Alexandra Raife
Ein Gefühl von Geborgenheit
Roman
Aus dem Englischen von Ursula Walther BASTEI LUBBE BASTEI LÜBBE T...
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Alexandra Raife
Ein Gefühl von Geborgenheit
Roman
Aus dem Englischen von Ursula Walther BASTEI LUBBE BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14978 1. Auflage: Oktober 2003 Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe Deutsche Erstveröffentlichung Titel der englischen Originalausgabe: Return to Drumveyn © 2002 by Alexandra Raife © für die deutschsprachige Ausgabe 2003 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Titelillustration: Look/Ingolf Pompe Einbandgestaltung: Tanja 0stlyngen Satz: Heinrich Fanslau, EDV & Kommunikation, Düsseldorf Druck und Verarbeitung: AIT Trondheim, Norwegen Printed in Norway ISBN 3-404-14978-5 Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
1. Kapitel Die Rückkehr nach Drumveyn sollte ganz anders sein, dachte Cristi, als sie Muirend hinter sich ließ und, erleichtert aufatmend, in Richtung Berge fuhr. Sie war noch immer erschüttert von dem Inhalt des Briefes. Erschien ihr der Glen heute schöner denn je, weil die Neuigkeiten, die ihre ganze Zukunft so ungewiss machten, sie derart erschreckt hatten ? Sei nicht albern, ermahnte sie sich und strengte sich an, ihre Aufmerksamkeit auf das Normale zu konzentrieren, um die Furcht zu zerstreuen, die sie im Griff hielt, seit sie diesen Brief gelesen hatte. Der Glen zeigte sich heute wahrscheinlich nur von seiner schönsten Seite, weil der Winter so mild und der April sonnig gewesen war und es nur geregnet hatte, wenn die Natur dringend Wasser benötigt hatte. Aber der entsetzliche Gedanke, dass dies alles für sie verloren sein könnte, ließ sie die Schönheiten des Frühsommers - die Erhabenheit der Blutbuchen, das Weiß der Vogelbeerblüten, das Gelb des Besenginsters und des Goldregens, die Clematis, die die Veranden zierten, und die Rhododendren, die wie Mauern aus Blüten die Straße säumten - nur noch deutlicher sehen. Das klare Licht, die scharf umrissenen Schatten und die satten, frischen Grünschattierungen - das alles war fast zu viel, um es mit Blicken zu erfassen. Gestern, in den ersten Schrecksekunden war es ihr bedeutend und grausam erschienen, dass der hart verdiente Spaß am Ende des Semesters, die Partys und die Begeisterung über die bestandenen Prüfungen vorbei sein sollten und sich ihre Pläne für den Sommer in nichts auflösten. Jetzt hatte sie das Gefühl, dass diese Dinge wie auch die aufregenden Möglichkeiten für den Herbst, die sie mit Archie und Pauly hatte besprechen wollen, bereits zu einer entfernten, unwirklichen Welt gehörten. Die altbekannte Beklommenheit kehrte zur ück. Zweifel und Unsicherheiten, von denen sie von Zeit zu Zeit in ihrer Kindheit
und Jugendzeit geplagt worden war - die jedoch stets von der einen oder anderen auf seltsame Weise verbundenen Gruppe, die sie als ihre Familie betrachtete, zerstreut wurden -, erhoben sich mit neuer, erschreckender Macht. Ihre Familie ? Nicht ein Einziger von diesen Menschen in Drumveyn war auch nur im Entferntesten mit ihr verwandt. Vielleicht zählte jetzt, da Cristi längst über einundzwanzig war, nicht einmal mehr, dass Archies Schwester Lisa sie adoptiert hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Daran hatte Cristi bisher noch nie gedacht. Ihre wirkliche Familie bestand aus diesen Fremden in Brasilien - Fremde, die jahrelang feindselig und unnahbar geschwiegen und sie vollkommen zur ückgewiesen hatten. Die Familie ihrer Mutter, die ihr jetzt durch ihre Anwälte diese unglaubliche Entwicklung mitgeteilt hatte. »Ich denke immer noch, dass wir ihr den Brief nicht hätten nachschicken sollen«, sagte Pauly besorgt, sah zum hundertsten Mal auf die Küchenuhr und spitzte die Ohren, weil sie auf ein Motorengeräusch im Hof wartete. »Wir hätten ihn hier aufbewahren und sie das Ende des Semesters feiern lassen sollen. Das hätte bestimmt nicht viel Unterschied gemacht.« Archie kramte in einem Stapel Post, den der Postbote auf den Küchentisch gelegt hatte - das meiste davon war überflüssig, aber im Moment beschäftigte er sich mit dem dornigen Thema der Gesetzgebung für das Recht, Herden über die Weiden zu treiben. Paulys Unruhe, die so untypisch für sie war, lenkte ihn von den komplizierten Vorschriften ab, die den Hirten wahrscheinlich weniger Freiheiten einräumen würden als früher, und er sah mit einem Stirnrunzeln auf. Er warf die eng beschriebenen Seiten auf den Tisch, ging zu Pauly und legte den Arm um sie. »Pauly, komm schon. Es wäre nicht richtig gewesen, den Brief zurückzuhalten. Es hätte alles Mögliche drinstehen können. Und Cristi ist kein Kind mehr. Wir haben kein Recht, für sie derartige Entscheidungen zu treffen, und das weißt du auch.«
»Dann hätte ich den Brief nehmen und damit zu ihr fahren müssen, damit sie nicht allein ist, wenn sie ihn öffnet. Er musste ja nach all den Jahren des Schweigens schlechte Nachrichten enthalten.« Archie drückte sie an sich und verbarg ein müdes Lächeln. Nicht jeder würde die Botschaft als schlechte Nachricht ansehen. »Du wärst gefahren, wenn du gekonnt hättest«, erwiderte er. »Und ich übrigens auch. Aber du weißt, dass du versprochen hast, dich um Tom zu kümmern. Mum wäre nie zu diesem Termin gegangen, wenn du nicht hier gewesen wärst, und wenn sie ihn abgesagt hätte, wer weiß, wie lange sie dann auf einen neuen hätte warten müssen. Und ich musste hier sein wegen der Wasser-Nutzungs-Besprechung. Wenn die Hauptleitung durch Drumveyn führen soll, muss ich bei den Planungen ein Wörtchen mitreden.« »Oh, ich weiß«, räumte Pauly ein und rieb ihren Kopf an seiner Schulter. Sie genoss den Trost seiner Umarmung. »Wir waren beide wie üblich hier unabkömmlich. Wann können wir jemals wegfahren? Aber wenigstens war ich im Haus, um Cristis Anruf entgegenzunehmen, als sie den Brief gelesen hatte. Wie muss sie sich letzte Nacht gefühlt haben - und wie muss sie sich erst jetzt auf der Fahrt hierher fühlen ?« Sie schaute wieder auf die Wanduhr, dann auf ihre Armbanduhr, als verriete die ihr etwas Akzeptableres. »Sie war immer schon hart im Nehmen«, sagte Archie beschwichtigend. »Und da sie jetzt die Studententage hinter sich hat, müssen wir uns Mühe geben, sie als erwachsen anzusehen.« »Mit dreiundzwanzig ist man noch nicht erwachsen«, protestierte Pauly. »Und manchmal sieht sie noch genauso aus wie die Achtjährige, die ich sofort in mein Herz geschlossen hatte, als wir herkamen.« »Ja, aber lass sie das bloß nicht hören«, warnte Archie. »Denk dran, was für Probleme sie hatte, als sie an der
Universität anfing. Und da wir gerade vom Erwachsensein reden - wie alt warst du, als du Ehefrau und gleichzeitig Mutter von zwei Kindern wurdest, denen bald zwei weitere folgten, wenn ich fragen darf?« »Zum Glück sind wenigstens Nicholas und die kleinen Mädchen in der Schule.« Pauly, die zwanzig gewesen war, als sie Archie geheiratet hatte, wechselte mit einem Grinsen das Thema. Er hatte natürlich Recht. Archie und Pauly hatten Cristi großgezogen, obwohl Lisa, Archies Schwester, sie offiziell adoptiert hatte, da sie die Tochter von Lisas erstem Mann Howard Armitage war. Howard hatte seiner Frau und England rücksichtslos den Rücken gekehrt und war mit Cristis Mutter verschwunden, mit der er, wie sich später herausstellte, schon vor längerer Zeit einen zweiten Haushalt in Brasilien eingerichtet hatte. Seither hatten sie nie wieder etwas vo n sich hören lassen. Mit einer Kaltblütigkeit, die immer noch alle in der Familie aufbrachte, hatte das feine Pärchen Cristi, die sie nie haben wollten, bei Lisa zurückge lassen wie ein altes Gepäckstück. Und Howard hatte bei seiner gründlichen Planung die Formalitäten für die Adoption bereits erledigt. Cristi wurde in die Napier-Familie aufgenommen und wuchs mit Nicholas, dem um neun Jahre jüngeren Sohn von Archie aus erster Ehe, und den beiden kleinen Mädchen auf, die Archie und Pauly später adoptiert hatten. Cristis Eltern hatten all die Jahre eisern geschwiegen, und die brasilianische Familie hatte das Kind rundweg abgelehnt. Archie hatte nur ein einziges Mal Verbindung zu ihnen aufgenommen, kurz nach Cristis Ankunft, als es selbstverständlich erschiene n war, sie nach Brasilien zurückzuschicken. Die Unterredung mit Cristis Großvater in Brasilien war kurz und barsch verlaufen und hatte zu nichts geführt. Der arrogante,
verbitterte alte Mann, ein Aristokrat alter Schule, dessen Macht über die Familie, die Angestellten auf der Ranch im Süden von Santa Catarina und sogar über die nahe gelegene Stadt offenbar noch nie infrage gestellt worden war, hatte sich geweigert, die Existenz des Kindes seiner Tochter anzuerkennen. Eines Kindes, das nicht nur unehelich geboren, sondern auch noch nicht-katholisch erzogen worden war. Seit dieser spannungsgeladenen, unerfreulichen Begegnung hatte Archie nur noch mit den Anwälten der Familie Kontakt gehabt. In dem Versuch, eine wie auch immer geartete Verbindung zur Familie herzustellen, hatte er ihnen geschrieben, als Cristi achtzehn geworden war, und noch einmal nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Doch beide Male hatte er nicht einmal eine Antwort erhalten. Cristi wusste nichts von diesen Bemühungen, weil Archie fürchtete, die alten Wunden könnten wieder aufreißen, wenn er ihr von dieser neuerlichen Zurückweisung erzählte. Aber jetzt war Cristis Großvater gestorben. Und er hatte unter all den vielen Familienmitgliedern ausgerechnet Cristi als Erbin eines beträchtlichen Kapitals und der großen Rinderranch Estancia dos Tres Pinheiros bestimmt. Fast am Ziel. Der Fahrer eines staubigen Pick-ups, der vom Dorf herunterkam, hob lässig einen Finger vom Steuerrad, als er an Cristi vorbeifuhr. Cristi winkte zurück, aber für einen Moment konnte sie weder den Fahrer noch den Wagen einordnen. Es war, als wären ihr die vertrauten Dinge zu Hause schon jetzt fremd geworden, als wären sie nicht mehr Teil der sicheren, bekannten Umgebung. Sie war erleichtert, als ihr der Name des Mannes wieder einfiel. Noch größere Erleichterung empfand sie, als sie end lich auf die Einfahrt von Drumveyn einbog und dem kurvigen Weg zum Fluss hinunterfolgte. DerAugenblick der Orientierungslosigkeit erschütterte Cristi immer noch, als sie auf der Plankenbrücke stehen blieb und den Motor ausschaltete. In der plötzlichen
Stille hörte Cristi den Ruf eines Brachvogels, die süße Melodie der Heimat, und sie sah die Silhouette über der Wiese, die zwischen Zufahrt und dem Loch lag. Seitlich davon leuchtete der Stechginster in den niedereren Regionen des Moors. Hier am Fluss wehte der Geruch des Weißdorns in das voll beladene Auto. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, wieder hier zu sein, und wie viel hatte sie sich von diesem Sommer in Drumveyn erhofft! Würden ihr diese seltsamen und Furcht einflößenden Neuigkeiten all das nehmen ? Angst beschlich sie, und für eine Sekunde, als sie die Stirn aufs Steuerrad legte, hätte sie dieser Angst beinahe nachgege ben. Die Furcht hatte die ganze Zeit hinter dem Schock und der Aufregung des gestrigen Tages gelauert, während sie sich bemüht hatte, die losen Enden zusammenzuknüpfen, hastig die Sachen mithilfe der anderen in der Wohnung zusammengesucht und gepackt, die Bücher in die Bibliothek zurückgebracht, willkürlich ihre Habseligkeiten verteilt und allen Bescheid gegeben hatte, die von ihrer Abreise erfahren mussten - kurz ausgedrückt: während sie vier Jahre ihres Lebens an einem einzigen Tag aufgedröselt und für immer hinter sich gelassen hatte. Es war ihr keine Zeit zum Nachdenken geblieben. Sie war auch kaum dazu im Stande gewesen, und in den wenigen Stunden, in denen sie versucht hatte, Schlaf zu finden, hatten sie nur schlechte Träume und lodernde Angst geplagt. Jetzt musste sie sich den Tatsachen stellen, denen sie sich durch hektische Aktivität zu entziehen versucht hatte. Von Drumveyn wegzugehen, wie man es von ihr forderte (und dieses Wort war nicht zu stark, wenn man die Formulierungen der brasilianischen Anwälte genau durchlas), bedeutete, dass sie Dougal verla ssen musste und die Gelegenheit verpasste, wieder mit ihm zusammen zu sein, obwohl sie sich so sehr darauf gefreut hatte. Wie konnte sie diesen erschreckenden neuen Anforderungen ohne seine Unterstützung und seinen ruhigen
gesunden Menschenverstand entgege n treten ? Dougal hatte sich seit ihrem ersten Tag in Drumveyn um sie gekümmert und schien, obwohl er nur drei Jahre älter als sie war, begriffen zu haben, wie groß die Umstellung von ihrem beschützten Leben in der tropischen Hitze von Rio de Janeiro zu der winterlichen Kälte und Nässe im Glen Ellig war. Er hatte sie beschützt, ihr geduldig alles beigebracht, was sie wissen musste, und immer ein Auge auf sie gehabt, als sie die Schule im Glen besucht hatten. Obwohl ihnen seine Schwester Jill, die eher in Cristis Alter war, manchmal das Leben schwer gemacht hatte, war ihre Freundschaft in all den Jahren unverbrüchlich gewesen. Sie hatte Cristis Internatszeit überlebt, aber leider nicht die anschließenden Jahre, die sie im College verbracht hatte. Die Veränderung war nicht sofort erkennbar gewesen, und anfangs hatte sie sogar mehr denn je auf die Bezie hung zwischen ihnen gebaut, die sie als ganz selbstverständlich angesehen hatte. Aber während ihres zweiten Jahres in Edinburgh hatten sich die Spannungen eingeschlichen. Nein, es waren keine Spannungen, korrigierte sie sich schnell. »Spannung« wäre eine zu krasse Bezeichnung. Sie hatten sich schlicht in ihren verschiedenen Welten auseinander gelebt und waren erwachsen geworden. Im Grunde war es überraschend, dass ihre unbeschwerte, bedingungslose Freundschaft überhaupt so lange Zeit überdauert hatte. Cristi hatte gehofft, dass sie jetzt, da sie ihr Studium hinter sich hatte, die frühere Nähe zu Dougal würde wiederherstellen können, und dieser Sommer, in dem sie sich auf ihren zukünftigen Beruf vorbereiten wollte, war ihr als ideale Gelegenheit dafür erschienen. Sie wusste, dass Dougal eigene Probleme hatte. Er hatte auf ein Studium verzichten müssen, und die Arbeit sowie die Verantwortung für seine Familie kostete ihn viel Zeit, aber zumindest konnte sie sicher sein, dass er noch immer in dem Hirten-Cottage auf dem Gut lebte, in dem
er aufgewachsen war. Aber mit einem Mal war alles anders. Cristi verzog enttäuscht das Gesicht, als ihr das richtig zu Bewusstsein kam. Sie konnte jetzt nichts anderes tun, als einen Schritt nach dem anderen zu machen. Sie musste den Motor starten, über den Weg zwischen den Bäumen hinauf zum großen Haus fahren, den Wagen im Hof abstellen und wie immer durch den Küchenflur laufen und nach Pauly und Archie rufen. Plötzlich wünschte sie sich nichts mehr, als Paulys Stimme zu hören und ihre warmherzige Umarmung zu spüren.
2. Kapitel Liebling, Cristi, es ist wunderbar, dich früher hier zu haben als erwartet. Aber für dich war es sicher schwer, so überstürzt aufzubrechen und auf all die Feiern am Ende deines letzten Semesters verzichten zu müssen, nur weil diese vermaledeiten Leute mit den Fingern schnipsen, nachdem sie praktisch dein ganzes Leben lang nichts von sich haben hören lassen.« Archie lächelte über die Mischung aus liebevoller Freude und beschützerischem Zorn mit einem Schuss Übertreibung, die Pauly zur Schau stellte. Die Begrüßung hatte stattgefunden, die oberste Schicht der Sachen war aus dem Wagen geladen und ins Haus gebracht, und die erste Reaktion auf die Neuigkeiten lag hinter ihnen. Obwohl Archie keinen Grund sah, einen Kommentar über Cristis überstürzten Aufbruch nach Hause abzuge ben - sie war hier, und er freute sich, sie zu sehen -, tat er so ziemlich als Erstes seine besänftigend wirkende Ansicht kund, dass kein Grund bestehe, jetzt sofort Entscheidungen zu fällen. Ohnehin konnte keine ängstliche Frage Cristis Freude, wieder zu Hause zu sein, trüben. Sie tranken am Küchentisch Tee und verputzten den größten Teil der Zitronenrolle, die Pauly gebacken hatte, als sie erfahren hatte, dass Cristi kommen würde. Genau genommen hatte sie
ein Dutzend davon gebacken. Selbst wenn die anderen Kinder in der Schule waren, fiel es Pauly schwer zu glauben, dass ein Kuchen für alle reichte. Da Kochen ihre Leidenschaft war, fand man sie gewöhnlich in dieser Küche, und die meisten Gespräche und Diskus sionen wurden hier geführt. Das große Erkerfenster bot Ausblick nach Westen und auf die Wipfel der Nadelbäume, die in der Schlucht des Baches standen. Die gepolsterte Bank mit den vielen Kissen war gemütlich und bei allen Familienmitgliedern sehr beliebt. »Ich musste herkommen«, antwortete Cristi auf eine entsprechende Frage Paulys, obwohl es ihr jetzt, im Schoß der Familie, unwirklich vorkam, dass sie den Drang verspürt hatte, sofort alle Brücken hinter sich abzubrechen. »Alles um mich herum schien in Stücke zu zerfallen, nachdem ich den Brief gelesen hatte, als wäre meine Welt irreal geworden. Und ich konnte es nicht ertragen, allein über all das nachdenken zu müssen. Na ja, die anderen waren natürlich da, und sie haben sich großartig verhalten und alles nur Erdenkliche für mich getan, doch das ist nicht dasselbe wie hier bei euch ...« Sie brach erschrocken ab, weil ihre Stimme zu zittern anfing und ihre Kehle eng wurde. Torie und Isa waren schwer beeindruckt von Cristis exotischer Herkunft und der Tatsache gewesen, dass sie sozusagen über Nacht zu einer reichen Erbin und Besitzerin einer südamerikanischen Rinderranch geworden war. Was spielten im Vergleich dazu ein paar fröhliche Tage am Ende des Semesters schon für eine Rolle ? Sogar Torie hatte jeden Gedanken an die Veränderungen in Cristis Leben und an das, was sie möglicherweise hinter sich lassen musste, vergnügt beiseite geschoben. Isa und Torie hatten sich ange boten, alle Sachen, die Cristi ihrer Meinung nach nicht mehr brauchte, zu verteilen oder selbst zu behalten, und ihr bereitwillig geholfen, den Rest zusammenzupacken. So lieb das auch gemeint war, so sehr hatte es in Cristi den Wunsch verstärkt, einen Schnitt zu machen und sich in die
Geborgenheit ihres Zuhauses und zu den Menschen zu flüchten, auf deren Verständnis und Unterstützung sie sich immer hatte verlassen können. Auf der Heimfahrt an sich sehnte sie sich nach kleineren, scheinbar banalen Dingen, die Teil des Ganzen waren, zum Beispiel nach dieser Bank im Erker, nach dem Hund Broy, einem Dan-die Dinmont, der sich neben sie legte und sich an sie drückte, nach der Luft, die durchs Fenster hereinströmte und den abendlichen Duft nach dem sommerlichen Garten mit sich brachte, nach dem Plätschern des Baches, dem Vogelgezwitscher und dem gelegentlichen Ruf eines Kuckucks. Das Zusammensein mit ihren Lieben. Wie gut es gewesen war, in dem Augenblick, bevor er sie in die Arme schloss, in Archies Augen zu lesen, dass er alles, was in seiner Macht stand, tun würde, um ihr zu helfen, wie er es immer getan hatte und immer tun würde. Archie, ein Mann Anfang vierzig, war zweifellos die Vaterfigur für Cristi. Sein braunes Haar war dicht wie immer, doch bereits mit silbernen Fäden durchzogen, und die harte Arbeit und die Verantwortung hatten tiefe Linien in sein Gesicht gegraben, das vorzeitig gealtert war. Er hatte kräftige Muskeln, und man sah ihm an, dass er ein starker, verlässlicher Mann mit Charakter und Selbstbewusstsein war. In einem Moment der reifen Einsicht erkannte Cristi, wie viel Glück sie gehabt hatte, weil sie immer auf Archies Freundlichkeit und seine Integrität hatte vertrauen können. Das traf auch auf Pauly zu, obwohl Pauly einen anderen Platz in ihrem Herzen einnahm. Als Cristi sie das erste Mal gesehen hatte, war sie in ihren Kinderaugen »keine echte Erwachsene« gewesen, und sofort hatte ein ganz besonderes Band zwischen ihnen bestanden. Pauly hatte zwar die Mutterrolle ausgefüllt, und ihre Autorität wurde nie angezweifelt, aber oft war sie Cristi eher wie eine ältere Schwester erschienen, eine Schwester, die manchmal ganz schön verrückt und albern sein konnte. Zwischen ihnen gab es
eine besondere Beziehung, die die jüngeren Kinder nicht teilten und die Cristi jetzt, in diesem Augenblick der Klarheit, als Liebe erkannte, die kein Etikett oder ein spezielles Verwandtschaftsverhältnis brauchte. »Es kam mir plötzlich alles so unwichtig vor«, erklärte Cristi noch einmal, als wäre sie immer noch erstaunt über diese Erkenntnis. »Ich meine, es war wunderbar in Edinburgh, ich habe das Studium, das Zusammensein mit Isa und Torie und all das wirklich geliebt, aber mit einem Mal erschien es mir trotzdem so ... ja, fast kindisch.« Sie sah die beiden scharf an, weil sie wusste, dass dieses eine Wort ein wohlwollendes Lächeln auf die Gesichter der Erwachsenen zaubern würde. Doch sie wollte ihnen diese Gefühle übermitteln und die Versicherung haben, dass sie für sie da waren, was immer ihr auch bevorstand. Weder Archie noch Pauly war nach lächeln zu Mute. Obschon es Archie, wenn er Cristis mädchenhafte Figur, ihre schmalen Schultern und den schlanken Hals mit dem wohl geformten Kopf und den blau schimmernden schwarzen Haaren betrachtete, kaum fassen konnte, dass ihr vierundzwanzigster Geburtstag kurz bevorstand. In ihrem winzigen lindgrünen Top und der gelben Jeans sah sie für ihn immer noch aus wie das bezaubernde, dem neuen Leben gegenüber so aufgeschlossene Kind, das Lisa vor mehr als vierzehn Jahren nach Drumveyn gebracht hatte. Er verspürte den Drang, Cristi zu beschützen, und gleichzeitig war er zornig auf diese Fremden, die so rücksichtslos Anspruch auf sie erhoben und ihr höchstwahr scheinlich Kummer und Schmerz bereiten würden. Aber er konnte nicht abstreiten, dass sie, so gleichgültig und überheblich diese Menschen auch sein mochten, das Recht hatten, auf die Verwandtschaft zu pochen. Cristis dunkles, kräftiges Haar, der cremefarbene Teint, der sich im Sommer golden färbte, die zarte Gestalt - obwohl sie tatsächlich zäh wie Schuhleder war, wie sich Archie mit Liebe und »Besit-
zerstolz« eingestand - verrieten ihre Herkunft. Ein bunter, exotischer Vogel, der in den kühlen Norden gezogen war. »Ich weiß, was du meinst«, sagte er und hörte selbst, dass seine Stimme rauher klang als gewöhnlich. »Die Zeit zum Spielen ist vorbei. Aber ein paar Tage Spaß hätten bestimmt nicht geschadet.« Er wusste, dass er das aussprach, was Pauly dachte, und wollte die finstere Wahrheit negieren, dass Cristi auf diese Weise abkommandiert werden konnte und sie keine Möglichkeit hatten, Protest einzulegen. »Das ist jetzt nicht mehr wichtig«, erwiderte Cristi. »Eine Menge Leute sind gleich nach den Prüfungen abge reist. Aber der Mietvertrag für die Wohnung läuft noch bis Ende des Monats, und wir dachten einfach, ein paar Tage zur Erholung wären ganz lustig.« »Du hast es sicherlich nicht geschafft, all deine Sachen in dein Auto zu quetschen«, meinte Pauly. »Muss noch etwas abgeholt werden?« Cristi zuckte mit den Schultern. »Ich habe den Rest weggegeben.« Ihr war klar gewesen, dass an eine Rückfahrt gar nicht zu denken war. Pauly und Archie wechselten einen Blick. Das verriet ihnen viel. Pauly verkniff sich die Frage nach Cristis Arbeit - der Gedanke, dass sie nicht viel von dem sehen würde, was Cristi in diesem letzten Jahr vollbracht hatte, machte sie traurig. »Himmel, seht euch an, wie spät es schon ist!«, rief sie statt dessen aus. »Wir sollen heute in der Scheune zu Abend essen, um es Tom und Madeleine zu ersparen, herunterkommen zu müssen. Ist dir das recht, Cristi ? Ich dachte, es würde dir nichts ausmachen.« Wäre es Cristi lieber, Dougal auf zu suchen ? Unter die sen Umständen war sich Pauly mit einem Mal in gar nichts mehr sicher, und sie hasste dieses Gefühl. »Selbstverständlich macht mir das nichts aus«, beteuerte
Cristi. »Ich freue mich sehr, sie zu sehen. Aber wird es Madeleine nicht zu viel, wenn wir hinaufgehen?« »Kein Problem, ich nehme eine Lasagne mit. Allerdings hab ich vergessen, sie rechtzeitig aus der Kühltruhe zu nehmen. Du kennst mich j a. Ich stelle sie lieber erst ein bisschen in die Mikrowelle, dann hat Madeleine keine Last.« »Wie die Mitglieder dieser Familie bisher überleben konnten, ist mir ein Rätsel«, brummte Archie, doch der Blick, mit dem er Pauly nachsah, als sie in den Wirtschaftsraum ging und ihre karamelfarbene Haarmähne aus dem Nacken strich, war voller Liebe. Cristi sah das und lächelte. Das war das Wesentliche an ihrem Zuhause. Und sie war drauf und dran, dieses Zuhause zu verlassen. Sie stand schnell auf, stieß dabei gegen Broy, der auf dem Boden schlief, sich aber nicht viel aus dieser rüden Behandlung zu machen schien. Der Hund hieß eigentlich Rob Roy, weil man der Tradition gefolgt war, den Dinmonts schottische Namen zu geben, doch Toms ältester Sohn hieß auch Rob, deshalb hatte man die beiden Namen in Kindermanier zu Broy zusammengezogen. Cristi, die diesen Gedanken verfolgte, wusste, dass sie sich an Kleinigkeiten klammerte, um die Angst in Schach zu halten. Jede Facette ihres Heims erschien ihr kostbar und bedeutsam. Sie fragte sich, wie sie die Tage bis zu ihrer Abreise überstehen sollte, wenn sie so wie jetzt unter Spannung stand. Allerdings war ihr bewusst, dass Dougal das eigentliche Problem für sie war - wie sollte sie ihm begegnen und Abschied von ihm nehmen ? Wie konnte sie von hier fortgehen, solange alles zwischen ihnen in Unordnung war? Aber das musste warten. Erst kamen Madeleine, Archies und Lisas Mutter, und ihr Mann Tom an die Reihe. Madeleine hatte Cristi als Erste in Drumveyn unter ihre Fittiche genommen, nachdem das verängstigte und verwirrte Kind um den halben
Erdball geschickt und von einer fremden Person an andere Fremde übergeben worden war. Damals war sie in winterlicher Dunkelheit in ein gänzlich unbekanntes Haus gekommen. Es war alles kalt und düster gewesen, in den kaum beheizten Räumen zog es, vor den Fenstern standen dunkle Bäume, und das Leben war von den Regeln der Vergangenheit bestimmt. Dennoch hatte Cristi in dieser Umgebung Wärme, Herzlichkeit und Verständnis vorgefunden und instinktiv darauf reagiert. Mit einem Mal konnte sie es kaum erwarten, Madeleine wiederzusehen. »Ich gehe rauf und ziehe mich um«, meinte sie, blieb aber kurz neben Archie stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er schlang den Arm um sie; sie schmiegte sich an ihn und schloss die Augen - so beschworen sie beide für einen Augenblick die Vergangenheit herauf. »Du bist unsere Älteste, Cristi«, sagte Archie und zog sie fest an sich. »Daran wird sich nie etwas ändern.« Sie nickte, brachte aber kein Wort heraus. Schließlich drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn und flüchtete sich in ihr Zimmer. Es war das ehemalige Ankleidezimmer von Madeleines erstem Mann Charles - ein kleines, dunkles Kämmerchen, in dem Cristi unbedingt bleiben wollte, obwohl man ihr, als sie älter wurde, größere und behaglichere Räume angeboten hatte. Es war das erste Zimmer, in dem sie jemals allein geschlafen hatte, aber es grenzte an Madeleines Zimmer, und Cristi hatte sich immer geborgen und sicher gefühlt. Das war für sie das Wichtigste. Zudem erfüllte es ein kaum bewusstes Bedürfnis nach funktioneller Schlichtheit, und während all der Veränderungen im Haus hatte sie nie etwas anderes gewollt. Es war ein sehr kleines Kämmerchen, aber Archie und Pauly hatten die alte Waschküche auf der anderen Seite des Hofes zu einem Atelier umfunktioniert und es Cristi zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. So hatte sie genügend
Platz für ihre Habseligkeiten, sie schlief jedoch nach wie vor im Haus. Als Archie und Pauly heirateten, wollte keiner von ihnen den dunklen, unpersönlichen Raum bewohnen, der Archie schon in seiner Kindheit unheimlich erschienen war, als seine gestrenge Großmutter und später seine Eltern darin schliefen. Irgendwann hatte sich Pauly aufgerafft, es zu renovieren und anders einzurichten. Mit den Turmfenstern, dem großartigen Rundblick und nicht zuletzt dem viktorianischen Prunk im Badezimmer, das Cristi die meiste Zeit für sich allein hatte, war es zu einem sehr beliebten Gästezimmer geworden. Cristi freute sich nach Wochen der Abwesenheit immer auf ihr kleines Reich, doch heute, da die Sonne durch das einzige Fenster fiel und die Baumwipfel sowie die gr ünen Hänge des Berges Ben Breac in goldenes Licht tauchte, war diese Freude beinahe zu schmerzhaft für sie. Nicht nachdenken, einfach eines nach dem anderen tun. Es war eine Wonne, in der großen Badewanne zu versinken und den Druck der letzten dreißig Stunden fort zu spülen. Dreißig Stunden. Sie hatte gestern zur Mittags zeit den Brief aus dem Postkasten geholt und Pauly unverzüglich angerufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf gestellt. Archies Worte fielen ihr wieder ein: »Du musst nichts tun, was du nicht willst.« Stimmte das? Hatte sie überhaupt eine Wahl ? Konnte sie das Ganze als eine Art fabelhaftes Abenteuer betrachten? Aber die mehr auf einer vagen Vorstellung als auf tatsächlichen Erfahrungen basierenden Erinnerungen daran, wie die Familie ihrer Mutter ihre Existenz verleugnet hatte, kam zurück. Sie hievte sich mit einem ärgerlichen Laut, weil der Moment des Friedens zerstört war, aus der Wanne und wickelte sich in ein behaglich angewärmtes Badetuch, das auf dem Gestell vor der Heizung gehangen hatte. Sie tapste in ihr kleines
Zimmer und zog sich Unterwäsche, ein Top und einen Rock über die noch feuchte Haut. Es wird bestimmt nicht leicht, warnte sie sich selbst. Auf dem Weg zu Madeleine und Tom erzählten sie sich die Neuigkeiten und genossen den wunderschö nen Abend. Archie trug den Korb mit der Lasagne, und Broy trottete hinter ihnen her. Er hatte es aufgegeben, Kaninchen, Katzen oder anderes Getier zu jagen, und führte jetzt ein ruhiges, beschauliches Leben. Im oberen Raum der umgebauten Scheune standen die großen Balkonfenster unter dem Giebel weit offen und vermittelten den Eindruck von viel Licht und Platz. Tom eilte in seinem Rollstuhl über die rötlichen Bodendielen aus Paranä-Pinienholz auf sie zu. Er strahlte vor Freude, Cristi wiederzusehen. Madeleine, die in der Küche am anderen Ende des offenen Wohnraums beschäftigt war, ließ alles stehen und liegen und lief ihm nach. »Liebling, mein liebes Mädchen!« Sie hatte sich geschworen, ganz nüchtern zu bleiben und mit Vernunft das Unausweichliche hinzunehmen, aber als sie Cristi und ihre jungen, verletzlichen Augen sah, kamen ihr doch die Tränen. Cristi, deren Augen ebenfalls brannten, sank ihr dankbar in die Arme. Später, als sich langsam die Highland-Dämmerung über den Glen senkte, waren sie im Stande, sachlich über die Entscheidungen zu sprechen, die getroffen werden mussten. »Ich kann mich nicht weigern hinzufahren«, sagte Cristi. »Das ist das Fazit, stimmts ?« »Du musst nur hin, wenn du selbst es willst.« Tom war in diesem Punkt ebenso bestimmt wie Archie. »Aber trotzdem kann ich mich nicht gut davor drücken, findet ihr nicht ?« Cristi kam immer wieder darauf zurück. »Abgesehen von der Verpflichtung und der Verantwortung oder der Notwendigkeit, die Dinge zu regeln - Gott, Besitzerin einer
Rinderranch, ic h kann mir das überhaupt nicht vorstellen! Selbst wenn man das alles außer Acht lässt, muss ich mich darum kümmern, oder? Um meinetwillen, meine ich.« Alle warteten, während sie nach den richtigen Worten suchte, und sie spürten, was jetzt kam. »Es geht im Grunde darum, wer ich bin.« Plötzlich hatte ihre Stimme einen fast trotzigen Unterton, und das weckte in Madeleine unwillkürlich Protest. Tom legte eine Hand auf die seiner Frau und drückte sie warnend. Sie durften ihre eigenen Gefühle nicht ins Spiel bringen. »Ihr wisst, dass ich monate-, ach, jahrelang nicht einen Gedanken daran verschwendet habe«, erklärte Cristi unbeholfen, weil sie fürchtete, ihre Lieben verletzt zu haben. »Das müsst ihr gemerkt haben. Ihr seid meine Familie. Nur manchmal werde ich eben an das andere erinnert, wenn jemand über mein Aussehen spricht oder so was.« Solche Kommentare waren in ihrem ersten Semester in Edinburgh ständig gefallen und einer der Gründe, warum sie sich anfangs dort gar nicht wohl gefühlt hatte. »Es ist so eine Sache, wenn man mit niemandem wirklich verwandt ist. Selbst Lisa, die mein Vormund ist - zumindest auf dem Papier -, hat genau genommen nicht das Geringste mit mir zu tun.« Lisa, das Familienmitglied, dem Cristi am wenigsten nahe stand, war bis zu ihrer Scheidung von Cristis leiblichem Vater ihre Stiefmutter gewesen, aber das war nicht mehr als eine formelle Beziehung. Cristi holte tief Luft. »Es ist nur ... na ja, manchmal habe ich das Bedürfnis, mehr zu erfahren...« Archie hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme und ging rasch zu ihr, um sich auf die Lehne ihres Sessels zu setzen und den Arm hinter sie zu legen. Er berührte Cristi nicht - er war nicht sicher, ob er selbst mit alldem fertig wurde, und wollte es ihr nicht noch schwerer machen fort zu fahren -, aber er musste ihr zeigen, dass er für sie da war, dass sie alle für sie da waren.
Broy überlegte, ob er sich dorthin begeben sollte, wo sich etwas rührte, doch er hatte zu viel gefressen und döste gleich wieder ein. Cristi drehte den Kopf, um Archie zuzulächeln, dann sprach sie weiter. »Vielleicht klingt es weit hergeholt, aber irgendwie hängt vieles damit zusammen, wie ich aussehe.« Sie hatte noch nie zuvor den Versuch unternommen, über dieses Thema zu reden. »Würde ich meinem englischen Vater ähnlich sehen, wäre alles anders. Aber schaut mich doch an. Es ist ganz offensichtlich, dass ich im Grunde nicht hierher gehöre.« »O Cristi, wie kannst du so was nur sagen?«, meldete sich Madeleine bekümmert zu Wort, doch wieder einmal brachte Tom sie zum Schweigen. »Ihr wisst, dass ich damit bestimmt nicht meine ...« Cristi war nicht sicher, ob sie diese Gedanken weiterverfolgen sollte, versuchte es aber dennoch. »Das klingt sicher scheußlich undankbar nach allem, was ihr für mich getan habt...« »Hey, komm schon.« Diesmal fiel ihr Archie ins Wort. »Cristi, wir wissen, was du sagen willst. Zerbrich dir nicht den Kopf über Nebensächlichkeiten, sprich einfach aus, was du loswerden möchtest. Uns ist allen zweifellos klar, was du empfindest.« Cristi nickte dankbar, dann presste sie die Finger an die Stirn und ordnete ihre Gedanken. Archie ertappte sich dabei, wie er ihre Hände ansah und feststellte, dass sie das, was Cristi vorher geäußert hatte, unter Beweis stellten. Diese Hände waren anders als alle Frauenhände, die er kannte - inklusive denen seiner Mutter, die als junge Frau ausgesprochen schöne Hände gehabt hatte. Cristis hinge gen waren anders - zart und feingliedrig, als gehörten sie zu einem Menschen anderer Rasse. »Es gab immer Fragen«, bekannte Cristi, als würde sie eher mit sich selbst reden. »Mir war bewusst, dass es einen Teil von mir gibt, von dem ich keine Ahnung hatte, den ich gar nicht
überblicken konnte. Dann habe ich mir Gedanken über meine ... meine Eltern gemacht.« Es fiel ihr nicht leicht, Howard und Justina als »Eltern« zu bezeichnen. »Über das, was sie getan haben und warum sie es getan haben. Wohin sie gegangen sind. Wo sie im Augenblick sind.« Es war immer wieder ein Schock, sich vorzustellen, dass sie ihr Leben irgendwo anders lebten, vielleicht mit anderen Kindern, und älter wurden. »Aber ich bin nicht überzeugt, dass du viele Antworten auf deine Fragen finden wirst«, meinte Pauly besorgt. Sie hatte schreckliche Angst, dass Cristi noch mehr Schmerz erdulden musste - das war in ihren Augen die schlimmste Gefahr bei diesem Unternehmen. »Ich denke, diese Angelegenheit betrifft hauptsächlich Justinas Familie, oder nicht? Den Tod ihres Vaters.« Sie brach ab und sah Archie schuldbewusst an. Justinas Vater, aber auch Cristis Großvater. Wie hatte sie nur so taktlos sein können ? Doch sie konnte sich kaum vorstellen, dass Cristi viel empfinden würde, wenn sie hörte, wie feindselig und unnachgiebig sich der alte Mann bei der einzigen Begegnung mit Archie gezeigt hatte. Archie schüttelte den Kopf und verzog ein wenig das Gesicht, um ihr zu signalisieren, dass er sie verstand. Pauly fühlte sich gleich besser. »Cristi, hör mal.« Archie fand, dass ein etwas sachlicherer Ton angebracht war. »Wenn du das Gefühl hast, hinfahren zu müssen, dann werden wir alles Notwendige arrangieren, das weißt du - Flüge, Termine bei den Anwälten, Unterkunft und so weiter, das regeln wir alles, und es stellt überhaupt keine Schwierigkeit dar. Ich weiß nur nicht, wer dich begleiten kann.« Seit dem Unfall, bei dem Tom zum Invaliden geworden war und Dougals Vater den ersten der Schlaganfälle erlitten hatte, die ihn schließlich das Leben gekostet hatten, hatte Archie mehr zu tun als je zuvor. Madeleine konnte Tom nicht allein lassen,
und sie baute darauf, dass Pauly ihr jeden Tag ein wenig unter die Arme griff. Außerdem kamen die Kinder bald nach Hause, denn die Ferien begannen bald. Lisa, die theoretisch verpflichtet wäre, würde sich bestimmt nicht frei nehmen und ihre Hunde allein lassen können. Zudem wäre sie als Reisebegleitung wohl kaum geeignet, denn sie war nie sehr einfühlsam und immer ungehalten, wenn es um »sentimentalen Quatsch« ging, wie sie es nannte. »Archie, nein«, protestierte Cristi. »Es ist ehrlich wahnsinnig lieb, dass du daran denkst, aber das ist etwas, womit ich allein fertig werden sollte. Ich muss es«, setzte sie hinzu und flehte mit einem Blick um Verständnis und darum, dass er diesen Entschluss ohne Widerspruch akzeptierte. Archie verstand sie tatsächlich. Sie musste diesen Teil ihrer Herkunft unabhängig von Drumveyn und ihrem Leben hier entdecken, und vermutlich hatte sie Recht, wenn sie darauf bestand, die Reise allein anzutreten.
3. Kapitel Von der Scheune bis zum Hirten-Cottage waren es nur zweihundert Meter. Licht brannte in der Küche, genau wie Cristi es erwartet hatte. Jean war immer schon eine Nachtschwärmerin gewesen, und man hatte auch nicht das Gefühl, dass es richtig Nacht war, denn hier oben auf dem Berg war es noch nicht ganz dunkel. Tom blieb in letzter Zeit nicht mehr lange auf, weil ihn das tägliche Training, bei dem er langsam und schmerzhaft ein wenig mehr Muskeln aufbaute, sehr ermüdete. Ihn zur Physiotherapie zu bringen, kostete Madeleine viel Mühe und Anstrengung, besonders während der Wintermonate, wenn sie bis nach Ninewells fahren musste. Jetzt, da Tom zweimal in der Woche im Krankenhaus in Muirend behandelt werden konnte, war alles ein bisschen leichter, und Tom hatte mittlerweile so große Fortschritte gemacht, dass er sich ohne jede Hilfe vom
Bett in den Stuhl und zurück bewegen konnte. Dann hatte er die ersten Schritte gemacht; sie waren alle deswegen sehr aufgeregt gewesen, und Madeleine war furchtbar stolz auf seine Leistung. Sie hielt sich unglaublich tapfer, doch es stand außer Zweifel, dass der Schock über den Unfall, die Angst, Tom für immer zu verlieren, und seine Behinderung nicht spurlos an ihr vorübergegangen waren. Ihr dunkles Haar war silbrig geworden, und sie hatte beträchtlich an Gewicht verloren. Sie war dünner, als es Tom gefiel, und das betonte er auch immer wieder und gab sich alle Mühe, sie zu überreden, dass sie mehr aß, weniger arbeitete und sich selbst ein bisschen mehr verwöhnte. Cristi lächelte. Es war immer schön, die beiden zusammen zu erleben und ihre stille Zufriedenheit zu beobachten. Tom und Madeleine fühlten sich unwohl, wenn sie getrennt waren, und es war ihnen gelungen, die alte Scheune ganz und gar ihren Bedürfnissen anzupassen. Diese glückliche Beziehung war ein bereicherndes Element in den Jahren gewesen, in denen Cristi hier aufge wachsen war. Anfangs, als Tom noch im Krankenhaus lag, hatte es ausgesehen, als könnten sie nicht weiter in der Scheune wohnen, und Madeleine machte sich auf einen Umzug ins große Haus oder sogar in eine »bequemere« Wohnung weiter unten im Glen gefasst. Aber Archie sah kein Problem darin, die nötigen Umbauten in der Umgebung vorzunehmen, die Tom für sich geschaffen hatte, als er - im selben Jahr wie Cristi - nach Drumveyn gekommen war, um als Verwalter auf dem Gut zu arbeiten. Am Eingang zur ehemaligen Scheune wurde eine Rampe angebracht und ein Lift installiert. Die unteren Schlafzimmer, die eigentlich für Toms Söhne gedacht waren, bewohnten jetzt Tom und Madeleine, und Archie hatte eine rollstuhlgerechte Dusche eingebaut. Der offene obere Raum konnte bleiben, wie er war. In der ersten Zeit, nachdem Tom aus der Klinik entlassen worden war, war ein Krankenpfleger unten im großen Haus
einquartiert worden, und danach waren Archie und Pauly Madeleine zur Hand gegangen, wenn Tom hatte gehoben oder getragen werden müssen. Es gab viele hilfsbereite Menschen auf dem Gut, und Dougal, der im nahe stehenden Hirten-Cottage wohnte, hatte mehr für Tom und Madeleine getan als jeder andere. Lisa lebte nicht weit entfernt in Achalder in einem ehemaligen Gutscottage, und ihr Mann Stephen war, wenn man ihn darum bat, jederzeit bereit, sich nützlich zu machen. Mittlerweile war Tom nicht nur ein wenig mobiler, sondern besaß auch noch einen elektrischen Rollstuhl, in dem er allein über die Wege und Straßen flitzen konnte. Die auf diese Weise zurückgewonnene Freiheit und Unabhängigkeit bedeutete ihm viel und war auch für Madeleine eine große Erleichterung. Heute Abend würde Archie Tom zu Bett bringen, und Pauly half Madeleine, die Küche in Ordnung zu bringen. Niemand störte sich daran, dass Cristi aus dem Haus schlüpfte. Sie hatte sich sehr gefreut, Tom so wohlauf zu sehen. Er hatte sichtlich nicht mehr so große Schmerzen wie bei ihrem letzten Aufenthalt zu Hause, und es war wunderbar, wie Madeleine und er mit dem Alltag zurechtkamen, doch es blieb nicht aus, dass Cristi, als sie auf das Hirten-Cottage zuging, einige Überlegungen anstellte. Geld. Geld könnte eine anständige Pflege und alle notwendigen Gerätschaften, Installationen, Umbauten sowie das Asphaltieren der Wege ermöglichen. Geld, von dem sie, wie es schien, jetzt jede Menge besaß — obwohl Tom und Archie sie eindringlich vor trügerischen, gefährlichen Fehleinschätzungen gewarnt hatten. Oft war ein großes Erbe nicht das, was es versprach. Sie prophezeiten, dass es viele Menschen geben würde, die sich auf alles stürzten, was vorhanden war. Niemand wusste, in welchem Zustand die Ranch war, ob es finanzielle Verpflichtungen oder vielleicht sogar Schulden und Hypotheken gab, die zurückgezahlt werden mussten. Und es war auch nicht vorauszusehen, welche Forderungen andere
Familienmitglieder stellten, welche Einwände gegen den letzten Willen erhoben wurden, der nur als bizarr, wenn nicht gar als Rachsucht ihres Großvaters angesehen werden konnte. Dennoch flogen Cristis Gedanken davon. Es würde ihr nichts ausmachen, wenn sich herausstellen sollte, dass die unerwartete Hinterlassenschaft ihres Großvaters wenig oder gar keine Substanz hatte. Ihr Vater hatte sie mit ein wenig Kapital ausgestattet, bevor er verschwunden war, genau wie Lisa auch. Archie hatte dieses Vermögen in all den Jahren nicht nur für sie verwaltet, sondern ihr selbst auch noch ein großzügiges Taschengeld überlassen. Obwohl Cristi beabsichtigte, sich ihren Lebensunterhalt in Kürze selbst zu verdienen - und alle waren damit einverstanden -, hatte sie die Gewissheit, dass das Napier-Geld ihr immer zur Verfügung stand, falls sie es brauchen sollte. Geld. Sie wusste, warum das Widerstand, ja fast ein schlechtes Gewissen hervorrief, als sie in Richtung Cottage ging. Der Kontrast, die Gegensätze in der Gesellschaft, in jeder Gesellschaft, bereiteten ihr mehr und mehr Unbehagen, und es schien keine Möglichkeit zu geben, diese Gegensätze aufzulösen. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass trotz der Standesunterschiede nach dem Unfall fast so viel für Donnie Galloway getan worden war wie für Tom, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Während sich Donnie von seinem ersten Schlaganfall erholte, hatte Archie ihm das volle Gehalt bezahlt und dafür gesorgt, dass Jean all die praktische Hilfe bekam, die sie brauchte. Donnie hatte sich bis zu einem gewissen Grad erholt, und er konnte wieder die Schafe hüten, aber trotz seiner Proteste war offensichtlich, dass er die Arbeit nicht mehr allein verrichten konnte, und Archie hatte eine Teilzeithilfe eingestellt. Donnie war das gar nicht recht, und er machte dem Helfer das Leben nicht gerade leicht. Bei der Erinnerung daran musste Cristi fast
lachen. Als Donnie danach noch zwei, wenn auch kleinere, Schlaganfälle erlitt, erfüllten nach und nach andere Do nnies Pflichten. Gegen Ende konnte er kaum noch den Schein aufrechterhalten, dass er seine Arbeit verrichtete. Dennoch machte Archie deutlich, dass Jean niemals befürchten musste, nicht mehr im Cottage leben zu können. Aber natürlich hatte Jean immer Angs t, eines Tages keine Bleibe mehr zu haben. Sie bewohnten ein Haus, das dem Hirten des Gutes zustand, und ihr Mann war krank und bemühte sich, mehr zu arbeiten, als er konnte, doch ihm fehlte die Kraft. Und Donnie wusste das selbst, sagte aber nichts, sondern verwünschte nur im Stillen seine Nutzlosigkeit. Er sah seine Zukunft in dem kleinen Haus klar vor sich: nichts, womit er sich beschäftigen konnte, all seine Stärke dahin und seine Hände für immer untätig. Er war am Boden zerstört und langweilte sich zu Tode. Als Donnie im vergangenen Februar starb, erklärte Archie Jean unverzüglich, dass das Cottage zu ihrer Verfügung stand, solange sie es brauchte. Für Donnie und Jean war auf die traditionelle Art gesorgt worden, die heutzutage auf den Gütern nicht mehr üblich war. Und auch für Tom wurde gesorgt, allerdings auf ganz andere Weise. Donnie und Jean waren Angestellte, die Hilfe brauchten und kaum Vorkehrungen fürs Alter getroffen hatten. Sie hatten sich darauf verlassen, später einmal in ein Gemeindehaus überzusiedeln, und hatten nie etwas auf die hohe Kante gelegt, damit sie sich selbst mal eine Bleibe kaufen konnten. Jean hatte nie gearbeitet, um etwas dazuzuverdienen. Sie war Hausfrau und Mutter, aber auch die Frau eines Hirten, die helfen musste, wenn die Schafe lammten, jede Menge Hackfleisch und Kartoffeln kochte, solange die Schafscherer auf dem Gut waren, Kälber fütterte, Hennen hielt, Gemüse anbaute, Marmelade einkochte, dagegen ankämpfte, dass die Schule im Glen geschlossen wurde, und so gut wie nie Urlaub oder auch nur
freie Tage hatte. Jetzt lebte sie in einem Haus und wusste, dass sie keinen Anspruch darauf hatte. Sie lag jede Nacht wach und allein in dem großen Bett, starrte an die Decke und überlegte, was sie tun sollte. Ihre Sorgen waren wie die schwarzen Fledermäuse, die durch die halb dunklen Sommernächte flatterten. Cristi legte die Hand auf die Türklinke, hielt aber inne. Mit einem Mal war sie sich bewusst, dass sie allen Mut zusammennehmen musste, bevor sie die Tür öffnete. Es ging nicht nur um Jean. Auch in ihrem eigenen Leben hatte Geld und alles, was es mit sich brachte, die Macht, tiefe Gräben aufzureißen. Und gerade jetzt schien in einem fernen Land, an das sie sich kaum noch erinnern konnte, eine erschreckend große Menge Geldes darauf zu warten, in Anspruch genommen zu werden. Eine groteske Vision von Truhen, aus denen Goldstücke quollen, stand ihr plötzlich vor Augen. Sie schauderte, weil sie dieses Bild als unheilvoll und zerstörerisch erachtete. Es wurde Zeit für eine Dosis von Jeans Bodenständigkeit und Vernunft. Sie drückte auf die Klinke und rief: »Hi, Jean! Ich bin es nur, steh nicht auf.« Aber Jean stand schon auf der Schwelle zur Küche. Ihr Willkommenslächeln verzog sich, als andere Emotionen sie überkamen, und sie breitete die Arme aus. »O Mädchen, es tut mir gut, dich zu sehen. Wie geht es dir und was hat es mit all dem Zeug auf sich, das mir über dich zu Ohren gekommen ist? Ach, achte gar nicht auf mich, ich bin nur ein dummes, altes Weib.« Sie schniefte, als Cristi sie fest an sich drückte, und suchte unter ihrer Schür ze nach einem Taschentuch. »Komm rein, steh nicht so da. Du trinkst doch eine Tasse Tee mit mir ? Natürlich...« Jean war allein. Eine der Katzen saß unter dem Schrank und beäugte Cristi argwöhnisch, die andere räkelte sich auf dem
zerschlissenen Polster des alten Sessels und bohr te die Krallen in den Stoff, um auf sich aufmerksam zu machen. Donnies Sessel. Cristi sah Donnie regelrecht vor sich - seine kräftige Gestalt, die breiten Schultern, die wettergegerbte Haut am Hals und an den Armen, das verblasste karierte Hemd, die dunkelblaue Arbeitshose, die er stets getragen hatte, den Teebecher auf der hölzernen Armlehne, auf der noch immer unzählige helle Ringe zu sehen waren. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie ging schnell zu Jean, die Wasser aufsetzte. Jetzt stand kein alter, geschwärzter Kessel mehr am Rand des Kamins und wartete darauf, über die Flamme gezogen zu werden, wann immer jemand das Bedürfnis nach Tee verspürte. Auch den Kessel mit der Pfeife, den Jean auf den Gasherd stellte, wenn kein Feuer brannte, gab es nicht mehr. Das Cottage verfügte seit einiger Zeit über die moderne eingebaute Küche, von der Jean lange geträumt hatte. Archie hatte sie nach Jeans Anweisungen installiert. »Wie gehts dir?«, fragte Cristi einfühlsam und kam näher. Jean umklammerte mit ihrer starken Hand kurz Cristis Arm und nickte heftig. »Es geht mir gut«, antwortete sie. »Mach dir keine Sorgen um mich.« »Und was ist mit Dougal und Jill ?« Es war unverfänglicher, sich nach beiden gleichzeitig zu erkundigen. »Ach, sie sind wie immer. Über meinen Dougal kann ich mich sowieso nicht beklagen.« Jean presste die Lippen zusammen, und Cristi akzeptierte die stumme Botschaft: Dieses Wiedersehen sollte nicht durch ein Gespräch über das Desaster, das Jill aus ihrem Leben gemacht hatte, verdorben werden. »So«, sagte Jean in einem Ton, der deut lich machte, dass dieses Thema abgehakt war. »Ist dir nach Kuchen oder Plätzchen oder nach etwas anderem zumute ? Obwohl dein Dinner bestimmt noch nicht lange zurückliegt. Ich könnte mich nicht so spät am Abend noch zu einer warmen Mahlzeit hinsetzen.« Und sie konnte das
auch nicht gutheißen. »Aber ich wette, du bist daran gewöhnt.« »Danke, Jean. Du hast natürlich Recht, und ich kann wirklich nichts mehr essen«, gestand Cristi. »Aber lass dich durch mich von nichts abhalten.« »Ja, vielleicht nehme ich noch einen Bissen zu mir.« Jean ging hin und her und suchte sich ein paar Sachen für ihr schlichtes Mahl zusammen. Ein Stück Hackfleischpastete, Käse, Cracker, vielleicht eine Scheibe Ingwerbrot oder ein Stück Kuchen. Donnie hatte es geliebt, abends noch einen kräftigen Imbiss zu sich zu nehmen. Normalerweise gab es schon um fünf Uhr das Abendessen. Jean dachte in letzter Zeit oft an Donnie und hörte seine Stimme und seine Worte. Bei die sen Gelegenheiten erschien er ihr so nahe, dass sie sich nicht mehr erinnerte, was sie eigentlich hatte tun wollen; dann stand sie plötzlich mitten im Zimmer und starrte verwirrt auf das, was sie in den Händen hielt. Diese Momente waren kaum zu ertragen. Cristi beobachtete Jeans Hände, die weit weniger kräftig zuzupacken schienen als früher. Sie erschrak, weil Jean so schlampig aussah, als achtete sie gar nicht mehr auf sich - auch das war neu. Es war schwer, die Veränderung zu benennen, denn Jean hatte sich nie sehr für Kleider interessiert. Sie hatte ihren »Sonntagsstaat« - ein mit Blumen bedrucktes Kleid mit Rüschen am Ausschnitt, wie es die Frauen im Glen trugen, wenn sie auf Partys oder ceilidhs gingen -, einen dunklen Mantel für Beerdigungen, einen Faltenrock, eine hübsche Bluse und eine Strickjacke für die seltenen Gelegenheiten, wenn sie Besuch erwartete. Aber die Alltagskleidung trug sie immer auf, bis sie fadenscheinig war, und sie band sich stets eine Schürze um. Da sie bei Wind und Wetter täglich mehrmals über den Hof laufen musste und hier und dort zu tun hatte, war ihr Haar meistens in Unordnung, und ihren Händen sah man die harte Arbeit an. Aber jetzt wirkte ihre Haut grau, ihr Haar müsste dringend gewaschen werden, ihre Schultern waren schlaff, und die Mundwinkel
hingen herunter. »Du hast aufregende Neuigkeiten, hab ich gehört«, drängte Jean, als sie die große braune Teekanne, die sie immer so voll machte, als müsste sie nach wie vor eine fünfköpfige Familie versorgen, auf den fleckigen Untersetzer stellte. Ihrer Ansicht nach schmeckte der Tee nicht, wenn man nur wenig davon aufbrühte. »Setz dich«, befahl sie. Donnie hatte es immer bevorzugt, sich am Küchentisch niederzulassen, wenn er spätabends noch etwas gegessen hatte. Und Jean hielt es genauso, selbst wenn sie sich nur eine Tasse Tee gönnte. »Ich weiß nicht, ob es aufregende oder einfach nur erschreckende Neuigkeiten sind«, gestand Cristi und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch mit der vertrauten roten Leinentischdecke. Zu den richtigen Mahlzeiten legte Jean immer eine saubere weiße Tischdecke diagonal darüber. Cristi hatte den Tisch nie ohne dieses rote Tuch gesehen, aber sie wusste, dass es nach jeder Mahlzeit zur Tür gebracht und im Freien ausgeschüttelt wurde. Heute entdeckte sie allerdings Krümel und eingetrocknetes Eigelb darauf. Sie wandte den Blick ab. Die Jean, die in früheren Jahren immer so stolz auf ihren makellosen Haushalt gewesen war, hätte so etwas niemals geduldet. Jean betrachtete Cristi über den Rand ihres Bechers hinweg, den sie in beiden Händen hielt. Sie trank nicht von ihrem Tee und rührte das Essen, das sie auf den Tisch gestellt hatte, nicht an. »Es war bestimmt nicht leicht für dich, nach all den Jahren von deiner Familie zu hören«, bemerkte sie. Diese unverblümten Worte brachten augenblicklich die Jean zurück, an die sich Cristi erinnerte, die vernünftige, tüchtige Hausfrau und Mutter, die immer herzlich und gutmütig war und im Kreise ihrer Familie in dem winzigen Cottage ein glückliches Leben führte. Dieser Blick in die Vergangenheit war beruhigend
und vertrieb für den Augenblick Cristis Besorgnis. Außerdem ermöglichte er ihr, sich Jean zu öffnen und ihr von ihren Zweifeln und Ängsten, aber auch von der Aufregung und Neugier zu erzählen, die der Brief aus Brasilien geweckt hatte. Bei dem Gespräch mit der Familie war immer die Angst da gewesen, sie durch irgendeine Äußerung zu verletzen. Jetzt konnte sie unbeschwert wilden Spekulationen nachhängen, ohne Fragen aufzuwerfen, die dann doch taktvoll unterdrückt wurden. Es bestand keine Gefahr, jemandem Schmerzen zu bereiten, während sie für sich selbst ihre Reaktion auf das, was mit ihr geschah, zu ergründen versuchte und zum ersten Mal die erschreckend starke Sehnsucht zuließ, diesen Teil ihres Erbes zu erforschen. Es konnte Jean weder aufmöbeln noch niederbügeln, wie sie selbst es ausdrücken würde, wenn Cristi die bruchstückhaften Erinnerungen ihrer frühen Jahre in Rio aufleben ließ Erinnerungen an die Tage, in denen sie abgeschieden und isoliert in einem kleinen, aber wunderschönen, luxuriösen Haus gelebt und ihre leichtlebige, gesellschaftlich aktive Mutter kaum zu Gesicht bekommen hatte. Lediglich die Dienstboten, insbesondere ihr eigenes Mädchen Isaura, hatten ihr Geborgenheit und Stabilität vermittelt. Doch dann schlichen sich Misstöne ein. Cristi, der es immer noch schwer fiel, all das zu begreifen, sprach darüber, dass sie es als Ironie ansah, dass ihr Großvater ausge rechnet ihr seine Rinderranch hinterlassen hatte. »Die Ranch heißt >Drei Pinien<«, sagte sie genussvoll. »Klingt das nicht ein bisschen romantisch? Oder eher nach Laurel und Hardy? Wie auch immer, kannst du dir vorstellen, was ich mit einer Rinderranch anfangen soll ?« »Na ja, du wirst auf alle Fälle bald viel zu vornehm für uns sein«, versetzte Jean scharf. Sie stand auf, stellte klappernd die Becher und Untertassen zusammen und räumte den vollen Teller weg, von dem sie nichts angerührt hatte. »Dir gehört jetzt
Land und wer weiß was sonst noch.« Cristi war entsetzt über ihre eigene Taktlosigkeit. Es war gut und schön, darüber zu sprechen, dass sie zurück zu ihren Wurzeln ging, endlich ihre Verwandtschaft kennen lernte, die ihre Existenz bis jetzt gar nicht zur Kennt nis genommen hatte, oder in Erinnerungen zu tauchen,die die ganze Zeit ausgeklammert gewesen waren, doch sie hätte niemals das Ausmaß ihres Erbes erwähnen dür fen. Selbstverständlich war Jean verschnupft. Und warum sollte sie ihren Groll verbergen? Allerdings war Cristi klug genug, um zu wissen, dass diese Reaktion weniger mit ihr persönlich als vielmehr mit Jeans Verbitterung über die eigene Situation und die trüben Zukunftsaussichten zu tun hatte und dass sie generell mit der Unge rechtigkeit des Schicksals haderte. Cristi lief knallrot an; sie wusste, dass jeder Versuch, sich zu entschuldigen, die Peinlichkeit nur noch vergrößern würde. Jean leerte die Teekanne ins Spülbecken aus und fragte über die Schulter: »Wann verschwindest du von hier?« Auch wenn es fast so klang, war das kein Rausschmiss, so viel verstand Cristi zum Glück. »Darüber werden Archie, Pauly und ich morgen reden«, erwiderte sie und spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. War sie tatsächlich kurz davor, von hier fort zu gehen ? »Aber ich kann nicht sofort weg. Vielleicht brauche ich Impfungen und so weiter, und dann muss noch die Reise gebucht und alles organisiert werden.« Jean schnaubte. Solche Dinge überstiegen ihren Horizont. »Dann bekommen wir dich noch mal zu Gesicht, bevor du losfährst, oder?« »Natürlich. Jean, du hast vorhin nicht viel gesagt, aber darf ich fragen, wo sich Jill derzeit aufhält? Geht es ihr gut?« Es war ihr unmöglich, sich noch einmal nach Dougal zu erkundigen, aber sie hoffte von ganzem Herzen, dass sie ihn bald sehen würde.
»Ach, die!« Jean drehte sich zu Cristi um und zerrte an dem alten, zerschlissenen Handtuch, mit dem sie sich gerade die Hände abgetrocknet hatte. »Frag mich nicht nach der.« Sie schaute mit grimmiger Miene auf die Uhr. »Sie kommt heim, wann es ihr passt.« Also wohnte Jill zu Hause. Das beantwortete eine Frage. »Dougal müsste jede Minute zurückkommen«, fügte Jean in einem ganz anderen Tonfall hinzu. »Er ist nach Riach gefahren, um bei Ed Cullane ein Ersatzteil für den Land Rover zu holen. Ich würde ja nichts, was ich von Ed Cullane bekomme, in mein Auto einbauen. Nicht, wenn ich will, dass es fährt.« Dougal war also auch noch hier. Cristi atmete erleichtert auf. Sie war den ganzen Abend nicht im Stande gewesen, jemanden nach ihm zu fragen, und sein Name war nicht ein einziges Mal erwähnt worden. Hatten die anderen das Thema vermieden, weil sie ahnten, dass die jahrelange Freundschaft ins Wanken geraten war? Der Erleichterung folgte Panik. Wenn Dougal heimkam und sie hier vorfand, könnte er denken, dass sie auf ihn wartete. Plötzlich war sie fassungslos, dass sie so verdrehte Gedankengänge verfolgte; Dougal war ein Freund, um Himmels willen! »Er wird nicht begeistert sein, wenn er hört, dass du schon bald ins Ausland gehst«, meinte Jean. Cristi warf ihr rasch einen Blick zu. Aber die Bemerkung war nicht hintergründig, und der Hoffnungsschimmer verglomm. »Du wirst uns allen fehlen«, versicherte Jean noch, als sie sich an der Tür verabschiedeten, und damit musste sich Cristi zufrieden geben.
4. Kapitel Als Cristi den Rückweg zum Haus antrat, sah sie, dass in der Scheune noch ein einziges Licht brannte. Madeleine las. Sie gab selbst zu, dass sie seit Toms Unfall nicht mehr gut schlief. Das
Licht weckte in Cristi die tiefe Sehnsucht, dass alles wieder so sein möge wie früher - niemand sollte verletzt oder einsam sein, niemand sollte Kummer und Sorgen haben. Sie wusste, dass das ein kindischer Wunsch war, der ihrem instinktiven Widerwillen gegen die Veränderungen entsprang, die in ihrer eigenen Zukunft lauerten. Bestand die Möglichkeit, dass sie Dougal begegnete, wenn er nach Hause fuhr? Von hier aus konnte sie die Straße im Glen überblicken. Keine Autoscheinwerfer. Und wenn sie ganz langsam ging... ? Sie beschleunigte augenblicklich ihre Schritte, beschämt, dass sie derartige Strategien ersann, dann fragte sie laut: »Cristi, was machst du eigentlich?« Wenn sie Dougal sehen wollte, dann würden sie sich treffen. Früher, bevor sich diese Kluft zwischen ihnen aufgetan hatte, hätte sie ihm auf dem Heimweg aufgelauert, und keiner von ihnen hätte sich etwas dabei gedacht. Aber jetzt erschien es ihr falsch, auf den Zufall zu warten oder ein Treffen auf diese Weise herbeizuführen. Nein, es war besser, morgen Abend, wenn er die Arbeit hinter sich hatte, zum Cottage hinaufzugehen. Vorher würde sie anrufen, um sicherzustellen, dass es ihm recht war. Eigenartig, dass Jean nicht mehr von ihm erzählt hatte. Sie war immer so stolz auf Dougal, besonders jetzt, da sie sich vollkommen auf ihn verließ. Aber natürlich waren Cristis Neuigkeiten das Haup tthema gewesen; sie schauderte, als ihr alles wieder in vollem Umfang zu Bewusstsein kam. Bei der Weggabelung - eine Straße führte nach links, um den Verkehr von und zur Farm vom Haus fern zu halten - ging Cristi entschlossen weiter. Sie kam an der Vorratskammer für das Wildfleisch, den Gewächshäusern und den Gartenschuppen vorbei in den Hof, an den Garagen, eine Holzscheune und ihr Atelier grenzten. Archie hatte die Tür zum Küchenflur wie gewöhnlich offen gelassen. Als sie im Haus war, besann sie sich jedoch eines anderen. Warum sollte sie nicht auf Dougal warten? Er war ihr Freund
und der Mensch, dem sie am meisten vertraute; sie hatte ihn gern. Und nichts konnte daran etwas ändern. Was wäre natürlicher, als ihn sehen zu wollen ? Insbesondere jetzt, da ihr ganzes Leben in Aufruhr war? Cristi ging hinaus, überquerte den Hof und lief zurück zur Weggabelung. Unter den schützenden Bäumen war es dunkler, aber sie verlangsamte ihre Schritte nicht. Sie würde heute Nacht keinen Schlaf finden, wenn sie nicht mit Dougal gesprochen hatte. Cristi dachte an seinen kräftigen Körper und die breiten Schultern in der alten, abgetragenen Jacke, an seine konzentrierte Miene, wenn er eine schwierige Arbeit zu bewältigen hatte, sein nur halb unterdrücktes Lächeln, wenn er sie neckte, und an sein breites Grinsen, das sie so leicht provozieren konnte; diese Bilder riefen eine erschütternde Sehnsucht hervor. Sie wünschte sich die Geborgenheit seiner Nähe, die Versicherung, dass das, was seit ihrem ersten Tag in Drumveyn so wichtig für sie gewesen war, immer noch Bestand hatte. Eine Erinnerung, die ihr Jahre nicht in den Sinn gekommen war, kam in aller Klarheit an die Oberfläche. Sie gehörte zu diesem ersten Tag. Die Schrecken der Reise waren allmählich verblasst, aber alles war fremd und beängstigend gewesen - die vielen Namen, Gesichter, Stimmen, das ungewohnte Essen, die Kleider, die neuen Dinge, die man von ihr erwartete, die Kälte und das große graue Haus zwischen den weißen Bergen. Madeleine ging mit ihr zum Hirten-Cottage, um die Kleider zurückzubringen, die sie sich für Cristi kurzfristig von Jill ausgeliehen hatte. Dougal und Jill nahmen sie mit, um ihr die jungen Hunde zu zeigen. Sie rannten voraus und liefen ohne Bedenken über den schlammigen Hof, aber Cristi, die durch eine ganz andere Umgebung und Regeln geprägt war, zögerte einen Moment. Dougal drehte sich um, um nach ihr zu sehen, kam, weil er ihre Zweifel offenbar verstand, zurück und streckte ihr die Hand entgegen, um sie zum Kuhstall zu führen.
Cristi hatte wieder die Luft von damals in der Nase, den Geruch nach Schnee, den der Wind mit sich brachte, den Duft der Fichten, der nassen Steine und des Strohs. All das war ihr mittlerweile so vertraut geworden und bedeutete für sie Heimat. Cristi stand auf der gewölbten Brücke, und da sie ihre Zweifel hatte, ob ihr die brennende Wehmut in diesem Augenblick weiterhalf, ließ sie die beruhigenden nächtlichen Geräusche auf sich wirken; die Schreie eines Aus ternfischers und eines Waldkäuzchens auf der anderen Seite der Weide, die Laute der Schafe. Zu dieser Jahreszeit hörte man immer die heisere Stimme eines Mutterschafs und die viel hellere eines Lämmchens. Ihr schien es, als wäre bereits sehr viel Zeit vergangen, seit sie vorhin auf der Heimfahrt auf der Brücke stehen geblieben war. Sie musste nicht mehr lange warten. Die Lichtkegel von Autoscheinwerfern tasteten über die Landschaft, und gleich darauf war das Röhren des altehr würdigen Land Rover zu hören, den sich Dougal mehr oder weniger selbst hergerichtet hatte. Anspannung und Unsicherheit kehrten zurück. Was würde er davon halten, dass sie so spät am Abend hier auf ihn wartete? Könnte er auf die Idee kommen, dass sie zusammen mit ihm woanders hinwollte ? Und wenn er diese Aktion als billige Anmache betrachtete, wie Jill sie zu seinem Ärger immer wieder in Szene setzte ? Cristi beging die größte Dummheit, die ihr in dieser ungewissen Situation einfallen konnte: Sie versteckte sich. Sie lief ans Ende der Brücke, sprang über die Steinbrüstung und suchte Deckung. Mit Tau bedeckte, hohe Storchschnabelgewächse und Beinwell behinderten sie. Ihre Sandalen waren so nass, dass sie sie beinahe verlor. Es gab auch Brennnesseln, und wilde Heckenrosen zerrten an ihrer Kleidung. Es war ohnehin zu spät. Die Lichter hatten sie erfasst, und Dougal würde nicht die kleinste Bewegung in dieser vertrauten
Szenerie entgehen. Der Land Rover schwenk te auf die Brücke und hielt an. Dann hörte Cristi erleichtert und ungläubig zugleich, wie er wieder anfuhr. Aber er rollte nicht weit, blieb erneut stehen, setzte zurück. Der Motor erstarb, und es herrschte einen Moment atemlose Stille, bevor sich die Geräusche der Natur wieder bemerkbar machten. Als Cristi beschämt den Rückweg antrat, rutschten ihr die Sandalen von den Füßen. Sie hörte, wie die Wagentür zuschlug und Dougals Schritte in ihre Richtung kamen. »Hier.« Er beugte sich vor und reichte ihr die Hand, wie er es damals im Hof getan hatte. Cristi legte ihre kalte, nasse Hand in seine, fand Halt für ihre Füße und spürte Dougals Kraft, als er sie die Böschung hinaufzog. Sie krümmte die Zehen, um ihre Sandale nicht zu verlieren, und schnappte nach Luft, als sie plötzlich einen Krampf im Fuß bekam. »Alles in Ordnung ?« Ein Krampf. « Er hielt ihren Arm fest, als sie sich bückte und versuchte, an ihren eisigen Zehen zu ziehen. Sie zuckte zusammen vor Schmerz und war wütend, weil diese Plage den kostbaren Moment verdarb, und sie ganz allein war schuld daran. Cristi wünschte von ganzem Herzen, sie wäre im Haus geblieben und ins Bett gegangen. Alles war fa lsch. Dougal hielt in eisernem Schweigen ihren Arm und wartete, bis sie sich erholt hatte. Mit einem Mal sehnte sie sich mit aller Macht danach, dass alles wieder so wäre wie früher. Er sollte vor ihr knien, damit sie sich auf seine Schulter stützen konnte, während er geschickt den Krampf aus dem kalten Fuß massierte. So müsste es sein. Und als er sie aus dem Gestrüpp gezogen hatte, hätte er Sagen müssen: »Was, in Gottes Namen, treibst du da unten?« Dann hätte sie erwidern können: »Ich wollte mich vor dir verstecken.« Und sie hätten gelacht und ganz normal und ungezwungen miteinander geredet.
»Alles okay jetzt ?« »Ja, danke.« Sie stellte den Fuß auf den Boden, und ein Zwicken in ihrer Wade verriet, dass es noch nicht okay war, doch sie wollte endlich dieses lastende Schweigen brechen und das Unbehagen vertreiben. Sie war ein ganzes Semester fort gewesen, dann müsste doch die Begrüßung herzlicher ausfallen, wenn auch ohne Umarmung oder einen freundschaftlichen Kuss. Derartige Kontakte hatte es schon lange nicht mehr gegeben, das musste sie zugeben. Wie schön war es, dachte sie verzagt, als Berührungen noch Teil des Vergnügens ihrer Zweisamkeit gewesen waren, als sie das normale Leben genossen und ohne Worte gewusst hatten, dass sie jede freie Minute zusammen verbringen würden. Zu der Zeit hatte Dougal ihr Haar gezaust, sie freundschaftlich geschubst, ihr seine Hand gereicht, um ihr über irgendwelche Hindernisse zu helfen, sie hin und wieder herumgewirbelt, besonders wenn er sie geneckt hatte und ahnte, dass sie böse werden könnte. Jetzt zog er seine Hand weg, sobald sie den Fuß auf den Boden setzte. Er wich sogar einen Schritt zurück - vor ihr - und sah sie mit einem Ausdruck an, den sie in der Dunkelheit nicht deuten konnte. »Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte er nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschien. Proteste, Erklärungen, Bitten flammten in Cristi auf, aber sie konnte sie nicht in Worte fassen. »Ja, bitte«, antwortete sie matt. Im Land Rover umhüllte sie die Vergangenheit. Es war gemütlich warm und roch nach Diesel, Werkzeugen, Hunden, Stroh und Sackleinen. Sie brauchte gar nicht hinzusehen, um zu wissen, welches Durcheinander in dem Fach unter dem Armaturenbrett herrschte – die ölverschmierten Lumpen, Drahtrollen, verwirrte Schnüre, die schmutzigen Handschuhe, ein Schraubenschlüssel, Dichtungen, Schrauben und rostige Bolzen und Muttern. Sie dachte an all die Stunden, die sie mit
Dougal in diesem Auto auf dem Weg zu irgendeiner Arbeit auf dem Gut verbracht hatte. Sie hatten zusammen Kartoffeln geklaubt, beim Lammen geholfen, die Herde zum Scheren getrieben, Gräben gesäubert oder Zäune geflickt, Heidekraut niedergebrannt und Bäume gepflanzt oder Sturmschäden repariert. Dieses verbeulte alte Vehikel hatte sie auch zu ceilidhs und Partys, zu Silvesterfeiern und in den Pub im Dorf oder hinüber ins »Cluny Arms«, zu den Vorführungen nach Kirton und zu allen anderen Veranstaltungen im Glen gebracht. Und oft hatten sie einfach nur auf den Vordersitzen gesessen, um sich gegen ein Schneetreiben oder einen Regenguss zu schützen oder weil sie geredet und alles andere um sich herum vergessen hatten. Die stundenlangen Gespräche... Die unendlich vielen Erinnerungen brachten einen sehnsüchtigen Schmerz mit sich. »Ich war bei deiner Mutter«, erzählte sie, um ein ganz normales Thema anzuschneiden. Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren gepresst. »Ich hab sie nach dem Dinner in der Scheune kurz besucht.« »Ah, ja.« »Dann bin ich hier heruntergegangen und ... und ...« Nicht, nicht, warnte die Stimme der Vernunft sie. Lass es. Wie konnte sie aussprechen, dass sie sich danach gesehnt hatte, ihn zu sehen, und dann den Mut verloren hatte? War es offensichtlich gewesen, dass sie versucht hatte, sich zu verstecken ? Könnte er denken, dass sie nur am Flussufer spazieren gegangen war? Das hielt sie für unwahrscheinlich, und sie verfluchte sich, weil sie dem Impuls wegzulaufen nachgegeben hatte. Sie hasste solche Tricks und Unaufrichtigkeiten zwischen ihnen. »Ich hatte gehofft, dich zu sehen«, gestand sie. Dougal erwiderte nichts. Würden sie kein Wort mehr wechseln, bis sie das Haus erreichten ? In dem Schweigen schwang mehr mit als nur die Befangenheit, die sich im letzten Jahr zwischen ihnen aufgebaut hatte. Es enthielt Feindseligkeit,
und das war unerträglich. Cristi fiel nur eine einzige Erklärung dafür ein. Jeans Worte klangen ihr wieder im Ohr, und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Du wirst auf alle Fälle bald viel zu vornehm für uns sein. Sie konnte diese Situation unmöglich hinnehmen und auf sich beruhen lassen. Gleich würden sie vor dem Haus stehen bleiben. »Hat dir deine Mutter von dem Brief erzählt, den ich aus Brasilien bekommen habe?« Sie spürte, wie ungeheuer wichtig es war, die richtigen Worte zu wählen, gleichzeitig hasste sie es, nicht so reden zu können, wie ihr zu Mute war. Dougal drehte ihr kurz das Gesicht zu, dann schaute er wieder nach vorn. »Ja, das hat sie«, antwortete er schließlich. »Es ist alles ein bisschen beängstigend.« Cristi merkte selbst, dass ihr Tonfall klang, als müsste sie sich für etwas entschuldigen, und ärgerte sich deswegen. Sie wusste wirklich nicht, wie sie mit alldem umgehen sollte. »Ja, du hast sicher nicht damit gerechnet«, erwiderte Dougal höflich. So reden wir nicht miteinander, dachte sie verzweifelt. Wo sind die Freimütigkeit, das Lachen, das Verständnis, das so lange ganz natürlich gewesen war? Dougal, begreifst du denn nicht, dass es mich zerreißt, wenn ich daran denke, dass ich fort muss ? Allein der Gedanke, dass ich diese Leute, die meine bloße Existenz verabscheut haben, treffen muss, macht mir Angst. Die Vorstellung, dort unter ihnen zu sein, in einem Land, an das ich mich kaum erinnere, ist grauenvoll. Und es bereitet mir echte Schwierigkeiten, die schlechten Gefühle abzuschütteln, wenn ich versuche, die Bilder aus der Vergangenheit zusammenzusetzen. Das verstehst du doch, oder? Wenn sie eine Möglichkeit finden könnte, ihm das alles zu sagen, um wie viel schwerer würde es dann, ihm die Faszination und die Tatsache zu erklären, dass sie die Herausforderung
reizte ? Dass sie trotz ihrer Ängste darauf brannte, die viel zu lange verborgenen Geheimnisse endlich zu lüften. Und wie konnte sie ihm die innere Überzeugung beschreiben, dass sie sich dieser neuen Ent wicklung stellen musste, egal, welche Konsequenzen das mit sich brachte ? Sie hatten das Wäldchen bereits hinter sich gelassen und überquerten den offenen Platz, den Archie geschaffen hatte, weil er mehr Licht in das finstere Haus lassen wollte, das von strikten Regeln und Verboten regiert worden war, in dem die Kinderzimmer der reinste Albtraum gewesen waren und die Erwachsenen keine Liebe übrig gehabt hatten. Der Land Rover fuhr in den Hof und blieb stehen. »Dougal, bitte ...« Cristi wusste selbst kaum, was sie sagen wollte. Sie wusste nur, dass es ihr widerstrebte, ihn wegfahren zu lassen. Sie machte keine Anstalten auszusteigen. »Können wir reden ?« Er hob den linken Arm und drehte die Uhr ins Licht der Deckenleuchte, und Cristi spürte, dass ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Tut mir Leid. Es ist natürlich schon spät, und du musst morgen früh zur Arbeit.« »Das stimmt.« Trotzdem schaltete er das Licht und den Motor aus und wartete, ohne sich zu ihr umzudrehen, auf das, was sie zu sagen hatte. »Möchtest du mit rein kommen ?«, schlug Cristi zögerlich vor. »Wir könnten ...« »Nein, ich komme nicht mit.« Sie kannte diesen Ton nur zu gut. Jeder Versuch, ihn zu überreden, wäre zwecklos. Sie musste sich mit dem zufrieden geben, was er ihr bot, und ihre Chance nutzen. »Dougal, mich bringt das Ganze so durcheinander. Es ist schwer zu begreifen. College, Edinburgh, die Wohnung - alles ist über Nacht vorbei. Jetzt bin ich wieder zu Hause ...« Sie brach ab. Zu Hause. Wie konnte sie in Worte fassen, was
das für sie - gerade jetzt - bedeutete ? Früher hätte sie das nicht erläutern müssen. Es entstand ein kurzes Schweigen, dann erwiderte Dougal: »Es muss sich alles weiterentwickeln, Cristi.« Trotz der kargen Worte lag etwas in seiner Stimme, was sie tröstete - die Botschaft, dass er auch das verstanden hatte, was sie nicht ausgesprochen hatte. »Ich wünschte, es würde alles bleiben, wie es war«, gab sie rebellisch zurück. »Ich hasse Veränderungen.« »Du redest wie ein Kind.« Darin lag kein Trost mehr. Wieder eine Pause. »Mir scheint«, fuhr Dougal fort, und diesmal merkte man ihm den unterdrückten Unmut richtig an, »dass eine Menge Leute froh wären, solche Nachrichten zu bekommen, wie sie dir ins Haus geflattert sind.« Erneut fühlte Cristi, wie ihre Wangen heiß wurden. das Letzte, womit sie gerechnet hatte, war dieser maßvolle, aber unmissverständliche Tadel. Doch natürlich musste er zu diesem Urteil kommen, und wer konnte ihm daraus einen Vorwurf machen ? Ihr war ein riesiges Erbe, von dem viele Menschen nur träumen konnten, in den Schoß gefallen, und sie beklagte sich. Wie musste er sich fühlen, wenn er sein eigenes ärmliches Leben dagegen sah ? Er war gezwungen gewesen, auf ein Studium an der Universität zu verzichten, und musste statt dessen Kurse am örtlichen College besuchen; er fühlte sich verpflichtet, zu Hause bei seiner Mutter zu bleiben und einen Bürojob bei einem Lieferanten für landwirtschaftliches Zubehör in Muirend anzunehmen. Während Donnies Krankheit hatte er so viel wie möglich auf dem Gut in Drumveyn gearbeitet - und tat es noch -, um sich für Archies Großzügigkeit zu revanchieren, und nahm noch Gelegenheitsjobs an, weil er das Einkommen der Familie aufbessern wollte. Er hatte nicht nur die Verantwortung für Jean übernommen, da sein älterer Bruder Donald, der immer schon wild und unberechenbar gewesen war, ihr viel Kummer machte und sie so gut wie gar nicht unterstützte,
sondern tat auch noch alles, was in seiner Macht stand, um die Schwierigkeiten auszubügeln, in die sich Jill immer wieder brachte. Dougal, der so gern Land besitzen und eine Farm betreiben würde, egal, wie groß die Krise in der Land wirtschaft war, der sich danach sehnte, unabhängig zu sein, jedoch kaum darauf hoffen durfte, hatte allen Grund, sich über ihre Undankbarkeit und den Widerwillen dem Glücksfall gegenüber, der ihr widerfahren war, zu ärgern. »Ich bin ja auch froh«, räumte sie schuld bewusst ein. »Zumindest dankbar. Natürlich weiß ich, was für ein Glück ich habe. Es kommt nur aus heiterem Himmel, und alles hängt mit meiner Kindheit zusammen, als mich meine Eltern abgeschoben haben und die Familie meiner Mutter nichts von mir wissen wollte ...« Warum sagte sie so etwas ? Dougal kannte die Geschichte genauso gut wie sie. Er drehte den Kopf weg, obwohl es nichts zu sehen gab als die langweiligen Garagentore. Er ließ sich Zeit, die Worte zu überdenken, die aus ihm heraussprudeln wollten, und überließ sich kurz seinem Zorn, den er so selten empfand und den er selbst kaum verstehen konnte. Den Zorn auf die Umstände, an denen nichts zu ändern war. Zorn, weil Cristi sich an diesem Abend vor ihm versteckt hatte. Versteckt vor ihm. Er hatte Recht gehabt - der Abgrund zwischen ihnen war so breit, dass er nicht mehr überbrückt werden konnte. Sie lebten in verschiedenen Welten. Er sollte sich freuen, dass sie aus seinem Leben verschwand, dass er nie wieder den Abschiedsschmerz und die noch größeren Qualen erdulden musste, wenn sie wiederkam. Ihre Nähe und Unerreichbarkeit, die nie ersterbende Hoffnung, sie zu sehen, der schmerzliche Unterschied zwischen früher und heute - das alles würde ihn niemals wieder foltern. Aber selbst, als ihm das durch den Kopf ging, raubte ihm der wilde Entschluss, niemals zuzulassen, dass etwas oder jemand sie ihm wegnahm, den Verstand. Himmel, sie trieb ihn noch in
den Wahnsinn. All das verdrängte er vehement. »Ich fahre jetzt besser heim«, erklärte er knapp. Er zuckte selbst zusammen, weil er nie beabsichtigt hatte, so schroff zu sein. »Es ist schon spät«, fügte er sanfter hinzu. Wollte er nicht einmal mehr mit ihr sprechen? Cristi tastete tränenblind nach dem Türgriff. »Warte.« Er stieg aus, ging um den Wagen herum, um ihr die Hand zu reichen, als sie ausstieg. »Danke, Dougal.« Er hörte die Worte kaum, und beugte den Kopf zu ihrem, als er ihre Hand den Bruchteil einer Sekunde zu lange festhielt. Dougal war nicht groß, was ihm als Halbwüchsiger viel Kummer bereitet hatte, aber Cristi war so klein und zart, dass ihm seine geringe Körpergröße in ihrer Gegenwart nie etwas ausgemacht hatte. »Gute Nacht, Dougal.« Wars das ? Er verabschiedete sich nicht, blieb aber stehen, um ihr nachzusehen. »Cristi ?« Er hatte nicht vorgehabt, sie zu rufen. Sie wirbelte eilfertig herum. »Wir werden reden. Ein anderes Mal, okay ?« Er sah, wie sie die Hand hob. »Gut«, hörte er sie ant worten, dann schloss sie die Tür hinter sich. »Pass a uf dich auf!«, sagte er laut und beobachtete, wie sie an einem Fenster nach dem anderen in dem erleuchteten Korridor vorbeilief. Ein bedeutungsloses Klischee. Aber aus ihm sprach sein ganzes Herz.
5. Kapitel Dougal vergaß nicht, dass die Napiers schlafen wollten, und machte so wenig Lärm wie möglich, als er in Richtung Farm davonfuhr. Er stellte sich vor, wie Cristi lautlos durch das große Haus, das er so gut kannte, und in ihre kleine, schlichte Kammer huschte.
In Wahrheit lehnte sich Cristi an die Küchentür, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sie hatte Mühe, die brennenden Schluchzer zu unterdrücken, denen sie auf keinen Fall freien Lauf lassen durfte. Sie wusste, dass sie nicht wieder aufhören könnte, wenn sie jetzt anfing zu weinen. Die Müdigkeit nach dem endlos langen Tag, die Erkenntnis, dass die Studententage endgültig vorbei waren und sie ihre Freundinnen Torie und Isa, mit denen sie ein hektisches, glückliches Leben geteilt hatte, vermutlich nie wiedersehen würde, die Wut auf die weit entfernten Verwandten, die nicht das Geringste für sie übrig hatten, und trotzdem von ihr verlangten, dass sie sprang, wenn sie riefen, und die Angst vor dem langen Flug in ein Land, in dem sie eine Fremde war - all diese Gefühle stürmten jetzt mit Macht auf sie ein, und sie war fast nicht im Stande, sie auszuhalten. Dennoch war sie sich bewusst, dass das alles nebensächlich im Vergleich zu dem Kern ihres Schmerzes war. Es war unerträglich gewesen, mit Dougal zusammen zu sein und nicht mit ihm sprechen zu können. Genauso sehr belastete sie, dass sie so idiotisch gewesen war, sich vor ihm zu verstecken und noch dazu so wenig effektiv, dass er verwirrt und verletzt sein musste. Sie war verzweifelt, dass sich eine solche Barriere zwischen ihnen aufge türmt hatte. Es dauerte etliche Minuten, bis es ihr gelang, die Tränen ganz hinunterzuschlucken, dann schlich sie mit zitternden, schwachen Gliedern hinauf in ihr Zimmer. Jean, die den Land Rover schon von weitem kommen hörte, setzte Wasser auf. Dougal war spät dran. Entweder war er Cristi begegnet, oder er hatte sie nur um Haaresbreite verpasst. Vermutlich würde er kein Wort darüber verlieren. Er redete in letzter Zeit ohnehin nicht viel, ihr offener, fröhlicher, umgänglicher Junge, und Jean hatte oft ein schlechtes Gewissen, weil er so viel auf seinen Schultern tragen musste und sie sich in allem auf ihn verließ. Die anderen beiden, Donald und Jill, hatten die schlechten Eigenschaften geerbt, die aus ihrer eigenen
Familie kamen. Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen fest zusammen, als sie nach der alten Teebüchse griff, die einst bunt gewesen, jetzt aber ganz abgeschabt war. Aber Dougal kam nicht ins Haus. Er saß im Land Rover und hatte den Kopf auf die über dem Steuerrad verschränkten Arme gelegt. Nach einer Weile stieg er aus und ging über den Hof zum Gatter zwischen Stall und Traktor-Remise. Heute musste er nicht das Vieh versorgen, was ihm als letzte Arbeit des Tages selbst bei schlimmstem Wetter nichts ausmachte. Im Sommer standen die Tiere so lange auf der Weide, bis der erste Bodenfrost wieder einsetzte. Er lehnte sich an das Gatter. Die Ponys hielten sich am Fluss bei den großen Eschen auf. Hatte Cristi die Zeit gehabt, sie sich anzusehen? Als sich seine Augen an das fahle Nachtlicht gewöhnt hatten, sah er die Berge, die sich klar und schwarz vor dem grauen Himmel erhoben. Wie Cristi vorhin versuchte er, die Stille in sein Inneres eindringen zu lassen, doch es glückte ihm nicht. Cristi war schon jetzt eine Million Meilen von ihm entfernt. Es war ihm nie so schwer gefallen, mit ihr zu reden, die Worte waren ihm wie harte Steine in der Kehle stecken geblieben. Er hatte sie nicht einmal gefragt, wie ihre Abschlussprüfungen gelaufen waren oder wie weit sie mit ihrer Zeichenmappe gekommen war, der sie bei ihrem letzten Besuch zu Hause so viel Zeit gewidmet hatte. Um ehrlich zu sein, er wusste kaum noch, wonach er sich erkundigen sollte - er fürchtete, nicht die richtigen Worte zu finden. Trotzdem hatte sie das nie davon abgehalten, von all dem zu plaudern, was sie interessierte. Ein Grinsen erhellte sein Gesicht. Er stellte einen Fuß auf das unterste Querbrett des Gatters, als wollte er seine physischen Kräfte einsetzen, um die trübe Stimmung abzuschütteln. Aber er konnte nur daran denken, was mit Cristi geschah. Sie musste zurück in das Land, in dem sie als Kind gelebt hatte, diese Fremden treffen, die sich immer geweigert hatten, sich in
irgendeiner Weise mit ihr abzugeben, aber die ihre einzigen echten Verwandten waren - das musste schwer zu verkraften sein. Wer konnte voraussagen, wie sich diese Leute nach all der Zeit ihr gegenüber verhalten würden? Und sie war dann ganz allein in einer großen Stadt, die für ihre Gefahren berüchtigt war, musste mit Anwälten verhandeln und sich um geschäftliche Angelegenheiten kümmern, und das in einer Sprache, die sie seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Nur gut, dass Archie immer darauf geachtet hatte, dass sie nichts verlernte. Und dieses Theater, dass es brasilianisches Portugiesisch sein musste und nicht das, das in Portugal selbst üblich war. Vielleicht war das tatsächlich wichtig. Dougal straffte den Rücken. Er hatte auch Entscheidungen für sein Leben zu fällen. Und er hatte gehofft, in diesem Sommer mit Cristi über seine Angelegenheiten sprechen zu können. Jetzt hatte sie sicher keine Zeit mehr für ihn. Wie lange würde sie fort bleiben ? Hatte sich ihr Leben wirklich für immer verändert ? Dougal betrachtete die im Dunkeln liegende Weide. Er sollte ins Haus gehen, denn seine Mutter legte sich nie schlafe n, bevor er im Bett war. Aber Fragen waren das Letzte, was er heute brauchte. Und wo war Jill ? War sie zu Hause ? Sie könnte sich weiß Gott wo herumtreiben. Seine Miene war grimmiger, als es die Natur für ihn vorgesehen hatte, als er mit langsamen Schritten zum Haus ging. Zu dem Haus, das den Galloways nicht gehörte und nie gehören würde, zu dem Haus, in dem er geboren worden war und das er niemals zu seinem Besitz würde machen können. Cristi unternahm mit Broy einen Spaziergang zu den Achalder-Cottages. Sie freute sich über den schönen Tag, und die vertraute Gegend hob ihre Stimmung, obwohl die Ereignisse mit Furcht einflößender Geschwindigkeit voranschritten. Nach einem frühen Ausritt auf dem Bergweg am Morgen - die Landschaft breitete sich immer weiter unter ihr aus, je höher sie
kam, und die süße Morgenluft auf ihren Wangen fühlte sich so wunderbar an, daß sie fast beschlossen hätte, Brasilien und alles, was damit zusammenhing, ganz und gar zu vergessen - hatte sie trotz allem einiges erledigt, was für die Reise nötig war. Der Brief an die Anwälte in Rio, in dem Cristi ihre Ankunft ankündigte und dem geforderten Treffen mit der Fonseca-Familie zustimmte, war bereits unterwegs. Sie hatte überlegt, ob sie telefonieren oder eine E-Mail schicken sollte, doch Archie hatte nur gemeint, ein Brief genüge. »Ich weiß, dass sie dich drängen, und wahrscheinlich hat die Familie eigene Pläne, von denen wir nichts wis sen ...«, er konnte sich nicht vorstellen, dass sie Cristi kampflos einen so großen Teil der Hinterlassenschaft des Großvaters überließen, »... doch ich denke, wir sollten unser Tempo vorlegen und die Dinge so arrangieren, wie es dir passt.« Wenn ich sie nur begleiten könnte, dachte er besorgt. Es war durchaus möglich, dass ihr das alles zu viel wurde. Aber er konnte gerade jetzt nicht fort. Es wurde mit jedem Tag dringlicher, einen neuen Verwalter einzustellen, aber da der vorübergehende Ersatz für Donnie im Verwalterhaus untergebracht war... Er musste unbedingt mit Dougal reden. Obwohl Archie darauf bestand, dass sie sich so viel Zeit lassen sollte, wie sie brauchte, hatte Cristi bei BA angerufen und erfahren, dass sie fr üher als erwartet einen Platz in einem Flugzeug nach Brasilien buchen konnte. Es erschütterte sie regelrecht, dass die Vorbereitungen für eine so weite Reise ziemlich unkompliziert waren. Ihr Pass war noch gültig; sie musste nur ihre Kreditkartennummer angeben, und schon war der Flug gebucht. Es war zu einfach und rückte den Abschied in unmittelbare Nähe. Aber es ist ja nur ein Besuch, rief sie sich ins Gedächtnis, als sie den bequemen Weg verließ und die steile Böschung zum Fluss hinunterging. Ich möchte in Erfahrung bringen, was es mit der Erbschaft auf sich hat, sonst nichts.
Doch wenn ich Land in Brasilien besitze, dann bin ich eigentlich keine Touristin, oder? Landbesitz ! In Bezug auf sie war schon das Wort vollkommen abwegig. Sie drehte sich um und wartete auf Broy, der den Abstieg behutsam und vorsichtig in Angriff nahm, dann überquerte sie die Holzbrücke, von der in der warmen Nachmittagssonne ein angenehmer Geruch nach Kreosot ausging, und bog auf den von Erlen gesäumten Feldweg an der Flussbiegung ein. Hier befanden sich die Hundezwinger und die Freigehege. Cristi kam immer gern hierher. Die Grundstücke mit den beiden Cottages hatten die Quebells in dem Jahr, in dem Cristi nach Drumveyn gekommen war, vom Gut gekauft. Ein Cottage war für Joyce und Stephen Quebell vorgesehen gewesen, das andere für Stephens Mutter. Aber Joyce hatte sich in der Gesellschaft ihrer taffen, alten Schwiegermutter wohler gefühlt als in der ihres verträumten (oder stinkfaulen, wie manche sagten) Ehemannes und sich entschlossen, zu ihr zu ziehen. Die beiden Frauen hatten die Hundezucht und Tierpension aufgebaut, die trotz der abgelegenen Lage unerwartet gut lief. Schon bald hatte sich unterschwellig und in allseitigem Einvernehmen das Lebensmuster verändert. Die alte Mrs. Q war gestorben, und Lisa, die Napier-Tochter von Drumveyn, die nach der Scheidung von Cristis Vater ein Refugium gesucht hatte, hatte sich entschieden, mit Stephen zusammenzuleben und Mrs. Q.'s Platz in dem Unternehmen einzunehmen. Irgendwann ließen sich Joyce und Stephen ohne irgendwelche Probleme scheiden, und Lisa heiratete Stephen. Zum großen Vergnügen der Außenstehenden wurde es mit der Zeit klar, dass Lisa Joyces Gesellschaft bevorzugte, und die Geschichte wiederholte sich, als sich Lisa in Joyces Cottage häuslich einrichtete. Das alles ging ohne erderschütternde Dramen vor sich. Stephen hatte eine Erkältung, die sich in einem scheußlichen Husten manifestierte, Lisa war nach nebenan gegangen, um die Nacht vor einer Hundeschau richtig
durchschlafen zu können, und einfach geblieben. Stephen schien sich nicht daran zu stören. Tom und Archie fragten sich, ob Stephen überhaupt etwas bemerkt hatte. »Hat sich jemals ein anderer Mann von einer herrschsüchtigen Frau nach der anderen so klaglos abservieren lassen?«, fragte Archie erstaunt. »Oder hat es jemals einen gegeben, der den Dreh so raus hat, sie ohne weiteres loszuwerden?«, meinte Tom mit Bewunderung. »Ich glaube kaum, dass er sich groß beschwert.« Worüber hätte sich Stephen auch beschweren sollen ? Sein Beruf war es, Schulbücher für Kinder zu illustrieren, und es stand zu vermuten, dass er gelegentlich auch noch ein wenig arbeitete. Eines war jedenfalls sicher - er hatte mehr Zeit denn je, Tag und Nacht im Glen herumzuwandern, stundenlang am Flussufer oder im verwahrlosten Garten zu stehen, den nur Lisas unregelmäßige, zornige Angriffe von der totalen Verwilderung abhielten. Oft saß Stephen auch nur in seinem alten Sessel und tat absolut gar nichts. Er wurde gefüttert und getränkt wie die Hunde. In emotionaler Hinsicht forderte niemand etwas von ihm; er war einfach da - heiter, freundlich und immer gleich. Nie mand zweifelte an Lisas Zuneigung zu ihm. Für sie war er ein weiser, scharfsichtiger Mann, dem man vollkommen vertrauen konnte. Howard hatte sie nach seinen Bedürfnissen geformt - Stephen liebte sie so, wie sie war. Mehr verlangte sie nicht. Joyces Verhalten ihm gegenüber blieb immer gleich wohlwollend, wenn auch distanziert. Es gab keinerlei Meinungsverschiedenheiten, die die rigorose Arbeitsethik stören könnte, nach der sie und Lisa lebten. Das einzige Problem war, dass Stephen oft einfach übersehen wurde. Vergessen, um es ganz offen auszusprechen. Lisa und Joyce vergeudeten wenig Zeit mit gesellschaftlichen
Zusammenkünften mit den Bewohnern des großen Hauses - wie etwa mit Dinnerpartys, bei denen Joyce und Lisa meistens einnickten, oder Lunches, die bis in den Nachmittag dauerten -, aber sie waren sich einig, dass sie die großen Familienfeste mitfeierten. Unvergesslich war ein Weihnachtsessen, bei dem erst, als ein Stuhl leer blieb und ein Gedeck übrig war, auffiel, dass die beiden Freuen Stephen zu Hause gelassen hatten. Archie war eilends losgezogen, um ihn zu holen, aber selbst als Stephen zu der Gesellschaft stieß, die sich schon über den Truthahnbraten hergemacht hatte, schien ihm gar nicht bewusst zu werden, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen war. So seltsam dieses Dreiecksverhältnis für Außenstehende auch sein mochte, das Schöne an Achalder war, dass dort erwachsene Menschen lebten, die genau das taten, wonach ihnen zu Mute war, und so waren, wie sie sein wollten. Cristi erschien das sehr vernünftig, und sie hatte sich hier immer wohl gefühlt. Heute achtete sie jedoch kaum auf das Gekläffe der Hunde, das sie begleitete - und Broy veranlasste, sich dicht an ihre Fersen zu heften und die Augen zu verdrehen. Sie fröstelte leicht, als sie über den grasbewachsenen Weg am Zaun ging, der die beiden Gärten noch immer trennte, weil bisher niemand die Zeit gefunden hatte, ihn einzureißen. Heute war es ihr unmöglich, das zu ignorieren, woran sie früher nie gedacht hatte - Lisa war im eigentlichen Sinne ihre Stiefmutter und ihr Vormund. Schon allein aus diesem Grund schien es unumgänglich zu sein, mit ihr über die Geschehnisse zu sprechen, auch wenn Lisa diese neue Verbindung zur Vergangenheit mehr Schmerz bringen würde als allen anderen. Ich gehe immer nach Achalder, wenn ich nach Drumveyn zurückkomme, sagte sich Cristi. Ihr war bewusst, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als alles so vorzufinden, wie es immer gewesen war: keine überschwängliche Begrüßung, nur ein paar freundliche Fragen nach ihrem Befinden und eine kleine wohl gemeinte Aufmunterung, die Interesse ausdrückte.
Danach wür den die beiden Frauen wieder ihre Schultern straffen und an die Arbeit zurückkehren. Heute war alles erschreckend anders. Nach den Schreien, die die Hunde zur Ordnung riefen, und dem widerwilligen Abebben der Kakofonie, dem automatischen abschätzenden Blick auf Broys Gebiss und Fell, den knochenbrechenden Umarmungen, die wie immer nach Hunden, Lederseife und harter Arbeit rochen, sagte Joyce energisch: »Schön, dich zu sehen, Liebes, aber ich habe einen Haufen Anmeldeformulare zu bearbeiten, ich muss mich ehrlich mit den verdammten Dingern befassen. Ich habe es zu lange vor mir hergeschoben, das ist das Problem. Doch warum setzt du dich nicht mit Lisa hier in den Garten. Ich bringe euch Tee, bevor ich mich durch die Papiere wühle.« Hinsetzen? Am hellichten Tag? Und Joyce wollte ihnen Tee bringen ? Nein, nein, das war alles falsch. Cristi wünschte sich, dass sie sie in die Küche schickten, damit sie sich selbst einen Tee aufbrühte, wenn sie einen wollte, oder ihr eine Aufgabe übertrugen. Sie müsste sagen, was zu besprechen war, während sie einen Hund bürstete oder klatschnass wurde, weil sie einen festhalten sollte, während er eingeseift wurde, oder eine ganze Reihe von Futterschüsseln nach den Mengen- und Diätangaben auf einer unendlich langen Liste füllte. Lisa schien sich ebenso unbehaglich zu fühlen wie sie. Sie platzierte ihr gut gepolstertes Hinterteil (sie und Joyce trugen nicht nur die gleichen karierten Hemden und grünen Cordhosen, sie bewegten und sprachen auch ganz ähnlich und schienen im Laufe der Jahre sogar das gleiche Alter und die gleiche Figur bekommen zu haben) auf die verwitterte alte Holzbank und legte die Hände auf die gespreizten Knie. Für einen Moment beobachtete sie Broy, der sich mit ein paar seiner nahen Verwandten auf dem mit Ehrenpreis und Gänseblümchen durchsetzten Rasen wälzte. Dann richtete sie den Blick auf das Gestrüpp hinter den Hunden und bemerkte: »Ich glaube kaum, dass die schwarzen Johannisbeeren dieses Jahr viel tragen.
Wahrscheinlich wäre es am besten, die Sträucher herauszureißen.« Das war Achalder. Cristi lachte. Die Spannung ließ nach, und Cristi berührte liebevoll Lisas muskulösen Arm. »O Lisa, ich möchte nicht, dass sich irgendwas verändert«, gestand sie und erlaubte sich einen sehnsüchtigen Ton, zu dem sie bisher noch nicht den Mut gehabt hatte. Lisa würde sich deswegen nicht echauffieren, und Cristi empfand es als eine Wohltat, das auszusprechen, was sie fühlte. »Diese alte Sache kommt also wieder ans Licht.« Lisa lockerte mit dem Fuß ein Stück Moos von einer Steinplatte und kickte es beiseite, aber vermutlich glaubte sie, dass diese Geste der Situation nicht angemessen war. Sie tätschelte kurz Cristis Hand, ohne sie anzusehen. »Du musst deswegen ziemlich durcheinander sein.« »Nur ein bisschen«, räumte Cristi ein, musste aber trotz des ernsten Themas, dem sie sich zu nähern versuchten, über diese Untertreibung lächeln. Lisa lachte leise. »Schön. Na ja, ich kenne mich mit so was nicht gut aus. Aber wie weit geht das Ganze?« Joyce erschien. Sie hielt ein Metalltablett mit hohem Rand in die Höhe, um zu zeigen, dass sie sich große Mühe gegeben hatte. (Das Tablett sah aus, als hätte sie es in einer Bar geklaut.) Sie blieb vor ihnen stehen und sah sich um. Offenbar hatte sie erwartet, dass ein Tisch vor der Bank stand. »Soll ich es auf die Bank stellen?«, schlug Cristi vor. Joyce reichte ihr das Tablett und war froh, nichts mehr damit zu tun zu haben. »Die Biskuits sind vielleicht ein wenig zu weich«, bemerkte sie. »Ich denke, sie sind noch aus der Zeit übrig, bevor wir unseren Spleen für Ingwerkekse entdeckt haben«, fügte sie an Lisa gewandt hinzu, als entschuldigte das den beklagenswerten Zustand des Gebäcks. Dann stapfte sie davon und wedelte nur abwehrend mit der Hand, als Lisa und Cristi sich bedankten.
