Ulrich Waldner
Ein merkwürdiger Fall
Verlag Neues Leben Berlin 1974
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Ulrich Waldner
Ein merkwürdiger Fall
Verlag Neues Leben Berlin 1974
© Verlag Neues Leben, Berlin 1974 Lizenz Nr. 303 (305/66/74) LSV 7503 Einband und Illustrationen: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 8p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr.: 641887 5 EVP: 0,25
Es war eine kalte, regnerische Oktobernacht. Aus den tiefhängenden Wolken, die über den See herantrieben, prasselten Schauer auf die Dächer der leerstehenden Wochenendhäuser. Die Saison war vorüber, einsam und verlassen lag die Siedlung. Es gab in ihr kein Lachen, keine Musik, kein munteres Leben mehr. Der Geruch der Lagerfeuer und bratenden Schaschlikspieße war verflogen, es roch nach nassem Laub und moderndem Schilf. Der Mann in der dreiviertellangen Regenkutte hatte kaum zu fürchten, daß ihm jemand begegnete, dennoch hielt er es für angebracht, sich an Zäunen und hohen Hecken entlangzuschleichen. Der Weg war nicht gepflastert und beleuchtet. Ein von Venedig begeistertes Mitglied des Vereinsvorstandes hatte ihm den Namen „Seufzerbrückenpfad“ verliehen. Das märkische „Seufzerbrückchen“, das für die Namensgebung herhalten mußte, überspannte zwar nur einen trägen, übelriechenden Tümpelabfluß zum See, aber es war hochgewölbt. Zur Hochsommerzeit quakten die Frösche und flogen die Mücken, man hörte also der geplagten Grundstücksbesitzer Seufzer überall. Der Name für den Pfad und die Brücke hatte durchaus seine Berechtigung. Die Hand des Regenkuttenträgers fuhr über sein regennasses Gesicht. Für einen Augenblick blieb er stehen. Der See, auf den er von der Brücke aus einen weiten Ausblick hatte, trug weiße Schaumkronen. Der Mond sah durch einige Wolkenfetzen, und in seinem blassen, gespenstischen Licht erweiterte sich das Panorama, sahen die Wellen noch gefährlicher aus. Aber bald ging der Mann in der Regenkutte weiter, überquerte die Brücke, blieb am Zaun des nächsten Grundstücks stehen und sah sich um. Nichts regte sich.
Der Zaun war ihm kein Hindernis. Er bestand aus gemauerten Pfeilern, die Felder quadratischen Maschendrahts trugen. Er stemmte sich an einem Pfeiler hoch, setzte mit einer Flanke hinüber, lief geduckt bis zur nächsten Baumgruppe, sprang nach rechts zur Jasminhecke und schlich längs der Hecke bis zum Bootsschuppen am Wasser. Eine Taschenlampe flammte auf. Von der Hand fast völlig abgeschirmt, tastete sich ihr Lichtkreis über das Vorhängeschloß an der Tür bis zur Dachkante hinauf. Dort hing an einem Nagel ein Schlüssel. Der Mann brauchte nun kein Licht mehr.
Er schloß das Tor des Bootsschuppens auf. Da hörte er das Knacken eines trockenen Astes, drehte sich blitzschnell um und starrte sekundenlang in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Vorn an der Straße, am Zaun war es gewesen. Und wenn ihn nicht alles täuschte, bewegte sich hinter einem der in der Dunkelheit hell
leuchtenden Birkenstämme etwas Mannshohes, Schwarzes. Er sah genauer hin und stellte fest, daß seine Augen ihn genarrt haben mußten. Der Birkenstamm hob sich deutlich ab gegen den Hintergrund, und er war so schmal, daß sich kaum ein Mann dahinter verstecken konnte. Der Regenkuttenträger wandte sich beruhigt um und öffnete das Tor. Vorsichtig, damit es nicht in den Angeln quietschte, hob er es an und öffnete es. Dann hakte er es fest und verschwand im Inneren des Schuppens. Jetzt erst richtete sich der Mann auf, der beim Überspringen des Zaunes auf einem Ast gelandet war und schnell Deckung hinter einem Birkenstamm gesucht hatte. In eine tiefe Hocke war er gegangen und war fast eins geworden mit dem Untergrund. Nun folgte er seinem Vorgänger auf dem gleichen Weg. Ein paar Schritte vor dem Bootsschuppen blieb er stehen und preßte sich vorsichtig in die dichte Jasminhecke. . Der Verfolger brauchte nicht lange zu warten, aus dem dunkel gähnenden Tor des Schuppens schob sich der schlanke Rumpf eines Paddelbootes. Der Mann in der Regenkutte kam heraus, er hatte das Boot in der Mitte gefaßt, schleppte es zum Steg und setzte es ab. Dann holte er die Paddel, schloß das Tor, hängte den Schlüssel an den Nagel unter der Dachkante, setzte das Boot ins ruhige Wasser des kleinen Hafens, stieg ein und paddelte mit kräftigen Schlägen hinaus auf den See. Die Wellen packten das leichte Boot und warfen es aus der Fahrtrichtung. Sein Bug wurde von Brechern überlaufen, und Wasser stürzte übers Spritzbord ins Innere. Der Regenkuttenmann kämpfte verbissen gegen Wind und Wellen. Um die Landzunge mußte er herum, nur um
die Landzunge. Wenn er sie umfahren hatte, befand er sich im Windschatten und in Sicherheit! Aus der Jasminhecke war der Verfolger hervorgetreten. Er war ein großer, kräftiger Mann in einem schwarzen Trainingsanzug. Die Krempe des alten zerbeulten Filzhutes, den er sich auf den Kopf gestülpt hatte – wohl um unerkannt zu bleiben – , war tief ins Gesicht geschlagen. Er sah dem mühsam vorankommenden Bootsfahrer nach. „Ohne Spritzdecke fährt er los“, sagte er kopfschüttelnd. Er blieb so lange, bis das Boot als schmaler, auf den Wellen hüpfender Strich hinter der Landzunge verschwunden war. Dann ging er zum Bootsschuppen und packte das leichte Vorhängeschloß mit beiden Fäusten. Ein einziger kräftiger Ruck genügte, das Schloß war auf. Er ließ es zerstört, mit offenem Bügel an der Tür hängen, sagte „Adios“ und trat den Rückzug zum Seufzerbrückenpfad an. „… so besteht also der vorbeugende Sinn unserer kriminalpolizeilichen Arbeit auch darin, daß jeder Täter nicht nur die Strafe selbst zu fürchten hat, sondern vor allem ihre Unabwendbarkeit“, beendete Hauptmann Reinhardt seine Antwort auf eine Frage des Vorsitzenden der Prüfungskommission. Die Dozenten saßen ihm am langen Tisch gegenüber, alle in Uniform, er, im dunklen Anzug, allein ihnen gegenüber. Einer gegen sieben! – Nein, nein, so war das nicht. Sie versuchten ihn nicht reinzulegen. Sie waren ihm durchaus wohlgesonnen, und sie nickten auch jetzt ganz zufrieden. Seine Vorzensuren waren ja in Ordnung gewesen, aber Prüfung bleibt Prüfung. Über eine Stunde dauerte das Gespräch nun schon.
Straf- und Prozeßrecht, Kriminaltaktik und Methodik, Psychologie und Vernehmungslehre, Kriminaltechnik, operative Maßnahmen. Er war gut in jedem der Fächer, aber alles zusammen und alles auf einmal und nicht wissen, wonach noch gefragt wird – und die Prüfungsangst! Herrgott, er hatte doch in über zwanzig Dienstjahren bei der Kriminalpolizei Dinge erlebt! Er hätte jetzt, in diesem Moment, gern gewußt, wie oft er in Lebensgefahr gewesen war. Doch jetzt war keine Gelegenheit, das zusammenzurechnen, und was half es auch, wenn er’s wüßte. Die endlose Prüfung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er konnte es nicht verhindern, so souverän er sonst auch war. Wenn er sich in Lebensgefahr befunden hatte, war ihm gewöhnlich kein Schweiß auf die Stirn gekommen. Er tupfte sich mit dem Taschentuch, das ihm seine Frau liebevoll geplättet und in die Tasche gesteckt hatte, die Stirn ab. Dreimal hatte man ihm Zusatzfragen gestellt. Natürlich mit Erfolg, ich habe nicht rumgeeiert, sagte er sich, ich müßte ganz gut dastehen! Aber das ist meine Meinung, sie kann subjektiv sein. Der Dozent für Straf- und Prozeßrecht hatte ein paarmal so komisch gelächelt. Gelächelt hatten sie eigentlich alle schon. Aus Sympathie, weil ich der älteste Kandidat bin? Hauptmann Reinhardt wußte nichts mehr. Er wünschte, daß es vorbei sein möge. Die Prüfungskommission sah auch nicht sehr munter aus. Warum hatten sie ihn, den Ältesten, zum Schluß herangenommen? Erst hatte er gedacht, daß sie es kurz machen würden. Sie wissen, daß ich gut bin, sie machen’s nur pro forma. Wozu hatten sie fünf Jahre hin-
durch Zwischenprüfungen und schriftliche Arbeiten abgelegt? Aber nein! Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten – er brachte es fertig, auf die Armbanduhr zu sehen – fragten sie ihm nun „Löcher in den Bauch“. Er kannte sie alle, sie kannten ihn alle. Aber warum trieben sie’s denn bis zur Erschöpfung, verflucht noch mal! Der Vorsitzende sah nach links und nach rechts. Die Dozenten nickten. Sie hatten keine Fragen mehr. Vielleicht dachten sie an das Mittagessen. Auch die Dozentin der Philosophie nickte. Eine junge Genossin, die so hübsch und charmant war, daß Reinhardt auch aus diesem Grunde zwischen Eins und Zwei stand. Es wäre ihm peinlich gewesen, bei ihr zu versagen, denn er könnte ihr Vater sein. Sie nickte auch, für sie war alles klar, er hatte mit Gut bestanden. Der Vorsitzende wollte sich schon erheben, da fiel dem Dozenten für Straf- und Prozeßrecht, diesem sonst sehr lustigen, aber heute recht pedantischen Mecklenburger ein, daß die Philosophie bisher ein wenig zu kurz gekommen sei. Die Genossin Sedler war die einzige Frau in der Kommission. Was der Psychologe und alle anderen nicht sahen, das sah sie: Der Prüfungskandidat war am Ende. Sie als einzige hatte bemerkt, daß ihn die Prüfungssituation mehr Kraft gekostet hatte als die Beantwortung der Fragen. Trotz der aufgelockerten Atmosphäre und des Kaffees, der zwischendurch serviert wurde, wurde. Die Aufforderung war mehr formal, und so stellte sie eine schwierige Frage, von der sie aber wußte, daß Reinhardt sie beantworten konnte. Er sollte mit der Antwort brillieren können. Kandidat Reinhardt begann auch sehr zügig, doch dann verhaspelte er sich.
