Monika Wittenberg
„Einfach nichts tun – das geht auch nicht!“ Aus einem südafrikanischen Tagebuch Aufzeichnungen und B...
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Monika Wittenberg
„Einfach nichts tun – das geht auch nicht!“ Aus einem südafrikanischen Tagebuch Aufzeichnungen und Briefe, 1985 – 1989
Mit einem Vorwort von Bischof Dr. Martin Kruse. Eingeleitet von Rudolf Hinz, ausgewählt und bearbeitet von Rainer Kiefer und Christine Stolpmann, veröffentlicht vom Evangelischen Pressedienst.
GEP-Buch im J. F. Steinkopf Verlag, Stuttgart
(epd-TEXTE ; Bd. 19) (GEP-Buch) ISBN 3-921766-39-7 (GEP) kart. ISBN 3-7984-1016-X (Steinkopf) kart. NE: Evangelischer Pressedienst «Frankfurt, Main»: epd-TEXTE Satz: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) Druck und buchbinderische Verarbeitung: Offsetdruck Boschen, Frankfurt am Main © 1989 by Gemeinschaftswerk der Evang. Publizistik e. V. (GEP), Abt. Verlag, Friedrichstr. 2-6, 6000 Frankfurt am Main.
Alle Rechte vorbehalten. Vertrieb im Buchhandel: J. F. Steinkopf Verlag, Stuttgart. Die Reihe „epd-TEXTE“ wird verantwortet von der Zentralredaktion des Evangelischen Pressedienstes (Chefredakteur: Hans Hafenbrack), Redaktion epd-Dokumentation (verantwortlicher Redakteur: Wulf Röhnert), Friedrichstraße 2-6, 6000 Frankfurt am Main. Die Ausgaben 1 – 18 der Reihe sind unter der Bezeichnung „epd-Dokumentation“ erschienen.
Pfarrersfrau Monika Wittenberg erlebt in Pietermaritzburg die Apartheid und den Kampf dagegen hautnah: Ihr Sohn, führendes Mitglied der UDF, taucht unter, wird gesucht, verhaftet, wieder freigelassen; schwarze Kinder und Jugendliche klopfen an, bitten um Unterkunft. Monika Wittenberg hilft, wo sie kann. Und sie führt Tagebuch, schreibt Briefe an Freunde und Verwandte. Aufzeichnungen und Briefe von 1985 bis 1989. Mit einem Vorwort von Bischof Dr. Martin Kruse. Eingeleitet von Rudolf Hinz, ausgewählt und bearbeitet von Rainer Kiefer und Christine Stolpmann.
Vorwort
An Informationen über Südafrika scheint – trotz südafrikanischer Zensur – kein Mangel zu sein. Was aber kann die festliegenden Positionen in unserer Gesellschaft in Bewegung bringen? Mir scheint es notwendig zu sein, daß wir uns auf Geschichten von Erfahrungen und persönlichen Begegnungen, die bewegend sind, einlassen. Dazu gehören für mich die Rundbriefe und nun auch veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen von Frau Monika Wittenberg. Sie lassen mich mitempfinden, wie hart die Mauer des Schweigens und Nichtwissens zwischen Weißen und Schwarzen im Lande ist. Frau Wittenberg schildert, wie es ihr selbst und zunehmend auch ihrer Familie erging, als sie versuchte, diese Mauer zu durchdringen, genau hinzusehen, dorthin zu gehen, wo die Menschen leben, die unter den Unrechtsverhältnissen dieses Landes leiden. Hier schreibt kein politischer Feuerkopf, sondern eine Frau, eine Mutter, eine Christin, die sich ein Herz faßte auf dem Weg der Nachfolge unseres Herrn. Frau Wittenberg hat dabei nicht nur das Wachsen ihres Bewußtseins für die Probleme beschrieben, sondern sie hat ihren Freunden und Verwandten zu vermitteln versucht, wie bereichernd die Begegnungen mit den Nachbarn hinter der Mauer sind. Dabei wird erschreckend deutlich, wieviel Chancen der Gemeinschaft unter den Bedingungen der Apartheid vertan werden.
Ich wünsche ihren Zeugnissen weite Verbreitung, damit sie zum Verständnis, zum Dialog, zur Verständigung beitragen. Auf diesem Boden kann eine friedliche Zukunft Südafrikas wachsen. Bischof Dr. Martin Kruse Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
Zur Einführung
Als ich Monika Wittenberg im Dezember 1984 zum ersten Mal besuchte, zeigte sie mir Tagebuchnotizen, die sie an eine Reihe von Freunden und Verwandten geschickt hatte. Sie hatte gerade bei der Pietermaritzburg Agency for Christian Social Awareness (PACSA) mitzuarbeiten begonnen. Die Mitarbeit in dieser Organisation, die vor allem innerhalb der weißen Kirchen über die ungerechten Verhältnisse im Apartheidstaat aufklären und über daraus erwachsene Herausforderungen für den christlichen Glauben nachdenken und entsprechend handeln will, hatte ihr einen Zugang zu den Problemen der schwarzen Umwelt des weißen Pietermaritzburg verschafft, der den meisten Weißen Pietermaritzburgs weitgehend verschlossen bleibt. Sie hat diese Entdeckungsreise in die nächste Nachbarschaft und ihre eigene Entwicklung in diesem Prozeß in ihren Tagebüchern und Rundbriefen sehr genau und spannend beschrieben. Schon bei meinem zweiten Besuch in Pietermaritzburg erlebte ich mit, wie tief sich Monika Wittenberg – und mit ihr die ganze Familie – auf die tiefen menschlichen Probleme der schweren Unruhen der jüngsten Vergangenheit eingelassen hatte. Sie konnte mich nur mit Mühe unterbringen, denn sie hatte schon fünf jugendliche Schwarze im Haus, die sich in den Townships ihres Lebens nicht mehr sicher waren. Über Wochen und Monate hin war ihr Haus ein „sanctuary“, ein Zufluchtsort für Verfolgte. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit in der PACSA sind Besuche im Gefängnis, zu denen sie Mütter und Ehefrauen begleitet, die ihre Männer und Kinder dort besuchen. Eines Tages ist sie
dann nicht mehr schützende Begleiterin, sondern selbst Betroffene: ihr Sohn Martin gehört selbst zu den aus politischen Gründen Verhafteten, den sie regelmäßig besucht und auf dessen Freilassung sie sehnsüchtig wartet. Sie nimmt den Leser in diese neue Phase echter persönlicher Betroffenheit mit hinein. Sie gehört jetzt selbst zu den Opfern. Ihr Engagement geht an ihr und an ihrer Familie nicht spurlos vorüber. Anonyme nächtliche Telefonanrufe und Morddrohungen gehören fortan zum Alltag der Familie. Zum beklemmenden Bild gehört auch die wachsende Isolierung von den „eigenen Leuten“, von nächsten Angehörigen. Nur vereinzelt entstehen neue Freundschaften und werden alte vertieft. Monika Wittenbergs Tagebuchnotizen und Rundbriefe sind ein Stück Zeitgeschichte Südafrikas. Sie dokumentieren aus sehr persönlichem Erleben Momentaufnahmen aus der Zeit des Ausnahmezustandes von 1985 bis 1988 in dem besonderen Krisengebiet Südafrikas im Süden Natals. Wir konnten nur einen Ausschnitt der Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Rundschreiben in diesem Buch aufnehmen. Die Auswahl der Texte und ihre Bearbeitung verdanken wir Rainer Kiefer und Christine Stolpmann. Sie haben die Texte nur sehr behutsam gekürzt und bearbeitet. Sie sollten nichts von ihrer Unmittelbarkeit und Originalität verlieren! Monika Wittenbergs Buch macht betroffen. Aber manchmal muß man auch lachen. Sie erzählt mit Mutterwitz und Humor, den sie auch in der Zeit, als schwarze Jugendliche während der Abwesenheit der Wittenbergs in ihrem Haus lebten, beweist: Mit kritischem Blick sieht sie sich nach der Rückkehr die Bescherung an und sagt den betroffenen comrades: „Wer Befreiung will, der muß auch in kleinen Dingen Verantwortung tragen, darf deshalb also auch nicht das
Aufräumen der Mutter und den Frauen überlassen.“ Auch das werden die jungen Leute ihrer deutschen Mutti nicht vergessen! Rudolf Hinz, Hannover
Erläuterungen
Die Familie Wittenberg – Monika und Günther Wittenberg haben vier Kinder: Martin, geb. 1962, das politisch aktivste und durch seine Verhaftung und die Proteste dagegen auch bei uns bekanntgewordene Familienmitglied, sowie die Töchter Inge, Gertrud und Reinhild; die jüngste war während der hier dargestellten Ereignisse noch nicht volljährig. Zu Beginn des Buches erzählt Monika Wittenberg von ihrer und ihres Mannes Jugend und den Motiven, die sie bewegen: „Wie ich in den struggle geraten bin.“ Namen – die Eigennamen der im Buch erwähnten Personen wurden, mit Ausnahme weithin bekannter „Personen der Zeitgeschichte“, von den Herausgebern aus unterschiedlichen, vor allem rechtlichen, Gründen geändert. Pietermaritzburg – Großstadt in der südafrikanischen Provinz Natal. Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen zwischen der Zulu-Organisation Inkatha und der von ihr bekämpften UDF, zu deren führenden Leuten in der Stadt Martin Wittenberg zählt (zur Information: epd-Dokumentation Nr. 16/88 vom 11. April 1988). Skizze der Stadt am Schluß des Buches. Ubunye-Haus – „Haus der Einheit“, ein kleines ökumenisches Zentrum in Pietermaritzburg; es beherbergt das Regionalbüro des Südafrikanischen Kirchenrates, ein Büro von InterChurch Aid, eines Entwicklungshilfeprogramms des Kirchenrates, ein Büro von Black Sash, und die Büroräume von PACSA. PACSA – „Agentur für christlich soziales Bewußtsein in Pietermaritzburg“, eine Organisation von Christen, die vor allem innerhalb der „weißen“ Kirchen über die ungerechten
Verhältnisse im Apartheidstaat aufklären und über daraus erwachsende Herausforderungen für den christlichen Glauben nachdenken und entsprechend handeln wollen. Hier arbeitet Monika Wittenberg mit. Black Sash – „Schwarze Schärpe“, eine in den fünfziger Jahren von weißen Frauen gegründete Organisation, die neben politischer Arbeit auch versucht, mit Hilfe von Rechtsberatungsbüros in inzwischen vielen südafrikanischen Städten die geringen legalen Möglichkeiten so weit wie möglich auszuschöpfen, die Schwarzen im derzeitigen System bleiben. KwaZulu – (nicht-„unabhängiges“) schwarzes Homeland in Natal; Mangosotho Gatsha Buthelezi ist Chief Minister, also etwa ‘Ministerpräsident’ von KwaZulu, so daß KwaZulu fest von Inkatha regiert wird. Inkatha – eine einflußreiche Organisation der Zulus in Natal und KwaZulu. Ihr Führer ist der Ministerpräsident von KwaZulu, Mangosotho („Gatsha“) Buthelezi. Seit 1985 gibt es blutige Rivalitätskämpfe zwischen den Anhängern der InkathaBewegung und Anhängern der Vereinigten Demokratischen Front (UDF). UDF – „United Democratic Front“, multirassische Dachorganisation oppositioneller Gruppen. COSATU- „Congress of South African Trade Unions“, Dachverband unabhängiger Gewerkschaften.
1989 Wie ich in den „struggle“ geraten bin Brief an den Herausgeber, 14. Januar 1989 Lieber Rainer, über Deinen Brief freute ich mich sehr, vielen Dank! Ich frage mich, ob in dem Buch auch herauskommt, wieso jemand wie ich, eine deutschsprechende Südafrikanerin, in den „struggle“ geraten ist. Deshalb folgt hier ein Abriß meines Lebenslaufes: Wir beide, mein Mann und ich, wurden 1935 in Tansania geboren, als Kinder von Betheler Missionsleuten, in Ndolage am Victoriasee. Deutlich erinnere ich mich an den Tag Anfang 1940, als sechs bewaffnete Soldaten meinen Vater in die Internierung abholen kamen. Ehe er mitging, machte er erst seine Arztvisite fertig. Alle deutschen Männer kamen in das Internierungslager Andalusia bei Kimberley (in Südafrika); die Frauen und Kinder waren die ersten Bewohner des HarareTownship bei Salisbury (in Rhodesien, heute Simbabwe). Wir hatten übrigens eine fröhliche Kindheit im Lager, viele Spielkameraden und eine gute Schule. 1945, nach Kriegsende, kamen wir in das zaunlose Fliegerlager Norton; König Georg VI. war zu anständig, die mehr als 3.000 Deutschen in das kaputte und hungernde Deutschland zurückzuschicken. Zwei Jahre blieben wir dort. Die Kirchen wachten auf und baten die Regierung, die Missionare einsetzen zu dürfen. So kamen wir 1946 auf die Dutch Reformed Missionsstation Morgenster, in der Nähe der Simbabwe-Ruinen. Wenn einer mich fragt, wie ich mir das Paradies vorstelle: Dort sah ich es! Landschaftlich so schön, alles im Haus, was der Mensch zum
Leben braucht, Blumen im Garten, Obst an den Bäumen und völlige Freiheit! Im Fluß konnten wir schwimmen – nur nicht am Sonntag! – und viele Male pilgerten wir zu Fuß zu den Ruinen des untergegangenen Simbabwe. 1947 hieß es: Alle Deutschen werden repatriiert. Wir mußten packen. Die Missionsleute fanden das unglaublich, wir sollten einfach bleiben. Mein Vater war obrigkeitsgehorsam und ging. Die Missionsleute hatten dann die Idee, bei General Smuts vorstellig zu werden. Sofern die Missionsgesellschaften Arbeit und Brot garantierten, durften Deutsche im Land – nämlich Südafrika – bleiben. Also blieben viele deutsche Missionsfamilien anfangs schweren Herzens in Südafrika. Einen deutschen Arzt wollte niemand nach dem Krieg. So verbrachten wir zwei schwere Jahre der Arbeitslosigkeit und Armut in einem Ferienhaus der D. R. Mission in der Kapprovinz. Das achte Kind meiner Eltern starb dort. Die afrikaanse Schule machte keinen Spaß. 1949 bekam mein Vater endlich einen Arztposten in Derdepoort im Transvaal, wo der Maricofluß die Grenze zu Botswana bildet. Ein Farmer, durch Viehschmuggel sehr reich geworden, hatte ein Grundstück und Geld für ein Missionshospital geschenkt. Es lag weitab von aller Zivilisation. So mußten wir Kinder afrikaanse Internate besuchen. Dort rutschten wir gründlich in das Apartheiddenken der Umgebung hinein. Im Verwoerd-Krankenhaus in Pretoria, wo ich Krankenpflege lernte, änderte sich das auch nicht. Fleißig sparte ich in diesen Jahren für eine Deutschlandreise. Erst in Deutschland erfuhr ich, was in der Hitlerzeit und im Krieg alles passiert war. Was für ein großer Schock! In Südafrika bildeten wir uns etwas ein auf unser Deutschsein. Schon bald beschloß ich, die Gemeindehelferinnenausbildung zu machen. Statt Kommentare las ich im Seminar zunächst fieberhaft alles, was ich finden konnte, über den Widerstand
und die Judenverfolgung. Immer wieder fragte ich Verwandte und Freunde: „Konnte denn niemand das verhindern?“ Ich bekam zwei Antworten: „Wir wußten nichts davon“, oder „Es war viel zu gefährlich, etwas dagegen zu sagen oder zu tun.“ Wie erleichtert war ich zu erfahren, daß mein Onkel bei Bonhoeffer zeitweilig mitgearbeitet hat! Mit großer Scham entdeckte ich bei mir selbst zu der Zeit, wie tief eingefleischt der Rassismus in mir saß, als ich mit zwei Inderinnen das Waschbecken teilen mußte, die ich dann sehr schätzen lernte. Zwei Jahre arbeitete ich als Gemeindehelferin in Gettorf bei Kiel, eine sehr wertvolle Erfahrung. Zur gleichen Zeit studierte Günther Wittenberg in Deutschland Theologie, weil man in Südafrika als Weißer solch eine Ausbildung als Lutheraner nicht machen konnte. Seine und meine Verwandten waren von jeher gut Freund. Wir verlobten uns 1959 in Bethel. Ein Theologiestudium braucht so viel Zeit! Ich beschloß, den geplanten Hebammenkursus in England zu machen. Von den elf Schwestern im Kursus waren vier weiß und sieben schwarz. Im Nachtdienst mit einer Jamaicanerin erlebte ich, daß es möglich ist, eine Person so gut zu kennen, daß man vergißt, daß sie schwarz ist. Meine Schulindoktrination war gewichen. Ende 1961 war die Hochzeit in Bethel, 1962 wurde unser Martin in Bethel geboren. Nach der Ordination 1963 packten wir die Koffer. Das Kirchliche Außenamt vermittelte uns die Seereise unseres Lebens: durch den Suezkanal an der afrikanischen Ostküste entlang. In Durban stieg ein großer Teil der Gruppe aus, wir fuhren weiter nach Kapstadt. Die kleine deutsche Gemeinde Bellville wurde unsere erste Liebe. Sechs glückliche Jahre verbrachten wir dort, zwei Töchter wurden uns geboren in der Zeit. Kleine Anfänge der Partnerschaft mit „farbigen“ Gemeinden wurden begonnen, der erste braune Pastor bestieg eine weiße Kanzel, es war ein zäher Kampf. Manche Predigt
meines Mannes, die zur Sinnesänderung einlud, gefiel nicht. 1970 schickte die Kirche uns nach Deutschland. Mein Mann sollte promovieren und sich vorbereiten, die Ausbildung einheimischer Pastoren in die Wege zu leiten. Das ist ein Kapitel für sich! Drei wunderschöne Jahre verbrachten wir im hübschen schwäbischen Städtchen Herrenberg, nicht weit von der Tübinger Universität, wo unser viertes Kind geboren wurde. Pietermaritzburg wurde der Ort, wo die Pastorenausbildung eingefädelt wurde. Seit 16 Jahren wohnen wir nun hier. Als Familie waren wir uns schmerzhaft der großen Ungerechtigkeiten im Lande bewußt und der Trennung, die in Freundschaft und auch Familie entstehen kann, wenn man nicht unbeteiligt daneben stehen möchte. Durch Martins Einsatz, als Student, gerieten wir in das Blickfeld der Geheimpolizei. Wir fingen an, merkwürdige Dinge zu erleben, die ich in meinen Tagebüchern festhielt. Auch hier erleben wir, wie viele Leute nicht „wissen“, was los ist, oder es, wenn nicht gerade gefährlich, so doch viel zu ungemütlich finden, etwas dagegen zu sagen oder zu tun, daß andern Menschen Unrecht geschieht. Oft wird uns vorgeworfen, wir seien der „Obrigkeit nicht gehorsam“. Was wir sagen und tun, möchte aber gerne aus dem Verständnis heraus geschehen, daß wir die Leute, denen Unrecht geschieht, als die „geringsten Brüder (Geschwister) Jesu“ ansehen, die selber keine Stimme haben, weil sie ihnen genommen oder nicht gegeben wurde. Ich möchte, daß meine Nachkommen und Verwandten eines Tages so erleichtert sein können, daß wir nicht Teil des Systems waren, wie ich es war, als ich entdeckte, daß mein Onkel zur Bekennenden Kirche gehört hatte. Herzliche Grüße! Deine Monika
1985 Die große Lüge herrscht im Land
Brief, Pietermaritzburg, Juni 1985 Ihr lieben Verwandten und Freunde! Ihr hört, seht und lest alle die beunruhigenden Nachrichten aus unserem Land und wißt, wie schwierig die Lage hier ist. Die Kommunikationslücke zwischen schwarz und weiß, arm und reich und Gruppen verschiedener politischer Überzeugung klafft immer weiter auseinander und scheint unüberwindbar zu sein. Wir merken das an den Reaktionen nach dem Überfall in Botswana. Ein großer Prozentsatz der Weißen fand, daß es nicht zu umgehen war. Wir unterhalten uns im Dezember darüber. Bald bin ich nun schon ein Jahr bei PACSA (Pietermaritzburg Agency for Christian Social Awareness). Ich habe die kleine Leihbibliothek auf Vordermann gebracht und bin so ein bißchen „Mädchen für alles“ in dem Betrieb. Es macht viel Freude. Eigentlich wendet PACSA sich an die weißen Kirchen. Obwohl unsere Mitgliedschaft auf dem Papier sehr wächst, haben wir möglicherweise im Bereich der weißen Kirchen nicht viel Erfolg. Der Besucherstrom, besonders von schwarzen Jugendlichen, deren Vertrauen wir offensichtlich genießen, reißt jedoch nicht ab. Das freut uns. Von „offizieller“ Seite genießen wir dieses Vertrauen allerdings nicht, das merken wir verschiedentlich sehr deutlich. Bei unserer Jahresversammlung, auf der Beyers Naude eine Rede hielt, wurden wir von gegenüber gefilmt und „Agenten“
saßen unter uns. Sue, meine Kollegin, und ich fanden: wie gut, daß wir unsere Sonntagskleider anhatten! Das Schöne am Ubunye-House ist, daß wir farbenblind sind. Wir arbeiten und trinken Tee und schwatzen miteinander – ohne Unterschied. So etwas könnte im ganzen Land möglich sein! Vorne im „Haus der Einheit“ ist ein Büro für Arbeitsbeschaffung – ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Büro ist so stark besucht, daß es morgens kaum möglich ist, durch die Einfahrt zu fahren. So viele Menschen warten dort. Hinten im Haus ist das „Black-Sash-Advice-Office“, wo Menschen geholfen wird, die zu Hause oder bei der Arbeit Probleme mit dem Paß, mit der Miete oder mit Entlassungen haben. Was man da alles an Elend sieht und hört! Das eine wird immer wieder deutlich: Firmen haben nur ein Interesse – Profite. Dutzende, wenn nicht Hunderte, werden als Folge der Rationalisierung entlassen. Ihr Schicksal kümmert die Firmen nicht weiter… Tagebuch∗ Bruder Manfred ist zu einem christlichen Ärztekongreß in Pietermaritzburg. Er besucht uns zum Abendbrot. Es wurde angekündigt, daß P. W. Botha um acht Uhr eine Rede an sein Volk zu halten wünscht. Zu diesem Ereignis laden uns die drei Tanten zum Fernsehen ein. Wir sehen und hören, wie unser Staatsoberhaupt den Ausnahmezustand erklärt. Das bedeutet im Klartext: 1. Verhaftungen werden möglich, ohne daß Bescheid gegeben zu werden braucht. 2. Die „Obrigkeit“ darf nicht verklagt werden. 3. Zeitungen dürfen fast nichts berichten. ∗
Versehentlich falsch plaziert: Eintragung vom Okt. 1986
4. Hausdurchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl sind möglich. Die Nachrichten zeigen Allan Boesak auf der Beerdigung in Cradock. Ungefähr 100.000 Menschen haben an dieser Beerdigungsfeier teilgenommen. Boesak wurde vor dem Hintergrund einer roten Fahne mit Hammer und Sichel gezeigt. Auch Beyers Naude ist danach kurz zu sehen, auch vor dieser Fahne und mit den Händen wedelnd. Ehe sein Bild verschwunden ist, wird die grausame Lynchaktion an der armen kleinen Skosona gezeigt, so als ob Beyers nicht weit davon entfernt wäre und halb damit zusammenhinge… Dieser Eindruck ist bei vielen Zuschauern auch wirklich entstanden, wie wir später schmerzlich merken. Black Sash in Cradock hat sich große Mühe gegeben herauszufinden, woher eine solche Fahne hat kommen können – es war jedoch nicht herauszufinden. Der Verdacht drängt sich auf, daß es bestimmten Leuten ganz gut in den Plan paßte, Boesak und Beyers auf diese Weise in Mißkredit zu bringen; es machte sich einfach zu gut vor den Fernsehkameras. Martin ist mit einer großen Gruppe von UDF-Leuten aus Natal zum Begräbnis dieser vier ermordeten UDF-Führer gefahren. Zu unserer Erleichterung hörten wir, daß die Polizei tatsächlich diesmal Abstand gewahrt hatte. Die Organisation soll fabelhaft geklappt haben, und die Stimmung war die einer großen Solidarität zwischen all den Leuten aller Rassen, die dorthin gekommen waren. Am Abend ruft Burghardt mit der schrecklichen Nachricht an, daß Hans Denkers an der Grenze tot aufgefunden wurde. Später stellte sich heraus, daß er sich selber das Leben genommen hat. Er hatte wiederholt gesagt, daß er niemals einen anderen Menschen erschießen könnte. (Es soll sehr viele Selbstmorde und -versuche in der Armee geben.)
Schließlich noch ein wenig über unsere eigenen Erlebnisse. Nach wie vor muß Martin vorsichtig sein. Immer mal wieder merken wir, daß wir nach der Verhängung des Ausnahmezustandes noch nicht ins normale Leben zurück können. Martin fängt aber wieder an, Treffen zu organisieren. Das tut uns allen gut. Die Lähmung, die uns alle befallen hat, muß langsam weichen. Wir überlegen nur, was man tun kann, um Menschen aufmerksam zu machen. Die große Lüge herrscht im Land. Seit der Verhängung ist alles viel ruhiger. Es wird immer deutlicher, daß wir im Grunde genommen schon vom Militär beherrscht werden. Aber einfach nichts tun das geht auch nicht. So entwickeln wir einige Ideen. Martins Geburtstag rückt näher. Ich überlege, ob er zu Hause feiern und auch übernachten könnte, denn am Sonntag feiern wir die Konfirmation unseres Neffen Sven. Der Junge hatte sich einer schweren Hirnoperation unterziehen müssen, nachdem ein schnellwachsender Tumor entdeckt worden war. Es geht ihm inzwischen schon viel besser, so daß er wieder sieht, anfängt zu reden und lebhaft am Leben teilnimmt. Zwei Tage vor dem Geburtstag hält ein blauer Lieferwagen vor unserem Haus. Als der Wagen dreht, meine ich, im Dunkeln Berger zu erkennen. Berger fährt immer mal wieder die Burgerstreet entlang. Das ist eine gute Warnung: also besser nicht nach Hause kommen! Wir feiern Martins Geburtstag dort, wo er untergekommen ist. Einige seiner indischen Freunde kommen auch. Es ist ein riesig netter Abend. Allerdings mußte die alte Mutter aufgeklärt werden, warum der junge Mann nun anders heißt. Als er ankam, wohnten noch andere Jugendliche dort – so bekam er einen neuen Namen. Am Sonntag holten wir Martin dort ab und fuhren zusammen nach Durban und feierten die herzbewegende Konfirmation des fröhlichen, kranken Jungen. Es war ein Erlebnis, das wir für nichts hätten missen
mögen. Solche Erfahrungen rücken einem einmal wieder die Perspektiven des Lebens zurecht. Man weiß wieder, was wichtig und was unwichtig ist im Leben, und wofür man so sehr dankbar sein kann. Um der Ehrlichkeit und Objektivität willen muß ich diese unangenehme Geschichte auch noch berichten: Eine Arztfrau, die ich von „Marriage Encounter“ kenne, rief mich an, weil ich für sie eine große Hochzeitskerze verzieren soll. Sie kam und erzählte mir, während wir mit dieser schönen Bastelei beschäftigt sind, was der Familie ihres Anstreichers passiert sei. Die 16jährige Tochter ging zu jener Maifeier, die Inkatha veranstaltete. Nach der Ermordung eines jungen Aktivisten zogen eines Nachts 20 Jungen vor das Haus des Anstreichers und verlangten das Mädchen. Aus Angst hatte das Mädchen schon woanders geschlafen. Diese Jungen sollen dann Benzin in das Haus geworfen und gedroht haben, es anzuzünden, falls man ihnen das Mädchen nicht ausliefere. Der Vater hatte die schreckliche Wahl. Er holte dann das Mädchen und sie wurde vor den Augen der Eltern und Geschwister von den 20 jungen Leuten erstochen. Die Jugendlichen sollen Haschisch geraucht haben, ehe sie dies taten. Der Anstreicher lief laut weinend zu der Arztfamilie und erzählte, was geschehen war. Die ganze Familie fand, ich müsse diese Geschichte erfahren, denn wir seien „Freund“ mit den Leuten, die dies getan haben. Zunächst mußte ich ganz einfach die Schrecklichkeit der Geschichte zugeben. Allerdings war nichts davon in der Zeitung erschienen. Das kam mir merkwürdig vor, denn schließlich wird in der Zeitung mit Wonne aufgegriffen, was der UDF schaden könnte. Auch versuchte ich zu berichten, was vorher bereits alles an ebenso scheußlichen Taten geschehen war. Ich mußte jedoch feststellen, daß meine Gesprächspartnerin meinen Geschichten nicht zuhörte. Ihre Ohren waren verschlossen. Das ist auch verständlich.