Zwei Becher und ein Teller mit vier großen Biskuits standen in einer Teepfütze auf dem Tablett, das tatsächlich das Carlsberg-Logo zierte. Das Biskuit bog sich, als sie hinein biss, und klebte an ihren Zähnen. »Die sind definitiv hinüber«, meinte Lisa und drückte mit einem Finger in ein Plätzchen. »Schmecken wahrscheinlich auch schon muffig. Wirf sie zwischen die gelben Mohnblumen da drüben; Joyce wäre verletzt, wenn wir sie auf dem Teller liegen lassen würden. Nein, gib sie nicht Broy. Obwohl er sein zusätzliches Fett schnell wie der loswird, wenn Peta und Josie nach Hause kommen.« Und ich werde dann nicht mehr hier sein, dachte Cristi und stellte ihren Becher ab. Was habe ich gesagt ?, fragte sich Lisa erschrocken, als sie sah, wie Cristi den Kopf hängen ließ. Ausnahmsweise galt ihre ganze Aufmerksamkeit der Stieftochter, und sie dachte: Lieber Gott, ist die Kleine hübsch! Uns ist das nie aufgefallen, aber sie ist wirklich ein atemberaubendes kleines Ding. »Cristi«, begann sie unbeholfen, doch sie konnte ihre Besorgnis nicht verbergen. »Ich weiß, es geht um die Ranch deines Großvaters und so weiter, aber ich bin überzeugt, dass du nicht hinfahren musst, wenn du nicht willst. Ich meine, man könnte alles verkaufen, oder nicht ? Sie können dich nicht unter Druck setzen, nicht unter diesen Umständen, oder dich zu etwas zwingen, was dir nicht richtig vorkommt. Das findet Archie doch auch, nicht?« »Ich weiß das, Lisa. Und du hast natürlich Recht. Aber ich fühle mich irgendwie verpflichtet, verstehst du?«, fragte Cristi. Sie beobachtete Broy, der gehofft hatte, dass niemand merkte, wie er verstohlen zu den gelben Mohnblumen schlich. »Vielleicht steckt ja irgendwas dahinter. Es ist eine so erstaunliche Kehrtwendung, doch egal, wie sich diese Leute benommen haben, sie sind meine Familie. Ich würde mich schlecht und sogar feige fühlen, wenn ich die Verbindung zu
ihnen nicht aufnehme, nachdem der Anfang gemacht ist. Und wenn dies die Chance für eine Versöhnung ist, dann hätte ich später bestimmt Schuldgefühle, wenn ich sie jetzt nicht nutze.« »Aber du wirst nicht da drüben bleiben, oder? Ich sehe ein, dass du diese Leute triffst, wenn du es so möchtest, und die Fehde, oder was auch immer es war, begräbst -jetzt, da der alte Herr tot ist. Doch du bist hier zu Hause. Daran wird sich niemals etwas ändern, nicht wahr?« Das war die Frage, die niemand, nicht einmal Dougal, zu stellen gewagt hatte. Und Cristi selbst hatte nicht den Mut, sich mit ihr zu befassen. »So weit kann ich noch nicht vorausschauen«, antwortete sie. »Ich weiß es einfach nicht. Aber ich kann mir ein Leben ohne Drumveyn und euch alle im Hintergrund nicht vorstellen. Das weißt du.« Und dennoch - da waren ihre Blutsverwandten und das starke Bedürfnis herauszufinden, wer sie war und woher sie kam. Lisa ließ eine Weile verstreichen. »Du hoffst, etwas von deiner leiblichen Mutter und Howard zu hören, stimmts?« Vielleicht wäre nur Stephen nicht über die Zärtlichkeit in ihrer Stimme überrascht. Cristi nickte stumm. »Ja, ich verstehe, dass du hinfliegen musst, wenn schon nicht aus einem anderen, dann zumindest aus diesem Grund.« Sie saßen eine ganze Zeit schweigend auf der von der Sonne beschienenen Bank und hingen ihren Gedanken nach. Sie betrachteten die üppigen Sommerblumen und die gut gepflegten, kräftigen Dandie Dinmonts, die jetzt im Gras dösten. »Cristi, hör mal - vielleicht ist dies nicht der richtige Augenblick, aber da die Emotionen ein bisschen hochschlagen, möchte ich dir gern ...« Lisa brach ab - sie bewegte sich auf unbekanntem Terrain und wusste nicht, wie sie sich offenbaren sollte. »Was möchtest du ?« Cristi war nicht sicher, was auf sie
zukam, doch sie ahnte, dass es nicht mehr um Justina gehen würde. Damit hatten sie beide nichts zu tun. »Na ja, ich habe mich manchmal gefragt, ob du das Gefühl hattest, dass ich dich im Stich gelassen habe. Damals, Vor Jahren.« Lisa fing Cristis erschrockenen Blick auf und lachte heiser. »Kaum zu glauben, dass ich überhaupt jemals darüber nachgedacht habe, was ?«, fragte sie sarkastisch. »O ja, gelegentlich gehen mir auch Dinge durch den Kopf, die nichts mit Welpen zu tun haben.« »Aber, Lisa ... mich im Stich gelassen ? Was meinst du damit ? Wie könnte ich auf eine solche Idee kommen ?« »Ich habe meine Verantwortung anderen aufgeladen, das meine ich damit«, erwiderte Lisa und atmete befreit auf, weil sie es endlich ausgesprochen hatte. »Howard hat dich zu mir geschickt, und ich habe an nichts anderes gedacht, als dich postwendend zurückzuschicken. Dann bin ich nach Hause gerannt, ohne auch nur zu versuchen, mit der Situation fertig zu werden. Und was habe ich getan, kaum dass ich hier war ? Ich habe dich in Mums Obhut gegeben. Und als ich herzog, sah ich es als selbstverständ lich an, dass sich Archie und Pauly um dich kümmern.« »Aber ich glaube nicht, dass es ihnen etwas ausge...«, begann Cristi fassungslos. Sie hatte das Gefühl, dass das Fundament ihrer Welt zerbröckelte. »O Gott, ich meine nicht, dass sie dich nicht zu sich nehmen wollten«, versicherte Lisa eilends. Ihr wurde voller Entsetzen klar, dass Cristi genau das ihren Worten entnehmen könnte. »Das darfst du niemals denken. Genau genommen wollten dich alle bei sich haben. Nein, aber ich habe oft überlegt, ob du verletzt warst, weil ich dich bei Mum gelassen habe.« Madeleine, die vor kurzem Witwe geworden war, hatte sich damals tapfer in ein weniger eingeschränktes Dasein vorgetastet, zu dem sie ihr selbstsüchtiger, dominanter Mann gezwungen
hatte. Die Fürsorge für Cristi war etwas gewesen, was sie gebraucht und sich sehnlichst gewünscht hatte, und Madeleine war der Ansicht, dass sie von dem verstoßenen Kind mindestens so viel bekommen hatte, wie sie ihm gegeben hatte. »Lisa, nein - so etwas ist mir niemals in den Sinn gekommen.« Cristi fiel es schwer, sich vorzustellen, dass sich Lisa deswegen Sorgen machte, doch sie war gerührt über diesen Beweis an Zuneigung. »Ich schwöre dir, dass ich nie daran gedacht habe. Als ich älter wurde, habe ich mich manchmal gefragt, wie du dich gefühlt haben musstest, als man mich einfach bei dir abgeladen hat. Und obwohl ich wusste, dass du das verabscheuen würdest, habe ich mir gewünscht, dass wir eines Tages darüber reden können. Ich wollte deine Version hören.« Cristis Stimme war mit jedem Wort unsicherer geworden. Lisas Mann hatte ein Kind mit einer anderen Frau gehabt, und dieses Kind hatte man ihr auf die Türschwelle gelegt. Sie war sicher die Letzte, die diese schmerzliche Geschichte noch einmal aufrühren wollte. Doch zu Cris tis Erstaunen umfasste Lisa ihre Hand. »Es wäre eine große Erleichterung für mich. Vielleicht ist jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt für ein solches Gespräch. Du hast im Moment genügend eigene Probleme, aber irgendwann werden wir uns gründlich aussprechen.« Sie wirkte schon gelöster, als hätten die Ereignisse der Vergangenheit nun, da sie berührt worden waren, nicht mehr die Macht, sie oder irgend jemanden zu verletzen. Sie ließ sich ohne Protest von Cristi in den Arm nehmen. Cristi verabschiedete sich und bat Lisa, Stephen Grüße auszurichten, denn der Mythos, dass er nicht bei der Arbeit gestört werden durfte, wurde stets aufrechterhalten. Doch kaum war Cristi gegangen, ging Lisa zum anderen Cottage und betrat das Atelier. Stephen stand tatsächlich an seinem Stehpult, an dem er seine gewissenhafte Arbeit verrichtete. Lisa stellte sich
neben ihn, ohne ihn zu berühren. Er legte seinen Pinsel weg und streckte den Arm aus, um sie an sich zu ziehen. Sie lehnte die Stirn an seine Schulter. Sie sprachen kein Wort.
6.Kapitel In den hektischen Tagen vor ihrer Abreise hätte Cristi am liebsten all das getan, was sie immer tat, wenn sie nach Hause kam - die Leute auf dem Gut, die Nachbarn und Freunde besucht, sich wieder mit allen Winkeln der Heimat vertraut gemacht, die sie so sehr liebte, und die Geborgenheit in der Familie genossen. Doch sie hatte das Gefühl, dass schon jetzt alles anders war oder dass sie zumindest nicht mehr denselben Platz einnahm wie früher. Genau wie an dem Tag in Edinburgh, als sie eilig ihre Siebensachen zusammengepackt hatte, kam es ihr vor, als würde ihr alles, was gewesen war, zwischen den Fingern zerrinnen. So sehr sie Veränderungen hasste, so wusste sie doch, dass ihr eine bedeutsame Gelegenheit verloren ginge, wenn ihr jetzt jemand sagen würde, dass alles nur ein Irrtum gewesen war und ihr Leben so weitergehen würde wie bisher. Es war unmöglich, sich nicht durch die praktischen Vorbereitungen und die Spekulationen, was die Zukunft bringen möge, vorwärts treiben zu lassen. Letzteres rief hin und wieder Ängste hervor, aber es weckte gleichzeitig eine Art Vorfreude und den Optimismus, der so charakteristisch für Cristi war. Sie hatte auch Schwierigkeiten, ihr Bedürfnis, allein zu sein und sich jede kostbare Einzelheit ihrer Umgebung genau einzuprägen, mit dem Wunsch zu vereinbaren, so viel Zeit wie möglich mit den Menschen zu verbringen, die ihr schrecklich fehlten, wenn sie nicht bei ihnen sein konnte - sie hätte sehr gern auf Nicholas und die beiden kleinen Mädchen gewartet, die bald Ferien bekamen und heimkommen sollten. Sie ahnte nämlich, dass nach ihrer Rückkehr - egal, was passierte oder wie lange sie in Brasilien blieb - nichts mehr so sein würde wie jetzt. Abgesehen von allem anderen wollte sie reiten, mit Broy
spazieren gehen, schwimmen, mit dem Boot auf dem Loch herumschippern und in alles, was sich auf dem Gut tat, involviert werden. Und sie musste immerzu an Dougal denken, wenn sie etwas unternahm, was sie fr üher stets gemeinsam getan hatten, und ab und zu fühlte sie sich verloren und einsam. Aber sie fand Trost im Zusammensein mit Pauly, wenn sie ihr in Haus und Garten half. So besorgt Pauly auch um Cristi und ihre Zukunft war und so sehr sie die Vorstellung verabscheute, dass die Familie auseinander gerissen werden könnte, war sie viel zu beschäftigt, um sich allzu lange ihren Ängsten zu überlassen. Außerdem gewann ihre natürliche Fröhlichkeit immer schnell die Oberhand. Wann immer sie konnte, ging Cristi hinauf zur Scheune, um Madeleine zu sehen und Zeit mit Tom zu verbringen. Er war ihr besonders ans Herz gewachsen, und es rührte sie zu beobachten, mit welchem Mut er sich mit seiner Behinderung abfand. Sie war erleichtert, dass es ihr möglich war, nach wie vor in Jeans Küche ein und aus zu gehen, wie sie wollte. Ihr wurde bewusst, dass es gut für Jean war, mit jemandem über ihre Sorgen um Jill und ihren ältesten Sohn Donald sprechen zu können - die wilden Geschwister, die ihren Eltern in all den Jahren viel Kummer bereitet hatten. Die Plaudereien mit Jean boten Cristi auch die Gele genheit, wertvolle Kleinigkeiten über Dougal zu erfahren, und der bevor stehende Abschied bot ihr einen Vorwand, bei einer Tasse Tee in Erinnerungen zu schwelgen und die geliebten alten Geschichten wieder auszugraben. Das half ihr sehr. Ab und zu beunruhigte sie, dass sie nicht arbeiten konnte, doch darüber sprach sie mit niemandem. Sie war nicht nur unfähig zu malen, sondern konnte in diesem eigenartigen Schwebezustand auch all ihren anderen Talenten nichts abgewinnen. Normalerweise lenkte es sie von allem ab, was ansonsten in ihrem Leben vor sich ging, wenn sie sich in ihr für ihre künstlerischen und hand werklichen Fertigkeiten bestens
ausgestattetes Atelier zurückzog und mit den Händen arbeitete. Dabei flogen die Stunden dahin, doch jetzt konnte sie sich auf nichts konzentrieren. Sie konnte ihre Gedanken nicht ausschalten, ihre Hände waren steif und weigerten sich, Vorstellungen und Bildern Form und Farbe zu verleihen. Eine angenehme Überraschung in dieser unruhigen Zeit war, dass sich Torie und Isa, die sich nicht mit Cristis überstürztem Verschwinden aus Edinburgh zufrieden gaben, einen Van ausgeliehen hatten und mit etlichen Sachen, die Cristi bei ihrem hastigen Aufbruch leichtfertig an sie verschenkt hatte, in Drumveyn auftauchten. Cristi gestand, dass sie froh über diesen Einfall war, und sie freute sich, ein paar ihrer geschätzten Arbeiten, die sie zusammen mit Torie vollbracht hatte, wiederzuhaben. Nach dem ersten gemeinsamen Studienjahr, in dem alle Kunst- und Design-Studenten dieselben Kurse besucht hatten, spezialisierte sich Cristi auf Textilien und Stoffentwürfe. Torie entschied sich für Modezeichnen und Kostümbildnerei, und sie hatten viel Spaß, als sie ihre Abschlussarbeit im vierten Jahr zusammen gestalteten. Isa, die das wesentlich sachlichere Studienfach Umwelttechnik belegte, jammerte unaufhörlich, hielt sich selbst für wahnsinnig, weil sie mit zwei »kreativen Irren« freiwillig eine Wohnung teilte, und kritisierte die Arbeiten der beiden heftig. Zudem beklagte sie sich ständig über die katastropha len Zustände im Haushalt. Sie musste zwar zugeben, dass Cristi außergewöhnlich ordentlich für eine Kunststudentin war, aber sie hatte Probleme mit dem Chaos, das die träge Torie anrichtete, wo sie ging und stand. Allerdings würde Isa, wenn man sie dazu zwang, widerstrebend zugeben, dass es keine umgänglichere und gutmütigere Person als Torie gab. Es war wunderbar, die Freundinnen wiederzusehen - die zaundünne, ernste Isa mit der dunkel gerahmten Brille und dem leicht geringschätzigen Blick und die immer strahlende, mollige
Torie mit dem wirren, hellen Haar, den fließenden Kleidern und der ruhigen, gelassenen Ausstrahlung. Aber hinter Isas abwertender Miene verbarg sich eine lebhafte Persönlichkeit und ein trockener Humor, der die Jahre des Zusammenlebens ungeheuer bereichert hatte. Und auch Tories phlegmatisches Erscheinungsbild verriet nicht alles über ihren Charakter. Ihre plumpen Hände mit den vielen Grübchen konnten Wunder vollbringen - die Kollektion, die Cristi und sie als Abschlussarbeit abgegeben hatten, war eine der besten des ganzen Jahrgangs gewesen. Torie war immer gern nach Drumveyn gekommen, aber wenn sie hier war, ließ sie sich selten vor Mittag blicken, verbrachte die meiste Zeit auf dem Sofa oder auf der Terrasse in der Sonne und wurde erst zum Abendessen lebendig (sie bot Pauly immer ihre Hilfe an, wenn alles schon fertig war). Sie trank beachtliche Mengen Wein, tat sich ausgiebig an Paulys wundervollem Essen gütlich und betörte alle Männer in ihrer Reichweite mit ihrem trägen Charme. Sie schauderte, wenn man ihr vorschlug, auszureiten oder ins Dorf oder auf einen Berg zu wandern. »Auf was für einen Berg?«, fragte sie dann und hob matt die Hand, um die Augen vor dem Sonnenlicht abzuschirmen, während sie in die Ferne schaute. Gleich darauf sank sie wieder in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem man die Luft ließ. »Vielleicht ein anderes Mal.« Torie war mit drei Brüdern auf einem Gut in Appin - ganz ähnlich wie Drumveyn - aufgewachsen und kannte das Leben auf einem solchen Anwesen nur zu gut. Sie war gern bei anderen Leuten, die keine mühseligen Anforderungen an sie stellten. Isa hingegen war ein Stadtmensch. Und genau wie sie darüber klagte, dazu verdammt zu sein, es mit zwei künstlerischen Verrückten in einer Wohnung auszuhalten, erkundigte sie sich jedes Mal, wenn sie in Drumveyn war, verbittert, was zum Teufel sie dazu getrieben hatte, wieder in
diesen Teil der Wildnis zu fahren, wo sie sich nachts Stöpsel in die Ohren stecken musste, um die Stille nicht zu hören. Sie hatte ihre Kindheit in einer Doppelhaushälfte in Slough verbracht, die nur durch einen unge pflegten Grünstreifen und eine schmale Straße von der A4 getrennt war, und es fiel ihr schwer, ohne Verkehrslärm oder die vertraute städtische Umgebung einzuschlafen. Aber sie liebte es im Grunde auch, nach Drumveyn zu kommen. Ihr Interesse am Leben anderer Menschen trieb sie dazu, überall auf dem Gut herumzustöbern, undTom und Archie genossen es, ihre ständigen Fragen zu beantworten. Allerdings wollte Archie ein- oder zweimal von Pauly wissen, ob sich Isa im Klaren sei, wie schroff und abwertend ihre Kommentare sein konnten. Für Cristi war es, als würde ihr ein Stück ihres alten Lebens zurückgegeben, das sie für immer verloren geglaubt hatte, als sie den Van entluden und die Kartons in ihr Atelier brachten. Es machte Spaß, sich um die Aufteilung der verschiedenen Kunstwerke (oder des »Schrotts«, wie Isa sich ausdrückte) zu kabbeln, stundenlang zu quatschen, zuerst Wodka-Cocktails zu trinken und sich dann über den Alkoholvorrat herzumachen, den Torie und Isa aufopfernd aufgehoben hatten, um ihn mit Cristi zu teilen. Die einzige Schattenseite des Besuchs - und sie sollte sich für Cristi als verhängnisvoll erweisen - war das Tuning. Pauly warf einen Blick auf die beiden Mädchen, als sie in die Küche kamen, um sich zu verabschieden - Isa war überzeugt, sich vollkommen unter Kontrolle zu haben, hatte aber bereits einen leichten Silberblick, und Torie stand kurz davor, in Tränen auszubrechen -, und sprach ein Machtwort. »Vergesst es. Heute Abend fährt niemand mehr irgendwohin. Es ist mir gleich, wie viel schwarzen Kaffee ihr in euch hineingeschüttet habt, ich lasse keine von euch beiden ans Steuer dieses Wagens.« »Aber wir haben ihn nur für heute geliehen«, erklärte Torie in
dem Irrglauben, dass dieses Argument eine Fahrt mit Alkohol im Blut rechtfertigen würde. »Und wir müssen morgen einige Dinge erledigen«, fügte Isa hinzu und hoffte, dass Pauly nicht wissen wollte, was für Dinge das waren, weil sie sich im Moment nicht mehr erinnern konnte. »Wie auch immer — Cristi meinte, wir könnten nicht bleiben, weil...« Torie brach mit einem Quietschen ab, als ihr Cristi mit dem spitzen Ellbogen in die Seite stieß. »Hast du das nicht gesagt?« »Ist okay, Pauly.« Cristi sah, dass sie die Kröte schlucken musste. »Sie wissen genau, dass sie nicht mehr fahren können. Es ist doch in Ordnung, wenn sie hier übernachten, nicht?« »Du hast ja mitbekommen, dass ich gerade versucht habe, sie dazu zu überreden«, rief Pauly ihr ins Gedächt nis. Sie strahlte, weil sie zwei Gäste mehr beim Abendessen verköstigen konnte. Pauly liebte es, wenn viele Leute am Tisch saßen, und es tat Cristi gut, für eine Weile die Sorgen und Ängste zu vergessen. Cristi war hin- und hergerissen. Sie wäre begeistert gewesen, wenn Isa und Torie jede andere Nacht in Drumveyn verbracht hätten. Der Abschied von ihnen würde ihr nach dem heutigen Tag schwerer denn je fallen. Aber an diesem Abend hatte sie endlich die Gelegenheit, Dougal zu sehen - es war der einzige Abend, an dem er frei hatte. Doch es war offensichtlich, dass die Mädchen nicht fahren konnten. Cristi hatte die Entscheidung nicht in der Hand. Dougal, der sich durchaus bewusst war, dass seine zweijährige Ausbildung kein Ersatz für den Studienabschluss sein konnte, auf den er gehofft hatte, fuhr an zwei Abenden in der Woche nach Muirend, um im Perth College einen Kurs in Betriebswirtschaftslehre zu machen. Ihm war klar, dass er niemals so in der Landwirtschaft tätig sein würde, wie er es sich wünschte, deshalb hatte er sich entschieden, sich für die geschäftliche Branche der Agrarindustrie zu qualifizieren. Cristi war klug genug, um ihn nicht zu bitten, einen Abend
den Kurs ausfallen zu lassen, denn er hielt sich sehr gewissenhaft an den Lehrplan. Wie sehr er den Inhalt dieses Lehrplans und die Richtung verabscheute, in die er ihn führen würde, behielt er für sich. An anderen Abenden und den Wochenenden hatte er zu tun und nutzte jede Gelegenheit, ein paar Pfund zu verdienen, so dass Cristi schon jede Hoffnung aufgab, sich irgendwann allein mit ihm treffen zu können. Sie ent sann sich nicht, dass er jemals so wenig Zeit für sie gehabt hatte - nicht einmal im letzten Jahr war es so schlimm gewesen, als sie sich allmählich mehr und mehr entfremdeten. Irgendwie hatten beide immer gewusst, was der andere machte, und keiner von ihnen hatte das Gefühl gehabt, ausgeschlossen zu sein. Jean hatte verraten, dass Dougal versprochen hatte, ihr an diesem Abend im Garten zu helfen. Wenn es nach ein paar warmen Tagen regnete, wie es gerade der Fall gewesen war, und das Unkraut genauso wucherte wie die Blumen und das Gemüse, hatte Jean so viel zu tun, dass man ihr leicht für eine Weile entkommen konnte. Cristi, die nicht anrufen und Jean bitten wollte, Dougal ans Telefon zu rufen, obwohl nichts normaler hätte sein können, hatte Dougal aufgeregt, wie sie es sich niemals hätte träumen lassen. Am Morgen hatte sie ihn auf dem Weg zu seiner Arbeit abgepasst und gefragt, ob sie nach dem Abendessen zu ihnen hinaufkommen und helfen könne. »Es ist ja nur das langweilige Unkrautjäten«, erwiderte er barsch, weil ihn ihr Vorschlag vollkommen überrumpelte. Cristi, die sich zurückgewiesen fühlte und plötzlich nicht mehr wusste, ob sie die Idee in die Tat umsetzensollte, hatte keine Ahnung, dass sein Herz bei dem Gedanken schneller schlug, wie in alten Tagen Seite an Seite mit ihr im Garten zu arbeiten. »Ich könnte trotzdem helfen«, beharrte sie verlegen. Da Dougal schwieg - er hatte Angst, dass er etwas sagen könnte, was sie verprellte -, fuhr sie unbeholfen fort: »Es ist nur ... na ja,
wir haben offenbar kaum Gelegenheit, uns miteinander zu unterhalten. Ich weiß, dass du viel um die Ohren hast, und gerade um diese Jahreszeit ist eine Menge zu tun, aber die Zeit rast dahin. Ich kann es zwar selbst noch nicht ganz begreifen, doch in ein paar Tagen fahre ich weg.« Sie verstummte und sah ihn flehend an. Er merkte sehr wohl, dass sie fürchtete, sie würde ihn zu sehr zu etwas drängen, was er nicht wollte. Doch bevor er etwas erwidern konnte, erklärte sie hastig: »Tut mir Leid. Ich halte dich auf. Du bist auf dem Weg zur Arbeit. Es war eine dumme Idee...« Was ist in dich gefahren, du elender Trottel?, beschimpfte sich Dougal im Stillen. »Nein«, rief er schnell, »komm zu uns, wann immer du mit dem Dinner fertig bist.« Gleich darauf verfluchte er sich, weil er das Thema angeschnitten hatte, das sie beide schon seit ihrer Kind heit verfolgte. Abendessen - Teezeit - hatte in Dougals Familie immer stattgefunden, wenn Donnie gegen halb sechs Feierabend hatte. Und jetzt gab es Essen, wenn er um sechs Uhr heimkam. Aber für Cristi im großen Haus stand zwischen halb acht und neun Uhr oder sogar noch später ein Dinner bereit, und ein Dinner dauerte viel länger als der Tee. Als sie jünger gewesen waren, hatte das keine wesentliche Rolle gespielt. Cristi hatte unzählige Male mit den Kindern im Hirten-Cottage zu Abend gegessen, oder Pauly hatte ihnen etwas im großen Haus gegeben. Cristi aß auch oft mit den jüngeren Napier-Kindern, damit sie abends Zeit für Dougal hatte, aber im Laufe der Jahre wurden die unterschiedlichen Tagesabläufe zu einem Problem, das sie mühsam zu umgehen versuchten. Es war der auffälligste Unterschied zwischen den beiden Haushalten, und dabei spielten nicht nur die Essenszeiten eine Rolle, sondern auch das, was sie aßen und welche Kleidung sie zum Essen trugen. Abgesehen von all dem war das Dinner Teil des Gesellschaftslebens in dieser Gegend, und Pauly bewirtete oft Gäste.
Als Dougal weiterfuhr, überlegte er, dass Cristi am Abend bestimmt nicht vor neun Uhr auftauchen würde. Nun, dann war es immer noch gute anderthalb Stunden hell, vielleicht sogar noch länger, wenn das Wetter so schön blieb. Er gab Gas, nachdem er auf die Glen-Straße eingebogen war. Die Kurven hätte er im Schlaf fahren können. Er war in Hochstimmung wie schon seit Mona ten nicht mehr und konnte es selbst kaum fassen, dass er die Gelegenheit, mit Cristi zusammen zu sein, aus albernem Stolz um ein Haar aufs Spiel gesetzt hätte. Und jetzt konnte Cristi die Verabredung nicht einhalten. Sie würde Dougal anrufen und ihm erklären müssen, dass sie nicht abkömmlich war. Das Schlimmste war, dass sie wegen Isa und Torie keine Zeit für Dougal hatte. Im tiefsten Innern wusste sie, dass die Entfremdung zwischen Dougal und ihr eine Menge mit den beiden Freundinnen zu tun hatte. Sie waren nicht direkt schuld daran, und es nie offen ausgesprochen - Cristi wollte nicht einmal über die Hintergründe oder deren Bedeutung nachdenken. Aber sie musste Dougal Bescheid geben. Es kostete sie nicht viel Zeit, nachdem sie Jean, die wie immer zu einer kleinen Plauderei bereit gewesen war, freundlich abgefertigt hatte. »Ja, Dougal ist hier; er ist gerade mit dem Tee fertig. Möchtest du mit ihm sprechen ? Aber da du schon mal am Apparat bist, könntest du Pauly bitte ausrichten, dass ich das Rezept für die Berwick-May- Day-Törtchen gefunden habe? Ich hab überall winzige Zettel mit Rezepten herumliegen und finde nie eines auf Anhieb. Sag Pauly, dass ich es ihr bringe, wenn ich das nächste Mal bei euch vorbeifahre ...« Dann brauchst du ja jetzt nicht so lange davon zu reden, dachte Cristi ungeduldig. Dougal würde aus dem Haus gehen, wenn Jean ihn nicht bald ans Telefon rief. Endlich bemerkte sie: »Mann, ich plappere hier unaufhörlich, und dabei wolltest du mit Dougal sprechen. Hier ist er.« »Dougal ?« Cristis Stimme zitterte eigenartig.
»Ja.« »Es geht um heute Abend - es tut mir ehrlich wahnsinnig Leid, aber ich kann jetzt doch nicht kommen, weil...« »Macht nichts.« »Ja, siehst du, Isa und Torie sind hier aufgetaucht, und eigentlich wollten sie gar nicht über Nacht bleiben, aber jetzt müssen sie, weil... na ja, ist ja egal. Ich fürchte, das heißt, dass ich den Abend hier verbringen muss ...« Cristi spürte, dass die Temperatur rapide fiel, als sie die Namen der Freundinnen nannte. Sie war versucht zu erklären, dass Pauly darauf bestanden hatte, dass Torie und Isa hier blieben, doch das wäre keine gute Entschuldigung. Sie mussten hier schlafen, weil sie sich zu dritt den Nachmittag damit vertrieben hatten, die Alkoholvorräte zu vernichten, und sie hatten viel Spaß dabei gehabt. »Es ist ja nicht so wichtig«, meinte Dougal ungeduldig. »Aber wenn ich keine Hilfe bekomme, dann sollte ich mich jetzt lieber an die Arbeit machen. « Das sollte ein kleiner Scherz sein, doch in Cristis Ohren klang es gar nicht lustig. In letzter Zeit war sie ziemlich empfindlich. »Könnten wir nicht ein anderes Mal...« »Amüsier dich heute Abend schön«, fiel er ihr ins Wort. Dann legte er auf. Sie gab sich alle Mühe, sich zu amüsieren. Schließlich war dieses Beisammensein mit den Freundinnen etwas, womit sie eigentlich gar nicht gerechnet hatte. Wer wusste schon, wann sie sich wiedersahen? Ihre Pläne für den Sommer - Cristis Besuch in Appin und Tories Besuch in Drumveyn sowie das Treffen zu dritt in Edinburgh zu einem Theaterbesuch - waren ohnehin nicht mehr zu verwirklichen. Aber trotz aller Fröhlichkeit und Paulys und Archies Gastfreundschaft musste Cristi unaufhörlich an Dougal denken...
Sie stellte sich vor, wie er an diesem lauen Sommerabend methodisch arbeitete und in Jeans verwildertem Garten Ordnung schaffen, die Sträucher beschneiden, Blumen umpflanzen, Erde auflockern und Kartoffeln aufklauben würde; Mauersegler und Mehlschwalben zogen ihre Kreise, während er arbeitete, und Fledermäuse gingen lautlos auf die Jagd. Diese Szene und dann die schöne Küche hier im Haus, die Cecil, Archies erste Frau, eingerichtet hatte. Das gute Essen, das mit Croissants begann, die mit Rührei und Räucherlachs gefüllt waren, der Lammbraten mit neuen Kartoffeln und der Brokkoli aus der Gefriertruhe. Und jetzt stand Pauly am Herd und backte Zitronen-Pfannkuchen zum Nachtisch. Archie hatte zwar darauf hingewiesen, dass sie alle schon genug getrunken hätten, gab aber dann doch nach und öffnete zwei Flaschen australischen Chardonnay, der den Mädchen seiner Ansicht nach nicht viel schaden konnte, und füllte ihre Gläser. Pauly stellte Käse und Obst auf den Tisch, damit sich jeder selbst bedienen konnte. Es gab Kaffee und Brandy für Archie, und in diesem Stadium würde er sich nicht weigern, jedem das anzubieten, was er wünschte. Zwei vollkommen unterschiedliche Szenarien, doch beide hatten für Cristi ihren Reiz und waren ein Teil dessen, was sie ausmachte. Heute Abend schlossen sie sich gegenseitig aus, das gefiel Cristi nicht, und es gelang ihr nicht, diese Diskrepanz aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen.
7. Kapitel Der lange Abend, das Dämmerlicht, die Abgeschie denheit und das Gefangensein unter Fremden, aber vor allem der Widerwille, sich hier aufzuhalten, weckten in Cristi das Gefühl, von der Wirklichkeit abgeschnitten zu sein. Im Halbschlaf zogen wirre Bilder an ihrem geistigen Auge vorbei; hin und wieder schreckte sie auf, überlegte, wo ihr Ticket und ihr Pass waren oder wie sie die Person ausfindig machen sollte, die sie
abholte. Manchmal glaubte sie, laute Selbstgespräche geführt zu haben, aber der mürrische Mann in dem verknitterten Anzug, der so ärgerlich gewesen war, als sie sich an ihm vorbeigedrängt hatte, schnarchte noch immer mit offenem Mund. Sie gab sich Mühe, sich auf Tatsachen zu konzentrieren und die konfusen Traumbilder zu verdrängen. Glücklicherweise hatte es bei einem der Flüge Startverzögerungen gegeben. Jetzt musste sie nur noch ein paar Stunden hier sitzen bleiben, und dann war sie zur Frühstückszeit in Brasilien... Erinnerungsfetzen aus ihrer Kindheit geboten ihr Einhalt. Noch hatte sie nicht genügend Mut, um vorauszuschauen. Ihre Gedanken schweiften wieder in die schottische Heimat. Gestern war sie, weil sie eine Weile allein hatte sein wollen, den Glen hinaufgewandert. In Drumveyn gab es immer viel zu tun Archie war auf dem Gut unterwegs, und die scharfen Blicke des Viehhüters und des Hirten nahmen jede Bewegung aus weiter Entfernung wahr. Am Hang des Berges, der den Glen im Norden abschloss, befand sich inmitten der Weiden, die höher lagen als das bewirtschaftete Land von Drumveyn, die Farm von Ellig. Sie war verlassen. Die Besitzerin Miss Hutchinson hatte viele Jahre nicht mehr hier gelebt, und das Haupthaus war heruntergekommen und baufällig. Dachziegel fehlten, Unkraut wucherte überall, und die Zweige der Holunderbüsche ragten in die scheibenlosen Fenster. Miss Hutchinson war im letzten Winter gestorben, und Ellig sollte verkauft werden. Jed Maclachlan, der die Aufgabe übernommen hatte, die Farm für Miss Hutchinson zu bewirtschaften, hatte mittlerweile alles verwahrlosen lassen. Er war Vater von ungestümen, berüchtigten Kindern, und seine Familie vergrößerte sich ständig, da die Töchter in regelmäßigen Abständen Nachwuchs produzierten, die - gleichgültig, wer ihre Väter waren - alle in Ellig landeten. Jeds Frau kam und ging nach gewalttätigen Auseinandersetzungen und tränenreichen Versöhnungen.
Inzwischen hatte Jed zu trinken angefangen, und ohne Aufsicht fehlte ihm die Motivation, die Farm in Ordnung zu halten. Cristi war ihm zu Weihnachten im Dorf über den Weg gelaufen und schockiert gewesen, als sie gesehen hatte, wie der einst so starke, tatkräftige und schmucke Mann in gebeugter Haltung über die Straße geschlurft war. Jetzt waren die Maclachlans fort, die ganze streitlustige, wild um sich schlagende Meute. Das Land war in miserablem Zustand, die Mauerbegrenzungen der Weiden und Felder zerbröckelten, die Drainagegräben waren verschlammt, die Nebengebäude hatten schadhafte Dächer, und das Haus war so verkommen, dass es sich wohl nicht einmal mehr lohnte, es zu renovieren. Aber gestern hatte die jämmerlich verkommene Farm sehr gut zu Cristis Stimmung gepasst. Krähen bevölkerten die brachliegenden Felder, Schwalben flogen in der Scheune ein und aus, da die Tore aus den Angeln gebrochen waren. Brennnesseln wuchsen wild im Hof, und der Holunder hatte sich über den Gemüsegarten ausgebreitet. Cristi spähte durch die Fenster und war entsetzt, wie schäbig die verlassenen Räume aussahen. Archie wollte Ellig zu Drumveyn dazukaufen. Abge sehen davon, dass die Farm ihm zusätzliche Sommerweiden bot, würde ein Kauf dafür sorgen, dass der Schandfleck vor seiner Haustür ausgemerzt würde (keine Distelsamen mehr, die jeden Sommer durch den Glen flogen und sich überall festsetzten) und sicherstellen, dass kein neuer Bewohner Jeds Sünden fortsetzte und geschützte Tiere nach Gutdünken tötete. Jed hatte Gift ausgelegt, Fallen aufgestellt und die Kaninchen endlos lange ihrem Elend und Todeskampf überlassen, bis er sich bequemt hatte, die Fallen zu überprüfen. Doch Archie musste sich derzeit um mehr als genug kümmern, und bevor er keinen neuen Verwalter gefunden hatte, konnte er kaum daran denken, mehr Land dazuzukaufen.
Cristi fragte sich, was wohl aus all dem werden sollte, als sie in den Garten ging, wo sich Lupinen und Akeleien gegen Steinbrech und Filziges Hornkraut zu behaupten versuchten. Die Ebereschen waren gepflanzt worden, um die bösen Geister von Haus und Hof fern zu halten, und sollten ursprünglich einen Bogen über dem Tor bilden, hatten es jetzt aber fast ganz überwuchert. Trotz allem hatte Cristi das Gefühl, dass ihr der Blick, der sich vor ihr öffnete, das Herz erleichterte. Zu ihrer Rechten plätscherte der Bach in seinem steinigen Bett in Richtung Dorf. Die braunen Felder im Glen hoben sich von den saftig grünen Weiden und Wiesen ab, deren Gras schon hoch stand und bald fürs Heu geschnitten werden konnte. Sie verfolgte mit Blicken den Flusslauf, der an Achalder und Drumveyn vorbeiführte, und beim Anblick der sonnen beschienenen Fichten am Hang des Hügels gab sie sich ein Versprechen. Was immer auch geschehen mochte, das alles hier sollte nicht für sie verlo ren sein. Sie ging in der Einsamkeit dieser hoch gelegenen ehe maligen Farm durch das mit Butterblumen, wilden Stiefmütterchen und Ehrenpreis durchsetzte Gras. Ihr Schwur tröstete sie. Dies war ein Abschied, aber kein endgültiger. Cristi döste wieder auf ihrem Flugzeugsitz ein und geriet in ihrem Traum in Panik. Sie war auf der Suche nach Nicholas und den kleinen Mädchen. Sie sollten sich treffen, aber an einem Ort, den sie nicht kannte. Menschenmassen drängten sie, ihre Stimmen dröhnten in ihren Ohren. Sie versuchte, nach den anderen zu rufen, wusste jedoch, dass sie sie nicht hören konnten. Sie schreckte aus dem Schlaf. Ihr Mund war staubtrocken, und sie wünschte von ganzem Herzen, sie hätte die drei vor der Abreise noch gesehen. Es war falsch gewesen, nicht auf sie zu warten. Natürlich hatte sie das mit Archie und Pauly besprochen. Obwohl das Internat vor Cristis Abreise kein Heimfahr- oder Besuchswochenende mehr vorgesehen hatte, meinte Pauly, dass
etwas arrangiert werden könnte. Letzten Endes wurde jedoch entschieden, dass es besser wäre, keine allzu große Sache aus dieser Reise und dem, was dahinter steckte, zu machen. »Wir wissen nicht, was aus all dem wird«, bemerkte Pauly, und Cristi überlief ein eisiger Schauer bei diesen Worten. »Aber was auch immer beschlossen wird«, fügte Pauly rasch hinzu, weil sie wahrscheinlich ahnte, wie sich Cristi fühlte, »du wirst bald wieder nach Hause kommen, dann kannst du den anderen alles erzählen. Besonders Nicho las wird sich dafür interessieren.« Ja, Nicholas. Wie sich erwiesen hatte, war es unmöglich gewesen, die Gründe für ihre Abreise zu beschönigen, und Cristi krümmte sich jetzt noch innerlich, wenn sie sich an ihr unzureichendes Telefongespräch mit ihm und an die verlegenen Pausen erinnerte. In dem Moment, in dem Nicholas mit krächzender Stimme, die ihn, wie Cristi sehr genau wusste, selbst wütend machte, gefragt hatte: »Du fliegst zu deiner echten Familie?«, war Cristi klar, dass sie unter allen Umständen zu ihm hätte fahren und alles gründlich mit ihm besprechen müssen. »Nun, zu den Verwandten meiner Mutter«, antwortete sie unbeholfen. »Ich sehe sie nicht als meine echte Familie an.« »Aber sie sind es, oder nicht ?« »Im Grunde ja, doch für mich sind es Fremde.« »Aber du wirst sie treffen.« Seine Beharrlichkeit, ja fast Feinseligkeit, verblüffte sie. »Ja.« Eine quälende Pause entstand. »Nick?« »Hör mal, ich muss jetzt auflegen, okay ?« »Wir reden noch darüber, bevor ich ...« »Viel Spaß auf der Reise. Wir sehen uns.« Cristi war sich bewusst, dass sie ihn enttäuscht hatte, auch wenn sie nicht begriff, wodurch. Seit dem Tag, an dem Archie den kleinen Nicholas mit nach Drumveyn
gebracht hatte, damit sich seine Familie um ihn kümmerte, hatte er Cristi besonders nahe gestanden. Nicholas' Mutter Cecil hatte ihn gleich nach seiner Geburt zurückgewiesen und sich sogar geweigert, wieder ins große Haus zu kommen. Nicholas hatte sie seither nie wiedergesehen. Er war trotz allem ein gesundes, freundliches Baby gewesen und hatte sich in der zusammengewürfelten Familie prächtig entwickelt, genau wie Cristi selbst. Sie konnte nicht ahnen, wie hilflos und elend sich Nicholas nach ihrem Anruf fühlte. In letzter Zeit hatten sich viele Zweifel und Fragen in ihm geregt, die er kaum in Worte fassen konnte. Die Nachricht, dass Cristi zu der Familie ihrer leiblichen Mutter Kontakt geknüpft hatte, möglicherweise sogar mit ihrer Mutter selbst, machten diese Fragen noch drängender. Denn Archie war nicht Nicholas' biologischer Vater. Archie war wegen zu niedriger Spermienanzahl nicht in der Lage gewesen, mit Cecil das Kind zu zeugen, das sie sich wünschte. Oder das sie sich seiner Meinung nach wünschte, denn nachdem sie sich für einen Samenspender entschieden hatte, war ihr plötzlich schon allein der Gedanke, ein Kind zu gebären, ganz und gar zuwider. Allerdings betrachtete Archie Nicholas ohne jeden Vorbehalt als seinen Sohn, und so würde es immer bleiben. Nach ihrer Hochzeit hatten Archie und Pauly gehofft, doch selbst ein Kind bekommen zu können. Speziell Archie, der mit Pauly wesentlich mehr sexuellen Kontakt hatte als seinerzeit mit Cecil, hatte geglaubt, dass es diesmal eher klappen könnte. Doch Pauly wurde nicht schwanger, deshalb hatten sie sich für eine Adoption ent schieden, bevor der Altersunterschied zu Nicholas zu groß wurde, und sie nahmen erst Peta, dann Josie zu sich. Cristi erschien es in diesem einsamen Augenblick im Flugzeug unfassbar, dass sie weggefahren war, ohne die drei noch einmal zu sehen. Telefonieren war nicht das Gleiche, wie sie vor sich zu sehen, und ganz bestimmt kein Ersatz für die
Umarmungen, die zumindest die kleinen Mädchen innig erwidert hätten. Ihr sank der Mut. Es war mitten in der Nacht, und die langen wachen Stunden forderten ihren Tribut. Auch der Zusammenprall mit Jill war grauenvoll gewesen. Wie hatte ihr Verhältnis zueinander nur ein solches Stadium erreichen können ? Als Cristi vor all diesen Jahren nach Drumveyn gekommen war, war sie froh gewesen, die Galloway-Kinder als Spielkameraden in der Nähe zu haben. Die Mowats, deren Vater einen Hof von Drumveyn gepachtet hatten, wohnten schon zu weit weg. Dougal, der sich immer für sie verantwortlich gefühlt und sie beschützt hatte, wurde ihr Held, aber Jill war auch eine gute Freundin, und sie bildeten ein fest zusammengefügtes Kleeblatt. Selbst als Cristi in ein Internat kam, war es noch selbstverständlich, dass sie in den Ferien so viel Zeit wie nur möglich zusammen verbrachten. Doch als Jill in die Pubertät kam, veränderte sich alles. Zu Cristis Bestür zung schienen diese Veränderungen in nur einem einzigen Trimester vonstatten gegangen zu sein, obwohl erwachsene Beobachter ihr möglicherweise hätten sagen können, dass sich diese Entwicklung schon lange abgezeichnet hatte. Es hatte unendliche Probleme gegeben, weil Jill im Schulbus rauchte, den Unterricht schwänzte, sich schminkte und die Schuluniform nicht trug, und alles wurde noch viel schlimmer, als sie mit Drogen zu experimentieren begann. Der Schuldirektor schickte blaue Briefe, Donnie hielt zornige Standpauken, und Dougal wollte nichts mehr mit Jill oder ihren Freunden zu tun haben. Für Cristi kam alles aus heiterem Himmel. Jills Neid und ihr Groll kamen zum Vorschein, als sie sich über Cristis Ausdrucksweise, ihre Kleider, ihre Manieren und die Bereitschaft, sich an die Regeln zu halten, mokierte. Jill umgab sich mit den schlimmsten Leuten, die sie in der Schule oder im Dorf auftreiben konnte. Und sie kannte keine Gnade. Das war Cristis erste Bekanntschaft mit Klassenhass. Als
Kind in Brasilien war sie mehr oder weniger mit der Dienerschaft aufgewachsen und hatte ihre Anwesenheit, ohne nachzudenken, akzeptiert. Später in Drumveyn hatte sie die Dinge so hingenommen, wie sie waren. Sie besuchte zwar zusammen mit Jill und Dougal die Grund schule im Glen, wie sie es sich gewünscht hatte, aber sie verstand durchaus, dass die beiden nicht wie sie in die Muirend-Highschool überwechselten. Als sie dann nach Glenalmond kam, weil ihr fremdländisches Äußeres unter den Klassenkameraden zu viel Aufmerksamkeit erregte und sie unglücklich deswegen war (ein Problem, das sich in der Universität wiederholte), lebte sie sich rasch ein und schloss neue Freundschaften. Nach Hause zu kommen und von einem Mädchen, das sie als Freundin angesehen hatte, als Snob, Angeberin und eingebildete Pute bezeichnet und daran erinnert zu werden, dass sie genauso wenig eine Napier war wie Jill selbst war ein Schock. Doch noch schlimmer traf sie die Frage ob ihre Mutter eine Schwarze sei. Beide Familien hatten sich bemüht, die Wogen zu glätten, doch Jean wusste im tiefsten Inneren, dass ihre Tochter einen Weg eingeschlagen hatte, auf dem es keine Wiederkehr gab. Hatte sich ihr ältester Sohn Donald nicht ebenso jeglicher Kontrolle durch Donnie entzogen, seine Zeit in der Schule verbummelt und war von einem Job zum anderen geflattert, nachdem er das Haus verlassen hatte, und gab jeden Penny, den er besaß, im Pub aus ? Er steckte ständig in Schwierigkeiten, und Jean war fast froh, als er für immer aus dem Glen wegzog. Jill war jetzt Mitte zwanzig und hatte unzählige Affären sowie zwei Abtreibungen hinter sich und ein Kind auf die Welt gebracht. Sie war zwar verheiratet, lebte jedoch nicht bei ihrem Mann, dessen Mutter ihm derzeit den Haushalt in Glasgow führte. Jill hatte einen Drogenentzug gemacht und ein Rehabilitationsprogramm durchlaufen und wohnte offiziell im Hirten-Cottage, ließ sich dort aber kaum blicken. Sie schlief tagsüber, wurde an den meisten Abenden mit unbekannten
Autos abge holt, deren Fahrer schon auf dem Weg zur Farm laut hupten. Irgendwann kam sie dann so weggetreten wieder nach Hause, dass sie kaum den Weg in ihr Zimmer fand. Jill war einer der Gründe, aus denen Archie Jean nicht bat, aus dem Cottage auszuziehen, so sehr er es auch brauchte und so recht es ihm auch wäre, wenn Jill nie wieder einen Fuß auf sein Land setzen würde. Jean hatte einen Antrag auf ein Gemeindehaus im Dorf gestellt. Aber es gab eine Warteliste, und die Alternative wäre Muirend, doch Archie wusste, dass sie dort unglücklich wäre. Cristi hatte vorausgesehen, dass ihre Gedanken wieder auf den Kern des Schmerzes zurückkommen würden Der Flug dauerte zu lange, das war das Problem. Sie hatte zu viel Zeit zum Nachdenken. Jill war zu Hause gewesen, als Cristi am letzten Tag hinauf zum Hirten-Cottage gegangen war, um einen letzten Versuch zu unternehmen und mit Dougal zu reden. Jill lümmelte mit weit gespreizten Beinen in Donnies Sessel; ihr Gesicht sah ohne Make-up teigig aus, die Brüs te wirkten schlaff unter dem schmuddeligen T-Shirt, zu dem sie ausgeleierte Leggings trug. Dougal hatte eine Zeitung vor sich auf dem Tisch ausgebreitet und den Toaster in seine Einzelteile zerlegt. Jean stand am Spülbecken. »Oh, da ist Cristi«, rief Jean in dem besänftigenden Ton, den sie immer anschlug, wenn Jill in der Nähe war. Man wusste nie, wann Jill wegen einer Kleinigkeit aus der Haut fuhr. Dougal stand auf, und Cristi, deren Sinne geschärft waren, was ihn betraf, wusste nicht genau, ob er nur gute Manieren bewies, wie Donnie es ihm beigebracht hatte, oder am liebsten die Flucht ergreifen würde. »Was hat sie hier zu suchen?«, wollte Jill wissen, und Jean verzog vor Entsetzen den Mund. »Also, Jill, ich dulde nicht...« Dougal wurde unter der Sonnenbräune rot.
»Was duldest du nicht?« Mit einem wilden Satz, der sie alle erschreckte, beförderte Jill ihren formlosen Körper aus dem Sessel. »Ich kann in meinem eigenen Haus, verdammt noch mal, sagen, was ich will, oder etwa nicht ? Was glaubt sie eigentlich, wer sie ist, dass sie hier hereinspaziert, ohne richtig anzuklopfen? O ja, Lady Muck, ich habe von deinen Neuigkeiten gehört.« Sie reckte ihr Gesicht dicht vor Cristis und bedrohte sie mit ihrer Größe und Masse. Jill, nimm dich zusammen«, keuchte Jean, aber Jill achtete gar nicht auf sie. »Du mit deinem Geld und deiner Ranch und deiner beschissenen brasilianischen Familie, die darauf wartet, dich in die Arme zu schließen - was willst du überhaupt noch hier ? Bildest du dir ein, wir wollen mehr darüber hören ? Bildest du dir ein, das interessiert uns ? Die Wahrheit ist, dass es deine Leute gar nicht erwarten können, uns hier rauszuschmeißen. Mein Dad hat sich kaputtge schuftet für dieses Gut und ist deswegen gestorben, während du mehr und mehr bekommst, ohne auch nur deinen Arsch zu heben... Oh, du machst mich krank...« »Jill, das reicht!« Cristi war nach diesem hässlichen, ungerechten Angriff sprachlos und drehte sich zur Tür um. Aber sie beobachte» aus den Augenwinkeln, wie Dougal mit wütendem Gesicht auf Jill zuging. Sie stritten ihretwegen. Das war schrecklich. Im nächsten Augenblick stand Cristi draußen in der süßen, kühlen Nachtluft und rannte los, um die Hitze und Feindseligkeiten weit hinter sich zu lassen. Cristi rutschte auf ihrem Sitz hin und her, als wollte sie die Erinnerungen abschütteln. Sie war froh, dass sie so klein war, dadurch hatte sie zumindest genügend Platz für ihre Beine. Noch fünf Stunden bis zur Landung. Wie heiß war es wohl in Rio? Es war dort Winter und noch früh am Tag. Aber das Klima in Rio war tropisch. Ob sie den Angestellten der Anwaltskanzlei,
der sie abholen sollte, überhaupt erkannte ? Und was dann ? Es war alles zu vage, als dass sie sich weitere Vorstellungen machen konnte. Es war wohl am besten, alles auf sich zukommen zu lassen. Schrecklich, dass Jills Ausbruch die letzte Erinnerung an das Hirten-Cottage war! Und abgesehen von einem kurzen Telefonat unmittelbar vor ihrer Abfahrt war das nach all den Jahren der Verbundenheit der letzte Kontakt zu Jean gewesen. Allerdings hatte Cristi Dougal noch einmal gesehen. Er war ihr an dem Abend ge folgt; er hatte genau gewusst, wo er sie finden konnte. Sie zuckte heftig zusammen, als sich die Tür zu ihrem Atelier öffnete, obwohl sie wusste, dass es nur Dougal sein konnte. Er blieb mit unergründlichem Gesichtsaus druck auf der Schwelle stehen. »Cristi, du bist klug genug, um nicht auf das zu achten, was Jill sagt«, begann er ohne Vorrede. »Sie ist die meiste Zeit nicht richtig bei Verstand.« Cristi kauerte in der Ecke des alten Sofas, hatte die Knie zum Kinn hochgezogen und die Arme um die Beine geschlungen. Sie nickte knapp, um Dougals Aussage zu würdigen, aber sie brachte kein Wort heraus. Eine Stille, in der angestaute und zurückgehaltene Emotionen vib rierten, schien sie regelrecht einzufrieren. »Um Gottes willen, Cristi, du weißt doch, wie sie ist«, versuchte Dougal es noch einmal eindringlicher und ging auf sie zu, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Jill legt sich mit allen an. Sie schwört, dass sie keine Drogen mehr nimmt, doch es ist offensichtlich, dass sie den Stoff nach wie vor von irgend jemandem bekommt. Das heißt, dass sie nicht...« »Aber das, was sie gesagt hat, trifft ja zu, oder nicht?« Sie war so verletzt, dass diese Worte einfach aus ihr heraussprudelten. »Trotz ihrer Gehässigkeit hat sie genau ausgesprochen, was sie denkt. Sie hasst mich und das, was ich
repräsentiere, seit Jahren.« »Cristi, du siehst zu viel in der ganzen Sache.« Dougals Stimme wurde sanfter, seine Körperhaltung verriet, wie gern er sie getröstet hätte. Aber sie ließ es nicht zu - eine furchtbare Leere breitete ich in ihr aus. Und Jean fühlt tief in ihrem Inneren genauso.« Sie machte eine Pause. »Du wahrscheinlich auch. « Diese Aussage hing zwischen ihnen. Sie starrten sich in eisigem Schweigen an, und Dougal stieg die Röte ins Gesicht. »Glaubst du das ?«, fragte er leise. Cristi sah traurig zu ihm auf. Er wirkte breit und kraftvoll als er so vor ihr stand. Trotz seiner Ruhe und Gelassenheit besaß Dougal eine starke Persönlichkeit und Autorität, und Cristi wusste, dass er das nicht auf sich sitzen lassen würde. Sie streckte die Beine aus und stand auf, um ihm gegenüberzutreten. »Ist das nicht einer der Gründe, aus denen wir uns so weit voneinander ent fernt haben?« Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie dieses Thema nicht auf diese Weise angesprochen, aber ihr blieb nur noch wenig Zeit. »Und weiter?« Bei dieser kalten Aufforderung zuckte sie zusammen. »Nun, es hat dich gestört, dass ich zur Universität ging, als hättest du gedacht, dass ich dann nicht mehr mit dir zusammen sein will. Und du hast es gehasst, wenn Isa und Torie zu Besuch hier...« Cristi brach ab, als er sich ein wenig abwandte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dies ein ent scheidender Moment für ihn war. »Okay, wir werden reden.« Mit einer autoritären Geste winkte er sie zurück zum Sofa, auch wenn er sich nicht neben ihr niederließ, wie er es früher ganz selbstverständ lich getan hätte. Statt dessen zog er sich den Schemel he ran, der vor ihrem großen Zeichenbrett stand, um ihr klar zu machen, dass er ihr so nahe und nicht näher kommen würde.
»Zuallererst: Es hat mich nicht gestört, dass du zur Universität gegangen bist«, widersprach er ihr hastig, als wäre das ein minder wichtiger Punkt, den er rasch aus dem Weg räumen wollte. »Aber es hat mir verdammt viel ausgemacht, dass ich selbst nicht studieren konnte. Das hat gar nichts mit dir zu tun. Doch im Großen und Ganzen gesehen, Cristi, sind die Fakten klar - schau dir nur mein Leben und dann deines an. Daran lässt sich nichts ändern. Und das war in gewisser Weise der Grund für Jills Ausbruch. Nein, warte«, fuhr er fort, als Cristi scharf die Luft einsog, um Protest zu erheben. »Niemand hätte es so ausgedrückt wie sie, und es gibt keine Entschuldigung für ihr Benehmen. Aber du musst dich damit abfinden, dass alles anders war, als wir noch Kinder waren.« Bei ihm klang das so rational, so offensichtlich, dass kaum darauf hingewiesen werden musste. Ich kann nicht glauben, dass du mich so auf Armlänge von dir weghältst, dachte Cristi niedergeschlagen. Du redest ruhig und teilnahmslos wie ein Fremder. »Aber wir können trotzdem Freunde sein«, argumentierte sie und fand wenig Trost in seiner bereitwilligen Erwiderung: »Natürlich können wir das, sei nicht albern.« Es schien, als hätte er seinen Standpunkt gewählt und könnte sich keinen Millimeter weit bewegen; zudem gestattete er nicht, daß die Unterhaltung in flehende Bitten, Anschuldigungen oder sonstige emotionale Äußerungen ausartete. Cristi sehnte sich verzweifelt danach, die Barriere zu durchbrechen, die er Stein für Stein zwischen ihnen aufgebaut Zu haben schien, und ihm zu erklären, wie ihr wirklich zu Mute war. Aber er hatte das unmöglich gemacht. »Wir leben in verschiedenen Welten, mehr ist dazu nicht zu sagen.« Eine eiskalte, erdrückende Zusammenfassung. Cristi beobachtete, wie er sich im Atelier umschaute, und zum ersten Mal fiel ihr auf, dass dieser Raum genau das widerspiegelte, was er meinte. Er sah nicht nur die Kluft in materieller Hinsicht,
sondern auch die Unterschiede, was Interessen und Ziele betraf. Da stand der alte Brennofen, in dem Cristi ihre Keramikkacheln brannte, wenn sie sich nicht mit Stoffen, Glas oder Holz beschäftigte. Und inmit ten ihrer verschiedenen Ba tik- und Druckwerke, der Malkästen, Pastellfarben und Öle, der Stoffund Lederarbeiten standen der Computer und das große Kopiergerät. Es war alles da, was sie brauchte. Cristi betrachtete die Gegenstände mit Dougals Augen und erkannte plötzlich, warum sich Dougal so weit von ihr entfernt fühlte. Warum war sie nur bis jetzt noch nie auf diesen Gedanken gekommen ? »Hör mal, Cristi«, meinte Dougal, »denk nicht mehr an Jills Wutausbruch. Du bist viel zu vernünftig, um dich über dieses Gerede aufzuregen. Du stehst vor einem ganz neuen Anfang, vor einer großen, bedeutsamen Veränderung, und ...« »Und einer Furcht einflößenden, willst du sagen«, fiel s ie ihm schaudernd ins Wort. »O Dougal, ich habe solche Angst!« »Hey, komm schon.« Er beugte sich besorgt zu ihr, »Was ist so schrecklich?« Das war schon besser. Wenigstens klang er nicht mehr so, als hielte er eine vorbereitete Ansprache. Sie sehnte sich danach, frei von der Leber weg zu reden, war jedoch nicht sicher, ob ihm das recht war, deshalb erwiderte sie zögerlich: »Ich bin ziemlich durcheinander. Ich fahre nicht nach Brasilien, weil ich >mein Erbe geltend machen< will«, sie zeichnete die Gänsefüßchen in die Luft. »Du weißt, dass es mir nicht darum geht.« »Ich weiß, dass du nie so etwas erwartet hast.« Sie nickte. »Aber ich muss hin.« Es war schwer zu erklären. »Einerseits würde ich mir wie ein Feigling vorkommen, wenn ich es nicht täte. Und ... ich weiß, dass das übertrieben klingt, aber ich hätte das Gefühl, einen Teil von mir selbst auszuschließen. Ich muss wissen, was in Rio ist. Als ich aufwuchs, habe ich nicht ein einziges Mal an Brasilien gedacht, aber später wollte ich unbedingt herausfinden, wer ich eigentlich
bin. Mir fiel immer wie der ein, dass ich hier mit niemandem verwandt bin - darauf hat mich Jill ja auch des Öfteren so freundlich hinge wiesen. Doch es ist mehr als bloße Neugierde. Ich bin nicht sicher, ob ich es in Worte fassen kann ...« »Du machst das ganz gut.« Diese Beteuerung erinnerte sie schmerzlich daran, wie unbeschwert sie einmal miteinander umgegangen waren. Dies war der Dougal, der sie kannte und verstand, der immer auf sie aufgepasst ha tte und auf den sie sich verlassen konnte. »Na ja ... ich spüre, dass es mich nach Rio zieht; es ist ein Band, das ich nicht ignorieren kann. Ich glaube, es ist eine Art genetische Verbindung. Dann ist da noch mein Aussehen. Manchmal hasse ich es.« Sie wehrte seinen unwillkürlichen Protest mit einer Geste ab. »Normalerweise schaut man in den Spiegel, um nachzusehen, ob man ordentlich gekämmt ist, oder um Make- up aufzulegen oder so was, aber ab und zu nimmt man wahr, wie man wirklich aussieht. Ich erschrak meistens, wenn ich das machte. Mir kam ins Bewusstsein, wie fremd ich neben Nicholas, Peta und Josie aussehe. Obwohl auch sie adoptiert und nicht mit Archie und Pauly verwandt sind, könnte man meinen, sie sind eine Familie. Ihr Alter passt auch. Ich bin nur zehn Jahre jünger als Pauly. Ich könnte gar nicht ihre Tochter sein. Du ahnst nicht, wie scheuß lich diese Momente sind.« Ihre Stimme zitterte, und sie zog wieder die Knie hoch und legte die Stirn darauf. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie darauf bauen können, dass Dougal den Arm um sie legte. Doch jetzt begegnete ihr nur Schweigen, bis er end lich in heiserem Ton bekannte: »Ich wusste nicht, dass du so fühlst. Das ist schwer für dich. Ja, ich sehe ein, dass du die Reise machen musst - aus den Gründen, die du genannt hast -, aber auch wegen allem anderen. Du wirst uns fehlen.« Uns. Allen. Im Allgemeinen. Cristi nickte und brachte ein Lächeln zu Stande, konnte aber nichts mehr sagen. »Und da wir gerade von der Reise sprechen - vielleicht wäre
es gut, wenn du vorher noch ein bisschen Schlaf bekommst.« »Ja, ich sollte ins Haus gehen.« Es war vorbei. Unerträglich. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Wenn sie sich jetzt bewegte, war das der Beginn der Reise. Keine Umarmung, keine liebevolle Berührung. Kein weiteres Wort. Nach kurzer Stille hörte sie, wie Dougal den Schemel zurückstellte - wie typisch für ihn - und zur Tür ging.
8. Kapitel Die Sonne schien grell und strahlend von einem wolkenlosen Himmel auf den hellen Asphalt und das blitzende Flugzeug. Cristi meinte, die längst vergessene Hitze wollte sie verschlingen. Das Licht schien sie regelrecht zu attackieren, als sie im Strom der anderen Passagiere zum Zoll ging. Sie fühlte sich zerschlagen und zerzaust, ihre Augen waren trocken und brannten, und die Haut spannte. Sie kam sich vor, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen, doch woher waren dann die wirren, unangenehmen Träume gekommen? Mächtige und widerstreitende Gefühle bestürmten sie. Da war zunächst die Aufregung, hier zu sein - ungeachtet all dessen, was geschehen würde. Die Vorfreude hatte sie schon gegen Ende des Fluges erfasst, als sie endlich nicht mehr zurückgeschaut, sondern den Blick nach vorn gewagt hatte. Beim Landeanflug hatte ihr die Aussicht auf die große, von Bergen umringte Bucht den Atem geraubt. Fast schien es, als wäre ihr bis zu diesem Moment nicht klar gewesen, was für ein riesiges Abenteuer ihr bevorstand, und ihr angeborener Optimismus erwachte, als sie sich umschaute. Sie schreckte vor dem beinahe atavistischen Empfinden des Lichts, der Hitze und der Gerüche zurück - das alles war ihr im tiefsten Inneren vertraut. Damit hatte sie nicht gerechnet. Plötzlich kehrte eine Erinnerung zurück, erstaunlich klar nach so vielen Jahren: Sie stand auf ebendiesem Flughafen, und der Augenblick war so schrecklich dass er sich unauslöschlich in ihr
Gedächtnis einge graben hatte, auch wenn sie aus Selbstschutz all die Jahre nicht mehr daran gedacht hatte. Hier hatte sie weinend gestanden und war an einen wildfremden Menschen übergeben worden, der sie nach Schottland brachte. Sie hatte nichts verstanden und nur gewusst, dass man sie aus der Welt riss, die sie kannte. Sie hatte an dem Arm des Fremden gezerrt und immer wieder zurück zu Isaura gesehen, zu der einzigen verlässlichen Person in ihrem Leben, die niedergeschlagen und tränenüberströmt dastand und winkte und winkte. Isaura in ihrer blauen Uniform mit dem weißen Kragen und den weißen Manschetten. Isaura mit dem wunderbar sauberen Geruch, den tröstlichen Armen und den breiten Füßen, die meistens in Sandalen steckten. Es war seltsam, dieses Bild so deutlich vor Augen zu haben, aber andererseits war sie nur eine Reisende aus dem Ausland, die nicht mehr von ihrer Umgebung wusste als jeder andere Passagier, der zum ersten Mal auf dem internationalen Flughafen von Rio landete. Doch so war es nicht ganz, denn ein Funken früherer Erfahrungen flackerte auf, und Cristi sagte sich, dass nur eine Fifty-Fifty-Chance bestand, dass tatsächlich jemand, wie ursprünglich vereinbart, hier war, um sie abzuholen. Na ja, es musste auch noch andere Möglichkeiten geben, in die Stadt zu kommen. Hinter all diesen Gedanken lauerte noch etwas, was beunruhigender als alles andere war: die Beklommenheit, schon sehr bald der Familie gegenüberzustehen. Den Brüdern ihrer Mutter. Ihren Onkeln Joäo und Joachim. Die Namen ihrer Frauen und Kinder kannte sie nicht. Sie hatte keine Ahnung, wo sie lebten, welchen Berufen sie nachgingen, was für Menschen sie waren oder aus welchen Gründen sie nach ihr geschickt hatten. Ihre Hände waren feucht, und sie nahm den Griff ihrer großen ledernen Reisetasche fester in die Hand. In dem Gewühle im Terminal geriet sie in Panik - was, wenn sie kein Wort von dem verstand, was die Leute zu ihr sagten?
Das Stimmengewirr um sie herum hätte genauso Suaheli sein können. Doch plötzlich kristallisierten sich vertraute Laute heraus, und sie erkannte das Portugiesisch ihrer Kindheit. Wieder überkam sie das seltsame, unvorhergesehene Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Man hatte sie instruiert, nach einem Mann mittleren Alters Ausschau zu halten, der ein Schild mit dem Namen der Anwaltskanzlei in den Händen hielt. Aber so jemand war nirgendwo in Sicht. Gut, das war nicht schlimm. Wo fuhren die Busse los ? Aber obwohl sie bereit war, sich allein zurechtzufinden, wenn sie musste, war sie doch so müde, dass sie es als erstes Zeichen der Zurückweisung betrachtete, nicht in Empfang genommen zu werden. Es rief ihr ins Gedächtnis, dass sie wegen der überraschenden Bestimmungen in einem Testament herbeordert worden war und nicht um ihrer selbst willen. »Maria-Cristina ?« Seit Jahren hatte sie niemand mehr so angesprochen. Sie selbst hatte fast vergessen, dass das ihr voller Name war. Dennoch klang er so natürlich, dass sie sich ohne Zaudern umdrehte und ihr nicht einmal auffiel, dass kein Nachname hinzugefügt wurde. Der Mann, der nach ihr gerufen hatte, hielt kein Schild in der Hand und war auch nicht im »mittleren Alter«. Er war überdurchschnittlich groß für einen Brasilianer, aber dunkel wie alle seines Schlages. Er bedachte sie mit einem Lächeln, das sie von einem Kanzleiangestellten niemals erwartet hätte, und sie strahlte bereitwillig zurück. Das war schon besser. Keine Busfahrt. »Ich bin sehr erfreut, dich kennen zu lernen.« Er sprach englisch mit dem Überschwang seiner eigenen Sprache, schüttelte ihr die Hand und neigte leicht den Kopf, als hätte er sich normalerweise tief verbeugt. »Darf ich fragen, ob du einen angenehmen Flug hattest? Wahrscheinlich nicht. Ich vermute, dass du etliche unbequeme Stunden hinter dich gebracht hast.
Wenigstens bist du beinahe pünktlich angekommen, dafür sollten wir dankbar sein. Erlaube mir, dich in Brasilien willkommen zu heißen.« Sein Englisch war fließend, allerdings drückte er sich ein bisschen zu feierlich aus, doch auch das hatte einen ironischen Unterton, als wäre der Auftrag, sie abzuholen, eine angenehme Zerstreuung. Er schnippte mit den Fingern, um den Träger, der ihm gefolgt war, auf sich aufmerksam zu machen, und schon war Cristis Gepäck auf dem Weg zum Ausgang. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, um mich in die Stadt zu bringen«, erwiderte sie. »Ich bin Ihnen sehr dankbar.« »Es ist mir ein großes Vergnügen.« Er musterte sie belustigt, und als Cristi das Lächeln in dem braunen, scharf geschnittenen Gesicht aufblitzen und das dichte schwarze Haar sah, wurde sie sich einer Sache bewusst, die sie schon seit der Landung unterschwellig beschäftigte: Die meisten Menschen um sie herum sahen nicht nur umwerfend gut aus, sondern sie fiel zum ersten Mal seit vierzehn Jahren in einer Menge nicht als ungewöhnlich auf. »Ich denke, heute wird es heiß für diese Jahreszeit. Du bist bestimmt froh, dass du nach dem Klima, das in Schottland vorherrscht, nicht im Sommer hergekommen bist.« Es war nur Smalltalk, und er erwartete keine Antwort, Er führte sie hinaus zu seinem Wagen, öffnete den Kofferraum für ihre schlichte Reisetasche, bezahlte den Träger und hielt Cristi die Beifahrertür auf. Er machte den Eindruck eines Mannes, der praktische Details schnell hinter sich bringen wollte und es nicht mochte, wenn ihn etwas aufhielt. Das Auto war lang und luxuriös. Cristi erkannte die Marke nicht, aber es schien ihr, als wäre die Juristerei in Brasilien ein profitables Geschäft, wenn schon ein Ange stellter, der Leute vom Flughafen abholte, einen solchen Wagen fuhr. In den nächsten Minuten nahm sie nichts anderes wahr als die raschen, angriffslustigen Fahrmanöver, die sie vo m Parkplatz
auf den Highway brachten. Offenbar bedeutete das Starten des Motors gleichzeitig eine Kampfansage an die anderen Verkehrsteilnehmer - oder eine Heraus forderung zum Rennen, korrigierte sich Cristi, als die Limousine auf die erste der Verbindungen zwischen den Inseln schoss. »Du erkennst mich nicht?« Die Frage klang wieder amüsiert und wurde von einem langen, forschenden Blick begleitet, den Cristi bei der Geschwindigkeit für unpassend und gefährlich hielt. »Nein, selbstverständlich nicht. Wie könntest du auch?«, fuhr er fort, bevor sie eine Antwort geben konnte. Er zuckte mit den Schultern und sah endlich wieder die Straße. »Ich fürchte nicht...« Cristi bemühte ihr erschöpftes Gehirn. Hatte man ihnen ein Foto geschickt, sodass sie .ihn in der Ankunftshalle erkennen konnte ? Aber sie hatte nie ein Foto bekommen. Plötzlich schoss ihr ein erschreckender Gedanke durch den Kopf: War sie in das falsche Auto gestiegen ? Vielleicht war dieser Mann gar nicht von den Anwälten geschickt worden. Er hatte seinen Namen nicht genannt oder den seiner Firma erwähnt, und sie war mit ihm gegangen, ohne ihm eine einzige Frage zu stellen! Dies war Brasilien, und sie hatte genügend über die Gefahren gehört und gelesen, um über ihre Naivität entsetzt zu sein. Und auf dem Flughafen hatte sie ihre Tasche achtlos über die Schulter geworfen, obwohl das oberste Fach weit offen stand, in dem sie ihren Pass, Geld, Traveller's Cheques, Adressen und Telefonnummern aufbewahrte, die sie gebraucht hätte, wenn... Aber dieser Mann hatte sie Maria-Cristina genannt und von Schottland gesprochen. »Ah, Schande über mich, weil ich dich so aufziehe! Wie erschrocken du aussiehst.« Er lachte. »Ich bin natürlich kein pflichtbewusster, unbedeutender Kanzleiangestellter. Ich trage keine Pappschilder mit dem Namen der Firma herum. Aber vor
langer, langer Zeit sind wir, du und ich, uns begegnet. Und um ehrlich zu sein, damals hast du, meine kleine Cousine, fast so ausgesehen wie heute, und du ähnelst sehr meiner Tante Justina. Ich bin ganz ehrlich entzückt, dich wiederzusehen.« In dem Trubel und der Aufregung hatte sie so vieles übersehen! Wie konnte sie nur so blind gewesen sein? Alles an ihm verriet Wohlstand, und seine Manieren waren ebenso edel wie seine Kleidung. Zum Glück konnte sie die letzte Etappe der Reise einfach überspringen und sofort mit ihrer Familie Kontakt aufnehmen. Cristi war regelrecht zusammengezuckt, als er den Namen ihrer Mutter so selbstverständlich ausgesprochen hatte. »Ich bin dein Cousin Luis Francisco Ribeiro da Fonseca... Ich weiß, ich weiß, ich hätte mich dir sofort vorstellen sollen. Das war unverzeihlich... Ich hätte wer weiß wer sein können.« Der Hauch eines verschmitzten Lächelns verriet Cristi, dass er ihr ihren Leichtsinn noch lange vorhalten würde. Er hätte tatsächlich irgend jemand sein können, und sie war ohne weiteres in seinen Wagen gestiegen. Aber dieser atemberaubend attraktive Mann war ihr Cousin ? Mannomann. »Ich bin der Sohn von Joachim, dem Bruder deiner Mutter«, erklärte er. »Du erinnerst dich überhaupt nicht an mich?« »Sind wir uns schon mal begegnet?« Es war uns nicht erlaubt zusammenzukommen, dachte sie. Dennoch kamen Erinnerungen an die Oberfläche, vage Augenblicke. Ein düsteres Zimmer mit hoher Decke und großer dunklen Möbeln sowie gegen die Sonne halb geschlossenen Fensterläden. Einige Kinder - alle älter als sie und feindselig. Sie selbst sehnte sich nach Anerkennung Erwachsene unterhielten sich im Hintergrund, aber Cristi konnte sich ihre Gesichter nicht ins Gedächtnis rufen Sie sah nur ihre Mutter vor sich. Ihre schöne, elegante Mutter, die schlanke Gestalt, die Teil ihrer Kindheitseindrücke war. Dennoch gab es keine bestimmten Szenen oder Erinnerungen an gemeinsam
verbrachte Zeit. Und wie immer rief Justinas Bild das Gefühl der Einsamkeit, der Erwartung, der Enttäuschung, des endlosen Wartens hervor und letzten Endes die Verzweiflung, weil wieder ein Versprechen gebrochen worden war. »Ja, aber wir haben uns nicht oft getroffen«, antwortete Luis. »Dieser uralte Streit. Doch es ist nicht unser Streit, oder?« In verändertem Ton fügte er mehr zu sich selbst hinzu: »Er ist ohnehin inzwischen beigelegt.« Cristi wandte sich ihm schuld bewusst zu. »Es tut mir so Leid. Dein Großvater. Ich hätte... Er fehlt dir bestimmt.« Luis konzentrierte sich auf den Verkehr, da er gerade einen großen Lastwagen mit Anhänger, der ein wenig hin- und herschlingerte, überholte. »Ja, natürlich trauern wir um meinen Großvater«, sagte Luis, während er in den Rückspiegel sah, um vor dem Lastwagen einzuscheren, dessen Fahrer einige Male auf die Hupe drückte. Diese Aussage war eher eine Höflichkeitsfloskel als ein Ausdruck aufrichtiger Empfindung. »Wie auch immer«, setzte er mit einem Schulterzucken hinzu und nahm beide Hände vom Steuerrad, »er war schon sehr alt und seit einiger Zeit krank.« Luis machte eine kleine Pause. »Und er war auch dein Großvater.« »Ich weiß«, entgegnete Cristi unsicher. Dies öffnete die Tür zu einer Vielzahl komplexer Themen, denen sie sich noch nicht gewachsen fühlte. »Es kommt mir nur nach dieser langen Zeit eigenartig vor, es so zu betrachten.« Allein die Erwähnung ihres Großvaters schien Geheimnisse aufzurühren - Geheimnisse, die unentwirrbar mit Traurigkeit und Schmerz verbunden waren. Sie schreckte vor all diesen großen Fragen zurück und wünschte sich plötzlich, an einem ruhigen, kühlen Ort z u sein, an dem man keine Klimaanlage brauchte und weder von der Hitze noch dem grellen Licht bestürmt wurde. Und sie sehnte sich danach, aus diesen Kleidern zu kommen. Sie überlegte, wie lange sie sie schon trug, kam aber wegen des Zeitunterschieds vollkommen
durcheinander. Sie sehnte sich nach einer Dusche, einem Bett und nach einem Aufschub, was die emotionalen Anforderungen anging. Ausgerechnet jetzt stand ihr eine Szene vor Augen, die nicht gerade förderlich in dieser Situation war. Drumveyn im silbrigen Morgenlicht, taubedecktes Gras, Vogelgezwitscher, Nebelfetzen, die vom Loch aufstiegen. Sie verdrängte dieses Bild. Wie konnte sie nur so undankbar sein? Sie befand sich in einer der faszinierend sten Städte der Welt, und ihre größte Angst war ausgeräumt, weil sie so herzlich willkommen geheißen worden war, bevor sie sich verloren oder unerwünscht hatte fühlen können. Das große Abenteuer begann erst. Worüber sollte sie sich beklagen? »Meine liebe Maria-Cristina«, meinte Luis, »du hast doch nicht allen Ernstes angenommen, dass wir es einem Fremden überlassen, dich in deinem Geburtsland willkommen zu heißen, oder?« Das war blumig ausgedrückt. Der unbekümmerte, neckende Unterton war wieder da. Luis drehte den Kopf, um ihr erneut sein entwaffnendes Lächeln zu zeigen. »Allerdings war es bis heute unklar, wer von uns Zeit hat, dich abzuholen. In letzter Minute ergibt sich etwas, oder eine Änderung tritt ein man ist derart beansprucht...« Obwohl er diesmal nicht mit den Schultern zuckte, hörte man die Lässigkeit in jedem Wort, und wieder empfand Cristi so etwas wie Vertrautheit. Sie nahm die lateinamerikanische Mentalität nicht nur als gegeben hin, sondern spürte, dass ihr diese Lebenshaltung schon immer bekannt gewesen war. »Es war sehr lieb von dir, dass du gekommen bist«, sagte sie dankbar. »Das ist viel schöner, als von einem Anwaltsgehilfen empfangen zu werden.« Das meinte sie ernst. Es war doch etwas ganz anderes, dass sich jemand aus der Familie genug aus ihr machte, um solche Umstände auf sich zu nehmen, und dass sie mit Luis an ihrer Seite die anderen kennen lernen würde.
»Zweifellos«, stimmte er zu. »Aber soll ich dich jetzt, nachdem du dich vom ersten Schock erholt hast, ein bisschen auf die bevorstehenden Begegnungen vorbereiten ?« »Das wäre wunderbar.« Die Besorgnis war trotz allem noch da. »Na, es dürfte nicht allzu furchtbar werden. Wegen ... nun ja, aus verschiedenen Gründen ist unsere Familie sozusagen geschrumpft. Mein Vater ist, wie erwähnt, dein Onkel Joachim. Meine Mutter heißt Sylvia, und sie leben jetzt im Stadthaus der Familie Fonseca in Rio. Der ältere Bruder Joäo ist vor einigen Jahren nach Kalifornien ausgewandert, demnach brauchen wir uns gegenwärtig nicht mit seinem Zweig der Familie zu befassen. Das sind immerhin ein halbes Dutzend Namen, die du dir überhaupt nicht zu merken brauchst. Ich mache es dir doch leicht, oder?« »Ja, bisher komme ich noch mit«, bestätigte Cristi. Was für ein Glück und was für ein Spaß, dass dieser unglaub lich gut aussehende Mann mit dem bereitwilligen Lächeln und der Ungezwungenheit sie unter seine Fittiche genommen hatte. Mit so etwas hatte sie nie und nimmer gerechnet. »Kommen wir zu den Verwandten, die du heute kennen lernen wirst«, fuhr Luis fort. »Da sind meine beiden älteren Schwestern Gabriela und Catarina. Beide sind verheiratet und haben Kinder - diese Namen überspringe ich vorerst, da die Kinder nicht zum Willkommensdinner erscheinen werden, das meine Mutter heute dir zu Ehren gibt. Ja, ja, natürlich«, erklärte er schnell, als sich Cristi mit entsetzter Miene zu ihm drehte, »sie besteht darauf. Es wäre sinnlos, ihr das ausreden zu wollen. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es wird eine ganz schlichte Angelegenheit. Nur ein halbes Dutzend ...« »Ich hoffe, das stimmt.« Cristi traute seinem unschuldigen Tonfall nicht. Am liebsten hätte sie gefragt, ob die Familie Verbindung zu ihrer Mutter hatte, doch das konnte sie nicht. Hatte der Tod des Großvaters bewirkt, dass auch Justina in den
Schoß der Familie zurückkehren konnte ? Wusste jemand, wo sie all die Jahre gewesen war, und hatte Kontakt zu ihr gehalten ? Doch im Moment konnte sie nichts von all dem zur Sprache bringen. Es war zu wichtig und vermutlich mit so vielen neuen Informationen und Verwicklungen behaftet, die sie in diesem Stadium gar nicht erfassen konnte. Im Augenblick war Cristi nur fähig, einen Schritt nach dem anderen zu machen; erst einmal musste sie in dem Haus ankommen, vielleicht sogar den Raum betreten, der ihr noch vage und bruchstückhaft im Gedächtnis geblieben war, und Onkel Joachim kennen lernen. Zum Glück war Luis so umsichtig, sie bei all diesen neuen Erfahrungen nicht allein zu lassen »Erinnerst du dich an irgend etwas von hier?« Luis verließ die Guanabara Bay und steuerte die exklusiven Vororte über der Stadt an. »Nur schemenhaft«, gestand Cristi. »Ich weiß nichts mehr von Rio selbst. Möglicherweise war ich nie in der Stadt. Ich weiß nicht mehr darüber als jeder unerfahrene Tourist, und ich habe keine Ahnung, wohin wir jetzt fahren. Ich erinnere mich an zu Hause, an die Menschen im Haus, daran, dass ich in die Klosterschule und wieder heimgefahren wurde.« Dennoch gab es eigenartige Erinnerungsfetzen, von denen sie Luis nichts verriet - es waren eher Eindrücke als wirklich im Gedächtnis Haftengebliebenes. Sie war überrascht, dass ihr ein Wort einfiel, das Teil ihrer Kindheit gewesen war und an das sie seither nie gedacht hatte. Baixada. Für sie hatte dieses Wort einen finsteren, unheilvollen Ort beschrieben, der irgendwo unterhalb des Hügels lag, auf dem sie wohnte. Die Ebenen an der Flussmündung mit den riesigen Slums. Ein erschreckender Ort voller unbekannter Gefahren, den man nicht sah, aber nie ganz vergaß. Und noch etwas kam ihr lebhaft in den Sinn, als die Limousine das hohe schmiedeeiserne Tor passierte, das in die
schmucklose Mauer eingelassen war und dessen Flügel aufschwangen, als Luis auf eine Fernbedienung drückte: das Eingesperrt sein hinter Schlössern, Riegeln und vergitterten Fenstern, Vorschriften, Aufsicht, das Verbot, sich schmutzig zu machen und bei Regen, Wind oder zu starkem Sonnenschein ins Freie zu gehen, und die endlose übertriebene Fürsorge. Und sie entsann sich, dass sie auf den Fahrten zur Schule immer das faszinierende, aber gleichzeitig abstoßende Gefühl gehabt hatte, dass es da draußen noch eine ganz andere Welt gab. Cristi schauderte, als Luis' Limousine weiterrollte. Sie dachte an einen makellos gepflegten, weitläufigen Garten und die sich bückenden und arbeitenden Gärtner. Dann beanspruchte das Haus mit den Fensterreihen und den kleinen Ba lkonen davor ihre ganze Aufmerksamkeit. Es war im traditionellen kunstvollen Stil erbaut - solide, hübsch und prachtvoll - und verriet das unerschütterliche Selbstbewusstsein der Bewohner. Luis blieb vor einer schweren Doppeltür stehen, und augenblicklich erschien ein Diener, der sich um das Gepäck kümmerte, und ein zweiter, der den Wagen wegfuhr. Luis wandte sich an Cristi und zog eine Augenbraue hoch, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Niemand wird dich fressen. Komm schon, nur Mut.« Diesmal neckte er sie nicht, und sein Lächeln war warmherzig und aufmunternd. Cristi war wirklich dankbar, dass er bei ihr war, als er seine Hand an ihren Ellbogen legte und sie die breite Außentreppe hinaufführte.
9. Kapitel Sie ist bestimmt schon angekommen, meinst du nicht?«, fragte Pauly. Als sie die Kaffeemaschine gefüllt hatte, hatte sie überlegt, ob sie Stunden zur englischen Zeit hinzufügen oder davon abziehen musste. »Sie müsste bald landen. Hey, sie wird zurechtkommen«, behauptete Archie, als er das unglückliche Gesicht seiner Frau
sah. »Ich weiß. Selbstverständlich wird sie das. Es ist idio tisch, sich Sorgen zu machen.« Pauly stellte die Kaffeekanne auf den Tisch und öffnete das große Fenster, bevor sie sich setzte. »Hm, die Rosen duften nach dem Regen. Himmlisch.« »Verdammter Regen, dabei hatten wir noch nicht das ganze Heu in der Scheune. Wenn das Wetter doch nur einen Tag länger gehalten hätte!« »Wir haben es dieses Jahr nicht schlecht getroffen«, rief Pauly ihm ins Gedächtnis und legte ihre Hand kurz auf seinen gebräunten Arm. »Ich weiß.« Er lächelte sie an und musterte sie eingehender als sonst, vielleicht weil er wusste, wie elend sie sich fühlte, oder weil ihm Cristis Abreise auch mehr zu schaffen machte, als er zugeben wollte, und das Lächeln vertiefte sich zu einem Blick voller Liebe. Für ihn war sie nach wie vor die üppig ausgestattete Neunzehnjährige mit der weichen Haut, die Fröhlichkeit in dieses Haus gebracht und es zum Leben erweckt hatte. Und die zu einer Zeit in sein Leben getreten war, in der alle Versuche, seine Ehe mit der schwermütigen, nach tragischen Kindheitserlebnissen zu keiner Liebesbeziehung fähigen Cecil zu retten, gescheitert waren und er sich verzweifelt nach Wärme und Großzügigkeit sehnte. Die Pauly von heute hatte dichtes karamellfarbenes, wirres Haar, trug ein weites Safarihemd, das einmal Toms Sohn Rob gehört hatte (oder ihm nach wie vor gehörte), und sah noch immer so aus wie das lächelnde Mädchen, das seine Mutter als Tramperin auf der Glen-Straße aufgele sen und mit nach Hause gebracht hatte, damit es für die Familie kochte. Archie stellte seine Tasse ab und nahm Pauly in die Arme. Tränen traten ihr in die Augen »O Archie, es kommt mir so vor, als wäre sie wirklich gegangen«, wimmerte sie und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. »Die Zeit an der Universität war
schon schlimm genug, aber das jetzt ist einfach schrecklich. Cristi ist ein so wunderbarer Mensch, und man hat sie gern um sich. Sie hat so großen Spaß am Leben und ist ständig mit irgendwas beschäftigt. Jetzt habe ich das Gefühl, dass sie für immer fort ist, und das kann ich nicht ertragen.« »O Liebes, nicht. Cristi könnte niemals lange von Drumveyn wegbleiben. Du weißt, dass sie zurückkommt. Sie macht nur einen Besuch in Brasilien. Aber sie musste hinfahren, es war die ganze Zeit etwas, was für sie unerledigt geblieben war - sie muss das Geheimnis um das Verschwinden ihrer Eltern ergründen und herausfinden, wen ihr Vater wirklich geheiratet hat - falls er sich überhaupt jemals zum Heiraten durchgerungen hat.« »Ja, ich denke, das weiß ich.« Paulys Stimme klang erstickt, als sie sich von Archie abwandte und nach einem Kissen fasste, weil sie nichts anderes zur Hand hatte, womit sie sich die Tränen von den Wangen wischen konnte. »Gott, diese Bezüge müssen gewaschen werden«, fügte sie gefasster hinzu und warf das Kissen angewidert auf den Boden. »Es war seltsam, wie sie zu uns ins Haus gekommen ist, nicht ? Ich nehme an, sie muss herausfinden, warum alles so gekommen ist - jeder würde das wollen. Es ist ehrlich erstaunlich, dass sie die Ranch und alles andere erbt, wenn man genauer darüber nachdenkt. Aber gestern - war es wirklich erst gestern ? -, als wir sie verabschiedet haben, ist etwas Eigenartiges geschehen. Mir ist plötzlich aufgefallen, wie fremdländisch sie aussieht, als hätte ich sie mir vorher nie richtig angeschaut. Ich meine nicht, dass sie mir fremd war, sie war immer noch unsere Cristi. Archie, glaubst du, wir haben ihr deutlich genug gemacht, dass dies ihr Heim ist und dass wir sie immer hier haben wollen, egal, was auch geschehen sollte ?« »Sei nicht albern, das weiß sie doch ganz genau«, versicherte Archie und schob ihre Haarmähne zurück, damit er seine Wange an ihre legen konnte. »Natürlich weiß sie, dass dies hier ihr Zuhause ist. Sie liebt dich ebenso sehr wie du sie, und sie liebt Madeleine, Tom, die Kinder - uns alle.«
»Ja, ich wünschte nur, die Kinder würden sich beeilen und endlich heimkommen«, brummte Pauly mürrisch, und Archie verstand, dass sie sich nach ihren Stimmen und dem Gelächter, dem Geplapper und den kleinen Tragödien sehnte, weil das Haus so leer und verlassen wirkte wie nie. Er wusste, dass sie die Umarmungen und Wärme brauchte und sich ein volles Haus wünschte, damit sie für viele Leute kochen konnte. Lächelnd zog er sie an sich. Als er hinauf zu den oberen Wiesen ging, die immer zuletzt im Jahr gemäht wurden, und überprüfte, welchen Schaden der nächtliche Regen angerichtet hatte, nagte Paulys Frage an ihm. Hatten sie Cristi in Wahrheit für immer verloren ? Nicht weil sie nicht mehr herkommen wollte, sondern weil sie durch die Umstände dazu gezwungen wurde ? Pauly hatte einen Nerv in ihm getroffen, als sie darauf hingewiesen hatte, wie fremd Cristi aus sah. Sie würde in Brasilien neue Bande knüpfen, die sie später nicht ignorieren konnte, und sie würde zudem Verantwortung auf sich nehmen müssen. Dougal begann einen neuen, langweiligen Tag im Büro und bemühte sich nach Kräften, dieselbe Frage, die Archie beschäftigte, aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. War Cristi tatsächlich fort? Würde sie in Zukunft Drumveyn nur noch kurze Besuche abstatten und dann von der Familie und dem ausgedehnten Freundeskreis der Napiers vollkommen in Anspruch genommen werden? Seit dem trostlosen Abschied, der eigentlich gar keiner gewesen war, spürte er eine Verzweiflung in sich, die seinem ausgeglichenen, pragmatischen Charakter gar nicht entsprach. Er war entschlossen gewesen, ihr Verhältnis zueinander auf eine realistische Basis zu bringen, doch er kannte Cristi seit ihrem achten Lebensjahr, um Himmels willen. Er hätte sie zumindest in den Arm nehmen können, um sie wissen zu lassen, wie sehr sie ihm fehlen würde.
Aber so etwas durfte er nicht riskieren. Wenn er auch nur einmal den Arm um sie gelegt oder sie auch nur berührt hätte, dann hätten sie... hätte er weit mehr getan, als ihr nur freundschaftlich Lebewohl zu sagen. Jedes Mal, wenn seine Gedanken an diesem Punkt angelangt waren, redete er sich ein, dass er richtig gehandelt hatte. Er hätte nichts anderes tun können. So wie es war, so musste es sein. Und jetzt musste er ernsthafte Anstrengungen unternehmen und sich das alles aus dem Kopf schlagen. Cristis Zukunft ging ihn nichts an. Er sollte sich lieber darum kümmern, dass seine Mutter ein Dach über dem Kopf hatte, und sich bemühen, dass Jill wieder in die richtigen Gleise kam, dann konnte er daran denken, sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen. Es tat ihm nicht gut, wenn er sich nach Dingen sehnte, die unerreichbar für ihn waren. Die beunruhigende Mischung von Neuem und vage Erinnerungen bestürmte Cristi erneut, als Luis sie in den großen und ihrer Ansicht nach bedrückend prachtvollen Raum führte. Das durch cremefarbene Leinenvorhänge .gedämpfte Licht brachte augenblicklich die Vorstellung von der Sonne als Feind zurück, der ausgeschlossen oder unter allen Umständen gemieden werden und gegen den man wertvolle Gegenstände beschützen musste. Mit einem Mal hatte sie die Stimme ihrer Mutter im Ohr: »Mas que calor!« Es traf sie bis ins Mark, dass sie diese Worte so klar und deutlich hörte. Aber sie hatte keine Zeit, gr ündlicher darüber nachzudenken, denn der Bruder ihrer Mutter und seine Frau, Luis' Eltern, gingen auf sie zu, um sie willkommen zu heißen. Es geschah tatsächlich. Sie wurde in dem Haus, in dem ihre Mutter auf die Welt gekommen und aufgewachsen war, von ihren leiblichen Verwandten empfangen. Es war ein aufregendes, Leben veränderndes Ereignis, auch wenn die Begrüßung förmlich und korrekt ausfiel. Joachim
schüttelte ihr die Hand und beugte sich darüber, Sylvia hauchte duftende Küsse neben ihre Wangen und murmelte ein paar Sätze, die für Cristi so besänftigend klangen wie die vor langer Zeit erlernten Kinderreime. »Maria-Cristina, wie reizend, dass wir dich endlich kennen lernen. So eine Freude ...« Joachim Ribeiro da Fonseca, der um einiges kleiner war als sein Sohn, entsprach eher dem Bild, das man sich von einem Brasilianer machte. Er war Mitte fünfzig, ziemlich massig und hatte einen runden Kopf und breite Schultern. Er wirkte tadellos gepflegt, trug einen leichten grauen Anzug, dazu ein weißes Hemd und eine dunkle Krawatte. Die Hand, die er Cristi reichte, war glatt, feist und sorgfältig manikürt. Maßgeschusterte Schuhe, keine Frage, dachte Cristi, als sie ihn taxierte. Sylvia war auch schon zu dieser frühen Tageszeit formell gekleidet und tadellos zurechtgemacht. Ihr Haar sah aus, als käme sie direkt vom Friseur, und das deutete darauf hin, dass sie eine persönliche Zofe hatte. Cristi, die das Gefühl hatte, in ihren Erinnerungen um ein Jahrzehnt, aber was den Lebensstil betraf, ein halbes Jahrhundert zurückgereist zu sein, vermutete, dass sich ihre Tante normalerweise um diese Zeit nicht blicken ließ. Sie war dank bar für die Höflichkeit, die man ihr erwies. Aber das perfekt herausgeputzte Empfangskomitee, der eindrucksvolle Salon mit der Stuckdecke, die Gemälde mit den schweren Rahmen, die reich geschnitzten Möbel und die Schätze, die überall herumstanden, gaben Cristi das Gefühl, unbedeutend, plump und kindlich zu sein. Ihre Kleider, den Rock mit dem afrikanischen Batik muster, das sie selbst entworfen hatte, und das kurze gestrickte Seiden-Top hatte sie für diese Begrüßung aus gewählt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie die bequeme gelbe Jeans für die Reise angezogen. Das hätte kaum einen Unterschied gemacht. In dieser Umgebung war ihr Aufzug ohnehin unpassend.
Trotz der lächelnden Begrüßung, den Fragen nach ihrer Reise (alles in fließendem und offensichtlich oft geübtem Englisch) und der unübersehbaren Absicht, ihr ein herzliches Willkommen zu bereiten, beschäftigten Cristi die Beobachtungen, die sie am Rande machte. Die se gut aussehenden Leute, mit denen sie durch ihre Geburt verwandt war, hatten einen olivefarbenen Haut ton, der ihr fehlte. Vielleicht ha tte sie doch einiges von ihrem englischen Vater geerbt, auch wenn sich ihr creme farbener Teint sehr von der vornehmen englischen Blässe unterschied. Aber diese Augen, die lächelnden Augen. Cristi wurde sich schmerzlich bewusst, dass sie nie sicher sein konnte, welche Gedanken hinter diesen Blicken steckten, und sie sehnte sich nach Paulys fröhlichem Grinsen und Madeleines feinem Lächeln. Die schwarzen, undeutbaren Blicke ihrer selbstbewussten Verwandten ... Cristi fragte sich voller Zweifel, ob ihre eige nen Augen, die ebenso dunkel waren, auch so wenig von ihren Gefühlen verrie ten. Waren andere Menschen, die ihr Lächeln erwiderten, auch im Unklaren über ihre wahren Gedanken ? Die höfliche Unterhaltung über nichts plätscherte mühelos dahin, und Cristi war froh über die unbeschwerten Bemerkungen, die Luis einfließen ließ. Er war wesentlich entspannter als seine Eltern. Kaffee wurde serviert. Cafezinbos; dieses Wort fiel ihr sofort ein. Im Haus ihrer Mutter hatte man den Kaffee aus kleinen, geraden Tassen getrunken; am Boden hatte sich eine dicke Schicht Zucker abgesetzt, der seltsamerweise nie umgerührt worden war. Wenn Isaura das Tablett in die Küche zurückbrachte, durfte Cristi manchmal als Belohnung den süßen Satz aus den Tassen löffeln, obwohl ihr Kaffee offiziell strikt verboten war. Sie zwang ihre Gedanken in die Gegenwart. »Meine arme Maria-Cristina«, sagte Sylvia, »jetzt dür fen wir dich nicht länger für uns beanspruchen. Du bist bestimmt sehr
müde. Diese langen Flüge sind so strapaziös, selbst wenn es einem gelingt, ein wenig zu schlafen. Vielleicht möchtest du ein kleines Frühstück in deinem Zimmer einnehmen und dich ausruhen? Wenn du ein englisches Frühstück bevorzugst, brauchst du es nur zu sagen. Ich bitte dich ohnehin, deine Wünsche unge hemmt zu äußern. Unser Haus ist auch das deine ...« Eine bloße Redensart, wie Cristi wusste, aber sie rief ihr ins Gedächtnis, warum sie hergekommen war - sie, der Eindringling, das ausgestoßene Familienmitglied, dem so unerwartet ein Teil des Reichtums hinterlassen worden war. War diesen weltgewandten Menschen derselbe Gedanke bei dieser Floskel gekommen? Allerdings war ihnen nichts anzumerken. Solche Überlegungen passten nicht zu dem galanten, zivilisierten Begrüßungsritual. Es gab noch so vieles zu erfahren und zu erledigen. Gab es auch einiges, worüber es zum Streit kommen würde ? Cristi lief ein Schauer über den Rücken. »Vielen Dank, es wäre wunderbar, wenn ich ein wenig schlafen könnte«, erwiderte sie höflich. Und allein sein. »Wenn es dir wirklich nichts ...« »Aber das ist doch selbstverständlich«, schnitt Sylvia ihr das Wort ab. »Joachim muss heute Vormittag ins Büro, wir essen jedoch zusammen zu Mittag. Luis, hast du nicht erwähnt, dass du auch hier sein wirst? Und am Abend wirst du unsere Töchter und ihre Ehemänner kennen lernen, die sich natürlich alle schon sehr auf dich freuen. Wir werden eine kleine Gesellschaft sein nur die Familie. Jetzt komm, ich möchte dir dein Zimmer zeigen.« Die Männer erhoben sich lächelnd. »Nochmals vielen Dank, dass du mich abgeholt hast«, sagte Cristi schnell zu Luis. »Es war mir eine sehr große Hilfe.« »Das Vergnügen war ganz meinerseits«, versicherte Luis, und es klang so, als meinte er es ehrlich. Kein Schotte hätte einen solchen Satz so aussprechen können, fand Cristi.
Nachdem Sylvia gegangen war (Cristi empfand es als große Ehre, dass Sylvia sie persönlich zu ihrem Zimmer begleitet hatte), stand Cristi in dem hübschen Raum und ließ die Stille und Ruhe auf sich wirken, und die Verspannungen nach dem Flug lösten sich allmählich. Hier, auf der Schattenseite des Hauses waren die Läden der beiden großen Fenster zurückgeschlagen, und die dünnen weißen Gardinen wehten sanft im Luftzug. Die schwereren Brokatvorhänge waren so sorgfältig gerafft und zurückgebunden, dass sie wie in Stein gehauen aussahen. Vor jedem der beiden Fenster befand sich ein kleiner Balkon mit schmiedeeiserner Brüstung und Blick auf den Garten, der von einer dichten Baumreihe begrenzt war. Wohin man auch schaute, alles war schön. Etwas anderes schien hier nicht erlaubt zu sein. Auch das Zimmer war schön. Helle, mit Gold bemalte Möbel mit geschwungenen Beinen und zarten Blumenmustern. Handgemalt, dachte Cristi mit Belustigung, die sich rasch in Heimweh nach ihrem eigenen Atelier und dem großen, behaglichen Haus, dem Loch hinter dem Garten und dem Ausblick auf das Moor und die Berge verwandelte. Nein, schau nicht zurück. Jetzt bin ich hier, und es ist auch wunderbar. Drumveyn war nicht verloren, es blieb immer da. Aber für den Augenblick war sie gut beraten, wenn sie nicht zu viel an Schottland dachte. Sie durchquerte den Raum. Ihre Sachen waren bereits ausgepackt und weggeräumt, und das Mädchen, das Sylvia ihr als Diamantina vorgestellt hatte - nein, sie hatte Cristi vielmehr informiert, dass sie so hieß -, hatte nebenan ein Bad für sie eingelassen. Jeder nur erdenkliche Luxus erwartete sie, und der Duft, der dem Badewasser entstieg, brachte ihr wieder die Vergangenheit ins Bewusstsein, obwohl sie sich nicht daran erinnerte, dass ein derartiger Komfort einmal selbstverständlich für sie gewesen sein sollte. Cris ti hielt inne und wurde sich klar, dass die Kindheit nur einen Schritt entfernt war.
Nichts hätte sie ihr mehr zurückbringen können als dieser zu süßliche, überladene Geruch der Seife und des Badezusatzes. Sie schloss die Augen und war wieder in dem kleinen, eleganten Haus mit den weißen Marmorböden, der peinlichen Ordnung, dem winzigen, hellen, abgeschlossenen Patio. Sie hatte das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um Isauras glatten, starken Arm zu berühren - Isaura, die sich seit dem Tag ihrer Geburt um sie gekümmert hatte, Isaura, die jede Nacht in ihrem Zimmer geschlafen hatte, bis sie nach Schottland geschickt worden war. Ich bin nicht sicher, ob ich all dem emotional gewachsen bin, dachte Cristi. Sie versuchte, sich zusammenzunehmen. Wieso hatte sie nicht vorausgesehen, dass derartige Erinnerungen sie wie ein Messerstich treffen würden? Wie viel mehr lauerte noch im Dunkeln und wartete darauf, sie in einem überraschenden Moment zu bestürmen ? Doch diese Frage brachte auch eine gewisse Erregung mit sich. Es gab so vieles zu fühlen, zu sehen und zu lernen. Die Entscheidung eines feindseligen alten Mannes, dem sie nie begegnet war - und wer wusste schon, aus welcher Laune heraus er diese Entscheidung getroffen hatte ? - hatte ihr die Gelegenheit geboten, in ihr Geburtsland zurückzukehren, in ein schönes, großes Land voller Leben, in dem sie möglicherweise ganz neue Seiten an sich selbst entdecken würde. Viele Meilen südlich von hier lagen etliche tausend Hektar Land, die ihr gehörten. Sie selbst hatte die Ranch nie besucht, obwohl sie ihre Cousins und Cousinen glühend beneidet hatte, weil sie ihre Sommerferien dort hatten verbringen dürfen. , Der Gedanke an die Ranch war nach wie vor unbegreiflich und weckte Vorfreude, die unverzüglich gedämpft wurde, weil sie an Dougal denken musste. Wie gern hätte sie ihm geschrieben und ihm von allem berichtet, was sie sah, tat und empfand. Aber er hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass ein solcher Austausch zwischen ihnen nicht mehr möglich war und
nie mehr möglich sein konnte. Obwohl er es nie direkt ausgesprochen hatte, war die Tatsache, dass sie Land geerbt hatte, einer der Gründe dafür, dass sich eine für ihn unüberwindliche Kluft zwischen ihnen aufgetan hatte. Denk nicht darüber nach. Konzentriere dich auf die Gegenwart. Nach einem erfrischenden Bad ging Cristi zu den Fenstern, um das helle Tageslicht auszuschließen. Die Bettdecke war aufgeschlagen. Als sie endlich ihre müden Glieder in dem großen Bett ausstreckte, fragte sie sich, ob sie nicht zu erschöpft war, um Schlaf zu finden. Sie hatte vergessen, wie hart die Kissen hier waren... Dies war ihr letzter bewusster Gedanke, bevor sie eindöste und von der Stille in dem großen Haus eingehüllt wurde.
10. Kapitel Archie hatte viel zu tun, und es dauerte einige Tage, bis er Dougal abpassen konnte. Er wollte ein Gespräch unter vier Augen mit ihm führen. Zudem wusste er, dass Jean in dem gegenwärtigen Zustand und ihrer Sorge um die Zukunft sofort Unheil wittern würde, wenn er im Cottage anrief und sie bat, Dougal an den Apparat zu holen. Archie wollte ihr keine schlaflosen Nächte bereiten. Er bekam die Gelegenheit, auf die er wartete, ein paar Stunden später, als er von einem Besuch in der Scheune, wo er sich mit Tom einen abendlichen Drink genehmigt und sich einmal mehr über die Notwendigkeit, einen Verwalter einzustellen, unterhalten hatte. Nach dem Tee war Pauly hinüber nach Grianan auf der anderen Seite des Glens ge fahren und hatte einige Pfund Himbeeren für Sally Danaher mitgenommen. Es war ein gutes Jahr für Beeren und Obst gewesen, und Pauly hatte schon jede Menge Marmelade eingekocht. »Grianan« war ein kleines, florierendes Hotel, dort konnte man alles brauchen, was Pauly zu viel hatte.
Pauly besuchte Sally, sooft sie konnte, weil Sallys Mann Mike leider bei schlechter Gesundheit war und sich mit jedem Monat weniger gut in seinem Leben zurechtfand. Er hatte vor zwölf Jahren eine schwere Kopfverletzung davongetragen, und obwohl er sich so weit davon erholt hatte, dass er ein zufriedenes, aktives Leben mit Sally und seinen beiden Kindern aus einer früheren Ehe führen konnte, war sein Gehirn dauerhaft geschädigt. In letzter Zeit wurden seine Unsicherheiten und seine Vergesslichkeit immer deutlicher, und er verfiel häufig in Depressio nen und Antriebslosigkeit wie in den frühen Phasen seiner Genesung. Für Sally war das sehr schwer zu ertragen. Ihre vielen Freunde und insbesondere Pauly leisteten ihr so oft Gesellschaft wie möglich und unterstützten sie nach Kräften, und Archie war nicht überrascht, als Pauly anrief, um ihm mitzuteilen, dass sie zum Dinner in Grianan bleiben wollte. Da dies die hektischste Tageszeit für Sally war, nahm er an, dass die beiden Frauen erst zum Reden kamen, wenn die Gäste gegessen hatten, und erwartete Pauly deshalb erst später zurück. Er hörte das unverkennbare heisere Röhren des alten Land Rovers, als er durch das Wäldchen fuhr, das einen Ring um das Haus bildete. Er war erpicht darauf, mit Dougal über den Plan zu sprechen, den Tom und er geschmiedet hatten. Egal, wie Dougal darauf oder auf die weniger orthodoxe Alternative reagieren würde - er musste unbedingt etwas unternehmen. Archie hob die Hand, und der Land Rover blieb neben ihm stehen. »Guten Abend, Dougal, du bist genau der Mann, den ich sehen wollte.« Dougal schaltete den Motor aus. »Hallo, Archie. Was kann ich für Sie tun?« Gab es Neuigkeiten von Cristi ? Kam sie vielleicht schon bald zurück? Lieber Gott, musste das sein erster Gedanke sein ? Wie blöd musste er sein, wenn er tatsächlich annahm, dass Archie ihn aufhielt, um ihm das zu erzählen?
