Das neue Abenteuer 472
Hana Proskovä
Ein einfacher Fall der Statistik
Verlag Neues Leben Berlin
Titel des tschechi...
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Das neue Abenteuer 472
Hana Proskovä
Ein einfacher Fall der Statistik
Verlag Neues Leben Berlin
Titel des tschechischen Originals: „Prosty pripad statistiky“ Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Borchardt Entnommen dem Band „Der Mond mit der Pfeife“, © Verlag Volk und Welt, Berlin 1979 Mit Illustrationen von Werner Ruhner
© Verlag Neues Leben, Berlin 1986 Lizenz Nr. 303 (305/109/86) LSV7713 Umschlag: W erner R uhner Typografie: W alter Leipold Schrift: 9 p Times Gesam therstellung: (140) Druckerei Neues D eutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 002 8 00025
Anfang März ging die Nachricht durch die Tagespresse, daß die neunundzwanzigjährige Krankenschwester E. N. vormittags in ihrer Wohnung in Holesovice, Veletrzni ulice, ermordet aufgefunden worden war und daß die Todesursache zwei Schläge mit einem Schürhaken gewesen sein muß ten, von denen einer den Schädel zertrümmert hatte; die näheren Um stände der Tat würden noch ermittelt. Die Nachricht war im Telegramm stil gehalten, was auf das Konto von Hauptmann Vasätko ging, der die Information für CTK im letzten Augenblick stark gekürzt hatte. Es war ein Fall, den man ihm als erfahrenem Kriminalisten sofort aufgehalst hatte und der ihn veranlaßte, sich eine Woche darauf bei seinem alten Freund, Hauptmann Chlädek, einzufinden, der schon vor geraumer Zeit auf die Praxis gepfiffen hatte und nun das Heer der Theoretiker vergrö ßerte. Chlädek erschrak, denn Vasätko war mager geworden, und seine glänzenden Augen traten aus dem blassen Gesicht hervor, als hätte er Fie ber. Selbstverständlich lud Chlädek ihn zum Abendessen ein, zu dem sich die ganze Familie, seine Frau, zwei heranwachsende Kinder und die Schwiegermutter, am Tisch einfand. Beim Essen scherzte Vasätko und be nahm sich durchaus gesellschaftsfähig, doch sein ehemaliger Kollege be obachtete ihn ziemlich beunruhigt. Erst als sich die Familie zum Fernse her begab, räumten Chlädek und Vasätko das Feld und setzten sich ins Arbeitszimmer. „Daß du dich nicht schämst, dich so kaputtzumachen“, sagte Chlädek, während er zwei Gläser auf den Tisch stellte und weißen slowakischen Wein einschenkte. „Denk mal dran, daß du auch noch andere Pflichten hast.“ „Und welche?“ „Zum Beispiel deinen Freunden gegenüber“, sagte Chlädek, der ganz von seiner Familie beansprucht wurde, wodurch er mit Vasätko ein wenig auseinandergekommen war. „Also verdammt, dann pack mal aus, junger Mann!“ Chlädek war etwa zehn Jahre jünger als Vasätko. „Man hat dir wohl wieder mal was aufgehalst, was kein andrer machen wollte.“ „Es geht nicht darum, daß es keiner machen wollte, ich hab den Fall eben bekommen. Es geht um Holesovice.“ „Ach so“, sagte sein alter Freund. „Dann entschuldige. Es ist eine Schande, daß ich der letzte bin, mit dem du darüber sprichst. Ich erlaube mir, dir hiermit eine Rüge zu erteilen. Aber hör mal, etwas hab ich davon doch gehört, zum Beispiel, daß du ihn schon hast?“ „Also weißt du nichts.“ „Danke. Na, sprich dich aus. Hast du schon jemand dem Staatsanwalt übergeben oder nicht?“ „Ja. Ich mußte es tun, weil meine Zweifel zu groß waren, so daß dieser Schritt auf der Hand lag. Was weißt du darüber?“ „Bloß, daß ihr in der Wohnung außer der Ermordeten auch noch ihren Mann angetroffen habt, stimmt’s?“ „Ja. Und ajles deutet auf ihn hin, andere Spuren gibt es nicht.“ 3
„Worüber machst du dir denn Sorgen, Junge? Gut, erzähl mir alles, wir haben Zeit.“ Chlädek lehnte sich zurück und griff ruhig nach dem Glas, während Va sätko ihn mit vor Schlaflosigkeit geröteten Augen ansah. Ihm war anzu merken, daß er in dieser Woche an nichts anderes gedacht hatte. „Aber ich weiß doch nicht genau, was du weißt und was nicht. Es han delte sich um eine Eva NeniSkovä, die im Medizinischen Bereich V arbei tete, aber erst seit ein paar Monaten. Vorher war sie im Allgemeinen Kran kenhaus. Ihr M ann ist Buchhalter, Angestellter ... aber das kann dir gleichgültig sein. Er achtunddreißig, sie neunundzwanzig, die Ehe kinder los. Sie lebten nicht schlecht zusammen, nach der Einrichtung zu urteilen. Mensch, noch vorigen Freitag waren sie zusammen bummeln. In der Weinstube ,Zum Grünen Frosch1 ... allein, wie Neuvermählte, und haben sich tüchtig einen angetrunken. Am Sonnabendvormittag um halb zehn ruft uns der Bursche persönlich an, er habe seine Frau im Nebenzimmer tot aufgefunden. Dazu heulte er wie ein kleines Kind.“ „Das bedeutet noch gar nichts, Junge“, brummte Chlädek. „Aber trink doch ... auf deine Gesundheit. Hast ja noch keinen Schluck genommen.“ „Natürlich bedeutet das noch nichts“, sagte Vasätko. „Meinst du viel leicht, daß ich etwas auf weinerliche Szenen gebe? Hör mal, ich war als erster an Ort und Stelle, ich hatte Dienst und fuhr mit der Streife hin. Ich fand ihn bei ihr ... er hatte sich noch dazu mit Blut beschmiert, das schon getrocknet war, an den Hausschuhen, an den Socken, auch am Hosenrand ... sogar im Bett war Blut, er hatte nämlich angezogen geschlafen. Wir hat ten ganz schön mit ihm zu tun, er wollte sich aus dem Fenster stürzen oder so etwas . ..“ „Was er ruhig hätte tun können, bevor ihr kamt.“ „Im übrigen ist es im ersten Stock“, bemerkte Vasätko trocken. „Darüber befinden sich Büros und daneben im ersten Stock die Werkstatt einer Ge nossenschaft ... so eine Nähwerkstatt. Wir haben weiter kein Aufhebens von der Angelegenheit gemacht. Die Werkstatt war leer, dies nur neben bei. Aber das phantastische ist, der Doktor hat ihren Tod ungefähr für die Zeit bestimmt, in der sie nach Hause gekommen sind, das heißt mit einer kleinen Berichtigung - nur wenig später. Gegen halb zwei nachts.“ „Dann ist doch alles klar. Wie hat er sie getötet?“ „Mit dem Schürhaken, und zwar mit zwei Schlägen, sehr genau und mit großer Wucht. Einer davon durchdrang den Schädel. Sie muß auf der Stelle tot gewesen sein.“ „Dazu brauchst du gar nicht mal genau zu sein, Freundchen, ordentlich ausholen genügt. Der Schürhaken ist ein bewährtes Mordwerkzeug, wie bekannt. Fingerabdrücke?“ „Seine auf dem Schürhaken, sonst nur ihre und seine. Keinerlei andere. Kannst du dir das vorstellen? Sie kommen friedlich im Taxi um ein Uhr nach Hause, und keine zehn Minuten später liegt sie auf dem Boden in ih rem Blut. Und dieser Mensch sagt aus, er könne sich an nichts erinnern ... 4
er wisse nicht, wie er nach Hause gekommen sei ... kurzum, er war ein fach voll. Angeblich hat er dort mit einem gewettet, wer mehr trinken könne, und dann zehn oder zw ölf Harte in sich hineingeschüttet. Der Ober behauptet allerdings, daß er zwar taumelte, jedoch noch imstande war zu gehen.“ „Etwas ungewöhnlich für einen Buchhalter.“ „Er ist ein Mensch, der seinen Beruf satt hat. Er hatte ganz andere Ambi tionen, etwas Künstlerisches oder so, und ich möchte ihm das beinahe ab nehmen. Er ist nicht gerade der Typ eines Buchhalters. Ein baumlanger Kerl und ein ziemlicher Schwätzer ... sogar seine Verzweiflung wirkte überzeugend. Es scheint, daß er nichts anderes hatte als gelegentliche Be säufnisse und seine Frau ... Sie war bildhübsch, Mensch, das reinste Kätz chen. Aber was ich über sie erfahren habe, war nicht gerade ... ein Däm chen von zweifelhaftem Ruf. Aus dem Krankenhaus mußte sie fort, dort ging sie mit einem ältlichen Doktor, und vordem ... Aber das würde hier zu weit führen. Verstehst du jetzt? Ihr Mann war so betrunken, wie es im Buche steht. Sie mußte selber das Taxi rufen und ihn nach Hause bringen, daß er einen Affen hatte, steht außer jedem Zweifel, nach dem Schlaf hatte er immer noch Promille im Blut und Gleichgewichtsstörungen. Und trotzdem ... nur ein paar Minuten, nachdem sie gemeinsam zurück wa ren ..." „Wer hat sie gefahren?“ fragte Chlädek. 5
„Genau. Das habe ich mich auch gefragt. In Betracht kam nur Nenicka oder der Taxifahrer, sofern nicht jemand am Haus gewartet hat und gleich hinter ihnen eingetreten ist. Doch der Taxifahrer sagt aus, er habe dort niemanden gesehen, und gibt auch ohne weiteres zu, daß er ihr geholfen hat, Nenicka in den ersten Stock zu bringen.“ „Wer ist das?“ ließ sich Chlädek vernehmen. „Mensch, dieser Mann war es doch n ic h t... Ein Frantisek Mandel, vier zig, nicht im Strafregister, Vater von zwei Kindern. Ein durch und durch friedfertiger, einfacher Bursche, ein Wochenendhäuschen, Angler, im üb rigen hat er sich sofort auf den ersten Aufruf hin gemeldet. Ich habe alle seine Fahrten notiert, es stimmt bis auf den letzten Punkt, es ist mir auch gelungen, seine Aussage durch Zeugen zu belegen ... Später, in derselben Nacht, brachte er noch ein paar Leute nach Krc und gegen Morgen eine Frau in die Entbindungsanstalt.“ „Wenn du glaubst, daß man im Zustand solider Trunkenheit keinen Mord begehen kann, dann irrst du dich gewaltig, mein Junge“, sagte Chlä dek. „Und erst recht, wenn sie ihm Grund zur Eifersucht gab.“ „Die Gründe zur Eifersucht habe ich schon festgestellt, und zwar na mentlich“, sagte Vasätko. „Zuletzt hatte sie wieder einen Doktor, aber nicht aus ihrem Bereich.“ „War wohl auf Ärzte versessen?“ „Junge, zu neunzig Prozent ist der Fall geklärt“, sagte der Hauptmann, und in seiner Stimme drückte sich all die Plage aus, die er bei dieser Mordsache durchgestanden hatte. „Verstehst du? Jedermann versichert mir, daß der Staatsanwalt nichts weiter brauche ... Das ist mir ohnehin klar. Die Frage ist nur, ob Nenicka physisch dazu imstande war, und die Ärzte haben die Meinung vertreten, daß dies bei seiner Kondition möglich gewesen sei. Die Abdrücke am Schürhaken sind die seinen ... er sagt, er habe ihn morgens selbst zur Hand genommen und dann beiseite gelegt, zumindest behauptet er das. Der Tod wird auf die Zeit zwischen halb zwei und maximal zwei Uhr geschätzt. Der Kerl ist bereits vollends mit den Nerven fertig, er weiß schon nicht mehr, wer er eigentlich ist. Für jeden Staatsanwalt wäre dies genug ... für jeden. Aber etwas gefällt mir nicht daran ...“ Vasätko verschnaufte. Sein alter Freund, der solche Sorgen längst hinter sich hatte, sah ihn wieder beunruhigt an. „Natürlich ... ich hab sofort begriffen, daß da irgendwas nicht stimmt. Was ist es, Mann?“ „Da ist so eine Kleinigkeit ... mit den Fischchen.“ „Mit den Fischchen? Mit was für Fischchen?“ „Weißt du, auf dem Fußboden in der Küche fanden wir neben dem Spül becken ein leeres Aquarium, dessen eine Wand gesprungen war, der Riß ging von oben bis unten. Aber jemand hat den Inhalt des Aquariums ins Spülbecken gegossen und zugestöpselt, so daß die Fischchen am Leben blieben, begreifst du?“ 6