Hauptmann Christa Sedler schwitzte Blut und Wasser, sie half ihm weiter, soweit es erlaubt war, baute ihm Eselsbrücken. Vergebens, bei Walter Reinhardt war der Zwirn gerissen, er warf alles durcheinander. „Aber Genosse Reinhardt“, half ihm Christa Sedler auf die Sprünge, „das wissen Sie doch! Sie wollten vom Wahrheitskriterium ausgehen…“ Das war nun so ziemlich das Geläufigste. Jeder Student im ersten Semester wußte das, und sie hoffte, daß Reinhardt, wenn er erst wieder den richtigen Faden in der Hand hielt, das Knäuel entwirren würde. Sie hatte sich geirrt. Der verdienstvolle Kommissar der Kriminalpolizei scheiterte an dieser letzten, weiß Gott, so simplen Frage. „Das Wahrheitskriterium – das Kriterium für die Wahrheit ist…“, stotterte er und wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch ab. „Ja, entschuldigen Sie bitte“, sagte er dann, „natürlich weiß ich normalerweise – nur im Moment – , ich habe geglaubt, die Prüfung sei bereits zu Ende. Ich…“ „Lassen wir’s gut sein, Genosse Reinhardt“, sagte der Vorsitzende, der mit Freundlichkeit die Situation zu retten suchte. „Die reguläre Prüfungszeit haben wir ohnehin überschritten. Ich denke, wir lassen Ihnen zwei, drei Tage Zeit, und dann sehen wir uns noch einmal zu einer Konsultation, ehe wir das endgültige Prüfungsergebnis festlegen.“ Der Vorsitzende war aufgestanden, um den Tisch herumgekommen und hatte Reinhardt die Hand gedrückt. Die Sache war schief gelaufen, und das ärgerte ihn. Warum hatten sie den Genossen auf Eins quälen müssen? Mit Gut hätte er allemal bestanden, aber nein, sie hatten das
Letzte aus ihm herausgeholt und sich daran begeistert, was er zu geben imstande war. An die Auswertung hatten sie wohl auch gedacht und an die Statistik. Bei jedem anderen hätten sie sich längst zufriedengegeben und wären essen gegangen. Durchs Studium schlängeln konnte sich keiner, die Fachdozenten wußten Bescheid über jeden. Sehr genau kannten sie den Leistungsstand. Wozu das alles? – Aber Hauptmann Reinhardt sollte mit Eins bestehen, und in Philosophie hatte er abgebaut. Was blieb weiter übrig, als ihn noch einmal herzubestellen? Das war nicht üblich, aber menschlich entgegenkommend. Wie es Reinhardt auffassen würde, wußte man noch nicht. Die Dozenten saßen recht schweigsam und unglücklich in ihren Sesseln, als der Vorsitzende auf seinen Platz zurückkam. Am unglücklichsten sah die Philosophin aus. Die Tür schlug ins Schloß – nicht lauter als sonst – , aber alle zuckten ein bißchen zusammen und drehten sich unwillkürlich um. Der Genosse Kommissar Reinhardt hatte den Prüfungsraum verlassen. Blaß war er gewesen, aber er hatte Haltung bewahrt. Der Dozent für Straf- und Prozeßrecht rieb sich verlegen das Kinn. „Ich glaube, wir haben einen psychologischen Fehler gemacht“, sagte er. „Und ob“, sagte der Vorsitzende, setzte sich hin und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Wir bleiben jetzt so lange zusammen, bis die Sache in Ordnung gebracht ist!“ Leutnant Kaluweit und Oberleutnant Beck hatten es verstanden, sich an diesem Tag jede aufwendige Arbeit
vom Hals zu halten. Das mußte sein. Wenn der Chef mit dem Diplom nach Hause kam, hatte man den Sonntagsanzug anzuziehen und einiges herzurichten. Die „guten“ Anzüge trugen sie, Sekt stand im Kühler, der Tisch war gedeckt – eine Platte mit raffiniert belegten Brötchen und Gabelbissen – , und falls das nicht so rechten Anklang finden sollte: Eine Etage tiefer, im Kühlschrank der Biologen, wurde eine Flasche Stolitschnaja Wodka seit dem frühen Morgen gekühlt. „Rauch nicht soviel“, sagte Beck zu Kalle, der aufgeregt hin und her lief, sich eine weitere F 6 aus der Schachtel schnippte und sie sich anbrannte. Kalle hob die in Zellophan gehüllten langstieligen Rosen, die neben der Schreibmaschine lagen, auf, sah nach, ob sie noch frisch waren, lief dann weiter, blieb am Sektkühler stehen, tauchte den Finger hinein und sagte: „Der Sekt wird auch immer wärmer…“ Seppel Beck reagierte nicht auf Kalles Unruhe. Er faltete aus Schmierzetteln kleine Tauben. Fünf Stück lagen vor ihm in Reih und Glied. „Also ich versteh das nicht!“ Kalle unterbrach sein Herumlaufen. „Sie können ihn doch nicht ewig prüfen! – Und wenn ich sehe, wie du da rumsitzt und Papierflieger bastelst! Ein Gemüt hast du!“ Seppel antwortete nicht, nahm sich ein Sardellenbrötchen von der Platte und biß hinein. „Daß du jetzt ans Essen denken kannst“, sagte Kalle und sah ihn strafend an. „Das einzige, was bei mir hilft – gegen Aufregung! Dann mach wenigstens die Zigarette aus! Mir wird ganz schlecht, wenn ich das bloß sehe!“ Kalle drückte die Zigarette aus. „Früh um acht ging’s
los,“ sagte er und biß wütend in ein Salamibrötchen, „von acht bis vierzehn Uhr, das ist zuviel – oder meinst du, die sind alle gemeinsam, nachdem sie’s bestanden haben, in eine Kneipe gezogen?“ „Das macht Walter nicht“, sagte Seppel. „Das macht er schon!“ „Aber nicht, wenn er weiß, daß wir hier auf ihn warten!“ „Da hast du auch wieder recht!“ Sie überlegten. Seppel wirkte sehr vornehm in seinem stahlblauen Anzug und dem leicht ergrauten Haar an den schmalen Schläfen. Kalle, blond und immer noch jugendlich aussehend, stand ganz in Schwarz, im Abendanzug mit schwarzer Fliege, vor ihm. Er sah aus wie ein Sportler vor dem Empfang beim Staatsrat. „Was meinst du“, fragte er, „ob ihm was passiert ist? Denk nur mal an die letzten Monate! Wie er da gebüffelt hat.“ „… an die letzten Jahre“, sagte Seppel. „Vielleicht hat er sich – wie soll ich sagen – , vielleicht hat er sich überstudiert! Überlege einmal: Alles neben der Arbeit! Und der Allerjüngste ist er ja auch nicht mehr. Ich habe ihm so oft gesagt: Walter, du mußt mal ausspannen, geh mal angeln, ganz allein, genieße die Natur! Was hat er gemacht? Die Bücher hat er mitgenommen – und der Aal hat ihm die Angel mitgenommen, weil er den Anbiß verpaßt hat!“ „Da kommt er“, rief Seppel plötzlich, sprang auf, nahm die Rosen von der Schreibmaschine und streifte die Hülle ab. Auf dem Flur näherten sich die Schritte eines schweren, aber elastisch gehenden Mannes. Schritte, die sie allzugut kannten. Sie stellten sich schnell in Positur. Die Tür ging auf,
Walter Reinhardt stand vor ihnen. So verstört hatten sie ihn noch nie gesehen. Sein Lächeln war verkrampft, als er Seppel Beck den Blumenstrauß aus der Hand nahm und ihn vorsichtig beiseite legte. „Vielen Dank“, sagte er mit gemachter Heiterkeit und übertrieben forsch, „vielen Dank, Jungs! Aber ihr habt euch umsonst in Unkosten gestürzt. Der alte Reinhardt ist durchgefallen. Mit Pauken und Trompeten!“ Seppel und Kalle standen sprachlos. Sie sahen zu, wie Walter ein Eisstück aus dem Sektkühler nahm und sich die Schläfen rieb. „In drei Tagen soll ich noch mal antanzen! Na, ich danke! Alles hatte geklappt – nahm ich an… Ich hab’s tatsächlich angenommen. Und dann zum Schluß eine Zusatzfrage in Philosophie, aus war es mit mir!“ Seppel und Kalle fanden sich langsam wieder. „Aber an einer Frage kann man doch nicht scheitern“, sagte Seppel. „Nee“, sagte Reinhardt bissig, „aber ein blödes Gesicht kann man machen! Wenn’s noch was Schweres gewesen wäre! Aber ich kam und kam in der Situation nicht drauf! Stehst plötzlich vor einer schwarzen Wand. Aus, Schluß, Feierabend.“ Er ging zu seinem Schreibtisch und begann seine Lehrbücher einzupacken. „Kommen Sie noch mal wieder, wir geben Ihnen Bescheid. Das muß mir passieren, ausgerechnet in Philosophie!“ „Nun laß mal die Bücher sein“, sagte Kalle und versuchte, sie ihm aus der Hand zu nehmen. „Was dir jetzt hilft, ist…“ „…frische Luft und viel Bewegung“, unterbrach ihn Reinhardt grantig und packte weiter ein. „Du mußt mal angeln gehen und an nichts denken!“
Seppel Beck kam Kalle zu Hilfe. „Walter, du mußt jetzt wirklich mal ausspannen! Menschenskind, du machst dich doch fertig! Und was sollen wir anfangen ohne dich?“ Seppel sprach so ernst und beschwörend, daß Reinhardt lächeln mußte. Eigentlich hätte er antworten müssen, daß jeder Mensch zu ersetzen sei, aber das klang ihm jetzt zu banal und abgedroschen. Er hielt beim Bücherpacken inne. „Du hast noch ein paar Tage Urlaub zu kriegen“, drängte Seppel, und dann machte es plopp, und der Sektkorken flog gegen die Decke. „Jetzt gerade“, rief Kalle, „wir trinken auf diesen Urlaub!“ Er schenkte ein. „Dir fehlt nur ein bißchen Ruhe, ein bißchen Ablenkung. Dann gehst du hin und haust die ganze Prüfungskommission in die Pfanne!“ Walter Reinhardt nahm sein Glas. Er stieß mit ihnen an. Ihm war nicht wohl dabei – aber vielleicht hatten sie recht. Als Reinhardt nachmittags nach Hause kam, hatte er sich ein paar Tage Urlaub genommen, aber nicht, wie Kalle und Beck es ihm geraten hatten, um Pilze zu suchen oder angeln zu fahren – nein, er wollte die Zeit nutzen, um sich noch einmal in die Vorbereitung zur Philosophieprüfung zu stürzen. Daß der Wind im Laufe des Tages die Wolken verjagt hatte und eine milde Oktobersonne am durchsichtig blauen Himmel stand, nahm er nur nebenbei wahr. Er ging die Treppe hinauf und überlegte, was er seiner Frau sagen sollte. Aus der Nachbarwohnung hörte er laute Tanzmusik. Wie diese Michaela das schafft, fragte er sich. Siebzehn Jahre, im nächsten Jahr das Abitur, und
sobald sie aus der Schule ist, dudelt die Heule! Ob sie dabei arbeiten kann? Na ja, das ist eben die Jugend! Er holte tief Luft und drückte auf den Klingelknopf. Michaela Klapper, die Tochter der Nachbarsleute, dachte im Augenblick keineswegs daran zu arbeiten. Ihre Eltern waren mit dem Auto unterwegs, und ihr Freund Jochen war bei ihr. Sie saßen in Michaelas Jungmädchenzimmer auf der Liege und hörten Musik. Jochen hatte den Arm um Michaela gelegt, und ab und zu sahen sie sich an. Dann lächelten sie und sahen dann wieder einfach vor sich hin oder aus dem Fenster in den Sonnenschein. Sie schienen glücklich, wenn auch auf etwas melancholische Weise. „Mir ist heiß“, sagte Michaela, und Jochen nahm den Arm von ihrer Schulter. Er war ein junger Mann von Anfang Zwanzig und sah mit seinem schwarzen Haar wie ein Italiener aus. Ein schmales Bärtchen auf der Oberlippe gab ihm etwas Verwegenes. Michaela war strohblond, schlank und eines der schönsten Mädchen in der Schule. Sie hatte sich Jochen genommen. Der war Bauarbeiter und hatte schon einige Mädchen gehabt. Aber nun war er ihr Freund. Und er würde bei ihr bleiben, und sie würde bei ihm bleiben. Das war klar. Jochen schob die Ärmel seines knallroten Wollhemdes hoch, stützte das Kinn in die Hand und betrachtete mit unverhohlener Ablehnung die teure Einrichtung des Zimmers. Alles in Weiß, und die Polster mit derbem, geblümtem Stoff bezogen. „Nicht mein Fall“, sagte er lakonisch. „Hm, hm“, machte Michaela und strich ihm übers Haar. „Wir werden es viel schöner haben.“ „Quatsch“, sagte er. „Das ist alles ein verfluchter Mist.“ Die Beatmusik aus der Heule war überlaut. Trotzdem
hörten sie beide gleichzeitig, daß die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Sie sprangen erschrocken auf. „Los“, sagte Michaela und zeigte unter die als Schlaf- und Sitzgelegenheit dienende Liege. Jochen warf sich platt auf den Boden und rutschte, mit den Beinen voran, unter das Möbel. Schon halb darunter, hielt er plötzlich inne und sagte zu Michaela hinauf: „Das haben wir nicht nötig!“ Er schien entschlossen, allem,
was da kommen mochte, mutig ins Auge zu blicken. Michaela nahm den Aschenbecher vom Fußboden auf und stellte ihn in den Kleiderschrank. Dann war sie bei Jochen, faßte ihn an den Schultern und drückte ihn unter ihre Jungmädchenliege. „Das haben wir nicht nötig“, widersetzte sich Jochen, aber sie hielt es doch für notwendig und schob ihn vollends hinunter. „Das ist das letzte Mal, das allerletzte Mal!“ rief er von unten hervor.