»Ich dachte, dass du vielleicht bei uns vorbeischauen könntest«, meinte Archie. »Es gibt da ein paar Dinge, die ich gern mit dir besprechen würde.« Dougal starrte grimmig vor sich hin. Das hatte ja einmal kommen müssen. Kein Mensch durfte erwarten, dass ein Cottage bis in alle Ewigkeit einer Familie zur Verfügung stand, die nicht für das Gut arbeitete. Na ja, wenn nötig konnte er irgendwas mieten, bis Jean ein Haus zugewiesen wurde. Abgesehen von der fundamentalen Ungerechtigkeit des Systems, das sich bestimmt nicht so schnell ändern würde, musste Dougal zugeben, dass sich Archie als ausgesprochen großzügig erwiesen hatte. Dougal drehte den Kopf und nickte zustimmend. »Gut. Mir passt jeder Abend.« »Hast du es eilig, nach Hause zu kommen?« »Jetzt? Nein, eigentlich nicht.« »Hast du schon gegessen?« »Klar.« Schon vor Stunden. »Möchtest du gleich mit kommen ?« »Ist mir recht.« Äußerlich wirkte Dougal ganz ruhig, aber sein Herz pochte heftig, als er Archie durch die Tür zur Waffen- : kammer, dann in die große Halle und in den ehemaligen Salon folgte. Hier hatte Archies Großmutter, eine unbeugsame Person, die die Galloway-Kinder immer in Angst und Schrecken versetzt hatte, mit eiserner Autorität regiert. Archies Mutter Madeleine, die sich den Regeln ihrer Schwiegermutter hatte unterwerfen müssen, hatte in diesem Raum viele einsame Stunden verbracht, bis sie nach dem Tod ihres Mannes den Mut aufgebracht hatte, die gestrengen Geister zu vertreiben und eine neue, warme Atmosphäre im ganzen Haus zu schaffen. Während dieser Revolution wurde der Salon zum Büro des Gutsherrn umfunktioniert. Archie .trug seinen Teil zu der Verwandlung bei, indem er die großen Bäume vor den Fenstern fällen ließ, so dass
das Süd ost-Zimmer ein heller, angenehmer Arbeitsraum wurde. Das Büro war nicht gerade aufgeräumt und ordentlich, aber sehr funktional, und außer den traditionellen Karten vom Gut manche davon waren sehr alt -, die an den Wänden hingen, den viktorianischen Aktenschränken aus Mahagoni und dem riesigen Schreibtisch mit der Lederplatte war es auch mit allen notwendigen modernen Gerätschaften ausgestattet. Dougal kannte sich hier aus, genau wie im Rest des Hauses, aber heute war er kein bisschen entspannt, als er das Whiskyglas von Archie entgegennahm und sich auf einem der mit dunklem Leder bezogenen Drehstühle niederließ. »Um ehrlich zu sein, ich wollte schon seit einiger Zeit mit dir reden«, begann Archie, während er zu einem der großen Fenster ging und in die Dämmerung schaute. Es wird jetzt mit jedem Tag früher dunkel, dachte er. Dougal wartete schweigend. Seit dem Tag, an dem sein Vater den ersten Schlaganfall erlitten hatte, war ihm klar, dass sie das Cottage verlassen mussten. Nun, vielleicht ging es ihnen nach dieser Unterhaltung besser, wenn sie nicht mehr von Drumveyn und den Napiers abhängig waren und mit all den veralteten Traditionen nichts mehr zu tun hatten. »Sieh mal, Dougal«, fuhr Archie unvermittelt fort, dann machte er kehrt und nahm an seinem Schreibtisch Platz. Allerdings drehte er den Stuhl vom Schreibtisch weg, als wollte er betonen, dass dies ein zwangloses Gespräch sein sollte. »Ich weiß, wir haben das schon in gewisser Weise angesprochen, aber vielleicht hast du deine Ansichten seither geändert. Ich möchte dich noch einmal fragen, ob die Möglichkeit besteht, dass du eine Stellung auf dem Gut annimmst. Du sollst nicht den Platz deines Vaters einnehmen - obwohl Tom und ich dir sehr dankbar für alles sind, was du an seiner Stelle getan hast, seit er krank wurde. Nein, ich würde es gern sehen, wenn du in der Verwaltung mitarbeitest... Nein, warte, sag noch nichts«, bat er, als Dougal erschrocken aufsah und die Stirn runzelte, »hör mich
erst bis zum Ende an.« Archie wünschte sich sehr, dass Dougal einwilligte. Er mochte und respektierte den Jungen, wusste, dass er die Arbeit nicht scheute, sehr geschickt und bereit war, bei allem, was er anpackte, hundert Prozent zu geben. Zudem wäre es ein großer Vorteil, wenn der Verwalter das Gut so gut kannte wie Dougal. Archie fuhr fort: »Es dauert seine Zeit, bis man ein Gefühl für ein Gut dieser Größe entwickelt. Du kennst es wie deine Westentasche, und dir sind alle Mitarbeiter vertraut. Du hast deine Einarbeitungszeit längst hinter dir, und du könntest deinen Kurs natürlich weiterhin besuchen - er ist genau genommen die ideale Qualifikation für den Job. Du weißt sicherlich, dass sich Tom allmählich ganz aus dem Berufsleben zurückziehen möchte, aber er ist bereit, sich um die Buchhaltung zu kümmern, solange er gebraucht wird. Diese Dinge können wir unter uns dreien regeln. Was sagst du dazu ? Wirst du darüber nachdenken ?« »Aber Sie brauchen als Verwalter jemanden mit einer ordentlichen Ausbildung.« Mehr brachte Douga l in seiner Überraschung über diesen Vorschlag nicht heraus. Archie hatte schon vorher mit ihm über eine Arbeit auf dem Gut gesprochen, jedoch nie eine Stellung wie diese erwähnt. Dougal wusste, dass er zum Ausdruck bringen musste, wie dankbar er für das Kompliment war, das Archie ihm mit diesem Vorschlag machte, aber ihm fehlten die Worte. »Du bist für unsere Bedürfnisse bestens qualifiziert«, beteuerte Archie und musterte ihn aufmerksam. »Dass du dich so blendend auf dem Gut auskennst, ist außerdem wesentlich mehr wert als jeder Studienabschluss.« Dougals spontane Antwort hatte ihn an etwas erinnert, was er beinahe vergessen hätte: Dougal hatte es nach wie vor nicht verwunden, dass ihm ein Besuch an der Universität verwehrt war. Hatte er das Gefühl, nur die zweitbeste Wahl zu sein? Ja, er hatte Pech gehabt, keine Frage, und es bestand auch kein Zweifel, dass er ein guter
Student gewesen wäre. »Ja, aber ...« Dougal brach unsicher ab; zu viele Dinge mussten ausgesprochen werden. »Ich... Sie denken nicht nur, dass dies die beste Möglichkeit ist, meiner Mutter eine neue Bleibe zu bieten und so ?« Das musste er vor allem anderen klären. »Nein, das denke ich nicht«, erwiderte Archie ruhig. »Um ganz genau zu sein, ich hatte auch das im Sinn, als wir zum ersten Mal darüber redeten, ob du auf dem Gut arbeiten willst. Ich überlegte, ob du Donnies Job übernehmen würdest und wir so den Status quo erhalten könnten. Ich wusste, dass du die Arbeit in Muirend nicht magst, und dachte, es wäre dir ganz lieb, wenn du die Chance hättest, hier angestellt zu sein. Doch du hattest Recht, als du dieses Angebot ausgeschlagen hast. Und alles hat sich weiterentwickelt. Tom ist, abgesehen von den Verletzungen, die er bei dem Unfall davongetragen hat und von denen er sich zum Glück allmählich erholt, im Rentenalter leider vergessen wir das meistens. Wenn er ganz gesund wäre, dann wäre das wahrscheinlich überhaupt kein Thema, aber so, wie die Dinge stehen, muß ich eine Lösung finden. So vieles stürmt auf uns ein - die EU-Vorschriften ändern sich beinahe jede Woche, dann sind da noch das Recht, die Schafherden über das Land zu reiben, die neuen Jagdgesetze und so weiter -, die meisten dieser neuen Regeln sind von Leuten aufgestellt worden, die noch nie aus ihren schönen, warmen Stadtbüros herausgekommen sind. Es bleibt mir praktisch keine Zeit, meine verdammte Arbeit zu erledigen. Du weißt ja mindestens so gut Bescheid wie ich.« Davon war Dougal nicht unbedingt überzeugt; allerdings war er sicher, dass er alles lernen könnte. Er unterbrach Archie nicht. »Der neue Pächter oben im Lettoch und der neue Hirte haben keine Entlastung gebracht, und es gibt einige Probleme, von denen du bestimmt schon gehört hast. Wir brauchen dringend Hilfe in der Verwaltung, und du bist der ideale Mann für diesen
Job. Und ich kenne niemanden, mit dem ich lieber zusammenarbeiten möchte.« Dougal wurde unter seiner Sonnenbräune rot und schüttelte verlegen den Kopf. Für einen Moment war er versucht, auf das Angebot einzugehen. Wieder hier zu arbeiten, den ganzen Tag in der Landschaft zu verbringen, die er liebte und kannte, bei der Leitung des Gutes mitzuhelfen, auf dem er aufgewachsen war, endlich seine Begabung und sein Wissen nutzen zu können ... und für Archie, den gerechtesten und umgänglichsten Boss, den man sich denken konnte, zu arbeiten... Er dachte an die langjährige Verbindung zwischen den beiden Familien und daran, wie sehr sein Vater an dem Gut gehangen hatte; zudem wäre seine Mutter im eigenen Haus unterge bracht, und sie müsste sich keine Sorgen mehr machen. Und da war noch eine Überlegung, die schwerer zu wiegen schien als alle anderen zusammen genommen: Er wäre hier, wann immer Cristi nach Hause kam. Er könnte ganz selbstverständlich und rechtmäßig all die Dinge mit ihr teilen, an denen sie sich immer schon gemeinsam erfreut hatten - auf den Bergweiden die Zäune flicken oder Heidekraut abbrennen, die Drainagegräben und Mauern richten, Schonungen anpflanzen, umgestürzte Bäume zu Brennholz verarbeiten, Stege und Furten passierbar machen. Nein. Er riss sich zusammen. Auch wenn sie möglicherweise hin und wieder zusammen solche Arbeiten verrichten würden, würden und könnten sie niemals wieder auf derselben Stufe stehen. Er würde bezahlt werden, um derartige Aufgaben zu erfüllen. Für Cristi wäre alles nur ein Spiel, und am Abend würde sie zurück ins große Haus gehen, um sich für das Dinner fein anzuziehen. Ihm war klar, dass das absurd war und solche Sitten im Drumveyn von heute nicht mehr galten, doch der Ärger und die Frustration brachten ihn auf solche Ideen, obwohl sich die Napiers meistens ganz zwanglos um den Küchentisch versammelten und er selbst oft genug in den Kreis aufge-
nommen worden war. Würde das wieder so sein? Wurde der Farmverwalter von Zeit zu Zeit eingeladen? Seine Wangen glühten. Die andere Verlockung, nämlich die, dass Jean »im eige nen Haus« wohnen könnte, war sogar noch törichter. Das Cottage »gehörte« ihr heute nicht mehr als damals, als sie als junge Frau hergekommen war, obwohl sie ihre Kinder dort aufgezogen, sich wegen Donalds und Jills Eskapaden gegrämt (und wahrscheinlich ihre Enttäuschung darüber, wie sein, Dougals, Leben verlief, nur verbarg) und zugesehen hatte, wie ihr Mann seine Gesundheit und die Lebenslust verloren hatte und schließlich gestorben war. Aber dieses Haus war nicht ihr Besitz. Sie könnte jederzeit aufgefordert werden, es zu räumen. Er wusste, dass es nicht fair war, so etwas von Archie anzunehmen, doch das war nicht der Punkt. Es ging ums Prinzip. Es war tatsächlich eine große Versuchung, in Drumveyn zu bleiben, aber wollte er sein Leben lang ein Ange stellter sein? Wenn er jetzt zusagte, dann würden sein Pflichtgefühl und die Umstände ihn dazu zwingen, für immer hier zu arbeiten, darüber war sich Dougal im Kla ren. Wie sein Vater würde er dem Gut sein Leben opfern. Es gab Schlimmeres, das schon, und die Alternativen, die ihm blieben, waren weit weniger attraktiv, doch sie gewährleisteten eine gewisse Unabhängigkeit, und das bedeutete ihm sehr viel. Archie beobachtete ihn sehr genau und erriet Dougals Gedanken zutreffender, als der Junge ahnte. Aber er schwieg und respektierte Dougals Recht, seine eigene Entscheidung zu fällen. »Es ist ein tolles Angebot, und ich bin Ihnen sehr dank bar dafür«, begann Dougal zögerlich - er wollte sich richtig ausdrücken. »Ich weiß, dass das eine Chance ist, für die sich die meisten Menschen in meiner Lage eine Hand abhacken würden. Aber ... es tut mir Leid, Archie. Ich glaube, ich kann das nicht
tun. Es ist nicht... es ist nicht das, was ich mir vom Leben erhoffe. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig erklären kann.« Er verstummte, beugte sich vor und legte die geballten Fäuste auf die Knie. Archie wartete geduldig und voller Mitgefühl. Er sah Dougals breite Schultern und die großen, kräftigen Hände. Der Junge, der als Cristis Busenfreund all die Jahre in seinem Haus ein und aus gegangen war, hatte sich zu einem starken, fabelhaften jungen Mann entwickelt. »Dougal, sprich dich aus«, forderte Archie. »Keine Angst, ich werde deine Entscheidung, wie auch immer sie ausfällt, ohne Widerspruch respektieren, doch ich möchte, dass du mir sagst, wie du fühlst und was du dir wünschst.« Der Alternativvorschlag, den er noch im Ärmel hatte, war, um es gelinde auszudrücken, ziemlich ungewöhnlich, und Archie musste sich erst Gewissheit verschaffen, bevor er damit herausrückte. Dougal gab sich sichtlich Mühe, seine Muskeln zu lockern. Er lehnte sich zurück, und seine Wirbel knackten. Vielleicht war es gut, ganz offen zu sein; und sich Archie verständlich zu machen, dürfte ihm nicht allzu schwer fallen. Als er noch klein gewesen war, war Archie immer so etwas wie ein Held für ihn gewesen. Und seit dem Tod des unduldsamen, arroganten alten Napier stand Archie mit allen Arbeitern auf Drumveyn auf gutem, fast freund schaftlichem Fuß. Do ugal respektierte das. »In vielerlei Hinsicht würde ich liebend gern diese Chance ergreifen«, gestand Dougal, während Archie die Gläser frisch auffüllte. »Aber das wissen Sie sicher. Ich hasse das verdammte Büro, und der Job an sich ist sterbenslangweilig. Aber auch wenn ich für diese Arbeit bezahlt werde, ist es nicht dasselbe wie... Na ja, ich habe doch das Gefühl, in gewisser Weise unabhängig zu sein. Es ist mein eigener Entschluss, dort zu bleiben, ich kann die Stelle wechseln, wann immer ich will. Und trotzdem komme ich jeden Abend nach Hause - in das
Hirten-Cottage.« Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf. Es war doch schwerer, als er erwartet hatte. Was war in Wirklichkeit so anders ? Dougal, ich weiß genau, was du meinst.« Archie fand es an der Zeit, ihm ein wenig weiterzuhelfen. »Diese verdammte Regelung, dass die Unterkünfte an eine bestimmte Stellung geknüpft sind - darum geht es doch im Grunde, oder nicht? Diese Bestimmung ist eigentlich ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, doch wie könnte man es anders machen? Die Cottages können nicht veräußert werden, da sie nun mal zum Gut gehören. Und wenn wir sie nicht hätten, würden wir gar niemanden mehr finden, der hier arbeiten möchte, weil es keine anderen Wohnungen in der Gegend gibt. Ein Gutsarbeiter sollte an Ort und Stelle leben. Es ist unmöglich, dass ein Hirte, ein Jagdaufseher oder ein Viehknecht nur von neun bis fünf arbeitet und jeden Tag von Muirend herauffährt - besonders nicht im Winter.« »Ja, ich weiß. Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Und je weniger Familien hier leben, desto eher wird die Schule geschlossen, und als Nächstes ziehen alle aus dem Dorf weg.« »Alle Highland-Dörfer haben dieses Problem.« Archie erhob sich und wanderte rastlos im Zimmer umher. »Aber die Kehrseite ist dennoch schlimm - ein Mann, der seinen Job verliert, verliert auch sein Heim.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar; er sah müde aus. »Um ehrlich zu sein, ich weiß auch keine Lösung.« »Sie dürfen nicht glauben, dass wir Ihnen nicht dank bar sind«, erwiderte Dougal hastig. Er war entsetzt, eine solche Erschöpfung in Archies normalerweise so fröhlichem Gesicht zu sehen. »Ich glaube kaum, dass wir irgendwo anders noch so lange nach Dads Tod hätten bleiben dürfen. Oder nachdem ihm der Job zu viel geworden war. Sie waren sehr gut zu uns. Ich möchte nicht, daß sie glauben, wir wüssten Ihre Großzügigkeit nicht zu schätzen, nur weil ich ...«
»Das glaube ich nicht«, fiel ihm Archie ins Wort. »Aber ich verstehe deine Gefühle. Und ich hasse den Gedanken, dass Jean ausziehen und sich deswegen Sorgen machen muss.« »So ist es nun mal - sie hat immer gewusst, dass es einmal dazu kommen würde. Das ist ein Teil der Abma chung. Wenn Dad noch leben würde, hätten sie irgend wann auch in ein Gemeindehaus ziehen müssen. Es ist die Art, wie es dazu gekommen ist, die alles so schlimm macht. Und dann hat sie noch diesen Kummer mit Jill.« »Ja, das ist für euch beide schwierig.« Archie wollte sich nicht durch die Probleme mit Jill von seinem eigentlichen Anliegen abbringen lassen. »Dougal, sag mir, was du dir wirklich für dich selbst wünschen würdest, wenn du die freie Wahl hättest.« »Ach, alberne Dinge.« Dougal schnitt eine Grimasse und drehte das Whiskyglas in den Händen. »Offen gesprochen hätte ich gern etwas Eigenes. Und das ist ziemlich verrückt, wenn man bedenkt, dass ein Farmer heutzutage kaum noch überleben kann. Die meisten verkaufen ihre Höfe, gehen Bankrott oder geben ihren Betrieb auf und fangen etwas ganz anderes an.« »Aber du würdest am liebsten einen eigenen kleinen Hof bewirtschaften, wenn du könntest? Auch wenn die Bedingungen nicht rosig sind?« »Ich glaube kaum, dass es Sinn hat, darüber zu reden«, entgegnete Dougal. »Doch da Sie mich fragen: Ja, das würde mir gefallen. Es geht mir nicht so sehr um ein paar Hektar Land oder um ein eigenes Haus, sondern viel mehr darum, dass ich Tiere um mich habe und versorgen kann. Ich weiß, das ist nur ein dummer Traum. Abgesehen davon, dass eine Farm nicht viel abwirft, werde ich mir nie einen kleinen Hof leisten können. Aber ich könnte mir für mich kein schöneres Leben vorstellen, selbst wenn ich meinen Bürojob behalten müsste, um über die Runden zu kommen - ohne zusätzliche Einnahmequelle kann sich ein Farmer ohnehin nicht mehr über Wasser halten.«
Die Anspannung fiel von ihm ab; der Whisky tat seine Wirkung. Archie war froh, ihn dazu ermutigt zu haben, über die Träume zu sprechen, die er normalerweise strikt für sich behalten hätte. Im Grunde hatte Archie ohnehin nur wenig Hoffnung gehabt, Dougal für den Verwalterposten auf Drumveyn gewinnen zu können, und Tom und er würden sich noch einmal Gedanken machen müssen, wie dieses Problem zu lösen war, doch er bewunderte Dougal für seine Aufrichtigkeit und für seinen Wunsch, unabhängig zu bleiben. Archie setzte eine zwanglose Unterhaltung in Gang, und sie sprachen über die Auswirkungen der Landwirtschaftskrise im Glen, diskutierten darüber, was im nächs ten Jahr auf den Feldern in der Nähe von Lettoch ange pflanzt werden sollte und bei welchen Wettbewerben sie bei den Kirkton Games teilnehmen würden. Irgendwann erschien es Archie, als wäre der geeignete Moment gekommen, den Alternativvorschlag zu machen, den Tom und er ersonnen hatten und der sowohl von Pauly als auch von Madeleine mit Begeisterung aufgenommen worden war.
11. Kapitel Es entstand ein kurzes Schweigen, bevor Archie das neue Thema anschnitt, und gerade in diesem Moment war ein schwaches Motorengeräusch zu hören, das sich dem Haus näherte. Pauly kam heim. Sie würde das Licht im Büro und den Land Rover im Hof sehen und wissen, dass es besser war, die Unterredung nicht zu stören. So verrückt und impulsiv Pauly auch war, sie wusste, wie wichtig und heikel das Gespräch war. Andererseits starb sie bestimmt vor Neugier. Ein Lächeln huschte über Archies Gesicht, als er sich vorstellte, wie sehr sie sich würde zusammennehmen müssen. Er wurde rasch wieder ernst. Er musste die Sache richtig anpacken, denn Dougal besaß einen bewundernswerten Stolz, und Archie musste von Anfang an deutlich machen, dass niemand ihm eine Wohltätigkeit oder
einen speziellen Gefallen erweisen wollte. »Dougal, es gibt noch eine andere Möglichkeit, die ich gern mit dir durchsprechen möchte, wenn du Interesse hast. Es hat eigentlich nichts mit Drumveyn direkt zu tun. Möchtest du mehr darüber erfahren?« »Es hat nichts mit Drumveyn zu tun?«, wiederholte Dougal verständnislos. »Es geht um Ellig. Die Farm, nicht um das Dorf.« »Ellig? Was ist damit?« »Hör zu und unterbrich mich bitte nicht.« Diesmal beugte sich Archie vor. Sein Plan, den er bisher für nicht durchführbar gehalten hatte, gefiel ihm immer besser. »Okay.« Dougals Miene verriet, dass er Archie für etwas wirr hielt, doch jetzt, da er sich einiges von der Seele geredet hatte, war er zufrieden, bis in die Puppen hier zu sitzen, zu plaudern und Malt Whisky zu trinken. »Richtig.« Archie holte unbewusst tief Luft. »Du weißt, in welchem Zustand Ellig nach all den Jahren ist, in denen es der Gnade der unzuverlässigen Maclachlan-Horde ausgesetzt war.« »Ich weiß, dass kaum noch eine Weidenmauer steht und dass dort so gut wie nichts anderes als Unkraut mehr wächst.« Diese Vernachlässigung ärgerte Dougal zutiefst, und wenn er es vermeiden konnte, kam er nicht mal in die Nähe der Ellig-Farm. »Und die Gebäude sind kurz davor einzustürzen, überall stehen kaputte Maschinen und wer weiß was für Schrott herum.« Archie nickte. »Ja, es ist ein trauriger Anblick. Jetzt soll die Farm zum Verkauf angeboten werden. Ich würde es für eine gute Idee halten, sie zu Drumveyn dazuzukaufen, wenn sie einigermaßen erschwinglich ist. Sie ist sehr klein und in der heutigen Zeit nicht mehr rentabel. Wie du gesagt hast, es wäre schwer, davon zu leben, und es ist ohnehin kein attraktives Objekt, solange das Haus so heruntergekommen ist. Die Danahers wollen es nicht zu Grianan dazukaufen. Sie haben mit dem riesigen Garten genug zu tun - besonders jetzt, da es Mike
nicht gut geht. Und ich möchte bestimmt nicht, dass solche Versager wie Jed Maclachlan jeweils für ein, zwei Jahre dort oben ihr Unwesen treiben und dann aufgeben, um es an einen anderen weiterzugeben, der die Umwelt schädigt und alles verwahrlosen lässt. Da oben gibt es ein paar gute Sommerweiden und neben dem Fluss ziemlich fruchtbare Anbauflächen, wenn man sie ordentlich herrichtet.« Archie machte eine Pause und betrachtete sein Glas, als überlegte er, ob er fortfahren sollte. Dougal wartete ganz still ab. Worauf wollte Archie hinaus? »Die Sache ist die«, nahm Archie den Faden wieder auf und tastete sich ganz vorsichtig vor, »ich möchte nicht, dass ein Fremder die Farm in Ordnung bringt. Ich habe auch selbst keine Verwendung für das Haus.« Alle möglichen Fragen gingen Dougal durch den Kopf, aber er ließ sich nichts anmerken. Archie sah ihn direkt an. »Ich will nicht, dass das Haus separat verkauft wird, wenn das Land, das dazugehört, zu Drumveyn gehören soll. Die Lösung wäre, die Gebäude einzureißen.« Dieses Schicksal ereilte viele Farmhäuser in den Glens. Dougal hatte immer noch keine Ahnung, wohin das alles führen sollte. Archie wusste so gut wie er, dass er nicht in der Lage war, Land zu kaufen, egal, wie viel es war oder in welchem Zustand es sich befand. Und er hatte vorhin ausreichend deutlich gemacht, dass er kein Ange stellter auf dem Gut sein wollte. Dennoch schien Archie irgend etwas mit ihm vorzuhaben. Dougals Herz schlug ein wenig schneller. Er ließ Archie nicht aus den Augen, als er sein Glas auf den Schreibtisch stellte und ein Stück von sich wegschob. Archie fragte sich, ob Dougal den Whisky wegstellte, damit er keinen Schaden anrichten konnte, oder ob er nur einen klaren Kopf behalten wollte, aber wahrscheinlich war die Geste ganz unbewusst.
»Okay.« Jetzt kam es drauf an. »Dougal, mein Vorschlag ist der: Ich kaufe das Ellig- Land und lasse das Haus, die Nebengebäude und ein paar Hektar, die daran angrenzen, auf dich überschreiben, damit du als Besitzer im Grundbuch eingetragen wirst. Dieses Fleckchen wäre vollkommen unabhängig von Drumveyn. Als Gegenleistung müsstest du etwas Zeit investieren und Zäune, Mauern, Gräben und Gatter reparieren, das Unkraut und die Baumschösslinge von den Weiden entfernen und tun, was immer nötig ist, um ordentliches Agrarland aus der Wildnis zu machen. Mit anderen Worten: Statt Aushilfsjobs für andere Leute zu erledigen, wie du es jetzt in deiner Freizeit machst, würdest du dann in gewissem Sinne für dich selbst arbeiten. An dem Haus muss auch sehr viel getan werden, deshalb würdest du alles in allem eine Menge auf dich nehmen. Aber wir haben ja keine Eile. Ich brauche die zusätzlichen Weiden und Felder nicht sofort, doch ich möchte auch nicht, dass das Land, das praktisch vor meiner Haustür liegt, vollkommen verwildert.« »Das Haus würde mir gehören?«, hakte Dougal verblüfft nach. »Rechtmäßig und ohne Verpflichtung dem Gut gegenüber; es gäbe nur eine einzige Bedingung: Du müsstest Drumveyn das Vorkaufsrecht einräumen, falls du es irgendwann einmal loswerden willst.« »Verdammte Hölle!« Dougal starrte ihn fassungslos an. »Was soll ich dazu sagen?« Archie lachte. »Ich weiß, dass das ziemlich ungewöhnlich ist. Wahrscheinlich möchtest du erst darüber nachdenken, dann fallen dir vielleicht Fragen und Vorbehalte ein, an die ich bisher noch nicht gedacht habe. Aber im Großen und Ganzen sehe ich keinen Grund, warum es nicht klappen sollte. Mir würde ein solches Arrangement jedenfalls sehr helfen.« Dougal r ührte keinen Muskel. Er sah das hoch gelege ne, vom Wind gepeitschte Land vor sich, das kleine graue Haus mit dem
Berg im Hintergrund und der sonnenbeschienenen Vorderseite. Nichts würde ihn davon abhalten, dieses Haus zu bewohnen, wie es war, während er daran arbeitete. Noch war es abends lange hell, und da oben gab es immer genügend Wasser. Ausräumen, sauber machen, die elektrischen Leitungen überprüfen ... lieber Himmel! Archie sah ihn verständnisvoll an. Diese benommene Fassungslosigkeit würde bald Zweifeln weichen, wenn dem Jungen weitere Aspekte offenbar wurden, das wusste Archie. Dougal fand seine Sprache wieder. »Aber, Archie, Sie können nicht einfach ein Haus verschenken. Das kann ich auf keinen Fall annehmen.« »Mal ehrlich - was meinst du, was irgend jemand dafür zahlen würde? Bei der langen, holprigen Zufahrt? Was für ein Käufer würde sich dafür interessieren ? Es ist viel zu abgelegen, als dass sich wohlhabende Leute im Ruhe stand dort niederlassen wollten. Und die meisten Glen-Bewohner von heute haben auch nichts mehr für eine so einsame Lage übrig. Bestimmt nicht die Burschen deines Alters. Sie bevorzugen die so genannten Vorzüge von Muirend. Möglicherweise bekäme ich ein paar tausend Pfund dafür, wenn ich Glück habe, aber was wird aus dem Haus, wenn ich es in fremde Hände gebe ? Und es steht dann immerhin mitten in meinem Farmland.« Dougal schüttelte den Kopf. »Trotzdem scheint mir, als würde ich bei alldem das weitaus bessere Geschäft machen. Ich möchte nicht, dass Sie das mir zuliebe tun.« Archie entging der warnende Unterton nicht. »Ich wusste, dass du so etwas ins Feld führen würdest, deshalb sollten wir diese Bedenken ein für alle Mal ausräumen. Ich denke, ein solches Arrangement hätte hauptsächlich für mich Vorteile. Um ganz offen zu sein, einem anderen konnte ich diesen Vorschlag gar nicht unterbreiten. Ich will dir helfen, das stimmt natürlich, und ich würde mich sehr freuen, wenn du diese Chance nutzen würdest - doch nicht viele Menschen würden so
etwas als Chance sehen. Außerdem betrachte ich das als Möglichkeit, etwas von dem zurückzuzahlen, was dein Vater über viele Jahre hinweg für das Gut getan hat und...« »Das war mein Vater, nicht ich.« »Komm schon, Dougal, keine Haarspaltereien, ja? Warum sollte ich nicht dankbar sein? Und ich sehe genau wie du, dass dieses System mit den Arbeiter-Cottages ausgesprochen unfair ist. Ich habe lediglich das Glück, nicht diesem System ausgeliefert zu sein.« Dougal gestattete sich ein Grinsen, als er an den krassen Unterschied zwischen ihren Positionen dachte. Aber er zweifelte nicht an Archies Aufrichtigkeit. »Doch ganz abgesehen davon«, fuhr Archie drängend fort, »möchte ich dir helfen. Nein, sag nichts. Du warst bisher nicht gerade vom Schicksal begünstigt. Du konntest nicht studieren und hattest es zu Hause auch nicht leicht. Du bist der jüngere Bruder, aber da Donald ein Tunichtgut ist, trägst du die alleinige Verantwortung, die genau genommen gar nicht deine ist. Und da wir schon davon reden, darf ich ganz offen sein? « Dougal grinste diesmal noch breiter. »Das waren Sie bisher nicht, wie? « Trotz der Zweifel und der Einwände keimte ein berauschender Enthusiasmus in ihm auf, den er nicht ersticken konnte. Eigene vier Wände und ein bisschen Land - davon hatte er stets geträumt und gleichzeitig gewusst, dass es bis in alle Ewigkeiten ein Traum bleiben würde. Und jetzt das - im Glen Ellig, in dem er leben wollte, in dem Cristi lebte oder in den sie zumindest immer wieder zurückkehren würde, weil sie hier zu Hause war. Oder traf das nicht mehr zu? Hatten die Ereignisse sie in eine andere Richtung getrieben? Dieser Gedanke lauerte immer im Hintergrund. Aber nein, dachte er, ärgerlich auf sich selbst. Was immer er auch beschloss, er durfte sich nicht davon beeinflussen lassen. Er hatte bereits akzeptiert, dass Cristis Leben, wo immer sie war, in ganz anderen Bahnen verlief als seines.
Archie lachte über Dougals schlagfertige Antwort und atmete erleichtert auf. Er hatte mit einer schroffen Zurückweisung gerechnet, aber über diesen Punkt waren sie schon hinaus. »Ich denke«, meinte er, »es ist höchste Zeit für einen weiteren Schluck.« Während er Whisky nachschenkte, fügte er ernster hinzu: »Du konntest noch gar nicht gründlich über alle Einzelheiten nachdenken, doch es ist offensichtlich, dass Jean nicht mit in das Ellig-Farmhaus ziehen kann, solange es sich in diesem Zustand befindet.« Er sah Dougals Gesicht an, dass sich der Junge vorge stellt hatte, allein in einem eigenen Haus zu wohnen - in Freiheit. Archie beobachtete, wie sich Schuldbewusstsein auf Dougals Gesicht abzeichnete, weil er nie daran gedacht hatte, dass Jean mit ihm dort leben würde. Aber es wäre dumm, zwei Haushalte zu führen, wenn er im Glen blieb und Jean auch hier wohnte, oder nicht? »Was ich damit sagen will«, warf Archie ein, bevor Dougal das Wort ergreifen konnte, »ist Folgendes: Ich finde, du solltest gar nicht in diese Richtung denken - obwohl mir natürlich bewusst ist, dass mich das garnichts angeht. Jean hat einen Antrag für ein Gemeindehaus für eine Person gestellt, nicht? Also hattet ihr beide nie daran gedacht zusammenzuwohnen, wenn sie das Cottage verlässt.« »Ich hatte mir überlegt, dass es sinnvoller wäre, wenn ich mir etwas in Muirend suche.« Und wie sehr ihm das widerstrebte! »In der Nähe des Büros. Aber wenn ich da oben leben würde ...« »Du wärst in Jeans Nähe, und sie hätte es in einem gemütlichen kleinen Häuschen warm, hätte es nicht weit zum Einkaufen und zu ihren Freunden. Einmal in der Woche fährt der Bus nach Muirend, und alle vierzehn Tage kommt der Bibliothekswagen. Ich denke, sie hat ein bisschen Bequemlichkeit verdient, meinst du nicht? Überleg nur, was sie alles auf sich nehmen würde, wenn sie in das
heruntergekommene Haus da oben zöge. Und niemand könnte sie davon abbringen, kräftig zu arbeiten.« Dougal schüttelte resigniert den Kopf. »Sie würde gleich am ersten Tag alle Räume vom Dachboden bis zum Keller schrubben. Das brauchen Sie mir nicht zu sagen.« Seine Miene verfinsterte sich noch mehr. »Aber Jill ist auch noch da, vergessen Sie das nicht. Obwohl sie nie lange hier bleibt, kommt sie doch immer wieder zurück, wenn sie nicht weiß, wohin sie sonst gehen soll. Ich dachte, wenn ich eine Wohnung in der Stadt habe ...« Er beendete den Satz nicht, doch ihm sank der Mut, als er an die täglichen Streitereien und Kämpfe dachte, die das mit sich bringen würde. Archie schwieg eine Weile. Dann wählte er seine Worte sehr sorgfältig: »Dougal, es ist vielleicht an der Zeit, dass du dich ein wenig von all dem distanzierst. Lass Jean ihr Haus im Dorf beziehen, wo du immer ein Auge auf sie haben kannst, und wenn du es fertig bringst, wehr dich dagegen, dass Jill in deinem Leben das Unterste zuoberst kehrt, wann immer es ihr passt. Ich weiß, dass das nicht leicht für dich sein wird. Du möchtest dich rein instinktiv um sie kümmern, aber vergiss nicht, dass du ihr eine Chance nach der anderen gegeben hast. Doch sie ist die Einzige, die etwas aus ihrem Leben machen kann. Solange sie weiß, dass es einen Zufluchtsort für sie gibt, wird sie nie etwas ändern.« »Leicht gesagt.« Dougal presste die Lippen zusammen. Er sah wie so oft in letzter Zeit älter aus als sechsund zwanzig, und Archie hatte das Gefühl, dass er mit ihm wie mit einem gleichaltrigen Freund sprechen konnte. Und er fühlte sich in seiner Überze ugung bestärkt, dass es richtig gewesen war, ihm dieses Angebot zu machen. »Ich weiß«, stimmte er zu. »Ich kann nur erahnen, wie es ist, mit einem solchen Problem fertig werden zu müssen. Doch in Ellig könntest du Jill auch eine Bleibe bieten, falls sie wirklich einmal in Not ist. Ich rate dir nur, bei den Entscheidungen für
deine eigene Zukunft nicht die Unzulänglichkeiten anderer zu berücksichtigen.« »Und deshalb haben sie diesen Deal ersonnen?« Dougal stieg die Röte ins Gesicht, und seine Augen blitzten ärgerlich wie selten. »Das ist auch ein Grund«, räumte Archie ein und hielt Dougals Blick gelassen stand. »Aber eben nur einer von vielen. Ich würde davon profitieren, das kannst du nicht übersehen. Ich möchte sicherstellen, dass mir das Land von Ellig nicht durch die Finger gleitet, und so wäre uns allen gedient.« Archie war sich bewusst, dass Dougal niemals auf den Gedanken käme, dass Drumveyn mit ein paar zusätzlichen Weiden und Feldern mehr Profit machen würde, den sie gerade jetzt, wenn Tom sich in den Ruhestand zurückzog und ein Verwaltergehalt aufgebracht werden musste, dringend brauchten. Von Kindesbeinen an war Dougal daran gewöhnt, die Gutsbesitzer als vermögend anzusehen - ein Laird besaß endlos viel Geld. »Aber kommen wir noch mal auf Jill zurück«, bat Archie, obschon ihm klar war, dass er sich auf gefährlichem Terrain bewegte. »Ich weiß, dass du ihr in jeder nur erdenklichen Art hast Hilfe zukommen lassen, und ich verstehe sehr gut, dass du sie nie ganz und gar im Stich lassen möchtest, doch ich glaube nicht, dass du es dir leisten kannst, dich und dein Leben von ihren Schwierigkeiten beeinträchtigen zu lassen.« Dougal schwieg. »Sie ist erwachsen, Dougal«, drängte Archie behutsam. »Man kann ihr nur bis zu einem gewissen Grad helfen; den Rest muss sie selbst tun.« »Ich weiß.« »Es widerstrebt mir, einfach zuzusehen, wie sie dir eine Möglichkeit nach der anderen verbaut. Sie hat dir und deinen Eltern im Laufe der Jahre ohnehin schon eine Menge Kummer bereitet.«
»Das stimmt.« Dougals Stimme war tonlos - er hatte seinen Ärger unter Kontrolle. Ihm war klar, dass Archie seine Interessen am Herzen lagen. »Aber Sie wissen selbst, dass man nicht zu ihr durchdringen kann. Es ist unmöglich, sie zur Vernunft zu bringen, selbst wenn man sie dazu bringt, dass sie mit einem redet. Einerseits ist sie zu faul, sich bis nach Glasgow zu bewegen, um ihr Baby zu sehen, andererseits liegt sie einem in den Ohren, weil sie ihren Jungen zurückhaben will, und behauptet, er sei das einzig Wichtige für sie. Dabei muss sie ihn gar nicht zurückholen. Niemand hat ihn ihr weggenommen; sie hat ihn selbst bei seiner Großmutter gelassen.« Sein Neffe. Dougal hatte ihn noch nie gesehen. Er schien ganz und gar zu dieser unsicheren Halbwelt zu gehören, die Jill verschluckt zu haben schien. Archie wollte lieber nicht daran denken, dass Dougal auch noch die Verantwortung für das Kind auf sich nehmen könnte. Er wusste, welche Macht das Gewissen hatte. »Nun, du kennst meine Ansichten. Was Ellig betrifft«, er schlug absichtlich einen heitereren Ton an, »so biete ich dir wenig mehr an als einen Haufen verdammt harter Arbeit. Jeder andere würde mir ins Gesicht lachen, wenn ich ihm so einen Handel vorschlagen würde. Wir können ja irgendwann gemeinsam hinauffahren und uns alles ansehen. Dann bekommst du eine Vorstellung davon, was zu dem Haus gehört. Ich hatte so in etwa vier oder eher fünf Hektar im Sinn, damit du genügend Fläche für Vieh und ein paar Schafe hast. Was hältst du davon?« Dougal starrte ihn entgeistert an. Er hatte kaum zu hoffen gewagt, einen halben oder gar einen Hektar zu bekommen. Vier, fünf Hektar! Plötzlich gerieten seine Gesichtsmuskeln außer Kontrolle. Er senkte den Kopf und legte eine Hand über die Augen, weil er sich so sehr schämte. Er war dankbar, als er kurz darauf eine Hand auf seiner Schulter und einen freundschaftlichen Druck spürte.
»Also, dann ist es abgemacht«, bemerkte Archie, heiser vor Rührung. Er konnte es kaum erwarten, Pauly davon zu erzählen. Er wusste, dass sie begeistert sein würde, und hatte das Bedürfnis, seine Erleichterung und Freude mit ihr zu teilen. Nur gut, dass sie bei dem Gespräch nicht dabei gewesen war; sie hätte bestimmt nicht an sich halten können. Cristi saß allein im Schatten der breiten Veranda; neben ihr auf dem Glastisch stand frisch gepresster Orangensaft. Ein Mädchen in grauem Kleid mit weißen Manschetten, weißem Kragen und Gürtel hatte ihn ihr gebracht. Sie hatte lächelnd dafür gesorgt, dass der Tisch in Reichweite von Cristis gepolsterter Liege stand, und sich erkundigt, ob sie sonst noch etwas brauche. Die Dienerschaft hatte Cristi in ihr Herz geschlossen. Sie war nicht nur jung und hübsch, sondern weckte auch ihre Neugier. Die Geschichte von ihren Eltern und ihrer Vergangenheit hatte sich herumgesprochen. Cristi lächelte ebenfalls und bedankte sich bei ihnen, wann immer sie etwas für sie taten - daran waren sie nicht gewöhnt. Ein paar der älteren Hausangestellten murrten sogar: »Es ist nicht nötig, dass Sie sich bedanken.« Sie hielten es für unpassend. Trotz all der Freundlichkeit und des Luxus konnte Cristi nicht mehr ignorieren, dass sie eisige Einsamkeit beschlich oder dass sich das noch beunruhigendere Gefühl, wie früher in einem goldenen Käfig eingesperrt zu sein, einstellte. Sie hatte sich bemüht, diesen Gedanken zu verdrängen. Wie konnte sie nur so undankbar sein? Wer auf dieser Welt konnte sich glücklicher schätzen als sie ? Was könnte man mehr verlangen ? Cristi hatte von Natur aus eine positive Lebenseinstellung, und sie hasste es, in diesem Haus so isoliert zu sein: Sie vermisste die Zuneigung, das Lachen und die Aufrichtigkeit von zu Hause. Ohne Luis wäre
sie tatsächlich einsam gewesen. Sie sah sich um. Es gab hier kein Objekt, das nicht ent worfen oder bearbeitet worden war, um zu gefallen - angefangen von den eleganten Veranda-Möbeln bis zu dem prachtvoll gepflegten Garten. Im Haus war es genauso. Überall fand man Beweise für guten Geschmack und den Wohlstand mehrerer Generationen. Ihr künstle risches Auge konnte sich daran erfreuen, und sie hatte viele bezaubernde Stunden damit verbracht, die Schätze zu bewundern. Aber ihre realistische Seite wünschte sich manchmal verzweifelt, die schmutzigen Gummistiefel an der Hintertür von Drumveyn zu sehen, zu beobachten, wie Broy es sich auf einem Bett der Kinder gemütlich machte, und die Ponys über die Weide galoppierten, um sie zu begrüßen, wenn sie ihren Morgenspaziergang unternahm und die aufgehende Sonne allmählich die Luft erwärmte. Sie wollte das Chaos auf dem Küchentisch sehen: Eierschalen, gelbe Butterstücke, in die Pauly mit Hilfe der Holzform Hirsche gedrückt hatte, das Glas mit den Vanilleschoten, die Rumflasche, die Schokolade, die im Wasserbad schmolz, Pauly, die mit einer Besucherin plauderte, die - mittlerweile auch ein wenig mit Mehl bestäubt - bei einem Glas Wein am Tisch saß und zusah, wie virtuos Pauly einen ihrer umwerfenden Puddings zubereitete. Cristi sehnte sich danach, Archie in seinem karierten Flanellhemd mit dem abgestoßenen Kragen und der verwaschenen Englischleder-Hose in die Küche kommen und sein strahlendes Lächeln zu sehen, wenn sein Blick auf Pauly fiel. Sie dachte wehmütig an die Atmosphäre in ihrem Atelier und an die rustikale Behaglichkeit der alten Scheune, die nach Toms maskulinem Geschmack umge baut und von Madeleine genauso, wie sie war, geliebt und angenommen worden war. Sie wollte zusehen, wie Madeleine an den Sommerabenden versonnen knietief im Bach stand, ihre Angelrute ge übt auswarf und die Forellen ans Ufer legte, während die Insekten über dem Wasser
tanzten. Ach, und dann das Durcheinander und die Diskussionen der anderen, die mittlerweile zu Hause waren - Nicholas hatte immer irgend etwas vor und versuchte, die Mädchen abzuschütteln, die ihm auf den Fersen waren; Josies unbekümmerte Fröhlichkeit und Peta, die Ärmste, die ständig in Angst wegen nichts war. Hinter diesem Netz von Vorstellungen, hinter allem, was Cristi tat oder dachte, lauerte die schmerzliche Sehnsucht nach Dougal. Nach Dougal, der entschieden hatte, dass zwischen ihnen nie wieder die für sie so wichtige Freundschaft herrschen konnte, die auf Verständnis und Vertrauen basiert hatte. Denk nicht daran, denk lieber überhaupt nicht an zu Hause. Konzentriere dich auf das Gute hier in Brasilien. Es gibt genug davon. Zum Beispiel die atemberaubende Umgebung; ihre Kindheitserinnerungen hatten sie nicht auf die sagenhaften Naturschönheiten vorbereitet, die Rio zu bieten hatte. Und sie war von allen, denen sie begegnet war, herzlich willkommen geheißen worden - das war nach der totalen Entfremdung wirklich beeindruckend. Luis hatte ihr von Anfang an echte Freund schaft entgegengebracht. Zum Glück war es ihm bei ihrer Ankunft in diesem Land nicht zu umständlich gewesen, nach Rio zu kommen - Cristi wusste inzwis chen, dass er eigentlich in Porto Allegre in Rio Grande do Sul lebte. Sie ahnte, dass ihr Heimweh hauptsächlich auf Luis' Abwesenheit zurückzuführen war. Er war für ein paar Tage aus geschäftlichen (nicht näher spezifizierten) Gründen nach Sao Paulo gefahren, und ohne die Gespräche mit ihm, seine Scherze und Neckereien lastete die Atmosphäre in diesem Haus wie ein Gewicht auf ihr, und so etwas wie eine böse Vorahnung erwachte in ihr. Cristi schauderte, als sie an den ersten Abend in Rio zurückdachte. Obwohl sie sich an diesem Tag dessen nicht bewusst gewesen war, hatte das Zusammentreffen den Ton für alles Weitere bestimmt.
12. Kapitel Cristi sah, wenn sie auf ihren Ankunftstag zur ückblickte, eine verzerrte Schablone von sich selbst - für hiesige Verhältnisse ausgefallen gekleidet und inmitten von selbstbewussten, gefestigten Menschen mit ruhigen, gemessenen Bewegungen und Gesichtern, die zwar freundlich wirkten, aber auch verrieten, dass sie, wenn nötig, mit Zurechtweisungen, ja sogar Geringschätzung nicht geizen würden. Die Fonsecas waren ohne Ausnahme sehr gut angezo gen und gepflegt. An besagtem Abend hatte Cristi das Gefühl gehabt, dass über allem die Worte haute couture und Designer-Etiketten schwebten. Die Frauen hatten sich für diese angeblich schlichte Familienzusammenkunft mit üppigem Schmuck behängt, und Cristis Bemühen, das von der heiteren Seite zu nehmen, war dahin, als sie sich erinnerte, dass ihre Mutter auch immer so aufgemacht gewesen war. Das war ihr Lebensstil in den von Sicherheitskameras und elektrischen Zäunen, von hohen Mauern und verrie gelten Toren geschützten Enklaven, in einem exklusiven Paradies des Reichtums, der Sicherheit und des Luxus. Sie verweigerten sogar in ihren Gedanken jeglichen Kontakt mit der Armut, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Kriminalität, die in der Stadt vorherrschten. In vielerlei Hinsicht war das eine längst überkommene Lebensart, aber die Kluft zwischen dem winzigen Kern der ganz Reichen und der Masse der sehr Armen war breiter denn je. Luis' ältere Schwestern Gabriela und Catarina schienen, obwohl sie erst in den Dreißigern waren, derselben Generation anzugehören wie ihre Mutter, zumindest kam es Cristi so vor. Man konnte sie sich gar nicht in lässiger Freizeitkleidung, mit unordentlichen Haaren und schmutzigen Händen vorstellen. Pauly war nur wenige Jahre jünger als diese eleganten Matronen. Eine Vision erwärmte Cristis Herz: Pauly steht mit geröteten Wangen und wirrem Haar in Khaki-Shorts und einem von Archies Hemden auf dem Rasen und schreit sich
bei einem Familien-Fußballspiel die Seele aus dem Leib. Sylvia vollzog die Vorstellung nach einem strikten Protokoll, und als die abragos angeboten wurden, hörte Cristi, wie sie flöteten: »Wir freuen uns ja so ...« Und: »Es ist uns ein großes Vergnügen ...« Sie wusste, dass dies die üblichen Höflichkeitsfloskeln waren. Es wurde deutlich, dass das Zeremoniell immer noch vorherrschte, aber das bedeutete, dass ihre eigene Begeisterung, die Cousinen kennen zu lernen, auf eine ähnliche Förmlichkeit reduziert wurde. Sie musste akzeptieren, dass es keine spontanen Umarmungen geben würde. Vor und während des Dinners, das ewig dauerte und von zwei Dienern (sie hätten auch Automaten sein können, so wenig Beachtung schenkte man ihnen) in weißen Jacketts formvollendet serviert wurde, plätscherte eine heitere Konversation in geordneten Bahnen dahin. Alle, die am Tisch saßen, hatten Cristi ausdrücklich in Brasilien willkommen geheißen; alle stellten die bei gesellschaftlichen Anlässen angemessene Fragen, die Interesse ohne aufdringliche Neugier bekunden sollten. Cristi war sich im Klaren, dass ihre Erinnerung an die Szene übertrieben war, aber sah man von der Unterhaltung mit Luis ab, die sie als »normal« bezeichnen würde, hatte sie das Gefühl gehabt, mit den anwesenden Menschen durch eine gläserne Wand zu sprechen. Es hatte ihr keine Schwierigkeiten bereitet, ihre Rolle einzunehmen, es gab keine peinlichen Gesprächspausen, es wurden keine Themen angeschnitten, die Spannungen verursachten, aber die Möglichkeit, mit diesen Menschen jemals eine natürliche, liebevolle Beziehung aufzubauen, rückte in deprimierend weite Ferne. Vermutlich war es genauso ihre eigene Schuld wie die ihrer Verwandten. Sie litt noch unter dem Jetlag, obwohl sie am Vormittag Schlaf nachgeholt und eine gemütliche Siesta nach dem Lunch gehalten hatte. Alles war neu für sie, und die
gelegentlich aufblitzenden Bilder von eigenartig Bekanntem trugen nur noch mehr zu ihrer Verwirrung bei. Und es störte sie, dass es alle, Luis eingeschlossen, für selbstverständlich ansahen, dass sie dankbar sein musste, den Schrecknissen von Schottland entkommen zu sein und in ein zivilisiertes Land zurückkehren zu können. Als sie sich nach Drumveyn erkundigten, kam Cristi gär nicht auf die Idee, dass dies ihre Eröffnung sein würde. Sie antwortete bereitwillig, da sie schon am ersten Abend Sehnsucht nach zu Hause hatte und glücklich war, darüber sprechen zu können. Die abwertenden Kommentare und gönnerhaften Mienen entsetzten sie. »Ah ja, Schottland. Wunderschöne Landschaft. Die Berge und diese Seen - Lochs, nicht wahr ? Aber das Wetter, dieser schreckliche Nebel, die Kälte, das ewige Grau, das muss doch ...« - »Macht es dir nichts aus, so abge schieden zu leben, so weit weg von jedem kulturellen Zentrum und ohne Verbindung zu Menschen? « So viel zu Schottland. Afonso, einer der Schwiegersöhne - beide sahen passender weise aus wie jüngere Klone von Joachim und strahlten Einfluss und Erfolg aus -, wollte mehr über die Jagd in Schottland wissen und meinte, er habe daran gedacht, diesen Sport einmal auszuüben. (Gabrielas strenge Miene, die ihn warnte, sich so etwas einfallen zu lassen, verriet Cristi, welche Schwester zu wem gehörte. Sie hatte nämlich Probleme, die beiden Paare auseinander zu halten.) Als Afonso erfuhr, dass ihm keine Armee von Treibern bei der Jagd assistieren würde, dass er sich nicht mit einem Fahrzeug bis in Schussweite des Wildes fahren lassen konnte und er höchstens am Ende der Jagd mit einer einzigen Trophäe nach Hause kommen würde, verlor er ohnehin sofort das Interesse. Die ganze Zeit wurde Englisch gesprochen. Cristi argwöhnte, dass das nicht nur eine Höflichkeit ihr, dem Gast, gegenüber war,
sondern dass die Fonsecas annahmen, ihr Portugiesisch sei unzureichend, und dass sie keine Lust hatten, geduldig abzuwarten, bis sie sich durch die Sätze gekämpft hatte. Es wäre unhöflich gewesen, diese Rücksicht abzuweisen, und es stimmte tatsächlich, dass ihr Portugiesisch bei weitem nicht fließend war. Allerdings wurde die ohnehin schon förmliche Atmosphäre dadurch noch gezwungener. Bei dieser ersten Begrüßung wurde der Grund für Cristis Anwesenheit mit keinem Wort erwähnt. Auch von dem Großvater wurde nicht mehr gesprochen, nachdem Cristi allen ihr Beileid ausgesprochen hatte. Sie lächelten, machten die obligatorischen Komplimente über ihr Aussehen, Gabriela und Catarina luden sie ein, sie in ihren Häusern zu besuchen und die Kinder kennen zu lernen, und die ganze Zeit wurde ihre Überzeugung deutlich, dass Cristi das einzig Richtige getan hatte, indem sie in das Land zurückgekehrt war, in das sie gehörte. Nach all den Jahren des Schweigens war das nur schwer ohne Kommentar hinzunehmen, doch Cristi wusste, dass der erste Abend nicht der geeignete Zeitpunkt für eine Diskussion darüber war. Noch unverständlicher war, dass seither der Grund für ihre Anwesenheit ignoriert wurde, und allmählich bereitete ihr das Unbehagen. Nachdem die Anwälte sie regelrecht bedrängt hatten, so schnell wie möglich nach Rio zu kommen, war das Verhalten der Familie sehr verwirrend, aber mittlerweile war sie gespannt, wie viele Tage noch vergehen würden, bis die Angelegenheit endlich zur Sprache kam. Glaubten die Fonsecas, dass sie sich einlullen ließ und die Sache niemals in Angriff nehmen würde? Joachim hatte sie einen Tag nach der Ankunft informiert, dass ein Treffen mit den Anwälten arrangiert werden würde. Zudem hatte er ihr gesagt, welche enorme Geldsumme ihr für ihre unmittelbaren Bedürfnisse zur Verfügung stand. Luis würde sie zur Bank begleiten, damit sie die nötigen
Unterschriften leisten konnte. Joachim ließ sich anschließend etliche Tage nicht mehr blicken - er verließ das Haus, bevor Cristi am Morgen erschien, kam nie zum Mittagessen und hatte abends irgendwo anders zu tun. Sylvia blieb vage, als Cristi sie darauf ansprach. »Verzeih, querida, ich kenne mich in diesen Dingen überhaupt nicht aus. Joachim wird dir alles erklären, davon bin ich überzeugt, aber er ist im Augenblick sehr beschäftigt. Es muss eine Besprechung bei den Anwälten stattfinden, und es scheint schwierig zu sein, einen Termin festzusetzen, an dem alle Zeit haben. Vielleicht möchte Joäo aus den Staaten herüberkommen, obwohl er das, soviel ich weiß, zunächst nicht für nötig befunden hatte. Vamos ver.« Wir werden sehen. Eine altbekannte Phrase, mit der ein Schulterzucken einherging, das in Sylvias Fall nur eine elegante Andeutung war. »In der Zwischenzeit«, tat Sylvia die unliebsamen Fragen mit einem charmanten Lächeln ab, »müssen wir sicherstellen, dass du dich hier ganz wie zu Hause fühlst. Alle wo llen dich kennen lernen, und es gibt so viel, was du dir ansehen musst. Was für ein Glück, dass Luis da ist und sich um dich kümmern kann. In der Regel ist er nur selten in Rio ...« Sie verwöhnten ihren Gast, und Cristi musste zugeben, dass es wunderbar war. Die Tage vergingen wie im Flug bei Vergnügungen, die sich Cristi niemals zuvor gegönnt hatte und die sie, um ehrlich zu sein, bisher auch nie für besonders anziehend gehalten hatte. Die Szenerie, das großartige Klima, die Berge und Wälder, Lagunen und Strände brachten eine Saite in ihr zum Klingen. Sie hatte das Gefühl, hierher zu gehören, heimgekehrt zu sein, das konnte sie nicht leugnen. Ihr Aussehen war ein Grund dafür. Die Familie, mit der sie jetzt einen etwas vertrauteren Umgang hatte, neckte sie wegen ihrer zierlichen Figur, die sie noch jünger erscheinen ließ, aber sie zögerte auch nicht, ihr immer wieder zu sagen, wie
bezaubernd und schön sie sei. An derart freimütige Komplimente war sie nicht gewöhnt, und zum ersten Mal, seit sie denken konnte, verspürte Cristi keine Hemmungen wegen ihrer äußeren Erscheinung. Hier war sie nicht anders; sie musste nicht die Aufmerksamkeiten der Männer abwehren, die sich von ihrem »exotischen« Äußeren angezogen fühlten. Unter diesen gut aussehenden Verwandten fühlte sie sich zum ersten Mal akzeptiert. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe, als ich dich auf dem Flughafen sah«, versicherte Luis. »Ich wäre einfach abgehauen, wenn du mir nicht gefallen hättest. Ich hätte dich, ohne mit der Wimper zu zucken, dort stehen gelassen. Aber ich hätte natür lich in der Anwaltskanzlei angerufen, ihnen gesagt, dass ich unabkömmlich sei und dass sie jemanden schicken sollen, der dich in die Stadt bringt. Aber da standest du mit weit aufgerissenen Auge n, unsicher und so wunderschön. Natürlich tat ich meine Pflicht.« Seine Augen funkelten spitzb übisch, doch Cristi machte es Spaß, diese Schmeicheleien zu hören, die ihm so leicht über die Lippen kamen und rein gar nichts zu bedeuten hatten. Es machte Spaß, sich treiben zu lassen und diese unbeschwerte Lebensart zu genießen. Zum ersten Mal stürzte sie sich in das Vergnügen, shoppen zu gehen, was ihr früher nie viel bedeutet hatte. Zu Hause hatte sie alles gemieden, was sie aus dem Glen gebracht hätte. Obwohl ihr das, was die Stadt zu bieten hatte, gefiel, hatte sie in Edinburgh mit ihrem Studententaschengeld Besseres vorgehabt und ohnehin ihre kreativen Ideen und ihr neu erworbenes Können genutzt, um sich ihre Sachen selbst zu schneidern. Hier, in einem der großen Modezentren der Welt, waren die Geschäfte ein Wunder und eine große Freude. Selbst die weniger teuren Läden stellten ihre Waren mit Flair und einem Stil aus, den man in Schottlands Hauptstadt selten fand. Obwohl sich Cristi selbst darüber lustig machte, dass sie den
Verlockungen erlag, konnte sie sich doch daran erfreuen. Jeden Abend war etwas los - eine Dinnerparty bei den Fonsecas oder in einer Prachtvilla von Verwandten oder Bekannten, Konzerte, Theater, Ballett, oder Luis führte sie zum Essen und Tanzen aus. Theoretisch hatte Cristi bis zum Abend nichts zu tun, und eigentlich hätten sich die Tage endlos hinziehen müssen. Aber ein großer Teil der Zeit verging bei den Vorbereitungen der gesellschaftlichen Ereignisse - das erinnerte sie stark an ihre Mutter. Da das Dinner immer bis spät am Abend dauerte und gehaltvoller war als zu Hause, ging Cristi ziemlich spät schlafen. Das Frühstück wurde ihr im Zimmer serviert, und nach einer ausgiebigen Dusche war es Zeit, mit Sylvia auszugehen, die keinen Vormittag zu Hause zu verbringen schien. Eine große Limousine fuhr sie zu den Boutiquen und Galerien von Ipanema, die feiner (und teurer) waren als die Geschäfte an der Copacabana. Oder sie ließen sich zu Sylvias Kosmetikerin, Schneiderin oder Friseurin chauffieren. So sehr Cristi die Klamotten auch mochte, die sie für sich selbst entworfen und angefertigt hatte - sie konnte den wunderbar geschnittenen Kleidern in den leuchtenden Sommerfarben nicht widerstehen, und sie trug sie mit unverhohlenem Vergnüge n. Es war, kurz gesagt, schön, für eine Weile das reiche Mädchen zu spielen, sich eine Maniküre und Gesichtsmassagen zu gönnen, sich das Haar schneiden zu lassen und in herrlich duftenden Läden Schals, Taschen, Gürtel, Modeschmuck und elegante Sandalen auszusuchen. Gabriela und Catarina wohnten in luxuriösen Herrenhäusern über der Rodrigo do Freitas-Lagune, und Cristi durfte in der traditionellen Manier bei ihnen ein und aus gehen, ihre Kinder und den kosmopolitischen Freundeskreis kennen lernen und in den verlockenden Swimmingpools schwimmen. Nur während der geheiligten Siesta, zu der Sylvia unbedingt nach Hause musste, ließ die Empfindung, dass die Ereignisse
dahinplätscherten, ein wenig nach. Zu die ser Jahreszeit waren die Nachmittage noch nicht allzu heiß, und Cristi hatte selten das Bedürfnis zu schlafen. Sie konnte allein sein und lesen, aber meistens schrieb sie lange Briefe nach Hause, an Torie und Isa und schilderte alles, was sie unternahm und sah. Sie brauchte die Verbindung zu den Menschen, die sie liebte und die ihr so sehr fehlten. An Dougal schrieb sie unaufhörlich im Geiste. Sie sehnte sich danach, ihm tatsächlich einen Brief zu schicken und offen über ihre Zweifel und das Gefühl, vorübergehend in einer zerbrechlichen Seifenblase der Unwirklichkeit zu leben, über ihr Heimweh und die unterschiedlichen Empfindungen, die ihre Verwandten in ihr weckten, zu sprechen und Trost oder vielleicht sogar mehr Verständnis für sich und ihre Situation zu finden. Dennoch fürchtete sie, dass er erstaunt oder vielleicht sogar verärgert sein würde, wenn er Post von ihr bekam. Sie schickte ihm statt dessen eine Postkarte und weinte, nachdem sie sie in den Briefkasten gesteckt hatte. Es bestand keine Hoffnung, dass er auf einen so banalen Gruß antwortete, auc h wenn sie es sich verzweifelt wünschte. Das Schönste an jedem Tag war, von Luis aus der Festung, die das Haus ihres Onkels für sie darstellte, gefahren zu werden - fort von Sylvias bedrückender Korrektheit, fort von der trägen, unaufhaltsamen Alltagsroutine. Cristi atmete jedes Mal befreit auf. Sie erfuhr nie, was Luis beruflich machte, aber er vermittelte wie sein Vater gern den Eindruck, dass seine Geschäftsinteressen breit gefächert, ziemlich abwechslungsreich und bedeutend, doch kein Thema für Diskussionen waren. Dennoch blieb ihm genügend Zeit, Cristi die Stadt zu zeigen, wobei er allerdings über die großen Touristenattraktionen verächtlich hinwegging. »Darüber kannst du alles in Büchern nachlesen«, meinte er. »Du wirst dir nur was Scheußliches einfangen, wenn du dorthin gehst.« Oder: »Ich kann dir versichern, O Redemptor ist
grauenvoll, wenn man dort ist. Die einzige Entschuldigung für seine Existenz - falls es überhaupt eine gibt - ist, dass man es sich ganz gut aus weiter Entfernung ansehen kann.« »Man hat von dort bestimmt einen großartigen Ausblick«, wandte Cristi ein. »Ausblick ? Wenn du es überleben kannst, auf den zu verzichten, nehme ich dich mit, und wir fliegen darüber hinweg.« Es kam nie zu diesem Flug, doch Cristi bekam ihre schöne Aussicht, als Luis mit ihr über die erstaunliche Straße hinauf nach Petröpolis fuhr, zu der kleinen Stadt in den Bergen, in der die brasilianische Herrscherfamilie ihren Sommerpalast hatte erbauen lassen. Luis war mehr an einem sorgfältig auserwählten Essen interessiert als daran, ihr genügend Zeit zu geben, die Dokumente, Juwelen und Kunstwerke im zeitgenössischen Museum zu betrachten, doch für Cristi war es ein wunderbarer Tag. Obwohl Luis es rundweg ablehnte, ihr die gängigen »Sehenswürdigkeiten« zu zeigen, nahm er sie liebend gern in angesagte Restaurants, exklusive Country-Clubs, in die Häuser seiner Freunde und besonders in die von den Reichen und Berühmten frequentierten Nachtclubs mit. Cristi war vom Glamour fasziniert, aber was sie tatsächlich in Begeisterung versetzte, war, in Luis' Begleitung zu sein. Er war ungeheuer attraktiv, das konnte niemand abstreiten. Genau genommen fand sie ihn nahezu unwiderstehlich, wenn er sich Mühe gab, ihr Abwechslung und Amüsement zu verschaffen. Er war unterhaltsam, hatte Sinn für Humor, war gesellig und konnte das, woran er interessiert war, sehr genießen. Für Cristi drehte sich alles um die Zeit, die sie mit ihm verbrachte. Sie ging ins Museum für primitive Kunst und ins Künstlerviertel am Apothecary Square, wenn Luis mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt war, doch diese
Exkursionen hatten ohne ihn keinen großen Reiz - auch weil Sylvia darauf bestand, sie in einem Wagen hinzuschicken, der auf sie wartete und sicher wieder zurückbrachte. Drumveyn schien in immer weitere Ferne zu rücken, Manchmal hatte Cristi das Gefühl, es gar nicht mehr erreichen zu können; dann beschwor sie Bilder vor ihrem geistigen Auge herauf, um es sich wieder näher zu bringen. Wenn sie auf der Veranda faulenzte wie eine elegante, gekleidete, verwöhnte brasilianische Senhorita, schloss sie die Augen und stellte sich den gewachsten Stoff, die knittrigen Falten und die abgestoßenen Manschetten ihres geliebten alten Barbour-Mantels vor. Sie dachte an einen Wintertag in den Bergen zurück, an dem der Wind wie ein Messer in die Wangen schnitt und Eis kristalle an den Haaren über der Stirn hafteten. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit Archie die Schlaglöcher auf der Zufahrt zugeschüttet hatte, sah die alte Teermaschine und die fürchterlichen Kleider vor sich, die sie für diese Arbeit angezogen hatten. Luis wäre entsetzt. Würde er sie als Cousine verstoßen, wenn er sie so sehen würde? Der Gedanke amüsierte sie und rief ihr gleichzeitig eine andere Lebensweise und andere Werte ins Gedächtnis. Auch wenn sie sich im Moment leichten Herzens dem Luxus und der Extravaganz hingab, so war ihr doch bewusst, dass ihr sehr viel anderes vorenthalten wurde. Cristi vermisste die Freiheit, die sie immer als selbstverständlich hingenommen hatte. Sie wollte ganz normale Dinge tun, allein - die Innenstadt von Rio erkunden, durch die Straßen schlendern, mit der malerischen Trambahn über die Carioca-Bögen fahren, stark gewürzte Snacks essen, guaranä in der Bar an der Ecke trinken und sich zu den Wochenend-feijoadas am Strand gesellen. Sie wollte Kontakt zu Leuten ihres Alters knüpfen und zu Menschen, die nichts mit der exklusiven Welt der Fonsecas zu tun hatten. Diese einfachen Vergnügungen waren ihr verwehrt. Sie hatte geradezu empört festgestellt, dass sie das Haus nicht verlassen
konnte, wann sie wollte. Die großen Tore ließen nur Fahrzeuge durch. Die Tür, durch die die Dienerschaft kam und ging, war verschlossen, und als Cristi eines Nachmittags den Gärtner darum bat, sie aufzuschließen, brachte sie ihn nur in Verlegenheit, weil er ihr den Wunsch abschlagen musste. »Aber meine liebe Maria-Cristina«, rief Sylvia fassungslos aus, als sie davon hörte, »du kannst nicht ohne Begleitung auf die Straße gehen! Warum solltest du auch? Wohin wolltest du? Wenn du spazieren gehen möchtest, kannst du dich in den botanischen Garten oder zum Tiju-ca-Forest bringen lassen. Dort ist es sehr hübsch. Man wird dich fahren, wohin du willst jederzeit, du brauchst nur ein Wort zu sagen.« Cristi, die nicht den Eindruck vermitteln wollte, dass sie Sylvias Fürsorge und Umsicht nicht zu schätzen wusste, versuchte schüchtern zu erklären, dass sie hin und wieder ganz gern allein losziehen und sich alles ansehen würde. »Allein? Mas, querida, erkennst du denn nicht die [Gefahr en? Weißt du nicht, dass alle Mitglieder von Familien wie unserer aufs Äußerste gefährdet sind ? Wir haben nicht darüber gesprochen, weil wir dich nicht ängstigen wollten, doch es gab bereits viele Entführungen, Geiselnahmen und Drohungen. Jeder, der in so einer Position ist wie Joachim, ist ein potenzielles Opfer, und als Familienmitglied ... Na ja, das kannst du dir selbst ausmalen.« Dagegen gab es kein Argument, und Cristi sah ihre behütete Kindheit plötzlich in einem anderen Licht - im Gegensatz dazu war die Freiheit in Drumveyn magisch und aufregend gewesen. Es widerstrebte ihr instinktiv, dass sie nur eine Seite dieses vielfältigen Landes sehen durfte. Hinter der glitzernden Fassade gab es viel Scho ckierendes und Grauenvolles, und es erschien ihr falsch, das einfach zu ignorieren. Noch dringlicher wollte sie, nachdem ein trügerisch schöner Tag nach dem anderen verging, mehr über ihr Erbe erfahren, das die Fonseca-Familie geflissentlich zu vergessen schien.
Manchmal konnte Cristi selbst kaum glauben, dass sie so viel Zeit verstreichen ließ, ohne auf die schon vor langem angekündigte Besprechung mit den Anwälten zu drängen. Wie früher, wenn ein Versprechen nicht eingehalten werden konnte, wurde sie mit einem Lächeln vertröstet. Dass es ihr solche Schwierigkeiten bereitete, das Thema anzusprechen, machte Cristi klar, dass sie in der Familie lediglich geduldet wurde und nicht wirklich dazugehörte. Alle waren großzügig und freundlich und gewährten ihr mehr, als die Gastfreundschaft gebot, doch abgesehen von Luis, dessen Gesellschaft sie mehr und mehr genoss, stand sie niemandem näher als am Tag ihrer Ankunft. Diese Leute vergeuden mein Leben, sagte sie sich. Ich habe ein Anrecht darauf, die Wahrheit zu hören.
13. Kapitel Kommt Cristi nach Hause, bevor wir wieder ins Internat müssen?« »O Liebling, das fragst du schon zum hundertsten Mal. Ich wünschte, ich könnte es dir sagen.« Madeleine drehte kurz den Kopf, um Josie, die auf dem Rücksitz des Range Rover saß, bekümmert anzulächeln. »Aber es erscheint mir eher unwahrscheinlich. In Brasilien dauert alles Ewigkeiten. Ihrem letzten Brief nach zu schließen, weiß sie offenbar immer noch nicht mehr über diese Erbschaft als vor ihrer Abreise.« »Es ist einfach nicht dasselbe ohne sie. Ich hasse das.« Peta nahm alles stets viel schwerer als die extrovertierte Josie. »Und sie hat sich nicht einmal von uns verabschiedet.« »Doch, das hat sie. Sie hat angerufen.« Nicholas auf "dem Beifahrersitz wandte sich nach hinten. Peta steigerte sich immer in alles hinein. Er verzog das Gesicht, als er an sein eigenes Telefongespräch mit Cristi dachte. »Sie kommt vielleicht nie wieder zurück.« »Sei nicht albern.«
»Sie kommt doch wieder, oder, Grannie ?« Josie bekam es jetzt auch mit der Angst zu tun. »Selbstverständlich kommt sie. Es dauert eben nur länger, die Angelegenheiten zu regeln, als wir dachten.« »Aber sie könnte in Zukunft auch in Brasilien leben, stimmts ?« Madeleine wusste, dass es Petas Art war, nicht lockerzulassen und das Schlimmste anzunehmen, doch die Frage weckte auch ihre Ängste. Sie spürte, dass Nicholas sie ansah, und lächelte ihn an. »Du vermisst sie auch, nicht?«, fragte sie leise. Nicholas zog die Schultern hoch und nickte knapp. Nach einem Moment antwortete er mürrisch: »Es ist ihre echte Familie, bei der sie jetzt ist.« Schlichte Worte, aber Madeleine registrierte den scharfen Unterton. Als die drei am Anfang der Ferien nach Hause gekommen waren, hatte eine große Aufregung geherrscht, weil Cristi plötzlich eine Erbin sein sollte. Sie hatten Witze darüber gemacht, dass Cristi ihre Stiere eigenhändig mit dem Lasso einfangen und ihnen das Brandzeichen einbrennen müsste, weil die brasilianische Familie in Wirklichkeit verarmt war und erwartete, dass Cristi für ihre Schulden aufkam. Doch es war Madeleine nie in den Sinn gekommen - und vermutlich auch niemandem sonst -, dass sich Nicholas wegen Cristis unverhofftem Kontakt zu ihren Verwandten plötzlich über seine eigene Herkunft Gedanken machte. Soweit es Archie betraf, war Nicholas sein Sohn. Er hatte ihre Beziehung nie anders gesehen und würde es auch weiterhin nicht tun. Aber Nicholas wusste, dass Archie nicht sein biologischer Erzeuger war, denn als Peta und Josie adoptiert wurden, hatten Archie und Pauly entschieden, allen Kindern die Wahrheit über ihre Herkunft zu sagen. Im Laufe der Zeit erklärten sie ihnen so viel, wie sie verstehen konnten. Als sich die exaltierte Cecil, Nicholas' Mutter, für eine künstliche Befruchtung durch einen Samenspender entschloss,
statt ein Kind zu adoptieren, weil sie »die Erfa hrung der Geburt machen wollte, konnte sich Archie lange nicht mit dieser Idee anfreunden. Während der ersten Phasen der Schwangerschaft fiel es ihm schwer, die Veränderungen an Cecils schlankem, geschmeidigem Körper hinzunehmen. Er focht einen inneren Kampf aus. Aber er war ein großherziger Mann, und im Laufe der Monate besiegte er nicht nur seinen Widerwillen, sondern freute ich sogar auf das Baby. Als Nicholas geboren wurde und Cecil ihn so vehement ablehnte, bestand für Archie kein Zweifel mehr, dass Nicholas sein Kind war und dass er für ihn sorgen und ihn lieben würde. Madeleine hatte selbst Schwierigkeiten gehabt, Cecils Vorhaben zu akzeptieren - anfangs fand sie es geradezu anstößig -, doch an dem bedeutsamen Tag, an dem Archie mit Nicholas im Arm aus dem Krankenhaus nach Hause kam und erklärte: »Ich denke, wir sind im Stande, damit fertig zu werden«, war das wunderschöne, blonde Baby sie ein Napier, Archies Sohn und ihr Enkel. Obwohl Madeleine die Mädchen von Herzen liebte, war es nicht dasselbe, als Peta und Josie in die Familie kamen. Ihre Beziehung zu ihnen war ein klein wenig anders als die zu Nicholas, und Cristi nahm auch einen anderen, ganz besonderen Platz in ihrem Herzen ein. Diese kleinen Unterschiede hatten nie eine Rolle gespielt, Madeleine hätte sie vermutlich auch nicht beschreiben können, doch sie waren da. Nicholas' Worte führten ihr vor Augen, dass er genetisch nicht mehr zur Familie gehörte als Cristi. Und als ihr die Bedeutung all dessen klar wurde, fragte sie sich, wer wohl sein leiblicher Vater sein mochte. Ein Samenspend er. Ob es Aufzeichnungen oder Unterlagen gab, mit wessen Samen sich Cecil hatte befruchten lassen? Madeleine entschied, dass sie das wirklich nicht wissen wollte. Aber wo steckte Cecil, die seltsame, exotische, schwermütige Cecil, die wegen ihrer Kindheit, in der sie wie ein Päckchen von einem unzuverlässigen Erwachsenen zum anderen geschickt worden
war, fürs Leben geschädigt war und keine wahrhafte Bindung eingehen konnte ? Was machte sie gerade? Das Gefühl der Unzulänglichkeit wallte in Madeleine auf und verebbte wieder. Diese Gedanken konnte Nicholas nicht haben. Er war dreizehn, eigentlich fast vierzehn. Er war zwar reif für sein Alter, doch seine Bemerkung konnte sicherlich nur bedeuten, dass er argwöhnte, dass mehr hinter Cristis Abreise steckte, als man ihm erzählt hatte. Madeleine nahm sich zusammen. »Ich denke, es gibt verschiedene Arten von >echten< Verwandten«, erwiderte sie. »Die Fonsecas sind sicherlich Cristis Familie, doch selbst als sie als Kind in Brasilien lebte, hat sie sie so gut wie nie gesehen. Sie fanden, dass sich ihre Mutter schlecht benommen hat, und verstießen sie mehr oder weniger.« »Aber Cristi hat wenigstens irgendwo eine Mutter und einen Vater.« Madeleine musste sich zu ihm beugen, um ihn zu verstehen. »Ja, das stimmt.« Vorausgesetzt, sie waren noch am Leben und es gab keinen Grund anzunehmen, dass sie es nicht mehr waren. Es war eine eigenartige, beunruhigende Vorstellung, und Madeleine ahnte, dass Cristi vor ihrem Abflug auch daran gedacht hatte. »Wie du weißt, wollten sie Cristi nicht bei sich haben, und sie haben nie etwas von sich hören lassen, seit sie sich aus dem Staub gemacht haben. Also wurde Drumveyn Cristis Zuhause, und wir wurden ihre Familie. Daran wird sich nie etwas ändern.« Wieder regte sich Furcht, dass die Mächte im Hintergrund Cristis Leben beeinflussen und sie von den Menschen, die sie liebten und beschützen wollten, entfernen könnten. Nicholas zögerte. Sein Gesicht wirkte verschlossen - ein Junge seines Alters wehrte sich gegen solche tiefgründigen Überlegungen. Aber weil er Antworten brauchte, obwohl er selbst nicht so recht wusste, worauf, platzte er heraus: »Sie ist anders als wir anderen, das stimmt doch? Ich meine, sie sieht
anders aus.« Es war nicht zu übersehen, dass ihn etwas beschäftigte, und Madeleine hätte alles getan, um ihm zu helfen, doch er hätte einen besseren Zeitpunkt für ein solches Gespräch auswählen können. Nicht wenn sie über die kurvige Glen-Straße fuhr und Peta und Josie auf dem Rücksitz saßen. »Ja, Cristi sieht nicht unbedingt wie eine Schottin aus«, gab sie ihm Recht. »Das kann niemand bestreiten.« »Sie hasst das«, bemerkte Nicholas unvermittelt. »Was hasst sie?« »Dass sie so aussieht.« »Das hat sie gesagt?« Madeleine war bestürzt. »Einmal. Sie meinte, sie würde sich wünschen, so auszusehen wie wir.« Nicholas wandte sich von Madeleine ab und sah aus dem Fenster. Er hatte beinahe gegen seinen Willen von all dem angefangen, getrieben von einem Bedürfnis, das er nicht verstand. Cristis Abreise, all die Unsicherheiten und halb vermuteten Folgen hatten ihn taufgewühlt und Zweifel an seiner eigenen Position aufkommen lassen. Er hatte das vage Gefühl, dass er mehr in Erfahrung bringen musste, doch er wusste kaum, welche Fragen er stellen sollte, und hatte Angst davor, noch tiefer zu graben. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass es vieles für Cristi leichter gemacht hätte, wenn sie mehr wie ihr aussehen würde«, erwiderte Madeleine behutsam. Sie fürchtete, das Falsche zu sagen, und wünschte, Tom wäre bei ihr. Er wusste immer, wie er reagieren sollte. »Ihr drei habt helles Haar und helle Haut.« Und ihr könntet durchaus Archies und Paulys leibliche Kinder sein. Nicholas nickte, schien jedoch nichts weiter zu sagen zu haben. Sie hatte Angst, ihn enttäuscht zu haben, wollte das Thema aber nicht weiter verfolgen, wenn er nicht bereit dazu war. Madeleine war selbst sehr zurückhaltend und respektierte das auch bei anderen. »Vielleicht hätte ich mir mehr Mühe geben müssen«,
berichtete sie Tom besorgt, während s ie ihre Einkäufe auspackte. »Möglicherweise wollte er viel mehr erzählen oder fragen. Es war zwar kein günstiger Zeitpunkt, doch ich hätte ihm noch einmal die Gelegenheit zum Reden geben sollen, als wir zurückkamen.« »Hätte das nicht eine ziemlich große Sache daraus gemacht?«, gab Tom zu bedenken. »Wir haben keine Ahnung, ob er an etwas anderes denkt als an das, was sich in Cristis Leben ereignet. Und wir alle sind deswegen in Sorge.« »Das kann man wohl sagen«, pflichtete ihm Madeleine zornig bei. »Was denken sich diese Fonsecas eigentlich dabei, wenn sie das Kind in aller Hast von hier wegzerren und dann Ewigkeiten hinhalten? Diese schrecklichen Menschen haben kein Recht, so mit ihr umzuspringen... Aber, Tom, es wäre furchtbar, wenn Nicholas sich mit irgend etwas quält oder mit jemandem sprechen muss und wir ihm nicht zuhören. Andererseits möchte ich mich auf keinen Fall aufdrängen ...« Sie brach ab und dachte an ihre eigenen Kinder, die im Teenageralter ähnlich in sich gekehrt und verstockt gewesen waren wie Nicholas jetzt. Damals war sie auch nicht fähig gewesen, richtig damit umzugehen. Archie war ausgesprochen wortkarg gewesen. Er hatte unter der Strenge und Unnachgiebigkeit seines Vaters gelitten, andere Interessen entwickelt und das Haus so früh wie nur möglich verlassen. Lisas Schweigsamkeit hingegen war reiner Trotz und Unmut gewesen. Madeleine grämte sich noch immer, wenn sie an diese schwierige Zeit und ihre eigene Hilflosigkeit dachte, und hatte Angst davor, auch bei der nächsten Generation zu ve rsagen. »Meinst du, ich sollte Archie bitten, einmal mit ihm zu jeden?«, fragte sie Tom. »Darüber wäre Nicholas bestimmt nicht sehr glücklich.« Tom zog die Augenbrauen hoch. »War es früher für dich nicht auch schlimm, wenn du herausgefunden hast, dass sich die Erwachsenen hinter deinem Rücken über das unterhalten, was
du einem von ihnen im Vertrauen erzählt hast ? Ein Kind fühlt sich dadurch betrogen und verraten.« »Ja, das ist wahr, wenn man es so betrachtet.« Obwohl er ihres Wissens nach nie ausführliche, tief schürfende Gespräche mit seinen Söhnen Rob und Ian führte, die mittlerweile in den Dreißigern waren und mit denen er ohne weiteres stundenlang in behaglichem Schweigen zusammensitzen konnte, hatte er ein ausgezeichnetes Verhältnis zu beiden. »Und ich denke auch, Nicholas wäre es nicht recht, direkt darauf angesprochen zu werden«, setzte Tom hinzu. »Nein, du hast Recht. Und für Archie wäre es auch schwierig, das ist mir klar«, räumte Madeleine ein. »Aber, lieber Gott, es ist so beunruhigend, dass diese alten Kümmernisse wieder aufgewühlt werden. Es gab so viele Verletzungen. Wir sind nur eine bunt zusammengewürfelte Familie.« »Eine leicht ausgefranste«, meinte Tom und nahm Madeleines Hand in seine, um sie zu beschwichtigen. »Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Wenn sich Nicholas mit diesen Dingen herumplagt, dann wird der richtige Augenblick für eine Unterhaltung darüber schon kommen Er kann sich für sein Alter sehr gut ausdrücken, und er kommt mit Archie bestens aus. Mit Pauly auch.« Madeleine lachte, genau wie Tom gehofft hatte. »Kannst du dir jemanden vorstellen, der nicht mit Pauly auskommt?« »Wir sollten abwarten und sehen, wie sich die Dinge mit Peta entwickeln«, warnte Tom grinsend. »Oh, nicht. Die arme Peta nimmt alles so schwer. Wie wird das erst, wenn sie in die Pubertät kommt? Im Moment vermissen sie Cristi sehr - das Ganze bringt die beiden Mädchen ziemlich durcheinander.« »Du meinst, es bringt dich durcheinander.« Tom zog seine Frau an sich und drückte sie kurz. »Deiner Ansicht nach kann nichts und niemand ihren Platz einnehmen - hab ich Recht?« Madeleine erinnerte sich lebhaft, wie sehr sie Cristi
bewundert hatte, weil sie damals nach der langen, verwirrenden Reise von Brasilien nach Drumveyn so mutig und tapfer gewesen war; sie erinnerte sich an Cristis überschäumende Freude an allem, was sie hier vorgefunden hatte, an das Zutrauen, das sie augenblicklich zu ihr, Madeleine, gefasst hatte, an ihren Elan und ihr Temperament. Madeleine nickte stumm. Der Gedanke, dass Cristi nach all den Jahren die Familie ihrer Mutter kennen lernte und womöglich mit Unfreundlichkeit oder gar Feindseligkeit konfrontiert wurde, bedrückte sie. Und niemand von ihnen war an Cristis Seite, um sie zu beschützen. Cristi spürte, dass ihr Herz unangenehm pochte, als sie sich Joachim in der düsteren Bibliothek entgegenstellte, in der so viele Schätze und Erinnerungen an die Familiengeschichte aufbewahrt wurden. Sie wusste, dass sie ihn mehr zu dieser Unterredung gedrängt hatte, als es die guten Manieren erlaubten - oder zu dieser Konfrontation, denn darauf würde es, wie sie beklommen feststellte, hinauslaufen. Aber ihr war klar geworden, dass Joachim fähig war, die Angelegenheit bis in alle Ewigkeiten hinauszuzögern und sie mit Versprechungen abzuspeisen, die immer plausibel und überzeugend klangen - sie wunderte sich selbst, dass sie so lange Geduld bewahrt hatte. Cristi hatte allmählich den Verdacht, dass die Familie verborgene Pläne verfolgte, aber sie hatte keine Ahnung, welche. Warum hatten sie auf ihr Kommen bestanden, wenn sie dann die Zeit so vertrödelten?_ Sie begriff nicht, doch das hieß, dass sie die Dinge selbst in die Hand nehmen musste. Obwohl die Fonsecas gerade Gäste bewirteten, hatte sie den heutigen Abend ausgewählt, weil Joachim endlich einmal zum Essen zu Hause war. »Meine liebe Maria-Cristina«, hatte er überrascht, aber noch freundlich protestiert, als sie ihn zu diesem Gespräch gebeten hatte, »ich darf doch meine Gäste nicht allein lassen. Was kann
so dringend sein?« Sie war nicht schlagfertig genug, um eine passende Erwiderung parat zu haben, und wiederholte lediglich ihre Bitte und beteuerte, dass sie seine Zeit nicht lange in Anspruch nehmen würde. »Worüber sollten wir heute reden, was nicht bis morgen warten kann?« Sein Tonfall war noch immer wohlwollend, aber er benahm sich wie ein nachsichtiger Onkel, der sich fragte, »was in dieses Kind gefahren« war. Das bestärkte nur ihren Beschluss, sich diesmal nicht abwimmeln zu lassen. »Ich würde wirklich gern jetzt gleich mit dir sprechen, wenn es dir nichts ausmacht.« Morgen würde sich die normale Familienroutine wie der abspulen. Joachim würde schon in aller Frühe aus dem Haus gehen und Sylvia nicht wissen, wann er zurückkam, und am Abend wollten sie ins Theater gehen. Dann kam das Wochenende, an dem wie immer jede Menge Besucher erwartet wurden, und da wäre es ganz und gar unmöglich, eine ernste Unterhaltung zu führen. »Wenn du gestattest, möchte ich darauf hinweisen, dass dies kaum ein geeigneter Moment ist.« Joachims Freund lichkeit schwand. Er war nicht daran gewöhnt, in die Ecke gedrängt zu werden. Doch er gab nach, wenn auch verärgert, und gewann seine weltmännische Art zurück, als er ihr mit einer Geste einen Sessel in der Bibliothek anbot. Dann musterte er Cristi mit undurchdringlicher Miene. Zwei Dinge störten Cristi, obschon eines davon eine Kleinigkeit war. Sie versank in dem Sessel, den Joachim ihr zugewiesen hatte, und fühlte sich ganz klein. Wenn sie sich zurücklehnen würde, um einen entspannten Eindruck zu machen, würden ihre Beine wie die eines Kindes nach vorne ragen. War das Absicht? Bestimmt nicht. Dennoch war das Teil einer größeren Besorgnis, die ihr Herz zum Klopfen brachte. Als sie in Joachims Gesicht sah, musste sie wieder daran denken, dass sie keine Ahnung hatte, was wirklich hinter der
bereitwilligen Gastfreundschaft der Familie steckte. Die dunklen Augen konnten Zorn, Verachtung oder Abneigung verbergen. Sie würde das nie herausfinden. Aber mit einem Mal war sie sich einer Sache ganz gewiss: Diese Menschen hatten sie nicht gerufen, weil sie sie um ihretwillen hier haben wollten. Zum ersten Mal kam ihr die lächelnde Liebenswürdigkeit, mit der sie sie behandelten, unheimlich vor, und sie fühlte sich entsetzlich allein und verletzbar. Warum hatte sie mit diesem Vorstoß nicht gewartet, bis Luis wieder da war? Sie nahm sich zusammen und sagte hastig: »Entschuldige bitte, dass ich dich von deinen Gästen weggeholt habe, Tio Joachim. Ich hoffe, du kannst mir das verzeihen.« Auch wenn sie wie so oft Englisch miteinander sprachen, kam ihr die höfliche Anrede ganz selbstverständlich über die Lippen. Joachim neigte den Kopf, aber der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich kein bisschen. »Es ist nur ...« Cristi zögerte. Sie hätte sich gewissenhafter vorbereiten müssen. Dies war kein gemütlicher Plausch mit einem guten Onkel. »Nun, als ihr über die Anwälte Verbindung zu mir aufgenommen habt und ich zusagte, die Familie zu treffen, hatte ich den Eindruck, dass die Zeit drängt und Großvaters letzter Wille erfüllt werden muss und so weiter.« Verengten sich die dunklen Augen ein wenig? »Und jetzt vergeht so viel Zeit, ohne dass ich jemals mit diesen Anwälten gesprochen habe. Ich weiß heute nicht mehr als am Tag meiner Ankunft.« Cristi verstummte und sah Joachim fragend an. Das war doch ein vernünftiger Einwand, oder nicht? Joachim unternahm allerdings keinen Versuch, ihr weiterzuhelfen. Die üppige Pracht in dem Raum schien sie einzuschließen. Sie nahm all ihre Entschlusskraft zusammen. »Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht allein zu diesen Anwälten gehen soll«, fuhr sie fort. Zu ihrer Erleichterung verriet ihre Stimme nicht, wie nervös sie war, und sie klang auch
nicht zu herausfordernd, doch auch nicht versöhnlich. Das erzielte Wirkung. Joachim presste die Lippen grimmig zusammen. Er schien sich seine Antwort sorgfältig zu überlegen. Mit dieser Vermutung lag Cristi richtig. Die Familie mochte sie behandeln wie ein hübsches kleines Püppchen, das nur dazu da war, verwöhnt und verhätschelt zu werden, und das genügend Einblicke in das wunderbare Leben erhalten sollte, das auch das ihre sein könnte, doch Joachim hätte eigentlich gewieft genug sein müssen, um zu wissen, dass Cristi durch ihre Erziehung einen unabhängigen Geist erhalten hatte und dass sie sich nicht durch Luxus bestechen ließ. Seiner Einschätzung nach war sie im Stande, tatsächlich ein solches Treffen mit den Anwälten möglich zu machen. Dennoch gehörten Hinhaltetaktik und die Abneigung, sich unterzuordnen, so sehr zu seinem Charakter, dass seine erste Reaktion nicht mehr war als eine seiner üblichen Ausflüchte. »Selbstverständlich kann das arrangiert werden, wenn du es wünschst«, beteuerte er. »Das macht keine Schwierigkeiten. Aber ich glaube kaum, dass damit viel erreicht wird. Du verstehst doch, dass alle Betroffenen bei einer solchen Besprechung anwesend sein müssen, ob du vorher eine Unterredung mit den Anwälten hattest oder nicht. Noch ist nicht sicher, ob Jolo dabei sein möchte. Wir warten nach wie vor auf Nachricht von ihm. Und ich selbst habe derzeit so viele Verpflichtungen ...« »Ich bin mir der Probleme durchaus bewusst«, unterbrach Cristi ihn, die keine weiteren Ausflüchte mehr dulden wollte. »Aber mittlerweile sollte ich zumindest eine ungefähre Ahnung davon haben, was auf mich zukommt, oder nicht?« Joachim gestattete sich einen erstaunten Blick über die ses beklagenswerte Benehmen. Cristi bemerkte diesen subtil angebrachten Tadel, ließ sich aber nicht abschrecken. »Es kommt mir seltsam vor«, fuhr sie so redegewandt wie er
fort, »dass ich als Begünstigte bisher noch nicht einmal eine Kopie des Testamentes zu Gesicht bekommen habe.« Hatte sie das wirklich laut ausgesprochen? . Ihr Mut schien mit den Anforderungen zu wachsen. ; Davon war sie vorher keineswegs überzeugt gewesen. Joachim bemerkte das auch. »Aber mein liebes Kind«, begann er, doch dann sah er ihrem Gesicht an, dass sie ihm diese herablassende Art auf keinen Fall durchgehen lassen würde. Er wechselte schnell die Taktik. »Das ist doch gar kein Problem. Wie saumselig von uns, dir nicht den letzten Willen meines Vaters zum Lesen gegeben zu haben! Du musst uns vergeben, aber in einer so traurigen Zeit... Du möchtest verständlicherweise mehr über die Ranch wissen. Ich glaube,du warst als Kind niemals dort, oder?« Du weißt verdammt gut, dass ich nie dort war, ging es Cristi durch den Sinn, aber gleichzeitig erfasste sie Erregung. Die Ranch war zum ersten Mal erwähnt worden. Sie hatte so oft daran gedacht, aber es war ihr immer unangemessen erschienen, die Sprache selbst darauf zu bringen. Niemand konnte begeistert darüber sein, dass die Ranch an sie überging. »Ich werde sofort dafür sorgen, dass alles in die Wege geleitet wird. Doch jetzt musst du mich entschuldigen ...« Joachim warf einen Blick auf seine Uhr und erhob sich. Die Unterhaltung war zu Ende. Selbst wenn ein Termin für die Besprechung festgesetzt wurde - er würde die Anwälte bitten, Cristi einen Brief zu schreiben -, konnten sie die Angelegenheit noch ein bisschen länger hinauszögern. In den Wochen, die sie bereits gewonnen hatten, hatten sie etwas Wesentliches herausgefunden: Cristi war beinahe in jeder Hinsicht die passende Kandidatin für ihren langfristigen Plan. Und auch wenn er wütend war, weil sie ihn heute Abend zu diesem Dialog gezwungen hatte, so hatte er doch ein unerwartetes Vergnügen dabei empfunden. Diese
charmante kleine Nichte hatte sich trotz ihrer Herkunft mit bewundernswertem Mut gegen ihn behauptet. Er taxierte sie teilnahmslos und lobte im Stillen die Veränderungen, die sich mit der Zeit ergeben hatten. Sylvia hatte ihre Sache gut gemacht. Cristi sah in dem schlichten, korallenroten Kleid wesentlich akzeptabler aus als in den verrückten Kunststudenten-Klamotten, die sie aus Schottland mitgebracht hatte. Ihre zarte, geschmeidige Figur war zudem sehr reizvoll im Vergleich zu der solideren Gestalt seiner Frau und seiner Töchter. Abgesehen von ihrer erfreulichen Erscheinung und ihren - im Allgemeinen - guten Manieren (die er bei einer schottischen Studentin nicht erwartet hatte) hatte sie, wie Joachim mit einer gewissen Ironie feststellte, als er sie zur Tür begleitete, durch ihre barbarische Erziehung in Schottland mehr Charakterstärke gewonnen, als er es bei einer Tochter seiner Schwester Justina hätte erhoffen können. Sein Mund verzog sich bitter bei dem Gedanken, während er Cristi durch den Korridor folgte, um sich wieder seinen Gästen zu widmen.
14. Kapitel Liebe Güte, du wirst weggeblasen, wenn du hier oben lebst.« Jean kletterte mit Archies Hilfe aus dem Range Rover und sah sich mit einer Zufriedenheit um, die ihre Worte Lügen strafte. Sie strahlte über das ganze Gesicht, und ihre Augen waren feucht. Dass die Napiers das für ihren Jungen taten! Seine eigene kleine Farm nach all den Ent täuschungen, die er erleben musste! Wie stolz sein Dad auf ihn wäre. Und sie wünschte, Donnie wäre heute Abend bei ihnen, denn sie betrachtete diese Schenkung hauptsächlich als Lohn für seine harte Arbeit und treuen Dienste. Dougal, der Nicholas in seinem Land Rover mitge nommen hatte, erschrak, weil seine Beine so seltsam zitterten, als er sich
den anderen anschloss. Später sollte er sich nicht mehr an die Fahrt über den holprigen Weg hier herauf erinnern oder an ein einziges Wort, das er mit Nicholas gewechselt hatte. Jetzt hatte er das komische Gefühl, dass seine Füße kaum den Boden berührten. Er hätte nie im Traum daran gedacht, dass dieser Moment einmal wahr werden oder dass er so mühelos und schnell zu einem eigenen Haus kommen würde ? Es war typisch für Archie und Pauly, dass sie aus der ersten Besichtigung von Ellig und dem Stück Land ein ganz besonderes Ereignis machen wollten und dafür gesorgt hatten, dass Jean ebenfalls Teil daran hatte. So dankbar er auch war - und er war über alle Maßen dank bar -, so wäre ein Teil von ihm in diesem Moment doch gern allein gewesen, damit er ihn als großen Wendepunkt in seinem Leben im Gedächtnis behalten konnte. Andererseits sehnte er sich schmerzlich danach, dass Cristi an seiner Seite stehen könnte. Ohne sie fehlte ihm etwas Ent scheidendes. Wie konnte das alles irgendeine Bedeutung haben, wenn sie nicht dabei war? Er grinste über Jeans Worte, denn er wusste, dass sie vollkommen aus dem Häuschen war, weil Archie so viel für ihren Sohn tat, aber Dougal wusste auch, dass sie zu abergläubisch war, um ihre Begeisterung zu offen zu zeigen; sie musste etwas bemängeln, für den Fall, dass doch nicht alles so war, wie es im Augenblick erschien. Dougals Grinsen wurde noch breiter. Sie würde eine Menge finden, worüber sie klagen konnte, sobald sie das Haus betraten. Er verspürte einen seltenen Drang, sie fe st in die Arme zu schließen, wusste jedoch, dass ihr das auch nicht gefallen würde. Es gehörte nicht zu den Gewohnheiten der Galloways, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. »Mein Gott, es ist in einem schlimmen Zustand! Du hast nicht übertrieben, nicht?« Das war Pauly. »Aber was für eine unglaubliche Lage!« »Man überschaut von hier aus das ganze Dorf«, rief Josie, als
sie auf die hohe, baufällige Begrenzungsmauer kletterte, um besser sehen zu können. »Man hat den gesamten Glen im Blick«, setzte Peta noch e ins drauf, obwohl sie zu vorsichtig war, um die Mauer in Angriff zu nehmen. »Man sieht ganz Muirend!« »Das stimmt ja gar nicht«, widersprach Nicholas. „Und komm da runter. Du reißt noch Dougals Mauer ein.« »Es ist Ewigkeiten her, seit ich zu Fuß oder mit dem Pferd hier oben war.« Pauly genoss die großartige Aus sicht. »Na ja, mit all den verrückten Maclachlans, die hier herumtobten, war dies nicht gerade ein reizvolles Aus flugsziel«, erklärte Archie und trat ein paar Schritte zurück, um sich das Haus und das Dach genauer anzusehen. Unterhalb des Kamins fehlten etliche Ziegel, andere waren verrutscht. »Weißt du, Dougal, ich bin nicht überzeugt, dass ich dir einen Gefallen getan habe, als ich dich überredete, mir dieses Problem abzunehmen.« »Oh, aber er ist Ihnen so dankbar«, warf Jean ängstlich ein. »Stimmts nicht, Dougal ? Es ist eine große Chance für ihn. Er hätte nie gedacht, dass er jemals so eine Gelegenheit bekommt, und ich weiß nicht, wie wir Ihnen jemals danken...« »Unsinn, Jean.« Archie bemerkte Dougals Verlegenheit. »Ich habe das bessere Geschäft bei diesem Handel gemacht, ganz im Ernst.« Es war nicht schwierig gewesen, das Ellig- Land zu kaufen und das Farmhaus sowie ein paar Hektar auf Dougal zu überschreiben. Archie hatte sich sofort mit Miss Hutchinsons Anwälten in Verbindung gesetzt; die Farm war nie offiziell zum Verkauf angeboten worden. Trotz seines Glücks konnte Dougal einen gewissen Groll nicht unterdrücken, weil jemand wie Archie nie Schwierigkeiten hatte, das durchzusetzen, was er sich vorgenommen hatte. Aber so war es nun mal; daran wür de sich niemals etwas ändern. Und
wenn es ihm noch so sehr gegen den Strich ging, wieso scheute er dann nicht davor zurück, davon zu profitieren ? Er hatte nicht vorgehabt, das Angebot auszuschlagen, also musste er sich damit abfinden, dass die Begüterten überall begünstigt wurden. Dougal konnte es nicht glauben, dass er jetzt mit dieser kleinen Horde freundlicher Menschen auf die Tür seines eigenen Hauses zuging. Er musste sich beinahe ermahnen, hin und wieder zu atmen. Archie überreichte ihm mit einer schwungvollen Geste den Schlüssel, Pauly stand hinter ihm und hatte sich bei Jean untergehakt, die Kinder drängelten, weil jedes zuerst ins Haus stürmen wollte. Die Napiers machten eine Zeremonie daraus und feierten mit ihm den bedeutenden Moment. Er sah Cristis funkelnde Augen und ihr strahlendes Lächeln vor sich - sie sollte hier sein -, dann steckte er den großen, alten Schlüssel ins Schloss. Er ärgerte sich, weil seine Hände zitterten. Die Mädchen stimmten ein Freudengeheul an, als die Tür aufschwang. »Also wirklich!« Jeans schockierter Blick und die heruntergezogenen Mundwinkel verrieten, was sie von den Maclachlans und ihren Machenschaften hielt. Aber es war nicht ihre Sache, Kritik zu üben, das durfte sie nicht vergessen. »Du wirst hier eine Menge zu tun haben, das ist mal sicher«, bemerkte sie bemüht zurückhaltend. Diesmal legte Dougal seinen Arm um ihre Schultern und zog sie lachend an sich. »Das schaffe ich schon«, versicherte er. »Ja, gut. Zunächst einmal kommen wir auch ohne dieses alberne Getue zurecht«, protestierte sie und kämpfte sich aus seinem Griff, aber die Freude war ihr deutlich anzusehen. »Mir scheint, es ist das Beste, wenn ich erst einmal mit Schrubber und Eimer hier anrücke.« Archie und Pauly lachten fröhlich - sie wussten, dass dies ein großer Augenblick für Jean und Dougal war. »Damit wirst du ein wenig Geduld haben müssen«, gab Dougal zurück. »Warte, bis du den Rest gesehen hast.«
»Ja, es muss einiges repariert werden, bevor das Schrubben sinnvoll ist, Jean«, warnte Archie. »Ich bin mit dem Fuß durch den Boden gebrochen«, kreischte Josie im hinteren Schlafzimmer, als sie die Treppe hinaufgingen. »Tut mir Leid, Dougal.« Sie klang nicht besonders zerknirscht. »Passt ein bisschen auf«, rief Dougal zurück. »Das mit dem Boden ist nicht schlimm, aber ich will nicht, dass ihr euch die Knochen brecht.« Kaum hatte er das ausgesprochen, wurde ihm erst richtig klar, dass er der Besitzer die ses Hauses war - ein Moment tief empfundener Zufr iedenheit. »Wir sind vorsichtig«, versprach Josie, doch Petas Schrei übertönte sie. In dem neuen Bewusstsein, für alles verantwortlich zu sein, was hier geschah, wollte Dougal loslaufen, um Peta zu retten, aber Archie hielt ihn zurück und hob einen Finger, damit Dougal genauer hinhörte. Peta rief angewidert: »Igitt, widerliche Spinnen. Ich hasse Spinnen!« »Siehst du?«, flüsterte Archie. Sie inspizierten die Schlafzimmer. Wenn man hier etwas Löbliches sagen wollte, musste man schon zu einem der Fenster gehen und die Aussicht bewundern. Danach polterten sie die Treppe hinunter, und Nicholas, der auf ein Zeichen von Pauly verschwunden war, schleppte einen großen Karton ins Haus. Archie nahm ihm die Last ab und stellte die Kiste geräuschvoll in der Küche ab. Er nahm eine hübsche Torte heraus und reichte sie Pauly, dann breitete er ein paar Küchentücher auf dem Tisch aus und beförderte Gläser, Champagner und Cola zu Tage. Dougal war so überrascht, dass ihm die Röte ins Gesicht stieg, und für einen Augenblick fürchtete er, er würde einen Narren aus sich machen. »Oh, Sie hätten sich nicht all die Umstände machen dürfen«, stammelte er hilflos. »Wir wollen nur die besondere Gelegenheit feiern. Nimm das.« Pauly hauchte einen Kuss auf seine Wange, als sie ihm
einen Pappteller mit einem riesigen Tortenstück überreichte. Archie drückte ihm lächelnd ein Glas in die Hand. Pauly und er hatten überlegt, ob sie Champagner oder Whisky mitnehmen sollten. »Sie trinken lieber Whisky.« »Aber ich backe eine Torte.« »Es wird ihnen nichts ausmachen, Whisky dazu zu trinken.« »Es geht nicht darum, was sie mögen, es soll etwas Besonderes sein. Jean wird überall stolz herumerzählen, dass wir Champagner getrunken haben, auch wenn ihr die Kohlensäure in die Nase steigt und sie findet, dass das Zeug nach nichts schmeckt. Und ich wette, Dougal bekommt gar nichts mit. Ihm wird zu Mute sein wie jemandem, der heiratet man hat keinen blassen Schimmer, was man isst und trinkt.« Archie fand es ein wenig übertrieben, aber er ließ Pauly ihren Willen. »Peta, Josie, wo seid ihr? Es gibt Torte! Jean, ich stelle lhre hier hin.« Dougal sah, wie Jean die Lippen spitzte. Sie fand es grausig, in diesem Schweinestall irgendwo etwas Essbares abzustellen, selbst wenn es sich auf einem Teller befand. Er lächelte insgeheim - ein Glücksgefühl durchströmte ihn. »Dürfen wir auch Champagner haben?« Peta und Josie stürmten in die Küche. »Auf Inas Hochzeit haben wir welchen getrunken.« »Na ja, eigentlich solltet ihr das nicht«, meinte Archie. »Also schön, jede einen kleinen Schluck, aber dann gibts Cola.« »Und seid still«, fügte Pauly hinzu. »Also, Dougal.« Archie wandte sich ihm ernst zu. Er war zufrieden über das Gelingen seines Vorhabens und zuversichtlich, dass Dougal etwas Gutes aus Ellig machen würde. »Auf dich und deine Zukunft in diesem Haus. Möge es eine lange und glückliche sein.« Sie erhoben feierlich die Gläser. Jean musste wieder an
Donnie denken und wünschte in einem Anfall von Verzweiflung, Donald und Jill wären anders und hätten sich nicht so weit von ihr entfernt. Sie schniefte, um die Tränen zu unterdrücken, und trank unvorsichtigerweise gleichzeitig einen Schluck Champagner. Es endete in einem Hustenanfall, der ihr über den gefährlichen Moment hinweghalf, obwohl sie vor Verlegenheit am liebsten im Erdboden versunken wäre. »Wer ist wie ich der Ansicht, dass diese Farm einen neuen Namen gebrauchen kann?«, erkundigte sich Archie beiläufig, nachdem Pauly die unvermeidliche Küchenrolle aus dem Karton geholt und Jean sich wieder erholt hatte. »Das würde unterstreichen, dass dies ein Neuanfang ist.« »Aber sie hieß immer schon Ellig.« Dougal fühlte sich überrumpelt und sträubte sich gegen den Vorschlag. Als er merkte, dass er sich verraten hatte, stellte er amüsiert fest, dass er nicht lange gebraucht hatte, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, jetzt ein richtiger Farmbesitzer zu sein. »Oh, man sollte den Namen natürlich in irgendeiner Form beibehalten. Aber es wäre doch schön, wenn sich deine neue Behausung von dem, was die Maclachlans hinterlassen haben, auch in diesem Punkt unterscheidet, oder nicht? Es ist nur so ein Gedanke.« »Für Dougal müsste es etwas Spezielles sein.« Pauly war von der Idee begeistert. »Ellig House ? Oder House of Ellig - das klingt gut.« »Ist das nicht ein bisschen zu hochtrabend?«, drückte Jean ihre Zweifel aus. Sie wollte nicht, dass die Leute dachten, ihr Dougal sei größenwahnsinnig geworden. Es wurde ohnehin schon genug geredet. »Auch wenn mich das nichts angeht«, setzte sie rasch hinzu. »Meinen Sie, dass dies hier einen Namen braucht, der nach etwas klingt?«, fragte Dougal und sah sich in der schmutzigen Küche mit den verschmierten Fenstern und dem bröckeligen Putz um. »Ellig Hill.« »Ellig Castle.« »Ellig Palace.« »Haltet den Mund, Kinder. Geht und esst eure Torte draußen,
wenn ihr so albern seid.« »Wir dürfen Dougals schönen Boden nicht schmutzig machen«, kicherte Josie, als sie hinausgingen. »Den Boden von Ellig Mansion.« »Und zerbrecht da draußen nichts, es sei denn, es sind eure Hälse«, rief Archie ihnen nach. »Ich weiß was«, sagte Jean. Pauly war nicht sicher, ob die roten Flecken auf Jeans Wangen von dem vielen Champagner herrührten, den sie in sich hineingeschüttet hatte, um den Husten zu besänftigen, oder weil sie wegen ihres Vorschlags so aufgeregt war. »Raus damit«, fo rderte Archie sie auf und griff nach der Flasche, um zur Ermutigung ihr Glas aufzufüllen. Doch als er Paulys Blick auffing und sich daran erinnerte, dass seine Mutter und Tom in der Scheune auf sie warteten, goss er nur ein paar Tropfen nach. »Lass hören.« Dougal hoffte, dass ihr ein guter Name eingefallen war. Es war ihm wichtig, dass Jean in irgendeiner Weise an seinem neuen Leben teilhatte. Er hatte nach wie vor ein schlechtes Gewissen, weil er so entschieden abgelehnt hatte, dass sie mit ihm in dieses Haus zog. Aber er wusste, dass dieser Entschluss richtig war. Jean sah ihn mit blitzenden Augen an. »Croft of Ellig«, antwortete sie triumphierend und plapperte unsicher weiter: »Ich weiß, es ist eigentlich nicht zutreffend, das brauchst du mir nicht zu sagen, aber ...« »Das ist perfekt!«, rief Pauly aus. »Genau das Richtige. Zumindest finde ich das«, fügte sie hinzu, als Archie resigniert den Kopf schüttelte, »aber es ist allein Dougals Entscheidung.« »Ganz recht«, meinte Archie. Für Dougal war sein neues Zuhause ab sofort »Croft of Ellig«. Dieses Fleckchen Land, das viel zu klein war, um als Farm bezeichnet zu werden, und das ihm praktisch auf wundersame Weise in den Schoß gefallen war, hatte einen Traum wahr
werden lassen. Das alte Wort für einen Hof oder Pachthof, das so sehr mit Schottlands Tradition und Geschichte verbunden war, hatte genau den passenden Klang. Jean hatte Recht; im Grunde war es kein Pacht land, aber es könnte keinen besseren Namen geben. »Das passt«, war alles, was er erwiderte, doch seine Miene gab preis, was in ihm vorging. Sie tranken auf Croft of Ellig und riefen den Namen im Chor. Doch plötzlich schwiegen alle. Sie sahen sich an und waren sich bewusst, was dieser bewegende Augenblick bedeutete. Pauly brach den Bann. »O Gott«, wimmerte sie, »zu viele Emotionen - das halte ich nicht aus.« Sie versteckte ihr Gesicht an Archies Schulter. Sie lachten und entspannten sich. Pauly und Jean fingen an, die Sachen in die Kiste zu räumen, und Archie nutzte die Gelegenheit, zu Dougal zu sagen: »Hör mal, Nicholas kann bei uns mitfahren, wir haben genügend Platz. Dann kannst du noch eine Weile hier bleiben, wenn du willst, und dich allein umsehen.« Dougal sah ihn dankbar an. Typisch für Archie, dass er spürte, wonach ihm zu Mute war. »Aber die Drinks in der Scheune ...«, gab Dougal zu bedenken. Er war erstaunt gewesen, als Tom und Madeleine die Einladung ausgesprochen hatten, und hatte schon ablehnen wollen, damit sie sich nicht zu viele Umstände machten. Doch dann wurde ihm klar, dass sie es bedauerten, wegen Toms Behinderung nicht dabei sein zu können. Alle in die Scheune zu rufen - sogar Lisa hatte versprochen vorbeizuschauen, obwohl Dougal bezweifelte, dass sich Stephen von zu Hause fortbewegen würde -, war ihre Art, an der Feier teilzuhaben. »Das hat keine Eile«, beschwichtigte Archie. »Nimm dir Zeit, solange du willst. Dies ist dein Tag.« Dougal fand keine Worte und nickte nur. Genau das brauchte er - ein paar Minuten allein, um zu begreifen, was sich ereignet
hatte. Großartig, dass Archie das erkannt hatte und ihm die Möglichkeit dazu gab. Und er hatte ihm noch so viel mehr gegeben. »Archie, einen Moment noch.« Dougal wusste kaum, wo er anfangen sollte. »Wegen dem hier ... und allem anderen - ich meine, dass Sie Dad auf dem Gut behalten haben, obwohl er nicht mehr arbeiten konnte, und dass Mum im Cottage bleiben durfte... Ich bin Ihnen für all das unendlich dankbar.« Mit einem Mal verspürte er das drängende Bedürfnis, all die verborgenen Gefühle, die er kaum artikulieren konnte, in Worte zu fassen, Archie klar zu machen, wie es gewesen war, als Sohn eines Gutsarbeiters aufzuwachsen, Teil einer Mikro-Gesellschaft wie Drumveyn zu sein, in den Genuss der Vorzüge zu kommen und trotzdem die Ungerechtigkeit des Systems zu verabscheuen. In diesem erhabenen Augenblick könnte er Archie all das deutlich machen und sich gleichzeitig von der Ambivalenz seiner Empfindungen befreien. Doch natürlich war er nicht im Stande, irgend etwas davon von sich zu geben. Dazu war gar keine Zeit, und er wusste auch nicht, ob er die richtigen Worte finden würde. Archie legte ihm freundschaftlich die Hand auf den Arm. »Dazu besteht kein Grund«, versicherte er. »Aber ...« Dougal verdrängte all das Unaussprechliche und konzentrierte sich auf die Fakten. Wenn er dies jetzt nicht schaffte, dann würde er es nie mehr aussprechen. »Es ist mehr als das. In all den Jahren durften wir im großen Haus herumtoben - erst hat Ihre Mutter das zugelassen, dann Sie und Pauly -, und Sie haben uns in alles einbezogen. Das war nicht selbstverständlich, und uns hat es so viel bedeutet. Es tut mir nur Leid, daß Jill...« Es erschien ihm komisch, dass ihm die Worte: »Sie enttäuscht hat« einfielen, aber genauso kam es ihm vor. »Danke, dass du das sagst, Dougal.« Archie konnte sich vorstellen, welche Überwindung ihn das gekostet hatte. »Und ich freue mich sehr, dass du im Glen bleibst. Das ist mein Ernst.