Schließlich kannte sie diesen Mann, und sein Leid ist wirklich unvorstellbar. Aber wir haben pausenlos gegen Gewalt geredet… Ich warte immer noch auf eine Liste mit Namen von Leuten, die an dieser Tat beteiligt waren. Keiner der Inhaftierten ist bisher einer solchen Tat angeklagt worden. Ich bin sehr dankbar, daß ich diese Geschichte erst viel später erfahren habe, als „unsere Jungs“ schon in Haft waren. Vielleicht wäre andernfalls mein Mißtrauen zu groß gewesen… Jedenfalls ist eine sehr böse Saat gesät worden, die aufgeht. Patrick kommt und erzählt uns Dinge, die ihn – und dann auch uns – beunruhigen. Es war in den Ferien in Kapstadt auf der SUCA-Konferenz. Er war so bewegt vom Squattercamp Crossroads, daß er einfach weinen mußte. Zu Hause hat die „Special Branch“ sich Mühe gegeben, seinen Venda-Namen ausfindig zu machen – das war wohl nicht so einfach. Mit dieser Information gingen die Polizisten zu seiner Mutter und fragten sie: „Was macht dein Sohn?“ – „Er studiert in Pietermaritzburg.“ „Was studiert er denn?“ – „Er studiert die Bibel.“ „Er studiert nicht die Bibel, er gehört zu einer kommunistischen Institution, und er lernt dort schlechte Dinge.“ Die Polizisten setzten der Mutter so zu, daß sie ihnen eher glaubte als ihrem eigenen Sohn. Das hatte große Spannungen zur Folge. Patrick hält es recht lange bei uns aus, es ist sehr nett mit ihm. Die beiden Studenten aus Venda haben bei dem Examen im Juni besser abgeschnitten als die anderen, auch als die Weißen.
Ein Koffer, in dem es verdächtig klickt
Tagebuch, 31. Juli 1985 Martin hat auf seinem Kalender am Telefon Namen und Notizen entdeckt. Er macht mir klar, daß das nicht sein darf. Man weiß ja nie… Er kramt und kramt und überreicht mir schließlich eine Mappe, die ich verstecken soll. Die über 1.000 Inhaftierten sind hauptsächlich UDF-Leute. Die Regierung will mit aller Macht die UDF lahmlegen. Immer deutlicher wird in den Medien gesagt, daß die UDF die Schuld an den Unruhen trage.
Tagebuch, 2. August 1985 In der Frühe hole ich die Zeitung herein und lese die Überschrift: Victoria Mxenge ermordet! – Sie starb auf ähnliche Weise wie ihr Mann vor vier Jahren, dessen Mörder man nie gefunden hat. Wie wird Martin erschüttert sein. Martin ist schneeweiß und wirkt sehr überanstrengt. An den vielen Telefonaten merken wir, daß er großes Vertrauen genießt. Im PACSA-Büro können wir lange nichts anderes tun, als über den Tod der Victoria Mxenge zu reden. An diesem Nachmittag tragen Gerd und Heike in Pretoria ihren Sohn zu Grabe. Ich denke sehr an sie. Beim Blumengießen im Garten überlege ich genau, wie ich handeln würde, falls der berüchtigte „knock on the door“ kommen würde, und wen ich alles anrufen würde.
Tagebuch, 3. August 1985 Am Nachmittag ist die Veranstaltung der ECC. Molly Blackburn aus dem Ostkap und Dr. Ivan Tomes aus der Crossroads-Klinik wurden aus diesem Anlaß eingeladen, um von ihren Erfahrungen zu berichten. Beide Personen machen großen Eindruck. Auch die Vertreter des konservativen Flügels sind anwesend – mit Fahnen und Broschüren. Auch der Vater von David Franklin kommt hereinmarschiert, er setzt sich mit einem Koffer ganz nach vorne, in dem es später verdächtig klickt. Errötend muß Mr. Franklin den Koffer öffnen, um eine Kassette zu wechseln… Molly Blackburn erzählt erschütternde Dinge aus den Townships. Sie schildert in mehreren konkreten Fällen, wie Polizei und SADF dort hausen, auf Jugendliche schießen und rücksichtslos mit Menschenleben verfahren. Anschließend führen die Studenten ein Theaterstück über die Armee auf – sehr eindrücklich. Leider beeindruckt es nicht die Rechten!
Tagebuch, 6. August 1985 Jugendliche aus Umlazi kommen ins Büro und melden, daß der jüngste Sohn von Kwabanes in Haft ist. Sofort organisieren wir 100 Rand Kaution und meine Kollegin Sue holt ihn und seinen Freund aus der Zelle. Diese Überraschung. Immer öfter ist das die Rolle, die PACSA zu spielen hat. Kürzlich hörten wir von einem Mädchen in Haft. Sie saß bereits etwa eine Woche im Gefängnis. Ihre Mutter konnte sie nicht herausholen, da sie von morgens um 6 Uhr bis abends um 8 Uhr arbeiten muß und keine Zeit hatte, sich um ihr Kind zu kümmern. Auch hatte sie Angst, bei ihren Arbeitgebern etwas zu sagen, damit ihr der schlecht bezahlte Job nicht gekündigt würde. Christopher ist beim „Hochverratsprozeß“ der 16 UDF-Leute. Sein Bild ist in der Zeitung erschienen. Die
Sicherheitsmaßnahmen sind enorm gewesen: Polizei mit Gewehren und Hunden. Da Victoria Mxenge die Angeklagten in diesem Prozeß verteidigt hat, waren heute Presse- und Fernsehleute aus aller Welt dort.
Tagebuch, 7. August 1985 Sitzung des PACSA-Vorstandes. Christopher berichtet von den „crisis centres“, die in den Townships eingerichtet werden mußten. Viele dieser Büros befinden sich in Kirchen. Während der Unruhen im Ostkap wurden Leute mit Schußwunden eo ipso verhaftet. Viele Verletzte wurden von der Polizei aus den Betten gezerrt und in die Zellen geschleppt.
Tagebuch, 8. August 1985 Gestern abend fand in Sobantu die Trauerfeier für Victoria Mxenge statt. Zum Schluß der Veranstaltung wurden die Teilnehmer gebeten, bitte ganz gesittet nach Hause zu gehen, da die Polizei in Bereitschaft stünde. Die Teilnehmer verließen diszipliniert die Veranstaltung. Trotzdem setzte die Polizei Tränengas ein. Sie warfen sogar einen Kanister in das Haus einer Zions-Gebetsgemeinschaft, die nun bestimmt nichts mit der Trauerfeier zu tun hatte. Am Mittag findet ein weiterer Trauergottesdienst in der methodistischen Kirche im Zentrum statt. Martin ist maßgeblich an der Planung beteiligt. Sue erzählt später, daß Jugendliche nach dem Gottesdienst die Church Street entlang liefen und – von der Polizei gejagt – schließlich auch Fenster einschlugen und Sachen aus den Schaufenstern stahlen. Im PACSA-Büro wartet die hochschwangere Frau Diamini aus „unserer“ Machibise-Gemeinde. Ihr Mann liegt todkrank mit Nierenversagen im Krankenhaus. Sie hat riesige Sorgen.
Ich soll ihr genau erklären, wie die Dialyse funktioniert, auf die ihr Mann jetzt regelmäßig angewiesen ist. Ich fahre sie nach Hause. Schon von weitem sehen wir das große PolizeiAufgebot am Eingang zu Imbali. Sie hat Angst, ich bin neugierig. Die Polizisten schauen ins Auto, lassen uns aber passieren. Ich bringe sie zu ihrer Haustür und fahre zurück. Sehr viele Jugendliche kommen mir entgegen. Keiner von ihnen sieht so aus, als wolle er einen der umliegenden Steine nehmen, um ihn mir ins Fenster zu werfen. Schließlich erreiche ich wieder die Polizisten-Allee, die ich passieren muß. Zwei große „Fangbusse“, sechs Polizeiwagen, Dutzende von Polizisten (riotpolice), alle mit feuerroten sjamboks (Peitschen). Es ist das erste Mal, daß ich diese Peitschen aus der Nähe sehe. Ein sehr stattlicher Polizist schwingt seinen sjambok in sausendem Schwung überm Kopf und alle lachen – so richtig in Jagdstimmung. Ich sehe Hunderte von Schulkindern die Straßen entlang kommen. Gleich müssen sie durch die Kontrolle hindurch. Ich bekomme Bauchschmerzen und kann leider unmöglich bleiben. Zu meiner Erleichterung höre ich später, daß nichts vorgefallen ist.
Angesteckt, verbrannt, erschossen…
Tagebuch, 9. August 1985 Die Unruhen in Durban nehmen beängstigend zu. Dort gab es mehr Tote als sonstwo im Land. Man meint, der Grund dafür, daß der Ausnahmezustand für Natal noch nicht erklärt worden ist, liegt darin, daß Inkatha als Friedensstifter und Erhalter von Ruhe und Ordnung präsentiert werden soll.
Tagebuch, 10. August 1985 Die Gandhi-Siedlung in Phoenix ist in Flammen aufgegangen. Offiziell heißt es immer unverblümter, daß die UDF die Schuld trage. Es gibt aber so merkwürdige Begebenheiten, die sich nicht reimen: Fremde plündern und brandstiften. Die Polizei greift nicht ein, Brände werden nicht gelöscht… Sehr vergnügt feiern wir die Hochzeit von Rodyn Smith und Justino, einem „Farbigen“. Es ist eine „Bring-mit-und-teile“Hochzeit. Jeder bringt etwas mit und so können so viele Leute mitfeiern, wie kommen mögen. Mit den schwarzen Studenten fahren wir nach Bishopstowe zum Gottesdienst. Auf dem Rückweg fahren wir um den Berg herum und zeigen ihnen Sobantu, das unten im Tal liegt. Da sehen wir voller Schreck, daß dort unten eine Polizeiaktion in vollem Gange ist. Wir konnten von dort gut beobachten, wie die „Jagd“ im Township vor sich ging. Zehn Minuten lang sehen wir zu, wie die Polizei immer wieder den Kirchplatz umrundet. Ein Generalmajor aus dem Ostkap hat neulich von „just the usual sunday Sports“ gesprochen…
Dr. Holtmann besucht mich mit einem 16jährigen SothoMädchen. Sie ist Waise und heimatlos. Dr. Holtmann ist ratlos, wie man ihr helfen kann. Sie kam zu ihr in das Krankenhaus wegen einer Verletzung und seitdem wohnt sie bei der Ärztin zu Hause, aber dort ist sie völlig einsam. Wir beschließen, daß Familie Diamini und dieses Mädchen von Gott zusammengeschickt wurden, ich rufe bei Diaminis an und bringe das Mädchen dort hin – und beiden ist geholfen!
Tagebuch, 12. August 1985 Wir haben Besuch aus Durban bekommen, Freunde von Christopher. Was wir schon vermuteten, wird uns bestätigt: Die Polizei hat sich merkwürdig apathisch verhalten, als die Gandhi-Siedlung in Phoenix niederbrannte. Drei Wochen zuvor waren die indischen Bewohner besucht worden, um den Entschädigungswert ihrer Grundstücke für den Fall einer Umsiedlung festzusetzen. Keiner der Bewohner wollte umgesiedelt werden, da sie alle seit Generationen in Frieden dort gelebt hatten. Auch die Zulus hielten eine Umsiedlung für unnötig, da gerade ein Zusammenschluß von Natal und KwaZulu im Gespräch war. Nun ist die Umsiedlung also „umsonst“ durchgeführt worden… Wie wir hören, sind etwa 100 Leute mit Inkatha-Abzeichen mit Stöcken und Speeren vor das Haus der Victoria Mxenge gezogen, um es abzubrennen. Glücklicherweise war niemand dort. Auch die Trauerfeier für Victoria in Umlazi wurde von solchen Leuten gestört. Es hat mehrere Tote und Verletzte gegeben. Trotzdem gilt Inkatha immer noch als Friedensstifter. Unser Freund Kwabane erzählt, daß die Polizeijagd im Township, die wir vom Berg aus beobachten konnten, um 11 Uhr erst richtig begann. Was wir von oben gesehen haben, ist
also nur das Vorspiel gewesen. Kwabane lacht. „Wir haben das Tränengas schon so über…“
Tagebuch, 15. August 1985 Melvin kommt aus dem PACSA-Büro und berichtet von siebenjugendlichen, die verhaftet und verhört wurden. Alle wurden nach dem weißen, bärtigen Martin Wittenberg gefragt. Einer wurde gefragt, ob er er glaube, Martin sei die wichtigste Person in der UDF in Pietermaritzburg. Sue fragte Melvin, ob er wisse, daß ich Martins Mutter sei. Er war sehr überrascht. Schon wieder hält P. W. Botha eine Rede an sein Volk. Da Günther leider mit beiden Autoschlüsseln weggefahren ist, können wir nicht bei Freunden fernsehen; so bitten wir die Nachbarn. Der Sohn ist von Bothas Rede sehr angetan, auch seine Eltern stimmen oft zu, wir allerdings sind sehr schweigsam. Der Sohn sagt zum Schluß begeistert: „Ihr werdet sehen, wie der Rand jetzt steigt.“
Tagebuch, 16. August 1985 Ich erschrecke sehr, als ich am frühen Morgen in der Zeitung lese, daß unsere Freunde, die Kwabanes, mit Sack und Pack, bedroht von Hunderten von bewaffneten Unbekannten, Sobantu verlassen mußten. Es wird unterschiedlich berichtet. Das „Komitee der 12“, die Leitung, behauptet, die Flucht sei übertrieben. Andere sagen: Kwabane habe Verständnis für die Jugendlichen und ihnen erlaubt, Kirchenräume für ihre Versammlung zu nutzen, da es sonst niemand tat. Das sei der Grund… Bei den Jugendlichen heißt Kwabane „unser Pastor“, und sie waren alle da, um der Familie beim Packen zu helfen. Der Sohn erhielt eine Todesdrohung. Es wurde zu einem Boykott weißer Geschäfte
aufgerufen. Beim Einkaufen entdecke ich zwei Leute, die Pamphlete und Aufkleber verteilen. Zwei Verkehrspolizisten kommen und wollen die Männer verhaften und ihnen die Pamphlete abnehmen. Einer der Männer läßt es nicht zu und sagt: „Ich habe kein Verkehrsvergehen begangen. Ihr seid Verkehrspolizisten.“ Eine Menschenmenge fand sich ein, viele der Umstehenden trugen die grellen Boykottaufkleber und die Männer wurden in Ruhe gelassen.
Polizeispitzel in der Bibelstunde
Tagebuch, 18. August 1985 Das Ehepaar Kwabane ist bei uns zum Mittagessen. Ganz unerwartet war Kwabane in seiner Gemeinde aufgetaucht – gerade rechtzeitig zum Gottesdienst. Kwabane hat ihn wie einen Dankgottesdienst gestaltet. Er ließ Lieder singen, Texte lesen und Gebete sprechen. Predigen konnte er nicht. Im Gebet sagte er: „Wir danken Dir, Gott, für unsere Kinder. Sie hören nicht immer auf uns, mal ja, mal nein, aber wir danken Dir für sie. Wir danken Dir, daß Du unserer Familie ein leeres Haus beschert hast, in das wir einziehen konnten…“ Ich muß sagen, wir waren sehr beeindruckt. Hier war keine Bitterkeit zu spüren. Übrigens war bei all diesen Aktionen die Polizei immer völlig abwesend. Am Abend fand unsere monatliche gemischtrassische Bibelstunde statt. Kwabanes fehlten leider. Günther erzählte ihre Geschichte. Wir hatten eine gute Bibelstunde. Van Sundern erzählte, daß währenddessen draußen jemand die Autonummern aufgeschrieben hat. Ich hatte das Auto draußen gehört und mich gewundert, daß die Leute nicht hereinkamen. Van Sundern meinte, es wäre Berger gewesen, ein Mitglied unserer Gemeinde, der bei der Geheimpolizei arbeitet.
Tagebuch, 20. August 1985 In Imbali sind Unruhen. Die Polizei hatte den Busverkehr untersagt. Daraufhin übernahmen private Mietkombis Fahrten in das Township. Menschen die nach Inkatha-Manier bewaffnet waren, bauten Barrikaden für die Kombis. Doch
Jugendliche solidarisierten sich mit den Kombi-Fahrern. Die Kombi-Busse wurden angesteckt, ein Junge verbrannte im Bus, ein junger Mann lag erstochen auf der Straße, und irgendwo starb noch ein junges Mädchen. Der sehr nette junge Pastor aus Imbali kommt zu Günther, per Bus und zu Fuß, um ihm die traurige Mitteilung zu machen, daß ein langjähriges Mitglied unserer Bibelstunde ein Informant ist, der dürfe sich nicht mehr mit ihm sehen lassen. Wir hatten früher schon einmal die gleiche Information bekommen und hatten ihn trotzdem akzeptieren wollen. Von seinen eigenen Leuten wird das als Verrat angesehen. Es heißt immer wieder, daß dieser Informationsdienst ein einträgliches Geschäft sei. Günther hat diese Nachricht tief getroffen.
Tagebuch, 22. August 1985 Tutu spricht vor den Studenten in der Universität. Die Halle ist voll besetzt. Auch die Rechten sind gut vertreten. Eine Filmkamera nimmt nicht Tutu, sondern die Leute in der Haile aufs Korn. Auch wenn sich seine Reden gleichen, so hat Tutu doch eine gute Rede gehalten. Es war gleichzeitig eine ausgezeichnete Antwort auf die Frage, warum er nicht an der Delegation teilgenommen hat, die ein Gespräch mit Botha suchte. Tutu sagte, er hätte einmal von Mann zu Mann, von Christ zu Christ, von Großvater zu Großvater – einfach von Mensch zu Mensch mit Botha sprechen wollen. Ein solches Gespräch könne man nicht in einer Delegation führen… David Franklin stolzierte mit der südafrikanischen Flagge auf dem Rücken durch die Menge. Es wird gewitzelt: „Hat denn niemand ein Streichholz?“ Das Verbrennen der Flagge wird in unserem Land mit 10.000 Rand oder 10 Jahren Gefängnis geahndet. David drängt sich an Tutu heran, der in einer Gruppe von Studenten steht und diskutiert. „Tutu“, beginnt er, „was
suchst du hier? Wolltest du nicht die Koffer packen, falls die Unruhen nicht aufhören. Sie hören ja nicht auf.“ – Tutu legt väterlich seinen Arm auf Davids Schulter und sagt: „Ich bleibe, um Leute deiner Sorte zu schützen.“ Am Abend findet eine Versammlung statt, um ein Krisenkomitee für Pietermaritzburg zu wählen. Dr. Driver berichtet über medizinische Versorgung während der InandaUnruhen. Offizielle und wahre Zahlen klaffen sehr weit auseinander. Es hat sehr viel mehr Verwundete gegeben, als zugegeben wurde – eben auch viele Verwundungen durch Zulu-Kampfwaffen. Danach gibt Dr. Farouk Meer einen genauen Bericht über die Inanda-Unruhen, der sich genau mit dem deckt, was wir gehört haben. Die Leute von Imbali und Sobantu erzählen über die Vorkommnisse bei uns. Schließlich wird um Vorschläge für das Krisenkomitee gebeten. Es sind alles gute Leute, aber alles Männer. Es heißt, Rechtsanwälte müßten mitarbeiten, „… und Frauen“, rufe ich. Im nächsten Moment bin ich vorgeschlagen, weil ich doch Martins Mutter bin. Es stellt sich heraus, daß in diesem Komitee sehr unterschiedliche Leute, auch in beruflicher Hinsicht, mitarbeiten. Es ist nicht verkehrt, daß auch ich zu diesem Komitee dazugehöre.
Tagebuch, 23. August 1985 Der deutsche Konsul besucht uns im PACSA-Büro, weil er die wahren Begebenheiten kennen will. Am Abend hören wir im Radio, daß Dr. Farouk Meer, Billy Nair und Yunuy Mohamed verhaftet sind! Yunuy ist Martins Gegenüber in Durban. Im ganzen sind acht UDF-Führer verhaftet worden.
Tagebuch, 24. August 1985 Über 700 Kinder sind in Soweto verhaftet worden; unter ihnen auch sechsjährige Kinder! In den Abendnachrichten hören wir, daß 27 UDF-Führer verhaftet wurden. Martin sucht Unterkunft für Leute, die der Polizei ausweichen, aber unsere Adresse ist nicht akzeptabel.
Tagebuch, 25. August 1985 Diese Nacht schlafe ich schlecht und habe seit langem zum ersten Mal wieder Angstzustände. Bin sehr erleichtert, als ich Martin nach Hause kommen höre. Um drei Uhr findet in der Mariannhall eine Gründungsfeier für die Natal Organisation of Women statt. Helen Joseph und Ela Ramgobin, die Enkelin Gandhis und Frau des wegen Hochverrates angeklagten UDFFührers, sprechen auf der Versammlung. Frau Ramgobin erzählt von Inanda, was wir nun schon wissen. Die Mitglieder des Durbaner Krisenkomitees sammeln inzwischen Zeugenaussagen der betroffenen Menschen, damit die Wahrheit ans Licht kommt. Die Jugendlichen singen Lieder. Es herrscht eine vergnügte Stimmung. Am Ausgang wurden UDF-Flugblätter verteilt. Als ich nach draußen kam, merkte ich, daß eine PolizeiProvokation stattfand. Die Polizisten wollten unbedingt ein Flugblatt in die Hand bekommen, die Jugendlichen wollten unbedingt nicht. Als die Polizisten mit Fäusten auf die Jugendlichen losgingen, fuhr ihr Bus in rasender Eile ab. Die Jugendlichen pfiffen, johlten und zeigten Fäuste. Deutlich war ihre Wut zu spüren. Helen Joseph, die jahrelang gebannt war und noch heute nicht zitiert werden darf, gab mir den mutmachenden Rat, mich innerlich für eine baldige Verhaftung Martins bereit zu machen!
Martin taucht unter
Tagebuch, 26. August 1985 Weit über hundert bewaffnete Männer sind gestern nachmittag zum Federal Seminary in Imbali marschiert und haben verlangt, Dr. Khoma zu sehen. Bis Freitag haben sie dem ganzen Seminar Zeit gegeben, die Gebäude zu verlassen. Das Seminar trage die Schuld an all den Unruhen, sie seien diejenigen, die die Kinder zum Steinewerfen und anderen Dingen anstiften würden. So lauten die Anschuldigungen. Hinter der Gruppe der Männer waren Polizeiwagen zu sehen. Beim Fotokopieren erzählt Aaron meiner Kollegin Sue, daß er einen Anruf bekommen habe, auch in die Büros im UbunyeHaus würden Bomben geworfen. Sagt’s und rennt raus und ist nicht wieder zu sehen. Wir sehen uns an, schauen auf die Büros und überlegen: Was macht man? Wo fängt man an? Christopher, den wir aus seinem Urlaub herbeiriefen, kommt aschfahl herein. Eben hatte er erfahren, daß Paddy Kearney, der Direktor von Diakonia in Durban, verhaftet worden sei. Martin ist gerade bei uns. Auch er wird ganz blaß. Jetzt ist es soweit. Er beschließt, noch heute unterzutauchen. Mitten in dieser Lage trifft uns heiße Stinkluft. Wir haben eine tote Ratte oben auf dem Dach; der Gestank reicht allein schon aus, um uns zu vertreiben. Wir lachen herzlich, so wie man in solchen Situationen wohl lacht. Christopher hatte schon den Verdacht, daß uns die „Abteilung für schlechte Witze“ die Ratte oben hineingeschustert habe. Als ich nach Hause komme, sitzt Martin auf gepackten Taschen und ist dabei, die UDFAbzeichen von seinem Anorak abzutrennen. Er zieht los, ich umarme ihn – ein komisches Gefühl.
Tagebuch, 20. September 1985 Merkwürdigerweise sind alle Telefonapparate der durchsuchten Häuser außer Betrieb und müssen repariert werden. Immer vermutet man etwas dahinter, auch wenn es nicht unbedingt so ist. Der Konsul besuchte uns wieder und ist sehr interessiert an den eidesstattlichen Erklärungen der Leute aus Imbali. Durch meine Schwägerin Annette hat er Auszüge aus meinen Tagebüchern zu sehen bekommen und bittet mich, diese weiterleiten zu dürfen. Das freut mich und beschämt mich gleichzeitig, da diese Aufzeichnungen doch für Freunde und Verwandte gedacht waren. Pastor Blumenberg ist im Urlaub und hat mich gebeten, für drei Male den Konfirmandenunterricht zu übernehmen. Er schlug mir das Thema: „Einheit der Kirche“ vor. Unter anderem erzähle ich die Geschichte von Petrus und dem dreimal gezeigten Tuch aus der Apostelgeschichte: „Du mußt zu den Heiden gehen.“ Dabei versuche ich, die Probleme des Petrus an den unseren zu erläutern. Später erzähle ich zur Anschauung mein eigenes Erlebnis vor vielen Jahren in der Bibelschule in Salzuflen. Damals wurde mir übel, als man mir mitteilte, daß ich meine Badekabine mit zwei Inderinnen zu teilen hätte. So gut hatte meine Indoktrinierung in der afrikaansen Schule funktioniert. „Für 10.000 Rand“, sagt Jack, „würde ich mein Gesicht nicht im selben Waschbecken wie ein Inder waschen.“ Die pfiffige Sue sagt: „Ich täte es schon für fünf Rand.“ Sie ist es auch, die mir erzählt: „Weißt du, wer an den Unruhen schuld ist? – Die Regierung!“ – Vorsichtshalber durfte ich mich nicht zu sehr darauf einlassen.
Tagebuch, 21. September 1985 Um 5 Uhr früh klopft Inge an die Tür, sie ist wohlbehalten angekommen. Der Student, mit dem sie mitgefahren ist, ist in
einer Tour durchgefahren. Er saß die ganze Zeit am Steuer. Da ist man jedes Mal dankbar, wenn auf diesen weiten Strecken nichts passiert. Wir freuen uns sehr, uns wiederzusehen und haben viel zu erzählen. Das ist ja das Traurige an der Lage, daß wir auch Inge telefonisch und brieflich nicht informieren können, weil wir so überwacht sind. Wie eine Glucke fühle ich mich – mit meinen vier Kindern um mich herum. Gegen Abend fahren wir zu den letzten Gastgebern von Martin, um seinen roten Wagen abzuholen, der immer noch in ihrer Garage eingeschlossen steht. Wir beschlossen: Wenn uns jemand mit dem Wagen folgt oder uns anhält, dann wissen wir, daß sie Martin immer noch suchen. Unsere Freunde laden uns zum Abendessen ein und erzählen ausführlich von den neuesten Fluchtplänen. A. liebt das dramatische Erzählen genauso sehr wie ich. In Einzelheiten erzählt sie von „Beethoven“ – Adresse 1, und von „Tschaikowsky“ – Adresse 2, der Unterschlupfmöglichkeit für den Tag. Danach wurde mit einer Freundin von außerhalb abgemacht, daß Leute kämen, um ihre jungen Hunde anzusehen – sie seien so interessiert. Die Freundin – sie war lange Jahre gebannt – hatte sofort geschaltet und die Besucher aufgenommen. Von dort aus fuhr ein bekanntes Auto mit der „Fracht“ unbeschattet zum ATKongreß nach Pretoria. Inzwischen ist die „Fracht“ allerdings längst wieder in Pietermaritzburg. Diesmal ging alles dermaßen hin und her, daß ich nur weiß, daß es sehr viele liebe Freunde in Pietermaritzburg gibt, die sich alle für Martin ein Bein ausreißen.
