus der Methode seiner Schriftexegese heraus deduzieren lassen. 94 Zweifellos nahm dabei Luther seinen Ausgang vom reformatorischen Prinzip der "sola scriptura", das er gegen die Tradition und das kirchliche Lehramt abhob. Die Neuaufstellung dieses Prinzips stellte sicherlich einen Affront für die damalige, textvergessene Kirche dar. In rein hermeneutischer Hinsicht jedoch war es aber nichts Unbekanntes. Für die Patristik etwa stand der Primat der Schrift fest. Bei Augustin konnten wir sehen, daß stets von der scriptura auszugehen sei. So seien alle dunklen Stellen mit Parallelstellen aus der Schrift zu erklären. Zu Beginn seiner >Doctrina christiana< riet er dem Leser, zuallererst die ganze Schrift durchzulesen und sich dabei auf das erhellende Licht des Geistes zu verlassen. Im Gegensatz zur allegorisierenden Tendenz der Alexandriner ging er ferner von der prinzipiellen Verständlichkeit der Schrift aus. Daß die Kirche zu Luthers Zeiten diese Selbstverständlichkeit aus dem Auge verloren hatte, stimmt vollkommen, ist aber in rein hermeneutischer Sicht weniger von Belang, ging es doch in der Reformation nur um die Rückeroberung einer verlorengegangenen Evidenz. Die sola scriptura sowie die grundsätzliche Klarheit der Schrift waren schon hermeneutische Pfeiler der Patristik, die Luther ja nicht geringschätzte. Seine Ablehnung der Allegorese und des vierfachen Schriftsinnes bedeuteten in dieser Hinsicht eine provokatorische Erneuerung patristischer Gesinnung. Positiv signalisierte die Verwerfung der Allegorese, die der junge Luther noch praktiziert hatte, eine entschiedene Hinwendung zum sensus literalis. 95 Luthers Grundintuition war hier, daß der recht verstandene Literalsinn von sich aus eine geistige Bedeutung enthielt. Aus dem richtigen Verständnis des Wörtlichen heraus erwächst der Geist der Schrift. Der Geist ist nicht ein spiritualistisch verflüssigtes Jenseits des Wortes, er begegnet im glaubenden Vollzug des Wortes. Toter Buchstabe bleibt das Wort, wenn es nicht im Vollzug, im Absehen auf den geistigen Wandel, den er anzeichnet, erfahren wird - eine Konzeption, die an Augustins Lehre vom verbum gemahnen muß. Luthers bekanntes Diktum, nach dem die Schrift sui ipsius interpres, ihr eigener Schlüssel sei, besagt eben dies, daß das Wort als Selbstangebot Gottes auf einen Vollzug wartet, der im glaubenden Schrift-
Luther: sola scriptura?
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verständnis zu erfolgen hat. Anders gewendet: Ein Wort der scriptura ist stets auf eine Deutung aus, die nur der Nachvollzug des Verbum selbst leisten kann, indem es das befreiende Ganze der Bedeutung, die es durch Gnade ausdrücken will, mitschwingen läßt. Das Wort, recht wahrgenommen, d. h. gemäß seiner inneren Tendenz, ist schon Geist. Die Hinwendung zum Wort erfüllt alles, was die Schrift zu offenbaren hat. Dies ist die Form des hermeneutischen Universalismus für Luther. Das Prinzip der sola scriptura, die ihr eigener interpres sei, die ihm zugrundeliegende Lehre vom Verbum sowie der Vorgriff der fundamentalen Verständlichkeit der scriptura sind keine Entdeckungen Luthers. Es fragt sich aber, ob sie für die Konstitution einer strengen Auslegungstheorie ausreichen können. Denn mit ihnen ist es nicht getan, wenn es um das heikle Dilemma der dunklen Stellen (ambigua) der Schrift geht. Nur ihretwegen hatte Augustin seine hermeneutischen Anweisungen in seiner >Doctrina christiana< ausgearbeitet. Die Schrift ist im Prinzip klar und verständlich, aber eben nicht immer. Dafür hatte sich die offizielle Kirche auf die Autorität der Tradition und des Lehramtes gestützt. Wie wurde der Protestantismus mit diesem Problem fertig? Die protestantische Berufung auf die Eingebung des Heiligen Geistes oder eine Schrift, die überall und eindeutig sui ipsius interpres sei, wirkte sehr unbefriedigend und z. T. naiv, schien sie doch der Willkür gegensätzlicher Deutungen keinerlei Einhalt gebieten zu können. Dem gegenreformatorischen Konzil von Trient (1546) wurde es ein leichtes, die hermeneutische Unzulänglichkeit der Schrift und die Notwendigkeit eines Rekurses auf die Tradition zu bekräftigen. Als schlagendes Argument wurde ins Feld geführt, daß es künstlerisch sei, einen Gegensatz zwischen der Schrift und der Tradition aufzurichten, wo sie doch beide aus demselben Heiligen Geist aufsprießen. Der Katholizismus konnte ferner aus den erheblichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Protestantismus selbst Kapital schlagen, um das Prinzip einer Schrift, deren Sinn allenthalben klar und eindeutig sein sollte, ad absurdum zu führen. Für die dunklen Stellen sei also das Zeugnis der Tradition und der Väter, deren Griechisch- und Hebräischkenntnisse doch viel besser als die eines Luthers gewesen sein sollten, weiterhin unentbehrlich. Die gegenreformatorische Bewegung machte damit auf den wunden Punkt der frühprotestantischen Hermeneutik, genauer: auf das Fehlen einer solchen überhaupt aufmerksam. Die Entfaltung einer expliziten Hermeneutik wurde so zu einem der dringendsten Desiderata des Protestantismus. Die dramatische Vakanz einer solchen bei
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Luther führte bald zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Hermeneutik der Heiligen Schrift.
8. Melanchthon: Die Universalität des Rhetorischen Philipp Melanchthon (1497-1560) kommt bei der Ausarbeitung der frühprotestantischen Hermeneutik eine zentrale Funktion zu. Geschult in der humanistischen Rhetoriktradition während seiner Heidelberger und Tübinger Studienzeit, also vor seiner Begegnung mit Luther, entwickelte er von früh an einen Sinn für die Bedeutung der artes liberales. Er verteidigte auch ihre Unentbehrlichkeit in seiner Wittenberger Antrittsvorlesung (1519) in Anwesenheit von Luther (De corrigendis adolescentiae studiis). Der Verfall biblischer Studien, führt er dort aus, hängt auch mit einem Verfall liberaler Studien zusammen. Es sei nicht nur so, daß die scholastischen Künste (die Luther zu verwerfen gesonnen war) den Intellekt schärfen helfen und damit bei der Häresiebekämpfung eine wichtige Rolle spielen können, die Heiligen Bücher selbst seien nach den Maßstäben der Rhetorik verfaßt. 96 Rhetorik wird sich also bei der Deutung der Schrift als unabdingbar erweisen. Diese hermeneutische Akzentuierung tritt bereits in der Zwecksetzung von Melanchthons eigenen Lehrbüchern der Rhetorik (von der es drei verschiedene Versionen gab: die von 1519,1521 und 1531) sehr klar zutage: Die rhetorischen Lehren sollen "junge Leute weniger zur eigenen korrekten Ausdrucksweise als vielmehr zum klugen Verständnis von Texten anderer anleiten (non tam ad recte dicendum, quam ad prudenter intelligenda aliena scripta)" .97 Rhetorik wird vermittelt, "um junge Leute bei der Lektüre guter Autoren zu unterstützen (ut adolescentes adiuvent in bonis autoris legendis), die sie ansonsten nicht wirklich verstehen könnten".98 Damit erfolgt eine Wendung der Rhetorik von der (aktiven) Erzeugung überzeugender Reden zur (passiven) Lektüre oder Deutung von Texten. Die ars bene dicendi wird zur ars bene legendi: "Die Beschäftigung mit der rhetorischen Theorie dient nicht dazu, Beredsamkeit zu erzeugen, sondern für die auszubildende Jugend ein methodisches Rüstzeug bereitzustellen, um elaborierte Texte kompetent zu beurteilen. "99 Wie bereits Dilthey feststellte, war diese Rhetorik "gewissermaßen auf dem Weg zur Hermeneutik" .1 00 In einer wichtigen Studie von 1976 über "Rhetorik und Hermeneutik" hat H.-G. Gadamer auch Melanchthon an den Beginn der neuzeitlichen Hermeneutikgeschichte gestellt. 101 Die "Umwendung
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der rhetorischen Tradition auf das Lesen klassischer Texte" 102 hat er dort damit erklärt, daß die Redekunst "seit dem Ende der römischen Republik ihre politische Zentralstellung verloren" hatte. Melanchthons humanistisch geprägte Erneuerung der Rhetorik kam auch "mit zwei folgenschweren Dingen zusammen, der Erfindung der Buchdruckerkunst und, im Gefolge der Reformation, der gewaltigen Ausbreitung des Lesens und Schreibens, die mit der Lehre von dem allgemeinen Priestertum verknüpft war" .103 Dem hergebrachten Trivium von Grammatik, Dialektik und Rhetorik gemäß entfaltet sich Melanchthons Rhetorik in enger Wechselwirkung mit der Dialektik, die als die Kunst der richtigen Beweisführung galt. War für Melanchthon die Rhetorik ursprünglich Teil der Dialektik, errang sie immer mehr Selbständigkeit104 : Während die Dialektik die Sachverhalte sozusagen nackt vorstelle, füge die Rhetorik mit der sprachlichen Gestaltung das Gewand hinzu. lOS Da sich aber Sachverhalte nur sprachlich ausdrücken lassen, kann von einer zunehmenden Verschmelzung rhetorischer und dialektischer Gesichtspunkte bei Melanchthon die Rede sein. Die Anwendung der Rhetorik auf das Lesen von Texten zeigt sich zum ersten Male in Melanchthons Behandlung der Exegese (de enarratio genere) und des Kommentars (de commentandi ratione) in seiner >Rhetorica< von 1519. 106 Dort erhebt sich Melanchthon gegen die allegorisierende Deutungsmethode zugunsten des sensus litteralis. Es sei verfehlt, Geschichten, die uns moralisch anstößig erscheinen, allegorisch wegzu~rklären. Die Bibel wollte gerade das menschlich Anstößige schildern, um uns an die Sündenhaftigkeit und Eitelkeit unserer Natur zu erinnern. Melanchthon legt in diesem Sinne die Geschichte vom Opfer Isaaks durch seinen Vater Abraham aus. Diese Geschichte sei gar nicht gemein (ignobilis). Aus Abrahams Gehorsam Gott gegenüber könnten wir vielmehr moralische Lehren ziehen (die Läuterung der Affekte des Fleisches und ihre notwendige Vernichtung). Gegen die Lehre vom vierfachen Schriftsinn macht Melanchthon geltend, daß ein Text ungewiß wird, wenn man ihm einen derart vielfachen Inhalt zuschreibt. l07 Diese künstliche Teilung zeuge von einem Mangel an rhetorischer Bildung. Melanchthon hebt insbesondere auf die seiner Ansicht nach verfehlte Auffassung des "tropisehen" Sinnes ab. Unter Tropologie werde irrigerweise eine Übertragung auf die Moral verstanden. Der Begriff tropologia bedeute ursprünglich keine Beschäftigung mit Moral, sondern etwas Rhetorisches, nämlich figurativ Ausgedrücktes. los An Melanchthons hermeneutischer Praxis fällt indessen auf, wie
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sehr ihm doch an einer moralischen Ausdeutung des sensus litteralis liegt. In der Hl. Schrift sieht er überall einen Unterricht über die heils notwendigen loci communes, die in seiner Theologie überhaupt eine hervorragende Rolle spielen und denen er 1521 ein eigenständiges Werk gewidmet hat. Loci communes ("Gemeinplätze") sind universalgültige Lehren über die Hauptanliegen des Menschen (Tugend, Sünde, Gnade usw.). Didaktischer Zweck der Hl. Schrift ist es demnach, Beispiele (exempla) von loci communes für unsere Erbauung vorzuführen. Die loci fungieren damit als hermeneutischer Schlüssel der Bibel. Melanchthon übernimmt dabei die hermeneutische ScopusRegel der Aristoteles-Kommentatoren, insbesondere des Simplicius,109 indem er besonderen Wert auf den scopus der Hl. Schrift legt: Jede einzelne Stelle muß hermeneutisch auf die Hauptabsicht der Bibel zurückgeführt werden, die im Grunde in der Vermittlung der loci über Gesetz, Sünde und Gnade besteht. 110 Es fällt dabei auf, daß die Lutherische Rechtfertigungslehre den interpretatorischen Rahmen der Scopuslehre abgibt. Ob dabei ein theologisches Vorurteil das Schriftverständnis nicht zirkulär vorherbestimmt und damit die schlechthinnige Geltung des Sola-scriptura-Prinzips in Frage stellt, wie von katholischer Seite vorgeworfen werden wird, wird von Melanchthon nicht eigens bedacht. ll1 In der rhetorisch -didaktisch geprägten Rückbeziehung des Bibelsinnes auf den allgemeineren scopus der Schrift gelangt Melanchthon indessen zu beachtenswerten Vorformulierungen des hermeneutischen Zirkels von Teil und Ganzem: "Da Unerfahrene keine ausführlichen und komplizierten Abhandlungen verstehen können, wenn sie den Text nur oberflächlich zur Kenntnis nehmen, ist es nötig, ihnen das Ganze des Textes (universum) und seine Bestandteile (regiones) zu zeigen, so daß sie fähig werden, die einzelnen Elemente in den Blick zu nehmen und zu prüfen, inwieweit Übereinstimmung herrscht."112 In dieser noch rein didaktisch gehaltenen Schilderung der hermeneutischen Zirkularität kommt ein Bewußtsein ihrer erkenntnistheoretischen Fragwürdigkeit offenbar nicht auf. Erst im 19.Jh. wird man hier aus einem positivistisch überspitzten Kartesianismus heraus einen zu vermeidenden Kurzschluß vermuten. Melanchthons Rhetorik war eine enorme, hier unmöglich nachzuzeichnende Wirkungs geschichte beschieden (zu seinen Lebzeiten allein kamen die verschiedenen Versionen seiner Rhetorik in 80 Einzeldruckausgaben heraus 1l3 ). Sie ermöglichte u. a. eine Versöhnung zwischen der Reformationsbewegung und der antiken Bildungstradition, die der protestantischen Hermeneutik von Flacius bis Schleiermacher
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und darüber hinaus den Weg wies. Die sichtbarste Frucht dieser rhetorisch fundierten Hermeneutik findet sich im Werk des Melanchthon-Schülers Matthias Flacius Illyricus (1520-1575).
9. Flacius: Die Universalität des Grammatischen Die Absicht von Flacius' >Clavis scripturae sacrae< von 1567 ist es, einen Schlüssel (clavis) zur Entzifferung der dunklen Stellen der Bibel zu geben. Sie entstand als Antwort auf die Angriffe des Tridentiner Konzils, das die Unzulänglichkeit des Sola-scriptura-Prinzips bei der Entzifferung dunkler (ambigua) Stellen bekräftigte. Die Ambiguität der Schrift, antwortete Flacius, liegt nicht an ihr, sondern an den fehlenden Sprachkenntnissen der heutigen Schriftgelehrten. Für eine solche Aufgabe war Flacius bestens ausgerüstet. Er hatte sich bei dem Humanisten Johann Baptista Egnatius in Venedig ausgebildet und besaß u. a. hervorragende Hebräischkenntnisse. Melanchthon verschaffte ihm eine Professur für hebräische Sprache in Wittenberg. 114 Bevor er im 2. Buch der >Clavis< an das heikle Problem der dunklen Stellen heranging, hatte Flacius das lutherische Prinzip der generellen Verständlichkeit der Schrift in seinem Vorwort kraftvoll erneuert. Wenn uns Gott die Schrift zu unserem Heil gegeben hat, so sei es eine Blasphemie gegen die Philanthropie Gottes zu behaupten, daß sie dunkel sei und für das Heil der Christen nicht ausreiche. 1lS Die Dunkelheit der Schrift liegt an den mangelnden Grammatik- und Sprachkenntnissen, die sich die damalige katholische Kirche hat zuschulden kommen lassen. Der erste Teil der >Clavis< wird ein reines Bibellexikon sein, das eine ausführliche Konkordanz der Parallelstellen bietet. Damit wurde das Gewicht grammatikalischer Kenntnisse für die protestantische Hermeneutik wirkungsvoll unterstrichen. Insofern wurde die >Clavis< für die protestantische Theologie von entscheidender systematischer Bedeutung. 116 Die Beherrschung des Buchstabens, des Gramma, soll den universalen Schlüssel der Schrift abgeben. Mit Hilfe dieses universalen Schlüssels erklärt Flacius zu Beginn des 2. Buches die Gründe für die Schwierigkeiten, die die Heilige Schrift bereitet, als rein sprachlich oder grammatisch. Alle Hindernisse hängen an der Dunkelheit der Sprache selbst, für die die mangelnde grammatische Ausbildung des Deuters, also des heutigen Lesers verantwortlich sei. Denn: "Die Sprache ist nämlich ein Zeichen oder ein Bild der Dinge und gleichsam eine Art Brille, durch welche wir die Dinge selbst anschauen. Wenn daher die Sprache entweder an sich
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oder für uns dunkel ist, so erkennen wir mühsam durch sie die Sachen selbst."117 Die Sprache erscheint hier als Vehikel oder bildliches Mittel eines anderen. Dieses Mittel des Grammatischen ist zu meistern, will man zum Geist oder zur Sache der Schrift vorstoßen. Gegen die rein grammatikalische Schwierigkeit der Schrift schlägt Flacius alsdann eine Reihe von Heilmitteln (remedia) vor. Außer der ritualen Anrufung des Heiligen Geistes legt Flacius immer wieder besonderes Gewicht auf Sprachkenntnisse: "Hier liegt nämlich wohl die vorwiegende Quelle der Schwierigkeit der Heiligen Schrift, daß fast niemals die Theologen mit höchster Sorgfalt sich darum bemüht haben, die Hl. Schrift und den Text vollständiger zu erkennen oder anderen zu erklären."118 Flacius schwebt also eine strikt immanente Deutung der Schrift, nämlich durch das Heranziehen von ParallelsteIlen vor, gleichsam als Konkretion der lutherischen Intuition, daß die Schrift sui ipsius interpres sei. Wie die allermeisten Anweisungen, die Flacius gibt, fand sich dieses Prinzip der Parallelen bereits bei Augustin. Flacius wird sich im übrigen häufig auf die Autorität Augustins und sonstiger Kirchenväter berufen, wohl aus dem ihn auszeichnenden 119 Bestreben heraus, das Neue des Protestantismus durch Aufweis von Vorgängern als alt und damit als wohlbegründet nachzuweisen: "So sagt Augustin sehr richtig, nicht leicht werde irgendein Satz übertragen gebraucht, der nicht an anderer Stelle deutlich erklärt werde." 120 Der starke inhaltliche Bezug auf die ältere kirchliche Tradition, die Flacius offenbar gegen die katholische Kirche seiner Zeit ausspielt, läßt seine eigene hermeneutische Theorie letzten Endes wenig originell erscheinen. Es findet sich kaum eine hermeneutische Regel bei Flacius, die nicht schon bei den Kirchenvätern anzutreffen wäre - ein Umstand, der den Historikern der Hermeneutik nicht entgangen ist. So notierte Dilthey: "Fast das ganze 4. Buch des Augustin de doctr. ist in einzelnen Massen aufgenommen ( ... ). So ist in der Tat dieses Buch [die >Clavis<] aus dem Ertrag der ganzen vorangegangenen Exegese entstanden." 121 Von katholischer Seite wurde ihm dies sogar angekreidet. Richard Simon fand es sonderbar, daß Flacius so beträchtliche Anleihen bei den Kirchenvätern gemacht hatte, die doch in seinem Vorwort von ihm aufs Korn genommen wurden. 122 Daß die >Clavis< noch 1685, als Simon seine Kritik vortrug, diskutiert wurde, belegt jedoch ihre breite und dauerhafte Wirkung. Die Nützlichkeit ihres Bibellexikons sowie der Summencharakter ihrer hermeneutischen Regeln ließen das Werk zum Grundbuch der altprotestantischen Hermeneutik bis hin zum späten 18.Jh. werden. 123 Nicht nur von Augustin, auch von der Tradition der von Melan-
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chthon erneuerten Rhetorik ließ sich Flacius stark inspirieren. Seine berühmt gewordene Lehre vom "scopus" , von der zu berücksichtigenden Absicht, in der ein Buch verfaßt wurde, ist direkt der Rhetorik entlehnt. 124 Das Grammatische wird im Keim auf die ihm zugrundeliegende Intention hin übersprungen. Damit zeugt Flacius von der relativen Grenze des rein Grammatikalischen, das doch von seinem scopus, sprich: einem unausgedrückten Logos her zu entschlüsseln sei, wobei Anschluß an die ältere Lehre vom verbum interius und nicht zuletzt ihre esoterische Verführung gewonnen wird. Ein Einfluß der allegorischen Tradition läßt sich bei Flacius sehr wohl nachweisen. In der >Clavis< begegnen nicht selten esoterische Züge, die durchweg an Origenes gemahnen. Da sie offensichtlich mit dem reformatorischen Prinzip der Universalität des Grammatischen schwer vereinbar erscheinen, wurden sie selten hervorgehoben. Um das Bild zurechtzurücken, müssen etwas längere Passagen angeführt werden: "Vieles hat Gott mit Absicht in Gleichnissen gesagt, da es ja nicht allen gegeben ist, die Mysterien zu erkennen ( ... ). Vieles ist den Frommen verborgen, damit sie um so eifriger die Heilige Schrift erforschen und eine klarere Offenbarung anstreben. "125 Die origeneisehe Zuordnung des sensus literalis und spiritualis zu zwei Arten von Weisheitsstufen scheint auch übernommen worden zu sein: "Nach der ihr eigentümlichen Weise enthält die Heilige Schrift eine doppelte Wissenschaft über die gleichen Dinge. Und zwar ist die eine derselben gleichsam für die Toren und Kinder und wird metaphorisch Milch genannt. Die andere jedoch ist für die Reifen und Starken, das ist eine feste Speise (1 Kor 3,2 und Hebr 5,13 und 14). Jene ist zwar die frühere Lehre, die Katechese der hauptsächlichsten Kapitel, die kurz, allgemein und einfach vorgetragen wird. Die spätere jedoch umfaßt die gleiche Sache, aber viel genauer und vollständiger, indem sie sorgfältiger die Quellen der Dinge untersucht und viele verborgene Fragen und Mysterien dargelegt hat ( ... ). Man muß also sorgfältig darauf achten, daß die Ungebildeten jene erste erwähnte schlichte und einfache Milchkost bekommen und sich dabei beruhigen, die Stärkeren aber schneller zu jener festeren Speise der ernsthafteren Lehre hingeführt werden."126 In der Absicht, der Reformation einen universellen Schlüssel zur Aufklärung der dunklen Stellen an die Hand zu geben, hat Flacius eine synkretische Zusammenfassung alter hermeneutischer Stränge geliefert, die zwar das Grammatikalische hervorkehrte, dennoch aber gewisse Motive der Allegorese mit übernommen hat. Es fragt sich, inwieweit diese Synthese und die Beibehaltung von Teilen der allegori-
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sehen Tradition mit Luthers Ablehnung der Allegorese zu vereinbaren sind. Jedenfalls zeugt das Fortleben allegorischer Denkmotive von der Unmöglichkeit, eine rein grammatikalische Hermeneutik zu entwickeln, die einen Bruch mit der älteren Praxis bedeutete, insbesondere von der Unmöglichkeit, sich von der Faszination der Lehre von der Allegorie loszumachen. Dem menschlichen Verstand fällt es anscheinend schwer, den Gedanken nachzuvollziehen, der Buchstabe könne sich selbst genügen. Viel näher liegt es, hinter (oder besser: mit) dem Buchstaben ein Ganzes von Sinn mitzuhören. Seinetwegen gibt es ja Hermeneutik. Das Auftauchen des Wortes Hermeneutik konnte nicht mehr länger auf sich warten lassen.
Anmerkungen 1 Ein konkretes Beispiel unter vielen: Das Buch von John Findlay, Kant and the Transcendental Object (Oxford 1981}, führt den Untertitel >A Hermeneutic Study< an, ohne daß in ihm das Wort Hermeneutik erscheinen müßte. Gemeint ist nur, daß es sich um eine Interpretation Kants handelt. 2 Art. Hermeneutik, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. III, 1959, S. 243. 3 Art. Hermeneutik, in: Reallexicon für Antike und Christentum, Bd. XIV, Stuttgart 1988, S. 724 (mit zahlreichen Belegen aus dem gesamten griechischen Schrifttum). 4 So ist Schleiermacher Erbe einer langen Tradition, wenn er in seiner Hermeneutik ausdrücklich feststellt: "Die Zusammengehörigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen" (F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. v. M. Frank, Frankfurt a.M. 1977, S. 76). 5 Nach der Auskunft des Aristoteles-Kommentators Ammonios (Cornm. in Arist. Gr. 4,5,5,17/23). VgL J. Pepin, a.a.O., S. 723. 6 VgL J. Pep in, a.a.O., S. 728, der damit den Faden von der aristotelischen Sprachphilosophie aus bis hin zur phiionischen Exegese über die Stoa durchzieht. Der Sache nach ist diese Unterscheidung zwischen einem inneren und einem geäußerten Logos in den ersten Zeilen vom >Peri hermeneias< (16a) des Aristoteles angelegt, wo die Laute als die phonetischen Anzeichen der in der Seele liegenden Erfahrungen hingestellt werden. Vgl. dazu M. Pohlenz, Die Begründung der abendländischen Sprachlehre durch die Stoa, in: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Neue Folge, 3. Bd., 1938-39, S. 151-198 (insbes. S. 191ft). 7 Vgl. L. Taran, Academica: Plato, Philip of Opus, and the Pseudo-Platonic Epinomis, Memoirs of the American Philosophical Society, vol. 107,
Philadelphia 1975, S. 223-224.
Anmerkungen
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8 V gl. M. C. van der Kolf, Art. Prophetes, in: Pauly's Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. 23/1, Stuttgart 1957, S. 797-816. 9 Vgl. P. Chantraine, Dictionnaire etymologique de la langue grecque, Paris 1968. Für die Beibehaltung des Zusammenhangs zwischen Hermes und Hermeneutik plädiert F. K. Mayr, Der Gott Hermes und die Hermeneutik, in: Tijdschrift voor Philosophie 30 (1968), S. 535-625. 10 Vgl. die Gleichsetzung von EQf.tY)vetu und c?HCtAEx,;OC; (Redeweise, Sprache, Dialekt) bei Aristoteles, De Anima, II, 2, 420b 18-20. 11 Vgl. J. Pep in, a.a. 0., S. 726 (mit zahlreichen Belegstellen). 12 Das Buch beruht auf peripatetischem Gedankengut (vgl. die gemeinsame Ausgabe: Aristotle, The Poetics; Longinus, On the Sublime; Demetrius, On Style, Cambridge/London 1927, 41946), seine Datierung ist aber ungewiß. Vgl. auch K. Kerenyi, Origine e senso dell'ermeneutica, in: Ermeneutica e tradizione, a cura di E. Castelli, Roma 1963, S. 134. 13 Boethius, Commentarium in librum Aristotelis Peri hermeneias, liber primus, ed. C. Meiser, Leipzig 1877, S. 32 (repr.: Commentaries on Aristotle's De interpretatione, New York/London 1987). 14 De migratione Abrahami, I, 12 (Les CEuvres de PhiIon d' Alexandrie, tome 14, Paris 1965, S. 100: EQf.tY)veta = nQocpoQCt Myou). 15 Stromateis, 8,20,5. Vgl. J. Pep in, a.a.O., S. 732. Ferner H. E. Hasso Jaeger, a. a. 0., S. 64-65, der sehr treffend klarstellt, daß EQf.tY)veta grundsätzlich das Zum-Ausdruck-Bringen des Denkens, somit die Übertragung des Gedachten in den Ausdruck bedeutet. Ganz in die Irre führt aber Hasso Jaegers weitergehende, gegen die heutige Hermeneutik gerichtete These, die so verstandene EQf.tY)VEtu habe nichts mit Deutung oder Interpretation zu tun. 16 Vgl.J. Pepin, a.a.O., S. 744. 17 Vgl. die sorgfältige Wortuntersuchung bei H.-J. Klauck, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten, Münster 1978, S. 39. 18 Vgl. Stoa und Stoiker, übertragen von M. Pohlenz, Zürich/Stuttgart 1950,21964, S. 29. 19 Cicero, De natura deorum, liber II, cap. XXV Vgl. dazu J. Pep in, Mythe et allegorie, Les origines grecques et les contestations judeo-chretiennes, Paris 21976, S. 125-127. 20 Pseudo-Herakleitos, Quaestiones Homericae, ed. F. Oelmann, Leipzig 1910, S. 2. Vgl. hierzu H.-J. Klauck, a.a.O., S. 45-53 und J. Pep in, 1976, S. 159-167. 21 Auf die stoische Sprachphilosophie weist in diesem Zusammenhang H.-J. Klauck, a.a.O., S. 39, hin. 22 Vgl. H.-J. Klauck, a.a.O., S. 52. 23 Vgl. H. de Lubac, Histoire et esprit. L'intelligence de l'Ecriture d'apres Origene, Paris 1950, S. 160. 24 Vgl. H.-J. Klauck, a.a.O., S. 39: "Der eine, vernunftgemäße Logos, der das ganze All zusammenhält, wirkt auch in Sprache, in Mythos und Poesie." 25 Fg. 11 (Diels): "Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angedich-
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tet, was nur immer bei den Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen, Ehebrechen und sich gegenseitig Betrügen." 26 Vgl. J. Pep in, 1976, S. 112-121. 27 Vgl. die neuere Aufsatzsammlung vonJ. Pep in, La tradition de l'allegorie de Phiion d' Alexa~drie a Dante, Paris 1987. 28 Vgl. I. Christiansen, Die Technik der allegorischen Auslegungswissenschaft bei Phiion von Alexandrien, Tübingen 1969, S. 134. 29 V gl. J. Pepin, 1987, S. 34ff. (<
Anmerkungen
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45 Ebd., IV, 4,10, der sich auf Koll, 16 bezieht. 46 SieheJ. Danielou, a.a.O., S. 180. Vgl. H. de Lubac, 1950, S. 107: «S'il n'y avait pas sous la lettre une intention cachee de l'Esprit-Saint qui va au-dela de ce qu'elle dit, cette lettre elle-meme serait souvent incroyable, soit en raison de ce qu'elle oHre quelquefois de choquant, soit a cause de ses apparentes contradictions, de ses illogismes, soit enfin a cause de sa banalite meme ( ... ). Le sens spirituel, qui donne sa vraie valeur au texte, en justifie la lettre dans sa litteralite meme. 11 sauve cette lettre par surcrolt.» 47 Vgl. J. Danielou, a.a.O., S. 147 und H. de Lubac, 1950, S. 170. 48 Vgl.]. DanieJou, a.a.O.,S. 163. 49 Ebd., S. 172. 50 Über die Prinzipien, IV, 3,5, u. ö. Dazu J. Danielou, a. a. 0., S. 182. Zahlreiche Belegstellen vor allem bei H. de Lubac, 1950, S. 92 f. 51 Vgl. hierzu die vierbändige Darstellung von H. de Lubac, Exegese medievale. Les quatre sens de l'Ecriture, Paris 1959-1964. 52 Summa theol., q. I, art. 10, conclusio. 53 Vgl. das nach wie vor grundlegende Buch von Christoph Schäublin, Untersuchungen zu Methode und Herkunft der antiochenischen Exegese, Köln/Bonn 1974. Zu Theodoret von Kyrrhos vgl. A. Viciano, "Homeron ex Homerou saphenizein". Principios hermeneuticos de Teodoreto de Ciro en su Commentario a las Epfstolas paulinas, in: Scripta Theologica 21 (1989), S.13-61. 54 Vgl. H.-E. Hasso Jaeger: Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, in: ABg 18 (1974), S. 45. Vgl. auch Galens prägnante Definition der E!;"yl']<JL<; als cwucpoü<; €QIJ.l']vdu<; E!;UJtAWOL<; (ebd. 72). 55 Vgl. GA 60. Dazu vgl.]. Barasch, Les sciences de l'histoire et le probleme de la theologie: autour du cours inedit de Heidegger sur saint Augustin, in: Saint Augustin, hrsg. von P. Ranson, Lausanne 1988, S. 421-433, sowie die Angaben bei o. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963,21983, S. 38ff. 56 H.-G. Gadamer, Erinnerungen an Heideggers Anfänge, in: DiltheyJahrbuch 4 (1986-87), S. 21. 57 WM, S. 395 (= GW, I, S. 422). 58 G. Ebeling, a.a.O., S. 249. 59 M. Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Frankfurt a.M. 1988, S. 12. 60 Ebd., S. 13. 61 VgL De trinitate, I, 2: "Sancta Scriptura parvulis congruens." 62 De doctrina christiana, I, cap. XXXV. 63 Ebd., 11, cap. VIII. 64 11, cap. XII. 65 111, cap. XVIII. 66 111, cap. 1: "ut per nos instrui valeat, sciat ambiguitatem Scripturae aut in verbis propriis esse, aut in translatis."
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III, cap. XXIX. III, cap. XXXVII. 69 De trinitate, XV, cap. X, 19: »verbum est quod in corde dicimus: quod nec graecum est, nec latinum, nec linguae alicujus alterius." 70 Ebd., xv, cap. XI, 20. 71 Ebd. Zur Auffassung von EQf.t'Ylvda als Vermittlung von Gedachtem vgl. ferner Augustin, De civitate Dei, VIII, cap. XIV: »ideo <EQf.tfj<; Graece, quod sermo vel interpretatio, quae ad sermonem utique pertinet; EQf.t'Ylvda dicitur ... , per sermonem omnia cogitata enuntiantur." 72 Man orientierte sich dabei an Kor 1,24. Vgl. De trinitate, IV, cap. XX, 27; VI, cap. I, 1; VII, cap. III, 4-6; Xv, cap. XII, 222, u. ö. 73 De trinitate, Xv, cap. Xv, 24: "numquid verbum nos trum de sola scientia nostra nascitur?" 74 XV, cap. XV, 25. Mangels eines Besseren folgen wir hier der französischen Übersetzung: La trinite, CEuvres de Saint Augustin, Bd. 16, Paris 1955, S.497. 75 Vgl. WM, S. 398 (= Gw, I, S. 425). 76 Ebd. 77 Ebd., S. 399 (= Gw, I, S. 426. 78 Ebd., S. 404 (= Gw, I, S. 43l. 79 Vgl. ebd., S. 404 (= GW, I, S. 431): »Die Einheit des Wortes, die sich in der Vielheit der Wörter auslegt, läßt darüber hinaus etwas sichtbar werden, was im Wesensgefüge der Logik nicht aufgeht und den Geschehenscharakter der Sprache zur Geltung bringt: den Prozeß der Begriffsbildung." 80 GW, 11, S. 226 (Hervorhebung von uns). 81 H.-G. Gadamer, Von der Wahrheit des Wortes, in: Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft (1988), S. 17. 82 GW, 11, S. 52; vgl. weiter auf derselben Seite: »Nicht das Urteil, sondern die Frage hat in der Logik den Primat, wie auch der platonische Dialog und der dialektische Ursprung der griechischen Logik geschichtlich bezeugen. Der Primat der Frage gegenüber der Aussage bedeutet aber, daß die Aussage wesenhaft Antwort ist. Es gibt keine Aussage, die nicht eine Art Antwort darstellt. " 83 WM, GW 1, 405. 84 GW 10, 274. Vgl. auch Gadamers Ausspruch in dem Band >The Philosophy of Hans-Georg Gadamer<, The Library of Living Philosophers Vol. XXIV, ed. by L. E. Hahn, Chicago et La Salle, Illinois, Open Court, 1997, 496: "In this lies the real problem which really came to my full attention only through Heidegger and which found expression in the Scholastic distinction of actus signatus and actus exercitus. Ir concerns the fact that not everything which one knows and can know in effect is sayable in a thematic assertion.» 85 Für eine eingehendere Darstellung der Bedeutung Augustins für die Hermeneutik muß ich auf meine neue re Arbeit verweisen: Unterwegs zur Rhetorik. Gadamers Schritt von Platon zu Augustin in Wahrheit und Methode, in: G. FigallJ. Grondin/D. Schmidt (Hrsg.), Hermeneutische Wege, Tü67
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Anmerkungen
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bingen 2000, 207-218. Sie ist den kritischen Einwänden, die D. Kaegi (Was heißt und zu welchem Ende studiert man philosophische Hermeneutik?, in: Philosophische Rundschau 41,1994, 128ff.) gegen die erste Auflage des vorliegenden Buches richtete, verpflichtet. 86 GW, II, S. 185. 87 Grenzen der Sprache, S. 97f. 88 G. Ebeling, Art. Hermeneutik, S. 249. 89 Daran krankt das Buch von G. Gusdorf, Les origines de l'hermeneutique, Paris 1988, insb. S. 68-70, 77 «deurs ceuvres doivent etre range es au musee des erreurs et des horreurs de l'histoire» u. ä.). 90 H. de Lubac, Exegese medievale. Les quatre sens de l'Ecriture, Paris 1959-64; H. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980. 91 Vgl. insbes. Gadamers 1961 im unmittelbaren Umkreis von WM entstandenen, vom 2. Band seiner Ges. Werke gar als erste "Weiterentwicklung" von WM eingestuften Aufsatz ,Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der Entmythologisierung< (GW, II, S. 121-132) sowie die zahlreichen Arbeiten zur religiösen Dimension bei Heidegger und seinem Bezug zur Marburger Theologie in: Heideggers Wege, Tübingen 1983 (wiederaufgenommen in Gw, III). Überhaupt wurden Gadamers Erörterungen zur Geschichte der Hermeneutik, darunter WM selbst, aber auch der Artikel im HWdPh zur Hermeneutik (GW, II,S. 92-120) und die Einleitung zum gemeinsam mit G. Boehm herausgegebenen Band: Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1977, stark von der protestantischen Tradition geprägt. 92 Nach dem Wortlaut des ersten Satzes von Diltheys Bericht über ,Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren Hermeneutik< (in: GS, XIV/I, S. 597). Vgl. zu dieser These C. von Bormann, Art. Hermeneutik, a. a. 0., S. 112. 93 Vgl. G. Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 48 (1951), S. 174, Anm. 94 So verfährt sachgemäß G. Ebeling, 1951. 95 Vgl. G. Ebeling, 1951, S. 176. 96 Vgl. J. R. Schneiders grundlegende Studie: Philip Melanchthon's Rhetorical Construal of Biblical Authority. Oratio Sacra, Lewiston 1990, S. 18. 97 Philipp Melanchthons »Rhetorik", hrsg. von J. Knape, Tübingen 1993, 63, 12l. 98 Ebd. 64, 12l. 99 Ebd. 107, 158. 100 W. Dilthey, GS, XIV/I, 60l. 101 In Gadamers GW, II, 276-291. Vgl. auch J. Knapes Einleitung zu Melanchthons Rhetorik, 1. 102 H.-G. Gadamer, GW, II, 280. 103 Ebd.,279. 104 Vgl. J. Knape, 6ff. u. J. R. Schneider, 55ff. 105 Philipp Melanchthons "Rhetorik", 65,122.
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106 Philippi Melanchthonis de rhetorica libri tres, Wittenberg 1519, 29-4I. Die enarratio (gr. e!;r)Yl]OL;) war bereits Gegenstand eines Kapitels in der Rhetorik von Quintilians >Institutio oratoria< CI, 9), dem ausführlichsten Lehrbuch der Rhetorik der Antike. 107 Philipp Melanchthons "Rhetorik", 95,145. 108 Ebd. 95, 146. 109 Vgl. H.-E. HassoJaeger, a.a.O., 46f. 110 V gl. J. R. Schneider, 20I. 111 Ebd., 180. 112 Philipp Melanchthons "Rhetorik", 85, 140. 113 Vgl. J. Knapes Einl. zu: Philipp Melanchthons "Rhetorik", 23. 114 Zur ereignisreichen Biographie von Flacius vgl. die Angaben von L. Geldsetzer in der Einleitung zum Neudruck des 2. Teiles der >Clavis scripturae sacrae< unter dem Titel: De ratione cognoscendi sacras literas. Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift, Düsseldorf 1968. 115 Clavis, Vorwort (ohne Seitenangabe): "horrendum in modum blasphemant, vociferantes Scripturam esse obscuram, ambiguam, non etiam sufficientem ad plenam institutionem hominis Christiani ad salutem ... " Vgl. auch W. Dilthey, GS, XIV/I, S. 600ff. 116 Zu Recht erblickt also L. Geldsetzer (in der Einleitung zu >De ratione<) die hermeneutische Bedeutung der >Clavis< in dem "Schritt, der dahin führte ( ... ), daß Flacius die theologische Dogmatik so ausschließlich auf die eine biblische Textgrundlage verwies und dadurch der Bibelexegese die maßgebliche Stellung innerhalb der theologischen Wissenschaft einräumte". 117 Flacius, De ratione, S. 7. 118 Ebd., S. 25. 119 Vgl. L. Geldsetzer, Einleitung zu >De ratione<. 120 Flacius, De ratione, S. 27. 121 W. Dilthey, GS, XIV/1, S. 602. 122 R. Simon, Histoire critique du Vieux Testament, chez Reinier Leers, Rotterdam 1685, S. 430: "Pour ce qui est des regles qu'il prescrit, comme d'expliquer un passage obscur par un autre qui est clair et d'avoir de bonnes versions de la Bible, on les peut trouver dans les Livres des Peres.» 123 Vgl. J. Wach, Das Verstehen, Bd. I, Tübingen 1926 (Neudruck: Hildesheim 1966), S. 14. 124 Die Berücksichtigung der Zielsetzung des Textes, die auch Melanchthon (vgl. H.-G. Gadamer, Gw, H, S. 282) urgierte, war auch eine Regel der älteren Exegese gewesen. Schließlich ging sie auch auf Platons Mahnung im >Phaidros< zurück, bei der Niederschrift von Reden den ganzen Sinnzusammenhang mit in Rechnung zu stellen (siehe H.-E. Hasso Jaeger, a.a.O., S. 46). 125 Flacius, De ratione, S. 23. 126 Ebd., S. 69.
Ir. HERMENEUTIK ZWISCHEN GRAMMATIK UND KRITIK In der Einleitung hatten wir vor einer teleologischen Selbstauffassung der Hermeneutikgeschichte gewarnt. Gesunde Skepsis sei am Platz angesichts der gängigen Vorstellung eines Zusichselbstkommens der Hermeneutik, die sich von einer losen Ansammlung von Interpretationsregeln zu einer universalen Problematik emporentwickelt haben will. Im Laufe ihrer "Vorgeschichte", die nur wegen des Fehlens eines Wortes wie Hermeneutik so genannt wurde, war zu sehen, daß sich eine solche teleologische Sicht nicht recht nachzeichnen ließ. Gleichwohl erhoben die Stadien dessen, was Hermeneutik genannt zu werden verdient, d.h. der Theorie der Interpretation, Anspruch auf Universalität. Dieser Anspruch, der bei Autoren wie Philo, Origenes, Augustin, Melanchthon oder Flacius verschiedene Formen annahm, zehrte doch von einer gemeinsamen Einsicht, die schon in den Worten EQf.tllVEUELV und EQf.tllvdu, wie sie die Griechen empfanden, verwurzelt ist. Es ist die Idee, daß das (sprachliche) Wort stets die Übertragung oder Übersetzung eines Geistigen verkörpert (im wahrsten Sinne des Wortes). Sofern die Übertragung von selbst einleuchtet, bedarf es nicht eines besonderen Vermittlungsaufgebots für den Hörer. Das Wort vollzieht es von selbst und ist nichts als dieser Vollzug. Eine hermeneutische Vermittlung (und frühestens seit Philo eine Theorie) wird erst gefragt, wenn die natürliche Verweisfunktion des Wortes ausbleibt. Die naheliegendste Lösung dieser Störung des naturwüchsigen Sprachverhältnisses war dann die allegorische: das Wort meine ein Geistiges, das es zugleich verbirgt up.d nur den Eingeweihten offenbart. Im Rahmen der religiösen Sprache war dies ein kurzer Schritt, hat doch das Mysterium nichts mit Irdischem zu tun. Für Origenes konkretisierte sich die Allegorese in der Aufgabe einer typologischen Deutung des Alten und des Neuen Testaments (woran man ersieht, wie problematisch es etwa wäre, von einem Fortschritt von Philo zu Origenes zu sprechen - es handelt sich in beiden Fällen um verschiedene Versinnbildlichungen einer universalen Funktion des Logos). Augustin schuf nicht nur die anerkanntermaßen wirkungsvollste hermeneutische Theorie der antiken Welt, er arbeitete auf subtilste Weise die Grundbedeutung des Logos heraus.
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Hermeneutik zwischen Grammatik und Kritik
Er griff dabei auf die stoische Unterscheidung zwischen einem inneren und einem äußeren Wort zurück, konnte aber zeigen, daß das verbum interius sehr wohl dem geäußerten Logos innewohnte. Bei Gottes Verbum ließ sich sogar von einer Wesensgleichheit beider sprechen. Für uns Menschen hingegen will diese Gleichsetzung nicht immer gelingen, weshalb es eines hermeneutischen Verhältnisses zum geäußerten Wort bedarf, um es in seinen rechten Horizont zu rücken. Das Geäußerte deckt sich nicht ganz mit dem Gedachten und Beabsichtigten, wenngleich es nichts als dessen Verkörperlichung sein will. Wir haben gesehen, daß die zeitgenössische Hermeneutik eines Gadamer an diese Auffassung, die der menschlichen Endlichkeit im Sprechen Gerechtigkeit widerfahren läßt, anknüpfen konnte. Dies gilt ebenso für die reformatorische Erneuerung des Wortverständnisses. Höchst konsequent führte ihre Vertiefung in das Wort anhand des Prinzips einer sola scriptura, die sui ipsius interpres sei, zu einer Verwerfung der Allegorese. Was soll die Allegorese, wenn der Sinn des Wortes sonnenklar ist? Mit der sola scriptura ist es jedoch nicht getan, wenn es um das Problem der dunklen Stellen geht, welches das einzige war, um dessentwillen es zur Ausarbeitung einer Hermeneutik in der augustinischen Tradition gekommen war. Im Grunde lag schon die Erfahrung mit "dunklen" oder anstößigen Stellen der allegorisierenden Mythendeutung bei der Stoa zugrunde. Um dieser Herausforderung Herr zu werden, boten Melanchthon und Flacius, treue Gefährten Luthers, einen Schlüssel zur immanenten Schriftauslegung, die insonderheit die Unentbehrlichkeit rhetorischer und grammatikalischer Vorkenntnisse herausstellte. Mit dem rechten Rhetorik- und Grammatikwissen wird die allererste und universellste, wenngleich wenig verbreitete Voraussetzung zum Eindringen in das Wort Gottes namhaft gemacht. Dieser für die Hermeneutik entscheidende Neubeginn verstand sich selbst als Renaissance des patristischen Wort- und folglich Geistesverständnisses. Die Idee eines gemeinsamen, stets wiederzuerobernden Kernes der hermeneutischen Bemühung hat doch einiges für sich. Es mag auffallen, daß die bisherige Universalität der Hermeneutik auf den Bereich der religiösen Rede begrenzt war. Für das Mittelalter bedeutete dies freilich keine Einschränkung, sofern die Schrift doch alles enthielt, was man wissen mußte. Die Schriftauslegung war in diesem Sinne universell veranschlagt. Der Kreis des Lesens- und damit des Deutenswerten weitete sich mit der Neuzeit aus. Diese neue Zeit wurde schließlich die Folge einer Renaissance, die ein Studium der griechischen und lateinischen Klassiker zur Geltung brach-
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te. Das Studium und die Edition alter Schriftsteller erfolgte damals im Rahmen einer Disziplin, deren geläufigster Name im 16.Jh. wohl die ars critica l gewesen ist. Auch andere Fächer hatten es damals mit der Interpretation zu tun, insbesondere die Juristen, die das Gesetz zu interpretieren hatten, und die Mediziner, deren Hauptaufgabe die Deutung von Symptomen war (und noch ist). In der damaligen Situation der sich suchenden Neuzeit erwachte das Bedürfnis nach einer neuen Methodenlehre der überall aufsprießenden Wissenschaften. Ein neues Organon des Wissens, das das aristotelische ersetzte oder komplettierte, war gefragt und wurde zu einem der wichtigsten Desiderata der Philosophie. Bekanntlich fand es in Bacons >Novum Organum< (1620), das sich als neue Propädeutik der Wissenschaften empfahl, sowie in Descartes' >Discours de la methode< (1637) seine beredtesten Zeugnisse. Just zwischen Bacon und Descartes erblickte der Neologismus hermeneutica das Licht der Welt, und zwar aus der Bemühung heraus, mit ihr den fälligen Beitrag zur Ergänzung des herkömmlichen Organons zu leisten. Diese Neuschöpfung und dieses Programm waren die Tat des Straßburger Theologen Johann Conrad Dannhauer (1603-1666).