„Das hätte passieren können, bevor sie gegangen sind.“ „Schwerlich, weil sich sowohl im Zimmer als auch auf dem Flur das ver gossene Wasser befand. Einen ordentlichen Haushalt läßt man nicht so zurück, oder?“ „Gut, dann ist es eben nach der Rückkehr passiert. Was folgerst du dar aus?“ „Aber wenn es nach der Rückkehr passierte“, sagte Vasätko in sonderba rem Ton, „wieviel Zeit blieb ihr dann, um die Fischchen wegzuräumen? Und die andere Sache ... wie ist das passiert? Mensch, ich hab mir zusam mengereimt, wie es passiert sein muß. In jenem Augenblick stand sie an ihrem kleinen Schreibtisch ... du hättest sehen sollen, was für antike Mö bel es dort gibt! In dem Augenblick also, als er auf sie losging, war das Aquarium zwischen ihnen, es stand ein wenig schräg auf einem speziellen Gestell, und ich'glaube, als er den Schürhaken schwang, da ...“ „Woher weißt du, daß es in der Nähe stand?“ „Dem Schlag nach zu urteilen, sieht es ganz danach aus, Zdenek. Könn test du dir vorstellen, daß er sie ermordete, dann das Aquarium nahm, aus dem schon das Wasser floß, und es in die Küche trug?“ „Sind Fingerabdrücke darauf?“ „Ja, ihre und seine, aber sie sind nicht beweiskräftig. Sie sehen mehr zu fällig aus.“ „Du phantasierst. Das Aquarium kann auch durch einen Zufall zerbro chen sein, und sie kann es selbst weggetragen haben.“ Vasätko sah ihn schweigend an. „Gut ... wenn nicht sie es war, dann glaubst du aber, ein Mensch im Amok hat noch so viel Kraft, daß er noch etwas anpacken und hinausbrin gen könnte?“ Vasätko zuckte mit den Schultern. „Und seine Kleidung ... war sie naß?“ „Das hilft mir nicht. Er trug ein Nylonhemd und Trevirahosen und schlief darin. Bis zum Morgen konnte beides trocken sein.“ „Und was schlußfolgerst du nun?“ „Daß er das Aquarium noch vor dem Tobsuchtsanfall zerbrach und daß sie es wegräumte. Der Alte meint, daß es erst hinterher zum Streit kam und daß er im Amok packte, was ihm gerade in den Weg kam, ihr damit den K opf einschlug und sich dann ins Bett warf. Völlig ausgeschlossen ist das nicht, das leugne ich n ic h t... Sie war kräftig genug, um das Aquarium selbst hinauszubringen. Aber keine Frau macht es auf diese Weise, mein Freund ...“ „Hm?“ „Jede Frau auf der Welt würde einen Eimer holen“, sagte der Haupt mann in eigenartigem Tonfall. „Du glaubst ...? “ „Ja. Ich habe in meinem Leben noch keine Frau gesehen, die sich mit et was abschleppen würde, was sie in einen Eimer gießen könnte.“ 7
„Allein daraus leitest du ab, daß dort jemand war?“ „Ja. Ich sehe ihn sogar vor mir ... ich kenne seinen Charakter ... und ich werde ihn finden. Das habe ich mir gestern geschworen.“ Eine Weile schwiegen beide. Chlädek sah seinem Freund ernst in die Augen. „Gut, etwas ist da dran, auch wenn’s mir nicht gerade so vor kommt ... und was redest du da, was für ein Charakter? Wonach willst du ihn finden?“ „Nach seinem Typ“, sagte Vasätko kurz. „Du bist verrückt geworden.“ „Doch, ein wenig weiß ich sogar schon von ihm.“ „Was zum Beispiel?“ „Daß er vom Fach ist ... daß wir ihn in unsern Akten haben müssen. Weiter, daß er nicht trinkt und daß er intelligent ist. Er hat etwas Besonde res in seiner Natur ... und ist ziemlich aus der Bahn geraten, überdies ist er abergläubisch. Seine Tat laßt ihn völlig kalt. Das wäre einstweilen al les.“ „Das alles hast Du nur aus dem Aquarium deduziert?“ „O nein. Entschuldige, ich vergaß dir zu sagen, daß wir auf dem Tisch chen ein volles Schnapsglas fanden; möglich, daß sie etwas eingoß, als sie heimkamen, aber kannst du dir jemanden vorstellen, der sich nach alle dem nicht einen genehmigen würde? Seine Intelligenz steht außer Zweifel, weil er keine Spur hinterlassen hat, keine einzige. Absolut nichts. Nur pardon - , nur erleichterte er sich in einer Zimmerecke. Ich hätte sonst nicht davon gesprochen, aber du weißt ja ... das ist so ein Aberglaube. Diebe und Kassenknacker tun das. Bevor ein Dieb aus der Wohnung geht, pflegt er in der Regel ...“ „junge, denk doch mal daran, wie betrunken Nenicka war! Verstehst du, was ich sagen will? Wenn sich einer erleichtert hat, dann er und nicht ..." „Das glaube ich nicht. Seine Frau war bei ihm.“ „Aber hier ging’s nicht um Einbruch, sondern um Mord.“ „Ich weiß, aber ich möchte behaupten, daß er die Sache anders aufgefaßt hat.“ „Ist etwas verschwunden?“ „Nichts. Er ließ die goldnen Ringe und das Armband da. Hier hat N e nicka versucht, sich etwas auszudenken, und dabei hat er Pech gehabt. Er hat nämlich anfangs behauptet, ihm sei Geld abhanden gekommen. Aber an Wertgegenständen wurde nichts gestohlen, obwohl es einen Haufen da von in der Wohnung gab.“ „Mein Freund, da stimmt was nicht. Jemand von unserer Galerie läßt Schmuck zurück?“ „Ich habe nicht gesagt, daß wir ihn in unserer Galerie haben.“ „Also ihr Liebhaber?“ „Dem bin ich schon nachgegangen, Zdenek, bin aber auf keinen gesto ßen. Ihr Doktor kommt nicht in Frage ... das wäre lächerlich.“ „Mir scheint, das volle Gläschen ist kein Beweis dafür, daß jemand nicht
trinkt, sondern eher, daß er überhaupt nicht dort war“, sagte Chlädek be trübt. „Weil nämlich der Schmuck nicht weg ist. Da er nichts gestohlen hat, könnte es nur ein Liebhaber gewesen sein, und wenn auch das nicht zutrifft, dann war eben keiner da, ich kann mir nicht helfen. Es gibt kei nen Kriminellen, der nicht trinkt und der ihr nicht auch das Armband ab nehmen würde, wenn er schon so eine schmutzige Arbeit gemacht hat. Hast du so was schon mal gehört?“ „Nein“, sagte der Hauptmann finster. „Und das Haus?“ „Das stand offen. Der Taxifahrer sagte aus, er wisse nicht, ob sie noch einmal zuschließen gegangen sei, weil sie mit ihrem Mann alle Hände voll zu tun hatte. Er half ihr nur bis zur Wohnungstür und kehrte dann um.“ „Dann schau ihn dir noch mal an, oder schlag es dir aus dem Kopf.“ „Das hab ich schon getan. Ich hab jemand an seine Fersen geheftet, habe alles Mögliche und Unmögliche über ihn beschafft. Aber er ist ... er ist nicht mein Mann.“ „Entspricht er nicht dem Typ?“ sagte Chlädek mit milder Ironie. „Nein, er war es nicht.“ „Nimmst du an, daß jemand in der Wohnung gewartet hat?“ „Ich schließe es nicht aus.“ „Aber wenn nichts weg ist, ist deine Theorie wieder im Eimer. Was ist mit ihren Bekannten, hast du alle?“ 9
„Es scheint so, und ich habe nichts gefunden. Ich weiß nicht, warum er dort wartete oder, sagen wir, warum sie ihm aufmachte, falls er hinter ih nen nach oben kam. Aber kannst du dir die Mentalität eines Mannes vor stellen, der nach einem Mord das Abwaschbecken zustöpselt, damit die Fischchen Wasser haben?“ „Ich weiß, deine Hypothese mit dem Aquarium.“ „Und noch mehr. Nehmen wir also an, daß er in der Sekunde nach der schlimmsten Tat seines Lebens dort steht, plötzlich merkt, daß er das Aquarium zerbrochen hat und daß Wasser ausfließt. Was täte ein norma ler Mensch? Er würde sich umdrehen und verschwinden. In einem etwas komplizierteren Gehirn würde möglicherweise der Gedanke auftauchen, das Wasser könnte durch den Fußboden sickern und Aufmerksamkeit er regen ... vielleicht, das wäre nicht anormal. Das Aquarium hinaustragen und es irgendwo ausgießen, das würde fast jeder tun. Aber die Fischchen mit dem Wasser nicht in die Toilette gießen - wo doch die Toilette gegen überliegt und die Küche weiter entfernt ist - und den Stöpsel ins Ab waschbecken drücken, damit die Fische überleben, das ist nicht mehr nor mal!“ „Meiner Seel“, sagte Chlädek verwundert. „Eine Schwäche für das stumme Geschöpf?“ „Übrigens ist so etwas nicht selten bei denen, sie entwickeln Haß auf die Menschen und ... Aber hören wir lieber auf. Ich weiß nicht, wer es ist und warum er getötet hat, aber ich stelle ihn mir dort vor, wie er sich mit dem Aquarium abquält, nachdem er die junge Frau mit jenem schrecklichen Schlag auf den Kopf ermordet hat. Was soll ich dir sagen - der Nenicka paßt mir nicht in dieses Bild, er ist ein Weichling. Ich kann einfach nicht glauben, daß er sie getötet und dann vorgetäuscht haben soll, er wäre total betrunken gewesen ... und dann hielt er es bei ihr bis zum nächsten Tag aus. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich schon alles unternommen habe. Ich habe da einen Haufen Leute in meiner Kartei und besitze über alle Informationen - alles für die Katz. Ich kann schon nicht mehr schla fen ... und da wundern sich welche, daß ich mit dem Fall nicht längst fer tig bin, und begreifen nicht, warum ich teure Zeit und das Geld des Staa tes vergeude.“ Vasätko lachte bitter auf. „Junge, bist du dir wirklich sicher?“ „Sicher? Ich hab höchstens eine schwache Ahnung“, sagte der Haupt mann mit unfrohem Lächeln. „Nun, wie geht’s, Herr Nenicka?“ Von dem Klapptisch in der Zelle in Pankräc erhob sich ein kräftiger, noch junger Mann und machte ein paar Schritte auf Vasätko zu. Vasätko drückte ihm die Hand und spürte, daß Nenickas Hand verschwitzt war. Er warf ein paar freundliche, nichtssagende Sätze hin, damit sich Neniöka beruhigte. „Wie ich sehe, schreiben Sie gerade ..." Vasätko hatte angeordnet, daß dem Gefangenen erlaubt wurde, an sei 10