Mit zitternden Knien im Supermarkt
Tagebuch, 1. Oktober 1985 Mein großer Monatseinkauf stieg heute nachmittag. Als ich fast fertig bin und meinen vollen Einkaufswagen um die letzte Ecke schiebe, steht der Geheimpolizist Berger vor mir. Ich grüße wieder freundlich, aber meine Knie zittern. Da läßt Berger seine bezahlten Lebensmittel stehen und kommt zu mir: „Wo habe ich Sie denn letzten Samstag gesehen?“ – „Ich weiß, daß Sie mich am Samstag gesehen haben.“ – „Was haben Sie dort gemacht?“ „Wir haben demonstriert.“ – „Seid ihr erfolgreich gewesen?“ „Wir waren natürlich nicht erfolgreich!“ – „Warum tut ihr es dann?“ „Um zu zeigen, wo wir stehen.“ – „Wir hier haben keine Truppen in den Townships.“ – „Aber überall sonst im Lande. Und dort geschehen schlimme Dinge. Wir wollen, daß die Armee aus den Townships abgezogen wird.“ „Seid ihr überhaupt richtig informiert?“ – „Sehr richtig. Ich glaube Molly Blackburn entschieden mehr als eurem Major Wanda aus Port Elisabeth.“ Da war er platt. „Eigentlich kennen wir uns gar nicht“, fuhr ich fort, „denn wir haben uns noch nie getroffen. Aber ich weiß, daß Sie sehr gut über mich Bescheid wissen. Ich weiß aber auch sehr genau, wer Sie sind. Ich kenne sogar Ihren Spitznamen in den Townships.“ Diesen Namen wollte er natürlich nun sehr genau wissen, doch ich kann auch Dinge für mich behalten. Während des Gespräches merkten wir beide, daß der schwarze Verkäufer im Hühnerstand mit großen Ohren und noch größeren Augen fast quer über den Hühnerkästen hing. Berger schaltete deshalb auf
Deutsch um. Er spricht gar kein so schlechtes Deutsch – wahrscheinlich übt er es an all unserer Lektüre und beim Abhören unserer Telefongespräche. Er wußte also auch, daß ich Martins Mutter bin. Martin sei eine „sehr interessante“ Person. Ich erwiderte: „Martin ist eine sehr intelligente Person und Sie wissen doch sicher, daß intelligente Menschen ganz für sich allein denken können.“ – „Wollen Sie damit sagen, daß ich nicht für mich allein denken kann?“ – Da wir beide Missionarsnachfahren sind und er Schwierigkeiten mit dem „Sie“ hatte, schalteten wir schließlich auf „Du“ um. – Es stellte sich heraus, daß er sehr genau Bescheid weiß. Ich war überaus vorsichtig. Er meinte, Martin sei zu stark in der UDF engagiert, und die UDF sei für Gewalt. „So, das ist mir neu. Die UDF ist nicht für Gewalt. So viel ich weiß, sind es Inkatha-Leute, die gegenüber der UDF Gewalt üben. Es waren Inkatha-Leute, die das FedSem bedroht haben.“ „Es war nicht Inkatha, es waren die Eltern.“ – „Ich finde es merkwürdig, daß es die Eltern und Bewohner von Imbali sein sollen. Bürgermeister Broocks hat um nur einen Rand Beitrag pro Haushalt zur Deckung der Kosten gebeten, und nur 45 von 9.000 Bewohnern haben einen Beitrag geleistet.“ Berger war es äußerst unangenehm, daß ich so gut Bescheid wußte. Nun wollte er wissen, woher ich ihn kenne. Ich packte den ganzen Sack Kartoffeln aus und erzählte auch, daß wir wüßten, daß er Mit-Lutheraner böse gequält habe. Aus diesem Grund hätte ein früherer Gemeindepastor große Schwierigkeiten gehabt, denn er war eigentlich nicht bereit, Bergers Kind zu taufen. Nach einem Gespräch mit Günther beschlossen sie damals, das Kind, das ja unschuldig ist, dennoch zu taufen. – Diese Ausführungen trafen ihn sehr. „Warum hat der Pastor denn damals nicht mit mir gesprochen?“ – „Wer tut das? Wir haben alle viel zu große Angst vor euch. Aber vielen Dank, seit ihr uns auf die Bude
gerückt seid, und nachdem du mich heute angesprochen hast, habe ich meine letzte Furcht vor euch verloren.“ Berger wollte unbedingt wissen, wer der lutherische Mann gewesen sei, den er angeblich gequält habe. Ich schlug vor, daß ihm Dean Farisani aus Venda bekannt sein sollte. – „Ja, er ist mir bekannt. Er hat bei uns Schlimmes durchgemacht. Ich habe damit aber nichts zu tun.“ – „Ist dein Kollege Wartburg Lutheraner?“ – „Nein.“ – „Dann bist du der Lutheraner bei der Geheimpolizei! Kannst du Gott und Farisani in die Augen schauen?“ Dabei schaute ich ihm unbarmherzig in die Augen. Er stammelte und wiederholte, daß er es nicht gewesen sei – und wechselte das Thema. Es lag ihm jedoch daran, Genaueres über den früheren Pastor zu erfahren, und er bat mich, ihm zu schreiben. Ich versprach es und sagte: „Es hat allerdings nicht viel Zweck, denn ihr lest meine Post ja immer vor mir.“ Ehe er nach Luft schnappen und antworten konnte, sagte ich: „Daß unsere Telefone abgehört werden, wissen wir längst. Eure nicht sehr intelligente Sekretärin Erika Schirmer hat dafür gesorgt, daß wir es herausgefunden haben!“ Mit dieser Schlußbemerkung schickte ich ihn auf den Weg. An dem letzten Brocken hatte er sich fast verschluckt und war knallrot geworden. Nachdem er gegangen war, zitterten meine Knie – meine Hühner hatte ich unterdessen vergessen…
Mandla malt: Särge, Polizisten, Black Power
Tagebuch, 19. November 1985 Mandla Kwabane, der Sohn unserer lutherischen Freunde, die gezwungen wurden, Sobantu zu verlassen, schreibt heute sein letztes Matrikfach, Afrikaans. Die drei Wochen des schriftlichen Examens hat er bei uns gewohnt. An den Tagen, an denen er schrieb, brachte ich ihn morgens zur Schule und holte ihn mittags im Township ab. Das war eine interessante Erfahrung. Alle Kinder und Jugendlichen waren sehr freundlich. Einmal wurde ich von einem roten Auto verfolgt: das waren „Committee-of-12“-Leute, die für die Bedrohung unserer Freunde verantwortlich waren. Sie hatten sich bewaffnet und drei Kinder so geschlagen, daß sie ins Krankenhaus gebracht und ihre Wunden genäht wurden mußten. Mandla wurde von ihnen bezichtigt, die Auseinandersetzungen angestiftet zu haben. Zwei Tage hat er dann auch im Gefängnis gesessen, bevor meine Kollegin Sue ihn auf Kaution herausholte. Durch all diese Umstände war er seines Lebens in Sobantu nicht sicher. Zu viele böse Dinge sind inzwischen überall passiert, so daß ein Aufenthalt in Sobantu nicht riskiert werden konnte. Aus diesem Grund wohnt er also nun bei uns. An diesem Morgen steigt er lange nicht aus dem Auto, sondern stiert auf das Auto, das uns seit geraumer Zeit gefolgt war und nun weiter vor uns stand. Dann sprang er heraus und rannte in die Schule. Mittags erzählte er mir, er habe im Auto den Geheimpolizisten Wartburg erkannt. Wartburg und der Geheimpolizist Berger hatte ihn auch im Gefängnis verhört. Heute reden wir wieder lange miteinander. Mandla hat einen
brennenden Hunger nach Informationen. Stundenlang hat er in diesen Tage in Günthers Studierzimmer gesessen und gelesen. Er malt auch: Särge, Polizisten in Fangwagen, Black-PowerSalut… Ein starker Wunsch nach Freiheit kommt in diesen Bildern zum Ausdruck. – Mandla spricht leise und stockend. Heute hat er mir noch viel erzählt. Einmal, so sagt er, habe er von der Stadtmitte aus anrufen wollen. Er stand in einer Schlange vor einem öffentlichen Telefon. Als er an der Reihe war, nahm ihm ein weißer Mann, der hinter ihm stand, den Hörer aus der Hand. „Ich bin dran! – Nein, auch wenn ich schwarz bin, bin ich dran.“ Und schon hatte er eine Faust mit Ring am Finger voll auf dem Auge; er fiel um, sprang aber wieder auf, um sich wehren zu können, ein indischer Mann hielt ihn jedoch fest und der Weiße schlug zu, bis Mandla das Bewußtsein verlor. Im Polizeiauto kam er wieder zu sich, blutüberströmt, bewacht von einem Polizeihund. Er wurde beschuldigt, den weißen Mann überfallen zu haben. Mandla berichtete den wahren Sachverhalt und sagte, er werde durch seinen Vater, Pastor Kwabane einen Rechtsanwalt erhalten und den weißen Mann verklagen. Dann sah er zu, daß er von dort fort kam. Zu Fuß mußte er in seinem Zustand zur Stadtmitte zurück. Ein schwarzer Taxifahrer brachte ihn umsonst nach Hause. Aus Angst verzichteten seine Eltern auf eine Anzeige. Als Mandla in Haft saß und verhört wurde, arbeiteten die Geheimpolizisten Berger und Wartburg mit psychischer Folter. „Du bist schwarz. Schwarze sind nichts wert. Das steht schon in der Bibel.“ (Sie zitierten den Fluch Kanaans) Mandla entgegnete: „Auch Schwarze sind nach dem Bilde Gottes geschaffen. Es könnte sein, daß du zu deiner Überraschung im Himmel entdeckst, daß Gott schwarz ist.“ (Schläge) „Jesus ist für alle Menschen gestorben. Pfingsten gilt allen. Gott macht keine Unterschiede.“ (Weitere Schläge) „Du bist ein gefährlicher Terrorist mit Bibel. Du bist gewalttätig. Du malst
Fäuste mit Gewehren.“ – Sie hatten seine Bilder beschlagnahmt. Ein Bild zeigt eine Faust mit Gewehr. – „Ich male sie nur. Du trägst das Gewehr.“ (Ein Schlag ins Gesicht) Dann nahmen sie ihn mit in den Hof, wo die schwarzen Polizisten Fußball spielten. Sie sollten in sein Gesicht treffen. Zum Glück waren sie nicht so gut im Zielen. – Kann man diesem stillen Jungen verübeln, wenn er stark radikalisiert wird?
Tagebuch, 20. November 1985 Es ist halb zum Wundern und Ärgern und halb zum Lachen. Am Mittwoch und Donnerstag letzter Woche hatten wir zwei Gemeindeabende zum Thema: Wie verhalte ich mich, wenn Menschen anderer Rasse unserer Kirche beitreten wollen? Am ersten Abend durften alle ihren Gefühlen freien Lauf lassen. So meldeten sich dann auch Wortführer gegen eine Zulassung zu Wort. Aus den verschiedensten Gründen sprachen sie sich gegen eine Zulassung aus. So sei die Kirche ein Ort der „Seelenruhe“, Menschen anderer Rassen würden diese zerstören. Einer sprach davon, daß dann auch unser „Niveau“ absinken würde!! Am zweiten Abend sprachen wir über das Wort Gottes und darüber, was Gott von uns erwartet. Das ist sehr eindeutig. Unser Herr mit „Niveau“ war nicht überzeugt. Er fand nach wie vor, daß man jeden einzelnen tüchtig unter die Lupe nehmen müsse. Dürften sie kommen, ich glaube, sie würden gar nicht mögen…! Was sind wir für feine, echte Christen! Was haben wir für ein „Niveau“! Man muß sich schämen. Das habe ich auch gesagt. Schließlich haben wir ein Gemeindemitglied, das Mitmenschen foltert und durch Worte zu demütigen versucht. Am Ende des Abends stellte sich jedoch heraus, daß viele es unterstützen würden, wenn Menschen anderer Rassen in unsere
Gemeinde aufgenommen würden. Einige würden sich eventuell von der Gemeinde trennen. Das könnte aber auch ein „Gesundschrumpfen“ sein.
1986 Mein „Mayday“-Erlebnis
Zusammenfassender Bericht im Tagebuch, Mai/Juni 1986 Seit Anfang des Jahres brachten wir die Wochen und Monate zu im friedlichen Um-uns-selbst-herum-Tüddeln. Was sich in 13 Jahren Seßhaftigkeit alles angesammelt hatte, wurde in großem Stil ausgemistet. Wie viele Leute freuten sich noch über den „Mist“! Dann kramen, packen und nach und nach im leeren Haus Burger Street 421 abstellen! Gardinen ändern, waschen, bügeln, aufhängen. Endlich umziehen und tagelang einräumen, Regale anbringen, Schrank einbauen, bis die letzten Kartons unter den Füßen weg sind und das neue Heim gemütlich eingerichtet ist. Aber auf einmal, heute, sind wir so richtig wieder in den südafrikanischen Emergency-Alltag hineingeschleudert worden. Die Angst sitzt einem noch lange in den Knochen, nach dem Anblick all der Casspirs, Buffels, „KhwelaKhwelas“ und Polizeiautos, neben Hunderten von Polizisten; Angst vor allem, weil Martin maßgeblich an der Organisation beteiligt ist und Gertrud mit der „Projects-Comm“Studentengruppe mitten in der Masse sitzt. (Die „KhwelaKhwelas“ sind große gelbe Fangbusse. Khwela heißt „steigen“, und sie heißen also „steig, steig!“, weil so viele Leute auf einmal hineinsteigen müssen und können.) Schon vorher wuchs die Spannung vor der Feier am Mayday (dem 1. Mai) sehr. Inkatha ging in die Schulen und befahl, man solle bereitstehen für die Busse, die das Volk nach Durban ins
Kingsmead-Stadion bringen sollten, wo Buthelezis große Gewerkschaft gegründet werden solle, die der neuen großen UDF-freundlichen COSATU-Gewerkschaft das Wasser abgraben solle. Inkatha-Leute reisten auch in die weitabgelegenen Gebiete und in die Umsiedlungslager. Dort stießen sie auf die Gruppe Flüchtlinge, die in den vorhergehenden Wochen Opfer gemeiner Inkatha-VigilanteÜberfälle gewesen waren. Ihnen wurde das Waffenarsenal im Auto gezeigt und gedroht. Sie hatten dort mit der „End Conscription“ (Kampagne zur Abschaffung der Wehrpflicht) zusammengearbeitet, die als Demonstration für Alternativen zum Wehrdienst eine Aktion hatte: „Work for a Just Peace“ (Arbeit für gerechten Frieden). Im Umsiedlungsgebiet Compensation pflanzten sie Bäume für Feuerholz, bauten eine Brücke über den Fluß und pflanzten das besondere Gras, das für Dächer und zum Flechten von Körben und Matten gebraucht wird harte Arbeit! Mit Fleiß hatten die Jugendlichen da mitgearbeitet. Wir hörten – und es wurde bestätigt –, daß 15 Sonderzüge aus Johannesburg und 300 Busse für Natal von KwaZulu bestellt worden waren. Mike Tarr von der PFP (Progressive Federal Party) sollte gebeten werden, im Parlament zu fragen, wer die Kosten dafür trage. Also heute ist der große Tag. Ich ziehe eine lange Hose und eine langärmlige Bluse für den Fall eines Tränengasangriffs an, packe ein Kopftuch und viele Taschentücher ein. Martin hatte mich gebeten zu kommen und mitzuhelfen, für den Fall, daß Erste Hilfe zu geben sei. Ich sage, ich hätte Angst. Er sagte: „Wir haben alle Angst.“ Ich bin auf Christopher Smiths Transport angewiesen. Er will nicht so früh gehen. Wie gut, denn so sind wir noch zu Hause, als Jenny Petersen plötzlich von der Special Branch dahergebracht wird, unerwartet aus der Haft entlassen. Was für
eine Freude mit Tränen und Lachen! Sie muß erstmal erzählen. Tony Roland, der Sohn des anglikanischen Bischofs, kommt mit uns. In Höhe der Caluza Road sehen wir die ersten beiden Casspirs, wenig später an der nächsten Ecke den ersten „Buffel“. Die beiden Casspirs parken mitten auf der Autobahn. Als wir zum Wadley-Stadion kommen, wimmelt es nur so von Polizei und Armeefahrzeugen, gelben Minnas, Hundeautos usw. Sogar ein Riot-Pferd ist da und unzählige Männer auf den Dächern der Fahrzeuge. Vor Nervosität fällt es mir nicht einmal ein, sie verstohlen zu zählen. Wir parken das Auto hinter dem Stadion und gehen zu Fuß durch die Allee von Armee- und Polizeifahrzeugen plus Männern hindurch – ein sonderbares Spießrutenlaufen. Eine Reihe SB-Autos steht in der Nähe des Eingangs. Wen erblicke ich? Meinen Feind-Freund Berger. Wir sehen Maschinengewehre, Peitschen, Knüppel, „Quirts“ sowie eine Tränengasmaschine oben auf einem der Wagen aufmontiert. Mit Hallo werden wir beim Eingang begrüßt. Hand in Hand, gelbe Armbinden mit „M“ am Oberarm, stehen dort die „Monitors“ und sorgen für strenge Ordnung. Keiner darf einfach laufen, wo er möchte. Es gibt nur „Einbahnstraßen“, man darf in den Gängen nur in einer Richtung laufen. Als wir uns so durchfädeln, sagt ein Sprecher vorn gerade ein Gedicht mit dem Titel „Life“ (Leben) auf: „Leben in den Townships bedeutet, nachts mit deinem Bruder und mit deiner Schwester in einem Bett schlafen zu müssen, mit deinem Vater und mit deiner Mutter in einem Zimmer. Es bedeutet, vor Sonnenaufgang aus dem Haus gehen zu müssen und nach Sonnenuntergang zurückzukommen. Es bedeutet, nie soviel Geld zu haben, daß für das Allernötigste genug da ist. Es bedeutet, Bantuerziehung genießen zu müssen,… und vieles mehr.“
Es ist schade, daß ich nicht so gut Zulu kann. Ein Gewerkschafter hält eine Rede, bei der sich alle ständig vor Lachen kugeln. Er fängt an (so lasse ich mir berichten): „Ihr Impimpis (Verräter), stellt eure Empfangsgeräte jetzt fein ein, damit sie genau auffangen können, was ich euch zu sagen habe. Und all ihr Polizisten da draußen hört fein zu, denn was ich euch jetzt sage, ist die Wahrheit, und die sollt ihr hören.“ Er spricht dann von den verschiedensten Dingen, die schwarze Menschen anfechten, u. a. über die Ausbeutung der Frauen, die oft bis zum Tage der Geburt eines Kindes arbeiten und sehr bald nach der Geburt wieder auf dem Posten sein müssen. Auch spricht er von den Hungerlöhnen – aber alles in einer Art, die alle sehr zum Lachen bringt. Dann spricht er vom Schulsystem: „Wir zahlen also Schulgeld, am Anfang des Jahres. Was damit gemacht wird, sehen wir nicht. Jetzt im zweiten Quartal haben unsere Oberschüler immer noch nicht alle ihre Bücher und viel zu wenige. Was wir aber sehen, ist, daß die Eltern, die im Schulbeirat sind, vorher mit einem Fahrrad fuhren, und jetzt fahren sie mit einem Auto. Wie kommt das? Den Lehrern wird gesagt: Ihr dürft nicht politisch tätig sein. Dann aber kommt Inkatha zu den Schulen. Alle Lehrer werden gefragt: Gehörst du Inkatha an? Wenn jemand nicht Inkatha angehört, ist er seinen Job und sein Gehalt los. Beförderung und Vergünstigungen gibt es nur auf den InkathaTickets…“ Mit großem Freudengeschrei wird der Hauptredner des Tages, Billy Nair, einer der ehemaligen „Treason Trialists“ und Flüchtling in der Britischen Botschaft, aufs Feld geführt. Zwischendurch gibt es „freedom songs“. Viel später kommen die Busse aus dem Nataler Hinterland an, mit Gewerkschaftern in Uniform, besonders mit rot-grünen Mützen. Sie marschieren aufs Feld, keineswegs militärisch exakt. Eine Gruppe Jugendlicher folgt. Der Anführer trägt einen Autoreifen auf
dem Kopf, Symbol der Rache und des Kampfes, grausige Waffe der Jugend, die aber hier bislang nicht benutzt worden ist. Ein Gepfeife und Gejohle setzt ein, Hunderte Jugendliche rennen aufs Feld und tanzen hinterher. Die Polizei wird sehr aktiv auf den Dächern ihrer Fahrzeuge. Ein kleines Flugzeug kommt geflogen und kreist niedrig über den Massen. Alle springen auf, zeigen mit Fingern auf es und schreien: „Impimpi, Impimpi!“ Die Wut ist groß; meine Bauchschmerzen auch. Im Nu sind die „Monitors“ mitten zwischen ihnen auf dem Feld, und innerhalb weniger Minuten sitzen alle wieder am Platz.
Nun einige frühere Ereignisse: Schon seit einiger Zeit spitzen sich die Spannungen zwischen Inkatha-Vigilantes und UDF-Aktivisten zu, z. B.: Lerato wird auf offener Straße vor vielen Augenzeugen gekidnappt und ist erst einmal verschwunden. Alle haben große Angst um ihn und fürchten das Schlimmste. Stunden später liegt er zusammengeschlagen im Krankenhaus. Er ist der „Public Violence“ angeklagt. Chris, Indira und der Rechtsanwalt Ahmed Gengan kümmern sich um ihn. Sie müssen 500 Rand Kautionsgeld für ihn bezahlen, es läuft ein Gerichtsverfahren gegen ihn. Sofort strebt er nun seinerseits ein Gerichtsverfahren gegen seine Kidnapper an, die er als Inkatha-Vigilantes erkannt hat. Wenig später hat Nathaniel Mlambo ein scheußliches Erlebnis: Versammlungen auf dem Schulhof sind verboten. Darum versammelt sich die Schuljugend außerhalb, um ihren SRC (Students’ Representative Council) selbst zu wählen. Mlambo ist Sprecher. Da fährt ein Inkatha-Auto vor, dieselben Leute. Einer richtet das Gewehr auf ihn, die anderen kommen mit Messern. Er versucht, aufs Schulgelände zu rennen, die
Schulpolizei schließt ihm das Tor vor der Nase zu. Er rennt in die Schule für Behinderte. Esther Nkomo schließt den verletzten, blutenden Jungen im Vorratsraum ein und gibt ihn nicht heraus. Da holt Inkatha die Polizei; sie holt ihn heraus, klagt ihn der „Public Violence“ an und bringt ihn ins Krankenhaus. Am nächsten Tag werde ich gebeten, ihn zum Röntgen zu bringen. Wie Mutter und Sohn sitzen wir beide im Warteraum, und es zeigt, wie weit die Veränderung eben doch schon fortgeschritten ist; wir ernten nicht viele erstaunte Blicke. Nach Ostern, als sich Anfang des zweiten Quartals die Schulbuchsituation nicht gebessert hat, rufen die Anführer zum Streik auf. Bisher hatte sie noch praktisch das ganze Jahr keine Schule, denn erst ziemlich spät im ersten Quartal kamen die Kladdehefte endlich an. Sie saßen nichtstuend in den Schulen herum. Nun saßen sie eben nichtstuend zu Hause herum, und das bekümmerte die Eltern natürlich. Bei allen Familien von Anführern passierte das gleiche: Drei Männer von der Special Branch kamen ans Haus, besahen sich den Jungen und sagten: „Wir wissen, wer du bist.“ Dann benachrichtigten sie die Vigilantes. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Vigilantes in keinem der Townships „gefunden“ werden. Es wird ihnen freie Hand gelassen, die Polizei ist froh und mischt sich nicht ein. Die Vigilantes kamen also mitten in der dunklen Nacht an die Haustüren der betoffenen Jungen, schlugen Fenster ein, wo sie konnten, wollten brandstiften und drohten, die Jungen einen Kopf kürzer zu machen. Die Jungen flohen und kamen am nächsten Tag zu PACSA. Einer der Väter kam und bestätigte die Geschichte. Sie klingt genau wie das Erlebnis des Pastors Kwabane in Sobantu. Seither bringen wir sie in Häusern von Leuten unter, die dazu bereit sind. Wir erkundigten uns ganz genau nach ihrem
Vorhaben. Es sind feine Jungen, die sehr an Demokratie für alle interessiert sind. Sie wollten auf die sehr schlechten Schulverhältnisse aufmerksam machen. Leider muß man zugeben, daß ohne Streik die Leute tatsächlich nicht hinhören. Deliza sagt: „They always say we tell people to throw stones. We tell nobody to throw stones!“ (Sie sagen immer, daß wir Leute zum Steinewerfen auffordern. Wir fordern aber niemanden zum Steinewerfen auf.) Diese Jungen halfen also fleißig beim ECC-Projekt mit und erlebten, was ich bereits berichtete. Einer der Gruppe, der sehr stille Thekiso mit einem sehr traurigen Ausdruck, erlebte folgendes: In der selben Woche, in der die Familie den Schrecken der Inkatha-Vigilantes nachts ums Haus hatte, wurde der eine Bruder von Hunden so zerrissen, daß er starb. Der älteste Bruder kam mit Frau und Kind zur Beerdigung. Als er hinterher an der Bushaltestelle wartet, kommt das Auto vorbei, hält, und einer springt raus und sticht den Bruder. Der rennt weg, sie hinterher und erstechen ihn vor den Augen von Frau und Kind. So verlor Thekiso zwei Brüder in einer Woche. Das „Legal Resource Centre“ von Diakonia in Durban hat es sich jetzt zur Aufgabe gemacht, dieses Problem zu untersuchen, denn es ist eine große Rechtlosigkeit ausgebrochen, und die „Polizei, dein Freund und Helfer“ ist hier keineswegs gern gesehen.
Jenny Petersens Verhaftung
Am Mittwoch, 23. April, wurde Jenny morgens um halb fünf Uhr aus dem Bett geworfen, und sie wurde unter der berüchtigten „Section 29“ verhaftet. Als wir diese Nachricht bei der Arbeit hören, sind wir ganz erschlagen! Um halb elf sehe ich den gelben Toyota Cressida vor dem Fenster vorbeifahren, renne in alle Räume, rufe gedämpft: „Sie sind da.“ Bald steht Freund-Feind van Klingenberg in PACSA. Es ist Schnipseltag, und es sieht wüst aus. „Ich sehe, Mevrou ist sehr beschäftigt.“ (Eiskalte Augen!) „Ich sehe, die Menere sind auch sehr beschäftigt, so junge Frauen um halb fünf Uhr aus dem Bett zu werfen. Wir lieben Jenny Petersen sehr!“ „O, halb fünf ist für eine Familie eine völlig normale Zeit.“ Da merken wir plötzlich, daß Jenny draußen im Auto sitzt, völlig aufgelöst. Wir rennen raus, rufen: „Jenny, we love you! Sei stark, wir beten sehr für dich!“ Ich will sie umarmen. Der dicke Jack Miller stellt sich vor sie und sagt: „Sie ist unsere Gefangene, ihr habt mit ihr nicht zu kommunizieren.“ Da schubse ich Jack Miller einfach aus dem Weg und klopfe ihr wenigstens auf die Schulter. Man wird ja wohl noch eine menschliche Geste zeigen können. Erst jetzt bemerke ich die Polizistin neben ihr: klein, blond, blauäugig; sie lacht mich breit an. Das ist gewiß niemand anders als Erika Schirmer. Jennys Mitbewohnerin bestätigt mir, daß eine „Constable Schirmer“ dabei war. Fortan müssen wir alle ständig an Jenny denken: Wie geht es ihr wohl, sind sie gut zu ihr, kann sie stark bleiben… Unerwartet, am 1. Mai, kommt das gelbe Auto mit Jenny wieder auf den Hof gefahren; Jenny ist entlassen. Wir
umarmen uns, lachen und weinen. Beim Kaffee erzählt uns Jenny. Sie wurde verhaftet, weil sie die Ziele des ANC fördern würde: sie hätte einen Terroristen beherbergt (sie hat früher mal Peter de Klerk gekannt und beherbergt). Sie wäre auch fürderhin bereit, ANC-Anhänger zu beherbergen u.a.m.! Ein scheußlicher Augenblick war für sie, als der dicke Jack Miller ihre zarten Künstlerfinger (sie ist Künstlerin) mit seinen dicken Pranken aufs Kissen drückte, für einen Fingerabdruck. Sie wurde stunden-, stundenlang ausgequetscht. Sie wollte zunächst alle Aussagen verweigern, da sie auch fast nichts wußte. Die Herren wollten wissen, ob man draußen von den schrecklichen Dingen reden würde, die angeblich in Haft passieren sollten? Doch. Also, hier würde sie nun sehen, daß das unwahr wäre, denn siehe, wie fein anständig sie hier behandelt wird. Als sie länger die Aussage verweigerte, wurde ihr dort auf dem Stuhl gesagt: „Wenn du nun nicht anfängst, mitzuarbeiten (to co-operate), dann werden wir anfangen müssen, dir zu zeigen, was an den Gerüchten dran ist, die da draußen von uns erzählt werden.“ Jenny mußte ihren ganzen Lebensbericht schreiben. Sie beschloß, da sie nichts wußte, was irgendjemanden in Schwierigkeiten bringen konnte, ein „Statement“ zu schreiben, also eine Aussage zu machen. Sollte sie aber als Kronzeugin aufgerufen werden, wollte sie alle Aussagen verweigern, mit allen Konsequenzen, und das heißt: Drei Jahre Haft! Ihr wurden lauter Namen vorgelegt; was weißt du über den, was über jenen, Christopher Smith? Monika? O, wir alle kennen Monika. Sie kann afrikaans sprechen… Als sie uns dies alles erzählt hatte, war sie so erschöpft, daß wir ihr ein Lager im AFRA-Office machten, so daß sie sich hinlegen konnte. Sie bekam drei Wochen Erholungsurlaub. Ihr Chef, David Marshall, hat große Sympathie; er war zehn Jahre seines Lebens gebannt gewesen.