„Nun red nicht“, sagte sie, „lange können sie nicht bleiben, sie werden irgend etwas vergessen haben…“ Sie saß an ihrem Schreibtisch und hatte das Mathematikbuch aufgeschlagen, als sich die Tür öffnete und ihre Eltern ins Zimmer traten. Voran der Vater. Er war ein selbstbewußter Mann Mitte der Vierzig, groß und schlank, die gebräunte Glatze von einem Kranz heller Haare umrahmt. Er war Abteilungsleiter beim DIAInvest-Export, oft auf Auslandsreisen, immer nach der neuesten Mode und doch dezent gekleidet. Weil heute gegen Mittag die Sonne durch die Wolken gekommen war, kleidete er sich sportlich. Er trug eine weiße Hose und einen blauen Seglerpullover. Er besaß ein Segelboot, und er hatte einige Regatten gesegelt. Seine Frau, etwas füllig und mit rot gefärbtem Haar, sah gut aus. Sie trug einen beigefarbenen Hosenanzug. „Michaela, du sitzt wieder mal auf den Ohren“, sagte Vater Klapper. „Wir haben dreimal gegongt!“ Das mochte schon sein. „Was ist denn los?“ fragte Mikki und schob das Mathematikbuch zurück. Frau Klapper war eine herzliche Frau und liebte ihre Tochter. Sie schob sich an dem zürnenden Vater vorbei und sagte: „Mach doch das Gejaule aus, Mädchen, man versteht ja kein Wort!“ Michaela drehte die Lautstärke herunter. „Hast du vielleicht dein Paddelboot verborgt?“ fragte ihr Vater mit verstohlener Erregung. „Mein Paddelboot“, sagte Michaela unschuldig. „Wieso? Wie kommst du darauf? Das haben wir doch in den Schuppen gebracht. Außerdem ist es doch zum Paddeln viel zu kalt, die Saison ist vorbei.“ „Das Boot ist verschwunden“, sagte Frau Klapper. „Das
Schloß am Schuppen hat jemand aufgebrochen. Der Schlüssel hängt am Nagel – aber das Schloß ist aufgebrochen.“ „Wenn ich’s verborgt hätte, wäre doch das Schloß nicht aufgebrochen“, sagte Michaela. Und das war überzeugend. „Dann hat’s einer geklaut“, sagte Herr Klapper und wandte sich an seine Frau. „Habe ich dir gleich gesagt, oder nicht?“ „Jaja“, sagte sie, „aber wer denkt denn gleich an so was!“ „Wer denkt an so was? Der Tatbestand war eindeutig! Oder nicht?“ „Jaja, er war eindeutig. Aber bisher wurde uns noch nie etwas gestohlen da draußen!“ „Weiberlogik! Herrgott noch mal!,…. weil nicht sein kann, was nicht sein darf!“ „…Christian Morgenstern“, warf Michaela ein. „Du sei ganz ruhig!“ Herr Klapper sog die Luft schnüffelnd ein und sah sich im Zimmer um. „Es war doch dein Boot! Aber es scheint dir nicht einmal unter die Haut zu gehen. So sind sie eben!“ Er sah seine Frau vielsagend an. „Wir schaffen ran, wir sorgen für alles, wir wollen, daß sie’s besser haben! Aber so was kratzt sie nicht mal! Was ist schon so ein Paddelboot!“ Zu Michaela. „Weißt du, was es gekostet hat?“ „Das weiß ich“, sagte Michaela. „Aber wer soll es denn gestohlen haben?“ Herr Klapper klatschte sich verzweifelt die Hand vor die Stirn. „Sagenhaft, einfach sagenhaft! Ich habe mit zwölf mein erstes Fahrrad bekommen – ein gebrauchtes für fünfundzwanzig Mark! Und ich hätte einen Veitstanz
bekommen, wenn’s geklaut worden wäre!“ „Reg dich nicht so auf!“ Frau Klapper bemühte sich, ihren Mann zu beschwichtigen, aber es gelang ihr nicht. „Die haben keine Achtung mehr vor irgendwelchen Werten! Das ist es“, schrie er. „Was ist schon ein Paddelboot! Vater verdient ja, Mutter verdient ja! Vorne und hinten wird’s ihnen reingesteckt! Ich hätte ihr keins gekauft“, fuhr er seine Frau an. „Aber du bist doch wieder weich geworden! Mit uns zusammen kann das liebe Kind nicht mehr angeln, es ist ja groß und selbständig, es muß seine eigenen Wege paddeln! Aber lassen wir das!“ Herr Klapper spürte, daß er sich im Ton vergriffen hatte. Er schnaufte noch einmal ärgerlich, dann teilte er mit, daß er den Diebstahl bei der Polizei melden würde. „Am besten gleich bei Herrn Reinhardt“, schlug seine Frau vor. „Dem können wir doch nicht mit solchen Lappalien kommen!“ „Warum denn nicht? Das ist doch Sache der Kriminalpolizei. Und heute ist er zu Hause, ich habe ihn auf dem Balkon gesehen.“ „Also gehen wir mal rüber!“ Michaela verfolgte den Abgang ihrer Eltern. Und richtig, es geschah noch etwas. In der Tür blieb ihr Vater stehen. „Michaela“, sagte er und wandte sich zu ihr um. „Ich wollte vorhin schon fragen: Hier hat doch jemand geraucht?“ „Ja, ich“, sagte Michaela so unbefangen wie möglich. „Ich wollte nur mal einen Zug probieren.“ „Aha! Und was ist das?“ Ihr Vater hatte Jochens Feuerzeug auf der Liege entdeckt. Er trat zu ihr an den Schreibtisch und hielt ihr seinen Fund unter die Nase. „Wie kommt das hierher?“
Jochen begann sich unter der Liege zu rühren. Jetzt oder nie, dachte er und rutschte auf dem Bauch nach vorn. Aber bevor er hervorgucken konnte, rief Michaela, die seine Bewegung bemerkt haben mußte, laut und beschwörend: „Nein, nein Jochen…“ Er blieb liegen und hielt den Atem an. „… Jochen Brinkmann war hier“, sagte Michaela, die sich bewundernswert schnell wieder in der Gewalt hatte. „Aber nur für ‘ne Viertelstunde“, fügte sie hinzu. „Er ist gleich wieder verschwunden.“ „Das ist ja allerhand!“ Der Name Jochen Brinkmann wirkte auf Vater Klapper wie ein rotes Tuch. „Kaum sind wir aus dem Haus, lädst du dir diesen Kerl ein!“ Und zu seiner Frau, die in der Zimmertür stand. – „Der Brinkmann war hier!“ – „Na und“, sagte die Mutter, „nun ist er wieder gegangen! Was hast du gegen den Jungen?“ „Das ist ein Windhund. Zu faul gewesen, das Abitur zu machen. Geld verdienen auf dem Bau und den Mädels den Kopf verdrehen - ich kenne doch diese Brüder!“ „Er ist nicht faul“, verteidigte Michaela ihren Jochen. „Er ist Vize!“ „Was heißt Vize?“ „Vize vom Brigadier! Wenn einer faul ist, wird er das nicht! Und muß denn jeder das Abi haben? Ihr, ihr habt immer Vorstellungen! Wie ihr Menschen beurteilt…!“ „Micki, mäßige dich!“ Michaela mäßigte sich. Ihre Mutter war nicht so, sie hatte mehr Verständnis. „Entschuldige, Mutti, aber es ist doch wahr! Fängt der Mensch erst beim Akademiker an? Das sind doch überholte Begriffe. Anno Tobak dachte man so. Außerdem macht Jochen sein Abi nach. Er will eine Fachschule besuchen.“
„Haha! Sehr witzig! Und du glaubst ihm das? Dieses dumme Zeug, das er dir einredet!“ „Hans, ich bitte dich!“ „Ach was, ich bin nicht voreingenommen. Ich habe auch nichts dagegen, daß sie einen Freund hat, sie hat ja immer Freunde gehabt. Aber dieser windige Bursche, der kommt mir nicht mehr in die Wohnung, basta! Das Mädel hat sich aufs Abitur vorzubereiten!“ Herr Klapper warf das Feuerzeug mit einem Gesicht voller Verachtung auf die Liege zurück und nahm seine Frau energisch beim Arm. „Den Herrn setz ich eigenhändig an die Luft, wenn er es wagen sollte, noch mal hier aufzutauchen! Merk dir das, Michaela! Und das ist mein letztes Wort!“ Und sehr beherrscht zu seiner Frau: „Jetzt gehen wir zu Reinhardt rüber!“
Jochen rutschte, kaum daß die Tür geschlossen war, unter der Liege hervor. Er reckte sich und machte ein grimmiges Gesicht. „Nie wieder, Micki! Ich habe mich
deinetwegen zusammengerissen! Nur deinetwegen! Sonst…“ Michaela blieb resignierend sitzen. „Jetzt hast du’s selber mal erlebt“, sagte sie. „Glaubst du nun, daß es keinen Zweck hat, bei meinem Vater auf irgend etwas zu hoffen?“ – Am nächsten Morgen standen Frau Klapper und Michaela pünktlich vor Reinhardts Tür und klingelten. Frau Klapper trug bei dem schönen Wetter ein weißes ärmelloses Kleid, das wunderbar zu ihrem roten Haar und dem leicht gebräunten Teint kontrastierte. „Für Herrn Reinhardt machst du dich immer besonders schön“, hatte Micki gesagt, als sie das Kleid angezogen und die Kette mit dem großen Türkisanhänger umgehängt hatte. „Warum nicht“, gestand Frau Klapper nun, und beide hatten gelächelt. „Von mir aus können wir“, sagte Walter Reinhardt und trat auf den Flur, verschloß die Wohnungstür und versäumte nicht, schon auf der Treppe ein paar Komplimente zu machen. Die beiden Nachbarinnen - Mutter und Tochter – gefielen ihm, und es machte ihm Freude, ihnen Komplimente zu machen. Mit Klappers neuem Skoda fuhren sie raus in die Wochenendsiedlung. Michaela saß in ausgebeulten Niethosen und safrangelbem Pulli hinten. Reinhardt in legerer Anglerkleidung vorn neben der eleganten Frau Klapper, die sicherer chauffierte als mancher Mann. Die Sonne schien, die Herbstlandschaft leuchtete in bunten Farben. Frau Klapper begann wie immer, wenn sie zusammen waren, ein kleines Gespräch. Sie erzählte von Algier und Marokko, wohin sie ihre Dienstreisen