nen Bruder und an seine Mutter zu schreiben, und ihm auch sonst allerlei Erleichterungen verschafft. Nenicka war allein in der Zelle, durfte aber Zeitungen und Zeitschriften lesen und täglich mit seinem Anwalt spre chen. „Seien Sie nicht böse, Herr Hauptmann, aber falls Sie mit mir sprechen wollen, so verlange ich, daß Herr Dr. Posusta anwesend ist.“ Vasatko konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Nenicka war also schon informiert, gewiß durch Posusta. „Aber Herr Neniöka, Sie werden doch nicht jedesmal Posusta verlangen, wenn man mit Ihnen ein paar Worte wechseln will. Ich möchte Sie verstehen ... und das wissen Sie doch auch. Ich möchte fast behaupten, daß Sie vor Ihrem Anwalt schlimmeres Zeug reden als gewöhnlich. Gestern haben Sie sich wieder mal was gelei stet. Wieso erinnern Sie sich plötzlich an so viele Dinge, obwohl Sie vor her behauptet haben, Sie wären nicht ganz bei sich gewesen?“ „Es kann einem doch einfallen.“ „Aber es muß stimmen“, wandte der Hauptmann freundlich ein. „Wenn Sie hier behaupten, Sie hätten Schläge gehört, das Splittern von Glas und bei dem Lärm wären Sie eingeschlafen wie ein Säugling ..." „Ich verbitte mir, daß Sie mich herabsetzen. Ich verlange Dr. Posusta“, sagte Neniöka. Er starrte Vasatko an, und seine Mundwinkel fingen an zu zucken. „Sakra, Herr Nenicka, ich bin heute nur gekommen, um Sie nach der Waschmaschine zu fragen.“ „Was für eine Waschmaschine?“ „Ihre Frau hatte sich doch im letzten Quartal von einer Bekannten eine automatische Waschmaschine für sechstausend gekauft.“ „Na, dann hat sie sie eben gekauft.“ „Ich habe immer den Eindruck, als hätten Sie beträchtliche Ausgaben ge habt. Mich würde interessieren, wie Sie es geschafft haben, dafür zu spa ren. Wir haben zwar schon davon gesprochen, aber falls Sie sich noch an irgend etwas erinnern könnten?“ „Ich möchte meinen, daß wir darüber schon gesprochen haben. Meine Frau hat gespart, ich hab auch gespart, Kinder haben wir nicht, also ...“ „Wie war denn Ihre private Buchhaltung? Haben Sie das Geld für den Haushalt zusammengelegt?“ „Ja, aber das hat Eva alles gemacht. Ich hab mich genügend im Betrieb abgerackert, sollte ich da etwa auch noch zu Hause kontrollieren? Was denken Sie denn von mir? Wir haben einander vertraut.“ „Wollen Sie damit sagen, daß Sie sich niemals darum gekümmert haben, woher Ihre Frau das Geld für Nebenausgaben genommen hat?“ „Ich verlange Herrn Dr. Posusta“, sagte Nenicka erregt. „Mensch, es ist doch in Ihrem eignen Interesse! Wenn Ihnen Ihr Vertei diger geraten hat, Sie sollten so tun, als hätten Sie sehr harmonisch mitein ander gelebt, dann enthalte ich mich jeder weiteren Bemerkung. Sie muß ten doch aber wissen, daß sie mit diesem Feldek ging.“ 11
„Sie werden es nicht glauben, aber sie war mir treu.“ „Meinen Sie das ernsthaft?“ „Allerdings. Wir waren vollkommen glücklich, das werden Sie nie begrei fen.“ „Schauen Sie mal, Herr Nenicka, das ist alles gut und schön, aber ich brauche eine Erklärung von Ihnen, was für Nebeneinnahmen Sie beide hatten. Sakra, warum sagen Sie es mir nicht offen? Hin und wieder irgend ein schwarzes Geschäft - hier geht es doch um ernstere Dinge!“ „Ich habe schon ausgesagt“, bemerkte Nenicka trübe. „Und ich verlange, daß der Herr Doktor bei dem Verhör zugegen ist.“ „Na gut ... wenn Sie darauf bestehen. Wie geht’s sonst? Wie schlafen Sie?“ „Nicht besonders.“ „Melden Sie es dem Arzt, er soll Ihnen eine Schlaftablette geben. An wen schreiben Sie da?“ brummte der Hauptmann. Zufällig hatte er auf den dichtbeschriebfenen Bogen Papier auf dem Klapptisch geblickt und die Anrede „Geliebte“ gelesen. „Ihrer Mutter oder einer anderen ... hm?“ „Nein. Ihr“, sagte Neniöka düster. „Ihr ... wie denn? Wem?“ „Eva. Ich bin Ihnen so dankbar, daß Sie es mir ermöglicht haben, näm lich Vasätko sah ihn befremdet an. „Ich verstehe Sie nicht ganz. An wen schreiben Sie?“ „Sie werden wer weiß was über mich denken, aber ich schreibe wirklich an Eva“, sagte er hastig und gerührt. „Wir haben uns noch so viel zu sa gen. Als ich Papier und Bleistift bekam, da mußte ich gleich ... Wissen Sie, ich habe das Gefühl, daß sie es versteht ... Sie ist“ — er machte eine beredte Handbewegung - , „sie ist hier anwesend. Sie können es lesen.“ Vasätko überflog den Brief, und sein Magen preßte sich zusammen. „Danke. Was tun Sie nachher damit?“ „Ich verbrenne ihn“, brummte er. „Ich an Ihrer Stelle würde mir beides ersparen.“ „Mir ist es das Risiko wert.“ „Hören Sie, tun Sie es nicht. Wenn Sie es schon geschrieben haben, dann schicken Sie es als Brief an die Mitglieder Ihrer Familie.“ Wenn seine Mutter bei diesem unsinnigen, lyrischen Gewäsch nur nicht der Schlag trifft! sagte er sich. „Vielleicht tu ich’s.“ „Hm ... ich würde fast annehmen, daß Sie es für eine Veröffentlichung schreiben.“ „Das würde sich wohl nicht gehören“, sagte Neniöka, doch ohne jede Spur von Entrüstung. „Na dann ... wahrscheinlich sehen wir uns am Donnerstag. Auf Wieder sehen. Nenicka reichte ihm die Hand, und Vasätko verließ ihn. 12
Dieser Narr, und Posusta war auch einer. Erzwang ihn dazu, Dinge abzu streiten, die augenscheinlich waren und die ihm leicht bewiesen werden konnten. Vasätko war der Ansicht, daß die Frau mit Nenicka unglaublich umgesprungen war und ihn auf Schritt und Tritt betrogen hatte; Neniöka hatte es sich gefallen lassen, nur von Zeit zu Zeit revoltiert und dann zu Hause Krawall geschlagen. Die Komödie mit dem Brief beunruhigte Va sätko erheblich, weil sie ihn auf den Gedanken brachte, daß der Anwalt ihm geraten hatte, den Verrückten zu spielen, was nicht ausschloß, daß Nenicka ihm den Mord gestanden hatte. Noch am selben Tag sprach er mit Posusta, der ein sehr vorsichtiger Jurist war und ein Bekannter der Fa milie Neniöka; ein älterer, ansehnlicher Herr, kühl wie eine Hunde schnauze. Posusta kam ihm mit der Neuigkeit, daß er beantragen wolle, seinen Klienten von einem Psychiater untersuchen zu lassen, weil er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stünde. Hm, hm! Danach sah Nenicka nicht gerade aus. Nach dem Gespräch mit Posusta saß Vasätko in seinem Büro mit einem Kopf, der ihm zu platzen drohte. Dieser Mann spürte, daß die Verteidigung auf schwachen Füßen stand, und suchte daher nach ei nem Hintertürchen. Falls Nenicka ihm schon gestanden hatte ... Aber nein, das w ar nicht möglich. Er wurde sich der merkwürdigen Situation bewußt, daß er, der alles untersuchte, wohl der einzige war, der es ab lehnte, an die Schuld zu glauben. Der Teufel mochte wissen, was Posusta dachte, aber wahrscheinich ging es ihm nur darum, daß Neniöka mit einer möglichst geringen Strafe davonkam. „Nun, mein Junge, wie weit bist du damit?“ So begrüßte ihn Chlädek eine Woche darauf. Er belästigte ihn nicht, indem er ihm eine Plauderei mit seiner Familie .aufdrängte, sondern führte ihn geradewegs in sein Arbeits zimmer, wofür ihm Vasätko sehr dankbar war. „Einstweilen habe ich ihn noch nicht, aber ich suche weiter“, antwortete er, kaum daß er sich hingesetzt hatte. „Wo suchst du ihn?“ „Unter den Süchtigen.“ „Wie bist du denn daraufgekommen? Ist er angezeigt worden?“ „Nein. Ich habe keinen einzigen Zeugen dafür, ich stehe mit absolut lee ren Händen da“, sagte Vasätko und nickte, als der Freund ihm eine Ziga rette ansteckte. „Woher willst du dann wissen, daß sie damit etwas zu tun hatte?“ „Reine Deduktion, genauer gesagt: Statistik.“ „Keine Fakten?“ „Keine. Aber ich finde ihn“, sagte der Hauptmann dumpf. „Ich muß ein fach. Wenn ich schon einmal damit angefangen habe ... Verstehst du, ich weiß es nicht. Nur kann ich noch immer nicht die Quelle ihrer Nebenein nahmen ans Licht bringen, und ich habe so eine Ahnung, daß der Lebens standard durch ihre und nicht durch seine Einnahmen verbessert wurde. Er ist ein Tölpel ... Nun sag mir aber, wodurch kann eine normale Kran kenschwester ihr Einkommen steigern?“ 13
„Es gibt auch andere Möglichkeiten.“ „Sakra, die sind aber doch minimal. Feldek hatte etwas mit ihr, aber ich bezweifle, daß er ihr Geld gegeben h a t ... Er ist ein gutaussehender Mann, vielleicht war es wirklich Liebe. Dieser Weg führt nicht w eiter...“ , „Du denkst an ein Rezept für einen Fünfziger?“ „Kommst aber aus einer billigen Ecke. Für eine Tube Stoff zahlt man von hundert aufwärts, im Notfall sogar zweimal soviel.“ „Das wäre aber ein Aas von Händler“, sagte Chlädek mit einem Lächeln. „Ein ordentlicher Händler besorgt es für fünfzig. Woher weißt du über haupt, daß sie so etwas getan hat? Habt ihr bei ihr Blankorezepte gefun den?“ „Nein, mein Junge, dann wären wir heute weiter.“ „Hat es dir jemand im Krankenhaus gesagt? Ich meine dort, wo sie früher gearbeitet hat?“ „Nein, da bin ich auf eine Barriere gestoßen. Diese Dinge gehen an die Nieren, begreif endlich. Und doch spüre ich es bis ins Mark! Sie hatte dunkle Nebeneinkünfte, und woher sollten die sonst kommen? Mein Gott, das kenne ich doch. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich mit einer Kran kenschwester zu tun, die zugab, daß es für sie kein Problem war, dreihun dert Blankorezepte auf einmal an sich zu nehmen.“ „Mensch, du mußt doch zumindest einen Beweis haben! Dies hier sind nur Vermutungen.“ „Ja. Mein Faktum ist, daß ich unter ihren Bekanntschaften der letzten fünf Jahre jemanden entdeckt habe, der schon mit dem Staatsanwalt zu tun hatte, man konnte ihm aber nichts beweisen. Ein Arzt. Heute arbeitet er in einem Krankenhaus außerhalb Prags.“ „Mit dem Staatsanwalt? Weshalb?“ „Weil eine Menge Rezepte für Narkotika mit seiner Unterschrift in den heimatlichen Gefilden kursierten. Der Name Neniökovä tauchte in dieser Angelegenheit überhaupt nicht auf. Aber was willst du, sie hat fast das ge samte Gehalt gespart, und wer kann das heutzutage?“ „Also, du hast Rezepte mit dem Stempel ihres Bereichs gefunden?“ „Mein Gott, es widert mich langsam an, dir immerfort nein zu sagen“, er klärte der Hauptmann müde. „Dann ist es ein Schlag ins Wasser.“ „Wenn du wüßtest, wie sicher ich bin, daß es nicht so ist. Hör zu: Ich habe die direkte Beziehung zum Hersteller entdeckt ... den direktesten Weg.“ „Ihren Weg?“ „Nein, es ist viel komplizierter. Die Verbindung hat Havelka, aber offen bar erst seit etwa einem Jahr. Ich habe unter seinen Verwandten gesucht und einen Cousin von ihm gefunden, der in diesem Produktionsbetrieb ar beitet.“ „Wart mal. Welcher Havelka?“ „Dr. Havelka ist der Mann, den ich bereits erwähnt habe und den man 14