Unsere Erlebnisse mit jungen Flüchtlingen
Mitte April erschien eine Gruppe Oberschüler bei uns in PACSA. Allen war das gleiche geschehen: Eine Gruppe bewaffneter Inkatha-Männer war mitten in der Nacht vors Haus gezogen, hatte gedroht, den Sohn umzubringen und das Haus der Eltern über dem Dach anzuzünden. Bei Dumani hatten sie es auch versucht. Dumani war dann ins Sofa gekrochen, wo sie tagsüber die Bettwäsche aufbewahren. Die Inkatha-Männer hatten das ganze Haus durchsucht, ihn aber nicht im Sofa gefunden und waren abgezogen, Drohungen hinterlassend. Alle diese Jungen hatten eines gemeinsam: Sie waren von den Schülern in den demokratischen, inoffiziellen SRC – Students’ Representative Council – gewählt worden. Sie gehörten zu ganz verschiedenen Schulen, zehn Jungen. Mr. Dlomo kam und bestätigte die Berichte. Diese Jungen brauchten nun Unterschlupf. Die Arbeit, sie unterzubringen fiel mir zu. Ich habe eine ziemlich lange Liste von Leuten, die mit Unterschlupf oder Decken oder Versorgung helfen wollen. Dumani kam in unser Haus. Er hinkt. Nach einem Autounfall ist er nicht richtig behandelt worden, und ein Bein ist kürzer als das andere. Er ist ein netter, 17jähriger Junge. Sehr bald gesellt sich Deliza, ein Matrikschüler (Abiturient) von 19 Jahren, dazu: Er findet sich einfach von selbst bei uns ein. Für uns fängt jetzt eine ganz neue Zeit an. Solche Pflegekinder hatte wir noch nie gehabt. Allerlei Umstellung und Einstellung aufeinander gehören dazu. Zum „struggle“ gehört wohl auch, daß man sich manchmal in Liebe zum anderen „hindurchriechen“ muß. Wie kann es auch anders sein,
wenn sie nur ein Plumpsklo und eine kalte Dusche draußen im Garten hinter ihren Matchbox-Häusern stehen haben? Wir verloren kein Wort darüber und merkten, daß die Augen in unserem Badezimmer voller großer Verwunderung ob all der Herrlichkeiten umhergewandert sein müssen. Schon sehr bald war von dem anfänglichen Hindernis nichts mehr zu spüren. Es erschien erst eine rote und dann eine rosa Zahnbürste auf dem Brett überm Waschbecken. Nach einigen Tagen prangten die beiden Zahnbürsten mitten zwischen den Familienzahnbürsten in dem Behälter. Diese Dinge schreibe ich, weil der Kampf nicht nur glorreich ist, sondern auch solche kleinen Dinge dazugehören. Schon bald besuchte ich die beiden Familien, um mir ein Bild über den Hintergrund der Jungen machen zu können. Wie ich vermutet hatte, stammt Dumani aus einem sehr gediegenen Haus. Der Vater ist Möbelpacker, die Mutter eine „Hausfrau“, wie er mit stolz erzählt. Sie bleibt immer zu Hause, verdient sich ein wenig extra, indem sie Brot backt und Fisch brät und in der Pause auf dem Schulhof verkauft. Restlos erschüttert bin ich von Delizas Zuhause! Deliza ist der Vorsitzende aller SRG-Präsidenten von allen Schulen, ein feiner Junge, der mir sehr das Herz gestohlen hat. Er hat eine sanfte Stimme und sanfte Augen, die voller Begeisterung leuchten können, wenn von der „Freedom Charter“ gesprochen wird. Er wohnt in einer sehr ärmlichen Lehmhütte. Sein Vater starb vor wenigen Jahren. Seine Mutter ist ein sehr verhutzeltes, früh gealtertes Frauchen. Alle zwei Monate bekommt sie eine winzige Rente von 130 Rand. Für Deliza zahlt die Wohlfahrtsgesellschaft 30 Rand im Monat, für Schule usw. Eine Generationenverschiebung hat stattgefunden: Delizas Nichte sitzt hier, mit dem Baby an der Brust. Die Armut schreit einen hier an, aber alles ist pieksauber. Er führt mich in sein Zimmer. Ein Bett mit dünner Decke ist darin und
ein kleiner Bettschrank. „Dies ist mein Bett“, sagt er, „hier kannst du sitzen.“ „Dies sind meine Bücher. Dies ist mein Afrikaans-Buch. Afrikaans hassen wir alle!“ Das Kind krabbelt herein, sieht mich weiße Frau, schreit. Deliza nimmt es und versucht, mir den Verwandschaftsgrad zu erklären, kommt nicht ganz klar und sagt: „This ist my grandchild.“ (Dies ist mein Enkelkind.) Ich kann mich nicht genug wundern, wie so ein feiner Junge aus so erbärmlichen Umständen kommen kann, besonders als ich später die entschieden alkoholische ältere Schwester sehe. Beide Mütter lade ich ein, uns an verschiedenen Tagen zu besuchen und zu sehen, wo ihre Söhne untergekrochen sind. Es ist uns allen ein sehr wichtiger Austausch. Wir hatten uns eingebildet, bescheidener geworden zu sein. In den Augen dieser Jungen sind wir ganz unermeßlich reich. Wir haben sehr viele Gespräche. Sie haben ein starkes Gefühl für die ganze große Ungerechtigkeit des ganzen Systems. Sie empfinden mit großer Bitterkeit die „Bantu-Erziehung“ als sehr minderwertig. Das Pflichtfach „Ubutho bothe“, von Inkatha vorgeschrieben, hassen sie. Es soll sie zu anständigen, gehorsamen InkathaMitgliedern machen. Sie erzählen, wie der Inkatha-Lehrer in die Klasse kommt und die ganze Klasse zu summen anfängt: „Mandela, Mandela …“ Ein Schüler sagt: „Bitte tu uns und dir einen Gefallen: geh!“ - und der Lehrer ging. Nicht lange danach wurde Deliza in das Büro des Hauptlehrers gebracht. Der Special Branch war da - mein „Freund“ Berger, wie immer. Er stellt ein paar Fragen und sagt: „Ich kenne dich jetzt.“ Danach soll er die Jungen an die Inkatha-Vigilantes ausgewiesen haben. Allen Jungen erging es gleichermaßen; bei allen erschien Berger, ein Herr
van der Pias und Boy Diamini, der schwarze Detektiv, der bei der PACSA-Durchsuchung als Garderobenständer für die weißen SBs im Gang stehen mußte. Deliza ist oft unterwegs zu „meetings“; kurz vor und nach der Maitagsveranstaltung besonders. Nach dem gelungenen „Mayday“ trafen sie sich, etwa 500 Jugendliche, Deliza als Vorsitzender. Zu dem Treffen waren allerlei Eltern gekommen, die durch das am Maitag Gesagte stutzig geworden waren, darüber, wohin wohl ihr teuer bezahltes Schulgeld fließt. Mitten während des Treffens kam eine große Gruppe bewaffneter Inkatha-Männer an. Deliza und ein paar andere baten, mit ihnen sprechen zu dürfen. Das gab’s nicht, die Inkatha-Männer stürmten vor, die Jugendlichen rannten nach hinten fort. Da wurden schon die Tränengasbehälter hinter ihnen her gefeuert. Es passierte hier das gleiche, was schon in Sobantu und an anderen Orten geschehen war: Die Polizei schützt nicht das Volk vor Inkatha, sondern Inkatha vor dem Volk. Deliza zeigt mir seine Schrammen und die zerrissene Hose etwas, das sie sich sehr schlecht leisten können. Miteinander versuchen wir, sie etwas zu flicken. Ich sitze vor der Maschine und versuche, den Faden einzufädeln; es geht nicht. „Laß mich mal.“ Beide Jungen (die mein Nähzimmer bewohnen), sitzen vor der Maschine und versuchen einzufädeln – und bekommen es auch nicht hin, denn die Schwierigkeit liegt nicht unbedingt an „meinen alten Augen“. Ich muß denken, was dies doch für eine Zukunftsszene sein könnte: Schwarz und weiß friedlich beim Nähgarneinfädeln! Mit leuchtenden Augen erzählt mir Deliza, er sei so sehr interessiert an der Bibel, er möchte sie studieren. „Dann bist du hier aber gerade richtig gelandet!“ – „Ja, aber das Alte Testament gefällt mir viel besser als das Neue.“ – „So, warum denn?“ Verschmitztes Lächeln: „Im Alten Testament heißt es:
‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’. Im Neuen Testament dagegen heißt es: ‘Du mußt die andere Backe hinhalten, und du mußt deinen Feind lieben.’“ Daran anschließend haben wir ein sehr langes, intensives Gespräch über die Gewalt. Ich bin riesig beruhigt zu erfahren, daß „unsere“ Jungen grundsätzlich gegen die Gewalt sind, aber Gewalt in Selbstverteidigung nicht ausschließen. „Immer sagen sie, wir halten die Jugendlichen an, Steine zu schmeißen. Wir halten gar niemanden an, Steine zu schmeißen“, meint Deliza. – PACSAs Erfahrung ist: Wir haben schon sehr viele Jugendliche, manche fast noch Kinder, gegen Kautionsgeld aus dem Gefängnis geholt. Ich kann mich an keinen erinnern, der dann wirklich der „Public Violence“ überführt wurde. Eines Abends wird das neue UDF-Auto von vier Leuten – einer davon ein Lehrer, der aus dem Schuldienst entlassen wurde, weil er nicht Inkatha-Mitglied ist – vor unserer Haustür abgesetzt. Martin soll das Anmelden besorgen. Er ist nicht da; so erklären sie mir, was zu erklären ist. Ein gelbes Polizeiauto fährt langsam vorbei, kehrt um, der Polizist fragt mich: „Ist alles in Ordnung?“ „Alles in Ordnung. Dies sind unsere Freunde.“ Er fährt langsam weiter, kehrt zurück: „Sind Sie sicher, daß alles in Ordnung ist?“ Er beleuchtet die Nummernschilder und macht sehr deutlich, daß er die Nummer aufschreibt. Ich sage: „Bitte kommt alle zum Kaffee herein. Wir müssen ihnen zeigen, daß Ihr wirklich unsere Freunde seid.“ Die Polizei beguckt sich das. Drinnen ziehe ich sofort die Gardinen vor, sage: „Hineingucken brauche sie ja nun nicht, wenn ich hier Besuch habe.“ Daraufhin sagen sie: „Wir sind nicht dein Besuch, wir sind deine Kinder.“ Wie mich das freut! Kurz darauf kommt Deliza zu PACSA: „Wo ist Mkhulu?“
„Wer ist Mkhulu?“ Deliza lächelt: „Christopher Smith.“ Mkhulu – der Große (im doppelten Sinn). Ich kann’s mir nicht verkneifen: „Oh, und wie nennt ihr mich denn?“ „Du bist die Mama.“ – Ei! Und so behandeln wir uns auch gegenseitig. „Hast du für mich Busgeld? Ich muß nach Edendale fahren.“ „Wenn du mir alle leeren Flaschen bitte zurückbringst, hast du genug Busgeld für ein paar Fahrten nach Edendale.“ -Deliza meldet sich ab fürs Wochenend, er geht auf eine Freizeit. Mit seinem Programm setzt er sich dicht neben mich und zeigt mit seinem abgebissenen Fingernagel, was sie alles Schönes und Gutes machen werden. Er ist mitbeteiligt an der Leitung. „Und dieser hier (er zeigt mir einen Namen) is a white guy (… ist ein Weißer)“ – Es ist ein katholischer Priester, ein guter Freund von uns. Er soll ihn schön grüßen. Warum ich dies schreibe? Unbewußt, oder doch nicht so ganz unbewußt, hat man immer Angst, daß sie doch einmal bei ihren „meetings“ den schrecklichen „Necklace-Tod“ (Halskrausemord) für die verhaßten Leute planen könnten. Und deswegen ertappe ich mich jedesmal dabei, daß ich nachbohre, was sie da machen. Jedesmal bin ich erleichtert, daß davon hier noch keine Rede ist. Um den 10. Mai herum (das genaue Datum läßt sich feststellen) klopft es nachts an der Tür der Mokoena-Familie. Die Männer behaupten, sie seien Polizei. Die Mutter macht auf, sie stürmen herein, zerren den Sohn Saki heraus und metzeln ihn außerhalb nieder. Bei der Beerdigung erscheinen sie auch, treiben alle auseinander und schlagen und stechen wild zu. Keiner kommt um, aber einige sind verletzt. Das Mädchen Nkuli bringe ich am Montag zum Röntgen. Der Knöchel ist vom Schlag der Keule angeknackst, das Auge schwarz, Schläge gab’s über den Rücken und den Bauch. Kein Mitleid bei der Polizei, als sie Anklage erhebt.
Die Beilage „Echo“ bringt Sakis Tod allen Menschen so nahe, daß ich nach der Chorprobe danach gefragt werde und mal richtig erzähle. Wir führen ein absolutes Doppelleben. Verwandte (außer Dankwarts) ahnen nicht, was sich in unserem Haus abspielt…
Das UDF-Auto brennt lichterloh
Lerato holt am Abend die beiden Pflegesöhne ab, um mit ihnen zusammen ins Township zu einem „meeting“ zu gehen. Irgendwie habe ich schlechte Vorgefühle. Sie fahren in jenem UDF-Auto davon. Nachts um 1.15 Uhr geht das Telefon: Das „Bakkie“ brennt lichterloh, ebenso Leratos Haus! Sofort ruft Martin die Polizei an und alarmiert allerlei UDF-Leute. Es ist ziemlich kalt. Schlotternd sitzen wir – auch Gertrud – zusammen im Bett und harren der Dinge. Viel später ruft Lerato an; sie sind alle in Sicherheit, aber der Schaden ist sehr groß. Am nächsten Morgen hören wir die ganze Geschichte. Die Mutter hatte einen solchen Schock erlitten, daß sie einfach wie gelähmt, Kopf nach unten, im Bett liegenblieb. Lerato zerrte sie mit letzter Kraft aus dem kleinen Fenster. Sie ist beileibe keine kleine Frau. Sie war fast erstickt und mußte erst einmal wegen ihrer verräucherten Lungen in Behandlung. Einige Nächte schlief sie bei uns und hustete und hustete und hustete. Das angesengte Auto wurde abgeschleppt und vor unserer Haustür deponiert, wo es die Verwunderung aller Passanten erregt. Die Nachbarin rief schon besorgt an, wollte eine Erklärung haben. Ganz genau kann man ja nun nicht sagen, was da los ist; man sagt dann, dem Kollegen sei „Arson“ (Brandstiftung) im Township passiert, und alles Nötige sei unternommen worden, Polizei usw. Übrigens erschien ein kleiner Artikel im Natal Witness. Als der Journalist bei der Polizei die Geschichte bestätigt haben wollte (das müssen sie tun), wurde erklärt, die Sache sei nicht gemeldet worden! Sie hatten nach unserem Anruf auch eine Dreiviertelstunde gebraucht, um anzukommen.
An dem Abend fand die von Martin lang geplante „housewarming party“ mit seinen Freunden statt. Jugendliche aller Farben schwangen sich fröhlich beim Tanz im Hinterhof. Wir mußten auf die Zähne beißen wegen der Lautstärke (nicht schlimm, nicht spät, alles relativ – ABER – man muß halt immer an die NACHBARN denken!!) Hier könnten sie ja andererseits lernen, wie sehr gut dieses Miteinander möglich ist. Lerato sackte völlig erschöpft auf dem einen Bett im Nähzimmer zusammen. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Dumani legte sich daneben. Das Kerlchen hat einen schweren Schock weg. Blutend und schwarz gerußt kam er bei uns an, Schnittwunden am Arm, klaffend. Die Schnittwunde fand er nicht schlimm. Furchtbar fand er, daß seine Schuhe in Rauch aufgegangen waren, seine guten Schuhe, die er täglich mit Liebe blankgeputzt hatte. Er war in großer Panik weggerannt, und lange wußte keiner, wo er war, und alle machten sich riesige Sorgen um ihn – man denke an Saki Mokoena! Ein anderer Junge wurde wegen einer Messerstichwunde im Rücken in Martins Zimmer behandelt. Es ist derselbe Junge, der das scheußliche Erlebnis hatte und im Vorratsschrank versteckt saß. Er sank erschöpft auf der Matratze im Nähzimmer zusammen. Deliza, der auch kein Auge zugedrückt hatte, tanzte fröhlich, bis die Letzten um Mitternacht gingen. Wir haben den Eindruck, sie gingen schon so „früh“ aus Rücksicht auf die Christen, deren „Heiliger Tag“ doch um Mitternacht anfängt. (Viele der Gäste waren Hindus und Mohammedaner.) Morgens hatten wir also eine riesige frohe Runde am Kaffeetisch. Es kam noch einer dazu, der in PACSA geschlafen hatte, wo man kein Essen bekommt. Als alle gespeist hatten, sagte Dumani ganz trocken: „Und Leratos Freund schläft noch im Bett.“
„WAS? Wo habt ihr denn alle geschlafen? Zu FÜNFT in meinem kleinen Nähzimmer?“ Sie lachten herzlich: „Oh, es war sehr schön warm!“ Am Wochenende fuhr Günther nach Johannesburg zur Kirchenleitungssitzung. Dort hatte er ganz schweren Gegenwind dafür, daß er nach sehr langer, reiflicher Überlegung, mit großen Problemen über seinen theologischen Inhalt, das KAIROS-Dokument unterschrieben hatte, um der Menschen willen, die es aufgestellt hatten, und um der Lage willen, in der wir sind. Deliza fragt: „Wo war denn der ‘Baba’?“ „Bei seinen Oberen in der Goldstadt. Sie haben ein bißchen geschimpft, weil er das KAIROS-Dokument unterschrieben hat.“ Da leuchten seine Augen: „Oh, seit es das KAIROSDokument gibt, gehen wir wieder zur Kirche. Vorher hörten sie nicht auf uns. Nur alte Herren redeten ganz alleine für sich. Keiner konnte protestieren oder sagen, ich kenne andere, aber jetzt fangen sie an, auf uns zu hören.“ Ich wundere mich sehr, will ihm aber wegen des Inhalts zunächst lieber nicht auf den Zahn fühlen. Nach alldem, was ich jetzt gemerkt habe, und weil er den weißen Priesterfreund hat, kann es gut möglich sein, daß er und seine Freunde tatsächlich den Inhalt kennen. Jedenfalls kann es sein, daß wir bald, wenn es bekannt wird, ganz schön geklatscht werden oder ärger. Daraufhin müssen wir uns gefaßt machen. Das KAIROS-Dokument wird derart verteufelt in den öffentlichen Medien; es ist erstaunlich, wie weit sie darin gehen. Auch auf den „Radio-Bantu“-Stationen! Das macht der „Obrigkeitsgehorsam“!
Die neue große „Emergency“
Dem Parlament liegen neue Gesetze vor, die uns große Angst machen, denn wenn sie verabschiedet werden, haben Staat und Polizei so viel Macht, daß aller Widerstand im Keim erstickt werden kann: 180 Tage Haft; Polizei kann nicht mehr haftbar gemacht werden für Aktionen. Nicht umsonst bekamen die Gesetze bereits den Spitznamen „Nazi-Gesetze“. An unserem Ort organisiert Martin eine Unterschriftenaktion gegen die Gesetze, sowie auch eine Kundgebung in der anglikanischen Kathedrale, am Abend des 9. Juni. Etwa 400 Leute kommen. Die Reden sind ausgezeichnet. Pierre Cronje, Parlamentsabgeordneter für den Greytown-Bezirk, hat die Gabe, die allertraurigsten Umstände humorvoll darzustellen. Dennoch sind wir uns alle sehr bewußt über den Ernst der Lage. Es tritt eine Geschäftigkeit ein. Ich sehe, wie Martin den Rechtsanwalt Raja Seetharaman herausholt. Kurze Zeit später wird bekanntgegeben, daß Martins bester Freund Ilan Haladi verhaftet wurde. Ilan hat nur eine Niere, weil er die andere seinem todkranken Bruder schenkte. Wie ein Bombe schlägt diese Nachricht ein, denn Ilan ist ein ganz feiner, allgemein beliebter junger Mann. Nach der Versammlung besuchen wir gleich die Familie; sie wohnen ja ganz nah bei uns. Natürlich leidet die Mutter an Schock. Viele junge Leute verschwinden gleich an diesem Abend, so auch MW. Fröhlich feiern wir Sue Williams’ Geburtstag am 10. Juni. Allerdings hören wir regelmäßig die Nachrichten, denn die Gerüchte gehen immer dringender herum, daß wir irgendeinen Ausnahmezustand erwarten können. Martins Zimmer filzen
wir säuberlich von allem, was den Obrigkeiten mißfallen könnte, im Falle… Am Mittwoch backe ich sehr viel Kuchen, denn ich habe viele der Flüchtlinge zum PACSA-Kaffee eingeladen, um meinen Geburtstag zu feiern. Es ist fast Mitternacht, als ich zu Bett gehe. (Meine „Flüchtlinge“ hatte ich in Sicherheit gebracht.)
Sechs Polizisten in Martins Zimmer
Ich habe noch nicht lange geschlafen, da werde ich wach, vom „knock on the door“ (Klopfen an der Tür)! – Ich plinse hinter die Gardine, da steht eine Wand von Polizisten in der Straße. Bis sie an die Tür kommen, steht die ganze Familie aufgereiht im Bademantel im Gang. Mein Freund-Feind van Klingenberg führt den Reigen an. Ich mache die Tür auf und sage: „Ach, ihr kommt mir sicher „Happy Birthday“ sagen, denn heute habe ich Geburtstag.“ (Es ist halb ein Uhr!) Sie kommen allerdings Martin verhaften. „Er ist nicht da.“ – „Weißt du, wo er ist?“ „Nein.“ (Schon mal dagewesen.) Sie wollen sein Zimmer sehen. Sechs Polizisten fädeln sich durch all den Apfel- und Streuselkuchen auf Platten hindurch zu Martins Zimmer. Die anderen gehen bereits außen ums Haus, damit niemand etwa entrinnen könnte. Sie sind zufrieden, daß tatsächlich niemand da ist. „Du weißt nicht, wo er ist?“ „Letztes Mal habe ich euch voll ins Gesicht gelogen. Diesmal habe ich dafür gesorgt, daß ich die Wahrheit sage, wenn ich euch sage: Ich weiß nicht, wo er ist.“ Ich frage nach Ilan Haladi. „Oh, dem geht es gut. Was dachtest du denn? Was hat dir Jenny Petersen erzählt? Mevrou, wir sind doch gute Freunde!“ „Nein, wir sind nicht gute Freunde, wir sind sehr gute Feinde!“ (Fröhlich gesagt.) Alle schnaufen daraufhin heftig die Luft ein, aber keiner verzieht eine Miene. Sie ziehen ab. Das Telefon klingelt. Unser lieber Nachbar gegenüber fragt in seiner warmen Stimme nach unserem Wohlergehen. Was für eine Wohltat. Wir sitzen alle zusammen im Bett, und Günther
liest uns Psalm 12 vor; auch hören wir uns das BonhoefferTonband, von Siegfried Fietz vertont, zusammen an: „Von guten Mächten wunderbar geborgen“… Es hat uns schon sehr viel bedeutet. Gerne ließe ich Siegfried Fietz das mal wissen. Die Nacht schlafen wir kaum. Ein Anruf nach dem anderen kommt: A. S. Naidoo verhaftet, Dr. Naidoo verhaftet, Dr. Mabusa, Martins Freunde… Es ist halb drei Uhr. Ich beschließe, Christopher Smith zu wecken und ihm alles mitzuteilen. Nach längerem Läuten habe ich eine rauhe Stimme am anderen Ende: „Falsch verbunden!“ Ich entschuldige mich vielmals, wähle noch einmal sorgfältig die Nummer. Dieselbe Stimme! „Günther, wir sind direkt mit der Polizei verbunden!“ Das Telefon läutet: Sue Williams ist verhaftet! Die alte Mutter ist verzweifelt. Sofort rufe ich Heitlands an, sich zu kümmern, damit sie nicht alleine ist. Noch mehr Namen. Unser Telefon ist wohl doch nicht mit der Polizei verbunden. Ich versuche wieder Christophers Nummer. Ellen antwortet. Chris ist auch verhaftet worden, und es war die Polizei, die uns geantwortet hatte! Keine Antwort bei irgendeinem Rechtsanwalt. Halb fünf. Ich höre Türenschlagen und Bakers Törchen quieken. Ein Haufen Polizei! Als sie fort sind, laufe ich hinüber. Niemand wurde mitgenommen, aber sie befragten Mncedisi Motlabi, den Flüchtling, des längeren. Ab fünf Uhr fange ich an, befreundete Leute anzurufen. Höre mehr Namen: die katholischen Priester Theo Kneifel und Stewart Lochman wurde verhaftet, Liz Andrews, Joyce Maclean… Das Telefon klingelt. Mein Bruder E.-A. gratuliert mir zum Geburtstag, wundert sich, daß ich „schon auf bin“. Kein Wort kann ich sagen von dem, was sich zugetragen hat. So geht es weiter. In PACSA versammelt sich eine große Gemeinde von Freunden und Mitleidenden. Sämtlichen Rechtsanwälten war das Telefon abgeschnitten worden. Aber jeder Häftling muß
einen Rechtsanwalt haben. Den ganzen Tag geht das Telefon in PAC-SA. Zwischendurch hören wir, daß die „Emergency“ (Not- bzw. Ausnahmezustand) erklärt wurde. Von dem Augenblick an ist es illegal, irgendjemanden von irgendeiner Verhaftung zu benachrichtigen. Es ist illegal, Listen zu haben, ganz illegal, irgendetwas Nachteiliges über das System zu sagen, wie z. B. „minority regime“ (Minderheitsregierung). Das Internationale Rote Kreuz ruft an, ich gebe meine Liste durch. Die amerikanische Botschaft bekommt meine Liste, zuletzt das Johannesburger „Detainees’ Parents Support Committee“ (DPSC). Von einer Reporterin erfahre ich, daß auf einer Liste, die in Pretoria selbst aufgestellt worden war, Martin als Häftling Nr. 1 für Natal angegeben war. Trotz allem feiern wir sehr fröhlich mit Kuchen Geburtstag. In PACSA sitzen zwei Ausländer, ein Deutscher von der Friedensbewegung und ein Engländer von OXFAM. Sie bekommen alles mit. Mittags ist eine Protestkundgebung in der Uni. Ich bleibe in PACSA am Telefon. Anschließend an die Kundgebung machen sich etwa 200 Studenten und Dozenten mit einem Schreiben an den Brigadier auf den Weg zur Polizeistation Loopstreet. Schon auf der Hälfte des Weges werden sie angehalten von einer großen Polizeimacht. Sie gehen nicht schnell genug auseinander, und zwischen 20 und 30 von ihnen werden verhaftet. Blitzschnell schreibt eine Nonne die Namen auf. Nicht einmal ein Rechtsanwalt kann in Erfahrung bringen, wer verhaftet wurde. Lange wußten wir nicht, ob der Deutsche verhaftet wurde oder weitergefahren ist. Es stellt sich heraus, daß er mitgefangen war. Ebenso wie der Priester und der deutsche Student Konrad wurde er des Landes verwiesen. Es ist so, daß Leute jetzt wie Stecknadeln verschwinden können. Den drei Tanten hatte ich alles erzählt.