1. Dannhauer: Hermeneutische und sachliche Wahrheit De solo sensu orationum, non autem de earum veritate laboramus. 2
Dannhauer wurde in der Geschichtsschreibung der Hermeneutik, in die er nicht recht zu passen schien, lange vernachlässigt. Dilthey hatte ihm so gut wie keine Bedeutung beigemessen und Gadamer überging ihn mit Schweigen in >Wahrheit und Methode<.3 Lexikonartikel führten ihn bestenfalls als denjenigen an, der zum ersten Mal das Wort "Hermeneutik" in einem Buchtitel, nämlich in seiner >Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrum litterarum< von 1654 verwendete. Dieser Befurui wäre an sich belanglos, hätte damit Dannhauer nur ein Wort aufgegriffen, um eine Aufgabe, die etwa Melanchthon mit seiner >Rhetorik< oder Flacius mit seiner >Clavis< erfüllen wollte, zu bezeichnen. Das Vorkommen eines Wortes impliziert ja in keiner Weise, daß die Sache, auf die es verweist, nicht vorher schon da gewesen ist. Die bisherigen Kapitel der vorliegenden Rekonstruktion wären umsonst gewesen, hätte es vor Dannhauer keine Theorie der Interpretation gegeben.
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Hermeneutik zwischen Grammatik und Kritik
Dannhauers Bedeutung geht aber weit über den zufälligen Umstand hinaus, als erster den Buchtitel >Hermeneutica< gebraucht zu haben. In einem akribischen Aufsatz hat H.-E. Hasso ]aeger4 nicht nur nachweisen können, daß Dannhauer die Neuschöpfung "hermeneutica" bereits 1629 geprägt hatte, sondern auch, daß er in seiner bislang wenig beachteten Schrift von 1630, >Die Idee des guten Interpreten<,5 bereits den Entwurf einer universalen Hermeneutik unter dem ausdrücklichen Titel einer hermeneutica generalis ins Auge gefaßt hatte. Das kann unsere unteleologischen Untersuchungen zum Universalitätsanspruch der Hermeneutik nur interessieren. Die Idee einer solchen Hermeneutik wurde im Zuge der Suche nach einer neuen, sich von der Scholastik loslösenden Methodenlehre der Wissenschaft konzipiert. Dannhauer unternimmt es, zu zeigen, daß es im Vorhof aller Wissenschaften, in der Propädeutik also (für die die Philosophie zuständig war), eine allgemeine Wissenschaft vom Interpretieren geben müsse. Die unerhörte Idee einer solch universellen Wissenschaft wird mittels eines Syllogismus eingeführt: Alles Wißbare hat irgendeine entsprechende philosophische Wissenschaft; das Verfahren des Interpretierens ist nun ein solches Wißbares; also muß dieses Verfahren eine ihm entsprechende Wissenschaft haben. 6 Diese "philosophische Hermeneutik" ist in dem Sinne universell angesetzt, daß sie in allen Wissenschaften Anwendungen finden können muß. Es soll nur eine Hermeneutik geben, deren Gegenstände jeweils partikulär sind.! Dannhauer schwebt also eine allgemeine, vom Boden der Philosophie her auszuarbeitende hermeneutica vor, die es den anderen Fakultäten (Recht, Theologie, Medizin) erlauben sollte, schriftlich niedergelegte Aussagen sinngemäß auszulegen. 8 In dieser Zeit keimte die Idee auf, daß alle Wissenszweige es mit der Auslegung, und zwar vornehmlich von Texten, zu tun haben. Diese Deutungs- bzw. Textangewiesenheit des Wissens hing zweifelsohne mit dem grundsätzlichen Wandel zusammen, den die Verbreitung der Druckkunst damals bedeutete. 9 Clauberg, der bekannte Cartesianer, der ebenso eine dem Dannhauerschen Vorhaben folgende, allgemeine Hermeneutik innerhalb seiner >Logik< ausgearbeitet hatte, stellte fest, daß sich weit mehr Gelehrte mit Schriften berühmter Autoren als mit der Erforschung der Dinge selbst abgäben.1° Die von der Renaissance bewirkte Ausweitung des Lesenswerten über das eine Heilige Buch hinaus ließ eine universale Hermeneutik notwendig erscheinen. Bei dieser universalen Ausrichtung konnte es sich nur um eine "propädeutische" Wissenschaft handeln, eine Stelle, die im klassischen Wissenschaftsspektrum der Logik zukam. Dannhauer ent-
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wickelte so seine hermeneutica generalis parallel und als Ergänzung zur herkömmlichen Logik der aristotelischen Methodenlehre (Orgahon). Grundbuch dieser Logik war Aristoteles' Schrift 3t€QI, EQI.tTlvcLa~. Sie thematisierte allgemein die Begriffsverbindungen, die in der aussagenden Rede ihren Niederschlag finden. Das Wort EQ!-lTlvci.a suggerierte, obwohl es im aristotelischen Traktat diesen Titels nicht vorkam, dabei ein Auslegungsverfahren (interpretatio), das man zu Dannhauers Zeiten in der Nachfolge der mittelalterlichen Aristoteles-Kommentatoren als ein "analytisches" empfand. Die logische Analysis bestand nämlich in der Rückführung (Analyse hieß überall Rückgang vom Zusammengesetzten auf seine konstituierenden Elemente) der Aussage auf ihren gedachten Sinn. l l Wir entsinnen uns etwa der Formel, die Boethius in seinem Kommentar zum ~Peri hermeneias< verwendete, als er die EQ!-lTlvci.a als vox articulata per se ipsam significans verstand. Die Aussage ist immer die Verlautbarung eines gedachten Sinnes. Die Logik, als allgemeine Lehre von der Wahrheit, sah ihre Aufgabe darin, in dieser Rückführung der Aussagen auf ihren logischen Sinn logische (sprich: sachhaltige) von nicht logischen Sätzen zu trennen. IZ Diese Rückführung, von der ja die hermeneutische Bemühung seit alters her ihren Anstoß erhielt, wurde erneut für Dannhauers originelle Idee einer Universalhermeneutik ausschlaggebend. Wie die Logik hat es die Hermeneutik mit der Ermittlung einer Wahrheit zu tun, um Falsches zu widerlegen. Während es aber das Geschäft der rein logischen Analyse ist, die sachliche Wahrheit des gedachten Sinnes durch dessen Rückführung auf höchste Prinzipien auszumachen, begnügt sich die hermeneutica mit der Festlegung des gedachten Sinnes als solchen, d. h. unabhängig davon, ob dieser Sinn auch von den Sachen her wahr oder falsch ist. Auf der Ebene des Denkens, der (lLUVOLU, erfolgte eine Sinnabsicht, die an sich dunkel oder verworren erscheinen kann. Bevor sie auf ihre sachliche oder logische Wahrheit hin geprüft wird, soll ihr Sinn mit Hilfe einer allgemeinen und wissenschaftlichen hermeneutica ausgemacht werden. Die hier getroffene Unterscheidung zwischen sententia (Wahrheit der Behauptung) und sensus (Bedeutung des Sinnes) war schon lange vor Dannhauer geläufig. 13 Neu ist, daß sie für die erste Ziel bestimmung einer universal ausgerichteten Hermeneutik in Ansatz gebracht wird. Offenbar lehnt sich Dannhauer an den Titel >Peri hermeneias< an, um das Wort "hermeneutica" zu bilden. Damit will er den aristotelischen Traktat fortsetzen und "um eine neue Stadt bereichern", wie er selber schreibt. 14 In der Tat hat er getreu den ursprünglichen Sinn von
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EQ!-tflveLa. zu Ende gedacht, die nichts anderes als eine Vermittlung bzw. eine Verlautbarung von Sinn besagt. Ehe über dessen sachliche Wahrheit befunden wird, ist bei Problemstellen eine hermeneutica dazu berufen, dessen "hermeneutische Wahrheit" zu ermitteln, d.h. das zu klären, was ein Autor hat sagen wollen, ohne Rücksicht darauf, ob es streng logisch oder sachlich zutreffend ist. So wird Dannhauer den Interpres - um den "guten" geht es im Titel seiner Schriftfolgendermaßen definieren: Er ist der Analytiker aller Reden, insoweit sie dunkel, jedoch "exponibel" (oder ausdeutbar) sind, um den wahren vom falschen Sinn zu scheiden. 15 Um diese Scheidung zu treffen, wird Dannhauers hermeneutica eine ganze Reihe von Direktiven oder media interpretationis anführen, darunter freilich die Berücksichtigung des scopus, der Absicht des Autors. 16 Diese hermeneutischen Regeln, die an Älteres anknüpfen, können uns hier nicht im einzelnen aufhalten. Dannhauers Programm einer in die Logik einzuordnenden universalen Hermeneutik fand im Rationalismus des 17. und des 18.Jh. zahlreiche Nachfolger, wie J. Clauberg, J. E. Pfeiffer,17 C. Wolff, J. M. Chladenius und G. F. Meier. Es ist gewiß ein Fehlgriff der hermeneutischen Geschichtsschreibung, in Schleiermachers bekanntem Diktum, mit dem seine Hermeneutik in der Ausgabe von Lücke begann, "die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken" ,18 den ersten Ansatz einer Universalisierung der Hermeneutik zu erblicken. An speziellen Hermeneutiken hat es wiederum in der Aufklärung nicht gefehlt. Dannhauer hat selber eine im Jahre 1654 unter dem Titel >Hermeneutica sacra< vorgelegt, in der er sich wiederholt und seitenlang auf Augustins Vorleistung berief.1 9 Philosophisch bedeutsamer war sein Programm gebliebener Versuch einer hermeneutica generalis von 1630, in der er zwischen Bacons >Novum Organum< und Descartes' >Discours de la methode< einen Beitrag zur Ausweitung der Logik und der Methodenlehre der Wissenschaft beisteuern wollte.
2. Chladenius: Die Universalität des Pädagogischen
Unter den zahlreichen Universalhermeneutiken des 17. und 18.Jh. verdient die >Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften< (1742) von Johann Martin Chladenius (1710-1759) besondere Beachtung. Sie eröffnete der philosophischen Hermeneutik neue Horizonte, die über deren rein logische Aufgabenstellung bei
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Dannhauer hinausweisen. Die allgemeine Hermeneutik oder Auslegungslehre wird geradezu von der Logik losgelöst und neben ihr als der andere große Zweig menschlichen Wissens etabliert. Die Verrichtungen der Gelehrten lassen sich nämlich, führt Chladenius im Vorwort seiner Auslegungslehre aus, in zwei Grundklassen einteilen: Zum Teil vermehren sie die Erkenntnis durch Selbstdenken und ihre eigenen Erfindungen, zum anderen aber sind sie mit dem beschäftigt, "was andere vor uns nützliches oder anmuthiges gedacht haben, ( ... ) und geben Anleitung, derselben Schriften und Denkmale zu verstehen, das ist, sie legen aus" .20 Für beide Möglichkeiten des Wissens, die ihre eigenen Verdienste und Abwege haben, soll es zwei Arten wissenschaftlicher Regeln geben. Die ersten lehren uns richtig zu denken und machen die "Vernunftlehre" aus, während die Regeln, die uns richtig auszulegen helfen, die allgemeine Auslege-Kunst füllen. Eine schon geübte Auslegefertigkeit soll ausgebaut werden. An dieser generellen Zweckbestimmung macht sich der pädagogische Zug - ein Sohn der Aufklärung - von Chladenius' Hermeneutik bemerklich, dem wir überall begegnen werden. Wie in der Hermeneutiktradition üblich, bilden zunächst die dunklen Sätze oder Stellen den Gegenstand der Auslegekunst. Neu ist aber, daß sich die Hermeneutik nicht mit allen dunklen Stellen, sondern lediglich mit einer besonderen Art derselben beschäftigen soll. Es gibt nämlich Dunkelheiten, die der Kompetenz des Hermeneuten entzogen sind. Chladenius legt eine strenge Einteilung 21 der möglichen Schriftdunkelheiten vor, die höchst aufschlußreich ist, um den Stellenwert der Hermeneutik und der sonstigen philologischen Hilfswissenschaften im 18.Jh. einzuordnen: 1. Die Dunkelheit kann öfter aus einer editorisch verderbten Stelle herrühren. Die zu beheben ist Sache des criticus und seiner ars critica. Ehe sie in Kants Werken zu philosophischen Ehren gelangte, war seit der Renaissance Kritik der Name der philologischen Wissenschaft, die sich mit der Edition, Verbesserung und Berichtigung älterer Schriften befaßte. Dieses Verständnis von Kritik wird sich bis spät in das 19.Jh. hinein erhalten und in Gesamtdarstellungen der philologisch-hermeneutischen Hilfswissenschaften eine bevorzugte Stelle einnehmen. Lückes Herausgabe der Schleiermacherschen Hermeneutik von 1838 trug den traditions bewußten Titel >Hermeneutik und Kritik<, den M. Frank in seiner Neuedition von 1977 glücklich mitübernommen hat. Dort wird die Kritik - die die zweite Kunstlehre der Philologie neben der Hermeneutik darstellt - definiert als "die Kunst, die Echtheit der Schriften und Schriftstellen richtig zu beur-
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teilen und aus genügenden Zeugnissen und Datis zu konstatieren".2 2 In seinem für die Grundlegung der klassischen Philologie bedeutenden >Museum der Alterthums-Wissenschaften<23 hatte F. A. Wolf Grammatik, Hermeneutik und Kritik als die Hilfskenntnisse bezeichnet, die das Organon der klassischen Wissenschaften des Altertums konstituieren. Auch August Boeckh legte die Unterscheidung von Hermeneutik und Kritik seiner >Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften< zugrunde. 24 Die Kritik sollte anscheinend eine reine Faktenwissenschaft sein. Mit ihren Regeln sollte allererst der Zustand eines Textes festgestellt werden, bevor er anhand der Hermeneutik einer Deutung unterzogen wurde. Daß aber die Edition eines Textes, etwa die Anerkennung einer Stelle als "verderbter", eine hermeneutische Aufgabe ersten Ranges signalisierte, wurde bis auf wenige Ausnahmen 25 kaum berücksichtigt. Sollte sich die Philologie als Wissenschaft etablieren können, mußte sie zunächst auf reiner Faktenbasis beruhen. Der Zweiteilung von Hermeneutik und Kritik im 19.Jh. ging im 18.Jh. die sehr übliche Dreiteilung von Grammatik, Hermeneutik und Kritik voraus, der die Überschrift des vorliegenden Kapitels z. T. nachgebildet ist. Alle drei fungierten als formale oder einleitende Wissenschaften. Denn sie betreffen nicht das Material, den konkreten Stoff der philologischen Wissenschaften, sondern die Regeln (der Grammatik, Hermeneutik und Kritik), die jeder handhaben soll, um Schriftdenkmäler kunstgemäß zu verstehen und zu erklären. Schon Dannhauer hatte die Hermeneutik zur Propädeutik gerechnet, von der sich ihr Anspruch auf universelle Anwendbarkeit in den materialen Realwissenschaften ableitete. Mehr philologisch als logisch ausgerichtet geht Chladenius daran, die universale Funktion der Auslegekunst mit Hilfe einer wissenschaftlichen Einteilung der Dunkelheitssorten zu demonstrieren. In der Berichtigung einer verderbten Stelle, die dem criticus obliegt, sieht er nicht die prinzipielle Auszeichnung des richten Hermeneuten. 2. Die Dunkelheit kann zweitens "aus einer nicht genugsamen Einsicht in die Sprache, worinnen das Buch abgefasset ist"26, entstehen. Auch die soll nicht den Auslegekünstler auf den Plan rufen, denn sie wird von dem "philologus" oder dem Sprach-Lehrer behoben. Wo die Sprache nicht genug beherrscht wird, gibt es tatsächlich nichts zu deuten. Nur bessere Sprach- oder Grammatikkenntnisse können hier weiterhelfen. Weder die Dunkelheit verderbter Stellen noch die fehlender Sprachkenntnis gehören also in den Kompetenzbereich der Hermeneutik.
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3. Chladenius erwähnt alsdann eine dritte Fonn von Dunkelheit, die auch außerhalb der hermeneutischen Reichweite liegen soll. Es handelt sich um die Stellen oder Worte, die "an sich zweydeutig gesetzt" sind. Die Berichtigung an sich äquivoker Stellen wird keiner besonderen Kunst, wie es in den zwei früheren Fällen geschah, zugeteilt. Denn die Zweideutigkeit, die im Text selbst steckt, ist nicht wirklich aufzuheben, sondern als solche hinzunehmen und wohl zu tadeln. Eine hermeneutische Auflösung derselben würde offensichtlich dem Text Gewalt antun. Haben wir aber nicht langsam das Feld der Dunkelheiten ausgeschöpft? Im Grunde war es doch in der bisherigen Hermeneutik so, daß lediglich die Dunkelheiten, die aus mangelnder Grammatikkenntnis oder zweideutigen Stellen herrühren, vom Hermeneuten zu erhellen waren. Was für eine Dunkelheit bleibt noch der Hermeneutik übrig, zumal wenn sie so universal angelegt sein soll, wie dies bei Chladenius, der sie der Vernunftlehre als allgemeine Auslegekunst zur Seite stellt, der Fall ist? Die Dunkelheit, auf die die hermeneutische Kompetenz gemünzt ist, wird in einer Weise beschrieben, die auf den ersten Blick sekupdär anmuten mag, deren Universalität jedoch bei näherem Zusehen einleuchten wird: "Es geschieht aber unzehlich mal, daß man auch Stellen, wo keine von diesen [drei schon genannten] Dunckelheiten anzutreffen ist, dennoch nicht verstehet: Denn so können z. E. Leser öffters nicht in einem Philosophischen Buche fortkommen, ob es ihnen gleich nicht an Erkänntniß der Sprache fehlet, auch das Buch gar nicht zweydeutig abgefasset ist, sondern bey behorig zubereiteten Lesern den allergewissesten Verstand hat. Eben solcher Anstoß findet sich öfters bey denen historischen Büchern, ohne daß der Verfasser, und die Einrichtung des Buches die geringste Schuld daran haben. Bei genauerer Untersuchung findet man, daß diese Dunckelheit daher rühre, weil die biossen Worte und Sätze nicht allemal vermögend sind, den Begriff, den der Verfasser damit verknüpfft gehabt hat, bey dem Leser hervorzubringen, und daß die Erkänntniß der Sprache allein uns nicht in Stand setze, alle in derselben abgefaßten Bücher und Stellen zu verstehen.« Die Dunkelheit, die Chladenius hier namhaft macht, ist die der fehlenden oder mangelnden Hintergrundkenntnisse. Es ist in der Tat oft so, vor allem bei älteren Schriften, daß die Sprache und die Texte vollkommen klar erscheinen, wo dennoch das Verständnis nicht gelingen will, weil uns historisches oder sachliches Wissen mangelt, anders gewendet: weil wir nicht darüber im Bilde sind, wovon die Rede ist oder was der Autor eigentlich sagen wollte. Dieser Fall von Dun-
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kelheit mag, wie gesagt, zunächst entlegen vorkommen. Chladenius rührt aber hier an ein Grundphänomen der Sprache schlechthin. Sprache will stets etwas in Buchstaben ausdrücken, aber dieses "etwas" bleibt oft genug im Dunkeln, da es bei dem Empfänger nicht denselben Sinn oder dieselbe Wirkung auslöst, die beim Sprechen intendiert war. Auch Chladenius sieht es als einen reinen Sprachvorgang an. So fährt seine Einführung in die Idee der Hermeneutik als Universalwissenschaft fort: "Ein Gedancke, der durch die Worte bey dem Leser hervorgebracht werden soll, setzet offters schon andere Begriffe voraus, ohne welchen er nicht begrifflich ist: Daher, wenn der Leser dieselben Begriffe nicht schon hat, so können die Worte nicht die Wirckung bey ihn thun, noch die Begriffe veranlassen, welche bey einem andern Leser, der gehörig unterrichtet ist, gewiß erfolgen werden." Die Hermeneutik soll es also mit Stellen zu tun haben, die "aus keiner andern Ursache dunekel sind, als weil wir die Begriffe und Erkänntniß, welche zu ihrer Einsicht erfordert werden, noch nicht erlangt haben". Die Universalität dieser Situation springt in die Augen: Wann kommt es denn vor, daß wir das Hintergrundwissen meistern, das zur Einsicht in das Ausgesagte notwendig ist? Man braucht nicht nur an das Zeugnis älterer Autoren zu denken, wo uns das rechte Kontextwissen fehlt. Eines solchen Hintergrundwissens bedürfte es auch bei den trivialsten Äußerungen eines Anderen. Wer weiß mit Sicherheit, was sich in der Seele des Anderen abspielt, wenn er diesen oder jenen Satz ausspricht? Wir müssen es im praktischen Umgang immer voraussetzen, aber ein solches Eindringen in das verbum interius des Anderen läßt sich nie vollkommen bewerkstelligen. Es lädt zu immer weiterem Fragen und Diskutieren, aber auch zu Mißverständnissen ein. Chladenius betrachtet das Problem als ein rein didaktisches. Er beruft sich dafür auf die umgangssprachliche Bedeutung des Wortes "auslegen". Mit der Auslegung will man gewöhnlich erreichen, daß diejenigen, die noch nicht mit genugsamer Einsicht versehen sind, zum Verständnis gebracht werden. Man soll ihnen die Begriffe vermitteln, die zum Verstehen einer Stelle ausreichen sollen. So kommt Chladenius zu seiner betont pädagogischen Definition: "Auslegen ist daher nichts anderes, als diejenigen Begriffe beybringen, welche zum vollkommenen Verstand einer Stelle nöthig sind." Allein dieser Begriff, führt Chladenius aus, ist imstande, "einen tüchtigen Grund einer Philosophischen Auslege-Kunst" abzugeben. Das Vorkommen des Begriffs einer "philosophischen Hermeneutik" an dieser Stelle
Chladenius: Die Universalität des Pädagogischen
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läßt freilich aufhorchen, denn Chladenius, ger als erster eine deutschverfaßte Hermeneutik vorlegte, verwendet Auslege-Kunst und Hermeneutik synonymP Es ist in Wahrheit ein allgemein philosophischer Kontext, in den diese pädagogische Sicht der Hermen-eutik eingebettet wird. Aus den etlichen Beispielen, die Chladenius anführt, geht hervor, daß ihr das Schüler-Lehrer-Verhältnis Pate stand. Die Auslegung nimmt sich demnach als ein didaktischer Vorgang aus, in dem ein Lehrer das umfassendere Wissen vermittelt, das es dem Schüler erlaubt, die Gedanken eines Autors richtig zu verstehen. Dieses didaktische Vorbild ist alles andere als einseitig. Denn es gilt auch für den Umgang des Einzelnen mit einem Text, ja mit der Sprache überhaupt. Jeder, der lernt - und wir hören nie auf, Lernende zu sein -, muß sich ein Hintergrundwissen selbst verschaffen, indem er etwa auf Lexika, Handbücher oder weitere Literatur schlechthin rekurriert. 28 Über Chladenius hinaus könnten wir auch sagen, daß dies vom Selbstsprechen gilt. Wenn wir etwas sagen wollen, können wir uns auf Wörterbücher, Synonyma, Metaphern usw. beziehen, um das zu sagen, was wir "auf der Seele" haben. Eine Seele hat zwar noch kein Mediziner angetroffen, aber wie kann man sonst das Ungenügen beschreiben, das wir selbst an unseren eigenen Ausdrücken angesichts des Auszusagenden erfahren? Auch wir bleiben als Schüler und Sprechende auf Lehrer und fremde Hilfe angewiesen, die wir aber auch für uns selbst sein können. Die Universalität dieser pädagogischen Hermeneutik wird in keinem anderen Punkt sichtbarer als in Chladenius' Lehre vom "SehePunckt", die sämtliche Historiker der Hermeneutik ihrer Modernität wegen hervorgehoben haben. Wichtiger als diese Lehre selbst ist aber ihr didaktischer Stellenwert. An sich ist das Wort "Sehepunkt" nichts als die deutsche Übertragung des lateinischen "scopus", der ein zentrales Thema der Hermeneutik seit Augustin, Melanchthon und Flacius gewesen war. Chladenius setzt freilich neue Akzente, die dem universalen Perspektivismus der heutigen Hermeneutik vorausarbeiten. Der Sehepunkt wird zunächst als Zustand der Person umschrieben: "Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, daß wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den SehePunckt nennen."29 Nach Chladenius, der auf die Scopuslehre nicht hinweist, wurde der Ausdruck des Sehepunktes zunächst von Leibniz geprägt, der damit den unaufhebbaren Perspektivismus der Monaden kennzeichnete, der ja über keine Fenster, die einen reinen Blick nach
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draußen ermöglichten, verfügen. So bildet sich ein jeder für sich Perspektiven oder Bilder von dem, was sich in der Außenwelt abspielt, die aber durchgehend vom subjektiven Sehepunkt aus bedingt sind. Chladenius ordnet diese Perspektivenlehre in seine didaktisch-philosophische Hermeneutik ein. Der Sehepunkt sei ja "unentbehrlich, wenn man von den vielen und unzehliegen Abwechslungen der Begriffe, die die Menschen von einer Sache haben, Rechenschaft geben soll" .30 Daraus folgt, daß die Einsicht in den Perspektivismus für Chladenius keine Gefährdung der "Objektivität" darstellen kann, wie es heute gemeinhin befürchtet wird, sondern das gerade Gegenteil: Sie will sachgerechte Erkenntnis und besseres Verstehen allererst möglich machen. Nur wenn man den Sehepunkt mit in Betracht zieht, hat man eine Chance, von den individuellen "Abwechselungen, die die Menschen von einer Sache haben", Rechenschaft zu geben. Es geht also lediglich um das richtige Verständnis der Sprache durch Rückführung auf den sie leitenden Sehepunkt. Ein Sprachobjektivismus, der vom Sehepunkt absehen würde, ginge an den Sachen vollkommen vorbei. Dies ist die Grundlehre der universalen Hermeneutik. Der Begriff des Sehepunkts ist somit pädagogisch-hermeneutisch motiviert. Auch er dient zur "Beibringung" der Begriffe (im weiteren Sinne), welche zum Verständnis einer Stelle nötig sind. Chladenius hatte den guten Gedanken, dem Zeitalter der Aufklärung eine allgemeine Hermeneutik, die diesen Gesichtspunkt bedenkt, anzuraten. Er mag heute noch recht behalten.
3. Meier: Die Universalität des ZeichenhaJten
Eingangs haben wir darauf hingewiesen, daß es hier den Autoren nach nur um einen repräsentativen Überblick der Hermeneutik gehen konnte, insofern sie einen philosophischen bzw. universalen Charakter innehatte. Die letzte repräsentative Station der Universalhermeneutiken der Aufklärung, die unser besonderes Augenmerk reklamieren muß, ist der Versuch einer allgemeinen Auslegekunst von Georg Friedrich Meier (1718-1777).31 Im Jahre 1757 erschienen, handelt es sich nicht nur um die letzte Allgemeinhermeneutik des Rationalismus, sondern auch um eine grundlegend neue Form und gar eine Überbietung des Universalitäts anspruchs, dem wir in den propädeutischen Arbeiten von Dannhauer und Chladenius begegnet waren. Der neue, auch für sein Zeitalter zuhöchst repräsentative Universal isierungsschub liegt darin, daß sich der Anwendungsbereich der allge-
Meier: Die Universalität des Zeichenhaften
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meinen Auslegekunst nunmehr weit über den Horizont des Schriftlichen erstreckt, um das ganze All der Zeichen, auch der natürlichen, einzubeziehen. Daß die Hermeneutik bei Chladenius auf schriftliche Zeugnisse "eingegrenzt" war, ging aus dem Titel seiner Schrift hervor, >Einleitung zur richtigen Auslegekunst vernünftiger Reden und Schriften<. Das "allgemeine" in Meiers Versuch einer allgemeinen Auslegekunst besagt, daß nun alle Zeichen der Welt unter ihre Befugnis fallen. Die Hermeneutik menschlicher Rede ist also nur ein Teil der Universalhermeneutik, die sich auf alle Arten von Zeichen einläßt. Der allererste Satz seiner Hermeneutik spricht es deutlich aus: "Die Auslegekunst im weiteren Verstande (hermeneutica significatu latiori) ist die Wissenschaft der Regeln, durch deren Beobachtung die Bedeutungen aus ihren Zeichen können erkannt werden; die Auslegungskunst im engern Verstande (hermeneutica significatu strictiori) ist die Wissenschaft der Regeln, die man beobachten muß, wenn man den Sinn aus der Rede erkennen, und denselben andern vortragen will. "32 Die Auslegung von Sprachlichem bildet nur einen Ausschnitt der universellen Kunst der Auslegung, die auf alle Zeichen, naturhafte ebenso wie künstliche, Anwendung finden soll. Im Hintergrund dieser Konzeption liegt eine allgemeine Zeichenlehre oder Semiotik, wie sie von Leibniz unter dem Programmitel einer "characteristica universalis" entworfen wurde. "Universalis" bedeutet hier, daß in dieser Welt alles Zeichen ist und auf einen universalen Zusammenhang aller Zeichen, wie er vom göttlichen Urheber aller Zeichen gewollt wurde, zurückverweist. So wird die Hermeneutik in die Universalcharakteristik aller Dinge sive Zeichen integriert: "Die Charakteristik ist die Wissenschaft der Zeichen. Da nun die Auslegungskunst von Zeichen handelt, so ist sie ein Theil der Charakteristik, und nimmt ihre Grundsätze aus der allgemeinen Charakteristik her. "33 Ein Zeichen ist aber nichts spezifisch Sprachliches. Jedes Ding der Welt ist ein Zeichen, ein signum oder ein Charakter, sofern es ein Mittel ist, wodurch die Wirklichkeit eines anderen Dinges erkannt werden kann. Auslegen im weiten Verstande heißt folglich die Bedeutung aus dem Zeichen erkennen, d. h. genauer: es in die allgemeine Charakteristik aller Dinge einordnen können. Mit Meiers semiotischer Hermeneutik setzt sich erstmals die Auffassung durch, wonach Verstehen soviel wie Einordnen in einen Zeichenzusammenhang besagt. Hinter den Zeichen ist kein Sinn oder Geist anzutreffen, sondern nur ein universaler, zusammenhängender Zeichenhorizont. Erkannt oder verstanden wird nicht so sehr ein Sinn als eine klare Beziehung zwischen einem Zeichen und der ge-
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samten Welt der Zeichen: "Ein Ausleger im weitern Verstande erkennt den Zusammenhang des Zeichens mit seiner Bedeutung auf eine klare Weise. Folglich heißt Auslegen im weitem Verstande nichts anders als den Zusammenhang der bezeichneten Sachen mit ihren Zeichen klar einsehen. "34 Es gibt nun verschiedene Grade der Einsicht in den Zeichenzusammenhang, die auch an Leibnizens Erkenntnislehre erinnern: ist sie deutlich (d.h., nach Leibniz,35 wenn sie ausreicht, um die Sache von allen andern Körpern zu unterscheiden),hat man eine rationale Auslegung. Diese ist gar eine logische (interpretatio logica erudita, philosophica),36 wenn sie auf vollkommene Art geschieht. Eine undeutliche Auslegung wird eine sinnliche oder ästhetische genannt werden müssen. Eine universalere Hermeneutik läßt sich kaum denken: als allgemeine Auslegekunst gilt sie von allen Zeichen. Nun ist alles in dieser Welt Zeichen. Ferner kann jedes Zeichen auf jedes andere verweisen, weil in dieser Welt der optimale Zeichenzusammenhang herrscht. Die Leibnizsche Lehre von der besten aller Welten trifft erst recht für die Semiotik zu: "In dieser Welt ist, weil sie die beste ist, der allergrößte allgemeine bezeichnende Zusammenhang, der in einer Welt möglich ist. Folglich kann ein jedweder würklicher Theil in dieser Welt ein unmittelbares oder mittelbares, entfernteres oder näheres natürliches Zeichen eines jedweden andem würklichen Theils der Welt seyn."37 Es bleibt festzuhalten, daß die allgemeine Hermeneutik einen reinen Zeichenzusammenhang zu durchleuchten strebt. Auf die Auslegung der Rede bezogen impliziert dies, daß es in der Hermeneutik, wie schon Dannhauer lehrte, lediglich um eine hermeneutische, nicht um eine logische oder metaphysische Wahrheit gehen soll. Da sich der Mensch seiner Endlichkeit wegen betrügen lassen kann, muß man bei der Auslegung menschlicher Rede zwischen hermeneutischer und sachlicher Wahrheit unterscheiden. 38 Zu ermitteln bei dieser hermeneutischen Wahrheit ist ausschließlich der Standpunkt des Autors,39 das, was man für gewöhnlich die mens auctoris nennt. Dabei genießt die Selbstauslegung des Autors, die Meier die "authentische Erklärung" nennt, den Vorrang, solange jedenfalls nicht gezeigt wird, daß der Autor seinen Standpunkt geändert hat. 40 Kein endlicher Ausleger kann mit ebenso großer Gewißheit den Willen und den Zweck des Autors erkennen, wie der Autor selbst. Deshalb ist ein jeder der beste Ausleger seiner Worte. 41 Von großer hermeneutischer Tragweite ist überdies Meiers Prinzip der hermeneutischen Billigkeit (aequitas hermeneutica). Darunter
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versteht er "die Neigung eines Auslegers, diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche, mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen, am besten übereinstimmen, bis das Gegentheil erwiesen wird"42. Praktisch bedeutet dieses Prinzip, daß die Auslegung von der Antizipation des vollkommensten Zeichenzusammenhangs ausgehen muß. Auf natürliche Zeichen angewendet nimmt es freilich die Form einer "hermeneutischen Ehrerbietigkeit gegen Gott" (reverentia erga deum hermeneutica) an, wobei die natürlichen Zeichen die besten sein sollen, weil sie mit den Perfektionen Gottes und seinem allerweisesten Willen am besten übereinstimmen. Auf endliche Wesen und ihre Schriften bezogen schließt aber der Vorgriff der Billigkeit ein, daß die auszulegende Rede für wahr zu halten ist, solange das Gegenteil nicht bewiesen wird. Hierin spricht sich auf der Seite des Lesers die Erwartung aus, daß vom Deutungswürdigen immer etwas zu lernen ist. Mit anderen Worten: Die Zeichen, die auszulegen sind, sosehr sie auf weitere Zeichen hindeuten, wollen doch ein Wahres kundgeben, das bei jeder gerechten ("billigen") Auslegung als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Als Mittel, um diese hermeneutische Wahrheit oder mens auctoris zu erreichen, führt Meier die Critik (als "die Wissenschaft der Regeln, nach denen beurtheilt werden muß, ob die Rede und alle Theile derselben, in der That diejenige Rede sey, deren sich der Autor, welcher ausgelegt werden soll, bedient hat"43), die authentische Auslegung des Autors, die Beherrschung der Sprache und der Grammatik, das Heranziehen von Parallelstellen sowie die Kenntnis des Zwecks, den sich der Autor gesetzt hatte, an. Diese Prinzipien der allgemeinen oder theoretischen Auslegungslehre sollen in den praktischen Ästen der Hermeneutik konkretisiert werden, wobei die Anwendung auf besondere hermeneutische Gegenstände 44 gemeint ist. Die praktische Auslegekunst, die die allgemeinen hermeneutischen Regeln auf die Heilige Schrift appliziert, wird die heilige oder theologische Auslegekunst (hermeneutica sacra) heißen. Ihre erste Regel wird natürlich die Billigkeit oder die hermeneutische Ehrerbietung gegen Gott sein. 45 Unter den weiteren Anwendungsfeldern der theoretischen Hermeneutik kennt Meier eine juristische (h. juris oder legalis), eine diplomatische (die Urkunden prüft), eine moralische, sogar eine mantische (die natürliche Zeichen deutet) und eine hieroglyphische (für willkürliche Zeichen) Hermeneutik. In der mantischen Hermeneutik vernehmen wir gleichsam einen Schimmer der griechischen €Ql-tllvEULlx.r" die schon in Platons Schriften begegnete. Ihr Vorkommen im aufklärerischen und rationa-
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listischen Zeitalter soll nicht weiter erstaunen. In einer Welt, wo alles Zeichen eines anderen sein kann, gibt es bestimmt auch Zeichen für das Zukünftige, denn nichts ist ohne (zeichenhafte) Beziehung zueinander. Dafür muß es aber eine Kunst geben, die mantische Hermeneutik,46 welche eine Anwendung der allgemeinen Auslegekunst versinnbildlicht, die ihrerseits Teil der characteristica universalis ist. Der Stempel des Leibnizschen Denkens läßt sich hier nicht verkennen. Nichts ist ja rationaler als eine Welt, in der alles auf ein anderes als Grund seiner selbst hindeutet, welcher Grund wiederum ein Zeichen ist, das auf ein anderes verweist, und so fort bis hin zum weisen Urheber aller Zeichen. Die Universalität der Hermeneutik scheint mit der der universalen Charakteristik oder Semiotik Hand in Hand zu gehen. Leibniz' Universalgenie war der Ausdruck "hermeneutica" freilich bekannt,47 aber er scheint ihn selber nicht in einer so umfassenden Bedeutung genommen zu haben. Vermutlich war ihm der universale Zeichenzusammenhang so durchsichtig, daß eine speziell hermeneutische Kunst überflüssig erscheinen mußte. Wie dem auch sei, sein Denken übte auf die zwei bedeutendsten Gestalten des hermeneutischen Universalitätsanspruches des 18.Jh. einen beträchtlichen Einfluß aus. Einerseits hat er den Begriff des Sehepunktes oder des universalen Perspektivismus in Umlauf gebracht, den Chladenius in pädagogischer Absicht aufgriff. Andererseits bereitete sein Programm einer universalen Charakteristik der Meiersehen U niversalisierung des Zeichen begriffs über die Sprache hinaus den Boden. Damit waren gewissermaßen zwei Fronten der heutigen Hermeneutikdiskussion vorgezeichnet: auf der einen Seite die herausfordernde Ubiquität des Perspektivismus (der sich nach dem Szientismus des 19.Jh. Relativismus glaubte nennen zu müssen) im kontinentalen Bereich, auf der anderen die semiotische Unterwanderung des hermeneutischen Denkens in der strukturalistischen Linguistik, von der der postmoderne Dekonstruktivismus, für den jedes Wort eine Abtrift von Zeichen signalisiert, zehrt. Der Universalitätsanspruch der zeitgenössischen Hermeneutik und ihrer semiotischen Abwandlungen ist alles andere als neu. Er wurde schon in der Aufklärung gesät, von deren relativistischer und semiotischer Unbefangenheit noch einiges zu lernen wäre.
Pietismus: Die Universalität des Affektiven
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4. Pietismus: Die Universalitä.t des Affektiven Meiers Entwurf einer allgemeinen Auslegekunst von 1757 stellte den letzten Höhepunkt der aufklärerischen Universalhermeneutiken dar. Ihm war so gut wie keine Wirkung beschieden. 48 Die klassischen Theoretiker der Hermeneutik zu Beginn des 19.Jh. (Ast, Schleiermacher u.a.) kannten ihn nicht mehr. Man muß von einem Zerfall der Universalhermeneutiken sprechen, der sie für die unmittelbare Nachwelt unsichtbar machte. Dieser Zerfallsprozeß setzte wohl schon im 18.Jh. ein. Wie wir bereits bei Leibniz zu vermuten Anlaß hatten, mag der Aufklärung die Idee einer besonderen Kunst zur Erkenntniserlangung aus geschriebenen (oder natürlichen) Zeichen etwas absonderlich erschienen sein. Der Geist des Rationalismus legte doch viel mehr Wert auf die Betätigung der eignen Vernunft als auf das Studium älterer Schriftsteller, deren Vorurteilshaftigkeit zunehmend bloßgestellt war. Kein Geringerer als Chladenius hat diesen relativen Mißkredit der Hermeneutik für die Aufklärung eloquent beschrieben: "In der Philosophie brauchen wir nunmehro die Auslege-Kunst so sehr nicht, nachdem ieder seine eigene Krafft zu gedencken brauchen soll, und ein solcher Lehrsatz, den man durch vieles Auslegen aus einer philosophischen Schrifft heraus kriegen muß, uns nicht sonderliche Dienste thun kann, weil es hernach erst die Frage seyn wird, ob er wahr ist, und wie man ihn beweisen solle, worinnen die eigentliche Kunst der Philosophie bestehet. "49 Daß das Selbstdenken wiederum nicht autonom und auf die Vorleistung einer Tradition angewiesen ist, ist eine voraufklärerische Einsicht, die erst die Romantik wiederentdecken wird. Neben der Allgemeinhermeneutik blühten im 18.Jh. die Spezialhermeneutiken, insbesondere die theologische und die juristische. Aus Sachbegrenzungsrücksichten müssen wir im Rahmen der vorliegenden Arbeit auf deren Behandlung verzichten, zumal sie in vielen Nachschlagwerken schon geleistet wurde. Eine kleine Ausnahme wird man gestatten, um kurz auf den pietistischen Beitrag zur hermeneutica sacra hinzuweisen, nicht zuletzt deshalb, weil sie in der systematischen Hermeneutik der Gegenwart entschieden rezipiert wurde 50 und ein wichtiges Mittelglied zwischen der älteren protestantischen Hermeneutik und Schleiermacher darstellt. 51 Sie legt auch einen wichtigen Bestandteil des hermeneutischen Universalitätsanspruchs frei, den wir als die Universalität des Affektiven bezeichnen könnten. So lehrt der Vater der pietistischen Hermeneutik, August Hermann Francke, daß jedem Wort, das menschliche
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Rede äußert und das aus dem Inneren der Seele hervorgeht, ein "Affekt" innewohnt. 52 Will man das Wort Gottes auslegen, und die hermeneutica sacra hat kein anderes Ziel, muß man über eine ausreichende Affektenlehre oder "Pathologie" der Heiligen Schrift verfügen. Man sieht daraus, wie sehr die pietistische Sicht vor einem starren Wortobjektivismus, den sie in der protestantischen Orthodoxie wahrnahm, warnen hilft. Hinter jedem Wort steht ein Inneres, nämlich ein affektiver Zustand der Seele, der zum Ausdruck dringt. Auch der Pietismus vollzieht auf eine ihm sehr eigene Weise einen Rückgang vom )..oyoc;, :7tQOCPOQLXOc;, auf den )..oyoc;, Evc)L
Institutiones hermeneuticae sacrae< von 1723 im Ausdruckscharakter der Sprache fundieren. Rambach macht sich für die These stark, daß man "die Worte eines auctoris nicht vollkommen verstehen und interpretieren kann, wenn man nicht weiß, aus welchem Affekt sie geflossen sind". Denn: "Unsere Rede ist ein Ausdruck unserer Gedanken. Unsere Gedanken sind fast allezeit mit gewissen geheimen Affekten verknüpft ( ... ), daher geben wir durch die Rede nicht nur unsere Gedanken, sondern auch unsere damit verknüpften Affekte andern zu verstehen. Daraus folgt nun dieses consectarium, daß man unmöglich die Worte eines scriptoris gründlich einsehen und erklären kann, wenn man nicht weiß, was für Affekte in seinem Gemüt damit verbunden gewesen, da er diese Worte gesprochen. "54 Der Affekt ist nicht nur eine Begleiterscheinung, er ist auch "anima sermonis", die Seele der Rede. 55 Er ist das, was dem Leser bei der Lektüre der Schrift vermittelt werden will. Diese Intuition fand ihre eindrucksvollste Gestalt in der pietistischen Lehre von der applicatio. Es genügte offenbar nicht, den Affekt der Schrift zu verstehen (intelligere) oder zu erklären (explicare),56 man muß auch die Seele des Hörers erreichen. So gesellte sich der subtilitas intelligendi und explicandi, die seit jeher das Geschäft des Hermeneuten umschrieben, eine dritte Auszeichnung hinzu: die Fertigkeit, den Affekt der Schrift gleichsam in den Affekt des Hörers
Pietismus: Die Universalität des Affektiven
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einzuschreiben. Die Predigt war der selbstverständlichste Austragungsort dieser subtilitas. Dort galt es, den Sinn der Schrift in die Seele der Gemeindemitglieder zu übersetzen (eQ!l'YJvEUELV!). Gadamers Hermeneutik wird später daraus die Lehre ziehen, daß ein verstandener Sinn stets ein mit auf uns angewandter Sinn, eine Bedeutung für mich sein muß. Die Anwendung auf den Verstehenden ist kein Zusatz zum intelligere, sie macht das Wesen des erfolgreichen Verstehens aus. In Anlehnung an die subtilitats intelligendi und explicandi der Aufklärungshermeneutiken hat Gadamer in >Wahrheit und Methode< den Ausdruck subtilitas applicandi verwendet und popularisiert, um diese Anwendungsfähigkeit zu charakterisieren. Es ist aber zu verzeichnen, daß sich diese Formel in Rambachs >Institutiones hermeneuticae sacrae< nicht findet. 57 Von der Sache her ist aber Gadamers Auffassung weitgehend begründet. Denn bereits zu Beginn seiner >Institutiones< von 1723 beschreibt Rambach die praktische Zwecksetzung der hermeneutica sacra mit drei Verben: es geht zunächst um das "Erforschen" (investigandum) des Schriftsinnes, alsdann darum, ihn anderen zu erklären (aliis exponendum) und schließlich darum, ihn weislich anzuwenden (sapienter adplicandum).58 Von subtilitas applicandi ist zwar nicht die Rede, aber es entging den Theoretikern der Hermeneutik nicht, daß Rambach damit den Fähigkeiten des Sinnverstehens (hier investigare) und des Erklärens (hier exponere) eine dritte hinzufügte. Die Idee, der zufolge der Pietismus den subtilitates intelligendi et explicandi eine Funktion der Anwendung hinzugesellt hätte, findet sich nämlich bei dem ersten Herausgeber der Hermeneutik Schleiermachers, Friedrich Lücke. Lücke erwähnt dies freilich, um die Erneuerung dieses Motivs bei neueren Autoren zu monieren (ein Werturteil, hinter dem man Schleiermacher selbst vermuten könnte). Einen lateinischen Passus von Ernesti über die zwei klassischen subtilitates zitierend bemerkt in der Tat Lücke: "Unde in bono interprete esse debet, subtilitas intelligendi et subtilitas explicandi. Früher fügte J. Jac. Rambach institutiones hermen. sacrae p. 2 noch ein drittes hinzu, das sapienter applicare [sic], was die Neuern leider wieder hervorheben. "59 Es ist sehr wahrscheinlich, daß es dieser Text von Lücke aus dem Jahre 1838 war, der Gadamer dazu führte, den Ausdruck subtilitas applicandi zu bilden und ihn retrospektiv auf Rambach anzuwenden (!). Gadamers Rückführung der subtilitas applicandi auf Rambach selbst war also philologisch-historisch unvorsichtig ("falsch", wenn man will), aber die Sache, auf die er sich bezog, war sehr wohl da und unterwegs zu ihrem Begriff.