geführt hatten (sie war auch im Außenhandel tätig). Die Fahrt war angenehm. Aber verdammt noch eins, Reinhardt wurde das schlechte Gewissen nicht los. Er hatte doch für die Philosophieprüfung zu arbeiten. Statt sich vorzubereiten, ließ er sich auf diese Sache ein! Warum nahm er sich des gestohlenen Paddelbootes an? Eine Form von Nachbarschaftshilfe, oder was hatte ihn bewogen? Frau Klapper doch nicht, so weit kannte er sich. Sein schlechtes Gewissen kam nicht so recht zum Zuge, Frau Klapper sorgte schon dafür. Sie bogen in den Seufzerbrückenpfad ein, fuhren über die Brücke und hielten vor dem Grundstück. Michaela fotografierte. Sie tat recht, ein schöneres Herbstmotiv war hier kaum zu finden. Der schmale Wasserlauf, die Trauerweiden am Ufer, die schmucken Häuschen, das von Gelb bis Rot in allen Schattierungen leuchtende Laub der Büsche und Bäume, dahinter die leicht gekräuselte Oberfläche des Sees, die vor Lichtreflexen sprühte – das war schon ein Motiv! Für das gestohlene Paddelboot schien sich Micki nicht zu interessieren. „Na, dann gehen wir mal hinunter“, sagte Frau Klapper und schloß das Gartentor auf. „Genauso sind wir gestern gekommen, mein Mann und ich. Ich sagte Ihnen ja schon, wir hatten den Einfall hierher zu fahren, weil das Wetter schön wurde. Und dann fanden wir die Bescherung. Wir haben alles so gelassen, wie wir es vorgefunden haben; das heißt, das Schloß haben wir wieder eingehängt.“ Sie standen vor dem Bootsschuppen. Michaela hatte ihre Aufnahmen geschossen und kam ihnen nachgerannt. „Na, geht’s jetzt los?“ fragte sie. Reinhardt lächelte. „Ja“, sagte er, „jetzt geht’s los!“ Das
Mädchen schien ihr Hiersein mehr als eine willkommene Unterbrechung des täglichen Einerleis zu betrachten. „Leider haben wir das Schloß alle beide angefaßt, mein Mann und ich“, sagte Frau Klapper, Michaela einen vorwurfsvollen Blick zuwerfend. „Eventuell vorhandene Fingerspuren des Täters werden wir verdorben haben. Ja, so standen wir. Und dann öffnete ich die Tür“ – sie führte vor, wie sie die Tür geöffnet hatte –, „und dann sahen wir, daß es weg war, das Paddelboot!“ Mitten in der Bewegung des Türöffnens hielt sie plötzlich inne. Sie blickte in den Bootsschuppen, dann starrte sie Reinhardt fassungslos an. „Das ist doch…. das ist doch nicht möglich!“ Im Schuppen lag neben dem Jollenkreuzer ordentlich aufgebockt das Faltboot! „Ja“, sagte Reinhardt amüsiert, „nun ist er wieder da, der Gummikreuzer!“ Michaela fing an zu lachen. Ihrer Mutter war nicht nach Lachen zumute. „Das verstehe ich nicht“, sagte sie und man sah es ihr an, daß diese Wendung ihr recht peinlich war. „Gestern war es weg, heute ist es wieder da!“ „Wer weiß“, sagte Reinhardt, „vielleicht hat es sich nur mal jemand ausgeborgt. Besser so etwas als gestohlen.“ – Auf der Terrasse des Wochenendhauses tranken sie Kaffee. Es war ein wunderschöner Tag. Die Kälte und der Regen der vergangenen Wochen waren vergessen, sie konnten den See überblicken, Michaela bediente sie, ein Schnäpschen für Herrn Reinhardt, der ja nicht Auto fahren mußte, etwas Gebäck für die Mutter – ihr machte das höllischen Spaß, sie lächelte Reinhardt dann und wann verstohlen zu, und Reinhardt lächelte zurück, bis Frau Klapper drohend den Finger hob und „Na, ihr beiden!“
sagte. Das war der Augenblick, in dem sich Hauptmann Reinhardt an die Frage seiner Philosophiedozentin erinnerte. Vom Wahrheitskriterium wollte er ausgehen – was war denn das Kriterium der Wahrheit? Zu albern, daß er nicht darauf gekommen war! Draußen vor dem Prüfungszimmer wußte er es genau – viel mehr wußte er vor dem Prüfungszimmer! –, aber so ist das eben. Trotzdem freute es ihn, daß er gerade jetzt daran denken mußte. Hier auf der Terrasse, in Gegenwart Michaelas, die ihm Kognak einschenkte und die Flasche wie zur Aufforderung vor ihn auf den Tisch stellte. „Nein, danke, Micki“, sagte er, „das war unwiderruflich der letzte!“ Es schien nichts mehr zu tun zu geben für den Kriminalisten Reinhardt. Der gestohlene Gummikreuzer war wieder an seinem Platz. Frau Klapper, der der Vorfall peinlich war, hatte sich überzeugen lassen, daß ihr nichts peinlich zu sein brauchte; man hatte eine Fahrt ins Grüne unternommen, nun bitte, das war auch etwas wert! Trotzdem hatte sich in Reinhardt eine Vermutung festgesetzt. Michaela machte im Bungalow die „Schotten“ dicht, man konnte nach Hause fahren. „Ach, meine Zigaretten“, sagte Reinhardt zu Frau Klapper, die mit ihm auf der Terrasse stand. „Eine Sekunde bitte!“ Er ging zurück ins Wochenendhaus, und er sah etwas, was er erwartet hatte: Michaela schloß die Fensterläden, hatte aber bei einem Fenster den Riegel nicht geschlossen und einen Haken nicht eingehakt, sondern offen gelassen. Sie sah ihn kurz an, aber Reinhardt tat so, als hätte er nichts bemerkt. „Ich habe meine Zigaretten vergessen’’, sagte Reinhardt so unbefangen, daß selbst der gewiefteste
Verbrecher keinen Argwohn geschöpft haben würde. Er steckte auch etwas in die Tasche, aber es war nur seine leere Hand. Er hatte keine Zigaretten vergessen. Er hatte nur daran gedacht, was das Kriterium Wahrheit ist, und er war nun zufrieden mit sich. Was er eben gesehen hatte, war eine Bestätigung seiner Theorie. Michaela wußte nicht, wie gut Kriminalisten beobachten können, und argwöhnte nichts. Sie glaubte, daß er ihren Trick mit dem nicht eingehängten Haken und dem nicht geschlossenen Fensterriegel nicht gesehen hatte, und schloß den Laden und das letzte Fenster besonders laut. Und dann war es soweit. „Alles klar“, sagte sie, „wir können gehen.“ Reinhardt blieb am Tisch stehen. „Sag mal Micki, wer von deinen Freunden war denn schon hier draußen auf dem Grundstück“, fragte er. „Es ist ja kein Schaden entstanden, aber immerhin: Irgendwer hat doch das Boot widerrechtlich benutzt.“ „Wer hier draußen war? Ach, schon einige: Günter Möller, Hänschen Bienert, Eule, eigentlich war die halbe Klasse schon hier draußen. Aber von denen war’s bestimmt keiner. Ich nehme die ganze Sache überhaupt nicht tragisch, Herr Reinhardt.“ „Ich auch nicht, Micki“, sagte Reinhardt. „Wenn so viele hier waren - irgendeiner hat sich’s ausgeborgt. War denn Jochen Brinkmann auch schon mal hier draußen?“ Diese Frage traf Michaela wie ein Schuß aus dem Hinterhalt. Sie erschrak, riß sich wieder zusammen – was ihr nicht so ganz gelang – und fragte mit gequältem Lächeln: „Jochen Brinkmann? Wie kommen Sie denn auf den?“ Reinhardt hatte Mühe ein Lachen zu unterdrücken. Wel-
che Mühe sie sich gab, das war geradezu herzerfrischend! „Reiner Zufall, ich habe euch neulich vor der Haustür gesehen. Ich kam erst spät nach Hause…“ Er sah sich um. Er wollte Frau Klapper auf der Terrasse nicht länger warten lassen. „Sind die Fenster zu?“ fragte er. Michaela nickte, sie konnten gehen. Kommissar Reinhardt hatte auch am Nachmittag die Arbeit noch nicht ernsthaft begonnen, sondern ein bißchen in den Büchern geblättert und einige Notizen gemacht, mehr nicht. Er schien nun tatsächlich rechte Urlaubsstimmung zu haben und hatte auch etwas Besonderes vor. „Ich muß noch mal weg“, sagte er zu seiner Frau gegen acht Uhr abends. Sie wußte, daß er zu den unmöglichsten Zeiten Dienst hatte, und fragte auch diesmal nicht, obwohl er Urlaub hatte. Als Frau eines Kriminalisten war sie solchen Kummer gewöhnt! Reinhardt fuhr mit seinem Wartburg zum Seufzerbrükkenpfad und stellte den Wagen in dessen Nähe unter einer Baumgruppe ab. Er lief in der Dunkelheit das Stück Weg zurück und sprang über den Zaun des Klapperschen Grundstücks. In der Jasminhecke bezog er eine nicht gerade bequeme Lauerstellung. Aus einem der Gärten jenseits des Grabens drang Lichtschein durchs Gesträuch. Ein Radio spielte, Gesprächsfetzen waren zu hören, dann und wann platzte eine Lachsalve los. Das milde Wetter hatte ein paar junge Leute zur sicher letzten „italienischen Nacht“ des Jahres verlockt. Reinhardt vertrieb sich die Zeit damit, die Personen