Sie sorgten dafür, daß niemand mich zu meinem Geburtstag besuchen kam. Das wäre schwer auszuhalten gewesen, „small talk“ machen zu müssen, weil Leute nicht viel Verständnis haben.
Die fröhliche kleine Tochter des Polizisten
Freitag: Es ist meine letzte Religionsstunde mit den Kindern vor den Ferien. Ich bereite eine Party mit ihnen vor, will mit Lukas 14, der Geschichte vom großen Abendmahl, anknüpfen. Die kleine Tochter vom Geheimpolizisten Berger plappert sehr fröhlich: „Sie verhafteten gestern 20 Pastoren auf einem Marsch. Wißt ihr, was das Allerwitzigste ist? Sie wurden alle zusammen in eine Zelle getan, weiß und schwarz!“ Sie lacht ganz schallend. Ich spüre die Schlaflosigkeit und Spannung, kann nur sagen: „Das waren Studenten, und ihre Mütter wurden nicht benachrichtigt, und sie haben bitterlich geweint.“ Mit meiner Geschichte komme ich gar nicht an den Mann. Später reden sie über den bevorstehenden 16. Juni. Bergers Tochter weiß: „Oh, es wird sehr gefährlich! Die Schwarzen werden Bomben schmeißen und uns umbringen, aber die Polizei wird gut aufpassen!“ Noch eine Geschichte weiß sie mir beim Zusammenpacken zu erzählen, die ich von der anderen Seite her kenne. Ich bitte unseren Pastor, mich vom Religionsunterricht für diese Gruppe zu befreien. Mit viel Mühe muß ich jedesmal Berger aus dem Weg gehen. Vom Chor aus veranstalten wir an dem Abend eine Party, denn Waltraud hat auch Geburtstag. Einigen kann man erzählen, was sich zugetragen hat; alle wissen inzwischen, daß wir Haussuche hatten, mehr aber nicht. Im Chor sitzen verhältnismäßig aufgeschlossene Leute. Für Samstag hatte ich schon zuvor einen Erste-Hilfe-Kurs angesetzt, für Hilfe bei Tränengas, Schrotwunden usw. kurz Riothilfe. Wir ich erwartet hatte, tauchte bis auf zwei Mädchen
niemand auf, zu gefährlich. Sie aßen zu Mittag bei uns. Als ich sie zur Bushaltestelle fuhr, merkte ich, daß die beiden Herren immer noch im gelben Auto saßen, das ein paar Häuser weit entfernt unter einem Baum stand. Ich hatte sie schon früher gesehen. Auf dem Rückweg fuhr ich anders herum und sah die Nummer: das Auto, in dem Jenny Petersen mitgenommen worden war! Wir sind also unter Bewachung. Auch am Sonntag waren sie da. Ob sie denken, daß Martin den Wahnsinn begehen würde, nach Hause zu schlüpfen? Aus dem UDF-Office rief mich am Samstag einer „meiner“ Flüchtlinge an: Aus Mpolweni sei ein großer Haufen Leute verhaftet worden, und die Polizei habe die Häuser in Brand gesteckt. Ich solle bitte ganz schnell mit der Kamera hinfahren und Bilder für die Zeitung machen! Ich muß die guten Leute aufklären, daß schon das, was sie mir gesagt haben, höchst illegal ist, und daß ich ganz leider auf keinen Fall Bilder machen kann, außer wenn ich gerne 10 Jahre in Haft sitzen möchte, und daß leider so etwas nicht mehr berichtet werden darf! Sie sind vor Schreck ganz verstört darüber. Es ist sehr schwierig, herauszubekommen, ob diese Nachricht stimmt. Erst später hörten wir, daß tatsächlich 29 Leute von den Familien Tsatsao und Mahabane verhaftet worden waren. Mahabane war der ANC-Mann, der nicht zu Hause beerdigt werden durfte. Ein Tsatsao hatte kürzlich dort eine sehr große Beerdigung. Er war ein Mann vom „struggle“. Außerdem hatten wir natürlich vor einiger Zeit den „great escape“ (die große Flucht) aus dem Edendale Hospital, wo ein verwundeter ANC-Mann auf ganz waghalsige Art aus dem Krankenhaus entführt worden und spurlos verschwunden war. Es hatte auf dem Gang eine Schießerei gegeben, und ein unschuldiger Besucher war umgekommen. Es mußte ein Stachel für die Polizei sein, daß sie niemanden gefunden hatte.
Der Kranke hieß auch Tsatsao. Es stellte sich heraus, daß die Polizei wohl gewütet, Türen eingetreten und Schaden angerichtet, aber anscheinend nicht Feuer gelegt hatte. Montag, der gefürchtete 16. Juni, war ein besonders stiller Tag; die Stadt war am Morgen wie ausgestorben. Gegen halb elf geht dann das Telefon. Neill Macaulay (Professor für Englisch) ruft sehr dringend an: Ein Sergeant van der Merwe habe angerufen, Christopher Smith sei sehr ernstlich an einem Herzinfarkt erkrankt und Ellen solle unverzüglich zur Intensivstation fahren. Ich benachrichtige schnell den Schwiegersohn. Später ruft Ellen vom Krankenhaus an, Chris sei nicht eingetroffen, würde auch nicht erwartet. Sie dachte, er sei unterwegs gestorben. Mark Johnson ruft sofort den Brigadier Griebenauw an. Der ist ganz betroffen, Chris sei kerngesund. Wir rufen im Gefängnis an. Tatsächlich! Die Geschichte war ein ganz besonders eklig erdachter „Witz“. Am selben Tage macht ein Handzettel die Runde: „You stay – we pay!“ (Ihr bleibt – wir zahlen!) – Ein Aufruf an alle, die von der Arbeit fortgeblieben waren, sich bei Wittenbergs, Smiths, Macaulays und Harveys zu melden, sie würden dann zwischen 10 und 30 Rand erhalten. Wir melden die Sache beim Brigadier. Der verheimlicht keineswegs, daß er Bescheid weiß. Glücklicherweise biß niemand an. Ein einziger etwas angesäuselter Mann kam bei uns an. Ich erklärte ihm, daß es ein „dirty trick“ sei, gegen uns und auch gegen ihn gespielt, und daß wir die Sache der Polizei gemeldet hätten. Er lachte ganz breit: „Nachher hat die Polizei es selbst getan.“ Am Abend haben wir eine sehr schöne Agape-Feier im Gedenken an die Häftlinge. Wir hören, daß die Deutschen, Niels Huber, Johannes Konrad und unser Besuch, wieder
draußen sind, aber bis Mitternacht des nächsten Tages das Land verlassen müssen. Ellen hat eine schwierigen Tag: Sie steht wegen eines Erlaubnisscheins an, um Chris besuchen zu dürfen. Sie muß unbedingt die „power of attorney“ bekommen, denn ohne Chris kann nichts getan werden, können keine Schecks bei der Bank eingelöst werden usw. Sie sieht noch Niels Huber, der ihr berichtet, daß sie alle zusammen sind, singen, tanzen und fröhlich sind. Wieder langes Anstehen beim Gefängnis. Ellen bekommt Vorrang – wohl wegen des schlechten Witzes. Als sie Chris sieht, weiß sie, daß es mit der ‘Fröhlichkeit’ nicht so weit her ist. Sie können sich überhaupt nicht privat unterhalten, der Wärter fährt immer dazwischen. Chris unterschreibt, was er muß, und sagt sehnsüchtig: „Wenn ich bloß diesen Federhalter behalten könnte!“ Sie nahmen ihnen Uhr und Ehering ab. Sie dürfen nur eine Gefängnisbibel haben, aber kein Papier und Schreibzeug. Ellen ist nach diesem Besuch fast deprimierter als vorher. Als sie herauskommt, bekommen alle anderen Angehörigen, die schon lange gewartet hatten, den Bescheid, daß sie ihre Leute nicht mehr sehen dürfen.
Tagebuch, 26. Juni 1986 Zwischendurch verbringe ich das Wochenende vom 22.6. in Pretoria. Ich erlebte, wie wir in völlig verschiedenen Welten leben. Die afrikaanse Berichterstattung ist etwas ganz anderes als die englische.
Warme Pullover für Häftlinge
Tagebuch, 27. Juni 1986 Mark J. und ich gehen mit Geld und warmen Sachen (wir hatten erfahren, daß unsere Jungens die Sachen nicht bekommen haben) zur zentralen Polizeistation, legen unsere Namensliste vor. Nur Lerato ist hier. In unserer Gegenwart bekommt Lerato die Sachen überreicht. Wir stehen an einem kleinen Fenster und sehen, wie der Beamte den „Dungeon“ öffnet, ein ganz finsteres Loch im Torbogen, mit winzigem Loch ganz oben an der Decke. Ich hämmere laut an die Scheibe, und wir winken einander zu, und ich zeige ihm meine gefalteten Hände. Er sieht gut aus, ist aber im Hemd und braucht bestimmt die warme Jacke dringend. Der Polizist läßt fallen, die anderen seien in Bishopstowe. Von zu Hause aus rufe ich dort an, weil es so weit zu fahren ist. Ich werde weiter und weiter nach oben verwiesen. Allen merke ich den Schreck an, daß ich von Bishopstowe erfahren hatte. Der Sergeant sagt noch: „Für wen? Warte, ich schau mal auf der Liste nach.“ Aber ich muß den Bezirkskommandanten anrufen. Der vermutet eine sinistre „Organisation“ hinter meiner Idee, armen frierenden Häftlingen warme Jacken bringen zu wollen. Er schreit mich an: „The country is in a mess, and we are trying to clear it up, and you come in such round about ways!“ (Es herrscht so ein Durcheinander im Land, und wir versuchen, es wieder in Ordnung zu bringen, und dann kommen Sie auf so verschränkten Wegen daher!) Ich sage: „Not round about, very straight: warm Jerseys for prisoners, nothing else.“ (Gar nicht
verschränkt, sondern ganz geradeaus: warme Pullover für Häftlinge, sonst nichts.) Ich mußte also zum Brigadier deswegen. Ich bat Tochter Reinhild, mitzukommen, dann – so wußte ich – würde mir nichts passieren. Auch der Brigadier mußte von der erstaunlichen Tatsache überzeugt werden, daß hinter den Jacken nichts als eine pur mitmenschliche Regung steckte. Auch er war wütend, daß „Bishopstowe“ herausgekommen war. Er las mir die Regeln erst afrikaans und dann englisch vor: Man darf oder darf nicht warme Kleider annehmen. Jetzt heißt es: Man darf NICHT! Ich wollte ihn doch wohl nicht in Schwierigkeiten bringen? Nein, das wollte ich nicht, aber mir selbst würde es nichts ausmachen, deswegen in Schwierigkeiten zu geraten. „Also Mrs. Wittenberg, Leute sterben bei uns nicht an Kälte.“ „Woran sterben sie dann? Sorry, ich war jetzt cheeky (frech), aber ich habe trotzdem Respekt vor euch.“ „Alle Deutschen sind cheeky.“ Huldvoll ließ er uns gehen. Auf dem Gang stehen eine Menge SBs. Ich habe den Verdacht, daß sie gelauscht haben. Sehr freundlich lächelnd entläßt mich mein Freund-Feind van Klingenberg. Bedrückt berichte ich John Baker von der vergeblichen Liebesmüh. „Wir fahren nach Bishopstowe, ich komme mit.“ Er macht sich fein, und wir fahren los. Die Polizeistation liegt sehr weit draußen. Uns kommt die beklemmende Einsicht, daß man hier laut schreien kann, ohne gehört zu werden. Waren sie deshalb so wütend, daß mein Ohr den Namen so flink aufgeschnappt hatte? John dreht sein Fenster herunter und pfeift laut: „Nkosi sikelel’i Afrika…“ Der Polizist fragt mich: „Warst du beim Brigadier?“ „Ja.“ „Was sagte er?“ „Well, hier ist das Paket.“
„Ich habe keinen Befehl bekommen, ein Paket anzunehmen, also nehme ich kein Paket an. Befehl ist Befehl.“ Wieder pfeift John laut aus dem Fenster „Nkosi sikelel’…“ – Gott segne Afrika… und ich pfeife mit. Es ist jetzt Nacht und unter null Grad!
Was schreibt man zum Tode Verurteilten?
Bericht, 18. September 1986 Am Donnerstag, dem 4. September, lasen wir in „Echo“, daß am Dienstag, 9. September, Mapetlas Hinrichtung stattfinden sollte. Wir hatten in PACSA allerlei mit der Mutter zu tun gehabt und sie und den einen Bruder durch die schweren Zeiten der Haft sehr gut kennengelernt. Mrs. Mbatha hatte eines Morgens zitternd vor Angst in PACSA gestanden. Sie war benachrichtigt worden, daß ihr Sohn sich in „Alexandra“ in Haft befinde, und daß sie ihn besuchen kommen solle. Sie hatte keine Ahnung, warum es ging, und hatte noch nie mit der Polizei zu tun gehabt. Der Sohn war bis dahin bereits drei Monate in Haft gewesen und muß Schlimmes durchgemacht haben. Wir beteten mit ihr um Ruhe und Kraft, weil es einfach notwendig war, den Sohn zu sehen. Ich brachte sie dann und viele andere Male hin. Eines Morgens las sie in der Zeitung, daß Mapetla des Mordes angeklagt sei und die Todesstrafe zu erwarten habe. Wieder kam sie zitternd und bebend bei uns an. Auch an dem Morgen der Urteilsverkündung saß sie bei uns in PACSA, grau und geistesabwesend. Ich gab ihr die Bibel, war nicht imstande, auch nur ein Wort zu sagen. Mapetla soll mit seinem Freund zusammen Luke Malele umgebracht haben. Man nahm an, daß Luke zuerst Leute für den ANC warb und sie dann der Polizei verpetzte, so daß viele schon in Schwierigkeiten gekommen waren. Daher gab der ANC den Auftrag, Luke Malele aus dem Weg zu räumen. Auf Mapetla war wohl das Los gefallen, es zu tun. Während des ganzen Verhörs stand er zu seiner Tat. Wie erwartet, wurde er dann zum Tode verurteilt. Den Müttern wurde gesagt: „Besucht sie
noch einmal morgen früh, ehe sie nach Pretoria gebracht werden.“ (Thalo Nshuntshas Mutter war mit dabei). Gleich nach dem Todesurteil war keine Zeit zum Besuch, da mußten die beiden gemessen und gewogen werden!! Die Mütter standen um vier Uhr früh auf und marschierten den weiten Weg zum Gefängnis, um ja rechtzeitig da zu sein – so früh gibt es keine Busse. Als sie beim Gefängnis ankamen, wurde ihnen mitgeteilt, die beiden seien bereits gestern abend noch nach Pretoria gebracht worden und seien schon da angekommen. Nein, diese Flut von Tränen bei uns in PACSA danach – wir alle mit! Freitag brachten wir damit zu, Karten für Mutter und Sohn zu machen. Was schreibt man einem gesunden, jungen Mann, dem am Dienstag gewaltsam das Leben genommen werden wird?? Er hatte so ein nettes Verhältnis zu Chris, und er hatte ihm ergreifende Briefe aus dem Gefängnis geschrieben. Jetzt konnte Chris ihm nicht schreiben, wir mußten es für ihn tun. Es war die allerschwierigste Karte, die ich im Leben gemacht habe. Wir beschlossen, daß wir die schönsten Blumen darauf kleben wollten, die wir gepreßt hatten, und schrieben ihm die Stelle Johannes 14: In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Wir meinten, das tun zu können, nach den Briefen, die von ihm gekommen waren.
Bericht, 20. Oktober 1986 Am 6. Oktober wurden 25 der Jüngsten freigelassen. Viele von ihnen sind unter 18 Jahre alt. Dumani, der acht Wochen lang bei uns gewohnt hatte, wurde erst freigelassen, dann draußen wieder verhaftet unter „section soundso“, nämlich, daß er fünf funkelnagelneue Gewehrkugeln in seiner Tasche hatte, als er verhaftet wurde. Er beteuert, er habe sie außerhalb des UDFOffice auf der Straße gefunden. Ich glaube ihm das; ich
vermute darin eine Falle für die Jungens. (Wir erlebten ja schon öfter, daß Fallen gelegt wurden.) Einen Tag später erschien Dumani vor Gericht und wurde in die Obhut seiner Eltern entlassen. Seinen Vater holte ich schnell im Geschäft ab. Der Vater unterschrieb, sah Dumani nicht an, schüttelte ihm nicht die Hand, sagte im Vorbeigehen: „Von Dumani haben wir die Nase voll. Laß dir von meiner Frau erzählen.“ Ich nahm Dumani dann mit nach PACSA, wo er seinen ersten richtigen Kaffee wieder bekam. Und dann packte er aus: Gleich nach der Verhaftung wurden Dumani von den anderen abgesondert. In der Polizeistation Alexandra bekam er eine Tasse starke Salzlösung verabreicht, die seine Lippen bluten machte. Nach einiger Zeit hatte man „Erbarmen“ mit seinem großen Durst und gab ihm eine weitere Tasse Salzlösung, wohl nicht so stark, während er verhört wurde. Man brachte ihn zur Polizeistation Inchanga, auf dem halben Wege nach Durban gelegen. Dort war wohl in der Zelle ein Tisch mit lauter Marterinstrumenten, von denen immer mal wieder eines in Benutzung kam. Als erstes hängten sie ihm einen Fahrradreifen um, der mit Papier vollgestopft war. Das Papier zündeten sie an, und Dumani sollte es auspusten. Statt dessen starrte er den Polizisten van Lubbe nur einfach an. Der riß ihm den Reifen ab, ehe verräterische Brandwunden entstehen konnten. Viele Male wurde Dumani geschlagen und getreten, wenn er nicht die Antworten gab – oder geben konnte –, die von ihm erwartet wurden. Er hat eine Stelle auf dem Kopf, wo das Haar nun nicht mehr wächst. Besonders gemein – und neu – war die Gefriertortur, ganz clever erdacht, denn sie hinterläßt keine Spuren. Dumani mußte sich entkleiden. Dann wurde er in eine Plastikschüssel gestellt, auf Eisblöcke. In seine Unterhose, auf die Geschlechtsteile, wurde ein Beutel Eis getan, und in jeder Hand mußte er einen Eisblock halten. Etwa zwei Stunden lang mußte er so stehen, während er verhört
wurde. Wonach wurde er gefragt? Nach Martin Wittenberg, nach Lerato Ndzanga und Mxolisi Mduli hauptsächlich. Bald waren die anderen beiden verhaftet.
„Ihr Schwarze seid Affen!“
Dumani kam dann in die Polizeistation Howick mit „unserem“ Deliza zusammen, und danach wurde er nicht mehr gefoltert. Später, als er ins „New Prison“ in Pietermaritzburg kam, wurde er mit all den anderen Minderjährigen zusammengebracht, und sie sahen Videos und lasen Bücher. Dort traf er auch Mncedisi Motlabi, der von Berger verhaftet worden war, mit dem wir Mütter so gezankt hatten. Berger hat ihn anscheinend nicht physisch gefoltert, sondern seelisch, wie er das schon mit Mandla Kwabane gemacht hatte: „Ihr Schwarzen seid Affen, Gott hat euch minderwertig erschaffen, das steht schon in der Bibel…“ usw. Zu der Zeit bekam Dumani ein Schriftstück vorgelegt, das er unterschreiben sollte: Er sei bereit, in ein Ausbildungslager zu gehen und eine „Ausbildung“! zu empfangen. Zuerst wurden die Minderjährigen aufgefordert zu unterschreiben. Die Volljährigen fragten, wo dieses Lager denn sei, und wer es unter sich hätte. Darauf gab es ausweichende Antworten, die Lager seien geheim und so … Dumani, der schon unterschrieben hatte, wollte wissen, ob es ihm auch möglich sei, wieder raus zu kommen, falls es ihm dort nicht gefalle? – Auf jeden Fall! Am Nachmittag brachte ich Dumani nach Hause. Mit blitzenden Augen empfing ihn seine Mutter. Ich erschrak sehr. Sie wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er habe ihnen nichts als Troubles (Ärger) gebracht. Er kann nicht gehorsam sein wie seine Geschwister. Diese schlimme UDF! Nein, Inkatha ist auch nicht gut. Es kommt nicht auf UDF oder Inkatha an, sondern nur auf Jesus. – Es kam dann heraus, was
sie so riesig bekümmert hatte: Die Nachbarn waren herübergekommen, um „Damages“ (Entschädigungen) zu verlangen, Dumani soll die junge Tochter geschwängert haben! 500 bis 700 Rand sind da zu zahlen! Was für furchtbare Last! Ich sagte ihr dann, daß Dumani in Haft Schlimmes durchmachen mußte. Auch erinnert ich sie an den verlorenen Sohn, der Schlechteres als Dumani getan hatte und dem sein Vater dann doch das gemästete Kalb geschlachtet hatte. Es war wohl gut, daß sie ihrem Ärger mir gegenüber Luft machen konnte. Dumani kam am nächsten Tag recht vergnügt zu PACSA. Ich darf nicht vergessen zu erwähnen, daß ihm, ehe er aus der Haft entlassen wurde, ein lebensgroßes Bild von ihm selbst (Kopf und Schultern) vorgelegt wurde. Um den Hals war ein Strick fotomontiert, und darunter standen in großen Buchstaben die Worte „I want to die“ (Ich will sterben). Das war die Warnung, falls er weitersagen sollte, was ihm in Haft geschehen war. Vier Tage später stand Dumani vor unserer Tür: In der Nacht war eine Gruppe Inkatha-Vigilantes beim Nachbarn erschienen, wo sie ihn vermuteten, und hatten ihn herausgerufen. – Nun sind wir da, wo wir vorher waren. Nur müssen wir nun noch vorsichtiger sein, alldieweil die Nachbarn uns beobachten.
1987 Gedanken von Eltern, die einen Sohn im „Versteck“ haben
Beitrag für ein Schweizer Kirchenblatt, Anfang 1987 Wir haben einen einzigen Sohn neben drei Töchtern. Als unser Sohn geboren wurde, gaben wir ihm den Namen eines mutigen Kirchenvaters, der uns viel bedeutet. Schon früh waren Recht und Gerechtigkeit ihm wichtig. Seine Geschichtsarbeit für Matrik schrieb er über James von Moltke und den Kreisauer Kreis im Widerstand gegen Hitler. An der Universität kam er schon bald in den Studentenrat. Er schrieb Artikel über Unrechtsaktionen in der Studentenzeitung und war unermüdlich tätig, Mitstudenten über die Strukturen und Gesetze der Ungerechtigkeit aufzurütteln. Zu allen Zeiten war er dabei auf gewaltlosen Widerstand bedacht. Die Gegenreaktion ließ nicht lange auf sich warten. Ein nächtlicher Überfall von hinten brachte ihm einen Nasenbruch bei; die „unzerbrechlichen“ Windschutzscheiben wurden eingeschlagen; häßlich Anrufe, Drohungen und Verfolgungen per Auto gab’s zuhauf. Schließlich wurde bereits zweimal Haftbefehl gegen ihn erlassen: einmal im September, als eine zweistündige Zimmersuche dazu kam; das andere Mal am 12. Juni, nachts um halb ein Uhr. Beide Male kamen sie umsonst: Er war nicht zu Hause. Seitdem muß er im Versteck leben. Auch sein Aussehen mußte er ändern, denn bei polizeilichen
und militärischen Straßensperren wurden seine Fotos gezeigt und alle Gefangenen wurden nach ihm gefragt. Man sucht ihn! Ein Nach-Hause-Kommen ist jedesmal ein Drama. Die allerbesten Leute der Stadt bieten ihm Unterkunft das zeigt, welche Achtung er genießt. Was empfinden nun Eltern, die solch einen Sohn haben? Natürlich allerlei Sorgen und Ängste, aber auch Stolz (dazu bekennt sich die Mutter). Keinen Augenblick glauben wir, daß er auf dem unrechten Weg ist, oder daß er durch sein Verhalten dem „bösen Kommunismus“ Tor und Tür öffnet. Wir haben in all diesen Jahren die Richtigkeit und Wichtigkeit des Wortes kennengelernt: „… Laß den morgigen Tag für das seine sorgen, denn ein jeglicher Tag hat genug der eigenen Plage…“ HEUTE schon sorgen ist völlig müßig! Allerdings knoten wir ihn täglich Gott aufs Herz. Und dann können wir recht vergnügt ans Tagwerk gehen.
Bericht, Anfang Februar 1987 Nach unserer Rückkehr aus Deutschland fanden wir den Garten zwar in schlimmem Zustand, das Haus aber tipptopp vor. Für den Zustand war Ma Dlomo verantwortlich, nicht Dumani. Während Dezember und Januar hieß unser Haus „Dumani’s House“ und war wohl recht bevölkert von so vielen Jugendlichen, wie niemand so recht zu erzählen wagt. Jedenfalls hat der Nachbar schräg gegenüber es für nötig gehalten, zweimal die Polizei zu schicken; etwas, was wir absolut nicht gebrauchen können, und worüber ich recht sauer war. (Es handelt sich nicht um den Nachbarn, der unser treuer Freund ist. Die waren eben leider zur gleichen Zeit in England.) Wollen wir die Sache einmal positiv betrachten. Hier haben in einem unbewachten Haus Dutzende von schwarzen Jugendlichen in einem weißen Haus gewohnt, sich
frei bedient mit Bettlaken und anderen Dingen. Wir kommen zurück und nichts ist kaputt, nichts ist weg (außer einer Matratze, die einer „geliehen“ hat und die allerdings noch nicht zurück ist…). Das ist im Kontext unseres Landes eine ganz erstaunliche und beachtliche Sache! Zwar hat der Nachbar zur Linken, der selber Probleme hat, behauptet, er hätte das Kind ausquartieren müssen wegen dem Krach. Die Nachbarin zur Rechten freute sich allerdings, daß jetzt nach der „tödlichen Stille“ endlich wieder Leben in die Bude käme. Sie ist entschieden nicht taub!!!
Die Jugend fiel wütend über ihn her
Tagebuch, Mitte Februar 1987 Jugendliche aus Mpolweni kommen und bitten um Hilfe. Es ist so dringend, daß sie sich bitte in weißen Häusern verstecken möchten. „Was ist denn geschehen, daß ihr so dringend Unterkunft braucht; ist die Polizei hinter euch her?“ Allerdings. Sie erzählen uns die ganze Geschichte, und uns stehen die Haare zu Berge, besonders in dem Wissen um etwaige Abhörgeräte: In Mpolweni hatte ein Inkatha-Mann von woanders einen der Leute umgebracht. Sein Komplize, der vor Gericht als Kronzeuge gegen ihn aussagen wollte, kam eines Tages mit einem Gewehr auf die anderen Mpolweni-comrades zugelaufen und legte an, lachend. Das Gewehr ging nicht los. Da drehte sich der Spieß um. Die Mpolweni-Jugend fiel wütend über ihn her. Er raste davon, Richtung Fluß, und sprang hinein. Die Jugend schlug und hieb und schmiß mit allen Mitteln, die zur Verfügung standen. Als er aus dem Wasser noch einmal auftauchte, nahm einer der beiden in unserem Büro einen großen Stein und warf ihn ihm auf den Kopf, worauf er nicht mehr aufkam. Er wurde später gefunden, von der Polizei. Christopher Smith war es nicht möglich, diesen beiden zu helfen, denn niemals darf PACSA beschuldigt werden, daß wir wirkliche Gewalt, von der wir wissen, unterstützt haben. Er erklärte es ihnen genau. Vor Schock und Angst wurden sie ganz gelb. Es tat uns sehr leid.
Tagebuch, 18. Februar 1987 Übers Wochenende war Familie Smith wieder das Opfer schlechter Witze. Am Samstag versuchte ein Mann mit Lieferwagen, Zementsäcke im Wert von 500 Rand – sofort in bar zu bezahlen – bei Smiths abzuladen. Es gelang ihnen, das zu verhindern. Am Montag kam ein mächtiger Laster mit 7.000 Ziegeln im Wert von über 1000 Rand – ebenfalls bar zu bezahlen – und wollte unbedingt auf den Hof. Dabei krachte der Bürgersteig ein. Mit viel Mühe gelang es Smiths, auch diesen Laster abzuwimmeln. Gelitten haben die beiden Betriebe, die von irgendwoher die Bestellung bekommen hatten.