Ich hätte nicht gern gesehen, dass du wegziehst, und ich bin froh, dass Croft of Ellig in deinen .Händen ist.« Er verlieh dem neuen Namen die gebührende Betonung und war erfreut, als ein Lächeln Dougals ernstes Gesicht erhellte. Archie konnte aufatmen, weil Dougal zweifellos Ordnung in dieser Bruchbude schaffen würde und noch dazu in Kontakt mit dem Gut blieb. Weder er noch Tom hatten die Hoffnung aufgegeben, Dougal für die Verwaltungsarbeit gewinnen zu können. »Gut«, fuhr er munter fort, »wir machen uns auf die Socken. Wir sehen uns später in der Scheune. Aber lass dir ruhig Zeit. Diese spezielle Erfahrung wirst du vermutlich nie wieder machen« Archie hat Recht, dachte Dougal, als das Motoren- geräusch des Range Rover leiser wurde und er ganz allein war. Nichts konnte jemals so sein wie dies, ein ungeheuerlicher Moment, der anders war als alles, was er bisher erlebt hatte. »Das gehört mir«, sagte er laut, dann ließ er die Stille auf sich wirken. Obwohl es ein milder, fast schwüler Frühherbsttag war, hatte die Sonne Mühe, sich durch die Wolken zu kämpfen. Der Wind kühlte seine Wangen. Hoch oben kreiste ein Bussard und stieß leise Schreie aus. Allmählich nahm Dougal auch die anderen Geräusche wahr. Der Wind strich durch die Fichten, die den Hof schützten, und der Bach plätscherte in seinem steinigen Bett dem Dorf entgegen. Seine Landschaft. Er drehte sich um und ließ den Blick über den verwahr losten Hof zum Haus schweifen. Im Geiste hieß er all die Mühen und die Arbeit willkommen, die er in dieses Haus stecken musste. Seine Mutter konnte denken, was sie wollte, aber sie würde auf keinen Fall mit Schrubber und Eimer hier heraufkommen. Es war sein Haus. Dougal ging wieder hinein, unternahm einen Rund gang durch alle Zimmer und nahm sie in Besitz. Dann schlenderte er durch die Hintertür in den verwilderten Garten. Die Farbe der Vogelbeeren am Tor verriet, wie herbstlich es bereits geworden
war. Endlich erlaubte er sich, an Cristi zu denken und sich vorzustellen, dass sie jetzt an seiner Seite wäre. Die Kehle wurde ihm eng. Für Dougal war Cristi ein fester Bestandteil dieser Szenerie; sie kannte, liebte und verstand das alles. Sie war mit dieser Landschaft untrennbar verbunden. Und sie hatte besser als jeder andere seine Hoffnungen und Ambitionen verstanden. In den Tagen, in denen sie noch alles miteinander geteilt hatten, hatte Dougal ihr viel davon erzählt. Aber er beschwor nicht ihr Bild herauf, um in Nostalgie oder unerreichbare Träume zu verfallen. Es gab etwas, worüber er sich hier und jetzt für immer klar werden musste. Er besaß jetzt eine eigene kleine Farm, auch wenn sie nur aus wenigen Hektar und ein paar verkommenen Gebäuden bestand. Er würde etwas daraus machen, daran zweifelte er keinen Moment; er hatte sich aus der Falle befreit, ein an eine bestimmte Arbeit gebundenes Cottage zu bewohnen, das ihm nie gehören würde. Aber dieser mächtige Schritt, ein Quantensprung, änderte nichts an seinem Verhältnis zu Cristi. Sie trennte mehr als nur materielle Unterschiede. Das Problem war nicht, dass Cristi plötzlich reich war und riesige Ländereien in Südamerika besaß - sie gehörte in eine andere Welt, zu einer anderen Rasse. Er brauchte nur ihren anmut igen, zarten Körper und ihre Schönheit, die ihn immer und immer wieder gefangen nahm, vor Augen zu haben, um zu wissen, dass seine Träume absurd waren. Ja, aber wie oft hatte er sie schmutzig und zerzaust bei der Landarbeit erlebt, ohne dass ihr Wind und Wetter etwas ausgemacht hatten? Sie ist zäh und ausdauernd, dachte er und lächelte widerwillig. Auch das war ein Teil von ihr. Doch er wehrte sich dagegen, dass diese Bilder seinen Entschluss aufweichten. Eine Frau wie Cristi war nicht für einen so gewöhnlichen, schwerfälligen Jungen wie ihn bestimmt. Croft of Ellig und der
Bürojob in Muirend, das war sein Leben, und Cristi war durch und durch eine Künstlerin. Sie war nicht nur räumlich, sondern auch in ihrer Denkart meilenweit von ihm entfernt, und es wurde höchste Zeit, dass er das verinnerlichte. Dougal dachte an die Postkarten, die sie ihm geschickt hatte, und verzog das Gesicht. Postkarten, so dicht sie auch mit ihrer zierlichen Handschrift beschrieben sein mochten, waren ein trauriger Abklatsch der Briefe, die er früher von ihr bekommen hatte. Besonders von denen, die sie im ersten Semester geschrieben hatte, als er noch der einzige Mensch gewesen war, dem sie ihr Herz hatte ausschütten können. Die unpersönlichen Grüße und Schilderungen auf diesen Postkarten verletzten ihn, und es war ihm unmöglich, darauf zu antworten. Keine Frage, er musste sich jeden Gedanken an Cristi aus dem Kopf schlagen. Sie hatte keinen Anteil an seinem Neuanfang. Das musste er sich einbläuen und durfte es nie mehr vergessen. Unbewusst straffte Dougal die Schultern. Er durfte nicht auf das Unmögliche hoffen, aber in anderer Hinsicht hatte man ihm so viel geschenkt. Das würde er nicht wegwerfen. Er drehte sich um und ging über den von Unkraut überwucherten Weg zu seinem Land Ro ver. Er würde sich an die Tatsachen halten und sich ein neues Leben aufbauen, das Cristi nicht mit einschloss. Aber jetzt feierte er erst einmal eine Party.
15. Kapitel Cristi atmete zufrieden und erleichtert auf, als sie in den Sitz gedrückt wurde, während sich das Flugzeug in die Lüfte erhob. Sie hatte schon geglaubt, dass es nie mehr zu diesem Moment kommen würde. In zwei Stunden würde sie tatsächlich in Campo Novo landen. Sie wandte sich zur Seite, um Luis anzusehen - er lächelte, und seine dunklen Augen glitzerten. »Du solltest nicht so freudig strahlen, als wärst du gerade den Löwen entkommen«, tadelte er sie. Sie hatte nicht gewusst, dass ihr die Erleichterung so deutlich
anzusehen war. »Das ist schrecklich, nachdem deine Eltern so gut zu mir waren«, erwiderte sie schuldbewusst. Dann musterte sie Luis genauer. »Obwohl ich zugeben muss, dass du selbst auch einen ziemlich fröhlichen Eindruck machst.« In dieser Hochstimmung fühlte sie sich unbeschwert genug, um eine solche Bemerkung zu machen. Sie sprach mit ihrem Cousin über ihren Onkel und ihre Tante; sicherlich durfte sie nach all der Zeit so freimütig reden, oder? Aber um ehrlich zu sein, die Titel »Onkel« und »Tante« bedeuteten ihr wenig. Die verwandtschaftliche Beziehung erklärte, dass sie bereitwillig in der Familie aufgenommen und beherbergt worden war, solange sie sich in Rio aufgehalten hatte, doch jetzt, da sich die bis dahin offenbar absichtlich verschlossenen Türen für sie geöffnet hatten, erkannte sie, wie gering der wahre Kontakt tatsächlich gewesen war. Sie wusste, dass Luis sich ebenso befreit fühlte wie sie. Auf der Fahrt zum Flughafen hatten sie sich beide benommen wie kleine Kinder, die endlich den Fängen der Erwachsenen entronnen waren. Und selbst in der kurzen Zeit war ihr eine noch subtilere Veränderung an Luis aufgefallen. Obschon er sich auch sonst im Vergleich zu all den anderen ziemlich unkonventionell gab, war er jetzt er selbst. Cristi konnte sich keinen besseren Begleiter vorstellen als Luis, wenn er so entspannt war und tun konnte, wonach ihm zu Mute war. Sie spürte, wie die Vorfreude in ihr aufschäumte, als sie Rio hinter sich ließen. Cristi war immer gern mit Luis zusammen, egal, in welcher Stimmung er war, doch heute schien er ausnahmsweise davon Abstand zu nehmen, sie zu necken und aufzuziehen. Viel zu oft behandelte er sie wie die kleine, naive Cousine, die vor einem beklagenswerten Dasein bei den barbarischen Stämmen des Nordens errettet worden war und die er zwar bezaubernd fand, wie er ihr oft genug beteuerte, die aber noch den letzten Schliff brauchte und verwöhnt werden musste.
Er langweilte sich schnell und verlangte nach neuen Anreizen, zeigte ihr von den Schönheiten ihres Geburtslandes nur die, die er sie sehen lassen wollte, und gestattete ihr nicht, auch nur einen flüchtigen Blick hinter die Fassade zu werfen. Niemand war geschickter darin, lästigen Fragen auszuweichen. Und niemand konnte unduldsamer werden, wenn ein ernstes Thema aufkam, das er nicht selbst gewählt hatte. Die Zeit in seiner vergnüglichen Gesellschaft verging schnell, und Cristi hatte schnell gelernt, dass sie seine Bedingungen akzeptieren musste. Aber seine belebende Gesellschaft, die Begeisterung darüber, dort zu sein, wo etwas los war, machten die Schattenseiten mehr als wett. Heute war Luis redselig. Sie schienen eine ganz neue, angenehme freundschaftliche Basis gefunden zu haben und miteinander umzugehen wie zwei Erwachsene, die auf der gleichen Stufe standen und sich gut verstanden. Cristi freute sich sehr darüber, vor allem weil ihr heute so aufregende, aber auch beängstigende Entdeckungen bevorstanden. »Ich weiß, dass dir das lange Warten schwer gefallen ist«, begann Luis unvermittelt, als die cafezinhos serviert waren und sie in Ruhe gelassen wurden. »Du hast bestimmt hin und wieder daran gezweifelt, dass die Angelegenheit überhaupt jemals geregelt wird.« Cristi sah ihn überrascht an. Normalerweise zuckte er nur mit den Schultern, wenn sie auf den Grund ihres Hier seins zu sprechen kam. Er hatte sich von Anfang an strikt geweigert, sich bei seinem Vater dafür zu verwenden, dass die Dinge vorangetrieben wurden, und immer behauptet, dass ihn das alles nichts angehe. »Na ja, es war manchmal frustrierend, das muss ich schon zugeben.« Cristi konnte es kaum fassen, dass sie sich so viele Wochen mit Versprechungen und Ausflüchten zufrieden gegeben hatte, ohne sich durchzusetzen. »Ich habe mich allmählich gefragt, warum ich überhaupt nach Brasilien
gekommen bin.« »Süße, du hast mittlerweile sicher begriffen, wie es hier abläuft.« Luis konnte nicht lange auf Ironie verzichten. »Es muss zu Verzögerungen und Terminverschiebungen kommen, andere dringende Angelegenheiten müssen erledigt werden, bevor man etwas Neues anfängt: Die Feiertage der Heiligen kommen dazwischen, Urlaub wird genommen, einer der wichtigen Mitstreiter ist indis poniert. Außerdem - wie wichtig kann eine Besprechung sein, die mit ein, zwei Telefonaten arrangiert werden kann?« »Das geht«, versicherte ihm Cristi. Luis schnippte spöttisch mit den Fingern. »Unseriös, amateurhaft. Aber im Ernst - diese Sache war irgendwie beunruhigend für die Familie, das siehst du doch ein.« Irgendwie beunruhigend. Er dachte an die Wut und Hys terie der Tage nach dem Verlesen des Testaments zurück, an die Familienbesprechungen und den fassungslosen Zorn, als offenbar wurde, dass die Klauseln nicht ange fochten werden konnten. Diese kleine Unschuld neben ihm hatte keine Ahnung. »Natürlich verstehe ich das«, versicherte Cristi. »Das ist einer der Gründe, warum ich unmöglich selbst das Thema anschneiden konnte. Ich war die Allerletzte, die das tun durfte.« Luis enthielt sich eines Kommentars. »Wegen dem, was Großvater mir hinterlassen hat... du musst gemerkt haben, dass ich unbedingt herausfinden wollte, wie ihr alle darüber denkt, und ich wollte euch sage n, dass ich sehr wohl weiß, wie ungerecht euch diese Entscheidung erscheinen muss. Um ehrlich zu sein, als ich die Nachricht von der Erbschaft erhielt, dachte ich daran, nicht herzukommen und auf meine Ansprüche zu verzichten.« Ihr entging, dass Luis' Kopf zu ihr herumzuckte. »Es muss ein Schock gewesen sein«, fuhr sie fort. »Oder habt ihr geahnt, was Großvater vorhatte?« »Unser Großvater, Süße, war nicht der Mann, der
irgendjemandem seine Absichten mitteilte, wenn es nicht unbedingt erforderlich war« Luis strengte sich an, die Bitterkeit aus seiner Stimme zu verbannen. »Ich durfte nicht vergessen, dass ihr um ihn trauert, wie ich es nicht konnte. Selbst jetzt kommt es mir vor, als wäre das eure Privatsache, etwas, was die richtige Familie betrifft, nicht mich« Ihre Aufrichtigkeit durchdrang Luis' finstere Gedanken. »Ah, querida, sicherlich war es eigenartig für dich«, rief er mit unerzwungenem Mitgefühl aus, »unter diesen Umständen zurückzukommen und so viele unbekannte Verwandte zu treffen, nachdem du so weit entfernt aufgewachsen bist« »Das war es nicht so sehr« Cristi war dankbar, endlich darüber sprechen zu können, wie sie fühlte. »Mir hat viel mehr ausgemacht, dass ich nicht über die wichtigen Dinge reden konnte und ständig gegen eine Mauer des Schweigens stieß. Das Schlimmste war, dass ich nicht nach meiner Mutter fragen konnte, obwohl ich so gern mehr über sie erfahren würde. Wenn ich die Geschichte, wie die Familie sie erlebt hat, gehört hätte... Für mich war es das Wichtigste, etwas über sie heraus zufinden wohin sie gegangen und was aus ihr geworden ist. Die Hoffnung, sie zu sehen, ließ ich erst gar nicht aufkommen.« »Aber du hast akzeptiert, dass niemand weiß, wo sie ist, oder?« Luis merkte selbst, dass diese Erwiderung zu |schroff klang, und er milderte seinen Ton ab. »Ich kann dir nachfühlen, dass du etwas über sie in Erfahrung bringen möchtest, doch leider haben wir nie wieder etwas von ihr gehört.« Cristi nickte. Sie hatte in den vergangenen Wochen genügend Zeit gehabt, sich damit abzufinden. Sie verdrängte den Schmerz über den Verlust, den dieser Gedanke mit sich brachte, und nahm den Gesprächsfaden wieder auf. »Wann immer ich an die Ranch dachte, war es mir ein Bedürfnis zu erfahren, was für ein Mensch Großvater war und was ihn dazu brachte, eine solche Entscheidung zu fällen. Einerseits wurde mir gesagt, dass ich zur Familie gehöre und
mein Platz hier ist, andererseits wurde nie ein Wort über die wichtigen Dinge verloren.« Luis nickte verständnisvoll, zuckte aber gleich danach mit den Schultern. »Mir ist klar, dass das verwirrend ist«, gab er zu, »aber so ist es hier üblich. In Familien wie der unseren stehen Zurückhaltung und gutes Benehmen an erster Stelle - oder, um es zynisch auszudrücken, der äußere Schein.« Im kleineren Kreis hat es kaum Zur ückhaltung gege ben, dachte er und verzog den Mund. »Das respektiere ich selbstverständlich«, entgegnete Cristi. »Doch manchmal habe ich mich komisch gefühlt...« Einsam und allein, hätte sie hinzufügen können. »So viele Wochen sind verstrichen, und ich schien seit meiner Ankunft niemandem näher gekommen zu sein. Daheim ...« Sie stockte, weil dieses eine Wort einen Sturm an Heimweh freisetzte, »... daheim sprechen wir über alles, was geschieht. Und insbesondere, wenn jemand aus der Familie betroffen ist.« Cristi schwieg. Sie war mit niemandem aus Drumveyn verwandt, und deshalb gehörte sie genau genommen überhaupt nicht zur Familie. Ein unerträglicher Gedanke. »Cristi.« Anders als der Rest der Familie, behielt Luis ihren verkürzten Namen bei, auch wenn sie sich in Portugiesisch unterhielten. »Du kannst dir vorstellen, dass eine Menge Emotionen im Spiel sind. Niemand hatte auch nur einen blassen Schimmer von Großvaters Vorhaben. Zudem«, wieder ein Schulterzucken, »ist in der Vergangenheit vieles geschehen, worüber man nur schwer sprechen kann. Und - entschuldige, wenn ich das sage - wir kennen dich noch nicht lange« »Ich weiß« So endlos ihr diese Wochen auch erschie nen waren, hatte Luis natürlich Recht. »Aber was ist in der Vergangenheit geschehen? Das darf ich doch fragen, oder nicht? Mir kommt das alles sehr geheimnisvoll vor. Ich bin daran gewöhnt, offen über alles zu sprechen.«
»Nun ja, wo soll ich anfangen?« Luis wirkte nachdenk lich, und er wog augenscheinlich ab, was er sagen konnte und was nicht, aber er hatte ihre Frage wenigstens nicht beiseite gewischt. »Alles ist auf Großvater zurückzuführen«, erklärte er nach einer Weile. »So viel wirst du selbst schon begriffen haben. Er war ein herrischer, strenger, unnachgiebiger Mann, und am Ende seines Lebens lag er mit allen Freunden, die er jemals hatte, im Streit, auch mit allen Familienmitgliedern übrigens. In den letzten Jahren hat er sich geweigert, Campo Novo zu verlassen, und er lebte dort praktisch wie ein Einsiedler.« »Er hat mit Tio Joäo gestritten?« »Ja, vor Jahren, deshalb hat Joäo ein neues Leben in Kalifornien angefangen.« »Und beschlossen, nicht zu den Besprechungen wegen des Testamentes herzukommen ?« Obwohl sich Cristi das selbst nicht so recht eingestehen wollte, hegte sie den vagen Verdacht, dass der ältere Onkel mit Justina in Verbindung stand. Es war ein Schock für sie, dass er nun doch nicht nach Rio kam, nachdem er etliche Male seine Absichten geändert hatte. Stimmte das alles überhaupt? überlegte sie plötzlich. Oder war dieses Hin und Her nur eine Erfindung, die Joachims Zwecken diente? Kein angenehmer Gedanke. »Joäo ist offenbar der Ansicht, dass er sich ganz gut über Wasser halten kann, auch ohne sich um solche Bana litäten zu kümmern« Die spöttische Bemerkung hatte einen Unterton, der Cristi stutzig machte. Aber sie wusste, was Luis meinte. Niemand schien finanziell unter den Ränken und Intrigen des Großvaters gelitten zu haben, und die Familie hatte beträchtliche Kapitalanlagen zuge sprochen bekommen, auch wenn ihr, Cristi, die Ranch und das viel Geld zugefallen waren. »Aber die Auseinandersetzungen mit Großvater haben nicht nur unseren Onkel von hier fortgetrieben«, erzählte Luis weiter. »Es gibt Gründe, warum deine Mutter weggegangen ist, und ich
nehme an, aus denselben Gründen hat sie auch nie einen Versuch unternommen, sich wieder zu melden« »Ich dachte, sie ist meinetwegen verschwunden« Es war die niemals zuvor geäußerte Angst eines Kindes, die wie aus dem Nichts kam, vermutete Luis. Die Worte rührten ihn an, und seine Miene verriet, als er sich zu ihr drehte, mehr Mitleid, als er sich gewöhnlich gestattete. »Cristi, so war das nicht. Es gab vieles, was sie von hier vertrieb. Die Kämpfe begannen schon lange vor deiner Geburt. Soviel ich gehört habe, war deine Mutter von allen Großvater am ähnlichsten, und sie stritten wegen jeder Kleinigkeit. Sie war angeblich ein temperamentvolles, eigensinniges Mädchen, das sich ihm ständig widersetzte. Insbesondere ihr Glaube war ein Zankapfel« Es war sicherer, das ins Feld zu führen und die anderen Geschichten unerwähnt zu lassen. »Das wusste ich nicht«, gestand Cristi. »Ich wurde in eine Klosterschule geschickt, aber ich erinnere mich nicht, dass zu Hause über Religion gesprochen wurde. Ich wurde natürlich nicht als Katholikin erzogen. Ich habe bei meiner Ankunft überlegt, ob das eine Rolle spielt, doch es scheint nicht so zu sein. Zumindest hat nie mand etwas gesagt.« Sylvia ging sonntags in die Messe, Gabriela noch öfter, aber soweit Cristi es beobachten konnte, schien sonst niemand seinen Glauben zu praktizieren. »Ah, andere Zeiten, andere Sitten«, wandelte Luis das Sprichwort ab. Er fand es opportun, diesen Punkt nicht näher zu erörtern. »Aber da wir schon von Großvater sprechen und auf dem Weg zur Ranch sind, sollte ich dir eine Ahnung von dem vermitteln, was du dort vorfinden wirst, meinst du nicht? Ich möchte nicht, dass du mit lauter falschen Hoffnungen ankommst« Das sardonische Glitzern in den Augen war wieder da, doch Cristi störte das nicht. Sie waren auf dem Weg zur Estancia dos Tres Pinheiros. Der Ranch der drei Pinien. Es war eine Estancia,
keine fazenda, wie man ihr erklärt hatte, weil dies Gaucho-Land war, und auf der Ranch wurden Pferde und Rinder gezüchtet. Und jetzt gehörte sie ihr. Sie begriff es immer noch nic ht ganz. Tatsächlich war ihr die Idee, Ranchbesitzerin zu sein, in der langen Wartezeit immer fremder vorgekommen. Aber bald würde sie die Ranch sehen. Cristi holte bebend Luft. »Die Anwälte haben mich vorgewarnt«, rief sie Luis ins Gedächtnis und bemühte sich, sich zu beruhigen. »Sie haben mir geschildert, wie heruntergekommen sie ist und wie wenig sie produziert.« Die erste Besprechung hatte stundenlang gedauert und Cristi eine schlaflose Nacht bereitet. Die Größenordnung ihrer Erbschaft und die Verantwortung, die sie mit sich brachte, hatten sie überwältigt. Man hatte ihr Stapel von Dokumenten vorgelegt; die meisten davon waren in einem pompösen, archaischen Portugiesisch abgefasst, sodass sie Mühe hatte, sie zu verstehen. Obwohl ihr von Anfang an klar gewesen war - so viel hatte ihr Joachim gesagt, um weitere Fragen abzuwenden -, dass der Betrieb auf der Ranch aufrechterhalten wurde, Rechnungen beglichen und Angestellte bezahlt werden mussten, war ihr zu Mute gewesen, als hätte das nicht das Geringste mit ihr zu tun. Aber bei der förmlichen und ausführlichen Unterredung mit den Anwälten war ihr die Realität zu Bewusstsein gekommen. Sie fühlte sich mit einem Mal ganz jung, verletzlich und eingeschüchtert und wünschte verzweifelt, Archie oder Tom könnten bei ihr sein und sie mit ihrer Erfahrung und Klugheit unterstützen. Dennoch hatte sie sich danach nicht getraut, einen von ihnen anzurufen, weil sie wusste, dass sie ihnen niemals würde verheimlichen können, wie verängstigt sie war. »Ja, ich fürchte, das Land hat sehr unter dem gelitten, was man ausbeuterische Bewirtschaftung nennt«, erklärte Luis ernst. »Man hat ihm nie etwas zurückgege ben. Aber die Probleme
gehen noch tiefer. Unser verehrter Großvater war ein Dickschädel. Er hatte seine eigenen Ansichten und seine Art, die Dinge zu handhaben; etwas anderes ließ er niemals gelten.« Luis merkte selbst, dass der Zorn aus ihm sprach; er nahm sich zusammen. »Er war von der Vergangenheit besessen, von der Vergangenheit der gauchos. Er wollte die alten Sit ten und Traditionen, die Geschichte, Musik, Poesie, Tänze, Kleidung und Gebräuche bewahren. Er wollte diese Traditionen nicht nur erhalten, sondern auch danach leben, so überkommen sie auch waren. Und er zwang alle, die ihn umgaben, dasselbe zu tun. Dieses Ziel verfolgte er geradezu fana tisch. Er lehnte Fortschritt in jeder Form ab, und das Land, die Arbeitsmethoden, die Gebäude - alles war im Netz der Vergangenheit gefangen, und er verlor mit jedem Jahr mehr Geld...« Luis brach abrupt ab und wandte das Gesicht ab. Sie würde alles noch früh genug sehen. Cristi, die fasziniert und froh war, endlich Dinge zu erfahren, die man ihr so lange vorenthalten hatte, ahnte nicht, wie groß sein Zorn war. »Ich nehme an, eine Menge Leute wehren sich gegen Modernisierungen«, räumte sie nachsichtig ein. »In Drumveyn war es genauso, als Archies Vater noch lebte.« Deus, sie war wirklich naiv. »Das stimmt, aber selbst die ganz Alten sind wohl kaum im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts stehen geblieben.« »Des neunzehnten?« Er nickte. »Der Gaucho war damals eine heroische Gestalt, kein Überbleibsel einer mittlerweile überkommenen Lebensart wie heute. Er war ein stolzer, tüchtiger, mutiger Mann, doch er stellte keine großen Ansprüche. Er verlangte nicht mehr vom Leben als ein Pferd, sein Gewehr und die Freiheit. Oh, und eine Frau vielleicht, aber das andere war ihm wichtiger. Er ernährte sich einfach, trug farblose Kleidung, es sei denn, er wollte eine politische Zugehörigkeit auszudrücken, und war immun gegen
die Versuchungen des Fortschritts.« »Das klingt idealistisch, jedoch nicht durch und durch unvernünftig«, erwiderte Cristi; ihr missfiel die Verachtung, die Luis an den Tag legte. Er war nicht im Stande, die Wut zu kaschieren, die jedes Mal in ihm hoch kochte, wenn er an den Lebensstil seines Großvaters dachte. Und er ärgerte sich über sich selbst, weil er seine Gefühle zeigte. Das gehörte nicht zu ihrem Plan. Er zwang sich zu einem unbekümmerten Ton, als er fortfuhr: »Ento, vamos ver. Wir sind bald da, dann siehst du es selbst.« Cristi hatte nichts dagegen, dass er das Thema fallen ließ. Sie brauchte Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen und das weite, menschenleere Land zu betrachten, über das sie hinwegflogen die endlosen Wälder und die rote Erde. Der Moment, über den sie bisher mit niemandem gesprochen hatte, rückte möglicherweise näher - die Realisierung einer Hoffnung, die sie seit dem Augenblick hegte, in dem sie gewusst hatte, dass sie herkommen würde. Die Sehnsucht, irgend etwas über ihre Mutter herauszufinden, war mit Schmerz verbunden, der sich noch verstärkt hatte, als sie begriffen hatte, dass Justina für die Fonseca-Familie ein Tabu war. Aber vielleicht gab es ja auf der Ranch jemanden, der sie gekannt hatte. Isaura, die sich seit dem Tag ihrer Geburt um Cristi gekümmert hatte, war die Tochter eines Vorarbeiters auf Tres Pinheiros gewesen. Und Isaura war, soweit Cristi wusste, nach Campo Novo zurückgegangen, nachdem Justina und Howard ihren Haushalt aufgelöst, Cristi zu Lisa geschickt und sich davongemacht hatten. Es war ein aufregender Gedanke, dass Isaura da sein und ihr mehr von dem, was sie wissen wollte, erzählen könnte. Cristi verschwieg Luis diese Hoffnung. Gleichgültig, wie zugänglich er ihr heute auch erschien - sie wusste, dass sie auf diesem Gebiet sehr vorsichtig sein musste. Unbewusst suchte sie Zuflucht in den Gedanken an zu Hause.
Wie so oft fiel ihr als Erstes Madeleine ein, vielleicht weil sie die Erste in Drumveyn gewesen war, die sie als Kind unter ihre Fittiche genommen und sie umsorgt hatte. Dann sah sie die anderen geliebten Gesichter vor sich. Sie schloss die Augen und gab sich ihren Träumereien hin. Was wäre gewesen, wenn sie nicht nach Brasilien gekommen wäre? Wie würde ihr Leben jetzt aussehen, wenn sie ihrem Vorhaben gefolgt wäre und das reizvolle Angebot, zusammen mit Maggie in dem Atelier an der Royal Mile zu arbeiten, angenommen hätte? Die Lust, genau das zu tun, überkam sie plötzlich mit Macht. Dort hätte sie ihr Leben im Griff, könnte kreativ sein, mit den Händen arbeiten und ihre Talente nutzen. Obwohl sich weder Isa noch Torie in Edinburgh aufhielt, hätte sie dort genügend andere Freunde, und sie sehnte sich nach ihrer Gesellschaft, dem Lachen, der Freiheit, die sie immer für selbstverständlich angesehen hatten, wenn sie durch die Altstadt gezogen waren. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Bilder von zu Hause heraufzubeschwören, denn so sehr sie sich auch bemühte, ihre Aufmerksamkeit kehrte sofort wieder zu dem wunden Punkt zurück - zu der Neuigkeit, die sie unterschwellig beschäftigte, seit sie Paulys letzten Brief gelesen hatte. Dougal war jetzt Besitzer des Ellig- Hauses. Sie hatten ihm den Schlüssel feierlich überreicht und eine Party in der Scheune gefeiert, und Cristi war nicht dabei gewesen. Noch schmerzlicher als die Tatsache, ein solches Ereignis versäumt zu haben, war das Wis sen, dass sich Dougals Leben so entscheidend weiterent wickelt hatte und dass sie nicht daran teilhaben konnte. Sie war hin- und hergerissen, als sie den Brief las. Dass sich Dougal im Glen endgültig niedergelassen hatte und sie nicht mehr befürchten musste, dass er eines Tages wegzog, war eine Erleichterung. Aber es war schrecklich, dass sie wegen der Launen der arroganten Fonsecas von all dem Neuen
ausgeschlossen war. Sie riss sich beschämt zusammen. Ihr war so viel in den Schoß gefallen, und trotzdem sehnte sie sich nach mehr - das war ungehörig. Doch obwohl sie freudige Erregung empfand, als die baldige Landung in Campo Novo ange kündigt wurde, erschienen ihr plötzlich ihre neuen Besitztümer als eine erschreckend schwere Bürde.
16. Kapitel Cristis erster Eindruck von der Stadt Campo Novo war, dass die Häuser mitten ins Nichts gestellt worden waren. Die Stadt befand sich auf einem großen Plateau in den südlichen Bergen von Brasilien, wo die Wälder des Nordens in die Grasflächen des Rio Grade do Sul übergingen. Als sie aus dem Flugzeug stiegen, schlug Cristi eine erfrischende Luft entgegen, die die tropische Hitze von Rio vergessen ließ. Ein paar weiße Flughafengebäude, eine Hand voll Menschen und - was sie ein wenig überraschte - jemand, der Luis willkommen hieß und sie lächelnd begrüßte. Ein schweres allradgetriebenes Fahrzeug wartete auf sie. Als Cristi die wunderbare frische Luft in sich einsog und zum ersten Mal den scharfen Geruch des roten Staubs in die Nase bekam, wurde sie sich lebhaft bewusst, dass sie in einem anderen Teil Brasiliens war, den sie noch nicht kannte. Ein grauhaariger alter Mann schwarzer Herkunft kümmerte sich hinkend um das Gepäck. Er trug ausgewasche ne, grau gestreifte bombachas, die bauschigen Gaucho-Hosen, und ausgefranste Überreste von Sandalen mit Hanfsohlen. Er sah nicht aus wie ein Träger. Luis nahm dem alten Mann die Jeep-Schlüssel ab, und Cristi hätte ihn gern gebeten, direkt zur Ranch zu fahren. Aber dies war Brasilien. Kein Mensch fuhr direkt und sofort irgendwohin. Zudem war Zeit für das Mittagessen, und Luis hatte erklärt, dass das Ranchhaus geschlossen war, also gab es dort nichts für sie.
Cristi würde sich noch eine Weile gedulden müssen. Während Luis durch die Stadt flitzte, sah sie, dass die modernen Hochhäuser im Zentrum schäbig und unge pflegt waren. Die Kirche war zu bombastisch für die Umgebung, etliche bescheidenere Behausungen reihten sich ungeordnet an die Straßen, die schon bald in Feldwege mündeten. Die Breite der Hauptstraße, an der lauter staubige Pick-ups und Autos schräg zum Gehsteig parkten, erstaunte sie. »Warum ist die Straße so breit«, wollte sie wissen. Luis zog die Augenbrauen hoch. »Komm schon, Cristi, denk nach. Jetzt, da du hier bist, musst du an die Rinderherden denken. Hier sind die Rinder sozusagen das Wichtigste; sie stehen an erster Stelle. Na ja, es gibt auch Maultierherden, um genau zu sein. Dies ist die Hauptstraße. Ich kann dir Fotos von früher zeigen, da ist die Straße ungeteert und mit hölzernen Gehsteigen gesäumt - genau wie in den Western. Aber wir sind sehr bestrebt, mit der Zeit zu gehen, wie du siehst.« Er deutete geringschätzig auf die Flachglasfenster, die kreuz und quer hängenden Reklameschilder, den schäbigen Supermarkt. Cristi schaute sich um - das alles sah nicht gerade aus, als wäre es auf der Höhe der Zeit. »Wenigstens hat sich dieser Teil der Stadt nicht allzu sehr verändert«, bemerkte Luis, als er in eine dreispurige, von Bäumen überschattete Straße mit hübschen Gebäuden im Kolonialstil und gepflegten Gärten einbog. »Oh, das ist wunderschön«, rief Cristi aus. »Hm«, brummte Luis und behielt seine Gedanken für sich. Das Haus, in dem ihr Großvater gewohnt hatte, wenn er sich nicht auf der Ranch aufgehalten hatte, gehörte zu Tres Pinheiros und war daher Teil von Cristis Erbe. Luis stellte den Jeep auf der Straße ab, und sie gingen über den Weg, über den die Orangenbäume ihre Äste aus streckten, zu dem hellrosa gestrichenen Haus und die blendend weißen Stufen
hinauf. Ein älteres Hausmädchen öffnete ihnen lächelnd die Tür. Cristi musste daran denken, dass Archie Vorjahren einmal hier gewesen war, um ihren Großvater zu überreden, sie wieder in der Fonseca-Familie aufzunehmen. Das Innere des Hauses war scheußlich. Dunkle, kleine Zimmer waren mit riesigen Möbeln voll gestopft, die dunklen Samtvorhänge an den Fenstern waren zurückge schlagen und ließen den Blick auf dicke Spitzengardinen und halb geschlossene Läden frei. Die Luft war abgestanden und roch nach alten Stoffen und Moder. Das Schlafzimmer, das man für Cristi hergerichtet hatte, schien mit unendlich vielen Lagen Stoff drapiert zu sein, so dass sich Cristi vorkam, als hätte man sie in eine Truhe auf dem Dachboden gesteckt. Das Bett war hart wie ein Brett, und sie überlegte lieber gar nicht erst, wer da schon alles drin gelegen hatte. Alles war makellos sauber, doch die Armaturen in dem winzigen Bad waren antiquiert und funktionierten nur unter lautem Protest. Ein Hauch von etwas, was besser nicht genauer spezifiziert werden sollte, wurde nur unzureichend von dem widerlich süßen Geruch von Verbenen überdeckt. Das Bidet hatte gar keine Wasserhähne und war auch nicht an den Ablauf angeschlossen. Sehr originell. Komische Vorstellung, dass das Haus ihr Eigentum war, irreal, sogar ziemlich abstoßend. Cristi schauderte, als sie sich eilends frisch machte. In dieser Höhenlage hatte der Frühling noch kaum Einzug gehalten, und es war relativ kühl. Luis erwartete sie in dem düsteren Speisezimmer, und zwei Hausmädchen vollzogen ein bedächtiges Ritual, als sie ihnen eine schlichte Mahlzeit servierten. Trotz des edlen Silbers, der feinen Gläser, Fingerschalen und gestärkten cremefarbenen Leinenservietten gab es nur perfekt gegarten Reis und Bohnene intopf. Luis beobachtete mit funkelnden Augen, wie Cristi das Gericht inspizierte.
»Ich hoffe, es schmeckt dir, Süße, denn wenn du keine drastischen Maßnahmen ergreifst - wobei du wahr scheinlich die gesamte Dienerschaft verlieren würdest -, wirst du das jeden Tag aufgetischt bekommen. Feijdo, das Standardessen der Gauchos. Es heißt, dass dieser Eintopf ein vorzüglicher Eiweißlieferant sein soll, falls dir das ein Trost ist.« »Danke«, erwiderte Cristi gefasst. »Zufällig schmeckt es mir tatsächlich ganz gut« Na ja, es war ihr nicht gerade zuwider. Sie war dazu verdammt zu warten, während Luis die obligatorische Siesta hielt. Ihre Sachen waren bereits ausgepackt, und Cristi setzte sich hin, um einen Brief an Torie zu schreiben, aber sie war zu aufgeregt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr standen unge heuerliche Entdeckungen bevor, und die eine Frage, die alle anderen begleitete, machte es ihr unmöglich, sich zu konzentrieren. Hier in diesem Haus könnte es jemanden geben, der ihre Mutter und vielleicht auc h Isaura gekannt hatte. Aber die Fonseca-Aura war zu stark. Cristi würde keine Fragen stellen, solange Luis hier war. Ein Klopfen an der Tür schreckte sie auf - es war Luis, der zum Glück bereit zum Aufbruch war. »Prima!«, rief sie. »Ich wäre wahnsinnig ge worden, wenn ich noch länger hätte warten müssen« Es war lieb von ihm, dass er seine Siesta derart abge kürzt hatte. Es war lieb von ihm, dass er überhaupt mit ihr hergeflogen war und ihr so viel seiner Zeit opferte, die er in Rio vergnüglicher hätte verbringen können. Wie anders wären ihre Ankunft in Brasilien und die Wochen der Verzögerung ohne ihn verlaufen? Cristi strahlte ihn dankbar an und fühlte sich ihm näher als jemals zuvor. Sie umfasste seinen Arm mit beiden Händen. »O Luis, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, Tres Pinheiros endlich zu sehen.« »Das ist wirklich ganz neu für mich« Er lächelte und strich mit den Fingerspitzen leicht über ihre Wange. Was für ein leidenschaftliches kleines Geschöpf sie doch war mit ihrer
Aufrichtigkeit und ihrem guten Willen! Und aufgrund ihrer Warmherzigkeit war sie noch schöner als seine Tante Justina. »Ich hatte ehrlich schon Angst, dass du mich bis morgen warten lässt«, bekannte Cristi, als sie durch den Vorgarten gingen. »So viel Mut traust du mir zu? Du hättest bestimmt ein Taxi bestellt oder ein Pferd gefunden - egal, wie, du wärst auf die Ranch gekommen« Er half ihr beim Einsteigen und ging auf die Fahrerseite. Cristi betrachtete ihn genauer. Sie war regelrecht erschrocken, als er an ihre Tür geklopft hatte. Sein Stadtlook war dahin. Er trug eine schwarze Hose und einen Gürtel mit Emblem auf der silbernen Schnalle, dazu ein dickes weißes Baumwollhemd mit offenem Kragen. In der Hand hielt er einen schwarzen, flachen Hut mit breiter Krempe. Er war schlank, drahtig, schien voller Energie zu sein und sah umwerfend aus. Luis bemerkte ihren Blick und grinste insgeheim. »Wusstest du nicht, dass ich hier echte Heimatluft atme?«, neckte er sie. »Du dachtest doch nicht, dass ich ein carioca bin?« Ein in Rio Geborener. Ja, davon war sie ausgegangen, obwohl er jetzt im Süden lebte. Luis' Lächeln wurde breiter, als er den Jeep durch die menschenleere Straße lenkte. »Ich kann dir versichern, dass ich als Gaucho geboren und erzogen wurde. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, mich in der Hauptstadt der Gauchos, in Porto Allegre, niederzulassen. Als Junge war ich so oft wie nur möglich auf Tres Pinheiros.« Seine Miene verfinsterte sich. »Ich habe euch immer so sehr beneidet« Cristi seufzte. »Man hat mir damals erzählt, dass meine Cousins und Cousinen viel reiten, zu Rodeos gehen und churasco essen, und es war schlimm für mich, dass ich das nicht erleben durfte.« Isaura hatte ihr diese Geschichten erzählt. Vielleicht war Isaura ja ganz in der Nähe. Luis sah Cristi stirnrunzelnd an. Hatte sie von all dem
anderen nichts gehört? Hatte sie immer noch nicht begriffen, dass die Familie Justina ganz und gar verstoßen hatte? Für Cristi hatte in der Kindheit nie die geringste Chance bestanden, jemals hierher zu kommen. Aber es war klüger, heute die Schatten der Vergangenheit ruhen zu lassen. »Du weißt, dass du hier deine Wurzeln hast.« Mehr sagte er nicht dazu. »Obwohl das Haus in Rio schon seit einigen Generationen im Familienbesitz ist und Großva ter - genau wie mein Vater und mein Onkel - in Rio eine britische Schule besucht hat, ist der Süden unsere wahre Heimat. Hat man dir das nicht beigebracht?« Niemand hatte Tres Pinheiros mehr geliebt als Justina. »Meine Mutter hat mit mir nie über ihre Kindheit gesprochen.« Oder über etwas anderes. »Sie hat in ihrer Jugend mehr Zeit hier verbracht als ihre Brüder und war angeblich eine ausgezeichnete Reiterin. Ja, deine Wurzeln sind hier, und da du als Kind nie auf die Ranch kommen durftest, betrachte ich es als Ehre, derjenige zu sein, der dich schließlich herbringt« Es war eine reine Höflichkeitsfloskel, und der Ausdruck in seinen Augen passte nicht dazu, aber Cristi nahm seine Worte für bare Münze und strahlte über das ganze Gesicht. Nicht zum ersten Mal verwirrte sie Luis mit ihrer Unvoreingenommenheit. Normalerweise war das keine Eigenschaft, die ihn sehr beeindruckte. Die Bereitschaft, immer nur das Beste in allem zu sehen, kam ihm kindisch und naiv vor. Aber es erleichterte ihm den Umgang mit ihr beträchtlich, und ihr Lächeln war warmherzig und bezaubernd. Er wollte sie wirklich nicht verletzen. Sie ließen die letzten Hütten der Stadt mit den grob eingezäunten Gärten hinter sich, in denen Kürbisse, Süßkartoffeln und vielleicht ein bisschen Mais angebaut wurde. Die Straße führte über eine verwitterte, überdachte Holzbrücke, und Cristi hätte am liebsten nach ihrem Skizzenblock gegriffen. Die Brücke überspannte eine tiefe Schlucht, und dahinter ging es
steil bergauf. Die Straßenränder waren abgebröckelt, und die vom Regen ausgewaschenen, steinigen Gräben auf beiden Seiten machten jede Kurve gefährlich. »Ist dies eine öffentliche Straße«, erkundigte sich Cristi und hielt sich am Armaturenbrett fest. Luis lachte. »Sie führt zu drei Ranches. Früher sind die Rinderherden von weiter entfernt liegenden Ranches über diese Straße getrieben worden.« Cristi hörte ihm gar nicht mehr zu. Nach dem Anstieg bot sich ihr ein dramatischer Ausblick, der jeden in seinen Bann gezogen hätte. Die rote Straße, die nicht mehr asphaltie rt war, wand sich durch weites Weideland, das mit Pinienwäldchen und Felsen durchsetzt und von Schluchten durchschnitten war. Am tiefblauen, unend lich weiten Himmel zogen drei große Vögel träge ihre Kreise. »O Luis, bitte, bleib einen Moment stehen, bitte. Das ist ja sagenhaft!« Luis bremste ergeben ab. Er hasste es zwar, aufgehalten zu werden, wenn er sich etwas vorgenommen hatte, aber wer hätte solchem Flehen widerstehen können? »Was sind das für riesige schwarz-weiße Vögel?« »Gaucho-Adler. Wie du siehst, befolgen sie die Regeln des Purismus - sie verschmähen jede Farbe.« »Heißen sie wirklich so?« Ein Schulterzucken. »Vielleicht.« Cristi lachte und wandte sich voller Begeisterung zu ihm. »Luis, es ist fantastisch, ehrlich. So hatte ich es mir nicht vorgestellt.« Sie fragte sich, was sie eigentlich erwartet hatte, als Luis, den die schöne Aussicht rasch langweilte, weiterfuhr. Nicht viel. Es war eine Schande, dass sie so wenig über ihr großes, vielschichtiges Geburtsland wusste. Aber ihr fiel auf, wie natürlich sie dies alles als Heimat
bezeichnete. Spiegelte das ihre wahren Gefühle wider? »Das ist alles Tres Pinheiros-Land«, erklärte Luis, und Cristi starrte zu den entfernten Hügeln, auf die er deutete. Das meinte er nicht ernst, Luis musste sich irren. Nach fünf Meilen kamen sie zu einem Tor, in dessen Querbalken das Zeichen der Ranch - die drei Pinien - geschnitzt war. Es war dasselbe Emblem, das Luis' Gür telschnalle zierte. Luis stieg aus, um das Tor zu öffnen. »Wie du siehst, hat Großvater ein elektrisches Gatter als unnötigen Luxus erachtet«, bemerkte er schneidend, als sie das Tor passierten. »Aber er hatte einen Vorarbeiter, der vorauslief, wenn er von daheim wegfuhr, und ihm das Tor öffnete. Und wenn er wieder nach Hause kam und zu faul war, das Tor selbst aufzumachen, feuerte er einen Schuss ab, damit jemand herbeirannte. Er wartete solange im Auto« »Das glaube ich nicht. Und hier fängt das Land der Ranch wirklich an, oder?«, fragte Cristi. Der Weg wand sich durch Weideland am Fuß eines Hügels, der von flachwipfeligen Parana-Pinien gekrönt war. »Du hast mich vorhin aufgezogen, stimmts?« »Nein, ich schwöre, dass ich das nicht getan habe.« Luis schien ebenso zufrieden wie amüsiert zu sein. »Wir befinden uns, fast seit wir die Stadt verlassen haben, auf der Ranch. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, Kleines« Ja, aber das ist noch lange kein Grund, so herablassend zu sein, Großer. Zu Drumveyn gehört auch der eine oder andere Hektar. Doch jetzt war nicht die Zeit, Vergleiche zu ziehen. Sie kamen auf eine Eukalyptus-Allee. Das Flechtwerk der schmalen Blätter warf ein leicht bewegliches Muster auf den roten Weg. Vor ihnen befand sich ein hohes Bogentor aus silbrigem Holz in einer Mauer - noch eine flüchtige Erinnerung an zu Hause. Luis drückte auf die Hupe, und eine Gestalt in einem schäbigen Poncho erschien und zog das Tor ein Stückchen auf. »Das verdammte Ding fällt bald ein«, brummte Luis und
blieb vor dem Tor stehen. »Wie alles andere auch. Old, Enrico, tudo bem ?« »Bern, bem, obrigado, Don Luis. Boa tarde, senhorita, boa tarde.« Enrico war zaund ürr und dunkelhäutig; er verbeugte sich strahlend vor Cristi und versicherte Luis hastig, dass das Haus hergerichtet und alles vorbereitet sei. Cristi überlegte, was man den Angestellten der Ranch gesagt haben mochte. Hier konnte man nie wissen. Noch eine andere Frage beschäftigte sie. Hatte Enrico ihre Mutter gekannt? Schmerzliche Enthüllungen schienen plötzlich unmittelbar bevorzustehen. Etwas an dem alten Mann fiel ihr auf und erinnerte an den grauhaarigen Schwarzen, der sich auf dem Flughafen um das Gepäck gekümmert hatte. Aber das musste warten; es gab zu vieles, was jetzt bedacht werden musste. »Komm, Cristi.« Luis führte sie über einen gepflasterten Weg, der sich durch eine Rasenfläche mit rauhem Gras schlängelte. Cristi sah ein einstöckiges Haus mit graublauen Fensterläden und apricotfarbenem Ziegeldach, das über eine Veranda reichte, um deren Pfeiler sich Kletterrosen rankten. Luis winkte sie weiter durch eine schmale Tür. Die quadratische Halle war sehr schlicht, aber gleich in der ersten Sekunde verliebte sich Cristi in den Raum. Die breiten honigfarbenen Bodendielen schimmerten, so gründlich waren sie geschrubbt und poliert worden. Da war ein offener Kamin mit gemauerter Einfassung - davor ein Korb mit dicken Pinienscheiten und rechts und links zwei schöne Ohrensessel. Ein Sofa mit Bambusrohrlehne stand an der gegenüberliegenden Wand, daneben und davor geschnitzte, dunkle Tische. Cristi war bezaubert von der funktionellen Einheit des Raumes und dem starken Eindruck, dass alles von Hand - vielleicht sogar hier hergestellt und über Jahre hinweg liebevoll gepflegt worden war. »Luis, das ist vollkommen!«
»Findest du?« Luis schien der Ansicht zu sein, dass ihr Enthusiasmus übertrieben war. »Gut, dass es dir gefällt; es ist nämlich das einzige Wohnzimmer hier. Wie du siehst, führt nicht nur die Haustür direkt hier herein, durch die der Pampeiro, der Wind aus dem Süden, manchmal so heftig pfeift, dass die Lampen umfallen und die Bilder von den Wänden gefegt werden, sondern von hier aus kommt man auch in die beiden Schlafzimmer und in den Korridor, über den man den Rest des Hauses erreichen kann.« »Darf ich mir alles ansehen?« Das meiste von dem, was Luis sagte, bekam Cristi gar nicht mit. In Luis' Gesicht wechselte sich ärgerliche Verachtung, die er nicht unterdrücken konnte, mit widerwilligem Wohlwollen für ihre Begeisterung ab. Cristi lief in das Schlafzimmer zur Linken. Die dünne Tür war zweiflügelig mit Glasscheiben, die mit farbigem Papier beklebt waren, so dass aus der Ferne der Eindruck entstand, dass es Buntglasscheiben seien. Das Zimmer war wegen des weit vorspringenden Verandadachs und der wuchernden Rosenzweige trostlos und düster. Den meisten Platz nahm ein grässliches Bett mit hohem Kopfteil ein. War das Großvaters Bett gewesen ? Das Zimmer gegenüber hatte hingegen zwei Fenster, durch die man ein Stück des Gartens mit Magnolien- und Kamelienbäumen mit dicken Knospen sah. Es war hell und frisch mit leichten weißen Vorhängen an den Fenstern, weiß lackierten Möbeln und blauen Teppichen. »Diese wunderbaren goldenen Holzböden«, sagte Cristi zu Luis, der ihr gefolgt war und sich noch immer innerlich gegen all das wehrte. »Jacaranda-Holz«, erwiderte er knapp. Es lief nichts nach Plan. Cristi wusste sofort, dass sie in diesem Zimmer schlafen konnte. Aber sie schwieg noch und ließ sich von Luis ins Arbeitszimmer mit dem altmodischen Rollpult und den mit
Fachbüchern und Nachschlagewerken voll gestopften Regalen führen. Cristi besah sich die Bücher genaue r und war erstaunt, Haldanes Drove Roads ofScotland und The Great Glen Cattle Ranch von J. W. Hobbs sowie Beef Cattle Husbandry von Allan Fräser und A. L. Hagedoorns Animal Breeding vorzufinden. Plötzlich war sie unendlich traurig, dass sie den Mann nie gekannt hatte, der diese Bücher gesammelt, gelesen und immer wieder in ihnen geblättert hatte. Ihr Großvater, dessen Erbgut sie in sich trug. Hatte sie sich tatsächlich eingebildet, dass sie ihn irgendwie finden würde, wenn sie herkam? Dass er sie auf wundersame Weise akzeptieren würde? Luis stand am Fenster. »Großvater ließ seine Männer, sogar den Vorarbeiter und Aufseher, zu diesem Fenster kommen, wenn sie mit ihm sprechen wollten. Sie mussten anklopfen und warten, bis er Lust hatte, darauf zu reagie ren. Ich habe sie manchmal minutenlang hier stehen sehen; der Regen tropfte von ihren Hüten, und Großva ter saß an seinem Schreibtisch und las oder schrieb in aller Seelenruhe. Wenn es kalt war - und glaub mir, in dieser Höhe kann es ganz schön kalt werden -, öffnete er das Fenster gar nicht erst, sondern zwang sie zu brüllen« Cristi entschied, dass es doch nicht so traurig war, den alten Mann nicht gekannt zu haben. Im hinteren Teil des Hauses befand sich ein kahler Raum mit einem einfachen Holztisch und zwei langen Bänken. »Unser Speisezimmer«, verkündete Luis mit spöttischer Geste. »Hier wurde, ob du es glaubst oder nicht, vor jeder Mahlzeit ein Kapitel aus der Bibel vorgelesen, während das Essen vor unseren Augen immer kälter und kälter wurde - erst aus dem Alten, dann aus dem Neuen Testament und wieder von vorn.« Die große Bibel lag noch auf einem Spitzendeckchen im Regal bereit, und wieder spürte Cristi die mächtige Gegenwart des alten Mannes, der diese Bibel täglich in der Hand gehalten hatte.
Die Küche war an den rückwärtigen Teil des Hauses angebaut - Lehmboden, ein schöner, bauchiger Holzherd mit polierten Griffen und dekorativen Scharnieren. »Wie schön«, schwärmte Cristi. »Süße, du hast einen seltsamen Geschmack.« Luis klang aufgebracht. »Dieses archa ische Objekt ist das einzige, mit dessen Hilfe man Wasser erhitzen kann. Unter größter Mühe kann man ein heißes Bad vorbereiten, und soweit ich mich erinnere, kam immer nur Großvater in diesen Genuss.« Hinter der Küche befand sich noch ein Anbau mit Feue rstelle auf dem Boden. »Wozu wird dieser Anbau benutzt?« »Ich habe dir doch gesagt, dass dies das Mittelalter ist«,erwiderte Luis ärgerlich, weil Cristi so viel Interesse zeigte. »Hier versammeln sich die Rancharbeiter am Abend, kochen sich Kaffee und pla udern. Manchmal erzählen sie sich Geschichten oder singen. Als Kind habe ich mich oft hergeschlichen und zugehört, obwohl ich eigentlich im Bett liegen sollte.« Das klingt fast menschlich, dachte Cristi. »Das ganze Haus ist faszinierend und wunderschön«, erklärte sie mit Bestimmtheit, als sie den Anbau verließen und durch den Orangenhain hinunter zum Fluss gingen. Zur Rechten stand eine alte Scheune, deren Dach mit denselben Zie geln wie das Haus gedeckt war. Von dort aus überblickte man die Pferche, die Tränken und Ställe. Die Holzzäune waren mit der Zeit hell und glatt geworden. »Cristi, es ist ein primitives, heruntergekommenes Haus, und der nächste Sturm wird es vermutlich wegfe gen«, zischte Luis. Der Moment der Nostalgie war vorbei. »Ich nehme an, dir ist aufgefallen, dass es keinen elektrischen Strom, kein Telefon und keine modernen Vorzüge gibt. Ah, wir haben das Badezimmer vergessen. Komm mit« Das Bad unterschied sich, soweit Cristi sehen konnte, kaum
von dem im Stadthaus. Sie drehte den Kaltwasserhahn auf. Nach einem Gurgeln und Spucken floss Wasser von der Farbe, an die sie von Drumveyn gewöhnt war. Aus dem Heißwasserhahn kam nichts. Na und, wer brauchte schon heißes Wasser? »Ich dachte, das Haus sei geschlossen«, bemerkte sie, als sie zurück in die Halle gingen. »Aber die Betten sind bezogen, es ist gelüftet, und alles ist blitzsauber.« »Natürlich. Ich habe unser Kommen angekündigt.« Luis sah auf seine Uhr. »Aber es wohnt niemand hier, oder?« »Enrico lebt auf der Farm auf der anderen Seite der Straße, etwa eine Meile entfernt. Seine Frau hat wahr scheinlich sauber gemacht. Und wenn du die Farm heute noch sehen willst, sollten wir gehen. Ich habe heute Abend noch etwas in der Stadt zu erledigen.« Typisch Luis. Cristi vermutete, dass er, wo immer er auch war, Besprechungen hatte und Geschäfte machte - Geschäfte, über die er nicht sprach, die für ihn jedoch absolute Priorität hatten. Wie Cristi mittlerweile wusste, gab es hier in Brasilien wie überall sonst in der modernen Welt Männer, die akzeptierten, dass ihre Bedürfnisse und Interessen nicht notwendigerweise an erster Stelle standen. Luis gehörte nicht zu ihnen. Er hatte das Glück - oder vielleicht das Pech -, Überlebender einer aussterbenden Spezies von Männern zu sein, von denen niemals jemand Rücksicht verlangt hatte und an die nie lästige Anforderungen gestellt wurden. »Ich würde die Farm gern heute noch sehen, wenn es möglich ist«, erklärte Cristi. Sie hatte eigene Pläne für den Abend.
17. Kapitel Luis fuhr zurück in Richtung Straße. »Die Farm ist da unten, man kann sie von hier aus nicht sehen.« »Was sind das dann für Gebäude rund ums Haus?« »Das hat mit den gado zu tun - mit den Rindern und der Zucht.
Die Farmarbeiter kümmern sich um den Mais, die Felder und Pflanzungen und so weiter.« »Ich dachte, Großvater hätte sich nur für die Rinder und Pferdezucht interessiert und sich geweigert, Ackerbau zu betreiben?« Sie merkte, wie Luis den Kopf herumriss. Dämmerte es ihm allmählich, dass sie, die auf einem Gut in den schottischen Highlands aufgewachsen war, ein bisschen Ahnung von Landwirtschaft hatte und sich dafür interessierte? »Als er jünger war, hat er ein wenig herumexperimentiert«, antwortete Luis abwehrend. »Er hat zum Beispiel Luzerne und Klee als Winterfutter angebaut, statt die Herde jedes Jahr fast zu Tode hungern zu lassen, wie es früher üblich war.« Cristi war entsetzt über diese Vorgehensweise. »Das klingt ziemlich brutal.« Luis zuckte mit den Schultern. »So war es eben. Ich erinnere mich, dass die Stiere - meistens Zebus, aber Großvater hatte zu der Zeit auch Herefords und Kurzhornrinder - im Frühling aussahen wie Skelette. Sie lieferten miserables Fleisch, das muss ich zugeben, und waren, bis sie fünf oder sechs Jahre alt waren, nicht fett genug, um einen guten Kaufpreis zu erzielen. Und dann konnte man aus dem Fleisch nicht viel anderes zubereiten als charqne oder carne seca - in der Sonne getrocknete Streifen. Ich weiß noch genau, es war wie Schuhleder.« »Wie grauenvoll. Doch Großvater fing irgendwann an, Futterpflanzen anzubauen?« »Ich nehme an, der Markt forderte eine bessere Fleischqualität - das muss in den Sechzigerjahren gewesen sein. Mein Vater hat mir davon erzählt. Das Vier-Punkte-Programm war damals die große Sache, die von den USA in Entwicklungsländern unterstützt wurde. Großvater ließ sich von einigen amerikanischen Agrarwissenschaftlern beraten und schien kurzfristig von der Idee begeistert zu sein, die Anhöhen
zu pflügen und Eukalyptusgürtel anzupflanzen, um die Erosion zu minimieren - solche Dinge hat er ausprobiert. Danach hat er allerdings keine Neuerungen mehr eingeführt.« Luis' Stimme drückte mit jedem Wort mehr Verachtung aus. Cristi beobachtete, wie er das Gatter an der Straße öffnete, und wieder spukte ihr etwas im Kopf herum, das ihr schon die ganze Zeit keine Ruhe gelassen hatte. »Als wir in Campo Novo landeten«, bemerkte sie, als Luis einstieg, »war da ein alter Mann, der unser Gepäck getragen hat... Er gehörte nicht zum Flughafenpersonal, stimmts ?« »Alfeo ? Selbstverständlich nicht.« Luis zog die Augenbrauen hoch. »Er sah nicht danach aus, oder? Er ist Gärtner im Stadthaus. Er hat den Jeep für mich zum Flughafen gebracht.« »Und ist zu Fuß nach Hause gegangen?« Luis runzelte die Stirn; er verstand nicht, worauf Cristi hinauswollte. »Ja, er ist gegangen. Es ist nicht weit in die Stadt.« Zwei Meilen bis zum Haus, schätzte Cristi. Oder mehr. Aber offensichtlich war es undenkbar, dass Alfeo im Jeep mitfuhr. Luis hatte sich darüber lustig gemacht, dass sein Großvater den Vorarbeiter mit einem Pistolenschuss herbeigerufen hatte, nur damit er ihm das Tor öffnete. Sie sah keinen großen Unterschied zu Luis' Verhalten. Die Farm kam in Sicht - eine unansehnliche Ansammlung von Holzhäusern und Scheunen, die von frisch angepflanzten Feldern und jungen Eichen, die bereits etwas Grün zeigten, umgeben waren. Wieder drückte Luis auf die Hupe, und wieder tauchten Menschen auf und versammelten sich in dem staubigen Hof, auf dem Luis den Jeep abstellte. Luis unternahm keinen Versuch, Cristi mit den Leuten bekannt zu machen, und sie musste sich mit einem Lächeln und Kopfnicken begnügen, die bereitwillig erwidert wurden. Eines fiel ihr auf den ersten Blick auf. Alle waren im fortgeschrittenen Alter, ein oder zwei Männer sogar schon sehr alt. Das war vermutlich auf Großvaters "Weigerung,
den Fortschritt zuzulassen, zurückzuführen. Kein junger Mann würde ohne moderne Maschinen und anständige Unterkunft für eine Farm arbeiten. Hier lebten keine jungen Familien mit Kindern, die in Zukunft die Arbeit ihrer Väter übernehmen würden. Die Alten blieben hier und hielten an der Arbeitsweise fest, die sie kannten, vielleicht weil es ihnen so recht war oder weil sie, wie Cristi argwöhnte, keine Alternative hatten. War Isaura in einer dieser kleinen Hütten aufgewachsen? Erinnerten sich diese Leute an sie? Sie war den Ant worten so nahe, aber sie konnte keine Nachforschungen anstellen, wenn Luis dabei war. Zudem hatte sie mehr als genug, worüber sie nachdenken konnte. Allmählich begriff sie in vollem Umfang, was ihr da so willkürlich in die Hände gelegt worden war, und sie geriet für einen Moment fast in Panik. Jetzt war sie die Arbeitgeberin dieser Menschen. Sie bestimmte die Bedingungen, unter denen sie lebten. Und sie wusste nichts über sie, dieses Land oder diese Lebensweise. Ich bin Kunststudentin, dachte sie unmutig. Das alles fällt überhaupt nicht in mein Fach. Cristi war nervös und unsicher, als sie die Begrüßung eines Mannes erwiderte, den Luis als Leopoldo, den Verwalter, vorstellte. Ein gut gebauter Mann mit freundlichem Gesicht, ungefähr fünfzig Jahre alt. Er hieß sie höflich und herzlich auf Tres Pinheiros willkommen, aber er ließ die anderen nicht vortreten, damit sie sie kennen lernen konnte. Nicht alle Arbeiter hatten dunkle Augen und dunkle Haare, da viele Bewohner der südlichen Staaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul deutsche Vorfahren hatten. Cristi spürte die Blicke der Leute und konnte sich vorstellen, dass alle neugierig waren, wie sich diese neue Entwicklung auswirken würde. Der alte paträo, der ihr Leben beherrscht hatte, war tot, und die Ländereien gingen nicht auf einen seiner Sohne oder den Enkel über, sondern auf Justinas Tochter, und die schöne Justina war vor langer, langer
Zeit verschwunden. Cristi wollte mit ihnen reden, in eines der Häuser eingeladen werden, wusste jedoch, dass es wichtig war, vorerst noch die Form zu wahren. Sie war sehr dankbar, dass sie in den Wochen in Rio Gelegenheit gehabt hatte, ihr Portugiesisch so weit zu verbessern, dass sie Leopoldos Singsang verstand, der durch die weichen Konsonanten des Südens so fremdartig klang. Sie blieben nicht lange - Luis' Ungeduld, die Farm end lich verlassen zu können, musste allen aufgefallen sein -, aber das Entscheidende war, dass sich Cristi hatte blicken lassen und Leopoldo kennen gelernt hatte. Morgen wür de er in die Stadt kommen und an dem Treffen mit dem Kommissionär teilnehmen, der die Geschäfte von Tres Pinheiros übergangsweise geführt hatte. Als sich der Jeep der Straße näherte, wappnete sich Cristi für die bevorstehende Konfrontation. »Luis, ich denke, ich bleibe über Nacht hie.« Um ein Haar hätte sie gesagt: »Hättest du was dagegen, wenn ich bliebe?«, aber im letzten Moment war ihr einge fallen, dass sie niemanden um Erlaubnis fragen musste. Sie war kein Gast im Haus eines Fremden. Genau genommen - dieser Gedanke erhellte ihre Stimmung beträcht lich - besaß sie jetzt selbst zwei Häuser, und sie konnte sich aussuchen, in welchem sie sich aufhalten wollte. Sie brauchte sich nicht mehr nach den strengen Regeln der Fonsecas zu richten. Ein wunderbarer Moment. »Hier bleiben?« Luis war sichtlich entsetzt. »Du kannst natürlich nicht hier übernachten. Das kommt gar nicht in frage.« »Aber genau das habe ich vor.« Sie war umsichtig genug gewesen, ihm ihren Entschluss mitzuteilen, solange sie noch in der Nähe der Farm waren. Luis wäre, wenn er schon auf die Straße eingebogen wäre, einfach weitergefahren. Er versuchte, sie mit allen nur erdenklichen Einwänden von ihrem Vorhaben abzubringen. Es würde ihm nicht einfallen, sie
hier allein zu lassen, und da er für den Abend noch eine Verpflichtung hatte, konnte er nicht bleiben; es gab nichts Essbares im Haus; sie hatte ihre Sachen nicht dabei; für morgen war eine Besprechung in der Stadt angesetzt - ganz früh. Für brasilianische Verhältnisse, meint er wohl, dachte Cristi. Aber mittlerweile hatte sie gelernt, wie es in Brasilien oder zumindest in der Fonseca-Familie zuging, und sie wusste, dass alle praktischen Schwierigkeiten ohne weiteres aus dem Weg geräumt werden konnten. Aus nahmsweise hatte sie nichts dagegen, dieses System auszunutzen. Ein viel gebrauchtes Wort war aproveitar. Richtig, jetzt war sie an der Reihe, davon zu profitieren. Luis wurde böse, und zwar in einer Weise, die sie nie zuvor an ihm erlebt hatte - es war keine angenehme Erfahrung. In Wahrheit war er ausgesprochen wütend, weil der Tag ganz und gar nicht so verlaufen war, wie er es vorausgesehen hatte, und er brauchte Zeit, um seine Strategie neu zu überdenken. Cristi hatte nicht das erwartete Entsetzen über die Einsamkeit und die Primitivität des Ranch-Hauses oder den Verfall des Anwesens gezeigt. Im Gegenteil, sie war hingerissen, und diese Reaktion warf all seine Pläne über den Haufen. Jetzt benahm sie sich wie eine dieser aufdringlich forschen ausländischen Frauen, die er so sehr verabscheute, und war nicht nur unvernünftig und eigensinnig, sondern gefährdete auch noch sein Vorhaben. Bis heute hatte sie sich so fügsam verhalten was war nur in sie gefahren? Cristi war von Natur aus ein friedfertiger Mensch, doch zwei Dinge veranlassten sie dazu, an ihrem Entschluss festzuhalten das düstere Stadthaus, dessen Atmosphäre ihr gar nicht behagte, im Gegensatz zum verstaubten Charme der Ranch, der sie schon im ersten Augenblick angesprochen hatte. Das andere war etwas, was sie kaum in Worte fassen konnte - ein Instinkt, der ihr sagte, dass sie kurz vor etwas sehr Bedeutsamem stand und dass es wichtig war, sich durchzusetzen.
»Ich weiß, dass du das eigenartig findest«, erklärte sie Luis und achtete sehr darauf, dass sie gleichmütig blieb, »aber ich möchte es wirklich. Ich denke, es kann ohne allzu große Probleme arrangiert werden. Das Haus ist sauber, die Betten sind ...« Luis stieß einen portugiesischen Fluch aus, den sie nicht kannte. »Es geht nicht um Sauberkeit oder bezoge ne Betten! Es ist schlichtweg undenkbar, dass du allein hier bleibst, ein junges Mädchen ...« Eine ziemlich altmodische Ansicht, doch Cristi wusste, dass sie darüber nicht mit ihm streiten konnte. »Es ist mein Haus«, erwiderte sie ruhig. Als sie den Zorn in seinen Augen aufblitzen sah, wünschte sie, sie könnte die Worte zurücknehmen. Aber genau wie seinem Vater gelang es auch Luis, ohne ersicht liche Anstrengung sein Gesicht von einem Moment zum anderen vollkommen ausdruckslos erscheinen zu lassen. Er dachte daran, dass er noch eine Menge vor sich hatte, aber davon konnte Cristi nichts wissen. »Ich muss dich darauf hinweisen, dass du einigen Leuten große Umstände bereitest«, erwiderte er steif. Cristi brachte ein Lächeln zu Stande. Seit wann zerbrach sich ein Fonseca deswegen den Kopf? »Das tut mir Leid«, entgegnete sie. Dass sie keine weiteren Worte darüber verlor und nicht einmal versuchte, ihren Entschluss zu rechtfertigen, verriet Luis, wie ernst es ihr war. So gutherzig sie im Grunde auch war, man durfte nicht vergessen, dass sie eine grauenvolle Erziehung genossen hatte. Und ein Streit wegen dieser Kleinigkeit würde seinen Zwecken wohl kaum dienlich sein, oder ? »Gut, wenn du an diesem absurden Vorhaben unbedingt festhalten willst«, knurrte er. »Ich nehme an, es lässt sich jemand auftreiben, der dir deine Sachen bringt. Für eine Nacht wirst du nicht viel brauchen.«
»Ich werde all meine Sachen brauchen«, gab Cristi zurück. »Alles, was ich mit nach Campo Novo genommen habe.« Um ganz ehrlich zu sein, wäre es ihr auch lieber gewesen, sie hätte nichts im Fonseca-Haus in Rio zurückgelassen, aber aus verschiedenen Gründen hatte sie es für nicht sehr diplomatisch angesehen, all ihre Habseligkeiten zusammenzupacken. Luis und sie starrten einander an - die Luft knisterte. Dann huschte ein unwilliges Lächeln über Luis' Gesicht. »Also, meine süße kleine Cousine, wie es scheint, bist du gar nicht so folgsam, wie du uns glauben gemacht hast.« Folgsam - Cristi würde nicht vergessen, dass er dieses Wort benutzt hatte. Sein Lächeln schwand, und die dunk len Augen blitzten sie kalt an. Cristi hätte nicht sagen können, was er dachte, und ahnte, dass es besser war, es nicht zu wissen. Diesen ersten Abend allein auf Tres Pinheiros würde sie nie im Leben vergessen. Sie war allein — in dem Sinne, wie die Fonsecas dieses Wort gebrauchten, denn bevor Luis wegfuhr, ordnete er an, dass Enrico und seine Frau Selma in einer der Gesindekammern schlafen sollten, die sich in dem windigen Schuppen hinter dem Haus befanden. Cristi erhob keine Einwände. Sie hatte ihren Willen im wesentlichen Punkt durchgesetzt. Als das Motorengeräusch des Jeeps leiser wurde (Enrico war vorausgelaufen, um das Tor zu öffnen und Selma von der Farm zu holen) und sich Stille breit machte, beschlichen Cristi gemischte Gefühle. Hatte sie tatsächlich gewonnen? Sie hatte kaum zu hoffen gewagt, dass ihr das gelingen würde. Ihre Sinne waren geschärft, ihr Herz schlug schnell. Sie war allein in dieser weiten, wunderschönen, unbekannten Landschaft. Das Haus, das kaum aus dem Schlaf erwacht zu sein schien, wartete auf sie - die schlichte Behaglichkeit, die golden schimmernden Böden, der Orangenhain, der Hof und die Pferche, die alte Scheune... In der kurzen Zeit, bevor Enrico zurückkam, war sie wirklich mutterseelenallein. Sie hatte schon
befürchtet, das nie mehr erleben zu dürfen. Sie ging zögerlich und zugleich aufgeregt über das rauhe Gras zu der Steinmauer, die den Garten im Süden begrenzte. Unerklärlicherweise war sie den Tränen nahe, als sie den Blick auf die Weide mit der bläulichen Linie der Eukalyptusallee an der Zufahrt im Westen richtete, auf den niedrigen Hügel im Osten und das endlos offene Land hinter der Straße und der Farm. Diese Szenerie und die vielen verschiedenen Eindrücke dieses Tages betäubten ihr Gehirn. Wie viele Entdeckungen und Erfahrungen würde sie noch machen? Es war ein riesiges Abenteuer und eine große Herausforderung. Sie brauchte dringend diese stillen Augenblicke, um das alles in den Kontext des »wirklichen« Lebens zu stellen. Cristi lehnte an der Mauer, während der glühende Sonnenuntergang blasser wurde und sich mit der Dämmerung plötzlich die Kälte der subtropischen Nächte über das Land senkte. In den emotionsgeladenen Momenten nach diesem ereignisreichen Tag sehnte sie sich mehr denn je nach Drumveyn. Sie wünschte sich verzweifelt, mit den Menschen zu reden, die sie liebten und verstanden. Wenn sie ihnen von Tres Pinheiros, den Schönheiten, der Größe und den unterschwelligen und noch nicht in Angriff genommenen Schwierigkeiten erzählen könnte, wie sie es gewohnt war, würde alles in die richtige Perspektive rücken. Sie wollte nicht nach Worten suchen, taktvoll sein und andere Ansichten respektieren. Vor allem fehlten ihr der Humor und das gemeinsame Lachen. Sie hatte schon in Rio Heimweh gehabt, aber heute Abend bereitete ihr die Sehnsucht richtige Schmerzen. Denn heute, als ihr Blick zum ersten Mal auf dieses bezaubernde, verlassene Haus gefallen war, hatte sie das Gefühl gehabt, wieder dort zu sein, wohin sie wirklich gehörte. Vorhin hatte sie diese Reaktion verdrängt, doch sie war real
und fügte eine neue Dimension zu dem Bedürfnis, ihr Erbe zu erkunden, hinzu. Konnte das heißen, dass ihr diese Ranch eines Tages mehr bedeuten würde als Drumveyn?, fragte sie sich und schauderte in der Abendkälte. Dieser Gedanke erschütterte sie so sehr, dass sie für eine Weile ihren Erinnerungen freien Lauf ließ, Bilder abrief und mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen den Stimmen von zu Hause lauschte. Schließlich schlang sie die Arme gegen die Kälte um sich, aber sie war noch nicht bereit, ins Haus zu gehen, weil sie ahnte, dass dann eine vollkommen neue Lebensphase begann. Stattdessen erlaubte sie sich, an Dougal zu denken. Sie hatte kein Wort von ihm über Ellig gehört. Über Croft of Ellig. Der Name gefiel ihr. Er hatte ihr überhaupt nichts Wichtiges geschrieben oder sie wissen lassen, wie er sich an diesem entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben fühlte. Das tat weh. Und es zeigte ihr etwas: Sie hatte keine Alternative - sie musste hinnehmen, dass sie nie mehr verbinden würde als eine lose Freundschaft. Aber obwohl sie sich das immer wieder sagte, spürte sie, dass sie nach wie vor alles, was ihr widerfuhr, mit ihm teilen wollte. Das alles hier erschien ihr beinahe wertlos, wenn sie sich nicht mit ihm austauschen konnte. Früher hätte sie sich nicht träumen lassen, dass die unbekümmerte Kommunikation zwischen ihnen irgendwann unmöglich werden könnte. Doch es wurde höchste Zeit, dass sie sich diesen Tatsachen stellte. Es gab noch eine andere Wahrheit, der sie bis her ausgewichen war. In den letzten Wochen, die so abwechslungsreich verlaufen waren, war Luis der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Es war zwecklos zu leugnen, dass sie die lange Zeit hauptsächlich seinetwegen so genossen hatte. Die Ankunft von Enrico und Selma riss sie aus ihren Gedanken. Sie kamen lautlos durch die Allee und trugen alles, was sie brauchten, in einem Kleiderbündel mit sich. Sie begrüßten Cristi lächelnd und versicherten ihr, dass es ihnen
nicht das Geringste ausmachte, ohne Vorankündigung ins Haus gerufen zu werden und eine Mahlzeit für sie zu zaubern... Alfeo kam kurz danach mit Cristis Sachen aus der Stadt. Auch das sei nicht der Rede wert - ein Vergnügen... Das Dinner - ein köstlicher, pikanter Pfannkuchen und ein viel zu großes Steak und zum Nachtisch ein winziger Klecks sehr süßen Karamelpuddings - wurde ohne erkennbare Probleme zubereitet und serviert. Als Cristi in die Halle kam, in die Selma den Kaffee gebracht hatte, brannten nicht nur alle Öllampen, es loderte auch ein wärmendes Pinienholzfeuer in dem großen Kamin. Auf dem Rost davor lag ein Eukalyptuszweig, dessen Blättern ein feiner Duft entströmte. Das Zimmer wirkte heimelig im sanften Schein der Lampen und der Flammen, aber Cristi war zu rastlos, um lange an einem Fleck sitzen zu können. Sie musste ständig an die unerforschte Umgebung denken, die jetzt von Dunkelheit eingehüllt war. Sie hatte eine Reihe von Haken an der Wand im Korridor entdeckt. Von einem nahm sie sich einen großen Poncho aus weicher grauer Wolle, wickelte sich darin ein und bezog wieder ihren Posten an der Mauer. Es war, als hätte sie mit der ersten Mahlzeit in diesem Haus, in ihrem Haus, die Vergangenheit verscheucht und durch die Gegenwart ersetzt. Cristi hatte fast gewusst, dass es so kommen würde. Als sie an der Mauer lehnte und hinauf zu den funkelnden Sternen schaute, erkannte sie die ganze Wahrheit, der sie vorhin schon ziemlich nahe gekommen war. Sie dachte inzwischen viel mehr an Luis als an Dougal. Und obwohl sie darum gekämpft hatte, allein auf der Ranch bleiben zu können, wünschte sie sich im Augenblick nichts mehr, als die Scheinwerfer des Jeeps in der Allee zu sehen, die Luis' Rückkehr ankündigen würden. Sie hatte sich an seine Gesellschaft gewöhnt, an sein strahlendes Lächeln und die schalkhaften Blicke, seine schnelle Sprechweise und die unendliche Energie - sogar an seine
Fonseca-Überzeugung, dass er alles, was er wollte, mit einem Fingerschnippen bekommen würde. Wo war er jetzt gerade? Was machte er? Hatte er immer noch mit seinen dringenden Geschäften zu tun? Vielleicht hatte er noch nicht einmal zu Abend gegessen. Es war unwahrscheinlich, dass er allein aß, so viel wusste sie. Vermutlich saß er in einem Restaurant und hatte keine Eile, in das altmodische, muffige, düstere Haus zurückzugehen. Als Cristi schließlich wieder hineinging, verriegelte sie die Tür und atmete tief die duftende Luft in der Halle ein. Selma hatte sie gehört und huschte durch den Korridor, um sich zu erkundigen, ob Cristi noch etwas für die Nacht brauc he. Ihr dunkles Gesicht war freundlich, und wenn schon jemand im Haus sein musste, um sie zu versorgen, war Cristi froh, dass es Selma war. Sie sah sich dankbar in ihrem Schlafzimmer um. Ihre Sachen lagen schon in dem weißen Schrank und in der Kommode. Die Fensterläden waren geschlossen, und die silberne Lampe auf dem Nachtkästchen brannte mit kleiner Flamme. Das Licht tauchte die weiße Bettwäsche in einen leicht rosigen Schimmer. Das Bett war ordentlich aufgeschlagen, so dass das in Blau eingestickte Monogramm und das Wappen von Tres Pinheiros sichtbar wurde. Ihr Wappen. Es befand sich auch auf den Kissenbezügen und den gefalteten Handtüchern, die auf einem Holzgestell hingen. Zweifellos zierte es auch die Serviette, die sie sich beim Essen auf den Schoß gelegt hatte, ohne sie sich genauer anzusehen. Ein bisschen übertrieben, aber auch ganz schön. Nicht so schön war, dass sie nur eine dünne Decke und den blauen Baumwollüberwurf hatte, mit denen sie sich zudecken konnte. Hatte jemals jemand in einer so kalten Nacht wie dieser hier geschlafen? Sie holte den Poncho und grinste, als sie daran dachte, dass ihre erste Besorgung in Campo Novo eine Wärmflasche sein würde.
Cristi machte es sich in dem schmalen Bett bequem, wusste jedoch nicht, ob sie Schlaf finden würde, weil ihr so vieles durch den Kopf ging. Sie lag ganz still da und nahm plötzlich die Hintergrundgeräusche wahr, die sie schon seit einiger Zeit im Ohr gehabt hatte: das heisere, aber nicht unmelodische Quaken der Frösche und das stetige Plätschern des Flusses in einer anderen Tonlage, das so herrlich einschläfernd wirkte. Sie hatte kaum noch Zeit, sich die erstaunliche Tatsache klar zu machen, dass sie zum ersten Mal in einem Haus schlief, das ihr gehörte, als ihr schon die Augen zufielen. Luis, dessen Abend nicht befriedigend verlaufen war, telefonierte sehr lange mit seinem Vater und saß anschließend reglos auf dem harten roten Plüschsofa. Seine Miene war finster, und die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, konnte man beim besten Willen nicht erfreulich nennen. Schließlich sprang er mit einem ärgerlichen Aufschrei auf. Er konnte ebenso gut ins Bett gehen. Verdammte Stadt. Kurz nach elf, und alles hatte geschlossen. Im Umkreis von zweihundert Meilen gab es keinen einzigen Nachtclub. Es lief alles anders, als es sollte. Je fr üher er Cristi nach Porto Allegre verfrachten konnte, umso besser. Sie hatte ihn in einer Weise ausmanövriert, die er ihr nie zugetraut hätte. In Porto Allegre würde ihr so etwas nicht gelingen.
18. Kapitel Licht drang durch die Ritzen der schlecht eingepassten Fensterläden und erhellte das ganze Zimmer. Cristi war hellwach, sobald sie die Augen aufschlug. Ihr kam sofort in den Sinn, wo sie war und was vor ihr lag, und sie war aufgeregt wie ein Kind, das unbedingt aufstehen und auf Erkundungstour gehen wollte. Zitternd vor Kälte zog sie sich an. Sie war versucht, wieder den großen Poncho umzulegen, aber er war so lang, dass man nicht gut einen Spaziergang damit machen konnte. Draußen in der Sonne war es sicher warm genug.
Die Haustür war mit einem Querbalken gesichert, verriegelt und zusätzlich abgeschlossen. Der Schlüssel steckte nicht. Es hatte keinen Sinn, mit solchen Sachen Zeit zu verschwenden. Cristi lief zurück in ihr Zimmer und kletterte aus dem Fenster. Der Rundga ng über die Ranch am ersten Morgen war die reinste Freude. Die frische Luft fühlte sich nach der Hitze in Rio wundervoll an. Nebel waberte noch in der Tiefe und verwandelte die Ebene unter ihr in ein geheimnisvolles Meer ohne Horizont. Als Cristi weiterging, stockte ihr der Atem. In den sonnendurchfluteten Nebelschwaden ritt ein Gaucho. Er hielt den Rücken kerzenge rade, hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen, und sein Poncho breitete sich über dem Pferderücken aus. Das Pferd bewegte sich geschmeidig und schnell. Cristi hatte noch nie einen Reiter gesehen, der so reglos im Sattel saß. Es war ein derart vollkommener Anblick, dass sie sich wünschte, sie könnte das mit jemandem gemeinsam erleben und Luis wäre mit ihr hier geblieben. Sie konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Der Reiter verschwand, und außer den Vögeln, deren unbekannter Gesang die Luft erfüllte, regte sich nichts mehr. Cristi ging durch das Tor und durch die Pferche, um einen Blick in die dunkle Scheune zu werfen, in der es nach Futter und Tieren roch. Danach machte sie sich auf den Weg zum Fluss und kam zu einem moorigen Grund, in dem sich zweifellos nachts die stimmgewaltigen Frösche getummelt hatten. Im Obstgarten beobachtete sie einen braunen Vogel, der emsig ein Lehmnest im Stamm eines Walnussbaumes baute, und entdeckte einen schlankeren Vogel, der sich scharlachrot vom dunklen Laub der Orangenbäume abhob. Die Ställe waren leer, doch der Geruch und die Atmosphäre weckten für einen Moment die Sehnsucht nach zu Hause. Es musste doch auf dieser Ranch irgendwo Reitpferde geben. Wo? Standen sie draußen auf der Weide? Könnte man eines für sie herbringen? Wer war für so etwas zuständig? Sie malte sich
aus, wie es wohl war, durch diese endlosen Weiten zu reiten. Nun, an diesem Morgen würde Leopoldo sie zu der Besprechung mit dem Kommissionär in die Stadt fahren. Dann würde sie ihn danach fragen, und vielleicht konnte sie ihm noch andere Fragen stellen, die mehr Bedeutung für sie hatten. Sie ging über den Weg zwischen dem Haus und den Ställen zurück und sah, dass Rauch aus dem Küchenkamin aufstieg. Selma, die Holz im Herd nachlegte, erschrak, als Cristi an der offenen Tür auftauchte. Seimas größte Sorge schien zu sein, dass sie nicht recht zeitig wach gewesen war, um Cristi heißes Wasser, Tee oder was auch immer sie am Morgen benötigte, aufs Zimmer zu bringen. Auf Tres Pinheiros richtete sich der Tagesablauf nicht nach der Uhr, sondern nach den Bedürfnissen des paträo. Und jetzt war Cristi die paträo. Aber damit konnte sich Cristi jetzt noch nicht befassen. Sie wehrte Seimas Entschuldigungen kurzerhand ab und erkundigte sich, wie die Vögel, die sie gesehen hatte, hießen. Die landesüblichen Namen Joäo de Barro, »John aus dem Moor«, und »Ochsenblut« für den roten, gefie len ihr, und sie lernte, dass die Lilien an der Mauer »Milchtasse« genannt wurden. Diese Details brachten ihr die Ranch und die Landschaft ein bisschen näher, und sie hatte viel mehr als jemals in Rio das Gefühl, in der Realität zu leben. Zum Frühstück gab es ein dünnes Porridge, das hier mingäo hieß. Cristi bezweifelte, dass das im Glen Ellig gut ankommen würde. Danach wurde ihr Brot mit einem Apfelgelee gebracht, das so lange gekocht war, dass es erst am Messer, dann an Cristis Zähnen kleben blieb. Der Kaffee, an den sie ihre Hoffnungen geknüpft hatte, schmeckte auch nicht besonders gut - es schien ein billiger Instantkaffee zu sein. Möglicherweise konnten die kulinarischen Bedingungen verbessert werden, aber damit hatte es keine Eile. Auf dem Weg nach Campo Novo nutzte Cris ti zögerlich die
Gelegenheit, Leopoldo zu fragen, ob er Isauras Familie gekannt hatte. Luis wäre sicher böse, wenn er davon erführe, denn die Fonsecas hatten ganz deutlich gemacht, dass alles, was mit Justina in Zusammenhang stand, absolut tabu war. Es kam ihr seltsam vor, Isauras Namen laut auszusprechen, und er brachte so viele verwirrende Erinnerungen mit sich. Leopoldo war glücklich, mit ihr plaudern zu können, und auch wenn es sein Akzent hin und wieder schwierig machte, ihm zu folgen, verstand Cristi die wesentlichen Tatsachen. Vor Jahren war Isaura in Ungnade gefallen und von Rio nach Hause geschickt worden. In Folge davon hatte ihr Vater seinen Job auf der Ranch verloren, und niemand in der Gegend wollte ihm Arbeit geben. Die Familie war gezwungen gewesen, von hier fortzuziehen, und man hatte seither nie wieder etwas von ihnen gehört. Wusste denn niemand, wohin sie gegangen sein könnten? Weit weg, vermutete Leopoldo. Vielleicht nach Curitiba. Cristi hatte den Verdacht, dass er diese Stadt aus der Luft gegriffen hatte, nur um ihr einen Gefallen zu tun. Sie dachte daran, wie riesengroß Brasilien war. Isaura könnte wer weiß wo sein. Und natürlich hatte niemand auf der Ranch den Drang verspürt, mit einer verstoßenen Familie in Kontakt zu bleiben. Dafür hatte sicher schon Großvaters unnachgiebige Autorität gesorgt. Meine Mutter ist dafür verantwortlich, dachte Cristi. Sie war bestürzt, dass Menschenleben so rücksichtslos zerstört worden waren, und sehr traurig, weil dieses letzte dünne Bindeglied nun auch noch zerrissen war. Ihr war immer klar gewesen, dass nur eine sehr geringe Hoffnung bestand, aber es traf sie dennoch schwer, dass mit wenigen Sätzen alles zunichte war. Die Vergangenheit würde weiterhin in Geheimnisse gehüllt bleiben. Cristi würde sich nie mehr mit ihrer Mutter versöhnen, nie die Wahrheit über ihre Eltern oder über die Gründe erfahren, die sie dazu veranlasst hatten, ihr Kind im Stich zu lassen.
Sie wünschte fast, sie hatte Leopoldo gar keine Frage gestellt, so sehr schmerzte sie seine Antwort. Es war nicht leicht, Luis ganz normal zu begrüßen oder sich auf die geschäftlichen Angelegenheiten zu konzentrieren, die besprochen wurden. Aber sie musste sich um diese Dinge kümmern und schob resolut alles, was sie belastete, beiseite. Das Meeting verlief zufrieden stellend. Cristi hatte angenommen, dass die Ranch allein wegen ihrer Größe viel schwieriger zu verwalten wäre als Drumveyn, aber die Leitung schien relativ unkompliziert zu sein. Die Rinderzucht war über die Jahre hinweg stetig verbessert worden und hatte sich mittlerweile einen guten Ruf erworben. Abgesehen von den Futterpflanzen wurde kein Getreide oder Gemüse angebaut. Die Arbeiten - impfen, Brandzeichen einprägen, die Kälber zur Zucht aussuchen oder zu kastrieren und so weiter - wurden von Männern erledigt, die ihr Leben lang nichts anderes gemacht hatten. Die Kosten für die Instandhaltung waren niedrig - das stellte keine Überraschung dar. Allerdings gab es einen Punkt, der Cristi nicht gefiel: Die alten Arbeiter, die ihrer Ans icht nach längst ihren Ruhestand verdient hätten, durften in ihren Behausungen bleiben, mussten aber als Gegenleistung dafür einige Aufgaben erfüllen. Das erschien ihr falsch, doch Cristi war sich im Klaren, dass ihr die Grundlagen fehlten, diese Praktik in frage zu stellen. Sie kannte die Abmachungen nicht; möglicherweise wurde das sogar als Belohnung für die jahrelangen Diens te angesehen. Sie begriff, dass der Besitz von Tres Pinheiros eine rein formelle Sache war, nicht mehr als ein paar Worte auf einem Stück Papier. Sie verließ das Büro des Kommissionärs - eines verbindlichen, korpulenten, mittel alten Mannes in engem schwarzen Anzug, der sich wegen seines Ingenieur-Studiums Doktor Elisario nannte - und fühlte sich fast so wie nach der Begegnung mit den Anwälten in Rio. Der Mann hatte sie mit so vielen Informationen gefüttert, wie er es für richtig hielt. Das
Lächeln und die wortreichen Höflichkeiten kaschierten die gönnerhafte Art, mit der sie behandelt wurde - schließlich war sie eine Frau, jung und im Grunde eine Fremde in diesem Land. Es wurde hingenommen, dass sie als Begünstigte Interesse an ihrem Erbe hatte, aber ein solches Interesse konnte lediglich nominell sein. Und sie hatten Recht. Bevor sie mehr wusste oder entschieden hatte, was sie tun wollte, ging die Ranch sie nicht mehr an als damals, als sie noch in Schottland gewesen war. Der Betrieb würde weiterhin so laufen wie bisher. Cristi wusste, dass Tres Pinheiros in ihrer eigenen Vorstellung wie in der ihrer Verwandten immer Fonseca-Besitz bleiben würde. Als sie das Bürogebäude verließen, dachte Cristi betrübt an all das, was man ihr verschwiegen und nicht gezeigt hatte. Aber ihr war bewusst, dass sie nichts anderes erwarten konnte. Luis wies Leopoldo an, Cristis Gepäck ins Stadthaus zu bringen. Leopoldo mied Cristis Blick, als sie sich eilends einschaltete: »Er kann nichts ins Stadthaus bringen, Luis. Ich habe meine Sachen auf der Ranch gelassen.« »Was soll das heißen?« knurrte Luis auf Englisch. Sein Ton verriet, dass er sehr wohl begriff, welch bedeutende Entscheidung sie damit gefällt hatte. Leopoldo klinkte sich, ohne einen Muskel zu regen, aus der Auseinandersetzung aus. »Das war töricht«, fuhr Luis aufgebracht fort, als Cristi nicht antwortete. »Jetzt wird jemand losfahren und sie holen müssen« »Das ist nicht nötig.« Cristi begegnete ungerührt seinem Blick. »Ich bleibe noch eine Weile auf der Ranch.« »Du bleibst? Aber du hast doch alles gesehen. Das war der Zweck dieser Reise, oder nicht? Es gibt keinen ...« »Ich würde gern etwas mehr Zeit hier verbringen.« »Aber du hast ja gerade gehört, dass der Betrieb, so archaisch die Arbeitsweise auch sein mag, reibungslos funktioniert. Du denkst doch nicht daran, die Abläufe in irgendeiner Weise ...«
Sie sah, welche Anstrengungen es ihn kostete, seinen Redefluss abzubrechen. »Ich möchte mich nicht einmischen. Doch es wäre mir sehr recht, wenn ich ein wenig mehr erfahren und lernen könnte« Es gab jetzt, da sie die Ranch gesehen hatte, so vieles zu überdenken. Entscheidende Dinge, die ihr ganzes Leben beeinflussen würden. Und sie musste heraus finden, wer sie war. »Du weißt sehr gut, dass unsere Flüge nach Porto Allegre für morgen gebucht sind. Was kann es dir bedeuten, wenn du noch eine Nacht auf Tres Pinheiros bleibst?« »Ich möchte mich länger dort aufhalten.« Und wann hatte sich Luis jemals von einer Kleinigkeit wie einem gebuchten Flug von dem abhalten lassen, was er tun wollte? »Ich werde bald nach Porto Allegre nachkommen.« Sie freute sich darauf und war dankbar für die Gelegenheit, noch einen Teil dieses enormen, vielfältigen Landes zu sehen - und dafür, dass Luis es ihr zeigen wollte. »Cristi, das kommt nicht in frage, das musst du einsehen. Ich kann dich nicht allein auf der Ranch lassen. Und ich habe einiges in Porto Allegre zu erledigen, was nicht warten kann. Wenn du mehr sehen möchtest, können wir einen Besuch hier für später arrangieren ...« »Ich würde lieber jetzt gleich noch eine Weile hier verbringen.« Cristi hielt sich schon lange genug in Brasilien auf, um zu wissen, wie viel man auf vage Versprechungen geben durfte. »Ich kann meinen Weiterflug ohne weiteres umbuchen und alles, was ich brauche, hier in der Stadt besorgen - zum Beispiel Stiefel. Leopoldo wird mich dann zurückfahren. Das ist ganz einfach« Luis sah sie grimmig und zugleich abschätzend an. Es hatte ihm zwar gestern schon Sorgen bereitet, dass sie so entzückt von Tres Pinheiros war, aber dennoch hatte er ihre Begeisterung für die Ranch unterschätzt. Er hatte nicht mit dieser verdammten britischen Selbstständigkeit gerechnet. Kein anständiges
brasilianisches Mädchen würde auch nur einen Augenblick daran denken, allein mitten im Nichts zu bleiben. Und Cristi hatte sich vorge nommen, Stiefel zu kaufen! Wie lange beabsichtigte sie zu bleiben, um Himmels willen? Ein Blick in ihr entschlossenes Gesicht genügte, und er musste sich mit widerstrebender Bewunderung eingestehen, dass sie keinen Millimeter nachgeben würde. Sie wirkte so zart und zerbrechlich, aber ihr standhafter Blick verriet ihm eine Menge. Ihr Gesichtsausdruck war nicht herausfordernd - im Gegenteil, er zeigte ein Selbstvertrauen, das ihn beeindruckte. Für sie schien die Absicht, ein paar Tage hier zu verbringen, sowohl selbstverständlich als auch durchführbar zu sein. Luis erkannte, dass eine neue Strategie erforderlich war, und drehte sich ohne weitere Diskussion um hundertachtzig Grad. »Ich bin zwar überzeugt, dass du diese Verrücktheit noch bereuen wirst, aber wenn du unbedingt willst...« Sein neckendes Lächeln war wieder an seinem Platz. »Aber ic h möchte, natürlich mit deiner Erlaubnis, deine Pläne ein wenig korrigieren. Wir könnten in der Stadt zu Mittag essen - wir werden erwartet -, dann bringe ich dich selbst hinaus auf die Ranch und leiste dir ein, zwei Tage dort Gesellschaft« Ihm schoss durch den Kopf, dass er eigentlich dazu eingeladen werden müsste, und dieser Gedanke machte ihn wütend. Aber er fuhr aalglatt fort, bevor Cristi etwas erwidern konnte: »Also, das ist geregelt. Es wird mir ein Vergnügen sein, dich mit der dubiosen Vergangenhe it der Familie vertraut zu machen« Cristi strahlte vor Freude. »Luis, würdest du wirklich bleiben? Nichts wäre mir lieber!« So magisch die einsame Stunde am Morgen auch gewesen war, als sie durch die taubedeckte Stille gestreift war, sie hatte sich gewünscht, die Schönheiten mit jemandem zu teilen. Mit Luis... Was konnte sie sich noch mehr wünschen? Sie war nicht so taktlos, ihn an seine Geschäfte in Porto Allegre, die nicht warten konnten, zu erinnern.
Nachdem diese Entscheidung getroffen war, änderte sich Luis' Verhalten radikal. Mit einem Mal hatte er nichts anderes im Sinn, als Cristi alles zu zeigen, genau wie er ihr vorher aus anderen Gründen Rio hatte näher bringen wollen. Er führte sie, bevor sie die Stadt verließen, in die Schus terei, in der, wie Cristi erfuhr, die Stiefel für alle Fonseca-Männer von ihrem Urgroßvater angefangen bis zu Luis - selbst angefertigt worden waren. Früher wurden alle Schuhe auf Bestellung nach Maß geschustert; heute gab es auch einen Laden mit fertiger Ware. Luis kaufte er Cristi als Willkommensgeschenk auf Tres Pinheiros, wie er hochtrabend erklärte, wunderschöne Reitstiefel. Sie stolzierte hingerissen darin herum. »Sie sind umwerfend! Weich wie Mokassins. Ich habe noch nie so ein Leder gesehen. O Luis, danke, sie sind sagenhaft!« »Sie sollten extra für dich maßgeschustert sein«, wand te er ein und zog die Mundwinkel nach unten. »Und natürlich«, setzte er vergnügter hinzu, »müsste das Wappen von Tres Pinheiros eingeprägt sein. Aber jetzt musst du irgendwie ohne all das zurechtkommen.« Cristi lachte und drehte den Fuß bewundernd erst auf die eine, dann auf die andere Seite. Luis musste an das gestrige Telefonat mit seinem Vater denken. Möglicherweise erwies es sich ja als vorteilhaft, wenn sie noch ein, zwei Tage auf der Ranch verbrachten ... falls er die Langeweile des Landlebens aushielt. Früher hatte er sich gern auf der Ranch aufgehalten, aber sein Interesse daran war mittlerweile anderer Art. In Luis' Gegenwart ging alles um ein paar Takte schneller. Was immer er forderte, wurde ohne viel Aufhebens und prompt gebracht. Zwei Reitpferde wurden zum Haus geführt, und Cristi war begeistert, dass es Palominos waren. Enrico nahm sie zufrieden in Empfang und machte sich gleich daran, das bernsteinfarbene Fell zu striege ln und ihre langen, hellen Mähnen und Schweife zu bürsten. Die Pferde waren dank des
frischen Grases nach dem Winter gerade wieder zu Kräften gekommen. Es waren Stuten, und Cristi fragte Luis, ob er sie ausgewählt hatte. »Wir haben Frühling«, antwortete er belustigt. »Ich möchte nicht, dass du gegen deinen Willen bis zum äußersten Winkel der Estancia galoppierst.« Luis' Anwesenheit brachte Veränderungen mit sich. Jetzt gab es Drinks vor dem Abendessen und dazu kleine Stücke hart gerösteten Toast. Das Abendessen selbst war eine etwas förmlichere Angelegenheit. Zusätzliche Lampen wurden im Haus angezündet, auf dem Bett lagen weitere Decken, und wie durch ein Wunder kam heißes Wasser aus den Hähnen im Badezimmer. Eine ältere Frau erschien, um Selma zu helfen, und Wärme sowie Aktivität hielten in dem kleinen Haus Einzug. Doch die Ausritte in den folgenden Tagen waren für Cristi das Schönste. Luis und sie ritten Meilen um Meilen über das Weideland, und sie konnte immer noch nicht glauben, dass das jetzt alles ihr gehören sollte. Bei ihrem ersten Ausflug stellte sie erfreut fest, dass Enrico ihr Pferd mit einem prachtvollen mexikanischen Sattel mit Silberbeschlägen gesattelt hatte. Die Seiten und der Knauf waren so hoch, dass sie beinahe das Gefühl hatte, in einem Sessel zu sitzen. Die Steigbügel hatten einen Lederschutz. Luis saß in einem pelego, dem traditionellen Gaucho-Sattel aus Schafleder. »Es gibt hier nicht viele Kakteen«, bemerkte Luis, als er sah, wie sie die Steigbügel musterte. »Das war Großmutters Sattel. Der pelego ist ziemlich breit und wurde deshalb für Damen als unpassend erachtet. Deine Mutter hat diesen Sattel auch benutzt.« Ihre Mutter. Das erschien ihr so real und nahe, trotzdem hatte Cristi erst gestern so richtig begriffen, dass sie wohl nie Verbindung zu ihr würde aufnehmen können. Behutsam fragte Cristi: »Hast du sie reiten gesehen?« Luis hörte das Beben in ihrer Stimme und warf ihr einen Blick zu. Er wünschte, er hätte
den Mund gehalten. Die Fonsecas waren daran gewöhnt, Justina in Bausch und Bogen zu verdammen, deshalb hatte er ganz vergessen, dass Cristi noch etwas für sie empfinden musste. Aber der liebevolle Ausdruck in ihren Augen rührte ihn, und er freute sich, dass er es war, der diesen Blick hervorgerufen hatte. Sie konnte so unbeschwert wie ein Teena ger sein und sah auch so aus, aber in anderer Hinsicht - nämlich was ihre Anschauungen, Empfindungen und Auffassungsgabe betraf war sie eine Frau. Eine sexuell unerweckte, davon war er so gut wie überzeugt. Wider alle Erwartungen. Abgesehen von dem Nachteil, dass Cristi nicht als Katholikin erzogen worden war, hatte die Familie die Tatsache, dass sie eine britische Studentin war, am meis ten beunruhigt. Cristi hatte sie angenehm überrascht. Ihre Kleider waren natürlich schrecklich gewesen, aber dieser Mangel hatte schnell behoben werden können. Ansonsten entsprach sie bei weitem nicht der Vorstellung, die sie sich im Voraus gemacht und so sehr gefürchtet hatten. Sie hatte die Eleganz von der Mutter geerbt, konnte sich gut ausdrücken und war belesen. Ihre Manieren, ihre Haltung und ihr Geschmack hatten sich als erstaunlich annehmbar erwiesen. Vielleicht hatten die Barbaren ihre Sache doch gar nicht so schlecht gemacht. Sie ritten im Schritt durch die Allee, damit sich Cristi mit dem ungewohnten Sattel und Zaumzeug vertraut machen konnte, aber dann gab Luis seiner Stute die Sporen, und Cristi hielt mit. Sie verfielen in den Trott, den Cristi schon früher an Palominos bewundert hatte, und sie merkte, dass sie nichts weiter zu tun brauchte, als richtig zu sitzen und sich vorwärts tragen zu lassen. »Luis, das ist brillant!« Er lachte. »Sie schaffen sieben Meilen in der Stunde in dieser Gangart, und sie können den ganzen Tag so laufen. Es gibt Pferde, denen eine extraweiche Gangart für Damen anerzogen wird.« »Gut - ich habe tatsächlich das Gefühl, stundenlang so reiten
zu können.« Der mexikanische Sattel, aus dem man unmöglich herausfallen konnte, war allerdings hart, und Cristi überredete Enrico - entgegen seiner Proteste -, vor dem nächsten Ausritt ein Schaffell darüber zu legen und es festzuzurren. Das zahlte sich aus, denn manchmal ritten Luis und sie fast den ganzen Tag, und sie bekam allmählich ein Bild davon, wie weit die Ländereien der Ranch reichten, wie viel Vieh dazuge hörte und wo die Rinder zu den verschie denen Jahreszeiten weideten. Von den hohen felsigen Vorsprüngen konnten sie das Land überblicken, dann ging es wieder in die tiefen Schluchten der Wasserläufe - dort war es unheimlich und dunkel, weil das Sonnenlicht durch das Laub der Bäume gefiltert wurde. Nachdem Luis sich dazu durchgerungen hatte, hier zu bleiben, musste er sich selbst eingestehen, dass ihm das Leben auf der Ranch gefiel wie schon seit Jahren nicht mehr. Obwohl er es nach wie vor für notwendig hielt, mindestens einmal täglich in die Stadt zu fahren, genoss er Cristis Begeisterung, ihre Wissbegier, ihr reiterliches Geschick (und wie sie aussah, wenn sie ritt) sowie die Tatsache, dass sie kein Geheimnis daraus machte, wie dank bar sie für seine Gesellschaft war. Cristi war gern mit ihm zusammen. So abweisend und kritisch er auch sein konnte, bei den Ausritten war er meistens in bester Stimmung. Zudem schien er sich wohl zu fühlen, und das trug sehr zu ihrer Freude bei. Er war ein Pferdekenner und ausgezeichneter Reiter, und Cristi fand seine schlanke Gestalt, die dunklen Augen und das schwarze Haar sogar noch attraktiver als in Rio. Er zog sie zwar nach wie vor auf, aber sein gönnerhaftes Gehabe hatte er abgelegt. Sie unterhielten sich über Gott und die Welt, und Luis erkundigte sich sogar gelegentlich nach Cristis Leben in Schottland.