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So neu diese pietistische Subtilität der Applikation auch war, stellt sie doch eine Reaktualisierung des sensus tropologicus 60 in der Lehre vom vierfachen Schriftsinn, d. h. des Sinnes, der den moralischen Wandel des Gläubigen angeht, dar. Auch die augustinische Verbumslehre muß hier in Erinnerung gerufen werden, die Gottes Sohn derart als Verbum verstand, daß es uns nur in der Form einer uns angehenden Heilsbotschaft treffen konnte. So schreibt Gadamer: "Der theologische Begriff des Verbums bleibt in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich, sofern ,das Wort' das Ganze der Heilsbotschaft ist, und doch in der Aktualität des pro me."61 Nur einem vom Positivismus durchtränkten 19.Jahrhundert konnte dieses "pro me" zum Relativismus der Weltanschauungen entarten. In der pietistischen applicatio tritt ein genuin hermeneutisches und universalisierbares Wortverständnis zum Vorschein. Es nimmt nicht wunder, daß der pietistischen Hermeneutik viel mehr Wirksamkeit als den zwei philosophischer angelegten, jedoch recht schematisch anmutenden Universalhermeneutiken von Dannhauer, Meier oder gar Chladenius zuteil wurde. Im Gegenzug zur rigiden Zeichenwelt der allgemeinen characteristica setzte sich schließlich die Auffassung durch, die im Wort das Ausdruckhafte einer Seele (und für die Seele) und nur das sehen will. Aus dieser Anschauung heraus konnte in der Romantik unter nahezu totaler Vergessenheit der rationalistischen Vorarbeiten die Bestimmung der hermeneutischen Universalität einen neuen Anlauf nehmen.
Anmerkungen 1 Vgl. den Überblick bei C. von Bormann, Art. Kritik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV, BasellStuttgart 1976, S. 1249-1262. 2 Spinoza, Tractatus theologico-politicus (1670), cap. VII. 3 Was mit zwei Beiträgen in den siebziger Jahren nachgeholt wurde (vgl. Gw, H, S. 276-291, 292-300). 4 Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974), S. 35-84. 5 Buchtitel waren damals oft unheimlich lang: Idea born interpretis et malitiosi calumniatoris quae obscuritate dispulsa, verum sensum a folso discernere in omnibus auctorum scriptis ac orationibus docet, & plene respondet ad quaestionem Unde scis hunc esse sensum, non alium? Omnium facultatum studiosis perquam utilis. Das Buch erlebte immerhin eine 5. Auflage in Augsburg im Jahre 1670. 6 Idea boni interpretis, Art. 1, § 3: »Omne scibile habet aliquam respondentem scientiam philosophicam. Modus interpretandi est aliquod scibile. Ergo: Modus interpretandi habet aliquam respondentem scientiam philoso-
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phicam." Vgl. dazu L. Geldsetzer, ehe cos'e l'ermeneutica?, in: Rivista di filosofia neoscolastica 73 (1983), S. 594-622. 7 Idea boni interpretis, § 6: »Una generalis est hermeneutica, quamvis in obiectis particularibus sit diversitas." 8 Vgl. H.-E. Hasso Jaeger, a.a.O., S. 50. 9 Vgl. ebd. und H.-G. Gadamer, in: Gw, 11, S. 279, 296. 10 Johannes Clauberg, Logica vetus & nova, 1. Aufl. 1654, nach der verdienstvollen Abhandlung von M. Beetz, Nachgeholte Hermeneutik. Zum Verhältnis von Interpretations- und Logiklehren in Barock und Aufklärung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 591. 11 Vgl. H.-E. Hasso Jaeger, a.a.O., S. 52. 12 Ebd. \3 Ebd., S. 56; vgl. M. Beetz, a.a.O., S. 598. \4 Idea boni interpretis, S. 4: "Hermeneuticam ( ... ) organi Aristotelici adjectione novae civitatis aucturi." Vgl. H.-E. HassoJaeger, a.a.O., S. 51 sowie H.-G. Gadamer, Gw, 11, S. 287. 15 Idea boni interpretis, S. 29: "interpres enim est analyticus orationum omnium quatenus sunt obscurae, sed exponibiles, ad discernendum verum sensum a falso." 16 Vgl. im einzelnen H.-E. Hasso Jaeger, a.a.O., S. 46 und zum scopus M.Beetz, a.a.O., S. 612 (Dannhauer, Idea boni interpretis, S. 231: " ... scopus est certissima interpretationis clavis"). 17 Vgl. die Titelangaben in den bereits angeführten Beiträgen von Hasso Jaeger, Geldsetzer und Beetz. 18 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, Frankfurt a. M. 1977, S. 75. 19 Vgl. H.-G. Gadamer, Gw, 11, S. 288. 20 J. M. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742 (Neudruck: Düsseldorf 1969, mit einer Einleitung von L. Geldsetzer). Zur Ablösung der Hermeneutik von der Logik im 18.Jahrhundert vgl. M. Beetz, a.a.O., S. 608. Zur Würdigung des Beitrags von Chladenius in philologisch-literaturwissenschaftlicher Hinsicht vgl. P. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1975. 21 V gl. für das Folgende J. M. Chladenius, a. a. 0., Vorrede (ohne Seitenangabe). 22 F. Schleiermacher, a.a.O., S. 71. 23 F. A. Wolf, Museum der Alterthums-Wissenschaft, Berlin 1807 (Nachdr.: mit einem Nachwort vonJ. Irmscher, Weinheim 1986). 24 V gl. A. Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hrsg. von E. Bratuschek, erster Hauptteil: Formale Theorie der philologischen Wissenschaft, Leipzig 21886 (Neudr.: Darmstadt 1966). Boeckh hatte damit die Grammatik aus den philologischen Hilfswissenschaften ausgestoßen (vgl. zu diesem Schritt: G. Pflug, Hermeneutik und Kritik.
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August Boeckh in der Tradition des Begriffspaars, in: Archiv für Begriffsgeschichte 19 [1975], S. 138-196): Zu nennen wäre auch hier die Gesamtdarstellung, wohl die letzte in diesem Geiste, die F. Blass 1892 unter dem Titel >Hermeneutik und Kritik< (a.a.O.) veröffentlichte. 25 F. Schlegel ist eine. Über den Primat der Kritik oder der Hermeneutik findet seiner Ansicht nach eine wahre Antinomie statt (F. Schlegel, Zur Philologie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von E. Behler, Bd. 16, Paderborn/München/Wien 1981, S. 55), die er so ausdrückt: "Geht man auf den historischen Eindruck, so ist die restitutive des Textes das Wichtigste. Dazu gehört auch die höhere Kritik. - Auch in Rücksicht auf Kunst, Virtuosität pp. verdient die Kritik den Vorzug vor der Hermeneutik. Nein! Sie haben in jeder Rücksicht wenigstens in der wissenschaftlichen gleichen Rang. Was hilft mir der Text, wenn ich ihn nicht verstehe?" 26 J. M. Chladenius, a.a.O., Vorrede. 27 Vgl.J. M. Chladenius, a.a.O., § 176, S. 96: "So ist kein Zweifel, daß auch aus den Regeln auszulegen, eine Wissenschaft entspringe, darzu wir den Ausdruck hermeneutick haben. In unserer Sprache wird sie füglich AuslegeKunst ge nennet. " 28 Vgl. die Einleitung von L. Geldsetzer zu J. M. Chladenius, a.a.O.,
s.xx. 29
J. M. Chladenius, a.a.O., § 309.
Ebd. G. F. Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegekunst, Halle 1757 (N eudr.: mit einer Einleitung von L. Geldsetzer, Düsseldorf 1965). 32 G. F. Meier, Versuch, § l. 33 Ebd., § 3. 34 Ebd., § 9. 35 Vgl. G. W. Leibniz, Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Idee, Ausg. Gerhardt, IV, S. 422ff. (auch in der Sammlung: Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, Stuttgart 1966). 36 G. F. Meier, Versuch, § 9. 37 Ebd., § 35. 38 Ebd., § 118: "Derjenige Sinn der Rede ist hermeneutisch wahr (sensus hermeneutice verus), welcher eine wahre Bedeutung der Rede ist C••• ). Da nun ein endlicher Autor betriegen und betrogen werden kan: so kan man, von der hermeneutischen Wahrheit eines Sinnes, nicht auf seine logische, metaphysische oder moralische Wahrheit allemal schliessen." 39 Ebd., § 123. Zur eminenten Bedeutung der Autorintention für die Aufklärungshermeneutik vgl. M. Beetz, a. a. 0., S. 611. 40 G. F. Meier, Versuch, § 138. 41 Ebd., § 136. 42 Ebd., § 39. 43 Ebd., § 134. 44 Ebd., § 249. 45 Ebd., § 251. 30
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Anmerkungen
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46 Auch bei dem Rationalisten A. G. Baumgarten genoß die Mantik einen bevorzugten Stellenwert. Sie enthielt nahezu an die dreißig Unterabteilungen, darunter die Onirokritik oder die Traumdeutung, die Rhabdomantik (die Deutung mit Hilfe von Stöckchen), die Libanomantik (aufgrund von Weihrauch), die Alectriomantik (von Hähnen) usf. Vgl. A. G. Baumgarten, Texte zur Grundlegung der Ästhetik, Hamburg 1983, Anhang. 47 Schon seit seiner Jugendschrift >Methodus Nova Discendae Docendaeque Jurisprudentiae<, 2. Teil, § 67. Vgl. dazu H.-E. Hasso Jaeger, a.a.O., S. 74, Anm. 48 Vgl. L. Geldsetzer, Einleitung zu J. M. Chladenius, a.a.O., S. XVIII: "Mit Georg Friedrich Meiers ,Versuch einer allgemeinen Auslegekunst< ( ... ) fanden alle diese Tendenzen auf eine Konstitution einer allgemeinen Hermeneutik ihr vorläufiges Ende. Die Spezialhermeneutiken der beiden großen dogmatischen Disziplinen Theologie und Jurisprudenz überwucherten sie völlig, und die Aufklärungsphilosophie scheute wohl auch davor zurück, die Hilfsmittel zu mühsamer Gewinnung von Wissensgehalten zu kultivieren, die sie durch Selbstdenken ohnehin besser zu entwickeln gedachte." 49 J. M. Chladenius, a.a.O., § 187. 50 Dilthey wollte in ihr eine Vorahnung der psychologischen Interpretation erkennen. Heideggers Überblick der Hermeneutikgeschichte (GA, 63, S. 13) zitiert nur Rambachs >Institutiones hermeneuticae sacrae< von 1723, und zwar relativ ausführlich, zwischen Augustin, Flacius und Schleiermacher. Gadamer wird dem Pietismus seine Lehre von der grundlegenden Funktion der Anwendung entnehmen. Ferner wird Gadamer im Zuge seiner Debatte mit Derrida auf die pietistischen Untertöne seines eigenen Begriffs von Selbstverständnis, das weniger Selbstgegenwart als das Nichtgelingenwollen einer solchen meint, hinweisen (Dekonstruktion und Hermeneutik, in: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1988, Bd. I, S.8). 51 Zum Einfluß des Pietismus auf die Romantik vgl. H.-G. Gadamer, GW, II, S. 97 und G. Gusdorf, Les origines de l'hermeneutique, Paris 1988, S. 118. 52 A. H. Francke, Praelectiones Hermeneuticae, ad viam dextre indagandi et exponendi sensum scripturae S. Theologiae Studiosis ostendendam, Halle 1723, S. 196: "Omni, quem homines proferunt sermoni, ex ipsa animi des ti natione unde is procedit, affectus inest." Vgl. W. Dilthey, GS, XIV/1, S. 619. Eine Affektenlehre war schon im Anfang zu Franckes >Manductio ad lectionem S. Scripturae< von 1693 entworfen worden. 53 Vgl. W. Dilthey, ebd. 54 Zitiert nach dem Auszug bei H.-G. GadameriG. Boehm, Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1977, S. 62. 55 Ebd., S 65. 56 Von dieser doppelten Aufgabe zeugte noch Meiers (a.a.O., § 1) Definition der Hermeneutik als der Wissenschaft der zu beobachtenden Regeln, "wenn man (1) den Sinn aus der Rede erkennen, und (2) denselben andern vortragen will". Vgl. ferner J. A. Ernesti, Institutio interpretis Novi Testa-
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Hermeneutik zwischen Grammatik und Kritik
menti, Leipzig 1775, § 4, S. 4: "Interpretatio igitur omnis duabus rebus continetur, sententiarum (idearum) verbis subiectarum intellectu, earumque idonea explicatione. U nde in bone interprete esse debet subtilitas intelligendi, et subtilitas explicandi." 57 Ich verdanke diese Klarstellung meinem Budapester Kollegen Istvan M. Feher, der mich über eine ungarische Debatte zu dieser Frage unterrichtete. Vgl. dazu von I. M. Feher: >Hermeneutik und Philologie: Verständnis der Sachen, Verständnis des Textes< (im Erscheinen). 58 Institutiones hermeneuticae sacrae, Jena 1752, S. 2: "Posteriore modo accepta hermeneutica sacra, est habitus practicus, quo doctor theologus, necesariis adminiculis sufficienter instructus, praelucente spiritus sancti lumine, idonus redditur, ad sensum scripturae legitime investigandum, investigatumque aliis exponendum, & sapienter adplicandum." 59 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1977, S. 99, Anmerkung. 60 Vgl. M. Beetz, a.a.O., S. 602. 61 GW, II, S. 80.
IH. DIE ROMANTISCHE HERMENEUTIK UND SCHLEIERMACHER Ich lese Hermeneutik, und suche was bisher nur eine Sammlung von unzusammenhängenden und zum Theil sehr unbefriedigenden Observationen ist zu einer Wissenschaft zu erheben welche die ganze Sprache als Anschauung umfaßt und in die in-' nersten Tiefen derselben von außen einzudringen strebt. l
1. Der nachkantische Übergang von der Aufklärung zur Romantik: Ast und Schlegel Versteht man vereinfachend genug unter Romantik eine unvollendbare Sehnsucht nach dem Vollkommenen, so war das 19.Jahrhundert hinsichtlich hermeneutischer Theorie ein romantisches. Es zeichnet sich in der Tat durch eine unerhörte Publikationsscheu aus. Kaum einer der großen Klassiker der Hermeneutik von Schlegel über Schleiermacher, Boeckh und Droysen bis hin zu Dilthey hat es gewagt, seine hermeneutischen Arbeiten selbst in Druck gehen zu lassen. Ihren Schülern ist es zu verdanken, daß ihre Forschungen der Nachwelt überliefert wurden. Der Übergang von der Aufklärung zur Romantik ist zunächst durch eine große Diskontinuität gekennzeichnet. Äußerlich ist dies schon daran ersichtlich, daß Schleiermacher die zahlreichen Allgemeinhermeneutiken der vorigen Jahrhunderte nicht mehr zu kennen scheint. Er kennt nur noch die "mehreren speziellen Hermeneutiken"2 (vornehmlich die theologische), die ihr ruhiges Dasein als unsystematische Hilfsdisziplinen am Rand der gediegenen Wissenschaften fortsetzten. Die Entfaltung einer grundsätzlicher ansetzenden, allgemeinen Hermeneutik als Kunst des Verstehens stellt er - und die Geschichtsschreibung ist ihm hierin gefolgt - als ein Novum und Desiderat hin, das erst seine Denkanstrengung zu erfüllen berufen sei. Das angehende 19.Jahrhundert ist vom Rationalismus früherer Jahrzehnte durch einen Abgrund getrennt. Zu Recht bemerkt P. Szondi, der diese Periode eindringlich erforscht hat, daß "das halbe Jahrhun-
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Die romantische Hermeneutik und Schleiermacher
dert, das zwischen Meier und Schleiermacher liegt, eine der markantesten geistesgeschichtlichen Zäsuren darstellt"3. Was ist geschehen? In einem Wort, oder Namen: Kant. Die Kantsche Kritik hat auf vielfache Weise gewirkt, aber eines hat sie wirkungs geschichtlich bedeutet, nämlich den Zusammenbruch des Rationalismus,4 dem etwa Dannhauer, Spinoza, Wolff, Chladenius und Meier huldigten. Bei aller Hervorhebung der naturkonstituierenden Leistung des reinen Verstandes war es doch eine Demütigung der Vernunft, die Kants >Kritik der reinen Vernunft< vorlegte. Grundvoraussetzung des Rationalismus war doch, daß der obzwar endliche Geist des Menschen dennoch imstande sei, mit Hilfe seines Denkens den logischen und regelrechten Aufbau der Welt zu erkennen. Federführend war dabei der Satz vom Grund (nihil est sine ratione), der seinen Sitz in unserem Gemüt hat. Von ihm aus seien die Vernunftwahrheiten (verites de raison, sagte Leibniz im damaligen Deutsch) apriori, d. h. aus Prinzipien unserer Vernunft zu erschließen. Aus dem Umstand, daß der Satz vom Grund unserem Verstand entstammt, zieht nun Kant die Folgerung, daß die von ihm hergestellte bzw. aufgefundene Ordnung lediglich für die Welt der Phänomene, der Dinge, wie sie uns erscheinen und von uns bearbeitet werden, Geltung besitzt. Die Welt der Dinge an sich entschwindet nunmehr in lauter U nerkennbarkeit. In dieser Unterscheidung von Phänomen und Ding an sich liegt eine der geheimen Wurzeln der Romantik und des Aufschwungs, der der Hermeneutik seitdem widerfahren ist. Wenn jeder Zugang zur Welt, und in unserem Fall zum Text, über eine subjektive Deutung oder Ansicht erfolgt, muß die prinzipiell sein wollende philosophische Besinnung bei diesem Subjekt ansetzen. Auf seine Ebene wird beispielsweise die Frage zu stellen sein, wie und ob Objektivität in wissenschaftlichen sive hermeneutischen Belangen zu erlangen ist. Insofern wird Schleiermachers Bestimmung der Hermeneutik als Kunstlehre des Verstehens ein gewisses Novum verkörpern. Zur Voraussetzung hat sie aber den Bruch mit dem problemlosen, rein rationalen Weltzugang. In dieser Situation des zunehmend weltlos werdenden Subjekts übte zuerst die Vorbildhaftigkeit des griechischen Geistes eine magische Faszination aus, die an die Namen von Goethe, Schiller und Winckelmann geknüpft ist. S Die Beschneidung der Autarkie menschlicher Vernunft, die Kants Dialektik zeitigte, ließ eine Wiedererwekkung des anscheinend lebensverschönenden und wohltätigen Geistes des Griechentums geboten erscheinen. In dieser Lage, die selbstredend mit Kant nichts mehr zu tun hat, setzte sich die "idealistische"
Ast und Schlegel
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Hermeneutik zur Aufgabe, diesem griechischen Geist zu neuem Leben zu verhelfen. Dies ist wohl der gemeinsame Nenner der frühromantischen Bemühungen, die man bei so verschiedenen Autoren wie Friedrich Ast und Friedrich Schlegel, deren Werk nicht ohne Einfluß auf Friedrich Schleiermacher blieb, vorfindet. Im Jahre 1808 konnte der Schelling-Schüler Ast ein >Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik< betiteltes Werk vorlegen, in dem es umstandslos darum ging, die Einheit des sich im Altertum und der ganzen Geschichte ausdrückenden Geistes durch "Ahndung" wiederzugewinnen. Für die Aufklärung wäre eine so hochgestapelte Aufgabe unter dem Titel Hermeneutik noch undenkbar gewesen. Ast geht von dem identitätsphilosophischen Befund aus, daß alles Verstehen ohne die ursprüngliche Einheit alles Geistigen unmöglich wäre. 6 Alles Verstehen ist sich überall wiedererkennender Geist, und nichts ist dem Geiste fremd. Ausgangspunkt der hermeneutischen Erfassung dieses Geistigen bildet aber die Kenntnis des Geistes des Altertums. So erklärt Ast: "Die Hermeneutik oder Exegetik (EQ!-tlJVe'lJ'tLXT), El;lJYlJLLXT), auch LOLOQLXT) genannt: enarratio auctorum bei Quintil. Inst. Orat. I, 9.1.) setzt daher das Verständnis des Altertums überhaupt in allen seinen äußeren und inneren Elementen voraus und gründet darauf die Erklärung der schriftlichen Werke des Altertums."7 Das Unternehmen von Ast ist natürlich universal veranschlagt, handelt es sich doch um das hermeneutische Selbstverständnis des einen, identischen Geistes in all seinen, vom Altertum ausgehenden Erscheinungen. In diesem Zusammenhang wächst der hermeneutischen Lehre vom scopus, der zufolge jede Stelle aus ihrer Absicht und ihrem Kontext zu erklären sei, neue Bedeutsamkeit zu: jede einzelne Äußerung soll nun vom Ganzen des Geistes her begriffen werden. Damit erhält die bereits bei Melanchthon begegnende Idee vom "hermeneutischen Zirkel", wie sie später genannt wird, ihre vielleicht universellste Ausprägung: "Das Grundgesetz alles Verstehens und Erkennens ist, aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen. "8 In diesem "Grundgesetz" wird die künftige Hermeneutik eher ein allgemeines Problem in den Blick bringen und sich fragen, wie denn das Ganze aus dem Einzelnen zu gewinnen sei und ob die Vorahnung eines Ganzen die Erfassung des Einzelnen nicht beeintächtige. Für Ast besitzt dieses Gesetz noch rein beschreibenden Charakter: Das eine ist aus dem anderen zu verstehen und umgekehrt. Keines ist früher als das andere, beide bedingen sich wechselseitig und sind "Ein harmoni-
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Die romantische Hermeneutik und Schleiermacher
sches Leben".9 Aus der Problematisierung dieser Harmonie wird die hier faßbare Lehre vom hermeneutischen Zirkel zu einem entscheidenden Zankapfel der nachherigen Hermeneutik werden. Für Ast bedeutet sie nur die Selbstverständlichkeit, daß jeder Buchstabe auf einen übergeordneten Geist zurückzuleiten sei. Schlegels Hermeneutikverständnis blieb lange undokumentiert. Es fand seinen Niederschlag in den zwischen 1796-97 verfaßten >Heften zur Philologie<, die aber erst 1928 zur Publikation gelangten und seit 1981 in einer philologisch-kritischen Ausgabe vorliegen. Dem 19 . Jahrhundert unbekannt, verdienen sie hier Erwähnung, weil es mehr als wahrscheinlich ist, daß Schleiermacher von ihnen Kenntnis hatte.1° Zur Zeit ihrer Niederschrift lebten Schleiermacher und Schlegel im selben Haus und hatten den Plan einer gemeinsamen PlatonÜbersetzung ins Auge gefaßt, die Schleiermacher später allein vollbrachte. Grundanliegen der Schlegelsehen Meditationen war die Ausarbeitung einer Philosophie der Philologie bzw. einer Philologie der Philologie. Aus der Selbstzerstörung der philosophischen Vernunft, die aus Kants Metaphysikkritik hervorging, folge, daß nur eine Selbstbesinnung der Philologie eine Erneuerung der Philosophie zuwege bringen könne. Schlegel orientiert sich an der klassischen Unterteilung der Philologie in Grammatik, Kritik und Hermeneutik. Als Fundament wird die Grammatik angesetzt. Das Verhältnis von Kritik und Hermeneutik offenbart eine gewisse Antinomie, die wir früher gestreift haben: Um richtig zu verstehen, muß man über kritisch edierte Texte verfügen, aber um diese fertigzubringen, braucht man schon Hermeneutik. Solches Schwanken und Antinomiedenken ist für die Romantik und gerade für Schlegel nicht untypisch. Fest steht, daß die methodologische Selbstbesinnung der Philologie das Vorbild des Altertums vor Augen haben soll. "Kritik und Hermeneutik setzen schon einen historischen Zweck voraus." Soll Hermeneutik je zur Vollendung gelangen, ist eine historische Kenntnis des Altertums erforderlich. ll Wie gestaltet sich aber konkret die Beziehung der Hermeneutik zur Philologie des Altertums? Es ist diffizil, aus Schlegels sehr andeutenden Skizzen ein reales Programm herauszudestillieren. Ihm scheint eine "philosophische Hermeneutik" 12 vorzuschweben, die fähig wäre, die vorbildliche Klassizität der Alten kunstmäßig auszubilden. Sie möchte das, was bei ihnen intuitives Können war, in eine systematische Kunstlehre als neue Methodenlehre der Philologie überführen. Erreicht werden soll sozusagen ein Sichselbstverstehen des Verste-
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hens, das aus dem Vorbild der Klassiker Lehren ziehen würde, denn "das Altertum ist die Arena der philologischen Kunst".13 Wenn wir recht sehen, vertritt Schlegel damit eine mögliche, universale Funktion der hermeneutischen Theorie nach Kant, indem er die nun dringend auszubildende Kunst des Verstehens auf das "bewährte", klassische Modell der Antike zurückverweist. Weltlos und zunehmend unsicher geworden, wird das hermeneutische Subjekt romantisch: Es wendet sich der Antike zu, um die kunstmäßigen Regeln seines Tuns tastend auszukundschaften. Konstitutiv für diese romantische Sicht wird also die elementare Unsicherheit des Subjekts, folglich sein Angewiesensein auf die Vorleistung der Tradition. Der Grundzug der Schlegelschen Welt ist die kongeniale Unverständlichkeit, der das endliche Subjekt permanent ausgeliefert bleibt. Verstehen ist zugleich immer ein Nichtverstehen, denn die Rückübersetzung eines Ausdrucks in Verständliches bringt stets eine gewisse Umbiegung mit sich. 14 Wahrlich kann es nie ganz gelingen, ein Geniales (und darum geht es wohl Schlegel) zu verstehen, wenn Verstehen eine Rückführung auf Vertrautes und Gemeines impliziert. Schlegel ist schon darin ein Vorreiter und ein Vertreter der romantischen Hermeneutik, daß er seine hermeneutischen Ansichten zu keiner systematischen Ausführung gelangen ließ - ein Versagen, das in der eigenen Konzeption gleichsam begründet war. Von seiner Grundlegung der Romantik wurde Schleiermacher (1758-1834) entschieden beeinflußt, als er sich anschickte, die fundamentale Unsicherheit des Subjekts in eine allgemeine Kunstlehre des Verstehens einzubeziehen.
2. Schleiermachers Universalisierung des Mißverständnisses Von Anbeginn seiner Lehrtätigkeit in Halle im Jahre 1805 bis hin zu seinem Tod 1834 hat sich Friedrich Schleiermacher intensiv mit den Fragen der Hermeneutik beschäftigt. Eine ausgereifte Darstellung seiner hermeneutischen Theorie hat jedoch der berühmte, 1809 nach Berlin berufene Theologieprofessor und Platon-Übersetzer nie drucken lassen. Für öffentlichkeitswürdig hielt er höchstens seinen kunstvollen, aber doch etwas eigenwilligen Akademievortrag vom 13. August 1829 >Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch<, in dem er sich mit seinen philologischen Lehrern auseinandersetzt. Die Wirkung der Schleiermacherschen Hermeneutik geht vollends auf die 1838 von
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Die romantische Hermeneutik und Schleiermacher
seinem Schüler Friedrich Lücke aus dem handschriftlichen Nachlaß und Vorlesungsnachschriften besorgte Edition unter dem Titel >Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament< zurück. Lücke, der Schleiermachers Hermeneutikvorlesungen nicht beiwohnte,!5 hat ein breites Material vorgefunden, um seine kompendienartige Ausgabe zusammenzustellen, denn zwischen 1805 und 1832 hielt Schleiermacher neun Vorlesungen zur Hermeneutik. Im Jahre 1805, zu Beginn seiner theologischen Lehrtätigkeit, traktierte er nur eine "Hermeneutica sacra" nach dem Muster des pietistischen Lehrbuchs vonJ. A. Ernesti. Ab 1809/10 las er schon über "allgemeine Hermeneutik".1 6 Parallel zu seinen Vorlesungen schrieb er einige Entwürfe zur Hermeneutik in Heften nieder, offensichtlich im Hinblick auf eine Veröffentlichung. Diese Publikation, die ihm nie gelang, war aber seit 1805 fest geplantY Woran diese Publikationsscheu liegen mag, ist nicht leicht zu ermitteln. Sicherlich nicht daran, daß er die Hermeneutik für eine zweitrangige Beschäftigung neben seiner theologischen Arbeit gehalten haben könnte. Die ständige Arbeit an der Sache und den Entwürfen zur Hermeneutik zeugt vom Gegenteil. Gewiß kann man Schleiermachers "unerwartet frühen Tod"!8 (er war immerhin 66 Jahre alt) für das Fehlen einer Ausarbeitung verantwortlich machen. Naheliegender ist vielleicht die Vermutung, daß Schleiermacher - darin echter Romantiker (und Hermeneutiker!) - mit seinen Entwürfen bzw. ihrem Ausdruck nie ganz zufrieden war. Dies belegt bei einer sich im wesentlichen gleichbleibenden Gesamtkonzeption das beständige Schwanken seiner Terminologie und seiner Schwerpunkte, das der Schleiermacher- und Hermeneutikforschung viel Kummer bereitet hat. Hier kann nur das in sich sehr schlüssige Gesamtkonzept und sein hermeneutischer Neubeginn im Vordergrund stehen. Die Rede von einem Neubeginn ist schon etwas verführerisch und zum Teil falsch bei Schleiermacher.1 9 Denn grundsätzlich folgt er der älteren Hermeneutik, wenn er am Anfang seiner Hermeneutik erklärt, daß "jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen".2o Geht man davon aus, daß "jede Rede auf einem früheren Denken [beruht]'',2! so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Grundaufgabe des Verstehens darin aufgeht, den Ausdruck auf das ihn animierende Aussagewollen zurückzuführen: "Gesucht wird dasselbe in Gedanken, was der Redende hat ausdrücken gewollt. "22 Was nlan zu verstehen sucht, ist der Sinn einer Rede,23 d. h. den
Schleiermachers Universalisierung des Mißverständnisses
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Ausdruck eines Anderen oder Gedachten. So hat das Verstehen kein weiteres Objekt als die Sprache. Daher schreibt Schleiermacher in einem bekannten, von Gadamer als Motto zum letzten Teil von >Wahrheit und Methode< übernommenen Ausspruch: "Alles Vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache. "24 Diese Grundvoraussetzung besitzt bei Schleiermacher einen spezifischen, architektonischen Sinn. Sprache läßt sich auf zweierlei Weise betrachten. Einerseits ist die jeweils zu deutende Sprache ein Ausschnitt aus der Totalität des Sprachgebrauchs einer gegebenen Gemeinschaft. Jeder Sprachausdruck folgt nämlich einer vorgegebenen Syntax oder dem Gebrauch und ist insofern etwas Überindividuelles. Den Teil der Hermeneutik, der sich mit diesem Aspekt beschäftigt, wird Schleiermacher "die grammatische Seite"25 der Interpretation benennen. Ihr obliegt es, einen Ausdruck aus dem Gesamtzusammenhang der vorliegenden Sprachtotalität zu erklären. Der Ausdruck ist aber nicht nur der anonyme Träger einer prinzipiell überindividuellen Sprache, er ist auch das Zeugnis einer individuellen Seele. Die Menschen denken sich nicht immer dasselbe unter denselben Worten. Wäre es so, dann gäbe es "nur Grammatik" .26 Die Hermeneutik, die sich nicht gemäß einer Tendenz, die im Strukturalismus unserer sechziger Jahre ausgeprägt war, in Grammatik auflösen will, muß die andere Seite der Interpretation, die individuellere, berücksichtigen. Diese zweite, die Hermeneutik allererst zu einer Einheit formende Aufgabe ist die der "technischen" Interpretation. Technisch meint hier vermutlich, daß der Interpret die besondere Kunst, die ein Autor in einem seiner Texte an den Tag legte, zu verstehen sucht. Hier wird offensichtlich die rein syntaktische Sicht der Sprache auf das, was Sprache eigentlich aussagen will, hin überschritten. Angezielt wird das Verstehen eines Geistes, das Sprache aus der sie hervorbringenden Seele heraus erschließt. Deshalb konnte Schleiermacher später diese Seite der Interpretation die "psychologische" nennenP Schleiermachers allgemeine Hermeneutik gabelt sich in zwei Aufgaben und folglich zwei Teile: die grammatische und die technische bzw. psychologische. Die grammatische betrachtet die Sprache aus der Totalität ihres Sprachgebrauchs heraus, die technisch-psychologische faßt sie als Ausdruck eines Inneren. Die Hermeneutik will aber eine "Kunstlehre" sein - eine Wendung, der bei Schleiermacher neue Konnotationen zuwachsen werden, da der Hermeneutik immer mehr die Aufgabe zugewiesen wird, den Akt des Verstehens "kunstmäßig" auszubilden (was nicht wenig an Schlegel erinnert). Aufschlußreich ist in diesem Bezug Schleiermachers Unterscheidung zwischen einer
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laxeren und einer strengeren Praxis der Interpretation, die zwei grundsätzlich verschiedene Zweckbestimmungen der Hermeneutik nach sich zieht. Die laxere (in der bisherigen Hermeneutikgeschichte übliche) Praxis geht davon aus, "daß sich das Verstehen von selbst ergibt und drückt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden". Es unterliegt keinem Zweifel, daß Schleiermacher hier die klassische Stellenhermeneutik meint, die lediglich Anleitungen geben wollte, um dunkle Stellen zu entschlüsseln. Schleiermacher selbst zielt hingegen auf eine strengere Praxis ab, die davon auszugehen hätte, "daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden" .28 In dieser Unterscheidung meldet sich die Originalität des hermeneutischen Ansatzes von Schleiermacher. Was nunmehr "laxere" Praxis heißt, wird mit einem kunstlosen, da rein intuitiven Verstand gleichgesetzt. 29 Sicherlich ist das Verstehen in seiner normalen Entfaltungsweise kunstlos, d. h. für sich unproblematisch. Es war die Sicht der traditionellen Hermeneutik, daß man alles richtig und glatt versteht, bis man auf einen Widerspruch stößt.3° Eine Hermeneutik wird erst dann nötig, wenn man nicht (mehr) versteht. Die Verständlichkeit war früher das Primäre oder das Naturwüchsige, das Nichtverstehen sozusagen der Ausnahmefall, um dessen twillen es einer besonderen hermeneutischen Hilfe bedurfte. Schleiermacher stellt diese "naive", provinzielle Perspektive auf den Kopf und setzt das Mißverstehen als Grundtatbestand voraus. Vom Anbeginn der Verstehensbemühung an ist der Hermeneut vor möglichem Mißverstand auf der Hut. Das Verstehen hat also in allen seinen Schritten kunstgemäß zu verfahren. "Das Geschäft der Hermeneutik darf nicht erst da anfangen, wo das Verständniß unsicher wird, sondern vom ersten Anfang des Unternehmens an, eine Rede verstehn zu wollen. Denn das Verständniß wird gewöhnlich erst unsicher, weil es schon früher vernachlässigt worden. "31 Diese strengere Praxis ist diejenige, die Schleiermacher mit seiner Hermeneutik anbahnen will. So verlangt Schleiermacher explizit: "Die hermeneutischen Regeln müssen mehr Methode sein."32 In diesem "mehr Methode" liegt nahezu der Wahlspruch der modernen Hermeneutik, die Schleiermacher einleitet. Auf diese Weise gewinnt die Kunst des Verstehens eine betont rekonstruktive Funktion, die auf der Universalisierung der Problematik des Mißverständnisses beruht. Sie ist von einem Subjektverständnis durchdrungen, dem wir schon bei Schlegel begegnet waren. Die nachkantische Vernunft, deren Erkenntnisanspruch problematisiert wurde, ist fundamental
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unstabil geworden, weil ihr der begrenzte, perspektivische, hypothetische Charakter ihrer Verstehensversuche aufgegangen ist. Künftighin muß vom universalen Primat des Mißverständnisses der Ausgang genommen werden. Dieses Element des Verstehens ist in der Tat universalisierungsfähig: Wann läßt sich wirklich behaupten, daß man eine Sache zu Ende begriffen hat? Bei allem Verstehen, selbst dort, wo es zu gelingen scheint, kann ein Rest Mißverstehen nicht ausgeschlossen werden. Auf die Universalisierung der allzu menschlichen Erfahrung, daß, wie es 1829 heißt, "das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will" ,33 kommt es Schleiermacher an. Deshalb muß er die Grundoperation der Hermeneutik oder des Verstehens - erst jetzt können beide Termini rigoros identisch werden - als die einer Nachkonstruktion ansetzen. Um eine Rede wirklich zu verstehen, d. h. um die stets drohende Gefahr des Mißverständnisses zu bannen, muß ich sie von Grund aus in all ihren Teilen rekonstruieren können, gleich als ob ich ihr Urheber wäre. Im Verstehen geht es nicht um den Sinn, den ich in eine Sache hineinlege, sondern um den Sinn, wie er sich vom zu rekonstruierenden Standpunkt des Autors aus zeigt. Diese hermeneutische Gerechtigkeit dem Gegenstand gegenüber bringt Schleiermacher dazu, die Aufgabe so zu formulieren, "die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber" - eine zuerst von Kant verwendete Formel, die Schleiermacher in all seinen Texten zur Hermeneutik anführt. 34 Das Ziel des Besserverstehens läßt sich nur als optimale Forderung auffassen, denn so gestellt, handelt es sich um eine "unendliche Aufgabe", wie Schleiermacher oft unterstreicht. Mag der Imperativ des Besserverstehens etwas überschwenglich erscheinen, gemäß der potentiellen Universalität des Mißverständnisses soll es aber lediglich als Anleitung zum fortwährenden Weiterinterpretieren verstanden werden. 35 Da man des eigenen Verstehens nie ganz sicher werden kann, muß man immer wieder und immer von neuem in die Sache einzudringen streben. Das Besserverstehen als unerreichbarer Telos des Verstehens zeugt von dem Ansporn, der darin liegt, daß man nie vollkommen verstanden hat, so daß tieferes Eingehen auf das zu Deutende immer lohnt. Es erhebt sich freilich die Frage, ob die Gestalt einer "Kunstlehre", die eine streng rekonstruierende Praxis der Interpretation zu verwirklichen trachtet, der hier abgehandelten Sache gerecht werden kann. Schleiermacher hat selbst einige Kanones und Regeln, vor allem für den grammatischen Teil der Hermeneutik, vorgelegt. Er blieb sich aber immer dessen bewußt, daß es für die Anwendung der hermeneu-
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tischen Regeln selbst keine Regeln gab. 36 Er bot zwar allgemeine "Methoden" der Interpretation an, die im wesentlichen eine Erneuerung der Regeln der alten Hermeneutiktradition verrieten, so z. E. die Forderung, Stellen aus ihrem Kontext heraus zu erklären, verzichtete aber konsequent darauf, Regeln ihrer Anwendung zu geben oder in ihnen das Entscheidende zu sehen. Im "technisch-psychologischen" Teil, der sich mit der Rede als Manifestation eines Individuums befaßt, sprach er sogar von der Unabdingbarkeit der "Divination" im interpretativen Prozeß. Darunter ist keine göttliche Eingabe gemeint, sondern schlicht ein Vorgang des Erratens (divinare)Y Wenn uns die vorwiegend komparativistischen Mittel der grammatischen Deutung im Stich lassen, wenn die Aufhellung der besonderen Ausdrucksweise eines Autors angepackt werden soll, muß oft genug einfach erraten werden, was der Autor hat sagen wollen. Schleiermacher setzt überall und zu Recht voraus, daß hinter jedem gesprochenen oder geschriebenen Wort etwas anderes, ein Gedachtes steht, das die eigentliche Zielscheibe des Interpretierens bildet. Das Gedachte gibt sich aber nur in Worten kund. Deswegen läßt es sich letztlich nur erraten. Daher legte Schleiermacher immer mehr Wert auf das divinatorische Verstehen in der Hermeneutik. So mag er sich selbst etwas "mißverstanden" haben, als er seine eigene hermeneutische Konzeption unter das Programm einer regelgeleiteten Kunstlehre ("mehr Methode") stellte. Denn wie kaum ein anderer besaß er einen scharfen Sinn für die Grenze des Methodisierbaren und die Notwendigkeit einer gefühlsmäßigen Divination im Reich der Interpretation. Vielleicht hat er deshalb auf eine Edition seiner Hermeneutik in Gestalt einer Kunstlehre verzichtet?
3. Psychologistische Einschränkung der Hermeneutik?
Angesichts der noch lückenhaften Quellenlage bleibt es gewagt, über die Entwicklung der Schleiermacherschen Hermeneutik zu spekulieren. Von der Sache her hat aber die Schleiermacher-Forschung nicht ganz unrecht, in seinen späteren Arbeiten einen Vorrang der psychologischen Interpretation aufzuspüren,38 der sich u. a. darin äußerte, daß die technische Interpretation in eine psychologische umbenannt wurde. Mehr und mehr wird Schleiermacher darüber ins klare gekommen sein, daß der Ertrag einer rein grammatikalischen Auslegung recht bescheiden ausfallen mußte. Letztes Ziel der Interpretation war es für diesen Romantiker, hinter die Rede zum inneren
Psychologistische Einschränkung der Hermeneutik?
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Denken vorzustoßen. 39 Faktisch ist es doch meist so, daß der rein sprachliche oder grammatische Zustand einer Stelle unproblematisch ist. Was man nicht versteht und stets mißverstehen kann, ist eben das, was der Schriftsteller sagen wollte. Deswegen will und muß man seine Rede "interpretieren", d.h. verständlich machen durch Rückführung auf einen Aussagewillen. Die Akademierede von 1829 spricht allenthalben deutlich aus, daß die "äußere" Sprache durch ihre Rückbezogenheit auf das innere Denken des Autors zum Verständnis gebracht werden sol1. 40 Die ganze vorherige Geschichte der Hermeneutik hatte wahrlich keine andere Priorität gehabt. Die neuere Hermeneutik hat aber an Schleiermachers Redeweise ausgesetzt, daß sie einer Preisgabe der Sinn- bzw. Sachbezogenheit der älteren Hermeneutik gleichkäme. Anstatt einen Sinn oder eine Wahrheit zu ermitteln, käme es Schleiermacher nur noch darauf an, einen Autor oder einen schöpferischen Akt zu verstehen. Für Schleiermacher, so lautet Gadamers bekannter Einwand, solle der Interpret "die Texte unabhängig von ihrem Wahrheitsanspruch als reine Ausdrucksphänomene"41 betrachten. Viele Schleiermacher-Spezialisten, insbesondere M. Frank, haben dagegen Einspruch eingelegt, aber sie taten dies so, daß sie die allgemein für verwerflich gehaltene "Psychologisierung" der Hermeneutik Dilthey anlasteten. Er allein hätte einem Sichhineinversetzen des Interpreten in die Seele des Autors das Wort gesprochen. Wahr daran ist, daß Dilthey Schleiermacher stark psychologistisch rezipiert hat. Er sah es als den "treibenden Gedanken" Schleiermacher an, daß die Interpretation eine Nachkonstruktion des Werkes als eines lebendigen Aktes des Autors sei, woraus folge, daß es Aufgabe der hermeneutischen Theorie sei, "diese Nachkonstruktion wissenschaftlich zu begründen aus der Natur des produzierenden Aktes" .42 Man sollte jedoch nicht so tun, als ob Schleiermacher nicht selber geschrieben hätte, daß "die Aufgabe der Hermeneutik darin besteht, den ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden".43 Zur Verhandlung steht einzig, ob es der Sache angemessen ist, die äußere Sprache als Verlautbarung eines inneren Denkens zu vernehmen. Völlig daneben wäre es, wollte man lediglich den unbewußten, kompositorischen Prozeß der Gedankenerzeugung nachkonstruieren. Diese Seele interessiert niemanden. Führt es aber wirklich in die Irre, Sprachliches auf seinen eigenen, hintergründigen Aussagegehalt hin zu erforschen? Soweit wir sehen, ist es allein die Rekonstruktion dieses Inneren, die Schleiermacher im Blickfeld hat. Muß dies im Ernst als "Psychologisierung" verworfen werden? Denn
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damit ist alles andere als ein Absehen vom Wahrheitsgehalt der Rede impliziert. Ganz im Gegenteil: Eine Einschränkung des Wahrheitsanspruches der Rede läge vielmehr in der Mißachtung dieses inneren Denkens, das eine jede Rede trägt. Der Wahrheit wird man nur teilhaftig, wenn man hermeneutisch gesinnt ist, d. h., wenn man bereit ist, den leichten Dogmatismus der rein grammatischen Ebene zu durchbrechen und in die Seele des Wortes einzutreten.
4. Der dialektische Boden der Hermeneutik Schleiermacher kann man nur eine sachfremde Psychologisierung zur Last legen, wenn man den dialektischen, genauer: dialogischen Horizont seiner Hermeneutik außer acht läßt. Unter Dialektik, die als oberste philosophische Wissenschaft angesetzt wird, der sich die Hermeneutik unterordnet, versteht Schleiermacher eine Kunstlehre des Sichverständigens. Ihre Notwendigkeit erwächst aus der Unnachvollziehbarkeit eines "vollendeten Wissens" oder eines archimedischen Punktes für uns Menschen. Angesichts unserer Endlichkeit müssen wir vielmehr annehmen, glaubt Schleiermacher, daß überall auf dem Gebiet des Denkens, wie die Geschichte der Wissenschaften deutlich genug lehre, unendlich Stoff zum Streit vorhanden sei. 44 So bleiben wir darauf angewiesen, Gespräche miteinander - und mit uns selbst, betont Schleiermacher - zu führen, um zu gemeinsamen und vorerst streitfreien Wahrheiten zu gelangen. Dieser dialektische Ansatz, der aus dem Sturz der metaphysischen Letztbegründungsversuche hervorgeht, geht Hand in Hand mit der Universalisierung des Mißverständnisses, die seiner Hermeneutik ihre spezifische Brisanz verleiht: Das prinzipiell im Irrtum befindliche Individuum kann sein Wissen nur auf dem Wege des Gesprächs oder des Gedankenaustausches mit anderen erobern. Die Hermeneutik, als "die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen" , 45 partizipiert an dieser dialogischen Wissenssuche. Um einen Text zu verstehen, muß man ja in ein Gespräch mit ihm treten und damit hinter das, was seine Worte unmittelbar aussagen, kommen: "Wer könnte mit ausgezeichnet geistreichen Menschen umgehen, ohne daß er ebenso bemüht wäre, zwischen den Worten zu hören, wie wir in geistvollen und gedrängten Schriften zwischen den Zeilen lesen, wer wollte nicht ein bedeutsames Gespräch, das leicht nach vielerlei Seiten hin auch bedeutende Tat werden kann, ebenso genauer Betrachtung wert halten,
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die lebendigen Punkte darin herausheben, ihren innern Zusammenhang ergreifen wollen, alle leisen Andeutungen weiter verfolgen?"46 Die Hermeneutik ruht auf dialogischem Boden: Einen Text auslegen heißt, sich auf ein Gespräch mit ihm einzulassen, Fragen an ihn zu richten und sich von ihm in Frage stellen zu lassenY Immer wieder muß die Interpretation, will sie nicht redundant werden, das rein Geschriebene übersteigen und so "zwischen den Zeilen lesen", wie Schleiermacher glücklich sagte. Diese Kunst ähnelt sehr der des Gesprächs. Jedes geschriebene Wort ist an sich ein Dialogangebot, das ein Text mit einem anderen Geist führen will. So rät Schleiermacher dem Ausleger schriftlicher Werke dringend an, "die Auslegung des bedeutsameren Gesprächs zu üben".48 Was diese Kunst des Gesprächs mit schlechter Psychologisierung gemein haben soll, leuchtet wirklich nicht ein. In diesen dialogischen Rahmen ist Schleiermachers Aufnahme des hermeneutischen Zirkels eingenistet. Wir hatten bei Friedrich Ast gesehen, daß jede einzelne Äußerung des Geistes aus ihrem Gesamtzusammenhang, aus ihrem Ganzen her zu verstehen sei. Für Ast war schließlich dieses Ganze die allumfassende Einheit des Geistes, wie sie sich in den Grundepochen der Menschheit verausgabt. Schleiermacher ist dieses idealistische Ganze zu ungeheuer. Nach ihm läßt sich dieses Ganze bescheidener nach zwei Seiten hin bestimmen, die der Zweiteilung seines hermeneutischen Konzepts entsprechen. Nach der grammatischen, hier "objektiv" genannten Seite hin ist das Ganze, von dem her sich das Einzelne beleuchten läßt, die literarische Gattung, der es entsprießt. Nach der psychologischen oder subjektiven Seite hin ist aber das Einzelne (die Stelle, das Werk) als "Tat seines Urhebers" anzusehen und aus dem "Ganzen seines Lebens" zu erklären. 49 Damit begreift Schleiermacher das Individuum als das letzte Woraufhin, dem sich die Interpretation anzunähern hat. Auf diese Weise setzt er sich merklich von dem Unterfangen seines Lehrers Ast ab, den Zirkel "noch einmal zu potentieren"5o und die individuelle Leistung als Glied eines noch höheren, idealistischen oder geschichtlichen Ganzen aufzufassen. Schleiermachers Begrenzung der hermeneutischen Zirkularität auf die Totalität eines individuellen Lebens ist kennzeichnend für sein Bestreben, das Sprachliche als Emanation eines inneren Denkens, d. h. als Mitteilungsversuch einer Seele zu verstehen. Indern aber Ast den Zirkel geschichtlich potenziert hat, hatte er - sehr gegen seinen idealistischen, universalgeschichtlichen Willen - dem Epochenrelativismus des heraufsteigenden Historismus, für den alles als Ausdruck seines Zeitalters zu deuten sein wird,
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Die romantische Hermeneutik und Schleiermacher
vorausgedacht. Wir wenden uns nun dem Universalitätsanspruch, den diese neue Blickweise für die Hermeneutik zeitigte, zu.