Tagebuch, 21. Februar 1987 Wir hören, daß Dumani wieder verhaftet wurde und zwar, weil er beschuldigt wird, „Dagga“ (Haschisch) geraucht zu haben. Wir sind recht bekümmert, denn Dumani hatte sich große Mühe gegeben, in irgendeiner Schule unterzukommen. Keine Schule ist bereit, diese Jungs aufzunehmen, die in Haft gesessen haben, ohne je für irgendetwas angeklagt worden zu sein. Ich glaubte, daß hier durch Langeweile möglicherweise schlechte Sitten eingekehrt seien. Am Montag kommt Dudis Mutter ins PACSA-Büro. Dudi war auch Freitagnacht verhaftet worden. Sie weint bitterlich. Für sie war es die erste Erfahrung solcher Art. Mitten in der Nacht, zwei Uhr oder so, war der Polizist Berger mit vielen anderen in drei Autos zu ihr ins Haus gekommen. Sie durchsuchten das ganze Haus und fanden nichts; nicht das kleinste ANC-Dokument im Hause, um eine Verhaftung möglich zu machen. Dagegen fanden sie viele Bibeln und Gesangbücher und Gebetbücher, denn Dudis Mutter ist eine Gebetsfrau. Berger herrschte sie an: „Das hättest du deinem ungeratenen Sohn mal beibringen sollen!“ –
„Habe ich doch!“ weinte sie, aber es half nicht und Dudi sitzt heute noch.
Tagebuch, 5. März 1987 Der schwarze amerikanische Botschafter Perkins besucht uns in PACSA. Er will auch einige von Christophers Mitgefangenen kennenlernen. So sind Dr. Naidoo, Dr. Mabusa und Allan Naidoo da, auch unser Nachbar John Baker, der dies Jahr PACSA-Vorsitzender ist. Kaum ist der Botschafter mit seinem „Gefolge“ da, dem Konsul aus Durban und der Pressereferentin, da geht das Telefon und John Baker wird verlangt. Das Gespräch geht inzwischen weiter und Christopher wird allerlei gefragt. Dann hatte der Konsul in der Zeitung gelesen, was Smiths letzthin für „Witze“ erlebt hatten. „Laßt euch ‘mal erzählen“, sagt Christopher, „was John in diesen Minuten erlebt hat.“ John war also ans Telefon gerufen worden, wo ein Mann ihn fragte: „Warum bis du nicht bei der Arbeit? Was ist das für eine Versammlung, bei der du gerade bist?“ – John sagt: „Mit wem spreche ich bitte?“ – „Das sage ich Dir nicht, aber ich wünsche, dich um ein Uhr zu sprechen!“ Wir sind alle noch recht geschockt über diese Sache, das sagt Dr. Naidoo freundlich lächelnd: „Das erklärt mir, was das für zwei Männer sind, die in einem offiziellen Postauto hier vor eurer Tür stehen, mit Hörgeräten auf den Ohren.“ Christopher läuft raus: tatsächlich! Es sieht auch überhaupt nicht nach Reparatur aus. Die Tür bleibt offen. Ich sitze ihr gerade gegenüber und beobachte, daß in dem Augenblick, in dem der Botschafter sagt: „Also auf Wiedersehen“, dies Auto sich auf den Weg macht. Der Botschafter hatte nach der Entdeckung nur noch geflüstert. Er war aber sowieso recht beeindruckt. Er hatte uns erzählt, daß seine Freunde zu ihm gesagt hatten, als er diesen
schwierigen Posten bekam: „Edward, du sollst wissen: unsere Gebete begleiten dich.“
Tagebuch, 6. März 1987 Wir feiern den Weltfrauengebetstag in unserer Halle mit Frauen aus mehreren Kirchen und verschiedener Hautfarben. Wir halten das „Agape“, das Liebesmahl, miteinander, und das beeindruckt doch viele aus unserer Gemeinde sehr, die so etwas noch nicht miterlebt hatten. Anschließend nimmt mich Jennifer du Toit beiseite. Sie gehört zur anglikanischen Gemeinde. Bei ihnen hatte ich Dumani und Deliza kurz vor der Erklärung des Ausnahmezustandes untergebracht, als es bei uns brenzlig wurde. Jennifer erzählt mir, daß sie zwei Geheimpolizisten zu Besuch gehabt hat. Sie haben ihr viele, viele Fragen gestellt und dann eine Erklärung über die beiden Jungs abgenommen: „Hatten sie je Gewehre? Oder andere Waffen? Wie seid ihr an sie gekommen?“ „Durch PACSA“ – „Das wollen wir nicht wissen. Welche Person hat sie euch vermittelt?“ – „Monika Wittenberg“ – Sie wollten wissen, warum Jennifer so „angriffig“ sei, sei sie nicht gut Freund mit der Polizei? Da packten Jennifer und ihr Mann ‘mal ganz schön aus und erzählten den Polizisten, wie das so sein muß, wenn man in den Schuhen dieser Jugendlichen steckt. Der Jüngere hat betroffen zugehört. Er ist derselbe, der schon bei uns peinlich berührt war, als ich die tiefschockierte Reinhild mit schneeweißem Gesicht hereinbrachte, damit sie sehen und über ihren Schock hinwegkommen könnte, damals im September 1985. Du Toits hatten gehört, daß Dumani am Montag vor Gericht erscheinen würde wegen der Kugeln, die ihm schon so viel Elend verursacht hatten. Eine Dagga-Anklage gab es
gegen Dumani nicht. Das ist schon mal eine Erleichterung. Graham du Toit sollte bei der Verhandlung erscheinen.
Tagebuch, 8. März 1987 Günther predigt im englischen Gottesdienst über die Sündenfallgeschichte. Vor Anfang der Predigt liest er zwei Zeitungsabschnitte vor: - 196 Gefangene unter 18, aber über 15 Jahren, werden in Haft gehalten. Es ist nicht im öffentlichen Interesse, ihren Namen bekannt zu geben. - 83 Menschen starben 1986 in der Haft. Es ist nicht im öffentlichen Interesse, ihre Namen und die Umstände ihres Todes bekannt zu geben. Tief geschockt hörte die Gemeinde zu, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Günther arbeitete dies heraus: „Ihr werdet sein wie Gott“,… also zum Beispiel beschließen, was im „öffentlichen Interesse“ ist und was nicht. Schräg hinter mir saß der Polizist Berger mit seiner Familie. Hinterher ging er auf einen der Vorsteher zu und fragte ihn nach dem Namen des Predigers. Auf seinem Gesicht war deutlich großer Ärger zu lesen. Meine Knie hörten lange nicht auf zu zittern.
Wer Inkatha nicht beitritt, ist in Gefahr
Tagebuch, 10. März 1987 Dumani hat einen sehr vernünftigen Richter. Er verurteilte ihn zu drei Monaten Haft, die er ja bereits abgesessen hatte. Zu Graham du Toit sagte er: „Was du hier solltest, weiß ich nicht. Sie haben nur deine Zeit verschwendet.“ – Oh, wie sind wir alle so erleichtert! Ma Qubule erzählt voller Sorge, daß sie am Sonntag samt und sonders in die Schule geholt worden seien. Dort bekam sie vom Chief Khumalo und einem Parlamentsabgeordneten von KwaZulu, Mothlale, gesagt, sie hätten alle Inkatha beizutreten. Wer dies nicht wolle, könne ja packen und woandershin gehen. -Ja, wohin denn? Sie alle seien zu erschrocken und ängstlich gewesen, sich auch nur mit irgendjemandem darüber zu unterhalten, es sei viel zu gefährlich. Sie wollten auf dem Papier Inkatha beitreten, aber auf keinen Fall mit dem Herzen. Im Moment konnten sie nichts anderes tun. Von allen Schulen hören wir gleichzeitig das Gleiche: Wer nicht Inkatha beitritt, ist in Gefahr. Leute, die irgendwie mit der „demokratischen Bewegung“ zu tun hatten, werden von keiner Schule zugelassen. Unsere „Flüchtlinge“ sitzen alle, alle wieder im Busch und können ihren Schulabschluß nicht bekommen. Wir unterstützen sie mit Geld für Nahrungsmittel. Wie lange kann so etwas gehen? Unter diesen Umständen kann man auch keine „alternative Schulung“ planen, – man hat dann Inkatha und (!) die Polizei auf dem Hals. Aus einer Schule kamen mehrere Schüler mit Verletzungen bei uns an. Ich bringe sie zu Dr. Mabusa, der näht und
verbindet. Einer hat eine imposante Kopfwunde, ein anderer einen tiefen Einschnitt von einem Messerhieb auf dem Oberarm. Sie alle murmeln von Rache, und jetzt sei der Augenblick gekommen, wo sie doch Umkhonto we Sizwe (dem militärischen Flügel des ANC) beitreten wollten. Sie bitten uns um Geld. Das können wir ihnen nicht geben.
Tagebuch, 11. März 1987 Vusi kommt ins Büro. Er hat so herrlich in unserem Haus gewohnt und war eigentlich der Anführer. Dumani hatte da nichts zu melden. Ich lese ihm doch ganz schön die Leviten: Wenn man ein Land später ‘mal regieren will, muß man schon in kleineren Dingen zeigen, daß man Ordnung halten kann. Daß sie Laken aus dem Schrank genommen haben, ist in Ordnung, daß sie aber alle diese Laken dem „Comrade“ Ma Qubule einfach zum Waschen hingelegt haben und ihr nicht geholfen haben, unser Haus sauber zu halten, das nehme ich übel. Er stand auf und reichte mir feierlich die Hand. „Du hast recht, es tut mir sehr leid.“ Kein Mensch kann ihm böse sein. Er hat das UDF-Auto, das auf Martins Namen angemeldet ist, ohne Führerschein wahnsinnig schnell gefahren – gegen einen Pfahl. Niemand kam zu Schaden, das UDF-Auto allerdings sehr. Nun wurde er zu sechs Monaten Gefängnis verknackt, wo er erst einmal viel Zeit hat, über alles nachzudenken, denn dafür gab es nun kein Geld, um ihn freizukaufen. Am Abend ist Passionsandacht. Blumenberg, unser Pastor, hat schon so einiges über die Predigt vom Sonntag gehört; aber nicht einmal so viel Böses. Nur Berger hat gesagt, er kann nicht leiden, mit mir in eine Kirche zu gehen. Sonntags sei ich so scheinheilig vor den Menschen und während der Woche arbeite ich in so einem Büro… (im Herzen denkt er wahrscheinlich, daß ich „Terroristen“ unterstütze).
Tagebuch, 16. März 1987 Christopher guckt aus dem Fenster und stößt einen Freudenschrei aus. Deliza, unser anderer Pflegesohn ist frei! Er guckt noch wie einer, der aus der dunklen Stube im Krankenhaus wieder in die Weite und ins Sonnenlicht tritt. Erst später erzählt er uns so Einzelheiten. Erst einmal ließ er sich mein selbstgebackenes Brot schmecken. „Haben wir nicht immer und immer wieder an dieses Brot gedacht!“ – „Und wie oft habe ich daran gedacht, daß du zu uns gesagt hast: Geht nicht in das UDF-Büro, das ist eine Mausefalle! Wie oft!“ Anfangs hatten sie ganz schrecklich gefroren, genau wie wir gefürchtet hatten. Dann haben sie ihn mit Wer-weiß-was-fürMitteln gelockt, irgendetwas über seine Kameraden und führende UDF-Leute (Martin) auszusagen. – Nein! Sechs Wochen verbrachte er in Einzelhaft. Die Bibel bekam er erst sehr spät. Das Essen fand er nicht weiter schlimm. (Zu Hause gibt es auch nicht sehr viel Gutes.) Anfang Januar führten sie ihn in einen Raum, in dem viele weiße Geheimpolizisten waren. Er wurde auf einen Stuhl gesetzt und dann wurde ein Aktenkoffer vor ihm geöffnet, der war gespickt voller Geld. „Dies ist alles, alles dein, wenn du nur deinen Mund auftust und uns alles erzählst, was du weißt.“ „Ich will euer Geld nicht haben und ich bin nicht bereit, irgendetwas auszusagen.“ – „Bedenk es gründlich; was kannst du nicht alles für deine arme Mutter mit so viel Geld tun!“ „Nein, ich will Euer Geld nicht!“ – „Dann mußt du noch ganz lange in Haft bleiben.“ Und so blieb Deliza noch volle zwei Monate im Haft. Als er mir das erzählte, da sagte ich: „Ich bin aber sehr stolz auf dich, Deliza!“ Ich muß aber sagen, seine Familie hat es sehr, sehr schwer zu Hause, denn Deliza kann nicht die Arbeit tun, die er sonst über die Wochenenden tat, wofür er immerhin 60 Rand nach Hause brachte. Wir unterstützten bisher weiterhin die Mutter mit
Nahrungsmittelpaketen. Auch halfen wir Deliza, sich bei einer Fernschule einzuschreiben.
Tagebuch, 18. März 1987 Wir hören in den Nachrichten, daß sieben Schuljungen in KwaMashu in Durban tot aufgefunden wurden. Später hören wir von zwei weiteren. Das erschreckt uns sehr…
Ein blutüberlaufener Autoreifen
Tagebuch, 1. April 1987 Leider kein Aprilscherz: Wir bekommen mit der Post eine ganz abscheuliche Karte zugeschickt. In Goldbuchstaben: „The African National Congress 1912 – 1987“, dann: „Dear Oliver Tambo…“, und zwar ist das O des Oliver ein Mini-Autoreifen mit „ANC-Necklace“ drauf. Innen ist ein graußliches Bild eines Reifensterbens abgebildet, Füße und Hände des Opfers sind mit Hammer und Sichel in die Erde eingerammt worden. Auf der anderen Seite ein blutüberlaufener Reifen mit Geburtstagskerzen, alles in grellen Farben und mit Aussprüchen von verschiedenen Leuten – auch mit dem Unglücksspruch von Winnie Mandela: „With our boxes of matches and our necklaces we shall liberate this country.“ (Mit unseren Streichholzschachteln und unseren Halskrausen werden wir dieses Land befreien.) In Rot über der Grauensszene: „Have you no shame… for the slaughter that lies like a curse on your name?“ (Schämt ihr euch nicht für das Blutbad, das wie ein Fluch auf eurem Namen liegt?) Es ist schon ein Schock, so etwas zugeschickt zu bekommen. Wir wissen auch nicht, wie wir dazu kommen…
Brief an Freunde, 23. September 1987 Liebe Freunde! Zunächst: Martin muß weiterhin im Versteck leben und auch seine „Verkleidung“ ist weiter notwendig. Das hat sich gezeigt, als die Tochter von Professor Schneider, dem Vizepräsidenten der Universität, in den letzten Wochen verhaftet wurde. Sie
wurde unter „section 29“ verhaftet. Das hat zur Folge, daß weder ein Anwalt noch ein persönlicher Arzt noch die Eltern die Gefangene besuchen dürfen. Section 29 bedeutet Einzelhaft. Section 29 bedeutet Haft unter schlimmen Bedingungen und blüht, nach den Aussagen von ExGefangenen, auch Martin, sollten sie ihn finden. Martin hat, seit er im Versteck lebt, viele gute Freunde gefunden und konnte auch weiter an seiner Doktorarbeit schreiben. Gelegentlich können wir ihn treffen, und das ist dann immer eine fröhliche Angelegenheit. Ihr seid sicherlich über die Gewalt Schwarzer gegen Schwarze in den Townships informiert worden. Die Regierung übernimmt dafür keine Verantwortung. Wir haben jedoch eindeutige Beweise dafür, daß der Regierung diese Gewalt gut in ihr Konzept paßt; sie tut nichts, um diese Gewalt zu unterbinden. Während des Ausnahmezustandes wurden allein in unserer Gegend über 200 Menschen verhaftet. Alle waren entweder Mitglieder der UDF oder Sympathisanten. Nicht ein einziger Inkatha-Aktivist wurde verhaftet, obwohl es statistisch bewiesen ist, daß viel mehr UDF-Leute als Inkatha-Leute getötet wurden. Nachdem sich die Todesfälle häuften, wurde ein führendes Inkatha-Mitglied für kurze Zeit verhaftet, dann aber schon am nächsten Tag gegen 6.000 Rand Kaution entlassen. Seitdem läuft er herum und trägt stets ein Gewehr oder eine Pistole bei sich. Dieser Mann war in eine Schießerei verwickelt, in der zwei Kinder getötet und zwei Kinder ernsthaft verletzt wurden. Eines der beiden Kinder ist nun vom Nacken abwärts gelähmt. Trotz klarer Beweise läuft dieser Mann frei herum. Es ist sehr klar, daß die Polizei nicht sonderlich daran interessiert ist, Inkatha-Leute zu finden, die Häuser niederbrennen und Menschen töten.
Christopher Smith hat Daten gesammelt. Allein in den letzten Monaten kam es zu 184 gewaltsamen Zwischenfällen. 52 Menschen wurden getötet, 120 wurden verletzt und 80 Häuser oder Autos wurden zerstört. Jeden Tag hören wir von neuen Gewaltakten, so daß diese Daten schon überholt sind, während ich diesen Brief schreibe. Ich möchte Euch nur von zwei dieser Tragödien erzählen. Eine Familie erlebte, daß im Juli eine Benzinbombe in ihr Haus geworfen wurde. Sie traf den 13 Jahre alten Sohn. Er zog sich schwere Brandwunden zu und wird ein Leben lang vernarbt bleiben. Anfang August wurde sein Bruder Sunny von der Polizei geschnappt. Nach Zeugenaussagen ließ die Polizei es zu, daß Vigilanten ihn in die Mangel nahmen, bevor sie ihn zur Polizeistation mitnahmen. Ohne Anklage wurde er einige Zeit später entlassen. Ich nahm ihn mit zum Arzt und ließ ihn röntgen, weil es nach einem gebrochenen Kiefer aussah, was sich aber nicht bestätigte. Ende August wurde seine Schwester auf dem Schulweg erstochen. Zwei Tage später erfuhr die Familie, daß Inkatha plante, ihr Haus anzugreifen. Die Mutter ergriff mit ihren Kindern die Flucht. Sunny wartete mit 28 jungen Männern im Haus. Sie hatten Benzinflaschen bei sich. Dann kam allerdings die Polizei und nicht Inkatha – und nahm alle 29 Männer unter dem Ausnahmegesetz fest. In der nächsten Nacht kam Inkatha und legte Feuer. Die Mutter floh mit den übrigen Kindern und dem Enkelkind auf dem Rücken. Am nächsten Morgen fand sie ihren toten Mann am Haus der Nachbarn. Ihr Haus war vollkommen ausgebrannt. Beerdigungen mit solch einem Hintergrund dürfen nur mit harten Auflagen stattfinden und keine kann ohne Polizeipräsenz durchgeführt werden. Oft kommt es nach solchen Beerdigungen erneut zu Todesfällen. Vor einigen Tagen mußte ich die Mutter mit dem Baby zum Arzt bringen, weil das Enkelkind sehr krank war und schlimm hustete.
Sunnys Mutter bekam die Erlaubnis, ihren Sohn für vier Minuten zu sehen, um ihm zu erzählen, daß sein Vater tot sei. Sunny erhielt nicht die Erlaubnis, an der Beerdigung teilzunehmen. Der andere Zwischenfall betraf eine weitere Familie. Patrick ist einer derjenigen, die ständig auf der Flucht sind, weil sie „progressiv“ sind. In einer Nacht Mitte September wurde das Haus seiner Familie von einer großen Gruppe von Männern angegriffen. Zunächst traten sie die Tür ein und erschossen den älteren Bruder Matthews. Als die Mutter schreiend aus dem Haus lief, erschossen sie sie und legten im Haus Feuer. Der jüngere Bruder saß zusammengekauert unter einer Decke neben der Leiche seines Bruders in dem brennenden Haus, bis er sicher war, daß die Männer gegangen waren. Ich werde den Ausdruck auf seinem Gesicht nie vergessen – das blanke Entsetzen!!
„Du mußt einmal ordentlich weinen“
Brief an Verwandte und Freunde, Dezember 1987 Ihr lieben Verwandten und Freunde, „Gott will im Dunkeln wohnen und hat es doch erhellt…“ Mit den Worten aus Jochen Kleppers Adventslied grüßen wir Euch ganz herzlich zu dieser Weihnachtszeit. Als Symbol dafür zeichnete Reinhild die kleine Kerze auf dem Dornenzweig. Wir hatten einige „dornige“ Zeiten und waren noch nie ohne „Licht“. Die meisten von Euch hörten – besonders durch die Frankfurter Rundschau – von der lange erwarteten Verhaftung von Martin mit 13 anderen am 13. November. Viele von Euch haben sofort etwas unternommen. Für alle Aktionen danken wir herzlich! Nie vorher erfuhren wir soviel Freundschaft aus so vielen Orten! Durch den massiven Druck wurden Martin und Skumbuzo schon am 6. Tag wieder freigelassen. Die anderen Jugendlichen leider nicht, nur Pamela, die drei Wochen in Einzelhaft im Frauengefängnis zubringen mußte. Tagelang machte die Verhaftung dieser Gruppe Schlagzeilen in mehreren Zeitungen. Mit wie vielen Müttern fuhr ich letztes Jahr zu Gefängnissen. Nun war ich selbst dran – und bin dadurch noch mehr eine von ihnen geworden. Einige Tage nach der Freilassung erschien ein Bericht in der Zeitung, aus dem hervorging, daß Martin in einer Fünf-Stern-Polizeistation gesessen hat!! Er ist nun wieder zu Hause, der Bart ist wieder da, und er kann ohne Sorge die Blumen im Vordergarten betrachten. Das ist eine Freude! Seit September starben über 130 Leute eines gewaltsamen Todes in unseren Townships. Täglich strömen Leute zu
PACSA und melden den Tod von jungen „Aktivisten“ oder ihren Eltern oder Geschwistern. Die Zahl der Verhaftungen übersteigt längst alle Zahlen, die uns ‘86 noch schockierten. Die Verletzungen werden zahlreicher und schlimmer: Schußwunden, besonders von Schrot, Peitschenhiebe (durch Polizeiaktion) und Stich- und Brandwunden. Für mehr als eine Woche pflegte ich Jabulani (Freut Euch) mit solch kaputtem Rücken und septischer Kugel wunde, wie ich noch nie gesehen hatte. Er ist ein stiller, freundlicher Junge. Kaum war er wieder zu Hause, kam er ins Krankenhaus mit einer Kugel im Rücken. Es sind so viele Leidtragende, daß man sie nicht mehr unterscheiden kann. Sagte eine Mutter mit traurigem Gesicht: „Aber ich bin doch die, die den Sohn verloren hat“, als ich ihren Namen nicht mehr wußte. Ein Junge kann nicht mehr essen, nicht trinken. Seine Augen sind groß und traurig: „Sie haben gestern Duduzile umgebracht.“ Ich tu den Arm um ihn und sage: „Du mußt einmal ordentlich weinen.“ Der ängstliche kleine Sipho, von dem ich ab und zu in meinen Berichten schrieb, ist tot. Er lachte so gern. Ich sah ihn in einer Gruppe laufen und lachen. Wenig später stießen sie auf eine „feindliche“ Gruppe – ich hatte sein letztes Lachen gesehen. In PACSA helfen wir, wie zuvor, mit Ärzten, Rechtsanwälten, Kautions- und Beerdigungsgeld. Es liegen Gerichtsverfahren vor gegen führende Inkatha-Leute aus unserer Gegend. Trotzdem sind Hunderte UDF-Anhänger im Gefängnis und kein einziges Inkatha-Mitglied. Da ist etwas nicht in Ordnung. Die Wahrheit wird ans Licht kommen. Große Freude machte uns der Besuch von Inge und Neels im Juli. Inges Streichorchester gab hier einige Konzerte und spielte mit dem Durbaner Orchester zusammen…
Als Reinhild und ich Sachen für Martin in der Polizeistation abgaben, wurde uns klar, daß auch für Gertrud bereits eine Akte angelegt sein muß. In den Townships herrscht der Terror. In der Stadt herrscht bunter, lauter Weihnachtsrummel. Keins davon wollte Jesus. Wir geben die Hoffnung nicht auf, daß die Friedensgespräche zu einem Ziel führen – je bälder, desto besser! Herzlichst Eure Monika.
Ein Brief Reinhild Wittenbergs … Dezember 1987 Ihr lieben Verwandte und Freunde, Dieses Jahr verging sehr schnell. So vieles ist passiert, und doch scheint es mir, als ob unsere Fahrt nach Deutschland nur ein paar Monate her ist. Als erstes übernahm ich eine bescheidene, kleine Gruppe, die sich einsetzt, Leuten zu helfen. Wir halfen am meisten zur Zeit der Flut Ende September. Wir halfen beim Roten Kreuz, Pakete für Obdachlose zu packen. Die Examen am Ende des Jahres fielen gerade in die Zeit, wo viel Streß in unserer Familie war. Am Freitag, 13. November, wurde Martin verhaftet. Am Montag, 16. November, sollten unsere Examen beginnen. Ihr könnt Euch vorstellen, wie das bei uns zuging, und unter welchem zusätzlichen Streß ich schreiben mußte. Den Montag blieb ich von der Schule weg, weil ich am Abend vorher einen schlimmen Magen hatte. Am Montag war die Nachricht Schlagzeile in der Zeitung. Am Dienstag hatte ich einen Heidenbammel, zur Schule zu gehen, mußte aber, weil ich Physik und Deutsch schrieb. Die Nerven hielten nicht mehr aus, und in dem Büro der Vize-Prinzipalin heulte ich erstmal drauf los. Danach ging ‘s etwas besser. Man hat aber immer das Gefühl: Was denken die Leute, wissen sie davon oder nicht? Offensichtlich wußten die meisten nicht, weil die meisten nicht Zeitung lesen! Das Wissen der Weißen in der Schule, was Politik angeht, ist beinahe auf dem Nullpunkt. Ich bin nur dankbar, daß ich einen Freundeskreis habe, der mich sehr gut versteht, und mit denen ich auch reden kann. Das ist eine Seltenheit. Das nächste Jahr wird mein letztes Schuljahr sein. So seid ganz lieb gegrüßt Eure Reinhild
1988 Und so nahmen sie Martin wieder mit
Brief, 16. März 1988 Ihr lieben Verwandten und Freunde, heute sind es 35 Tage – fünf Wochen – seit Martin erneut verhaftet wurde. Er saß alle die Tage in Einzelhaft mit nur der Bibel. Das letzte Wochenende muß besonders bitter gewesen sein, denn auch der Rechtsanwalt, den er erwartet hatte, durfte erst am Montag zu ihm… Am 10. Februar um halb neun abends klopfte es so an die Tür, wie Freunde nicht klopfen. Ich rief Reinhild; die bereitete Martin vor. An der Tür war die Geheimpolizei, zwei ihrer netten Exemplare, sehr blaß, es war ihre erste weiße Verhaftung, Winter und Siemens. Sie wollten Martin gleich so mitnehmen. „Er darf doch bestimmt seinen Kulturbeutel und Wäsche mitnehmen?“ „Doch ja.“ Martin war so geschockt, daß er nicht denken konnte. Günther und Reinhild packten für ihn, während ich verzweifelt einen Rechtsanwalt zu finden versuchte. Als er fertig war, sagte ich: „Bestimmt erlaubt ihr ein Abschiedsgebet.“ Das störte sie: UDF betet nicht. Günther las Ps. 46 und bat Gott, Martin auf diesem Weg durch das finstere Tal zu begleiten. Inzwischen war Verstärkung gekommen, Jack Miller sprang ins Zimmer, er dachte, wir würden während des Gebets zur Hintertür hinaushüpfen.