19. Kapitel Du glaubst doch nicht, dass wir sie verloren haben? Für immer, meine ich«, sprudelte es aus Pauly heraus, weil es ihr nicht mehr möglich war, ihre Ängste für sich zu behalten. Madeleine sah von den eng beschriebenen Seiten auf. Pauly stand mit dem Kaffeetablett neben ihr und schaute sie flehentlich an. In diesem Moment ähnelte sie sehr der impulsiven, verstörten, aber gutherzigen Neunzehnjährigen, die Madeleine seinerzeit von der Straße aufgelesen hatte. »Pauly, ich bin ganz sicher, dass wir sie nicht verloren haben. So was darfst du nicht einmal denken«, protestierte sie und setzte sachlicher hinzu: »Ich denke, du solltest das Tablett abstellen, wenn du dic h aufregen und einen Gefühlsausbruch deswegen bekommen willst.« In den turbulenten Tagen, in denen Pauly ihren Haushalt geführt hatte, waren viele kostbare und fragile Stücke zu Bruch gegangen, und sie wollte die ziemlich hübschen Tassen keiner Gefahr aussetzen, so schäbig eine solche Überlegung auch in diesem Moment sein mochte. »Ich will mich nicht aufregen«, wimmerte Pauly ent rüstet und knallte das Tablett heftig auf den Tisch - Madeleine hatte gerade noch Zeit, ihre Brille zu retten. »Ich hasse es, mich aufzuregen. Ich bin in solchen Dingen hilflos. In so schwer wiegenden Dingen, meine ich.« Madeleine verstand sehr genau, wovon sie sprach. Pauly brach schneller in Tränen aus als irgendein anderer Mensch wenn jemand einem Hund auf den Schwanz trat, wenn von Umweltkatastrophen berichtet wurde, wenn Judy in Seven Lüde Australians starb, wenn ein Kind ein Geschenk für sie gebastelt hatte -, eigentlich bei jeder Freundlichkeit, die ihr erwiesen wurde. Aber »schwer wiegende Dinge«, wie sie es ausdrückte, waren etwas anderes - es fiel ihr schwer, das, was sie bewegte, in Worte zu fassen. Pauly liebte es, sich um andere zu kümmern, und hatte so gut wie nie Zeit, sich Fragen nach dem Warum und Wozu zu stellen. Sie war glücklich, wenn sie die Familie um
sich hatte, wenn das Haus voll war, wenn die Freunde sie brauchten und vieles getan werden musste. Das war ihr Sicherheitsnetz. Ihre Taten, ihr Geben drückten all das aus, was sie über ihre Zuneigung sagen musste. Archie verstand das, und sie hatte die Gewissheit, dass er nicht mehr von ihr verlangte. Doch Pauly wusste, dass es für andere Menschen nicht immer so einfach war, und sie tat in aller Bescheidenheit ihr Bestes, sich an »tief schürfenden« Unterhaltungen zu beteiligen, wenn es ihr geboten erschien. Aber sie war nicht gut darin. In den seltenen Momenten, in denen sie weit voraus in die Zukunft blickte, jammerte sie über die Schwierigkeiten, die die Kinder womöglich noch bewältigen mussten. Besonders die blasse, dünne Peta würde es mit ihrem überaktiven Gewissen und ihren Ängsten einmal schwer im Leben haben. Zum Glück gibt es Archie, seine Gelassenheit und seinen gesunden Menschenverstand - er wird schon alles richten, dachte Pauly in diesen Augenblicken philosophisch und stürzte sich in die Arbeit, die als Nächstes erledigt werden musste. Madeleine hätte sie gern daran erinnert, dass sie eine große Stütze für Sally Danaher war, seit Mike immer gebrechlicher wurde und Sally versuchte, ihn zu versorgen, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie Angst hatte, ihn allein zu lassen, Gleichzeitig musste Sally sich um das Hotel und die Gäste kümmern und Mikes Kindern aus erster Ehe ein ordentliches Zuhause bieten. Aber Madeleine wusste, dass Pauly sie nur verständnislos anstarren würde, ohne zu begreifen, wie viel sie für Sally tat. Paulys Ansicht nach flitzte sie immer nur kurz mit einem überschüssigen Liter Rahm oder ein paar Pfund Obst, das sie selbst nicht verwertete, nach Grianan. Aber Madeleine wusste, wie viel Sally diese Besuche bedeuteten und wie viele Menschen im ganzen Glen Paulys bereitwillige Hilfe willkommen hießen und sich auf sie verließen. Doch heute war Pauly so durcheinander, dass sie reden wollte, und Madeleine erkannte schaudernd, welche Ängste sie dazu
trieben. Sie selbst hatte dieselben Befür chtungen gehabt, sogar noch bevor sie den Brief überflogen hatte, den Pauly mitgebracht hatte. Archie hatte Tom abgeholt, um ihn zur Physiotherapie zu fahren, und sobald die beiden Männer aus dem Haus gewesen waren, hatte Pauly angerufen und gefragt, ob sie heraufkommen könne, weil sie Nachricht von Cristi bekommen habe. Das hatte Madeleine schon beunruhigt. Das Kommen und Gehen zwischen Scheune und großem Haus war etwas ganz Natürliches, und Cristis Briefe wurden immer ganz beiläufig bei Besuchen ausgetaus cht, genau wie Cristi es wollte. Madeleine wünschte, sie hätte die Zeit gehabt, diesen gründlicher durchzulesen, während Pauly den Kaffee aufgebrüht hatte. Sie gab widerstrebend zu, dass Cristi diesmal einen anderen Ton angeschlagen hatte, aber es fiel ihr schwer, den Finger auf die Wunde zu legen. Sie würde gern ein wenig darüber nachdenken. »Mal ehrlich, wer hätte gedacht, dass das alles so lange dauert?«, wollte Pauly wissen. Sie funkelte den Brief an, als trüge er die Schuld an allem. »Ich weiß, sie scheint schon Ewigkeiten fort zu sein. Aber wir waren wahrscheinlich ziemlich naiv, als wir glaubten, dass sie bald wiederkommen würde.« »Wie meinst du das ?« Pauly bedachte ihre Schwiegermutter mit einem rebellischen Blick. Am liebsten würde sie diesen elenden Leuten, die sich einbildeten, sie hätten ein Anrecht darauf, über Cristis Leben zu bestimmen, ordentlich die Leviten lesen »Na ja, was dachten wir, was geschehen würde? Dass Cristi nach Brasilien fliegt, von der Familie aufgenommen wird, die Einzelheiten wegen der Erbschaft regelt und dann... was?« »Ich nahm an, dass sie die Fonsecas grässlich findet und sofort wieder nach Hause kommt! Nein, wahrscheinlich habe ich vermutet, Cristi würde erfahren, dass sie einen Anteil vom
Geld ihres Großvaters geerbt hat, aber dass die Ranch im Besitz der Familie bleibt. Das mit der Ranch kam mir einfach unwirklich vor. Ich konnte mir nie vorstellen, dass Cristi Besitzerin dieser Ranch wird. Nicht persönlich. Ach, ich weiß auch nicht!« Pauly schob unge duldig ihre Haarmähne aus dem Gesicht. »Ich bin einfach nicht im Stande auszusprechen, was ich meine.« »Ich finde, du hast dich ziemlich gut ausgedrückt«, erwiderte Madeleine bekümmert. »Ich habe genauso gefühlt wie du. Es war schön für Cristi, dass ihr Großva ter sie bedacht hat, und gut, dass die Familie sie endlich anerkennt. Es erschien mir sogar richtig, dass sie - wie hat sie es formuliert? - diesen Teil von sich kennen lernt. Ich bin fest davon ausgegangen, dass sie hierher gehört und Drumveyn immer ihr Zuhause sein wird, das wird mir jetzt klar. Ich habe damit gerechnet, dass sie vielleicht ab und zu mal nach Brasilien fliegt, aber hier ihr Leben führt... Nein, ich hab auch nicht richtig über alles nachgedacht.« Madeleine hatte vergessen, dass sie eigentlich Trost und Zuversicht verbreiten sollte. Sie hatte ein ebenso starkes Bedürfnis wie Pauly, über ihre Befürchtungen zu sprechen. Pauly sah sie niedergeschlagen an. »Du spürst es auch - es steht in dem Brief ... zwischen den Zeilen. Diesmal schildert sie nicht nur, was sie gesehen und getan hat, sondern ... o Gott, was will ich damit sagen?« »Dass sie auf das, was sie auf der Ranch vorgefunden hat, anders reagiert?«, half Madeleine ihr nachdenklich weiter. »Fast, als ... na ja, als hätte sie das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein?« »Genau das ist es!« Madeleine hatte Paulys schreckliche Angst exakt beschrieben, aber statt erleichtert zu sein, war Pauly den Tränen noch näher als zuvor. »Sie schreibt sogar auf diesem Briefpapier«, rief sie aus und tastete nach den dünnen Bögen. »Natürlich sehe ich ein, dass es aufregend für sie ist. Furchtbar!« Madeleine lächelte, obwohl ihr auch nach Heulen zu Mute
war. »Es ist wirklich aufregend, nicht?« Cristis Brief begann folgendermaßen: Seht mal, was ich gefunden habe! Ich war im Büro (ja, endlich, endlich bin ich auf Tres Pinheiros, auch wenn es euch wahrscheinlich schwer fällt, das zu glauben. Wie ihr euch vorstellen könnt, gibt es eine Million Dinge zu erzählen), um nach Papier zu suchen, und dabei ist mir ein Stapel von diesem hier in die Hände gefallen. Zuerst dachte ich, ich könnte es nicht stibitzen, aber dann wurde mir klar, dass es mir gehört. Es ist komisch und überrascht mich immer wieder. Jedenfalls wissen wir jetzt, wie lange die Fonsecas diese Ranch schon besitzen, und ihr seht das fantastische Wappen der Familie. Es befindet sich hierauf allem, was man anfasst. Der Brief war auf feinstes Florpostpapier geschrieben, und der Briefkopf lautete: Estancia dos Tres Pinheiros, fundada 1663. »Bis jetzt«, sagte Pauly und suchte stirnrunzelnd nach Worten, »hatte ich das Gefühl, dass sie noch bei uns ist. Dass wir die Menschen sind, die sie zum Reden braucht, denen sie alles erzählt, weil sie da drüben an einem fremden Ort und unter fremden Leuten ist. Wir waren ihre Vertrauten. Mir schien, als würde sie da drüben nur ihre Zeit absitzen und das Beste daraus machen, dass sie nur zu Besuch ist, auch wenn die Fonsecas die Familie ihrer Mutter sind. Aber jetzt«, Pauly verzog den Mund, der sonst so bereitwillig lächelte, »jetzt klingt es so, als wäre sie zum Leben erwacht.« Madeleine presste die Lippen zusammen und nickte. »Es erinnert mich ein wenig an ihre erste Zeit in Edinburgh«, bemerkte sie. »In den Briefen, die wir zuerst erhielten, hat sie alles betont positiv beschrieben, aber uns nicht erzählt, was sie wirklich durchmachte. Und als sie Fuß fasste und glücklicher wurde, änderte sich ihr Tonfall komplett. Sie hat mit uns gesprochen« »Mit Dougal hat sie immer gesprochen«, warf Pauly ein. »Auch in der schlechten Zeit.«
Sie sahen sich an. »Aus Brasilien hat sie ihm keine Briefe geschrieben.« »Vielleicht tut sie es jetzt?« »Das würde mich überraschen«, erwiderte Madeleine nach einer winzigen Pause. »Mich auch. Das macht mich so traurig. Man sollte meinen, dass nichts eine solc he Freundschaft zerstören kann.« Madeleine ahnte, was so etwas vermochte, doch sie war nicht bereit, darüber zu diskutieren. »Ich hoffe, Archie lädt ihm da oben in Ellig nicht zu viel Arbeit auf«, sagte sie - eine weitere Sorge brach sich Bahn. »Im Moment scheint er Tag und Nacht zu schuften. Wenn man genauer darüber nachdenkt, dann war Dougal die ungeeignetste Person für so einen Deal. Er ist viel zu gewissenhaft und ständig darauf bedacht, mindestens so viel zu geben, wie er nimmt.« »Und dabei bringt er sich halb um. Aber ist es nicht prima, dass Jean ihr Haus bekommen hat? Was für ein Glück, dass die alte Maisie Mack endlich zugestimmt hat, ins Pflegeheim zu gehen. Sie hätte das schon vor Jahren tun sollen.« »Ich freue mich mehr für Dougal. Eine Sorge weniger für ihn. Und ich war wirklich beeindruckt, dass er so entschlossen war, Jean nicht mit ins Croft of Ellig zu nehmen. Das wäre nicht der Schritt in die Unabhängigkeit gewesen, den er verdient.« Pauly lachte. »Nein, ganz sicher nicht. Zum Glück hat er auch Jill in die Schranken gewiesen. Ich war so froh, als sie nach Glasgow abgedampft ist, und Archie hat sich auch gefreut. Ich weiß nicht, wie sie es fertig gebracht hat, so lange von ihrem Baby getrennt zu sein. Kannst du dir so was vorstellen? Sicherlich hilft es ihr, wieder mit dem Kleinen zusammen zu sein.« »Wer weiß?« Madeleine war nicht so zuversichtlich, dass das Problem Jill so einfach gelöst werden konnte. »Aber ihre Abreise konnte Dougal nicht gelegener kommen.« Wenn er doch nur in der Angelegenheit, die wirklich wichtig
war, ebenso entschieden sein könnte! Aber Madeleine musste zugeben, dass ihm eine Menge Hindernisse im Weg standen. »Wir weichen dem Thema Cristi aus, stimmts?« Pauly spähte aus den Augenwinkeln zu Madeleine hinüber. Madeleine sah es voller Mitgefühl und Zuneigung. Pauly war hergekommen, um sich ihren Ängsten zu stellen, und ließ nicht zu, dass sie abgelenkt wurde. »Du glaubst, Cristi hat entdeckt, dass sie im Herzen Brasilianerin ist?«, hakte Madeleine sanft nach. »Genau das ist es!« Pauly war erleichtert, dass ihre Empfindung auf den Punkt gebracht wurde. »Ich muss immer wieder daran denken, wie sie aussieht, wie hübsch und elegant sie ist und ... oh, du weißt schon: feminin, zierlich. Sie ist so ganz anders als wir.« Madele ine, die selbst eine feingliedrige, elegante Frau war, gab keinen Kommentar dazu ab. Das muss ich unbedingt Tom erzählen, dachte sie amüsiert. »Und dann denke ich daran«, plapperte Pauly ent schlossen, alles endlich ans Licht zu bringen, weiter, »dass sie fast neun war, als sie nach Drumveyn kam - kein Baby mehr. Sie hat ihre frühe Kindheit in Brasilien verlebt, und das spielt sicher eine Rolle. Ich stelle sie mir inmitten von gut aussehenden Brasilianern vor, und irgendwie erscheint mir das richtig. Trotzdem hatte ich, als sie noch in Rio war, nicht das Gefühl, dass sie uns entgleitet. Aber jetzt... jetzt, seit sie auf dieser Ranch ist.« Ein brauner, von der Arbeit im Haus und im Garten rissiger Finger tippte auf das Wappen. »Weißt du, was Archie gesagt hat?« »Was ?« Madeleine war sehr daran interessiert, denn ihr Sohn war mit Menschlichkeit und einer Auffassungsgabe gesegnet, der nicht einmal Tom das Wasser reichen konnte. »Na ja, ich hatte selbst nicht daran gedacht«, gab Pauly zu, »aber du weißt ja, wie eifrig Cristi vom ersten Tag an auf dem Gut mitgearbeitet hat. Sie hatte immer was zu tun und wollte so
viel wie möglich von Donnie, Archie oder Tom lernen ...« Madeleine wartete geduldig. Pauly würde letzten Endes auf den Kern der Sache kommen. »Archie ist der Ansicht, dass ihr Eifer in Drumveyn Grundstein ihrer Begeisterung für die Ranch ist«, erklärte Pauly. »Rio war Spaß und Glamour, und der Aufenthalt dort war so etwas wie Ferien, die sie sich für eine Weile gegönnt hat.« Madeleine fand, dass Pauly Archie gar nicht so schlecht zitierte. »Demnach ist also die Ranch, die ihrer Beschreibung nach sehr schön sein muss, so etwas wie ein brasilianisches Drumveyn für sie?« Wunderbar, wenn das zutraf; verständlich, dass Cristi überwältigt von der Tatsache war, dass ihr diese Ranch gehörte. »Archie sagte etwas von ... ich weiß nicht, ob ich das richtig wiederhole. Er meinte, es müsste jeden beeindrucken, wenn er entdeckte, dass er seine Wurzeln an einem Ort hat, der ihm das Beste von beiden Welten bietet.« Die Richtigkeit dieser Erkenntnis traf Madeleine bis ins Herz. Wir haben Cristi dazu erzogen, protestierte sie innerlich. Warum haben wir ihr das gegeben, was sie von uns weglockt? Aber wie hätten wir das ahnen können? Sie fasste sich und rief sich ins Gedächtnis, dass Cristi kein Kind mehr war, nicht einmal mehr eine Heranwachsende - sie war jetzt eine junge Frau. Es gab keinen Grund für sie, an ihrer Adoptivfamilie festzuhalten. Vielleicht hatte Drumveyn nicht mehr dieselbe Bedeutung für sie wie früher. Damals war es wichtig für sie gewesen, es war die Rettung für das verstoßene Kind gewesen, doch was sollte sie jetzt noch hier halten? Madeleines Gedanken schweiften wieder zu Dougal, und seine beherrschte, ent schlossene Miene stand ihr vor Augen. Hatte er bereits akzeptiert, dass Cristi fort war? Madeleine verdrängte das Bild - jetzt stand Paulys Bedürfnis nach Trost im Vordergrund. »Ich habe Archie klar gemacht«, fuhr Pauly fort, »dass Cristi
unmöglich einen solchen Betrieb leiten kann. Sie ist noch ein Mädchen und hat ihr Studium kaum hinter sich. Aber er meinte, dass ihr Großvater offensichtlich in der letzten Zeit selbst nicht viel mit den Geschäften zu tun gehabt hat - also müsste es Leute geben, die ein Auge auf die Ranch haben. Er hielt es für durchaus denkbar, dass Cristi mit allem fertig wird. Ich war richtig böse auf ihn.« »Wahrscheinlich wollte er nur realistisch sein. Ich verstehe, was er meint.« Tom hatte seine eigenen Ansichten über die Fonseca-Familie und war überzeugt, dass sie Ziele verfolgten, die noch nicht klar waren. Doch es hatte keinen Sinn, Pauly mit diesen Bedenken noch mehr zu beunruhigen. »Aber nimm mal an, Archie hätte Recht - du glaubst doch nicht, dass Cristi jemals aufhört, uns gern zu haben, oder? Sie gehört zur Familie.« Sie wollte noch hinzufügen: »Daran wird sich nie etwas ändern«, aber diese Worte kamen ihr leider nicht über die Lippen. »Das weiß ich; natürlich weiß ich das«, entgegnete Pauly nervös. »Und es ist schrecklich von mir, dass ich auch nur für eine Sekunde daran zweifle. Aber manchmal, wenn ich mich erinnere, dass ich nur ein paar Jahre älter bin als Cristi, dass ich auf keinen Fall ihre Mutter sein und sie mich auch nie in diesem Licht sehen könnte, dann bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher. Ich komme mir ein wenig dumm vor, um ehrlich zu sein. Cristi ist so reif für ihr Alter, gar nicht wie eine Studentin, und sie ist kreativ und talentiert, während ich nichts anderes kann, als einen langweiligen Pudding zusammenzurühren ...« »Pauly!« Madeleine sprang lachend auf, um Pauly zu umarmen. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen solchen Unsinn gehört. Du bist die perfekte Mutter für alle vier. Also schön«, fügte sie hinzu, als Pauly den Mund öffnete, um sie daran zu erinnern, dass sie niemandes Mutter war, »dann bist du eben die perfekte Frau in dem Haushalt und der Mittelpunkt der Familie, ein Quell der Stabilität, der Liebe, des Trostes, der Geborgenheit - nenn es, wie du willst. Aber du füllst deine Rolle
blendend aus. Das ist mein Ernst. Und du weißt, dass Archie das genauso sieht.« Und gerade Pauly sollte eigene Kinder haben. Diese Ungerechtigkeit machte Madeleine immer noch zu schaffen. »Ja, ich glaube, Archie denkt, dass ich meine Sache einigermaßen gut mache«, räumte Pauly ein. Ein Lächeln blitzte unter den Tränen auf, die die wilden Haarsträhnen benetzten und auf den Wangen glitzerten, die sich bei der Anstrengung, so komplizierte Empfindungen in Worte zu fassen, leicht gerötet hatten. Doch dann kehrten die Selbstzweifel zurück. »Aber manchmal komme ich mir so jung vor.« »O Pauly, Liebes.« Madeleine drückte sie an sich. »Beklag dich nicht darüber.« Pauly schniefte und lachte über sich selbst, erwiderte die Umarmung, dann befreite sie sich, straffte den Rücken und wischte sich mit dem Pulloverärmel die Tränen vom Gesicht. »Das tue ich normalerweise auch nicht. Ich rase herum und erledige, was getan werden muss. Aber ich schätze, diese Geschichte mit Cristi hat mich dazu gebracht, einiges zu begreifen.« Sie zögerte, dann beschloss sie, sich alles von der Seele zu reden. »Ich finde, Nicholas war in den letzten Ferien ziemlich still. Ist dir das auch aufgefallen? Es ist vielleicht weit hergeholt, doch ich frage mich, ob die Fonsecas, die aus heiterem Himmel Verbindung zu Cristi aufgenommen haben, ihn dazu brachten, über Cecil nachzudenken.« Madeleine rief sich das Gespräch mit ihm in Gedächtnis und fühlte sich schuldig, weil sie der Sache nicht auf den Grund gegangen war. Zudem dachte sie an Toms Mahnung, dass sich der Junge im Vertrauen an sie gewandt hatte. Bevor sie das Wort ergreifen konnte, fuhr Pauly fort: »Das wäre ganz natürlich. Aber er ist auch in einem schwierigen Alter und hat im Moment eine Menge zu verkraften - die Pubertät, Jungenprobleme und so weiter -, das macht mir Angst.« »Archie ist doch auch noch da, er wird sich damit befassen
und ihm helfen.« »Hm.« Pauly schien nicht überzeugt zu sein. »Ich weiß, dass Archie in nächster Zukunft mit ihm darüber sprechen möchte, dass er nicht sein leiblicher Vater ist. Nicholas weiß das selbstverständlich, genau wie Josie und Peta wissen, dass sie adoptiert sind. Archie wollte den Kindern nie etwas vormachen oder ihnen das Gefühl geben, dass wir ihnen etwas verheimlichen. Jetzt findet er, Nicholas ist alt genug, um mehr zu erfahren, doch er weiß, dass es schwer für den Jungen sein wird.« »Ja, es ist bestimmt nicht leicht zu verkraften.« Tom hatte Recht gehabt, dachte Madeleine. Die Angelegenheit würde sich von selbst regeln, auch ohne ihre Hilfe. Aber Madeleines Miene wurde ernst, als sie daran dachte, wie schockiert sie selbst gewesen war, als Cecil sich entschlossen hatte, mit Spendersamen schwanger zu werden. Sie schämte sich noch immer, weil sie zugeben musste, dass ihr Entsetzen hauptsächlich auf nacktem Abscheu gegründet hatte. Sie war sicher, dass Nicholas mit seinen vierzehn Jahren über diese Dinge besser Bescheid wusste als sie damals. Und er war vermutlich auch toleranter, doch ein solches Gespräch war sicherlich sehr heikel. Zum Glück hatte Archie so viel Weitblick besessen, schmerzlichen Entdeckungen vorzubeugen, indem er von vornherein klargestellt hatte, dass er von keinem der Kinder der biologische Vater war. »Ich denke, Archie wird in den nächsten Ferien mit ihm reden«, sagte Pauly. »Er möchte Nicholas Zeit geben, alles zu verdauen, sola nge er in seiner Nähe ist und all seine Fragen beantworten kann. Weihnachten und Neujahr ist nicht gerade ein idealer Zeitpunkt dafür, aber Archie möchte es nicht mehr länger aufschieben.« Madeleine hielt das für klug. »Doch im Grunde gibt es gar keinen idealen Zeitpunkt für derartige Eröffnungen«, bekannte Pauly traurig. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn sich Nicholas auch nur für einen Augenblick ungewollt oder ungeliebt fühlen
würde. Er ist so ein ... so ein standhafter, zuverlässiger Mensch.« Sie musste nach den richtigen Worten suchen, aber Madeleine fand, sie hätte keine besseren wählen können. Ihr wurde bewusst, wie viel sie von Pauly verlangten und wie selbstverständlich das, was sie zu geben hatte, für alle war. Pauly war als junges, gänzlich unerfahrenes Ding in diese seltsam zusammengewürfelte Familie gestolpert und hatte sich niemals gegen die Verantwortung aufge lehnt, die sie auf sich nehmen musste. Stattdessen hatte sie Warmherzigkeit und Fröhlichkeit verströmt und sich mit Liebe um alle gesorgt. Wir beweisen ihr nicht annähernd genug Anerkennung, überlegte Madeleine und bedachte sie mit einem liebevollen Blick. »Archie wird das schon hinkriegen«, versicherte sie. »Das weißt du selbst. Und Cristi kommt bestimmt bald nach Hause, welche Entscheidungen sie auch immer für die Zukunft trifft.« »Ich wünschte eben, alle wären hier, und zwar die ganze Zeit«, erklärte Pauly grimmig und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen von den Wangen.
20. Kapitel Luis beugte sich weit über den Pferdehals und schob die Zweige am Rand der Schlucht beiseite, bevor er den steilen Abstieg in Angriff nahm. »Aber waren wir nicht schon einmal in dieser Schlucht?«, fragte Cristi. Er hatte ihr für heute etwas ganz Besonderes versprochen, obwohl es ihr nicht wichtig war, wohin sie ritten, solange Luis sie begleitete. »Warts ab«, meinte er nur und drehte sich zu ihr um, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgte. Dies war in seiner Kindheit sein geheimstes Versteck gewesen, aber er hatte es schon seit Jahren nicht mehr aufgesucht. Cristis Freude über alles, was sie auf Tres Pinheiros entdeckte, hatte ihn dazu verleitet, ihr diesen Lieblingsort zu
zeigen, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Ausflug derartige Empfindungen in ihm wecken würde. Er führte Cristi immer weiter in die Tiefe. Die Schatten schlossen sie ein. Moos und Farn wucherten überall, und die schwere Luft hinterließ den Geschmack von feuchter Erde und Vegetation, die nie von der Sonne berührt wur de, auf der Zunge. Und plötzlich, gerade als Cristi der grüne Schimmer, in dem kein Vogelgezwitscher zu hören war, und die stille, stehende Luft unheimlich wurden, sah sie, dass vor ihr Licht in die Schlucht fiel. Sie kamen auf einen Felsvorsprung, der über einen Teich ragte. Darunter stürzte der Fluss über den Felshang, und die Wassertropfen glitzerten in einem Sonnenstrahl, der den Teich in gr ünes Licht tauchte. Der große Felsvorsprung lag ganz und gar in der Sonne. Luis schwang sich aus dem Sattel und ging auf Cristi zu, um ihr beim Absteigen zu helfen. »Ich habe noch nie jemanden hierher gebracht«, bekannte er leise, und Cristi wusste, dass er die Wahrheit sagte und sich ihr öffnete wie selten. »Es ist ein magischer Ort«, erwiderte sie im selben Ton. »Magisch im doppelten Sinn des Wortes - schön, aber auch geheimnisvoll.« Luis nickte und legte den Arm um sie. »Man muss zur richtigen Tageszeit herkommen. Ohne Sonne sieht alles ganz anders aus... Als ich noch ein Junge war, machte ich mir manchmal vor, dass ich den Weg aus der Schlucht nie mehr finden würde. Ich bekam ziemliche Angst, obwohl ich wusste, dass ich das alles nur erfunden hatte.« »Das kann ich mir vorstellen. Ich glaube nicht, dass ich an einem trüben Tag herkommen möchte.« Cristi lief ein Schauer über den Rücken. Oder allein, fügte sie im Stillen hinzu, während sie beobachtete, wie Luis die Pferde zum Wasser führte und wartete, solange sie tranken. Dann schlang er die Zügel um den Ast einer dürren Pinie, die sich ins Licht zu kämpfen schien. Cristi war gerührt, weil er ihr ein solches Geständnis gemacht
hatte. Hier war er nicht mehr der Playboy von Rio, dem nur das Beste gut genug und der ständig auf der Suche nach neuen Anreizen war, während er seine kleine Cousine nach eigenem Gutdünken herumführte, sie aber nie vergessen ließ, dass er sich aus reiner Gefälligkeit um sie kümmerte. Er brachte die Ponchos, die sie hinter ihren Sätteln festgebunden hatten, und breitete sie auf dem Felsen aus, aus dem das Wasser bequeme Sitzkuhlen herausgewaschen hatte. »Wenn man bedenkt, wie viele Jahre es dauert, bis ein Felsen so eine Form bekommt«, murmelte Cristi und strich mit den Fingerspitzen über die Höhlen und Windungen. »Oder bis sich der Fluss eine so tiefe Schlucht gegraben hat. Wenn man das Plateau überblickt, ahnt man kaum, dass es solche Abgründe gibt.« »Wahrscheinlich hat noch nie ein Mensch außer den Fonsecas diesen Platz hier gesehen«, meinte Luis. »Eigenartige Vorstellung, nicht? Großvater hat ihn mir gezeigt, und sein Vater hat ihn hierher geführt, als er noch ein Kind war.« Cristi hörte zum ersten Mal diesen Unterton in seiner Stimme, als übermannte ihn fast gegen seinen Willen die Wehmut nach etwas, was ihm früher sehr viel bedeutet hatte. »Bist du gut mit Großvater ausgekommen, als du noch klein warst?« Luis biss die Zähne aufeinander und wandte sich ab, als wäre Cristi mit dieser Frage zu weit gegangen, und sie glaubte schon, er würde ihr die Antwort ganz und gar verweigern. Doch dann verzog er das Gesicht und erwiderte: »Damals war er mein Held, ob du es glaubst oder nicht. Ich habe mir immer ausgemalt, dass irgendwann... ach, ist ja egal!« Er legte sich zurück und stützte sich auf die Ellbogen. Die Hutkrempe verdeckte seine Augen, und Cristi dachte, dass nichts mehr folgen würde, aber nach einer Weile erklärte er schroff: »Er verlangte zu viel von den Menschen, die ihm nahe standen. Hauptsächlich Unterwerfung. Man konnte ihn nie
zufrieden stellen, es sei denn, er hatte das Gefühl, dass er einen besaß. Deshalb ist Tio Joäo gegangen, wie du weißt, und deshalb sorgte mein Vater, obwohl er das Haus in Rio bewohnt, dafür, dass er finanziell von den Launen und Schrullen des alten Mannes unabhängig war. Denn es waren Launen - gewaltsame und destruktive Launen. Es war unmöglich, ihm alles recht zu machen, was immer man auch tat.« Also hatte Luis es versucht und keinen Erfolg gehabt - und das belastete ihn. Sein Ton warnte Cristi, dass er nicht mehr zu diesem Thema zu sagen beabsichtigte. Schweigen senkte sich über sie. »Niemand von euch weiß, wo meine Mutter ist, oder?«, brach es plötzlich aus Cristi hervor. Sie hatte sich nicht vorgenommen, sich nach Justina zu erkundigen, aber die Stimmung trieb sie dazu. Luis vernahm das Flehen sehr wohl und neigte den Kopf zurück, um sie anzusehen, dann setzte er sich auf. Er rückte näher zu ihr, so dass sich ihre Schultern berührten, und ergriff ihre Hand - ihre schlanken Finger fühlten sich angenehm an. Er antwortete mit zärtlicher Vertraut heit, die Cristi niemals in ihm vermutet hätte. »Nein, querida, wir wissen es wirklich nicht. Justina ist spurlos verschwunden, und in all den Jahren haben wir kein Wort von ihr gehört. Tut mir Leid. Es ist schwer für dich. Dir muss so viel im Kopf herumgegangen sein, als du nach Brasilien kamst.« Dies war das erste Mal, dass er das zur Kenntnis nahm. »Ich habe Leopoldo nach Isaura gefragt«, gestand Cristi unvermittelt. Ihr war unbehaglich zu Mute, weil sie sich hinter Luis' Rücken umgehorcht hatte. »Isaura?« Luis war verblüfft, aber auch wachsam und argwöhnisch. Also haben mich meine Instinkte nicht getäuscht, dachte Cristi. Die Fonsecas wollten alles unter Kontrolle haben.
»Sie war die Dienerin meiner Mutter«, erklärte sie. »Mein Kindermädchen. Sie ist auf der Ranch aufgewachsen. Ihr Vater war Vorarbeiter, doch ich weiß nicht, wie er hieß. Ich dachte, sie könnte noch hier sein und wissen ... oder irgend jemand könnte wissen ...« »O Cristi.« Luis legte wieder den Arm um sie und zog sie an sich. Sie war dankbar für seinen Trost. Aber auch wenn ihre Niedergeschlagenheit ihn berührte, nahm sich Luis, ga nz im Stil der Fonsecas, vor, ein ernstes Wort mit Leopoldo zu wechseln. »Offenbar ist die Familie Vorjahren von hier weggezo gen. Damals, als all das passierte«, erklärte Cristi. Als ich fortgeschickt wurde. »Ein Mann verlor seine Arbeit, eine Familie verlor ihr Heim, und das nur weil sie etwas mit meiner Mutter zu tun hatten.« »Ja, so wird es wohl gewesen sein«, entgegnete Luis ausdruckslos. »Großvater hat sicher alles und jeden verstoßen, der mit Justina in Verbindung stand. Genau wie er es mit dir gemacht hat.« »Aber jetzt?« Sie drehte sich zu ihm und schaute ihn an. »Was hat ihn dazu veranlasst, seine Ansicht zu ändern? Hat er meiner Mutter vergeben? Hat er vor seinem Tod von ihr gesprochen?« Hat er von mir gesprochen? Aber diese Frage brachte sie nicht über die Lippen. »Was hat ihn wirklich dazu gebracht, mir die Ranch zu hinterlassen? Es ist eine eigenartige Entscheidung.« Hass und Boshaftigkeit haben ihn dazu gebracht, ging es Luis durch den Kopf. Der schiere Zorn, weil er, bis auf diese unbekannte Enkelin, keinen einzigen Blutsver wandten mehr hatte, mit dem er nicht heillos zerstritten war. Doch Luis beschloss, das alles für sich zu behalten. »Denk dran, dass er deine Mutter vergöttert hat, als sie ganz jung war.« Er sah Cristi an, dass er genau das Richtige gesagt hatte. Ohne jede Ironie setzte er hinzu: »Und es war ihm sehr wichtig, dass das Land in der Familie bleibt.«
»Natürlich.« Das leuchtete Cristi ein. Sie war überrascht, dass ihr in Rio nicht das Angebot unterbreitet worden war, sie auszuzahlen. Tom und Archie hatten fest damit gerechnet. Sie konnte nur vermuten, dass die Familie eine solche Möglichkeit aufschob, bis sie die Ranch gesehen hatte. Ihre Gedanken wanderten zu einer Sache, die ihr mehr am Herzen lag. »Ich muss eingestehen, dass ich mich gefragt habe, ob Großvater versucht hätte, mich zu sehen und kennen zu lernen, wenn er nicht so kurz, nachdem er das Testament verfasst hatte, gestorben wäre.« Luis betrachtete ihr abgewandtes Gesicht - sein Mitge fühl war wie weggeblasen. Glaubte sie tatsächlich, dass der alte Mann diese Entscheidung aus sentimentalen Gründen gefällt hatte? Wo war ihr Fonseca-Blut? Luis gehörte einer Kultur an, in der es zum guten Ton gehörte, den Menschen das zu sagen, was sie hören wollten. »Ich bin überzeugt, dass das sein Wunsch gewesen wäre. Er wollte eine Geste der Versöhnung, da kannst du sicher sein. Eine Geste, die dir einige Schwierigkeiten bereitet, hab ich Recht?« Joachim drängte Luis dazu herauszufinden, was Cristi beabsichtigte. »Sie bringt Verantwortung mit sich, die ein Mädchen deines Alters in Angst und Schrecken versetzen muss - ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich auf deine charmante Jugend hinweise?« Er drückte sie leicht, um seinen Worten den Stachel zu nehmen. »Na ja, im ersten Moment dachte ich tatsächlich nicht daran, die Ranch zu behalten, falls du das meinst. Oder sie gar selbst zu leiten.« Cristi schmiegte sich an ihn. Sie war froh, dass sie endlich darüber sprechen konnten. »Ich habe mich nur darauf gefreut, euch alle kennen zu lernen und herauszufinden, wie wir miteinander auskommen und welche Absichten Großvater in Wahrheit verfolgt hat. Und ich wollte Tres Pinheiros sehen.« »Und jetzt?« Luis hatte ziemliche Mühe, neutral zu bleiben. »O Luis, die Frage ist schwer zu beantworten. Ich begreife ja noch nicht einmal richtig, dass es die Realität ist. Ich bin
hingerissen von der Schönheit dieses Landes, und es gibt Momente, in denen ich spüre, dass ich hierher gehöre. Alles erscheint mir auf seltsame Art vertraut. Aber natürlich weiß ich, dass es verrückt wäre, auch nur daran zu denken, einen solchen Betrieb in eigene Hände zu nehmen. Ich, eine Dreiundzwanzigjährige, eine Kunststudentin, die kaum Ahnung von Ackerbau und Viehzucht hat, in einem Land, von dem sie nicht das Geringste weiß! Dann denke ich an Drumveyn und den Glen und alle Menschen dort, und ich weiß, dass ich ohne sie nicht leben könnte. Das ist meine Heimat.« Sie rührte sich zwar nicht von der Stelle, doch mit diesem einen Wort hatte sie Luis verlassen. In Schottland war jetzt Herbst - im Morgengrauen war das Gras gefroren, Nebel stieg vom Loch auf, um den milchig weißen Himmel zu verschleiern; scharfer Wind und peitschender Regen setzten dem Garten zu, und der Rasen war bedeckt mit Laub. Die Buchen färbten sich leuchtend gold, nachts röhrten die Hirsche, und der erste Schnee bedeckte die Berggipfel; der Fluss war angeschwollen. Das war ihre Welt. Und abgesehen von der Landschaft, die immer starke Gefühle in ihr wecken wür de, fühlte sie sich dort geborgen, geliebt und verstanden. Dort musste sie ihre Worte nicht sorgfältig auswählen, und sie musste das, was man zu ihr sagte, nicht erst analysieren und ergründen. »Ah, meine arme Cristi, dein Heimweh ist stärker, als du uns hast wissen lassen.« Luis sprach mit Wärme und Mitgefühl. »Es war sehr tapfer von dir, nicht über dein geliebtes Drumveyn zu sprechen, weil du dachtest, du würdest uns damit langweilen.« »Du meinst, dich hätte es gelangweilt«, gab Cristi zurück. Ihre Direktheit brachte ihn zum Lachen. Obwohl er sie in den letzten Tagen dazu gebracht hatte, mehr von sichz u erzählen, war er nicht gerade ergriffen gewesen von dem, was sie ihm erzählt hatte. »Ich möchte mehr davon hören«, beharrte er. Es war
angenehm, hier auf dem Felsen in der Sonne zu sitzen, zu spüren, wie der Gischt des Wasserfalls die Luft kühlte, und zu wissen, dass er mit diesem durchschaubaren kleinen Geschöpf an seiner Seite spielen konnte, wie er wollte - er musste nur die richtige Reaktion zeigen. Sie weckte nicht das leiseste sexuelle Begehren in ihm, weil er zum Glück im Moment andere Prioritäten setzte. Es gab jedoch gewisse Augenblicke, in denen es ihm nichts aus gemacht hätte, etwas deutlicher zu werden. »Du wirst in zwei Minuten gähnen«, erwiderte Cristi. Womit könnte sie sein Interesse halten? Von dem schäbigen alten Haus würde er bestimmt nicht viel halten. Obwohl sich Cristi kein schöneres Heim vorstellen konnte, solange Pauly ihre Familie mit Herzlichkeit, Behaglichkeit und gutem Essen verwöhnte, war es weder so gepflegt noch so luxuriö s wie alles, was Luis gewöhnt war. Und in seinen Augen musste Archie, der ständig mit Farmarbeit und den Problemen des Gutes beschäftigt war, ein ausge glichenes Temperament und wenig Ambitionen hatte, ausgesprochen nichts sagend und fade erscheinen. Tom und Madeleine wären für ihn nicht mehr als ein stilles älteres Paar, das sich selbst genügte und zufrieden auf dem Gut, in einer kleinen Dorfgemeinschaft und im Glen lebte. Luis wollte sicher auch nichts von Nicholas, Peta oder Josie hören. Cristi hatte beobachtet, wie ungehalten er seine Neffen und Nichten abgewimmelt hatte. Allerdings konnte sie sich nichts vormachen - die erste Person, die ihr eingefallen war, als sie sich klar gemacht hatte, dass Luis alles an zu Hause öde und uninteressant finden würde, war Dougal gewesen. Diese Erkenntnis brachte Scham und Ärger über ihre Untreue mit sich. Sie wurde rot, nachdem sie fatalerweise die beiden kurz nebeneinander vor sich gesehen hatte - Luis hübsch, weltmännisch, redegewandt, mit trägem Lächeln und ungeheuer selbstbewusst und Dougal reserviert und unnahbar, wie sie ihn zumindest kurz vor ihrer Abreise erlebt hatte, jemand, der seinen eigenen Weg geht, bei dem bleibt, was
er für richtig hält, und sich von niemandem beeinflussen lässt. Eine solche Haltung ze igte auch Selbstbewusstsein, argumentierte Cristi im Stillen, aber bei dem unfreiwilligen Vergleich war er ihr eigensinnig und stur vorgekommen, und in ihr brannte die Wut, als sie daran dachte, wie er sich von ihr distanziert hatte. »Erzähl mir von deinem Studium.« Wenn allein die Erwähnung von Drumveyn sie zum Träumen brachte, musste sich Luis was anderes einfallen lassen, um die Dinge voranzutreiben. »Du hast nicht viel darüber geredet.« Weil du nicht zuhören wolltest. Aber Cristi sprach das nicht an. Dies war ein erträglicheres Thema, und sie griff es nicht nur auf, weil es Luis' Aufmerksamkeit eher fesseln konnte, sondern auch, weil dies zu einem Teil ihres Lebens gehörte, den sie immer mehr vermisste. Es fehlte ihr, die eigenen Hände zu benutzen, ihre Werkzeuge in Reichweite zu haben, sich in kreativen Tätigkeiten zu verlieren, und das erhabene Gefühl der Befreiung zu empfinden, wenn die Stunden in voller Konzentration verflogen. Luis wollte allerdings mehr über ihre Erfahrung als Studentin im Ganzen wissen. Er ließ sie die Altstadt beschreiben, den Campus, die Wohnung in der Warrender Park-Siedlung, und Cristi ertappte sich dabei, wie sie Luis an diesem abgeschiedenen, verlassenen Ort Dinge erzählte, über die sie bisher nur mit Dougal gesprochen hatte. »Es hätte kein solcher Schock sein dürfen, das weiß ich. Ich war vorher schon in einem Internat. Aber ich nehme an, meine Kindheit war sehr behütet.« Wie konnte sie jemandem wie Luis erklären, dass sie in Drumveyn dazu erzogen worden war, Werte wie unbedingte Aufrichtigkeit, Vertrauen und Güte als ganz normal anzusehen? »Ich meine, auch im Internat sind bestimmt eine Menge Dinge vorgefallen, doch ich hatte nie eine Ahnung davon. Wenn ich zurückblicke, erscheint es mir, als wäre ich mit achtzehn noch dasselbe Kind gewesen wie damals, als ich in dieses Internat kam.«
»Was war so anders an der Universität?« »Alles ist vordergründig und sehr freizügig. Es war ein ziemlich schwieriger Lernprozess für mich. Aber am schwersten zu verkraften war die Sache mit meinem Aussehen. Bis dahin kam ich mir nie - nun, außer vielleicht in der Anfangszeit im Internat - so vor, als wäre ich ganz anders und seltsam.« »Seltsam?« Das machte Luis stutzig. »Ich sehe ungewöhnlich aus - fremdländisch«, erläuterte Cristi gereizt. Es war ihr immer noch verhasst, an diese Zeit zurückzudenken. Sie merkte nicht, dass Luis sie erstaunt ansah einen solchen Ton hatte er bei ihr noch nie gehört. »Plötzlich wurde das ein Thema. Besonders die Männer redeten davon nun ja, es waren eigentlich keine Männer, sondern nur kleine Jungs, Schmutzfinken. Sie verfolgten mich, als wäre ich eine Beute, die jeder als Erster erlegen wollte, und kein menschliches Wesen. Sie wollten nur ihr Ziel erreichen. Damit bin ich überhaupt nicht fertig geworden. Ich litt schon fast unter Verfolgungswahn. Ich hatte das Gefühl, nirgendwohin gehen zu können, ohne angestarrt zu werden, und wenn sich jemand für mich interessierte, war ich überzeugt, dass er nur...« Sie verschluckte den Ausdruck, der ihr dazu einfiel und der Luis sicherlich nicht gefallen hätte. »Dann sagte man mir nach, frigide zu sein oder eine... Na ja, das kannst du dir ja denken.« »Aber, Süße, du musst doch damit rechnen, dass sich die Männer nach dir umdrehen. Du bist ein sehr hübsches Mädchen«, erwiderte Luis automatisch. Möglicherweise würde ihm nicht gefallen, was er noch zu hören bekam, doch er musste es erfahren. »Exotisch. Das war das Wort, das mir immer wieder zu Ohren kam. Das heiße südamerikanische Blut... und so weiter. Sie waren überzeugt, dass ich unglaublich leidenschaftlich, amoralisch und in gewisser Weise anders bin. Es war ein Albtraum.« »War es nicht vielmehr ein ganz normaler Bestandteil des
Studentenlebens?« Für den Luis nichts als Verachtung übrig hatte. Gebildete Menschen benahmen sich nicht so. »Oh, vielleicht. Ich muss zugeben, dass es vieles gab, was mich anfangs schockierte. Ich war ein kleiner Tugendbold. Ich hatte Schwierigkeiten mit ganz norma len Dingen. Zum Beispiel konnte ich nicht verstehen, dass Menschen in Unordnung und Schmutz leben, sich mit scheußlichem Essen begnügen und faul sein konnten, ohne sich darum zu scheren, ob sie ihren Eltern oder dem Steuerzahler auf der Tasche lagen. Und viele liehen sich Geld, ohne je die Absicht zu haben, es zurückzuzahlen. Aber das war eher ein Kulturschock. Genau wie der Alkohol und die Drogen.« »Du hast Drogen genommen?« Solche Dinge mussten geklärt werden, und Luis machte sich gar nicht die Mühe, seine Neugier zu verbergen. »Oh, ich habe einmal einen Zug probiert wie jeder.« »Und du schämst dich nicht deswegen?« Cristi zog die Augenbrauen hoch. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Luis bei seinem Lebensstil von diesen Versuchungen verschont geblieben war, aber das war in seinen Augen natürlich etwas ganz anderes. »Es war eben so. Auf Partys gab es das Zeug. Und wenn man es nicht probiert, weiß man nicht, worum es geht, oder? Ich glaube kaum, dass es einen Studenten auf der Welt gibt, der gar nichts versucht hat. Ich habe diese Drogen zu neunzig Prozent abgelehnt, und ich konnte dem Gefühl, das ich dabei hatte, nicht viel abge winnen.« Cristi brach ab und sah sich mit einem schiefen Lächeln um. »Es ist wirklich seltsam, ausgerechnet hier über das alles zu sprechen. Es ist ein anderes Leben.« »Doch mit der Zeit wurde alles besser?« Luis ließ sich nicht vom Thema abbringen. Er musste wissen, ob einer dieser ungehobelten jungen Männer »sein Ziel erreicht hatte«, wie sie es ausdrückte.
»O ja. Ich war nur während des ersten Semesters einsam. Es schien niemanden zu geben, mit dem ich reden konnte.« Sie hatte sogar überlegt, das Studium abzubrechen, obwohl sie großes Interesse an dem Seminar und den Kursen hatte. »Aber natürlich gab es auch einen ganzen Haufen netter Menschen um mich herum. Ich hatte nur nicht nach ihnen gesucht.« Die Erinnerung an einsame Wochenenden, an Novembertage, an denen sie die feuchtkalten Straßen zurückzustoßen schienen, wenn sie aus dem Haus ging, und die Welt aussah, als wäre sie mit nassen grauen Steinen ummauert. Der einzige Trost damals war, dass sie Dougal endlos lange Briefe schreiben konnte. Wie beruhigend es gewesen war, ebenso lange Briefe von ihm zu bekommen, in denen er alle Einzelheiten von zu Hause schilderte, die sie unbedingt erfahren wollte. Aber er beschäftigte sich auch ausführlich mit ihren Problemen und Ängsten. Und wie klug er während der Weihnachtsferien argumentiert hatte, als er ihr ausgeredet hatte, das Handtuch zu werfen! Sie beherzigte Dougals Rat und suchte nach neuen Aktivitäten, die sie in andere Kreise führte. Und in der Literaturgruppe hatte sie Torie kennen gelernt, die ironischerweise ebenfalls im ersten Jahr Kunst studierte wie sie und die ganze Zeit dieselben Kurse besucht hatte. Von da an sah sie nicht mehr zurück. Obwohl Torie und Isa bereits Freundschaft geschlossen hatten, gaben sie Cristi nicht das Gefühl, ein Eindringling zu sein. Sie kamen zu dritt sogar noch besser zurecht, auch wenn sich bei manchen Gelegenheiten zwei von ihnen zusammentaten. »Also hast du dich eingewöhnt und integriert, doch ich hoffe, du erzählst mir jetzt nicht, dass du ein faules, undankbares Mädchen wurdest, das im Dreck lebte und sich nie wusch - kurz, eine ... wie heißt das noch ?« »Eine Schlampe ?« »Danke. Ich ziehe es, glaube ich, vor, ein solches Wort nicht
in mein Vokabular einzubeziehen. Allerdings muss ich gestehen, dass wir uns britische Studenten und vor allem die Studentinnen genauso vorstellen. Du ahnst gar nicht, wie erleichtert wir waren, als wir feststellten, dass du ganz anders bist. Nein, nein«, wehrte er ab, als sie sich ihm entrüstet zuwandte, »erzähl weiter. Als du schließlich das Studentenleben genießen konntest, waren dir auch die lüsternen Jungs nicht mehr so zuwider?« Cristi zuckte mit den Schultern. »Ein paar waren ganz in Ordnung.« Sie hatte nie einen gefunden, mit dem sie so viel zusammen sein wollte wie mit Dougal, und die unverhohlenen sexuellen Annäherungsversuche im ersten Semester hatten Schaden angerichtet. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass du in den drei Jahren - oh, es waren vier - mit niemandem ins Bett gehüpft bist? Heutzutage und in diesem Alter? Süße, ich würde dir kein Wort glauben.« »Dann musst du dir wohl oder übel selbst eine Meinung darüber bilden«, erwiderte Cristi gelassen. Auch die Autorität eines Cousins hatte Grenzen. Im Großen und Ganzen sah Luis seine ursprüngliche Ansicht als bestätigt an, auch wenn sie Justinas Tochter war. Er glaubte, dass seine kleine Cousine noch Jungfrau sein könnte - erstaunlich, wenn man bedachte, welche Freiheiten sie hatte und wie nachlässig diese Auslä nder -selbst die der Oberschicht - in diesen Dingen waren. Jedenfalls hatte er alles, was in seiner Macht stand, getan, um sich in diesem Punkt Gewissheit zu verschaffen. Die Dinge könnten um vieles schlechter stehen, das war sicher. Ein Glück, dass Cristi so aussah, wie sie aus sah. Aber sie konnte doch nicht allen Ernstes immer noch davon überzeugt sein, dass dieser heruntergekommene, widerliche blonde Engländer, mit dem sich Justina schließlich aus dem Staub gemacht hatte, ihr Erzeuger war, oder? Sie war durch und durch Brasilianerin.
21. Kapitel Dougal stützte die Ellbogen auf den alten Tisch, den er in die Küche im Croft of Ellig gestellt hatte, und starrte die vor ihm ausgebreiteten Farbmuster finster an. Er merkte, wie sich Widerstand gegen diese Aufgabe in ihm aufbaute, noch ehe er überhaupt angefangen hatte. Er schob diese Entscheidungen schon ein paar Tage vor sich her, ohne sich den wahren Grund für seinen Unmut einzugestehen. Er redete sich ein, bisher einfach nicht dazu gekommen zu sein, weil es ihm lieber war, handwerkliche Arbeiten auszuführen oder draußen für Ordnung zu sorgen. Das hier war nicht seine Sache, er konnte mit solchem Zeug nichts anfangen. Dougal blätterte die glänzenden Farbtafeln durch und ärgerte sich über die absurden Bezeichnungen, die fast nicht zu unterscheidenden Schattierungen und noch mehr darüber, dass die Blätter unterschiedlich gefaltet waren, sodass man die verdammten Dinger immer verdreht vor sich hatte. Jedenfalls hatte es nicht viel Sinn, den Job in einer solchen Gemütsverfassung anzugehen. Wieso sollte er sich nicht ausnahmsweise einmal ein paar Minuten zur Erho lung gönnen und auf kleiner Flamme weiterkochen, um ein wenig nachzudenken? Die ganze Zeit, seit sein Leben eine so entscheidende Wende genommen hatte, beherrschten ihn gemischte Gefühle, und er wagte es nicht, sie genauer zu analysieren. Trotz der tief empfundenen Dankbarkeit für diese große Chance konnte er die schmerzliche Einsamkeit, die sich immer weiter in seinem Innern ausdehnte, nicht vertreiben. Er arbeitete schwer, war jede Minute beschäftigt, und wenn er schließlich ins Bett fiel, war er so erschöpft, dass er sofort einschlief, was auch immer ihm im Kopf herumspukte. Aber es gelang ihm nicht, die Vorstellungen zu vertreiben, die ihn plagten. Immer wieder, wenn er Reparaturen am Haus durchführte oder auf den Feldern und Weiden schuftete, die jetzt zu Drumveyn gehörten, folterten ihn Bilder, die selbst die größte
Entschlossenheit nicht auslöschen konnte. Bilder von Cristi - hier, bei ihm. Alles erinnerte ihn an sie. Was er auch tat, er setzte es in Bezug zu ihr. Es war, als hätten seine Hoffnungen und Pläne keinen Fokus, und er konnte die Gewohnheit, im Geiste mit ihr zu reden, nicht aufgeben - er brauchte ihre Reaktion auf alles, was er dachte und tat. Eigenartig, dass ihm die Auswahl der Farben, mit der er sich gar nicht abgeben wollte, diese Wahrheit vor Augen geführt hatte. Na ja, vielleicht ist es gar nicht so eigenartig, räumte er ein. Er widerstand der Versuchung, das Problem zu verdränge n, indem er die Farbmuster einfach in den Mülleimer warf, und sich erleichtert einer anstrengenden körperlichen Arbeit zuzuwenden, die weniger mit Emotionen belastet war. Es warteten weiß Gott genügend Dinge darauf, erledigt zu werden. Vielleicht hätte er gar nicht das Risiko einge hen dürfen, sich hinzusetzen. Besser wäre gewesen, er hätte einfach weitergemacht und sich von den gefährlichen Bereichen fern gehalten. Die Inneneinrichtung des Hauses war ein ganz anderes Spiel als feuchten Putz von den Wänden zu schlagen, gegen Holzwürmer anzukämpfen oder Böden zu reparieren, die in den Zimmerecken nach unten sackten. Das Problem der Einrichtung und Ausgestaltung stellte sich ihm erst nach den wesentlich einfacheren Arbeiten wie Dach decken, verputzen, Kache ln verlegen und verfugen, Klempner- und Strominstallationen. Damit wurde er leicht fertig; was er nicht konnte, lernte er, und es gab immer hilfreiche Geister, die ihm zur Hand gingen, wenn er es brauchte. Das alles unterschied sich nicht allzu sehr von den Gelegenheitsjobs, die er im Glen ausgeführt hatte. Aber die Innenausstattung war etwas anderes. Das hatte einen neuen, persönlichen Aspekt. Es ging darum, eine eigene häusliche Atmosphäre zu schaffen und dem, was er mit diesem Haus beabsichtigte, durch die Dinge, die er dafür aussuchte, Ausdruck zu verleihen. Er war unsicher und ärgerte sich fast, dass er so etwas tun musste.
»Also schön – warum?«, fragte er sich laut. Der Geruch nach frischem Holz, Putzmitteln, Kaffee und der Wärme des Gasofens hatte zum Glück schon längst den abge standenen Gestank von Zement, Dreck, modrigem Lino leum und Feuchtigkeit verdrängt. Die Antwort war, dass er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie man Behaglichkeit kreierte. Er wusste nicht einmal genau, was ihm gefiel; nur eines war sicher: Er wollte sich auf keinen Fall so einrichten, wie es ihm seine Mutter emp fehlen würde. Jean bevorzugte kräftige Farben und große Muster und packte jede Menge nutzlosen Schnickschnack in alle Winkel. Jedes Zimmer, das sie eingerichtet hatte, war eher bedrückend als gemütlich. Aber da war sie nicht die Einzige. Er kannte viele Häuser, die genau so aussahen wie das, das sie kürzlich im Dorf bezogen hatte. In seinen Kreisen war das die Norm, ein erstrebenswertes Ziel. Er dachte - um sich von anderem abzulenken - an die Nippessachen auf Jeans Kaminsims. Sie standen unerschütterlich alle an ihrem Platz, wurden ordentlich abgestaubt und poliert, und jedes einzelne Stück war Plunder. Ein Porzellanpudel mit schottischer Mütze, ein Prinzessin- Diana-Becher an einem Rand, einer mit dem Konterfei von Queen Mum am anderen, eine flötenförmige Vase, in der er noch nie eine Blume gesehen hatte, zwei silberne Kerzenhalter, in denen niemals eine Kerze gesteckt hatte, ein Foto von ihm und Jill mit Zahnlücken in einem mit kariertem Stoff bezogenen Rahmen und in der Mitte die billige, abgegriffene Messingskulptur von den drei Affen. Hausgötter. Messingaffen. Da Dougal die Türen des großen Hauses immer offen gestanden hatten, als er heranwuchs, war ihm ein ganz anderer Stil vertraut. Obwohl niemand Drumveyn als prachtvoll bezeichnen konnte, standen dort viele schöne Dinge, die im Alltagsgebrauch kaum beachtet wurden. Selbst den Gegenständen, die nicht durch ihre Schönheit ins Auge sprangen,
sah man an, dass sie Qualität hatten und aus bestem Material von Fachleuten hergestellt worden waren. Die Küche, die Archies erste Frau Cecil hatte einbauen lassen, war hell, farblich äußerst geschmackvoll und sehr behaglich. Dougal war zwölf gewesen, als diese Küche fertig geworden war, und er hatte nie einen Gedanken an die Kosten verschwendet. Er hatte es immer als gegeben angesehen, dass sich Familien wie seine alles, was sich die Napiers anschafften, ohnehin nie leisten könnten. Jetzt machte er eine grobe Schätzung und schüttelte halb resigniert, halb unmutig den Kopf, als er alles zusammenge rechnet hatte. Aber im Moment geht es gar nicht so sehr ums Geld, rief er sich ins Gedächtnis. Er musste Wandfarben aussuchen, und egal, für welche er sich entschied, ein Eimer kostete so viel wie der andere. Es war nur eine Frage des Geschmacks - es ging nicht um guten oder schlechten Geschmack, sondern um seinen Geschmack, seine persönliche Note. Er hatte nicht die Absicht, das Hirten-Cottage zu kopieren, aber möglicherweise kam es aus Zufall dazu. Was würde ihm gefallen? Er wusste es nicht. Mit einem Aufschrei packte er die Farbkarten, um sie quer durch den Raum zu schleudern, doch er nahm sich noch rechtzeitig zusammen. Diese Dinger waren nur ein winziger Teil des Problems. S ie hatten ihn nur dazu gebracht, sich über etwas Gedanken zu machen, was ihm nicht gefiel. Er lehnte sich zurück und versuchte, sich vorzustellen, wie dieser Raum aussehen könnte, wenn er nicht aufs Geld achten müsste. Er merkte, dass er nicht die Fantasie hatte, Dinge vor sich zu sehen, die nicht hier standen. Er zwang sich, an die Küchen zu denken, die er gesehen hatte. Als Erstes fiel ihm die in der alten Scheune von Drumveyn ein. Tom hatte sie schlicht gehalten, trotzdem war sie ansehnlich und einheitlich. Dougal, dem diese Küche immer gut gefallen hatte, rief sich den hübschen Raum ins Gedächtnis. Etwas in der Art kann ich hier niemals verwirklichen, dachte er frustriert. Allein der großzügige Raum und das große Fenster, der satte Farbton
des Pinienho lzbodens - das alles war genauso unerschwinglich wie die Schätze im großen Haus. Aber das Bild blieb. Wie bekam man so was zu Stande? Gutes Licht war das Wichtigste. Dann gerade Linien, eine warme, aber zarte Farbe, keine nutzlosen Gegenstände. Dougal schob die Farbmuster vehement beiseite und sprang fluchend auf. Musste er unbedingt jemanden nachahmen? Hatte er keine eigene Persönlichkeit? Aber genau darum ging es. Das war die Frage, die er unter allen Umständen vermieden hatte. Mit grimmiger Miene ging er zum Spülbecken und füllte den Teekessel, spülte den Becher aus, der auf dem Abtropfbrett stand, und hängte einen Teebeutel hinein. In den arbeitsreichen Wochen hatte er wenig Zeit gehabt, darüber nachzugrübeln - er hatte sich Mühe gegeben, es nicht zu tun -, aber heute Abend war er bereit, sich einzugestehen, dass der Schritt aus dem Leben, das er bisher gekannt hatte, ein Schritt in den luftleeren Raum gewesen war. Er hatte die Zwänge, die seinen Vater und vermutlich auch all seine Vorfahren eingeengt hatten, durchbrochen und sich unabhängig gemacht. Aber wer war er jetzt? Die Art, wie er zu seinem eigenen kleinen Reich gekommen war, war so ungewöhnlich, dass er nach wie vor gewisse Zweifel hatte, ob er all dem trauen konnte. Außerdem brachte der unverhoffte Besitz Probleme mit sich. Zum einen hatte er kein Kapital und keine Aussichten, jemals zu einem zu kommen. Manchmal beschlich ihn das Gefühl, dass er eigentlich gar nicht hier sein dürfte. Dougal fluchte leise, goss das kochende Wasser in den Becher, gab Milch dazu und nahm den Tee mit an den Tisch. Er machte sich selbst das Leben schwer. Was war nur los mit ihm? Wenn er jeden Penny gespart und alles zusammengekratzt hätte, um sich irgendwie ein Haus zu kaufen, wäre er in genau derselben Situation. Er brauchte kein Kapital. Er konnte arbeiten. In ein, zwei Jahren wür de er nicht mehr alles, was er verdiente, in die kleine Farm stecken müssen, nur um sie am Leben zu
erhalten. Er konnte sich sein Gehalt aufbessern, wenn er ein paar Hühner und ein Schwein hielt. Und er hatte auch noch genügend Platz für Ziegen. Das war alles und mehr, als er sich gewünscht hatte. Worüber beklagte er sich? Aber die Farbmuster verhöhnten ihn immer noch, und mit einem Stöhnen vergrub er das Gesicht in den Händen und stellte sich den Tatsachen. Es war eben nicht alles, was er sich wünschte. Er wollte Cristi hier haben, er wollte, dass sie seinem neuen Leben Bedeutung verlieh. Er brauchte sie. Deshalb hatte er es so lange aufgeschoben, sich um die Innenausstattung Gedanken zu machen. Sie sollten nebeneinander an diesem klobigen Tisch sitzen, diskutieren, auch streiten und die Dinge mit Bedacht und Liebe auswählen. Er wollte, dass sie diesem Haus ihre besondere Note verlieh. Es war geradezu unwichtig, dass er seinen Traum realisiert hatte, solange sie nicht bei ihm war. Nein, nicht unwichtig. Das wäre eine frevelhafte Undankbarkeit. Aber er verspürte eine Leere, die er nicht mehr ignorieren konnte. Er konnte Tag und Nacht arbeiten und würde das auch tun, doch er renovierte ein Haus, um allein darin zu leben. Er kam sich entwurzelt vor und wusste nicht, wie er sich hier heimisch machen konnte. Die düstere Vorahnung auf eine schreckliche, ewig andauernde Einsamkeit jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Cristi war fort. Damit musste er sich abfinden. Als sie abgereist war, war nicht die Rede davon gewesen, dass sie so lange in Brasilien bleiben wollte. Niemand in der Familie hatte damit gerechnet, dass sie Monate da drüben verbringen würde, das wusste er, weil Pauly mit Jean darüber gesprochen und Archie ihm gegenüber einige Bemerkungen gemacht hatte. Sie war nach Rio geflogen, weil sie die Erbschaftsangelegenheit regeln musste. Schluss. Sicherlich war nie geplant gewesen, dass sie nicht mehr zurückkam. Aber jetzt schien es, als gefiele es ihr. Offenbar war sie hellauf begeistert von dieser verdamm-
ten Ranch und dem ganzen verdammten Land. Dougal konnte sich nicht länger etwas vormachen. Er ahnte, was es ihr bedeutete, nach so vielen Jahren des Schweigens diese Seite von sich selbst kennen zu lernen, Cristi war in Brasilien geboren; ihre Verwandten waren Brasilianer. Alles, was sie hier in Drumveyn geliebt und gelernt hatte und geworden war, hatte darauf aufgebaut. Und konnte man es ihr übel nehmen, wenn sie dem ererbten Land nic ht den Rücken kehrte, nachdem sich das ganze Leben in Drumveyn nur um das Gut und die Land wirtschaft gedreht hatte? Sie war reich, sie hatte die Wahl, sie konnte kommen und gehen, wie sie wollte. Von jetzt an würde sie in Brasilien leben und zu Besuch hierher kommen. Sie würde vielleicht ins Croft kommen - beim ersten dieser Besuche - und sich ansehen, wie er vorangekommen war; sie würde voll des Lobes und Enthusiasmus sein. Bestimmt hielt sie auch die Verbindung aufrecht; es würde immer Nachrichten von ihr geben, die die Runde machten. Dougal presste die Lippen zusammen, als er überlegte, welche Nachrichten das sein mochten. Sie würde ein neues Leben im Wohlstand, mit großem Besitz und einer mächtigen Familie im Hintergrund in ihrem Heimatland anfangen. Also denk nicht einmal daran, welche Farbe ihr für deine Wände gefallen würde, du jämmerlicher Idiot. Erniedrige dich nicht so weit. Dies ist dein Leben. Du hast bekommen, was du immer wolltest. So heftig sich Dougal auch zur Ordnung rief tief im Innersten wusste er genau, dass er sich in seinen Träumen niemals allein im eigenen Haus gesehen hatte. Irgendwie hatte ihm stets, wenn auch nebulös und undeutlich, vorgeschwebt, dass er nicht allein sein würde. Cristi war allein auf dem Weg nach Porto Allegre. Sie war glücklich, rundherum glücklich. Als das Flugzeug abhob, versuchte sie, die Ranch auszumachen, und betrachtete die
Landschaft mit ganz anderen Augen als bei ihrer Ankunft in Campo Novo. Die unerwartet heftige Gewissheit, jetzt zu dieser Weite zu gehören, überraschte sie. Der Abschied am Morgen Selma war in Tränen aufgelöst gewesen, und Leopoldo, der sie zum Flughafen gebracht hatte, hatte dagestanden und die Hand aufs Herz gepresst - war ihr sehr nahe gegangen. Alles (das freundliche Flughafenpersonal und das Lächeln der anderen Passagiere) gab ihr das Gefühl, zu Hause zu sein. Sie war eine Brasilianerin unter Brasilianern, und das war etwas ganz Besonderes. In den Tagen auf der Ranch war einiges in die richtige Perspektive gerückt. Die Zeit in Rio schien mittlerweile weit, weit entfernt zu sein. Dort war sie die Außenseiterin gewesen, die unbedingt Kontakt hatte knüpfen wollen, aber immer auf Armlänge gehalten worden war. Hier wohnte sie in ihrem eigenen Haus und war nicht den wachsamen Blicken der Fonsecas ausgesetzt. Es war nicht leicht gewesen, Luis dazu zu überreden, ohne sie wegzufahren. So wunderbar die Tage mit ihm auch gewesen waren, hatte Cristi das Bedürfnis verspürt, einige Zeit allein auf Tres Pinheiros zu verbringen. Zum Glück schienen diesmal Luis' »Geschäfte« in Porto Allegre tatsächlich unaufschiebbar gewesen zu sein. Cristi begleitete ihn zum Flughafen, ging in Campo Novo einkaufen und stattete Dr. Elisario einen Besuch ab. Als Leopoldo sie danach nach Hause fuhr, erschienen ihr viele Dinge einfacher. Bei der Unterredung mit Dr. Elisario ohne Luis - hatte sie sich ganz genau erklären lassen, wie die Ranch gemanagt wurde. So antiquiert die Methoden auch sein mochten, der Betrieb lief. Selbst wenn sie sich letzten Endes entscheiden sollte, hier zu bleiben (ein Gedanke, der ihr noch zu ungeheuerlich vorkam), müsste sie die Verwaltung und Leitung des landwirtschaftlichen Betriebes nicht allein auf ihren Schultern tragen. Nachdem das geklärt war, hatte sie Muße, sich
an der Umgebung zu erfreuen, aber sie konnte nicht ehrlichen Herzens behaupten, dass ihr Luis nicht fehlte. Es war befriedigend, alle Angestellten von Tres Pinheiros kennen zu lernen oder friedlich mit jemandem, der sein ganzes Leben hier verbracht und nie eine andere Stadt als Campo Novo gesehen hatte, zusammenzusitzen und zwanglos zu reden. Diese Menschen waren gänzlich unbeeinflusst vom Bau einer neuen Hauptstadt, von Revolution und Militärdiktatur, von den Auswirkungen der Globalisierung oder deren Nachteilen - die Arbeit, das Essen, die Kleidung und der Tagesablauf hatten sich für sie seit den Sechzigerjahren kaum verändert. Cristis größtes Vergnügen waren die Ausritte mit den Gauchos, die die Herde hüteten. Abgesehen von den trägen Unterhaltungen beim Mittagsfeuer, wenn sie ihren Kaffee brauten und bereit waren, ihr alles über die Ranch zu erzählen, was sie wissen wollte, überredeten sie Cristi auch, selbst das Lasso zu schwingen. Sie lachten über ihren Eifer, es zu lernen, und waren beeindruckt von ihrer Entschlossenheit, es richtig zu machen. Cristi nutzte zudem die Chance, sich von Leopoldo zu den Nachbar-Ranches chauffieren zu lassen, um sich bei einem Besuch vorzustellen - Luis hatte einen entsprechenden Vorschlag brüsk zurückgewiesen. Sie wurde freundlich willkommen geheißen, auch wenn sie den Verdacht hegte, dass die Herzlichkeit mehr auf der traditio nellen Gaucho-Gastfreundschaft basierte als auf dem aufrichtigen Wunsch, gesellschaftlichen Umgang mit den Fonsecas zu pflegen. Vermutlich amüsierten sich die Nachbarn köstlich darüber, dass eine junge, naive patroa den Platz ihres arroganten, streitbaren Großvaters einnahm. Aber Cristi nahm die Herzlichkeit für bare Münze und genoss diese Besuche. Sie war interessiert an dem, was sie erfuhr. Santa Catarina war offenbar Vorreiter auf dem Weg zur ökologischen Landwirtschaft gewesen und konnte sich rühmen, der erste Staat
gewesen zu sein, der dem industrialisierten Landbau und dem Einsatz von Chemikalien den Rücken gekehrt hatte. Vielleicht sollte Luis die Methoden seines Großvaters doch nicht so gering schätzen oder wütend darüber sein, als hätte ihm der alte Mann mit dem, was Luis als Verweigerung des Fortschritts ansah, persönlich Kummer bereitet. Eines musste Cristi akzeptieren: Sie fand keine Hinweise auf den Verbleib ihrer Mutter oder den Isauras. Hier gab es keine Verbindungsglieder. Man erinnerte sich an Justina, das war klar, aber selbst der freundlichste Arbeiter weigerte sich, über sie zu sprechen - verständ lich, nach all den Jahren, in denen es strikt verboten ge wesen war, ihren Namen auch nur zu erwähnen. Es würde keine Wiederbegegnung geben; die Gespenster der Vergangenheit kamen nicht zur Ruhe. Wenn es zu einem Wiedersehen kommen würde, dann wäre es sicherlich schmerzvoll und von Anschuldigungen begleitet, das konnte sich Cristi jetzt eingestehen. Doch nun musste sie zudem noch mit einer anderen Qual fertig werden, nämlich der, im Ungewissen zu bleiben. Sie dachte an den Abend zur ück, an dem sie ihre Träume begraben hatte. Auf einem von Pinien gekrönten Hügel in der Nähe des Hauses befand sich der Friedhof der Familie. Luis hatte ihn ihr gezeigt. Er gab sich dabei halb spöttisch, halb ernst, als wollte er deutlich machen, dass er die Absurdität dieser Selbstverherrlichung durchaus erkennen würde, aber die Ehrfurcht vor den Toten, die man ihm als Kind beigebracht hatte, doch nicht ganz abschütteln könnte. An dem Abend, an dem sie allein dort war, verzauberte ein wunderschöner Sonnenuntergang die Landschaft. Von der Anhöhe hatte man unendlich weite Sicht auf das menschenleere, unberührte Land. Das dichte Wolkenband am westlichen Horizont leuchtete feuerrot, und das Licht verfärbte das Frühlingsgras orange. Überall dort, wo Wasserläufe oder kleine Seen waren, stieg leichter Dunst auf, von dem sich die Bäume
dunkel wie Scherenschnitte abhoben. Unterhalb des Hügels grasten Rinder; ihre Rücken schimmerten golden. Vielleicht schärfte die dramatische Szenerie ihre Sinne, jedenfalls war ihr, als kämen ihr stille Zeugen der Vergangenheit näher, als hätte dieser Ort Bedeutung für sie. Würde sich noch einmal ein Fonseca entscheiden, hier begraben zu werden? Ihre Mutter würde nie erfahren, dass ihr jetzt diese Möglichkeit wieder offen stand. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, diese Sehnsucht aufleben zu lassen. Cristi flog gen Süden, und endlich konnte sie machen, was sie wollte. Die Pflicht war getan. Sie war nach Brasilien gekommen, wie man sie gebeten hatte, hatte die Familie kennen gelernt, sich an ihre Regeln gehalten und sich nach ihrem Zeitplan gerichtet. Jetzt würde sie wieder einen anderen Teil von Brasilien sehen und ihn, das hatte sie sich fest vorgenommen, auf ihre Weise erkunden. Natürlich war Luis in Porto Allegre. Und es würde wunderbar sein, etwas mit ihm zu unternehmen - es hatte keinen Zweck, das abzustreiten -, aber sie glaubte kaum, dass er mit dem, was sie vorhatte, einverstanden sein würde.
22. Kapitel „Das ist ganz und gar ausgeschlossen. Ich erlaube das nicht.« Tut mir Leid, könntest du das näher erläutern? dachte Cristi, aber sie sprach es nicht laut aus. Luis' zorniger Gesichtsausdruck verriet ihr, dass dies nicht der passende Augenblick für alberne Plänkeleien war. Und es war auch nicht der Augenblick, ihm nachzugeben. »Es ist wirklich lieb von dir, dass du mich zu dir einlädst, und ich weiß auch, dass wir es so geplant hatten, doch ich würde lieber ...« »Du brauchst keine besondere Einladung«, schnitt ihr Luis das Wort ab. »Du gehörst zur Familie. Es ist undenkbar, dass du
dich irgendwo allein einmietest, wenn dir mein Haus offen steht. Und besonders nicht in dieser Art von Touristenunterkünften, die du im Sinn hast. Ich begreife einfach nicht, wie du überhaupt auf so eine absurde Idee kommen kannst. Das kommt ganz und gar nicht in frage.« »Aber ich möchte es«, erwiderte Cristi so ruhig, wie sie konnte. Um ehrlich zu sein, könnte sie die Aussicht darauf, mit Luis ohne die aufmerksamen Blicke der Familie allein zu sein wie in den zauberhaften Tagen auf der Ranch, ins Schwanken bringen, wenn sie ihren Stand punkt nicht sofort klar machte. Und das wäre schwieriger, wenn Luis seine Überredungskünste angewandt statt Befehle erteilt hätte. »Cristi, du benimmst dich wirklich lächerlich. Steig in den Wagen. Wir können hier nicht herumstehen und diskutieren. Es ist alles für dich hergerichtet. Wenn du dich später anders entscheidest, können wir noch einmal darüber reden.« Aber Cristi ließ sich nicht umstimmen. Sie wusste ganz genau, dass Luis ihre Argumente und Bitten ignorieren und sie zu sich nach Hause bringen würde, sobald sie im Auto - in einem schnellen Sportwagen - saß. Sie hatte nicht vorgehabt, ihren Besuch mit einem Streit zu beginnen. Ihr Herz hatte höher geschlagen, als sie ihn in der Wartehalle entdeckt hatte, und schon da waren ihr Zweifel gekommen, ob sie an ihrem Plan festhalten würde oder ob sie das überhaupt noch wollte. Doch es war wichtig für sie. Sie wollte nicht nur die Freiheit haben, diese Stadt auf ihre eigene Art zu erkunden, ohne sich Beschränkungen auferlegen zu lassen, sondern war sich auch der Gefahren bewusst, der sie ausgesetzt wäre, wenn sie die häusliche Vertrautheit mit Luis auf seinem eigenen Territorium teilen würde. Die Verwandtschaft mochte den Konventionen offiziell genügen, und bestimmt war jemand, der den Haushalt führte, ständig im Haus - Luis wusste bestimmt nicht einmal, wie ein Mikrowellenherd funktionierte -, aber Cristi könnte mit einer solchen Nähe wahrscheinlich nur schwer zurecht kommen.
Luis hingegen, dessen war sie sich ziemlich sicher, würde keine Schwierigkeiten haben, mit diesem Problem fertig zu werden. Schon auf der Ranch war er zwar sehr aufmerksam gewesen und hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich in ihrer Gesellschaft sehr wohl gefühlt hatte, doch obwohl er seine Neckereien aufgegeben und ihr seine privatere, erns tere Seite gezeigt hatte, hatte er nicht das Geringste unternommen, was man als Annäherungsversuch bezeichnen könnte. Er wäre bestimmt sehr erstaunt oder würde wenigstens vorgege ben, es zu sein, wenn sie andeuten würde, dass es als nicht schicklich angesehen werden könnte, wenn sie in seinem Haus übernachtete. Aber Cristi unterschätzte die Macht seiner Anziehungskraft auf sie keineswegs. Wenn sie sich ihm auslieferte und sich Tag und Nacht in seinem Dunstkreis aufhielt, würde sie unausweichlich in die Richtung driften, die sie nicht einzuschlagen bereit war. Aber, lieber Gott, es war verlockend! Sie war sehr nervös, als sie wiederholte: »Ehrlich, Luis, ich möchte es. Ich bin überzeugt, dass das Hotel, das ich gefunden habe, anständig ist.« Es war nützlich gewesen, ein eigenes Büro in Campo Novo zu haben, wo man ihr geholfen hatte, ihre Pläne zu verwirklichen. »Und wenn du mich nicht hinbringen willst, dann nehme ich ein Taxi.« »Sei nicht lächerlich...« »Bitte, ich habe keine Lust, deswegen mit dir zu streiten. Und wo immer ich auch wohne, ich möchte dich auf alle Fälle oft sehen. Das heißt, wenn du es willst.« Sie sah ihn unsicher und flehend an, doch das rührte ihn nicht im Mindesten. Genau das, mein Schätzchen, war der Hintergedanke, dachte Luis, hielt sich jedoch im Zaum. Er hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass diese charmante kleine Unschuld, die gewöhnlich so fügsam und willens war, es allen recht zu machen, sehr resolut sein konnte wie alle in dieser Familie von Dickköpfen. Cristi war immerhin Justinas Tochter. Und diese
Auseinandersetzung auf dem Flughafenparkplatz auszufechten war weder passend noch besonders produktiv. Kapitulation jetzt, List und Überredungskunst später. Luis hatte unerschütterliches Vertrauen in seinen Charme. Allerdings musste er sich zumindest vergewissern, ob die Unterkunft, die sie von Campo Novo aus reserviert hatte, annehmbar war. In seinen Augen war sie es nicht, aber weder seine Einwände noch seine heruntergezogenen Mundwinkel oder das missbilligende Schnalzen seine r Zunge konnten Cristi umstimmen. Ihr gefiel die schäbige Eleganz der dreistöckigen pensäo in einer ruhigen Seitenstraße der Avenida Independencia auf den ersten Blick. »Das ist perfekt«, erklärte sie entschieden und sah sich freudig in dem Zimmer um, das man ihr zugewie sen hatte. Es war groß und quadratisch und hatte eine hohe Decke. Auf dem mit cremefarben, rostbraun und grün gemusterten Kacheln ausgelegten Boden befand sich kein Teppich. Es gab ein großes Fenster mit halb offenen Läden, von denen die dunkelgrüne Farbe abblätterte, und dicht vor dem winzigen Balkon stand ein schlanker Zimtbaum, dessen zarte Äste kühlen Schatten spendeten. Cristi empfand schon jetzt nach der frischen Luft auf der Ranch die Hitze der Stadt als drückend, und dieser kühle, abgedunkelte Raum mit dem angenehmen Flair von verwelkter Pracht kam ihren Bedürfnissen sehr entgegen, obwohl er nur mit einem Bett, einem bemalten Schrank, einem Tisch und einem Sessel möbliert war. Sie sprach wie immer auf die Schlichtheit an, die sich nur auf das Wesentliche beschränkte. Allerdings war ihr klar, dass ihre Freude, dieses Hotel gefunden zu haben, auch die Erleichterung beinhaltete, dem bombastischen Lebensstil der Fonsecas entkommen zu sein. Cristi war voller Erwartungen und Vorfreude. Sie verspürte den drängenden Wunsch, den nicht einmal die Ranch in ihr geweckt hatte, in diesem stillen Zimmer zu malen, die
Oberfläche der verwitterten Fensterläden und das Licht, das durch das feine Laub des Baumes sickerte, auf Papier festzuhalten. Sie sehnte sich auch danach, das alles mit Worten zu beschreiben und für alle zu Hause, besonders für Dougal, Briefe zu verfassen. Am liebsten hätte sie sich sofort hingesetzt und den Menschen, die sie verstanden, ihre Gefühle und Gedanken geschildert. Es wartete so viel auf sie. Hinter dieser ruhigen Straße mit den würdevollen alten Häusern, die in den üppigen Gärten zu schlafen schienen, lag die Stadt, und endlich hatte sie die Möglichkeit, sich mit den Menschen und Plätzen vertraut zu machen, wie es ihr gefiel. »Ich kann nur hoffen, dass du bald zur Vernunft kommst.« Luis war noch immer sehr aufgebracht, erkannte aber, dass er behutsam vorgehen musste. »Ich rechne trotz dieser vorübergehenden Verirrung, dass du heute mit mir dinierst. Darf ich wenigstens so vie l erwarten?« Er wurde förmlich, wenn er böse war, das hatte Cristi schon vorher beobachtet. Oder war das aufgeblasene Wichtigtuerei? Selbstverständlich wollte sie sehen, wie er wohnte, und Zeit mit ihm verbringen, und zwar mehr, als er ahnte. Trotzdem hatte sie die richtige Entscheidung getroffen. Es war wichtig, dass sie eine eigene Basis hatte. Mit diesem Hintergrund konnte sie ihm eher auf gleicher Ebene begegnen. Gleich an diesem ersten Tag stellte Cristi bei ihrem Spaziergang von der pensäo zur belebten Stadtmitte fest, dass hier eine ganz andere Stimmung und ein anderes Tempo als in Rio vorherrschten. Vielleicht lag das auch nur daran, dass sie zu Fuß unterwegs war. Sie trug eines der preiswerten Baumwollkleider (alle waren schlicht, hatten jedoch wundervolle Farben), die sie in Campo Novo zusammen mit der Strohtasche, die sie über die Schulter geworfen hatte, auf dem Markt gekauft hatte. Endlich konnte sie sagen, dass sie mit beiden Beinen auf der
Erde war, als sie auf die belebte Avenida Borges de Medeiros einbog und weiterging bis zum Fluss. Sie war wie alle hier in der Menschenmenge und unterschied sich nicht von den anderen. Wieder war da dieses seltsame, aber angenehme Gefühl der Sicherheit, das sie schon auf dem Flug hierher empfunden hatte. Sie spürte keine unterschwellige Bedrohung oder Feindseligkeit in dieser Stadt. Porto Allegre war eine Großstadt und die Hauptstadt der Gauchos und besaß eine ganz eigene Atmosphäre, die jedem Besucher sofort auffiel. In Rio lauerten hinter der glamourösen Fassade überall Gefahren, und man musste an jeder Straßenecke mit Taschendieben, Straßenräubern, Bandenkriegen und Schießereien rechnen; Krankheit und Armut existierten direkt neben dem extravaganten Luxus. In den Kreisen, in denen sich die Fonsecas bewegten, konnte man nicht vergessen, dass der Reichtum des Landes in den Händen einer verschwindenden Minderheit lag. Ihr Alltag war darauf angelegt, sich vor den schrecklichen Problemen, die dieses Ungleichgewicht schuf, zu schützen und sich von ihnen zu distanzieren. Cristi war in ihrer Kindheit die Angst vor den Schrecken ebenfalls eingeimpft worden. Zweifellos gab es hier auch einige Probleme, aber der erste Eindruck, den Cristi von Porto Allegre gewann, war freundlich und friedlich. Es war eine Wonne, von den schicken, teuren Geschäften zu dem prachtvollen, im neunzehnten Jahrhundert erbauten überdachten Markt zu schlendern, wo man Produkte aus der Region kaufen konnte, und an den Fischrestaurants vorbei zum Ufer zu gehen. Wolkenkratzer überragten die kunstvollen Gebäude aus der Kolonialzeit, aber sie schienen keinerlei Einfluss auf den friedvollen Trubel in den Straßen zu haben, wo Altes und Neues, Einfaches und Prunk harmonisch nebeneinander existierten. Es machte Spaß, ganz normale Dinge zu tun: an der Brüstung am Flussufer zu lehnen und das Treiben der Schiffe zu
beobachten, in eine kühle, reich dekorierte Kir che, in der die Luft mit Weihrauch geschwängert war, zu gehen und sich an dem geschäftigen Praga 15 de Novembro in ein Arbeitercafe zu setzen und einen starken cafe-zinho zu trinken. Überall begegnete man ihr mit einem Lächeln und freundlichen Worten. Cristi hatte das Gefühl, als könnte sie mit allen Menschen eine Unterhaltung anfangen. Hatte es ihr Selbstbewusstsein gestärkt, als sie durchgesetzt hatte, einige Zeit allein auf Tres Pinheiros zu bleiben? Hatte sie sich verändert? Nein, das Gegenteil war der Fall. Hier war sie endlich wieder sie selbst. Als sie unter dem Einfluss der Fonsecas gestanden hatte, hatte sie sich angesichts der Arroganz und Autorität anders verhalten, war zurückhaltend und zu willig gewesen, sich in jemanden zu verwandeln, der sie nicht war. Es war heiß hier drin. Eine grün-weiß karierte, zerrissene Tischdecke lag auf dem Tisch. Es roch beißend nach Kaffee, der zu lange auf der Wärmeplatte gestanden hatte, und süßem Kuchen. Radiomusik dröhnte aus den Lautsprechern über der Theke. Die Männer an den Nachbartischen unterhielten sich mit so starkem Akzent, dass Cristi kein einziges Wort verstand. Luis würde niemals einen Fuß in so ein Lokal setzen und wäre entsetzt, wenn er sie hier sehen könnte. Sie war hochzufrieden, sich diese Unabhängigkeit ertrotzt zu haben. Vielleicht sollte sie nicht ganz so strahlend lächeln. Die Männer könnten das missverstehen. Sie trank noch einen Schluck von dem bitteren Gebräu, das in kleinen Tassen serviert wurde. Dann breitete sie den Stadtplan aus, den sie mitgebracht hatte. Cristi fand einen kürzeren Weg ins Hotel als den, den sie gekommen war, aber der Stadtplan gab ihr keinen Hinweis auf die sozialen Verhältnisse, die sich ihr auf die ser Route erschlossen. Die schmalen Straßen waren nur von Fußgängern benutzt und hatten einen ganz eigenen Charakter. Die Schuhputz-Jungen hatten viel zu tun. Kinder mit Tabletts, auf
denen Süßigkeiten, Spielsachen und Plastikschmuck lagen, priesen ihre Ware an, Männer verkauften Lotterielose und Briefmarken, während politische Redner ihre Theorien verbreiteten, obwohl ihnen so gut wie niemand zuhörte. Offenbar war es Sitte, dass die Mädchen auf den Gehsteigen flanierten, während die Männer mitten auf der Straße standen, plauderten oder so taten, als würden sie ihre Zeitungen lesen, die so klein zusammengefaltet waren, dass sie die Sicht auf die Umgebung nicht behinderten. Cristi, die nichts für eine träge Gangart übrig hatte, war es bald leid, sich durch die bummelnden Frauen zu winden, die, zu zweit oder zu dritt untergehakt, nebeneiander gingen. Cristi huschte auf die Straße, wo sie schneller vorankam. Damit erntete sie Pfiffe und Zurufe, die sie zum Glück nicht verstand. Offensichtlich übertrat sie eine Regel, aber genauso klar war, dass die Belustigung, die sie damit hervorrief, keinen Unmut beinhaltete. Es war sehr erfreulich, unbehelligt das andere Ende der Straße zu erreichen und nur Gelächter zu hören. O Luis, das würdest du in einer Million Jahren nicht verstehen. Es war ein Kontrast, dem sie nicht widerstehen konnte, als Luis sie an diesem Abend abholte und sie durch die breite, von Jacaranda gesäumte Straße zu der eleganten Vorstadt kutschie rte, in der er wohnte. Das Viertel mochte vornehm sein, aber auch hier fanden sich zwischen den Villen der Reichen bescheidenere Bungalows oder Hütten, und das verstärkte den Eindruck, den sich Cristi bereits von Porto Allegre gemacht hatte. In dieser Stadt wurden die Menschen so akzeptiert, wie sie waren. Luis' Haus - ein kompaktes, geschmackvolles Gebäude mit weißem Stuck und flachem Dach, großen Veranden und breiten Fenstern - gefiel ihr. Es stand am Hang eines Hügels und bot einen großartigen Ausblick über die Stadt und auf die Lagoa dos Patos. Innen war das Haus modern, die Raumaufteilung sorgfältig
durchdacht, die Möblierung und Ausstattung luxuriös. Die Gemälde an den weißen Wänden weckten sofort Cristis Aufmerksamkeit. »Kann ich dich jetzt dazu überreden, dein heruntergekommenes Quartier in der Stadt aufzugeben?«, erkundigte sich Luis, als sie durch die Räume wanderte und die Schätze betrachtete, die er gesammelt hatte. Sie glaubte, endlich einen Blick auf seine wahre Persönlichkeit zu werfen — abseits von der Familie und allem, was den Vorvätern gehört hatte. Aber seine Frage musste sie mit einem klaren Nein beantworten. Sie aßen auf der Terrasse. Da Cristi wusste, dass Luis unter allen Umständen nur das Beste verlangte, vermutete sie, dass er sich einige Umstände mit der Mahlzeit gemacht hatte. Das Ergebnis war nahezu perfekt. Man fühlte sich wie in einem Film - die raffinierte Beleuchtung, das köstliche Essen, der sorgsam ausgewählte Wein, das lautlose Kommen und Gehen der beiden Hausmädchen, die glitzernden Lichter der Stadt unter ihnen -, und im sanften Schein der Kerzen, die auf dem Tisch standen, und vor dem Hintergrund der prachtvollen Magnolienblüten sah Luis besser aus denn je. In gewisser Weise war Cristi versucht, sich treiben zu lassen und sich all dem Sinnlichen hinzugeben, das ihr geboten wurde. Diese Szene provozierte eine solche Reaktion. Aber ein eigensinniger und realistischer Teil von ihr wehrte sich gegen ein derart abgedroschenes Klischee. Ihre Gedanken schweiften in stiller Freude zu dem kargen Zimmer, in das sie zurückkehren würde und das nur von einer Glühbirne, die von der rissigen Decke hing, erhellt wurde. Der Schrank dort war zu klein für ihre Sachen, deshalb war einiges ordentlich auf dem Boden aufgetürmt. Trotz der himmlischen Genüsse des Abends, des berauschenden Weins, sogar des sexuellen Verlangens, das Luis so mühelos in ihr wecken konnte, war der Reiz ihrer spartanischen Bleibe für sie ungebrochen. Vielleicht wäre alles anders verlaufen, wenn sich Luis ihr
genähert hätte - sie war aufrichtig genug, um das für möglich zu halten, als sie sich Stunden später auf der klumpigen Matratze drehte und wendete, um eine beque me Lage zu finden. In gewisser Weise hatte er Signale gesetzt, indem er dafür Sorge getragen hatte, dass alles so vollkommen war. Aber in körperlicher Hinsicht hatte er nicht ein einziges Mal die Grenze überschritten, die verwandtschaftliche Zuneigung setzte. Das war verwirrend. Auch frustrierend, denn zweifellos reagierten ihre Sinne auf ihn. Bestrafte er sie dafür, dass sie sich ihm widersetzt und sich hier einquartiert hatte? Oder war es nach seinen Vorstellungen unmoralisch, einer Cousine gegenüber, die unter seinem Schutz stand, in seinem eigenen Haus zu nahe zu treten? Zu kompliziert. Sie würde morgen darüber nachdenken müssen. In den folgenden Tagen war sie in Hochstimmung, weil sie sich bewusst machte, dass sie sich ein Doppelleben geschaffen hatte. Die Zeit, die sie mit Luis verbrachte, war eine Wiederholung dessen, was sie in Rio mit ihm erlebt hatte. Er zeigte ihr die exklusiven Restaurants und Nachtclubs von Porto Allegre, führte sie in die Villen seiner Bekannten in den Vorstädten, in die schicken Countryclubs am Stadtrand und einen Segelclub an der Lagune. Er stellte sie seinen Freunden vor, die sie mit großzügiger Gastfreundschaft willkommen hießen und viel Aufhebens um sie machten. Aber Porto Allegre verweigerte selbst dieser privilegierten Elite die exklusive Privatheit. Auch wenn die Brasilianer ausgesprochen sicherheitsbewusst waren, da sich viele Menschen in diesem Land mit Raub und Diebstahl über Wasser halten mussten und einen Adventskranz ebenso rücksichtslos von den Türen rissen wie die Wäsche von der Leine, hatte man hier nicht wie in Rio den Eindruck, dass sich die Reichen verbarrikadierten. Der teure Segelclub, in den Luis häufig ging, war zum Beispiel ziemlich demokratisch und tolerant, denn auch Arbeiter und ihre Familien durften auf dem Gelände ihre
Sonntage verbringen, unter den Bäumen fröhliche Picknicks veranstalten, mit ihren alten, ramponierten Dingis zum Fischen hinausfahren oder zwischen den stattlichen Booten der Wohlhabenden segeln. Das gefiel Cristi. Ihre erkämpfte Unabhängigkeit, die die geschäftige Stadt so zugänglich und unbedrohlich machte, erleichterte es ihr, in ihr anderes Selbst zu schlüpfen, sich in das Labyrinth der Straßen zu stürzen und auf Ent deckungsreise zu gehen. Es fiel ihr leicht, Menschen kennen zu lernen, aber davon erzählte sie Luis nichts. Als ehemalige Studentin war es für sie das Natürlichste, sich auf dem Universitätsgelände umzusehen. Sie brauchte sich nur auf eine Bank im Park zu setzen, und schon kam ein Gespräch in Gang. Auf diese Weise traf sie Anita, und Anita führte sie zu Jude.
23. Kapitel Anita war eine atemberaubende, üppige Zweiundzwanzigjährige und blond wie viele Brasilianer deutscher Abstammung im Süden. Sie sprudelte über vor Enthusiasmus, der sich zumeist jedoch als relativ kurzlebig erwies. Sie drängte sich nach Cristis Gesellschaft, weil sie ihr Englisch verbessern wollte. »Das britische Englisch ist so schick und klingt wesentlich aristokratischer als der amerikanische Slang«, erklärte sie Cristi mit grauenhaftem Akzent. In Wahrheit hatte sie sich vor kurzem in einen jungen Engländer verknallt - »Ich war am Strand und habe einen gut aussehenden Typen aufgerissen«, wie sie sich ausdrückte -, der zurzeit mit dem Rucksack durch Chile reiste, und sie brauchte Hilfe bei den Briefen, mit denen sie ihn bombardierte und zu becircen versuchte. Anita mit dem strahlenden Läche ln und dem unbekümmerten Charme hatte eine Menge Freunde, und durch sie bekam Cristi Zugang zu einer fröhlichen, umgänglichen Clique, mit der sie eine Seite der Stadt kennen lernte, die sie allein niemals entdeckt
hätte. Sie fühlte sich rasch wie zu Hause in den Kneipen, in denen sie tags über stundenlang bei cafezinhos, Bier und Klatsch zusammensaßen, und ließ sich gelegentlich überreden, abends mit in einen der überfüllten lauten Clubs zu gehen. Ihr gefielen die Musik und die pulsierende Atmo sphäre, doch ironischerweise wurde sie auch hier als »ausländisches Mädchen« von den Jungen verfolgt, die sie als leichte Beute ansahen. Das behagte ihr keineswegs. Luis missbilligte selbstverständlich ihre neuen Kontakte und befragte sie eingehend, wo sie mit wem gewesen war. Hin und wieder wurde er wütend, wenn ihm ihre ungezwungenen Antworten verdeutlichten, wie unabhängig sie sich von ihm gemacht hatte. Um dem suspekten Treiben ein Ende zu setzen, traf er kurzfristige Verabredungen oder nahm Einladungen auch in ihrem Namen an. Vielleicht wollte er sich und ihr beweisen, dass sie alles andere stehen und liegen ließ, um sich seinen Plänen anzupassen. Manchmal fügte sie sich seinem Willen, manchmal nicht. Sie amüsierte sich mit den Studenten, doch Luis fehlte ihr, wenn sie ihn längere Zeit nicht gesehen hatte. Er war zum Mittelpunkt ihres Lebens in Brasilien geworden. Seinen liebevollen Frotzeleien, der Energie und seinem guten Aussehen, seiner Schlagfertigkeit und dem leicht boshaften Humor konnte sie nur schwer widerstehen, zumal er sich so viel Mühe gab, sie zu unterhalten. In seiner Gesellschaft traf sie interessante und dynamische Menschen, deren kosmopolitischer Weitblick ein Gleichgewicht zu den Ansichten schuf, die sie im Kreise der Studenten zu hören bekam. So sehr Cristi ihre Freiheit auch zu schätzen wusste, Luis bot ihr nach wie vor die Sicherheit im Hintergrund. Ausgerechnet die leichtlebige Anita eröffnete Cristi eine Möglichkeit, nach der sie, ohne es selbst so recht gewusst zu haben, gesucht ha tte. Derzeit war Anita in einem kleinen Zentrum tätig, in dem die Straßenkinder, die es hier wie in jeder
brasilianischen Stadt gab, versorgt und verpflegt wurden. Anita interessierte sich wohl hauptsächlich dafür, weil ihr englischer Freund sich für dieses Zentrum engagiert hatte. Das Zentrum wurde von Jude Porter geführt, einer drahtigen, älteren, scharfzüngigen Engländerin mit grauem Haar, vorspringendem Kinn und durchdringenden Augen, die deutlich machten, dass sie nicht viel für unausgegorene und halb herzige Hilfsbereitschaft übrig hatte. »Anita, du hast die Nase voll, was?«, begrüßte sie die beiden Mädchen. »Jude, boa tarde. Ich bringe Ihnen ...« Jude warf Cristi einen flüchtigen Blick zu. Cristi trug zwar eines der billigen Sommerkleider, die sie auf dem Markt in Campo Novo erstanden hatte, strahlte aber dennoch eine Eleganz aus, mit der sie hier keinen Eindruck machen konnte. Sie sah Anita an. »Er ist weg, weißt du ? Er kommt nicht zurück. Mach dir nichts vor. Also werde ich dich hier wohl nicht mehr sehen, stimmts?« »Aber jetzt hilft Ihnen Cristi aus«, versicherte Anita eilends. »Ach, ja?«, fragte Jude gleichgültig. »Hör zu, Liebes«, fügte sie an Cristi gewandt hinzu und taxierte sie noch einmal von oben bis unten, »ich will dich nicht beleidigen, doch ich kann nichts mit Mädchen anfangen, die hier hereintanzen und mir einreden, dass sie der Menschheit einen Dienst erweisen wollen, sich dreimal hier blicken lassen und einen Riesenwirbel um die Kinder machen, aber dann, wenn sie eine Messerwunde verbinden müssen oder merken, dass manche Kids Flöhe haben, plötzlich keine Zeit mehr finden, herzukommen. Ich brauche Hilfe, weiß Gott, aber ich brauche sie von jemandem, der bereit ist, sich die Hände schmutzig zu machen und auch auftaucht, wenn er es angekündigt hat.« Sie warf Anita einen vernichtenden Blick zu und fuhr zornig fort: »Und ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, herumzustehen und zu schwatzen. Ich hab eine Menge zu tun.« Sie deutete um sich. Überall lagen
Stifte und Hefte herum. Auf einem der Tische befand sich ein offener Erste-Hilfe-Kasten, und ein Eimer stand neben einer Pfütze auf dem Boden. Cristi erwiderte gelassen: »Ich bleibe nicht sehr lange in Porto Allegre, und ich kann keine besonderen Fähigkeiten vorweisen. Aber ich habe Zeit.« Jude musterte sie forschend. Anita schaute auf ihre Uhr. Cristi stieg ein beißender Geruch nach allem Möglichen in die Nase - Sonne auf staubigem Holz, irgendein Desinfektionsmittel, Schmutz und Verfall, Öl und Asphalt. Die Hütte, die so primitiv war wie all die Baracken in dieser Gegend, stand auf moorigem Grund zwischen den verschiedenen Zuflüssen zum Guaiba. Die Behörden ließen von Zeit zu Zeit dieses Gebiet räumen, aber die windigen Behausungen wurden immer wieder neu aufgebaut, da das Land niemandem gehö rte und ganz in der Nähe der Stadt war, in der man reiche Beute machen konnte. »Hmm«, machte Jude. »Schön, aber frag mich nie, was wir hier machen. Wir sind da, das ist alles. Dies ist ein Ort, an den die Kinder kommen können. Kinder, die einen Tag oder ein ganzes Leben allein sind. Wir geben ihnen zu essen, verbinden ihre Wunden - die Wunden, die wir heilen können -, und wenn Zeit bleibt und sie es wollen, dann bringen wir ihnen bei, ihren Namen zu schreiben und bis zehn zu zählen.« Sie wurde mit jedem Wort ungehaltener, während sie den Erste-Hilfe-Kasten zusammenpackte und den Deckel auf die Schachtel knallte. »Frag mich auch nicht, was wir mit unserer Arbeit erreichen, denn das weiß ich nach einem ganzen Leben Schufterei hier und an anderen Plätzen, die noch schlimmer waren, immer noch nicht.« Cristi wartete schweigend. Sie spürte, dass Anita unbedingt fort und ein Projekt aufgeben wollte, das sie inzwischen zu Tode langweilte. »Und, wie denkst du jetzt darüber?«, wollte Jude wissen. Sie wirbelte zu Cristi herum und streckte ihr ihr runzliges,
streitbares Gesicht direkt vor die Nase. »Hast du Lust auf ein bisschen Wohltätigkeit?« Es hatte keinen Zweck, sich gegen ihre Ausdrucksweise zur Wehr zu setzen. Cristi wusste, dass ihre Vorstellungen tatsächlich so naiv waren, wie Jude es ihr unterstellte. »Ich würde es gern versuchen. Aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen sehr von Nutzen sein werde.« »Ich auch nicht.« Die Kleine sieht nicht so aus, als hätte sie in ihrem Leben schon ein einziges Mal die Hand gerührt, dachte Jude zynisch. Aber ihre Direktheit gefiel ihr. Vielleicht war doch mehr an ihr, als man auf den ersten Blick erkannte. »Kannst du morgen hier sein?« »Ja.« Jude gab einen heiseren Laut von sich, und Cristi realisierte, dass das ein Lache n war. »Gut. Acht Uhr genügt für den ersten Tag.« Für Cristi zerfiel das Leben mehr denn je in verschiedene Teile. Das, was sie ihr »eigenes« Leben nannte - ihre Ausflüge in die Stadt, die Treffen in den Cafes, die Fahrten mit der Metro -, musste sie seit der Begegnung mit Jude drastisch einschränken. Die Zeit, die sie mit Luis verbrachte, war ihr nach wie vor kostbar. Und jetzt gab es noch die casa aberta, das offene Haus. Diese neue Erfahrung, die für Unwichtiges oder Vorurteile keinen Platz ließ, erschien ihr oft realer als ihr »normales« Dasein, in das sie abends schmutzig und erschöpft, oft auch entsetzt und verstört zurückkehrte. Sie war zutiefst dankbar für ihr karges, schmuckloses Zimmer. Den unmittelbaren Wechsel zwischen der Armut, mit der sie tagsüber konfrontiert war, und dem Luxus in Luis' Villa hätte sie wohl kaum verkraftet. Es war ohnehin schon schwer genug, mit diesen Kontrasten fertig zu werden. Mit Luis konnte sie überhaupt nicht über diese Dinge reden. Als er herausfand, womit sich Cristi seit neuestem beschäftigte, bekam er einen Wutanfall und machte ihr eine Szene, an die sie
sich lieber nicht mehr erinnerte, und sie wollte ganz bestimmt nicht eine Wiederholung provo zieren. Der erste Tag im Zentrum war hart. Jude, die sich keineswegs dankbar für Cristis Anwesenheit zeigte, war anfangs ausgesprochen skeptisch. Zu Recht, fand Cristi, als sie mehr über das kurzlebige Interesse der früheren freiwilligen Helfer erfuhr. Unangenehme Aufgaben zu übernehmen, gehörte nicht zu den Lieblingsbeschä ftigungen der meisten Brasilianer. Cristi blieb bei der Stange, aber zwei Dinge machten ihr sehr zu schaffen: Das eine war, dass sie nur einen verschwindend kleinen Beitrag angesichts der riesigen Probleme leisten konnten, das andere die Tatsache, dass sie auf lange Sicht keine messbaren Verbesserungen bewirkten, egal, wie hart sie auch arbeiteten. »Wir sind einfach da«, wiederholte Jude immer wieder, und das war der Kern der Sache. »Das, was wir hier machen, hilft so viel wie ein Tropfen Chlor im verschmutzen Fluss.« Cristi sah zu dem langsam fließenden, dunklen Fluss, der ganz in ihrer Nähe verlief und seinen Teil des von Menschenhand gemachten Abfalls mit sich brachte, um zur Verschmutzung der Meere beizutragen. Selbst hier lernte sie winzige Fassetten des unendlich vielfältigen Landes kennen. Manche Kinder kamen eine ganze Weile regelmäßig und schienen gern das anzunehmen, was man ihnen bot, aber irgendwann verschwanden sie und ließen sich nie wieder blicken. Andere kamen nach einer langen Abwesenheit wieder verdreckt, hungrig, müde und feindselig; einige hatten weit aufgerissenen Augen, weil sie Klebstoff geschnüffelt hatten, und nahmen sich alles, was man ihnen gab. Wieder andere ließen sich die krätzeartige Hautkrankheit behandeln, unter der so viele zu leiden hatten, oder wollten ihre Wunden versorgen lassen, wehrten jedoch jeden persönlichen Kontakt ab. Manche wollten nur stehlen oder zerstören, und gelegentlich trie ben
Straßengangs im Drogenrausch ihr Unwesen, terrorisierten die kleineren Kinder und nahmen sie mit, damit sie für sie auf den Straßen arbeiteten. »Aber wir werden nie ernsthaft angegriffen, weißt du?«, behauptete Jude nach einer dieser Furcht einflößenden Überfälle, während sie die zerschlagenen Möbel, die noch repariert und benutzt werden konnten, zurechtrückte. »Ach nein?«, erwiderte Cristi, die noch viel zu zittrig war, um Jude zur Hand zu gehen. »Und was ist gerade passiert ?« Jude schob einen zersplitterten Tisch mit dem Fuß beiseite. »Das war nur wegen des Kicks - sie wollten sich ein, zwei Stunden amüsieren. Porto Allegre ist keine gefährliche Stadt. Weder die Armut noch die Gewalt ist annähernd so schlimm wie in Rio oder Sao Paulo. Jedenfalls habe ich herausgefunden, dass es einigermaßen sicher ist, auf dieser bescheidenen Ebene zu operieren und alt zu sein.« Sie lachte krächzend. »Wie meinen Sie das?« Heute würden keine Kinder mehr auftauchen. Vielleicht war dies eine günstige Gelegenheit, mehr über Jude zu erfahren, die offenbar ein buntes, faszinierendes Leben geführt hatte, über das sie jedoch, abgesehen von einigen wenigen Anspielungen, nicht gern sprach. Jude zuckte mit den Schultern. »Ich bin harmlos, oder nicht? Nächstes Jahr werde ich siebzig. Nur eine alte verschrobene Ausländerin, die Reis, Bohnen und Heftpflaster verteilt. Ich habe nichts mit den großen Organisatio nen zu schaffen, nicht einmal mit der Kirche. Keine Verbindung zur prefeitura oder zum Consuelho Tutelar - der örtlichen Behörde, die eigentlich die Rechte der Kinder schützen sollte. Ich stelle keine Bedrohung dar. Und es gibt nichts hier, was es wert wäre, gestohlen zu werden. Sie wissen, dass ich fast so arm bin wie sie selbst. Es hätte keinen Sinn, mir den Schädel einzuschlagen.« »Sie müssen doch auch sehen, dass Sie helfen wollen.« Jude verzo g den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Hör mir gut zu, Mädchen - eine der Lektionen, die man im Leben
lernen sollte, ist die, dass das Anbieten von Hilfe sehr beleidigend sein kann. Damit sagst du, dass du besser als der andere bist. Aber ich kann mich jetzt nicht mehr umstellen. Was sollte ich sonst tun? Und wohin, zum Teufel, sollte ich gehen ? Dorthin zurück, woher ich komme? In Wolverhampton ein möbliertes Zimmer mieten und mich vor einen elektrischen Ofen kauern, für den ich mir kaum den Strom leisten kann, und das, was andere Leute wegwerfen, an die Bedürftigen verteilen? Nein, hier bin ich besser dran. Wenigstens wärmt hier die Sonne meine Knochen.« Dies war das erste einer Reihe ähnlicher Gespräche, die noch folgen sollten und normalerweise dann stattfanden, wenn das letzte Kind gegangen war und sie am Abend die Hütte aufräumten. »Lass dich nie zu sehr auf ein spezielles Kind ein«, das war die Regel, die Jude Cristi immer und immer wieder vorbetete. »Es bricht dir das Herz, wenn du das machst, und du tust dem Kind auch keinen Gefallen.« Manchmal sagte sie wütend und verächtlich, als müssten solche Tatsachen gar nicht erwähnt werden: »Ich nehme an, du weißt, dass die Hälfte der Bevölkerung in Städten wie Sao Paulo in den Slums lebt - das sind siebzehn Millionen Menschen. Zwei Drittel, zwei Drittel der jungen Männer kommen durch Gewalttaten, bei Schießereien und Bandenkämpfen ums Leben. Du warst in Rio, oder? Dann weißt du ja, dass es dort fünfhundert favelas gibt mit vierzigtausend Leuten in der größten. Das wusstest du nicht? Nein, natürlich nicht. Warum rede ich überhaupt davon?« Cristi erwiderte nichts; sie verstand sehr gut, woher diese Wut kam. Jude hatte ihr ganzes Leben gegen riesige, ja unlösbare Probleme angekämpft, und jetzt spürte sie ihr Alter und ihre Schwäche; zudem sah sie eine düstere Zukunft vor sich, in der alles, was sie jemals getan hatte, nichts mehr bedeutete. Jude bekam ihren Unmut schließlich in den Griff und
entschuldigte sich mürrisch: »Weswegen mache ich dir Vorwürfe ? Wenigstens hast du dich nicht sofort wieder aus dem Staub gemacht wie die anderen, und du hast mehr Verstand als die meisten, die mir ins Haus geflattert sind und Gutes tun wollten. Du hast auch keine Angst vor ein bisschen Dreck, das muss ich schon sagen.« »Sie wissen, dass ich nicht lange hier bleibe.« Cristi nutzte die Gelegenheit, sie daran zu erinnern, und erwartete, dass eine neue Tirade auf sie niederprasseln würde. Aber sie wollte nicht, dass sich Jude im Stich gelassen fühlte, wenn der Tag des Abschieds kam. »Ich weiß, ich weiß. Gerade wenn sich jemand wirklich nützlich macht. Doch du hast das zumindest von Anfang an klargestellt. Die windigen Versprechungen, die kann ich nicht vertragen. Aber du wirst mir fehlen, schon allein wegen des Bettelns«, fügte sie mit blitzenden Augen hinzu. Jude hatte ihre eigenen Methoden, in Geschäften, Büros, Apotheken und Arztpraxen um Geld oder Sachspenden für das Zentrum zu bitten, doch man bekam selten etwas, wenn man den Leuten nicht ständig in den Ohren lag. Jetzt hatte Jude Cristi losgeschickt, damit sie die Runde machte. »Dein hübsches Gesicht und das vornehme Getue waren manchmal ganz schön nützlich«, fügte sie miesepetrig hinzu, aber sie war Cristi unendlich dankbar, weil sie so viel zusammengehamstert hatte. Außerdem musste sie zugeben, dass Cristi - vornehme Herkunft hin oder her - vor nichts zurückschreckte. Sie schleppte die großen Kanister ohne weiteres die zweihundert Meter vom Wasserhydranten bis in die Hütte, reinigte eitrige Wunden, bekämpfte Flöhe und Kopfläuse und schrubbte Wände und den Boden mit Desinfektionsmittel. Cristi streckte ohne Zögern die Arme nach den zerlumpten, stillen Kindern aus, die nie etwas anderes von den Mit menschen erlebt hatten als Gewalt und Schläge. Bald würde Cristi weit erziehen. So war das eben. Jude
wusste nicht, wie lange sie selbst noch hier bleiben würde. Ihr eigenes Überleben hing von dem ab, was sie anderen abschwatzen und zusammenschnorren konnte. Beim letzten Mal in der Borel favela hatte man sie ganz schön verprügelt. Sie hatte nicht die Absicht, Cristi davon zu erzählen, doch an diesem Tag war ihr der Mut vergangen. Mehr als diese kleine Zufluchtstätte für die Kinder brachte sie nicht mehr zu Stande. Nun, sie würde weitermachen, so lange sie konnte. So lange man sie ließ. Einen Tag nach dem anderen. Cristi, die unterwegs war, um Geld und Ware von widerwilligen Spendern zu erbetteln, hatte eine eigene Entscheidung zu treffen. Obwohl es ihr immer noch unwirklich vorkam, besaß sie ein Vermögen in diesem Land. Geld, das, wie es ihr schien, untrennbar mit der Ranch verbunden war. Jeder Penny davon würde gebraucht, wenn die Ranch effektiv modernisiert werden sollte. Bis sie über die Zukunft von Tres Pinheiros entschieden hatte, konnte sie das Kapital nicht anrühren. Sie hatte zudem noch Geld für sich, und abgesehen davon war sie regelmäßig mit Menschen zusammen, die die casa aberta ein ganzes Jahr am Leben erhalten könnten, ohne auch nur zu merken, dass sie Geld ausgegeben hätten, doch es käme ihr wie ein unerlaubter Übergriff vor, wenn sie in Luis' Bekanntenkreis um Spenden für die Kinder bitten würde. Judes Bemerkungen über Gefälligkeitstaten klangen ihr noch im Ohr. Cristi war nicht sicher, ob sie Judes Ansichten teilen konnte, aber sie respektierte die Art, wie sie die Dinge anpackte. Cristi löste dieses Problem, indem sie selbst nützliche Kleinigkeiten kaufte und zu den anderen Spenden schmuggelte, und oft brachte sie, ohne ein Wort darüber zu verlieren, Putzsachen, Kaffee oder Filzstifte mit. Doch gerade diese kleinen Schummeleien warfen ein beunruhigend grelles Licht auf den Kontrast zwischen den verschiedenen Ebenen, auf denen sie zu dieser Zeit existierte.