nach ihren Stimmen einzuschätzen. Gelegentlich schnappte er auch einige Sätze auf, die Teil eines Witzes sein mußten. Dann versuchte er aus den paar Brocken, die er aufgeschnappt hatte, den Witz zu rekonstruieren. Es war ein vergnügliches Puzzlespiel. Er überlegte, ob man für dieses von ihm entdeckte Spiel nicht feste Regeln aufstellen könnte, um es dann Kindergärtnerinnen oder Fernsehquizmeistern zu empfehlen. Natürlich müßte man dann anstelle der nicht immer ganz stubenreinen Witze bekannte Märchen oder Ereignisse aus dem Leben der Gesellschaft nehmen – je nach Bedarf. Die ganze Sache vorher kunstvoll zerhackt auf Tonband sprechen und abspielen – dann sollten sich die Zuschauer oder Zuhörer anstrengen. Eine schwarze Gestalt, die außen am Zaun entlangschlich, riß Reinhardt aus seinen Gedanken. Er drückte sich vorsichtig etwas tiefer in die Hecke, ging in die Hocke und wartete ab. Die Gestalt sprang über den Zaun und lief an der Hecke entlang genau auf ihn zu. Es war ein Mann in einem dunklen Trainingsanzug. Er hatte sich einen Filzhut über den Kopf gestülpt. Reinhardt brauchte nur den Arm auszustrecken, dann hätte er ihn berühren können. Aber er wollte ihn nicht stellen. Der Mann kümmerte sich nicht um den Bootsschuppen. Er schwenkte links ab und steuerte auf das Wochenendhaus zu, den weißgestrichenen Flachbau mit zwei dunklen Fensterläden zur Straßenfront. Vor dem ersten Fenster blieb der Mann stehen. Er benötigte kein Werkzeug, der Fensterladen ließ sich spielend leicht aufklappen, dann ein Druck gegen die Scheiben, und der Fensterflügel öffnete sich nach innen. Das Einsteigen war kein
Problem mehr, der Mann war groß und kräftig und sehr gewandt. Reinhardt hörte, wie es im Innern des Hauses leise rumorte, er sah einen schwachen, hin- und herhuschenden Lichtschein, dann – es waren nur wenige Minuten vergangen – erschien die schwarze Gestalt wieder in der Fensteröffnung, schwang sich hinaus in den Garten und nahm einen kleinen Koffer vom Fensterbrett. In diesem Augenblick traf ihn der Lichtstrahl aus Reinhardts Stabtaschenlampe. Erschrocken fuhr er herum und starrte geblendet in das helle Licht. Abwehrend riß er den Arm hoch und hielt die Hand mit gespreizten Fingern schützend vor sein Gesicht. „Deutsche Volkspolizei“, sagte Reinhardt, „bleiben Sie stehen!“ Der junge Mann im Trainingsanzug und dem zerbeulten Hut blieb stehen. Er drehte sich den näher kommenden Schritten entgegen, schützte die Augen noch immer mit der Hand, nahm sie dichter vor das Gesicht, unternahm keinerlei Fluchtversuch und sagte kein Wort. „Na, dann stellen Sie mal den Plattenspieler schön sanft ab, Herr Brinkmann“, sagte Reinhardt, als er zwei Meter vor ihm stand. Der junge Mann stellte den Plattenspieler, den er in der linken Hand hielt, auf den Boden. Als er sich aufrichtete, konnte Reinhardt zum erstenmal sein Gesicht sehen. Er war überrascht, das war ein anderer! Kein schmales schwarzes Bärtchen auf der Oberlippe. Anstelle des Pseudoitalieners Brinkmann blinzelte ihm ein dickschädliger, pausbäckiger Bursche unter der her untergeklappten Hutkrempe entgegen. „Nun mal langsam“, sagte er im schleppenden Tonfall und schien nicht im geringsten verlegen.
„Deutsche Volkspolizei ist gut. Aber erstens ist das kein Plattenspieler, sondern ein Tonbandgerät, zweitens wollt ick mir det Ding ausleihen, und drittens bin ick nich Ihr Brinkmann.“ Reinhardt machte in diesem Augenblick kein sehr intelligentes Gesicht. Er war froh, daß es dunkel war. Er hatte sich eine andere Version dieses „Falles“ zurechtgelegt. Der gestohlene und nach Entdeckung der Tat wieder zurückgebrachte Gummikreuzer, der von Michaela absichtlich offen gelassene Fensterriegel – das deutete für ihn darauf hin, daß Jochen Brinkmann hätte kommen müssen! Mit dem wollte er eine Aussprache führen. Am nächsten Tag hätte er sich mit Michaela und ihren Eltern unterhalten – so etwa hatte er sich das gedacht. Jochen Brinkmann kannte ihn vom Sehen, und von Michaela wußte er bestimmt, wer er war. Besondere Vorsichtsmaßregeln hatten sich erübrigt. Doch jetzt hatte er es mit einem ihm völlig unbekannten, athletisch gebauten
Arno Schuppkat zu tun. Seinen Ausweis hatte der junge Mann aus der Reißverschlußtasche seines Trainingsanzugs gezogen. Hier handelte es sich nun um eine Festnahme. Von einer Regelung familieninterner Angelegenheiten konnte keine Rede mehr sein. Die Sache mußte ihren gesetzlich vorgeschriebenen Lauf nehmen. Vorbereitet hatte er nichts, also mußte er die Hilfe der Bürger in Anspruch nehmen. Und die jungen Leute, die nebenan feierten, halfen ihm. Sie riefen einen Funkwagen. „Junge, Junge“, brubbelte Arno Schuppkat vor sich hin, „warum so ville Umstände? Ich bin ein janz harmloset Jemüt!“ Reinhardt hatte das harmlose Gemüt beim Einsteigen ins Fenster beobachtet. Der Bursche besaß Kraft und Gewandtheit. Durch seine Unbekümmertheit, ja sein Phlegma durfte er sich nicht täuschen lassen. Gerade mit diesen Typen hatte er genug erlebt. Ihn ungefesselt neben sich im Auto zu haben, schien ihm nicht ratsam. Im Dienstzimmer blieb Arno weiterhin unerschütterlich: „Ja, ick bin ein Arbeitskollege von Jochen Brinkmann“, erklärte er zum wiederholtenmal, „derselbe Bau, dieselbe Brijade! Und Jochen hat ma mitjenommen auf die Datsche von Micki, und da bin ich drauf gekommen. Ich dachte: Was dieses Mädchen so alles hat! Kein Wunder, der Vater ist Abteilungsleiter beim DIA, die Mutter in derselben Firma. Jedenfalls wollte ich mal ‘ne Paddelbootfahrt bei Mondschein machen, und da hab ick mir den Kreuzer rausgeholt…“ „Aus eigenem Antrieb, ganz allein?“ „Ja, wat denn sonst? Ich bin übern See jefahren. Das war herrlich!“
„Bei Windstärke sechs, Herr Schuppkat! Das nennen Sie herrlich?“ Arno saß bequem und breitbeinig auf seinem Stuhl. „Ich wollte schon immer mal Wildwasserkanute werden oder so was“, sagte er und grinste Kommissar Reinhardt freundlich an. Reinhardt saß hinter dem Schreibtisch und guckte zu Leutnant Kaluweit hinüber, der an diesem Abend Spätdienst hatte und, obwohl für ihn schon Feierabend war, protokollierte. „Nur für dich“, hatte Kaluweit gesagt, als Reinhardt ihm vor Arnos Vernehmung den Sachverhalt schilderte. „Ja, det war herrlich“, wiederholte Arno mit fast verklärtem Gesichtsausdruck. „Ick liebe Jemütlichkeit - ein schönet Zuhause, gedämpftes Licht und Ruhe, die Familie und Freunde… Aber der Mensch braucht Anstrengung und Bewährung! Nicht nur immer mit’n Hintern auf’n Sessel hocken oder auf Arbeit ranklotzen! Diese Nacht auf’n See…“ „… die hat Ihrem Körper gut getan“, unterbrach ihn Reinhardt liebenswürdig. „Und wo haben Sie das Boot gelassen, nachdem Sie sich als Wildwasserkanute bewährt und ausgetobt hatten?“ Arno besann sich nur kurz. „Ja“, sagte er, „das habe ich ins Schilf jeschoben. Und letzte Nacht - also nich diese, sondern die davor, hab ich’s wieder zurückjebracht in den Schuppen.“ Kalle mußte sich bezähmen, die Vernehmung nicht zu unterbrechen. Was dieser abgebrühte Bursche da zum besten gab, spottete jeder Beschreibung. Er begriff nicht, wie Walter so ruhig und so ausgeglichen bleiben konnte. Was wollte er mit dieser Vernehmungstaktik erreichen? Er hatte sich bis jetzt noch auf jeden richtig einstellen können und wußte seine Leute zu nehmen. Aber dieser
Kerl dort, dieser ungeschlachte, pausbäckige Arno Schuppkat, machte sich ja wohl lustig über ihn! Kalle brannte sich, da eine Pause entstanden war, eine Zigarette an. Dieser Schuppkat rauchte nicht. Walter rauchte bei Vernehmungen prinzipiell nicht. Eine Ausnahme machte er nur, wenn durch eine Zigarette eine Zunge zu lockern war. Also paffte Kalle seine Zigarette allein und fragte sich, woran Walter jetzt dachte. Vielleicht ans Studium! Wo er doch zur Nachprüfung mußte! Herrgott, warum hatte er sich nur auf diesen läppischen Fall eingelassen? Er sollte drei Tage ausspannen und an gar nichts denken… Walter Reinhardt rückte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurecht. Was immer er überlegt haben mochte, es schien so, als ob er zu einem Ergebnis gekommen wäre und er sich jetzt wieder daran erinnerte, daß ein junger Mann namens Schuppkat vor ihm saß. Um so unverständlicher, daß er wiederum freundlich lächelte. „Sie sind ein liebenswerter Mensch“, sagte er, „nett und hilfsbereit – ich freue mich!“ Arno Schuppkat, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, machte zum erstenmal ein blödes Gesicht. Er wußte mit diesem Lob nichts anzufangen. Für kurze Zeit hatte ihn seine Selbstsicherheit verlassen. Mißtrauisch sah er von Reinhardt zu Kalle – Kalle hatte keine Zeit mehr, weitere Überlegungen anzustellen, er mußte protokollieren. „Wie war denn das nun mit dem Tonbandgerät“, fragte Reinhardt. Ein Schulterzucken war die erste Antwort. Dann war Arno Schuppkat wieder Herr seiner selbst. „Det Tonbandjerät“, sagte er mit schleppendem Tonfall, „das wollt