Und so nahmen sie ihn mit, und Reinhild weinte ganz herzerbärmlich, denn sie hatte ihren Geburtstag, zwei Tage später, besonders lustig und schön geplant. (Wir feierten dann trotzdem, Martin hätte es so gewollt.) Wir riefen gleich alle Welt an. Unsere Nachbarn und unser Pastor kamen uns beistehen. Wie alle die vorigen Male, wo wir Polizei im Haus hatten, hörten wir uns wieder „Von guten Mächten wunderbar geborgen…“ an, Bonhoeffers Worte, von Siegfried Fietz gesungen. Mit Martin wurden mehrere andere feine, prächtige junge Leute verhaftet, die wir alle gut kennen: Lehrer, ein Dozent, Student – alle aus guten christlichen Häusern, alle friedliebend und gegen Gewalt, aber für Gerechtigkeit für alle. Vlok verkündete dann, daß durch die Verhaftung etlicher Leute Frieden in der Gegend einkehren würde. Von sehr vielen Seiten erfuhren wir viel Liebe und Beistand. Und nicht Hunderte, sondern Tausende nahmen Martin in die Fürbitte auf. Das hilft und macht dankbar. Am nächsten Tag kamen Winter und Siemens mir offiziell die Verhaftung melden. (Letztes Mal war’s versäumt worden, und als ich das dem Colonel sagte, schrie er mich laut an: „Du lügst!“) Winter versicherte mir, daß sie ihn gut behandeln. Dann kam’s raus, daß ihnen unser Abschiedsgebet unbehaglich gewesen war: „Ihr betet und wir beten, und wen hört Gott?“ „Das werden wir später gewiß erfahren.“ Eine Woche später brachte er die Wäsche zum Waschen und holte frische Wäsche. Da sagte er: „You are such a nice person and Martin is such a nice person.“ Ich fügte schnell ein: „And you are also such a nice person.“ Sagt Winter: „We could all be friends if it weren’t for the politics.“ An dem Freitag durften wir ihm einen Deodorantstift in die Fünf-Stern-Polizeistation bringen, wo er schon im November gesessen hatte, ohne daß wir’s wußten. Wir sahen, warum Vlok (unser Minister für Law and Order) wenige Tage später dieser Polizeistation fünf Sterne und eine
Trophäe verleihen würde: Es sind dort wunderbare Gartenanlagen ringsherum! – eine phantastische Kakteensammlung, geschmackvoll angelegt im Steingarten, auch ein farnumrankter Goldfischteich. Martin sah die Herrlichkeit zwischen seinen Fahrten zu den Verhören. Ich hatte in das Deodorant eine Botschaft von Liebe und Fürbitte eingeritzt. Wir durften ihn nicht sehen, gingen aber hintenherum, wo wir die Zelle vermuteten und pfiffen „Ein feste Burg ist unser Gott.“ Leider hörte er uns nicht.
Die langen Stunden der Einsamkeit
Kurz bevor Vlok nach Pietermaritzburg kam, verlegten sie Martin in das neue Gefängnis, so bereitete seine Anwesenheit keine Peinlichkeit. Christopher Smith hatte hier 39 Tage in bitterer Einzelhaft und drei Monate im ganzen verbracht. Dort durfte ich Martin nach 14 Tagen zum ersten Mal besuchen. Das war hart. Ich wurde in die Besuchszelle eingeschlossen und saß da vor (oder hinter?) der Scheibe und dem Sprachrohr. Berührung ist unmöglich und verboten. Ich kriegte gesagt: „Ein Wort deutsch und du bist draußen.“ „Darf ich nicht einmal die Bibel zitieren?“ „Nein!“ Der Wärter Bosman brachte Martin herein und baute sich dicht neben, halb über ihm auf. Wir konnten uns über NICHTS unterhalten, was uns auf der Seele brannte. Er durfte nichts von all seinem Erlebten erzählen, und ich konnte ihm nichts von all den auswärtigen Nachrichten sagen, die ihn stark angingen. Wir durften nur Familienklüngel reden. Dank der Johanssens, Teichlers, Wittenbergs und Trittelvitzens gibt’s davon sehr viel und wir schmuggeln halt Tanten und Onkel und Vettern usw. mit ein, von denen sie nicht wissen, ob sie Johanssen heißen. Es war gut, daß ich Martin in einer Vorahnung die neue Bibel mit den Apokryphen gekauft hatte – etwas mehr Lesestoff. Der Rechtsanwalt durfte ihn auch erst nach 14 Tagen besuchen. Er erfuhr von den vielen strammen Verhören. Martin ist sehr gefaßt und ruhig. Günther besuchte ihn die Woche darauf und sie unterhielten sich viel über Martins einzige Lektüre, die Bibel. Der Vers aus Ps. 139: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“, bedeutet ihm viel. Günther gab ihm ein paar
theologische Aufgaben auf, für die langen, langen Stunden der Einsamkeit. Nach zwei Wochen bekam er Studienrechte zugesagt. Er sah seinen Professor in Gegenwart des neuen Brigadiers und des Majors. Der Professor hatte die Geistesgegenwart, ihm seinen Block hinzuschieben: „Hier ist schon mal Papier.“ Bis auf den heutigen Tag ist nicht ein einziges Buch und nicht ein einziges Stück Papier seiner Wege gewandert. Leider hat die Gefängnisbibliothek auch schon all diese Wochen Inventur. Bei meinem zweiten Besuch zeigte Martin zwar ein fröhliches Gesicht, gestand aber, daß es sehr schwer sei, die viele Zeit umzukriegen. Wir machen jedesmal eine lange Liste von allen Leuten, die ihn grüßen ließen. Ich hatte mir auch eine lange Liste mit Fragen gemacht. Wie ist das Essen? Gelächter. Vitamine gibt’s nicht. Wenn mit dem eigenen Geld des Gefangenen eingekauft werden soll (ausdrücklich erlaubt), dann heißt es: „Der Laden hat kein Obst.“ Das Einkaufen besorgen die Wärter, Familie darf nichts liefern, nur Geld. Die Decken? Na, die Pyjamas sehen aus, als sei Martin im Dreck gerollt. Aber wir wissen: Es gibt viel Schlimmeres als fusselige Decken! Ich hatte ein kleines Blumengesteck gemacht, denn in Haft sieht man nicht Schönheit. Auch baute ich Reinhilds wunderschöne Kapbilder vor der Scheibe auf. Die Blumen mußte ich wieder mitnehmen, auch die Zwiebäcke, die ich dachte durch die Güte des Wächters vielleicht an den Mann bringen zu dürfen. Den fünf sehr jungen Kerlchens, die gerade frisch eingeliefert waren, durfte ich sie nicht austeilen. Die erstaunten Augen, als ich aus dem Gefängnis mit einem Strauß Blumen in der Hand kam! Es stand dort eine lange Schlange von Besuchseltern. Ich erklärte ihnen die Sache mit den Blumen: Wenigstens für die halbe Stunde könnten unsere Kinder ein wenig Schönheit sehen. Das leuchtete sehr ein. Vielleicht kommen jetzt die Eltern mit kleinen
Blumensträußchen. Das deutsche Gesangbuch, das die Gemeinde Martin schenkte, darf er leider auch nicht haben. Der Pastor will aber noch darum kämpfen. Er hat sich auch beworben um das Besucherpermit. Es dauert sechs Wochen, es zu bekommen. Er war so optimistisch oder pessimistisch, zu glauben, daß er es bekommt, ehe Martin wieder freigelassen wird.
Immer mehr Leute wachen auf
Unsere Gemeinde fand es so weit schwer, mit der Tatsache fertig zu werden, daß da ein Gemeindeglied im Gefängnis sitzt. Und wie redet man die Angehörigen an? Noch heute Abend gestand mir ein Vorsteher, daß sie alle nicht wissen, wie man mit so einer schmerzlichen Sache umgeht. Ein Vorsteher, der schon viel Leid erlebt hat, hat uns schon mehrere Male mit Blumen besucht. Er brachte die Sache vor, und nun wird eine Delegation des Vorstandes uns besuchen kommen. Das Gleiche gilt für manche Freunde und auch Verwandschaft. Die Schwierigkeit ist, daß über die „Gogglebox“ viel gesagt wird, was die meisten Bürger des Landes (von denen viele kein Wahlrecht haben) nicht mehr glauben und akzeptieren. Viele, viele aber eben doch, weil sie gerne möchten und sich sicherer dabei fühlen. Eins ist deutlich: Je doller die Regierung zuschlägt, desto mehr Leute wachen auf- oder die Trennung wird klarer, was schmerzlich ist. Es wird Zeit, daß ich ein bißchen Hintergrund bringe, für diejenigen, die länger nicht von uns hörten: Schon 1983 schloß Martin sich der UDF an, als sie gegründet wurde, um dem Drei-Kammer-Parlament entgegenzuwirken. Wir hatten ja ursprünglich ein gerechtes Grundgesetz. Darauf wurden mit den Jahren all die ungerechten Gesetze aufgebaut. Es wäre nun möglich gewesen, all diese Gesetze einfach mit der Zeit zu widerrufen. Statt dessen legte man die Rassentrennung im neuen Grundgesetz fest. Zur Wahlzeit gab es einen ausgiebigen „Stay-away“. Die Leute, die sich fürs DreiKammer-Parlament heuern ließen, sind von einem kleinen Prozentsatz gewählt. Hier in Pietermaritzburg wuchs die UDF,
denn Leute empfanden sie als nichtrassisch, demokratisch und eine gute Möglichkeit für zukünftig Setups“. Wir lernten ganz prächtige Leute aller Gruppen kennen. Die allermeisten saßen inzwischen kürzere oder längere Zeit in Haft, in den allermeisten Fällen ohne jede Anklage. In unserer Gegend wurde das besondere Problem, daß die Inkatha-Bewegung nicht so beherrschend war, wie in anderen Gegenden KwaZulus, es aber gern sein wollte. Als Schüler im 2. Quartal 1986 noch keine Schulbücher und Schreibwaren hatten, im Januar aber bereits Schulgeld zahlen mußten, riefen sie zum Schulboykott auf, um den Eltern die Lage wirklich bewußt zu machen. Den führenden Schülern passierten schlimme Dinge: Große Gruppen von bewaffneten Vigilantes erschienen nachts an den Häusern, schlugen Fenster und Türen ein, legten auch Feuer und etliche kamen um. Es fing an, sehr gefährlich zu werden, nicht Inkatha anzugehören. Wie es kam, weiß ich nicht mehr, aber mehr und mehr kamen diese Flüchtlinge zu uns nach PACSA, wo ich arbeite, und wir fanden Ärzte und Rechtsanwälte und immer häufiger Beerdigungshilfen für sie. Und Peter fing an, genau aufzuschreiben, wer was wann wo wie durch wen erlitten hat, weil sich die offiziellen Meldungen so gar nicht mit unseren Erfahrungen deckten. Da stimmt was nicht! Wir fanden auch alarmierend, wie die Polizei so gar nicht hilfreich war, wenn jemand aus der UDF was zu leiden hatte. Natürlich gab es dann schlimme Rache-Akte, und so ging der böse Kreislauf los. In meinem Tagebuch schrieb ich all die Geschichten auf, die wir zu hören kriegten. Eine dicke Akte voller eidesstattlicher Erklärungen ist vor Gericht, aber wir merken immer wieder, wie schwer es ist, in diesen Dingen recht zu bekommen; die Macht an der andern Seite ist so groß. (Eine Auswahl dieser eidesstattlichen Erklärungen ist deutsch in epd-Dokumentation Nr. 16/88 erschienen. Anm. d. Redaktion). Kurz, wie die
meisten von Euch wissen, sollte Martin einer der zwischen 20.000 und 30.000 „Emergency-Häftlinge“ sein, aber er war ja nicht da. Und so hat er anderthalb Jahre so halb auf der Flucht gelebt, um der großen Zeitverschwendung zu entgehen. In der Universität ist er allerdings erstaunlich frei aufgetreten, und da fühlte er sich recht sicher. Im September wurde die Morderei so schlimm, daß die Gewerkschaft an die Handelskammer herantrat, mit der Bitte zu vermitteln. Die Leute fühlten sich nicht mehr sicher, zur Arbeit zu kommen. Die Handelskammer nahm es auf und sprach mit Inkatha. Und so fingen die „Friedensgespräche“ an, die inzwischen weltweit bekannt wurden. Für die UDF-Delegation wurden Chetty, Ngwenya und Martin gewählt. Das zeigt wieder die nichtrassische Einstellung und auch das Vertrauen, das Martin hat. Als Martin und Skumbuzo Ngwenya im November einer Gruppe Jugendleiter ein „Report back“ gaben, in der Halle einer katholischen Kirche bei uns in der Nähe, wurden sie alle 14 mit großem Polizei-Aufgebot verhaftet. Der Bürgermeister, die Handelskammer und Rechtsanwälte arbeiteten sehr fleißig zusammen, um die sofortige Freilassung zu erreichen, was nach fünf Tagen auch geschah. Leider sitzen die Jugendlichen noch alle drin, ohne Anklage. Skumbuzo und Martin hatten strenge Auflagen, aber an den Friedensgesprächen unter Leitung der Handelskammer MUSSTEN sie mitarbeiten. Nun war in einer Sitzung beschlossen worden, daß jede Gruppe ihren Anhängern verbieten sollte, gewaltsam Mitglieder zu werben. Auch sollte jede Gruppe die Mitglieder, die Gewalt geübt hatten, „disziplinieren“. Inkatha war dazu nicht bereit. Sie haben einige Führer, die schon sehr viel auf dem Gewissen haben, und sie laufen ungehindert weiterhin mit Gewehren herum, obwohl auch schon sehr lange „Courtinterdicts“ gegen sie vorgebracht wurden. Die andere große Schwierigkeit ist die, daß das Gefängnis nicht nur voll, sondern übervoll ist,
aber nur mit UDF-Leuten. Es saßen bis zu 50 in einer Zelle für 30. Auf einer Tabelle kann man sehen, daß sehr viel mehr Nicht-Inkatha-Mitglieder ums Leben gekommen sind als offiziell verkündet wurde. In alledem haben wir dies merkwürdige zutiefst ruhige Gefühl in uns selbst – die Gewißheit, die alle haben, die Martin kennen und lieben und achten – daß er für eine gerechte Sache leiden muß. Sein einziges Verbrechen ist, daß er Gleichberechtigung und Gerechtigkeit und Frieden für alle haben will und sich mutig dafür einsetzt – so wie auch die vielen andern mit ihm. Sein Professor sagt, daß er gewiß ist, daß Martin die Haft gut durchstehen wird – „because he is such a good person“. Wann und wie dies alles enden wird, wissen wir nicht. Im Augenblick ersticken die schwarzen Viertel um Pietermaritzburg herum in Polizei, Militär und „Kitskonstabels“. Da scheint „Friede“ eingekehrt zu sein. Es erinnert aber mehr an das, was Manfred Siebald so besingt: „Nicht jenes Warten, wenn die Waffen schweigen, wenn sich noch Furcht mit Haß die Waage hält,… Nicht jene Stille, die den Tod verkündet, da wo es einmal Leben gab, wo man kein Wort und keine Tat mehr findet, nicht die Stille überm Grab.“ Inzwischen ist der 18. März. Gestern durfte Gertrud ihren Bruder besuchen. Wir haben diesen Besuch sehr gründlich vorbereitet, damit er so wenig traumatisch wie möglich ist. Sie kam heraus mit allerlei erfreulicher Nachricht: Martin wurde von einem Richter besucht. Daraufhin erhielt er sofort seine Bücher und auch andere kleine Sachen, wie z. B. „dental floss“ für die Hygiene. Ein aus der Haft entlassener Rechtsanwalt hatte mir den Rat gegeben, mich wegen der Bücher an den gefängnisdiensttuenden Richter zu wenden. Ich schrieb einen Brief und sofort am nächsten Morgen wurde Martin besucht. So sind wir alle wieder etwas fröhlicher. Nie aber vergessen
wir, daß es sehr vielen wesentlich schlechter geht, auch in den Verhören. Nun danken wir Euch allen, die Ihr mit Worten und Taten und Gebeten an uns denkt und in vielen Fälle alles versucht um mitzuhelfen, Martins Freilassung zu erwirken. In großer Getrostheit grüßen wir Euch alle! Herzlichst Eure Monika Seit dem 11.2. haben wir diesen Aufkleber am Autofenster
„Haben Sie kein Mitleid mit den Bombenopfern“
Anonymer Brief, Kapstadt, 22. Juni 1988 Frau Wittenberg, Ihr Rundbrief vom 16. März wurde hier im Bekanntenkreis natürlich diskutiert und, um es vorwegzunehmen, viel Sympathie haben Sie damit nicht erweckt. Ihre links-radikale Einstellung war schon in Ihrer Bellviller Zeit kein Geheimnis, und es ist nur bedauerlich, daß Martin offensichtlich dafür empfänglich war und nun als Verführter darunter zu leiden hat. Sie wissen wahrscheinlich selbst, daß viele Ihrer Behauptungen einer Überprüfung nicht standhalten würden. Trotzdem identifizieren Sie sich mit einer politischen Organisation, die sich auf demokratischem Wege nicht verkaufen läßt und versucht, durch Mord, Totschlag, Gewalt und Einschüchterung ihre Machtbasis zu vergrößern. Wie vereinbaren Sie das mit ihrem Gewissen? Haben Sie kein Mitleid mit den unschuldigen Bombenopfern und deren Hinterbliebenen? Ihre Todes-Statistik ist makaber, und es ist nicht zu verstehen, was Sie damit beweisen wollen. Wenn allerdings durch die Isolierung weniger Menschen und mit einem größeren Polizeiaufwand auch nur ein einziges Menschenleben gerettet wird, dann kann ich Vlok nur zustimmen. Gute Besserung wünscht S.E. (Den vollen Namen gebe ich gerne bekannt, wenn ich die Versicherung erhalte, daß ich von weiteren Rundbriefen nicht ausgeschlossen werde.) N. B. Auch wir haben einen Aufkleber am Autofenster: ,,Sage mir, mit wem du verkehrst, und ich sage dir, wer du bist.“
Brief, 21. April 1988 Ich war zum Brigadier bestellt, weil ich für Reinhild eine Besuchererlaubnis erbitten wollte. (Ich bete immer vorher den Vers: „Hilf, daß ich rede stets…“ und „Gib mir Weisheit, Stärke, Rat, Verstand…“) Der Brigadier holte den Major Kinsey dazu, was mir den Gedanken gab, daß er mit mir alleine womöglich nicht fertig werden würde. Zu meiner Bitte um eine Erlaubnis gab es ein klares „Nein“. Das Kind (17) könne Schaden an seiner Seele nehmen, und er als Vater von Töchtern könne das nicht verantworten. Da sagte ich: „Ihr seid doch sonst nicht so rücksichtsvoll, wenn’s ans Verhaften von Kindern geht. Ihr seid auch nicht um das Seelenheil meiner Tochter besorgt gewesen, als ihr mitten in der Nacht an die Tür kamt, um Martin zu verhaften. Da ist sie erwachsen geworden, und einen Besuch bei ihrem Bruder fürchtet sie nicht.“ Aber den Brigadier freute es, mir so eins auf den Deckel geben zu können. Nur hatte es nicht die Auswirkung, die er sich erhofft hatte. … Der deutsche Konsul von Durban rief später an. Er wußte zu berichten, daß Botschafter Retief in Bonn bisher noch keinen Handzettel hat vorweisen können, der von Martin verfaßt sei und zur Gewalt gegen Inkatha aufgerufen haben soll. Das ist natürlich beruhigend zu wissen. Ich versicherte dem Konsul, daß ich ihm ruhig alles erzählen könne, weil dies Telefon nicht abgehört wird, denn wenn ich das behaupte, sollte ich wegen Verleumdung vor Gericht erscheinen. Das hat der Konsul genossen.
Martin seit 18 Wochen in Einzelhaft
Brief, 14. Juni 1988 Liebe Verwandte und Freunde, seit dem 12. Juni 1986 ist mein Geburtstag „Notstandstag“. Wie Ihr Euch erinnern werdet, fing er damals mittags um 12.30 Uhr an mit etwa 12 Polizisten an der Tür. Der Notstand hört jeweils am 11. Juni nachts um 12 Uhr auf. Es war sehr, sehr spannend. Reihenweise wurden Jugendliche entlassen und mehrere behaupteten, alle, auch Martin, würden entlassen werden. So bereitete ich alles vor – das Bett mit schönen Flanellaken (Laken gibt’s dort keine), Blumen ins Zimmer, frisches Brot und Kuchen. Am 10. Juni um ein Uhr nachts wurden viele entlassen, darunter Dudi Montana, Martins einziger Kamerad, mit dem er eine Stunde am Tag „Exercise“ machen durfte, und Dumani, unser junger Pflegesohn von damals, der schon so viel Scheußliches erlebt hat. (Die nächtliche Entlassung geschah nicht aus Schikane, sondern weil die Polizei so lange brauchte, mit den vielen Entlassungen fertig zu werden!) Den Tag über war immer jemand zu Hause falls… Kurz nach zwei kam Sgt. Siemens an die Tür. Ich ahnte nichts Gutes. Er meldete mir, Martin sei freigelassen, aber sofort über die neue „Emergency“ wieder festgenommen worden. Ich mußte diese Benachrichtigung unterschreiben und bekam Bescheid, daß wir neue Besucherpermits zu beantragen hätten. Ich schrie laut auf: „Das ist ganz grausam, einfach schrecklich grausam!“ Ich sagte noch allerlei von Geschichte der Zukunft, in der Vloks Name nicht ruhmreich sein würde usw… Siemens hatte die Tränen, die ich nicht hatte, weil
meine Wut und hilflose Verzweiflung so sehr groß waren. Ich versicherte ihm, mit seiner Person hätte das nichts zu tun. Er gibt sich Mühe. Den Zirkus mit dem Freilassen und Wiederverhaften hat Dembeck ausgeführt. Wie schrecklich kalt und einsam muß das Geburtstagswochenende gewesen sein ohne Dudi Montana! Wir stellten seither fest, daß sie mit 65 Leuten das gleiche grausame Spiel gemacht haben, u. a. mit unserm andern Pflegesohn Deliza Mazibuko, Lerato, Thami, Reggie, Mark, der gerade sein Theologiestudium fertig hatte, und Tim, der schon an Depressionen litt. Martin sollte heute den ersten Besuch von unserm Pastor Fritz Blumenberg bekommen. Es werden so viele Probleme gefunden, daß man den Verdacht nicht los wird, daß die Geschichte nicht glatt über die Bühne laufen soll. Nun müssen wir bis Donnerstag warten, um zu erfahren, wie es ihm geht nach der Gemeinheit. Martin ist nun 18 Wochen – 126 Tage – in EINZELHAFT. Schon der Gedanke kann einen verrückt machen. Aber er hat es bisher so erstaunlich gut verkraftet, daß wir dankbar waren. Übrigens ist Winter bei uns mit Temperaturen um Null und keiner Heizung im Gefängnis. Es ist so heilsam für uns, immer die andern Mütter zu treffen, denen es ebenso oder noch trauriger geht. Ich sehe vor mir die eine blasse Mutter vornüber gebeugt auf dem Stuhl sitzen. Ihr Sohn hatte nach Schlägen durch die Polizei eine Art epileptischer Anfälle. Sie sagte vor sich hin: „Unzima utwala, unzima utwala.“ „Was heißt das denn?“ „Meine Last ist so schwer…“ Heute saßen mehrere Mütter in PACSA. Ihre Söhne haben Anklagen gegen sich, sind also nicht „Detainees“. Die kamen alle aneinander gekettet in die Besuchshalle. Erst der Rechtsanwalt wird erfahren, was da los war.
Wir bekommen so viel liebe Post und Karten und Grüße, das bedeutet uns sehr viel. Alles wird eingeklebt und aufbewahrt für den Tag von Martins Heimkehr. Eine schöne Überraschung war ein schönes Bild von dem Propheten Elia am Bach Krit, den die Raben mit dem Nötigen versorgen. Ein uns bisher unbekannter Pfarrer aus Neuendettelsau schickte uns dies Bild. Der zur gleichen Zeit abgeschickte Brief mit der Andacht zu dem Bild kam erst eine Woche später (Gucken geht beim „Bertelsmann Lesering“ schneller als lesen). Leider ist uns nun alles verboten, was Martin in den Besuchsstunden zusätzliche Freude machen könnte: Blumen, Karten, Fotos, Briefe vorlesen. Also stecke ich mir die Blumen ans Kleid, die Bilder drücken wir schnell an die Scheibe, jedesmal wenn „Iwan der Schreckliche“ (Wärter Stone) den Rücken dreht. Das Elia-Bild fotografierten wir und konnten es so Martin zeigen. Günther erzählte ihm halt die Andacht. Über dies Bild und die Andacht sprach Günther im letzten Gottesdienst in Machibisa. Da kam eine Mutter, die einen Sohn in Haft hat, ihr einziges Kind. Bisher hatte sie ganz einsam und allein gelitten. Nun konnten wir ihr gleich mit einem Rechtsanwalt helfen. Sie bekam auch einen Trainingsanzug für ihn, wie alle andern Mütter. Das Beste aber war eben, daß sie andere Mütter in gleicher Lage kennenlernte. Unter der Hand geht die Unruhe schleichend weiter. Mit Zittern und Beben erwarteten wir die drei „Stay-away“-Tage, die COSATU angesagt hatte, um gegen die neuen Labourbills zu protestieren. Wenn die Gesetz werden, sind die Streikmöglichkeiten sehr viel geringer, das heißt, daß Ausbeutungslöhne nicht mehr bekämpft werden können. Trotz massiver Drohungen von seiten der Polizei und der Handelskammer gab es ein sechzigprozentiges Fernbleiben bei zum Glück ausbleibender Gewalt.