24. Kapitel Hey, Liebes, es sieht dir gar nicht ähnlich, so niedergeschlagen zu sein.« Archie, der nach den Unwettern am Wochenende die Stützen für die jungen Weiden gerichtet hatte, die er in dem Dreieck zwischen Zufahrt und Fluss angepflanzt hatte, war die Uferböschung hinaufgeklettert, als Pauly auf der Straße stehen blieb. Sie hatte die Mädchen ins Internat zurückgebracht, da die Herbstferien vorbei waren. Sie lächelte, als Archie auf sie zukam, denn auch noch nach vierzehn Jahren Ehe freute sie sich jedes Mal, wenn sie ihn sah; dennoch war ihr deutlich anzusehen, wie unglücklich sie war. Sein besorgter Ton trieb ihr die Tränen in die Augen, und Archie lief zu ihr. »Komm schon, was ist los?« Er stieg auf der Beifahrerseite ein und legte den Arm um sie. Sie jagte ihm einen Schrecken ein, weil sie augenblicklich in Tränen ausbrach. Pauly war immer sehr emotional, doch gewöhnlich weinte sie nur bei sentimentalen Filmen, die sie mit den Kindern sah, wegen des Leids von misshandelten Tieren oder beim Anblick eines alten Mannes, der mit strammer Haltung und vielen Orden auf der Brust am Kriegerdenkmal vorbeimarschierte. Um ihretwillen weinte sie so gut wie nie, weil sie, wie sie sagte, dazu gar keine Zeit hatte. Er zog sie an sich und suchte mit Blicken nach greifbaren Papiertaschent üchern. Wenn Pauly schluchzte, dann konnte es ernst werden. »Du fühlst dich doch nicht krank, oder?«, fragte er, nachdem die erste Flut ein wenig verebbt war. Er spürte eine gewisse Schwäche in ihr, eine Bereitwilligkeit aufzugeben, die untypisch für sie war. Archie war ebenfalls beunruhigt, mehr als er zeigen wollte. »Ich weiß nicht genau«, erwiderte sie trübsinnig - auch
ein solches Geständnis war ungewöhnlich. Archie schob sie ein Stück von sich weg, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und sah ihr forschend in die in Tränen schwimmenden Augen. »Was ist los ? Sag es mir.« »Nichts, ehrlich. Ich habe in den letzten Tagen nur das Wetter ein wenig gespürt, das ist alles. Es ist nichts Besonderes, wirklich. Wahrscheinlich bilde ich es mir auch nur ein. Dieser schreckliche Regen macht es noch schlimmer. Aber, Archie, waren diese Ferien nicht furchtbar?« Wieder liefen die Tränen. »War es nicht auch schrecklich für dich?« Er vermutete, dass sie nicht mehr vom Wetter sprach. »Weil sie nicht alle hier waren?« Um ehrlich zu sein, ihm hatte das nicht viel ausgemacht. Er liebte alle Kinder und freute sich immer, sie zu Hause zu haben, egal in welcher Zusammenstellung oder Kombination sie kamen, aber er fand es auch nicht schlimm, wenn sie anderweitig beschäftigt waren. »Ja!«, rief Pauly mit Nachdruck. »Ist dir klar, dass dies die ersten Herbstferien sind, die Cristi nicht hier verbracht hat ? Sie hat sie nie, nie verpasst, auch nicht als sie in Edinburgh war, und du weißt, dass Josie und Peta am Boden zerstört waren, weil Cristi nicht hier war. Offenbar glaubten sie, ich hätte ihnen versprochen, dass sie sie antreffen würden, und in gewisser Weise habe ich das vermutlich auch getan. Ich war so sicher, dass sie nicht so lange wegbleiben würde. Und dann ist Nicholas auch nicht nach Hause gekommen...« »Aber, Liebes, er hat auch früher schon Ferien bei seinen Freunden verbracht. Es ist gut für ihn, wenn er mit Gleichaltrigen zusammen ist, darin waren wir uns immer einig. Er hat eine tolle Zeit in Lagganmore erlebt, ist mit dem Jagdaufseher ins Revier gegangen und hat am Samstag...« »Aber genau das ist es ja«, fiel ihm Pauly wimmernd ins Wort. »Er entfernt sich von uns. Er hat keine Lust mehr, sich mit den Mädchen abzugeben.« »Pauly, das ist Unsinn. Selbstverständlich möchte er nicht
ständig mit ihnen zusammen sein, aber das ist doch nur natürlich. Das heißt nicht, dass er sich von uns ent fernt oder gar nicht mehr nach Hause kommen möchte. Ich würde mir mehr Sorgen machen, wenn ihm nichts Besseres einfiele, als hier mit Peta und Josie herumzuhängen. Er ist ziemlich reif für sein Alter, und im Moment eröffnet sich ihm so viel. Er muss Leute treffen und ein wenig herumkommen. Das Leben in einem Glen wie die sem bietet bei weitem nicht genügend Abwechslung und Anreize, das weißt du.« »Nein, das weiß ich nicht«, gab Pauly aufsässig zurück und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Sie sog tief den tröstlichen Geruch seines alten Barbour ein, den er beim Arbeiten trug. Er grinste und umarmte sie. »Dummchen. Aber es geht eigentlich gar nicht um Nicholas, stimmts? Es ist wegen Cristi.« »O Archie.« Sie richtete sich auf, blies sich Haare aus dem Mund, dann strich sie sich die Strähnen mit beiden Händen aus dem Gesicht. »Ich habe entsetzliche Angst, dass sie nie mehr zurückkommt und uns vielleicht nur noch Pflichtbesuche abstattet, bei denen nichts so ist wie früher und die im Nu wieder vorbei sind. Ich könnte das nicht ertragen.« Die Tränen waren versiegt. Pauly äußerte ernsthafte Befürchtungen, denen eine Angst zu Grunde lag, die sie heute nicht in Worte zu fassen wagte, weil sie zu durcheinander und aufgewühlt war: die grässliche Angst, dass sie Cristi in irgendeiner Weise enttäuscht hatte und ihr kein guter Mutterersatz gewesen war. Archies Gesicht wirkte mit einem Mal gealtert. Er antwortete nicht sofort, und sie beide stellten sich im Schutz des warmen Autos dieser Furcht. »Vor ein paar Wochen hätte ich gesagt, dass du Unsinn redest«, brach Archie schließlich das Schweigen. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie sich dafür entscheiden könnte, in Brasilien zu bleiben. Aber jetzt ist eine neue
Dimension hinzugekommen, nicht?« Pauly merkte, wie schwer es ihm fiel, das aus zusprechen. »Sie hat sich von der Fonseca-Familie befreit, von der sie sich so eingeengt gefühlt hat, und sie versucht, hinter die Fassade zu schauen und selbst etwas über das Land zu lernen. Ich bewundere sie dafür, doch du hast Recht, es muss ihre Anschauungen beeinflussen und vielleicht sogar ihre Entscheidungen für die Zukunft.« »Manchmal wünschte ich, sie hätte keine Möglichkeit gefunden, uns all diese E-Mails zu schicken«, merkte Pauly unlogisch an. »Ach, komm, du weißt, wie sehr sie es liebt, direkten Kontakt zu haben«, widersprach Archie. »Ja, ich weiß. Aber diese Kinder, von denen sie andauernd schreibt - diese Kinder bedeuten ihr allmählich zu viel.« Dagegen konnte Archie kein Argument anführen. Pauly konzentrierte sich zwar nur auf ein Element in einem breiteren Spektrum, doch auch ihm war klar, dass das eine große Bedeutung hatte. »Und diese Jude«, bewertete er. »Es scheint, als hätten sich da zwei verwandte Seelen getroffen. Trotz des Altersunterschiedes, der scharfen Zunge und der Sklaventreiberei. Diese Jude erwartet eine ganze Menge von Cristi und lässt sie ganz schön schuften.« Cristi hatte ein lebhaftes Bild von der energischen und kampferprobten Frau gezeichnet, für die sie offensichtlich echte Zuneigung empfand. »Auch aus diesem Grund wollte sie sich von den Fonsecas unabhängig machen«, sagte Pauly. »Um Freiraum für sich zu haben - das ist ihr sehr wichtig. Es ist ihre realistische Seite, die jede Aufgabe anpackt, egal, wie anstrengend oder schmutzig sie ist. Ach, ich weiß auch nicht ... die wirklichen Dinge, mitten im Sturm stehen, karge, weiß getünchte Wände, diese Kleider, die sie für sich selbst entworfen hat, ihr schlichtes kleines Kämmerchen... Verdammt, ich bin unfähig, mich richtig auszudrücken, wenn es um solche Dinge geht.«
»Nein, ich weiß haargenau, was du meinst.« Archie drückte ihre Hand. »Aber der springende Punkt ist, soweit ich es sehe, dass sie anfängt, sich persönlich zu enga gieren, und das Gefühl hat, involviert zu sein. Sie ist nicht mehr die Betrachterin von außen. Irgendwie wird sie von verschiedenen Seiten in einen Strudel gezogen. Dieses neue Interesse geht tiefer als ihre Reaktion auf die Kultur, aus der sie immerhin stammt. Tiefer noch als die Begeisterung für die Landschaft und die Ranch. Mein Liebes, wir dürfen uns nicht über ihre Reaktionen wundern. Sie ist bei allem, was sie tut, mit ganzem Herzen bei der Sache. Dieses erstaunliche Land mit den Kontrasten und Extremen lässt nicht einmal normale Touristen kalt und schon gar nicht einen Menschen wie Cristi, der alles erkunden und entdecken möchte. Du musst einsehen, dass das alles ziemlich überwältigend für sie ist.« »Also glaubst du wirklich, dass sie nicht mehr zurückkommt?« Es schmerzte Archie, den unglücklichen Ton in ihrer Stimme zu hören. Dass sich seine warmherzige, großzügige, liebevolle Pauly einem solchen Verlust stellen musste. Er empfand den längst vergessen geglaubten schmerzlichen Wunsch, sie hätten ein eigenes Kind, das derartige Ängste nie aufwerfen würde. Die Blutsbande wären unverbrüchlich. So sehr er sich auch grämte, kein Kind zeugen zu können, eine solche Frustration wie jetzt hatte er schon lange nicht mehr empfunden. Er tat sein Bestes, um Pauly zu trösten, ließ Arbeit Arbeit sein und fuhr mit ihr zum Haus. Er musste an Nicholas denken. Archie glaubte wirklich nicht, dass Nicholas' Entscheidung, die Herbstferien bei Freunden zu verbringen, irgendetwas Spezielles zu bedeuten hatte. Trotzdem hatte sic h Archie fest vorgenommen, bald mit dem Jungen über die Umstände seiner Geburt zu sprechen, und das Letzte, was er sich jetzt wünschte, war, daran erinnert zu werden, dass Nicholas nicht sein leiblicher Sohn war.
Bevor Cristi von ihrer Familie nach Brasilien beordert worden war - eine unangenehme Mahnung, dass Menschen außerhalb von Drumveyn auch Anspruch auf sie hatten -, war es einfach gewesen, dies zu vergessen. Jetzt blickte Archie unweigerlich voller Unsicherheit in die Zukunft. Und ein anderer, vor langem begrabener Gedanke drängte an die Oberfläche, um das Gefühl, verletzbar zu sein, noch zu verstärken: Irgendwo existierte ein Mann, der Nicholas' biologischer Vater war, ob er selbst davon wusste oder nicht. Aber Archie musste Ruhe bewahren und Paulys Ängste beschwichtigen. Er wäre erschüttert gewesen, wenn er gewusst hätte, was Nicholas wirklich dazu bewogen hatte, in den Ferien nicht nach Hause zu fahren: die Furcht vor Veränderungen, eine Abneigung, die er kaum verstand und die schlimme Schuldgefühle in ihm weckte - er wollte nicht hören, dass Cristi ihre Mutter und Antworten auf die belastende Frage, wer sie eigentlich war, gefunden hatte. Cristi hatte ihm aus Brasilien geschrieben, wie früher aus dem Internat oder aus Edinburgh ausführliche, lebendige Briefe wie immer, aber er war überzeugt, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagte, weil er zu jung war, um ernste Dinge zu erfahren. All das machte ihn konfus und traurig, und er hasste es, Cristi nicht mehr wie bis jetzt vertrauen zu können. Ebenso wurde er von fürchterlichen Zweifeln geplagt, und ihm war, als geriete er trotz Archies und Paulys Liebe zu ihm aus dem Gleis. Er hätte selbst nicht sagen können, was ihm genau durch den Kopf ging, als die Ferien näher rückten. Nur eines schien klar zu sein: Er würde es zu Hause nicht aus halten, solange die Sache mit Cristi noch in der Luft hing und keine Möglichkeit mehr bestand, darüber zu reden. Doch öfter als einmal während der Tage in Lagganmore, wo er schon einige Male gewesen und immer willkommen war, war er versucht, Pauly anzurufen und sie zu bitten, ihn zu holen. Aber das konnte er natürlich nicht; das hätte die Pläne der
anderen durcheinander gebracht, und er hätte sich all den Fragen stellen müssen. Wie konnte er erklären, was in ihm vorging? Also war er geblieben und hatte sich selbst gefoltert, indem er beobachtet hatte, wie eine »normale« Familie mit Vater, Mutter und drei Kindern miteinander umging - alle waren blutsverwandt, alle wussten genau, wer sie waren, ohne jemals zweifeln zu müssen. Stuart und seine Schwestern brauchten sich nie zu fragen, woher sie kamen, warum Menschen, mit denen sie eigentlich nichts zu tun hatten, sie lieben sollten oder was geschehen würde, wenn sie erwachsen waren. Nicholas, Archie und Pauly waren nicht die Einzigen, die ahnten, dass Cristi einen entscheidenden Schritt in ihr neues Leben und fort von Drumveyn gemacht hatte. Obwohl Cristi selbst glaubte, dass ihre Briefe und E-Mäils reine Fakten und Beschreibungen übermittelten, enthüllten sie genau das, was Archie klar erkannt hatte: Cristi engagierte sich in diesem fremden Land. Madeleine, die Lisa zufällig und allein in Muirend traf, nutzte die Gelegenheit zu einer Unterhaltung und überredete sie, sich eine halbe Stunde Zeit zu nehmen und einen Kaffee mit ihr zu trinken. Sie kamen unweigerlich auf Cristi zu sprechen, und Lisa berichtete Joyce später, dass sich Cristi in Brasilien ziemlich heimisch machte. »Sie hilft in einer Erste-Hilfe-Station oder Kindertagesstätte aus. Und sie schließt eine Menge Freundschaften. Um ehrlich zu sein, ich hätte nie gedacht, dass sie irgendwo anders als in Schottland leben möchte - du vielleicht? Kannst du dir vorstellen, dass sie sich in so einem heißen Land niederläßt? Es kommt mir ehrlich komisch vor, sie nicht hier zu haben.« »Na ja, hier gibt es nicht viele Jobs für sie«, entgegnete Joyce nüchtern. »Es war logisch, dass sie eines Tages von hier weggeht.« Als sie sah, wie niedergeschlagen Lisa war, setzte sie hinzu: »Sie wird zurückkommen, um uns zu sehen. Sie bleibt
dem Glen nicht für immer fern, du sentimentales Ding. Jetzt komm und hilf mir mit diesem Hund. Er hat mich gestern fast angefallen, und ich traue ihm nicht.« Das müsste die alte Lisa ein wenig aufheitern. Keine der beiden Frauen bemerkte, dass sich Stephen wegschlich und aussah, als hätte er etwas Wertvolles verloren. In der seltsamen Weise, in der sich ungenaue Andeutungen zu Tatsachen verwandeln und durchsickern, ohne dass jemand wirklich etwas gesagt hätte, verbreitete sich die Nachricht, dass Cristi einen neuen Job hatte und in Brasilien blieb, im Dorf und im ganzen Glen. Dougal, der einen Brief bekommen hatte, aus dem er mehr, als ihm lieb war, über Jude und das Tageszentrum erfuhr, hatte einen anderen Eindruck. Als er die Neuigkeit von Jean hörte, las er den Brief noch einmal und litt wie beim ersten Mal unter dem fröhlichen, unpersönlichen Ton. Wollte Cristi ihm damit mitteilen, dass sie Drumveyn den Rücken kehrte? Die Gewissheit wuchs. Er hatte die Botschaft nicht sofort verstanden, weil er sie nicht hatte verstehen wollen. Jetzt konnte er seine Befürchtungen nicht mehr ignorieren. Während er an den dunklen Abenden am Haus arbeitete oder sich mit den körperlich anstrengenderen Reparaturen an den verfallenen Nebengebäuden abzureagieren versuchte und ein perverses Vergnügen an den eisigen Winden und den Frösten des nahenden Winters empfand, zwang er sich, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Nicht der Wahrheit, dass sich Cristi ein neues Leben in Brasilien aufbaute - das war nahezu belanglos geworden. Nein, der Kern der Sache war: Er hatte nach wie vor nicht akzeptiert, dass Cristi nicht für ihn da war, gleichgültig, wo sie lebte. Manchmal fehlte sie ihm so sehr, dass er das Gefühl hatte, dass die Unterschiede, was seine und ihre Herkunft oder die gesellschaftliche Stellung betraf, überhaupt keine Rolle spielten. Sie waren unwichtig, unbedeutende Details, die überwunden
oder einfach weggewischt werden konnten. Das alles zählte nichts im Vergleich zu dem, was sie früher aneinander gehabt, wie sie sich ergänzt und gegenseitig Frieden gegeben hatten. Aber nun hatte sich Cristi entfernt, andere Interessen entwickelt, andere Menschen waren ihr wichtiger geworden als er. Das konnte er nicht einfach so abtun. Dougal brachte sich dazu, vorauszuschauen: Bald waren die Renovierungsarbeiten am Haus beendet. Was sollte er dann mit sich anfangen? Wie sah sein Leben auf lange Sicht aus? Er durfte sich nicht in einen sauertöpfischen Einsiedler verwandeln und sich hier oben vergraben. In vielerlei Hinsicht genügte er sich selbst, das schon, aber er war von Natur aus kein Einzelgänger. Er musste sich mit Freunden treffen, ausgehen, an den lokalen Ereignissen teilhaben. Cristi war weg, und ihm blieb nichts anderes übrig, als das Beste aus seinem Leben zu machen. Niemand konnte tanzen wie Luis, wenn er seine gespielte Verachtung überwand und sich ganz der Musik hingab. Cristi war nicht naiv genug, um sich vorzumachen, dass er seinen Ärger über ihr Engagement in der casa aberta vergessen hatte, aber wenigstens zeigte er ihn seit einigen Tagen nicht mehr. Auch in anderer Hinsicht hatte ihre Beziehung eine andere Ebene erreicht. Luis stellte seine Zuneigung zu ihr offener zur Schau als in der Zeit nach seinem Aufenthalt auf der Ranch. Allerdings gab er sich keine große Mühe, Cristi dazu zu bewegen, ihm seine Temperamentsausbrüche zu verzeihen. Die Vorstellung von ihm und die Sehnsucht, mit ihm zusammen zu sein, begleiteten sie bei allem, was sie tat. So schwer es ihr auch manchmal fiel, von der Armut, die sie täglich sah, zu dem Lebensstil überzuwechseln, den Luis als selbstverständlich ansah - die Unternehmungen mit ihm hatten ihren Reiz nicht verloren. Es wäre unehrlich, etwas anderes zu behaupten. Jetzt hielt er sie in korrekter Haltung im Arm, und sie spürte
die harten Muskeln an seinen Schenkeln, seine Hand an ihrem Rücken und seinen starken Arm, während sie sich im eindringlichen Rhythmus der lateinamerikanischen Musik bewegten. Er sah ihr ins Gesicht, und in seinem Lächeln lag Gewissheit, eine heimliche Zufriedenheit und die Anerkennung, die er gewöhnlich in Neckereien zum Ausdruck brachte. Cristi lief ein ange nehmer Schauer über den Rücken. In den letzten Tagen, in denen er so aufmerksam und unbeschwert gewesen war, hatte sie nicht umhin gekonnt, sich zu fragen, ob er bereit war zu vergessen, dass sie seine jüngere Cousine war, um die er sich kümmern musste, und ihr endlich offenbarte, was er für sie empfand. Kurz gesagt, ob er mit ihr schlafen würde. Sie wusste, dass er sie umgarnte und immer ganz genau wusste, was er tat, aber sie war ständig mehr einem körperlichen Verlangen aus gesetzt, dessen sie sich niemals für fähig gehalten hätte. Sie bemühte sich nach Kräften, es zu unterdrücken, doch es wühlte sie innerlich auf. Aber Luis hatte noch mehr zu bieten, um sie zu verführen. »Cristi, was würdest du davon halten, wenn wir zusammen nach Tres Pinheiros zurückgehen?«, flüsterte er ihr ins Ohr, als die Musik verstummte. Er hielt den Arm um sie gelegt, als spürte er, dass sie noch nicht ganz auf der Erde angekommen war, und führte sie so zurück zu ihrem Tisch in der Nische. »Das würde dir doch gefallen, oder? Wir beide für eine Weile ganz allein? Und wenn ich dir eine großartige, wunderbare Überraschung verspreche, etwas, wovon du begeistert sein wirst... ?« Während er sie umschmeichelte und regelrecht beschwatzte, glitzerten seine Augen - er amüsierte sich darüber, dass sie ihm hilflos ausgeliefert war. Ahnte er, auf welche Überraschung sie hoffte? Cristi konnte nur, halb von Sinnen vor Glück, zurücklächeln. In dieser Umgebung, zu dieser Morgenstunde und in Luis' Nähe - den Wein, den sie getrunken hatten, nicht zu vergessen - waren Jude, die Kinder, die Hütte im Morast und der tägliche Kampf
gegen Armut und Krank heit weit, weit entfernt. »Was für eine Überraschung?« Sie musste ihm ein wenig Widerstand entgegensetzen. »Ein wundervoller Genuss, den nur Tres Pinheiros zu bieten hat.« »Du musst mir schon mehr darüber erzählen.« Eine sinnlose Hinhaltetaktik. Ein tiefer Blick in sein lächelndes Gesicht, das ihr so nahe war, und ihr Herz schlug noch im Takt der Musik - wie konnte sie da widerstehen? »Und die Überraschung verderben? Nein, meine Süße, ich fürchte, du musst mir vertrauen.« Der Gedanke, mit ihm in diesem unendlichen Licht und der Weite zu sein, die zugleich eine intime Einsamkeit bot, war sehr verlockend. Und wenn es noch ein geheimnisvolles Vergnügen dazugab... Dennoch war Cristi so klug zu erkennen, dass Luis annehmen würde, dass sie sich stillschweigend bereit erklärte, zu seinem Lebensstil zurückzukehren, wenn sie seinen Schmeicheleien erlag und zur Ranch fuhr, nur weil er es so wollte. Auch wenn sie sich noch so sehr wünschte, mit ihm dort zu sein. Vielleicht würden sich dann die widerstreitenden Gefühle klären, die sie in letzter Zeit in alle Richtungen zu zerren schienen. Manchmal kam es ihr unglaublich vor, dass sie und Luis sich so nahe gekommen waren, obwohl nie mehr vorgefallen war als eine ehrbare Berührung oder eine gelegentliche freundschaftliche Umarmung. Dann wieder überlegte sie, warum es unmöglich war, ihn zu fragen, was er empfand. Bei jedem anderen hätte sie das ohne Zögern getan. Aber bei Luis war das anders.
25. Kapitel Unter dem rosigen Morgenhimmel schimmerte die Straße, die sich durch das endlose Weideland wand, beinahe scharlachrot. Sogar hier auf dem Hochplateau hatte der Sommer
Einzug gehalten, und dieser atemberaubende Tagesanbruch verhieß strahlende Sonne und blauen Himmel. Kurz vor einer Häuseransammlung und in einer Straße mit Geschäften schlossen sie sich wartenden Fahrzeugen an, und sie fuhren in einer langen Schlange weiter. Staub wirbelte in einer von der Sonne vergoldeten Wolke hinter ihnen auf. Vor ihnen wurden Gebäude zwischen Bäumen auf einer leichten Anhöhe sichtbar, und als sie durch das hohe Tor rollten, sprengten Reiter herbei, um sie willkommen zu heißen. Sie schossen mit ihren Pistolen in die Luft, und hinter ihnen stiegen Leuchtraketen auf. Die lächelnden Reiter umrundeten die Fahrzeuge und wur den mit Johlen und Gelächter begrüßt. Dieses Rodeo, auf das sich Cristi so sehr gefreut hatte, war ein Vermächtnis ihres Großvaters, und es wahrte eine Tradition, die in so vielen Orten ausgestorben war. Ihr Großvater hatte in den Sechzigerjahren nicht nur eine eigene Lasso-Mannschaft gegründet, sondern auch andere Rancher dazu überredet, dasselbe zu tun und alljähr lich Wettbewerbe zu organisieren, die zur Attraktion in dieser Gegend geworden waren. »Wir haben Glück, dass das letzte Rodeo dieses Jahr so spät stattfindet«, hatte Luis erklärt, als er endlich das Geheimnis um die versprochene Überraschung gelüftet hatte. Wie bei allem, was mit Luis in Zusammenhang stand, fragte sich Cristi, ob er etwas mit diesem späten Termin zu tun hatte. Er war ebenso wie seinerzeit sein Großvater fähig, mit allen möglichen Mitteln das zu erreichen, was ihm in den Kram passte. Aber das würde Cristi wohl nie erfahren, und sie war zu glücklich, um sich darüber Gedanken zu machen. Es war wunderbar, wieder auf der Ranch zu sein, und sie freute sich, dass sie, wenn auch nur in sehr geringem Maße, in die Arbeit des Frühsommers mit einbezogen wurde. Jetzt war das Gras überall saftig grün, Zugvögel waren angekommen, und die Luft roch süß nach Orangenblüten - ein Duft, der Cristi auch später immer an die se ereignisreichen Tage und die emotionale
Bewusstheit erinnern sollte. Und heute erwartete sie ein weiteres Erlebnis. Rancharbeiter führten die Pferde, die die fremden Mannschaften schon gestern hergebracht hatten, auf den Hof. Als die Männer aufstiegen, sah Cristi die Tres Pinheiros-Flagge am Mast - das Wappen flatterte in der Brise. Ihr Wappen. Sie war keine Zuschauerin; sie gehörte dazu und war Teil dieser Veranstaltung. Die lange Prozession der Pferde wand sich den Hügel hinauf, eine kleine Band spielte die erste der einschlägigen Melodien, die sie an diesem Tag noch oft zum Besten geben würden. Nach der Messe, die in einem Eukalyptushain gefeiert wurde, gingen die Frauen in das kühle, abgedunkelte Haus. Dort wurden Kaffee und kleine süße Kuchen serviert. Cristi fand, dass es noch zu früh für solche klebrigen Leckereien war. Die Frauen behandelten sie freund lich und zuvorkommend, dennoch beabsichtigte sie nicht, sich den ganzen Tag im dunklen Haus aufzuhalten. Als sich die Unterhaltung um Kinder, Schule, Waschma schinen und Katalogeinkäufe zu drehen begann, schlich sich Cristi davon. Draußen fand sie nicht nur eine andere Szenerie vor, sondern glaubte auch, in einem anderen Jahrhundert gelandet zu sein. Staub, Pferde, Hunde, das Brüllen der in Pferchen eingesperrten Rinder und Männer, die all den Vergnügungen nachgingen, die eine solche Gelegenheit bereithielt. Abgesehen von den knallbunten Mannschafts-Bandanas waren sie, der Tradition entsprechend, in Erdfarben gekleidet. Die Schafe, die zum Schlachten und Essen bestimmt waren, wurden mit Transportern angekarrt. In den Gruben, über denen die Keulen geröstet werden sollten, war schon gestern Feuer entfacht worden, und die Glut brannte heiß und rot. Hitze hatte sich über das Land gesenkt, und Cristi war froh um ihren breitkrempigen Gaucho-Hut, den Luis ihr gekauft hatte. Seine Augen leuchteten, als er sie mit dem Hut sah, und er
murmelte ernst: »Old, bem gaücba.« , Daran erinnerte sie sich mit Freude, Luis lenkte sein Pferd an ihre Seite. »Meine süße Cousine, was hältst du von all dem?«, erkundigte er sich gespielt unsicher und betrachtete vergnügt ihre Erscheinung. »Heute erlebst du nichts als Tradition. Die Frauen bleiben im Haus, beklagen sich über die Hitze, die Lebenshaltungskosten und ihre Krankhei-. ten. Sie streiten um den Platz vor dem Spiegel, das Badezimmer und die kleinen Delikatessen, die am laufenden l Band serviert werden ...« »Tatsächlich ? Von hier aus hat man einen wundervollen Blick«, bemerkte Cristi gefasst und stellte einen Fuß auf das unterste Brett des Zauns. »Vergiss nicht, dass du ein Image bewahren musst. Du bist immerhin die patroa von Tres Pinheiros.« Sie bedachte ihn mit einem Lächeln. »Zum Glück bin ich auch die ahnungslose Ausländerin, von der man nicht viel erwarten kann. Ich denke, ich werde das Beste daraus machen, danke.« Luis lachte. »Ich kann nicht behaupten, dass ich dir das übel nehme.« »Außerdem bin ich nicht die einzige Frau hier draußen.« Ein paar Mädchen schäkerten mit den Reitern. Als ihr Gelächter laut wurde, warf Luis ihnen einen missbilligenden Blick zu. Cristi erfuhr später, als sie sich mit den Mädchen unterhielt, dass einige von ihnen selbst sehr kompetente Lassowerferinnen waren, doch an diesem Tag von den Wettbewerben ausgeschlossen wurden, weil die Traditionen strikt eingehalten werden sollten. Cristi hielt es für geraten, das Thema zu wechseln. »Wann fängt der Wettkampf an?« »Wenn die Männer und die Pferde bereit sind und der Vorarbeiter den ersten Stier frei lässt. Man richtet sich hier nicht nach Uhrzeiten.« Es war kein Rodeo im nordamerikanischen Stil, hier wurden
keine halb wilden Pferde geritten. Es ging darum, einen Stier mit dem Lasso einzufangen, wobei sich die Schlinge nicht um den Hals des Tieres, sondern um die Hörner legen musste, und es war sehr eindrucksvoll, wie gut die Männer diese Kunst beherrschten. Gegen Mittag lag die Mannschaft von Tres Pinheiros in Führung, und Cristi amüsierte sich darüber, wie stolz und zufrieden sie das machte. Das Mittagessen entsprach ganz den alten Bräuchen. Die Frauen saßen auf den Bänken an den langen Tischen, in die Löcher gebohrt waren. Die Männer brachten das Fleisch an den Spießen vom Feuer und steckten die Spit zen der Spieße in diese Löcher, dann schnitt jeder mit den rasiermesserscharfen Messern, die sie bei sich trugen, Stücke von dem Braten ab. Die schönsten boten sie den Mädchen ihrer Wahl an. Der Bratensaft und das Blut wurden von einer Art Mehl aufgesaugt, in das die Fleischbissen getaucht wurden, oder man tunkte selbst gebackenes Brot hinein. Das Fleisch war außen scharf geröstet, innen noch rosa und durch die Eukalyptuszweige, die man ins Feuer geworfen hatte, köstlich gewürzt. Cristi ließ sich von dem Geschehen mitreißen und war glücklich, Luis an ihrer Seite zu wissen. Er schnitt ihr entschlossen die besten Leckerbissen vom Braten ab und lächelte, während er sie ihr mit einer schwungvollen Geste überreichte. Seine Blicke schienen geheime Botschaften voller Verheißung zu übermitteln. Während der Siesta ruhten die Männer im Schatten, plauderten leise miteinander oder dösten unter den Hüten, die sie sich auf die Gesichter gelegt hatten. Jemand zupfte an einer Gitarre, dann wurde alles still. Die Pferde hielten die Köpfe gesenkt, die Vögel schwiegen, und sogar die Rinder schnaubten und brüllten nicht mehr. Den Abend würde Cristi nie vergessen: Das offene Land war in goldenes Licht getaucht, und die Hitze des Tages verging, als das Lassowerfen begann. Grölen und Lachen brandeten auf,
sobald ein Stier ohne Hörner freigelassen wurde, an dem ein Experte sein Glück versuchte, und bewundernde Jubelrufe ertönten, weil es ihm tatsächlich gelang, die Schlinge über den winzigen Höckern zuzuziehen. Als der große Wettbewerb, den die Mannschaft von Tres Pinheiros leider nicht gewann, beendet war, ging man zu den weniger ernsten Herausforderungen über. Luis und der dicke, lustige Gastgeber wurden zu einem Kampf Mann gegen Mann überredet. Die Zuschauer johlten, als sich der dicke Rancher, der sich nur noch selten auf ein Pferd setzte, anstrengte und keuchte. Und Cristi entdeckte eine ganz neue Seite an Luis - er war nicht mehr der weltgewandte Stadtmensch, sondern stürzte sich mit Leib und Seele in den Wettbewerb. Es war offensichtlich, dass ihm die Talente angeboren waren und dass er nicht gern verlor. Cristi sann immer noch über diesen neuen Aspekt na ch, als sie hörte, wie die Leute ihren eigenen Namen riefen. Es hatte sich herumgesprochen, dass ihr die Gauchos das Lassowerfen beigebracht hatten, und in dem wohlmeinenden Wunsch, sie in das Fest mit einzubeziehen und sie schließlich doch als nominelle Chefin von Tres Pinheiros anzuerkennen, ritten ein paar Männer lachend auf sie zu und ermunterten sie, sich in den Sattel zu schwingen. Luis war an ihrer Seite und beugte sich über den Pferdehals, um ihr grinsend zuzuflüstern: »Ich denke, du musst etwas tun.« »Die Aufforderung annehmen? Eines dieser Tiere mit dem Lasso einfangen?« Cristi war entsetzt. »Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mit dieser Horde von Experten reiten möchte. Bitte, erklär ihnen das, Luis. Das ist ohnehin nur ein Scherz - sie meinen es bestimmt nicht ernst.« »Hör mal, es spielt gar keine Rolle, wie gut oder schlecht du dich schlägst. Sie wollen nur höflich sein. Es würde sie furchtbar beleidigen, wenn du dich verweigerst. Schlechtes Benehmen einer Ausländerin ... du verstehst? Und je ungeschickter du dich anstellst, desto mehr amüsieren sie sich. Ich glaube, du hast gar
keine Wahl.« Nicht dieser letzte Satz brachte Cristi zu einer Entscheidung, sondern der vorletzte. Immerhin ritt sie seit ihrem neunten Lebensjahr. Sie konnte wahrscheinlich im Sattel bleiben, auch wenn der Stier verrückt spielte und ihr Pferd zum Steigen brachte. Würde den Männern recht geschehen, wenn es so käme und sie das Tier zurücktreiben müssten! Mit einem Mal war sie erpicht darauf, die Herausforderung anzunehmen. Enrico, der die Pferde am Vortag hergebracht hatte, führte eines zu ihr. Die Begeisterung für diese Neuerung wuchs unter den Zuschauern; sogar die älteren Frauen kamen aus dem Haus, um das Spektakel nicht zu verpassen. »Gut«, sagte Cristi. »Ich schätze, ich kann nur einen Narren aus mir machen.« Luis hatte im Grunde nicht damit gerechnet, dass sie sich auf dieses Spiel einlassen würde, aber jetzt wurde er ganz professionell. Sein angeborener Siegeswille dehnte sich augenblicklich auf sie aus. Ihre Vorstellung würde auch ein Licht auf ihn werfen - auf ihn und auf alle Fonsecas. Er wusste, dass sie reiten konnte. Sein Wunsch war jetzt, dass sie sich so unauffällig wie möglich verhielt. Jetzt, da Cristi in der Pflicht war, versuchte sie, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Die Mitglieder der Mannschaft von Tres Pinheiros scharten sich um sie, und ihren Kommentaren entnahm sie, dass sie dies ziemlich ernst nahmen, obwohl es eigentlich ein harmloses Vergnügen sein sollte. Cristi hatte ihre Wertschätzung gewonnen, indem sie die Herausforderung angenommen hatte. Ich bin drauf und dran, vor Publikum einen Stier mit dem Lasso einzufangen, mailte sie im Geiste nach Hause. Sie konnte sich vorstellen, wie Archie und Tom darüber lachen würden. Aber die beiden würden es gutheißen, dass sie es versuchte. Luis richtete die Lederschürze, die die Schenkel schützten, und ein anderer Mann überprüfte den Sattelgurt. Cristi drückte sich den
Hut tiefer ins Gesicht und schwang sich in den Sattel - diesmal war es ein echter Gaucho-Sattel. Die Menge machte Platz, um sie durchzulassen, und rief ihr Aufmunterungen nach. Luis ritt neben ihr zum Startpunkt, und Cristi wünschte, sie hätte bei den vorangegangenen Wettbewerben besser aufgepasst. Viele Leute hatten den Blick nur auf sie gerichtet. Die Last, die Ehre von Tres Pinheiros aufrechterhalten zu müssen, wog schwer. Auf dem Platz schienen die Entfernungen riesig zu sein, und der Boden war bei weitem nicht so eben, wie er von dem Platz der Zuschauer aus ausgesehen hatte. Der Pferch, in dem die Tiere gehalten wurden, war von hier aus nicht zu sehen. Cristis Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie bemerkte nicht, dass auf Anweisung des Gastgebers ein Stier mit langen, geschwungenen Hörnern freigelassen wurde, der schon zweimal an diesem Tag erfolgreich eingefangen worden und eigentlich der Ansicht war, für einen Tag genug getan zu haben. »Sie werden schreien, wenn sie das Gatter öffnen«, erklärte Luis. »Er kommt von dort. Das ist dein Weg. Reite in einem spitzen Winkel auf ihn zu und treibe ihn bergauf. Du brauchst dich nicht zu beeilen - du hast mehr Zeit, als du denkst.« Luis schien sehr nervös zu sein; sein Gesicht wirkte unter dem breitkrempigen Hut angespannt. Er schätzte die Entfernungen ab und sah zur tief stehenden Sonne im Westen, dann musterte er Cristis Sitz in dem ungewohnten Sattel, ihre Hände, die die Zügel und das zusammengerollte Lasso hielten. »Das Seil flach werfen, denk dran - flach.« Cristi dachte an die Stunden, in denen sie ge übt hatte. Damals hatte sie nur die Armbewegung beherrschen, mit der man das Lasso auf klassische Art kreisen ließ, und den freundlichen Arbeitern gefallen wollen, die es ihr gezeigt hatten, aber sie hatte nie im Leben daran gedacht, diese Fertigkeit einmal unter Beweis stellen zu müssen. Doch jetzt waren dieselben Männer hier in ihrer Mannschaft, und sie durfte sie nicht enttäuschen.
Ein Schrei gellte durch die Luft. Alle - Männer, Frauen und Kinder - schienen sich zusammenzudrängen, um zuzusehen. Der widerspenstige Stier kam keuchend die Anhöhe herauf, und Cristi hatte sogar noch Zeit, seine weit ausladenden Hörner zu bewundern. Sie war dankbar dafür, ein so großes Ziel zu haben. Ohne jede Hilfe trabte ihr erfahrenes Pferd genau im richtigen Moment an und brachte sie in die korrekte Position. Cristi versuchte, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie gelernt hatte, und schwang das Seil so, wie es sich gehörte. Aber sie war zu früh dran, und die Schlinge kreiste zu hoch. Ein Ächzen, vermischt mit gutmütigem Gelächter, wurde laut. Cristi hatte versagt. Noch bevor ihr Pferd langsamer wurde, waren Luis und der Kapitän der Mannschaft an ihrer Seite. Der Kapitän brach die Regeln des Sports, wickelte ihr Lasso neu auf und bellte seinen Männern Kommandos zu. »Reite weiter«, rief Luis im Befehlston. »Halte die Stute in Bewegung. Vielleicht bekommst du Gelegenheit, es noch einmal zu versuchen.« O Gott, und sie hatte gedacht, es wäre vorbei. Nach allem, was Cristi am heutigen Tag gesehen hatte, bekam keiner der Wettbewerbsteilnehmer eine zweite Chance. Aber der begeisterte Applaus verriet ihr, dass die Leute mehr sehen wollten. Nun gut, wenn sie so versessen darauf waren! Sie verspürte einen Adrenalinschub und dachte an nichts anderes als an die Aufgabe, die vor ihr lag - Galopp, donnernde Hufe, das Lasso wurde ihr in die Hand gedrückt, die Stute machte einen Satz. Der Stier begriff, dass die Jagd neu eröffnet war, und stürmte vorwärts. Mit einer solchen Geschwindigkeit hatte Luis nicht gerechnet. »Cristi, es hat keinen Zweck. Es bleibt keine Zeit mehr.« Aber Cristi nahm die Steinmauer, die vor ihr aufragte, gar nicht wahr - sie sah nur die geschwungenen Hörner und spürte, wie die Stute ihren Körper streckte, um die Beute einzuholen.
Sie bemerkte nicht einmal Luis, der von der Seite auf sie zusprengte, um ihr Pferd abzudrängen, oder die drei oder vier Reiter, die wild galoppierten, um sich zwischen sie und die Mauer zu bringen. Für sie existierten nur noch das Lasso in ihrer Hand, der rennende Stier und die Distanz zwischen ihnen. Instinktiv gab sie dem Pferd die Richtung an und spürte, dass das kluge Tier ihr alles leicht machte. In vollkommener Konzentration wählte Cristi ihren Moment, und wieder schlängelte sich das Lasso durch die Luft, um geschmeidig genau auf den richtigen Punkt zu fallen. Sie hatte nicht einen Augenblick daran gedacht, dass auf diese Aktion ein Schock und ein heftiger Ruck folgen würde, der sie fast aus dem Sattel riss, als der Stier weiterrannte. »Genauso wenig war sie sich bewusst, wie nahe sie der Steinmauer war. Später konnte sie die hektischen Sekunden, in denen die Gauchos sie mit donnernden Hufen umringten, Staub aufwirbelten, schrien und lachten, nicht mehr rekonstruieren. Sie wusste nur noch, dass das Gewicht, das an dem Seil zerrte, plötzlich weg war, dass die Stute im letzten Moment zur Seite schwenkte und ein starker Arm sie selbst packte und auf ein anderes Pferd hob. »Um Gottes willen, hast du die taipa, die Mauer, nicht gesehen?« Luis schien vor Schreck zu zittern, aber in seiner Bestürzung über ihren Leichtsinn schwangen Stolz, Erleichterung und Bewunderung mit. »Was hast du dir nur dabei gedacht ?« »Ich dachte gar nichts und habe auch nichts gesehen.« Er ließ sie auf den Boden gleiten. Cristi war froh, dass sein Pferd auch nach der wilden Jagd dastand wie ein Felsen, denn alles andere schien sich um sie herum zu drehen. Sie sah lachende Gesichter, Hände klopften ihr auf die Schulter, und Stimmen beglückwünschten sie zu ihrer Leistung. Dann stand Luis neben ihr, umfasste ihren Ellbogen, und sie lehnte sich, noch immer bebend, dankbar an ihn.
Es war ein reiner Zufallstreffer gewesen, daran zweifelte niemand. Ihr Wurf war unorthodox und ruckhaft gewesen, aber alle bewunderten Cristi dafür, dass sie es versucht hatte. Diese unbekannte Fonseca-Enkelin, Justinas Tochter, war bereit, die Traditionen, die Gaucho-Traditionen, zu bewahren und zu pflegen. Sie hatte von allen Seiten Hilfe bekommen, doch Cristis Hand hatte das Lasso geschwungen und die Schlinge über die Stierhörner geworfen. Sie lobten sie über den grünen Klee. Der Abend verlief wie in einem Traum. Alles war prachtvoll und so bunt, dass sie unweigerlich dachte: Ich muss mir jede Einzelheit genau einprägen. Dies ist etwas ganz Besonderes, und ich erlebe so was vielleicht nie wie der. Sie war in Hochstimmung, weil sie an den Ereignissen des Tages teilgehabt hatte, auch wenn ihr Beitrag vermutlich nur als amüsante Anekdote in die Geschichte eingehen würde. Da dies der letzte Wettbewerb der Saison gewesen war, wurden Preise verteilt, die unvermeidlichen blumigen Reden gehalten und zu Musik die Fahnen geschwungen sowie Leuchtraketen abgeschossen. Dann folgte eine besinnlichere Phase, und Cristi dachte, dass der Tag zu Ende sei. Aber niemand rührte sich von der Stelle, und kurz darauf wurden riesige Schüsseln mit Reis, Bohnen, Hühnerfleisch und Berge von pasteis angeschleppt, die Cristi so sehr liebte. Alle versammelten sich zum Essen um ein großes Feuer. Nach dem Essen begann ganz allmählich das eigentliche Fest. Es war dunkel geworden, aber am samtschwarzen Himmel funkelten unzählige Sterne. Musik, Gesang - darauf war Cristi gefasst, aber nicht auf die langen Gedichte, die mit Leidenschaft und Dramatik rezitiert wurden, und auf das hingerissene Publikum. Zum ersten Mal erlebte Cristi die von allen geschätzte Tradition des Geschichten-Erzählens und erfuhr sehr viel über die Ursprünge und die Historie die ser stolzen Menschen. Sie hätte auch ohne
Luis' geflüsterte Erklärung gewusst, dass ihr Großvater sehr darauf bedacht gewesen war, diesen Teil des Gaucho-Erbes am Leben zu erhalten. Es folgten noch mehrere Überraschungen. Als die inbrünstigen Rezitationen frivoleren Beiträgen wichen, riefen einige nach etwas anderem. Cristi verstand nicht, was sie wollten. »Sapateiro«, sagte Luis. »Das wird dir gefallen.« Jemand legte einen der Länge nach gefalteten Poncho auf die festgestampfte Erde. Nach langem Überreden, etlichen Beleidigungen und Anfeuerungen traten zwei Männer vor und stellten sich einander gegenüber je an einem Ende des Ponchos auf. Die Musiker grinsten und . stimmten eine rhythmische Melodie an. Einer der Männer machte schnelle Schritte über den Stoff, der zweite tat es ihm gleich, wandte jedoch eine andere Schrittfolge an. »Sie dürfen sich nicht wiederholen oder den anderen ^Tänzer nachahmen«, erläuterte Luis dicht an Cristis Ohr, damit sie ihn verstand, denn alle in der Runde klatschten mittlerweile im Takt. »Von den beiden kommt keiner sehr weit.« Er hatte Recht. Der Einfallsreichtum war rasch erschöpft, und der Erste zog sich unter dem Grölen der Zuschauer zurück; ein anderer trat an, um sich dem Sieger zu stellen. Und so ging es weiter- die Fantasielosen gaben rasch auf, nahmen ihre Niederlage jedoch gelassen hin. Aber irgendwann wurde die Sache ernster. Ein neuer Wettbewerbsteilnehmer sprang auf. Die zwingenden Rhythmen der Musik ließen nie nach, und die Schritte wurden so kompliziert, dass sich Cristi kaum noch neue vorstellen konnte. Sie hätte nicht sagen können, ob sich die Schrittfolgen wiederholten, doch die aufmerksamen Experten hätten es sofort erkannt. Cristi schaute erstaunt in die Runde, als nach Luis gerufen wurde. Obwohl er sich an dem Lassowerfen beteiligt hatte, wäre Cristi nie auf den Gedanken gekommen, dass er bereit war, sich
auf diese Weise öffentlich zur Schau zu s tellen. Aber da man ihn bisher nicht aufgefordert hatte, schien er als versierter Tänzer zu gelten. Er zögerte einen Augenblick, doch dann kam er geschmeidig auf die Füße und ging in den Lichtkreis, wo er sich sehr gut schlug. Seine Vorstellung wurde mit Beifall belohnt. Für Cristi war es seltsam, ihn so zu beobachten. Er kam ihr vor wie ein Fremder. Sogar inmitten all dieser attraktiven Männer sah er umwerfend gut aus; er hielt den Rücken gerade und den Kopf erhoben, während er blitzschnell eine Reihe schwieriger Schritte absolvierte. Als die geschickteren Tänzer an die Reihe kamen, wurde das Spiel großspuriger, und Luis bewies, dass er mithalten konnte. Der Refrain, der sich immer wiederholte, hatte eine hypnotische Wirkung, die vielen Gesichter, die lodernden Flammen, der sternenklare Himmel und das weite Land, das sich nach allen Seiten erstreckte - das alles machte diese wunderschöne Nacht für Cristi unvergesslich. Dann kam die lange Heimfahrt über das dunkle Plateau im Jeep. Luis schwieg eine ganze Weile, und Cristi war vollkommen zufrieden, mit ihm zusammen und ihm so nahe zu sein. Die Eindrücke des Tages gingen ihr durch den Kopf. Irgendwann fasste Luis nach ihrer Hand. Die Bewegung wirkte bestimmt, sein Griff war fest. Für einen erschreckenden Moment fand Cristi ihn sogar schmerzhaft, aber es machte ihr nichts aus. Seit Tagen sehnte sie sich nach einer Berührung, irgendeiner Berührung. Luis hatte eigentlich nichts für solche Gesten übrig. Händchenhalten war für ihn ein pubertärer Zeitvertreib. Entweder man erlegte die Beute sofort, oder man sparte sich die Energie. Doch bei dieser seltsamen kleinen Cousine galten andere Regeln. Ungeachtet seiner eigenen Neigungen musste er etwas unternehmen und einen Weg aus der gegenwärtigen Sackgasse finden. Dennoch war es nicht gerade angenehm, eine solche Straße
einhändig zu fahren, und nach ein paar Minuten löste er das Problem, indem er Cristis Hand auf seinen Schenkel legte und ihr mit einem Tätscheln zu verstehen gab, dass sie dort bleiben sollte. Cristi war überrascht und hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte. Sie spürte die eisenharten Reitermuskeln unter ihrer Handfläche. Selbst bei seinem aus schweifenden Leben in der Stadt achtete Luis sorgsam darauf, in Form zu bleiben; sein Geschick beim Rodeo und später beim Tanzen hatte bewiesen, wie gut seine Kondition war. Er schwieg immer noch und konzentrierte sich scheinbar aufs Fahren, aber hin und wieder legte er die Hand über ihre und drückte sie fest an seinen Schenkel. Cristi saß wie benommen neben ihm. Sein schlanker, drahtiger Körper war ihr sehr nahe. Die Magie der Musik und des Feuerscheins, des Weins und des Lachens hatte ihre Wir kung noch nicht verloren; der nüchterne Alltag schien in weite Ferne gerückt zu sein. Ihre Nerven vibrierten, jede Faser ihres Körpers war beherrscht von einem Verlangen, das sie nie zuvor empfunden hatte. In all den Wochen hatte sich ihr Begehren aufgebaut und war unbefriedigt geblieben. Aber die heutige Nacht brachte sicherlich eine Wende. Luis bremste ab und blieb stehen. Noch ehe Cristi wusste, wie ihr geschah, drehte er sich zu ihr und zog sie an sich. Sie keuchte erschrocken, bevor sich sein Mund auf ihren presste. In dem Wirbel der Gefühle und der Erregung wurde sich Cristi nur vage bewusst, dass seine Umarmung zu fest und sein Kuss zu fordernd war. Doch dann waren alle Gedanken wie ausgelöscht, und eine tiefe Dankbarkeit, dass es endlich passierte, erfüllte sie. Selbstverständlich gehörte Luis nicht zu den Männern, die falls es überhaupt seine Absicht war - auf dem Rücksitz eines Jeeps mitten im Nichts mit einer Frau schlafen würden, sagte sich Cristi. Es kostete sie große Anstrengungen, einen klaren Gedanken zu fassen, als Luis den Motor wieder startete und
weiterfuhr. Sie verspürte das verzweifelte Bedürfnis, mit ihm zu reden; sie brauchte seine Hilfe, um zu begreifen, warum er beinahe so abrupt von ihr gelassen, wie er sie gepackt hatte. Es fiel ihr schwer, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Am liebsten hätte sie ihn angefleht, noch einmal stehen zu bleiben, sie in die Arme zu nehmen, sie anzuhören und mit ihr zu sprechen. Aber er würde das nur lästig finden. Hielt er sie für eine komplette Idiotin? Was war in Wirklichkeit geschehen? Er hatte sie geküsst, nichts weiter. Ja, aber dieser Kuss hatte eine drängende Intensität gezeigt, die sie noch nie an ihm erlebt hatte. Seine Hände hatten forschend und autoritär ihren Körper erkundet, sich über ihre Brüste gelegt und ihr Hemd aufgeknöpft. Seine Lippen waren über ihre Haut gewandert, und die Fingerspitzen hatten ihre Brustwarzen liebkost, bis ihr Verlangen schier unerträglich geworden war. Das war alles. Nach Wochen der wachsenden Vertrautheit, der Hoffnung und Zweifel war das alles. Es war nichts. Sie dachte an ihre Bekannten und Freund innen, die vergnügt mit jemandem ins Bett hüpften, den sie erst am selben Abend kennen gelernt hatten. Für sie wäre dies etwas ganz Normales, vielleicht ein Vergnügen, jedenfalls nichts Ungewöhnliches. Aber für Cristi... Sie schauderte, als sie der Wahrheit ins Gesicht sah... Für sie war diese erste sexuelle Annä herung, auf die sie so lange gewartet hatte, ungeheuer bedeutsam und sehr aufregend. Doch sie musste sich auch eingestehen, dass die Liebkosung außer Begierde noch etwas anderes in ihr geweckt hatte, etwas, was einer bösen Vorahnung ziemlich nahe kam. Hatte sie nicht Grund genug zur Besorgnis, wenn sie ihre Befürchtungen ihm gegenüber nicht äußern konnte und wenn ihr erster Gedanke gewesen war, dass sie auf seine Zärtlichkeiten so reagieren musste, wie es ihm gefiel? Sie verdrängte diese Fragen. Es war nicht mehr weit bis zur Ranch. Sicherlich würde Luis dort das vollenden, was er im Jeep
begonnen hatte. Er war kein Kind mehr und würde seine und ihre Sinne nicht derart reizen, wenn er dann nicht mehr haben wollte. Cristi sehnte sich nach Erlösung, Zärtlichkeit und liebevollem Sex. Doch dann meldete sich wieder die Angst. War ein Mann wie Luis überhaupt zu zärtlichem Sex fähig? Aber er, der zweifellos Erfahrung hatte und daran gewöhnt war zu bekommen, was er wollte, würde jetzt sicher keinen Rückzieher mehr machen. Hatten sie sich nicht bereits zueinander bekannt? Dies war nicht der Moment, sich darum zu sorgen, wohin der Sex sie führen würde. Sie ermahnte sich, an nichts anderes zu denken als an die sternenklare Nacht und das einsame Haus, das auf sie wartete. Sie spürte Luis' warmen Arm an ihrer Schulter, sein Profil wirkte im trüben Schein des Armaturenbrettes scharf geschnitten, und ihre Hand, die wieder auf seinem Schenkel lag, fühlte, wie das Blut durch seine Adern pulsierte.
26. Kapitel Als Cristi aufwachte, kam ihr sofort wieder zu Bewusstsein, dass alles schrecklich schief gelaufen war. Die Nachwirkungen des Rotweins halfen ihr nicht, ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein zu kurieren oder das verwirrende Schamgefühl und die Unsicherheit zu verdrängen. Sie hatte nur wenig geschlafen und sich rastlos im Bett herumgewälzt. Immer und immer wieder hatte sie die Ereignisse auf der Heimfahrt Revue passieren lassen - den kurzen Halt, die berauschenden Berührungen und Küsse, die Schwindel erregende Freude darüber, dass er genauso empfand wie sie, dann die Ernüchterung, als er ihr kühl eine gute Nacht gewünscht hatte, sobald sie das Haus betreten hatten. Luis hatte ihr keinen Hinweis darauf gegeben, dass er etwas anderes wollte, als sich allein zur ückzuziehen. Er hauchte ihr rechts und links einen Kuss auf die Wange, und obwohl er sie nicht gerade von sich weghielt, als seine Hände auf ihren
Schultern lagen, drückte er sie aber auch nicht direkt an sich. Was war schief gelaufen? Was hatte sie falsch gemacht? Was hatte sich zwischen ihnen verändert nach der eindeutigen Intimität bis zu dem förmlichen Abschied? Luis hatte sie umgedreht und mit einem sanften Stoß in Richtung ihres Zimmers geschubst. Sie war so verletzt und erstaunt gewesen, dass sie keinen Protest erhoben hatte, aber nachts im Bett wuchs ihre Empörung über diese rüde Behandlung ins Unermessliche. Sie drehte sich in dem schmalen Bett unruhig von einer Seite auf die andere und versuchte sich einzureden, dass Luis nicht die Absicht hatte, sie zu verletzen; er hatte sich nur verantwortungsbewusst verhalten und dafür gesorgt, dass die Dinge nicht aus dem Ruder liefen. Oder - was für ein beschämender Gedanke - er war schockiert, dass sie ihm ihre Bereitschaft gezeigt hatte, aufs Ganze zu gehen. Hätte sie ihn abwehren sollen? Selbstverständlich hätte sie - er muss davon ausgegangen sein, dass sie ihn zurückweisen würde. Wie grauenvoll, dass sie ihm schon beim ersten Kuss erlaubt hatte, so weit zu gehen! Aber sie war dreiundzwanzig Jahre alt, um Himmels willen, und sie lebte im einundzwanzigsten Jahrhundert. Oder hatte ihn ihre Reaktion enttäuscht, und er erwartete und wünschte sich etwas ganz anderes? Andererseits hatte er vielleicht nie im Sinn gehabt, mit ihr zu schlafen. In diesem Fall würde es ihn erstaunen und amüsieren, dass sie nach ein paar Küssen mit mehr gerechnet hatte. Die Erinnerungen an die Schwierigkeiten, die sie an der Uni mit den Jungen gehabt hatte, und an ihre Überzeugung, dass sie mit Gleichaltrigen einfach nicht zurechtkam, kehrten zurück. Plötzlich wurde ihr eiskalt. Sie war Justinas Tochter, das Ergebnis einer Beziehung, die entweder als Bigamie oder als Ehebruch angesehen werden konnte. Nahm Luis an, dass sie genauso unmoralisch wie ihre Mutter war? Hielt er es für statthaft, sich ihr gegenüber ganz anders zu benehmen als einer
Frau gegenüber, die er respektierte? Cristi gab ihre Bemühungen auf, Schlaf zu finden, und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das zerwühlte Bett. Sie hatte Kopfschmerzen, ihre Haare waren strähnig, und Tränenspuren zeichneten sich auf ihren Wangen ab. Sie sehnte sich nach Tories Gelassenheit und gesundem Menschenverstand. Sogar Isas Unverblümtheit hätte ihr geholfen, diese Geschichte nicht allzu schwer zu nehmen. Cristi fürchtete sich davor, Luis gegenüberzutreten, als sie blass und verstört ins Esszimmer ging, um zu frühstücken. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als Selma ihr mitteilte, dass Luis schon in die Stadt gefahren sei. Aber als sie vor ihrem Kaffee saß, der, seit Luis auf die Ranch gekommen war, ausgezeichnet schmeckte, verwandelte sich ihre Erleichterung in Niedergeschlagenheit. Seine Abwesenheit war nur ein Aufschub für das, was ihr unweigerlich bevorstand. Aber was machte Luis überhaupt so früh in der Stadt? Was konnte er zu dieser Zeit erledigen? Wollte er ihr aus dem Weg gehen? Was wusste sie schon von ihm und seinen Empfindungen? Er war ein eigenständiger, erwachsener Mensch mit einer eigenen Tagesordnung, und es war unwahrscheinlich, dass er an diesem Morgen nichts anderes im Kopf hatte als sie... Bestimmt erging es ihm nicht so wie ihr, die an nichts anderes mehr denken konnte als an ihn. Sie beantwortete geistesabwesend Selmas Fragen nach dem Rodeo und verschwieg ihr, dass sie selbst in Aktion getreten war. Im Nachhinein kam es ihr vor wie einealberne Angeberei. Sie floh bei der ersten Gelegenheit aus dem Haus, und da ihr der Sinn nicht nach einem Ausritt stand (oder wollte sie nur in der Nähe bleiben, für den Fall, dass Luis nach Hause kam?), ging sie an den Ställen vorbei zu dem Weg, der auf den Hügel führte. Sie mußte nachdenken, und auf der Anhöhe würde die leichte Brise sie kühlen. Es war keine gute Wahl. Die Fonsecas, die in dem mit
schmiedeeisernem Geländer umgrenzten Friedhof beerdigt waren, ließen ihr keinen Frieden. Die Ansichten, die Ideale und Erwartungen der Familie senkten sich wie ein Tonnengewicht auf sie, als sie im Schatten der Pinien saß und das weite Land überblickte, das sich ihre Vorfahren vor langer Zeit zu Eigen gemacht hatten. Sie wünschte, sie hätte sich einen anderen Zufluchtsort gesucht. Hier sprangen ihr die Macht, der Wohlstand und der Status der Familie geradezu ins Auge, aber sie war zu lustlos, um sich von der Stelle zu rühren. Und sie fühlte sich schrecklich allein. Unter all den Verwandten - na ja, den lebenden zumindest -, die sie so unbedingt hatte kennen lernen wollen, gab es keinen Einzigen, dem sie herzlich verbunden war. Abgesehen von Luis, und jetzt war die Beziehung zu ihm zu einem grauenvollen Chaos geworden. Ihr war zum Heulen zu Mute, aber Tränen halfen ihr auch nicht weiter. Sie richtete den Blick auf einen der großen schwarz-weißen Gaucho-Adler, der seine trägen Kreise am Himmel zog. Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln ein Band aufgewirbelten roten Staubes auf der Straße wahr. Konnte das sein? Der Wagen war noch zu weit entfernt, und sie konnte ihn nicht erkennen. Aber ja, es war der Jeep, und er fuhr sehr schnell. Er hielt am Tor. Luis war zurück. Wie sollte sie ihm begegnen, was konnte sie sagen? W ürde er so tun, als wäre nichts geschehen? Na ja, es ist ja auch nichts geschehen, sagte sich Cristi. Das Schlimmste hat sich in deinem Kopf abgespielt. Soweit es Luis betrifft, so hat er dich auf dem Heimweg geküsst und ein bisschen angemacht (sie benutzte den Ausdruck mit Absicht, um den Vorfall so lässig darzustellen, wie ihre Freundinnen ihn ansehen würden). Für ihn war es nur ein kleines Vergnügen an einem insgesamt erfreulichen Tag. Vermutlich hat er das Intermezzo längst vergessen. Trotzdem war es besser hinunterzugehen, ihn zu begr üßen und die Sache hinter sich zu bringen, damit alles wieder wie gewohnt weiterlaufen konnte. Ohne auf die brennende Sonne
oder die dicken Heuschrecken zu achten, die ihr gegen die Beine sprangen, ging Cristi im Eilschritt den steilen Weg zum Haus hinunter. Luis war unerwartet gut gelaunt und begr üßte sie, als wäre nichts Ungewöhnliches zwischen ihnen vorgefallen. Er rief Selma zu, dass sie ihnen etwas zu trinken bringen sollte, und ließ sich auf den altmodischen Terrassenstuhl unter dem Kamelienbaum fallen. Er fächelte sich mit seinem Hut Luft zu und streckte einen Arm aus, um Cristi, ohne sie zu berühren, aufzufordern, auf dem Stuhl neben ihm Platz zu nehmen. »Mein Gott, war das heiß in der Stadt!«, klagte er. »Wir hatten in der letzten Nacht Stromausfall, der Schaden ist offenbar behoben, aber die Klimaanlagen und anderen Geräte funktionieren immer noch nicht richtig, Deus,, kein Unwetter, kein Sturm, kein Regen, und sie schaffen es die elektrische Versorgung zusammenbrechen zu lassen. Was für ein Land!« Cristi fragte nicht, weshalb er in die Stadt gefahren war? Die Antwort wäre eine Ausflucht nach Art der Fonsecas. Aber es war schön, dass er wieder da war. Jetzt sah alles anders aus. »Weißt du, was mir nun vorschweben würde?«, meinte Luis. »Schwimmen. Wie gefällt dir dieser Vorschlag? Es ist zu heiß zum Reiten, aber wir könnten den Jeep nehmen und irgendwo ein Picknick veranstalten. Was hältst du davon?« Obwohl er sie mit einem Lächeln für seine Pläne zu gewinnen versuchte, hatte Cristi den Eindruck, dass sich in der Stadt irgendetwas ereignet hatte, was ihm gegen den Strich ging. Ein Picknick wäre wunderbar. Sie sah die grüne, tiefe Schlucht und den von der Sonne beschiene nen Teich mit dem Wasserfall vor sich. An diesem Lieblingsplatz würde Luis sicher seine unterschwellige Gereiztheit, die sie immer noch nicht genau definieren konnte, abschütteln können. Aber nichts verlief so, wie es sollte. Eine Fahrt mit dem Jeep, in den der Straßenstaub eingedrungen war, der Cristi in der Nase und Kehle kitzelte, war etwas ganz anderes als ein Ausritt. Cristi
liebte es, ungezwungen in die Weite und ins helle Licht zu reiten, aber dieser Genuss war ihr diesmal verwehrt. Zudem assoziierte sie mit diesem Jeep Dinge, an die sie lieber nicht denken wollte. Allerdings musste sie sie ansprechen, weil sie die Dinge auf keinen Fall ungeklärt lassen wollte. Doch Luis, der das Steuer mit beiden Händen festhielt und sich auf die löchrige Straße konzentrierte, auf der der Jeep ordentlich holperte und schwankte, war kaum in der Lage, sich mit ihr zu unterhalten, wie er es tat, wenn sie gemächlich nebeneinander ritten. Sie war enttäuscht, dass Luis sie heute nicht zu seinem geheimen Platz brachte, sagte jedoch nichts. Er hielt neben einer Gruppe von Schatten spendenden Pinien am Wegesrand an. Dort plätscherte der Fluss über etliche Steinplatten, zwischen denen sich tiefe Teiche gebildet hatten. Es war zu heiß, um sich der prallen Sonne auszusetzen, und sie sprangen sofort ins kühle Wasser. Aber dieser Ort war für Cristis Geschmack zu offen und exponiert. Er hatte keinen besonderen Charakter. Die Sonne war sengend, sobald sie aus dem Wasser stiegen, und die Felsen waren so aufgeheizt, dass man sie barfuß nicht betreten konnte. Sie verzehrten das Picknick, das Selma hastig zusammengestellt hatte - Luis murrte, weil es ihm nicht schmeckte, und beschwerte sich, weil der Wein nicht kalt genug war -, dann streckten sie sich nebeneinander im Schatten aus. Alles erschien ganz normal, aber das war es nicht. Cristi war der Ansicht, dass dieser Zeitpunkt günstig für ein Gespräch oder zumindest für ein Bekenntnis wäre, dass sich ihr Verhältnis zueinander gewandelt hatte. Aber offensichtlich irrte sie sich. Luis schlief sofort ein. Doch Cristi kam trotz der unruhigen Nacht nicht zur Ruhe. Sie war enttäuscht, bestürzt und wütend auf Luis, 'weil er das, was vorgefallen war, ignorierte. Dann richtete sich ihr Zorn auf sich selbst, weil sie zuließ, das er es ignorierte. Wieso ergriff sie nicht die Initiative und sprach offen aus, was sie beschäftigte? Wenn sie mit ihm reden wollte, warum redete sie dann nicht? Was brachte sie auf
die Idee, dass er den Anfang machen mußte? Aber Luis war immer derjenige gewesen, der die Gangart bestimmte. Das war ihr ganz natürlich erschienen. Und was sollte sie sagen? Warum hast du gestern Abend an mir herumgefummelt und mich dann fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel? Nein, das war nicht ihr Stil. Allein der Gedanke, ihn so derb anzugehen, ließ sie zusammenzucken. Sie machte aus einer Mücke einen Elefanten, und für Luis war das nächtliche Zwischenspiel nicht mehr gewesen als ein kleines, unbedeutendes Techtelmechtel, eine Augenblickslaune. Selbstverständlich wollte er ihr jede Verlegenheit ersparen und hielt es für eine zivilisierte Vorgehensweise, so zu tun, als wäre nichts gewesen. Die brütende Hitze, der grelle Himmel, der heiße Felsen abseits des Schattenfleckchens und die Aussicht auf die staubige Fahrt nach Hause gaben Cris ti das Gefühl, gefangen zu sein. Es gab keinen Fluchtweg, sie konnte nur zusammen mit Luis den Heimweg antreten. Sie hatte Isas Stimme im Ohr, die ihr vorwarf, ein Schwächling zu sein. Und sie wusste selbst, wie feige sie war. Der Ausflug war keineswegs befriedigend. Sie badeten nicht mehr, sondern packten ohne Diskussion ihre Sachen zusammen und fuhren zum Haus zur ück, um den Rest des Nachmittags in der abgedunkelten Abgeschiedenheit ihrer jeweiligen Zimmer zu verdösen. Erst als sie sich in der Stunde vor Sonnenuntergang auf der Terrasse trafen, um ihre Drinks vor dem Essen einzunehmen, sprach Luis das aus, was er den ganzen Tag nicht über die Lippen gebracht hatte. Er wartete, bis Selma die Getränke, eine kleine Schüssel mit Zitronenschnitzen und einen Te ller mit tostados gebracht und die Laternen an die Haken auf beiden Seiten der Veranda gehängt hatte. Dort tummelten sich bei Dunkelheit die Motten und andere Insekten. Er schwieg noch eine Weile, dann wandte er sich mit einer Entschiedenheit, die ihr sofort auffiel, an Cristi.
Sein Tonfall war jedoch gelassen und sorglos, als wollte er keine zu große Sache aus dem, was folgte, machen. »Nun, Maria-Cristina, mir scheint, dass wir beide etwas zu besprechen haben.« Cristi, die die Ungewissheit leid war, verspürte im ersten Moment Erleichterung, aber dann bekam sie Angst. Wovor? Es war ungewöhnlich, dass Luis sie mit vollem Namen ansprach, aber das oder seine ernste Miene dürfte sie eigentlich nicht in Alarmbereitschaft versetzen. »Ich denke, uns beiden ist mittlerweile klar«, fuhr er fort, als sie nicht antwortete, »dass unsere Gefühle füreinander mehr sind als nur verwandtschaftliche Zuneigung zwischen Cousin und Cousine. Ist es nicht so?« Er blieb sachlich, als berichtete er von Tatsachen, die längst bekannt und für sich genommen nicht notwendigerweise von Bedeutung waren. Trotzdem schuf er damit eine Situation, die eine Erwiderung verlangte. Er fasste nach Cristis Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. Obwohl Cristi sein Gesicht bei diesem Licht kaum sehen konnte, ahnte sie, dass er sie mit intensivem Blick ansah. »Ich denke, querida«, fuhr er leise fort und beugte sich näher zu ihr, »dass wir unter diesen Umständen nicht einfach so weitermachen können wie bisher.« Was sollte das heißen? Eine eigenartige Eröffnung. Was sollte sie darauf erwidern? Cristi spürte, wie ihr Herz zu pochen anfing. »Meinst du nicht auch, dass es das Beste wäre, wenn wir heiraten würden?« Der Bus beschleunigte - der Bus, der für Cristi eine so angenehme Überraschung war: modern, sauber, klimatisiert und pünktlich, und der Komfort beruhigte sie auf eine Art, die ihr selbst absurd vorkam. Da es ihr nicht gelungen war, sofort einen Flug nach Porto Allegre zu buchen, hatte ihr Dr. Elisarios
Sekretärin diesen Bus emp fohlen und beteuert, dass der Service bei Fernfahrten in Brasilien unübertroffen war. Cristi hatte die Idee aufge griffen, weil sie noch heute einen Platz bekommen und zudem das Gefühl hatte, im Süden ein unabhängigeres und normales Leben führen zu können. Sie dachte an das einfache Zimmer in derpensao, das ihr wieder zur Verfügung stand und das sie schon einmal auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht hatte - es war ihre Wahl, ihre Entscheidung gewesen, dort zu wohnen. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, und eine Umgebung, in der sich niemals ein Fonseca blicken lassen würde, war am besten geeignet, damit anzufangen. Die Szene mit Luis auf der Veranda erschien ihr noch immer unwirklich. Als ihr seine Eröffnungsworte wieder einfielen, empfand sie im ersten Moment dieselbe ungetrübte Freude, die sie an dem bewussten Abend hervorgerufen hatten. Er fühlte wie sie! Es war atemberaubend, wunderbar - doch dann war da diese Unnahbarkeit gewesen, die ihre Begeisterung augenblicklich gedämpft hatte. Sie sprang auf, um ihm in die Arme zu sinken, er erhob sich und ergriff ihre Hände und hielt sie, wie es damals den Anschein hatte, locker fest. Im Rückblick erkannte Cristi, dass das Absicht gewesen war. Er wollte sie warnen und ihr klar machen, dass leichtsinniger Überschwang nicht die Oberhand gewinnen durfte. Sie lächelte matt, als sie daran dachte, wie er sich danach verhalten hatte. Er zog ihren Stuhl näher an den seinen heran, bat sie, sich wieder zu setzen, und hielt ihre Hand, während er ihr leise und mit sanften Worten erklärte, dass sie sich nicht in leidenschaftlichen Umarmungen verlieren durften. »Meine süße Cristi«, meinte er fast wehmütig, »die romantische Liebe, an die ihr Briten so sehr glaubt, wird in unserem Fall kaum ausreichen. Du musst doch sehen, dass uns viele Hindernisse im Weg stehen und eine Menge Dinge diskutiert werden müssen.«
Cristi war sich im Klaren, dass er sie für überdreht hielte, wenn sie ausrufen würde: Aber liebst du mich? Um Himmels willen, rief sie sich zur Ordnung, er spricht davon, dass er dich heiraten will. In deinen wildesten Träumen hättest du nicht für möglich gehalten, dass das geschieht. Halt den Mund und hör ihm zu. Es war trotzdem aufregend, in dem sanften Licht der Laternen auf der Veranda zu sitzen und dem Chor der Frösche zu lauschen. Ein Strudel von wilden Spekula tionen lenkte sie von dem ab, was Luis sagte. Ihn heiraten. In diesem sagenhaften Land leben. Tres Pinheiros gemeinsam mit ihm führen. Für immer den Konflikt zwischen ihren beiden Erbanteilen beilegen. Wie sehr sich Pauly und Archie für sie freuen würden, auch wenn sie ihnen fehlte! Wie wunderbar es sein würde, wenn sie mit Luis nach Schottland flog, damit er alle kennen lernte! Eine Vision blockierte den verwirrenden Wirbel von Gedankenfetzen - eine Vision, die sie am liebsten ausge löscht hätte. Sie sah Dougal ganz deutlich und klar vor sich - Dougal in seiner alten, abgenutzten Jacke mit hochgeschlagenem Kragen und mit vom Wind zerzausten Haaren; seine kräftige, gedrungene Gestalt, seine ent schlossenen Schritte - ein Mann, der in die bergige Land schaft Schottlands gehörte. Es war ein lebendiges Bild, bei dem ihr das Herz stockte, das aber, wie sie sich sofort klar machte, in die Vergangenheit gehörte. Es verschwand fast so schnell, wie es aufgetaucht war, doch es hinterließ das schmerzliche Gefühl des Verlustes. »Da ist zunächst die Schwierigkeit, dass wir Cousin und Cousine sind.« Luis' Stimme brachte sie in die Gegenwart zurück. »Hast du deswegen Bedenken?« »Aber es ist schon oft vorgekommen, dass Cousins und Cousinen heiraten, nicht?«, fragte Cristi zaghaft. Sie hatte solche Fragen nie für wichtig erachtet. »Bestimmt gibt es in unserer Familiengeschichte keinerlei Hinweise darauf, dass das zu genetischen Problemen führen
könnte«, gab Luis mit einer Spur von Ungeduld zurück. »Da du nicht als Katholikin erzogen wur dest, brauchen wir uns zum Glück nicht nach den Vorschriften der Kirche zu richten.« »Aber die Familie - was wird sie dazu sagen?« Es war kaum zu glauben, dass sie bis dahin nicht einen einzigen Gedanken an die allmächtige Fonseca-Hierarchie im Hintergrund verschwendet hatte. Luis zuckte mit den Schultern und zog die Mundwinkel herunter. »Sie wussten von vornherein, dass du keine Katholikin bist.« »Aber ...«, ihr fiel etwas Ungeheuerliches ein, »d u hast nicht mit ihnen darüber gesprochen, oder?« Luis warf ihr einen raschen Blick zu - ihm war bis zu diesem Moment gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie so etwas nicht hinnehmen könnte. »Süße, es kann sie kaum überraschen, dass es so gekommen ist«, wich er aus. »Sie wissen, dass ich vom ersten Augenblick an von dir verzaubert war. Das war kein Geheimnis, stimmts?« »Mir gegenüber hast du das nie erwähnt.« Ein Scherz, aber Cristi brauchte eine Bestätigung, Worte, mit denen er ihr seine innige Liebe bewies. Doch Luis lachte nur und rief nach Selma, damit sie die Gläser auffüllte und den Docht der Laternen höher drehte. Diese kleine Unterbrechung gab Cristi Zeit zum Nachdenken. Als Selma wieder verschwand, hatte sie genügend Mut gesammelt, um zu bemerken: »Luis, ich muss dich das fragen: Es stört dich doch nicht, dass ich Justinas Tochter bin? Ich meine, sie war das schwarze Schaf in der Familie, und ...« »Querida«, fiel er ihr ins Wort und lachte wieder, »wie kommst du nur auf so eine Idee? Du magst ja aussehen wie deine schöne Mutter, und als ich dich zum ersten Mal sah, hat mich diese Ähnlichkeit in der Tat erschreckt, aber in anderer Hinsicht könntest du dich nicht mehr von ihr unterscheiden. Um genau zu sein, ich glaube, es hat nie eine Fonseca mit so gutem Benehmen
und erfreulichen Eigenschaften gegeben.« Das war ein schönes Kompliment, doch dabei konnte Cristi es nicht belassen. »Aber wie steht es mit der Tatsache, dass ich höchstwahrscheinlich unehelich geboren bin? Wir wissen nicht, ob meine Eltern rechtmäßig verheiratet waren. Mein Vater Howard war auch Lisa Napiers Ehemann. Kein Mensch weiß, welche Ehe zuerst geschlossen wurde ...« Wieder unterbrach Luis sie, doch diesmal lachte er nicht. »Alte Geschichten. Bedauerlich, aber das wird sich wohl nie mehr eindeutig klären lassen. Nun zu Howard Armitage... Jetzt, da du erwachsen bist, wirst du sicher akzeptieren können, dass er - so wie du aussiehst – wohl kaum dein Vater sein kann. Und da wir die Wahrheit nie erfahren werden, wäre es meiner Ansicht nach unsinnig, Wenn wir uns durch diese Dinge in irgendeiner Weise beeinflussen ließen.« Luis hatte Recht. Je länger sie sich in Brasilien aufhielt, desto unwahrscheinlicher erschien es ihr, dass sie eine halbe Engländerin sein sollte. Es erschütterte sie zu erfahren, dass die Fonsecas das auch nie in Betracht gezogen hatten, aber am meisten beunruhigte sie, dass sie niemals ergründen würde, wer wirklich ihr leiblicher Erzeuger war. Dennoch fühlte sie sich dadurch in ihrem Gefühl bestärkt, dass dies hier ihr rechtmäßiger Platz war. Das Dinner verlief eigenartig. Cristi war, als funktionierte sie auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig ganz automatisch: Sie aß, trank und hielt eine oberflächliche Unterhaltung in Gang, während Selma im Raum war, und gleichzeitig war sie überwältigt wie jedes Mädchen, dem gerade ein Heiratsantrag gemacht worden war und das allmählich begriff, welche Konsequenzen eine Ehe mit sich brachte. Doch nach dem Essen plumpste sie heftig auf die Erde zur ück. Sie hatte sich vorgestellt, dass Luis und sie sich in die Arme fallen würden, wenn sie endlich allein waren, deshalb war sie wie vom Donner gerührt, als er ihr - offenbar in dem guten
Glauben, dass sie das auch als geboten erachtete - erklärte, dass es Zeit für ihn sei, in die Stadt zu fahren. »In die Stadt? Jetzt?« Cristi hörte selbst, wie verletzt und fassungslos ihre Stimme klang. »Aber natürlich. Ich werde dort übernachten. So, wie die Dinge zwischen uns stehen, ist es ausgeschlossen, dass wir die Nacht unter einem Dach verbringen. Das siehst du doch ein, nicht?« War das ein Tadel? Cristi wurde rot; seine Logik überzeugte sie keineswegs, doch sie war zu beschämt, um ihn zum Bleiben zu überreden. Statt dessen fragte sie: »Aber du musst nicht sofort los, oder?« Er bedachte sie mit einem seltsamen Blick. »Cristi, glaubst du, es ist für mich leicht, allein mit dir zu sein und zu wissen, dass wir uns anständig benehmen müssen? Hab Erbarmen mit mir.« Sie hatte die ungute Ahnung, dass das nicht die Ant wort war, die er ihr eigentlich geben wollte. Cristi war nicht bereit, sich mit Neckereien hinhalten zu lassen, sie musste unbedingt wissen, wo sie standen. »Luis, gestern Abend, als wir ...« Er legte einen Finger auf ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. »Dafür kann ich mich nur entschuldigen. Aber das ist natürlich exakt der Grund, warum ich nicht bleiben kann. Das wäre in jedem Fall sehr unbesonnen. Und, meine Süße«, fuhr er hastig fort, »ich hielte es ohnehin für klug, wenn wir einige Zeit getrennt wären, damit wir über alles, was wir besprochen haben, nachdenken und ergründen können, was wir fühlen.« »Ich weiß, was ich fühle.« »Was du für mich empfindest - ja, das verstehe ich.« Seine Miene entspannte sich. Er umarmte sie, küsste sie kurz und hielt sie dann ein Stück von sich weg. »Aber was ist mit allem anderen? Du hast genug gesehen, um zu wissen, was ich meine. Du musst auch an Schottland, dein Zuhause dort und all die Menschen denken, an denen dir etwas liegt. Nein, es ist sehr
wichtig, dass jeder etwas Zeit für sich hat. Ich fliege morgen nach Rio, dann bist du allein hier und ...« »Du fliegst nach Rio?« Er ließ sie allein, obwohl es im Moment das Wichtigste auf der Welt war, zusammen zu sein, obwohl es so vieles gab, worüber sie sprechen mussten, da vor ihnen ein ganz neues Leben lag ? »Aber ... du meinst, morgen schon? Wolltest du mir das verschweigen?« »Ich habe es dir doch gerade gesagt, Dummchen.« »Luis, ich möchte bei dir sein! Ich muss so viel...« Sie verstummte und versuchte, die Sache aus seinem Blickwinkel zu sehen. »Ich weiß, doch hör mir einen Moment zu, Cristi. Ich halte es für besser, wenn wir übereinkommen, dass in diesem Stadium noch keine offizielle Entscheidung gefallen ist. Das heißt, wir sind noch nicht verlobt. Es wäre töricht, einen solchen Schritt leichtfertig zu tun. Also trennen wir uns für ein paar Tage und reden dann noch einmal darüber, ja?« Alles ging so schnell. Er packte ein paar Dinge zusammen und machte sich davon. Sie blieb sprachlos zurück. Wieder verbrachte sie eine schlaflose Nacht, aber an diesem Morgen wusste sie eines ganz genau. Sie würde nicht ganz allein auf Tres Pinheiros sitzen und auf ihn warten. Ja, sie hatte einiges zu überlegen; sie wollte alle Aspekte dieses Heiratsantrages überdenken (durfte sie es überhaupt als Antrag ans ehen?), doch gleichzeitig würde sie ihr Leben weiterleben. Es wäre gut, mit Jude darüber zu reden. Falls ich den Mut dazu finde, dachte sie mit einem flüchtigen Lächeln.
27. Kapitel Du willst meinen Rat?« »Ich würde gern hören, wie Sie darüber denken«, erwiderte Cristi vorsichtig. »Hmm.« Jude grinste über diese spitzfindige Unterscheidung, und ihr missbilligender Gesichtsausdruck hellte sich auf. Obwohl Cristi über Emotionen und Erfahrungen gesprochen
hatte, die sie selbst nie erlebt hatte, war es nicht schwer zu erkennen, dass kaum ein Mädchen widerstehen könnte, wenn es solchen Dingen ausgesetzt gewesen wäre wie Cristi - erst war ihr diese Dornröschen-Ranch auf einem silbernen Tablett serviert worden, dann hatte sie die wunderschöne Umgebung dieser Ranch kennen gelernt und an dem aufregenden Rodeo teilgenommen, und zu alldem kam noch dieser umwerfende, feine Cousin. Jude dachte an die Türen, die man Cristi vor der Nase zugeschlagen hatte, seit sie in Brasilien angekommen war. Cristi musste sich damit abfinden, dass es keine Versöhnung mit ihrer Mutter geben würde, dass sie keine Möglichkeit hatte, ihr geliebtes Kindermädchen aufzuspüren, das ihr in mancherlei Hinsicht sogar noch wichtiger war als die Mutter, und dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wer ihr leiblicher Vater war auch wenn sie sich höchstwahrscheinlich lange davor gedrückt hatte, sich mit diesem Punkt näher zu befassen. Alles, was sie diesen großen Enttäuschungen entgegenzusetzen hatte, war die biologische Verbindung zu den Fonsecas. Egal, was sie für die Verwandten empfand, sie hatten sie willkommen geheißen, und das musste sie für diese Leute einnehmen. Cristi war reif und verantwortungsbewusst wie die wenigsten Mädchen ihres Alters in der heutigen Zeit, aber andererseits auch höflich und so naiv, dass man es kaum fassen konnte. Und sie war ein prima Kumpel. Jude hatte oft und viel mit ihr gelacht, und ihr sank der Mut, wenn sie daran dachte, wie sehr sie ihr fehlen würde. Sie hatte Cristi näher an sich herangelassen als jeden anderen wohlmeinenden Helfer, der in der casa aberta aufgetaucht war, auch näher als die Leute, mit denen sie in all den Jahren in Rio und Sao Paulo zusammengearbeitet hatte. Jude hätte es besser wissen müssen. »Fahr über Weihnachten nach Hause«, riet Jude. Cristi sah sie lange an. »Ja«, antwortete sie. »Das mache ich.«
Archie holte sie vom Flughafen ab - Archie, der lächelnd auf sie zukam und sie nicht in ihren eigenen alten Barbour wickelte, um sie gegen die Dezember-Kälte zu schützen, sondern in einen wundervollen Mantel, den seine Mutter jahrelang gehegt und gepflegt hatte - er war knöchellang, aus braunem Samt und mit einem weichen, dichten goldenen Pelz gefüttert. Als Kind hatte Cristi sich immer wieder das Etikett angesehen, auf dem stand: Hudson's Bay Company. Es war sinnlos, sich jetzt noch um die Tiere zu grämen, die dafür hatten sterben müssen. Dieses besondere Kleidungsstück gab Cristi das Gefühl, dass die Familie die Arme nach ihr ausstreckte, noch bevor sie richtig zu Hause war. Sie empfingen sie nicht nur mit liebevoller Fürsorge, sondern auch mit einem Scherz, der ihr, wie sie ganz genau wussten, gefallen würde. Und das zählte: wieder in einer Welt zu sein, in der man sich nicht dafür entschuldigen musste, dass man so abgenutzte, aber wunderbare Relikte schätzte und in Ehren hielt. Sie konnte förmlich ihre Stimmen hören. »Die Ärmste hatte da drüben Hochsommer und wird sich hier zu Tode frieren.« »Du musst ihr richtig warme Sachen mitnehmen, Archie.« »Ich habe eine Idee - warum bringst du ihr nicht Madeleines altes Pelzding zum Flughafen?« »Großartig, darüber wird sie sich freuen.« Tränen stiegen Cristi in die Augen, und es tat ihr gut, das Gesicht an Archies breite Brust zu drücken und ihre Wangen an dem alten Tweedjackett zu trocknen. Er zog den pelzgefütterten Mantel fest um sie. »Cristi, Liebes, wie habe ich dich vermisst!« Sie fühlt sich an wie ein dürres Vögelchen, dachte er besorgt. Er hatte mehr vom Mantel als von Cristi in den Armen. Ihm wurde die Kehle eng, als er sich vorstellte, dass sie so weit weg von ihm und seinem Schutz gewesen war und mit so vielen ungeheuerlichen neuen Erfahrungen hatte fertig werden müssen.
»Komm, ich bringe dich nach Hause.« Sie redeten auf der Fahrt nicht viel, und beide waren damit zufrieden. Archie war glücklich, Cristi bei sich zu haben und zu wissen, dass die Familie wieder komplett war. Und er freute sich besonders, dass sie gerade jetzt nach Hause kam. Es war gut, dass sie noch ein wenig Zeit in Ruhe verbringen konnten, bevor der Trubel zu Hause losbrach. Archie hatte es nie für nötig befunden, seiner Beziehung zu Cristi ein Etikett anzuheften. Sie war nicht seine Tochter, und er sah sie auch nicht so, aber sie gehörte zu seinem Leben, hatte ihren eigenen Platz in der Familie und war ihm sehr ans Herz ge wachsen. Cristi war auch froh, dass sie ein wenig Muße hatte, sich umzustellen. Ihr war, auch ohne Judes Ratschlag, klar gewesen, dass es Zeit war, nach Hause zu fahren. Doch ihr Aufbruch von der Ranch war so überstürzt gewesen, dass sie kaum Gelegenheit gehabt hatte, über diese grundlegende Gewissheit hinauszukommen. Sie hatte gehofft, während des Fluges ihre Gedanken ordnen zu können, doch in den endlos langen Stunden waren immer wieder Erinnerungen an ihre Zeit in Brasilien aufgeflackert, und der Wunsch, endlich nach Hause zu kommen, war mit jeder Minute drängender geworden. Sie sah wie im Traum ihre Zukunft mit Luis vor sich, aber die Bilder verblassten immer mehr, je weiter sie sich von ihm entfernte. Genau genommen war die Heimreise für sie, auch wenn sie das vielleicht nie zugeben würde, beinahe ebenso nervenaufreibend, wie es der Flug nach Brasilien vor sechs Monaten gewesen war. Aber jetzt konnte kein Zweifel mehr an ihren Gefühlen bestehen. Die Aufregung übermannte sie, als sie von der A9 abbogen und die vertrauten Kurven der Glen-Straße fuhren, auf der fast kein Verkehr herrschte. Hier war die Landschaft farbenfroh, nicht eintönig grau wie im Süden: Die letzten rotbraunen Blätter der Buchen, der bräunliche nasse Farn in der blassen Spätnachmittagssonne, silbrig beigefarbene Gerstenstoppeln und blassgrüne Reste von Kohlköpfen auf den
Feldern. Vor ihnen ragten die Berge auf, und in dem Dämmerlicht, das sich in den Talkesseln sammelte, schimmerte der Schnee bläulich. Cristi stieß bei dem Anblick einen kleinen Freudenschrei aus und kuschelte sich noch tiefer in den warmen, weichen Mantel. Das alles war so ganz anders als das, was sie gestern hinter sich gelassen hatte. Archie drehte den Kopf zu ihr, lächelte und streckte die Hand nach ihrer aus. »Schön, wieder hier zu sein?« »O Archie.« Seine breite, abgearbeitete Hand, die sich um ihre schloss, war so beruhigend. Wie konnte sie ihm jemals erklären, was sie fühlte? Wie soll ich das alles verkraften?, fragte sie sich, als sie die Erleichterung spürte. Wie hatte sie es fertig gebracht, so lange fortzubleiben? In gewisser Weise war sie froh, dass Nicholas, Peta und Josie erst nächste Woche heimkommen würden, so sehr sie sich auch danach sehnte, sie zu sehen. Es war wunderbar - Pauly lief durch den Küchenkorridor auf sie zu und schloss sie in die Arme, dann zog sie sie in die Küche, umarmte sie noch einmal und tätschelte sie, während der beleibte Broy außer sich vor Freude an ihr hochzuspringen versuchte, aber nie in die Höhe kam. Es war alles genauso wie das Nachhausekommen in den Semesterferien. Es gab so viel zu erzählen, dass ihr Gepäck noch Stunden unangetastet in der Küche stehen blieb. Kaum ein Satz wurde beendet, geschweige denn eine Geschichte. Das hatte sie vermisst, diese unbeschwerten, eifrigen, fröhlichen Gespräche, diese Sicherheit, bedingungslos geliebt zu werden, einen ganz eigenen Platz in diesem Haus zu haben. Gerade jetzt war es ein Trost, den sie dringend brauchte, dass so ein Wirbel um sie gemacht wurde und dass sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Cristi kam es vor, als hätten sie sich gerade erst hingesetzt, als Pauly auf die Uhr schaute und einen Schrei ausstieß. Alle sprangen auf, schafften Cristis Gepäck in ihr Zimmer und bereiteten das Dinner zu, bevor Tom und
Madele ine ins Haus kamen. In ihrem kleinen Zimmer brannten die Lampen, die Vorhänge waren zugezogen und die Heizkörper voll aufgedreht, doch Cristi ließ sich kaum Zeit, sich heimisch zu machen, und kam gerade die Treppe hinunter, als Lisa anrief, um Hallo zu sagen und Grüße von Stephen und Joyce auszurichten. Cristi erkundigte sich amüsiert, ob Stephen überhaupt mitbekommen habe, dass sie wieder da war. »Oh, das erinnert mich an was - da ist eine Karte von Jean«, rief Pauly. »Tut mir Leid, das hab ich total vergessen.« Auf der Karte waren zwei Kätzchen abgebildet, die einen mit Bändern geschmückten Korb hielten; aus dem Korb ragte eine Karte, auf der stand: Willkommen zu Hause. »Man könnte meinen, ich komme gerade aus dem Krankenhaus.« Aber Cristi war sehr gerührt. »Und Sally hat angerufen. Sie sagt, du sollst, so bald du kannst, zu ihr rüberkommen. Sie kann es kaum erwarten, dich zu sehen.« »Ich telefoniere mit ihr und ...« In diesem Augenblick trafen Tom und Madeleine ein, und obwohl Cristi schon gehört hatte, dass Tom seinen Rollstuhl nicht mehr brauchte, war es eine riesige Freude, zu sehen, wie er auf seinen Beinen und nur mit Hilfe von zwei Krücken zur Tür hereinkam. Als Cristi die beiden umarmte, brach das Glücksgefühl über sie herein wie eine Flutwelle. Diese lieben, lieben Menschen. Wie hatte sie so lange ohne sie auskommen können? Eines von Paulys großen Talenten war, dass sie köstliche und sogar raffinierte Mahlzeiten scheinbar mühelos zaubern konnte. Sie geriet nie in Panik wegen des Timings, und damit schuf sie eine entspannte Atmosphäre, in der die Unterhaltung ungehindert dahinplätscherte. Heute hatte Pauly dafür gesorgt, dass sie nichts ablenken würde; als Erstes brachte sie Törtchen mit Räucherlachs und Frischkäse auf den Tisch - das Rezept für
deren buttrigen, knusprigen Boden war ihr Geheimnis -, dann ein Fasanenragout und zum Schluss Cristis Leibspeise: Brombeersoufflee. »O Pauly, du bist ein Schatz, dass du dir so viel Mühe gemacht hast!«, rief Cristi, als sie den köstlichen Nachtisch sah. »Schon gut - ich hatte Glück, dass es nicht in sich zusammengefallen ist«, erwiderte Pauly und rüttelte an der Schüssel, als argwöhnte sie, dass das Soufflee sie noch im letzten Moment enttäuschen würde. Dann teilte sie das Dessert mit einem Kochlöffel aus. »Wer möchte etwas?« »Wie könnte man dem widerstehen?« Madeleine seufzte, weil sie in letzter Zeit auf ihre schlanke Linie achtete. »Wer will schon widerstehen?« Tom war immer schon ein wenig füllig und meinte, eine gute Entschuldigung dafür zu haben. »Und was das Schönste ist«, sagte Cristi, nachdem sie Madeleine überredet hatte, etwas von dem dicken Rahm über das Soufflee zu gießen, »alles, was wir verzehrt haben, stammt von Drumveyn. Alles ist von zu Hause.« Sie lachten, aber niemand wagte, etwas darauf zu erwidern, denn Cristis Ton verriet ihnen so viel. Während sie Neuigkeiten austauschten und sich ausführlicher erzählten, was schon in Briefen und E-Mails übermittelt worden war, lachten und sich interessiert die Berichte der weit Gereisten anhörten, wurde sich Cristi bewusst - und diese Entdeckung erschütterte sie -, dass sie nicht bereit war, mit ihnen über Luis zu sprechen oder vielmehr über den seltsamen Schwebezustand, in dem sich ihre Beziehung zu ihm befand. Schon jetzt, in dieser Entfernung zu ihm und im Kreis der Familie, konnte sie kaum glauben, was auf Tres Pinheiros geschehen war. Sie sah der Wahrheit ins Auge und gestand sich widerstrebend ein, dass sie sofort mit der Neuigkeit herausge platzt wäre, wenn sie jemals die Absicht gehabt hätte, ihnen davon zu
erzählen. Und ihr kam ein noch beunruhigenderer Gedanke: Wie wäre es, wenn sie Luis mitgebracht hätte, wenn er jetzt hier wäre und mit ihnen am Küchentisch sitzen würde? Sofort spürte sie, dass sie sich das gar nicht vorstellen wollte. Pauly begleitete sie nach oben. Sie gingen Arm in Arm die Treppe hinauf, als der vergnügliche Abend zu Ende war. Archie brachte Tom und seine Mutter nach Hause. »Pauly, das war ein wundervolles Willkommensessen. Ich kann dir gar nicht genug danken.« »Du brauchst dich nicht bei mir zu bedanken«, protestierte Pauly. »Es ist herrlich, dich wieder hier zu haben. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie sehr du uns gefehlt hast?« Sie blieb stehen und brachte Cristi dazu, ihr das Gesicht zuzudrehen. Mit einem Ernst, der ganz untypisch für sie war, fuhr sie fort: »Für mich bist du ein Teil von Drumveyn. Du gehörst hierher seit dem Tag, an dem ich ins Haus kam - damals kannte ich noch nicht einmal Archie und hatte keinen blassen Schimmer, dass dies einmal mein Zuhause sein würde. Du hast eine schreckliche Lücke hinterlassen, als du weggegangen bist, und diese Lücke könnte nie ein anderer ausfüllen.« »Pauly.« Mehr brachte Cristi nicht heraus, sie sank tief berührt in Paulys Arme. »Du musstest nach Brasilien fahren, das weiß ich«, erklärte Pauly, weil sie die vage Vorstellung hatte, dass sie Cristi in keiner Weise beeinflussen durfte. »Und ich weiß auch, dass du noch Entscheidungen zu treffen hast. Aber ich möchte, dass du ganz sicher weißt«, sie rückte ein Stück von Cristi ab, um sie an den Schultern zu packen und eindringlich zu schütteln, »dass dies immer dein Zuhause sein wird.« Cristi rang sich ein Lächeln ab. »Ich glaube, genau das musste ich hören«, gestand sie. »Man sollte es dir gar nicht sagen«, gab Pauly energisch zurück. »Du musstest es auch so wissen. Aber jetzt komm, ich will dich ins Bett stecken, sonst bist du morgen den ganzen Tag
schlapp und müde.« »Du hast Recht, ich bin plötzlich vollkommen kaputt.« »Und ob du es glaubst oder nicht, es gibt da noch ein paar Neuigkeiten, von denen wir dir noch nichts erzählt haben«, sagte Pauly, als sie weitergingen. »Aber das heben wir uns noch auf. Ich möchte, dass du morgen früh gründlich ausschläfst.« »In meinem eigenen Bett. Was für eine Wonne!« Cristi musste fast nach jedem Wort gähnen. »So verrückt es mich macht, dass es noch mehr von euch zu erfahren gibt, aber ich wüsste nicht, ob ich heute noch irgend etwas aufnehmen würde, selbst wenn du es mir erzählst.« »Gut, weil ich das auch gar nicht vorhabe.« Nachdem Pauly gegangen war, stand Cristi noch eine Weile in ihrem Zimmer und ließ die Stille des großen, soliden Hauses auf sich wirken. Sie sog die Gerüche ein und ließ die Aufregung und Emotionen des Abends zur Ruhe kommen. Dann ging sie zum Fenster, zog die dicken, gefütterten, langen Vorhänge ein wenig zurück und schob das Fenster ein kleines Stück nach oben. Das Plätschern des Baches war zu hören, und der Wind wisperte in den Fichten. Sie sah das Haus und die Umgebung, die Berge, das Moor und den Loch ganz deutlich vor sich. Aber diese Luft war eisig. Hatte sie früher tatsächlich das ganze Jahr bei offenem Fenster geschlafen? Sie musste sich erst wie der an diese Temperaturen gewöhnen. Cristi schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu, dann drehte sie sich um, betrachtete ihr Zimmer, berührte dieses und jenes und machte sich klar, dass sie jetzt wirklich hier war. Und sie bekannte sich zu dem geheimen Schmerz und der Leere in ihrem Inneren. Wenn sie früher nach Hause gekommen war, hatte sie die erstbeste Gelegenheit genutzt, um zum Hirten-Cottage hinaufzulaufen oder wenigstens mit Dougal zu telefonieren. Nun, sie konnte ihn immer noch anrufen. Aber sie wusste selbst, dass sie das nicht tun würde. Alle möglichen Umstände machten diese harmlose Art der Begrüßung
unmöglich. Cristi schlief tief und fest, aber nicht lange. Draußen war es noch dunkel, und im ersten Moment konnte sie sich nicht erinnern, wo sie war. Tiefe Dankbarkeit erfüllte sie, als es ihr wieder einfiel und sie wie jedes Mal am ersten Tag in den Ferie n den unbezähmbaren Drang verspürte, aufzustehen und hinauszugehen. Alles machte ihr Freude - warme Kleider anzuziehen, leise durch das stille Haus zu huschen, den verschlafenen Broy zu streicheln, der nicht einmal so tat, als wollte er sich zu einer so unchristlichen Zeit erheben, und schnell Kaffee aufzubrühen, vondem sie nur ein paar Schlucke trank. Sie hatte nichts Bestimmtes vor, sie wollte einfach hinaus in diesen winterlichen Morgen und in die Landschaft, die ihr so viel bedeutete. Es war bereits nach sieben, und schon weichte das erste graue Licht die Dunkelheit auf. Es wurde mit jeder Minute heller, und als sie die Schonung oberhalb des Hauses hinter sich gelassen hatte, ging die rote Sonne über den Bergen im Osten auf, und der Lichtstreif tauchte die mit Heide bewachsenen Hänge über Grianan auf der anderen Seite des Glens in einen orangefarbenen Schimmer. In der Nacht hatte es Frost gegeben; das reifbedeckte Gras nahm auch eine rötliche Färbung an, und die gelben Lärchen bildeten einen hübschen Kontrast zu den blaugrünen Fichten. Weiße Nebelschwaden markierten den Lauf des Flusses und umwehten die Bäume. Die Kälte war schneidend, aber das machte Cristi nichts aus. Im Gegenteil, sie genoss das kleine Unbehagen und das Gefühl, ihm trotzen zu können. Auch das war ein Teil von zu Hause. Cristi hielt plötzlich inne. Sie hatte gar nicht gemerkt, wohin ihre Füße sie getragen hatten. Jetzt stand sie vor dem Hirten-Cottage. Rauch stieg aus dem Kamin auf, doch das war nicht der Rauch von Jeans Feuer. Jetzt wohnte eine andere Familie in diesem Haus. Während Cristi das Cottage betrachtete, bestürmten sie
Erinnerungen. Dougal, Jill und sie selbst rannten lachend und schreiend aus der Tür, um sich die neugeborenen Hunde anzusehen, die Ponys einzufangen, Schlittze n zu fahren oder mit ihren Rädern um die Wette den Hügel hinunterzurasen. Im Sommer gingen sie in ihrem Lieblingsteich schwimmen oder fuhren mit dem Boot auf den See. Sie sah Jean in ihrer geblümten Kittelschürze in der typischen Pose mit einer Hand auf den Kaminsims gestützt, während sie den schweren Kessel über das Feuer schwenkte - die Wäsche auf der Leine, die rote Tischdecke, das Gestell mit dem frisch gebackenen Brot, die große alte Teekanne. Dann Dougals Zimmer mit der Steinsammlung und den Tierschädeln und anderen Schätzen, die Jean in den Wahnsinn trieben; und Jills schmuddeliges Zimmer mit dem billigen Tand. Was war aus diesen Kindern geworden? Was war mit ihrer Freundschaft geschehen? Gut, die Vergangenheit konnte man nicht zurückholen. Dougal wohnte nicht mehr hier, aber sie musste ihn trotzdem sehen - jetzt gleich. Auch wenn sie sich noch so sehr entfremdet hatten und ihre Beziehung eine andere geworden war, sie musste ihn sehen. Croft of Ellig. Wenn sie über die Brücke bei Achalder ging, konnte sie die Abkürzung über dem Dorf nehmen. Zum Glück war heute Samstag, also standen die Chancen gut, dass Dougal daheim war. Sie ließ sich keine Zeit zum Nachdenken und marschierte entschlossen los.
28. Kapitel Wenn Cristi über die alte Holzbrücke wollte, musste sie ziemlich nah an Achalder vorbeigehen, und sowohl Joyce als auch Lisa waren morgens immer früh auf den Beinen. Die Hunde waren auch Frühaufsteher, und die Zwinger mit den Freilaufgehegen befanden sich zwischen dem Fluss und den
Cottages. Zu dieser Zeit würden die Hunde nichts anderes im Kopf haben als ihr Frühstück und ihre Nasen in die Richtung recken, aus der es kam. Im Schutz der kahlen Erlen und Haselnussbüsche gelang es Cristi, ungesehen an Achalder vorbeizukommen; sie wollte sich nicht aufhalten lassen. Sie überquerte die schmale Straße, die in den Glen Maraich führte, und machte einen Bogen um das Dorf. Es bereitete ihr Freude, über einen Zaun zu klettern und das Moor auf einer alten, fast ganz überwucherten Feldmauer zu überqueren. Sie würde genau an der Stelle, wo ein Felsen weit in sein Bett ragte, an den Bach kommen und mühelos ans andere Ufer springen können, obwohl er zu dieser Jahreszeit bestimmt viel Wasser führte. «Sie schalt sich eine Närrin, weil sie eine solche Freude an diesen kleinen Dingen fand. Sie war nur sechs Monate fort gewesen, nicht sechs Jahre. Aber sie war eben glücklich, wieder daheim zu sein, und dieses Glück konnte nichts trüben. Ein Eichhörnchen flitzte einen Fichtenstamm hinauf, Cristi blieb reglos stehen, als es unter einem Zweig hervorspitzte, um zu sehen, wer da unten war. Überall tummelten sich Blau- und Graumeisen, und als Cristi zum Bach kam, erhob sich ein Reiher lautlos und majestätisch in die Luft. Cristi nahm sich Zeit, die elegante graue Gestalt zu beobachten, die sich deutlich gegen den dunkleren Felsen und das weiße gefrorene Gras abhob. Diese Schönheiten und die leisen Rufe der Bussarde, die vertrauten Laute von Drumveyn, erschienen ihr heute ganz besonders kostbar. Genau wie die beißende Kälte auf ihren Wangen, der wundervolle Ausblick und die Farben, die die aufsteigende Sonne auf den Farn und die Heide zauberte. Sie ließ den Bach hinter sich, und als sie die weiß gefrorenen Weiden überquerte, machte sich eine innere Erregung bemerkbar. Dies war jetzt Dougals Landschaft, die ser hoch gelegene, dem Wind und Wetter ausgesetzte Platz, der im Frost erstarrt zu sein schien. In ein paar Minuten würde sie bei ihm sein, ihn zum ersten Mal in seiner neuen Umgebung sehen. Wie
würden sie sich begegnen? Wie standen die Dinge zwischen ihnen? Die Euphorie, wieder hier zu sein, und die Sehnsucht, Dougal zu sehen, verleiteten dazu, sich vorzumachen, dass diese Rückkehr genauso war wie alle anderen in der Vergangenheit, bevor sich etwas verändert hatte. Dann musste sie an die Anspannung bei ihrem letzten Treffen denken und an den banalen Briefwechsel, der schließlich in absoluter Funkstille geendet hatte. Was sollte sie zu ihm sagen? Was würde er von ihr denken, wenn sie gleich am ersten Morgen in sein Haus schneite, als wäre sie sicher, dass sie ihm willkommen war? Sie verdrängte diese Fragen, ihre Füße trugen sie unerbittlich weiter. Ob er zu Hause war ? Ja, sie entdeckte den Land Rover im Hof. Derselbe alte Land Rover. Ein eigent ümliches Gefühl, auf das Haus zuzugehen, um das sie jahrelang einen großen Bogen gemacht hatte, weil sie nichts mit dem wilden Maclachlan-Clan zu tun hatte haben wollen; und jetzt war sie mindestens ebenso nervös wie damals, wenn sie in die Nähe des Hauses gekommen war. Sie wusste nicht einmal, durch welche Tür sie gehen sollte. »Bist du verrückt?«, schalt sie sich laut. »Wann hast du im Hirten-Cottage jemals die Vordertür benutzt?« Worüber machte sie sich überhaupt Gedanken? Wieso fiel es ihr so schwer, gleichmäßig durchzuatmen, und weshalb zitterte ihre Hand so sehr, dass ihr erstes Klopfen an der Hintertür kaum zu hören war ? Beruhige dich. Sie klopfte fester und hörte Dougals Stimme: »Herein!« Sie kam in einen kleinen Flur, von dem aus man in die Küche gelangte. Dougal saß an dem großen Tisch in der Mitte des Raumes beim Frühstück, sah fragend zur Tür und erhob sich, um seinen Besucher, wer auch immer es sein mochte, zu begrüßen. Das Bild, das sich Cristi bot, blieb ihr für immer im Gedächtnis
haften: die breiten Schultern in dem dicken Pullover und der grünen Weste, die kräftige braune Hand, die den Becher wegstellte, sein gesundes Aussehen - als wenn er an diesem Morgen schon draußen gewesen wäre - und die Überraschung und unverhohlene Freude in seinem Gesicht, als er sie sah. »Cristi.« Er brachte das Wort fast nicht heraus. Um diese Zeit hätte er nie im Leben mit einem Besuch von ihr gerechnet, Vor allem nicht an ihrem ersten Tag zu Hause. Dougal hatte kein Auto gehört, da er gerade erst nach dem Wetterbericht das Radio ausgeschaltet hatte. Eine Menge Leute schauten an den Wochenenden wegen diesem und jenem im Croft vorbei. Cristi zögerte unsicher auf der Schwelle, schaute ihn aus riesengroßen Augen an. Ihre Haut war gebräunt von der brasilianischen Sonne, und trotzdem war sie die alte Cristi in ihrem Barbour, mit dem roten Kaschmirschal und den Stiefeln... Pure Freude durchströmte Dougal, als er ihre Schönheit sah. Doch im selben Moment ernüchterten ihn die kalten Fakten. Die Freude erstarb, aber dennoch hatte Dougal weiche Knie, als er nach hinten fasste, um den Stuhl festzuhalten, den er ins Wanken gebracht hatte, als er vor Schreck aufgesprungen war. Dougal konnte ihn gerade noch auffangen, bevor er umfiel. Das alles geschah in einem Sekundenbruchteil. Für Cristi brachte dieser minimale Zeitraum Gewissheit, und alle Fragen waren vergessen. Alles, was wirklich wichtig war, war hier. Doch dann beobachtete sie, wie das Strahlen aus Dougals Gesicht wich, und plötzlich hatte sie einen Kloß in der Kehle. Einen wundervollen Moment war sie bereit gewesen, sich glücklich in seine Arme zu stürzen. Wie schrecklich, wenn sie sich dazu hätte hinreißen lassen. Sie kämpfte gegen den Drang an, sich umzudrehen und wegzulaufen, und trat statt dessen ein paar unsichere Schritte vor. »Hi, Dougal. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich ohne Vorwarnung hier hereinplatze. Es ist ziemlich früh, ich
weiß, aber ich konnte nicht schlafen und hab es im Bett nicht mehr ausgehalten. Es ist wunderbar, wieder zu Hause zu sein. Ich musste einfach hinaus. Und dann dachte ich, ich könnte hierher kommen und ...« Mit einem Mal kam es ihr gar nicht mehr selbstverständlich vor, ihn zu besuchen. Sie merkte selbst, dass sie dummes Zeug plapperte, und verstummte. »Natürlich ist es mir recht, das weißt du doch.« Dougal schob den Stuhl aus dem Weg und ging auch ein paar Schritte auf Cristi zu. Dann blieb er stehen. Wie sollte er sie begrüßen? Wie hatten sie sich früher gewöhnlich begrüßt? Es war müßig, darüber nachzudenken - alles hatte sich verändert. »Es ist schön, dich zu sehen.« Wie hohl das klang. Dies war Cristi, um Gottes willen! Er versbuchte es noch einmal und deutete zum Tisch. »Ich habe gerade gefrühstückt.« »Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht stören.« »Sei nicht albern.« Sie waren nie so höflich miteinander umgegangen. »Komm und leiste mir Gesellschaft. So, wie ich dich kenne, hast du dir keine Zeit gelassen, etwas zu essen, bevor du aus dem Haus gerannt bist.« »Du hast Recht.« Cristi lächelte und entspannte sich ein wenig, als sie zum Tisch ging. »Ein Kaffee wäre großartig.« Oh, ich denke, da kriegen wir ein bisschen mehr auf en Tisch. « »Lass aber dein Frühstück nicht kalt werden.« »Ich bin schon damit fertig. Also, hier haben wir Speck, hier von meinen eigenen Hennen und sche ußliches Weißbrot, von dem du nicht begeistert sein wirst.« Das half und brachte sie auf eine vertraulichere Basis, und es war gut für Dougal, etwas tun zu können. »Oh, warte. Ich habe auch Enteneier - die mochtest du doch immer so gern.« »Ich mag sie, aber sie sind so riesig und sättigend. Ich glaube kaum, dass ich ein ganzes allein schaffe. «Dann könnten wir ein Omelette zubereiten, und ich esse mit. Ich hätte nichts dagegen,
noch mal von vorn anzufangen, es ist heute Morgen alles ziemlich schnell gegangen.« Oh, lieber Dougal, du bist so ruhig, so realistisch. Cristi war ihm dankbar und verscheuchte die Erinnerung an den kurzen Hoffnungsschimmer von vorhin und sein rasches Verglimmen. Sie wusste, dass sie sich später noch damit quälen und die Szene immer und immer wieder vor sich sehen würde. Nur für einen Augenblick war sie so sicher gewesen! Aber jetzt konzentrierte sie sich auf das Normale und machte das Beste aus diesem kurzen Beisammensein. Es war gut, bei ihm und in seinem neuen Heim zu sein, den Tisch zu decken, während er auf Schränke und Schubladen deutete, wenn sie ihn fragte, wo sie was finden konnte. Sie sah sich in der ordentlichen, neu einge bauten und frisch gestrichenen Küche um, bewunderte die Handwerksarbeit. Beinahe hätte sie gelacht, als sie an die alte, finstere Bruchbude dachte, in der die Maclachlans gehaust hatten. Cristi war beeindruckt von Dougals häuslichem Geschick, als er das Entenei aufschlug, es in eine Schüssel gleiten ließ und mit dem Schneebesen verquirlte. Dougal gehörte immer schon zu den Menschen, die alles konnten, was sie in Angriff nahmen, aber bisher hatte sich das immer nur bei Arbeiten im Freien und auf dem Gut gezeigt. Zu Hause war er der verwöhnte Junge gewesen und hatte sich von seiner Mutter bedienen lassen und nur Männerarbeiten übernommen. Doch er war kein Junge mehr. Er war ein Mann, der sich auch im Haus selbstbewusst bewegte und durchaus in der Lage war, für sich selbst zu sorgen. Trotz all der Ereignisse, die Cristis Leben auf den Kopf gestellt hatten, war ihr, als hätte sich der Altersunterschied von drei Jahren zwischen ihr und Dougal während ihrer Abwesenheit verdoppelt. »Dougal, es ist großartig, dass du diese Farm bekommen hast.« Sie sah sich noch einmal um, aber nicht um wie vorhin das, was er geleistet hatte, zu inspizieren, sondern um
nachzuempfinden, was das für ihn bedeuten musste. »Ich habe mich sehr für dich gefreut, als ich davon hörte.« »Ja, ich hatte großes Glück«, stimmte Dougal ihr zu. »Es war eine Chance, wie man sie sich nicht einmal erträumt. Ich habe Archie eine Menge zu verdanken.« »Er scheint zu denken, dass er den besseren Handel gemacht hat, weil du so viel für ihn tust.« »In gewisser Weise vielleicht, doch ich nehme an, es hätte eine andere Lösung gegeben, wenn ihm diese nicht eingefallen wäre. Aber ich beschwere mich nicht, glaub mir.« »Und Jean hat das Haus bekommen, das sie wollte...!« Plötzlich gab es ein Dutzend Dinge zu besprechen, und sie unterhielten sich ganz natürlich und unbekümmert, während Dougal Speck zum Omelette briet, frischen Toast röstete, Kaffee aufbrühte und sich schließlich zu Cristi an den Tisch setzte. Dougal war geradezu überwältigt von der Überzeugung, dass dieses Beisammensein richtig und genau das war, was er sich wünschte, und er war drauf und dran, alle Bedenken und Zweifel über Bord zu werfen. Nur sie beide - und die Welt war vollkommen und in Ordnung. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, und nichts anderes hatte mehr Bestand. Cristi bat ihn, ihr das Haus zu zeigen. Ein fataler Wunsch zur falsche n Zeit, denn das gab Dougal Zeit, sich daran zu erinnern, dass er nicht nur an seine eigenen Wünsche denken durfte. Voller Befangenheit führte er sie die Treppe hinauf; oben warteten die Wände und das Holz noch auf einen Anstrich. »Dougal, diese Räume kann man wunderschön herrichten«, rief Cristi aus. »Ich wusste gar nicht, dass man sich bei dem Ausblick ganz erhaben fühlt.« Visionen entstanden vor ihren Augen, als sie zum Gaubenfenster ging, dessen Scheiben am Rand vereist waren, und hinaussah. »Du könntest hier unten eine gepolsterte Bank einpassen, und denk nur, welche Farben man bei diesem Licht verwenden kann. Ich weiß was.« Sie wirbelte voller Begeisterung zu ihm herum. »Ich könnte dir
doch helfen, oder? Ich habe nichts zu tun und sehne mich danach, etwas mit den Händen zu schaffen. Und ich habe richtig Hunger nach Farben - ich meine, danach, Farben zu verwenden und zusammenzustellen. Wir könnten alles zusammen planen ...« »Irgendwann nehme ich das in Angriff.« Dougal mied ihren Blick. »Danke für das Angebot, aber ... na ja, ich habe mich noch nicht entschieden, was ich hier oben machen will.« Cristi war sich sofort im Klaren, dass sie zu impulsiv gewesen war und viel zu viel vorausgesetzt hatte; die heitere Stimmung und die Unbeschwertheit hatten sie dazu gebracht. Trotzdem erschien ihr Dougals Verlegenheit übertrieben, und er hätte sich auch nicht so abrupt von ihr abwenden und hinuntergehen müssen. Damit machte er mehr als deutlich, dass dieses Thema für ihn erledigt war. Die Atmosphäre hatte sich total gewandelt, als er ihr zeigte, was er an den Nebengebäuden renoviert hatte, und seine Zukunftspläne darlegte. Er stellte ihr Fragen über Brasilien, doch offensichtlich mehr aus Höflichkeit als aus echtem Interesse. Cristi war so durcheinander, dass sie nur knappe Antworten gab. Dougal störte das nicht. Aus ihren Briefen und den Erzählungen ihrer Familie, die ihn über seine Mutter erreicht hatten, wusste er ziemlich genau, wo sie sich aufgehalten und was sie unternommen hatte. Er war nicht erpicht, Einzelheiten zu erfahren, und ganz bestimmt wollte er nichts von dieser Ranch hören. In gewisser Hinsicht interessierte ihn gerade die Ranch mehr als alles andere, aber dieses Thema rief widerstreitende Gefühle in ihm wach, und er war nicht sicher, ob er die bewältigen konnte. So sehr er sich auch schämte, das zuzugeben, aber dass Cristi Land besaß, war wie ein fauler Zahn, auf den er lieber nicht beißen wollte. Als sie den Rundgang beendet hatten und wieder im Hof standen, wurde Cristi schmerzlich bewusst, dass Dougal darauf wartete, dass sie ging. Kein Kaffee, keine Gespräche mehr.