ich – ja, ich wollte in nächster Zeit ‘ne Party geben! Und weil das mit dem Paddelboot so jut geklappt hat, dacht ich mir, pumpste dir das Jerät ebenfalls!“ „Ein Tonbandgerät läßt sich leichter absetzen“, warf Reinhardt ein. „Das müssen Sie mir erst nachweisen! Ich habe nich jestohlen!“ Arno grinste auf unverschämte Weise. Kommissar Reinhardt grinste auch. „Und welcher Richter soll Ihnen das abnehmen? Sie sind in ein Wochenendhaus eingebrochen, haben ein Tonbandgerät gestohlen und sind auf frischer Tat ertappt worden! Wenn Sie ein Tonbandgerät brauchten, hätten Sie zu einer Ausleihstelle gehen können – die gibt’s in jedem Stadtbezirk! – Haben Sie mir immer noch nichts zu sagen, Herr Schuppkat?“ Arno schielte mißtrauisch zu Reinhardt hinüber. Dann gab er auf. „Also jut“, sagte er und senkte den Blick. „Es hat ja keinen Zweck. Ich jestehe, daß ich das Tonbandgerät stehlen wollte. Ick wollte mir schnöde bereichern!“ Er drehte sich lässig zu Leutnant Kaluweit um. „Haben Sie das, Jenosse Schreiber? .Schnöde bereichern!’?“ Kalle wollte sich gerade äußern, aber Walter kam ihm zuvor. „Ein sehr schönes Geständnis“, sagte er. „Nur eine Frage noch, Herr Schuppkat: Mit Michaela Klapper waren Sie wohl nicht befreundet?“ „Wie könnt ick denn?“ Arno war empört. „Das is Jochens große Liebe! Ich möchte sprechen, die sind einig!“ Kommissar Reinhardt nickte. Die Vernehmung war beendet, Arno Schuppkat unterschrieb das Protokoll und konnte nach Hause gehen. Alles weitere würde sich ja finden. „Man lernt doch nie aus“, sagte Kalle, als sich die Tür hinter Arno Schuppkat geschlossen hatte.
„Du bist wandelbar wie ein Chamäleon! Ich hatte gedacht, du läßt dich auf die Schippe nehmen von diesem Kerl! Aber dann, wie du ihn mit einem Ruck hochgenommen hast, alle Achtung!“ Reinhardt winkte ab. „Noch ist der Fall nicht geklärt.“ „Wieso? Der Bursche hat doch gestanden?“ Reinhardt wiegte den Kopf und dachte wieder an sein Studium, an die Philosophie und die Prüfung. „Ja“, sagte er, „das mag so erscheinen – aber wenn man erst mal in die Gesetze der Logik hineingerochen hat…“ Als Kommissar Reinhardt nach Hause fuhr, war er zufrieden mit dem, was er erreicht hatte. Er stellte den Wagen ab, lief um den nächsten Häuserblock herum und warf einen Blick zu seiner im dritten Stock gelegenen Wohnung hinauf. Die Fenster waren dunkel, seine Frau schlief also schon. Aber nebenan bei Klappers brannte noch Licht. Ach was, dachte er, man soll nichts überstürzen. Morgen ist auch noch ein Tag. Sie erfahren es im-
mer noch früh genug! Er klingelte nicht mehr bei Klappers. Behutsam, um seine Frau nicht zu wecken, schloß er die Wohnungstür auf, ging in die Küche, aß eine Scheibe Brot mit Schinkenspeck, trank eine Flasche Bier dazu und überlegte, was er in diesem merkwürdigen Fall am besten unternehmen könnte. Am nächsten Morgen packte Reinhardt seinen Anglerrucksack - er legte das Lehrbuch der marxistischen Philosophie obenauf - und fuhr nicht, wie seine Frau annahm, zum Angelwasser hinaus, sondern machte zunächst einen Abstecher zum Ingenieurhochbau. Hier also arbeiten Jochen Brinkmann und sein Freund Arno Schuppkat, dachte er. Sechsgeschossige Wohnhäuser, ein Hochhaus in Gleitkernbauweise, Dienstleistungs- und Einkaufszentrum, Schule, Kindergarten. Kräne hoben Lasten himmelwärts, Lkws und Kipper holperten über ausgefahrene Wege, wirbelten Staub auf, luden Materialien ab, warteten an den Aushubstellen der Löffelbagger. Die Oktobersonne schien warm und mild; hemdsärmelige Betonarbeiter und Eisenflechter, die er nach dem rechten Weg fragte, wischten sich den Schweiß von der Stirn und gaben Auskunft. Kriminalpolizei! Na ja, wer weiß, dachten sie, irgend ‘ne blöde Geschichte! Fremde ließen sie nicht auf den Bau, jeder mußte sich ausweisen, und das hatte der Kriminalist getan. Seine Figur nötigte ihnen Respekt ab, und sie waren einiges gewöhnt, was Figuren betraf. Wer Arme besaß wie der stärkste Eisenflechter – nun, der war schon ein Mann, mit dem man rechnen mußte. Dabei schien er nicht eingebildet und gab sich nicht von oben herab. Reinhardt bekam den Weg gewiesen, bedankte sich und fand seinen Weg.
Jochen Brinkmann war dem Bauleiter bestens bekannt. Bekannt im guten Sinne. Der Brigadeleiter kam hinzu. „Jochen ist mein Vize“, sagte er leicht beleidigt. Was die Kripo von seinem „Vize“ wolle? Er nähme doch nicht jeden, nur der Beste aus der Brigade würde das, und Jochen sei der Beste. Arbeiten könnten auch andere, Jochens Freund Arno Schuppkat zum Beispiel. Der könne unerhört wühlen. Aber Jochen hätte es auch im Kopfe, und der Brigadier tippte sieh an die Stirn. Kommissar Reinhardt erfuhr von den Kollegen alles, was er wissen wollte. Er sagte nur nicht, warum er es wissen wollte. Dazu war er nicht verpflichtet. „Es ist da einiges vorgefallen“ sagte er abschließend, „und wir müssen Auskünfte einziehen. Es liegt nichts vor gegen die beiden. Daß ich hier war, bleibt bitte unter uns!“ Er hob den Zeigefinger, der an einer Faust saß, die einige Zentimeter mehr Umfang besaß als die des gedrungenen, bulligen Brigadiers. „Machen Sie keinen Ärger, kein Wort zu den Kollegen! Ich denke, wir verstehen uns!“ Sie verstanden sich bestens. Kommissar Reinhardt fuhr zum Angeln. Er fing nur einige Kaulbarsche, die er wieder ins Wasser warf. Nach diesem Anglerpech, an das er gewöhnt war, bestellte er sich bei „Tante Henni“, der Wirtin des Ausflugsrestaurants am See, Zander in grüner Soße. Ein Schoppen Weißwein gehörte eigentlich dazu, doch den durfte er nicht trinken, er mußte noch Auto fahren. Der Zander schmeckte ausgezeichnet. Er vergaß Philosophie, Nachprüfung und seinen „Fall“. Die dicke grauhaarige Wirtin kam an seinen Tisch und erzählte, daß sie wieder heiraten wolle. Einen Mann auf Annonce. Er riet ihr nicht ab, er riet ihr nicht zu, er wünschte ihr nur alles
Gute und meinte, daß auch der Herbst noch warme Tage hätte und bunt wie die Blätter vor den Fenstern sein könnte. Jochen Brinkmann stand im Maureranzug auf der Stahlleiter und weißte die Decke des Flures. Er arbeitete mit verbissener Wut und hatte die Oberlippe eingezogen, so daß das schwarze Bärtchen auf der Unterlippe saß und seine Mundpartie der eines halbverhungerten Seehunds glich. Michaela hatte vor den Leimfarbenspritzern in einer Türnische Deckung bezogen und sah ängstlich zu ihm auf. „Nun sag doch was“, drängte sie, „wir müssen was unternehmen! Er ist dein bester Freund, Jochen! Wir dürfen nicht zulassen…“ „Und was schlägst du vor“, schrie er sie an, und einen Augenblick später tat es ihm leid, daß er so unbeherrscht war. Er hängte die ausgestrichene Bürste in den Malerhaken ein, stieg von der Leiter herab und nahm Michaela in die Arme. „Entschuldige, du darfst dich nicht aufregen! Wir werden schon was finden, aber du darfst dich nicht aufregen. Warten wir ab, was die Kripo sagt. Und die kommen auch zu uns, darauf kannst du dich verlassen!“ Michaela zuckte zusammen, irgend jemand hatte mit den Fingern gegen die kalkverschmierten Wohnzimmerfenster getrommelt. Gleichzeitig drehten sie sich um. „Da ist sie schon“, flüsterte Michaela aufgeregt. Kommissar Reinhardt hatte nur eine halbe Stunde gewartet. Er hatte das Lehrbuch der marxistischen Philosophie aufs Lenkrad seines Wartburgs gelegt und auch öfter hineingesehen, aber die längste Zeit hatte er doch das kleine, flache Häuschen im Auge behalten. Es nahm sich, glatt verputzt und weiß gestrichen, zwischen dem grauen
Putz der älteren Koloniehäuser wie ein stolzer Schwan zwischen mausernden Enten und Gänsen aus. Zuerst waren Jochen Brinkmann und Arno Schuppkat auf Arnos 250er MZ vorgefahren. Kommissar Reinhardt hatte das Lehrbuch zugeklappt und weggelegt. Er wollte schon aussteigen, doch da kam Michaela Klapper den Weg von der Bushaltestelle heraufgelaufen. Sie ging in das Häuschen. Keine fünf Minuten später kam Arno heraus,
schwang sich auf seine Maschine und knatterte mit einem „Affenzahn“ davon. Das war genau der rechte Augenblick, Michaela und Jochen einen Besuch abzustatten. Kommissar Reinhardt fand die Gartentür unverschlossen, trat ein, begutachtete den Obstbaumbestand und die am Haus geleistete Arbeit, hörte Stimmen, wollte nicht indiskret sein, trommelte gegen die Scheiben und steckte seinen Kopf durch das Wohnzimmerfenster. „Ach, Herr Reinhardt“, rief Michaela verwirrt, dann stürzte sie zur Tür, begrüßte ihn mit einem gezwungenen Lächeln und bat ihn befangen, doch näher zu treten.