Anmerkungen 1 F. Schleiermacher, Brief an Ehrenfried von Willich vom 13. Juni 1805, zitiert bei W. Virmond, Neue Textgrundlagen zu Schleiermachers früher Hermeneutik, in: Schleiermacher-Archiv, Bd. I11, BerliniNew York 1985, S. 584. 2 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 75. 3 Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 136. 4 Für eine weniger rabiate Präsentation der Kantschen Revolution sei auf unsere frühere Untersuchung >Kant zur Einführung< (Hamburg 1994) verWIesen. 5 Vgl. P. Szondi, a.a.O., S. 135f. 6 F. Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, § 70 (vgl. den Auszug bei H.-G. GadameriG. Boehm, 1977, S. 112). 7 Ebd., § 71 (GadameriBoehm, S. 113f.). 8 Ebd., § 75 (GadameriBoehm, S. 116). 9 Ebd. Zur Vorreiterfunktion dieser Zirkellehre vgl. W. Dilthey, GS, XIV/I, S. 657-659. 10 Friedrich Schlegels >Philosophie der Philologie<, mit einer Einleitung hrsg. von Josef Körner, in: Logos 17 (1928), S. 1-72. Jetzt: Zur Philologie, in: Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 16, 1981, S. 33-81. Zur Kenntnis Schleiermachers dieser Hefte vgl. H. Patsch, Friedrich Schlegels ,Philosophie der Philologie' und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966), S. 432-472. Vgl. ferner Diltheys gelehrte Ausführungen zu Schlegel in GS, XIV/I, S. 670-677. 11 F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 16, S. 38 [III, 49]. 12 Vgl. den programmatischen, aber auch symptomatisch unsicheren Satz in KA, Bd. 16, S. 69 [IV, 93]: »Auch eine Philosophie der Hermeneutik müßte wohl vorangehen. Dieß ist vielleicht eine eigene Wissenschaft so gut wie Grammatik. Ist es nicht vielmehr eine Kunst? - Ist's Kunst, so ist's auch Wissenschaft. « \3 KA, Bd. 16, S. 37 [111, 25]. 14 Vgl. E. Behler, Friedrich Schlegels Theorie des Verstehens: Hermeneutik oder Dekonstruktion?, in: E. BehlerlJ. Hörisch (Hrsg.), Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn/München/Wien/Zürich 1988, S. 141-160. Vgl. auch Schlegels Aufsatz von 1800 >Über die Unverständlichkeit<. 15 Vgl. auch für das Folgende W. Virmond, Neue Textgrundlagen, in: Schleiermacher-Archiv I (1985), S. 575-590. 16 Eine Nachschrift dieser bisher unbekannten Vorlesung wurde neulich veröffentlicht: Friedrich Schleiermachers >Allgemeine Hermeneutik< von 1809/10, hrsg. von W. Virmond, in: Schleiermacher-Archiv I (1985), S. 1269-
Anmerkungen
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1310. Sie bietet nach den bekannten Editionen von Lücke, Kimmerle und M. Frank eine sehr erfrischende Zusammenfassung des hermeneutischen Projekts von Schleiermacher. 17 Vgl. W. Virmond, a.a.O., S. 576. 18 So M. Frank, Einleitung zu F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 1977, S. 57. 19 Mit gutem Grund schreibt W. Hübener, Schleiermacher und die hermeneutische Tradition, in: Schleiermacher-Archiv, I, 1985, S. 565: "Die weitreichende historiographische Evacuatio der hermeneutischen Tradition erleichtert der Schleiermacher-Literatur den Gebrauch der Erstmaligkeits-Emphase." 20 Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, S. 76. 21 Ebd., S. 78. 22 F. Schleiermacher, Allgemeine Hermeneutik von 1809/10, S. 1276. 23 Ebd.: "Die Aufgabe ist, aus der Sprache den Sinn einer Rede zu verstehen." 24 Hermeneutik, hrsg. von H. Kimmerle, Heidelberg 1959, S. 38. 25 Allgemeine Hermeneutik von 1809/10, S. 1276. 26 Ebd. 27 Über das an der Sache wenig ändernde Wechseln der Terminologie und die Verwirrung, die es bei den Interpreten auslöste, vgl. H. Birus, Schleiermachers Begriff der "Technischen Interpretation", in: Schleiermacher-Archiv I (1985), S. 591-600. 28 Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, S. 92; Hermeneutik, hrsg. von H. Kimmerle, S. 29-30. 29 Vgl. W. H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, Berlin/New York 1988, S. 173 f.; ferner M. Potepa, Hermeneutik und Dialektik bei Schleiermacher, in: Schleiermacher-Archiv I (1985), S. 492. 30 Vgl. W. Virmond, Neue Textgrundlage, S. 582. 31 Allgemeine Hermeneutik von 1809/10, S. 1272. 32 Hermeneutik und Kritik, S. 84. 33 F. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, in: Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, S. 328. 34 Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, S. 94, 104; Über den Begriff der Hermeneutik, ebd., S. 325; Allgemeine Hermeneutik von 1809/10, S. 1308. Zur Vorgeschichte der Formel vgl. O. F. Bollnow, Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selber verstanden hat? (1940), in: O. F. Bollnow, Studien zur Hermeneutik, Bd. I, Freiburgl München 1982,
S.48-72. 35 Vgl. W. Hinrichs, Standpunktfrage und Gesprächsmodell. Das vergessene Elementarproblem der hermeneutisch-dialektischen Wissenschaftstheorie seit Schleiermacher, in: Schleiermacher-Archiv I (1985), S. 529. 36 Vgl. Hermeneutik und Kritik, S. 81, 360. Vgl. auch M. Frank, Partialität oder Universalität der ,Divination', in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 58 (1984), S. 249, sowie W. H. Pleger, a.a.O., S. 186.
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Vgl. M. Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und
-interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt a. M. 1977, S. 313 ff. 38 Dies die Hauptthese von H. Kimmerle, Die Hermeneutik Schleiermachers im Zusammenhang seines spekulativen Denkens, Diss. Heidelberg 1957. Soweit wir sehen, sind keine vernichtenden Einwände gegen die Grundlinie dieses Entwicklungsmusters, das neuerdings M. Potepa (a.a.O., S. 494) und H. Birus (a.a.O.) bestätigen, vorgebracht worden. Zur Debatte stünde nur, was dabei unter »psychologisch" zu verstehen sei. 39 Darin wußte sich Schleiermacher der Tradition der Rhetorik verpflichtet, die aber im Methodologismus des 19. und 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten würde: »Die Zusammengehörigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen" (Hermeneutik und Kritik, S. 76). Insofern ist es etwas ungerecht, mit Gadamer in Schleiermachers Rekonstruktionsideal allein die Folge der neuzeitlichen Wissenschaft sehen zu wollen. Schleiermacher ließ sich nämlich auch von der Einsicht aus der älteren Rhetorik leiten, daß die Rede selber eine Komposition und damit eine Konstruktion (dispositio) ist, die das Verstehen zu rekonstruieren hat. 40 Darin sieht M. Potepa (a.a.O., S. 495) treffend die grundlegende Motivation von Schleiermachers späterer Hermeneutik. 41 WM, S. 184 (= Gw, I, S. 200). 42 W. Dilthey, GS, XIV/I, S. 689. 43 Über den Begriff der Hermeneutik, in: Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, S. 321. 44 F. Schleiermacher, Dialektik, hrsg. von R. Odebrecht, Leipzig 1942, § 1.5. (vgl. den Auszug in: Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, S.419). 45 Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, S. 71. 46 Über den Begriff der Hermeneutik, in: Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, S. 31Sf. 47 Vgl. W. H. Pleger, a.a.O., S. 10. Vgl. ferner zum Verhältnis von Dialektik und Hermeneutik die schon angeführten Beiträge von Potepa und Hinrichs sowie den Hermeneutikartikel von C. von Bormann, a. a. 0., S. 118. 48 Über den Begriff der Hermeneutik, in: Hermeneutik und Kritik, hrsg. von M. Frank, S. 316. 49 Ebd., S. 335. 50 Ebd.
IV. EINSTIEG IN DIE PROBLEME DES HISTORISMUS Die Geschichte ist das yvw{h amJ"cov der Menschheit. 1
1. Boeckh und das Au/dämmern der geschichtlichen Bewußtheit Schleiermacher hatte die Lehre vom hermeneutischen Zirkel auf das Ganze einer Literaturgattung sowie auf die Individualität des Schriftstellers einzugrenzen gewünscht, um der willkürlichen weil nicht mehr zu kontrollierenden Potenzierung des Zirkels, wie sie etwa von Ast suggeriert wurde, einen Riegel vorzuschieben. Obwohl die Zirkelvorstellung die Idee einer zu vermeidenden "fallacy" hervorruft, beruht sie im Grunde auf logischem Fundament: Es ist ein Gebot der Kohärenz, Einzelnes nur im Zusammenhang mit dem Ganzen, in das es sich einfügt, aufzufassen. Für das 19.Jahrhundert fand dieses kohärente Ganze im geschichtlichen Zusammenhang der jeweiligen Epoche seine Konkretion. Die Grundlehre dessen, was man seither Historismus, mitunter Relativismus nennt, ist, daß jede einzelne Erscheinung aus dem Kontext ihrer Epoche zu begreifen ist. Es gehe nicht an, Maßstäbe unserer Zeit auf fremde Zeitalter anzuwenden, die geschichtlichen Tatsachen seien vielmehr immanent als Exponenten ihrer Zeit zu deuten. Dieser seitdem von jedem Wissenschaftler praktizierte Historismus gehorcht freilich einem elementaren Fairneßbemühen den geschichtlichen Phänomenen gegenüber. Er wirft aber brisante epistemologische Fragen auf: Wenn jede Epoche aus sich selber zu erklären sei, wird dies wohl auch für die unsrige gelten müssen. Unsere Sicht früherer Epochen wird ebenso vom Kontext unserer Gegenwart aus erklärt, aber auch relativiert werden müssen. Auch unsere Epoche stellt nur eine unter anderen dar. Wie ist nun eine halbwegs strenge Wissenschaft vom Geschichtlichen möglich? Weiter gefaßt: Wie ist unter den Auspizien des allgemein anerkannten Historismus die Idee einer verbindlichen und nicht zugleich relativierbaren Wahrheit zu vertreten? Geht alles in das perspektivistische Ganze der jeweiligen Zeitbedingtheit auf? Wie ist aus dem hermeneutischen Zirkel unserer Geschichtlichkeit herauszutreten, wenn überhaupt? Dies sind die Grundsorgen des Historismus. Warum ausgerechnet die Hermeneutik, die Kunst des Verstehens,
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Einstieg in die Probleme des Historismus
mit ihnen in Berührung kam, läßt sich zunächst leicht einsehen. Der Ansatzpunkt liegt wohl in der romantischen Einsicht in die unausrottbare Unsicherheit der Individualität, die Schleiermacher gar zur Universalisierung des Mißverständnisses getrieben hatte. Soweit wir sehen, war indessen bei Schleiermacher noch nicht davon die Rede, daß diese Unsicherheit primär aus der epochenspezifischen Bedingtheit des Verstehens herrührte. Die Probleme des Historismus, wie wir sie kennen, haben ihn kaum beschäftigt. Es lag eher an der geradezu metaphysischen oder monadenhaften Isoliertheit der Subjektivität, daß ihr die Gefahr des ständigen Mißverständnisses drohte, nicht an der von ihm ja verworfenen Ansicht, nach der jede einzelne Erscheinung aus dem Zusammenhang ihrer Epoche zu rekonstruieren sei. Das Heraufkommen des Historismus setzt wohl eine andere Erfahrung voraus. Denn das 19.Jahrhundert war nicht nur das Zeitalter der Romantik, es erlebte auch den Triumph der Wissenschaft und der Methodologie (worunter wir hier die philosophische Besinnung auf die Fundamente der Wissenschaft bzw. die Reduktion der Philosophie darauf verstehen). Der Siegeszug der modernen, mathematisch-physikalischen Wissenschaften, die sich just im 19.Jh. von philosophischer Obhut emanzipierten, schien sehr wohl der Annahme Vorschub zu leisten, daß verbindliche Wissenschaft und Wahrheit doch möglich waren. Sie gelang jedenfalls für die Wissenschaften der Natur, deren Grundlagen Kants >Kritik der reinen Vernunft< freigelegt hatte. Der methodologischen Besinnung des 19.Jh., die von dem neuen Problemkreis des Historismus angestachelt wurde, blieb nur übrig, eine "Kritik der historischen Vernunft" für die geschichtliche Welt hervorzuzaubern. Unter diesem methodologischen Gewand, dem Fragen nach den Objektivitäts bedingungen geschichtlicher Erkenntnis, wurde somit ein Heraustreten aus dem hermeneutischen Zirkel unserer Geschichtlichkeit in Aussicht gestellt. Diese Fragen kümmerten Schleiermacher noch wenig. Seine hermeneutischen Ansätze kamen erst durch August Boeckhs >Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften< methodologisch zum Tragen. Es handelt sich um Vorlesungen, die der AItertumswissenschaftler Boeckh (1785-1867) von 1809 bis 1865 im Laufe von 26 Semestern in Berlin hielt und denen ein 1809 geschriebenes Heft zugrunde lag. Es ist so gut wie auszuschließen, daß sie von der von Lücke besorgten Edition der Schleiermachersehen Hermeneutik entscheidend beeinflußt wurden. Boeckh gesteht es selber: "In meiner Darstellung sind Schleiermacher's Ideen nicht aus dieser
Boeckh
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Schrift, sondern aus früheren Mittheilungen benutzt, doch so dass ich nicht mehr im Stande bin das Eigene und Fremde zu unterscheiden. "2 Boeckh vertieft bekanntlich Schleiermachers Grundintuition, indem er die eigentliche Aufgabe der Philologie als "das Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d.h. des Erkannten"} versteht. Im Unterschied zur Philosophie ist die Philologie nicht produktiv, sondern reproduktiv und nachkonstruierend. Das Erkennen des Erkannten faßt Boeckh terminologisch als "Verstehen" auf. Verstanden wir aber stets ein schon Erkanntes, genauer: der Ausdruck einer Erkenntnis in einer bestimmten EQf.tl]vda, wodurch "die Gedanken der Menschen zur Gestaltung"4 kommen. In der Hermeneutik kommt es somit darauf an, diese EQf.tl]vda als Niederschlag einer Erkenntnis zu verstehen, d. h. zu rekonstruieren. Hermeneutisch einsichtsvoll an Boeckhs Formel einer Wiedererkenntnis des schon Erkannten ist die Anleitung zum steten Weiterforschen, zum tieferen Eindringen in das Wort, das die Seele einer jeden Hermeneutik ausmacht: "Das gesprochene oder geschriebene Wort zu erforschen, ist der ursprünglichste philologische Trieb."s Es deutet an, daß die in Zeichen und Symbolen erfolgte Mitteilung nur einen Teil bzw. den Endaspekt des vom Schriftsteller Erkannten versinnbildlicht. So nimmt es nicht wunder, daß Boeckh Schleiermachers Formel vom Besserverstehen des Autors wiederaufnimmt. Der Autor produziert meist unbewußt, während der Interpret nicht umhin kann, über das im Ausdruck niedergelegte Erkannte zu reflektieren, um dessen ungesagten Gehalt zutage zu fördern. Überhaupt entnimmt Boeckh der Schleiermacherschen Konzeption, die ihm vor allem mündlich vertraut war, sehr viel. Im Vergleich zu Schleiermacher nimmt sich seine "Theorie der Hermeneutik" wenig originell aus. In den Umkreis des Historismus weist aber der Umstand, daß er der grammatischen, der individuellen und der gattungsmäßigen Interpretation eine historische zur Seite stellt, die den zu verstehenden Sinn um seine "Beziehungen auf reale Verhältnisse" geschichtlicher Art ergänzt. Selbst wenn Boeckh vorgibt, eine "wissenschaftliche Entwicklung der Gesetze des Verstehens"6 anzubieten, blieb seine Hermeneutik mehr deskriptiv als präskriptiv. Was sie liefert, ist in der Tat weniger eine Methodologie als eine "Enyzklopädie", die nur "den Zusammenhang der Wissenschaft"7 kenntlich machen möchte. Boeckh will dem rhapsodischen Aussehen seiner Disziplin entgegenwirken und ihren organischen Zusammenhalt herausarbeiten. Das rein methodologische Bedürfnis war wohl zu Beginn des 19.Jh. - Boeckhs Ent-
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würfe gehen auf 1809 zurück - noch nicht so brennend. So weit war es aber gekommen, als seine Vorlesungen 1877 von seinem Schüler Bratuscheck erstmals ediert wurden.
2. Droysens Universalhistorik: Verstehen als Erforschung der sittlichen Welt Direkt faßbar wird das methodologische Problem des Historismus erst bei Johann Gustav Droysen (1808-1884), der bei Boeckh in Berlin studiert hatte. Seinem Vorbild folgte er gewiß, als er seine eigenen methodologischen Vorlesungen unter den Titel >Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte< stellte. Auch er ließ seine Vorlesungen nicht drucken, sie wurden erst 1937 von R. Hübener kompendienartig herausgegeben. 1868 war aber ein wichtiger, wenngleich skizzenhafter >Grundriß der Historik< erschienen, auf den Droysens breite Wirkung zurückgeht. Es ist aber zu verzeichnen, daß Droysen so gut wie nie von Hermeneutik spricht. Bis auf das hapax legomenon des griechischen Adjektivs EQf.tT)VElJ1:LX'rl8 tritt das Wort "Hermeneutik" kein einziges Mal in der gesamten >Historik< auf. Die "Interpretation" wird zwar bei ihm thematisiert, aber erst in einem relativ späten Stadium seiner >Historik<, in einem Unterabschnitt der Methodik, die die Quelleninterpretation (nach der Kritik!) zum Gegenstand hat. Den Anschluß an die romantische Hermeneutik und Boeckh (Schleiermacher tritt äußerst selten in Erscheinung) bietet der Begriff des Verstehens, dem zentrale methodologische Bedeutung zuwachsen wird. Nunmehr wird es zum spezifischen Erkenntnisverfahren der historischen Wissenschaften befördert, deren Methodenlehre die >Historik< zu liefern verspricht. Unser Zeitalter, stellt Droysen wohlbegründet fest, ist das der Wissenschaft, wobei die mathematischen Naturwissenschaften das Paradigma abgeben. Wie erklärt sich aber ihr unbezweifelbarer Erfolg? Nach Droysen beruht er darauf, "daß sie sich ihrer Aufgaben, ihrer Mittel, ihrer Methode völlig klar bewußt sind und daß sie die Dinge, welche sie in den Bereich ihrer Forschungen ziehen, unter den Gesichtspunkten und nur unter denen betrachten, auf welche ihre Methode gegründet ist".9 In der Klarheit ihres Methodenbewußtseins liegt also der Erfolg der Naturwissenschaften. Soll das historische Wissen, folgert er, zur Wissenschaftlichkeit erhoben und dem Eindringen mathematisch-physikalischer Methodik im Bereich der Historie Widerstand geleistet werden, sind die historischen Wissen-
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schaften darauf angewiesen, ihre eigenen Methoden herauszuentwickeln. Das methodologische Dilemma der Legitimation der historischen Wissenschaft erscheint also als die direkte Folge des von den exakten Naturwissenschaften aufgewiesenen Siegeszuges. "Erst seit die Naturwissenschaften sicher und ihres Weges bewußt sich ihre Methode begründeten und damit einen neuen Anfang gewannen, tauchte der Gedanke auf, auch der uf.-le'froöoC; flAll der Geschichte eine methodische Seite abzugewinnen."lo Um dem methodologischen Selbstverständnis der Historie nachzuhelfen, lehnt Droysen zwei mögliche Auswege ab: einerseits den positivistischen, der die Geschichte den mathematischen Methoden der Naturwissenschaft unterwerfen will und sie etwa anmahnt, dergleichen wie statistische Gesetze der Geschichte aufzufinden; andererseits die Auffassung der Geschichte als einer bloß erzählenden, unterhaltenden, kurzum, dilettantischen Kunst. So etwas dürfe kein Daseins recht als Wissenschaft genießen. Die Historie ist aber doch anderer Art als die Naturwissenschaft. Zweck der Historik wird es also sein, den eigenen Sinn und das eigene Verfahren der historischen Studien zu rechtfertigen. Bündig heißt es im Aufsatz von 1867, >Kunst und Methode<, daß die Aufgabe der Historik darin besteht, alle "Methoden, die in dem Bereich der historischen Studien in Anwendung kommen ( ... ) in ihrem gemeinsamen Gedanken zusammenzufassen, ihr System, ihre Theorie zu entwickeln und so, nicht die Gesetze der Geschichte, wohl aber die Gesetze des historischen Forschens und Wissens festzustellen".l1 Obgleich die Formel einer Kritik der historischen Vernunft von Dilthey stammt, gilt sie schon der Sache nach für Droysen, der sein Pensum an Kants methodologische Leistung anlehnt: "Uns täte ein Kant not, der nicht die historischen Stoffe, sondern das theoretische und praktische Verhalten zu und in der Geschichte kritisch durchmusterte. "12 Er folgt Kants Muster, wenn er seine >Historik< mit einer anthropologisch-gnoseologischen Begründung anheben läßt. Ihr zufolge gibt es zwei grundsätzliche Auffassungsweisen des Geistes: Natur und Geschichte (bzw., kantischer, Raum und Zeit). Unser Gemüt begnügt sich nicht damit, empirische Tatsachen aufzusammeln, es tut es, indem es das Aufgefaßte unter Begriffe und Kategorien bringt, deren zwei allgemeinste Raum und Zeit sind: Im Raum oder in der Natur überwiegt das Ruhende, stets Gleiche, sinnlich Wahrnehmbare, in der Geschichte und in der Zeit das Wechselnde. Diese Doppelheit des Weltzugangs hängt mit der des menschlichen Wesens zusammen, das zugleich geistig und sinnlich ist. Diese gleichsam apriorische Doppel-
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heit ermöglicht zwei Betrachtungsweisen des Seienden, somit zwei Arten von Empirie, die in den N atur- und den Geisteswissenschaften ihren Ausdruck finden. Während die naturwissenschaftliche Methode in der Auffindung von normativen Gesetzen für die beobachteten Erscheinungen besteht,13 liegt das Wesen der historischen Wissenschaft darin, "forschend zu verstehen".1 4 So neu der methodologische Horizont sein mag, der hier in Ansatz gebrachte Verstehensbegriff weicht nicht von dem der früheren Hermeneutik ab: Verstehen heißt nach wie vor Ausdrücke "auf das zurückzuführen, was sich in ihnen hat ausdrücken wollen".!5 Historisches Verstehen, betont hierbei Droysen, ist im Grunde dasselbe wie das Verstehen eines mit uns Sprechenden. Immer fassen wir dabei das einzelne Wort als Äußerung eines Inneren. Die historische Wissenschaft baut sich durch Rückschluß auf die Kraft, die Macht, das Innere auf, das in den geschichtlichen Zeugnissen zum Ausdruck gekommen ist. Was wir dabei zu verstehen suchen, ist nicht die Vergangenheit selbst, denn sie ist eben nicht mehr gegenwärtig, sondern das von ihr in den gegenwärtigen Materialien und Quellen noch Erhaltene.!6 Das Verstehen des Historischen gilt den uns überlieferten Überresten der Vergangenheit. Auch für Droysen trifft Boeckhs Ausspruch zu, daß das Verstehen das Wiedererkennen eines Erkannten ist, nämlich das Eindringen in das von der uns noch erreichenden Überlieferung Aufbewahrte, um daraus den Geist der Vergangenheit zu rekonstruieren. Droysen denunziert die Ansicht, daß es der Historiker mit objektiven Befunden der Vergangenheit zu tun habe, als einen Wahn: "Es heißt die Natur der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist, verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tatsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor."!7 Was dem Historiker vorliegt, sind erhaltene Zeugnisse, also bereits verstehende Auffassungen des Vergangenen, die es erneut zu beleben gilt, um das als solches nicht gegebene Vergangene zu rekonstruieren. Indem sie ihre Quellen kritisch forschend befragt, hat die historische Wissenschaft "nicht bloß zu wiederholen, was als Geschichte überliefert vorliegt, sondern sie muß tiefer eindringen, sie will soweit irgend möglich, was irgend noch von der Vergangenheit wieder aufzufinden ist, im Geist wieder lebendig erstehen lassen und verstehen, sie will gleichsam neue erste Quellen schaffen".!8 Die auf Quellenkritik beruhende Reaktivierung des Geschehenen im Verstehen verfolgt sozusagen die Absicht, die Geschichte besser zu verstehen, als sie überliefert wurde. Was wir dabei gewinnen, ist freilich "nicht ein Bild des Geschehenen an sich, 50n-
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dern unserer Auffassung und geistigen Verarbeitung davon".19 Durch die Hinterfragung der überlieferten Auffassungen erlangen wir zwar möglichst bessere Ansichten, aber nichts als das, also die immer wieder unternommene Wiedererkenntnis eines Verstandenen. Wenn der Historiker hinter die geschichtlichen Äußerungen geht und auf deren Inneres hin forscht, strebt er, das Einzelne aus dem Ganzen, aus dem es hervorgeht, und umgekehrt das Ganze aus diesem Einzelnen, in dem es sich ausdrückt, nachzukonstruieren. 2o Die Geschichte bleibt zwar eine auf Zeugnissen fußende Erfahrungswissenschaft, aber Wissenschaft gibt es nur, wo zu dem Einzelnen, das die Empirie gibt, ein Allgemeines hinzutritt, das durch unseren forschenden Gedanken erkannt wird. 21 Wie ist aber dies Allgemeine oder "Innere", das der Historiker zu rekonstruieren sucht, zu bestimmen? Mit den Worten Droysens gefragt: Wie wird aus den Geschäften Geschichte?22 Dieses vermutete Allgemeine und Notwendige, das die einzelnen Tatsachen zusammenleimt, liegt nach Droysens Auskunft in der "Kontinuität der fortschreitenden geschichtlichen Arbeit und Schaffung"23, in der Entöomc; EtC; a:trt6, dem Zusichselbstwachen der geschichtlichen Welt. Die fortschreitende Kontinuität der Geschichte kann nur ideeller, sittlicher Art sein. Der Gang der Geschichte, wie ihn unser Verstehen zu erforschen strebt, ist gekennzeichnet durch die (postulierte) sich steigernde Kontinuität der sittlichen Welt. Das Geschehen mag oft rückläufig sein, aber "rückläufig nur, um dann mit doppelter Spannkraft wieder vorzudringen" .24 Damit läßt sich der Gegenstand der forschenden Historie umreißen: Die Geschichte ist ihrem Wesen nach ein Verstehen der sich fortschreitend entwickelnden sittlichen Mächte. In den sittlichen Mächten (von Familie, Sprache, Religion, Recht, Wissenschaft usw.) hat der Historiker, schreibt Droysen mehrfach, die Fragenreihe, mit der er an das historische Material herantritt, um es auf seinen sittlichen Gehalt hin zu interpetieren. Die Zielscheibe des historischen Forschens gewinnt dadurch an Schärfe. Das Verstehen des Einzelnen wird darin aufgehen, daß es auf das Ganze der geschichtlich-ethischen Entwicklung rückbezogen wird als sein Inneres, sein Gesetz oder Sinn. Denn "die Menschheit ist nur die Summe und Zusammenfassung aller dieser sittlichen Mächte und Gestaltungen und jeder einzelne nur in der Kontinuität und Gemeinschaft dieser sittlichen Mächte" .25 Wohlbedacht spricht Droysen hier von einem forschenden Verstehen, um die "Methode" der historischen Studien zu authentifizieren. Entgegen dem, was der positivistische Rahmen des Jahrhunderts nahelegen könnte, bedeutet Forschen nicht ein Vorgehen der bienenhaf-
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ten und betriebsmäßigen Ansammlung von Tatsachen. Gadamer vermutet unter dem »forschenden Verstehen« einen stillschweigenden religiösen Unterton, wie etwa in der Rede von der Gewissensforschung. 26 Richtig daran ist, daß Droysen nur deshalb von einem Forschen spricht, weil das Ganze der Geschichte, auf das das Verstehen zugeht, als solches nie gegeben ist. Verstehen bedeutet ja, vom gegebenen Befund oder Zeichen aus auf das hin zu forschen, was nicht unmittelbar gegeben ist. Diese Konnotation von Forschung tritt besonders klar zum Vorschein, wenn Droysen das Thema vom Ende der Geschichte anschneidet. Der verstehende Historiker nimmt an, daß die Geschichte ein Fortschreiten nach sittlichen Zwecken aufweist. Der "Zweck der Zwecke«, das Ziel der Geschichte läßt sich aber natürlich nicht empirisch nachzeichnen. Das einzige, was sich sagen läßt, ist, daß sich unser Verständnis und Ausdruck für diesen Zweck der Zwecke mit jedem Stadium steigert und vertieft. Ja, gerade dies, daß sich unser Verständnis für das Ziel der Ziele erweitert und verfeinert, ist als das eigentliche Fortschreiten der Menschheit anzusehen. So begriffen, ist die Geschichte nichts anderes als das stetig wachsende Bewußtwerden und Bewußtsein der Menschheit über sich selbst: "Nach dem Maß dieser durchmessenen Stadien wächst der menschliche Ausdruck für den Zweck der Zwecke, für die Sehnsucht nach ihm, für den Weg zu ihm. Daß mit jedem Stadium der Ausdruck sich erweitert, steigert, vertieft, das und nur das kann als das Fortschreiten der Menschheit gelten wollen. «27 Die Epochen der Geschichte werden so zu Stadien der Selbsterkenntnis der Menschheit, ja zur Gotterkenntnis, fügt Droysen hinzu. 28 Da die Geschichte noch unvollendet ist, bleibt das historische Verstehen unvollkommen, d. h.: bloß "forschende«. Das forschende Verstehen manifestiert an dieser Stelle seine besondere Brisanz. »Forschen« findet nur dort statt, wo uns eine endgültige Erkenntnis verwehrt ist, wo wir den Sinn hinter dem geschichtlichen Ausdruck nur mutmaßen können: »Dem endlichen Auge ist Anfang und Ende verhüllt. Aber forschend kann es die Richtung der strömenden Bewegung erkennen. "29 Im Grunde ist für ein endliches Wesen jedes Verstehen ein tastendes Forschen. Stets ist es darauf aus, hinter das unmittelbar Vorgegebene einen Sinn hinzuzudeuten, der sich aber nicht selbst feststellen oder -setzen läßt. Nur forschend, d.i. mutmaßend und vermutend erkennen wir unsere geschichtliche Welt. Das forschende Verstehen findet Anklang in Boeckhs schöner Idee einer Erkenntnis des Erkannten: Unaufhörlich strebt unser Verstehen danach, hinter das schon
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Erkannte zu kommen, um dessen über den Buchstaben hinausgehenden Sinn auszuschöpfen. Durch dieses Verfahren des forschenden Verstehens der sittlichen Welt wird nach Droysens Programm der geschichtlichen a~H}oöo<; Ü"-11 eine gewisse Richtung abgerungen und der Rahmen der historischen Wissenschaft abgesteckt, dessen theoretische Rechtfertigung die Historik beibringen wollte. Es ist eminent fraglich und am Ende belanglos, ob das "forschende Verstehen« so etwas wie eine sichere "Methode" abgibt, die etwa mit denen der Naturwissenschaften vergleichbar wäre. Was Droysen schließlich begründet hat, ist weit weniger die Methodik als das hermeneutische Eigenrecht der verstehenden Wissenschaften gegenüber den szientistischen Versuchen, ihr Vorgehen an das der exakten Wissenschaft der mathematischen Welt anzulehnen. Geforscht oder verstanden wird eben dort, wo keine mathematische Ordnung und Voraussagbarkeit waltet. Weil uns hier das naturwissenschaftliche Mittel des Experiments abgeht, schreibt Droysen am Ende seiner Vorlesung,30 können wir nur forschen und nichts als forschen. Das Verstehen baut auf schon Verstandenem auf, das sich seinerseits aus tiefergehenden Auffassungen speist. Daß Droysen etwas pompös eine streng wissenschaftliche Methodenlehre der Geschichte glaubte versprechen zu müssen, war letzten Endes eine Konzession an den positivistischen Zeitgeist, wenn man will: ein methodologisches Selbstrnißverständnis des mit sich ringenden Historismus.
3. Diltheys Weg zur Hermeneutik Auch Wilhelm Dilthey (1833-1911) wird von den methodologischen Herausforderungen des Historismus ausgehen. Vom allerersten Aufkeimen seiner denkerischen Bemühungen um 1860 bis hin zu seinen letzten Niederschriften stellte er seine gesamte Lebensarbeit unter das Leitmotiv einer Kritik der historischen Vernunft,3! deren Aufgabe es sei, den wissenschaftlichen Rang der Geisteswissenschaften erkenntnistheoretisch zu legitimieren. Seine leidenschaftlichen Untersuchungen in diese Richtung gediehen indes zu keinem für ihn befriedigenden Abschluß. So weigerte er sich, irgend eine seiner Schriften mit dem gehaltvollen Titel einer Kritik der historischen Vernunft auszuzeichnen, und verzichtete auf den Druck des zweiten, systematisch angelegten Bandes seiner >Einleitung in die Geisteswissenschaften<, obwohl er schon über gewichtige Materialien und Vor-
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arbeiten verfügte, wie aus dem inzwischen zugänglich gewordenen Nachlaß hervorgeht. Dilthey verstand sich als der Methodologe der historischen Schule. Um - ähnlich wie Droysen, auf den sich Dilthey jedoch merkwürdigerweise wenig bezieht - die Geisteswissenschaften in ihrem wissenschaftlichen Eigenrecht zu begreifen und mithin vor dem Eindringen naturwissenschaftlicher Methodik zu schützen, wollte er ihre allgemeingültigen, gnoseologischen Grundlagen philosophisch rechtfertiten. So fragt er in der Vorrede zur >Einleitung<, seinem unvollendeten Hauptwerk, nach dem "festen Rückhalt"32 für den Zusammenhang geisteswissenschaftlicher Sätze, die Anspruch auf Gewißheit erheben dürfen. Obgleich Dilthey offenbar darauf aus ist, die Autonomie der Geisteswissenschaften von naturwissenschaftlicher Bevormundung, die er im Positivismus von Mill und Buckle erblickte, zu befreien, legt doch die Rede von einem gesuchten unerschütterlichen Rückhalt von der Faszination Zeugnis ab, die das szientistische Vorbild auf seine Besinnung auszuüben vermochte. Es scheint nämlich ausgemacht zu sein, daß die Wissenschaften vom Menschen, die doch vom Sublunearen handeln, auch so etwas wie eines archimedischen Punktes bedürfen, um als respektable Wissenschaften fortexistieren zu dürfen. Diesen festen Anker geisteswissenschaftlicher Forschung wird Dilthey zuerst in der inneren Erfahrung oder in den "Tatsachen des Bewußtseins" auffinden wollen. Alle Wissenschaft ist zwar Erfahrungswissenschaft, argumentiert Dilthey, aber Erfahrung hat doch ihren Zusammenhang und ihre Geltung in dem strukturierenden Apriori unseres Bewußtseins. 33 So liegt es nahe, in der inneren Erfahrung die objektiven Geltungsbedingungen der Geisteswissenschaften zu finden, ebenso wie Kant die Grundlagen reiner Naturwissenschaft aus den Prinzipien des reinen Verstandes abgeleitet hatte. Um 1880 herum muß also die methodologische Erforschung der Geisteswissenschaften unter dem allgemeinen "Satz der Phänomenalität" geschehen, dem zufolge die ganze Wirklichkeit (d.h. alle äußeren Tatsachen, Dinge wie Personen) unter den Bedingungen des Bewußtseins steht.3 4 Dilthey zieht daraus den Schluß, daß erst eine psychologische Grundlagenreflexion imstande sei, die Objektivität geisteswissenschaftlicher Erkenntnis zu begründen. Von 1875 an, in der Abhandlung >Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat<, bis hin zu den >Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie< (1895) über den programmatisch-historischen ersten Band der >Einleitung< hat
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Dilthey in immer neuen Anläufen die Aufgabe einer psychologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften in Angriff genommen. Ihm schwebte dabei eine Psychologie neuer Art vor, die nicht "erklärend" , sondern" verstehend" verfahren würde. Den an den nicht genannten Droysen erinnernden Unterschied zwischen einem erklärenden und einem verstehenden Vorgehen erläutert er in der wicht~gen Studie von 1895, der besondere Bedeutung zukommt, weil Dilthey in ihr zum ersten und beinahe letzten Male Materialien aus dem 2. Band seiner >Einleitung<, seiner ungeschriebenen Kritik der historischen Vernunft also, an die Öffentlichkeit brachte. 35 Nach der historischen Archäologie der Geisteswissenschaften, die der erste Band bot, sollte nämlich der zweite eine, wie es immer wieder heißt, erkenntnistheoretisch-Iogisch-methodologische Grundlegung dieser Wissenschaften liefern. 36 Mit hohen Erwartungen und Ansprüchen legte Dilthey einen Vorabdruck seines Projekts in den >Ideen< von 1895 vor. Die niederschmetternde Kritik, die sie erfuhren, insbesondere von H. Ebbinghaus,37 scheint Dilthey tief getroffen zu haben und ihn von der öffentlichen Ausführung seines Programms, an dem er neben seinen zahlreichen historischen Studien (u. a. über Schleiermacher) bis zu seinem Tode weiterarbeitete, abgebracht zu haben. Unter einer erklärenden Psychologie verstand er eine rein kausale Explikation psychischer Phänomene, die das Seelenleben auf eine begrenzte Zahl von eindeutig bestimmten Elementen zurückzuführen beabsichtigt. Ähnlich wie der Chemiker will der erklärende Psychologe die seelischen Funktionen durch die Hypothese eines Zu sammenwirkens von einfachen Bestandteilen begreifen. Solche konstruktiven Hypothesen, die in den Wissenschaften der Natur zu Hause sind, lassen sich, stellt Dilthey fest, im Bereich der Psychologie nie verbindlich verifizieren. Gegen den Konstruktivismus der erklärenden Psychologie führt er die Idee einer eher verstehenden Psychologie ein, die von dem Ganzen des Lebenszusammenhanges, wie er im Erlebnis gegeben ist, ihren Ausgang nimmt. Anstatt die seelischen Phänomene zu erklären, d.h. sie auf psychische oder gar physiologische U relemente zurückzuführen, ist sie einfach darum bestrebt, das Seelenleben in seinem ursprünglichen Strukturzusammenhang zu beschreiben oder, da hier das Einzelne aus dem Ganzen begriffen werden soll, zu "verstehen". "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir", so lautet Diltheys Leitidee. 38 Ist aber eine rein beschreibende Psychologie möglich? Ja, antwortet Dilthey, denn seelische Phänomene haben vor den äußeren den Vorzug, daß sie durch inneres Erleben unmittelbar erfaßt werden
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können, wie sie an sich sind, also ohne die Vermittlung äußerer Sinne, die bei der Erfassung der Außenwelt unentbehrlich sind. Im direkten Innewerden innerer Erlebnisse ist "eine feste Struktur unmittelbar und objektiv gegeben" ,39 deklariert Dilthey, denn mit ihr gewinnt die Beschreibung in der Psychologie "eine zweifellose, allgemeingültige Grundlage". Die auf einem so sicheren Fundament gründende Psychologie erheischt methodologische Bedeutsamkeit. Sie wird die Grundlage der Geisteswissenschaften, wie die Mathematik die der Naturwissenschaften ist. 40 Das Ungenügende an dieser methodologisch angesetzten Psychologie des Erlebnisses ist den Zeitgenossen - und bald vielleicht Dilthey selbst - nicht entgangen. Zwei Mängel treten besonders hervor. Es ist zunächst zweifelhaft, ob die schlicht beschreibende Psychologie, die in gewissen Zügen Husserls Idee einer Phänomenologie innerer Erlebnisse vorwegnimmt, tatsächlich über einen direkten, hypothesenfreien Zugang zum seelischen Strukturzusammenhang, deren innere Evidenz postuliert wird, verfügt. Wäre dessen Gegebenheit so einleuchtend, gäbe es doch keinen methodologischen Dissens innerhalb der Psychologie. Zweitens ist es Dilthey nicht gelungen, eine plausible Verbindung zwischen seinem psychologischen Neuansatz und den konkreten Geisteswissenschaften, deren Grundlagen er erhellen soll, herzustellen. Nirgends sieht man, wie die verstehende Psychologie die Objektivität geisteswissenschaftlicher Sätze soll gewährleisten können. Auch hier blieb Diltheys Wurf im Programmatischen stecken. Uns beschäftigt vor allem ein weiterer Umstand an dieser Psychologie und dem Einblick, den sie in Diltheys systematisches Vorhaben gewährt, nämlich die relative Abwesenheit der Hermeneutik. Sie taucht kein einziges Mal - namentlich zumindest - in der Abhandlung von 1895 auf. Sie ist auch so gut wie absent von der vierhundertseitigen Zusammenstellung seiner Ausarbeitungen zum 2. Band der >Einleitung<, wie sie nun im Band XIX der Gesammelten Schriften vorliegen. 41 Allem Anschein nach hatte die Hermeneutik im methodologischen Unterfangen Diltheys zunächst keine Rolle zu spielen. Diese "Vernachlässigung" der Hermeneutik steht in merkwürdigem Kontrast zur intensiven Beschäftigung des jungen Dilthey mit der Geschichte der Hermeneutik und zur Rolle, die ihr im späteren Werk zuzukommen scheint. Eine Interpretation dieses Spätwerks steht vor gewaltigen Schwierigkeiten, nicht zuletzt deshalb, weil sich Dilthey nach 1895 zumeist gescheut hat, seine systematischen Arbeiten der Öffentlichkeit vorzulegen. Einsicht in Diltheys Werkstatt bot vor
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allem die Sammlung seiner letzten Manuskripte im Band VII unter dem Titel >Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften<, auf den Diltheys Ruf als hermeneutischer Denker zurückgeht. Der Ansatzpunkt des Spätwerks liegt in den schon 1895 verwendeten Begriffen von "Erlebnis" und "Verstehen". Insbesondere der Erlebnisbegriff scheint zu einem Schlüsselwort geworden zu sein. In ihm leben aber die früheren Tatsachen des Bewußtseins fort. Sie gelten nach wie vor als das "Nächstgegebene" und "Grundlage" für den "Zusammenhang des Seelenlebens", der unsere Vorstellungen und Wertbestimmungen umfaßt. 42 Ganz konsequent formuliert Dilthey alsdann den "Erlebnissatz": "alles, was für uns da ist, das ist es nur als ein solches in der Gegenwart Gegebenes",43 der de facto die Nachfolge des früheren "Satzes der Phänomenalität" antritt. Die Brücke vom Erlebnis zu den Geisteswissenschaften schlägt mit größerer Eindeutigkeit als früher der Verstehensbegriff. Nicht durch ihren Gegenstand (Natur/Geist, Allgemeines/Individuelles, Physisches/Psychisches) unterscheiden sich die Geistes- von den Naturwissenschaften, sondern durch ihr andersgeartetes Verhalten zu ihrem Objekt. In den Geisteswissenschaften liegt nämlich eine besondere Tendenz, kraft deren die physische Seite der Vorgänge in die bloße Rolle von Verständnismitteln herabgesetzt wird. Ihre Intention geht dahin, vom äußeren Ausdruck auf ein Inneres zurückzugehen ein Vorgehen, das Dilthey als eine Bewegung der "Selbstbesinnung" versteht, die aber schon auf der Objektseite ansetzt: "Es ist die Richtung auf die Selbstbesinnung, es ist der Gang des Verstehens von außen nach innen. Diese Tendenz verwertet jede Lebensäußerung für die Erfassung des Innern, aus dem sie hervorgeht. "44 Das geisteswissenschaftliche Verstehen besteht in einem Rückgang vom Geäußerten zum Inneren, genauer zur Selbstbesinnung, die sich im Ausdruck zu erkennen gibt. Jeder Ausdruck geht aus einem Mitsichselbstzurategehen hervor, das das Verstehen nachzuerleben sucht. Dieses Verstehen ist aber nichts Psychologisches, betont jetzt Dilthey, sondern Rückgang auf ein geistiges Gebilde. 45 So verstehen wir etwa den Geist des römischen Rechtes, ohne daß es dabei eine besondere 1jJux.i] aufzufassen gäbe. Die Trias von Leben (bzw. Erlebnis), Verstehen und Ausdruck wird künftig grundlegende Funktion für die Geisteswissenschaften annehmen, denn Wissenschaften wie z. B. die Literatur oder Poetik "haben nur zu tun mit dem Bezug [eines] sinnfälligen Zusammenhangs von Worten auf das, was durch sie ausgedrückt ist" .46 Die Erforschung des hinter dem Ausdruck liegenden Vorgangs des inneren Wortes, auf den die gesamte hermeneutische Tradition von der
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Stoa bis Schleiermacher gerichtet war, wird nunmehr zur zentralen Aufgabe aller verstehenwollenden Geisteswissenschaften. Ihnen gemeinsam ist die "Richtung auf die Selbstbesinnung" , auf das innere Gespräch, das einen jeden Ausdruck trägt. Es ist also nicht zu verwundern, daß sich ab 1900 die Hermeneutik erneut in Diltheys Gedankenhorizont einschwingt. Welche Rolle ihr eigentlich zukommt, darüber kann man angesichts des Fragmentarischen des Spätwerks nur Mutmaßungen anstellen. Nach der klassischen, von Misch und Bollnow47 suggerierten Deutung habe die Hermeneutik die Psychologie als methodologische Grundlage aller Geisteswissenschaften verdrängt. Diese Wachablösung ergebe sich mit Notwendigkeit aus der Unnachvollziehbarkeit eines rein psychologischen Zugangs zum Geistes- oder Seelenleben, welches sich nur von seinen Ausdrücken verstehend, hermeneutisch also, erschließen lasse. Gegen diese stimmige Erklärung wurde geltend gemacht, daß die Psychologie bei Dilthey doch ihre grundlegende Funktion beibehalten habe. 48 Tatsächlich hat er selber nicht von einer hermeneutischen Auflösung der Psychologie gesprochen, und es ließe sich nicht sagen, daß der Band VII bei allem Nachdruck auf die Trias Leben, Ausdruck, Verstehen die Hermeneutik zu einer neuen, methodologischen Grundlagendisziplin erhoben hätte. Faktisch ist es im Spätwerk weitgehend bei gelegentlichen Bezugnahmen auf die Hermeneutik geblieben, aber sie verdienen Beachtung. Dem Aufsatz zur Entstehung der Hermeneutik von 1900 kommt natürlich spezifische Brisanz zu. Als "Spätwerk" wird er freilich nur in beschränktem Maß gelten dürfen, denn sein historischer Teil greift offenbar auf die unpublizierte Preis schrift von 1860 zur Geschichte der protestantischen Hermeneutik zurück. Es ist, als ob Dilthey ein vierzig Jahre altes Manuskript aus seiner Schublade aufgestöbert hätte, um 1900 daraus einen Vortrag zu machen. Um so bedeutsamer fallen indes die systematischen Auskünfte der Abhandlung aus. Sehr bezeichnend für Diltheys damaliges Forschen und seinen immer enger werdenden Bezug zur älteren Hermeneutik ist die Ansetzung des Verstehens als einen" Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen".49 An Schleiermachers Idee einer Kunstlehre gemahnt ferner Diltheys Idee, daß die Auslegung oder Interpretation ein kunstmäßiges Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen vollziehen müßte. So wird die Hermeneutik selbst eine "Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen " liefern müssen. Pointierter als bei Schleiermacher ist indessen die neue Herausforderung des histori-
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sehen Relativismus. Von der Hermeneutik erwartet Dilthey nunmehr die Lösung der Frage nach der» wissenschaftlichen Erkenntnis« des Individuellen, also allgemeingültige Regeln, um das Verstehen vor subjektiver Beliebigkeit zu sichern. Auch hier bleibt alles beim Programm. Wie solche Regeln aussehen könnten, wird nicht gesagt, und daß es dergleichen geben müßte, wird nur postuliert. Fraglich ist weiter, ob Dilthey in einer solchen Hermeneutik eine Methodologie der Geisteswissenschaften sehen wollte. Das Verstehen gilt zwar als das grundlegende Verfahren für alle Geisteswissenschaften, aber deren Methodenlehre soll nach wie vor, wie es in den Zusätzen aus den Handschriften heißt, eine "erkenntnistheoretische, logische und methodische Analysis des Verstehens«so beibringen, die nicht namentlich mit der Hermeneutik in Verbindung gebracht wird und vielmehr auf das brachliegende Vorhaben des 2. Bandes der >Einleitung< verweist. Der Abhandlung von 1900 ist zu entnehmen, daß Dilthey bis zuletzt ein klassisches, normatives Hermeneutikverständnis beibehielt. Er hat bestenfalls geahnt, daß eine solche Kunstlehre etwas mit der erkenntnistheoretischen Methodologie der Geisteswissenschaften zu tun haben müßte, aber sein Programm hat er nicht ausgeführt oder mit letzter Klarheit definiert. Die Nichtausführung mag, wie oft vermutet wurde, damit zusammenhängen, daß der späte Dilthey zunehmend die Enge seiner ursprünglich methodologischen Fragestellung eingesehen hatte. Denn das Verstehen ist in der Tat nicht nur das spezifische Verfahren der Geisteswissenschaften, sondern immer schon eine Grundausstattung der geschichtlichen Existenz des Menschen. Die letzten Entwürfe Diltheys verkünden gelegentlich eine universelle Philosophie des geschichtlichen Lebens, die seine Schüler gern unter dem Titel einer "hermeneutischen Philosophie" fortzusetzen sich anheischig machten. s1 Angeregt von seinem Briefwechsel mit dem Grafen Yorck von Wartenburg hätte Dilthey schließlich seine methodologischen Ambitionen hintangesetzt. Soweit wir jedoch sehen, lassen die letzten Texte Diltheys eine solche Preisgabe des Methodologischen nicht erraten. Adäquater scheint die Rede von einer nie überwundenen Spannung 52 bei Dilthey zwischen dem szientistischen Streben nach einem festen Rückhalt für die Geisteswissenschaften und der Einsicht in die unaufhebbare Geschichtlichkeit menschlichen Lebens, die das methodologische Vorhaben unausführbar machte. Die von Dilthey angetriebene hermeneutische Philosophie des 20.Jahrhunderts wird, ebenso innerhalb der engeren Dilthey-Schule wie in den weiterführenden Ansätzen von Heidegger
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und Gadamer, diese Unvereinbarkeit eingestehen und zuungunsten des originär methodologischen Projekts die Universalität der Geschichtlichkeit hervorkehren. Der späte Dilthey hatte, indem er an ihrem klassischen Selbstverständnis festhielt, im Zeitalter des Historismus "eine neue bedeutsame Aufgabe" für die Hermeneutik in dem Anliegen gesehen, "die Sicherheit des Verstehens gegenüber der historischen Skepsis und der subjektiven Willkür" zu verteidigen. Nicht mehr als ein Versprechen blieb letzten Endes der Satz: "Gegenwärtig muß die Hermeneutik ein Verhältnis zu der allgemeinen erkenntnistheoretischen Aufgabe aufsuchen, die Möglichkeit des Wissens vom Zusammenhang der geschichtlichen Welt darzutun und die Mittel zu seiner Verwirklichung aufzufinden. "53 Was für Dilthey programmatisch war, wurde bald für seine Nachfolger problematisch. Sie waren sich so gut wie alle darüber einig, daß die neue bedeutsame Aufgabe der Hermeneutik eher in einem Abschied von der auf einen allgemeingültigen Rückhalt ausgerichteten Methodologie zu verwirklichen war. Daß die Geisteswissenschaften eines archimedischen Punktes entbehren, wurde ihnen nicht mehr als Manko angerechnet. Darin bezeugte sich vielmehr die Nähe der Geisteswissenschaften zur neuen Universalität der Geschichtlichkeit. Wegweisend wirkte zunächst Heideggers Ontologie des faktischen Lebens, die die Hermeneutik zur universalen Grundlage der Philosophie machte.