vor ungefähr vier Jahren aufs Korn genommen hatte, wobei man ihm nichts nachweisen konnte; seither liegt nicht das geringste mehr gegen ihn vor. Vor einem halben Jahr jedoch kaufte er einen SAAB, und was soll ich dir sagen: Die Neniökovä fuhr ab und zu dorthin, um eine alte Bekannte im Krankenhaus zu besuchen. Verstehst du jetzt?“ „Sie verkehrten weiter miteinander?“ „Havelka streitet es ab. Angeblich unterhielten sie sich selbstverständ lich, wenn sie sich im Krankenhaus begegneten, verkehrten aber sonst nicht weiter miteinander. Freundchen, ich spüre, daß ich auf der richtigen Spur bin. Nur, beweisen ... Bisher beweise ich nur, daß ich ihnen nichts beweisen kann! Wenn du wüßtest, wie das ist ... Dieser Kerl lächelt dich an, ist sich völlig sicher, daß du im trüben fischst. Von nun an suche ich ihren Mörder unter ihren Kunden, da muß er sein, darauf setze ich mei nen Hals. Und wenn ich ihn habe, überzeuge ich sie ... Doch wie kann ich beweisen, daß die Neniökovä die Arzneimittel an Drogensüchtige weiter verkauft hat? Es kann sich um alles mögliche handeln: Pervitin, Psychoton, Suredal, Centedrin, Nialamid, Nidrazid, Marplan, aber auch anderes Dreckzeug wird geklaut. Mein Gott, wenn ich nur etwas bei ihr gefunden hätte! Sofern sie überhaupt etwas in ihrer Wohnung hatte, hat es natürlich der Kerl mitgenommen.“ Vasätko schwieg. „Willst du Kaffee?“ „Danke, nein ... Oder doch, einen trinke ich. Verstehst du, wie ernst es ist? Ich verdächtige sie und habe nichts in der Hand. Wie ich dir sagte, ist der Chemiker aus der Produktion für mich unerreichbar. Das sei ihre in terne Angelegenheit. Sie sagen dir einfach: Wir haben hier unsere eigene Kontrolle, und es ist völlig ausgeschlossen, davon verstehen Sie nichts. War ein echter Reinfall. Und man muß doch zugeben, daß man wirklich nichts davon versteht.“ „Gut ... aber nach welchem Gesichtspunkt willst du ihn finden?“ „Nach der Statistik.“ „Willst du etwa alle Prager Drogensüchtigen überprüfen?“ „Bereits geschehen. Von denen, die in der Kartei vermerkt sind, habe ich diejenigen ausgesucht, die schon einmal bestraft waren. Ich denke, daß er sich unter ihnen befinden dürfte.“ „Unter denen wirst du weiter aussortieren?“ „Ja“, sagte der Hauptmann ernst. „Nach einer bestimmten Reihe von Schlüsseln. Den Bereich fünf fasse ich besonders ins Auge. Außerdem ließ ich aus der Kartei feststellen, wer von unseren Kunden sich im letzten Jahr im Allgemeinen Krankenhaus aufgehalten hat. So bin ich von neun hundertvier auf acht gekommen.“ „Acht! Wirklich ... Hut ab. Von allen hältst du nur acht für mögliche Tä ter?“ „Ich habe acht, die nachweisbar mit der Neniökovä in Berührung gekom men sind. Selbstverständlich ist das noch nicht erschöpfend, aber es ist wenigstens eine Richtschnur. Die Hälfte davon sind Jugendliche.“ 15
„Und unter diesen acht suchst du ihn nach seinem Typ?“ „Du kannst ruhig über mich lachen.“ „Prüfst du nicht zufällig auch, wer von ihnen Aquariumliebhaber ist?“ Vasätko lächelte nicht. „Einen Aquariumliebhaber habe ich, aber der ist es n ich t...“ „Sag mir die Wahrheit“, bat Chlädek, der aufstand, um Vasätko Kaffee zu kochen. „Wie viele sind es noch, unter denen du jetzt wählst?“ „Zwei“, antwortete der Hauptmann. „Zwei?“ „Ja. Der eine ist ein gewisser Richter, zweiundzwanzig, er lag voriges Jahr auf der Abteilung, wo die Neni5kovä Dienst hatte. Schon zweimal unterzog er sich einer Drogenkur. Seine Eltern, die ihn decken, sind gutsi tuierte Leute. Mit neunzehn bekam er ein Jahr für versuchten Einbruch in eine Apotheke. Der zweite ist Hantäk, ein Maschinenschlosser, der die Fachschule nicht beendet hat, sechsundzwanzig. Er gehört in den Bereich fünf. Mit dem hatte ich zu tun, als er sechzehn war. Niemals hätte ich ihn für einen Drogensüchtigen gehalten ..., er war nicht der Typ dafür.“ „Und für einen Mörder?“ Vasätko antwortete nicht. In Wirklichkeit hatte er sich für Hantäk ent schieden, und zwar auf Grund der reinen Statistik und der Wahrschein lichkeitsrechnung, wie er es nannte. Hantäk war süchtig und vorbestraft; er war ein außergewöhnlich geschickter und intelligenter Mensch, der sich unter seinesgleichen deutlich hervorhob. Vasätko sagte sich, daß seine Auswahl ein Resultat der Statistik sei, aber es gab noch eine Erinnerung, die hierbei eine Rolle spielte. Er erinnerte sich, daß Hantäk als sechzehn jähriger Bursche und Schlosserlehrling, der einen zweiten Einbruch verübt hatte, damals vor zehn Jahren, als Vasätko ihn persönlich schnappte, in seinem Zimmerchen ein wundervolles Aquarium stehen hatte. Die Geschichte von Jaroslav Hantäk, dem sechsundzwanzigjährigen Maschinenschlosser, der die Fachschule nicht beendet hatte, war erschüt ternd wie der Lebenslauf vieler junger Delinquenten, obwohl Vasätko sie als Ausnahmen bezeichnen würde, denn viele stammten aus gutsituierten Familien und waren Mamas Lieblinge, Jaroslav Hantäk zählte nicht zu ih nen. Sein Vater verließ ihn, als er zehn war, und die Mutter wechselte ihre Bekanntschaften, so daß er vernachlässigt und von fremden besoffenen Kerlen verprügelt wurde. Vasätko erinnerte sich noch sehr gut an das, was der Junge ihm damals erzählt hatte, nachdem er sein Vertrauen gewonnen hatte. Es war eine traurige und im Grunde alltägliche Geschichte, nicht schlimmer als andere. Vasätko dachte an all das, als er am Sonnabend morgen ins fünfte Stockwerk des Mietshauses in der Hlaväökovä in Kosire stieg. Ihm ging durch den Kopf, wie er Hantäk begegnet war, als dieser vom Militär zurückgekommen war. Er war voller Hoffnung gewesen, arbeitete, machte ein Fernstudium und wollte heiraten ... Damals hatte er ihm ein bißchen ins Gewissen geredet - er konnte sich das nie verkneifen, es war 16
nun mal seine Methode —, und Hantäk hatte ihm geantwortet: „Haben Sie keine Angst, meinen Kindern werde ich das nicht antun, ich weiß, wie das ist“, und zwei Jahre später war er wieder hineingeschlittert. Aber sie hat ten ihm die Suppe versalzen, und Vasätko erinnerte sich schwach, daß ihm die Strafe damals übertrieben hoch vorgekommen war. Jetzt fand er seinen Namen auf einer Liste von Delinquenten, die nach Verbüßung ih rer Strafe noch in die Anstalt nach Bohnice kamen und erst nach ihrer Heilung entlassen wurden. Der Arzt in Bohnice hatte ihm mitgeteilt, Han täk sei kein schwerer Fall, er sei physisch in guter Kondition und dem Ganzen wahrscheinlich aus Langerweile oder aus Wut erlegen. Seiner Meinung nach sei er ein aktiver Typ und Voluntarist, und bei denen drohe kaum die Gefahr eines Rückfalls, solange sie eine interessante Arbeit, or dentliche Gesellschaft, ein Mädchen und Kameraden haben. Ach Gott, wie gut Vasätko dies alles kannte. Das sagt sich so leicht dahin. Hantäk war im September zurückgekommen, und jetzt war März. Va sätko hatte ihn vier Jahre nicht gesehen —seit damals, da sie sich begegnet waren, also nach seiner Militärzeit. Er läutete. Er wartete ein Weilchen und läutete abermals. Und noch ein mal. D ie Tür ging auf, und Hantäk stand vor ihm. Er trug Trainingshosen und ein Hemd und sah aus wie damals vor vier Jahren, nur etwas magerer war er geworden, auch der Ausdruck seiner Augen schien ein anderer zu sein. „Grüß dich, Jarda“, sagte der Hauptmann scharf. „Erkennst du mich?“ „Wie sollte ich Sie nicht erkennen? Wollen Sie zu mir, Herr Haupt mann?“ „Für einen Augenblick, wenn du erlaubst.“ „Warum denn nicht ... aber es ist nicht gerade aufgeräumt.“ Er zögerte, Vasätko reichte ihm die Rechte, und sie schüttelten sich die Hände. Der Hauptmann trat ein. Hantäk wohnte in einer armseligen Jung gesellenbude, eigentlich war es nur ein Zimmer mit eigenem Eingang, in dem nichts weiter stand als ein zerwühltes Bett, ein Schrank und ein Tisch mit zwei Stühlen. Er besaß nicht einmal einen Fernseher, obwohl er doch gut verdienen mußte. Eine Haussuchung wäre also nicht kompliziert. Va sätko zog einen Stuhl heran, setzte sich und steckte sich eine Zigarette an. Sonderbar ... Er sah ihm an, daß er erfreut war, doch auf einmal erkannte er, was die Glocke geschlagen hatte: Hantäks Augen glänzten. Er hatte ge fixt. Möglich, daß er gerade auf dem Höhepunkt seines Trips angelangt war, aber wenn man jetzt etwas bei ihm fände, was nützte es schon ... In zwischen unterhielten sie sich über seine Arbeit. Hantäk sprach flüssig, wie von selbst, doch plötzlich warf er sich aufs Bett. „Wenn es Sie nicht stört, streck ich mich ein bißchen aus. Ich habe Kopf schmerzen und hab was eingenommen. Und wie leben Sie?“ „Es geht. Wann bist du eigentlich wiedergekommen?“ „Im September. Aber das müssen Sie doch wissen.“ „Warum muß ich das wissen?“ 17