Jochen Brinkmann war von diesem Besuch nicht entzückt. Dabei gab sich Reinhardt alle Mühe, war freundlich und liebenswürdig. „Ich bin nur gekommen, um mir den Neubau mal näher anzusehen“, sagte er und ließ sich von Michaela führen. „Aha, das wird die Küche! Klein, aber fein! Elektrischer Herd, Spülbecken – alle Achtung!“ Er lächelte dem bärtigen Jochen zu, der mißmutig hinterhertrottete. „Ach ja, und gleich nebenan das Badezimmer! Auch sehr hübsch!“ „Nur eine Duschecke“, berichtigte Michaela. „Das Ganze war ja nur eine alte Laube. Jochen hat das Grundstück mit Laube für 35, – M im Jahr gepachtet. Und er darf bauen!“ „Wunderbar“, sagte Reinhardt. „Und das hier?“ „Das ist das Arbeits- oder Studierzimmer. Jochen will doch zur Fachschule. Der Betrieb hat ihn delegiert. Praxisverbundene Ingenieure werden gebraucht. Es muß doch nicht jeder ein Hochschulstudium absolvieren.“ „Nein, nein“, sagte Reinhardt und dachte für einen Moment an die vergangenen fünf Jahre und an seine Nachprüfung. „Jeder muß wissen, was er will und wie er am glücklichsten wird.“ Das Studierstübchen war eine Kammer, die als einziger Raum fix und fertig war: Eine helle, freundliche Tapete, Gardinen vor den Fenstern, ein blauer Boucleteppich auf dem gedielten Boden, wenige zweckmäßige Möbel. Während er es sich ansah und gewisse Schlüsse zog, dachte er kurz darüber nach, warum er studiert hatte. In seinem Alter wäre es nicht nötig gewesen, er hatte Erfahrung, Erfolge, er war anerkannt. Das Diplom sollte ihm nicht die höhere, die Leitungsebene eröffnen. Nein, dazu
war er zu praxisverbunden. Er hatte es gewollt, von sich aus gewollt. Neue Einsichten gewinnen, größere Zusammenhänge erkennen, Unvollständiges vervollständigen. Aber eine „Hochschulleiche“ wollte er nicht werden. Oder nach dem Examen ein paar Jahre arbeiten und dann in Rente gehen, das rentierte sich nicht, weder für den Staat noch für den Mann. Er wollte praxisverbunden bleiben, und wenn er in Rente ging, ja, dann wollte er noch einiges an wissenschaftlicher Arbeit aufs Papier bringen. So hatte er sich das vorgestellt. Seine Erfahrungen auswerten und weitergeben können an den Nachwuchs. Die jungen Genossen kamen vollgepfropft mit Wissenschaft und Theorie von der Schule. Was ihnen fehlte, war jahrzehntelange, aus der Praxis erworbene Erfahrung. Und die wollte er versuchen ihnen zu vermitteln. Deshalb hatte er studiert, deshalb würde er sich der Nachprüfung stellen. „Ein sehr schönes, ein sehr freundliches Arbeitszimmer“, sagte Reinhardt lächelnd zu Michaela. Sie bekam einen roten Kopf. „Zu Hause bei seiner Mutter ist es etwas beengt“, sagte sie schnell. „Und das hier – nun ja, wenn’s auch kein Palast ist, aber für die nächsten Jahre –, und Sie wissen ja, wie knapp der Wohnraum ist! Außerdem kann er jederzeit anbauen.“ Reinhardt nickte dem mißtrauisch dreinblickenden Jochen anerkennend zu. „Alle Achtung, Herr Brinkmann! Wirklich, was Sie hier geschafft haben! Und alles nach Feierabend und an den Wochenenden…“ „Arno hat mir aus Freundschaft geholfen, jeden zweiten Stein hat er gemauert! Und die Kollegen haben geholfen,
sonst hätt ich das nicht geschafft vorm Winter. Was sich Arno da geleistet haben soll: Paddelboot und Tonbandgerät – wissen Sie…“ „…ja, recht merkwürdig!“ Reinhardt nickte. „Bitte, Herr Reinhardt, Sie können doch ein gutes Wort für ihn einlegen. Er darf nicht bestraft werden wegen so einer dummen Geschichte!“ Michaela sah ihn aus ihren blauen Augen so flehend an, als gelte es Arno Schuppkat vor dem Hochgericht zu bewahren. „Ich habe ihm alles verziehen, Herr Reinhardt - und es war doch mein Tonbandgerät…“ Reinhardt schüttelte den Kopf. „Du bist leider noch nicht volljährig, Michaela! Es fehlen nur ein paar Monate, aber immerhin, noch sind deine Eltern für dich zuständig. Und ich weiß nicht, wenn dein Vater das erfährt…“ „… dann ist sowieso nichts mehr zu machen“, warf Jochen bissig ein. „Ich habe ja gesagt: Wenn dein Vater hört, daß mein Freund Arno…“ Michaela drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Sie wollte ihre Tränen verbergen. Jochen sah ihr mitfühlend nach. Dann wandte er sich an Reinhardt. „Sie meinen, er wird verurteilt?“ „Ich glaube schon“, sagte Reinhardt und wartete, ob Jochen, der nervös an seinem Bärtchen zupfte, noch etwas erklären wollte. Er sah danach aus, doch als er zum Sprechen ansetzen wollte, hörten sie ein Schluchzen aus dem Arbeitszimmer. Wie ein Blitz war Jochen bei Michaela. Sie saß auf der Campingliege und schneuzte sich heftig in ihr Taschentuch. Er hockte sich neben sie und nahm sie beschützend in seine Arme. „Micki, du darfst dich nicht aufregen! Das ist schädlich! Wir finden schon einen
Weg!“ Reinhardt ließ die beiden allein und sah sich das Wohnzimmer an. Es war der einzige Raum, in dem der Fußboden fehlte. Er wartete, bis Michaela halbwegs getröstet war, dann trat er auf den Flur und sagte: „Holz ist knapp, Herr Brinkmann, nicht wahr? Soweit ist alles fertig - nur die Fußbodenbretter fehlen…“ Jochen stand sofort auf. „Ja, ja“, sagte er abwesend. „Zwanzig Quadratmeter, Lenzmeier hat mir welche versprochen…“ Reinhardt horchte auf. „Aha“, sagte er, und dann fragte er neugierig: „Na und?“ Jochen wollte schon antworten, biß sich aber auf die Lippen und sah sich vergewissernd nach Michaela um. Die wischte sich ihre Tränen ab und sagte wie in ihr Schicksal ergeben: „Du kannst Herrn Reinhardt ruhig sagen, daß du im Moment nicht – nicht flüssig bist!“ „Das kann ich verstehen“, sagte Reinhardt, „der Bau hat eine Menge Geld gekostet, nicht wahr?“ „Aber alles auf Rechnung!“ brauste Jochen auf. „Kann ich belegen! Jeder Sack Zement ist bezahlt! Klau und Klemme ist nicht drin bei mir - falls Sie so was denken! Natürlich“, fuhr er, ruhiger geworden, fort, „mein Sparbuch war einmal, meine Java habe ich verkauft…“ Vor dem Grundstück hielt ein Motorrad. Jochen lief zum Wohnzimmerfenster – „Arno kommt“, sagte er und drehte sich zu Reinhardt um. „Das trifft sich sehr gut!“ Kommissar Reinhardt nickte den beiden aufmunternd zu. „Ich denke, wir werden jetzt mal alle zusammen zur Dienststelle fahren. Da spricht es sich besser, und man sitzt auch bequemer. Ihr habt ja noch einiges anzuschaffen, bis es hier draußen so richtig
gemütlich ist…“
Er ging zur Tür, warf noch einen Blick in das Studierstübchen, auf die orangefarbene Plastikwanne, die mit Wäsche gefüllt war, und begrüßte den hereinstürmenden, bei seinem Anblick wie gebannt stehenbleibenden Arno mit einem freundlichen „Guten Tag, Herr Schuppkat!“ Oberleutnant Beck und Leutnant Kaluweit waren nicht wenig erstaunt, als ihr Chef am späten Nachmittag die drei jungen Leute ins Dienstzimmer führte. „Was hat er sich jetzt bloß wieder ausgedacht“, flüsterte Kalle Seppel zu, und der hob ziemlich verzweifelt die Schultern. Sie hatten ihn über seinen Büchern oder seinen Angeln sitzend gewähnt, beides wäre vernünftig gewesen, die Angelei freilich noch vernünftiger als das Über-denBüchern-Hocken! Statt dessen gab er sich mit dieser Lappalie ab. Gestern nacht hat er sich auf die Lauer gelegt und fängt diesen Arno Schuppkat, heute bringt er zusätzlich ein verliebtes Pärchen mit. Das heißt, eigentlich verliebt sahen die beiden nicht aus. Aber Walter Rein-
hardt war recht aufgekratzt. Spielte er den Tag der offenen Tür, wollte er ein fröhliches Beisammensein arrangieren? Seppel Beck verabschiedete sich, er hatte eine dringende Angelegenheit zu erledigen, so wurde Kalle allein Zeuge dieser seltsamen Vernehmung. Das heißt, eine Vernehmung war es eigentlich gar nicht. Reinhardt hatte die drei am Besuchertisch Platz nehmen lassen, setzte sich selbst auf die Schreibtischkante, nickte allen der Reihe nach zu, auch zu Kalle sah er freundlich lächelnd hinüber, und dann begann er: „Tja, der schlechte gute Freund Arno! Scheinbar geht’s nur um ihn!“ Arno Schuppkat fühlte sich angesprochen und setzte sich gerade hin. Das war auch die einzige Bewegung Arnos. Von gespannter Erwartung (wie bei Jochen und Michaela) war auf seinem roten Pausbackengesicht nichts zu bemerken. „Es geht nicht nur um ihn“, fuhr Reinhardt fort, „ihr seid alle drei auf sehr ähnliche Weise schuldig oder unschuldig. Jedenfalls ist das meine Theorie. Ob sie der Wahrheit entspricht?“ Er wandte sich an Kalle. „Was meinen Sie, Genosse Leutnant – woran merkt man, ob eine Theorie der Wahrheit entspricht?“ Kalle guckte verwundert. „Mal sehen, was dabei rauskommt“, sagte er. „Richtig! Womit Sie meine kritische Prüfungsfrage beantwortet hätten. Nicht wissenschaftlich umfassend – aber immerhin!“ Kalle verstand das alles nicht so richtig, aber irgendwie, das fühlte er, mußte dieser merkwürdige Fall, den Walter freiwillig übernommen hatte, mit dieser komischen Prüfungsfrage in Zusammenhang stehen. Und offensichtlich