Statt dessen fragte Dougal: »Soll ich dich zurückfahren ? Du hast heute bestimmt viel vor - alle wollen dich sehen.« »Danke, Dougal, das ist lieb.« War es so auffällig gewesen, dass sie sich zum Haus gedreht hatte, als wollte sie wieder hineingehen? Wie schrecklich. »Aber ich würde lieber laufen.« »Ich könnte dich wenigstens bis ins Dorf bringen und gleichzeitig meine Post holen.« »Na ja, nur wenn du sowieso jetzt fährst.« Dougal wirkte betreten, fast ein wenig heimlichtuerisch - das passte so gar nicht zu ihm. »Also, eigentlich wollte ich später nach Muirend.« Die Röte stieg ihr in die Wangen, und sie betete, dass Dougal ihr nichts ansah. »Dann mach dir keine Umstände«, erwiderte sie rasch. »Ich weiß doch, dass du jede Menge Arbeit hast. Und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich die Spaziergänge vermisst habe, als ich fort war.« Sie hörte selbst, dass sie geziert und oberflächlich klang, und hasste sich dafür. Sie fühlte sich verletzt und abgewiesen und wollte unbedingt allein sein, um sich an diese Wende in ihrem Verhältnis zueinander zu gewöhnen. »Es gibt immer viel zu tun, du hast Recht.« Dougal schaute sich um, als erwartete er von den Steinmauern und dem ordentliche n Hof Unterstützung. Er schämte sich und fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, zudem kam er sich wie ein hilfloser Gefangener vor. Und Cristi hatte ihrerseits das Gefühl, seinen Blicken ausgesetzt zu sein, als sie den Weg einschlug, der sich ins Dorf hinunterwand. Beobachtete Dougal sie? Sie drehte sich einmal um, um zu winken. Er stand noch da, aber wahrscheinlich sah er sie nicht, denn er winkte nicht zurück. Nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien, war sie sicher, außer Sichtweite zu sein. Sie hatte nicht bedacht, was ein Gang durchs Dorf bedeutete; sie hatte sich nur für diesen Weg entschieden, weil es der kürzeste nach Drumveyn war. Aber heute, am Samstag, waren in Ellig viele Leute auf der Straße, und Cristi musste oft stehen
bleiben und Fragen beantwo rten wie: »Und, bist du jetzt für immer nach Hause gekommen, Cristi?« Ihr war klar, dass sie das Dorf nicht hinter sich lassen konnte, ohne Jean einen Besuch abzustatten. Und sie wollte Jean auch sehen, freute sich sogar darauf, doch eben nicht jetzt. Nic ht solange sie wie betäubt war und befürchten musste, dass diese Betäubung jeden Moment in einen unerträglichen Schmerz umschlagen könnte. Doch Jean hieß sie so herzlich willkommen, dass Cristi ihren Kummer für eine Weile vergaß, als Jean sie mit Fragen nach ihrer Reise bestürmte und sie durch die blitzsauberen Räume ihres kleinen Häuschens zerrte, damit sie sich alles anschaute. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich genau das Haus bekommen habe, das ich wollte. Und sieh mal, wie praktisch es ist - alles ist eingebaut. Ich habe hier diesen großen Schrank und in dem winzigen Zimmer hinten noch einmal genau denselben. Aber warte nur, bis du das Bad siehst; es ist so hübsch, dass ich manchmal Lust hätte, .den ganzen Tag dort zu bleiben. Und es ist warm im ganzen Haus. Keine Zugluft - ist das zu fassen? Es zieht nirgendwo.« »Und es gefällt dir, hier im Dorf zu wohnen?« »Oh, und wie! Ich muss nie mehr bei Eis und Schnee da hinauffahren. Die Zeiten, in denen ich mir nichts mehr wünschte, als weiterhin dort oben auf diesem verdammten Berg zu leben, sind längst vorbei...« Cristi verspürte den irrationalen Drang, Drumveyn zu verteidigen. Jeans Worte erinnerten sie an Isas abfällige Bemerkungen, die sie auch immer auf die Palme gebracht hatten. Und sie hätte von Dougals Mutter nie etwas Derartiges erwartet. »Aber jetzt«, plapperte Jean weiter, als sie in die Küche ging, Tassen und Untertassen auf ein Tablett stellte und die Hand nach der alten Keksdose ausstreckte, »kann ich einfach aus dem Haus gehen und bin in fünf Minuten im Geschäft. Ich habe mich immer noch nicht ganz daran gewöhnt. Und einmal in der Woche fährt ein Bus nach Muirend. Ab und zu treffe ich Leute
zum Whist-Spielen, und in diesem Winter habe ich wieder mit den schottischen Tänzen angefangen.« »Wie geht es Jill?«, fragte Cristi, nachdem sie sich im Wohnzimmer niedergelassen hatten, wo ein riesiges Gasfeuer die Hitze ausstrahlte, die Jean im Cottage nie gehabt hatte. Hier konnte man nicht mehr in der Küche sitzen - es war nicht genügend Platz. Cristi stellte nur zaghaft diese Frage, weil sie Jeans Glück nicht trüben wollte, aber Dougal und sie hatten dieses heikle Thema nicht angesprochen, und Jean wäre vielleicht gekränkt, wenn Jill unerwähnt bliebe. Jeans Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an, doch im Großen und Ganzen schien sie ganz zufrieden zu sein. »Sie ist, soviel ich weiß, wieder bei ihrem Mann und steht unter der Fuchtel ihrer Schwiegermutter. Aber es ist nicht mehr die Rede davon, dass man ihr das Kind wegnehmen will, das ist eine große Erleichterung. Jill hat zwar keinen Job, doch sie scheint ganz gut zurechtzukommen, und sie behauptet, dass sie mit dem anderen Zeug aufgehört hat. Ich weiß nicht, ob ich ihr das glauben kann. Sie hat sich in letzter Zeit nicht hier blicken lassen, also weiß ich nicht, ob sie mir die Wahrheit sagt oder nicht, aber ich kann sowieso nichts machen. Sie ist immer ihren eigenen Weg gegangen, und das wird wohl auch so bleiben.« »Ich freue mich, dass es ihr gut geht.« Cristi wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Für Jean war es schon schlimm genug, dass sich ihre Tochter so sehr von ihr ent fernt hatte, aber es traf sie bestimmt hart, ein Enkelkind zu haben, das sie nie sehen konnte. Dougals Neffe. Machte ihm das auch etwas aus? »Aber Dougal hat es großartig getroffen, nicht?« Cristi wollte die Unterhaltung auf erfreulichere Dinge lenken. Jean strahlte. »Du meinst mit Alison Mowat? Dann hat er dir von ihr erzählt? Ja, das sind tolle Neuigkeiten - es entschädigt mich für vieles.« Alison Mowat, deren Vater Pächter von Lettoch, einer Farm von Drumveyn, gewesen war ? Alison, die auch die örtliche
Schule und anschließend mit Jill und Dougal die Highschool in Muirend besucht hatte ? Als ihr Vater in den Ruhestand gegangen war, war die Familie in die Nähe von Perth gezogen. Cristi hoffte, dass man ihr den Schock nicht ansah. »Dougal hat sie in diesen Abendkursen wiedergetrof- fen. Na ja, sie studiert etwas anderes, frag mich nicht, was. Hat jedenfalls irgendwas mit Computern zu tun. Heutzutage geht es nur noch um Computer, als könnten die Leute keinen Schritt mehr ohne die Dinger machen. Aber anscheinend lernt Alison ganz gut; sie arbeitet in der Tierarztpraxis neben dem Coop-Laden...« Jean sah keine Notwendigkeit, taktvoll zu sein. Sie hatte Cristi immer sehr gern gehabt und sich in all den Jahren gefreut, wenn sie ins Cottage zu Besuch gekommen war. anfangs war es ihr unangenehm gewesen, dass Jill und Dougal auch im großen Haus aus und ein gingen, aber dann hatte sie sich daran gewöhnt. Doch bei alldem hatte sie nie die Tatsachen aus den Augen verloren: Die Galloways waren Kinder eines Gutsarbeiters, Cristi war eine Napier. Jean wusste zwar, welch starke Freundschaft ihren Jungen mit Cristi verband, doch es war von vornherein aus geschlossen gewesen, dass jemals mehr daraus wurde. Egal, was Dougal für Cristi empfunden hatte, es war ihm gar nichts anderes übrig geblieben, als darüber hinwegzukommen. Er war nicht dumm und hatte selbst erkannt, dass es aussichtslos war. Es kam Jean gar nicht in den Sinn, dass sich Cristi nicht freuen könnte, wenn Dougal eine Freundin gefunden hatte. Cristi hatte längst einen ganz anderen Weg einge schlagen. Und jetzt besaß Dougal ein eigenes Haus - das erfüllte Jean nach wie vor mit Stolz -, es war also nur natürlich, dass er nach einer Frau Ausschau hielt. Und wer wäre passender für ihn als ein hübsches Mädchen wie Alison, eine Farmerstochter, die hier im Glen auf gewachsen war? »Das ist wundervoll«, erwiderte Cristi tapfer. Klang ihre Stimme anders als sonst? »Es ist Ewigkeiten her, seit ich Alison
zum letzten Mal gesehen habe. Ich freue mich, dass sie sich so gemacht hat.« Es war gar nicht so schwer, die richtigen Worte zu finden. Was konnte ein Schock mehr ihrem Herzen schon ausmachen, das sich ohnehin anfühlte, als wäre es aus Stein? Doch als Cristi über die alte Zufahrt, die jetzt mit Gras bewachsen war, nach Drumveyn ging und die Ereignisse des Morgens Revue passieren ließ, merkte sie, dass sie zu viel zu verkraften hatte, um Schmerz zu verspüren. Kein Wunder, dass Dougal sich gegen ihre Einmischung beim Renovieren gewehrt hatte! Ihre Wangen brannten, als sie sich an ihre Annahme erinnerte, sie könnte die Räume für ihn in etwas Wunderschönes verwandeln, in etwas, worüber er begeistert sein würde. In ihrer Verzweiflung lenkte sie ihre Gedanken auf Brasilien und all das, was dort auf sie wartete. Wenn sie es wollte. Und auf diesem einsamen Marsch im schwachen Sonnenschein kam sie zu einer Entscheidung. Pauly hockte auf dem Schreibtisch im Büro - so nahe an Archies altem Lederstuhl wie nur möglich. Er sah mit liebevollem Verständnis zu ihr auf. Auch wenn er sich wünschte, sie würde die Papiere, die er nicht rechtzeitig aus dem Weg geschoben hatte, nicht so platt drücken, sagte er nichts. »Ich weiß, dass sie hingegangen ist«, jammerte Pauly. »Es ist immer das Erste, was sie tut - sie zieht los und sucht Dougal. Und bestimmt hat sie die Neugier auf das Croft getrieben. Ich hätte es ihr gestern Abend erzählen müssen, bevor sie es von jemand anderem erfährt, aber es war so viel los, und nach der langen Reise wären solche Neuigkeiten bestimmt nicht so leicht zu verkraften gewesen. « Archie nahm ihre Hand. »Reg dich nicht auf. Wenn Dougal es ihr erzählt hat, dann hat er es bestimmt ganz behutsam getan. »Aber ohne Vorwarnung! Sie denkt bestimmt, dass wir sie ins offene Messer haben laufen lassen.« »Nun ja, wer konnte auch schon damit rechnen, dass sie nach
einem so langen Flug bei Tagesanbruch aus dem Haus läuft?«, argumentierte Archie. »Und denk nur dran, wie spät wir ins Bett gegangen sind. Komm schon, Pauly, mach dir keine Vorwürfe. Es ist eben einfach so gekommen.« Und was ist mit allem anderen?«, fragte Pauly. »Bleiben wir bei dem, was wir uns vorgenommen haben ?« »Es gibt keinen Grund, es nicht zu tun. Es ihnen zu sagen, wenn alle da sind, erscheint mir das Beste zu sein.« Er lächelte sie an, und Pauly sah das Glück in seinen Augen. Archie legte eine warme Hand auf ihren Bauch, und sie zog seinen Kopf an sich. Ihre Sorgen um Cristi verblassten. Es war, wie Archie sagte: Wenn sie die Neuigkeiten über Dougal schon gehört hatte, dann konnte nichts mehr ihre Gefühle beeinflussen. Und um ehrlich zu sein, kein Mensch wusste, wie diese Gefühle genau aussahen.
29. Kapitel Wie sich herausstellte, ergab sich keine Gelegenheit, die Familie zu einem privaten Gespräch zu versammeln, bevor Weihnachten und Neujahr vorüber waren. Pauly konnte nicht fassen, dass es keinen einzigen Augenblick gab, in dem sie sich zu sechst zusammensetzen konnten - aber so war es nun mal. Nicholas brachte einen Freund mit, dessen Eltern sich irgendwo im Ausland aufhielten, und vor Weihnachten standen jede Menge Partys auf dem Programm, eine The ateraufführung, ein Schulkonzert und Weihnachtssingen. Ständig musste jemand weggebracht oder abgeholt werden das war unausweichlich, wenn man in einem Glen lebte, der durch öffentliche Verkehrsmittel kaum zu erreichen war. Da Cristi selbst Auto fahren konnte, war sie unabhängig und besuchte ihre Freunde, hauptsächlich Laura Drummond, die ihre Ferien in Riach im Glen Maraich verbrachte. Und Michael und Kirsty Danaher in Grianan freuten sich auch, wenn sie sie besuchte. Das Hotel war in diesem Jahr
geschlossen, und die beiden waren traurig, ihren Vater in so schlechtem Gesundheitszustand zu sehen. Cristi kutschierte Nicholas oft herum, weil sie sah, daß er sich hin und wieder von seinen jüngeren Schwestern rückziehen wollte und sich auch sonst mehr abzusondern schien als üblich. Zu seinen engsten Freunden gehörten die Mackenzie-Zwillinge, Lauras Halbschwestern, sodass sich Cristis und Nicholas' Pläne oft deckten. Aber Pauly verlangte keineswegs von Cristi, dass sie sich um Nicholas kümmerte, und Peta und Josie waren auch ständig irgendwo eingeladen, also waren immer verschie dene Drumveyn-Fahrzeuge unterwegs. Ein Kälteeinbruch brachte genügend Schnee mit sich, dass man Ski laufen konnte, und in diesen Tagen wurde alles andere abgesagt. Pauly wollte zudem Sally Danaher, die das Hotel den ganzen Winter geschlossen hielt - ein deutlicher Hinweis auf Mikes Hinfälligkeit -, auf keinen Fall vernachlässigen. Mike mochte keine hektischen und lauten Gesellschaften, doch Sally sollte sich nicht isoliert fühlen, und Pauly achtete darauf, sie in all die Dinge mit einzubeziehen, die Mike verkraften konnte. Er verbrachte gern viel Zeit für sich, musste allerdings wissen, dass Sally immer in der Nähe war. Da sein Kurzzeitgedächtnis so gut wie gar nicht mehr vorhanden war und er sich kaum noch konzentrieren konnte, ließ Sally ihn nicht lange allein. Pauly war froh, dass ihre Eltern zu Besuch gekommen waren, ihr Vater war Neurochirurg und wusste daher genau, was Sally durchmachte. Er erklärte sich gern bereit, sich zu Mike zu setzen und lange, ruhige Gespräche zu führen. Ihm machte es nichts aus, wenn sich der Patient wiederholte oder unzusammenhängende Sätze von sich gab. Nicht nur Paulys Eltern, sondern auch Toms Sohn Ian mit Frau und Kindern waren über Weihnachten in Drumveyn. Allerdings fehlten dieses Jahr Toms älterer Sohn Rob, der sich zurzeit in Mexiko aufhielt, und Madeleines Freundin Joss, die
zwar ein Cottage im Dorf besaß, aber immer noch zu viel mit ihrem internationalen Hilfswerk zu tun hatte, um sich dort richtig sesshaft zu machen. Sie hatte geschworen, mit sechzig in den Ruhestand zu gehen, doch ihr sechzigster Geburtstag lag schon zwei Jahre zurück, und Madeleine fürchtete, dass nur die Erschöpfung oder eine Krankheit Joss dazu bringen könnten, sich für immer in Ellig einzurichten. Zu Cristis Freude konnte Torie für zwei Tage nach Drumveyn kommen, bevor sie über die Weihnachtsfeiertage zu ihrer Familie nach Appin fuhr. Sie brachte erstaunliche Neuigkeiten mit, die Cristi gerade jetzt nur schwer verdauen konnte. Torie hatte ohne Bedenken ihren Job bei der Dundee Rep aufgegeben, von dem sie anfangs hellauf begeistert gewesen war, und wollte zu Ostern den Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers heiraten, den sie schon ihr Leben lang kannte. Er würde irgendwann das Gut erben, und Torie führte dann genau dasselbe Leben wie ihre Mutter. Sie würde ihre - in vier Studienjahren mühevoll erworbenen Fähigkeit - dazu einsetzen, Kostüme für die Schulaufführungen zu schneidern. Cristi war beschämt, weil es ihr schwer fiel, sich so für Torie zu freuen, wie sie sollte. Torie war offensichtlich überglücklich und hatte eine Zukunft vor sich, die genau auf sie zugeschnitten war. Allerdings vergeudete sie ihre ^ Talente. Aber Cristi war ehrlich genug, um sich einzugestehen, dass hinter ihrer Kritik und Unzufriedenheit hauptsächlich ein schlechtes Gewissen steckte. Sie nutzte ihre Talente auch nicht - sie fand nicht die Ruhe, sich in ihr Atelier zu setzen. Wenigstens hielt Isa an ihren Ambitionen fest, doch die Neuigkeiten von ihr waren auch nicht gerade tröstlich,man hatte ihr einen Job in der Stadtplanungs-Behörde in Göteborg angeboten, und sie wollte im Januar nach Schweden abreisen. »Aber warum Schweden?«, fragte Cristi. »Was, um alles in der Welt, will sie dort? Es ist so weit weg.« »Weit weg?«, spottete Torie. »Und du kommst gerade aus
Brasilien, wo du um deine Hazienda herumflaniert bist... Meinetwegen, estancia. Sie möchte ihre Karriere vorantreiben, Erfahrungen sammeln und Geld verdienen. Erinnerst du dich an diese Kleinigkeiten? Außerdem, warum veranstaltest du deswegen so ein Theater? Wenigstens macht Isa etwas aus dem, was sie gelernt hat, und nachdem du mir vorgehalten hast, dass ich meine Talente verschleudere, solltest du eigentlich froh darüber sein. Und da wir gerade davon sprechen - ich kann nicht behaupten, dass du mir neue Arbeiten von dir gezeigt hättest.« »Ich weiß. Ich bin genauso schlimm wie du.« Die Eröffnung des Design-Centers in Edinburgh lag in weiter Ferne. Cristi verabscheute sich selbst, weil sie sich nicht von ganzem Herzen für ihre Freundinnen freuen konnte. Doch besonders bei Isa hatte sie den fürchterlichen Verdacht, dass sie ganz andere Wege gehen würde. Es erschien ihr unwahrscheinlich, dass sie sich noch einmal überreden lassen würde, nach Drumveyn zu kommen. Cristi musste akzeptieren, dass die Grundlage der Freundschaft, so schön sie auch gewesen war, gemeinsame Interessen und Nähe gewesen waren. Der Briefwechsel mit Isa war schon jetzt oberflächlich und unregelmäßig, obwohl sie das bisher noch nicht zugegeben hatte. Torie - eine zweite Pauly, wie Cristi voller Zuneigung feststellte - würde hingegen immer irgendwie dazugehören, doch das Verhältnis musste sich unweigerlich ändern. Luis ließ kein Wort von sich hören. Manchmal dachte Cristi, dass das vorauszusehen gewesen war. Ihre Ent scheidung, nach Hause zu fahren, hatte ihn so wütend gemacht, dass sie wohl kaum einen Brief von ihm erwarten konnte. Dann wieder erschien es ihr unglaublich, dass er nicht schrieb oder auf anderen Wegen mit ihr kommunizierte. Doch dann versuchte sie, sich vorzustellen, wie Luis sich mit Papier und Kugelschreiber hinsetzte, aber dieses Bild wollte einfach nicht entstehen. Und wie standen sie eigentlich zueinander?
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, und die Situation in Brasilien erschien ihr hier in dieser Umgebung irreal. In diesen hektischen Tagen wurde Cristi auch alles zuviel. Sie verspürte das Bedürfnis, sich allein davonzustehlen, um nachzudenken. Sie genoss - obwohl sie noch vor kurzem tropisches Klima erlebt hatte - die stürmischen Tage kurz vor Weihnachten, an denen der Fluss über die Ufer stieg und das Wasser vom Loch die Wiesen überschwemmte. Sie freute sich über die Kälte, den grauen Himmel, den Wind und den Schnee. Dougal fehlte ihr mehr, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Sie mochten sich ja in der Zeit, die sie in Edinburgh verbracht hatte, voneinander entfernt haben, aber damals hatte sie nie das Gefühl gehabt, dass er für immer aus ihrem Leben verschwunden war. Solange er im Hirten-Cottage gewohnt hatte und sie ihm auf dem Gut immer wieder begegnet war, hatte die Verbindung, die ihr so viel bedeutete, noch existiert. Jetzt lebte er zwar nur auf der anderen Seite des Dorfes, aber er hätte genauso gut hundert Meilen entfernt wohnen können. Er hatte keinen Grund, nach Drumveyn zu kommen, und sie sah keine Veranlassung, zu ihm hinaufzugehen. Wie könnte sie ihn auch besuchen, wenn sie fürchten musste, dass Alison bei ihm war? Ab und zu dachte sie, dass sie genau das tun sollte: hinauf zum Croft of Ellig gehen und die beiden zusammen sehen, ihnen Glück wünschen und eine freund schaftliche Basis für zukünftige Begegnungen schaffen. Aber dazu war sie nicht bereit. Visionen vom Croft suchten sie heim. Es war, als sehnte sie sich voller Wehmut nach etwas, was nie existiert hatte. Manchmal hoffte sie, Dougal im Dorf oder im Glen über den Weg zu laufen, doch zu anderen Zeiten schreckte sie schon allein vor dem Gedanken daran zurück. Sie hätte gedacht, dass das Atelier ein Zufluchtsort sein könnte, wenn sie Zeit für sich allein brauchte. Aber auch das war untrennbar mit der Vergangenheit verbunden und erinnerte sie zu schmerzlich daran, wie wenig kreativ sie zurzeit war.
In dieser rastlosen Zeit suchte sie oft Madeleines Gesellschaft, und die Ruhe in der Scheune kam ihr himmlisch vor nach all dem Kommen und Gehen im großen Haus. Obwohl Cristi nur wenig sprach, erkannten To m und Madeleine sehr wohl, dass sie auf der Suche nach etwas war. Sie nahmen sie liebevoll auf und versuchten, ihr zu zeigen, dass sie bereit waren, ihr in jeder erdenklichen Weise zu helfen. »Wenn wir sie doch nur wegen Dougal hätten vorwarnen können! Es war schlimm für sie, dass sie es auf diese Art erfahren musste«, bemerkte Madeleine besorgt, nachdem Cristi einen Nachmittag lang wie die Katze um den heißen Brei herumgeschlichen war und nur vom Behufen der Ponys und Josies Schürfwunden nach einem Fahrradunfall erzählt hatte und dann abrupt aufgebrochen war. »Ich hätte ehrlich nicht gedacht, dass sie es so schwer nimmt. Sie schienen nicht mehr viel miteinander zu tun gehabt zu haben, als Cristi nach Brasilien fuhr.« »Es geht nicht nur um Dougal, meinst du nicht?«, erwiderte Tom. »Ich glaube, in Brasilien sind eine Menge Dinge vorgefallen, von denen sie uns nichts erzählt. Sie ist nicht ohne Grund so lange dort geblieben.« »Na ja, da ist die Ranch. Es ist eine große Entscheidung.« »Ja, und ich würde liebend gern ausführlich mit ihr darüber reden. Archie bestimmt auch. Die Angelegenheit sollte geregelt werden. Aber da muss noch mehr sein. Sie hat Dinge erlebt, die sie bewegen und aufwühlen. Ich wünschte, sie wäre nicht gerade zu Weihnachten heimgekommen, dann hätten wir eher die Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen.« Cristi hatte immer noch mit keiner Menschenseele über Luis gesprochen. Und obwohl sie von Judes Tageszentrum und noch öfter von Tres Pinheiros erzählte, fiel es ihr schwer zu erklären, was ihr diese beiden Stätten bedeuteten oder wie zugehörig sie sich dieser Welt gefühlt hatte. Der Neujahrstag war der Tag des großen Aufbruchs. Am
zweiten Januar waren alle Gäste abgereist, und die Familie hatte das Haus wieder ganz für sich. Das trübe Wetter schien sich der niedergedrückten Stimmung, die sie alle befiel, anzupassen. Alle hatten den Wunsch, die Weihnachtsdekorationen wegzuräumen, die Fichtennadeln aufzusaugen und etwas anderes zu essen als die traditionelle Weihnachtspastete, den Weihnachtskuchen oder Truthahn in jeder Form. Pauly rief zur Teezeit die Familie im Wohnzimmer zusammen. Zu dieser Zeit war es draußen schon dunkel, und Pauly hatte die Vorhänge zugezogen, ein Feuer im Kamin angezündet und das Licht gemütlich gedimmt. Ihren üblichen Drang, einen besonderen Kuchen für diese Gelegenheit zu backen, hatte sie ungehalten beiseite gewischt. Dies war keine Party. Warum dachte sie in solchen Situationen immer ans Essen? Archie hätte verstanden, dass sie ärgerlich auf sich selbst war. Ihm war auch bewusst, wie bedeutend dieser Moment war. Schließlich hatte er schon vor Jahren die Hoffnung aufgegeben, jemals so etwas zu erleben. »Seid bitte für einen Augenblick still«, begann Pauly, als sich alle Tee oder Orangensaft genommen und sic h gesetzt hatten, der Streit um das große Polster auf dem Boden beendet und für Broy eine Wasserschüssel bereitgestellt worden war. Sogar Archie verzögerte die Dinge, indem er noch mehr Scheite ins Feuer legte. »Und passt auf, denn wir haben euch etwas Wichtiges zu sagen.« »Ihr lasst euch scheiden!«, heulte Peta verängstigt auf. Das sagt alles über das moderne Leben, dachte Archie aufgebracht, als er Peta auf seinen Schoß hob. Jede Familienversammlung konnte heutzutage nur Schlimmes bedeuten, oder? »Selbstverständlich nicht. Genau genommen ist es eher das Gegenteil«, fing Pauly noch einmal an. Petas Einwurf hatte sie ein wenig nervös gemacht. Sie streckte die Hand nach Josie aus,
die dicht neben ihrem Sessel auf dem umkämpften Polster saß, und fing einen finsteren, unsicheren Blick von Nicholas auf. Eilends fuhr sie fort: »Es sind wundervolle Neuigkeiten. Wir wollten euch erst davon erzählen, wenn wir alle zusammen sein können und nichts anderes los ist. Wir erwarten ein Baby - ihr bekommt noch einen Bruder oder eine Schwester.« Ihre Stimme bebte. Verflixt, sie hatte sich vorgenommen, ruhig und gefasst zu sein. Aber als sie sah, wie Archie sie voller Liebe betrachtete, fiel es ihr schwer, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie war nie schöner, dachte Archie. Und obwohl keines jeder Kinder ihr leibliches war, glich sie einer typischen Mutter im Kreise ihrer Familie. Ihr wundervolles Haar - wirr wie immer glänzte im Schein der Lampen, und ihre pfirsichfarbene Haut wirkte frischer denn je. Sie sah gena uso aus wie die Zwanzigjährige, die er geheiratet hatte. Nur ihr Körper war gereift, fraulicher, und es berührte ihn zutiefst zu wissen, dass sie nach so vielen Jahren endlich sein Kind unter dem Herzen trug. »Aber ihr habt immer gesagt…“ Cristi fand als Erste die Sprache wieder und äußerte das Unausweichliche, als sie die zweifelnden, schockierten Gesichter der anderen sah. »Das ist ja wunderbar!«, rief . sie gleich darauf. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie aufstand, um Pauly zu umarmen. »Und so aufregend! Doch es ist wirklich überraschend, das müsst ihr zugegen.« »Aber ihr könnt doch keine Babys bekommen«, übertönte Josies durchdringende Stimme alle anderen. »Deshalb habt ihr ja uns.« Für sie schien die Diskussion damit beendet zu sein. »Ich weiß«, gab Pauly lächelnd zurück und blinzelte die Tränen weg. »Es hat immer so ausgesehen, als könnten wir keine bekommen, doch jetzt ist es passiert. Ist das nicht lustig?« »Und warum weinst du dann?« Peta musste stets alles ganz genau wissen. »O Liebling, du kennst mich ja. Ich gehöre zu den dummen
Menschen, die immer weinen müssen, wenn sie glücklich sind. Komm, lass dich umarmen und sieh mich nicht so besorgt an.« Cristi hockte auf der Armlehne von Paulys Sessel, und die kleinen Mädchen kletterten auf Paulys Schoß, und bombardierten sie mit Fragen. Archies Blick wanderte zu Nicholas, der ganz still dasaß und unsicher wirkte, obwohl er den ersten Schock zu verbergen versuchte. »Nick, du weißt, dass sich dadurch rein gar nichts verändert, oder?«, meinte Archie, legte ihm die Hand auf den Arm und sah ihn eindringlich an, bis Nicholas seinem Blick begegnete. »Ihr alle seid unsere Kinder, unsere Familie - das wird immer so bleiben, egal, was auch geschieht.« Nicholas nickte. »Ja, ich weiß. Es ist toll«, setzte er unbeholfen hinzu, und Archie fragte sich, ob er mit Nicholas allein hätte reden sollen, wie er es sich eigentlich vorgenommen hatte. Dann erhob sich Nicholas, um sich den plappernden Mädchen anzuschließen, die sich immer noch um Pauly scharten. Und Archie beließ es dabei. Seine Augen hefteten sich auf Cristi; sie spürte seinen Blick, stand auf, ging zu ihm und schlang die Arme um ihn. »Archie, ich freue mich so für euch! Ich kann es noch gar nicht glauben. Das sind die großartigsten Neuigkeiten überhaupt. Du bist bestimmt sehr glücklich.« Archie brachte Champagner, und alle wollten wissen, wann genau das Baby kommen und wie es heißen sollte. Kleine Hände legten sich auf Paulys Bauch, und die Gesichter der Mädchen nahmen einen feierlichen Zug an, als sie begriffen, dass es wirklich wahr war. Archie und Pauly wiederholten wieder und wieder, dass sich nichts ändern würde, dass das neue Baby die Familie nur vergrößerte und nicht anders behandelt oder mehr geliebt werden würde. Dann löste sich die Versammlung auf. Cristi und Pauly gingen in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten, Josie und Peta verschwanden nach oben, um ein Bad zu nehmen, und
stritten, wo das Baby schlafen sollte. Nicholas und Archie blieben allein zurück. »Alles in Ordnung?«, fragte Archie. »Bestens«, erwiderte Nicholas, doch dann sagte er krächzend, als presste jemand die Worte aus ihm heraus: »Aber du bist sein Vater, stimmts? Sein echter Vater.« »Nicholas ...« Archie sah ihn besorgt und voller Zuneigung an, während er die Hände auf seine Schultern legte. »Hör mich an. Ich bin dein Vater. Daran ändert sich nichts ... nicht das Allermindeste. Kein anderes Kind könnte mehr meines sein als du. Ich schwöre es dir.« Nicholas nickte und presste die Lippen zusammen. Er wagte es nicht, noch mehr zu sagen, und Archie litt, weil Nicholas so verletzt zu sein schien, hielt es jedoch für klüger, ein weiteres Gespräch aufzuschieben, bis Nicholas Zeit gehabt hatte, diese neue Entwicklung zu verdauen. Cristi suchte in der Gefriertruhe nach einer Tüte mit Stangenbohnen und war froh, einen Moment allein sein zu können. Sie war um Paulys und Archies willen sehr froh. Es könnte keine besseren Eltern geben, und die Aussicht, endlich ein eigenes Kind zu haben, musste für die beiden das Schönste sein, was sie sich vorstellen konnten. Sie freute sich auch für sich selbst - es würde Spaß machen, ein Baby im Haus zu haben, und sie wünschte sich sehr, hier zu sein, wenn es auf die Welt kam. Aber dennoch trübte eine winzige Sorge ihre Freude. Dieses Kind würde ein Napier sein; der Einzige unter ihnen allen. Ich muss unbedingt mit Nicholas reden, nahm sie sich vor. Sie fand, was sie gesucht hatte, und richtete sich schaudernd auf.
30. Kapitel Nicholas vertraute sich letzten Endes Cristi an. Während das neue Baby gefeiert wurde, gelang es ihm, seine wahren Gefühle zu verbergen. Er war immer umgänglich, freundlich und
vernünftig, und Pauly und Archie nahmen an, dass seine ursprünglichen Zweifel zerstreut seien. Peta und Josie waren versessen darauf, allen von der Neuigkeit zu berichten angefangen von Ivy Black, die zum Saubermachen ins Haus kam, bis zu Jean im Dorf, und bei den vielen Glückwünschen war es nur natürlich, dass die werdenden Eltern das Gefühl hatten, alle wären begeistert. Aber Cristi, die jetzt öfter allein war, weil die meisten ihrer Freunde nach den Feiertagen abgefahren waren, war eine aufmerksamere Beobachterin. Ihr fiel auf, dass Nicholas mehr Zeit als sonst in seinem Zimmer verbrachte. Er hatte dort einen Computer, und es regnete draußen, deshalb dachte sie sich anfangs nicht so viel dabei, zumal sie selbst nicht mehr so oft wegfuhr und ihn irgendwo hinbrachte. Doch als sich das Wetter besserte und Nicho las keinerlei Interesse zeigte, zusammen mit Archie im Freien zu arbeiten, und es sogar ablehnte, mit dem Jagdaufseher auf die Pirsch zu gehen, machte sie sich doch Sorgen. Wenn sie sich eingehender mit Nicholas befasste, half ihr das vielleicht auch, sich von ihren eigenen Problemen abzulenken. In den ruhigeren Tagen nach Neujahr, in denen alle ihren normalen Beschäftigungen nachgingen, spürte Cristi, dass die Entscheidung drängender wurde. Obwohl niemand je ein Wort darüber verlieren würde, war klar, dass sie nicht bis in alle Ewigkeit tatenlos zu Hause herumlungern konnte. Zudem wusste sie, dass Archie und Tom mehr über ihre Pläne, insbesondere über das, was sie mit der Ranch vorhatte, erfahren wollten. Sie akzeptierten zwar, dass der Betrieb adäquat verwaltet wurde, doch sie hielten es wahrscheinlich für unverant wortlich, wenn Cristi ihre Entscheidung länger aufschie ben würde. Was würden sie oder Pauly und Madeleine sagen, wenn sie wüssten, dass noch eine andere ungeklärte Situation jeden ihrer Gedanken überschattete? Gerade als sich Cristi beinahe damit abgefunden hatte, dass
Luis nie etwas von sich hören lassen würde, traf ein Brief von ihm ein, und zwei weitere folgten unmittelbar darauf. Eigenartige Lebenszeichen von jemandem, der ihr vor kurzem seine Liebe erklärt hatte, fand Cristi. Luis schilderte lediglich, welche gesellschaftlichen Ereignisse er in letzter Zeit miterlebt hatte, und übermittelte Grüße von verschiedenen Bekannten, schrieb aber, abgesehen von der Frage, wann sie zurückkam, kein einziges persönliches Wort. Luis und Cristi hatten immer Englisch vermischt mit Portugiesisch gesprochen, und die Übergänge waren so fließend, dass sich Cristi manchmal überhaupt nicht bewusst gewesen war, in welcher Sprache sie sich unterhielten. Aber Luis schrieb in Portugiesisch, und seine flüssige, ungewohnte Handschrift mit den auffallend schrägen »ms« und »ns«, die sehr schmale Feder, die er benutzte, das dünne Papier und vor allem der formelle blumige Stil machten es unmöglich zu vergessen, dass er einer anderen Kultur angehörte. Cristi war sich zwar bewusst, dass er lediglich die konventionelle Briefform wahrte, aber die künstliche Sprache jagte ihr eisige Schauer über den Rücken, und schon allein aus diesem Grund fiel es ihr schwer, ihm zu antworten. An einem verregneten Nachmittag, an dem alles draußen nass und düster war, nutzte Cristi die Chance, mit Nicholas zu sprechen. Es war still im Haus, da Pauly mit Josie und Peta beim Zahnarzt war - die beiden Mädchen hatten lautstark gegen die Ungerechtigkeit protestiert, weil Nicholas bereits eine gute Gesundheit bescheinigt worden war. Archie, der mitbekommen hatte, dass Pauly wegen der langen Einkaufsliste stöhnte, hatte beschlossen, mitzufahren und ihr zu helfen. Sein Glück äußerte sich in überschäumender, beschützerischer Liebe zu Pauly, und er wurde die Angst, dass etwas schief gehen könnte, nicht los, deshalb versuchte er, bei ihr zu sein, wann immer er konnte. Es kam keine Reaktion, als Cristi an Nicholas' Tür klopfte, und die Angst zu stören, brachte sie beinahe dazu,
kehrtzumachen und Nicholas in Ruhe zu lassen. Doch dann dachte sie daran, wie in sich gekehrt er in den letzten Tagen gewesen war, und versuchte es noch einmal. Sie atmete auf, als er rief: »Wer ist da?« »Nur ich. Darf ich reinkommen?« »Meinetwegen.« Der Computer war ausgeschaltet, und nur die kleine Nachttischlampe brannte. Nicholas lag auf dem Bett - er las nicht und hörte auch keine Musik. Als Cristi hereinkam, richtete er sich schwerfällig zu einer Position auf, die warnte: »Komm mir nicht zu nahe.« »Was willst du?« Er war nicht rüde, machte aber deutlich, dass sie ihm nicht willkommen war. »Mit dir reden.« »Es gibt nichts zu reden.« »Es gibt sogar eine ganze Menge.« Er zuckte mit den Schultern und sah auf seine Finger, mit denen er die Bettdecke knetete. »Darf ich mich setzen?« Wieder hob er die Schulter. Cristi widerstand dem Impuls, sich zu ihm aufs Bett zu setzen, und drehte statt dessen seinen Schreibtischstuhl um. »Ich wollte wissen, ob mit dir alles in Ordnung ist.« »Natürlich. Warum sollte etwas nicht stimmen?« »Du verbringst normalerweise nicht so viel Zeit ganz allein hier oben.« Um ein Haar hätte sie gesagt: »Du versteckst dich«, hatte jedoch noch rechtzeitig gemerkt, dass sie vorsichtig mit den Worten umgehen musste. »Ich dachte, dass du vielleicht wegen irgend etwas unglücklich bist.« Er schüttelte den Kopf, aber man sah ihm seine Niedergeschlagenheit an. »Nick, es hilft, wenn man darüber spricht«, drängte sie sanft. Das Band zwischen ihnen war immer sehr stark gewesen. Cristi war bei Nicholas' Geburt neun gewesen und sie hatte ihn
vom ersten Augenblick an vergöttert. Selbst als später Peta und dann Josie in die Familie kamen, blieb ihre Beziehung unverbrüchlich. Und da sich die beiden kleinen Mädchen zu einer Einheit zusammenschlossen, erschien es nur natürlich, dass Cristi und Nicholas zusammenhielten. »Es gibt nichts, worüber ich sprechen muss«, beharrteNicholas. Er klang aufgebracht, fast wütend, und Cristi vermutete, dass sie Nicholas nur einen kleinen Schubs geben musste, dann würden sich die Schleusen öffnen. »Stört es dich, dass Archie und Pauly ein Baby bekommen?« »Natürlich nicht!« Es war schwer zu erkennen, aber Cristi glaubte, dass er rot geworden war. »Machst du dir Gedanken«, fuhr Cristi behutsam fort, »dass es ihr Baby sein wird und dass Archie nicht dein biologischer Vater ist?« i Zu sagen, Archie sei nicht sein »echter Vater«, hätte geklungen, als würde sie die Liebe und Fürsorge verraten, mit der Archie sie alle behandelte. »Na ja, er ist nicht mein Vater, oder?«, brach es aus Nicholas heraus. »Wieso wollen alle so tun, als wäre er mir verwandt? Eigentlich hab ich in diesem Haus gar nichts verloren.« Er schwang die Beine herum, setzte sich auf die Bettkante und vergrub das Gesicht in den Händen. Cristi sprang auf und nahm neben ihm Platz, um ihn in den Arm zu nehmen. Sie spürte, dass er gegen die Schluchzer ankämpfte - ein Junge, der auf keinen Fall weinen wollte, aber mit seinen Gefühlen nicht fertig wur de. »Nick, es ist gut. Sag, was dich beschäftigt. Außer uns beiden ist niemand im Haus.« Er nickte ruckhaft, versteckte jedoch nach wie vor sein Gesicht. Cristi merkte, dass er sich aus ihrer Umarmung befreien wollte und gleichzeitig fürchtete, sie damit zu verletzen
»Komm«, bat sie und drückte ihn ein wenig, bevor sie ihn losließ. »Ich sehe doch, dass dich das auffrisst. Warum versuchst du nicht wenigstens, dich auszusprechen?« Sie zog sich den Stuhl heran und wahrte wieder ein wenig Abstand. »Alles hat angefangen, als du nach Brasilien geflogen bist«, begann Nicholas unerwartet. »Mit meiner Abreise nach Brasilien?«, wiederholte Cristi verständnislos. »Was meinst du damit?« »Oh, ich weiß selbst nicht.« Er sah sich unsicher um, als wünschte er, er hätte nie davon angefangen. »Bitte, Nick, du kannst so was nicht ohne Erklärung stehen lassen.« Er stützte wieder den Kopf in die Hände und schirmte sein Gesicht ab, dann sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus: »Es ist die Frage, wer wir eigentlich sind. Die Sache mit den Genen. Überall ist die Rede davon - im Fernsehen, im Biologieunterricht in der Schule ... was weiß ich. Ich meine, wer sind wir?«, wiederholte er hilflos, als käme er nicht über diese Frage hinaus. Mit einem raschen, verlegenen Blick auf Cristi fuhr er hastig fort: »Für dich ist es ... ich meine, dein Aussehen ...« Er verstummte, weil er nicht wusste, ob er so offen darüber reden konnte. Cristi nickte bedächtig und forderte ihn auf: »Red weiter.« »Aber ich sehe Dad und auch Pauly zufällig ähnlich.« Auch wenn er Pauly manchmal Mum nannte wie die kleinen Mädchen, war sie für ihn von Anfang an Pauly gewesen, und der Name kam ihm glatt über die Lippen. »Peta und Josie könnten durchaus meine Schwestern sein. Die meisten Leute glauben tatsächlich, dass wir Geschwister sind. Deshalb habe ich nie viel darüber nachgedacht. Doch als du nach Brasilien gegangen bist, war es plötzlich wichtig für mich. Ich bekomme es einfach nicht aus dem Kopf.« »Du machst dir Gedanken über deine Mutter?« »Ja. Und
darüber, wer mein richtiger Vater ist. Und ich frage mich, ob das überhaupt jemand weiß. Das ist das Schlimmste.« Seine Stimme schwankte. »Nicht zu wissen, wer du bist.« »Ja«, gab Cristi ihm Recht. »Ich weiß.« Eine Weile herrschte Schweigen, und der Regen, der an die Fensterscheibe trommelte, klang beinahe aggressiv. »Ich glaube, ich weiß auch nicht, wer mein Vater ist.« Nicholas' Kopf zuckte zu ihr herum. »Aber ist das denn nicht Tante Lisas Mann? Du kennst seinen Namen und so weiter. Hat er dich nicht auch hierher geschickt, als er mit deiner Mutter durchgebrannt ist?« Die Geschichte war kein Geheimnis. »Das wurde immer erzählt, ja. Aber als ich in Brasilien war, kamen mir Bedenken. Wie du schon sagtest, man braucht mich nur anzusehen. Ich bin Brasilianerin durch und durch.« »Aber wer... ?« »Nick, ich weiß es nicht. Und ich werde es nie erfahren.« Jede Zurückhaltung war gewichen, als sie sich ansahen. »Du weißt ja, dass ich keine Verbindung zu meiner Mutter aufnehmen konnte, und ich muss mich damit abfinden, dass ich sie wohl niemals sehen werde. Das heißt, dass ich auch nie herausfinden werde, wer mein Vater ist.« »Aber wie fühlst du dich dabei?« Nicholas musste das unbedingt wissen, und er spürte, dass er Cristi an diesem Punkt mit einer solchen Frage nicht verletzte. »Eine ganze Weile hatte ich schwer daran zu knabbern. Natürlich hat es mir am meisten ausgemacht, da es mir unmöglich war, meine Mutter ausfindig zu machen. Doch ganz allmählich - aber das ist wahrscheinlich bei jedem Menschen anders - wurde mir klar, dass diese Situation auch eine positive Seite hat. Oder zumindest eine annehmbare. Ich habe zwar mein genetisches Päckchen zu tragen, dafür aber kein emotionales. Du weißt, dass Tom immer sagt, dass man sich nicht wegen etwas grämen soll, was man ohnehin nicht ändern kann. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich einfach bin, wer ich bin.
Basta. Ich bin der Mensch, der hier vor dir sitzt. Ich wäre nicht mehr oder anders, wenn ich ganz genau über meine Eltern Bescheid wüsste.« Nicholas nickte nachdenklich. »Aber hast du nicht auch das Gefühl, etwas verloren zu haben, als du heraus gefunden hast, dass der Mann, den du dein Leben lang für deinen Vater gehalten hast, gar nicht dein Vater ist?« »Howard? Nein, eigentlich nicht. Er schien nur noch ein Stück mehr in die Ferne zu rücken. Ich habe sowieso wenig Erinnerung an ihn. Er tauchte ab und zu in dem Haus in Rio auf und brachte Geschenke mit, aber dann ging er sofort mit meiner Mutter aus, und als ich aufwuchs, waren andere Dinge wichtiger als diese kurzen Besuche. Zum Beispiel das, was er Lisa angetan hat. Und mir. Als ich in Brasilien mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass er gar nicht mein Vater sein kann, spielte es gar keine Rolle mehr. Es war, als wäre ich aus all dem rausgewachsen, wenn du verstehst, was ich meine.« Nicholas dachte darüber nach; Cristis Geschichte war irgendwie tröstlich. »Das müssen ganz schön verrückte Leute sein«, stellte er nach einer Weile fest. So viel zu der Liebe und der Hingabe der älteren Generation. »Aber für dich ist es anders«, entgegnete Cristi. »Deine Mutter war mit Archie verheiratet, als du geboren wur dest. Vor dem Gesetz ist er dein Vater.« »Ja, ich weiß. Und ich hatte stets das Gefühl, dass er es ist. Wie gesagt - wenn man nicht darüber nachdenkt, erscheint alles ziemlich normal.« »Doch jetzt bist du nicht mehr glücklich damit?« »Nicht nur jetzt und ganz bestimmt nicht wegen des Babys.« Cristi wartete; sie litt mit ihm, weil er mit so großen Zweifeln fertig werden musste. »Glaubst du, dass jemand weiß, wo meine Mutter ist?« Endlich brachte er diese entscheidende Frage heraus. »Ob es eine Möglichkeit gibt, sie zu finden?«
Gott, was habe ich da in Gang gesetzt, dachte Cristi erschrocken. Ich habe mein eigenes Leben bis zur Unerträglichkeit aufgewühlt, und jetzt zerstöre ich auch noch Nicholas' Seelenfrieden. »Möchtest du das wirklich herausfinden?«, fragte sie. Er verstand, was sie meinte, und überlegte noch einmal ganz genau, bevor er antwortete: »Ja, ich glaube schon. Ich möchte es nur wissen.« Doch er konnte nicht in Worte fassen, was er alles wissen wollte. »Dir ist doch klar, dass du damit eine ganze Menge Staub aufwirbeln könntest?« Nicholas kniff die Lippen zusammen. Dies war ein entscheidender Moment. »Aber du hast eine Möglichkeit gefunden, dich mit deiner Lage abzufinden, oder?« »Ja, ich denke schon.« Doch das lag noch weit vor ihm und brauchte jetzt nicht besprochen zu werden. Cristi sah seinem ernsten Gesicht an, dass er sich bemühte, wie ein Erwachsener an das Problem heranzugehen, und plötzlich erschien er ihr in einem ganz anderen Licht. Wieso hatte sie, die eigentlich eine gute Beobachterin war, nicht bemerkt, dass sich seine Züge verändert hatten, seine Beine und Arme länger geworden waren, dass sich der Junge allmählich zum Mann entwickelte? »Weißt du, Nick«, erklärte sie, »das Beste wäre, wenn du mit Archie redest. Er wird dich verstehen.« »Aber es würde ihn traurig machen, glaubst du nicht?« »Es wäre noch viel trauriger, wenn er denken müsste, dass du über all das nachgrübelst und ihm deine Empfindungen verheimlichst.« »Ja, vielleicht hast du Recht.« »Du weißt, dass du alles mit ihm besprechen kannst. Und wenn du wirklich mit deiner Mutter in Verbindung treten willst, dann kann er dir sicherlich weiterhelfen.«
»Aber es geht nicht nur um meine Mutter.« Der gereizte Tonfall war wieder hörbar. »Worum dann ? Wovon sprichst du ?« »Das ist doch offensichtlich, oder? Ach, vergiss es.« »Nick, was ist los? Archie ist immer bereit...« »Ich kann doch nicht mit ihm über Drumveyn sprechen, findest du nicht auch?«, explodierte Nicholas und sprang auf. »Über Drumveyn? Was meinst du? Wie hängt Drumveyn mit all dem anderen zusammen?« Cristi bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Würde diese Aussprache zu Dingen führen, die besser im Verborgenen blieben? »Das kann ich dir nicht sagen«, brummte Nicholas. »Es würde hirnrissig und schrecklich klingen.« Dabei konnte Cristi es auf keinen Fall belassen. »Du musst es mir sagen. Was ist mit Drumveyn ?« »Oh, stell dich nicht so dumm.« Er stand jetzt mit dem Rücken zu ihr am Fenster. »Wenn das Baby ein Junge wird, dann ist er ein Napier. Archies echter Sohn.« »Und? O Nick!« Cristi ging zu ihm und schob eine Hand unter seinen Arm. »Du meinst, ein Junge wäre der Erbe, er würde eines Tages alles bekommen ...?« »Siehst du, jetzt hältst du mich für gierig und denkst, ich wollte alles an mich reißen. Doch so ist es nicht«, protestierte er inbrünstig, weil er es ihr nicht richtig erklären konnte. »Ich weiß genau, was du meinst. Drumveyn liegt dir sehr am Herzen. Du warst immer der älteste Sohn in der Familie. Es geht nicht darum, es zu haben oder zu bekommen. Das verstehe ich. Doch daran ändert sich ja nichts. Und Archie wäre am Boden zerstört, wenn er wüsste, dass dir das überhaupt in den Sinn gekommen ist. Du bist in seinen Augen sein Sohn. Und nach dem Recht bist du es auch. Daran besteht kein Zweifel, Nick.« Sie umfasste seinen Arm und zwang ihn, sich zu ihr zu drehen. »Das weißt du doch, oder?« Für einen Augenblick sah es so aus, als würde er bejahen.
Doch dann schrie er voller Verzweiflung und uncharakteristischer Wut: »Nein, das weiß ich nicht! Dieses Baby ist sein Kind. Das ist nicht dasselbe!« »Du redest Unsinn. Aber ich sage dir, was wir machen werden. Hörst du mir zu? Wir werden Archie all das erzählen, was du mit mir besprochen hast.« »Neinl« Nicholas sah sie fassungslos an. »Ich habe dir vertraut, Cristi. Ich würde dir nie im Leben verzeihen, wenn du zu irgend jemandem ein Wort sagst.« »Hinter deinem Rücken spreche ich ganz bestimmt nicht darüber, Ehrenwort. Aber du bist es Archie schuldig. Denk nur daran, wie offen er und Pauly immer gewesen sind, was die Adoption und unsere Herkunft betrifft. Sie waren stets ehrlich zu uns, um uns zu beschützen. Es wäre für uns alle viel schlimmer gewesen, wenn sie diese Dinge unter den Teppich gekehrt hätten. Und außerdem ist es nur natürlich und normal, dass du dir Gedanken um deine Mutter und wegen des Babys machst. Du quälst dich selbst, wenn du deine Gefühle unter Verschluss hältst.« »Ich habe dir davon erzählt, weil ich dachte, dass du es nicht weitersagst.« »Und da du mir davon erzählt hast, möchte ich dir helfen. Ich bin deine große Schwester, vergiss das nicht.« »O ja - sieh uns nur an«, höhnte er, aber Cristi wußte, dass die hilflose Wut hinter ihnen lag und dass er allmählich zur Vernunft kommen würde. Er hatte mehr gesucht als nur Erleichterung bei einer Aussprache. »Schau, bald kommen die anderen nach Hause. Ich gehe hinunter und brühe Tee auf. Doch denk dran«, fügte sie hinzu, als sie auf die Tür zuging, »wenn du Hilfe brauchst, bin ich für dich da, okay?« »Okay.« Nicholas blieb wie angewurzelt stehen und versuchte, sic h zu beruhigen. Die Luft war geradezu emotionsgela den, als hätte in
diesem Zimmer vor kurzem eine Schlacht stattgefunden. Er war froh, endlich offen über seine Ängste gesprochen zu haben und Cristi an seiner Seite zu wissen.
31. Kapitel Die schmale Straße zwischen den hohen Erdwällen führte in etlichen scharfen, unübersichtlichen Kurven steil bergab. »Ich schätze, die Leute fahren hier regelmäßig rauf und runter, also kann es nicht so gefährlich sein«, bemerkte Cristi philosophisch. Nicholas versuchte ein Lächeln, doch Cristi spürte seine innere Anspannung und bemühte sich nicht mehr, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Wie sie bereits festgestellt hatte, waren hier die Entfernungen nicht groß, und im Nu befanden sie sich auf Meereshöhe und fuhren auf einen Parkplatz neben der Straße. »Was für ein wunderschönes Fleckchen.« Die geschützte Bucht in diesem versteckten Winkel der Devon-Küste war ein Paradies für Segler und auch - nach den vornehmen Bungalows und ausgebauten Cottages an der Küste zu schließen - für reiche Rentner. Aber Cristi, die auf eine Häuseransammlung zufuhr, hatte kaum ein Auge für die Umgebung - sie war fast so nervös wie Nicholas. »Ich frage im Pub nach, und wir erkundigen uns auch gleich, ob wir dort mittags was zu essen bekommen. Dann können wir, wenn nötig, sagen, dass wir schon etwas arrangiert haben. Es sei denn, hier hat im Januar auch alles geschlossen wie in Schottland. Kommst du mit?« Nicholas schüttelte den Kopf. Heute wirkte sein Gesicht spitz und verletzlich jung, als hätte er sein Vorhaben, erwachsener zu werden, für den Moment auf Eis gelegt. Der Pub machte den Eindruck, als hätte er seine Türen vor zweihundert Jahren ein paar ortsansässigen Farmern, Fischern und zweifellos auch Schmugglern geöffnet und seither jedem
Versuch der Veränderung widerstanden. Snacks an der Bar gab es ab zwölf Uhr. Das Blackstone Cottage? Es befand sich nicht im Dorf selbst, sondern zwei Meilen entfernt auf der Landzunge. Diese kleine Verzögerung schien die Anspannung, die Cristi und vor allem Nicholas zu schaffen machte, ins Unerträgliche zu steigern. Cristi war an den vorbereitenden Gesprächen über die Reise nicht beteiligt gewesen, aber sie fand, dass jemand eine präzise Wegbeschreibung hätte abgeben können. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie vorhatten, traf sie wie ein Blitz, und sie ging zitternd zum Wagen zurück. »Das Cottage liegt außerhalb des Dorfes, wie es scheint. Wir müssen wieder hinauf und dann in Richtung Landzunge. Es ist nicht weit. Alles in Ordnung?« Nicholas nickte und konzentrierte sich auf die Boote in der Bucht, von denen die meisten über den Winter an Land gezogen waren. Ein paar lagen an ihren Ankerplätzen und waren ordentlich mit der Persenning abgedeckt. Cristi warf Nicholas einen Blick zu, ohne den Motor zu starten. »Hör mal, Nick, wir müssen da heute nicht hin«, erinnerte sie ihn leise. »Wenn es zu schwierig für dich ist oder du mehr Zeit zum Nachdenken brauchst, musst du es nur sagen.« Er betrachtete immer noch die Boote, und sie sah, dass er die Zähne zusammenbiss. Er schwieg. »Ich will dir damit nur klar machen, dass du dich nicht dazu gedrängt fühlen sollst, nur weil wir hierher gefahren sind.« »Aber die Briefe... Es ist alles ausgemacht.« »Man kann auch neue Vereinbarungen treffen.« Cristi war der Meinung, dass Nic holas' Gefühle berücksichtigt werden mussten, nicht die seiner Mutter, die ihn nicht einmal in die Arme genommen hatte, kurz nachdem er auf die Welt gekommen war. »Wir könnten ohne weiteres anrufen. Du brauchst dich zu
nichts verpflichtet zu fühlen. Es ist ganz allein deine Entscheidung.« Archies und Cecils Anwälte hatten die Arrangements getroffen. Wie sich herausgestellt hatte, hatte immer die Möglichkeit bestanden, auf diese Weise Verbindung aufzunehmen. Die Entdeckung erschütterte Nicholas, auch wenn er kein Wort darüber verlor, und gab ihm das Gefühl, dass unbekannte Dinge auf ihn lauerten, die er durch sein unklares, aber zwanghaftes Bedürfnis zum Leben erweckt hatte. Cristi fand, dass es eine ziemlich kalte Vorgehensweise war, und fürchtete, dass Nicholas ebenso kalt empfangen werden würde. Dennoch war die Botschaft unmissverständlich. Cecil wollte, dass sie zu ihr kamen. Die Stille im Auto war mit Händen zu greifen. Auf dem Parkplatz stand kein anderes Fahrzeug zwischen Klippe und Küste. Möwen kreis ten am Himmel und schrieen gelegentlich. Cristi schauderte, weil diese Laute zwischen grauem Wasser und grauem Himmel so düster und traurig klangen. »Es ist besser, wir fahren hin.« »Ja? «Nicholas nickte entschiedener, und Cristi sah voller Angst, dass sein Gesicht eine gr ünliche Farbe angenommen hatte - die Sommersprossen waren vollkommen verblasst. Dieses äußere Anzeichen dessen, was er durchmachte, ging Cristi an die Nieren. Was würde sie empfinden, wenn sie in ein paar Minuten ihrer Mutter gegenübertreten würde? Und wie musste sich Cecil fühlen, die jetzt auf ihren Sohn wartete und wusste, dass er nach all den Jahren des Schweigens auf dem Weg zu ihr war? Vielleicht auch nach Jahren der Reue und Schuldgefühle ? Cristi erinnerte sich bruchstückhaft an Cecil: eine schlanke, dunkelhaarige Frau, schön, gepflegt, elegant. Komisch, ging es Cristi durch den Kopf, dass mir ihre schlanke Figur im Gedächt nis geblieben ist. Cecil musste in der Zeit, in der Cristi sie gekannt hatte, mit Nicholas schwanger gewesen sein. Die Kinderaugen hatten nach dem ersten
Eindruck offenbar keine Veränderung wahrgenommen. Aber ihre Haupterinnerung an Cecil war die an eine ziemlich unnahbare Person, vor der man Ehrfurcht hatte und die sich niemals auf die Ebene eines Kindes herabgelassen hätte. Sie verdrängte die schemenhaften Erinnerungsfetzen. Jetzt war nur wichtig, womit sich Nicholas, ein Junge von vierzehn Jahren, bei diesem Treffen auseinander setzen musste. Wenn Cristi sah, in welchem Zustand er sich befand, dann fragte sie sich schuldbewusst, ob es richtig gewesen war, ihn zu dieser Entdeckungsreise zu ermutigen und es ihm in praktischer Hinsicht so leicht zu machen, sie zu unternehmen. Aber er war offensichtlich entschlossen, bis zum Ende zu gehen. Sie wandten sich den Berg wieder hinauf, ohne einem einzigen Auto zu begegnen, und bogen auf eine Straße ein, die vom vollen Licht des Kanals profitierte, dessen Wasser silbrig und grell glitzerte. Hügelige Wiesen, ein Farmhaus, Cottages mit Gärten, die durch dichte Hecken vor dem Wind geschützt waren, der sicher oft über das Land peitschte. Dies war nicht die Umgebung, in der Cristi die anspruchsvolle Cecil vermutet hätte. Man hörte immer wieder, dass Cecil Drumveyn und die ländliche Lebensart verabscheut hatte. Ein weiß lackiertes Namensschild, eine kurze Zufahrt zu einem Haus, das am Hang eines Hügels stand und Aussicht auf das Meer hatte. Ob Nicholas' Knie beim Aussteigen genauso weich waren wie ihre? Und klopfte sein Herz ebenso heftig? Wie würde Cecil sie empfangen ? Mit der erinnerten kühlen Zurückhaltung, die diesen Jungen, ihren Sohn, den sie von vornherein eisern abgelehnt hatte, noch mehr verletzen musste ? Vor dem Haus stand kein Wagen. Niemand schaute aus dem Fenster. Die Verandatür auf der Giebelseite des Hauses blieb geschlossen. Cristi umrundete den Wagen und berührte Nicholas' . »Komm. Es wird bestimmt nicht so schlimm.« Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und es erschien ihnen, als
müssten sie eine Ewigkeit an der Tür warten. Funktionierte die Glocke nicht? Cristi klopfte. »Vielleicht gibt es noch eine andere Tür. Komm, wir gehen ums Haus und sehen nach.« »Nein!«, widersprach Nicholas schrill. »Das können rir nicht tun. Es ist ein Fehler - lass uns fahren.« »Horch.« Eine Stimme rief. Der Türknauf drehte sich ein wenig, aber nicht ganz. Sie starrten ihn ratlos an. Wieder ertönte die Stimme: »Bitte öffnet die Tür und kommt rein.« Als Cristi den Knauf umfasste, spürte sie den leichten Druck einer anderen Hand. Sie schob die Tür vorsichtig auf. Sie hatte Cecil als groß gewachsen in Erinnerung, aber damals war sie selbst ein Kind gewesen. Cristi war vollkommen verwirrt, als sie einer kleinen, knochigen Frau gegenüberstand, die sich in gebeugter Haltung auf zwei Krücken stützte. Dennoch zweifelte sie keinen Moment, dass dies Cecil war. Eine so hinfällige und veränderte Cecil, dass Cristi fast erschrocken nach Luft schnappte. Weißes Haar, hageres Gesicht, das trotz des Make- ups faltig und alt wirkte. Aber sie war Archies Exfrau, und Archie war erst Mitte vierzig! Diese Frau sah aus, als wäre sie mindestens zwanzig Jahre älter als er. Cristi hatte Mühe, ihre Fassung zu bewahren. »Ich muss mich entschuldigen, dass ich euch habe warten lassen. Cristi, wie schön, dich wiederzusehen. Und Nicholas ...« Cecil schien sich ehrlich zu freuen, doch die Worte und ihr Verhalten waren höflich und formell und gaben keinen Hinweis darauf, wie schmerzlich es für sie war, den Namen ihres Sohnes auszusprechen. Bei dieser Versöhnung kommt es nicht zu tränenreichen Umarmungen, war Cristis erster Gedanke. Nun, damit hatte auch niemand gerechnet. Während sie Nichtigkeiten über die Fahrt und den Pub, in dem sie nach dem Weg gefragt hatten, austauschten, betraten sie das Haus. Cristi war wie vor den Kopf gestoßen, als sie die Tür schloss und zur Seite auswich, damit
sich Cecil umdrehen konnte - unvorstellbar, wie Nicholas diese Begegnung empfinden musste! Cristi wandte sich in die Richtung, in die Cecil deutete, und ging zwei Stufen hinunter in einen hellen Raum mit wundervollen Farben, der die ganze Breite des Cottages einnahm. Wenn man aus dem Fenster sah, hatte man den Eindruck, als hinge man hoch über dem funkelnden Wasser. Cristis Künstlerseele reagierte sofort, und sie sog scharf die Luft ein, als sie sich voller Begeisterung umschaute. Doch schon im nächsten Moment nahm sie sich zusammen und ließ Schönheit Schönheit sein. Das musste warten. Sie drehte sich um, nachzusehen, ob Cecil auf den Stufen Unterstützung brauchte. Nicholas blieb unsicher zur ück. Sein Instinkt und seine Erziehung sagten ihm, dass er helfen musste, ein weniger klarer Instinkt riet ihm, es nicht zu tun. Er kam sich wie ein linkischer Tölpel vor; ihm war viel zu heiß in dem Raum, und er wünschte verzweifelt, sie wären nie hierher gekommen. Was hatte er mit dieser älteren Fremden in den eigenartigen Klamotten überhaupt zu schaffen? Cecil trug eine schwarze Samthose und eine mit Perlen bestickte Weste über einer korallenroten Seidenbluse. Sie hatte sie begrüßt, als wären sie irgendwelche Besucher, und Nicholas hatte das dumpfe Gefühl, dass dies alles nur ein böser Traum war, aus dem er bald erleichtert erwachen würde. Als Cecil sich zu dem Sessel tastete, der offenbar ihr Stammplatz war, und sich vorsichtig niederlassen wollte, drehte sie sich unbeholfen zu ihnen um. »Bitte«, meinte sie, als hätte sie nie die Absicht gehabt, so etwas zu äußern, und als redete sie unter Zwang, »ihr dürft nicht denken, dass ich gleichgültig bin, weil ich euch auf diese Weise begrüßt habe. Um ehrlich zu sein, ich kann euch gar nicht sagen, wie viel mir euer Besuch bedeutet, wie dankbar ich euch bin für ...« Ihre Stimme bebte, und sie konnte nicht weitersprechen. Sie stand gebeugt da, hielt beide Krücken unge schickt in einer Hand und fing an zu zittern. Cecil hielt den Kopf gesenkt, aber sie
konnte nicht verbergen, dass die Muskeln in ihrem Gesicht unkontrolliert zuckten. Nicholas, der sich immer noch nicht von der Stelle gerührt hatte, wirbelte zu Cristi herum und flehte sie stumm an. Aber Cristi war schon bei Cecil. »Oh, bitte, Cecil, bitte nicht!« Sie vergaß, dass sie vor kurzem noch den Eindruck gehabt hatte, dass Cecil Hilfe nicht willkommen heißen würde. Dieser Anblick war zu Mitleid erregend. Cristi legte erschrocken die Arme um die gekrümmten Schultern und nahm selbst in diesem furchtbaren Moment wahr, wie zerbrechlich und mager Cecil war. Nicholas trat auch ein paar Schritte vor. Er presste die Zähne zusammen und beobachtete unglücklich die Sze ne. Gern hätte er seine Befangenheit abgeschüttelt, fürchtete jedoch, etwas falsch zu machen. Er hatte Mitleid mit dieser Frau, doch er empfand ganz und gar nicht das, was er empfinden sollte. Wie konnte er sie als seine Mutter ansehen? Plötzlich kamen ihm seine Füße viel zu groß und seine Hände nutzlos vor. Er würde stolpern, Gegenstände umwerfen, etwas kaputtmachen; trotzdem wollte er etwas tun. Aber alles war in einer Sekunde vorbei. Cristi half Cecil sanft in den Sessel, beugte sich über sie und versicherte leise: »Es ist alles gut, Cecil. Wir sind jetzt hier. Wir können uns Zeit lassen. »O Cristi.« Cecil klang, als lachte sie. »Du warst immer liebevoll und großherzig. Daran erinnere ich mich noch gut. Aber du wirst dich nicht mehr an mich erinnern.« Wieder diese Muskelzuckungen. »Du warst damals erst acht oder neun. Warum solltest...?« »Selbstverständlich erinnere ich mich an dich«, fiel Cristi ihr entschieden ins Wort. »Du warst während meines ersten Sommers die ganze Zeit in Drumveyn. Wie könnte ich dich vergessen ?« »O Gott, das ist so lange her!« Cecil legte eine gekrümmte Hand an ihren Kopf. Dann sah sie zu ihrem Sohn auf, als fiele
ihr plötzlich der Zweck des Besuches weder ein und als wäre sie ärgerlich auf sich selbst, weil sie ihn nicht zur obersten Priorität gemacht hatte. Sie hielt tapfer Nicholas' Blick stand. »Nicholas«, bega nn sie, und man hörte, wie sehr sie sich anstrengte, Gleichmut zu bewahren. »Du sollst wissen, wie sehr ich mich freue und wie dankbar ich dir bin, dass du mich sehen wolltest. Bitte, das musst du mir glauben.« Sie streckte die Hand aus, und Nicholas kam mit einem Riesenschritt näher. Er wurde rot und nahm die Hand in seine. Nicholas war so verlegen und unsicher, als hätte ihm jemand ein neugeborenes Baby in die Arme gelegt: überglücklich, dass man ihm etwas so Kostbares anvertraute, aber auch verängstigt, dass er etwas falsch machen könnte. »Es gibt so viel zu sagen.« Cecils Stimme klang rauh. »Viel zu viel. So lange Jahre... Aber fürs Erste möchte ich dir versichern, dass es keinen Tag gab, an dem ich meine Entscheidung von damals nicht bereut habe. Ich beabsichtige nicht, dich mit schrecklichen Tiraden des Bedauerns zu überschütten - das wäre unverzeihlich -, doch eines sollst du wissen: Wenn die Zeit kommt, in der du mir Fragen stellen willst, um besser zu verstehen, was ich damals getan habe, werde ich dir jede einzelne so wahr heitsgemäß, wie es mir möglich ist, beantworten. Ich bin auch heute, jetzt gleich, bereit, über alles zu sprechen, wenn du es möchtest. Allerdings denke ich, wir sollten uns erst ein wenig kennen lernen, bevor wir den Versuch unternehmen.« Für einen qualvollen Moment fehlten Nicholas die Worte. Er war sich bewusst, dass Cristi sofort einspringen würde, fand jedoch, dass es an ihm war, etwas zu erwidern. »Ich wollte dich nur sehen«, brachte er mühsam heraus. »Es ist großartig, dass du mir erlaubt hast herzukommen. Ehrlich. Ich weiß, es ist... Ich meine, es kann sein...« Und plötzlich kamen die Worte, die er aussprechen wollte, wie von selbst, als wäre die reifere, andere Persönlichkeit in ihm zum Leben erwacht, um auf den Schmerz
und die Not zu reagieren. »Ich wollte dir mit diesem Besuch keinen Schmerz bereiten. Es war nur mein Wunsch, dich zu sehen - ein egoistischer Wunsch. Wenn ich dich damit verletzt habe, tut es mir Leid.« Cecils Lippen zitterten. Sie schloss kurz die Augen und blieb regungslos sitzen, als müsste sie all ihre Kräfte sammeln. »Nein, du hast mich nicht verletzt. Ich bin sehr froh, dass du zu mir kommen wolltest. Ich habe das nicht verdient. Und wenn der richtige Zeitpunkt da ist, werden wir über alles reden.« Sie nickte steif und knapp; sie konnte nichts mehr sagen. Die Spannung ließ spürbar nach. Cristi merkte, wie sich ihre Muskeln lockerten, und war sich mit einem Mal bewusst, wie nahe - körperlich nahe - sie sich waren. Drei auf seltsame Weise miteinander verbundene Menschen. Cristi hatte befürchtet, dass sie nie zu diesem Punkt gelangen würden, und dann war alles wie von selbst gegangen, als hätten die Wogen der Gefühle sie zusam- mengespült. Jetzt konnten sie sich frei bewegen, sich hinsetzen, Neuigkeiten von Drumveyn erzählen und Grüße übermitteln. Sie konnten sich ungehindert umsehen, Bemerkungen über das wunderschöne Wohnzimmer machen und sich anhören, wie Cecil das Haus umgebaut hatte und wie stark es den Stürmen vom Meer her ausge setzt war. Nach einer Weile ging Cristi in die Küche, um Kaffee aufzubrühen, und ertappte sich bei dem Gedanken, dass es ganz natürlich war, diese Aufgabe zu übernehmen. Na ja, wir sind fast verwandt, rief sie sich ins Gedächtnis und dachte an ihren ersten Sommer in Drumveyn zurück. Und plötzlich fiel ihr ein, dass Nicholas hier, in diesem fremden Haus, tatsächlich ein Blutsverwandter war. Wie eigenartig. Sie fand in der Küche, was sie brauchte, und betrachtete die exquisite Einrichtung und die geschmackvollen Farben. Aber das war schon immer Cecils Stärke gewesen. Sie hatte auch die Küche in Drumveyn mit den portugiesischen Kacheln und dem leicht gebeizten Eichenholz eingerichtet - Cristi liebte diesen
Raum. Wie wunderbar musste es sein, eine Küche für sich selbst zu entwerfen... im Croft of Ellig. Ein trügerisches Bild entstand vor ihrem geistigen Auge. Aber das war nicht für sie bestimmt. Diese unwillkommenen Gedanken beunruhigten sie. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie seltsam diese Situation war. Im Zimmer nebenan saß Archies erste Frau, Nicho las' Mutter. In gewissem Sinn ein Mitglied der erweiterten Drumveyn-Familie. Cristi lauschte, ob sie Stimmen hörte. Ja, die beiden unterhielten sich. Sie war nicht sicher gewesen, ob Nicholas ihr in die Küche folgen würde, aber obwohl er im ersten Moment wohl den Impuls verspürt hatte, war er sitzen geblieben und hatte sich entschlossen in seinem Sessel zurückgelehnt. Der liebe Nick, er wurde großartig mit allem fertig! Das Feingefühl, das er bewiesen und, wenn auch etwas unbeholfen, zum Ausdruck gebracht hatte, schlug ganz in Archies Art. Cristi hielt inne. Der Vergleich war ihr ganz unwillkürlich eingefallen. Sie war daran gewöhnt, Nicholas als Archies Sohn anzusehen, und er könnte es leicht sein - sowohl was die äußere Erscheinung als auch den Charakter betraf. Die Erziehung und das gute Beispiel hatten Nicholas' Persönlichkeit geformt, aber es war schwer zu glauben, dass es nur das war. Sie brachte das Tablett ins Wohnzimmer und hielt es seitlich, um sehen zu können, wohin sie ihre Füße setzte. Cristi argwöhnte, dass diese beiden Stufen ein Albtraum für Cecil sein mussten. Wie kam sie mit allem zurecht, und warum lebte sie allein in einem so abgelegenen Haus? Cristi stellte diese Fragen so taktvoll wie möglich und war erleichtert zu hören, dass sich die Schwester eines benachbarten Farmers mehr oder weniger den ganzen Tag über um Cecil kümmerte. »Es ist ein Glück für mich«, erklärte sie, und ihr brüs ker Tonfall warnte Cristi, dass Besorgnis nicht willkommen war. »Sie haben die Farm gemeinsam geerbt, und als ihr Bruder heiratete, weigerte sich Olive auszuziehen. Die Frau des Bruders stellte jedoch von Anfang an klar, dass sie der Boss im Haus sein
würde, also beschloss Olive, sich nicht von der Stelle zu rühren. Sie wagt sich nie weit weg, für den Fall, dass ihrer Schwägerin einfällt, sie nicht mehr ins Haus zu lassen. Olive kommt täglich her, weil sie von hier aus nach Hause flitzen kann, wenn es niemand erwartet. Obwohl sie keine festen Zeiten einhält, versorgt sie mich sehr gut. Allerdings ist sie ein wenig habgierig und war gar nicht erfreut, als ich ihr eröffnete, dass ich sie heute nicht brauche.« Cecil erzählte die Geschichte leichthin und in ironischem Ton, aber dann wurde sie wieder trübsinnig, als kämen die Ängste, die sie gequält hatten, zurück. »Ich wusste natürlich nicht, wie ... wie es ablaufen würde.« »Doch wie du siehst, es ist alles bestens.« Cristi störten diese Selbstzweifel. Cecil war immer so sicher aufgetreten und hatte ihre Meinung entschieden geäußert. »Das Schlimmste hast du hinter dir.« »Ja.« Aber das klägliche Lächeln verriet Cristi, was Cecil durchgemacht hatte und vermutlich immer noch durchmachte. »Jedenfalls«, fuhr Cecil vergnügter fort, »hat Olive einen Lunch vorbereitet. Ihr bleibt doch, oder?« »Nein, wirklich, wir wollen dir keine Umstände machen. Wir können genauso gut in den Pub gehen.« »Ich versichere dir, es macht mir gar keine Umstände. Olive und ich haben eine perfekte Arbeitsteilung. Ich schalte die Mikrowelle ein, sie erledigt den Rest.« Cecil sah erst Nicholas, dann Cristi an. »Ich würde mich so sehr freuen, wenn ihr bleiben könntet.« Darauf hatte Cristi gehofft. Nicht auf das von der Farmer-Schwester zubereitete Mittagessen, sondern darauf, dass sie alle ganz natürlich miteinander umge hen und Nicholas und Cecil etwas mehr Zeit miteinander verbringen würden. Cristi hatte vorgeschlagen, Cecil, wenn alles gut verlief, in das komfortable Hotel, das sie in Modbury gefunden hatten, zum Abendessen einzuladen, und Nicholas hatte sich einverstanden
erklärt. Das war aus ersichtlichen Gründen nicht machbar, und das brachte Cristi dazu, trotz Cecils Vorbehalten zu fragen: »Cecil, du hast zwar Olive, die dir zur Hand geht, aber kommst du jemals aus dem Haus?« Nicholas half, den Tisch nach dem Essen abzuräumen, und stellte das Geschirr gerade in die Spülmaschine. Cristi nutzte diese Chance, weil sie sich mehr und mehr darüber Gedanken machte, dass dieses Haus und die Umge bung für Cecil nicht geeignet waren. »Ist es Arthritis? Bitte entschuldige meine direkte Frage, aber man sieht dir an, dass du große Schmerzen hast.« »Ich habe seit Jahren Arthritis.« Cecil zögerte, dann fasste sie einen Entschluss. »Nein, es ist schlimmer - man hat bei mir eine fortschreitende Neuronenparalyse festgestellt.« Cristi rief erschrocken: »O Cecil, nein! Das ist ja furchtbar! Es tut mir Leid.« Cristi hatte schon einmal von dieser seltenen Krankheit gehört und hoffte, dass die Geschichten weit übertrieben gewesen waren. Aber Cecil belehrte sie eines Besseren, als sie rasch und sachlich zusammenfasste, dass den ersten Symptomen wie Konzentrationsschwäche rasch die Lähmung verschiedener Muskelgruppen folgte, und schließlich würden die Atemorgane aussetzen. Cristi starrte sie fassungslos an. »Aber du ... es gibt doch sicher eine Therapie ...« »Nein, diese Krankheit ist unheilbar. Man kann nur den allgemeinen Gesundheitszustand stärken.« Sie fügte nicht hinzu, dass man nach der Diagnosestellung höchstens noch eine Lebenserwartung von sechs oder sieben Jahren hatte. »Aber, Cecil, du lebst hier ...« Plötzlich erschien Cristi das Cottage wie ein Gefängnis. Cecil konnte nicht Auto fahren, sie konnte nicht gehen, sie konnte nicht im Garten arbeiten. Und was noch entscheidender war, sie konnte nicht mehr arbeiten und Erfüllung in der Kreativität finden, die ihrem Leben in der
Vergangenheit Bedeutung verliehen hatte. Nicholas kam wieder herein. »Ich habe die Reste in den Kühlschrank gestellt«, berichtete er. »Nur den Käse habe ich in die Speisekammer geräumt. Ist das recht so?« »Was bist du doch für ein außergewöhnlich gut erzoge ner junger Mann«, lobte Cecil und bedankte sich mit einem Lächeln bei ihm. Cristi schluckte schwer. Ich weiß nicht, ob ich das überstehe, dachte sie in Panik. Als hätte Cecil ihre Gedanken gelesen, meinte sie : »Aber ihr habt ja noch nicht viel von meinem Haus gesehen. Ich würde euch gern mein Atelier zeigen. Ich kann euch allerdings nur in sehr gemäßigtem Tempo herumführen. Aber wenn ihr euch lieber allein umschauen wollt, dann bitte.« »Unsinn, natürlich möchten wir, dass du uns alles zeigst.« Aber das Atelier war kein Ort, an dem man Ruhe fand. Überall standen Beweise eines eindrucksvollen Talentes und lebhafter künstlerischer Vorstellungskraft herum, das für immer ungenutzt bleiben würde. »Als ich nach Devo n kam, hatte ich erst eine Wohnung in Plymouth. Aber dort war es schmutzig und von Touristen überschwemmt, dass ich mich hierher zurückzog. Vielleicht war das letzten Endes gar nicht so klug. Abge sehen von den praktischen Problemen, kommt man hier nicht oft unter die Leute.« In diesen kühlen Feststellungen erkannte Cristi die alte Cecil wieder, aber jetzt war die Schärfe durch die nüchterne Erkenntnis gemildert, zu viele falsche Entscheidungen getroffen zu haben. Heute war jedoch nicht die passende Gelege nheit, eine Diskussion über die Zukunft anzufangen. Nach dem Abschied war Cristi nur froh, dass der erste Kontakt hergestellt war. »Alles in Ordnung?«, fragte sie Nicholas. Sie erwartete das übliche »Alles bestens« oder »Prima«, aber zu ihrem Erstaunen ha tte Nicholas das Bedürfnis, ihr sein Herz
auszuschütten. Er redete auf der ganzen Fahrt bis zum Hotel über das Haus, über Cecils Bilder, die ihn sehr beeindruckt hatten, und über ihren Gesund heitszustand. Auch ihn beschäftigte die Frage, wie sie in dieser Abgeschiedenheit zurechtkam, aber Cristi verschwieg ihm noch, was Cecil ihr anvertraut hatte. Außerdem wollte Nicholas all die alten Geschichten hören und alles, woran sich Cristi aus dem Sommer, in dem er auf die Welt gekommen war, noch erinnern konnte. Cristi war sehr bewegt, als er versuchte, ihr zu erklären, wie erleichtert er war, dass die dunklen Schatten, die ihm das Leben schwer gemacht hatten, für immer vertrie ben waren.
32. Kapitel Archie und Pauly lagen nah nebeneinander in dem großen Bett. Nicht in dem Ehebett, in dem Archies Eltern streng getrennt voneinander geschlafen hatten. Pauly schmiegte sich an Archie, der lächelnd versuchte, die Haarsträhne zwischen seiner Wange und ihrer Stirn wegzuschieben. Er hatte gedacht, dass Pauly schlief, doch sie murmelte: »Entschuldige«, hob den Kopf und schleuderte verschlafen die Mähne auf die Seite, so dass die Haare ihn nicht mehr störten, dann sank sie wieder auf seine Schulter. Gut, dass ich einigermaßen kräftig gebaut bin, dachte Archie. Einen schmächtigeren Kerl würde sie glatt erdrücken. Entweder drangen seine humorigen Gedanken oder sein Wachsein zu Pauly durch, denn sie kämpfte dagegen an, wieder einzudösen. »Bist du okay?« »Ich denke nach.« Sie stützte sich auf den Ellbogen und beugte sich über ihn. »Worüber?« »Süße, leg dich wieder hin«, entgegnete er. »Du kannst mein Gesicht in der Dunkelheit sowieso nicht sehen.« »Ich weiß, doch es gibt mir das Gefühl, Interesse zu zeigen. Und es hält mich wach. Nein, aber im Ernst machst du dir immer
noch Sorgen um Nicholas?« »Ich fühle mich so verdammt schuldig. Ich hätte sehen müssen, was in ihm vorgeht. Und ich kann nicht glauben, dass ich diese Fahrt zu Cecil zugelassen habe, selbst wenn Cristi dabei ist und sich um Nick kümmern kann. Er ist viel zu jung, um mit solchen Dingen fertig zu werden.« »Red darüber, wenn du so beunruhigt bist.« Pauly legte sich wieder hin, aber diesmal auf den Rücken. »Ach, das meiste hast du schon gehört. Jedenfalls drehen sich meine Gedanken im Kreis.« »Aber du hast nur einen Teil davon ausgesprochen, stimmts? Ich meine, du warst erschüttert, weil Nicholas glaubte, dass das Baby - insbesondere wenn es ein Junge wird - seine Zukunft und alles andere verändern würde. Doch diese Angst haben wir ihm genommen, oder nicht?« Für Pauly schien dieser Punkt damit erledigt zu sein. Archie grinste trotz seiner inneren Unruhe. Er wusste, dass sie ihr Bestes tat. »Es war niederschmetternd, das musst du doch zuge ben«, protestierte er. »Dass wir so blind und selbstzufrie den waren, meine ich. Es war ganz natürlich, dass Nicho las solche Bedenken hatte, auch wenn sie uns lächerlich erschienen.« Es kam ihnen beiden nicht in den Sinn, dass Pauly, die keine Blutsbande mit Nicholas verbanden, diese Sache durchaus auch anders hätte sehen können oder sogar jedes Recht hätte, ihr eigenes Kind als Archies legitimen Erben zu betrachten. »Schön«, sagte sie. »Lass uns Licht machen.« Sie drehte sich zur Seite, um ihren Vorschlag in die Tat umzusetzen. Archie liebte sie in solchen Momenten, wenn sie erkannte, dass ihre normale Art, die Probleme zu übergehen und einfach die nächste Aufgabe anzupacken, nicht fruchtete, und sie sich darauf vorbereitete, »tiefschürfend zu werden«, wie sie es nannte. »Okay, wir haben das geregelt«, begann sie und legte sich
bequem hin. »Du hast die Sache mit Nicholas geklärt, und ich habe mit ihm gesprochen, genau wie Madeleine. Ich bin sicher, dass er sich deswegen keine Sorgen mehr macht. Ich weiß, dass dich sein plötzlicher Drang, Cecil zu sehen, beunruhigt, doch da ist noch etwas anderes, hab ich Recht ? Was verschweigst du mir? Was lässt dich nicht schlafen?« Archie zögerte und fuhr mit den Fingern durch ihr dichtes Haar. »Es erscheint mir nicht fair, mit dir über Cecil zu sprechen.« »Nun ja, ich kann nachvollziehen, dass du so denkst«, räumte Pauly ein. »Aber mir macht es nichts aus. Immerhin war sie noch deine Frau, als ich zu euch ins Haus kam. Ihr beide wart für mich damals ein echtes Ehepaar. Es wäre albern, wenn es mich jetzt stören würde, dich über sie reden zu hören.« »Wir waren wohl kaum ein richtiges Ehepaar.« Archie machte ein grimmiges Gesicht, als er an diese Zeit zurückdachte. »Wir hatten uns schon meilenweit voneinander entfernt und hatten vollkommen verschiedene Vorstellungen vom Leben, von dem, was wir aus Drumveyn machen wollten, und von dem Baby.« »Sie war so schön.« Pauly verfolgte ihre eigenen Erinnerungen. Ihr war Cecil umwerfend schön und selbstbewusst vorgekommen. »Das war sie«, stimmte ihr Archie zu. Er zog den Kopf zurück, um Pauly ins Gesicht zu sehen. »Aber bildest du dir vielleicht ein, dass sich diese kühle, gepflegte Schönheit mit deinem warmherzigen, sexy Liebreiz vergleichen lässt? Und jetzt, da du schwanger bist, bist du sogar noch schöner, und ich liebe dich jeden Tag mehr.« Die Unterhaltung wäre beinahe im Sande verlaufen, doch wenn sich Pauly einmal entschlossen hatte, einer Sache auf den Grund zu gehen, dann ließ sie sich nicht mehr so leicht davon abbringen. »Das ist ja alles sehr nett, danke. Aber zurück zu Cecil. Du hast sie geliebt.«
»Ja«, erwiderte Archie ruhig. »Doch du denkst darüber nach, wie sie sich Nicholas gegenüber verhält.« Archie lächelte und zog Pauly an sich. Sie hielt sich für eine oberflächliche Person, die nur etwas taugte, wenn es ums Kochen, ums Heftpflaster-Aufkleben und Tränen-Trocknen ging, aber sie war klug und ging die Probleme mit absoluter Aufrichtigkeit und furchtlos an. Sie hatte mit ihrer Vermutung genau ins Schwarze getroffen. »Ich kann es selbst nicht glauben, dass ich ihn solchen Risiken ausgesetzt habe; immerhin wäre es denkbar, dass sie ihn schroff abweist oder auf eine Weise mit ihm umgeht, die er nicht versteht. Er ist so offen und direkt. Cecil kennt ihn nicht und hat wahrscheinlich keine Ahnung, was sie mit ihm anfangen soll. Mir wird schrecklich angst, wenn ich mir vorstelle, dass er Opfer eines ihrer emotionalen Ausbrüche wird. Ich hätte selbst mit ihm hinfahren und aufpassen müssen, dass er nicht verletzt wird.« »Nein, wir waren uns einig, dass das nicht gut gewesen wäre. Cristi war genau die Richtige für diese Aufgabe. Sie kann viel eher als wir nachvollziehen, was er durchmacht, vergiss das nicht.« »Ich weiß«, stöhnte Archie. »Und das ist ein anderes Problem, mit dem ich mich herumschlage. Cristi schweigt sich über diese Angelegenheit in Brasilien aus. Und ich hatte keine Zeit, mit ihr darüber zu reden und herauszufinden, was sie vorhat.« »Ich weiß. Ich habe mir auch schon Gedanken deswegen gemacht. Irgendwie hat sie den Elan verloren, und das ist so ganz und gar nicht typisch für sie. Aber in den Weihnachtstagen war so viel Trubel. Jedenfalls«, kam Pauly auf das ursprüngliche Thema zurück, weil die Nacht nicht mehr lang war, »wenn du Nicholas begleitet hättest, wäre er wahrscheinlich sehr gehemmt und unfrei gewesen. Wie sollte er Cecil kennen lernen, wenn du dabei bist?«
»Du hast Recht«, gab Archie resigniert zurück. »Aber Cecil kann eiskalt sein. Es fällt ihr unglaublich schwer, nett und herzlich zu den Menschen zu sein. Sie schien sich immer aus allem, was vor sich ging, rauszuhalten, um keinen Schaden zu nehmen! Und ich will verdammt sein, wenn ich jemals wusste, ob sie ehrlich etwas mit mir zu tun haben wollte oder nicht.« Pauly fühlte sich nicht berufen, dazu einen Kommentar abzugeben. »Ich frage mich, warum sie in Devon gelandet ist«, bemerkte sie statt dessen. »Ich hätte sie eher in London, Paris, Venedig oder Rom vermutet.« »Das ist mir auch ein Rätsel.« Die Vorstellung von Cecil in einer ländlichen Gegend hatte ihn schmerzlich an ihre Verachtung für Drumveyn und den Lebensstil auf dem Gut erinnert. Sie hatte nur während ihrer Schwangerschaft hier gelebt, als sie ihre Arbeit ohnehin hätte aufgeben müssen. Die Luft war hier gesünder als die in London, und außerdem hatte sie das Gut, das Archie erst kürzlich geerbt hatte, als »geeigneten« Ort angesehen, um ihr Kind großzuziehen. Sie hatte alles genau durchdacht. Nichts war spontan gewesen. Archie zwang sich in die Gegenwart zur ück, schmiegte sein Gesicht an Paulys Hals und legte eine Hand auf ihre schwellende Brust. Von ihr bekam er Wärme und Liebe im Überfluss. Und diese wunderbare Frau würde bald sein Kind zur Welt bringen. Er war der glücklichste Mann auf Erden. Cecil lag wach im Bett und lauschte dem Wind, der gegen ihr Fenster peitschte. Sie achtete darauf, ihren ausgezehrten Körper in der Position zu halten, die ihr am wenigsten Schmerzen bereitete, doch sie wusste, dass sie keinen Schlaf finden würde. Nachdem Cristi und Nicholas sie am Nachmittag verlassen hatten, hatte sie stundenlang bewegungslos in ihrem großen Sessel gesessen und ihre Gedanken auf eine lange, traurige Reise geschickt. Noch jetzt spulten sich längst vergangene Szenen und Gespräche in ihrem Kopf ab. All die Jahre hatte sie sich abseits des Lebens gehalten, das
andere führten; das war das traurige Fazit. Die wechselnden Beziehungen der Erwachsenen während ihrer Kindheit hatten aus ihr einen Menschen ohne Wurzeln, einen emotionalen Krüppel gemacht. Und jetzt war sie auch ein physischer Krüppel. Aber dem hatte sie sich gestellt, und schon bald würde sie mit den Veränderungen fertig werden, die ihr die Krankheit aufzwangen. Sie wür de sich in das Unvermeidliche fügen, ihre letzte Zuflucht verlassen und sich an die gefürchtete Nähe von Fremden gewöhnen. Das ließ sie auf sich zukommen. Doch es war gegenwärtig nicht ihre größte Sorge. In den langen Stunden dieser Winternacht beschäftigte sie eine andere Entscheidung - anders, weil damit der wichtigste Teil dieser alten Geschichte, die vor so langer Zeit begonnen hatte, abge schlossen wurde. Das letzte Kapitel musste geschrieben werden, und nur sie konnte das tun. Das Buch schließen. Zumindest für sie, aber vielleicht nicht für Nicholas. Merkwürdig, dass der Junge gerade jetzt Kontakt zu ihr aufgenommen hatte, da sie drauf und dran gewesen war, selbst die Initiative zu ergreifen, obwohl sie Zweifel geplagt hatten. Und jetzt hatte sie ihn gesehen. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, als sie an den groß gewachsenen, offenen, gut aussehenden Jungen dachte, an seinen aufrichtigen Blick, seine Anständigkeit und die einfühlsame und großherzige Art, wie er mit einer Situa tion fertig geworden war, der kein Junge seines Alters ausgesetzt sein sollte. Ihr Sohn. Zum ersten Mal enthielten diese Worte Realität. Cecil weinte. Cristi rief, wie versprochen, nach dem Frühstück an. Cecil und sie waren gestern übereingekommen, dass es klüger war, erst einmal abzuwarten, bis sich die Erfahrungen dieses ersten Treffens gesetzt hatten, bevor sie das nächste planten. Aber Cristi war überzeugt, dass Nicholas noch einmal zu ihr fahren wollte. Diese Neuigkeit erfüllte Cecil mit demütiger Freude und
Dankbarkeit. So schön das gestrige Zusammensein mit Nicholas auch gewesen war - schöner, als sie es verdient oder zu hoffen gewagt hatte -, so sehr hatte es sie gequält. Sie wäre nicht überrascht gewesen, wenn Nicholas genug von den gezügelten Emotionen gehabt hätte. Immerhin hatte er erreicht, was er wollte. Er hatte sie getroffen, gesehen, wie sie lebte und den Kontakt geknüpft. Nachdem sich Cecil vergewissert hatte, dass Cristi allein am Telefon war, nutzte sie die Chance, um einige Dinge zu klären. »Ich habe solche Angst, dass ich einen Fehler mache«, gestand sie. »Ich muss wissen, was man ihm erzählt hat.« »Die Wahrheit.« Cristis Stimme klang ein wenig überrascht, enthielt aber keinen kritischen Unterton, und das brachte Cecil mehr als alles andere in die Vergangenheit, in die Zeit ihrer Ehe, zurück. Natürlich. Archie konnte gar nicht anders. Trotzdem war es ungeheuer wichtig, spezielle Fakten klarzustellen, und Cecil bohrte weiter: »Also weiß er, dass Archie nicht sein leiblicher Vater ist?« »Selbstverständlich. Als Peta und Josie adoptiert wur den, haben Pauly und Archie entschieden, dass sie absolut offen zu den Kindern sein müssen.« »Sie wissen, dass Archie...?« Cecil zögerte. Cristi war damals noch ein Kind gewesen. Sie war eine andere Gene ration. Es erschien Cecil unpassend, ihr eine solche Frage zu stellen. »Dass Archie Probleme hat, eigene Kinder zu zeugen? Das hat man ihnen erklärt. Und Archie hatte das Gefühl, dass Nicholas alt genug ist, um zu erfahren, dass du... lieber ein eigenes Kind haben wolltest als ein adoptiertes.« »Richtig«, stimmte Cecil zu. Die liebe Cristi und ihr Taktgefühl! Und auch Archie hatte seine Sache gut gemacht und ihr wieder einmal den Weg geebnet. »Aber hör mal, Cecil«, sagte Cristi hastig. »Ich wollte mit dir reden, ohne dass Nicholas mithört. Ich habe ihn zum Einkaufen geschickt. Ich weiß, dass er gestern nichts anderes im Kopf hatte
als dieses Treffen mit dir, und es hat ihm sehr viel bedeutet, doch es steckt noch mehr dahinter. Es gab einen Auslöser für seinen Entschluss, dich zu finden.« »Was?«, fragte Cecil scharf, die mit den Gedanken bei ihrer eigenen Entscheidung war. »Pauly erwartet ein Baby.« »Was?« Cecil war selbst erstaunt, welche Gefühle diese Neuigkeit freisetzte: Ungläubigkeit, Widerwillen, brennende Eifersucht auf Pauly und den Schmerz, etwas verloren zu haben, was einmal in ihrer Reichweite gewesen war, das sie aber so achtlos weggeworfen hatte. »Pauly ist schwanger?« Es kostete sie eine große Anstrengung, einen normalen Ton anzuschlagen. »Davon hast du mir gestern gar nichts erzählt.« Es entstand eine winzige Pause, bevor Cristi antwortete: »Gestern stand etwas anderes im Vordergrund, nicht?« »Ist es Archies Baby?« »Ja.« Cecils Gehirn hatte, nachdem es den ersten Schock verkraftet hatte, Mühe, Schlussfolgerungen zu ziehen. »Das ist der wahre Grund, warum Nicholas mich finden wollte, nicht?« »Nein, wie ich schon sagte, es war nur der Auslöser. Er hat schon lange darüber nachgedacht, seit meiner Abreise nach Brasilien. Ich habe dort meine Familie gesehen und so weiter.« Cecil hatte gestern von dem Fonseca-Erbe und Cristis Reise gehört, doch Cristi hatte nichts von den Hoffnungen erzählt, die sie damit verknüpft hatte und die letzten Endes zerstört worden waren. »Warte, Nick ist wieder da«, bemerkte Cristi. »Wir haben keine Zeit ausgemacht. Wann würde es dir passen?« Cecil lehnte in ihrem großen Sessel, und die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf. Manchmal konnte sie nicht unterscheiden, welches Gespräch tatsächlich stattgefunden und
welches sie nur im Geiste geführt hatte. Warum war es ein solcher Schlag für sie, dass Pauly ein Kind von Archie bekam? Sie sollte sich für die beiden freuen. Das tat sie ja auch, aber dennoch war da das bittere, nagende Gefühl, einen Verlust erlitten zu haben. Doch allmählich wurde ihr klar, dass nichts besser in ihre Pläne passen könnte. Diese unerwartete Neuigkeit hatte Nicholas einen inneren Aufruhr beschert und verunsichert, und sie war der einzige Mensch auf der Welt, der diesen Schock ausgleichen konnte. Der Augenblick war nahe. Bald würde sie das letzte Geheimnis lüften, das nur sie und eine einzige andere Person kannten. Und Nicholas die Wahrheit enthüllen, auf die er ein Anrecht hatte, die Wahrheit, die wahrscheinlich sein ganzes Leben verändern würde. Sie zu verschweigen, würde bedeuten, ihm etwas vorzuenthalten, was er haben sollte; sie ihm zu erzählen, konnte ihn nur bereichern. Sie, Cecil, war die Einzige, die ihm das geben konnte, und sie verschaffte sich damit, bevor es zu spät dafür war, Zugang zu der mysteriösen, heiß ersehnten Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen, in der die anderen lebten. Als der kleine Wagen in der Dämmerung losfuhr, wusste Cecil, dass sie nie einsamer gewesen war als jetzt und dass sich daran auch nichts mehr ändern würde. Aber trotz dieser traurigen Erkenntnis war ihr klar, dass sie das Richtige getan hatte. Das stand außer Frage. Sie hatte rechtzeitig eingesehen, dass Nicholas das Einzige war, was jetzt noch zählte. Bis zu dem Moment, in dem sie ihn wiedergesehen hatte, war sie sich so sicher gewesen. Es war sein absolutes Recht zu erfahren, dass sie private Arrangements getroffen hatte, nachdem Archie und sie sich einig geworden waren - nein, nachdem sie Archie überredet hatte -, dass sie sich mit einem Spendersamen befruchten lassen sollte.
Sie hatte immer die Perfektion angestrebt und hart dafür gearbeitet, und sie war überzeugt gewesen, dass man diese Perfektion erreichen konnte. Das war eines ihrer bedeutendsten Eigenschaften und gleichzeitig ihr größter Fehler gewesen. Jedenfalls hatte sie Archie nichts von der Verfeinerung des ursprünglichen Plans gesagt. Wie schön wäre es jetzt, zurückblicken und sagen zu können, dass sie es um Archies willen getan hatte, aber das stimmte nicht- sie hatte es getan, weil sie die Kontrolle über die Geschehnisse hatte behalten wollen. Eine unerfreuliche Wahrheit, doch es hatte keinen Sinn mehr, den Tatsachen auszuweichen. Sie hatte sich den Samenspender selbst ausgesucht. Sie hatte sich für jemanden mit guter Figur, gutem Aussehen und guter Herkunft entschieden. Einen intelligenten, ambitionierten Mann, einen Höhenflieger. Da er ein langjähriger Verehrer von ihr gewesen war, hatte sie ihn nicht lange zu überreden brauchen. Heute war er eine bekannte Persönlichkeit, jemand, auf den Nicholas stolz sein könnte. Ein wunderbares Geschenk, ja, und es lag in ihrer Macht, es ihm zu geben. Aber zum Glück war ihr in letzter Minute die Gnade beschieden, über die materiellen Vorteile hinauszusehen. Als sie in Nicholas' ehrliche Augen gesehen und seinen Eifer, sie besser kennen zu lernen, erlebt hatte, der mit einer entzückenden Schüchternheit einherging, hatte sie rechtzeitig erkannt, wie verletzlich und arglos er war. Als hätte sich ein Vorhang in ihrem Kopf gehoben, war ihr bewusst geworden, welchen Schaden die Enthüllung eines solchen Geheimnisses anrichten könnte. Sie würde einen Stein ins Wasser werfen, und die Wellen würden immer größere Kreise beschreiben, die in andere Leben hineinschwappen könnten. Cecil hatte im letzten Moment entdeckt, dass sie um ihretwillen, nicht zum Besten ihres Sohnes die Wahrheit loswerden wollte. Diese Information hätte ihm nichts als Verwirrung und Schmerz bereitet und die Fundamente seines
Daseins erschüt tert. Er hatte die Tatsachen akzeptiert, so wie Archie sie ihm dargelegt hatte, und das allein war sehr beachtlich für einen Jungen seines Alters. Sie konnte ihm kein größeres Geschenk machen, als ihn in seinem Glauben zu lassen und seine sichere und liebevolle Umgebung nicht durcheinander zu bringen, nachdem er Verbindung zu ihr aufgenommen hatte, was ihm so viel bedeutet hatte. Cecil schämte sich, dass sie auch nur einen Augenblick etwas anderes vorgehabt hatte. Nicholas würde es am meisten nützen, wenn das Geheimnis mit ihr starb. Er brauchte diese Wahrheit nicht. Er hatte einen Vater. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als ihr aufging, was die Enthüllung für Archie bedeutet hätte. Als das Haus ganz still war, beschlich sie ein unbekanntes Gefühl. Sie hatte die größte Trumpfkarte, die sie in der Hand gehabt hatte, weggeworfen. Dabei hatte sie immer gedacht, mit dieser Karte Nicholas' Zuneigung für sich gewinnen und sich selbst einen Platz in seinem Leben verschaffen zu können. Aber sie hatte das Opfer ihm zuliebe gebracht, das tröstete sie ungemein. Es half ihr ein wenig, als sie den schmerzhaften Weg über die Stufen in das leere Wohnzimmer zurücklegte.
33. Kapitel Es war Zeit zu gehen. Es gab keinen Vorwand mehr, die Sache hinauszuzögern, das wusste Cristi. Bei ihren Wanderungen und Ausritten im Glen, bei denen sie sich bewusst die Besonderheiten der Landschaft einprägte, dachte sie oft an Luis, an die Ranch und die brennende Sommerhitze. Bilder von sonnen beschienenem Weideland, die von Bergen umringte Schönheit der Guanabara Bay und die freundliche Stadt Porto Allegre, in der sie sich so zu Hause gefühlt hatte. Dougal, der ganz nahe im Croft of Ellig wohnte, schien in eine andere Welt entschwunden zu sein.