„Ich bitte Sie. Erzählen Sie mir nicht, Sie wären hier gerade mal vorbei gekommen. Andrerseits habe ich Sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gese hen.“ „Du hattest drei, nicht?“ „Und wissen Sie auch, wofür? Aber Sie wissen es doch, oder?“ „Ja. Hantäk, Hantäk. Wenn du fünfzehn gewesen wärst. Aber in deinem Alter und bei deiner Intelligenz ... es ist eine Schande ersten Ranges.“ Hantäk lachte auf. „Sehen Sie. Keiner in meinem Leben hat es verstan den, mich so zu loben wie Sie. Hören Sie, erinnern Sie sich daran, wie Sie mich gelobt haben, genau damals, nachdem Sie mich eingelocht hatten? Sehen Sie, Sie haben mich geschnappt, aber Ihnen hab ich’s nicht übelge* nommen. Sakra, von Ihnen hab ich alles geschluckt, sogar Köder. Sie konnten mit mir machen, was Sie wollten. Erinnern Sie sich?“ „Wie sollte ich nicht.“ „He, aber an alles erinnern Sie sich bestimmt nicht“, sagte er und lebte auf. Doch Vasätko erinnerte sich wirklich an alles, sogar an seine Stimme. „He, als Sie zum erstenmal zu uns kamen, als Mama einen dahatte und ich Ihnen aufmachen kam. Ich war ganz grün vor Angst, aber fest entschlos sen, mich lieber vierteilen zu lassen, als was zu sagen. Schauen Sie mal, stecken Sie sich eine an, oder was wollen Sie ... wollen Sie Kaffee? Ja, und hier unter der Nase hatten Sie einen Kratzer, da faßten Sie immer hin. Und unser Hund kam und wetzte sich an Ihrer Hose ... Ja, hören Sie, da nach wollt ich Sie schon immer fragen. Hatten Sie zu Hause eine Hün din?“ „Ich nicht, aber der Nachbar“, brummte Vasätko. „Sie lief mir immer nach.“ „So ein Spaß, was?“ sagte Hantäk gedankenversunken. Vasätko beob achtete ihn: den Kopf mit dem blonden Haar, die schlanke Figur mit dem breiten Brustkorb und den schmalen Hüften. Er konnte sich nicht helfen, immerfort drängte sich ihm die Erinnerung an den sechzehnjährigen Jun gen auf. „Schau, Jarda, damit wir zur Sache kommen ... ich muß dich mitneh men. Raff dich auf, zieh dich an, und wir fahren los. Überrascht dich das?“ „Mein Gott, nein, bin ich etwa schwachsinnig“, sagte er ruhig. „Ich wußte doch sofort, daß Sie was wollen. Meiner schönen Augen wegen kommen Sie nicht her!“ „Hör mal ... Weißt du auch, weshalb?“ „Na ja, da gäbt’s etwas, was Sie mir anhängen wollen. Aber da müssen Sie schon klarer werden, Genosse Hauptmann. Ich weiß nämlich sehr gut, wozu ich verpflichtet bin und wozu nicht.“ „Was sollen wir uns streiten ... Na, wie du willst. Dann paß auf, Jarda: Ich brauche dein Alibi für Freitag, den fünften März.“ „Das war wann?“ „Morgen sind es vierzehn Tage.“ 18
„Lange her. Von einem Menschen zu verlangender soll sich erinnern, was vor vierzehn Tagen war.“ „Also du weißt es nicht, du erinnerst dich nicht“, sagte der Hauptmann ruhig. „Warten Sie ... jetzt fällt’s mir ein. Sie sagen, am Freitag ...“ Vasätko wartete, daß es jetzt käme. Wenn sich Hantäk für diese Zeit kein Alibi beschafft hätte, würde er glauben, er habe sich geirrt. „Ich war im Kino, und nachher waren wir hier. Mit einer ..." „Gut, ich brauche ihren vollen Namen und ihre Adresse.“ Hantäk diktierte sie ihm. „Hm ... erinnerst du dich vielleicht noch, wo von der Film handelte?“ „Irgendwelcher Blödsinn war das. So ein Knabe hat Komplexe, und dann . ..“ Hantäk erzählte ihm den Inhalt des Films. Zum Schluß nickte Vasätko. „Gut, das stimmt, den habe ich auch gesehen.“ Plötzlich lachte Hantäk auf. „Kommt Ihnen das nicht idiotisch vor? Sie können sich doch denken, daß ich auch ein andermal im Kino gewesen sein kann, und jetzt tun Sie, als sei es Gott weiß was, wenn ich Ihnen den Inhalt des blöden Films erzähle. Wozu das?“ „Das laß mal meine Sache sein, weshalb ich dich frage.“ Er duzte ihn wie in alten Zeiten. „Also, Jarda, erheb dich. Kennst du einen Frantisek Man del?“ 19
Hantäk sah ihn mit seinen blauen Augen an und zögerte nur einen Au genblick. „Ja.“ „Woher?“ „Nur so vom Sehen, aus ’m Wirtshaus.“ „Aus welchem Wirtshaus?“ „Aus d e r ,Lovina*.“ „Merkwürdig, er behauptet nämlich, daß er dich nicht kennt.“ „Natürlich kennt er meinen Namen nicht. Bloß Jarda ... wenn über haupt.“ „Gut. Zieh dich an und komm mit.“ „Weil Sie es sind und weil ich Sie so lange nicht gesehen habe“, sagte Hantäk ruhig und stand auf. „Mit einem ändern würd ich nicht mitgehen, um keinen Preis. Aber von Ihnen laß ich’s mir gefallen.“ „Es würde dir wenig helfen, wenn du es dir nicht gefallen lassen woll test.“ , Mit finsterer Miene sah Vasätko zu, wie Hantäk die Trainingshosen abstreifte und ordentliche Hosen anzog. Er nahm sogar ein sauberes Hemd und ein Sakko. Angezogen war er ein fescher Bursche, abgesehen von der bläulichen Gesichtsfarbe. Er kämmte sich das Haar und spülte den Mund, spuckte dabei ins Waschbecken. Vasätko sah ihm die ganze Zeit über zu und paßte genau auf, was er mitnahm. „Sie brauchen keine Angst zu haben, ich bin nicht bewaffnet.“ „Wo denkst du hin. Zeig mal, was du da hast.“ Vasätko nahm ihm die Tube mit dem bekannten Zeichen ab, aber es war nicht Phenazetin, son dern Benzaphenon. „Gib das her, Mensch. Geld, Schlüssel ... Personal ausweis. Hast du alles?“ „He!“ Hantäk sah ihm offen ins Gesicht. Er steht wohl noch unter dem Einfluß der Droge und wehrt sich daher überhaupt nicht, was nur bedeuten kann, daß er seinen Vorrat auswärts la gert, dachte der Hauptmann. Sonst hätte er sich verzweifelt gewehrt. „Es schaut so aus, als würde ich bald ,ans Kreuz“ kommen. Sie kennen das nicht, aber egal. Ich wollte Ihnen was sagen ... warten Sie, gleich komme ich drauf. Tja ich hab immer im guten an Sie gedacht, auch wenn Sie mich als erster gefaßt haben. Sie haben es mit mir verstanden ... Sie sagten, ich sei schlau, und alles mögliche ... und so ein Säugling, der ich damals war ... na, ich war schrecklich eingebildet! Tja, was wollte ich doch ... Vergessen Sie nicht, daß ich Sie gern hatte, aber zum drittenmal laß ich mich nicht einlochen, da bring ich mich lieber um. Nur damit das klar ist zwischen uns.“ „Wo hast du das bloß her ... bist du so ein Feigling?“ fragte der Haupt mann. „Ich bin kein Feigling, aber noch mal mach ich das nicht mit, dort ohne Stoff zu sein und auch keinen auftreiben zu können. Das sag ich Ihnen rundheraus.“ „Hantäk, sakra, das ist doch leeres Gerede.“ Idiot, nannte Vasätko im 20
Geiste den Arzt, der solch optimistische Auskunft über Hantäk gegeben hatte. Herrgott noch mal. Während er innerlich fluchte, zuckte er nicht mit der Wimper. Hantäk stand fertig vor ihm. „Damit ich’s nicht vergesse, willst du meinen Haftbefehl sehen?“ „Den können Sie sich ..." „Also, Jarda, wir werden doch nicht so miteinander reden.“ „Das, was Sie mir abgenommen haben, war das letzte. Aber wenn Sie sich hier schaffen wollen, mein Gott ... fangen Sie an. Viel Arbeit haben Sie hier ja nicht. Ich lebe wie ein Hund.“ „Na, mit der Zeit wirst du es schöner haben. Du verdienst doch ganz an ständiges Geld oder etwa nicht?“ Hantäk erwiderte nichts. Vasätko begriff, wofür das Geld draufging. Er steckte den Haftbefehl in die Tasche, trat ans Fenster, öffnete es und sah hinaus. Am Rande des Gehwegs erblickte er den Wagen mit dem weißen Streifen, seine Leuten standen daneben und warteten. Vasätko gab ihnen ein Zeichen und wandte sich dann Hantäk zu. „Wer hat dir die Sachen verkauft?“ „Wissen Sie, ich sag’s Ihnen nicht, und wenn ich krepiere.“ „Gut ... deine Sache.“ Erste Voraussetzung: Nicht seine schwache Position zeigen, und Va sätko hatte sie nicht gezeigt. Den Haussuchungsbefehl für Hantäk hatte er erwirkt, nicht, weil dieser unter Mordverdacht stand, sondern unter Ver dacht von Rauschgiftsucht und Aufbewahrung schwarz gekaufter Arznei mittel. Im Fall der Nenickovä fehlte gleichfalls der Beweis, daß es sich um eine Einnahmequelle dieser Art handelte. Einstweilen hielt er sich an eine einzige Tatsache, aus der ihm Hoffnung winkte, und er hatte Angst, diese Hoffnung könnte erlöschen. Der Taxifahrer Mandel hatte nämlich abge stritten, Hantäk zu kennen. Und der Beamte, der Mandel beschattete, hatte festgestellt, daß dieser sich am Taxistand mit einem Mann unterhal ten hatte, wie auch auf einem Foto zu sehen war. Dieser Mann war Han täk. Das war die einzige Tatsache, aber aus ihr ergab sich eine Reihe von Möglichkeiten. Es hätte eine Verabredung zwischen ihnen sein können, Hantäk hätte in jener Schicksalsnacht mit ihnen fahren können, und Nenicka hätte vergessen können, daß sie nicht allein im Taxi gewesen waren. Vasätko fragte erneut den Kellner aus und erfuhr, daß die Nenickovä das Taxi durch einen rätselhaften Zufall sofort erwischt hatte ... das Taxi stand nämlich an der Ecke der Kaprovä, hatte wohl gerade jemanden dorthin gebracht. Gerade als sie hinauslief, fuhr er vor und half ihr dabei, Neniöka aus der Tür zu bringen, bis zum Wagen ging er dann allein. Doch der Umstand, daß sie das Taxi sofort erwischt hatte, konnte auch bedeu ten, daß sie es bestellt hatte, und zwar zu einer möglichst späten Stunde, weil sie annahm, daß sie sich mit ihrem Mann dort länger aufhalten würde. Der Kellner fügte ergänzend hinzu, daß sie die Weinstube schon um dreiundzwanzig Uhr verlassen wollten, sie waren ziemlich verdrossen, hatten sich wohl gezankt, und die Neniökovä war hinausgegangen, um 21