Anmerkungen 1 J. G. Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. von R. Hübener, München 71937 (Nachdr.: Darmstadt 1977), S. 267. 2 A. Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hrsg. von E. Bratuscheck, 1877, Leipzig 21886 (Nachdr.: Darmstadt 1977), S. 75. 3 Ebd., S. 10. 4 Ebd., S. 80. S Ebd., S. 11. V gl. zur Deutung der Formel im Sinne einer prinzipiellen Unabschließbarkeit des Interpretationsprozesses F. Rodi, Erkenntnis des Erkannten, Frankfurt a.M. 1990, S. 70ff. 6 Ebd., S. 76. 7 Ebd., S. 46. 8 J. G. Droysen, Historik, hrsg. von R. Hübner, München 1937 (Nachdr.: Darmstadt 1977), S. 324.
Anmerkungen
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9 J. G. Droysen, Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft, in: Historik, S. 386. 10 J. G. Droysen, Kunst und Methode, in: Historik, S. 417. Vgl. auch J. Droysen, Texte zur Geschichtstheorie, hrsg. von G. Birtsch und J. Rüsen, Göttingen 1972, S. 56: "Es wäre lächerlich, sich nicht an den herrlichen Fortschritten der mathematisch-physikalischen Disziplinen zu erfreuen; daß ihre Voraussetzungen, ihre Methode, ihre Resultate bereits als die allein wissenschaftlichen, maßgebenden, zuverlässigen Geltung gewinnen, ist kein Vorwurf für sie, höchstens ein Tadel für diejenigen Bereiche des wissenschaftlichen Lebens, die sich ihrer nicht zu erwehren vermögen.« 11 Historik, S. 424. 12 Ebd., S. 378. 13 Vgl.: Texte zur Geschichtstheorie, S 56. 14 Historik, S. 22, 328. 15 Ebd., S. 22. 16 V gl. ebd., S. 20. 17 Ebd., S. 133. 18 Ebd., S. 23. 19 Ebd., S. 316. 20 Ebd., S. 25, 329. 21 Ebd., S. 27. 22 Ebd., S. 28, 322, 394, 422 sowie: Texte zur Geschichtstheorie, S. 61. 23 Historik, S. 28ff. 24 Ebd., S. 14. 25 Ebd., S. 203. 26 Vgl. WM, S. 204 (= Gw, I, S. 220). 27 Historik, S. 357. 28 Ebd. Vgl. zur Idee der Geschichtsforschung als Gotterkenntnis: Texte zur Geschichtstheorie, S. 17, 20f., 38. 29 Historik, S. 358. 30 Ebd., S. 316. 31 Die Wendung taucht schon in einem Tagebucheintrag von 1860 auf (vgl.: Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852-1870, zusammengestellt von C. Misch geb. Dilthey, Leipzig 1933, Stuttgart 21960). 32 W. Dilthey, GS, I, S. XVII. 33 Ebd. 34 GS, XIX, S. 60. Vgl. auch GS, V, S. 148: "Ohne die Beziehungen auf psychischen Zusammenhang, in welchem ihre Verhältnisse gegründet sind, sind die Geisteswissenschaften ein Aggregat, ein Bündel, aber kein System.« 35 Vgl. den Brief Diltheys an P. Natorp vom 9. 3. 1895 in: Briefe an Dilthey anläßlich der Veröffentlichung seiner >Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie< (in: Dilthey-Jahrbuch 3 [1985], S. 200). 36 Der Ausarbeitungen und Entwürfe zu diesem 2. Band wurden im Band XIX der GS 1982 zusammengestellt. Trotz des hervorragenden Sachgewinns, den dieser Band bringt, ließe sich nicht sagen, daß von ihm aus der präzise
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Sinn von Erkenntnistheorie, Logik und Methodologie und ihr Unterschied voneinander mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hervorträte. Eine einsichtige Rekonstruktion unternahm die Dissertation von H.-U. Lessing, Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft, Freiburg/München 1984. 37 H. Ebbinghaus, Über erklärende und beschreibende Psychologie (1896), wiederabgedruckt in: Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, hrsg. von F. Rodi und H.-U. Lessing, Frankfurt a.M. 1984, S. 45-87. 38 GS, V, S. 144. 39 Ebd., S. 173. 40 Ebd., S. 193. 41 Hermeneutik wird hier nur gelegentlich erwähnt, meistens in einer losen Auflistung neben der "Kritik". Vgl. GS, XIX, S. 265, 293, 336. Sachgetreu nimmt sie so gut wie keinen Platz in H.-U. Lessings Rekonstruktionsversuch (a. a. 0.) der beabsichtigten Kritik der historischen Vernunft. 42 GS, VII, S. 80. 43 Ebd., S. 230. 44 Ebd., S. 82. Zur zentralen Bedeutung der Selbstbesinnung bei Dilthey vgl. M. Riedel, Das erkenntnistheoretische Motiv in Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften, in: Hermeneutik und Dialektik. Hans-Georg Gadamer zum 70. Geburtstag, Bd. I, Tübingen 1970, S. 233-255; wiederaufgenommen in M. Riedel, Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, Stuttgart 1978. 45 GS, VII, S. 85. 46 Ebd. 47 O. P. Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie, Leipzig 1936, Schaffhausen 41980. Dieser Lesart bleibt P. Ricceur, Du texte a faction. Essais d'hermeneutique II, Paris 1986, S. 81 H., noch verpflichtet. 48 Vgl. F. Rodi, Diltheys Kritik der historischen Vernunft - Programm oder System?, in: Dilthey-Jahrbuch 3 (1985), S. 140-165 (wo auf Diltheys Neigung, zu verschiedenen Zeiten andere Gewichtigungen der einzelnen Elemente seines einheitlichen Ansatzes vorzunehmen, hingewiesen wird) sowie M. Ermarth, Wilhelm Dilthey. The Critique of Hisrorical Reason, Chicago/ London 1978, S. 235. 49 GS, V, S. 318. 50 Ebd., S. 333. 51 Vgl. e.g. G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, Leipzig/Berlin 21931 sowie O. F. Bollnow, Studien zur Hermeneutik, Freiburg/München 1982 (Bd. I) und 1983 (Bd. II). 52 Vgl. H.-G. Gadamer, WM, S. 218ff. (= Gw, I, S. 235ff.). 53 GS, VII, S. 217f.
V. HEIDEGGER: HERMENEUTIK ALS SELBSTAUFKLÄRUNG DER EXISTENZIALEN AUSGELEGTHEIT Das von innen Erlebte [kann] nicht unter Begriffe gebracht werden, welche an der in den Sinnen gegebenen Außenwelt entwickelt worden sind. W. Dilthey (GS, V, 196)
Im 19.Jahrhundert behielt die Hermeneutik in gewisser, vor allem philosophischer, Hinsicht den Charakter einer mehr oder weniger unterschwelligen Reflexion. Trotz breitangelegter Grundintuitionen haben es die Klassiker der Hermeneutik, die für dieses Jahrhundert repräsentativ erscheinen, nämlich Boeckh, Schleiermacher, Droysen und Dilthey, nicht dazu gebracht, eine einheitliche Hermeneutikkonzeption auszuarbeiten bzw. in systematischer Form an die Öffentlichkeit zu bringen. Bezeichnend dafür ist der Umstand, daß ihre hermeneutischen Forschungen erst aus ihrem Nachlaß von Schülern, meistens in kompendienartiger oder stückhafter Gestalt, publiziert wurden. Mit Heidegger (1889-1976), bei dem sich eine frühe Schleiermacher-, Droysen- und Dilthey-Rezeption nachweisen läßt,! wird es langsam anders. Mit seinem Denken rückt die Hermeneutik dauerhaft in den Mittelpunkt der philosophischen Besinnung. Doch gilt auch für Heidegger, daß seine Hermeneutik trotz >Sein und Zeit< lange versteckt blieb. Seinen hermeneutischen Neuansatz entfaltete er in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre im Laufe seiner Vorlesungen zur >Hermeneutik der Faktizität<, ohne jedoch seine diesbezüglichen Forschungen zu veröffentlichen. Das Wichtigste ging wohl, wie wir heute gut feststellen können, in >Sein und Zeit< ein, aber gewiß unter dem Druck neuerer, den Problembereich überlagernden Fragen, die den hermeneutischen Horizont des Unternehmens gelegentlich unkenntlich machten. Wie oben vermerkt, beanspruchte die systematische Ortsbestimmung der Hermeneutik nicht viel mehr als eine halbe Seite im Opus von 1927, das etwa der ontologischen Frage nach dem ursprünglichen Sinn und den Hauptartikulationen des Seins mehr Platz einräumte. Das spätere Werk schien nach außen hin mit einem markierten Abschied von der hermeneutischen Fragestellung Hand
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Heidegger
in Hand zu gehen. Schon in der bedeutenden Vorlesung vom Sommersemester 1927 über die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), die als Fortsetzung und leise Korrektur2 von >Sein und Zeit< gelten kann, taucht der Begriff Hermeneutik kein einziges Mal auf. Ferner lassen sich die meist rückblickenden Bezugnahmen auf die Hermeneutik im Spätwerk nahezu an den Fingern einer Hand abzählen. Vieles spricht also dafür, daß die eigentliche Hermeneutik Heideggers in den frühen Vorlesungen aufzusuchen ist. Aus ihnen gingen ja erhebliche Anstöße auf die Entwicklung der späteren Hermeneutik, insonderheit der Gadamerschen, aus. Die jetzige Lage ist insofern günstig, als inzwischen fast alle Vorlesungen und sogar ausgearbeitete Manuskripte 3 aus dieser Zeit vor kurzem publiziert wurden. Sie bilden seit Jahren das Zentrum der neueren HeideggerForschung, da sie so viel Licht auf früher Unbekanntes und nur Vermutetes werfen. Eine, noch zu leistende, detaillierte Untersuchung der in ihnen entwickelten Hermeneutik der Faktizität kann aber im beschränkten Rahmen der vorliegenden Einführung leider nicht durchgeführt werden. 4 Unser Anliegen kann es nur sein, ihren philosophischen Ertrag für ein angemesseneres Verständnis der hermeneutischen Problematik von >Sein und Zeit< und ihrer Wirkungsgeschichte fruchtbar zu machen.
1. Das sorgende Voraus des Verstehens Allzu bekannt ist Heideggers Einsicht in die sogenannte Vorstruktur des Verstehens. Der Theologe Rudolf Buhmann gab ihr die für die spätere Hermeneutik maßgebliche Wendung, daß das menschliche Verstehen von einem der jeweiligen existentiellen Situation entspringenden Vorverständnis seine Leitung nimmt, das den thematischen Rahmen und die Geltungsweite jeden Auslegungsversuchs absteckt. Selten hat man sich aber darüber Gedanken gemacht, "wovor" diese Vorstruktur eigentlich operiert. Gebührt nicht diesem betonten "vor" bei Heidegger ein besonderes Gewicht? Was hat es im Umkreis einer hermeneutisch orientierten Untersuchung zu bedeuten? Nimmt man, in lediglich heuristischer Hinsicht, die Paragraphen 31 bis 33 als den "exoterischen" Kern der Hermeneutik von >Sein und Zeit<, läßt sich dem Titel des letzten Paragraphen eine erste Antwort entnehmen: "die Aussage als abkünftiger Modus der Auslegung". Das Danach, zu dem das Vorverstehen das" wovor" liefert, wäre demzufolge die Aussage, wenn nicht schon die Sprache selbst. Die Vorstruktur meint
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also, daß sich das menschliche Dasein durch eine ihm eigene Ausgelegtheit charakterisi~rt, die vor jeder Aussage liegt - eine Ausgelegtheit, deren fundamentalen Sorgecharakter die einebnende Tendenz des propositionalen Urteils zu verhüllen droht. Diese Sicht mag zuerst überraschen, aber wir glauben mit Recht behaupten zu dürfen, daß Heideggers Hermeneutik der Faktizität im Grunde eine Hermeneutik dessen sein will, was alles hinter der Aussage arbeitet. Sie ist eine Auslegung der vor und hinter jedem Urteil sich aussprechenden Sorgestruktur des menschlichen Daseins, dessen elementarste Vollzugsform das Verstehen ist. In starkem und originellem Gegenzug zur Hermeneutiktradition wird zunächst dieses Verstehen seines rein "epistemischen« Charakters entkleidet. Das Verstehen wurde ja früher als theoretisches intelligere verstanden, wobei es um die verstandesmäßige Erfassung eines sinnhaltigen Sachverhalts ging. Bei Droysen und Dilthey avancierte das Verstehen gar zu einem autonomen Erkenntnisvorgang, der die methodologische Eigenart der historischen Geisteswissenschaften zu fundieren berufen war. Heidegger erklärt dieses epistemologische Verstehen für sekundär, um seine Verstehenshermeneutik noch universaler anzusetzen. Sein neues Verstehenskonzept arbeitet er in der Auslotung der Formel "sich auf etwas verstehen« heraus, die weniger ein Wissen als eine Fertigkeit oder ein Können indiziert. "Eine Sache verstehen« heißt ihr gewachsen sein, mit ihr zurechtkommen zu können. So kann man von einem Sportler sagen, daß er etwas vom Fußball versteht. Wir meinen dabei freilich kein Wissen, sondern ein meist unausgesprochenes Können, eine Meisterschaft, ja eine "Kunst«. Hier ist nicht allein an exzellente Leistungen zu denken. Unser ganzes Leben ist von solchen "Fertigkeiten« durchwoben: so verstehen wir es, mit Menschen umzugehen, Dinge zu besorgen, die Zeit zu vertreiben usf., ohne über ein besonderes Wissen in diesen Belangen zu verfügen. Dieses, nennen wir es "praktische«, Verstehen denkt Heidegger als "Existential«, d.h. als Seinsweise oder Grundmodus, kraft dessen wir in dieser Welt zurechtkommen und zurechtzukommen suchen. Das Verstehen bedeutet weniger eine" Weise des Erkennens« als ein von der Sorge getragenes "Sichauskennen«s in der Welt. Die unerhörte Universalität dieses Verstehens bewährt sich darin, daß auch das epistemologische Verstehen des Geisteswissenschaftlers als eine Spielart solcher Meisterschaft angesehen werden kann. Einen Sachverhalt theoretisch verstehen heißt in der Tat: ihm gewachsen sein, mit ihm zu Rande kommen, damit etwas anfangen können. Dieses alltägliche Verstehen, stellt Heidegger fest, bleibt fast immer
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Heidegger
unausdrücklich. Als "Seinsweise" ist es für sich unthematisch. Wir leben zu sehr in ihm, aus ihm, als daß es es nötig hätte, ausgesprochen zu werden. Nichtsdestoweniger sind alle "Dinge" und Vorkommnisse, mit denen wir in unserer Lebenswelt umgehen, von diesem zuvorkommenden Verstehen vorinterpretiert als Dinge zu diesem oder jenem Gebrauch. Heidegger notiert, daß das griechische Wort für Ding, "pragma
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geht. Heidegger schreibt es nicht auf allen Seiten, aber es springt in die Augen, daß die umsichtige Seinsweise des Verstehens in der Selbstbekümmerung des Daseins ihre existentiale Wurzel hat. Die mehr oder weniger unbewußte Angel menschlichen Verstehens ist somit die Sorge. Aus ihr bestimmt sich der spezifische Entwurfcharakter unseres Verstehens. Um der potentiell bedrohenden Welt gleichsam zuvorzukommen, richtet sich unser Verstehen nach gewissen, unausdrücklichen Entwürfen, die - in der Sprache Heideggers - Möglichkeiten unserer selbst, unseres Seinkönnens verkörpern. Verstehen heißt ja Können: die und die Weise des Verstehens statt anderer zu verwirklichen. Nach Heidegger ist es aber nicht so, daß es da draußen zunächst nackte Dinge gäbe, die von unserem "subjektiven" und umsichtigen Verstehen eine gewisse Färbung hinzubekämen. Nein, was zunächst da ist, ist gerade unser Bezug zur Welt im Modus verstehender Entwürfe. Der rein theoretische Anblick der Welt, dessen Möglichkeit Heidegger nie in Abrede stellt, beruht auf einer expliziten Suspendierung solcher besorgenden Entwürfe. Das Primäre ist aber das hermeneutische "als", in dem uns alles begegnet und angeht. Unsere Entwürfe stehen zunächst nicht in unserer Wahl. Wir sind vielmehr in sie "geworfen". Die spezifische Geworfenheit und Geschichtlichkeit des Daseins ist das unaufhebbare Merkmal unserer "Faktizität". Zur faktischen und mithin primären Vorstruktur des Verstehens gehört, daß sie sich innerhalb vorgegebener Perspektiven befindet, die ihre Sinnerwartungen leiten: "Diese meist unausdrücklich verfügbaren Hinsichten, in die das faktische Leben auf dem Wege der Gewohnheit mehr hineingerät als daß es sie ausdrücklich sich zueignet, zeichnen der Sorgensbewegtheit die Vollzugsbahnen VOr."9 Wir sind aber dieser Vorstruktur der hergebrachten Ausgelegtheit nicht blindlings ausgeliefert, als wären wir, wie es die gängige Lesart des hermeneutischen Zirkels haben will, von unseren Vorurteilen heillos befangen. Heideggers Hermeneutik ist das gerade Gegenteil davon. Sie zielt auf eine explizite Aufklärung dieser historisch vorgegebenen Vorstruktur. Diese Aufklärung heißt bei ihm Auslegung.
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Heidegger 2. Dessen Durchsichtigkeit in der Auslegung
Aus dem Fehlen der Worte darf nicht auf das Fehlen der Auslegung geschlossen werden.1 0 Für die herkömmliche Hermeneutik funktionierte die Auslegung (interpretatio) wie selbstverständlich als Mittel zum Verstehen (inteltigere). Wer eine Textstelle nicht begriff, hatte auf eine Auslegung zu rekurrieren, deren natürliches Telos es war, Verständnis herbeizuführen.! I Mit Chladenius gesprochen: die vermittelnde Funktion der Auslegung ist es, die zum Verstehen notwendigen Mittel beizubringen. Zuerst kam also die Auslegung, dann und aus ihr heraus das Verstehen. In einem neuen, herausfordernden Gegenzug zur Tradition wird Heideggers Existentialhermeneutik dieses teleologische Verhältnis geradezu umkehren. Das Primäre wird nunmehr das Verstehen, und die Auslegung wird allein in der Ausbildung oder Ausarbeitung des Verstehens bestehen. Dieser Begriff von Auslegung ist ein äußerst kritischer. Wie wir sahen, lebt das Verstehen in oder von einer gewissen, für seine Situation spezifischen Ausgelegtheit. Das Verstehen, als Exponent der Sorge um das eigene Dasein, verfügt über die Möglichkeit, sich als solches auszubilden, ja sich selbst zu verstehen. Diese Selbstaufklärung und nichts anderes soll die Auslegung - wörtlich als Aus-einander-Iegung des schon implizit Vorverstandenen - leisten. Als dessen Herausarbeitung erfolgt sie "nach" dem ersten Verstehen, aber doch, um die das Verstehen kennzeichnende Sichtsuche und -freigabe zu vollenden. Als Selbstaneignung des Verstehens stelle sie das zu Ende oder zu sich selbst gebrachte Verstehen dar: "In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst."12 In Wirklichkeit will die Auslegung dem Vorverstehen zur Durchsichtigkeit verhelfen. Es dient in erster Linie der Aneignung der eigenen Verstehenssituation und der Voraussetzungen,13 die das besorgte Erkennen und Verhalten bestimmen. Ihr kritischer Stachel liegt in dem Bestreben, das Selbstrnißverständnis tunlichst zu vermeiden. Weil sich unser Verstehen vergreifen kann, bedarf jede Verstehensbemühung "der Aneignung, der Verfestigung und der Verwahrung".14 So muß es die allererste Aufgabe jeder aufrichtigen Auslegung sein, reflektiv die eigene Vorstruktur des Verstehens zu Bewußtsein zu heben. Die Intention Heideggers ist freilich nicht so mißzuverstehen, als
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würde sich etwa die Textauslegung darin erschöpfen, das subjektive Vorverständnis des Auslegers auseinanderzufalten, gleichsam ohne Rücksicht auf den zu deutenden Text. Die Interpretation, die es doch auf die Erschließung eines Anderen absieht, würde dann zu einem kuriosen Monolog des Interpreten mit seinem eigenen Vorverstehen entarten. Heidegger meint offenbar etwas viel Vordergründigeres: Um beispielsweise Texte richtig zu deuten, ist es geboten, sich zunächst die eigene hermeneutische Situation durchsichtig zu machen, damit sich das Fremde oder Andersartige des Textes allererst zur Geltung bringen kann, d.h., ohne daß unsere unaufgeklärten Vorurteile dabei ihre unbemerkte Herrschaft ausüben und so das Eigene des Textes verdecken. Wer seine hermeneutische Situiertheit souverän in Abrede stellt, läuft Gefahr, sich ihr um so unkritischer auszuliefern. So bemerkt z. B. Heidegger zur Auseinandersetzung der Philosophie mit ihrer Geschichte: "Alle Auslegungen im Felde der Geschichte der Philosophie und gleicherweise in andern, die darauf halten, gegenüber problemgeschichtlichen ,Konstruktionen' nichts in die Texte hineinzudeuten, müssen sich dabei ertappen lassen, daß sie ebenso hineindeuten, nur ohne Orientierung und mit begrifflichen Mitteln disparatester und unkontrollierbarer Herkunft."15 Durch den reflexiven Rückgang auf die eigene Vorstruktur wird es hingegen allererst möglich, die hintergründige Ausgelegtheit halbwegs zu kontrollieren, damit sich die Andersheit der aufzuschließenden Sachen ihr gegenüber zum Vorschein zu bringen vermag. Aus diesem kritischen Bemühen um Selbstverständigung heraus erklärt sich Heideggers Aufnahme des hermeneutischen Zirkels, um dessen Transzendierung der Historismus bemüht war. Natürlich besteht ein Zirkel zwischen der Auslegung und dem Verstehen, d.h. hier zwischen einer jeden Interpretation und den sie nährenden Vorgriffen, aber diese Zirkelhaftigkeit gehört eigens zur ontologischen oder unumstößlichen Sorge- und somit Vorstruktur des Daseins. Es kommt nicht darauf an, die Augen vor diesem "bösen" Zirkel zu schließen und dessen Verschwinden herbeizuwünschen, um irgendeine daseinslose Objektivität zuwege zu bringen. "Das Entscheidende", schreibt Heidegger pointiert, ist gerade nicht, "aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen")6 In ihn in der richtigen Weise hineinzuspringen besagt konkret, daß es die prioritäre und ständige Aufgabe einer redlichen Interpretation bleibt, ihre eigenen Vorgriffe für sich selbst auszuarbeiten und zur Auslegung zu bringen. Beabsichtigt ist aber nicht eine Besinnung, die solche Vorgriffe einfach außer Kraft setzte, sondern eine reflexive Hebung der eigenen
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Vorstruktur, um einen wahrhaften Dialog zwischen zwei spezifischen Positionen, folglich mit den Sachen und dem fremden Denken, in die Wege zu leiten. Ohne diese auslegende, vorklärende Hebung steht das Verstehen in Gefahr, sich seine Blickrichtung durch unkritische "Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen" Y Nicht um eine Ausschaltung der vorstrukturierenden Ausgelegtheit, die das interpretatorische Fragen allererst motiviert, kann es gehen, sondern um ihre Bewußtwerdung - nach Möglichkeit, versteht sich. Die auslegend ausgebildete Vorstruktur, die so zur Hebung kommt, ist also mit in den Ansatz der Interpretation zu bringen. 18
3. Die Idee einer philosophischen Hermeneutik der Faktizität Heideggers Hermeneutik, als philosophische Programmanzeige, versteht sich als Radikalisierung der dem Verstehen innewohnenden Auslegungstendenz. Hermeneutik wird dabei, notiert Heidegger, "in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes" genommen, "wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet" .19 Dieses Verständnis wendet sich gegen die seit Schleiermacher und Dilthey herrschende Ansicht, derzufolge die Hermeneutik eine methodische Kunstlehre des Verstehens im Hinblick auf eine methodologische Begründung der Geisteswissenschaften zu liefern habe. Nicht die Theorie der Auslegung, sondern das Auslegen selbst ist das Geschäft der zur Philosophie erhobenen Hermeneutik, und zwar in Hinsicht auf eine zu erobernde Selbstdurchsichtigkeit des Daseins, wobei die philosophische Klärungsarbeit lediglich die Auslegung zu Ende führt, die das verstehende Dasein immer schon leistet. Hiermit zielt die philosophische Hermeneutik auf eine Selbstauslegung der Faktizität ab, gleichsam auf eine Auslegung der Auslegung, damit das Dasein für sich selbst durchsichtig werden kann. In ihr sollen nämlich dem Dasein "die Grundstrukturen seines Seins kundgegeben werden" .20 Aus der Selbstbekümmerung des Daseins entsprungen bezieht die Philosophie, gefaßt als "der genuine explizite Vollzug der Auslegungstendenz der Grundbewegtheiten des Lebens", die selbstaufklärerische Funktion der Auslegung auf das Dasein selbst. Dieses philosophische Vorhaben tritt mit voller Deutlichkeit in der Vorlesung vom Sommersemester 1923 zur >Hermeneutik der Faktizität< hervor. Hermeneutik zeigt dort "die einheitliche Weise des Einsatzes, Ansatzes, Zugehens, Befragens und Explizierens der Faktizität"21 an, die sich als "Anzeige des möglichen Wachseins" darbietet.
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Zwar im Hinblick auf die mögliche Selbstdurchsichtigkeit des Daseins konzipiert, soll die Hermeneutik aber nicht selbst einen Weg zu diesem Wachsein einschlagen oder zur Erbauung anraten. Dem jeweiligen Dasein muß es anheimgestellt bleiben, seinen eigenen Weg zur Selbstdurchsichtigkeit zu bahnen. Die philosophische Hermeneutik bescheidet sich mit der Aufgabe, dem Dasein diesen im Existenzial der Auslegung vorgezeichneten Weg in Erinnerung zu rufen. Präzis: "Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein. "22 Energisch erscheint in den frühen Vorlesungen die Kampfansage gegen die "Selbstentfremdung" , die ihnen nahezu ein junghegelianisches, ja, ideologiekritisches Gepräge verleiht. 23 Wogegen sich die Hermeneutik auflehnt, ist das Selbstrnißverständnis, das Sichselbstverfehlen des Daseins, das >Sein und Zeit< Verfallen und die früheren Texte Ruinanz nennen. Das Dasein ist nämlich vom Hang heimgesucht, an sich selbst vorbeizugehen, seine eigensten Durchsichtigkeitsmöglichkeiten als selbst zu gestaltende nicht wahrzuhaben. Dies zeigt sich vornehmlich daran, daß der Mensch unbewußt in seiner Welt aufgeht und so für sich selbst verlorengeht. Anstatt eine eigene Auslegung seiner selbst vorzunehmen, übernimmt es die hergebrachte, die ihm die Last der Selbstaufklärung abnimmt. Zweck einer kritischen Hermeneutik der Faktizität, die das jeweilige Dasein zu sich selbst und in seine mögliche Freiheit zurückruft, wird es somit sein, diese überlieferten, nicht mehr hinterfragten Explikationen des Daseins abzubauen oder zu destruieren. "Die Hermeneutik bewerkstelligt ihre Aufgabe nur auf dem Wege der Destruktion."24 Destruktion meint hier einen Abbau der Tradition, sofern und nur sofern sie die Existenz für sich selbst verdeckt und der Notwendigkeit einer Selbstaneignung enthebt. In positiver Absicht durchgeführt will sie die ursprünglichen Erfahrungen des Daseins wiedererschließen, die hinter den überlieferten, inzwischen erstarrten und als Auslegungen nicht mehr erkannten Kategorien der ontologischen Tradition lauern. Dm diese Grunderfahrungen wieder zugänglich zu machen, kann freilich die philosophische Hermeneutik selbst nicht umhin, eine eigene Begrifflichkeit auszuarbeiten. Heidegger ist in diesem Punkt sehr behutsam. Dm der Gefahr einer neuen Scholastisierung möglichst vorzubeugen, führt er seine Begriffe als rein "formalanzeigende" ein. Der für den frühen Heidegger grundsätzliche Begriff der
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Formalanzeige will andeuten, daß Aussagen über das Dasein einen eigenen Aneignungsvollzug seitens des Verstehenden erfordern. Sie sind nicht als Sätze, die einen vorhandenen Sachverhalt theoretisch beschreiben, sondern als Aufforderungen zur Selbstaneignung auf dem Boden des jeweiligen Daseins aufzufassen. Ihr "primärer Aussagesinn" ist also nicht die "Aufweisung eines Vorhandenen", sondern ein" Verstehenlassen von Dasein",25 das ein für das Dasein spezifischer Auslegungsvollzug hervorruft. Philosophische Sätze haben den Charakter von Anzeigen, die man nur insofern versteht, als man sie selbst konkret durch persönlichen Ansatz - je auf seine Weise und in eigener Verantwortlichkeit - zu verwirklichen sucht. Als Aussagen über einen vorhandenen Tatbestand wären sie von Grund aus mißverstanden: "Sie indizieren nur Dasein, während sie als ausgesprochene Sätze doch zunächst Vorhandenes meinen ( ... ). Sie indizieren das mögliche Verstehen und die in solchem Verstehen zugängliche mögliche Begreifbarkeit der Daseinsstrukturen. (Als diese ein EQf.tTlVEUELV indizierenden Sätze haben sie den Charakter der hermeneutischen Indikation.) "26 Der erneute Bezug auf das EQf.tTlVEUHV kann hier nur willkommen sein. Er deutet in einleuchtender Weise auf die Unabdingbarkeit einer vom jeweiligen Dasein beim Verstehen zu vollziehenden Aneignung. Hermeneutisch muß sich das Dasein selbst mit in den Ansatz des Verstehens hineinbringen. Da es in der Philosophie immer nur um die Selbstbekümmerung des Daseins gehen kann, ist in dieser formalanzeigenden Eigenart ein methodischer Grundsinn aller philosophischen Begriffe zu sehenP Dafür verlangt Heidegger gerade "hermeneutische Begriffe", also Ausdrücke, die nicht schlechthin eine vorhandene, neutrale Tatsache w-iedergeben möchten, sondern die "nur in der immer wieder ansetzenden Interpretationserneuerung zugänglich"28 sind. Hermeneutisch ist folglich der Satz, der zu einem eigenen Reflexions- oder Auslegungsvollzug und somit zur Selbstanwendung auffordert. Dabei gilt es, hinter die Fassade des allgemeinen Begriffs vorzudringen, um die spezifischen Erfahrungen, die sich in ihm anzeigen, zurückzuerlangen.
4. Abkünftiger Status der Aussage?
Dieser hermeneutische Rückgang hinter das Ausgesagte hatte sich zunächst in der Distinktion des hermeneutischen und des apophantischen "als" kenntlich gemacht. Heidegger w-ird tatsächlich nie müde,
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auf das vorprädikative Element des Hermeneutischen hinzuweisen. Es wäre aber ein Mißverständnis der Intentionen Heideggers, würde man meinen, die Selbstauslegung des Daseins habe außerhalb der Sprache zu erfolgen. Auch hier muß man Heidegger nicht beim Wort nehmen und zwischen den Zeilen lesen, wie Schleiermacher sagte. Nicht um ein Verkennen oder Verdrängen der Sprache kann es sich handeln. Heidegger will lediglich, daß man in jedem gesprochenen Wort die sich kundgebende Sorge des Daseins mithört. Allein gegen die einebnende Tendenz der Aussage richtet sich sein Protest. In ihr vollzieht sich nämlich eine "Modifikation" des primären hermeneutischen Weltbezugs. Hierbei ist an Heideggers berühmtes Beispiel vom schweren Hammer zu erinnern. Das zunächst sprachlose Hantieren mit dem Werkzeug kommt dem Handwerker allmählich lästig vor. Dabei wird der Hammer "als" ein schweres (für das Dasein) verstanden. Das "als" spielt dabei auf einen Auslegungsvorgang an, der sich aber nicht auszusprechen braucht: "Der ursprüngliche Vollzug der Auslegung liegt nicht in einem theoretischen Aussagesatz, sondern im umsichtig-besorgenden Weglegen bzw. Wechseln des ungeeigneten Werkzeugs, ,ohne dabei ein Wort zu verlieren<."29 Im Weglegen manifestiert sich schon der auslegende Weltbezug des hermeneutischen "als". Selbstverständlich kann man dies in die Worte fassen: "der Hammer ist schwer«, aber das hermeneutische "als« erleidet dabei eine bestimmte Umwandlung. Aus dem originären "als", in dem sich die leidende Welterfahrung des Handwerkers meldete, wird ein prädikativer Aussagesatz über einen vorhandenen Gegenstand (den Hammer), dem eine Eigenschaft (die Schwere) zugesprochen wird. In der Terminologie Heideggers: "In dem Aussagevollzug in der Form der Prädikation ( ... ) nivelliert sich das primär verstehende ,als< zugleich in der reinen einfachen Dingbestimmung. «30 Die Aussage verdinglicht sozusagen den ursprünglichen Bezug, den hermeneutischen, so daß "das Womit des Zutunhabens zum Worüber eines Aufzeigens«31 verwandelt wird. Gewiß läßt sich entgegnen, daß die Verwandlung tatsächlich nicht so enorm ist, sofern jeder den Satz doch als Ausspruch über das daran leidende Dasein und nicht als die Bestimmung eines vorhandenen Dings begreifen wird. Heidegger behauptet nicht, daß jede Aussage eine Verkehrung des ursprünglichen, unausgesagten ,als< impliziert. So schwach ist die Sprache wieder auch nicht. Wenn wir Heidegger richtig deuten, will er vor allem vor der Tendenz warnen, Aussagen als simple Behauptungen über vorhandene, feststellbare Objekte zu nehmen, weil damit von der Verwurzelung der Sprache in
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der Sorgestruktur des Daseins abgesehen wird. Der Wink auf das vorprädikative, hermeneutische "als" ruft in Erinnerung, daß im Prinzip jede Aussage von dieser Verwurzelung zeugt und mithin auf einen verstehenden Nachvollzug angewiesen ist. Wer Sprachliches hermeneutisch verstehen will, muß stets das von ihm unmittelbar Ungesagte, aber Mitgemeinte mit in Betracht ziehen. 32 Die hermeneutische Blickrichtung ist nicht gegen die Sprache gerichtet. Ihr Gegenstand schwebt auch nicht" vor" der Sprache in irgendeinem trivialen mentalen oder esoterischen Sinne. Sie will lediglich die Sprache von ihrem Aussagewillen her aufgenommen wissen, gegen die potentiell verdinglichende, sich auf den puren logischen Gehalt des Ausgesagten versteifende Sicht von Sprache. Selbst wenn Heidegger vom "abkünftigen Charakter" der Aussage spricht und mit einer gewissen Genugtuung darauf hindeutet, daß die Sprache erst in einem relativ späten Stadium von >Sein und Zeit< thematisiert wird,33 hat das Werk von 1927 doch auf seine Weise dem Umstand Rechnung getragen, daß unser Verstehen und Auslegen schließlich sprachlichen Wesens ist, als es den ursprünglichen Charakter der "Rede" betonte. Die Rede, besser: das Reden, ist die Selbstauslegung des Daseins, wie sie sich im gängigen, bekümmerten Sprachgebrauch manifestiert. Die familiäre Rede, in der sich die Sorge des Daseins noch unumwunden ausspricht, ist dann "gleichursprünglich"34 mit dem Verstehen als wörtliche Artikulation der Verständlichkeit, innerhalb deren sich jedwedes Verstehen bewegt. Die Rede des natürlichen Umgangs bewahrt noch etwas von der umsichtigen Sorgestruktur des Daseins. Von ihr bleibt gleichwohl - terminologisch und polemisch die Aussage als logisches Konstrukt auseinanderzuhalten. Es ist eine verkürzende Sicht der Logik, Sprache auf bloße Prädikatoren oder Logizität, auf das Verfahren, einem vorhandenen Subjekt Eigenschaften beizulegen, zu reduzieren, ohne das sich dabei mitaussprechende Dasein wahrzunehmen. Die konstruktive Sorgehaltung des Daseins aus der Logik auszuschließen heißt nahezu die Rechnung ohne den Wirt zu machen, den 'A.oyor; ohne das wirkliche Wesen, das sich durch die Ausdrucklichkeit des MyCLv auszeichnet, einfangen zu wollen.
5. Die Hermeneutik aus der Kehre
Nur scheinbar wurde die hermeneutische Sprachansicht von ,Sein und Zeit< im Spätwerk Heideggers einer grundlegenden Revision unterzogen. Sicherlich brachte sich die Sprache nunmehr als das "Haus
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des Seins« entscheidender zur Geltung, als ob sie als die vorgängige und unüberbietbare Offenbarung des Seins von nun an die Rolle des Daseins übernommen hätte. Dennoch ist Heideggers Argwohn der Aussage gegenüber um nichts geringer geworden. Selbst wenn er selber gerade nicht wenig schrieb, warnte Heidegger nach wie vor, ja noch entschlossener als früher, vor dem Verfängnis, in Aussagesätzen den vollen Ausdruck der philosophischen Wahrheit zu erblicken. Die neuerdings veröffentlichten >Beiträge zur Philosophie< von 1936-1938, die vielleicht das ausführlichste Zeugnis des sich neu akzentuierenden Denkens ablegen, wiederholen es schon auf den ersten Seiten: "In der Philosophie lassen sich niemals Sätze anbeweisen ( ... ), weil hier überhaupt nicht ,Sätze' das Wahre sind. «35 Diese Mahnung behielt ihre Gültigkeit bis hin zum Vortrag >Zeit und Sein< (1962), den man mit Grund als die Endstation des Heideggerschen Denkweges betrachten kann. Dessen letzten Zeilen lauten: "Es gilt unablässig, die Hindernisse zu überwinden, die ein solches Sagen [des Ereignisses] leicht unzureichend machen. Ein Hindernis dieser Art bleibt auch das Sagen vom Ereignis in der Weise eines Vortrags. Er hat nur in Aussagesätzen gesprochen. «36 Es ist ein leichtes, die Aporetik eines solchen Sagens, das Aussagesätzen dermaßen nicht mehr trauen kann, daß es gelegentlich in eine Sigetik37 oder eine Philosophie des Schweigens seine Zuflucht nahm, an die Wand zu malen. Die Aporie hört aber auf, sobald man aus diesem Ringen mit der Sprache das Bemühen heraushört, den hermeneutischen Charakter der Sprache bewahrt zu wissen. Eine Philosophie, der die Verweigerung als Grundgestalt des Seins aufgegangen ist, kann nicht mehr naiv glauben, daß sich das Leiden der Endlichkeit in klaren, sich selbst genügenden Aussagesätzen aussprechen ließe. Daher erklärt sich Heideggers sisyphischer Widerstand gegen die universale Kybernetik und die von der planetarischen Technik gebotene Funktionalisierung der Sprache als Informationsmittel, in dem sich alles aussagen und kalkulieren läßt. Diese Züge des Spätwerks überschreiten selbstredend den engen Rahmen der hiesigen Untersuchung.3 8 Wenn das hermeneutische Sprachverständnis aus dem Denken der Kehre nicht verschwunden ist, gilt dasselbe für die kritische Aufgabe der von der Auslegung zu realisierenden Erhellung der eigenen hermeneutischen Situation. Oft als pseudomystischer Abschied von der Aufklärung verpönt, ist Heideggers Eingehen auf die Seins geschichte doch nichts anderes als die Fortsetzung der von >Sein und Zeit< geforderten Destruktion der Tradition im Sinne der reflexiven Aneignung unserer geschichtlichen Verstehenssituation. Die die Vorstruktur un-
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seres Verstehens tragende Ausgelegtheit soll von nun an konsequent anhand der Seins geschichte zur Durchsichtigkeit, d.h. zur Auslegung erhoben werden. Der späte Heidegger ist sich so sehr des geworfenen Charakters des menschlichen Verstehens bewußt, daß sein Denken fast nur noch in der Auslegung und der Auseinandersetzung der uns bestimmenden ontologischen Tradition aufgeht. Wer wollte leugnen, daß der destruktiv-erschließende Durchgang durch die Geschichte hindurch weiterhin, wenngleich ungesagt, im Hinblick auf ein zu gewinnendes und von jedem Dasein zu vollziehendes Wachsein erfolgt? Freilich ist diese Selbstdurchsichtigkeit nicht als Selbsttransparenz zu denken, sondern - ebenso wie das Delphische "Erkenne dich selbst" - als Einsicht in die eigenen Grenzen, in unsere unaufhebbare Geworfenheit, ja als Bewußtsein unserer Endlichkeit angesichts der Seins geschichte zu verstehen. Die Philosophie der Kehre ist letztlich aus einem Zuendedenken der von der Faktizitätshermeneutik herausgearbeiteten Geworfenheit des Daseins erwachsen. Das Dasein gilt nicht mehr; wie es 1927 den Anschein hatte, als der potentielle Urheber seiner Verstehensentwürfe; es empfängt sie eher von einer meist unterschwelligen Seinsgeschichte, deren Aufklärung zur allerersten Aufgabe der hermeneutischen Auslegung werden muß. Heideggers Denken ist also von seiner Auslegungspraxis her im Spätwerk durch und durch hermeneutisch geblieben, ja konkretisiert worden. Daß aber der Titel "Hermeneutik", wie nahezu alle Schlagworte von >Sein und Zeit<, nicht mehr beibehalten wurde, hängt allem Anschein nach mit der Entthronung der menschlichen Subjektivität zusammen, die die Radikalisierung der Geworfenheit und damit der Endlichkeit nach sich ziehen muß. Es mag sein, daß Heidegger dabei einem gewissen Selbstmißverständnis 39 erlag, als er glaubte, ausgerechnet das hermeneutische Denken dem transzendental-subjektiven Zug der Moderne zurechnen zu müssen. Denn sein eigenes hermeneutisches Denken in >Sein und Zeit< war doch als Kontrapunkt der subjektbesessenen Moderne konzipiert, um dessentwillen gerade eine Destruktion der ontologischen Tradition heraufbeschworen wurde. Die spärlichen Hinweise auf die Hermeneutik finden sich im späteren Werk fast sämtlich in >Unterwegs zur Sprache< (1959), und zwar in dessen Gesprächsteil. Nach dem Sinn von Hermeneutik gefragt, zitiert Heidegger so gut wie kommentarlos Schleiermachers Bestimmung der Hermeneutik (aus einer Vorlesung desselben, die er gerade "zur Hand" hatte) als "die Kunst, die Rede eines andern, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen". Zustimmend wird jetzt die
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Schleiermachersche Aufgabenbestimmung der Hermeneutik, von der sich die Vorlesung vom Sommersemester 1923 zur Hermeneutik der Faktizität explizit und >Sein und Zeit< implizit abgesetzt hatte, übernommen. Wie sein Hauptwerk Hermeneutik des genaueren verstehe, erläutert er, geheimnisvoll und fast tautologisch, als den Versuch, "das Wesen der Auslegung allererst aus dem Hermeneutischen zu bestimmen".40 Was soll dabei "hermeneutisch" heißen? Man darf nicht zu viel erwarten, entgegnet Heidegger, "denn die Sache ist rätselhaft, und vielleicht handelt es sich gar nicht um eine Sache" .41 Erneut begegnet uns der hermeneutische Argwohn gegenüber dem Dinghaften und Verfügbaren mit einem Hinweis auf die Unaussagbarkeit oder das Rätselhafte, um dessen Verstehen willen es einer Hermeneutik bedarf. Doch gibt Heidegger - unvermittelt - gut zwanzig Seiten später eine Antwort auf die Frage, was das Hermeneutische denn eigentlich sei. Es sei aus dem griechischen Zeitwort EQf.!l]VEUCLV her zu verstehen. 'EQf.!l]VEUCLV sei "jenes Darlegen, das Kunde bringt, insofern es auf eine Botschaft zu hören vermag". 42 Vor jedem Auslegen manifestiert sich das Hermeneutische als "das Bringen von Botschaft und Kunde" .43 Diese Auskünfte, wie die meisten im Spätwerk, sind in ihrer Schlichtheit zu nehmen. In den einfachsten Worten besagt das Hermeneutische das Darbringen einer Botschaft, die ein Hören herbeiruft. Nirgends in seinem Werk stand Heidegger der hermeneutischen Tradition näher als hier. Dieses Bringen von Botschaft ist allein durch Sprache möglich, ja es erweist sich als das elementarste Tun der Sprache selbst. Die Sprache ist es, führt Heidegger aus, die "den hermeneutischen Bezug" trägt. Am Ende verschmilzt die Frage nach dem Hermeneutischen konsequent mit der nach der Sprache. Was ist denn Sprache anderes als das Mitteilen einer Botschaft, das ein verstehendes Hören aufzunehmen hat? "Wenn ich Sie also", stellt der Japaner im Gespräch fest, "nach dem Hermeneutischen frage, und wenn Sie mich nach unserem Wort für das fragen, was bei Ihnen Sprache heißt, dann fragen wir einander das Selbe." - "Offenbar",44 lautet die abschließende Antwort Heideggers. Für den späten Heidegger wurde also das Hermeneutische zu einem anderen Wort für Sprache, wohlverstanden als Darbringen einer Kunde um eines verstehend-hörenden Entsprechens willen. Wenn dies zutrifft, müssen wir wohl einsehen, daß Heideggers (und nicht nur des späteren) Denkweg, der sich unterwegs zur Sprache wußte, auch als ein Unterwegs zur Hermeneutik nachzuvollziehen ist.