hatte ihm die Beschäftigung mit diesem Fall etwas gegeben, wie anders war sonst seine Ruhe und stille Heiterkeit zu erklären? „Also fangen wir mal an“, sagte Reinhardt zu den drei Sündern. „Das Paddelboot will Arno gestohlen und wieder zurückgebracht haben. Das kann stimmen, muß es aber nicht. Es könnte auch Jochen gewesen sein. Wahrscheinlich aber waren sie beide beteiligt. Jedenfalls ist der Gummikreuzer wieder da. Einzig und allein durch einen dummen Zufall! Hätten wir nicht einen verspäteten Altweibersommer bekommen, einen schönen Tag nach soviel Regen, wären Mickis Eltern noch nicht auf die Idee gekommen, mal auf dem Grundstück nach dem Rechten zu schauen. Der Diebstahl war entdeckt, es durfte keinen Ärger geben. Also wieder zurück mit dem Kahn! Es war doch sehr amüsant, nicht wahr, Micki? Als deine Mutter das Tor vom Bootsschuppen aufmachte…! Ihr Gesicht hättest du fotografieren müssen. Für später, fürs Familienalbum!“ Michaela bekam einen hochroten Kopf. „Es war übrigens ein sehr schöner Nachmittag, Micki! – und einiges dämmerte mir schon. Klar war es mir dann, als ich sah, daß du den Fensterladen nur angelehnt hast und den Riegel nicht geschlossen hattest. Das war gekonnt, aber vergiß nicht, Micki, ich bin zu lange dabei. Ich sehe, ob Fenster und Laden geschlossen sind oder nicht…“ „Sie können sich aber verstellen“, rief Michaela, „das hätte ich nie gedacht! Aber wenn Sie schon alles wissen…“ „Moment!“ Reinhardt hob abwehrend die Hand. „Noch bin ich am Zuge! Und noch ist gar nicht raus, ob ich alles
weiß. Das wollen wir doch gerade sehen!“ Kalle kam langsam auf den Geschmack. Das langhaarige Geschöpf, das sich Micki nannte, war temperamentvoll. Wie es den Kopf warf und wie die Augen blitzten! Und der schnurrbärtige Zirkusreiter – so sah dieser Jochen Brinkmann für Kalle aus – , er war ja wohl Bauarbeiter, der war auch nicht ohne. Kalle mußte nicht protokollieren, das war nicht nötig, er konnte zuhören und beobachten. „In der nächsten Nacht hatte ich ja eigentlich Jochen erwartet“, sagte Reinhardt, „aber da kam Arno. Arno, der bereitwillig zugab, was man auch von ihm verlangte. Irgend etwas konnte da nicht stimmen, hab ich mir gesagt. Aber was? Ich fuhr zum Betrieb, zur Baustelle. Und da erfuhr ich einiges. Von dem Hausbau und noch manches andere. Ich habe mir Euer Studierstübchen angesehen… Eure ganze Liebe habt ihr in dieses Studierstübchen gesteckt. Ja, und da war Jochen am Ende mit seinem Geld und brauchte doch so dringend Dielenbretter, die schon bei Lenzmeier lagen! Das Paddelboot hätte ausgereicht, und weil das nicht klappte, mußte das Tonbandgerät daran glauben. Arno übernahm das. Aus falsch verstandener Freundschaft beging er einen Diebstahl. Und euch zuliebe will er alles auf sich nehmen. Dabei ist das völlig Wurscht: Ob Mickis Vater hört, Jochen Brinkmann war’s oder sein bester Freund Arno Schuppkat, da ist einer so gut wie der andere, an seiner Meinung ändert sich nichts! Aber Arno wollte alles auf sich nehmen. Ein Bauarbeiter hat einen breiten Buckel. Wen kratzt das schon. Wahre Freundschaft, nicht wahr, Arno? Noch die Enkel werden davon sprechen…“
Michaela zuckte bei dem Wort Enkel zusammen, so, als hätte Kommissar Reinhardt etwas ganz Geheimnisvolles erraten. Sie sah zu Jochen und zu Arno, und dann blickten sie alle drei etwas belämmert zu Boden. Die Tür wurde aufgerissen, Seppel Beck stürzte aufgeregt ins Zimmer und wedelte mit einem Telegrammformular herum. „Walter“, rief er, „Entschuldigung! Genosse Reinhardt, ein Telegramm von der Hochschule! Die Prüfung…“ „Das hat Zeit“, fuhr ihn Reinhardt ungnädig an. Er überging die Mitteilung einfach. „Also, was ist“, wandte er sich an Jochen, Arno und Michaela. „Habe ich recht?“ Jochen erhob sich leicht in seinem Stuhl und nahm eine stramme Haltung an. „Ja“, sagte er, „das mit dem Paddelboot war ich. Arno hat nur Schmiere gestanden, aber ich habe ihn nicht mal gesehen. Ich dachte immer, ich müßte ihn sehen, aber ich habe ihn nicht gesehen. Ich weiß nicht, was der unter Schmiere stehen versteht.“ Jetzt verzog sich Arnos Gesicht zum erstenmal zu einem zufriedenen, gemütvollen Grinsen. „Ick bin eben jut“, sagte er, „und als du um die Landzunge rumjepaddelt bist, dacht ick – na, wat hab ick gedacht, Jochen? – , daß du ein Idiot bist, hab ick jedacht! Wie kannste das Schloß wieder zuschließen! Das muß nach Einbruch aussehen, hab ick jedacht! Und darum bin ick hin und habe das Vorhängeschloß aufjebrochen! Ick habe keine Mühe gescheut!“ Er sah Kommissar Reinhardt treuherzig an. Reinhard ging zu Kalle. „Also, was ist rausgekommen“, fragte er. „Alle drei sind schuldig! Mit anderen Worten: Die Praxis hat die theoretisch gefundene Wahrheit bestätigt.“
„Ganz einfach“, sagte Kalle unbekümmert. „Richtig. Und worin besteht das Wahrheitskriterium?“ Leutnant Kaluweit, der noch kein Studium an der Hochschule hinter sich hatte, griff sich ins blonde Schläfenhaar. „Moment“, sagte er, „nun mal immer langsam mit den jungen Pferden…“ Reinhardt grinste. „Ich kenne da eine Philosophin, an die du dich wenden kannst…!“ Seppel Beck trat dicht an ihn heran. „Das Telegramm“, flüsterte er eindringlich. „Das hat Zeit!“ Walter Reinhardt schob ihn beiseite. Er stellte sich vor die drei jungen Leute hin. „Ich habe gesagt, daß ihr auch auf ähnliche Weise unschuldig seid“, sagte er. „Obwohl Dummheit nicht vor Strafe schützen sollte. Oder glaubt ihr, ich habe mir keine Gedanken gemacht, weshalb ihr das Haus ausgebaut habt? Das Haus mit dem hübschen Studierstübchen, in dem die Kinderbadewanne steht? Warum will Micki unbedingt von ihren Eltern weg? Weil die sie nicht verstehen, weil Vater Klapper denkt, Jochen Brinkmann sei ein Nichtsnutz, ein Mädchenverführer und nichts weiter!“ Er legte eine Pause ein, lief ein paarmal auf und ab und sagte dann: „Ich glaube, es wird höchste Zeit, daß ich deine Eltern verständige, Micki. Strafrechtlich wird die Sache nicht relevant werden, wenn deine Mutter hört, warum das alles geschehen ist. Wenn sie hört, daß du ein Baby bekommst, wird sie auf deinen Vater entsprechend einwirken.“ Michaela blickte beschämt zu Boden. Doch dann hob sie den Kopf und sah den Kommissar der Kriminalpolizei Walter Reinhardt bittend an. „Können Sie das nicht übernehmen?“ fragte sie.
„Aber gewiß“, sagte Reinhardt und strich ihr väterlich über das blonde Haar. „Micki, ich glaube, deine Mutter wird aufhören zu arbeiten, wenn sie erfährt, daß sie Großmutter wird.“ Nun lachten sie alle. Michaela und Jochen etwas gezwungen, Arno breit übers ganze Gesicht. Auch Kalle lachte. Nur Seppel Beck war unruhig. Er hielt noch immer das Telegramm in der Hand. „Nun geht erst mal in eine Milchbar und trinkt was Solides“, sagte Reinhardt und brachte die jungen Leute zur Tür. „Laß dir Zeit, Micki! Bevor du nach Hause kommst, möchte ich mit deinen Eltern gesprochen haben.“ „Kruzitürken“, sagte Seppel augenrollend, als sich die Tür hinter den jungen Leuten geschlossen hatte, „willst du das nicht endlich mal lesen?“ Er hielt Walter Reinhardt das Telegramm unter die Nase. „Von der Hochschule…“ „Was kann’s schon sein“, sagte Walter. „Ein neuer Termin! Ich muß euch sagen, meine Prüfungsangst ist wie weggepustet. Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit. Das habe ich noch einmal durchexerziert, zu meinem eigenen Vergnügen. Was soll dieser Termin, dieses Telegramm?“ „Na lies doch mal“, drängte Seppel. Walter Reinhardt nahm das Telegramm, und er las laut vor: „Wiederholung der Prüfung entfällt. Gratulieren zum bestandenen Examen. Zwanzig Jahre erfolgreiche Praxis erscheinen uns auch als Wahrheitskriterium. Herzlichst die Fakultätsleitung.“ Einen Augenblick standen sie alle starr. Dann begannen sie gleichzeitig zu lachen. Es war ein befreiendes Lachen. Kalle schüttelte Reinhardt beide Hände, und Seppel sag-
te: „Und keine Blumen, und keinen Sekt! Mensch, das ist ein Jammer!“ „Wieso“, sagte Reinhardt, „wir fahren jetzt zu mir nach Hause, und wenn ich mich nicht irre, haben meine Nachbarsleute immer was im Hause. Und die haben auch einen Grund, mit uns zu feiern – oder nicht?“ „Na, dann mal los“, sagte Seppel, „ich muß nur noch meine Frau anrufen.“
331 Steen Steensen Blicher Der Wilddieb von Ansbjerg Die Lage für die Flüchtenden scheint aussichtslos. Der Ritter von Ansbjerg ist seiner Tochter und ihrem Entführer dicht auf den Fersen. Die Liebenden sind von der Flucht über die Insel Fünen erschöpft und wollen schon aufgeben, da taucht unverhofft vor ihnen ein Wilddieb auf und versteckt sie in seiner Erdhöhle. Für den Augenblick scheinen sie gerettet.