nach einem Taxi Ausschau zu halten. Sie schien auch eins aufgetrieben zu haben, aber inzwischen hatte es sich Nenicka überlegt, und so ließen sie es wegfahren. Sie hatte also ein Taxi aufgetrieben ... und sogar zweimal hintereinan der! Das war doch nicht normal. Der „Grüne Frosch“ ist, wenn auch ziemlich bekannt, keine sehr große Weinstube, als daß es sich für Taxifah rer lohnen würde, dort herumzustreifen, um die Angetrunkenen nach Hause zu fahren. Ob sich die beiden nicht doch kannten? Dann wäre das Komplott erwiesen. Hantäk hatte im selben Augenblick, als Vasätko ihn fragte, erkannt, daß sie erwischt waren, und blitzschnell reagiert. Er mußte begriffen haben, daß es für ihn besser war, zuzugeben, daß sie sich kann ten, als es abzuleugnen. Hantäk war intelligent ... schon als er sechzehn war, hatte er ihm zu schaffen gemacht. Damals hatte Hantäk schließlich zu weinen angefangen, und er hatte ihm nicht nur alles erzählt und ihm die ändern aus der Bande genannt, sondern sich ihm auch anvertraut, mit all seinen Sorgen und Hoffnungen. Er wollte wissen, was er im Leben tun sollte, und diese Ergebenheit und völlige Abhängigkeit hatte so lange ge dauert, bis er in den Jugendwerkhof gekommen war. Noch von dort hatte er ihm geschrieben. Zum Teufel, einmal hatte er ihm nicht geantwortet — er war wohl gerade längere Zeit außerhalb gewesen - , und dann war der Kontakt abgebrochen. Falls es ihm gelang, zu beweisen, daß Hantäk mit dem Taxifahrer verabredet gewesen war, wäre das ein bedeutender Schritt ans Ziel. Überhaupt war die Frage, wer von den beiden am Steuer des Wolga gesessen hatte. Mandel hatte seine Fahrten nach dem Mord durch Zeugen bestätigen lassen, während er von halb elf bis eins angeblich nur kurze Strecken gefahren war und sich nicht mehr erinnerte, von wo und wohin. Bis auf das Ehepaar Nenicka beschrieb er seine Fahrgäste so allge mein, daß man sie nicht finden konnte ... Mein Gott, wenn sich doch we nigstens einer auf die Aufforderung hin gemeldet hätte! Wenn es sich er wies, daß in dieser Nacht Hantäk eine Zeitlang gefahren hätte, so wäre das der Beweis. Ein indirekter, aber doch ein Beweis. „Steig ein!“ Hantäk stieg ein. Vasätko setzte sich neben ihn und gab dem Fahrer das Zeichen loszufahren. Hantäk fragte nicht einmal, wohin es ginge, er lehnte sich zurück und schloß die Augen, wahrscheinlich kostete er die letzten angenehmen Augenblicke unter dem Einfluß des Narkotikums aus, des sen Tube Vasätko in der Tasche hatte. Die eigenartige Redewendung „ans Kreuz kommen“ fiel ihm ein, vielleicht wurde das irgendwo so gesagt. Bis her hatte er sie noch nie gehört. Sie parkten in der Bartolomejskä. Vasätko stieg als erster aus, dann Hantäk. Der Hauptmann schritt direkt zum Portier und telefonierte. Man sagte ihm, daß Mandel oben bereit sei und schon eine Stunde warte. Ver ständigt konnten sich die beiden schwerlich haben, und das Foto hatte man Mandel noch nicht g ezeig t... Hantäks Erklärung über Mandel hatte den Ausschlag gegeben. Eine Konfrontation in Hantäks oder Mandels 22
Wohnung wäre besser gewesen ... Vasätko hatte nachgedacht, wie man das ohne Vorbereitung hätte bewerkstelligen können, aber dann hätte man ohne Tonband auskommen müssen. Die Konfrontation jedoch konnte al les entscheiden, sie mußte auf Band festgehalten werden. Hantäk hatte sich offenbar innerhalb einer Sekunde entschlossen, und Mandel wußte nichts davon. Aber man durfte sie nicht alleinlassen, damit jede Abspra che ausgeschlossen war. Wortlos stieg Hantäk in den Lift. Sie fuhren schweigend ... Sakra, was gab’s denn auch zu reden. Vasätko machte die Tür auf, Hantäk stieg aus, und beide schritten den Flur entlang zu dem Zimmer, in dem das Ton band bereitstand. Vasätko öffnete die Tür, sein Herz pochte heftig. „So, bitte, Hantäk!“ Frantisek Mandel, der Mann mit dem runden Schädel, saß auf dem Be sucherstuhl, er sah sehr ängstlich und sehr ehrenhaft aus, sehr ehrenhaft selbst jetzt noch. Er hatte Zeitung gelesen und wandte ihnen nunmehr den Kopf zu. „Du Trottel“, ließ sich Hantäk vernehmen. Die Spannung ließ nach. „Sakra, Genossen, Sie hätten mir sagen sollen, daß es der hier ist“, er klärte Mandel. „Ich wußte ja nicht, um wen es sich handelt.“ „Wie soll er wissen, wie ich heiße, wenn er blöde ist und ich’s ihm wohl nicht gesagt habe.“ 23
„Hast’s mir auch nicht gesagt“, erklärte der Taxifahrer mit einem breiten Lächeln. „Ich hab ihn zweimal im Leben gesehn und jedesmal besoffen. Sie kön nen in der ,Lovena‘ fragen, wen Sie wollen.“ „Aber der Jarda, der trinkt überhaupt nicht“, sagte Mandel mit sichtli cher Erleichterung, daß die Wahrheit herausgekommen war. „Er kann nicht, wegen der Galle. Genosse, ich wußte nicht, nach wem Sie fragen, meiner Seel, ich wußte es nicht. Wie soll ich mich erinnern, wer der Jarda ist. Den hier kenn ich.“ „Also, Hantäk, sei so freundlich und geh weiter, der Beamte zeigt dir, wohin. Wir müssen uns mit Herrn Mandel noch ein wenig unterhalten.“ Vasätko war äußerst gereizt, weil es nicht geklappt hatte. Er war sicher, daß beide Komödie spielten. „Schauen Sie, Herr Mandel, möglich, daß Sie sich nicht der Tragweite der ganzen Sache bewußt sind, aber es ist ernst. Machen Sie sich klar, daß es um einen Mord geht, dessen auch Sie be schuldigt werden können, sobald wir Ihnen beweisen, daß Sie gelogen ha ben.“ * „Das ist mir klar, Genosse Hauptmann, aber wie ich schon beschworen hab, ich hab diese Leute nicht gekannt, hab sie nie im Leben gesehen“, sagte Mandel mit bebender Stimme, aber fest. „Und ich hab auch niemanden getötet, ich hab doch bloß diese Leute nach Hause gefahren.“ „Hantäk war nicht dabei?“ „Nein. Warum sollte er?“ „Sie haben nichts zu fragen, ich frage hier. Haben Sie den Wagen gefah ren?“ „Ich, wer sonst.“ „Bedenken Sie folgendes, Herr Mandel!“ Vasätko schilderte ihm kurz das Risiko. „Das weiß ich alles.“ „Dann erzählen Sie mir alles, was Sie über Hantäk wissen.“ „Warum sollt ich’s nicht. Ich weiß also, daß er Schlosser ist und daß er gesessen hat.“ Nach einem kurzen Gespräch wurde Mandel entlassen, und Hantäk kam an die Reihe. Er sprach schon weniger, reagierte aber immer noch auf die Fragen und überlegte nicht lange. Doch der freundschaftliche Ton, in dem die beiden anfangs miteinander gesprochen hatten, war da hin. Vasätko begann es sogar zu stören, daß er Hantäk duzte, doch es war ihm peinlich, dies plötzlich zu ändern. Sie entließen auch Hantäk, denn in der Anstalt von Bohnice hätte er -auch keinen Nutzen gebracht. „Es sind zwei“, sagte Vasätko abends zu Hauptmann Chlädek. „Wir ha ben die Sache in der Tasche. Wir konzentrieren uns fürs erste vor allem auf Mandel, den Taxifahrer. Sobald ich dahinterkomme, was die beiden 24
miteinander hatten, ist der Fall erledigt. Es genügt schon, zu ermitteln, daß er ihm überhaupt einmal das Taxi geborgt hat. Sobald wir über Man del die geringste Kleinigkeit wissen, klappt er zusammen, das spür ich. Er hat zuviel, woran ihm liegt. Sein Junge geht zur Fachschule, ein sechsjäh riges Mädel ist da, die Frau arbeitet n ic h t... offenbar hängt er sehr an der Familie. Und Hantäk zieht die Schlinge selbst zu, sobald er ,ans Kreuz kommt1.“ Chlädek gratulierte ihm mit ernster Stimme, aber Vasätko hörte gar nicht hin. Wieder wurde ihm diese seltsame Redewendung bewußt, die er unwillkürlich benutzt hatte. Er stutzte. „Glaubst du, daß er sich selbst verrät?“ „Er verläßt sich darauf, daß wir nichts über ihn haben bis auf die Klei nigkeit, daß ich weiß, daß er drogensüchtig ist. Er weiß, daß wir nichts ge funden haben, bis auf die eine Packung, und das bedeutet nichts. Er hat den Stoff woanders, und ich kriege sehr schnell heraus, wo. Wenn er am Ende ist, ändert sich die Situation. Entweder hat er noch eine Quelle, oder er wird es irgendwo auf gut Glück probieren, aber für mich kann dabei ir gendein Hinweis auf die Nenickovä herausspringen. Das ist es, was ich brauche. Neniöka ist ein Trottel. Entweder wußte er nichts, oder er wollte nichts wissen. Aber wahrscheinlich wußte er wirklich nichts.“ „Und wenn du es über Havelka versuchst?“ „Das ist völlig überflüssig.“ „Wie wär’s, wenn wir den Hantäk festsetzen und ihn ein paar Wochen dursten lassen? Vielleicht würde er dann reden.“ Vasätko runzelte die Stirn. Daran hatte er auch schon gedacht, aber ir gend etwas in ihm wehrte sich dagegen, vor allem sein Wissen um den menschlichen Charakter. Bei Hantäk war er sich nicht hundertprozentig sicher, wie es ausgehen würde. Bei neunzig Prozent der Drogensüchtigen hätte er diese Methode angewandt. „Ich weiß schon“, murmelte er. „Aber das reicht hier nicht. Ich muß beweisen, daß er dort war oder, zumindest, daß er mit ihr in Berührung gekommen ist. Dann würde es schon gehen ... mit einem indirekten Beweis.“ „Du bist trotzdem ein Prachtkerl, Junge“, sagte Chlädek. „Nie hätte ich gedacht, daß deine Typologie Erfolg haben könnte. Hast du ihn wirklich aus den paar Typen nach dem Charakter gesucht?“ „Mehr wohl nach dem Bereich.“ „Also nicht nach dem Typ?“ fragte Hauptmann Chlädek. „Nur bis zu einem gewissen Grad. Ich hatte recht in der Annahme, daß er vorbestraft war. Hantäk hat seinen ersten Diebstahl schon mit sechzehn begangen.“ „Und was steckt dahinter, daß er die Fischchen nicht ins Klosett gekippt hat? Ich dachte, das spielte dabei eine Rolle, oder?“ „Nein“, antwortete Vasätko und fügte gereizt hinzu: „Was ich sonst noch hatte, reichte vollauf. Nie wäre ich daraufgekommen, wenn die Nenickovä nicht ihr volles Gehalt gespart hätte.“ 25