Nicholas, Peta und Josie waren wieder in der Schule. Es war unmöglich, sie noch länger unter dem Begriff »die Kinder« zusammenzufassen. Cristi war immer noch beeindruckt von dem Mut und der Reife, mit der Nicho las den Besuch in Devon gemeistert hatte. Sie war froh gewesen, dass sie so eine lange Heimfahrt gehabt hatten. Nicholas war nach langem nachdenklichem Schweigen im Stande gewesen, sich alles von der Seele zu reden, und sprach Dinge aus, die er Archie und Pauly oder sonst jemandem gegenüber nie äußern könnte. Und Cristi war sich sicher, dass sie ihm geholfen hatte. Zu Hause überließ er es hauptsächlich Cristi, Cecils Lebensumstände, ihr isoliertes Dasein, ihr verändertes Aussehen und die Art, wie sie sie empfangen hatte, zu beschreiben. Cristi konnte im Gegensatz zu Nicholas offen darüber reden, ohne sich zu ängstigen, wie die anderen es aufnehmen würden. Von Pauly war keine Eifersucht auf Archies frühere Frau zu befürchten - sie dachte nicht in diesen Kategorien. Und Archie verbarg seine Bestürzung über Cecils gegenwärtigen Zustand nicht. Auch Madeleine und Tom waren sehr betroffen, als sie die traurige Geschichte hörten. Alle waren der Ansicht, es sei richtig gewesen, dass Nicholas bei Cecil gewesen war, und Cristi - die sich in diesen Tagen erst richtig bewusst wurde, wie viel die Werte und die Einstellung bedeuteten, mit denen sie aufgewachsen war - rührten die Toleranz und das Mitgefühl zutiefst. Sie erzählte Archie und Pauly in einem vertraulichen Gespräch von Cecils Krankheit und der Prognose. »Ich habe Nicholas nichts von all dem gesagt. Ich dachte, es wäre zu viel für ihn, wenn er alles auf einmal erfährt.« »Du hattest Recht«, erklärte Archie. »Ich werde es ihm beibringen, wenn der richtige Zeitpunkt da ist. Im Moment wäre es sehr schwer für ihn, wenn er wüsste, dass seine Mutter nicht
mehr lange am Leben bleibt, nachdem er sie gerade erst gefunden hat. Arme alte Cecil, für sie scheint nie etwas leicht zu sein.« Cristi bewunderte die Selbstverständlichkeit, mit der alle, ohne ein Wort zu sagen, voraussetzten, dass die Verbindung zu Cecil nicht mehr abbrechen durfte, und sie war dankbar für Archies Vernunft und Hilfsbereitschaft. Ansonsten war Cristi so in ihre eigenen Probleme vertieft der Tag, an dem sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen musste, rückte immer näher -, dass sie von den Diskussionen der anderen, wie und ob man Cecil überhaupt helfen könnte, nichts mitbekam. Es herrschte die allgemeine Ansicht vor, dass man ihr Zeit und sie ganz allein zu einer Entscheidung kommen lassen sollte. Das Haus erfasste eine unnatürliche Stille in den ersten Tagen des neuen Jahres, und nach den Schneefällen war der Glen im Frost erstarrt. Nur Broy kam nicht zur Ruhe und lief treppauf, treppab, um in den leeren Zimmern herumzuschnüffeln und zu suchen. Nach seinen Rund gängen setzte er sich vor Pauly hin, betrachtete sie mit traurigen Augen und winselte leise. Dann nahm Pauly ihn auf den Arm, knuddelte ihn und sagte: »Mir ist auch danach zu Mute, mich auf ihren Betten zusammenzurollen und ein bisschen zu heulen. Es ist furchtbar, wenn sie in der Schule sind. Und es wird mit jedem Mal schlimmer.« »Du wirst bald wieder alle hier haben«, tröstete Cristi sie und legte eine Hand auf ihren festen Bauch. Pauly hielt die Hand fest, und sie standen eine ganze Weile schweigend mit gebeugten Köpfen da. Cristi liebte diese zärtlichen, vertrauten Momente und dachte an das kleine Wesen, das sich in der Geborgenheit entwickelte - ein Teil von Pauly und Archie - und das ihnen allen lieb und kostbar sein würde. »Du weißt, dass ich wieder wegmuss, nicht?« Cristi nutzte
den Augenblick der Nähe. Sie hatte den Flug bereits gebucht, aber es war ihr schwer gefallen, darüber zu sprechen. »Ja, das ist uns allen klar«, erwiderte Pauly ruhig. Sie wartete, in der Hoffnung, dass Cristi mehr sagen würde. »So viele Dinge sind noch nicht geregelt«, versuchte sie es noch einmal. Cristi nickte. »Aber wir wollen nicht, dass du weggehst.« Pauly konnte sich den klagenden Ton nicht verkneifen. Sie setzte Broy auf den Boden, um ihre Arme um Cristi zu schlingen. »Besonders jetzt nicht. Ich weiß, es ist selbstsüchtig, doch ich würde mir so sehr wünschen, dass du hier bist, wenn ...« Pauly erinnerte sich an Archies Ermahnung, Cristi das Gefühl zu geben, dass sie nach eigenem Gutdünken kommen und gehen konnte, und redete nicht weiter. Mit ähnlicher Selbstbeherrschung versagte es sich Archie, als er von Cristis Reiseplänen erfuhr, sich zu erkundigen, ob sie zu einer Entscheidung gekommen sei. Es schmerzte ihn, dass es etwas gab, worüber sie nicht mit ihnen sprechen konnte, denn normalerweise erzählte Cristi bereitwillig und begeistert von allem, was sie gesehen und unternommen hatte. Ihre gegenwärtige Introvertiertheit bereitete ihm Sorgen und erinnerte ihn an die schwierige Zeit während ihres ersten Semesters an der Universität. Aber er respektierte ihre Zurückhaltung und stellte ihr keine Fragen. Es war nicht zu übersehen, dass die Erlebnisse in Brasilien einen starken Einfluss auf sie ausübten, und obwohl es ihn sehr beunruhigte, dass sie sich ihm nicht in vollem Umfang mitteilte, war ihm klar, dass nur sie allein die Probleme lösen konnte, die sie dort hatte. Cristi redete in den Tagen vor ihrer Abreise ein wenig mit Tom und Madeleine - in den Tagen, in denen alles in der Schwebe zu hängen schien, als hätte sie den Kontakt zu Drumveyn schon verloren und als wäre alles, womit sie sich in der Ferne befassen musste, unwirklich. »Ihr fragt euch, was eigentlich vor sich geht, das weiß ich«,
bemerkte sie bei einem Mittagessen in der alten Scheune. Es war höchste Zeit, diesen Punkt anzusprechen. So viel war sie ihnen schuldig. Vor ein paar Minuten hatte Tom eine beiläufige Bemerkung über Tres Pinheiros gemacht, aber rasch wieder das Thema gewechselt. Sie sollten nicht wie die Katze um den heißen Brei schleichen müssen. »Ich möchte euch nicht aus allem ausschließen«, fiel sie, ohne es zu registrieren, Tom ins Wort, der gerade etwas erwidern wollte. »Das ist es nicht.« Sie sah erst Tom, dann Madeleine so flehentlich an, dass es ihnen ans Herz ging. Sie fühlten sich hilfloser denn je. »Ich muss einige Dinge regeln oder besser, ich muss mir erst einmal über mich selbst Klarheit verschaffen. Ich habe in Brasilien so viel... Na ja, es war ziemlich überwältigend, und ich glaube nicht, dass ich damit fertig geworden bin, zumindest nicht sehr gut.« Sie nickten verständnisvoll, wünschten sehnlichst, sie könnten etwas für sie tun, ahnten jedoch, dass sie nicht viel bewegen würden. »Ich finde, du bist ungeheuer mutig und tapfer«, erklärte Madeleine. »Schon, dass du dich ganz allein dorthin gewagt hast. Es muss schwer gewesen sein, sich zurechtzufinden und zu begreifen, dass du dort wie hier deine Wurzeln hast. Es sind zwei verschiedene Welten, nicht nur was die Entfernung angeht.« Madeleine warf Tom einen fragenden Blick zu; sie hoffte nur, dass sie nicht das Falsche gesagt hatte, aber ein kaum merkliches Nicken von ihm beschwichtigte ihre Angst. Als sie fort fuhr, hörte man ihr an, wie gern sie Trost spenden würde. »Das wäre für jeden schwierig. Für mich ganz bestimmt. Aber die Hauptsache ist, dass du nie vergisst«, sie nahm sich zusammen und achtete darauf,dass ihre Stimme nicht ins Schwanken geriet, »dass wir immer für dich da sind, was auch geschieht. Wir lieben dich sehr.« Pauly äußerte an Cristis letztem Abend zu Hause in etwa
dasselbe, als sie in ihrem voluminösen viktorianischen Nachthemd, das sie in irgendeinem Schrank gefunden hatte, in Cristis Zimmer kam. Wie sie sagte, fand sie es ungeheuer beruhigend, dick sein zu dürfen. Archie hasste dieses Nachthemd und zog es ihr bei jeder Gelegenheit aus. Er erklärte, dass man nicht von ihm erwarten könnte, mit seiner eigenen Großmutter das Bett zu teilen. »O Cristi, ich hasse das«, rief Pauly und verzog das Gesicht, als sie die gepackten Koffer anschaute. »Ja, aber bitte fang nicht davon an«, entgegnete Cristi knapp. »Das hilft niemandem weiter.« »Ich weiß. Und ich höre auch schon auf. Aber trotzdem möchte ich dir was sagen.« »Solange es etwas ist, was dich nicht zum Weinen bringt. Du weißt, wie du bist, und ich glaube nicht, dass ich Tränen verkraften könnte.« »Natürlich fange ich nicht an zu heulen. Was denkst du von mir? Wenigstens bemühe ich mich, es nicht zu tun. Es ist nur ich muss ganz sichergehen, dass du eines weißt: Dies hier ist dein Zuhause. Dein wirkliches Zuhause für immer und ewig, das dir niemals jemand nehmen kann. Das weißt du doch, oder? Du kommst nicht auf so komische Ideen wie Nicholas, dass du nicht wirklich zur Familie gehörst und so - zum Glück scheint er sich diesen Unsinn inzwischen aus dem Kopf geschlagen zu haben. Ich könnte das einfach nicht ertragen.« »O Pauly.« Cristi stand auf und ging auf sie zu. »Pauly, nicht.« »Nein, ich habe Archie geschworen, dass ich nicht weine. Aber ich musste noch mal zu dir gehen. Ich kann dich nicht abfahren lassen, ohne dich daran zu erinnern.« Sie umarmten sich, und diese Liebkosung sagte alles. Cristi flog ohne Zwischenstopp in Rio nach Porto Allegre. Diesmal gab es also keine Verstrickungen mit der
Fonseca-Autokratie. Ein eigenartiger Gedanke, dass sich ein Teil ihrer Sachen noch im Fonseca-Haus befand. Luis wusste, dass sie kommen wollte, aber sie hatte ihm ihre genaue Ankunftszeit nicht durchgegeben. Sie landete in der größten Nachmittagshitze und wäre nach den winterlichen Temperaturen im Glen Ellig beinahe ins Taumeln geraten. Trotzdem verspürte sie ein erhebendes Gefühl der Freiheit, weil sie nicht abgeholt wurde und mit so leichtem Gepäck reiste, dass sie mit der Metro in die Stadt fahren konnte. Es kam ihr so vor, als bewegte sie sich auf vertrauern Territorium, und das war ein Trost, wenn auch ein kleiner, nach dem Heimweh, das sie während des Fluges geplagt hatte, und der Angst vor dem, was vor ihr lag. Jude, die sich als überraschend regelmäßige, wenn auch gebundene Briefschreiberin erwiesen hatte, hatte Bleibe für sie in der Nähe vom Parque Farroupilha gefunden, also wohnte sie wieder ziemlich zentral. Cristi hatte deutlich gemacht, dass sie ein schlichtes Zimmer haben wollte, aber das hätte sie nicht zu betonen brauchen. Jude wäre etwas anderes gar nicht in den Sinn gekommen. Nach dem schlimmen Abschied von Drumveyn, der sie besonders belastet hatte, weil sie den Menschen, die ihr die liebsten auf der Welt waren, so vieles vorenthalten hatte, und dem langen Flug war für sie die neue Unterkunft das Beste, worauf sie hätte hoffen können. Sie fand ihre neue Bleibe nach Judes Wegbeschreibung auch ohne weiteres. Cristi stand vor einem einstöckigen Haus mit einem kleinen Garten. Ein Mädchen kam an die Tür, begrüßte sie mit einem Lächeln und führte sie zu einem Tor seitlich des Hauses. Sie schloss es auf und überreichte Cristi den Schlüssel, dann deutete sie auf die Steinstufen, die eine steile Böschung hinaufführten. Ein paar Bäume verstellten den Blick auf das, was dahinter lag. Über die Stufen kam man in einen winzigen Ho f, über den eine Wäscheleine gespannt war. An den Hof grenzte ein kleines
Gebäude, das früher von den Dienstboten bewohnt worden war, aber für diesen Zweck nicht mehr als adäquat befunden wurde. Das Häuschen hatte weiß getünchte Mauern, die von Prunkwinden umrankt waren, ein flaches Dach und hellblaue Fensterläden. Unter einem der Fenster stand eine Holzbank. Cristi stellte ihr Gepäck ab, setzte sich auf die Bank und genoss den Blick über die Dächer bis zu den Bäumen im Park. Die Tür war nicht verschlossen. Cristi betrat einen Raum mit weißen Wänden, einem Bett, zwei Stühlen und einem Tisch. An einer Wand befanden sich einige Holzhaken. An dem abgeschlagenen, emaillierten Kerzenständer auf dem Tisch lehnte ein Kuvert. Jude hatte ihre Nachricht auf den Umschlag geschrie ben, nicht hineingesteckt. Du hast gesagt »schlicht«. Willkommen, J. Cristi bekam feuchte Augen. Dass sich Jude die Zeit genommen und so viel Mühe gemacht hatte, dies zu arrangieren und sich auch noch in der Sommerhitze die Stufen heraufzuschleppen... Aber heute - gerade heute - durfte Cristi nicht sentimental werden. Sie musste sich auf das Vordringlichste konzentrieren. Zur Rechten befanden sich zwei Türen, die in Nischen führten - eine mit einer primitiven Toilette und Dusche, die andere mit einem Gaskocher, einem Teekessel und einer Spüle. Prima. Eine Öllampe, ein paar wichtige Utensilien, ein Fach mit Gittertür für Lebensmittel, das Cristi bestimmt nie benutzen würde - das war alles. Diese spartanische Bleibe, die ihren Bedürfnissen vollauf genügte, weckte sogar an dem heutigen Tag Vorfreude auf ein Leben, das auf das Wesentliche beschränkt war. Cristi ging wieder in den Hof. Zu dieser Tageszeit brannte die Sonne zu heiß, um auf der Bank zu sitzen, aber die Bäume überschatteten die obersten Steinstufen. Dieser Platz war wie ein zusätzliches Zimmer. Während des Sommers - immer vorausgesetzt, dass
Wasser aus dem Hahn kam - würde ihr dieser versteckte Unterschlupf alles bieten, was sie brauchte. Cristi brachte ihre Sachen ins Haus, nahm den Schlüssel vom Tor an sich und machte sich auf die Suche nach einem armazem. Sie fand einen an der nächsten Straßenecke. Er war schwach beleuchtet, und die Regale waren mit billigen Waren voll gestopft, aber auf der Theke standen große Körbe mit frischem Obst und Brotlaiben. Sie kaufte Kaffee, Brot, Käse, Obst und einige notwendige Dinge für den Haushalt. Sie würde so leben wie bei ihrem letzten Aufenthalt in dieser Stadt und hauptsächlich in Pizzerien und Steakhäusern oder an den Imbissständen essen, die fast an jeder Straßenecke zu finden waren. Nachdem sie sich eine kühle guaranä gegönnt hatte, ging sie zurück, um den Rest des Nachmittags auf den schattigen Stufen zu faulenzen - sie wollte ausnahmsweise einmal gar nichts tun, da die Hitze sie so schläfrig machte, und sich klar machen, dass sie wieder in Brasilien war. Bevor sie mit irgend jemandem Verbindung aufnahm, dachte sie aufrichtiger und klarer, als es ihr bis jetzt gelungen war, über das, was sie beabsichtigte, und die Gründe dafür nach. Nachdem die Sonne untergegangen war, erfrischte sie sich mit einer Dusche, zog sich eines ihrer Baumwollkleider an edlere Stücke hatte sie gar nicht mitgebracht - und ging zu einem öffentlichen Telefon am Park, um Luis anzurufen.
34. Kapitel Luis' Wut übertraf alles, was sie erwartet hatte. Schon als sie anrief, war seine Überraschung und Freude durch den Ärger über etliche Dinge getrübt - sie hatte ihm die Ankunftszeit ihres Flugzeugs nicht mitge teilt und nicht einmal sofort nach der Landung angerufen, so dass er seine Pläne für den Abend nicht danach richten konnte, und jetzt ließ sie es nicht zu, dass er sie abholte. Außerdem benutzte sie ein öffentliches Telefon, und das bedeutete, abgesehen von der Gefährdung ihrer Gesund heit,
dass sie sich kurz fassen musste. Doch trotz all seiner Vorhaltungen hatte Cristi keinen Zweifel, dass er sehr zufrieden über ihre Rückkehr war. Der Rest war nur Gereiztheit. Es gefiel ihm nie, wenn sie eigene Pläne machte. Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, wenn er sie vom Flughafen hätte abholen können (nur gut, dass er nichts von ihrer Fahrt mit der U-Bahn wusste, wenn er sich schon so über das öffentliche Telefon aufregte), und selbstverständlich wollte er sie wieder in seinen Dunstkreis ziehen, Entscheidungen für sie treffe n und die Gangart bestimmen. Cristi ermahnte sich, fair zu bleiben. Immerhin war sie sehr dankbar gewesen, als er sich in Rio so fürsorglich um sie gekümmert hatte. Er konnte Probleme aus dem Weg räumen und Dinge in Gang setzen. Luis hatte sie damals unter seine Fittiche genommen und ihr großzügig Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet, und sie hatte viel Schönes mit ihm erlebt. Aber das waren an diesem Abend nicht die entscheidenden Faktoren, und Cristi verdrängte die Erinnerungen an Rio, als sie die Bushaltestelle anstrebte. Es waren immer viele Taxis unterwegs, und sie waren erstaunlich günstig, aber das Gedränge und die Anonymität im Bus passten besser zu ihrer Stimmung; vielleicht brauchte sie diese Bestätigung ihrer Unabhängigkeit genauso sehr, wie sie ihr einfaches Häuschen auf der Anhöhe brauchte. Es war ihr Leben, ihre Wahl. Als sie in dem vollen Bus stand und das entschuldigende Lächeln derer, die gezwungen waren, sich an sie zu drängen, mit einem Nicken quittierte, und anschließend durch die stille, begrünte Vorstadtstraße zu Luis' Haus ging, erfasste sie trotz allem eine gewisse Erregung bei dem Gedanken, dass sie ihn bald wiedersehen würde. Die Erinnerungen an seine sanfte Stimme, das schalkhafte Funkeln in seinen Augen, die starken braunen Hände, seinen drahtigen, schlanken Körper, seine Selbstsicherheit und Autorität bestürmten sie. Sie sah ihn in seinem Gaucho-Anzug
vor sich und dachte an sein reiterliches Geschick, an die Ausritte unter dem weiten Himmel von Tres Pinheiros, die Stunden auf dem sonnenbeschie nenen Felsvorsprung, den kühlenden Gischt des Wasserfalls und die gemütlichen Abendessen bei Lampenlicht und die langen Gespräche. Sie hatte diesen verführerischen Visionen nur eines entgegenzusetzen: die instinktive, aber überwältigende Überzeugung, dass sie all ihren Mut zusammennehmen musste. Luis begr üßte sie mit Freude, das war nicht zu übersehen; dem formellen abrago folgte eine Umarmung. Auch wenn er sich sofort wieder zur ückzog und ausrief: »Deus, querida, was hast du da an? Du siehst aus wie ein Straßenkind. Wo hast du dich einquartiert? Ich werde dich hinfahren müssen, damit du dich umziehst, bevor wir in den Club gehen. Ich diniere mit Freunden, doch sie wissen, dass du kommst, und haben Verständnis, wenn wir uns davonstehlen möchten.« Er sah sie so bedeutungsvoll an, dass Cristi errötete. Seine Vitalität und Anziehungskraft überwältigten sie. Wie konnte sie nur vergessen haben, welche Wirkung er auf sie ausübte? Aber sie hielt an ihrem Entschluss fest; sie durfte sich nicht ablenken lassen. Sie verteidigte sich nicht, sie gab auch keine Erklärungen ab, als Luis ihr erneut vorhielt, dass sie ihm nicht gesagt hatte, mit welchem Flugzeug sie kommen würde, dass sie sich so lange Zeit mit ihrem Anruf bei ihm gelassen hatte - er warf ihr sogar vor, dass sie das Taxi am Ende der Straße hatte anhalten lassen und den Rest des Weges zu Fuß gegangen war. Es war einfacher, ihn in diesem Glauben zu lassen. Sie erkundigte sich brav nach der Familie - nach jedem Einzelnen - und fragte, obwohl sie wusste, dass sie nur ausweichende Antworten erhalten würde, nach seinen Geschäften. Er hingegen ließ Schottland und das, was sie dort erlebt hatte, vollkommen unerwähnt. Die Napiers als Cristis Familie und Drumveyn als ihr Zuhause existierten für Luis nicht.
Diese Ignoranz half Cristi, ihr Ziel im Auge zu behalten. Luis bot ihr etwas zu trinken an, und sie setzten sich auf die Terrasse. Die schöne Aussicht, die Lichter der Stadt und der dunkle, gewundene Fluss halfen ihr auch. Der Blick rief ihr ins Gedächtnis, dass Luis, obwohl er Porto Allegre als sein Zuhause ansah, hier oben am Stadtrand thronte und das wahre Leben nicht an sich heranließ, während sie darauf aus war, auch die anderen Seiten kennen zu lernen, so gut es ging. »So, Maria-Cristina, dann hast du dich also dazu herabgelassen, zu mir zurückzukommen.« Luis hatte es sich auf der Liege bequem gemacht und erhob spöttisch sein Glas. »Was hat dich so lange fern gehalten? Kannst du dir vorstellen, wie sehr ich dich vermisst habe und was für Mühe ich hatte, meinen Freunden deine Abwesenheit zu erklären?« Dieser in leichtfertigem Ton vorgebrachte Tadel bot Cristi die Gelegenheit, die sie auf keinen Fall verpassen durfte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und für einen Moment wünschte sie, sie hätten sich noch ein wenig länger mit Höflichkeitsfloskeln aufgehalten. Aber sie gehörten beide zu einer Familie; das zumindest würde bleiben. »Luis, ich weiß, dass du ausgehen möchtest, doch könnten wir vorher reden?« »Selbstverständlich können wir reden«, willigte er belustigt ein. »Wir können uns vor dem Dinner, nach dem Dinner, den ganzen Abend und alle zukünftigen unterhalten. Jetzt bist du ja da.« Für immer - das hörte Cristi heraus. Luis' Selbstbewusstsein verschlimmerte ihre Nervosität. Hatte er trotz der großspurigen Reden, dass sie jeder für sich noch einmal über alles nachdenken sollten, die ganze Zeit voraus gesetzt, dass sie sich die Ehe fest versprochen hatten? Ihr wurde angst, als ihr klar wurde, wie typisch das für Luis wäre. Komisch war nur, dass er zu diesem Schluss gekommen war, nachdem sie wochenlang praktisch nichts voneinander gehört hatten.
»Ich meinte«, begann sie noch einmal, »dass ich richtig mit dir sprechen möchte. Ernsthaft...« Sie sah, wie sich seine Miene verfinsterte und sein Blick bohrend wurde. »Ich hielte es für falsch, dich in dem Glauben zu lassen ...« Gott, es war wirklich schwierig. »Ich meine, es gibt so vieles, was wir nicht...« Luis sprang auf, und Cristi zuckte erschrocken zusammen, aber offenbar wollte er nur sein Glas neu auffüllen. Er warf automatisch einen Blick auf ihres, doch sie hatte kaum etwas getrunken. »Natürlich können wir reden«, versicherte er. Er stand mit dem Rücken zu ihr und hantierte mit dem Glas und einer Flasche herum. »Wir waren Wochen getrennt und haben uns viel zu erzählen. Aber nicht heute Abend, meine Süße.« Er drehte sich um und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dieser Blick sollte spöttisch sein, doch Cristi fasste ihn als Warnung auf. »Wir haben alle Zeit der Welt. Es gibt eine Menge vorzubereiten, das kann ich dir sagen - aber alles zu seiner Zeit. Und heute Abend sollten wir uns freuen, dass wir wieder zusammen sind, und deine Rückkehr feiern.« Er prostete ihr erneut zu und lächelte. Aber diese Worte enthielten eine klare Botschaft, genau wie seine Augen, die das Lächeln nicht erreichte. Cristi erhob sich beinahe unbewusst und stellte sich ihm gegenüber. Sie sah ihm in die Augen. »Luis, es tut mir ehrlich Leid, aber es wäre nicht richtig, in der falschen Annahme, alles wäre ganz normal, weiterzumachen.« Zu ihrer Erleichterung merkte man ihr die Nervosität nicht an. »Es ist nur fair, wenn ich dir gleich sage, dass ich dich leider nicht heiraten kann. Ich habe viel darüber nachgedacht, und ich bin überzeugt, dass es für uns beide nicht das Richtige wäre. Ich möchte dich auf keinen Fall verletzen, doch es würde nicht gut gehen mit uns.«
»Mein liebes Kind, das ist absurd«, erwiderte Luis scharf, und selbst in diesem Moment der höchsten Anspannung merkte Cristi, dass etwas nicht stimmte. Sie sah, wie seine Augen vor Wut loderten, und diese beherrschte, fast väterliche Ermahnung passte nicht dazu. »Du bist nach dem langen Flug übermüdet. Du weißt nicht, was du sagst. Du glaubst doch nicht, dass du unsere Abmachung auf diese beiläufige Art aufkündigen kannst. Zwischen uns bestand ein Einvernehmen, das kannst du nicht leugnen, und ich akzeptiere deine Entscheidung nicht. Wir werden sicherlich darüber reden, aber ein anderes Mal, wenn du wieder du selbst bist.« Befinde ich mich im richtigen Jahrhundert?, fragte sich Cristi ein wenig verstört. Heutzutage reagiert ein Geliebter, dem man gerade den Laufpass gegeben hat, nicht so. Diese - »Kleines Dummchen, morgen sieht alles anders aus«-Haltung verblüffte sie. Was konnte sie erwidern, um ihn zu überzeugen? »Genau. Du warst zu lange weg und unter dem Einfluss anderer Leute. Sobald du dich hier wieder eingewöhnt hast und wir einige Zeit zusammen sein konnten ...« »Nein, Luis. Es geht wirklich nicht.« Sie war nicht auf einen so heftigen Wutanfall vorbereitet, bei dem alle Täuschungen über Bord geworfen wurden. Luis schoss auf sie zu, packte ihre Arme und beugte sich zu ihr. Sie musste unwillkürlich an ein Raubtier denken. Es gab keine Liebe oder Zärtlichkeit, keine Bereitschaft, Verständnis für ihre Gefühle aufzubringen. Sie überlief ein Schauer, und sie wusste, dass dies sowohl eine sexuelle Reaktion auf seine Nähe wie blanke Angst war. Dass er sogar in einem solchen Augenblick derartige Gefühle in ihr wecken konnte, entsetzte sie, aber dann erinnerte sie sich daran, dass diese Gefühle mit schlechtem Gewissen durchsetzt waren, und das bestärkte sie nur noch in ihrem Entschluss. »Ich hätte dir das früher mitteilen müssen und dich nicht in dem Glauben lassen dürfen, dass alles in Ordnung ist, das weiß
ich. Aber es erschien mir so kalt und gefühllos, das in einem Brief zu schreiben.« Und die Brie fe von ihm hatten sie nicht gerade ermutigt, persönliche Dinge anzusprechen. »Ich hielt es für fairer, herzukommen und es dir von Angesicht zu Angesicht zu sagen. Und um dir für die schöne Zeit zu danken, die wir zusammen hatten...« Luis ließ sie los und wandte sich mit einem Wutschrei ab. Cristi begriff, wie kindisch und naiv ihm ihre kleine Ansprache vorkommen musste. Dann beobachtete sie, wie er seinen Zorn zügelte. »Wir werden morgen darüber reden«, erklärte er knapp. »Wenn du nicht mehr so müde bist. Und vielleicht kannst du dir dann mehr Mühe mit deiner äußeren Erscheinung geben«, fügte er mit einer Geringschätzung hinzu, die er nicht unterdrücken konnte. Das verriet viel über seine Einstellung - er legte großen Wert auf Äußerlichkeiten und nahm nicht den geringsten Anteil an Cristis Interessen außerhalb seiner Luxuswelt, egal, wie oft sie auch versucht hatte, ihm zu erklären, was ihr wichtig war. Dieser Ärger über Unbedeutendes ange sichts des eigentlichen Problems, das zwischen ihnen bestand, machte Cristi unendlich traurig. »Du kannst eine solche Abmachung, wie wir sie getroffen haben, nicht einfach aufkündigen«, behauptete Luis und zog sich einen Stuhl zu recht, wartete allerdings höflich, bis Cristi sich gesetzt hatte. »Ich hatte nicht das Gefühl, dass diese Abmachung endgültig ist«, bemerkte Cristi unvorsichtigerweise. Sie nahm an, dass er jetzt, da er sich wieder niedergelassen hatte, zu einer offenen Aussprache bereit war. Sie zuckte zusammen, als sich sein Gesicht vor Zorn verzerrte. »Nicht endgültig? Ein Heiratsantrag? Den du nicht abgewiesen hast? Auf welchem Planeten lebst du?« »Ich habe ihn nicht angenommen.« Cristi war so scho ckiert
über seine Feindseligkeit, dass sie momentan unsicher war, was genau sie seinerzeit vereinbart hatten. »Wir haben uns nichts versprochen, sondern alles offen gelassen, damit wir noch einmal darüber nachdenken können.« »Wir haben unsere Entscheidung aufgeschoben, aber du konntest doch keinen Zweifel daran haben, wie diese Entscheidung aussehen würde.« »Das macht doch keinen Sinn«, protestierte Cristi. Sie fühlte sich mit jeder Minute hilfloser. Sprachen sie überhaupt dieselbe Sprache? Hatten sie die letzte Unterredung, bevor Luis Tres Pinheiros verlassen hatte, verschie den interpretiert? Ihr war elend zu Mute. »Meine liebe Cristi«, entgegnete Luis, der Schwierigkeiten hatte, die Selbstbeherrschung zu wahren. »Du darfst nicht vergessen, dass ein solches Arrangement für uns weit reichende Folgen hat. Dies ist keine leichtfertige Affäre zwischen einem Jungen und einem Mädchen, bei der nichts anderes als Gefühle berücksichtigt werden müssen.« »Warum nicht ? Was meinst du damit?«, wollte Cristi wissen. »Denkst du daran, dass wir verwandt sind und ich nicht katholisch bin ? Aber das sind Argumente, die gegen eine Heirat sprechen, oder?« »Cristi, bitte, benimm dich deinem Alter entsprechend«, herrschte Luis sie an. »Auch wenn man in deinem geliebten Schottland solche Dinge ziemlich lässig sieht, musst du doch die Vorteile erkennen, die eine Ehe mit sich bringt.« »Vorteile?«, wiederholte Cristi verständnislos. Dieser Dialog geriet vollkommen aus dem Ruder. Tatsache war, dass sie Luis nicht genug liebte, um ihn zu heiraten. »Es geht um den Familienbesitz«, erklärte Luis und beugte sich vor, um ihr in die Augen zu sehen. Er verbarg nicht einmal mehr seine Ungeduld über ihre Begriffsstutzigkeit. »Ein sehr großer Besitz. Du wirst dir doch nicht eingebildet haben, dass er dir ganz allein gehören könnte. Es ist ein Teil des Fonseca-Erbes und der Familiengeschichte. Er könnte niemals in die Hände von
jemandem fallen, der...« Er brach ab, weil ihm die Stimme seines Vaters im Ohr klang, die ihn zur Behutsamkeit gemahnte. Der Einsatz war zu groß, um ihn mit einem unbedachten Wort zu verspielen. Trotzdem streckte er die Hand aus und umfasste Cristis Handgelenk mit einem festen Griff. Sie sah ihn an - sie hatte wirklich ein wenig Angst, glaubte aber immer noch, die Trennung in Freundschaft durchsetzen zu können. Besonders, weil sie seine Sorge um den Besitz zerstreuen konnte. Vielleicht, dachte sie mit Galgenhumor, hätte ich damit beginnen sollen. »Aber, Luis, das gehört auch zu den Dingen, über die ich gründlich nachgedacht habe. Ich beabsichtige nicht, die Ranch zu behalten. Ich liebe Tres Pinheiros, das weißt du. Die Landschaft ist zauberhaft, und es war das größte Erlebnis...« »Du beabsichtigst nicht, sie zu behalten?«, wiederholte er, und jedes einzelne Wort klang wie ein Peitschenhieb. Jetzt jagte ihr sein Blick richtig Angst ein. Er war ein Fremder, der zu allem fähig war. Cristi versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, aber er packte noch fester zu. »Nein, nicht«, keuchte sie. »Lass mich los, Luis. Du tust mir weh. Ich erkläre es dir, wenn du ...« Er war bereits auf den Füßen und zerrte sie mit. Die Leichtigkeit, mit der er sie vom Stuhl hob, ließ sie zittern. Mit einem Mal fiel ihr ein, dass niemand sonst im Haus war, da er zum Abendessen ausgehen wollte. Es hätte gar keinen Sinn, um Hilfe zu rufen... Im nächsten Moment war sie entsetzt, dass ihr ein solcher Gedanke überhaupt in den Sinn kam. »Du wirst sie nicht verkaufen, das verspreche ich dir!«, stieß Luis gepresst hervor. »Du, die uneheliche Tochter eines Flittchens, einer billigen Schlampe, die von der Familie fortgejagt wurde. Du glaubst, du könntest hier anspazieren, Großvaters Geld nehmen und das Land an dich reißen, das seit Jahrhunderten der Familie gehört? Und wenn du es nicht mehr
willst, dann gibst du es her - einfach so?« Er schnippte dicht vor ihrem Gesicht mit den Fingern. Seine Augen sprühten Funken. »Luis, lass mich los. Ich meinte nicht...« Er achtete gar nicht auf sie. »Nun, meine süße Cousine, du wirst herausfinden, dass so etwas nicht geduldet wird. Mein Vater wird dich mit all den Mitteln, die in seiner Macht stehen, bekämpfen. Und was meinst du, was du gegen ihn ausrichten könntest? Bildest du dir ein, du könntest gewinnen oder überleben, du kleine Närrin?« Er schüttelte ihren Arm, und Cristi schrie wütend: »Hör auf damit! Lass mich sofort los!« Er starrte sie verbittert an, dann ließ er von ihr ab. »Was bist du doch für eine kleine Schwindlerin! Eine Heuchlerin ! Die ganze Zeit hast du mir vorgespielt, in mich verliebt zu sein. Was wolltest du? Sex wie deine Mutter? Mehr war es nicht? Und dachtest du allen Ernstes, dass ich deinen dünnen Klein-Mädchen-Körper begehre? Du bist zwar meine Cousine, aber glaubst du, ich könnte vergessen, dass du bei Fremden groß geworden bist, die dir erlaubt haben, dich mit allen möglichen Leuten einzulassen? Eine Ehe mit dir würde mir nichts bedeuten, es ist nur ein wirksames Mittel, das Fonseca-Land für die Familie zu erhalten.« Cristi zitterte, als die Beschimpfungen und Demütigungen auf sie einprasselten, und hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Luis lief auf der Terrasse auf und ab. »Es sollte mir gehören. Es war immer klar, dass es mir einmal übergeben wird. Alle anderen in der Familie haben ihren Reichtum und Erfolg, doch Tres Pinheiros war mir zugedacht. Das wussten alle. Großvater hat es mir fest versprochen. Aber am Ende seines Lebens war er verrückt, krank - er wusste nicht mehr, was er tat. Dieses Testament hätte nie verfasst werden dürfen, es müsste angefochten, für nichtig erklärt werden.« Cristi war wie betäubt, und eines war ihr klar: Mit dem, was er über ihre Mutter gesagt hatte, konnte sie sich im Augenblick
nicht befassen. Mit ungeheurer Willensanstrengung verdrängte sie diese Vorwürfe an den Rand ihres Bewusstseins, um sich später damit auseinander zu setzen. Ganz sachlich nahm sie die Fakten zur Kenntnis: Die Fonseca hatten alles langfristig geplant, die kalkulierte Ouvertüre in Rio, bei der sie langsam, aber sicher an den Luxus gewöhnt werden sollte. Sie waren sicher gewesen, dass ihre Methode Erfolg haben würde. Jetzt wurde ihr vieles klar. »Ihr dachtet, ich wäre entsetzt über den Zustand der Ranch und würde vor der Verantwortung zurückschrecken. Ihr habt damit gerechnet, dass ich dankbar wäre, wenn mir die Familie die Last abnehmen, für die Kosten aufkommen und die Aufgabe bewältigen würde, den Betrieb zu modernisieren. Du wolltest die Ranch und hättest es als Akt der Freundlichkeit und Fürsorge dargestellt, wenn du mir die Verantwortung dafür abgenommen hättest. Und als ich nicht so reagierte, wie ihr es erwartet habt, und die Bürde nicht sofort von mir gewiesen habe, um schnell nach Schottland zurückfahren zu können, war für dich eine Heirat die einzige Möglichkeit, alles an dich zu reißen. Oder dein Vater hat diesen Plan ersonnen.« Es war offensichtlich, dass Joachim die Hand im Spiel hatte - er hatte die Fäden im Hintergrund gezo gen und alles kontrolliert. »Aber, Luis, hör mir zu ...« »Dir zuhören? Was bildest du dir eigentlich ein? Meinst du, du könntest mir befehlen, dir zuzuhören?« Sein gehässiger Ton war trotz allem, was ans Licht gekommen war, schrecklich für sie. Luis empfand nicht nur keine Liebe für sie, sondern hasste und verabscheute sie von ganzem Herzen. Der Stolz stärkte ihr das Rückgrat. Mit solchen Emotionen hatte sie keinerlei Erfahrung, doch es war nicht das Ende der Welt. Sie würde darüber hinwegkommen. »Aber ich möchte, dass du mir zuhörst, weil es sehr wichtig ist«, beharrte sie. »Was könntest du sagen, was auch nur die geringste Bedeutung für mich hat?«, höhnte Luis. »Du bist ein Nichts - ein
lächerliches Kind, das uns lediglich eine Menge Schwierigkeiten macht.« Er warf ihr einen verächtlichen Blick über die Schulter zu. »Ich hatte vor, Tres Pinheiros an die Familie zurückzugeben.« Er wirbelte herum und musterte sie ungläubig. »Das kann nicht dein Ernst sein.« Fonsecas machten so etwas nicht, auch nicht die, die außerhalb der Familie aufge wachsen waren. »Doch, es ist mein Ernst. Du hast Recht, die Ranch ist seit drei Jahrhunderten im Besitz der Familie. Ich kann nicht dort leben, und deshalb wäre es sinnlos, wenn ich sie behalten würde. Aber ich würde sie niemals zum Verkauf anbieten. So wenig du auch für mich übrig hast«, an diesem Punkt fing ihre Stimme an zu beben, »du kannst mir so etwas unmöglich zutrauen.« »Du meinst das wirklich ernst?« Luis war nicht an ihren Prinzipien interessiert. »Du gibst die Ranch der Familie zurück? Oder willst du sie mir überschreiben?« »O Luis.« Dieser leise Ausruf, der ihn für seine Habgier und alles, was er getan hatte, tadelte, erreichte ihn. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schloss die Augen, als müsste er diese Eröffnung erst verdauen. »Es bedeutet mir alles, weißt du?«, murmelte er. Die Ranch, nicht unsere Beziehung, dachte Cristi und nahm absichtlich zur Ironie Zuflucht. Na ja, es hatte nie eine Beziehung gegeben. Sie schreckte vor dem Schmerz zur ück, der sie unweigerlich quälen würde, wenn sie sich eines Tages die Erinnerungen zurückrief, die ihr im Licht dessen, was sie heute erfahren hatte, suspekt und wertlos vorkommen würden. »Wir sind natürlich nach wie vor Cousin und Cousine«, sagte Luis in dem Versuch, wieder Boden gutzumachen. Vielleicht war es doch klüger, Cristi bei Laune zu halten. Die Briten waren berüchtigt dafür, dass sie den Dingen, die am meisten im Leben zählten, gleichgültig gegenüberstanden. Wenigstens blieb ihm die Farce einer Heirat mit ihr erspart. Das war eine
Erleichterung. Cristi, die seine Gedanken erahnte, fand es interessant, dass das Pendel umgeschwungen war - jetzt hatte sie die Kontrolle. Glaubte Luis ernsthaft, dass er ihr seine Meinung von ihr so r üde ins Gesicht schleudern, ihre Mutter diskreditieren und ihr, Cristi, vor Augen führen konnte, welche Manipulationen in Gang gesetzt worden waren, und dann nur auf ihre Verwandtschaft hinzuweisen brauchte, um alles wieder ins Lot zu bringen? »Ich bin deine uneheliche Cousine, darauf hast du mich selbst hingewiesen«, erwiderte sie. Luis zuckte mit den Schultern. »Das ist mir in der Wut herausgerutscht. Du musst mir verzeihen«, gab er lässig zurück. »Du hast die Wahrheit gesagt. Endlich.« Cristi machte eine kleine Pause. »Du hast mir klar gemacht, was du bist und was du für mich empfindest.« Sie wusste, dass sie immer noch mit ihren Gefühlen für ihn fertig werden musste, mit der mächtigen Anziehungskraft, die er auf sie ausgeübt hatte, und dem Glücksgefühl während der goldenen Tage auf der Ranch. Sie schauderte, wenn sie an die Einsamkeit dachte, die ihr bevorstand. »Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass unsere Verwandtschaft nicht das Geringste bedeutet«, fuhr sie tonlos fort. »Genau genommen habe ich nicht vor, in irgendeiner Weise mit der Familie in Verbindung zu bleiben. Ich werde alles über die Anwälte regeln. Sie waren immerhin diejenigen, die mich nach Brasilien gerufen haben.« Damit gab sich Luis überhaupt nicht ab. »Darf ich dich daran erinnern«, entgegnete er scharf, »dass du gar nicht so schlecht weggekommen bist mit unserer Familie? Du hast immer noch das viele Geld, das dir Großvater hinterlassen hat.« »Ja, das habe ich.« Glaubte er, dass sie ihm das auch noch aushändigte? Hatte er überhaupt begriffen, was sie tat, indem sie Tres Pinheiros zurückgab, oder war er so überzeugt von dem Anspruch der Fonsecas, dass er es annahm, ohne nachzudenken? Er war oberflächlich ... und böse? Cristi schauderte.
»Das wärs.« Mit einem Mal war sie erschöpft und müde. »Mehr gibt es nicht zu sagen.« »Aber wir bleiben in Kontakt. Wir müssen ...« »Nein, Luis. Wir werden nie wieder voneinander hören.« Cristi hatte sich für eine der beiden Welten entschie den. Sie wusste nun ohne jeden Zweifel, was ihr wirklich wichtig war. Die Ironie war nur, dass der Ort, den sie als den ihren erkannte und nach dem sie sich von ganzem Herzen sehnte, seine Tore für sie verschlossen hatte.
35. Kapitel Cristi war nicht sicher, wie sie die folgenden Wochen ohne Jude überstanden hätte. Ohne Jude und die casa aberta. Es war eine Erleichterung, so viel zu tun zu haben und in ein Leben zu schlüpfen, das diesmal ein ungeteiltes Ganzes war. Es gab keine Konflikte zwischen den beiden verschiedenen Ebenen, kein ständiges Umziehen, kein Hin und Her zwischen extremer Armut und Wohlstand mehr, was ihr in der Vergangenheit so sehr zu schaffen gemacht hatte. Jetzt umgab sie eine Einfachheit, die etwas tief in ihrem Inneren ansprach. Sie mochte dieses Leben vielleicht nicht für immer führen, aber sie war dankbar, dass es ihr Raum für weitere Zukunftsentscheidungen gab. Egal, wie hart sie auch arbeitete und wie viele Stunden sie in der Hütte am Fluss zubrachte, ihre kreative Seite lag brach und konnte nicht bis in alle Ewigkeiten schlummern. Nach all den emotionalen Turbulenzen stellte das noch kein Problem für sie dar, doch sie war zuversichtlich, dass die alte Begeisterung wieder aufleben würde. Es war ungeheuer befreiend und stimulierend, sich von den Ketten der Fonsecas gelöst zu haben und in der Ano nymität der Stadt unterzutauchen. An dem Abend, an dem sie sich von Luis getrennt hatte, war sie einem plötzlichen Impuls gefolgt und hatte ihr Taxi, das Luis widerwillig für sie bestellt hatte, zu
einem Punkt in der Stadt dirigiert, der weit weg von ihrer Behausung lag. Trotzdem war sie bestürzt, dass sie Luis' Auto in die Straße biegen sah, als sie den Chauffeur bezahlte. Also war er nicht bereit, sie so einfach gehen zu lassen. Er konnte es offenbar nicht ertragen, dass sie den Fonsecas so ohne weiteres den Rücken kehrte, oder vielleicht traute er ihr nicht und wollte sie kontrollieren, für den Fall, dass sie ihre Pläne nicht in die Tat umsetzte. Es war unheimlich. Cristi, die kaum glaubte, dass sich solche Szenen in Wirklichkeit abspielten, wirbelte herum, als das Taxi losfuhr, und floh an der nächsten Straßenkreuzung in eine schmale Gasse. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie kannte sich in diesem Viertel nicht aus, aber ihre Angst galt nicht den möglichen Begegnungen in den schäbigen, schlecht beleuchteten Straßen. Es war kein Problem, einen Bus zu finden, der sie ins Stadtzentrum brachte und sie ganz in der Nähe des Unterschlupfs herausließ, den Jude für sie gefunden hatte. Hier konnte Luis sie auf keinen Fall aufspüren, aber sie schlief in dieser Nacht dennoch kaum. Die hässliche Aus einandersetzung spielte sich immer und immer wieder in ihrem Kopf ab. Sie musste viele Hoffnungen, die ihr jetzt ausgesprochen naiv erschienen, aufgeben, und das war kein gutes Gefühl. Als sie schließlich doch eindöste, plagten sie böse Träume, und sie schreckte oft auf, weil sie sich einbildete, Geräusche gehört zu haben. Doch am Morgen verflogen ihre Ängste. Die Sonne, die durch das La ub der Bäume gefiltert wurde, malte tanzende Schatten auf die weiß getünchten Wände, Vögel zwitscherten, die von dem kurzlebigen Tau intensivierten Gartendüfte wehten durch das Fenster, und Cristi gewann die Überzeugung, das Richtige getan zu haben. Sie kochte Kaffee, setzte sich auf die Bank vor dem Haus, genoss die noch einigermaßen kühle Morgenluft und spürte, wie ein Gefühl der Freiheit sowie
Zufriedenheit über eine vollbrachte Tat sie erfüllten. Sie fürchtete, Luis könnte sie finden, vermutete allerdings, dass ihn hauptsächlich die Wut, weil sie ihm die Stirn geboten und ihn abserviert hatte, dazu verleitet hatte, dem Taxi nachzufahren. Aber wenn er entschlossen wäre, sie aufzuspüren, dann dürfte es ihm nicht schwer fallen, das Tageszentrum ausfindig zu machen. So unbegreiflich es ihm war, dass sie in einem so verabscheuungswürdigen Haus arbeitete - er würde in etwa wissen, wo es sich befand. Und er würde, davon war Cristi überzeugt, innerhalb weniger Stunden, wenn nicht sogar in Minuten erfahren, dass sie sich noch am selben Morgen mit den Fonseca-Anwälten in Verbindung setzte (sie gab eine caixapostal-Nummer als Adresse an). Das dürfte ihn zufrie den stellen. Dennoch dauerte es einige Zeit, bis ihre Angst verblasste, dass er plötzlich vor ihr stehen könnte. Cristi hatte auch ohne dies genügend zu verkraften. Zum Beispiel musste sie sich Luis' Motive für sein Verhalten in der Vergangenheit ganz klar machen und alle Emp findungen ad acta legen. Die Täuschung, die Berechnung und seine Verachtung für sie als Mensch waren ein harter Brocken, den sie irgendwie verdauen musste. Dabei konnte ihr niemand helfen. Sie konnte sich nicht vorma chen, dass Luis mit seinem Verhalten keine Gefühle in ihr geweckt hatte, und es kostete sie viele qualvolle Stunden, damit fertig zu werden. Zudem fiel es ihr schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie die Ranch nie wiedersehen sollte. Für sie war nicht nur die unverdorbene Schönheit der Land schaft, die ihr so viel bedeutet hatte, verloren, sondern auch die Aussicht, sich um den Betrieb zu kümmern und den Arbeitern näher zu kommen. Wenn sie an Selma, Enrico, Leopoldo und die anderen dachte, die sie willkommen geheißen und freundlich behandelt hatten, wünschte sie, sie könnte persönlich mit ihnen sprechen und ihnen erklären, was vorgefallen war. Aber sie wusste, dass sie nichts verstehen würden. Für sie war Cristi, ob sie sie nun
mochten oder gern als patroa gehabt hätten, eine Fonseca. Und in ihrem Alltagsleben würde sich nicht das Geringste ändern. Auseinandersetzungen innerhalb der Familie und Entscheidungen, die die Fonsecas trafen, gingen sie nichts an. Sie würden annehmen, dass Cristi nur vorübergehendes Interesse an der Ranch gehabt hatte und bald keinen Gedanken mehr daran verschwendete. Entao? Ja und? Ein Schulterzucken, und das Leben ging weiter. Auch wenn es schwer fiel — dies war der Preis, den Cristi zahlen musste. Und Luis, der die antiquierten Methoden seines Großvaters so sehr verachtete, würde hoffentlich die erste Gelegenheit nutzen, die Ranch auf Vordermann zu bringen, auch wenn es ihm hauptsächlich um größere Profite ging, und die Arbeitsbedingungen der Leute zu verbessern. Aber würde seine erste Sorge den Lebensumständen der Leute gelten? Könnte er es tolerieren, dass jemand, der nicht die volle Leistung bringen konnte, eines der Häuser bewohnte? Cristi kannte seine Rücksichtslosigkeit und fragte sich schuldbewusst, ob es feige gewesen war, diese Entscheidung zu treffen. Manchmal fühlte sie sich schrecklich einsam, wenn sie sich vor Augen führte, dass sie den Kontakt zu den Fonsecas vollkommen abge brochen hatte, und zwar in einer Zeitspanne, in der es ihr unmöglich war, in ihre eigene Welt zurückzukehren. Zum Glück war Jude bereit, ihr zuzuhören, wenn kein bedürftiges Kind ihre Hilfe brauchte. Sie und Cristi aßen meistens zusammen im Cafe an den Docks, oder sie holten sich etwas vom Markt und setzten sich in Judes Zimmer. Jude fiel ein Stein vom Herzen, als sie hörte, dass sich Cristi aus den unbarmherzigen Klauen der Fonsecas befreit hatte, und begrüßte zu Cristis Erstaunen sogar, dass sie Tres Pinheiros an sie zurückgeben wollte. Cristi hätte sie für nüchterner gehalten. »Sie finden nicht, dass ich die Ranch hätte verkaufen und das Geld für gute Zwecke verwenden sollen?«, fragte Cristi.
Jude schniefte. »Diese Ranch hatte nichts mit dir zu tun, das weißt du selbst. Oh, es hat dir dort gefallen, ich glaube, das habe ich verstanden. Aber dein Großvater hat sie dir nur hinterlassen, um den anderen eins auszuwischen. Und du willst bestimmt nichts mit diesen Querelen zu schaffen haben.« »Vielleicht hat er es letzten Endes auch bereut, dass er meine Mutter verstoßen hat?« Das wollte Cristi nach wie vor glauben. »Vielleicht hat er sie wirklich geliebt. Zumindest hat er das ganz sicher getan, als sie noch ein Kind war. Also hat er ihr in gewisser Weise ein Erbe hinterlassen ...« Jude schnaubte. »Erhalt dir deinen Glauben, wenn es sein muss. Aber es wäre eine verdammt törichte Art, Wiedergutmachung zu leisten, wenn du mich fragst. Erzähl mir nicht, dass er sie nicht hätte ausfindig machen können, wenn er es gewollt hätte.« Cristi schwieg und presste die Lippen zusammen. Dann formulierte sie unter Schwierigkeiten einen Gedanken, der ihr in letzter Zeit oft durch den Kopf ging. »Sie sind keine besonders sympathischen Menschen, diese Fonsecas. Doch ich bin eine von ihnen.« Jude warf ihr einen raschen Blick zu. »Ich verstehe, dass du daran zu knabbern hast. Wir sind, wer wir sind, daran können wir nichts ändern. In deinen Adern fließt ihr Blut. Aber was ist mit deinem Vater?« Cristi wandte sich ab und hatte Mühe, darauf zu ant worten. Jude wartete. »Ich weiß nicht, wer mein Vater ist«, bekannte Cristi schließlich. »Der Mann, von dem immer behauptet wurde, er wäre es, kann es nicht sein. Howard Armitage, Lisas Mann. Man muss mich nur ansehen. Und jetzt, da ich mehr über meine Mutter erfahren habe, kann ich diese bequeme Behauptung ohnehin nicht mehr glauben. Jeder könnte mein Vater sein, und ich werde nie erfahren, wer es wirklich ist.« Nach wie vor war es nicht leicht, das aus zusprechen. »Genau wie Nicholas niemals
wissen wird, wer sein Vater ist.« Jude schwieg - in diesem speziellen Fall halfen Worte nicht weiter. »Es ist eigenartig, ehrlich«, fuhr Cristi schließlich fort. »Wir beide haben das gleiche Päckchen zu tragen, und wir beide sind in Drumveyn bei Archie und Pauly aufgewachsen. Ich meine wir sind bei diesen wunderbaren Menschen gelandet, und sie haben uns so viel gegeben. Nicht nur Materielles, sondern Werte, Integrität.« Jude nickte. »Liebes, mir scheint, du brauchst dir keine allzu großen Gedanken zu machen. Wo immer du auch herkommst, du bist in gute Hände gefallen, und so wie ich es verstanden habe, werden dich diese Hände niemals loslassen.« Cristi drehte den Kopf zu ihr. »Das glauben Sie? Das schließen Sie nur aus dem, was ich erzählt habe?« »Sei nicht so dumm«, versetzte Jude. Cristi lachte über ihren Ton. Natürlich hatte Jude Recht. Es war absolut sicher, dass Pauly und Archie immer für sie da sein würden. Sie wollte es nur hören - sie brauchte das. Cristi entspannte sich und nahm sich noch ein Stück von der saftigen Ananas, die auf dem Tisch stand. »Okay«, sagte sie. »Das wäre geklärt. Jetzt muss ich nur noch entscheiden, was ich tun will.« »Ja, ich denke, das musst du.« »Ich würde gern für eine Weile weiter hier aushelfen, wenn Sie mich haben wollen. Aber ich werde nicht für immer bleiben.« »Manchmal redest du ganz schönen Unsinn für jemanden, der eigentlich einigermaßen vernünftig ist. Ja, ich will dich hier haben, und zwar so lange, wie es mö glich ist. Und nein, du wirst auf keinen Fall für immer hier bleiben, das versteht sich von selbst. Aber du hast mir noch nicht verraten, was dich davon abhält, in deinen geliebten Glen zurückzukehren.« Nach diesem Frontalangriff senkte Cristi rasch den Kopf, um
ihr Gesicht zu verbergen. »Es ist dieser Junge, hab ich Recht?«, fragte Jude. Alles in Cristi wehrte sich für eine Sekunde, darauf einzugehen, doch dann realisierte sie erleichtert, dass sie endlich über Dougal sprechen und sich den Schmerz und die Reue von der Seele reden konnte. Jude sah ihr ins Gesicht und dachte: Mit dem fr ühen Zubettgehen wird es heute nichts. Aber es machte ihr nichts aus. Cristi war ein tapferes kleines Ding, und obwohl sie finanziell besser gestellt war als Jude, hatte sie in mancherlei Hinsicht eine ziemlich schwere Bürde zu tragen. »Er ist immer noch derjenige, welcher, stimmts?«, hakte Jude nach. »Die Schwärmerei für Luis — und du kannst von Glück sagen, dass du dir an dem nicht die Finger verbrannt hast, meine Liebe - hatte im Grunde nur einen Sinn: Du wolltest dir deinen Dougal aus dem Kopf schlagen. Das ist es eigentlich, nicht?« Mittlerweile war Jude relativ vertraut mit Drumveyn und den Menschen, die dort wohnten. Ihr waren die Namen mehr oder weniger geläufig, und sie hatte eine Menge Geschichten aus der Vergangenheit und der Gegenwart gehört. »Nein, das war es selbstverständlich nicht!« Cristi ging sofort in die Defensive. »Dougal und ich waren nie... Da war niemals... Wir waren immer nur Freunde, das ist alles.« »Ach ja?«, gab Jude zurück. »Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, denk dran. Hier, trink noch einen letzten Kaffee und sprich dich aus.« »Da gibts nichts... Oh, schön.« Cristi akzeptierte ihre Niederlage. »Dougal war eben immer da. Er hat von Anfang an dazugehört. Das änderte sich, als ich zur Uni ging und Kunst studierte. Ich glaube, das hat ihn gestört. Ich will damit nicht sagen, dass er neidisch war - so ist er nicht -, doch er hat gesehen, dass mir alles so leicht zufiel, dass mir alles, was ich wollte, auf einem silbernen Tablett serviert wurde. Gerade zu dieser Zeit war sein eigenes Leben ziemlich bitter - sein Vater war krank,
seine Schwester brachte sich ständig in Schwierigkeiten, und sein älterer Bruder weigerte sich, irgendetwas für die Familie zu tun. Er musste seine eigenen Studienpläne aufgeben und zu Hause bleiben. Und ich nehme an, es ging ihm gegen den Strich, wenn er mich mit Freunden aus der Uni zusammen sah. Es waren keine Jungs - ich habe nie Jungs mit nach Hause gebracht.« Cristi machte eine Pause und überlegte. Wieso hatte sie nie einen Jungen nach Drumveyn eingeladen? Darüber musste sie gründlich nachdenken, wenn sie allein war. »Torie und Isa kamen ziemlich oft. Ich denke, wir haben ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben, wenn wir zusammen waren. Na ja, ich weiß, dass es ihn verrückt gemacht hat. Mädchenangelegenheiten, unsere künstlerischen Projekte und stundenlanges Quatschen in meinem Atelier. Keine von beiden hatte großes Interesse an dem Gut und den Dingen, die Dougal und ich gemeinsam unternommen haben. Ich vermute, es war schwer für ihn, als er von meiner Erbschaft in Brasilien hörte.« »Hat er Komplexe ?« »Natürlich nicht. Kein bisschen - so ist er nicht«, brauste Cristi auf. Sie sah nicht das Glitzern in Judes Augen. »Douga l denkt nicht so.« »Aber du hast im großen Haus gewohnt, und er war der Sohn des Hirten. Dir hat man ein paar Tausend Hektar Land und einen Haufen Geld vermacht, und er hat einen lausigen Job, den er hasst, und muss sich in Abend kursen weiterbilden.« Cristi wünschte, dass Jude kein so gutes Gedächtnis hätte. »Ja, aber Sie beurteilen ihn falsch. Nichts davon war wichtig für ihn.« Doch Cristi merkte selbst, dass das nicht stimmte - es war wichtig. Sie konnte sich nicht länger etwas vormachen. Es hatte die Tür, die sich ohnehin schon langsam schloss, endgültig zugeschlagen. Dann stand ihr einmal mehr die Szene vor Augen, die sich so tief in ihr Bewusstsein gebrannt hatte: die Freude und die
Gewissheit, die sie empfunden hatte, als sie die Küche im Croft of Ellig betreten hatte, und das Strahlen auf Dougals Gesicht, als er erkannt hatte, wer ihn da besuchte. Wenn dieser Augenblick auch nur kurz gewesen war und die Freude rasch unterdrückt worden war, als sie sich daran erinnert hatten, wie die Dinge zwischen ihnen standen, so war seine Reaktion doch unmissverständlich gewesen. Und in diesem Moment war ihr klar geworden, was sie tun musste - mit Luis und der Ranch. Dann hatte sie bei Jean vorbeigeschaut... »Schön, das war also nicht wichtig.« Judes sachliche Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Aber verrate mir eines - als du zu Weihnachten zu Hause warst, ist da Dougal auch im großen Haus ein und aus gegangen wie früher? Haben dich er und seine Mutter zum Weihnachtsessen eingeladen? Du warst sicher bei ihr in ihrem Gemeindehaus im Dorf, und du hast dir bestimmt nicht die Mühe gemacht, sie vorher anzurufen. Doch war sie auch bei euch?« Cristi stieg die Röte in die Wangen. »Aber das war nie so... Jean würde es nicht einfallen ...« »Genau das will ich damit sagen.« »Jedenfalls«, fuhr Cristi möglichst neutral fort, »ist letzt alles anders. Dougal ist verlobt.« Das ist also des Pudels Kern. »Er ist verlobt? Und was ist das für ein Mädchen?« »Sie hat früher im Glen gewohnt. Wir waren zusammen in der Schule.« »Erzähl mir nichts - du meinst sicher nicht, sie war in deinem vornehmen Internat, oder?« Cristi errötete noch mehr. Zu viele Dinge hatte sie einfach als gegeben hingenommen, aber diese unangenehmen Fragen zwangen sie, genauer hinzuschauen. »In der Dorfschule, die wir alle besucht haben.« »Und wo hat dieses Mädchen gelebt?« Cristi verfluchte sich allmählich, weil sie überhaupt davon angefangen hatte. »Auf einer Farm.«
»Ja ?« »Ihr Vater war Pächter einer Farm, die zu Drumveyn gehört. Er ist jetzt im Ruhestand. Sie sind weggezogen.« Sie musste an Dougals Einstellung zu den Häusern für Gutsangestellte denken. Jude ließ sie nicht aus den Augen. Aber Cristi sah nicht, dass ihr Blick voller Zuneigung und Mitgefühl war. »Ich muss es dir nicht erklären, oder?« Es entstand ein kurzes Schweigen. »Du sagst, er hat keine Komplexe, und das weißt du bestimmt am besten, doch er hat seinen Stolz, nicht wahr? Er weiß, dass für euch verschiedene Wege vorgesehen sind. Und um ehrlich zu sein, dir ist ein ganz schönes Vermögen in den Schoß gefallen, und du hast nichts getan, um es dir zu verdienen. Lass ihn in Ruhe, das ist mein Rat. Wenn er ein Mädchen gefunden hat, das zu ihm passt und er auf seinem kleinen Hof neu anfängt, dann musst du die Kröte schlucken und ihn in Frieden lassen. Alles andere würde ihm nur Kummer bereiten.« »Ich weiß.« Cristis Stimme klang erstickt, und sie hatte Tränen in den Augen. »Es ist toll für ihn, und ich freue mich ehrlich. Aber Jude, ich fühle mich so leer. Da ist die se schmerzliche Lücke. Zu Weihnachten konnte ich nicht fassen, dass er nur ein, zwei Meilen entfernt und doch vollkommen abgesondert war. Es fühlte sich so seltsam an, dass ich nicht einfach losgehen und ihn besuchen konnte, wenn mir danach zu Mute war. Ich konnte ihn nicht einmal wie früher jeden Tag anrufen und ihm erzählen, was bei uns los ist. Es war, als ...« Sie hielt inne. Es fiel ihr nicht leicht. »Es war, als wäre er ein ganz anderer Mensch, den ich nur flüchtig kenne. Er kann in sein Haus gehen und die Tür schließen - genau wie all die anderen Leute im Glen, die ich zwar vom Sehen kenne, mit denen ich aber nichts weiter zu tun habe.« Ich war der Meinung, das hätten wir durch, dachte Jude. Aber sie muss das wohl auf ihre Weise verinnerlichen. »Ich kann nicht einfach heimfahren und mich dort niederlassen«, erklärte Cristi, als hätte ihr Jude das vorge schlagen.
»Und dabei geht es nicht nur um Dougal. Ich brauche einen Job. Ich kann nicht herumlungern und untätig sein.« »Aber du brauchst die tröstliche Umgebung von Drumveyn. « »Dumm, was? Und ausgerechnet nach Drumveyn kann ich nicht. Dabei sehne ich mich die ganze Zeit danach«, gestand Cristi. »Gleichzeitig möchte ich aber auch hier sein. Ich weiß, dass der Kontakt zu meiner brasilianischen Familie nicht gerade ein großer Erfolg war, doch ich habe hier viele andere Dinge gefunden, die mir etwas bedeuten. Es war richtig, dass ich hergekommen bin. Die Tage auf der Ranch waren ein großartiges Erlebnis, und ich werde nie vergessen, was ich über die Welt der Gauchos erfahren und was ic h gesehen habe. Und es war mir auch ungeheuer wichtig, hier ins Tageszentrum zu kommen, mit Ihnen zu arbeiten und so zu leben, wie es mir gefällt. Selbst die Zeit in Rio war ganz schön. Was immer auch geschieht, ich werde diesem Land nie ganz den Rücken kehren.« »Aber du weißt jetzt, wo dein wahres Zuhause ist?« »Ja.« Cristi lächelte wehmütig. »Ich musste nur an einem kalten Wintermorgen im Glen spazieren gehen. Da habe ich begriffen, wie viel mir Drumveyn gegeben hat. Ich bin in einem Alter hingekommen, in dem ich für alles Neue offen war. Ich hatte nie viel Liebe bekommen - außer von Isaura - und war oft allein gewesen. Ich wusste gar nicht, was es heißt, Spaß zu haben oder zu irgendwelchen Tätigkeiten animiert zu werden. Ich war daran gewöhnt, wie ein Püppchen angezogen zu werden, war verwöhnt und behütet, durfte mich aber nie frei bewegen. Und plötzlich war ich in dieser ganz neuen Welt. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Morgen, als man mich in Jeans und einen Pullover steckte - Sachen, die Madeleine von Jill ausgeliehen hatte - und ich im Schnee spielen, nass werden und frieren durfte. Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Offenbarung das war. Und da waren Dougal und Jill, kleine
Hunde, andere Tiere, Berge und Moor, eine neue Schule. Ich durfte alles Mögliche unternehmen, lernen, Sachen ausprobieren, reiten, rudern, im Loch schwimmen, mit Donnie die Schafe hüten. Und ich war umgeben von Menschen, die nett zu mir waren, nie laut wurden und mich gleichmäßig freundlich behandelten. Menschen, die Spaß hatten und viel lachten.« »Hmm«, machte Jude, die das meiste davon schon einmal gehört hatte. »Klingt wie ein Märchen.« Cristi lachte. »Aber Sie wissen, was ich meine.« »Oh, ich habe eine ungefähre Ahnung. Und du erkennst jetzt, dass dir diese Menschen, egal, auf welch unwahrscheinliche Art du zu ihnen gelangt bist, wichtiger sind als die viele Kohle, die riesige Ranch und der ganze Rest. Das kann ich verstehen. « Es hatte Cristi sehr geholfen, mit Jude über alles zu sprechen, obwohl sich ihre Situation dadurch nicht veränderte. Die Befreiung von den Fonsecas lag hinter ihr, sie hatte eine Bleibe (sogar eine angenehme), Beschäftigung und Freunde. Etliche Entscheidungen mussten noch getroffen werden, aber sie konnte sich Zeit lassen. Die Studenten waren aus den Sommerferien zur ück, und es war nicht schwer, die Freundschaften, die Cristi im Frühling geschlossen hatte, wieder aufzufrischen. Die Besitzüberschreibung von Tres Pinheiros war ein schwerfälliger Prozess, doch Cristi zerbrach sich deswegen nicht den Kopf. Sie unterschrieb, was zu unterschreiben war, lehnte es ab, nach Rio zu fliegen, und ließ statt dessen die Anwälte zu sich kommen, doch die meiste Zeit verdrängte sie diese Angelegenheit aus ihrem Bewusstsein. Die Nachrichten, die sie von zu Hause bekam, machten sie hin und wieder unruhig und weckten ihre Sehnsucht, aber sie konnte mit Jude darüber sprechen, und das half. Aber eine dieser Nachrichten, die nach Wochen eintraf, war weltbewegend.
36. Kapitel Archie war nach Devon gefahren, um Cecil zu besuchen. Das war das Erste, was Cristi erschütterte, und sie las die Sätze in Paulys großzügiger Handschrift mehr mals. Sie konnte sich Archie und Pauly ganz genau vorstellen: Beide waren nicht im Stande, das Bild zu vergessen, dass sie und Nicholas nach ihrer Rückkehr aus Devon von Gecil gezeichnet hatten, und sie unterhielten sich besorgt und voller Mitgefühl über Cecils Problem. Archie war es unmöglich, nichts zu unternehmen, und Pauly unterstützte ihn in all seinen Entscheidungen. Sie sind ganz besondere, außergewöhnliche Menschen, dachte Cristi voller Liebe und Bewunderung für sie, als sie mit dem Brief auf den Stufen im Garten saß und die goldene Wärme nach einem heißen Tag genoss. Ein Teller mit würzigem Brot und Salat stand neben ihr. Bemerkenswert an Pauly und Archie war nicht nur, dass sie bereit waren zu helfen, wenn Hilfe gebraucht wurde, sondern sich auch nicht von konventionellen Ansichten beeinflussen ließen. Die Tatsache, dass Cecil Archies Exfrau war, die ihn und Nicholas rücksichtslos im Stich gelassen hatte, schreckte sie nicht ab. Sie sahen lediglich, dass Cecil isoliert und allein lebte, unter einer unheilbaren Krank heit litt, die langsam fortschritt, und fanden, dass sie irgendetwas unternehmen mussten. Möglicherweise erkannten sie die Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet die Napiers Cecil auf dieser Welt am nächsten standen, nachdem ihre fatale Unfähigkeit, Beziehungen aufzubauen oder Liebe zu geben und zu empfangen, sie an eine einsame Küste geschwemmt ha tte, aber das würde nur ein flüchtiger Gedanke bleiben. Pauly störte sich nicht daran, dass sich Archie auf den Weg zu Cecil machte, und kämpfte nicht einmal insge heim mit Eifersucht. Cristi, die in den letzten Monaten selbst so viele emotionale Höhen und Tiefen erlebt hatte, war beschämt, wenn sie über Paulys Haltung nachdachte. Zum ersten Mal verstand
sie wirklich, wie es für Pauly gewesen sein musste, als sie sich in Archie verliebt hatte, der noch mit der kühlen und schönen Cecil verheiratet gewesen war. Sie hatte ihre Gefühle unterdrücken und ihrem Job im Haus nachgehen müssen, zu dem auch gehört hatte, für Cecils Kind zu sorgen. Irgendwann verließ sie in ihrer Verzweiflung Drumveyn, weil sie überzeugt war, dass Archie niemals eine Frau anschauen würde, die so jung und schlampig war wie sie. Dies war eine der Liebesgeschichten, die sich um Drumveyn rankten und zu denen auch Madeleines Romanze mit Tom und Lisas seltsames Dreiecksverhältnis mit Stephen und Joyce gehörten. Nie zuvor hatte sich Cristi in die fröhliche, lächelnde Neunzehnjährige hineingefühlt, die sie damals auch gekannt hatte. Cristi, die den Brief immer noch wie einen Talisman in der Hand hielt, überlegte, was hinter Paulys Wärme und Bereitschaft zu geben liegen mochte. War es die unerschütterliche Sicherheit, dass nichts die Liebe zwischen ihr und Archie zerstören konnte? Das musste auch Archies Entscheidung, Cecil zu besuchen, zu Grunde liegen. Sie stellten ihre Reaktionen nicht infrage, und verschwendeten keine Zeit mit Zweifeln. Sie sprachen aus, was sie empfanden, und glaubten, was sie hörten. Es klang so einfach. Cristi blieb im Garten sitzen, bis das schrille Zirpen der Zykladen verstummte und sich die sanfte Dunkelheit über sie senkte. Die Luft war voll mit dem beinahe unerträglich süßen Duft des Gartens, und am Firmament funkelten große Sterne. In den letzten Tagen hatte sie sich kaum Zeit zum Nachdenken gelassen. Sie verbrachte täglich viele Stunden im Tageszentrum, war, sooft sie konnte, mit Freunden zusammen und erfreute sich an den kulturellen Angeboten der Stadt, ging in Konzerte und ins Ballett und betrachtete voller Wehmut die Arbeiten der Gaucho-Künstler im Museu de Arte.
Es war nicht leicht, die Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit Luis abzuschütteln. Sie träumte noch immer davon, und wenn sie aufwachte, war sie überzeugt, dass man nicht so ohne weiteres der Kontrolle der Fonsecas entkommen konnte. Sie fürchtete, noch von ihnen zu hören. Doch dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie immerhin Tres Pinheiros zu ihren Gunsten aufgegeben hatte. Die Fonsecas hatten keinen Grund mehr, sie zu verfolgen. Im Gegenteil, sie mussten froh sein, ein so unangenehmes Familienmitglied losgeworden zu sein. Der Gedanke, dass Luis tatsächlich bereit gewesen war, sie zu heiraten, nur um die Ranch in die Hände zu bekommen, bestürzte sie nach wie vor, und sie schämte sich, dass sie sich jemals eingebildet hatte, er würde sich zu ihr hingezogen fühlen. Aber nach und nach, während ihre Verhandlungen mit den Anwälten plötzlich in Windeseile vorangingen (die Habgier der Fonsecas hatte den Herren zweifellos Beine gemacht), wurde ihr klar, dass Luis nichts gewinnen konnte, wenn er sie aufspürte. Sie begann, ernsthafte Plä ne für die Zukunft zu machen. Vor Wochen hatte sie nach Brasilien fliegen müssen, um mit Luis zu sprechen, und gleichzeitig war es wichtig für sie gewesen, dem Glen zu entfliehen, aber beides waren negative Gründe für ihren Aufenthalt in Porto Allegre. Ihr Leben lag sozusagen auf Eis, doch mit der Zeit geschah etwas, fast ohne dass es ihr richtig bewusst wur de: Ihre Augen fingen wieder an, richtig zu sehen, und es juckte sie in den Fingern, das festzuhalten, was sie sah. Sie schleppte ständig ihren Skizzenblock mit sich herum, und das Zeichnen machte ihr so viel Spaß, dass sie Lust hatte, auch mit Wasserfarben zu malen. Ihre wiedererwachte Kreativität veranlasste sie auch dazu, sich ihre Kleider wie früher selbst zu schneidern. Hier gab es so viele schöne Stoffe, dass sie nicht verstand, warum sie so lange damit gewartet hatte. Tag für Tag schien die Sonne. Einfache Kleidung, wenig Besitz und schlichte Ernährung, das alles vermittelte ihr das
Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit. Die casa aberta sorgte dafür, dass sie mit der Wirklichkeit in Berührung blieb, und die wichtigste Lehre, die sie zog, war, im Hier und Jetzt zu leben. Sich wegen der Fehler von gestern zu grämen oder sich um das Morgen zu sorgen, führte zu nichts. Es war nicht immer leicht, mit Jude zusammenzuarbeiten. Obwohl Jude selten klagte, war es besonders morgens ihren Bewegungen anzusehen, dass sie Schmerzen hatte. Wenn diese Schmerzen zu schlimm wurden, war mit ihr nicht gut Kirschen essen. Eines Abends nach einem turbulenten Tag brauste sie auf, weil Cristi einem der Kinder erlaubt hatte, auf Papier aus ihrem kostbaren Vorrat zu malen. »Lieber Himmel, glaubst du, ich bettle und schnorre mir die Sachen zusammen, damit irgendjemand darauf herumkritzelt? Geh raus und mal mit ihnen im Schlamm, wenn es unbedingt sein muss.« Cristi entschuldigte sich hastig und erkannte, dass dies eine Gelegenheit sein könnte, etwas anzusprechen, was sie schon seit einiger Zeit loswerden wollte. Ihr Unbehagen darüber, dass Jude jeden Penny zusammenkratzen musste, um das Tageszentrum am Leben zu erhalten, während sie selbst über jede Menge Geld verfügte, wuchs von Tag zu Tag. Solange Tres Pinheiros noch ihr gehört hatte, war das Fonseca-Kapital ihrer Ansicht nach für Investitionen auf der Ranch bestimmt gewesen. Die Situation hatte sich verändert, und nachdem Cristi alles sorgfältig überdacht hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, dass sie nicht verpflichtet war, auch noch das Geld an die Familie zurückzugeben. Sie hatte eine schriftliche Forderung durch die Anwälte erwartet, aber dieser Punkt war nie erörtert worden. Von Anfang an hatte Cristi, wenn Jude sie zum Hamstern losgeschickt hatte, selbst einige Kleinigkeiten zu den Spenden gesteckt, aber sie war immer überzeugt gewesen, dass Jude
fuchsteufelswild werden würde, wenn sie ihr auf die Schliche kam. Es war schwer zu sagen, warum Jude so etwas nicht duldete. Im Allgemeinen hatte Jude wenig Skrupel, nach allem zu greifen, was ihr half, das Tageszentrum noch eine Weile offen zu halten. Aber Cristi hatte das Gefühl, dass ein empfindliches Gleichge wicht zwischen ihnen zerstört würde, wenn sie anfing, »Almosen zu verteilen«, wie Jude es nennen würde. Im ersten Moment wünschte sie fast, sie hätte keine schlafenden Hunde geweckt, weil Jude tatsächlich ärgerlich wurde. Cristi erwiderte schüchtern, dass sie jetzt, da die Angelegenheit mit der Ranch geregelt sei, neben ihrer praktischen Hilfe auch eine finanzielle beisteuern könne. Das öffnete Tür und Tor zu erstaunlichen Enthüllungen. »Ich will dein Geld nicht«, erklärte Jude aufgebracht. »Behalt es. Ich komme zurecht.« »Das weiß ich. Aber würde zusätzliches Geld nicht bedeuten, dass Sie mehr für die Kinder tun können?« Damit hatte sie offenbar einen Nerv getroffen. Jude sog scharf die Luft ein und hätte beinahe einen Anfall bekommen. Cristi sollte Bekenntnisse hören, mit denen sie im Traum nicht gerechnet hätte. »Ich weiß, ich bin verrückt, das brauchst du mir nicht zu sagen. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Ich bin in letzter Zeit ziemlich unzufrieden mit mir. Ich habe geahnt, dass du immer schon heimlich etwas dazugesteckt hast, und ich wusste, dass ich keine Schwierigkeiten damit haben sollte.« Cristi zögerte, bevor sie vorsichtig fragte: »Aber wieso ist es ein Problem?« »Ha.« Ein Ausruf der Selbstverachtung. »Eine gute Frage. Du denkst, ich bin froh um alles, was den Kindern hilft, stimmts? Ich kann es nur so erklären: Ich brauche den Kampf, sonst habe ich nicht das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Kurz: Es geht im Grunde nur um mich - ganz allein um mich. Wahrscheinlich war
das immer so.« »Jude, das glauben Sie nicht im Ernst«, protestierte Cristi. »Sie haben Ihr ganzes Leben lang anderen Menschen geholfen.« »Mag sein. Aber es hat mir einen Kick gegeben, dass es eine solche Schufterei ist - und allein wenn ich daran denke, dass jemand in der Lage ist, mir eine Hand voll Geld zu geben, ohne dass der Betreffende überhaupt merkt, dass ihm etwas fehlt... Ach, ich habe einfach nicht die Größe, das anzunehmen. Ich bin diejenige, die gibt, verstehst du? Es geht um mein Ego. Traurig, was?« »Also würde finanzielle Hilfe von mir Ihre Bemühungen sinnlos erscheinen lassen?« »Es geht um den Umfang dieser Hilfe.« Cristi legte die Finger auf Judes knotige, abgearbeitete Hand. »Sie mögen ja behaupten, dass Sie das alles nur zu Ihrer eigenen Befriedigung tun«, entgegnete sie, sah sich in der heruntergekommenen, spärlich ausgestatteten Hütte um und überlegte, was diese Zufluchtsstätte den vielen Kindern bedeutete, »aber Sie müssen doch wissen, wie viel Sie gegeben haben. Hunderte, Tausende von Menschen erinnern sich mit Dankbarkeit an Sie.« »Huh.« Jude entzog ihr die Hand. »Ich hab nichts übrig für dieses rührselige Zeug.« Cristi dachte daran, wie diese Hand die verletzten und geschwollenen Gesichter ins Licht drehte, eiternde Wunden reinigte, Messerschnitte verband und mit Läusen befallene Köpfe wusch, wie diese dürren Arme kleine, halb verhungerte und zitternde Körper umfasste. »Nein, bestimmt nicht.« Die Briefe von zu Hause erzählten nicht nur von Nicholas' Erfolgen beim Rugby, davon, dass Tom mittlerweile nur mit einem Stock von der Scheune bis zum großen Haus hinuntergehen konnte oder dass Broy zufällig eine Maus gefangen hatte, die er unter seine Matratze gestopft hatte, um sie
zum Schweigen zu bringen, nachdem er sie eine ganze Weile verlegen herumgeschleppt hatte - sie enthielten auch wichtigere Neuigkeiten. Mike Danaher von Grianan verfiel zusehends. Michael und Kirsty kamen jedes Wochenende nach Hause, und Sallys Freundinnen halfen so viel wie möglich. Sally fühlte sich verpflichtet, das Hotel im Sommer zu öffnen. Sie wollte die vielen Leute, die jedes Jahr bei ihr den Urlaub verbrachten, nicht enttäuschen, doch die Saison würde sehr schwierig für sie werden. Noch spannender - aber im Grunde nicht überraschend - war, dass Archie und Pauly Cecil dazu überredet hatten, nach Drumveyn zu kommen, damit sie sich um sie kümmern konnten, und dass im Moment alle Vorbereitungen getroffen wurden. Diese großherzige Geste, die erst angeboten worden war, nachdem Archie und Pauly Nicholas gefragt hatten, ob er mit einer solchen Lösung wirklich einve rstanden sei, sagte alles über die Lebenseinstellung der beiden wunderbaren Menschen, und Cristis Sehnsucht nach ihnen wurde noch größer. Nostalgische Bilder verfolgten sie, ließen ihr keinen Frieden, und trotz aller Anstrengungen kreisten ihre Gedanken unausweichlich um Dougal. Da es ihr nicht gelang, ihn zu vergessen, und sie sich zudem klar machte, dass sie sich hier nur eine vorübergehende Existenz geschaffen hatte, bemühte sie sich nach Kräften zu analysieren, warum ihr Dougal nach wie vor so viel bedeutete. Diese Frage beantwortete sie sofort damit, dass sie das Gefühl hatte, er wäre ein Teil von ihr; ohne ihn war ihr, als hätte sie etwas verloren, als wäre sie unvollkommen. Andere Männer waren Normalsterbliche, Fremde. Auch in körperlicher Hinsicht genügte er ihren Sinnen vollkommen — daran hatte Cristi bisher nie einen Gedanken verschwendet. Seine Nähe war ihr angenehm, was etwas ganz anderes war als dieses kurze, halb schuldbeladene Sich-Hingezogen-Fühlen zu Luis. Dougal sah
nicht nur gut aus, es war vielmehr: Seine Haut, die ihr fast so vertraut war wie ihre eigene, die Art, wie er sich bewegte, seine Kompetenz und Kraft - das alles sprach sie an. Auch sein Charakter war stark, er besaß Integrität und gesunden Menschenverstand, auf den sie sich immer verlassen hatte, ohne es selbst zu merken. Aber vor allem machte es Spaß, mit ihm zusammen zu sein, und es war ganz natürlich und das Schönste an zu Hause. Er hatte sie aufgezogen oder auf die Palme gebracht, wenn ihm danach zu Mute gewesen war, und sie in die Schranken verwiesen, doch, lieber Himmel, wie viel hatten sie zusammen gelacht, wie oft über Gott und die Welt geredet, und wie wohl hatten sie sich in der Gesellschaft des anderen gefühlt! Erinnerungen, an die sie seit Ewigkeiten nicht gedacht und auf die sie jetzt leicht hätte verzichten können, kamen zurück, um sie zu quälen. Dougal war ihr großer Beschützer in den ersten Wochen in der Dorfschule, und sie vertraute absolut auf seine Fürsorge. Und später, als sie ins Internat kam, war das Wunderbarste an den Ferien, dort anzuknüpfen, wo sie das letzte Mal aufgehört hatten. Er wusste immer, wo er sie finden konnte. Oft, wenn sie auf dem Weg zum Hirten-Cottage war, kam er ihr schon entgegen und strahlte bei ihrem Anblick über das ganze Gesicht. Beinahe ohne ein Wort zu sagen, zogen sie dann gemeinsam los, um irgendeiner Beschäftigung nachzugehen. Klare, beunruhigende Szenen aus dieser Zeit spulten sich vor ihrem geistigen Auge ab: die kalten, reglosen Stunden, die sie vor einem Dachsbau im Wald warteten, während die Morgendämmerung langsam einsetzte; das freudige Lächeln, mit dem sie sich ansahen, wenn ihre Geduld endlich belohnt wurde; Dougal, der lachend ins Wasser watete, um sie herauszufischen, als ein Stein im Bach unter ihren Füßen weggerollt war; der dunstige, warme Augusttag, an dem sie das Pony von der Bergweide herunterbrachten und angenehm müde waren nach dem langen Marsch; die Treibjagden, bei denen die
anderen Treiber vorausgingen und sie allein ließen. Und immer war Dougal an ihrer Seite. Die Moorhuhnjagden waren ihr besonders im Gedächtnis geblieben, und sie sah heute diese Tage in einem anderen Licht. Sie und Dougal gehörten zu einer Treibergruppe mit etlichen Gutsarbeitern und anderen Kindern aus dem Glen, die zusammen ein Picknick im Freien veranstalteten, während die Familie Napier auf der andern Seite der Weidenmauer saß. Dougal hatte nie auch nur die mindeste Verlegenheit gezeigt, wenn er mit Cristi zusammen gewesen war. Wurde er oft deswegen gehänselt? Bestimmt. Darüber hatte sie nie nachgedacht. Es war eben einfach alles so, wie es war. Eine Frage musste sie sich stellen: War ihr Interesse an allem, was mit Kunst zu tun hatte, tatsächlich der Grund dafür, dass er sich von ihr entfernt hatte? Nein, im Rückblick erkannte sie ganz deutlich, dass sie viel zu viele Gemeinsamkeiten hatten, um ihre Freundschaft davon beeinflussen zu lassen. Dougal war wissbegierig und hatte viele eigene Interessen, und seine weit gefächerten Kenntnisse hatten sie immer beeindruckt. Es war unwichtig, für welches Studienfach sie sich entschied weit grundlegendere Dinge hatten sie auseinander getrieben. Und endlich wurde ihr klar, dass es an ihr und nur an ihr war, das Problem zu beseitigen. Sie schämte sich, dass sie vorher nie auf diesen Gedanken gekommen war. Wie konnte sie von Dougal erwarten, die Dinge wieder ins Lot zu bringen? Sie hätte nur ein wenig mutiger sein, ihm mehr vertrauen müssen, dann hätte sich die Kluft zwischen ihnen niemals aufgetan und wäre erst recht nicht so breit geworden, dass eine Verständigung kaum noch möglich war. Ihre Freundschaft hatte auf gemeinsamen Ansichten und Einstellungen sowie auf starker Zuneigung basiert, und das hatte sie zu spät begriffen. Viel, viel zu spät. Noch hatte in den Briefen nichts von Dougals Heirat gestanden, und Cristi wünschte sich einerseits, dass ein
Hochzeitsdatum festgesetzt wurde, damit alles endgültig und unwiderruflich war, andererseits fürchtete sie sich so sehr davor, dass ihr kalte Schauer über den Rücken liefen. Sie konnte nicht nach Hause fahren, bevor Dougal verheiratet war und sie alle Hoffnungen und Sehns üchte zwangsläufig aufgeben musste. Wenn die Tatsachen geschaffen waren und Dougal und Alison sich im Croft of Ellig endgültig eingerichtet hatten, dann war Cristi vielleicht im Stande, ihre eigene Zukunft in Angriff zu nehmen.
37. Kapitel Wie es oft vorkommt, erreichte die entscheidende Nachricht sie indirekt als kleine Randbemerkung von jemandem, der die mögliche Auswirkung nicht bedachte. Sally Danaher und Cristi wechselten hin und wieder Briefe - Sally brauchte Kontakt zu der Welt außerhalb von Grianan, und sie schrieb in der Annahme, dass Cristi bereits alles wusste: Eine Schande, dass sich Alison Mowat so strikt weigert, im Glen zu leben! Sie sagt, sie hat genug davon, meilenweit entfernt von allem auf einer Farm festzusitzen, die man nur über einen Feldweg erreicht. Es wäre traurig, wenn Dougal sein Croft aufgeben müsste - nach all der Arbeit, die er ins Haus und alles andere gesteckt hat! Ich kann mir vorstellen, dass Archie auch nicht gerade glücklich darüber sein wird. Dann sprang Sally auf andere Themen über und erzählte von allem, nur nicht von dem, was sich in ihrem eigenen Leben ereignete. Cristi stockte der Atem, als sie die kurze Passage noch einmal durchlas, und fing an zu zittern. Sie versuchte, sich auszumalen, welche Folgen Alisons Weigerung haben könnte. Forderte Alison allen Ernstes von Dougal, dass er den Traum aufgab, der ihm mehr als alles andere in der Welt bedeutete? War Dougal gezwungen, auf seine große Chance zu verzichten, eigenes Land zu bewirtschaften und selbst Tiere zu halten? Musste er die Umgebung verlassen, die er liebte, in- und
auswendig kannte und zu der er gehörte? Würde er in die lärmende, umweltverschmutzte, seelenlose Stadt ziehen? Noch beunruhigender war der Gedanke, dass sich Dougal und Alison auf eine gemeinsame Zukunft einließen, obwohl sie derart verschiedene Ziele verfolgten. Cristi hätte gedacht, dass Alison, die Farmerstochter, bestens für ein Leben im Croft geeignet und fähig war, mit Dougal jeden Aspekt des Lebens zu teilen. Aber jetzt fiel ihr wieder ein, wie glücklich Alison war, als ihre Familie nach Perth zog und sie Zugang zu all den Vergnügungen hatte, die für ihre Freundinnen selbstverständlich waren: Geschäfte, Kino, Clubs, Cafes und Verkehrsmittel, die ihr die noch größeren Freuden in Edinburgh und Glasgow ermöglichten. Wenn Alison all das mochte, dann war ein Leben im Croft of Ellig für sie ein Schritt zurück in die verhasste Vergangenheit. Es war wirklich Besorgnis erregend, dass Dougals Zufriedenheit in seinem neuen Leben gefährdet sein könnte, aber für Cristi barg diese Situation auch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Falls sich Dougal, aus welchen Gründen auch immer, entscheiden sollte, die Vereinbarung mit Archie aufzukündigen und seine geliebte kleine Farm zu verlassen, dann könnte sie selbst nach Hause fahren. Es bestünde kein Risiko mehr, dass sie sich zufällig über den Weg liefen, und sie musste nicht befürchten, Dougal und Alison als Ehepaar zu erleben. Doch die Ironie blieb. Der Glen Ellig mochte die schlimmsten Qualen für sie bereithalten, aber Drumveyn war nach wie vor der einzige Ort, an dem sie Trost finden würde. Allerdings konnte sie nicht auf Grund von Sallys beiläufiger Bemerkung zur Tat schreiten. Sie konnte nicht riskieren, nach Hause zu kommen, solange Dougal nicht gebunden war. Einer von Paulys liebevollen, fröhlichen Briefe, den sie in Eile zu verschiedenen Zeiten und mit verschiedenen Stiften verfasst hatte, brachte schließlich ein wenig Gewisshe it. Eine
vollkommen verstörte Jean hatte ihr augenscheinlich erzählt, dass Alison Dougal ein Ultimatum gestellt hatte: Er musste sich zwischen ihr und einem Leben im Glen entscheiden. Das Croft of Ellig sei zu abgelegen und primitiv für sie. Natürlich ist, um Jean zu zitieren, >nichts aus Dougal heraus zu bekommem, schrieb Pauly. Aber es muss schrecklich für ihn sein. Wir hatten gehofft, dass er sein Glück gefunden hat. Doch Pauly gab nur die Version wieder, die Dougal seine Mutter und die anderen Leute im Glen wissen ließ. Er fand, dass seine Angelegenheiten niemanden etwas angingen. Der ersten Aufregung nach der Verlobung, den glücklichen Vorstellungen von der Zukunft und der Freude, dass sie gleich von Anfang an ein eigenes Haus hatten, folgte eine weniger euphorische Phase, in der sich Alison - unterstützt von ihrer Mutter und der älteren Schwester - ernsthaft daranmachte, das Haus auszustatten und zu möblieren. Sie suchten Farben aus, redeten von Doppelverglasung und berieten, welche Art von Zentralhe izung eingebaut werden sollte. Konnte hier auch im Winter Öl angeliefert werden? Wie lange würde es hier oben dauern, bis ein Stromausfall behoben war? An den Wochenenden wurden Teppiche und Vorhänge ausgewählt und für Dougal ein dreiteiliger Anzug gekauft, ohne den kein Mensch heiraten konnte. Alisons Familie und Freundinnen kamen zu Besuch, um alles zu inspizieren, und mussten natürlich bewirtet werden, und Dougal musste dafür an Hochzeiten, Geburtstagsfeiern und anderen Festen teilnehmen, die in Alisons großem Kreis regelmäßig stattzufinden schienen. Dougal hatte das als notwendigen Teil des Ganzen akzeptiert. Er hatte Alison mit zu Jean zum Tee genommen, wurde Alisons verheirateten Freundinnen präsentiert und musste etliche Mahlzeiten in »schicken« Hotels durchstehen. Damit er für diese Gelegenheiten immer passend gekleidet war, wurde seine Garderobe erweitert, obwohl es ihn störte, dass er für diese Kinkerlitzchen Geld ausgeben musste, das er für andere Dinge
nötig brauchte. Aber Alison verwendete ihre eigenen Ersparnisse für die Einrichtung des Hauses, und es wäre schä big, wenn er sich beschweren würde. Er tröstete sich damit, dass ein dunkler Anzug immer gut war, weil man ihn auch auf Beerdigungen anziehen konnte. Doch das Geld war nicht seine einzige Sorge. Schlimmer war, dass er so viel Zeit vertrödelte, die gerade im Frühjahr so kostbar war, und eine Menge Arbeit liegen blieb. Dabei ging es ihm nicht nur darum, dass er seine eigene kleine Farm so schnell wie möglich auf Vordermann bringen wollte, sondern auch um seine Verpflichtungen Archie gegenüber. Aber diese Bedenken behielt er für sich. Es wäre nicht fair, Alison diese besondere Zeit zu verderben. Alle machten ein Riesentheater um ihre Verlobung, und die Aufregung würde sich bald wieder legen. Wenn dann die Tage länger wurden, konnte er bestimmt alles Versäumte aufholen. Und nach der Hochzeit bekam er Hilfe von Alison. Zu zweit würden sie die Arbeit spielend bewältigen, und sie konnten sich mehr Tiere anschaffen und den Garten bestellen. Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass die eigentlichen Hochzeitsvorbereitungen so langwierig waren, und erst recht nicht damit, dass es eine so große Hochzeit werden würde. Doch er konnte sich nicht gut dagegen wehren. Alisons Vater war mehr als großzügig, und es war immerhin ihr großer Tag. Dougal schien nie die Zeit zu haben, sich ein wenig zurückzuziehen und zu überdenken, was mit ihm geschah; vielleicht wollte er es auch gar nicht genauer prüfen. Ein Ereignis folgte dem anderen und trieb ihn weiter, und es lag nicht in Dougals Natur, irgend etwas halbherzig zu tun. Wenn Alison es sich so wünschte, dann sollte sie es bekommen. Aber er konnte die Augen nicht gegen die allmählich, anfangs noch kaum wahrnehmbare Veränderung in Alisons Verhalten verschließen. Zunächst war es nur eine kleine
Ungehaltenheit über die Nachteile eines Wohnsitzes, der »so weit vom Schuss« war. Es begann mit Scherzen und ironischen Bemerkungen wie: »Ich muss meinen Kopf untersuchen lassen, weil ich tatsächlich wieder hierher zurückkomme.« Doch bald wurde unverhohlener Unmut daraus, wenn sie auf dem Weg bei Regen Tore öffnen und wieder schließen musste, wenn der Wind ihre Frisur ruinierte und ihre Schuhe schmutzig waren. Richtig wütend wurde sie, weil ihr geliebtes Auto nach etlichen Fahrten über den holprigen Feldweg vom und zum Croft of Ellig einen neuen Auspuff brauchte. Diese Klagen, die Dougal nicht allzu ernst zu nehmen versuchte, mündeten rasch in Anspielungen darauf, dass dies »nur eine vorübergehende Lösung« sei und sie, »sobald sie richtig Fuß gefasst hatten«, etwas Besseres finden würden. Mit anderen Worten, sie wollte in ein hübsches kleines Haus in Muirend ziehen, dann hätte es Dougal nicht so weit zu seinem Büro, und sie könnte an den Wochenenden Mum besuchen. Ihre Mum. Eines Abends, als sie in einem Wolkenbruch zum Croft fuhren, kam es zum Eklat. Dougal bat Alison, im Wagen zu bleiben, weil er das Tor selbst öffnen wollte, aber als er ziemlich durchnässt wieder einstieg, brach der angestaute Frust aus ihr heraus. Sie erklärte, es sei absurd, dass es überhaupt jemandem einfallen konnte, sich an einem solchen Ort niederzulassen. Dougal blieb eine ganze Weile schweigend sitzen, dann machte er ihr in aller Ruhe klar, dass es so nicht weitergehen konnte - es sei ihm unmöglich, sie zu heiraten. Er tat sein Bestes, um mit dem Schock, dem Kummer und den immer hysterischer werdenden Vorwürfen fertig zu werden: Die Hochzeitsvorbereitungen wären dann ganz umsonst gewesen, die Kleider für die Brautjungfern waren schon fe rtig, Alisons eigenes Kleid kostete ein Vermögen. Und was war mit den Geschenken? Und diese Schande, wenn sie alle Aufträge stornieren und den Leuten erklären musste, dass die Hochzeit
abgesagt wurde! Während Alison erst weinte, dann wütete, fragte sich Dougal gequält, wie viele Menschen allein durch solche Vorhaltungen in eine Ehe getrieben wurden. Aber seine Charakterstärke und Entschlossenheit kamen ihm zu Hilfe. Er hatte sich aus den falschen Gründen auf diese Sache eingelassen. In dem Bestreben, nicht allein zu bleiben, hatte er sich für ein Mädchen »entschie den«, von dem er annahm, dass es in seine Umgebung passte, das ihm die Kinder schenken würde, die er sich wünschte, und mit ihm mehr oder weniger das Leben führen wür de, das seine und ihre Eltern geführt hatten. Um sich selbst davon abzubringen, sich nach etwas zu sehnen, was er nie bekommen konnte, hatte er sich - bewusst oder unbewusst - auf seine eigene Herkunft besonnen. Aber irgendwann hatte er sich, ohne es selbst zu merken, davon ent fernt, und er würde niemals mit dem zufrieden sein, was ihm ein solches Leben zu bieten hätte. Zwei Stunden später, nachdem er Alison nach Hause gebracht hatte, saß er an derselben Stelle. Er bereute nur, dass er Alison so wehgetan hatte. Aber er durfte nicht zulassen, dass sie, ihre Familie oder seine Mutter ihn in irgend etwas hineindrängten, was ihm nicht entsprach. Er war er selbst, eine eigenständige Persönlichkeit, und das hatte er heute Abend unter Beweis gestellt. Es war besser, ein Leben lang allein zu sein, als einen unbefriedigenden Kompromiss einzugehen, nachdem er einen Blick auf das erhascht hatte, was sein könnte. Mit der Zeit würde er eine gewisse Zufriedenheit erlangen. Cristis Hände zitterten so sehr, dass sie die Seiten verknitterte, obwo hl sie sie glatt streichen wollte, um Paulys Brief noch einmal zu lesen. War das bloßer Glen-Klatsch? Das konnte nicht sein, wenn Pauly es direkt von Jean erfahren hatte. Aber würde Alison ihren Standpunkt ändern? Oder entschied sich Dougal, sich ihren Wünschen zu beugen? Vielleicht war mittlerweile das von der Sonne beschienene Haus auf der Anhöhe leer und still.
Aber wenn es so war ? Cristi wusste inzwischen - sie hatte Zeit genug gehabt, darüber nachzugrübeln -, dass sie Dougal durch ihre eigene Naivität und wegen ihrer mangelnden Initiative verloren hatte. Als er sich von ihr zurückgezogen hatte, war sie bestürzt und enttäuscht gewesen, hatte aber nichts unternommen, um die Situation zu klären. Aus dieser Entfernung war es leicht, zu erkennen, was schief gelaufen war, und ihre Freundschaft aus Dougals Blickwinkel zu betrachten. Sie sah die Hindernisse, die sich vor ihm aufgetürmt hatten. Er hätte ihre Bestätigung gebraucht, doch sie war zu unreif und unsicher gewesen, um sie ihm zu geben. Sie hatte zuge lassen, dass die Kluft zwischen ihnen breiter wurde, und obwohl sie sich deswegen gegrämt hatte, war sie untätig geblieben. Aber woher sollte sie wissen, dass sich Dougals Gefühle nicht verändert hatten? Es war viel Zeit vergangen. Er hatte sich in Alison verliebt, wollte sie heiraten und war sicher am Boden zerstört, wenn sie ihn jetzt verließ. Es barg Gefahren, wenn sie so dachte, das wusste Cristi. Schließlich hatte sie das schon einmal auseinander getrieben. Eine Erinnerung rettete sie, und sie klammerte sich in ihrer Not daran: Sie sah den Moment wieder vor sich, in dem alles ohne jeden Zweifel klar zwischen ihnen gewesen war - den Moment, in dem sie in Dougals Küche gekommen war und das Strahlen in seinem Gesicht gesehen hatte. Das war ein Spiegelbild ihrer eigenen Gefühlswelt gewesen. Dieser Augenblick und ihr Vertrauen in die Gewissheit von damals musste sie nach Hause tragen. Sie ging zum Croft wie schon einmal. Es war ihr unmöglich, ihre Gedanken auf das zu fixieren, was vor ihr lag; statt dessen ließ sie sich von dem, was sie sah und hörte, ablenken. Der Frühling stand unmittelbar bevor, die Abende wurden von Tag zu Tag länger, und falls es über Nacht geschneit hatte, dann leckte die Sonne den Schnee am Morgen schnell wieder auf; die Temperaturen reichten von null bis neun Grad.
Einige Felder waren schon gepflügt, und die Land schaft unterhalb des Berges hatte ein grünbraunes Mus ter. Die Kätzchenweiden am Bach leuchteten golden, und die späte Sonne tauchte die Birkenknospen in einen rötlichen Schimmer. Brachvögel, Austernfischer und das leise Wimmern eines Bussards waren zu hören. Als das Licht die für einen Märzabend typische bläuliche Färbung annahm - blaue Berge und rauchblaue Wolken -, bekam Cristi ein wenig Angst. Sie war aufgeregt. Diese vertraute Schönheit bedeutete plötzlich zu viel. War sie drauf und dran, einen schrecklichen Fehler zu begehen, der sie wie der von hier fortjagen würde? Als sie auf den Weg zum Croft kam, wünschte sie, sie wäre mit dem Auto hergekommen. Es war noch hell. Dougal arbeitete sicher irgendwo im Freien und würde sie auf jeden Fall sehen. Ja, er war schon am Tor, er lehnte regungslos an der Holzstrebe und beobachtete, wie sie näher kam. Sie hätte ihn vorher anrufen sollen, damit er selbst entscheiden konnte, ob er sie sehen wollte odernicht. Das wäre nur fair gewesen. Es fiel ihr schwer, die letzten Meter zu gehen, während er sie unverwandt ansah. Sein Gesicht war ausdruckslos, und als sie vor ihm stehen blieb, schaute sie ihn so ernst an wie er sie. »Cristi.« Er nickte knapp, ohne den Blick von ihren Augen zu wenden. Diesmal strahlte er nicht. »Hi.« Was für ein lächerlicher Gruß nach all der Sehnsucht, Einsamkeit und den quälenden Zweifeln. »Ich wusste nicht, dass du zu Hause erwartet wirst.« Sie hörte seiner Stimme an, dass es ihm ebenso schwer fiel wie ihr, ein Wort herauszubringen. Sie stand noch eine Weile schweigend da, spürte die kühle Luft auf ihren Wangen, merkte, wie die Dämmerung hereinbrach und sah die schneebedeckten Berggipfel hinter dem Haus. »Ich bin zurückgekommen, weil ich dich sehen wollte.« So, jetzt war es ausgesprochen. Dougal straffte die Schultern und schaute sie nach wie vor an.
»Du wolltest mich sehen?« »Ja, und mit dir reden.« Stille. Nein, keine Stille, denn der Wind flüsterte in den Fichten, der von der Schneeschmelze volle Bach plätscherte, die Vögel zwitscherten. Es war nicht leicht. Das geschlossene Tor trennte sie, und Dougal machte keine Anstalten, es zu öffnen. Aber Cristi hatte einen weiten Weg zurückgelegt, um ihm das zu sagen. »Ich habe das von Alison gehört.« Dougal kniff die Augen leicht zusammen. Er half ihr kein bisschen weiter. »Dougal, es tut mit Leid, dass es nicht geklappt hat.« Cristi meinte es ehrlich. Sie könnte es nicht ertragen, wenn er unglücklich wäre. Gleichzeitig packte sie Verle genheit und heiße Scham, weil sie so selbstsüchtig und unsensibel war, ihn einfach zu überfallen. Dougal musste ein gebrochenes Herz haben. Ach, wenn sie ihn doch glauben lassen könnte, dass sie nur auf einem Spaziergang gewesen war und auf dem Rückweg schnell bei ihm vorbeischauen wollte! Dougal war jetzt ein Fremder für sie, der mit ihrem Leben nichts mehr zu tun hatte. Aber nein, solche Überlegungen hatten schon einmal großen Schaden angerichtet. Jetzt war Aufrichtigkeit das Allerwicht igste - das verriet ihr ein Instinkt. Außerdem kannte sie Dougal gut, und sie merkte ihm nicht an, dass er niedergeschlagen oder traurig war. In dem Augenblick, bevor Dougal ein Wort sagte, löste sich Alison in Luft auf wie die Nebelfetzen an den Berghängen. »Mir ist kalt«, gestand Cristi. Dougal warf einen Blick in ihr Gesicht und schob den Riegel des Tores auf. Er schloss es hinter ihr, und sie wartete, dann gingen sie dicht nebeneinander zum Haus. »Ich setze Wasser auf«, erklärte er. Himmlische Normalität. Sie flog um die halbe Welt, und er setzte Teewasser auf. Tränen schössen Cristi in die Augen,
obwohl sie nicht hätte erklären können, warum. Sie folgte ihm über den sauberen Hof, atmete tief den Geruch nach Fichten, Mist, nassem Stroh, feuchten Steinen und Frühling ein. In der mittlerweile mehr dekorierten Küche brühten sie Tee auf. Diese Kanne hat ihm Jean geschenkt, dachte Cristi. Solche Details waren unerträglich bitter. Wo sollte sie anfangen? Wie konnte sie die tausend Gedanken in Worte fassen, die sie zu diesem Moment geführt hatten? Dougal rührte in seinem Tee. Sie betrachtete seine breiten tüchtigen Hände, sein braunes Haar, das im Licht glänzte, und die wettergegerbte Haut an seinem Hals. Sein kräftiger Körper steckte in der Arbeitskleidung, in der er die Tiere gefüttert hatte. Und Cristi wusste, dass dieser stille, selbstgenügsame, stolze Mann nichts anderes wollte als dies hier, dieses schlichte Haus und dieses unabhängige Leben. »Dougal, ich war so ein Idiot!« Er wandte sich ihr ruckartig zu. Das Leuchten in seinem Gesicht machte jedes weitere Wort und alle Erklärungen überflüssig. »Du ein Idiot. Gott, Cristi, ich denke, da sind wir schon zu zweit.« Sie glaubte, er würde sie in die Arme nehmen. Dann wäre die Wahrheit ganz klar, und weitere Diskussionen wären unnötig. Aber im letzten Moment hielt er inne und wandte sich stirnrunzelnd ab. »Trotzdem hatten wir wahrscheinlich in gewisser Weise Recht.« Cristi fing an zu zittern - sie traute ihren Ohren nicht. »Recht?« »Ich meine, es ist schön, wenn wir Freunde sind, nicht? Das wird immer so bleiben. Es war...«, er wählte sorgfältig seine Worte. »Es war großartig, dich hier heraufkommen zu sehen. Es ist wunderbar, dass du wieder zu Hause bist...« Cristi war so benommen, dass sie für eine Sekunde all die
Lektionen vergaß, die sie gelernt hatte. Aber nur für eine einzige Sekunde. »Diesen Unsinn will ich mir gar nicht anhören«, erwiderte sie. Ihr Blick fiel auf eine Tesco- Tüte, die auf dem Tisch stand. »Abendessen? Ist genug für zwei da? Wir haben nämlich eine ganze Menge aus der Welt zu schaffen, und wir fangen mit deinem langweiligen, halsstarrigen Stolz an.« »Wovon redest du?« Dougal war nicht nach Scherzen zu Mute. Er starrte sie an. »Ich bin nicht sicher, ob du eine Erklärung verdienst - du bist wirklich ein Idiot.« Cristi war jetzt absolut sicher und zuversichtlich. Sie wusste, warum sie hergekommen war. Es mochte vielleicht nicht sofort passieren, jedenfalls nicht vor dem Essen, doch diesmal entkam er ihr nicht. »Komm, lass uns was kochen.« »Cristi.« Sein Ton rüttelte sie auf. Er konnte nicht leichtfertig mit dieser Geschichte umgehen. Liebe, Bedürfnis und Zweifel zerrissen ihn. Nun, für sie war es auch ernst. Sie ging auf ihn zu, legte die Hände auf seine Arme und sah ihm ins Gesicht. »Douga l«, sagte sie leise. »Ich bin zurück. Nur ich. So wie ich bin, wie du mich immer gekannt hast. Glen Ellig ist meine Welt, der Ort, an dem ich sein will. Die brasilianische Episode ist vorbei und erledigt. Ich werde dir bald alles erzählen, aber im Augenblick existiert das alles nicht für mich. Ich habe die Ranch an die Familie zurückgegeben. Doch hier weiß noch niemand, dass ich auch das Geld verschenkt habe.« »An die Familie ?« Er war sichtlich erschrocken. »Nein, an andere. An... na ja, es war so eine Art Wohltätigkeitsstätte, mit der ich dort zu tun hatte.« »Du hast es für wohltätige Zwecke gespendet?« Er war derart verblüfft, dass er gar nicht begriff, was das zu bedeuten hatte. »Das Geld hat nie wirklich mir gehört. Es war irgend wie wertloses, falsches Geld. Und wir brauchen es nicht.«
»Cristi?« Sie nickte. Sie spürte, wie sich die Muskeln in seinen Armen anspannten. »Willst du damit das sagen ... was ich denke?« Seine Kehle zog sich zusammen, und er brachte nur ein Krächzen zu Stande. »Das weißt du genau.« Seine Arme schlossen sich um sie, und er drückte seine Wange an ihr Haar, als wollte er sein Gesicht vor ihr verbergen. »Und du meinst es wirklich ernst?« »Ja. Ich war so dumm und viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt...« »Das bist du nie.« Lächelnd zog er den Kopf zurück und berührte mit den Fingerspitzen ganz zart ihre Wange. »Gott, ich kann das gar nicht fassen...« Sie lachte und schmiegte sich scheu an ihn. »Ich denke, wir werden uns langsam daran gewöhnen müssen.« »Du weißt, dass ich mir das immer gewünscht habe, oder?«, fragte er scharf, packte sie an den Armen und hob sie beinahe hoch. »Ich habe so viel von unserer Zeit vergeudet.« »Nein, ich glaube nicht, dass das stimmt. Du wolltest immer mehr über deine andere Seite erfahren. Aber mir erschien es, als wärst du restlos begeistert von Brasilien und alldem. Ich dachte, du wärst für immer fort. Doch hör mal, war es nicht verrückt, alles wegzugeben, was du geerbt hast? Was wird Archie dazu sagen?« Sie lachte. »Archie hat damit nichts zu tun, es geht allein um uns. Wenn ich es behalten hätte, wäre es uns nur im Weg. Wir werden hier unsere Kartoffeln ausgraben, Hennen halten, und du wirst weiterhin mit ehrlicher Arbeit unseren Lebensunterhalt verdienen müssen.« Cristi hatte keine Ahnung, dass Archie und Tom noch immer vorhatten, Dougal mit in die Verwaltung von Drumveyn einzubeziehen. »Und ich werde in meinem Atelier arbeiten, und
wer weiß, was ich dort produziere.« Und sie würde sich mit dieser Küche und dem Rest des Hauses beschäftigen müssen, aber es war noch zu früh, um das zu besprechen. »Gott, Cristi.« Dougal umarmte sie voller Freude, die rasch in etwas Ernsteres, Intensiveres umschlug. Paulys Baby würde bald auf die Welt kommen; sie brauchte Hilfe und sie konnte sich nicht mehr allein um Cecil kümmern. Sally war auf jede Unterstützung ange wiesen, die sie ihr geben konnten, während sie der Tragö die entgegensah, die unausweichlich auf sie zukam. Drumveyn, die Familie, Freunde, der Glen - das alles bildete den Hintergrund für Cristis ne ue Existenz in dem vollkommenen kleinen Haus. Sie teilte ihr Leben mit dem einzigen Menschen, der wirklich und wahrhaftig ein Teil von ihr war, an dem Ort, an dem sie sein wollte.