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Anmerkungen 1 Heidegger wies selber auf seine frühe Beschäftigung mit Schleiermacher und Dilthey (in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 96) sowie auf den theologischen Kontext seiner ersten Begegnung mit der Hermeneutik hin. Tatsächlich besuchte der Theologiestudent Heidegger eine Vorlesung zur Hermeneutik im Sommersemester 1910 (vgl. Th. Sheehan, Heidegger's Lehrjahre, in: The Collegium Phaenomenologicum. The First Ten Years, Dordrecht/BostoniLondon 1988, S. 92). Zur frühen Beschäftigung mit Dilthey vgl. den Bericht von F. Rodi, Die Bedeutung Diltheys für die Konzeption von >Sein und Zeit<, in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986-87), S. 161-177. Was Droysen angeht, möge hier der Hinweis darauf genügen, daß Heidegger im Sommersemester 1926, im unmittelbaren Umkreis von >Sein und Zeit< also, ein Seminar über seinen >Grundriß der Historik< hielt. - Wir geben zu, daß sich die Rede von einem "Neubeginn" der Hermeneutik mit Heidegger problematisieren läßt, insbesondere von Dilthey aus (vgl. neuerdings F. Rodi, Erkenntnis des Erkannten, Frankfurt a.M. 1990, S. 89 u.ö.). Einen Neubeginn kann es ja für die Hermeneutik nie geben. Aber selbst Dilthey-Forscher wie F. Rodi (ebd., S. 81) erkennen an, :wie wenig selbsrverständlich der systematische oder philosophische Gebrauch des Namens "Hermeneutik" noch um 1910 für Dilthey war. Hier setzte Heidegger zweifelsohne neue Maßstäbe. 2 V gl. die Interpretation von Th. Sheehan, "Time and Being" 1925-27, in: Thinking about Being. Aspects of Heidegger's Thought, ed. by W. Shahan andJ. N. Mohanty, Norman (Oklahoma) 1984, S. 177-219 sowie unsere Arbeit: Le tournant dans la pensee de Martin Heidegger, Paris 1987. 3 Vgl. speziell die Bände 20, 21, 22, 24, 25, 56/57, 58, 59, 60, 61, 63 der GA sowie die Texte: Der Begriff der Zeit, Tübingen 1989 und: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), S. 237-269 (fortan: Anzeige); Kasseler Vorträge (1925), in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992-93), S. 143-180. 4 Vgl. inzwischen die Studien über Heideggers frühe Hermeneutik der Faktizität in meinem Buch: Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt 1994, S. 71-102, sowie: Zur hermeneutischen Wahrheit. Heidegger und Augustinus, in: E. Richter (Hrsg.), Die Frage nach der Wahrheit, Frankfurt a. M. 1997, S. 161-173; Die Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion, in: Th. Rentsch (Hrsg.), Heidegger: Sein und Zeit, München 2001. Sehr aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang Gadamers neuere Aufsätze über Heideggers Anfänge (die ihn weit mehr als ,Sein und Zeit< geprägt hatten), vor allem in den Bänden 3 (1987) und 10 (1995) seiner Gesammelten Werke. Das klassische Werk zur hermeneutischen Entstehungsgeschichte von >Sein und Zeit< ist das von T. Kisiel: The Genesis of Heidegger's Being and Time, Berkeley 1993. V gl. auch den von T. Kisiel und J. van Buren herausgegebenen Sammelband: Reading Heidegger from the Start, Albany 1994. 5 Vgl. GA 20, S. 286. 6 Vgl. SZ, S. 158 sowie GA 21, S. 143-161 (die Abschnitte ,Die Als-Struk-
Anmerkungen
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tur des primären Verstehens: hermeneutisches "als"<, >Die Modifikation der Als-Struktur beim Bestimmen: apophantisches "als"<). 7 GA 21, S. 144. 8 Ebd., S. 146. 9 Anzeige, S. 241. 10 SZ, S. 157. 11 Zu diesem natürlichen, teleologischen Verhältnis zwischen Auslegen und Verstehen vgl. E. Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre (1954), Nachdr. Tübingen 1988. 12 SZ, S. 148. 13 Vgl. GA 61, S. 41,160. Zum besonderen Gewicht des Terminus ,Durchsichtigmachen' beim frühen Heidegger vgl. H.-G. Gadamer, Heideggers ,theologische' Jugendschrift, in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), S. 232. 14 GA 20, S. 358. 15 Anzeige, S. 237f. 16 SZ, S. 153. Zur Zirkelproblematik bei Heidegger und Gadamer vgl. jetzt meine >Einführung zu Gadamer<, Tübingen 2000, S. 125-134. 17 SZ, S. 153. 18 Vgl. M. Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers' Psychologie der Weltanschauungen (1919/21), in: Wegmarken, 2., erw. Aufl., Frankfurt a.M. 1978, S. 9. 19 SZ, S. 37. 20 Ebd. Zur Hermeneutik als Selbstauslegung der Auslegung vgl. C. F. Gethmann, Verstehen und Auslegung. Das Methodenproblem in der Philosophie Martin Heideggers, Bonn 1974, S. 117 und R. Thurnher, Hermeneutik und Verstehen in Heideggers >Sein und Zeit<, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 28/29 (1984f.), S. 107. 21 Anzeige, S. 246. 22 GA 63, S. 12. 23 V gl. meinen Beitrag: Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideologiekritik, in: Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Frankfurt a. M. 1990/91; jetzt in: Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt 1994, S. 71-89. 24 Anzeige, S. 249. VgL GA 63, S. 105. 25 Vgl. GA 21, S. 410. 26 Ebd. (Hervorhebung von uns). Vgl. ferner GA 63, S. 80: "Die formale Anzeige ist immer mißverstanden, wenn sie als fester, allgemeiner Satz genommen ( ... ) wird." 27 V gl.: Anmerkungen zu Karl Jaspers, S. 10 f. 28 Ebd., S. 32. 29 SZ, S. 157. 30 GA 21, S. 153. 31 Ebd., 5. 154. Vgl. 5Z, 5. 158. 32 Von hier aus kann man begreifen, in welchem Sinne Gadamer sagen konnte, den Ausdruck hermeneutisch "unter Anknüpfung an eine von Hei-
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Heidegger
degger in seiner Frühzeit entwickelte Sprechweise" (GW 2, S. 219) zu verwenden. Gemeint ist der vom Verstehenden zu leistende Mitvollzug dessen, was eine Aussage meint, ohne es alles aussprechen zu können. In diesem Zusammenhang muß die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, daß Heideggers These vom ab künftigen Charakter der Aussage wichtige Nachfolger in den Arbeiten von Georg Misch (1878-1965) und Hans Lipps (1889-1941) gefunden hat. G. Misch, Schüler Diltheys, hat eine beachtenswerte Konzeption des »evozierenden" Sprechens, das das nur Aussagemäßige überschreitet, ausgearbeitet sowie die Idee einer »hermeneutischen Logik" entwickelt, die darum besorgt ist, die logischen Kategorien auf den praktischen Lebenszusammenhang, dem sie entsprungen sind, zurückzuführen. V gl. die bereits erwähnte, 1993 von F. Rodi und G. Kühne-Bertram besorgte Edition der Vorlesung von Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, Freiburg/München 1993 sowie den Bericht von O. F. Bollnow, Studien zur Hermeneutik, Bd. 11: Zur Hermeneutischen Logik bei Georg Misch und Hans Lipps, Freiburg/München 1983. Dieses Unternehmen wurde von Hans Lipps, Schüler Husserls und Heideggers, mit neuen Akzenten in seinen hochinteressanten, wenngleich manieristisch geschriebenen> Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik<, Frankfurt a.M. 1936, fortgeführt. Lipps geht es um die Berücksichtigung des kontextualistischen oder pragmatischen Charakters eines jeden Urteils. Programmatisch schreibt er: »Statt einer Morphologie des Urteils hat die Logik eine Typik der Rede zu entwickeln" (S. 134), d.h. eine Logik, die hinter die Formen der objektiven Rede zurückgreift, um das sich in ihnen ausdrückenwollende Verhalten zu verstehen. Lipps' Nähe zur Pragmatik und zur späteren Hermeneutik ist inzwischen gewürdigt worden. Vgl. z.B. R. Bubner, Modern German Philosophy, Cambridge 1981, S. 43-46 sowie die neueren Beiträge zu seinem hundertsten Geburtstag im Dilthey-Jahrbuch 6 (1989). Es ist aber zu bemerken, daß der Terminus "hermeneutisch" selbst bei Lipps selten vorkommt. Erst nachträglich und nach langem Zögern hat er sich während der Drucklegung des Werkes dazu entschlossen, den Begriff der Hermeneutik in den Titel seines Werkes aufzunehmen (vgl. o. F. Bollnow, 1983, S. 27f.). Eine weit ausgewogenere Würdigung des sprachlichen Charakters unseres In-der-Welt-Seins erfolgte in der neuerdings zugänglichen Rhetorik-Vorlesung vom Sommersemester 1924 (GA 18). Eine Erinnerung an diese wichtige Vorlesung erhielt sich bis in >Sein und Zeit< (S. 138) hinein, als Heidegger in der aristotelischen Rhetorik »die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufgefaßt" sehen wollte. Es ist aber gerade diese Hermeneutik des Miteinanderseins und seines sprachlichen Charakters, die in SZ etwas zu kurz zu kommen schien. 33 Vgl. SZ, S. 160. 34 SZ, S. 161. 35 Beiträge zur Philosophie, GA 65, Frankfurt a.M. 1989, S. 13. 36 Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 25. 37 V gl.: Beiträge zur Philosophie, S. 78 ff.
Anmerkungen
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38 Zur hermeneutischen Dimension der Kehre vgl. unsere frühere Untersuchung: Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, Königstein/Ts. 1982, S. 83-95 (Kap. nI.3: Die hermeneutische Bedeutsamkeit der Kehre). 39 V gl. dazu M. Riedel, "Vieles ist zu sagen". Die Antwort des Denkens in der Zeit. Zum 85. Geburtstag des Philosophen Hans-Georg Gadamer. Zum Abschied vom "transzendental-hermeneutischen" Denken zugunsten des seinsgeschichtlichen vgl. M. Heidegger, Nietzsche, Bd. II, Pfullingen 1961, S.415. 40 Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 98. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 121. 43 Ebd., S. 122. 44 Ebd., S. 123.
VI. GADAMERS UNIVERSALHERMENEUTIK
1. Zurück zu den Geisteswissenschaften Es ist gar keine Frage, daß Gadamer der Hinwendung des späten, die geschichtliche Geworfenheit radikalisierenden Heidegger zum hermeneutischen Wesen der Sprache folgt. Er ist aber bestrebt, diese Radikalisierung mit dem hermeneutischen, beim Verstehen verweilenden Ausgangspunkt des jungen Heidegger zusammenzudenken. Was bedeutet es nämlich für das Verstehen und das Selbstverständnis des Menschen, sich von einer Geschichte, die sich für uns als überlieferte Sprache artikuliert, getragen zu wissen? Diesen hermeneutischen Konsequenzen gilt seine >Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache<, so der Titel des letzten Teiles seines Hauptwerkes >Wahrheit und Methode< (1960). Um zu erfassen, was diese ontologische bzw. universale Wende der Hermeneutik eigentlich besagt, muß man zum Ausgangsproblem des Werkes, der Frage nach den Geisteswissenschaften oder nach einer den Geisteswissenschaften gemäßen Hermeneutik zurückkehren. Das Problem der Geisteswissenschaften war Heidegger nicht unbekannt. Von Dilthey und seinen neukantianischen Lehrern her war es ihm bestens vertraut. Doch hatte er von seinem ursprünglicheren Ansatz auf dem Boden der Faktizität her das Verstehen der Geisteswissenschaften hartnäckig zu einem ab künftigen oder abgeleiteten gestempelt. Die Erhebung des Verstehens zum methodologischen Königsweg der Geisteswissenschaften erschien ihm schließlich nichts als ein Ausdruck der Schlüssellosigkeit, in der sich der Historismus befand. Der Rückgriff auf ein methodisierbares Verstehen sei der verzweifelte Versuch, angesichts der dem 19.Jh. aufgegangenen Geschichtlichkeit vor allem einen "festen Rückhalt" ausfindig zu machen. Was Heidegger problematisierte, war im Grunde die Idee eines solchen archimedischen Punktes, indem er deren metaphysische Voraussetzungen entlarvte. Die Idee eines zeitlosen, letzten Fundamentes entstamme doch einer Flucht des Menschen vor seiner eigenen Zeitlichkeit.! Die Vorstellung, daß es eine absolute Wahrheit gebe, erwachse so aus einem Verdrängen oder Vergessen der eigenen Zeitlichkeit. Anstatt dem Phantom eines letzten Fundamentes nachzujagen, empfahl Hei-
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degger, sich radikal auf der Ebene der Endlichkeit anzusiedeln und die eigene Vorurteilsstruktur als positives, ontologisches Merkmal des Verstehens auszuarbeiten, um die Möglichkeiten unserer selbst aus unserer Situiertheit heraus wahrzunehmen. So überwand Heidegger die epistemologische Fragestellung des Historismus. Nicht um das Phantomhafte eines allgemeingültigen Rückhalts, Sohn des Positivismus und somit der Metaphysik, kann es sich im Verstehen handeln, sondern um ein zu eroberndes Gewahrwerden des Daseins über die ihm zur Disposition stehenden Möglichkeiten. Es ist unleugbar, daß die Suche nach einer allgemeingültigen Wahrheit die Wirklichkeit des Verstehens zu verdecken droht und es auf ein Erkenntnisideal ausrichtet, das es doch nie verwirklichen wird. Der Ausarbeitung seines eigenen, hermeneutisch radikaleren Ansatzes hingegeben ließ Heidegger gleichsam das Problem des Historismus, und mit ihm die Methodologie der Geisteswissenschaften, hinter sich zurück. Wenn Gadamer den Dialog mit den Humanwissenschaften wiederaufnimmt, ist es aber nicht, um eine "Methodologie" zu entwickeln, wie der Titel >Hermeneutik< in der Nachfolge Diltheys nahelegen könnte, sondern um am Beispiel dieser verstehenden Wissenschaften die Unhaltbarkeit der Idee eines allgemeingültigen Erkennes auszuweisen und somit die Fragestellung des Historismus aus den Angeln zu heben. Die von Heidegger nur am Rande geführte Auseinandersetzung mit dem Historismus wurde bei Gadamer zu einer Hauptaufgabe. Von 1936 bis 1959 hielt Gadamer siebenmal eine Vorlesung unter dem Titel einer >Einleitung in die Geisteswissenschaften<, in der er eine diesen Wissenschaften gerecht werdende Hermeneutik entfaltete, deren Ergebnisse er in den fünfziger Jahren zuerst in beachtenswerten Aufsätzen zur Frage der Wahrheit in den Geisteswissenschaften sowie in den Löwener Vorträgen (1957) zum Problem des historischen Bewußtseins und dann 1960 im Buch >Wahrheit und Methode< der Öffentlichkeit vorlegte. Den Anstoß des Werkes liefert das Problem des richtigen Selbstverständnisses der Geisteswissenschaften gegenüber der Naturwissenschaft. Gadamer argumentiert dort gegen die vom Historismus und Positivismus verfochtene Idee, daß die Geisteswissenschaften ihre eigenen Methoden auszuarbeiten hätten, um den Status von Wissenschaft genießen zu dürfen. Diese Hoffnung war doch die Angel, um die sich die ganzen methodologischen Bemühungen Diltheys, Droysens und des Neukantianismus drehten. Gadamer stellt diesen Ausgangspunkt grundsätzlich in Zweifel und fragt sich, ob das Verlangen nach Methoden, die allein Allgemeingül-
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tigkeit gewähren, in den Geisteswissenschaften wirklich am Platze ist. Gadamer orientiert sich zunächst an der Festrede, die der Naturwissenschaftler Heimholtz über das Verhältnis der Natur- und Geisteswissenschaften im Jahre 1862 in Heidelberg gehalten hatte. Nach diesem noch heute lesenswerten Vortrag kennzeichnen sich die Naturwissenschaften durch die Methoden der logischen Induktion, die aus dem gesammelten empirischen Material Regeln und Gesetze heraushebt. Die Geisteswissenschaften verfahren anders. Sie kommen eher durch so etwas wie psychologisches Taktgefühl zu ihren Erkenntnissen. Helmholtz spricht hier von einer "künstlerischen Induktion", die einem instinktiven Gefühl oder Takt erwächst, für den es aber keine definierbaren Regeln gibt. Mit nur sachter Übertreibung ließe sich sagen, daß Helmholtz Gadamers Hauptgesprächspartner im ersten Teil von ,Wahrheit und Methode< ist. Sollte es zutreffen, daß man ein Buch verstanden hat, wenn man die Frage angeben kann, auf die es die Antwort ist, so war es Helmholtz' unumwundenes Fragen nach der Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften, das ,Wahrheit und Methode< den ursprünglichen Anstoß gab. So heißt es zu Beginn des Werkes: "Es gibt keine eigene Methode der Geisteswissenschaften. Wohl aber kann man mit Helmholtz, fragen, wieviel Methode hier bedeutet, und ob die anderen Bedingungen, unter denen die Geisteswissenschaften stehen, für ihre Arbeitsweise nicht vielleicht viel wichtiger sind als die induktive Logik. Helmholtz hatte das richtig angedeutet, wenn er, um den Geisteswissenschaften gerecht zu werden, Gedächtnis und Autorität hervorhob und vom psychologischen Takt sprach, der hier an die Stelle des bewußten Schließens trete. Worauf beruht solcher Takt? Wie wird er erworben? Liegt das Wissenschaftliche der Geisteswissenschaften am Ende mehr in ihm als in ihrer Methode?"2 Einig ist sich Gadamer mit Helmholtz darin, daß es die Geisteswissenschaften im Grunde viel mehr mit der Ausübung eines Taktes als mit der Anwendung irgendwelcher Methoden zu tun haben. Selbst wenn er vom Vorbild der naturwissenschaftlichen Methode ausging, in der zweiten Hälfte des 19.Jh. ging es nicht anders, hatte Helmholtz 1862 doch die Eigenart der Geisteswissenschaften im Sinne Gadamers richtig erfaßt. Man ermißt hierbei die Provokation der Gadamerschen Solidarität: Indem er auf eine Abhandlung von 1862 und den Naturforscher Helmholtz zurückgeht, überspringt Gadamer die epistemologischen Diskussionen um die methodische Eigenart der Geisteswissenschaften, die gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20.Jahrhunderts von Autoren wie Dilthey, Misch, Rothacker, Weber
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und vom herrschenden Neukantianismus angezettelt wurden. Die Pointe ist wohl, daß diese langwierigen Debatten viel zu sehr von der Idee besessen waren, die Geisteswissenschaftler müßten, um es bis zur Wissenschaft zu bringen, irgendwie auch eigene Methoden haben. Viel angemessener erscheint es Gadamer, der hierin Helmholtz folgt, die Eigenart der Geisteswissenschaften auf so etwas wie Takt oder ein nicht zu methodisierendes «je ne sais quoi» zurückzuführen. Heimholtz, nicht Dilthey,3 wird somit zum stillschweigenden Vertreter einer Hermeneutik, die der spezifischen Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften Gerechtigkeit widerfahren läßt. In diesem Geiste wird> Wahrheit und Methode< eine grundsätzliche Kritik der Methodenobsession in der Sorge um die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften durchführen. Es ist demnach Gadamers Ausgangsthese, daß sich der Wissenschaftscharakter der Geisteswissenschaften "eher aus der Tradition des Bildungsbegriffs verstehen [läßt] als aus der Idee der modernen Wissenschaft".4 Hier enthüllt sich der Sinn des Rekurses auf die humanistische Tradition am Anfang von >Wahrheit und Methode<. Im Schoß dieser Tradition wurden nämlich die Begriffe ausgebildet, die dem eigenen Erkenntnisanspruch der Geisteswissenschaften gerecht zu werden vermögen. Diese Tradition war nach Gadamer vor Kant noch sehr lebendig, ehe sie von der heteronomen Herrschaft des Methodenbegriffs verdrängt wurde. So muß Gadamer der Frage nachgehen, "wie es zur Verkümmerung dieser Tradition kam und wie damit der Wahrheits anspruch geisteswissenschaftlicher Erkenntnis unter das ihm wesensfremde Maß des Methodendenkens der modernen Wissenschaft geriet".5 Wie vollzog sich dieser Verfall der humanistischen Tradition, der zur Alleinherrschaft der zunehmend von den Naturwissenschaften besetzten Methodenidee führte? Gadamer antwortet: durch die verhängnisvolle Ästhetisierung der Grundbegriffe des Humanismus, vornehmlich der Urteilskraft und des Geschmacks, denen ehedem eine Erkenntnisfunktion zukam. Dies war die Tat bzw. die Wirkung (Gadamer schwankt etwas in der Zurechnung) von Kants >Kritik der Urteilskraft<, die den Geschmack subjektivierte, ästhetisierte und, was auf dasselbe hinausläuft, ihm einen Erkenntniswert absprach. Was den Maßstäben der objektiven und methodischen Naturwissenschaften nicht genügt, gilt nunmehr als bloß "subjektiv" oder "ästhetisch", d.h. vom Reich der Erkenntnis getrennt. Indern die Kantische Subjektivierung des Geschmacksbegriffs "jede andere theoretische Erkenntnis als die der Naturwissenschaften diskreditierte, hat sie die Selbstbestimmung der Geisteswissenschaften in die An-
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lehnung an die Methodenlehre der Naturwissenschaften gedrängt".6 Damit wurde die humanistische Tradition, in der sich die Geisteswissenschaften hätten erkennen können, preisgegeben und der Weg der Ästhetisierung und Subjektivierung der Urteilskraft eingeschlagen. Man bemißt den Verlust für die Geisteswissenschaften: "Das ist von nicht leicht zu überschätzender Bedeutung. Denn was damit aus der Hand gegeben wurde, ist eben das, worin die philologisch-historischen Studien lebten und wovon sie, als sie sich unter dem Namen der ,Geisteswissenschaften' neben den Naturwissenschaften methodisch begründen wollten, allein ihr volles Selbstverständnis hätten gewinnen können. "7 Auch für den kompositorischen Aufbau von >Wahrheit und Methode< ist dieser Vorgang von nicht zu unterschätzender Konsequenz. Denn erst hier muß die Kunst bzw. die Ästhetik in die Betrachtung des Werkes einbezogen werden. Indessen: Durch die Aufdeckung der Subjektivierung und der Ästhetisierung der Grundpfeiler der humanistischen Tradition wird die Leitfrage der Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften nicht aus dem Auge verloren. Gadamer hält an dieser Leitfrage fest, wenn er den Vorgang, der zur Schaffung eines ganz neuen und spezifisch ästhetischen Bewußtseins führte, einer niederschmetternden Kritik unterzieht. Der Kern des Eingangsteiles von >Wahrheit und Methode< wird also in einer >Kritik der Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins<8 bestehen. Wenn uns der Ausdruck gestattet wird, ließe sich sagen, daß von der Sache her der Weg in die Ästhetik für >Wahrheit und Methode< eine Art Umweg darstellt. Bei allen positiven Einsichten zur Kunst bietet doch die Eröffnungspartie von >Wahrheit und Methode< eher eine Anti-Ästhetik als eine Ästhetik. Die Schöpfung der Ästhetik ist somit nichts als eine Abstraktion, die es - in den Worten des frühen Heidegger - zu destruieren oder zu relativieren gilt, um ein adäquateres Verständnis der in den Geisteswissenschaften betätigten Erkenntnisart (zurück) zu gewinnen.
2. Hermeneutische Selbstaufhebung des Historismus Die Wiedergewinnung der hermeneutischen Spezifizität der Geisteswissenschaften erfolgt im 2. Abschnitt von> Wahrheit und Methode<, in dem sich Gadamers "geisteswissenschaftliche Hermeneutik" , wie er sie systematisch nennt, 9 befindet. In ihrem ersten Teil geht sie der Geschichte der Hermeneutik im 19.Jh. nach, um die Aporien des Historismus nachzuweisen. Die Grundaporie liegt in dem Umstand,
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daß der Historismus bei aller Anerkennung der allgemeinen Geschichtlichkeit menschlichen Wissens doch auf so etwas wie ein absolutes Wissen der Geschichte ab zweckt. Insbesondere Dilthey hätte es nie vermocht, seine Entdeckung der Geschichtlichkeit allen Lebens mit seinem epistemologischen Streben nach einer methodologischen Fundierung der Geisteswissenschaften zu vereinbaren. Erst mit Husserls Aufwertung der Lebenswelt und Heideggers grundsätzlicherer Hermeneutik der Faktizität sei die epistemologische Besessenheit des Historismus verabschiedet worden. Auf ihrem Fundament entwickelt Gadamer im systematischen 2. Teil seines Hauptwerkes die >Grundzüge einer Theorie des hermeneutischen Verstehens<. Er setzt an bei Heideggers Entdeckung der ontologischen Struktur des hermeneutischen Zirkels. Ontologisch besagt hier, wie so oft bei Gadamer: universal. Der Zirkel ist ein universaler, weil jedes Verstehen von einer Motivation oder von Vorurteilen her bedingt ist. Die Vorurteile - oder das Vorverständnis - gelten, schreibt Gadamer provokativ, als nahezu transzendentale "Bedingungen des Verstehens". Unsere Geschichtlichkeit ist nicht eine Einschränkung, sondern ein Prinzip des Verstehens. Wir verstehen und streben nach Wahrheit, weil wir dabei von Sinnerwartungen geleitet werden. Nicht minder provokativ wird der erste Titel des systematischen zweiten Teiles von der >Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip< handeln. Es war nach Gadamer ein Wahn des Historismus, unsere Vorurteile durch sichere Methoden beseitigen zu wollen, um so etwas wie Objektivität in den Geisteswissenschaften zu ermöglichen. Diese von der Aufklärung her stammende Kampfstellung des Historismus war selber ein Vorurteil des methodologischen 19.Jh., das glaubte, Objektivität nur auf dem Wege einer Außerkraftsetzung der situiert verstehenden Subjektivität erreichen zu können. Der Historismus wird gleichsam durch Selbstanwendung überwunden: Er war es, der lehrte, jede Doktrin sei aus ihrem Zeitalter her zu verstehen. Diese Einsicht läßt sich auf den Historismus applizieren. So erweist sich, daß der Historismus ebenfalls ein Kind seiner Zeit, nämlich des Szientismus, war. Sobald die Metaphysikabhängigkeit des szientistischen Erkenntnisideals mit Heideggers Hilfe demaskiert ist, kann man ein angemesseneres Verständnis der Geisteswissenschaften gewinnen, das die ontologische Vorstruktur des Verstehens in der Bestimmung der Objektivität der Geisteswissenschaften zum Tragen kommen läßt. Nicht um eine einfache Beseitigung der Vorurteile kann es sich handeln, sondern um ihre Anerkennung und auslegende Ausarbei-
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tung. So identifiziert sich Gadamer mit Heideggers Idee, daß die allererste, kritische Aufgabe der Auslegung darin bestehen muß, ihre eigenen Vorentwürfe auszuarbeiten, damit sich die Sache ihnen gegenüber Geltung verschaffen kann. Da sich das Verstehen von irreführenden Vorkonzeptionen leiten lassen kann und dieser Gefahr nie ganz entrinnt, muß es bemüht sein, sachangemessene Verstehensansätze zu entwickeln: "Die Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich ,an den Sachen' erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens."!O Dieses Zitat paßt schlecht in das geläufige Gadamer-Bild. Als seine hermeneutische Lehre, für die es reichlich Belege gäbe, gilt eher, daß es angesichts der Vorurteils struktur des Verstehens doch keinerlei "Bestätigung an der Sache selbst" geben könne. Seine Hermeneutik wird hier leicht mißverstanden. Mögen sich Gadamers Äußerungen nicht immer ganz konsistent ausnehmen, so führt seine "Rehabilitierung" der Vorurteile doch zur kritischen Mahnung, "der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen".!! Andererseits verfällt Gadamer nicht in den positivistischen Aufruf nach einer Negierung der Vorurteilsstruktur, um die Sachen selbst bar jeder subjektiven Eintrübung sprechen zu lassen. Denn die Sache kann doch nur durch meine verstehenden Entwürfe, ja durch meine eigene Sprache zum Sprechen kommen. Lediglich ein kritisch reflektiertes Verstehen, das bestrebt sein wird, "seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewußt zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen",!2 ist es, was Gadamer mit Heidegger anmahnt, gleichsam die Mitte haltend zwischen positivistischer Selbstauslöschung und Nietzsches Universalperspektivismus. Es fragt sich nur, wie man zu solchen "sachangemessenen" Vorentwürfen, die "die Sachen selbst" sprechen lassen, gelangen kann. So spitzt sich alles auf "die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik"13 zu, wie man, sofern wir ihrer bewußt werden können, die richtigen Vorurteile von den falschen, zu Mißverständnis hinleitenden Vormeinungen auseinanderhalten kann. Gibt es dafür ein Kriterium? Gäbe es so etwas wie ein Kriterium, wären wohl alle Fragen der Hermeneutik gelöst, und man bräuchte nicht über das Problem der Wahrheit zu diskutieren. Dieses Trachten nach einem, die Objektivität ein für allemal sichernden Kriterium ist ebenfalls ein metaphy-
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sischer Ableger des Historismus. Wenn es aber auch keine handfesten Kriterien gibt, so gibt es doch Indizien. In dieser Absicht hebt >Wahrheit und Methode< die Produktivität des Zeitenabstandes hervor. Im geschichtlichen Rückblick sind wir des öfteren imstande, die Interpretationsansätze anzuerkennen, die sich tatsächlich bewährt haben. So ergeht es einem etwa in der Einschätzung der zeitgenössischen Kunst. Es ist einer Zeit fast unmöglich, die eigentlich wertvollen Kunstansätze seiner Gegenwart auszumachen. Dank dem geschichtlichen Abstand wird das Urteil etwas sicherer. So macht sich so etwas wie eine hermeneutische Fruchtbarkeit des Zeitenabstandes geltend. An diese Produktivität knüpfte Gadamer 1960 die Lösung der "kritisehen" Aufgabe der Hermeneutik an: "Nichts anderes als dieser Zeitenabstand vermag die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen, nämlich die wahren Vorurteile, unter denen wir verstehen, von den falschen, unter denen wir mißverstehen zu scheiden."14 Diese Lösung wirkt aber etwas einseitig. Denn es fragt sich zunächst, ob sich der Zeitenabstand immer als so produktiv erweist. Denn ein Heideggerianer wie Gadamer kann nur wissen, daß die Geschichte sehr oft verdeckend wirkt, so daß sich oft genug Interpretationsansätze durchsetzen, die den Zugang zu den Sachen oder zu den Quellen versperren. Manchmal ist es gerade der Sprung hinter die geschichtsmächtigen Deutungen, der hermeneutisch ertragreich ist. 15 Ferner bietet der Zeitenabstand so gut wie keine Auskunft, wenn es um die Bewältigung zeitgenössischer Deutungen geht. Gadamer hat neuerdings die Einseitigkeit seines Ansatzes in dieser Frage selber eingesehen. Als >Wahrheit und Methode< 1985 in den Gesammelten Werken in fünfter Auflage erschien, hat er den diesbezüglichen Passus retuschiert und das "nichts anderes als ... " durch ein "oft" ersetzt, so daß der Text jetzt lautet: "Oft vermag der Zeitenabstand, die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen ... " Mag das Problem auch ungelöst fortbestehen, läßt sich hier doch ein schönes Beispiel für die die Hermeneutik auszeichnende Bereitschaft, seine eigene Meinung durch bessere Einsicht zu ändern, vorfinden.
3. Wirkungsgeschichte als Prinzip Gadamers weitergehende Forderung an ein um Sachlichkeit besorgtes Verstehen in den Geisteswissenschaften ist in der Ausarbeitung eines wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins zu gewahren. Unter
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Gadamers Universalhermeneutik
Wirkungsgeschichte versteht man seit dem 19.}h. in der Literaturwissenschaft das Studium der von einem Werke gezeitigten Deutungen oder ihre Rezeptionsgeschichte. Aus ihr wird deutlich, daß Werke zu je spezifischen Epochen verschiedene Interpretationen hervorrufen, ja hervorrufen müssen. Das zu entwickelnde Bewußtsein der Wirkungsgeschichte steht zunächst mit der Maxime in Einklang, sich die eigene hermeneutische Situation und die Produktivität des Zeitenabstandes vor Augen zu führen. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein meint aber bei Gadamer ein viel Grundsätzlicheres. Es genießt ja bei ihm den Status eines "Prinzips", 16 aus dem sich seine gesamte Hermeneutik nahezu deduzieren läßt. Über die Ausarbeitung einer Nebendisziplin der Literaturwissenschaft hinaus druckt die Wirkungsgeschichte auf der ersten Ebene die Forderung aus, die eigene hermeneutische Situiertheit zu Bewußtsein zu heben, um sie im Umgang mit der Tradition oder Texten zu "kontrollieren". Das ist die von Heidegger verlangte Auslegung des eigenen Vorverstehens. Gadamer erkennt aber vielleicht markierter als Heidegger an, daß diese Aufgabe nicht ganz erfüllbar oder vollendbar ist. 17 Die Wirkungsgeschichte steht nicht in unserer Macht oder unserem Verfügen. Wir unterliegen ihr mehr, als wir uns vor Bewußtsein führen können. Überall, wo wir verstehen, ist die Wirkungsgeschichte am Werk als der nicht bis zur endgültigen Klarheit hinterfragbare Horizont dessen, was uns als sinnvoll und fragwürdig erscheinen kann. So gewinnt die Wirkungsgeschichte die Funktionen einer für das jeweilige Verstehen tragenden Instanz, von der her alles Verstehen bestimmt bleibt, auch dort freilich, wo es sie nicht wahrhaben will. Nach >Wahrheit und Methode< fand Gadamer die eindrückliche Formel, daß das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein eigentlich "mehr Sein als Bewußtsein" sei.t 8 Es durchdringt unsere geschichtliche "Substanz" in einer Weise, die sich nicht zu letzter Deutlichkeit und Distanz bringen läßt. Diese Einsicht in die eigene wirkungs geschichtliche Bedingtheit findet in Gadamers Auseinandersetzung mit dem Historismus und dem neuzeitlichen Methodenbewußtsein sofort Anwendung. Der Historismus hoffte nämlich, der geschichtlichen Bedingtheit dadurch zu entrinnen, daß er die sie bestimmende Geschichte auf Abstand bringen konnte. Dem Historismus nach sollte es ein eigens entwickeltes historisches Bewußtsein fertigbringen, sich von dieser Bedingtheit zu emanzipieren und somit ein objektives Studium der Geschichte möglich zu machen. Gadamer macht dagegen geltend, daß die Macht der Wirkungs geschichte gerade nicht von ihrer Anerkennung abhängt. 19
Anwendendes weil fragendes Verstehen
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Das Auftauchen des geschichtlichen Bewußtseins im 19.Jh. stellte nicht derart ein Novum dar, daß es die untergründige Wirksamkeit der Geschichte in allem Verstehen einzustellen vermochte. Die Geschichte wirkt auch dort fort, wo wir uns über sie erhaben wähnen (so zwar, daß selbst der Historismus seiner eigenen, positivistischen Herkunft nicht eingedenk war). Sie ist es, die den Hintergrund unserer Wertungen, Erkenntnisse und sogar unserer kritischen Urteile bestimmt. "Darum", folgert Gadamer, "sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins."20 So weist der Begriff eines wirkungs geschichtlichen Bewußtseins eine subtile Zweideutigkeit auf. Einerseits meint es, daß unser heutiges Bewußtsein von einer Wirkungs geschichte her geprägt, ja konstituiert wurde. Unser Bewußtsein ist so von der Geschichte "erwirkt" .21 Andererseits kennzeichnet es ein immer wieder zu gewinnendes Bewußtsein dieses Erwirktseins selbst. Dieses Bewußtsein unseres Erwirktseins kann wiederum zweierlei bedeuten: einmal die Forderung nach Aufklärung dieser unserer Geschichtlichkeit im Sinne der Ausarbeitung unserer hermeneutischen Situation, aber auch und vor allem ein Innewerden der Grenzen, die solcher Aufklärung gesetzt sind. In dieser letzten Gestalt ist das wirkungs geschichtliche Bewußtsein der eindeutigste philosophische Ausdruck für das Bewußtsein der eigenen Endlichkeit. Das Anerkennen der menschlichen Begrenztheit bringt aber keine Lähmung der Reflexion, im Gegenteil. Hemmend war nach Gadamer eher die historische Ausrichtung des Verstehens auf ein metaphysisch bedingtes Erkenntnisideal. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein verspricht demgegenüber einen Reflexions gewinn. Der Auslotung dieses Bewußtseins, d. h. dem Nachweis des universal und spezifisch hermeneutischen Charakters unserer Welterfahrung gilt Gadamers Endlichkeitshermeneutik.
4. Anwendendes weil fragendes Verstehen
Nach der Festschreibung der Wirkungsgeschichte als Prinzip macht sich >Wahrheit und Methode< daran, das "hermeneutische Grundphänomen", das auf den methodologischen Abwegen des 19.Jh. nach Gadamer verloren gegangen war, wiederzugewinnen. Operativster Hebel dieser Wiedereroberung ist das Problem der Anwendung.22 Die vorheideggersche Hermeneutik hatte in der Anwendung ein nachträgliches Geschäft des hermeneutischen Verstehens gesehen.
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Gadamers Universalhermeneutik
Die Zielbestimmung des Verstehens galt eigentlich als rein epistemisch, ja noetisch. Zu verstehen war dabei ein fremder Sinn gehalt als solcher. Eine Applikation des so Verstandenen geschah bestenfalls nachträglicherweise in Disziplinen wie der konkreten Rechtsprechung, in der Anwendung des Gesetzes auf den Einzelfall, oder in der Theologie, etwa in der homiletischen Erklärung des Bibeltextes. Nach Gadamer ist aber die Anwendung im Verstehen alles andere als nachträglich. Er folgiHeideggers Intuition, wonach Verstehen stets ein Sichverstehen, ja eine Selbstbegegnung miteinschließt. Verstehen heißt dann soviel wie einen Sinn auf unsere Situation, unsere Fragen anzuwenden. Es gibt nicht zunächst ein reines, objektives Sinnverstehen, das dann in der Anwendung auf unsere Fragen besondere Bedeutsamkeit erlangte. Wir nehmen uns schon mit in jedes Verstehen hinein, und zwar so, daß für Gadamer Verstehen und Anwendung zusammenfallen. Das läßt sich am negativen Beispiel des Nichtverstehens gut veranschaulichen: Wenn wir einen Text nicht verstehen können, liegt es daran, daß er uns nichts sagt oder nichts zu sagen hat. So ist es nicht verwunderlich oder zu beanstanden, daß Verstehen von Epoche zu Epoche, ja von Individuum zu Individuum je anders ausfällt. Das von seinen jeweiligen Fragen motivierte Verstehen ist kein nur reproduktives, sondern immer auch, da es Anwendung impliziert, ein produktives Verhalten. 23 Das Verstehen ist so sehr von der einzelnen, wirkungs geschichtlichen Situation mitbestimmt, daß es unangebracht erscheint, von einem Fortschritt, oder mit Schleiermacher von einem Besserverstehen, im Laufe der Geschichte zu sprechen. Erkennt man den produktiven Anteil der Anwendung in jedem gelingenden Verstehen, genügt es zu sagen, nach dem bekannten Diktum von Gadamer, daß man "anders versteht", wenn man überhaupt versteht.2 4 Die Anwendung braucht dabei nicht bewußt zu erfolgen. Auch sie bleibt von der Wirkungsgeschichte getragen. Das Verstehen oder, was hier dasselbe ist, die Anwendung ist weniger eine Handlung der selbstrnächtigen Subjektivität als ein "Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln" .25 Einen Text der Vergangenheit verstehen heißt ihn in unsere Situation übersetzen, in ihm eine sprechende Antwort auf die Anfragen unserer Zeit zu hören. Es war eine Verirrung des Historismus, die Objektivität von der Auslöschung des interpretierenden Subjekts abhängig zu machen, denn Wahrheit, hier gefaßt als Sinnaufschluß (aA:rp'tELu), geschieht nur im Zuge wirkungsgeschichtlicher Anwendung.