„Also hat er gar keine Beziehung zu Aquarien?“ fragte Chlädek noch einmal. Vasätko verneinte es. Er hätte einfach keine Lust, von dieser Erinne rung zu erzählen, die sich an den sechzehnjährigen Jungen knüpfte. Man hat eben auch nur ein Nervenkostüm. Er spürte, daß die letzte Etappe angebrochen war. Er hatte Hantäk und Mandel Kriminalbeamte an die Hacken geheftet, sie bewachten jede ihrer Bewegungen, auch nachts. Es wurde festgestellt, daß die beiden nicht mit einander verkehrten. Von Mandel erfuhr Vasätko eine bloße Kleinigkeit, nämlich, daß er mit einer jungen Frau bekannt war, die auf der Letnä wohnte und deren Mann, Einkäufer einer Genossenschaft, öfter auf Tour war. Mit Hantäk war gar nichts. Er ging zur Arbeit, zum Abendessen, ins Kino und nach Hause, und aus alldem war ersichtlich, daß er sich noch nicht „am Kreuz“ befand. Gespräche mit seinen Kollegen führten zu nichts, und außerhalb der Arbeit verkehrte er nur mit einem jungen Mäd chen, das in der Werkzeugmacherei seines Betriebes beschäftigt war und sein Alibi bestätigte. Vasätko unterhielt sich persönlich mit ihr, und er ge wann den Eindruck, daß es ein nettes Mädchen war und für das häusliche Milieu, aus dem sie kam, außergewöhnlich anständig und daß sie Hantäk aufrichtig gern hatte. Ihm war klar, daß sie so aussagte, wie er sie in struiert hatte, daß sie aber das Alibi zurückziehen würde, sobald man sie davon überzeugen könnte, daß Hantäk jemanden getötet hatte. Einstwei len glaubte sie nicht daran, setzte sich naiv für ihn ein und beharrte auf ih rer Aussage. Dies war aber kein unüberwindliches Hindernis. Im übrigen stellte Vasätko noch fest, daß sie in vierzehn Tagen nur ganze zweimal mit Hantäk. zusammen gewesen war, was bewies, daß Hantäk seine Liebste vernachlässigte. Er vernachlässigte auch seine Kameraden, sofern diese überhaupt jemals bei ihm gewesen waren. Seine Kollegen sagten, daß er meschugge sei und nicht trinke. Im übrigen hatten sie nichts gegen ihn. Aber „am Kreuz“ war er nicht —von irgendwoher bekam er Nachschub, und bislang war es nicht gelungen, die Quelle ausfindig zu machen. Der Beamte, der ihm ins Kino folgte, meldete, daß Hantäk sich dort mit nie mandem unterhielt, sich mit niemandem traf. Offenbar handelte es sich um jemanden aus seinem Betrieb, und dies ließ sich nur unter Schwierig keiten feststellen. Hantäk hielt sich eisern ... er war sogar imstande zu ar beiten, im Gegensatz zu früher bummelte er nicht. Vasätko hatte schon im vorhinein den Betriebsarzt, die Schwester, den Meister und den Werkstatt leiter informiert, und er war überzeugt, daß Hantäk von einem Dutzend Augen beobachtet wurde, der Vorsitzende der BGL hatte ihm sogar ver sprochen, Hantäk unter Aufsicht zu stellen. Von dem Mordverdacht hatte Vasätko nichts verlauten lassen, nur die Drogensucht und die unbekannte Nachschubquelle waren zur Sprache gekommen. Einmal ging er selber in den Betrieb, um Hantäk bei der Arbeit zu beobachten. Hantäk stand, schmutzig und verschwitzt wie alle, an der Maschine, und in seinem Ar beitsanzug sah er irgendwie noch normaler aus als sonst. Er wirkte wie ir 26
gendein x-beliebiger Mensch. Sie begrüßten sich sehr gezwungen, und Va sätko gewahrte einen matten Ausdruck in Hantäks Augen, möglich, daß es ihm jetzt schon elend ging. Er blieb auf ein paar Worte bei ihm stehen, nur des Meisters wegen, der hinzutrat und vor Vasätko mit ihm witzelte. Hantäk reagierte nicht, er sah nur Vasätko an, auf eine Art, als wollte er ihn an etwas erinnern. Sein Blick war weder feindlich noch freundlich ... schwer zu sagen, wie er eigentlich war. Vasätko ging wieder und bedauerte, daß er hergekommen war, es hatte überhaupt keinen Sinn gehabt. Seltsam, daß ihm Nenicka zur gleichen Zeit immer mehr zuwider wurde, obwohl er alle Schritte für dessen Entlassung einleitete. Einstwei len fing er an, sich zu beschweren, statt sich zu bedanken ... Menschlich war das durchaus begreiflich, aber diesem Kerl war völlig entgangen, wie der Hase lief. Von seiner Frau sprach er immerzu mit unerträglicher Senti mentalität; er weinte, wenn Vasätko darauf drang, er solle gestehen, daß sie mit Arzneimitteln Schwarzhandel getrieben hatte, und wenn er wissen wollte, was mit ihr und Havelka gewesen war. Statt vernünftig zu reden, füllte er liniertes Briefpapier mit Gefühlsergüssen und ödete Vasätko mit bedeutungslosen Erinnerungen an. Sonderbar, daß ihm dieser Mann, den er doch gerettet hatte, bis zum Halse stand. Dr. Posusta sagte er natürlich nicht, worum es eigentlich ging, aber Posusta erriet es und vergaß nicht, ihm zu versichern, er habe von Anfang an gewußt, daß man einen Irrtum beging, obschon Vasätko ziemlich sicher war, daß er anfänglich an Nenickas Schuld geglaubt hatte, sonst hätte er ihn wohl nicht zum Psychiater ge schickt. Plötzlich waren alle sehr schlau. Vasätko dachte voller Bitternis, daß er ohne seine Erfahrung mit dem Aberglauben der Kriminellen und ohne seine Praxis mit Jugendlichen nicht auf Hantäk gestoßen wäre oder erst viel später und unter größeren Schwierigkeiten. Oder vielleicht über haupt niemals ... Und dann, am Dienstag, dem sechsten April, brach alles an einem einzi gen Tag zusammen. Am Montag hatte Vasätko, einer plötzlichen Einge bung folgend, die Frau jenes Einkäufers vorführen lassen, mit der er schon einmal gesprochen hatte, doch diesmal schickte er ohne Ankündi gung nach ihr, einfach so, damit Mandel nicht vergaß, daß seine Liaison bekannt war. Von ihr erfuhr er nichts Besonderes, aber die Dame erschrak außerordentlich. Ihre Furcht erschien Vasätko im Verhältnis zu ihrer Be teiligung irgendwie unangemessen, er stellte ihr ein paar Fragen, an denen ihm nicht viel lag, und entließ sie. Gleich Dienstag früh erschien dann Mandel bei ihm. Es kam zu dem, worauf Vasätko gewartet hatte: zu einem vollen Geständnis. Mandel kam blaß, aber entschlossen. Er sagte, daß er es nicht länger er tragen könne und seine Familie nicht länger bedrohen wolle. Aber gleich bei den ersten Worten schwor er, er habe nicht geglaubt, daß Hantäk die Nenickovä getötet hätte. „Er kam zu Ladä vors Haus, um mich zu holen, wie wir’s verabredet hatten ... Wirklich, ich habe mich gewundert, daß er so wenig Fahrten gemacht hatte. Er sagte kein Wörtchen. Ich wußte 27
nichts. Wir machten das manchmal so, aus alter Kameradschaft und auch weil ich nur während des Dienstes zu Ladä gehen konnte, ich wollte mei ner Frau nicht weh tun. Also fuhr ich weiter bis in die Früh und ging mich dann ausschlafen. Mittags rief mich Jarda an und sagte: ,He, gestern hab ich Leute vom >Grünen Frosch< nach Hause gefahren, und jetzt sagt mir grad einer, daß da ein Malheur passiert ist —jemand hat die Frau ermor det, nur damit du weißt, wann du sie gefahren hast, ich habe das und das gemacht, den Besoffenen bis zur Tür gebracht.4 Und er hat mir also alles deutlich beschrieben, so daß ich es geglaubt hab. Ich dachte, es ist kein so großes Verbrechen, wenn Hantäk für mich fährt. Ich könnt es mir nicht anders einrichten, und Hantäk fuhr gut, hat’s beim Militär gelernt und den Militärführerschein bekommen. Deshalb ließ ich ihn ab und zu etwas verdienen ... das war immer schwarz. Aber ich schwör Ihnen bei meinen Kindern, daß ich nicht auf den Gedanken gekommen bin, er hätte die Frau umgebracht. Ich wußte nicht mal, daß er sie kannte ...“ Ihm versagte die Stimme, und er hob zwei Finger. „Und wann sind Sie auf den Gedanken gekommen?“ „Das weiß ich nicht mal ... Wenn Sie mich in der Nacht wecken, würde ich Ihnen vielleicht sagen, daß ich immer noch nicht daran glaube. Aber was soll ich tun? Jetzt steckt auch Ladä und meine ganze Familie drin. Ich hatte Angst, daß es platzt, auch wenn’s meiner Meinung nach kein so gro ßes Vergehen war. Ich hab’s nicht so oft gemacht ...“ „Wußte es jemand?“ „Bloß ein Kollege, und dem war’s egal. Dem hab ich’s erklärt ... ist schon ’ne Weile her.“ „Hat Ihnen Hantäk die Instruktion gegeben, Sie sollten leugnen, daß Sie sich kennen?“ „Ich hab ihm gesagt; Du, von heute ab kennen wir uns nicht, und ich will dich nicht mehr sehen, komm noch deinetwegen ins Unglück“, und er drauf: ,Gut ...“‘ „Wußten Sie, daß er süchtig ist?“ „Das nicht ... ich dachte bloß, daß er hin und wieder ’nen Rappel hat. Das wußt ich nicht.“ „Und jetzt aufgepaßt“, sagte der Hauptmann. „Was hatte Hantäk gegen Sie in der Hand, daß Sie ihm so entgegenkamen?“ „Was soll er gehabt haben ...? Nichts.“ Vasätko genügte sein Zögern. In dieser Sekunde hatte Mandel augen scheinlich erkannt, daß Hantäk ihn nicht verraten hatte, und dementspre chend geantwortet. Doch daran lag Vasätko nichts ... er hatte jetzt den, den er wollte. „Sieh an, heute ist Hantäk nicht zur Arbeit gegangen“, konstatierte er zehn Minuten später, als er den Hörer auflegte. Er hatte soeben mit Leut nant Knajdl gesprochen, der eine Meldung von dem Beamten hatte, der bei Hantäks Wohnung Wache hielt. In seinem Büro saß Major Mikovec, der gekommen war, um ihm zu gratulieren. 28
„W en schickst du, um ihn zu holen?“ „Ich gehe selbst.“ „Aber nimm jem anden m it.“ „Ein eigenartiger Zufall. G erade heute wollte ich die Q uartiere der weib lichen G eister eines bestim m ten Kinos durchsuchen lassen“, sagte Va sätko. „H antäk soll mit ihnen sprechen oder auch mit einem Jungen, der in jede Vorstellung geht. D ort kennen sie H antäk, eine gibt ihm Gebäck, entw eder die Billettverkäuferin oder eine andere, das weiß ich jetzt nicht genau.“ „Selbstverständlich, ohne Debatte. Setz es auf, ich nehme es au f meine Kappe. Willst du es gleich?“ „Es genügt nachher.“ Vasätko stand auf. Ursprünglich hatte er ganz allein gehen wollen, doch dann änderte er seinen Entschluß u nd suchte zwei seiner Leute aus, Cejka und M inarik. Als er im W agen saß, kam ihm der G edanke, daß es viel leicht besser wäre, wenn sie warteten, bis H antäk aus seiner W ohnung käme, aber er hatte keine Lust, noch einmal einen Entschluß zu ändern. Es w ar auch die Frage, ob sich H antäk bereits elend fühlte oder noch nicht. N ach einer Weile, die Vasätko sehr kurz vorkam, hielten sie vor dem H aus in der Hiaväckova ulice. Ein Beamter trat zu Vasätko heran und m eldete, daß H antäk seit dem M orgen das H aus nicht verlassen hat. Vasätko w ußte bereits, daß H antäk am Sonntag im Kino „Blanik“ gewe sen war. D en Abend hatte er mit seinem M ädchen verbracht. Sie hatten sich an der Ecke getrennt, und H antäk w ar dann nach Hause gegangen. G estern w ar er zur Arbeit gewesen, abends hatte er wie immer das Kino hier in Kosire besucht, w ar nach H ause gegangen, und von diesem Zeit punkt an hatte er seine W ohnung nicht m ehr verlassen. Es sah so aus, als ahnte er, daß M andel ausgepackt hatte. Verdammt, er konnte es doch gar nicht wissen. „K ann ich mitgehen, G enosse H auptm ann?“ sagte M inafik bittend. Vasätko schüttelte den Kopf. In zwei M inuten w ar d er H auptm ann oben und läutete. N ach dem zwei ten längeren Läuten ließ sich H antäk vernehm en. „Ich weiß, daß Sie es sind ... sind Sie es?“ „M ach auf, Jarda, es hat keinen Zweck.“ Aberm als w ar ihm der Vorname über die Lippen gekommen, und dabei hatte er geglaubt, daß er ihn nie w ieder sagen würde. „Schicken Sie einen ändern“, hörte er H antäks Stimme. „Ich habe Ih nen gesagt, daß ich mit Ihnen nicht m itgehe.“ „M it einem ändern w ürdest du?“ „E rinnern Sie sich, was ich gesagt hab ... ich laß mich nicht m ehr ein sperren. Ich bin bew affnet, und ich werde mich wehren.“ U nd in einem frem den T on fügte er hinzu: „Lassen Sie mich in Ruhe.“ „M ach keinen Blödsinn, M ensch. H ör mal zu ... D as gibt m aximal zehn, vielleicht auch weniger; wenn es auf verm inderte Zurechnungsfähigkeit 29