Sehr beeindruckt hat uns ein Gottesdienst, den die Jugendlichen von Ashdown von sich aus organisiert haben unter dem Thema: „Frieden und Vergebung“. Die Halle war gepackt voll. Der Polizeihelikopter machte immer mal großen Krach überm Dach, aber nichts passierte. Sehr bewegend war die Kerzenfeier. Für jeden Namen, der verlesen wurde, wurde ein Kerze angezündet, alles Opfer der Gewalt. Da war viel Weinen im Saal. Es macht einen doch ganz traurig, wenn man bedenkt, daß alle diese Jugendlichen, die nicht Inkatha angehören, keine Schulung haben können. Obwohl sich die großen Wogen gelegt haben, gibt es noch Hunderte von Flüchtlingen in der Gegend. Black Sash hat sich jetzt die Sache vorgenommen und ist mit einem Memorandum zum Bürgermeister gegangen, daß der Stadtrat versuchen soll, ein sicheres Haus zu finden, in dem solche Jugendlichen ihre eigene Schule in Sicherheit haben können. Für heute ganz herzliche Grüße! Wir danken sehr für alle Bemühungen, die gemacht werden, um zu versuchen, Martin aus der Haft zu befreien. Seine Vermutung war letztes Mal, daß er wahrscheinlich mit den andern aus dem Weg bleiben soll bis nach der Oktoberwahl. Im Oktober sind Wahlen für die „Regional Services Councils“, eine Übersetzung des Dreikammerparlamentes auf kommunale Ebene. Jeder Ort kriegt also eine gemischte Stadtverwaltung, was dann nach „Reform“ aussieht, in Wirklichkeit aber die Macht der Regierung weiter ausbreitet, denn überall sitzt heimlich das Militär drin. Davon ein andermal. Nie hätten wir gedacht, daß man in solcher Lage so getrost und frei sein könnte, frei von der Sorge, was wohl andere Leute von uns denken, auch eigentlich frei von Angst. Natürlich ist dies viel leichter draußen, mit der vielen Abwechslung, die wir haben, als drinnen in der kleinen kalten Zelle, ohne Tisch und Stuhl zum Studieren, mit dem Ausblick
aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Backsteinwand, gelegentlich Gesichter an den Stäben, aber Bäume und Blumen gibt’s nicht zu sehen. Bitte hört nicht auf, an alle die vielen Leute in dieser Lage fürbittend zu denken. Seid alle ganz herzlich gegrüßt! Eure Monika Wittenberg
„Jagst du kleine Kinder mit dem Gewehr?“
Pietermaritzburg, 22. Juni 1988 Liebe Verwandte und Freunde, nichts wird mehr in Zeitung und Fernsehen gemeldet, was einen beunruhigen könnte; man könnte denken, der völlige Friede sei eingekehrt und die Unruhe fest unter Kontrolle. Deswegen finde ich es wichtig, Euch einmal wieder einen Bericht zu geben. Der letzte Besuchstag bei Martin fiel auf Donnerstag, den 16. Juni. Es dauerte „nur“ eine halbe Stunde, bis Wärter Stone herauskam: „Wir haben Probleme mit dir, du darfst Martin nicht mehr besuchen. Du bist immer ungehorsam und zeigst heimlich hinter unserm Rücken Bilder.“ „Freilich! Schummeln lernte ich in der afrikaansen Schule. Wenn ich den Eindruck hätte, daß es staatsgefährdend wäre, ein Bild von Elia mit dem Raben zu zeigen, würde ich es auch nicht tun.“ „Es ist nicht ERLAUBT, deswegen darfst du nicht besuchen.“ Ich schlug ihm vor, daß er so grausam nicht sein würde, und daß ich hinfort fein lieb und brav sein würde. (Aber an meine Blümchen lasse ich nicht rütteln.) So durfte ich besuchen. Martin ist so erstaunlich! Es war eine bittere Pille, am 10. Juni zu erfahren, daß er weiter zu sitzen hätte – und zwar jetzt völlig allein, da Dudi Montana, mit dem er sonst eine Stunde am Tag zusammen sein durfte, entlassen wurde. Er bat darum, mit andern zusammen sein zu dürfen, das wurde bisher nicht gestattet. Leutnant Dembeck fand, er müsse drin bleiben, weil er draußen Unruhe stiften würde. Er nahm zwei Briefe mit, die Martin geschrieben, an Inge und an den Vetter
Ralf. Sie klangen ihm zu fröhlich. Es scheint, sie wollen versuchen, Martin zu knacken. Martin studiert fleißig und teilt seine Zeit sehr diszipliniert ein. Er bäumt sich nicht auf gegen Dinge, die zur Zeit nicht zu ändern sind. Und so bleibt er guten Mutes und hilft uns darin auch so sehr. Nach dem Besuch bei Martin ging ich in die untere Besuchshalle, um für meinen Pflegesohn Deliza Mazibuko einen schönen warmen Pullover abzugeben zu seinem Geburtstag. (Temperaturen sind nachts um null.) Ich durfte ihn selbst sehen! Die „Hinterbliebenen“ wünschen sich nichts so sehr wie Post! Seine Mutter besuchte nicht, weil am 16. Juni „stay away“ ist. Also holte ich sie ab und geriet in folgende Geschichte: Ich fand das Nachbarhaus umstellt von schwerbewaffneten Soldaten (einer noch sehr jung und klein) und „riotpolice“. Sie wollten den Jungen abholen, doch die Mutter weigerte sich. Sie zogen ab, vielleicht weil ich mein Auge da hatte? Während ich auf die Mama Mazibuko wartete, sah ich einen Polizisten mit Doppellaufgewehr gerannt kommen, einfach mitten über eine Veranda, auf der Leute friedlich saßen. Voller Schrecken merkte ich, daß er zwei kleine Buben jagte. Er trug die Flinte schießbereit in der Hand. Ich rannte hinterher, wollte auf jeden Fall Zeuge sein. Die Kinder verschwanden im hohen Gras. Der Polizist war weiß vor Wut. Als er sich umdrehte, stand ich da: „Jagst du kleine Kinder mit deinem Gewehr?“ – „Sie sind zwölf, sie sind nicht unterjährig.“ – „Auf jeden Fall sind sie unterjährig.“ – „Was machst du hier in einer schwarzen location?“ Er rannte los und tat mir nichts, hätte mich verhaften können für Störung der Polizei im Dienst. Er wußte, er tat unrecht. Drüben stand ein großer gelber „KhwelaKhwela“ gepackt voller Jugendlicher. Als Ma Mazibuko rauskam, schlüpfte ihr 12jähriger Enkelsohn schnell hinten in den Golf, unter den Deckel. Er war kurz vorher auch von der
Polizei gejagt worden und unters Bett gekrochen. Als ich nach dem Gefängnisbesuch beide wieder nach Hause brachte, kamen mehrere Mütter gerannt und meldeten, daß ihre Kinder von 12, 13 und 14 Jahren abgeholt worden waren, in die Polizeistation zu einer „identity-parade“ (Gegenüberstellung). Morgens war auf der Straße eine Sperre gelegt worden, um Leute davon abzuhalten, am 16. Juni zur Arbeit zu gehen. Wahrscheinlich rückten die Kinder zur Nacht oder am Morgen wieder an. Ich schrieb eine Erklärung über das Jagen von Kindern mit einem Gewehr. Mir wurde gesagt, daß damit jetzt nichts anzufangen ist. Die Polizei darf tun und lassen, was sie möchte. Um halb ein Uhr nachts, am 18. Juni, klopfte es sehr dringend an unsere Tür. Unser Pflegesohn Dumani stand da, der schon so viel Scheußliches erlebt hat: „Sie haben meinen Vater angeschossen, darf ich bei euch schlafen?“ – „Natürlich.“ – Er rennt schnell seinem Nachbarn Bescheid sagen, der es gewagt hat, Dumani hierher zu fahren. Er kriecht in das für Martin vorbereitete Bett, Blümchen stehen noch auf dem Tischchen. Am nächsten Tag wünscht er doch nach Hause gebracht zu werden. Dort höre ich Folgendes: Dumani hat nach der Entlassung aus dem Gefängnis Hausarrest von 18 bis 5 Uhr. Eine Stunde vor der Schießerei wurde das Auto vom Geheimpolizisten Berger in der Gegend gesehen. Sein Beifahrer stieg aus und ging zum Dlomo-Haus, klopfte aber nicht an. (Es ist bekannt, daß Berger mit dem Inkathaführer Amandla befreundet ist, ihm auch mit einem Schein ein Gewehr geliefert hat.) Nach elf Uhr fielen Steine aufs Dach. Vater Josef ging ans Küchenfenster, schob die Gardine beiseite, um zu gucken, da traf ihn ein Schuß, ging zum Unterarm rein und beim Ellenbogen wieder heraus. Der zweite Schuß traf den Bauch, zum Glück drang die Kugel nicht ein. Fenster und Gardinen sind kaputt, Einschüsse an der
Außenwand zu sehen. Der Mann hatte aus des Nachbarn Bananenstaude geschossen. Wäre Mr. Dlomo vor die Tür getreten, wäre er ein Kind des Todes gewesen. Was für schlimme Schocks die kleinen Dlomo-Geschwister schon erlitten haben! Drei Patronenhülsen wurden im Garten gefunden. Was muß in Dumanis Herz für ein Groll sitzen. (Dumani ist der Junge, der 1986 unterm Sofa saß, als viele bewaffnete Inkatha-Vigilantes durchs Haus rumorten, bei Nacht. Später kam er in Haft und wurde gefoltert, – noch 16 Jahre alt – u. a. mit Eis. Danach wurde er mindestens noch dreimal verhaftet, aber es ging ihm dabei nicht schlechter als anderen.)
Sorgen um die jungen Flüchtlinge
Ein großes Problem mit all den „comrades“, die eigentlich Flüchtlinge sind, ist, daß ihre Schullaufbahn unterbrochen wurde. Keine Schule nimmt sie auf. Viele gammeln herum und kommen ganz natürlich auf dumme Gedanken. Zodwa Moja ist einer, um den ich mir schon länger Sorgen mache. Er grüßte mich kameradschaftlich, Schlitzaugen unter tief herabgezogener Kappe. „Zodwa, wenn ich dich sehe, kriege ich große Angst um dich.“ „Wieso?“ „Um deinen Bruder bekam ich die gleiche Angst. Und guck, wo er nun sitzt.“ Der Bruder Themaba hat eine Mordanklage gegen sich. Nachdem sein Vater nach einem Bauchschuß eines langsamen, qualvollen Todes gestorben war – der Schuß hatte Themaba gegolten – erwarb sich Themaba ein Gewehr und allerlei passierte damit. Themaba muß schwer gefoltert worden sein. Am selben Nachmittag des 17. Juni wurde ein junges Inkatha-Mädchen von Zodwas Gruppe ermordet! Black Sash hat sich des Flüchtlingsproblems angenommen. Wir möchten die Kirchen dazu kriegen, sich zu kümmern und dringend eine Stelle zu finden, wo die Jugendlichen sich positiv beschäftigen und engagieren können, ohne Polizeibelästigung. Das ist sehr schwierig. Die Bevölkerung ist völlig eingeschläfert durch die nicht vorhandenen Meldungen. Heute am 23. Juni, erfuhren wir, daß Fritz Blumenberg Martin nicht besuchen darf, er ist ein „security risk“ (Sicherheitsrisiko). Sicherlich wird es damit sein, wie mit dem Gesangbuch: Martin durfte das deutsche Gesangbuch nicht haben, das die Gemeinde ihm geschenkt hat. Es war eine lange
Geschichte, aber Blumenberg schaltete unser Gemeindeglied Martin Menke ein, der von der Nationalen Partei als Vorsitzender der Provinzialregierung benannt worden war. Da der Ruf seines geliebten Gesangbuches auf dem Spiel stand, klemmte er sich hinter seine ehemaligen Parlamentsfreunde, die Kabinettsminister, und siehe da, das Gesangbuch durfte rein. Martin wurde dann vom verschnupften Geheimpolizisten mitgeteilt, seine Eltern hätten die Angewohnheit, gleich bis hinauf ins Parlament zu jammern. Wir werden mal sehen, bis wo hinauf wir jammern werden wegen des Pastors, aber wenn einer so völlig alleine sitzt, dann ist dieses eine zusätzliche Gemeinheit. Wir erfuhren inzwischen, daß Fritz Blumenberg sich noch einmal von vorne bewerben muß um ein Besucherpermit, diesmal muß die Sicherheitspolizei die Erlaubnis geben. Das Irre ist, daß die Erlaubnis von vornherein für Martin beantragt worden war, vor vier Monaten, und Martins Zustand und Bedingungen haben sich nicht gewandelt. Leider darf man ja mit Martin selber über dergleichen Dinge überhaupt nicht reden. Ab und zu haben wir schon Nachrichten untergeschmuggelt, wie z. B. diese: Die Studenten beschlossen, nach Pretoria zu den Union Buildings zu gehen und Petitionen von Tausenden von Studenten gegen die Bannungen von den 17 Organisationen unserem Staatspräsidenten PW zu überreichen. Gertrud war eine der Abgeordneten. Damit die Geschichte legal blieb, wurde jede Minute ein Student auf den Weg geschickt. Die Sache war sehr gut vorbereitet worden – von anderer Seite allerdings auch. Eine dicke Kette dicker Polizisten umstand das Unionsgebäude. Unsere Gertrud muß ganz schön gezittert haben. Jeder gab dann sein Dokument ab und die Polizei versprach, es PW abzugeben. Weil kein Tränengas und keine Wasserkanonen
gebraucht worden waren, fiel die Aktion „ins Wasser“: niemand berichtete darüber. Die Kirchenführer hatten kurz vorher sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Martin hatte ich erzählt, Gertrud sei mit ihrer Freundin Esther Menning (Präsidentin vom Studentenrat) Onkel Pieter besuchen gegangen. Sie haben es leider nicht ganz geschafft, zu ihm zu kommen. Martin hatte auf der Stelle geschnappt, wovon ich geredet hatte, der Wärter nicht. Das Detainee Support Committee (Komitee zur Unterstützung der Gefangenen und ihrer Familien) ist unter Beschuß der Regierung. Sein Dasein hängt am seidenen Faden. Sie helfen Müttern mit Busgeld und Taschengeld für die Häftlinge, dann bekamen sie auch noch Trainingsanzüge für ihre Söhne. Regelmäßig gibt „DESCOM“ auch „teaparties“. Es kommen mal Rechtsanwälte oder Psychologen, die kleine Vorträge halten. Letztes Mal wollte die Psychologin wissen, ob die Leute sich ein wenig aussprechen wollten. Das wollten sie unbedingt. Leute standen auf und berichteten von ihrem Leid. Besonders erschütterte uns eine Mutter, die ihr Kind von so 4 bis 5 Jahren hochhob: „Dies Kind sah seinen Bruder erschossen werden. Es sah seinen anderen Bruder von der Polizei abgeholt werden. Immer fragt es: Was kriegt mein Bruder im Gefängnis zu essen? – Wir haben eine schwere Last auf unseren Schultern!“ Zuletzt noch ein Ereignis, das dem Freund von Reinhilds Freundin passierte. Er ist Student der Fotografie an einem Technikum und hatte die Aufgabe, Fabriken zu fotografieren. Also machte er sich daran, die Simba-Chips-Fabrik aufzunehmen. Diese Fabrik liegt in der Nähe von Imbali. Eine Polizeistreife nahm ihn mit, spulte ihm den Film aus und verhörte ihn ganz kräftig. Später wurde er in ein Zimmer geführt, das war gepflastert mit Bildern an den Wänden: Es scheint, daß wir da alle prangen, mit Namen. Es wurde ihm
angeboten, er dürfe mitarbeiten, Informationen sammeln, wenn er wollte. Seinen entwickelten Film bekam er dann zurück. Der ihn verhört hat, ist einer von Martins Special-Branch-Männern. Hoffentlich kann ich nächstes Mal etwas fröhlicher schreiben. Ich kann nur sagen, daß ich so froh bin, daß ich die „Raben des Elia“ und andere Bilder noch an die Scheibe geschmuggelt habe, ehe ich nun meine Hand hingehalten habe, mit dem feierlichen Versprechen, es nicht mehr zu tun. Je länger es dauert, desto schwerer wird es, nicht auszurutschen in eine gewisse Bitterkeit. Sie nützt niemandem. Was natürlich so betrübt macht, ist zu merken, wie unser Brigadier allen Leuten das gleiche sagen muß, was Botschafter Retief in Bonn auch behauptet. Dem amerikanischen Botschafter hatte er neulich das Gleiche erzählt wie damals Frau Simons vom Europa-Parlament. Der Botschafter kannte Martin aber. Unser Rechtsanwalt bekam als Antwort auf die Frage, warum Martin in Haft sei, nach vier Monaten die Antwort: Er habe seine „restriction Orders“ übertreten!! Der „böse Leumund“ ist wohl auch Teil des Leidens, das einem auferlegt ist; es schmerzt ab und zu, aber wenn man so gewiß weiß, wo die Wahrheit liegt, kann man getrost und auch fröhlich sein, wie Martin es in seiner Lage fertigbringt. Dafür sind wir so dankbar! Für sehr viele liebe Briefe und Grüße haben wir zu danken! Alles wird eingeklebt und eingeheftet und wartet auf Martins Heimkehr. Mit gesonderter Post ging ein Dankesbrief meines Mannes ab an all die vielen freundlichen Geber der Stipendiengelder, wodurch nun etlichen Studenten geholfen werden kann. Vielen, vielen Dank für all die Liebe und Fürsorge und Mittragen, die daraus deutlich wurden. Eure Monika Wittenberg
In großer Fröhlichkeit – Martin ist frei!
Pietermaritzburg, 20. Juli 1988 Ihr lieben Verwandten und Freunde, Martin ist wieder frei – nach 149 Tagen Einzelhaft (fast fünf Monate). Die meisten von Euch werden es inzwischen erfahren haben. Die Freude und die Dankbarkeit gegen Gott sind groß. Ganz anders singen wir jetzt: „… und die da sind gefangen…“ Unsere Ma Mkhize rief aus: „Oh, our God is the King of them all!“ Allerdings ist Martin großen Einschränkungen unterworfen: Zwischen 18 und 5 Uhr muß er zu Hause sein, Pietermaritzburg darf er nicht verlassen, mit 17 Organisationen nicht in Kontakt kommen u.a.m. Aber das ist erträglicher als die Haft. Fünf Monate lang hatte er kein Grün gesehen, keine Sonne, keine Zeit gewußt und keine Nachrichten erhalten. Ohne Anklage war er schwer bestraft worden. Gegen 5 Uhr nachmittags brachte der Brigadier Martin persönlich nach Hause. Er und seine Begleiter sahen recht prächtig aus in ihren Uniformen, die sie ausnahmsweise trugen. Gerade hatten sie auf einer Parade Medaillen empfangen, für ihren Beitrag an der „Unterdrückung der Unruhe“. Wegen Rudolf Hinz hatten wir Freunde für den Abend eingeladen. Das gab ja dann ein mächtig fröhlich Feiern. Martin erzählte und erzählte, und wir lachten und lachten. Seinen Frohsinn und Humor hat er nicht verloren. Man kann nicht genug staunen, was sich in einer Einzelzelle immer noch erleben läßt. Wir hörten von der viermonatigen Inventur in der Gefängnisbibliothek – und als sie gingen, fing sie von neuem an! – Und wie Schreiben auf Klopapier verboten ist; Klopapier hat einem andern Zweck zu dienen!
Zwei Monate lang versuchte Martin den Wärter mit Freundlichkeit zu überwinden. Später beachtete er einfach nicht all die kleineren und größeren Schikanen. Er ertrug sie mit Geduld und Gelassenheit und blieb ohne jede Bitterkeit. Denkt Euch: all die fünf Monate studierte Martin fleißig, ohne Tisch und Stuhl. Er machte uns vor, was für ein Problem das war, zumal das obere Bett das Licht abschnitt, sobald man nicht ganz vorne saß. Irgendetwas krampfte nach einer Zeit, die untergeschlagenen Beine, oder der Ellenbogen, auf den er sich aufstützte, oder die Kniekehlen schmerzten. Nun ist viel nachzuholen. Alle Zeitungen bewahrten wir auf, da ist viel nachzulesen. Alles, was wir durch Scheibe und Rohr uns nicht erzählen konnten, wird erzählt. Außerdem sind alle die gesammelten Brief und Karten und Bilder von Euch allen zu lesen! Ganz herzlichen Dank Euch allen, für alle Gebete, für allen Einsatz, alle Unterschriftenaktionen und für alle Eure Liebe, die daraus deutlich wurde, und die uns alle getragen hat durch diese schwere Zeit. Natürlich war es, trotz allem Gelächter jetzt, eine schwere Zeit, und der Schritt aus der großen Enge in die Weite muß langsam gemacht werden. Man kriegt natürlich einen ganz neuen Ausblick auf ein Gebiet, das zu allen Zeiten aus dem Blickfeld der Menschheit ausgeklammert ist: das Gefängnis. Wenn mich je Selbstmitleid packen wollte, so traf ich dort Dutzende und Dutzende von Müttern, die es VIEL schwerer hatten. Nur wenige konnte ich mit dem Auto mitnehmen, alle andern mußten die mehr als drei Kilometer bei Hitze und Regen, Kälte und Wind laufen. Dort gibt es keinen Unterstand und nur zwei schmale Bänke. Wir standen öfter bis zu anderthalb Stunden in unseren Schuhen. Zu Anfang hatte ich mal an alles, nur nicht an einen Schirm gedacht und wurde durch und durch naß. Davon bekam ich meinen bekannt gewordenen „Gefängnishusten“, der mich treu und heftig die Monate begleitet hat.
Auf dem langen Gang durchs Gefängnis sieht man viel Elend und nicht viel Menschlichkeit. Mir war es wichtig, diese Menschen bewußt zu grüßen und, wenn sie angekettet waren, zu sagen: „Gott liebt dich.“ Wie alles weitergeht, wissen wir nicht. Wir lassen den morgigen Tag für das Seine sorgen und sind in der Familie HEUTE sehr froh und dankbar. Und so können wir Euch in großer Fröhlichkeit grüßen!
Brief, Pietermaritzburg, 23. November 1988 Ihr lieben Verwandten und Freunde! Heute, am 80. Geburtstag meiner Mutter, grüßen wir Wittenbergs Euch alle ganz herzlich zu dieser Advents- und Weihnachtszeit! Ein jeder von uns ist in einer andern Lage – Ihr und wir – ganz verschieden. Überall gibt es Freud und Leid. Ich hoffe, wir alle können das Licht sehen, das für uns erschienen ist! Diesen Brief schreibe ich Euch im Stehen, und den kleinen Scherenschnitt machte ich auf dem Rücken liegend, denn am 8. November wurde ich am Rücken operiert: Ich hatte einen eingeklemmten Ischias-Nerv, der mir zur Abwechslung mal das Leben schwer machte. Die Ärzte meinten, nicht einmal die große 80. Geburtstagsfeier meiner Mutter sei ein Grund zum Aufschub der Operation. Nun ist sie gut überstanden und ich bin froh und dankbar und schon ganz gut wieder in Gange. Seit Juli sind wir aus dem „großen Drama“ heraus, deswegen plätschert unser Leben trotzdem nicht nur still und leise dahin. Wenige Tage nach Martins Freilassung gingen Gertruds gute Freundin Karen, ihre zwei Brüder und deren beiden Freunde plötzlich im tiefe Schnee in den Drakensbergen verloren. Am dritten Tag war die Hoffnung, sie zu finden, fast aufgegeben worden. Das ganze Land bangte und betete um sie. In letzter
Minute wurden sie gefunden! Dadurch war Gertruds 21. Geburtstag ein stilles, halb gedrücktes Ereignis. Keiner hatte während der Nächte richtig schlafen können im Gedenken an die Vier in der furchtbaren Kälte. Den Sonntag hielt der Vater Harrison einen großen Dankgottesdienst in Port Shepstone, zu dem Hunderte kamen, um mitzufeiern. Gertrud hat ihr zweites Jahr Theologiestudium hinter sich. Sie wohnte dieses Jahr mit im Heim, der Gemeinschaft wegen. Wir sind sehr froh und dankbar, wie sehr gut sich die Studenten aus den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammengefunden haben. Das ist wie ein Wunder der Urchristenheit. Gertrud wurde wieder mit den drittmeisten Stimmen in den Studentenrat gewählt. Sie organisiert ein Nachhilfeprojekt, bei dem allsamstäglich etwa 500 Oberschüler aus den Townships kommen, um von Studenten in Mathematik, Englisch, Biologie usw. Nachhilfeunterricht zu bekommen. Erfreulich viele Studenten helfen da mit, dafür verlieh die Universität Gertrud den „Mike-Robinson-Preis“, den 1984 Martin schon mal bekommen hatte. Reinhild ist zur Zeit mitten im Matrik-Examen (Abitur). Sie nimmt es sehr ruhig und fröhlich hin. Da sie sich zur Krankenpflege entschlossen hat, ist sie unter keinem Druck für hohe Zensuren. Am 31. Dezember fliegt sie nach Kapstadt. Anfang Januar fängt sie ihre Ausbildung im Groote-SchuurKrankenhaus an. Ihre letzten Schuljahre, im Gegensatz zu den ersten, waren sehr schön. Sie hat einen Freundeskreis, der durch dick und dünn mit ihr geht, z. B: Als Martin verhaftet wurde, weinten sie alle von Herzen mit ihr und trugen das Bangen mit ihr und die Freude. Natürlich freuen wir uns, daß sie ihre Schwester Inge in der Nähe haben wird. Für mich wird das Nest so leer! Inge hat Freude an ihrem Beruf als Musiklehrerin. Im Juni/Juli machte sie mit ihrem Streichorchester eine Reise nach
Rom-Istanbul-Wien und Budapest. Im Dezember besucht sie uns für eine Woche, ehe sie zu den Schwiegereltern zum Weihnachtsfest weiterfährt. Neels hat fast zweieinhalb Jahre Ersatzdienst in der Stadtbibliothek hinter sich. Dreieinhalb Jahre stehen noch bevor, das ist frustrierend lange. Zwischendurch arbeitet er weiter an seiner Magisterarbeit. Er hat mit viel Liebe und Mühe auf Holzblöckchen das Wittenberg-Familienspiel Mah-Jongg nachgearbeitet. Das Spiel brachte Urgroßvater Wittenberg aus China mit. Martin arbeitet sehr fleißig und fröhlich an seiner Magisterarbeit. Seine Restriktionen nimmt er gelassen hin. Gute Filme besieht er sich mittags. Von der Haft behielt er keine negativen Folgen zurück. Die fünfmonatige Aussicht auf eine Backsteinwand wirkte sich dahin aus, daß er nun so viele schöne Pflanzen und Blumen wie nur möglich im Zimmer haben möchte. Bei seinem indischen Freund und Kollegen, der zur selben Zeit, aber länger in Haft war, hat man Tuberkulose festgestellt, die er sich im Gefängnis zugezogen hat. Der Kollege Skumbuzo sitzt weiterhin ohne Anklage. Der geschockten Mutter wurde er zur Besuchsstunde in schweren Ketten vorgeführt. Er hatte den Leiter des Gefängnisses nach der Turnstunde sprechen wollen, vorher wollte er nicht in die Zelle zurück. So wurde er also mit Gewalt hineinbefördert. Seitdem sitzt er allein angekettet in der Zelle, vorher war er mit zwei anderen zusammen gewesen. Als sie Gewalt gebrauchten, hatte er zurückgeschlagen. Das schadet ihm nun sehr. Es ist sehr schwer für die Mutter, deren einziger Sohn er ist – und sie ist Witwe. Tagsüber kann Martin frei herumlaufen und -fahren. Meist ist er in der Uni, wo er gleich wieder „Tutorials“ gab. Nur dreimal kam die Geheimpolizei, um nachsehen, gleich zweimal in der einen Woche, in der ich im Krankenhaus war, und zwar genau zur Besuchszeit, falls er heimlich zur „Unzeit“ seine Mutter
besuchen sollte. Zum 80. Geburtstag meiner Mutter sammelte meine Schwester Agnes lustige Aussprüche der Enkel. Ich fand dabei einen Eintrag vom 18.9.1975, drei Wochen vor Martins 13. Geburtstag: Er hatte immer die Zeitung gelesen und es betrübte ihn sehr, was er da las. Er meinte: „Ich muß wohl später meinen Mund doch mal aufmachen, wenn ich Student bin. Aber dann bin ich in Gefahr, verhaftet und in solitary confinement gesetzt zu werden.“ Er überlegte, daß das nicht angenehm sein würde. – Ich erzählte ihm von Bonhoeffer und wie er seine Zeit genau eingeteilt hatte. So wollte er es auch mal machen. Und was ich wohl tun würde, wenn ich seine Nachricht bekäme? Ich sagte: „Ich werde sehr stolz auf dich sein und ganz tüchtig für dich beten.“ Das freute ihn. – So weit der Eintrag in meinem Tagebuch. Martin und ich hatten beide diesen frühen Ausspruch ganz vergessen! Im September war Günther für drei Wochen nach Brasilien eingeladen, zu einer Konferenz von Dozenten von theologischen Seminaren der Dritten Welt. Er war ihm möglich, allerlei Leute zu treffen und viel zu hören. Sehr erfüllt und mit neuen Ideen kam er zurück. Die theologische Ausbildung entwickelt sich höchst erfreulich. Das „Department“ wurde selbständig. Ab 1990 wird das „Consortium“ der Seminare in Aktion treten, wobei die angeschlossenen Seminare ihre Dozenten, Bibliotheken, Vorlesungen und natürlich Studenten teilen und austauschen werden. Ein Grund zu großer Freude und Dankbarkeit ist, daß Günthers Freund und Kollege Prof. Klaus Nürnberger seinen Posten an UNISA zugunsten dieses sehr viel kleineren Departments aufgab. Das Interesse an unserm BTH wächst sehr auch über die Landesgrenzen hinaus. Das freut uns alle. Zuletzt noch von mir. Im September/Oktober waren Peter und Joan Kerchhoff als „Arbeiter für den Frieden“ von den Mennoniten nach Amerika eingeladen worden. Derweil fiel die
PACSA-Verantwortung stark auf mich. An einem Wochenende gab es einen neuerlichen Ausbruch der Gewalt. Insgesamt zehn Jugendliche verloren das Leben, und etwa 90 Leute flohen aus der Gegend und baten uns um Hilfe. Das war ein großes Problem, sie brauchten Unterkunft und Verpflegung. Bis sie alle woanders untergekommen waren, dauerte es zwei Wochen und kostete sehr viel Kopfzerbrechen. In derselben Zeit wurde PACSA einmal wieder für fast zwei Stunden polizeilich duchsucht, nach Handzetteln gegen die landesweiten Gemeinde wählen. Aber sie zogen beutelos davon. Wir haben ein drolliges Freud-Feind-Verhältnis zueinander. Wir kennen uns mittlerweile schon recht gut und lassen uns gegenseitig gelten. Übrigens bekam ich im Krankenhaus von der deutschen Geheimpolizistin eine Karte mit aufrichtigen Wünschen zur guten Besserung, die ich für ehrlich annehme. Eines Tages wollen wir ja alle mal in Frieden miteinander wohnen, fangen wir also schon mal an… Euch allen und uns allen wünschen wir nichts so sehr wie Frieden im neuen Jahr 1989. Wollen wir die Hoffnung nicht aufgeben! Ganz herzlich grüßt Euch Eure Monika Wittenberg.
Nachts heulen die Weißen Wölfe
Brief, 7. Dezember 1988 … Wir hatten mal wieder einen nächtlichen Anruf – und zwar heulte ein „Wolf“ übers Telefon. Das ist ein richtiger „dirty trick“. Die „White Wolves“ (die weißen Wölfe) bekannten sich zum Bombenanschlag auf den „Namibian“, auch zu dem aufs Khotso-Haus. Und der Schütze in Pretoria, der neulich sieben Schwarze erschoß und etliche verletzte, war ein „White Wolf“. Mir ist nicht sehr wohl dabei, obwohl alle sagen, wir dürfen uns nicht dran scheren. Ganz herzliche Grüße und frohe Weihnachten! Eure Monika. PS. Nächstes Mal, wenn die Wölfe heulen, habe ich vor, ihnen ins Ohr zu singen: „Trara so blasen die Jäger…“