Anwendendes weil fragendes Verstehen
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Die Hintanstellung des Verstehens als ein Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen bedeutet, daß die Subjektivität nicht ganz Herr dessen ist, was ihr jeweils als sinnvoll oder unsinnig aufgeht. Wie der junge Heidegger notierte, geraten wir in die Ausgelegtheit unserer Zeit mehr auf dem Wege der Gewohnheit hinein, als daß wir sie uns ausdrücklich aneignen würden. Die Wirkungs geschichte ist mehr Sein als Bewußtsein, hege1isch gesprochen: mehr Substanz als Subjektivität. So gehören wir mehr der Geschichte, als daß sie uns gehörte. Diese Geschichtlichkeit der Anwendung schließt die Vorstellung eines Nullpunktes des Verstehens aus. Das Verstehen ist stets das Fortsetzen eines schon vor uns begonnenen Gesprächs. 26 In eine bestimmte Ausgelegtheit hineinprojiziert, führen wir dieses Gespräch fort. So übernehmen und modifizieren wir durch neue Sinnbegegnungen die uns überlieferten Sinnhinsichten aus der Tradition und ihrer Gegenwart in uns. Die Hermeneutik der Anwendung gehorcht, wie sie Gadamer schildert, auf diese Weise der Dialektik von Frage und Antwort. Etwas verstehen heißt etwas auf uns so angewandt haben, daß wir in ihm eine Antwort auf unsere Fragen entdecken. "Unsere" doch so, daß sie auch von einer Tradition her aufgenommen und verwandelt wurden. Jedes Verstehen, zumal als Sichverstehen, ist motiviert, beunruhigt von Fragen, die die Blickbahnen des Verstehens im voraus bestimmen. Ein Text wird nur sprechend dank der Fragen, die wir heute an ihn richten. Es gibt keine Interpretation, kein Verstehen, das nicht auf bestimmte Fragen, die nach Orientierung heischen, antwortete. Ein unmotiviertes Fragen, wie es dem Positivismus vorschwebte, würde niemanden angehen und folglich von keinem wissenschaftlichen Interesse sein. Nicht um die Ausschaltung unserer fragenden Sinnerwartungen muß man sich bemühen, sondern um deren Hervorhebung, damit die Texte, die wir zu verstehen suchen, um so deutlicher auf sie antworten können. So erfolgt das Verstehen als wirkungsgeschichtliche Verwirklichung der Dialektik von Frage und Antwort. Von hier aus läßt sich der Übergang vom 2. Teil von >Wahrheit und Methode< zum 3. Teil, wo sich eine "ontologische" Ausweitung der Hermeneutik über die Geisteswissenschaften hinaus vollzieht, festmachen: "Die Dialektik von Frage und Antwort ( ... ) erlaubt nun, näher zu bestimmen, was für eine Art von Bewußtsein das wirkungs geschichtliche Bewußtsein ist. Denn die Dialektik von Frage und Antwort, die wir aufwiesen, läßt das Verhältnis des Verstehens als Wechselverhältnis von der Art eines Gesprächs erscheinen."27 Das Verstehen wird hier als Verhältnis bestimmt und näher-
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Gadamers Universalhermeneutik
hin als Gespräch. Seiner Form nach ist das Verstehen somit weniger die Erfassung eines noetischen Sinngehalts als der Vollzug eines Gesprächs, des "Gesprächs, das wir sind", fügt Gadamer in Anlehnung an Hölderlin auf derselben Seite hinzu. Wohlgemerkt ist es das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, das hier als Gespräch angesetzt wird. Das Bewußtsein verliert dabei die Autonomie des Selbstbesitzes, die ihm in der idealistischen Tradition und der Reflexionsphilosophie, von der sich Gadamer hier absetzt, eigen war. Aufgabe des abschließenden Teiles von >Wahrheit und Methode< wird es sein, diesen hermeneutischen Charakter des Gesprächs, dessen Vollzugsform die Dialektik von Frage und Antwort ist, als das universale Merkmal unserer sprachlichen Welterfahrung auszuweisen. 5. Sprache aus dem Gespräch
Wir suchen von dem Gespräch aus, das wir sind, dem Dunkel der Sprache nahezukommen. 28 Gadamers Sprachhermeneutik ist das am meisten mißdeutete Stück seiner Philosophie. In ihrem Leitwort "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache" hat man eine allgemeine Zurückführung allen Seins auf Sprache inkriminiert oder, je nach Schule, gefeiert. Anstoß hat man auch an dem etwas verschwommenen Zug der Diktion des letzten Teiles von >Wahrheit und Methode< genommen, der gelegentlich präzise Begriffsdistinktionen vermissen ließ. So verbarg sich eine gewisse Resignation, als ein Gadamer-Schüler von Rang wie Walter Schulz meinte feststellen zu müssen, bei Gadamer gerate alles zu einer allumfassenden Synonymik: "Geschichte, Sprache, Gespräch und Spiel: all dies sind - das ist das Entscheidende- vertausch bare Größen. "29 Zu fragen ist eben, warum Sprache und Gespräch zu austauschbaren Größen werden dürfen. Gegen wen richtet sich die Hervorhebung des dialogischen Wesens der Sprache? Diese Akzentsetzung erhebt sich zweifellos gegen die Herrschaft der Aussagelogik in der abendländischen Philosophie. Fraglich gemacht werden soll die traditionelle Fixierung des philosophischen Denkens auf den theoretischen "A.oyor; uJto<:pav-ctxor;, d. h. den aufweisenden Aussagesatz, der insofern "theoretisch ist, da er von allem abstrahiert, was er nicht ausdrücklich sagt" .30 Es sei eine Verengung von Sprache, sie auf das so theoretisch Ausgesagte festnageln zu wollen. Den "Aufbau der Logik auf der Aussage" hält Gadamer mit Heidegger für "eine der
Sprache aus dem Gespräch
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folgenschwersten Entscheidungen der abendländischen Kultur" .31 Ihr entgegenzuwirken ist das primäre Motiv einer Gesprächshermeneutik, deren einfachste Einsicht lauten könnte: "Die Sprache vollzieht sich nicht in Aussagen, sondern als Gespräch."32 Gegen die Aussagelogik, für die der Satz eine sich selbst genügende Sinneinheit bildet, erinnert die Hermeneutik daran, daß eine Aussage sich nie von ihrem Motivationszusammenhang, d.h. aus dem Gespräch, in das sie eingebettet ist und aus dem allein sie Sinn gewinnt, herauslösen läßt. Die Aussage ist schließlich eine Abstraktion, der man im Leben einer Sprache nie begegnet. So fordert Gadamer heraus: "Gibt es solche reine Aussagesätze, und wann und WO?"33 Die Auszeichnung der Methode hängt freilich mit dem Privileg der Aussage im abendländischen und erst recht im neuzeitlichen Bewußtsein zusammen. Denn die Idee der Methode bezieht ihre Kraft daher, daß man im Experiment gewisse Bereiche oder Vorfälle isolieren kann, um sie beherrschbar zu machen. 34 Solche Isolierung tut aber der Sprache Gewalt an. Sprachverstehen reduziert sich nämlich nicht auf die intellektuelle Erfassung eines objektivierbaren, isolierten Sachgehaltes durch ein Subjekt, es resultiert ebensosehr aus der Zugehörigkeit zu einer sich fortbildenden Tradition, d. h. zu einem Gespräch, aus dem allein das Ausgesagte Konsistenz und Sinn für uns gewinnt. In der Sprachbetrachtung gipfelt folglich Gadamers Einspruch gegen das neuzeitliche Privileg des Methodischen, das er zuerst für den Bereich der Geisteswissenschaften problematisch gemacht hatte. Dieses Privileg ist nur allzu selbstverständlich, versprach es doch eine Beherrschung und somit eine Verfügung über das methodisch Vereinzelte, Wiederholbare und Wiederverwendbare. Es ist aber die Frage, ob eine solche Isolierung bei der Sprache, ja beim eigenen Verstehen gelingen will. Verstehen wir, weil und insofern wir beherrschen? Täuscht sich nicht hier die Endlichkeit über sich selbst hinweg? Wir verstehen vielmehr, antwortet die Hermeneutik, weil uns etwas aus einer Tradition, der wir - in welch loser Verbindung auch immer - zugehören, anzusprechen vermag. Gegen den Primat der Aussagelogik, die Verstehen als Verfügen begreift und verfehlt, entwickelt Gadamer seine hermeneutische Logik von Frage und Antwort, die Verstehen als Teilhabe begreift, als Teilhabe an einem Sinn, einer Tradition, schließlich an einem Gespräch. In diesem Dialog gibt es "keine" Aussagen, sondern Fragen und Antworten, die wiederum neue Fragen hervorrufen. "Es gibt keine Aussage, die man allein auf den Inhalt hin, den sie vorlegt, auffassen kann, wenn man sie in ihrer Wahrheit erfassen will ( ... ). Jede
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Gadamers Universalhermeneutik
Aussage hat Voraussetzungen, die sie nicht aussagt. Nur wer diese Voraussetzungen mitdenkt, kann die Wahrheit einer Aussage wirklich ermessen. Nun behaupte ich: die letzte logische Form solcher Motivation jeder Aussage ist die Frage."35 Hier rühren wir ans Herz einer hermeneutischen Philosophie, nämlich, wie es Gadamer formuliert hat, an "das hermeneutische Urphänomen, daß es keine mögliche Aussage gibt, die nicht als Antwort auf eine Frage verstanden werden kann und daß sie nur so verstanden werden kann".36 Um diese Seele der Hermeneutik auszudrücken, haben wir in der vorliegenden Studie immer wieder auf die alte und womöglich antiquiert wirkende Lehre vom verbum interius, dem ungesagten, aber mitklingenden "inneren Wort" bei jedem Sprachausdruck Bezug genommen. In dieser stoisch-augustinischen Lehre sah ja der dritte Teil von >Wahrheit und Methode< die einzige Spur dafür, daß die Sprachvergessenheit des Abendlandes keine vollständige gewesen istY Gadamers wenig beachtete Rehabilitierung dieser Lehre ist nicht als Rückfall in einen naiven Mentalismus, sondern als hermeneutische Kritik an der auf methodische Domination ausgerichteten Aussagelogik zu verstehen. Diese Lehre malte in der Tat sehr plastisch aus, daß die Worte, die wir benutzen, weil sie uns gerade einfallen, nicht das erschöpfen können, war wir "im Geiste" haben, d.h. das Gespräch, das wir sind. Das innere Wort "hinter" dem ausgesprochenen meint nichts als dieses Gespräch, als die Verwurzelung der Sprache in unserer fragenden und für sich selbst fraglichen Existenz, ein Gespräch, das keine Aussage ganz wiedergeben kann: "Was ausgesagt ist, ist nicht alles. Das Ungesagte erst macht das Gesagte zum Wort, das uns erreichen kann. "38 Es ist aber immer erneut zu betonen, daß dies eine hermeneutische Theorie von Sprache, nicht irgend eine Mystik des Unaussprechlichen sein will. Um die Sprache selbst richtig zu erörtern, nicht um sie zu umgehen oder zu hintergehen, gilt es, das Unausgesagte, das innere Gespräch, mitzuvollziehen. Es festzuhalten besagt aber, daß die Sprachhermeneutik von der Grenze der Sprache, besser: der Aussage, ihren Ausgang nimmt: "Natürlich kann mit der prinzipiellen Sprachlichkeit des Verstehens nicht gemeint sein, daß alle Welterfahrung sich nur als Sprechen und im Sprechen vollzöge."39 Dies ist ein für allemal gegen die vorschnellen Deutungen in Erinnerung zu rufen, die Gadamer die sprachontologische These zurechnen, alles, was ist, müsse in Aussageform auszusagen sein. Wenn gleichwohl eine prinzipielle Sprachlichkeit unserer Spracherfahrung behauptet wird, liegt es nur dar an, daß Sprache das einzige
Die Universalität des hermeneutischen Universums
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Mittel für das (innere) Gespräch, das wir für uns selbst wie füreinander sind, verkörpert. Die Grenze der jeweiligen Aussage wird nämlich nur im Lichte dessen gefühlt, was auszusagen wäre. Deshalb gestattet sich die Hermeneutik einen Satz wie "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache". Dabei ist jedoch das Gewicht auf das "kann" zu legen. Das Verstehen, das stets selber sprachlich geformt ist und über Sprachliches ergeht, ist eine ständige, aber nie ganz gestillte Suche nach dem richtigen Wort, um das Sein herauszustammeln. Die wesentliche Sprachlichkeit des Verstehens äußerst sich weniger in unseren Aussagen als in unserer Suche nach Sprache für das, was wir in der Seele haben und heraussagen wollen. Es ist für die hermeneutische Seite des Verstehens weniger konstitutiv, daß es sprachlich erfolgt, was eine Banalität wäre, als daß es von dem nie endenden Prozeß der "Einbringung in das Wort" und der Suche nach einer mitteilbaren Sprache lebt und als dieser Prozeß zu begreifen ist. Denn dieser Prozeß - der entsprechende Mitvollzug des inneren Wortesbegründet die Universalität der Hermeneutik. 40
6. Die Universalität des hermeneutischen Universums
Die Inanspruchnahme einer Universalität für das Verstehen, das die Hermeneutik thematisiert, hat zahlreiche Diskussionen ausgelöst. Worin besteht aber dieser so lebhaft verhandelte Anspruch genau? Ist er als ein Allgemeingültigkeitsanspruch der Gadamerschen Philosophie aufzufassen? Wie läßt er sich in diesem Fall mit der hermeneutischen Urthese von der Geschichtlichkeit allen Verstehens vereinbaren? Es ist zunächst zu bemerken, daß Gadamers Wortgebrauch in Sachen Universalität besonders schillernd ist. Folgt man >Wahrheit und Methode< buchstabengetreu, wird sehr verschiedenen Kandidaten Universalität zugebilligt. Der Titel des letzten Abschnittes spricht vom "universalen Aspekt der Hermeneutik", wobei offen ist, ob Hermeneutik die philosophische Hermeneutik selbst (die Gadamers), das Verstehen oder die hermeneutisch gesehene Sprachlichkeit meint. In Wahrheit sind alle drei Möglichkeiten durchspielbar und begründbar. Gadamer spricht de facto von der "Universalität" der "Sprachlichkeit des Verstehens",41 von einer "universalen Hermeneutik", die das allgemeine Weltverständnis des Menschen 42 betrifft, sowie von der Ausweitung der Hermeneutik "zu einer universellen Fragestellung" .43 Öfter begegnen allgemeine Titel wie die >Universalität des hermeneutischen Problems<, so die Überschrift der Abhandlung von
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Gadamers Universalhermeneutik
1966, oder der der "hermeneutischen Dimension". 44 Es ließe sich nicht sagen, daß die auf breiter Ebene geführten Kontroversen um diese Universalität Klarheit geschaffen hätten. Gadamer liegt auch bekanntlich wenig an akribischen Begriffsklärungen, die gleichsam dem Trend der Aussagelogik, Sprache in sinnfeste Einheiten zu zerstückeln, Tribut zollen. Um die Universalität der Dimension, die Gadamer vor Augen hat, sichtbarer zu umreißen, erscheinen aber einige Klärungen erforderlich. Es ist eingangs das Augenmerk darauf zu lenken, daß es stets um die Universalität einer "Dimension" geht, weit weniger um den Universalitätsanspruch einer Philosophie, etwa der Gadamerschen, wie die Habermassche Rede von einem "Universalitätsanspruch der Hermeneutik" suggeriert. Gadamer hat nie selber für die Formulierung seiner eigenen Position letzthinnige Allgemeingültigkeit - und das hieße Absolutheit - beansprucht: ,,( ... ) die ,hermeneutische' Philosophie versteht sich ( ... ) nicht als eine ,absolute' Position."45 Gadamer problematisiert gerade im Namen der unaufhebbaren Geschichtlichkeit den Absolutheitsanspruch etwa der Transzendentalphilosophie als Selbstrnißverständnis der Philosophie. 46 Nicht umsonst führen die letzten Paragraphen von >Wahrheit und Methode< den Ausspruch aus dem platonischen Symposion an: keiner der Götter philosophiert. Wir philosophieren nicht, weil wir die absolute Wahrheit haben, sondern weil sie uns fehlt. Als Sache der Endlichkeit hat die Philosophie ihrer eigenen Endlichkeit eingedenk zu bleiben. Wenn wir ein endgültiges Wissen haben, dann eben höchstens von dieser unserer universellen Endlichkeit. 47 Im Rahmen von >Wahrheit und Methode< hat aber die Rede von einem "universalen Aspekt" der Hermeneutik einen leicht angebbaren Sinn. Er signalisiert zuvörderst ein Überschreiten der traditionellen, nämlich geisteswissenschaftlichen Hermeneutik in Richtung auf eine philosophische, die das "hermeneutische Phänomen" zu seiner ganzen Weite befreit. Diese Universalität der hermeneutischen Fragestellung meint für die Philosophie, daß sie sich nicht auf das Nebenproblem einer Methodologie der Geisteswissenschaften einschränken läßt. Die Suche nach Verstehen und Sprache ist nicht bloß ein methodologisches Problem, sondern ein Grundmerkmal menschlicher Faktizität. Der "universale Aspekt" der Hermeneutik ist also in Gegensatz zu einer rein "geisteswissenschaftlichen" Hermeneutik zu bringen: "Hermeneutik ist insofern ein universaler Aspekt der Philosophie und nicht nur die methodologische Basis der sogenannten Geisteswissenschaften."48 Das ganze philosophische, betont spekula-
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tive Bestreben Gadamers geht dahin, den Horizont der Hermeneutik so über die Enge der Geisteswissenschaften zu erweitern, daß es ein zentrales Anliegen der Philosophie wird. Genau dies besagt die Ausweitung der Hermeneutik zu einer universalen Fragestellung der Philosophie und die "ontologische Wendung der Hermeneutik", von der im Titel des 3. Teiles von >Wahrheit und Methode< die Rede ist. In diesem abschließenden Teil soll über die geisteswissenschaftliche Hermeneutik der zwei ersten Teile hinaus die größere Universalität - also die ontologische oder die philosophische Dimension - der hermeneutischen Fragestellung hervorgekehrt werden. Wie läßt sich aber von der Universalität einer hermeneutischen Dimension oder Erfahrung sprechen, ohne die sie bedenkende Philosophie mit einem Absolutheitsanspruch auszustatten? Das Wort Universalität führt hier leicht in die Irre. Hinweisen von Gadamer folgend läßt sich an den Texten feststellen, daß der eigentliche Boden der Rede von Universalität in >Wahrheit und Methode< im Wortfeld von "Universum" zu suchen ist. Die Universalität der Sprachlichkeit oder des Verstehens unterstreicht demnach, daß sie unser Universum bildet, d.h. das Element oder das All, in dem wir als endliche Wesen leben und zu verstehen haben. So verweist z.B. Gadamer - anscheinend ganz nebenbei - auf die Rede des Biologen von U exkuell, der von einem "Universum des Lebens, das nicht das der Physik sei", spricht. 49 Gadamer berief sich auch auf Leibniz' Formulierung, daß die Monade in dem Sinne ein Universum ist, daß sich die ganze Welt in ihr widerspiegeln kann. Im Kontext von >Wahrheit und Methode< richtet sich dabei das Universum oder die Universalität der Sprache gegen die These von der Begrenztheit, die die jeweilige Sprache darzustellen scheint, weil es so verschiedene Sprachen gibt. Es mag nämlich als Begrenzung der Vernunft erscheinen, daß sie in eine spezifische Sprache gebannt sei. Dem ist nicht so, entgegnet Gadamer, denn die Sprache zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie für alles Ausdruck suchen kann. In diesem Umkreis begegnet zum ersten Mal die Rede von einer " Universalität der Sprache", die mit der U nendlichkeit der Vernunft Schritt hält. 50 Diese Dimension der Sprache ist universal und bildet das U niversum, in dem sich alles Verstehen und menschliches Dasein vollziehen. Gemeint ist freilich nicht, daß Sprache für alles einen Ausdruck parat hat. Die wirkliche Sprache erschöpft nie das Auszusagende. Ihre Universalität ist die der Sprachsuche. Die universale Dimension, die die Hermeneutik in Atem hält, ist deshalb die des inneren Wortes, des Gesprächs, von dem jede Expression ihr Leben empfängt. Gewiß fin-
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Gadamers Universalhermeneutik
den wir dabei ganz treffende, mitteilbare Worte. Aber diese Worte sind gleichsam nichts als das sichtbare Ende eines unabschließbaren Verlangens nach Sprache, d.h. nach Verstehen. Hermeneutisch bedeutsam an der Sprache ist die Dimension des inneren Gesprächs, der Umstand, daß unser Sagen stets mehr meint, als es wirklich ausspricht: "Immer geht ein Meinen, ein Intendieren über das hinaus, an dem vorbei, was wirklich in Sprache, in Worte gefaßt den anderen erreicht. Ein ungestilltes Verlangen nach dem treffenden Wort - das ist es wohl, was das eigentliche Leben und Wesen der Sprache ausmacht."51 In diesem Verlangen tut sich unsere Endlichkeit kund. Es ist uns kein endgültiger Selbstbesitz, in Sprache oder Begriff, gewährt. Wir leben in und aus einem Gespräch, das nie enden kann, weil keine Worte fassen können, was wir sind und wie wir uns zu verstehen haben. Durch diese Endlichkeit hindurch spricht sich unser menschliches Todesbewußtsein aus, das sprachlos und sprachsuchend dem eigenen Ende entgegenstrebt. So erschließt Gadamer einen engen Zusammenhang zwischen der Unerfüllbarkeit unserer Suche nach dem richtigen Wort mit "der Tatsache, daß unsere eigene Existenz in der Zeit und vor dem Tode steht" .52 Im inneren Wort, in dem es konstituierenden Trachten nach Verstehen und Sprache, das das Universum unserer Endlichkeit ausmacht, wurzelt die Universalität des hermeneutischen Philosophierens. Kann es für die Philosophie ein Universelleres als die Endlichkeit geben? Die zeitgemäße Philosophie, die der Universalität unserer sich in einem endlosen Verstehen- und Sagenwollen vollziehenden Endlichkeit nachgeht, erhebt von da aus einen Universalitätsanspruch. Er ergeht sich aber nicht in letztbegründeten Aussagen. Das wäre für ihn und die Endlichkeit ein Selbstwiderspruch. Die hermeneutische Philosophie vollführt vielmehr die Selbstauslegung der menschlichen Faktizität, die von ihrer Endlichkeit als dem universalen Horizont, aus dem her alles für uns Sinn machen kann, Rechenschaft abzulegen versucht, wohl wissend, daß keiner der Götter philosophiert. Anmerkungen I Vgl. dazu erneut meine Studie über ,Die Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion<, in: Th. Rentsch (Hrsg.), Heidegger: Sein und Zeit, München 2001; wiederaufgenommen in den Band: Von Heidegger zu Gadamer, Darmstadt 2001, wo die Unterschiede zwischen den Hermeneutikkonzeptionen von Heidegger und
Anmerkungen
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Gadamer pointierter herausgearbeitet werden, als dies in der vorliegenden Einführung geboten und möglich war. 2 WM, S. 5 (= Gw, I, S. 13). 3 Vgl. WM, S. 158 (= GW, I, S. 170): "Die heutige Aufgabe könnte sein, sich dem beherrschenden Einfluß der Diltheyschen Fragestellung und den Vorurteilen der durch ihn begründeten ,Geistesgeschichte' zu entziehen." 4 WM, S. 15 (= Gw, I, S. 23). 5 Ebd., S. 21 (= GW, I, S. 29). 6 Ebd., S. 38 (= Gw, I, S. 47). 7 Ebd. (= GW, I, S. 46). 8 So die Titelüberschrift WM, S. 84 (= GW, I, S. 94). Vgl. ferner den Venedig- Vortrag von 1958: Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins, wiederabgedruckt in: D. Henrich/W. Iser (Hrsg.), Theorien der Kunst, Frankfurt a.M. 1982, S. 59-69. 9 WM, S. 245, 266, 293, 294, 297, 307, 436 (= Gw, I, S. 264, 286, 314, 316, 319,330,464). 10 WM, S. 252 (= Gw, I, S. 272). 11 Ebd., S. 253f. (= Gw, I, S. 274). 12 Ebd., S. 254 (= GW, I, S. 274). 13 Ebd., S. 282 (= Gw, I, S. 304). 14 Ebd. 15 Als Beispiel dafür läßt sich Gadamers eigene Bezugnahme auf Helmholtz angeben. 16 Vgl. die Abschnittsüberschrift WM, S. 282 (= GW, I, S. 305). 17 Ebd. 18 Kleine Schriften, I, Tübingen 1967, S. 127, 158 (= GW, II, S. 247, 142f.); WM, S. XXI (= Gw, II, S. 444). 19 Vgl. WM, S. 285 (= Gw, I, S. 306). 20 Ebd., S. 261 (= Gw, I, S. 281). 21 Ebd., S. XXIf. (= GW, II, S. 44). 22 Vgl. WM, S. 290 (= Gw, I, 312) die TItelüberschriften: ,,2. Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems. a) Das hermeneutische Problem der Anwendung." 23 WM, S. 280 (= GW, I, S. 301). 24 Ebd. (= GW, I, S. 302). 25 Ebd., S. 275 (= GW, I, S. 295). 26 Hier deckt sich Gadamers Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins mit Ricceurs narrativer Hermeneutik des geschichtlichen Bewußtseins im 3. Band von >Temps et n!cit< (Paris 1985, S. 300ff.). Vgl. hierzu unsere Studie: L'hermeneutique positive de Paul Ricceur. Du temps au recit, in: ,Temps et recit< de Paul Ricceur en debat, hrsg von C. Bouchindhomme und R. Rochlitz, Paris 1990, S. 121-137. 27 WM, S. 359 (= GW, I, S. 383). 28 Ebd., S. 360 (= Gw, I, S. 383). 29 W. Schulz, Anmerkungen zur Hermeneutik Gadamers, in: Hermeneutik und Dialektik, Bd. I, S. 311.
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Gadamers Universalhermeneutik
Gw, H, S. 193. Ebd. 32 Gw, II, S. 359. 33 GW, II, S. 195. 34 Vgl. Gw, II, S. 49, 18M. 35 Ebd., S. 52. 36 Ebd., S. 226. 37 Vgl. WM, S. 395ff. (= Gw, I, S. 422ff.) sowie oben das Augustinkapitel. 38 Gw, H, S. 504. So mußte Gadamer einst auf die Frage, was er in seinem Leben, im Leben überhaupt, für mitteilenswert halte, antworten: "Ich glaube, das Mitteilenswerteste ist immer das, was man nicht mitteilen kann" (Die Kunst, unrecht haben zu können. Gespräch mit dem Philosophen HansGeorg Gadamer, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 34, 10./11. Februar 1990, S. 16). 39 Gw, II, S. 496. 40 Vgl. Gw, II, S. 497f. 41 GW, H, S. 186. Vgl. GW, H, S. 73: "Universalität der Sprache", S. 233: "das universale Phänomen der menschlichen Sprachlichkeit". 42 WM, S. 451 (= Gw, I, S. 480) u.ö. 43 Ebd., S. 458 (= Gw, I, S. 487). 44 Vgl. GW, II, S. 111. 45 Ebd., S. 505. 46 Vgl. ebd., S. 70. Vgl. dazu das Interview in der Süddeutschen Zeitung, a. a. 0., S. 70. 47 Vgl. H.-G. Gadamer, The Science of the Life-World, in: The Later Husserl and the Idea of Phenomenology, ed. by A.- T. Tymieniecka, Dordrecht 1972: "There is no claim of definite knowledge, with the exception of one: the acknowledgement of the finitude of human being in itself. Grasping the chances involved in it for the infinite self-correction, humanity goes further in the permanent dialogue of one with the other even ab out the life-world" (fehlt in der deutschen Fassung von: Die Wissenschaft von der Lebenswelt, in: GW, III). 48 WM, S. 451 (= GW, I, S. 479). Hervorhebung von uns. Vgl. ferner die Entgegensetzung (GW, II, S. 233: ,,( ... ) und insofern ist an der Universalität des hermeneutischen Problems kein Zweifel möglich. Es ist kein sekundäres Thema. Hermeneutik ist keine bloße Hilfsdisziplin der romantischen Geisteswissenschaften." Zum Übergang von der geisteswissenschaftlichen zur universalen Hermeneutik vgl.: Zur Komposition von ,Wahrheit und Methode<, in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992), danach auch im Band: Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt 1994, S. 1-23. 49 WM, S. 427 (= GW, I, 455). 50 Ebd., S. 379ff. (= GW, I, S. 405). 51 Grenzen der Sprache, S. 99. 52 Ebd. 30 31
VII. DIE HERMENEUTIK IM GESPRÄCH Die Möglichkeit, daß der andere recht hat, ist die Seele der Hermeneutik.!
Wenn etwas an der philosophischen Hermeneutik universal ist, dann wohl die Anerkennung der eigenen Endlichkeit, das Bewußtsein, daß unsere tatsächliche Sprache nicht ausreicht, um das innere Gespräch, das uns zum Verstehen antreibt, auszuschöpfen. An diese Gesprächsangewiesenheit der Verständigung hat Gadamer die Universalität des hermeneutischen Vorgehens gebunden: "Daß ein Gespräch überall dort ist, wo immer und worüber immer und mit wem immer etwas zur Sprache kommt, ob dies nun ein anderer ist oder ein Ding, ein Wort, ein Flammenzeichen (Gottfried Benn), - das macht die Universalität der hermeneutischen Erfahrung aus."2 Allein im Gespräch, in der Begegnung mit Andersdenkenden, die in uns selbst hausen können, können wir hoffen, über die Begrenztheit unserer jeweiligen Horizonte hinauszukommen. Deshalb kennt die philosophische Hermeneutik kein höheres Prinzip als das Gespräch. Gadamers Philosophie stellt wohl die jüngste originelle und geschlossene Hermeneutikkonzeption dar. Sie ist allgemein als einer der entscheidensten Beiträge zur Philosophie seit Heideggers ,Sein und Zeit< gewürdigt worden. Seit den dreißiger Jahren hatte sich Heidegger, obwohl sein Einfluß nicht gering war, aus der philosophischen Diskussion etwas zurückgezogen. Gadamer führte erneut die Hermeneutik ins philosophische Gespräch, das nach dem zweiten Weltkrieg zunehmend internationales Ausmaß gewonnen hat. ,Wahrheit und Methode< übte seit 1960 eine enorme Wirkung auf die Entwicklung der Philosophie aus, etwa in der markierten Hinwendung zur Sprache, wobei der Kontinent mit dem linguistic turn der angelsächsischen Philosophie zusammentraf; alsdann in der Rehabilitierung der praktischen Philosophie, zunächst in der Gestalt einer Rückkehr zu einem neuen Aristotelismus, der die Kantsche Sollensethik durch eine Berücksichtigung der geschichtlichen Kontingenz von Lebensformen ergänzte; aber auch in der Wissenschaftstheorie, wo der Kuhnsche Paradigmenkontextualismus in der Positivismuskritik der Hermeneutik einen Eideshelfer begrüßen konnte; schließlich in der
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Die Hermeneutik im Gespräch
Schärfung des hermeneutischen Bewußtseins für die Aufgaben einer kritischen Theorie der Gesellschaft, ganz abgesehen von einzelwissenschaftlichen Anwendungen der Hermeneutik im Bereich der Literaturwissenschaft (die H. R. J auß und W. Iser zu einer Konkretisierung der Dialektik von Frage und Antwort in der Gestalt einer Rezeptionsästhetik anleitete), in der Historie (R. Koselleck), im Recht und in der Theologie. Eine auch nur stichwortartige Analyse dieser von der Hermeneutik veranlaßten, geprägten und mitgetragenen Entwicklungen würde den hiesigen Rahmen sprengen und über unverbindlich Weitläufiges nicht hinausgehen. Wir treffen vielmehr eine hoffentlich repräsentative Auswahl der Debatten, die von der Hermeneutik direkt angeregt wurden und auf diese Weise das philosophische Gespräch der letzten Generation befruchteten. Anstoß erregte Anfang der 60er Jahre zunächst der Abschied vom Methodologismus und scheinbar vom Objektivitätsanspruch der Hermeneutik, in den 70er Jahren die zu starke Anlehnung der Hermeneutik an überlieferte Traditionen, die ein kritisches Element vermissen ließ, in den 80er Jahren das Festhalten der Hermeneutik an der Idee eines Willens zum Verstehen, zur Verständigung und zur Wahrheit, der als Rückfall in die Metaphysik bewertet wurde. Wichtigste Wortführer dieser noch aktuellen Debatten waren Betti, Habermas und Derrida. Gegen Gadamer verteidigte Betti die Position des Objektivität gewährleisten sollenden Methodologismus, Habermas die der Ideologiekritik und Derrida die des postmodernen Dekonstruktivismus.
1. Bettis epistemologischer Rückgang zum inneren Geist
Es ist gewiß eine geschichtliche Ungerechtigkeit, Emilio Bettis Hermeneutik nach der Gadamerschen in die Diskussion einzubeziehen. Denn der ältere Jurist (1890-1968) legte vor ihm im Jahre 1955 eine anspruchsvolle Hermeneutik unter dem Titel einer >Allgemeinen Theorie der Auslegung< vor. Ob der 1000 Seiten des Werkes hielt sich deren Beachtung zunächst in Grenzen. Das Buch erschien aber - wohl auf Anregung Gadamers - in einer leicht gekürzten deutschen Fassung 1967. Betti hatte früher den deutschen Lesern seinen hermeneutischen Ansatz in zwei kleinen, polemischen "Manifesten", die 1954 und 1962 erschienen sind, bekannt gemacht. 3 Die Diskussion zwischen Gadamer und Betti konnte sich gleich zu Beginn der 60er Jahre in Szene setzen.
Bettis epistemologischer Rückgang zum inneren Geist
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Von der gesamten Hermeneutik Bettis gilt allerdings, daß ihr ein polemischer, ja "reaktiver" Charakter innewohnt. 4 Wir meinen dies nicht in einem banalen ideologischen Sinne, sondern so, daß seine ganze Leidenschaft darauf gerichtet ist, den neue ren "subjektivistischen" und "relativistischen" Existentialhermeneutiken, wie er sie zuerst in den Arbeiten von Heidegger und Bultmann witterte, entschlossen Widerstand zu leisten und dagegen die Idee einer an streng wissenschaftliche Standards gebundenen Hermeneutik zu rehabilitieren, die imstande sei, die Objektivität geisteswissenschaftlicher Auslegungen zu garantieren. Seine Hermeneutik ist indessen nicht minder universal veranschlagt als die Gadamersche. Er spricht ja selbst von einer allgemeinen Theorie der Auslegung. Allgemein besitzt aber hier eine rein epistemologische Bedeutung. Es besagt, daß allen Formen der wissenschaftlichen Auslegung, wie man sie in der Philologie, der Geschichte, in der Theologie und im Recht antrifft, eine gemeinsame gnoseologische Struktur zugrunde liegt, deren Objektivitätskriterien von einer Hermeneutik als methodologischer Grundlage aller Geisteswissenschaften zu erarbeiten sind. Allen diesen Wissenschaften ist die epistemologische Aufgabe des Verstehens gemeinsam. Das Verstehen ist dabei der geistige Vorgang, der darum bemüht ist, einen fremden Geist, wie er sich in auszulegenden sinnhaltigen Formen ausgedrückt hat, zu erfassen. Die Auslegung, deren Theorie die Hermeneutik ist, empfiehlt sich als das Mittel, um das epistemologische Problem des Verstehens zu lösen. 5 Der fremde Geist läßt sich nicht unmittelbar berühren, sondern nur auf dem Umweg der sinnhaltigen Formen oder Objektivationen, kraft deren er sich zu erkennen gab. »Sinnhaltige Formen" ist dabei die deutsche Übersetzung von «forma rappresentativa» auf italienisch. 6 Die zu deutenden Objektivationen (Sprache, aber auch Gesten, Monumente, Spuren, Töne usw.) sind repräsentativ oder stellvertretend für den inneren Geist, den man zu verstehen strebt. Natürlich konnte sich Betti für diese Sicht auf die gesamte hermeneutische Tradition berufen, insbesondere die romantische, für die das Verstehen die Umkehrung des schöpferischen Aktes von innen nach außen zu vollziehen hatte. Unumwunden bedient sich Betti der idealistisch-romantischen Ausdrucksweise, deren Berechtigung wir hier in der Lehre vom inneren Geist nicht bestritten haben: Unser Verstehen sucht tatsächlich zu erfahren, was Worte meinen, was gleichsam hinter den Ausdrücken und mit ihnen gesagt werden will. Ob dabei unbedingt an einen verdinglichten inneren Geist zu denken ist, ist hier weniger entscheidend. Doch geht es nach Betti immer nur um das verstehende Erkennen
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Die Hermeneutik im Gespräch
einer mens auctoris, eines Sinnes, wie er vom Autor intendiert wurde. So muß der Ausleger seine Interessen und Projektionen möglichst ausschalten und die Autonomie des vom Autor gewollten Sinnes respektieren. Es sei eine gefährliche Irrlehre der relativistischen Hermeneutik, Vorurteile zu "Bedingungen des Verstehens" zu erklären. Damit wendet sich Betti spezifisch gegen die Gadamersche Lehre von der Anwendung. Verstehen habe überhaupt nichts mit Applikation zu tun, wenn man die Objektivität und Kontrollierbarkeit des interpretatorischen Prozesses gewahrt wissen will. Anwendung komme lediglich in besonderen Formen der Auslegung wie der Theologie und der Rechtsprechung vor, deren Grundlage ein epistemologisches Verstehen bilden muß. Bevor eine Bibelstelle oder ein Gesetz auf eine konkrete Situation angewendet wird, muß deren Sinn zuallererst rein noetisch verstanden worden sein. Gewiß kann man auch einen Sinn aktualisieren und den Erwartungen unserer Zeit anpassen, aber dieser modernisierte Sinn ist von der ursprünglichen Bedeutung des Textes zu trennen. So statuiert Betti einen wichtigen hermeneutischen Unterschied zwischen der Bedeutung eines Textes und der Bedeutsamkeit/ die derselbe Sinn im Zuge seiner verschiedenen Interpretationen erlangt hat. Beides läßt sich nicht konfundieren, wie es Gadamers Applikationsverständnis nahelegen könnte. Bettis Unterscheidung ist sehr wohl hermeneutisch einlös bar. In der Praxis können wir nicht umhin, zu stark modernisierende Deutungen als solche zu erkennen und von der ursprünglichen Bedeutung eines Textes abzuheben. Ansonsten bliebe das Interpretieren ein rein willkürliches Unternehmen. Indessen: Sosehr sich die Bedeutsamkeit als solche kenntlich machen läßt, bleibt fraglich, ob sich die ursprüngliche Bedeutung ihrerseits je definitiv festnageln läßt. Wir können beispielsweise sagen, daß sich die platonische Idee nicht auf den reinen Vernunftbegriff Kants oder die Methoden des Neukantianismus reduzieren läßt, ohne deren ursprüngliche Bedeutung je in den Griff zu bekommen. Die Bedeutung bleibt höchstens ein asymptotisches Telos des Verstehens, das, was man hinter den Worten zu erreichen sucht. Ob man sie je erlangt, das läßt sich angesichts unserer Endlichkeit nie mit letzthinniger Deutlichkeit ausmachen. Ferner können wir die von der Bedeutsamkeit unterschiedene Bedeutung nur von dem her verstehen, was sie uns bedeutet und was ihre Zeichen für uns evozieren. Das meint Gadamer, wenn er von einem Ineinanderfließen von Bedeutung und Bedeutsamkeit spricht. Um den auslegenden Rekonstruktionsprozeß der Beliebigkeit zu entreißen, bemüht sich Bettis Hermeneutik um die Festlegung von
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Prinzipien oder Kanons der Interpretation, die deren Objektivität verifizierbar machen sollen. Vier Kanons werden vorgeschlagen: (1) der Kanon der hermeneutischen Autonomie oder der Immanenz des hermeneutischen Maßstabs (wonach der auszulegende Sinn der ursprüngliche, immanente Sinn des Textes und nicht die Projektion des Auslegers sein soll); (2) der Kanon der Ganzheit (Totalität) und des inneren sinnhaften Zusammenhangs der hermeneutischen Betrachtung, welcher gebietet, den Text- als einen in sich stimmigen und kohärenten Sinn zu nehmen; (3) der subjektivistischere Kanon der Aktualität des Verstehens, der an Gadamers Anwendung erinnern mag, aber bei Betti lediglich meint, daß der Interpret gehalten ist, "in seiner Innerlichkeit den Schaffensprozeß rückläufig zu verfolgen, ihn von innen her nachzukonstruieren, einen fremden Gedanken, ein Stück Vergangenheit, ein erinnertes Erlebnis, in die eigene Lebensaktualität von innen her zurückzuübersetzen "8; (4) schließlich der Kanon der hermeneutischen Sinnentsprechung oder der hermeneutischen Kongenialität; ihm zufolge "soll der Interpret bestrebt sein, die eigene lebendige Aktualität in innerste Abstimmung und Harmonie mit der Anregung zu bringen, die er ( ... ) als vom Objekt ausgehend empfängt, derart, daß die eine und die andere auf übereinstimmende Weise, also aufeinander abgestimmt, mitschwingen".9 Keine philosophische Hermeneutik, sofern sie das begrenzte Recht einer rein methodologischen Hermeneutik der Geisteswissenschaften eingesteht, wird etwas an der Motivation solcher Kanons auszusetzen haben. Im Prinzip geht jede Interpretation davon aus, daß die Autonomie und Kohärenz ihres Gegenstandes zu respektieren sind. Fraglich erscheint nur, ob es solche Kanons von sich aus erlauben, den Wahrheitsanspruch geisteswissenschaftlicher Interpretationen zu fundieren bzw. richtige von falschen positivauseinanderzuhalten. Der Sache nach will jede Interpretation stimmig sein und ihrem Objekt entsprechen. Die Frage ist also nicht, ob eine Deutung ihrem Gegenstand angemessen sein soll, sondern, von Bettis Fragestellung aus, wann dies erfolgt und ob sich das verifizieren läßt. Dafür gibt es aber keine Kanons, also keine Regel, für die Regelanwendung selbst. So kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, daß sich Betti in der Formulierung seiner Kanons mit rein verbalen Lösungen zufriedengibt. IO In seiner Antwort auf Gadamer hat Betti später zugegeben, daß seinen Regeln lediglich eine negative Funktion zukommt: "Übrigens gebührt den hermeneutischen Kanons nicht so sehr eine positive als eine negative, kritische Rolle der Vorbeugung vor solche Vorurteile
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Die Hermeneutik im Gespräch
und Voreingenommenheit, die auf eine falsche Fährte führen könnten."ll Solches Zugeständnis stellt aber das Unterfangen einer positiven Hermeneutik als Methodenlehre geisteswissenschaftlicher Objektivität in Frage. Sicherlich läßt sich eine Deutung kritisieren, wenn sie ihrem Gegenstand und seiner Kohärenz nicht gerecht wird, aber ob und wann eine Deutung objektiv gültig - und nicht nur rhetorisch wirksam - ist, läßt sich anhand keiner Methodologie angeben. Bettis Hermeneutik erweist sich als ein Spätling des Historismus. Um der Gefahr geschichtlicher Relativierung entgegenzusteuern, konstruierte sie das Desiderat einer letztbegründenden Methodologie der Geisteswissenschaften, die strengen Regeln und Verfahren gehorchte. Am Ende leistet sie aber nicht, was sie selber versprach, nämlich eine positive, Objektivität garantierende Hermeneutik. Die Geschichtlichkeit hört nicht dadurch auf, daß man sie szientistisch wegpostuliert. Auf diese Weise wird sie erst recht mißverstanden in ihrer Funktion als Bedingung unseres Verstehens. Das begrenzte Recht der hermeneutischen Bemühungen Bettis liegt indessen in der Erinnerung daran, daß es in der Tat Interpretationen gibt, die verbindlicher oder weniger frivol sind als andere, weil sie allgemeinen, obzwar negativen Standards standhalten. Bedeutung geht nicht in modernisierende Bedeutsamkeit auf. Daß aber an diese Bedeutung und den inneren Geist hinter den sinnhaltigen Formen nur vom fruchtbaren Boden unserer offenen Fragestellungen und Erwartungen aus heranzugehen ist, wurde in Gadamers Anwendungshermeneutik gebührender zum Vorschein gebracht.
2. Habermas' Kritik der Verständigung im Namen der Verständigung Man ist versucht, gegen Gadamer Gadamer ins Feld zu führen.t 2
Der Titel dieses Abschnitts mag paradox erscheinen. Er will lediglieh auf eine mögliche Entwicklung im Verhältnis von Habermas zur Hermeneutik hindeuten. Von 1967 bis 1970 hatte nämlich Habermas das Recht einer emanzipatorischen Ideologiekritik, die nach dem Muster einer objektivierenden Wissenschaft wie der Psychoanalyse konzipiert war, gegen die Universalisierung des hermeneutischen Verständigungs begriffs geltend zu machen versucht. In den achtziger Jahren entwarf er dann eine Theorie des kommunikativen Handelns
Habermas' Kritik der Verständigung
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und daraus eine Diskursethik, die aus der universellen Idee der Sprachverständigung ihre Legitimation beziehen. Diese spätere Wende oder Akzentverschiebung stellt vielleicht ein ungesagtes, sicherlich wenig bemerktes Erbe des hermeneutischen Universalitäts anspruches dar. Habermas' erste und produktive Begegnung mit der Hermeneutik erfolgte im Rahmen eines in der von H.-G. Gadamer mitherausgegebenen "Philosophischen Rundschau" erschienenen Literaturberichts >Zur Logik der Sozialwissenschaften<.13 Habermas ging es dort schon um eine sprach theoretische Grundlegung der Sozialwissenschaften auf dem Wege einer Theorie des kommunikativen Handelns,14 die dem objektivistischen Positivismus erfolgreich Widerstand leisten könne. Gegen den Positivismus einer anscheinend wertfreien Soziologie, die soziales Handeln nach dem Modell atomistisch und kausal aufeinander wirkender Kraftzentren versteht und dabei von der sprachlich vermittelten Lebenswelt der Handelnden gänzlich abstrahiert, machte sich Habermas auf die Suche nach einer normativen und sprach theoretischen Begründung der Sozialwissenschaften. Erste Geburtshilfe empfing sie von Wittgensteins linguistischer Theorie und seiner Lehre vom Sprachspiel, das zugleich eine Lebensform verkörpert. Einen Rest Positivismus diagnostizierte er jedoch in Wittgensteins These von der Geschlossenheit der sprachlich konstituierten Lebensformen, als ob jeder Handelnde monadisch in seine Sprachwelt eingesperrt wäre. Genau um diese Grenze zu überwinden, führte er den hermeneutischen Ansatz ins Spiel. Von Gadamer lernte Habermas, daß die Sprache sich selbst transzendieren kann und darin das Potential einer Vernunft!5 aufweist. Die Hermeneutik zeigt, daß Sprachkreise nicht monadisch abgeschlossen, sondern porös sind, sowohl nach außen als auch nach innen, schreibt Habermas.1 6 Nach außen hin, denn die Sprache ist prinzipiell für alles offen, was sich überhaupt sagen und verstehen läßt. Ihre Horizonte erweitern sich ständig. Aber auch nach innen hin, da die sprachlich Handelnden von ihren eigenen Ausdrücken Abstand nehmen können, um sie zu interpretieren, über sie zu reflektieren usw. Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik wird hier aufs beste rezipiert. So wird sich Habermas enthusiastisch an "Gadamers großartige Kritik an dem objektivistischen Selbstverständnis der Geisteswissenschaften"!? anschließen können, um sie in die sprachtheoretischen Fundamente einer verstehenden und emanzipatorischen Soziologie einzubauen. Die heftigen, zeitbedingten Kontroversen zwischen Hermeneutik und Ideologiekritik betreffen von der Warte dieser grundlegenden
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Solidarität aus Zweitrangiges. Das erste, inzwischen geklärte Mißverständnis drehte sich um den Begriff der Tradition. Herkömmlichen Oppositionen folgend zeigte sich Habermas empört über die angebliche Diskreditierung der Aufklärung, die die Rehabilitierung der Tradition bei Gadamer nach sich zu ziehen schien. Es ist zuzugeben, daß sich manche Formulierungen Gadamers provokativ genug ausnahmen. Daß "der Autorität eine Überlegenheit an Erkenntnis zugebilligtWahrheit und Methode< lehrten aber, daß Gadamer immer schon davon ausgegangen war, daß Autorität, um als legitim zu gelten, auf einem Akt der Anerkennung und insofern auf einer Handlung der Vernunft beruhen muß.19 Autorität und Tradition wurde nie ein Vorrang vor Vernunft zuerkannt, wohl aber die Situiertheit einer jeden kommunikativ eingespielten Vernunft aufgewiesen. Ferner glaubte Habermas der Hermeneutik einen "Idealismus der Sprachlichkeit
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der Ideologiekritik sei der eklatante Beweis oder das Zeugnis erbracht, daß methodisierende und objektivierende Wissenschaftlichkeit im sozialen Bereich zu haben sei. Die diesbezüglichen Fehden sind besonders zeitbedingt, wurden sie doch während der Hochkonjunktur der freudo-marxistischen Psychoanalyse und Gesellschaftskritik ausgefochten. Sie wimmelten auch von politischen Untertönen (Konservatismus vs. gesellschaftliche Emanzipation), die uns heute vielleicht weniger verblenden. Es ließe sich auch nicht sagen, daß der Wissenschaftsstatus von Psychoanalyse und Ideologiekritik inzwischen sicherer geworden sei. So müssen wir uns hier mit Einwänden begnügen, die das Selbstverständnis der Hermeneutik tangieren. Gadamer erwiderte zunächst, daß ihm an einer scharfen Entgegensetzung von Wahrheit und Methode nie gelegen war. Sicherlich kann man kraft Methode zur Wahrheit gelangen. Was er als fragwürdig empfand, war lediglich der neuzeitliche Ausschließlichkeitsanspruch des Methodenbewußtseins: die dogmatische These, daß es außerhalb der Methode keine Wahrheit geben könne. Die explanatorischen Leistungen der Psychoanalyse stellte Gadamer nicht in Frage, obwohl es nahe gelegen hätte, wie es Paul Ricceur einige Jahre vorher getan hatte,22 auf ihr szientistisches Selbstmißverständnis und die hermeneutischen Fundamente ihrer Konstrukte hinzudeuten. Es war vor allem die schlechthinnige Übertragung des psychoanalytischen Modells auf die Gesellschaft, die Gadamer problematisierte. Im therapeutischen Gespräch gibt es tatsächlich einen Hilfe suchenden Patienten und einen Arzt, der dafür kompetent und verantwortlich ist. In der Gesellschaft hingegen gehe es aber nicht an, einer Gruppe, die sich nicht besonders krank fühlt, ein falsches Bewußtsein anzukreiden, etwa im Namen einer Freiheitskonzeption oder einer Kompetenz, die allein der emanzipatorischen Sozialwissenschaft zukäme. Die "Antizipation des guten Lebens", wie sie Habermas nannte, ist allen gemeinsam und nicht das Vorrecht einer von psychoanalytischen Metaphern zehrenden Ideologiekritik. Die Rhetorik spielte auch eine wichtige Rolle in der Debatte zwischen Gadamer und Habermas. Gadamers erste Erwiderung auf Habermas hieß ja >Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik< (1967),23 wobei indirekt auch Habermas' entflammte Rhetorik der gesellschaftlichen Emanzipation gemeint war. In seiner Diskussion des hermeneutischen Standpunktes hatte nämlich Habermas zur Geltung gebracht, daß "ein scheinbar ,vernünftig' eingespielter Konsensus sehr wohl auch das Ergebnis von Pseudokommunikation sein kann" .24 Das dialogische Einverständnis könne nämlich aus einer
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Die Hermeneutik im Gespräch
ideologisch verschleierten Herrschaftsstruktur resultieren. Kommunikatives, d.h. reflexiv eingesehenes Einverständnis müßte von einem rein rhetorischen oder strategischen (d.h. manipulativ erzielten) Konsens unterschieden werden. Die Einsicht, daß "jeder Konsensus, in dem Sinnverstehen terminiert, grundsätzlich unter dem Verdacht [steht], pseudokommunikativ erzwungen zu sein",25 ist nach Habermas die einer Meta- oder Tiefenhermeneutik, die "Verstehen an das Prinzip vernünftiger Rede, demzufolge Wahrheit nur durch den Konsensus verbürgt sein würde, der unter den idealisierten Bedingungen unbeschränkter und herrschaftsfreier Kommunikation erzielt worden wäre",26 bindet. Dadurch wäre Hermeneutik in Ideologiekritik ilberführt. Dagegen konterte Gadamer in seiner Replik von 1970: "Ich finde es erschreckend unwirklich, wenn man - wie Habermas - der Rhetorik einen Zwangscharakter zuschreibt, den man zugunsten des zwangsfreien rationalen Gesprächs hinter sich lassen müsse. Man unterschätzt damit nicht nur die Gefahr der beredten Manipulation und Entmündigung der Vernunft, sondern auch die Chance beredter Verständigung, auf der gesellschaftliches Leben beruht. Alle soziale Praxis - und wahrlich auch die revolutionäre - ist ohne die Funktion der Rhetorik undenkbar. "27 Es ist nach Gadamer ein künstlicher Gegensatz, mit Habermas ein "reflexiv eingesehenes Einverständnis" gegen ein "rhetorisch erzieltes" aufzustellen, denn selbst das reflexiv Eingesehene kann nur sprachlich, d. h. nach effektvollen Argumenten, die einem einleuchten, nachvollzogen werden. Der Unterschied zwischen einem Pseudoargument und einem starken muß selbst mit rhetorischen Mitteln verteidigt werden. Dieses Medium ist das des sprachlich Einleuchtenden, das sich ohne Rhetorik - im positiven Sinne - nicht denken läßt. Gadamer hat sich also an die Tradition der Rhetorik angeschlossen, weil er in ihr in seinem Kampf gegen einen einseitigen, methodenorientierten Wissenschaftsbegriff eine kritische Würdigung des sprachlichen Charakters des dem Menschen möglichen Wissens erkannt hatte: "Woran sonst sollte auch die theoretische Besinnung auf das Verstehen anschließen als an die Rhetorik, die von ältester Tradition her der einzige Anwalt eines Wahrheitsanspruches ist, der das Wahrscheinliche, das eikos (verisimile), und das der gemeinen Vernunft Einleuchtende gegen den Beweis- und Gewißheitsanspruch der Wissenschaft verteidigt?"28 Es ist freilich nötig, wie Gadamer 1993 verdeutlichte, "der Rhetorik ihre weitreichende Geltung wieder zurück[zu]geben, aus der sie in der beginnenden Neuzeit von der ma-
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thematischen Naturwissenschaft und Methodenlehre vertrieben worden ist. Rhetorik meint das Ganze des sprachlich verfaßten und in einer Sprachgemeinschaft ausgelegten Weltwissens. "29 Läßt sich Hermeneutik "geradezu als die Kunst definieren, Gesagtes oder Geschriebenes erneut zum Sprechen zu bringen",30 so konnte der späte Gadamer ihren universalen· Aspekt an die Universalität der Rhetorik zurückbinden. 31 Gadamer und Habermas haben beide von ihrer Begegnung hinzugelernt. Angeregt von Habermas konnte Gadamer das kritische Potential seiner Hermeneutik entschiedener als früher herausarbeiten. Seine Hermeneutik erschöpft sich nicht in einem Umsichkreisender Endlichkeit, sie strebt ein "kritisches Reflexionswissen"32 an, das dort seine Wirksamkeit beweist, wo die Korrektur objektivistischer Selbstrnißverständnisse einen Freiheitszuwachs für den einzelnen bedeutet. Gadamer denkt insbesondere an die von Habermas ausgespielte Trennung zwischen fortlebender, naturwüchsiger Tradition und reflexiver Aneignung derselben. Gewiß kann man sich aus einer bestimmten Tradition heraus reflektieren, aber die Tradition, die man sich so vor Augen führt, wird nur verständlich aufgrund von kritischen Fragen und Sinnerwartungen, die in ihrer Gesamtheit selber nicht durchreflektiert sind. Kritisches Reflexionswissen seitens der Hermeneutik ist auch dort geboten, hebt Gadamer hervor, wo "Fehlansprüche der Logik"33 in ihre Schranken zu weisen sind. So verteidigt die Hermeneutik "verständliches Sprechen" gegen die Aussagelogik, die Sprache nach Maßstäben eines Aussagekalküls bemißt. Hier muß die Hermeneutik an den dialogischen und das heißt rhetorischen Verständigungsboden jeder menschlichen Sprache erinnern. Die Aussage ist nicht alles. Die Hermeneutik, als kritisches Reflexionswissen, "erhebt zu kritischem Bewußtsein, was der scopus der vorliegenden Aussagen ist und welche hermeneutische Anstrengung ihr Anspruch auf Wahrsein verlangt")4 Gewiß lassen sich nach den Maßstäben selbstherrlicher Logik manche Aussagen widerlegen, aber es fragt sich, ob dabei, um mit Platon zu sprechen, "die Seele des Redenden"35 auch nur erreicht ist. In dieser Erinnerung an das innere Gespräch hinter der Aussage beweist sich das kritische Reflexionswissen der Hermeneutik. Auch Habermas wird aus dieser Debatte Früchte geerntet haben. Es mag anderswo begründet liegen, aber seit 1970 hat die Psychoanalyse langsam aufgehört, einen zentralen Stellenwert auf seinem Denkweg einzunehmen und das Modell einer kritischen Sozialwissenschaft abzugeben. Als ob Gadamer mit seinen Einwänden ins Schwarze ge-
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troffen hätte, hat Habermas seither vom Paradigma der soziologisch erweiterten Psychoanalyse so gut wie keinen Gebrauch mehr gemacht. Um so entschiedener vertiefte er sich dafür in die sprachtheoretischen Fundamente einer kritischen Gesellschaftstheorie, die ihn zur Entwicklung einer Universalpragmatik und zuletzt einer Theorie des kommunikativen Handeins führten. Seine Grundintuition ist, daß die normativen Grundlagen einer Sozialtheorie und mithin einer Ethik in den pragmatischen Implikationen oder Geltungsansprüchen des auf Kommunikation und Verständigung zielenden Sprachgebrauchs zu suchen sind. Aufgabe einer kritischen Philosophie muß es sein, eine rationale Nachkonstruktion der dabei intuitiv gemachten Voraussetzungen zu vollbringen. Habermas läßt sich von der Annahme leiten, daß Sprache prinzipiell als Verständigungsvorgang zu denken ist. "Ich bin mit Wittgenstein der Auffassung, daß ,Sprache' und , Verständigung' gleichursprüngliche, sich wechselseitig erläuternde Begriffe sind. "36 Dabei könnte statt "Wittgenstein" "Gadamer" stehen - ja mit größerem Recht angesichts der Tatsache, daß die >Logik der Sozialwissenschaften< die monadologische Geschlossenheit der Sprachspiele Wittgensteins durch die hermeneutische Einsicht in die grundsätzliche Offenheit und Reflektiertheit von Sprache korrigiert hatte. Von Gadamer war zu erfahren, daß im Gespräch prinzipiell universelle Verständigung zu erreichen war. Daß der späte Habermas sich eher und gegen seine bessere, frühere Einsicht auf Wittgenstein beruft, mag damit zusammenhängen, daß er in seinen letzten Arbeiten die Hermeneutik zunehmend zum Geschäft der Erhaltung "kultureller Überlieferung" banalisiert und ihre universelle Ansetzung der Sprachlichkeit aus dem Auge verloren hat. Wie dem auch sei, die hermeneutische Grundkategorie der Verständigung erfährt bei Habermas eine neue Universalisierung. Sie gilt nunmehr als der stillschweigende Telos und der gemeinsame Nenner eines jeden Sprachgebrauchs. Selbst wo Sprache Verständigung mißbraucht, um strategische Ziele zu verwirklichen, lebt solches Handeln "parasitär" von der Verständigungsidee, deren Geltung schlechthin zu verständigungsfremden Zielsetzungen ausgebeutet wird. Von dieser breitangelegten Antizipation der Verständigung lassen sich dann ethische Voraussetzungen ableiten, die eine Diskursethik rational nachzukonstruieren hat. Einsichtig an dieser Erneuerung des hermeneutischen Universalitätsanspruches ist ohne Zweifel, daß die mit dem Telos der Sprache identifizierte Idee der rhetorischen Verständigung ethische Konsequenzen nach sich zieht. Gadamer war dieses ethische Moment alles
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andere als fremd. Seit seiner ersten Begegnung mit Heidegger war es das Hauptanliegen seiner Arbeiten über die griechische Philosophie, die ethische Dimension der Faktizitätshermeneutik herauszuarbeiten. 37 In Anlehnung an die aristotelische Situationsethik zeigte er, daß die Ausübung der praktischen Klugheit, der Transzendentalhermeneutik< vertreten. Die ethische Ausweitung der hermeneutischen Verständigung zu einer Diskursethik entbehrt also nicht der Konsequenz. Offen bleibt nur, auf welcher Ebene der Diskurs angesetzt wird und insbesondere, was man sich von einer solchen Ethik verspricht: lediglich die philosophische Klärung des "moral point of view",39 wie ihn schon die Sittlichkeit in Ausübung zeigt, oder darüber hinaus die Entwicklung einer "planetarischen Makroethik" (Apel), die selbst moralische Relevanz in Anspruch nimmt? Geantwortet wird in der Regel, daß es sich vor allem um die Festlegung einer Prozedur handelt, mit Hilfe deren die jeweils Betroffenen beurteilen können, was für zur Verhandlung stehende Normen als universal oder akzeptabel gelten dürfen. Aus hermeneutischer Sicht behält diese Prozedur, die aus der Verständigungsidee extrapoliert wurde, jedoch etwas Abstraktes. Sind der Rede von einer "postkonventionellen Moral" zum Trotze Normen wirklich etwas, was Verhandlungs gegenstand werden kann? Ferner fragt sich, was für eine konkrete Gestalt diese prozedurale N ormenbegründung annehmen kann, wo doch menschliche Konflikte von Interessen aller Abschattungen und gewiß unkommunikativen Charakters ihren Antrieb bekommen. Ob schließlich eine rationale Nachkonstruktion der Voraussetzungen sprachlichen "Handelns" wird gelingen wollen - und wie man wissen kann, daß dies der Fall ist -, steht auch dahin. Unhermeneutisch wäre es sicherlich, durch die Rekonstruktion des intuitiv stets Vorausgesetzten und anscheinend Unhintergehbaren so etwas wie einen dinghaften Selbstbesitz anzustreben. Ein solcher Anspruch möge getrost der göttlichen V011OL<; voijaew<; überlassen bleiben.