hinausläuft, acht, und m an läßt dich nach sechs Jahren frei. W enn du die K anone ziehst, rechnet m an dir noch fü n f drau f oder mehr. Vielleicht wird sogar der Strick draus, falls du triffst. Also überleg mal. Bist doch ein in telligenter Bursche!“ „D as haben Sie m ir schon mal gesagt.“ „Die Nenickovä hat dich betrogen, oder wie war das?“ „Ja ... ich sollte eine größere M enge au f einmal von ihr bekom m en, d a mit ich für längere Zeit Ruhe hätte. Sie wissen ja nicht, was das b e d e u te t... H undert O riginalpackungen für zehntausend, das ist geschenkt ... Sie wollte mir das Zeug zu H ause geben, und ich hab dort von zehn an gewar tet ... ich bin ein p aar R unden gefahren, hab auch jem anden weggebracht und bin dann w ieder zurückgekom m en.“ „H attet ihr es so ausgem acht?“ „Ja, das hatten wir.“ „W oher hast du das G eld genom m en?“ „U nd dann hat sie den Preis erhöht ... ich war ziemlich am Kreuz und wollte au f alles eingehen. Aber sie hat mich so ausgenom m en, daß sie mir n u r vierzig Packungen für den ganzen Kies gab, und ich nahm das Zeug, und au f einmal ... ich weiß gar nicht mehr, wie das kam. Tja, was wollt ich gleich ... Franta hab ich reingerissen. Er weiß von nichts.“ „Wir wissen es schon von ihm. Also, Jarda, dam it wir nicht lange reden. M ach auf, oder ich schlage die Tür ein!“ 30
Schweigen, aber Vasätko w ußte, daß H antäk im Flur stehengeblieben war. Vasätko faßte einen Entschluß. Möglich, daß es besser gewesen wäre, ihn drinnen auszuräuchern. In W irklichkeit ging es ihm nicht so sehr um seine Person, sondern darum , ihn lebend zu bekom men. Im Treppenhaus w urden Schritte laut. M inafik stellte sich trotz seines Befehls ein. U nd hin ter ihm Cejka, jetzt standen beide da. „Ich dachte mir, daß es vielleicht Schwierigkeiten geben w ürde“, sagte M inarik. „Ist er drinnen?“ „Ja, a b e r ...“ „D ann brechen wir die Tür auf.“ „M om ent, das mache ich selber ... Achtung, Jungs, er hat eine W affe!“ Im G eiste erwog Vasätko eine zweite M öglichkeit, aber dann stellte er sich die Feuerw ehrleiter vor u n d die M enschenm enge au f der Straße und kam zu einem Entschluß. Er rief noch einm al durch die Tür, daß H antäk sich ergeben solle, doch irgendwie spürte er, daß H antäk nicht m ehr in dem kleinen Flur war, sondern im Zimmer. „Also A chtung!“ Cejka nahm Anlauf, so weit es ging, u nd trat die Tür mit einem starken Fußtritt ein, Vasätko zog die Pistole, entsicherte sie und hielt M inarik mit der Linken zurück. E r ging als erster mit der Pistole in der H and hinein. H antäk w ar nicht im Flur, auch nicht in der Zim m ertür, sie stand sperran gelweit offen, und vom F lur aus w ar er nirgends zu sehen. Vasätko wieder holte sein „A chtung!“ u nd tra t an die W and neben der Tür, um besser se hen zu können. Als er sich duckte, gewahrte er H antäk mit dem Revolver in der H and u nd den A usdruck seiner Augen. „He, w irf das weg!“ donnerte er ihn an, gleichzeitig durchfuhr unterhalb der Schulter etwas H eißes seine Brust, er sah n u r noch, daß sich H antäk den Revolver in den M und steckte, dann verdeckten ihm Cejka und M ina rik den Blick. M inarik tra t gleich zu Vasätko und h alf ihm aufstehen, denn er w ar unterdessen a u f die Knie gesunken, u nd ihm war überhaupt nicht bew ußt geworden, daß er etwas abbekom m en hatte. D ann trat auch C ejka von H antäk zurück, der d ort lag, und antw ortete au f Vasatkos Frage: „D er h at genug.“ H antäk hatte sich in den M und ge schossen, so daß das Projektil die Schädelbasis durchdrungen und sein G ehirn zerfetzt hatte. R auch w ar im Raum, das Fenster geschlossen, und au f den T reppen hörte m an Schritte. „Verdam m ter M ist!“ schrie Vasätko w ütend, so daß es im ganzen T reppenhaus zu hören war. Er w iederholte den Fluch, dann brach seine Stimme. Die Beam ten sagten, daß es danach mit Vasätko nicht zum Aushalten ge wesen war; er ließ sich nicht anfassen, ging allein zum W agen und schnauzte jed en an. Im W agen begann er stark zu bluten, dann wurde er ohnm ächtig, vorher gab er wirres Zeug von sich, doch man konnte nicht recht verstehen, was er eigentlich erzählte. Die H aussuchungen w urden a u f Vasätkos Befehl vorgenommen, selbst 31
verständlich ohne ihn. Auch in diesem Punkt hatte Vasätko recht behal ten. Es stellte sich heraus, daß Hantäk mit einer achtundfünfzigjährigen geschiedenen Frau zusammen gelebt hatte, die nur zeitweilig arbeitete, un wahrscheinlich mager, klein und grau war und staunende Augen wie eine Mondsüchtige machte. Dennoch war sie angeblich bei allen beliebt. Ma jor Mikovec ging persönlich hin, um sie sich anzusehen. In ihrer Woh nung fand man nur d ie. allemotwendigsten Möbel und schwärzliche Flecke an den Wänden, wo früher Bilder gehangen hatten. Außerdem fand man den Rest der hundert Originalpackungen, viel war nicht mehr übrig, nur noch sechs Stück wurden gefunden. Neuntausend Kronen la gen zwischen Papieren in einer unverschlossenen Schublade. Die Frau sagte aus, Hantäk habe von ihr Geld bekommen, das sie durch den Ver kauf ihres letzten wertvollen Gemäldes erworben hätte. Für das Geld, das sie ihm für jenen nächtlichen Einkauf gegeben hatte, brachte er ihr hun dert Tuben zweierlei Sorten, sagte ihr aber nichts von dem Mord. Sie wollte mit ihm teilen, er nahm aber nur zehn Stück an sich, sagte, sie müß ten sparen, und wollte, daß sie einstweilen alles bei sich aufhob. Ein paar Tage darauf brachte er ihr auch den Revolver und Patronen, deren Her kunft sie nicht kannte. Über den Revolver sagte er ihr, der würde sich nach einiger Zeit auch verkaufen lassen. Dann bat er sie, ihm im Kino im mer zwei Tuben in die Hand zu drücken - er befürchtete, wieder ins Krankenhaus zu müssen. Am Freitag flüsterte er ihr zu, er bitte einen Käufer für die Pistole, und deshalb schickte sie ihm beides in einer Tasche durch Frantisek, den Enkel der Garderobenfrau, der es ihm in der Toilette zusteckte. Hantäk und sie hätten sich sehr lieb gehabt, manchmal hätten sie gemeinsam gefixt und sich dabei ihre Erlebnisse erzählt. Von einem Verbrechen wüßte sie nichts. Mit den Drogen hätte Hantäk ihretwegen neu angefangen. Zuvor hätte er ihr gesagt, er wäre schon davon abgekom men, und er hätte sich auch mit ihr darüber unterhalten, ob er heiraten sollte. Dem Hauptmann entfernte man das Projektil, das in die Lungenspitze eingedrungen war, und man gab ihm präventiv Antibiotikaspritzen. Trotz dem bekam er Fieber und war über Besuche nicht begeistert. Auf eigenes Ersuchen kehrte er sechs Wochen später in den Dienst zu rück, und auf alle Äußerungen der Anerkennung reagierte er so wütend, daß seine Mitarbeiter schnell damit aufhörten.
Geboren 1887 im W ilden W esten. Begraben 1920 an der roten M auer des Kreml. Dazwischen ein 33jähriges turbulentes Leben. Studium in Harvard. Revolutionsreporter in Mexiko. Amerikas Starjournalist. Berichterstatter auf den blutigen Schlachtfeldern des ersten W eltkrieges. Augenzeuge des Roten Oktober in Rußland. M itbegründer der Kommunistischen Partei der USA. Persönlicher Freund Lenins. Das w ar John Reed.
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lit
welche Spuren der Rote Reporter auf seinem „Indianerpfad" zu einer besseren W e lt hinterlassen hat. 24 Reisebriefe fügen sich zu einer informationsreichen Biografie und geben zugleich Re chenschaft über das, was seit John Reeds frühem Tod bei der revolutionären Veränderung dieser W e lt erreicht wurde. 2. Auflage ■ M it Fotos und Abbildungen • 384 Seiten Ganzleinen 15,80 M
Verlag Neues Leben Berlin
„Sein erster Blick in der großen Stadt Bremen galt den Auslagen der Buchhändler, sein zw eiter gehetzten A m e rika-Auswanderern und ihrer spärlichen Habe. Sein erster Lohn verschwand in den Kassen des Bremer Ratskellers und in zweifelhaften Etablissements. Er wohnte beim Pfar rer des Ortes und führte das Überseehandelsbureau eines Kaufmanns, schrieb Gedichte und scharfzüngige Pam phlete. Er erlebte eine Cholera-Epidemie und diente als Einjährig-Freiwilliger. Gelegentlich seiner Reise nach Eng land w ollte der junge Millionenerbe, der als Gasthörer an der Berliner Universität Furore gem acht hatte, einen ge wissen sagenumwobenen Dr. Marx besuchen." Junge W elt, Berlin
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Verlag Neues Leben Berlin
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