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3. Postmoderne Dekonstruktion Nun will ich wirklich nicht sagen, daß die Solidaritäten, die Menschen miteinander verbinden und zu Gesprächspartnern machen, jeweils ausreichen, um über alle Dinge zur Verständigung und zum totalen Einverständnis zu gelangen. Zwischen zwei Menschen würde es dazu eines nie endenden Dialogs bedürfen, und für sich selbst, für den inneren Dialog der Seele mit sich selbst, gilt das gleiche. 40 Die tiefgreifende Solidarität zwischen Gadamer und Habermas hinsichtlich der dialogischen Verständigung - mag sie vom einen nach dem Muster der Rhetorik und des platonischen Gesprächs, an dem wir nur teilhaben, und vom anderen in der Weise wissenschaftlicher, argumentierender Kommunikation angesetzt sein - bekundete sich erneut in der gemeinsamen Front, die sie gegen die neue Herausforderung des Dekonstruktivismus und des neohistorischen Postmodernismus bildeten. Der Dekonstruktivismus wittert in der hermeneutischen Idee der Verständigung eine Perpetuierung des metaphysischen Willens zur Macht, der allen sein (hier dialogisches) Rationalitätsmodell aufzwingt und auf diese Weise davon abweichende Individualität, Differenz und Dissidenz totalitär unterdrücken müsse. Habermas konterte, daß Derrida nicht ohne Selbstwiderspruch seinen prinzipiellen Protest gegen die kommunikative Vernunft aufrechterhalten könne, weil er selber damit auf Verständigung und Verständnis zielte. Sinn der Vernunft sei es übrigens nicht, die Individualität einzuebnen, sondern, im Gegenteil, ihr die kommunikative Möglichkeit zur freien Selbstentfaltung und zur Artikulierung ihrer berechtigten Geltungsansprüche zu verschaffen. Erst auf dem Boden einer den Dialog fördernden Gemeinschaft seien der vom Dekonstruktivismus favorisierte Pluralismus und die Differenz von Lebensformen möglich. 41 Die Begegnung zwischen Gadamer und Derrida 'erfolgte im Kontext einer vom Goethe-Institut in Paris veranstalteten Tagung im April 1981, die den Zweck verfolgte, die zwei für das kontinentale Denken bestimmenden Strömungen des französischen Dekonstruktivismus und der deutschen Hermeneutik miteinander ins Gespräch zu bringen (was an sich eine genuin hermeneutische Initiative war). Den Zeugenaussagen zufolge handelte es sich aber eher um ein Taubengespräch, was die inzwischen in den einschlägigen Sprachen veröffentlichten Akten desselben beweisen. 42 Wohl im Blick auf Derridas Textdekonstruktion hielt Gadamer einen Eröffnungsvortrag über >Text und Interpretation<, auf den Derrida am nächsten Tag mit drei Fragen antwortete. Derrida hielt dann einen Vortrag über Heidegger und
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Nietzsehe, ohne auf Gadamer oder die Hermeneutik direkt einzugehen. In den folgenden Jahren schrieb Gadamer bedeutende Aufsätze zur dekonstruktivistischen Herausforderung, in denen er den theoretischen Ansatz seiner Hermeneutik verdeutlichen konnte. Um diese Herausforderung zu verstehen, beschränken wir uns hier auf die Fragen von Derrida, der seinerseits der Begegnung mit Gadamer bislang keine weiteren Texte nachlieferte. Diese Fragen laufen eigentlich auf einen zentralen Punkt hinaus, der den Status des von der Hermeneutik vorausgesetzten (guten) Willens zum Verstehen betrifft. Liegt hier nicht eine metaphysische Annahme vor? Und zwar nicht primär in dem Sinne, daß hier eine neue Hinterwelt postuliert wäre, sondern in dem von Heidegger genährten Verdacht, daß der Wille zum Verstehen das Streben nach einer totalitären Beherrschung des Seienden fortsetze. Der von Gadamer in Anspruch genommene Wille könnte sich letzten Endes als der letzte Ausläufer der Willensmetaphysik entpuppen. Der derridianische Argwohn ist insofern begründet oderverständlich, als es im Verstehen irgendwie um die Aneignung eines anderen geht, die man für eine schlechthinnige Assimilation der Andersheit halten könnte. Schon >Wahrheit und Methode< war aber diesem naheliegenden Mißverständnis zuvorgekommen. In seinem Kapitel zur applicatio, wo die Aneignungsgefahr besonders groß schien, wurde die Hermeneutik von jedem Herrschaftswissen abgehoben. 43 Explizit gegen den metaphysischen und spezifisch Hegelschen Willen zum Begreifen hatte er sich - was auch leicht mißverstanden werden könnte, denn Platon gilt gemeinhin, erst recht von Heidegger und Nietzsche aus, als Vater der Metaphysik - auf das platonische Gesprächsmodell berufen. Die Wahrheit, die man im Gespräch erfahren und erlangen kann, hat nichts mit Besitzergreifung zu tun. Berechtigter erscheint die Rede von einer Teilhabewahrheit. Denn im Dialog miteinander und mit uns selbst, sofern wir denken, kommen wir zu Wahrheiten, die uns einleuchten, ohne zu wissen, wie und was mit uns geschieht. Wir beherrschen doch nicht diese Wahrheiten. Sie sind es, die uns gleichsam in Besitz nehmen. Der Verstehende erfährt sich dabei durchaus als ein Leidender, wenn ihm Sinn, Evidenz und Orientierung zustoßen. Gadamer erinnert in diesem Zusammenhang an den Herakliteischen Spruch "Alles steuert der Blitz", der über dem Türschlitz zu Heideggers Hütte eingeritzt war. Der Blitz meint dabei "das Jähe blitzhafter Erhellung, die alles mit einem Schlag sichtbar macht, doch so, daß das Dunkel es gleich wieder verschlingt" .44 Insofern hat die Wahrheit des Verstehens mehr den Sinn einer Teilhabe als
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den einer restlosen und endgültigen Aneignung. Von einem metaphysischen Herrschaftswissen ist man jedenfalls weit entfernt. Eine weitergehende Frage, die die Konfrontation von Gadamer und Derrida aufwirft, ist die, ob man überhaupt von einem Verstehen der "Wahrheit" sprechen darf. Driftet nicht das Verstehen vielmehr von Zeichen zu Zeichen, ohne je an irgend einen Sinn, der so etwas wie leibhafte Präsenz wäre, zu stoßen? Der frühe Derrida hat insbesondere in seinen ersten Husserlstudien auf diese Problematik des «vouloir dire» oder des Meinens hingewiesen. 45 Ein Zeichen soll nach der traditionellen Auskunft etwas sagen" wollen", aber was das ist, läßt sich nie dingfest ausmachen. Die beanspruchte Präsenz des Sinnes wird so beständig "differiert", so daß für Derrida alle Zeichen von einer nie eingelösten differance animiert sind. Der ganze Schein der Metaphysik (dem Heidegger auch erlegen sei, als er nach so etwas wie einem Sinn von Sein suchte) würde darin kulminieren, überhaupt Sinn zu suchen und Verstehen anzustreben. Dieser weitgespannte Metaphysikverdacht bildet wohl die Folie des dekonstruktivistischen Angriffs auf die Hermeneutik. Diesem Einspruch könnte man mit Kopfschütteln begegnen und auf das unleugbare Faktum hinzeigen, daß die Fähigkeit zum Verstehen prinzipiell besteht und daß auch Derrida verstehen und verstanden werden will, wenn er sich auf ein Gespräch einläßt. Von diesem Selbstwiderspruchsargument hat vor allem Habermas in seiner erledigenden Kritik Gebrauch gemacht. In diesem Punkt kann aber die Hermeneutik der Position von Derrida einige Sympathie entgegenbringen. 46 Denn gerade ihre Auffassung von einer Teilhabewahrheit und der ständigen Angewiesenheit auf das Gespräch zeugen von der Uneinlösbarkeit eines dinghaften Sinnes, wie ihn die Metaphysik der Präsenz und die klassische Sprachphilosophie nahelegen könnten. Auch hier muß die Einsicht in das innere Wort der Seele zum Zuge kommen. Es ist ja die Überzeugung der hermeneutischen Philosophie, daß kein Wort dieses innere Streben der Seele ganz erreichen kann. Nie läßt sich ein Wort oder ein Zeichen als die letzthinnige Präsenz des Sinnes hinnehmen. Es ist eben Hinweis, differance, wenn man will, oder Differierung auf ein Anderes, das nur mitgesagt werden kann. Von der Unerfüllbarkeit dieses Verlangens, vom Aushalten der differance zwischen Wort und Gemeintem, lebt die Sprache. 47 Es wäre aber eine Fatalität, zu behaupten, daß es dieses Verlangen nicht gibt und sich mit Derrida damit zu begnügen, daß Zeichen stets richtungslos aufeinander verweisen, ohne je etwas Nachvollziehbares
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zu meinen, gleichsam ohne jegliches vouloir dire. Sich dadurch auf den Positivismus der Zeichen zurückzuziehen kommt letztlich einer Negierung des inneren Wortes oder des inneren Gesprächs mit sich selbst, von dem Sprache zehrt und zeugt, gleich. Die Versteifung auf das Zeichen, als verwiese es nicht auf ein Anderes, Unerreichtes, ist purster Positivismus, ja, wenn die Anklage noch Sinn hat, Metaphysik. Es heißt die Metaphysik der schlechthinnigen Vorhandenheit fortzusetzen, Sprache als reinen Laut hinzunehmen, der nichts anderes als sich selbst auszusagen hätte. Einen ähnlichen Physikalismus des Zeichenhaften findet man in Lyotards scheinbarer Evidenz, daß die Philosophie es nur mit Sätzen zu tun hätte. Sätze seien das einzige, war immer und überall vorausgesetzt sei. 48 Sicherlich findet man allenthalben Sätze vor, aber diese Sätze wollen doch etwas sagen. Sie sind das Ergebnis und im besten Falle das Zeugnis eines vor ihnen stattfindenden Gesprächs, das auf einen verstehenden Nachvollzug angewiesen ist. Die Stimme oder Sätze in ihrer puren Vorhandenheit als letzte Gegebenheiten hinnehmen bedeutete einen Rückfall in die Aussagelogik der Metaphysik, die bis auf die Ausnahme der Lehre vom 'A.oyor; EVÖL<xftE'tOr; das ganze Abendland beherrscht hat. Für die Logik der Aussage geben Propositionen den Inhalt instrumentalistisch wieder, als würde jedem Wort eine Vorstellung entsprechen. Allein die Erinnerung an das verbum interius vermag die eigene Lebendigkeit und Dichte von Sprache zu sehen, die Erfahrung, daß unser Sprechen auf vorgegebene Worte angewiesen bleibt, um einen Sinn auszusagen, der in diesen Zeichen nicht aufgehen kann. Es wäre nichtsdestoweniger verfehlt, von einem Bann der Sprache zu sprechen, als sei etwa das Denken in die Sprache der Metaphysik restlos eingesperrt. Wer Sprache so für eine "babylonische Gefangenschaft des Geistes"49 hält, und hier ist nicht zuletzt Heidegger gemeint, verkennt, daß Sprache Gespräch ist. Die Sprache ist, wie Habermas sagte, porös: Bei aller Unerfüllbarkeit ihres Aussagevermögens kann sie bis zu einem gewissen Grad, der so weit wie das nur mögliche Denken ist, ihre eigenen Grenzen reflektieren und zurücksetzen. Sprache auf eine einmal erfolgte und nicht mehr hinterfragbare ecriture festlegen heißt die Reichweite des Logos positivistisch verkürzen, "als ob", entgegnete Gadamer auf Derrida, "alle Rede in Urteilsaussagen bestünde" .50 Der Logos der Metaphysik ist nicht mit Derrida und einem gewissen Heidegger auf eine Willens metaphysik, die prinzipiell blind für jede Andersheit wäre, zu reduzieren. Versteht man den Logos als Miteinanderreden und so als ein Aufeinanderan-
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gewiesensein, hat der Logozentrismus seinen eigentlichen Ort im Gespräch und allem zuvor im Gespräch der Seele mit sich selbst, wie Platon das Denken zu nennen beliebte. 51 Auf diesem Gespräch, in dem es keine grundsätzliche und von einem nachmetaphysischen Standpunkt aus zu bestimmende clöture gibt, fußt die Universalität der Hermeneutik. Anmerkungen 1 H.-G. Gadamer, während einer öffentlichen Gesprächsrunde am 9. Juli 1989 in Heide!berg anläßlich der Tagung über Grundprobleme der Hermeneutik. 2 Dekonstruktion und Hermeneutik, in: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, Bd. I, Stuttgart 1988, S. 5. V gl. auch GW, H, S. 505 sowie H.-G. Gadamer/R. Koselleck, Hermeneutik und Historik, Heide!berg 1987, S. 30: "Mein eigener hermeneutischer Entwurf ist seiner philosophischen Grundabsicht nach nicht viel anders als der Ausdruck der Überzeugung, daß wir nur im Gespräch an die Sachen herankommen. Nur dann, wenn wir uns der möglichen Gegensicht aussetzen, haben wir Chancen, über die Enge unserer eigenen Voreingenommenheit hinaus zugelangen." 3 E. Betti, Teoria generale della interpretazione, 2 Bde., Milano 1955; dt.: Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967; Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre. Festschrift für E. Rabe!, Bd. H, Tübingen 1954, S. 79-168 (Nachdr.: Tübingen 1988); Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962. 4 Vgl. unsere Ortsbestimmung: L'hermeneutique comme science rigoureuse selon Emilio Betti (1890-1968), in: Archives de philosophie 53 (1990), S.I77-198. 5 E. Betti, 1962, S. 11 u. Ö. 6 E. Betti, 1955, S. 62; 1967, S. 44. 7 E. Betti, 1962, S. 27 f. Diese Lehre wurde in den einflußreichen Arbeiten von E. D. Hirsch, Validity in Interpretation, New Haven 1967 (dt.: Prinzipien der Interpretation, München 1972) wiederaufgenommen. 8 E. Betti, S. 19; vgl. 1955, S. 314; 1967, S. 226. 9 E. Betti, 1988, S. 41 f.; vgl. 1962, S. 53 f. 10 Vgl. F. Bianco, Oggetiviti dell'interpretazione e dimensioni de! comprendere. Un'analisi critica dell'ermeneutica di Emilio Betti, in: Quaderni Fiorentini per la storia de! pensiero giuridico moderno 7 (1978), S. 75. 11 E. Betti, 1967, S. 217, Anm. 1. 12 J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 1970, S.285. 13 Zum Anteil Gadamers an der Förderung des jungen Habermas vgl. R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München/Wien 1986, S. 625, und
Anmerkungen
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R. Dahrendorf, Zeitgenosse Habermas, in: Merkur 43 (1989), Heft 6, Nr. 484, S.478-487. 14 Vgl.: Zur Logik der Sozialwissenschaften, Vorwort, S. 7. 15 Ebd., S. 253. 16 Ebd., S. 258. 17 Ebd., S. 265. 18 GW, 11, S. 244. 19 WM, S. 264 (= Gw, I, S. 284). 20 Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 289. Vgl. hierzu P. Giurlanda, Habermas' Critique of Gadamer: Does It Stand Up?, in: International Philosophical Quarterly XXVII (1987), S. 33-41. 21 J. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, S. 133. 22 P. Ricceur, De l'interpretation. Essai sur Freud, Paris 1965 (dt.: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1969). 23 Jetzt in: Gw, 11,232-250. 24 Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, S. 152. 25 Ebd., S. 153. 26 Ebd., S. 154. 27 Gw, II, S. 467. 28 Gw, II, S. 236. 29 GW, IX, S. 406. 30 GW, 11, S. 305. 31 GW, 11, S. 291. Zu dieser späten Bindung des universalen Aspektes der Hermeneutik an die Universalität der Rhetorik, die in >Wahrheit und Methode< nur vorbereitet ist, vgl. meine Studie: Unterwegs zur Rhetorik. Gadamers Schritt von Platon zu Augustin in Wahrheit und Methode, in: G. Figall J. Grondin/D. Schmidt (Hrsg.): Hermeneutische Wege, Tübingen 2000. Diese Universalisierung der Rhetorik ist m.E. durch zweierlei angeregt worden, einerseits durch Habermas' Kritik der Rhetorik im Namen einer rhetorikfreien Verständigung (die sich nach Gadamer nicht denken läßt), andererseits durch die lehrreichen Ergänzungen aus der Tradition der Rhetorik, die Klaus Dockhorn in einem wichtigen Beitrag der "Göttingischen Gelehrten Anzeigen" 218 (1966), S. 169-206 beisteuerte. 32 Gw, II, S. 254. 33 Vgl. Replik zu >Hermeneutik und Ideologiekritik<, in: Gw, 11, S. 254. 34 Ebd., S. 254. 35 Ebd., S. 255. 36 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handeins, Frankfurt a. M. 1984, S. 497 u. ö. Eine ausdrückliche Zurücknahme der Anlehnung an die Psychoanalyse fand sich neuerdings bei K.-O. Apel (Regulative Ideen oder Wahrheitsgeschehen? Zu Gadamers Versuch, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit gültigen Verstehens zu beantworten, in: Ars Interpretandi 1, 1996> S. 215; jetzt in: K.-O. Apel, Auseinandersetzungen, Frankfurt a. M. 1998, S. 569-607): "In dem Diskus-
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sionsband Hermeneutik und Ideologiekritik von 1971 haben J. Habermas und ich - aus meiner heutigen Sicht zu Unrecht - den Eindruck erweckt, als könnte der ,Universalitätsanspruch' der von Gadamer vertretenen ,philosophischen Hermeneutik' durch sozialwissenschaftliche Ansätze wie der Psychoanalyse und Ideologiekritik in Frage gestellt werden" (Hervorhebung vonJ. G.). 37 Vgl. insbesondere die Habilitationsschrift: Platos dialektische Ethik (1930), jetzt in: GW, V, und die mittlerweile publizierte Studie von 1930: Praktisches Wissen (ebd., S. 230-248). 38 Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973. 39 SO J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, und ziemlich dagegen K.-O. Apel, Normative Begründung der ,Kritischen Theorie' durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken, in: Zwischenbetrachtungen - Im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1989. H.-G. Gadamer konnte seinerseits seine Solidarität mit dem Kantischen Vorhaben bekunden, eine begriffliche Klärung dessen zu vollziehen, was das moralische Urteil immer schon voraussetzt und an sich keiner philosophischen Rechtfertigung bedarf (vgl. GW, UI, S.357). 40 H.-G. Gadamer, Und dennoch: Macht des guten Willens, in: Ph. Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, München 1984, S. 61. 41 Vgl. zur Derrida-Kritik J. Habermas': Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985 sowie: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M. 1988 (vor allem den Text >Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen<). Gadamer bezog sich explizit auf diese "vorzügliche DerridaKritik" von Habermas (GW, U, S. 23), die hier die Rede von einer freilich nicht zu überziehenden Solidarität zwischen Hermeneutik und Habermas zu autorisieren scheint. 42 Für die deutsche Fassung: Text und Interpretation, München 1984; die französische: Revue internationale de philosophie, Nr. 151, 1984; die englische: Dialogue and Deconstruction. The Gadamer-Derrida Encounter, Albany 1989. 43 Vgl. WM, S. 295 (= GW, I, S. 316). 44 GW, VI, S. 232, vgl. S. 241. Über das Schlagartige des Verstehens siehe auch die Antwort auf Derrida in: Text und Interpretation, GW, II, S. 357. 45 V gl. insbesondere: La voix et le phenomene, Paris 1962. 46 V gl. dazu meine neuere Arbeit: La definition derridienne de la deconstruction. Contribution au rapprochement de l'hermeneutique et de la deconstruction, in: Archives de philosophie 62 (1999), S. 5-16 sowie die Ausführungen zur Begegnung zwischen Gadamer und Derrida in: Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999, S. 365-370. 47 Vgl. H.-G. Gadamer, Grenzen der Sprache, GW, VIII, S. 359-361. 48 Vgl. J.-F. Lyotard, Le differend, Paris 1983, S. 9: «Objet. Le seul qui soit indubitable, la phrase, parce qu'elle est immediatement presupposee.» Zur
Anmerkungen
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Kritik an diesem unhermeneutischen Satzfetischismus vgl. M. Frank, Die Grenzen der Verständigung, Frankfurt a. M. 1988. 49 Gw, 11, S. 364. 50 Ebd., S. 371. 51 Theaitetos, 184e; Sophistes, 263 e, 264a.
SCHLUSSWORT Die Auseinandersetzung zwischen Derrida und Gadamer hat wenigstens einen Punkt deutlich hervorgehoben: Gegen die Universalität der Wahrheits- und Verstehenssuche wurde die Universalität des Perspektivismus, wie sie Nietzsche dem philosophischen Bewußtsein einprägte, eingeklagt. Was soll die Anstrengung nach Verstehen, wo doch alles perspektivistisch und historisch bedingt ist? Nicht selten sah man in Gadamer selber einen Anwalt des historischen Relativismus, hatte er doch selbst geschrieben, daß man nicht besser, sondern immer nur anders versteht. Wie steht es mit der Universalität dieses Andersverstehens? Macht sie nicht, zu Ende gedacht, den Wahrheits begriff zunichte? Die Gleichsetzung des Andersverstehens mit einem nihilistischen Relativismus wäre allem Anschein zum Trotz ein historisches Mißverständnis. Denn die Rede von einem Andersverstehen bleibt von der Außenperspektive gedacht. Wenn man sich die zahlreichen Interpretationsansätze in diachronischer, geschichtlicher Sicht vor Augen führt, mag es so erscheinen, daß immer und überall nur anders verstanden wurde. Von der Innenperspektive, derjenigen, die wir für uns selbst hier und jetzt in Anspruch nehmen, wird dies aber nur in einem beschränk-. ten Maß gelten. Gewiß können wir uns zum Zugeständnis aufraffen, daß das, was wir für wahr halten, eines Tages anders gesehen werden mag, so daß uns auch nichts mehr als ein provinzielles Andersverstehen b.escheinigt wird. Diese Sicht entspricht aber nicht der Auffassung derjenigen, die jeweils nach Verstehen streben und Verstehen erlangen. Jeder, der versteht, sucht ein Wahres. Das läßt sich zunächst an dem negativen Umstand exemplifizieren, daß jedermann weiß, was Lüge und Falschheit sind. Wer irrt, verkennt, wer lügt, verdreht die Wahrheit. Wahrheit positiv zu bestimmen und auszuzeichnen ist zugegebenermaßen ein viel schwierigeres Unternehmen. Dennoch erheben wir, wenn wir verstehen, einen Anspruch auf Wahrheit, und unter Wahrheit meinen wir schlicht eine sinnvolle Auskunft, die mit den Sachen übereinstimmt. Wie läßt sich aber ein solcher Wahrheits anspruch mit dem Andersverstehen zusammenreimen? Anders verstehen wir jeweils, weil wir die Wahrheit selber neu zum Sprechen bringen, wenn wir ein Wahres (eine zutreffende Behauptung, eine Kritik, eine plausible Ansicht usw.) auf unsere Situation anwenden.
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Gewiß tut das jede Zeit, eventuell jedes Individuum auf seine je eigene Weise und so "anders". Was aber jeder Verstehensversuch anstrebt, bleibt eine Wahrheit, über die sich gegebenenfalls diskutieren läßt. Ein historistischer Kurzschluß wäre es, die dabei anders aufgenommene Wahrheit für relativistisch zu erklären. Sofern die Hermeneutik von ihm sprach, war der Relativismus für sie nichts mehr als ein Gespenst,! das heißt eine Konstruktion, die Schrecken einjagen soll, die es aber nicht gibt. Denn ein Relativismus, gemeinhin verstanden als die Ansicht, daß jede Meinung über eine gewisse Sache, oder gar jedwege Sache, ebenso gut wie jede andere ist,2 wurde in der Tat nie ernsthaft vertreten. Jedenfalls nicht von der Hermeneutik. Gewiß behauptet die Hermeneutik, daß die Erfahrungen, die wir mit der Wahrheit machen, in unsere Situationen und das bedeutet: in das innere Gespräch, das wir fortwährend mit uns selbst und mit den anderen führen, eingebettet sind. Aber eben deshalb ist kein Relativismus im Sinne des extremen anything goes vertretbar. Niemand ist willens, alles als gleichberechtigt und gleichwertig zu akzeptieren. Das innere Gespräch unserer Seele, das nicht anders als situiert gedacht werden kann, widerstrebt der Beliebigkeit oder Willkürlichkeit aller Deutungen. Gerade deswegen hat es für die Hermeneutik einen Relativismus nirgends gegeben. Es sind eher die Gegner der Hermeneutik, die das Gespenst des Relativismus heraufbeschwören, weil sie in ihr eine Wahrheitsauffassung wittern, die ihren fundamentalistischen Erwartungen nicht entspricht. So fungiert in der heutigen philosophischen Diskussion der Relativismus als ein willkommener Popanz oder Schreckgespenst zugunsten fundamentalistischer Positionen, die vom inneren Gespräch der Seele abstrahieren möchten. Wer vom Relativismus spricht, setzt voraus, daß es für den Menschen eine Wahrheit ohne den Horizont dieses Gesprächs geben könnte, d. h. eine ab-solute oder eine von unseren Fragen abgelöste Wahrheit. Eine für nur relativistisch ausgegebene Wahrheit gibt es eben nur auf dem Hintergrund einer für nachvollziehbar gehaltenen absoluten Wahrheit. Wie erreicht man aber eine absolute und nicht mehr diskutierbare Wahrheit? Es wurde nie befriedigend gezeigt. Höchstens ex negativo: Diese Wahrheit soll eine nicht-endliche, nicht-zeitliche, unbedingte, unwechselbare usw. sein. Auffallend an diesen Kennzeichnungen ist die insistierende Negation der Endlichkeit. Mit Recht kann man in dieser Negation die Grundbewegung der Metaphysik erkennen. Unter Metaphysik versteht man ja, etymologisch, sachlich und historisch, die Überwindung der Zeitlichkeit. Worauf beruht aber eine solche Überwindung? Verfügen wir etwa über einen Zugang zu einer absoluten Wahrheit? Nichts wäre der Seele geneh-
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mer. Nach Heidegger gründet aber solche Transzendierung auf einer Verdrängung der eigenen Zeitlichkeit. Der Anspruch auf eine unendliche Wahrheit ergebe sich aus der Selbstnegation der Endlichkeit. Nun gehört es, wenn diese Tautologie nicht nichtssagend sein kann, zur Endlichkeit, daß sie endlich bleibt, auch und gerade wenn sie Anspruch auf Unendlichkeit erhebt. Eine nicht relative Wahrheit müßte eine absolute sein. Aus dem Fehlen einer absoluten Wahrheit folgt aber nicht, daß wir keine Wahrheit hätten. Wie die unzweifelhaften Erfahrungen der Lüge und der Falschheit bezeugen, erheben wir dauernd Ansprüche auf Wahrheit, d. h. auf Sinnhaftes, das mit den Sachen, wie wir sie in Erfahrung bringen können, in Einklang steht und wofür sich Argumente, Beweise, Zeugnisse, Feststellungen usw. mobilisieren lassen. Das zu leugnen wäre sophistisches Hirngespinst. Die Wahrheiten, an denen wir faktisch teilhaben und für die wir uns mit gutem Recht einsetzen können, sind aber weder beliebige noch absolut gesicherte. Es ist der Cartesianismus der Neuzeit, der die Wahrheit mit der methodischen Sicherung des Wissens gleichsetzen wollte. Auch diese Methode, aus der die Entfaltung der Wissenschaft reichlichen Nutzen ziehen konnte, war nicht ein Absolutes, d. h. losgelöst von den Interessen des Menschen. Sie war, wie die schöne innere Meditation um das cogito lehrt, angewiesen auf ein Gespräch der Seele mit sich selbst, in diesem Fall auf ein Streben des Menschen nach einem höheren Grad von Nachprüfbarkeit in einigen Sparten seines Wissens. Dieses nachher seinem Ursprung entwurzelte Modell wurde nun, ob seiner Erfolge, zum Maßstab allen Wissens schlechthin. Von ihm aus ist in der Tat alles andere heillos relativistisch. Das philosophische Zeitalter, für das diese Lehre maßgeblich wurde, war der Historismus. Gerade die Gefahr, die er vor Augen hatte, und die Unvertretbarkeit seiner Implikationen leiteten die nachkommende Hermeneutik dazu an, den dabei in Ansatz gebrachten Maßstab selber zu relativieren und so den Historismus auf sich selbst anzuwenden. In diesem Prozeß zeigte sich, daß das in seiner Geschichtlichkeit erkannte Wissen von einem metaphysischen oder absoluten Kriterium aus bemessen worden war. Der folgenschwere Fehlschluß lag darin, das geschichtliche Gespräch, das eine jede Seele mit sich selbst führt und in jedem Welterkennen mit fortführt, für ein Hindernis der Wahrheit zu halten. Erst die Hermeneutik entdeckte in der Geschichtlichkeit die sprechende Angel jeder Verstehensbemühung. "Die Geschichtlichkeit ist nicht länger eine Grenzbestimmung der Vernunft und ihres Anspruchs, die Wahrheit zu erfassen, sondern stellt vielmehr eine positive Bedingung für die Erkenntnis der Wahrheit dar. Dadurch verliert die
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Argumentation des historischen Relativismus jedes wirkliche Fundament. Ein Kriterium für absolute Wahrheit verlangen enthüllt sich als ein abstraktmetaphysisches Idol und verliert jede methodologische Bedeutung. Die Geschichtlichkeit hört auf, das Gespenst des historischen Relativismus herauszurufen. "3 Nur ein neuer Historismus könnte daraus schließen, daß alles denn relativ sei. Von diesem gilt es sich zu emanzipieren, wenn man der Wahrheit näherkommen will. Es war eine der wichtigsten Leistungen der Hermeneutik, das philosophische Denken, das seit Hegel im Historismusproblem steckengeblieben war, über den Rahmen einer so schief gestellten Fragestellung hinausgewiesen zu haben. Darauf deutete die hermeneutische Unterscheidung zwischen Wahrheit und Methode hin. Wahrheit gibt es auch diesseits oder jenseits des sehr engen Kreises dessen, was sich für den Menschen methodisieren läßt. Natürlich gibt es auch viel Unsinn jenseits der Methode. Verlangt man auch hier nach einem "Kriterium", um wahr von falsch zu scheiden? Was versteht man denn unter Kriterium? Etwa ein formales, untrügliches und unrhetorisches Mittel, das wir bequem und unterschiedslos auf alle Situationen anwenden könnten? Der Historismus wird hierbei nicht überwunden. Methode verdrängt immer noch die Seele. Verkannt wird, daß das Gespräch, das wir nie aufhören zu sein, nicht alles akzeptieren kann und im selben Atemzug Wahrheit an sich selbst erfährt. Diese Kritik- und Vernunftfähigkeit hat ihren Ort im verbum interius, im Selbstgespräch, das jeder Mensch für sich selber ist. Es verdient Erwähnung, daß die stoische Lehre vom Aoyor; EvöuHho'wr; gerade im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Auszeichnung der Menschengattung zum Zuge kam. 4 Nicht die Sprache oder der äußere Aoyor; unterscheide den Menschen vom Tier, denn auch tierische Wesen sind imstande, lautliche Zeichen von sich zu geben. Was uns auszeichnet, ist allein, daß hinter der Stimme eine innere Überlegung geführt wird. Sie gestattet es uns, die sich uns bietenden Hinsichten gegeneinander abzuwägen und kritisch auf Distanz zu bringen. Der Mensch ist nicht hoffnungslos seinen Instinkten oder den gerade umlaufenden Lauten ausgeliefert. Was ihn zum möglichen Menschsein befreit, ist der Freiheitsspielraum des inneren Aoyor;, das Urthema der Hermeneutik, der seit alters her Vernunft heißt und verspricht.
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Anmerkungen 1 Vgl. H.-G. Gadamer, Gw, II, S. 269, 299. Ironisch heißt es im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 10./11. 2. 1990: "Der Relativismus ist eine Erfindung von Habermas.« 2 Vgl. R. Rorty, Consequences of Pragmatism, Minneapolis 1982, S. 166. 3 Gw, II, S. 103. Vgl. ferner Gw, IV, S. 434. 4 Vgl.: Stoa und Stoiker, Zürich 1950, S. 25ff. sowie M. Pohlenz, Die Begründung der abendländischen Sprachlehre durch die Stoa, a.a.O., S. 193ff.
PERSONENREGISTER Ammonios 68 Apel, K.-O. 2lf., 30, 32,185, 19lf. Arendt, H. 22 Aristoteles 37, 40, 64, 68f., 79,148, 173 Ast, F. 91, 99, 10lf., I11f., 115 Augustinus von Dakien 49 Augustinus von Hippo 37, 50-60, 66,70-72,75,80,85,94,97, 101, 116,148 Bacon, F. 77, 80 Balbus 41 Barasch, J. 71 Baumgarten, A. G. 97 Becker, O. 20 Beetz, M. 95, 98 Behler, E. 11, 29f., 96, 112 Benn, G. 173 Betti, E. 149, 174-178, 190 Bianco, F. 190 Birtsch, G. 131 Birus, H. 113f. Blass, F. 30, 96 Boeckh, A. 16f., 36, 82, 95f., 99, 115-11~ 122, 130, 133 Boehm, G. 30, 73, 97, 112 Boethius 39, 69, 79 Bollnow, O. F. 11, 19,30, 113, 128, 132,150 Bormann, C. v. 29, 73, 94,114 Bratuscheck, E. 16 Brinkmann, H. 59, 73 Brisson, L. 11 Bubner, R. 11,22, 30f., 150 Buckle, H. T. 124 Buhmann, R. 59, 134, 175 Buren, J. van 148
Chantraine, P. 69 Chladenius, J. M. 16,26,30, 80-87, 90f., 94-97, 100, 138 Christiansen, L 70 Cicero 41, 69, Clauberg, J. 78-80, 95 Clemens von Alexandrien 39 Dahrendorf, R. 191 Danielou, J. 70f. Dannhauer,J. C. 16,35,77-81,86, 88, 94f., 100 Davidson, D. 22 Deleuze, G. 31 Demetrius 39 Derrida,J. 14,23,31,97,174, 186-189,192,195 Descartes, R. 77, 80 Dewey,J.22 Dilthey, W 13-20, 30, 35 f., 59, 66, 73 f., 77, 97, 99, 109, 112, 114, 119, 123-133, 135, 140, 148-150, 152-155,157,172 Diodor von Tarsos 50 Droysen,J. G. 13f., 17,36,99, 118-125, 130f., 133, 135, 153 Ebbinghaus, H. 125, 132 Ebeling, G. 16f., 36, 51, 59, 70f., 73 Egnatius, J. B. 65 Ermarth, M. 132 Ernesti, J. A. 97, 104 Feher, L M. 98 Feyerabend, P. 22 Figal, G. 72, 191 Figl, J. 31 Findlay, J. 68
202
Personenregister
Flacius Illyricus 16, 64-67, 74-77, 85,97 Forget, Ph. 192 Foucault, M. 31 f. Francke,1\. Ii. 97 Frank, M. 81, 95, 98,109, 113f., 193 Freud, S.28, 31f., 191 Gadamer, Ii.-G. 9,11,13-16,19-24, 29-31,36,50 f., 56-59, 62, 71-74, 76f., 93-95, 97, 105, 109, 112, 114, 122, 130, 132, 148-184, 186f., 189, 190-192,195,199 Galenus, Ch. 50 Geldsetzer, L. 30, 74, 95-97 Gerhardt, V. 31 f. Gethmann, C. F. 29f., 149 Giurlanda, P. 191 Goethe, J. W. 100 Goodman, N. 22 Grondin, J. 31, 72, 191 Gusdorf, G. 73, 97 Iiabermas,J. 14, 22f., 27f., 30f., 33, 36,58,168,174,178-186,189, 192 Iiahn, L. E. 72 Iiartmann, N. 21 Iiasso Jaeger, Ii. E. 30, 69, 71, 74, 78, 95,97 Iiegel, G. W. F. 24, 30, 33, 197 Iieidegger, M. 10f., 13-15, 19-24, 29f~3~50-52,71-73,9~
132-153, 156-158, 160, 162, 165, 173, 175, 185, 187 f., 197 Iielmholtz, Ii. 154f. Iienrich, D. 171 Iieraklit 187 Iiesiod 69 Iiinrichs, W. 113 Iiippokrates 50 Iiirsch, E. D. 190 Iiider, 1\. 25 Iiomer 69
Honneth, A. 31 Iiörisch, J. 29, 112 Iiübener, W. 113 Iiübner, R. 17, 118, 130 Iiusserl, E. 20f., 126, 132, 150, 172 Iser, W. 171, 174 James, W. 22 Jaspers, K. 22, 149 Jauß, Ii. R. 174 Joas, Ii. 31 Johannes Cassianus 49 Johannes Chrysostomos 50 Kaegi, D. 73 Kam, I. 26f., 36,68,81, 100-103, 112, 11~ 11~ 124, 155, 173, 176f. Kerenyi, K. 69 Kimmerle, Ii. 113 f. Kisiel, T. 30, 148 Klauck, Ii.-J. 69f. Knape,J.73 Kolf, M. C. van der 69 Koselleck, R. 174, 190 Kuhlmann, W. 31 Kuhn, T. 22, 173 Kühne-Bertram, G. 150 Leibniz, G. W. 85, 87f., 90f., 96, 100 Lessing, Ii.-U. 11, 132 Lipps, Ii. 21,150 Longinus 69 Löwith, K. 20 Lubac, Ii. de 59, 69-71, 73 Lücke, F. 16,81,93,104 Lukacs, G. 21 Luther, M. 15f., 50, 59-62, 64, 68,76 Lyotard,J.-F. 31,189,192 Marx, K. 21, 28,31 f. Meier, G. F. 16,26,30,80,86-91,94, 96f.,100
Personenregister Melanchthon, Ph. 37, 62-67, 73-76, 85,87, 90f., 101 Merleau-Ponty, M. 22 Mill, J. S.124 Misch, C. 131 Misch, G. 18, 128, 132, 150, 154 Mohanty, J. N. 148 Müller-Lauter, W. 31 Natorp, P. 131 Nietzsche, F. 22, 26-28, 3lf., 151, 187,195 Odebrecht, R. 114 Oelmann, F. 69 Origenes 46-48, 50, 67, 70, 75 Otte, K. 70 Peirce, C. S.22, 30 Pepin, J. 36, 68-70 Pfeiffer, J. E. 80 Pflug, G. 95 Philo von Alexandrien 39, 43-45, 47f., 50, 69f., 75 Platon 38, 40-42, 59, 70, 74, 89, 102, 183, 187, 190, 192 Pleger, W. H. 113 f. Pöggeler, O. 20, 29, 71, 97, 190 Pohlenz, M. 68 f., 199 Pseudo-Herakleitos 42, 69 Quine, W. V. O. 22 Rambach, J. J. 92 f., 97 Ranson, P. 71 Redeker, M. 17 Rentsch, Th. 148, 170 Ricreur, P. 13, 28f., 32,132,171,181, 191 Riedel, M. 11,22,31,132,151 Ritter, J. 22 Rodi, F. 11,30,130,132,148, 150 Rorty, R. 22,31,199 Rosen, S.31
203
Rothacker, E. 154 Rüsen, J. 131 Sallis, J. 31 Sartre, J. -P. 22 Schäublin, eh. 71 Scheler, M. 21 Schelling, F. W. J. 101 Schiller, F. 100 Schlegel, F. 29, 96, 99, 101-103, 105f.,112 Schleiermacher, F. 13-17,30,34,37, 52, 59, 64, 68, 73, 81, 91, 93, 95, 97-100,102-117,128,133, 142f., 146-148 Schmidt, D. 72, 191 Schnädelbach, H. 31 Schneider, J. R. 73f. Schrift, A. D. 31 Schulz, W. 11, 164, 171 Scott, C. 31 Shahan, W. 148 Sheehan, Th. 148 Simon, J. 11 Simon, R. 74 Simplicius 64 Simpson, E. 31 Spinoza, B. 94, 100 Szlezak, T. 70 Szondi, P. 29, 99, 112 Taran, L. 68 Theodor von Mopsuestia 50 Theodoret von Kyrrhos 50, 71 Thomas von Aquin 49 Thurnher, R. 149 Trendelenburg, A. 17 Tymieniecka, A.-T. 172 Viciano, A. 11, 71 Virmond, W. 112 f. Wach,J.74 Wartenberg, Graf Yorck von 129
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Personenregister
Weber, M. 154 Wiggershaus,Il.190 Willich, E. von 112 Winckelmann, J. J. 100 Wittgenstein, L. 9, 22, 179, 184
Wolf, F. A. 82, 95 Wolff, C. 16, 80, 100 Xenophanes 42 Xenophon41